Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik: Politik, Literatur, Wissenschaft 3515091106, 9783515091107

War die Weimarer Republik lediglich eine „Republik ohne Republikaner“? Der vorliegende Band stellt diesen über lange Jah

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English Pages 330 [334] Year 2008

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
„Vernunftrepublikanismus“ in der Weimarer Republik. Neue Analysen und offene Fragen
„Meteor aus einer anderen Welt“. Die Weimarer Republik in der Diskussion des Hilfe-Kreises
Verfassungspragmatismus und Gemeinschaftsideologie: „Vernunftrepublikanismus“ in der deutschen Zentrumspartei
Vernunftrepublikanismus in den Spitzenverbänden der deutschen Industrie
„Vorrede zur Magna Charta der Deutschen Republik“ – Ernst Cassirer, der Kreis um Aby Warburg und der Vernunftrepublikanismus
Die Politik der reinen Vernunft – das Scheitern des linken Sozialdemokraten Heinrich Ströbel zwischen Utopie und Realpolitik
„Wissen und Verändern!“ Alfred Döblin und die Suche nach einer Republik der Literatur
Arthur Rosenberg – ein linker Vernunftrepublikaner
„Vernunftrepublikanismus“ in der Staatsrechtswissenschaft der Weimarer Republik
Vernunftrepublikanismus und Wissenschaftsverständnis in der protestantischen Theologie der Weimarer Zeit
Naturwissenschaft und demokratische Praxis: Albert Einstein – Fritz Haber – Max Planck
Friedrich Meinecke, Gustav Stresemann und Thomas Mann – drei Wege in die Weimarer Republik
Willy Haas und „Die Literarische Welt“
Die Republik, eine „Notlösung“? Der preußische Kultusminister Carl Heinrich Becker im Dienste des Weimarer Staates (1918–1933)
Republikanismus aus Alternativlosigkeit. Zum Demokratiedenken Gabriele Tergits
Personenregister
Über die Autoren
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Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik: Politik, Literatur, Wissenschaft
 3515091106, 9783515091107

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Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik

Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus Wissenschaftliche Reihe Band 9

Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik Politik, Literatur, Wissenschaft

Herausgegeben von Andreas Wirsching und Jürgen Eder

Redaktion: Matthias Weipert

Franz Steiner Verlag Stuttgart 2008

Umschlagabbildung: Thomas Theodor Heine: Republik 1927. Bildunterschrift: Sie tragen die Buchstaben der Firma – aber wer trägt den Geist?! Erschienen in: Simplicissimus, Jg. 31, Nr. 51 (21. März 1927), S. 667. © VG BILD-KUNST.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09110-7

Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. © 2008 Franz Steiner Verlag Stuttgart Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Printed in Germany

Inhalt Vorwort ..................................................................................................

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„Vernunftrepublikanismus“ in der Weimarer Republik. Neue Analysen und offene Fragen Andreas Wirsching ..................................................................................

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I. Netzwerke und Milieus „Meteor aus einer anderen Welt“. Die Weimarer Republik in der Diskussion des Hilfe-Kreises Thomas Hertfelder .................................................................................

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Verfassungspragmatismus und Gemeinschaftsideologie: „Vernunftrepublikanismus“ in der deutschen Zentrumspartei Elke Seefried ...........................................................................................

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Vernunftrepublikanismus in den Spitzenverbänden der deutschen Industrie Wolfram Pyta...........................................................................................

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„Vorrede zur Magna Charta der Deutschen Republik“ – Ernst Cassirer, der Kreis um Aby Warburg und der Vernunftrepublikanismus Thomas Meyer......................................................................................... 109 II. Vernunftrepublikanismus von links? Die Politik der reinen Vernunft – das Scheitern des linken Sozialdemokraten Heinrich Ströbel zwischen Utopie und Realpolitik Rüdiger Graf ........................................................................................... 131 „Wissen und Verändern!“ Alfred Döblin und die Suche nach einer Republik der Literatur Jürgen Eder ............................................................................................. 157 Arthur Rosenberg – ein linker Vernunftrepublikaner? Mario Keßler........................................................................................... 177

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Inhalt

III. Vernunftrepublikanismus und Wissenschaft „Vernunftrepublikanismus“ in der Staatsrechtswissenschaft der Weimarer Republik Christoph Gusy ....................................................................................... 195 Vernunftrepublikanismus und Wissenschaftsverständnis in der protestantischen Theologie der Weimarer Zeit Matthias Wolfes ...................................................................................... 219 Naturwissenschaft und demokratische Praxis: Albert Einstein – Fritz Haber – Max Planck Margit Szöllösi-Janze ............................................................................. 231 IV. Die politische Vernunft des Bürgers? Friedrich Meinecke, Gustav Stresemann und Thomas Mann – drei Wege in die Weimarer Republik Horst Möller ........................................................................................... 257 Willy Haas und „Die Literarische Welt“ Sascha Kiefer .......................................................................................... 275 Die Republik, eine „Notlösung“? Der preußische Kultusminister Carl Heinrich Becker im Dienste des Weimarer Staates (1918–1933) Béatrice Bonniot ..................................................................................... 299 Republikanismus aus Alternativlosigkeit. Zum Demokratiedenken Gabriele Tergits Sylke Kirschnick ...................................................................................... 311 Personenregister ................................................................................... 323 Über die Autoren .................................................................................. 329

Vorwort Der hier vorgelegte Themenband geht auf ein Theodor-Heuss-Kolloquium zurück, das vom 3. bis 5. Oktober 2006 in Stuttgart-Hohenheim stattfand. Dank der perfekten Organisation der Stiftung Bundespräsident-TheodorHeuss-Haus konnten sich Historiker, Literaturwissenschaftler, Philosophen, Theologen und Staatsrechtler zum interdisziplinären Gespräch versammeln. Ihr Ziel war es, in gleichsam experimenteller Weise zu prüfen, als wie tragfähig sich ein erweiterter und reflektierter Begriff des „Vernunftrepublikanismus“ erweist und inwieweit er für die Geschichte der Weimarer Republik nutzbar gemacht werden könnte. Das Ergebnis dieser Diskussion lässt sich an den Einzelbeiträgen dieses Bandes ablesen. Auch wenn sie das historische Phänomen des „Vernunftrepublikanismus“ z. T. unterschiedlich konzeptionalisieren, so hoffen die Herausgeber doch, einem bislang eher schlagwortartig verwendeten Begriff größere wissenschaftliche Tiefenschärfe verliehen zu haben. Die Herausgeber danken Thomas Hertfelder und allen Mitarbeitern der Stiftung für ihre intellektuellen Impulse und unermüdliche organisatorische Unterstützung. Ohne die kompetente Redaktion der Beiträge durch Matthias Weipert und Nicole Strobel sowie die Arbeit des Franz Steiner Verlages hätte der Band nicht so rasch erscheinen können. Der besondere Dank gilt schließlich den Autoren nicht nur für ihr intellektuelles Engagement, sondern auch dafür, dass sie die schriftliche Version ihrer Beiträge termingerecht zur Verfügung stellten. Augsburg und Budweis, Anfang August 2007

Andreas Wirsching und Jürgen Eder

„Vernunftrepublikanismus“ in der Weimarer Republik. Neue Analysen und offene Fragen Andreas Wirsching Die Geschichte der Weimarer Republik ist weitaus mehr als die Geschichte ihrer Krise, und es ist ein Gemeinplatz, dass sie sich nicht in der Vorgeschichte des Jahres 1933 erschöpft. Wenn früher ein eher binäres Grundverständnis vorherrschte, das in den Kategorien „pro“ und „contra“, republikfreundlich und -feindlich, demokratisch und antidemokratisch usf. argumentierte, so ist dieses Muster inzwischen wenn nicht überwunden, so doch stark erweitert worden. Vielfältige Forschungen haben die dynamische Offenheit und Polyvalenz der Weimarer Kultur, Politik und Gesellschaft betont1 und die uneindeutige Reichhaltigkeit des intellektuellen Diskurses hervorgehoben.2 Darüber hinaus ist kürzlich sogar ganz generell der Konstruktcharakter der Weimarer Krise in den Mittelpunkt gestellt worden. Krise und Krisenbewusstsein der Weimarer Republik erscheinen aus dieser Perspektive weniger als das Resultat „realer“ politischer und sozialökonomischer Faktoren denn als die Folge eines übergreifenden und sich verselbständigenden Diskurses über die Krise.3 Auch wenn über Möglichkeiten und Grenzen eines konstruktivistischen Ansatzes unterschiedliche Auffassungen bestehen mögen, so duldet es doch keinen Zweifel, dass die Weimar-Forschung durch entsprechende kulturge1

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An neueren Forschungen seien exemplarisch genannt die Themenbände von WOLFGANG HARDTWIG (Hg.): Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918–1939, Göttingen 2005, DERS. (Hg.): Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933, München 2007, sowie THOMAS MERGEL: Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf 2002; THOMAS RAITHEL: Das schwierige Spiel des Parlamentarismus. Deutscher Reichstag und französische Chambre des Députés in den Inflationsjahren der 1920er Jahre, München 2005; ALEXANDRA GERSTNER/BARBARA KÖNCZÖL/JANINA NENTWIG (Hg.): Der Neue Mensch. Utopien, Leitbilder und Reformkonzepte zwischen den Weltkriegen, Frankfurt a. M. 2006. Siehe u. a.: WOLFGANG BIALAS/GEORG G. IGGERS (Hg.): Intellektuelle in der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. u. a. 1996; MANFRED GANGL/GÉRARD RAULET (Hg.): Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage, Darmstadt 1994; GILBERT MERLIO/GÉRARD RAULET (Hg.): Interdiskursivität als Krisenbewußtsein, Frankfurt a. M. u. a. 2005. MORITZ FÖLLMER/RÜDIGER GRAF (Hg.): Die „Krise“ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt a. M./New York 2005, hier v. a. DIES./PER LEO: Die Kultur der Krise in der Weimarer Republik, in: ebd., S. 9–41.

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schichtliche Fragestellungen und Methoden enorm an Tiefenschärfe gewonnen hat. Wir wissen heute weitaus mehr als noch vor zwei Jahrzehnten über Mentalitäten, langfristige Deutungsmuster, erfahrungsgeschichtlich gesättigte Orientierungen und intellektuelle Herausforderungen während der Zwischenkriegszeit. In diesen Trend einer Weimarer Krisengeschichte in der Erweiterung ordnet sich auch der vorliegende Band ein, wenn er das Konzept des „Vernunftrepublikanismus“ mit neuem Leben zu erfüllen versucht. Der von Friedrich Meinecke geprägte Begriff ist ja überwiegend ein Schlagwort geblieben.4 Konkret beschränkt er sich auf jene politischen Protagonisten im liberalen bürgerlichen Spektrum, die mangels realpolitischer Alternativen ihren Frieden mit der Republik machten und sich auch öffentlich für sie einsetzten. Friedrich Meinecke, Gustav Stresemann und Thomas Mann sind die bekanntesten Vertreter dieser Haltung. Über diese prominenten Beispiele hinaus, die Horst Möller in diesem Band näher vorstellt5, ist das Phänomen des Vernunftrepublikanismus jedoch noch nicht zum Gegenstand vertiefter Analyse gemacht worden. Vielmehr wurde es, je nach Standort, entweder von den Ex-post-Ansprüchen politischer Pädagogik überfrachtet oder in eher pejorativer Weise als

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Der Locus classicus bei FRIEDRICH MEINECKE: Verfassung und Verwaltung der deutschen Republik (Jan. 1919), in: DERS.: Politische Schriften und Reden, hg. v. Georg Kotowski, Darmstadt 41979, S. 280–298, hier S. 281: „Ich bleibe, der Vergangenheit zugewandt, Herzensmonarchist und werde, der Zukunft zugewandt, Vernunftrepublikaner.“ Vgl. zur typischen Behandlung in der Literatur zum Beispiel WALTER LAQUEUR: Weimar. Die Kultur der Republik, Frankfurt a. M. 1976, S. 235; PETER GAY: Die Republik der Außenseiter. Geist und Kultur in der Weimarer Zeit 1918–1933, Frankfurt a. M. 1970, S. 44; HEINRICH A. WINKLER: Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München ²1998, S. 303f. Siehe den Beitrag von HORST MÖLLER in diesem Band, unten S. 257–274. Zu Meinecke vgl. u. a. HARM KLUETING: „Vernunftrepublikanismus“ und „Vertrauensdiktatur“. Friedrich Meinecke in der Weimarer Republik, in: Historische Zeitschrift 242 (1986), S. 69–98, sowie jetzt: GISELA BOCK/DANIEL SCHÖNPFLUG (Hg.): Friedrich Meinecke in seiner Zeit. Studien zu Leben und Werk, Stuttgart 2006, hier v. a. den Beitrag von NIKOLAI WEHRS: Demokratie durch Diktatur? Meinecke als Vernunftrepublikaner in der Weimarer Republik, S. 95–118. Zu Stresemann: JONATHAN WRIGHT: Gustav Stresemann (1878 – 1929).Weimars größter Staatsmann, München 2006 u. nach wie vor: HENRY A. TURNER: Stresemann. Republikaner aus Vernunft, Berlin 1968. Vgl. zu Thomas Mann auch: JOHANN HINRICH CLAUSSEN: Der moderne Protestantismus als politische Theologie der Differenzierung. Das Beispiel der Vernunftrepublikaner Ernst Troeltsch und Thomas Mann, in: ARNULF VON SHELIHA u. a. (Hg.): Das protestantische Prinzip. Historische und systematische Studien zum Protestantismusbegriff, Stuttgart 1998, S. 181–199. Zum Weimarer Kreis verfassungstreuer Hochschullehrer, in dem sich die Mehrzahl der bürgerlich-akademischen Demokraten und „Vernunftrepublikaner“ versammelte, siehe nach wie vor HERBERT DÖRING: Der Weimarer Kreis. Studien zum politischen Bewußtsein verfassungstreuer Hochschullehrer in der Weimarer Republik, Meisenheim a.Gl. 1975.

„Vernunftrepublikanismus“ in der Weimarer Republik

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letztlich sterile Unterstützung der Republik gewertet, die eben nicht „von Herzen“ kam.6 Der hier unternommene Versuch, das Konzept des Vernunftrepublikanismus auf seine analytische Tauglichkeit hin zu prüfen, knüpft an neuere Tendenzen an, die im Bereich der politischen Einstellungen das lange Zeit vorherrschende Verdikt vom „antidemokratischen Denken“7 in der Weimarer Republik wenn nicht relativieren, so doch ergänzen. Allerdings geht es dabei nicht nur darum, verschüttete Schichten „demokratischen Denkens“ in der Weimarer Republik zutage zu befördern.8 Ebensowenig möchte sich der folgende Band mit einem Begriff des Vernunftrepublikanismus begnügen, der sich im genannten Sinne auf die „klassischen“ bürgerlich-liberalen Intellektuellen und Politiker bezieht. Vielmehr entwickelt er eine darüber hinaus gehende leitende Problemstellung. Er fragt danach, inwieweit sich in ganz unterschiedlichen sozialen Milieus und politischen Kontexten eine Haltung findet, die sich pragmatisch auf die politische Vernunft berief und infolgedessen zu einer vernunftrepublikanischen Herangehensweise an die Zeitprobleme der ersten deutschen Demokratie in der Lage war. Damit wäre die Haltung aller jener Akteure gemeint, die ursprünglich einem anderen als dem parlamentarisch-demokratischen Modell anhingen – sei es dem Kaiserreich, einer linken Parteiherrschaft oder einer utopischen Lösung. In diesem Sinne erweitert sich das hier zu behandelnde Spektrum gewissermaßen zu einem konzentrischen Kreis, der von allen Richtungen her betretbar war. Vieles spricht dafür, dass dieser Kreis einen Raum der Weimarer politischen Kultur bildete, in dem sich zwar weitaus mehr Personen aufhielten, als man gemeinhin vermutet, die sich aber gegenseitig nicht oder zu wenig erkannten. Sie erkannten sich nicht aus Gründen der politisch-ideologischen Fragmentierung und der sozialen Zerklüftung der Weimarer Gesellschaft und Kultur.9 Um ein solcherart erweitertes Feld des Vernunftrepublikanismus zu erkunden, werden im Folgenden einige Leitfragen formuliert und mögliche Antworten diskutiert. Eine völlig konsistente Begriffsbildung ist dabei freilich weder zu erwarten noch anzustreben. Auch die im vorliegenden Band versammelten Beiträge führen das Thema nicht in einer gleichförmigen Weise durch, 6

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Vgl. etwa HAGEN SCHULZE: Weimar. Deutschland 1917–1933 (Die Deutschen und ihre Nation), Berlin 1982, S. 130 u. 209, sowie die Diskussion in KARL DIETRICH ERDMANN/ HAGEN SCHULZE (Hg.): Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie. Eine Bilanz heute, Düsseldorf 1980, S. 292–302. KURT SONTHEIMER: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 1962; vgl. jetzt auch: RICCARDO BAVAJ: Von links gegen Weimar: Linkes antiparlamentarisches Denken in der Weimarer Republik, Bonn 2005. CHRISTOPH GUSY (Hg.): Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, BadenBaden 2000. Vgl. DETLEF LEHNERT/KLAUS MEGERLE (Hg.): Politische Teilkulturen zwischen Integration und Polarisierung. Zur politischen Kultur der Weimarer Republik, Opladen 1990.

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und einige Autoren machen aus ihrer Skepsis gegenüber dem Begriff des Vernunftrepublikanismus keinen Hehl.10 Als Problemstellung aber spielen die im Folgenden diskutierten Leitfragen in allen hier abgedruckten Beiträgen eine zentrale Rolle. I. Politische Vernunft und der Ansturm des Irrationalismus Die bislang eher plakative Verwendung der Bezeichnung Vernunftrepublikaner wirft die Frage auf, inwieweit es möglich ist, den Begriff der Vernunft quellenmäßig zu füllen und welche Rolle er für das Selbstverständnis der Akteure spielte? Allerdings muss zuvor geklärt werden, welcher systematische Bezugsrahmen einem solchen Verfahren zugrunde liegt. Denn die Komplexität und Vieldeutigkeit, die Ambivalenzen und Paradoxien, welche die Weimarer Kultur im Allgemeinen charakterisierten, bilden sich auch in dem Verweis auf die „Vernunft“ ab. Es wäre in diesem Sinne verdienstvoll, eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zum Wortfeld politische „Vernunft“ in der Weimarer Republik durchzuführen. Auch wenn dies hier nicht geleistet werden kann, seien doch einige kursorische Bemerkungen zu diesem bislang wenig behandelten Thema gemacht. In der Weimarer Republik koexistierten insbesondere die Verwerfungen einer ideologisch-utopischen Vernunft, wie sie in den totalitären Bewegungen hervortrat, mit den Versuchungen einer instrumentellen Vernunft, welche die sozialtechnologischen Tendenzen der Zeit beförderte.11 Beide Formen der „Vernunft“ verbanden sich in je unterschiedlicher Weise mit antirepublikanischen Kräften und verstärkten den Ansturm des Irrationalismus, dem die Weimarer Republik schließlich erlag. Wer demgegenüber die Vernunft im republikanischen Sinne ins Spiel brachte, beharrte auf einem aufgeklärt-offenen System aus Erfahrung, Kritik und Diskurs. Dieses republikanische System der Vernunft musste nicht notwendigerweise identisch sein mit Demokratie. Denn die meisten der deutschen Intellektuellen machten sich vor 1918 insgesamt eher unpräzise Vorstellungen vom System- und Sinngehalt der De10 Siehe insbesondere den Beitrag von CHRISTOPH GUSY, unten S. 198f., der lieber von „Verlegenheitsrepublikanern“ sprechen möchte; dazu MARTINA STEBER: Tagungsbericht zum Theodor-Heuss-Kolloquium 2006: „Vernunftrepublikanismus“ in der Weimarer Republik. Wissenschaft, Politik und Literatur, 3.–5. Oktober 2006, Stuttgart, in: H-SozU-Kult (http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1351) und in: AHFInformation.2006, Nr. 152 (http://ahf-muenchen.de/Tagungsberichte/Berichte/pdf/ 2006/152-06.pdf). 11 Stellvertretend: ULRICH HERBERT: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903–1989, Bonn 1996; DETLEV J.K. PEUKERT: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt a. M. 1987, v. a. S. 138; JEFFREY HERF: Reactionary Modernism. Technology, Culture, and Politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge 1984.

„Vernunftrepublikanismus“ in der Weimarer Republik

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mokratie. Zwar sehnten sie sich nach einer organischen Integration des „Volkes“ in den (Obrigkeits-)Staat, hegten zugleich aber gegenüber den „Ideen von 1789“, einem pluralistischen Gesellschaftsbild und dem entwickelten Parlamentarismus ein Misstrauen, das auch in der Weimarer Republik nur schwer zu überwinden war.12 In Kreisen der politischen Entscheidungsträger blieb aber zunächst unbestritten, dass die Republik auf vernünftige Prinzipien im genannten Sinne zu gründen war. Weit verbreitet war die klare Antithese zwischen „Vernunft“ einerseits, Unvernunft, Utopie, Verantwortungslosigkeit usf. andererseits. Vernunft und Republik, vernünftig und republikanisch wurden praktisch ineinsgesetzt und die Gefährdung der eigenen Position mit der Gefährdung der Vernunft identifiziert. Statt vieler Belege stehe stellvertretend der Aufruf der Reichsregierung gegen das Volksbegehren gegen den Young-Plan am 10. Oktober 1929, in dem die Antithese expliziert wird: „Kein vernünftig denkender Deutscher [...] kann ein solches Vorhaben fördern. [...] Das deutsche Volk hat jetzt zwischen Vernunft und Unsinn zu wählen.“13 „Vernunft“, „vernünftiges“ politisches Handeln standen also stellvertretend für die Republik als solche, gerieten aber nach dem Aufbruch des Winters 1918/19 mehr und mehr in die Defensive. Schon 1921 schrieb man in der DDP die rückläufigen Wahlergebnisse der Partei dem Umstand zu, „daß sie von Anfang an sich vorgenommen hat, nur das Vernünftige zu tun. Für uns handelt es sich nun darum, ob wir uns der Schlagwortepolitik anschließen oder die bisherige Politik der Vernunft weiter führen sollen.“14 Dementsprechend lässt sich die Erosion des „vernünftigen“ Standpunktes gegen Ende der Weimarer Republik auch in der politischen Semantik ablesen, so etwa, wenn Ernst Scholz, Stresemanns Nachfolger als Vorsitzender der DVP, kurz vor dem Ende der Großen Koalition im März 1930 konstatierte: „Die reine Vernunft hat noch nie Wahlschlachten gewonnen.“15 Im Kampf um Wählerstimmen, aber auch 12 MARCUS LLANQUE: Demokratisches Denken im Krieg. Die deutsche Debatte im Ersten Weltkrieg, Berlin 2000. Vgl. auch ANDREAS WIRSCHING: Demokratisches Denken in der Geschichtswissenschaft der Weimarer Republik, in: C. GUSY (Hg.): Demokratisches Denken (wie Anm. 8), S. 71–95, hier v. a. S. 84ff. 13 Entwurf eines Aufrufs gegen das Volksbegehren zum Young-Plan, 10. Oktober 1929, Akten der Reichskanzlei, Das Kabinett Müller II, 2. Halbband, hg. von Karl Dietrich Erdmann und Wolfgang Mommsen, bearb. v. Martin Vogt, Boppard am Rhein 1970, Nr. 317, S. 1034. 14 Linksliberalismus in der Weimarer Republik. Die Führungsgremien der Deutschen Demokratischen Partei und der Deutschen Staatspartei 1918–1933, hg. v. der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, bearb. v. Lothar Albertin u. Konstanze Wegner, Düsseldorf 1980, Nr. 83, S. 192 (Kauffmann, 11. 9. 1921). 15 Nationalliberalismus in der Weimarer Republik. Die Führungsgremien der Deutschen Volkspartei 1918–1933, 2. Halbband, hg. v. der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, bearb. v. Eberhard Kolb u. Ludwig Richter, Düsseldorf 1999, Nr. 79, S. 939 (Ernst Scholz, 2. 3. 1930).

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in der Phase, in der die Weimarer Demokratie ihre autoritäre Wendung nahm, lässt sich daher beobachten, wie das Wortfeld Vernunft gegenüber anderen Werten und Referenzbegriffen wie „Wille“, „Einheit“, „Sammlung“ etc. semantisch zurückgeht. Hat die „Vernunft“ ihre Hochzeit in den ersten Jahren der Republik sowie 1928/29, so verschwindet sie seit 1930 als Leitbegriff und ist in den letzten Jahren kaum mehr auffindbar, höchstens noch defensiv, etwa im Sinne der Forderung, alle Parteien, „die halbwegs Vernunft haben“, müssten „nach einem gemeinsamen Plan gegen die Nationalsozialisten“ vorgehen.16 Diese Beobachtung weist auf eine Periodisierungsfrage hin. Insbesondere bleibt unsicher, wie sinnvoll es ist, nach dem Ende der Großen Koalition noch von einem signifikanten Faktor Vernunftrepublikanismus zu sprechen. Im Hinblick auf den Reichsverband der Deutschen Industrie konstatiert z. B. Wolfgang Pyta im vorliegenden Band zumindest für die Anfangsphase der Regierung Brüning ein „erstaunliches Maß an Vernunftrepublikanismus“.17 Spätestens mit den Septemberwahlen jedoch wird der Begriff vollends fragwürdig. Schien Thomas Mann nicht recht zu haben, wenn er in seiner berühmten „Deutschen Ansprache“ vom 17. Oktober 1930 an die Vernunft zwar appellierte, zugleich aber diagnostizierte: „Fanatismus wird Heilsprinzip, Begeisterung epileptische Ekstase, Politik wird zum Massenopiat des Dritten Reiches oder einer proletarischen Eschatologie und die Vernunft verhüllt ihr Antlitz“?18 Der hier gemeinte Begriff von politischer Vernunft bleibt bestimmt von einem offenen System des Diskurses und der Kritik. Mit Habermas lässt sich festhalten: Nur wenn ein Minimum an intersubjektiver Kommunikation gewährleistet bleibt, sind vernünftige Lösungen möglich. Dies ist ein irreduzibel aufgeklärtes Verständnis von Vernunft, und tatsächlich besitzt ja die moderne Demokratie in Aufklärung und Liberalismus starke Wurzeln, auch wenn sie historisch nicht in ihnen aufgeht. Ohne ein Mindestmaß an politischer Vernunft jedenfalls – dies lehrt das Schicksal der Weimarer Republik – muss die Demokratie an sich selbst zugrunde gehen. Fast fühlt man sich an Johann Gottfried Seumes bekannten Aphorismus erinnert: „Die Vernunft ist immer republikanisch; aber die Menschen scheinen, wenn man die Synopse ihrer Geschichte nimmt, doch durchaus zum Despotismus geboren zu sein.“19 16 Linksliberalismus in der Weimarer Republik (wie Anm. 14), Nr. 176b, S. 633 (Ehlermann, 15. 3. 1931). Einen Rückgang des Vernunftdiskurses seit 1930 konstatiert auch Thomas Hertfelder in seinem Beitrag, unten S. 47. 17 Siehe den Beitrag von WOLFRAM PYTA, unten S. 104. 18 THOMAS MANN: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Frankfurt a. M. 1974, Bd. XI, S. 880. 19 JOHANN GOTTFRIED SEUME: Apokryphen (1806/07), in: DERS.: Werke, Bd. 2: Apokryphen, Kleine Schriften, Gedichte, Übersetzungen, hg. v. Jörg Drews unter Mitarbeit von Sabine Kyora, Frankfurt a. M. 1993, S. 11.

„Vernunftrepublikanismus“ in der Weimarer Republik

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Vernunftrepublikanismus in diesem Sinne meint also mehr als eine unspezifisch pragmatische Haltung bürgerlich-liberaler Intellektueller und Politiker. Der Begriff repräsentiert vielmehr ein politisches Prinzip, das – wie Thomas Meyer in seinem Beitrag am Beispiel Ernst Cassirers zeigt – besonders prononciert von (Neu-)Kantianern vertreten wurde20 und das erhebliche Parallelen zum intellektuellen Republikanismus der französischen Dritten Republik aufweist.21 Seine Basis war eine kritisch-rationale, zivilgesellschaftlich basierte Vernunftethik, die weniger auf die Verwirklichung eines konkreten politischgesellschaftlichen Modells zielte als auf die Bildung freier, vernunftbegabter und damit kritischer und diskursfähiger Menschen. Ein solches Prinzip vertrat nachdrücklich die lange Zeit noch einflussreiche Naumannsche Zeitschrift „Die Hilfe“, die Thomas Hertfelder untersucht.22 Und es lag auch explizit an der Wurzel der 1925 von Willy Haas begründeten „Literarischen Welt“, die zu einem der bedeutsamsten literarischen Periodika der Weimarer Republik avancierte und in diesem Band von Sascha Kiefer einer eingehenden Analyse unterzogen wird.23 In den Wissenschaften muss zwar nach Disziplinen differenziert werden, wenn man die Frage nach der theoretischen und praktischen Wirksamkeit der entsprechenden Prinzipien stellt. Die meisten als Vernunftrepublikaner einzuschätzenden Staatsrechtler tendierten methodisch, wie Christoph Gusy zeigt, zum Positivismus, der in seiner politischen Wirkung freilich nicht festzulegen war.24 Wenn sich Wissenschaftler innerhalb des normativen Systems von Vernunft, Kritik und Diskurs bewegten, ermöglichte dies auch im politischen Raum eine (vernunft-)republikanische Praxis. Margit Szöllösi-Janze analysiert diesen Zusammenhang beispielhaft im Hinblick auf die Physiker Albert Einstein, Fritz Haber und Max Planck, Matthias Wolfes im Hinblick auf Vertreter der evangelischen Theologie. Darüber hinaus freilich war das Prinzip der republikanischen Vernunft in Weimar ganz generell gleichsam zum „System“ geworden. Personen wie der langjährige preußische Kultusminister Carl Becker zum Beispiel, dessen kompromisslos vernunftrepublikanische Bindung Beatrice Bonniot untersucht, repräsentierten dieses systemgewordene Vernunftprinzip weithin sichtbar.25 Im selben Maße freilich wurde das Vernunftprinzip mit aller zur Verfügung stehenden Kraft angefeindet. Stellvertretend möge hierfür Moeller van den Brucks 1923 verfasstes Buch „Das Dritte Reich“ stehen. Diese Schrift, die zu den 20 Siehe den Beitrag von THOMAS MEYER, unten S. 109–128. Zu den neu-kantianischen Einflüssen auch der Beitrag von THOMAS HERTFELDER, unten S. 44ff. 21 FRANÇOIS BEILECKE: Französische Intellektuelle und die Dritte Republik. Das Beispiel einer Intellektuellenassoziation 1892–1939, Frankfurt a. M. 2003, hier v. a. S. 346ff. 22 Siehe den Beitrag von THOMAS HERTFELDER, unten S. 29–55. 23 Siehe den Beitrag von SASCHA KIEFER, unten S. 275–298. 24 Siehe den Beitrag von CHRISTOPH GUSY, unten S. 211. 25 Siehe den Beitrag von BEATRICE BONNIOT, unten S. 299–309.

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Grundtexten der republikfeindlichen Konservativen Revolution gehört, stellt ein einziges hasserfülltes Plädoyer gegen das Regime der Vernunft dar, so wie es die „Linke“ mit der Weimarer Republik aufgerichtet habe.26 Die „Vernunft“ ist für Moeller van den Bruck eine bloß negative Chiffre. Ihr stellt er – im Anschluss an Schopenhauer – einen romantisch aufgeladenen Begriff von „Verstand“ entgegen, der sich in der Republik freilich noch nicht habe durchsetzen können. Damit ist Moeller van den Bruck typisch für eine zentrale Figur rechtsextremen Denkens, die nämlich sehr unterschiedliche politisch-intellektuelle Traditionen unter dem negativen Sammelbegriff der Vernunft zu einem Feindbild subsumiert: Westliche Aufklärung, Liberalismus und Parlamentarismus, Marxismus und Sozialismus, schließlich auch der Kommunismus seien verschiedene Ausprägungen ein und derselben Entwicklung. Somit blieb für ihn die deutsche Republik eine Frucht der „faulen Vernunft, ganz jener faulen Mitte, die bei ihren Ratschlüssen einen ‚gesunden Menschenverstand‘ auszuspielen pflegt, der eine ‚mittlere‘ Linie einzuhalten sucht und in politischen Dingen längst zu einer opportunistischen Doktrinärvernunft geführt hat.“27 II. Vernunftrepublikanismus von links? Mit der Entfaltung eines solchen, hier wütend attackierten republikanischen Systems der Vernunft hängt eine weitere Leitfrage zusammen, die sich dezidiert auf das linke Spektrum der Weimarer Republik richtet. Zwar konnte es im sozialdemokratischen und linkssozialistischen Spektrum nicht um die vernunftbegründete Option für die republikanische Staatsform – im Gegensatz zur Monarchie – gehen; aber im Sinne eines dezidierten und reflektierten Verzichts auf utopische Lösungen lässt sich durchaus auch von einem „linken“ Vernunftrepublikanismus sprechen. Entscheidend wurde in diesem Zusammenhang die Erfahrung der Russischen Revolution.28 Ihre Rezeption, die anfangs für nicht wenige mit einem hohen Maß an Faszination einherging, setzte bei vielen Sozialdemokraten zugleich einen fundamentalen Lernprozess in Gang, an dessen Ende nicht weniger als eine vernunftrepublikanische Identität stand.29 So stellte Heinrich 26 ARTHUR MOELLER VAN DEN BRUCK: Das Dritte Reich, hg. v. Hans Schwarz, Hamburg ³1931. Vgl. FRITZ STERN: Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland, München 1986 (zuerst engl. 1961), S. 308f. 27 A. MOELLER VAN DEN BRUCK, Das Dritte Reich (wie Anm. 26), S. 268. 28 Vgl. hierzu ANDREAS WIRSCHING: Antibolschewismus als Lernprozeß. Die Auseinandersetzung mit Sowjetrußland in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, in: MARTIN AUST/DANIEL SCHÖNPFLUG (Hg.): Vom Gegner lernen. Feindschaften und Kulturtransfer im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2007, S. 137–156. 29 Zum Kontext vgl.: JÜRGEN ZARUSKY: Die deutschen Sozialdemokraten und das sowjetische Modell. Ideologische Auseinandersetzung und außenpolitische Konzeptionen 1917–1933, München 1991.

„Vernunftrepublikanismus“ in der Weimarer Republik

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Cunow, Kautskys Nachfolger als Herausgeber der „Neuen Zeit“, im Herbst 1920 befriedigt fest, „dass die geistigen Führer unserer Partei immer mehr dahin gelangen, die Einzelfragen unseres politischen Lebens im Rahmen des sozialen Gesamtentwicklungsverlaufs zu betrachten. Zeigt sich auch hin und wieder eine gewisse Neigung zu Illusionen und zur Utopisterei, so spricht doch aus den meisten Artikeln der Geist ernster realpolitischer und kritischer Erwägungen. Der Umlernungsprozeß in unserer Partei, das Herausstreben aus der altüberlieferten Phraseologie und Dogmatik macht doch Fortschritte.“30

Gegenüber dem Irrweg der Bolschewiki, so konstatierte zur gleichen Zeit der unabhängige Sozialdemokrat Wilhelm Dittmann, „konnte es kein anderes Heilmittel geben als die nackte Wahrheit; nur die rückhaltlose Aufklärung über die russische Wirklichkeit konnte die Massen von ihrem Irrtum bekehren und sie allmählich wieder zur Vernunft und Besinnung bringen.“31 Als weitere sozialdemokratische Beispiele eines solchen vernunftrepublikanischen Itinerars lässt sich Rudolf Hilferding, aber vielleicht auch Paul Levi in Anspruch nehmen. Im vorliegenden Band untersuchen Rüdiger Graf, Mario Keßler und Jürgen Eder die entsprechende Problemstellung am Beispiel Heinrich Ströbels, Arthur Rosenbergs und Alfred Döblins. Sie alle verzichteten zunächst für sich persönlich, dann auch in ihrem öffentlichen Wirken und in ihren Schriften auf den konkreten Anspruch, die sozialistische Utopie unmittelbar politisch zu befördern. Grundlage dieses Verzichts war einmal mehr die Etablierung eines Systems von Vernunft und Kritik, in dem es möglich wurde, Erfahrungswissen zu rezipieren und bestehende Urteile zu modifizieren. Im Kern glich dieses System der zum gleichen Zeitpunkt eingeübten Praxis bürgerlicher Vernunftrepublikaner. Nicht zufällig appellierte Scheidemann am 7. Oktober 1919 in der Nationalversammlung an die monarchistische Rechte, heute müsse „unter den veränderten Verhältnissen jeder Deutsche zum mindesten Vernunftrepublikaner sein“.32 Festzuhalten bleibt also, dass sich das republikanische Vernunftprinzip zumindest zu Beginn der Weimarer Demokratie milieuübergreifend etablierte. Doch obwohl eine in der Form ähnliche politische Denkstruktur bestand, ließen sich die fortbestehenden Gegensätze zwischen Sozialdemokraten und den bürgerlichen Kräften auf die Dauer nicht unter einem vernunftrepublikanischen Dach versöhnen. Die von Otto Braun beschworene „Koalition aller Vernünftigen“ blieb über die meiste Zeit hinweg ein Wunschprojekt; und wenn sie erreicht zu sein schien, blieb sie höchst fragil. Wie rasch und wie tief sich 30 HEINRICH CUNOW: »Zur Programmrevision«, in: Die Neue Zeit, 39. Jg., Bd. 1., Nr. 1, 1. 10. 1920, S. 1–7, hier S. 4. 31 WILHELM DITTMANN: Erinnerungen. Bearbeitet und eingeleitet von Jürgen Rojahn, Bd. II, Frankfurt/New York 1995, S. 752. 32 Verhandlungen des Reichstages, Sten. Prot. Bd. 330, 82. Sitzung (7. 10. 1919), S. 2887 (A).

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etwa auf der sozialdemokratischen Linken der Gegensatz zu den bürgerlichen Vertretern eines Vernunftrepublikanismus auftat, unterstreicht die Perspektive des jungen Kurt Schumacher. Von seinem publizistischen Standort in Württemberg aus schoss er schon 1924 scharfe Pfeile etwa gegen die DDP: „Wo sind die Traditionen von 1848 bei einer Partei, die ihre kapitalistische Abhängigkeit durch sozialpolitische Mätzchen und ihren Vernunftrepublikanismus durch die Fahne des Kaiserreiches drapieren möchte?“33 Der im Kern pejorative Klang, den der Begriff des Vernunftrepublikanismus nach 1945 teilweise auf sich zog, deutete sich hier bereits an. Umgekehrt empfanden auch die Vertreter eines dezidiert republikanischen Bürgertums nichts anderes als eine tiefe, faktisch freilich völlig unverdiente Verachtung gegenüber den sozialdemokratischen Spitzenpolitikern. Wie Jürgen Eder am Beispiel Döblins zeigt, galt dies nicht selten auch für jene, die selbst mit der SPD sympathisierten.34 III. Eine vernunftrepublikanische Generation? Wichtig für die historische Trennschärfe des Begriffs des Vernunftrepublikanismus scheint die Frage nach den Generationen zu sein, bei denen er anzutreffen ist. Inwieweit kann von einer generationenspezifischen Haltung gesprochen werden, die bei den Akteuren bestimmte Erfahrungshorizonte oder auch ein bestimmtes Lebensalter voraussetzte? Ohne dass hier in eine allgemeine methodische Diskussion des suggestiven, viel diskutierten, zugleich aber auch umstrittenen Konzepts der Generationen eingetreten werden soll,35 muss doch der Faktor Generation in die Analyse einbezogen werden. So weist alles darauf hin, dass es einer bestimmten Generation – den zwischen ca. 1860 und 1885 Geborenen – leichter fiel, sich auf die Republik einzulassen und sie mit dem skizzierten Vernunftkonzept zu verknüpfen. Wenn sie bürgerlicher Herkunft waren, so wurzelten sie bildungs- und mentalitätsmäßig noch im Zeitalter des klassischen Liberalismus, zu dessen Bestimmungsmerkmalen der genannte Vernunftbegriff ohne Zwei33 KURT S CHUMACHER : Nachklänge zum Parteitag, in: Esslinger Volkszeitung, 137, 25. 6. 1924 (unter: www.fes.de/fulltext/historiker/00781a09.htm (letzter Abruf am 27. 7. 2007)). Vgl. auch DERS.: Arbeiter und Verfassung, in: Schwäbische Tagwacht, 184/185, 8./9. 8. 1929 (unter www.fes.de/fulltext/historiker/00781a16.htm (letzter Abruf am 27. 7. 2007)). 34 Siehe den Beitrag von JÜRGEN EDER, unten S. 161. 35 Vgl. insbesondere: ANDREAS SCHULZ/GUNDULA GREBNER (Hg.): Generationswechsel und historischer Wandel (Beihefte der HZ 36), München 2003, hier v. a. der Einleitungsaufsatz der Herausgeber über: Generation und Geschichte. Zur Renaissance eines umstrittenen Forschungskonzepts, in: ebd., S. 1–23; JÜRGEN REULECKE (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003; ULRIKE JUREIT/MICHAEL WILDT (Hg.): Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg 2005.

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fel gehörte. Wenn die Angehörigen der genannten Generation dagegen aus dem Arbeitermilieu stammten, so waren sie geprägt von der Erfolgszeit der SPD unter dem Wilhelminismus. Dies disponierte sie zu einer „revisionistischen“, auf pragmatische „Vernunft“ gegründeten Haltung. Hinzu kam ein in dieser Generation besonders stark verwurzelter Fortschrittsoptimismus, der sich mit der Politik evolutionärer Verbesserung durchaus arrangieren konnte. „Wir Alten“, so stellte Friedrich Ebert 1922 fest, „die aus der Zeit der Sozialistengesetze den steilen Weg bis 1918 gegangen sind, werden nicht ungeduldig, wenn es nicht so schnell vorwärts geht, wie wir hofften.“36 Und ganz Ähnliches gilt für die älteren Vertreter des katholischen Vernunftrepublikanismus, die aus der Erfahrung und Überwindung des Kulturkampfes zu einer pragmatischen Grundhaltung gelangten. Entscheidend für eine generationenspezifische Ausprägung des vernunftrepublikanischen Konzepts dürfte eine lebensgeschichtlich-psychologische Dimension gewesen sein. Zum einen waren die Angehörigen dieser Generation bereits vor Weltkrieg und Republikgründung arriviert. Das gilt paradigmatisch für die drei wohl bekanntesten bürgerlichen Vernunftrepublikaner: Friedrich Meinecke (geb. 1862), Thomas Mann (geb. 1872) und Gustav Stresemann (geb. 1878), aber es gilt auch für die vielen weniger bekannten. Ein Großteil der bürgerlichen Vernunftrepublikaner, die als Wissenschaftler tätig waren, sich teilweise politisch engagierten und im vorliegenden Band behandelt werden, hatten bereits vor 1914 den Zenit ihrer Laufbahn erreicht, so etwa Carl Becker (geb. 1876), die Physiker Fritz Haber (geb. 1868) und Max Planck (geb. 1858), die Staatsrechtler Wilhelm Kahl (geb. 1849), Gerhard Anschütz (geb. 1867) und Alexander Graf zu Dohna (geb. 1876) sowie die Theologen Adolf Harnack (geb. 1851), Martin Rade (geb. 1857) und Hermann Mulert (geb. 1879). Analoges gilt für die meisten sozialdemokratischen Vernunftrepublikaner von links. Sie gehörten eben jener „Generation Ebert an“, die bis 1918 bereits eine mehr oder minder steile Parteikarriere gemacht hatten. Beispiele sind Rudolf Hilferding (geb. 1877) und Heinrich Ströbel (geb. 1869). Auch Alfred Döblin (geb. 1878), der in diesem Band als Vernunftrepublikaner von links porträtiert wird, entstammte derselben Alterskohorte. Zum anderen hatten die Angehörigen dieser Generation den Weltkrieg nicht selbst mitgemacht. Lebensgeschichtlich wurden sie vom Krieg längst nicht in dem Umfang geprägt und beeinflusst, wie dies für die Frontkämpfergeneration selbst, aber auch für die so genannte Kriegsjugendgeneration galt, die den Krieg als Kinder und Jugendliche in der „vaterlosen Gesellschaft“ der Heimatfront erlebte. Aus allen diesen Faktoren erklärt sich, dass die Vertreter der vernunftrepublikanischen Kohorte ihr Lebensbild bereits längst vor 1914/18 geformt hatten37 und daher orientierungssicherer mit den Erschütte36 Zit.n. BERND BRAUN: Die „Generation Ebert“, in: KLAUS SCHÖNHOVEN/BERND BRAUN (Hg.): Generationen in der Arbeiterbewegung, München 2005, S. 69–86, hier S. 77. 37 Vgl. hierzu am Beispiel Friedrich Meineckes STEFAN MEINEKE: Friedrich Meinecke.

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rungen durch Krieg und Revolution umzugehen vermochten. Sie waren geistig und materiell unabhängiger und waren mithin biographisch am ehesten in der Lage, das Prinzip der Vernunft zur Geltung kommen zu lassen. Zwar darf man das Element der Generation nicht überbewerten; und schon gar nicht ist der Umkehrschluss erlaubt, wonach etwa die Mehrzahl dieser Alterskohorte republikanisch gesinnt gewesen sei. Aber wenn man einen Typus des Vernunftrepublikaners konstruieren will, dann wird man auf eine überproportionale Bedeutung dieser Generation stoßen und dies entsprechend zu konzeptionalisieren haben. IV. Das Kaiserreich aus der Sicht der Vernunftrepublikaner Hierzu gehört die Frage nach der Haltung zum Kaiserreich als dem entscheidenden zeithistorischen, konstitutionellen und politisch-kulturellen Referenzpunkt der Zeitgenossen. Vor allem für die bürgerlichen Vertreter der genannten vernunftrepublikanischen Alterskohorte verband sich hiermit eine geradezu existentielle Problematik. Und zwischen der Diagnose und der Kritik des Kaiserreiches und einer vernunftrepublikanischen Stellungnahme bestand meist ein enger Zusammenhang. Tatsächlich ist von Politikern, Wissenschaftlern und Intellektuellen, die man als vernunftrepublikanisch bezeichnen will, zu erwarten, dass sie sich mit der jüngsten deutschen Zeitgeschichte zumindest teilweise kritisch auseinandersetzten; dass sie in Bismarck und der wilhelminischen Zeit eben nicht den ausschließlichen Höhepunkt deutscher politischer Entwicklung sahen; dass sie der Revolution 1918/19 zumindest nicht nur Negatives abgewannen; dass sie der „Ideologie des deutschen Weges“38 nicht anheim fielen. Die Mehrzahl der deutschen Historiker hing während der Weimarer Zeit einer Deutung des Kaiserreiches an, die man, zugespitzt formuliert, auch als ihre Lebenslüge bezeichnen könnte: Sie bestand in der Rehabilitation der Bismarckschen Reichsgründung auf Kosten Wilhelms II. Denn durch die z. T. fulminante Kritik an dem letzten Deutschen Kaiser und durch die personalistische Gegenüberstellung des schwächlichen „Epigonen“ mit der Lichtgestalt Bismarcks ließ sich die Dignität des Kaiserreiches trotz Niederlage, Zusammenbruch und Revolution bewahren. Der Weg zur demokratischen Akzeptanz der Weimarer Republik aber blieb auf diese Weise blockiert. Umgekehrt implizierte eine Auseinandersetzung mit dem Kaiserreich, die zur Akzeptanz der Weimarer Demokratie führte, eine zumindest ansatzweise kritische Reflexion der Reichsgründung und ihres Schöpfers Bismarck selbst. Prominente und Persönlichkeit und politisches Denken bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, Berlin/New York 1995, v. a. S. 308; ferner B. BRAUN, „Generation Ebert“ (wie Anm. 36), S. 74f (Zitat Ollenhauers aus dem Jahre 1931). 38 BERND FAULENBACH: Die Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1980.

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besonders prononcierte Beispiele hierfür sind selbstverständlich Friedrich Meinecke und vor allem Walter Goetz.39 Das vielleicht wichtigste Sprachrohr dieser Haltung, die stets auch eine entwicklungsgeschichtliche Notwendigkeit für die Republik von Weimar ins Feld führte, bildete die „Hilfe“.40 Wie man eine entsprechende Haltung einnehmen konnte, ohne sich allzu sehr auf die pluralistische Demokratie einzulassen, zeigt das Beispiel des Nationalliberalen, Neo-Rankeaners und Vernunftrepublikaners Hermann Oncken. Auch er skizzierte den Reichsgründer Bismarck teilweise in Farben, die vor dem trüben Hintergrund Wilhelms II. und des Ersten Weltkrieges umso heller leuchteten.41 Aber anders als viele seiner Kollegen begnügte sich Oncken nicht mit einer schlichten personalistischen Gegenüberstellung von Bismarck und Wilhelm II. Wenn er etwa 1919 die „Frage der Verantwortung“ aufwarf, so handelte es sich für ihn dabei „weniger um die persönliche Frage der Verantwortung, als um ihren sachlichen und institutionellen Kern”.42 Dass Wilhelm II. für die Geschichte des Kaiserreiches „so schicksalhaft bedeutsam geworden“ sei, hing für Oncken denn auch „mit dem Wesen dieser Schöpfung zusammen.”43 Diese zumindest andeutungsweise kritisch-distanzierte Haltung zur Geschichte des Bismarckreichs erlaubte es Oncken, auch der Weimarer Republik eine eigenständige historische Legitimation zu konzedieren; und indem er hiervon ausgehend an der Kontinuität der deutschen Geschichte festhielt, qualifizierte er sich als gefragter Festredner sowohl für die republikanischen Zwecke Weimars als auch für die Kommemoration der glorreichen Vergangenheit.44 Oncken forderte, die Deutschen müssten sich „zu dem Entschluss emporringen“, sowohl „Bismarck“ wie auch „Weimar“ gleichermaßen als Entwicklungsstufen des deutschen Nationalstaates zu „begreifen und objektiv zu würdigen“.45 39 Vgl. hierzu A. WIRSCHING: Demokratisches Denken in der Geschichtswissenschaft der Weimarer Republik (wie Anm. 12); zu Goetz auch WOLF VOLKER WEIGAND: Walter Wilhelm Goetz 1867–1958. Eine biographische Skizze über den Historiker, Politiker und Publizisten, Boppard a.Rh. 1992. 40 Siehe den Beitrag von THOMAS HERTFELDER, unten S. 30f. 41 Vgl. zur Entwicklung des Bismarck-Bildes bei Oncken unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs CHRISTOPH CORNELISSEN: Politische Historiker und deutsche Kultur. Die Schriften und Reden von Georg v. Below, Hermann Oncken und Gerhard Ritter im Ersten Weltkrieg, in: WOLFGANG J. MOMMSEN (Hg.): Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München 1996, S. 119–142, hier S. 134f. 42 HERMANN ONCKEN: Die inneren Ursachen der Revolution, in: Annalen für Soziale Politik und Gesetzgebung 6 (1919), S. 228–261, hier S. 231. 43 HERMANN ONCKEN: Das Deutsche Reich und die Vorgeschichte des Weltkrieges, 2 Bde., Leipzig 1933, S. 355. 44 HERMANN ONCKEN: Deutsche Vergangenheit und deutsche Zukunft. Rede bei der Reichsgründungsfeier der Universität München am 18. Januar 1926, in: DERS.: Nation und Geschichte. Reden und Aufsätze 1919–1935, Berlin 1935, S. 71–90, hier S. 83. 45 HERMANN ONCKEN: Bismarck und Weimar, in: BERNHARD HARMS (Hg.): Recht und Staat im Neuen Deutschland, Bd. I, Berlin 1929, S. 49–67, hier S. 49.

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Oncken war insofern ein gleichsam typischer bürgerlich-protestantischer Vernunftrepublikaner; er wollte der Republik ihre Anerkennung vor der Geschichte nicht versagen, auch wenn er ihr gegenüber politisch distanziert blieb.46 Gegenüber dem bürgerlich-liberalen Spektrum hatten es andere Akteure zweifellos leichter, das Vergangene und vor allem die Bismarck-Zeit im Lichte der Gegenwart kritisch zu reflektieren. Sozialdemokraten, Angehörige des politischen Katholizismus oder auch Repräsentanten der Wirtschaft besaßen Referenzgrößen, die über die Nation und ihr historisches Schicksal hinauswiesen.47 Ob sie nun weltanschaulich vom Marxismus oder von der katholischen Soziallehre herkamen oder ob sie eher ökonomisch-utilitaristisch dachten – die Weimarer Demokratie in diesen Bezugsrahmen einzuordnen und ihn zum legitimen Ausgangspunkt des eigenen Handelns zu machen, konnte als durchaus vernünftig erscheinen und auch dem Eigeninteresse förderlich sein. V. Vernunftrepublikanismus als politischer Funktionalismus? Dies führt abschließend zu der vielleicht wichtigsten Frage: Mit welchen politischen Inhalten und Absichten verband sich nämlich eine vernunftrepublikanische Haltung in der Weimarer Republik? Nicht zu bestreiten ist, dass keinem Vernunftrepublikaner, gleich ob bürgerlich-liberaler, katholischer oder sozialistischer Provenienz, ein klares Konzept von einer sozialen und parlamentarischen Demokratie zur Verfügung stand. Mehr noch: Eine kaum übersteigbare Grenze des Vernunftrepublikanismus lag im Demokratieverständnis vieler seiner Vertreter. Vor allem im Bildungsbürgertum und in der katholischen Soziallehre war die Auffassung weit verbreitet, das „Volk“ als Träger demokratischer Souveränität sei eine organische Einheit. In dieser höheren Einheit sollte die irreversible soziale Differenzierung als das Spezifikum der Moderne aufgehoben werden. Im Kern implizierte das eine antipluralistische Haltung, die der kardinalen Frage auswich, wie denn der empirisch-differenzierte Volkswille in einen demokratisch legitimierten Organwillen zu überführen sei. Dominant blieb demgegenüber eine ganz überwiegend funktionale Einstellung zur Republik. Die meisten der in diesem Band diskutierten Vernunftrepublikaner, wie z. B. auch die Gerichtsreporterin Gabriele Tergit, deren Ideenwelt Sylke Kirschnik beleuchtet,48 betrachteten die Weimarer Demokratie als die zum gegebenen Zeitpunkt bestmögliche Form politischer Verfas46 Ähnliches lässt sich von einer ganzen Reihe der in diesem Band skizzierten Repräsentanten sagen. Siehe z. B. den Beitrag von MARGIT SZÖLLÖSI-JANZE, unten S. 242f. (über Fritz Haber), von CHRISTOPH GUSY, unten S. 205f. (über Wilhelm Kahl), den Beitrag von SYLKE KIRSCHNICK, unten S. 315f. (über Gabriele Tergit) und von BEATRICE BONNIOT, unten S. 300ff. (über Carl Becker). 47 Siehe die Beiträge von RÜDIGER GRAF, ELKE SEEFRIED und WOLFRAM PYTA. 48 Siehe den Beitrag von SYLKE KIRSCHNICK.

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sung, nicht aber als den eigentlichen Inhalt der Politik. Weimar erschien als zumindest vorübergehend akzeptabler Modus faute de mieux, nicht aber als Ziel staatlich-politischer Entwicklung. Am eindeutigsten formulierte dies ein vernunftrepublikanischer Staatsrechtler wie Wilhelm Kahl: Aus der Weimarer Reichsverfassung sei das „Beste“ herauszuholen, allerdings könne sie nicht das Ziel, bestenfalls ein Weg zum Ziel sein: „Das schlechthin notwendige ist der Staat als solcher, nicht die Staatsform“.49 Paradigmatisch wird ein solcher funktionaler Grundzug des bürgerlichen Vernunftrepublikanismus bei den Autoren der „Hilfe“ deutlich. Wie Thomas Hertfelder in diesem Band ausführt, hatte Friedrich Naumann bereits die monarchische Staatsform mit einer funktionalen Begründung versehen. Erst wenn die Monarchie die an sie gerichteten Leistungserwartungen nicht mehr erfülle, schlage die Stunde der Republik: „Denn Republikanismus ist in Ländern mit monarchischer Gewöhnung die Verzweiflung an der Leistungskraft der Monarchie.“50 Dieser Analyse entsprach es, wenn der Kreis um die „Hilfe“ – nach Eintritt der Naumannschen Prognose – die Weimarer Republik primär unter dem Leistungsaspekt betrachtete. Sie war, wie Friedrich Meinecke in Anspielung an Adolphe Thiers’ bekanntes, auf die Dritte Republik gemünztes Wort formulierte, die Staatsform, „die uns am wenigsten trennt“; und deshalb sicherte sie für die durch den Weltkrieg traumatisierten Deutschen am nachhaltigsten die Einheit. Darüber hinaus gewährleistete die Republik vergleichsweise am besten die Rekrutierung der Eliten, des politischen „Führertums“; und schließlich war es die strukturelle Reformfähigkeit der Republik selbst, die ihre vernunftbegründete Akzeptanz nahe legte.51 Ein substantiell republikanisches Programm und eine entsprechende demokratische Praxis ergaben sich aus diesen Prioritäten freilich noch nicht. Es ist vielleicht bislang zu wenig gesehen worden, wie stark die Weimarer (links-)liberalen Vernunftrepublikaner mit diesem Funktionalismus den Vertretern des politischen Katholizismus ähnelten. Dies mag auf den ersten Blick insofern überraschen, als ja der aufgeklärte Begriff der Vernunft und der ihn begründende westlich-moderne Rationalismus im katholischen Lager suspekt waren. Aber wie Elke Seefried in ihrem Beitrag deutlich macht, entstammten vernunftrepublikanische Haltungen in der Zentrumspartei maßgeblich einer katholischen Staatsauffassung, welche aus einem naturrechtlich gewendeten Verständnis von Vernunft und einem positiven Staatsbegriff ein pragmatisches Verhältnis zur Staatsform ableitete. Dies erlaubte es der Zentrumspartei, im neuen Staat mitzuarbeiten und die parlamentarische Regierungsweise mit Leben 49 So Wilhelm Kahl 1926 in seinem Einführungsreferat zur Tagung des Weimarer Kreises, zit. im Beitrag von CHRISTOPH GUSY, unten S. 205. 50 FRIEDRICH NAUMANN: Demokratie und Kaisertum (1900), in: DERS.: Werke, Bd. II: Schriften zur Verfassungspolitik, hg. v. Theodor Schieder, Köln u. a. 1966, S. 267. 51 Siehe den Beitrag von THOMAS HERTFELDER, unten S. 39ff.

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zu erfüllen, die freilich stets mehr „Methode als Grundsatz“ darstellte.52 Wenn es das katholische Anliegen in erster Linie war, Gemeinschaft zu schaffen und eigene kulturpolitische Prioritäten zu verfolgen, so erfüllte die Weimarer Republik diesen Zweck zumindest vorübergehend am besten. Seefrieds Beitrag untermauert somit die Auffassung, dass auch das Zentrum primär ein aus Vernunft gespeistes, funktionales Verhältnis zur Republik pflegte. Ein solcher katholischer Vernunftrepublikanismus wies nicht wenige Parallelen zur bürgerlichliberalen Haltung auf. Er betrachtete die Republik als die aktuell einzige und damit zweckmäßigste politische Form für Inhalte, die für sich genommen keine demokratisch-parlamentarische Verfassungsbindung besitzen mussten. Umso mehr gilt dies für die Vertretung ökonomischer Interessen in der Weimarer Republik. Am Beispiel des Reichsverbandes der Deutschen Industrie unterstreicht Wolfram Pyta, in wie hohem Maße vernunftrepublikanische Erwägungen phasenweise die politische Einstellung und Tätigkeiten der Wirtschaftsverbände prägten. Anders freilich als die liberalen und katholischen Milieus orientierten sich die Verbände dabei an einem grundsätzlich pluralistischen Gesellschaftsmodell, innerhalb dessen die eigenen partikularen Interessen zur Geltung gebracht werden sollten. Entscheidend für die politische Nähe oder Ferne zum jeweiligen politischen System war für die Unternehmer daher die Frage, wie effizient sich ökonomische Prioritäten und die Maximen ökonomischer „Vernunft“ in politisches Handeln übersetzen und sich damit die gewünschte „Ökonomisierung der Politik“53 erzielen ließ. Die allmähliche Verschiebung der politischen Loyalitäten der Wirtschaftsverbände weg von der parlamentarisch fundierten Großen Koalition hin zu Brüning und in Teilen schließlich auch zu Papen und Hitler erscheint somit weniger als Ausfluss substantieller verfassungspolitischer Überzeugungen denn als Reflex einer höheren oder geringeren Fungibilität der Weimarer Republik für die ökonomische Interessenvertretung. Diese Betonung des funktionalistischen Charakters vernunftrepublikanischer Haltungen gewinnt noch einmal an Überzeugungskraft, wenn man an die von links kommenden Protagonisten denkt. Auch wenn sie bereit und in der Lage waren, Erfahrungswissen zu verarbeiten und sich von utopischen Zukunftsmodellen zu lösen, so blieben sie doch zumeist von sozialistischen Erwartungshaltungen geleitet, die über den Alltag der Weimarer Republik weit hinausreichten. Bis tief in die Sozialdemokratie verbreitete sich nach der Revolution von 1918/19 eine häufig durch Enttäuschung gespeiste Auffassung, welche die Weimarer Republik als „unvollkommenes Übergangsprodukt“ betrachtete, „das eines Tages in einer sozialistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung überwunden werden würde“.54 Auch im sozialdemokratischen 52 So formulierte es Joseph Joos im Jahre 1922. Siehe den Beitrag von ELKE SEEFRIED, unten S. 78. 53 Siehe den Beitrag von WOLFRAM PYTA, unten S. 91. 54 So RÜDIGER GRAF in seinem Beitrag, unten S. 154f.

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Lager konnte die Republik letztlich nur so lange das politische Mittel der Wahl sein, wie die Kluft zwischen zukunftsorientierter Erwartungshaltung und republikanischer Realpolitik nicht zu tief wurde. VI. Fazit Ein Großteil der hier versammelten Beiträge weist auf einen solchen Funktionalismus der als vernunftrepublikanisch zu klassifizierenden politischen Kräfte hin. Und vielleicht war es gerade dieser ihm innewohnende Funktionalismus, der den Vernunftrepublikanismus von innen heraus schwach und letztlich blutleer machte. Sollte er sich aber als tragfähiges Interpretament erweisen, so hätte dies in mehrfacher Hinsicht Folgen für die Begriffsbildung und darüber hinaus auch für unser Bild von der Weimarer Republik. Erstens käme es bei der Rede über den Vernunftrepublikanismus nicht primär darauf an, wer politisch was zu welchem Zeitpunkt dachte und welche Motive im Vordergrund standen. Dementsprechend würden auch binäre Interpretationsmodelle in die Irre führen, die sich auf das Verhältnis von Befürwortern und Gegnern der Republik konzentrieren. Entscheidend für das Verständnis des Vernunftrepublikanismus bzw. seine Etablierung als historische Kategorie wäre demgegenüber die Frage, welche und wie viele politische Kräfte die Weimarer Republik als fungibel im Sinne ihrer Interessen und Wertvorstellungen betrachteten. Stabilität und Instabilität der Republik stellten sich dann nicht als Variablen der demokratischen oder antidemokratischen Überzeugungen der Zeitgenossen dar. Vielmehr ergäben sie sich als Resultante des Maßes der Zufriedenheit mit ihrer Leistungsfähigkeit und Funktionalität. Die adäquate Frage lautete also nicht: War die Weimarer Republik eine Republik ohne Republikaner, sondern vielmehr: An welchem Punkt und aus welchen Gründen schien es für eine Mehrzahl der politischen Milieus und Interessengruppen nicht mehr zweckmäßig und nicht mehr vernünftig zu sein, sich am „schwierigen Spiel“55 des Weimarer Parlamentarismus zu beteiligen? Zweitens erweitert eine solche Problemformulierung den Blick auf die Gründe für die vieldiagnostizierte Schwäche der Vernunftrepublikaner. Denn ob diese zahlenmäßig tatsächlich in einer aussichtslosen Minderheitenposition verharrten, wie meist angenommen wird, ist zumindest dann fraglich, wenn man den Begriff im hier vorgeschlagenen Sinne weitet. Ihre Schwäche und letztlich mangelnde Durchschlagskraft ergab sich eher aus der Tatsache, dass sie sich zu früh und meist aus Enttäuschung von der Weimarer Verfassungswirklichkeit abwandten. Spätestens ab 1930 ging das Potential derer allzu stark zurück, die der Republik eine zumindest noch hinlängliche Funktionalität 55 Th. RAITHEL, Das schwierige Spiel(wie Anm. 1).

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zubilligten und sie daher als die zweckmäßigste aller Möglichkeiten erachteten. Dieser Rückzug bedeutete freilich zugleich einen Rückzug aus dem republikanischen System der Vernunft. Wer ihn antrat, verließ mithin einen Diskursraum, der Gemeinsamkeiten auch mit jenen erkennen ließ, die einem anderen politischen Lager entstammten oder sich in einem weiter entfernten sozio-kulturellen Milieu aufhielten. Was man aus einer späteren Perspektive die „Gemeinsamkeit der Demokraten“ nennen würde, konnte sich also in der Weimarer Republik nicht oder nicht lange genug entwickeln. Drittens hätte eine solche Gemeinsamkeit aber wohl ein Gesellschaftsbild vorausgesetzt, das die Pluralität der Interessen als legitime und notwendige Lebensäußerung moderner Demokratien akzeptierte. Ein solches Bild war indessen in Weimar nicht nur nicht konsensfähig, sondern wurde von ganz unterschiedlicher Seite vehement abgelehnt. Dieser Befund ist bekannt und wird durch mehrere Beiträge dieses Bandes erneut bestätigt. Die konservative Variante des entsprechenden Denkens mündete in die ideologische Konstruktion einer über den Parteien thronenden, gleichsam „unpolitischen Politik“.56 Die liberale Variante dieses Denkens hatte Friedrich Naumann der Weimarer Republik vererbt; sie wurde von einer ganzen Generation von bürgerlichen Vernunftrepublikanern weitergetragen, die zugleich fortfuhren, auf die Versöhnung der sozialen Klassen und Schichten im Gehäuse eines nationalen Machtstaates zu hoffen. In vergleichbarer Weise verband die katholische Variante dieses Denkens „vernünftige“ Pragmatik mit einem überzogenen Leitbild von gesellschaftlicher Geschlossenheit, das einer modernen Industriegesellschaft nicht adäquat war.57 Die marxistisch-sozialistische Variante schließlich analysierte Verfassung und Politik zwar von den materiellen Gegebenheiten der Gesellschaft her, hing aber allzu oft einem letztlich unfruchtbaren Klassenkampfschema an und drohte damit den für eine moderne Demokratie erforderlichen lebendigen Pluralismus zu verfehlen. Wenn aber Pluralismus nicht akzeptiert werden kann, dann verstellen die historisch unvermeidlichen Gegensätze den Blick auf die Gemeinsamkeiten. Eben dies war die Situation vieler Vernunftrepublikaner in der Weimarer Republik. Im Grunde verharrten zu viele von ihnen in einem, zugespitzt formuliert, vormodernen Verständnis von Staat, Gesellschaft und Politik. Dies trug entscheidend dazu bei, dass sie sich, zumal wenn sie unterschiedlichen soziokulturellen Milieus angehörten, so schwer taten, sich gegenseitig zu erkennen, miteinander zu kommunizieren und gemeinsame demokratische Nenner zu finden. Zu unterschiedlich waren ihre Bilder von der Gesellschaft, in der sie lebten.

56 RAIMUND VON DEM BUSSCHE: Konservatismus in der Weimarer Republik. Die Politisierung des Unpolitischen, Heidelberg 1998. 57 Siehe die Beiträge von THOMAS HERTFELDER und ELKE SEEFRIED, unten S. 40f., 45, 78f.

I. Netzwerke und Milieus

„Meteor aus einer anderen Welt“. Die Weimarer Republik in der Diskussion des Hilfe-Kreises Thomas Hertfelder I. Die „volkstümliche Staatsform“: Schwierigkeiten mit der Republik „Ich muß zugeben, daß ich republikanisch nicht zuverlässig bin, weil ich bis zu meinem 46. Lebensjahr überzeugter Anhänger der Monarchie gewesen bin, und zwar einer Monarchie im Sinne Naumanns. Diesen Makel trage ich und werde ich weiter tragen.“1 Mit diesem trotzigen Bekenntnis reagierte der republikanische Reichswehrminister Otto Geßler am 23. September 1923 in einer Sitzung des Parteiausschusses der DDP auf Kritik aus den Reihen seiner Partei. Schon zuvor hatte Geßler der Forderung nach einer „Republikanisierung“ der Reichswehr entgegengehalten, er könne seinen Offizieren unmöglich eine republikanische Überzeugung befehlen. Außerdem gehe es ihm in der Hauptsache gar nicht um die Republik, sondern um das Vaterland. Die Republik werde ihm erst dann zur „Herzenssache“, wenn sie „Kulturtaten“ vollbringe.2 War Otto Geßler ein „Vernunftrepublikaner“? Seinen Memoiren zufolge hatte er sich selbst im März 1920 bei der Übernahme seines Ministeramts gegenüber dem Reichspräsidenten Friedrich Ebert als „Vernunftrepublikaner“ bezeichnet, den ein „starkes Gefühl der Treue mit dem Hause Wittelsbach“ verbinde; die Republik indessen sei ihm durchaus keine „Herzenssache.“3 Die von Geßler immer wieder betonte Dichotomie von „Vernunft“ versus „Herz“ durchzieht den Republikdiskurs der Weimarer Linksliberalen wie ein roter Faden.4 Schon das Gründungsdokument des Vernunftrepublikanismus, Friedrich Meineckes Artikel über „Verfassung und Verwaltung der deutschen Republik“ vom Januar 1919, setzt an diesem Punkt an: „Ich bleibe, der Vergan1

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Sitzung des Parteiausschusses am 23. 9. 1923, in: Linksliberalismus in der Weimarer Republik. Die Führungsgremien der Deutschen Demokratischen Partei und der Deutschen Staatspartei 1918–1933, bearb. v. KONSTANZE WEGNER in Verbindung mit LOTHAR ALBERTIN, Düsseldorf 1980, S. 301. So auf der Sitzung des Parteivorstands am 25. 11. 1922, ebd., S. 281. OTTO GESSLER: Reichswehrpolitik in der Weimarer Zeit, Stuttgart 1958, S. 130. Vgl. z. B. HEINRICH MEYER-BENSEY: Demokratische Gesinnung, in: Die Hilfe Nr. 12 v. 15. 6. 1924, S. 190–194, hier S. 192: „Wir sind nicht Demokraten aus Verstandesgründen, sondern aus innerstem Gefühlsbedürfnis, aus reinem unbedingten Verlangen unserer Seele.“

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genheit zugewandt, Herzensmonarchist und werde, der Zukunft zugewandt, Vernunftrepublikaner.“ 5 So lautete der vielzitierte Kernsatz. Der Weg zurück, selbst wenn man ihn von Herzen wünscht, ist durch die Macht des Faktischen versperrt, und deshalb gebietet es eine pragmatische Vernunft, diesen Weg nicht beschreiten zu wollen. Auf diesem nüchternen Kalkül beruhte der Republikanismus Otto Geßlers – ein Republikverständnis faute de mieux. Diese Position mag zwar den Minimalnenner allen vernunftgeleiteten Sprechens über die Republik markieren, doch sie reicht nicht hin, um als „vernunftrepublikanisch“ zu gelten.6 Denn Geßlers Haltung zum Staat von Weimar lässt nicht den geringsten Ansatz einer positiven Bestimmung der Republik erkennen. Dies unterscheidet ihn von Meinecke, der die Republik in dem zitierten Aufsatz keineswegs nur als unumstößliche Tatsache akzeptierte, sondern ihre Legitimität mit historischen und funktionalen Argumenten zu begründen suchte.7 Der Historiker nämlich nahm die Republik keineswegs nur als bloßes Fait accompli hin, sondern er begründete sein aktives Eintreten für den neuen Staat mit den strukturellen Mängeln des Kaiserreichs, die erst die Republik überwunden habe. Meinecke zufolge hätte eine Restauration der Monarchie nicht nur erneut den Primat des Militärischen über die Politik zur Folge, sondern auch die Rückkehr zum „konservativen Klassenstaat“. Ganz anders die Republik: Sie sei „heute diejenige Staatsform, die uns am wenigsten trennt.“8 Und noch ein drittes Argument hielt der Historiker dem neuen Staat zugute: Die Demokratisierung Deutschlands sei durchaus kein Akt der Willkür der momentanen Machthaber, auch sei sie nicht von den Kriegsgegnern aufgezwungen, sondern sie entspreche vielmehr „einer innersten entwick5 6

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FRIEDRICH MEINECKE: Verfassung und Verwaltung der deutschen Republik, in: DERS.: Politische Schriften und Reden, hg. v. GEORG KOTOWSKI, Darmstadt 1958, S. 280–298, hier S. 281. Dass sich die Forschung in dieser Frage uneins ist, muss angesichts der Unschärfe des Begriffs „Vernunftrepublikanismus“ nicht verwundern. So sehen JÜRGEN C. HEß: „Das ganze Deutschland soll es sein“. Demokratischer Nationalismus in der Weimarer Republik am Beispiel der Deutschen Demokratischen Partei, Stuttgart 1978, S. 326, und WERNER SCHNEIDER: Die Deutsche Demokratische Partei in der Weimarer Republik 1924–1930, München 1978, S. 115f, in Geßler einen Vernunftrepublikaner, während HEINER MÖLLERS: Reichswehrminister Otto Geßler. Eine Studie zu ‚unpolitischer‘ Militärpolitik in der Weimarer Republik, Frankfurt u. a.1998, S. 373, dies „reichlich verfehlt“ findet. Zu Meineckes „Vernunftrepublikanismus“ vgl. HARM KLUETING: „Vernunftrepublikanismus“ und „Vertrauensdiktatur“. Friedrich Meinecke in der Weimarer Republik, in: Historische Zeitschrift 242 (1986), S. 69–98; GERHARD A. RITTER: Einleitung: Friedrich Meinecke und seine emigrierten Schüler, in: DERS. (Hg.): Friedrich Meinecke. Akademischer Lehrer und emigrierte Schüler. Briefe und Aufzeichnungen 1910–1977, München 2006, S. 13–111, hier S. 21f. F. MEINECKE, Verfassung (wie Anm. 5), S. 282. Meinecke spielt hier auf ein bekanntes Diktum von Adolphe Thiers an, s. den Beitrag von Béatrice Bonniot in diesem Band, S. 301.

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lungsgeschichtlichen Notwendigkeit“. Wenngleich die Republik als „Sturzgeburt“ ins Leben trat, so bleibt sie doch mit dem Öl der historischen Entwicklungslehre des Historisten Meinecke gesalbt.9 So zeichnen sich in Meineckes Argumentation Möglichkeiten einer vernünftigen Reflexion über die Republik ab, die – anders als bei Geßler – über deren bloße Anerkennung als eines Fait accompli hinausgehen. In seiner Selbstverteidigung vor dem Parteiausschuss hatte sich Geßler zu einer „Monarchie im Sinne Naumanns“ bekannt und damit seine wenn schon nicht republikanische, so doch immerhin demokratische Grundhaltung bekräftigt. Der ehemalige protestantische Pfarrer, Parteigründer und agile Publizist Friedrich Naumann hatte im Jahr 1900 in seiner einflussreichen Schrift „Demokratie und Kaisertum“ ein Plädoyer für die Monarchie abgelegt, das frei war von monarchischem Legitimismus, von Hohenzollern-Legenden und anderer Geschichtsromantik. Stattdessen hatte sich Naumann an einer funktionalen Begründung der monarchischen Staatsform in Deutschland versucht. Wie keine andere Macht in Staat und Gesellschaft sei der Kaiser dazu berufen, sich im Antagonismus fortschrittlicher und rückschrittlicher Klassen auf die Seite des industriekapitalistischen Fortschritts zu stellen, berufen also, den deutschen Industriestaat zu führen und seinen Schutz nach außen zu garantieren. In Naumanns Perspektive sind es gerade die modernen, dynamischen Verhältnisse des demokratischen Industriezeitalters, die dem Monarchen als Garant und Motor des Fortschritts eine neue Legitimität verleihen; er ist, so Naumann bündig, „die moderne Zentralperson“. Erfüllt aber die Monarchie die an sie gerichteten Leistungserwartungen nicht, dann greift der Republikanismus Platz, „denn Republikanismus ist in Ländern mit monarchischer Gewöhnung die Verzweiflung an der Leistungskraft der Monarchie“.10 Mit seiner Auffassung vom plebiszitären Volkskaisertum im modernen Industriestaat entsprach Naumann einer gegen Ende des 19. Jahrhunderts verbreiteten funktionalen Sicht der Monarchie, die in ihrem Vertrauen auf das Charisma des Monarchen durchaus auch mit starken affektiven Bindungen rechnete.11 Ein solcher Monarchismus musste folgerichtig in dem Augenblick in ein Plädoyer für die Republik umschlagen, in dem das Charisma des Kaisers ver9 Ebd., S. 296. 10 FRIEDRICH NAUMANN: Demokratie und Kaisertum. Ein Handbuch für innere Politik, Berlin-Schöneberg 21900, bes. S. 142, 159–174, Zitate S. 165, 169. Vgl. zu Naumann noch immer THEODOR HEUSS: Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit, Stuttgart/Berlin 1937; PETER THEINER: Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich Naumann im Wilhelminischen Deutschland, Baden-Baden 1983, hier bes. S. 63–70, sowie die Beiträge in RÜDIGER VOM BRUCH (Hg.): Friedrich Naumann in seiner Zeit, Berlin/New York 2000. 11 Vgl. ELISABETH FEHRENBACH: Wandlungen des deutschen Kaisergedankens (1871– 1918), München/Wien 1969, S. 200–220, hier bes. S. 209f; DIETER LANGEWIESCHE: Republik und Republikaner. Von der historischen Entwertung eines politischen Begriffs, Essen 1993, S. 25–29.

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schlissen war und er den ihm gestellten Anforderungen nicht mehr genügte. Dieser Fall war gegen Ende des Ersten Weltkriegs eingetreten: Als das Versagen der deutschen Monarchien im Krieg offenkundig geworden war, trat an ihre Stelle die Republik. In einem Vortrag vom 4. März 1919 zog Naumann selbst diese nüchterne Bilanz, um sodann die neue Staatsform in einem kaum zu unterbietenden Minimum an normativer Reflexion als Substitut der Monarchie einzuführen. Das „neue Prinzip“, so Naumann in der Stadtkirche zu Jena, bestehe nun in dem „einfachen demokratischen, republikanischen Gedanken, daß dasjenige richtig ist, wofür eine Mehrheit vorhanden ist. Anstelle des Monarchen setzt man die Mehrheit.“12 Hatte sich für die Demokraten des frühen 19. Jahrhunderts mit dem Begriff der Republik noch die emphatische Zukunftserwartung eines Lebens in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verbunden, so war sie nun zu einem funktionalen Äquivalent der gescheiterten Monarchie geworden. Naumanns Überlegungen hinterließen gleichsam ein normativ entkerntes und jedes utopischen Gehalts entkleidetes Republikverständnis, das besonders geeignet war, mit der Frustration über den Kriegsausgang eine nüchterne Verbindung einzugehen. Konnte Naumann auf ein ausgearbeitetes Konzept der demokratischen Republik zurückgreifen? Er konnte es nicht. Denn zu Zeiten des Kaiserreichs hatten bürgerliche Theoretiker wie Max Weber, Hugo Preuß und Gerhard Anschütz die Demokratie noch ganz im Rahmen der monarchischen Ordnung gedacht; Reflexionen, die über die rein staatsrechtliche Unterscheidung zwischen Monarchie und Republik hinausgingen, standen nicht auf der Tagesordnung des Demokratiediskurses.13 Einem politisch gehaltvollen Begriff der Republik hatte allenfalls Hugo Preuß mit seiner Formel vom „Volksstaat“, der an die Stelle des „Obrigkeitsstaats“ treten solle, vorgearbeitet. Mit diesem Postulat verband Preuß 1915 nicht nur die Aussicht auf eine Parlamentarisierung der Reichsleitung und die Demokratisierung des Wahlrechts in Preußen, sondern vielmehr einen grundlegenden Wandel im Verhältnis von Regierung, Staat und Gesellschaft: Den „Gegensatz von Obrigkeit und Untertan“ gelte es „nicht bloß verfassungstheoretisch, sondern praktisch-politisch“ aufzuheben. Preuß‘ Hoffnungen richteten sich dabei auf einen „innerlichen Erziehungsprozeß vollkommener Politisierung des Volkes“. Von „Republik“ war dabei natürlich nicht die Rede, wohl aber sprach der liberale Verfassungsrechtler vorsich12 FRIEDRICH NAUMANN: Demokratie als Staatsgrundlage. Vortrag, gehalten am 4. März 1919 in der Stadtkirche zu Jena, Berlin 1919, S. 5–8, hier S. 8. Auf dieses Substitutionsverhältnis weist aus staatsrechtlicher Sicht CHRISTOPH GUSY hin: Fragen an das „demokratische Denken“ in der Weimarer Republik, in: DERS. (Hg.): Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2001, S. 635–663, hier S. 649; Gusy sieht bei den „Weimarer Demokraten“ indessen eine Lösung von diesem Verständnis zugunsten einer eher pluralistischen, am empirischen Volkswillen orientierten Demokratiekonzeption. 13 Vgl. hierzu auch MARCUS LLANQUE: Demokratisches Denken im Krieg. Die deutsche Debatte im Ersten Weltkrieg, Berlin 2000, S. 64, 284 pass.

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tig von „res publica“.14 Naumann nahm 1917 im Zusammenhang mit der Frage der Parlamentarisierung noch eine vermittelnde Haltung zwischen „Volksstaat“ und „Obrigkeitsstaat“ ein, verteidigte die Institution der Monarchie in Deutschland und kritisierte demgegenüber „die Idee der Republik“, die auf der „Vorstellung von lauter unorganisierten Einzelnen“ beruhe;15 im Jahr darauf griff er die Formel vom „Volksstaat“ erneut auf, um sie nun auf die Verfassungsreformen vom Oktober 1918 anzuwenden: „Der deutsche Volksstaat taucht auf, die Masse verhandelt mit dem Kaiser, von wem sie regiert werden will; sie selbst fängt an, ihre Geschichte zu machen“; aus Anlass der Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung sprach er schließlich von der „volkstümlichen Staatsform der Republik“, dem „deutschen Volksstaat“ oder der „deutschen Demokratie“.16 Unter dem Schlagwort vom „Volksstaat“ beschwor auch das Parteiprogramm der DDP vom Dezember 1919 die „lebendige Einheit von Volk und Staat“, und noch die Verfasser des Manifests der Deutschen Staatspartei vom August 1930 hatten die Verwirklichung des „wahrhaft sozialen und nationalen Volksstaats“ vor Augen.17 Ein erstes Zwischenfazit: Dem Republikdiskurs der Weimarer Republik hinterließ der 1919 verstorbene Friedrich Naumann ein zwiespältiges Erbe. Denn einerseits gab seine funktionale Bestimmung von Demokratie und Kaisertum kaum Anhaltspunkte für eine normative Begründung der Republik. Andererseits konnte die Auseinandersetzung um die Legitimität und innere Ausgestaltung der Weimarer Republik an eine im späten Kaiserreich geführte Diskussion um Demokratie und Volksstaat anknüpfen; dabei erwies sich der Begriff des „Volksstaats“, wie ihn Hugo Preuß eingeführt hatte, als geeignet, republikanische Perspektiven zu einem Zeitpunkt zu diskutieren, als die Republik als Staatsform noch gar nicht auf der politischen Agenda stand. Naumann hat den Begriff des „Volksstaats“ nach dem Zusammenbruch der Monarchie republikanisch ausgedeutet und fortan weitgehend synonym mit den Begriffen „Republik“ und „deutsche Demokratie“ verwendet; zu einer Ausformulierung genuin republikanischer Positionen fehlten ihm indessen Kraft 14 HUGO PREUß: Das deutsche Volk und die Politik, Jena 1915, S. 164, 192, 187, 196. Vgl. auch STEFFEN BRUENDEL: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003, S. 104–110, 240–258; M. LLANQUE, Denken (wie Anm. 13), S. 68–88, 169–172. 15 FRIEDRICH NAUMANN: Der Kaiser im Volksstaat, Berlin-Schöneberg 1917, S. 22; vgl. hierzu M. LLANQUE, Denken (wie Anm. 13), S. 233–237. 16 FRIEDRICH NAUMANN: Der Volksstaat kommt!, in: Die Hilfe Nr. 41 v. 10. 10. 1918, S. 480f, hier S. 481; DERS.: Deutsche Demokratie, in: Die Hilfe Nr. 32 v. 7. 8. 1919, S. 418f, hier S. 418; vgl. WILHELM HEILE: Deutsche Demokratie, in: Die Hilfe Nr. 51 v. 19. 12. 1918, S. 613–615, hier S. 614. 17 Programm der DDP, beschlossen auf dem Leipziger Parteitag vom 13.–15.12.1919, in: WILHELM MOMMSEN: Deutsche Parteiprogramme, München 21960, S. 508–514, hier S. 509; Manifest der Deutschen Staatspartei v. 22. 8. 1930, ebd., S. 514–519, hier S. 515.

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und Lebenszeit. Programmatisch und intellektuell waren die bürgerlichen Demokraten um Naumann somit unzureichend gewappnet, als die Republik 1918/19 ins Leben trat.18 Dieses Defizit hat Anton Erkelenz, Vorstandsvorsitzender der DDP und Mitherausgeber der Zeitschrift „Die Hilfe“, 1924 in einer Rede zur Verfassungsfeier der Stadt Düsseldorf unumwunden eingeräumt: „Theoretisch und praktisch“ sei die Republik „bei uns überhaupt nicht vorbereitet“ gewesen. „Sie war nie ernsthaftes Kampfobjekt. Sie fiel gewissermaßen wie ein Meteor aus einer anderen Welt vom Himmel, weil nichts anderes mehr da war.“19 II. „Für Volk, Reich und Republik“: der Hilfe-Kreis in der Weimarer Republik Mit Friedrich Naumanns Tod im August 1919 war das integrierende Zentrum jenes Kreises vorwiegend protestantischer Akademiker entfallen, die sich in den zwei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg um den charismatischen Pfarrer geschart hatten, um dessen Vorstellungen eines historischen Klassenbündnisses zwischen fortschrittlichem Bürgertum und Industriearbeiterschaft zu unterstützen. Die Kontinuitäten des Naumann-Kreises lassen sich über die doppelte Zäsur des Jahres 1919 hinweg in wenigen Linien nachzeichnen: Im Vorsitz der DDP folgte auf Naumann 1919 der ihm nahestehende Hamburger Senator und spätere Oberbürgermeister Carl Petersen nach, während die Herausgeberschaft der von Naumann begründeten und herausgegebenen Wochenschrift „Die Hilfe“ 1920 von den bisherigen leitenden Redakteuren Gertrud Bäumer und Wilhelm Heile gemeinsam übernommen wurde; 1923 löste der Gewerkschafter Anton Erkelenz, bereits im Kaiserreich Mitarbeiter der „Hilfe“, Heile in der Mitherausgeberschaft ab.20 „Die Hilfe“ sah sich weiterhin 18 Vgl. hierzu THOMAS RAITHEL: Funktionsstörungen des Weimarer Parlamentarismus, in: MORITZ FÖLLMER / RÜDIGER GRAF (Hg.): Die „Krise“ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt/New York 2005, S. 243–266. 19 ANTON ERKELENZ: Rede zur Verfassungsfeier der Stadt Düsseldorf am 11. August 1924, in: DERS.: Junge Demokratie. Reden und Schriften politischen Inhalts, Berlin 1925, S. 81–91, hier S. 88, 86. Ähnlich RUDOLF STOCKHAUSEN: Liberale oder soziale Demokratie?, in: Die Hilfe Nr. 17 v. 1. 9. 1925, S. 363–365. 20 Am 16. 8. 1930 schied Erkelenz nach seinem Übertritt zur SPD als Herausgeber aus, so dass Bäumer die Alleinherausgeberschaft wahrnahm, die am 30. 7. 1932 auf Walter Goetz überging. Im Januar 1933 fand sich mit Walter Goetz, Fritz Hermann, Theodor Heuss und Gertrud Bäumer kurzzeitig ein Herausgeberquartett zusammen; zu Erkelenz vgl. jetzt AXEL KELLMANN: Anton Erkelenz. Ein Sozialliberaler im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Münster 2007 (im Druck); zur „Hilfe“ im Nationalsozialismus vgl. JÜRGEN FRÖLICH: „Die Umformung des deutschen Seins erlaubt keine passive Resignation.“ Die Zeitschrift „Die Hilfe“ im Nationalsozialismus, in: CHRISTOPH STUDT (Hg.): „Diener des Staates“ oder „Widerstand zwischen den Zeilen“? Die Rolle der Presse im „Dritten Reich“, Münster 2007, S. 115–129.

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dem Geist ihres Gründers verpflichtet und blieb das wichtigste Diskussionsforum seiner ehemaligen Anhängerschaft. Eng verwoben in den NaumannKreis war auch die auf eine Initiative Naumanns zurückgehende, 1920 gegründete Deutsche Hochschule für Politik.21 Ihre Leitung oblag Ernst Jäckh, der vor dem Krieg die Heilbronner „Neckar-Zeitung“ als Chefredakteur auf Naumann-Kurs gebracht hatte, 1912 Geschäftsführer des Deutschen Werkbundes in Berlin geworden war und diese Position im Januar 1918 an Theodor Heuss, einen der engsten Mitarbeiter Naumanns, abgegeben hatte. Hier wird in Umrissen jenes Geflecht von Institutionen erkennbar, das über Mehrfachfunktionen und -mitgliedschaften der Naumann-Anhänger geknüpft wurde und in anderen Konstellationen bereits im Kaiserreich für die bemerkenswerte öffentliche Wirksamkeit des Naumann-Kreises gesorgt hatte. Gertrud Bäumer ist hierfür ein gutes Beispiel: Sie arbeitete seit 1920 als Ministerialrätin im Reichsministerium des Innern, nahm im Deutschen Reichstag von 1919 bis 1932 für die DDP bzw. Deutsche Staatspartei ein Mandat wahr, bekleidete den stellvertretenden Vorsitz im Bund Deutscher Frauenvereine, betätigte sich als Mitherausgeberin bei der „Hilfe“ und lehrte als Dozentin an der Deutschen Hochschule für Politik.22 In ähnlicher Weise wirkte Theodor Heuss als Bindeglied zwischen Institutionen, die dem Naumann-Kreis verbunden waren: Seit 1918 war er Geschäftsführer des Deutschen Werkbunds und zugleich Studienleiter und Dozent an der Deutschen Hochschule für Politik, nebenbei Chefredakteur zweier politischer Zeitschriften und seit Mai 1924 Reichstagsabgeordneter der DDP bzw. Staatspartei.23 Das oben genannte Personal, insbesondere Bäumer, Heuss und Jäckh, zählte seit Jahren zum engeren Naumann-Kreis und 21 Noch während des Weltkrieges hatte Naumann 1918 in Berlin die „Staatsbürgerschule“ mit seinem Mitarbeiter Wilhelm Heile als Rektor ins Leben gerufen; sie wurde 1920 als private, vom Staatssekretär im preußischen Kultusministerium Carl Heinrich Becker sowie dem Industriellen Robert Bosch unterstützte „Deutsche Hochschule für Politik“ wiederbegründet; eine maßgebliche Rolle spielten dabei die Naumann-Schüler Ernst Jäckh, Wilhelm Heile und Theodor Heuss. Zur Deutschen Hochschule für Politik vgl. T. HEUSS, Naumann (wie Anm. 10), S. 538–542; ANTONIO MISSIROLI: Die Deutsche Hochschule für Politik, Sankt Augustin 1988; ERICH NICKEL: Politik und Politikwissenschaft in der Weimarer Republik, Berlin 2004; DETLEF LEHNERT: „Schule der Demokratie“ oder „politische Fachhochschule“? Anspruch und Wirklichkeit einer praxisorientierten Ausbildung der Deutschen Hochschule für Politik, in: GERHARD GÖHLER / BODO ZEUNER (Hg.): Kontinuitäten und Brüche in der deutschen Politikwissenschaft, Baden-Baden 1991, S. 65–93; NORBERT FRIEDRICH: Friedrich Naumann und die politische Bildung, in: R. VOM BRUCH, Naumann (wie Anm. 10), S. 345–360; eine wissenschaftliche Biographie Ernst Jäckhs steht noch aus. Zu Carl Heinrich Becker siehe den Beitrag von Béatrice Bonniot in diesem Band. 22 Vgl. auch ANGELIKA SCHASER: Helene Lange und Gertrud Bäumer. Eine politische Lebensgemeinschaft, Köln/Weimar/Wien 2000, S. 248–257. 23 Zu Heuss in der Weimarer Republik vgl. als Überblick T HOMAS HERTFELDER / CHRISTIANE KETTERLE: Theodor Heuss. Publizist – Politiker – Präsident, Stuttgart 2003, S. 77–103; detailliert JÜRGEN C. HEß: Theodor Heuss vor 1933. Ein Beitrag zur Geschich-

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gehörte jener langen Gründerzeitgeneration der zwischen Reichsgründung und der Mitte der 1880er Jahre Geborenen an.24 Die Vertreter dieser zweiten Generation des Naumann-Kreises hatten ihre politische Sozialisation im späten Kaiserreich erfahren und sich um die Jahrhundertwende innerhalb des Naumann-Kreises als die „Jungen“ definiert.25 In der DDP war der Einfluss der Naumann-Gruppe beträchtlich; sie reklamierte die intellektuelle Meinungsführerschaft in der Partei,26 stellte mit Naumann, Petersen und Erich Koch-Weser bis 1930 den Parteivorsitz und bildete zwischen dem „rechten“ Industrie- und Mittelstandsflügel einerseits und dem „linken“ Flügel der Pazifisten und Gewerkschaftler andererseits ein wichtiges Bindeglied.27 Trotz der gemeinsamen Bindung an den verstorbenen Parteiführer und des vielfach bekundeten Willens, dessen politisches Erbe in die Republik hinüberzuretten, lassen sich die Naumannianer jedoch kaum als politische Fraktion innerhalb der DDP bezeichnen. Bei den zahlreichen innerparteilichen Kontroversen zogen sie nicht immer an einem Strang, sondern fanden sich in unterschiedlichen Konstellationen sowohl auf dem rechten wie auf dem linken Flügel der Partei wieder.28 Noch weniger lässt sich der Kreis mit dem für die Weimar-Forschung jüngst wieder aufgewerteten Begriff des Milieus fassen; vielmehr könnte man von einem Netzwerk mit offenen Rändern sprechen.29

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te des demokratischen Denkens in Deutschland, Stuttgart 1973; M ODRIS EKSTEINS: Theodor Heuss und die Weimarer Republik, Stuttgart 1969. Petersen (1868–1933); Bäumer (1873–1954); Heile (1881–1969); Erkelenz (1878–1945); Heuss (1884–1963). Zur Überlagerung der politischen Generationen in der Weimarer Republik vgl. DETLEF J.K. PEUKERT: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Moderne, Frankfurt 1987, S. 25–31. Vgl. z. B. THEODOR HEUSS: Vorspiele des Lebens, Tübingen 1953, S. 215: „Mit einigen jungen Leuten, die da waren, fühlte ich mich einer zweiten Generation der Bewegung zugehörig“; vgl. auch URSULA KREY: Von der Religion zur Politik. Der Naumann-Kreis zwischen Protestantismus und Liberalismus, in: OLAF BLASCHKE / FRANK-MICHAEL KUHLEMANN (Hg.): Religion im Kaiserreich. Milieus – Mentalitäten – Krisen, Gütersloh 1996, S. 350–381, hier S. 358. Vgl. BRUCE B. FRYE: Liberal Democrats in the Weimar Republic. The History of the German Democratic Party and the German State Party, Carbondale/Edwardsville 1985, S. 88–92; sowie zeitgenössisch ANTON ERKELENZ: Wie die deutsche Republik wurde. Acht Jahre demokratischer Arbeit, in: Die Hilfe Nr. 19 v. 19. 10. 1926, S. 396–399, hier S. 397. Vgl. W. SCHNEIDER, Deutsche Demokratische Partei (wie Anm. 6), S. 64f. So KONSTANZE WEGNER: Linksliberalismus im wilhelminischen Deutschland und in der Weimarer Republik, in: Geschichte und Gesellschaft 4 (1978), S. 120–137, hier 131. Als religiös-weltanschauliche Klammer reichte der Protestantismus nicht hin, um die Lebenstotalität der Mitglieder des Naumann-Kreises zu imprägnieren; die überwiegend, aber nicht ausnahmslos akademische Bildung und städtische Lebensform schufen keine ausreichend kohärente Vergemeinschaftung; die massen- oder subkulturelle Verankerung fehlte ebenso wie die Zusammenfassung in weltanschaulich exklusiven Organisationen. Vor allem aber war es das dezidierte Ziel der Naumannianer, bestehende Milieuschranken

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Auch in der Weimarer Republik blieb die „Hilfe“ das wichtigste Kommunikationsorgan der Naumann-Anhänger, sofern sie sich noch dem Linksliberalismus zurechneten. Personell wie politisch war das Blatt – etwa über ihre Herausgeber Gertrud Bäumer, Wilhelm Heile, Anton Erkelenz und Walter Goetz30 – der DDP eng verbunden, ohne je als Parteiorgan zu gelten. Vielmehr verschrieb sich die „Hilfe“ programmatisch demokratischen Grundwerten, der „Freiheit und Verantwortung des Einzelnen“ in ihrer „lebendigen Bindung an das Ganze“, und sie erteilte revolutionärer Politik von rechts wie links eine Absage.31 Ihre Vorkriegsauflage (1910: ca. 15000) konnte die Zeitschrift während der Weimarer Zeit nicht annähernd halten: 1929 kam sie noch auf 8000 Exemplare und kämpfte verzweifelt um ihre Abonnenten; wenn für 1933 eine Auflage von nur noch 1000 Exemplaren genannt wird, so ist anzunehmen, dass der Abonnentenschwund schon vorher im Zuge des allgemeinen Niedergangs des Linksliberalismus eingesetzt hatte.32 Trotz sinkender Auflagenzahl und damit einhergehender Minderung der publizistischen Reichweite blieb die „Hilfe“ das prominenteste Sprachrohr und Selbstverständigungsorgan des Weimarer Linksliberalismus. Unter ihren Autoren findet man zahlreiche Vertreter der politischen und kulturellen Elite der Weimarer Republik, sofern sie der DDP nahe standen und die demokratische Republik unterstützten. Dazu zählten etwa die Reichsminister Erich Koch-Weser, Georg Gothein und Willy Hellpach, Journalisten wie Wilhelm Cohnstaedt und Theodor Heuss sowie Gelehrte wie Ernst Troeltsch, Wilhelm Mommsen, Walter Goetz, Hedwig Hintze, Erich Eyck und Carl-Georg Heise. Die Redakteure und ständigen Mitarbeiter der „Hilfe“ verstanden sich als ein Kreis, der die Zukunftsgewissheit programmatisch auf seine Fahnen schrieb: „Aber wir im ‚Hilfekreise‘ wollen und müssen der Krisaufzubrechen zugunsten eines allgemeinen Staatsbürgerbewusstseins. Zur Milieuforschung vgl. z. B. FRANZ WALTER / HELGE MATTHIESEN: Milieus in der modernen deutschen Gesellschaftsgeschichte. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung, in: DETLEF SCHMIECHEN-ACKERMANN (Hg.): Anpassung, Verweigerung, Widerstand. Soziale Milieus, Politische Kultur und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Deutschland im regionalen Vergleich, Berlin 1997, S. 46–75; PETER LÖSCHE / FRANZ WALTER: Katholiken, Konservative und Liberale: Milieus und Lebenswelten bürgerlicher Parteien in Deutschland während des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), S. 471–492; zum Naumann-Kreis als „personenzentriertem Milieu“ im Kaiserreich vgl. U. KREY, Religion (wie Anm. 25). 30 Zu den wechselnden Herausgebern s. oben Anm. 20. 31 GERTRUD BÄUMER: Hilfe-Kreis, in: Die Hilfe Nr. 25 v. 18. 6. 1932, S. 577; ANONYMUS [WALTER GOETZ]: Die Frage des 31. Juli, in: Die Hilfe Nr. 31 v. 30. 7. 1931, S. 721: „Unsere Zeitschrift hat die geschichtliche Bestimmung, Brücke zu sein, um das Erkämpfte mit dem Werdenden sinnvoll zu verbinden“. 32 Vgl. REINER BURGER: Theodor Heuss als Journalist. Beobachter und Interpret von vier Epochen deutscher Geschichte, Münster/Hamburg/London 1998, S. 294–297. Auch Format, Umfang und Frequenz wechselten mehrfach: Bis 1923 sowie 1930 bis 1933 erschien die „Hilfe“ wöchentlich; zwischen 1923 und 1930 sowie nach 1933 nur noch als Halbmonatsschrift.

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tallisationskern sein für den neuen Glauben an die neue Zukunft. Das alte Wort: In diesem Zeichen wirst du siegen, gilt heute für Deutschland, für Volk, Reich und Republik. In diesem Zeichen wollen wir siegen.“33 Die Diskussion, die von den Herausgebern, Redakteuren und Autoren der „Hilfe“ über die Legitimität der Republik von Weimar geführt wurde, unterlag fünf strukturellen Bedingungen:34 Da die DDP als Verfassungs- und Regierungspartei par excellence bis 1932 an der Regierungsverantwortung im Reich stets mit mindestens einem Minister beteiligt war,35 blieb der Hilfe-Kreis erstens wie kaum ein anderer intellektueller Zirkel der Republik auf den staatspolitischen Status quo fixiert; dies drängte den Kreis, vor allem angesichts der vielen Krisen der Republik, in eine gewisse argumentative Defensive. Die Defensivsituation wurde zweitens verstärkt durch eine dramatische Erosion der Wählerbasis und Mitglieder der Partei, die sich auch in den stark rückläufigen Auflagenzahlen der „Hilfe“ spiegelte. Dabei wurde der politische Bedeutungsschwund der Demokraten bis 1930 in einem nach außen demonstrierten Zukunftsoptimismus oftmals kompensatorisch überspielt. Drittens bestand zwischen dem programmatischem Anspruch der DDP, als klassenverbindende Partei die politischen Interessen des ganzen Volkes zu vertreten, und der sozialen Zusammensetzung ihres überwiegend akademischen Führungspersonals ein augenfälliges Missverhältnis, das auch parteiintern moniert wurde.36 Im 33 ANTON ERKELENZ: Im Zeichen der Einheit werden wir siegen!, in: Die Hilfe Nr. 22 v. 15. 11. 1923. S. 384f, hier 385; vgl. auch G. BÄUMER, Hilfe-Kreis (wie Anm. 31). 34 Vgl. zum Folgenden vor allem die einschlägige Forschung zur DDP und Staatspartei: LOTHAR ALBERTIN: Liberalismus und Demokratie am Anfang der Weimarer Republik. Eine vergleichende Analyse der Deutschen Demokratischen Partei und der Deutschen Volkspartei, Düsseldorf, 1972; WERNER STEPHAN: Aufstieg und Verfall des Linksliberalismus 1918–1933. Geschichte der Deutschen Demokratischen Partei, Göttingen 1973 (zu den internen Konflikten z. B. S. 326–350); HARTMUT SCHUSTEREIT: Linksliberalismus und Sozialdemokratie in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1975; W. Schneider, Deutsche Demokratische Partei (wie Anm. 6); B. Frye, Democrats (wie Anm. 26); JÜRGEN C. HEß: Die Desintegration des Liberalismus in der Weimarer Republik, in: HANS VORLÄNDER (Hg.): Verfall oder Renaissance des Liberalismus?, München 1987, S. 91–116; LARRY EUGENE JONES: German Liberalism and the Dissolution of the Weimar Party System, 1918–1933, Chapel Hill 1988; zusammenfassend DIETER LANGEWIESCHE: Liberalismus in Deutschland, Frankfurt 1988, S. 233–286; STEFAN GRÜNER: Zwischen Einheitssehnsucht und pluralistischer Massendemokratie. Zum Parteien- und Demokratieverständnis im deutschen und französischen Liberalismus der Zwischenkriegszeit, in: HORST MÖLLER / MANFRED KITTEL (Hg.): Demokratie in Deutschland und Frankreich 1918–1933. Beiträge zu einem historischen Vergleich, München 2002, S. 219–247. 35 Mit der Einschränkung, dass die Partei gegen das erste Kabinett Luther und das vierte Kabinett Marx in der Opposition stand, mit Otto Geßler als „Fachminister“ gleichwohl an der Regierung beteiligt war, vgl. auch H. Schustereit, Linksliberalismus (wie Anm. 34), S. 226. 36 Vgl. H. SCHUSTEREIT, Linksliberalismus (wie Anm. 34), S. 190–193; so bestand z. B. mehr als die Hälfte der DDP-Abgeordneten der Nationalversammlung aus Akademikern, vgl. L. ALBERTIN, Liberalismus (wie Anm. 34), S. 145–158.

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Hilfe-Kreis begegnet man somit dem wissenssoziologisch vertrauten Befund, dass eine intellektuelle Elite die Sprecherrolle für die gesamte Gesellschaft beansprucht. Im Zusammenhang mit der überwiegend, aber nicht durchgehend akademischen Sozialisation der Hilfe-Autoren37 steht viertens ein neoidealistischer und historistischer „Denkstil“, der die Argumentationsmuster des Republikdiskurses bestimmt hat.38 Fünftens schließlich eröffnete die relativ undogmatische Programmatik der DDP argumentative Freiräume, die auch in der Diskussion um die Legitimität der Republik genutzt werden konnten. III. Die „kräftesammelnde Demokratie“: zur funktionalen Legitimation der Republik Der Erwartungsdruck, unter den die junge Republik als unglückliche Erbin der Monarchie geriet, richtete sich zuerst auf die Lösung des sogenannten „Führerproblems“, die Frage also nach der Rekrutierung politischer Eliten. Hier befand sich die Diskussion im Hilfe-Kreis auf der Höhe der zeitgenössischen bürgerlichen Demokratietheorie, wie sie etwa von Max Weber noch im späten Kaiserreich formuliert und in der Weimarer Republik von Hans Kelsen weiterentwickelt wurde. „Gerade das aber“, so Kelsen im Anschluss an Weber, „kann man der Demokratie nachrühmen, daß sie das bestmögliche Selektionsprinzip garantiert“, weil sie die „Führerauslese“ auf der „größtmöglichen Basis“ betreibe und weil diese Auslese in einem „öffentlichen Wettbewerb“ erfolge, in dem nur „wirkliche Führerqualitäten“ zählten.39 Dieser Grundgedanke wurde im Hilfe-Kreis, manchmal unter Verweis auf die politischen Systeme der siegreichen Westmächte,40 mit unterschiedlichen Akzentuierungen vorgetragen. So stellte Gertrud Bäumer die Idee einer Leistungsund Funktionselite in den Mittelpunkt, indem sie eine „demokratische Aristokratie der Auslese“ forderte, „die den Fähigen, aber auch nur den und nur nach Maßgabe seiner Leistungen dorthin stellt, wo er wirken kann.“41 Gustav Stolper, der Wirtschaftsexperte der DDP, sah in der demokratischen Auslese eine Analogie zu den Prinzipien des freien Unternehmertums in einer kapitalisti37 Als prominente Ausnahme wäre etwa der gelernte Schlosser Anton Erkelenz zu nennen. 38 Zum Begriff des „Denkstils“ vgl. THOMAS ETZEMÜLLER: Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, München 2001, S. 6f, 268–309. 39 Vgl. HANS KELSEN: Vom Wesen und Wert der Demokratie, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 47 (1920/21), S. 50–85, hier S. 76. Zugleich sah Kelsen diesen praktischen Vorzug der Demokratie als Widerspruch zur ihrer „Idee“: „Denn Demokratie ist das Ideal der Führerlosigkeit“. 40 HEINRICH MEYER-BENSEY: Demokratische Gesinnung, in: Die Hilfe Nr. 12 v. 15. 6. 1924, S. 190–194, hier S. 193. 41 GERTRUD BÄUMER: Demokratie und Kultur, in: Die Hilfe Nr. 18 v. 29. 4. 1920, S. 264– 268, hier S. 266.

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schen Wirtschaftsordnung.42 Theodor Heuss hingegen betonte die pädagogische Dimension demokratischer Verfahren: „Die Selbstverwaltung in dieser, in jener Form ist die Führerschule der Nation.“ Denn die Institution der Selbstverwaltung eröffne jedem einzelnen die Chance, „Menschen und Dinge“ kennenzulernen, Erfahrungen zu sammeln und Entscheidungen zu treffen. Erziehung zur Verantwortung, „Erweckung des Gemeinsinns“ und Leistungsauslese greifen somit ineinander und setzen einen Prozess der Elitenzirkulation in Gang.43 Das Elitenargument gehört im Demokratiediskurs der Weimarer Demokraten zu den profiliertesten, und es durfte als empirisch und logisch besonders überzeugend gelten. Als sich indessen abzeichnete, dass die Realität der republikanischen Elitenrekrutierung hinter den Erwartungen zurückblieb, geriet ihre anfangs so nüchterne Begründungsformel ins Zwielicht politischer Irrationalismen. So versuchte Gertrud Bäumer 1928 das Verhältnis von „Führer“ und „Gefolgschaft“ über Momente der „Magie“, des „Eros“ und des „wertschaffenden Aktes“ zu bestimmen, und Erich Koch-Weser gründete 1932 auf den Reichspräsidenten die Hoffnung, dass über den plebiszitär gewählten „Führer“ „aus dem Volk der Vielheit das Volk der Einheit“ werde.44 Mit der hochabstrakten Kategorie der Einheit ist ein zweiter Zentralbegriff des Republikdiskurses im Hilfe-Kreis benannt. Wie das Elitenargument bezog auch das Einheitsargument seine Überzeugungskraft aus der Erfahrung der mangelhaften Integration von Staat und Volk im Kaiserreich, und zwar vor allem im Kontrast zu England, Frankreich und den Vereinigten Staaten. In diesem Sinne argumentierte Wilhelm Heile, indem er von den Westmächten im Weltkrieg ein idealisiertes Bild zeichnete. Die alliierten Regierungen hätten sich auf Parlamentsmehrheiten stützen können, die vom „einheitlichen Willen“ und „freiem stolzen Bürgersinn“ erfüllt und daher in der Lage gewesen seien, die Kräfte der Nation zu bündeln. Die „scheinbar so kraftstrotzenden Monarchien Mitteleuropas und Rußlands“ hingegen seien um so schneller zusammengebrochen, „je geringer ihre Entwicklung zur kräftesammelnden Demokratie fortgeschritten war“.45 Der Weltkrieg wurde somit zum empirischen Argument für die besondere Integrationskraft der Demokratie.46 42 GUSTAV STOLPER: Die wirtschaftlich-soziale Weltanschauung der Demokratie, in: Die Hilfe Nr. 20 v. 15. 10. 1929, S. 489. Hier deutet sich schon Joseph A. Schumpeters Theorie der wettbewerblichen Führerdemokratie an. 43 THEODOR HEUSS: Staat und Volk. Betrachtungen über Wirtschaft, Politik und Kultur, Berlin 1926, S. 145f. Heuss spricht von einem „sozialen Kreislauf“. 44 GERTRUD BÄUMER: Das Führerproblem, in: Die Hilfe Nr. 24 v. 15. 12. 1928, S. 561–563, hier S. 562; ERICH KOCH-WESER: Zum Führerproblem, in: Die Hilfe Nr. 15 v. 9. 4. 1932, S. 337–339, hier S. 339; 45 WILHELM HEILE: Die Politik der deutschen Demokratie, in: Die Hilfe Nr. 51 v. 18. 12. 1919, S. 722–724, hier S. 723. 46 Dieses Argument spielte bereits während des Weltkriegs in der Debatte zwischen Otto

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Nach den Erfahrungen im Kaiserreich galt die demokratische Republik folglich als Königsweg zur „inneren Einheit“ der Nation.47 Als Medium der Integration schwebte dem Hilfe-Kreis indessen nicht primär die über demokratische Verfahren geregelte Austragung von Konflikten vor – ein Argument, das wohl erst liberale Demokratietheorien nach 1945 stark gemacht haben. Im Mittelpunkt des Integrationsarguments stand vielmehr die Nation als Bezugsgröße. Diesem „demokratischen Nationalismus“ (Jürgen C. Heß) begegnet man in DDP und Naumann-Kreis auf dem linken wie dem rechten Flügel.48 Die beiden zentralen, immer wieder aufgegriffenen Argumente lauteten, dass zum einen nur die Demokratie die Einheit der Nation sichern könne49 und jede antirepublikanische Agitation folglich der deutschen Nation schade. Zum andern sei nur der demokratische Staat, der die Bürger an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten beteilige, in der Lage, die „sittliche Energie“ der Bürger zu mobilisieren und als „unermeßlichen Kraftzuwachs“ zu verbuchen.50 Dieses partizipatorische Moment unterscheidet den demokratischen Nationalismus des Hilfe-Kreises vom Nationalismus der Rechtsparteien, denen der Hilfe-Kreis das „gesunde Nationalgefühl“ nicht als „Patent“ überlassen mochte.51 Auf der Ebene funktionaler Begründungsmuster entwickelte Gertrud Bäumer in ihrer Schrift über die „Grundlagen der Demokratie“ 1928 das Argument der strukturellen Reformfähigkeit der demokratischen Republik: „Die Kriterien der Demokratie liegen nicht in der Richtigkeit der Entscheidungen, die sie zustande bringt, sondern in der Verantwortung der Entscheidungen und in der Entwicklung der Einsichten und Kräfte, die dadurch entstehen, daß ein Volk die Folgen seiner Fehler nicht abladen kann, sondern sich von ihnen korrigieren und erziehen lassen muß.“ Im Unterschied zu autoritären Systemen verfügt die Demokratie über die Fähigkeit zur Selbstkritik und damit zur Reform. Denn der Nüchternheit der demokratischen Verfahren wohnt ein Mo-

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Hintze und Hugo Preuß um das sog. „Seeley-Theorem“ eine Rolle, vgl. M. LLANQUE, Denken (wie Anm. 13), S. 176–179. Parteiprogramm der DDP (wie Anm. 17), S. 509: „Innere Einheit tut uns vor allem not und der einzige Weg zu ihr ist die Demokratie“; 1930 postulierte die Deutsche Staatspartei, der „Volksstaat“ solle auf der „lebendigen Einheit von Volk und Staat gegründet sein“, Manifest (wie Anm. 17), S. 515. Vgl. J. C. HEß, Deutschland (wie Anm. 6), der sich allerdings auf die außenpolitischen Vorstellungen der DDP konzentriert. Vgl. z. B. ANTON ERKELENZ: Rede auf dem Parteitag der Demokratischen Partei in Weimar am 6. 4. 1924, in: DERS., Demokratie (wie Anm. 19), S, 11–33, hier S. 28; THEODOR HEUSS: Deutschlands Zukunft, Stuttgart 1919, S. 21; DERS.: Das Wesen der Demokratie, Berlin o.J. [ca. 1920], S. 14; W. HEILE, Politik (wie Anm. 45), S. 724; GEORG GOTHEIN: Ist die Republik noch in Gefahr?, in: Die Hilfe Nr. 19 v. 1.10.1926, S. 401f. H. MEYER-BENSEY, Gesinnung (wie Anm. 4), S. 192. So JOSEF WINSCHUH: Aktive Demokratie, in: Die Hilfe Nr. 9 v. 28. 2. 1931, S. 211–216, hier S. 215.

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ment der Rationalisierung inne, das die irrational agierende „Masse“ in ein „Volk“ rational abwägender und lernfähiger Staatsbürger verwandelt.52 Mit dieser Überlegung suchte Bäumer dem Stigma der Demokratie als „Massenherrschaft“ zu begegnen. Die These von der Fähigkeit der Demokratie zur Selbstkorrektur gewann während der krisengeschüttelten Spätphase der Republik im Demokratiediskurs an Bedeutung. In diesem Sinne hat die „Hilfe“ 1931 an die strukturelle Reformfähigkeit der Demokratie erinnert, und Reinhold Maier empfahl auf einer Kundgebung der Deutschen Staatspartei in Mannheim 1932, an der Demokratie festzuhalten, um so den Ausweg aus der Wirtschaftskrise zu finden: „weil nur ihr, der Demokratie, die Kraft des Ausgleichs innewohnt“.53 Elite, Einheit, Fähigkeit zur Selbstkorrektur: Zusammen genommen begründen die drei funktionalen Argumente eine republikanische Theorie der Sachzwänge. Im Mittelpunkt steht dabei die Überzeugung, dass die demokratisch-republikanische Staatsform nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs für die deutsche Nation zu einer wohl begründeten Raison d’être geworden ist. Für diesen funktionalen Republikanismus, der die Diskussion des HilfeKreises weitgehend bestimmte, gab es zur Republik keine vernünftige Alternative. Historische und normative Argumente ergänzten das funktionale Begründungsmuster, spielten im Ganzen jedoch eine untergeordnete Rolle. IV. „Die gesetzmäßig ansteigende Weltentwicklung“: historische Begründungsmuster Gerne und ausgiebig haben die Autoren der „Hilfe“ bei ihrer Verteidigung der Republik auf historische Argumente zurückgegriffen. Dabei nahm zunächst die Auseinandersetzung mit dem Kaiserreich breiten Raum ein. Sie lässt sich in einem Katalog wiederkehrender kritischer Topoi zusammenfassen: So galt das Kaiserreich in der Deutung maßgeblicher Vertreter des Hilfe-Kreises als bürokratischer Obrigkeitsstaat, der, bestimmt vom „Geist des Reserveoffiziers“, die Gesellschaft in Klassen und Kasten separiert habe (Anton Erkelenz). Der „von Bismarck organisch gemachte Staat“ sei „völlig unorganisch geworden“ und habe sich in der Folge als unfähig zur Reform erwiesen (Walter Goetz). Die Synthese von Macht und Geist sei dem Kaiserreich niemals gelungen, im Gegenteil: Der „deutsche Geist“ habe sich „diesem gewaltigen neuen Körper versagt“ (Gertrud Bäumer). Der „wilhelminische Parlamentarismus“ habe zu Deklamationen statt zu politischem Handeln verführt (Anton 52 GERTRUD BÄUMER: Grundlagen demokratischer Politik, Karlsruhe 1928, S. 15, 18. 53 REINHOLD MAIER: Durch nationale Demokratie heraus aus der Wirtschaftsnot, in: HERMANN DIETRICH / CARL PETERSEN / REINHOLD MAIER: Der Weg der nationalen Demokratie. Reden auf der Kundgebung der Deutschen Staatspartei in Mannheim am 2. Oktober 1932, Mannheim 1932, S. 23–31, hier S. 27.

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Erkelenz), und überhaupt sei der „Scheinkonstitutionalismus des alten Regimes“ eine „wesentliche Ursache unseres nationalen Unglücks“ gewesen (Hugo Preuß).54 Die Formel, mit der das Kaiserreich seine Gebrechen hätte beheben können, lautete im Licht dieser Diagnosen indessen nicht „Republik“, sondern „Demokratie“: Ein demokratisches Kaiserreich hätte, so Wilhelm Heile, nicht nur die gravierendsten politischen Fehlentwicklungen, sondern auch den Sturz der Monarchie vermeiden können.55 Bei der kritischen Analyse des Kaiserreichs konnte sich der Hilfe-Kreis darauf berufen, dass Friedrich Naumann bereits lange vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges demokratische Reformen gefordert hatte. Das Argument gewinnt zusätzlich an Überzeugungskraft durch eine Semantisierung, die Naumann und sein Umfeld bereits um die Jahrhundertwende bei der Neubestimmung des Liberalismus verfolgt hatten – die Antithese von „alt“ versus „neu“.56 Nach 1918 wurde der Monarchie und ihren Anhängern das Beiwort „alt“, der demokratischen Republik hingegen mit Nachdruck die Qualität des „Neuen“ zugedacht. „Das alte Deutschland liegt hinter uns [...]. Das neue Deutschland wird jeden Tag neu geboren“, formulierte Theodor Heuss in einer Wahlrede vom Januar 1919, während Anton Erkelenz den Gegensatz zwischen „Republikanern“ und „Monarchisten“ 1926 als Konflikt zwischen „dem Neuen und dem Alten“ identifizierte.57 Von dieser wertenden Gegenüberstellung von „alt“ versus „neu“, die der deutsche Expressionismus soeben forciert hatte, konnte der Republikdiskurs vor einem Publikum, das der Moderne aufgeschlossen gegenüber stand, nur profitieren. Eine solche semantische Kodierung war um so wichtiger, als der bürgerliche Liberalismus spätestens seit dem Weltkrieg mit dem Stigma des Alten, Überlebten zu kämpfen hatte. So konnte die Republik sich immerhin als die spezifisch moderne Staatsform präsentieren. Von einigen Autoren wurde die Republik als Moment eines umfassenden historischen Evolutionsprozesses begriffen, der sich in den Demokratien des 54 ANTON ERKELENZ: Die Krise der Demokratie in Deutschland, in: Die Hilfe Nr. 6 v. 15. 3. 1924, S. 91–93, hier S. 93; DERS.: Die Überwindung des Klassenstaats durch die Demokratie, in: Die Hilfe Nr. 8 v. 15. 4. 1925, S. 172–174; WALTER GOETZ: Der deutsche Staat und das Jahr 1848, in: Die Hilfe Nr. 10 v. 15. 3. 1923, S. 162f; GERTRUD BÄUMER: Das unvollendete Reich, in: Die Hilfe Nr. 33 v. 25. 1. 1925, S. 66f, hier S. 66; A. ERKELENZ, Krise (wie Anm. 54 ), S. 398; HUGO PREUSS: Die Bedeutung des Artikels 48 der Reichsverfassung, in: Die Hilfe Nr. 10 v.15. 5. 1925, S. 224–226, hier S. 224. 55 W. HEILE, Politik (wie Anm. 45), S. 723. 56 Vgl. FRIEDRICH NAUMANN / THEODOR BARTH: Die Erneuerung des Liberalismus. Ein politischer Weckruf, Berlin-Schöneberg 1906; THEODOR HEUSS: Alter und neuer Liberalismus, hs. Redemanuskript v. 11. 4. 1904, Stiftung Bundespräsident-Theodor-HeussHaus, Nachlaß Theodor Heuss (= Bundesarchiv N 1221), 26. 57 THEODOR HEUSS: Deutschlands Zukunft, Stuttgart 1919, S. 3f; vgl. auch DERS.: Die neue Demokratie, Berlin 1920 (erschienen in der Reihe „Die neue Welt“); ANTON ERKELENZ: Parlamentarismus und Parteiwesen, in: Die Hilfe Nr. 4 v. 15. 12. 1926, S. 60f, hier S. 60.

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Westens früher und deutlicher manifestiert habe als in Deutschland. Walter Goetz sah „eine seit zwei Jahrhunderten unaufhaltsame, d. h. gesetzmäßig ansteigende Weltentwicklung“ am Werk, „die aus der gesamten Kultur heraus die Zunahme und den Sieg der Demokratie bedeutete“, und sein Marburger Kollege Wilhelm Mommsen präzisierte: „Die demokratisch-republikanische Staatsform ist ein notwendiges Produkt eines großen historischen Entwicklungsprozesses, an dessen Anfang für die deutsche Geschichte Stein, die Freiheitskriege und die Allgemeine Wehrpflicht stehen“.58 Die Zitate der beiden Historiker zeigen, dass das Evolutionsargument zweigleisig, nämlich universalgeschichtlich und national angelegt war, wobei die nationale Perspektive bei weitem überwog. In keiner der beiden Varianten gewann die historische Argumentation indessen so an Überzeugungskraft, dass die Republik in breiteren Kreisen als historisches Projekt sui generis begriffen worden wäre. Lag bei den meisten Autoren der Akzent eher auf der reflexiven Aneignung demokratischer Traditionen, so rief Anton Erkelenz ein hartes strukturgeschichtliches Theorem Naumanns in Erinnerung: Die Entwicklung zur Demokratie sei, so Erkelenz, das politische Korrelat und notwendige Ergebnis der industriellen Produktionsweise. „Wer die große Industrie will oder wollen muß – und wir müssen sie alle wollen –, der wirkt für die Verbreitung der Demokratie, und zwar nicht nur der politischen, sondern auch der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Demokratie“59 – ein modernisierungstheoretisches Argument avant la lettre. V. Die „kantische Demokratie“ oder die Republik der Vernunft In Ermangelung einer belastbaren Theorie der Republik berief sich der HilfeKreis unermüdlich auf den deutschen Idealismus, der in einer ebenso emphatischen wie synkretistischen Aneignung zu einer Art Staatsphilosophie der demokratischen Republik stilisiert wurde: Fichte, Schiller, Goethe, Hegel und immer wieder Kant galten als die Vordenker der Republik von Weimar. Beflügelt vom Genius Loci rief Anton Erkelenz in einer Rede auf dem Reichsparteitag der DDP in Weimar 1924 seinen Parteifreunden zu: „Nicht die Wirtschaft ist unser Schicksal, sondern der deutsche Geist“; Julius Bab erblickte in der Weimarer Republik den „ersten Anfang zur Erfüllung des Goetheschen Weimar“, Heinrich Meyer-Bensey in der Demokratie den „politischen Ausdruck der Weltanschauung des deutschen Idealismus“.60 Eine differenzierte Ausein58 W. GOETZ, Staat (wie Anm. 54; Hervorhebung im Original), S. 162; WILHELM MOMMSEN: Zum Verfassungstag. Sicherung der Demokratie, in: Die Hilfe Nr. 15 v. 1. 8. 1925, S. 301–303, hier S. 301. 59 A. ERKELENZ, Rede (wie Anm. 19), S. 85. Diese Auffassung hatte Naumann bereits vor dem Krieg vertreten. 60 ANTON ERKELENZ: Rede auf dem Parteitag der Demokratischen Partei in Weimar am 6. April 1924, in: DERS.: Demokratie (wie Anm. 19), S. 11–33, hier S. 31; JULIUS BAB: Die

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andersetzung mit den politischen Theoremen des deutschen Idealismus fand im Umkreis der „Hilfe“ allerdings nicht statt. Gertrud Bäumer sah keine Schwierigkeit darin, sich einerseits auf Kant als Denker der „deutschen Freiheit“ zu berufen, andererseits aber auch Hegel als „Denker der höchsten Gemeinschaft“ zu feiern, der die „bloß formale“ Selbstbestimmung schöpferisch weiterentwickelt und „unüberholbar“ ein neues Gemeinschafts- und Volksideal geschaffen habe. Die Herausgeberin der „Hilfe“ hatte einen vom Geist des deutschen Idealismus bestimmten „demokratischen Kulturstaat“ vor Augen, in dem die nationale Bildung und eine an der Idee bürgerlicher Sozialreform orientierte Sozialpolitik den gesellschaftlichen Zusammenhalt gewährleisteten sollten; libertäre Freigeisterei und eine am Laisser-faire orientierte Wirtschaftspolitik lehnte sie demgegenüber ab.61 Gegenüber dem ausgeprägten Integrations- und Gemeinschaftspathos traten liberal-individualistische Republikkonzepte in den Hintergrund. Nur wenige Autoren sahen die demokratische Republik vertragstheoretisch aus einem Zusammenschluss vernünftiger Individuen hervorgehen; „Freiheit und Gleichheit sind die beiden Grundforderungen der Demokratie [...]. Der Untertan gibt seine Freiheit auf, um sie als Staatsbürger im freien Staat, im Freistaat, dessen Souverän das Volk ist, zurückzuerhalten: Die Freiheit wird zur politischen Selbstbestimmung“;62 hier wird die demokratische Republik als die gerechte und vernünftige Staatsform schlechthin bestimmt.63 Rudolf Stockhausen argumentierte im September 1925, dass sich die Demokratie weder aus Zweckmäßigkeitsgründen noch aus sozialen Gerechtigkeitsgesichtspunkten überzeugend herleiten lasse. Der Versuch, die Demokratie als Mittel zu bestimmten Zwecken zu konstruieren, müsse schon deshalb scheitern, weil man sich in Deutschland niemals über die Zwecke werde einigen können. Konsistent ist für ihn allein die „kantische Demokratie“, die nicht die Gleichheit aller vor dem Gesetz, sondern die „gleiche Freiheit aller zur Selbstgesetzgebung“ zum Ausgangspunkt nehme.64 Solche Argumente, die den demokratischen Rechtsstaat als das Gebot einer praktischen Vernunft im Sinne Kants zu be-

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Republik von Weimar, in: Die Hilfe Nr. 18 v. 15. 9. 1924, S. 310–312, hier S. 311; H. MEYER-BENSEY, Gesinnung (wie Anm. 4), S. 192; vgl. ferner EMMI BECKMANN: Verteidigung der Demokratie, in: Die Hilfe Nr. 33 v. 5. 9. 1920, S. 502–504, hier 503; G. BÄUMER, Demokratie (wie Anm. 41), S. 264–268; P. BARTH: Die sittliche Bedeutung der Demokratie, in: Die Hilfe Nr. 43 v.15. 12. 1920, S. 660–662. Vgl. GERTRUD BÄUMER: Kant und die deutsche Freiheit. Vortrag auf dem 5. Reichsparteitag der DDP in Weimar am 6. 4. 1924, o.O., o.J.; DIES.: Hegels Rationalismus, in: Die Hilfe Nr. 33 v. 5. 9. 1920, S. 504f, hier S. 505. E. HELMS: Vom Wesen der Demokratie, in: Die Hilfe Nr. 36 v. 5. 10. 1920, S. 554f, hier S. 555. So H. MEYER-BENSEY, Gesinnung (wie Anm. 4), bes. S. 193: „Was kann gerechter und vernünftiger sein?“ RUDOLF STOCKHAUSEN: Soziale oder liberale Demokratie?, in: Die Hilfe Nr. 17 v. 1. 9. 1925, S. 363–365, hier S. 364.

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stimmen suchten, mochten im politischen Diskurs der zwanziger Jahre wie Stimmen aus einer anderen Welt klingen, weil sie auf das sonst übliche nationale Narrativ und das damit verbundene Gemeinschaftspathos verzichteten. Mit dieser genuin individualistischen Konzeption erntete Stockhausen in der „Hilfe“ prompt energischen Widerspruch, der sich nun seinerseits auf Kant und die Idee einer „sozialen Demokratie“ berief.65 Auch in der Auseinandersetzung mit der extremen Linken leistete Kant seine Dienste. So bezog sich Paul Barth in seiner Kritik am Konzept der Diktatur einer revolutionären Avantgarde auf die Zweck-an-sich-Formel des Kategorischen Imperativs, der zufolge Menschen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel gebraucht werden dürften. Die wahren Wurzeln der Demokratie lägen nicht bei Marx, sondern bei den antiken und neuzeitlichen Naturrechtslehren sowie vor allem bei Kant, der die Sittlichkeit demokratisch und die Demokratie sittlich gefasst habe. Den Gegensatz von Demokratie und Diktatur definiert Barth somit als Gegensatz von Sittlichkeit und Gewalt. Was aber „sittlich gut sei“ müsse „für alle gelten“. Die Demokratie sei die „Schöpferin alles dessen, was uns vorwärts gebracht hat“, wer sie zerstöre, begehe einen „Muttermord“ und bringe „Fluch und Unheil“ über das ganze Volk.66 Die Demokratie als „Mutter“: Barths Text zeigt nicht nur, wie im zeitgenössischen Republikdiskurs Antithesen unterschiedlicher Provenienz ineinander gegriffen haben –Vernunft versus Leidenschaft, Freund versus Feind, Sittlichkeit versus Gewalt, Demokratie versus Diktatur. Vielmehr unterlegt Barth diesen Antithesen den vom Expressionismus wieder aufgegriffenen ÖdipusMythos in einer charakteristischen Umdeutung als „Muttermord“. Nachdem die Nation den Vatermord an der Monarchie und ihren patriarchalen Strukturen in der Revolution vollzogen hat, bleibt die Demokratie als Mutter eine schöpferische und sittliche Kraft; ihre Zerstörung ist nur als Selbstzerstörung der Nation denkbar. Die weibliche Kodierung der Demokratie war zu Beginn der Weimarer Republik im Umkreis der DDP nicht ungewöhnlich: 1919 hatte sich die Partei auf einem Flugblatt zur Nationalversammlung als weibliche Allegorie präsentiert, die sich schützend vor das Volk stellt.67 Trotz des häufigen Bezugs auf den deutschen Idealismus setzte der Vernunftbegriff, auf den der Hilfe-Kreis die demokratische Republik zu gründen suchte, keine utopischen Perspektiven frei. Im Gegenteil: Die Vernunft wurde nicht als antizipatorische Kraft, sondern vielmehr als politisches Realitätsprinzip den Utopien rechter wie linker Provenienz entgegengehalten. 1919 beschwor Naumann den „Wirklichkeitssinn“ gegen jene, die sich eine Weltordnung ausdenken, „in der alles besser sein soll“, während Wilhelm Heile in der 65 FRITZ AST: Soziale oder liberale Demokratie, in: Die Hilfe Nr. 22 v. 15. 11. 1925, S. 456, sowie KURT WOLF: Reine Demokratie, in: Die Hilfe Nr. 24 v. 15. 12. 1925, S. 492f, für den Kant vor allem das „Pflichtbewußtsein gegenüber der Gemeinschaft“ betont hat. 66 P. BARTH, Bedeutung (wie Anm. 60), S. 662. 67 Vgl. hierzu A. SCHASER, Lange (wie Anm. 22), S. 234 sowie Bildanhang.

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„Hilfe“ das konservative, nämlich die neue demokratische Staatsform bewahrende Moment der DDP hervorhob.68 Als „sehr unvollkommenes System“ war die Demokratie das „beste der möglichen Systeme“;69 als „möglich“ galt dabei nicht der utopische Entwurf einer revolutionären Vernunft, sondern das, was im Rahmen der bestehenden Verfassungsordnung an praktischen Verbesserungen erreichbar schien. Nach der Wahlniederlage der Deutschen Staatspartei bei den Reichstagswahlen vom 14. September 1930 verlor die Vernunft als kategoriales Begründungsprinzip spürbar an Gewicht. Am 27. September 1930 unterzog Wilhelm Goldschmidt in der „Hilfe“ den Liberalismus seiner Zeit einer Grundsatzkritik: Über ihrer oft von taktischen Erwägungen bestimmten Realpolitik hätten es die Liberalen der Weimarer Republik versäumt, die weltanschaulichen Grundlagen des Liberalismus zu reflektieren und zu kommunizieren; dadurch sei liberale Politik orientierungslos geworden. Es fehle dem Liberalismus sowohl an einer „hinreißenden Staatsvision“ als auch an einer politischen Elite. Obwohl Goldschmidt eine Rückbesinnung auf liberale Grundwerte wie Recht, Freiheit, Chancengleichheit, Verantwortlichkeit und Toleranz fordert, verwirft er indessen den Fortschritts- und Vernunftglauben des klassischen Liberalismus. Statt dessen proklamiert er in fast Spenglerscher Manier: „Wir liberalen Menschen einer späten skeptischen Zeit glauben nicht an die Erlösungsmacht menschlichen Geistes; aber es gibt für uns den Heroismus des ‚Dennoch‘. [...] Vielleicht ist es ein tragischer Kampf, aber er muß geführt werden.“70 Die Operation, die Goldschmidt an dem schwer angeschlagenen zeitgenössischen Liberalismus vornimmt, muss im Licht der liberalen Politik der folgenden Jahre als problematisch erscheinen. Denn indem er Vernunft und Fortschritt für historisch erledigt erklärt, reißt er die klassisch liberalen Werte, die er gerne wiederbeleben möchte, aus ihrer weltanschaulichen Verankerung. An die Stelle des vernünftigen Diskurses tritt ein heroischer Stoizismus, der seine liberalen Ziele nicht mehr begründet, sondern im „Kampf“ dezisionistisch gegen die Zeit setzt.71 Überhaupt kennzeichnet den Republikdiskurs der frühen dreißiger 68 FRIEDRICH NAUMANN: Deutsche Demokratie, in: Die Hilfe Nr. 32 v. 7. 8. 1919, S. 418f, hier S. 419; W. HEILE, Politik (wie in Anm. 45), S. 723. 69 ERNST MOERING: Liberalismus und Demokratie, in: Die Hilfe Nr. 22 v. 15. 12. 1925, S. 451f, hier S. 451. 70 WILHELM GOLDSCHMIDT: Liberale Selbstbesinnung, in: Die Hilfe Nr. 39 v. 27. 9. 1930, S. 961–966, hier S. 965. 71 Weitere Beispiele G.W. KELLNER: Entscheidet Euch!, in: Die Hilfe Nr. 24 v. 11. 6. 1932, S. 561–571; FRITZ HERMANN: Aber was nun?, in: Die Hilfe Nr. 41 v. 8. 10. 1932, S. 970–972, hier S. 971: „Der Kampf ist entbrannt. Hie starre Autorität, hie erstarrter Parlamentarismus. Wir stehen in der dritten Front. Sie kämpft für wahre, organische Volksvertretung. Das ist die Front der Jungen.“ Oder E BERHARD HETTENBACH: Die Republik in Gefahr, in: Die Hilfe Nr. 9 v. 28. 2. 1931, S. 207–211, hier 211: „Wer Demokratie will, muß Demagogie wollen, das ist: die planmäßig gepflegte Technik der Menschenbeherrschung“. Vgl. auch L. ALBERTIN: Die Auflösung der bürgerlichen Mitte und

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Jahre eine verschärfte Kritik an den politischen Kategorien und Begriffen des 19. Jahrhunderts, die zur Bewältigung der allgemeinen Krise nicht mehr tauglich erscheinen.72 Was die Autoren der „Hilfe“, intellektuell und politisch ausgezehrt, dem noch entgegen zu setzen vermögen, bleibt indessen entweder vage und epigonal oder nähert sich, wie bei Goldschmidt, dem politischen Irrationalismus der Republikgegner. VI. „Sagt es, dass Ihr Republikaner seid“: republikanische Symbolpolitik Eine demokratische Republik gewinnt ihre Legitimität nicht primär aus ihrer staatstheoretischen Begründung; ebenso wenig reicht es aus, alleine auf das Funktionieren der demokratischen Institutionen zu vertrauen. Vielmehr ist die Demokratie als Republik, weil sie in besonderem Maß der Zustimmung der Bürger bedarf, auf die Ausbildung eines demokratischen Common Sense angewiesen, der in einer demokratisch-republikanischen Lebenswelt verankert ist. Diese Einsicht entwickelte sich im Lauf der zwanziger Jahre zu einem Leitgedanken des Republikdiskurses im Hilfe-Kreis. Bereits 1920 brachte Theodor Heuss die habituelle Verfestigung demokratisch-republikanischer Kultur auf den Begriff einer „Demokratie als Lebensform“: „Wir haben zwar“, so Heuss im Rückblick auf vorrepublikanische Zeiten, „philosophisch und dichterisch den Begriff der ‚Menschenwürde‘ am eindrucksvollsten formuliert, aber in unseren sozialen Gewöhnungen davon einen verhältnismäßig sparsamen Gebrauch gemacht.“ Bei der Formung eines demokratischen Habitus vertraute der Kulturpolitiker Heuss zum einen auf eine von sozialer Exklusivität befreite Bildung, wie sie etwa in der Reichsschulkonferenz 1920 unter dem Schlagwort der „Einheitsschule“ mit gleichen Bildungschancen für alle diskutiert wurde. Zum anderen sollten die demokratischen Institutionen, besonders die Körperschaften der Selbstverwaltung, den „tätigen Bürgersinn“ wecken.73 Materiell blieben die republikanischen Bürgertugenden wenig konkret. Heuss sprach von „Zivilcourage“ und einem „freien und tapferen Menschendie Krise des parlamentarischen Systems von Weimar, in: EBERHARD KOLB / WALTER MÜHLHAUSEN: Demokratie in der Krise. Parteien im Verfassungssystem der Weimarer Republik, München 1997, S. 59–112, hier S. 110f. 72 So bei H. EBERL: Zur Kritik der politischen Ideologie, in: Die Hilfe Nr. 32 v. 6. 8. 1932, S. 753–757, für den es „den Gedankenschutt eines ganzen Jahrhunderts“ abzutragen gilt (S. 757); THEODOR HEUSS: Zum Stande der politischen Ideologie, in: Die Hilfe Nr. 39 v. 24. 9. 1932, S. 913–918, spricht von „Denkformen, die das Tatsächliche nicht mehr decken“, macht sich zugleich aber auch über das „Sündenregister“ lustig, das heute dem 19. Jahrhundert vorgehalten werde (S. 914f). 73 THEODOR HEUSS: Die neue Demokratie, Berlin 1920, S. 157 (Zit.), 155 (Zit.), 159 (Zit.), 147–152, 84–89; vgl. auch DERS.: Demokratie und Selbstverwaltung, Berlin 1921.

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tum“; Anton Erkelenz gab diesen Vorstellungen eine dezidiert republikanische Wendung, indem er den autonomen Bürger zum Souverän erklärte und mit dem republikanischen Symbol der Bürgerkrone versah: „Bürger sein heißt also, selbst denken und entscheiden. Wir haben keine ererbten Könige und Fürsten mehr. Als Bürger sind wir unsere eigenen Herren und damit unser eigener König. Heute tragen wir alle die Krone des Bürgers der Deutschen Republik.“74 Eine prominente Rolle in der Diskussion um die politische Ethik der jungen Demokratie spielten die republikanischen Eliten; von ihnen wurden Eigenschaften erwartet, die an den republikanischen Tugendkanon der römischen Antike erinnern und sich erkennbar gegen die kulturkritisch konstatierten hedonistischen Tendenzen der Zeit richteten: Opfersinn, Unbestechlichkeit, „einfache vaterländische Dienstbereitschaft“, puritanische Gesittung sowie – im Zusammenhang mit der Debatte um die Wiederzulassung von Orden – „Reinheit und Schlichtheit auch in allem Äußerem“.75 Der Bürger soll seine republikanische Haltung nicht nur innerlich kultivieren, sondern er soll sie in seinem Sprechen und Handeln auch öffentlich zur Geltung bringen. Denn in Ermangelung eines sinnfälligen symbolischen und faktischen Zentrums der staatlichen Macht ist die demokratische Republik im Unterschied zur Monarchie auf ein tägliches Plebiszit ihrer Bürger angewiesen, das sich im republikanischen Denken, Sprechen und Handeln manifestiert. So forderte Wilhelm Heile 1922 die Leser der „Hilfe“ unter der Überschrift „Vivat nunc res publica!“ ausdrücklich auf: „Sagt es, daß ihr Republikaner seid“.76 Unter Anspielung auf Goethe erklärte Gertrud Bäumer 1928: „Der Republikaner soll wissen, daß er dies geistige Gefüge von Rechten und Pflichten ständig durch sein Verhalten neu zu erschaffen hat. [...] Diese Vorstellung, daß der Staat geprägte Form ist, die sich unausgesetzt im Verhalten der Bürger lebend entwickelt, die jeder Tag sozusagen lebendig wiedergebären muß, ist bei uns noch wenig plastisch geworden.“77 Jenseits der Alternative einer „vernünftig“ oder affektiv bestimmten Option für die Republik zeigen sich hier die Umrisse eines handlungsbezogenen Republikanismus, der das Republikanertum im Sinne eines permanenten, performativen Aktes begreift. Das Postulat einer ideellen Identität von republikanischem Staat und Bürgerschaft wurde im Hilfe-Kreis seit Mitte der zwanziger Jahre forciert78 74 T. HEUSS, Demokratie (wie Anm. 73), S. 158; ANTON ERKELENZ: Untertan oder Bürger, in: Die Hilfe Nr. 8 v. 15. 4. 1928, S. 172. 75 G. BÄUMER: Demokratie und Kultur (wie Anm. 41), S. 268; DIES.: Die Republik als Aufgabe, in: Die Hilfe Nr. 6 v. 25. 2. 1921, S. 87f, hier S. 87; WILHELM BAAKE: Zum Stil der Republik, in: Die Hilfe Nr. 11 v. 1. 6. 1927, S. 289f, hier 290. 76 WILHELM HEILE: Vivat nunc res publica!, in: Die Hilfe Nr. 19/20/21 v. 15. 7. 1922, S. 295–298, hier S. 298. 77 GERTRUD BÄUMER: Reichsverfassung und Flagge, in: Die Hilfe Nr. 15 v. 1. 8. 1928, S. 337f, hier S. 337. 78 Vgl. etwa Erkelenz‘ Reichstagsrede v. 19. 2. 1926, in: Beilage zur Hilfe Nr. 5 v. 1. 3. 1926, S. 2: „Heute kann der Bürger sagen: Der Staat sind wir, – jeder Bürger ohne Un-

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und 1931 sogar zum Programmsatz einer kurzlebigen Zeitschrift unter dem Titel „Der Staat seid ihr“, als deren Herausgeber u. a. Walter Dirks, Emil Dovifat, Ricarda Huch und Thomas Mann firmierten.79 Das symbolpolitische Defizit der Republik hat man im Hilfe-Kreis von Anfang an aufmerksam registriert. Symbole, Rituale, Feste und andere Formen politisch-ästhetischer Repräsentation galten keineswegs nur als dekoratives Beiwerk im Gefüge der demokratischen Institutionen, sondern wurden in ihrer konstitutiven Bedeutung für die Selbstvergewisserung der demokratischen politischen Kultur erkannt.80 Der republikanische Staat sollte durch überzeugende Formen sinnlich erfahrbarer Selbstdarstellung an Legitimität gewinnen. In dieser Perspektive boten die Umstände, unter denen die Republik ins Leben getreten war, allerdings wenig Stoff für ästhetisch überformte Sinnbildungen. Friedrich Naumann zeigte hierfür bereits unmittelbar nach dem Zusammentreten der Nationalversammlung ein waches Gespür, als er „die fehlende Mystik der Staatsgeburt“ beklagte und fortfuhr: „die neue Staatsgründung hat noch keine eigene Legende“.81 Dabei sollte es auch bleiben. Angesichts der Schreckstarre, in die weite Teile des Bürgertums über die Niederlage im Weltkrieg und den Sturz der Monarchie in seiner Mehrheit verfallen waren, war auch im Hilfe-Kreis an die Konstruktion eines demokratischen Gründungsmythos nicht zu denken. Statt dessen behalf man sich zunächst mit Analogien zur Revolution von 1848, deren Farben und Fahnen wieder hervorzuholen Theodor Heuss im November 1918 empfahl.82 Gegenüber der Politik der Straße indessen wahrte er Distanz und sprach abschätzig von einer „russischen Kopie“ und einem „demokratisch aufgeputzten Gewaltsystem“.83 Unter solchen Vorzeichen musste es schwer fallen, den Staatsgründungsakt in ein Gründungsnarrativ zu übersetzen, das der demokratischen Republik künftig

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terschied des Ranges und der Klasse“; LUDWIG MARX: Erziehung zum Staatsgedanken, in: Die Hilfe Nr. 22 v. 15. 11. 1926, S. 484–486, hier S. 485: „Die Gemeinde, der Staat sind wir alle. [...] Staatsbürger ist eine Ehrenname, den man sich erwerben muß, um ihn zu besitzen.“ Über die im März 1931 gegründete Wochenschrift ist wenig bekannt; vgl. R. BURGER, Heuss (wie Anm. 32), S. 245; Theodor Heuss hat für das Blatt eine Serie von Artikeln verfasst. Vgl. hierzu auch HANS VORLÄNDER (Hg.): Zur Ästhetik der Demokratie. Formen politischer Selbstdarstellung, Stuttgart 2003. FRIEDRICH NAUMANN: Der neue Parlamentarismus, in: Die Hilfe Nr. 9 v. 27. 2. 1919, S. 99f, hier S. 100. THEODOR HEUSS: Schwarz-Rot-Gold, in: Deutsche Politik Nr. 47 v. 22. 11. 1918, S. 1475–1479, hier S. 1475, 1477. Zu Heussʼ Reflexion der Revolution von 1848/49 vgl. GUDRUN KRUIP: Gescheiterter Versuch oder verpflichtendes Erbe? 1848 bei Theodor Heuss, in: PATRICK BAHNERS / GERD ROELLECKE (Hg.): 1848 – Die Erfahrung der Freiheit, Heidelberg 1998, S. 189–208. THEODOR HEUSS: Es bleibt beim Alten, in: Deutsche Politik Nr. 51 v. 20. 12. 1918, S. 1612–1614, hier S. 1612; DERS.: Deutsche Nationalversammlung, in: Neckar-Zeitung Nr. 276 v. 23. 11. 1918, S. 1f, hier S. 2.

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als Legitimationsressource dienen könnte. Zudem versperrte die Tatsache, dass die Republik aus der nationalen Kränkung einer Kriegsniederlage hervorgegangen und überdies mit einem als Schmach empfundenen Friedensdiktat belastet war, den Weg zu einer demokratischen Gründungslegende.84 In den Kämpfen um eine republikanische politische Symbolik haben sich die DDP und der Hilfe-Kreis besonders für die gesetzliche Verankerung des Verfassungstags und in der Flaggenfrage engagiert.85 In beiden Fällen hatte die Republik symbolpolitische Niederlagen erlitten. Zwar pflegte die Reichsregierung seit 1921 den 11. August – den Tag, an dem Friedrich Ebert in Anwesenheit des Reichskabinetts die Verfassungsurkunde unterzeichnet hatte – mit einem offiziellen Festakt in der Reichshauptstadt zu feiern, doch scheiterten alle fünf parlamentarischen Initiativen der republikanischen Fraktionen für eine reichsweite Erhebung des Verfassungstags zum gesetzlichen Nationalfeiertag entweder am Widerstand der Rechtsparteien und einer zunehmend ambivalenten Haltung des Zentrums oder an vorzeitigen Auflösungen der Reichstags.86 Erwartungsgemäß traten die Autoren der „Hilfe“ mit Nachdruck für die Einführung eines gesetzlichen Feiertags ein.87 Als eine gemeinsame Initiative von SPD und DDP am 15. Juni 1927 einmal mehr im Rechtsausschuss des Reichstags zu scheitern drohte, warnte Anton Erkelenz, dass eine Demokratie „leicht an seelischer Entkräftung sterben“ könne, wenn sie außer „dreihundertfünfundsechzig nüchterne[n] Tage[n] im Jahr“ keine Feiertage kenne, die der Nation, dem Volk und dem Staat gewidmet seien. Gemessen an der Repräsentationskraft der Monarchie wirke die Demokratie „nüchtern, kühl, übertrieben einfach.“ Dass das kalte Projekt der Demokratie nicht ohne Verankerung in den Emotionen der Bürger auskommt, stand für Erkelenz, der Mitte der zwanziger Jahre mehrere Monate durch die USA gereist war, fest. So verweist er auf die „kindliche und oft kindische Freude“, die den amerikanischen Unabhängigkeitstag regelmäßig begleite und resümiert in fast Tocque84 Vgl. auch knapp WOLFGANG SCHIVELBUSCH: Die Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden 1865. Frankreich 1871. Deutschland 1918, Berlin 22001, S. 275f. 85 Vgl. zum Verfassungstag die Beiträge in DETLEF LEHNERT / KLAUS MEGERLE (Hg.): Politische Identität und nationale Gedenktage. Zur politischen Kultur der Weimarer Republik, Opladen 1989, bes. ELFI BENDIKAT: „Wir müssen Demokraten sein.“ Der Gesinnungsliberalismus, ebd., S. 139–158; BERND BUCHNER: Um nationale und republikanische Identität. Die deutsche Sozialdemokratie und der Kampf um die politischen Symbole in der Weimarer Republik, Bonn 2001, S. 301–360. 86 Hinzu kam 1928 eine Initiative der Reichsregierung; vgl. B. BUCHNER, Identität (wie Anm. 85), S. 318–329. 87 Z. B. KARL MÜLLER: Die Notwendigkeit eines nationalen Feiertages, in: Die Hilfe Nr. 25 v. 5. 9. 1921, S. 393–395; ILLA UTH: Verfassungsfeier, in: Die Hilfe Nr. 14 v. 15. 7. 1926, S. 284f; L. MARX, Erziehung (wie in Anm. 78); ANTON ERKELENZ: Nationalfeiertag in der Demokratie, in: Die Hilfe Nr. 13 v. 1. 7. 1927, S. 323f; G. BÄUMER, Reichsverfassung (wie Anm. 77), S. 337f; als Quelle zu den divergierenden Standpunkten vgl. die Debatte im Reichstag am 10. 7. 1928, in: Verhandlungen des Reichstags. IV. Wahlperiode 1928, Bd. 423, Berlin 1929, S. 124–153.

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villeschen Formulierungen: „Aber die Demokratie steht um so fester und sicherer, je mehr sie eine Sache angeborenen und anerzogenen Gefühls ist.“88 In der Frage der Reichsfarben, dem zweiten großen politischen Symbolproblem der Republik, hatten die Linksliberalen einschließlich des NaumannKreises bereits während der Beratungen zur Weimarer Reichsverfassung zu keiner geschlossenen Position gefunden.89 Abgesehen von einer knappen Notiz Bäumers, die die Spaltung der Fraktion widerspiegelt, hat sich die „Hilfe“ an der Debatte von 1919 nicht beteiligt.90 Der Streit um die Reichsfarben wurde indessen zum Dauerkonflikt der Republik, der die Gemüter in Parlament und Öffentlichkeit in Schüben stets aufs Neue erhitzte – auch innerhalb des republikanischen Lagers: Im Mai 1926 war das zweite Kabinett Luther über die Flaggenverordnung Hindenburgs gestürzt, und als zwei Jahre später in einer Reichstagsdebatte am 10. Juli 1928 die Fronten erneut heftig aufeinanderprallten, rief Gertrud Bäumer in der „Hilfe“ zu einer klaren Stellungnahme auf: Ihre „unermeßliche volkserzieherische und staatsbürgerliche Bedeutung“ gewinne die Flagge vor allem als Sinnbild der verfassungsmäßigen Ordnung, weniger als Symbol der Nation. Indem Bäumer das Signifikat von der Nation auf die Verfassung verschiebt, werden die Farben SchwarzRot-Gold zum eindeutigen Erkennungszeichen aller republikanischen Kräfte. Dabei vertraut Bäumer auf die pädagogische Wirkung der Verfassung, deren Zukunft sie in geschichtstheologisch aufgeladenen Begriffen buchstabiert: „Dann wird die schwarz-rot-goldene Fahne als Symbol des neuen Gesetzes siegen und der deutsche Staatsbürger wird inne werden, daß noch nie in der deutschen Geschichte Verfassung, Flagge und Nationalhymne eine so vollendete Dreieinigkeit waren, wie im neuen Reich.“91

88 A. ERKELENZ, Nationalfeiertag (wie Anm. 87), S. 323. Wie die Republik am Verfassungstag die Herzen ihrer Bürgerinnen und Bürger erobern könnte, schildert die Geschäftsführerin des Reichsfrauenausschusses der DDP, I. UTH, Verfassungsfeier (wie Anm. 87) in ihren detaillierten Empfehlungen für den Ablauf eines idealtypischen Verfassungsfestes 1926: Diese sei vorzugsweise in freier Natur mit Fahnen- und Wimpelschmuck abzuhalten; als Auftakt ein Reigen der Jugend um einen Maibaum, „der in rhythmischen Bewegungen mit Bändern der Reichsfarben umwunden wird“, sodann Gesänge, etwa „In der Heimat ist es schön“, Rezitationen von Conrad Ferdinand Meyer, Friedrich Rückert und Ludwig Uhland, eine Festrede zum Thema „Volk und Führerschaft in der Republik“, dann das Absingen des Deutschlandliedes, zum Abschluss erneut Rezitationen von Heinrich Joseph von Collin und Ferdinand Freiligrath – also eines österreichischen und eines Schweizer Dichters. 89 Vgl. ERNST PORTNER: Die Verfassungspolitik der Liberalen 1919, Bonn 1973, S. 65–68; H. SCHUSTEREIT, Linksliberalismus (wie Anm. 34), S. 90–92; zum Konflikt um die Farben vgl. jetzt ausführlich BUCHNER, Identität (wie Anm. 85), S. 45–131. 90 GERTRUD BÄUMER: Heimatchronik, in: Die Hilfe Nr. 24 v.12. 6. 1919, S. 291f, hier S. 292. 91 G. BÄUMER, Reichsverfassung (wie Anm. 77), S. 336.

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VII. Vernunftrepublikanismus im Hilfe-Kreis: vier Thesen 1. Der Begriff des „Vernunftrepublikanismus“ ist zwar 1918/19 aus dem unmittelbaren Umfeld des Hilfe-Kreises hervorgegangen, hat sich dort aber als Terminus nicht eingebürgert.92 Er diente den Autoren der „Hilfe“ weder zur Kennzeichnung eigener noch zur Identifizierung anderer Positionen. Prominente Exponenten der Weimarer Republik wie Otto Geßler und Gustav Stresemann haben indessen wiederholt die Ambivalenz zwischen ihrer emotionalen Bindung an das monarchische Deutschland und einer vernünftig-pragmatischen Hinnahme der republikanischen Staatsform herausgestellt.93 Der Vernunftrepublikaner als pragmatischer Konservativer – in diesem Verständnis, für das Gustav Stresemann in prominenter Weise Modell stand, fand der Begriff Eingang in die Weimar-Forschung der jungen Bundesrepublik, die ihn politisch-pädagogisch aufgeladen hat:94 Im Lichte des Topos „Bonn ist nicht Weimar“ geriet der Vernunftrepublikaner so zum 92 Nach Meineckes vernunftrepublikanischem Bekenntnis vom Januar 1919 war es der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann, der wohl als erster am 7. 10. 1919 in der Nationalversammlung ausdrücklich von „Vernunftrepublikanern“ sprach: „Unter den veränderten Verhältnissen muß heute jeder Deutsche zum mindesten Vernunftrepublikaner sein“, in: Die Deutsche Nationalversammlung im Jahre 1919, Bd. 8, hg. v. EDUARD HEILFRON, S. 319. Noch in den frühen zwanziger Jahren hat der Berliner Staatsrechtler Wilhelm Kahl Stresemann als „Vernunftrepublikaner“ bezeichnet, vgl. GUSTAV STRESEMANN: Vermächtnis. Bd. 1, hg. v. HENRY BERNHARD, Berlin 1932, S. 327; sowie HENRY ASHBY TURNER: Stresemann: Republikaner aus Vernunft, Berlin/Frankfurt 1968 (amerik. Erstausgabe Princeton 1963). 93 Stresemann gehörte, obwohl er im Kaiserreich „Naumannianer“ gewesen war, während der Weimarer Republik nicht zum Hilfe-Kreis. Zu Stresemanns Monarchismus und seinen Wandlungen vgl. H. A. TURNER, Stresemann (wie Anm. 92), S. 49–51; sowie das Kapitel „Das Werden eines Vernunftrepublikaners“. Turner meint mit Stresemanns Vernunftrepublikanismus vor allem dessen Pragmatismus und Kompromissfähigkeit, ebd., S. 250f. 94 Vgl. zuletzt RALF ALTENHOFF: Herzensdemokratie statt Vernunftrepublik. Die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, in: Zeitschrift für Politik 47 (2000), S. 318–362. Am Anfang standen zwei klassische Studien von US-amerikanischen Forschern: H.A. TURNER, Stresemann (wie Anm. 92); sowie PETER GAY: Die Republik der Außenseiter, Frankfurt/Main 2004, S. 44–52 (amerik. Erstausgabe New York 1968). Im Sinne einer halbherzigen, defizienten Haltung gegenüber der Republik erscheint der Begriff z. B. bei L. ALBERTIN, Auflösung (wie Anm. 71), S. 75; KURT SONTHEIMER: Die politische Kultur der Weimarer Republik, in: KARL DIETRICH BRACHER / MANFRED FUNKE / HANS-ADOLF JACOBSEN (Hg.): Die Weimarer Republik 1918–1933, Bonn 1987, S. 454–464, hier S. 460; S. GRÜNER, Einheitssehnsucht (wie Anm. 34), S. 230; PHILIPP GASSERT: Kurt Georg Kiesinger 1904–1988. Kanzler zwischen den Zeiten, München 2006, S. 68, rechnet Kiesinger zu den „skeptisch-distanzierten Vernunftrepublikanern“; die Bundeszentrale für politische Bildung definiert „Vernunftrepublikanismus“ als eine Haltung, „die die W[eimarer] R[epublik] nur zögernd und halbherzig unterstützte“, www. bpb.de/popup/popup_lemmata.html?guid=PV6F8H (Aufruf 1. 10. 2006). Zur WeimarForschung in der Bundesrepublik vgl. jetzt vor allem WOLFRAM PYTA: „Weimar“ in der

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Inbegriff des ambivalenten Demokraten, der sich gegenüber der Demokratie zwar nicht ablehnend, wohl aber abwartend verhält. Mit solchen Demokraten, so die pädagogische Conclusio, lässt sich schwerlich eine stabile Demokratie errichten. Die „Vernunft“ der Vernunftrepublikaner wurde also in der Weimar-Forschung weitgehend auf einen pragmatischen Konservativismus reduziert.95 2. Demgegenüber konnte die vorliegende Analyse zeigen, dass der HilfeKreis die Weimarer Republik auf unterschiedliche Weise „vernünftig“ begründet hat: pragmatisch, funktional, historisch und universalistisch. Formen einer utopischen Vernunft,96 wie sie in Teilen der Weimarer Linken vertreten wurden, lehnten die Autoren der „Hilfe“ ab. Nicht jede vernunftgemäße Begründung der Republik erwies sich indessen als gleichermaßen belastbar. So musste eine rein pragmatische Position, die in dem neuen Staat nichts anderes als ein Fait accompli zu sehen vermochte, gleichsam per Definition der Republik in dem Augenblick die Anerkennung entziehen, in dem eine Systemalternative in den Bereich des politisch Möglichen rückte. Aber auch die im Hilfe-Kreis bevorzugte funktionale Begründung der demokratischen Republik stand vor einem Dilemma: In dieser Logik blieb die Republik eine kalte Apparatur, die bei Funktionsstörungen sogleich in schwerste Legitimationsprobleme zu geraten drohte. Die latente Legitimationslücke hätte sich in einem Republikverständnis schließen lassen, das die Republik in dezidierter Weise auf breiterer Basis als ein nationales historisches Projekt begreift. Die Umstände, unter denen die Republik ins Leben getreten war, schienen indessen wenig geeignet, eine solche Perspektive einem größeren Publikum plausibel zu machen. 3. Der Hilfe-Kreis war auf die 1918/19 errichtete demokratische Republik intellektuell kaum vorbereitet. Er stützte seine begriffliche Reflexion der Republik zwar auf bürgerliche Demokratietheoretiker des späten Kaiserreichs wie Max Weber und Hugo Preuß, deutete diese aber – auch unter Naumanns Einfluss – vorwiegend funktional. In dieser Sicht geriet die Republik vor allem in ihrer Frühphase leicht zum Substitut der untergegangenen Monarchie. 4. In der Republikreflexion des Hilfe-Kreises entfaltete die „Vernunft“ als politische Legitimationsressource eine eigentümliche Ambivalenz. Einerseits nämlich wurde sie unermüdlich gegenüber Utopisten und politischen bundesdeutschen Geschichtswissenschaft, in: CHRISTOPH GUSY (Hg.): Weimars lange Schatten – „Weimar“ als Argument nach 1945, Baden-Baden 2003, S. 21–62. 95 So jedenfalls bei H.A. TURNER, Stresemann (wie Anm. 92); bei L. ALBERTIN, Auflösung (wie Anm. 73 ). 96 Vgl. RÜDIGER GRAF: Die Mentalisierung des Nirgendwo und die Transformation der Gesellschaft. Der theoretische Utopiediskurs in Deutschland 1900–1933, in: WOLFGANG HARDTWIG (Hg.): Utopie und politische Herrschaft in der Zwischenkriegszeit, München 2003, S.145–173.

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Extatikern in Anschlag gebracht, etwa im Sinne einer pragmatisch-republikanischen Politik des Augenmaßes oder auch vereinzelt im Sinne eines kantianischen Projekts. Andererseits aber beklagten die Autoren der „Hilfe“, dass es der parlamentarisch-demokratischen Republik in ihrer glanzlosen Nüchternheit nicht gelinge, die Herzen der Bürger zu erobern. Vor diesem Hintergrund hat der Hilfe-Kreis das symbolpolitische Defizit der Republik im Verlauf der zwanziger Jahre zusehends zu seinem Thema gemacht und die sinnliche Erfahrbarkeit republikanischer Politik in Farben, Feiertagen und Ritualen eingefordert. Da aber die funktionale Interpretation der Republik die Debatte weiterhin bestimmte, wirkte die Forderung nach einer symbolpolitisch induzierten Verankerung der Republik in den Herzen der Bürger einerseits eigenartig steril. Andererseits übersteigt der starke Akzent, den der Hilfe-Kreis auf die Formung eines demokratischen Konsenses, eines republikanischen Habitus und eines Kanons symbolischer Selbstvergewisserung der Demokratie gelegt hat, nicht nur das funktionale Republikverständnis, er betrifft auch unmittelbar die Praxis republikanischer Politik. Er ist somit das eigentlich bemerkenswerte Moment im Republikdiskurs des Hilfe-Kreises.

Verfassungspragmatismus und Gemeinschaftsideologie: „Vernunftrepublikanismus“ in der deutschen Zentrumspartei Elke Seefried Auf dem Reichsparteitag der deutschen Zentrumspartei im November 1925 beschwor der Vorsitzende Wilhelm Marx die Delegierten: „Das Wesen und die Aufgaben der Deutschen Zentrumspartei“ lägen in der „Politik der Mitte“. Das Zentrum als „Verfassungspartei“ stehe für „staatserhaltende und staatsfördernde Politik“ aus seiner christlichen Weltanschauung heraus. Es lasse sich nicht von Dogmen, sondern von Zweckmäßigkeiten und Notwendigkeiten leiten, es könne mit der Rechten und der Linken koalieren. Dementsprechend wolle man verantwortlich an der Republik mitarbeiten, auch wenn das Zentrum keine republikanische Partei sei1. Demgegenüber warb Reichskanzler a. D. Joseph Wirth für einen klaren demokratisch-republikanischen Kurs: „Das Zentrum wird in kurzem um die Frage nicht herumkommen, ob und inwieweit in unseren Kreisen das republikanische Bekenntnis stärker formuliert werden muss“.2 Dagegen argumentierte der christliche Gewerkschafter Adam Stegerwald, zwar stünde man durchaus auf dem Boden der Republik, doch auch Monarchisten müssten in der Partei ihren Platz finden. Deutete Stegerwald Vorbehalte gegen die „mechanistisch(e)“ Demokratie3 nur an, so artikulierte Franz von Papen später Kritik an der parlamentarischen Demokratie mit Verweis auf die Notwendigkeit „starke(r) autoritäre(r) Führerschaft“.4 Schließlich einigte man sich auf eine Resolution, in der sich das Zentrum zur Republik bekannte, aber als „Verfassungspartei“ grundsätzlich für verschiedene Staatsformen offen erklärte.5 1

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WILHELM MARX: Das Wesen und die politischen Aufgaben der Deutschen Zentrumspartei in der deutschen Politik, in: Offizieller Bericht des Vierten Reichsparteitages (RPT) der Deutschen Zentrumspartei. Tagung zu Cassel am 16. und 17. Dezember 1925, Berlin o. J., S. 8–14, hier S. 13f, vgl. S. 112; ähnlich KONSTANTIN FEHRENBACH, in: ebd., S. 25f. Ich danke Esther Krug M.A. für Presse-Recherchen, Prof. Dr. Andreas Wirsching, PD Dr. Michael Philipp, Dr. des. Martina Steber und Dr. Peer Volkmann für Hinweise und kritische Lektüre des Manuskriptes. JOSEPH WIRTH, in: Bericht 4. RPT (wie Anm. 1), S. 37; vgl. ebd., S. 30–38, S. 108–110; Wirth auf dem Parteitag, in: Germania, 538, 17. 11. 1925; Der Parteitag in Cassel, in: ebd., 539, 17. 11. 1925. ADAM STEGERWALD, in: Bericht 4. RPT (wie Anm. 1), S. 71; vgl. S. 72; gegen die „formalistische“ Demokratie: Der Parteitag in Cassel, in: Germania, 539, 17. 11. 1925. Zu Papens Rede auf der Reichsausschusssitzung 1926 vgl. Das geschlossene Zentrum, in: Germania, 509, 1. 11. 1926. Vgl. Bericht 4. RPT (wie Anm. 1), S. 114.

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Evident werden an dieser Episode differente und ambivalente Haltungen gegenüber der Weimarer Republik innerhalb der Zentrumspartei. Einerseits bekannte sich die Partei, welche die Monarchie bis 1918 als Staatsform nicht infrage gestellt hatte, nun zur Republik. Und tatsächlich übernahm sie in der politischen Praxis Verantwortung für die Republik, sie war tragende Regierungspartei, die an allen Koalitionen und Präsidialkabinetten bis 1932 zumindest personell beteiligt war, und stellte am häufigsten den Kanzler.6 Andererseits verdeutlichen die Resolution und die wiederholten Diskussionen um das Bekenntnis zu Republik und Demokratie7, dass das Zentrum grundsätzlich für unterschiedliche Staats- (und im Kern auch Regierungs-)Formen offen blieb. Machte diese Ambivalenz gegenüber Weimar das Zentrum zu einer, vielleicht sogar der „vernunftrepublikanischen“ Partei in der Weimarer Republik? Um dieser Frage nachzugehen, ist „Vernunftrepublikanismus“ zu konzeptionalisieren. Geprägt wurde der Begriff durch das vielzitierte Diktum Friedrich Meineckes über das Selbstbild des „Vernunftrepublikaners“, der im Grunde „Herzensmonarchist“ geblieben sei.8 Für die folgenden Überlegungen soll „Vernunftrepublikanismus“ aber nicht nur die Dimension Monarchismus versus Republikanismus widerspiegeln, sondern weiter gefasst werden, indem darunter eine funktionalistische Haltung maßgeblicher Träger der Republik gegenüber dem politischen System Weimars verstanden wird, welche mit einer im Grunde nur formalen Loyalität zur Republik einherging. Nähert man sich dem historischen Phänomen eines katholischen „Vernunftrepublikanismus“, so ist zunächst seine Repräsentanz innerhalb des gesamten Spektrums des politischen Katholizismus zu untersuchen. Der poli6

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Vgl. v. a. KARL BACHEM: Vorgeschichte, Geschichte und Politik der Deutschen Zentrumspartei, 8, Köln 1931, S. 223–503; RUDOLF MORSEY: Die deutsche Zentrumspartei 1917–1923, Düsseldorf 1966; DERS.: 1918–1933, in: WINFRIED BECKER u. a. (Hg.): Lexikon der christlichen Demokratie in Deutschland, Paderborn u. a. 2002, S. 35–43; KARSTEN RUPPERT: Im Dienst am Staat von Weimar. Das Zentrum als regierende Partei in der Weimarer Demokratie 1923–1930, Düsseldorf 1992; ULRICH VON HEHL: Die Zentrumspartei, in: HERMANN VON DER DUNK/HORST LADEMACHER (Hg.): Auf dem Weg zum modernen Parteienstaat, Melsungen 1986, S. 97–120; ELLEN LOVELL ADAMS: The German Center Party 1870–1933, Carbondale/Edwardsville 1981. Vgl. HEINRICH LUTZ: Demokratie im Zwielicht. Der Weg der deutschen Katholiken aus dem Kaiserreich in die Republik 1914–1925, München 1963; JOSEF STEGMANN: Um Demokratie und Republik. Zur Diskussion im deutschen Katholizismus der Weimarer Zeit, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften 10 (1969), S. 101–127; mit einem weiten Demokratiebegriff als „Staatsform“, „die am meisten von den Entscheidungen des Einzelnen getragen wird“: WINFRIED BECKER: Staats– und Verfassungsverständnis der christlichen Demokratie von den Anfängen bis 1933, in: GÜNTHER RÜTHER (Hg.): Geschichte der christlich-demokratischen und christlich-sozialen Bewegungen in Deutschland, I, Bonn 1984, S. 93–144, hier S. 100; nun STEFAN GERBER: Der Verfassungsstreit im Katholizismus der Weimarer Republik. Zugänge und Untersuchungsfelder, in: Historisches Jahrbuch (HJb) 126 (2006), S. 359–393. FRIEDRICH MEINECKE: Politische Schriften und Reden, Darmstadt 1958, S. 281.

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tische Katholizismus in Weimar reichte über die Zentrumspartei hinaus, umfasste auch die Bayerische Volkspartei (BVP) und den ganzen Komplex des verbandlichen Katholizismus, kurz das „Auftreten der Katholiken als politische Kraft in Staat und Gesellschaft“.9 In einem ersten Schritt sind die drei sich herausbildenden Strömungen des politischen Katholizismus der Weimarer Republik – demokratisch-republikanischer Flügel, „Vernunftrepublikaner“, Konservative bzw. Rechtskatholiken – zu charakterisieren. Sodann sollen in einem zweiten Schritt spezifische Motivlagen für „vernunftrepublikanische“ Haltungen untersucht werden, allerdings konzentriert auf die zentrale Instanz des politischen Katholizismus, die Zentrumspartei im Reich. Zum dritten ist zu prüfen, aus welchen grundsätzlichen Leitbildern sich „Vernunftrepublikanismus“ in der Zentrumspartei speiste, welches Gesellschafts- und Verfassungsverständnis ihm innewohnte. Zu zeigen wird sein, dass er zum ersten aus einem historisch gewachsenen Pragmatismus und einer neuscholastisch geprägten, sich „neutral“ gegenüber Staats- und Regierungsformen erklärenden katholischen Staatslehre hervorging, und dass die „Vernunftrepublikaner“ zum zweiten einer Gemeinschaftsideologie anhingen, die sich in der Integrationsformel des demokratischen „deutschen Volksstaates“ politisch abbildete, aber ein vertieftes Verständnis des parlamentarischen Systems erschwerte. Die Folgen dessen sollten in der „vernunftrepublikanischen“ Unterstützung des Brüningschen Präsidialregimes ab 1930 evident werden. I. Strömungen im politischen Katholizismus der Weimarer Republik Betrachtet man den politischen Katholizismus im Hinblick auf seine Haltung zu Republik und Demokratie, so bildeten bzw. verfestigten sich 1918/19 drei Strömungen, die im folgenden kurz aufgefächert werden sollen. Dabei muss die Übersicht naturgemäß typisieren und Exponenten als „Idealtypen“ benennen, die immer nur bedingte Repräsentativität erlangen. Der politische Katholizismus war bis 1918 in das Kaiserreich hineingewachsen, trotz Vorbehalten gegenüber dessen protestantischer Prägung. Die Monarchie als quasi selbstverständliche Staatsform hatte man nie infrage gestellt, wobei in katholischen Bundesstaaten wie Bayern die Bindung an das Herrscherhaus durchaus tief reichte.10 Im Weltkrieg hatte das Zentrum eine 9

MICHAEL KLÖCKER: Der politische Katholizismus. Versuch einer Neudefinierung, in: Zeitschrift für Politik 18 (1971), S. 124–130, hier S. 130; mit einer stärkeren Trennung zwischen politischem und sozialem Katholizismus RUDOLF UERTZ: Vom Gottesrecht zum Menschenrecht. Das katholische Staatsdenken von der Französischen Revolution bis zum II. Vatikanum (1789–1965), Paderborn 2005, S. 30f; HANS MAIER: Politischer Katholizismus, sozialer Katholizismus, christliche Demokratie, in: Civitas I (1962), S. 9–26. 10 Vgl. R. MORSEY, Zentrumspartei (wie Anm. 6), v. a. S. 33–75; WILFRIED LOTH: Katho-

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nationale Haltung bezogen, auch vor dem Hintergrund des alten Verdachts der „Reichsfeindschaft“. Erst im Sommer 1917 drängte eine Reformgruppe auf Frieden und Parlamentarisierung. Doch bekannte sich die Partei im Juni 1918 nochmals zur starken Monarchie, wenngleich ebenso zu einer kraftvollen Volksvertretung11, bis dann die Revolution den politischen Katholizismus zu einer Neuorientierung zwang.12 Zu neuer Aktivität fand nach der Revolution ein erster, demokratisch orientierter Flügel, der sich rasch mit der entstehenden Republik identifizierte. Hier warb man für ein Bekenntnis zur demokratischen Republik, welche die Regierungsgewalt vom Volkswillen ableite. Als Motor dieser republikanischen Strömung profilierte sich in der Umbruchphase der schwäbische Reichstagsabgeordnete und Staatssekretär Matthias Erzberger; er forcierte im Februar 1919 den Eintritt des Zentrums in die Weimarer Koalition.13 Nach dessen Ermordung 1921 füllte Joseph Wirth diese Lücke, wobei Wirth stärker auf eine christlich-soziale Fundierung der Republik abhob. Nicht zuletzt infolge der – eingangs deutlich gewordenen – Diskussionen um Republik und Demokratie trat er 1925 zeitweilig aus der Zentrumsfraktion aus und begründete dann mit Demokraten und Sozialdemokraten die „Republikanische Union“.14 Der republikanische Flügel stützte sich auf den traditionell stärker liberal orientierten südwestdeutschen und Frankfurter Katholizismus.15 Unterstützung erfuhr Wirth ferner von Teilen der katholischen Arbeitervereine mit deren Vorsitzendem Joseph Joos; gleichwohl war Joos bedacht, auch den rechten Flügel zu integrieren, indem er eine gewisse Offenheit der Entwicklung von

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liken im Kaiserreich. Der politische Katholizismus in der Krise des wilhelminischen Deutschlands, Düsseldorf 1984. Richtlinien des Reichsausschusses des Zentrums, 30. 6. 1918, in: RUDOLF MORSEY (Hg.): Katholizismus, Verfassungsstaat und Demokratie, Paderborn u. a. 1988, S. 109–112. Vgl. R. MORSEY, Zentrumspartei (wie Anm. 6), S. 33–75; W. LOTH, Katholiken (wie Anm. 10), S. 373–381. Vgl. R. MORSEY, Zentrumspartei (wie Anm. 6), S. 167f; zu Erzberger (1875–1921): RUDOLF MORSEY: Matthias Erzberger, in: Zeitgeschichte in Lebensbildern (ZiL), I, Mainz 1973, S. 103–112, Zit. S. 112; Beiträge in: Rottenburger Jb. für Kirchengeschichte 23 (2004/05); KLAUS EPSTEIN: Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie, Berlin/Frankfurt a. M. 1962 (Orig. 1959), v. a. S. 324–330. Zu Wirth (1879–1956): ULRIKE HÖRSTER-PHILIPPS: Joseph Wirth 1879–1956. Eine politische Biographie, Paderborn u. a. 1998; HEINRICH KÜPPERS: Joseph Wirth. Parlamentarier, Minister und Kanzler in der Weimarer Republik, Stuttgart 1997; JOSEPH WIRTH: Rede am 13. 11. 1918 und Rede zur Verfassungsfeier am 11. 8. 1921, beide in: DERS.: Unsere politische Linie im deutschen Volksstaat, Berlin 1924, S. 11–17, S. 18–28; DERS. (Hg.): Der Aufbruch. Republikanische Flugschriften, Berlin/Frankfurt 1926. Programm der württembergischen Zentrumspartei, in: Germania, 556, 28. 11. 1918; vgl. R. MORSEY, Zentrumspartei (wie Anm. 6), S. 85f; zum Frankfurter Katholizismus HEINZ BLANKENBERG: Politischer Katholizismus in Frankfurt am Main 1918–1933, Mainz 1981; BRUNO LOWITSCH: Der Kreis um die Rhein-Mainische Volkszeitung, Wiesbaden/ Frankfurt a. M. 1980.

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Staats- und Regierungsform betonte und damit seine republikanische Haltung relativierte.16 Auf einem schmalen Grat zwischen enthusiastischer Bindung an die Republik und Anleihen an das Begriffs- und Ideenarsenal der politischen Rechten bewegten sich schließlich die Windthorstbunde, die Parteijugend des Zentrums. Diese verband ihre positive Haltung zum neuen System von Weimar mit jugendbewegtem, sprich idealistischem Politikverständnis und Vorstellungen von starker personaler Führung, was teilweise ambivalente Haltungen nach sich zog.17 Fließend waren so die Grenzen zur zweiten Teilgruppe des politischen Katholizismus, zum katholischen „Vernunftrepublikanismus“. Diese mittlere Strömung stellte sich 1918/19 auf „den Boden der gegebenen, vollendeten Tatsachen“18, trug politische Verantwortung für die Republik, ohne sich aber – wie eingangs erkennbar – voll zu ihr zu bekennen. Idealtypisch verkörperte den „Vernunftrepublikanismus“, der zumindest in der Spitze des Zentrums führend vertreten war19, der Reichskanzler und langjährige Parteivorsitzende Wilhelm Marx20, ferner sein Vorgänger als Vorsitzender, der 16 Zu Joos (1878–1965): OSWALD WACHTLING: Joseph Joos. Journalist – Arbeiterführer – Parlamentarier. Politische Biographie 1878–1933, Mainz 1974, v. a. S. 39–52, S. 67–71; JOSEPH JOOS: Zentrumsprogramm und politische Zeitaufgaben, Berlin o.J. (1922); DERS.: Um das neue Deutschland, Frankfurt a. M. 1925; DERS.: Zentrumspolitik und Zeitaufgabe, in: Germania, 520, 7. 11. 1926; JÜRGEN ARETZ: Katholische Arbeiterbewegung und Nationalsozialismus, Mainz ²1982; DIRK H. MÜLLER: Arbeiter, Katholizismus, Staat. Der Volksverein für das katholische Deutschland und die katholischen Arbeiterorganisationen in der Weimarer Republik, Bonn 1996, v. a. S. 238ff. 17 Vgl. Reichstagung in Soest und Recklinghausen, in: Das junge Zentrum 3 (1926), H. 9/10; HEINRICH KRONE: Politische Notizen, in: ebd. 4 (1927), H. 2, S. 29–32; Das Osnabrücker Bekenntnis, in: ebd. 6 (1929), H. 7, S. 123f; JOSEPH JOOS: Die politische Ideenwelt des Zentrums, Karlsruhe 1928, S. 38 mit Verweis auf „das Religiöse, auf Wille, Aktion, Zucht, Führung und Gefolgschaft“ in den Windthorstbunden; HEINRICH KRONE: Die junge katholische Generation in der deutschen Politik, in: KARL ANTON SCHULTE (Hg.): Nationale Arbeit. Das Zentrum und sein Wirken in der deutschen Republik, Berlin/Leipzig 1929, S. 459–469; zur Unterstützung Wirths Bericht 4. RPT (wie Anm. 1), S. 96f; R. MORSEY, Zentrumspartei (wie Anm. 6), S. 592–594; WOLFGANG KRABBE: Parteijugend in der Weimarer Republik. Ein typologischer Vergleich am Beispiel der Zentrums- und der DVP-Jugend, in: DERS.: Politische Jugend in der Weimarer Republik, Bochum 1993, S. 38–72. 18 ADOLF GRÖBER, in: Sten. Ber. NV, 326, 6. Sitzung, 13. 2. 1919, S. 53; vgl. S. 49–54; fast wortgleich HEINRICH BRAUNS, ebd., 328, 66. Sitzung, 25. 7. 1919, S. 1897; CARL TRIMBORN, in: Offizieller Bericht des Ersten Reichsparteitages der Deutschen Zentrumspartei. Tagung zu Berlin 19. bis 22. Januar 1920, Berlin o. J., S. 6. 19 1925 wurde auf dem Zentrums-Parteitag kolportiert, etwa 60 % der Mitglieder seien republikanisch orientiert, 30 % unentschieden, H. LUTZ, Demokratie (wie Anm. 7), S. 107, wohingegen die Parteispitze stärker „vernunftrepublikanisch“ orientiert scheint. 20 Zu Marx (1863–1846): ULRICH VON HEHL: Wilhelm Marx 1863–1946. Eine politische Biographie, Mainz 1987.

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„Mann des Ausgleichs“ Carl Trimborn21, sodann Adolf Gröber, der in der Nationalversammlung als Fraktionsvorsitzender agierte22, der Moraltheologe Joseph Mausbach, der das Zentrum maßgeblich in den Verfassungsberatungen vertrat23, und der zeitweilige Kanzler bzw. Fraktionsvorsitzende Konstantin Fehrenbach.24 Zunächst rechnete ihr auch der Kulturpolitiker Georg Schreiber zu, der betonte, das Zentrum werde niemand auf das Bekenntnis zu Republik oder Monarchie verpflichten, brauche man doch „über die Staatsform hinaus“ beide Strömungen zur „positiven Gestaltung des öffentlichen Lebens“; doch identifizierte sich Schreiber zunehmend mit Weimar und bezeichnete 1927 ein „Republikanertum des Opportunismus“ als „unerträglich“.25 Im „Vernunftrepublikanismus“ verorten lassen sich ferner gemäßigte Teile der föderalistischen bis partikularistischen BVP, die sich bereits im November 1918 vom Zentrum abspaltete26, zudem das Gros der katholischen Verbände, vor allem der „Volksverein für das katholische Deutschland“27, dem so gewichtige Prota21 Zu Trimborn (1854–1921): R. MORSEY, Zentrumspartei (wie Anm. 6), S. 570–576, hier auch Zit.; DERS.: Karl Trimborn, in: ZiL, I, S. 81–93. 22 Zu Gröber (1854–1919), als „Prototyp des Zentrumsmannes, der die Revolution verurteilte, aber auf dem „Boden der neuen Tatsachen ... für die aktive Mitarbeit in und an der neuen Republik eintrat“: R. MORSEY, Zentrumspartei (wie Anm. 6), S. 565–570, Zit. S. 568. 23 Zu Mausbach (1861–1931): WILHELM WEBER: Joseph Mausbach, in: ZiL, III, Mainz 1979, S. 149–161; WILHELM RIBHEGGE: Katholische Kirche, nationaler Staat und Demokratie. Zur Rolle des Moraltheologen Joseph Mausbach (1860–1931) in der deutschen Öffentlichkeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, in: Westfälische Zeitschrift 148 (1998), S. 171–198; DERS.: Kirche und Demokratie. Zur Rolle Josephs Mausbachs in der Weimarer Nationalversammlung 1919, in: Stimmen der Zeit 217 (1999), S. 611– 622; JOSEPH MAUSBACH: Kulturfragen in der deutschen Verfassung. Eine Erklärung wichtiger Verfassungsartikel, Mönchengladbach 1920; DERS.: Christliche Staatsordnung und Staatsgesinnung, Mönchengladbach 1922; DERS.: Thomas von Aquin als Meister christlicher Sittenlehre, München/Rom 1925. 24 Zu Fehrenbach (1852–1926): ASTRID LUISE MANNES: Reichskanzler Constantin Fehrenbach, Berlin 2006; dieser zur „vernunftgemäßen“ Überzeugung, dass eine andere Staatsform als die Republik unmöglich sei, KONSTANTIN FEHRENBACH, in: Bericht 4. RPT (wie Anm. 1), S. 25f. 25 Verhandlungen des Reichstages, Sten. Ber., 392, 288. Sitzung, 17. 3. 1927, S. 9632; Bericht 4. RPT (wie Anm. 1), S. 42f; zu Schreiber (1882–1963) mit weiteren Literaturhinweisen: RUDOLF MORSEY: Der Wissenschaftler Georg Schreiber als Kulturpolitiker und Wissenschaftsorganisator in der Weimarer Republik, in: MICHEL GRUNEWALD/UWE PUSCHNER (Hg.): Das katholische Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1871–1963), Bern u. a. 2006, S. 211–229. 26 Vgl. R. MORSEY, Zentrumspartei (wie Anm. 6), S. 280–285; unten Anm. 35; zur Verteidigung Weimars durch den BVP-Verfassungspolitiker Beyerle: KONRAD BEYERLE: Die Katholiken und der Volksstaat von Weimar, in: GODEHARD JOSEF EBERS (Hg.): Katholische Staatslehre und volksdeutsche Politik, Freiburg i.Br. 1929, S. 85–96; S. GERBER, Verfassungsstreit (wie Anm. 7), S. 369ff, 382f. 27 Zum Volksverein DETLEF GROTHMANN: „Verein der Vereine“? Der Volksverein für das katholische Deutschland im Spektrum des politischen und sozialen Katholizismus der

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gonisten wie der langjährige Arbeitsminister Heinrich Brauns entstammten.28 Eher am rechten Rand des „Vernunftrepublikanismus“ standen schließlich die katholischen Mitglieder der christlichen Gewerkschaften, die bis 1918 dezidiert national und monarchistisch orientiert waren; sie fanden nur mühsam in die Republik, was sich an deren gespaltener Reaktion auf den Generalstreik infolge des Kapp-Putsches und internen Differenzen um das Bekenntnis zum neuen Staat auf dem Dortmunder Kongress 1926 manifestierte.29 Diese Ambivalenz gegenüber Weimar verkörperte der langjährige Generalsekretär der christlichen Gewerkschaften Adam Stegerwald, der das Zentrum zur christlich-nationalen Volkspartei umformen wollte, sich für Koalitionen mit der DNVP offen zeigte und – wie eingangs gesehen – Reserven gegenüber der parlamentarischen Demokratie kundtat.30 Wohl sollte diese Skepsis nicht so weit reichen wie im Falle Heinrich Brünings, der zunächst ebenfalls für die christlichen Gewerkschaften tätig war, nicht zuletzt durch die Fronterfahrung aber stärker einer preußisch-nationalistischen und monarchistischen Vorstellungswelt verhaftet war.31 Deutlich wird hieran, dass sich auch die Grenzen

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Weimarer Republik, Paderborn 1996; GOTTHARD KLEIN: Der Volksverein für das katholische Deutschland 1890–1933, Paderborn u. a. 1996. Zu Brauns (1868–1939) konzis HEINZ HÜRTEN: Deutsche Katholiken 1918–1945, Paderborn 1992, S. 94; weniger informativ zum Staatsverständnis HUBERT MOCKENHAUPT: Weg und Wirken des geistlichen Sozialpolitikers Heinrich Brauns, München 1977. Brauns verortete sich selbst als „Vernunftrepublikaner“, der aber zur Demokratie stehe: Bericht 4. RPT (wie Anm. 1), S. 54f; Wirth auf dem Parteitag, in: Germania, 538, 17. 11. 1925. Zu den interkonfessionellen christlichen Gewerkschaften MICHAEL SCHNEIDER: Die christlichen Gewerkschaften 1894–1933, Bonn 1982, v. a. S. 515–530; deren Monarchismus bis 1918 betont auch R. MORSEY, Zentrumspartei (wie Anm. 6), S. 99. Zu Dortmund und zu den umstrittenen verabschiedeten Leitsätzen ADAM STEGERWALD: Arbeiterschaft, Volk und Staat. Vortrag, gehalten auf dem 11. Kongress der christlichen Gewerkschaften in Dortmund, Berlin 1926, v. a. S. 22f, 28f. Zu Stegerwald (1874–1945) vgl. ADAM STEGERWALD: Arbeiterschaft und Kriegsentscheidung, Cöln 1917; DERS: Deutsche Lebensfragen. Vortrag auf dem 10. Kongreß der christlichen Gewerkschaften Deutschlands am 21. November 1920 in Essen, in: HANS NEUGEBAUER (Hg.): Adam Stegerwald. Leben – Werk – Erbe, Würzburg 1995, S. 57– 116; DERS.: Arbeiterschaft (wie Anm. 29); PETER HERDE: Die Unionsparteien zwischen Tradition und Neubeginn: Adam Stegerwald, in: WINFRIED BECKER (Hg.): Die Kapitulation von 1945 und der Neubeginn in Deutschland, Köln/Wien 1987, S. 245–295, hier S. 250–252 mit einer Einordnung Stegerwalds als „Angehöriger des rechten Flügels“ des Zentrums, aber auch als „Vernunftrepublikaner“; ausgewogen RUDOLF MORSEY: Adam Stegerwald, in: ZiL, I, S. 206–219; DERS.: Adam Stegerwald – Größe und Grenze des christlichen Arbeiterführers und Sozialpolitikers, in: Vierteljahresschrift für Sozialrecht 3 (1975), S. 155–170; weniger zum Demokratieverständnis BERNHARD FORSTER: Adam Stegerwald (1874–1945). Christlich-nationaler Gewerkschafter, Zentrumspolitiker, Mitbegründer der Unionsparteien, Düsseldorf 2003. Zu Brüning (1885–1970) u. a.: RUDOLF MORSEY: Brünings politische Weltanschauung vor 1918, in: GERHARD A. RITTER (Hg.): Gesellschaft, Parlament und Regierung, Düsseldorf 1974, S. 317–335; DERS.: Heinrich Brüning, in: ZiL, I, S. 251–262; salomonisch

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zwischen dem rechten Rand des „Vernunftrepublikanismus“ und einer im Kern antirepublikanischen Haltung verflüssigten. Drittens formierte sich nämlich eine konservativ-monarchistische, zum Teil rechtskatholische Strömung, die zunächst wohl zahlenmäßig schwächste Gruppierung.32 Konservative Stimmen, die dem adeligen Katholizismus, zum Teil auch dem Klerus entstammten, bekannten sich weiterhin zur Monarchie und brachen so 1919/20 einen „Verfassungsstreit“ vom Zaune. Dabei argumentierten sie mit traditionellen Haltungen im politischen Katholizismus, stärker aber mit einem angeblichen Widerspruch zwischen Weimarer Reichsverfassung und katholischer Staatsauffassung. Im Sinne einer konservativen Auslegung der Postulate katholischer Staatslehre könne nur Gott Schöpfer der Staatsgewalt sein, gebe es doch nach Römer 13 „keine Gewalt außer von Gott“. Dagegen postuliere die Weimarer Verfassung, die keinen Bezug auf Gott enthalte, in Artikel 1 das Volk als Quelle der Staatsgewalt. Darüber hinaus trage sie den Makel der Revolution, die den Fürsten ihre Macht entrissen habe, welche doch offenkundig göttlichem Willen entsprungen sei.33 Zum Ausdruck kamen solche Argumentationsmuster in Kardinal Faulhabers Diktum auf dem Katholikentag 1922, die Revolution sei „Meineid und Hochverrat“ gewesen, dem Konrad Adenauer energisch widersprach.34 Monarchistische Leitbilder erhielten sich besonders innerhalb der BVP, verquickte sich doch hier die Bindung an Katholizismus und bayerische Identität mit jener an das kathoHERBERT HÖMIG: Brüning. Kanzler in der Krise der Republik, München 2000, v. a. S. 211–229; quellengesättigt WILLIAM L. PATCH: Heinrich Brüning and the Dissolution of the Weimar Republic, Cambridge 1998; kritisch nun PEER OLIVER VOLKMANN: Heinrich Brüning (1885–1970). Nationalist ohne Heimat, Düsseldorf 2007; sowie unten Anm. 129. 32 Zur relativen Schwäche dieser Strömung H. LUTZ, Demokratie (wie Anm. 7), S. 107. 33 Vgl. HEINRICH SCHRÖRS: Katholische Staatsauffassung, Freiburg i. Br. 1919; DERS: Volkssouveränität und Katholizismus, in: Historisch-Politische Blätter (HPBl) 170 (1922), S. 549–564; HERMANN FRHR. VON LÜNINCK: Das Zentrum am Scheideweg, in: ebd. 165 (1920), S. 53–68, S. 107–122; FRANZ XAVER KIEFL: Die Staatsphilosophie der katholischen Kirche und die Frage der Legitimität in der Erbmonarchie, Regensburg 1928, S. 15–18, S. 59–93; vgl. S. GERBER, Verfassungsstreit (wie Anm. 7); R. UERTZ, Gottesrecht (wie Anm. 9), S. 316–318; R. MORSEY, Zentrumspartei (wie Anm. 6), S. 236–242. Zur katholischen Staatslehre unten S. 70f. 34 Vgl. R. MORSEY, Zentrumspartei (wie Anm. 6), S. 476–480; HUGO STEHKÄMPER: Konrad Adenauer als Katholikentagspräsident, Mainz 1977, v. a. S. 53–80. Die Bischofskonferenz legte gegen Passagen der Verfassung, vor allem hinsichtlich reichsrechtlicher Eingriffsmöglichkeiten in die Belange der Kirchen, Verwahrung ein – ohne dass dies als Ablehnung der Verfassung gewertet werden kann; vgl. R. MORSEY, Zentrumspartei (wie Anm. 6), S. 235; HANS MAIER: Revolution und Kirche. Zur Frühgeschichte der christlichen Demokratie, München 1975; JOSEF RIEF: Zum Demokratieverständnis der Kirche, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften 10 (1969), S. 45–75; zum Vatikan, der Koalitionen des Zentrums mit der SPD skeptisch sah, U. V. HEHL, Marx (wie Anm. 20), S. 354f, S. 359.

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lische Herrscherhaus der Wittelsbacher.35 Verwandt, aber nicht identisch mit diesem konservativ-monarchistischen Katholizismus ist eine rechtskatholische Strömung, die monarchistische Affekte bediente, aber stärker mit autoritärständischen und diktatorischen Konzeptionen liebäugelte. Sie entfernte sich von der katholisch-konservativen Vorstellungswelt, indem „moderne“ nationalistische, völkische und führerideologische Ideen die Basis ihres Denkens bildeten. Zum Rechtskatholizismus gehörten nicht nur Protagonisten aus dem adeligen Katholizismus wie Franz von Papen36, sondern auch „jungkonservative“ katholische Akademiker. Ihre Exponenten verblieben zum Teil (wie Papen) im ganz rechten Flügel der Zentrumspartei; Heimat der Rechtskatholiken wurde aber stärker die 1920 gegründete „Nationale Arbeitsgemeinschaft deutscher Katholiken“ der DNVP.37 II. Motivlagen für „Vernunftrepublikanismus“ in der Zentrumspartei 1. Selbstpreisgabe der Monarchie und Sicherung katholischer Interessen in der Krise 1918/19 Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches und der Revolution fand sich die „vernunftrepublikanische“ Mitte der Partei relativ rasch mit der neuen Lage zurecht: Man stellte sich auf den „Boden der Tatsachen“, wollte in den „Richtlinien“ des Parteiausschusses vom 30. 12. 1918 die demokratische Republik mittragen und stimmte – auf Drängen Erzbergers vom „linken“ Flügel – im Februar 1919 der Koalition mit SPD und DDP zu.38 Diese Umorientierung wurde durch den lautlosen Rückzug der Fürsten erleichtert. Denn die deut35 Vgl. KLAUS SCHÖNHOVEN, Die Bayerische Volkspartei 1924–1932, Düsseldorf 1972; KARSTEN RUPPERT: Der Einfluß christlich-demokratischer wie christlich–sozialer Ideen und Parteien auf Geist und Politik in der Weimarer Zeit, in: WINFRIED BECKER/RUDOLF MORSEY (Hg.): Christliche Demokratie in Europa, Köln/Wien 1988, S. 129–152, hier S. 132–134. 36 Zu Papen JÜRGEN A. BACH: Franz von Papen in der Weimarer Republik. Aktivitäten in Politik und Presse 1918–1932, Düsseldorf 1977. 37 Vgl. GABRIELE CLEMENS: Martin Spahn und der Rechtskatholizismus in der Weimarer Republik, Mainz 1983; DIES.: Rechtskatholizismus zwischen den Weltkriegen, in: ALBERT LANGNER (Hg.): Katholizismus, nationaler Gedanke und Europa seit 1800, Paderborn 1985, S. 111–130; HORST GRÜNDER: Rechtskatholizismus im Kaiserreich und in der Weimarer Republik unter besonderer Berücksichtigung der Rheinlande und Westfalens, in: Westfälische Zeitschrift 134 (1984), S. 107–155; LARRY EUGENE JONES: Catholics on the Right. The Reich Catholic Committee of the German National People’s Party, 1920–1933, in: HJb 126 (2006), S. 221–267. Zur Sorge um republikfeindliche junge katholische Akademiker: Offizieller Bericht des Zweiten Reichsparteitages der Deutschen Zentrumspartei. Tagung zu Berlin vom 15. bis 17. Januar 1922, Berlin o. J.: LAUSCHER, S. 115–118, H. BRAUNS, S. 13, K. FEHRENBACH, S. 23f. 38 Zit. siehe Anm. 18; vgl. R. MORSEY, Zentrumspartei (wie Anm. 6), S. 33–75, S. 79–172; J. MAUSBACH, Kulturfragen (wie Anm. 23), S. 14–18.

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schen Monarchen hatten kampflos den Weg freigemacht und damit verbliebene Loyalitäten zerstreut: Die „geradezu verblüffende“ sofortige Abdankung der deutschen Fürsten „hat dem Eindringen des republikanischen Gedankens auch in solche Kreise, die nie an eine Verfassungsänderung gedacht hatten, ... starken Vorschub geleistet“, betonte Joseph Mausbach. Schließlich sei die Monarchie quasi von ihren Trägern selbst preisgegeben worden.39 Vor allem aber wirkte nun ein Krisenreflex, der genuin katholische Interessen in der Unsicherheitsphase der Revolution sichern wollte. Denn als Angstbild vor Augen schwebte dem Zentrum in diesen Wochen die säkularisierende, kirchenfeindliche Politik der Revolutionsregierung in Preußen, die vom Kultusminister aus der USPD, Adolf Hoffmann, forciert wurde. So stellte die Parteiführung vor der Koalitionsbildung im Februar 1919 Bedingungen: Die Rechte der katholischen Kirche müssten gesichert und radikale Sozialisierung verhindert werden.40 Gröber argumentierte, das Zentrum sehe in der Republik die „einzige Möglichkeit ..., aus dem Chaos der Revolution herauszukommen... Wir müssen wieder zu geordneten, rechtmäßigen Zuständen gelangen und wir müssen verhüten, daß sich eine Entwicklung entfaltet, die zur sozialistischen Republik führen müßte.“41 Die Überlegung, katholische Interessen in der akuten Krise zu sichern, prägte die „Vernunftrepublikaner“ der Partei auch in der Weimarer Nationalversammlung. Dies galt vor allem für den Grundrechtsteil: Geleitet von Mausbach, kämpfte das Zentrum erfolgreich für Glaubens- und Gewissensfreiheit, das Recht auf freie Religionsausübung, Eigentumsgarantie, schließlich auch die Rechte der christlichen Kirchen, die als Körperschaften des öffentlichen Rechts bestätigt wurden. Zwar hatte man im Weimarer Schulkompromiss Zugeständnisse zu konzedieren.42 Insgesamt aber konnte das Zentrum gegenüber der Bismarckschen Verfassung substantielle Fortschritte in Fragen der Religions- und Gewissensfreiheit erzielen.43 Nachdem auch die schwere Hypothek 39 Ebd., S. 20; so auch R. MORSEY, Zentrumspartei (wie Anm. 6), S. 81f; KARSTEN RUPPERT: Die Deutsche Zentrumspartei in der Mitverantwortung für die Weimarer Republik: Selbstverständnis und politische Leitideen einer konfessionellen Mittelpartei, in: WINFRIED BECKER (Hg.): Die Minderheit als Mitte, Paderborn u. a. 1986, S. 71–87, hier S. 79. 40 Vgl. J. MAUSBACH, Kulturfragen (wie Anm. 23), S. 14–18; R. MORSEY, Zentrumspartei (wie Anm. 6), S. 165–172, S. 110–117; HERBERT HÖMIG: Das preußische Zentrum in der Weimarer Republik, Mainz 1979, S. 28–32. 41 ADOLF GRÖBER, in: Sten.Ber. NV, 326, 6. Sitzung, 13. 2. 1919, S. 53f; ähnlich Carl Bachem 19. 11. 1919, in: R. MORSEY, Zentrumspartei (wie Anm. 6), S. 103f. 42 Es gelang die Sicherung des Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach und die Einrichtung von Bekenntnisschulen auf Antrag, weitergehende Forderungen ließen sich nicht verwirklichen; vgl. GÜNTHER GRÜNTHAL: Reichsschulgesetz und Zentrumspartei in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1968. 43 Vgl. PETER TISCHLEDER: Der Katholische Klerus und der deutsche Gegenwartsstaat, Freiburg/Br. 1928, S. 98–194; J. MAUSBACH, Kulturfragen (wie Anm. 23), S. 12; R. MORSEY, Zentrumspartei (wie Anm. 6), S. 230–236.

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des Versailler Vertrages das Zentrum nicht verleitete, die Koalition zu verlassen, stimmte die Partei der Verfassung am 31. 7. 1919 zu. Und indem dieser nun auch ein kleiner Teil an Zentrumsprogrammatik inne wohnte, war der Grundstein für eine zumindest formale Loyalität zur neuen Ordnung gelegt.44 2. Vernunft, Pragmatismus, Verantwortung Wurde der „Vernunftrepublikanismus“ des Zentrums zunächst von Enttäuschung über die Monarchie und vom Willen geprägt, katholische Interessen in der Phase der Revolution zu vertreten, so vermengte sich diese Haltung auch mit der Erkenntnis, die Entwicklung ohnehin nicht aufhalten zu können. Argumentierten die „Vernunftrepublikaner“ insofern mit „Vernunft“? Historisch betrachtet war die katholische Kirche durch Aufklärung und Französische Revolution, die mit einem Suprematsanspruch des Staates auftrat und tiefgreifende säkularisierende Folgen zeitigte, unter starken Rechtfertigungsdruck geraten. Dementsprechend prägte Skepsis, ja Ablehnung die katholische Haltung gegenüber dem modernen und liberalen, von der ratio geprägten Denken, wie dies 1864 im Syllabus errorum, dem päpstlichen Verzeichnis der Irrtümer der Zeit, paradigmatisch zum Ausdruck kam.45 Mit dem Durchbruch der Neuscholastik ab den 1860er-Jahren, welche sich maßgeblich an Thomas von Aquin orientierte, erlebte ein naturrechtlich gespeistes Verständnis von Vernunft eine Renaissance, das dann auch die „vernunftrepublikanischen“ Exponenten der Weimarer Moraltheologie prägen sollte.46 Joseph Mausbach und dessen Schüler Peter Tischleder orientierten sich am Naturrechtsverständnis des Aquinaten, der zu einer Harmonisierung von weltlicher Ordnung und Heilsordnung, von Vernunft und Glauben gelangt war. Vernunft, in ihrer praktischen Form Regel und Richtmaß menschlichen Handelns, durch das sich der Mensch auf das Gute und damit letztendlich auf Gott ausrichte, sei, so Thomas, von Natur aus jedem gegeben. Die Normen der menschlichen Natur, so auch Mausbach und Tischleder, wurzelten in den ewigen Sittennormen, und im Kern ruhe die Vernunft im Göttlichen: „die wahre, unverbildete Vernunft erkennt ihr eigenes Sein und ihre sittliche Anlage als eine Ausstrahlung Gottes.“47 Dies unterscheide den thomasischen Vernunftbegriff von Kant, 44 Vgl. ebd., S. 180–195, S. 199, S. 234; K. RUPPERT, Dienst (wie Anm. 6), S. 411. 45 Vgl. H. MAIER, Revolution (wie Anm. 34); R. UERTZ, Gottesrecht (wie Anm. 9), S. 33– 118; KARL-EGON LÖNNE: Politischer Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1986, S. 9–13. 46 Vgl. R. UERTZ, Gottesrecht (wie Anm. 9), S. 212ff, S. 236ff; DERS.: Christliches Menschenbild und Weltverantwortung. Zur politischen Theorie der Christlichen Demokratie, in: HPM 11 (2004), S. 47–77, hier S. 60f; PETER HENRICI: Vernunft und Verstand, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 10, Freiburg ²1965, Sp. 720–124; zeitgenössisch J. HARING: Naturrecht, in: Staatslexikon, 3, Freiburg/Br. 51929, Sp. 1521–1530, hier Sp. 1523. 47 J. MAUSBACH, Thomas (wie Anm. 23), S. 11; vgl. ebd., S. 9–12; PETER TISCHLEDER, Die

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der die religiöse Sicherung nur an die wesentliche Norm des Sittlichen anbaue und nicht daraus begründe.48 Verworfen wurde damit die Vorstellung absoluter Autonomie der Vernunft, nämlich der menschlichen Vernunft.49 „(R)ationalistisch“ erschien als Gegenteil von vernünftig, denn eine „Religion der Humanität, der reinen Vernunft, (sei) wesentlich verschieden von der christlichen, der katholischen Religion.“50 Mithin führe der Rationalismus zur „Vergottung“ eines menschlichen Vernunftwillens, wie dies bei Rousseau zum Ausdruck komme, und damit zur „völligen Entsittlichung und Aushöhlung des Staatsgedankens“.51 Der wiederholte Rekurs auf die „Negativfolie“ Rousseau offenbart, wie stark die „vernunftrepublikanischen“ Moraltheologen den verworfenen aufklärerischen Rationalismus mit der französischen Tradition der Aufklärung und den tatsächlich religionskritischen Ideen Rousseaus identifizierten, während Kant weitaus differenzierter gewürdigt wurde. Auch innerhalb der Zentrumspartei findet sich die Wendung gegen den liberalen „Rationalismus“, der explizit in der französischen Aufklärung verortet wurde, und zwar im rechten Flügel der „Vernunftrepublikaner“ um Adam Stegerwald. In seiner berühmt gewordenen Essener Rede 1920, die von Heinrich Brüning und Heinrich Brauns mit konzipiert wurde, sollte Stegerwald ein solches anti-„rationalistisches“ Weltbild präsentieren. Ausgehend von der konservativen Perzeption einer Bedrohung durch die „Mechanisierung und Materialisierung der ganzen Welt“, durch Naturwissenschaft und Technik, verwarf Stegerwald das „rationalistische und mechanistische Denken der französischen Aufklärungszeit des 18. Jahrhunderts“.52 Die „vernunftrepublikanische“ Spitze der Zentrumspartei aber rezipierte die moraltheologische und philosophische Distanz zum Vernunftbegriff kaum,

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Staatslehre Leos XIII., Mönchengladbach ³1927, S. 199–203; DERS.: Die naturrechtlichen Grundlagen des Staates, in: G. J. EBERS, Staatslehre (wie Anm. 26), S. 10–22; RICHARD HEINZMANN: Thomas von Aquin, Stuttgart 1994. Zu Tischleder (1891–1947): LYDIA BENDEL-MAIDL: Thomanische Staatslehre – Barriere oder Hilfe in einem totalitären Staat? Ausgewählte Themen aus Peter Tischleders katholischer Staats- und Gesellschaftslehre, in: HANS-JÜRGEN KARP/JOACHIM KÖHLER (Hg.): Katholische Kirche unter nationalsozialistischer und kommunistischer Diktatur. Deutschland und Polen 1939–1989, Köln u. a. 2001, S. 41–73; PETER TISCHLEDER: Ursprung und Träger der Staatsgewalt nach der Lehre des hl. Thomas und seiner Schule, Mönchengladbach 1923; D ERS.: Staatsgewalt und katholisches Gewissen, Frankfurt a. M. 1927; DERS.: Klerus (wie Anm. 43). J. MAUSBACH, Thomas (wie Anm. 23), S. 11f. So GODEHARD J. EBERS: Der Katholizismus und die Wandlungen der Staatsidee, in: DERS. (Hg.), Staatslehre (wie Anm. 26), S. 25–44, hier S. 32. J. MAUSBACH, Thomas (wie Anm. 23), S. 34. P. TISCHLEDER, Grundlagen (wie Anm. 47), S. 13. A. STEGERWALD, Lebensfragen (wie Anm. 30), S. 61, S. 67, vgl. S. 112; B. FORSTER, Stegerwald (wie Anm. 30), S. 275f, zur Autorschaft Anm. 268; aus dem „Volksverein für das katholische Deutschland“ ähnlich AUGUST PIEPER: Der deutsche Volksstaat und die Formdemokratie, Mönchengladbach 1923.

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sondern griff ihn selbst auf, um die Umorientierung zu rechtfertigen. Parteichef Trimborn betonte:

„Manchen unserer Anhänger, die bisher mehr rechts gestanden, ist die ganze Entwicklung in der Richtung der Demokratie unsympathisch. Ihnen kann nur klar und deutlich gesagt werden, daß die politische Klugheit erfordert, sich mit der Entwicklung abzufinden. ... Es ist ein törichtes Beginnen, derartige Entwickelungen rückgängig machen zu wollen.“ „Kein vernünftiger Politiker hätte anders handeln können.“ 53

Eine solche Interpretation identifizierte „vernünftige“ Politik mit pragmatischer und verantwortlicher Politik. Früher, so Trimborn, habe niemand der Partei angehören können, der „die Republik erstrebte. Heute lassen wir in unseren Reihen auch erklärte Republikaner zu.“ Dieser Schwenk sei erfolgt, weil „das Lebensinteresse des Vaterlandes gebot, sich auf den Boden der durch die Revolution geschaffenen tatsächlichen Verhältnisse zu stellen.“ Nur so habe ein „langer, blutiger Bürgerkrieg“ vermieden werden können.54 Solche Überlegungen speisten sich aus einer pragmatischen Tradition, welche dem politischen Katholizismus seit Mitte des 19. Jahrhunderts inhärent war. Denn das Zentrum sah sich seit je als „Partei der Mitte“55, des Ausgleichs, integrierte es doch ganz heterogene soziale Schichten – in der Diktion der Partei „alle Stände“56 –, die durch die gemeinsame Konfession und die Erfahrung des Kulturkampfes der 1870er-Jahre zusammengehalten wurden. Carl Trimborn betrachtete demnach die Zentrumspartei nicht als Standes-, sondern als „allgemeine Volkspartei, die vom Boden der christlichen Weltanschauung aus die ideellen und materiellen Interessen aller Stände in billigem Ausgleich fördern will.“57 Das katholische Christentum bildete die gemeinsame Weltanschauung, man deutete die Welt über christliche Werte und Normen und verstand Politik als Ausgleich zwischen den Einzelinteressen, die sich freilich in den 20erJahren deutlicher zu Wort meldeten, aber stets in einer pragmatischen Politik der Mitte befriedigt werden sollten.58 Zugleich manifestierte sich in der Haltung der „Vernunftrepublikaner“ 1919/20 die grundsätzliche Bereitschaft, Verantwortung für das Ganze übernehmen zu wollen. „(O)berster Leitstern für all unser politisches Handeln“, so Gröber in der Nationalversammlung, sei „der Gedanke der Pflichterfüllung gegen Volk und Vaterland“.59 Gerade die erfahrenen „alten Parteikämpfer“, 53 CARL TRIMBORN, in: Bericht 1. RPT (wie Anm. 18), S. 9, S. 8; vgl. K. FEHRENBACH, in: Bericht 4. RPT (wie Anm. 1), S. 25f. 54 C. TRIMBORN, in: Bericht 1. RPT (wie Anm. 18), S. 8; LAUSCHER, in: Bericht 2. RPT (wie Anm. 37), S. 114. 55 K. FEHRENBACH, in: Bericht 1. RPT (wie Anm. 18), S. 4; W. MARX, Wesen, in: Bericht 4. RPT (wie Anm. 1), S. 13; vgl. R. MORSEY, Zentrumspartei (wie Anm. 6), S. 582. 56 C. TRIMBORN, in: Bericht 1. RPT (wie Anm. 18), S. 17. 57 Ebd. 58 So auch K. RUPPERT, Dienst (wie Anm. 6), S. 418f; R. MORSEY, Zentrumspartei (wie Anm. 6), S. 287–290. 59 A. GRÖBER, in: Sten. Ber. NV, 6. Sitzung, 13. 2. 1919, 326, S. 49.

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erinnerte sich Brauns, wären 1919 „aus staatsbürgerlichem Pflichtgefühl“ bereit gewesen, das „Opfer“ der Koalitionsbildung mit SPD und DDP zu bringen.60 Es galt, so Marx, den „Zerfall des ganzen Staates“ zu verhindern und dafür Verantwortung zu übernehmen.61 Diese Verantwortungsbereitschaft gründete sicherlich auch im Willen, dem alten Vorwurf der katholischen „Reichsfeindschaft“ zu begegnen, indem man auf die „vaterländische Pflichterfüllung“ verwies.62 Sie speiste sich aber auch aus einem positiven Staatsbegriff, der sich aus theologischen und kirchenamtlichen Postulaten herleitete. 3. Katholische Staatsauffassung: Staatsbegriff und „Staatsneutralitätsthese“ Die katholische Staatsauffassung in der Weimarer Republik stand im Banne der „Staatslehre“ Papst Leos XIII., der mit seinen Rundschreiben in den 1880er-Jahren die politische Vorstellungswelt der Katholiken nachhaltig geprägt hatte.63 Leo, der die Sozialphilosophie Thomas von Aquins neu belebte, begriff im Sinne der thomistischen Naturrechtslehre den Staat als sittliches, naturrechtlich notwendiges Gebilde. Die menschliche Natur sei sozial veranlagt, so dass ein rechtlich geordnetes Gemeinwesen erforderlich sei, um das größtmögliche Wohlergehen aller zu sichern, also Frieden, Ordnung, Einheit, Wohlfahrt zu schaffen.64 Auf Basis dessen lässt sich aus Leos Lehre eine katholische „Staatsneutralitätsthese“ ableiten: Zwar verwarf er die These der Volkssouveränität, weil nur Gott Schöpfer der Staatsgewalt sein könne. Doch wurden Naturrecht und Gewaltenlehre insoweit verbunden, als alle Staatsformen im aristotelischen Sinne (Monarchie, Aristokratie, sogar Demokratie) akzeptiert werden konnten, wenn diese dem Gemeinwohl dienten und die Rechte der Kirche nicht verletzten. Zugleich missbilligte Leo aber jede Aktivität von Katholiken, Monarchien zu stürzen oder Ideen einer christlichen

60 HEINRICH BRAUNS: Das Zentrum, in: BERNHARD HARMS (Hg.): Volk und Reich der Deutschen, Berlin 1929, S. 62–87, hier S. 81. 61 WILHELM MARX: Das Zentrum und seine Grundsätze, in: KV, 562, 21.7.1919; vgl. K. RUPPERT, Dienst (wie Anm. 6), v. a. S. 413. 62 C. TRIMBORN, in: Bericht 1. RPT (wie Anm. 18), S. 8; Entschließung, 14. 9. 1929, in: Die Protokolle der Reichstagsfraktion und des Fraktionsvorstandes der deutschen Zentrumspartei 1926–1933, bearb. v. Rudolf Morsey, Mainz 1969, S. 322; RUDOLF MORSEY: Der Untergang des politischen Katholizismus. Die Zentrumspartei zwischen christlichem Selbstverständnis und „Nationaler Erhebung“ 1932/33, Stuttgart u. a. 1977, S. 17. 63 Zum folgenden v. a. R. UERTZ, Gottesrecht (wie Anm. 9), S. 236ff, S. 281ff; DERS.: Katholizismus und Demokratie, in: APuZ 7/2005, S. 15–22; HANS MAIER: Die staatspolitischen Rundschreiben Leos XIII., in: DERS.: Katholizismus und Demokratie, Freiburg/ Basel/Wien 1983, S. 67–73; RUDOLF MORSEY: Einleitung, in: DERS. (Hg.), Katholizismus (wie Anm. 11), S. 11–26, hier S. 13f; zeitgenössisch KARL PETRASCHEK: Staatsphilosophie, in: Staatslexikon, 4, Freiburg 51931, Sp. 1899–1922, hier Sp. 1915f. 64 Vgl. J. MAUSBACH, Staatsordnung (wie Anm. 23), S. 3–5; P. TISCHLEDER, Staatslehre (wie Anm. 47), S. 43–51, S. 199–208; DERS., Ursprung (wie Anm. 47), S. 13–56.

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Demokratie im politischen Sinne zu begründen.65 Diese Neuorientierung hatte damals aktuelle Bezüge, wollte doch Leo nach langen Konflikten die französischen Katholiken mit der nun etablierten Republik versöhnen. Konservative Theologen der Weimarer Republik wollten diese Argumentationskette wie gesehen nicht für das revolutionär zustande gekommene Weimar anerkennen; doch dem widersprachen die „vernunftrepublikanischen“ Exponenten Mausbach und Tischleder, indem sie die leoninische Lehre offener auslegten. Man verwarf zwar ebenso die Revolution 1918/19 als die „gewaltsame Störung ... der verfassungsmäßigen Ordnung“66 und verurteilte den vollen Volkssouveränitätsgedanken, die „gottfeindliche“ Häresie Rousseaus67, komme doch die Staatsgewalt letztlich von Gott. Von Rousseaus religionskritischen, die radikale unveräußerbare Volkssouveränität vertretenden Ideen grenzte man sich also ab. Die Offenbarung Gottes und die Lehre der Kirche hätten aber keiner bestimmten Verfassung einen entscheidenden Vorrang zugebilligt, sondern Leo habe jede bestehende Ordnung anerkennen wollen, wenn sie gemeinwohlorientiert sei. Dies gelte auch für Weimar. Um Artikel 1 der Verfassung zu legitimieren, stellte man sogar auf eine gemäßigte Volkssouveränität ab, wonach das Volk der „diesseitige“ Grund der Staatsgewalt sei, und dieses übertrage sein Recht dann: „Die von Gott zunächst dem Volke mitgeteilte Gewalt fließt von ihm auf die Herrschenden über.“68 Nach diesen scholastischen Grundsätzen, denen sich auch Leo nicht verweigert habe, habe die Weimarer Verfassung den Volkswillen postuliert, der aber auf Gott als Urheber der Gewalt zurückgehe. Gemäß dieser „rechtspragmatische(n) Gemeinwohlbegründung“ sollten sich die Katholiken nun mit der gegebenen Ordnung anfreunden.69 65 Vgl. Enzyklika „Diuturnum illud“ (1881). In „Graves de communi“ (1901) wollte Leo die „christliche Demokratie“ nicht politisch verstanden wissen; vgl. R. UERTZ, Gottesrecht (wie Anm. 9), S. 236–254, S. 286–289. 66 J. MAUSBACH, Staatsordnung (wie Anm. 23), S. 6. 67 P. TISCHLEDER, Gewissen (wie Anm. 47), S. 26; vgl. J. MAUSBACH, Staatsordnung (wie Anm. 23), S. 4f; J. G. EBERS, Katholizismus (wie Anm. 49), S. 32f. 68 J. MAUSBACH, Kulturfragen (wie Anm. 23), S. 27; vgl. S. 23–30; DERS., Staatsordnung (wie Anm. 23), S. 3–7; P. TISCHLEDER, Gewissen (wie Anm. 47), S. 46–52; R. UERTZ, Gottesrecht (wie Anm. 9), S. 299–302, S. 489f. 69 R. UERTZ, Gottesrecht (wie Anm. 9), S. 314; vgl. J. MAUSBACH, Staatsordnung (wie Anm. 23), S. 4–7; DERS., Kulturfragen (wie Anm. 23), S. 21f; DERS., in: Bericht 1. RPT (wie Anm. 18), S. 35f; P. TISCHLEDER, Staatslehre (wie Anm. 47), S. 244–261; etwas stärker auf die absolute Autorität Gottes abgestellt G. J. EBERS, Katholizismus (wie Anm. 49), S. 35; R. UERTZ, Gottesrecht (wie Anm. 9), S. 312–323, S. 336–341. Tischleder ging noch weiter und sah durch die wirtschaftliche und geistig-kulturelle Entwicklung in Deutschland, die dem einzelnen eine größere geistige und wirtschaftliche Mündigkeit gegeben habe, das Gemeinwohl auf absehbare Zeit nur durch die Demokratie gesichert; P. TISCHLEDER, Gewissen (wie Anm. 47), S. 62–65, S. 70–72. Zum Versuch Tischleders, eine auch von Leo gewollte christliche Demokratie im politischen Sinne herzuleiten, kritisch R. UERTZ, Gottesrecht (wie Anm. 9), S. 299–302.

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Auf diese katholische Staatsauffassung stützten sich die „Vernunftrepublikaner“ der Zentrumspartei, die nicht zuletzt über Mausbach personell mit der Moraltheologie verzahnt waren.70 Zum einen konnte aus der sittlichen Anerkennung des gemeinwohlorientierten Staates die Verpflichtung zur Mitarbeit im Staate abgeleitet werden.71 Zum anderen bot die „Staatsneutralitätsthese“ die ideale Basis, an jeder gemeinwohlorientierten Staatsform mitarbeiten zu können. In der Nationalversammlung erklärte Adolf Gröber: „Nach unserer Überzeugung ist alle Obrigkeit von Gott, die republikanische so gut wie die monarchische“.72 Deshalb, so Heinrich Brauns, verpflichte die „Verfassungsform des Freistaates ... uns in keiner Weise auf diese oder jene Verfassungs- und Regierungsform; sie verpflichtet uns lediglich, die praktisch zu Recht bestehende staatliche Ordnung zu schützen.“73 Dementsprechend wollten die „Vernunftrepublikaner“ auch monarchistische Kräfte in der Partei dulden. Es werde nicht verlangt, so Marx, dass „diejenigen, die in der Monarchie die bessere Staatsform erblicken, ihre Meinung aufgeben und die demokratische Staatsbildung für die bessere anerkennen sollen“.74 In dieser Argumentationslinie revitalisierte man auch das Selbstbild der „Verfassungspartei“: Mit dieser Formel hatte das Zentrum im Kaiserreich für die katholische Minderheit rechtsstaatliche Garantien beansprucht, dann aber auch ihre Loyalität gegenüber einem verfassungsmäßigen System zugesichert.75 Auch 1922 sah die Zentrumspartei ihre Haltung zu „innerstaatlichen Angelegenheiten“ durch ihren „überlieferten Charakter als Verfassungspartei bestimmt. Jeden gewaltsamen Umsturz der verfassungsmäßigen Zustände lehnt sie grundsätzlich ab“.76 Doch indem man nur eine gewaltsame Revision der Verfassung aus70 Nach den „Richtlinien“ vom 16. 1. 1922 wurde die Stellung der Partei zu den „innerstaatlichen Angelegenheiten“ durch die „christliche Staatsauffassung“ bestimmt; Bericht 2. RPT (wie Anm. 37), S. V; vgl. K. BACHEM, Vorgeschichte (wie Anm. 6), S. 260–262, S. 489–495; R. UERTZ, Gottesrecht (wie Anm. 9), S. 346; K. RUPPERT, Zentrumspartei (wie Anm. 39), S. 76f; entschieden DETLEF JUNKER: Die deutsche Zentrumspartei und Hitler 1932/33, Stuttgart 1969, S. 143–155. 71 Vgl. Richtlinien, 16. 1. 1922, in: Bericht 2. RPT (wie Anm. 37), S. V; ähnlich GEORG RAEDERSCHEIDT, in: Offizieller Bericht des Fünften Reichsparteitages der Deutschen Zentrumspartei. Tagung zu Köln am 8. und 9. Dezember 1928, Trier o. J., S. 29f; vgl. K. RUPPERT, Einfluß (wie Anm. 35), S. 137. 72 A. GRÖBER, in: Sten. Ber. NV, 326, 6. Sitzung, 13. 2. 1919, S. 51f. 73 H. BRAUNS, in: Sten. Ber. NV, 328, 66. Sitzung, 25. 7. 1919, S. 1897; vgl. ähnlich W. MARX, in: Bericht 2. RPT (wie Anm. 37), S. 78; Georg Schreiber 1922, zit. in: R. MORSEY, Zentrumspartei (wie Anm. 6), S. 440, Anm. 11 74 W. MARX, in: Bericht 2. RPT (wie Anm. 37), S. 78; vgl. WILHELM MARX: Die deutsche Zentrumspartei, in: KV, 65, 25. 1. 1924; J. MAUSBACH, Kulturfragen (wie Anm. 23), S. 22. 75 Vgl. K. RUPPERT, Zentrumspartei (wie Anm. 39), S. 81. 76 Richtlinien, 16. 1. 1922, in: Bericht 2. RPT (wie Anm. 37), S. V; vgl. W. MARX, in: Bericht 4. RPT (wie Anm. 1), S. 112.

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schließen wollte, erschwerte man eine emotionale Bindung an die Republik.77 Und so sollte dieser „Verfassungspragmatismus“ eine abstrakte und im Kern relativistische Haltung zum neuen Staat präjudizieren.78 III. Leitbilder 1. (Volks-)Gemeinschaft Der katholische „Vernunftrepublikanismus“ speiste sich also vor allem aus pragmatischen Quellen. Welche eigentlichen Leitbilder wohnten ihm dann inne? Zentrale Bedeutung als gesellschaftliches Ideal gewann der Gemeinschafts- und Volksgemeinschaftsgedanke. Für die katholische Staats- und Gesellschaftslehre, dies wurde deutlich, spielte die Gemeinwohlorientierung eine zentrale Rolle. Diese im Kern unscharfe Formel verband sich mit einer Distanz zum liberalen Gedanken. Denn das Gemeinwohl sahen die „vernunftrepublikanischen“ Moraltheologen in der Tradition des Thomismus als das „Ganze“, das „gottähnlicher“ sei als die Summe seiner Teile, als das Wohl des einzelnen.79 Im Sinne organischen Denkens, das seine Vorläufer in der katholischen Romantik des frühen 19. Jahrhunderts besaß, und in enger Verbindung zur katholischen Soziallehre, welche den Gemeinschaftsgedanken als christliche Solidarität aller ins Zentrum stellte80, begriff die katholische Staatslehre den Staat als „lebendige(n) natürliche(n) Organismus“.81 Dieser Organismus überrage die Summe der Einzelmenschen. Erst durch die Integration der einzelnen, die Glieder, werde „das mechanische Nebeneinander der ‚Masseʻ zur organischen Einheit des ‚Staatsvolkesʻ“.82 Deutlich wird hier zum einen die Ineinssetzung von Staat und Gesellschaft, die in der organischen Betrachtungsweise zu einem Phänomen verschmolzen, zum anderen die Abwertung des Freiheitswertes, infolgedessen liberales Gedankengut als „Vergottung“ der Freiheit des einzelnen der Kritik anheimfiel.83 77 W. MARX, in: Bericht 2. RPT (wie Anm. 37), S. 78. 78 So auch K. RUPPERT, Zentrumspartei (wie Anm. 39), S. 78. 79 J. MAUSBACH, Thomas (wie Anm. 23), S. 20; P. TISCHLEDER, Staatslehre (wie Anm. 47), S. 48, vgl. S. 44–51. 80 Vgl. CLEMENS BAUER: Wandlungen der sozialpolitischen Ideenwelt im deutschen Katholizismus des 19. Jahrhunderts, in: Die soziale Frage und der Katholizismus, hrsg. von der Sektion für Sozial- und Wirtschaftswissenschaft der Görres-Gesellschaft, Paderborn 1931, S. 11–46; FRANZ JOSEF STEGMANN: Geschichte der sozialen Ideen im deutschen Katholizismus, in: HELGA GREBING (Hg.): Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland, München 1969, S. 325–560; R. UERTZ, Gottesrecht (wie Anm. 9), S. 155–159, S. 281– 299. Zur Verbindung von „organische(r) Auffassung der Gesellschaft“ und katholischem Solidarismus J. MAUSBACH, in: Bericht 1. RPT (wie Anm. 18), S. 118f. 81 G. J. EBERS, Katholizismus (wie Anm. 49), S. 33. 82 J. MAUSBACH, Staatsordnung (wie Anm. 23), S. 5. 83 Vgl. G. J. EBERS, Katholizismus (wie Anm. 49), S. 27–33.

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Die Zentrumspartei sog den Gemeinschaftsgedanken in sich auf und beschwor, gerade vor dem Hintergrund der polarisierten politischen Kultur84, die solidarische Gemeinschaft als Leitbild: So verwiesen die „Richtlinien“ der Zentrumspartei 1922 auf die „Solidarität aller Schichten und Berufsstände. Die Zentrumspartei will die natürlich gegebene Gemeinsamkeit im Geiste christlich-sozialer Lebensauffassung zu einem starken Gemeinschaftsbewußtsein entwickeln“.85 Dieser Integrationsgedanke mündete in den Topos der seit 1914 allgegenwärtigen „Volksgemeinschaft“, die man aber im solidarischen und gleichberechtigten86, nicht im rassistisch-biologistischen Sinne verstanden wissen wollte. Besonders Marx erhob die „Volksgemeinschaft“, die „innere Einheit des Volkes“, zu seinem zentralen Ziele, das er „dem deutschen Volke verständlich zu machen“ suchte.87 Diese Orientierung hatte auch strukturelle Gründe: Das Zentrum besaß wie gesehen eine sehr heterogene soziale Basis. Dementsprechend beschwor sie den Ausgleich zwischen unterschiedlichen Interessen als wichtiges Element der Parteiidentität.88 So formulierte der Reichsparteitag 1924: „Wir streben, wie die Zentrumsresolution sagt, dem hohen Ziele der Volksgemeinschaft nach, und gerade wir sind dazu in erster Linie berufen, weil wir selbst in unserer Partei eine Volksgemeinschaft im kleinen bilden.“89

Das Leitbild der Gemeinschaft oder „Volksgemeinschaft“ avancierte über die politischen Grenzen hinweg zum Topos der Weimarer Republik, wie umgekehrt die Parteien von der SPD bis zur DNVP die politische und soziale Zerklüftung beklagten. Dabei besaß das beständige „Leiden an dieser Zerrissenheit“90 mit dem Wunsch nach innerer Einheit einen utopischen Zug, mit dem man das System überforderte. Denn „Einheit“ war in einer pluralistischen Massendemokratie nicht auf Dauer zu verwirklichen, schon gar nicht in einer Gesellschaft, die solchen äußeren Problemen ausgesetzt war wie jene Weimars. Nicht nur in der Zentrumspartei erschwerte damit ein „überzogenes Leitbild 84 Vgl. DETLEF LEHNERT/KLAUS MEGERLE (Hg.): Politische Teilkulturen zwischen Integration und Polarisierung. Zur politischen Kultur in der Weimarer Republik, Opladen 1990. 85 Richtlinien, 16. 1. 1922, in: Bericht 2. RPT (wie Anm. 37), S. V (Herv. im Orig.). 86 Marx an das deutsche Volk, in: Germania, 141, 25. 3. 1925. 87 Ebd.; vgl. G. SCHREIBER, in: Bericht 4. RPT (wie Anm. 1), S. 42f; Verhandlungen des Reichstages, Sten. Ber., 288. Sitzung, 17. 3. 1927, S. 9633; zu Marx U. VON HEHL, Marx (wie Anm. 20), S. 310f. 88 Z. B. C. TRIMBORN, in: Bericht 1. RPT (wie Anm. 18), S. 17; H. BRAUNS, in: Bericht 4. RPT (wie Anm. 1), S. 54f. 89 Der Parteitag der Einigkeit, in: Germania, 472, 30. 10. 1924. 90 THOMAS MERGEL: Führer, Volksgemeinschaft und Maschine, in: WOLFGANG HARDTWIG (Hg.): Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918–1939, Göttingen 2005, S. 91–127, Zit. S. 94; HANS-ULRICH THAMER: Nation als Volksgemeinschaft, in: JÖRGDIETER GAUGER/KLAUS WEIGELT (Hg.): Soziales Denken in Deutschland zwischen Tradition und Innovation, Bonn 1990, S. 112–128.

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von der Geschlossenheit einer Gesellschaft ... den unter den Bedingungen von Weimar gewiß nicht leichten Zugang zur Funktion des Konflikts und zu dem konstruktiven Potential von Meinungsverschiedenheiten“.91 2. Der „deutsche Volksstaat“ als Programm Neben dem gesellschaftlichen Ideal der „Volksgemeinschaft“ entwickelte sich der „Volksstaat“ zum politischen Leitbild der katholischen „Vernunftrepublikaner“. Mit diesem Topos suchten sie die existente Demokratie mit katholischem Gedankengut zu füllen. Wie gesehen speiste sich das katholische Verständnis von Demokratie aus ambivalenten Quellen: Einerseits stand man unter dem Eindruck kirchenamtlicher Traditionen, welche der Volkssouveränität kritisch bis ablehnend gegenüberstanden. „Christliche Demokratie“ hatte Leo XIII. nur als soziale Reformbewegung der Arbeiter verstanden wissen wollen, und dies wurde im Weimarer Sozialkatholizismus noch rezipiert.92 Andererseits hatte die Zentrumspartei traditionell neben naturrechtlich verstandenen Grund- und Menschenrechten eine organische Gliederung und die Teilhabe des Volkes an der Macht demokratisch gedeutet93, baute die „vernunftrepublikanische“ Moraltheologie Brücken zur „gemäßigten“ Volkssouveränität. So sprach Tischleder von einer „Demokratie vom katholischen Standpunkte“, deren Sinn in der stärkeren Beteiligung des Volkes am Staatsleben liege.94 In diese Richtung argumentierte auch die Mehrheit der „Vernunftrepublikaner“ im Zentrum, die sich einen künftigen Wechsel der Staatsform – zur Monarchie – offen halten, doch die Regierungsform, die Demokratie, bejahen wollte.95 Im „Einklang mit dem stets festgehaltenen Charakter unserer Partei als Volkspartei“, so Trimborn, müsse man der Demokratie „grundsätzlich durchaus zustimmen“.96 Gerade das Zentrum als christliche Volkspartei habe die Pflicht, so Wilhelm Marx, „sich auf den Boden einer wirklichen und vollständigen Demokratie zu stellen“ und alle Schichten des Volkes gleichberechtigt „an den Staatsaufgaben zu interessieren“.97 Doch betrat man – abgesehen von den Überlegungen Mausbachs und Tischleders – hier weitgehend Neuland: Die Demokratie musste mit der im 91 K. RUPPERT, Zentrumspartei (wie Anm. 39), S. 83. 92 Vgl. GUSTAV GUNDLACH: Demokratie (christliche), in: Lexikon für Theologie und Kirche, III, Freiburg i.Br. 1931, Sp. 203–205; vgl. R. UERTZ, Gottesrecht (wie Anm. 9), S. 285–288, S. 300f; HANS MAIER: Herkunft und Grundlagen der christlichen Demokratie, in: DERS.: Katholizismus (wie Anm. 63), S. 32–50. 93 Vgl. K. RUPPERT, Dienst (wie Anm. 6), S. 29f. 94 P. TISCHLEDER, Gewissen (wie Anm. 47), S. 40, vgl. S. 40–75; J. MAUSBACH, Staatsordnung (wie Anm. 23), S. 7f; R. UERTZ, Gottesrecht (wie Anm. 9), S. 300f. 95 Vgl. A. GRÖBER, in: Sten.Ber. NV, 326, 6. Sitzung, 13. 2. 1919, S. 54; C. TRIMBORN, Bericht 1. RPT (wie Anm. 18), S. 8; K. FEHRENBACH, in: Bericht 4. RPT (wie Anm. 1), S. 26. 96 C. TRIMBORN, Bericht 1. RPT (wie Anm. 18), S. 8; vgl. A. GRÖBER, in: Sten.Ber. NV, 326, 6. Sitzung, 13. 2. 1919, S. 54. 97 Die deutsche Zentrumspartei, in: KV, 65, 25. 1. 1924.

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Katholizismus obwaltenden Idee einer organisch gegliederten Gemeinschaft verbunden werden. In den Worten von Marx stellte sich das Problem, wie die „Idee der Volksgemeinschaft“ nun auch „im politischen Leben in die Tat umzusetzen“ war.98 Joseph Joos, der die organisch-soziale Auffassung als staatspolitische Theorie des Zentrums betrachtete99, suchte deshalb die Demokratie mit der Gemeinschaftsidee zu füllen: Demokratie sei „an sich gut und das würdigste Mittel zur Lebendigmachung des Staates im Staatsvolk“. Als „ein dauerndes gewissenhaftes Besorgtsein aller um den Staat“ müsse die Demokratie den „Individualismus überwinden“, welcher den Deutschen inhärent sei:

„Wir spüren es heute zumal, wie diese Charaktereigenschaft immer wieder durchbricht und zu einer Gefahr wird für die Gemeinschaftsidee... Es fehlt uns auch noch die Synthese zwischen Individualismus und Gemeinschaftsidee. Demokratische Gesinnung ist nichts Selbstverständliches. Sie wächst nicht mit der Form, läßt sich durch sie auch nicht erzeugen. Der demokratische Gedanke vermag nicht den Menschen innerlich zu formen, sondern umgekehrt, aus dem Menschen heraus muß sich das Demokratische verwirklichen.“100

Indem Joos Demokratie als Lebensanschauung und nicht regierungssystematisch begreifen wollte, intendierte er den in Weimar fehlenden integrativen Geist zu wecken; damit vernachlässigte er aber einen zentralen Bezugspunkt – auch Weimarer – demokratischen Denkens, nämlich einen pluralistischen Volksbegriff, der die in einer Industriegesellschaft unumgängliche Heterogenität von Partikularinteressen anerkannte.101 Die Vorstellung von Demokratie als Gemeinschaft suchten die „Vernunftrepublikaner“ in der Formel des „Volksstaates“ abzubilden, eines Staates, in dem das Volk wenn nicht Quelle, so doch Träger der Staatsgewalt war: Im „deutschen Volksstaat“ sollte das Volk, so die „Richtlinien“ 1922, „als Träger der Staatsgewalt mit dem Bewußtsein der Verantwortung für die Staatsgeschicke erfüllt werden“ und „in weitgehender Selbstverwaltung an den öffentlichen Angelegenheiten“ beteiligt werden.102 Zentrale Bedeutung besaß für das „Volksstaats“-Konzept also erstens der gemeinschaftliche Sinn statt der Orientierung an Einzelinteressen: Der „Volksstaat im Sinne der Zentrumspartei“, führte Emil Ritter 1922 im Auftrag der Parteispitze aus, bestehe nicht schon 98 Marx an das deutsche Volk, in: Germania, 141, 25. 3. 1925. 99 J. JOOS, Ideenwelt (wie Anm. 17), S. 22; vgl. AUGUST PIEPER: Demokratie, in: Staatslexikon, 1, Freiburg 51926, Sp. 1332–1343. 100 J. JOOS, Deutschland (wie Anm. 16), S. 19, S. 21f. 101 Sicherlich dürfen Demokratievorstellungen in Weimar, einem Staat ohne demokratische Traditionen, nicht an heutigen Demokratietheorien gemessen werden: vgl. CHRISTOPH GUSY: Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, in: DERS. (Hg.): Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2000, S. 11–36, hier S. 27, S. 30–32; DERS.: Fragen an das „demokratische Denken“ in der Weimarer Republik, in: ebd., S. 635–663, hier S. 647–655; HANS BOLDT: Demokratie und Richtungsstreit in der Staatsrechtswissenschaft, in: ebd., S. 608–634. 102 Richtlinien, 16. 1. 1922, in: Bericht 2. RPT (wie Anm. 37), S. V. Zum „Volksstaats“Ideal Wirths U. HÖRSTER-PHILIPPS, Wirth (wie Anm. 14), S. 294–296.

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dann, „wenn an das Volk formale Rechte verliehen worden sind, oder wenn die äußere Form des Staates so oder so gestaltet worden ist... (E)rst der Bürgersinn, erst die selbstlose Hingabe an den Staat und seine Notwendigkeiten begründet den wahren Volksstaat.“103 Zweitens verband sich der „Volksstaat“ mit dem Prinzip der Selbstverwaltung, einem urkatholischen, nämlich subsidiär gedachten Modell.104 So leiteten die „Richtlinien“ aus dem „Volksstaat“ die „Forderung der Selbstverwaltung ab, weil durch die Selbstverwaltung alle Volksschichten an der Staatsarbeit, an den staatlichen Aufgaben mitwirken können, weil in der Selbstverwaltung der einzelne Staatsbürger am ehesten den Staat als wirklich erleben kann“.105 In den offiziösen Stellungnahmen der Partei blieb aber offen, inwieweit diese Selbstverwaltungsprinzipien in der Weimarer Verfassung enthalten oder durch ergänzende Mechanismen in das System integriert werden sollten.106 Vorstellungen von ständischen Organen als Selbstverwaltungskörperschaften, die auch politische Kompetenzen erhalten sollten, kursierten zwar im konservativen Sozialkatholizismus107, doch sie reichten kaum in die Spitze der Zentrumspartei. Nur Stegerwald plädierte Anfang der zwanziger Jahre dafür, den Reichswirtschaftsrat zu einer gleichberechtigten zweiten Kammer aufzuwerten108, auch um die Arbeiterschaft stärker an Staatsführung und Wirtschaftspolitik zu beteiligen.109 Diese „organische Demokratie“110, die sich aus der „Bereitwilligkeit zur Anpassung und Einfügung in das Ganze“ speise, aber auch die Reformen des Freiherrn vom

103 EMIL RITTER, in: Bericht 2. RPT (wie Anm. 37), S. 66; vgl. J. JOOS, Zentrumsprogramm (wie Anm. 16), S. 6–8. 104 Zu Selbstverwaltungstraditionen in Deutschland MICHAEL STOLLEIS: Selbstverwaltung, in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, IV, Berlin 1990, Sp. 1621–1625, hier Sp. 1624. 105 E. RITTER, in: Bericht 2. RPT (wie Anm. 37), S. 66. 106 Das Zentrum hatte in den „Richtlinien“ 1922 einen Aufbau der Wirtschaft „von unten“ gefordert, dessen Grundstock die „Organisationen der Wirtschaftszweige und Berufe“ sowie die „wirtschaftlichen Selbstverwaltungskörper“ bilden sollten, dies aber nach Beruhigung der ökonomischen Krise nicht weiterverfolgt; Richtlinien, 16. 1. 1922, in: Bericht 2. RPT (wie Anm. 37), S. VIII; vgl. R. MORSEY, Zentrumspartei (wie Anm. 6), S. 441f. 107 Vgl. AUGUST PIEPER: Vom Geist der deutschen Demokratie, Mönchengladbach² 1919; DERS., Volksstaat (wie Anm. 52); D. MÜLLER, Arbeiter (wie Anm. 16), S. 121–124; G. KLEIN, Volksverein (wie Anm. 27), S. 139–148; K. RUPPERT, Zentrumspartei (wie Anm. 39), S. 86f. Zu ständischen Ordnungsmustern im Weimarer intellektuellen und Sozialkatholizismus, die teilweise demokratisch, teilweise autoritativ gedacht wurden: ELKE SEEFRIED: Reich und Stände. Ideen und Wirken des deutschen politischen Exils in Österreich, Düsseldorf 2006, S. 116–125. 108 Vgl. ADAM STEGERWALD: Zusammenbruch und Wiederaufbau, Berlin 1922, S. 28f. 109 A. STEGERWALD, Arbeiterschaft (wie Anm. 29), S. 12. 110 A. STEGERWALD, in: Bericht 4. RPT (wie Anm. 1), S. 71.

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Stein als Vorbild nehme, betrachtete Stegerwald als deutsche Tradition der „Demokratie der Selbstverwaltung“.111 Dass man die Demokratie in einer „deutschen“ Tradition verankern wollte, verweist auf ein drittes Merkmal, das – mehr oder weniger stark – für den ganzen katholischen „Vernunftrepublikanismus“ galt: nämlich die vorsichtige bzw. negative Perzeption des Parlamentarismus. In der Tat eröffnet sich der Befund, dass das Zentrum den „Volksstaat“ nicht mit dem parlamentarischen System verband, sondern nur auf den unscharfen Selbstverwaltungstopos verwies.112 Joos konzedierte 1922, welche „Form der deutsche Volksstaat letzten Endes annehmen wird, wissen wir heute nicht... Die parlamentarische Regierungsweise scheint uns mehr Methode als Grundsatz. Auch sie ist ein Versuch“. Er verwarf das parlamentarische System nicht, mahnte vielmehr die Parteien zu „Selbstdisziplin“, um eine entstehende „Kluft zwischen dem Volksgefühl und dem Parlament“ zu verhindern. Notwendig sei die Schaffung „einer staatspolitischen an Stelle einer klassen- oder interessenpolitischen Parteigruppierung, die die Regierung trägt“.113 Zweierlei wird hier deutlich: Einerseits bemängelte Joos zurecht die weltanschauliche Prägung und Scheu der Parteien (außerhalb des Zentrums), Regierungsverantwortung zu übernehmen. Andererseits spiegelte sich darin ein für die Weimarer politische Kultur durchaus paradigmatisches Verständnis von Politik114: Tief durchdrungen vom Ideal der Gemeinschaftlichkeit, zum Teil noch geprägt von den Erfahrungen mit dem konstitutionellen System, begriffen die katholischen „Vernunftrepublikaner“ Politik als gemeinschaftliches, eben „staatspolitisches“ Handeln zugunsten des Gemeinwohles und konnten so gesellschaftlichen Pluralismus nicht in ihr Denken integrieren. Dies bündelte sich mit dem Willen zu einer möglichst „starke(n) Regierung“115 auf breiter Grundlage, die Konflikte 111 DERS.: Lebensfragen (wie Anm. 30), S. 66, S. 69; zur „christlich-organischen Gesellschaftsauffassung“: Stegerwald über die deutschen Aufgaben, in: Germania, 490, 21. 10. 1926. 112 Vgl. Richtlinien, 16. 1. 1922, in: Bericht 2. RPT (wie Anm. 37), S. V-X. 113 J. JOOS, Zentrumsprogramm (wie Anm. 16), S. 8f. 114 Zur antipluralistischen Prägung der Weimarer politischen Kultur, die der Erfahrung des konstitutionellen Systems entstammte und aus der sich dann die Scheu vor der Regierungsverantwortung speiste, vgl. u. a. KARL DIETRICH BRACHER: Die Auflösung der Weimarer Republik, Stuttgart/Düsseldorf ²1957, S. 29ff; ANDREAS WIRSCHING: Die Weimarer Republik. Politik und Gesellschaft, München 2000, S. 16; DERS.: Koalition, Opposition, Interessenpolitik, in: MARIE-LUISE RECKER (Hg.): Parlamentarismus in Europa, München 2004, S. 41–64; THOMAS RAITHEL: Das schwierige Spiel des Parlamentarismus, München 2005, S. 527ff, S. 550f. Das Zentrum trug im Gegensatz dazu die Verantwortung, wollte diese aber gemeinschaftlich teilen. Die Parlamentarismusvorstellungen in den Weimarer Parteien erscheinen als Desiderat der Forschung; vgl. aber HORST MÖLLER: Parlamentarismus-Diskussion in der Weimarer Republik, in: MANFRED FUNKE (Hg.): Demokratie und Diktatur. Geist und Gestalt politischer Herrschaft in Deutschland und Europa, Düsseldorf 1987, S. 140–157. 115 Vgl. z. B. A. GRÖBER, in: Sten. Ber. NV, 326, 6. Sitzung, 13. 2. 1919, S. 50f.

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einebnen, freilich auch die tatsächlich drängenden Sachprobleme besser meistern sollte. Mit einem parlamentarischen System, in dem Regierungsfraktion und systemloyale Opposition im Parlament konkurrieren sollten und Mehrheitsentscheidungen zählten, war aber eine solche Haltung nur bedingt zu vereinbaren. Paradigmatisch zeigte sich dies im Sommer 1924: Das Zentrum versuchte unter Führung von Marx, das Leitbild „wahrer Volksgemeinschaft“ zu verwirklichen, indem die bürgerliche Minderheitsregierung um DNVP und SPD erweitert werden sollte.116 Eine solche gemeinschaftliche Regierung, die nicht zustande kam, hätte praktisch den Verzicht auf eine systemloyale parlamentarische Opposition bedeutet.117 Dass die Gemeinschaftsidee in ihrer Übersteigerung parlamentarismuskritische Affekte enthalten konnte, offenbaren Argumentationen aus dem rechten Flügel des „Vernunftrepublikanismus“. Adam Stegerwald kategorisierte – wie andere Protagonisten aus dem konservativen Sozialkatholizismus – die Weimarer, also die parlamentarische Demokratie nur als „formale Demokratie“, die „Volk und Staat ... mechanistisch“ und individualistisch begreife.118 Sie galt als kaltes und mechanisches System ohne Gemeinschaftlichkeit, das im organischen „Volksstaat“ eben durch die deutsche Tradition der Selbstverwaltung ergänzt werden müsse, aber auch als fremdartiger, nämlich französischer „Import“: Stegerwald sah in der „Demokratie des französischen Zentralismus“ „etwas rein Formales, ... ein Zwangsinstitut, das zur Willkürherrschaft von zufälligen Parlamentsmehrheiten, zu immer stärkerer Schablonisierung“ führe.119 Evident wird, dass hier die französische III. Republik mit ihrer zentralistischen, laizistischen Signatur und ihrer Dominanz des Parlaments gegenüber einem weitgehend repräsentativen Präsidentenamt eine Negativfolie bildete.120 Diese anti-französischen Spitzen entstammten auch wohl nicht zufällig der Vor-Locarno-Ära, als die Verbindungen auch zwischen den Katholiken beider Länder noch angespannt waren.121 Dass Ste116 W. MARX, in: Germania, 423, 1. 10. 1924; ähnlich H. BRAUNS, in: Bericht 4. RPT (wie Anm. 1), S. 84. 117 Vgl. K. RUPPERT, Dienst (wie Anm. 6), S. 80–82. 118 A. STEGERWALD, in: Bericht 4. RPT (wie Anm. 1), S. 71; vgl. ähnlich A. PIEPER, Volksstaat (wie Anm. 52), S. 10. 119 A. STEGERWALD, Lebensfragen (wie Anm. 30), S. 69, 112; ähnlich C. TRIMBORN, in: Bericht 1. RPT (wie Anm. 18), S. 9. 120 Vgl. MANFRED KITTEL: Die „deux France“ und der deutsche Bikonfessionalismus im Vergleich, in: DERS./HORST MÖLLER (Hg.): Demokratie in Deutschland und Frankreich 1918–1933/40, München 2002, S. 33–55; TH. RAITHEL, Spiel (wie Anm. 114), der den französischen „deliberativen Parlamentarismus“ mit seiner freien Diskussion unabhängiger Abgeordneter als „Schreckbild“ für deutsche Vorstellungen benennt (S. 23); zur negativen Rezeption des französischen Parlamentarismus in der Weimarer Nationalversammlung ERNST FRAENKEL: Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart u. a. 71979, S. 144–149. 121 Vgl. RUDOLF LAMBRECHT: Deutsche und französische Katholiken 1914–1933, Diss. Münster 1967.

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gerwald dann Mitte der 20er-Jahre auf eine Revision der Verfassung hin zur Stärkung der Exekutive drängte, steht nicht im Widerspruch zur übersteigerten Gemeinschaftsidee, die sich tendenziell mit der Vorstellung von starker, parteiübergreifender Regierung bündelte. An dieser orientierte sich Stegerwald, wenn er zurecht die Vielgestaltigkeit des deutschen Parteiensystems im Gegensatz zum englischen diagnostizierte, daraus aber den Schluss zog, die deutsche Parteienstruktur sei unvereinbar mit dem parlamentarischen System, ohne sich das französische Beispiel vor Augen zu führen – oder führen zu wollen. So plädierte er für eine Stärkung der Exekutive nach Vorbild der Schweiz mit ihrer festen Regierungsdauer oder der US-amerikanischen Präsidialdemokratie. Im Kern votierte Stegerwald damit für die Ablösung des parlamentarischen Systems durch die Trennung der Gewalten, eine Unabhängigkeit der Regierung vom Parlament.122 Die Integrationsformel vom „Volksstaat“ vereinte unterschiedliche Demokratievorstellungen der katholischen „Vernunftrepublikaner“. Mit dem „Volksstaat“ wollten sich diese auf den Boden Weimars stellen: Die Republik sollte nurmehr mit gemeinschaftlichem und subsidiär-selbstverwaltendem Geist ausgefüllt und insofern zum „echten Volksstaat“ geführt werden.123 Doch indem man – auch aufgrund der evidenten Schwierigkeiten des parlamentarischen Regierens – kein echtes Verhältnis zur parlamentarischen Form der Demokratie entwickeln konnte, fehlte dem „Volksstaat“ ein elementarer Teil des Weimarer Demokratiemodells. Offen bezeichnete demgegenüber Stegerwald den „heutige(n) Staat“ als „unfertig“: „Das ist ebensowenig wie früher ein Grund zu seiner Verneinung. Wir müssen ihn vielmehr unseren Grundsätzen und Anschauungen entsprechend um- und auszugestalten suchen“.124 Er verdeutlichte so die stärkere Distanz zu Weimar, die dem rechten Flügel der „Vernunftrepublikaner“ inhärent war und die zu wachsen drohte, je evidenter die Probleme der Koalitionsbildung in der Weimarer Republik wurden. IV. Abkehr von Weimar? „Vernunftrepublikanismus“ in der Endphase der Republik In der Endphase der Weimarer Republik geriet der katholische „Vernunftrepublikanismus“ unter Druck des rechten Parteiflügels und autoritativer Tendenzen.125 Seine beherrschende Position in der Partei verlor er bereits 1928: 122 Stegerwald über die deutschen Aufgaben, in: Germania, 490, 21. 10. 1926; Der Parteitag in Cassel, in: Germania, 539, 17. 11. 1925; vgl. M. SCHNEIDER, Gewerkschaften (wie Anm. 29), S. 525–530. 123 Nationalpolitisches Manifest der Reichstagsfraktion, 21. 1. 1927, in: R. MORSEY, Katholizismus (wie Anm. 11), S. 162; vgl. K. RUPPERT, Dienst (wie Anm. 6), S. 244f. 124 A. STEGERWALD, Arbeiterschaft (wie Anm. 29), S. 21. 125 Als „Abkehr von Weimar“ M ARTIN S CHUMACHER : Zwischen „Einschaltung“ und

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Gröber, Trimborn und Fehrenbach waren zwischen 1919 und 1926 verstorben, Marx trat 1928 als Vorsitzender zurück. Mit dem Prälaten Ludwig Kaas folgte ihm ein Exponent des gemäßigt rechten Parteiflügels, der zwar zunächst ebenfalls für den „Volksstaat“ votierte, aber Ende der 20er-Jahre nach „einem Führertum großen Stils“ rief, in dem „der große begnadete Staatsmann ... in freiwillig anerkannter Autorität und getragen von dem Vertrauen der Gesamtheit“ die gesellschaftliche Zerrissenheit heile.126 Kaas förderte den Aufstieg Heinrich Brünings, der im März 1930 von Präsident Hindenburg zum Kanzler einer Präsidialregierung ernannt wurde. Brüning bewegte sich einerseits in den Bahnen der Verantwortungspolitik des Zentrums, seine Regierung stand im Zeichen des Krisenmanagements und einer Politik der Sachlichkeit.127 Andererseits sieht die neuere Forschung mehrheitlich den Prozess der Entparlamentarisierung, der eben eine Entdemokratisierung bedeutete128, von Brüning aktiv mitgetragen, zumindest ab Juli 1930, als er den Reichstag nach einem Votum für die Aufhebung einer Notverordnung auflösen ließ. Zwar verweigerte Brüning den offenen Verfassungsbruch, doch offenbarten seine Memoiren Pläne einer Restauration der Monarchie nach Überwindung der Krise.129 Brüning ist so im Kern nicht mehr zu den katholischen „Vernunftrepublikanern“ zu rechnen. Die verbliebenen „Vernunftrepublikaner“ trugen Brünings Politik weitgehend mit. Man einigte sich zum Teil auf parlamentarische Erledigung von

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„Gleichschaltung“. Zum Untergang der Deutschen Zentrumspartei 1932/33, in: HJb 99 (1979), S. 268–303, S. 273; zu autoritären Tendenzen J. STEGMANN, Demokratie (wie Anm. 7), S. 121; RUDOLF MORSEY: Die Deutsche Zentrumspartei, in: ERICH MATTHIAS/ RUDOLF MORSEY (Hg.): Das Ende der Parteien, Düsseldorf 1984, S. 279–453, S. 413– 415; dagegen H. HÜRTEN, Katholiken (wie Anm. 28), S. 153ff. LUDWIG KAAS: Von der kulturellen Sendung der Katholiken im Volksganzen, in: Rettung der christlichen Familie. Bericht der 68. Generalversammlung der deutschen Katholiken zu Freiburg im Breisgau 1929, Freiburg 1930, S. 246–259, S. 257; zu Kaas (1881–1952) u. a. RUDOLF MORSEY: Ludwig Kaas, in: ZiL, I, S. 263–273; DERS., Ende (wie Anm. 125), S. 290f, S. 330; GEORG MAY: Ludwig Kaas, 3 Bde., Amsterdam 1981/82; K. RUPPERT, Dienst (wie Anm. 6), S. 354–357. HEINRICH BRÜNING: Reden und Aufsätze eines deutschen Staatsmannes, hg. von Wilhelm Vernekohl, Regensburg 1968, z. B. 8. 8. 1930, S. 58; 5. 11. 1931, S. 69. Vgl. K. D. BRACHER, Auflösung (wie Anm. 114); Th. RAITHEL, Spiel (wie Anm. 114), S. 558f. Vgl. Äußerungen Brünings zu seinen Zielen, Vorstandssitzung, 8. 6. 1932, in: M. SCHUMACHER, Einschaltung (wie Anm. 125), S. 291f; zur Debatte um Brüning neben den in Anm. 31 genannten Titeln HEINRICH BRÜNING: Memoiren 1918–1934, Stuttgart 1970, v. a. S. 378, die wohl mit einer ex post konstruierten Zielgerichtetheit hin zur Restauration befrachtet sind; hierzu RUDOLF MORSEY: Zur Entstehung, Authentizität und Kritik von Brünings Memoiren 1918–1934, Opladen 1975; ANDREAS RÖDDER: Dichtung und Wahrheit, in: HZ 265 (1997), S. 77–116; kritisch KARL DIETRICH BRACHER: Brünings unpolitische Politik und die Auflösung der Weimarer Republik, in: VfZ 19 (1971), S. 113–123; R. MORSEY, Ende (wie Anm. 125), S. 290, S. 413f; zum Stand der Forschung: A. WIRSCHING Weimarer Republik (wie Anm. 114), S. 112f.

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Gesetzesvorhaben, akzeptierte aber Forderungen Brünings nach längerer Vertagung des Reichstages, und Brünings Wunsch nach einer Verfassungsänderung zugunsten einer Stärkung der Regierung und des Präsidenten stieß – soweit aus den Protokollen rekonstruierbar – nicht auf Kritik des Vorstandes.130 Diese Haltung basierte auf einem Motivbündel: Alternativen wie die Große Koalition hatten sich verschlissen bzw. waren im rechten Flügel nicht mehr erwünscht, und die „Katastrophenwahl“ vom Sommer 1930 hatte die extremistischen Gefahren von rechts und links illustriert131. Es lassen sich aber auch ideelle Kontinuitäten anführen: Von der Gemeinwohlorientierung der „Vernunftrepublikaner“, die zum parlamentarischen System wenig Zugang fanden, reichten Verbindungslinien zu den nun kursierenden autoritativ geprägten Vorstellungen, die angesichts der Krise zumindest vorübergehend eine starke, gemeinwohlorientierte Regierung über den Parteien anmahnten, eine Regierung, die enge Fühlung mit der Volksvertretung halten solle, aber eben auch alleine Verordnungen erlassen könne. So war die Rede vom „Führer“ Brüning in einem „richtig verstandenen autoritären Staat“ mit „demokratischer Ausrichtung“.132 Joos lobte Brünings Willen, auf einen Bruch der Verfassung zu verzichten, sondern statt dessen mit der Volksvertretung zu regieren, pries aber dessen „Staatsgedanken“, der vom „Staate als einer übergeordneten Einrichtung“ ausginge, „über den Parteien“ stünde und nur so „Autorität“ gewönne – und 130 Vgl. Vorstandssitzung 24. 6. 1930 zur Auflösung des Reichstags und Verordnung mit Art. 48 bei Ablehnung; in: Protokolle (wie Anm. 62), S. 457f; für „längere Vertagung des Reichstags“ Fraktionssitzung, 18. 3. 1931, in: ebd., S. 523; Entschließung gegen Einberufung des Reichstages, Fraktionssitzung, 14. 6. 1931, S. 531, S. 534; umgekehrt mit Forderungen nach parlamentarischer Erledigung Fraktionssitzung 14. 7. 1930, S. 468, und 17. 10. 1930, S. 484; H. BRÜNINGs Ruf nach Verfassungsänderung: Vorstandssitzung 12. 1. 1931, S. 503, und 3. 2. 1931 mit dem Hinweis, dies mit der SPD zu besprechen, „damit sie sieht, welche Folgen eine falsche Haltung haben wird“, S. 506; H. BRÜNING gegen eine „Ausschaltung des Parlaments“, da der Kritik ein „Ventil“ bleiben müsse, doch „solange der Reichstag nicht die Kraft aufbringe, in diesen Notzeiten staatspolitisch“ zu handeln, seien Debatten eine „Gefahr“: Fraktionssitzung, 25. 8. 1931, S. 537, ähnlich L. KAAS, S. 539. 131 Gegen ein Heranziehen der SPD, da dann die DVP nach rechts abschwenke, H. BRÜNING, 12. 12. 1930, in: Protokolle (wie Anm. 62), S. 500; vgl. EBERHARD KOLB: Die Weimarer Republik, München 52000, S. 126–128, Zit. S. 128. 132 Vgl. „Mit dem Führer!“, in: Das junge Zentrum 9 (1932), H. 11, S. 1; ADAM STEGERWALD: Das Kabinett Brüning und die Arbeiterschaft, in: Um den sozialen Volksstaat. Die christliche Arbeiterschaft im Wahlkampf 1932. Vorträge gehalten auf der außerordentlichen Tagung des Reichsarbeiterbeirates der Deutschen Zentrumspartei am 29. Juni 1932 in Essen, o.O. o.J. (1932), S. 5–25, hier S. 22; R. MORSEY, Ende (wie Anm. 125), S. 292, S. 415; D. JUNKER, Zentrumspartei (wie Anm. 70) spricht vom Ziel einer „Synthese von Präsidialgewalt und eingeschränktem Parlamentarismus“, S. 127. Zur Unterscheidung zwischen demokratischen Führungsvorstellungen in Weimar, welche u. a. die abgeleitete Stellung von Führung betonten, und antidemokratischen Ideen C. GUSY, Fragen (wie Anm. 101), S. 655–658.

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orientierte sich damit an konstitutionellen Leitbildern.133 Man habe, so Stegerwald deutlicher, die „freieste Demokratie der Nachkriegszeit“ „auf die Spitze getrieben“ und müsse im „Volksstaat“ „Überspitztheiten und Verstiegenheiten der parlamentarischen Demokratie“ „ausmerzen“.134 Die Windthorstbunde wollten zwar das Bekenntnis zur Verfassung Weimars mit dem „Volksstaat“ verbinden, doch dürfe „Demokratie nicht immer Mehrheitsbeschluß bedeuten“, könne doch auch die „Verantwortung für das Volk ganz bei der kraftvollen Führung“ liegen.135 Am stärksten von der Notverordnungspolitik grenzte sich Georg Schreiber ab, der in der Endphase der Republik die „vernunftrepublikanische“ Parteimitte verkörperte. Schreiber plädierte für die „reformierte Demokratie“ und einen demokratisch fundierten Autoritätsgedanken, wohingegen ein „Direktorium ... von des Reichspräsidenten Gnaden“ auf Dauer nicht „Spiegel der Volksseele“ sein könne136, weil es sich „an einer wahrhaft organischen Staatsbetrachtung (vergeht), die den einzelnen und die Gruppen zur Mitarbeit ... aufruft.“137 Auch Schreiber sprach aber von der „Sendung des Führers“ Brüning und wandte sich gegen die „Formaldemokratie, die den Staat einseitig auf Abstimmungen und auf den Stimmzettel stellt“.138 Das Programm, welches Schreiber unter Mithilfe des Alt-Kanzlers Wilhelm Marx konzipierte, barg gleichwohl lediglich Verfassungsreformpläne, welche „organisch“ an das Bestehende, an Weimar anknüpfen sollten. Konkret drang man auf eine Reichsreform, die das „echte Föderativsystem“ verwirklichen sollte, ferner auf ein Ausführungsgesetz zu Artikel 48 WRV, um die Rechte des Präsidenten zu fixieren, und insbesondere auf eine Stärkung des Reichsrates, dessen Zustimmung zu Notverordnungen und zur Gesetzgebung notwendig werden sollte – was kurzfristig angesichts der extremistischen Dominanz im Reichstag das System weder effektiver gemacht noch exekutiv gestärkt hätte.139 Schreibers Überlegungen standen bereits im Zeichen einer Revitalisierung des „vernunftrepublikanischen“ Selbstbildes der Verfassungspartei. Nach dem Sturz Brünings im Mai 1932 erwuchs der Partei mit der Präsidialregierung des Zentrums-Renegaten Franz von Papen und seinem Konzept des „Neuen Staates“, das eine Ausschaltung des Parlaments intendierte, ein neues Feindbild.140 133 JOSEPH JOOS: Der Wahlkampf und die deutsche Aufgabe der christlichen Arbeiterschaft, in: Volksstaat (wie Anm. 132), S. 26–31, Zit. S. 28. 134 A. STEGERWALD, Kabinett (wie Anm. 132), S. 9. 135 Zum Verfassungstag, in: Das junge Zentrum 8 (1931), 8, S. 1f; vgl. Gegen den Staat der Bevorrechtigten! Es lebe der deutsche Volksstaat!, in: ebd. 9 (1932), H. 11, S. 2. 136 GEORG SCHREIBER: Brüning – Hitler – Schleicher. Das Zentrum in der Opposition, Köln 1932, S. 58, vgl. S. 88. 137 DERS.: Regierung ohne Volk, Köln 1932, S. 7. 138 DERS., Brüning (wie Anm. 136), S. 10, S. 55f; vgl. ebd., S. 15. 139 DERS., Regierung (wie Anm. 137), S. 8, S. 104–113, S. 122–139. 140 Die Ablehnung der Papen-Regierung gründete in der Enttäuschung über den „Verrat“ Papens, vgl. R. MORSEY, Untergang (wie Anm. 62), S. 45–49, aber auch in der Ablehnung des diktatorischen Konzepts des „Neuen Staates“; vgl. als Streitschrift gegen Papen G.

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War der „Volksstaat“ immer „freiheitlich“ gedacht und Rechtsstaatlichkeit traditionelles Kriterium für das Zentrum, so akzentuierte man nun die Aufgabe der Partei als „Bürge der Freiheit“ des einzelnen und Kämpfer gegen den „autoritären“ und „totalen Staat“.141 Die Fraktion warnte vor „verfassungswidrige(n) Experimente(n)“ und mahnte die verfassungsgemäße Abhängigkeit der Regierung vom Vertrauen des Parlaments an.142 Dies stand in der Tradition der Verfassungspartei, verband sich aber ebenso mit einem Kurswechsel: Die Partei unter Führung von Kaas, aber auch der (Vernunft-)Republikaner um Joos, Schreiber und sogar Wirth erwog im Sommer und Herbst 1932 eine Koalitionsbildung mit der NSDAP. Hofften wohl alle Kräfte in der Partei auf eine „Zähmung“ der Nationalsozialisten und verfolgte Kaas das Ziel nationaler „Sammlung“143, so wurden Joos und Schreiber von der illusionären Überlegung geleitet, mit den Nationalsozialisten eine „verfassungsmäßige Regierung“ zu bilden.144 Mithin war das „vernunftrepublikanische“ Bild der Verfassungspartei in der Endphase Weimars mit der steten Wendung gegen diktatorische Pläne unterfüttert, hatte aber mit den ambivalenten Überlegungen zu einer autoritativen, sprich zumindest zeitweise parlamentsunabhängigen Regierung gelitten und wurde schließlich – aus einem schwer zu entwirrenden Motivbündel und unter dem Druck des Terrors – mit der Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz preisgegeben.145

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SCHREIBER, Regierung (wie Anm. 137). D. JUNKER, Zentrumspartei (wie Anm. 70) argumentiert, das Zentrum hätte, um die Nationalsozialisten abzuwenden, die Präsidialsysteme nach Brüning und den offenen Verfassungsbruch stützen müssen, was aber einen Bruch mit der katholischen Staatslehre bedeutet hätte. G. SCHREIBER, Brüning (wie Anm. 136), S. 56; DERS., Regierung (wie Anm. 137), S. 80, S. 91; A. STEGERWALD, Kabinett (wie Anm. 132), S. 24f; Aufruf des Reichsarbeiterbeirats der Zentrumspartei, 29. 6. 1932, in: Volksstaat (wie Anm. 132), S. 43; H. HÜRTEN, Katholiken (wie Anm. 28), S. 170f; R. MORSEY, Ende (wie Anm. 125), S. 323f. Entschließung der Fraktion, 29. 8. 1932, in: Protokolle (wie Anm. 62), S. 584; vgl. G. SCHREIBER, Vorstandssitzung, 19. 11. 1932, in: ebd., S. 597; H. BRAUNS zur „Rettung von Demokratie und Reichstag“: Fraktionssitzung, 29. 11. 1932, in: ebd., S. 599; D. JUNKER, Zentrumspartei (wie Anm. 70), S. 72–126. L. KAAS sprach in Verhandlungen mit Hindenburg am 18. 11. 1932 vom Ziel der „autoritäre(n) Regierung“, die aber den Reichstag nicht entbehren könne, und wandte sich gegen Verfassungsbruch: D. JUNKER, Zentrumspartei (wie Anm. 70), S. 113f; zur „Sammlung“ R. MORSEY, Ende (wie Anm. 125), S. 302f, S. 324–333; JOSEF BECKER: Brüning, Prälat Kaas und das Problem der Regierungsbeteiligung der NSDAP 1930– 1932, in: HZ 196 (1963), S. 74–111, hier S. 93–96, S. 111. J. JOOS, zit. n. O. WACHTLING, Joos (wie Anm. 16), S. 165; zur Annäherung Joos’ an die „Jungkonservativen“ in der Partei ebd., S. 153; ferner U. HÖRSTER-PHILIPPS, Wirth (wie Anm. 14), S. 411–413. Zu den in der Forschung umstrittenen Motiven für die Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz u. a. R. MORSEY, Untergang (wie Anm. 62), S. 115–151; zuletzt mit umfassenden Literaturhinweisen WINFRIED BECKER: Die Deutsche Zentrumspartei gegenüber dem Nationalsozialismus und dem Reichskonkordat 1930–1933: Motivationsstrukturen und Situationszwänge, in: HPM 7 (2000), S. 1–37. Dass D. JUNKER, Zentrumspartei (wie

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V. Fazit Begreift man „Vernunftrepublikanismus“ als Phänomen einer Elitenströmung in der Weimarer Republik, welche für die Republik Verantwortung trug, aber deren Loyalität mehr auf funktionaler und weniger auf normativer Basis ruhte, so bildet die Mitte der Zentrumspartei, die – weit gefasst – von Joseph Joos bis zu Adam Stegerwald reichte, einen substantiellen Teil dieses Phänomens. Dass die „Vernunftrepublikaner“ aus der Zentrumspartei 1918/19 trotz anderer Affinitäten den Weg in die Republik maßgeblich mittrugen, ist zunächst als deren historische Leistung zu würdigen. Geleitet wurden sie dabei von einem Krisenreflex während der Revolutionszeit, welcher die Sicherung katholischer Rechte und Interessen intendierte, einer grundsätzlich pragmatischen Ausrichtung, die auf der Erfahrung des Kulturkampfes und der heterogenen sozialen Struktur der Partei basierte, und einer aus der katholischen Staatslehre stammenden Staatsauffassung, aus deren positivem Staatsbegriff sich die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung und eine „staatsneutral“-verfassungspragmatische Haltung ableiten ließen. Als Leitbild der katholischen „Vernunftrepublikaner“ schält sich das Ideal einer organisch gegliederten (Volks-)Gemeinschaft heraus, das die pluralistische Struktur der Industriegesellschaft nicht umfassen konnte. Die Gemeinschaftsideologie mündete in eine vage, für verschiedene Interpretationsmöglichkeiten offene Formel des „Volksstaats“: Diese benannte das Volk nicht als Quelle, aber als Träger der Staatsgewalt, da die „volle“ Volkssouveränität aus der katholischen Staatslehre nur schwerlich zu rechtfertigen war, und zielte auf Teilhabe und Selbstverwaltung in einem organisch gegliederten Gemeinwesen. Zum System der parlamentarischen Demokratie fanden die katholischen „Vernunftrepublikaner“ keinen echten Zugang, freilich auch aufgrund der Erfahrungen mit den Problemen parlamentarischen Regierens. Dies sollte in der Endphase Weimars greifbar werden, als die „Vernunftrepublikaner“, innerhalb der Partei an Einfluss verlierend, Vorstellungen einer autoritativen, zumindest zeitweise parlamentsunabhängigen Führung stützten und sich so konstitutionellen Ideen näherten, aber bis März 1933 gegen Diktaturpläne kämpften. Wenn sich eine „klassische“ Generation der „Vernunftrepublikaner“ herausarbeiten lässt, so waren dies die Geburtsjahrgänge der 1850er und 1860er Jahre, der Trimborn, Gröber und Marx entstammten, also „Männer des alten Reiches“146, die noch den Kulturkampf miterlebt hatten und bereits vor 1914 aktiv in der Politik gestanden hatten. Mit ihrem erlebten Erfahrungsraum147 Anm. 70), S. 128ff, die katholische Staatslehre als Motiv anführt, überzeugt nicht, da mit dieser ein Verfassungsbruch, wie ihn das Ermächtigungsgesetz bildete, nicht gerechtfertigt werden konnte. 146 R. MORSEY, Zentrumspartei (wie Anm. 6), S. 581. 147 Vgl. REINHART KOSELLECK: ‚Erfahrungsraumʻ und ‚Erwartungshorizontʻ – zwei histo-

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konnten sie die Errungenschaften Weimars schätzen, die volle Gleichberechtigung der Katholiken, den Grundrechtsteil der Verfassung und nicht zuletzt das Bild von Demokratie als Mitgestaltungsrecht aller „Stände“. Zugleich scheint ihr Erwartungshorizont begrenzter, suchten sie das Erreichte zu sichern und sich mit dem Gegebenen abzufinden. Auch die „Zwischengeneration“ war von diesem Pragmatismus geprägt, verfolgte aber auch weiterreichende Zielsetzungen vom „echten Volksstaat“ (Joos) und von „organischer Demokratie“ (Stegerwald). Dagegen kehrte die katholische Frontgeneration mit den existentiellen Erfahrungen des Krieges zurück. Mit „ganzheitliche(m) Wollen“148 suchte sie – so eine These, die in weiteren Forschungen zu prüfen wäre – entweder in einem jugendbewegt-idealistischen Politikverständnis die Republik nach ihren Vorstellungen zu formen149 oder wandte sich von ihr ab.150 Aus den Erfahrungen der Weimarer Republik und der nationalsozialistischen Herrschaft zog der Katholizismus seine Konsequenzen: Peter Tischleder revidierte bereits in den späten 1930er-Jahren seine organisch geprägte Staatslehre zugunsten eines konsequenteren christlichen Personalismus.151 Nach dem Zweiten Weltkrieg gründeten sich die interkonfessionellen Unionsparteien, geprägt von der Erfahrung des Scheiterns von Weimar, ganz in demokratischem Geiste, welcher sich rasch mit einem christlichen Personalismus bündelte, der nicht nur Freiheit und Würde des Individuums in den Mittelpunkt stellte, sondern auch organische Gesellschaftsvorstellungen durch eine pluralistische Konzeption ersetzte.152 Papst Pius XII. stellte kurz vor Ende des Weltkrieges in seiner Weihnachtsansprache die bislang fehlende Verbindung zwischen Demokratie und Vernunft her: „Wenn wir das Ausmaß und die Art der Opfer ansehen, die von allen Bürgern gefordert werden, erscheint die demokratische Form der Regierung in der Gegenwart ... vielen als eine Forderung der Natur, die von der Vernunft selbst aufgestellt ist“.153

rische Kategorien, in: DERS.: Vergangene Zukunft, Frankfurt a. M. 1989, S. 349–375. 148 H. LUTZ, Demokratie (wie Anm. 7), S. 94; vgl. S. 90–95. 149 Vgl. R. MORSEY, Zentrumspartei (wie Anm. 6), S. 594f. Die Haltung der Windthorstbunde zur Republik erscheint als Desiderat der Forschung. 150 Zur Ablehnung der Republik unter jungen katholischen Akademikern Bericht 2. RPT (wie Anm. 37), S. 115–117. 151 Vgl. L. BENDEL-MAIDL, Staatslehre (wie Anm. 47); R. UERTZ, Gottesrecht (wie Anm. 9), v. a. S. 440ff. 152 Vgl. WINFRIED BECKER: CDU und CSU 1945–1950, Mainz 1987; zu organischen Strömungen RUDOLF UERTZ: Christentum und Sozialismus in der frühen CDU, Stuttgart 1981; übergreifend PAUL NOLTE: Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, München 2000, S. 298ff. 153 Zit. n. PETER MOLT: Katholische Staatslehre und demokratische Ordnung, in: Civitas 1 (1962), S. 28–43, hier S. 32; zur endgültigen Akzeptanz pluralistischer und personalistischer Gesellschaftskonzeptionen auf dem II. Vatikanischen Konzil vgl. R. UERTZ, Götterrecht (wie Anm. 9), S. 463–482.

Vernunftrepublikanismus in den Spitzenverbänden der deutschen Industrie Wolfram Pyta I. Ein Beitrag über das vernunftrepublikanische Potential in Wirtschaftsverbänden stellt den Verfasser zunächst einmal vor das Problem, die Leitkategorie „Vernunftrepublikanismus“ so trennscharf zu konturieren, dass sie nicht nur als terminologischer Zugang für das zu untersuchende Phänomen taugt, sondern auch in spezifischer Weise der Praxis von Wirtschaftsverbänden gerecht wird. Es geht mithin darum, das Verhalten von Wirtschaftsverbänden auf eine als „vernunftrepublikanisch“ zu bezeichnende Einstellung abzuklopfen. Welche Anforderungen sind dabei zu erfüllen? In einer ersten vorläufigen Annäherung wird man sagen können, dass sich mit „Vernunftrepublikanismus“ ein zwar nicht emphatisches, aber doch sichtbares und in der Praxis eingelöstes Bekenntnis zu einer bestimmten politischen Ordnung verbindet – und zwar einer Ordnung, die nicht allein durch den Verzicht auf eine monarchische Staatsform gekennzeichnet ist. Republikanismus meint auch die Bejahung einer vom monarchischen Prinzip abgegrenzten Legitimationsgrundlage. Der Rekurs auf die Volkssouveränität reicht wegen der politischen Mehrdeutigkeit des Volksbegriffs allerdings zur Verleihung des Gütesiegels „Vernunftrepublikanismus“ nicht aus. Denn gerade in der Weimarer Republik haben mächtige politische Strömungen sich auf den Volkswillen als zentrale Legitimationsquelle berufen, aber damit gerade eine fundamentale Attacke gegen die bestehende politische Ordnung und die Schar der Vernunftrepublikaner verbunden. Die Kategorie des „Volkswillens“ schlug immer dann in einem solchen Sinne aus, wenn ihr eine Vorstellung von „Volk“ zugrunde lag, die das „Volk“ als eine homogene politische Größe definierte und es der Politik zur Aufgabe machte, diese vermeintlich ursprüngliche Volkseinheit in einer entsprechenden politischen Ordnung abzubilden. Insofern wimmelte es in der politischen Landschaft gerade bei der neuen Rechten von Befürwortern einer identitären Konzeption des Volksbegriffs. Der mit einer ähnlichen Konnotation versehene Begriff der „Volksgemeinschaft“, der durch die integrative Wirkung des Kriegserlebnisses von 1914 einen gewaltigen Auftrieb erfahren hatte, konnte bis in den demokratischen Liberalismus hinein auf massive Zustimmung rechnen.1 1

STEFFEN BRUENDEL: Volksgemeinschaft oder Volksstaat, Berlin 2003; SVEN OLIVER

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In Abgrenzung zur Vorstellung eines einheitlichen Volkswillens lässt sich ein erstes Anforderungsprofil an die Vernunftrepublikaner ableiten: Vernunftrepublikanismus bedeutet demnach eine Spielart des Nations- und Demokratieverständnisses, die ungeachtet der Bejahung der Integrationskraft der Nationsvorstellung die politische Ordnung nicht auf die Zielvorgabe einer homogenen politischen Willensgemeinschaft festlegen will, sondern daran festhält, dass es unterhalb der Schwelle des nationalen Gemeinwohls eine Vielzahl konkurrierender Interessen gibt und dass die Austragung der sich daraus ergebenen Interessenkonflikte legitim ist. Nicht zuletzt daraus leitet sich die Kernlegitimation des Parlamentarismus ab: dass nämlich ein politisches System mit einer starken Stellung des Parlamentes ein institutionell geschütztes Forum für die verfahrensmäßig geordnete Aushandlung unvermeidlicher Interessengegensätze schafft, an deren Ende legitime politische Entscheidungen stehen. Allein ein solches Bekenntnis zur Legitimität einer pluralistisch verfassten Gesellschaft und zu einem korrespondierenden politischen System beinhaltet angesichts der gemeinschaftsfixierten politischen Kultur der Weimarer Republik enorme Anforderungen an Vernunftrepublikaner. Schon deswegen sollte man sich davor hüten, die Weimarer Republik mit der Elle einer parlamentarisch zentrierten Demokratie zu messen. Lange Zeit ist die Weimarer Republik gewissermaßen mit dem Grundgesetz unter dem Arm beäugt worden und fanden nur jene politischen Kräfte bei den Beobachtern Gnade, die nach dem Vorbild der Bonner Demokratie die politische Willensbildung auf das Parlament ausrichteten.2 Dies hatte zwangsläufig zur Folge, dass man gewissermaßen mit dem Vergrößerungsglas diese rare Spezies der Anhänger eines unverfälschten Parlamentarismus suchen musste und damit aus dem Blick geriet, dass die überwältigende Mehrheit auch der Vernunftrepublikaner dem Reichspräsidenten und damit der präsidialen Komponente der Weimarer Demokratie eine unverzichtbare Rolle zuwies, um das Verhältnis zwischen heterogenen und homogenen Elementen in Gesellschaft und Politik auszutarieren. Pointiert formuliert: Die Messlatte für Vernunftrepublikaner kann nicht darin bestehen, den Reichspräsidenten als gestalterische Potenz gerade in Hinblick auf die Regierungsbildung zu minimieren und auf ein ausführendes Organ parlamentarischer Mehrheiten zu reduzieren. Es war kein geringerer als der Schöpfer des Begriffes „Vernunftrepublikanismus“, Friedrich Meinecke, der von Ende

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MÜLLER: Die Nation als Waffe und Vorstellung, Göttingen 2002; CHRISTOPH GUSY (Hg.): Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2000; THOMAS MERGEL: Führer, Volksgemeinschaft und Maschine, in: WOLFGANG HARDTWIG (Hg.): Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918–1939, Göttingen 2005, S. 91– 127. Vgl. WOLFRAM PYTA: „Weimar“ in der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft, in: CHRISTOPH GUSY (Hg.): Weimars langer Schatten – „Weimar“ als Argument nach 1945, Baden-Baden 2003, S. 21–62.

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1930 an für eine Verschiebung der politischen Gewichte zugunsten der Präsidialgewalt plädierte und dafür den Terminus „konstitutionelle Demokratie“ einführte3. Man sollte daher das Projekt „Vernunftrepublikanismus“ nicht von vornherein so einengen, dass die Verfechter einer gestalterischen Rolle des Reichspräsidenten aus diesem Konzept ausgeschlossen werden. II. Ein Verständnis von „Vernunftrepublikanismus“, das um ein pluralistisches Verständnis von Gesellschaft zentriert ist und das den staatlichen Institutionen – auch dem Reichspräsidenten – die Funktion zuweist, durch geregelte Verfahren die Fülle von Einzelinteressen zu bündeln und in eine entscheidungsfreudige politische Willensbildung zu überführen – ein solcher Begriff von „Vernunftrepublikanismus“ sollte gerade maßgeschneidert sein, um das Verhalten von Wirtschaftsverbänden zu erfassen. An ihnen lassen sich die Chancen, aber auch die Grenzen des vernunftrepublikanischen Projektes besonders nachdrücklich veranschaulichen! Eine Untersuchung des vernunftrepublikanischen Potentials bei Wirtschaftsverbänden ist vor allem dort lohnend, wo diese Verbände eine einheitliche Struktur aufwiesen, mithin weltanschaulich neutral waren und sich allein über die ökonomisch zentrierte Wahrung von Interessen definierten. Legen wir diese Meßlatte an, dann müssen wir die Agrarverbände ausschließen, da der konfessionelle Riss, der quer durch die deutsche Gesellschaft lief, auch vor dem agrarischen Verbandswesen nicht haltmachte. Die in West- und Süddeutschland beheimateten Bauernvereine verstanden sich immer auch als Teil der katholischen Milieukultur; und die im „Reichslandbund“ zusammengeschlossenen Verbände bevorzugten nicht nur großagrarische Interessen, sondern waren auf die protestantisch geprägten Agrarzonen des Reiches beschränkt.4 Im Unterschied dazu durchbrach der industrielle Spitzenverband eine feste milieumäßige Zuordnung. Der im Jahre 1919 gegründete „Reichsverband der 3

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In einem Zeitungsartikel über „Nationalsozialismus und Bürgertum“ vom 21. Dezember 1930, wieder abgedruckt in: FRIEDRICH MEINECKE: Politische Schriften und Reden, Darmstadt 1958, S. 441–445, hier S. 442; vgl. dazu WOLFRAM PYTA: Konstitutionelle Demokratie statt monarchischer Restauration, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 47 (1999), S. 417–441; zu Meineckes Plädoyer für eine Präsidialdemokratie vgl. ausführlich STEFAN MEINEKE: Parteien und Parlamentarismus im Urteil Friedrich Meineckes, in: GISELA BOCK/DANIEL SCHÖNPFLUG (Hg.): Friedrich Meinecke in seiner Zeit, Stuttgart 2006, S. 51–93. Vgl. STEPHANIE MERKENICH: Grüne Front gegen Weimar. Reichs-Landbund und agrarischer Lobbyismus 1918–1933, Düsseldorf 1998; HANS-PETER ULLMANN: Interessenverbände in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988; DIETER GESSNER: Agrarverbände in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1976.

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Deutschen Industrie“ (RDI) war der geglückte Versuch, die Interessendivergenzen zwischen der eher protektionistisch ausgerichteten Textil- und Schwerindustrie auf der einen und der exportorientierten chemischen Industrie, Elektroindustrie und dem Maschinenbau auf der anderen Seite zumindest auszugleichen, was im Kaiserreich bezeichnenderweise nicht geglückt war, da dort diese beiden Zweige einen eigenen Verband ins Leben gerufen hatten. Seit 1919 sprach die deutsche Industrie ungeachtet weiterhin bestehender unterschiedlicher Interessenlagen einzelner Wirtschaftszweige nach außen hin mit einer Stimme5 – und da im RDI etwa 80 % aller gewerblichen Unternehmen organisiert waren, eignet sich dieser Spitzenverband in besonderer Weise als Untersuchungsgegenstand, um etwaiges vernunftrepublikanisches Handeln zu identifizieren. Wir wollen uns dabei ganz auf die Führungsebene des RDI konzentrieren. Damit wird zum einen die Vermutung geäußert, dass vernunftrepublikanisches Verhalten am ausgeprägtesten bei gesellschaftlichen Eliten anzutreffen sein dürfte. Daher empfiehlt es sich, den Fokus auf denjenigen überschaubaren Kreis von Wirtschaftsführern zu richten, der im RDI den Ton angab. An der Spitze des RDI stand ein ehrenamtlicher Vorsitzender; die Geschäftsführung und damit die politische Lobbyarbeit im engeren Sinne lag in den Händen des geschäftsführenden Präsidialmitglieds. Daneben existierten als wichtigste Gremien das 35 Mitglieder zählende Präsidium sowie der Vorstand, dessen Größe immer weiter anwuchs und der im Jahre 1930 120 Köpfe zählte6. Zum anderen folgte der RDI als Einheitsverband der deutschen Industrie der Maxime, in internen Meinungsbildungsprozessen die durchaus unterschiedlichen Interessen der in ihm vertretenen Branchen und Unternehmen auszugleichen und nur nach solchen inneren Abstimmungsprozessen öffentliche Stellungnahmen abzugeben. Die Verbandslinie kristallisierte sich also erst heraus, wenn die wichtigsten Gremien passiert worden waren – und dies sicherte den einmal gefassten Resolutionen ein erhebliches Maß an Verbindlichkeit. Ein solcher Spitzenverband prüfte seine Schritte viel abwägender als jene Verbände, die ausgeprägt partikulare Interessen einzelner Wirtschaftszweige im Auge hatten wie etwa der schwerindustrielle „Langnamverein“ – aber dafür zeichneten sich die vom RDI gefassten Beschlüsse durch einen wesentlich höheren Grad an Repräsentativität aus.7 5 6 7

Zur Gründungsgeschichte des RDI vgl. STEPHANIE WOLFF-ROHÉ: Der Reichsverband der Deutschen Industrie 1919–1924/25, Frankfurt a. M. 2001, S. 21–73. Vgl. ebd., S. 78–88. Eine Konzentration auf die Schwerindustrie, wie sie in der Forschung gelegentlich anzutreffen ist, vermag daher nicht die Einstellung der gesamten deutschen Industrie angemessen wiederzugeben; manche Arbeiten neigen dennoch dazu, die Haltung schwerindustrieller Zirkel an der Ruhr als repräsentativ für die Einstellung der deutschen Industrie auszugeben, siehe etwa FRITZ BLAICH: Staatsverständnis und politische Haltung der deutschen Unternehmer 1918–1930, in: KARL DIETRICH BRACHER/ MANFRED FUN-

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Woher könnte eine prinzipielle Aufgeschlossenheit von Wirtschaftsverbänden für die 1919 geschaffene politische Ordnung herrühren? Zum einen lässt sich auf ein nüchternes Kalkül verweisen, das man auch als Primat ökonomischer Vernunft bezeichnen könnte. Solange es die Weimarer Republik den Wirtschaftsverbänden gestattete, ihre partikularen Interessen erfolgreich in den politischen Prozess einzuspeisen, so dass die Politik auch, wenngleich nicht ausschließlich, die Handschrift der Verbände trug, sprach eine nüchterne Betrachtung der Leistungsbilanz dafür, die bestehende politische Ordnung zu akzeptieren. Der Aufstieg der Verbände in Deutschland war an den Ausbau der Staatsfunktionen geknüpft gewesen, so dass eine Bündelung und gezielte Steuerung ökonomischer Interessen als erfolgverheißendste Möglichkeit erschien, um auf die Handlungen des Interventionsstaates Einfluss nehmen zu können. Die Ökonomisierung der Politik war das Grundanliegen der Wirtschaftsverbände, welches im Prinzip für jedes politische System galt, das ökonomischen Interessen die Chance auf Interessenartikulation bot. Natürlich boten bestimmte Regime den Wirtschaftsverbänden bessere Einfallstore für die Einspeisung ihrer Interessen in den politischen Prozess. Je stärker eine eingespielte Verbindung organisierter ökonomischer Interessen zur Exekutive vorhanden war und je unabhängiger vom Parlament die Exekutive in ökonomischen Fragen agieren konnte, desto mehr konnte ein derartig verfasstes System auf die Sympathien der Wirtschaftsverbände rechnen.8 Für nicht wenige Wirtschaftsvertreter war daher ihr Idealbild von politischer Ordnung ein Ständestaat, in dem Verbände zu Trägern der Staatsgewalt aufgewertet waren und der Einfluss des demokratisch gewählten Parlamentes rigoros beschnitten wurde. Solche autoritären Staatsvorstellungen waren aber nur mit Hilfe einer rigorosen Umgestaltung der Weimarer Republik durchzusetzen; und die damit verbundenen politischen Transaktionskosten stimmten weitsichtige Wirtschaftsvertreter skeptisch. Musste ein hochindustrialisiertes Land mit der am besten organisierten Arbeiterbewegung nicht bedacht sein, gesellschaftliche Zerreißproben zu vermeiden und daher ein politisches System bevorzugen, das auch dem demokratischen Sozialismus Raum zur politischen Entfaltung bot? Schließlich hatten die Novemberrevolution 1918 und die bis März 1920 reichenden inneren Unruhen gezeigt, dass ein sozialrevolutionäres Potential in der deutschen Arbeiterschaft vorhanden war, das sich bei Zuspitzung der Lage in Gestalt politischer Eruptionen bemerkbar machen konnte. Angesichts dieser Erfahrungen ließen sich dem von der Weimarer Reichsverfassung eingeführten politischen System so manche Vorteile abgewinnen. KE/HANS-ADOLF

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JACOBSEN (Hg.): Die Weimarer Republik 1918–1933, Bonn 1987, S. 58–178. Zur Struktur korporativer Vorstellungen vgl. HANS-ULRICH WEHLER: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn der Ersten Weltkrieges 1849–1914, München 1995, S. 662–674.

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Die Einstellung der meisten Wirtschaftsführer zum politischen System war daher von einer zweckrationalen Nüchternheit geprägt. Gewiss haben sie im Regelfall dem verflossenen Kaiserreich nachgetrauert, weil hier ein mächtiger Staat ungleiche Wettbewerbsbedingungen bei der Durchsetzung gesellschaftlicher Interessen schuf, indem er die organisierten Interessen der Arbeiterschaft – ob sozialistisch oder christlich-national – an ihrer Entfaltung behinderte. Aber eine nostalgische Beschwörung vergangener Zeiten, über welche die Geschichte hinweggegangen war, konnte nicht die Maxime erfolgreicher Interessenwahrnehmung im Hier und Jetzt sein. Insofern gebot nüchterne Realpolitik, sich auf die nachkaiserliche Zeit und damit auf die Republik von Weimar einzulassen. Einer der Vorsitzenden des RDI, der Vorsitzende des Aufsichtsrates der IG Farben, Carl Duisberg, formulierte diese Position auf der Mitgliederversammlung des RDI am 26. September 1929 so: „Niemand kann es uns verdenken, daß wir, deren Jugend in die Zeit Bismarcks und unseres erstarkten Kaisertums gefallen ist, auch der vergangenen Zeit ein dauerndes, ehrendes Andenken bewahren. Aber der Reichsverband der Deutschen Industrie kann seine Stellung nicht gegen oder neben dem neuen Staat, so wie er heute ist, sondern nur in ihm und mit ihm finden“.9

Beim Vergleich Kaiserreich – Weimarer Republik aus unternehmerischer Sicht sollte ebenfalls bedacht werden, dass der Eintritt in die republikanische Ära auch eine stärkere Sensibilisierung für bestimmte Mängel des Kaiserreiches zur Folge haben konnte. Die auf der Habenseite zu bilanzierenden Vorzüge der alten Ordnung – der Einflussverlust des Reichstags und die Ausschaltung der sozialistischen Arbeiterbewegung von der Regierungsmacht – wurden erkauft mit einer unter Wilhelm II. kulminierenden Intransparenz politischer Verfahren. Gerade industrielle Interessen mussten einkalkulieren, an ihrer Entfaltung durch die Vetomacht der preußischen Konservativen im Abgeordnetenhaus und durch den Einspruch der preußischen Staatsregierung behindert zu werden, wie dies beim Bau des Mittellandkanals besonders drastisch zum Ausdruck gekommen war. Die eingebaute Rücksichtnahme auf die Interessen der verbündeten Regierungen im Bundesrat konnte sich ebenfalls hemmend auswirken; genau so die ungeklärte Rolle der Militärs, die eifersüchtig ihr extrakonstitutionelles Terrain hüteten und von dort aus immer wieder Anstalten unternahmen, auf das Feld der zivilen Politik überzugreifen. Demgegenüber bot die unitarisch verfasste Republik von Weimar, in der das Militär seine verfassungsmäßige Sonderstellung eingebüßt hatte, einen politischen Kampfboden, der klarer strukturierte politische Aushandlungsprozesse ermöglichte. Und hierbei erwies sich das Parlament als der bevorzugte Adressat unternehmerischer Interessenpolitik. Denn die Regierungen im Reich wie in den Ländern waren in ihrer Eigenschaft als Koalitionsregierungen mit in ökonomischen 9

CARL DUISBERG: 10 Jahre Reichsverband der Deutschen Industrie, in: Mitglieder-Versammlung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie am 20. und 21. September 1929 in Düsseldorf, Berlin 1929, S. 9–23, Zitat S. 12.

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Fragen oft weit auseinanderliegenden Flügelparteien nicht dazu disponiert, sich die Agenda des RDI zu eigen zu machen.10 Erfolgverheißender erschien daher der indirekte Weg über die Parlamente, der darin gipfelte, durch die Beeinflussung der Kandidatenauswahl bei den der Industrie nahestehenden politischen Parteien solche Abgeordnete in die Parlamente zu schleusen, die sich als getreue Sachwalter industrieller Verbandsinteressen betätigen sollten. Der RDI und die übrigen industriellen Spitzenverbände haben denn auch eine ansehnliche Anzahl ihrer Spitzenvertreter auf dem Ticket derjenigen vier in Frage kommenden regierungsfähigen Parteien im Reichstag untergebracht, die auf dem Boden der privatwirtschaftlichen Ordnung standen: Zentrumspartei, Deutsche Demokratische Partei (DDP), Deutsche Volkspartei (DVP) und Deutschnationale Volkspartei (DNVP). Besonders eng waren die Beziehungen zur DVP, welche eine Gründung des lupenreinen „Vernunftrepublikaners“ Gustav Stresemann war11. Der erste, von 1919 bis 1924 amtierende Vorsitzende des RDI, der Krupp-Direktor Kurt Sorge, schmückte ebenso die Reihen der DVP-Reichstagsfraktion wie Hugo Stinnes12, der Inhaber des StinnesKonzerns, und Albert Vögler, Spitzenmanager aus der Stahlindustrie des Ruhrgebiets, die beide dem RDI-Präsidium angehörten. III. Machen wir nun im dritten Teil unserer Ausführungen einen Durchgang durch das politische Agieren des RDI und fragen wir danach, ob und inwieweit daran ein Verhalten ablesbar ist, das wir im besagten Sinne als „vernunftrepublikanisch“ qualifizieren können. Das Verhalten des RDI ist dann als „vernunftrepublikanisch“ einzustufen, insofern und solange es sich zum einen vom Primat einer gesamtwirtschaftlichen Perspektive leiten und zum anderen von der Überzeugung tragen ließ, die republikanisch-demokratische Ordnung räume dem vom RDI definierten gesamtwirtschaftlichen Interesse einen zentralen Stellenwert ein. Was meint hier Primat einer gesamtwirtschaftlichen Perspektive? Das Verlangen nach einer Politik, welche die Erhaltung der zentralen Funktionsbedingungen der deutschen Wirtschaft in den Vordergrund rückt. Darunter fällt zuvörderst das unverrückbare Beharren auf einer privatwirt10 So auch das Ergebnis der Pionierstudie von CARL BÖHRET: Aktionen gegen die „kalte Sozialisierung“ 1926–1930. Ein Beitrag zum Wirken ökonomischer Einflußverbände in der Weimarer Republik, Berlin 1966, vor allem S. 196–206. 11 Vgl. LUDWIG RICHTER: Die Deutsche Volkspartei 1918–1933, Düsseldorf 2002; zu Stresemanns „Vernunftrepublikanismus“ s. den Beitrag von Horst Möller in diesem Band. 12 Siehe GERALD D. FELDMAN: Hugo Stinnes. Biographie eines Industriellen 1870–1924, München 1998.

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schaftlich verfassten Wirtschaftsordnung und damit die prinzipielle Ablehnung aller Eingriffe in die bürgerliche Eigentumsordnung. Die Weimarer Verfassung hatte die durch die Novemberrevolution aufgeworfene Frage nach der Wirtschaftsordnung insofern in einer wirtschaftsfreundlichen Weise entschärft, als sie sozialistische oder rätedemokratische Strukturveränderungen der Wirtschaftsordnung zwar nicht prinzipiell ausschloss, aber an die Gewinnung entsprechender politischer Mehrheiten knüpfte, die zumindest in den 1920erJahren nicht erreichbar waren. Damit verlor die 1918/19 noch virulente Frage nach einer neuen Wirtschaftsordnung in den 1920er-Jahren viel von ihrer Brisanz.13 Damit aber rückte eine andere Frage ganz oben auf die politische Agenda der Wirtschaftsverbände: der Umgang mit den Bestimmungen des Versailler Friedensvertrages, der die außenwirtschaftlichen Rahmenbedingungen festlegte. Es ist hier nicht der Platz, um die ökonomischen Implikationen des Versailler Vertrages in aller Ausführlichkeit auszubreiten.14 Dadurch, dass er die zentrale Frage der Regelung der Reparationsansprüche gegen das Deutsche Reich im Detail noch offen ließ, griff der Vertrag nicht nur existentiell in die deutsche Finanz- und Währungspolitik ein; er bestimmte zugleich den Rahmen, in dem die deutsche Wirtschaft wieder in die Weltwirtschaft integriert werden konnte. Primat der gesamtwirtschaftlichen Perspektive heißt demnach, dass sich der RDI bei der Stellungnahme zur fiskalischen und ökonomischen Abwicklung des verlorenen Weltkrieges vom Vorrang volkswirtschaftlichen Nutzens vor nationalpolitischen Überlegungen leiten ließ. Eine solche Stellungnahme war aber keineswegs systemneutral. Denn sie lief in der Konsequenz darauf hinaus, einer von den republikanischen Kräften getragenen Erfüllungspolitik15 den eindeutigen Vorzug zu geben vor einer strikten Verweigerungspolitik, die an die Stelle ökonomisch fundierter Ratio Argumente aus dem Arsenal des radikalen Nationalismus bezog, die sich gerade dadurch auszeichneten, dass die Ökonomie hier bestenfalls eine dienende Funktion einnahm. Gleichberechtigt neben diesen außenwirtschaftlichen Aspekten sind ordnungspolitische Fragen zu sehen, die unterhalb der Schwelle der Wirtschaftsordnung anzusiedeln sind. Hier ging es im Kern darum, wie stark der Staat durch Steuern, Abgaben und Eingriffe in die Gestaltung der Löhne das wirt13 Vgl. HEINRICH AUGUST WINKLER: Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1993, vor allem S. 102–142; CHRISTOPH GUSY: Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1997, S. 342–352. 14 Vgl. PETER KRÜGER: Die Außenpolitik der Republik von Weimar, Darmstadt 1985. 15 Dass der Umgang mit dem Versailler Vertrag die republikanisch ausgerichteten Parteien integrierte, hat schon Andreas Hillgruber hervorgehoben: ANDREAS HILLGRUBER: Unter dem Schatten von Versailles – Die außenpolitische Belastung der Weimarer Republik: Realität und Perzeption bei den Deutschen, in: KARL DIETRICH ERDMANN/HAGEN SCHULZE (Hg.): Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie, Düsseldorf 1980, S. 51–67.

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schaftliche Gebaren steuern durfte. Letztlich handelt es sich dabei um die politische Anfrage an die politische Ordnung der Weimarer Demokratie, inwieweit diese aufnahmebereit für politische Forderungen war, die dem Katalog des Wirtschaftsliberalismus entnommen waren. Fassen wir noch einmal den Kern der im folgenden auszuführenden These zusammen: Der RDI agierte dann vernunftrepublikanisch, wenn er sich von außenwirtschaftlichen und ordnungspolitischen Anliegen leiten ließ, die unter den Strukturbedingungen der politischen Ordnung der Weimarer Republik als realisierbar angesehen wurden. Dabei ist noch einmal die Elastizität der politischen Ordnung zu betonen, wie sie die Weimarer Verfassung umrahmte. Vernunftrepublikanische Einstellung ist nicht vereinbar mit einem Frontalangriff gegen die Rechte des Reichstags, aber sehr wohl mit einer Ausschöpfung der in der Verfassung festgelegten Befugnisse des demokratisch gewählten Reichspräsidenten. IV. Bis zur Annahme des Young-Planes im März 1930 ließ sich der Spitzenverband der deutschen Industrie von dem außenwirtschaftlichen Argument leiten, dass die Herstellung der deutschen Exportfähigkeit Priorität besitze. Diese Position brachte es mit sich, dass der RDI sich die nationalistisch motivierte Fundamentalopposition gegen die Erfüllung des Versailler Friedensvertrages nicht zu eigen machen konnte und sich im Gegenteil mit seinem Einfluss für eine positive Gestaltung des Vertragswerkes einsetzte. Im Juni 1922 legte der Geschäftsführer des RDI, Hermann Bücher, den Entwurf eines Wirtschaftsprogramms vor, der diese Einstellung unmissverständlich zur Sprache brachte: „Die im Interesse der Volkswirtschaft Deutschlands und der Welt anzustrebende Gleichberechtigung ist unsererseits auf dem Wege der reinen Negation nicht zu erlangen. Notwendig ist vielmehr, daß wir die Folgerungen aus dem verlorenen Krieg ziehen und positiv erklären, daß bestimmte Verpflichtungen von uns erfüllt werden müssen“.16

Wenn sich der RDI aus übergeordneten ökonomischen Gründen auf den Boden des Versailler Vertrages stellte, konnte davon auch seine Stellung zur politischen Ordnung des Weimarer Staates nicht unberührt bleiben. Prononciert brachte diese Einstellung das Vorstandsmitglied des RDI Paul Silverberg, Generaldirektor des größten deutschen Braunkohleunternehmens, der „Rheinischen Aktiengesellschaft für Braunkohlenbergbau und Brikettfabrikation“ (RAG), zum Ausdruck, als er am 12. Oktober 1922 vor Wirtschaftsführern ausführte: 16 Entwurf HERMANN BÜCHERS, abgedruckt in: GERALD D. FELDMAN/HEIDRUN HOMBURG: Industrie und Inflation. Studien und Dokumente zur Politik der deutschen Unternehmer 1916–1923, Hamburg 1977, S. 328–332, Zitat S. 330.

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Wolfram Pyta „Wir können im Grunde unseres Herzens Republikaner oder Monarchisten sein: Wir haben augenblicklich in unserem Vaterlande nur eine Staatseinrichtung, und das ist die auf der Weimarer Verfassung beruhende Republik. Und da wir nichts anderes haben, müssen wir die Autorität dieses Staates stützen“.17

Bemerkenswert an seiner Aussage ist vor allem, dass hier nicht ein Exponent der exportorientierten chemischen Industrie oder Elektroindustrie das Wort zugunsten eines Arrangements mit dem Weimarer Staat ergriff, sondern der Vertreter eines binnenmarktorientierten Wirtschaftszweiges. Dies deutet darauf hin, dass sich auch prominente Wirtschaftsführer der westdeutschen Schwerindustrie von gesamtwirtschaftlichen Überlegungen leiten ließen und sich aus diesen Gründen zu einer verantwortlichen Mitarbeit am Weimarer Staat bekannten. Gewiss beherbergte die westdeutsche Schwerindustrie auch prominente Vertreter, welche die Akzente anders setzten und in den Chor der nationalistisch argumentierenden Gegner einer Erfüllungspolitik einstimmten. Dazu gehörte Alfred Hugenberg, der allerdings kein lupenreiner Unternehmer war, sondern sich als Lobbyist in seiner Funktion als Vorsitzender des Zechenverbandes im Revier betätigte. Die diesem Kreis zuzurechnenden bedeutenden Unternehmer, welche zugleich als Vorstandsmitglieder an führender Stelle im RDI vertreten waren, waren der Hüttenbesitzer Fritz Thyssen und Rudolf Blohm, Gesellschafter der Hamburger Schiffswerft Blohm & Voß, zugleich wie Hugenberg Parteigänger der nationalistischen DNVP. Das Dilemma dieser fundamentaloppositionellen Wirtschaftsführer bestand aber darin, dass die ökonomischen Interessen selbst der westdeutschen Schwerindustrie sie eigentlich dazu anhalten mussten, den außenpolitischen Kurs des Vernunftrepublikaners Gustav Stresemann gutzuheißen. Nirgendwo trat dieses Spannungsverhältnis zwischen ökonomisch induzierter Ratio und weltanschaulich bedingter Ablehnung des Weimarer Staates deutlicher zutage als bei der Kontroverse um die Annahme des Dawes-Plans im Sommer 1924. Diese von einer Sachverständigenkommission ausgearbeitete vorläufige Regelung der im Versailler Vertrag offengelassenen Reparationsfrage verschaffte nicht nur dem Deutschen Reich eine Erleichterung in puncto Zahlungsverpflichtung gegenüber bestehenden Regelungen; sie ermöglichte auch der kapitalarmen deutschen Wirtschaft – eine Folge der Hyperinflation des Jahres 1923 – Zugang zu ausländischem Kapital. Daher bedeutete es keine Überraschung, dass sich Präsidium und Hauptausschuss des RDI nahezu einmütig für die Position der Reichsregierung aussprachen. Die interne Opposition bestand aus den notorischen Neinsagern um Hugenberg sowie dem Industriellen Moritz Klönne, der auf der Liste der DNVP im Mai 1924 in den Reichstag gewählt 17 Rede Paul Silverbergs auf der außerordentlichen Mitgliederversammlung der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände am 12. Oktober 1922, zitiert nach REINHARD NEEBE: Großindustrie, Staat und NSDAP 1930–1933. Paul Silverberg und der Reichsverband der Deutschen Industrie in der Krise der Weimarer Republik, Göttingen 1981, S. 27.

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worden war.18 Wie stark die Sogwirkung der ökonomischen Interessen aber auch auf die erwähnten ideologischen Hardliner war, ist eindrucksvoll an einem politischen Lackmustest besonderer Güte ablesbar, nämlich der dritten und entscheidenden Abstimmung über das Reichsbahngesetz am 29. August 1924. Das Reichsbahngesetz war Teil jenes Gesetzespaketes, das geschnürt wurde, um das Dawes-Gutachten in die Praxis umzusetzen. Da es allerdings verfassungsverändernden Charakter besaß, benötigte es im Unterschied zu den anderen Gesetzesvorhaben zur Annahme eine Zweidrittelmehrheit im Reichstag. Damit hätte die immer noch stark systemoppositionell eingestellte DNVP dieses Herzstück der Dawes-Gesetze durch ein geschlossenes „Nein“ im Reichstag verhindern können, weil aufgrund der dortigen Mehrheitsverhältnisse eine komplette Ablehnung durch die DNVP die erforderliche Zweidrittelmehrheit unmöglich gemacht hätte. Am 29. August 1924 zerfiel die DNVPFraktion jedoch in zwei nahezu gleich große Teile: Nur 52 Abgeordnete stimmten mit „Nein“, 48 hingegen für das verfassungsändernde Reichsbahngesetz, das damit die parlamentarische Hürde genommen hatte. Auffällig ist dabei, dass unter den Ja-Sagern diejenigen beiden RDI-Führungsmitglieder vertreten waren, die lange Zeit gegen den Dawes-Plan innerhalb des RDI Stimmung zu machen versucht hatten: nämlich Moritz Klönne und der Geschäftsführer des „Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller“, Jacob Reichert. Als es hart auf hart kam, gaben die ökonomischen Vorzüge des Dawes-Plans den Ausschlag und drängten die anders gelagerten nationalistischen Einwände, die diesen Plan als zweites Versailles brandmarkten, in den Hintergrund.19 Aber nicht nur auf der Tribüne des Reichstages wirkte sich die Einflussnahme des RDI im Ganzen systemstabilisierend aus. Wie ein Blick auf diejenige politische Partei lehrt, die sich als der natürliche Verbündete der deutschen Industrie verstand, nämlich die DVP, galt dies auch für das Parteiensystem in der Mitte der 1920er Jahre. Im Frühjahr 1924 holten zwei der mächtigsten Männer der Ruhrindustrie zum großen Schlag gegen den DVP-Parteivorsitzenden und Reichsaußenminister Gustav Stresemann aus. Hugo Stinnes, Chef des mächtigen Stinnes-Konzerns, ebenso DVP-Reichstagsabgeordneter wie sein Verbündeter Albert Vögler, Generaldirektor der Deutsch-Luxemburgischen Bergwerks- und Hütten AG in Bochum, zudem beide Mitglieder von Präsidium und Vorstand des RDI, schmiedeten eine innerparteiliche Front gegen den DVP-Vorsitzenden mit der Absicht, die „Deutsche Volkspartei“ als eindeutige Rechtspartei zu verankern, deren natürlicher Platz an der Seite der DNVP sein sollte. Dieser Anschlag auf das vernunftrepublikanische Konzept von Gustav Stresemann scheiterte hingegen kläglich – nicht zuletzt deswegen, 18 Vgl. S. WOLFF-ROHÉ, Reichsverband (wie Anm.5), S. 355–383. 19 Ebd., S. 385f; BERND WEISBROD: Schwerindustrie in der Weimarer Republik, Wuppertal 1978, S. 281; WERNER LIEBE: Die Deutschnationale Volkspartei 1918–1924, Düsseldorf 1956, S. 87f.

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weil diesem innerparteilichen Aufbegehren das Odium schwerindustrieller Sonderpolitik anhaftete.20 Speziell Stinnes wurde selbst im Lager der Industriellen argwöhnisch wahrgenommen als jemand, der bei seinem politischen Engagement seine privaten geschäftlichen Interessen über alles andere stellte.21 Der ehrgeizige Vögler sympathisierte mit einer berufsständischen Neuordnung des politischen Lebens22, doch fand er für solche Vorstellungen keine nachhaltige Resonanz in der DVP, die er im April 1924 verließ. Generell lässt sich konstatieren, dass nicht nur in der industrienahen DVP, sondern auch im RDI die Vertreter der Schwerindustrie unter besonderer Beobachtung standen, weil sie dem Generalverdacht ausgesetzt waren, ökonomische Sonderinteressen unter dem Deckmantel der Verbandspolitik zu verfechten. Der RDI ließ sich nicht vor den Karren schwerindustrieller Interessen spannen, ja die Ablehnung derartiger Versuche schweißte den RDI politisch zusammen und bestärkte ihn in seiner vernunftrepublikanischen Grundeinstellung.23 Dies spiegelte sich denn auch in der Zusammensetzung der RDI-Führungsspitze seit Januar 1925 wider: Neuer Vorsitzender wurde mit Carl Duisberg einer der wichtigsten Exponenten der exportorientierten chemischen Industrie; als stellvertretende Präsidenten fungierten Abraham Frowein (Textilindustrie) und Carl Friedrich von Siemens (Elektroindustrie). Im 34 Köpfe zählenden Präsidium des RDI waren bei großzügiger Zählung nur 10 Mitglieder der Schwerindustrie zuzurechnen, die überdies keinen der drei Spitzenposten im RDI bekleideten.24 Der RDI blieb seiner Position auch treu, als sich im Jahre 1929 eine endgültige Regelung der Reparationsfrage abzeichnete. Dabei beließ es der RDI nicht bei einer bloßen Kommentierung, sondern entsandte zwei prominente Mitglieder in die international besetzte Sachverständigenkommission, welche im Februar 1929 in Paris zusammentrat, um dieses leidige Thema einer definitiven Lösung entgegenzuführen. Als einer von zwei deutschen Hauptdelegierten fungierte mit Albert Vögler, dem Generaldirektor der „Vereinigten Stahlwerke“, ein Präsidiumsmitglied des RDI, der allerdings ohne Weisungen von Seiten des RDI agierte und seinem Auftreten in Paris eine individuelle Note verlieh. Als einer von zwei deutschen Ersatzdelegierten war Ludwig Kastl nominiert worden, seit 1925 Geschäftsführendes Präsidialmitglied des RDI und damit der diensthöchste Spitzenfunktionär dieses Verbandes.25 Damit 20 21 22 23

L. RICHTER, Deutsche Volkspartei (wie Anm. 11), S. 303–322. Vgl. FELDMAN, Stinnes (wie Anm. 12). Vgl. B. WEISBROD, Schwerindustrie (wie Anm. 19), S. 155. Vgl. dazu ein bezeichnendes Schreiben Hugenbergs an seinen Gesinnungsgenossen Blohm, 13. Juni 1924, zitiert bei S. WOLFF-ROHÉ, Reichsverband (wie Anm. 5), S. 365. 24 Vgl. B. WEISBROD, Schwerindustrie (wie Anm. 19), S. 224f. 25 Zur Zusammensetzung der Sachverständigen vgl. DORIS PFLEIDERER: Deutschland und der Youngplan, Phil. Diss., Stuttgart 2001, S. 116f.

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hatte sich der RDI wie nie zuvor in außenpolitischer Hinsicht exponiert und in einer politisch mehr als sensiblen Frage durch seine Mitarbeit an einer neuen Reparationsregelung Farbe bekannt. Die hervorgehobene Rolle speziell Vöglers in der deutschen Sachverständigenkommission sollte konfliktdämpfend wirken, Attacken von rechts wie ein Schutzschild abwehren und wurde deswegen von der Regierung der Großen Koalition goutiert.26 Allerdings beschritt Vögler seinen eigenen Weg bei den Pariser Verhandlungen und demonstrierte überdeutlich, dass er sich keinem Mandat des RDI verpflichtet fühlte. Dabei nutzte er den Freiraum der Willensbildung, der darin bestand, dass im Unterschied zum Dawes-Plan eine ökonomisch zentrierte Betrachtung der in Paris erzielten Ergebnisse zu durchaus unterschiedlichen Resultaten gelangen konnte. Bei Anlegen wirtschaftlicher Maßstäbe ließ sich mit einer innerökonomischen Ratio eben auch die Position vertreten, dass das Deutsche Reich und die deutsche Wirtschaft mit der Erfüllung der in Paris vereinbarten Reparationsverpflichtungen überfordert sei.27 Dies genau war Vöglers Standpunkt – und er zögerte auch nicht, ihn dadurch kundzutun, dass er am 16. Mai 1929 von seinem Amt zurücktrat. Insgeheim scheint Vögler mit diesem demonstrativem Schritt die Absicht verfolgt zu haben, den RDI und die deutsche Industrie zu einem Abrücken von der Position der Reichsregierung zu bewegen. Doch der Versuch einer solchen Präjudizierung schlug gründlich fehl. Zwar konnte der RDI nun nicht mehr öffentlich seine Zustimmung zum Young-Plan signalisieren, weil dies einer Desavouierung eines seiner Präsidiumsmitglieder gleichgekommen wäre. Aber indem der RDI schwieg, bekundete er indirekt seine Zustimmung zu den in Paris erreichten Ergebnissen. Er tat darüber hinaus aber noch etwas, was nicht nur Eingeweihten als eine Billigung der außenpolitischen Linie der Reichsregierung erscheinen musste: Entgegen dem Drängen einiger Präsidiumsmitglieder, an der Spitze Fritz Thyssen, verblieb der RDI-Hauptgeschäftsführer Kastl nicht nur in der Pariser Delegation, er rückte auch für den demissionierten Vögler als Hauptsachverständiger nach.28 Die Gründe, die Kastl dafür ins Feld führte, machen deutlich, dass er sich im Kern von genuin politischen Gründen leiten ließ. Aus außenpolitischen Gründen durfte die Konferenz in Paris kein Misserfolg werden – und daher war Kastls Verbleiben erforderlich, um ein Scheitern der Konferenz abwenden 26 Ebd., S. 120 sowie JÖRG-OTTO SPILLER: Reformismus nach rechts. Zur Politik des Reichsverbandes der Deutschen Industrie in den Jahren 1927–1930 am Beispiel der Reparationspolitik, in: HANS MOMMSEN/DIETMAR PETZINA/BERND WEISBROD (Hg.): Industrielles System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik, Bd. 2, Düsseldorf 1974, S. 593–602, hier S. 595f. 27 D. PFLEIDERER, Deutschland (wie Anm. 25), S. 163; J.-O. SPILLER, Reformismus (wie Anm. 26), S. 599. 28 Hierzu D. PFLEIDERER, Deutschland (wie Anm. 25), S. 171–177; J.-O. SPILLER, Reformismus (wie Anm. 26), S. 597–600; B. WEISBROD, Schwerindustrie (wie Anm. 19), S. 286–293.

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zu helfen und auf diese Weise auch die deutsche Industrie zumindest indirekt einzubinden.

„Es wäre für mich natürlich nichts leichter gewesen, als dem Beispiel Vöglers zu folgen. Trotzdem habe ich es nicht verantworten können, das gleiche zu tun, weil das gleichzeitig auch den Zusammenbruch der Konferenz mit allen seinen Nachteilen für uns zur Folge gehabt hätte.“29

Insofern besaß der RDI erheblichen Anteil daran, dass mit dem Young-Plan ein Konferenzergebnis vorgelegt werden konnte, das in gewisser Weise die außenpolitische Visitenkarte des Vernunftrepublikanismus darstellt. Das Deutsche Reich willigte in eine endgültige Reparationslösung ein, die ihm weiterhin wirtschaftlich schwer aufzubringende Verpflichtungen aufbürdete, wenngleich diese geringer als beim Dawes-Plan ausfielen. Damit diente der Young-Plan als willkommene Zielscheibe für die politische Rechte, die sich im Juni 1929 zu einer öffentlichen Kampagne gegen das Herzstück vernunftrepublikanischer Außenpolitik zusammenfand und ein entsprechendes Volksbegehren initiierte. Die Industrie selbst bekam dabei auch ihren Teil der Kritik ab, so dass prominente Mitglieder des RDI wie Hermann Bücher öffentlich gegen das Volksbegehren Stellung bezogen, obwohl mit Fritz Thyssen ein bedeutender Industrieller dem Unterstützerkreis angehörte.30 V. Es war mithin die Außenpolitik, welche als die tragfähigste Brücke zwischen Unternehmertum und Staat fungierte. Die Interessenidentität zwischen industriellem Spitzenverband und republikanischem Staat in außenpolitischen Kernfragen bereitete aber darüber hinaus den Boden für eine aus innerer Überzeugung geborene Anerkennung der Weimarer Demokratie. Ausdruck dieses vernunftrepublikanischen Entwicklungsprozesses ist die Rede, welche Paul Silverberg am 4. September 1926 auf der Mitgliederversammlung des RDI in Dresden hielt und die aufs engste mit dem RDI-Vorsitzenden Duisberg abgestimmt war. Noch niemals zuvor hatte sich ein führender Repräsentant des RDI so unzweideutig und vorbehaltlos zur Weimarer Verfassung bekannt. Dass Silverberg im selben Atemzug die Gestaltungsfähigkeit dieser Verfassung betonte, entsprach sowohl den Intentionen der Verfassungsstiftung als auch der politischen Praxis seit August 1919. Die Weimarer Verfassung mit ihrer komplexen Gemengelage aus parlamentarischen, präsidialen und plebiszitären Komponenten schrieb nicht den Typus einer rein parlamentarischen Demokra29 Kastl an Paul Reusch, Vorstandsvorsitzender der Gutehoffnungshütte und Präsidiumsmitglied im RDI, 28. Mai 1929, zitiert bei D. PFLEIDERER, Deutschland (wie Anm. 25), S. 177. 30 Vgl. J.-O. SPILLER, Reformismus (wie Anm. 26), S. 597f.

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tie vor, sondern war offen für andere Akzentsetzungen.31 Lassen wir dazu Silverberg selbst zu Wort kommen:

„Das deutsche Unternehmertum steht restlos auf staatsbejahendem Standpunkt… Alle ernsthaften und pflichtbewußten Menschen haben sich auf den Boden des heutigen Staates und der Reichsverfassung gestellt: der Reichsverfassung, die in allen Bestimmungen, mögen sie uns gefallen oder nicht gefallen, Respekt erheischt, aber, das sei auch aller Öffentlichkeit gesagt, mit allen den Bestimmungen, die ihre Änderung in manchen gewollt oder ungewollt unklaren Punkten vorsehen“.32

Silverberg beließ es aber nicht bei abstrakten Aussagen, sondern ging noch einen Schritt weiter und zog konkrete politische Folgerungen aus seinem vernunftrepublikanischen Standpunkt. Wer als Unternehmer die Weimarer Demokratie als politisches Fundament bejahte, der musste auch die Integration der Sozialdemokratie als der politischen Vertreterin des überwiegenden Teils der Industriearbeiterschaft in das politische System ausdrücklich befürworten – vorausgesetzt die SPD nahm in ihrer politischen Praxis vom Ziel der Abschaffung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung Abstand. Diese Position lief explizit darauf hinaus, eine Regierungsbeteiligung der SPD als wünschbar zu deklarieren, weil nur auf diese Weise die Sozialdemokratie zu politischer Vernunft erzogen werde und immer weiter von ihrer programmatisch verankerten marxistischen Ideologie abrücken könnte: „Man sagte einmal, es kann nicht gegen die Arbeiterschaft regiert werden. Das ist nicht richtig; es muß heißen: Es kann nicht ohne die Arbeiterschaft regiert werden. Und wenn das richtig ist, muß man den Mut zur Konsequenz haben, es soll nicht ohne die Sozialdemokratie, in der die überwiegende Mehrheit der deutschen Arbeiterschaft ihre politische Vertretung sieht, regiert werden. Die deutsche Sozialdemokratie muß zur verantwortlichen Mitarbeit heran“.33

Im Plenum erntete Silverberg für seine Ausführungen nicht nur „stürmischen, langanhaltenden immer wiederholt einsetzenden Beifall“34; ihm sekundierten in der anschließenden Aussprache auch der Vorsitzende Duisberg und der ehemalige Hauptgeschäftsführer Hermann Bücher, der mittlerweile in den Vorstand der IG Farben aufgestiegen war.35 31 Vgl. HANS BOLDT: Die Stellung von Parlament und Parteien in der Weimarer Reichsverfassung. Verfassungstheorie und Verfassungswirklichkeit, in: EBERHARD KOLB/WALTER MÜHLHAUSEN (Hg.): Demokratie in der Krise. Parteien im Verfassungssystem der Weimarer Republik, München 1997, S. 19–58; C. GUSY: Weimarer Reichsverfassung (wie Anm. 13), vor allem S. 92–115. 32 PAUL SILVERBERG: Das deutsche industrielle Unternehmertum in der Nachkriegszeit, in: Mitglieder-Versammlung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie am 3. und 4. September 1926 in Dresden, Berlin 1926, S. 55–65, hier S. 55f; siehe auch Silverbergs Reaktion auf Stellungnahmen zu seiner Rede, ebd., S. 74f. 33 P. SILVERBERG, ebd., S. 64. 34 Ebd., S. 65. 35 Ebd., S. 65 und S. 68–72; vgl. auch das Schreiben Silverbergs an Bücher, 11. Februar 1948 (Privatbesitz Christian Michelis).

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Silverbergs Rede stieß bei der westdeutschen Schwerindustrie und einigen dezidiert deutschnational eingestellten Unternehmern wie Fritz Thyssen naturgemäß auf wenig Gegenliebe. Doch selbst auf der wenige Wochen später folgenden Mitgliederversammlung des schwerindustriellen Langnam-Vereins blieb abgesehen von den notorischen Interventionen Fritz Thyssens der eigentlich erwartete große öffentliche Widerspruch gegen die Führung des RDI aus.36 Als die Führungsgremien des RDI am 14. Oktober 1926 auf Geheiß der Kritiker die Rede Silverbergs diskutierten, einigte man sich auf eine einstimmig angenommene Resolution, die von der Tendenz her die Kernaussage Silverbergs unterstrich.37 In systematischer Hinsicht lässt sich daraus eine Erkenntnis ableiten, die manche Annahmen über das Agieren von Interessenverbänden in der Weimarer Demokratie zurechtrückt. Es gab Situationen und Konstellationen, in denen Wirtschaftsverbände die Integrationsbereitschaft der politischen Parteien keinesfalls behinderten und eben nicht dazu beitrugen, dass die Parteien sich als engstirnige und kompromissunfähige Vertreter von Partikularinteressen erwiesen.38 Die Haltung des RDI im Jahre 1926 zeugt im Gegenteil davon, dass der industrielle Spitzenverband sich sogar als treibende Kraft für eine an staatspolitischen Interessen ausgerichtete Kooperation verstand. In parteipolitische Termini übersetzt lief dies auf ein Plädoyer für eine „Große Koalition“ hinaus, bei der die stark die Wirtschaftsinteressen wahrende DVP den rechten Flügel der Regierung und die SPD deren linken Flügel bildete. Geradezu leidenschaftlich hatte Silverberg in Dresden eine solche Zusammenarbeit beschworen: „Ich glaube an Deutschland; ich glaube an den Wiederaufbau, aber nur, meine Herren, wenn er von den zwei großen aufstrebenden Schichten in unserem Volke getragen wird; das ist das deutsche Unternehmertum und das ist die deutsche Arbeiterschaft.“39 Es ist allerdings typisch für das versäulte deutsche Parteiensystem, dass die beiden angesprochenen Parteien sich nicht auf die Geschäftsgrundlage einer solchen aus staatspolitischer Verantwortung geborenen Kooperation einlassen wollten: Weder war die Sozialdemokratie bereit, öffentlich dem Prinzip des Klassenkampfes abzuschwören,40 noch wollte sich die DVP die Initiative des RDI zu eigen machen. Stresemann fasste die Rede Silverbergs vielmehr als unerwünschte Einmischung des RDI in nur den Parteien zustehende Angelegenheiten auf.41 36 Vgl. R. NEEBE, Großindustrie (wie Anm. 17), S. 45–47. 37 Ebd., S. 47f. 38 Eine eher skeptische Sichtweise des Agierens von Interessenverbänden bei H.-P. ULLMANN, Interessenverbände (wie Anm. 4), S. 178f. 39 Replik Silverbergs auf die Diskussion seiner Rede, in: Mitglieder-Versammlung (wie Anm. 32), S. 75. 40 Vgl. R. NEEBE, Großindustrie (wie Anm. 17), S. 42. 41 Vgl. die Rede Stresemanns auf der Sitzung des Zentralvorstandes der DVP vom 1. Oktober 1926, in: EBERHARD KOLB/LUDWIG RICHTER (Bearb.), Nationalliberalismus in der Weimarer Republik. Die Führungsgremien der Deutschen Volkpartei 1918–1933, Bd. 2, Düsseldorf 1999, S. 657f.

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VI. Zu Ende des Jahres 1929 verschob sich die politische Agenda beim RDI. In Berlin regierte seit dem Sommer 1928 eine „Große Koalition“, doch deren Leistungsbilanz konnte die Verbandsspitze wenig Positives abgewinnen. Immer stärker drängten gerade die kleinen und mittleren Unternehmen auf einen grundlegenden Wechsel in der Finanz- und Sozialpolitik: Abbau staatlicher Transferleistungen sowie Senkung der direkten, die Unternehmen belastenden Steuern. Die Forderung nach einer Kurskorrektur der Finanz- und Sozialpolitik einte überdies die diversen Branchen im RDI mit ihren sonst durchaus verschiedenen Einzelinteressen, so dass der RDI hierin auch ein Politikfeld erblickte, um die verbandsinternen Fliehkräfte zu bändigen. Am 2. Dezember 1929 trat der RDI mit einem entsprechenden Programm an die Öffentlichkeit, das den markanten Titel „Aufstieg oder Niedergang? Deutsche Wirtschaftsund Finanzreform 1929“ trug. Es gab vor, ganz im Namen der „wirtschaftlichen Vernunft“42 zu argumentieren, wobei allerdings diese ökonomische Ratio mit unternehmerischen Interessen gleichgesetzt wurde. Ein solches Programm, das tiefe Einschnitte in den Sozialstaat verlangte, war mit einer Regierungsbeteiligung der Sozialdemokratie praktisch unvereinbar. Daher nimmt es nicht wunder, dass der RDI damit jenen Kräften in der DVP Argumentationshilfe lieferte, die auf einen Bruch der „Großen Koalition“ drängten. Allerdings war die Mehrheit der DVP ohnehin gewillt, von der „Großen Koalition“ Abschied zu nehmen, so dass die Haltung des RDI nur eine Position bestärkte, die bereits vorhanden war und sich auch ohne die Stellungnahme des RDI bereits durchgesetzt hatte.43 Doch das Unbehagen an der „Großen Koalition“ darf nicht mit einer Absage an das bestehende politische System gleichgesetzt werden. Der RDI verlangte im Frühjahr 1930 einen Politikwechsel, keinen Systemwechsel. Dies bedeutete, dass er auf andere parlamentarische Mehrheitsverhältnisse ohne Einschluss der SPD setzte44, die eine rein bürgerliche Regierung ermöglichten, welche das RDI-Programm zur Genesung der deutschen Wirtschaft möglichst in Reinkultur übernehmen sollte. Keineswegs steuerte der RDI energisch auf ein Präsidialkabinett zu, dessen Mitglieder allein vom Vertrauen des Reichspräsidenten abhängig waren und sich im Parlament sachorientierte Mehrheiten für die Gesetzesvorlagen beschaffen sollte. Eine solche Entmachtung des Parlamentes hätte nämlich einen beträchtlichen Einflussverlust des RDI nach sich gezogen, weil ihm dadurch die Möglichkeit weitgehend verschlossen blieb, mit 42 Aufstieg oder Niedergang?, Berlin 1929, S. 46. 43 L. RICHTER, Deutsche Volkspartei (wie Anm. 11), S. 627f; R. NEEBE, Großindustrie (wie Anm. 17), S. 55–57; MICHAEL GRÜBLER: Die Spitzenverbände der Wirtschaft und das erste Kabinett Brüning, Düsseldorf 1982, S. 100f. 44 Vgl. die Ausführungen Kastls auf der RDI-Vorstandssitzung am 16. Januar 1930, bei M. GRÜBLER, Spitzenverbände (wie Anm. 43), S. 82.

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Hilfe eingespielter Verfahren über die Parteien Einfluss auf die politische Agenda zu nehmen. Insofern war der RDI denn auch am Zustandekommen der Regierung Brüning unbeteiligt45 – einer Regierung, die zwar prinzipiell die Zusammenarbeit mit den Fraktionen im Reichstag suchte, aber unmissverständlich signalisierte, dass sie sich nicht in Abhängigkeit vom Willen der Fraktionen begeben wollte, weil sie auf präsidiale Machtbefugnisse wie die Reichstagsauflösung und das Notverordnungsrecht zurückgreifen konnte. Was bedeutete Vernunftrepublikanismus unter den Bedingungen eines immer mehr zugunsten der Präsidialgewalt verschobenen politischen Systems? Gewiss nicht das Verlangen nach Rückkehr zu einem vermeintlich reinen Parlamentarismus unter Zurückdrängung der präsidialen Komponente, den es in dieser Form in der Weimarer Republik gar nicht gegeben hat. Angesichts eines auch in der Öffentlichkeit immer vernehmbareren Drängens nach einem Übergang zu einer präsidialen Demokratie lässt sich vernunftrepublikanische Einstellung unter diesen Bedingungen so definieren: Festhalten an der Gestaltungsmacht des Parlamentes bei Anerkennung der in exekutiven Fragen wie der Regierungsbildung ausschlaggebenden Rolle des Reichspräsidenten. Legt man nun diesen Maßstab an, dann lässt sich zumindest für die ersten Monate der Regierung Brüning ein erstaunliches Maß an Vernunftrepublikanismus im RDI ausmachen. Der RDI betätigte sich keineswegs als eifriger Anwalt einer präsidialen Regierungsform, weil man um deren Ambivalenz in Hinsicht auf die Durchsetzbarkeit industrieller Interessen wusste. Gewiss war die Regierung Brüning für industrielle Interessen in mancherlei Hinsicht aufgeschlossener als die Vorgängerregierung – aber nur dann, wenn diese gesamtwirtschaftlich auf der Linie des Reichskanzlers lagen. Unter dem Deckmantel des Gemeinwohls vorgeschobene ökonomische Partikularinteressen wurden hingegen vom ausgebildeten Volkswirt Brüning umgehend identifiziert. Der Reichskanzler zeigte sich darüber hinaus sogar entschlossen, eine widerstrebende Industrie notfalls mit staatlichen Mitteln auf den Weg der von ihm definierten ökonomischen Vernunft zu zwingen. Damit drohte die Regierung Brüning in zwei Bereichen jenen unseligen staatlichen Interventionismus zu praktizieren, gegen den sich der RDI bislang stets verwahrt hatte: bei einer staatlicherseits angeordneten Senkung der Preise und insbesondere bei der Beschränkung des Kartellwesens. Vor allem in der Grundstoffindustrie (Kohle, Eisen) war das Konkurrenzprinzip durch Preisabsprachen außer Kraft gesetzt, was für die wenigen Anbieter den Vorteil sicherer und auskömmlicher Gewinne mit sich brachte. Der RDI wurde daher nicht müde, die Existenz von Kartellen und Syndikaten als sozialverträgliches Verfahren zu preisen, welches allen Marktteilnehmern ein auskömmliches Einkommen ermögliche.46 Brüning hingegen 45 Vgl. ebd., S. 105. 46 Auch die Betonung dieser Position war Bestandteil der Dresdner Rede Silverbergs am 4. September 1926, Mitglieder-Versammlung (wie Anm. 32), S 58–59.

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hatte in der Notverordnung vom 26. Juli 1930 der Industrie gewissermaßen die Instrumente gezeigt, indem die Regierung die Vollmacht erhielt, in die Preisbindung kartellierter Waren einzugreifen. Diese Ermächtigung der Exekutive löste im RDI so starke Beunruhigung aus, dass dort der Gedanke um sich griff, ob nicht eine Revitalisierung des Parlamentarismus solchen obrigkeitlichen Maßnahmen vorzuziehen sei.47 Bereits in der Präsidialsitzung des RDI am 25. Juni 1930 waren Stimmen lautgeworden, die dafür plädierten, der Sozialdemokratie die Rückkehr in die Regierung zu ermöglichen.48 Der parlamentarische Weg mochte zwar langsamer und oft quälender als der Weg der präsidialen Notverordnungen sein – aber er bezog die wirtschaftlichen Interessengruppen mit ein. Daher bekundete die RDI-Spitze Sympathien dafür, die aus ihrer Sicht erforderlichen Ausgabenbegrenzungen im Haushalt auf parlamentarischem Wege durchzuführen.49 Dabei spielte auch eine Rolle, dass aus Sicht der Industrie die Landwirtschaft in einem Präsidialsystem privilegiert wurde, da sie im Unterschied zur Industrie über einen direkten Draht zum Reichspräsidenten verfügte, der sich als Schirmherr der ostdeutschen Agrarier verstand. Der RDI machte folglich keinen Hehl aus seinen Bedenken gegen die vom Kabinett Brüning verfolgte Agrarpolitik.50 Es war daher nur folgerichtig, dass der RDI-Vorsitzende Duisberg auf der Hauptausschusssitzung des RDI am 23. Mai 1930 in seinen grundsätzlichen Ausführungen über das Verhältnis von Politik und Wirtschaft hervorhob, die Wirtschaft müsse „noch viel mehr als bisher eine zuverlässige Querverbindung ... in der Politik sichern“.51 Als Königsweg dorthin empfahl er aber nicht etwa die Ausschaltung des Parteienwesens, sondern das Gegenteil: nämlich das viel stärkere Engagement der Unternehmer in Parteien und Parlamenten. Die Neuwahl des Reichstags am 14. September 1930 komplizierte die politische Lage enorm, weil der Aufstieg der NSDAP zur zweitstärksten Partei nicht nur den Verfechtern einer radikalen Opposition gegen den Staat von Weimar Auftrieb gab, sondern auch die bohrende Frage aufwarf, wo die Regierung Brüning sich den nötigen Rückhalt im Reichstag besorgen sollte. Unmittelbar nach der Wahl wurden führende Vertreter des RDI mit der Idee der Neuauflage einer „Großen Koalition“ vorstellig.52 Sie griffen damit auch 47 Vgl. M. GRÜBLER, Spitzenverbände (wie Anm. 43), S. 175–177; R. NEEBE, Großindustrie (wie Anm. 17), S. 74; Besprechung des Reichskanzlers mit Vertretern des RDI, 4. August 1930, in: Akten der Reichskanzlei. Die Kabinette Brüning I und II, Bd. 1, Boppard 1982, S. 355–359. 48 Vgl. R. NEEBE, Großindustrie (wie Anm. 17), S. 71; M. GRÜBLER, Spitzenverbände (wie Anm. 43), S. 127. 49 Vgl. M. GRÜBLER, Spitzenverbände (wie Anm. 43), S. 119. 50 Ebd., S. 134–139. 51 Das Referat Duisbergs ist abgedruckt in: CARL DUISBERG: Abhandlungen, Vorträge und Reden aus den Jahren 1922–1933, Berlin 1933, S. 102–105, Zitat S. 105. 52 Vgl. R. NEEBE, Großindustrie (wie Anm. 17), S. 76–78; siehe auch den Vermerk des Staatssekretärs in der Reichskanzlei, Pünder, über ein Telefonat mit Kastl, 15. September

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eine Idee auf, die der preußische Ministerpräsident Otto Braun am 15. September 1930 in die Runde geworfen hatte, als er sich in einem Interview für eine „Große Koalition aller Vernünftigen“ ausgesprochen hatte.53 Vernünftigkeit hieß in der verfahrenen politischen Lage nach der Reichstagswahl 1930, dass sich alle am Erhalt des Weimarer Staates interessierten politischen Kräfte zusammenrauften und eine Regierung bildeten, wofür es durchaus eine parlamentarische Mehrheit gab. Die Rückendeckung des RDI besaßen sie – doch diese Konzeption war mit dem politischen Willen des Reichspräsidenten unvereinbar, der seinen Kanzler Brüning ausdrücklich auf eine Reichsregierung ohne sozialdemokratische Regierungsbeteiligung festgelegt hatte. So blieb es folglich bei der Regierung Brüning, die ihre Existenzberechtigung im Kern vom Vertrauen des Reichspräsidenten ableitete. Daneben bemühte sie sich mit Erfolg um eine Tolerierungsmehrheit im Reichstag, welche ihr die nicht an der Regierung beteiligte SPD verschaffte. Dies war angesichts der Umstände eine für den RDI optimale Konstellation54 – und so freundete er sich immer stärker mit der Brüning-Regierung an, wobei allerdings eine starke Minderheit in den Gremien immer stärker auf einen radikalen Systembruch setzte und zu diesem Zwecke mit den beiden radikalen Parteien auf der Rechten, NSDAP und DNVP, offen sympathisierte.55 Wie war nun unter den Bedingungen der Regierung Brüning der Begriff „Vernunftrepublikanismus“ neu zu justieren – also in einer Konstellation, in der sich durch den Aufstieg der NSDAP und auch durch die Wahlerfolge der KPD immer größere Teile der Bevölkerung für extreme Flügelparteien aussprachen? Die politische Alternative zu Brüning seit dem Herbst 1931 bestand in einer Regierung unter maßgeblicher Beteiligung der sogenannten „nationalen Opposition“, wobei nicht unbedingt Hitler an deren Spitze treten musste. Vor diesem Hintergrund soll „Vernunftrepublikanismus“ im folgenden Sinne neu akzentuiert werden. Als „vernunftrepublikanisch“ soll demnach gelten eine konditionierte Unterstützung der Regierung Brüning, die folgende Kriterien erfüllte: nicht nur auf die Vollmachten des Reichspräsidenten gestützt, sondern auch von der politischen Mitte getragen; zudem auf die Tolerierung durch die Sozialdemokratie im Reichstag rekurrierend und auf diese Weise auch die Brücken zur demokratischen Linken nicht abbrechend. Genau dieses Zusammenwirken mit Zentrum und Sozialdemokratie hielten die auch in der 1930, auszugsweise abgedruckt bei: I LSE MAURER/UDO WENGST (Hg.): Politik und Wirtschaft in der Krise 1930–1932. Quellen zur Ära Brüning, Bd. 1, Düsseldorf 1980, S. 394, dort Anmerkung 4. 53 HEINRICH AUGUST WINKLER: Der Weg in die Katastrophe, Bonn 1987, S. 207. 54 Vgl. dazu auch eine Rede Silverbergs im Überseeclub Hamburg am 6. November 1930, in der er sich zur Einbeziehung der Arbeiterschaft in die politische Verantwortung erneut bekannte, abgedruckt in: PAUL SILVERBERG: Reden und Schriften, Köln 1951, S. 159– 176, hier S. 176. 55 Vgl. R. NEEBE, Großindustrie (wie Anm. 17), S. 84–87.

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Wirtschaft immer mehr an Auftrieb gewinnenden Rechtskräfte der Regierung Brüning als schlimmstes Sündenregister vor. Trotz der Flutwelle von rechts hielt die Spitze des RDI dem Reichskanzler bis zu dessen Sturz Ende Mai 1932 die Treue. Am 19. Juni 1931 – vierzehn Tage nach dem Erlass einer besonders einschneidenden Notverordnung, die auch tief in das Wirtschaftsgebaren eingriff – sprach der RDI dem Reichskanzler das Vertrauen aus56. Zuvor hatte Silverberg auf der Sitzung des Hauptausschusses nachdrücklich um Unterstützung für die Regierung Brüning geworben und vor allen Dingen Vertrauen in die Person des Kanzlers bekundet. Es war mithin nicht zuletzt ein persönlicher Vertrauensbeweis für die Person Brünings, dem die Spitzen des RDI als einzigem Politiker zutrauten, die bedrängte wirtschaftliche und politische Lage zu meistern, ohne zu diktatorischen Mitteln Zuflucht zu nehmen.57 In sachlicher Hinsicht drängte sich ein Aspekt in den Vordergrund, der auch schon die Haltung des RDI bis zum Frühjahr 1930 bestimmt hatte: die Auffassung, dass die Reparationen eine der Hauptursache dafür seien, dass die Weltwirtschaft aus dem Tritt gekommen sei, die Verkehrsfreiheit leide und damit die Exportchancen der deutschen Wirtschaft schwänden. „Die Voraussetzungen für die Rückkehr des Vertrauens in der Welt und in Deutschland und die Grundlage für einen Wiederaufbau in der Weltwirtschaft könnten aber erst gefunden werden, wenn es gelungen sei, eine befriedigende Regelung der Reparations- und Schuldenfrage zu schaffen. Diese Störungsfaktoren erster Ordnung müßten beseitigt werden.“58

Der RDI traute Brüning als einzigem deutschen Politiker zu, das Ende der Reparationszahlungen im Einvernehmen mit den Siegermächten des Weltkrieges durchzusetzen. Und da die Reparationspolitik Brünings seit dem Hoover-Moratorium vom Juni 1931 Früchte trug und sich die Einstellung der Reparationen im Frühjahr 1932 abzeichnete, war Brüning aus Sicht des RDI unentbehrlich.59 Mehr als eine verbale Unterstützung für Brünings Politik vermochte die Spitze des RDI allerdings nicht abzugeben. In einer der schwersten Krise der Regierung Brüning, als Reichspräsident Hindenburg im Oktober 1931 mit der Möglichkeit einer Rechtsregierung liebäugelte, stieß Brüning bei führenden Repräsentanten des RDI mit seinem Vorschlag, mehrere prominente Wirt56 Erklärung des RDI vom 19. Juni 1931, in: Regierung Brüning (wie Anm. 47), Bd. 2, S. 1225f. 57 Vgl. das Referat Silverbergs vom 19. Juni 1931, bei I. MAURER/U. WENGST (Hg.), Politik (wie Anm. 52), S. 696–705, vor allem S. 700. Duisberg hielt Brüning sogar für den besten Kanzler seit Bismarck, vgl. seinen Brief an Kirdorf, 26. Juni 1931, bei R. NEEBE, Großindustrie (wie Anm. 17), S. 96. 58 Aufzeichnungen über die Beratungen der Präsidial- und Vorstandsbeiräte für allgemeine Wirtschaftspolitik des RDI im Februar und März 1932, 24. März 1932, bei I. MAURER/U. WENGST (Hg.), Politik (wie Anm. 52), S. 1357–1362, Zitat S. 1357. 59 Vgl. auch R. NEEBE, Großindustrie (wie Anm. 17), S. 95–97.

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schaftsvertreter sollten in eine neue, von ihm gebildete Regierung eintreten, um diese politisch abzusichern, auf wenig Gegenliebe. Die internen Friktionen im RDI waren so ausgeprägt, dass die RDI-Spitze um der Einheit des Verbandes willen aus Rücksicht auf die immer mehr ins Lager der „nationalen Opposition“ einschwenkenden Hardliner der westdeutschen Schwerindustrie eine solche Offerte des Kanzlers ablehnte.60 Auch als Brüning am 16. Oktober 1931 im Reichstag in die bislang schwerste Bedrängnis geriet und bis fast zum Schluss unsicher war, ob es ihm noch einmal gelingen sollte, seine Politik parlamentarisch abzusichern, waren dem RDI politisch die Hände gebunden. Denn der bislang privilegierte politische Ansprechpartner der deutschen Industrie – die Deutsche Volkspartei – war kurz zuvor mit wehenden Fahnen nahezu geschlossen in das Lager der Rechtsopposition übergeschwenkt61, so dass die RDI-Spitze tatenlos zusehen musste, wie Brüning auf sich allein gestellt noch einmal eine parlamentarische Mehrheit für seine Politik mobilisieren konnte. Per Saldo lässt sich somit bilanzieren, dass mit der Kategorie „Vernunftrepublikanismus“ durchaus das Verhalten der Spitzenrepräsentanten der deutschen Industrie eingefangen werden kann. Die dynamische innenpolitische Entwicklung in der bewegten Weimarer Republik machte es zwar erforderlich, dass sich eine „vernunftrepublikanische“ Einstellung wechselnden politischen Umständen anzupassen hatte. Aber trotz der zwischen August 1919 und Mai 1932 dramatisch veränderten politischen Rahmenbedingungen lässt sich ein fester Kern eines als „vernunftrepublikanisch“ zu bezeichnenden Verhaltens freilegen, der dem RDI als politischer Leitfaden diente.

60 Ebd., S. 105 f; vgl. auch das Schreiben Silverbergs an Krupp von Bohlen und Halbach, 12. Oktober 1931, bei I. MAURER/U. WENGST, Politik (wie Anm. 52), S. 1035–1038. 61 Vgl. L. RICHTER, Deutsche Volkspartei (wie Anm. 11), S. 719–726.

„Vorrede zur Magna Charta der Deutschen Republik“ – Ernst Cassirer, der Kreis um Aby Warburg und der Vernunftrepublikanismus* Thomas Meyer Der bislang völlig unerforschten Beziehung von „Vernunftrepublikanismus“ und Philosophie in der Weimarer Republik möchte ich mich in drei Schritten nähern. Am Beginn steht ein Überblick zur Haltung akademischer Philosophen gegenüber der ersten deutschen Demokratie. Danach wird mit Ernst Cassirer der wichtigste vernunftrepublikanische Denker genauer vorgestellt. Der Hamburger Philosoph war Teil der legendären Arbeitsgemeinschaft um den Kulturwissenschaftler Aby Warburg. Zu diesem Umfeld gehörte auch der Historiker Albrecht Mendelssohn-Bartholdy, der sich vor allem in der Frühzeit der Weimarer Republik intensiv in die Verfassungsdiskussionen einschaltete. Ihm gilt der letzte Abschnitt der Untersuchung. I. „Vernunftrepublikanismus“ und Universitätsphilosophie Dass eine große Zahl der an deutschen Universitäten lehrenden Philosophen während der Weimarer Republik Demokraten gewesen wären, wird niemand guten Gewissens behaupten können. Zwar handelten sie gerade in dieser gerne „Zwischenkriegszeit“ genannten Periode mit dem Begriff „Vernunft“ und trieben dabei den Preis für das Gut in ungeahnte Höhen, doch einen denk- und lebensnotwendigen Zusammenhang zwischen „Demokratie“ bzw. „Republik“ und „Vernunft“ wollten nur sehr wenige für die eigene Zeit anerkennen. Wie in anderen Gruppierungen findet man unter ihnen, auch mehr oder weniger in den gleichen Proportionen und mehr oder weniger sich in der gleichen Weise im Laufe der Entwicklung zahlenmäßig verändernd, radikale Rechte, Monarchisten, Konservative, Sozialdemokraten, ein paar versprengte Liberale und noch weniger dezidierte Linke. Einige haben sich als Konvertiten zu erkennen gegeben und scheinbar die neue politische Ordnung anerkannt, doch bei der ersten Bewährungsprobe zeigte sich das Gelernte als lediglich angeeignet. Insofern bildeten die Philosophen keine spezifisch „philosophischen“ Haltungen zur Republik aus, da sich auch ihr Geistesaristokratismus im üb*

Für Ute Harbusch, Nicolas Berg und Anthony Kauders

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lichen Rahmen dessen hielt, was der deutsche „Mandarin“ glaubte aus wilhelminischen Zeit hinüber retten zu müssen. Christian Tilitzki hat in seiner umfassenden Studie „Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich“ lebensgeschichtliche Informationen über die Philosophen und deren politische und intellektuelle Entwicklung und Themenstellungen miteinander in Beziehung gesetzt und die Argumentationsmuster ihrer ideologischen Aussagen auf 1475 Seiten rekonstruiert.1 Konzentriert man sich auf die bei ihm ausgebreiteten Fakten, dann ändert sich das zuvor grob gezeichnete Bild kaum. Die zunehmende antidemokratische Tendenz in Deutschland hat bei den Philosophen immer mehr Anhänger, die immer schon geringe Anzahl derer, die die Republik verteidigen, ist am Ende nahezu deckungsgleich mit den Emigranten und den Opfern der Nationalsozialisten.2 Glanzvolle Ausnahmen sind der Heidelberger Philosoph und Herausgeber der Werke Nikolaus von Kues’ Ernst Hoffmann (1880–1952) und der noch die Philosophie nach 1945 stark beeinflussende Theodor Litt (1880–1962), die beide trotz massiver Beschneidungen ihrer Lehr- und Bewegungsfreiheit mit dem Regime keine Kompromisse eingingen. Über welche „Vernunft“ sprachen dann also die Philosophen zwischen 1918 und 1933? Zur Klärung der Frage muss man einen Blick in die Zeit bis zu Hegels Tod im Jahre 1831 werfen. Auf das Ende des deutschen Idealismus folgte der in der Periode bis Nietzsche sich ereignende „revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts“.3 Was zuvor das im wörtlichen Sinne „Absolute“ war, wurde vielfältig ins Politische, Soziale und Naturwissenschaftliche transformiert. Für die Zeit um Nietzsches Ableben im Jahr 1900 ist es völlig richtig, wenn Peter Hoeres schreibt, dass die „Leitbegriffe“ in der Philosophie „Wissenschaft, Verstehen, Erkenntnis, Wert, Leben“ waren.4 1 2

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CHRISTIAN TILITZKI: Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Zwei Teile, Berlin 2002. – Herrn Dr. Matthias Weipert, Stuttgart, möchte für die aufmerksame Lektüre und zahlreiche Hinweise herzlich danken. Es ist hier nicht der Ort, um Tilitzkis Arbeit genauer zu untersuchen. Hingewiesen sei auf den interessanten Umstand, dass nahezu die gesamte Fachkritik die Seite um Seite gebotenen Ungeheuerlichkeiten Tilitzkis übergeht. Dass nicht Hitler, sondern Franklin D. Roosevelt – bis heute in der US-amerikanischen Politik weiterbetriebene – Welteroberungspläne hegte, ist nur ein Beispiel für die Ausrichtung des Buches. So KARL LÖWITH: Von Hegel zu Nietzsche, Zürich/New York 1941. Der bekannte, hier teilweise zitierte Untertitel „Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts. Marx und Kierkegaard“ kam erst in der leicht gekürzten und neu gesetzten zweiten Auflage im Jahre 1950 hinzu. Löwiths generalisierende Aussagen gelten der Forschung zu recht als überholt, gleichwohl hat er eine Verschiebung erkannt, die KARL ROSENKRANZ: Geschichte der Kant’schen Philosophie, Leipzig 1840, S. 399, mit Rückblick auf das späte 18. Jahrhundert so formulierte: „Damals war unser philosophisches Zeitalter! Wo man ging und stand, wurde philosophirt, wie jetzt politisiert.“ PETER HOERES: Krieg der Philosophen. Die deutsche und die britische Philosophie im Ersten Weltkrieg, Paderborn 2004, S. 49.

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Von „Vernunft“ folglich keine Spur, so könnte man glauben und wäre wohl gleichzeitig überrascht, denn die Wiederbelebungen des Kantianismus, Hegelianismus, Idealismus, der Scholastik, des Aristotelismus und zahlreicher weiterer „Ismen“, hätten eine andere Diagnose erwarten lassen. Tatsächlich gab es parallel zu dieser Entwicklung eine, die den Vernunftbegriff in den Mittelpunkt ihrer Reflexionen stellte. Zumeist handelte es sich dabei um Programme, die man mit Friedrich Wilhelm Grafs bekanntem Begriff als die Bemühung um eine „neoidealistische Universalintegration“ aller Phänomene mittels des Vernunftbegriffes charakterisieren kann.5 Intellektuell und personell bestehen zwischen diesen vernunftbasierten Ansätzen und den Kant-Editionen der Preußischen Akademie der Wissenschaften im Berliner Verlag de Gruyter, des Kreises um Karl Vorländer im Leipziger Verlag Felix Meiner und Ernst Cassirers mit anderen Marburger Neukantianern veranstaltete Ausgabe im Berliner Verlag Bruno Cassirer vielfältige Überschneidungen. In dem Moment, da Kant zum philosophische Ahnherrn für die Vernunftkonzeptionen avanciert, wird dessen „Primat der praktischen Philosophie“ ebenfalls übernommen. Die Universalisierung der im kategorischen Imperativ kulminierenden Ethik Kants ist ein Hauptanliegen der deutschen Philosophie bis 1914. Mit dem Ersten Weltkrieg erfährt dieses Projekt seine chauvinistische Überhöhung und schließliche Aushöhlung. Der vermeintliche Sonderstatus Deutschlands in der Welt erhält eine entsprechende ethische Rechtfertigung. Von dieser Instrumentalisierung erholen sich weder der Vernunftbegriff noch die damit verbundene Idee einer universalistischen Ethik. Vernunft wird in den Folgejahren zu einem wesentlichen Traditionsbestandteil zurückgestuft, systematische Vorhaben hingegen versuchen andere Wege zu beschreiten. In der sowohl historisch als auch systematisch wichtigsten zeitgenössischen Überblicksdarstellung zur Philosophie der Weimarer Republik, in Fritz Heinemanns 1929 erschienenem Buch „Neue Wege der Philosophie“, spielt die Vernunft kaum mehr eine Rolle. Vielmehr erzählt Heinemann eine Geschichte, in der der „noch nie erlebte Anspruch der Vernunft nach Alleinherrschaft über alle Bezirke des menschlichen Daseins“ nach dem Höhepunkt im 18. Jahrhundert zweihundert Jahre später nahezu in das völlige Gegenteil verkehrt ist.6 Das gilt auch dann noch, wenn man die Lücken beachtet, die Heinemanns Analyse angesichts einer extrem unübersichtlichen und zersplitterten Philosophenszene notwendigerweise haben musste. Es ist also keine 5

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FRIEDRICH WILHELM GRAF: Die Positivität des Geistigen. Rudolf Euckens Programm neoidealistischer Universalintegration, in: GANGOLF HÜBINGER/RÜDIGER VOM BRUCH/ FRIEDRICH WILHELM GRAF (Hg.): Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. Bd. 2: Idealismus und Positivismus, Stuttgart 1997, S. 53–85. FRITZ HEINEMANN: Neue Wege der Philosophie. Geist/Leben/Existenz: Eine Einführung in die Philosophie der Gegenwart, Leipzig 1929, S. 42. Siehe zu Heinemann ausführlicher THOMAS MEYER: Konstellation, Kontexte, Netzwerke. Ein Vorschlag zur Erforschung der jüdischen Philosophie zwischen 1900 und 1933, in: Transversal 6 (2005), S. 9–39.

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Frage, dass die fünfzehn Jahre auch für die Philosophie die Bezeichnung „Gedankenlaboratorium“ verdienen. Dass sich auch hier am Ende die fundamentalistischen Tendenzen durchsetzten, ist als Ergebnis sicherlich richtig – doch der Ausgang war in keiner Weise ausgemacht. Wichtig bei all dem bleibt, dass die zahlreichen Deuter der klassischen Perioden der Philosophiegeschichte in den Mittelpunkt ihrer Auslegungen den Begriff der Vernunft rücken. Gerade dadurch sehen sie sich legitimiert, nunmehr ihre eigenen Wege zu beschreiten. Blickt man von diesen uneinheitlichen Entwicklungen auf die Lehrveranstaltungen und Publikationen zu Beginn des Dritten Reiches, dann ist es, neben ausdrücklichen Bekenntnissen zum Nationalsozialismus, bemerkenswert, wie wenig die Philosophen glaubten an ihren Analysen ändern zu müssen, um sich als im Dienste der „nationalen Revolution“ stehend zu präsentieren. Von Leibniz bis Schopenhauer reichte wiederum das deutsche Denken, „die“ Vernunft wurde wieder zur ureigenen Angelegenheit, die Nachweise, dass Spinoza, Moses Mendelssohn und Hermann Cohen unfähig zum selbständigen Philosophieren waren, wurden nebenbei gegeben. Gerade der seit der Weimarer Republik hauptsächlich zur Interpretation der Tradition heranzogene Vernunftbegriff schien seine Kompatibilität mit allem und jedem zu garantieren. Bleibt man nach dem Gesagten bei verallgemeinernden Sätzen, dann kann der inflationäre Gebrauch des Begriffes „Vernunft“ zwar auch in der Philosophie beobachtet werden, doch hier ist er zumeist eine bloße historische Größe oder schlimmer noch: eine façon de parler. Wie also hätte eine so entleerte „Vernunft“ den Schritt hin zu einem überzeugenden Republikanismus tun können? Als überzeitlich und dazu der Sphäre der Theorie zugehörig war sie für die Philosophen allenfalls ein Synonym für die herausgehobene Stellung des Menschen gegenüber der Natur und allen anderen Lebewesen. Die aristotelischen Bestimmungen vom Menschen als „zoon politikon“ und „zoon logon echon“ waren dabei kaum mehr als bildungsbürgerliche Reminiszenzen.7 Dieser Umstand verweist auf eine bis jetzt stillschweigend mittransportierte, letztlich unauflösbare Paradoxie innerhalb der Philosophie der Weimarer Republik, die die Philosophen zunehmend als Eigenart ihres Faches positiv annahmen. Denn je entschiedener die sich verschärfenden philosophischen Weltdeutungsangebote formuliert wurden, je ausdrücklicher und eindringlicher der Mensch als ein in der permanenten Entscheidung stehender begriffen wurde, desto massiver traten die Vertreter des Radikalen als Theoretiker auf. Heidegger etwa, um nur den prominentesten Denker zu nennen, insistierte immer wieder darauf, dass sein 1927 erschienenes Werk „Sein und Zeit“ ganz und gar keine Anthropologie sei, vielmehr als eine fundamentalontologische Analyse der Theorie im wörtlichen Sinne zugehöre. „Vernunft“ ist hier allenfalls ein Appell, meist noch weniger. Hierzu

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Die beiden Formeln finden sich bei ARISTOTELES: Politik, 1253a2 bis 1253a10.

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ein Beispiel. Karl Jaspers’ dreibändige „Philosophie“ erschien 1932. Im „Vorwort“ zum Gesamtwerk schreibt er unter anderem:

„Philosophie, in der Idee die vollendete Helligkeit des Seins am Ursprung und Ende aller Dinge, begriff sich, obgleich in der Zeit stehend, als zeitlose Kristallisation des Zeitlosen. Jedoch ist Philosophie der Weg des Menschen, der, geschichtlich in seiner Zeit, das Sein ergreift.“8

Es gibt hier nicht um die Stimmigkeit der Überlegung und die Frage nach dem obsessiven Gebrauch der Kursivsetzung, so als reiche der Ernst der Worte nicht aus, sondern um die Ambivalenz zwischen Entschlossenheit und Welthaltigkeit auf der einen Seite und einem vernunftgeleiteten, das heißt theoretischen Philosophieren auf der anderen. Ein letztes Beispiel mag das rein historische Verständnis dieses Vernunftbegriffs verdeutlichen. Der Philosoph Nicolai Hartmann (1882–1950) legte 1923 den ersten, 1929 den zweiten Teil einer „Philosophie des deutschen Idealismus“ vor. Der neben Heidegger, Jaspers und Ernst Cassirer wohl bedeutendste Denker seiner Generation ist heute nahezu vergessen, damals aber eine der einflussreichsten Persönlichkeiten. In dem zweiten, ausschließlich Hegel gewidmeten Band seiner Darstellung schreibt er:

„Man meint mit dem Panlogismus so etwas wie einen universalen Rationalismus. Man gibt der Welt das Begriffsschema menschlicher ‚Vernunftʻ und glaubt sich dabei auf Hegels eigene These stützen zu können, dass nur das Vernünftige wirklich sei. Gerade diese These aber hätte leicht darüber belehren können, dass nicht die menschlich-endliche Vernunft gemeint ist, und dass ‚wirklichʻ nicht etwa nur das sein sollte, was ihr einleuchte. Liegt aber ein erweiterter, spekulativer Vernunftbegriff zugrunde, so ist in der These nichts sonderlich Anfechtbares enthalten, auch nicht ein eigentlicher Rationalismus.“9

Von diesem Standpunkt führte kein Weg zu einem vernünftigen Republikanismus, der in Hartmanns Terminologie sowieso nur dem „Geschichtlichem“, nicht aber dem Sachgebiet der Philosophie, nämlich dem „Übergeschichtlichem“, angehört hätte. Republikaner konnte man als Philosoph nur auf subjektiv-alltäglicher Ebene sein. Was der Republik aber bekanntlich fehlten, waren Republikaner und vor allem solche, die den entscheidenden Schritt von der theoretischen Begründung dieser Staatsform hin zur praktischen Arbeit unternahmen. Von den Philosophen wollte diese Arbeit nur eine kleine, in sich heterogene Gruppe tun. Weil das so war und diese Vernunftrepublikaner lange Zeit in die Archive ausgelagert wurden, hat ihnen die Forschung kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Die Arbeiten von Wolfgang Bialas, dem Literaturwissenschaftler 8 9

KARL JASPERS: Philosophie. Philosophie I: Philosophische Weltorientierung, Berlin/Heidelberg 1932, S. VII. NICOLAI HARTMANN: Die Philosophie des deutschen Idealismus. II. Teil: Hegel, Berlin/ Leipzig 1929, S. 15.

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Gérard Raulet10 oder Herbert Schnädelbach11 und Gereon Wolters12 wählen für ihre Thesen zur Philosophie im Dritten Reich und in der Weimarer Republik nicht nur allzu kleine Ausschnitte aus der Höhenkammliteratur, sondern sind an einer historischen Würdigung im Kontext des Gebildes „Weimarer Republik“, das nur auf problematische Weise in der Spanne 1918/19 bis 1933 verstanden werden kann, allenfalls oberflächlich interessiert.13 Das heißt: Da es bis heute weder eine Methoden-, Problem- oder Quellendiskussion zu dem Feld „Philosophie und Weimarer Republik“ gibt, geschweige denn eine zum „Vernunftrepublikanismus“, noch eine Forschung, die sich auch nur in Ansätzen bemüht, die von anderen Wissenschaften breit bis zur Unübersichtlichkeit diskutierten Zugänge auf die eigene Disziplin zu transformieren, muss im Folgenden der Rückgriff auf Literatur zu dem Thema unterbleiben. Ja, nicht einmal dasjenige Paradigma, welches einem philosophie- oder ideengeschichtlichen Ansatz am nächsten käme, nämlich Detlev J. K. Peukerts Charakterisierung der Zeit der Weimarer Republik als „Krisenjahre der Klassischen Moderne“14, fand einen auch nur irgendwie feststellbaren Widerhall bei den Philosophen. Gleichwohl ist zu konstatieren, dass auch für die Historiker die Philosophie, ihre Vertreter und deren spezifischer Beitrag zur Zeit kaum eine Rolle spielen. Sieht man sich etwa jüngere Publikationen zum mit dem Vernunftrepublikanismus in komplexer Beziehung stehenden „Krisis“-Diskurs an, so der Sammelband von Moritz Föllmer und Rüdiger Graf15, so kommt man über soviel Abwesenheit aus dem Staunen nicht heraus. Allenfalls solche populären Oberflächenphänomene wie Walter Benjamin, der zwischen 1918 und 1933 allenfalls neben seinen Freunden und Bekannten den aufmerksamen Lesern 10 Stellvertretend sei genannt: WOLFGANG BIALAS/MANFRED GANGL (Hg.): Intellektuelle im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. u. a. 2000. In dem Sammelband ist auch Gérard Raulet vertreten. 11 So vor allem in seinem für den amerikanischen Markt verfassten Buch: HERBERT SCHNÄDELBACH: Philosophie in Deutschland 1831–1933, Frankfurt a. M.1983. 12 Neben verschiedenen Artikeln, die sich in erster Linie auf das Dritte Reich beziehen, siehe die Bemerkungen in der 53-seitigen Schrift: G EREON WOLTERS: Vertuschung, Anklage, Rechtfertigung. Impromptus zum Rückblick der deutschen Philosophie auf das „Dritte Reich“, Bonn 2004. 13 Es gibt nur wenige Ausnahmen. So TERESA OROZCO: Platonische Gewalt. Gadamers politische Hermeneutik der NS-Zeit, Hamburg 1995. Es ist in allererster Linie dieser Band, der innerhalb des Projekts „Philosophie im Faschismus“ entstand, der die engen Grenzen von Fritz Haugs marxistischer Interpretation überwindet. Eine Ende September 2006 in Marbach abgehaltene Tagung über einige Personen und Positionen der sogenannten zweiten Marburger Schule (Rudolf Bultmann, Hans-Georg Gadamer, Gerhard Krüger, Leo Strauss etc.) scheint anzudeuten, dass man ein Defizit erkannt hat. 14 DETLEV J. K. PEUKERT: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt a. M. 1987. 15 MORITZ FÖLLMER/RÜDIGER GRAF (Hg.): Die „Krise“ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt a. M./New York 2005.

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der „Frankfurter Zeitung“ ein Begriff war, findet sich in den Bibliographien. Dabei sind die Philosophen die fleißigsten „Krisis“-Multiplikatoren und haben mit Edmund Husserls „Krisis“-Schrift von 1936 den wichtigsten Beitrag zu dieser Denkfigur geliefert. All das ist umso interessanter, als doch seit 1962 eine Analyse der Weimarer Republik durch einen bedeutenden Philosophen und Akteur dieser Zeit vorliegt, die bisher von den zahlreichen Wiederentdeckern des Autors komplett ignoriert wurde. Helmuth Plessners Essay „Die Legende von den zwanziger Jahren“, den er nicht weniger als viermal abdrucken ließ, darunter im „Merkur“, wäre ein Ausgangspunkt für die bisher sträflich vernachlässigte Beschäftigung mit der Weimarer Republik als intellektuellem Gebilde und dem Vernunftrepublikanismus als wesentlichem Teilaspekt.16 Eine Diskussion von Plessners Beitrag muss hier unterbleiben, da hier neben dem Rückblick des Emigranten auch dessen Zeit in den sechziger Jahren an der Universität Göttingen und der Autor einer der scharfsinnigsten Analysen jener historischen Bedingungen, die zum Scheitern der Weimarer Republik17 beitrugen, ausführlicher behandelt werden müssten. Plessner schreibt:

„Das Fascinosum der zwanziger Jahre, verdichtet in der Legende von ihrer einzigartigen Produktivität, ihrer unvergleichlichen Fülle an Talent und Wagemut, erklärt sich zum Teil aus der perspektivischen Verklärung, in der eine versunkene, jäh abgebrochene Zeit den Alten und Jungen gerade heute erscheinen muss. Aber diese Wirkung des zeitlichen Abstandes erklärt nicht alles. Setzt man sie in die Klammer, kommt die geschichtliche Wahrheit zum Vorschein. Sie gibt sich als die einmalige Situation zu erkennen, deren auffallende geistige Dichte, deren ungewöhnliche innere Spannung aus dem Zusammentreffen verschiedener Faktoren resultierte. Da war das große menschliche Reservoir, dessen kulturellen Kräften in einer langen Friedenszeit wirtschaftlichen Aufstiegs, in einer Welt gefestigter Vorurteile und schwer zu erschütternder Maßstäbe genügend Druck, aber auch genügend Muße zuteil geworden war. Ruhe, materielle, staatliche, rechtliche Sicherheit, ungebrochene Konventionen der herrschenden Schichten hatten in den freien Geistern, die ihrer Zeit voraus waren, jene Kraft gespeichert, aus welcher die unverhoffte revolutionäre Nachkriegssituation 1919 sich ihre Energien holen konnte. Ohne den verhältnismäßig langen ungestörten Konsolidierungsprozess einer zukunftsgewissen geistigen Schicht vor 1914 hätte es den Stau nicht geben können, der nach dem plötzlichen Fortfall staatlich-gesellschaftlichen Drucks im Elan der zwanziger Jahre sichtbar wurde; ohne den Übergang zur republikanischen Staatsform wiederum nicht die Chance einer Hauptstadt, eines Mittelpunktes für die entbundenen Energien, nicht die Chance einer dem deutschen Staat bis dahin versagten repräsentativen Urbanität.“18

16 HELMUTH PLESSNER: Die Legende von den zwanziger Jahren, in: DERS.: Gesammelte Schriften VI: Die verspätete Nation. Hg. v. GÜNTER DUX u. a., Frankfurt a. M. 1982, S. 261–279. Zu Helmuth Plessner siehe die neue Referenzstudie von CAROLA DIETZE: Nachgeholtes Leben. Helmuth Plessner 1892–1985. Eine Biographie, Göttingen 2006. 17 HELMUTH PLESSNER: Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seines bürgerlichen Scheiterns, Zürich 1935. Die Studie wurde unter dem Titel der 1959 in Stuttgart erschienenen Zweitauflage „Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes“ berühmt. 18 H. PLESSNER: Legende (wie Anm. 16), S. 278f. Zur Stützung seiner Argumentation ver-

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II. Ernst Cassirers „Vernunftrepublikanismus“ Ernüchternd sind die bisherigen Bemerkungen zum Verhältnis deutscher Universitätsphilosophen zur Weimarer Demokratie. Gleichwohl lohnt ein Blick auf eine der wenigen rühmlichen Ausnahmen nicht bloß seines mehrfachen Sonderstatus wegen. Der seit 1919 in Hamburg lehrende Ernst Cassirer und Teile seines Umfelds an der „Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg“, kurz K.B.W., gaben sich nicht nur öffentlich als Verfechter der Demokratie zu erkennen, sondern setzten sich auch theoretisch mit dem Konzept „Vernunftrepublikanismus“ auseinander. Wobei hier ein bislang komplett übersehener, vor allem ideell mit der K.B.W. in Verbindung stehender Historiker, nämlich Albrecht Mendelssohn-Bartholdy etwas näher vorgestellt werden soll. Bevor jedoch zunächst Cassirers Werk unter diesem Aspekt betrachtet wird, lohnt ein kurzer Blick in seine Schriften vor 1918. Denn anders als bei vielen anderen Vernunftrepublikaner entfällt bei Cassirer der im oder nach dem Ersten Weltkrieg einsetzende Lernprozess, der gelegentlich zur Anerkennung und zum Teil auch zum Einsatz für die Demokratie führt. Er gehört zu jenen Intellektuellen, denen man mit Marcus Llanques Buchtitel „Demokratisches Denken im Krieg“ attestieren kann.19 Seit dem Erstling „Leibniz’ System“20 von 1902 bis hin zu der 1916 erschienen Schrift „Freiheit und Form“21 verfolgt Cassirer ein Programm, das auf den Begriff der „Einheit“ gebracht werden kann. So sieht es der Germanist Josef Körner, der 1920 schreibt: „Denn das Ursprungsprinzip der klassischen deutschen Dichtung und der klassischen deutschen Philosophie ist dasselbe: in beiden wird derselbe Grundgegensatz von ‚Freiheitʻ und ‚Formʻ gestellt und in beiden, aus einer einheitlichen Tendenz heraus, zur Lösung gebracht.“22 So sieht es der Skeptiker Erich von Kahler in seiner im gleichen Jahr publi-

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weist Plessner am Ende seiner Ausführungen auf Arbeiten von Werner Conze und Theodor Schieder. WERNER CONZE: Deutschlands politische Sonderstellung in den 20er Jahren, in: LEONHARD REINISCH (Hg.): Die Zeit ohne Eigenschaften. Eine Bilanz der 20er Jahre, Stuttgart 1961, S. 32–49; THEODOR SCHIEDER: Das deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat, Köln 1961, S. 78–90. MARCUS LLANQUE: Demokratisches Denken im Krieg. Die deutsche Debatte im Ersten Weltkrieg, Berlin 2000. Damit widerspreche ich ausdrücklich dem Versuch, der jüngst in PETER HOERES: Krieg (wie Anm. 4), S. 422–426, geäußert wurde. Hoeres sieht Cassirers 1916 in Berlin erschienene Studie „Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte“ auf dem „Boden“ der Erste Weltkriegs-Philosophie (S. 426) stehen. Im Laufe seiner Untersuchung reduzieren sich bei ihm die Kriterien, was „Erste Weltkriegs-Philosophie“ denn überhaupt sei, auf das Erscheinungsdatum des jeweiligen Werkes. ERNST CASSIRER: Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, Marburg 1902. ERNST CASSIRER. Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte, Berlin 1916. JOSEF KÖRNER: Rez. Ernst Cassirer, Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesge-

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zierten Antwort auf Max Weber „Der Beruf als Wissenschaft“, in der Cassirer in Abgrenzung zu einer umfangreichen Armada an „Krisis“-Freunden als Denker der „Einheit“ stilisiert wird.23 Die Favorisierung der immer wieder zu konstruierenden „Einheit“ ist noch nicht per se „Vernunftrepublikanismus“, auch wenn die ausdrückliche Opposition zu Carl Schmitts sattsam bekanntem „distinguo ergo sum“ dies andeutet, vielmehr muss etwas Entscheidendes hinzukommen. Diese „Einheit“ wird von Cassirer als ein Beruhigungszentrum gedacht, in dem die einzelnen konfligierenden geschichtsmächtigen Elemente auf ihre historischen und systematischen Schnittmengen hingelenkt werden. Hier werden die Extreme nicht als Ausgangs- und Zielpunkt der Betrachtung genommen, sondern die Synthese und vor allem: die permanent vorhandene Möglichkeit dazu, in den Vordergrund gestellt. Springt man von den beiden Stimmen Körners und von Kahlers am Beginn der Weimarer Republik ins Jahr 1934, dann findet man dort eine Würdigung Cassirers durch seinen Schüler David Baumgardt anlässlich des 60. Geburtstages. Baumgardt schreibt in der intellektuellen Zweimonatsschrift „Der Morgen“ des „Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ ausdrücklich mit einem bilanzierenden Blick auf die Weimarer Republik folgendes: „Mit der Erregtheit der Kriegs- und Nachkriegsjahre ist eine ältere, weithin verbreitete Beschaulichkeit des Philosophierens besonders in Deutschland gründlich zerstoben. Leidenschaftliche Neigung und Empfänglichkeit für das extreme weltanschauliche Bekenntnis haben sich seitdem ausgebreitet, und erst damit hat sich die Zersplitterung des philosophischen Denkens bis ins Sektiererhafte verschärft. In solchen Zeiten wiegt die Kraft zu souveränem Ausgleich der zerrissenen Meinungen doppelt schwer.“24

Gerade in dem Moment, da die antidemokratischen Kräfte den Sieg davongetragen haben und die neue „Einheit“ eine nach rassistischen Kriterien zusammengestellte, das heißt: ausschließende Volksgemeinschaft geworden ist, erinnert Baumgardt an die obsolet gewordene Vorstellung von „Einheit“. Doch zurück zu Cassirers „Vernunftrepublikanismus“. Wie gezeigt war Cassirer weder durch die spezifischen Rahmen des Kaiserreiches noch des Ersten Weltkrieges von seiner demokratischen Überzeugung abzubringen. Mit der offiziellen demokratischen Verfassung beginnt bei ihm sofort die aktive Unterstützung der neuen Wirklichkeit. Er macht in ersten Äußerungen sofort klar, dass das Primat der Vernunft, das sich nur in einer demokratischen Republik über den appellativen Charakter hinaus als einklagbare Kategorie der Scheidung von Recht und Unrecht, von partikular und universell vergegenständlichen kann, sein notwendiges und verwandtes Gegenüber in einer Republik der Vernünftigen hat. Ein gewählter und kontrollierbarer Zusammenschluss jener, schichte und DERS., Heinrich von Kleist und die Kantische Philosophie, in: Literaturblatt für germanische und romanische Philologie XLI (1920), Sp. 160–173, hier: Sp. 169. 23 ERICH VON KAHLER: Der Beruf als Wissenschaft, Berlin 1920, S. 71. 24 DAVID BAUMGARDT: Ernst Cassirer zum 60. Geburtstag, in: Der Morgen 10 (1934), S. 323–326, hier S. 323.

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die das Primat der Vernunft zur obersten Maxime machen, ist für ihn notwendige Gemeinsamkeit der Demokraten. Sein Vernunftrepublikanismus weist somit eine Zirkelstruktur auf, die ihre Fragilität nicht verleugnet. Sie muss täglich erkämpft und vor neutralen Gerichten auf die Probe gestellt werden. Geistige Verflachungen wie fundamentale Unterscheidungsoptionen oder ontologische Verfestigungen – man denke hier etwa an das Freund/Feind-Schema – lösen die korrelativen Begrifflichkeiten und die von ihr beschriebenen Handlungsabläufe in unterkomplexe Eindeutigkeiten auf, die niemals vernünftig oder republikanisch sein wollen. Seit seiner Unterschrift unter den bekannten Aufruf „Kundgebung deutscher Hochschullehrer für die republikanische Verfassung vom 20. Mai 1920“ 25 blieb Cassirer bei dieser Argumentationsfigur ohne sie jedoch genauer zu konturieren. Im Jahre 1928 ergab sich eine außerordentliche Gelegenheit, seine Überlegungen zum „Vernunftrepublikanismus“ als eines Republikanismus aus Überzeugung und Vernunftgründen öffentlich darzutun. Und dies nicht auf einem Kongress Gleichgesinnter, dem üblichen Ort für die Verteidigung der Republik, sondern anlässlich des Verfassungstages, den die Hamburger Universität am 15. August feierlich beging. Zunächst hatte Cassirer gezögert, da ihm, so seine Bedenken, als Juden eine solche exponierte Situation schaden könnte und damit auch der Sache selbst. Doch Aby Warburg konnte den Philosophen überzeugen, die Rede zu halten.26 Worüber sprach Cassirer an diesem 15. August 1928 in Hamburg vor rund dreitausend Zuhörern, darunter zahlreiche führende Intellektuelle? Der in Freiburg lehrende Rudolf Stadelmann komprimierte die Aussagen der 1929 gedruckten Ansprache Cassirers in einer Rezension für die „Deutsche Literaturzeitung“ für das akademische Publikum so: „Die Schrift ist eine Darstellung der Idee der unveräußerlichen Grundrechte des Individuums in ihrem Wandel vom Leibnizschen Naturrechtsdenken über die wirkungsvollen Formeln Wolffs zu der englischen Staatslehre (Blackstone) und von da zu ihrer politischen Ausmünzung in den Bill of right der amerikanischen Staaten, ihrer Fortpflanzung in Lafayettes Verfassungsentwurf und ihrem schließlichen Widerhall in der idealistischen Philosophie Kants.“27

Das mag wenig erscheinen, zumal der bürgerliche Anlass, die Hochgestimmtheit aller Teilnehmer, die Realitätsferne, untermauert mit der geradezu unver25 Er erschien in den Morgenblättern der drei führenden deutschen Tageszeitungen stets auf Seite 1. Am 30. Mai 1920 jeweils im „Berliner Tageblatt“ und in der „Vossischen Zeitung“, am 5. Juni 1920 in der „Frankfurter Zeitung“. Unterschrieben hatten auch Albert Einstein, Max Weber und viele andere mehr oder weniger bekannte, mehr oder weniger überzeugte Vernunftrepublikaner. 26 Zu den genaueren Hintergründen siehe THOMAS MEYER: Ernst Cassirer, Hamburg 2006, S. 151–153. 27 RUDOLF STADELMANN: Rez. Ernst Cassirer, Die Idee der republikanischen Verfassung, in: Deutsche Literaturzeitung 4 (1930), Sp. 151f.

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meidlichen Nummer 495 der „Maximen und Reflexionen“: „Das Beste, was wir von der Geschichte haben, ist der Enthusiasmus, den sie erregt“28, herrlich entrückt wirken, nach Hegel so, wie Philosophie gerade nicht sein darf, nämlich „erbaulich“. Doch es wäre falsch Cassirer in dieser Ecke anzuzählen. Seine eindringliche Darstellung des Verhältnisses von Rousseaus Denken und der „Ideologie“29 der terroristischen Phase der Französischen Revolution, die zunächst doppelte Inspiration Kants durch den Autor des „Du contrat social“ und die Neues ankündigenden Ereignisse in Paris und schließlich die Unterscheidung zwischen Realgeschichte und der Idee der Vernunft30, die sich letztlich als nicht trennbare „Reiche“ des „Seins“ und des „Sollens“31 herausstellen, ist für die Gegenwart geschrieben. Doch nicht nur die Transformationen des republikanischen Verfassungsgedankens von den Tagen der „Kritik der reinen Vernunft“ an werden in Erinnerung gerufen. Cassirer nutzt die Gelegenheit, um die Staatsrechtler Georg Jellinek und Gustav Adolf Salander herbeizuzitieren, ebenso den jungen Politologen Eric Voegelin sowie die Historiker Fritz Klövekorn und Justus Hashagen.32 Er bezeugt also nicht nur seine ideengeschichtliche Kompetenz, sondern untermauert seine scheinbar bloß historische Herleitung der „Idee der republikanischen Verfassung“ mit zeitgenössischer Literatur. Daran mag nichts ungewöhnliches liegen, doch gerade für die Philosophen dieser Zeit ist das Vorgehen ungewöhnlich. Nicht als „ewige“ Idee wird die Verfassung dargeboten, sondern als eine nach ihrer intellektuellen Konturierung durch die Irrungen der Zeitläufte sich verändert habende und quasi geläuterte wird sie präsentiert. Deshalb steht am Ende, nach der Rekonstruktion der Vergangenheit und nach dem Einspeisen von Gegenwartsdeutungen der Blick in die Zukunft:

„So soll auch die Versenkung in die Idee der republikanischen Verfassung nicht lediglich rückwärts gewandt sein, sondern sie soll uns den Glauben und die Zuversicht stärken, daß die Kräfte, aus denen sie ursprünglich erwachsen ist, ihr auch den Weg in die Zukunft weisen und daß sie an ihrem Teile mithelfen werden, diese Zukunft heraufzuführen.“33

28 Der Aphorismus ist die Nummer 495 nach der Zählung von Max Hecker (Siehe: Goethes Werke. Festausgabe des Bibliographischen Instituts. Hg. v. ROBERT PETSCH. Bd. 14: „Maximen und Reflexionen“. Kritisch durchgesehen v. MAX HECKER, eingeleitet u. erläutert v. ROBERT PETSCH, Leipzig 1926, S.75). In Erich Trunz’ weitverbreiteter „Hamburger Ausgabe“ ist es im Band 12: Schriften zur Kunst und Literatur. Maximen und Reflexionen, München 1988, S. 395 die Nummer 216. 29 ERNST CASSIRER: Die Idee der republikanischen Verfassung. Rede zur Verfassungsfeier am 11. August 1928 gehalten von Ernst Cassirer, Hamburg 1929, S. 9. 30 Ebd., S. 24. 31 Ebd. 32 Ebd., S. 17f. 33 Ebd., S. 31.

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Genau dieser Gedankengang faszinierte seinen Freund Aby Warburg. In einem Brief vom 6. September 1928 schrieb der Kulturwissenschaftler:

„Da ich mir erlaube, Ihre Rede als eine Vorrede zur Magna Charta der Deutschen Republik anzusehen, wäre ich sehr dafür, wenn Sie diese bald und selbständig und zuerst in Hamburg drucken würden. [...] Für wissenschaftliche Leute, deren Beruf im allgemeinen der ist, fünf Minuten (oder mehr) hinter der Zeitgeschichte herzulaufen, hat die Publikation weniger Interesse, als für dieses arme gegenwärtige Deutschland, das sich noch immer nicht auf seinen Freiheitshunger einrichten kann.“34

Warburg siedelt Cassirers Rede auf der Ebene einer Verfassungspräambel an, die zudem den diagnostizierten Mangel an Identifikation mit dem herrschenden Vernunftrepublikanismus beseitigen soll. Das mag der Emphase des Augenblicks und der engen Freundschaft geschuldet sein, gleichwohl trifft Warburg sehr gut Cassirers Intention. Denn in der Tat war der Vortrag als Legitimationserzählung angelegt, die nichts anderem diente als dem Nachweis, dass Deutschland sehr wohl eine demokratische Verfassungstradition hat, und dass das gegenwärtige Deutschland aus den Fehlern einer bestimmten Forcierung der aufklärerischen Gehalte dieser Tradition lernen könne. Cassirer erkannte also sehr gut, dass es nicht ausreichte, Deutschland eine republikanische Staatsform lediglich zu geben oder gar zu oktroyieren, sondern diese als im Verlauf der deutschen Ideengeschichte selbst angelegte zu betrachten. Einen weiteren Aspekt fügt ein anderer Zeitzeuge hinzu. Der Mediävist und Ideengeschichtler Hans Liebeschütz, der zum engeren Warburg-Kreis gehörte, schreibt in seinem Buch „Von Georg Simmel bis Franz Rosenzweig“ aus dem Jahre 1970 rückblickend: „E. Cassirer hat am 11. VIII 1928 ein Jahr vor seinem Rektorat in der Hamburger Universität eine Rede zur Verfassungsfeier gehalten: Die Idee der republikanischen Verfassung, Hamburg 1929. Die hier verteidigte These, dass die republikanische Verfassung nicht als fremder Eindringling in die vom Idealismus bestimmte deutsche Geistesgeschichte betrachtet werden kann, macht Cassirers dauernde Verbindung mit Cohens politisch-ethischen Ideen deutlich. Diese Stellungnahme zu der entscheidenden Frage des Tages hat gewiß wenig Parallelen in der akademischen Welt dieser Jahre und ist für die deutsch-jüdische Geschichte nicht ohne Bedeutung.“35

Sucht man nach parallelen Anschauungen, dann fällt der Blick auf zwei Historiker. „Wer gutgläubig das Schlagwort von der ‚undeutschenʻ Reichsverfassung nachspricht, beweist damit, daß ihm die großen Strömungen deutscher Geschichte völlig fremd sind.“36 Es ist nicht bekannt, ob Ernst Cassirer bei der 34 Brief von Aby Warburg an Ernst Cassirer vom 6. September 1928. Zitiert nach THOMAS MEYER: Cassirer (wie Anm. 26), S. 152. 35 HANS LIEBESCHÜTZ: Von Georg Simmel zu Franz Rosenzweig. Studien zum jüdischen Denken im deutschen Kulturbereich, Tübingen 1970, S. 171. 36 HEDWIG HINTZE: Hugo Preuß. Eine historisch-politische Charakteristik, in: Die Justiz 2 (1927), S. 223–237, hier: S. 232. Siehe außerdem die Bemerkungen in HEDWIG HINTZE (Hg.): Hugo Preuß: Verfassungspolitische Entwicklungen in Deutschland und West-

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Vorbereitung zu seiner Rede auf diesen 1927 veröffentlichten Satz der Historikerin Hedwig Hintze stieß. Auch ist nicht bekannt, inwieweit Cassirer mit den vernunftrepublikanischen Schriften von Paul Joachimsen vertraut war. Dieser geht auf seiner Suche nach den Wurzeln der deutschen Verfassungsgeschichte noch weiter zurück und arbeitet sich dabei am Problem des Verhältnisses von Renaissance und Reformation ab. Unter Einbezug der geschätzten Monographie Cassirers „Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance“37 schreibt der Münchner Geschichtswissenschaftler 1922 über eine deutsche Sonderentwicklung, die statt der „Renaissance“ eine „Reformation“ hervorbrachte:

„Es ist eine für das Verständnis unserer deutschen Staatsidee fundamentale Tatsache, dass sich bei uns eine Renaissancegesellschaft nicht gebildet hat, und daß die Renaissance bei uns überhaupt keine gesellschaftsbildende Kraft geworden ist. [...] Wenn wir den Unterschied der deutschen staatlichen Entwicklung gegen die westliche aus seinem Grunde begreifen wollen, müssen wir davon ausgehen, daß bei uns die Renaissanceentwicklung durch die Reformation abgeschnitten und ersetzt worden ist.“38

Bereits im Jahr zuvor hatte Joachimsen seine Textsammlung „Der deutsche Staatsgedanke von seinen Anfängen bis auf Leibniz und Friedrich den Großen“ genau wie Cassirer bei seinem ersten „Erkenntnisproblem“-Band mit Nikolaus von Kues einsetzen lassen und Leibniz’ staatsrechtlichen Reflexionen die Neubegründung einer überhaupt erst so zu nennenden deutschen Kultur zuerkannt.39 Im Mittelpunkt der Reflexionen von Hedwig Hintze und Paul Joachimsen stehen die historischen Grundlagen des Kernstücks des Vernunftrepublikanismus, nämlich die Verfassung selbst. europa. Historische Grundlegung zu einem Staatsrecht der Deutschen Republik, Berlin 1927. Aufschlussreich ist der Band ROBERT JÜTTE / GERHARD HIRSCHFELD (Hg.): „Verzage nicht und laß nicht ab zu kämpfen...“. Otto Hintze und Hedwig Hintze: die Korrespondenz von 1925 bis 1940. Bearbeitet v. BRIGITTA OESTRICH, Essen 2004. 37 ERNST CASSIRER: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Leipzig/ Berlin 1927. Cassirer wiederum kannte den wichtigen Aufsatz PAUL JOACHIMSEN: Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 8 (1930), S. 419–480. Siehe ERNST CASSIRER: Geschichte der philosophischen Anthropologie, in: DERS., Nachgelassene Manuskripte und Texte. Bd. 6: Vorlesungen und Studien zur Philosophischen Anthropologie. Hg. v. GERALD HARTUNG/HERBERT KOPP-OBERSTEBRINK u. Mitw. v. JUTTA FAEHNDRICH, Hamburg 2005, S. 1–187, hier: S. 110. 38 PAUL JOACHIMSEN: Zur historischen Psychologie des deutschen Staatsgedankens, in: Dioskuren. Jahrbuch für Geisteswissenschaften 1 (1922), S. 106–177, hier: S. 115. 39 Der deutsche Staatsgedanke von seinen Anfängen bis auf Leibniz und Friedrich den Großen. Dokumente und Einleitung. Zusammengestellt und eingeleitet von PAUL JOACHIMSEN , München 1921, S. VII–LXXXI, vor allem S. X–XV und S. LXVIff. Die Schlussformel (S. LXXXI) lautet: „Die Fortentwicklung des deutschen Staatsgedanken hing an der Auseinandersetzung zwischen dem Staate Friedrich des Großen und der von Leibniz neu begründeten deutschen Kultur.“ Er verweist hier auf WILHELM WUNDT: Leibniz. Zu seinem zweihundertjährigen Todestag 14. November 1916, Leipzig 1917.

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Kannte also Cassirer Hintzes und Joachimsens Thesen, als er sich um eine klassische Legitimationserzählung der noch jungen deutschen Demokratie bemühte? Möglich ist es gewesen, denn das Hintze-Zitat stammt aus einem ihrer intellektuellen Porträts von Hugo Preuß, jenes Juristen, der die „Idee“ einer „Republikanischen Verfassung“ verschriftlichte. Joachimsen war neben Konrad Burdach der von Cassirer besonders aufmerksam beachtete Referenzautor, wenn sich der Ideengeschichtler einmal auf die Realgeschichte einließ. Wie Hintze und Joachimsen ging es auch Cassirer darum, eine Geschichtsverlängerung auszumachen, deren Kulminationspunkt das erstmals demokratisch verfasste Deutschland war.40 Diese These hat er nicht nur bei der Verfassungsfeier 1928 öffentlich verteidigt. In einem in der Zeitschrift „Inter Nationes“ 1931 erschienenen Text, der sich den Entwicklungen der Philosophie in Deutschland, England und Frankreich widmet, schreibt er: „Jede von ihnen hat diese ‚Autonomie des Geistesʻ von einer anderen Seite her gefaßt und unter einer je eigenen Perspektive gesehen. In dieser Art der Sicht bezeugt und bewährt sich die unaufhebliche und unverwischbare Eigenart der ‚einzelnenʻ Volksgeister; aber es zeigt sich zugleich, daß durch das Medium dieser Eigentümlichkeit hindurch ein wahrhaft universeller Gehalt gewonnen und erobert worden ist.“41

Zweimal noch trat Cassirer vor die deutsche Öffentlichkeit, um seine in der Rede von 1928 entwickelte Argumentation variierend vorzutragen. Am 22. Juni 1930, also im Jahr seines Rektorats und nach langen Querelen um die Durchführung einer erneuten Verfassungsfeier, trug er über „Wandlungen der Staatsgesinnung und der Staatstheorie in der deutschen Geschichte“ vor.42 Es ist wohl Cassirers engagiertester Text: Er beschwört die Räumung von Mainz durch die Franzosen im gleichen Jahr, nimmt Hegel gegen den Vorwurf des absoluten Staatsdenkens in Schutz, auch wenn er, auf Friedrich Meineckes „Idee der Staatsräson“ hinweisend, den Dialektiker anfällig für den Gedanken der Macht hält. Doch er verweist am Ende seines Vortrages in einer längeren Passage auf den langen Kampf, den der „deutsche Geist in seinem ständigen Ringen um die Grundlagen der Staatstheorie und um die Grundlagen echter Staatsgesinnung“ geführt habe.43 Wenn er schließlich seinen Gedankengang 40 Es würde im Rahmen dieses Aufsatzes zu weit führen, die Konzeptionen von Demokratie und ihrer geschichtlichen Entwicklung in Deutschland von Cassirer, Hintze und Joachimsen miteinander systematisch zu vergleichen. Festgestellt aber kann werden, dass es sich bei all dreien um überzeugte Vernunftrepublikaner in dem Sinne handelt, wie ich den Begriff hier für Cassirer umschrieben habe. 41 ERNST CASSIRER: Deutschland und Westeuropa im Spiegel der Geistesgeschichte, in: Inter Nationes. Zeitschrift für die kulturellen Beziehungen Deutschlands mit dem Auslande I (1931), S. 57–59 u. 83–85, hier: S. 85. 42 ERNST CASSIRER: Wandlungen der Staatsgesinnung und der Staatstheorie in der deutschen Geschichte, in: ANGELA BOTIN/RAINER NICOLAYSEN (Hg.): Enge Zeit. Spuren Vertriebener und Verfolgter der Hamburger Universität, Hamburg 1991, S. 161–169. 43 Ebd., S. 169.

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in die Idee münden lässt, der „Wille zum Staat“ müsse als „Wille zum Ganzen“ auftreten, so ist das weniger ein verkappter Staatsabsolutismus als die Sorge um die zunehmende Zersplitterung, und hieße in der Konsequenz: die Zerstörung der Demokratie. Weitaus theoretischer angelegt war ein anderer Vortrag, dessen Abdruck 1934 die letzte jemals in Deutschland erschienene Publikation Cassirers war. Im Februar 1932 hielt er vor der „Juristischen Gesellschaft Hamburg“ einen umfassenden Gastvortrag, der noch in der gekürzt gedruckten Form 27 Seiten in der „Zeitschrift für Rechtsphilosophie in Lehre und Praxis“ umfasst.44 Die zu den komplexesten Texten Cassirers zählende Abhandlung ist ein Plädoyer für das abstrakt wirkende, auf „ungeschriebenen“ Regeln beruhende Naturrecht in der Tradition von Leibniz und Hugo Grotius und – was die „ungeschriebenen Gesetze“ betrifft – in der jüdischen Tradition.45 Cassirer sieht unter der Heranziehung umfassender Literatur aus dem gesamten Spektrum der zeitgenössischen Staatsrechts- und Verfassungsrechtslehre in Grotius’ Werk eine Entwicklung vom Denken des „Machtstaats“ hin zum „Vernunftstaat“.46 Eingebettet wird diese Feststellung in die allgemeiner gefasste These, dass sich der Wechsel vom Paradigma der „Macht“ hin zur „Vernunft“ sowohl vom „Standpunkt der Philosophiegeschichte“ als auch von dem der „allgemeinen Geistesgeschichte“ her nachweisen lasse.47 Dem Nachweis der „kulturgeschichtlichen Bedeutung“ des Naturrechts folgt dann, ganz entgegen der Tendenz in den Rechtswissenschaften der Zeit, wie Cassirer vermutet, eine „systematische“48 Begründung für dessen fortdauernde Wichtigkeit. Sie wird, wie stets bei dem Hamburger Philosophen, in der Form einer Geschichte geboten. Hier ist es weniger der Rückgriff auf die Vergangenheit als vielmehr der wagemutige Versuch, sich mit den gerade verhandelten Problemstellungen der juristischen Zunft auseinander zu setzen. Das heißt: Er 44 ERNST CASSIRER: Vom Wesen und Werden des Naturrechts, in: Zeitschrift für Rechtsphilosophie in Lehre und Praxis 6 (1932/34), S. 1–27. Der Aufsatz Cassirers wurde dank des Einsatzes von Hans Reichel, einer der drei Herausgeber der Zeitschrift, aufgenommen. 45 Zu dem Text siehe ausführlich THOMAS MEYER: Kulturphilosophie in gefährlicher Zeit. Zum Werk Ernst Cassirers, Hamburg 2007, S. 214–222. Der Hinweis auf die „ungeschriebenen Gesetze“ stammt natürlich aus Sophokles’ „Antigone“. Siehe die klassische Untersuchung von RUDOLF HIRZEL: ΑΓΑΦΟΣ ΝΟΜΟΣ, Leipzig 1900. Für die jüdische Tradition noch immer wichtig FELIX PERLES: Die Autonomie der Sittlichkeit im jüdischen Schrifttum, in: I SMAR E LBOGEN /B ENZION K ELLERMANN /E UGEN M ITTWOCH (Hg.): JUDAICA. Festschrift zum 70. Geburtstag von Hermann Cohen, Berlin 1912, S. 103– 108. Von der neueren Literatur siehe die Referenzarbeit STEVEN S. SCHWARZSCHILD: Do Noachites have to believe in Revelation? (A Passage in Dispute between Maimonides, Spinoza, Mendelssohn and H. Cohen). A Contribution to a Jewish View of Natural Law, in: Jewish Quarterly Review 52 (1961/62), S. 297–308 und 53 (1962/63), S. 30–65. 46 ERNST CASSIRER: Vom Wesen (wie Anm. 44), S. 9. 47 Ebd., S. 10f. 48 Ebd., S. 13.

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behandelt neuere Literatur zur Reichsverfassung, setzt sich mit der seinerzeit vieldiskutierten naturrechtskritischen Studie von Charles Grove Haines auseinander und kommentiert die intensiv analysierten Urteile des Reichsgerichts vom 11. März 1927 und vom 20. April 1928 zum „übergesetzlichen Notstand“ anhand soeben erschienener Abhandlungen, die eine Wiederkehr naturrechtlicher Argumentationen erkennen ließen.49 Am Ende seines Vortrages zieht Cassirer eine bemerkenswerte Bilanz in der Form eines persönlichen Bekenntnisses. Es ist das einzige schriftlich fixierte vor der Emigration 1933, das dem Autor bekannt ist und hat schon dadurch eine herausragende Stellung. Platon und Sophokles werden als Zeugen der „ungeschriebenen Gesetze“ aufgerufen, wobei man sich den Dichter dazudenken muss, da er nur die „agraphoi nómoi“ zitiert, und wird verbunden mit seinen Erinnerungen an die Verurteilung des französisch-jüdischen Hauptmannes Dreyfus durch ein Militärgericht in Rennes. Die Konsequenz, die Cassirer daraus zieht, ist bemerkenswert. Er plädiert für den Einbezug moralischer Werte, die die Vernunft setzt und die neben dem geschriebenen Recht eine gleichberechtigte Rolle einnehmen sollten. Das abstrakte Naturrecht soll den Vereinseitigungen einer sich beständig auf die schriftlich ausformulierte Praxis berufenden Rechtsprechung Korrektiv sein. Dass dahinter der Kantianer und, weit mehr „between the lines“50, gleichermaßen der sich in die Tradition der jüdischen Auslegung des Naturrechts einschreibende Vernunftrepublikaner steht, ist keine Frage. Cassirers Vernunftrepublikanismus besteht somit in der gezielten Verknüpfung des aus der Aufklärung herkommenden Vernunftbegriffs mit einem Gegenwartsbezug, der sich nicht tagespolitisch gibt, sondern die allgemeinen Tendenz in seiner Zeit aufspürt. Der Aufbau, die Konstruktion der Geistesgeschichte interessiert ihn, weil er weiß, dass Destruktion gerade als philosophisches Argument nicht der Versuchung widerstehen kann, realgeschichtliche Bedeutung zu erlangen. III. Albrecht Mendelssohn-Bartholdy Aby Warburgs Verhältnis zu seinem engsten Vertrauten Cassirer ist immer wieder Gegenstand heftiger Kontroversen. Erst kürzlich mutmaßte Hartmut Böhme, Warburg sei Nietzscheaner.51 Das mag der kulturwissenschaftlichen 49 Ebd., S. 15–26. Der Titel der Studie von CHARLES GROVE HAINES: The Revival of Natural Law Concepts. A Study of the Establishment and of the Interpretation of Limits of Legislatures with special reference to the Development of certain phases of American Constitutional Law, Cambridge/Mass. 1930. Die von Cassirer erwähnte Literatur kann hier nicht angeführt werden. Er zitiert Arbeiten unter anderem von Gerhard Anschütz, James Goldschmidt, Erich Kaufmann, Jellinek, Reichel und Eberhard Schmidt. 50 LEO STRAUSS: Persecution and the Art of Writing, Chicago 1952, S. 30. 51 HARTMUT BÖHME: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek 2006, S. 237–248.

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Antragsprosa genügen, ein Argument liefert Böhme ebenso wenig wie andere, die ihn mit aller Gewalt aus Weimar exkludieren wollen. Der Briefschreiber Warburg jedenfalls, und er war in vielerlei Beziehung in erster Linie ein Briefautor, ist zumindest seit seiner Rückkehr nach Hamburg 1924 Demokrat. Selbst wenn von ihm ein direkter Text zu dieser Problematik fehlt, Briefe wie jene zu Cassirers Verfassungsrede finden sich zahlreiche. Doch man erkennt seinen Vernunftrepublikanismus erst dann, wenn man die von ihm und der Familie Warburg unterstützten Projekte in den Blick nimmt. Ein Beispiel, das kaum erforscht ist und an dessen Gelingen Abys Brüder einen großen Anteil haben, sei herausgegriffen. Mendelssohn-Bartholdy gehört zu jenen Sympathisanten der K.B.W., die durch ihr Arbeitsgebiet und ihre Diskretion bisher den Suchscheinwerfern der Warburg-Deutungsindustrie entgingen. Historikern ist er bekannt durch die Mitherausgabe der 40-bändigen, in 54 Teilen erschienenen Aktensammlung „Die große Politik europäischer Kabinette“ und der Aktensammlung zur Schuldfrage des Ersten Weltkrieges. Das im Umfeld von Max Weber und des Prinzen von Baden ab 1917 engagierte Mitglied eines Kreises, der die Schriftenreihe „Völkerbund und Rechtsfrieden“ verantwortete und später Mitglied der beratenden Kommission bei den Versailler Friedensvertragsverhandlungen war, kam in diesem Zusammenhang in Kontakt mit Carl Melchior, einem der sechs Hauptvertreter und Teilhaber der Max Warburg Bank. Max M. Warburg wiederum erkannte die Fähigkeiten des Experten für internationales Recht und sorgte dafür, dass Mendelssohn-Bartholdy mit der Gründung der neuen Universität 1919 nach Hamburg kam. Dort bekleidete er den Lehrstuhl für „Internationales Privatrecht und Auslandsrecht“. Seine Interessen galten in den Folgejahren der Völkerbundfrage, die die Gründung der Zeitschrift „Europäische Gespräche“ und später der „Amerika Post“ nach sich zog. Zwei Fundgruben für die noch weitgehend ungehobenen Schätze des Themas „Die Weimarer Republik und ihre intellektuellen Auslandsbeziehungen“. Auch die Warburgs waren von der Internationalisierung der Forschung begeistert. So standen sie maßgeblich hinter der im Jahr 1922 erfolgten Gründung des „Hamburger Instituts für Auswärtige Politik“, dem Mendelssohn-Bartholdy bis zur erzwungenen Emigration 1933 vorstand. Auch die Anschubfinanzierung kam von den Warburgs. Der in New York beheimatete Paul Warburg stellte zinslos einen namhaften Dollarbetrag zur Verfügung, um die Bibliothek und eine Zeitschrift einrichten zu können. Außerdem wohnte Mendelssohn-Bartholdy anfangs in einer der Warburgschen Villen in Blankenese.52 Cassirer weihte in seiner Funktion als Rektor 1930 die Bibliothek des Institutes ein und arbeitete immer wieder mit Mendelssohn-Bartholdy zusammen. Ergebnis der Kooperation war unter anderem die gemeinsame Beteiligung an den später berühmten gewordenen Davoser Hochschulkursen, die seit 1928 52 Siehe die Erinnerungen des Mendelssohn-Schüler ALFRED VAGTS: Albrecht Mendelssohn-Bartholdy. Ein Lebensbild, in: Mendelssohn-Studien 3 (1979), S. 201–225. Eine Würdigung Mendelssohn-Bartholdys steht noch völlig aus.

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in dem Schweizer Kurort stattfanden. Mendelssohn-Bartholdy sprach im Gründungsjahr und Cassirer ein Jahr später. Die Hochschulkurse, ganz dem Geist von Locarno verpflichtet, sind Teil der international sich organisierenden Vernunftrepublikaner aus Deutschland, der Schweiz, Österreich, Frankreich und Italien.53 Fast überflüssig zu betonen, dass der geistige Vater von Davos, der Soziologe Gottfried Salomon-Delatour, mit Cassirer und Mendelssohn-Bartholdy seit circa 1919 befreundet war. Salomon-Delatour war ein Cousin des allmählich wiederentdeckten Soziologen Albert Salomon, der zeitweise in Hamburg war und dort mit den Warburgs in engem Kontakt stand, wie zahlreiche noch unedierte Briefe zeigen.54 Wie sehr Mendelssohn-Bartholdy ein Bruder im vernunftrepublikanischen Geiste war, soll mit einer völlig vergessenen Schrift „Der Volkswille. Grundzüge einer Verfassung“ des Ururenkels von Moses Mendelssohn deutlich gemacht werden.55 Damit soll die Sichtweise korrigiert werden, die Mendelssohn-Bartholdy wegen seines strikten ProDeutschland-Kurses in der Kriegsschuldfrage gerne als ausschließlich rechtskonservativ bis nationalchauvinistisch beschriebt.

„Demokratisch ist der Staat, in dem sich alle politisch mündigen Volksgenossen in gleichem Recht das Grundgesetz gegeben haben; demokratisch der Staat, in dem das Volk die politische Gewalt, die aus ihm allein kommt, im Parlament durch frei gewählte Vertreter mit zeitlich beschränktem Auftrag ausübt; demokratisch der Staat, in dem das Volk sich die Macht auch über das Parlament und die Parlamentsregierung vorbehalten hat, nicht nur durch das Recht der Neuwahl, sondern dadurch, daß es das letzte Wort über die Gesetzgebung spricht, entweder im Veto eines vom Volk gewählten Staatspräsidenten oder in der Volksabstimmung selbst; demokratisch der Staat, in dem die Verwaltung öffentlich geführt und dadurch die Selbstherrlichkeit der Bürokratie ausgeschlossen wird; demokratisch zuletzt, aber nicht zum mindesten der Staat, in dem das Recht der Minderheiten ebenso geachtet wird wie das Recht der Mehrheit; diese faßt den endgültigen Beschluß, darf Gehorsam dafür verlangen und hat ihn zu verantworten, jene aber muß bei der Beratung Gehör finden und je nach ihrer Stärke vernünftigen Aufschub oder Überantwortung an das Volk erzwingen können; auch darf sie von der Verwaltung nicht ausgeschlossen werden.“56

Dieses Programm, das sein Vorbild in der Konzeption der Schweizer Verfassung hat, kann nur verwirklicht werden, so der lebenslang bekennende AntiBerliner, wenn das „Unitariertum hauptstädtischer Herrschaft“ gebrochen wird. Dann könne der Ausgangs- und Zielpunkt einer demokratischen Repu53 Siehe dazu INA BELITZ: Befreundung mit dem Fremden: Die Deutsch-Französische Gesellschaft in den deutsch-französischen Kultur- und Gesellschaftsbeziehungen der Locarno-Ära. Programme und Protagonisten der transnationalen Verständigung zwischen Pragmatismus und Idealismus, Frankfurt a. M. 1997. 54 Siehe zu Salomon-Delatour die Studie von INA BELITZ: Grenzgänger zwischen Wissenschaften, Generationen und Nationen: Gottfried Salomon-Delatour, in: lendemains 22 (1997), S. 49–75. 55 ALBRECHT MENDELSSOHN-BARTHOLDY: Der Volkswille. Grundzüge einer Verfassung, München 1919. 56 Ebd., S. 9.

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blik mit den Wort „Die Aufgabe ist, für den politischen Willen des Volkes den rechten Ausdruck zu finden“57 beschrieben werden. Solche Sätze hängen bei Mendelssohn-Bartholdy nicht im luftleeren Raum. So diskutiert er ausführlich die Frage nach Verhältnis- oder Mehrheitswahlrecht am Beispiel englischer und schweizerischer Abwägungen, er plädiert für ein Zweikammernsystem und starke Bundesstaaten.58 Und er gibt sich als ein realistischer Anhänger des Föderalismus zu erkennen, der die Gefahr der Verzettelung kennt: „Wir müssen nur das eine einsehen, daß der feste, endgültige Bau des Reiches ein Bund der Einzelstaaten sein muß und nicht ein Geschäftshaus mit Filialen in München, Stuttgart und Karlsruhe und je nach den Wünschen der Kundschaft auch in Köln und Breslau.“59 Um all das durchsetzen zu können, formuliert er die Maxime, die eine hohe Verantwortung dem Staatsvolk aufbürdete, dem „demos“. „Offenheit in allem Öffentlichen, die das Volk jeden Tag verlangen muß und nicht ruhen, bis sie einkehrt.“60 Doch damit nicht genug. Damit der Vernunftrepublikanismus an die Verfassungsdiskussionen der Zeit angeschlossen werden kann, müssen die entsprechenden Entwürfe von Preuß und anderen aufgenommen und verstärkt werden. Die Broschüre endet daher konsequent so:

„Die Seele kann dem Verfassungskörper nur das Volk selbst geben. Dazu muß es aber nicht nur Vertreter wählen, die ihm die Verantwortung abnehmen; es muß selbst die Verantwortung für seinen Staat tragen wollen. Es muß auch nicht nur Zeitungen lesen, die ihm seine Meinung machen; es muß selbst in offener Landsgemeinde, in den Städten in Viertelsversammlungen über seine Angelegenheiten sprechen, und niemand darf sich im Staat zu hoch dünken, daß er da über sein Amt oder seinen Auftrag Rede stünde. Über die Geschäftigkeit der Tat stehe die Bedächtigkeit des Gedankens und die Klarheit des Willens. [...] Ich weiß nicht, ob Deutschland jemals wird reiten lernen; ich glaube es nicht. Aber es gibt auch etwas, was besser ist als die hohe Schule im Zirkus, die Kavallerie-Attacke im Manöver und die Schnitzeljagd; fest auf den eigenen Füßen stehen und kräftig mit ihnen ausschreiten können. Wenn das Volk will, dann wird es können.“61

Wie sehr Mendelssohn-Bartholdy von der Richtigkeit seiner Überlegungen überzeugt war, zeigen seine im letzten Lebensjahr verfassten, ein Jahr nach seinem Tode 1936 aber erst veröffentlichten Äußerungen, die im englischen Original wiedergegeben werden: „Instead of centralization, metropolitanism, and uniformity, the dominant role for the association of human beings must again become regionalism, a frank recognition of natural differences, and natural respect among honest men professing different opinions.“62 57 58 59 60 61 62

Ebd., S. 14. Ebd., S. 15–23. Ebd., S. 25. Ebd., S. 39. Ebd., S. 45f. A LBRECHT M ENDELSSOHN -B ARTHOLDY : War and free Society, New Haven 1937, S. 294.

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Mendelssohn-Bartholdy hat am Anfang der Weimarer Republik für einen vernünftigen Republikanismus engagiert Partei ergriffen und dann im Rahmen seiner Professur die Weltoffenheit dieser Position durch zahlreiche Beiträge kundgetan. Ihm ging es, auf eine andere Weise als Ernst Cassirer, um die politische Umsetzung seiner Vorstellungen. Der Versuch Deutschland wissenschaftlich aus der freiwilligen Isolierung zu befreien und dabei auf die Ressourcen der auf der Welt verstreut lebenden und international agierenden Familie Warburg zurückzugreifen, lässt ihn, wie Cassirer, Teil des K.B.W.Netzwerkes sein. Die Erforschung der Verflechtung von wissenschaftlichen und politischen Interessen auf Seiten der Vernunftrepublikaner in der K.B.W. hat weit über Cassirer und Mendelssohn-Bartholdy hinaus noch viel zu tun. Gleichzeitig lässt sich mit dem vorhandenen Material eine Seite der Intellektuellen in der Weimarer Republik beleuchten, die weit entfernt von bloßen Lippenbekenntnissen ihre speziellen Kompetenzen in den Dienst der Demokratie stellten. Es mag weiterhin richtig sein, wenn man konstatiert, dass der Republik die Republikaner fehlten. Es wäre aber ein noch größerer Irrtum, wenn man glaubte, alle Republikaner und ihre Konzepte bereits zu kennen. Cassirer und Mendelssohn-Bartholdy sind in keiner Weise für irgendeine Form des vernunftrepublikanischen Engagements typisch. Sie sind aber auch bei weitem nicht die einzigen, die unter dem scheinbar reinen Funktionsbegriff „Vernunftrepublikanismus“ in ihrer aktiven demokratischen Gesinnung deutlich sichtbarer werden.

II. Vernunftrepublikanismus von links?

Die Politik der reinen Vernunft – das Scheitern des linken Sozialdemokraten Heinrich Ströbel zwischen Utopie und Realpolitik Rüdiger Graf I. Einleitung Unter dem Begriff „Vernunftrepublikanismus“ versteht man gemeinhin die politische Haltung derjenigen Intellektuellen in der Weimarer Republik, die sich aus Vernunftgründen auf den Boden der parlamentarischen Demokratie stellten, obwohl sie aufgrund ihrer sozialen und politischen Herkunft emotional eher zur Monarchie tendierten.1 Da sich auf der Linken grundsätzlich keine Herzensmonarchisten befanden, sondern die deutsche Arbeiterbewegung seit langem Republik und Sozialismus anstrebte, erscheint die Übertragung des Begriffs zunächst als kontraintuitiv. Auf der Linken schieden sich die Geister nicht an der Frage, ob die neue Staatsform eine Republik sein sollte oder nicht, sondern vielmehr daran, wie die Republik genau ausgestaltet sein sollte. So riefen am 9. November 1918 in Berlin Philipp Scheidemann die Deutsche Republik und Karl Liebknecht die „freie sozialistische Republik Deutschland“ aus.2 Nimmt man die Rhetorik wörtlich, gab es auf der politischen Linken – auch weil der Vernunftbegriff notorisch vage und anders als auf der Rechten durchgängig positiv besetzt war – ausschließlich Vernunftrepublikaner: Intellektuelle und Politiker, die sich aus Vernunftgründen zur Republik bekannten. Will man den Begriff des „Vernunftrepublikanismus“ für eine Analyse der politischen Linken in der Weimarer Republik fruchtbar machen, muss er also nicht auf die Republik im Allgemeinen, sondern auf die konkrete Ausgestaltung der parlamentarischen Demokratie in Weimar bezogen werden.

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KURT SONTHEIMER: Die politische Kultur der Weimarer Republik, in: KARL DIETRICH BRACHER / MANFRED FUNKE / HANS-ADOLF JACOBSOHN (Hg.): Die Weimarer Republik 1918–1933. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Bonn 1987, S. 454–464, hier S. 460. Zur Spaltung der Arbeiterbewegung siehe einführend KLAUS SCHÖNHOVEN: Reformismus und Radikalismus. Gespaltene Arbeiterbewegung im Weimarer Sozialstaat, München 1989, bes. S. 39–69 sowie zur „gebremsten Revolution“ HEINRICH-AUGUST WINKLER: Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1993, S. 33–68.

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Die Mehrheitssozialdemokratie stand grundsätzlich fest auf dem Boden der Weimarer Republik, an deren Ausgestaltung sie in der Nationalversammlung wesentlich beteiligt gewesen war. Schon im Kaiserreich hatte die SPD das Endziel des Sozialismus in weite Ferne gerückt, um sich so Freiräume für eine pragmatische Tagespolitik zu schaffen.3 Mit dem Zusammenbruch des Kaiserreichs und der Realisierung der Republik trat dann endgültig „an die Stelle der gewünschten Zeitverkürzung bis zur Revolution die gewünschte Zeitverlängerung bis zur Einlösung des Versprechens einer sozialistischen Gesellschaftsordnung“.4 Die Utopie der klassenlosen Gesellschaft und des Sozialismus wurde zwar nicht offiziell aufgegeben, aber an das Ende eines langfristigen Entwicklungsprozesses gelegt. Zu diesem Utopieverzicht waren die Kommunisten nicht bereit. Im Gegensatz zu den Sozialdemokraten sahen sie die Republik nur als Verschleierung bürgerlicher Klassenherrschaft, wollten die Revolution weiterführen und möglichst schnell eine Räterepublik bzw. die Diktatur des Proletariats errichten. Zwischen den beiden unversöhnlichen Gegnern stand in der Anfangsphase der Republik die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands und bei ihr und den ihr nahestehenden Intellektuellen – genauer gesagt beim rechten Flügel der USPD, der später zur MSPD zurückkehrte – ist daher der Ort, um nach Formen und Potentialen eines Vernunftrepublikanismus von links zu fragen.5 Daher werde ich mich im Folgenden auf Heinrich Ströbel (1869–1944) konzentrieren, einen Führer der SPD-Linken, der heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Selbst Kenner der Weimarer Republik zucken bei seiner Erwähnung mit den Schultern und in der Aufsatzsammlung Vor dem Vergessen bewahren. Lebenswege Weimarer Sozialdemokraten vergaßen die Herausgeber die Führungsfigur der SPD-Linken entweder oder hielten Ströbel für nicht bedeutsam genug für einen eigenen Beitrag.6 Während Ströbel in den einschlägigen Darstellungen zur Weimarer Sozialdemokratie meist am Rande vorkommt, widmet ihm lediglich Lothar Wieland einen eigenen Aufsatz, konzent3

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THOMAS WELSKOPP: Im Bann des 19. Jahrhunderts. Die deutsche Arbeiterbewegung und ihre Zukunftsvorstellungen zu Gesellschaftspolitik und sozialer Frage, in: UTE FREVERT (Hg.): Das Neue Jahrhundert. Europäische Zeitdiagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900 (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 18), Göttingen 2000, S. 15–46, hier S. 29 u. S. 31. LUCIAN HÖLSCHER: Die verschobene Revolution. Zur Generierung historischer Zeit in der deutschen Sozialdemokratie vor 1933, in: WOLFGANG HARDTWIG (Hg.): Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, München 2003, S. 219–231, hier S. 223. Zur Geschichte der USPD siehe DAVID W. MORGAN: The Socialist Left and the German Revolution. A History of the German Independent Social Democratic Party, 1917–1922, Ithaca/London 1975 und HARTFRIED KRAUSE: USPD. Zur Geschichte der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Frankfurt/Main/Köln 1975. PETER LÖSCHE / MICHAEL SCHOLING / FRANZ WALTER (Hg.): Vor dem Vergessen bewahren. Lebenswege Weimarer Sozialdemokraten, Berlin 1988.

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riert sich dabei allerdings auf Ströbels pazifistisches Engagement während des Ersten Weltkriegs. Auf die bisherige historiographische Vernachlässigung reagiert Wieland mit einer fast hagiographischen Aufwertung Ströbels, indem er ihn zum einsamen Mahner gegen den preußischen Militarismus stilisiert, der „den Puls der Zeit“ gefühlt und „mit erstaunlicher Präzision den weiteren Gang der Geschichte vorauszusagen“ gepflegt habe.7 Auch wenn Ströbel hier zu viel historische Größe zugemessen wird, war er doch keine unbedeutende Figur auf der politischen Linken in der Weimarer Republik. Immerhin war er zeitweilig zusammen mit Paul Hirsch Vorsitzender der preußischen Revolutionsregierung (vom 11. November 1918 bis zum 4. Januar 1919), war Mitglied der sozialdemokratischen Programmkommissionen, vertrat die Partei von 1924 bis 1932 im Reichstag und entfaltete vor allen Dingen eine rege publizistische Tätigkeit als Leitartikler für die Weltbühne und die Wochenschrift der Deutschen Friedensgesellschaft Das Andere Deutschland sowie als Mitherausgeber der Zeitschrift der Linksopposition in der SPD Der Klassenkampf – Marxistische Blätter. Das mangelnde Interesse an der Person Ströbels resultiert zunächst daraus, dass er sich auf der politischen Linken immer wieder zwischen alle Stühle setzte: 1917 trat er der USPD bei, die ihn Ende 1919 ausschloss, so dass er auf den linken Flügel der SPD zurückkehrte, bis er 1931 zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) wechselte, nur um dann wenige Monate später wieder auszutreten und schließlich 1932 in die Schweiz zu emigrieren. Mit dieser wechselhaften politischen Biographie eignet sich Ströbel weder als Heldengestalt der sozialdemokratischen noch der kommunistischen WeimarHistoriographie. Ströbels häufige Parteiaustritte und -ausschlüsse waren Ausdruck seines politischen Scheiterns. Er wechselte Parteien nicht aus politischer Orientierungslosigkeit, sondern weil er eine feste Überzeugung hatte und nicht dazu in der Lage war, bestimmte Entscheidungen mitzutragen. Damit sind seine Parteiwechsel zugleich Zeugnisse seiner geringen politischen Durchsetzungsfähigkeit bzw. der geringen Wirksamkeit seiner Ideen. Beides macht ihn für eine politische Geschichtsschreibung klassischen Zuschnitts zu einem eher uninteressanten Objekt. Fragt man jedoch unter der Perspektive eines Vernunftrepublikanismus von links nach der utopischen Tradition der deutschen Sozialdemokratie und der politischen Linken im Allgemeinen sowie ihrer Bereitschaft zum Utopieverzicht unter den politischen Bedingungen der Weimarer Republik, wird Heinrich Ströbel vor allem deshalb zu einem interessanten Fall, weil er im letzten Jahr des Ersten Weltkriegs unter dem Titel Die erste Milliarde der zweiten Billion eine Utopie für die nahe Zukunft entwarf und deren Konfrontation mit der Realität der Republik in den Folgejahren in vielen Artikeln 7

LOTHAR WIELAND: Als Gegner des Militarismus in der praktischen Politik. Der Sozialdemokrat Heinrich Ströbel, in: WOLFRAM WETTE (Hg.): Schule der Gewalt. Militarismus in Deutschland 1871–1945, Berlin 2005, S. 255–274, hier S. 256.

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verarbeitete.8 Es gilt also zu zeigen, was Heinrich Ströbels politische Utopie ausmachte und inwieweit er unter den Bedingungen der Weimarer Republik bereit war, ihre Realisierung hintanzustellen oder gar auf sie zu verzichten. Gerade aufgrund seiner Stellung zwischen der Sozialdemokratie und der radikalen Linken lassen sich über Ströbels Texte in idealer Weise die verschiedenen Positionen zu Utopie und Utopieverzicht sowie die intellektuellen und emotionalen Ambivalenzen auf der politischen Linken in Weimar nachvollziehen. Weil er sowohl in seiner Utopie als auch in seinen tagespolitischen Traktaten immer wieder die Begriffe „Vernunft“ und „Wahrheit“ verwendete, gibt der Fall Ströbel zudem Aufschluss über die Problematik eines linken Vernunftrepublikanismus. Um den Erwartungshorizont zu beschreiben, vor dem Ströbel den revolutionären Umbruch am Ende des Krieges erlebte, wird zunächst seine utopische Vision vorgestellt (II.). Nach einer Darstellung von Ströbels Versuch, die Deutsche Revolution mitzugestalten (III), werden seine tagespolitischen Texte untersucht, in denen er für eine „vernünftige“ Politik plädierte (IV). Über die Analyse von Ströbels weiteren politischen Aktivitäten (V) soll dann abschließend danach gefragt werden, in welchem Sinne man bei ihm von einer Form des Vernunftrepublikanismus sprechen kann und was daraus für das Verhältnis von Utopie und Utopieverzicht auf der politischen Linken in der Weimarer Republik folgt (VI). II. Die erste Milliarde der zweiten Billion oder der utopische Erwartungshorizont am Ende des Ersten Weltkriegs 1869 in Bad Nauheim geboren, stand Heinrich Ströbel genau zwischen der Wilhelminischen und der Gründerzeitgeneration, die vor allem die Frühgeschichte der Weimarer Republik entscheidend prägten. Der Sohn eines Kaufmanns wuchs in einer wohlsituierten Familie auf, begann früh, sich für Literatur zu interessieren und stieß bereits mit zwanzig Jahren aus idealistischen Gründen zur Sozialdemokratie.9 Hier arbeitete er zunächst für verschiedene kleinere sozialdemokratische Zeitungen und ab 1899 in der Redaktion des Vorwärts. Von 1908 an gehörte er mit Karl Liebknecht zur SPD-Fraktion im Preußischen Abgeordnetenhaus, trat aber, da er als radikaler Pazifist den preußischen Militarismus und die Bewilligung der Kriegskredite ablehnte, 1917 zur USPD über.10 Am Ende des Krieges verfasste Heinrich Ströbel, der bisher kaum durch fiktionale Texte hervorgetreten war, ein Buch mit dem etwas schwerfälligen 8 HEINRICH STRÖBEL: Die erste Milliarde der zweiten Billion. Die Gesellschaft der Zukunft, Berlin 1919. 9 L. WIELAND: Gegner (wie Anm. 7), S. 259f. 10 Ebd., S. 261.

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Titel Die erste Milliarde der zweiten Billion, für dessen Entstehung zwei Kontexte relevant waren. Zunächst stand es in der literarischen Tradition der Staatsromane beziehungsweise Utopien, die seit Thomas Morus’ Klassiker an fernen Orten oder in fernen Zeiten ideale Staatsgebilde entwarfen, um die gegenwärtige Ordnung zu kritisieren und den Weg zu ihrer Überwindung zu weisen. Das Utopieverbot, das Marx und Engels ausgesprochen hatten, um ihren wissenschaftlichen vom utopischen Sozialismus der Frühsozialisten abzugrenzen, war bereits in den 1870er Jahren in der deutschen Sozialdemokratie als Hindernis im Kampf um Wählerstimmen wahrgenommen worden. Immer mehr Autoren – allen voran August Bebel mit Die Frau und der Sozialismus – entwarfen daher sozialistische Zukunftsstaatsvisionen, die den Arbeitern als Ziel dienen und sie zur Aktivität motivieren sollten.11 Ströbels nach eigener Angabe zwischen dem 10. August und dem 17. Oktober des Jahres 1918 verfasstes und Anfang 1919 veröffentlichtes Buch stand darüber hinaus im Zusammenhang der allgemeinen außen- und innenpolitischen Neuordnungsdebatte, die sich im Ersten Weltkrieg entfaltete. Mit der Mobilisierung der personellen und ökonomischen Ressourcen des Deutschen Reichs für die Kriegsführung ging auch eine „geistige Mobilmachung“ der Intellektuellen einher.12 Es wurden nicht nur die außenpolitischen Kriegsziele intensiv diskutiert, sondern unter dem Stichwort der „Ideen von 1914“ entwickelte sich auch ein reger Diskurs über die ideale Ordnung der Nation, der seinen Ausgangspunkt vom mythisch überhöhten Erlebnis der nationalen Einheit im August 1914 nahm.13 Im Verlauf des Krieges wurden sowohl die außenpolitischen Ordnungsvorstellungen als auch die Ideen zur innenpolitischen Ordnung Deutschlands, die um die Begriffe „Volksstaat“ und „Volksgemeinschaft“ kreisten, immer radikaler.14 Diese zunehmende Futurisierung des politischen Diskurses während des Weltkriegs verdichtete sich an seinem Ende nicht nur auf der politischen Linken zur Erwartung einer qualitativ neuen Zeit. 15 11 12

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LUCIAN HÖLSCHER: Weltgericht oder Revolution. Protestantische und sozialistische Zukunftsvorstellungen im deutschen Kaiserreich, Stuttgart 1989, S. 282–432. KURT FLASCH: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Ein Versuch, Berlin 2000, S. 7–11 und S. 227–232. Kritisch zu Flasch sowie als guten Literaturüberblick siehe PETER HOERES: Krieg der Philosophen. Die deutsche und britische Philosophie im Ersten Weltkrieg, Paderborn 2004, S. 15–30. Dazu jetzt auf breiter Quellenbasis STEFFEN BRUENDEL: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003, S. 24–28 u. S. 110–132. Zum Mythos des Augusterlebnisses JEFFREY VERHEY: Der ‚Geist von 1914ʻ und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000, v. a. S. 106–128. BRUENDEL: Volksgemeinschaft (wie Anm. 13), S. 221, S. 240–275 u. passim. BRUENDEL: Volksgemeinschaft (wie Anm. 13), S. 28, 93; HOERES: Krieg (wie Anm. 12), S. 580. Ein Beispiel für diesen Prozess ist Walter Rathenau, dessen praktische Tätigkeit in der Kriegswirtschaft ihn zur Formulierung utopischer Traktate führte. WALTHER RATHENAU: Von kommenden Dingen, Berlin 1917 und DERS.: Der neue Staat, Berlin16–181919. Zur politischen Rechten siehe PETER FRITZSCHE: Breakdown or Breakthrough? Con-

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Angesichts der Inflation utopischer Visionen und konkreter Neuordnungsvorstellungen am Ende des Ersten Weltkriegs, die schon den Zeitgenossen auffiel, wurde Ströbels Erste Milliarde der zweiten Billion kaum rezipiert. Noch heute gilt das Buch, sofern es überhaupt wahrgenommen wird, als literarisch eher schlechtes und wenig inspiriertes Exemplar der Gattung der Staatsromane.16 Ströbel lässt seine Utopie im Jahr 1930 spielen und konzipiert sie als Erinnerungsschrift von Bruno Walter, dem Gründer des „Bundes Neue Menschheit“. Als Erzähler legt Walter – aufgelockert durch lange Zitate aus fiktiven Zeitungsartikeln und Kongressberichten – Rechenschaft über die nunmehr zehnjährige Tätigkeit des Bundes ab, der im Sommer 1920 auf dem Schweizer „Beatenberg“ gegründet worden sei. Der Titel der Schrift bezieht sich auf die Milliarde freiwilliger Steuern zum „Zwecke der Menschheitsläuterung“, die der Bund durch seine Tätigkeit bereits eingenommen und zur Verbesserung der Welt eingesetzt habe, die aber erst den Anfang bilde für die weitere Entwicklung.17 Der Utopisierungsgrad von Ströbels Schrift ist hoch: Sein Ziel ist die kurzfristig zu erreichende vollkommene Erneuerung des Menschen und der Welt. Er will die Welt von den dämonischen Mächten befreien, die sie in der Vergangenheit beherrschten und stattdessen den Gang der Geschichte vernünftig steuern und gestalten.18 Die zu schaffenden neuen Menschen denkt er als Synthesen von „Geist- und Tatmenschen“, die sich alle durch „Wahrheitsfanatismus, Forscherdrang, die trunkene Selbstvergessenheit des Künstlers“ auszeichnen und so ein vollkommen neues Gesellschaftsniveau ermöglichen.19 Da das Verbrechen als „soziale Krankheitserscheinung“ ausgerottet werden könne, trete an die Stelle des alten Glaubens damit die wissenschaftlich fundierte Gewissheit, dass „die letzten Menschlichkeitsideale der Demokratie und des Sozialismus verwirklicht werden können“.20 Diese radikalen Umgestaltungen, die in letzter Konsequenz auch kriegerische Auseinandersetzungen unmöglich machen würden, präsentiert Ströbel als in kurzer Zeit realisierbar. Aufkommende Zweifel zerstreut er immer mit dem klassischen Argument der progressiven Historisie-

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servatives and the November Revolution, in: LARRY EUGENE JONES / JAMES RETALLACK (Hg.): Between Reform, Reaction, and Resistance. Studies in the History of German Conservatism from 1789 to 1945, Providence/Oxford 1993, S. 299–328. REINHARD HILLICH: Ströbel, Heinrich, in: SIMONE BACK u. a. (Hg.): Lexikon sozialistischer Literatur, Stuttgart/Weimar 1994, S. 458f; siehe auch die ebenfalls eher uninspirierte und fehlerhafte Analyse von DAVID A. SHEPHERD: Nature as political Metaphor. Four Examples of Utopian Literature, 1914–1930 (Heinrich Mann, Heinrich Ströbel, Erich Mühsam, Alfred Döblin), in: Colloquia Germanica 29 (1996), S. 191–209. STRÖBEL: Milliarde (wie Anm. 8), S. 7 u. S. 10. Ebd., S. 8. Ebd., S. 9 u. S. 65. Ebd., S. 202 u. S. 212.

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rung der Utopiekritik: Die schnellen Erfolge des Bundes gelten als Belege für die kurzfristige Realisierbarkeit des „Paradieses auf Erden“.21 Wie erreicht der „Bund Neue Menschheit“ in Ströbels Erzählung seine Ziele? Sein Gründer Bruno Walter stamme „nicht aus Dollarika, sondern aus Preußen“ und sei zunächst mittellos gewesen, „wie sich das für einen Journalisten schickt“, also „nicht einmal eine Taschenausgabe jenes Henry Ford“.22 Die nötige Anschubfinanzierung habe er durch einige reiche Philanthropen erhalten, die er von seinen Ideen überzeugte. Damit habe er den ersten Bundeskongress veranstaltet mit fünfzig bis sechzig „Privatgelehrten, Literaten, Künstlern und ein paar Politikern radikalster Observanz“, die sich zum Aufbau eines Presseimperiums verschworen, um ihre menschheitsbeglückenden Ziele durchzusetzen.23 Der Bund sei zunächst aus praktischen Gründen streng autokratisch organisiert worden24 und habe die Dreimonatszeitschrift Das Neue Blatt gegründet, um seine Ziele zu verbreiten.25 Ausgehend von diesem ersten Periodikum sei das Presseunternehmen dann stetig gewachsen – zunächst im deutschsprachigen Raum und dann international.26 Den ungeheuren Erfolg der Pressearbeit Bundes erklärt der Erzähler zunächst damit, dass der Bund auf frühere Reformbestrebungen und -bewegungen habe aufbauen können.27 Der eigentliche Grund für den publizistischen Erfolg habe jedoch darin bestanden, dass die Periodika des Bundes schlicht besser gewesen seien als das restliche Zeitungswesen, indem sie auf „gesunde Anregung und vernünftige Belehrung“ setzten.28 Ströbels Utopie ist im emphatischen Sinne das, was den Utopisten von ihren Kritikern immer vorgeworfen wird: eine rationale Konstruktion. Allein durch die wahre Darstellung der Welt und den Appell an die Vernunft sollen bei den Menschen die rationale Einsicht in die Wirklichkeit und der Wunsch zur Verbesserung der Welt erzeugt werden. Auch Ströbels konkrete politische Positionen und Strategien waren durch und durch rationalistisch: Den Vorzug der Demokratie sah er beispielsweise darin, dass sie eine „vernünftige Evolution“ ermögliche oder ein Vertreter des Bundes meinte, „der blinde Naturtrieb der Vermehrung der Rasse [müsse] durch die vernunftgemäße Rücksicht auf ihre Veredelung gezügelt“ werden.29 Darüber hinaus gründete die Einrichtung von Ströbels Utopie selbst auf den Prinzipien der Vernunft, und ihre Realisierung wurde dadurch garantiert, dass 21 22 23 24 25 26 27 28 29

Ebd., z. B. S. 8, S. 138 oder S. 345f. Ebd., S. 13. Ebd., S. 11. Ebd., S. 27–30. Ebd., S. 16. Ebd., S. 108, S. 163, S. 178 u. S. 222. Ebd., S. 26 Ebd., S. 37 Ebd., S. 19 u. S. 60.

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diese allen Vernunftbegabten einsichtig seien. Diese würden sich daher, wenn ihnen Wahrheit und Vernunft nur durch die „Propagandatätigkeit“ des Bundes nahegebracht worden seien, für sie einsetzen. Ein Projekt dessen Grenzen sofort aufscheinen, wenn man jenseits des Bekenntnisses zu allgemeinen Humanitätsidealen, die etwas detaillierteren Schilderungen der Zukunftsgesellschaft liest, die von Ströbels nur bedingt zustimmungsfähigen Idiosynkrasien geprägt waren. Am pittoreskesten ist hier seine Überzeugung, dass das Wandern zum beliebtesten, wenn nicht gar einzigen Sport werden würde, dass „die Leidenschaft für den einseitig stupiden Muskelsport und die noch stupidere Gafferleidenschaft der Massen bei sportlichen Schauspielen durch die edlere Leidenschaft für das Wandern und für den Genuß der erhabenen und intimen Schauspiele der Natur verdrängt“ werden würde.30 III. Revolutionäre Erfahrung und republikanische Ernüchterung Weniger als einen Monat nach Abschluss des Manuskripts von Die Erste Milliarde der zweiten Billion bot sich Ströbel die Möglichkeit, an der Umsetzung seiner Utopie zu arbeiten, da er zusammen mit Paul Hirsch an die Spitze der preußischen Revolutionsregierung trat.31 Wie der Rat der Volksbeauftragten setzte sich auch die neue preußische Regierung zu gleichen Teilen aus Mitgliedern der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei und der Mehrheitssozialdemokratie zusammen. In ihrer ersten offiziellen Verlautbarung formulierte die Regierung umfassende Umgestaltungspläne, deren Tendenz zur Demokratisierung und Sozialisierung Ströbels Utopie noch recht nahe kam. Von Beginn folgte sie jedoch vor allem dem Handlungsimperativ, Sicherheit und Ordnung sowie die Ernährung der Bevölkerung zu garantieren.32 In der Revolutionsregierung verfügten weder Hirsch noch Ströbel über ausreichende Führungsqualitäten zur Bestimmung der Kabinettslinie, sondern Adolf Hoffmann und Otto Braun waren die eigentlich entscheidenden Figuren. Letzterer urteilte über Ströbel, der Verordnungsentwurf zur Abschaffung des Orden- und Titelwesens sei das Einzige gewesen, „was Ströbel in dreimonatiger Ministertätigkeit zustande gebracht“ habe.33 Tatsächlich ist die genaue Tätigkeit Ströbels bis zum Rückzug der USPD aus der Regierung nur schwer 30 Ebd., S. 170. 31 Zu den genauen Umständen siehe PAUL HIRSCH: Der Weg der Sozialdemokratie zur Macht in Preußen, Berlin 1929, S. 112; JÜRGEN KOCKA / WOLFGANG NEUGEBAUER (Hg.): Die Protokolle des Preußischen Staatsministeriums 1817–1934/39, Bd. 11/1: 14. November 1918 bis 31. März 1925, Hildesheim/Zürich/New York 2002, S. 2. 32 Siehe GERHARD A. RITTER / SUSANNE MILLER (Hg.): Die Deutsche Revolution 1918– 1919. Dokumente, 2., erw. u. überarb. Aufl., Hamburg 1975, S. 104f. 33 Zitiert nach HAGEN SCHULZE: Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung. Eine Biographie, Frankfurt/Main/Berlin/Wien 1977, S. 234.

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zu rekonstruieren. Zwar dürfte die Sitzungstätigkeit der Regierung intensiv gewesen sein, aber es sind nur vier Protokolle überliefert,34 und auch Dokumente über die weiteren Aktivitäten Ströbels in den turbulenten Monaten sind sehr verstreut. Nichtsdestoweniger wird deutlich, dass Ströbel mehr als den oben zitierten Verordnungsentwurf zu verantworten hatte. Auf seine Initiative hin wurde zum Beispiel Gustav Mayer damit beauftragt, als Vertrauensmann der neuen Regierung in die Leitung der Staatsarchive einzutreten und diese nach Dokumenten zu durchforsten, die vor allem die Schuld am Weltkrieg aufklären könnten.35 Das Kabinett bzw. die Gesamtregierung beschäftigte sich anfangs im Wesentlichen mit praktischen und unkontroversen Fragen.36 Historisch fassbar wird Ströbel hier immer dann, wenn ein Dissens zwischen SPD- und USPD-Vertretern entstand. Dies war zum Beispiel der Fall, als Otto Braun am 12. Dezember die krankheitsbedingte Abwesenheit Adolf Hoffmanns dazu nutzte, die USPDler zu majorisieren und den Termin für die Einberufung einer Preußischen Nationalversammlung auf die Woche nach der Wahl der Deutschen Nationalversammlung festzulegen. Sowohl der Antrag Ströbels, die Abstimmung darüber zu verschieben, als auch der Zusatz „vorbehaltlich der Zustimmung des Zentralrats der A.u.S.Räte“ wurden abgelehnt.37 Zwei Tage später diskutierte das Kabinett eine angebliche Äußerung Hoffmanns, dass „die Nationalversammlung auseinandergejagt werden müßte, falls sie keine sozialistische Mehrheit aufweise“.38 Auch hier lehnte die SPD-Mehrheit den USPD-Antrag auf Vertagung ab und wollte stattdessen eine Erklärung verabschieden, dass die Regierung „die Nationalversammlung als den Ausdruck des Volkswillens unter allen Umständen […] respektieren“ werde. Nachdem Ströbels vermittelnder Änderungsantrag, das „unter allen Umständen“ aus der Erklärung zu streichen, mit allen Stimmen angenommen worden war, wurde auch der Gesamtantrag angenommen. Anders als sein Parteigenosse Kurt Rosenfeld stimmte ihm auch Ströbel zu und äußerte damit schon vor dem Berliner Rätekongress im Dezember 1918 seine Bereitschaft, einen demokratischen Weg zur Neuordnung des Reiches zu gehen. Nichtsdestoweniger dürften seine Frustrationserlebnisse in der Zusammenarbeit mit den Mehrheitssozialdemokraten groß gewesen sein. So wurde Ströbel am 26. Dezember 1918 vom Rat der Volksbeauftragten zusammen mit 34 Kocka / Neugebauer: Protokolle (wie Anm. 31), S. 3. 35 Siehe SUSANNE MILLER (Hg.): Die Regierung der Volksbeauftragten 1918/19 (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Reihe I, Bd. 6.1), Düsseldorf 1969, S. 98–104, hier S. 102; sowie HEINRICH STRÖBEL: Falsche Züge, in: Die Weltbühne 15.1 (19. 6. 1919), S. 695–699. 36 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz I. HA Rep. 90 A Staatsministerium Jüngere Registratur Nr. 3624, Bl, 420–429. 37 Geheimes Preußisches Staatsarchiv, I. HA Rep. 90A, Bd. 167, Bl. 426–427. 38 Geheimes Preußisches Staatsarchiv, I. HA Rep. 90A, Bd. 167, Bl. 428–429.

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Johann Giesbert, einem Unterstaatssekretär im Reichsarbeitsamt, zu den streikenden Bergarbeitern ins Ruhrgebiet geschickt, wo er einen Kompromiss aushandelte, der die Streikbewegung in der Tat abschwellen ließ.39 In seinem Bericht über die Einigung, den er bei der Besprechung der Volksbeauftragten und der preußischen Staatsregierung in der Reichskanzlei am Nachmittag des 2. Januar 1919 vorlegte, forderte Ströbel, zur Beruhigung der Lage den Arbeitern mehr Geld zu geben und endlich Sozialisierungsschritte einzuleiten.40 Darauf antwortete Ebert nur, dass man den ganzen Komplex angesichts der allgemeinen Finanzlage des Reichs dilatorisch behandeln müsse.41 Allerdings waren die Beziehungen zwischen MSPD und USPD zu diesem Zeitpunkt schon zerrüttet. Bereits Ende Dezember hatte sich Ströbel im Auftrag der Unabhängigen Mitglieder der preußischen Regierung in einem Schreiben an den Zentralrat mit den USPD-Vertretern solidarisch erklärt, die wegen des Truppeneinsatzes bei den Weihnachtskämpfen in Berlin zurückgetreten waren.42 Am Abend des 2. Januars traf sich der Zentralrat mit dem preußischen Kabinett zu einer gemeinsamen Sitzung, bei der offiziell der Konflikt beigelegt werden sollte, bei der aber letztlich nur der Bruch besiegelt wurde.43 Konkret ging es, wie vor allem die Mehrheitssozialdemokraten betonten, um die Frage der formalen Zuständigkeit für die Ernennung des preußischen Kriegsministers.44 Da diese eindeutig beim Reich liege, müsse Preußen, wie Robert Leinert erklärte, die Ernennung von Oberst Reinhardt abzeichnen und könne sie nicht verhindern. Für die USPD hatte die Frage der Ministerernennung jedoch symbolische Qualität. Aufgebracht über den Pakt der Mehrheitssozialdemokraten mit dem Militär und dem von ihm so verhassten Militarismus, meinte Ströbel, es sei entscheidend, möglichst schnell ein demokratisches Volksheer mit gewählten Offizieren zu errichten.45 Die Mehrheitssozialdemokraten ließen sich auf diese Debatte nicht ein, sondern suchten durch gezielte Provokationen in der Sitzung den Bruch, den die Unabhängigen am nächsten Tag öffentlich erklärten. Eine weitere Zusammenarbeit mit der MSPD sahen sie als Verrat an

39 MILLER: Regierung (wie Anm. 35), S. 41f; siehe dazu auch HEINRICH AUGUST WINKLER: Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924, Berlin/Bonn 1984, S. 166. 40 MILLER: Regierung (wie Anm. 35), S. 172–182, hier S. 177. 41 Ebd., S. 180. 42 Ebd., S. 167. 43 Der Zentralrat der Deutschen Sozialistischen Republik 19. 12. 1918 – 8. 4.1919. Vom ersten zum zweiten Rätekongreß, bearb. v. Eberhard Kolb unter Mitwirkung von Reinhard Rürup, Leiden 1968, S. 171–185. 44 Siehe dazu Möller, Horst: Parlamentarismus in Preußen 1919–1932, Düsseldorf 1985, S. 54–59. 45 Ebd., S. 179.

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der Revolution und dem Sozialismus, weil der Zentralrat die Demobilisierung nicht entschieden genug angehe.46 Nach nicht einmal zwei Monaten endete also Ströbels konkrete Tätigkeit in der Exekutive, weil er nicht bereit war, in den Fragen des Militarismus und der Zusammenarbeit mit den alten Eliten Kompromisse zu schließen. Der Verwirklichung seiner kurz zuvor fertiggestellten Utopie war er dabei kaum näher gekommen. Von nun an widmete er sich neben seiner Arbeit in der USPD verstärkt der Deutung und Interpretation der politischen Vorgänge in Deutschland. In seiner politischen und vor allem aber seiner intensiven publizistischen Tätigkeit ging es ihm – wie schon dem Helden seiner Utopie – darum, durch „gesunde Anregung und vernünftige Belehrung“ den Menschen die Wahrheit zu vermitteln und so den Weg zum Sozialismus zu weisen. Dabei befand er sich in der schwierigen Position, zwischen Mehrheitssozialdemokraten und Kommunisten. IV. Die Politik der reinen Vernunft In den Leitartikeln, die Ströbel anderthalb Jahre lang vom 13. März 1919 bis zum 4. November 1920 fast jede Woche in der Weltbühne verfasste, arbeitete er seine doppelte Frontstellung für die verschiedenen Politikfelder aus. Ströbel ersetzte in der Redaktion der Weltbühne den Mehrheitssozialdemokraten Robert Breuer, weil der Herausgeber Siegfried Jacobsohn seine eigene Position eines radikalen Sozialismus bei gleichzeitiger Ablehnung des Bolschewismus besser durch Ströbel verwirklicht glaubte.47 Gerade wegen Ströbels Mittelposition findet sich in seinen Aufsätzen fast das ganze Repertoire der Zukunftsaneignungen, die die Linke in der Weimarer Republik und ihr Verhältnis zur Utopie prägten. Denn in seiner kategorischen Abgrenzung sowohl vom rechten Flügel der Sozialdemokratie als auch von den Kommunisten nutzte er Argumente, die strukturell denen der jeweils anderen Seite ähnelten. Das Zentralproblem der deutschen Politik während der Revolution sah Ströbel in ihrer Entrationalisierung, dem Überhandnehmen der Leidenschaften oder gar der völligen Entgrenzung im „Wahnsinn“: „Die stürmischen Ereignisse der Revolution hatten die Gemüter allzusehr erhitzt, und die leidenschaftlichen Reden ehrlicher Fanatiker und popularitätssüchtiger Demagogen hatten die Geister allzusehr verwirrt, als daß man den Mahnruf zur Vernunft noch überall beachtet hätte.“48 In seinen Analysen der Tagespolitik, in denen er die neue Demokratie gegen Angriffe von links und rechts zu verteidigen suchte, 46 Schreiben der USP-Mitglieder der preußischen Regierung an den Zentralrat (Rücktrittserklärung) vom 3. 1. 1919, in: Zentralrat (wie Anm. 43), S. 185f. 47 ISTVAN DEAK: Germany’s Left Wing Intellectuals. A Political History of the Weltbühne and Its Circle, Berkeley/Los Angeles 1968, S. 75 u. passim. 48 HEINRICH STRÖBEL: Die deutsche Revolution. Ihr Unglück und ihre Rettung, Berlin 1920, S. 99.

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waren Vernunft und Wahrheit die Leitkategorien, an die er immer wieder appellierte.49 Gegen die Kommunisten reihte er sich damit in die Front der konservativen, religiösen, liberalen und mehrheitssozialdemokratischen Autoren ein, die den Kommunismus als säkular-religiöse Heilslehre deuteten, die die Menschen verwirre und zu unrealistischen Handlungsstrategien verleite. In Bezug auf die sprachliche Radikalität stand Ströbel dabei den konservativen Kritikern in nichts nach. So diagnostizierte er bei den Kommunisten den „verstiegene[n] Machtrausch fanatischer Revolutionsphantasten“50 und sah ihre Doktrin als „neue Heilslehre“, die eine „Massensuggestion“ bewirke.51 Die Revolution habe das Proletariat mit einem „messianischen Glauben“ an Wunder erfüllt, und folgerichtig beschrieb er die internationalen Führer des Kommunismus als „Apostel“ der Weltrevolution und ihre Anhänger als „Gläubige“.52 Auch als seine eigene Partei, die USPD, zusehends nach links driftete, begriff Ströbel diesen Prozess als Rationalitätsverlust, den er vor allem auf den Parteiversammlungen wahrnahm, wo „die revolutionäre Phraseologie alle politische Einsicht überwucherte und die klaren und besonnenen Köpfe sich durch den Beifall bei dröhnenden Kraftworten und hohlen Agitationsphrasen […] verschüchtert fühlten“.53 Im Unterschied zu vielen politisch weiter rechts stehenden Zeitbeobachtern diagnostizierte Ströbel die Entrationalisierung allerdings nicht nur auf der extremen Linken, sondern auch auf der politischen Gegenseite bis weit in die Sozialdemokratie hinein. Als Pazifist war für ihn die Kriegsbegeisterung des Jahres 1914 und das Einschwenken der SPD auf den Kriegskurs das Datum, an dem sich die Vernunft aus der deutschen Politik verabschiedet hatte. Seit diesem „Taumel des Imperialismus“ sei lediglich die „Kriegspsychose“ von einer „Revolutionspsychose“ abgelöst worden;54 in der „Revolutionsromantik“ der Gegenwart sah Ströbel nur eine „Abart der Kriegsromantik“.55 Spätestens im August 1914 seien die deutschen Eliten, aber auch weite 49 DERS.: Radikale Tat, in: Die Weltbühne 15. 2 (17. 7. 1919), S. 59–63, hier S. 59; DERS.: Die bedrohte Demokratie, in: Die Weltbühne, 15.1 (27. 3. 1919), S. 333–338; dazu I. DEAK: Intellectuals (wie Anm. 47), S. 139 u. 144; siehe auch HEINRICH STRÖBEL: Die Aufgaben der Arbeiterinternationale (Flugschriften des Bundes Neues Vaterland 28), Berlin 1922, S. 5. 50 Ebd. 51 DERS.: Moskau gegen Weimar, in: Die Weltbühne 15.1 (13. 3. 1919), S. 273–279, hier S. 273. 52 DERS.: Keine Rettung, in: Die Weltbühne 15.1 (28. 3. 1919), S. 303–308, hier S. 304 und DERS.: Aufstieg oder Chaos, in: Die Weltbühne 15. 1 (3. 4. 1919), S. 365–369, hier S. 365. 53 DERS.: Parteitag der Unabhängigen, in: Die Weltbühne 15.2 (13. 11. 1919), S. 587–592, hier S. 588. 54 DERS.: Moskau (wie Anm. 51), S. 273 u. S. 278; siehe auch DERS.: Ja oder Nein?, in: Die Weltbühne, 15. 1 (15. 5. 1919), S. 551–556, hier S. 554. 55 DERS.: Vernunftrecht wider Faustrecht, in: Die Weltbühne 15.2 (18. 9. 1919), S. 339–344, hier S. 341.

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Teile der Sozialdemokratie vom Kriegswahnsinn, von einem fiebrigen Wahn befallen worden, in dem die „Tollheit […] die Vernunft frech vergewaltigt“ habe, und dieser Ausnahmezustand, den Ströbel gern mit medizinischen und psychiatrischen Metaphern beschrieb, halte gegenwärtig noch an.56 Ströbel meinte, erst wenn der Zustand der Vernunftlosigkeit in der Politik überwunden würde, sei eine Verbesserung der politischen und wirtschaftlichen Lage in Deutschland denkbar, äußerte sich aber zugleich sehr skeptisch über diese Chance. Denn vor allem die sozialdemokratisch geführte Regierung handele unvernünftig, indem sie eine übertriebene und irrationale Bolschewismusfurcht schüre, die jede sachliche politische Auseinandersetzung unmöglich mache.57 Darüber hinaus heize die Regierung mit ihrem unverhältnismäßig gewalttätigen Vorgehen gegen die Räterepubliken die Stimmung zusätzlich an und radikalisiere damit die Situation: „Aber das muß doch jedem nicht ganz Verblendeten unter ihnen [den Sozialdemokraten] klar sein: zehntausend [sic] der wildesten Demagogen des Bolschewismus könnten die Massen nicht so in den tiefsten Tiefen aufwühlen als ein Noske. Es gibt keinen wirksamern Apostel der Anarchie“.58 Schließlich sah Ströbel die Vernunft bei den Regierenden geradezu „geächtet“, weil sie sich nicht zu einer rationalen Steuerung der Zukunft durch „Vernunft und Entschlußkraft“ durchringen könnten, sondern sich stattdessen „von den Dingen blindlings treiben“ ließen.59 Angesichts der Entrationalisierung der Politik im Zuge des Krieges war es für Ströbel auch nicht verwunderlich, dass 1918/19 unzählige selbsternannte Weltverbesserer auftauchten, die unrealistische Utopien der Erneuerung formulierten.60 Sich selbst und Die erste Milliarde der zweiten Billion lokalisierte Ströbel nicht in diesem Zusammenhang, sondern sah sich vielmehr als Advokat einer „vernünftige[n] Politik“, die nach sachlicher und nüchterner Wahrheitssuche eine realistische Zukunftsplanung und -gestaltung anstrebe. Diese Haltung, die Ströbel in allen Politikfeldern einzunehmen vorgab, kam am deutlichsten in seinen Artikeln zum vergangenen Krieg und dem nötigen Friedensschluss zum Ausdruck. Man müsse bedingungslos die wahren Kriegsursachen offenlegen, worum er sich schon in seiner Zeit im preußischen Kabinett bemüht hatte, und könne gerade durch diese neue Ehrlichkeit und Verständigungsbereitschaft auf Milde und Nachsicht der Entente hoffen.61 Allerdings sah Strö56 DERS.: Der alte Wahn, in: Die Weltbühne 15.1 (8. 5. 1919), S. 523–537. 57 DERS.: Die Entscheidung, in: Die Weltbühne 15.1 (26. 6. 1919), S. 727–731, hier S. 727. DERS.: Demokratie (wie Anm. 49), S. 337 und DERS.: Vernunftrecht (wie Anm. 55), S. 339; siehe auch DERS.: Revolution (wie Anm. 48), S. 96. 58 DERS.: Die Rettung!, in: Die Weltbühne 15.1 (17. 4. 1919), S. 429–434, hier S. 431. 59 DERS.: Die geächtete Vernunft, in: Die Weltbühne 15.1 (29. 5. 1919), S. 611–616, hier S. 615. 60 DERS.: Weltverbesserer, in: Die Weltbühne 15.2 (28. 8. 1919), S. 245–249, hier S. 245. 61 Siehe vor allem DERS.: Der Frieden der Vernunft, in: Die Weltbühne 15.1 (24. 4. 1919), S. 461–465; siehe auch DERS.: Züge (wie Anm. 35) oder DERS.: Friedenssabotage, in: Die Weltbühne 15.2 (3. 7. 1919), S. 1–5.

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bel selbst, dass seine Politik des Machbaren oft weniger attraktiv wirkte als die hohen Versprechungen der Radikalen und vor allen Dingen der Kommunisten. Daher müsse man dem Kommunismus, dem „Wunderglauben des Augenblicks“, einen anderen Glauben entgegensetzen, der „gleich starke seelische Kräfte“ evozieren könne.62 Ströbels Kritik an den Kommunisten, die sich an der Frage der Gewalt entzündete, zeigt die grundsätzlichen Differenzen, die auf der politischen Linken in der Weimarer Republik darüber bestanden, ob der Sozialismus durch einen fundamentalen Bruch oder eine kontinuierliche Entwicklung erreicht und wie lange es bis dahin dauern werde. Obwohl Ströbel dem utopischen Geist der Russischen Revolution und der angestrebten Transformation des Menschen auch positive Seiten abgewinnen konnte,63 lehnte er die gegenwärtigen Zustände in Russland als Terrorherrschaft mit katastrophalen Folgen für die Bevölkerung und das Proletariat klar ab.64 Während die Realisierung der Utopie in der Sowjetunion für die Kommunisten eine Werbefaktor darstellte, weil sie konkreter und wirklicher war als das Fernziel der Sozialdemokraten,65 barg ihre Verräumlichung auch Probleme. Schließlich konnte sich nun jeder ein Bild von der konkreten Gestalt der Utopie machen, und viele der Russlandberichte fielen verheerend aus.66 Auf der Basis dieser Berichte entwarf auch Ströbel das dystopische Bild eines Landes, das von einer kleinen Clique von Männern beherrscht und tyrannisiert werde.67 Durch Terrorismus, so Ströbel, könne jedoch keine neue Gesellschaft entstehen, sondern nur durch eine neue Sittlichkeit.68 Die Rätediktatur lehnte er deshalb als eine „unholde Utopie“ ab, die überhaupt nur in ländlichen, aber nicht in industriell entwickelten Ländern möglich sei.69 Der von radikaleren Kräften geforderten Vollsozialisierung prognostizierte Ströbel katastrophale wirtschaftliche Folgen, wenn 62 DERS.: Moskau (wie Anm. 51), S. 273–279, hier S. 276; sowie DERS.: Einigung, in: Die Weltbühne 15.2 (25. 9. 1919), S. 369–374. 63 DERS.: Milliarde (wie Anm. 8), S. 61f. 64 DERS.: Moskau (wie Anm. 51), S. 277; siehe auch DERS.: Rußland und Deutschland, in: Die Weltbühne 15.2 (23. 10. 1919), S. 495–500. 65 So KLAUS-MICHAEL MALLMANN: Kommunisten in der Weimarer Republik. Sozialgeschichte einer revolutionären Bewegung, Darmstadt 1996, S. 280. 66 PETER LÖSCHE: Der Bolschewismus im Urteil der Deutschen Sozialdemokratie 1903– 1920, Berlin 1967; JÜRGEN ZARUSKY: Vom Zarismus zum Bolschewismus. Die deutsche Sozialdemokratie und der „asiatische Despotismus”, in: GERD KOENEN / LEW KOPELEW (Hg.): Deutschland und die russische Revolution 1917–1924, München 1998, S. 99–133; GERD KOENEN: Vom Geist der russischen Revolution. Die ersten Augenzeugen und Interpreten der Umwälzungen im Zarenreich, in: ebd., S. 49–98. 67 Siehe dazu ausführlich HEINRICH STRÖBEL: Nicht Gewalt, sondern Organisation! Der Grundirrtum des Bolschewismus (Der Firn, Sonderheft 2), Berlin 1921, hier S. 23 u. S. 28. 68 DERS.: Vernunftrecht (wie Anm. 55), S. 341. 69 DERS.: Rettung (wie Anm. 58), S. 433. Ströbel gebrauchte den Utopiebegriff oft pejorativ, um seine eigene verwirklichbare Vision von den unverwirklichbaren abzugrenzen.

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sie gewaltsam in Deutschland durchgesetzt würde.70 Die Sozialisierung sei vielmehr ein Fernziel, das nur schrittweise, ausgehend von den dafür reifen Wirtschaftzweigen und -branchen, erreicht werden könne.71 Ströbels Konflikt mit den Kommunisten war also letztlich eine Frage der Methoden, der Art und Weise und des Tempos, in dem die neue Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung erreicht werden sollte.72 Nicht durch einen radikalen Bruch, der zwangsläufig gewalttätig verlaufen würde, sondern vielmehr durch einen „organischen Prozeß“ und eine kontinuierliche Entwicklung, sollte der Sozialismus verwirklicht werden, obwohl die Realisierung dann länger dauern würde.73 Trotz dieser moderaten und demokratisch republikanischen Strategie, die Ströbel selbst oft als anti-utopisch codierte, war er allerdings nicht dazu bereit, ganz auf das utopische Versprechen zu verzichten. Denn „[a]uch der moderne Proletarier und Sozialist hat seelische Bedürfnisse, auch er will nicht nur die Kräfte des Verstandes regen, sondern auch die Schwingen seiner Phantasie entfalten.“74 So versprach er immer wieder in seinen Artikeln wie schon zuvor in Die erste Milliarde der zweiten Billion, ein einiges Proletariat könne „in wenigen Jahren ein Reich der Gerechtigkeit der Schönheit und des Überflusses aufbauen, wie es bisher nur die prophetische Ekstase geschaut“ habe.75 Ungeduldig fragte auch Ströbel „wie lange noch?“ und zeichnete ein „neues Reich“, in dem – vom Militarismus befreit – neue Menschen eine sozialistische Gesellschafts- und Wirtschaftordnung aufbauen würden.76 In diesem Sinne begriff er, obwohl er von kontinuierlichen Entwicklungsprozessen ausging, die Gegenwart als fundamentale Zeitenwende und formulierte damit eine politische Haltung, die bis weit in die Sozialdemokratie und die Mitte des politischen Spektrums anschlussfähig war.77 Die emotionale Ambivalenz von Ströbels Position, einerseits noch immer an seine Utopie zu glauben und andererseits für Demokratie und Entwicklung einzutreten, äußerte sich auch in den Charakterschilderungen konkurrierender Politiker. Obschon er sowohl die Vertreter der Mehrheitssozialdemokratie als 70 Dazu ausführlich DERS.: Die Sozialisierung, ihre Wege und Voraussetzungen, Berlin 1921. 71 Ebd., v.a. S. 218–236. 72 DERS.: Entente-Sorgen, in: Die Weltbühne 15.1 (12. 6. 1919), S. 667–671, hier S. 668. 73 DERS.: Aufstieg (wie Anm. 52), S. 369; siehe auch DERS.: Gewalt (wie Anm. 67), S. 17. 74 DERS., Sozialisierung (wie Anm. 70), S. 13f. In diesem Zusammenhang definierte er im Anschluss an Otto Neurath Utopien als „gesellschaftstechnische Konstruktionen”, die notwendige Baupläne der Zukunft seien, und ertrug den Vorwurf der Utopisterei „ohne Kümmernis”. Ebd., S. 42. 75 DERS.: Rettung (wie Anm. 58), S. 429. 76 DERS.: Wie lange noch?, in: Die Weltbühne 15.1 (22. 5. 1919), S. 581–585; DERS.: Das neue Reich, in: Die Weltbühne 15.2 (7. 8. 1919), 149–154. Dazu auch DEAK: Intellectuals (wie Anm. 47), S. 141. 77 Siehe Das Heidelberger Programm. Grundsätze und Forderungen der Sozialdemokratie, mit einem Vorwort von Paul Kampffmeyer, Berlin 1925.

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auch die der Kommunisten für politisch unvernünftig hielt, waren seine Sympathien doch eindeutig verteilt.78 Liebknecht und Luxemburg sah er zwar als politisch fehlgeleitet, charakterisierte sie aber zugleich in freundschaftlichem Ton als Menschen hoher Gesinnung und Moral. So beschrieb er Karl Liebknecht, wie er ihn „kannte und liebte“, als „kluge[n], verstehende[n], gütige[n] Mensch, aber auch als unbeugsame[n] Fanatiker des Rechts.“79 Zusammen mit Kurt Eisner und Hugo Haase galten ihm Liebknecht und Luxemburg als die „edelsten Opfer, die für die Revolution in Deutschland gefallen.“80 Demgegenüber kritisierte Ströbel nicht nur Noske bzw. den „Noskismus“ aufs schärfste,81 sondern auch für Ebert, Scheidemann und den Rest der SPDFührung hatte er meist nur härteste Worte übrig. So hielt er es für einen Skandal, dass „die Geschichte eines Siebzigmillionenvolkes“ in die Hände eines ehemaligen Schriftsetzers und ehemaligen Sattlers gelegt worden sei, deren intellektuelle Kapazität sie allenfalls als „Lokalredakteure, Arbeitersekretäre, Gewerkschaftsbeamte [… oder] als Vorsitzende einer Stadtverordnetenversammlung“ qualifiziere.82 Nicht an ihrer Herkunft liege dieses Defizit, sondern vielmehr daran, dass sie nichts gelernt und keinen Charakter hätten. Ihnen fehle also zum Staatsmann „nicht weniger als alles: Wissen, geistige Selbständigkeit, Hochflug des Gedankens“. Daher seien alle ihre Äußerungen so platt wie ein „Kartoffelacker“ und so trivial wie eine „Kriegervereinsphrase“. Ströbel schloss seine Hasstirade mit einer Entmenschlichung seiner politischen Konkurrenten, indem er in eindeutigem Bezug auf Ebert und Scheidemann fragte: „Und das soll nun Weltgeschichte machen“?83 Trotz der harten Kritik an den sozialdemokratischen Repräsentanten der Republik wäre es jedoch falsch, Ströbel für einen Antirepublikaner zu halten.84 Vielmehr sprach aus seinen Kolumnen ein Utopist, der sich eine andere Republik wünschte, aber nicht bereit war, alle Mittel zu ihrer Realisierung einzusetzen: Explizit bekannte sich Ströbel zu demokratisch-parlamentarischen und vor allem friedlichen Wegen der Politikgestaltung, weil die Geschichte „bewiesen“ habe, dass „der Zweck niemals die Mittel heiligt, und daß verwerf78 79 80 81

Ebd., S. 114. H. STRÖBEL: Wie lange noch? (wie Anm. 76), S. 583. DERS.: Revolution (wie Anm. 48), S. 120. DERS.: Vernunftrecht (wie Anm. 55), S. 339; siehe auch DERS.: Tirpitz, Noske, v. d. Goltz, in: Die Weltbühne 15. 2 (9. 10. 1919), S. 431–436; DERS.: Clemenceau, Noske & Däumig, in: Die Weltbühne 15. 2 (18. 12. 1919), 745–749; DERS.: Revolution (wie Anm. 48), S. 221. 82 DERS.: Führer, in: Die Weltbühne 15.1 (1. 5. 1919), S. 491–495, hier S. 492. 83 Ebd. 84 Zum linken Antiparlamentarismus siehe jetzt RICCARDO BAVAJ: Von links gegen Weimar. Linkes antiparlamentarisches Denken in der Weimarer Republik, Bonn 2005, zu Ströbel S. 412f.

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liche Mittel die beste Sache schädigen“.85 Allerdings verfiel auch Ströbel bisweilen dem von ihm kritisierten Zeitgeist, ließ sich auf die Hitzigkeit und Radikalität der politischen Auseinandersetzungen ein oder trug zu deren Verschärfung bei. So malte er immer wieder eine angeblich nahe bevorstehende Katastrophe bzw. einen totalen Untergang drohend an die Wand, um dadurch zum Zusammenschluss der Vernünftigen zu motivieren.86 Damit trug er zur allgemeinen Alternativenverknappung bei, indem er die politischen Optionen der Gegenwart auf zwei reduzierte und diese mit Hilfe einer radikalen Dichotomie, einem auschließenden Entweder-oder, verband. Diese Struktur zeigt sich schon in vielen Titeln seiner Leitartikel: Weltkatastrophe oder Völkerbund, Aufstieg oder Chaos, Moskau oder Weimar, Entscheidung, Ja oder Nein, Vernunftrecht oder Faustrecht, Weltfriede oder Weltruin. V. Praktische Politik – Heinrich Ströbel als linker Vernunftrepublikaner? In der praktischen Politik konnte Ströbel mit seiner Haltung innerhalb der USPD schon bald nicht mehr reüssieren. Vielmehr bildete sein Nonkonformismus in der aufgeheizten Stimmung des Jahres 1919 eine offene Flanke für die Partei, so dass er letztlich untragbar wurde. Auf der Vollversammlung der Groß-Berliner Arbeiter- und Soldatenräte am 3. März 1919 wurde beispielsweise die Rede des Mehrheitssozialdemokraten Otto Frank immer wieder von ironischen und aggressiven Zwischenrufen aus den Reihen der USPD unterbrochen, die die größte Fraktion in der Versammlung stellte. Die Zwischenrufer verstummten jedoch zumindest temporär, als Frank ihnen vorhielt, die USPD vertrete im Unterschied zu KPD und MSPD keine eindeutige Position. Als Beleg für die Uneinheitlichkeit der Partei zitierte er Heinrich Ströbels Auffassungen zu Demokratie und Diktatur sowie seine Forderung einer organischen Entwicklung. 87 Als Ströbel wenige Monate später im Juni 1919 auf dem von der Zentralstelle für Einigung der Sozialdemokratie ausgerufenen Deutschen Sozialistentag sprach, auf dem Unabhängige und Mehrheitssozialdemokraten unter anderem auf seine Initiative hin Wege zur Vereinigung ihrer Parteien suchten, deutete sich bereits ein Bruch an. Teile der USPD-Delegierten waren über Heinrich Ströbels Bereitschaft zu Kompromissen mit der MSPD, seinen harten Antikommunismus und seine Zustimmung zum Parlamentarismus verärgert und weigerten sich, 85 H. STRÖBEL: Vernunftrecht (wie Anm. 55), S. 342; so auch sein Urteil über die Bolschewiki in DERS.: Gewalt (wie Anm. 67), S. 5. 86 DERS.: Rettung (wie Anm. 52), S. 307. 87 GERHARD ENGEL u. a. (Hg.): Groß-Berliner Arbeiter- und Soldatenräte in der Revolution 1918/19. Dokumente der Vollversammlungen des Vollzugsrates, Bd. 2: Vom 1. Reichsrätekongreß bis zum Generalstreikbeschluß am 3. März 1919, Berlin 1997, S. 324f.

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ihn weiter als ihren Vertreter anzuerkennen.88 Trotz seiner noch immer scharfen Attacken gegen die MSPD war daher für Ströbel immer weniger Platz in der USPD. Denn die Partei radikalisierte sich im Verlauf des Jahres 1919 zusehends, so dass auf dem Parteitag im Dezember keine Vertreter des rechten Flügels mehr anwesend waren, die für eine Vereinigung mit der SPD eintraten.89 Schließlich wurde nicht nur Kautsky zum Parteiaustritt aufgefordert, sondern auch Ströbel einfach von seiner lokalen Parteigliederung in Berlin-Steglitz ausgeschlossen.90 Nach seinem Ausschluss aus der USPD trat Heinrich Ströbel wieder der SPD bei und war hier in verschiedenen Positionen aktiv. Zunächst gehörte er den Programmkommissionen an, die das Görlitzer Programm von 1921 und das Heidelberger Programm von 1925 ausarbeiteten. Nach der Reichstagswahl 1924 zog er für den Wahlkreis Chemnitz-Zwickau in den Reichstag ein. 1921, 1924 und 1927 scheiterte er zwar mit den Versuchen, als Beisitzer in den Parteivorstand gewählt zu werden, wurde aber 1928 Mitglied der Wehrkommission der Partei. Sein Verhältnis zur SPD kann man von Beginn an allenfalls als kritische Loyalität bezeichnen: Obwohl er selbst in der Programmkommission an der Ausarbeitung des Görlitzer Programms beteiligt gewesen war, sprach er sich auf dem Parteitag dagegen aus, das Programm so zu verabschieden. Zwar enthalte es einige richtige Ansätze und sei in den Beratungen deutlich verbessert worden, aber sein Wirtschaftsteil zeichne sich durch „erschreckende Ideenlosigkeit und Ratlosigkeit“ aus.91 Die Wildwirtschaft des Kapitalismus müsse endlich durch geplante Sozialisierung beendet werden und hier „hätte das Programm mit der Helle des Scheinwerfers eines Leuchtfeuers das Dunkel der ganzen Probleme durchleuchten müssen“. Unter lebhaftem Beifall erklärte er, dass die Arbeiter nach „Weltanschauungsinhalt[en] und großen Zielweisungen“ hungerten, weshalb man ihnen eine „Religion der Sozialisierung anbieten müsse.92 Auch außerhalb der Partei hielt Ströbel unter anderem im Rahmen seiner organisatorischen und publizistischen Tätigkeit für die Deutsche Friedensgesellschaft die Flamme der reinen Gesinnung hoch, auch wenn sie von der 88 Deutscher Sozialistentag. Protokoll der Konferenz für Einigung der Sozialdemokratie im Sitzungssaal des ehemaligen Herrenhauses zu Berlin vom 21. Juni bis 23. Juni 1919. Einberufen vom Kongreß-Ausschuß der Zentralstelle für Einigung der Sozialdemokratie, Berlin o.J. [1919], S. 23; siehe dazu ausführlich GUIDO KNOPP: Einigungsdebatte und Einigungsaktion in SPD und USPD 1917–1920. Unter besonderer Berücksichtigung der „Zentralstelle für Einigung der Sozialdemokratie”, Diss., Würzburg 1975, S. 319–322. 89 ROBERT F.WHEELER: USPD und Internationale. Sozialistischer Internationalismus in der Zeit der Revolution, 1975, S. 162–182; KRAUSE: USPD (wie Anm. 5), S. 148–164. 90 Siehe WHEELER: USPD (wie Anm. 89), S. 211. 91 Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten in Görlitz vom 18. bis 22. September 1921, Berlin 1921, S. 299–303, hier S. 300. 92 Ebd., S. 302f.

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Partei abwich.93 Von 1927 bis 1931 war er zudem neben Max Adler, Kurt Rosenfeld und Max Seydewitz einer der Herausgeber von Der Klassenkampf. Marxistische Blätter, der Zeitschrift der Linksopposition innerhalb der SPD.94 Darüber hinaus legte er ab 1928 zusammen mit anderen Linksabweichlern in der Reichstagsfraktion immer öfter ein abweichendes Abstimmungsverhalten an den Tag.95 Nachdem der Klassenkampf im Juli 1931 einen „Mahnruf“ gegen den Tolerierungskurs der SPD gegenüber dem Brüningschen Präsidialkabinett veröffentlicht hatte, kam es zum offenen Konflikt. Die Parteiführung erklärte, das Verhalten der Klassenkampf-Gruppe sei parteischädigend und die Mitgliedschaft in der Deutschen Friedensgesellschaft unvereinbar mit der Mitgliedschaft in der SPD. Nach dem Parteiausschluss von Max Seydewitz und Kurt Rosenfeld gründeten die Linksabweichler der SPD im Oktober 1931 die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands, der auch Ströbel beitrat.96 Nachdem Ströbel auf dem Gründungsparteitag überraschend zum dritten gleichberechtigten Vorsitzenden vorgeschlagen und nach einer „nervösen Diskussion“ mit fünf bis sechs Gegenstimmen – im Unterschied zu den sonst einstimmigen Wahlergebnissen – auch gewählt worden war, verließ er die Partei schon Ende des Jahres wieder, weil sie sich zu weit links befand und er die pazifistische Position nicht ausreichend gewahrt sah.97 Sowohl in der SPD als auch in der SAP scheiterte Ströbel also mit dem Versuch, die Politik der Partei mit seinen utopisch-pazifistischen Vorstellungen in Einklang zu bringen bzw. seine Politik der Vernunft durchzusetzen. So zumindest sah es Ströbel selbst, der sein politisches und publizistisches Engagement in den 20er Jahren noch immer über die Kategorien der Vernunft und der Wahrheitserkenntnis begriff: Im Reichstag forderte Ströbel, man solle eine „vernünftige Politik“ treiben,98 im Klassenkampf meinte er, nur ein „unbedingtes Bekenntnis zur Wahrheit“99 könne vor der Reaktion retten und zugleich beklagte er in Das andere Deutschland, dass die „politisch Vernünftigen [...] leider nicht die Überzahl“ seien.100 Ströbels Beiträge zu tagespolitischen Problemen offenbaren seine Haltung zur Republik, seine Kompromissbereitschaft und ihre Grenzen bzw. sein Verhältnis zur Utopie und seine Bereitschaft zum Utopieverzicht. 93 WIELAND: Gegner (wie Anm. 7), S. 271f. 94 Siehe dazu HARTMUT DRECHSLER: Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands SAPD, Meisenheim 1965, S. 21–23. 95 Ebd., S. 34, S. 52 und S. 62. 96 Siehe hierzu die ausführliche Darstellung der Vorgänge ebd., S. 83–106. 97 Ebd., S. 118f u. S. 187–189. 98 Siehe die Debatte am 3. Juli 1925; Verhandlungen des Reichstags. Stenographische Berichte, III. Wahlperiode 1924–1928, Bd. 387, Berlin 1925, S. 3785B (im Folgenden: Verhandlungen des Reichstags). 99 HEINRICH STRÖBEL: Die deutsche Revolution, in: Der Klassenkampf. Marxistische Blätter 2 (1928), S. 649–653, hier S. 652. 100 DERS.: Triumph der Kriegslüge, in: Das andere Deutschland, 2. 5. 1925.

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Von Beginn an hatte sich Ströbel auf den Boden der Weimarer Reichsverfassung gestellt, sah diese allerdings nur als neutrale Grundlage, als einen Kompromiss, der einer weiteren sozialistischen Ausgestaltung bedürfe.101 Zwar betonte Ströbel am 5. Februar 1925 im Reichstag die eigene Verfassungstreue, um sich von den Deutschnationalen abzugrenzen.102 Dabei handelte es sich jedoch um ein aus der argumentativen Konstellation geborenes Bekenntnis. Genau zwei Monate später, nach dem ersten Wahlgang der Reichspräsidentenwahl, definierte er sein Verhältnis zur Verfassung in der publizistischen Freiheit, die ihm Das andere Deutschland bot, schon ganz anders. Als Sozialdemokrat wolle er sich, so Ströbel, „unter der Republik und unter Republikanern auch etwas vernünftiges vorstellen“.103 Demokratie an sich bedeute nichts, solange ihr kein sozialer Inhalt gegeben werde, und der Kampf der Sozialdemokratie gelte daher nicht dem „Abstraktum Republik“, sondern nur einer solchen, die die „Massenwohlfahrt“ gewährleiste.104 Dies entsprach der politischen Haltung, die die gesamte Klassenkampf-Gruppe der Republik gegenüber einnahm: „[W]ohl gilt unser Kampf immer der Republik, als der besten staatspolitischen Basis zur Entwicklung der sozialistischen Idee, aber diese Republik ist solange kein Kampfobjekt mehr, wie die Bourgeoisie aus machtpolitischen Gründen selbst republikanisch geworden ist.“105 Auch wenn die SPD selbst in vielen Verlautbarungen und vor allem im Heidelberger Programm von 1925, das nach der Vereinigung mit der USPD entstand und eine partielle Reideologisierung darstellte, am Endziel des Sozialismus festhielt,106 ging Ströbel doch in seiner Kritik an der Weimarer Republik über die vagen sozialdemokratischen Transformationsbekenntnisse hinaus. Wegen ihres unsozialen Charakters bezeichnete er die Republik wiederholt als „Geldsackrepublik“ oder „Geldsackdemokratie“ und forderte ihre Überwindung.107 Im Unterschied zu den radikaleren Kräften sah er aber eine parlamentarisch durchzusetzende Steuerreformpolitik als Weg zur Ausgestal-

101 DERS.: Revolution (wie Anm. 48), S. 172; siehe dazu auch REINHARD RÜRUP: Entstehung und Grundlagen der Weimarer Verfassung, in: EBERHARD KOLB (Hg.): Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, Köln 1972, S. 218–243, hier S. 239. 102 So in der Sitzung vom 5. Februar 1925; siehe Verhandlungen des Reichstags, Bd. 384, Berlin 1925, S. 355D. 103 HEINRICH STRÖBEL: Die Niederlage des Jarresblocks, in: Das andere Deutschland, 4. 4. 1925. 104 Ebd. 105 Unsere Wahlkampfforderungen, in: Der Klassenkampf. Marxistische Blätter 2.1 (1928), S. 228–231, hier S. 228. 106 Das Heidelberger Programm (wie Anm. 77), S. 78. 107 Verhandlungen des Reichstags, Bd. 387, Berlin 1925, S. 3722B; siehe auch HEINRICH STRÖBEL: Geldsackrepublik oder Volksstaat?, in: Das andere Deutschland, 9. 5. 1925; DERS.: Das Programm der Regierung Brüning, in: Der Klassenkampf. Marxistische Blätter 4.2 (1930), S. 617–622.

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tung einer sozialeren Republik und damit letztlich des Sozialismus.108 Abgesehen von Pazifismus, Friedenspolitik und Wehrproblematik war die Steuerund Finanzpolitik von der Mitte der 20er Jahre an das Hauptbetätigungsfeld Ströbels.109 Hier hatte er auch seinen einzigen großen Auftritt im Reichstag, als er als erster Redner der SPD am 30. Juli 1925 zur zweiten Beratung des Gesetzentwurfes über die Vermögens- und Erbschaftssteuer Stellung nahm.110 Scharf kritisierte er die immer größere Entlastung der Vermögenden bei gleichzeitiger Belastung der Einkommensschwachen durch die Rechtsparteien, die im Verbund mit der „Steuerdrückbergerei“ der Besitzenden ihre mangelnde Vaterlandsliebe offenbarten.111 Im Vergleich mit England, das nicht nur ein sozial gerechteres Steuersystem habe, sondern wo auch eine bessere Steuermoral herrsche, forderte er – ganz im Einklang mit seiner im Weltkrieg entstandenen Utopie – eine radikale Umkehr in der Steuerpolitik und bediente sich dabei unter Zustimmung der eigenen Partei auch deutlich klassenkämpferischer Rhetorik.112 Seiner radikalen Position in der Steuerpolitik entsprechend, forderte Ströbel im Januar 1930 einen Bruch der großen Koalition, weil die Regierungsverantwortung eine Belastung für die SPD sei, solange sie eine unsoziale Steuerpolitik nicht verhindern könne.113 Aus dem gleichen Grund rief er die Parteiführung auf, den Tolerierungskurs gegenüber der Regierung Brüning aufzugeben.114 Obwohl diese Punkte die Grenzen von Ströbels Fähigkeit zum Kompromiss zeigen, war er doch grundsätzlich kompromissbereit. So bedauerte er es im Reichstag explizit, in der Steuerpolitik auch die Demokraten angreifen zu müssen, mit denen er gerne „Arm in Arm marschieren“ würde.115 Auch warb er im zweiten Wahlgang zur Reichspräsidentenwahl 1925 in der Wochenschrift 108 Siehe zum Beispiel HEINRICH STRÖBEL / FRITZ CRONER / EDUARD WECKERLE: Die Steuerdiktatur des Geldsacks. Sozialdemokratie und Finanzreform (2. Sonderheft von Der Klassenkampf. Marxistische Blätter), Berlin [1930]. 109 Siehe zum Beispiel HEINRICH STRÖBEL: Lehrreiche Zahlen, in: Das andere Deutschland, 27. 6. 1925; DERS.: Steuerhöhungen und Steuergeschenke, in: Der Klassenkampf. Marxistische Blätter 2.2 (1928), S. 676–678; DERS.: Kapitulation vor dem Besitz, in: ebd. 3.1 (1929), S. 227–230; DERS.: Was uns fehlt, in: ebd., 3.2 (1929), S. 687–690, S. 729– 733, und 4.1 (1930), S. 22–25; DERS.: Der Kampf um die Steuern, in: ebd., 3.2 (1929), S. 718–720; DERS.: Lohneinkommen, Volkseinkommen, Steuerverteilung, in: ebd. 4.1 (1930), S. 110–113; DERS.: Das Finanzprogramm der Reichsregierung, in: ebd. 4.1 (1930), S. 165–170. 110 Verhandlungen des Reichstags, Bd. 387, Berlin 1925, S. 3718D–3726D. 111 Ebd., S. 3719D u. S. 3722 D. 112 Ebd., S. 3726D; siehe auch Bd. 386, Berlin 1925, S. 3051D. 113 H. STRÖBEL: Finanzprogramm (wie Anm. 109), S. 169f. 114 DERS.: Das Programm der Regierung Brüning, in: Der Klassenkampf. Marxistische Blätter 4.2 (1930), S. 617–622; DERS.: Gegen die Finanz- und Wirtschaftskatastrophe, in: ebd. 5 (1931), S. 326–333. 115 Verhandlungen des Reichstags, Bd. 387, Berlin 1925, S. 3722D. Zu den rhetorischen Verständigungsgesten siehe THOMAS MERGEL: Parlamentarische Kultur in der Weimarer

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der Deutschen Friedensgesellschaft für den republikanischen Kandidaten Wilhelm Marx, um Hindenburg zu verhindern:116 „Will das deutsche Volk endlich in Ruhe und Vernunft seine öffentlichen Zustände und seine Wirtschaft ordnen, will es Raum schaffen für eine Politik des Friedens, so muß der letzte Wähler aufgeboten werden für WILHELM MARX!“117 Selbst gegenüber dem Reichsbanner, dessen paramilitärische Kultur ihm eigentlich hätte zuwider sein müssen, zeigte sich Ströbel verständigungsbereit und betonte dessen wichtige Funktion zum Schutz der Demokratie.118 Ströbels Bereitschaft zu Kompromissen endete jedoch bei Bündnissen der Republik mit den alten Eliten. Denn „jedes [sic] feige Kompromiß mit dem nationalen Egoismus und der Machtpolitik besiegelt und beschleunigt ihren Untergang!“119 Die Erfolge der Rechtsparteien und den mangelnden Zuspruch zur SPD führte Ströbel nicht auf die Demagogie der Anderen zurück, da er die Massen für vernünftig und demokratiefähig hielt.120 Die Menschen gingen vielmehr zu den Kommunisten und zur politischen Rechten, weil die SPD weder genügend Angriffsgeist gegen den Nationalismus noch genug klassenkämpferische Rhetorik zeige. Auch in der Wehrpolitik nahm Ströbel radikale Positionen ein, bei denen er nur wenig Abstriche zu machen bereit war.121 Nachdem sich die Parteilinke mit ihrem Wehrprogramm auf dem Magdeburger Parteitag nicht hatte durchsetzen können,122 hielt Ströbel sich nicht an die Partei- und Fraktionsdisziplin, sondern stimmte im Reichstag mit 8 weiteren Abgeordneten gegen die Mittelbewilligung für den Panzerkreuzer B und verließ im folgenden Konflikt die Partei. Der entscheidende Auslöser dürfte hier jedoch gewesen sein, dass die Partei die Publikationsorgane der Linksopposi-

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Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf 2002, S. 243–252. H. STRÖBEL: Niederlage (wie Amn. 103). DERS.: Raum für die Friedenspolitik, in: Das andere Deutschland, 25. 4. 1925, siehe auch DERS.: Nieder mit dem Hindenburg-Block, ebd., 18. 4. 1925. DERS.: Reichsbanner und Pazifismus, in: Das andere Deutschland, 24. 20. 1925. DERS.: Triumph (wie Amn. 100). Siehe SOZIALDEMOKRATISCHE PARTEI DEUTSCHLANDS: Sozialdemokratischer Parteitag 1924 [Berlin, 11.–14. 6. 1924], Berlin 1924, S. 104f; siehe auch Deutscher Sozialistentag (wie Anm. 88), S. 12: „Ich stehe auf dem Boden der Demokratie und glaube, daß die Vernunft bei den Massen liegt.” Siehe Ströbels Stellungnahme zum SPD-Wehrprogramm; Archiv der sozialen Demokratie, Nachlass Paul Levi, 1/PL AA000158. Sozialdemokratische Partei Deutschlands: Protokoll. Sozialdemokratischer Parteitag in Magdeburg 1929, vom 26. bis 31. Mai in der Stadthalle, Berlin 1929, S. 105–154; DRECHSLER: Arbeiterpartei (wie Anm. 94), S. 62, S. 84, S. 93; ULRICH HEINEMANN: Linksopposition und Spaltungstendenzen in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, in: WOLFGANG LUTHARDT (Hg.): Sozialdemokratische Arbeiterbewegung und Weimarer Republik. Materialien zur gesellschaftlichen Entwicklung 1927–1933, Bd. 2, Frankfurt/Main 1978, S. 118–138.

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tion verbieten wollte, was mit Ströbels journalistischer Utopie nicht zu vereinbaren war. Bei der pragmatisch-demokratischen und gewaltfreien Realisierung seiner „vernünftigen“ Politik scheiterte Ströbel also in der preußischen Übergangsregierung, der USPD, der SPD und schließlich in der SAPD. Neben der inhaltlichen Schwierigkeit, Politik zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten zu machen, könnte auch Ströbels mangelndes politisches Geschick eine Ursache für sein Scheitern gewesen sein, wie die Debatte über das Görlitzer Programm zeigt. Ströbel kritisierte hier vor allem, in der Kommission habe man sich nicht genügend Zeit für das Wirtschaftsprogramm genommen. Das Programm sei unfertig, weil es keine letzten Antworten gebe. Diese Kritik wiesen die Befürworter nicht nur damit zurück, dass das Programm die ihm zugedachte Funktion dennoch erfüllen könne, sondern sie kritisierten auch direkt Ströbels politische Haltung, seine Tätigkeit in der Kommission und seine fehlende Handlungskompetenz. So erwiderte der Chefredakteur des Vorwärts Friedrich Stampfer: „Ich bin dem Genossen Ströbel auch dafür dankbar, daß er dem Programm, insbesondere seinem wirtschaftlichen Teil, Ideenund Ratlosigkeit vorgeworfen hat; noch dankbarer wäre ich aber dem Genossen Ströbel gewesen, wenn er uns die Ideen gegeben hätte, die uns gefehlt haben, wenn er uns den Rat erteilt hätte, der uns gefehlt hat. (Lebhafte Zustimmung. Zuruf: In zwanzig Minuten?) Auch in zwanzig Minuten kann man Entscheidendes sagen oder wenigstens andeuten. Ich kann Ihnen aber verraten, daß der Genosse Ströbel in der Kommission viele Stunden gesprochen hat und daß wir an seinem Munde hingen, daß wir Rat und Ideen gesucht, die wir aber leider nicht gefunden haben. (Sehr richtig!).“123 Stampfer warnte davor, sich in einem „neuen Utopismus“ zu verlieren, und Adolf Braun überspitzte und ironisierte zur allgemeinen Erheiterung Ströbels Anspruch, letzte Lösungen für komplexe Wirtschaftsprobleme anzubieten.124 Schließlich fassten Eduard Bernstein und Eduard David die Kritik an Ströbels Person und seinen Politikvorstellungen zusammen, indem sie ihm Theorielastigkeit und Realitätsferne vorwarfen.125 Ströbel ging also, wie diese Kritiken oder die Reaktionen auf seine wenigen Redebeiträge im Reichstag belegen, bei der Verwirklichung seiner politischen Vorstellungen ungeschickt vor.126 In einem Artikel in der Weltbühne, in dem er einen fiktiven Versammlungsverlauf darstellte, könnte er sich in zwei Personen selbst porträtiert haben, auf deren bedächtige und ausgewogene Reden nur mit „eisigem Schweigen“ und „lebhaftem Zischen“ reagiert wird, während der nationalistische und der kommunistische Redner „tosenden Bei123 124 125 126

Protokoll (wie Anm. 91), S. 303. Ebd., S. 313. Ebd., S. 315 u. S. 318–320. Siehe vor allem Verhandlungen des Reichstags, Bd. 385, Berlin 1925, S. 2055B– 2057D.

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fall“ und „rasenden Applaus“ ernten.127 Weder die große Rede noch die Diskussion konkreter politischer Strategien waren also Ströbels Kommunikationsformen. Vielmehr lag ihm der journalistische Leitartikel, in dem er frei von unmittelbarem Widerspruch und dem Zwang zum Kompromiss die Welt erklären und für seine „vernünftige“ Politik werben konnte. VI. Fazit Wie viele Intellektuelle, die dem Ersten Weltkrieg mit hohen Erwartungen begegnet waren, glaubte auch Heinrich Ströbel an seinem Ende an den Eintritt in eine „neue Zeit“. Gerade auf der politischen Linken war diese Haltung weit verbreitet und prägte die räterepublikanischen Experimente 1918/19.128 Aufgrund der evolutionär-pragmatischen Politik der Regierung der Volksbeauftragten, ihres partiellen Bündnisses mit den alten Eliten und der blutigen Niederschlagung räterepublikanischer Versuche setzte auf der politischen Linken jedoch bald Ernüchterung ein. Kurt Tucholsky drückte wahrscheinlich die Empfindungen vieler aus, als er in Erinnerung an seine revolutionären Hoffnungen dichtete: „Wir dachten unter kaiserlichem Zwange an eine Republik – und nun ists die –! Man möchte immer eine große Lange, und dann bekommt man eine kleine Dicke – Ssälawih-!“129

Trotz der Versuche der Mehrheitssozialdemokratie, die Weimarer Republik mit der „neuen Zeit“ zu identifizieren,130 blieb diese durchgängig ein Erwartungsbegriff, an den sich utopische Hoffnungen knüpften.131 Die Republik wurde nicht nur von den Kommunisten, sondern bis weit in die SPD hinein als unvollkommenes Übergangsprodukt angesehen, das eines Tages in einer 127 Siehe STRÖBEL: Ja oder nein (wie Amn. 54). 128 Daraufhin deuten zum Beispiel die Titel der Zeitungen der Arbeiter- und Soldatenräte: Die Neue Zeit. Amtliches Organ des Arbeiter- und Soldatenrates Cuxhaven; Die Neue Zeit. Organ des Soldatenrates Kowno; Die Neue Zeit. Ein Blatt für Kämpfer. Organ des Soldatenrate Altengrabow; Die Neue Zeit. Volkstümliche, parteilose Wochenschrift für Freiheit und Recht; alle 1918/1919; siehe auch KURT EISNER: Die neue Zeit, München 1919, S. 5. 129 [Tucholsky, Kurt] Tiger, Theobald: Ideal und Wirklichkeit, in: Die Weltbühne 25.2 (5. 11. 1929), S. 710. 130 Siehe z. B. V ORSTAND DER SOZIALDEMOKRATISCHEN P ARTEI D EUTSCHLANDS: Wähler! Wählerinnen!, in: Vorwärts, Morgenausgabe, 1. 1. 1919; HEINZ ZIKLEN: Jahr, werde neu! [Gedicht], in: Vorwärts, Morgenausgabe, 1. 1. 1921. 131 Den allgemeinen Erwartungshorizont der Weimarer Republik behandelt meine Doktorarbeit „Die Zukunft der Weimarer Republik. ‚Krisenʻ und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918–1933”, die an der Humboldt-Universität zu Berlin entstanden ist.

Die Politik der reinen Vernunft

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sozialistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung überwunden werden würde.132 Der Zwiespalt und die intellektuellen und emotionalen Problemlagen, die das Missverhältnis von utopischer Erwartung und republikanischer Realität erzeugte, wurden hier am Beispiel von Heinrich Ströbel herausgearbeitet. Dieser stellte sich von Beginn an auf den Boden der Republik, stritt für demokratische Verfahren und wandte sich als radikaler Pazifist entschieden gegen alle Versuche der extremen Linken, auf gewalttätigem Weg die Ordnung zu verändern. Trotz seiner Invektiven gegen den Irrationalismus und Utopismus der Kommunisten hatte er jedoch selbst Schwierigkeiten, sich von der Utopie eines pazifistischen Sozialismus zu verabschieden, die er in Weimar nicht verwirklicht sah. Ströbel erscheint so als ein Vernunftrepublikaner von links, der zwar eine andere Ordnung präferierte, aber unter den Gefahren eines gewaltsamen Umsturzes von rechts oder links bereit war, sich auf den Boden der Republik zu stellen und sie aktiv zu verteidigen. Sein Vernunftrepublikanismus endete aber dort, wo sich die Republik zu deutlich auf ein Bündnis mit den alten Eliten und dem von ihm verhassten Militarismus hinzubewegen schien. Die Grenze von Ströbels Vernunftrepublikanismus resultierte daraus, dass er Vernunftrepublikaner auch in einem anderen Sinn des Wortes war: Ströbel war nicht nur Republikaner aus Vernunftgründen, sondern sah sich selbst sozusagen als Bewohner einer Republik der Vernunft. Genau diese Tendenz schränkte – auch angesichts der inhaltlich nur schwer zu füllenden Kategorie der Vernunft – Ströbels republikanische Aktivität und Handlungsmöglichkeiten ein. So beharrte er oft auf idealen Lösungen und lehnte ihre Verwässerung in tagespolitischen Kompromissen ab. In seiner politischen Tätigkeit ging er von der falschen Annahme aus, das System des Politischen funktioniere rational nach den Kategorien von Wahrheit und Falschheit, die allen unmittelbar einsichtig seien. Deshalb scheiterte Ströbel – anders als der von ihm erfundene Bruno Walter – letztlich bei der Realisierung seiner Utopie unter den realen Bedingungen der Weimarer Republik. An seiner Person zeigt sich so ein antiproportionales Verhältnis der beiden Formen des Vernunftrepublikanismus: Je größer der Glaube an eine Republik der Vernunft und die eigene Zugehörigkeit zu ihr, desto geringer die Bereitschaft, sich in vernünftiger Weise auf die konkrete Republik einzulassen.

132 Siehe auch SIEGFRIED WEICHLEIN: „Die alte Schönheit ist nicht mehr wahr und die neue Wahrheit ist noch nicht schön.“ Epochenwahrnehmungen und Zukunftsvorstellungen der republikanischen Kräfte in der Weimarer Republik, in: KARSTEN FISCHER (Hg.): Neustart des Weltlaufs. Fiktion und Faszination der Zeitenwende, Frankfurt/Main 1999, S. 139– 163, hier S. 150 u. S. 158.

„Wissen und Verändern!“ Alfred Döblin und die Suche nach einer Republik der Literatur Jürgen Eder Den „Literaten als Staatsbürger“ forderte Theodor Heuss 19161 – und seine prononcierte Vorstellung einer solchen Rolle brachte ihn in heftigen Konflikt mit seinem Amt als Vorsitzender des SDS (Schutzverband Deutscher Schriftsteller), da die Verbandskollegen in den 20er Jahren mit seiner Auffassung eines solchen Typus nichts anfangen wollten. Heuss musste retirieren – und Döblin war einer der heftigsten Kritiker in der ausgelösten Diskussion. Im Rahmen seiner bald darauf erfolgten Berufung in die Sektion für Dichtkunst bei der Preußischen Akademie der Künste legte er ein engagiertes und avanciertes Programm des Schriftstellers im republikanischen Staat vor, das den Vorstellungen Heuss kaum noch entsprach. Derselbe Autor freilich beglückwünschte den frisch gekürten Bundespräsidenten Heuss 1949 als ersten Schriftsteller, der in ein so hohes Staatsamt gekommen sei und sieht darin eine günstige Konstellation für die Zukunft des neuen Staates. Döblin vergleicht Heuss mit dem „unheilvollen Wirken“ des ersten Präsidenten einer deutschen Republik: „Fritz Ebert“.2 Hier zeigen sich nach der Erfahrung von Faschismus und Exil Wandel – die Akzeptanz eines Bürgerlichen als Repräsentant – und Kontinuität – die Verurteilung Eberts. Noch in der späten Romantetralogie November 1918 erscheinen die Sozialdemokraten und ihre Führer als verantwortlich für das Scheitern der Republik. Die Intellektuellen so wenig wie die halbherzigen Begründer des neuen Staates hätten gegen Ressentiments und falsche Traditionen genug getan, um ein richtiges Bündnis gegen die vielen falschen zu schließen. Döblin hat den Mythos der Gründung von Weimar, deren Symbole und Begriffe durchaus ernst genommen: als Anspruch auf das humanistische und weltbürgerliche Erbe Goethes und Humboldts. Es blieb „Wunschdenken“ (Gay).3 Doch Döblin erkannte in seinen literarhistorischen Studien und Essays, dass schon diese Klassiker persönlich wie literarisch das „deutsche Miserere“ durchlebt hatten, wie es sich für viele Intellektuelle der Weimarer Republik wiederholen sollte. Schillers historische Typologie reflek1 2 3

GANGOLF HÜBINGER/THOMAS HERTFELDER (Hg.): Kritik und Mandat. Intellektuelle in der deutschen Politik, Stuttgart 2000, S. 12. Brief vom 24. 9. 1949, in: ALFRED DÖBLIN: Briefe. Hg. von Heinz Graber, München 1988 (= Taschenbuchausgabe Olten 1970), S. 400. PETER GAY: Die Republik der Außenseiter. Geist und Kultur in der Weimarer Zeit 1918–1933, Frankfurt a. M. 1987, S. 17.

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tiert den Konflikt von Macht und Ethik im Fiesco wie im Don Carlos oder Wallenstein. Goethe, dessen Biografie ja die in Deutschland nahezu einzigartige Figur des Dichters an der Macht bietet, sieht seinen Egmont zerrieben zwischen politisch schöner Seele und dem Räderwerk der Macht. Im Tasso gestaltet Goethe in Tasso und Antonio Erfahrungen seiner Doppel-Rolle, und der Ausgleich am Ende hat doch etwas von erpresster Versöhnung. Antonio kritisiert den Typus des Utopisten in der Realität, der will, dass „in einem Augenblick soll entstehn, was Jahre lang bereitet werden sollte, in einem Augenblick gehoben sein, was Mühe kaum in Jahren lösen könnte“.4 Tassos Glaubensbekenntnis als Künstler fordert solche paradigmatische Position förmlich heraus: „Wer wird die Klugheit tadeln? Jeder Schritt des Lebens zeigt, wie sehr sie nötig sei; doch schöner ists, wenn uns die Seele sagt wo wir der feinen Vorsicht nicht bedürfen.“5 Utopie und Pragmatik, Ideal und Wirklichkeit, Macht und Geist – solche Antinomien gehören zur Grundausstattung des intellektuellen Diskurses in der Weimarer Republik, und Döblin hat sich ihrer teilweise auch bedient. Aber er hat eine ästhetisch argumentierende Politik immer wieder dazu aufgefordert, Utopieverzicht in bestimmter Situation nicht automatisch als Verrat und Kapitulation zu verstehen. Undogmatisch bis zum Vorwurf des Anarchismus oder der Gesinnungslosigkeit hat er versucht, einer Republik qua rationaler Analyse Subsidien zu verschaffen, die sie in seinen Augen um den Preis des Scheiterns dringend benötigte. Jene Freiheit eines Dichtermenschen zu bewahren, die er v. a. in der Spätzeit der Republik theoretisch in Wissen und Verändern! und literarisch im Berlin Alexanderplatz behandelte, schien ihm nicht a priori unvereinbar mit politischer Vernunft. Mein Beitrag will, immer mit Blick auf Döblin, zunächst dem Begriff „Vernunftrepublikanismus von links“ zumindest ansatzweise Kontur verleihen. Im Mittelpunkt steht dann der Versuch, Döblins Haltung zur Republik in einem Phasenmodell zu rekonstruieren. Schließlich soll noch ein Blick auf einige andere Autoren geworfen werden, die der hier konstruierten Vorstellung eines „Vernunftrepublikanismus von links“ entsprechen könnten. So weit der Begriff des Vernunftrepublikanismus in der Forschung aufgegriffen wird, bezeichnet er in der Regel Autoren oder Biographien, die sich einer Art rationaler Selbstüberwindung gegen mental andere Dispositionen und Traditionen unterziehen. Am bekanntesten ist sicher das Muster von den „Herzensmonarchisten“, die zu Befürwortern der Republik werden, weil sie so eher Überlebenschancen für bestimmte Werte und Haltungen bzw. die Notwendigkeit zur Integration in globale Prozesse der Modernisierung erkennen. Die Argumentation eines Theodor Eschenburg bezeichnet solche pragmatische Bejahung recht gut: „ Mein Verhältnis zur Republik und zur parlamentarischen 4 5

JOHANN WOLFGANG VON GOETHE: Torquato Tasso. Ein Schauspiel, in: DERS. Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 5. Dramatische Dichtungen III. Durchgesehene Ausgabe München 1988, S. 107 (II/3). Ebd., S. 106 (II/3).

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Regierungsform blieb im übrigen durchaus nüchtern. (...) Der Grund meines gewandelten Verhältnisses zu Staat und Politik war eigentlich der, dass es nun wieder eine Ordnung gab, die auch funktionierte. Man musste nicht alles billigen was geschah, aber immerhin wurde regiert.“6 Man kann den in Kontrast zum „Herzensmonarchist“ gestellten Begriff aber auch wieder „freigeben“, sowohl in Hinsicht auf seine politische Dimension wie den zugrundeliegenden Vernunft-Begriff. Nicht nur in den Debatten der Sektion für Dichtkunst, in die gerade Döblin vehement eingriff, sondern als roter Faden intellektueller Diskurse in der Weimarer Republik präsent ist die Polarität von „Ratio“ und „Irratio“. Der Triumph einer sich beschleunigenden Moderne, die sich ja nicht auf die Künste beschränkte, sondern den Kultur-Begriff auch für den Alltag revolutionierte, erschien den Apologeten wie Kontrahenten unter der Signatur der „Vernunft“. Der Geist als Widersacher der Seele (Klages) oder auch der Mythus des 20. Jahrhunderts (Rosenberg) sind Ausdruck einer solchen Frontstellung. Das Verständnis der „Vernunft“ ist eine extrem kontroverse Sache in diesen Jahren zwischen „Hunger nach Ganzheit“7 und „Wissen und Verändern“, an der Schnittstelle eines politischen wie kulturellen Modernisierungsschubs. Kritische Reflexion des Begriffs gibt es nicht nur auf der Rechten, sondern auch von links: man denke an Bloch oder Brechts Tui-Polemik, die ja in den 20er Jahren begonnen wird. Habermas hat in seinem Essay über die Rolle des deutschen Intellektuellen nach Heine darauf hingewiesen, dass diesem nach der fortgesetzten „Entzauberung“ der Genealogie von Staats- und Rechtsschöpfung und der Einführung von verfassungsmäßigen, parlamentarischen Strukturen und Organisationen eine neue Rolle zukam.8 Gerade die Literatur, die im Prozess eines „Strukturwandels der Öffentlichkeit“ schon Erfahrungen gesammelt hatte, konnte dabei eine exponierte Rolle beanspruchen – und sie tat es auch, ob nun selbständig oder zugeschrieben. In diesem Prozess war die Urbanisierung ein wesentlicher Schrittmacher, denn sie förderte eine Pluralisierung verfügbarer Kulturmuster, in die intellektuell Strukturen zu bringen waren. Alfred Döblins Biografie jener Jahre ist nahezu idealtypisch dafür: im Berliner Osten wirkte er als Kassenarzt im proletarischen Milieu, und in der linksbürgerlichen Publizistik galt er fast schon als Medienguru. Pluralität schloss dabei punktuelle Parteinahme nicht aus, Döblins Publizistik der 20er Jahre demonstriert dies nachdrücklich. Sie geißelt einerseits die „real existierende Republik“, gelegentlich beinahe sadistisch, um dann wieder darauf hinzuweisen, dass man mit diesen Strukturen und Institutionen zu arbeiten habe, die Alternative nur Restauration oder Diktatur sein könnte. 6 7 8

THEODOR ESCHENBURG: Also hören Sie mal zu. Geschichte und Geschichten 1904–1933, Berlin 2001, S. 134. So der Titel des 4. Kapitels bei Gay: Der Hunger nach Ganzheit: Die Erprobung der Moderne, in: P. GAY, Republik (wie Anm.3), S. 99ff. JÜRGEN HABERMAS: Heinrich Heine und die Rolle des Intellektuellen in Deutschland, in: DERS.: Zeitdiagnosen. Zwölf Essays, Frankfurt a. M. 2003, S. 51.

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Der Appell an solche Vernunft, gegen den Rückzug in ideologische patterns oder ästhetizistische Gefühls-Politik lässt Döblin als einen Vernunftrepublikaner erkennen, der sich permanent eigenen Versuchungen zur Regression in die „Eindeutigkeit“ und Radikalrhetorik widersetzt. Döblin gehört damit zu jenen Intellektuellen, für die Sontheimer gefordert hatte, nicht jede „gegen den Weimarer Staat gerichtete Polemik“ gleich als antidemokratisch zu klassifizieren, sondern häufig als Wunsch, „das Weimarer System um einer besseren Demokratie willen zu überwinden“ zu interpretieren.9 Horkheimer hatte in der ersten Nummer der Zeitschrift für Sozialforschung solche Muster der Denunziation zurückgewiesen: „Zur Verschleierung der gegenwärtigen Krise gehört es, gerade diejenigen Kräfte für sie verantwortlich zu machen, die auf eine bessere Gestaltung der menschlichen Verhältnisse hintreiben, vor allem das rationale, wissenschaftliche Denken selbst.“10 Der „Raum des Möglichen“, nach Bourdieu die entscheidende Größe für das literarische Feld, hatte sich mit der neuen Staatsverfassung erweitert, die relative Autonomie gesteigert in einem kulturellen System, in dem „die Auseinandersetzungen zwischen Inhabern unterschiedlicher Machttitel (...) ausgetragen werden, bei denen es wie in den symbolischen Kämpfen zwischen Künstlern und ‚Bourgeoisʻ im 19. Jahrhundert, um die Veränderung oder Bewahrung des relativen Wertes der unterschiedlichen Kapitalsorten geht (...)“.11 Genau so wie die beunruhigenden Phänomene einer Moderne der „Vernunft“ zur Last gelegt wurden, sah man sie als Projekt einer „linken“ und „sozialistischen“ Bewegung, die allemal als undeutsch galt. Das Spektrum dessen, was in der Weimarer Republik links heißen konnte und wollte, ist schillernd und hier so schwierig zu fixieren wie das, was die „Vernunft“ am jeweiligen Republikverhältnis ausmacht. Es kann wieder nur um Näherungswerte gehen. Ich wähle den Begriff als eine relationale Größe, sie bedeutet im Umkreis von Döblin eine weit gefasste sozialistische Grundlage, in der das Ökonomische einen mehr oder weniger bedeutenden Anteil hatte, aber nie zum Schlüssel der Theorie wurde. Döblin hat zwar weitaus mehr die Bedeutung des Wirtschaftlichen anerkannt, als etwa Heinrich Mann oder auch Tucholsky – aber auch für ihn ist es nicht der archimedische Punkt, von dem aus die Geschichte und Gegenwart widerspruchsfrei zu erklären wäre. Vielmehr vertritt er einen Materialismus, der v. a. seit Mitte der 20er Jahre immer deutlicher 9

KURT SONTHEIMER: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 1978, S. 16. 10 MAX HORKHEIMER: Bemerkungen über Wissenschaft und Krise (1932), in: DERS.: Gesammelte Schriften 1931–1936. Hg. von Alfred Schmidt, Frankfurt a. M. 1988, S. 41. 11 PIERRE BOURDIEU: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a. M. 2001, S. 342. Bourdieu hat dabei vom „Feld des Möglichen“ gesprochen, das für eben diese Schwellensituation auch für Intellektuelle und Künstler fruchtbar zu machen wäre. Ebd., S. 371ff.

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naturphilosophische Züge trägt. Döblin unternimmt in Wissen und Verändern! einen umstrittenen Versuch, eine Unterscheidung von Sozialismus als menschheitlicher Grundidee und Notwendigkeit einerseits – und Klassenkampf als deren Reduktion und Fehlentwicklung andererseits vorzunehmen. Darauf werde ich noch zurückkommen. Parteipolitisch bieten sich drei Felder: SPD, USPD und KPD. Die weitgehende Ablehnung der SPD bei den Intellektuellen ist bekannt, auch bei denjenigen Linksintellektuellen, für die eine bürgerliche Republik durchaus Option war. Die Verdikte waren sich ähnlich: zu viele und falsche Kompromisse mit den alten Mächten, Organisationsfetischismus, Geistfeindlichkeit, Saturiertheit usw. Döblin verfolgte interessiert und aufmerksam die Revisionismus-Debatte innerhalb der SPD, sympathisierte mit Bernstein, Kautsky und Hilferding.12 Er findet sich als Unterzeichner einiger Aufrufe an der Seite von Radbruch, Löbe oder Sinzheimer.13 Insgesamt jedoch wird aus seiner Sicht die Partei dominiert von Politikern des Typus „Ebert“. Die KPD ist nach dem Verlust der auratischen Gründungsfiguren Liebknecht und Luxemburg sowie der zunehmenden Sowjetisierung, von wenigen Ausnahmen abgesehen, intellektuell isoliert. Das Klima wird von bürgerlichen „Abtrünnigen“ wie Becher oder Lukács bestimmt, die bedingungslose Einordnung in die proletarische Gemeinschaft auch im Ästhetischen fordern. Döblins heftige Auseinandersetzung mit dem kulturpolitischen Zentralorgan der Partei, der „Linkskurve“, zeigt die unüberbrückbaren Differenzen an. Diejenige Linkspartei, die einen wirklich „nennenswerten Flügel von Intellektuellen“ hatte, war die USPD.14 Nach deren Auflösung und Aufgehen in MSPD und KPD versuchten sich parteipolitisch heimatlos gewordene Intellektuelle in Splitterparteien wie der von Ossietzky ins Leben gerufenen Republikanischen Partei.15 Döblin selbst war zunächst Mitglied der USPD wie Tucholsky, trat dann mit deren gemäßigterem Teil zur SPD über, die er aber wieder verließ. Die USPD vertrat in der Gründungsphase der Republik Positionen, die Döblin über diese hinaus hielt: Sozialisierung und Rätesystem. Wir wissen aus den Mitglieder- und Wählerzahlen jener Jahre, dass es sich dabei durchaus um eine Partei mit Massenbasis handelte und so die Hoffnung nährte, dass die Intellektuellen nicht nur esoterisch Beiträge zu einer sozialistischen Republik entwickelten. Die Linksintellektuellen hatten, das galt auch für Döblin, eine mehrfache Hypothek zu tragen: die gescheiterte Münchner Räterepublik, in der ja zeitweise Autoren eine exponierte Rolle gespielt hatten – und den wachsenden Verlust linker Potentiale außerhalb der 12 Vgl. KLAUS SCHRÖTER: Alfred Döblin in Selbstzeugnissen und Dokumenten (Rowohlts Monographien), Reinbek b. Hamburg 1988, S. 84. 13 Vgl. etwa die Unterschriftenliste zum Aufruf „Für die Freiheit der Kunst“. Abgedruckt in: Lesebuch Weimarer Republik. Deutsche Schriftsteller und ihr Staat von 1918 bis 1933. Hg. von STEPHAN REINHARDT, Berlin 1982, S. 132. 14 HORST MÖLLER: Weimar. Die unvollendete Demokratie. München2 1987, S. 106. 15 Vgl. dazu Lesebuch Weimarer Republik (wie Anm. 13), S. 106ff.

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KPD sowie den permanenten Widerspruch zwischen eigener sozialer Basis und Theorie. „Links“ bedeutet für Alfred Döblin in den Jahren zwischen 1918 und 1933 Wechselndes: von eher dogmatischen und materialistischen Ansätzen in der Revolutionsphase bis zu freieren und experimentellen Definitionsversuchen gegen Ende der 20er Jahre, die sich viel mehr aus der praktischen Tätigkeit in der Kulturpolitik herschreiben denn aus einer Theorie. Was bei ihm wie bei keinem anderen Linksintellektuellen fehlt, ist das Element eines geistigen Aristokratismus, der natürlich das Verständnis und die Akzeptanz für eine Demokratie der Fachleute und Beamten nicht unbedingt förderte. Die Sympathie für die Rätebewegung ist Ausdruck dieser Haltung. Jedenfalls ist Döblins Verständnis von „links“ flexibel genug, Kompromisse mit dem durchaus kritisierten Staat von Weimar zu akzeptieren.. Wie so viele Autoren erlebte Alfred Döblin seine Politisierung erst durch den Ersten Weltkrieg. Die Wende vom anarchistischen und unpolitischen Schriftsteller im Umkreis von Waldens „Sturm“ zum „humanistisch geprägten (...) Sozialismus“16 ist bereits literarisch antizipiert in dem Roman Die drei Sprünge des Wang Lun (1915), in dem Objektivität und Sachlichkeit gefordert werden und konsequent auch erzähltechnisch umgesetzt werden. Das Thema des politischen Aufstands in Verbindung mit dieser ästhetischen Wende darf als Prolog zum Engagement in der Republik verstanden werden. Und auch der seit Herbst 1916 entstehende Wallenstein-Roman sucht die Analogie von Geschichte und Gegenwart ganz bewusst: „Mein Wallenstein entstand völlig aus der Realität“17. In dieser Kriegsphase ist der Künstler schon weiter als der Zeitkritiker, nicht zuletzt gefordert durch die formalen Aufgaben des gesetzten Projektes: Revolution und Krieg literarisch umzusetzen. Die Erfahrung der Kriegswirklichkeit, selbst da wo sie nicht direkt an der Front gemacht wird, verbunden mit der Konfrontation in der Judenfrage, führt zu einer langsamen aber stetigen, sich zuerst radikalisierenden, dann objektiveren Politisierung Döblins. Es wäre eine reizvolle Frage, inwiefern sein Selbstverständnis als Jude für die Haltung zur Weimarer Republik mitbestimmend war – es ist hier nicht der Raum, dem nachzugehen. Ebenso wenig wie der Bedeutung seiner medizinischen Ausbildung für die Konzeption eines „Vernunft“-Begriffs. Döblins Haltung als kritischer aber durchaus „vernunftrepublikanischer“ Autor soll im Folgenden in fünf Entwicklungsphasen dargestellt werden, die jeweils durch ausgewählte Texte anschaulich gemacht werden.

16 K. SCHRÖTER, Döblin (wie Anm. 13), S. 54. 17 Zit. ebd., S. 73.

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I. Erste Phase: Krieg und Kriegsende Alfred Döblin war Kriegsfreiwilliger – das zeigt, dass ein längerer Weg zurückzulegen war zum Republikaner von links. Die Briefe an Herwarth Walden in dieser Zeit offenbaren einen Beobachter, dem die wachsende „Langeweile“ der „ewigen Schlachten“18 zu schaffen macht – erst seit 1916 finden sich dezidiert politische Stellungnahmen, eines nach wie vor „Unpolitischen“,19 wie Döblin betont. Er verwirft schon jetzt den intellektuellen Rhetorik-Radikalismus eines Hiller; freilich ist seine Opposition gegen „Börsianer, Sozialdemokraten, Agrarier, Litteraten“ diffus und stimmt auch in der Ablehnung eines „französischen Advokaten-Journalistenregimes“20 mit Thomas Manns parallel entstehenden Betrachtungen eines Unpolitischen überein. Noch im Januar 1917 will er England und Frankreich durch „Furcht“ zu einem Sonderfrieden zwingen,21 synchron aber formuliert er schon den Gegensatz, um den es künftig gehen wird: „ich spucke auf ein Kohlenbergwerk, wenn man es mit 100000 Leichen und ebenso vielen Werten zu bezahlen hat“.22 Die politische Form, die Deutschland jetzt brauche, sei der Parlamentarismus – so an Walden: „Meine Stimme kannst Du für den Parlamentarismus gleich mit abgeben, ich pfeife auf Nietzsche.“23 Wie eng hier dennoch Ästhetik, also „Litteratur“, und Politik zusammen gesehen werden, macht auch Döblins Interpretation der Russischen Revolution deutlich: für ihn ist sie ein Resultat der Russischen Literatur. Auch die Parameter im Essay Es ist Zeit von 1917 muten seltsam anachronistisch an, erneut merkwürdig analog zu Thomas Mann: von einer „Volksgemeinschaft“ wie 1807 ist die Rede, von deren „Drang und Not“.24 Das Proletariat sieht er jenseits dieser imaginären Gemeinschaft und kritisiert dessen „höhnendes ausschließendes Beieinander“.25 Bereits hier zeichnet sich Widerwille gegen Massenorganisationen ab, die trotz aller publizistischen correctness nie ganz verloren gehen wird. Was die westlichen Demokratien zu bieten hätten, so am Ende des Krieges in Drei Demokratien, sei ein „Abgrund von Bosheit und Verlogenheit“, „Talar und Moral“ sei Mode geworden.26 Wieder ist der Rekurs alles andere als „links“: die Wahl eines Kaisers durch die Frankfurter Nationalversammlung 1848 ist nun das Vorbild – und der ganze Essay ist durchsetzt mit Wendungen rechter antidemokratischer Polemik, wie 18 19 20 21 22 23 24

So im Brief vom 20. 11. 1915, in: A. DÖBLIN, Briefe (wie Anm. 2), S. 79. Brief vom 10. 7. 1916, in: ebd., S. 87 . Ebd. Brief vom 12. 1. 1917, in: ebd., S. 98. Ebd., S. 97. Brief vom 17. 7. 1917, in: ebd., S. 99. In: ALFRED DÖBLIN: Schriften zur Politik und Gesellschaft, Olten 1972 (= Ausgewählte Werke in Einzelbänden in Verbindung mit den Söhnen des Dichters. Hg. von Walter Muschg†. Weitergeführt von Heinz Graber), S. 30. 25 Ebd., S. 29. 26 Ebd., S. 35.

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sie in den 20er Jahren praktiziert wird: „das triumphierende Gesicht der Welschen“, „das Gejauchz der Senegalneger“, die nun aufkommenden Politiker sieht er als „slowakische Jungen im Dreck“.27 Eine Konkordanz der Begriffe und Argumente würde eine überraschende Nähe zu Spengler oder dem Thomas Mann der Tagebücher am Ende des Krieges ergeben – kaum einen Linksrepublikaner, eigentlich noch gar keinen Republikaner. II. Zweite Phase: Revolution Walter Muschgs Urteil, Döblin habe seine politischen Überzeugungen nach 1918 nicht mehr geändert, scheint schon angesichts des Bisherigen äußerst fraglich. Aber man wird sehen, dass dies auch für den Döblin in den späteren Phasen der Weimarer Republik nicht gilt. Selbst für die Revolutionszeit, 1918/19, ist das Bild so einheitlich nicht. Döblin bekennt als seine Farben „blutrot bis ultraviolett“28 und kritisiert als „Linke Poot“ den Stillstand der Veränderungen, benennt Schuldige in großer Zahl. Nicht zuletzt dieser etwas wahllose Radikalismus, noch weitgehend ohne konstruktive Alternativen, verliebt in die satirische und wortmächtige Negation führt zum vorläufigen Bruch mit der „Neuen Rundschau“, die man wohl als eine Plattform des republikanischen Diskurses aller Schattierungen bezeichnen kann. Es entsteht jetzt ein Jargon, der wie ästhetische Reaktion auf enttäuschte utopische Hoffnungen wirkt – und es konnte eigentlich nur eine Frage der Zeit sein, bis diese Rhetorik leer lief. Liest man die Essays und Artikel zwischen 1919 und 1921 als einen Abschluss dieser Phase, so haben alle diese Texte neben der verbalradikalen linken Position auch gegenläufige, jedenfalls durchaus inkongruente Komponenten, die verschiedene bzw. wechselnde Lesarten förmlich initiieren. Fast schon im Casinoton berichtet er in Revolutionstage im Elsaß von eigenen Erfahrungen mit seinem „Burschen“, der ihm Geld stiehlt: „So feiert man die Revolution“.29 In Berlin angekommen beobachtet er einen sozialdemokratischen Umzug und sieht nichts als „eine kleine Vereinsangelegenheit“, eine „geordnete kleinbürgerliche Veranstaltung“.30 Döblin plädiert für ein Rätesystem, aber er sympathisiert immer noch mit anarchistischen und syndikalistischen Ideen. Bei der Durchsicht der Parteien von Weimar kann da natürlich kaum eine bestehen: die Liberalen mit ihrem „Kleinkram“ und dem „Philistertum“, die Konservativen mit der „Schamlosigkeit der Besitzenden“ als „Parasiten von Gnaden der Geburt“ – und die Selbsterkenntnis, dass jede Eingliederung in das Proletariat bloße Mimikry bleiben würde. Deshalb die nur halb witzige Selbstkritik: „ich schwimme als heilloser Prinzipienreiter in 27 28 29 30

Ebd., S. 38. Brief vom 23. 12. 1918, an Efraim Frisch, in: A. DÖBLIN, Briefe (wie Anm. 2), S. 105. A. DÖBLIN, Politik und Gesellschaft (wie Anm. 24), S. 63. Ebd., S. 71.

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der Luft“.31 Solch ironische Distanz schon in dieser Phase gegenüber der eigenen Radikalität scheint mir bereits eine wichtige Voraussetzung für den Pakt mit der Republik, wie sie nun einmal ist, man mag sie lächerlich und ungenügend finden wie man will. „Realität“ ist ein schier leitmotivisch gebrauchtes Wort schon hier. Döblins Kritik an der vermeintlichen Fehlentwicklung der Weimarer Parteien ist gepaart mit einer Warnung vor den Folgen: „Der Bolschewismus wächst nicht auf Hunger und Arbeitslosigkeit, sondern – auf einem obstinaten kurzsichtigen selbstsüchtigen Bürgertum“.32 Immer häufiger wird evident, dass Döblin die Grenzen seiner Herkunft nicht leugnen kann und will. Oft spricht er jetzt direkt zum deutschen Bürgertum, freilich ohne zu verkennen, dass die Arbeiterschaft und die Entente den Deutschen die Demokratie gebracht hätten. Die soziale Analyse der Lage in Deutschland lasse ihn erkennen, dass das Proletariat und der größte Teil des Bürgertums zusammengehöre. Von letzterem verlangte er, daraus endlich Konsequenzen zu ziehen. Man solle sich das Geschenk von „Republik, Demokratie, Zivilismus“ bewusst machen und sich befreien vom „Terrorismus“ der alten Idole. Das mündet 1920 in dem Essay Republik in eine Art „Appell an die Vernunft“, wie ihn Thomas Mann 1930 wesentlich spektakulärer formulierte: „Freunde der Republik und Freiheit! Herüber nach links. An die Seite der Arbeiterschaft“.33 Im Zeichen politischer Vernunft wird ein Bündnis vorgeschlagen, das sich nur einer Gefahr bewusst zu sein hat: der Parteienwirtschaft. Nach wie vor durchzieht alle Texte dieser Phase eine aggressive Parteienschelte, die kaum Einsicht in die funktionale Bedeutung von Parteien innerhalb einer Demokratie erkennen lässt. Wieder fühlt man sich gelegentlich an das Arsenal der Schmährhetorik von rechts erinnert, wenn Döblin von den „sogenannten Parteien“ spricht, vom „Nessushemd der Freiheit“, die Parteibildungen bedeuten u. Ä. m.34 Zugleich beobachtet er genau und scharf eine „verschämte Republik“, die immer nur verborgen und ohne Selbstwertgefühl auftritt. Er vermisst öffentliche Feiern für die Republik und sieht in den wenigen Ausnahmen nicht viel mehr als biedere Abwicklung, der jede Idee und jede Leidenschaft abgehe. So berichtet Döblin 1921 satirisch über eine Republik-Feier im Königlichen Opernhaus von Berlin: „Die Versammlung beobachtete ich während des Vorgangs im Saal sehr genau. Sie hatten aus Zeitungen und Akten Kenntnis davon, dass seit zweieinhalb Jahren es hierzulande Republik gäbe, und waren spornstreichs auf die Einladung hergelaufen, um sie kennenzulernen. (...) Der eine sah nach einem Bureau aus, der andere sah nach einem Bureau aus, der dritte sah nach einem Bureau aus, der vierte sah nach einem Bureau aus. (...)

31 32 33 34

ALFRED DÖBLIN: Die Vertreibung der Gespenster, in: ebd., S. 71f. ALFRED DÖBLIN: Neue Zeitschriften, in: ebd., S. 95. Ebd., S. 126. Ebd., S. 120.

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Jürgen Eder Als der Reichspräsident eintrat, stand niemand auf. Naturgemäß. Denn die Republik, die er vertritt und feiern wollte, ist seine Sache.“35

Indem er Ebert als Symbol nimmt und die Fatalität solcher Verweigerung rational erkennt, überwindet Döblin für einmal sogar die habituelle Verspottung des Sozialdemokraten. Die Anlässe für solche Plädoyers häufen sich: beim Attentat auf Fehrenbach, der Ermordung Erzbergers. Im Artikel anlässlich des letzteren liest man am Ende, mit dem Pathos der Vernunft gewissermaßen versehen: „Mit uns, Bürgern und Arbeitern, wird die Gefahr und der Sieg sein“.36 Spätestens 1921 also beendet Döblin sein Gedankenexperiment Räterepublik zugunsten des bedrohten neuen Staates – was aber nicht bedeutet, dass er jederzeit und vorbehaltlos für diese Republik einsteht. III. Dritte Phase: Rückzug aus der Tagespolitik 1921wechselt Alfred Döblin vom Mitglied der USPD zu dem der SPD. Döblin hat diese Zeit später als Desillusionierung eines Gefühlssozialisten bezeichnet – aber wir haben gesehen, dass dieser Weg Vorstufen hatte und von einer „erkenntnisfeindlichen Verinnerlichung“ nicht die Rede sein kann.37 Sein verstärktes Interesse an der Naturphilosophie würde ich nicht ausschließlich als Analogon zu Goethes Weg in die Naturbeobachtung sehen, mit der dieser die Beunruhigung durch die Französische Revolution zu bewältigen suchte. Döblin versteht Natur nicht als asozialen Raum und kommt lediglich wieder stärker auf Interessen zurück, die ihn schon lange beschäftigen. Von der „Continuität der Klarheit und Skepsis“ spricht er in einem Brief an Fritz Mauthner im Sommer 1922, die es zu erhalten gelte38 – man kann diesen Imperativ auch in politicis finden. Das Lob für den zurückgetretenen Reichskanzler Wirth liest sich 1923 wie das Programm eines Vernunftrepublikaners, der durch Einsicht auch die Leistung und Notwendigkeit des politischen Gegners anerkennt: „Ein trefflicher würdiger Mann, Republikaner, Mathematiker, der katholischen Zentrumspartei angehörend, aber Arbeiterfreund“.39 Und nach wie vor fordert er die deutschen Intellektuellen auf, sich in die Politik einzubringen: „Ja und durchaus ja“ heißt es dazu in dem programmatischen Essay aus dem Jahr 1924, Schriftsteller und Politik. Man dürfe dieses Feld nicht einem „Haufen Professionals“ überlassen, womit natürlich in erster Linie wieder Parteipolitiker gemeint sind.40 Tatsache ist freilich, dass Döblin sich nicht mehr in dem Maße 35 36 37 38 39

ALFRED DÖBLIN: Das Nessushemd, in: ebd., S. 194. Ebd., S. 198. So das Urteil von K. SCHRÖTER, Döblin (wie Anm. 12) S. 83. Brief vom 5. 7. 1922, in: A. DÖBLIN, Briefe (wie Anm. 2), S. 121. Blick auf die Ruhraffaire, in: A. DÖBLIN, Politik und Gesellschaft (wie Anm. 24), S. 222. 40 In: ebd., S. 234.

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publizistisch engagiert, rein quantitativ, wie dies zuvor geschehen ist. Seine literarischen Arbeiten, Berge, Meere und Giganten, Manas und später Berlin Alexanderplatz, überwiegen in dieser Phase – man könnte sie auch als eine Art „relativer Stabilisierung“ sehen und der Überleitung zu einer anderen Form des Engagements für die Republik. IV. Vierte Phase: Kulturpolitik statt Revolutionspolitik 1928 verlässt Alfred Döblin die SPD wieder – was keineswegs als Indiz für eine neue Radikalisierung zu sehen ist, sondern eine Restauration seiner Enttäuschungen über die intellektuellen Qualitäten der Partei. Das schließt Achtung und teilweise auch Bewunderung für Einzelne wie den preußischen Kultusminister Becker nicht aus.41 Es setzt nun die Phase eines stark kulturpolitisch und auch berufsständisch ausgerichteten Engagements ein, etwa im SDS oder in der Sektion für Dichtkunst. Außerdem beteiligt Döblin sich an lockeren Verbindungen wie der „Gruppe 1925“, in der überwiegend Linksintellektuelle ästhetische und politische Fragen erörterten. Kritische Loyalität bezeichnet jetzt Döblins Verhältnis zur Republik, aber auch der wieder verstärkte Rekurs auf den Einzelnen, etwa den Schriftsteller, und seine Rechte gegenüber dem Staat. Döblins Engagement dafür – und zwar unabhängig von der politischen Couleur der Betroffenen – provoziert Ärger links wie rechts. Eine symbolische Rückkehr ist die Versöhnung mit Samuel Fischer und dessen Verlag, wo er „allerlei geistige Spannungen unterdrückend, zwischen anderen blieb, die ich schwer ertrage“, so in einem Brief 1926.42 Fischer-Autoren waren es auch, die den demokratischen Teil der Sektion für Dichtkunst dominierten, insofern ist dieses erneuerte Bündnis nur konsequent. Döblins Ziele und Aktivitäten in dieser Institution, die ihn ja nicht so ohne weiteres haben wollte, sind definitiv nur denkbar unter Anerkennung der staatlichen Souveränität und Integrität. Manche Tradition wird radikal in Frage gestellt, aber nicht das politische System. Döblin verstand die Arbeit der Sektion in gewissem Sinne durchaus als „systemstabilisierend“ und entwickelte eine Menge Vorschläge in dieser Richtung. Seine „Wünschbarkeiten“ die Rolle und das Selbstverständnis die „Akademie“ betreffend, hat er oft geäußert, sehr früh und ausgiebig schon im Dezember 1927 in einem Brief an Emil Faktor und Herbert Ihering. Man müsse ein neues Verständnis von „Dichter“ schaffen in einer demokratischen Gesellschaft, „ganz unpathetisch, un-schillerisch, unhölderlinisch“ – „es ist nichts mit der philiströsen Auffassung, der ‚Kunst‘ der Bählämmer“.43 Kunst ist für Döblin eine zwar andere, aber doch Ebene desselben Geistes wie Wirtschaft und Politik. Dabei geht es ihm auch um eine 41 Vgl. zu Carl Heinrich Becker den Beitrag von Béatrice Bonniot in diesem Band. 42 Brief vom 20. 10. 1926, in: A. DÖBLIN, Briefe (wie Anm. 2), S. 129. 43 Brief vom Dezember 1927, keine genauere Datierung, in: ebd., S. 133f.

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Institution, die verhindert, dass die Dichtung nur noch am Ökonomischen gemessen wird: „Die geistige Zentrierung und intensive Diskussion scheint mir heute am wichtigsten; enorm wichtig ist, dass die Geistigen gegen die Sintflut und Frechheit der Oekonomie sich irgendwo, an sehr sichtbarem Ort, massieren.“44 Dies müsse durch verschiedene Ansätze realisiert werden – Döblin schlug z. B. vor, den Weg in die Universitäten zu suchen, die nicht gerade Hochburgen der republikanischen Gesinnung waren, sieht man von Ausnahmen wie Frankfurt ab. Aus einem eigenen Versuch solcher Art ging dann auch Wissen und Verändern! hervor, ausgelöst durch den Studenten Gustav Rene Hocke, den er im Seminar von Petersen kennen gelernt hatte. Döblin hat die Rolle des Staates pointiert fixiert: er sei lediglich „Ausgleichsregulator“ zwischen verschiedenen Kräften und keineswegs durch eine führende politische Leitidee legitimiert. In seiner Kritik an einem Urteil des Leipziger Reichsgerichts formuliert er ein stark formales Verständnis der Grundlage: „Vielmehr ist dem demokratischen Staat, der freiheitlichsten Form, charakteristisch Indifferenz und Toleranz gegen alle Ideen und Gesinnungen. Sogar die Idee der Diktatur wird sich hier äußern dürfen, die Verneinung der demokratischen Form selbst.“45 Im Gegenzug forderte er die Kunst auf, sich nicht als Ort über der Wirklichkeit zu konstituieren, sondern als ars militans, die Freiheiten nicht einfach annimmt, sondern permanent zu erkämpfen hat – deshalb sind Verbotsversuche gewissermaßen „legitime“ Mittel des Staates, seine Interessen durchzusetzen. Insofern war das Verbot von Döblins Drama Die Ehe in Bayern, wegen angeblicher „kommunistischer Tendenzen“, für ihn eine logische Konsequenz. Diesen Punkt abschließen soll ein kurzer Blick auf das Buch, das Döblin bis heute berühmt macht, im Gegensatz leider zu fast allen anderen Texten: Berlin Alexanderplatz. Auch wenn der Herausgeber Walter Muschg davon spricht, dass es sich bei den politischen Anspielungen im Roman nur um „Farbflecken im Zeitgemälde“ handele,46 scheint mir dieser kurze Seitenblick durchaus lohnend. Die Geschichte Franz Biberkopfs wird von Döblin als Gleichnis erzählt – ein Lebensplan erhält nach verschiedenen falschen Anläufen doch noch seinen „Sinn“. Liest man den Roman als politische Bilanz, so ergeben sich reizvolle Parallelen zu Döblins Entwicklung seit dem Krieg. Biberkopfs Irrlauf durch Berlin ist auch einer durch die politischen Wirren der Zeit. Im Kapitel „Verteidigungskrieg gegen die bürgerliche Gesellschaft“ gerät Franz in die Kontroversen zwischen Sozialisten, Kommunisten und Anarchisten, wo die Verachtung für die Parteien im Reichstag so ausgeprägt ist wie bei Döblin, v. a. 44 Ebd., S. 135. 45 ALFRED DÖBLIN: Das Recht der freien Meinungsäußerung, in: DERS., Politik und Gesellschaft (wie Anm. 24), S. 238. 46 So im Nachwort des Herausgebers in ALFRED DÖBLIN, Berlin Alexanderplatz, München 241980, S. 418.

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in der Frühphase der Republik: „dass die Quatschbude zu nichts gut ist, wissen alle“.47 Biberkopf hört allen zu, aber er „ist nicht für Politik“48 – dass dies ohne Reflexion und Erfahrung nicht geht, auch das gehört zu seinen Prüfungen. Es ist so, als durchlaufe der Autor gerade in diesem Kapitel noch einmal die eigenen Überlegungen der Revolutionszeit, je radikaler desto besser. An entsprechender Stelle im Roman wirkt es wie eine parodistische Retrospektive, doch nie denunziatorisch. Es sind Stadien des „Lebensplans“, den Biberkopf zu durchleiden hat. Und seine wutentbrannte Reaktion auf die rhetorischen Scharmützel der sozialistischen Versammlungsredner ist allenfalls vorpolitisch und deshalb noch nicht die Einsicht des Romanschlusses, auch wenn es ähnlich aussieht: „Ich pfeife überhaupt auf das ganze Gemeckere, auf deine Streiks und deine Männekens die kommen sollen. Selbst ist der Mann. Ich mache allein, wat ich brauche.“49 Auf die Frage eines biederen Sozialdemokraten nach Mitgliedschaft in der Partei antwortet er ganz im Sinne seines Autors: „Früher mal. Jetzt nicht mehr. Hat ja keenen Zweck.“50 Aber der sozialdemokratische Tischler berichtet von sehr konkreten Erfahrungen mit einem Staat, der z. B. in seinem Gesundheitssystem Ungleichheit repräsentiert. „Und dazu brauch keen Mensch heutzutage Karl Marx. Aber Fritze, aber aber: wahr ist es doch.“51 Döblins Interesse gilt in dieser Phase, das zeigen auch seine kulturpolitischen Aktivitäten, den ganz konkreten Lebenswelten, ob des Schriftstellers oder Arbeiters. „Verunftrepublikanismus“ könnte dann bezeichnet werden als sozialpolitischer Gerechtigkeitssinn, der weitgehend auf ideologische Bindungen verzichtet. Am Ende gehört gerade diese Einsicht zum Erziehungsprogramm des Transportarbeiters Franz Biberkopf: zu wissen, dass er ein kleiner Arbeiter ist, eine Erkenntnis, die „teuer bezahlt“ werden musste. Dazu gehört auch, dass Denken vor Mitmarschieren kommt. Die letzten Zeilen des Romans zitieren die Verführungsparolen der Zeit:

„Es geht in die Freiheit, die Freiheit hinein, die alte Welt muß stürzen, wach auf, die Morgenluft. Und Schritt gefasst und rechts und links und rechts und links marschieren, marschieren, wir ziehen in den Krieg, es ziehen mit uns hundert Spielleute mit, sie trommeln und pfeifen, widebum widebum, dem einen geht’s grade, dem andern geht’s krumm, der eine bleibt stehen, der andere fällt um, der eine rennt weiter, der andere liegt stumm, widebum widebum.“52

Nur wenige Zeilen zuvor hat Biberkopf seine Selbständigkeitserklärung abgegeben, die sich nahezu wie das Credo eines Vernunftrepublikaners liest:

„ Sie marschieren oft mit Fahnen und Musik und Gesang an seinem Fenster vorbei, Biberkopf sieht kühl zu seiner Türe raus und bleibt noch lange ruhig zu Haus. Halt das

47 48 49 50 51 52

Ebd., S. 238. Ebd., S. 240. Ebd., S. 243. Ebd., S. 251. Ebd., S. 253. Ebd., S. 411.

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Jürgen Eder Maul und fasse Schritt, marschiere mit uns andern mit. Wenn ich marschieren soll, muß ich das nachher mit dem Kopf bezahlen, was andere sich ausgedacht haben. Darum rechne ich erst alles nach, und wenn es so weit ist und mir passt, werde ich mich danach richten. Dem Menschen ist gegeben die Vernunft, die Ochsen bilden statt dessen eine Zunft.“53

Es ist nicht überraschend, dass sich bis heute Interpreten des Romans zu diesem Ende nicht recht einigen können: ist es das Programm einer Resignation, eines Unpolitischen, eines Renegaten – oder eben das literarische Manifest eines ideologiekritisch gewordenen Autors, dessen Gedanken sich geändert haben, aber dessen Sinn durchaus gleich geblieben ist54 – um die Rechtfertigung Thomas Manns für seinen Wandel zu zitieren! V. Fünfte Phase: „Wissen und Verändern!“ – ohne Wirkung Das Jahr 1930 brachte für Döblin in mehrfacher Hinsicht politische Klärungen – die bis zum Ende der Weimar Republik und darüber hinaus andauerten. Zunächst war da die heftige Kontroverse mit der „Linkskurve“, die Döblin in seinem Alexanderplatz mangelhaftes Bewusstsein, oder noch unsinniger: Denunziation der Proletarier vorwarf. Döblin wandte sich darauf noch entschiedener von den Parteikommunisten ab und begründete dies nicht mehr nur durch ästhetische Divergenzen, sondern durchaus politisch, indem er immer häufiger seine Bürgerlichkeit ins Spiel brachte. „Wir Bürger unter uns, die wir mit dem Kopf denken“ heißt es in der Polemik Katastrophe in einer Linkskurve.55 Allerdings bedeutet es keineswegs „Heimkehr“ oder Bekenntnis, wie das Thomas Mann im Kontext seiner „Goethe“-Reden 1932 beschwört, sondern geschieht im Bewusstsein des historischen Versagens seit 1848. Unter dem Ansturm von ultralinks und ultrarechts gerate das Bürgertum nunmehr in Panik. Döblin betont immer stärker als Lösung dieses Dilemmas den Rekurs auf das Individuum, das Individuelle, wie es sich im Berlin Alexanderplatz schon abgezeichnet hatte. 1931 heißt es: „Wer ist der Träger der Bewegung, die die gesellschaftliche Erneuerung einleitet? Keine Parteien. Viele Einzelne.“56 Im gleichen Jahr entsteht der große Essay Die Gesellschaft, das Ich, das Kollektivum, in dem abgegrenzt wird von allen Varianten der Vereinnahmung: „Ob sie sich Kaiser nennen oder Staat oder Kollektivum: laß dich nicht betrügen, sie meinen alle dasselbe, sie wollen dich schlucken“ – dagegen habe man die Erkenntnis festzuhalten, dass der Mensch etwas sei, „dem Vernunft 53 Ebd., S. 410. 54 In diesem Sinne z. B. HELMUT KOOPMANN: Die Initiation in die Existenzphilosophie vom Ich, in: DERS.: Der klassisch-moderne Roman in Deutschland. Thomas Mann – Döblin – Broch, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1983, S. 109ff. 55 In: A. DÖBLIN, Politik und Gesellschaft (wie Anm. 24), S. 249. 56 ALFRED DÖBLIN: Grundlinien, in: ebd., S. 293.

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gegeben ist“.57 Realismus und Vernunft sind Schlüsselbegriffe in den Auseinandersetzungen Anfang der 30er Jahre – als Idealismus wird 1932 sogar der Marxismus zurückgewiesen. Was Not tue, das „A und Z des Realismus“, sei „sorgfältige Analyse der Realität“.58 Der Republikaner, der die Vernunft zur Magna Charta machen will, ist immer erkennbar gewesen, jetzt ist es unmittelbare Rede geworden. Das verbindet sich mit der Anerkennung von Politikern, die sich dezidiert für die bedrohte Republik einsetzen, wie etwa der Sozialdemokrat Carl Severing: „Es scheint (...), dass im Reich kräftige Garanten für eine kontinuierliche, wenn auch schwere Entwicklung da sind“.59 Diese Haltung stand auch unter dem Eindruck der Wahlerfolge der radikalen Parteien seit 1930, v. a. der Nationalsozialisten. Als der Berliner Student Gustav Rene Hocke Döblin bat, ihm und seinen Altersgenossen in der Orientierungskrise der Zeit zu helfen, nutzte Döblin dies zu einer Reihe von Antworten, die mehr der Selbsterkundung dienten als dem eher befremdet aufgenommenen Wunsch des Studenten. Bereits 1931 erschien die Sammlung dieser „Antworten“ unter dem Titel Wissen und Verändern! und bildet die zusammenhängendste Sicht Döblins gegen Ende der Republik.60 Schon das Vorwort macht die Adressaten deutlich: die Intellektuellen, auf denen angesichts der Krisen eine große Verantwortung laste. Döblin erkennt zwar die Verpflichtung zu geistiger Hilfe an – macht aber gleich deutlich, dass der gesuchte „Führer“ nicht bei ihm zu finden sei: „eine Fahne trage ich bestimmt nicht“.61 Die Pluralität des Lebens drücke sich auch in der Politik aus, und es sei deshalb irrational, sich in eine Weltsicht einreihen zu wollen. Es werde viel gehandelt und gefordert in der jüngsten Zeit, aber es sei notwendig, jetzt einmal in die Phase des Denkens zurückzufinden. Das Bekenntnis zum Sozialismus, in Abgrenzung vom russischen Weg, liest sich inzwischen wie ein liberales Programm, das eine vorzügliche Grundlage sein kann für eine Republik: „Leitsätze sind: Freiheit, spontaner Zusammenschluß der Menschen, Ablehnung jedes Zwanges, Empörung gegen Unrecht und Zwang, Menschlichkeit, Toleranz, friedliche Gesinnung“.62 Die alte Klassenfrage von Bürgertum versus Proletariat sieht er überholt durch den von Großbürgertum und Kleinbürgertum, im letzteren sei das Proletariat inzwischen aufgegangen, ein Sieg des letzteren könne nicht das Ziel, sondern allenfalls eine Etappe sein. Deshalb warnt Döblin auch davor sich, wie viele Intellektuelle, an die Arbei57 58 59 60

Ebd., S. 296. ALFRED DÖBLIN: Bemerkungen zum 15-Jahr-Jubiläum, in: ebd., S. 304. ALFRED DÖBLIN: Selbstschändung des Bürgers, in: ebd., S. 257. ALFRED DÖBLIN: Der deutsche Maskenball. Von Linke Poot. Wissen und Verändern! Olten und Freiburg/Brsg. 1972 (= Ausgewählte Werke in Einzelbänden. In Verbindung mit den Söhnen des Dichters. Hg. von Walter Muschg†. Weitergeführt von Heinz Graber). 61 Ebd., S. 132. 62 Ebd., S. 141.

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ter zu assimilieren. Diese Grundsätze sind die Absage an frühere Thesen Döblins, auf jeden Fall offenbart er Abweichung von marxistischen Positionen: die sozialen Verhältnisse seien Produkt des Menschen und auch der ökonomische Prozess laufe doch nicht ohne Menschen ab. „Der Mensch ist ein mit der Außenwelt verbundenes, auf sie reagierendes, aber auch dauernd von innen heraus produzierendes Zentrum.“63 Von diesem Punkt aus sucht Döblin eine neue Deutung von Marx und dessen Ideen – damit steht er ja im Kontext der Diskussionen um das Frühwerk von Marx in illustrer Reihe. Man habe nicht als Kernstück der Lehre Klassenkampf, Proletariat und Diktatur zu sehen, sondern „die treibende Bewegung auf den endlich fälligen neuen natürlichen Menschen.“64 Das messianische Potential solle man wiederfinden, das auch im materialistischen Gedanken zu finden ist, wenn dieser nicht simpel aufs Ökonomische reduziert wird. Die Konsequenz für die Adressaten von Wissen und Verändern! wird am Ende deutlich: Man sollte sich nicht in die Parteien des Sozialismus jeder Couleur stellen, sondern „wir treten neben sie mit dem Bewusstsein der Generallinie, von der sie sich abgezweigt haben“.65 Wissen und Verändern!, in einer politisch stark polarisierten Situation erschienen, appelliert im Wesentlichen an die Tugenden eines Bürgertums, das die Ideen von 1848 nicht zugunsten von Machtfragen und wirtschaftlichem Erfolg verabschiedet hat. Eine, mag man kritisch einwenden, angesichts der Bedrohungen akademische oder eben literarische Position – aber sie scheint mir ganz im Geiste jener Vernunft, deren Voraussetzung konstitutiv ist für den Erfolg eines republikanischen Experiments. Döblin hat, zum Teil bis auf Luther zurückgehend, geistesgeschichtlich wie aktuell politisch so etwas wie ein „Bündnis der Vernunft“ gesucht, das von den Arbeitern – nicht den „Arbeiterführern“, wie er wiederholt dezidiert sagt – bis zu allen Schattierungen der Intellektuellen reichen soll. Wissen und Verändern! ist ein Manifest der Aufklärung angesichts der permanenten Ideologisierung und ihrer gewaltsamen Realisierungen. Es ist, unter wechselnden Vorzeichen, wieder ein Bekenntnis zur Republik, an deren Überleben er allerdings nicht mehr recht glaubt. VI. Sechste Phase: Rückblicke Vor allem in Briefen an Thomas Mann aus den ersten Jahren des Exils finden sich harte Urteile über die machtlose Rolle, die Schriftsteller und Gutgesinnte in der Republik gespielt hätten. „Man war wenig, schien etwas, konnte nichts sein. (...) Man bekam seine erbärmliche Rolle von denen, die sich Bürger nannten, ohne es zu sein, aufgehalst, wofür man bezahlt und dekoriert 63 Ebd., S. 153. (Hervorhebungen im Original.) 64 Ebd., S. 199. 65 Ebd., S. 227.

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wurde.“66 Döblin scheint hier a posteriori die falschen Hoffnungen zu kritisieren, die man sich durch eine Instanz wie die Sektion für Dichtkunst gemacht hatte. Er selbst hatte ja noch einige Zeit nach dem 30. Januar versucht, in ihr weiterzuarbeiten, bis ihm klar wurde, dass eine andere Sektion gewünscht wurde von den neuen Machthabern. In einem weiteren Brief an Mann bilanziert er bitter: „wir haben unsere Pflicht versäumt.“67 Aber nicht nur individuell wird das Scheitern begründet, sondern auch durch den Verweis auf einen Staat, der seine „Selbstrettung“ andauernd „sabotierte“.68 Diese Republik habe Hitler schon Jahre vor 1933 zur Macht gebracht, indem sie systematisch ihre Selbstentmachtung betrieb, so sie denn jemals wirklich Macht besessen hätte. Es spricht aus den Zeugnissen dieser ersten Exiljahre bittere Enttäuschung – mir scheint das Maß auch dadurch gesetzt, dass Döblin sich als ganz besonders aktiver, streitbarer Begleiter der untergegangenen Republik gesehen hat. Manches liest sich wie die Leiden eines vernünftigen Liebhabers, der sich wieder und wieder überlegt, ob er nun die Ehe eingehen soll oder doch lieber nicht. Wenn schon nicht „Vernunftrepublikaner“ der rechte Begriff sein sollte, dann wird vielleicht das Verhältnis Döblin/Weimarer Republik durch den Begriff der Vernunftehe nicht schlecht charakterisiert. Erst einige Jahre später, im kalifornischen Exil, sieht Döblin trotz des Scheiterns der ersten Republik weniger negative Tendenzen. 1942 ist in einem Brief an die engen Freunde Elvira und Arthur Rosin zu lesen, dass die „deutsche Republik“ ein „wahrhaftig ... guter und weiter politischer Rahmen war, aber es blieb dabei, und darum blieb es auch nicht dabei“.69 Deshalb ist es wohl konsequent für einen literarischen Vernunftrepublikaner, wenn er nach dem Zweiten Weltkrieg die Tatsache, dass ein schreibender Politiker höchster Repräsentant der neuen Republik wird, als günstiges Zeichen für das Gelingen dieses zweiten Versuches nimmt. Es gab von der Art Döblins, in kritischer oder pragmatischer Loyalität zur Republik des Kompromisses zu stehen, noch einige andere linksintellektuelle Autoren, die den bekannten Vorwurf, diese Gruppe hätte zum Scheitern der Demokratie ebenso beigetragen wie die Rechtsextremen, klar konterkarieren. Ich nehme hier mehr oder weniger klare Republikaner wie Heinrich Mann aus, wenn auch dessen Diktatur der Vernunft aus dem Jahr 1923, im offenen Brief an Stresemann, durchaus eine interessante Parallelität bieten könnte. Heinrich Manns Horizont war die bürgerliche Republik, mochte er auch mit dem „Sozialen“ kokettieren, seine theoretischen Referenzen sind über Zola eigentlich nie hinausgekommen. Döblin las Marx immerhin teilweise selbst, erörterte ansonsten mit unorthodoxen Marxisten wie Korsch oder Sternberg einen Marxismus für das 20. Jahrhundert. Autoren wie Otto Flake oder auch Joseph Roth 66 67 68 69

Brief vom 4. 5. 1935, in: A. DÖBLIN, Briefe (wie Anm. 2), S. 204. Brief vom 23. 5. 1935, in: ebd., S. 206. Ebd., S. 207. Brief vom 28. 9. 1942, in: ebd., S. 282.

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fehlte der theoretische Tiefgang, um sich der Republik in einer doppelten Optik zu stellen, wenn sie in ihrer prinzipiellen Unterstützung gelegentlich irritiert wurden. Fragen des Parteiensystems oder der Wirtschaftsordnung blieben dort allenfalls Fußnoten zum literarischen Text. Ein Autor wie Arnold Zweig vertrat in seinen Kriegsromanen eine sozialistische Position mit bürgerlicher Ästhetik, aber publizistisch ist wenig Bedeutendes zu finden und abzuwägen. Die angesichts der Ereignisse von 1923 gegründete „Republikanische Partei“, die zu den Reichstagswahlen 1924 antrat, wäre so etwas wie ein Institutionalisierungsversuch vernunftrepublikanischer Linksintellektueller – aber sie blieb eine Splitterpartei mit kurzer Lebensdauer, was auch an der z. T. heterogenen Zusammensetzung der Beteiligten lag. Carl von Ossietzky, Fritz von Unruh, Manfred George und Hans Simons waren die namhaftesten, finanziert wurde das Blatt der Partei vom Unternehmer Robert Bosch. Die bereits erwähnte Gruppe 1925 versammelte Linksintellektuelle, die in unterschiedlicher Distanz zur Republik standen: neben Döblin gab es einige wie Burschell, Kasack, Loerke, die trotz aller Vorbehalte auf die bestehende Republik setzten – während andere, wie Brecht, Bloch, Becher, Kisch zunehmend auf die Fundamentalopposition der Kommunisten setzten. Schwer zu verorten ist auch ein Autor wie Erich Kästner, dem Benjamin mit einigen anderen „linke Melancholie“ attestierte. Sein Roman Fabian ist mehr ein Sittenbild Berlins, dem Topos vom „Sündenbabel“ auf der Spur, als ein politischer Roman. Aber er ist auch ein – melancholischer? – Appell an die Vernunft, mag der Glaube daran schon pessimistisch gebrochen sein. Die bekannte Szene, als Fabian einen Kommunisten und Nazi daran hindert, sich gegenseitig umzubringen, erscheint wie eine selbstparodistische Position, deren Ende ja eher ein Triumph des Zufalls ist als Konsequenz der Umstände.70 Wie Kästner war auch Tucholsky ein Schopenhauerianer und damit von der Beständigkeit der Welt nicht sonderlich überzeugt. Tucholsky allerdings ist eine umstrittene Größe, um das so zu sagen. Von manchen wird er als brillanter Schriftsteller anerkannt, aber auch mitverantwortlich gemacht für die Verachtung, die man der Republik und ihren Repräsentanten entgegenbrachte. Man hat ihn trotz seiner „Allergie“ gegen jede Art der „Realpolitik“ lange Zeit im Lager der Republik gesehen, wie die „Weltbühne“ mit dem Versuch, sie auch für die geistige Elite glaubwürdig und erträglich zu machen. Seit Anfang der 30er Jahre allerdings bekennt Tucholsky sich immer häufiger offen zur KPD, scheint an die Möglichkeit dieser Republik nicht mehr geglaubt zu haben. Deutschland, Deutschland über alles ist denn auch kaum noch als Bestandsaufnahme mit der Perspektive einer systemimmanenten Korrektur zu lesen, sondern als Tirade auf nahezu alle gesellschaftlichen Kräfte, zwischen denen wenig Unterschied gemacht wird. Die Perspektivlosigkeit des Buches und seines Autors kommt auch da70 ERICH KÄSTNER: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1980, S. 48ff.

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durch zustande, dass sie das Falsche in den kleinsten Einheiten des gesellschaftlichen Alltags behaupten – in den Verkehrsregeln wie im Sport. Es ist die stringent bebilderte Weltsicht der „Negativen“, zu denen sich Tucholsky einmal bekannte, jenes „Nein“ aus Mitleid, Liebe, Hass und Leidenschaft, von dem er im letzten Text des Bandes, in „Heimat“ spricht. Aber das Gefühl ist, so dezidiert, „jenseits aller Politik“ und heißt „Heimatgefühl“. Es ist eine Position des „Trotzdem“, eine Form des Vernunftrepublikanismus vielleicht, die in Antithesen verbleibt: „Und so wie die nationalen Verbände über die Wege trommeln – mit dem gleichen Recht (...) nehmen wir, wir, die wir hier geboren sind, wir, die wir besser deutsch schreiben und sprechen als die Mehrzahl der nationalen Esel mit genau demselben Recht nehmen wir Fluß und Wald in Beschlag, Strand und Haus, Lichtung und Wiese: es ist unser Land.“71 Man könnte dies vielleicht auch einen Gefühlsrepublikanismus nennen, der jenseits politischer Diskurse steht. Anders sehe ich den Fall Lion Feuchtwanger – mit dem ich diese kleine Vergleichsrundschau beenden möchte. Er wird selten genannt, wenn man von den Linksintellektuellen der Zeit spricht – mag sein, dass man den Erfolgsautor in Deutschland a priori jenseits von links und rechts aussondert. Auch Johannes Mario Simmels Engagement wollte die Zunft ja die längste Zeit nicht zur Kenntnis nehmen. Allerdings finde ich diese Ignoranz im Falle Feuchtwanger schwer verständlich – hat er doch mit dem Roman Erfolg schon 1930 ein großes Panorama der Weimarer Republik aus der Sicht des „Landes Bayern“ vorgelegt.72 Die literarischen Qualitäten des Textes einmal undiskutiert, so wird man dem Roman kaum abstreiten können, wesentliche Strukturen und Probleme erkannt und literarisiert zu haben. Ein Schlüsselroman, der einer Figur wie Hitler/Kutzner sicher nicht wissenschaftlich gerecht werden kann – aber kaum jemand hat in dieser Zeit die Hintergründe dermaßen recherchiert, die Zusammenhänge von Politik und Kunst beschrieben und dabei dokumentarisch so reichhaltig belegt, weshalb mir der Roman auch für Historiker eine wahre Fundgrube zu sein scheint. Im Zusammenhang meines Themas finde ich zwei Figuren besonders interessant: den sozialdemokratischen Abgeordneten und Rechtsanwalt Geyer und das offenbare Selbstporträt Feuchtwangers, Tüverlin. Geyer glaubt an die Vernunft und ihre Macht, auch an die Möglichkeit der Gerechtigkeit, die durch Aufklärung hergestellt werden kann. Sein großes Buch über die Geschichte des Unrechts im Lande Bayern hat als Fluchtpunkt natürlich die Hoffnung, dass dadurch diese Geschichte an ihr Ende gebracht werden könne. Bleiben die Hoffnungen im Falle Geyer vergeblich, so demonstriert die Figur des Jacques Tüverlin die Vorstellung, dass die Kunst mit adäquaten Mitteln auch politischer Willkür begegnen könne. Literatur und Film werden Medien der Aufklärung, an den 71 KURT TUCHOLSKY: Deutschland, Deutschland über alles. Montagen von John Heartfield, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 231. 72 LION FEUCHTWANGER: Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz, Frankfurt a. M. 1990.

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Film oder das Radio knüpfen zur gleichen Zeit ja auch Döblin, Brecht oder Benjamin große Hoffnungen. Die Tüverlin-Figur ist auch deshalb interessant, weil sie zunächst glaubt, durch Ironie und Betonung des Außen-Stehens der Sache am ehesten zu dienen. Das scheitert, und erst als er sich ernsthaft auf den Fall Krüger einlässt und nicht nur ironisch zur Politik verhält, stellt sich der Erfolg ein. Der ganze Roman scheint eine Sammlung von Ursachen, warum ein Staatswesen eigentlich keine Existenzberechtigung hat – aber der Glaube an die Macht der Vernunft Einzelner, die sich verbinden, lässt Feuchtwanger an den Sieg eines vernünftigen Republikanismus glauben. Dabei ist der Text voll von sozialer Wirklichkeit, ökonomische Fragen sind so wenig ausgespart wie mentalitätsgeschichtliche. Wissen als Voraussetzung politischer Veränderung ist sein Plädoyer, und damit darf Feuchtwanger wie Döblin in diesem Sinne als Vernunftrepublikaner von links verstanden werden.

Arthur Rosenberg – ein linker Vernunftrepublikaner? Mario Keßler Am 26. August 1924 sprach der Reichstagsabgeordnete der KPD Arthur Rosenberg erstmals im Parlament. Anknüpfend an Nietzsches Wort „Was fällt, soll man noch stoßen“ verkündete er: „Diese fallende Republik werden wir stoßen, daß sie das Schicksal erhält, das sie verdient.“1 In einer Rede der Chemnitzer KPD-Ortsgruppe erklärte er wenig später, dass für den deutschen Kommunismus ein parlamentarischer Einfluss völlig sinnlos geworden sei. Die einzige Aufgabe sei die Bewahrung des Geistes der Revolution und der revolutionären Organisation. Hingegen sei es ganz egal, ob die KPD bei dem „parlamentarischen Affentheater“ – Rosenberg bezog sich auf die im Dezember anstehenden Reichstagswahlen – ein oder zwei Millionen Stimmen verliere.2 Diese Äußerungen sind ganz bestimmt nicht im Geiste eines Vernunftrepublikanismus gehalten. Doch bot Rosenberg mehr und anderes, das zu erinnern den Nachgeborenen ansteht. I. Die nachfolgenden Bemerkungen wenden sich somit einem der bekanntesten Historiker der Weimarer Republik zu, der zuvor mehrere Jahre ein unüberhörbarer politischer Akteur in dieser Republik gewesen war.3 Seine biographischen Eckdaten seien kurz abgerufen: 1 2

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Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, 2. Wahlperiode, Berlin 1924, Bd. 381, Sp. 950. Dies nach dem übereinstimmenden Bericht von RUTH FISCHER: Stalin und der deutsche Kommunismus. Der Übergang zur Konterrevolution, Frankfurt a. M. [1950], S. 505, und von ROSA MEYER-LEVINE: Im inneren Kreis. Erinnerungen einer Kommunistin in Deutschland, Köln 1977, S. 122. Vgl. zur Biographie Rosenbergs GIUSEPPE MOTTA: Gli eretici del Bolscevismo, Siracusa 1946, S. 19–29; HELMUT SCHACHENMEYER: Arthur Rosenberg als Vertreter des Historischen Materialismus, Wiesbaden 1964; GEORGES HAUPT: Arthur Rosenberg e l’Internazionale Comunista, in: Movimento operaio e socialista, 15 (1969), S. 139–153; HELMUT BERDING: Arthur Rosenberg, in: HANS-ULRICH WEHLER (Hg.): Deutsche Historiker, Bd. IV, Göttingen 1972, S. 81–96; FRANCIS L. CARSTEN: Arthur Rosenberg als Politiker, in: GERHARD BOTZ u. a. (Hg.): Geschichte und Gesellschaft. Karl R. Stadler zum 60. Geburtstag, Wien 1974, S. 267–280; HANS-ULRICH WEHLER: Historische Sozialwissenschaft und Geschichtsschreibung, Göttingen 1980, S. 267–276; RUDOLF WOLFGANG MÜLLER/GERT SCHÄFER (Hg.): Arthur Rosenberg zwischen Alter Geschichte und Zeitgeschichte. Politik

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Arthur Rosenberg wurde 1889 in Berlin in einer Familie des scheinbar assimilierten unteren jüdischen Mittelstandes geboren und protestantisch getauft. Nach dem Schulbesuch in Berlin und zeitweilig auch in Wien studierte er ab 1907 Alte Geschichte und Altphilologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität, vornehmlich bei Otto Hirschfeld, Eduard Meyer und Ulrich von Wilamowitz-Möllendorff. Nach der 1911 erfolgten Promotion und der Habilitation 1914 erlangte Rosenberg schon früh einen guten Ruf als produktiver Althistoriker.4 Im Ersten Weltkrieg, den Rosenberg zumeist in der Etappe (im Kriegspresseamt) verbrachte, stand er auf nationalistischen Positionen. Doch die Niederlage des kaiserlichen Deutschland und die Novemberrevolution 1918 bedeuteten für ihn einen tiefen lebensgeschichtlichen Bruch. Rosenberg trat der USPD bei und gelangte 1920 mit ihrem linken Flügel in die KPD. Er wurde ein bekannter Publizist und Politiker der radikalen Linken, der ihren Hoffnungen, Illusionen und Irrtümern beredten Ausdruck verlieh. Nach der Verdrängung der sogenannten „Rechten“ um Heinrich Brandler und August Thalheimer aus der Parteiführung5 stieg Rosenberg Anfang 1924 in höchste Parteiämter auf: Er wurde zunächst ein Wortführer der ultralinken Strömung innerhalb der Partei, dann unterstützte er den scheinbar gemäßigten Kurs Ernst Thälmanns, um schließlich die Unterordnung der KPD unter die Politik Stalins zu kritisieren.6 Rosenberg war Reichstagsabgeordneter, Mitglied des Partei-

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und politischer Bildung, Göttingen/Zürich 1986; ANDREAS WIRSCHING: Politik und Zeitgeschichte. Arthur Rosenberg und die Berliner Philosophische Fakultät, in: Historische Zeitschrift, 269 (1999), S. 561–602; GERT SCHÄFER: Arthur Rosenberg: Verfechter revolutionärer Realpolitik, in: THEODOR BERGMANN/MARIO KESSLER (Hg.): Ketzer im Kommunismus. 23 biographische Essays, Hamburg 2000, S. 101–122; LORENZO RIBERI: Arthur Rosenberg. Democrazia e socialismo tra storia e politica, Milano 2001; MARIO KESSLER: Arthur Rosenberg. Ein Historiker im Zeitalter der Katastrophen (1889–1943), Köln u. a. 2003. Rosenbergs Qualifikationsschriften behandelten folgende Themen: Untersuchung zur römischen Zenturienverfassung, Diss., Berlin 1911; Der Staat der alten Italiker. Untersuchungen über die ursprüngliche Verfassung der Latiner, Osker und Etrusker, Habil., Berlin 1913. Weitere althistorische Arbeiten Rosenbergs sind: Geschichte der römischen Republik, Leipzig/Berlin 1921; Einleitung und Quellenkunde zur römischen Geschichte, Berlin 1921; Demokratie und Klassenkampf im Altertum, Bielefeld/Leipzig 1921. Brandler und Thalheimer setzten sich für eine Beendigung der Feindschaft der KPDFührung gegenüber der SPD ein und warnten vor einer Unterwerfung der deutschen Partei unter Stalins Direktiven. 1928/29 gründeten sie die KPD-Opposition, die aber politisch ohne großen Einfluss blieb. Vgl. THEODOR BERGMANN: „Gegen den Strom“. Die Geschichte der Kommunistischen Partei-Opposition, Hamburg2 2001. Zu Brandler vgl. JENS BECKER: Heinrich Brandler. Eine politische Biographie, Hamburg 2001; zu Thalheimer JÜRGEN KAESTNER: Die politische Theorie August Thalheimers, Frankfurt a. M./New York 1982; HARALD JENTSCH: Die politische Theorie August Thalheimers 1919–1923, Mainz 1993. Neuere Untersuchungen zur KPD-Politik sind KLAUS MICHAEL MALLMANN: Kommunisten in der Weimarer Republik. Sozialgeschichte einer revolutionären Bewegung, Darmstadt 1996; ERIC D. WEITZ: Creating German Communism, 1890–1990. From

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sekretariats und gehörte dem Exekutivkomitee der Komintern an. Als Mitglied des vom Reichstag eingesetzten Untersuchungsausschusses für die Ursachen des deutschen Zusammenbruchs im Weltkrieg sammelte er Material, das ihm in seiner künftigen zeithistorischen Arbeit zugute kommen sollte. Im April 1927 verließ Arthur Rosenberg die KPD, innerhalb der er sich zunehmend den Ansichten der vorher von ihm bekämpften Brandler und Thalheimer angenähert hatte. Im Verlauf eines längeren und widersprüchlichen, hier nicht im Einzelnen zu verfolgenden Denkprozesses überwand er seine linksradikalen Illusionen und antiparlamentarischen Affekte. Dieser Wandlungsprozess schlug sich in seinem 1928 erschienenen Buch Die Entstehung der deutschen Republik teilweise nieder. Rosenberg ging darin der Frage nach, warum das deutsche Kaiserreich, das einst unerschütterlich erschien, 1918 an sein Ende gekommen war. Vier Jahre später, Rosenberg war inzwischen parteilos, im Schuldienst am Köllnischen Gymnasium in Berlin angestellt sowie außerordentlicher Professor an der Berliner Universität, veröffentlichte er seine Geschichte des Bolschewismus. Darin untersuchte er jene Entwicklung, in deren Verlauf sich die bolschewistische Staatslehre von den Ansichten der marxistischen Gründerväter so weit getrennt hatte, wie dies 1932 (außerhalb der KPD) offensichtlich war. 1933 musste Arthur Rosenberg mit seiner Familie emigrieren. Über Zürich und London gelangte er zunächst nach Liverpool, wo er an der dortigen Universität drei Jahre lang arbeiten konnte. In dieser Zeit schrieb er die Geschichte der deutschen Republik sowie Demokratie und Sozialismus, zwei Bücher, die 1935 und 1938 erschienen und die die Debatten der deutschen Emigration zu diesen Themen mit prägten. Zuletzt am Brooklyn College in New York tätig, starb Rosenberg 1943 im Alter von 53 Jahren im und wohl auch am Exil. II. Seit ihrer Gründung Anfang 1919 war die KPD von zwei miteinander unvereinbaren Tendenzen geprägt gewesen: von einer linkssozialistischen Tendenz, die auf die Gewinnung zumindest der Mehrheit des Industrieproletariats als Voraussetzung revolutionärer Umgestaltung abzielte, und von einer radikalutopischen Strömung, die den Parlamentarismus sogar als Ausgangsbasis revolutionärer Politik verwarf. Die Ausgrenzung der KPD durch alle anderen Popular Protest to Socialist State, Princeton 1997; ANDREAS WIRSCHING: Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918– 1933/39. Berlin und Paris im Vergleich, München 1999; KLAUS KINNER: Der deutsche Kommunismus. Selbstverständnis und Realität, Bd. 1: Die Weimarer Zeit, Berlin 1999; GRUPPE MAGMA: „... Denn Angriff ist die beste Verteidigung“. Die KPD zwischen Revolution und Faschismus, Köln 2001.

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politischen Kräfte korrespondierte mit der Selbstausgrenzung der Partei: Sie bezog sowohl eine scharfe Frontstellung gegen autoritäre und faschistische Ordnungsvorstellungen wie auch gegen die neue bürgerlich-parlamentarische Republik. In seiner kurzen Laufbahn als führender KPD-Politiker trug Rosenberg zur Verschärfung des ultralinken Kurses der Partei bei. Er hatte nur Hohn und Sarkasmus für all jene übrig, denen – aus durchaus unterschiedlichen Beweggründen – die Bewahrung der deutschen Demokratie politisches Anliegen war. So wandte er sich voller Schärfe gegen die Bestrebungen des im Februar 1924 gegründeten Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, jener politischen Bewegung, die im Streit um die Flagge der deutschen Republik entstanden war und programmatisch an die bürgerlichen Freiheitsideen von 1848 anzuknüpfen suchte. Mit der Annahme der den Dawes-Plan stützenden Gesetze durch den Reichstag, so Rosenberg, seien die schwarzweißrote Politik und der schwarzweißrote Faschismus gegenstandslos geworden; „... da jedoch die deutsche Bourgeoisie nicht existieren kann ohne ein breites Gefolge aus den unteren Schichten der Bevölkerung, wurde im Zusammenhang mit dem Siege der Erfüllungspolitik auch eine neue Form des deutschen Faschismus notwendig. Der Ludendorff-Faschismus mußte ersetzt werden durch den Marx-Stresemann-Faschismus. Die schwarzweißroten Stoßtrupps mußten ersetzt werden durch schwarzrotgoldene Stoßtrupps.“

Dieser „schwarzrotgoldene Faschismus“ solle gegen die „klassenbewußten Arbeiter und ihre Führerin, die KPD“ eingesetzt werden, aber auch „gegen jene Reste schwarzweißroter Faschistentruppen, welche die Schwenkung der deutschen Bourgeoisie zur Erfüllungspolitik nicht mitmachen, dem Kapitalismus Deutschlands und den Großagrariern Landesverrat vorwerfen und zu allerhand störenden Abenteuern geneigt sind.“7 Rosenberg ignorierte jeden Unterschied zwischen Parlamentarismus und Diktatur, zwischen Faschismus und bürgerlicher Demokratie. Dass die Entscheidung zwischen Demokratie und Faschismus eine Entscheidung zwischen Leben und Tod der deutschen Kommunisten – wie der Sozialdemokraten und bürgerlicher Antifaschisten – war, wollte Rosenberg nicht sehen. Als weiteres Beispiel für Rosenbergs damalige politische Haltung sei auf eine Stellungnahme während der Reichspräsidentschaftswahl im Frühjahr 1925 verwiesen. „Der Rechtsblock will diese Präsidentschaftswahl ausnutzen, um einen Diktator an die Spitze des Reiches zu bekommen, der mit Hilfe des Paragraphen 48 die großkapitalistische Politik sichert“, schrieb Rosenberg vor der Wahl.8 Um so bezeichnender war Rosenbergs mit Iwan Katz und Werner Scholem verfasste Erklärung vom 3. Mai, kurz nachdem mit Hindenburg der 7 8

ARTHUR ROSENBERG: Reichsbanner und Faschismus, in: Die Internationale, 7 (1924), S. 677–683, hier S. 681. ARTHUR ROSENBERG: KPD und Präsidentschaftswahlen, in: Die Internationale, 8 (1925), S. 154–157, hier S. 156.

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Kandidat der Rechten zum Reichspräsidenten gewählt worden war, woran die KPD mit ihrer Weigerung, einen bürgerlichen oder sozialdemokratischen Gegenkandidaten zu unterstützen, ihren Anteil hatte. Rosenberg und seine Mitautoren behaupteten, ihre Kritiker inner- wie außerhalb der KPD würden die Gefahr einer monarchistischen Restauration hochspielen, um somit einen Vorwand für eine Annäherung der KPD an die SPD zu schaffen. Der Unterschied zwischen parlamentarischer Republik und Monarchie, den auch eine Erklärung des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (EKKI) am 2. Mai betont hatte, falle bei der Beurteilung des Klassenstaates nicht ins Gewicht.9 Auch wiesen Rosenberg und Scholem auf dem 10. KPD-Parteitag im Juli 1925 jede Annäherung Deutschlands an die westlichen Staaten mit der Begründung zurück, wonach Deutschland bereits eine „Industriekolonie“ der Westmächte sei; eine Idee, die Eingang in die Dokumente des Parteitages fand.10 Diese Beispiele zeigen, welch inneren Wandlungsprozesses es für Rosenberg bedurfte, um nur drei Jahre später ein Buch wie Die Entstehung der deutschen Republik zu verfassen. Darin kam er zur Erkenntnis, dass der ultralinke Kurs die KPD in eine Sackgasse führte und die von ihren Gegnern gewollte Isolierung der Partei von den Arbeitern ins Unermessliche verstärken würde. Es dauerte bis zum Essener KPD-Parteitag im März 1927, bis Rosenberg sich offen von einstigen linksradikalen Positionen distanzierte. Der Parteitag suchte einmal mehr nach „Abweichlern“ von der aktuellen Parteilinie, um sie zu disziplinieren oder gegebenenfalls aus der KPD auszuschließen.11 Rosenberg war keiner Oppositionsgruppe mehr zuzurechnen. Um so entschiedener wandte er sich gegen die Praxis, Politik nur noch durch das Prisma möglicher Abweichungen und ihrer Bekämpfung zu sehen. „Der Parteitag hat bisher mindestens das eine gezeigt, daß die ideologischen Auseinandersetzungen mit der Opposition abgeschlossen sind“, erklärte er auf dem Kongress. „Die Weiterentwicklung der Partei ist nur möglich durch die Verständigung der Parteimehrheit unter sich selbst.“12 9

Die Resolution Katz-Rosenberg-Scholem befindet sich in: Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO-BArch), RY 1/I 2/3/65, Bl. 5–8, die Erklärung des EKKI ist abgedruckt in: Internationale Pressekorrespondenz (Inprekorr) vom 2. Mai 1925, S. 494. 10 So Rosenberg am 2. Juni 1925 vor dem Reichstag. Vgl. Verhandlungen des Reichstags, Bd. 386, 1929, Sp. 2597. Nach dieser zuerst von Varga, Bucharin, Radek und Thalheimer vertretenen These erscheint der Arbeiter als einziger Träger der Reparationslasten. 11 Vgl. zum Essener Parteitag immer noch HERMANN WEBER: Die Wandlung des deutschen Kommunismus. Die Stalinisierung der KPD in der Weimarer Republik, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1969, S. 170ff. 12 Bericht über die Verhandlungen des 11. Parteitags der Kommunistischen Partei Deutschlands. Essen, 2. bis 7. März 1927, Berlin 1927, S. 202f.

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Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Partei dürften nicht als fraktionelle Tätigkeit bezeichnet oder mit dem Etikett „sozialdemokratisch“ versehen werden. Die KPD sei unter dem Betriebsarbeitern nur sehr schwach vertreten; die größte Anhängerschaft habe sie unter Arbeitslosen. Um in die Betriebe „hineinzustoßen“, müsse die Gewerkschaftsarbeit verbessert werden: „Wir müssen alles vermeiden, was nach Isolierung von den Massen im Betrieb aussehen könnte.“ Erwerbslose neigten zu utopisch-radikalen Stimmungen, denen die Partei aber keinesfalls nachgeben dürfe. „Würden wir das tun, so wäre das die größte Katastrophe für die Partei. Und aus dieser Situation ergibt sich, daß der Hauptfeind links steht und nicht rechts, weil ein Nachgeben den linken Stimmungen gegenüber bedeuten würde, daß wir auch fernerhin an der Peripherie der Arbeiterklasse stehen bleiben.“ Die Partei könne auch dann weiter existieren, aber nie die Machtfrage stellen. Rosenberg unterstützte den „rechten“ KPD-Funktionär Paul Böttcher, der auf die Arbeit in den Gewerkschaften besonderes Augenmerk legte, aber – und dies macht die besondere, wenngleich hintergründige Brisanz in Rosenbergs Rede aus – die Freiheit der innerparteilichen Kritik und die Rückkehr der noch in der Sowjetunion festsitzenden Brandler und Thalheimer gefordert hatte.13 Binnen anderthalb Jahren war aus Arthur Rosenberg, dem Exponenten ultralinker Politik, ein Fürsprecher der ins Abseits gedrängten Partei-„Rechten“ geworden. Nur sechs Wochen nach dem Essener KPD-Parteitag zog Rosenberg die radikale Konsequenz aus seiner geänderten politischen Haltung. Am 27. April berichtete die Morgenausgabe des SPD-Organs „Vorwärts“ in einer kurzen Notiz, Rosenberg habe die KPD verlassen. Das bisherige „Paradepferd der kommunistischen Reichstagsfraktion“ sei in letzter Zeit von links nach rechts gegangen; überhaupt sei verwunderlich, wie es Rosenberg so lange in der KPD habe aushalten können.14 Rosenberg habe dem Reichstag seinen Austritt aus der KPD-Fraktion mitgeteilt. Fortan sei er fraktionsloser Abgeordneter, berichtete die Abendausgabe des gleichen Blattes.15 „Rosenberg begründet seinen Austritt“ hieß am nächsten Tag die Schlagzeile des „Vorwärts“. Darunter war der Text des Schreibens abgedruckt, in dem Rosenberg dem ZK der KPD die Gründe erläutert hatte. Das moderne Sowjetrussland beruhe in erster Linie auf dem Kompromiss des qualifizierten Arbeiters mit dem besitzenden Bauerntum. Darüber hinaus sei das Staatsinteresse der sowjetischen Führung maßgebend. Dieses müsse auf ein Bündnis mit der Freiheitsbewegung der Kolonialvölker und den „gemäßigten kompromißbereiten aufbauwilligen sozialistischen Arbeiterschichten“ abzielen. Die Komintern dürfe diese politische Linie der Sowjetunion nicht durchkreuzen. Um 13 Zu Böttcher vgl. T. BERGMANN: Strom (wie Anm. 5), S. 416f. 14 Rosenberg verläßt die KPD. Der Zerfall der kommunistischen Reichstagsfraktion, in: Vorwärts, 27. April 1927 (Morgenausgabe). 15 Dr. Rosenberg und die KPD. Der Austritt Tatsache. – Die „Rote Fahne“ schweigt, in: Vorwärts, 27. April 1927 (Abendausgabe).

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ihre Politik außerhalb der Sowjetunion zu rechtfertigen, müsse sie sich „auf die ärmsten, radikalsten, kompromißfeindlichsten und antinationalen Arbeiterschaften stützen.“ Aus diesen Widersprüchen entstünden die Schwankungen der Komintern-Politik, die in Deutschland 1923, beim britischen Generalstreik 1926 und jüngst in China zur Katastrophe für die Kommunisten geführt hätten. Der Essener Parteitag habe das Dilemma klar gezeigt. Die Weiterexistenz der Komintern sei sinnlos geworden. „Eine ernsthafte Reform der Komintern ist unmöglich, weil sie die Grundlagen ihrer Existenz selbst beseitigen müßte.“ Die Kommunisten würden, statt vor der Arbeiterschaft Rechenschaft darüber abzulegen, „unter bewußter Täuschung“ das Problem ignorieren. Kommunistische Politik sei zu einem Lotteriespiel geworden, an dem er sich nicht länger beteiligen könne, schloss Rosenberg. Er verlasse daher die KPD und ihre Reichstagsfraktion, werde aber im Parlament sein Mandat als „parteiloser Sozialist“ weiter ausüben.16 „Rosenbergs Abgang“ sei „eine feige Desertion, die für die Parteimitglieder aber nicht mehr überraschend kommt“, schrieb die „Rote Fahne“ am 28. April. Sein Weg habe vom Lager der Ultralinken in das der Reformisten geführt; er sei als „würdiges Mitglied der Noske-Partei“ in der SPD willkommen.17 Am nächsten Tag druckte die „Rote Fahne“ Rosenbergs Erklärung im Wortlaut ab. Das Blatt erinnerte an die Vergangenheit ihres früheren Spitzenpolitikers. „Rosenberg war noch bis 1917 überzeugter Imperialist und Monarchist“, hieß es in einem Kommentar. „Wurzellos und haltlos, ohne tiefe marxistische Bildung wurde dieser Intellektuelle sehr bald einer der Hauptträger der antikommunistischen Auffassungen in der KPD“; damit spielte das Parteiorgan implizit auf einen der letzten Beiträge Rosenbergs für die „Inprekorr“ an, in dem er sich ähnlich über Mussolini geäußert hatte.18 Rosenberg habe mit der ultralinken Politik vollständig Schiffbruch erlitten und setze nun als rechter Kritiker der KPD seine Politik des „Liquidatorentums“ fort. Damit werde er ebenso scheitern, und bald werde der „parteilose Sozialist“ die Reihen derer stärken, die „den Bedürfnissen der Bourgeoisie auf das Eifrigste Rechnung tragen... Wir werden ihn bald in der Rolle des Verteidigers ‚nationaler Belange‘ in allen Handelsvertragsverhandlungen sehen.“ Rosenberg habe „zu der Ideologie des Bürgertums, dessen serviler und strebsamer Nachbeter er während des Krieges war, zurückgefunden.“19 16 Rosenberg begründet seinen Austritt. Völliger Zusammenbruch der Politik der Komintern, in: Vorwärts, 28. April 1927 (Morgenausgabe). 17 Rosenbergs Abgang, in: Die Rote Fahne, 28. April 1927 (2. Beilage). 18 Mussolini sei zum Sozialismus „ohne jede Berührung mit dem großstädtischen Industrieproletariat“ gekommen; Sozialismus war für den jungen Mussolini „das Rebellentum der Armen gegen die Reichen“, niemals jedoch „der organisierte Klassenkampf des Proletariats.“ ARTHUR ROSENBERG: Vom linken Sozialisten zum weißen Diktator, in: Inprekorr, 14. Januar 1927, S. 124. 19 Der „parteilose Sozialist“ Rosenberg, in: Die Rote Fahne, 29. April 1927 (1. Beilage).

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Diese Prophezeiung der „Roten Fahne“ blieb unerfüllt. In seiner letzten Reichstagsrede kämpfte Rosenberg am 2. Juli 1927 für eine politische Amnestie, die den verurteilten Kommunisten zugute kommen sollte. Ihn selbst hatte 1924 nur sein Reichstagsmandat vor einer Verhaftung wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ bewahrt.20 „Es muß endlich der Zustand erreicht werden, daß die offiziellen kommunistischen Führer sich ganz ebenso frei und ungehindert bewegen dürfen wie alle anderen Leute“, sagte er. Unter dem Beifall der SPD und dem feindseligen Schweigen der KPD nahm er auch zu seinem Austritt aus der kommunistischen Partei Stellung:

„Es ist zwar absolut nicht so, daß die offizielle KPD irgendeine reale Gefahr für den bestehenden Staat bedeutet. Auf Grund meiner Kenntnis der Kommunistischen Partei darf ich mit aller Entschiedenheit betonen: Es gibt keinen verantwortlichen Kommunisten, der irgendwie an Gewalttätigkeiten oder Gesetzwidrigkeiten auch nur im entferntesten denkt. Was übrig bleibt, ist nur eine gewisse romantische Phraseologie, die nicht im entferntesten eine reale Bedrohung der bestehenden Staatsordnung darstellt. Die Gefahr, das Unerfreuliche dieser Romantik liegt auf einem anderen Gebiet. Durch diese Romantik werden Millionen Arbeiter davon abgelenkt, in realer sachlicher Weise ihre Tagesinteressen zu vertreten. Der Kampf gegen die Romantik bringt eine außerordentliche Energieverschwendung für die übrigen Tendenzen und Richtungen der Arbeiterbewegung mit sich.“

Heute komme es für die Arbeiterschaft darauf an, „in möglichster Einheitlichkeit und Sachlichkeit ihre Stellung im bestehenden Staat zu stärken, und das ist nicht nur ein Interesse des Proletariats, es sollte auch ein Interesse einer vernünftigen Staatsräson sein.“21 Mit dieser Rede war Rosenbergs kurze politische Laufbahn beendet. Vom linken Flügel der USPD kommend, war er zum Sprecher der Ultralinken in der KPD geworden, um schließlich ihre revolutionären Illusionen radikal zu kritisieren. Er tat dies als Marxist, der die Gräben zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten zu überwinden hoffte. Dies gelang ihm nicht; er scheiterte an dem ihm zuletzt wichtigsten politischen Ziel und blieb isoliert – nun auch von der kommunistischen Linken, die ihrerseits vom politischen Hauptstrom der Weimarer Republik geschieden war. III. Diese zunächst durch die herrschenden Kräfte bewirkte politische Isolierung der KPD sah Rosenberg in der Entstehung der deutschen Republik als Fortsetzung des im Kaiserreich betriebenen Kampfes gegen die Sozialdemokratie an. Dieser Kampf hatte seinen Höhepunkt in der Antisozialisten-Gesetzgebung unter Bismarck erreicht. Die Arbeiterklasse war 1871 aus „dem Kompromiß 20 Vgl. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin (PA AA), R 6343, Preußische Geheime Staatspolizei, Ausbürgerungen: Arthur Rosenberg. 21 Verhandlungen des Reichstags, Bd. 392, 1927, Sp. 11.181.

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zwischen dem deutschen Bürgertum und dem preußischen Militäradel“, der das deutsche Kaiserreich trug, ausgeschlossen worden, schrieb er.22 Die auf Bismarck in Form eines „bonapartistische Selbstherrschertums“ zugeschnittene Reichsverfassung war ein Sieg für „das alte Preußentum“, aus dem Militär und Justiz ihre Führungskräfte rekrutierten. Der „Ansturm des bürgerlichen Liberalismus“ auf die Macht im Staat, so Rosenberg weiter, war „auf der ganzen Linie abgeschlagen“ worden.23 Der Entschluss der Sozialdemokraten, im August 1914 an der Landesverteidigung mitzuwirken, entsprach, so Rosenberg, „der marxistischen sozialistischen Tradition.“ Hier deutete er die tatsächliche Haltung von Marx und Engels zur Frage eines revolutionären Verteidigungskrieges in nationalistischem Sinn um. Hingegen konnte die von der SPD-Führung verfolgte Politik des „Burgfriedens“, der Verzicht auf Kritik an der Regierung, auch laut Rosenberg keineswegs mit marxistischen Argumenten begründet werden.24 Eine solche Politik sei die verhängnisvolle Erneuerung des Bismarckschen Klassenkompromisses unter Kriegsbedingungen gewesen. Dieser Klassenkompromiss sei mit der Kriegsniederlage des kaiserlichen Deutschland 1918 an sein Ende gelangt. Die einschneidende Umwälzung, pointierte Rosenberg, habe bereits im Oktober 1918 stattgefunden. Am 3. Oktober wurde Prinz Max von Baden Reichskanzler und bildete eine Regierung, in der erstmals auch die Sozialdemokraten vertreten waren. Die Regierung bot ihren Kriegsgegnern einen sofortigen Waffenstillstand an. Am 26. Oktober trat Erich Ludendorff von seinem Posten als Generalquartiermeister zurück, zwei Tage darauf begann der Aufstand in der Hochseeflotte, die deren Auslaufen verhinderte. „Die Reichstagsmehrheit hatte im Oktober im wesentlichen all das erfüllt, was die großen Massen des deutschen Volkes verlangten“, schrieb Rosenberg. „Sie hatte sich unbedingt für Waffenstillstand und Frieden erklärt.[...] Innenpolitisch war die alte Kampfgewalt beseitigt, wie der Sturz Ludendorffs bewies.“ Die Militärführung wurde dem Reichstag unterstellt. Auch der alte halbabsolutistische Hohenzollernstaat gehörte der Vergangenheit an. In Preußen war das allgemeine Wahlrecht durchgesetzt, Karl Liebknecht aus dem Gefängnis entlassen worden. „Trotzdem ist es zu der wunderlichsten aller Revolutionen im November 1918 gekommen“, so Rosenberg.25 In der Novemberrevolution habe die Bourgeoisie ihren Widerstand gegen alle politisch-demokratischen Forderungen der Arbeiter- und Soldatenräte aufgegeben, um ihre Herrschaft über den Produktionsmittelapparat zu sichern. Auf dieser Basis sei ein erneuter Klassenkompromiss zustande gekommen. 22 ARTHUR ROSENBERG: Die Entstehung der deutschen Republik, Berlin 1928, hier zit. nach der Neuausgabe: Entstehung der Weimarer Republik, Hamburg 1991, S. 13. 23 Ebd., S. 15. 24 Ebd., S. 67. 25 Ebd., S. 223f.

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Die Anhänger der sozialistischen Revolution, auch innerhalb der Räte nur eine Minderheit, hätten sich nicht durchsetzen können.26 Die deutsche Novemberrevolution „war eine bürgerliche Revolution, die von der Arbeiterschaft gegen den Feudalismus erkämpft wurde“, lautete Rosenbergs Fazit.27 Rosenbergs Entstehung der deutschen Republik wurde von den Zeitgenossen als ein Plädoyer für den Staat von Weimar verstanden.28 Franz Schnabel schrieb in einer Rezension, Rosenberg habe die eigentlich unpolitische, nur den Frieden suchende Haltung der Massen am Ende des Krieges erkannt.29 Hermann Wendel meinte gar, bereits das Antisozialistengesetz von 1878, das die Arbeiterbewegung aus dem Obrigkeitsstaat politisch ausschloss, habe irreversibel die Weichen in Richtung jener Entwicklung gestellt, die dem Obrigkeitsstaat seine Gestalt verlieh, ihn aber letztlich historisch scheitern ließ.30 Die Forderung nach Parlamentarisierung des Reiches war wesentlich zur Angelegenheit der Sozialdemokratie geworden, hatte Rosenberg betont.31 Auf der anderen Seite habe sich die SPD daran gewöhnt, im Rahmen der Gesetze zu agieren, hielt Rosenberg ein um das andere Mal fest. Die sozialistische Revolution, obgleich immer noch beschworen, sei zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer Art abstraktem Fernziel geworden. Nicht die klassenkämpferische Politik der SPD sei am Ende des Krieges für den Zusammenbruch des Kaiserreiches verantwortlich gewesen. „Aus dem ungelösten Widerspruch zwischen der agrarisch-feudalen Form und dem bürgerlich-kapitalistischen Inhalt des Kaiserreichs mußte der Zusammenbruch kommen“, so Rosenberg in einer Rezension zu Eckart Kehrs Buch über Schlachtflottenbau und Parteipolitik.32 Mit seinem kapitalismuskritischen Ansatz und dem marxistischen Vokabular musste Rosenberg auch jene Universitätshistoriker irritieren, die sich zu einem mindestens toleranten Verhältnis zur Weimarer Republik, von der sie bezahlt wurden, durchgerungen hatten. So nimmt es nicht Wunder, dass er weder 1926 zur konstituierenden Zusammenkunft des Weimarer Kreises eingeladen wurde, noch jemals später an Aktivitäten dieses lockeren Zusammenschlusses von Wissenschaftlern teilnahm, die sich zur Verfassung der ersten deutschen Republik bekannten.33 Die meisten von ihnen hielten, in Andreas Wirschings Worten, daran fest, dass es die historische Mission des Bismarck26 27 28 29 30 31 32

Vgl. ebd., S. 242. Ebd., S. 189. Vgl. zur Rezeptionsgeschichte M. KESSLER: Rosenberg (wie Anm. 3), S. 149ff. Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung, 6 (1929) S. 464f. Die Gesellschaft, 6/1 (1929), S. 194f. Vgl. ARTHUR ROSENBERG: Entstehung (wie Anm. 22), S. 38. Die Gesellschaft, 8/2, 1931, S. 383. Vgl. ECKART KEHR: Schlachtflottenbau und Parteipolitik 1894–1901. Versuch eines Querschnitts durch die innenpolitischen, sozialen und ideologischen Voraussetzungen des deutschen Imperialismus, Berlin 1930, Nachdruck Vaduz 1966. 33 Vgl. HERBERT DÖRING: Der Weimarer Kreis. Studien zum politischen Bewußtsein verfassungstreuer Hochschullehrer in der Weimarer Republik, Meisenheim 1975.

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Reiches gewesen war, „eine neue Synthese aus Kultur und Macht, aus Autorität und Freiheit, aus Tradition und Moderne zu schmieden, der die Zukunft gehören würde.“34 In einer sehr praktischen Frage zeigte Rosenberg sich als engagierter Verteidiger der Weimarer Republik: Anfang 1932 starteten Heidelberg Studenten, unterstützt von rechtsgerichteten Professoren, ein Kampagne, um dem Mathematiker Emil Julius Gumbel, einem engagierten Sozialisten und Pazifisten, die Lehrbefugnis zu entziehen. Es war ein kleinlicher Racheakt gegen einen Mann, der die Fememorde rechtsradikaler Verbände und ihr Zusammenspiel mit der Reichswehr in mehreren Publikationen aufgedeckt hatte. Da Gumbel Jude war, kam der rabiate Antisemitismus der in Heidelberg zahlreichen Nazistudenten hinzu. Der Verband der deutschen Hochschullehrer war nicht bereit, seinem Mitglied Gumbel beizustehen. Die Deutsche Liga für Menschenrechte, der Gumbel wie Rosenberg angehörten, protestierte gegen den geplanten Eingriff in die akademische Freiheit. Nur vier Historiker unterschrieben den entsprechenden Protestbrief, zu dessen Unterzeichnern auch Albert Einstein, Max Horkheimer, Fritz Lieb, Emil Lederer und Theodor Wiesengrund(-Adorno) zählten: Hajo Holborn, Martin Hobohm, Siegfried Marck und Arthur Rosenberg.35 Alle Genannten wurden ab 1933 aus dem Hochschuldienst entlassen, als einer der ersten Arthur Rosenberg. IV. Im Schweizer Exil schrieb Rosenberg seine Abhandlung Der Faschismus als Massenbewegung. Für das hier gestellte Thema ist der darin geäußerte Gedanke wichtig, dass die deutsche Linke 1918 zwischen Revolutionsphantasien und parlamentarischem Legalismus hin- und her gerissen worden sei.

„Weder die SPD noch die KPD hatten ein Programm für den Wiederaufbau Deutschlands, dem die Massen glauben konnten, denn die Kommunisten erschienen der Mehrheit des deutschen Volkes als unzuverlässige Phrasenmacher und die Sozialdemokraten als die Mitschuldigen des bestehenden kapitalistisch-republikanischen Systems.“36

34 ANDREAS WIRSCHING: Demokratisches Denken in der Geschichtswissenschaft der Weimarer Republik, in: CHRISTOPH GUSY (Hg.): Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2000, S. 71–95, hier S. 72. 35 Die Unterschriftenliste ist abgedruckt im Anhang zu: EMIL JULIUS GUMBEL: Verschwörer. Zur Geschichte und Soziologie der deutschen nationalistischen Geheimbünde 1918–1924, Neuausgabe Frankfurt a. M. 1984, S. 286f. Vgl. zum Kontext CHRISITAN JANSEN: Emil Julius Gumbel. Porträt eines Zivilisten, Heidelberg 1991; EMIL JULIUS GUMBEL: Auf der Suche nach Wahrheit. Ausgewählte Schriften, hg. von Annette Vogt, Berlin 1991. 36 HISTORIKUS [Pseudonym von Arthur Rosenberg]: Der Faschismus als Massenbewegung, Karlsbad 1934, hier zit. nach dem Wiederabdruck in: ARTHUR ROSENBERG: Demokratie und Klassenkampf. Ausgewählte Studien, hg. von Hans-Ulrich Wehler, Frankfurt a. M. u. a. 1974, S. 221–303, hier S. 283f.

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„Die Entscheidung über das Schicksal der deutschen Republik“, so Rosenberg an anderer Stelle, „ist eigentlich schon in den ersten Monaten des Jahres 1919 gefallen.“ Die Januarkämpfe 1919, diese „Marneschlacht“ des deutschen Proletariats, hätten die Arbeiter verloren,

„weil sie auch nicht mit den einfachsten Voraussetzungen staatlicher Machtpolitik fertig werden konnten. Der größte Vorwurf, den man im historischen Rückblick den Volksbeauftragten zu machen hat, besteht darin, daß sie tatenlos der Auflösung des alten deutschen Heeres zusahen, ohne zu gleicher Zeit eine neue zuverlässige republikanische Truppe aufzubauen. Als die Regierung der Volksbeauftragten im Dezember 1918 und im Januar 1919 von abenteuerlichen Minderheiten gewaltsam angegriffen wurde, war sie tatsächlich wehrlos und sie warf sich den kaiserlichen Offizieren in die Arme.“

Da die Arbeiter keine wirkliche Machtposition errangen, entstand laut Rosenberg in Deutschland nur eine „Scheindemokratie“, in der die alten antidemokratischen Eliten die Macht ausübten.37 Dieser Gedanke durchzieht auch Arthur Rosenbergs Geschichte der deutschen Republik, eines der wichtigsten historischen Werke des deutschen Exils nach 1933. Rosenberg arbeitete darin den Mangel an demokratischen Traditionen als Hauptursache für das Scheitern der Weimarer Republik heraus. Es sei die Minderheit der in den Arbeiter- und Soldatenräten organisierten Kräfte gewesen, die Ende 1918 auf die Verankerung einer wirklichen Massendemokratie und entscheidende Wirtschaftsreformen gesetzt hatten. Rosenberg schrieb, „daß der Ruf nach dem Sozialismus nicht eine Ursache, sondern eine Folge der Novemberrevolution gewesen ist“ und fuhr fort:

„Was man im einzelnen unter Sozialisierung verstehen wollte, darüber bestanden freilich die größten Meinungsverschiedenheiten. Aber darüber war man sich klar, daß jede Form einer Plan- oder Gemeinwirtschaft nur dann Erfolge erzielen konnte, wenn sie die produzierenden Massen zur lebendigen Mitwirkung mobilisierte. Die gegebenen Organe, um im Betrieb den plan- und gemeinwirtschaftlichen Gedanken zu vertreten, waren aber die Räte.“38

Doch die Funktionäre der Mehrheitssozialisten begriffen nicht, dass die Räte und der Bolschewismus in keiner Weise identisch waren. Zudem waren in den Räten keineswegs die utopischen Vorstellungen der radikalen Linken mehrheitsfähig, sondern, so hob Rosenberg hervor, die gemäßigt-sozialistische Richtung hatte in den Räten die Chance, zum Hegemon der Revolution zu werden. Rosa Luxemburg und auch Karl Liebknecht hätten sich von früheren Illusionen gelöst. Wären sie nicht ermordet worden, dann hätten sie, schrieb Rosenberg, „die Trennung von den Utopisten in der eigenen Partei vollziehen müssen, und sie wären die gegebenen Führer der entschiedenen sozialistischen Millionenbewegung im deutschen Proletariat geworden. Vor allem aber hätten 37 ARTHUR ROSENBERG: Zum 9. November 1918, in: Zeitschrift für Sozialismus, 1 (1933), hier zit. nach DERS.: Demokratie (wie Anm. 36), S. 211f. 38 ARTHUR ROSENBERG: Geschichte der deutschen Republik, Karlsbad 1935, hier zit. nach der Neuausgabe: Geschichte der Weimarer Republik, Hamburg 1991, S. 19.

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Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht als Führer der KPD sich niemals zu Werkzeugen russischer Staatsinteressen mißbrauchen lassen.“39 Es würde über den Rahmen des Themas hinausführen, Rosenbergs Geschichte der deutschen Republik auch nur in ihren weiteren Grundaussagen hier zu referieren. Festgehalten sei Rosenbergs These, wonach alle drei Richtungen der deutschen Arbeiterbewegung, also Sozialdemokraten, Unabhängige und Kommunisten, in den Nachkriegskrisen 1918–19, 1920 und 1923 jeweils die Chance hatten, die Mehrheit des Proletariats für sich zu gewinnen und zum Hegemon demokratisch-sozialistischer Umgestaltung zu werden; eine Aussage, die bereits von Zeitgenossen wie Franz Borkenau und wenig später von Ossip Flechtheim mit gutem Grund bestritten wurde.40 Hervorgehoben sei aber Rosenbergs Verweis auf das demokratische Potential der Arbeiterbewegung, und hier schloss er auch die Anhängerschaft der Kommunisten ein. Sie hätten sich gegen den Nationalismus, Militarismus und Antisemitismus gewandt, der das politische Klima der Weimarer Republik in starkem Maße mitbestimmte. Hingegen hätten sich „die deutschen Mittelklassen, ebenso die Angestellten und Beamten, die den bürgerlichen Parteien angehörten“, bestenfalls in deren Mittelphase „die Republik gefallen lassen. Sie hatten nichts gegen die Weimarer Republik, solange in Deutschland unter dieser Staatsform Ruhe und Frieden herrschten und man einigermaßen den Lebensunterhalt verdienen konnte.“ Doch seien damit, so Rosenberg, die

„Mittelschichten ebensowenig wie die Kapitalisten zu überzeugten Anhängern der Demokratie geworden. Bei jeder ernsten Krise waren sie bereit, der demokratischen Republik den Rücken zu kehren. Die deutschen Akademiker waren in ihrer großen Mehrheit nicht einmal zu dem Scheinfrieden mit der Republik geneigt, den zwischen 1924 und 1928 die Kapitalisten, Agrarier und Mittelständler geschlossen hatten. Der typische Akademiker blieb völkisch und antisemitisch, ein Feind der Republik, der Beteiligung an einer demokratischen Regierung und jeder Erfüllungs- und Kompromißpolitik nach außen.“41

Die Weltwirtschaftskrise und das Versagen der Linksparteien gab schließlich der einzigen unverbrauchten Kraft im gegenrevolutionären Lager, der NSDAP, die Gelegenheit zum politischen Handeln. Sie war, so Rosenberg, die einzige völkische Organisation, der die Massen die behauptete antikapitalistische Orientierung glaubten. „Die deutsche Arbeiterschaft umfaßte zwar drei Viertel des Volkes, aber da sie sich weder in ihren politischen Idealen noch in ihren taktischen Methoden einigen konnte und weil sich ihre Riesenkräfte im Kampfe gegeneinander verbrauchten, kam die Gegenrevolution wieder zur Macht.“42 39 Ebd., S. 62. 40 Vgl. FRANZ BORKENAU: World Communism. A History of the Communist International, London 1938, Neuausgabe Ann Arbor 1962, S. 247; OSSIP K. FLECHTHEIM: Die KPD in der Weimarer Republik, Offenbach 1948, Neuausgabe Frankfurt a. M. 1975, S. 188ff. 41 A. ROSENBERG: Geschichte (wie Anm. 38), S. 171. 42 Ebd., S. 211.

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V. Es bleibt die Frage: War Arthur Rosenberg ein Vernunftrepublikaner und, wenn ja, gab es so etwas wie einen linken Vernunftrepublikanismus? Mustert man seine Äußerungen seit 1927/28, nachdem er die KPD verlassen hatte, unterliegt es kaum einem Zweifel, dass Rosenberg, einst ein radikaler Gegner der Weimarer Verfassung, die Sache der instabilen deutschen Republik zu der seinen gemacht hatte. Dies beschränkt sich nicht auf seine schriftlichen Zeugnisse. An der Berliner Universität scharte Rosenberg in seinen althistorischen Vorlesungen und Übungen einen Kreis linker, demokratisch gesinnter Studenten um sich. Zu ihnen gehörte der künftige Wegbereiter der internationalen Schulbuchforschung Georg Eckert. In den Lehrveranstaltungen, in denen Rosenberg vor allem die materialistische Geschichtsauffassung am Beispiel Griechenlands und Roms erläuterte, wurde er als angeblicher marxistischer Revisionist, so Eckert, „von den Parteikommunisten immer wieder attackiert“, wogegen sich die sozialdemokratischen Studenten und die wenigen der KPD-Opposition angehörenden Kommilitonen wandten.43 Auch Walter Markov, ein anderer Student Rosenbergs und späterer Historiker der Französischen Revolution, lobte die offene, demokratische Denkweise seines Lehrers, dessen „Taktik“ darin bestanden habe, „den Studenten möglichst viel selbst sagen zu lassen und dann als ‚Jupiterʻ nur seine Hand darüber zu halten. Mit den aufgeregten und nicht immer höflichen jungen Leutchen im Hörsaal wurde er so am besten fertig.“44 Der künftige Agrarökonom Theodor Bergmann erlebte Rosenberg als Lehrer am Köllnischen Gymnasium. „Er war ein markanter Lehrer“, so Bergmann, „der seine Schüler mitnahm, beeindruckte durch seine Kenntnisse auch im freien Vortrag, sein demokratisch-sozialistisches Bekenntnis noch zu einer Zeit, als die faschistische Welle immer bedrohlicher anschwoll. Sein Auftreten und Verhalten forderte die Schüler zum Mitwirken in ihrer Gesellschaft auf – tua res agitur war seine Mahnung.“45

Auch Friedrich Meinecke hatte seine studentische Hörerschaft in jenem Vortrag im Januar 1925 zur Mitwirkung an der Gesellschaft aufgefordert, in dem er sagte, er sei „nicht aus ursprünglicher Liebe zur Republik, sondern aus Vernunft und vor allem aus Liebe zu [s]einem Vaterlande Republikaner geworden.“ Meinecke appellierte damals an die Rechtsparteien, einen Vernunftfrieden mit der Republik zu schließen, der allen „häßlichen Klassenegoismus“ überwinden könne.46 Rosenberg sah hingegen die deutsche Republik nicht als eine jenseits und über den Klassen stehende Einrichtung. 43 Brief Georg Eckerts an Helmut Schachenmeyer vom 24. August 1960. Kopie im Besitz des Verfassers. 44 WALTER MARKOV: Zwiesprache mit dem Jahrhundert. Dokumentiert von Thomas Grimm, Berlin/Weimar 1989, S. 36. 45 THEODOR BERGMANN im Vorwort zu M. KESSLER: Rosenberg (wie Anm. 3), S. 9. 46 FRIEDRICH MEINECKE: Republik, Bürgertum und Jugend. Vortrag, gehalten im Demokratischen Studentenbund zu Berlin am 16. Januar 1925, in: DERS., Politische Schriften und

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In seiner linksradikalen Phase zeichnete er ein äußerst vergröbertes Bild der Zusammenhänge zwischen Politik und Wirtschaft. So bezeichnete er die bürgerliche Regierungskoalition unter Reichskanzler Marx im Juni 1924 als eine „Wiederauferstehung der Koalition vom 4. August 1914“; die Rhein- und Ruhrindustrie beherrsche sämtliche bürgerlichen Parteien. „Die Deutschnationalen unterstehen speziell der Firma Krupp; die Deutsche Volkspartei dem Stinnes-Trust; das Zentrum dem Klöckner-Konzern; die Demokraten der Firma Siemens, die ihrerseits ein Glied des Stinnes-Konzerns ist.“47 Rosenbergs Maßstab war die damals illusorische Vorstellung einer sozialistischen Republik, die an die Stelle der bekämpften Weimarer Demokratie zu setzen sei. Ein Jahrzehnt später war er jedoch zu der richtigen Ansicht gekommen, dass ein direkter Übergang von der bürgerlichen zur sozialistischen Demokratie 1918 in Deutschland nicht möglich gewesen war. „Erst in einem langwierigen Entwicklungsprozeß werde sich die Mehrheit des deutschen werktätigen Volkes für den konsequent sozialistischen Staat gewinnen lassen“, schrieb er in seiner Geschichte der deutschen Republik. Nach seinem Klassenkompromiss mit dem junkerlichen Feudaladel sei das Bürgertum nicht einmal zur Absicherung der bürgerlich-demokratischen Revolution imstande. Die Arbeiterschaft müsse diese Aufgabe übernehmen. Somit stehe eine „demokratische Räterepublik, aber unter Ablehnung einer jeden Parteidiktatur“ auf der Tagesordnung.48 Hingegen hätten der statt dessen zur Macht gelangte Rat der Volksbeauftragten und vor allem die Nationalversammlung keinerlei zureichende Anstrengungen unternommen, aus den Reihen der Arbeiterparteien qualifizierte Kräfte zum Aufbau einer neuen Verwaltung zu gewinnen. Dies hätte durchaus Experten des alten Armee- und Verwaltungsapparates einschließen können. Eine Arbeitermiliz, deren Potential Rosenberg indes wohl überschätzte, hätte 1919 das deutsche Militärpotential abbauen helfen können und den Alliierten keine Gelegenheit des Einmarsches nach Deutschland geboten, meinte er. Stattdessen setzte sich die in Weimar bestallte Nationalversammlung „aus tüchtigen, ehrenhaften und fleißigen Abgeordneten zusammen, in denen aber von revolutionärer Energie nichts vorhanden war.“49 Sogar die am meisten republikanisch Gesinnten unter ihnen hätten den konzentrierten Anstrengungen der Konterrevolution, die in den Nationalsozialisten schließlich ihren geeigneten Stosstrupp fand, am Ende nichts mehr entgegenzusetzen gehabt.

Reden, hg. von Georg Kotowski, Darmstadt 1958, S. 369–383, hier S. 377f. Vgl. auch STEFAN MEINEKE: Friedrich Meinecke. Persönlichkeit und politisches Denken bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, Berlin/New York 1995; GISELA BOCK/DANIEL SCHÖNPFLUG (Hg.): Friedrich Meinecke in seiner Zeit. Studien zu Leben und Werk, Stuttgart 2006. 47 ARTHUR ROSENBERG: Marx, Herriot und die KPD, in: Inprekorr vom 25. Juni 1924, S. 917f. 48 A. ROSENBERG: Geschichte (wie Anm. 38), S. 23. 49 Ebd., S. 75.

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Der Begriff des Vernunftrepublikanismus zielt auf eine Haltung ab, die das politische System der ersten deutschen Republik stabilisieren sollte. Zweifellos sah Rosenberg ab 1928 die bürgerlich-parlamentarische Republik als den besten Kampfboden, um eine sozialistische Ordnung verwirklichen zu können, die den politischen Pluralismus nicht aufheben, sondern ins Ökonomische fortentwickeln sollte. Diese Auffassung teilte er mit der Mehrheit der Sozialdemokraten, wenigen, politisch unabhängigen Linken sowie mit einer Minderheit von Kommunisten, die spätestens damals aus der KPD ausgeschlossen wurden oder diese verließen. Inwieweit eine solche antizipierte Demokratie von Parteien oder Räten getragen sein würde, blieb in all diesen Vorstellungen meist offen, was generell als eine konzeptionelle Schwäche jener demokratischen Marxisten anzusehen ist. Anders als etwa Friedrich Meinecke, dem aber ein Gespür für soziale Fragen nicht abgesprochen werden sollte, war Rosenberg nicht bereit, sich mit den sozialen Verhältnissen der Weimarer Republik abzufinden. Mehr als die fehlende politische Legitimation waren, so Rosenberg, die von Beginn an instabile soziale Lage, dann die breite Verarmung des Mittelstandes und der arbeitenden Menschen in Inflation und Weltwirtschaftskrise sowie die Massenarbeitslosigkeit dafür verantwortlich, dass die demokratiefeindlichen Kräfte am Ende Oberwasser bekamen. Dabei waren es genau jene Feinde der Demokratie von rechts, die die sozialen Lasten ihrer eigenen Politik auf die Lohnabhängigen abwälzten. Rosenberg, der die verschiedenen Formen antiker und moderner Demokratie untersucht hatte, vertrat in seinen zeithistorischen Arbeiten die These, dass zu einer sozialistischen Demokratie auch die Aufhebung jener ökonomischen Rahmenbedingungen gehört, die in einer bürgerlichen Demokratie nur eine begrenzte Mitwirkung der Mehrheit erlauben. Die politische Dominanz der ökonomisch Mächtigen über den Staatsapparat und die öffentliche Meinungsbildung aufzuheben, schien ihm als ein erster Schritt in diese Richtung. „Nur wenn der Rhythmus des parlamentarischen Lebens mit dem der übrigen gesellschaftlichen Kräfte übereinstimmt, kann eine Demokratie wirklich funktionieren“, schrieb er am Beginn seiner Geschichte der deutschen Republik.50 All dies geht über den Begriff des Vernunftrepublikanismus hinaus, als ein Republikanismus von links mag Rosenbergs Auffassung dennoch auch heute bestehen.

50 Ebd., S. 13.

III. Vernunftrepublikanismus und Wissenschaft

„Vernunftrepublikanismus“ in der Staatsrechtswissenschaft der Weimarer Republik Christoph Gusy Der Begriff des „Vernunftrepublikanismus“ bzw. der „Vernunftrepublikaner“ hat für die Zeit nach 1918 einen festen Platz im Konzept der Deutung und Systematisierung politischer wie auch wissenschaftlicher Positionen. Zugleich bleibt der Inhalt jenes Begriffs relativ vage: Sowohl seine deskriptive wie auch seine bewertende Leistung ist eher undeutlich ausgeprägt. Das gilt in besonderer Weise für die Rechtswissenschaft, wo das Konzept bislang eher wenig Verwendung gefunden hat.1 Hier – wie überhaupt – bleibt festzuhalten: Versuche, den Weimarer Vernunftrepublikanismus neu zu bestimmen und mit klaren umrissenen inhaltlichen Konturen zu versehen, können analytisch ein ebenso anspruchsvolles wie ertragreiches Unterfangen sein. Doch sind sie von vornherein mit der Hypothek behaftet, terminologische Missverständnisse auszulösen. Das gilt jedenfalls dort, wo jener Begriff schon in der Vergangenheit seinen festen Platz eingenommen hat – also nur höchst eingeschränkt für die Rechtswissenschaft. I. Republikanische Staatsrechtswissenschaft Die oft gehörte Formel von der „Republik ohne Republikaner“ ist auch auf die Weimarer Staatsrechtswissenschaft angewandt worden. Hier sollte sie nicht besagen, dass es unter den Verfassungsrechtlern keine expliziten Anhänger der Republik gegeben habe; wohl aber, dass sie gegenüber den Gegnern der Verfassung zu schwach oder zu wenige gewesen seien. Auch wenn sich ihre Zahl nicht auf die Mitglieder etwa des „Weimarer Kreises“ und die wenigen Sozialdemokraten beschränkte,2 so könnte man sich scheuen, jenen begrenzten 1

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Grundlegend für die Geschichte der Wissenschaft vom öffentlichen Recht in der Weimarer Republik MICHAEL STOLLEIS: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band III, München 1999, S. 74ff, 153ff, wo weder das Konzept der „Vernunftrepublikaner“ noch etwa dasjenige der „Herzensrepublikaner“ eine eigenständige Rolle spielt. Reiches Material zum „Weimarer Kreis“ bei HERBERT DÖRING: Der Weimarer Kreis, Meisenheim am Glan 1975, S. 256ff. In unterschiedlichen Quellen wird eine erhebliche Zahl von Wissenschaftlern genannt. Ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit seien hier erwähnt: G. Anschütz, W. Apelt, O. Bühler, F. Giese, H. Heller, A. Hensel, W. Jellinek, E. Jacobi, F. Jerusalem, H.U. Kantorowicz, H. Kelsen, L. v. Koehler, R. Laun,

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Personenkreis auch noch säuberlich in „Herzens-“, „Vernunft-“ und ggf. weitere Republikaner einzuteilen und so als zersplittert und dadurch zugleich als noch schwächer erscheinen zu lassen, als sie ohnehin schon waren. 1. Ungeeignete Formeln und missverständliche Verwendungen Die beschriebene Scheu ist aber nicht nur eine Frage der Optik. Sie hat auch Gründe, welche z. T. in Besonderheiten der Rechtswissenschaft, aber auch in allgemeinen Gesetzmäßigkeiten wissenschaftlichen Arbeitens begründet sind. Möglicherweise mag auch hier gelten: Laws are different and jurisprudence is different. Dafür sprechen gewichtige Gründe sowohl aus dem Gegenstand als auch der Methode der Staatsrechtswissenschaft. Deren Gegenstand besteht namentlich in der Verfassung bzw. dem Verfassungsrecht. Für die deutsche Staatsrechtswissenschaft seit 1919 bedeutete dies: Ihr Gegenstand war die Weimarer Verfassung, anders ausgedrückt die Verfassung der Republik (Art. 1 Abs. 1 WRV). Wer sich unter deren Geltung mit dem Staatsrecht befasste, musste sich also mit dem Verfassungsrecht der Republik beschäftigen. Ein anderes Staatsrecht als möglicher Gegenstand einer Staatsrechtswissenschaft war nirgends und für niemand erkennbar. So ging man einhellig von der Weimarer Verfassung aus. Nur eine verschwindend kleine Minderheit sprach ihr die Rechtsgeltung bzw. die Anerkennung als geltendes Recht explizit ab: Wer die Akteure der Revolution und Begründer der Republik allein als Hochverräter sah, deren Rechtsbruch kein neues Recht erzeugen könne; wer die daraus hervorgegangene Nationalversammlung nicht als rechtmäßigen Träger der Staatsgewalt ansah, deren Normen rechtsverbindlich Volk und Staat binden könne; wer gar zwischen der Weimarer Verfassung und der „Rechtsidee“ unüberwindliche Widersprüche zu erkennen glaubte, der konnte die Verfassung vom 11. 8. 1919 nicht als Gegenstand des von ihm betriebenen Staatsrechts anerkennen. Doch blieb dies eine extreme Ausnahme. Wer also in der Republik Staatsrecht betrieb, nahm als dessen Ausgangspunkt – teils mehr, teils weniger kritisch – die geltende Verfassung der Republik. Das taten (vor 1933) z. B. auch Carl Schmitt,3 O. Koellreutter, H. Gerber, H. Helfritz und andere. Man sieht: Der Gegenstand der Disziplin erschwert die Unterscheidung zwischen

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K. Loewenstein, A. Mendelssohn-Bartholdy, H. Nawiasky, K. Perels, H. Peters, H. Preuß, G. Radbruch, L. Richter, K. Rothenbücher, C. Sartorius, W. Schücking, H. Sinzheimer, F. Stier-Somlo, R. Thoma, L. Waldecker, L. Wittmayer, H.J. Wolff; von den später noch wirksamen Nachwuchswissenschaftlern E. Fraenkel, O. Kirchheimer, F. Neumann; von den wissenschaftlich tätigen Praktikern A. Brecht, B. Drews, K. Häntzschel. Nicht alle von ihnen betrieben das Staatsrecht als ihr hauptsächliches Fach; und nicht alle waren vor 1933 bereits als Hochschullehrer tätig. Zu ihm etwa HELMUT QUARITSCH: Positionen und Begriffe Carl Schmitts, Berlin4 1984, S. 66ff, 75.

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herzens- oder vernunftrepublikanischen und anderen Autoren. Aber auch die Methoden der Staatsrechtswissenschaft führen für jene Differenzierung wenig weiter. Was auch immer ihren Wissenschaftscharakter ausmachen mag: Sie ist darauf angelegt, ihre Kategorien, Methoden und Ergebnisse zu begründen. Solche Begründungen müssen bestimmten Standards genügen, von denen einzelne (in einem philosophisch eher naiven Sprachgebrauch) auch als „vernünftig“ bezeichnet werden.4 Wer dies so sieht, wird „Vernünftigkeit“ als ein maßgebliches Kriterium der Rechtswissenschaft – wenn nicht gar jeder Wissenschaft – ansehen können und müssen. Konsequent ist dann die Vernunft Eigenschaft jedes rechtswissenschaftlichen Arbeitens, welches den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit berechtigterweise erheben kann. Konsequent ist es dann aber auch keine Schwäche, sondern eher eine Stärke der Staatsrechtswissenschaft, wenn sie nicht bloß Herzens-, sondern zugleich Vernunftangelegenheit ist. In der Konsequenz solchen Vorverständnisses wird man dann sagen müssen: Staatsrechtlicher Republikanismus kann als rechtswissenschaftlicher nur bezeichnet werden, wenn er vernünftig ist. Oder anders ausgedrückt: Ein – alleiniger – staatsrechtswissenschaftlicher Herzensrepublikanismus wäre ein Widerspruch in sich. Daraus speist sich ein grundsätzliches Bedenken gegen jene Unterscheidung. Ist Wissenschaft stets – auch – vernünftig, so kann sie nicht bloß Herzensangelegenheit sein. In diesem Sinne stellt sich die Frage nach der grundsätzlichen Möglichkeit, wissenschaftliches Arbeiten an jenem Maß zu messen. Es ist – jedenfalls im genannten naiven Sinne – immer auch vernünftig. Dies würde es nahe legen, Herzens- bzw. Vernunftrepublikaner eher bei Politikern, Künstlern, Journalisten zu suchen – für die Wissenschaft und insbesondere die Rechtswissenschaft erscheint sie wenig brauchbar. Vielmehr drängt sich ein weiter gehender Verdacht auf. Gewiss: Wir kennen die Ursprünge der Kategorie des „Vernunftrepublikaners“ aus teils selbstzweifelnden, teils fast schon autosuggestiven Überlegungen F. Meineckes – kurz aus Zweifeln, welche zwar manche Anhänger der Republik kannten, die umgekehrt deren Gegnern eher fremd gewesen zu sein scheinen. Meinecke beschrieb seine Position angesichts der „Zerschlagung Deutschlands alter staatlicher Lebensformen“ einerseits und seiner Beobachtung, wonach andererseits Deutschlands „Lebenswille, sein konstruktiver organisatorischer Genius ungebrochen und ... fähig zu neuem Aufbau“ sei, ambivalent: Er „bleibe, der Vergangenheit zugewandt, Herzensmonarchist und werde, der Zukunft zugewandt, Vernunftrepublikaner“.5 Vom „Herzensrepublikaner“ war dort noch nicht die Rede.6 Soweit die Entstehung jener Differenzierung – eine Kreation eines 4 5 6

Zu manchen Varianten solcher Haltungen kritisch CHRISTOPH GUSY: Legitimität im demokratischen Pluralismus, Stuttgart 1987, S. 117ff. FRIEDRICH MEINECKE: Verfassung und Verwaltung der deutschen Republik, in: Neue Rundschau (1919), S. 1–16, hier S. 1, 2 (Zitate). S. dazu erst F RIEDRICH MEINECKE: Zweites Referat, in: W ILHELM KAHL/FRIEDRICH

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selbstkritischen und selbstzweifelnden Republikaners. Die Verwendungsmöglichkeit und eine mögliche Stoßrichtung jener Begrifflichkeit war jedoch eine ganz andere; keine solche republikanischer Binnendifferenzierung, sondern eine solche zur Diskreditierung republikanischen Denkens. Welcher – wohlgemerkt von Selbstzweifeln zumeist weit weniger geplagte – Gegner oder Kritiker der Republik hätte es sich nehmen lassen können, die Anhänger der Republik mit jenen Formeln zu diskreditieren? In Herzensrepublikaner, denen es zwar nicht an politischer Überzeugung, wohl aber an vernünftigen Argumenten zu fehlen schien; und Vernunftrepublikaner, denen es zwar nicht an Argumenten, wohl aber an der entsprechenden Überzeugung mangele. In einem solchen Sinne erschienen allein herzensrepublikanische Wissenschaftler als dumm, allein vernunftrepublikanische als unehrlich. In der Rechtswissenschaft lässt sich eine derart kritische Verwendung jener Formeln nicht feststellen. Doch allgemein lassen derart vielfältig und gegenläufig einsetzbare Begriffe Fragen an den Wert ihrer Verwendung aufkommen: Wenn sie für die wissenschaftliche Binnendifferenzierung nicht adäquat sind, welche Bedeutung kann ihre Verwendung außerhalb wissenschaftlicher Anwendungsfelder leisten? 2. Vernunftrepublikanismus oder Verlegenheitsrepublikanismus? Wir haben gesehen: Die Kategorie des „Vernunftrepublikanismus“ kann kritisch-polemische Gehalte erlangen. Schwieriger ist die Suche danach, was ihren positiven Gehalt ausmachen kann. An stabilisierten Definitionen und konsentierten Zuordnungen besteht ein kaum zu übersehender Mangel. Die Kategorie ist Teil eines verzweigten Begriffsapparates, mit dessen Hilfe Zeitgenossen und Historiker das Spektrum von Meinungen und Richtungen zu beschreiben und zu ordnen versuchten. Als weitere Elemente jenes Apparates lassen sich – ohne irgendeinen Anspruch auf Vollständigkeit – etwa benennen: „Republikaner“ contra „Antirepublikaner“,7 „Herzensrepublikaner“ contra „Vernunftrepublikaner“, „Vernunftrepublikaner“ contra „Herzensmonarchisten“,8 „Antidemokraten“ contra „Demokraten“,9 „Legitimisten“ contra „Le-

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MEINECKE/GUSTAV RADBRUCH (Hg.): Die deutschen Universitäten und der heutige Staat, Tübingen 1926, S. 17–31, hier S. 29, mit der Aufforderung „aus Staatsnotwendigkeit auch einen zweiten Schritt (zu) tun und den Wunsch (zu) haben, dass die neue Staatsform dem deutschen Volke auch ans Herz wachse.“ Zu dieser symbolträchtigen Differenzierung und ihrer zeitgenössischen Bedeutung etwa CHRISTOPH GUSY: Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1997, S. 86ff. Seit F. MEINECKE, Referat (wie Anm. 6), S. 29f. Begriffs- und kategorienprägend nach wie vor KURT SONTHEIMER: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, München 21983; zum demokratischen Denken CHRISTOPH GUSY (Hg.): Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2000. Zur terminologischen Unzulänglichkeit jener begrifflichen Dichotomisierung und

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galisten“, „Substanzialisten“ contra „Prozeduralisten“, „Positivisten“ contra „Antipositivisten“, „Modernisten“ contra „Reaktionäre“ bzw. „Konservative“, „Linke“ contra „Rechte“. Solche zumeist weder allein wissenschaftlich noch allein politisch gemeinten, sich zudem vielfach überschneidenden Zuschreibungen weisen einen hohen antithetischen, zugleich aber einen sehr geringen semantisch bestimmbaren Bedeutungsgehalt auf. Hier mag Aufklärung von außen helfen. „In den Augen der Vernunftrepublikaner war die Republik in gewisser Hinsicht die Strafe, welche die Deutschen ... verdienten. Sie war der Barbarei der Rechten und der Verantwortungslosigkeit der Linken entschieden vorzuziehen; sie verdiente Mitarbeit auch dann, wenn sie keine Begeisterung wecken mochte.“10 Als Prototyp eines solchen „Republikaners mehr aus verstandesmäßiger Entscheidung als aus leidenschaftlicher Überzeugung“ galt vielen Gustav Stresemann.11 Zugleich zeigt gerade seine Biografie die Entwicklungsfähigkeit der Republikaner nach 1919. So spannend es ist, Differenzierungen etwa zwischen „intellektuellen Republikanern“ und „republikanischen Intellektuellen“ nachzugehen: Sie sagen viel über die Ambiance des deutschen Bürgertums und seiner Gesellschaft, aber wenig über den Einzelnen. Hier erscheint die Differenzierung am ehesten psychologisch deutbar. Das gilt erst recht dann, wenn auch das „Republikanertum der Vernunftrepublikaner Gründe hatte, von denen ihre Vernunft nichts wusste.“ Ein ganz elementarer Grund konnte der Mangel an konkreten Alternativen auf Verfassungsebene sein: Man lebte mit der Republik, weil man keine andere Verfassung hatte oder in absehbarer Zeit haben würde. Diese Haltung kann ganz vernünftig sein – und unterscheidet sich in mancher Konnotation äußerlich wenig von der halb ironischen Feststellung, wonach es in der Welt nur schlechte Staatsformen gebe, unter denen die Demokratie die am wenigsten schlechte sei. Die Unterschiede liegen im Bereich der Motive und der Bereitschaft, sich für die bestehende Republik einzusetzen. Hier zeigen Beispiele wie Stresemann, Meinecke u. a.: Nicht alle Vernunftrepublikaner waren Verlegenheitsrepublikaner, welche ausschließlich der Logik des geringsten Übels zu folgen bereit waren. Für jene fehlte nicht nur eine konkrete, sondern auch eine abstrakte Alternative zur Weimarer Verfassung. Wer so dachte, stand nach 1919 auf dem Boden der WRV und bis 1933 nicht im Lager Hitlers. Und dennoch: Angesichts der Breite des damit angedeuteten Spektrums bleibt die Schnittmenge der „vernunftredaraus abzuleitenden analytischen Problemen C. GUSY, Weimarer Reichsverfassung (wie Anm. 7), S. 390ff. 10 PETER GAY: Die Republik der Außenseiter, Frankfurt am Main 1970, S. 45, 46, 49 (Zitate). 11 Nach ebd., S. 46, war Stresemann derjenige, für den man die Bezeichnung Vernunftrepublikaner hätte erfinden können. Aus denselben Quellen schöpft ARNOLD BRECHT: Aus nächster Nähe, Stuttgart 1966, S. 400: „Stresemann der Zweite war geboren, nicht ein bloßer Vernunftrepublikaner mehr, sondern ... mit dem Herzen bei der Sache.“ Dazu wiederum P. GAY, Republik (wie Anm. 10), S. 49.

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publikanischen“ Positionen notwendig blass, verschwimmt die Kategorie jedenfalls auf der individuellen Ebene nahezu zur Leerformel. II. „Republikaner“ zwischen den Kategorien: Drei Beispiele aus der Staatsrechtswissenschaft Wie also soll man in der Staatsrechtswissenschaft Vernunftrepublikaner ausmachen? Wir wissen: Es gab eine Reihe auch prominenter Republikaner. Unter ihnen waren aber nur wenige ausgemachte „Herzensrepublikaner“: Gustav Radbruch, Hermann Heller, Hugo Sinzheimer; wohl auch Richard Thoma,12 Hans Kelsen und einige andere aus der jüngeren und jüngsten Generation der Wissenschaftler. Mit ein wenig mehr Zeitaufwand, als er hier zur Verfügung steht, könnte man fast alle namentlich aufzählen. Und die anderen Republikaner? Waren sie, weil sie keine Herzensrepublikaner waren, Vernunftrepublikaner? Oder gar „nur“ Vernunftrepublikaner? Hier fehlen die Zuordnungs- und Abgrenzungskriterien. Kaum jemand in der Rechtswissenschaft ordnete sich – wie F. Meinecke – der einen oder anderen Haltung zu. Selbstzuschreibungen fallen demnach als Qualifikationskriterien aus. Wir sind also auf Fremdzuschreibungen, auf eigene Kategorienbildungen angewiesen. Sie sollen an drei Fallbeispielen expliziert werden. 1. Gerhard Anschütz: Vernünftiger Herzensrepublikaner oder engagierter Vernunftrepublikaner? Gerhard Anschütz (Jahrgang 1867) zählte am Ende des Weltkriegs zu den etabliertesten deutschen Staatsrechtslehrern.13 Nach eher verwaltungsrechtlichen Anfängen hatten ihn namentlich sein Lehrbuch des Deutschen Staats-

12 Als Herzensrepublikaner bezeichnet bei H. DÖRING, Weimarer Kreis (wie Anm. 2), S. 160. 13 Zu ihm aus neuerer Zeit WALTER PAULY (Hg.): Gerhard Anschütz – Aus meinem Leben, Frankfurt am Main 1993, S. XI; HORST DREIER: Ein Staatsrechtslehrer in Zeiten des Umbruchs: Gerhard Anschütz (1867–1948), in: Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte (ZNR) (1998), S. 28–48; CARL HERMANN ULE: Gerhard Anschütz – Ein liberaler Staatsrechtslehrer des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, in: Der Staat (DSt) (1994), S. 104–112 (aus seiner Zeitgenossenschaft noch stark vom alten Meinungsstand geprägt); ERNST-WOLFGANG BÖCKENFÖRDE: Gerhard Anschütz 1867–1948, in: FS 600 Jahre Universität Heidelberg, Bd. III, Berlin/Heidelberg/New York/Tokio 1985, S. 167–175. Aus der älteren Zeit noch RICHARD THOMA: Gerhard Anschütz zum 80. Geburtstag, in: Deutsche Richterzeitung (DRiZ) (1947), S. 25–27; WALTER JELLINEK: Gerhard Anschütz zum achtzigsten Geburtstrag, in: Süddeutsche Juristenzeitung (SJZ) (1947), S. 1; FRIEDRICH GIESE: Gerhard Anschütz zum Gedächtnis, in: SJZ (1948), S. 333.

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rechts14 und sein Kommentar zur Preußischen Verfassung von 185015 in hervorragender Weise ausgewiesen und ihm einen Lehrstuhl an der Kaiser-Wilhelm-Universität eingetragen. Doch war seine wissenschaftliche Prägung trotz Studiums in Halle und Habilitation in Berlin keine preußische; viel näher stand er – jedenfalls nach seiner Berufung an die Universität Tübingen (1899) – einem etatistischen Liberalismus südwestdeutscher Provenienz. Sein Denken kreiste weniger um den Staat, sondern eher um den Verfassungsstaat. Dabei war seine – viel kritisierte – methodische Position keineswegs naiv, sondern barg erheblichen Sprengstoff in sich. Als Rechtspositivist nahm er das Verfassungsrecht beim Wort und legte dieses im Unterschied zur Mehrheit seiner Kollegen nicht mehr ausschließlich im Lichte tradierter Staatstheorien aus. Im Unterschied zur vorherrschenden Auffassung seiner Zeit erschien ihm die Verfassung nicht bloß als Außengrenze des Staates, sondern als eine seiner Konstitutionsbedingungen. Schon früh forderte er eine Ausweitung der Lehre vom Vorbehalt des Gesetzes und damit eine Stärkung der Volksvertretungen in der Monarchie.16 Was damals – im Gesamtkonzept seiner eher etatistisch geprägten Auffassungen – eher rechtsstaatlich-juristisch als liberal-politisch gemeint war, politisierte sich in der Verfassungskrise des Weltkriegs. Nun forderte er Abkehr vom Obrigkeitsstaat zugunsten einer genossenschaftlichen Auffassung (1916),17 Aufhebung des Dreiklassenwahlrechts (1917)18 und Parlamentarisierung der Regierung (1918).19 Doch blieb sein Denken in den Bahnen der bestehenden Staatsform: Ihm ging es damals um Reform, nicht um Abschaffung der Monarchie. Wer so dachte, konnte die Weimarer Verfassung als Erfüllung vieler eigener Forderungen begreifen. Anschütz sah sie an der Schnittstelle von Tradition und Fortschritt: Traditionell als Grundlage zur Erhaltung des

14 GEORG MEYER/GERHARD ANSCHÜTZ: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts, Leipzig 61905; München 71914/1917/1919. Schon zuvor: GERHARD ANSCHÜTZ: Deutsches Staatsrecht, in: FRANZ VON HOLTZENDORFF u. a. (Hg.): Enzyklopädie der Rechtswissenschaft II, Leipzig/Berlin 61904, S. 449; München/Leipzig/Berlin 71914, Bd. IV, S. 1. 15 G ERHARD A NSCHÜTZ: Die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat, Berlin 1912. 16 Seit GERHARD ANSCHÜTZ: Kritische Studien zur Lehre vom Rechtssatz und formellen Gesetz, Halle-Wittenberg 1891; GERHARD ANSCHÜTZ: Die gegenwärtigen Theorien über den Begriff der gesetzgebenden Gewalt, Tübingen 21901. Vgl. dagegen zum Stand der zeitgenössischen Diskussion CHRISTOPH SCHÖNBERGER: Das Parlament im Anstaltsstaat, Frankfurt am Main 1997. 17 GERHARD ANSCHÜTZ: Besprechung von Hugo Preuß, Das deutsche Volk und die Politik, in: Preußische Jahrbücher, Band 164, Berlin 1916, S. 339–346, S. 345f. 18 GERHARD ANSCHÜTZ: Die preußische Wahlreform, Berlin 1917, S. 2. Grundsätzlich auch GERHARD ANSCHÜTZ: Zukunftsprobleme deutscher Staatskunst, Berlin 1917. 19 GERHARD ANSCHÜTZ: Parlament und Regierung im deutschen Reich, Berlin 1918.

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Reichs20 bzw. des Staates;21 fortschrittlich als gelungener Mittelweg zwischen einerseits einer Monarchie, die „zusammengebrochen ist an und in ihrer Schwäche, von den Riesenaufgaben des Weltkriegs erdrückt, an entscheidender Stelle versagte“22 und deshalb nicht einmal mehr planmäßig gestürzt zu werden brauchte, und andererseits einer Revolution, die – neben anderen Ursachen – Unordnung und Verwirrung herbeigeführt23 und immerhin die Möglichkeit einer Diktatur des Proletariats, also einer Klassenherrschaft, heraufbeschworen habe.24 An der Verfassungsdiskussion 1918/19 hat er früh und einflussreich mitgewirkt,25 nicht aber an der Ausarbeitung selbst. Neben klaren Bekenntnissen zum nationalen Staatsgedanken, zur Staatlichkeit und Souveränität des Reiches, ging es ihm darum, das zusammengebrochene Staatswesen neu zu gründen und aufzubauen. Grund- und Freiheitsrechte, rechtliche Gleichheit als Grundlagen der Demokratie, Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Reichstag (und sonst niemandem), starkes („regierendes“) Parlament, demokratisch gewählter Reichspräsident: Die Monarchie und die Fürsten hat er nach 1918 nie vermisst.26 Die neue Verfassung hat er – ungeachtet mancher Detailkritik – begrüßt, unterstützt und verteidigt; wissenschaftlich, politisch27 und vor Gericht. Davon ließ er sich auch durch Widerspruch und öffentliche Proteste nicht abbringen.28 Wenn er es stets ablehnte, einzelne Verfassungsbestandteile für unabänderlich oder unaufhebbar zu halten,29 war dies bei ihm keine Distanzierung von der WRV, sondern Verfassungsverwirklichung, genauer: Verwirklichung der freiheit-

20 GERHARD ANSCHÜTZ: Drei Leitgedanken der Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1923, S. 3: „Das Reich muss uns doch erhalten bleiben“; ebd. betont er – ganz im Sinne der Idee des Verfassungsstaats – den unlösbaren Konnex von Reich und Reichsverfassung. 21 GERHARD ANSCHÜTZ: Die Verfassung des Deutschen Reichs, Berlin 141933, S. 1: „Die Verfassung ist gewechselt, der Staat ist geblieben.“ S. a. G. ANSCHÜTZ, Leitgedanken (wie Anm. 20), S. 6ff. 22 G. ANSCHÜTZ, Leitgedanken (wie Anm. 20), S. 22. 23 Ebd., S. 3. 24 GERHARD ANSCHÜTZ: Die kommende Reichsverfassung, in: Deutsche Juristen-Zeitung (DJZ) (1919), S. 113–123, hier S. 116. 25 Ebd., S. 113; GERHARD ANSCHÜTZ: Der Aufbau der obersten Gewalten im Entwurf der deutschen Reichsverfassung, in: DJZ (1919), S. 199–205. 26 Er sah im Jahre 1918 „das deutsche Volk, von seinem Kaiser und seinen Fürsten verlassen, auf sich selbst angewiesen“. „Wir mussten uns helfen, ... und wir haben uns geholfen.“ G. ANSCHÜTZ, Leitgedanken (wie Anm. 20), S. 22. 27 S. insbesondere auch seine Rede zur Verfassungsfeier der Reichsregierung bei RALF POSCHER: Der Verfassungstag, Baden-Baden 1999, S. 54. 28 Zur Rezeption der demokratischen Passagen seiner Rektoratsrede – trotz verbalen Entgegenkommens an die Gegner durch auffallend nationalistische Tonlagen – W. PAULY, Anschütz (wie Anm. 13), S. XXXV. 29 G. ANSCHÜTZ, Verfassung (wie Anm. 21), S. 405: „Die Verfassung steht nicht über der Gesetzgebung, sondern zur Disposition derselben.“

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lichen und demokratischen Gehalte der verfassungsgeleiteten Gesetzgebung.30 Anschütz, politisch der DDP nahestehend, engagierte sich maßgeblich im Weimarer Kreis. Sein Einsatz für die Republik und ihre Verfassung steht außer Zweifel.31 Er hat sich nicht bloß auf ihren Boden gestellt, sondern sie aktiv propagiert. Und dennoch wäre ebenso vorstellbar gewesen, dass er sich auf den Boden einer parlamentarischen Monarchie gestellt hätte, wenn diese – von ihm früher geforderte – Staatsform in Deutschland eine Verwirklichungschance gehabt hätte. Sie hatte es nicht, und deshalb war Anschütz vernünftigerweise Republikaner. Später hätte man ihn mit Recht einen bedeutenden Verfassungspatrioten genannt. Die neuere Literatur sieht ihn „keinesfalls (als) das, was man einen bloßen Vernunftrepublikaner nennt.“ Vielmehr habe der engagierte und überzeugte Demokrat sich „vor dem Zusammenbruch noch eine Symbiose von Kaisertum und Demokratie vorstellen“ können, doch „warb er in den Weimarer Jahren nicht aus rein pragmatischen Gründen für die Akzeptanz der demokratischen und republikanischen Staatsform, sondern massiv für eine entsprechende Gesinnung.“32 Nach ähnlicher Ansicht war er „nicht lediglich Vernunftrepublikaner, sondern ... zählte zu den wenigen Staatsrechtslehrern der Weimarer Jahre, die das System egalitärer Volksherrschaft von Anfang an begrüßten und es gegen seine Verächter, die an Zahl und Gewicht im Laufe der Jahre zunahmen, verteidigten.“33 Gewiss, er war Republikaner aus Vernunft. Und sein aus Vernunft geborenes Engagement geschah aus innerster Überzeugung. Hier zeigen sich Ambivalenz und Unschärfe der Konzepte: Anschütz war Republikaner aus Einsicht, und für diese Einsicht hat er sich engagiert. 2. Wilhelm Kahl: Zwischen Verlegenheitsrepublikanismus und Vernunftrepublikanismus Wilhelm Kahl (Jahrgang 1849)34 hatte bei In-Kraft-Treten der Weimarer Verfassung bereits das 70. Lebensjahr vollendet. Er hatte sich vor 1918 weniger mit verfassungsrechtlichen, sondern eher mit straf- und kirchenrechtlichen Fragen und den Beziehungen zwischen Staat und Kirche befasst. Hier war er 30 Zur Weimarer Diskussion über Art. 76 WRV näher CHRISTOPH GUSY: Die Änderung der Weimarer Reichsverfassung, in: ZNR (1996), S. 44–65. 31 Zusammenfassend H. DREIER, Staatsrechtslehrer (wie Anm. 13), S. 34ff, auch gegen C. H. ULE, Anschütz (wie Anm.13). 32 W. PAULY, Anschütz (wie Anm. 13), S. XXXIII mit Fn. 112. 33 Anschütz sei „nicht lediglich Vernunftrepublikaner, sondern Demokrat aus innerer Überzeugung“; so H. DREIER, Staatsrechtslehrer (wie Anm. 13), S. 28, 32. 34 Zu Kahl KLAUS ACHENBACH: Recht, Staat und Kirche bei Wilhelm Kahl, Diss. Regensburg 1972.

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als energischer Befürworter rechtlicher Sonderstellungen der evangelischen Kirche aufgetreten, welche er damals in Preußen ansatzweise verwirklicht sah. Für sein zentrales Anliegen, eine Art Gleichgewicht zwischen garantierter Kirchenautonomie einerseits und rechtlicher Privilegierung der Kirchen andererseits zu suchen und zu finden, sah er im Konstitutionalismus günstige Voraussetzungen. So zeigte er sich als Verfechter der Reichs- und der Preußischen Verfassung. Das Reich und sein Recht waren ihm „das Ergebnis gesunder organischer Entwicklung, ... eine vernünftige Ordnung und wohltätige Einrichtung“.35 Sein Bekenntnis zu „unserem Königlichen Herrn“, zu „König und Vaterland“, zum „Fürstengeschlechte der Hohenzollern“ zeigt ihn als „Herzensmonarchisten“. Missstände in jener „vernünftigen Ordnung“ nahm er wahr, arbeitete diese allerdings im Rahmen des monarchischen Staatsrechts ab.36 Obwohl durchaus politischer Professor, hatte er (Mitglied der Nationalliberalen seit 1874) staatliche Wahlämter bis 1919 nicht bekleidet, sich jedoch öffentlich für Monarchie und Vaterland, auch im Kontext der Ideen von 1914, engagiert.37 Vor diesem Hintergrund bewertete er auch nach seiner Wahl in die Nationalversammlung als Mitglied der DVP die Revolution negativ:38 Sie habe „das alte Recht zertrümmert und neues an seine Stelle gesetzt. Der Respekt vor dem Recht ist gesunken, diese bewusste Auflehnung gegen die Rechtsordnung hat sich gesteigert, das Verbrechertum hat zugenommen.“39 Für ihn war die Revolution Unrecht. Doch war ihm nicht alles Unrecht, was seit 1918 geschah. Die neue Ordnung sei aber (jedenfalls noch) schlechteres Recht. Auch in der Nationalversammlung wollte er „kein grundsätzliches Bekenntnis zur Republik ablegen. Sie muss ihren Befähigungsnachweis erst erbringen.“40 Seine Option „frei gegenüber der Zukunft, aber treu gegenüber der Vergangenheit“ mündete in den Wunsch nach einer „volkstümlich-sozialen Monarchie“. Jener Wunsch blieb ohne konkrete Option: Kahl dachte nicht an eine Rückkehr zum Hohenzollernreich, gangbare Alternativen sah er aber ebenso wenig. Sein 35 Kahl, zit. nach MAX ALSBERG: Wilhelm Kahl, Berlin 1929, S. 37; s. a. WILHELM KAHL: Über Parität, Freiburg 1895, S. 1; DERS.: Bekenntnisgebundenheit und Lehrfreiheit, Berlin 1897. Dazu auch K. ACHENBACH, Recht (wie Anm. 34), S. 19. 36 Zu seiner Haltung im Lippischen Thronfolgestreit, welche ihn in einen Gegensatz sowohl zu den Hohenzollern als auch zu P. Laband brachte, s. K. ACHENBACH, Recht (wie Anm. 34), S. 219ff (Nachw.). 37 Kahl, zit. nach K. ACHENBACH, Recht (wie Anm. 34), S. 246ff. 38 Verhandlungen des Reichstags, Bd. 327, Berlin 1920, S. 1227. Dort macht Kahl die „mit russischem Golde betriebene Propaganda für den Bolschewismus im deutschen Heere“ für die Revolution verantwortlich und nähert sich mit dem Satz: „Aber der Zusammenbruch wäre ohne diese infame Verseuchung niemals vorgekommen“ gar der Dolchstoßrhetorik. 39 Kahl, zit. nach K. ACHENBACH, Recht (wie Anm. 34), S. 24 Fn. 31. 40 Verhandlungen des Reichstags, Bd. 326, Berlin 1920, S. 222; Bd. 345, Berlin 1920/1921, S. 1174.

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Engagement in der Nationalversammlung der Republik sah er pragmatisch. Da „das Volk jetzt andere und größere Sorgen hat als die Frage des Kampfes um die Staatsform“, sei er sich dessen bewusst, „was wir auf der Grundlage der Weimarer Verfassung der jetzt bestehenden republikanischen Staatsform schuldig sind.“ In ihr sollte er bis zu seinem Tod (1932) Mitglied des Reichstags bleiben und daneben zahlreiche öffentliche Ämter – insbesondere im kirchlichen Bereich und beim Deutschen Juristentag – bekleiden. Seine anfangs ablehnende, zumindest abwartende Grundhaltung gegenüber dem „neuen Reich“41 nötigte ihn zur politischen Parteinahme erst nach dem Rathenau-Mord.42 Kahls Bekenntnis („Das Bürgertum weiß, dass sich ... heute ... jede vaterländische politische Arbeit auf dem Boden der bestehenden republikanischen Staatsform vollziehen muss.“) klang nach wie vor distanziert, doch erschien die „bestehende republikanische Staatsform“ jetzt als alternativlos, erst recht ohne konkrete politische Alternative. Wissenschaftlich äußerte er sich anlässlich der Gründungstagung des Weimarer Kreises (1926). Kahl zählte zu den Unterzeichnern des Gründungsaufrufs und hielt dort das Einführungsreferat.43 Die sehr grundsätzlich angelegten Ausführungen setzten bei der Zukunftsfähigkeit „unseres Reiches“ an, welche mangels äußerer Machtmittel „einzig und allein ... von der inneren Kraft ... und Einheit des deutschen Staats- und Volkstums abhängig sei.“ Diese sei nicht im Kampf der Parteien, sondern allein auf dem „höheren Nenner von Staatsgesinnung“ anzustreben. Hierfür gebe es „ein anderes Zeichen nicht, als recht und schlecht die ehrliche Anerkennung einer obersten gemeinsamen bindenden Norm, der Verfassung des Reiches.“ Sie sei aber nicht das Ziel, sondern allenfalls ein Weg zum Ziel: „Das schlechthin notwendige ist der Staat als solcher, nicht die Staatsform.“ Auch wenn die Verfassung vom Standpunkt der Konstruktion eines demokratischen Staates zahlreiche Mängel, Fehler und Lücken enthalte, so bedeutete solche Kritik für ihn nicht, sie zu zerstören, sondern „das Beste aus ihr herauszuholen“. In diesem Sinne stehe hinter dem Bekenntnis zur Verfassung „die Liebe zum Vaterland – und nur sie“. Das war ganz pragmatisch gedacht: Die auch von ihm geteilte Ansicht, „dass auch die Revolution rechtssetzende Kraft hat,“ war ihm verstandesmäßige Erkenntnis, zugleich aber auch eine Verletzung des Rechtsgefühls. Doch gehe es für das deutsche Volk nicht um die Staatsform, sondern um „Leben und Tod“, den „unvermeidlichen Bürgerkrieg“ und den „sicheren Untergang“. So stand sein Gruß „mit Ehrerbietung“ für die Farben schwarz-rot-gold auch im ausdrücklich betonten Kontext der „deutschen allgemeinen und Universitätsgeschichte“. In der Fol41 WILHELM KAHL: Die dreie Reiche, in: Festgabe für Liebmann, Berlin 1920, S. 79ff, sah die „Deutsche Republik“ als das dritte Deutsche Reich und betonte die staatsrechtliche Diskontinuität zwischen allen drei Reichen. 42 Verhandlungen des Reichstags, Bd. 356, Berlin 1920/22, S. 8428. 43 W. KAHL/F. MEINECKE/G. RADBRUCH, Universitäten (wie Anm. 6), S. 3f (Gründungsaufruf), S. 5ff (Vortrag Kahl); Zitate ebd., S. 8, 10, 11, 14, 12, 13.

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gezeit setzte Kahl sich mehrfach für den Schutz der Weimarer Verfassung, zumeist gegen Gefahren von links, ein. Der überall zum Ausdruck kommende Etatismus kann als Schlüssel seiner neuen Einsichten gelten. Angesichts der äußeren Gefahren durch den latenten Bürgerkrieg einerseits und der inneren Annäherung der Republik an ihre monarchischen Vorgänger durch die Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten andererseits erscheint nicht mehr die Monarchie, sondern der Staat, das „Vaterland“, als maßgeblicher Bezugspunkt. Im Streit um die Verfassung ging es nicht allein um die Frage nach der Republik oder einer anderen Staatsform. Dahinter stand für Kahl mehr, nämlich die Frage nach dem Staat oder dem Bürgerkrieg.44 Und als Alternative zum anarchischen Bürgerkrieg war die Verfassung von Weimar allemal vorzugswürdig. Eine solche Haltung steht eher zwischen Verlegenheits- und Vernunftrepublikanismus.45 Immerhin: Abstrakt fand auch er einen einzigen, ihn ausdrücklich „mächtig anziehenden“ Aspekt des „demokratischen Staatsgedankens“: Die „Mitverantwortung Aller, jedes Einzelnen fürs Ganze“ als „großes sittliches Prinzip“. Doch bleibt dies auf der Ebene des Prinzips, nicht auf derjenigen der Realität. Konkret habe er in der Praxis der Politik „eine Begeisterung für die junge Republik noch nicht gewinnen können.“46 3. Alexander Graf zu Dohna: Verlegenheitsrepublikanismus als Verfassungskritik Alexander Graf zu Dohna (Jahrgang 1876)47 ist der jüngste der hier vorzustellenden Autoren. Dessen ungeachtet hatte er im Kaiserreich eine beachtliche Karriere gemacht: Dem adeligen Professor der Universität Königsberg war zeitweise die Aufgabe des wissenschaftlichen Lehrers des Kronprinzen übertragen worden. Politisch war er damals Mitglied der Nationalliberalen, allerdings ohne Amt oder Mandat. Er war bis 1914 als Hochschullehrer der Rechts44 S. a. Abg. Stresemann, Verhandlungen des Reichstags, Bd. 356, Berlin 1920/1922, S. 8712: Es gehe um „Staatsbejahung oder Staatszerstörung.“ 45 Anders – und m. E. durch den Inhalt des Buches nicht begründet – erscheint dagegen die Wertung bei K. ACHENBACH, Recht (wie Anm. 34), S. 266f: „Nationalist, der – wenn auch ungewollt – vor allem durch seine im Ersten Weltkrieg und zu Beginn der Weimarer Zeit gehaltenen Reden dazu beitrug, den Boden zu bereiten, auf dem sich später der Nationalsozialismus entfalten konnte.“ Wer einen so weiten Ursachenzusammenhang postuliert, verliert trennscharfe Kriterien für die Erklärung des Weges, der Ursachen und der Urheber des Nationalsozialismus. 46 W. KAHL/F. MEINECKE/G. RADBRUCH, Universitäten (wie Anm. 6), S. 12f. 47 Zu ihm HERMANN WEBER: Alexander Graf zu Dohna, in: WILFRIED KÜPER (Hg.): Heidelberger Strafrechtslehrer im 19. und 20. Jahrhundert, Heidelberg 1986, S. 275; ALFRED ESCHER: Neukantianische Rechtsphilosophie, teleologische Verbrechensdogmatik und modernes Präventionsstrafrecht, Berlin 1993.

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philosophie und des Strafrechts hervorgetreten; seine Befassung mit dem Staatsrecht setzte ebenso wie seine politische Tätigkeit erst im Weltkrieg und zentral nach dessen Ende ein. Im Zentrum seines Denkens hatte ein rechtsphilosophisch fundiertes Strafrecht gestanden, welches um Ideen von (Selbst-)Verantwortung des Individuums in und gegenüber der Gemeinschaft sowie die politische Aufgabe und das Recht des Staates auf Begründung und Einforderung jener Verantwortung kreiste. Dohnas damals wie heute teils missverstandenen, teils umstrittenen philosophischen Grundpositionen prägten zugleich seine ersten Schritte auf dem Weg zu Politik und Verfassungsrecht, welche in die Kriegszeit fielen. Auch hier standen Einbindung und Einordnung des Einzelnen in Gemeinschaft und Staat im Vordergrund: Die Rechtsstellung des Individuums wird nicht primär um ihrer selbst willen, sondern aus ihrer Mitwirkung am Gemeinwesen und um dieser Mitwirkung willen begründet. Umgekehrt sei das Gemeinwesen – schon um seiner selbst willen – verpflichtet, seine Mitglieder mit Rechten und Leistungen auszustatten, welche bei diesen die bestmögliche Bereitschaft und Fähigkeit begründen, gemeinschaftsbildend und -erhaltend zu wirken. Die kreisförmig verlaufende Wechselbezüglichkeit individueller und kollektiver Rechte und Pflichten sei konstituierend nicht nur für das Straf-, sondern auch für das Staatsrecht. Seine darauf aufbauende politische Option war eindeutig: Er war Anhänger der konstitutionellen Monarchie, sah aber zugleich deren Reformbedürftigkeit. Das ungleiche Wahlrecht in Preußen und das ungleich wirkende Wahlrecht im Reich seien angesichts der Verdienste der Arbeiter sowie der Sozialdemokratie im Krieg nicht mehr zeitgemäß. Doch trat er damit keineswegs für ein gleiches Wahlrecht ein, sondern votierte für eine den neuen Verhältnissen angemessene Differenzierung. Doch blieb dies wenig konkret: Seine Anliegen waren der nationale Gedanke, die Versöhnung mit der Sozialdemokratie und die Beibehaltung der alten Verfassung, angefüllt mit neuem Geist.48 Politisch aktiv wurde er nach der Revolution, als er – nun DVP-Mitglied – in die Nationalversammlung und den 1. Reichstag (bis 1921) gewählt wurde. Hier wirkte er in zahlreichen Ausschüssen mit, nahm dort aber keine herausragenden Ämter ein und wirkte auch nicht in herausgehobener Position an der Ausarbeitung der Verfassung mit. Diese lehnte er mit seiner Fraktion in der Schlussabstimmung ab. Als Anhänger der Monarchie, in der er das Gemeinwohl am besten verwirklicht sah,49 war er Gegner der Republik und 48 S. etwa ALEXANDER GRAF ZU DOHNA: Richtlinien einer Wahlrechtsreform, in: Der Tag v. 18. 8. 1916; DERS.: Die Reden im Herrenhause, in: Königsberger Allgemeine Zeitung v. 21. 3. 1917. Weitere Nachw. bei A. ESCHER, Rechtsphilosophie (wie Anm. 47), S. 21ff. 49 Modifiziert wurde seine Einstellung offenbar durch die Arbeit des Untersuchungsausschusses zur Aufklärung der Kriegsschuldfrage und der Ursachen der militärischen Niederlage. Danach hätten jedenfalls die damaligen politischen und militärischen Führer „versagt“; die Revolution sei nicht Ursache, sondern Folge der Niederlage gewesen. Nachw. bei A. ESCHER, Rechtsphilosophie (wie Anm. 47), S. 26.

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insbesondere der parlamentarischen Regierungsform, welche nach seiner Auffassung den Parteien und den Einzelinteressen zu viel Raum gab. Mindestens ebenso wichtig war ihm seine Grundsatzkritik an Art. 3 WRV in der Flaggenfrage.50 Gleichzeitig bemühte er sich aber auch um eine „konstruktive“ Haltung, um auf dem Boden der neuen Verfassung für den Wiederaufbau des Staatswesens zu arbeiten. Dies führte ihn zur Ablehnung des Kapp-Putsches und sonstiger Bestrebungen, die Revolution von 1918 durch eine neue Revolution zu stürzen,51 sowie des Magdeburger Rothardt-Urteils.52 Aus ähnlichen Motiven geriet er in politische Gegnerschaft zum fundamentaloppositionellen Kurs der DNVP.53 Dohnas wissenschaftliche Haltung zur Verfassung entwickelte sich – nicht untypisch für einen Strafrechtswissenschaftler – zumeist in Auseinandersetzung mit strafbaren Angriffen gegen die neue Ordnung.54 Am Anfang stand die Frage nach ihrer rechtlichen Geltung.55 Er sah die Revolution nicht bloß als Bruch des (älteren) Rechts, sondern zugleich als mögliche Quelle neuen Rechts. Aus früherem Unrecht könne nicht nur neues Unrecht, sondern auch neues Recht hervorgehen. Grundlage dieses Qualitätssprunges war ihm die Anerkennungstheorie: Durch die Wahl und die Verfassunggebung der Nationalversammlung sei die neue Herrschaftsform nicht nur als Tatsache, sondern auch in ihrem Anspruch auf Rechtmäßigkeit anerkannt. Damit folgte er der herrschenden Auffassung des staatsrechtlichen Positivismus seiner Zeit.56 Inhaltlich begrüßte er die fortschreitende, ihm noch keineswegs ausreichende Unitarisierung durch die WRV. Doch verband er damit Kritik an zahlreichen Einzelbestimmungen der Verfassung. Jene Ambivalenz aus nachträglicher Hinnahme der WRV und gleichzeitiger Kritik an wesentlichen Inhalten sollte seine Grundhaltung fortan prägen. Einerseits zählte Dohna zu den Initiatoren des Weimarer Kreises. Andererseits war sein Vortrag auf dessen 2. Tagung57 überwiegend kritisch getönt: Die Krise des Parlamen50 ALEXANDER GRAF ZU DOHNA: Deutsche Stimmen Nr. 36, v. 7. 9. 1919, S. 601. 51 ALEXANDER GRAF ZU DOHNA: Der Münchener Hochverratsprozeß, in: DJZ (1924), S. 330–335 (zum Hitler Putsch). 52 ALEXANDER GRAF ZU DOHNA: Vorsatz bei Landesverrat, in: DJZ (1925), S. 146–150. Im Rothardt-Urteil war Eberts Verhalten im Weltkrieg als (objektiver) Landesverrat und Feindbegünstigung bezeichnet worden. 53 Nachw. bei A. ESCHER, Rechtsphilosophie (wie Anm. 47), S. 27. 54 Eine gewisse Ausnahme stellt hier sein Gutachten für den 33. Deutschen Juristentag über „Zulässigkeit und Form von Verfassungsänderungen ohne (gleichzeitige) Änderung des Verfassungstextes“, 1924, dar. 55 ALEXANDER GRAF ZU DOHNA: Die Revolution als Rechtsbruch und Rechtschöpfung, Heidelberg 1923, S. 13, 16, 26 (Zitate). 56 Grundlegung und Nachw. bei GERHARD ANSCHÜTZ: Die Verfassung des deutsches Reichs, Bad Homburg/Berlin/Zürich 141933, S. 1ff. 57 WILLY HELLPACH/ALEXANDER GRAF ZU DOHNA: Die Krisis des deutschen Parlamentarismus, Karlsruhe 1927, S. 21, 31, 30, 32ff, 34f (Zitate). S. a. ebd., S. 35, wonach „das parlamentarische Prinzip sich entwicklungsgeschichtlich auf soziologischen Verhältnissen aufbaut, die bei uns weder vorhanden noch auch nur in Zukunft zu beschaffen sind (!)“.

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tarismus finde ihre Ursachen „in der soziologischen Struktur unseres Parteiwesens und dem Mangel aller wesentlichen Vorbedingungen für ein gedeihliches Funktionieren des parlamentarischen Betriebs.“ Die diesbezüglichen Artikel der WRV seien zudem „einer vollkommen wiederspruchslosen Auslegung nicht zugänglich.“ Konkret forderte er die Stärkung des Reichspräsidenten, Schwächung der parlamentarischen Kontrollrechte gegenüber der Regierung, Zurückdrängung von Mehrheitsentscheidungen und des Parteieinflusses. Seine auf der Entgegensetzung von „Volkswillen“ und „einseitiger Interessenpolitik“ aufbauenden Ausführungen spiegelten gewiss manche politische Krise der Zeit wider, waren aber eher ein Plädoyer für eine Verfassungsreform als für die Weimarer Verfassung.58 Grundsätzlicher wurde er erneut in den großen Verfassungsdebatten gegen Ende der Republik. Im – ihm noch in der Nationalversammlung so wichtigen – Flaggenstreit solle man sich „in die vollzogene Tatsache fügen und dem zermürbenden Streit ein Ende machen.“ Auch wenn die Niederholung der schwarz-weiß-roten Fahne des Bismarck-Reichs am Kriegsende gegen Pietät und Würde verstoßen habe, so gelte nunmehr dennoch: Die Republik habe die Tradition von 1871 zugunsten einer älteren, nämlich derjenigen von 1848/49 verlassen wollen. Daher müsse „aus sachlicher Erwägung ausgesprochen werden, dass dieser neue Staat das ihm entsprechende Symbol nur in der schwarz-rot-goldenen Flagge finden konnte.“59 Auch hier fielen ihm Fakten und Inhalte zusammen: „Die deutsche Republik ist heute fest genug gefügt, um es sich leisten zu können, die großen Traditionen deutscher Geschichte aufnehmen und fortführen zu können.“ Daher stand er der Flaggenverordnung Hindenburgs kritisch gegenüber.60 Die Legitimation des rechtlichen Schutzes der neuen Republik wie auch ihrer Symbole sah er allerdings weniger im Republikschutz als vielmehr im – staatsformunabhängigen – Staatsschutzgedanken.61 Aber auch jetzt blieb seine Haltung zum Inhalt der Weimarer Verfassung kritisch: Hier fanden sich die Forderung nach fortschreitender Unitarisierung, Kritik am gleichen Wahlrecht der „Massen“, am demokratischen Prinzip der Stimmengleichheit und am Mehrheitsprinzip;62 Dohna plädierte statt dessen dafür, dass „auf demokratischem Boden sich eine Aristokratie erhebe, die durch Leistung und Befähigung sich ausweist“: Er forderte erneut die Nation, die „alle Elemente der Kraft, der 58 So sah die Haltung Dohnas (ebenso wie diejenige Kahls und seine eigene Auffassung) etwa FRIEDRICH MEINECKE: Weimarer Tagung deutscher Hochschullehrer, in: Wille und Weg 3 (1927/28), S. 80f. S. dazu H. DÖRING, Weimarer Kreis (wie Anm. 2), S. 99. 59 ALEXANDER GRAF ZU DOHNA: Der 18. Januar und die deutsche Republik, Bonn 1930, S. 8, 3, 12 (Aristokratie) (Zitate). 60 ALEXANDER GRAF ZU DOHNA: Die staatlichen Symbole und der Schutz der Republik, in: GERHARD ANSCHÜTZ/RICHARD THOMA (Hg.): Handbuch des deutschen Staatsrechts I, Tübingen 1930, S. 200–208, hier S. 202f. 61 Ebd., S. 204f. 62 S. a. ALEXANDER GRAF ZU DOHNA: Diskussionsbeitrag, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (VVDStRL ), Berlin/Leipzig 71932, S. 192.

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Kenntnisse und einer gemäßigten und gesetzlichen Freiheit in sich faßt“ und kehrte so zu seinen rechtsphilosophischen und -politischen Wurzeln aus der Zeit vor 1918 zurück. Dohnas etatistisch-nationale Haltung begründete sein Credo: Hinnahme der Verfassung als Faktum bei gleichzeitiger Forderung nach ihrer Veränderung:63 Sein Verlegenheitsrepublikanismus lässt wenig Distanz gegenüber einer „Logik des geringsten Übels“ erkennen. Und dennoch: Für solche Positionen fand sich seit 1930 in seiner Partei kein Platz mehr. Dem Rechtsruck der DVP nach dem Tode Stresemanns versuchte er sich erfolglos zu widersetzen und trat 1932 aus der Partei formell aus.64 III. Schlussfolgerungen: Alte und neue Dimensionen des Vernunftrepublikanismus Die drei hier exemplarisch genannten Autoren lassen eine breite Spannweite von Erfahrungen, Ansichten und Argumenten erkennen. Diese reichen vom verlegenheitsrepublikanisch zu nennenden Verfassungskritiker bis zum engagierten Demokraten aus Vernunft. Alle drei kannten einander persönlich gut und bezeichneten die anderen gelegentlich als „Freunde“ oder Förderer; doch ist eine konkrete Zusammenarbeit zwischen ihnen am Projekt der Republik, der Demokratie oder der Verfassung – bis auf ihre gemeinsame Mitgliedschaft im innerlich zerstrittenen, nach außen wenig einflussreichen Weimarer Kreis nicht zu erkennen. Sämtlich engagierten sie sich in oder für bürgerlich-liberale Parteien. Auch wenn zwischen DDP und DVP damals in den hier relevanten Zentralfragen erhebliche Unterschiede erkennbar waren, so zeigt sich doch: Die hier vorgestellten DVP-Mitglieder zählten zum verfassungsloyalen „Stresemann“-Flügel; Sympathien für den Kapp-Putsch65 zeigten sie ebenso wenig wie für den Rechtsruck der Partei nach Stresemanns Tod. Auffällig ist auch noch eine andere Gemeinsamkeit: Eine Zusammenarbeit mit prononciert sozialdemokratischen Staatsrechtswissenschaftlern findet sich bei ihnen in der Republik kaum.66 63 Ähnlich A. ESCHER, Rechtsphilosophie (wie Anm. 47), S. 31: Dohna habe sich „nur aufgrund seiner etatistisch-nationalliberalen Überzeugung für den Erhalt und die Fortbildung der Weimarer Republik eingesetzt.“ S. a. ALEXANDER HOLLERBACH: Zu Leben und Werk Erik Wolfs, in: ERIK WOLF: Studien zur Geschichte des Rechtsdenkens, Frankfurt am Main 1982, Bd. 3, S. 235–271, hier S. 242. 64 A. ESCHER, Rechtsphilosophie (wie Anm. 47), S. 33ff., S. 37. 65 Zur Position Dohnas insoweit A. ESCHER, Rechtsphilosophie (wie Anm. 47), S. 27, in Abgrenzung zum nicht immer eindeutigen Kurs Stresemanns in dieser Frage. 66 Am ehesten fand sie sich noch zwischen G. Anschütz und G. Radbruch, die als Heidelberger Fakultätskollegen engeren Kontakt hatten. Dazu H. DÖRING, Weimarer Kreis (wie Anm. 2), S. 102ff.

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1. Zur „Vernunft“ der Vernunftrepublikaner Die Rechtswissenschaft kannte Diskussionen zwischen Herzens- und Vernunftrepublikanern bzw. über Herzens- und Vernunftrepublikanismus damals nicht. Deshalb brauchten die Beteiligten auch kein inhaltliches oder methodisches Konzept ihrer „Vernunft“ zu entwickeln. Hier verliefen die Bruchlinien eher entlang des bekannten Richtungsstreits der Staatsrechtswissenschaft, das allerdings mit großer Schärfe.67 Eine gewisse Gemeinsamkeit der meisten (vernunft-)republikanischen Autoren fand sich in ihren mehr oder weniger positivistischen Methoden. Hier ist allerdings weiter zu differenzieren: „Den“ staatsrechtlichen Positivismus gab es in der Weimarer Zeit nicht.68 Und erst recht verlief der Gegensatz zwischen Republikanern und ihren Gegnern nicht linear an der Front von Positivisten und Antipositivisten. Doch gab es nicht nur zufällige Affinitäten. Während die Positivisten ihren obersten Bezugspunkt im gesetzten Recht suchten – und dies bedeutete für die Staatsrechtslehrer: in der WRV –, so suchten die geisteswissenschaftlich arbeitenden Autoren ihre oberste Richtschnur in „hinter“ oder „über“ dem positiven Recht liegenden Wertungen. Diese sollten zwar auch aus dem positiven Recht gewonnen werden, doch galt ihnen dies als eben nur eine unter mehreren Quellen jenes nicht-positiven „Rechts“. Von hier aus bestand jedenfalls die Möglichkeit einer Distanzierung der Verfassungslehren vom Verfassungsrecht, der Staatslehren vom konkreten Staat und der Staatsrechtswissenschaft vom Staatsrecht. Damit war zumindest ein Ausgangspunkt für die Dichotomisierung von „Verfassung“ und „Verfassungsrecht“ bzw. „Verfassungsgesetz“ gelegt.69 Sie ermöglichte der Staatsrechtswissenschaft Distanz von der Verfassung und der von ihr verfassten Republik. Wohlgemerkt: Das war eine Möglichkeit, und keineswegs alle Vertreter geisteswissenschaftlicher Richtungen hingen ihr an.70 Die Option der meisten Vernunftrepublikaner war aber eine andere: Sie knüpften jedenfalls äußerlich an ältere positivistische Richtungen an und entwickelten sie bestenfalls fort. Das war mehr und anderes als eine bloße Fortschreibung der Vergangenheit in die Zukunft: Ihre avanciertesten Vertreter (Kelsen, Thoma u. a.) schufen zukunftweisende Synthesen aus positivistischem Denken und anspruchsvoller Demokratietheorie. Doch war dies eher eine Angelegenheit der 67 Einerseits RICHARD THOMA: Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL, Berlin/Leipzig 41928, S. 85–87, hier S. 86: „sozusagen chinesisch“; andererseits HERMANN HELLER: Staatslehre, in: HERMANN HELLER/MARTIN DRATH (Hg.): Gesammelte Schriften III, Tübingen 21992, S. 81–395, hier S. 304f: „Staatslehre ohne Staat“ und „Rechtslehre ohne Recht“. 68 Zur Haltung Anschütz’ gegenüber Kelsen etwa W. PAULY, Anschütz (wie Anm. 13), S. XXXIX. 69 Darstellungen und Nachw. bei M. STOLLEIS, Geschichte (wie Anm. 1), S. 171ff; C. GUSY, Weimarer Reichsverfassung (wie Anm. 7), S. 429ff. 70 Hier finden sich – etwa bei Heller – auch Anknüpfungspunkte für einen – im weiteren Sinne – „geisteswissenschaftlichen“ Herzensrepublikanismus.

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Herzensrepublikaner. Ihre Lehren waren nicht für alle Positivisten und nicht für alle Vernunftrepublikaner anschlussfähig.71 Die Suche nach der „Vernunft“ vernunftrepublikanischer Staatsrechtslehrer erbringt also am ehesten eine gemäßigte Neigung zu positivistischen Methoden. 2. Zur Generation der Vernunftrepublikaner Typische Vertreter vernunftrepublikanischer Richtungen waren ältere Wissenschaftler, die ihre wissenschaftliche und politische Sozialisation unter den Bedingungen des Kaiserreichs durchlaufen hatten. Auch hatten sie ihre Karriere in der Monarchie begonnen und sich im Jahre 1918 zumeist bereits im Wissenschaftsbetrieb etabliert. Sie waren älter als die Kriegsgeneration und zählten auch nicht zum wissenschaftlichen Nachwuchs, der die Grundlagen seiner Laufbahn erst in der Republik legte. Mit aller Vorsicht lässt sich formulieren: Vernunftrepublikanismus im hier angedeuteten Sinne war nicht die Haltung der Jüngeren. Diese waren entweder Herzensrepublikaner oder Antirepublikaner. Doch darf die Generationsfrage nicht eindimensional auf die Frage nach dem Lebensalter reduziert werden. Prägend scheint das Zusammentreffen zweier Faktoren gewesen zu sein:

(1) Da war zunächst ihre politische und wissenschaftliche Sozialisation in einer staatlichen Normallage des Kaiserreichs in der Zeit etwa bis zur Jahrhundertwende. Das Erlebnis einer im Prinzip funktionsfähigen staatlichen Normalität, der Glaube an die Lösbarkeit politischer Probleme mit den Mitteln von Recht und Gesetz sowie die Realität einer ansatzweise geglückten Integration weiter Teile der Bevölkerung in den Staat – wer dies verinnerlicht hatte, konnte zum Vernunftrepublikanismus finden. Wer hingegen in den Krisen der Monarchie (etwa seit 1900), in Krieg oder Revolution seine Orientierung fand, neigte eher zu neueren Krisentheorien – sei es zu einer apologetischen, sei es aber auch zu einer fundamental-kritischen Haltung gegenüber der Monarchie.

(2) Wer die relative „Erfolgsphase“ der deutschen Monarchie miterlebt hatte, wurde nicht zwangsläufig zum Vernunftrepublikaner – er konnte auch Monarchist bleiben. Hier kam ein zweites Element hinzu, nämlich die Einstellung zur Krise des Kaiserreichs seit der Jahrhundertwende. Die Gründe dieser Krise konnten in ganz unterschiedlichen Richtungen gesucht werden. Wer sie in einer – wie auch immer begründeten – Schwäche der Monarchie sah, konnte naheliegenderweise für deren Stärkung plädieren: Das war nicht der Weg zum Republikaner. Die meisten späteren Vernunftrepublikaner hingegen sahen die Krisenursachen typischerweise anders: in einer zu geringen Rolle des Parlaments bei der Rechtssetzung, dem ungleichen Wahlrecht zulasten der „Massen“ oder der fehlenden Parlamentarisierung der Regierung. Wer in solche Richtungen dachte und Veränderungen forderte, konnte in der Weimarer Verfassung jedenfalls auch eine Erfüllung seiner Forderungen sehen und sich daher eher auf ihren Boden stellen. Eine derart kritische Haltung 71 Dies zeigen namentlich die Diskussionen des Weimarer Kreises; dazu bereits H. DÖRING, Weimarer Kreis (wie Anm. 2), S. 99.

„Vernunftrepublikanismus in der Staatsrechtswissenschaft der Weimarer Republik“ 213 zur Monarchie entstand bei den meisten Vernunftrepublikanern schon vor dem Krieg und damit dem nationalen Überschwang der Ideen von 1914. Dass sie aber auch unter Kriegsbedingungen noch entstehen konnte, zeigt das Beispiel Dohnas.

Wer diese beiden Erfahrungen mitbrachte, zählte in der Weimarer Zeit regelmäßig zu den Älteren. Aus ihrem Kreis rekrutierten sich die meisten „Vernunft“-Republikaner. 3. Das Kaiserreich aus der Sicht der Vernunftrepublikaner Wie gesehen setzte die Entwicklung zum Vernunftrepublikaner kritische Distanz zur Verfassung bzw. zur politischen Realität des Kaiserreichs voraus. Doch war jene Kritik damals ganz überwiegend eine staatsformimmanente geblieben: Ihr lag die Vorstellung zugrunde, die notwendigen Erneuerungen seien im Rahmen der Monarchie möglich und notwendig. Dies implizierte sowohl, dass die Staatsform des Kaiserreichs hinreichend reformfähig sei, als auch, dass sie nach den Reformen noch bestehen würde. „Republikaner“– gleich welcher Variante – gab es vor 1918 in der deutschen Staatsrechtswissenschaft nicht. Nach der Revolution änderte sich das Bild: In Aufnahme einer verbreiteten Stimmung wurde vielfach Wilhelm II. für zahlreiche politische Missstände der Vergangenheit verantwortlich gemacht. Mindestens der Monarch, wenn nicht gar die Monarchie erschien nun kritikwürdig. Dazu trugen das ruhmlose Ende der alten Staatsform im Reich und in den Ländern sowie die Flucht des Kaisers in das Exil wesentlich bei.72 Die antirepublikanische Idee einer Wiedererrichtung der Monarchie blieb so eine rückwärtsgewandte Idee einzelner Älterer ohne Realisierungsmöglichkeit und ohne geeignete Kandidaten. Zur wirklich gefährlichen Idee wurden erst die neuen Optionen, welche nicht hinter die Revolution von 1918, sondern über die Republik hinaus dachten. Dessen ungeachtet war die Einstellung zur Monarchie durchaus geeignet, die Einstellung republikanischer Autoren zu prägen. (1) Wer die Republik für keine schlechte Alternative zu einer früheren guten Monarchie hielt – wie etwa Kahl und Dohna –, wurde nach 1918 eher zum „Vernunftrepublikaner“. (2) Wer die Republik für keine schlechte Alternative zu einer früheren schlechten Monarchie hielt, wurde nach 1918 eher zum „Herzensrepublikaner“.

Hier zeigen sich mögliche Unterschiede zwischen den republikanischen Richtungen. Wahrscheinlich ist dies das verlässlichste Kriterium zur Differenzierung der Anhänger der Republik – jedenfalls sofern man die Einstellung der einzelnen Autoren zur früheren Monarchie aus ihren Schriften nachweisen kann. 72 Dies zeigt sich etwa bei G. ANSCHÜTZ, Leitgedanken (wie Anm. 20).

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4. Zum Demokratieverständnis der Vernunftrepublikaner „Das“ demokratische Denken in der Weimarer Republik73 war geprägt von fundamentalen Meinungsverschiedenheiten und einem eher gering entwickelten Diskussionsstand. Dies galt auch für die Staatsrechtswissenschaft. Aber auch in dem engeren Kreis der Republikaner fanden sich heterogene, konkurrierende Konzepte.74 (1) Nur ein Teil der republikanischen Autoren fand zu einem eher „westlich“ orientierten Modell der parlamentarischen Demokratie. Sie gingen davon aus, dass ein pluralistisches Volk wesentlich durch das Parlament artikulations- und handlungsfähig werde und forderten daher eine Stärkung der Parlamentsrechte. Insbesondere bejahten sie das allgemeine und gleiche Verhältniswahlrecht – ggf. ergänzt um elementare Vorkehrungen zur Vermeidung einer übermäßigen Parteienzersplitterung –, parlamentarische Kontrolle der Regierung und eine Eingrenzung konkurrierender Gewalten im Weimarer Verfassungssystem. Ein solches pluralistisches Demokratiekonzept war schon damals von seinen führenden Vertretern elaboriert, wissenschaftlich vertieft und ausgebaut worden. Sie konnten sich auf zahlreiche Bestimmungen der WRV stützen. Seinen Vertretern ging es also um Effektivierung der Verfassung, nicht um deren „Reform“. (2) Andere Autoren gingen – sich eher auf Rousseau berufend – vom Volkswillen als idealer Einheit aus, welcher am besten nicht durch pluralistische Parteien und Parlamente, sondern durch die Person des Reichspräsidenten abgebildet und repräsentiert würde. Sie forderten daher weitreichende Präsidialkompetenzen, Einschränkung der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung und Zurückdrängung des Parteieneinflusses im Staat. Für ein solches nicht-pluralistisches, um nicht zu sagen antipluralistisches Konzept fanden sich gleichfalls Ansätze in der WRV, die von den Vertretern der hier genannten Auffassungen teils genutzt, teils durch Verfassungsreform noch ausgebaut werden sollten. Der Diskussionsstand war so eher kontrovers als fluide. Wer wollte, konnte auf die schon damals elaborierten Konzepte beider Richtungen zurückgreifen. Deren Akzeptanzfähigkeit stieß allerdings auf zeitbedingte und -geprägte Probleme: Tatsächlich erwies sich die Weimarer Demokratie während ihrer Geltung nur zeitweise als wirklich funktionsfähig. Alle Theorien – besonders allerdings die parlamentarische Richtung – waren eher Gegenbilder als Abbilder der Wirklichkeit. Hier schieden sich die Richtungen auch unter Anhängern vernunftrepublikanischer Ideen. Viele von ihnen – z. B. Kahl, Dohna und Meinecke – neigten tendenziell der zweiten Auffassung zu, wobei es ihnen teils um einen Ausbau präsidialer Rechte intra constitutionem, teils um eine 73 Dazu umfassend C. GUSY (Hg.), Demokratisches Denken (wie Anm. 9). 74 Sie trafen anlässlich der 2. Tagung des Weimarer Kreises aufeinander; s. dazu H. DÖRING, Weimarer Kreis (wie Anm. 2), S. 99.

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Verfassungsreform ging. Andere wiederum – z. B. Anschütz – standen eher für die parlamentarische Richtung. Jene Diskussionen blieben keine bloße Theorie. Sie erlangten weichenstellende Bedeutung in der Verfassungsreformdebatte seit 1930, als die juristische Alternative zwischen parlamentarischer und Präsidialrepublik politisch mit der Alternative „Hitler oder Hindenburg“ zusammenzufallen schien. Auffällig war in dieser Diskussion, dass unter den führenden Vertretern von Verfassungsreform, „Neuem Staat“ oder „autoritärem Staat“ kaum republikanische Autoren – auch keine Anhänger der Präsidialdemokratie – zu finden waren. Zu eindeutig stand diese Diskussion unter dem Zeichen des Ausstiegs aus der Weimarer Verfassung, zu schwach waren umgekehrt die Signale, nach einer Übergangszeit zum Demokratiekonzept der WRV zurückkehren zu wollen. An dieser Diskussion mochten sich auch sonst „präsidial“ gesinnte Republikaner nicht beteiligen.75 5. Die republikanische Praxis der Vernunftrepublikaner Die Weimarer Staatsrechtswissenschaft war vielfach auch eine praktische Wissenschaft. Zwar ging die Zuständigkeit zur verbindlichen Beurteilung zahlreicher Verfassungsstreitigkeiten in der Republik auf den neuen Staatsgerichtshof über. Doch waren führende Rechtswissenschaftler aller Lager beratend, gutachtend und prozessvertretend tätig. Diese „Praxis“ soll hier ausgeblendet werden. Im Vordergrund stehen soll der Beitrag der Staatsrechtler zur Weimarer politischen Kultur. Hier fanden sich zahlreiche Anknüpfungspunkte. Republikanische Rechtswissenschaftler waren als Mitglieder der Nationalversammlung, des Reichstag, politischer Parteien oder ihrer Vorfeldorganisationen, daneben aber auch in durchaus einflussreichen informellen politischen Gesprächszirkeln unterschiedlichster Richtungen tätig. Daneben war ein nicht unwichtiger Beitrag zur politischen Kultur – gerade in republikanischen Kreisen – öffentliches Engagement bei Staats- oder Verfassungsfeiern. Hier fanden sich erneut unterschiedliche Strömungen. Während prononcierte Republikaner – z. B. Anschütz, Radbruch, Heller – bei staatlichen, universitären oder studentischen Verfassungsfeiern auftraten, fanden andere Wissenschaftler ihr Forum eher bei Feiern zum 18. Januar (Reichsgründungstag), universitären 75 Zu dieser Diskussion näher STEFAN KORIOTH: Rettung oder Überwindung der Demokratie – Die Weimarer Staatsrechtslehre im Verfassungsnotstand 1932/33, in: C. GUSY (Hg.): Demokratisches Denken (wie Anm. 9), S. 505–531; DIETER GRIMM: Verfassungserfüllung – Verfassungsbewahrung – Verfassungsauflösung, in: HEINRICH AUGUST WINKLER (Hg.): Die deutsche Staatskrise 1930 bis 1933, München 1992, S. 183ff; CHRISTOPH GUSY: Selbstmord oder Tod? Die Verfassungsreformdiskussion 1930–1932, in: Zeitschrift für Politik (ZfP) (1993), S. 393–417.

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Anlässen – Rektoratsübergaben u. a. – oder anderen, eher politisch „neutralen“ Veranstaltungen. Letzteres galt namentlich für prononciert vernunftrepublikanische Wissenschaftler. Entsprechend differierte dann auch der Inhalt der Reden: Am Verfassungstag standen Legitimation und Verteidigung der Verfassung gegen ihre Gegner, der Ausbau ihrer Organe und Institutionen sowie Anregungen zu einer Synthese von republikanischen und demokratischen Ideen einerseits sowie Ideen zur Besserung der vielfach defizitären Wirklichkeit andererseits im Vordergrund.76 Anders war dagegen die Tönung am Reichsgründungstag und bei universitären Veranstaltungen: Hier standen eher die Gedanken von Nation und Staat, der Kampf gegen Versailles bzw. äußere Bedrohungen – etwa die Ruhrbesetzung 1923 –, Aufrufe zur Einheit und in diesem Kontext eher defensive Bekenntnisse zur Verfassung als Weg zu jener Einheit im Vordergrund. Dagegen traten positive Gehalte von Republik und Demokratie – auch bei republikanisch gesinnten Autoren – weitgehend zurück.77 In diesem Kontext standen eher allgemeine Bekenntnisse zur Verfassung und konkrete Verfassungskritik nebeneinander. 6. Milieu und Grenzen des Vernunftrepublikanismus Das prägende Gefühl der republikanischen Wissenschaftler war nicht dasjenige eines eigenen Milieus, sondern eher ein solches der Isolation.78 An den einzelnen Fakultäten und Universitäten waren jeweils nur wenige von ihnen tätig, übergreifende Vernetzungen waren allenfalls im Aufbau. Aber auch sie selbst taten (zu) wenig, diesem Zustand abzuhelfen. Der Weimarer Kreis befasste sich allzu häufig mit internen Meinungsverschiedenheiten zwischen den Mitgliedern und weniger mit einer wirkungsvollen Darstellung nach außen.79 Schon die Einladungspraxis beförderte eher Zersplitterung als Einheit: Die Ausgrenzung auch republiktreuer Pazifisten mochte noch als Schachzug verstanden werden, die Einstellung zur Republik nicht mit derjenigen zu Krieg und Frieden zu belasten. Doch bewirkte sie eher Zersplitterung als Zusammenführung der ohnehin minoritären Kräfte. Mindestens ebenso schwächend wirkte die ausgrenzende Haltung gegenüber sozialdemokratischen und sozialistischen Kollegen auch dann, wenn diese ausgemachte Republikaner waren. Hier bildete der ehemalige Reichsminister Radbruch die einzige erkennbare Ausnahme.80 Dies war um so bemerkenswerter, als manche Diskussion unter 76 77 78 79 80

S. dazu die Sammlung von Reden bei R. POSCHER, Verfassungstag (wie Anm. 27). S. dazu o. bei W. KAHL und A. GRAF V. DOHNA. H. DÖRING, Weimarer Kreis (wie Anm. 2), S. 137. Schilderungen etwa bei H. DÖRING, Weimarer Kreis (wie Anm. 2), S. 86ff. Aufschlussreich auch die Schilderung DÖRINGS, Weimarer Kreis (wie Anm. 2) S. 71f, zum „Berliner Spaziergang“ und dem „unaufgeforderter Weise“ teilnehmenden Radbruch.

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bürgerlichen Republikanern auf der sozialdemokratischen Seite ihre Entsprechung fand. Auch hier gab es Auseinandersetzungen über die Frage: Sollte das Bekenntnis zur Republik ein zeitbedingt-taktisches unter dem Motto „Weimar – und was dann?“81 – also ein „Vernunftrepublikanismus“ im Sinne einer temporären Nutzung der Republik zur Verwirklichung eines sozialistischen Staates – sein? Oder aber sollte es unverbrüchlich im Sinne eines „Herzensrepublikanismus“ von links mit dem Ziel der Nutzung republikanisch-demokratischer Formen und Verfahren zur Verwirklichung sozialistischer Zielsetzungen sein? Auf beiden Seiten ergaben sich parallele Diskussionen – und hier hätten sich auch Chancen zur Zusammenführung zersplitterter Republikaner ergeben. Offenbar wirkte dabei die nationale Haltung mancher Republikaner, welche auch das Bekenntnis zum Krieg und zu Deutschlands Rolle in ihm einschloss, ebenso wie der prononciert bürgerliche Habitus der zeitgenössischen Hochschullehrer als unüberwindliche Barrieren, welche die Verwurzelung der einzelnen Personen in bestimmten Milieus auswiesen, zugleich aber die Entstehung republikanisch-demokratischer Milieus verhinderten. So war die Isolation der Einzelnen Voraussetzung, aber sie blieb auch Folge ihres eigenen Handelns. IV. Ausblick Das Konzept des Vernunftrepublikanismus erweist sich in der Rechtswissenschaft als inhaltsarm und wenig abgrenzungsfähig. Dies legt es nahe, nach schärferen Maßstäben und Konturen zu suchen. Doch bleibt die Frage nach Sinn und Wert einer wenig trennscharfen Differenzierung unterschiedlicher Gruppen und Grüppchen von Republikanern. Vielleicht brauchen wir weniger ein neues Konzept des „Weimarer Vernunftrepublikanismus“ in Abgrenzung zu anderen republikanischen Erscheinungsformen, sondern eher ein solches des „Republikanismus“.

81 Zur Formulierung OTTO KIRCHHEIMER (1930): „Weimar – und was dann?“ Entstehung und Gegenwart der Weimarer Verfassung, in: DERS.: Politik und Verfassung, Frankfurt am Main 1964, S. 42, der dort aber selbst kein allein taktisches Verhältnis zur WRV andeutet; im zuletzt genannten Sinne HERMANN HELLER (1929): Freiheit und Form in der Reichsverfassung, in: Gesammelte Schriften II, Tübingen 21992, S. 371, 377ff.

Vernunftrepublikanismus und Wissenschaftsverständnis in der protestantischen Theologie der Weimarer Zeit Matthias Wolfes Vernunftrepublikanismus und protestantische Theologie – das mag für manchen wie ein Widerspruch klingen, doch sei gleich eingangs in Erinnerung gerufen, dass es evangelische Theologen waren, fast alle geschart um die von Martin Rade, dann von Hermann Mulert herausgegebene Zeitschrift „Die Christliche Welt“, die eine der wichtigsten Trägergruppen republikanischen Denkens im neuen republikanischen Staat bildeten. Wenn im Folgenden auf demokratische Einstellungsmuster unter evangelischen Theologen der Zeit nach 1918 näher eingegangen werden soll, so steht dies allerdings in der Tat im Kontrast zu einem in Kirche und auch Theologie weithin vertretenen politischen Standpunkt: Während der gesamten Dauer der Weimarer Republik herrschten auf allen Ebenen der evangelischen Kirchen in Deutschland die Zurückweisung demokratischer Verfassungsgrundsätze und die Ablehnung der parteipolitischen Organisation politischer Willensbildung vor. Selbst Ansätze zu einer Obstruktion der parlamentarischen Beratungs- und Gesetzgebungspraxis finden sich. Die generelle Ablehnung der Demokratie ist innerhalb der Kirche von Anfang an als legitime politische Position akzeptiert worden. Dies war um so stärker der Fall, je mehr die Demokratiekritik zusätzlich noch durch eine idealisierende Bezugnahme auf die autoritären gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse des Wilhelminischen Reiches gestützt wurde. I. Vernuftrepublikanertum im Kulturprotestantismus der Weimarer Zeit Schon seitdem sich die militärische Niederlage als unausweichlich abzeichnete, bekundeten Kirchenvertreter und Theologen ihre Distanz zu einer möglichen Demokratisierung der Staatsordnung. Die zu erwartende Ablösung der Monarchie durch ein nach amerikanischem Verfassungsvorbild angelegtes republikanisches Modell galt ihnen als staatsrechtliche Besiegelung der militärischen Niederlage. Von Anfang an war die Demokratie insofern vor schwerste Akzeptanzprobleme gestellt. Auch liberale Theologen bildeten hier keine Ausnahme. In der Folge waren alle wichtigen kirchlichen Verlautbarungen von einem tiefen antidemokratischen Affekt bestimmt. Dies gilt für die Diskussionen um die Regelung der Kirchenfrage in der Reichsverfassung, wo

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hochrangige Kirchenvertreter das Idealbild einer gesellschaftlich einflussreichen Kirche als einer konservativen Gegenmacht zum demokratischen Staat propagierten. Es gilt für die erbitterten Auseinandersetzungen um die Wahl des Reichspräsidenten im März und April 1925 bis hin zu der kirchlichen Haltung zum preußischen Staatsstreich, und es gilt erst recht für die kirchlichen Erklärungen aus den letzten Monaten vor der nationalsozialistischen Machtübernahme.1 Nimmt man die Zeit nach 1918 in den Blick, so gilt jedenfalls für die bürgerlich-protestantische Religionskultur – aber doch nicht allein für diese –, dass der Erste Weltkrieg nicht als ein bloßes Endereignis, als eine finale geschichtliche Situation angesehen werden darf. Vielmehr brachte er gerade diejenigen Voraussetzungen für ein Konzept der Säkularisierung hervor, demzufolge sich Kirche und christliche Religion innerhalb der Gesellschaft als geistige und soziale Mächte zu bewähren und auch zu behaupten hatten.2 Dies dürfte als das prägende Motiv der vernunftrepublikanischen Grundhaltung innerhalb des kulturprotestantischen Spektrums gelten, gleich wie man sie dann im Einzelnen biographisch oder situativ konkretisiert. Vor diesem Hintergrund erst lässt sich zur Geltung bringen, dass die einschlägigen Festlegungen der Weimarer Reichsverfassung von 1919 die Vorgaben für die kirchenpolitische Diskussion wesentlich neu gestalteten. Das gilt insbesondere auch für die innerhalb der Spalten der „Christlichen Welt“ vehement geführte Erörterung darüber, ob die Erbschaft des freiheitlichen Protestantismus nun gleichsam natürlicherweise zu einer Zustimmung zum demokratischen Verfassungsneubau führen müsse. Zu denken war dabei stets auch an den jahrzehntelangen Kampf um das presbyterial-synodale Verfassungsprinzip als Grundsatz der erneuerten evangelischen Kirchenrechtsordnung. Seit den 1860er Jahren, der Gründungsphase des kulturprotestantischen Organisations- und Vereinswesens, war das Debattenklima mehr und mehr durch interne Abgrenzung, durch Fraktionierung und die Neigung zur Spaltung geprägt worden. Diese Situation, die sich oft genug nachteilig auf die kirchenpolitische Schlagkraft ausgewirkt hatte, verstärkte sich nach 1918 noch einmal erheblich, weil jetzt zur kirchenpolitischen noch die parteipolitische Frontenbildung hinzukam. Wenn auch die Hauptgruppe demokratie- und reformfreundlicher Theologen sich als verfassungstreu verstand, so gab es doch immerhin daneben auch in den radikalen Parteien einzelne, z. T. recht wirkungsvoll auftretende Kulturprotestanten. Der geringe Organisationsgrad blieb die wesentliche Schwäche der Liberalen auch in der Theologie. Klein ist insgesamt die Zahl derjenigen Theologen, die sich parteipolitisch einbinden lie1 2

Vgl. KLAUS TANNER: Protestantische Demokratiekritik in der Weimarer Republik, in: RICHARD ZIEGERT (Hg.): Die Kirchen und die Weimarer Republik, Neukirchen-Vluyn 1994, S. 23–36. Vgl. LUCIAN HÖLSCHER: Geschichte der protestantischen Frömmigkeit, München 2005, S. 406–407.

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ßen. Relativ gesehen übte die linksliberale Deutsche Demokratische Partei noch die größte Anziehungskraft aus. Neben Ernst Troeltsch und Martin Rade, beide Mandatsträger, und Mulert, der dem Landesvorstand in Schleswig-Holstein angehörte, sind Martin Dibelius, Otto Baumgarten, Heinrich Hermelink und Rudolf Otto zu nennen. Andere Theologen beließen es bei der Mitarbeit in vorpolitischen republikfreundlichen Organisationen, etwa dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus. Doch führte die Aktivierung des kulturprotestantischen Erbes nicht zwangsläufig zur Parteinahme für die Republik. Es lässt sich auch eine Argumentationsform nachweisen, etwa bei Gottfried Traub, bei der gerade im Gegenteil kulturprotestantische Motive in den Dienst antirepublikanischer Nationalismen und politischer Absolutismen gestellt werden. Die für den Kulturprotestantismus signifikante Nebenordnung von Pluralität und Wertevielfalt neben das Streben nach Einheit und Eindeutigkeit, wie es besonders im idealistischen Gedanken der „Synthese“ Gestalt annimmt, kann je nach einer der beiden Seiten überbetont werden. Dies geschieht bei Traub, wenn Protestantismus und nationales Denken zu einem affektiven, antiwestlichen Komplex gebündelt werden. Auch antisemitische Parolen lassen sich von hier aus über einen reduzierten Protestantismus-Begriff herleiten. Sieht man nun die theologische Szenerie unter dem Stichwort „Vernunftrepublikanismus“ durch, so zeigt sich zunächst, dass von Beginn an alle Befürworter einer republikanischen Neugestaltung der Staatsordnung vehementer Kritik aus Theologie und Kirche ausgesetzt waren. Der schwerste Vorwurf lautete durchweg auf Verrat am Kaiser und zielte auf die moralische Diskreditierung des Kritisierten. Beispielhaft ist der Bericht Karl Holls samt persönlicher Reflexion von einer Geburtstagsfeier zu Ehren Adolf von Harnacks im Jahre 19213: „Harnacks Geburtstagsfeier war nicht ganz so überschwänglich, wie ich gefürchtet hatte. Natürlich wurde er von allen Seiten in den höchsten Tönen gepriesen, aber zumeist doch eine kleine Zurückhaltung geübt. Mein Verhältnis zu ihm ist kühl geworden. Ich habe es ihm doch sehr übel genommen, daß er kein Wort für den Kaiser gesprochen hat. Wer sich so sehr und so gerne in der kaiserlichen Gunst gesonnt hat, der müßte nach seinem Sturz Treue beweisen.“4

Die stärkste Stütze im Lager der Kulturprotestanten war Ernst Troeltsch. Sein Tod im Februar 1923 bedeutete zugleich einen schweren Verlust für den poli3 4

Es handelt sich um die großangelegte Feier aus Anlass von Harnacks siebzigstem Geburtstag. Vgl. AGNES VON ZAHN-HARNACK: Adolf von Harnack, Berlin-Tempelhof 1936, S. 522–525. Brief Karl Holls an Adolf Schlatter vom 29. Mai 1921, in: Briefe Karl Holls an Adolf Schlatter (1897–1925). Herausgegeben von Robert Stupperich, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 64 (1967), S. 169–240, hier S. 232–233. Siehe auch Holls Brief an Martin Rade vom 25. Oktober 1918, in: An die Freunde. Vertrauliche d. i. nicht für die Oeffentlichkeit bestimmte Mitteilungen. Nr. 92 vom 15. März 1929, Sp. 1066.

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tischen Reifungsprozess des protestantischen politischen Denkens insgesamt. Von Troeltsch waren schon während der Kriegsjahre die wichtigsten Impulse ausgegangen. In der kurzen ihm noch beschiedenen Zeit des Mitwirkens am staatlichen Neubau war er in geradezu omnipräsenter Manier an allen kulturpolitisch relevanten Orten zur Stelle. Die vor kurzem erschienene Sammlung seiner politischen Texte und Reden aus den Jahren 1918 bis 1923 dokumentiert Troeltschs wichtige Rolle während der Gründungsphase der Republik.5 Troeltschs Erwartung und Hoffnung zielten nicht allein darauf, dass es zum gelingenden Aufbau von Demokratie und parlamentarischer Republik komme, sondern sie schlossen ein, dass der deutsche Protestantismus daran ein gewichtiges Stück würde mitarbeiten können. Die ideelle Basis des protestantischen Menschenbildes schien ihm eine geeignete Ausgangsposition auch für ein demokratisches Wertebewusstsein zu sein. Welche erhebliche Transformationsleistung, insbesondere von den stärker lutherisch geprägten Gruppen, Gemeindeverbänden, Verbänden und Landeskirchen, er damit forderte, war Troeltsch ohne jeden Zweifel bewusst; die Geschichte und gegenwärtige Verfassung des Protestantismus stand ihm wie keinem anderen vor Augen. Aber seine Zukunftsperspektive gab er deshalb nicht auf, vielmehr engagierte er sich seit der preußischen Landeswahl im Januar 1919 für die Deutsche Demokratische Partei in der Landesversammlung und seit Ende März sogar als – unbesoldeter nebenamtlicher – parlamentarischer Unterstaatssekretär im preußischen Kultusministerium. Troeltsch war ein politischer Realist. Insofern waren die Probleme des Demokratieaufbaus, die mit dem Versailler Vertrag verbundenen Schwierigkeiten, das Akzeptanzproblem und die ganze Fülle der tagespolitischen Konfrontationen für ihn auch immer wieder eine Quelle tiefer Niedergeschlagenheit. Er befürchtete, dass mit der Zeit das Ziel aus den Augen verloren gehe. Auch sah er deutlich, dass kein Weg darum vorbeiführe, auf irgendeine Weise die demokratiefeindlichen Gruppen und Kräfte in das politische System einzubinden, wenn von ihnen nicht auf Dauer unkalkulierbare Risiken ausgehen sollten. Ein Problem innerhalb des Protestantismus stellte die stark konservativ konnotierte Kirchenbildung großer Gruppen, und zwar wiederum vor allem im Luthertum, dar. Die verfassungstreuen Kulturprotestanten mahnten den kirchlichen Protestantismus, sich vor einer unbequemen Gegenwart nicht in die Vergangenheit zu flüchten. Weniger Troeltsch, aber besonders Adolf von Harnack engagierte sich in diese Richtung. Er trat bis zu seinem Lebensende dafür ein, die Realitäten des politischen Lebens anzuerkennen. Deshalb stellte 5

ERNST TROELTSCH: Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918–1923). Herausgegeben von Gangolf Hübinger in Zusammenarbeit mit Johannes Mikuteit (Kritische Gesamtausgabe. Band 15), Berlin/New York 2002. Siehe darin insbesondere auch Hübingers ausführliche Erörterung von Troeltschs Vernunftrepublikanertum: Ernst Troeltsch in der Gründungsgeschichte der Weimarer Republik, in: Ebd., S. 1–36.

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auch der mit dem Ende der Monarchie gegebene Verlust der nominellen Spitzenstellung des preußischen Königs über der evangelischen Kirche für ihn keine Katastrophe, sondern eine pragmatisch zu lösende Gestaltungsaufgabe dar. Harnack war von einem unbeirrbaren, durch den geschichtlichen Blick gestützten Vertrauen in die Entwicklungskraft des Geschehens beseelt. Die Kategorie der „Entwicklung“ war ihm auch in den Wirren der Revolution nicht abhanden gekommen, vielmehr schien sie ihm allein zur Erklärung und Deutung der Geschehnisse geeignet zu sein. Legendär ist Harnacks Souveränität im politischen Urteil. Er war auch in Fragen des Politischen ein freier Mensch, und an seiner Unterstützung zunächst Eberts, dann an seiner Fürsprache für Wilhelm Marx gab es für ihn keinerlei Zweifel.6 Einen Höhepunkt in der antidemokratischen Propaganda der evangelischen Kirche bildete die Vaterländische Kundgebung des Königsberger Kirchentags vom 11. bis 15. Juni 1927. Die Kundgebung selbst war durch einen Vortrag des Erlanger Systematischen Theologen Paul Althaus zum Verhältnis von Kirche und Volkstum geprägt worden. Althaus war, neben Elert und Emanuel Hirsch, einer der führenden Repräsentanten der lutherischen Theologie. Der Gehorsam gegenüber der Obrigkeit, die Liebe zum Vaterland und die Hochschätzung des deutschen Volkstums bildeten die Leitmotive in den Ausführungen von Althaus. Zentraler biblischer Bezugstext blieb, wie schon in der gesamten obrigkeitsstaatlichen Tradition des deutschen Luthertums, die paulinische Paränese in Römer 13. Die Kundgebung des Kirchentages nahm diese Motive auf und verband sie zu einem Komplex völkisch-antidemokratischer Aussagen, der die Kooperation der Kirche mit dem republikanischen Staat noch weiter belastete.7 6

7

Zu Harnack siehe KURT NOWAK: Historische Einführung, in: Adolf von Harnack als Zeitgenosse. Reden und Schriften aus den Jahren des Kaiserreiches und der Weimarer Republik. Herausgegeben und eingeleitet von Kurt Nowak. Mit einem bibliographischen Anhang von Hanns-Christoph Picker. Teil 1: Der Theologe und Historiker, Berlin/New York 1996, S. 1–99, hier S. 76–84 („Weltkrieg und Staatsumbruch“). Harnacks politisches Engagement zu allen Phasen seiner beruflichen Tätigkeit wird jetzt ausführlich geschildert von C HRISTIAN N OTTMEIER : Adolf von Harnack und die deutsche Politik 1890–1930. Eine biographische Studie zum Verhältnis von Protestantismus, Wissenschaft und Politik (Beiträge zur historischen Theologie. Band 124), Tübingen 2004, siehe hier besonders: Teil VI. Der konservative Republikaner. Harnack und die erste deutsche Demokratie, S. 462–514. – Ein seltenes Dokument innerhalb der evangelischen kirchlichen Presse stellt die respektvolle Todesanzeige dar, die Martin Rade am 5. März 1925 in seiner Zeitschrift für den verstorbenen Ebert veröffentlichte: Reichspräsident Ebert †, in: Die Christliche Welt 39 (1925), S. 237–238. Vgl. den Text der Kundgebung in: Die Verhandlungen des 2. Deutschen Evangelischen Kirchentages in Königsberg 1927. Hg. vom Deutschen Evangelischen Kirchenausschuß, Berlin 1927, S. 338–340; dort findet sich auch der Wortlaut des Vortrages von Paul Althaus.

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Althaus’ Vortrag rückte eine demokratiekritische Position in den Vordergrund, die möglicherweise andernfalls die Diskussionen des Kirchentages nicht in der dann geschehenen Weise bestimmt hätte. Gegenstimmen gegen Althaus waren nicht ausgeblieben. So vertrat etwa der Delegierte Wilhelm Kahl, Mitglied des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses und DVPReichstagsabgeordneter, eine Haltung, die die Rechtmäßigkeit der neuen Staatsform im Prinzip anerkannte; infolgedessen forderte Kahl die evangelischen Christen zur Loyalität mit der Republik von Weimar und ihren Repräsentanten auf. Es sei nicht erforderlich, in der Kundgebung über Recht bzw. Unrecht einer Staatsform zu urteilen, wenn lediglich die Loyalitätspflicht des Christen festgestellt werden solle.8 Anders als in der theologischen Szenerie lässt sich um die Mitte der zwanziger Jahre unter den evangelischen Kirchenführern ein Anwachsen politischer Pragmatik erkennen. Dies führte zu einer rückläufigen Entwicklung im Gebrauch der antidemokratischen Rhetorik. Hierin liegt in der Tat ein paradoxes Moment, zudem darf man sich über die kurze Befristung der Unterstützung des vernunftrepublikanischen Lagers durch einzelne Kirchenführer nicht täuschen. Immerhin liegen in dieser Linie aber auch noch die Kirchenverträge, die – analog zur katholischen Konkordatspolitik – mehrere evangelische Landeskirchen mit deutschen Ländern schlossen (Bayern 1924, Preußen 1931, Baden 1932). Diese Verträge können durchaus als kirchenpolitische Friedensschlüsse betrachtet werden, und von ihnen gingen positive Rückwirkungen auf das Verhältnis zwischen evangelischer Kirche und demokratischem Staat aus. Insgesamt aber blieb die kirchliche Haltung unentschlossen. Im Widerspiel zwischen der Kraft tief eingesenkter antidemokratischer Ressentiments und dem ebenfalls fest verankerten Motiv der Loyalität gegenüber dem Staat sah sich die Kirche von ihrer eigenen politischen Handlungsunfähigkeit mehr und mehr paralysiert.9 II. Zum Wissenschaftsverständnis der kritischen evangelischen Theologie Nun möchte ich den Blick von der kirchenpolitischen Thematik auf die theologische Diskussion wenden. Jene genannten Vertreter eines vernunftrepublikanischen Denkens, Troeltsch, Rade, Dibelius, Hermelink u. a., waren zugleich als theologische Akteure die wichtigsten Theoretiker eines kritischen, genauer: 8 9

Vgl. KURT NOWAK: Evangelische Kirche und Weimarer Republik. Zum politischen Weg des deutschen Protestantismus zwischen 1918 und 1932 (Arbeiten zur Kirchengeschichte. Band 7), Weimar2 1981, S. 176–177. Vgl. KURT NOWAK: Der lange Weg der deutschen Protestanten in die Demokratie, in: KURT NOWAK: Kirchliche Zeitgeschichte interdisziplinär. Beiträge 1984–2001. Herausgegeben von Jochen-Christoph Kaiser (Konfession und Gesellschaft. Band 25), Stuttgart 2002, S. 369–378.

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eines historisch-kulturwissenschaftlichen Theologieverständnisses. Ich fasse, auf der Grundlage zweier einschlägiger Werke dieser Zeit, die Grundaussagen zum Verhältnis von Theologie, Religion und Kirche sowie zu jener Form von Wissenschaftlichkeit, auf die die Theologie Anspruch erheben kann, in aller Kürze und thetischer Diktion zusammen.10 Die Theologie ist der Frömmigkeit zugeordnet. Die subjektive religiöse Einstellung bildet das Fundament; die Theologie leistet die reflektierende, begrifflich angelegte und historisch fundierte Selbstauslegung. Gegenstand der Theologie ist die Rede von Gott, wie sie im Glauben selbst, seinen Überzeugungen, symbolischen Formen und sprachlichen Mustern Gestalt und Konkretion findet. Hierin liegt überhaupt erst der Grund für die Notwendigkeit von Theologie. Die Religion bedarf der Theologie in zweifacher Hinsicht: Zum einen soll sie den Glauben über sich selbst, seine normativen Voraussetzungen und deren Konsequenzen für die Auseinandersetzung mit nichtchristlichen Weltansichten aufklären. In der theologischen Darstellung wird der Glaube seiner selbst ansichtig. Erst so aber ist er auch zu einem kritischen Blick auf sich imstande und insofern zu Entwicklung und Fortschreiten. Zum anderen soll die Theologie den Glauben nach außen hin vertreten, ihn in der weltanschaulichen Auseinandersetzung als spezifisch christliche Form der Deutung von Wirklichkeit sichtbar werden lassen und seinen Beitrag zu einem humanisierenden Weltumgang offenlegen. Es entspricht insofern einem schon in der Frömmigkeit angelegten, ihr wesentlichen Erfordernis, wenn die Theologie die religiösen Erfahrungen und Vorstellungen über den Erlebnishorizont des einzelnen Gläubigen hinaus auf eine allgemein zugängliche Weise zur Sprache bringt. Dabei ist der Umstand in Rechnung zu stellen, und zwar nicht als Beschränkung, sondern als ein wesentliches Charakteristikum, dass sich in jeder religiösen Aussage die geschichtliche Selbstwahrnehmung des religiösen Subjekts ausspricht. Das Christentum nimmt die Erfahrung des geschichtlichen Wandels in sich auf. Eine theologische Sonderhermeneutik oder auch die Forderung nach speziellen sprachlichen Ausdrucksformen, nach einer theologischen Parallelsprache etwa, sind nicht akzeptabel. Nur wenn die theologische Arbeit den wissenschaftstheoretischen Standards der Kulturwissenschaften entspricht, lässt sich im übrigen auch die Existenz und Erhaltung theologischer Fakultäten an staatlichen Hochschulen begründen. Hinter die Einsicht des Historismus kann nicht zurückgegangen werden, wonach Glaubenssätze, auch wenn sie mit einem unbedingten Geltungsan10 Bei der folgenden Rekonstruktion beziehe ich mich im wesentlichen auf HERMANN MULERT: Religion, Kirche, Theologie. Eine Einführung in die Theologie (Sammlung Töpelmann. Die Theologie im Abriß. Band 8), Gießen 1931 sowie HORST STEPHAN: Glaubenslehre. Der evangelische Glaube und seine Weltanschauung. (Sammlung Töpelmann. Die Theologie im Abriß. Band 3), Gießen2 1928.

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spruch auftreten, in ihrer jeweiligen Auslegung der Zeitlichkeit verhaftet bleiben. Diesem Sachverhalt entspricht, dass nicht allein Glaube und Kirche als historische Größen die Geschichtlichkeit der theologischen Darstellung bedingen. Vielmehr erfolgt auch Gottes Selbstbekundung, wie sie, begründet in der jüdisch-christlichen Überlieferung, als Offenbarung geglaubt wird, ihrerseits nur in geschichtlich konkreter Weise. Das Problem der Geltung religiöser Sätze kann nicht über die Voraussetzung objektiver Wahrheit gelöst werden, einer Wahrheit, die ihnen inklusiv zukomme, also bereits in ihnen selbst enthalten sei und mit ihnen transportiert werde. Es bleibt bei der Hegelschen Einsicht: „Was mir gelten soll, muß seine Bewährung in meinem Geiste haben.“11 Trotz aller kirchenkritischen Tendenzen bleibt die Theologie an die religiöse Gemeinde, das heißt die Kirche gewiesen. Denn nur in der frommen Gemeinschaft transformiert sich das unmittelbare religiöse Erleben in ein tragfähiges, kommunizierbares Netz von Ausdrucksformen. Von einem solchen Netz aus können sowohl ein regulierter kirchlicher Kult wie auch ein reflexiver Umgang mit dem religiösen Gehalt, also eine Theologie, überhaupt erst hervorgebracht werden. Von der Intensität des reflexiven Umganges aber hängt es ab, inwiefern der Glaube zur Selbstaufklärung imstande ist. Eine Theologie außerhalb jeglichen kirchlichen Bezuges ist nicht denkbar. Dies gilt auch dann, wenn die Kirche einem steten Wandel unterworfen ist und der gesellschaftliche Säkularisierungsprozess vor ihr nicht haltmacht. Die moderne Kultur entfaltet sich in ihrem wesentlichen Gehalt als Individualitätskultur, dennoch bleibt der Glaube auf die religiöse Gemeinschaft angewiesen. Die Gemeinde, die Kirche als Gemeinschaft ist der Ort, an dem Gott in anderen Menschen, in der gemeinsamen Lektüre und Auslegung der Heiligen Schrift sowie in den sakramentalen Formen gemeinschaftlichen Lebens begegnet und gegenwärtig ist. Der Anspruch, den die Theologie an ihre methodische und inhaltliche Ausführung stellt, findet seinen Ausdruck in dem Selbstverständnis als kulturhistorisch-hermeneutische Christentumswissenschaft. Religion entfaltet sich immer im Rahmen der kulturellen Selbstverständigung von Mitgliedern einer Kulturgemeinschaft. Als Kulturwissenschaft kann die Theologie aber nur dann Anerkennung erwarten, wenn sie den Glauben nicht allein in seinem existentiellen Anspruch und seiner gedanklichen Struktur, sondern auch im Zusammenhang seiner weltanschaulichen, soziokulturellen und politischen Erscheinungsformen thematisiert. Im Glauben wird das religiöse Subjekt als Person konstituiert. Seinerseits findet der Glaube seine konkrete Gestalt in der individuellen Form des religiösen Bewusstseins, das, mögen ihre Ausprägungen sich gegeneinander noch 11

GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Band I (Werke. Band 16), Frankfurt am Main 1969, S. 50.

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so sehr unterscheiden, durch die Zugehörigkeit zu religiösen Gemeinschaften bedingt ist. Seine Bewahrheitung findet der Glaube aber allein in der sittlichen Bewährung. Ein statischer Wahrheitsbegriff wird durch den Rückgang auf die selbstverantwortete Überzeugung ersetzt. An die Stelle der klassischen theologischen Beweisformen zur Begründung religiöser Geltungsansprüche kann nur eine Argumentation treten, für die der Wahrheitserweis christlicher Glaubensüberzeugungen über die Relevanz dieser Überzeugungen für die praktische Lebensführung erfolgt. Theologen, die sich diesem Ansatz verpflichtet wussten, waren es, die immer dann, wenn Wissenschafts- und Rationalitätskritik selbst zum theologischen Argumentationsstandard wurde, eine rationale Denkweise in der Theologie aufrecht erhalten haben. Von der Überzeugung, dass die theologische Darstellung einer methodisch klaren Anlage bedürfe, sind sie nicht abgegangen. Sie waren es, die die Forderung nach einer plausiblen Darstellungsform vorgebracht haben und die dem Grundsatz gefolgt sind, die Explikation auf solche theologischen Sätze zu beschränken, von denen sich nachweisen lässt, dass sie bestimmte Inhalte des religiösen Bewusstseins zum Ausdruck bringen.12 III. Die Auflösung demokratischer Überzeugungen in den frühen dreißiger Jahren Die Entwicklung innerhalb der kulturprotestantischen Gruppen und Vereinigungen zeigt seit Mitte der zwanziger Jahre eine kontinuierliche Stärkung demokratiekritischer bis hin sogar zu antidemokratischen Einstellungen.13 Wenngleich sie damit in Übereinstimmung zum Niedergang des Liberalismus im ganzen steht, so bleibt es angesichts des großen Engagements, das unmittelbar nach 1918 gerade von liberalen Theologen für den staatlichen Neuaufbau ausgegangen war, betrüblich zu sehen, wenn bereits lange vor 1933 die konsequentesten Vertreter des politischen Liberalismus in der Theologie, etwa Erich Foerster und Hermann Mulert, zu Außenseitern werden. Martin Rade betrachtete die Kritik, die aus Theologie und Kirche an der parlamentarischen Demokratie geübt wurde, als „bodenlos“.14 Der Klimawandel macht sich insbesondere darin bemerkbar, dass innerhalb der kulturprotestantischen Vereine und Gruppierungen nun mehr und mehr jene antiwestliche 12 Siehe zu den voranstehenden Ausführungen auch vom Verfasser: Protestantische Theologie und moderne Welt. Studien zur Geschichte der liberalen Theologie nach 1918 (Theologische Bibliothek Töpelmann. Band 102), Berlin/New York 1999, S. 571–586. 13 Das gleiche Fazit zieht K. TANNER: Demokratiekritik (wie Anm. 1), siehe besonders: S. 34–36. 14 MARTIN RADE: Nach den Wahlen, in: Die Christliche Welt 42 (1928), S. 538–541, hier S. 539.

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und aufklärungskritische Rhetorik aufgegriffen wird, die zuvor stets eine dezidiert liberalismuskritische Grundhaltung signalisieren sollte. In gleicher Funktion nehmen jetzt kulturprotestantische Sprecher, wie z. B. der Generalsekretär des Protestantenvereins, Wilhelm Schubring, nationalistische Parolen auf, ohne ihnen noch einen am Freiheitsgedanken orientierten Gegenpol gegenüber zu stellen. Für das gesamte kulturprotestantische Spektrum gilt, dass die aus dem parlamentarischen Prinzip notwendig hervorgehende pluralistische Situation im politischen Diskussionsprozess immer weniger akzeptiert oder gar als Vorzug gegenüber autoritären Entscheidungsstrukturen ausgewiesen wurde. Die Differenziertheit der sozialen und politischen Situation wurde über rigorose weltanschauliche Interpretationsleistungen verleugnet.15 Die konkreten Institutionen des parlamentarischen Verfassungsstaates verfallen einer bedingungslosen Ablehnung. Der großräumigen Kulturkritik, die über den gesamten politischen Bereich gezogen wird, kann keine praktische, auf Konsensbildung ausgerichtete parlamentarische Arbeit mehr genügen. Wo aber der „Staatsgesinnung“ keine innere Beteiligung des Bürgers mehr entspricht, wird auch die demokratische Verfassung selbst zur „leeren Form“.16 In dieser Entwicklung ist es auch begründet, wenn manche Theologen und Funktionäre aus dem kulturprotestantischen Lager in den frühen dreißiger Jahren Sympathien für die NS-Bewegung entwickelten. In einzelnen Fällen (besonders Heinrich Weinel in Thüringen) war dies mit großangelegten, aber illusorischen Plänen für eine Leitfunktion kulturprotestantischer Vereinigungen innerhalb der noch im Aufbau befindlichen deutsch-christlichen Glaubensbewegung verbunden. Den gemeinsamen Bezugspunkt bildete das Ideal des starken Staates. Innerhalb der sehr kontroversen Debatte über Traditionsbezüge und Herkunftsverhältnisse wiesen sich die Bekennende Kirche und die noch verbliebenen kulturprotestantischen Restgruppen gegenseitig Mitschuld an der politischen und kirchlichen Situation zu. Dem Selbstverständnis der bekenntniskirchlichen Theologen nach ging es im Kampf gegen die Deutschen Christen zugleich um die Korrektur einer Fehlentwicklung der protestantischen Theologiegeschichte seit dem Aufklärungszeitalter. Die pauschalen Zuweisungen, wie sie hier stets vorgenommen wurden, werden aber durch das tatsächliche Verhalten kulturprotestantischer Theologen und Kirchenvertreter in den Jahren der NS-Diktatur widerlegt. Kulturprotestanten waren, wenn auch insgesamt in kleiner Zahl, innerhalb der Bekennenden Kirche aktiv (etwa der Frankfurter Pfarrer Erich Foerster). An eine Fortexistenz der bestehenden, reich differenzierten Vereinswelt des Kulturprotestantismus oder seiner publizistischen Organe war aber nicht zu denken. Unter Festhaltung überholter volkskirchlicher Konzepte suchten einzelne kulturprotestantische Autoren noch im Kir15 Nach Tanner zeigt sich dies vor allem „im weitgehend fehlenden Verhältnis zum positiven Recht und in einem moralisierenden Politikverständnis“; Ebd., S. 35. 16 So HERMANN MULERT: Staatsgesinnung und Staatskunde, in: Die Christliche Welt 42 (1928), S. 1004–1008, hier S. 1005.

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chenkampf eine ausgleichende Position einzunehmen, doch blieb diese Stimme schließlich, nachdem auch die Phase der Synoden vorbei war, ungehört. Unklar blieb hier auch, welche Rolle die Kirche in der durch und durch politisierten Gesellschaft spielen sollte. IV. „Republikanismus aus Vernunft“ Was hat die theologiegeschichtliche Thematik zur historischen Präzisierung des Begriffes „Vernunftrepublikanismus“ beizutragen?; aber auch umgekehrt gefragt: Wie groß ist das Erklärungspotential dieses Begriffes für die Erschließung der einschlägigen theologischen Formierungen und Debatten? Wenn der Terminus mehr bezeichnen soll als eine Art Schlechtwettergesinnung, wenn man es auf seine positive Deutungskraft abgesehen hat, dann können wir ihn nur als Sammelbegriff auffassen, dem eine unerfreuliche Bedeutungsweite eigentümlich ist und den wir aus seinem schillernden Mantel auch nicht herausschälen können. Eine zulängliche Begriffsklärung ist auf der Grundlage von Biographie und Wirksamkeit einzelner Figuren nicht möglich, selbst wenn diese Gustav Stresemann, Friedrich Meinecke oder Thomas Mann heißen. Im Rahmen der Biographik bleibt er ein dekoratives Werkzeug, gleichsam ein Orden dritter Klasse, den man, wie einst den Roten Adlerorden in Preußen, an staatsverdiente Gelehrte, Künstler, Handelsmänner und sonstige arrivierte Bürgersleute aushändigte. Legt man auf den Terminus wirklich wert, dann kann es also allenfalls über eine kritische Netzwerkanalyse gelingen, ihm historiographische Schärfe zu geben. Der Begriff weist aus sich selbst auf den Bezug zu alternativen politischen Optionen hin, und hierin ist er qualitativ von Parteizuschreibungen („Sozialdemokrat“) unterschieden. Darauf, als Sozialdemokrat oder als Katholik zu gelten, kann derjenige legitimerweise einen Anspruch erheben, der Mitglied der Sozialdemokratischen Partei oder der Katholischen Kirche ist. In unserem Falle aber ergibt sich die Präzision nicht ohne die Abgrenzung, etwa gegenüber der Figur des Gesinnungsrepublikanismus. Dies führt zu einer zweiten Bemerkung. Wenn man etwa den Mitarbeiterkreis einer Zeitschrift, wie „Die Christliche Welt“, die „Hilfe“ oder „Die literarische Welt“, untersucht, dann kann man eben nicht für das Personal in seiner Gesamtheit den Begriff Vernunftrepublikanismus als Gesinnungsindikator anwenden. Obgleich es sich also um eine korporative Beschreibung handelt, darf im Blick auf konkrete Gruppen politischer Akteure keine Kollektivgesinnung unterstellt werden. Diese Schwierigkeit scheint mir unüberwindlich, und sie ist es meiner Ansicht nach, die die Verwendung des Begriffes so diffizil oder eben auch prekär macht. Dahinter steht folgender schlichter methodischer Zirkel. Wir sprechen von einzelnen Handlungsträgern nur dann sachgemäß als von „Vernunftrepublikanern“, wenn wir sie in der individuellen Beschreibung als solche identifizieren,

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nicht aber, wenn wir formale Zuordnungskriterien zu institutionellen Einheiten zugrundelegen, einer Akademiesektion, einer Zeitschrift oder Partei. Auf der anderen Seite aber geschieht jene Identifikation doch immer unter Inanspruchnahme von Kriterien, die nicht individuell bedingt sein sollen, die nicht aus dem erörterten Einzelfall hergeleitet werden, also ein Gemeinsames, eine verbindende politische Zielvorstellung zum Ausdruck bringen. Die zuordnende Beschreibung einer Einzelgestalt und die analytische Kennzeichnung dessen, dem sie zugeschrieben wird, bedingen sich gegenseitig. Als Vernunftrepublikaner kann ein Harnack oder ein Troeltsch nur bezeichnet werden, wenn man schon weiß, was Vernunftrepublikanismus ist, und dies wieder weiß man – nicht zuletzt – aus der Rekonstruktion der politischen Denkweise Troeltschs und Harnacks. Mir scheint es sinnvoller zu sein, diese methodische Schwierigkeit zu akzeptieren als durch gewisse Manöver den Begriff derart zu verselbständigen, dass er von seinem konkreten, also letztlich zirkulär verankerten Gebrauch unabhängig gemacht wird. Nur scheinbar wird er damit zu einer historiographischen Kategorie stilisiert, deren objektiver Gehalt gleichsam auf der Hand liegt. Klüger dürfte es sein, im Rahmen netzwerkanalytischer Beschreibungen die Bezeichnung „Vernunftrepublikaner“ in ihrer relativen, semantisch schwierigen Eigentümlichkeit zu belassen. Dann aber kann im Rahmen einzelbiographischer Forschung durchaus auch einmal ein emphatischer Vernunftrepublikanismus zutage treten, den man von einem Republikanismus aus Gesinnung oder aus dem Herzen gar nicht mehr zu unterscheiden braucht. Im übrigen bleibt bestehen, dass jene hinreichend bekannte Selbstbeschreibung des „Vernunftrepublikanertums“ anhand von Äußerungen Meineckes und Stresemanns eben doch nur für die Anfangsphase der Republik gelten kann, als man sich tatsächlich neu auf die veränderten staatsrechtlichen Verhältnisse einzustellen hatte. Wer hier als früherer Monarchist nun gedrungenermaßen aus geschichtlicher Notwendigkeit und weil nichts anderes übrig blieb sich zur Demokratie bekannte, der mag dem idealtypischen Modell entsprechen. Aber spätestens seit 1923 war die Frage nach dem Wünschbaren auf der einen und dem notwendigerweise Hinzunehmenden auf der anderen Seite beantwortet. Die Republik war keine Option mehr, sondern eine gegebene Realität, und das bedeutet auch, dass eine vernunftgegründete republikanische Haltung nun jenseits aller entscheidungspathetischen Rhetorik zu verorten war. Vernunft und Leidenschaft sind keine Kategorien aus völlig geschiedenen Welten. Vernunft ist die zentrale Instanz aller verständigen Leidenschaft, und Leidenschaft kann doch als das Grundmotiv einfühlsamer Vernünftigkeit gelten. Insofern knüpfe ich an das Fazit des gestrigen Abendvortrages an: Politische Vernunft braucht Leidenschaft. Indifferenz aber ist der Tod eines jeden anspruchsvollen parlamentarischen, pluralistischen politischen Systems, nicht allein desjenigen der Weimarer Republik.

Naturwissenschaft und demokratische Praxis: Albert Einstein – Fritz Haber – Max Planck Margit Szöllösi-Janze Das Verhältnis von Politik und Wissenschaft ist eine zentrale, ebenso lang wie kontrovers diskutierte Frage der Wissenschaftsgeschichte, die sich in der Frage nach der Bedeutung politischer Zäsuren für die wissenschaftliche Entwicklung verdichtet und konkretisiert. Die Antworten gehen auseinander. Im Folgenden soll zuerst dieses Verhältnis grundsätzlich näher bestimmt werden, um dann in einem nächsten Schritt politisches Denken und vor allem demokratische Praktiken dreier führender deutscher Naturwissenschaftler in der Weimarer Republik auszuloten, die zeitgenössisch wie auch später oft als „Vernunftrepublikaner“ oder Stützen der Republik wahrgenommen wurden. In mehreren Aufsätzen entwickelte Mitchell G. Ash, zunächst vor allem bezogen auf die Zäsuren 1945 und 1989/90, theoretisch-konzeptionelle Überlegungen zum Verhältnis von Politik und Wissenschaft in Umbruchzeiten, die er dann auch auf die nationalsozialistische Machtübernahme 1933 übertrug und vergleichend fruchtbar machte.1 Ihm ging es mit Blick auf das „Dritte Reich“ darum, die allzu beliebten Redeweisen von der „Indienstnahme“ oder dem „Missbrauch“ der Wissenschaften, der Technik oder der Medizin durch den Nationalsozialismus zu überwinden, implizierten diese doch, dass die Initiative von der Politik ausgegangen sei, deren Diktat und Zwang sich die Wissenschaftler dann widerstrebend gebeugt hätten – eine, wie seit den 1980er Jahren von einer jüngeren Generation von Wissenschaftshistorikern überzeugend nachgewiesen, verzerrte Sicht der Dinge. 1

Vgl. zum Folgenden MITCHELL G. ASH: Wissenschaftswandel in Zeiten politischer Umwälzungen. Entwicklungen, Verwicklungen, Abwicklungen, in: NTM. Internationale Zeitschrift für Geschichte und Ethik der Naturwissenschaften, Technik und Medizin, 3 (1995), S. 1–21; DERS.: Verordnete Umbrüche – Konstruierte Kontinuitäten. Zur Entnazifizierung von Wissenschaftlern und Wissenschaften nach 1945, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 43 (1995), S. 903–923; DERS.: Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander, in: RÜDIGER VOM BRUCH/BRIGITTE KADERAS (Hg.): Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 32–51; DERS.: Wissenschaftswandlungen in politischen Umbruchzeiten – 1933, 1945 und 1990 im Vergleich, in: Acta Historica Leopoldina 39 (2004), S. 75–95; DERS.: Wissenschaftswandlungen und politische Umbrüche im 20. Jahrhundert – was hatten sie miteinander zu tun?, in: RÜDIGER VOM BRUCH/UTA GERHARDT/ALEKSANDRA PAWLICZEK (Hg.): Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2006, S. 19– 37.

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Um Wissenschaftler als Akteure kritisch, aber ohne vorschnelle Moralisierung sichtbar zu machen, ging Ash zunächst, angeregt von Wissenschaftssoziologen wie Bruno Latour oder Andy Pickering, von einem erweiterten Wissenschaftsbegriff aus: „Wissenschaft“ sei „Praxis und Kultur“ im umfassenden Sinn.2 In einem zweiten Schritt betrachtete er Wissenschaft und Politik als „Ressourcen für einander“ und unterschied, ausgehend von einem weit gefassten Ressourcenbegriff, finanzielle, aber auch kognitive, apparative, personelle, institutionelle oder rhetorische Ressourcen. In dieser Perspektive stellt sich das Verhältnis von Politik und Wissenschaft sehr plastisch als gegenseitig mobilisierbare „Ressourcenensembles“ dar: Dies bedeutet erstens, dass die genannten Ressourcentypen in verschiedenen, allerdings nicht beliebigen Kombinationen vorzufinden sind. Zweitens können Politiker ihre Ziele ebenso mit wissenschaftlichen Ressourcen legitimieren und durchsetzen, wie umgekehrt Wissenschaftler für ihre Zwecke Ressourcen aus der politischen Sphäre mobilisieren, aktiv Allianzen mit der Macht suchen und regelrechte Bündnisse mit der Politik (und/oder Wirtschaft) eingehen, um sich auf ihrem eigenen Feld zu behaupten. Beide, Wissenschaftler wie Politiker, sind also als Akteure zu sehen, die aktiv handelnd aufeinander zugreifen, deren Handlungen aufeinander bezogen, ja ineinander verschlungen sind. Es ist folglich nur noch allenfalls heuristisch sinnvoll, zwischen wissenschafts„externen“ und -„internen“ Akteuren oder Faktoren zu unterscheiden. Diese Perspektive bedeutet zweierlei: Erstens sind wissenschaftliche Ressourcenensembles grundsätzlich politisch multivalent, d. h., Allianzen mit der Politik sind in unterschiedlichen Staatsformen denk- und machbar, ihre genaue Ausgestaltung ist dann Verhandlungssache. Es gibt grundsätzlich eine Vielzahl von Vernetzungsmöglichkeiten, die sich zudem im Lauf der Zeit verändern. Das Beziehungsgeflecht zwischen Politik und Wissenschaft ist also keinesfalls als statisch, vielmehr dynamisch vorzustellen. Zweitens sind in dieser Perspektive politische Zäsuren prinzipiell als – mehr oder auch weniger einschneidende – Umgestaltungen von Ressourcenkonstellationen zu betrachten. Ein politischer Systemwechsel stellt sich also, abstrakt formuliert, als eine Entflechtung von Wissenschaftlern aus einem vergangenen und ihre neuerliche Verflechtung in einen aktuellen politischen Zusammenhang dar. Ash selbst bezog sein Konzept der Umgestaltung von Ressourcenensembles infolge von politischen Umbrüchen nur ansatzweise auf die Situation von 1918/19.3 Seine Überlegungen sollen im Folgenden als Rahmen und Analyseraster genutzt werden. Drei Untersuchungsebenen geraten ins Blickfeld: die 2

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BRUNO LATOUR: Science in Action, Cambridge, Mass. 1987; DERS.: The Pasteurization of France, Cambridge/Mass. 1988; ANDREW PICKERING: Big Science as a Form of Life, in: MARIO DE MARIA u. a. (Hg.): The Restructuring of Physical Sciences in Europe and the United States, 1945–1960, Singapore 1989, S. 42–54; ANDREW PICKERING (Hg.): Science as Practice and as Culture, Chicago 1992. Dazu M. ASH, Wissenschaft (wie Anm. 1), S. 38f.

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personelle Ebene, institutionelle Veränderungen und ideologische Neukonstruktionen bzw. rhetorische Anpassungsleistungen.4 Institutionell veränderte sich mit und nach der Revolution eine ganze Menge: Trends, die es schon vor dem Ersten Weltkrieg gegeben hatte, beschleunigten sich, etwa die fortgesetzte Auslagerung von Forschungsbereichen aus der Universität in industrielle und außeruniversitäre Einrichtungen oder die Herausbildung politik- oder wirtschaftsnaher Institute. Aus der desolaten Finanzlage der Nachkriegsjahre und der Vernichtung der Stiftungsvermögen durch die Inflation entstanden vor allem neue Verteilungsnetzwerke für Forschungsmittel, beispielsweise durch die Gründung neuer Fördereinrichtungen wie der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft oder des Stifterverbands. Diese neuen Organisationen, die sich teilweise erst ab der Mitte oder gegen Ende der 1920er Jahre konsolidierten und ihren Aufgabenbereich endgültig definierten, korrespondierten allerdings nicht mit personellen oder ideologischen Veränderungen oder gar mit Verschiebungen hinsichtlich der Machtverteilung. Die hohe personelle Kontinuität in Wissenschaft und Wissenschaftsverwaltung fiel schon immer auf, es gab keine Entlassungen und kaum Neuzugänge. Die Verhandlungen bei der Neukonstellation des Ressourcenensembles fand also unter denselben Beteiligten statt wie zuvor, die Akteure waren dieselben, und es waren dieselben Personen wie im Kaiserreich, die Spitzenstellungen in den neu geschaffenen Verteilungsnetzwerken einnahmen. Diese Netzwerke waren weit verzweigt, verknüpften Hochschulen, Forschungsinstitute, Fördereinrichtungen und Wissenschaftsverwaltungen, reichten also in politische Instanzen hinein, auch in die Parlamente. Hier waren Naturwissenschaftler allerdings traditionell kaum vertreten: Von den 62 in den deutschen Reichstag gewählten Professoren zwischen 1871 und 1918 waren nur drei Naturwissenschaftler, zwischen 1919 und 1924 gar keiner.5 Forschung wurde in der Weimarer Zeit zwar in steigendem Maße aus Steuermitteln finanziert und unterlag damit prinzipiell demokratischer Kontrolle durch die jeweiligen Parlamente, doch wurden diese Mittel in steigendem Maße indirekt und über private oder halbprivate Einrichtungen verteilt, in denen Männer das Sagen hatten, die bereits vor 1914 an den Schalthebeln gesessen hatten – Friedrich Schmidt-Ott und Adolf von Harnack seien hier exemplarisch erwähnt. Sie rekurrierten rhetorisch auf die Autonomie und Freiheit der Wissenschaft, um demokratische Transparenz und Kontrolle systematisch zu verhindern, wie Untersuchungen zur Politik der Notgemeinschaft und der KaiserWilhelm-Gesellschaft in den 1920er Jahren zweifelsfrei ergeben haben.6 4 5 6

M. ASH, Wissenschaftswandlungen (wie Anm. 1), S. 77. BERNHARD VOM BROCKE: Professoren als Parlamentarier, in: KLAUS SCHWABE (Hg.): Deutsche Hochschullehrer als Elite 1815–1945, Boppard 1988, S. 55–99, hier S. 72– 82. PETER CHRISTIAN WITT: Wissenschaftsfinanzierung zwischen Inflation und Deflation: Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 1918/19 bis 1934/35, in: BERNHARD VOM BROCKE/RUDOLF

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Im Endergebnis stellten sich also die alten Organisationsformen und die überkommene korporatistische Machtverteilung wieder her. Aus Sicht der agierenden Wissenschaftler waren daher generell keine besonderen Anpassungsleistungen an das neue politische System erforderlich. Wegen der Kontinuität der maßgeblichen Akteure in den Verteilungsnetzwerken mussten auch keine besonderen demokratischen Rhetoriken mobilisiert werden, um im neu konfigurierten Weimarer Ressourcennetzwerk erfolgreich zu sein. Dies war nicht zuletzt auch deshalb nicht erforderlich, weil Forschung und Wissenschaft sich in einer bemerkenswert unumstrittenen Sonderposition befanden.7 Sie trugen nicht mehr, wie noch vor 1914, als lediglich ein Faktor unter mehreren anderen zur Ehre und Machtstellung des Deutschen Reiches bei, sondern sie stellten nun nach dem verlorenen Krieg den, wie vor allem Wissenschaftler nicht müde wurden zu betonen, letzten verbliebenen „Aktivposten“ Deutschlands dar: Die Spitzenstellung deutscher Forschung und Wissenschaft seien der einzige Ersatz für die Einbußen an politischer, militärischer und wirtschaftlicher Macht. So formulierte beispielsweise Max Planck in seiner Eigenschaft als Vorsitzender Sekretar der Preußischen Akademie am 3. Juli 1919: „Denn die Wissenschaft gehört mit zu dem letzten Rest von Aktivposten, die uns der Krieg gelassen hat, den einzigen, denen auch die Begehrlichkeit unserer Feinde bisher nichts Wesentliches anhaben konnte.“8 Diese Einsicht und die daraus abgeleitete Konsequenz, Forschung über die bestehenden Institutionen hinaus mit öffentlichen Geldern zu fördern, um Deutschland als „Großmacht des Geistes“ zu erhalten und auszubauen, waren in der politischen Sicht von ganz rechts bis ganz links unangefochten und bildeten eines der ganz wenigen konsensfähigen, ja konsensstiftenden Anliegen der politisch ansonsten so stark fragmentierten Republik.9 Die Forschung sei, so das Staatslexikon noch 1927, ein Pfeiler der Größe und Zukunft Deutschlands. Hier gelte es „wettzumachen“, was Deutschland durch den Krieg an anderen „Machtpositionen eingebüßt“ habe.10 Besonders die Natur-

7

8 9 10

VIERHAUS (Hg.): Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft. Geschichte und Struktur der Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft, Stuttgart 1990, S. 579– 656. Vgl. zum Folgenden z. B. GERALD D. FELDMAN: The Politics of Wissenschaftspolitik in Weimar Germany: a Prelude to the Dilemmas of a Twentieth-Century Science Policy, in: CHARLES S. MAIER (Hg.): Changing Boundaries of the Political, Cambridge u. a. 1987, S. 255–285, hier S. 267. Die Wendung von der „Großmacht des Geistes“ prägte der Zentrumspolitiker Georg Schreiber. Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1919, S. 548. Vgl. PAUL FORMAN: Scientific Internationalism and the Weimar Physicists: the Ideology and its Manipulation in Germany after Word War I, in: Isis 64 (1973), S. 151–180, bes. S. 161–165. GEORG SCHREIBER: Forschungsinstitute, in: Staatslexikon, i. A. der Görres-Gesellschaft hg. von HERMANN SACHER, 5. neubearb. Aufl., Bd. 2, Freiburg 1927, Sp. 74–89, hier Sp. 87.

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wissenschaftler erlebten inner- wie außeruniversitär einen erheblichen Prestigezuwachs. In dieser Grundkonstellation des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik in den Weimarer Jahren ist im Folgenden der Standort von drei der bedeutendsten und bekanntesten Naturwissenschaftler ihrer Zeit, Einstein, Planck und Haber, konkret zu bestimmen. Alle drei waren keine erklärten Gegner der Republik, wie es nicht wenige unter den profilierten Naturwissenschaftlern der Zeit waren, sie wurden vielmehr zeitgenössisch als ihre Stützen wahrgenommen. Ob allerdings der Begriff des „Vernunftrepublikaners“ analytisch sinnvoll ist, sei dahingestellt – für Einstein wäre er absurd, für Haber und Planck immerhin diskussionswürdig. Im Folgenden soll anders angesetzt und zunächst das politische Denken, konkret: das Demokratieverständnis der drei Nobelpreisträger untersucht werden. In einem weiteren, wichtigeren Schritt geht es um demokratische Praktiken, welche die Ebene der politischen Meinung, der Normen und Werte mit der Ebene des politischen Handelns verknüpfen. Dazu zählen fraglos unmittelbar politische Aktivitäten wie ein eventuelles parteipolitisches Engagement für eine der die Republik tragenden Parteien. Im Rückgriff auf Ashs eingangs vorgestellten Ansatz werden aber auch Aktivitäten in Bereichen interessant, in denen nach der politischen Zäsur von 1918/19 Prozesse der Ent- und erneuten Verflechtung zwischen Wissenschaft und Politik bzw. der Neuanordnung von Ressourcenkonstellationen abliefen. In diesen nur vermeintlich politikfernen Räumen der Wissenschaft sind folglich Praktiken zu untersuchen, die erkennen lassen, ob zentrale demokratische Werte – etwa Toleranz, Mitbestimmung oder Pluralismus – auch verinnerlicht und umgesetzt wurden, so dass hier republikstabilisierende Mechanismen wirken konnten. Über diesen Zugriff geraten vor allem auch personelle bzw. kommunikative Netzwerke in den Blick. Schließlich wird es um die Grenzen demokratischer Praxis gehen. Einstein, Haber und Planck stellen freilich keinen irgendwie repräsentativen „Durchschnitt“ dar, sondern waren als Nobelpreisträger in jeder Beziehung Ausnahmeerscheinungen. Sie weisen allerdings Gemeinsamkeiten auf, die über den bloßen Einzelfall hinausgehen. Alle drei erhielten diese internationale Anerkennung ihrer wissenschaftlichen Leistungen kurz nach dem Ersten Weltkrieg, also unmittelbar nach der deutschen Niederlage und dem Versailler Vertrag: Planck und Haber für das Jahr 1918, ausgewählt und verliehen im folgenden Jahr; Einstein ein wenig später für das Jahr 1921. Der Nobelpreis hatte, obwohl seine Verleihung vor allem an Haber international heftigste Kritik auslöste11, Auswirkungen nicht nur auf das Ansehen der drei Ausgezeichneten innerhalb der deutschen wie internationalen Wissenschaft, sondern auch darauf, wie sie selbst und wie die Politik im In- und Ausland mit 11

MARGIT SZÖLLÖSI-JANZE: Fritz Haber 1868–1934. Eine Biographie, München 1998, S. 431–438.

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dem „symbolischen Kapital“ umgingen, das der Nobelpreis mit sich brachte.12 Allein daraus resultierten bedeutende Gestaltungsmöglichkeiten im wissenschaftlichen wie politischen Raum.13 Weitere Gemeinsamkeiten fallen auf: Alle drei Nobelpreisträger stammten nicht aus den Lebenswissenschaften bzw. der Medizin, sondern aus den mathematisch-physikalischen Naturwissenschaften: Planck und Einstein erhielten Nobelpreise für Physik, und zwar für Fortschritte in der theoretischen Physik, Haber zwar für Chemie, aber für die Sparte der physikalischen Chemie. Alle drei lebten und arbeiteten in Berlin in engstem wissenschaftlichen Zusammenhang, sie waren sich außerdem in gegenseitiger Hochschätzung oder gar Freundschaft eng verbunden. Alle drei bekleideten wichtige Positionen in den bedeutendsten Institutionen der Wissenschaft und Wissenschaftsförderung ihrer Zeit: in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, der Notgemeinschaft und ihren Ausschüssen, der Berliner Akademie der Wissenschaften, Planck auch in der dortigen Universität. Sie waren also zweifellos Machtinstanzen in jenem vernetzten System, das Mitchell Ash als „Wissenschaftsinnenpolitik“ bezeichnet hat.14 Bei aller Gemeinsamkeit gibt es jedoch auch Unterschiede zwischen Haber, Planck und Einstein, die es zu gewichten gilt, die auf jeden Fall aber auch zeigen, wie breit das Spektrum „republikfreundlicher“ Denk- und Verhaltensweisen unter führenden deutschen Naturwissenschaftlern war. Zunächst gehörten sie unterschiedlichen Alterskohorten an. Planck, geboren 1858 und fast gleichaltrig mit Wilhelm II., war der älteste, zu Beginn der Weimarer Republik also schon 60 Jahre alt. Er hatte als einziger der drei Wissenschaftler noch die Reichsgründungszeit bewusst erlebt. Haber war zehn Jahre jünger, geboren 1868; Einstein, Jahrgang 1879, war erneut deutlich jünger und in etwa altersgleich mit dem späteren Reichsaußenminister Stresemann, der den mittleren Jahren der Republik seinen Namen geben sollte. Haber war zu Beginn der Weimarer Zeit also 50 Jahre alt, Einstein war 40. Alle drei waren sie also Männer fortgeschrittenen oder zumindest mittleren Alters, jedenfalls nicht 12 GÜNTER KÜPPERS/PETER WEINGART/NORBERT ULITZKA: Die Nobelpreise in Physik und Chemie 1901–1929. Materialien zum Nominierungsprozeß, Bielefeld 1982; ELISABETH CRAWFORD: Nationalism and Internationalism in Science, 1880–1939. Four Studies of the Nobel Population, Cambridge 1992 (sowie die dort zitierten Arbeiten); ELISABETH CRAWFORD/TERRY SHINN/SVERKER SÖRLIN (Hg.): Denationalizing Science. The Contexts of International Scientific Practice, Dordrecht u. a. 1993. Zur Diskussion um die Vergabepraxis vgl. jüngst ISTVAN HARGITTAI: The Road to Stockholm. Nobel Prizes, Science and Scientists, Oxford 2002. 13 Vgl. dazu grundsätzlich auch GABRIELE METZLER: „Welch ein deutscher Sieg!“ Die Nobelpreise von 1919 im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 44 (1996), S. 173–200. 14 MITCHELL G. ASH: Vertriebene, Verbliebene, Verfehlungen: Der Nobelpreis und der Nationalsozialismus, in: ELMAR MITTLER/FRITZ PAUL (Hg.): Das Göttinger Nobelpreiswunder. 100 Jahre Nobelpreis, Göttingen 2004, S. 83–113, hier S. 86.

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Angehörige der später so genannten „Front-Generation“ der Jahrgänge um 1890. Das Konzept der Generationalität, mit dem bestimmte Altersgruppen von Menschen einerseits von außen in bestimmte Gesellschaftsformationen eingeordnet werden, andererseits sich selbst im Zeitablauf deuten und von anderen Altersgruppen abgrenzen, ist freilich ein in hohem Maße artifizielles und auch kontrovers diskutiertes Konstrukt.15 In diesem Zusammenhang mag der Hinweis genügen, dass die Angehörigen dieser letztgenannten jüngeren Generation, denen das Kriegserleben als kollektive prägende Erfahrung zugeschrieben wird, sich in dem insgesamt stagnierenden Weimarer Wissenschaftssystem besonders schwer taten: Die maßgeblichen Positionen waren durch die älteren Generationen meist besetzt, die Aufstiegs- und Berufungschancen in der Regel schlecht. Umgekehrt nährt das fortgeschrittene Alter von Planck, Haber und Einstein die Hypothese, dass sich so genannte „Vernunftrepublikaner“ eher in den Jahrgängen 1860 bis 1880 finden. Schließlich decken die drei Nobelpreisträger innerhalb der Gruppe der vergleichsweise republikfreundlichen Naturwissenschaftler ihrer Zeit politisch ein ziemlich breites Spektrum von links bis rechts ab. Eine absolute Ausnahmeerscheinung war Albert Einstein.16 Während Planck wie Haber 1914 den verhängnisvollen „Aufruf an die Kulturwelt“ unterzeichnet und sich voll mit der deutschen Sache identifiziert und engagiert hatten, war Einstein bekennender Pazifist. Gemeinsam mit dem Physiologen Georg Friedrich Nicolai verfasste er den Gegenaufruf „An die Europäer“, der Wissenschaftler und Künstler auf die „gemeinsame Weltkultur“ einschwor, aber nur von ganz wenigen unterzeichnet wurde. Einstein war außerdem Mitglied in pazifistischen Organisationen wie dem „Bund Neues Vaterland“, trat für die Völkerverständigung ein und wurde polizeilich beobachtet.17 Einstein galt auch in der Weimarer Zeit als „links“: Seine Mitstreiter waren bekannte linksintellektuelle Schriftsteller und Künstler, darunter Heinrich Mann, Erich Mühsam, Carl von Ossietzky. Er bekannte sich in unter Wissenschaftlern selten anzutreffender Offenheit mit den Worten „Mein politisches Ideal ist das demokratische“ öffentlich zur Republik. Autokratische Zwangssysteme, so Einstein, degenerierten und zögen stets moralisch Minderwertige an. Dagegen sei das Individuum 15 Vgl. als Klassiker KARL MANNHEIM: Das Problem der Generation, in: Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie 7 (1928), S. 157–185, S. 309–330; JÜRGEN REULECKE (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003; ULRIKE JUREIT/MICHAEL WILDT (Hg.): Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg 2005. 16 Vgl. zum Folgenden ausführlich die Untersuchung von BRITTA SCHEIDELER: Albert Einstein in der Weimarer Republik. Demokratisches und elitäres Denken im Widerspruch, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 53 (2005), S. 381–419, bes. S. 395– 397. 17 SIEGFRIED GRUNDMANN: Einsteins Akte. Einsteins Jahre in Deutschland aus der Sicht der deutschen Politik, Berlin/Heidelberg/New York 1998, S. 47ff.

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grundsätzlich zu respektieren. Zutiefst verhasst war ihm alles Obrigkeitsstaatliche und Militärische als „schlimmste Ausgeburt des Herdenwesens“: „Wenn einer mit Vergnügen in Reih und Glied zu einer Musik marschieren kann, [dann hat er] sein großes Hirn nur aus Irrtum bekommen, da für ihn das Rückenmark schon völlig genügen würde.“18 An anderen Ende des politischen Spektrums befand sich Max Planck, für den die Deutsche Volkspartei politisch das höchste an Zugeständnissen war, das er dem neuen System entgegenbringen wollte. Planck sollte der Partei bis zu ihrer Auflösung 1933 angehören, allerdings nur als passives Mitglied.19 Sein Sohn Erwin bewegte sich noch weiter rechts im politischen Dunstkreis der DNVP, der er zwar nicht als Mitglied, wohl aber ideell angehörte. „Vorarbeit für die Reaktion“ empfahl er Ende 1919 sich wie anderen.20 Max Planck verhielt sich anders. Er steuerte in seinen zahlreichen Ämtern einen konservativen Kurs, war allerdings zu klug, um in Anbetracht der gegebenen Lage auf Konfrontation zu gehen – das verhinderte allein schon sein preußisch geprägtes Pflichtgefühl, das sich aus seinen Ämtern gegenüber dem Staat ergab und unbedingte Loyalität gegenüber staatlichen Autoritäten auch jenseits eigener politischer Überzeugung einforderte.21 In Max Plancks Schriften finden sich nur wenige explizit politische Stellungnahmen. Er äußerte sich generell stets zurückhaltend zum politischen Tagesgeschehen und pflegte ein Selbst- und Fremdbild als weltabgewandter „unpolitischer“ Gelehrter. Allerdings belegt sein konkretes Handeln, dass er Wissenschaft de facto im eingangs erwähnten, erweiterten Sinn als „Praxis und Kultur“ verstand: Er war sich der Bedeutung, die Kommissionen, Gremien und Institutionen für den Wissenschaftsbetrieb und die Allokation von Ressourcen einnahmen, sehr wohl bewusst und bekleidete eine Vielzahl von Ämtern.22 Das heißt konkret, dass Plancks politische Grundeinstellung national-konservativ war, dass er sich aber andererseits mit allem Nachdruck um ein politisch korrektes Verhalten bemühte.23 Extremistischen, offen republikfeindlichen Haltungen, wie sie gerade in der Akademie immer wieder geäußert wurden, trat er entgegen und schlug selbst einen abwartend-gemäßigten Kurs ein. So verteidigte er beispielsweise 1924 die Regierung öffentlich gegen 18 ALBERT EINSTEIN: Wie ich die Welt sehe (1930/31), in: DERS.: Mein Weltbild, hg. von Carl Seelig, Frankfurt/Berlin/Wien 1981 (zuerst veröffentlicht: Amsterdam 1934), S. 8f. 19 Vgl. Personalakte Max Plancks 1939, zit. nach DIETER HOFFMANN: Das Verhältnis der Akademie zu Republik und Diktatur. Max Planck als Sekretar, in: WOLFRAM FISCHER (Hg.): Die Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1914–1945, Berlin 2000, S. 53–85, hier S. 65. 20 ASTRID VON PUFENDORF: Die Plancks. Eine Familie zwischen Patriotismus und Widerstand, Berlin ²2006, S. 160f. 21 JOHN L. HEILBRON: Max Planck. Ein Leben für die Wissenschaft 1858–1947, Stuttgart 1988, S. 112 (Orig.: Dilemmas of an Upright Man, Berkeley 1986). 22 D. HOFFMANN, Verhältnis (wie Anm. 19), S. 53. 23 Ebd., S. 57.

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aggressive Stimmen, die ihr die Schuld für die finanzielle Not der Wissenschaften anlasteten.24 Vielleicht ist Planck unter den Naturwissenschaftlern am ehesten mit dem Terminus des „Vernunftrepublikaners“ zu bezeichnen, der, wie Meinecke ihn definiert hatte, im Grunde ein „Herzensmonarchist“ blieb und gegenüber der demokratischen Republik eine funktionale Einstellung entwickelte. In diesem Sinne ließe sich auch seine parteipolitische Zugehörigkeit zur DVP interpretieren, deren Parteiprogramm ein Bekenntnis zum Kaisertum, wenn auch mit modifizierenden Klauseln enthielt.25 Noch 1934 verband sich für Planck der November 1918 mit „dem schmachvollen Friedensdiktat, [dem] noch schmachvolleren Verfassungsumsturz und [dem] wirtschaftlichen Bankrott“.26 Die Frage der Loyalität gegenüber Staat und Krone beschäftigte ihn jedenfalls dauerhaft.27 Planck verhielt sich bei aller Korrektheit allerdings, wie Dieter Hoffmann herausgearbeitet hat, auffällig tolerant gegenüber der aggressiv nationalistischen und revanchistischen Propaganda der „Reichszentrale für naturwissenschaftliche Berichterstattung“, die administrativ dem Innenministerium angehörte, wissenschaftlich aber von einer von Planck geleiteten Akademiekommission betreut wurde. Das ansonsten vehement verfochtene Ideal einer politikfreien Wissenschaft galt hier auf einmal nicht, anders als 1920, als Planck und der Vorsitzende Sekretar Gustav Roethe es für die Akademie ablehnten, sich, wie vom Preußischen Kultusministerium angeregt, durch eine öffentliche Erklärung schützend vor den verleumdeten Einstein zu stellen. Durch die Tagespresse war die Polemik gegen Einstein, wie Roethe meinte, „wesentlich eine politische Sache geworden“, aus der man sich herauszuhalten habe. Planck schloss sich dieser Meinung an, die Akademie schwieg.28 Distanz zur Republik und der Rückzug in einen politikfreien Raum der Wissenschaft kennzeichneten also Planck wie seine meisten Kollegen. Er orientierte sich an den Werten des wilhelminischen Obrigkeitsstaates: Pflicht, Ordnung, Reichstreue, Überparteilichkeit des Beamten, ein Selbstbild des Wissenschaftlers als unpolitischer Kulturträger über den Abgründen des tagespolitischen Geschehens. Planck konnte bekanntermaßen die Einführung des allgemeinen Wahlrechts, also den Basisgrundsatz der Weimarer Verfassung, nur mit allergrößtem Widerwillen ertragen. Er hielt es noch 1943 (!) für einen „schweren Fehler“29 und lehnte das Mehrheitsprinzip mit dem Hinweis 24 J. HEILBRON, Planck (wie Anm. 21), S. 112f. 25 Vgl. WOLFGANG HARTENSTEIN: Die Anfänge der Deutschen Volkspartei 1918–1920, Düsseldorf 1962, S. 106–120. 26 M AX P LANCK : Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, in: FRIEDRICH E VERLING /A DOLF GÜNTHER (Hg.): Der Kaiser. Wie er war – wie er ist, Berlin 1934, S. 169–172, zit. nach D. HOFFMANN, Verhältnis (wie Anm. 19), S. 64. 27 D. HOFFMANN, Verhältnis (wie Anm. 19), S. 59. 28 Zit. nach ebd., S. 62. 29 Planck an Laue, 13. 8. 1943, zit. nach ebd., S. 65.

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ab, dass schließlich Nicht-Sachkundige auch nicht über die Gültigkeit der Theorien von Newton und Einstein mitzuentscheiden hätten. Die „Herrschaft der Massen“ hielt er für ein Grundübel: darin setzte er die Demokratie von Weimar mit dem Nationalsozialismus gleich, den er als Massenbewegung gleichfalls ablehnte. Als Hindenburg 1925 Reichspräsident wurde, schöpfte Planck Hoffnung auf eine ihm genehme politische Kursänderung nach rechts. „Ich hoffe zuversichtlich, daß wir unter Hindenburg gut fahren und einen allmählichen Fortschritt in der Befestigung der Ordnung und des Friedens erleben werden“, schrieb er seiner Nichte30, doch konnte er dann vor allem auf außenpolitischem Gebiet dem mit Stresemann eingeschlagenen Kurs nur mit großer Mühe folgen.31 Die elitäre Ablehnung der Massen teilte Planck wiederum mit Einstein, dessen Bekenntnis zur Demokratie in eigentümlichem Kontrast steht zu seiner Unterscheidung zwischen dem „gemeinen Pöbel“, den „rohen Massen“ auf der einen und der „geistigen Elite“ auf der anderen Seite. Britta Scheideler hat erst kürzlich eindringlich auf Ambivalenzen in Einsteins politischem Denken aufmerksam gemacht.32 Ihre Untersuchung basierte auf einer Auswertung seiner Schriften und Korrespondenzen und fragte gezielt nach seinem politischem Rollenverständnis. Sie stellte fest, dass dieses eng mit seinem geradezu spätidealistischen, moralischen Selbstverständnis als Naturwissenschaftler zusammenhing, das er zum universellen Leitbild erhob: Der wahre Wert eines Menschen bestimme sich danach, in welchem Maße dieser zur „Befreiung vom Ich“, d. h. zur Überwindung seiner Triebe und Egoismen gelangt sei. Eine positiv verstandene demokratische Gesellschaft ist in dieser Sicht der harmonische Zusammenschluss einer Minderheit geistig und moralisch hochstehender, selbstlos handelnder Individuen, denen ein politischer Führungsauftrag zukommt. Damit entfallen Interessenkonflikte, die Notwendigkeit eines politisch auszuhandelnden Interessenausgleichs, ja überhaupt die Annahme konkurrierender sozialer und politischer Gruppen. Auf der anderen Seite jedenfalls stehen die „rohen Massen“, eine Mehrheit der Führung bedürftiger, triebbestimmter und manipulierbarer Individuen, die „ihr Werk aus dumpfen Leidenschaften heraus [tun], denen sie und die sie verkörpernden Staaten völlig untertan sind“.33 In brieflichen, also nicht zur Veröffentlichung bestimmten Ausführungen zur Todesstrafe von 1931 sprach er auch gar von „wertlosen“ und „schädlichen“ Individuen, die man zum Schutz der Gesell-

30 Planck an Emma Lenz, 25. 5. 1925, zit. nach A. VON PUFENDORF, Plancks (wie Anm. 20), S. 204. 31 J. HEILBRON, Planck (wie Anm. 21), S. 113f. 32 B. SCHEIDELER, Einstein (wie Anm. 16), vor allem S. 389–391. 33 ALBERT EINSTEIN: Über den Frieden. Weltordnung oder Untergang, hg. von OTTO NATHAN und HEINZ NORDEN, Bern 1975, S. 97f.

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schaft beseitigen müsse, auch davon, dass er „am Leben mehr die Qualität als die Quantität [schätze]“.34 Mit der elitären Gegenüberstellung von „rohen Massen“ und einer Minderheit geistig Hochstehender mit politisch-moralischem Führungsauftrag unterschied sich Einstein grundsätzlich nicht vom Bildungsbürgertum seiner Zeit, nur dass dieses den Obrigkeitsstaat stützte und legitimierte, er ihn jedoch attackierte. Eine Unterordnung unter einen Mehrheitsbeschluss, der seinen universellen Werten zuwiderlief, war Einstein nach Scheideler kaum akzeptabel, also letzten Endes auch nicht die Vorstellung eines legitimen Pluralismus. Daraus folgen bezeichnende Ambivalenzen für Einsteins elitäres, „aristokratisch“ korrigiertes Demokratieverständnis: Er bekannte sich zwar mehrfach zu einem starken Parlament und akzeptierte Parteien als Organe der politischen Willensbildung, kritisierte aber stets auch die Defizite westlicher Verfassungen und Parteien als Vertretungen partikularer Interessen. Er selbst lehnte einen Parteibeitritt vehement und öffentlich ab, trat zwar zahlreichen Vereinigungen mit humanitären, pazifistischen und internationalen Zielen bei, doch immer nur dann, wenn ihre überparteiliche Ausrichtung außer Frage stand. Den Eintritt in parteipolitisch gebundene Vereinigungen lehnte er ebenfalls ab.35 Nur einmal, anlässlich der Reichstagswahl im Juli 1932, gab er seine parteipolitische Abstinenz auf und unterschrieb nach einigem Hin und Her einen Appell des Sozialistischen Kampfbundes für gemeinsame Kandidatenlisten von SPD und KPD, um der Gefahr des Nationalsozialismus zu begegnen.36 Wo steht Fritz Haber angesichts dieser ambivalenten Befunden für Planck und Einstein? Aus seiner führenden Rolle in der deutschen Gaskriegsführung im Ersten Weltkrieg ist lange abgeleitet worden, man habe es bei ihm mit einem völlig auf den Kaiser fixierten, glühenden Nationalisten und Konservativen zu tun, für den mit der Revolution die Welt zusammenbrach. Tatsächlich erkrankte Haber psychosomatisch mit Deutschlands Niederlage, aber er hatte sie seit Anfang 1918 kommen sehen und trotzdem bis zuletzt weitergearbeitet – der stärkste Beleg für sein Pflichtgefühl, das jedoch weniger an die Person des Kaisers als an die Nation gebunden war. Durch seine Tätigkeit in der Gaskriegsführung hatte Haber enge Beziehungen zu hohen Offizieren und über sie zu rechtsgerichteten politischen Kreisen, doch erteilte er ihren politischen Absichten, Andeutungen von Putschversuchen und Umsturzüberlegungen immer eine eindeutige Absage, während er umgekehrt dem persönlich wenig geschätzten Rathenau seine politische Zustimmung signalisierte.37 Mit Planck verband Haber die grundsätzliche Überzeugung, dass Deutschland als Machtstaat in die internationale Politik zurückzukehren habe und dass 34 Brief Einsteins vom 4. 11. 1931, zit. B. SCHEIDELER, Einstein (wie Anm. 16), S. 390, Anm. 54. 35 Ebd., S. 400f. 36 Ebd., S. 410. 37 M. SZÖLLÖSI-JANZE, Haber (wie Anm. 11), S. 635.

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der Wissenschaft dabei als letzter Aktivposten und Machtersatz eine bedeutende Rolle zukomme. Und trotzdem unterschieden sich beide Nobelpreisträger auf bemerkenswerte Weise voneinander, ebenso wie sich Haber auch von seinem guten Freund Einstein unterschied. Haber gehörte politisch in das Lager der DDP, war vermutlich seit 1927 oder Anfang 1928 auch Parteimitglied und gehörte damit einer Partei der Weimarer Koalition an.38 Seit dem Weltkrieg und seiner Mitgliedschaft in der im November 1915 gegründeten „Deutschen Gesellschaft von 1914“, der er unter der Nummer 255 beigetreten war39, stammten seine politischen Freunde aus einem Spektrum, das vom rechten Rand der SPD bis zum linken Flügel der DVP reichte. Er pflegte vor allem Kontakte mit linksliberalen Politikern, hatte schon seit langem keine Berührungsängste gegenüber der Sozialdemokratie, deren Parteiblatt „Vorwärts“ er zumindest zeitweise regelmäßig las. Auch war er Rudolf Hilferding freundschaftlich verbunden. Dass ihm der Schritt in die Parteipolitik nicht völlig fremd sein konnte, belegt der Reichstagswahlkampf 1928, als die Parteileitung der DDP Haber das zweite Berliner Mandat anbot, was dieser als große Ehre empfand, wegen seiner völlig ruinierten Gesundheit jedoch ablehnte: 62 geplante Wahlreden und dann zehn Reden im Reichstag pro Jahr glaubte er nicht mehr halten zu können. Er spendete dem Wahlfonds der Partei jedoch eine beträchtliche Summe und erschrak, als das Wahlergebnis die politische Erosion der Mittelparteien erkennen ließ, wobei er vor allem fürchtete, dass die Sozialdemokratie nun unter dem Druck der KPD „auf dem Wege der Verbürgerlichung ängstlich werden und haltmachen“ könnte.40 Anders als Planck, der sich als weltabgewandter Wissenschaftler fühlte und präsentierte, begriff Haber, hierin Einstein ähnlich, die veränderte Bedeutung der politischen Öffentlichkeit in der Demokratie. Er hielt eine Vielzahl von Vorträgen, in denen er Themen aus dem Grenzgebiet zwischen Politik, Wirtschaft und Wissenschaft behandelte. Er enthielt sich zwar unmittelbar partei- und tagespolitischer Äußerungen, schreckte aber vor grundsätzlichen Stellungnahmen politischer Art nicht zurück und veröffentlichte eine Auswahl seiner Vorträge anschließend in zwei Aufsatzsammlungen.41 Hier offenbarte er ein bemerkenswertes politisch-historisches Verständnis der Weimarer Demokratie, das ihm den Blick für ihre Schwachstellen schärfte. Im Vergleich mit der gefestigten amerikanischen Demokratie, in welcher der Staat seinen Bürgern diene, sah er die deutsche Tradition durch das umgekehrte Verhältnis verhängnisvoll geprägt: der Bürger diene traditionell dem Staat. Die Republik sei zusätzlich durch einen „dreißigjährigen Klassenkampf“, die fremden Besatzungstruppen im Reich und die Zerstörung der Vermögen durch die Inflation 38 39 40 41

Ebd., S. 638. Ebd., S. 307–309. Haber an Solf, 31. 5. 1928, zit. nach ebd., S. 638. FRITZ HABER: Fünf Vorträge aus den Jahren 1920–1923, Berlin 1924; DERS.: Aus Leben und Beruf. Aufsätze, Reden, Vorträge, Berlin 1927.

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übermäßig belastet.42 Und doch stellte er sich selbst ohne Wenn und Aber hinter diese Republik und warb mit dem Prestige des Nobelpreisträgers für ihre Festigung – in Worten wie vor allem auch in Taten. Dabei waren es vor allem die Person und Politik Gustav Stresemanns, die Haber beeindruckten und an denen er sich orientierte. Hierin unterschied er sich von Planck, der Stresemanns außenpolitischem Kurs aufs Äußerste misstraute43, und ähnelte grundsätzlich Einstein, der in dem ehemaligen Reichskanzler und Außenminister eine jener wenigen integeren Persönlichkeiten gesehen hatte, der er moralisch-politische Führung zutraute.44 Anders als Einstein unterstützte Haber jedoch Stresemann durch Rat und vor allem auch Tat, indem er eine aktive, wichtige Rolle in dessen auswärtiger Kulturpolitik spielte. Stresemanns außenpolitischer Kurs war zweifellos machtstaatlich ausgerichtet. Hierin war sich Haber mit ihm einig, und er maß ebenfalls der Verständigung mit Frankreich vorrangige Bedeutung bei. Forderungen nach einer Politik der demonstrativen Stärke gegenüber Frankreich erteilte Haber eine unmissverständliche Absage, im Gegenteil: Er pflegte in Absprache mit dem Auswärtigen Amt enge, aus den Quellen jedoch bis heute nicht vollständig rekonstruierbare Konsultationen mit dem französischen Mathematiker und langjährigen Kriegsminister Paul Painlevé mit dem ausdrücklichen Ziel einer deutsch-französischen Annäherung, übrigens auch militärpolitischen Inhalts. Ziel dieser Gespräche war es, im Auftrag des Auswärtigen Amts seinem Gesprächspartner den deutschen Standpunkt zu vermitteln, umgekehrt aber auch militärische Kreise in Deutschland von den französischen Absichten zu unterrichten und sie von deren grundsätzlich defensiver Ausrichtung zu überzeugen. Dabei hielt Haber sich eng an die Vorgaben, die ihm Auswärtiges Amt und Botschaft machten: Er verstand sich ohne Wenn und Aber als verlängerter Arm deutscher Außenpolitik.45 Haber spielte darüber hinaus sowohl durch seine viel beachteten Auslandsreisen wie auch durch seine Bemühungen um ein Aufbrechen von Boykott und Gegenboykott eine aktive Rolle bei der Wiedereingliederung Deutschlands in die internationalen Wissenschaftsbeziehungen. Hierin unterschied er sich auf den ersten Blick kaum von Planck und Einstein, denn auch diese beiden reisten unter hoher Beachtung der Weltöffentlichkeit ins Ausland und engagierten sich mit voller Überzeugung für die Wiederherstellung internationaler Kontakte in der Forschung. Und doch liegt jeder Fall auf bezeichnende Weise anders. 42 DERS.: Über die Grenzgebiete der Chemie. Vortrag, gehalten auf Einladung der medizinischen Fakultät der Berliner Universität vor den amerikanischen Ärzten bei deren Besuche am 16. 6. 1926 in Berlin, in: DERS., Leben (wie Anm. 41), S. 127–147, hier S. 127f. 43 Vgl. dazu oben, Anm. 31. 44 B. SCHEIDELER, Einstein (wie Anm. 16), S. 411. 45 M. SZÖLLÖSI-JANZE, Haber (wie Anm.11), S. 586f, S. 637.

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Einstein hielt den Wissenschaftsboykott für irrational und schädlich. Der Internationalen Kommission für geistige Zusammenarbeit des Völkerbunds, der er seit März 1922 als Mitglied angehörte, drohte er mehrfach mit seinem Austritt, wenn ihm diese zu einseitig im Sinne der Franzosen oder der Alliierten zu handeln schien.46 Außerdem verreiste er in den Jahren 1920 bis 1925 ungewöhnlich oft und lange ins Ausland47, insgesamt anderthalb Jahre, zuerst nach Holland und Dänemark, dann nach Prag, Wien, USA und Großbritannien, im März und April 1922 erstmals und besonders beachtet auf Initiative Paul Langevins nach Frankreich, 1925 schließlich nach Südamerika – danach ließ seine Reisetätigkeit nach. Die jedesmal triumphal verlaufenden Reisen dienten von Einsteins Seite nicht vorrangig wissenschaftlichen Zwecken, wohl aber der Festigung seines Ansehens und der Verbreitung seiner Theorie. Er war sich des symbolischen Kapitals des Nobelpreises sehr bewusst und nahm es in Kauf, „als Renommierbonze und Lockvogel“ auch für die Interessen des Reichs zu dienen.48 In deutschen diplomatischen Kreisen setzte man auf ihn, um mit ihm, wie sich der deutsche Geschäftsträger in London, Friedrich Sthamer, 1920 ausdrückte, „wirkliche Kulturpropaganda treiben“ zu können.49 Einstein akzeptierte diesen politischen Nebenzweck seiner Auslandsreisen und stützte auf diese Weise Rathenaus Außenpolitik. Die quer durch alle politischen Lager verbreitete Sichtweise von Wissenschaft als Machtersatz prädestinierte die auswärtige Kulturpolitik, die das Auswärtige Amt gezielt seit 1920/21 betrieb, als eines der wesentlichen Instrumente aktiver deutscher Außenpolitik. Einstein eignete sich vor allem deshalb als Makler deutscher Interessen im Ausland, weil er als Demokrat galt, aber parteipolitisch nicht zuzuordnen und frei vom Vorwurf jedes Chauvinismus war. Das Interesse an Einsteins Reisen, von Diplomaten als „Kulturfaktor ersten Ranges“ betrachtet, war daher groß, wie nicht zuletzt die Zahl der ihn betreffenden Berichte und Informationen der deutschen Auslandsvertretungen belegt.50 Und trotzdem waren die Grenzen eng gezogen. Einstein war und blieb eine Ausnahmeerscheinung, „er wurde von den Verfechtern so wenig wie von vielen Betroffenen des Boykotts als ein ‚echter‘ Vertreter deutscher Gelehrtenwelt akzeptiert“.51 Außerdem waren, darauf verweist Siegfried Grundmann, Einsteins Auslandsreisen auch eine Form von Emigration, mit denen er seinen Gegnern 46 FRITZ STERN: Freunde im Widerspruch, in: B. VOM BROCKE/R. VIERHAUS, Forschung (wie Anm. 6), S. 516–551, hier S. 542. 47 S. GRUNDMANN, Akte (wie Anm. 17), S. 170ff. 48 Ebd., S. 174. 49 Zitiert nach F. STERN: Freunde (wie Anm. 46), S. 536. 50 S. GRUNDMANN, Akte (wie Anm. 17), S. 180; FORMAN, Internationalism (wie Anm. 9), S. 166. 51 BRIGITTE SCHROEDER-GUDEHUS: Internationale Wissenschaftsbeziehungen und auswärtige Kulturpolitik 1919–1933. Vom Boykott und Gegen-Boykott zu ihrer Wiederaufnahme, in: B. VOM BROCKE/R. VIERHAUS, Forschung (wie Anm. 6), S. 858–885, hier S. 866.

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im Inland aus dem Weg ging und sich zunehmend für den Zionismus engagierte. So zeigte Einsteins USA-Reise 1921 diesen Doppelcharakter besonders deutlich: Sie nützte den Interessen der Republik, diente aber vorrangig einer in Deutschland heftig umstrittenen Sache und wirkte insgesamt ambivalent.52 Schließlich ließ seine Reisetätigkeit deutlich nach, je mehr sich Stresemanns integrativer Kurs stabilisierte und verfestigte. Ganz anders verhielt sich Max Planck: Er machte zwar keine so spektakulären und häufigen Reisen wie Einstein, setzte sich aber intensiv aus der Berliner Akademie heraus, die traditionell zu den Hauptträgern der internationalen Wissenschaftsbeziehungen in Deutschland gehörte, für ihre Wiederaufnahme ein. Planck sah seine zahlreichen privaten und informellen Kontakte zu ausländischen Wissenschaftlern dezidiert als einen Weg, um gewissermaßen von „unten“ her den Boykott der Ententemächte aufzubrechen und politischen Druck auf sie auszuüben. Hierin ähnelte er Haber, doch während dieser, nach anfänglicher Unterstützung der geheimen Aufrüstungspläne der Reichswehr in der Sowjetunion53, Stresemanns westorientierte Politik unterstützen sollte, setzte Planck seinen Hebel anders an. Für ihn spielte vor allem die Pflege von Wissenschaftskontakten zu neutralen Ländern oder zu Ländern, die ebenfalls von der Entente-Politik negativ betroffen waren, eine zentrale Rolle. Er lenkte in diesem Sinn die Wahlen der Korrespondierenden Mitgliedern der Preußischen Akademie seit 1921 gezielt auf skandinavische und holländische Wissenschaftler, um auf diese Weise deren Opposition gegen die Boykottpolitik des Internationalen Forschungsrats für die deutsche Wissenschaft zu nutzen. Allein 1921/22 wurden Martin Kundsen und Niels Bohr (beide Kopenhagen), Heike Kamerlingh Onnes und Jacobus Cornelius Capteyn (beide Leiden), Pieter Zeeman (Amsterdam), Johann Nordal Wille (Oslo) und Gerald de Geer (Stockholm) in die Physikalisch-mathematische Klasse gewählt.54 Ebenfalls als bewusste Gegenstrategie zum Boykott betrieb Planck eine auffällige und nachhaltige „Rapallo-Politik“ gegenüber der jungen Sowjetunion.55 Der Weg führte über die Russische Akademie der Wissenschaften, die sich im September 1925 auf ihrem 200-jährigem Gründungsjubiläum in „Akademie der Wissenschaften der UdSSR“ umbenannte. Planck reiste aus diesem Anlass als Sprecher von 30 deutschen Delegierten, die unter den 150 ausländischen Gästen aus 24 Ländern die stärkste Gruppe bildeten, nach Leningrad und Moskau. Er hatte die Annahme der Einladung durch die deutschen Aka52 53 54 55

S. GRUNDMANN, Akte (wie Anm. 17), S. 182ff. M. SZÖLLÖSI-JANZE, Haber (wie Anm. 11), S. 467–480. D. HOFFMANN, Verhältnis (wie Anm. 19), S. 67. Zum Folgenden vgl. JÜRGEN NÖTZOLD: Die deutsch-sowjetischen Wissenschaftsbeziehungen, in: B. VOM BROCKE/R. VIERHAUS, Forschung (wie Anm. 6), S. 778–800, hier S. 779–782; ausführlich auch WOLFGANG SCHLICKER: Max Planck und die deutschsowjetischen Akademiebeziehungen während der Weimarer Republik. Verbündete der Forschung, Berlin 1976.

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demien gegen heftige Widerstände durchgesetzt und befand sich in Gesellschaft führender Repräsentanten deutscher Wissenschaft, u. a. von Albert Einstein, Oskar Vogt und Friedrich Schmidt-Ott. Über diese Personen bestand eine Verbindung mit der „Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas“, deren nationalkonservative Führungsriege das Modell westlicher Demokratie ablehnte und sich außenpolitisch nach Osten orientierte. 1923 war aus diesem Kreis heraus das so genannte „Westphal-Komitee“ gegründet worden, das diesen Zweck auf dem Gebiet der Naturwissenschaften dann ganz konkret in Verbindung mit dem Ständigen Sekretär der Russischen Akademie verfolgte. Ihm gehörten 44 führende deutsche Wissenschaftler verschiedener Disziplinen an, darunter Einstein, Planck und Haber. Die deutsche Delegation sei, wie Planck seinem Sohn schrieb, in Leningrad „mit fast fürstlichen Ehren empfangen worden“.56 Die Verhandlungen wurden wenig später in Berlin fortgesetzt, ebenfalls unter Beisein Plancks als einer ihrer treibenden Kräfte, und schlugen sich in den Folgejahren in Aktivitäten wie der russischen Naturforscherwoche (Berlin, Juni 1927), der russischen Historikerwoche (Berlin, Juli 1928), der Woche der deutschen Technik (Moskau, Januar 1929) und der russischen Medizinerwoche (Berlin, November/Dezember 1932) nieder. Der Verdichtung der deutsch-sowjetischen Wissenschaftsbeziehungen dienten ferner seit ihrer Gründung 1923 die bilaterale Gesellschaft „Kultur und Technik“ sowie gemeinschaftliche Forschungsvorhaben mit der Notgemeinschaft.57 Anders als Haber, der mit der Ära Stresemann den Hebel für die Überwindung des Boykotts im Westen ansetzte und auf eine internationale Verflechtung der deutschen Wissenschaft setzen sollte, operierte Planck also dauerhaft vom Osten her. Er war folglich durchaus imstande, sein von ihm selbst proklamiertes „unpolitisches“ Wissenschaftsideal aufzugeben und mit Hilfe der Wissenschaft dezidiert auch Politik zu treiben. Das Endergebnis ist zwiespältig: Seine Haltung der pflichtgemäßen Staatstreue, des Patriotismus, die Betonung der Autonomie und Internationalität der Wissenschaften machte Planck „zum loyalen Diener dieser Republik“; er half dadurch mit, sie wissenschafts- und außenpolitisch zu stabilisieren. Aber genau diese seine Haltung – Loyalität gegenüber dem Staat, Autonomie der Wissenschaft gegenüber der Politik, Nutzung internationaler wissenschaftlicher Netzwerke – führte Planck im Nationalsozialismus zu einer Politik des Abwartens, der Anpassung und der begrenzten Kooperation mit den braunen Machthabern.58 Habers Initiative und Einsatz bei der Wiedereingliederung der deutschen in die internationale Wissenschaftsgemeinschaft kam einer Pionierrolle gleich. 56 Max Planck an Erwin Planck, 6. 9. 1925, zit. nach A. VON PUFENDORF, Plancks (wie Anm. 20), S. 208; zur gesamten Leningrad-Reise ebd., S. 207–209. 57 J. NÖTZOLD, Wissenschaftsbeziehungen (wie Anm. 55), S. 782–786; FORMAN, Internationalism (wie Anm. 9), S. 167f. 58 D. HOFFMANN, Verhältnis (wie Anm. 11), S. 82.

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Er stand mit Beginn der Ära Stresemann viel eindeutiger als seine Nobelkollegen hinter der Sache selbst, nämlich im Dienst der offiziellen auswärtigen Politik der Republik. Als einer der ganz wenigen führenden Wissenschaftler seiner Zeit war er frei von antirepublikanischen Ressentiments, so dass das Auswärtige Amt keine Schwierigkeiten hatte, ihn einzubinden. Gleichzeitig schützte ihn sein bekanntes Engagement im Krieg nach innen vor dem wohlfeilen Vorwurf mangelnder nationaler Einstellung. Nach außen profitierte er, abgesehen von seinem Prestige als Wissenschaftstitan und seiner unermüdlichen Tatkraft, „auch auf Grund seiner von einem leichten Schatten Außenseitertums temperierten Repräsentativität“.59 Haber reiste deutlich weniger als Einstein, aber trotzdem viel beachtet, so im Juni/Juli 1924 als offizieller deutscher Delegierter nach London zur Ersten Weltkonferenz für mechanische Kraft (World Power Conference). Frankreich und Belgien hatten eine deutsche Beteiligung abgelehnt, doch setzte England eine Einladung mit amerikanischem Einverständnis durch.60 Dem schloss sich ab September desselben Jahres eine Weltreise mit erster Station in den USA an, wo Haber als Vertreter der Preußischen Akademie der Wissenschaften und der Berliner Universität an der Hundertjahrfeier des Benjamin-Franklin-Instituts in Philadelphia teilnahm. Hier hielt er vor einem international hochkarätig besetzten Publikum aus Physikern und Physikochemikern einen Festvortrag, der in einem Appell für eine internationale Forschungskooperation endete. Danach begab er sich auf eine ausgedehnte Rundreise durch die USA und Kanada und führte intensive Gespräche mit amerikanischen Industriellen und Wissenschaftlern.61 Ende Oktober reiste Haber von San Francisco aus weiter nach Japan, wo er zwei Monate lang bleiben sollte, Vorträge hielt, Chemieunternehmen besichtigte, technischen Rat erteilte und maßgeblich dazu beitrug, intensive deutsch-japanische Wissenschafts- und Wirtschaftsbeziehungen zu knüpfen. Sein Engagement mündete unmittelbar in die Gründung des Japan-Instituts in Berlin und einer Schwester-Einrichtung in Tokio 1926/27.62 Über die Herstellung bilateraler Wissenschaftsbeziehungen hinaus setzte sich Haber vor allen Dingen für die Wiedereingliederung Deutschlands in die internationale scientific community ein, konkret für eine Annäherung an den Internationalen Forschungsrat bzw. eine Aufnahme der einzelnen Disziplinen in die entsprechenden internationalen Fachunionen, in seinem Fach, der Chemie, also in die International Union of Pure and Applied Chemistry (IUPAC). Ohne dies hier im Einzelnen auszuführen63, ist dreierlei bemerkenswert: erstens die durchgängig enge Fühlungnahme Habers mit dem Auswärtigen Amt, 59 60 61 62 63

B. SCHROEDER-GUDEHUS, Wissenschaftsbeziehungen (wie Anm. 51), S. 869f. M. SZÖLLÖSI-JANZE, Haber (wie Anm. 11), S. 583f. Ebd., S. 584–586. Ausführlich ebd., S. 560–580. Vgl. ausführlich ebd., S. 586–598.

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zweitens die ganz entscheidende vermittelnde Rolle niederländischer Wissenschaftler, über die er indirekt mit den Franzosen kommunizierte, und drittens seine hochbrisante doppelte Frontstellung gegen die unnachgiebigen Boykotteure im Ausland und Gegenboykotteure im Inland. Seine Aufgabe sah Haber explizit auch darin, „etwaige Hitzköpfe in Deutschland so lange wie möglich ruhig zu halten“. Diese sammelten sich vor allen in den Akademien, deren Kartell er den Vorwurf machte, „eine fatale Neigung [zu] haben, mit der Macht des Wortes gegen die Vernunft der Thatsachen aufzutreten“.64 Er verhandelte monatelang mit wechselndem Erfolg mit den Hardlinern beider Seiten, ärgerte sich vor allem über die „rabiaten deutschvölkischen Gelehrtenkreise in München“ und fühlte sich schließlich 1927 vom Auswärtigen Amt in Anspruch genommen „wie ein Fußball von einer Uebungsmannschaft“.65 1929/30 gelang ihm der endgültige Durchbruch durch den deutschen Beitritt in die IUPAC, die den Weg frei machte für die Aufnahme deutscher Mitglieder in die anderen Fachunionen und ständigen internationalen Kommissionen. Eine zweite, nicht minder wichtige Ebene demokratischer Praxis im Sinne einer zunehmend verinnerlichten demokratischen politischen Kultur lag in Habers wiederholten Vorstößen, Hierarchien abzubauen und demokratische Partizipationsmöglichkeiten zu eröffnen. Hierin unterschied er sich am meisten von Planck und auch Einstein, denn er nahm persönlich und sehr konkret den Kampf gegen autoritäre Strukturen in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) und in der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft (NG) auf. Es ging ihm in beiden Fällen darum, Mitsprachemöglichkeiten zu institutionalisieren, Machtstrukturen aufzubrechen und sie demokratischer Kontrolle zu öffnen. Ähnliches taten weder Einstein, der sich in Ämtern und Gremien kaum engagierte, noch Planck, der sie bewusst nutzte, um eine verhaltene Politik konservativer Machtsicherung zu betreiben. In der KWG war Haber als Direktor eines der Gesellschaft erst ab 1923 rechtlich zugehörigen Instituts nach außen hin lediglich Senatsmitglied. Zweifellos war er jedoch einer der mächtigsten Institutsdirektoren, der in sieben anderen Kaiser-Wilhelm-Instituten als Mitglied des Kuratoriums bzw. Verwaltungsrats Aufsichtsfunktionen ausübte. Er war aufgrund dieser Ämter fast der einzige Wissenschaftler, der einen detaillierten, über das eigene Institut hinausgehenden Überblick über die Belange anderer Institute und die Entwicklung der Gesamtgesellschaft hatte. Insgesamt war die Gruppe der Wissenschaftler in den relevanten Gremien der KWG bzw. der KWI gegenüber Staatsvertretern, Wirtschaftsführern und der Generalverwaltung eindeutig im Hintertreffen. Abgesehen von KWG-Präsident Adolf von Harnack gab es außer Haber lediglich einen weiteren Wissenschaftler mit Aufsichtsfunktionen, nämlich Planck, der drei Gremien angehörte. Hinzu kam, dass Haber allein 64 Zit. nach ebd., S. 587. 65 Zit. nach ebd., S. 591.

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schon deshalb eine besondere, allerdings rein informelle Rolle zukam, weil nach dem Tod Emil Fischers überhaupt kein Naturwissenschaftler mehr im Präsidium und Verwaltungsausschuss der Gesellschaft vertreten war.66 Haber verfolgte in der KWG konsequent die Linie, eine institutionalisierte Beteiligung der wissenschaftlichen Mitglieder an den sie betreffenden Angelegenheiten zu schaffen.67 Damit befand er sich in einem deutlichen Spannungsverhältnis zu Harnack, der dadurch ganz explizit eine „Machtminderung durch Entstehung einer Art Fakultät bei seinen Direktoren“ befürchtete, und auch Generalsekretär Friedrich Glum konnte sich Habers Ziel nicht anders erklären, als dass dieser ein „Gremium von Professoren“ mit sich als Dekan einrichten wolle. Der Verweis auf das Modell der Universität, wo in einer Fakultät Gleiche unter Gleichen mit einem gewählten Dekan an der Spitze agieren, umschreibt ein reales Defizit der KWG, fehlte ihr doch ein vergleichbares Organ, über das die wissenschaftlichen Mitglieder in die Entscheidungen der Gesellschaft eingebunden waren. Und auch Haber selbst reflektierte seine informell so wichtige Rolle in der KWG vor dem Hintergrund der traditionellen deutschen Universitätsverfassung: „Bald kommt der eine, und bald kommt der andere der Kollegen [...] gleich als ob ich etwas von der Art wäre, wie an der Universität der Dekan ist“. Das Modell der Selbstverwaltung von Gleichen in einer Fakultät nährte auch Habers Kritik am Übergewicht von Großindustrie und Hochfinanz in den Entscheidungsgremien der KWG. Er sei, bekannte er seinem Freund Richard Willstätter, „zu hochmütig, um unter diesen Großindustriellen und Großbankiers zu arbeiten, mögen sie nun Krupp v. Bohlen, Duisberg, Voegeler, v. Mendelssohn oder wie sonst heißen“. Konkret stieß er sich an den hierarchischen Strukturen der KWG, kritisierte die Verhärtung und Unbeweglichkeit der „Traditionsträger“ an ihrer Spitze und misstraute vor allem dem Auf- und Ausbau der Generalverwaltung, der in seiner Sicht dazu führe, dass den Wissenschaftlern die Möglichkeiten, in eigenen Angelegenheiten zu entscheiden, immer mehr genommen würden.68 Es waren vor allem drei Monita, auf deren Behebung Haber hinsteuerte: die Aufnahme eines Wissenschaftlers in das KWG-Präsidium, die deutlich gestärkte Einbindung von Wissenschaftlern in den neunköpfigen Verwaltungsausschuss, dem bislang lediglich Planck angehörte, sowie vor allem die Errichtung einer korporativen Vertretung der Direktoren und wissenschaftlichen Mitglieder in einem neu zu schaffenden so genannten „Wissenschaftlichen Rat“. Zwei Jahre lang bereitete er seine Initiative vor und sammelte Parteigänger hinter sich, ehe er im Juni 1928 mit einer entsprechenden Eingabe an den 66 BERNHARD VOM BROCKE: Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in der Weimarer Republik. Ausbau zu einer gesamtdeutschen Forschungsorganisation (1918–1933), in: DERS./R. VIERHAUS, Forschung (wie Anm. 6), S. 197–355, hier S. 215, S. 222. 67 Zum Folgenden vgl. ausführlich M. SZÖLLÖSI-JANZE, Haber (wie Anm. 11), S. 616– 623. 68 Alle Zitate nebst Nachweisen nach ebd., S. 617–619.

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Präsidenten herantrat, um, wie er sich ausdrückte, das alte „patriarchalische Verhältnis“ in der KWG durch neue Strukturen demokratischer Mitsprache abzulösen. Er pochte mit Verweis auf die Tradition der deutschen Gelehrten, sich in den Akademien und Universitäten in einer wissenschaftlichen Körperschaft zusammenzuschließen, auf die Einrichtung eines neuen Organs, dessen Mitglieder „als Gesamtheit an dem Gedeihen der Gesellschaft mit[zu]wirken“ sollten, die „wir als unsere eigene Sache betrachten“. Der Anspruch demokratischer Mitbestimmung war Haber zufolge weit gefasst und schloss die Möglichkeit, die Einrichtung neuer Kaiser-Wilhelm-Institute zu beantragen, ausdrücklich mit ein.69 Harnacks Versuch einer dilatorischen Behandlung von Habers Eingabe schlug fehl. Die KWG geriet unter Zugzwang, der von Seiten der Politik verstärkt wurde. Tatsächlich wurde noch im selben Jahr die Satzung der Gesellschaft entsprechend geändert und der Wissenschaftliche Rat als ein Gremium demokratischer Mitverantwortung der wissenschaftlichen Mitglieder eingerichtet, das ein Gegengewicht zur freien Verfügungsgewalt des Präsidenten und der schleichenden Machterweiterung der Generalverwaltung bildete. Haber machte sich damit keine Freunde in den Führungsetagen der Gesellschaft: Sie hintertrieben systematisch und frühzeitig seine möglichen Aussichten auf das Präsidentenamt. In der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, der späteren DFG, deren Gründung Haber 1920 maßgeblich vorangetrieben hatte, hatte er von Anfang an auf die Verankerung demokratischer Prinzipien gedrängt. Die – erfolgreich durchgesetzte – Idee der Wahl der Fachausschüsse durch die Wissenschaftler ging auf ihn zurück, ebenso der gescheiterte Versuch, das Präsidium zu einem kollegialen Führungsgremium auszubauen.70 Als zweiter Stellvertreter des Präsidenten Friedrich Schmidt-Ott kritisierte er bereits 1927 dessen Jahresbericht, den er erst nach Fertigstellung zu Gesicht bekommen hatte. Neben einer ganzen Reihe gewichtiger Kritikpunkte attackierte Haber vor allem, dass der Bericht keine Jahresrechnung enthielt und über die Verwendung der überwiesenen öffentlichen Mittel keine Rechenschaft gab: 8 Millionen Mark waren überwiesen, aber nur für 3,31 Millionen ein Nachweis geführt worden, noch dazu unsystematisch und an ganz verschiedenen Stellen. In der Tat interpretierte NG-Präsident Schmidt-Ott das Prinzip wissenschaftlicher Selbstverwaltung antigouvernemental mit dezidiert antidemokratischer Stoßrichtung: Er entzog die NG systematisch der Kontrolle durch den demokratischen Staat und verwehrte mit Verweis auf die Autonomie der Wissen-

69 Ebd., S. 619f. 70 Vgl. zu Habers Rolle bei der Gründung der Notgemeinschaft ebd., S. 529–559; ULRICH MARSCH: Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft. Gründung und frühe Geschichte, Frankfurt u. a. 1994.

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schaft den Einblick in die Vergabepraxis, während Haber genau dieses forderte.71 Wenig später, 1928/29, in der sog. „Krise“ der Notgemeinschaft, stand Haber erneut auf Seiten derer, die autoritäre Verkrustungen abbauen und demokratische Mitbestimmungsmöglichkeiten stärken wollten.72 Ausgangspunkt war diesmal ein polemischer Artikel in der „Weltbühne“ gegen die NG als einer „I. G. Wissenschaft“, die dieser mit Bezug auf die Vernebelung der Verwendungsnachweise im letzten Jahresbericht als „Tummelstätte üblen Cliquengeistes“ geißelte. Der Artikel löste eine politische Lawine aus, die zuerst die bisher passiven, von ihren Befugnissen ausgeschalteten Gremien der NG, danach das preußische Kultusministerium und den Reichstag erreichte. Der vor allen anderen von staatlicher Seite her politisch in die NG-Krise involvierte preußische Kultusminister Carl Heinrich Becker brachte die eingangs mit Ash festgestellte unvollständige Ent- und Neuverflechtung der Ressourcenkonstellationen im Verhältnis von Politik und Wissenschaft nach 1918/19 auf den Punkt: Es bestehe „tatsächlich keine Selbstverwaltung, sondern eine Autokratie von Exzellenz Schmidt-Ott, der als gelehriger Schüler von Althoff es verstanden habe, alles so aufzuziehen, daß niemand einen Einblick habe und daß eine Clique von alten Herren, die ein Durchschnittsalter von 68 ½ Jahren hätten, ihn umgebe und eifersüchtig darüber wache, daß keine jüngeren Kräfte aufkommen könnten“.73 Die Kritik an Schmidt-Otts autokratischem Führungsstil fiel zeitlich zusammen mit dem politischen Skandal um den nationalsozialistischen Mathematiker Theodor Vahlen, dem der NG-Präsident demonstrativ ein Stipendium bewilligt hatte, nachdem jener wegen des Flaggenskandals an der Universität Greifswald aus dem Dienst entlassen worden war. Das Reich und Preußen drohten mit der Einstellung der öffentlichen Zuschüsse an die NG. Haber stand nach außen nicht in der ersten Reihe der Streiter, erfüllte aber hinter den Kulissen eine um so wichtigere Funktion. Sein Lösungsvorschlag, der schließlich auch übernommen und umgesetzt wurde, war eine Reform der Notgemeinschaft durch Stärkung ihrer Mitbestimmungsorgane im Innern, konkret der Ausbau des Hauptausschusses zu einer funktionierenden Legislative, die regelmäßig über die Verteilung der Gelder auf Sachgebiete und Disziplinen befinden sollte. Haber arbeitete auch konkret an der Implementierung der Reformmaßnahmen, was ihm schließlich mit Hilfe des KWG-Präsidenten Harnack in dessen Eigenschaft als Vorsitzendem des Hauptausschusses auch gelang, gegen den erbitterten Widerstand Schmidt-Otts und seines ersten 71 M. SZÖLLÖSI-JANZE, Haber (wie Anm. 11), S. 623f. 72 Zum Folgenden ausführlich ebd., S. 624–634; vgl. auch NOTKER HAMMERSTEIN: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Wissenschaftspolitik in Republik und Diktatur 1920–1945, München 1999, S. 76–82. 73 KURT ZIEROLD: Forschungsförderung in drei Epochen: Deutsche Forschungsgemeinschaft. Geschichte, Arbeitsweise, Kommentar, Wiesbaden 1968, S. 110f.

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Stellvertreters Walter von Dyck. De jure und de facto wurden durch eine Satzungsänderung die Machtbefugnisse des Präsidenten eingeschränkt und die Mitbestimmungsrechte des Hauptausschusses gestärkt. Allerdings nutzten die Wissenschaftler ihre Mitbestimmungsmöglichkeiten kaum aus. Die Mitgliederversammlung vom November 1929 bestätigte das alte Präsidium, und unter den zehn Mitgliedern des Hauptausschusses gab es nur zwei wirklich neue, so dass weiter die alten „Traditionsträger“ dominierten, denen Haber so misstrauisch gegenüberstand. Das Präsidialregime Heinrich Brünings fuhr schließlich auch den politischen Druck auf eine weitere Demokratisierung der NG zurück. Damit sind die eng gezogenen Grenzen, welche die Wirksamkeit von Habers demokratischen Initiativen in der Wissenschaft beschränkten, deutlich geworden. Die Ausführungen zu Planck und Einstein haben jedoch gezeigt, dass Vernunftrepublikanismus und demokratischer Praxis auch vom jeweiligen wissenschaftlichen und politischen Selbstverständnis her innere Grenzen gezogen waren. Haber sollte mit den Erschütterungen der Weltwirtschaftskrise, die ihn selbst mit dem finanziellen Ruin bedrohte, der Notverordnungspolitik des Präsidialregimes Heinrich Brünings und des Aufstiegs der Nationalsozialisten an diese inneren Grenzen stoßen.74 Als sich die DDP im Juli 1930 mit der Volksnationalen Reichsvereinigung zur Deutschen Staatspartei zusammentat, um die Erosion des Linksliberalismus aufzufangen, stand – neben Erich Koch-Weser, Gertrud Bäumer, Theodor Eschenburg, Theodor Heuss, Friedrich Aereboe und Friedrich Bergius – auch Habers Name unter dem Gründungsaufruf. Die Staatspartei sprach sich angesichts extremistischer Bedrohung von links und rechts für den Rechtsstaat aus, allerdings auch gegen die Fortsetzung der Parteipolitik in der bisherigen Form, die nicht imstande sei, die zur Überwindung der Krise erforderliche „volksnationale Geschlossenheit“ zu schaffen. Dieses Ziel, der „volksstaatliche Ausbau“ der Republik durch eine Sammlung der rechtsstaatlichen Kräfte, stieß auf Habers Zustimmung.75 Angesichts der Verschärfung der politischen und wirtschaftlichen Krise war er mit Millionen anderen Deutschen der Überzeugung, dass es so nicht weitergehen könne, und er maß genau wie diese die Kraft zur Krisenbewältigung nicht der Parteiendemokratie, sondern einem autoritären Regierungssystem bei, für das er konkrete Überlegungen anstellte. Adressat und Inhalt dieser Überlegungen sind nun bezeichnend für die Grenzen von Habers Demokratieverständnis. Er wandte sich in einem ausführlichen Schreiben im Mai 1931 an den ihm persönlich bekannten Reichsfinanzminister Hermann Dietrich, ebenfalls ein Mitbegründer der Staatspartei. Der 74 Vgl. zum Folgenden ausführlich M. SZÖLLÖSI-JANZE, Haber (wie Anm. 11), S. 639– 642. 75 Vgl. ERNST-RUDOLF HUBER: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Stuttgart 1981, Bd. 6, S. 222–224.

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Bruch mit seinen bisherigen Auffassungen war ihm bewusst, als er Dietrich vorschlug, die Regierung möge nun selbst den Weg in die unvermeidliche Diktatur gehen: Es komme in der gegebenen Situation darauf an, diesen Schritt jetzt überlegt und geplant zu tun, um nicht später zu überstürztem Handeln gezwungen zu sein. Wie bei Einstein und Planck an anderer, viel früherer Stelle, sind es nun auch bei Haber die „Massen“, die den Drehpunkt seines politischen Krisendenkens ausmachten und eine Grenze jedes „Vernunftrepublikanismus“ auszumachen scheinen: Gesellschaft wird – unter der Bezeichnung als Masse – nicht als Quelle, sondern als Problem des Staates wahrgenommen. Haber erkannte in den Massen ein „neues Geschlecht“, das die alten Parteien verdränge und nach neuen politischen Formen verlange. Dieses neue Geschlecht, so Haber, suche „eine deutsche Form für das, was in verschiedener Gestalt in Russland und in Italien schon verwirklicht ist. Es glaubt nicht mehr an den großväterlichen Liberalismus und an den langsamen Entwicklungsweg der gewerkschaftlichen Sozialdemokratie.“ Haber meinte, in Wichard von Moellendorffs „deutschem Sozialismus“, den dieser im Ersten Weltkrieg entwickelt hatte, einen gangbaren Ausweg aus der Krise zu finden, nämlich: „die Staatsgewalt vom parlamentarischen System und die Wirtschaftsgewalt von der privatwirtschaftlichen Führung [zu] lösen und die Diktatur und die Planwirtschaft zum eigenen Programm zu machen“.76 Es waren hier wie in anderen Einzelheiten des Vorschlags bis in die Metaphorik und Bildebene hinein explizit der Erste Weltkrieg und die Kriegswirtschaft, die Haber als Vergleichsfolie und einzig denkbare Lösung der Krise dienten, nämlich eine autoritäre Diktatur unter Ausschaltung der kapitalistischen Marktmechanismen. Pluralität – der Meinungen, der Interessen, der Parteien – und Partizipation hatten nun keinen Platz mehr, im Gegenteil: Dem Egoismus partikularer Gruppen – der Unternehmer, der Parteien, der Nationen – schrieb Haber nur mehr größte destruktive Kraft zu, die es autoritär auszuschalten gelte; der Eigennutz zerstöre die menschliche Gesellschaft ebenso wie jede politische Ordnung. In dieser Fixierung auf die Erfahrungen des Weltkriegs werden die „blinden Flecken“‘ in Habers politischem Denken deutlich. Ihm entgingen wie vielen anderen auch entscheidende Faktoren wie das Verhalten der Reichswehr, das politische Taktieren von Teilen der Großindustrie oder der Konservativen. Vor allem fehlte ihm das Gespür für die Bedeutung politisch mobilisierter Massen wie überhaupt letztlich für politische Macht. Im Nationalsozialismus erkannte er zwar eine politische Gefahr, doch blieb seine Auseinandersetzung mit ihm letztlich vage. Vor allem verschätzte er sich in den Möglichkeiten und dem politischen Willen seines Ansprechpartners Hermann Dietrich, von dem er sich offenbar erhoffte, dass er seine Überlegungen an entschlussfreudige Politiker 76 Zitate nach M. SZÖLLÖSI-JANZE, Haber (wie Anm. 11), S. 640f.

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weiterleitete, damit, wie er sich ausdrückte, „ein führender Wille“ die Initiative ergriff. Aber wer? Habers politisches Konzept war ohne Adressat und Träger, es wurzelte in etatistischer Überschätzung „des“ Staates und seiner gestaltenden Kraft. Damit verkörperte Haber in erstaunlicher Weise das Dilemma des deutschen Liberalismus.

IV. Die politische Vernunft des Bürgers?

Friedrich Meinecke, Gustav Stresemann und Thomas Mann – drei Wege in die Weimarer Republik Horst Möller1 I. Hat Friedrich Meinecke sich mit der politischen Entwicklung Gustav Stresemanns und Thomas Manns beschäftigt, hat Stresemann Meinecke oder Thomas Mann gekannt? Weder bei Meinecke noch bei Stresemann finden sich Hinweise auf wechselseitige Kenntnisnahme, obwohl Meinecke zahlreiche Beiträge zu aktuellen Themen veröffentlichte und es kaum denkbar ist, dass ihm der Werdegang Stresemanns unbekannt war. Thomas Mann seinerseits erwähnt Meinecke nicht, wohl aber lobt er Stresemann, den Europäer: „Aus rechts-bürgerlicher Sphäre kommend, die geistigen und politischen Überlieferungen dieser Herkunft im Blut, als nationaler Wirtschaftsbürger, wenn auch ein über den Durchschnitt gebildeter und intellektuell bedürftiger, dem Gedanken der Machtexpansion verbunden und noch im Kriege ein überzeugter Fürsprecher imperialer Eroberung, ist er vermöge einer zugleich vitalen und durch Krankheit verfeinerten Verstandeskraft geführt und getrieben von einer bildsamen Lebenswilligkeit, die physisch den Tod in sich trug, geistig hinausgewachsen über alles, was Herkunft an ihm war, hineingewachsen rascher und rascher ... in eine Gedanken-, Überzeugungs-, Tatwelt europäischer Sozialität...“2

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Die Vortragsform wurde beibehalten und in den Fußnoten werden lediglich die Zitate nachgewiesen. Weitere Literatur findet sich u. a. in: HORST MÖLLER: Die Weimarer Republik. Eine unvollendete Demokratie, München 82006; DERS., Bürgertum und bürgerlich-liberale Bewegung nach 1918, in: LOTHAR GALL (Hg.): Bürgertum und bürgerlichliberale Bewegung in Mitteleuropa seit dem 18. Jahrhundert (Sonderheft 17 der Historischen Zeitschrift), München 1997, S. 293–342; ANDREAS WIRSCHING: Die Weimarer Republik. Politik und Gesellschaft, München 2000; EBERHARD KOLB: Die Weimarer Republik, München 62002; WALTHER HOFER: Geschichtsschreibung und Weltanschauung. Betrachtungen zum Werk Friedrich Meineckes, München 1950; DERS.: Geschichte und Ethik. Friedrich Meinecke als politischer Denker, in: Der Monat, Weinheim/Berlin 1952; STEFAN MEINEKE: Friedrich Meinecke. Persönlichkeit und politisches Denken bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, Berlin 1995; KLAUS HARPPRECHT: Thomas Mann. Eine Biographie, Reinbek bei Hamburg 1996; HERMANN KURZKE: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk, München 2000; HILDEGARD MÖLLER: Die Frauen der Familie Mann, 2. Aufl. d. TB-Ausg., München 2006; JONATHAN WRIGHT: Gustav Stresemann (1878–1929), München 2006; HENRY ASHBY TURNER JR.: Stresemann – Republikaner aus Vernunft, Berlin/Frankfurt a. M. 1968. THOMAS MANN: Deutsche Ansprache, in: DERS.: Gesammelte Werke in 13 Bänden, Bd. XI, Frankfurt a. M. 1974, S. 870–890, hier S. 886.

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Beschreibt Thomas Mann hier in seiner ein Jahr nach Stresemanns Tod am 17. Oktober 1930 in Berlin gehaltenen „Deutschen Ansprache“ seinen eigenen Weg? Ist dieser „Appell an die Vernunft“ ein Appell, der aus eigenem Irrtum erwuchs? In jedem Fall verweist Thomas Mann auf die erstaunliche Lernfähigkeit und Wandlung Stresemanns von einem Monarchisten und Annexionisten zum „Republikaner aus Vernunft“, wie der deutsche Titel der frühen Biografie von Henry A. Turner lautet. Aber war diese innenpolitische Neuorientierung wirklich so erstaunlich wie seine außenpolitische Wandlung vom Nationalisten zum Patrioten, der zugleich Maximen einer europäischen Friedensordnung realisierte? War diese Entwicklung zum Protagonisten der parlamentarischen Demokratie nicht vielmehr von innerer Konsequenz, denkt man an die Sammlung seiner Reden, die er 1918 unter dem Titel „Macht und Freiheit“ publizierte? Und Thomas Mann selbst? Hatte er nicht 1915 einen historischen Essay mit politischer Absicht veröffentlicht, als er den Heroismus, den Durchhaltewillen, aber auch die Zwienatur Friedrichs des Großen unter dem Titel „Friedrich und die Große Koalition“ beschwor – desjenigen Monarchen, der nach dem Wort Rousseaus wie ein Philosoph dachte und wie ein König handelte? Und hatte nicht der bereits erfolgreiche und arrivierte Schriftsteller, der außer zahlreichen Erzählungen und Essays schon die „Buddenbrooks“ (1901) und den „Tod in Venedig“ (1912) veröffentlicht hatte, 1918 in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ ohne Umschweife erklärt: „Ein Bürger aber, das weiß ich wohl, bin ich auch in meinem Verhältnis zu diesem Kriege. Der Bürger ist national seinem Wesen nach; wenn er der Träger des deutschen Einheitsgedankens war, so darum, weil er immer Träger der deutschen Kultur und Geistigkeit gewesen ist.“ Der Krieg, so Thomas Mann damals, sei „das große Mittel gegen die rationalistische Zersetzung der Nationalkultur“, und seine Teilnahme an diesem Kriege habe mit Welt- und Handelsherrschaft gar nichts zu tun, sondern sei die Teilnahme an jenem Prozess der Selbstbefestigung, „zu dem die deutsche Kultur durch einen furchtbaren geistigen Druck und Ansturm von außen gezwungen wurde“.3 Es wäre durchaus möglich, hier Parallelen zu Georg Simmel oder zu Ernst Jünger zu finden – und Jünger wurde bekanntlich nicht zum Verteidiger der Weimarer Republik, sondern zu einem ihrer scharfen Kritiker. War die Haltung von Friedrich Meinecke 1914 so eindeutig, so vernünftig, obwohl Meinecke während des Ersten Weltkriegs der politisch gemäßigste unter den drei späteren Vernunftrepublikanern war, der den Expansionismus im Weltkrieg ablehnte und als erster unter ihnen schon unmittelbar nach Kriegsende den Weg in die Weimarer Republik beschritt? Im zweiten Band seiner „Erinnerungen“, die in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs niederge3

THOMAS MANN: Betrachtungen eines Unpolitischen, in: DERS., Werke (wie Anm. 2), Bd. XII, S. 116.

Meinecke – Stresemann – Mann – Drei Wege in die Weimarer Republik

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schrieben wurden, als Meinecke schon die Erfahrung der nationalsozialistischen Diktatur und der katastrophalen Zerstörung dieses Krieges gemacht hatte, ging er auf den Kriegsausbruch 1914 ein: „Uns Alten war nicht zum Jubeln. Das was jetzt vor uns lag, war viel dunkler und unberechenbarer als das, was einst im Juli 1870 aufgeflammt war ... Und ein paar Tage später, am 3. August, erlebte ich ... einen der schönsten Momente meines Lebens.“ Der Anlass für diesen plötzlichen Stimmungsumschwung Meineckes war die Zustimmung der Sozialdemokratischen Reichstagsfraktion zu den Kriegskrediten. Und im Rückblick konstatierte der greise Meinecke:

„Noch heute (1944) im Alter nach all den bitteren Erfahrungen von drei Jahrzehnten und den neuen Zersetzungen, Spaltungen und schließlich Vergewaltigungen unseres Volkslebens bejahe ich die Gefühle, die mich in jenem Moment ... bewegten. Mögen wir auch den Grad der inneren nationalen Zusammenschmelzung damals überschätzt haben, an der Tatsache, daß sie über Erwarten stark eingetreten war, ist auch heute nicht zu zweifeln.“4

II. Was haben Friederich Meinecke, Gustav Stresemann und Thomas Mann also gemein, was trennt sie, in welcher Weise beeinflusste ihr Verhältnis zum Kaiserreich und ihre Haltung im Ersten Weltkrieg ihren Weg in die Weimarer Republik? So schlicht die Feststellung ist, sie muss trotzdem gemacht werden: Alle drei waren im Kaiserreich aufgewachsen, hatten ihre ersten Bildungseindrücke, gesellschaftlichen Erfahrungen und politischen Prägungen in der Monarchie erfahren, für alle war der Weg zur demokratischen Republik 1918/19 ein Weg, der aus der Niederlage Deutschlands, aus der Implosion des Kaiserreichs – das kaum zwei Generationen zuvor die deutsche Reichseinigung gebracht hatte – und schließlich aus dem Chaos der Revolution von 1918/19 erwuchs. Dieser Schritt in die Republik entsprang einem fulminanten Kontrast, er führte aus einer glorreichen Vergangenheit in eine düstere Zukunft. In diesem Sinne bemerkte Meinecke: „Bald nach 1914 sagte ich mir schon oft, das Wort Talleyrands über 1789 auf unsere Zeit anwendend: Nur wer vor 1914 gelebt hat, weiß eigentlich was leben heißt.“5 Tatsächlich waren Deutschland bzw. seine Einzelstaaten seit tausend Jahren Monarchien, schließlich gibt es in der Weltgeschichte keine Revolution, die nicht auch eine erhebliche Zahl von Anhängern der untergegangenen Staatsform zurücklässt und die nicht politische Unsicherheit, ja Orientierungslosigkeit provoziert. Skepsis bzw. Ablehnung der neuen Staatsform ist in solchen Situationen also durchaus erklärbar. Das war beim 4 5

FRIEDRICH MEINECKE: Autobiographische Schriften (Werke Band 8), hg. und eingeleitet von Eberhard Kessel, Stuttgart 1969, S. 222. F. MEINECKE, Autobiografische Schriften (wie Anm. 4), S. 220.

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Vorbild aller modernen Revolutionen, nach der Französischen Revolution von 1789, nicht anders. Das Erstaunliche für große Teile der deutschen Bevölkerung war also nicht, dass es 1919 noch Monarchisten gab, sondern dass es Republikaner gab. Die häufige Umkehrung dieses Befundes durch spätere Historiker und Publizisten belegt lediglich ein anachronistisches, ein ahistorisches Urteil, das von unseren heutigen politischen Selbstverständlichkeiten ausgeht, nicht aber von den damaligen: Wer im Kaiserreich sozialisiert worden war, war normalerweise Monarchist, und das galt sogar für nicht wenige Sozialdemokraten wie Friedrich Ebert, den Führer einer Partei, die lange – wie die katholische Zentrumspartei – als Außenseiter, ja als Reichsfeind gegolten hatte. Auch die Zentrumspartei tat sich – paradoxerweise – anfangs schwer mit der Republik. Und ein weiteres Argument muss berücksichtigt werden: Die ideelle Belastung der Weimarer Demokratie erwuchs nicht zwangsläufig aus monarchistischem, sondern aus antidemokratischem und antiparlamentarischem Denken. Niemandem würde es beispielsweise einfallen, Großbritannien den demokratischen und parlamentarischen Charakter abzusprechen, weil es sich um eine Monarchie handelt: Das Problem der Weimarer Republik lag vielmehr darin, dass sie in der Kriegsniederlage revolutionär aus einem mehrfachen Systemwechsel hervorgegangen war, aus dem Wechsel sowohl der Verfassungsordnung als auch der Staatsform, dem Wechsel der Gesellschafts- wie auch der Wertordnung, zusätzlich war die Republik mit dem Odium des Vertrags von Versailles belastet. Aufgrund dieser spezifischen historischen Konstellation mischten sich antidemokratisches, antiparlamentarisches und antirepublikanisches Denken unauflöslich. Im Rückblick muss sogar eine uns heute sehr fernliegende Frage gestellt werden: Hätte eine parlamentarische Demokratie mit monarchischer Staatsform nicht sogar bessere Chancen gehabt, dem Extremismus zu widerstehen? Trotzdem waren die politischen Haltungen auch dieser Epoche differenziert, und selbst bei der parallelen politischen Entwicklung der drei hier darzustellenden Persönlichkeiten handelte es sich keineswegs um identische Wege in die Republik. Dies ergibt sich allein schon aus den offensichtlichen Unterschieden sozialer und politischer Herkunft. Zwar gehörten alle drei einer Generation an, doch lagen zwischen dem Geburtsjahr des ältesten, Friedrich Meinecke, 1862, und dem des Jüngsten, Gustav Stresemann, 1878, immerhin 16 Jahre, Thomas Mann war indes nur drei Jahre älter als Stresemann. Alle drei waren evangelisch, doch unterschied sich die soziale Herkunft, auch wenn sie in allen drei Fällen „bürgerlich“ war: eher kleinbürgerlich bei Meinecke und Stresemann, eher großbürgerlich bei Thomas Mann. Meinecke war Sohn eines Postbeamten, Stresemanns Vater betrieb einen Flaschenbierhandel. Auch der aus der Kleinstadt Salzwedel stammende Meinecke wuchs wie der Berliner Stresemann in der Reichshauptstadt auf, während Thomas Mann bekanntlich aus dem patrizischen Wirt-

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schaftsbürgertum der hansischen Stadtrepublik Lübeck stammte, also am ehesten einen Sinn für das Republikanische hätte haben müssen. Der Bildungsgang der drei war durchaus unterschiedlich: Friedrich Meinecke wurde nach seinem Studium zu einem der führenden deutschen Historiker, der 56-Jährige Gelehrte hatte 1918 bereits grundlegende ideengeschichtliche Werke veröffentlicht, hatte an mehreren Universitäten, darunter in Straßburg, gelehrt. Er war Herausgeber der damals bedeutendsten geschichtswissenschaftlichen Zeitschrift und Ordinarius an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität. Thomas Mann hatte das Gymnasium vor dem Abitur verlassen, dann mit seiner Mutter in München gelebt und eine Zeit lang in der Schwabinger Bohème verkehrt, bevor er zum Großbürger unter den Schriftstellern wurde und durch die Ehe mit der schönen Tochter des Münchner Mathematikprofessors und vielfachen Millionärs Alfred Pringsheim auch seinen Wohlstand erheblich steigern konnte. Der aus kleinen Verhältnissen stammende Gustav Stresemann schließlich hatte im Jahre 1900 sein Studium mit der Promotion in Nationalökonomie abgeschlossen, war Syndikus von Wirtschaftsverbänden geworden und zunächst – wie Theodor Heuss – unter den Einfluss von Friedrich Naumanns sozial akzentuiertem Liberalismus geraten. Schließlich hatte er 1907 als engster Mitstreiter des nationalliberalen Partei- und Fraktionsführers Albert Bassermann ein Reichstagsmandat erobert: Tatsächlich war er nach seinem Studium selbst kein Wirtschaftsbürger mehr, aber hauptamtlicher Verbandsfunktionär der Wirtschaft und schließlich Berufspolitiker geworden. Am Ende des Krieges war er gerade vierzig Jahre alt und schon einer der führenden deutschen Parlamentarier, ein hochbegabter Redner, Stratege und Taktiker. Unsere Beispiele entstammen also unterschiedlichen Berufsgruppen, zum Teil aber ähnlichen Sozialgruppen: ein Gelehrter, ein Schriftsteller, ein Politiker. Auch wenn Thomas Mann nicht studiert hatte, gehörte er doch wie die beiden anderen zum Bildungsbürgertum. Alle drei traten vor und nach 1918 mit politischen Beiträgen, seien es nun Reden oder Zeitungsartikel, an die Öffentlichkeit, deren politische Bedeutung sie früh erkannt hatten. III. Als Friedrich Meinecke Ende 1922 seinen Zeitungsartikel „Das Ende der monarchischen Welt“ veröffentlichte, übte er deutliche Kritik: Den Schichten, in denen der republikanische Gedanke zwar schon länger vorhanden gewesen sei, die aber die Republik nicht erkämpft hatten, fehle eine „tiefere Besinnung darüber, ob das Vakuum, das durch den Zusammenbruch der Monarchie entstanden ist, wirklich vollständig schon durch die Errichtung einer parlamentarisch regierten Republik ausgefüllt ist“. Er sah folgende politische Grundtendenzen, die er auch sozial verortete:

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Horst Möller „Zwischen den Gesinnungsrepublikanern der Arbeiterschaft auf der einen und den Gesinnungsmonarchisten im bürgerlichen Lager auf der anderen Seite steht dann eine große mittlere Schicht des Bürgertums, die man als neu gewordene Vernunftrepublikaner bezeichnen kann. Sie sind es in verschiedenen Graden und Dosierungen, von bloßer vorübergehend gemeinter Anpassung an Unvermeidliches bis zur endgültigen, vernunftgemäßen und ehrlichen Anerkennung einer geschichtlichen Notwendigkeit.“6

Dieser Satz enthält einen Schlüssel zu Meineckes schon 1918/1919 vollzogenem „vernunft-republikanischen“ Bekenntnis zur Weimarer Republik: Er dachte entwicklungsgeschichtlich, historistisch und nicht dogmatisch. Er hatte wissenschaftlich über das Reformzeitalter zu Beginn des 19. Jahrhunderts gearbeitet und über den Heeresreformer Hermann von Boyen 1896/99 eine große Biografie geschrieben. Das „Zeitalter der deutschen Erhebung“ (1906) gegen Napoleon stellte er auch unter dem Gesichtspunkt innerer Reformen dar. In seinem ersten ganz großen Werk „Weltbürgertum und Nationalstaat“ (1907) interpretierte er am Beispiel bedeutender Denker und Staatsmänner, so etwa Wilhelm von Humboldt und Bismarck, die deutsche Geschichte von der Reformzeit bis zur Reichsgründung als sinnvolle, fortschrittliche Entwicklung. In seinem Werk „Radowitz und die deutsche Revolution“ (1913) stellte er den preußischen General, konservativen Minister und zeitweiligen Vertrauten König Friedrich Wilhelms IV. durchaus sympathisierend, zugleich aber als tragische Persönlichkeit dar, dessen zukunftsorientierter Ideenreichtum politisch scheiterte. Die vielen Änderungen, die Meinecke in die insgesamt sieben zu Lebzeiten erschienenen Auflagen von „Weltbürgertum und Nationalstaat“ einfügte, zeigen ebenso wie das Vorwort zur zweiten Auflage die Veränderung seiner Perspektive: 1911 betonte Meinecke, die deutsche Geschichtsforschung müsse sich, „ohne auf die wertvollen Überlieferungen ihres methodischen Betriebes zu verzichten, doch wiederum zu freier Regung und Fühlung mit den großen Mächten des Staats- und Kulturlebens ... erheben“; sie dürfe sich „ohne Schaden zu nehmen an ihrem eigensten Wesen und Zwecke, mutiger in Philosophie wie in Politik“ baden: Auf diese Weise könne sie erst „ihr eigenstes Wesen entwickeln ... universal und national zugleich zu sein“.7 Trotz aller Brüche, die in gewisser Weise Meineckes Werk schon nach dem Ersten Weltkrieg als historiografisches und politisches Dokument einer vergangenen Epoche erscheinen lassen, in dem die Reformfähigkeit des Kaiserreichs überschätzt worden war, erkannte Meinecke schon in den über die Jahre veränderten verschiedenen Vorworten nicht allein die Zeitgebundenheit des eigenen Werkes, sondern auch sein persönliches Entwicklungspotential in 6 7

FRIEDRICH MEINECKE: Das Ende der monarchischen Welt (24. 12. 1922), in: DERS.: Politische Schriften und Reden (Werke Band 2), hg. und eingeleitet von Georg Kotowski, Darmstadt 1958, S. 344–350, hier S. 345. FRIEDRICH MEINECKE: Weltbürgertum und Nationalstaat (Werke Band 5), hg. und eingeleitet von Hans Herzfeld, München 1962, Vorwort S. 1f.

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Bezug auf die von ihm unterstützten Reformforderungen. Bereits 1911 schrieb er an den befreundeten Historiker Georg von Below: „Konservativ und Liberal, wir brauchen immer beides, aber damit ‚Konservativ‘ wieder brauchbar werde, darum bin ich jetzt so heiß im Kampfe.“8 Und wenige Wochen vor Kriegsende schrieb Meinecke am 5. Oktober 1918 an seine Frau: So wie die Dinge heute liegen, bleibt „uns gar nichts Anderes übrig, als demokratisch zu werden, um das Reich und die nationale Einheit aufrecht zu halten. Und wenn es uns gelingt, ohne revolutionäre Erschütterungen, unter steter Erhaltung staatlicher Autorität, uns demokratisch umzubauen, so wollen wir zufrieden sein. Aber wir müssen kolossal viel konservativen Gedankenballast über Bord jetzt werfen und den Mut haben, mit uns und unseren Fehlern streng ins Gericht zu gehen. Das konservative Preußen ist unwiederbringlich dahin! Und die Mehrheitssozialisten, die unter keinen Umständen den Bolschewismus bei uns aufkommen lassen wollen, müssen uns jetzt die Massen in Ordnung halten helfen.“9 Es ist offensichtlich, dass für Meinecke, wie auch für Thomas Mann, die deutsche Einheit essentiell war, Staat und Nation blieben für ihn wichtigere Kategorien als die Staatsform. Die Selbstkritik eines preußischen Konservativen mit liberalem Einschlag hatte ihn gelehrt, schließlich die versäumten Reformen als eine der Ursachen für die Katastrophe des Kaiserreichs auszumachen: Nun erkannte er die Demokratisierung als geschichtliche Notwendigkeit an. Er selbst hatte neben den Brüchen auch die Kontinuitäten seines Werkes gesehen, als er die beiden weiteren großen Bücher „Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte“ (1924) und „Die Entstehung des Historismus“ (1936) veröffentlichte. Diese beiden Werke gingen konsequent über die deutsche Perspektive hinaus, die noch „Weltbürgertum und Nationalstaat“ bestimmt hatte: „Zuerst suchte ich den Weg vom Weltbürgertum zum Nationalstaat, ohne dabei das Weltbürgertum zu verlieren, – heute den umgekehrten Weg...“10 Nicht zuletzt dieser Perspektivenwechsel eröffnete Meinecke eine universalere Betrachtungsweise als es die nationale oder preußische je sein konnte, öffnete ihm schließlich den Weg in die neue Republik, indem er, anders als viele zeitgenössische Juristen und Historiker, die Parlamentarisierung und Demokratisierung bejahte, ohne sie als „westlich“ zu verwerfen. Deren Kritiker bevorzugten den „deutschen“ Weg, verstanden den viel berufenen, nach 1945 kritisierten „deutschen Sonderweg“ in den 1920er Jahren durchaus positiv, zumal die Weimarer Republik krisengeschüttelt blieb. Der deutsche Konstitutionalismus des Kaiserreichs verkörperte für diese durchaus majoritäre Gruppe der Geisteswissenschaftler, Juristen und politischen Publizisten 8 FRIEDRICH MEINECKE: Ausgewählter Briefwechsel (Werke Band 6), hg. und eingeleitet von Ludwig Dehio und Peter Classen, Stuttgart 1962, S. 35. 9 F. MEINECKE, Briefwechsel (wie Anm. 8), S. 95. 10 F. MEINECKE, Weltbürgertum (wie Anm. 7), Zitat bei Herzfeld, Einleitung, S. XV.

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den eigenen „deutschen Weg“, Parlamentarisierung und Demokratisierung jedoch betrachteten sie als westliche, als „undeutsche“ Verfassungsordnungen. Hingegen erkannte Meinecke wie Max Weber, dass die konstitutionelle Monarchie ihre Stunde gehabt, am Ende aber nicht genutzt hatte: Dorthin führte für beide Gelehrte kein Weg zurück – daran änderte auch der Gesinnungsmonarchismus nichts. Meinecke wurde mit zahlreichen Artikeln und Vorträgen in den 1920er Jahren zum Verfechter der Weimarer Republik, reihte sich so in die verfassungstreue Gelehrtengruppe ein, zu der u. a. Max und Alfred Weber, Ernst Troeltsch, Hugo Preuss und Otto Hintze gehörten. Aus Anlass des 10. Jahrestags der Revolution schrieb Meinecke 1928 in der „Kölnischen Zeitung“: „Der 9. November ist von uns zu begehen als ein inhaltsschwerer nationaler Schicksalstag, unerwünscht und unerfreulich an sich, aber umwittert vom Hauch geschichtlicher Notwendigkeit, die über Menschen und Völker dahinstürmt und sie in neue Lebensbahnen hineinreißt.“11

Und zu den Problemen des ersten Jahrzehnts der Republik bemerkte er:

„... was wir im Innern an Hader und Zwietracht erlebt haben, rührt zum großen Teil daher, daß die Anhänger der alten Ordnung nicht Entsagung und Einsicht genug gehabt haben, um ehrlich mitzuarbeiten am Aufbau eines alle Klassen miteinander versöhnenden nationalen Staatswesens“.12

Es war also spezifisches historisches Denken, das den Herzensmonarchisten Meinecke, den Bewunderer Bismarcks, zur Republik geführt hat, und mit wenigen Strichen zeigte er – in Übereinstimmung mit Johann Viktor Bredt – schon 1928, was Jahrzehnte später die historische Forschung herausgearbeitet hat: Die Grundzüge der Weimarer Verfassungsordnung sind mit Ausnahme von Staatsform, Verhältnis- und Frauenwahlrecht bereits durch den inneren Verfassungswandel seit 1917 und die Verfassungsänderungen 1918 erfolgt: Im Kaiserreich erlangten sie keinerlei Wirkung mehr, da sie zu spät kamen, die Weimarer Verfassungsordnung aber haben sie präfiguriert, und auch das war für einen historisch-evolutionär denkenden Mann wie Meinecke von Bedeutung: Die Weimarer Verfassungsordnung war keineswegs nur Produkt der Revolution, sondern ebenso der Evolution. Doch führten Meineckes Überlegungen nicht dazu, jeden politischen Entwicklungsschub ohne Rücksicht auf den Inhalt zu bejahen: Die von einigen Historikern gegebene Interpretation, Meineckes Bekenntnis zur Republik sei opportunistisch, ist abwegig. Die Crux seines Demokratieverständnisses bildet tatsächlich der Mythos der nationalen Einheit, den er für den August 1914 so emphatisch beschrieb, statt die sozialen und ökonomischen Antagonismen und 11

FRIEDRICH MEINECKE: Das Ende der Monarchie. Zum 9. November 1918/1928 (9. 11. 1928), in: DERS., Politische Schriften (wie Anm. 6), S. 420–424, hier S. 420. 12 F. MEINECKE, Ende (wie Anm. 11), S. 424.

Meinecke – Stresemann – Mann – Drei Wege in die Weimarer Republik

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den Pluralismus als Normalfall einer modernen Demokratie anzusehen. Der Liberale von 1918/19 blieb, im Unterschied zu anderen ursprünglich liberalen Historikern wie Wilhelm Mommsen, 1933 ein Gegner des Nationalsozialismus. Die von Meinecke in den letzten Jahren der Republik verfolgten Konzepte einer Verfassungsreform gehören in den Kontext der schier ausweglosen Lage der Weimarer Republik, die auch auf der demokratischen Linken zu der Einschätzung führte, dass der Staat von Weimar, so wie er sich Anfang der 1930er Jahre darstellte, nicht überleben könne. Aus solchen Einsichten hatte die SPD im Sinne Max Weberscher Verantwortungsethik die Tolerierungspolitik gegenüber Brüning betrieben und im zweiten Wahlgang der Reichspräsidentenwahl 1932 zur Stimmabgabe für Hindenburg aufgerufen – nicht, weil die SPD Brüning oder Hindenburg wollte, sondern weil sie zu ihnen keine realisierbare Alternative sah, wollte man Hitler verhindern und den Rechtsstaat retten. IV. Thomas Mann, der zweitälteste unter den drei hier darzustellenden Vernunftrepublikanern, ist der komplizierteste, weil widersprüchlichste Fall. Er war ein Dichter, einer der ganz Großen der deutschen Literaturgeschichte, ein Künstler: Als solcher blieb er ein Stück weit auch nach seiner viel diskutierten Bekehrung zur Republik 1922 immer noch der Unpolitische, genauer der Unpolitisch-Politische, wie das vielen Künstlern so eigen ist. Betrachtet man nur seine politischen Reden und Artikel, scheint der Fall etwas klarer, nimmt man die ideen- und geistesgeschichtlichen Essays hinzu, bezieht man das literarische Werk ein – und das ist für einen Dichter bedeutender als seine mal so, mal anders ausfallenden politischen Bekenntnisse – dann zeigt sich: Die politische Entwicklung Thomas Manns ist widersprüchlich nicht nur in chronologischer Hinsicht, nicht allein in Bezug auf 1918 und 1922: Vielmehr behalten seine Äußerungen zur Politik etwas Spielerisch-Changierendes, ja etwas Fiktionales selbst in den politischen Artikeln. Aber bleiben wir zunächst bei den einschlägigen Texten. Als Thomas Mann 1922 in dem Gerhart Hauptmann gewidmeten Heft der „Neuen Rundschau“ seine zuvor in Anwesenheit von Reichspräsident Friedrich Ebert gehaltene Rede „Von Deutscher Republik“ veröffentlichte, erregte er großes Aufsehen: Die nationale Rechte warf Thomas Mann Überläuferei ins Lager der Demokraten und Republikaner vor. In seinem späteren Vorwort aber stiftete er bereits Verwirrung: Die allgemeine Meinung, er habe einen (politischen) Sinneswandel vollzogen, sei irrig: „Ich weiß von keiner Sinnesänderung. Ich habe vielleicht meine Gedanken geändert – nicht meinen Sinn. Aber Gedanken, möge das auch sophistisch klingen, sind immer nur Mittel zum Zweck, Werkzeug im Dienst eines Sinnes, und gar dem Künstler wird es viel

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Also was nun? Was sollen wir davon halten, wenn Thomas Mann im gleichen Atemzug behauptet:

„Dieser republikanische Zuspruch setzt die Linie der ‚Betrachtungenʻ genau und ohne Bruch ins Heutige fort, und seine Gesinnung ist unverwechselt, unverleugnet die jenes Buches: diejenige deutscher Menschlichkeit. Um ihretwillen hat der Verfasser mit vollkommener Geduld sich einen Reaktionär schelten lassen; er will’s überleben, daß man ihn heute als Jakobiner verruft um ihretwillen. Seine zweimalige Oppositionsstellung in der Zeit aber sollte zum mindesten auf einige Unabhängigkeit seines Gewissens schließen lassen ...“14

Und in der Tat: Dieser Essay, der von politischer Romantik handelt, der Novalis und Nietzsche, Goethe und Walt Whitman reflektiert, war keineswegs ein so klares politisches Bekenntnis zur Weimarer Republik, sondern eher ein gewundenes Nachdenken über den philosophischen Gehalt des Begriffs Republik, den Thomas Mann wie alle politischen Begriffe früher und später durchaus eigenwillig interpretierte. Und auch die Gedächtnisrede auf den ermordeten Reichsaußenminister, Industriellen und Schriftsteller Walther Rathenau – auch er übrigens ein (links)liberaler Vernunftrepublikaner – enthält neben klaren Aussagen wiederum changierendes Reflektieren. Hören Sie selbst:

„Republikanisch gesinnte Jugend war es, die uns zusammenrief. Was ist denn ihre Idee, was ist die Republik? – Etwas ganz Landfremdes, ganz Undeutsches, ganz Bekämpfenswertes, sagen manche. Andere, und ich gehöre zu ihnen, meinen, daß Republik mit Deutschem herrlich erfüllt werden, ja die Erfüllung deutscher Menschlichkeit bedeuten könne. Nicht daß die Gefühls- und Verstandesargumente, welche die Gegner des republikanischen Prinzips gegen es ins Feld zu führen wissen, uns ungeläufig wären! Wir haben uns gründlich mit ihnen herumgeschlagen. Aber wie unzulänglich und verderbt sich dieses Prinzip in seinen Verwirklichungen auch ausgenommen habe und ausnehme, – es wird als Prinzip, als Idee unendliche Werbekraft bewähren …, denn diese Idee ist diejenige menschlicher Ganzheit und Vollständigkeit. Die Republik, das ist, wenn Sie mir die Definition freigeben wollen, die Einheit von Staat und Kultur.“15

Und es scheint nicht ohne Selbstkritik, wenn Thomas Mann konstatiert, dass der „tiefste Widerstand“ gegen den republikanischen Gedanken in Deutschland darauf beruhe, „daß der deutsche Bürger und Mensch das politische Element niemals in seinen Bildungsbegriff aufgenommen hat“. Der deutsche Bürger empfinde „die Forderung des Übergangs von der Innerlichkeit zum Objektiven, zur Politik, zu dem, was die Völker Europas ‚die Freiheitʻ nennen, als 13 THOMAS MANN: Von deutscher Republik, in: DERS.: Werke (wie Anm. 2), Bd. XI, S. 809–852, hier S. 809. 14 Ebd., S. 810. 15 THOMAS MANN: Geist und Wesen der deutschen Republik. Dem Gedächtnis Walter Rathenaus, in: DERS.: Werke ( wie Anm. 2), Bd. XI, S. 853–860, hier S. 853 f.

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eine Aufforderung zur Verfälschung des eigenen Wesens, als entnationalisierend“.16 Tatsächlich wollte Thomas Mann nicht politisch sein, er wollte das Recht für sich in Anspruch nehmen, im – scheinbar – deutschen Gegensatz von Geist und Politik auf der Seite des Geistes zu bleiben. Und tatsächlich hatte die Parteien- und Parlamentskritik der Weimarer Republik, die Sehnsucht nach nationaler Einheit und Sinnstiftung, die den Pluralismus einer demokratischen Gesellschaft und die alltäglichen gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Antagonismen transzendierte, im Unwillen zur Politik, in der Trennung von Kultur und Politik, ihren Grund. Friedrich Meinecke gehörte mit seiner Unterscheidung, die Deutschen seien an der Kulturnation, die Franzosen an der Staatsnation orientiert, durchaus zu denen, die wie Thomas Mann argumentierten. Aber war nicht Thomas Mann selbst zugleich ein Beispiel für Selbstüberwindung in Bezug auf diese von ihm bejahte Polarität von Geist und Politik, von Kunst und Leben? Ging er nicht diszipliniert wie stets gegen Neigungen an, die er als Aufstand gegen die Vernunft – auch die eigene Vernunft – bekämpfen wollte und musste? Wieder einmal stand hier die Selbstdisziplin des Bürgers gegen die habituelle Zügellosigkeit des Künstlers, wieder einmal zwang Thomas Mann seinem widersprüchlichen Wesen eine Form auf, gab sich eine „Verfassung“. Insofern war er in stärkerem Maße ein Vernunftrepublikaner als die meisten seiner ähnlich gesinnten Zeitgenossen, blieb aber auch stärker als Meinecke und Stresemann in dieser existentiellen Frage für die deutsche Republik widersprüchlich: Eigentlich wollte er sich gar nicht entscheiden, wollte nicht Partei nehmen. Zugleich aber stellte er eine klarere Diagnose, als es seine gedrechselten Formulierungen vermuten lassen, verstand er doch die „Betrachtungen eines Unpolitischen“ als essayistisches Gegenstück zu den „Buddenbrooks“: Im Roman erzählte er die Verfallsgeschichte der bürgerlichen Familie und im Essay beschrieb er die Verfallsgeschichte des Kaiserreichs, aber auch der bürgerlichen Welt insgesamt – derjenigen Welt, der er entstammte, in der er sich aber immer als Außenseiter fühlte und zu der er nur noch begrenzt gehörte, hin- und hergerissen zwischen dem starken Willen, als Repräsentant der bürgerlichen Gesellschaft und des Deutschtums zu wirken, und der ebenso unwiderstehlichen Neigung zum Künstlertum, zum radikalen Individualismus. Die Illusion, die bürgerliche Welt der Vorkriegszeit und ihre politische Wertordnung könne überleben, hatte er vermutlich schon um die Jahrhundertwende nicht mehr und schon gar nicht nach der „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts: Insofern sind die „Betrachtungen eines Unpolitischen“ ein paradoxes, ein widersprüchliches Buch, so wie es auch seine politischen Betrachtungen von 1922 sind. Beide stehen zwischen den Zeiten. 16 Ebd., S. 855.

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Sensibel war Thomas Mann für die Gefahren des heraufziehenden Irrationalismus, den er schon 1922 scharfsinnig diagnostizierte und später – nach der erfahrenen historischen Katastrophe – literarisch im „Doktor Faustus“ gestaltete: Das deutsche Seelendrama goss die künstlerische Existenz in Form – ein Seelendrama, in dem der Autor Thomas Mann in allen Romanfiguren zugleich gegenwärtig ist und doch über allen steht: im tragischen künstlerischen Genie Adrian Leverkühn, dem Komponisten, der den Gipfel der Kunst im Untergang erklimmt, im biederen humanistisch gebildeten Chronisten Serenus Zeitblom, der vor seinem Freund in ehrfürchtiger Faszination und existentieller Angst seiner Fassungslosigkeit in geschraubten Sätzen Ausdruck verleiht: In diesem Erzähler und hinter allem steckt schließlich der Ironiker, der von olympischer Warte die tragische Künstlerpersönlichkeit als nationales Schicksal der Deutschen deutet. Das alles war an literarischem Raffinement, an artifizieller Spielerei – der Meister Goethe hätte sie als „sehr ernste Spiele“ bezeichnet – nicht mehr zu überbieten. 1923, in der Gedenkrede auf Rathenau, betitelt „Geist und Wesen der Deutschen Republik“ hieß es ohne Umschweife über die zeitgenössische Jugend: Sie folge nicht mehr den Ideen von Humanismus, Individualismus, Liberalismus, Demokratie, von Freiheit und Persönlichkeit. Dies alles gelte als abgestorben, als Charakteristika eines verwerflichen bürgerlichen Relativismus: „Was not tut, ist das Absolute.“ In solchen Gedanken der Jugend stecke „viel zeitlich Wahres, viel echte Revolution. Und dennoch haftet ihnen etwas menschlich Schauderhaftes an, unverkennbare Neigung und Gefahr der Verirrung ins Obskurantistische. Obskurantismus ist die Gefahr aller Zeiten, deren Begierde das Absolute ist.“17 Diese Sätze Thomas Manns von 1923 trafen noch 1933 mehr denn je den Kern: Hatte Naphta gegen Settembrini den Kampf um die Seele des nur scheinbar schlichten Hans Castorp wirklich gewonnen? So wenig wie Thomas Mann selbst wollte Castorp sich zwischen beiden entscheiden, so sehr wie sein Schöpfer flüchtet sich die literarische Figur Castorp 1924 in die bewusste Zweideutigkeit, und schon im „Zauberberg“ finden sich die widersprüchlichen Züge des Erzählers in mehreren der Hauptfiguren. Was Thomas Mann im „Zauberberg“ als Parabel des Untergangs des alten Europa im Ersten Weltkrieg, dem „Weltenbrand“, gestaltete, galt nun für die deutsche Innenpolitik. Die republikanische Demokratie konnte und durfte das Absolute nicht, sie war und blieb das Relative und damit das Humane. Dafür kämpfte Thomas Mann trotz innerer Zerrissenheit, der geistige Aristokrat als Vernunftrepublikaner; als Sozialisten sah er sich zeitweilig gar, doch mit Karl Marx hatte das – zum Glück – wenig zu tun, weniger als bei seinem Bruder Heinrich. Der Briefwechsel der beiden Brüder dokumentiert – wie die zeit-

17 Ebd., S. 859.

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weilige Sprachlosigkeit zwischen ihnen – auf seine Weise den Streit nicht der Fakultäten, aber des Politischen und Unpolitischen in der Literatur. V. Wie viel einfacher haben wir es doch mit Gustav Stresemann! Er war nicht der Betrachtende, sondern der politisch Handelnde. Er wurde über den Berliner Flaschenbierhandel, aus dem er gewissermaßen stammte, promoviert: Herkunft und Thema mussten ihn zwangsläufig Theodor Heuss entfremden, dessen Dissertation bekanntlich dem Weinbau in Württemberg gewidmet war. Diese Entfremdung währte über den Tod hinaus. In seinen Erinnerungen bekannte Heuss freimütig, dass er Stresemann nicht habe leiden können. Noch nach dem Zweiten Weltkrieg weigerte er sich strikt, Stresemann in das mehrbändige Werk „Die Großen Deutschen“ aufzunehmen – Stresemann, den bedeutendsten Politiker und Staatsmann der Weimarer Republik, der sich der neuen Staatsform zögernder zugewandt hatte als Meinecke und dennoch deren größter Aktivposten seit 1923 wurde. Thomas Mann übrigens, der Poet der vita contemplativa, fühlte sich zu Stresemann, der personifizierten vita activa, hingezogen. Seine schon zitierte Rede nach Stresemanns Tod stellte ein eindeutigeres Bekenntnis zum Staat von Weimar dar als seine ideengeschichtlichen Reflexionen. Unter dem schon erwähnten, bezeichnenden Untertitel „Ein Appell an die Vernunft“, führte er aus: „Der Staatsmann …, dessen Wirken die außerdeutsche Welt wieder einmal bestimmt hat, das Wort ‚großʻ mit dem deutschen Namen zu verbinden, Stresemann, hat sein Werk getan, gestützt auf die Sozialdemokratie. Auf seine eigne Partei konnte er sich nicht stützen. Sie ist ihm niemals innerlich gefolgt, und nur der Druck seiner Persönlichkeit hielt sie notdürftig bei seinem Willen. Die Geschichte dieses außerordentlichen Mannes gehört zu den merkwürdigsten, ergreifendsten, die das deutsche Leben zu bieten hat.“18

Auch Stresemann war widersprüchlich, doch lässt sich dieser Widerspruch chronologisch und sachlich auflösen. Chronologisch ähnelte sein Weg in die Republik dem Meineckes, sachlich jedoch unterschied sich bei Stresemann stärker als bei Meinecke Innen- und Außenpolitik. Schon vor der Revolution 1918/19 gehörte Stresemann innenpolitisch zum fortschrittlichen Flügel der Nationalliberalen und stieß u. a. deshalb auf die Abneigung des rechten Flügels, eine Konstellation, die sich in der DVP auch während der Weimarer Republik wiederholte. Schon bei der Diskussion über die Nachfolge Bassermanns wurde dies deutlich, als Robert Friedberg zum Parteivorsitzenden, Stresemann aber zum Fraktionsvorsitzenden gewählt wurde. Bereits im kai18 TH. MANN, Ansprache (wie Anm. 2), S. 886.

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serlichen Reichstag war Stresemann nicht allein Vollblutparlamentarier, sondern auch innenpolitischer Reformer, seit 1917 verband er diese verfassungspolitische Zielsetzung zunehmend mit einer Abmilderung seiner außen- und kriegspolitischen Forderungen, so dass er schließlich zu einem der Protagonisten des Verständigungsfriedens wurde. Tatsächlich war Stresemann schon vor 1914 von der Notwendigkeit verfassungspolitischer Reformen überzeugt, hatte seine Forderungen jedoch dem Parteivorsitzenden Bassermann folgend zurückgestellt, weil er wie dieser meinte, während des Krieges könnten solche nicht realisiert werden. 1917 kam er auf seine ursprünglichen Forderungen angesichts der politischen und militärischen Lage zurück und begründete sie wie Meinecke zum Teil historisch mit Analogien zur Reformära und den Freiheitskriegen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Auch gewann Stresemann nach dem Tod Bassermanns im Februar 1917 mehr Spielraum und stärkeren Einfluss innerhalb der in Bezug auf die Reformfrage gespaltenen nationalliberalen Reichstagsfraktion. In seiner Rede „Zum fünfzigjährigen Bestehen der Nationalliberalen Partei“ am 28. Februar 1917 prognostizierte Stresemann, nach dem Krieg werde es in Deutschland eine „große Welle demokratischen Empfindens“ geben. Er setzte sich in dieser Rede schon eindreiviertel Jahre vor der Kriegsniederlage für die Parlamentarisierung, die Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts in Preußen und die Beteiligung der Sozialdemokratie an der Reichsregierung ein.19 Wenige Wochen später, am 29. März 1917, schlug er im Reichstag die Einsetzung eines Verfassungsausschusses zur Vorbereitung von Reformen vor: „Die neue Zeit erfordert ihr neues Recht.“20 In dieser Rede setzte er sich scharf mit Reformgegnern und konservativen Mitgliedern des Preußischen Herrenhauses auseinander und lieferte einen Schlüssel für seine eigene Wandlung: Es gehe darum, „das innere Erleben dieses Weltkrieges umzusetzen in eine Neuordnung der Dinge in der Zukunft.“ Weiter führte er aus: „Aber wir sind der Meinung, daß man damit nicht zu warten braucht bis zur Zeit nach dem Kriege. Ich bin mir dabei bewußt, daß das im Widerspruch steht zur Haltung, die wir bisher eingenommen haben.“ Der Grund liege in den Kriegserfahrungen, in den unerträglichen Opfern, die er gekostet, den wirtschaftlichen Umwälzungen, die er hervorgerufen habe sowie der anfänglichen Illusion, es würde sich nur um einen kurzen Krieg handeln. Schon mehr als ein Jahr vorher, am 18. Januar 1916, hatte er sich im Reichstag – gegen die Reichsleitung und in partieller Übereinstimmung mit den Sozialdemokraten – für die freie Meinungsäußerung eingesetzt und die Zensur kritisiert: Es sei schwer, über diese Lächerlichkeiten keine Satire zu 19 GUSTAV STRESEMANN: Zum fünfzigjährigen Bestehen der Nationalliberalen Partei, in: DERS.: Macht und Freiheit. Vorträge, Reden und Aufsätze, Halle a. S. 1918, S. 23–37, hier S. 29. 20 GUSTAV STRESEMANN: Neue Zeiten. Reichstagsrede vom 29. 3. 1917, in: DERS.: Reden und Schriften (in 2 Bänden), Bd. I, Dresden 1926, S. 172–192, hier S. 179.

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schreiben, wenn der Zensor sogar Goethe verbiete und Lenau umdichte.21 Und auch das Bewusstsein, dass nach dieser Katastrophe Europa eine dauerhafte Friedensordnung benötige, findet sich seit 1916 in vielen Reden Stresemanns. 1918/19 trat er für eine gemeinsame liberale Partei ein, was vor allem am Widerspruch der Linksliberalen scheiterte, die Stresemanns früheren nationalen Expansionismus nicht vergessen hatten, wahrscheinlich aber auch seine Überlegenheit fürchteten: Die Spaltung des Liberalismus dauerte fort, vermutlich zum Schaden der Republik, aber nicht durch Stresemann verursacht. Ihm blieb kaum etwas anderes übrig, als eine eigene liberalkonservative Partei in der Tradition der Nationalliberalen zu gründen. Hier blieb er weiterhin die stärkste, ja die dominierende politische Persönlichkeit – ein Dompteur im Löwenkäfig, der als Vorsitzender paradoxerweise oft aus einer Außenseiterposition agierte und regelmäßig der widerstrebenden Partei seinen Willen aufzwang, mit keinen anderen Truppen als seiner überragenden Persönlichkeit. Überraschend an Stresemanns Wendung zum Vernunftrepublikaner ist nicht die Tatsache selbst, lag doch die Verfassungskonstruktion durchaus auf der Linie der von ihm seit 1917 verfochtenen Reformen, die schließlich im Oktober 1918 in letzter Minute realisiert worden waren. Überraschend ist vielmehr die Jahrzehnte vorherrschende Fehleinschätzung über den vermeintlich späten Zeitpunkt von Stresemanns Wendung, der noch während des KappPutsches im März 1920 in abwartender Haltung verharrt habe. Gab es tatsächlich eine verzögerte Wandlung vom Monarchisten zum Vernunftrepublikaner oder herrscht bis heute ein falsches Bild vor? Worin unterschied sich Stresemanns Weg in die Republik von den beiden anderen hier Behandelten? Wenngleich auch Stresemann taktieren musste und schließlich als Politiker ohne Partei in einer parteienstaatlichen Demokratie machtlos gewesen wäre, fällt zunächst auf: Als Handelnder ist seine Position eindeutiger als die der Intellektuellen, weder changiert er mit Begriffen, noch gibt es nach 1918/19 tatsächlich Aktivitäten, die seine vernunftrepublikanische Haltung als solche zwielichtig erscheinen lassen. Dies gilt selbst für sein zuweilen Aufsehen erregendes Verhalten, die Koalitionsentscheidung mit der DNVP 1925, die berüchtigte Gambrinus-Rede vom 21. September 192622 oder den Brief an den Kronprinzen. Zum einen ging es dort um außenpolitische Ziele und nicht um die Verfassungsordnung, zum anderen hatte Stresemann ja bei den LocarnoVerhandlungen keinen Zweifel daran gelassen, dass er zwar die deutschen Westgrenzen akzeptierte, aber für die Ostgrenzen eine friedliche Revision auf dem Verhandlungswege anstrebte. 21 GUSTAV STRESEMANN: Weltkrieg und öffentliche Meinung. Reichstagsrede vom 18. 1. 1916, in: DERS.: Reden (wie Anm. 20), S. 81–104. 22 GUSTAV STRESEMANN: Die „Gambrinus“-Rede, in: DERS.: Vermächtnis. Der Nachlaß in 3 Bänden, hg. von Henry Bernhard, Berlin 1932–1933, Band III, S. 26–30.

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Stresemann, der noch im Ersten Weltkrieg zeitweilig Großbritannien die Hauptschuld gegeben hatte, teilte keineswegs die antiwestlichen Attituden, die sich gegen die Weimarer Verfassungsordnung richteten und die selbst noch Thomas Mann, den Verehrer der großen russischen Literatur des 19. Jahrhunderts, politisch beeinflussten. Insofern war Stresemann sogar untypisch für die Mehrzahl der deutschen Politiker, bei denen die außenpolitische Tradition des Bismarckreiches nachwirkte, die prorussisch und antifranzösisch gewesen war. So kompliziert die Gründungsgeschichte der beiden liberalen Parteien in der Revolutionsphase auch war, schon am 15. November 1918 hatte es zunächst eine weitgehende Einigung zwischen Links- und Rechtsliberalen gegeben: Zu ihr gehörte, dass die Nationalliberalen um Stresemann „unbeschadet der persönlichen Meinung des einzelnen auf dem Boden der republikanischen Staatsform mitarbeiten wollten“, wie Stresemann dies 1922 in einer Aktennotiz festgehalten hat.23 Die Forschung ist sich bis heute nicht einig, welches die entscheidenden Gründe für die doppelte liberale Parteigründung und damit die weitere Spaltung des Liberalismus gewesen sind, sie hat lediglich die frühere Meinung differenziert, hierfür sei vor allem der persönliche Ehrgeiz Stresemanns ursächlich. Ich kann dies hier nicht diskutieren, für unsere Fragestellung entscheidend aber ist: Stresemann war schon wenige Tage nach der Revolution bereit, die republikanische Staatsform zu akzeptieren. Da er selbst schon seit 1917 den Konstitutionalismus parlamentarisieren wollte, gab es also schon zu diesem frühen Zeitpunkt bei ihm keinen prinzipiellen Gegensatz zur künftigen Verfassungsordnung der Weimarer Republik. Tatsächlich erklärte der Soziologe Alfred Weber für die Linksliberalen – eine Gruppe von Intellektuellen im Umkreis des „Berliner Tageblatts“ – bei der drei Tage später, am 18. November 1918, folgenden Besprechung: Die neue demokratische Partei sei bereits gegründet worden, man wolle sich nicht mit den alten Parteien und mit (annexionistisch) kompromittierten Persönlichkeiten belasten – dies richtete sich eindeutig gegen Stresemann. Wie mehrere andere an diesem Gespräch Beteiligte beurteilte auch Stresemann Webers Verhalten als „maßlos“ und „unverschämt“.24 Trotzdem betrieb er eine weitere Einigung der beiden liberalen Parteien und war sogar bereit, auf eine Führungsfunktion in der zukünftigen gemeinsamen Partei zu verzichten. Stresemann, wie dem Teil der Nationalliberalen, der nicht vor der „Tageblatt“-Gruppe kapituliert hatte, blieb aber schließlich keine andere Wahl als 23 Nationalliberalismus in der Weimarer Republik. Die Führungsgremien der deutschen Volkspartei 1918–1933. Bearbeitet von EBERHARD KOLB und LUDWIG RICHTER, 2 Bände, Düsseldorf 1999 (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 3. Reihe, Die Weimarer Republik. Im Auftrag der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der Politischen Parteien, hg. von Karl-Dietrich Bracher und Rudolf Morsey), Band I, S. 15, Anm. 21. 24 Ebd., S. 17f.

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mit Hilfe der noch nicht aufgelösten nationalliberalen Parteiorganisation eine eigene Partei – die DVP – zu gründen. Diese mußte sich im Spektrum der politischen Kräfte zunächst vor allem gegen die linksliberale DDP profilieren: Angesichts der prinzipiellen verfassungspolitischen Übereinstimmung hieß das für Stresemann: Dissens in bezug auf die Staatsform. Schon vor dem Kapp-Putsch erklärte Stresemann in einer Sitzung des Geschäftsführenden Ausschusses am 4. März 1920 in Abgrenzung zur Agitation der Deutschnationalen Volkspartei, eine derart „verantwortungslose Opposition“ sei nicht am Platze.25 In der gleichen Sitzung sprach er sich sogar für eine Koalition mit der SPD nach den Wahlen aus, denn es sei tatsächlich ein sehr gewagtes Experiment, in dieser Lage gegen die Sozialdemokraten regieren zu wollen.26 Und am Tage des Kapp-Putsches am 13. März 1920 erklärte die Parteileitung der DVP nach einem einleitenden Bericht Stresemanns: Die DVP verurteile den gewaltsamen Umsturz, von dem sie völlig überrascht worden sei, auf das schärfste. „Die Deutsche Volkspartei habe diese Regierung zwar als Oppositionspartei bekämpft, ihre Beseitigung aber nachdrücklichst nur auf verfassungsmäßigem Wege durch Neuwahlen angestrebt, niemals aber an einen gewaltsamen Umsturz gedacht.“27 Und nach der ersten Fühlungnahme von Beauftragten der DVP mit Kapp erklärte Stresemann, der an diesem reinen Informationsgespräch selbst nicht teilgenommen hatte, „daß wir niemals die Hand bieten zu irgendwelchen reaktionären Maßnahmen. Unter allen Umständen fordern wir die sofortige Zurückführung des ungesetzlichen Zustands auf eine gesetzmäßige Grundlage.“28 Von der schweren Krise der Weimarer Republik 1923, zu deren Meisterung er durch den Abbruch des Ruhrkampfes als Reichskanzler erheblich beigetragen hatte, bis zu seinem Tode am 3. Oktober 1929 stellte der in wechselnden Koalitionen amtierende Außenminister den stärksten Anker sowohl einer deutschen Friedenspolitik als auch des parlamentarischen Systems dar – gleichermaßen ein überragender Außen- wie Innenpolitiker. Als Parteipolitiker war er ein genialer Taktiker, der aber nie seine Ziele aus den Augen verlor. 1928 trat er ohne Zustimmung seiner Partei in die sozialdemokratisch geführte Regierung ein, um die demokratische Mitte von den Sozialdemokraten, Liberalen, über die Zentrumspartei bis zu den Liberalkonservativen zusammenzuhalten. Schließlich brachte er die DVP doch zu einer formellen Großen Koalition, doch starb er bereits am 3. Oktober 1929. Ohne ihn hatte die Koalition aber keine Kraft mehr und nur noch wenige Monate Bestand – dies bedeutete das Aus für die letzte parlamentarisch gebildete Regierung und den Anfang vom Ende der Weimarer Republik. 25 26 27 28

Sitzung des Geschäftsführenden Ausschusses (4. März 1920), in: ebd., S. 223. Ebd., S. 224. Sitzung der Parteileitung in Berlin (13. März 1920, vorm. 11 Uhr), in: ebd., S. 234f. Sitzung der Parteileitung in Berlin (13. März 1920, nachm.), in: ebd., S. 246 und die offizielle Erklärung S. 247.

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VI. Schluss Es kann kein Zweifel bestehen, dass Stresemann schon seit Gründung des Weimarer Staates auf dem Boden der parlamentarischen und demokratischen Verfassungsordnung stand und sein Vernunftrepublikanismus keine reservatio mentalis kannte. Verglichen mit dem Gelehrten und dem Schriftsteller war seine Sprache erfreulich klar und eindeutig, parteipolitisches Taktieren änderte an dieser grundsätzlichen Haltung nichts. Ähnlichkeiten gab es durchaus zu Friedrich Meinecke in Bezug auf die historische Argumentation und die reformerische Intention bereits während des Krieges, sie unterschieden sich darin, dass Stresemann bis ungefähr 1916 weitgehende Kriegsziele verfocht. Thomas Manns Haltung wurde eindeutiger erst bei zunehmender Gefährdung der Republik, aber noch nach 1933 zögerte der Emigrant, alle Brücken abzubrechen und geriet damit in Gegensatz zu den linken Emigranten, aber auch zu seiner Tochter Erika und seinem Sohn Klaus. An seiner Abscheu gegenüber dem Nationalsozialismus besteht kein Zweifel, wie nicht nur seine legendären Radioansprachen „Deutsche Hörer“ aus den USA belegen, doch war es erst Hitlers Reich, das ihn durch seinen Extremismus zur politischen Eindeutigkeit gezwungen hatte: Dem Absoluten konnte er nicht mehr mit Relativem antworten. Auch Meinecke blieb nach 1933 in Distanz zum Regime und wurde deshalb 1935 schließlich als Herausgeber der „Historischen Zeitschrift“ abgelöst – schon aufgrund seines hohen Alters und Habitus kein Widerstandskämpfer, aber als beständiger Weimarer Vernunftrepublikaner auch kein Mitläufer. Stresemann erlebte die nationalsozialistische Diktatur nicht mehr: War er, der klarste und kämpferischste unter den drei Persönlichkeiten aus dem liberalen und liberalkonservativen Spektrum, wirklich „nur“ ein Vernunftrepublikaner? Und schließlich: Was konnte der Weimarer Republik besseres passieren, als Republikaner aus Vernunft?

Willy Haas und „Die Literarische Welt“ Sascha Kiefer „Wir haben einen doppelten Ehrgeiz. Erstens: wir wollen eine Zeitung machen. Zweitens: wir wollen das Gegenteil einer Zeitung machen“. Mit diesen Worten eröffnete der Herausgeber Willy Haas (1891–1973) am 9. Oktober 1925 den Artikel, in dem er die Intentionen des neugegründeten Periodikums „Die Literarische Welt“ darlegte. Der „widerspruchsvolle Doppelwunsch“ bedarf der Erläuterung. Offensichtlich hat Haas ein Negativbild und eine Idealvorstellung dessen, was der Begriff „Zeitung“ signalisiert. Beides bringt er im Fazit seines knappen Editorials auf den Punkt: „[U]nsere Zeitung soll eine Zeitung ohne jede journalistische Taktik sein, eine Zeitung der offensten Diskussion, eine Zeitung, die sich selbst widersprechen, sich selbst korrigieren, ja, sich selbst offen dementieren wird, wo es nötig erscheint, weil uns nichts an der äußeren Konsequenz liegt, wo die innere Konsequenz der gewissenhaften Sachlichkeit eine äußere Inkonsequenz fordert. Sie soll also das Gegenteil dessen bieten, was man im allgemeinen von einer Zeitung verlangt. Auch in der Richtung, daß wir unseren Lesern die Pflicht, sich selbst zu entscheiden, nicht nehmen und nicht einmal erleichtern, sondern sogar erschweren werden. Wer Wert darauf legt, sich schnell und mühelos zu entscheiden, mag sein Parteiblatt lesen, das ihm die Schwierigkeit jeder großen Entscheidung hinlänglich vertuscht und verschweigt; nicht unser Blatt.“1

Eine Zeitung im positiven Sinn ist demzufolge einem offenen Diskurs2 verpflichtet. Implizit kann Haas mit diesem Verständnis anknüpfen an die Geschichte der modernen Journalistik: Zeitungen und Zeitschriften sind als Simulationsmedien mündlicher Kommunikation entstanden, zunächst aus der ursprünglich privaten Korrespondenz reisender Kaufleute; der Doppelsinn von „Korrespondent“ als Briefpartner und „Korrespondent“ als Berichterstatter aus dem Ausland verweist bis heute darauf. Der Brief seinerseits wurde schon in der Antike als ein Gespräch zwischen abwesenden Freunden definiert.3 Sowohl der Briefverkehr als auch die diskursgeschichtlich aus ihm hervorgegangene Publizistik sollen mündlichen Austausch dort zumindest simulieren, wo er aufgrund der geographischen Entfernung unmittelbar nicht möglich ist. Im Idealfall erwiese sich eine Zeitung (und insbesondere ein literarisch-kul1 2 3

WILLY HAAS: An unsere Leser und Freunde, in: Die Literarische Welt 1 (1925), Nr. 1. Der Begriff „Diskurs“ wird im Folgenden im Sinn von Jürgen Habermas verwendet, als eine Interaktionsform, die am Idealtyp „herrschaftsfreier Kommunikation“ mit dominant rationalem Austausch von Argumenten orientiert ist. Vgl. JOCHEN GOLZ: Artikel „Brief“, in: KLAUS WEIMAR u. a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1 A-G, Berlin/New York 1997, S. 251–255.

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turelles Periodikum) als Erbe einer aufgeklärten Kultur der Geselligkeit und des Gesprächs. An eine größere Öffentlichkeit gerichtet als die private oder gelehrte Korrespondenz einerseits und der literarische Salon andererseits, aber weniger schwerfällig und monologisch als das Buch, dafür flexibel, rasch reagierend, relativ billig und kollektiv produziert – unter diesen Bedingungen können Zeitungen und Zeitschriften virtuelle Foren bilden, die möglichst viele Kommunikationsteilnehmer in einer zunehmend ausdifferenzierten Gesellschaft zu Gespräch und Austausch zusammenbringen, als „perfekte Simulation der Kommunikationssituation der öffentlichen Diskussion im Medium der Schrift“.4 Im literalen Substitut des echten Redeforums können nicht nur mehr Kontrahenten zu Wort kommen, sondern es entsteht auch eine „tripolare Kommunikationssituation“, da jede Äußerung „zugleich der Kritik eines konkreten Gegners und der Begutachtung durch ein unbekanntes und daher – vom Standpunkt des Schreibenden aus betrachtet – abstraktes Publikum“5 ausgesetzt wird; ein Publikum, das nicht als passiver Rezipient, sondern als aktiver Teilnehmer am kommunikativen Prozess vorgesehen ist. Insgesamt wäre damit ein Konzept umrissen, das in seinem Anknüpfen an die Idee des öffentlichen Forums und in seinem Appell an die Mitverantwortung aller als Ausdruck demokratischrepublikanischer Kommunikationspraxis gesehen werden kann.6 Einer solchen Idealvorstellung stellt Haas sein Negativbild einer Zeitung gegenüber: das Parteiblatt. „Parteiblätter“ fungieren nicht als Forum, sondern als Sprachrohr, sind Ausdruck partikularer Interessen, dienen der publizistischen Bestätigung vorgefasster Meinungen und ihrer manipulativen Durchsetzung. Solche Parteiblätter mag es um 1925 genug gegeben haben. Im Gründungsjahr der „Literarischen Welt“ wurden für das Deutsche Reich 3152 Zeitungen gezählt; für die Zeit zwischen 1880 und 1945 kommen noch einmal 3341 literarische Zeitschriften dazu.7 Damit dürfte – von der bis heute selbstverständlichen lokalen Auffächerung der Presse abgesehen – nahezu jede politische und kulturelle Splittergruppe ein eigenes Periodikum besessen haben, dessen spezifische Leserschaft sich nur in Bruchteilen überschnitt mit der anderer publizistischer Organe. Diese Fragmentierung der publizistischen Öffentlichkeit zu überwinden oder ihr zumindest ein anderes Modell gegenüberzustellen, definiert Haas als Aufgabe und Legitimation des eigenen Projekts. Dass der Titel „Die Litera4 5 6 7

VERA VIEHÖVER: Diskurse der Erneuerung nach dem Ersten Weltkrieg. Konstruktionen kultureller Identität in der Zeitschrift „Die Neue Rundschau“, Tübingen/Basel 2004 (= Kultur-Herrschaft-Differenz, Bd. 7), S. 35. Kursivierung im Original. Ebd. Vgl. auch BIANKA MINTE-KÖNIG: Die Literarische Welt (1925–1934), in: HEINZ-DIETRICH FISCHER (Hg.): Deutsche Zeitschriften des 17. bis 20. Jahrhunderts, Pullach bei München 1973, S. 393–407, bes. S. 396. Vgl. die Angaben in RENKE SIEMS: Die Autorschaft des Publizisten. Schreib- und Schweigeprozesse in den Texten Kurt Tucholskys, Heidelberg 2004 (= Diskursivitäten, Bd. 7), S. 22f.

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rische Welt“ das „Wirkungsgebiet“ der Neugründung „auf einen relativ engen und wenig einflußreichen Winkel“ des „öffentlichen Lebens“ einzuschränken scheine, sieht er dabei nicht als Hindernis: Für Schriftsteller sei Literatur eben ein zentraler Modus ihrer Welterfahrung. Haas zufolge braucht man „einen festen Boden oder zumindest einen Ausgangspunkt“, um das gesamte öffentliche Leben zu reflektieren, und diesen Ausgangspunkt soll jeder von dem Gebiet nehmen, das er am besten beherrscht. Damit wird das gesellschaftliche Teilsystem Literatur nicht als isolierter Gegenstand definiert, sondern als pars pro toto, wenn nicht als Spiegel der Gesamtgesellschaft. Um solche selbst gestellten Ansprüche auf Offenheit des Diskurses und Breite des Gegenstandes zu erfüllen, brachte Willy Haas eine ganze Reihe günstiger Voraussetzungen mit. Als Deutscher und Jude 1891 in Prag geboren, war Haas seit seiner Kindheit an die Schwierigkeiten eines multikulturellen Zusammenlebens gewöhnt; in seiner Autobiographie berichtet er eindrucksvoll von der Notwendigkeit, sich zwischen tschechischem Nationalismus und antijüdischen Ressentiments zu behaupten.8 Im Prager deutschsprachigen Kulturleben nahm er schon in jungen Jahren einen wichtigen Platz ein: Mit seinem Klassenkameraden Franz Werfel, aber auch mit Max Brod, Walter Hasenclever, Ernst Deutsch und Franz Kafka verbanden ihn teils intensive und langjährige Freundschaften.9 Eine bemerkenswerte „organisatorische Begabung“10 wurde ihm früh und häufig attestiert: Schon der 19-jährige Jurastudent war Vorsitzender der Deutschen Rede- und Lesehalle in Prag und holte unter anderem Karl Kraus und Hugo von Hofmannsthal als Vorträger in seine Heimatstadt. Außerdem widmete er sich, zwanzigjährig, der Herausgabe eines ersten Periodikums, der „Herder-Blätter“ (1911–1912), in denen Erstdrucke von Werfel und Brod, Kafka und Musil erschienen.11 Der Wunsch, die zunächst nur nebenbei ausgeübte Tätigkeit als Organisator, Herausgeber und Publizist 8

Haas’ anschaulich geschriebene und literarisch versierte Erinnerungen erschienen erstmals 1957. Als historische Quelle sind sie einerseits unverzichtbar, andererseits auch – wie jede Autobiographie – nur mit der entsprechenden Quellenkritik zu verwenden. Eine erste wissenschaftlich fundierte Biographie, die zahlreiche Ungenauigkeiten korrigiert, Auslassungen benennt und insbesondere für die Exilzeit eine Fülle neuer Materialien erschließt, liegt erst seit 2007 vor, vgl. CHRISTOPH V. UNGERN-STERNBERG: Willy Haas 1891–1973. „Ein grosser [!] Regisseur der Literatur“, München 2007. 9 Werfel setzte dem Jugendfreund in seinem postum veröffentlichten, philosophisch-utopischem Reiseroman Stern der Ungeborenen (1946) ein spätes Denkmal in Gestalt von B.H., der als Mentor des zeitreisenden Ich-Erzählers fungiert; vgl. NORBERT ABELS: Die Kunst, durch die Zeiten zu fallen. Über Willy Haas, in: MARGARITA PAZI / HANS DIETER ZIMMERMANN (Hg.): Berlin und der Prager Kreis, Würzburg 1991, S. 265–280, hier S. 266. 10 JÜRGEN BORN: Der junge Willy Haas und sein Freundeskreis: Versuch einer Abgrenzung, in: Prager deutschsprachige Literatur zur Zeit Kafkas. Hrsg. v. der Österreichischen Franz Kafka-Gesellschaft Wien – Klosterneuburg, Wien 1989 (= Schriftenreihe der Franz Kafka-Gesellschaft, Bd. 3), S. 37–45, hier S. 38. 11 Die Herder-Blätter sind später im Reprint erschienen: Herder-Blätter. Faksimile-Ausga-

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zum Beruf zu machen, trieb Haas schließlich zum Abbruch des Jura-Studiums und zur Übersiedlung nach Leipzig, wo er Lektor im Kurt-Wolff-Verlag wurde; seine Freunde Franz Werfel und Walter Hasenclever waren schon dort, und der Kurt-Wolff-Verlag avancierte innerhalb kürzester Zeit zum wichtigsten Verlag der damaligen literarischen Avantgarde, des Expressionismus.12 Auch den späteren Initiator der „Literarischen Welt“, Ernst Rowohlt, lernte Haas in Leipzig kennen. Den Ersten Weltkrieg, die zentrale und traumatische Erfahrung seiner Generation, erlebte Haas als k.u.k. österreichisch-ungarischer Offizier in der tschechischen Armee. Sein Verhältnis zur Habsburger-Monarchie war dabei mindestens ambivalent; bereits 1914 ist er „von Österreichs Schuld oder Mitschuld am Ausbruch dieses Krieges fest überzeugt“13 gewesen, und auch später warnte er stets davor, die im Rückblick verklärte und idealisierte Monarchie mit dem „konkrete[n], bürokratische[n], höchst bösartige[n] und skrupellose[n] Kriegsösterreich“14 zu verwechseln. Spätestens die Kriegserfahrung macht Haas zum Pazifisten und Demokraten. Gleich 1918, nach seiner Rückkehr nach Prag, bekennt er sich emphatisch zur neuen tschechoslowakischen Republik, die unter Präsident Masaryk ausgerufen worden war: „ich hielt eine tschechoslovakische [!] Republik unter dem großen Humanisten T.G. Masaryk für die weitaus beste Lösung, die nach dem Untergang der Monarchie zu denken war“15, schreibt er in seinen Memoiren. Zeitlebens bleibt Masaryk für ihn eine „Figur von welthistorischer moralischer Autorität“16; für die Gegenseitigkeit dieser Wertschätzung spricht, dass in der späteren „Abonnentenliste der ‚Literarischen Weltʻ das Sekretariat des Präsidenten T.G. Masaryk gleich mit zwei Exemplaren verzeichnet stand“.17

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be zum 70. Geburtstag von Willy Haas. Besorgt von ROLF ITALIAANDER, Hamburg 1962. Noch in seiner Berliner Zeit blieb Haas dem expressionistischen Milieu eng verbunden und pflegte freundschaftlichen Umgang mit fast allen bedeutenden Vertretern dieser Literaturströmung, vgl. FRANÇOIS BEILECKE: Linksrepublikanismus und Geistesrevolution. Die Stellung der „Literarischen Welt“ im politisch-literarischen Gruppennetzwerk der Weimarer Republik 1925–1933, in: MICHEL GRUNEWALD (Hg.) in Zusammenarbeit mit HANS MANFRED BOCK: Das linke Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1890–1960), Bern/Berlin/Bruxelles u. a. 2002, S. 287–301, bes. S. 294–300. WILLY HAAS: Die literarische Welt. Erinnerungen, München 1958, S. 68. Ebd., S. 70. Ebd., S. 71. – Haas gab seine tschechoslowakische Staatsbürgerschaft erst im Januar 1930 zugunsten der deutschen auf, erhielt sie dann aber im Exil nach einigem Hin und Her im August 1936 wieder zuerkannt, vgl. C. V. UNGERN-STERNBERG: Willy Haas (wie Anm. 8), S. 105 u. S. 130. W. HAAS: Welt (wie Anm. 13), S. 186. Ebd., S. 187. – Noch im Exil berief sich Haas ausdrücklich auf Masaryk als sein philosophisches Vorbild und entwarf ein ausgesprochen positives Bild der Tschechoslowakei

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Trotzdem hielt es Haas im Nachkriegs-Prag nicht lange; 1921 siedelte er nach Berlin um, wo er eine Stelle als Kritiker beim „Filmkurier“ bekam. Das Kino hatte ihn von Anfang an interessiert; im Unterschied zu vielen anderen Intellektuellen18 sah er im Film schon früh ein Medium mit eigenständigem Kunstwert; die neuere Forschung attestiert Haas, der bald auch Drehbücher verfasste, sogar eine „unbestreitbare Pionierrolle für die Filmkritik“.19 Das Angebot seines Lebens bekam Haas dann 1925 vom befreundeten Ernst Rowohlt20: die Leitung einer neuzugründenden literarischen Zeitschrift nach dem Vorbild der französischen „Nouvelles Littéraires“.21 Den Memoiren von Haas zufolge ging der Titel „Die Literarische Welt“ auf einen Vorschlag des „rasenden Reporters“ Egon Erwin Kisch zurück. Dieser habe gemeint, eine solche Zeitschrift müsse „einen ganz banalen“22, einprägsamen Namen tragen; bei der ursprünglich als Provisorium geplanten Formel ist es dann geblieben. Vom Titel abgesehen, hatte Haas recht genaue Grundvorstellungen; er wusste, dass eine „Literarische Welt“ auch „eine große Masse Fakten-Material“ zu präsentieren hatte, aber er wollte es, in seinen Worten, „nicht pompös und im Grunde tot hintereinander aufmarschieren lassen wie die großen führenden literarischen Nachrichtenblätter in Paris oder London“:

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als des einzigen Staates, mit dem er sich zu dieser Zeit noch hätte identifizieren können, vgl. C. V. UNGERN-STERNBERG: Willy Haas (wie Anm. 8), S. 199 u. 210. Vgl. dazu das Standardwerk von ANTON KAES (Hg.): Kino-Debatte. Texte zum Verhältnis von Literatur und Film, Tübingen 1978 (= Deutsche Texte, Bd. 48). KARL PRÜMM: Mit den Sinnen denken. Der Filmkritiker Willy Haas, in: WOLFGANG JACOBSEN / KARL PRÜMM / BENNO WENZ (Hg.): Willy Haas. Der Kritiker als Mitproduzent. Texte zum Film 1920–1933, Berlin 1991, S. 9–25, hier S. 9; vgl. zu Haas’ Filmkritiken und Drehbüchern auch C. V. UNGERN-STERNBERG: Willy Haas (wie Anm. 8), S. 56–81. Schon 1927 löste sich „Die Literarische Welt“ vom Rowohlt-Verlag und wurde in eine Verlagsgesellschaft m.b.H. umgewandelt, an der mehrere Autoren, vor allem aber Willy Haas selbst, beteiligt waren, vgl. W. HAAS: Welt (wie Anm. 13), S. 175, sowie – genauer und differenzierter – C. V. UNGERN STERNBERG: Willy Haas (wie Anm. 8), S. 98– 101. Die „Literarische Welt“ trug den Untertitel „Unabhängiges Organ für das deutsche Schrifttum“, verzichtete also insofern auf die Begriffe „Zeitung“ und „Zeitschrift“. Wenn Haas von seinem Periodikum spricht, bevorzugt er in der Regel den Terminus „Zeitung“. Wendet man übliche zeitungswissenschaftliche Definitionen an, so verbinden das große Format (44 x 33, Umfang 8 Seiten), das Layout und der ausgedehnte Inseratenteil die „Literarische Welt“ eher mit der „Zeitung“; auf die „Zeitschrift“ verweisen dagegen die Konzentration auf das Kulturleben, die eher an ein erweitertes Feuilleton als an eine „Zeitung“ denken lässt, die Adressierung an ein letztlich doch relativ spezielles, literarisch interessiertes und überwiegend abonniertes Publikum, die Dominanz einer reflektierenden vor einer reportierenden Aktualität und die starke Prägung durch die Persönlichkeit des Herausgebers; vgl. dazu auch B. MINTE-KÖNIG: Welt (wie Anm. 6), S. 395. W. HAAS: Welt (wie Anm. 13), S. 155f.

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Sascha Kiefer „Es sollte von innen her Leben bekommen durch eine echte dialektische Gruppierung: zu einer aktuellen Idee, einem programmatischen Werk, einer neuen Erscheinung der Zeit sollte der Leser immer gleich auch das Gegenstück kennenlernen. [...] [E]s war uns – ich meine die Redaktion der ‚Literarischen Weltʻ – durchaus vorstellbar, daß wir zugleich verwirren und klären sollten, vielmehr klären durch das Verwirren [...] Ich glaube, der junge Friedrich Schlegel, der Friedrich Schlegel der Paradoxe und Fragmente im ‚Athenäumʻ, hätte dazu ja gesagt, Novalis-Hardenberg zumindest nicht nein.“23

Damit schlägt Haas einen Bogen zur klassisch-romantischen Epoche, ihrer Gesprächskultur und Publizistik, deren Erbe er sehr bewusst anzutreten versucht hat. Im Rückblick meinte er, sein „Plan des Universalismus und, soweit es menschenmöglich war, völliger Objektivität“ sei in Berlin zunächst auf Skepsis gestoßen und als „typische Provinzleridee“ abgelehnt worden.24 Doch der Erfolg gab ihm recht: Die „Literarische Welt“ avancierte rasch zu einem der meistbeachteten Periodika der Weimarer Republik. Nach den ersten sechs Monaten erschien sie in 13000 Exemplaren, 1928 konnte sie bei einer Gesamtauflage von 28500 Exemplaren auf 20000 Abonnenten bauen.25 Viele Stimmen bestätigen, dass Haas sein ausdrückliches Ziel, sowohl in Bezug auf die Beiträger als auch in Bezug auf die Leserschaft ein möglichst breites Spektrum anzusprechen, zumindest für einige Jahre erreicht hat – mit den Worten von Rolf Italiaander zu sprechen: „Die ‚Literarische Weltʻ wurde von rechts bis links gelesen, weil ihre Mitarbeiter von der extremsten Rechten bis zur extremsten Linken reichten“.26 Was in der Forschung gelegentlich als „wenig pointierte linksliberale Haltung“27 kritisiert, als „Ausdruck von Meinungslosigkeit“28 missverstanden oder zumindest als inhaltliche „Heterogenität“29 vermerkt wurde, ist als bewusst gestaltetes Konzept ernst zu nehmen: „Die literarische Welt“ war einer „fundamental pluralistisch und deliberativ ausgerichteten Praxis verpflichtet“30 und definierte sich als antidogmatisches „Fo-

23 WILLY HAAS: Nachwort, in: DERS. (Hg.): Zeitgemäßes aus der „Literarischen Welt“ von 1925–1932, Stuttgart 1963, S. 477–490, hier S. 489. 24 Ebd., S. 487. 25 MANFRED H. BURSCHKA: Einleitung, in: Indices zu „Die Literarische Welt“ 1925–1933, Bd. I, Nendeln 1976, S. VII–X, hier S. VII. 26 ROLF ITALIAANDER: Rede zum fünfundsiebzigsten Geburtstag. 7. Juni 1966, in: KARIN SANDFORT-OSTERWALD: Willy Haas. Eingeleitet von Rolf Italiaander, Hamburg 1969 (= Hamburger Bibliographien, Bd. 8), S. 5–15, hier S. 11. 27 HARRY PROSS: Literatur und Politik. Geschichte und Programme der politisch-literarischen Zeitschriften im deutschen Sprachgebiet seit 1870, Olten und Freiburg/Br. 1963, S. 114; vgl. dazu kritisch auch F. BEILECKE: Linksrepublikanismus (wie Anm. 12), S. 290. 28 B. MINTE-KÖNIG: Welt (wie Anm. 6), S. 406. 29 JANA MIKOTA: „Bücher, die lebendig geblieben sind“. Alice Rühle-Gerstels Beiträge in der „Literarischen Welt“, in: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik 10 (2005/06), S. 23–42, hier S. 24 u. S. 38. 30 F. BEILECKE: Linksrepublikanismus (wie Anm. 12), S. 292.

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rum der Auseinandersetzung, auch und besonders bei stark divergierenden Meinungen“.31 Als „strikter Gegner von Schwarz-Weiß-Malerei und Schubladendenken“32 war Willy Haas der geeignete Mann, um dieses Konzept durchzuhalten. Seine spirituellen Interessen reichten vom Judentum und vom Katholizismus bis zur Mystik und Mythologie, ohne dass er aufgehört hätte, sich als Aufklärer zu bezeichnen. Seine Faszination durch fremde Kulturen kam ihm nicht erst im Exil zugute, das ihn für einige Jahre nach Indien führen sollte.33 Sein Literaturbegriff umfasste Kafka, Proust und Hofmannsthal genauso wie Unterhaltungs- und Kriminalliteratur.34 Seine privaten politischen Ansichten darf man wohl als pazifistisch, linksliberal und durchaus „vernunftrepublikanisch“ charakterisieren; Hanna Waldeck, mit der er zwischen 1924 und 1936 verheiratet gewesen ist, war in ihrer Jugend linksradikal, beteiligt am Bremer Matrosenaufstand und Finanzsenatorin der kurzlebigen Bremer Räterepublik. Seine vielfach unter Beweis gestellte Fähigkeit zur Integration und Moderation jedenfalls trug entschieden dazu bei, dass Haas seine „Literarische Welt“ bis 1933 in seinem Sinn redigieren konnte. I. Etablierung eines Forums Bereits die erste Ausgabe des neuen Periodikums dokumentiert, wie die kommunikative Funktion der „Literarischen Welt“ von Anfang an nachdrücklich herausgestellt wurde.35 Die Tatsache, dass zunächst einmal jede Zeitschrift eine kommunikative, Mündlichkeit simulierende Funktion hat, darf ja nicht den Blick dafür verstellen, dass es sehr unterschiedliche Grade gibt, in denen dieser Grundcharakter realisiert werden kann. Lange, in sich abgeschlossene und monologisch strukturierte Beiträge von Fachwissenschaftlern beispiels31 C. V. UNGERN-STERNBERG: Willy Haas (wie Anm. 8), S. 96; zur konzeptionellen Beurteilung der „Literarischen Welt“ vgl. auch ebd., S. 84f. – Der Zusammenhang zwischen der „Literarischen Welt“ und der kurzlebigen pazifistischen Schriftstellervereinigung „Gruppe 1925“ (zu der so prominente Mitglieder wie Alfred Döblin, Joseph Roth, Ernst Toller und Johannes R. Becher gehörten) kann hier nicht näher erörtert werden; vgl. dazu zusammenfassend F. BEILECKE: Linksrepublikanismus (wie Anm. 12), S. 295–300, sowie ausführlich KLAUS PETERSEN: Die „Gruppe 1925“, Geschichte und Soziologie einer Schriftstellervereinigung, Heidelberg 1981. 32 C. V. UNGERN-STERNBERG: Willy Haas (wie Anm. 8), S. 101. 33 Für das indische Exil 1939–1947 hat die neue Biographie von Ungern-Sternberg eine Fülle neuer Quellen erschlossen, vgl. ebd., S. 150–245. 34 Eine umfangreiche und kommentierte Auswahl-Bibliographie bieten (neben dem älteren Band von K. SANDFORT-OSTERWALD, wie Anm. 26) auch der Artikel „Willy Haas“, in: Lexikon deutsch-jüdischer Autoren. Redaktionelle Leitung: RENATE HEUER, Bd. 10, München 2002, S. 89–108, sowie C. V. UNGERN-STERNBERG: Willy Haas (wie Anm. 8), S. 295–304. 35 Vgl. zur ersten Ausgabe auch B. MINTE-KÖNIG: Welt (wie Anm. 6), S. 395–398.

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weise sind als Einschaltung in eine Forschungsdiskussion sicher auch „kommunikativ“. Doch es liegt auf der Hand, dass es Gestaltungsweisen gibt, die sich den Charakter mündlicher Ansprache in einem stärkeren Ausmaß zu Eigen machen. Wenn dem Autor Willy Haas häufig bescheinigt wurde, er schreibe so, „wie man in einem literarischen Salon oder Café spricht“36, dann hat sich diese Intention auf Mündlichkeit auch in den bevorzugten Präsentationsformen innerhalb der „Literarischen Welt“ niedergeschlagen. So zeigt schon die erste Nummer mehrere auffällige Formen simulierter Oralität. Die Rundfrage „Was verdanken Sie dem deutschen Geist?“ dominiert die Titelseite; eine Reihe europäischer und insbesondere französischer Intellektueller, darunter der Pazifist Henri Barbusse, der Surrealist Jean Cocteau, der katholische Schriftsteller Paul Claudel und der sowjetische Publizist Ilja Ehrenburg, melden sich zu Wort. Auf der gleichen Seite gibt Thomas Mann in weitaus breiterer Form Auskunft auf die Frage „Was verdanken Sie der kosmopolitischen Idee?“ Haas hatte sich nachdrücklich darum bemüht, Thomas Mann als Autor für die erste Ausgabe seiner Zeitschrift zu gewinnen, obwohl Ernst Rowohlt bekanntermaßen keine Sympathien für Mann hegte und dieser die für damalige Verhältnisse recht hohe Honorarforderung von 1000 Reichsmark erhoben hatte.37 Anlässlich des 50. Geburtstages von Thomas Mann im Juni 1925 war allerdings gerade noch einmal deutlich geworden, dass es keinen anderen Schriftsteller in der Weimarer Republik gab, in dessen Wertschätzung Autoren des linken wie des rechten Lagers derart übereinstimmten38 – und Haas wollte sich in jedem Fall der Unterstützung durch eine solche Integrationsfigur versichern. Durch die grammatikalische Form des Titels wurde auch Thomas Manns längerer Essay als briefnahe Antwort auf eine direkt formulierte Frage präsentiert.39 Die jeweiligen Fragen „Was verdanken Sie dem deutschen Geist?“ bzw. der „kosmopolitischen Idee“ sprechen einen – echten oder vermeintlichen – 36 HERMANN KESTEN: Einführung, in: WILLY HAAS: Gestalten. Essays zur Literatur und Gesellschaft, Berlin/Frankfurt a. M./Wien 1962, S. 9–25, hier S. 18. 37 Haas betrachtete das hohe Honorar jedoch nicht zuletzt als „stillschweigende Garantie, daß Thomas Mann auch später bei passenden Gelegenheiten mitarbeiten würde, und vielleicht zu günstigeren Bedingungen“ – ein Kalkül, das aufgehen sollte, vgl. W. HAAS: Nachwort (wie Anm. 23), S. 486. 38 Vgl. die offiziellen Glückwünsche zum 50. Geburtstag, die das Berliner Tageblatt am 31. 5. und 7. 6. 1925 veröffentlicht hatte, jetzt in: KLAUS SCHRÖTER (Hg.): Thomas Mann im Urteil seiner Zeit. Dokumente 1891–1955, Frankfurt a. M. 22000 (= Thomas-MannStudien, Bd. 22), S. 121–129. Das Spektrum der Gratulanten reicht von deutschnationalen, konservativen Autoren wie Rudolph G. Binding und Wilhelm Schäfer über Stefan Zweig und Arthur Schnitzler bis zu Ernst Weiß. 39 Im Wiederabdruck im Rahmen der Mannschen Essays (zuerst 1925) wird die Frage bezeichnenderweise ersetzt durch die Überschrift „Kosmopolitismus“. Jetzt in: THOMAS MANN: Essays II. 1914–1926. Hg. und textkritisch durchgesehen v. Hermann Kurzke, Frankfurt a. M. 2002 (= Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 15.1), S. 1016– 1023.

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Gegensatz an und setzen zwei Perspektiven zueinander in Beziehung; da sie zugleich auch als Schlagzeilen fungieren, wirken sie darüber hinaus als impliziter Appell an die Leser, für sich selbst nach Antworten zu suchen. Es war Haas zeitlebens wichtig, „die Debatte in den Kopf des Lesers zu verlegen“, damit dieser „selbst alle möglichen Widersprüche eines wichtigen Themas überdenken“40 und eine eigene Entscheidung treffen müsse. Insofern sind die jeweils schon dialogisch strukturierten und aufeinander bezogenen Aufmacher der ersten Ausgabe darauf angelegt, sich im Bewusstsein der intendierten Leser zu einer noch weiter gefassten Diskussion zu summieren. Eine letzte Vertiefung des Themas bringt schließlich ein unkommentiert eingestreutes Zitat: Auf der gleichen Seite, auf der die Rundfrage zum deutschen Geist und der Essay Thomas Manns fortgesetzt werden, finden sich in der rechten unteren Ecke einige Verse aus dem „Hakenkreuzler“, einem kurzlebigen „Wochenblatt aller Völkischen“. Unter der sicher von der „Literarischen Welt“ hinzugefügten Überschrift „Deutsche Lyrik“ ist zu lesen: Doch furchtbar wird die Rache, Wenn einst die Stunde schlägt, Da Gott die deutsche Sache, Empor zum Siege trägt.

Dann soll die Welt erschrecken, Vor deutscher Kraft und Wut, Und restlos soll verrecken, Die ganze welsche Brut. – 41

Das Zitat zu kommentieren, schien nicht nötig – das leistete der Kontext, und die Bewertung war damit ohne weiteres dem „mündigen Leser“42 zu überlassen, an den Haas appellierte. Festzuhalten bleibt: Die ersten beiden Seiten der „Literarischen Welt“ lesen sich als Aufruf zu Austausch und Diskussion; Intellektuelle aus Deutschland, Frankreich und den UdSSR und damit aus den Ländern, die sieben Jahre zuvor noch Kriegsgegner gewesen waren, wurden in einen Diskussionszusammenhang gebracht, der durch die Direktheit und Mündlichkeit simulierende Aufbereitung auch den Leser unmittelbar einbeziehen sollte; in Form des Zitates aus dem „Hakenkreuzler“ wurde das Bekenntnis zu Austausch und Verständigung ergänzt durch die klare Absage an nationalistische und reaktionäre Tendenzen im eigenen Land. So kann bereits die erste Ausgabe der „Literarischen Welt“ illustrieren, wie Willy Haas seine Vorstellung eines offenen, aber dabei keineswegs richtungslosen Diskurses realisierte. Vor allem die Rundfragen wurden rasch zu einer Spezialität der „Literarischen Welt“; insgesamt beliebt bei der zeitgenös40 WILLY HAAS: Große Epochen der Literatur, in: Die Welt, 16. 12. 1963. Zit. n. LUISA VALENTINI: Willy Haas. Der Zeuge einer Epoche, Frankfurt a. M./Bern/New York 1986, S. 103. 41 Die literarische Welt, Nr. 1. Kursivierung im Original. 42 B. MINTE-KÖNIG: Welt (wie Anm. 6), S. 396.

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sischen Presse, wurden sie doch „in diesem Umfang, mit dieser Gründlichkeit [...] in keinem anderen Blatt betrieben“43, und sie waren, wie Haas rasch herausfand, das, „[w]as unsere Leser am liebsten lasen“.44 Der nachhaltige Erfolg zeigt, dass die briefnahe, auf Austausch und Aufbrechen des Monologischen gerichtete Präsentationsform ein Bedürfnis des Lesepublikums erfüllte – das Bedürfnis, eine Art von Gesprächskultur als Nachfolger des literarischen Salons scheinbar direkt im Medium Zeitung zu erhalten und fortzuführen. Auch die bereits mit den „Hakenkreuzler“-Versen erprobte Methode, unkommentierte Zitate einzustreuen, wurde fortgesetzt. In der zweiten Nummer der „Literarischen Welt“ etwa erschien eine Glosse zu Werner Hegemanns Buch „Fridericus oder das Königsopfer“.45 Hegemann hatte in teils polemisch überspitzter Form das Preußisch-Partikularistische in Friedrichs Politik herausgestellt, Sinn und Zweck der friederizianischen Kriege bezweifelt, seine Franzosenfreundlichkeit akzentuiert und die problematischen Seiten seiner Persönlichkeit in den Mittelpunkt gestellt – das Friedrich-Bild der preußischkonservativen Geschichtsschreibung wurde damit vollständig destruiert. Der positiven Besprechung des Buchs ließ die Redaktion der „Literarischen Welt“ Quellentexte unter der Überschrift „Friedrich der Große im Urteil einiger Zeitgenossen“ unkommentiert folgen: Johann Joachim Winckelmann (1717– 1768), Leitfigur der deutschen Klassik, klagte in einem Brief über den „preußischen Despotismus“ und bezeichnete Friedrich als einen „Schinder der Völker“, Ernst Moritz Arndt (1769–1860), ein Idol der Deutschnationalen, beschimpfte den König gar als volksvergessenen „Franzosen-Affe[n]“. Noch in seinen späten Memoiren erinnerte sich Willy Haas an die Empörung, die der Abdruck dieses Materials hervorgerufen hat; in den zwanziger Jahren war Friedrich II. eine Zentralfigur der antirepublikanischen, revisionistischen und deutschnationalen Propaganda und genoss in den entsprechenden Kreisen fast kultische Verehrung, wie sie auf einer populären Ebene auch durch die „Fridericus“-Filme der Ufa mit Otto Gebühr in der Hauptrolle beflügelt wurde. Haas bekam zu spüren, dass er – halb bewusst, halb aus Unerfahrenheit – das Risiko eingegangen war, „eine ganz große Schicht des deutschen Lesepublikums [...] ab[zu]stoßen“.46 Wer in der zweiten Ausgabe der „Literarischen Welt“ eine Seite weiterblätterte, stieß auf einen weiteren Schwerpunkt der Zeitung: die Förderung und Diskussion dessen, was wir heute die klassische Moderne nennen. Der schon damals renommierte Gelehrte Ernst Robert Curtius (1886–1956) berichtete über den „Ulysses“ von James Joyce, der erst knappe zwei Jahre 43 W. HAAS: Nachwort (wie Anm. 23), S. 488. 44 DERS.: Welt (wie Anm. 13), S. 167. 45 P.A.: Friedrich der Große – Gegen das deutsche Reich? Zu Werner Hegemanns Fridericus-Buch, in: Die Literarische Welt 1 (1925), Nr. 2. 46 W. HAAS: Welt (wie Anm. 13), S. 158.

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später in einer ersten deutschen Übersetzung vorliegen sollte.47 Haas zählte Curtius auch im Rückblick zu seinen „unschätzbaren“ Mitarbeitern: „Er wußte alles, was in Frankreich, Spanien und Amerika vorging, und war immer auf der Jagd nach neuen, interessanten Erscheinungen“.48 Der rühmende Bericht, den Curtius über „das schwierigste Buch der modernen Literatur“49 verfasste, gibt Haas Recht. Neben James Joyce wären Marcel Proust und Franz Kafka, dem die „Literarische Welt“ immer wieder wichtige Artikel widmete, als die zentralen Autoren zu benennen, für deren frühe Rezeption Willy Haas und seine Zeitung eine beachtliche Rolle gespielt haben. Neben den aktuellen Neuerscheinungen, die zu diskutieren natürlich eine genuine Aufgabe der „Literarischen Welt“ darstellte, legte Haas allerdings auch Wert auf eine angemessene Präsenz älterer Werke und Autoren. Von Anfang an brachte die „Literarische Welt“ ausführliche Gedenkartikel – und zwar in einem solchen Ausmaß, dass sich Willy Haas schon im Februar 1926 veranlasst sah, diesen Bestandteil seines Periodikums zu legitimieren. Er tat es in einem offenen Brief an die Leser, in dem er durchaus den Anspruch erhebt, einen Beitrag zur kulturellen Gedächtnispflege und damit auch zur Identitätsstiftung zu leisten. Das deutsche Volk habe, glaubt Haas 1926 konstatieren zu können, „so gut wie jede geistige Solidarität verloren“ und könne „sich über so gut wie nichts mehr einigen [...], im Geistigen ebensowenig wie im Politischen“. Die Rolle eines praeceptor germaniae zu übernehmen, lehnt er als sinnlos und unangebracht ab; doch er wolle mit seiner Zeitung wenigstens und „trotz allem“ „Anhaltspunkte und Möglichkeiten einer solchen Solidarität“ bieten. Dabei seien die großen Persönlichkeiten der Vergangenheit von herausragender Bedeutung – doch die Deutschen würden viele der wichtigsten Männer ihrer Geschichte „so gut wie gar nicht“ kennen: einige seien ihnen durch „die Schule vergällt“ worden und andere, „gerade die wertvollsten, waren für Gott, Kaiser und Vaterland nicht immer so kritiklos begeistert, daß 47 Vgl. JAMES JOYCE: Ulysses. Vom Verfasser geprüfte deutsche Ausgabe von Georg Goyert, Basel 1927. – Haas erinnerte sich später, den Artikel von Curtius gezielt als Vorbereitung eines ausführlicheren und persönlicheren Berichts gedruckt zu haben, den er bereits mit Iwan Goll über Joyce und den „Ulysses“ verabredet hatte (der dann unter dem Titel „Der Homer unserer Zeit. Über James Joyce“ in der „Literarischen Welt“, 3 (1927), Nr. 24, erschienen ist), vgl. W. HAAS: Nachwort (wie Anm. 23), S. 484. 48 Ebd., S. 156. In der Nachkriegszeit hat Haas noch einmal Kontakt mit dem früheren Beiträger aufgenommen, ohne offenbar an dessen Verbleib im „Dritten Reich“ Anstoß zu nehmen, vgl. W. HAAS: Welt (wie Anm. 13), S. 278f. Eine ähnliche Toleranz legte er seinem früheren Sekretär Rolf Italiaander gegenüber an den Tag. Dieser hatte sich im Nationalsozialismus durchaus kompromittiert, betrieb aber in der Nachkriegszeit sehr aktiv die erneute Annäherung an Haas und wollte diesen u. a. zu einer Wiederbelebung der „Literarischen Welt“ überreden, vgl. dazu kritisch C. V. UNGERN-STERNBERG: Willy Haas (wie Anm. 8), S. 257f. 49 E. R. CURTIUS: Das verbotene Buch: James Joyces „Ulysses“, in: Die literarische Welt 1 (1925), Nr. 2.

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es zur Lesebuchreife hinreicht“.50 Haas nennt Georg Forster, Lichtenberg, Jean Paul und Pestalozzi als Beispiele für eine geistige Tradition, die man besser kennen lernen müsse, um von ihr zu profitieren und sie fortzusetzen. „Deshalb feiern wir Gedenktage“51, resümiert er – nämlich als Beitrag zu einer Modifikation des kulturellen Gedächtnisses. Wer die seit 1973 im Reprint vorliegenden Bände der „Literarischen Welt“ durchblättert, wird die bisher angesprochenen Charakteristika dieser Zeitung immer wieder bestätigt finden: Die nachdrückliche Intention auf Mündlichkeit schlägt sich überall nieder. Die Themen der Rundfragen reichen von „Welche stilistische Phrase hassen Sie am meisten?“ bis „Wie soll Ihr Nekrolog aussehen?“, von „Sind Kultur und Technik Gegensätze?“ bis „Soll die deutsche Rechtschreibung reformiert werden?“, von „Was soll mit den Zehn Geboten geschehen?“ bis zur Beurteilung der deutsch-französischen Beziehungen, 15 Jahre nach Kriegsausbruch.52 Unter dem Titel „Was schreiben Sie?“ wird eine Interviewreihe eröffnet, in der unter anderem Alfred Döblin, Hugo von Hofmannsthal, Robert Musil und Thomas Mann die Gelegenheit nutzen, ihren Lesern einen Einblick in ihre laufenden Projekte zu geben. Zu besonders kontroversen Novitäten erscheinen konträre Doppelrezensionen. Über Grenzthemen wie Astrologie, Hellseherei oder Okkultismus wird in spezifischer „Pround Kontra-Manier“53 diskutiert. Die gleiche Methode – die „Hauptprobleme unserer Zeit“ in „antithetischer Anordnung“ darzustellen – findet auch auf politische Kernthemen wie etwa den Parlamentarismus, die Diktatur (bezogen vor allem auf das Italien Mussolinis), den Antisemitismus oder die Teilnahme der Frau am politischen Leben Anwendung: So argumentiert etwa Theodor Wolff für den Parlamentarismus und ein prominenter Vertreter der royalistischen „Action française“ gegen ihn54; wieder ist es ein erklärtes Anliegen der „Literarischen Welt“, einerseits Toleranz zu signalisieren, andererseits aber den Leser zur eigenverantwortlichen Entscheidung zu zwingen. Überhaupt sind die Rezipienten immer wieder Gegenstand gezielter Ansprache: Leserbriefe werden veröffentlicht und beantwortet, literarische Preisrätsel veranstaltet, gelegentlich ruft die Redaktion die Leser sogar dazu auf, ihre Meinung zu einer bestimmten Frage einzusenden55 – ein Bemühen um den aktiven Leser, das schließlich mit der Einrichtung der festen Rubrik „Der Leser arbeitet mit ...“ 50 WILLY HAAS: Der Herausgeber an die Leser, in: Die Literarische Welt 2 (1926), Nr. 6. 51 Ebd. Hervorhebung im Original. 52 Die Titel aller Rundfragen sind am leichtesten einzusehen in: M. BURSCHKA: Indices (wie Anm. 25), S. 239–244. 53 F. BEILECKE: Linksrepublikanismus (wie Anm. 12), S. 289. 54 Die betreffende Artikelreihe beginnt in: Die literarische Welt 3 (1927), Nr. 37. 55 Die Redaktion legte immer Wert darauf, die „enge Verbindung zwischen den Lesern der ‚L.Wʻ und der Schriftleitung“ auch als eine Besonderheit darzustellen; wohl kein anderes Periodikum könne auf „eine solche Menge von privaten brieflichen Diskussionen, Bitten um Ratschläge, Gewissensfragen, ja Beichten persönlichster Art“ verweisen, wie sie sich bei der „Literarischen Welt“ „fast an jeden größeren Beitrag knüpfen“ würden.

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institutionalisiert werden sollte.56 Schon ab 1927 waren die literarischen Interessen der Leser, so weit sie sich in Verkaufszahlen manifestierten, zum ersten Mal in Deutschland durch eine „Best-Seller-Liste“ erfasst worden57: Regelmäßig notierte die „Literarische Welt“ die Zahl der im vergangenen Monat in Berliner Buchhandlungen am meisten verkauften Bücher und nahm kritisch Stellung; hinzu kam ein (wenn auch vorwissenschaftliches und empirisch nicht genügend abgesichertes) Interesse an der Lesersoziologie, das sich in Fragestellungen ausdrückte wie etwa „Was liest man eigentlich in Hinterpommern [?]“58 oder „Was die kleinen Mädchen der Berliner Straßen lesen“.59 II. Didaktische Intention und intergenerationeller Dialog Einige Artikelreihen sollen im Folgenden etwas näher betrachtet werden, weil sie den politisch-didaktischen Anspruch von Willy Haas und der „Literarischen Welt“ besonders gut belegen. Im Jahr 1927 etwa setzte Haas einen Schwerpunkt bei der jungen Generation der um die Zwanzigjährigen: Er versuchte „die jungen Menschen [...] zu einer Art Verständigung und Selbstverständigung anzuleiten“60, indem er ältere bedeutende Autoren einlud, sich direkt an sie zu wenden. Ursprünglich hatte er vor, die Reihe der „Worte an die Jugend“ mit einem Beitrag Hugo von Hofmannsthals beginnen zu lassen. Haas hatte Hofmannsthal schon in ganz jungen Jahren geradezu abgöttisch verehrt61; doch diesmal konnte er nicht auf die Unterstützung des Autors zählen, denn Hofmannsthal plante etwa zur selben Zeit seine rasch berühmte und berüchtigte Rede „Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation“, die er am 10. Januar 1927 im Auditorium Maximum der Universität München hielt.62 Diese Rede, um deren Verbreitung sich Hofmannsthal stark bemühen sollte, hat Haas und viele seiner Zeitgenossen geradezu erschreckt; in seinen Memoiren spricht Haas von einer „wirklichen Katastrophe“63 und einem Höhepunkt politischer

56 57 58 59 60 61 62 63

Vgl. DIE REDAKTION: An unsere Leser und Freunde, in: Die Literarische Welt 6 (1930), Nr. 14. Da diese Rubrik jedoch erst in der „Literarischen Welt“ 9 (1933), Nr. 1/2, eingeführt wurde, kam sie nicht mehr recht zum Tragen. Vgl. L. VALENTINI: Haas (wie Anm. 40), S. 102, sowie Die Literarische Welt, 3 (1927), Nr. 45; Nr. 50 u. a. Was liest man eigentlich in Hinterpommern, in: Die Literarische Welt 1 (1925), Nr. 1. EDUARD JAWITZ: Was die kleinen Mädchen der Berliner Straßen lesen. Eine Rundfrage, in: Die Literarische Welt 1 (1925), Nr. 4. W. HAAS: Welt (wie Anm. 13), S. 176. Die wechselvolle Beziehung zwischen beiden dokumentiert HUGO VON HOFMANNSTHAL / WILLY HAAS: Ein Briefwechsel. Berlin 1968. Vgl. W. HAAS: Welt (wie Anm. 13), S. 276. Ebd., S. 69.

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Blindheit, der ihm die letzten Lebensjahre des Bewunderten „einigermaßen vergällt“64 habe. Hofmannsthals Rede greift mit dem Begriff der „Bindung“ ein Schlagwort der Konservativen auf, das er einer als schrankenlos und unverantwortlich empfundenen Freiheit des Individuums entgegensetzt. Der „suchende[] deutsche[] Geist“ habe aus dem 19. Jahrhundert die Lehre gezogen, „daß ohne geglaubte Ganzheit zu leben unmöglich ist, daß dem Leben entfliehen, wie die Romantik wähnte, unmöglich ist: daß das Leben lebbar nur wird durch gültige Bindungen“.65 Die romantische Ironie erfährt eine dezidierte Absage und wird den „unverantwortlichen Übertreibungen“ der Geistesgeschichte zugeschlagen, während nur eine neue, höchst ernsthafte und „mit wahrhaft religioser Verantwortung“ beladene Synthese noch eine „Sicherung des geistigen Raumes“ leisten könne; der Text gipfelt in der vielfach aufgegriffenen Formel von der „konservativen Revolution“66, die Hofmannsthal als Bezeichnung für dieses den zeitgenössischen Krisenphänomenen entgegengesetzte, aber äußerst vage umrissene, prozesshafte Lösungsmodell wählt. Seine Rede ist bis heute Gegenstand zahlloser Forschungsbeiträge geworden, die die politische Aussage Hofmannsthals kontrovers beurteilen67 – Hofmannsthals Zeitgenosse und langjähriger Bewunderer Willy Haas jedenfalls las sie als deutliche Absage an alles, wofür er selbst mit seiner „Literarischen Welt“ stand. Für die Eröffnung der Reihe „Worte an die Jugend“ wandte er sich folgerichtig nicht an Hofmannsthal, sondern einmal mehr an Thomas Mann. Dessen Wurzeln lagen zwar gleichfalls im Bürgerlich-Konservativen; doch im Gegensatz zu seinem Wiener Kollegen war Thomas Mann im Verlauf der zwanziger Jahre immer weiter von seinen früheren, etwa in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ dokumentierten antidemokratischen Anschauungen abgerückt. Vor allem seit seiner viel beachteten Rede Von deutscher Republik 1922 hatte er sich zunehmend als Fürsprecher der neuen Staatsform gezeigt (auch wenn seine Vorstellungen einer Demokratie mit dem „Niveau der deutschen Romantik“68 wenig mit der politischen Realität zu tun gehabt haben). Für die neuere 64 Ebd. 65 HUGO VON HOFMANNSTHAL: Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, in: DERS.: Prosa IV. Hrsg. v. Herbert Steiner, Frankfurt a. M. 1955 (= Gesammelte Werke in Einzelbänden), S. 390–413, hier S. 411. 66 Ebd., S. 412f; vgl. zur „Konservativen Revolution“ als Bewegung das Standardwerk von STEFAN BREUER: Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1993, 21995. 67 Einen knappen Abriss der Forschungsdiskussion bietet z. B. die Dissertation von SEVERIN PERRIG: Hugo von Hofmannsthal und die Zwanziger Jahre. Eine Studie zur späten Orientierungskrise, Frankfurt a. M. 1994 (= Analysen und Dokumente, Bd. 33), bes. S. 195–203. 68 THOMAS MANN: Von deutscher Republik. Gerhart Hauptmann zum sechzigsten Geburtstag, in: DERS.: Essays II. 1914–1926. Hrsg. v. Hermann Kurzke, Frankfurt a. M. 2002 (= Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 15.1), S. 514–559, hier S. 541.

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Forschung ist Thomas Mann ein „konservativer Progressist“69, der in den zwanziger Jahren einen „dritten Weg“ des deutschen Konservatismus aufzeigt – zwischen dem „alten“ Konservatismus des Kaiserreichs und dem „neuen“ der Konservativen Revolution – und sein politisches Denken dabei zunehmend nicht nur in der Tradition der Romantik, sondern auch in der der Aufklärung gesehen hat. Thomas Manns Beitrag zur Reihe „Worte an die Jugend“ wies in erster Linie auf die Entstehung eines „Zwei-Parteien-System[s]“ in Deutschland hin, „das alle anderen Parteiungen abzulösen“ im Begriff sei: „die Partei der geistigen Menschen und die der ungeistigen, gegengeistigen“. Diese Aufteilung steht Mann zufolge auch quer zur Generationenfrage; sein Appell zielt darauf, sich zur „Welt des Geistigen“ zu bekennen, auch und gerade weil sie „weniger einheitlich“ sei als die „Welt der Gemeinheit“. Die von Mann beschworene Welt des Geistes bietet Raum für verschiedenste Denkweisen, wie er am Beispiel der eigenen Person zu erläutern versucht: „Ist es möglich, irgend etwas Geistiges, und sei es das Fremdeste, als wahrhaft feindselig zu empfinden? Hier wenigstens seht ihr einen, dem das nicht möglich ist, nie möglich war. Er möchte Goethe und Nietzsche seine Erzieher nennen dürfen, und also, zum Beispiel, ist das Pfäffische ihm fremd. Wo aber das Pfäffische als Geist und Form auftritt, wie etwa bei Claudel, oder beim dicken Chesterton, oder jetzt bei diesem verteufelten Bernanos, – da wahrt er zwar Vorbehalte, wahrt seine Lebensform, ist aber feindseliger Reaktion aus dem simplen psychologischen Grund nicht fähig, weil er die Aktion im letzten Grunde als freundwillig-verwandt empfindet, sich einfach nicht ernstlich angegriffen fühlt, – und obendrein in tiefster Seele überzeugt, daß dieser Liberalismus, der natürliche Liberalismus des Geistes, der Retter der Welt sein wird und nicht die Entschlossenheit, und nicht der Terror“.70

Im Gegensatz etwa zu Hofmannsthal glaubt Thomas Mann, die Jugend habe „Begriff und Pathos der ‚Entschlossenheitʻ eine Weile zu sehr geliebt“ und plädiert für eine höhere „Freiheit des Geistes“, in der die „Nationen und Generationen“ sich bei aller Verschiedenheit ihrer Ziele und Wünsche darin einig sein müssten, der Ungeistigkeit, der Dummheit und der Brutalität enge Grenzen zu setzen. Nach dem 51-jährigen Thomas Mann wandte sich der zwei Jahre ältere Jakob Wassermann (1873–1934) an die deutsche Jugend. Was den Kontakt zwischen den Generationen angeht, beklagt Wassermann zunächst die kriegsbedingte Ausdünnung der „Zwischengeneration“, die üblicherweise die Beziehung zwischen den Zwanzig- bis Fünfundzwanzigjährigen und den Vierzigbis Sechzigjährigen herstelle. Der im Weltkrieg erlebte „Zusammenbruch des ganzen europäischen Idealismus“ mache „Haß und Isolierung“ der Jungen 69 DANIEL ARGELÈS: Thomas Manns Einstellung zur Demokratie. Der Fall eines „progressiven Konservativen“, in: MANFRED GANGL / GÉRARD RAULET (Hg.): Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage, Darmstadt 1994, S. 221–231, hier S. 229. 70 THOMAS MANN: Worte an die Jugend, in: Die Literarische Welt 3 (1927), Nr. 1.

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verständlich; Wassermann belässt es bei der Mahnung, den Wert von „Jugend“ als Eigenschaft und Lebensgefühl nicht gering zu schätzen.71 Noch weiter geht der elsässische Pazifist René Schickele (1883–1940), der in der nächsten Ausgabe zu Wort kam, indem er den jungen Dichtern rät, sich nicht am „AnstehLeben“ in den „großen Städten“ zu beteiligen, sondern jugendbewegt über Land zu ziehen.72 Schickele teilte sich die Titelseite allerdings mit Heinrich Mann (1871–1950), der einen schärferen Blick für die soziale Realität beweist: Die bürgerliche Welt und das romantisch verklärte Dichtertum gehörten der Vergangenheit an, doch es sei „eine neue soziale Welt [...] im Entstehen“, an der die jungen Autoren teilhaben sollten – denn Literatur werde auch in einer beschleunigten, pragmatischeren und von neuen Medien wie dem Kino geprägten Zeit überleben, „weil sie sittliche Tatsachen eindringlicher formen kann als das Bild“.73 Nach Heinrich Mann kam mit Josef Ponten (1883–1940) ein eher konservativer Autor zu Wort (der auch im Rahmen der Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie dem entsprechenden „Lager“ zuzurechnen war und damit in Opposition zu Heinrich Mann oder Jakob Wassermann stand); Ponten erklärt zwar, er hasse Krieg und Militär, sieht aber in den Kriegserfahrungen der jungen Generation vor allem einen immensen „Erlebnisschatz“, aus dem heraus künftig „die große Epopoë der Deutschen“74 werde erwachsen können. Samuel Saenger (1864–1944), nationalliberaler Staatswissenschaftler und politischer Redakteur der „Neuen Rundschau“, beschließt die Reihe: Sein Beitrag gibt der Hoffnung Ausdruck, die „soziale“ und die „europäische Idee“ mögen „Bausteine zu einer neuen Humanität“ werden, die das Zeitalter des entfremdeten und ungläubigen Kapitalismus und Nationalismus überwinden werde.75 Willy Haas ließ es 1927 nicht bei diesen und anderen Appellen älterer Autoren an die deutsche Jugend bewenden. Als unmittelbare Ergänzung beginnt gleichfalls in der ersten Nummer des Jahres eine siebenteilige EssayReihe von Paul Wiegler unter dem Titel „Die deutsche Marseillaise. Gestalten aus Deutschlands Kampf um die Republik“. Haas schätzte Wiegler als „einzigartiges Genie des biographischen Essays“76 und stellte ihn über andere, bis 71 JAKOB WASSERMANN: Offener Brief an den Herausgeber. Worte an die Jugend (2), in: Die Literarische Welt 3 (1927), Nr. 2. 72 RENÉ SCHICKELE: Junge Dichter in Deutschland! Worte an die Jugend (3), in: Die Literarische Welt 3 (1927), Nr. 3. 73 HEINRICH MANN: Die neuen Gebote. Worte an die Jugend (4), in: Die Literarische Welt 3 (1927), Nr. 3. 74 JOSEF PONTEN: Worte an die Jugend (5), in: Die Literarische Welt 3 (1927), Nr. 4. 75 SAMUEL SAENGER: Worte an die Jugend (6). Gläubige und ungläubige Zeiten, in: Die Literarische Welt 3 (1927), Nr. 5. – Im philologisch sehr anfechtbaren Auswahl-Reprint von 1963 kürzt Haas die Reihe der „Worte an die Jugend“ um die letzten zwei Beiträge und retuschiert auch die entsprechende Vorbemerkung, vgl. W. HAAS (Hg.): Zeitgemäßes (wie Anm. 23), S. 81–87. 76 W. HAAS: Nachwort (wie Anm. 23), S. 489.

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heute berühmtere Vertreter der damals so beliebten historischen Belletristik.77 Der politisch-didaktische Anspruch dieser Reihe tritt unverhohlen hervor. Redaktionell eingeleitet wurde sie mit dem Hinweis, dass die Geschichte des deutschen Reiches auch „acht Jahre nach Begründung der Republik“ an „allen Schulen Deutschlands, niederen, mittleren und hohen, [...] ausschließlich als Geschichte der deutschen Kaiser unterrichtet“ werde: „Daß daneben und darunter [...] seit Jahrhunderten eine niemals ganz abbrechende, wenn auch oft gewaltsam in die historische Dunkelheit gedrängte Geschichte des republikanischen Geistes in Deutschland läuft, wird kaum episodisch gestreift und, wenn schon erwähnt, planmäßig in ein falsches Licht gerückt.“ Es gebe keinerlei „Darstellung der Vorgeschichte der deutschen Republik, die geeignet wäre, den deutschen republikanischen Gedanken, die historische Idee des deutschen Kampfes um die Freiheit, im ganzen deutschen Volke traditionell zu verankern“ – ohne sich dabei ins Fahrwasser des Kommunismus zu begeben, wie die als „höchst ehrenvoll“ anerkannten Arbeiten Franz Mehrings, deren „streng historisch-materialistische[] Grundlage [...] ein großer Teil des deutschen Volkes“ jedoch ablehne.78 Dass die „Literarische Welt“ durchaus die „Sinn- und Werthorizonte einer demokratisch-linksrepublikanischen Teilkultur der Weimarer Republik“79 artikuliert, wird an wenigen Stellen so deutlich wie hier. Ziel ist eine Modifikation des Geschichtsbildes; Demokratie und Republik sollen nicht mehr, wie es Monarchisten und Konservative in den zwanziger Jahren vehement behaupteten, als „undeutsche“, allein den Bedingungen und Maßstäben der so genannten „westlichen Zivilisation“ entsprechende Begriffe und Modelle wahrgenommen werden, sondern als genuine, wenn auch bisher nie dominante Bestandteile einer deutschen Tradition – der etwas inflationäre Gebrauch des Epithetons „deutsch“ im zitierten Text zeigt an, dass „Die Literarische Welt“ hier deutlich auf der Seite etwa eines Thomas Mann oder eines Alfred Döblin steht, die zur gleichen Zeit für ein vom französischen und englischen Republik-Verständnis abweichendes, wiederzuentdeckendes oder noch zu schaffendes, in jedem Fall aber spezifisch deutsches demokratisches Modell eingetreten sind.80 Wieglers Essay-Reihe beginnt mit Thomas Münzer und führt über die Wiedertäufer, Christian Daniel Friedrich Schubart, Georg Forster, Karl Ludwig Sand und Robert Blum bis hin zu Karl Marx im Bemühen, „republikanische Heldenfiguren“ zu präsentieren, „Mär77 Vor allem die Bücher Emil Ludwigs hatten eine neue Art historischer Belletristik popularisiert und eine regelrechte Biographienflut in der Weimarer Republik ausgelöst. Vgl. zu Begriff und Phänomen CHRISTOPH GRADMANN: Historische Belletristik. Populäre historische Biographien in der Weimarer Republik, Frankfurt a. M./New York 1993 (= Historische Studien, Bd. 10). 78 Die Literarische Welt 3 (1927), Nr. 1. 79 F. BEILECKE: Linksrepublikanismus (wie Anm. 12), S. 301. 80 Vgl. etwa THOMAS MANN: Republik (wie Anm. 68), bes. S. 529–535; siehe auch V. VIEHÖVER: Diskurse (wie Anm. 4), S. 197–201.

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tyrer, zum großen Teil solche, die dem historischen Bewußtsein der Deutschen systematisch durch die offiziöse Geschichtsschreibung entfremdet, als Phantasten und Literaten beschimpft, als Feinde des Volkes verleumdet wurden“. Die Auswahl der Personen, die methodische Herangehensweise und die Form „dichterisch-essayistischer Darstellung“, für die sich Wiegler entscheidet, sind aus heutiger Perspektive anfechtbar und problematisch; deutlich wird aber der Versuch, innerhalb der in den zwanziger Jahren noch immer zeittypischen, personalistischen Geschichtsauffassung demokratische Identifikationsfiguren aufzubauen, die den „Kampf um die Republik“ auch als eine deutsche Angelegenheit erkennbar machen statt als außer- oder gar undeutsche Aktion. Die Bemühungen der „Literarischen Welt“ um die junge Generation hätten ein eigentümliches Bild von Austausch und Kommunikation ergeben, wenn diese immer nur eine Rolle als Adressat gespielt hätte. Schon Ende 1926 hatte die Redaktion eine Art Wettbewerb für junge Künstler ausgelobt, dessen erste Preisträger im Februar 1927 feststanden; dass der Wettbewerb in der Sparte Lyrik vor allem deshalb in die Literaturgeschichte der Weimarer Republik einging, weil der Juror Bertolt Brecht in seinem hochgradig ironischen „Bericht über 400 (vierhundert) junge Lyriker“ alle Einsendungen und ihre Autoren zum Ausdruck einer „verbrauchten Bourgeoisie“81 erklärte und einen nicht eingesendeten Song über den Sechstage-Champion Reggie Mac Namara von Hannes Küpper zur Prämierung vorschlug, dürfte sich Willy Haas allerdings so nicht vorgestellt haben. Im August 1927 schließlich brachte „Die Literarische Welt“ eine Sondernummer zum Thema „Deutsche Jugendbewegung“ – ein „Versuch, die Jugendbewegung literarisch nahezubringen“.82 Veröffentlicht wurden einige „Lebensbekenntnisse junger Menschen von heute“, vor allem aber fanden sich die „Gruppen und Strömungen der Jugendbewegung“ in „Selbstdarstellungen aktiver Führer und Mitarbeiter“ abgebildet – von der freideutschen Jugend, über den Wandervogel und die Jungdeutschen, die evangelische und die katholische Jugendbewegung, die Freie sozialistische Jugend bis hin zum Aktivismus Kurt Hillerscher Prägung. Auch in den folgenden Jahren blieb die junge Generation ein Thema in der „Literarischen Welt“: 1928 etwa wurden unter dem Titel „Was wir an euch auszusetzen haben“ die Ergebnisse einer Rundfrage unter den „jüngsten literarisch interessierten Menschen zwischen 18 und 25 Jahren“ veröffentlicht.83 Obwohl Willy Haas sich keineswegs davor scheute, bestimmten Vertretern der jungen Generation öffentliche Absagen zu erteilen und sie beispielsweise für ihren unsozialen Privatismus oder eine 81 BERTOLT BRECHT: Kurzer Bericht über 400 (vierhundert) junge Lyriker, in: Die Literarische Welt 3 (1927), Nr. 5. 82 FRITZ TAEUBER: Etappen der Jugendbewegung, in: Die Literarische Welt 3 (1927), Nr. 32; Taueber war der frühere Leiter des Reichsjugendrings und für die Zusammenstellung eines großen Teils der Sondernummer verantwortlich. 83 Was wir an euch auszusetzen haben, in: Die Literarische Welt 4 (1928), Nr. 14.

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seiner Meinung nach noch nie da gewesene Bequemlichkeit zu tadeln84, war der Wunsch, „die jungen Menschen selbst aus allen Lagern und von allen Weltanschauungen her sich aussprechen zu lassen“85 eines seiner zentralen Anliegen in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren und ein wesentlicher Teil seines Projekts, die „Literarische Welt“ trotz aller Radikalisierung und Auseinanderentwicklung der gesellschaftlichen und ideologischen Gruppen als simuliertes Kommunikationsforum aufrechtzuerhalten. Dabei erkannte Haas sehr wohl, dass „Die Literarische Welt“ trotz allen Bemühens um Austausch und Verständigung häufig allenfalls in der Lage war, die Disparatheit des intellektuellen Lebens abzubilden und zu dokumentieren, sie aber nicht zu beeinflussen. Die Umfrage „Deutschland wie Sie sich es wünschen“ vom März 1930 zeigte das Spektrum der „deutschen Weltanschauungen von rechts bis links“ und vereinte Äußerungen von Ernst Jünger bis Heinrich Mann, von Hermann Bahr bis Alfred Kantorowicz. Die Redaktion verwahrte sich ausdrücklich gegen die Vermutung, sie wolle „Gegensätze überbrücken“, wie es schlagwort- und phrasenartig von so vielen behauptet werde – sie wolle sachlich informieren und die Gegensätze in aller Schärfe aufscheinen lassen, um den Begriff der „Entscheidung“ zu erschweren: „damit er dauerhafter und gewissenhafter angewendet werde“.86 Dass sich die politischen Weltanschauungen dabei nicht mit den Programmen der offiziellen Parteien deckten, schloss die Redaktion der „Literarischen Welt“ schon aus der Tatsache, dass sich viele Bürger – und unter den Intellektuellen „geradezu die Majorität“ – nur „mit den stärksten Vorbehalten“ zu einer organisierten politischen Partei bekannten, wenn sie nicht überhaupt auf die Ausübung ihres Wahlrechts verzichteten.87 III. Gegen den Nationalsozialismus Dass Willy Haas und seine „Literarische Welt“ bei aller Reserve gegenüber dem politischen Tagesgeschehen und einem wenig verhohlenen „Antiparteienaffekt“88 keineswegs geneigt waren, die aktuellen Entwicklungen in Deutschland zu Beginn der dreißiger Jahre zu unterschätzen, zeigt kaum ein Artikel so deutlich wie das große Editorial, das der Herausgeber am 26. September 1930 unter dem Titel „Die Wahlen und wir“ veröffentlichte. Vorausgegangen waren die so genannten Septemberwahlen, die Hindenburgs Auflö84 Vgl. WILLY HAAS: Über Vielerlei, was mir wichtig scheint, in: Die Literarische Welt 7 (1931), Nr. 16. 85 W. HAAS: Welt (wie Anm. 13), S. 177. 86 DIE REDAKTION: Deutschland wie Sie sich es wünschen, in: Die Literarische Welt 6 (1930), Nr. 13. 87 Ebd. 88 F. BEILECKE: Linksrepublikanismus (wie Anm. 12), S. 291.

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sung des Reichstages notwendig gemacht hatte – die NSDAP erzielte am 14.9.1930 nicht weniger als 107 Mandate und avancierte damit (hinter der SPD mit 143 Sitzen) zur zweitstärksten Partei im Reichstag. Für Haas ist das Ergebnis ein wesentlicher Anlass, einmal mehr an die Solidarität der geistigen Menschen zu appellieren: „Dieses Wahlresultat ist der siegreiche Vormarsch derer, die gegen die Grundlagen des Denkens: gegen die Selbstverantwortlichkeit des Denkens, gegen den Wert des Denkens überhaupt, sind. Es geht gegen uns alle, welcher Partei immer wir angehören; es geht gegen die Intelligenz, es geht gegen die Bildung. Daß der Nationalsozialismus ein bewußter Vorkämpfer für den Barbarismus ist, werden sicherlich nicht einmal die intellektuellen Repräsentanten dieser Partei, z. B. ein Ernst Jünger, in Abrede stellen. Der bewußte Barbarismus ist der erste Sieger in dieser Wahl. Der zweite Sieger, der Kommunismus, wird gewiß den ersten nicht daran hindern, die Kultur, die er ‚bürgerlichʻ nennt [...] kurz und klein zu schlagen. Das steht fest. Aber wenn wir es uns genau überlegen: wer steht denn diesen Kräften bei uns entgegen? Wer wird uns denn schützen? Etwa die Vertreter des Kapitals? Sie haben jetzt wahrhaftig wichtigeres zu tun. Wegen solcher politischen Nebensächlichkeiten, wie es das Schrifttum ist, wird sich in solchen Zeiten keiner von ihnen den Kopf an der Wand einrennen. Gewiß, das Zentrum, die einzige erfolgreiche Partei der Mitte, hat geistige Interessen: aber wird es nicht vor Allem seine geistigen Interessen schützen, wird es die Neigung oder auch nur die Möglichkeit haben, in seine Arche andre als die nächsten Angehörigen aufzunehmen? Und sonst? ‚Rette sich, wer kannʻ ist die allgemeine Parole der geschlagenen Parteien. In solcher Situation belastet man sich nicht unnötig. Man nimmt nur das Lebensnotwenige mit. Dazu gehören heute leider nicht mehr die Bildung, nicht mehr geistige Interessen, nicht mehr die Kunst, nicht mehr die Literatur, nicht mehr die Philosophie. Wir stehen allein und völlig schutzlos da. [...]. [W]ir sind nur noch ein paar Menschen, die überhaupt wissen, worum es hier geht. [...] Es handelt sich überhaupt nicht um ‚Literaturʻ. Sondern es handelt sich darum, eine bestimmte Haltung zum Leben nicht ganz untergehen zu lassen: das Recht, sich frei zu bilden, das Recht, zu kritisieren, das Recht, zu denken, ja, das Recht, sein eigenes Gewissen zu haben, das Recht, sich nicht jeder Macht, bloß weil sie eine Macht ist, hinzugeben“.89

Und weiter:

„Man stellt sich die Dinge vielfach zu wenig konkret vor. Es geht nicht um die Disziplin des Denkens [...]. Es geht um ganz konkrete Dinge, z. B. darum, daß die (von der Wissenschaft längst widerlegte) Rassenlehre der Jugend allgemein gelehrt werden muß und nicht kritisiert werden darf; daß die Ansicht, auch dunkle Völker hätten Talente und Genies hervorgebracht, mit Verprügelung beantwortet wird; das Urteil, auch Ezechiel, Jesaja, Spinoza, Montaigne, Molière, Heine oder Jacques Offenbach seien begabt gewesen, mit Einflößen von Rhizinusöl; die Meinung, der Monotheismus sei in Palästina und nicht in Island entstanden, mit Entfernung vom Lehrstuhl; ein Angriff gegen Bartels90 mit der Hundepeitsche; daß Albert Einstein sogleich alle Mittel zur Forschung entzogen

89 WILLY HAAS: Die Wahlen und wir, in: Die Literarische Welt 6 (1930), Nr. 39. 90 Der Literarhistoriker Adolf Bartels (1862–1945), extremer Antisemit und Propagandist völkischen Schrifttums, war der Verfasser einer „Geschichte der deutschen Literatur“ (zuerst 1901/02, große Ausgabe in drei Bänden Leipzig 1924–1928), die im „Dritten Reich“ zu den Standardwerken der Germanistik avancieren sollte.

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werden; und es geht vor Allem, vor Allem darum, daß unsere Kinder vom siebenten Jahre an täglich in der Schule werden beten müssen, der Tag des Blutbades möge bald kommen“.91

Gegen die Bewahrheitung dieser erschreckend hellsichtigen Prognose hat Willy Haas bis zu seiner erzwungenen Emigration im Frühjahr 1933 angekämpft – mit den vertrauten publizistischen Mitteln. Bis zuletzt hielt er sein Ideal einer literarischen Zeitschrift aufrecht92, wobei es bei allem Bekenntnis zu einem offenen Diskurs weitgehend verfehlt wäre, die „Literarische Welt“ als einen sich selbst organisierenden diskursiven „Knoten in einem Netz“ zu betrachten, wie es neuere antihermeneutische Verfahrensweisen im Anschluss an Michel Foucault nahe legen.93 Die „Literarische Welt“ war in jeder Phase ein sehr kalkuliertes und weitgehend von den Intentionen des Herausgebers gesteuertes Medium. Es gibt keinen Grund, Haas nicht zu glauben, wenn er später schreibt: „Die ‚Literarische Weltʻ wurde redaktionell so gut wie niemals improvisiert, es wurde fast immer nach festen Plänen gearbeitet – ich halte auch heute nicht viel von Redaktionen, die täglich von der Hand in den Mund arbeiten und ihr ganzes Heil gleichsam vom Postboten erwarten“.94 Haas wusste, was er wollte und war sich natürlich auch der Tatsache bewusst, dass die „Literarische Welt“ bei aller programmatischen Offenheit und politischen Neutralität (oder gerade dadurch) ein „im Prinzip doch unverkennbar linksdemokratische[s] Blatt“95 darstellte. Aus heutiger Sicht ist sie das Dokument einer geistig und literarisch ungeheuer produktiven Epoche, in der die Möglichkeiten eines offenen Diskurses zuletzt mit einer Rasanz dahinschwanden, die kaum irgendwo so anschaulich nachzuvollziehen ist wie in der „Literarischen Welt“. Die letzte Rundfrage unter der Redaktion von Willy Haas veröffentlichte im Frühjahr 1933 eine Reihe von Meinungen zu dem Problem, ob es trotz aller Gegensätze noch eine Gemeinschaft der deutschen Schrift91 W. HAAS: Wahlen (wie Anm. 89). 92 Einige Emigranten warfen Haas vor, im Frühjahr 1933 zunächst eine zu kompromissbereite Haltung an den Tag gelegt zu haben; wie viele andere auch, glaubte Haas offenbar, die Nationalsozialisten würden sich nur kurzzeitig an der Macht behaupten, vgl. C. V. UNGERN-STERNBERG: Willy Haas (wie Anm. 8), S. 106. 93 Eine solche Sehweise fasst Viehöver knapp zusammen, ohne sie in ihrer eigenen Arbeit über die „Neue Rundschau“ konsequent einzulösen, vgl. V. VIEHÖVER: Diskurse (wie Anm. 4), S. 54–66. 94 W. HAAS: Nachwort (wie Anm. 23), S. 482. – Noch die harsche Selbstkritik am Layout der „Literarischen Welt“, die Haas im Rückblick übt (und die von der Forschung häufig geteilt wurde, vgl. z. B. B. MINTE-KÖNIG: Welt [wie Anm. 6], S. 397), lässt implizit erkennen, wie stark der Gestaltungswillen und der Einfluss des Herausgebers sich auf den drucktechnischen Aspekt auswirkten: „Ich hatte keine Ahnung von der Aufmachung einer Zeitungsseite, und niemand riet mir, wie das zu machen sei. Die Nummern starren von Druckfehlern, und die Artikel sind oft so gestellt, daß man gar nicht weiß, wo man weiterlesen soll“ (W. HAAS: Welt [wie Anm. 13], S. 175). 95 Ebd., S. 482.

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steller gebe. Das Ergebnis fiel so aus, dass die Redaktion einen Zusatz mit folgendem Wortlaut für nötig hielt: „Die Rundfragen der ‚Literarischen Weltʻ sind ein freies Forum; in ihnen werden Stimmen für und gegen gesammelt und sachlich, unpolemisch wiedergegeben. Das war uns immer eine Selbstverständlichkeit; sie heute nochmals ausdrücklich zu wiederholen, ist aber doch vielleicht nicht überflüssig.“96

Es war eine Zeit der schwindenden Selbstverständlichkeiten und so ist es auch nicht verwunderlich, dass die Umfrage – von einigen Bekenntnissen zum unoder überpolitischen Dichtertum abgesehen – in erster Linie das Ende der geistigen Solidarität unter den deutschen Schriftstellern markiert. Von „links“ etwa verweigerte Erik Reger die Zustimmung, weil er „die ‚Parteizerklüftungʻ in Deutschland nicht als eine Ursache, sondern als Folge der ungeordneten Zustände ansehe, die mit dem Krieg begonnen haben“; von deutsch-völkischer Seite her lehnte etwa Wilhelm Schäfer – 1931 eine Schlüsselfigur in den Auseinandersetzungen um die Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste97 – die Vorstellung einer „geistigen Front“ mit den internationalistischen „Asphaltliteraten“ ab; nichts mehr hätten „volkstümlich[e]“ und „volksfeindlich[e]“ Autoren miteinander gemein.98 Der „vollkommene Zerfall der deutschen Intelligenz“99 war eingetreten und kein simuliertes Kommunikationsforum konnte mehr darüber hinwegtäuschen. Willy Haas wurde im Frühjahr 1933 ins Exil getrieben; seit dem 21. April 1933 erschien „Die Literarische Welt“ unter der Redaktion von Eberhard Meckel, der es als neue Hauptaufgabe des Periodikums definierte „dem, was wahrhaft deutsches Schrifttum ist, in Ehrfurcht und Freude zu dienen“ und „die Werte lebendig sichtbar“ zu machen, „die den Geist unseres Volkes ausmachen und nähren“.100 96 [Anmerkung der Redaktion], in: Die Literarische Welt 9 (1933), Nr. 11/12. 97 Vgl. dazu ausführlich WERNER MITTENZWEI: Der Untergang einer Akademie oder Die Mentalität des ewigen Deutschen. Der Einfluß der nationalkonservativen Dichter an der Preußischen Akademie der Künste 1918 bis 1947, Berlin/Weimar 1992, S. 95–130. 98 Die Gemeinschaft der geistig Schaffenden Deutschlands. Eine Rundfrage zum „Tag des Buches“, in: Die Literarische Welt 9 (1933), Nr. 11/12. 99 W. HAAS: Welt (wie Anm. 13), S. 176. 100 EBERHARD MECKEL: [Vorspruch], in: Die Literarische Welt 9 (1933), Nr. 16. – Den großen Leitartikel dieser Ausgabe verfasste nicht zufällig PAUL FECHTER (Aufgaben und Ziele der deutschen Dichtung, in: ebd.), dessen weit verbreitete, völkisch und reaktionär getönte Literaturgeschichte in den letzten Monaten der Weimarer Republik Anlass scharfer Auseinandersetzungen gewesen ist. Franz Werfel hatte am 6. 12. 1932 beantragt, dass die Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste eine Warnung vor dieser literarhistorischen Darstellung formulieren solle – die breite Diskussion um diesen Antrag zeigte noch einmal paradigmatisch die Zerfallenheit der Sektion in ein „rechtes“ und ein „linkes“ Lager und wurde durch die Ereignisse vom Frühjahr 1933 überholt; vgl. dazu INGE JENS: Dichter zwischen rechts und links. Die Geschichte der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste dargestellt nach den Dokumenten. München 1971, S. 176–180.

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Die Umbenennung in „Das deutsche Wort (Die Literarische Welt, Neue Folge)“ ab April 1934 war insofern nur konsequent. IV. Fazit Dass die bundesdeutsche, seit 1953 zum Axel-Springer-Konzern gehörende Zeitung „Die Welt“, bei der Willy Haas nach der Rückkehr aus dem Exil 1947 zuerst als „Controller“ im Auftrag des britischen Auswärtigen Amtes, später und bis zu seinem Tod 1973 als Literaturkritiker tätig gewesen ist101, im Jahr 1998 ein wöchentliches Supplement unter dem Titel „Die Literarische Welt“ eingerichtet hat und den früheren Mitarbeiter durch die Stiftung des WELTLiteraturpreises ehrte102, ist ein angemessener Akt des Gedenkens. Willy Haas zählt sicher zu denjenigen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts, die den Primat der geistig-kulturellen Sphäre vor der tätig-politischen unter anderen zeithistorischen Umständen kaum in Frage gestellt hätten. Doch die Spätphase der Weimarer Republik und erst recht das Leben im Exil zwangen ihn zu einem politischen Bekenntnis gegen den Nationalsozialismus, wie er es in zahlreichen publizistischen Arbeiten unmissverständlich formuliert hat.103 Hier erweist sich seine Qualität als „Vernunftrepublikaner“: Trotz seiner Distanz zu parteipolitischem Engagement setzte sich Haas gegen republikfeindliche Tendenzen massiv zur Wehr – basierte doch seine Konzeption der „Literarischen Welt“ als eines offenen Forums auf der republikanisch-demokratischen Grundüberzeugung, dass das bessere Argument in der freien Diskussion gewinnt. Niemals neigte Haas dazu, die Habsburger oder die HohenzollernMonarchie zu idealisieren; „Die literarische Welt“ bemühte sich im Gegenteil (und mit erkennbar didaktischer Absicht) um eine Aufwertung deutscher republikanischer Traditionen, weil der Herausgeber sich über die Gefahren im Klaren war, die einem herrschaftsfreien Diskurs dort drohen, wo er in der politischen Mentalität ungenügend verankert ist und in der kommunikativen Praxis zu wenig eingeübt wird. In den Jahrzehnten einer ideologischen Radikalisierung vor, aber auch nach dem Zweiten Weltkrieg104 wurde die kultur-, 101 Über diese Zeit informiert am besten C. V. UNGERN-STERNBERG: Willy Haas (wie Anm. 13), S. 246–291. 102 Den Preis erhielten inzwischen: Bernhard Schlink, Imre Kertész, Pat Barker, Leon de Winter, Jeffrey Eugenides, Amos Oz, Yasmina Reza und Rüdiger Safranski. 103 Dabei wird insbesondere das Ausmaß seines antifaschistischen Engagements im indischen Exil erst durch die neu erschienene Biographie gebührend gewürdigt, vgl. C. V. UNGERN-STERNBERG: Willy Haas (wie Anm. 13), S. 199–245. 104 Vgl. ebd., S. 8: „Als Emigrant mit jüdischem Hintergrund war er für konservative Literaturwissenschaftler der jungen Bundesrepublik ein ‚rotes Tuchʻ. Für die frühe Exilforschung, die von meist linksorientierten Wissenschaftlern betrieben wurde, war er ebenfalls nicht von besonderem Interesse [...] und seine Tätigkeit für die ‚Springer-Presseʻ ab 1953 dürfte ebenfalls eher abschreckend gewirkt haben“.

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literatur- und mediengeschichtliche Bedeutung von Willy Haas häufig unterschätzt; von heute her gesehen, sollte seinem Einsatz für die Kultur der offenen, toleranten und undogmatisch geführten Diskussion jedoch nicht weniger Respekt gezollt werden als manchen „eindeutigeren“, aber auch einseitigeren Positionen, die das politische Spektrum in der Endphase der Weimarer Republik aufzuweisen hat.

Die Republik, eine „Notlösung“? Der preußische Kultusminister Carl Heinrich Becker im Dienste des Weimarer Staates (1918–1933) Béatrice Bonniot „Die Vernunft marschiert. Auch ich bin kein Republikaner aus Leidenschaft, sondern aus Vernunft. Die Republik war doch nur eine Notlösung. Make the best of it – ist unsere Aufgabe.“1 Über die politische Lage Deutschlands urteilte Carl Heinrich Becker (1876–1933) Anfang März 1925 mit dem ihm eigenen pragmatischen Optimismus und betonte zugleich auch sieben Jahre nach dem Zusammenbruch der Monarchie, dass sein Bekenntnis zur Republik nur bedingt war2. Dabei hatte im November 1918 der damalige Hochschulreferent im Kultusministerium, dessen Weltbild im Obrigkeitsstaat Wilhelms II. verwurzelt war, es doch „selbstverständlich für [s]eine Pflicht gehalten, auch trotz der veränderten Machtverhältnisse im Ministerium auszuharren“3. Als Staatssekretär bzw. parteiloser Kultusminister sollte der international anerkannte Orientalist und frühere Universitätsprofessor die preußische Wissenschaftsund Kulturpolitik der Weimarer Republik bis 1930 maßgeblich mitgestalten4. 1 2

3

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C. H. Becker an seinen engen Mitarbeiter und Freund Erich Wende, 15. März 1925, in Bundesarchiv Koblenz, Kl. Erwerbungen 369 (im Folgenden BA Koblenz, Kl. Erw. 369). „Man kann sich am Gedanken der Selbstverantwortung und der Gemeinschaftsverantwortung begeistern und damit die Republik bejahen, aber man kann doch von uns, die wir alle früher überzeugte Monarchisten waren, weil die Monarchie uns gross gemacht, nicht erwarten, dass wir uns für die Notlösung nach dem Zusammenbruch begeistern.“ (im Original hervorgehoben), Ebd. C. H. Becker an Bernhard Harms, 16. Januar 1919, in Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem (im Folgenden GStA) Rep. 92 C. H. Becker 840. S. auch C. H. Becker an seinen Freund Ernst Eisenlohr, 25. Februar 1919, in GStA Rep. 92 C. H. Becker 327: „Ich habe mich jetzt voll in den Dienst des Wiederaufbaus gestellt, weil ich es für ein Verbrechen halte, wenn man jetzt im Schmollwinkel steht oder sabotiert.“ Zu C. H. Beckers Leben und Wirken, s. u. a. GUIDO MÜLLER: Weltpolitische Bildung und akademische Reform. Carl Heinrich Beckers Wissenschafts- und Hochschulpolitik, 1908–1930, Köln 1991; HANS HEINRICH SCHAEDER (Hg.): Carl Heinrich Becker – ein Gedenkbuch, Göttingen 1950; KURT SONTHEIMER: Ein Mann des radikalen Humanismus. Carl Heinrich Becker zum hundertsten Geburtstag, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 86, 10/11. 04. 1976; ERICH WENDE: C. H. Becker – Mensch und Politiker. Ein biographischer Beitrag zur Kulturgeschichte der Weimarer Republik, Stuttgart 1959.

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I. „Das Rad der Geschichte rollt nicht rückwärts“ Entscheidend für die Bereitschaft Beckers, sich auf den Boden der Tatsachen zu stellen und auf die republikanische „Notlösung“ einzulassen, war über sein preußisch geprägtes Pflichtbewusstsein hinaus schlichtweg die Einsicht, dass es an einer (vernünftigen) Alternative mangelte. Allein die Republik schien in der Lage, die Ordnung im Reich zu wahren und das Schreckbild des Radikalismus abzuwenden. „All dieser demokratische Unfug muss eben ertragen werden“, schrieb Becker am 17. Juni 1919 aus Weimar, wo er im Auftrag des Kultusministeriums an den Verfassungsberatungen teilnahm, „weil er das einzige Mittel ist gegenüber der Regellosigkeit und dem Chaos“5. Auch mit der Notwendigkeit, radikale Ausschreitungen, namentlich von Seiten der USPD, zu verhindern, rechtfertigte Becker sein Verbleiben im Ministerium über den Zusammenbruch von 1918 hinaus. So müsse die Reform von „Sachverständigen“ geführt werden, da sonst „doktrinäre Überstürzung“ ein „heilloses Durcheinander“ zu erzeugen und folglich eine „gewaltsame Reaktion“ mit sich zu ziehen drohe.6 Als maßgebend für seine Akzeptanz der Republik erwies sich ebenfalls der Einheitsgedanke, der Beckers Vorstellung einer starken deutschen Nation zugrunde lag. Nicht umsonst plädierte der maßgeblich vom Ideal eines organischen Staates geprägte Hochschulreferent bereits in seinen 1919 veröffentlichten „Kulturpolitischen Aufgaben des Reiches“ für eine nationale Kulturpolitik auf Reichsebene, durch die allein der „Nationalfehler“ der Deutschen, sprich der „Partikularismus“, zu überwinden sei7: „Wir stehen vor der ungeheuer schwierigen Aufgabe, ein neues einigendes Band zu suchen, das uns über unseren Stammespartikularismus, über unsere konfessionelle Spaltung und über unsere berufsständische und soziale Gliederung hinaus zum Einheitsvolk werden läßt. (...) Unser ganzes Erziehungs- und Bildungsproblem muß unter diesen Gedanken gestellt werden.“8

In der Hauptsache ging es C. H. Becker demnach nicht um die Republik, sondern um das Vaterland, um das deutsche Volk, das „erstmal ideell zur Nation werden“9 müsse. Nicht die „Staatsnation“, sondern, unter Berufung auf den deutschen Idealismus, die „Kulturnation“, solle dabei ins Auge gefasst wer5 6 7

8 9

C. H. Becker an seinen Freund Ernst Eisenlohr, 17. Juni 1919, in GStA Rep. 92 C. H. Becker 327. C. H. BECKER: Die Zustände im Kultusministerium, ohne Datum, GStA Rep. 92 C. H. Becker 1370 (im Original hervorgehoben). C. H. BECKER: Kulturelle Selbstbehauptung, gedruckter Zeitungsartikel vom 22. November 1918 (ohne Angabe der Zeitung), in GStA Rep. 92 C. H. Becker 7676. Abdr. in: GUIDO MÜLLER (Hg.): Internationale Wissenschaft und nationale Bildung: Ausgewählte Schriften von Carl Heinrich Becker, Köln, 1997, S. 176–179, hier S. 177. C. H. BECKER: Kulturpolitische Aufgaben des Reiches, Leipzig, 1919. Abdr. in: G. MÜLLER: Wissenschaft (wie Anm. 7), S. 224–263, hier S. 228. C. H. Becker an Erich Wende, 8. September 1918, BA Koblenz, Kl. Erw. 369.

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den.10 Der deutschen Nation im Werden bot Becker kein staatstheoretisches Fundament, allenfalls wurde hinter seiner Aufforderung zur kulturellen Selbstbehauptung der Wunsch laut, Deutschland möge den ihm eigenen Weg gehen zwischen dem „Terror des Bolschewismus, der das Ende der Kultur bedeuten würde“, und den „ihrem Wesen nach kapitalistisch[en] und unsozial[en] Demokratien des Westens“.11 Wie mancher „Herzensmonarchist“, der nach den bekannten Worten Friedrich Meineckes zum „Vernunftrepublikaner“12 wurde – bzw., so Christoph Gusy, zum „Verlegenheitsrepublikaner“13 –, erblickte auch Becker in der Republik die einzige, und somit die beste Chance, nach dem Zusammenbruch der Monarchie der deutschen Nation zum friedlichen Wiederaufbau zu verhelfen. Ähnlich dem Orleanisten Adolphe Thiers (1797– 1877) nach der Pariser Kommune trat er in den Dienst der Republik als des integrationsfähigsten Regimes ein: „La République est le gouvernement qui nous divise le moins“, so das berühmte Wort des späteren ersten Präsidenten der dritten französischen Republik. Die Republik empfand Becker darüber hinaus als historisch unvermeidlich und trug, indem er dem neuen Regime den Charakter der Kontinuität verlieh, zu ihrer Legitimierung bei. Hatte er bereits 1916 die „unausbleibliche Demokratisierung Deutschlands“ als die „einzig sichere Kriegsfolge“14 betrachtet, so erklärte er 1919, das „Rad der Geschichte“ rolle „nicht rückwärts“ und man dürfe daher „keine Wiederherstellung des Deutschlands von 1914 erwarten“15. Es heiße nun, nach vorne zu schauen und neu aufzubauen, ohne dafür allerdings das Vergangene zu verachten. Seine zum Teil kritische Haltung zum Kaiserreich pflegte Becker, der es sich zur „Lebensaufgabe“ gemacht hatte, die „Werte der alten Welt hinüberzuretten in eine neue“16, metaphorisch zu veranschaulichen: Die Republik sei die „Entwicklungsform des Mannesalters eines Volkes“17, folglich hätten mit ihr die „Kinder von ehedem“ nun ihr „Schicksal selbst in die Hand genommen“18. Der vom Obrigkeitsstaat ver10 C. H. BECKER: Aufgaben (wie Anm. 8), S. 256. In diesem Sinne würdigte Becker „Fichtes prophetische Gestalt“, Ebd., S. 261. 11 C. H. BECKER: Selbstbehauptung (wie Anm. 7), S. 178. 12 s. FRIEDRICH MEINECKE: Verfassung und Verwaltung der deutschen Republik, in: Die neue Rundschau, Januar 1919. Abdr. in: Politische Schriften und Reden (Hg. von Georg Kotowski), Stuttgart 1966, S. 281: „Ich bleibe, der Vergangenheit zugewandt, Herzensmonarchist und werde, der Zukunft zugewandt, Vernunftrepublikaner“. 13 s. dazu seinen Beitrag in diesem Band. 14 C. H. Becker an Hans Nolte, 9. Juni 1916, in GStA Rep. 92 C. H. Becker 3167. 15 C. H. BECKER: Aufgaben (wie Anm. 8), S. 256. 16 C. H. Becker an Johannes Pedersen, 5. Juni 1920, in GStA Rep. 92 C. H. Becker 2257. 17 C. H. Becker an den Chefredakteur des Berliner Tageblatts Theodor Wolff, 4. Juni 1929, in GStA Rep. 92 C. H. Becker 5183. 18 C. H. BECKER: Ansprache bei dem Herbstfest der Deutschen Demokratischen Partei, 16. Oktober 1926, in GStA Rep. 92 C. H. Becker 184: „Wir ehren uns selber, wenn wir der Vergangenheit ihre Größe nicht schmälern. Wir stehen zu ihr wie die Kinder zum Eltern-

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schuldeten Unmündigkeit des deutschen Volkes setzte somit Becker die Erziehung zur Selbstverantwortung als Stichwort der Republik entgegen19. Entsprechend seinem Verständnis der Geschichte als einer fortschreitenden Entwicklung nahm Becker allerdings auch die Republik als verbesserungsfähig bzw. -bedürftig wahr: „Was 1919 eine große Tat war, bekommt dadurch noch nicht Ewigkeitswert, sondern unterliegt in ruhigeren Zeiten ganz naturgemäß dem geschichtlichen Wandel und einer Kritik, die schöpferisch sein muß, um zu wirken.“20 Namentlich Parlamentarismus und Parteiwesen, wenn auch nicht an sich, sondern in der politischen Praxis der jungen Republik, begegnete Becker mit gleich großer Skepsis, weigerte er sich doch zeitlebens, einer politischen Partei beizutreten: „Der unpolitische, rechthaberische, schulmeisterliche Sinn des Deutschen feiert leider im Parteiwesen seine Orgien. Wer rein sachliche Politik erstrebt, wie ich, steht manchmal mit gerungenen Händen daneben und sieht, wie die Parteileidenschaft alles wieder zerschlägt, was vernünftige, sachlich denkende Menschen eben mit Mühe zusammengebracht haben. Man fühlt sich versucht, nach dem Diktator zu schreien, aber leider bleibt seit Plato die Herrschaft der Weisen und Sachverständigen eine Utopie, und man muss sich darauf einrichten, mit unvollkommenen Mitteln und noch unvollkommeneren Menschen etwas halbwegs Vernünftiges zu bringen.“21

Seinem Nachfolger, dem Sozialdemokraten Adolf Grimme gegenüber bedauerte Becker im September 1932 nach wie vor die Unmöglichkeit, mit den Parteien „vernünftige Reformen“ zu machen.22 In diesem Sinne hatte er nach dem Zusammenbruch der Monarchie die Gründung einer „Partei der vernünftigen Leute zum Wiederaufbau aus allen Lagern“23 heraufbeschworen.

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haus. Aber wir Kinder von ehedem sind jetzt Erwachsene geworden. Wir haben unser Schicksal selbst in die Hand genommen.“ Zu Beckers Verhältnis zur jüngsten Geschichte des Kaiserreiches s. auch C. H. BECKER: Gedenkrede auf Friedrich Ebert, in: Vossische Zeitung vom 4. März 1925, in GStA Rep. 92 C. H. Becker 7698: „Unser historisches Schicksal ist es gewesen, daß wir nicht im Unglück, aber im Glück eines wirtschaftlich unerhörten Aufschwungs und außenpolitischer Erfolge sondergleichen unter der genialen Führung eines Bismarck das persönliche Verantwortungsgefühl gegenüber dem Staat und seiner Gestaltung zurückstellten, ja verloren. Erst der furchtbare Krieg und der erschütternde Zusammenbruch haben uns unser politisches Verantwortungsgefühl wiederfinden lassen.“ Zitat aus dem Jahre 1929, nach ERICH WENDE: Der Kulturpolitiker, in: H. H. SCHAEDER: Gedenkbuch (wie Anm. 4), S. 23. C. H. Becker an Hans Riegel, 19. Februar 1920, in GStA Rep. 92 C. H. Becker. S. auch C. H. Becker an seinen Freund Ernst Eisenlohr am 17. Juni 1919, in GStA Rep. 92 C. H. Becker 327: „Überhaupt ist der Parlamentarismus, wie er sich jetzt auslebt, einfach unerträglich.“ C. H. Becker an Adolf Grimme, 16. September 1932, in GStA Rep. 92 C. H. Becker 515. C. H. Becker an H. de Boor, 10. Januar 1919, in GStA Rep. 92 C. H. Becker 7910.

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II. „Wir brauchen jetzt eine Partei der vernünftigen Leute“ Blieb auch die „Partei der vernünftigen Leute“ lediglich eine Wunschvorstellung, so war Becker doch stets bemüht, seine politische Praxis an der Vernunft zu orientieren. Auffallend häufig begegnet man, namentlich in seiner politischen Korrespondenz, den Begriffen „Vernunft“ bzw. „vernünftig“, die er allerdings zur Kennzeichnung eines breitgefächerten Spektrums an Situationen oder Persönlichkeiten verwendet. So heißt es Anfang 1919 vom sozialdemokratischen Kultusminister Konrad Haenisch, er sei „recht gut, da er vernünftig [sei], einen hohen idealen Schwung [habe und] nichts überstürzen“ wolle.24 Haenischs Nachfolger wiederum, der Volksparteiler Boelitz, sei „viel vernünftiger, als er nach den Pressekommentaren der Linken zu sein“ scheine.25 Mit ihm lasse sich „ausgezeichnet arbeiten, da er ein sachkundiger und sachlicher Mann“ und „für einen vernünftigen und gesunden Fortschritt [sei], wie ich auch“.26 Sein „starkes Vertrauen“ in Gustav Stresemann als einen „der befähigsten leitenden Köpfe nach der Revolution“ führte Becker ebenfalls in erster Linie auf dessen gemäßigte Einstellung zurück: „Was mir an Stresemann so gefällt, ist sein vernünftiges Masshalten.“27 Die „reaktionären Parteien“ hingegen seien „doch im wesentlichen Sentimentsparteien“28, und so fürchtete Becker auch anlässlich der Reichspräsidentschaftswahlen 1925 die Wiederwahl Hindenburgs: „Wird Hindenburg gewählt, wird niemand mehr von der Rationalität des deutschen Volkes reden dürfen. Dann ist es ein reiner Erfolg des Sentiments.“29 „Vernünftig“ war demnach für Becker der „rationale“ Weg, der sich oft als der mittlere Weg erwies, als der Weg der Kompromissbereitschaft, des konstruktiven Pragmatismus, der Weg vorsichtiger, sachlich motivierter Reformen. So begrüßte er das Zustandekommen der Weimarer Koalition, von der er sich eine Milderung der parteipolitischen Gegensätze erhoffte, und sah sich als „unpolitischer“ – vom organischen Staatsgedanken geprägter – Minister zu einer Vermittlerrolle berufen, schlossen sich doch „parteitaktische“ und „vaterländische“ Gesichtspunkte seiner Meinung nach meistens aus. Kennzeichnend ist in dieser Hinsicht die Tatsache, dass seine Reformentwürfe für die Hochschule sowohl vom sozialdemokratischen Minister Haenisch wie auch von dessen Nachfolger Boelitz (DVP) gebilligt wurden. In diesem Sinne 24 C. H. Becker an H. de Boor, 10. Januar 1919, in GStA Rep. 92 C. H. Becker 7910. 25 C. H. Becker an seinen Schüler Hans Heinrich Schaeder, 17. November 1921, in GStA Rep. 92 C. H. Becker 3834. 26 C. H. Becker an Hans von Schubert, 14. Januar 1922, in GStA Rep. 92 C. H. Becker 6081. 27 C. H. Becker an seinen Schwager Paul von Schmid, 2. Oktober 1923, in GStA Rep. 92 C. H. Becker 3912. 28 C. H. Becker an den Schweizer Orientalisten J. J. Hess, 19. Dezember 1924, in GStA Rep. 92 C. H. Becker 4029. 29 C. H. Becker an Erich Wende, 26. April 1925, in BA Koblenz, Kl. Erw. 369.

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strebte er die Neutralisierung seines Ressorts an, die er in Anspielung auf den demokratischen Reichswehrminister Otto Geßler (DDP) auch als „VerGessler-isierung des Kultusministeriums“ herbeiwünschte30. Diese Haltung bezeichnete Becker allerdings selber als „Anachronismus“, ja gar als Utopie in einem Zeitalter, wo „alles nach Parteiarithmetik“ gehe.31 So schrieb er im Januar 1922 nach seiner kurzweiligen Ministertätigkeit im Minderheitskabinett Stegerwald (Februar bis November 1921): „Ich hatte versucht, die Unterrichtsverwaltung zu neutralisieren und wäre am liebsten ein solch neutralisierter, dem Parteigewoge entzogener Minister geblieben. Unsere Zeit ist dafür aber noch nicht reif, d. h. ich glaube nicht, dass sie noch je dazu reif werden wird.“32 An den pädagogischen Charakter des demokratischen Verfahrens glaubte Becker allerdings durchaus, wie auch daran, dass „das Vernünftige und Gute sich mit einer gewissen Naturnotwendigkeit (...) durchsetzt“33. In diesem Sinne war gerade die Reformfähigkeit der Republik für ihn auch ein Grund, dem neuen Staat eine Chance zu geben, und die Erziehung zur Selbstverantwortung daher ein zentrales Motiv seiner Aktion. III. „Deshalb muss nicht immer die Weimarer Verfassung verherrlicht werden (...), sondern die Erziehung zur Selbstverantwortung“ 34 Als Reaktion auf das Versagen des „zweifellos bankrotten“35 Obrigkeitsstaates forderte Becker im Sinne Wilhelm von Humboldts die Erziehung des nunmehr mündigen Individuums zum verantwortungsbewussten Staatsbürger und dessen Mitarbeit am neuen Staat. Bewusst und freiwillig solle die deutsche Jugend in den neuen Staat hineinwachsen:

30 s. C. H. Becker an Erich Wende, 18. Januar 1925, in BA Koblenz, Kl. Erw. 369: „Denn die Ver-Gessler-isierung des Kultusministeriums war ja immer mein Ziel.“ Trotz vierzehn wechselnder Regierungskoalitionen behielt Otto Geßler seinen Posten eines Reichswehrministers zwischen 1920 und 1928. 1927 trat er allerdings aus der Deutschen Demokratischen Partei aus. 31 C. H. Becker an Erich Wende, 1. Juni 1924, in BA Koblenz, Kl. Erw. 369. 32 C. H. Becker an den Hochschulprofessoren Franz Joseph Fischler, 14. Januar 1922, in GStA Rep. 92 C. H. Becker 665. Überhaupt sei das deutsche Volk „noch nicht reif zu vernünftiger Realpolitik“, urteilte Becker Ende 1924, s. C. H. Becker an den Schweizer Orientalisten J. J. Hess, 19. Dezember 1924, in GStA Rep. 92 C. H. Becker 4029. 33 C. H. Becker an den Sozialdemokraten Christoph König, 26. März 1924, in GStA Rep. 92 C. H. Becker 5827. 34 C. H. Becker an Erich Wende, 15. März 1925, in BA Koblenz, Kl. Erw. 369. 35 C. H. BECKER: Gedanken zur Hochschulreform, Leipzig 1919. Abdr. in: G. MÜLLER: Wissenschaft (wie Anm. 7), S. 180–223, hier S. 181. Die „Gedanken zur Hochschulreform“ erschienen zunächst zwischen dem 24. November 1918 und dem 17. März 1919 unter der Form von sechs Artikeln in der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“.

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„Der republikanische Gedanke darf nicht von aussen, von dem Zwang der Verfassung her, sondern er muss von innen heraus, vom neuen Zeitgeist, vom neuen Menschen her der Jugend nahe gebracht werden. Ich habe viel mehr Glauben an die Zukunft der Republik als die ganze freisinnige Presse, die in Nachäffung Bismarckscher Methoden nun per ordre de Mufti republikanische Gesinnungsmacherei mit ‚drakonischen‘ Methoden betrieben haben will, ohne zu bedenken, dass sie damit eine wirklich echte, auf der Selbstverantwortung aufgebaute Demokratie einfach totschlägt und sich der gleichen Methoden bedient, gegen die sie im alten Staat nicht genug hat eifern können.“36

Dementsprechend wies die reformatorische Praxis des liberal gesinnten Ministers sowohl in ihrer Form wie auch in ihrem Inhalt einen dialog- bzw. konsensorientierten Charakter auf. Namentlich in der Vorbereitung und Durchführung seiner Schul- und Hochschulpolitik ließ Becker eine stark demokratisch geprägte Herangehensweise erkennen. So sieht Jacques Gandouly in der 1920 in Berlin veranstaltete Reichsschulkonferenz, die über 700 Teilnehmer zum fachlichen Austausch zusammenkommen ließ, bemerkenswerte Formen demokratischen Lebens in Erscheinung treten:

„On voit donc que la démarche adoptée se caractérise par la consultation qui précède la prise de décision et par la volonté de respecter une certaine autonomie des Etats : il s’agit plus de convaincre que d’imposer. Dans ce domaine de la recherche d’un consensus sur la réforme de l’enseignement, l’Allemagne de Weimar présente des formes remarquables de vie démocratique.“37

Ähnliches gilt für die Hochschulreform: „Grundprinzip sollte Kooperation, nicht Konfrontation sein“38. So rief Becker zur „vertrauensvolle[n] Zusammenarbeit zwischen Universitäten und Regierung“ auf und äußerte dabei den Wunsch, die Reformen mögen „von den Hochschulen selbst“39 ausgehen. In diesem Sinne wollte Becker seine 1919 veröffentlichten „Gedanken zur Hochschulreform“ in erster Linie als „Diskussionsbasis“ verstanden sehen. In dem Bewusstsein, dass durch den Zusammenbruch von 1918 die politische Freiheit dem notwendigen Lern- und Aufklärungsprozess der politischen Bildung vorausgegangen war, hoffte er, namentlich durch die Veröffentlichung dieser Zeitungsartikel durch die Pädagogik des Beispiels zu wirken: 36 C. H. Becker an Erich Wende, 15. März 1925, in BA Koblenz, Kl. Erw. 369. 37 JACQUES GANDOULY: Les systèmes éducatifs en France et en Allemagne de 1870 à 1918, in: ILJA MIECK / PIERRE GUILLEN (Hg.): Nachkriegsgesellschaften in Deutschland und Frankreich im 20. Jahrhundert, München 1998, S. 145–159, hier S. 151. 38 WOLFGANG W. WITTWER: Hochschulpolitik und Hochschulreform in Preußen 1918 bis 1933, in: HARTMUT BOOCKMANN / KURT JÜRGENSEN / GERHARD STOLTENBERG (Hg.): Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Karl Dietrich Erdmann, Neumünster 1980, S. 313–325, hier S. 317. 39 C. H. BECKER: Gedanken (wie Anm. 35), S. 183 und S. 221–222. Demnach hieß es in dem vom Kultusminister Haenisch unterzeichneten preußischen Reformerlass vom 17. Mai 1919, dass die Reform auf dem Wege der „vertrauensvollen Aussprache“ zwischen Hochschulen und Ministerium vereinbart werden sollte, zitiert nach W. W. WITTWER: Hochschulpolitik (wie Anm. 38), S. 317.

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Béatrice Bonniot „Das Gros der Beamtenschaft steht allerdings der neuen Zeit ziemlich hilflos gegenüber. (...) Den meisten fällt es schwer, im Chef nicht mehr die Exzellenz zu sehen und die Verantwortung selbst zu tragen. Im alten Regime wäre es ziemlich unmöglich gewesen, dass man über ein aktuelles Problem des Ressorts ohne Fühlungnahme mit dem Minister öffentlich das Wort ergreift, wie ich es jetzt mit meinen Artikeln in der Deutschen Allgemeinen Zeitung gemacht habe (...). Mir ist das neue Verfahren der Öffentlichkeit sehr willkommen und ich bin gern bereit, mich über alle Berufungen öffentlich zur Rede stellen zu lassen. Ich sehe das Gute der neuen Zeit und mache es gern mit.“40

Nicht nur formell, sondern auch inhaltlich spiegelte die Reform den Einfluss demokratischen Gedankengutes wider. Es seien hier einige Beispiele genannt. So zeugen etwa Beckers Bemühungen im Sinne einer Neugestaltung des Verhältnisses zwischen beamteten Professoren und freiberuflichen Privatdozenten von dem Willen, die Personalstruktur an den Universitäten zu demokratisieren, wenn auch die Maßnahmen zur Verbesserung der materiellen Lage der Privatdozenten nur in Ansätzen verwirklicht werden konnten.41 Ebenfalls demokratisierend sollte die Förderung der politischen Bildung wirken, für die sich Becker allerdings bereits vor dem Ende des Ersten Weltkrieges eingesetzt hatte. Davon versprach er sich die Grundlagen für ein unerlässliches „staatswissenschaftliches Verstehen der Gegenwart“ und die Ausbildung von „weltpolitisch gebildete[n] Staatsbürger[n]“, wodurch auch die Rekrutierung der politischen Führungselite ermöglicht werden solle.42 Schließlich sei die Neuorganisation der Studentenschaft genannt, die Becker besonders ans Herz gewachsen war, diagnostizierte er doch 1919, dass deren „Uninteressiertheit (...) an allgemeinen akademischen Fragen (...) ebenso grenzenlos wie charakteristisch als ein getreues Spiegelbild der politischen Teilnahmslosigkeit der gesamten deutschen Intelligenz“ 43 sei. Über ihren gemeinschaftsbildenden Charakter hinaus besaßen in Beckers Augen studentische Selbsthilfe wie auch Interessenvertretung, Mitverwaltung und Mitverantwortung der Studenten innerhalb der Universität einen hohen erzieherischen Wert, weshalb er sie nach Kräften unterstützte. In dieser Frage sollte der preußische Kultusminister allerdings eine schwere Niederlage hinnehmen. Angesichts der zunehmenden völkisch-großdeutschen Orientierung der Studentenschaft stellte Becker im Dezember 1927 den preußischen Studenten 40 C. H. Becker an H. de Boor, 10. Januar 1919, in GStA Rep. 92 C. H. Becker 7910. 41 s. dazu G. MÜLLER: Bildung (wie Anm. 4), S. 287–324. 42 C. H. BECKER: Die Denkschrift des preußischen Kultusministeriums über die Förderung der Auslandsstudien (1917), Drucksachen des Preußischen Abgeordnetenhauses, 22. Legislaturperiode, IV. Session 1916/1917. Nr. 388, 24. 01. 1917, Sp. 3114–3119. Abdr. in: G. MÜLLER: Wissenschaft (wie Anm. 7), S. 157–175, hier S. 162 und S. 157 (im Original hervorgehoben). Zu Beckers Förderung der politischen Bildung s. auch BÉATRICE BONNIOT: Von der politischen Bildung zur Politikwissenschaft. Der Beitrag Carl Heinrich Beckers zur Entstehung einer neuen wissenschaftlichen Disziplin (Tagung „La naissance des sciences politiques en Allemagne“, Paris 2006, noch nicht erschienen); G. MÜLLER: Bildung (wie Anm. 4), S. 142–172 und S. 338–353. 43 C. H. BECKER: Gedanken (wie Anm. 35), S. 215.

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das Ultimatum, entweder bei der Regelung der Zugehörigkeit zugunsten des ausschließlichen Staatsbürgerprinzips auf das Rassenprinzip zu verzichten oder die seit dem Erlass des preußischen Studentenrechts im September 1920 gewährte staatliche Anerkennung einzubüßen. Bei der Abstimmung am 30. November 1927 lehnten es drei Viertel der Studenten ab, den sogenannten „Arierparagraphen“ aufzugeben, was die Auflösung der Studentenschaft als einer staatlich anerkannten Körperschaft bedeutete. So führte das „demokratische Instrument der Urabstimmung (...) in einem antirepublikanisch gesinnten Umfeld zu einer Niederlage für die Rechtsauffassung des Kultusministeriums“44, urteilt Wolfgang Wittwer, der in Bezug auf die Hochschulpolitik allgemein auf die Unzulänglichkeit bzw. das Scheitern von Beckers liberalem Angebot schließt: „Die Konzeption, die Autonomie der Hochschulen zu stärken, ihnen also mehr Freiheit gegenüber dem Staat zu geben, war gedacht als Instrument, Vernunft und Einsicht für die neuen politischen Verhältnisse als freiheitliche Entwicklung zu erzeugen. Sie bewährte sich in konkreten Konfliktsituationen nicht. (...) So war der demokratische Staat auf Grund seiner eigenen Prinzipien dort hilflos, wo er sich hätte verteidigen müssen.“45

Über die grundsätzliche Frage, wie die Demokratie mit ihren Feinden umzugehen habe, lässt sich ex-post sicherlich leichter urteilen, als die Zeitgenossen es vermochten. Das Verschwinden der politischen Vernunft ab Ende der Zwanziger Jahre blieb allerdings nicht ohne Einfluss auf Beckers Selbstverständnis und seinen Bezug zur Republik. IV. „Ich habe (...) Vertrauen in die gesunde Vernunft des deutschen Volkes“ Namentlich aus der Überzeugung heraus, dass man „viel mehr mit der Suggestionskraft der Republik arbeiten“46 solle, identifizierte sich Becker in der zweiten Hälfte der Zwanziger Jahre in seinem öffentlichen Diskurs zunehmend mit den „Republikanern“.47 In einem Brief vom Juli 1931 an den Chefredakteur der „Vossischen Zeitung“ Julius Elbau bezeichnete er sich sogar als einen 44 W. W. WITTWER: Hochschulpolitik (wie Anm. 38), S. 318. Zu Becker und der Studentenschaft s. auch G. MÜLLER: Bildung (wie Anm. 4), S. 311–324. 45 W. W. WITTWER: Hochschulpolitik (wie Anm. 38), S. 322. 46 C. H. Becker an Erich Wende, 15. März 1925, in BA Koblenz, Kl. Erw. 369. 47 So z. B. anlässlich einer Ansprache beim Herbstfest der Deutschen Demokratischen Partei am 16. Oktober 1926, in GStA Rep. 92 C. H. Becker 184: „Wir Republikaner haben es leicht, uns der neuen Zeit zu freuen, aber so energisch wir uns jede Sabotage der Republik verbitten müssen, so weitherzig wollen wir sein, die noch Fernstehenden brüderlich demokratisch zu uns hinüberzuziehen. Denn die Zukunft gehört uns ja doch.“

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„leidenschaftlichen Freund der Republik“48, wobei dieser Enthusiasmus durch den zurückhaltenderen Ton seines privaten Briefwechsels relativiert werden muss. Angesichts der Radikalisierung des politischen Lebens beteuerte Becker bis in die Anfänge der Dreißigerjahre hinein immer wieder sein „Vertrauen in die gesunde Vernunft des deutschen Volkes“49. Nach seinem durch die Sozialdemokraten erzwungenen Rücktritt aus dem Kultusministerium im Januar 1930 zog er sich aber fast vollständig aus der Politik zurück und nahm bis kurz vor seinem plötzlichen Tod im Februar 1933 zum tagespolitischen Geschehen nicht mehr öffentlich Stellung. Stattdessen übernahm er als eine Art Emigrant die Rolle eines Botschafters des deutschen Geistes, indem er auf zahlreichen Vortragsreisen weltweit für das intellektuelle Deutschland warb und sich der Pflege der internationalen Beziehungen, unter anderem auch im Auftrag des Völkerbundes, widmete. Aus seiner Beobachterstellung begrüßte Becker zeitweilig die Aufhebung des Parteiensystems50 und den „Einbruch der Gewalt in der Form des Papen-Schleicher’schen Experiments“, rückte jedoch bald enttäuscht und „entsetzt“ von dem Kabinett Papen als einem „deutschnationale[n] Parteikabinett reaktionärster Observanz“51 ab. Bei aller Abneigung gegen die „immer radikaler werdende (...) Hitler-Bewegung“, die er als „grosse Gefahr“52 erkannte, wollte er diese jedoch nicht ernst nehmen und schätzte die Situation fehl ein. So schrieb er noch am 13. Januar 1933: „Dem politischen Wandel der Dinge stehe ich abwartend, wenn auch meinem Wesen entsprechend, nicht ohne Optimismus gegenüber. Es zeigt sich doch jetzt, dass die Rechte auch nicht diese unbegrenzte Reserve an Köpfen hat, von der sie immer geredet, sondern es geht auf die Dauer eben doch nur, wenn man die besten Leute von allen Seiten zusammenholt.“53

Demnach prägte der Einheitsgedanke Becker nach wie vor. Seiner protestantisch-preußischen Verantwortungsethik entsprechend hatte er nach dem Zusammenbruch der Monarchie den neuen Staat aus Einsicht mitgetragen und für ihn in dem Maße geworben, wie seine liberale Überzeugung, der Glaube an die Republik könne niemandem aufgezwungen werden, sondern müsse namentlich durch politische Bildungsarbeit und demokratische Praxis überzeugen, es zuließ. In diesem Sinne ist Beckers Selbstverständnis als „Vernunftrepublikaner“ nicht nur mit einer bewussten Einschränkung seiner politischen Erwartungen gleichzusetzen, sondern vielmehr mit dem pragmatischen 48 C. H. Becker an Julius Elbau, 7. Juli 1931, in GStA Rep. 92 C. H. Becker 2663. 49 C. H. Becker an Max Haas, 12. Januar 1931, in GStA Rep. 92 C. H. Becker 771. 50 s. C. H. Becker an seinen Freund Eisenlohr, 12. November 1932, in GStA Rep. 92 C. H. Becker 327: „Manches Vernünftige geschieht ja jetzt, wo man die Parteien los ist, was die Kabinette schon zu meinen Zeiten beredet und beschlossen hatten, aber dank der Parteiwirtschaft nie Wirklichkeit werden konnte“. 51 Ebd. 52 C. H. Becker an Julian Morgenstern, 26. November 1932, in GStA Rep. 92 C. H. Becker 5487. 53 C. H. Becker an Max Haas, 13. Januar 1933, in GStA Rep. 92 C. H. Becker 771.

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Versuch, aus den gegebenen Umständen das Beste zu entwickeln. Einer vollen Identifikation mit dem Parlamentarismus stand allerdings seine stark geprägte organische Staatsauffassung im Weg und ließ ihn daher das Ausmaß der Gefahr verkennen, die dem republikanischen Staat zu Beginn der Dreißigerjahre drohte. Mit den politischen Krisenjahren der Weimarer Republik fiel die durch Beckers Rücktritt im Januar 1930 herbeigeführte biographische Zäsur zusammen, welche eine Phase des fast völligen Rückzugs aus der Tagespolitik einleitete. Vor diesem Hintergrund ließ seine Entscheidung, der deutschen Nation nunmehr durch die Pflege der internationalen Wissenschaftsbeziehungen zu dienen, Becker die Erosion der Weimarer Republik gewissermaßen „aus der Loge betrachten“54.

54 C. H. Becker an Max Haas, 13. Januar 1933, in GStA Rep. 92 C. H. Becker 771: „Ich bin in der Situation (...) absoluter Saturiertheit und glaube den Anspruch darauf erworben zu haben, die Dinge auch eine Zeit lang aus der Loge zu betrachten.“

Republikanismus aus Alternativlosigkeit. Zum Demokratiedenken Gabriele Tergits Sylke Kirschnick Im Herbst 1931 erschien im Berliner Rowohlt Verlag Gabriele Tergits Roman „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“. Später erinnerte sich die für das „Berliner Tageblatt“, den „Berliner Börsen Courier“, die „Vossische Zeitung“ und die „Weltbühne“ arbeitende Journalistin Elise Reifenberg, die seit ihrem Studium unter dem Pseudonym „Gabriele Tergit“ publizierte, beifälliger Kommentare von rechts und links. Hatten Nationalsozialisten der Autorin des „Käsebier“ eine Affinität zu Tugenden und Werten bescheinigt, so wurde ihr in der kommunistischen Presse neben einem „Sinn für Sauberkeit“ auch der Glaube an „ein liberales Gesellschaftsideal“ attestiert und die Absicht zugebilligt, die „kapitalistische Welt“ für „Entartung“ zu „bestrafen, um sie zu bessern“.1 Eingedenk der Zurückweisung, die Faschismus und Kommunismus bereits im zweiten Romankapitel erfuhren, mag die Anerkennung verwundern.2 Beide Befunde waren indes weder völlig zutreffend noch ganz abwegig. I. Wertkonservatismus und Kapitalismuskritik Tergits Romanerstling sollte den Worten seiner Autorin zufolge eine „Satire auf den ‚Betriebʻ“ werden, den sie „für den Zerstörer aller echten Werte hielt“.3 Doch geriet die kultur- und kapitalismuskritische Darstellung der Reklametechniken, des Zeitungsmilieus und seiner Akteure in der beginnenden Phase der Auflösung der Weimarer Republik – im Roman reicht der Zeitraum von Anfang 1929 bis Mitte Mai 1931 – entschieden nuancierter als es die Form der Satire erlaubt. Um die ruinösen Wirkungen des „Betriebes“ zu betonen, kombinierte die Autorin kontrastierende Erfolgs- und Verfallsgeschichten. Mit diesen stehen in den Dialogen zugleich immer ein bestimmter Habitus und ein Ensemble von Werten zur Diskussion. Das emphatische Beharren auf Tu1 2 3

GABRIELE TERGIT: Etwas Seltenes überhaupt. Erinnerungen, Frankfurt a. M. 1983, S. 80. GABRIELE TERGIT: Käsebier erobert den Kurfürstendamm, Frankfurt a. M. 1977, S. 20f. Tergit gebrauchte die Bezeichnungen Faschismus und Nationalsozialismus im „Käsebier“ unterschiedslos. G. TERGIT, Seltenes (wie Anm. 1), S. 76.

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genden wie Anständigkeit oder Ehre, auf Werten wie Vernunft, Humanität, Wahrheit, Bildung und Leistung, sowie auf dem Grundprinzip der Freiheit im „Käsebier“ bekundete einen Wertkonservatismus4 als Haltung des Bewahrens und Festhaltens gegenüber dem auch demokratietheoretisch begründeten Werterelativismus der Zwischenkriegszeit.5 Tergits Wertegerüst, in dem die einzelnen Elemente als aufeinander bezogen zu denken sind, stand in der Tradition des bürgerlich-liberalen Unternehmermilieus des 19. Jahrhunderts.6 Deshalb lassen sich zur praktischen Vernunft im Sinne Kants allenfalls vermittelt Bezüge herstellen. Als Sinnbild der Entwertung aller Werte gebrauchte Tergit häufig metaphorisch die Erfahrung der Inflation in ihren Zeitungsbeiträgen der 20er-Jahre, die collageartig das soziale, kulturelle und politische Klima der ersten deutschen Republik skizzierten und kommentierten. Zum Zeichen des rasant zunehmenden Abstands zwischen den Generationen wurde das Automobil: „Diese letzten Jahre aber waren geradezu ein Kursus in Idealismus. Denn wie sollte sich der Mitgiftjäger oder die -jägerin oder der Ehrgeizling vor Entwertung schützen?“, schrieb sie ironisch im September 1924 in einer Gerichtsreportage, um festzustellen: Der „Papa Justizrat, der zu Fuß lief, hat gegen den Sohn Devisenarbitrageur, der im Auto fuhr, recht behalten. Ohne Fleiß kein Preis. Ehrlich währt am längsten. Spare in der Zeit, so hast du in der Not. Es fällt kein Meister vom Himmel“, und um abschließend zu resümieren: „Die Alten haben recht behalten; das ist allerdings leider auch das einzige, was sie behalten haben.“7 Die Rückbesinnung auf geläufige, wenn auch unzeitgemäße Proverbien deutet die Schwierigkeiten an, eine den Unwägbarkeiten angemessene, zugleich dem Modernisierungsprozess Rechnung tragende, für unterschiedliche Milieus und Generationen verbindliche Werteordnung zu formulieren. Standen einer solchen das Freiheitsprinzip, der Pluralismus und die gesellschaftliche Fragmentierung entgegen, so boten Privatsphäre und Feuilleton Raum und Gelegenheit zu entsprechendem Bekenntnis. „Wie aber wär’s, wenn wir noch einen Schritt weitergingen und in dieser bürgerlichen Republik den Mut zu einer Revolution letzten Schreis, nämlich einer reaktionären Revolution in rebus privatis hätten?“, fragte Tergit in einem um 1927 entstandenen Beitrag nicht ohne Sinn für Widerspruch und einen Anflug von Spott und erinnerte: 4

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Beim Begriff Wertkonservatismus bezieht sich das Grundwort nicht auf die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandene politische Gesinnung des Konservatismus, sondern auf Tergits bewahrende Haltung im Hinblick auf Regeln und Normen des Liberalismus, der sich in Gegnerschaft zum politischen Konservatismus befand. HANS KELSEN: Vom Wesen und Wert der Demokratie, Aalen 1981, 100ff Gabriele Tergit wurde am 4. März 1894 als Elise Hirschmann in Berlin geboren; in den 1890er Jahren hatte Tergits Vater Siegfried Hirschmann die Berliner Deutsche Kabelwerke AG und nach 1900 die DEKA-Pneumant GmbH begründet. GABRIELE TERGIT: Kreislauf, in: DIES.: Wer schießt aus Liebe? Gerichtsreportagen, hg. v. Jens Brüning, Berlin 1999, 13f.

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„Die Grundlage der Bürgerlichkeit, die Spartugend, ward vom Staat zerstört. Als es zwischen hausmütterlicher Sorglichkeit und der Achtung vor dem Gemeinwohl keine noch so schmale Brücke mehr gab, flogen in den aufgetanen Abgrund die übrigen alten Tugenden mit hinein. Nun gilt es neue aufzubauen.“8

Hierzu zählte sie den Mut, sich zu den alten zu bekennen. Doch nur vier Jahre darauf erwies sie diese im „Käsebier“ als überlebensunfähig. Der Tod des Redakteurs Georg Miermann, der, wie alle Figuren im Roman, typisierende Überzeugungen und Haltungen, in diesem Falle die der linksliberalen, bildungsbürgerlichen Mittelschichten repräsentiert, pointierte die Wirkungslosigkeit und mangelnde Widerstandsfähigkeit der liberalen Publizistik zur Zeit der ersten deutschen Republik. Vernunft wie Freiheit werden im „Käsebier“ durch die allegorisch erweiterte Dynamik persuasiver Markt- und Propagandastrategien unterlaufen. Miermanns Mitarbeiter, der Käsebier-Entdecker Emil Gohlisch, von sozialdemokratischer Herkunft und Vertreter der um 1900 geborenen Generation, der dessen ungeachtet die Wertewelt Miermanns bejaht, findet nach der Umstrukturierung der Berliner Rundschau zu einem marktgängigeren Massenblatt mit hohem Reklameanteil eine neue Stellung nur noch in der Provinz. Auch das eingangs beschriebene „so überaus anständige“ Redaktionsgebäude aus dem Jahre 1868 mit der Stuckfigur der Minerva ereilt im Mai 1931 der „Abriß“.9 Lediglich ihre Gipshand rettet Gohlisch aus dem Schutt. Bis hinein in die architektonischen Details trieb Tergit die Analogie zur Erosion und Randständigkeit des Weimarer Linksliberalismus. Mit Beginn der Kanzlerschaft Heinrich Brünings, den die Autorin wegen seiner Notverordnungspolitik im Wirtschafts- und Haushaltsressort rückblickend einen „Diktator“ nannte,10 gründete ihr Republikanismus nur noch in seiner Alternativlosigkeit. Tergits wachsendes Unbehagen sowohl an der Entwicklung der Republik als auch am Kapitalismus betrafen das bedingungslose Primat der Wirtschaft und des „wirtschaftenden Menschen“.11 Doch gemessen an den damaligen Debatten war die im „Käsebier“ bereits in der Darstellung der Marktstrategien implizierte Kapitalismuskritik moderat. Erzählt wurde nicht die Geschichte der Eroberung des als Topos für Prestige und Prosperität figurierenden Kurfürstendamm durch den Volkssänger Georg Käsebier, sondern – darin besteht die Ironie der Titelgebung – die des gleichnamigen Marken- und Warenzeichens durch die zeitgenössischen Reklametechniken. Auf dem Höhepunkt dessen, was man heute einen Hype heißt, hatte das gesamte Spektrum der Presse Kritiken zu Auftritten des Varietésängers veröffentlicht, gab es Radio8

GABRIELE TERGIT: Bekenntnis zur Bürgerlichkeit, in: DIES.: Frauen und andere Ereignisse. Publizistik und Erzählungen von 1915 bis 1970, hg. v. Jens Brüning, Berlin 2001, S. 98. 9 G. TERGIT, Käsebier (wie Anm. 2), S. 6, S. 284. 10 G. TERGIT, Seltenes (wie Anm. 1), S. 80. 11 G. TERGIT, Seltenes (wie Anm. 1), S. 76.

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sendungen, Bild- und Aufsatzbände, Grammophonplatten, Plakate, Gemälde und Tonfilme über, von und mit Käsebier, trugen Schuhwerk, Federhalter, Zigaretten, Putz- und Spielzeug seinen Namen. Schließlich sind ein Bauunternehmen und ein Bankgeschäft mit der Errichtung eines am Kurfürstendamm gelegenen Wohnhauses samt Käsebier-Theater befasst und enden im Konkurs. Beinah leitmotivisch kehren im Roman Auf- und Abstieg von Figuren, Familien, kleineren und größeren Unternehmen wieder. Explizit wird die Kapitalismuskritik im Roman von äußerst unterschiedlichen Figuren vorgebracht, zum einen vom unterbezahlten Aufdeckungsjournalisten Augur, der – auch dies zählt zur Differenziertheit in Tergits Darstellung – mit seinen Enthüllungen von Korruption und der Verschwendung öffentlicher Gelder die Kontrollfunktion der Presse wahrnimmt, und zum anderen als Zeitgeistfloskel von der neuen Selbständigen Käte Herzfeld und vom „Konjunkteur“ Willy Frächter, der Miermann zufolge für das „Wesen des Kapitalismus“ hält, „was“ lediglich „Wesen der Unanständigkeit ist“.12 Geschult am Marxismus unterscheiden Herzfeld und Frächter einen „unsentimentalen“, auf die Rationalität der Gewinnoptimierung fixierten von einem „sentimentalen“, an einer Wirtschaftsethik orientierten Kapitalismus, den die Journalisten Miermann, Gohlisch und Charlotte Kohler für sowohl möglich als auch gangbar halten.13 Frächter, dessen sprechender Name auf seine Funktion als Transporteur und Kolporteur verweist, war vom reformbewegten Vernunftverächter zum Kommunisten und anschließend zum „Rationalisierungsdiktator“ konvertiert und lediglich aus „Zufall“ kein „Naziintellektueller geworden“.14 Tergits Zurückweisung beider Ideologien ist nicht dem in den 20er-Jahren aufgekommenen Totalitarismus-Begriff und seiner Theorie verpflichtet, sondern den zeitgenössischen Debatten über den Gegensatz von Demokratie und Diktatur, der für Nationalsozialismus und Kommunismus gleichermaßen charakteristischen „Kampfansage an den Liberalismus“ sowie beider Gewalt- und Personenkult.15 Ähnlich wie Hugo Preuß, der die „Diktatur des Proletariats“ im Jahre 1918 in der Presse einen „verkehrten Obrigkeitsstaat“ genannt und 12 G. TERGIT, Käsebier (wie Anm. 2), S. 214. Das in der Reihe „Berliner Existenzen“ zuerst im „Berliner Tageblatt“, später im „Prager Tageblatt“ erschienene Feuilleton unter dem Titel „Der Konjunkteur“ hat Gabriele Tergit zur Typisierung der Figur Willi Frächter partienweise in den „Käsebier“ einmontiert und später auch im Roman „Effingers“ verarbeitet. 13 G. TERGIT, Käsbier (wie Anm. 2), S. 106f, S. 214ff. 14 Ebd., S. 107, S. 145, S. 217f. 15 KARL DIETRICH BRACHER: Zeit der Ideologien. Eine Geschichte politischen Denkens im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1982, S. 123–129. Bracher, der in den 1980er Jahren für eine Enttabuisierung des Totalitarismus-Begriffs plädierte, fokussiert vor allem auf den „Kampf um die moderne Demokratie, um ihren Begriff und Inhalt“ (Ebd., S. 123). Zur Kritik am zeitgenössischen Personenkult um Hitler und Stalin vgl. G. TERGIT, Seltenes (wie Anm. 1), S. 27.

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einen sämtliche Milieus umfassenden „Volksstaat“ gefordert hatte,16 verglich Tergit später die Sowjetunion mit dem Absolutismus und vertrat ein staatsbürgerliches Verständnis des Begriffs „Volk“.17 Dem Stellenwert des Individuums im Liberalismus gemäß schloss die Ablehnung des Kommunismus keineswegs Tergits Wertschätzung einzelner seiner Vertreter wie Rosa Luxemburg aus, die sie wegen ihres Humanismus mehrmals würdigte. Leidenschaftslos hatte die 24-jährige Autorin, die während des Krieges ihren ersten Artikel über „Frauendienstjahr und Berufsbildung“ veröffentlichte, im Jahre 1918 den Zusammenbruch der Monarchie zur Kenntnis genommen, auch wenn sie noch bis in die späten 30er-Jahre an die Dolchstoßlegende glaubte.18 Die mit der Republik neu entstandenen Spielräume für Frauen nützend, erwarb sie als Externe das Abitur, studierte Geschichte, Soziologie und Philosophie und promovierte über den demokratischen Paulskirchenparlamentarier Karl Vogt.19 Von 1925 bis zu ihrer, durch einen Überfall der SA auf ihre Privatwohnung veranlassten Flucht in die ČSR im März 1933 war Tergit, von Theodor Wolff engagiert, als Gerichtsreporterin beim „Berliner Tageblatt“ angestellt. Seit Mitte der 20er-Jahre hatte sie von Prozessen gegen völkische Fememörder, Nationalsozialisten und Kommunisten berichtet und im Januar 1932 auch über einen Auftritt Adolf Hitlers vor dem Gericht in Moabit geschrieben. War Tergit der republikanisch-demokratischen Neuordnung pragmatisch und aufgeschlossen, aber ohne überzogene Erwartungen begegnet, so befürwortete sie doch Leitvorstellungen einer sozialen Demokratie als Erweiterung von Beteiligungsmöglichkeiten unterschiedlicher Milieus jenseits der kursierenden Klassenkampf-Rhetorik. Geschätzt hat sie ferner das Engagement Intellektueller als einzelner ohne Führungsanspruch. Kurt Hillers von Plato und Friedrich Nietzsche inspiriertes Modell des geistigen Führers und einer „Herrschaft der Besten“ karikierte Tergit im „November“-Kapitel des Familienromans „Effingers“ (1951), an dem sie im Sommer 1932 zu arbeiten begann; die Satire auf eine Sitzung des Rates geistiger Arbeiter ließ sie dort infolge eines Streiks der Arbeiter der Elektrizitätswerke im Dunkeln enden.20 Der während der Weimarer Zeit von Publizisten und Schriftstellern in Kommentaren, Aufrufen und Reden oft und vieldeutig bemühte Begriff der Vernunft, der nur partiell, etwa im Liberalismus, ein politischer war, besaß 16 HUGO PREUSS: Volksstaat oder verkehrter Obrigkeitsstaat?, in: Berliner Tageblatt vom 14. November 1918. 17 G. TERGIT, Seltenes (wie Anm. 1), S. 63. 18 Vgl. G. TERGIT, Seltenes (wie Anm. 1), S. 60. 19 Vgl. die tabellarische Zeittafel des Herausgebers Jens Brüning in: GABRIELE TERGIT: Atem einer anderen Welt. Berliner Reportagen, Frankfurt a. M. 1994, S. 207. 20 KURT HILLER: Demokratie?, in: DERS.: Politische Publizistik von 1918–1933, hg. v. Stephan Reinhardt, Heidelberg 1983, S. 77. Erwähnt sei, dass im zeitgenössischen Kontext Parallelen zwischen Hillers Metapher vom Geistesaristokratismus und der Elitentheorie des Demokratiedenkens gezogen wurden.

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auch für Gabriele Tergit erhebliches Gewicht. Seine Charakteristik gewann er in Abgrenzung zu politischem Mystizismus und technischer Rationalität: „Alchimisten, Teufelsbeschwörer, Sterndeuter, Medizinmänner, die ganze mühselig gebändigte mittelalterliche Armee der Dummheit und Grausamkeit hielt Manöver ab bei elektrischem Licht, Staubsaugern und Zentralheizung“, stellte sie im Rückblick auf einen von Rudolf Olden im Jahre 1932 herausgegebenen Aufsatzband über zeitgenössischen Aberglauben und Okkultismus fest. „Es war eine religiöse Sehnsucht, die in die Irre ging.“21 Das Pseudonym des humanistischen Rationalisten „Christian Thomasius“, mit dem Tergit ihre ersten Beiträge in der „Weltbühne“ am Ende der 20er-Jahre zeichnete, ließ einen aufklärerischen Impuls erkennen, der sich jedoch als hilflos herausstellte gegenüber der Suggestibilität der Massen, die durch die neuen Medien Radio und Film noch gesteigert wurde. Wie eine Reihe Publizisten, man denke an Theodor Wolff und Leopold Schwarzschild, begann Tergit ab etwa 1930 in ihren Gerichtsberichten das gesellschaftliche und politische Klima mit der Metapher der „Psychose“ zu bezeichnen, wobei sie den Wirklichkeitsverlust bereits in der rhetorischen Inkongruenz aufzeigte, die von der Übertreibung über die Verzerrung von Tatbeständen bis hin zur Lüge reichte. So verlieh der Gebrauch der „Nomenklatur des Krieges“ durch die angeklagten Nationalsozialisten ihrem ganzen Habitus einschließlich der „Schlägereien in den Straßen Berlins“ den „Glanz und Schimmer von Kriegshandlungen“, die sich zur „Atmosphäre des Bürgerkriegs“ verdichteten; durch den Gerichtsvorsitzenden, der sie unwillkürlich übernahm, erfuhr die euphemistische Sprachpraxis Akzeptanz: „Er sagte nicht: getötet wurden, ermordet wurden, erschossen wurden, er spricht in diesem Totschlagsprozess von ‚Gefallenenʻ.“22 Die performativen Effekte der Art und Weise, wie über Ereignisse und Akteure gesprochen und geschrieben wurde, wie sie präsentiert und inszeniert wurden, erwiesen sich als Wirklichkeit setzende Faktoren. Vernunft und Wahrheit waren dabei unmaßgeblich. II. Reklame statt Ratio Gabriele Tergit knüpfte die demokratisch-republikanische Ordnung an ein stabiles liberales Wertegerüst. Dies kollidierte gleichermaßen mit den funktionalistischen Demokratietheorien wie ihre Skepsis gegenüber der politischen Reklame, die Presse, Rundfunk, Film und Grammophon, kurzum die modernen Massentechnologien in Anspruch nahm. Dieser Vorbehalt war grundsätz21 G. TERGIT, Seltenes (wie Anm. 1), S. 27. Es handelte sich um die Publikation: Rudolf Olden (Hg.): Das Wunderbare oder die Verzauberten, Propheten in deutscher Krise. Eine Sammlung, Berlin 1932. 22 GABRIELE TERGIT: Atmosphäre des Bürgerkriegs, in: DIES.: Wer schießt? (wie Anm. 7), S. 166, S. 168.

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licher Natur und erstreckte sich nicht allein auf rechte Propaganda und linken Agitprop.23 Als Erfordernis im politischen Wettbewerb moderner Massendemokratien erkannte Tergit die politische Reklame ebenso wenig an wie den hohen Stellenwert des Strebens nach Macht im politischen Kampf.24 Für Max Weber ging die Demokratisierung am Ende des Ersten Weltkriegs unweigerlich einher mit Demagogie. Sah er in ihr ein Gefahrenpotential für die parlamentarische Demokratie, so doch keinen dieser Staatsform eigentümlichen Zug. Noch vor dem Sturz der Monarchie im Sommer 1918 war Weber die demagogische Propaganda ein Indiz vielmehr des „Fehlens einer geordneten Demokratie“.25 Das Gewicht und die Indienstnahme der „Emotionalität der Massen“ hat der an Gustave Le Bons Theorie der Massenpsychologie geschulte Soziologe keineswegs unterschätzt.26 Dem politischen Macht- und Konkurrenzkampf als rationalem Ausleseprozesses vertrauend, schrieb er dem Parlament allerdings die Funktion und Fähigkeit zu, den Einfluss demagogischer Führer effektiv einzuschränken. Ebendiese Verknüpfung von Parlamentarismus und einer den Maßgaben der Rationalität folgenden „Bildung einer politischen Elite“ bestritt der Staatsrechtler Carl Schmitt, der vor allem den „Propaganda-Apparat“ zur Maximierung von Wählerstimmen und mit ihm den „Appell“ an „Leidenschaften“ und eine „plakatmäßig eindringliche Suggestion“ zum Zuge kommen sah.27 Nahm Weber Elemente des Demagogischen in der modernen Massendemokratie in Kauf, weil er im Parlamentarismus als Korrektiv eine Gewähr für Rationalität erblickte, so hatte diese für Schmitt weder den Rang einer politischen Kategorie noch maß er ihr eine nennenswerte Bedeutung bei. Auch Alfred Döblin hatte in den Anfangsjahren der Republik das „Übertölpeln“ der Massen und die „Erzeugung“ eines „rauschartigen Zustandes“ beanstandet; statt Argumenten liefere man auf Flugblättern und Plakaten nur „Schlagworte, affektbeladene, undeutliche, schillernde Worte und Begriffe“.28 Ins neunte Kapitel des „Käsebier“ montierte Tergit einen Ausschnitt aus einem ihrer Feuilletons vom Sommer 1927 ein, der ein „zerfetztes Plakat“ in seinem verstümmelten Wortlaut abschrieb: „Hunger Arbeitslosigkeit, Massenelend ... Den Prol ... rett ...

23 G. TERGIT: Seltenes (wie Anm. 1), S. 76f. 24 vgl. G. TERGIT: Käsebier (wie Anm. 2), S. 239. 25 Vgl. MAX WEBER: Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, in: DERS.: Gesammelte politische Schriften, Tübingen 1988, S. 393. 26 MAX WEBER: Politik als Beruf, in: DERS.: Gesammelte politische Schriften (wie Anm. 25), S. 537. 27 CARL SCHMITT: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Berlin 1996, S. 11f. 28 ALFRED DÖBLIN: Republik, in: DERS.: Schriften zur Politik und Gesellschaft, Olten 1972, S. 121.

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Sylke Kirschnick ... gesamten Bankwesens ... ... international ... Diktatur.“29

Die durch die Schadhaftigkeit potenzierte Verkürzung der im formelhaften Nominalstil affichierten Phänomene verwies die sachlichen Zusammenhänge noch einmal entschiedener in den Hintergrund. Tergits fotografische Wiedergabe der Wort- und Satzfetzen strich den gedanklichen Reduktionismus und den beschwörenden Appell hervor, der eher zu Gefolgschaft und Aktion aufrief als zu Reflexion und Debatten. Im unmittelbaren Romankontext, einem Spaziergang durch das nordwestliche Berlin oberhalb des Lehrter Bahnhofs, dokumentierte das Zitat die neue Alltäglichkeit politischer Reklame im republikanischen Großstadtbild. Zeitlich ließ Tergit die Eröffnung des KäsebierTheaters am Kurfürstendamm mit den Vorbereitungen zu den Septemberwahlen von 1930 zusammenfallen:

„Ein Lastwagen, der von roten Fahnen überweht war, kam mit jungen Leuten vorüber, die unverständliche Sätze schrien. Die Straße dampfte vor Aufregung. Große Wahlplakate hingen überall. Junge Leute in Uniform marschierten mit geschulterten Stöcken. Große Worte klangen: ‚Nieder mit dem Kapitalismus!ʻ – ‚Für deutsche Freiheit!ʻ“30

In der Form nachdrücklicher Appelle an die Massen und der zweckgerichteten Zusammenstellung bedeutungsvoller, assoziativer Zeichen wie sie für die Reklame kennzeichnend sind, besteht die Parallele zwischen den beiden Ereignissen, die inhaltlich inkompatibel sind, zumal der endgültige Abstieg des politikfernen Volkssängers mit der Theatereröffnung besiegelt und in den Dialogen im Publikum zugleich das Heraufkommen der Diktatur antizipiert wird. Es waren das eindringliche Beschwören, die medialen Reproduktionen, die Beglaubigung durch Autoritäten und das Erzeugen eines bestimmten Nimbus, die eine entsprechende Stimmung geschaffen, im Falle des Volkssängers die Marke „Käsebier“ in Wort, Bild und Ton durchgesetzt und im Falle der politischen Wahlen einen Zugewinn an Mandaten zur Folge hatten. Gabriele Tergit war davon überzeugt, dass nicht so sehr die in Prozentzahlen ausgedrückten Wahlergebnisse, die Mehr- oder Minderheiten, Auskunft über die Gefährdung der demokratisch-republikanischen Ordnung gaben, sondern wichtigste Kriterien hierfür die „Stimmung“ und die „aktiven Elemente“ waren.31 „‚Der Erfolg ist eine Sache der Suggestion und nicht der Leistung.‘ ‚Miermann würde sagen: Dieser einzige Satz erklärt den ganzen Faschismus, ihr seid feige Sklaven, ihr braucht Autorität.ʻ“32 Markant an diesem Schlüsseldialog zwischen Augur und Gohlisch im zweiten „Käsebier“-Kapitel ist weniger 29 G. TERGIT: Käsebier (wie Anm. 2), S. 91 – kursiv im Original; vgl. ferner DIES.: Eingewöhnen in Berlin, in: DIES.: Blüten der Zwanziger Jahre. Gerichtsreportagen und Feuilletons 1923–1933, hg. v. Jens Brüning, Berlin 1984, S. 25f. 30 G. TERGIT, Käsebier (wie Anm. 2), S. 259. 31 G. TERGIT, Seltenes (wie Anm. 1), S. 137. 32 G. TERGIT, Käsebier (wie Anm. 2), S. 19, S. 21.

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die Beschädigung des Leistungsprinzips als vielmehr die direkte Verknüpfung zwischen der Politik und dem die Rationalität beiseite setzenden Erfolgsprinzip der Suggestion, das im Roman sämtliche Sphären, von der gesellschaftlichen über die wirtschaftliche bis hin zur politischen erfasste und zu dominieren drohte. „Die Psychotechnik der Parteileitung und der Parteireklame, der Schlagworte und der Marschmusik ist kein bloßes Beiwerk. Sie gehören zum Wesen der Politik“, konstatierte Joseph Schumpeter in seinem später zum Klassiker avancierten Buch „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“, das, obwohl in den USA entstanden und dort im Jahre 1942 erschienen, auch das Scheitern der Weimarer Republik verarbeitete.33 Nach Schumpeter, der im Rahmen der funktionalistischen Demokratietheorie den Bedeutungsschwund der Rationalität in der Politik aus der Perspektive des Wirtschaftswissenschaftlers formulierte, ist es „die bloße, oft wiederholte Behauptung“, die „mehr als das rationale Argument zählt“.34 Schumpeter verstand Politik konsequent als Markt und bejahte die Übereinstimmung zwischen kommerzieller und politischer Reklame: „Die Art und Weise, in der Probleme und der Volkswille in bezug auf diese Probleme fabriziert werden, ist völlig analog zur Art und Weise der kommerziellen Reklametechnik. Wir finden die gleichen Versuche, an das Unterbewußtsein heranzukommen. Wir finden die gleiche Technik der Schaffung günstiger oder ungünstiger Assoziationen, die um so wirksamer sind, je weniger rational sie sind [...].“35

Die Divergenzen zwischen Schumpeters Übertragung des Wirtschaftsmodells auf die Politik, seiner grundsätzlichen Anerkennung der Verschlagwortung und Inszenierung, der Psycho- und Reklametechniken einerseits und Gabriele Tergits Ablehnung all dieser für die Weimarer Republik teilweise ebenso neuartigen wie charakteristischen Phänomene andererseits könnten größer kaum sein. In der Zustandsbeschreibung jedoch näherten sich beide einander an. Entschieden deutlicher als im „Käsebier“ konturierte Tergit im Roman „Effingers“, der Chronik einer deutsch-jüdischen Unternehmerfamilie zwischen 1878 und 1948, die Konvergenzen zwischen Reklame, Wirtschaft, Politik und Massenkultur. Einen Herrn namens Stiebel, der sich der Autofabrik Effinger als Werbefachmann andient, ließ Tergit versichern: „Die schlechteste Sache wird geglaubt, wenn Sie es nur oft genug wiederholen. Aufmachung ist alles, Reklame regiert die Welt.“36 Auch wenn die sich am Ende als Nationalsozialist offenbarende Stiebel-Figur, die sich selbst als „Chaplins Propagandachef“ vorstellt, der einem „Londoner Clown“ zu „Weltruhm“ verhalf, grotesk überzeichnet ist, so unterstreichen gerade dieser ostentative Zug und die Anspielungen auf Adolf Hitler und Joseph Goebbels die komplexen Wechselbezüge 33 JOSEPH A. SCHUMPETER: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Tübingen 1993, S. 450. 34 Ebd., S. 409. 35 Ebd., S. 418. 36 GABRIELE TERGIT: Effingers, Frankfurt a. M. 1978, S. 583.

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zwischen den einzelnen Medien und Bereichen.37 Als „Teufelsbeschwörer“, „Schlangenbändiger“ und „gefährlicher Verrückter“ tituliert, hatte Tergit wenige Kapitel zuvor Hitler mit antisemitischen Hetztiraden im Zirkus Krone vorgeführt und das nationalsozialistische Programm inhaltlich als auf fadenscheinige Täuschung und schäbige Wirkungen zielende, untaugliche Illusionskunst demaskiert.38 Nicht immer gingen in thematisch verwandten Texten während der Weimarer Republik und nach ihrem Scheitern Populärkultur und Politik eine so bestimmte Verbindung ein, auch wenn gerade die Akzeptanz und die Verarbeitung der Massenkultur zu den Merkmalen der Neuen Sachlichkeit zählte. Formal steht der „Käsebier“ ganz in ihrem Zeichen, wenngleich ihre ästhetischen Besonderheiten bereits ironisch-sarkastisch gebrochen erscheinen. Die Funktionsweise der Reklametechniken zeigte Tergit durch das wiederholte Zitieren der Werbeslogans und politischen Parolen sowie die wiederholte Darstellung der Medien auf. Den neusachlichen Zeitungsstil parodierte sie in den ausführlichen Käsebier-Kritiken, die den jeweiligen Jargon der politischideologisch deutlich situierten Blätter imitieren. Der gleitende Blick durch das Zeitungsviertel, mit dem der „Käsebier“ einsetzt, und der in den in Reportagemanier verfassten Gängen durch die Straßen der Stadt zuweilen wieder aufgenommen wird, präsentierte Raum und Zeit als endloses Arsenal soziologischer und historischer Zeichen, die Tergit mit verschiedenen Milieus und Generationen und beide charakterisierenden Haltungen in Zusammenhang bringt. Diese Methode wandte sie im übrigen auch in ihren Gerichtsreportagen an, die sie zuweilen mit Titeln wie „Jahrgang 1903“ oder „Jahrgang 1907“ versah. Dem neusachlichen Tatsachensinn und der Vorliebe für Fakten, die sich in Zahlen angeben lassen, folgten auch die exakte Nennung der Lebensmittelpreise, die Aufzählung der Gläubiger mit den Verlusten nach dem Konkurs des Bauunternehmens sowie die Datierungen, denen allerdings in Verbindung mit der Abfolge bestimmter Ereignisse wie den beiden Bestattungen unmittelbar vor der Septemberwahl weitere, symbolische Bedeutungen zukommen. Der ebenfalls in Zahlen ausgedrückte Wertverlust des großbürgerlichen Interieurs bei den Schätzungen und Versteigerungen nivellierte neben dem sozialen Status auch gelebtes Leben. Als Allegorie auf die Dekomposition des Kaiserreichs und des 19. Jahrhunderts lesbar ist die Beschreibung der Umwandlung der 37 Ebd., S. 582. 38 Ebd., S. 539f. – Mit der Situierung faschistischer und nationalsozialistischer Politikstile auf der Ebene der Populärkultur stand Tergit nicht allein. Man denke, um nur ein Beispiel zu nennen, an Thomas Manns Qualifizierung der Hitlerschen „Politik im Groteskstil mit Heilsarmee-Allüren, Massenkrampf, Budengeläut, Halleluja und derwischmäßigem Wiederholen monotoner Schlagworte, bis alles Schaum vor dem Munde hat“ in der „Deutschen Ansprache“ nach den Septemberwahlen 1930 oder an Manns Erzählung „Mario und der Zauberer“ (THOMAS MANN: Deutsche Ansprache. Ein Appell an die Vernunft, in: DERS.: Essays, Bd. 3: Ein Appell an die Vernunft 1926–1933, hg. v. Hermann Kurzke u. Stephan Stachorski, Frankfurt a. M. 1994, S. 268f).

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hochherrschaftlichen Parterrewohnungen in Ladengeschäfte samt der Ersetzung alter durch moderne Innenausstattungen, die ein Moment der Zerstörung dokumentiert, das in Frächters Abriss des alten Rundschau-Gebäudes kulminiert. Den Kult um Reklame, Technik, Sport und Automobil zusammenschließend, repräsentiert Frächter den zynischen Prototyp des werteindifferenten, neusachlichen Helden. Wenn Tergit ihn als „Motor“ apostrophiert, der „mit tausend Umdrehungen in der Sekunde lief“ und einen „ungeheuren Betrieb macht“,39 dann akzentuiert die technische Beschleunigungs-Metaphorik neben einer scharf umrissenen Gegenständlichkeit auch die messbare Geschäftstüchtigkeit und das Bedürfnis nach dem Gleichlauf mit der Zeit. Sowohl inhaltlich als auch formal kontrastiert dies mit der in der Redaktion der Berliner Rundschau vorherrschenden Gemächlichkeit und der Inanspruchnahme ganzer vier Romankapitel für das Entstehen und Erscheinen des ersten Käsebier-Artikels. Zwar ist das Tempo im „Käsebier“ auch Indiz für die Frage nach der Angemessenheit von Zuwendung und Gegenstand, doch erheblicher ist Tergits Einschätzung der als ambivalent erlebten Modernisierungsprozesse, die sie als Spannungsverhältnis, als widersprüchliches Neben- und Gegeneinander von erweiterten Zugängen zu Bildung, individueller Unabhängigkeit, (intellektueller) Freiheit, Werte- und Orientierungsverlust, technischer Innovation bei gleichzeitiger Zunahme a-rationaler Deutungsmuster und Handlungsweisen wahrgenommen hat. Thematisch wurde dabei auch die Gegenläufigkeit von Polarisierung und Zusammenbruch solch zeittypischer Dichotomien wie Schein/Sein, Form/ Inhalt, Oberfläche/Substanz oder Vernunft/Unvernunft. In den Augen Miermanns und Gohlischs war der Faschismus eine „Partei der Macht“, die „Form als Inhalt“ setzt.40 Schier endlos variierte die Autorin die Wendung „Es kommt nicht darauf an“ („Beim Bauen kommt’s nicht auf den Bau an. Die Finanzierung ist alles.“, „Bei der Zeitung kommt’s nicht mehr auf den Inhalt an“ ).41 Wiewohl die Bezugnahmen und Anspielungen auf zeitgenössische Personen, tagespolitische Ereignisse und Skandale zahlreich sind, handelt es sich entgegen der durch Tergits Kollegen lancierten zeitgenössischen Rezeption beim „Käsebier“ nicht um einen Schlüsselroman.42 Tergits ästhetische Verfahrensweise ist die Montage. Seitenlang zitiert sie ihre, nach eigenem Bekunden literarisierenden Reportagen, die, wie angedeutet, den Blick der Soziologin 39 40 41 42

G. TERGIT, Käsebier (wie Anm. 2), S. 145, S. 107. Ebd., S. 218. Ebd., S. 283, S. 211. Der Journalist Walther Kiaulehn, Tergits Kollege beim „Berliner Tageblatt“, hatte aus Publicity-Gründen einen Zusammenhang zwischen Käsebier und dem von Heinrich Mann und Kurt Tucholsky geschätzten Kabarettisten Erich Carow hergestellt. Ihren Memoiren zufolge haben Heinrich Manns Berlin-Feuilleton und die von Journalisten herausgegebene Publikation über Carow die Autorin zwar inspiriert, doch gibt es sonst keine weiteren Bezüge zwischen Mann und Carow und den Figuren des Dichters Otto Lambeck und des Volkssängers Georg Käsebier; vgl. G. TERGIT, Seltenes (wie Anm. 1), S. 80.

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und Historikerin verraten. Reklame- und Schlagertexte, politische Schlagworte, Proverbien, Idiome, Dialekte und Soziolekte bewirken einen Stil- und Sprachenpluralismus, der eine praktikable Form war, die Transformation des Kaiserreichs in eine moderne Massendemokratie zu dokumentieren und literarisch zu verarbeiten. Anders als Alfred Döblin in seinem Großstadtroman „Berlin Alexanderplatz“ (1929), dessen Sprachexperiment um einiges radikaler ist, in dem die Autorstimme nur im Hintergrund und am nachdrücklichsten in der Auswahl und Kombination des Montagematerials vernehmbar ist, tritt Tergit im „Käsebier“ als Kommentatorin stark in Erscheinung. Vom speziellen Montageverfahren, der Erzählhaltung und den parodistischen Imitationen der „Zeitungsepik“ aus betrachtet, lassen sich mehr Parallelen zwischen Tergits Romanen und denen Karel Čapeks finden. „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ ist auch in Anbetracht humoristischer Momente und der ironischen Gebrochenheit ein Lamento auf die Auflösung der Weimarer Republik. Mit ihr verbunden hatte seine Autorin aller Ambivalenz zum Trotz unter anderem die Durchsetzung der von ihr hoch veranschlagten Freiheits- und Grundrechte. Vierzehn Tage vor ihrer Flucht in die ČSR besuchte Tergit im Februar 1933 den noch vor seinem Abschluss von der Polizei aufgelösten Kongress „Das Freie Wort“ in der Berliner Kroll-Oper. Unmittelbar im Anschluss fand eine enttäuschte Mithörerin die Veranstaltung „‚nicht richtig aufgezogenʻ“ und den überlebten Liberalismus trivial: „Ihr fehlten die Fahnen, die Musik, der Einmarsch der Verbände, kurz der Hitlersche Klamauk.“43 III. Fazit Eine Vernunftrepublikanerin im Sinne Friedrich Meineckes – im übrigen einer ihrer akademischen Lehrer – war die liberale Demokratin Gabriele Tergit nicht. Um ihn mit ihr in Verbindung zu bringen, muss man dem Begriff des Vernunftrepublikanismus eine Bedeutungsdimension hinzufügen. Tergit entschied sich für die seit der Aufklärung kontrovers diskutierte, ambivalente philosophische Kategorie der Vernunft als liberalen Wertbestand, weil sie in ihr in der ganz speziellen Situation Weimars ein Regulativ gegen den Mystizismus, die politische Manipulierbarkeit der Massen sowie die Zentrierung auf technologische und ökonomische Rationalität erblickte. In Phänomenen wie diesen sah Tergit das Gefährdungspotential der Republik. Ausschließlich mit ihnen, hierin liegt das Kernproblem, verband sie die für moderne Massendemokratien sowohl charakteristische als auch unentbehrliche politische Reklame, die sie wegen ihrer vermeintlich unabweisbaren Vernunftferne rundheraus ablehnte. In diesem und nur in diesem zuletzt skizzierten Sinnzusammenhang wäre indes auch Gabriele Tergit eine Vernunftrepublikanerin. 43 G. TERGIT, Seltenes (wie Anm. 1), S. 118.

Personenregister Adenauer, Konrad 64 Adler, Max 149 Adorno, Theodor W. siehe Wiesengrund(Adorno), Theodor Aereboe, Friedrich 252 Althaus, Paul 223f. Althoff, Friedrich 251 Anschütz, Gerhard 19, 32, 124, 195, 200203, 210f., 215 Apelt, Willibalt 195 Aquin, Thomas von 67, 70 Arndt, Ernst Moritz 284 Ash, Mitchell G. 231f., 236, 251 Bab, Julius 44 Baden, Prinz Max von 125, 185 Bahr, Hermann 293 Barbusse, Henri 282 Barker, Pat 297 Bartels, Adolf 294 Barth, Paul 46 Bassermann, Albert 261, 269, 270 Bäumer, Gertrud 34-37, 39-42, 45, 49, 52, 252 Baumgardt, David 117 Baumgarten, Otto 221 Bebel, August 135 Becher, Johannes Robert 161, 174, 281 Becker, Carl Heinrich 15, 19, 35, 67, 251, 299-309 Below, Georg von 263 Benjamin, Walter 114, 174, 176 Bergius, Friedrich 252 Bergmann, Theodor 190 Bernanos, Georges 289 Bernstein, Eduard 153, 161 Beyerle, Konrad 62 Bialas, Wolfgang 113 Binding, Rudolph G. 282 Bismarck, Otto von 20-22, 42, 92, 107, 164, 184f., 262, 302, 305 Bloch, Ernst 159, 174 Blohm, Rudolf 96, 98 Blum, Robert 291 Boelitz, Otto 303

Böhme, Hartmut 124 Bohr, Niels 245 Borkenau, Franz 189 Bosch, Robert 35, 174 Böttcher, Paul 182 Bourdieu, Pierre 160 Boyen, Hermann von 262 Bracher, Karl Dietrich 314 Brandler, Heinrich 178f., 182 Braun, Adolf 153 Braun, Otto 17, 106, 138f. Brauns, Heinrich 63, 68f., 72 Brecht, Arnold 196 Brecht, Bertolt 159, 174, 176, 292 Bredt, Johann, Viktor 264 Breuer, Robert 141 Brod, Max 277 Brüning, Heinrich 14, 24, 59, 63, 68, 81-84, 104-108, 151, 252, 265, 313 Bucharin, Nikolaj 181 Bücher, Hermann 94, 100, 101 Bühler, Ottmar 195 Bultmann, Rudolf 114 Burdach, Konrad 122 Burschell, Friedrich 174 âapek, Karel 322 Capteyn, Jacobus Cornelius 245 Carow, Erich 321 Cassirer, Ernst 15, 109, 111, 113, 116-128 Chesterton, Gilbert Keith 289 Claudel, Paul 282, 289 Cocteau, Jean 282 Cohen, Hermann 112, 120 Cohnstaedt, Wilhelm 37 Collin, Heinrich Joseph von 52 Conze, Werner 116 Cunow, Heinrich 16f. Curtius, Ernst Robert 284f. David, Eduard 153 Deutsch, Ernst 277 Dibelius, Martin 221, 224 Dietrich, Hermann 252f. Dirks, Walter 50

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Personenregister

Dittmann, Wilhelm 17 Döblin, Alfred 17-19, 157-176, 281, 286, 291, 317, 322 Dohna, Alexander Graf zu 19, 206-214 Dovifat, Emil 50 Drews, Wilhelm Bill Arnold 196 Dreyfus, Alfred 124 Duisberg, Carl 92, 98, 100f., 105, 107, 249 Dyck, Walter von 252 Ebert, Friedrich 19, 29, 51, 140, 146, 157, 161, 166, 208, 223, 260, 265 Eckert, Georg 190 Ehrenburg, Ilja 282 Einstein, Albert 15, 118, 187, 231, 235-248, 252f., 294 Eisner, Kurt 146 Elbau, Julius 307 Elert, Werner 223 Engels, Friedrich 135, 185 Erkelenz, Anton 34, 36f, 39, 42-44, 49, 51 Erzberger, Matthias 60, 65, 166 Eschenburg, Theodor 158, 252 Eugenides, Jeffrey 297 Eyck, Erich 37 Faktor, Emil 167 Faulhaber, Kardinal Michael von 64 Fechter, Paul 296 Fehrenbach, Konstantin 62, 81, 166 Feuchtwanger, Lion 175f. Fichte, Johann Gottlieb 44, 301 Fischer, Emil 249 Fischer, Samuel 167 Flake, Otto 173 Flechtheim, Ossip K. 189 Foerster, Erich 227f. Föllmer, Moritz 114 Ford, Henry 137 Forster, Georg 286, 291 Foucault, Michel 295 Fraenkel, Ernst 196 Frank, Otto 147 Freiligrath, Ferdinand 52 Friedberg, Robert 269 Friedrich II., der Große 121, 258, 284 Friedrich Wilhelm IV, König 262 Frowein, Abraham 98 Gadamer, Hans-Georg 114 Gandouly, Jacques 305

Gebühr, Otto 284 Geer, Gerald de 245 Georg, Manfred 174 Gerber, Heinrich 196 Geßler, Otto 29-31, 38, 53, 304 Geyer, August Johann 175 Giesbert, Johann 140 Giese, Friedrich 195 Glum, Friedrich 249 Goebbels, Joseph 319 Goethe, Johann Wolfgang von 44, 49, 157f., 166, 170, 266, 268, 271, 289 Goetz, Walter 21, 34, 37, 42, 44 Goldschmidt, James 124 Goldschmidt, Wilhelm 47f. Goll, Iwan 285 Gothein, Georg 37 Graf, Friedrich Wilhelm 111 Graf, Rüdiger 114 Grimme, Adolf 302 Gröber, Alfred 62, 66, 69, 72, 81, 85 Grotius, Hugo 123 Grundmann, Siegfried 244 Gumbel, Emil Julius 187 Gusy, Christoph 301 Haas, Willy 15, 275-298 Haase, Hugo 146 Haber, Fritz 15, 19, 231, 235-237, 241-254 Habermas, Jürgen 14, 159, 275 Haenisch, Konrad 303, 305 Haines, Charles Grove 124 Häntzschel, Kurt 196 Harnack, Adolf von 19, 221-223, 230, 233, 248-251 Hartmann, Nicolai 113 Hasenclever, Walter 277f. Hashagen, Justus 119 Haug, Wolfgang Fritz 114 Hauptmann, Gerhart 265 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 44f., 110, 113, 119, 122, 226 Hegemann, Werner 284 Heidegger, Martin 112f. Heile, Wilhelm 34- 37, 40, 43, 46, 49 Heine, Heinrich 159, 294 Heinemann, Fritz 111 Heise, Carl-Georg 37 Helfritz, Hans 196 Heller, Hermann 195, 200, 211, 215 Hellpach, Willy 37

Personenregister Hensel Albert 195 Hermann, Fritz 34 Hermelink, Heinrich 221, 224 Heß, Jürgen C. 41 Heuss, Theodor 34-37, 40, 43, 48, 50, 157, 252, 261, 269 Hilferding, Rudolf 17, 19, 161, 242 Hiller, Kurt 163, 292, 315 Hindenburg, Paul von Beneckendorff und von 52, 81, 84, 106f. 152, 180, 206, 209, 215, 240, 265, 293, 303 Hintze, Hedwig 37, 121f. Hintze, Otto 40f., 264 Hirsch, Emanuel 223 Hirsch, Paul 133, 138 Hirschfeld, Otto 178 Hirschmann, Elise siehe Tergit, Gabriele Hirschmann, Siegfried 312 Hitler, Adolf 24, 110, 173, 175, 196, 199, 215, 265, 274, 308, 314f., 319f., 322 Hobohm, Martin 187 Hocke, Gustav Rene 168, 170 Hoeres, Peter 110, 116 Hoffmann, Adolf 66, 138f. Hoffmann, Dieter 239 Hoffmann, Ernst 110 Hofmannsthal, Hugo von 277, 281, 286-289 Holborn, Hajo 187 Holl, Karl 221 Horkheimer, Max 160, 187 Huch, Ricarda 50 Hugenberg, Alfred 95, 98 Humboldt, Wilhelm von 157, 262, 304 Husserl, Edmund 115 Ihering, Herbert 167 Italiaander, Rolf 280, 285 Jäckh, Ernst 35 Jacobi, Erwin 195 Jacobsohn, Siegfried 141 Jaspers, Karl 113 Jellinek, Georg 119, 124 Jellinek, Walter 195 Jerusalem, F. 195 Joachimsen, Paul 121f. Joos, Joseph 24, 60, 76, 78, 82, 84-86 Joyce, James 284f. Jünger, Ernst 258, 293f.

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Kaas, Ludwig 81, 84 Kafka, Franz 277, 281, 285 Kahl, Wilhelm 19, 23, 53, 203-206, 209, 213f., 224 Kahler, Erich von 116f. Kant, Immanuel 44-46, 67f., 111, 119, 312 Kantorowicz, Alfred 293 Kantorowicz, Hermann Ulrich 195 Kapp, Wolfgang 273 Kasack, Hermann 174 Kastl, Ludwig 98-100, 103, 105 Kästner, Erich 174 Katz, Iwan 180, 181 Kaufmann, Erich 124 ? Kautsky, Karl 17, 161 Kelsen, Hans 39, 195, 200, 211 Kertész, Imre 297 Kiaulehn, Walther 321 Kiesinger, Kurt-Georg 53 Kirchheimer, Otto 196 Kisch, Egon Erwin 174, 279 Klönne, Moritz 96f. Klövekorn, Fritz 119 Koch-Weser, Erich 36f., 40, 252 Koehler, L. v. 195 Koellreutter, Otto 196 Körner, Joseph 116f. Korsch, Karl 173 Kraus, Karl 277 Krüger, Gerhard 114 Krupp von Bohlen und Halbach 249 Kues, Nikolaus von 110, 121 Kundsen, Martin 245 Küpper, Hannes 292 Kutzner, Oskar 175 Laband, Paul 204 Langevin, Paul 244 Latour, Bruno 232 Laun, Rudolf Edler von 195 Le Bon, Gustave 317 Lederer, Emil 187 Leibniz, Gottfried Wilhelm 112, 116, 121123 Leinert, Robert 140 Lenau, Nikolaus 271 Leo XIII, Papst 70f., 75 Levi, Paul 17 Lichtenberg, Georg Friedrich 286 Lieb, Fritz 187

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Personenregister

Liebeschütz, Hans 120 Liebknecht, Karl 131, 134, 146, 161, 185, 188f. Litt, Theodor 110 Llanque, Marcus 116 Löbe, Paul 161 Loerke, Oskar 174 Loewenstein, Karl 196 Löwith, Karl 110 Ludendorff, Erich 180, 185 Ludwig, Emil 291 Lukács, György von 161 Luther, Hans 38, 52 Luther, Martin 172 Luxemburg, Rosa 146, 161, 188f., 315 Maier, Reinhold 42 Mann, Erika 274 Mann, Heinrich 160, 173, 237, 268, 290, 293, 321 Mann, Klaus 274 Mann, Thomas 10, 14, 19, 50, 163-165, 170, 172f., 229, 257-262, 265-269, 272, 274, 282f., 286, 288f., 291, 320 Marck, Siegfried 187 Markov, Walter 190 Marx, Karl 46, 135, 169, 172f., 185, 268, 291 Marx, Wilhelm 38, 57, 61, 70, 72, 74-76, 79, 81, 83, 85, 152, 180, 191, 223 Masaryk, Tomas Garrigue 278 Mausbach, Joseph 62, 66f., 71f., 75 Mauthner, Fritz 166 Mayer, Gustav 139 Meckel, Eberhard 296 Mehring, Franz 290 Meinecke, Friedrich 10, 19, 21, 23, 29-31, 53, 58, 88f., 122, 190, 192, 197, 199f., 214, 229f., 239, 257-270, 274, 301, 322 Meiner, Felix 111 Melchior, Carl 125 Mendelssohn, Franz von 249 Mendelssohn, Moses 112, 126 Mendelssohn-Bartholdy, Albrecht 109, 116, 124-128, 196 Meyer, Conrad Ferdinand 52 Meyer, Eduard 178 Meyer-Bensey, Heinrich 44 Moellendorff, Wichard von 253 Moeller van den Bruck, Arthur 15f.

Molière, Jean-Baptiste 294 Mommsen, Wilhelm 37, 44, 265 Montaigne, Michel Eyquem 294 Morus, Thomas 135 Mühsam, Erich 237 Mulert, Hermann 19, 219, 221, 227 Münzer, Thomas 291 Muschg, Walter 164, 168 Musil, Robert 277, 286 Mussolini, Benito 183, 286 Napoleon I., Bonaparte 262 Naumann, Friedrich 15, 23, 26, 29, 31-36, 43f., 46, 50, 54, 261 Nawiasky, Hans 196 Neumann, Franz 196 Neurath, Otto 145 Newton, Sir Isaac 240 Nicolai, Georg Friedrich 237 Nietzsche, Friedrich 110, 124, 163, 177, 266, 289, 315 Noske, Paul 143, 146, 183 Novalis-Hardenberg, Georg Friedrich 266, 280 Offenbach, Jacques 294 Olden, Rudolf 316 Oncken, Hermann 21f. Onnes, Heike Kamerlingh 245 Ossietzky, Carl von 161, 174, 237 Otto, Rudolf 221 Oz, Amos 297 Painlevé, Paul 243 Papen, Franz von 24, 57, 65, 83, 308 Paul, Jean 286 Perels 196 Pestalozzi, Johann Heinrich 286 Peters, Hans 196 Petersen, Carl 34, 36 Petersen, Julius 168 Peukert Detlev J.K. 114 Pickering, Andy 232 Pius XII., Papst 86 Planck, Erwin 238 Planck, Max 15, 19, 231, 234-249, 252f. Platon 124 Plessner, Helmuth 115, 116 Ponten, Josef 290 Preuß, Hugo 32f., 41, 43, 54, 122, 127, 196, 264, 314

Personenregister Pringsheim, Alfred 261 Proust, Marcel 281, 285 Pünder, Hermann 105 Radbruch, Gustav 161, 196, 200, 210, 215f. Rade, Martin 19, 219, 221, 223f., 227 Radek, Karl 181 Radowitz, Joseph Maria von 262 Rathenau, Walter 135, 205, 241, 244, 266, 268 Raulet, Gérard 114 Reger, Erik 296 Reichel, Hans 123f. Reichert, Jacob 97 Reifenberg, Elise siehe Tergit, Gabriele Reinhardt, Walther 140 Reza, Yasmina 297 Richter, L 196 Ritter, Emil 76 Roethe, Gustav 239 Roosevelt, Franklin D. 110 Rosenberg, Arthur 17, 177-192 Rosenfeld, Kurt 139, 149 Rosenzweig, Franz 120 Rosin, Arthur 173 Rosin, Elvira 173 Roth, Joseph 173, 281 Rothenbücher, Karl 196 Rousseau, Jean-Jacques 68, 71, 119, 214, 258 Rowohlt, Ernst 278f., 282 Rückert, Friedrich 52 Saenger, Samuel 290 Safranski, Rüdiger 297 Salander, Gustav Adolf 119 Salomon, Albert 126 Salomon-Delatour, Gottfried 126 Sand, Karl Ludwig 291 Sartorius, Carl 196 Schäfer, Wilhelm 282, 296 Scheideler, Britta 240, 241 Scheidemann, Philipp 17, 53, 131, 146 Schickele, René 290 Schieder, Theodor 116 Schiller, Friedrich von 44, 157 Schlegel, Friedrich 280 Schleicher, Kurt von 308 Schlink, Bernhard 297 Schmidt, Eberhard 124 Schmidt-Ott, Friedrich 233, 246, 250f.

327

Schmitt, Carl 117, 196, 317 Schnabel, Franz 186 Schnädelbach, Herbert 114 Schnitzler, Arthur 282 Scholem, Werner 180f. Scholz, Ernst 13 Schopenhauer, Arthur 16, 112 Schreiber, Georg 62, 83f., 234 Schubart, Christian Daniel Friedrich 291 Schubring, Wilhelm 228 Schücking, Walther 196 Schumacher, Kurt 18 Schumpeter, Joseph 40, 319 Schwarzschild, Leopold 316 Seumes, Johann, Gottfried 14 Severing, Carl 171 Seydewitz, Max 149 Siemens, Carl Friedrich von 98 Silverberg, Paul 94, 100-102, 104, 106f. Simmel, Georg 120, 258 Simmel, Johannes Mario 175 Simons, Hans 174 Sinzheimer, Hugo 161, 196, 200 Sontheimer, Kurt 160 Sophokles 123f. Sorge, Kurt 93 Spengler, Oswald 47, 164 Spinoza, Baruch de 112, 294 Stadelmann, Rudolf 118 Stalin, Josef 178, 314 Stampfer, Friedrich 153 Stegerwald, Adam 57, 63, 68, 77-80, 83, 85f., 304 Stein, Heinrich Friedrich Karl, Reichsfreiherr vom und zum 44, 77f. Sternberg, Fritz 173 Sthamer, Gustav Friedrich Carl Johann 244 Stier-Somlo, Fritz 196 Stinnes, Hugo 93, 97f. Stockhausen, Rudolf 45f. Stolper, Gustav 39 Strauss, Leo 114 Stresemann, Gustav 10, 13, 19, 53, 93, 96f, 102, 173, 180, 199, 210, 229f., 236, 240, 243, 245-247, 257-261, 267, 269-274, 303 Ströbel, Heinrich 17, 19, 131-155 Talleyrand, Charles Maurice de 259 Taueber, Fritz 292 Tergit, Gabriele (Pseudonyme: Elise Reifen-

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Personenregister

berg, Elise Hirschmann, Christian Thomasius) 22, 311-322 Thalheimer, August 178-182 Thälmann, Ernst 178 Thiers, Adolphe 23, 30, 301 Thoma, Richard 196, 200, 211 Thomasius, Christian siehe Tergit, Gabriele Thyssen, Fritz 96, 99f., 102 Tilitzki, Christian 110 Tischleder, Peter 67, 71, 75, 86 Tocqueville, Charles Alexis Henri Clérel de 51f. Toller, Ernst 281 Traub, Gottfried 221 Trimborn, Carl 62, 69, 75, 81, 85 Troeltsch, Ernst 37, 221f., 224, 230, 264 Tucholsky, Kurt 154, 160f. 174f., 321 Turner, Henry A. 258 Uhland, Ludwig 52 Unruh, Fritz von 174 Vahlen, Theodor 251 Varga, Jenö (Eugen) 181 Voegeler, Emil Albert Wilhelm 249 Voegelin, Eric 119 Vögler, Albert 93, 97-100 Vogt, Karl 315 Vogt, Oskar 246 Vorländer, Karl 111 Waldeck, Hanna 281 Waldecker, L. 196 Walden, Herwarth 162, 163 Wallenstein, Albrecht von 162

Warburg, Aby 109, 118, 120, 124f. Warburg, Max M. 125 Warburg, Paul 125 Wassermann, Jakob 289f. Weber, Alfred 264, 272 Weber, Max 32, 39, 54, 117f., 125, 264f., 317 Weinel, Heinrich 228 Weiß, Ernst 282 Wendel, Hermann 186 Werfel, Franz 277f., 296 Whitman, Walt 266 Wiegler, Paul 290-292 Wieland, Lothar 132f. Wiesengrund(-Adorno), Theodor 187 Wilamowitz-Möllendorff, Ulrich von 178 Wilhelm II., deutscher Kaiser 20f., 92, 213, 236, 241, 299 Wille, Johann Nordal 245 Wilstätter, Richard 249 Winckelmann, Johann Joachim 284 Winter, Leon de 297 Wirsching, Andreas 186 Wirth, Joseph 57, 60, 84, 166 Wittmayer, L 196 Wittwer, Wolfgang 307 Wolff, Hans Julius 196 Wolff, Theodor 286, 315f. Wolters, Gereon 114 Zeeman, Pieter 245 Zola, Émile 173 Zweig, Arnold 174 Zweig, Stefan 282

Über die Autoren BÉATRICE BONNIOT: Attachée temporaire d‘enseignement et de recherche (ATER) an der Universität Paris IV-Sorbonne und Doktorandin an den Universitäten Paris IV-Sorbonne (Fach Deutschlandstudien) und Augsburg (Fach Geschichte) JÜRGEN EDER, Prof. Dr. phil., Leiter des Germanistischen Seminars an der Südböhmischen Universität in Budweis RÜDIGER GRAF, Dr. phil., Akademischer Rat auf Zeit am Lehrstuhl für Zeitgeschichte der Ruhr-Universität Bochum CHRISTOPH GUSY, Prof. Dr. jur., Professor für Öffentliches Recht, Staatslehre und Verfassungsgeschichte an der Universität Bielefeld THOMAS HERTFELDER, Dr. phil., Geschäftsführer der Stiftung BundespräsidentTheodor-Heuss-Haus, Stuttgart MARIO KESSLER, Prof. Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam SASCHA KIEFER, Dr. phil., Studienrat im Hochschuldienst, Fachrichtung Germanistik der Universität des Saarlandes, Saarbrücken SYLKE KIRSCHNICK, Dr. phil., seit 2005 Forschungsprojekt zum Demokratiedenken von Autor/innen der Weimarer Republik, der ČSR und der Ersten Republik Österreich THOMAS MEYER, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Simon-DubnowInstituts in Leipzig HORST MÖLLER, Prof. Dr. Dr. h.c. mult., Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin; Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität in München WOLFRAM PYTA, Prof. Dr. phil., Professor für Neuere Geschichte an der Universität Stuttgart

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Über die Autoren

ELKE SEEFRIED, Dr. phil., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Augsburg MARGIT SZÖLLÖSI-JANZE, Prof. Dr. phil., Professorin für Neuere Geschichte an der Universität zu Köln ANDREAS WIRSCHING, Prof. Dr. phil., Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Augsburg MATTHIAS WOLFES, Dr. theol., Dr. phil., zur Zeit im Kirchendienst, daneben Lehrbeauftragter am Institut für Evangelische Theologie an der Freien Universität Berlin

Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus WISSENSCHAFTLICHE REIHE Die Stiftung gibt in dieser Reihe die Tagungsbände zum Theodor-Heuss-Kolloquium, umfangreichere wissenschaftliche Monographien und Editionen heraus.

Band 1 Streiten um das Staatsfragment Theodor Heuss und Thomas Dehler berichten aus dem Parlamentarischen Rat Bearbeitet von Patrick Ostermann Mit einem Essay von Michael Feldkamp Hg. von Thomas Hertfelder und Jürgen C. Heß 328 Seiten, Stuttgart 1999 (vergriffen) Band 2 Von Heuss bis Herzog Die Bundespräsidenten im politischen System der Bundesrepublik Hg. von Eberhard Jäckel, Horst Möller und Hermann Rudolph 240 Seiten, Stuttgart 1999 (vergriffen) Band 3 Kritik und Mandat Intellektuelle in der deutschen Politik Hg. von Gangolf Hübinger und Thomas Hertfelder 365 Seiten, Stuttgart 2000 Band 4 Ulrich Baumgärtner Reden nach Hitler Theodor Heuss – die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus 479 Seiten, Stuttgart 2001

Band 5 Politischer Irrtum im Zeugenstand Die Protokolle des Untersuchungsausschusses des Württemberg-Badischen Landtags aus dem Jahre 1947 zur Zustimmung zum „Ermächtigungsgesetz“ vom 23. März 1933 Hg. und bearbeitet im Auftrag der Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus und des Landtags von Baden-Württemberg von Ernst Wolfgang Becker und Thomas Rösslein 431 Seiten, Stuttgart 2003 Band 6 Zur Ästhetik der Demokratie Formen der politischen Selbstdarstellung Hg. von Hans Vorländer 252 Seiten, Stuttgart 2003 Band 7 Geschichte für Leser Populäre Geschichtsschreibung in Deutschland im 20. Jahrhundert Hg. von Wolfgang Hardtwig und Erhard Schütz 408 Seiten, Stuttgart 2005 Band 8 Frieder Günther Heuss auf Reisen Die auswärtige Repräsentation der Bundesrepublik durch den ersten Bundespräsidenten 178 Seiten, Stuttgart 2006 Band 9 Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik Politik, Literatur, Wissenschaft Hg. von Andreas Wirsching und Jürgen Eder 330 Seiten, Stuttgart 2008