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German Pages 398 Year 2014
Matthias Hoesch Vernunft und Vorsehung
Quellen und Studien zur Philosophie
Herausgegeben von Jens Halfwassen, Dominik Perler und Michael Quante
Band 121
Matthias Hoesch
Vernunft und Vorsehung Säkularisierte Eschatologie in Kants Religions- und Geschichtsphilosophie
DE GRUYTER
ISBN 978-3-11-035125-5 e-ISBN 978-3-11-035136-1 ISSN 0344-8142 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Vorbemerkung
Einführung: Säkularisierung, Eschatologie und Geschichte 4 4 . Schwierigkeiten mit dem Säkularisierungsbegriff .. Die Bedeutungsvielfalt des Begriffs 4 .. Das Problem des historischen Substantialismus 7 12 .. Die ideenpolitische Relevanz . Karl Löwiths Säkularisierungstheorem 19 25 . Kritik am Säkularisierungstheorem 37 . Theodizee und Geschichtsphilosophie 42 . Die Fragestellung .. Die Frage nach säkularisierter Eschatologie 42 45 .. Textauswahl und gegenwärtige Forschungslage 48 .. Gliederung
Teil I:
1
Grundlagen
Strukturelle Merkmale der Eschatologie . Biblische Eschatologie 52 . Eschatologie als Geschichtstheologie
51 55
Der praktisch-philosophische Kontext des Geschichtsdenkens Kants: Moral und Recht 61 61 . Kants Grundlegung der Moralphilosophie . Die Eigenart des Rechts 66 . Staat und internationaler Rechtszustand 70 80 . Zum Verhältnis von Moral und Recht
VI
Inhalt
Teil II:
Vernunftreligion und moralischer Fortschritt
Kants Religionsphilosophie in den drei Kritiken . Grundlagen der Religionsphilosophie Kants . Der ‚moralische Gottesbeweis‘ 94
Säkularisierte Eschatologie in der Religion innerhalb der Grenzen der blo110 ßen Vernunft . Moral und Geschichte als Thema der Religionsschrift 110 . Das ethische Gemeinwesen als Volk unter göttlichen Gesetzen 119 139 . Der Übergang zur Geschichte: sichtbare und unsichtbare Kirche . Eschatologie als Geschichtsphilosophie: Kommentar zu RGV VIII, 785 – 787 155 . Die „Historische Vorstellung der allmählichen Gründung der Herrschaft 168 des guten Prinzips“ 184 . Ergebnisse
91 91
Teil III: Geschichtsphilosophie zwischen Naturteleologie und Friedensutopie
Teleologie und Geschichte 197 . Die Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher 198 Absicht 231 . Der §83 der Kritik der Urteilskraft
Praktische Vernunft und Geschichte 248 . Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber 248 nicht für die Praxis, III. Teil 259 . Der Zweite Abschnitt des Streits der Fakultäten
Übergreifende Problemstellungen der Geschichtsphilosophie . Recht oder Moral als Ziel der Geschichte? 284 . Zwischenfazit: Strukturanalogien zur Eschatologie 290 301 . Rechtfertigung des Fortschrittsdenkens . Vorsehung und menschliche Freiheit 311 319 . ‚Naturabsicht‘ oder ‚göttliche Vorsehung‘? . Geschichte und Theodizee 327
284
Inhalt
Teil IV
Synthese: Geschichte und Religion
Geschichte und Religion im System Kants 339 342 . Profane Geschichte und Kirchengeschichte . Ethisches Gemeinwesen und Postulatenlehre 345 347 . Geschichte und höchstes Gut
Rück- und Ausblick: Ist eine säkulare Geschichtsphilosophie möglich? 356
Siglenverzeichnis Literaturverzeichnis
366 367
Personen- und Sachregister
384
VII
Vorbemerkung „Das Reich Gottes auf Erden: das ist die letzte Bestimmung des Menschen.“ (Kant, Reflexion 1396, AA XV, 608)
Auch wenn Geschichtsphilosophie als eigene philosophische Disziplin aus der akademischen Landschaft mehr oder minder verschwunden ist, bleibt die philosophische Beschäftigung mit Geschichtsbildern, Fortschritts- und Zukunftserwartungen nach wie vor unerlässlich. Nicht nur, dass Ereignisse wie der Arabische Frühling die optimistische Vorstellung eines Siegeszugs der Demokratie von neuem befördern, um gleich darauf den Fortschrittsskeptikern wieder in die Arme zu spielen; dass die Entwicklung des Völkerrechts und der Menschenrechte Anlass zu Kontroversen um die der Rechtsgeschichte inhärente Logik gibt; dass in Teilen der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften regelmäßig um implizite Fortschrittsannahmen teleologischer Art gestritten wird, die möglicherweise weder theoretisch noch empirisch gedeckt sind – weit über diese Beobachtungen hinausgehend stellt die Phänomenologie und Rhetorik des zeitgenössischen politischen Handelns, welches sich von der Logik sich verselbstständigender Märkte oder anderer nicht-politischer Kräfte immer wieder hilflos zu ‚alternativlosen‘ Entscheidungen gedrängt sieht, sogar die Gestaltbarkeit von Geschichte grundsätzlich in Frage. Dass Geschichte überhaupt vom Menschen gestaltet werden könnte, ist philosophiegeschichtlich erstaunlicherweise eine recht junge Überlegung. Sie entsteht zu Beginn der Moderne allmählich aus dem Zusammenbruch der mittelalterlichen Vorstellung einer Einbettung allen Denkens und Handelns in den ordo naturae, welcher dem Menschen einen stabilen Rahmen seines Tuns verspricht, über den er selbst nicht verfügen kann. Doch kommt der sich abzeichnende Geschichtsbegriff nicht gänzlich ohne eine Annahme aus, die noch dem mittelalterlichen Denken entspringt, nämlich die Möglichkeit, Geschichte überhaupt als ein lineares Fortschreiten auf ein Ziel hin denken zu können. Diese Annahme wiederum speist sich aus einem – zugleich biblisch wie hellenistisch geprägten – christlichen Weltbild, bzw. konkreter aus der Vorsehungstheologie und weiteren Motiven, die man im weiten Sinn der christlichen Eschatologie zurechnen kann. Mit dem Versuch, aus Teilen dieser Tradition einen neuartigen Geschichtsbegriff zu gewinnen, ist daher ein Säkularisierungsvorgang verbunden, der mit der Übertragung theologischer Konzepte in säkulare Zusammenhänge nicht einfach die Theologie enteignet oder funktional ersetzt, sondern vor allem deren Gehalte und Begriffsformen in neue, diesmal säkulare Zusammenhänge einträgt.
2
Vorbemerkung
Vor diesem Hintergrund versucht die folgende Arbeit, das Geschichtsdenken Kants, wie er es sowohl innerhalb seiner Religionsphilosophie, vornehmlich der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, als auch in den geschichtsphilosophischen Schriften ausbuchstabiert hat, kritisch zu rekonstruieren, die enthaltenen Spannungen sichtbar zu machen und auf die im weitesten Sinne ‚geschichtsphilosophischen‘ Probleme zu beziehen, mit denen auch die Geschichtstheorie der Gegenwart insbesondere in Bezug auf ein Konzept der Gestaltbarkeit von Geschichte konfrontiert ist. Auf das Verhältnis von Vernunft und Vorsehung, das sich als Leitthema durch die Arbeit zieht, wird dabei in zwei verschiedenen Hinsichten Bezug genommen: Zum einen versucht Kant, Aspekte der Vorsehungstheologie vernünftig zu rechtfertigen; zum anderen stellt sich das Problem, welche Rolle die Vernunft handelnder Subjekte innerhalb einer von der Vorsehung geleiteten Geschichte überhaupt spielen kann. Auch wenn heute der Begriff der Säkularisierung unverändert en vogue ist und vielleicht sogar einer übertrieben inflationären Verwendung anheimfällt, wird er mittlerweile zunehmend nur im Nebensatz aufgegriffen oder taucht in Form von bloßen Andeutungen auf. In der Philosophie der Gegenwart existieren kaum noch Ansätze, die ihn zum theoretischen Ausgangspunkt oder zum zentralen Konzept von philosophiegeschichtlichen Darstellungen oder Werkinterpretationen wählen, wie dies noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbreitet war. Ein wichtiger Grund für dieses Phänomen dürfte in der heftigen und in vieler Hinsicht berechtigten Kritik liegen, mit denen Säkularisierungstheoreme insbesondere seit den 1970er Jahren konfrontiert wurden. Diese Kritik kann hier nicht übergangen werden. Als Folge dessen ist der vorliegenden Arbeit eine ausführliche und möglicherweise etwas ungewöhnliche Einführung vorangestellt. Sie erfüllt zwar die klassischen Funktionen einer Einleitung, indem sie in den Kontext einführt und die Relevanz der Fragestellung erläutert. Dies geschieht jedoch nicht einfach im Rahmen einer aneinanderreihenden Ausbreitung der relevanten Umstände, sondern auf dem Rücken einer sich durch die gesamte Einführung durchziehenden Argumentation, die aufzeigen soll, in welchem Sinn es methodisch zulässig und philosophisch gehaltvoll sein kann, überhaupt von säkularisierter Eschatologie zu sprechen. Dem Leser wird sich hoffentlich erschließen, dass sich die Arbeit aus diesem Grund scheinbar erst spät dem eigentlichen Thema zuwenden kann. Die vorliegende Arbeit wurde im Oktober 2013 von der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen. Meinem Doktorvater Ludwig Siep bin ich für die hervorragende Betreuung und vielfältige Unterstützung zu größtem Dank verpflichtet. Bei Michael Städtler, der das Zweitgutachten verfasst hat, möchte ich mich in gleicher Weise für die ex-
Vorbemerkung
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zellente Betreuung bedanken, insbesondere für die wichtigen Gespräche, die allesamt Eingang in die Arbeit gefunden haben. Beide waren für mich akademische Lehrer wie persönliche Begleiter zugleich. Michael Quante, Dominik Perler und Jens Halfwassen danke ich für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe Quellen und Studien zur Philosophie. Ihr Engagement machte die schnelle Veröffentlichung möglich.Viel profitiert habe ich von Mitgliedern des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ in Münster, dessen Graduiertenschule der Promotion einen äußerst entgegenkommenden Rahmen bot. Dem Exzellenzcluster sei daneben für die Gewährung des Druckkostenzuschusses gedankt. Weiterhin möchte ich Martin Karrer von der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel danken, der mit Liebe fürs Detail die theologischen Elemente der Arbeit durchgesehen und letztlich ‚abgesegnet‘ hat. Ein besonderer Dank gilt schließlich Pauline Kleingeld, die mich während eines Forschungsaufenthalts an der Rijksuniversiteit Groningen mit außergewöhnlich viel Engagement an ihren Kenntnissen der Geschichtsphilosophie Kants hat teilhaben lassen. Das Verfassen einer Dissertation lebt indes nicht nur von fachlicher Unterstützung – besonders, wenn ‚nebenbei‘ vier Kinder versorgt werden wollen. Nicht alles verlief sorgenfrei, und umso mehr sei all denen von Herzen gedankt, die Rückhalt geboten oder zeitweise Kinderbetreuung übernommen haben; stellvertretend seien Katharina Deckers, Christoph Mönks und Meye Hoesch de Orellana genannt. Dem Cusanuswerk bin ich für die Gewährung des Promotionsstipendiums dankbar, insbesondere aber für zahlreiche ermutigende Familientage und die Rückzugsmöglichkeit im Cusanushaus Mehlem. Für Hilfe beim Durchsehen des umfangreich gewordenen Manuskripts danke ich vor allem Irmgard HerzogDeutscher und Andreas Karrer für ihre unersetzliche Mühe; weiterhin halfen engagiert und kompetent Andreas Tabbert sowie Andrea, Barbara und Benjamin Hoesch – auch hierfür herzlichen Dank. Der größte Dank gilt jedoch jemandem, der (bislang) keine Zeile der Arbeit gelesen hat. Liudmila, danke für all das, was du trotz deiner eigenen beruflichen Weiterentwicklung auf dich genommen hast, um mich zu entlasten – aber auch für die (zu knappen) Stunden, die wir zusammen genießen konnten. Münster, April 2014
1 Einführung: Säkularisierung, Eschatologie und Geschichte 1.1 Schwierigkeiten mit dem Säkularisierungsbegriff Säkularisierungsphänomenen nachzuspüren, ist akademisch nicht unumstritten. Dass mit Problemen konfrontiert wird, wer mit wissenschaftlichem Anspruch einen Vorgang als Säkularisierung bezeichnet, hat mehrere Ursachen. Zumindest drei dieser Ursachen sollen skizziert werden, bevor in kritischer Auseinandersetzung mit dem klassisch gewordenen Säkularisierungstheorem Karl Löwiths aufgezeigt werden kann, in welchem Sinn und mit welcher Motivation sich die vorliegende Arbeit der Frage nach säkularisierter Eschatologie in den religionsund geschichtsphilosophischen Schriften Kants widmet.
1.1.1 Die Bedeutungsvielfalt des Begriffs Ein erstes Problem liegt in der Vielfalt an Bedeutungen, die der Säkularisierungsbegriff im Laufe seiner Geschichte inne hatte und in der Gegenwart inne hat:¹ Ursprünglich ein Fachbegriff aus dem römisch-katholischen Kirchenrecht, der den (legitimen) Übergang von Ordensgeistlichen zurück in den weltlichen Stand bezeichnet, wird er später – erstmals im Zusammenhang mit dem Westfälischen Frieden in Münster – vor allem in politisch-juristischer Bedeutung für die Überführung von kirchlichen Besitzständen in weltliche Herrschaft gebraucht. Das meist in Abgrenzung zur Säkularisierung als „Säkularisation“² bezeichnete konkrete historische Ereignis der Einverleibung von geistlichen Reichtümern unter Napoleon zeugt bis heute von dieser Verwendung. Erst seit dem 19. Jahrhundert wird der Säkularisierungsbegriff zur Charakterisierung einer geistesgeschichtlichen Entwicklung herangezogen.³ Wissenschaftsgeschichtlich stehen die Ausdifferenzierung der akademischen Disziplinen und ihre Emanzipation von der zuvor mutmaßlich alles dominierenden Theologie im Vordergrund. Aber auch innerhalb der Disziplinen ist von Säkularisierung die
Zur Begriffsgeschichte vgl. Marramao 1999 und Lübbe 1965. Leider gibt es keinen einheitlichen Sprachgebrauch. Wenn daher im Folgenden zuweilen in Zitaten von „Säkularisation“ gesprochen wird, ist damit ein Synonym zur Säkularisierung gemeint. Exemplarisch ist Diltheys bahnbrechendes Werk Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883) zu nennen. Hegel und Marx sprechen zuvor von „Verweltlichung“; vgl. dazu z. B. Zabel 1984.
1.1 Schwierigkeiten mit dem Säkularisierungsbegriff
5
Rede: Die Geschichte der Philosophie wie auch die Geschichte der Theologie werden als Prozess der Verweltlichung begriffen; ebenso die Entstehung des modernen Staates und die historische Entwicklung der (protestantischen) Kirche. Mit dem Entstehen der empirischen Soziologie erfährt der Säkularisierungsbegriff seine jüngste, bis heute nicht abgeschlossene Transformationsstufe: Unter der Bedingung der empirischen Überprüfbarkeit werden eine ganze Reihe von konkurrierenden Säkularisierungsdefinitionen eingeführt, die von der institutionellen Trennung von Kirche und Staat über die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Bereiche und den damit verbundenen Rückzug der Religion ins Private bis zum Absterben des Phänomens Religion überhaupt reichen.⁴ Die Vieldeutigkeit des Säkularisierungsbegriffs in Geschichte und Gegenwart verweist auf zwei weitere, zugrundeliegende Probleme: Zum einen provoziert der nur schwer zu fassende Charakter der für den Begriff konstitutiven Unterscheidung von „religiös“ und „säkular“ bzw. „außerweltlich“ und „weltlich“ immer neue Versuche, eine möglichst exakte und empirisch möglichst gut messbare Definition einzuführen. In der Religionssoziologie, in der dieser Streit mit besonderer Vehemenz geführt wird, werden solche Versuche oftmals mit dem Vorwurf konfrontiert, dass es der Wissenschaft letztlich nicht gelingen könne, „den Menschen ins Herz [zu] blicken“ (Graf 2004, 96). Besonders treffend wird diese Problematik an der Kontroverse sichtbar, ob Kirchenaustritte als Indiz für die Säkularisierung der Gesellschaft herangezogen werden können (vgl. dazu Pollack 2003, 133 ff.). Aber auch außerhalb der Religionssoziologie bleibt die Unterscheidung von „religiös“ und „säkular“ eine umstrittene. Zum anderen verbirgt sich hinter der Vieldeutigkeit des Säkularisierungsbegriffs der Versuch seiner Anwendung auf eine immer größere Zahl von Sachverhalten bis hin zu der Tendenz, das Fortschreiten der Geschichte überhaupt nur noch unter der Säkularisierungskategorie begreifen und beschreiben zu wollen. Eine solche inflationäre Anwendung ergibt sich erstens aus der Übertragung des in der Neuzeit zur Charakterisierung eines typisch neuzeitlichen Phänomens eingeführten Säkularisierungsbegriffs auf frühere Epochen. So wird die Entstehung der antiken Geschichtsschreibung aus dem Mythos als Säkularisierung bezeichnet (Zwenger 2008, 61), das Christentum als Säkularisierung der heidnischen griechischen Welt verstanden (Gogarten 1953), und in der Literaturwissenschaft werden Säkularisierungseffekte im Mittelalter aufgespürt (de Boor 1964). Jan Assmann (2000, 29) definiert sogar den für seine Studien zum alten
In diese drei Gruppen teilt etwa Casanova (1994) die gängigen Definitionen ein. Taylor (2009) ergänzt jüngst eine weitere Definition: Demnach führe Säkularisierung zur Ausbildung einer säkularen Option der Lebensgestaltung.
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1 Einführung: Säkularisierung, Eschatologie und Geschichte
Ägypten essentiellen Begriff der Theologisierung schlicht als exakten Gegenbegriff zur Säkularisierung. Zweitens ist die inflationäre Anwendung eine Folge der dogmatischen Identifikation der Säkularisierungskategorie mit dem nicht weniger problematischen Begriff der Modernisierung. Wenn jede Modernisierung notwendig mit einer Säkularisierung einhergehen soll, liegt es nahe, Säkularisierungsphänomene überall dort herauslesen zu wollen, wo ein Fortschreiten der Geschichte erkennbar ist – entsprechend vielgestaltig muss der Begriff definiert werden, um all die verschiedenen Phänomene darunter subsumieren zu können. Erst in den letzten zwei Jahrzehnten wird diese Identifikation zunehmend aufgegeben (vgl. etwa Joas 2007). Drittens wird durch die Anwendung des Begriffs auf die Theologiegeschichte bzw. auf Religionen selbst der Gegensatz von „religiös“ und „säkular“ eliminiert. Im Anschluss an die These Troeltschs, die moderne Welt sei in wesentlichen Zügen aus einer (durchaus positiv zu beurteilenden) Entwicklung des Christentums hervorgegangen,⁵ wird immer wieder versucht, Säkularisierungsprozesse innerhalb der Religionen selbst aufzuweisen bzw. die „Säkularisierung als einen positiven Entwicklungsweg des Christentums in der Geschichte“ (Vattimo 1997, 46) zu verstehen. Für ‚sich säkularisierende Religionen‘ müssen entsprechend wieder neue, offenere Kriterien eingeführt werden. Die sich aus diesen drei Phänomenen ergebende, inflationäre Anwendung hat zur Folge, dass der Säkularisierungsbegriff immer allgemeiner und vielfältiger gefasst wird und damit seine inhaltliche Bestimmtheit einbüßt. Ohne den ironischen Charakter dieser Behauptung zu bemerken, wird es etwa für möglich gehalten, 2401 verschiedene Typen von Säkularisierungsvorgängen definieren zu können (so Pott 2002, 6). Dabei liegen nicht nur verschiedene Akzentuierungen eines einheitlichen, wenn auch allzu breit gefassten Begriffs vor. Vielmehr widersprechen sich die zahlreichen in der Literatur vorhandenen Definitionsversuche offensichtlich gegenseitig. So wird unter Säkularisierung zugleich die Abwendung von einer mythisch verzauberten Welt zugunsten der christlichen Transzendenz verstanden (Gogarten 1953), wie auch der Verlust ebendieser Transzendenz; eine zunehmende Privatisierung der Religion ist mit deren völligem Verschwinden ebenso wenig vereinbar wie dieses mit einer positiven Weiterentwicklung des Christentums im Sinne Vattimos; und eine Transformation christ-
Vgl. insbesondere sein Werk Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt (1911).
1.1 Schwierigkeiten mit dem Säkularisierungsbegriff
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licher Gehalte in säkulare ist etwas grundlegend anderes als die Abkehr von christlichen Gehalten.⁶ Im Ergebnis kann man mit Joachim Matthes konstatieren, dass der Säkularisierungsbegriff „ein relativ abstraktes sprachliches Zeichen für ein vielschichtiges Agglomerat von Aussagen“ darstellt, das zu „einer in sich inkonsistenten, variablen, durchaus kontrovers auslegbaren Deutung der Wirklichkeit“ (1967, 77) dient. Die Vieldeutigkeit oder Unterbestimmtheit des Säkularisierungsbegriffs und das kurz erwähnte Problem der Abgrenzung von „säkular“ und „nicht-säkular“, die der Säkularisierungsbegriff voraussetzen muss, spricht freilich nicht prinzipiell gegen seine Verwendung. Ihr lässt sich Rechnung tragen, indem eine dem Erkenntnisinteresse angemessene und ausreichend bestimmte Definition eingeführt wird (siehe Kapitel 1.5). Anders muss den folgenden zwei Schwierigkeiten mit dem Säkularisierungsbegriff begegnet werden: Einerseits stellt sich das Problem, dass der Säkularisierungsbegriff eine Änderung vom Religiösen zum Säkularen beschreibt, jede Änderung aber etwas, das sich ändert, aristotelisch gesprochen: eine Substanz, voraussetzt; andererseits geht es um die ideenpolitischen Konnotationen des Säkularisierungsbegriffs.
1.1.2 Das Problem des historischen Substantialismus Wenn die Frage nach einer möglichen Säkularisierung der Eschatologie gestellt wird, bezeichnet die Säkularisierungskategorie einen ideengeschichtlichen, genealogischen Zusammenhang. Es geht um die Behauptung, dass ein Theoriestück, ein Gedankengang, eine Argumentationsfigur oder auch nur ein Begriff als säkulare Weiterentwicklung eines historisch vorhergehenden theologischen Theoriestücks, eines Gedankengangs, einer Argumentationsfigur oder eines Begriffs gelten kann. Die logische Form dieser Verwendung der Säkularisierungskategorie ist eine zweistellige Relation, wobei die beiden Relata hinreichend voneinander verschieden sein müssen („Säkularisierung von x zu y“; „y ist säkularisiertes x“). Säkularisierung transformiert demnach eine Entität derart, dass das Resultat mit
Zuweilen kommt es sogar vor, dass ein Autor mehrere, einander widersprechende Säkularisierungsbegriffe verwendet, was dazu führt, dass letztlich so gut wie alle historischen Prozesse als Säkularisierung bezeichnet werden können (z. B. Pott 2002; Lehmann 2001). Auch der Versuch, die Widersprüche durch die Unterscheidung von „vollständig abgeschlossenen“ und „nicht abgeschlossenen“ Säkularisierungsprozessen aufzulösen (Pott 2002, 6), muss notwendig scheitern: Eine noch so „abgeschlossene“ oder „vollendete“ Transformation christlicher Gehalte in ein säkulares Gewand wird nie zu einer Aufgabe der christlichen Gehalte.
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1 Einführung: Säkularisierung, Eschatologie und Geschichte
dem Ursprung in gewisser Hinsicht nicht mehr identisch ist. Zu den Beispielen, auf die die Relation typischerweise angewendet worden ist, zählen der Staat als säkularisierte Kirche (Voegelin 1939, 34), das Strafrecht als säkularisierte Vergeltungs-Theologie (Gutmann 2008, 295 f.), der Kapitalismus als säkularisierte protestantische Ethik bzw. das moderne Arbeitsethos als verweltlichte Form calvinistischer Askese (Max Weber 2010 [1904/05]), mit leicht ironischer Intention die akademische Vorlesung als (missglückte) Säkularisierung der Predigt (Horkheimer 1989 [1952], 21) und, wiederum völlig ohne Ironie, eben das moderne Geschichtsdenken als Säkularisierung der christlichen Eschatologie. Dass die Säkularisierungskategorie als zweistellige Relation gefasst werden muss, ist nicht selbstverständlich. Die soziologische bzw. geschichtswissenschaftliche These einer „Säkularisierung der Gesellschaft“ versteht Säkularisierung als eine einstellige Relation („Säkularisierung von x“)⁷. Auch in ideengeschichtlichen Zusammenhängen wird häufig die einstellige Säkularisierungsrelation verwendet. Man spricht dann etwa von einer „Säkularisierung der politischen Philosophie“ oder einer „Säkularisierung der Normenbegründung“. Jeder Säkularisierungsvorgang beschreibt einen Prozess, d. h. eine Veränderung. Die ideengeschichtliche Verwendung des Säkularisierungsbegriffs als zweistellige Relation kann in diesem Punkt aber nicht vollständig analog mit der einstelligen soziologischen Verwendung begriffen werden. Ist von einer Säkularisierung der Gesellschaft die Rede, so ist der sich verändernde Gegenstand die Gesellschaft, die zunächst religiös geprägt ist und später einen säkularen Charakter aufweist. Die im Säkularisierungsbegriff beschriebene Veränderung vollzieht sich an der Größe „Gesellschaft“; diese geht von einem Zustand in den anderen über.⁸ Eine solche Transformation eines gleichbleibenden Gegenstandes ist bei der ideengeschichtlichen, als zweistellige Relation gefassten Säkularisierungskategorie nicht auf den ersten Blick ersichtlich, soll der Gegenstand doch durch die Transformation gerade zu etwas anderem werden. Geschichtsphilosophie, um bei diesem Beispiel zu bleiben, ist offensichtlich nicht vollständig identisch mit Eschatologie, und dennoch wird über den Transformationsgedanken eine gewisse Identität behauptet: y ist eine verwandelte Form von x. Entsprechend wird denjenigen, die ideengeschichtliche Säkularisierungszusammenhänge ausgemacht haben wollen, vorgeworfen, sie seien auf einen ‚his-
In der vollständigen Rekonstruktion müsste man diese freilich noch um zwei Zeitpunkte ergänzen: „Säkularisierung von x zwischen t0 und t1“. Dies ist immer noch etwas ganz anderes als eine Säkularisierung von x zu y zwischen t0 und t1. Auch hier kann freilich die Konstanz des Gegenstands bezweifelt werden, was die gängige soziologische Verwendung des Begriffs in Zweifel ziehen würde. Ich gehe darauf nicht weiter ein.
1.1 Schwierigkeiten mit dem Säkularisierungsbegriff
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torischen Substantialismus‘ festgelegt, müssten also davon ausgehen, dass es identifizierbare substanzielle Gehalte gibt, die sich durch die Geschichte durchhalten. Als Säkularisierung seien nur Vorgänge zu bezeichnen, bei denen solche substantiellen Gehalte mal in der einen, mal in der anderen Weise zu Tage treten. Der Säkularisierungstheoretiker müsse etwa zeigen, dass die Substanz, die ursprünglich der christlichen Eschatologie zugrunde liegt, später in der Geschichtsphilosophie immer noch vorhanden sei.⁹ Die substantialistische Implikation der Säkularisierungsbehauptung führt nun zu zwei Einwänden: Zum einen kann argumentiert werden, der historische Substantialismus sei keine adäquate erkenntnistheoretische Annahme, weil substantielle Konstanten selbst keiner angemessenen historischen Betrachtung mehr zugänglich seien und den Historiker vorschnell zu Festlegungen zwängten (Blumenberg 1974, 37). Unter dieser Voraussetzung wäre die Rede von Säkularisierung schlicht ausgeschlossen, weil sie eine methodisch unzulässige Kategorie voraussetze. Zum anderen kann man, selbst wenn man die Existenz substantieller Konstanten in der Geschichte einräumte, daran zweifeln, dass es im Einzelfall gelingen kann, den Nachweis einer sich durchhaltenden Substanz bei zwei offenkundig verschiedenen geistesgeschichtlichen Phänomenen zu erbringen: Zunächst müsste die ursprüngliche Substanz überhaupt hinreichend definierbar und sodann im Säkularisat, das sich ja vom Ursprung unterscheidet, eindeutig wieder aufzufinden sein; dies sei jedenfalls bei den gängigen Beispielen für Säkularisierungen nicht möglich (z. B. Blumenberg 1966, 30). Somit steht die ideengeschichtliche Säkularisierungskategorie vor dem Dilemma, dass sie eine Konstante, an der sie sich vollzieht, voraussetzt, es aber diese Konstante gleichzeitig prinzipiell nicht geben kann – oder aber, was auf das gleiche Ergebnis hinausläuft, der Nachweis der Konstante eine so hohe Beweislast mit sich bringt, dass er quasi nie gelingen wird. ¹⁰ Der Ausweg aus diesem Dilemma besteht in der Suche nach einem weniger anspruchsvollen Äquivalent für die Konstanz der Substanz. Es drängt sich somit ein Funktionsmodell der Säkulari-
Als erster hat Blumenberg auf dieses Problem aufmerksam gemacht: „Ohne eine solche substantielle Identität ließe sich der Rede von Umbildung und Transformation kein nachvollziehbarer Sinn beiliegen.“ (1974, 23; vgl. auch 1966, z. B. 19). Blumenberg bezieht sich offenbar unausgesprochen auf Cassirers Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910) und überträgt dessen wissenschaftstheoretische Thesen auf das Säkularisierungsproblem; vgl. dazu sowie ausführlicher zu Blumenbergs Säkularisierungskritik Zerrath 2011, 51 ff. und Brient 2002. So versteht Löwith die Kritik Blumenbergs: „Indem [Blumenbergs] historisches Bewusstsein eine substanzielle Tradition und sich gleichbleibende Grundzüge ablehnt, sie aber zugleich zu einem Merkmal nachweisbarer Säkularisation erhebt, bürdet er seinem Gegner einer Beweislast auf, die er selbst für undurchführbar hält.“ (1983 [1968], 454)
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1 Einführung: Säkularisierung, Eschatologie und Geschichte
sierung auf.¹¹ Konstant bleibt demnach nicht eine Substanz, sondern nur eine Funktion, die ein Theoriestück, ein Gedankengang, eine Argumentationsfigur oder ein Begriff innehat.Von Säkularisierung lässt sich demzufolge nicht erst sprechen, wenn das Säkularisat sämtliche Wesenseigenschaften des Ursprungs teilt, sondern schon, wenn eine Position innerhalb des Feldes der theoretischen Reflexion, die zunächst von theologischen Überlegungen eingenommen wurde, von der säkularen Philosophie übernommen wird. Das moderne Strafrecht könnte etwa als säkularisierte Vergeltungstheologie gelten, weil beide die Funktionen inne haben, einen angemessenen ‚Lohn‘ für Verbrechen zum einen zu legitimieren und zum anderen in Aussicht zu stellen. Im hier behandelten Fall der Geschichtsphilosophie als säkularisierter Eschatologie könnte die gemeinsame Funktion in der sinnvollen Deutung einer vorreflektiert als unsinnig wahrgenommenen Gegenwart bestehen; es kämen sicherlich noch viele weitere funktionelle Gemeinsamkeiten in Frage. Statt von „Funktion“ könnte man auch von einer gleichbleibenden Motivation, von einer identischen Fragestellung oder von einer identischen Stelle im System der Welt- und Selbstdeutung (vgl. Blumenberg 1974, 76) sprechen. In jedem Fall gilt, dass es sich um eine hinreichend spezifische Stelle, Funktion, Motivation oder Fragestellung handeln muss, sodass sie eindeutig identifiziert und von anderen abgegrenzt werden kann. Im Gegensatz zum substantialistischen Säkularisierungsbegriff scheint hier eine erfüllbare Beweislast vorgegeben zu sein, nämlich der Nachweis einer konstanten Funktion. Das entscheidende Merkmal zur Identifizierung einer konstanten Funktion besteht im Nachweis von Strukturanalogien. Beispielsweise wird Geschichte von der Geschichtsphilosophie ebenso wie von der Eschatologie als zielstrebig, endlich, einheitlich etc. gedacht; diese Gemeinsamkeiten verweisen auf die zugrundeliegende gemeinsame Funktion. An dieser Stelle zeigt sich jedoch, dass sich das Problem der Verifizierung einer gleichbleibenden Substanz im Funktionsmodell in einer abgeschwächten Weise wiederholt. Der Säkularisierungszusammenhang beinhaltet nämlich einen genealogischen Zusammenhang. Ideengeschichtlich soll y aus x hervorgegangen sein; eine bloße Gleichartigkeit der Funktion oder das bloße Vorhandensein von Strukturanalogien kann keine ausreichende Verifikation eines Säkularisierungszusammenhangs darstellen. Die Feststellung, dass Geschichte sowohl in der christlichen Eschatologie als auch in der modernen Geschichtsphilosophie ziel-
So weit ich sehen kann, schließen sich Säkularisierungstheoretiker heute überwiegend dem Funktionsmodell an. Eine Ausnahme ist Pott, die offensichtlich am historischen Substantialismus festhalten möchte (vgl. 2002, 5). Sie erklärt aber nicht, was sie genau unter einer historischen Substanz versteht, und die zahlreichen Kriterien, nach welchen sie von Säkularisierungen sprechen möchte, deuten auch bei ihr eher auf eine Art Funktionsmodell hin.
1.1 Schwierigkeiten mit dem Säkularisierungsbegriff
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strebig, einheitlich und endlich gedacht wird, reicht alleine nicht aus, um einen genealogischen Zusammenhang zwischen Eschatologie und Geschichtsphilosophie zu begründen.Vielmehr ist in zwei Schritten vorzugehen: Nach dem Nachweis der Strukturanalogien bedarf es zusätzlich so etwas wie eines Beleges der „geschichtlichen Vermittlung der analogen Begriffe“ (Jaeschke 1976, 47). Die ideengeschichtliche Dimension des Funktionsmodells „liegt im Nachweis nicht des genealogischen Zusammenhangs der Inhalte, sondern der Kontinuität bzw. Diskontinuität des Schemas“ (ebd., 45). Wer eine ideengeschichtliche Säkularisierungsthese vertritt, muss zeigen können, dass kein „methodische[r] Neubeginn“ (Riedel 1973, 221, vgl. auch 211) auf der Grundlage von spezifisch neuzeitlichen Erfahrungen mit Wissenschaft und Technik, bzw. keine radikale ‚Schöpfung aus dem Nichts‘ vorliegt, sondern dass das eine aus dem anderen entstanden ist. Es muss sich also um eine Funktion handeln, deren historische Vermittlung einsichtig gemacht werden kann. Es ist fraglich, ob hier ein ‚Nachweis‘ in einem strengen Sinn überhaupt denkbar ist. Wenn man nicht in den Substantialismus zurückfallen möchte, kann es sich nur um die Plausibilisierung der Annahme handeln, dass sich der vorhandene geistige Horizont, der durch die Auseinandersetzung mit bestimmten, meist traditionellen Theoriesystemen entsteht, in entscheidenden Punkten in der eigenen Theorie niederschlägt. Dies muss nicht notwendig in einer nachweisbaren Beschäftigung eines Autors mit älteren Quellen bestehen. Es geschieht bereits, indem der geistige Horizont „Imitationspflichten“ (Marquard 1982, 17) auferlegt, derer sich der Autor gar nicht bewusst sein muss. Akzeptiert man die Marquardsche Hypothese von der ständigen Existenz solcher Imitationspflichten, liegt bereits dann ein Anhaltspunkt für die historische Vermittlung von Strukturen vor, wenn ein hinreichend spezifisches funktionales Schema ideengeschichtlich über eine längere Zeit ununterbrochen besteht. Weitere Anhaltspunkte könnten etwa in dem Aufgreifen prägnanter Begriffe gesucht werden. Mit der genealogischen These, die der ideengeschichtliche Säkularisierungsbegriff mit sich bringt, deutet sich an, dass der ideengeschichtliche Säkularisierungszusammenhang keinen (oder zumindest nicht immer einen) rein deskriptiven Charakter haben kann, wie er etwa in soziologischen Säkularisierungsmodellen intendiert wird. Weil mit dem Begriff eine Theorie nicht nur beschrieben wird, sondern auch Aussagen darüber getroffen werden, aus welchen Gründen und Motiven die Theorie entstanden ist, handelt es sich beim ideengeschichtlichen Säkularisierungsbegriff eher um ein erklärendes und damit interpretatives Konzept (so auch Blumenberg 1974, 16 f.). Aussagen dieser Art treffen, wenn sie ausreichend begründet werden können, wichtige Aspekte; sie sind aber selten die ausschließlich wahren Deutungen einer Theorie. Demnach könnte sich zeigen, dass die Geschichtsphilosophie mit guten Gründen als säkularisierte
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1 Einführung: Säkularisierung, Eschatologie und Geschichte
Eschatologie verstanden werden kann, wobei dieses Verständnis weder aus einer willkürlichen Wahl eines Standpunktes resultieren sollte, noch mit einem Absolutheitsanspruch verbunden werden darf.
1.1.3 Die ideenpolitische Relevanz Wer historische Prozesse in diesem Sinne interpretiert (und nicht nur in ihrer Oberflächenerscheinung beschreibt), kommt kaum an wertenden Begriffen vorbei. Es ist nach dem Gesagten also keineswegs überraschend, dass die letzte große Schwierigkeit, die mit dem Säkularisierungsbegriff verbunden ist, in dessen ideenpolitischer Relevanz liegt. Diese geht aber über das normale Maß an Wertung, das interpretative Begriffe häufig mit sich bringen, hinaus: Die Verwendung der Säkularisierungskategorie ist in vielen Fällen mit der Intention verbunden, historische Prozesse als legitim oder illegitim zu qualifizieren. Während für das eine Lager Säkularisierung gleichbedeutend mit Verfall und Entfremdung ist, sieht das andere Lager in der Säkularisierung den Fortschritt schlechthin. Begriffe wie Säkularisierung oder Verweltlichung laufen deshalb Gefahr, zu „kultur- und konfessionspolitsche[n] Kampfbegriffe[n]“ (Graf 2004, 70) zu werden – einerseits zur „Parole für eine von theologischer Vormundschaft befreite[n] Welt“, andererseits zur „Parole gegen die Liquidierung christlichen Erbes“ (Jaeschke 1976, 20). Als solche können sie dem wissenschaftlichen Anspruch auf Objektivität bzw. Neutralität nicht mehr gerecht werden. Hermann Lübbe, der sich intensiv mit den ideenpolitischen Funktionen des Säkularisierungsbegriffs auseinandergesetzt hat, sieht die Ursache für diese Gefahr in der Verquickung der Geisteswissenschaften mit den jeweils gegenwärtigen kulturpolitischen „Herrschaftskämpfen“. Zwar seien die Wissenschaften angehalten, zur intellektuellen Tagespolitik eine gewisse Distanz einzuhalten; diese Distanz sei aber immer nur graduell möglich. Da vor allem seit dem 19. Jahrhundert der Säkularisierungsbegriff von traditionalistischen sowie antiklerikalen Weltanschauungen und Ideologien zur Stärkung der je eigenen Position herangezogen werde, spiegele sich dies auch im wissenschaftlichen Gebrauch des Begriffs wieder. Somit sei zumindest Aufklärung über die ideenpolitischen Konnotationen nötig, wenn der Säkularisierungsbegriff überhaupt mit wissenschaftlichem Anspruch verwendet werden soll (vgl. Lübbe 1965, 7 f. und 19 f.). Wie Lübbe weiterhin zeigt, reicht die pauschale Bewertung von Säkularisierungsvorgängen als legitim oder illegitim bis zum juristischen Kontext des Begriffs zurück. Wurde die Überführung von geistlichen Besitzständen in weltliche Herrschaft von den einen als rechtswidrige Enteignung, also als Diebstahl oder sogar Raub angesehen, feierten die anderen sie als längst überfällige Bereinigung des an
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sich rechtswidrigen Zustands der Existenz von Theokratien mitten im sich zunehmend aufklärenden Staat (vgl. Lübbe 1965, 29). Ob und inwieweit die spätere ideenpolitische Verwendung des Säkularisierungsbegriffs von seiner juristischen Herkunft beeinflusst wurde, ist in der begriffsgeschichtlichen Forschung umstritten (vgl. Zabel 1968). Unabhängig von der rein begriffsgeschichtlichen Frage meint Hans Blumenberg (1974, 29 f.), eine systematische Relation zwischen der juristischen und der ideengeschichtlichen Verwendung diagnostizieren zu können. Dabei steht im Hintergrund seine Annahme, Säkularisierungstheorien seien auf das substantialistische Säkularisierungsmodell festgelegt oder würden es zumindest alle implizit voraussetzen. Dieses ermöglicht Blumenberg die Übertragung juristischer Termini auf den ideengeschichtlichen Begriff. So müsse laut Blumenberg für Säkularisierungstheoretiker die Theologie etwa einen Rechtsanspruch auf Herrschaft über die Eschatologie-Substanz haben, der sich aus einem ursprünglichen Eigentumsverhältnis ergebe. Jede Verwandlung oder Transformation der Eschatologie käme einem Diebstahl gleich.¹² Säkularisierung sei deshalb, so Blumenbergs in der Überschrift des ersten Teiles von Säkularisierung und Selbstbehauptung (1974) vorweggenommenes Fazit, zwangsläufig eine „Kategorie geschichtlichen Unrechts“. Blumenberg versucht so, die ideenpolitische Ambivalenz als bloßen Schein zu entpuppen: Auch wenn der Begriff nicht die Notwendigkeit der Rückkehr zum mittelalterlich-christlichen Denken impliziere, dürfe dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass dem Begriff der Vorwurf der Illegitimität inhärent sei; keineswegs eröffne diese Einschränkung die Möglichkeit einer ambivalenten Deutung.¹³ Ob Blumenbergs Analyse für den substantialistischen Säkularisierungsbegriff zutrifft, kann hier offengelassen werden. Tauscht man, wie oben angedeutet, das Substanzmodell gegen ein Funktionsmodell aus, so ist sie jedenfalls nicht mehr sonderlich plausibel. Die juristische Metaphorik scheint auf Funktionen nicht anwendbar zu sein: Funktionen können übernommen oder imitiert werden, ohne dass jemand dadurch enteignet wird. Neben der Argumentation Blumenbergs gibt es einen weiteren Versuch nachzuweisen, dass der Säkularisierungskategorie ein Illegitimitätsvorwurf inhärent sei. Gianni Vattimo diagnostiziert, dass Säkularisierung stets eine „Be-
Die Übertragung juristischer Begriffe auf den geschichtsphilosophischen Säkularisierungsbegriff thematisiert Blumenberg an verschiedenen Stellen. Beispielhaft sei nur der folgende Beleg angeführt: „Wenn ‚die moderne Welt weitgehend als das Ergebnis einer Säkularisierung des Christentums verstanden werden kann‘, muß das in der methodischen Analyse des Historikers anhand der Merkmale des Enteignungsmodells darstellbar sein.“ (Blumenberg 1974, 34) Vgl. Blumenberg 1966, 77; dazu aber auch Jaeschke 1976, 34.
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ziehung der Abkünftigkeit von einem Kernbestand an Heiligem“ bedeute, „von dem man sich entfernt hat und der dennoch aktiv bleibt, auch in seiner ‚verfallenen‘ Version: verzerrt, vollständig auf Weltlichkeit reduziert“ (Vattimo 1997, 9). Aus dieser Perspektive betrachtet, muss das Säkularisat von allen Betrachtern als defizitär eingestuft werden: Wer an der Transzendenz festhält, erkennt diese nur noch in einer verfallenen Version; wer sich auf die Immanenz beschränken möchte, sieht im Säkularisat den immer noch aktiven Kern des Heiligen, der eigentlich zu überwinden ist. Das Säkularisat ist sozusagen nichts Halbes und nichts Ganzes, sondern eine aus allen Blickwinkeln verdorbene Mischung.¹⁴ Gegen die Versuche Blumenbergs und Vattimos, den Säkularisierungstheoretikern zwangsläufig den Illegitimitätsvorwurf in den Mund zu legen, versucht der Rechtsphilosoph Thomas Gutmann eine Verwendung des Begriffs mit einer positiv-liberalen Konnotation. Demnach dürfe das Säkularisat nicht als schlechte Kopie, entfremdeter Ersatz oder verdorbene Mixtur aufgefasst werden; man müsse darin vielmehr eine gelungene Weiterentwicklung sehen, die sich von ihrem theologischen Ursprung vollends abgekoppelt habe. Gutmanns Problemfeld ist dabei die Rechtstheorie. Diese habe sich derart säkularisiert, dass eben kein theologischer Restbestand, kein „heiliger Kern“ mehr erkennbar ist; der Säkularisierungsbegriff bezeichne daher nicht Abhängigkeit von der Theologie, sondern genau das Gegenteil. Problematisch für das Recht sei nicht die Tatsache, dass dessen Begriffe säkularisierte theologische Begriffe sind, sondern problematisch seien all diejenigen Begriffe, die nicht oder nicht ausreichend säkularisiert wurden (vgl. Gutmann 2008 und 2011). Gutmann will mit seiner Konzeption einerseits daran festhalten, dass das Recht nicht eine völlige Neuerfindung der Neuzeit ohne ideengeschichtliche Vorgänger ist. Andererseits insistiert er darauf, dass die Genese des Rechts aus der Theologie nicht zur Folge hat, dass dessen Geltung von der Theologie abhängt. Entsprechend habe das Recht das von der Theologie errichtete „Theoriegebäude nicht abgerissen“, sondern gründlich „renoviert“ (Gutmann 2008, 297); die „Hebammendienste der Theologie“ stünden außer Frage, aber: „Das Kind läuft freilich schon lange auf eigenen Beinen.“ (Gutmann 2008, 300) Problematisch an Gutmanns Position scheint mir vor allem zu sein, dass die Verwendung des Säkularisierungsbegriffs als einer einstelligen Relation nicht von der als einer zweistelligen Relation unterschieden wird. So sind seine Aussagen bezüglich der Formulierung einer „Säkularisierung der Normenbegründung“ Vattimo bleibt bei dieser Einschätzung allerdings nicht stehen, sondern versucht aufzuweisen, dass Säkularisierung im Christentum selbst angelegt, das Christentum quasi zur Säkularisierung bestimmt ist. Da diese an Troeltsch erinnernde Lösung m. E. einer dezidiert theologischen Perspektive vorbehalten ist, verfolge ich sie nicht weiter.
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(2008, 295; 2011, 227) sicherlich berechtigt. Analog zur „Säkularisierung der Gesellschaft“ erfolgt hier die Normenbegründung im Laufe der Geschichte zunehmend ohne Bezug auf eine Transzendenz. Daraus folgert Gutmann allerdings, dass das heutige Recht trotz seines rein weltlichen Charakters als „säkularisierte Theologie“ (2008, 295) bezeichnet werden kann – was schon rein begrifflich seiner Intention widerspricht, weil eine säkularisierte Theologie immer noch eine Theologie ist, wenn auch keine ‚echte‘ mehr. Die Rede von der säkularisierten Theologie bleibt nicht das einzige Beispiel dafür, dass Gutmann von der einstelligen Säkularisierungsrelation auf die zweistellige übergeht: Er zitiert etwa affirmativ Carl Schmitt, alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre seien säkularisierte theologische Begriffe.¹⁵ Diese Verwendung des zweistelligen Säkularisierungsbegriffs scheint mit dem Anliegen Gutmanns, einen Prozess der Ablösung von der Theologie zu beschreiben, nicht vereinbar zu sein. Der Grund hierfür liegt in der oben dargelegten Notwendigkeit, zwischen dem Säkularisat y und dem genealogischen Vorgänger x in irgendeiner Weise eine Identität ausmachen zu können – oben wurde die Identität der Funktion, welche sich vor allem in Strukturanalogien manifestiert, vorgeschlagen. Ist diese Identität nicht gegeben, dann ist nicht ersichtlich, weshalb ein Begriff y als säkularisiertes x gelten können soll. Gutmann vertritt die Auffassung, dass das Säkularisat eine „Struktur und Funktion“ hat, die es „in religiösen Begründungszusammenhängen weder hat noch haben konnte“; es sei eine „Neukonstruktion“ (Gutmann 2011, 228). Nach dem in Anlehnung an Jaeschke und Blumenberg entwickelten zweistelligen Säkularisierungsbegriff, der sich auf Funktionskonstanz und Strukturanalogien stützt, kann dann aber kein Säkularisierungszusammenhang bestehen. Es gibt – auch wenn innerhalb der Normenbegründung nach und nach das Recht die Theologie ersetzt haben mag – einfach keinen Grund, das Recht als Säkularisat der Theologie aufzufassen, wenn es nichts mit dieser gemein hat. Sind solche Strukturanalogien aber gegeben und ist die Rede von Säkularisaten berechtigt, dann ist prima facie zu erwarten, dass sich systematisch relevante theologische Restbestände ausmachen lassen. Um dies an einem Beispiel aufzuzeigen: Angenommen, die Kochkultur habe durch medizinische Aufklärung einen Säkularisierungsprozess durchlaufen, der zunehmend das Vertrauen in
Vgl. Gutmann 2011, 221 f.; etwas vorsichtiger, aber prinzipiell zustimmend auch 2008, 295. Gutmann möchte sich der darin enthaltenen genealogischen These anschließen, ohne Schmitts Schlussfolgerung zu teilen, dass die Begriffe „auch in ihrer systematischen Struktur“ (Schmitt 1979 [1922], 43) als theologische Konzepte zu werten sind. Im Gegenteil stünden säkularisierte Begriffe gerade nicht mehr in Abhängigkeit von der Theologie; vgl. Gutmann 2008, 298; 2011, 224.
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Wunderkräuter verschwinden ließ, dann kann trotzdem nicht jede Kräutersuppe als säkularisierter Zaubertrank à la Asterix bezeichnet werden. Dies kann sie vielmehr nur dann, wenn der Produzent behauptet, dass sie übermenschliche Kräfte (oder ‚Flügel‘) verleiht. Ähnlich gilt für die Begriffe der Rechtswissenschaft, dass sie nur dann als säkularisierte theologische Begriffe aufgefasst werden dürfen, wenn sich hinreichend spezifische Strukturmerkmale bis zu den theologischen Begriffen zurückverfolgen lassen. Der von mir verwendete Zusatz „prima facie“ darf jedoch nicht übersehen werden. Denn es kann nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden, dass die Strukturanalogien säkular begründbare Aspekte betreffen, die in theologischen Konzepten mittransportiert und dann ‚herausgeschält‘ werden. Blumenberg ist darin recht zu geben, dass die Theologie keinen Rechtsanspruch der ersten Besitznahme anmelden kann; die Tatsache, dass eine Denkfigur zunächst in theologischen Kontexten auftaucht, macht diese Figur noch nicht automatisch zu einer mit der säkularen Vernunft nicht einzuholenden Theologie. Bei manchen Autoren mag der Prozess des Herauslösens säkular begründbarer Gehalte aus der theologischen Tradition sogar die vorrangig intendierte Bedeutung des Säkularisierungsbegriffs sein. Der Regelfall wird jedoch, wenn man sinnvoll von Säkularisaten sprechen will, ein anderer sein: Zu weit liegen die säkulare Vernunft der Moderne und die theologische Tradition auseinander, als dass zu erwarten wäre, dass ein großer Teil der Tradition in die Sprache der säkularen Vernunft ‚übersetzbar‘ wäre. Die in kritischer Auseinandersetzung mit Gutmanns Sprachgebrauch entwickelten Überlegungen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Wird der Säkularisierungsbegriff als einstellige Relation verwendet, so kann er den Prozess des vollständigen Verschwindens eines transzendenten Bezugs bezeichnen. Die zweistellige Säkularisierungsrelation, um die es im Folgenden allein gehen soll, kann diese Bedeutung nicht annehmen; sie bezeichnet nicht das Verschwinden der Transzendenz (oder der Theologie), sondern eine Übertragung transzendenter (oder theologischer) Strukturen auf die Immanenz (oder in eine säkulare Philosophie). Folgt daraus aber, dass die zweistellige Säkularisierungsrelation eine ideenpolitisch aufgeladene und deshalb für die Wissenschaft untaugliche Konzeption ist?¹⁶
Die Frage, die ich hier nur im Zusammenhang mit der zweistelligen Säkularisierungsrelation diskutiere, stellt sich dem soziologischen Begriff in ähnlicher Weise. Dort ist es einerseits der Vorwurf einer „Ideologie der Säkularisierung, aus deren Sicht die Religion falsch und daher unweigerlich zum Niedergang verurteilt sei“ (Taylor 2009, 712), andererseits die Vorannahme, dass Religion etwas so wertvolles sei, dass es gar nicht sein könne, dass sie aus dem öffentlichen Raum verschwinde (ein solcher Eindruck kann sich etwa bei Casanova 1994 aufdrängen). Auch
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Der Titel der vorliegenden Arbeit nimmt meine Antwort auf diese Frage vorweg.¹⁷ Sicher besteht die Gefahr einer ideenpolitischen Verwendung des Konzepts, mit der man sich oder seinem argumentativen Gegner Haltungen zuschreiben, die Vergangenheit rühmen oder die Gegenwart diffamieren möchte. Dies schließt aber eine wissenschaftliche Verwendung nicht von vornherein aus. Selbst wenn Säkularisierungszusammenhängen vielleicht überwiegend mit kritischer Absicht nachgegangen wird, gilt: Nicht jeder mit kritischer Absicht verwendete Begriff ist aufgrund dieser Absicht bereits unwissenschaftlich. Andererseits reicht es aber auch nicht, die ideenpolitischen Konnotationen einfach „auszublenden“¹⁸, um sich der Wissenschaftlichkeit des Begriffs zu versichern. Der Gefahr der Ideologisierung muss vielmehr wirksam entgegengearbeitet werden. Der erste Schritt in diese Richtung besteht in einer Aufklärung über den Mechanismus, der die ideenpolitischen Konnotationen des Begriffs möglich macht. Als Synthese der Diskussion der Positionen von Blumenberg,Vattimo und Gutmann möchte ich die offensichtlich vorhandene Ambivalenz an Wertungen, die mit der zweistelligen Säkularisierungskategorie einhergeht, wie folgt zusammenfassen: Wird der Säkularisierungsbegriff auf die Ideengeschichte bezogen, sind dem zwei gegenläufige Momente inhärent. Zum einen drückt er Abhängigkeit, zum anderen Emanzipation von der Theologie aus. Die Abhängigkeit folgt daraus, dass theologische Denkmuster nicht einfach vergessen oder ignoriert werden, sondern in das Säkularisat mit einfließen. Die Emanzipation besteht in
die normative Bewertung der Gegenwart ist für Säkularisierungstheoretiker entsprechend ambivalent: Wird von den einen mit dem Säkularisierungsbegriff auf die in der Gegenwart weitergeführte religiöse Tradition angespielt, gebrauchen die anderen den Begriff zur Abgrenzung von der religiösen Vergangenheit (vgl. die Diskussionen in Joas 2007, 12 und Pollack 2009, 4– 12). Meine Antwort ist freilich nicht selbstverständlich. Vgl. etwa die ablehnenden Haltungen von Blumenberg (1974, 18) und Habichler (1991, 14). In gewisser Weise plädiert auch Jaeschke (1976, 329) für das Aufgeben der Säkularisierungskategorie in den Geisteswissenschaften; er deutet daneben aber eine Zustimmung zum funktionalen Säkularisierungsbegriff an (vgl. 1976, Kap. 2.4). Sommer hält die Säkularisierungskategorie zwar nicht für grundsätzlich unzulässig, sie habe aber für die Frage nach der Entstehung der Geschichtsphilosophie „wenig heuristische Relevanz“ (2006, 21). Letztlich schlägt Sommer trotz Vermeidung des Begriffs der Säkularisierung aber einen ähnlichen, entwicklungsorientierten Weg ein wie ich. – Graf (2004, 69) kommt zu dem pauschalen Ergebnis: „In Sachen Religion gibt es keinen neutralen Beobachter.“ Damit ist natürlich nicht jede Beschäftigung mit Religion ausgeschlossen, aber sie unterliegt stets dem Verdacht der ideenpolitischen Parteinahme. Ich hoffe, dass es mir gelungen ist, diesem Vorwurf so weit wie möglich zu entgehen. „Die ideologischen Aspekte, von denen die Kontroversen um Schmitt und Blumenberg belastet sind, wollen wir im folgenden ausblenden.“ (Pott 2002, 3) Statt dieser Haltung muss der Tatsache Rechnung getragen werden, dass „der Gebrauch ideenpolitisch aktueller Begriffe nicht folgenlos ist“ (Lübbe 1965, 7).
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dem Versuch, die theologischen Gehalte zu rationalisieren und neu zu begründen. Diese dem Begriff inhärente Ambivalenz von Abhängigkeit und Emanzipation ermöglicht grundsätzlich eine Beurteilung in Abgrenzung zur religiösen Herkunft genauso wie die Auffassung, die religiöse Tradition würde weitergeführt. Der Verdacht, dass die Ablösung von der Theologie nicht vollständig erfolgt sein kann, ist dabei besonders ernst zu nehmen, weil die Säkularisierungskategorie als zweistellige Relation eine gewisse strukturelle Identität der Inhalte voraussetzt. Ein in dieser Absicht verwendeter Säkularisierungsbegriff kann eine systematische Diskussion und Kritik der ideengeschichtlichen Gehalte nicht ersetzen; er ist aber für die systematische Diskussion auch nicht belanglos.Vielmehr stellt er im Sinne einer causa cognoscendi einen fruchtbaren Ausgangspunkt der systematischen Diskussion dar und regt dazu an, im Einzelfall ergebnisoffen Abhängigkeit und Emanzipation in Säkularisierungsphänomenen herauszuarbeiten. Im Ausgang von identifizierten Strukturanalogien kann sich eine Theorie unter den Begründungsanforderungen einer säkularen Philosophie als nicht haltbar erweisen. Es darf aber nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass ein Säkularisat diese Begründungsanforderungen erfüllen kann. Werden Säkularisierungsbehauptungen in diesem Sinne verstanden, dann stellen sie keine „kolportierte[n] These[n]“ dar, vor denen man sich „nachhaltig verwahren“ (Habichler 1991, 14) müsste. Es ging bislang darum, grundsätzliche Probleme zu diagnostizieren, die bei der Verwendung der Säkularisierungskategorie prinzipiell zu erwarten sind. Im Einzelnen waren dies (1) die Bedeutungsvielfalt des Begriffs, (2) das Identitätsproblem, das mit Säkularisierungszuschreibungen verbunden ist, und (3) die ideenpolitische Ambivalenz des Begriffs mit deren Folgen für seine wissenschaftliche Verwendbarkeit. Mögliche Lösungen der Schwierigkeiten wurden angedeutet, aber noch nicht für die vorliegende Fragestellung konkretisiert und ausgearbeitet. Dies soll vorbereitet werden, indem ich mich jetzt dem speziellen Anwendungsfall der Säkularisierungskategorie auf die Geschichtsphilosophie zuwende. Dazu möchte ich zunächst den klassisch gewordenen Versuch Karl Löwiths vorstellen, die Geschichtsphilosophie als Säkularisierung der Eschatologie zu verstehen (Kapitel 1.2). Anschließend werde ich – neben einigen Aspekten genereller Kritik – diskutieren, in welchen Hinsichten die erläuterten Schwierigkeiten des Säkularisierungsbegriffs auf Löwiths Thesen zutreffen. Hieraus ergibt sich im Umkehrschluss, in welchen Punkten Löwiths Ansatz methodologisch verändert werden muss, um einen hinreichend bestimmten, verifizierbaren und wertneutralen Säkularisierungsbegriff einführen zu können, der ein sinnvolles Handwerkszeug für die Forschung zur Geschichtsphilosophie der Neuzeit darstellt (Kapitel 1.3). Bevor anhand dieser Ergebnisse die Fragestellung der vorliegenden
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Arbeit formuliert werden kann (Kapitel 1.5), werden einige Beobachtungen Odo Marquards ergänzt, mit denen die systematische Relevanz der Suche nach Säkularisaten in den geschichtsphilosophischen Entwürfen der Neuzeit am konkreten Beispiel der Theodizeethematik aufgezeigt werden soll (Kapitel 1.4).
1.2 Karl Löwiths Säkularisierungstheorem Karl Löwith ist weder der einzige noch der erste, der zwischen der christlichen Eschatologie – hier verstanden als Sammelbegriff für theologische Endzeit-, Jenseits-, Zukunfts- und Vorsehungskonzeptionen verschiedener Art¹⁹ – und der neuzeitlichen Geschichtsphilosophie einen Säkularisierungszusammenhang ausmachen will. Lange vorher entwickelt Wilhelm Dilthey (1883, 90 – 99) bereits ausführlich diesen Zusammenhang. Auch für Eric Voegelin (1939, 41) steht außer Frage, dass entscheidende Elemente der Geschichtsphilosophie als säkularisierte Formen eschatologischer Vorbilder anzusehen seien; und Jacob Taubes stellt unter dem Titel Abendländische Eschatologie (1947) ebenfalls die moderne Geschichtsphilosophie als eschatologischen Ausläufer dar, nur ohne dies explizit als Säkularisierung zu bezeichnen. Aber kein Autor und kein Werk hat die Debatte so geprägt wie Löwith mit seinem 1949 zunächst in englischer Sprache unter dem Titel Meaning in History, dann 1953 auf Deutsch als Weltgeschichte und Heilsgeschehen mit dem aussagekräftigen Untertitel Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie erschienenen Hauptwerk. Die im Folgenden kurz als Säkularisierungstheorem bezeichnete These der Entstehung der Geschichtsphilosophie durch eine Säkularisierung der Eschatologie bzw. Geschichtstheologie wurde nicht nur zu Löwiths Lebzeiten eng mit seiner Person verknüpft; bis heute findet sich in nahezu allen einführenden Werken zur Geschichtsphilosophie sein Name.²⁰ Obwohl das Theorem im Einzelnen meist relativiert wird,²¹ kann man durchaus von einer „zum Gemeinplatz gewordenen These“ (Blumenberg 1964, 250) sprechen, die vor allem durch Löwith „nachhaltig dogmatisierend gewirkt“ (Blumenberg 1974, 35) hat. Löwiths unverblümter Stil konfrontiert den Leser bereits nach wenigen Sätzen in der Einleitung des Werkes mit seinem Kerngedanken:
Eine genauere Definition des Eschatologiebegriffs, die der vorliegenden Studie als Arbeitsgrundlage dient, erfolgt in Kapitel 2. Vgl. z. B. Rohbeck 2004, 25 f.; Demandt 2011, 353; Angehrn 1991, 178 und Zwenger 2008, 67. Die wesentlichen Relativierungen und Einwände werden in Kapitel 1.3 besprochen.
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„In der folgenden Untersuchung bezeichnet der Ausdruck ‚Philosophie der Geschichte‘ die systematische Ausdeutung der Weltgeschichte am Leitfaden eines Prinzips, durch welches historische Geschehnisse und Folgen in Zusammenhang gebracht und auf einen letzten Sinn bezogen werden. So verstanden ist alle Philosophie der Geschichte ganz und gar abhängig von der Theologie, d. h. von der theologischen Ausdeutung der Geschichte als eines Heilsgeschehens.“ (Löwith 1953, 11)
Man fragt sich, ob Löwith an dieser Stelle das Ergebnis seiner ideengeschichtlichen Analyse vorwegnehmen oder unabhängig von dieser in aller Schärfe einen analytischen, weil in der Begriffsbestimmung enthaltenen Zusammenhang präsentieren will, der der folgenden ideengeschichtlichen Argumentation in konstitutiver Weise zugrunde liegt. Vermutlich ist sogar beides gleichermaßen intendiert: Löwith definiert einen Begriff von Geschichtsphilosophie, der theologische Konnotationen vorgeblich nicht verbergen kann (dass man an der Schlussfolgerung von der Definition auf die theologische Abhängigkeit zweifeln könnte, kommt Löwith offenbar gar nicht in den Sinn), und illustriert im Hauptteil des Buches, wie sich dieser theologisch überlastete Begriff ideengeschichtlich formt und schließlich verworfen werden muss. Entsprechend ist erklärtes Ziel des Werkes, das Löwith als „historische[n] Grundriß unseres historischen Denkens“ bezeichnet, zu zeigen, „daß die moderne Geschichtsphilosophie dem biblischen Glauben an eine Erfüllung entspringt und daß sie mit der Säkularisierung ihres eschatologischen Vorbildes endet“ (Löwith 1953, 11 f.). Löwith geht es diesen Formulierungen zufolge in Weltgeschichte und Heilsgeschehen nicht um geschichtliches Denken im Allgemeinen, um das ‚historische Bewusstsein‘ oder um lineare Formen der Geschichtsschreibung, sondern nur um Geschichtsphilosophie, worunter zunächst die ‚klassischen‘ geschichtsphilosophischen Entwürfe des 18. und 19. Jahrhunderts zu verstehen sind. Genauerhin trifft seine These sogar nur auf solche Geschichtsphilosophien zu, die sich nicht damit begnügen, historische Ereignisse in irgendeinen Sinnkontext zu stellen. Es muss sich ausdrücklich um einen letzten Sinn handeln, auf den Ereignisse bezogen werden. In diesem Merkmal scheint auch die Plausibilität zu gründen, die man dem Schluss auf die theologische Abhängigkeit nicht absprechen kann.²² Löwith hält diese ‚offizielle‘ Version des Säkularisierungstheorems jedoch nicht durch. An zahlreichen Stellen wird deutlich, dass es ihm nicht nur um bestimmte Typen der Geschichtsphilosophie, sondern um das historische Be Schmied-Kowarzik (2007, 51) ist sogar der Meinung, dass die Frage nach dem letzten Sinn notwendig immer nur theologisch behandelt werden kann, woraus aber nicht geschlossen werden dürfe, dass jede Frage nach (irgend)einer Sinnzuschreibung der Theologie zuzurechnen ist.
1.2 Karl Löwiths Säkularisierungstheorem
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wusstsein im Allgemeinen geht. Im Beschluß von Weltgeschichte und Heilsgeschehen resümiert Löwith etwa, „unser modernes historisches Bewußtsein“ (und nicht mehr nur die Geschichtsphilosophie) habe „seinen Ursprung im biblischen Denken“ (1953, 179). Das historische Bewusstsein ist mehr als die Interpretation der Geschichte anhand eines letzten Sinnes; Löwith charakterisiert es als „moderne Überschätzung der Geschichte, der ‚Welt‘ als ‚Geschichte‘“ (1953, 176).²³ Entsprechend richtet sich Löwiths Kritik im Endeffekt nicht nur gegen die Suche nach einem letzten Sinn der Geschichte, sondern gegen jeden Versuch, Ereignissen überhaupt einen historischen Sinn zuschreiben zu wollen.Was bleibt, ist eine von Burckhardt und Nietzsche inspirierte radikale Skepsis. Eine andere Beschränkung des Säkularisierungstheorems bleibt dagegen durchgängig von Bedeutung: Löwith bezieht die Säkularisierung der Geschichtsphilosophie nicht auf Theologie im Allgemeinen, sondern speziell auf den „biblischen Glauben“, insbesondere die Geschichtsauffassung, wie sie sich im Alten Testament zeigt. Die für die ideengeschichtliche Herkunft grundlegende Gegenüberstellung ist bei Löwith die von biblischem und griechischem Denken. Auf der einen Seite stehe das geradlinig-futuristisch angelegte Geschichtsverständnis des auserwählten Volkes; die Geschichte Israels werde als gerichteter Prozess verstanden, in dem Gott sein Volk dem Ziel der Geschichte entgegenführt. Auf der anderen Seite befinde sich das zyklische Geschichtsbild der Griechen, geprägt von der ewigen Wiederkehr des Werdens und Vergehens. Sichtbar werde dies etwa an der gängigen Vorstellung eines Kreislaufs der Verfassungen, in dem sich politischer Verfall und politische Besserung fortwährend abwechseln. Die Frage nach dem Sinn von Geschichte führe entsprechend für das zyklische Geschichtsdenken ins Leere (vgl. Löwith 1953, 13 f.). Was das biblische und das griechische Denken in der Gegenüberstellung Löwiths teilen, sind allgemeine religiöse Grundannahmen wie etwa die Existenz von Gott bzw. Göttern, deren Macht sich in der Welt, in deren Ordnung oder in konkreten Ereignissen, manifestiert. Diese Art von Theologie verfolgt Löwith nicht weiter.Was ihn interessiert, ist der seines Erachtens spezifisch biblische Glaube an Gott als den Herrn der Geschichte, in dessen Perspektive die Gegenwart aufgrund ihrer Bezogenheit auf ein zukünftiges Ereignis sinnvoll gedeutet werden kann. Der griechische Schicksalsgedanke kenne zwar eine sinnvoll eingerichtete Natur, in der etwa von der Vergangenheit auf die Zukunft geschlossen werden kann; er könne aber den konkreten Ereignissen der Geschichte keinen Sinn zuschreiben. Löwiths Säkularisierungstheorem ist vielfach in dieser erweiterten und allgemeineren Variante verstanden worden, ohne die ursprüngliche Beschränkung auf die Geschichtsphilosophie überhaupt noch zu sehen. Paradigmatisch bereits im Titel bei Bienenstock 2007: Der Geschichtsbegriff: eine theologische Erfindung?
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1 Einführung: Säkularisierung, Eschatologie und Geschichte
Ganz anders das biblische Konzept der Vorsehung, in dem die Zukunft nicht Naturgesetzen, sondern dem Willen Gottes und seiner eschatologischen Verheißung überlassen sei (vgl. z. B. Löwith 1953, 18). Löwith suggeriert vor allem anfangs, dass er eine klare, geradlinige Entwicklungslinie von der biblischen Eschatologie zur neuzeitlichen Geschichtsphilosophie aufzeigen möchte. Da aber das Alte Testament über keine einheitliche Geschichtsauffassung verfügt und das Neue Testament der profanen Geschichte wenig Aufmerksamkeit schenkt, ist es nicht verwunderlich, dass Löwith zu vielschichtigen, teils sogar widersprüchlich klingenden Ergebnissen kommt.Während er in der Einleitung noch in der linearen jüdischen Geschichtsauffassung das Motiv erblickt, welches von der Geschichtsphilosophie übernommen werde, diagnostiziert er im Beschluß, dass der Makel der Säkularisierung darin bestehe, dass das ungeschichtliche Konzept des Reiches Gottes auf die profane Geschichte übertragen werde (vgl. Löwith 1953, 175 f.). Offenbar sind jeweils unterschiedliche Aspekte angesprochen – einmal Gott als Herr der Geschichte, einmal das von der irdischen Geschichte erlösende Reich Gottes –, die auf je verschiedene Weise in die Geschichtsphilosophie einfließen. Das eine eschatologische Merkmal der Geschichtsphilosophie wird man bei Löwith vergeblich suchen. Löwiths ideengeschichtlicher Nachweis seiner Säkularisierungsthese beginnt mit dem geschichtsphilosophischen Skeptiker Burckhardt und geht dann von den „großen“ geschichtsphilosophischen Entwürfen von Marx und Hegel über Proudhon, Comte, Condorcet, Turgot, Voltaire und Vico zurück zur Geschichtstheologie, deren Entwicklung wiederum via Bossuet, Joachim von Fiore, Augustinus und Orosius bis zu ihren biblischen Wurzeln verfolgt wird. Um die Charakteristika der Methode Löwiths zu illustrieren, möchte ich exemplarisch einige besonders prägnante Thesen aus dem Marx-Kapitel referieren. Im Rahmen einer knappen Interpretation der zentralen geschichtsphilosophischen Überlegungen Marxens versucht Löwith, dessen theologischen Hintergrund aufzuzeigen. An einer einzigen Stelle gelingt es Löwith, einen begrifflichen Bezug zur biblischen Herkunft herzustellen. Die Rede vom „neuen Menschen“²⁴ ist bei Marx aber so allgemein gehalten, dass Löwith gar nicht versucht, ihm eine biblische Intention nachzuweisen. Es geht Löwith vielmehr um die religiösen Voraussetzungen des Begriffs des neuen Menschen – gemeint ist offensichtlich eine Art Gnaden- und Rechtfertigungslehre –, derer sich Marx gar nicht bewusst sei (vgl. 1953, 41). Möchte Löwith noch im Falle Hegels zeigen, wie die Säkularisierung der Eschatologie in bewusster Auseinandersetzung mit der Theologie
„Wir wissen, daß die neuen Kräfte der Gesellschaft, um gutes Werk zu verrichten, nur neue Menschen brauchen.“ (Marx, Die Revolution von 1848 und das Proletariat (1928 [1856]), 41).
1.2 Karl Löwiths Säkularisierungstheorem
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geschieht, so ist Marx sein Beispiel, wie die Theologie selbst bei radikalen Atheisten und Religionskritikern weiterwirke, ohne dass diese sich darüber im Klaren seien. Auch wenn Marx „entschieden antireligiös und sogar antisemitisch war, so war er doch ein Jude von alttestamentlichem Format“, so Löwith (1953, 48). Den eschatologischen Charakter findet Löwith zunächst ganz allgemein in der Ausrichtung der Geschichte auf einen positiv bewerteten Endzustand. Für Marx sei dieser die herrschaftsfreie Gesellschaft ohne Privateigentum. Die – im Vergleich mit dem Endzustand desolate – Gegenwart werde als Bedingung des Endzustands betrachtet: Klassenkämpfe bringen die Geschichte der Menschheit ihrem Ziel näher, wobei bereits der letzte große Klassenkampf, die Weltrevolution, unmittelbar bevorsteht.²⁵ Das „Endziel des historischen Messianismus von Marx“ kann Löwith deshalb nur als ein „irdische[s] Reich Gottes“ (1953, 40) bzw. als ein „Reich Gottes, ohne Gott“ (1953, 46) verstehen. Der messianische Charakter, den Löwith diagnostiziert, reicht aber noch viel weiter als dieses Grundcharakteristikum der Marxschen Geschichtsphilosophie. Löwith erkennt im Konzept der Arbeiterklasse das „auserwählte Volk“ (1953, 41) wieder, das die „universale Mission“ (1953, 42) habe, die Menschheit zu erlösen. Ebenso wie das Volk der Israeliten zähle die Arbeiterklasse zu den Unterdrückten; die Unterdrückung werde durch die eschatologische Perspektive instrumentalisiert und verklärt. Löst sich die Arbeiterklasse aus ihrer Unterdrückung, so überwinde sie damit zugleich das Problem der ganzen menschlichen Gesellschaft. In der Gegenüberstellung von Unterdrückern und Unterdrückten²⁶, wobei den Unterdrückten die weltgeschichtliche Aufgabe der Rettung der gesamten Menschheit übertragen wird, spiegelten sich jüdisch-christliche Antagonismen wie Kinder des Lichts und Kinder der Finsternis, Christ und Antichrist, Kreuz und Auferstehung (vgl. Löwith 1953, 47 f.). Im Hintergrund stehe bei Marx wie in der theologischen Tradition die Vorstellung einer unbedingten Gerechtigkeit oder eines göttlichen Gerichts, das auch in säkularisierter Form ein „letztes Gericht“ bleibe, wenngleich sein Urteil „durch das unerbittliche Gesetz des Geschichtsprozesses gefällt werden soll“ (Löwith 1953, 48). Kurz und knapp: „Der historische
Unabhängig von den Problemen, die das Säkularisierungstheorem mit sich bringt, liefert Löwith mit dieser Darstellung offensichtlich eine einseitige Interpretation der Marxschen Geschichtsphilosophie. Städtler (1998) diagnostiziert eine Spannung zwischen wenigen Stellen, an denen Marx eine deterministische Geschichtsteleologie vertritt, wie sie von Löwith referiert wird, und den Grundlagen der Marxschen Theorie. Kuhne (1995, 114 f.) widerspricht einer teleologischen Interpretation Marxens sogar explizit und mit Nachdruck. Löwith beruft sich etwa auf das Manifest der kommunistischen Partei (1848), MEW Band 4, 462 f.
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1 Einführung: Säkularisierung, Eschatologie und Geschichte
Materialismus ist Heilsgeschichte in der Sprache der Nationalökonomie.“ (Löwith 1953, 48) Es sind nicht nur inhaltliche Parallelen, die Löwith aufzeigen möchte. Auch der Duktus der Marxschen Schriften insgesamt weise eine prophetische Haltung auf. Es werde nicht nur eschatologisch argumentiert, sondern förmlich eine „eschatologische Botschaft“ (Löwith 1953, 42) in die Welt getragen, die aus der Deutung der Geschichte Handlungsanweisungen ableitet. Nicht zuletzt ist dieser Duktus für Löwith der Grund, hinter Marxens Deckmantel von Wissenschaft und wertfreier ökonomischer Analyse eine politische Polemik und damit die pure Unwissenschaftlichkeit zu vermuten. „Das Kommunistische Manifest ist in erster Linie ein prophetisches Dokument, ein Urteilsspruch und ein Aufruf zur Aktion, keineswegs aber eine rein wissenschaftliche, auf empirische Gegebenheiten gegründete Analyse.“ (Löwith 1953, 46 f.) ‚Säkularisierung‘ scheint, so lässt sich Löwiths methodischer Ansatz zusammenfassen, als Übersetzung oder Verwandlung²⁷ religiöser Vorstellungen in eine säkulare Sprache bzw. ein säkulares Gewand konzipiert zu sein, wobei – ob mit oder gegen die Intention des Autors – auch für die säkularisierte Form nur die Theologie die nötigen Voraussetzungen bieten kann. Die Stoßrichtung ist klar: Säkularisierung bezeichnet einen Akt der Illegitimität, bei dem das Säkularisat per se nicht Teil einer vertretbaren Philosophie sein kann. „Das ganze moderne Mühen um immer neue Verbesserungen und Fortschritte wurzelt in dem einen christlichen Fortschritt zum Reiche Gottes, von dem das moderne Bewußtsein sich emanzipiert hat und von dem es doch abhängig blieb, wie ein entlaufener Sklave von seinem entfernten Herrn.“ (Löwith 1953, 83) Offensichtlich richtet sich Löwiths radikale Kritik nicht gegen die Theologie selbst.²⁸ Löwith kann sogar noch geschichtstheologische Entwürfe akzeptieren, sofern sie strikt zwischen Heilsgeschichte und profaner Geschichte unterscheiden (vgl. 1953, 175). Die Heilsgeschichte laufe zwar in der immanenten Zeit ab, sie beziehe sich aber auf transzendente Ereignisse wie (Erb‐) Sünde und Erlösung. Ihr letztes Ziel sei das übergeschichtliche Reich Gottes, das nach neutestamentlichem Verständnis keinesfalls als irdisches Weltreich gedacht werden dürfe. Die Heilsgeschichte könne und wolle deshalb allenfalls in Einzelfällen Ereignissen der Weltgeschichte Sinn verleihen, nie aber der gesamten Weltgeschichte. Die Säkularisierung der Heilsgeschichte zu einer sinnvollen Deutung der Weltgeschichte sei
Neben der bereits zitierten Wendung der Geschichtsphilosophie als „Heilsgeschichte in der Sprache der Nationalökonomie“ spricht Löwith auch an anderen Stellen von „übersetzen“ (1953, 60), „umformen“ und „verwandeln“ (1953, 61). Dies scheint ein wichtiger Grund zu sein, weshalb Löwith in der Theologie geradezu begeistert aufgenommen worden ist. Vgl. etwa Bultmann 1958 und Pannenberg 1996, 132 ff.
1.3 Kritik am Säkularisierungstheorem
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nicht nur aus dem Grund ein zum Scheitern verurteilter Prozess, dass die Geschichtsphilosophie unter modernen Rationalitätsanforderungen auf religiöse Vorannahmen verzichten möchte. Sie sei es auch deshalb, weil sie das Anliegen der Theologie ins Gegenteil verkehre. Theologie ist für Löwith nicht schädlich, weil sie seiner Auffassung nach keine Wissenschaft ist; sie sei lediglich Ausdruck eines unbegründeten Glaubens und Hoffens (vgl. Löwith 1953, 11) und unterstütze immerhin ein angemessenes Verständnis des menschlichen Leidens (vgl. Löwith 1953, 13 und 171). Die Geschichtsphilosophie dagegen täusche vor, eine Wissenschaft zu sein; sie verkehre „den religiösen Glauben in das antireligiöse Unterfangen, voraussagbare Gesetze der profanen Geschichte aufzustellen“ (Löwith 1953, 176).²⁹ Der Säkularisierungsprozess mache aus dem immerhin akzeptablen, wenn auch unwissenschaftlichen Unterfangen der Eschatologie das niederträchtige Projekt der Geschichtsphilosophie. Worauf läuft Löwiths Kritik der Geschichtsphilosophie hinaus; welche Konsequenzen zieht er für die Philosophie und ihre angrenzenden Wissenschaften? Löwiths Skepsis wird häufig als Aufruf zur Rückkehr zum griechischen Denken verstanden. So legt etwa Habermas (1967, 355 f.) Löwith eine „Verfallsgeschichte“ von der griechischen Weisheit über das Christentum bis hin zur schlimmsten Ausartung, der Geschichtsphilosophie, in den Mund. Für Blumenberg scheint sogar klar zu sein, dass Löwith mit seiner Säkularisierungsthese zeigen wollte, dass nicht nur das Geschichtsdenken, sondern jegliches Denken der Moderne als säkularisierte Theologie zu begreifen und zu kritisieren ist.³⁰ Beide Interpretationen lesen aus Löwith mehr heraus, als gemeint sein kann. Als historischer Skeptiker kann Löwith seine Ideengeschichte keinesfalls als Verfallsgeschichte auffassen; der Gedanke einer historischen Rückkehr ist ihm fremd. Seine Kritik richtet sich nur gegen einen Aspekt modernen Denkens, das historische Bewusstsein; als Anhänger von Nietzsche und Burckhardt sucht Löwith darüber hinaus einer eigenständigen Form der Moderne Vorschub zu leisten: der Skepsis.³¹
1.3 Kritik am Säkularisierungstheorem Scharfe und pauschale Thesen sind in der Regel leicht widerlegbar. So ist es nicht erstaunlich, dass gegen Löwiths Säkularisierungstheorem trotz der prinzipiell Vgl. zu diesem Aspekt insbesondere Jaeger 2001, 505. Dies legt jedenfalls die Rolle nahe, die Blumenberg dem Löwithschen Säkularisierungstheorem in seiner Legitimität der Neuzeit (1966) zuweist. Zu beiden Aspekten vgl. Kervégan 2007.
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positiven Rezeption in Bezug auf viele Aspekte Widerspruch erhoben worden ist. Dieser bezieht sich einerseits auf die einseitige Perspektive, die Löwith zulässt (1– 3); andererseits auf die in Kapitel 1.1 diagnostizierten allgemeinen Schwierigkeiten mit dem Säkularisierungsbegriff (4– 6). Die folgende Auseinandersetzung mit der Kritik an Löwith dient dazu, den in der vorliegenden Arbeit verfolgten methodischen Ansatz zu präzisieren und von Alternativen abzugrenzen, auf die die vorgebrachte Kritik zuträfe. Entsprechend werden im Anschluss an die Diskussion der Kritikpunkte jeweils konkrete Schlussfolgerungen für die Fragestellung dieser Arbeit gezogen. (1) Der pauschale Charakter des Theorems zeigt sich vor allem an der Behauptung, dass alle Geschichtsphilosophien ideengeschichtlich genau auf eine einzige Quelle, nämlich auf das biblische Denken zurückzuführen seien. Gegen diese doppelte Pauschalisierung wird erstens eingewendet, dass nicht alle Geschichtsphilosophien als säkularisierte Eschatologie verstanden werden können, sondern nur einige: „Es ist nicht wahr, dass ‚die‛ profane neuzeitliche Geschichtsphilosophie durch Säkularisierung aus der christlichen Geschichtstheologie hervorgegangen sei. Die These lässt sich nur halten als partikularer Satz: Einige Geschichtsphilosophien der Neuzeit (…) sind in der Tat durch Säkularisierung aus der christlichen Geschichtsdeutung hervorgegangen.“ (Kamlah 1969, 49) Löwiths Generalisierung setzt unausgesprochen voraus, dass es einen einheitlichen Begriff von Geschichtsphilosophie gibt, der die entscheidenden Merkmale säkularisierter Eschatologie enthält. Löwith ist weit davon entfernt, die Existenz eines solchen einheitlichen Begriffs nachzuweisen. Sein kurzer Hinweis auf den „letzten Sinn“, der als Versuch eines solchen Nachweises verstanden werden kann, ist nicht ausreichend: Weder ist gezeigt, dass alle Geschichtsphilosophien, auf die er sich beziehen möchte, auf einen letzten Sinn der Geschichte abzielen, noch ist ausreichend bewiesen, dass der letzte Sinn das entscheidende Merkmal der Eschatologie darstellt. Löst man sich damit von der Vorstellung einer allgemeinen Theorie der Entstehung der Geschichtsphilosophie aus der christlichen Eschatologie, so ist der Säkularisierungsgedanke allerdings keinesfalls schon obsolet geworden. Seine Bedeutung erhält er vielmehr in seiner Eigenschaft als Interpretationskategorie, mit der einzelne Texte konfrontiert werden. An die Stelle des fraglichen Projekts Löwiths soll deshalb in der vorliegenden Arbeit der Versuch treten, nicht ‚die neuzeitliche Geschichtsphilosophie‘ insgesamt, sondern die Geschichtsphilosophie Kants in ihren verschiedenen Facetten auf Säkularisierungsphänomene hin zu untersuchen. Auch diese wird sich kaum im Ganzen als Säkularisat darstellen lassen. Die Aufgabe ist vielmehr aufzuzeigen, welche ihrer Momente als säkula-
1.3 Kritik am Säkularisierungstheorem
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risierte Eschatologie aufzufassen sind und welche Problemstellungen sich daraus ergeben. (2) Wenn zumindest zugestanden wird, dass einige geschichtsphilosophische Entwürfe in Auseinandersetzung mit jüdisch-christlichen Motiven entstanden sind, so ist zweitens selbst in diesen Fällen unplausibel, dass die biblische Eschatologie deren einzige Quelle darstellen sollte. In Frage gestellt wird in diesem Zusammenhang bereits Löwiths Dichotomie von dem zyklischen Geschichtsbild der Griechen und dem linearen Geschichtsdenken der Bibel.³² Doch selbst wenn man diese Vereinfachung zulässt, gibt es genug Anhaltspunkte, die dafür sprechen, die Geschichtsphilosophie als Verschmelzung des jüdisch-christlichen Denkens mit der griechischen Naturteleologie aufzufassen – und nicht als einseitige Fortführung der biblischen Tradition.³³ Schließlich ist es von der griechischen Vorstellung einer vernunftdurchdrungenen, zweckgerichteten Welt zur Vorstellung eines vernünftigen Verlaufs der Geschichte nur ein kleiner Schritt. Wie sich zeigen wird, ist die Philosophie Kants einer der besten Belege, wie die Geschichtsphilosophie aus einer Naturteleologie heraus entwickelt werden kann. Besondere Brisanz kommt dabei dem Vorsehungsbegriff zu, der der mittelalterlichen Theologie eher über griechische Quellen überliefert wurde, als dass sie ihn aus einer Paulus-Exegese gewonnen hätte.³⁴ Eine differenzierte Suche nach Quellen der Geschichtsphilosophie zeigt darüber hinaus, dass neben griechischem und biblischem Denken noch weitere Ursprünge nachweisbar sind, die in Löwiths Schema nicht einmal als mögliche Quellen beachtet werden. Jaeschke (1976, 278 – 286) argumentiert, dass die v. a. bei Lessing berühmt gewordene Erziehungs-Metapher ihren Ursprung in der frühchristlichen Literatur, insbesondere bei Clemens Alexandrinus und Origenes,
Hierauf stellen etwa Mazzarino 1966, 412 ff. und Marramao 1999, 98 ff. ab. Die gegenwärtigen Untersuchungen alt- und neutestamentlicher Wissenschaft, insbesondere die Erforschung der Septuaginta, verstärken diese Bedenken, da das Judentum ab dem 3. Jahrhundert v.Chr. in hellenistischer Umwelt lebte und später alle frühchristlichen Schriften in griechischer Sprache entstanden. Einen aktuellen Überblick über Aspekte des biblischen Zeitdenkens versucht das Jahrbuch für biblische Theologie 2013 zu geben. Dies betont etwa Angehrn 1991, 14. Obwohl der Einfluss des griechischen Denkens auf die neuzeitlichen Geschichtsphilosophien unbestritten sein dürfte, findet sich wesentlich weniger Literatur darüber als zu der Säkularisierungsthese. Die griechischen Wurzeln des Vorsehungsbegriffs betont etwa Jaeschke 1976, 304; dazu und zum biblischen Vorsehungsbegriff siehe auch Kapitel 2. Selbst die als Chiliasmus bezeichnete Vorstellung eines tausendjährigen Reiches unter der Herrschaft Christi hat womöglich neben jüdischen auch griechisch-römische Quellen. So wird ein direkter Zusammenhang zur Mythologie in Platons Politeia erwogen, die über Vergil vermittelt im römischen Reich sehr publik war. Vgl. dazu Karrer 2005, Abschnitt 4.3.
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1 Einführung: Säkularisierung, Eschatologie und Geschichte
findet und sich zugleich strukturell wesentlich von der biblischen Eschatologie unterscheidet.³⁵ Nur selten wird das römische Geschichtsdenken, wie es sich im Zusammenhang mit der römischen Friedenskonzeption etwa in der 4. Ekloge Vergils findet, als mögliche Quelle der modernen Geschichtsphilosophie betrachtet, obwohl der Einfluss auf Augustinus unstrittig sein dürfte und somit eine Wirkung auf die abendländische Geistesgeschichte sehr wahrscheinlich erscheint. Löwiths Engführung der Quellenanalyse auf biblische Ursprünge ist daher nicht haltbar. Blickt man aber auf die verschiedenen möglichen Quellen, so scheinen diese dennoch in einer anderen Hinsicht weitgehend eine Gemeinsamkeit aufzuweisen: Sie fußen auf transzendenten Annahmen und sind daher in einem weiten Sinn der Theologie zuzuordnen. Die vom Demiurgen aus den Ideen geschaffene, wohlgeordnete Welt hat ebenso einen theologischen Charakter wie die Vorstellung des Schöpfergottes, der die Gattung Mensch väterlich erzieht und zur Reife führt. Der Säkularisierungsbegriff wird unnötig verengt gebraucht, wenn er nur für die Transformation biblischer Gehalte herangezogen wird. Interessant erscheint unter dem heutigen Vorzeichen einer weitgehend bewusst säkularen Theoriebildung in der Philosophie weniger die Frage nach den biblischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, als die nach ihren theologischen Voraussetzungen. Mit dieser Überlegung verliert ein groß angelegter ‚Quellennachweis‘, wie ihn Löwith liefern wollte, an Relevanz. Entscheidend ist nicht mehr die Frage, ob ein Begriff oder eine Argumentationsstruktur biblischen, griechischen, römischen, frühchristlichen oder noch anderen Ursprungs ist. Entscheidend für die sinnvolle Verwendung des Säkularisierungsbegriffs ist vielmehr, ob eine erkennbare theologische Prägung vorliegt – wobei noch geklärt werden muss, was unter dem Prädikat ‚theologisch‘ verstanden werden soll. Als Konsequenz dessen weicht die vorliegende Arbeit von Löwiths Vorgehen massiv ab: Es soll nicht darum gehen, das Geschichtsdenken Kants auf eine oder mehrere Quellen zurückzuführen. Stattdessen wird zum Thema lediglich die Frage gewählt, wie Kant theologische Denkmotive verarbeitet. Weder stehen theologiegeschichtliche Entwicklungen im Zentrum meines Interesses, noch sollen einzelne Quellen untersucht werden. Nur stellenweise wird unter Rückgriff auf vorhandene Arbeiten³⁶ auf Kants Quellen verwiesen. Vielmehr möchte ich zunächst struktu-
Lessing erweitert allerdings die Erziehungsmetapher um die Vorstellung einer „Zeit eines neuen, ewigen Evangeliums“ (Erziehung des Menschengeschlechts, §86). Diese Vorstellung ist ziemlich eindeutig auf biblisches Denken zurückzuführen, was Jaeschke m. E. übersieht. Zum Erziehungsgedanken vgl. auch Kapitel 5.4. Lehner 2007 und Bohatec 1938 widmen sich ausführlich dieser Frage. Auch Sturm 2012; McGaughey 2011; Kittsteiner 1999; Habichler 1991 und Hirsch 1921 gehen darauf ein. Hilfreich
1.3 Kritik am Säkularisierungstheorem
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relle Merkmale der christlichen (nicht nur biblischen!) Eschatologie einführen, wobei ich nicht ganz ohne eine theologiegeschichtliche Darstellung auskomme (siehe Kapitel 2), und anschließend Säkularisierungsphänomene in den Texten Kants in Bezug auf diese Merkmale beschreiben. Nur am Rande ist es relevant, konkrete Quellen zu benennen oder zu skizzieren. Die sicherlich unendlich verkomplizierbare Diskussion um die verschiedenen Wurzeln der Geschichtsphilosophie kann daher weitgehend unbeachtet bleiben. (3) Mit der Ausweitung von biblischen auf theologische Motive geht selbstredend eine Abschwächung der Säkularisierungsthese einher. Nachdem in Antike und Mittelalter philosophische und theologische Diskurse noch stark miteinander verwoben waren, ist es nicht erstaunlich, wenn eine ganze Reihe der Quellen der Geschichtsphilosophie dem Bereich der Theologie zuzuordnen sind. Ist die Säkularisierungsthese dadurch gehaltlos geworden? Nein, denn es gibt neben der Frage, aus welchen Vorläufern eine Theorie entsteht, eine weitere, die Löwith methodisch auszuschließen scheint: Hat die Theorie überhaupt Vorläufer, oder ist sie gerade durch den Bruch mit den Vorläufern entstanden? Ein dritter Kritikpunkt an Löwiths Säkularisierungstheorem setzt daher noch fundamentaler an und stellt die für Löwith dogmatische Annahme in Frage, dass es für jede philosophische Theorie bestimmte ideengeschichtliche Vorläufer gibt, die eine in irgendeinem Sinn konstitutive Bedeutung für die Theorie übernehmen. Löwith gehe demnach nur der Frage nach, ob griechische oder biblische Motive als Vorläufer der Geschichtsphilosophie in Betracht kommen. Die Option, dass überhaupt keine Motive in einem starken Sinn als Vorläufer gedient haben, erwäge er gar nicht. Dabei sei der Anspruch, Theorien aus sich selbst heraus zu entwickeln, ein wichtiges Spezifikum der Neuzeit, das ihrem Selbstverständnis zutiefst zugrunde liege. Dass das ‚Neue‘ charakteristisch für die Neuzeit ist, zeige sich schon an ihrem Namen, aber auch an Stichwörtern wie Autonomie, Kritik und Emanzipation. Paradigmatisch geworden ist René Descartes’ Formulierung in der ersten seiner Meditationen, er „müsse einmal im Leben von Grund auf alles umstürzen und von den ersten Grundlagen an ganz neu anfangen“ (1986 [1641], 63). Für die These, das Fortschrittsdenken der Neuzeit sei eine Erfindung ihrer selbst, gibt es durchaus plausible Hinweise. Wie nie zuvor wird ein Fortschritt in Wissenschaft und Technik sichtbar; aufgrund der stark institutionalisierten Forschung breitet sich die Sicherheit aus, dass keine künftige Generation mehr hinter den herrschenden Wissensstand zurückfallen wird. Nicht wenige Physiker sehen sogar den wissenschaftlichen Endzustand, die Entschlüsselung aller möglichen
sind außerdem die Anmerkungen der von Bettina Stangneth besorgten und 2003 bei Meiner erschienenen Ausgabe der RGV.
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mathematischen und naturwissenschaftlichen Fragestellungen, bevorstehen. Es ist sicherlich naheliegend, diese durchaus von empirischen Entwicklungen genährte Weltsicht als den Boden anzusehen, auf dem ein Fortschrittsdenken auf politischer und kultureller Ebene ebenfalls entstehen und gedeihen kann.³⁷ Die von Löwith mit dem Säkularisierungsbegriff behauptete, radikale genealogische Abhängigkeit ist mit diesen Überlegungen nicht vereinbar. Gleichwohl kann auch die These der Neubegründung der Geschichtsphilosophie aus dem Nichts nicht per se für sich alleine die Deutungshoheit beanspruchen. Mittelstrass’ Behauptung, die „Entdeckung des Fortschritts in der Neuzeit stellt sich nicht als säkulare Umbesetzung christlicher Positionen dar, sondern schlicht als Folge einer Revolution im naturwissenschaftlichen Denken“ (1970, 348), ist ebenso pauschal und vereinfachend wie Löwiths Theorem.³⁸ Dass die neuzeitliche Philosophie in irgendeiner Weise als das Resultat des Mittelalters anzusehen ist, wird niemand ernsthaft bestreiten können. Selbst Blumenberg hält die These, „[o]hne das Christentum wäre die Neuzeit undenkbar“, für „fundamental richtig“ (1974, 39; vgl. auch 1964, 265). Lässt man also einen differenzierteren Blick zu, wird deutlich, dass neuzeitliches Denken über Geschichte innerhalb eines vielschichtigen Kontexts zu deuten ist. Zu diesem gehört aber auch der Bezug zur Eschatologie. Und insbesondere im Vergleich mit der neuzeitlichen Entwicklung der politischen Philosophie bricht die Geschichtsphilosophie offensichtlich nicht sonderlich stark mit ihren theologischen Ursprüngen.³⁹ Den übernommenen Strukturen, vielleicht auch dem Ballast
So z. B. Mittelstrass 1970, 348; Riedel 1973, 211 und 221; Kamlah 1969, 43 ff.; Blumenberg 1974, 38 ff.; Rohbeck 2010, 121. Rohbeck (2010, 107) weist auf die besondere Bedeutung der Mathematikgeschichtsschreibung hin, die das vorhandene Wissen in seinem Entdeckungsprozess darstellt; dieselbe Struktur sei für die politische Geschichte übernommen worden. – Man muss selbstverständlich keine solchen theorieexternen Gründe anführen, um Geschichtsphilosophie als Neuschöpfung anzusehen. Bienenstock 2012 versucht gegen Löwith zu zeigen, wie Hermann Cohen die Spezifika seiner Geschichtsphilosophie gerade gegen den Zeitgeist gerichtet entwickelt und dabei eine Eigenständigkeit erreicht, die sich der Bewertung, bloß Theologie zu sein, entzieht. Wenn Löwith später (1983 [1968]) den verabsolutierenden Charakter der These, die Fortschrittsidee sei das Resultat der naturwissenschaftlichen Umwälzungen, kritisiert, kommt das implizit einem Zugeständnis gleich, dass sein eigener in Weltgeschichte und Heilsgeschehen durchscheinende Absolutheitsanspruch ebenso überzogen ist. Es ist eine äußerst interessante Frage, warum gerade im Geschichtsdenken die Neuzeit besonders stark auf die theologische Tradition angewiesen zu sein scheint, während sie in der politischen Philosophie, aber auch der Erkenntnistheorie verhältnismäßig plötzlich den alten ‚Ballast‘ abgeschüttelt hat. Die vorliegende Studie kann keine Antwort darauf geben; am plausibelsten ist vielleicht Städtlers These, gerade nach dem Wegfall eines gesicherten meta-
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nachzuspüren, den die Geschichtsphilosophie dadurch mit sich trägt, ist die Aufgabe, der hier unter Verwendung der Säkularisierungskategorie nachgegangen werden soll. Damit ist nicht gesagt, dass es nicht auch das spezifisch Neue der modernen Geschichtsphilosophie gebe. Doch sofern sich Säkularisate ausfindig machen lassen, muss man entgegen dem Selbstverständnis der Neuzeit als radikalem Neubeginn daran festhalten, dass auch oder gerade die intendierte Abgrenzung vom christlichen Mittelalter die Weiterführung mancher christlicher Gehalte mit sich bringt. (4) Oben wurde gezeigt, dass unter ‚Säkularisierung‘ in verschiedenen Zusammenhängen verschiedene, einander sogar widersprechende Vorgänge verstanden werden. Daher drängt sich die Frage auf: Liegt bei Löwith ein einheitlicher, hinreichend bestimmter Säkularisierungsbegriff vor, und ist dieser dem Erkenntnisinteresse angemessen? Einen Versuch, den Begriff zu definieren, unternimmt Löwith nicht. Es bleibt also nichts anderes, als auf Grundlage seiner Thesen den Bedeutungsgehalt des Begriffs zu rekonstruieren. Zunächst ist festzuhalten, dass Löwith den Begriff der Säkularisierung auf Prozesse anwendet, die manchmal, aber nicht immer zu einer Ablehnung des Theismus oder anderer theologischer Annahmen führen. Einerseits sind die Protagonisten der Säkularisierung radikale Atheisten wie Marx und Comte; auf der anderen Seite gehört aber auch Hegel zu ihnen, obwohl er auf seine Art und Weise am Theismus, der Inkarnation und anderen christlichen Dogmen festhält. Folgt daraus, dass Löwith in den beiden Fällen je verschiedene, einander ausschließende Säkularisierungsbegriffe verwendet? Dies scheint nicht der Fall zu sein. Vielmehr wird die Säkularisierung für Löwith durch drei Merkmale gekennzeichnet, die mit der Frage des Atheismus direkt nichts zu tun haben. Zunächst einmal versteht Löwith unter Säkularisierung die Aufnahme biblischer Gehalte in die Philosophie – unabhängig von der Frage, ob sich diese dabei eher religionskritisch oder religionsaffin verhält. Etwas spezieller gefasst bedeutet für Löwith ‚säkularisieren‘ zweitens, Strukturen von der Transzendenz auf die Immanenz zu übertragen. In diesem Sinne kann man Löwiths Säkularisierungsbegriff als „Beibehaltung der radikalen Dogmatik unter Ausblendung des ursprünglichen transzendenten Gehalts“ (Jaeger 2001, 499) definieren. Die christliche Vorstellung eines transzendenten, in die geschichtliche Wirklichkeit hereinbrechenden Reiches Gottes ist in säkularisierter Form ein geschichtlicher, der Welt immanenter Endzustand. Aus dem Konzept des Jüngsten Gerichts am Ende aller Zeiten wird, folgt man Löwith, bei Hegel und Marx die
physischen Rahmens des philosophischen Denkens müsse die Geschichtsphilosophie durch die Hintertür wieder für eine solche Sicherheit sorgen (vgl. Städtler 2012).
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Weltgeschichte als Weltgericht. Die Idee der transzendenten göttlichen Vorsehung wird in einen vorhersehbaren Fortschritt transformiert. Die Übertragung transzendenter Motive auf die Immanenz kann mit der generellen Leugnung der Transzendenz einhergehen, muss dies aber nicht,wie etwa bei Hegel sichtbar wird. Das dritte Merkmal schließlich bezieht sich auf den jeweiligen epistemischen Status. Der Vorgang der Säkularisierung macht für Löwith aus einem Gegenstand des Glaubens einen Gegenstand der Wissenschaft. Was zunächst von der nicht weiter zu rechtfertigenden Zustimmung zu Glaubensinhalten abhängig war, soll in der säkularisierten Variante jedermann einleuchten können. Auch dies ist unabhängig von atheistischen oder antireligiösen Tendenzen. Die drei Merkmale widersprechen sich daher nicht; aber sind sie sinnvolle Kriterien, die sich für eine Definition der Säkularisierung anbieten? Betrachten wir die Merkmale nochmals einzeln: Zweifellos ist das Aufgreifen biblischer Gehalte eine Form der Säkularisierung. Aber die Beschränkung auf biblisches Denken erwies sich oben bereits als zu eng: Mit der Hellenisierung des Christentums beginnend wird die Theologie von zahlreichen außerbiblischen Gehalten geprägt, die zum Kern dessen gehören, was in der Neuzeit unter Theologie verstanden wird. Es gibt keinen Grund, solche außerbiblischen Gehalte auszunehmen, wenn es um Säkularisierungsvorgänge gehen soll. Ebenfalls zu eingeschränkt ist die These, Säkularisierung sei die Übertragung transzendenter Motive auf die Immanenz. Dies ist zwar eine wichtige und häufige Form der Säkularisierung; sie ist aber nicht die einzige. Denken wir etwa an die Vernunftreligion der Aufklärung: Auch wenn Gott ein aus der allgemeinen Menschenvernunft gewonnenes Prinzip sein soll, bleibt er begrifflich doch eine transzendente Gestalt. Jeder würde jedoch intuitiv zugestehen, dass die Vernunftreligion als Säkularisat anzusehen ist, auch wenn hier nichts in die Immanenz transformiert wurde.⁴⁰ Andererseits gibt es theologische Konzepte, die sich auf dezidiert innerweltliche Zusammenhänge beziehen; als Beispiel sei der Chiliasmus, das tausendjährige Reich am Ende der Geschichte genannt. Wer solche Konzepte im Rahmen einer säkularen Philosophie aufgreift, der betreibt eine Säkularisierung von selbst schon immanenten Gehalten. Der Säkularisierungsbegriff muss deshalb weiter gefasst werden, sodass Löwiths Bild einer Übertragung von der Transzendenz auf die Immanenz lediglich einen Spezialfall des weiter gefassten Begriffs bildet.
Pott hält fest, dass die Vernunftreligion der Aufklärung zu den Quellen gehört, „für die eine Säkularisation unstrittig ist“ (2002, 22).
1.3 Kritik am Säkularisierungstheorem
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Löwiths dritter Vorschlag, die Gegenüberstellung von Glaube und Wissenschaft, ist vielleicht am wenigsten hilfreich, weil er ein strittiges Verständnis von Theologie voraussetzt. Ob Theologie bloß unbegründeten und irrationalen Glauben reflektiert oder eher auf eine – nach Augustinus sogar höhere – Form von Wissen hinauslaufen soll, ist eine eigene religionsphilosophische Debatte, die hier nicht entschieden zu werden braucht. Wenn deshalb das dritte Kriterium außen vor bleiben kann, sollte eine sinnvolle Definition des Säkularisierungsbegriffs so gefasst sein, dass sie ein allgemeines Kriterium angibt, unter das sich die ersten beiden Merkmale als Sonderfälle subsumieren lassen. Löwiths Vorgehen ist tendenziell von einem ahistorischen Zugang zur Frage nach den entscheidenden Merkmalen der Säkularisierung geprägt: Er sucht nach Abgrenzungsmerkmalen zwischen Theologie und Philosophie, die über die gesamte Geschichte unverändert Gültigkeit haben. Mir scheint dieser Zugang zu vereinfachend zu sein. Aufgabenbereiche, Fragestellungen und Argumentationskulturen sind zu sehr Produkte historischer Entwicklung, als dass eine klare ahistorische Abgrenzung von Theologie und Philosophie möglich wäre. Ich möchte deshalb den Säkularisierungsbegriff auf die spezifisch neuzeitliche Konstellation der Wissenschaftskultur beschränken. Die Gegenüberstellung von Theologie und Philosophie ist das neuzeitliche Produkt eines langen Ausdifferenzierungsprozesses; ohne die besonderen Merkmale dieses Prozesses lässt sie sich nicht verstehen. Als ‚theologisch‘ sollen im Folgenden deshalb solche Gehalte bezeichnet werden, die sich in diesem bis heute andauernden Ausdifferenzierungsprozess zu spezifischen Bestandteilen der Theologie entwickelt haben. ‚Säkularisierung‘ ist demnach, in den Worten des evangelischen Theologen und Säkularisierungstheoretikers Emanuel Hirsch, die „Überführung von christlichen (oder doch in der christlichen Kirche heimisch gewordenen⁴¹) Anschauungen in die Denkformen der autonomen Vernunft“ (Hirsch 1921, 3).⁴² Relevant sind für die vorliegende
Dieser Aspekt ist aus zwei Gründen nicht unwichtig: Ich möchte nicht nur biblische, sondern auch viele griechische Denkmotive der Theologie zuordnen; außerdem wird hier nochmals deutlich, dass die Möglichkeit eingeräumt werden muss, dass der Säkularisierungsprozess säkular begründbare Gehalte aus der theologischen Tradition ‚herausschält‘, die über Jahrhunderte hinweg von der Theologie ‚mittransportiert‘ wurden. Hirschs weitere These, das philosophische Denken könne nur durch einen Bezug zum Ewigen wirklich neue Gehalte gewinnen, teile ich dagegen nicht. – Bekanntlich sah Hirsch in einer späteren Phase die einzig konsequente Fortführung des Christentums im Nationalsozialismus und bei den „Deutschen Christen“. Sein Verhalten ist gleich problematisch, ob er sich damit vom hier ausgedrückten Ideal der autonomen Vernunft distanzieren wollte oder dieses
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Arbeit vor allem diejenigen historisch tradierten theologischen Gehalte, die heute unter dem Begriff der Eschatologie zusammengefasst werden; dieser wird noch gesondert eingeführt (siehe Kapitel 2) und dient als genauere Bestimmung dessen, was bei der Kant-Exegese als theologische Vorlage gelten soll. (5) Oben wurde postuliert, zwischen Säkularisat und theologischem Ursprung müsse in irgendeiner Weise eine Identitätsbeziehung bestehen; die Kritiker von Säkularisierungstheorien unterstellen dabei die Identität einer historischen Substanz. Blumenberg wählt Löwith in der Legitimität der Neuzeit (1966) als Paradebeispiel, um die vermeintlichen substantialistischen Voraussetzungen des Säkularisierungsbegriffs aufzuzeigen. Wer in ideengeschichtlicher Perspektive einen Säkularisierungszusammenhang behaupte, müsse den „Aufweis der Verwandlung, Umbildung, Verformung, Überführung in neue Funktionen einer identifizierbaren, im Prozeß sich durchhaltenden Substanz“ (Blumenberg 1966, 19) führen. Genau dies sei aber grundsätzlich nicht möglich. Die relevanten ideengeschichtlichen Vorgänge dürften nicht als „Umsetzung authentisch theologischer Gehalte in ihre säkulare Selbstentfremdung“ gedeutet werden, sondern lediglich als „Umbesetzung vakant gewordener Positionen von Antworten, die sich hinsichtlich der ihnen korrespondierenden Fragen nicht eliminieren ließen“; auf diese Art und Weise wolle die Neuzeit die „Hypothek der vorgegebenen Fragen [annehmen] und als eigene Verbindlichkeit [abtragen]“ (Blumenberg 1966, 42). Die heute in der Geschichtsphilosophie gesehenen Probleme seien genau darauf zurückzuführen, und nicht auf die Beibehaltung einer theologischen Substanz in säkularisierter Gestalt. Blumenbergs Strategie, den Säkularisierungsbegriff durch das Auferlegen einer grundsätzlich nicht erbringbaren Beweislast aus der Philosophie zu verbannen, erweist sich freilich als Eigentor. Von Löwith zunächst als unfair charakterisiert (vgl. 1983 [1968], 454), aber dann dennoch dankend aufgegriffen (vgl. ebd., 455), bietet sie dem Säkularisierungstheoretiker eine ausgearbeitete Explikation dessen, was mit Säkularisierung vernünftigerweise gemeint sein könnte, nämlich Funktionskonstanz im oben dargelegten Sinn, und nicht Substanzidentität. „Es geschah wohl durch die List seiner Vernunft, daß Blumenberg gerade mit dem Angriff auf diese Kontinuitätsthesen von Löwith und Taubes die einzige Chance zu ihrer wirklichen Verteidigung lieferte: durch sein Funktionsmodell der Geschichte.“⁴³ So ist es nicht weiter erstaunlich, dass Löwith rück-
Ideal im Nationalsozialismus erfüllt sah. Seine frühe Schrift, auf die ich mich beziehe, steht mit seiner späteren Einstellung jedenfalls in keinem erkennbaren Zusammenhang. Marquard 1982, 16 f.; in diesem Sinne argumentiert auch Jaeschke 1976, 34– 42.
1.3 Kritik am Säkularisierungstheorem
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blickend sein Säkularisierungstheorem in genau diesem Sinne verstanden haben möchte (vgl. 1983 [1968], 458). Damit ist das Problem natürlich nur verschoben, nicht gelöst: Wenn die der Säkularisierung zugrundeliegende Identität nicht eine historische Substanz, sondern eine Identität der funktionellen Position oder „Stelle“ sein soll, wie ist diese nachzuweisen? In einem strengen Sinne gar nicht, folgt man den späteren Klarstellungen Löwiths: „Und ‚verifizieren‘ läßt sich die vielfach bedingte und weit verzweigte Herkunft eines geschichtlichen Phänomens so wenig wie sich mit Sicherheit feststellen läßt, ob der vermeintliche Vater eines Kindes der wirkliche ist.“ (Ebd., 459) Was die zweite Satzhälfte angeht, ist Löwith weitgehend durch den von ihm so gescholtenen Fortschritt eingeholt worden. Doch dass der Säkularisierungszusammenhang nicht streng bewiesen werden kann, sondern sich der Proponent auf die Angabe von plausiblen Gründen beschränken muss, dürfte nach wie vor gültig sein. Doch damit stellt sich die Frage, ob Löwith solche Gründe tatsächlich nennt. Kehren wir noch einmal zum Beispiel Marx zurück: Die Richtigkeit von Löwiths Interpretation der Marxschen Theorie vorausgesetzt,⁴⁴ sind ohne Zweifel Strukturanalogien zur jüdischen Geschichtsvorstellung sichtbar. Aber kann Löwith die historische Konstanz der Funktion, die die analogen Strukturen übernehmen, aufzeigen? Die Arbeiterklasse und das auserwählte Volk, das Reich Gottes und die klassenlose Gesellschaft haben auf den ersten Blick so wenig miteinander zu tun, dass eine Konstanz ihrer funktionellen Position alles andere als selbstverständlich ist. Löwiths einziges Argument, das für den Nachweis der historischen Vermittlung einstehen soll, ist offenbar der Hinweis auf Marxens genetische Zugehörigkeit zum Judentum, wobei Löwith selbst vor der Verwendung des Begriffs der „Rasse“ nicht zurückscheut.⁴⁵ Eine ernsthafte Diskussion dieser Behauptung erübrigt sich. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass Löwiths Ansatz prinzipiell mit dem Funktionsmodell der Säkularisierung kompatibel ist, er aber im Einzelfall den Nachweis der historischen Vermittlung schuldig bleibt und ihn teilweise vermutlich auch nicht erbringen könnte. Wer am Säkularisierungsbegriff festhalten möchte, muss sich genau dieser Anforderung stellen. (6) Zuweilen wird die Auffassung vertreten, die Kritik der Säkularisierungskategorie als eines diskriminierenden Begriffs, eingesetzt zur Untermauerung einer ideenpolitischen Position, treffe auf Löwith gar nicht zu; es ginge ihm um eine sachliche Analyse der ideengeschichtlichen Herkunft der Geschichtsphilo-
Siehe Fußnote 25. „Die wirklich treibende Kraft hinter dieser Konzeption ist ein offenkundiger Messianismus, der unbewußt in Marx’ eigenem Sein, in seiner Rasse wurzelt.“ (Löwith 1953, 48)
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1 Einführung: Säkularisierung, Eschatologie und Geschichte
sophie, in deren Zusammenhang zusätzlich noch eine generelle Kritik an Eschatologie und Geschichtsphilosophie formuliert würde.⁴⁶ Diese Auffassung ist kaum nachvollziehbar. Zu Recht wird demgegenüber darauf hingewiesen, dass Weltgeschichte und Heilsgeschehen im Ganzen als ‚Kriegserklärung‘, als „unambiguous declaration of war against the philosophy of history as such“ (Bienenstock 2012, 56) intendiert ist. Wenn, wie in Kapitel 1.1.3 angedeutet, der diskriminierende Charakter in einer Kritik ohne Argument besteht, ist bei Löwith die Säkularisierungskategorie in einem doppelten Sinne eine Diskriminierungskategorie. Erstens soll bereits die Rückführung auf biblische Wurzeln diskriminieren. Diese seien zwar, wie oben festgehalten, immer noch besser als das Säkularisat. In der polemischen Gegenüberstellung von griechischer „Weisheit“ und biblischem „Glauben“ (Löwith 1953, 16) wird jedoch deutlich, dass jüdische und christliche Gehalte ersteres nie und immer sein können: Weisheit, und als solche Teil der Philosophie. Auch wenn Löwith später versucht, sachliche Gründe für die Unvereinbarkeit von christlichem Glauben und Philosophie anzugeben (vgl. Löwith 1956), werden in Weltgeschichte und Heilsgeschehen Christentum und – noch in viel stärkerem Ausmaß – Judentum als intellektuelle Schimpfwörter herangezogen. Was sich als christlich oder jüdisch erweise, könne von vornherein aus Sicht von Philosophie und Wissenschaft nicht ernst genommen werden; anders kann Löwith nicht verstanden werden. Zweitens wird der Säkularisierungsvorgang selbst als ein zwangsläufig illegitimer Prozess gedeutet. Zwar bemüht sich Löwith stellenweise zu zeigen, weshalb dies der Fall sein soll. So argumentiert er, die nach christlichem Selbstverständnis als bloßer Glaube an transzendente, außergeschichtliche Entitäten aufgefassten Gehalte würden durch die Säkularisierung zu Elementen der Wissenschaft; genau hierin läge das Verhängnis. Aber mehr als diese sicher nicht von der Hand zu weisende Behauptung findet sich nicht; nicht einmal den naheliegenden Einwand, dass nach dem Verständnis vieler Theologen Glaube nicht ‚bloßer Glaube‘, sondern exklusive Wahrheit sei, reflektiert Löwith. Die polemische, ideenpolitische Verwendung des Säkularisierungsbegriffs offenbart sich etwa dann, wenn Löwith darauf hinweist, das moderne Bewusstsein habe sich vom Glauben emanzipiert und bliebe doch von ihm abhängig „wie ein entlaufener Sklave von seinem entfernten Herrn“ (Löwith 1953, 83). Dass etwas dort nicht mehr ist,wo es hingehört, begründet für Löwith einen Skandal – Löwith verfällt in genau die Eigentumsmethaphorik, die Blumenberg dazu veranlasst, den Säkularisierungsbegriff zu verwerfen. Wie schief sein Beispiel liegt, dass es nämlich dem
So z. B. Marquard 1982, 15 f.
1.4 Theodizee und Geschichtsphilosophie
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entlaufenen Sklaven ohne seinen Herrn durchaus gut zu gehen vermag, scheint Löwith dabei gar nicht zu bemerken. Wer mit dem Säkularisierungsbegriff arbeitet, setzt sich der Gefahr aus, der Versuchung einer polemischen Verwendung des Begriffs zur Kennzeichnung einer ideenpolitischen Haltung zu erliegen. Dies zeigt sich auch an Löwiths Säkularisierungstheorem. Umso wichtiger ist es, sich die Gefahr der Polemisierung bewusst zu machen und den in Kapitel 1.1.3 vorbereiteten Weg einzuschlagen: Das konkrete Material muss nach Abhängigkeit wie Emanzipation von der Theologie untersucht werden, und es ist jeweils eine Bewertung zu ergänzen, die nach zusätzlichen Argumenten sucht, anstatt das Säkularisat als solches schon zu verwerfen oder zu feiern.⁴⁷
1.4 Theodizee und Geschichtsphilosophie Auch wenn Odo Marquard den Säkularisierungsbegriff weitgehend meidet und sich stellenweise ausdrücklich von Löwith distanziert,⁴⁸ kann seine in verschiedenen Zusammenhängen, vor allem aber in Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie (1982) vertretene These, die Geschichtsphilosophie diene der Lösung des Theodizeeproblems, als ein Spezialfall des Säkularisierungstheorems angesehen werden.⁴⁹ Als ein solcher soll die These hier diskutiert werden, um am Beispiel der Theodizeethematik die Relevanz des Säkularisierungsbegriffs zu demonstrieren und Hypothesen für die Arbeit an den Texten Kants zu entwickeln. Marquard diagnostiziert für die Zeit von 1781 bis 1800, also zwischen dem Erscheinen der KrV und Fichtes Bestimmung des Menschen, eine „Pause im Theodizee-Problem“ (1982, 58). Dass die Theodizee – mit Kant verstanden als „Verteidigung der höchsten Weisheit des Welturhebers gegen die Anklage, welche die Vernunft aus dem Zweckwidrigen in der Welt gegen jene erhebt“ (MpVT, XI 105), und spätestens seit Leibniz eine der Grundfragen von Philosophie und natürlicher Theologie – mit Aufkommen des transzendentalen Idealismus von heute
Ich verzichte an dieser Stelle auf eine Zusammenfassung der in (1) – (6) erzielten Ergebnisse; siehe aber Kapitel 1.5. Marquard (1982, 177) wirft Löwith vor, er würde mit dem Säkularisierungstheorem die entscheidende Zäsur, dass nämlich „die (politische) Bewegung der Rechtsverhältnisse zum wesentlichen Inhalt der Geschichte wird“, bagatellisieren. Wie ich oben zu zeigen versucht habe, möchte Löwith mit dem Säkularisierungsbegriff aber gerade diese Zäsur bezeichnen und betonen. An anderen Stellen scheint sich Marquard denn auch mit dem Säkularisierungstheorem anfreunden zu können, vgl. z. B. 1982, 16 ff. Diese Einschätzung teilen Blumenberg 1974, 69 und Bouton 2007, 69 f.
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1 Einführung: Säkularisierung, Eschatologie und Geschichte
auf morgen in der philosophischen Debatte keine Rolle mehr spiele, müsse einen Grund haben. Dieser Grund könne nur darin liegen, dass der Idealismus das Theodizeeproblem radikal gelöst habe; das Fehlen der Theodizee-Thematik sei gerade der Beweis, dass die Theodizee-Thematik einen wichtigen Dreh- und Angelpunkt des Idealismus darstelle. Die zentrale idealistische These der radikalen Autonomie des Menschen „entsteht und steht im Dienste der Theodizee“, so Marquard (1982, 57). Wie soll sie diesen Dienst erfüllen können? Nach der zunehmenden Zurückweisung der Leibnizschen Lösung, die tatsächliche Welt sei die beste aller möglichen, und der damit verbundenen Anerkennung der Existenz von Zweckwidrigkeiten in der Welt, bleibe der Theodizee nur noch der zweite der beiden klassischen Wege, nämlich „die These: nicht Gott ist schuld, denn nicht Gott macht und lenkt die Welt, sondern der Mensch“ (ebd., 59). Um also die Güte Gottes zu retten, müsse der Mensch als Schöpfer und Lenker auftreten; um den Theismus zu verteidigen, bliebe nur noch ein „methodischer Atheismus ad maiorem Dei gloriam“ (ebd., 65). Zum Zweckwidrigen der Welt gehören in den Augen der Idealisten, so Marquard, vor allem Antinomien und die sich daraus ergebende Konsequenz, dass die Welt „voll Täuschung, d. h. unvermeidlicher Widersprüche“ (ebd., 59) ist. Dass nicht – wie noch im Gedankenspiel in Descartes’ Meditationen (1641) – Gott, sondern der Mensch Ursache der Täuschungen ist, kann man tatsächlich als ein zentrales Resultat der KrV ansehen. Neben den Antinomien provoziere aber auch der Verlauf der Geschichte das Theodizeeproblem: Solange Gott Subjekt und Täter der Geschichte gewesen sei, mussten die Untaten der Geschichte ihm zugerechnet werden. Um Gott vor dem Vorwurf zu retten, ein „Täter von Untaten“ (Marquard 1982, 70) zu sein, musste eben der Mensch „jene Stelle des Subjekts und Täters der Geschichte“ (ebd., 68) einnehmen. Genau das geschehe durch die Ausarbeitung der radikalen Autonomie bei Kant, Fichte und Schelling. Wenn aber nicht mehr Gott, sondern der Mensch Herr über die Geschichte ist, dann könne auch nur noch der Mensch die Welt besser machen, als sie aktuell ist. Genau dies sei die Geburtsstunde der modernen Geschichtsphilosophie, die den Geschichtsprozess als Rechtsprogress, als allmähliches Realisieren der Rechtsverfassung, begreife. Interessanterweise bleibt Marquard an dieser Stelle nicht stehen.⁵⁰ Vielmehr setzt hier erst der entscheidende Punkt ein, der Marquards Kritik an der Geschichtsphilosophie begründen soll. Kaum sei das Theodizeeproblem durch die
Dies wird in der Literatur gerne übersehen (z. B. Cavallar 1993, 96), obwohl sich m. E. erst hier Marquards interessanteste Pointe zeigt.
1.4 Theodizee und Geschichtsphilosophie
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radikale Autonomiekonzeption des Hauses verwiesen, schleiche es sich nämlich durch die Hintertür wieder ein. „Freilich: ist dieses bürdenreiche Amt eines Täters und Lenkers der Welt am Ende nicht doch zu schwer für den Menschen? Der Idealismus selber hat das befürchtet. Darum haben bereits die Philosophien Kants, Fichtes, Schellings sich nach Helfern umgesehen: nach Potenzen, die den Menschen in dieser Rolle des entscheidenden Täters und Lenkers der Welt unterstützen oder gar ersetzen.“ (Ebd., 62)
Der „scheinbar geschichtsmündig gewordene[.] Mensch“ übe sich damit in der „Kunst, es nicht gewesen zu sein“ (ebd., 73). Beispiele dafür gebe es viele: zunächst die Unterscheidung zwischen empirischem und transzendentalem Ich, dann der Rückgriff auf die Natur bei Kant, ähnlich die „List der Vernunft“ bei Hegel, schließlich – deshalb käme es um 1800 allmählich zum Ende der Pause im Theodizeeproblem – doch wieder Gott; und wo Gott nicht erwünscht war wie bei Marx, blieben zwar Menschen verantwortlich für die Gräuel der Geschichte, aber nur noch „die anderen“, nämlich die herrschende Klasse.Was hier passiere, sei auf je unterschiedliche Weise die „entstellte Wiederkehr des verdrängten Gottes“ (ebd., 79). Während die eine Seite der Geschichtsphilosophie, die Lösung des Theodizeeproblems durch die menschliche Autonomie, von Marquard zustimmend aufgenommen wird (vgl. ebd., 65), sieht er in ihrer anderen Seite, nämlich der Kunst, es nicht gewesen zu sein, den Grund seiner drastischen Abneigung gegen die Geschichtsphilosophie. Die Geschichtsphilosophie sei nämlich irrational, weil sie „im Namen der Emanzipation deren Gegenteil“ und „im Namen der Autonomie Heteronomie lanciert“ (ebd., 66); weil sie „die Autonomie des Menschen nicht allein betreibt, sondern sie, ohne es zu wissen, zugleich auch hintertreibt“ (ebd., 80). Marquards Konsequenz daraus ist die radikale Ablehnung jeder Form von Geschichtstheologie und Geschichtsphilosophie. Der gezeigte anti-emanzipatorische Charakter der Geschichtsphilosophie bringt Marquard letztlich dazu zu bestreiten, dass die Geschichtsphilosophie – oft als das Kennzeichen der Neuzeit überhaupt aufgeführt – überhaupt zur Neuzeit gehören kann. „Daher […] ist die Geschichtsphilosophie nicht die Neuzeit, in ihr mißlingt die Neuzeit. […] Die Geschichtsphilosophie ist die Gegenneuzeit.“ Bezogen auf die Säkularisierungsdebatte bedeute dies: Das „Schlimme“ an der Geschichtsphilosophie sei, „daß in ihr die Säkularisierung nicht oder zu wenig stattfand, daß sie in ihr nicht gelang“ (ebd., 16). Marquards in pointierter, humoristischer Sprache vorgebrachte Thesen sind in ihren überspitzten Formulierungen und globalen Erklärungen ähnlich angreifbar wie Löwiths Säkularisierungstheorem.Wer übersieht, wie Marquard nicht
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ohne Selbstironie immer wieder andeutet, dass die Dinge letztlich doch nicht so einfach liegen, wie er sie karikaturhaft skizziert, kann ohne weiteres zahlreiche Aspekte vorbringen, die seine Thesen relativieren oder widerlegen. So ist die vermeintliche „Pause“ im Theodizeeproblem keine wirkliche Pause, wenn man etwa die kleineren Schriften Kants berücksichtigt.⁵¹ Gott wird auch zu keinem Zeitpunkt völlig aus der Geschichte verbannt, wie Marquard es nahezulegen scheint; das Konzept der göttlichen Vorsehung ist bei Herder, Kant, Fichte und Schelling präsent und wird erst im 19. Jahrhundert radikal kritisiert. Weiterhin kann man gegen Marquard anführen, dass die neue Erfahrung, dass die Geschichte von frei handelnden Menschen gemacht wird, vermutlich stärker auf die Französische Revolution zurückzuführen ist als auf den Versuch, Gott zu entlasten.⁵² An letzter Stelle gibt es theologische Einwände gegen Marquards These: Die vermeintliche Lösung des Theodizeeproblems durch die menschliche Autonomie kann sich nur auf das malum morale, auf das vom Menschen verursachte Übel beziehen. Trotz aller Subjektivität ist auch im Idealismus der Mensch nicht Schöpfer der Welt und der darin vorhandenen natürlichen Missstände wie etwa Krankheiten und Naturkatastrophen.⁵³ Was ist dann trotz der vorgebrachten Kritik überhaupt noch haltbar an Marquards „gewiss waghalsige[n]“ (1982, 59) Thesen, die, wie er wahrzunehmen glaubt, „offenbar einzig [ihm] selber einleuchte[n]“ (ebd., 68)? Was mich an seinen Überlegungen interessiert, wird deutlich, wenn man sie als Spezialfall des Säkularisierungstheorems deutet. Denn die Theodizee-Thematik geht ja, wie Marquard zeigt, mit der Strategie des methodischen Atheismus nicht verloren, sondern wird nur auf eine andere Ebene verlagert. „Die Verabschiedung Gottes bedeutet […] jedenfalls das eine: was zuvor (im Zeitalter der traditionellen Theodizee) als Streit des Menschen mit Gott – als transzendente, also sozusagen menschheitsaußenpolitische Frage – abgemacht werden konnte, muß jetzt als Streit des Menschen mit Menschen – also als immanente, als menschheitsinnenpolitische Frage –
So auch Cavallar 1993. Marquard ist sich dieser Ausnahmen durchaus bewusst, vgl. etwa 1982, 173. So Bouton (2007, 76 ff.). Er verweist insbesondere auf Zitate von Fichte, Schelling und Kant, die als direkte Reaktion auf die Französische Revolution entstanden sind: „Wir werden in der ganzen Weltgeschichte nie etwas finden, was wir nicht selbst erst hineinlegten.“ (Fichte 1965 [1793], 39) „Dem Menschen aber ist seine Geschichte nicht vorgezeichnet, er kann und soll seine Geschichte sich selbst machen.“ (Schelling 1856 [1797], 470) „Denn wir haben es mit freihandelnden Wesen zu tun, denen sich zwar vorher diktieren läßt, was sie tun sollen, aber nicht vorhersagen lässt, was sie tun werden.“ (Kant, SF XI, 355) Zur Wahrnehmung der Französischen Revolution bei Kant, Fichte und Hegel vgl. auch Siep 2010. Dieses Argument bringt Blumenberg (1974, 70) gegen Marquard vor.
1.4 Theodizee und Geschichtsphilosophie
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ausgefochten werden.Wo der außerweltliche Sündenbock verlorengeht, muß ersatzweise ein innerweltlicher […] gefunden werden.“ (Ebd., 77)
Was Marquard diagnostiziert, ist, dass mit dem Eintauschen Gottes gegen ein innerweltliches Prinzip – etwa die Natur – das grundlegende theologische Problem aufrecht erhalten bleibt, wenn auch in veränderter Form. Dies entspricht genau dem, was ich oben unter ‚Säkularisierung‘ gefasst habe: Das transzendente Prinzip wird verweltlicht, Strukturen – hier: Problemstrukturen – werden aufrechterhalten.⁵⁴ Und es führt zu einer interessanten Hypothese: Wenn das Theodizeeproblem wesentlich darin besteht, dass die Welt entgegen aller Erfahrung als gut (oder als die beste aller möglichen Welten) ausgewiesen werden soll, um noch als Gottes Schöpfung angesehen werden zu können, dann ist zu erwarten, dass der säkularisierte Ersatz Gottes zu einer ähnlichen Spannung führt. Marquards scharfsinnige Analyse der Übertragung der Theodizee-Problematik auf die Immanenz ist um einen weiteren Aspekt zu ergänzen. Zu diesem Zweck ist nochmals ein kurzer Blick auf die Kritik zu werfen, die Marquard erfahren hat. Einerseits wird ihm vorgeworfen, sein methodischer Atheismus sei letztlich nicht nur ein methodischer, sondern auch ein ontologischer. Begründet wird dies mit der Behauptung, die radikale Autonomie des Menschen sei unvereinbar mit der Allmacht Gottes; wenn Menschen autonom seien, folge daraus statt der Lösung des Theodizeeproblems die Nicht-Existenz Gottes (vgl. Blumenberg 1974, 70). Auf der anderen Seite wird Marquard mit genau gegenteiliger Intention dafür kritisiert, dass die im Idealismus entwickelte Autonomie des Menschen am Theodizeeproblem gar nichts ändere; seit langem schon habe die Theologie ein Konzept der göttlichen Vorsehung entwickelt, das mit der menschlichen Freiheit kompatibel sei (vgl. Bouton 2007, 77). Mit der Gegensätzlichkeit der beiden Vorwürfe möchte ich Folgendes verdeutlichen: Im Hintergrund der Thesen Marquards steht ein seit langem gesehenes und kontrovers diskutiertes theologisches Problem, ob und wie die göttliche Vorsehung und Allmacht mit der menschlichen Freiheit zu vereinbaren ist. Ob man nun die darin angelegte Spannung für auflösbar hält oder nicht, so ist doch in jedem Fall festzuhalten, dass es sie gibt.
Marquards eigene Verwendung des Säkularisierungsbegriffs – in der Geschichtsphilosophie habe die Säkularisierung zu wenig oder gar nicht stattgefunden – bleibt für diesen Zugang gleichwohl unbrauchbar: Wenn in diesem Sinne Säkularisierung stattgefunden hätte, wären Geschichtsphilosophie und Theologie zwei so verschiedenartige Gebilde, dass Geschichtsphilosophie nicht als säkularisierte Geschichtstheologie angesehen werden könnte; siehe Kapitel 1.1.2 und 1.1.3.
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1 Einführung: Säkularisierung, Eschatologie und Geschichte
Wenn die göttliche Vorsehung nun säkularisiert wird und in verweltlichter Gestalt auftritt, dann ist zu erwarten, dass sich auch dieses Problem wiederholt. Nicht nur bezüglich der Theodizee, sondern auch bezüglich der Freiheitsthematik könnten die Problemstrukturen aufrecht erhalten bleiben. Darauf spielt Marquard an, wenn er feststellt, dass die Geschichtsphilosophie „im Namen der Autonomie Heteronomie lanciert“ (1982, 66). Was daran deutlich wird, ist die philosophische Relevanz, die der Suche nach Säkularisierungszusammenhängen zukommt. Es ist nicht nur so, dass im Prozess der Säkularisierung theologische Gehalte transportiert werden, die vor dem Gerichtshof der säkularen Vernunft keine ausreichende Rechtfertigung erfahren können. Darüber hinausgehend treten im Säkularisat oft auch die grundlegenden Spannungen, vielleicht sogar Inkonsistenzen in leicht veränderter Gestalt wieder auf, die zuvor die Theologiegeschichte geprägt haben. Auch hier kann nur im Einzelfall entschieden werden, ob die säkularisierte Variante der Probleme mehr oder weniger lösbar erscheint als deren theologischer Vorläufer. Für eine Geschichtsphilosophie, die ohne einen Bezug auf die Transzendenz auskommen möchte, wird aber zumindest die letzte Ausflucht der Theologen, Gott sprenge die Gesetze der menschlichen Vernunft, nicht mehr als Lösungsstrategie in Frage kommen. Drei Hypothesen lassen sich an dieser Stelle festhalten: (1) Ein Motiv für die Säkularisierung der Geschichtstheologie zur Geschichtsphilosophie könnte das Theodizeeproblem sein. (2) Insofern die Geschichtsphilosophie als Säkularisat aufzufassen ist, kann erwartet werden, dass in der Geschichtsphilosophie das Theodizee-Motiv erneut auftritt: Entgegen der Erfahrung von Leid und Unrecht wird daran festgehalten, dass die Welt so,wie sie ist, gut sein muss. (3) Insofern die Geschichtsphilosophie als Säkularisat der Eschatologie aufzufassen ist, kann man außerdem davon ausgehen, dass sie mit dem Problem der Vereinbarkeit von Vorsehung und menschlicher Freiheit konfrontiert wird.
1.5 Die Fragestellung 1.5.1 Die Frage nach säkularisierter Eschatologie Nach der ausführlichen Hinleitung lässt sich zusammenfassen, in welchem Sinn die vorliegende Arbeit versucht, im Rahmen einer Interpretation der Religionsund Geschichtsphilosophie Kants Elemente säkularisierter Eschatologie herauszuarbeiten: Wenn in einem ideengeschichtlichen Zusammenhang von einer ‚Säkularisierung der Eschatologie‘ oder von ‚säkularisierter Eschatologie‘ sinnvoll ge-
1.5 Die Fragestellung
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sprochen werden soll, dann kann damit nicht gemeint sein, dass der Gehalt der Eschatologie durch den Prozess der Säkularisierung völlig verschwindet.Vielmehr müssen zwischen Eschatologie und Geschichtsphilosophie hinreichend spezifische Strukturanalogien vorliegen, deren historische Vermittlung plausibel gemacht werden kann. Säkularisierung entsteht daher durch das bewusste oder unbewusste Aufgreifen theologischer Motive und Strukturen im Rahmen einer säkularen Philosophie. Als ‚theologisches‘ Motiv soll dabei alles gelten, was sich im Laufe der Zeit als Bestandteil der Theologie etabliert hat – nicht notwendigerweise biblischen Ursprungs und nicht unbedingt mit primär transzendentem Charakter. Ich möchte daher mit dem evangelischen Theologen und Säkularisierungstheoretiker Emanuel Hirsch Säkularisierung fassen als „Überführung von christlichen (oder doch in der christlichen Kirche heimisch gewordenen) Anschauungen in die Denkformen der autonomen Vernunft“ (Hirsch 1921, 3).⁵⁵ Der Säkularisierungsbegriff dient hier nicht zur Charakterisierung einer generellen geistesgeschichtlichen Entwicklung, als seien alle Geschichtsphilosophien nur aus einer Säkularisierung der Eschatologie hervorgegangen.Vielmehr geht es um den Versuch, die geschichtsphilosophischen Überlegungen Kants auf Säkularisierungsphänomene hin zu untersuchen und konkret zu zeigen, welche Elemente als Säkularisate angesehen werden können, und bei welchen Elementen das gerade nicht der Fall ist. Ebenfalls geht es nicht vorrangig um eine Quellenanalyse mit dem Erkenntnisziel herauszufinden, woher Kants Überlegungen stammen, sondern um die Fragen, was bei Kant mit theologischen Motiven geschieht, wie er sie transformiert, inwieweit seine Transformationen noch auf einen Gottesbezug angewiesen sind und welche Probleme aus der Säkularisierung resultieren. Um der Aufgabenstellung nachgehen zu können, muss zunächst einmal eingeführt werden, welche Motive, Strukturen und Funktionen für die christliche Eschatologie charakteristisch sind (Kapitel 2). Innerhalb der Interpretation der Texte Kants kann dann geprüft werden, inwiefern diese Motive, Strukturen und Funktionen bei Kant wiederzufinden sind. Damit ist ein operabler Säkularisierungsbegriff gewonnen, der den zahlreichen Einwänden gegen die wissenschaftliche Verwendbarkeit der Säkularisierungskategorie standhält. Aber warum sollte eine Interpretation der Religionsund Geschichtsphilosophie Kants überhaupt mit dem Säkularisierungsbegriff arbeiten? Es gibt hierzu kein Muss, und die Entscheidung beruht sicherlich zum Teil auf einer subjektiven Vorliebe des Autors für historische und systematische Zusammenhänge von Philosophie und Theologie. Die Interpretationskategorie
Siehe die Erläuterungen in Kapitel 1.3, Abschnitt (4).
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1 Einführung: Säkularisierung, Eschatologie und Geschichte
Säkularisierung bringt darüber hinaus aber zwei Aspekte mit sich, die ein solches Vorgehen in akademischer Hinsicht besonders interessant erscheinen lassen: Die Arbeit mit dem Säkularisierungsbegriff übernimmt (1) eine kritische und (2) eine hermeneutische Funktion. (1) Lassen sich Strukturanalogien zu theologischen Motiven feststellen, dann ist prima facie zu vermuten, dass ein rechtfertigungstheoretisches Problem auftaucht. Theologische Motive fußen oft auf Annahmen, die die säkulare Philosophie nicht mehr teilt; fallen die zugrunde liegenden Annahmen weg, so steht das Motiv unter einem neuen Rechtfertigungsbedürfnis, dem schwer nachzukommen sein wird. An dieser Stelle ist freilich eine Ergänzung der Säkularisierungsdiagnose durch eine systematische Diskussion und Kritik unerlässlich, möchte man nicht in eine ideenpolitisch aufgeladene Säkularisierungs-Polemik abrutschen. Mit der Skepsis gegenüber der säkularen Begründbarkeit theologischer Motive hat sich die kritische Funktion des Säkularisierungsbegriffs noch nicht erschöpft. Sofern Strukturanalogien vorliegen, werden sich voraussichtlich Grundprobleme der Theologie wiederholen, die selbst unter theologischen Prämissen kaum lösbar sind. Im Fall der Geschichtsphilosophie sind es zwei solche Grundprobleme, die in veränderter Form im Säkularisat auftauchen können: das Theodizeeproblem, demzufolge die Welt gut sein muss, obwohl sie es augenscheinlich nicht ist; und das Problem der Vereinbarkeit von göttlicher Vorsehung bzw. göttlicher Allmacht und menschlicher Freiheit.⁵⁶ (2) Die These einer besonderen hermeneutischen Funktion des Säkularisierungsbegriffs wird bis heute vor allem mit Hans-Georg Gadamer verbunden. Bis zu den kontroversen Aspekten der Hermeneutik Gadamers muss aber gar nicht vorgedrungen werden, um die Vorteile des Säkularisierungsbegriffs aufzeigen zu können: Der Säkularisierungsbegriff bringe „dem Selbstverständnis des Gewordenen und Gegenwärtigen eine ganze Dimension verborgenen Sinnes zu und zeigt auf diese Weise, daß das Gegenwärtige weit mehr ist und bedeutet, als es von sich weiß“ (Gadamer 1968, 201 f.) – was auch immer dieses Verborgene genau sein könnte. Wie auch immer man zu Gadamer steht, liegt doch sicherlich ein Aspekt des Verstehens von Texten darin, angeben zu können, aus welchen – hier ist Gadamer Recht zu geben: bewussten und unbewussten – Motiven Theorien ent-
Keinesfalls soll hier nahegelegt werden, dass eine philosophische Beschäftigung mit der Eschatologie per se zum Scheitern verurteilt ist. Eine interessante zeitgenössische Begegnung von Philosophie und Eschatologie findet sich etwa in bislang unveröffentlichten Texten Blumenbergs, die neuerdings wissenschaftlich erschlossen worden sind (Zerrath 2011). Dennoch steht das Aufgreifen eschatologischer Motive prima facie unter dem Verdacht, in die genannten Probleme zu geraten; allein darum geht es hier.
1.5 Die Fragestellung
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standen sind und aus welchen Gründen Autoren die von ihnen selbst gesteckten Grenzen zuweilen überschreiten. Marquards und Blumenbergs Modelle bieten Hypothesen für solche Erklärungen: Marquard die Lösung des Theodizeeproblems als Motiv für die Heteronomie im Namen der Autonomie; Blumenberg durch sein Modell der Umbesetzung eine Erklärung der rechtfertigungstheoretischen Schwierigkeiten der Geschichtsphilosophie durch den vom Christentum übernommenen Kanon an zu behandelnden Fragen.⁵⁷ Ob sich die Hypothesen am Text bestätigen lassen, ist eine andere Frage – nur beraubt sich, wer die Hypothesen nicht bewusst an die Texte heranträgt, von vornherein der Möglichkeit, zu ihnen Stellung zu beziehen.
1.5.2 Textauswahl und gegenwärtige Forschungslage Auch wenn die Frage nach säkularisierter Eschatologie den roten Faden bildet, wird die vorliegende Arbeit nicht minder für den Leser von Interesse sein, der vorrangig die Auseinandersetzung mit den Texten Kants sucht. Denn die spezifische Zugangsweise ist natürlich mit einer Rekonstruktion und Diskussion der zugrunde gelegten Texte verbunden, innerhalb derer ‚gewöhnliche‘ Interpretationsfragen sowie die Frage der Überzeugungskraft der kantischen Argumentation nicht beiseitegeschoben werden können. Auf eine thematische Einleitung in die Texte Kants sei an dieser Stelle verzichtet; stattdessen wird sich zu Beginn eines jeden Kapitels eine kurze Hinführung finden. Einige kurze Bemerkungen zur
In diese Richtung tendieren mit ausdrücklichem Bezug auf die Entstehung der Geschichtsphilosophie auch Nagl-Docekal und Baumgartner: Der „Beweggrund zur Geschichtsphilosophie“ sei die „Verzweiflung über den weggefallenen Sinn der Eschatologie“ (Nagl-Docekal 2003, 238). „Daß Geschichtsphilosophie gerade in diesem historischen Augenblick zur herrschenden Philosophie wird, kann durch die folgende Überlegung plausibel gemacht werden: Für alle Zeiten scheint zu gelten, daß immer dann, wenn das jeweils herrschende Weltbild eine Störung erfährt, weil sinnstiftende Grundannahmen ausfallen, dieser Mangel durch ein geeignetes Substitut aufgefangen und kompensiert wird. Wenn die Ordnung der Natur nicht mehr der Hintergrund sein kann, von dem her sich alles bestimmen und begreifen läßt, wenn der allmächtige Gott nicht mehr als gründender Horizont vorhanden ist und der Schöpfungsgedanke keine Verbindlichkeit mehr besitzt, dann werden gleichsam zwangsläufig Substitute gesucht: Substitute für den Ausfall der Natur und für den Ausfall Gottes.“ (Baumgartner 1996, 166) – Eine ähnliche Sicht vertritt auch Demandt (2011, 356): „Die Aufklärung hatte mit ihrer Kritik am christlichen Dogma emotionale Leerstellen geschaffen, die neu zu füllen waren.“ Demandt geht aber über einen Erklärungsversuch für Strukturanalogien hinaus und spricht von Ersatzreligionen. Eine Diskussion dieses umstrittenen Begriffs kann hier nicht erfolgen.
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1 Einführung: Säkularisierung, Eschatologie und Geschichte
Auswahl der Textbasis, zum Stand der Forschung und zur Gliederung dieser Arbeit sind hier aber unverzichtbar: Die wesentlichen Bausteine der Arbeit sind die Interpretation des Dritten Stücks der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) einerseits sowie die Interpretation einiger, meist kleinerer Schriften zur Geschichtsphilosophie aus den Jahren 1784 bis 1798 andererseits. In diesen Texten finden sich die wesentlichen geschichtstheoretisch einschlägigen Lehrstücke Kants, die man systematisch unter dem Begriff einer ‚säkularisierten Eschatologie‘ zusammenfassen kann.⁵⁸ Das Verhältnis zur Theologie gestaltet sich jeweils unterschiedlich: Während sich Kant in der Religionsschrift ausdrücklich mit der christlichen Eschatologie beschäftigt und diese in Teilen philosophisch rekonstruieren möchte, ist der Bezug zur Eschatologie in den geschichtsphilosophischen Texten eher unbewusster Art. Die Fragen nach einem vernünftigen Verlauf der Geschichte, nach der Möglichkeit eines moralischen Fortschreitens der Menschheit, nach der göttlichen Vorsehung und nach dem irdischen Reich Gottes durchziehen das Denken Kants in einer immer noch unterschätzten Weise. „Das Reich Gottes auf Erden: das ist die letzte Bestimmung des Menschen“ (Refl 1396, AA XV, 608), heißt es etwa in einer Reflexion. Die Vielzahl der relevanten Textstellen zwang zu Beschränkungen. Auch wenn sich der vorkritische Kant intensiv mit der Thematik auseinandersetzt⁵⁹ und ein Vergleich der vorkritischen mit der kritischen Phase vielversprechend gewesen wäre, habe ich mich auf die deutlich besser ausgearbeiteten und wirkmächtig gewordenen Werke nach 1781 beschränkt. Doch auch hier musste mehrfach eine Auswahl getroffen werden. So wird etwa der viel gelesene geschichtsphilosophische Abschnitt aus Zum ewigen Frieden nicht gesondert diskutiert. Es mag auf den ersten Blick unverständlich erscheinen, dass auch Kants Schrift Das Ende aller Dinge kaum zur Sprache kommt – trägt sie doch den Bezug zur Eschatologie bereits im Titel. Der Grund hierfür besteht darin, dass für meine Arbeit eher universaleschatologische Überlegungen im Vordergrund stehen, die sich möglicherweise als Vorbilder für das neuzeitliche Fortschrittsdenken erweisen lassen; Das Ende aller Dinge ist dagegen eher individualeschatologisch ausgerichtet. Die Religionsschrift führt, sieht man vom Ersten Stück einmal ab, nach wie vor in der Kant-Forschung ein Schattendasein. Auch wenn meine Interpretation in vielerlei Hinsicht auf die Spezifika der Fragestellung ausgerichtet ist und dadurch Selbstredend ist auch die Postulatenlehre als säkularisierte Eschatologie anzusehen; sie spielt aber für die geschichtstheoretische Fragestellung dieser Arbeit keine Rolle. Die Postulatenlehre kann aus Gründen, die sogleich erläutert werden, dennoch nicht übergangen werden. Vgl. dazu die Darstellung von Lehner 2007, 219 – 298.
1.5 Die Fragestellung
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zahlreiche Aspekte unberücksichtigt bleiben, liegt mit Kapitel 5 nun erstmals eine ausführliche Rekonstruktion des Gedankengangs des Dritten Stücks vor.⁶⁰ Kants kleine Schriften zur Geschichtsphilosophie erfahren in der Literatur zwar deutlich mehr Aufmerksamkeit als die Religionsschrift.⁶¹ Dennoch ist seit Pauline Kleingelds zum Standardwerk gewordenen Arbeit Fortschritt und Vernunft (1995) keine Monographie mehr zur Thematik erschienen, sodass auch hier eine umfassendere, die aktuelle Debatte auf Grundlage einer größeren Textbasis diskutierende Darstellung, wie sie die vorliegende Arbeit zu leisten versucht, von Interesse sein dürfte. Zwei Debatten, die in den letzten Jahren im Zusammenhang mit Kants Geschichtsphilosophie geführt werden, haben den Aufbau dieser Arbeit maßgeblich geprägt. Zum einen ist dies die Frage, ob Kant den vollkommenen Rechtszustand oder die vollkommene Verwirklichung der Moral als Ziel der Geschichte begreift.⁶² Diese Frage kann nicht ohne eine Erläuterung des Verhältnisses von Recht und Moral bei Kant auskommen. Da die praktische Philosophie darüber hinaus ohnehin eine wichtige Grundlage für die Religions- und Geschichtsphilosophie Kants darstellt, steht dem eigentlichen Hauptteil meiner Arbeit ein längeres Kapitel voran, welches die Moral- und Rechtsphilosophie in Grundzügen charakterisiert, einige Interpretationsprobleme benennt und das Verhältnis von Moral und Recht zu bestimmen sucht. Zum anderen ist in letzter Zeit ein Streit um das Verhältnis von Geschichte und Religion im System Kants entbrannt. Dabei geht es etwa um die Fragen, welche Rolle der Begriff des höchsten Gutes für die Geschichtsphilosophie spielt, wie die Anspielungen auf den Gottesbegriff innerhalb der Geschichtsphilosophie zu deuten sind, und ob die Religionsphilosophie für die Plausibilität der Geschichtsphilosophie irgendetwas austrägt.⁶³ Diese Debatte ist für meine Fragestellung insofern bedeutend, als es hier um nicht weniger als die Frage geht, inwiefern Kant selbst die Geschichtsphilosophie als ein religiöses oder quasireligiöses Unternehmen begreift. Nicht zuletzt um dieser Debatte zumindest in
Die Darstellung ist etwa auch deutlich ausführlicher als die entsprechenden Kapitel in den Standardwerken von Stangneth (2000) und Wimmer (1990). Vgl. zuletzt etwa die Sammelbände Höffe 2011a und Rorty/Schmidt 2009. Ich verzichte an dieser Stelle auf eine Darstellung der Debatte; siehe aber Kapitel 8.1. Eine Übersicht über die Debatte bietet Geismann 2000, 504– 530, insb. 513 ff.; im Übrigen siehe Kapitel 9. – Leider konnte in der vorliegenden Arbeit das im April 2014 erschienene zweibändige Werk Geschichte, Ethik und Religion im Anschluß an Kant von Rudolf Langthaler nicht mehr berücksichtigt werden. Eine Auseinandersetzung mit diesem Werk soll zu einem späteren Zeitpunkt folgen.
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1 Einführung: Säkularisierung, Eschatologie und Geschichte
einiger Hinsicht nachgehen zu können, ist auch eine Darstellung der kantischen Theorie vom höchsten Gut und vom Postulat Gottes unerlässlich.
1.5.3 Gliederung Daraus ergibt sich das folgende Arbeitsprogramm: Bevor mit der Interpretation der einschlägigen Texte Kants begonnen werden kann, müssen in Teil I in zweierlei Hinsicht noch Grundlagen erarbeitet werden. Zum einen sollen strukturelle Merkmale der Eschatologie formuliert werden, die als Folie dienen, um später Strukturanalogien ausfindig machen zu können. Zum anderen müssen die Grundlagen entwickelt werden, auf denen Kants Geschichtsdenken aufbaut: seine praktische Philosophie samt der zentralen Unterscheidung von Recht und Moral. Mit dieser Unterscheidung ist bereits der weitere Verlauf der Arbeit vorgezeichnet: In den Teilen II und III werden Kants Texte auf säkularisierte Eschatologie hin analysiert. Der Teil II widmet sich dabei Kants Religionsphilosophie, die als Weiterführung der Moralphilosophie angesehen werden kann. Es behandelt zunächst die Grundlagen der Religionsphilosophie und die Postulatenlehre. Sodann wendet er sich dem Dritten Stück der Religionsschrift zu; hier findet sich Kants ausdrücklicher Bezug auf die Eschatologie. Teil III ist dagegen überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, eine Weiterführung der Rechtsphilosophie Kants. Er behandelt die geschichtsphilosophischen Schriften Kants, die einen Fortschritt in kultureller und juridischer Hinsicht thematisieren. In Teil IV werden die Dichotomien von Moral und Recht sowie Geschichte und Religion wieder zusammengeführt: Mit Bezug auf die aktuelle Debatte soll nach dem Verhältnis von Geschichte und Religion im System Kants gefragt werden, jedenfalls soweit die Ergebnisse meiner Analysen dies erlauben. Abschließend findet sich ein kurzer Rück- und Ausblick, der einige Thesen der Arbeit zusammenfasst und anhand meiner Beobachtungen an Kant danach fragt, in welchem Sinn Geschichtsphilosophie als säkulares Projekt generell möglich erscheint.
Teil I: Grundlagen
2 Strukturelle Merkmale der Eschatologie Der Eschatologiebegriff ist vergleichsweise jung: Erst im 17. Jahrhundert als Überbegriff für die Reflexion auf die ‚letzten Dinge‘ eingeführt – griechisch: τὰ ἔσχατα; gemeint sind Tod, Gericht und Vollendung –, wird er später zum „Sammelnamen für End- wie Jenseitsvorstellungen der verschiedensten Art“ (Karrer 2001, Abschnitt II). Dabei bleibt bis heute umstritten, für welche abendländischen und nicht-abendländischen Traditionen er tatsächlich anwendbar sein kann bzw. angewendet werden sollte. Da im Folgenden nicht die Abgrenzung der Eschatologie von anderen theologischen Begriffen im Vordergrund steht, sondern vielmehr theologische Motive identifiziert werden sollen, die für das Nachdenken über Geschichte relevant sind, wird der Eschatologiebegriff in dieser Arbeit sehr weit gefasst. Nicht nur die ‚letzten Dinge‘ im engen Sinn gehören demnach zur Eschatologie, sondern die Zukunftserwartungen der christlichen Theologie in ihrer ganzen Breite: Von der Prophetie über die Apokalyptik und die Reich-GottesVerkündigung bis zur Geschichtstheologie und dem ihr eigenen Vorsehungsgedanken sollen Vorstellungen über die Zukunft des Einzelnen oder der Menschheit unter den Begriff der Eschatologie subsumiert werden. Eschatologie reflektiert demnach Geschichte vor Gott, auf Gott zu und mit einem Bruch gegenüber der bisherigen Geschichte. Dieses weite Verständnis von Eschatologie wird in manchen theologischen Kontexten unbefriedigend sein (vgl. etwa Smend 1982, 257; Klein 1982, 270); es eignet sich dennoch als Horizont der vorliegenden Studie, um ein möglichst großes Feld von Motiven und Strukturen in den Blick nehmen zu können. Eine grundlegende Unterscheidung innerhalb der Eschatologie ist die zwischen Individual- und Universaleschatologie. Erstere, die das Leben nach dem Tod des Einzelnen zum Gegenstand hat, ist hier nur von untergeordnetem Interesse. Zwar vertritt auch Kant in der Postulatenlehre eine Form säkularisierter Individualeschatologie; die vorliegende Arbeit zielt aber eher auf die im weitesten Sinne geschichtsphilosophisch relevanten Äußerungen Kants. Die Universaleschatologie, die die letzten Dinge der Menschheit bzw. der Welt zum Gegenstand hat, steht naturgemäß in einem deutlich engeren Bezug zur Geschichte. Im Folgenden geht es daher ausschließlich um diese, wobei in der christlichen Tradition beide Formen ohnehin häufig konvergieren. Es soll nicht der Eindruck erweckt werden, es gäbe eine einheitliche christliche Theorie der Eschatologie. Als Streitpunkt erweist sich bis heute insbesondere die Frage, ob das Reich Gottes in irgendeiner Weise an die menschliche Geschichte anknüpfen kann oder diese in radikaler Weise durchbrechen muss. Dabei schwankt vor allem die protestantische Theologie heute zwischen einer biblischapokalyptischen Tradition auf der einen Seite und philosophischen Einflüssen,
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2 Strukturelle Merkmale der Eschatologie
die eine stärkere Orientierung an der innerweltlichen Geschichte provozieren, auf der anderen Seite.⁶⁴ Für die vorliegende Arbeit ist die gegenwärtige Debatte um den Begriff freilich nicht von vorrangiger Bedeutung.⁶⁵ Es soll deshalb der Versuch unternommen werden, verschiedene, sich teils im Widerstreit befindliche Aspekte der Eschatologie einzuführen, die dem gebildeten Publikum zur Zeit der Aufklärung präsent waren. Diese bestehen im Wesentlichen in einer Akkumulation von Ideen, die theologiegeschichtlich tradiert wurden, beginnend beim Alten und Neuen Testament über die Spätantike und das Mittelalter bis zu den Spezifika (früh‐)neuzeitlicher Theologie. Insbesondere interessieren hier solche Motive, mit denen Kant vermittelt über die protestantische Orthodoxie und den Pietismus unmittelbar in Berührung geriet.
2.1 Biblische Eschatologie Die Unheils- und Heilsprophetien des Alten Testaments sind von den Unrechtsund Unterdrückungserfahrungen der Zeit ihrer Entstehung geprägt. Dabei finden sich verschiedenste Konstellationen: Teils wird für vergangene Taten des Volkes Israel der nicht mehr abzuwendende Untergang Israels oder sogar der Untergang vieler Völker verkündet (so etwa bei Amos und Ezechiel), teils übernimmt das angedrohte Unheil die Rolle der Motivation zu künftigem gesetzestreuen Handeln. Meist steht jedoch im Vordergrund, die gegenwärtige Unterdrückung des Volkes Israel sinnvoll zu deuten, nämlich als Strafe für vergangene Schuld und als Reinigung für das bevorstehende Heil (z. B. Deuterojesaja); hierin liegt die Grundstruktur alttestamentlichen Geschichtsdenkens. Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft wird daher gerade dann forciert, wenn die Gegenwart besonders wenig Grund dafür gibt (vgl. Werbick 2011, 76). Eschatologie übernimmt so eine zentrale Funktion bei der Bewältigung von Unterdrückungserfahrungen (vgl. z. B. Albertz 1992, Bd. 2, 659). Wie der künftige Heilszustand aussehen könnte, wird mit Bildern wie etwa der aufblühenden Stadt Jerusalem (vgl. Ez 40 ff.) beschrieben. Eine ausformulierte Jenseits-Vorstellung ist im Alten Testament dagegen nicht aufzufinden. Dem Heilszustand geht ein göttliches Gericht voraus, das vorrangig die anderen Völker richtet und so Israel zu seinem Recht verhilft. Das eigene Heil fällt damit mit dem
Die Apokalyptik als Ausgangspunkt der Eschatologie machte wirkmächtig Johannes Weiß (1892) stark; für die Auseinandersetzung mit der Philosophie und einem Bezug zur politischen Geschichte vgl. vor allem Bultmann (1972; 1958). Womit nicht ausgeschlossen ist, dass es gewinnbringend sein könnte, die Ergebnisse dieser Arbeit auf die gegenwärtige theologische Debatte zu beziehen.
2.1 Biblische Eschatologie
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Unheil für andere zusammen (vgl. Smend 1982, 262). Es mangelt im Alten Testament nicht an Versuchen, historische Ereignisse und Personen im Lichte der eschatologischen Verheißungen zu interpretieren, etwa die Befreiung aus dem Exil durch Kyros, wobei teils mehrfache Umdeutungen vollzogen wurden.⁶⁶ In weiten Teilen der alttestamentlichen Eschatologie übernimmt der Mensch lediglich die partielle Verantwortung für Vergangenheit und Gegenwart. Entscheidende Ereignisse der Vergangenheit wie etwa der Auszug aus Ägypten werden meist Gott zugeschrieben; auch die Zukunft liegt allein in Gottes Hand. Eine Ausnahme bildet die frühjüdische Apokalyptik. Sie lebt vom Gedanken „einer zum mindesten vorübergehenden Distanzierung Gottes von der Geschichte“ (Lebram 1995, 196), wobei das Handeln Israels wiederum nicht die alleinige Geschichtsmächtigkeit übernimmt: Die Herren der Geschichte sind stattdessen teils andere, Unheil stiftende Völker, teils der Kosmos, in dem sich die von Gott nicht aufzuhaltende Katastrophe zusammenbraut. Auch in der frühjüdischen Apokalyptik steht jedoch am Schluss die gerechte Herrschaft Gottes, die einen radikalen Bruch gegenüber der menschlichen Geschichte mit sich bringt (vgl.Werbick 2011, 72). Die Eschatologie des Neuen Testaments behauptet das im Alten Testament bereits angelegte, lineare Geschichtsbild ausdrücklich gegen die zyklische Zeitvorstellung griechischer Provenienz.⁶⁷ Indem darauf hingewiesen wird, dass mit Tod und Auferstehung Jesu „das Ende aller Zeiten“ (1 Kor 10, 11) gekommen sei, wird die Vorstellung von wiederkehrenden Perioden („Zeiten“ im Plural) deutlich zurückgewiesen. Christus teile die Geschichte unrevidierbar in zwei Äone, die einer zyklischen Deutung nicht mehr zugänglich sind.⁶⁸ Zugleich weist das Neue Der alttestamentlichen Eschatologie kommt insgesamt eine politische Ausrichtung zu, da sie viel stärker als die neutestamentliche die Legitimation bzw. Delegitimation von weltlicher Herrschaft ermöglicht. Entsprechend reicht ihre Wirkungsgeschichte bis in die Rhetorik der Neuzeit; einige prägnante Beispiele nennt (erstaunlich affirmativ) Bellah (1967). Berges (2011, 7– 14) betont demgegenüber den kritischen Charakter der Prophezeiungen gegenüber dem positiven Recht; er sieht darin eine Humanisierung des ägyptischen und babylonischen Rechtes, die man als Rechtsfortschritt qualifizieren könne. Einen herrschaftskritischen Zug in der alttestamentlichen Eschatologie sieht auch Werbick: „Der Hoffnungsblick auf das Letzte enthüllt die Unmenschlichkeit des Vorletzten und mobilisiert den Mut, mit den Herren dieser Welt nicht gemeinsame Sache zu machen.“ (2011, 81) Zur Problematik der Gegenüberstellung von jüdisch-christlichem und griechischem Denken siehe Fußnote 32. Dennoch lässt sich grob eine solche Unterscheidung treffen. Vgl. Karrer 2000; 2001. Paradigmatisch für diesen antizyklischen Duktus ist auch die Zeitangabe „am Tag des Herrn“ (etwa Apk 1,10), die plötzlich die gängige astronomische (und damit dem zyklischen Denken verhaftete!) Bestimmung des Datums unterläuft. Dass die christliche Tradition später wieder zyklische Zeitvorstellungen mit dem linearen Geschichtsbild vereint, zeigt Ratzinger 1999.
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2 Strukturelle Merkmale der Eschatologie
Testament aber im Vergleich zum Alten Testament wesentliche Innovationen auf. Dies hat seinen Grund in der paradoxen Situation, dass aus Sicht der frühen Christen mit Jesu Tod und Auferstehung die Endzeit, das Eschaton, bereits angebrochen ist, man das aber in einer ambivalent erscheinenden Gegenwart nur schwer entdecken kann.⁶⁹ Paulus hat als erster diese Paradoxie in eine Theologie der Eschatologie eingearbeitet, die sich zwischen den Polen des schon jetzt und noch nicht ⁷⁰ bewegt: Das Reich Gottes sei auf der einen Seite bereits angebrochen (präsentische Eschatologie), auf der anderen Seite stehe seine endgültige Verwirklichung, die Wiederkunft Christi mitsamt Auferstehung der Toten und Gericht, noch aus (futurische Eschatologie). Die Paradoxie des schon jetzt und noch nicht spiegelt sich in zahlreichen Einzelproblemen wider: Auf der einen Seite muss Gottes Wirken jetzt schon erfahrbar, also etwas dem Leben des Christen Inhärentes sein; auf der anderen Seite sind Gestalt und Zeitpunkt des später sog. ‚Jüngsten Tages‘ der menschlichen Vorstellungskraft radikal entzogen, sodass Spekulationen darüber nutzlos sind (vgl. z. B. 1 Thes 5, 1– 4). Während Paulus den getauften Gemeindemitgliedern als Kindern des Lichts (vgl. 1 Thes 5, 5) absolute Heilsgewissheit zuspricht, ist er in gleichem Maße skeptisch gegenüber allen Versuchen, schon jetzt über sich oder andere ein Urteil zu fällen (vgl. etwa 1 Kor 4). Paulus meint, mit seinem Konzept der Hoffnung zugleich dem präsentischen Wirken Gottes und seiner noch ausstehenden Herrlichkeit Rechnung tragen zu können (vgl. Röm 8, 18 – 30). Ebenso wie im Alten Testament dienen auch in der paulinischen Fassung eschatologische Überlegungen dazu, Leid und Unterdrückung aushalten und als sinnvoll erfahren zu können. So verheißt Paulus der Gemeinde in Rom, dass „die Leiden der gegenwärtigen Zeit nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die […] offenbar werden soll“ (Röm 8, 18); „bis zum heutigen Tag“ liege die Schöpfung „in Geburtswehen“ (Röm 8, 22). Mit der Metapher der Geburtswehen wird angedeutet, dass dem Kommen Christi Leid und Schmerzen vorausgehen müssen; auf diese Weise erfährt das Leid eine sinnstiftende Deutung. Mit einer zunehmenden Trennung von Religion und politischer Herrschaft, die im Großen und Ganzen in den Evangelien gezeichnet wird, kann das Eschaton nicht mehr als im weitesten Sinne politischer Zustand verstanden werden („Mein Königreich ist nicht von dieser Welt“, Joh 18, 36). Entsprechend ist es nicht als Resultat der menschlichen Geschichte denkbar, sondern ‚bricht‘ von außerhalb in die Geschichte hinein. Eng mit dieser Entpolitisierung verbunden ist die wiederum Ein weiterer Grund könnten die Inhalte der Lehre des historischen Jesus gewesen sein, die sich allerdings nur schwer rekonstruieren lässt. Die heutige Forschung spricht teils auch von einem schon und noch mehr (prägend bei Agersnap 1999, 189 ff.).
2.2 Eschatologie als Geschichtstheologie
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auf Paulus zurückgehende Konzeption des eschatologischen Vorbehalts: Nicht der Mensch ist es, der das Kommen des Gerichts betreibt, sondern ausschließlich Gott; wann und wie Gott dies tut, kann niemand wissen.⁷¹ Eine Sonderstellung innerhalb des Neuen Testaments nimmt die Apokalypse des Johannes ein. Viel stärker an die jüdische Tradition und Vorstellungswelt anknüpfend, zeichnet sie ein konkreteres Bild vom Weltende als andere neutestamentliche Texte. In mehrfacher Hinsicht weist die Apokalypse im Gegensatz zur paulinischen Eschatologie wieder verstärkt einen Bezug zur Geschichte auf: Dem Endzustand geht zunächst das Kommen des Antichristen und eines falschen Propheten voraus, denen sich die Völker unterwerfen. Dem Pseudopropheten wird in Apk 13, 18 via eines Zahlenwertes (666) sogar ein konkreter Name zugeordnet. Darauf folgt die Schilderung des brutalen Niedergangs der „Hure Babylon“ (Apk 17– 19), der offensichtlich den Untergang des Imperium Romanum symbolisiert (vgl. dazu Strobel 1995, 179). Der anschließende Sieg über den Antichristen und seinen Pseudopropheten ist immer noch nicht mit dem ‚Ende der Geschichte‘ verbunden: Es folgt zunächst der Chiliasmus⁷², d. i. die tausendjährige Herrschaft Christi auf Erden, bevor schließlich der Satan endgültig vernichtet wird und mit dem Gericht über die Toten das eigentliche Reich Gottes anbricht. Nach der bis in die Neuzeit vorherrschenden Rezeption zeichnet der Chiliasmus bewusst das Bild einer innerzeitlichen und innerweltlichen Herrschaft Christi, die dem Jüngsten Tag vorangeht.⁷³
2.2 Eschatologie als Geschichtstheologie Das Ausbleiben der Wiederkunft Christi provoziert bereits in der Alten Kirche eine Historisierung der Eschatologie: Zwar möchte man die baldige Ankunft Christi nicht ausschließen und gibt sich in einzelnen Kontexten noch immer der Naherwartung hin. Aber allmählich wird die neutestamentliche Eschatologie in eine Lehre von Zeitaltern oder Weltperioden transformiert, die die Dimension eines Menschenlebens sprengen. Mit Christi Tod habe zwar ein neues Zeitalter begonnen, aber der Jüngste Tag könnte dessen ungeachtet noch in weiter Ferne liegen.
Hierin sehen etwa Metz (1968, 143 – 146) und Klein (1982, 297) einen ideologiekritischen Zug der neutestamentlichen Eschatologie begründet. Zu möglichen antiken Quellen des Chiliasmus vgl. Fußnote 35. Die Forschung meldet heute Zweifel an der Richtigkeit dieser Deutung, da aus dem Text nicht unmittelbar hervorgehe, dass die von Christus Rehabilitierten auf Erden herrschen; vgl. dazu Karrer 2005, Abschnitt 4.3 und die dortigen Literaturangaben.
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2 Strukturelle Merkmale der Eschatologie
Dieser Übergang zur Geschichte ermöglicht einen weiteren Einschnitt im eschatologischen Denken, nämlich eine Einbeziehung des geschichtsbestimmenden Imperium Romanum. Durch die konstantinische Wende ändert sich die Haltung des Christentums gegenüber dem Imperium Romanum so stark, dass dieses etwa bei Eusebius von Caesarea einen eschatologischen Charakter zugesprochen bekommt. Erneute Konflikte zwischen der Kirche und verschiedenen Kaisern sowie später der Untergang des Römischen Reiches zwingen immer wieder zu Korrekturen an dieser sog. „Reichseschatologie“. Dazu zählt eine wichtige Differenzierung im theologischen Geschichtsbild: Der Heilsplan Gottes könne sich nicht auf das Imperium Romanum beziehen, denn Gott habe dessen Untergang ja zugelassen; neben der profanen Geschichte müsse es deshalb eine zweite, gewissermaßen unsichtbare Geschichte geben, die Heilsgeschichte. Die profane Geschichte bestehe zunächst nur aus einer ungeordneten Abfolge zufällig erscheinender Ereignisse; die Heilsgeschichte laufe dagegen linear auf das Reich Gottes zu; sie sei streng dem Willen Gottes unterworfen und verlaufe nach seinem Plan bzw. seiner Vorsehung. Auch wenn die profane Geschichte von einem Auf und Ab geprägt und ihre Vollendung nach dieser Auffassung nicht mehr das letzte Ziel ist, auf das die Geschichte hinausläuft, kann sie immer noch als ein nützliches Werkzeug der göttlichen Providenz auf dem Weg zum Heil gedeutet werden. Das bekannteste und vielleicht älteste Beispiel dieser Geschichtstheologie findet sich bei Augustinus. Hier zeigt sich zugleich, wie stark das christliche Geschichtsdenken von hellenistischen und römischen Einflüssen überformt wird: Wenngleich Augustinus an einer Variante des Chiliasmus und an der Vorstellung eines göttlichen Gerichtes am Jüngsten Tag festhält (vgl. De civitate Dei, Buch XX), integriert er diese in eine Geschichtsstruktur, die vom griechischen Prinzip eines höchsten Guten (summum bonum)⁷⁴ geprägt ist. Das summum bonum, das ursprünglich das letzte Handlungsziel des Einzelnen bezeichnet, überträgt Augustinus auf die Geschichte, indem er es mit dem Endziel des Gottesstaates gleichsetzt. Dieser bestehe im „ewigen Frieden“, der nur im Jenseits zur Geltung kommen kann. Der irdische Friede, mit dem Augustinus auf die Pax Romana anspielt, ist zwar Endzweck des irdischen Staates, aber immer nur ein vorläufiger Zweck des Gottesstaates (vgl. De civitate Dei, Buch XIX). Zugleich wird bei Augustinus der biblische Gottesbegriff um die griechische Vorstellung eines allmächtigen und allwissenden Schöpfergottes platonischstoischen Ursprungs ergänzt, der die Welt zweckmäßig geschaffen hat und sich
Prägend ist die aristotelische Philosophie; es setzt sich später der lateinische Fachbegriff durch.
2.2 Eschatologie als Geschichtstheologie
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den Menschen gegenüber ‚fürsorglich‘ verhält.⁷⁵ Bezieht sich in der griechischen Philosophie diese Vorstellung nur auf die Natur, findet sie jetzt ihre Anwendung auch auf die Geschichte: Nicht nur der Kosmos sei weise eingerichtet, sondern die göttliche Vorsehung führe auch einzelne Menschen sowie die Menschheit im Ganzen nach einem weisen Plan einem Ziel entgegen (vgl. De civitate Dei, Buch V). Die biblische Eschatologie wird dadurch in bedeutender Weise transformiert: Stand dort die Erlösung von einer defizitären Welt im Vordergrund, wird die irdische Welt jetzt bereits als wohlgeordnet und von der Vorsehung regiert gedeutet. Die Probleme einer solchen, im Mittelalter zunehmend an Bedeutung gewinnenden und bis in die Frühe Neuzeit äußerst verbreiteten Vorsehungstheologie liegen auf der Hand: Einerseits scheint sie menschliche Freiheit auszuschließen, andererseits muss Gott als Urheber auch des Bösen gedeutet werden, was seiner Güte widersprechen würde – später wird dies bekanntlich als Theodizeeproblem bezeichnet. Es mangelt in der Geschichte der Theologie nicht an Versuchen, diese Probleme zu lösen. Augustinus beruft sich auf die Zeitlosigkeit Gottes, der zufolge menschliche Freiheit neben göttlicher Allmacht und Vorsehung widerspruchsfrei bestehen kann. Thomas von Aquin unterscheidet wirkmächtig zwischen Erst- und Zweitursache. Eine dritte einflussreich gewordene Möglichkeit der Vereinbarkeit von Vorsehung und Freiheit entwickelt Luis de Molina mit dem concursus-Modell, wonach Gott und Mensch eine Handlung je gänzlich bewirken. In der weiteren Entwicklung der Geschichtstheologie bis zur Neuzeit werden die dargestellten Motive verschieden variiert und in Reaktion auf kulturgeschichtliche Prozesse transformiert. So finden sich seit dem Mittelalter verschiedene Versuche, die Geschichte der Welt trinitarisch (etwa Joachim von Fiore) oder nach alttestamentlichen Vorbildern (beispielsweise Rupert von Deuz) in Epochen einzuteilen. Stets wird dabei die Gegenwart als letzte Stufe vor dem Hereinbrechen des Reichs Gottes betrachtet. Insbesondere im Zusammenhang mit der Reformation werden verschiedene Personen des politischen und kirchenpolitischen Lebens, allen voran natürlich der Papst, mit dem Antichrist oder der „Hure Babylon“ identifiziert. Die Geschichte der ‚sichtbaren‘ Kirche (gemeint ist die institutionell verfasste römisch-katholische Kirche) wird von protestantischer Seite als Verfallsgeschichte gedeutet; ihr wird eine unsichtbare, ‚wahre‘ Kirche entgegen-
Vereinzelt finden sich im Alten Testament und etwas häufiger im Neuen Testament Ansätze eines Vorsehungsglaubens. Es ist aber in der Forschung unbestritten, dass der Vorsehungsbegriff des Mittelalters und der Frühen Neuzeit griechischen Ursprungs ist. Vgl. Deuser 2003; Lehner 2007, 6 f. und Zwenger 2008, 79.
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2 Strukturelle Merkmale der Eschatologie
gestellt, die vom Verfall nicht betroffen ist und sich in naher Zukunft durchsetzen wird.⁷⁶ Ein antiprotestantisches Modell entwickelt Jacques-Bénigne Bossuet mit seinem Discourse sur l’histoire universelle (1681), dem letzten großen theologischen Versuch einer Deutung der Weltgeschichte als Heilsgeschichte. Er folgt Augustinus in der Trennung von politischer und Heilsgeschichte; die politische Geschichte könne nur insofern als Zweckzusammenhang gedeutet werden, wie sie dem Heilsplan Gottes dient. Das Maß der Geschichte ist für Bossuet die sichtbare römisch-katholische Kirche: Weltreiche, Herrscher und andere Menschen werden von der göttlichen Vorsehung als Werkzeuge herangezogen, um die kirchliche Lehre zu verbreiten. Einer von Bossuets zahlreichen Belegen dafür ist die Pax Romana, die allein die Ausbreitung des Christentums ermöglicht habe. Dass gerade zur Zeit der Apostel dieser historisch überaus unwahrscheinliche Zustand bestanden habe, könne kein Zufall gewesen sein. Die Gegenwart wirke zwar zuweilen, als stünde sie den göttlichen Zwecken entgegen; dies liege aber lediglich an der fehlenden Distanz des Betrachters.⁷⁷ Auch nach dem Ende der großen geschichtstheologischen Deutungen der Weltgeschichte bleibt die Vorsehungslehre für die theologische Debatte bis ins 18. Jahrhundert prägend.⁷⁸ Sie wird dabei häufig in Auseinandersetzung mit außerbiblischen antiken Texten entfaltet.⁷⁹ Die Debatte gewinnt zunehmend an Komplexität; die Wirkweise der göttlichen Vorsehung wird auf verschiedene Weise ausdifferenziert.⁸⁰ Eine der verbreiteten Unterscheidungen ist die in allgemeine (providentia ordinata) und besondere Vorsehung (providentia extraordinata). Im Zuge des raschen Anwachsens naturwissenschaftlicher Erkenntnisse gewinnt erstere an Bedeutung: Gott handle demnach vor allem mittelbar über die von ihm verfügte Ordnung einer kausal erklärbaren Welt und weniger unmittelbar in einzelnen Ereignissen (vgl. Bernhardt 1999, 187). Der Vorsehungsgedanke wird dabei längst nicht ausschließlich in theologischen Fakultäten diskutiert; er beherrscht zunehmend auch die philosophische Diskussion des 18. Jahrhunderts.⁸¹
Solche Motive finden sich nicht nur in der reformatorischen Polemik (vgl. die Analyse von Flugschriften in Leppin 1999), sondern auch etwa bei Luther (vgl. Asendorf 1982, 311 f.). Vgl. Discourse, Teil III. Ich folge der Darstellung in Löwith 1953, 132. Zur Bedeutung der Vorsehungstheologie in dieser Zeit vgl. z. B. Bernhardt 1999; Lehner 2007 und Sommer 2006, 382– 398. Die protestantische Orthodoxie bezieht sich beispielsweise überwiegend auf Cicero, De natura Deorum II 22, 58; vgl. Luthardt 1933, 183 f. Allein schon innerhalb des Protestantismus gibt es verschiedenste Differenzierungen; vgl. die komplexe Darstellung in Bernhardt 1999. Vgl. z. B. Sommer 2006, 382.
2.2 Eschatologie als Geschichtstheologie
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Spätestens seit dem Erdbeben von Lissabon wird die Vorsehungslehre zudem eng mit dem Theodizeeproblem in Verbindung gebracht.⁸² Die protestantische Theologie entwickelt aus der Vorsehungslehre im Anschluss an Calvin eine explizite Vorsehungsethik. Demzufolge liege in der weisen Vorsehung Gottes das Fundament der Ethik begründet; der Mensch orientiere sich am Guten, weil er sich von Gottes Vorsehung geführt weiß. Damit ist die Einstellung verbunden, „vollkommen verantwortlich [zu] handeln, als ob alles von einem selbst abhinge, wohl wissend, dass letztlich alles von Gott, von seiner Vorsehung, abhängt“ (Fuchs 2008, 185). Wie Gottes Vorsehung wirke, bleibe dabei ein Geheimnis.⁸³ Für den theologischen Hintergrund Kants scheint insbesondere das Wiederaufgreifen des Chiliasmus im Protestantismus des 17. Jahrhunderts von Bedeutung gewesen zu sein. Nicht zuletzt militärische Erfolge gegen den Katholizismus wie etwa die Zerschlagung der spanischen Armada bedingen einen der Verfallstheorie aus reformatorischer Zeit entgegengesetzten Fortschrittsoptimismus auf protestantischer Seite. Die Durchsetzung der Prinzipien der Reformation scheint plötzlich möglich zu werden. Dadurch gewinnt die Vorstellung eines innergeschichtlichen Reichs Gottes an Attraktivität. Die Diskussion um den Begriff des Chiliasmus kreist vor allem um die Frage, ob die eschatologische Erwartung zumindest teilweise in der Welt stattfinden könne. Auch wenn sich die chiliastische bzw. (post)millenniaristische Bewegung überwiegend auf England konzentrierte, findet sich mit Johann Albrecht Bengels Erklärte Offenbarung Johannis (1740) ein spätes, aber einflussreiches Beispiel im deutschsprachigen Pietismus. Die Verwandtschaft der chiliastischen Bewegung mit dem Fortschrittsgedanken der Geschichtsphilosophie ist nicht zu übersehen; entsprechend wird die These vertreten, sie habe in besonderer Weise den Boden für die Fortschrittstheorien der Aufklärung geebnet (so Tuveson 1949 und Bauckham 1981). Eng mit der Diskussion um den Chiliasmus verbunden ist die Frage, ob eine aktive Mitarbeit des Menschen am Reich Gottes möglich erscheint, oder ob dieses allein durch die Tätigkeit Gottes hervorgebracht wird. Innerhalb des Pietismus zielt etwa Philipp Jacob Speners Behauptung der Hoffnung künftiger besserer Zeiten (1692) auf das aktive Mitwirken des Menschen am Eintreten des Reichs Gottes, wobei Spener bereits stark von Motiven der Aufklärung inspiriert wurde (vgl. Asendorf 1982, Abschnitt 2.1).
Geyer (1982) bezeichnet das 18. Jahrhundert sogar als „Jahrhundert der Theodizee“. Vgl. Calvins im neuzeitlichen Protestantismus stark rezipiertes Werk Institutio Christianae Religionis von 1536 (ich folge hier der Darstellung von Fuchs 2008) sowie, näher am zeitgenössischen Kontext Kants, die Theologie Speners (ich folge der Darstellung von Yamashita 2000, 263 – 268).
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2 Strukturelle Merkmale der Eschatologie
Mit diesem historischen Abriss über die Entwicklungsgeschichte der Eschatologie bis zur Aufklärungstheologie sind die wesentlichen Motive und Strukturen benannt, die im ausgehenden 18. Jahrhundert im öffentlichen Bewusstsein präsent waren und mit denen auch Kant im Rahmen seiner Bibelkenntnisse, seiner geistesgeschichtlichen Bildung sowie seiner Bekanntschaft mit der zeitgenössischen Theologie vertraut gewesen sein dürfte. Sie bilden den Rahmen, innerhalb dessen man in seinen Texten nach säkularisierter Eschatologie suchen kann. Wenden wir uns damit nun endgültig Kants Philosophie zu.
3 Der praktisch-philosophische Kontext des Geschichtsdenkens Kants: Moral und Recht 3.1 Kants Grundlegung der Moralphilosophie⁸⁴ Der Ausgangspunkt der Transzendentalphilosophie Kants ist die Frage nach den Grenzen dessen, worüber der Mensch Wissen erlangen kann. Die Schranken des Wissbaren können nur aufgefunden werden, wenn das menschliche Erkenntnisvermögen einer eingehenden Untersuchung unterworfen wird – Kant startet das Projekt einer Kritik der reinen Vernunft. Ein wesentliches Ergebnis der KrV ist die Unterscheidung von Phänomen und Noumen. Phänomene gehören in den Bereich möglicher Erfahrung; sie werden in Raum und Zeit, den Formen der äußeren und inneren Anschauung, wahrgenommen. Wissen über das Noumen, das Ding an sich, bleibt dem Menschen notwendigerweise verschlossen. Kant meint es geschafft zu haben, als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung das Kausalitätsprinzip transzendental zu deduzieren. Aufeinander folgende Erscheinungen sind demnach notwendigerweise als Ursache und Wirkung miteinander verknüpft; der Ablauf der Erscheinungen ist naturgesetzlich determiniert (vgl. KrV B232 ff. = III, 226 ff.). Dies sagt jedoch nichts über die Dinge an sich aus. Es ist somit die Möglichkeit offengelassen, dass der Mensch, der als Bestandteil der Welt der Erscheinungen dem Kausalitätsprinzip unterworfen ist, als Ding an sich – als homo noumenon – über Willensfreiheit verfügt. Willensfreiheit als „eine reine transzendentale Idee“ (KrV B561 = IV, 489) bedeutet zunächst, negativ bestimmt, nichts anderes als die Möglichkeit der Unabhängigkeit des Willens von dem determinierten Ablauf der Naturereignisse (vgl. KrV B560 ff. = IV, 488 ff.). Kurze Zeit nach Erscheinen der zweiten Auflage der KrV legt Kant in der GMS und der KpV nun auch eine Grundlegung der Moralphilosophie vor.Wenn es Moral geben soll, so muss es etwas schlechthin Gutes geben. Alles, was nur bedingt gut ist, also gut, sofern es einem weiteren Zweck dient, ist nur dann geboten, wenn dieser Zweck erstrebenswert ist. Konkrete Zwecke, die sich ein Subjekt setzt, sind aber zunächst einmal ebenso wenig wie die mit ihnen intendierten empirischen Zustände an sich erstrebenswert. Selbst Glückseligkeit, von der vorausgesetzt
Bekanntlich ist die Deutung der Moral- und Rechtsphilosophie Kants äußerst umstritten. Ich übergehe im Folgenden die meisten Kontroversen und beschränke mich auf Aspekte, die für die späteren Kapitel relevant sind. Des Weiteren unterliegt die kritische Philosophie Kants einer Entwicklung, die hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden kann. Im folgenden Kapitel wird davon ausgegangen, dass die groben Zusammenhänge der praktischen Philosophie nach 1781 konstant bleiben; sofern relevante Änderungen eintreten, wird dies gekennzeichnet.
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3 Der praktisch-philosophische Kontext des Geschichtsdenkens Kants
werden kann, dass alle vernünftigen, aber endlichen Wesen sie erstreben (GMS VII, 44),⁸⁵ kann kein an sich erstrebenswerter Zweck sein; sie bleibt ein subjektiver Zweck. Um das schlechthin Gute aufdecken zu können, muss deshalb von allen tatsächlichen Zwecken, die Individuen sich setzen, und von allen empirischen Bedingungen, unter denen Handlungen stattfinden, abstrahiert werden: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außerhalb derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“ (GMS VII, 18) Für den derart von allen materialen Prinzipien gereinigten Willen bleibt als handlungsleitendes Prinzip nur noch das bloße Prinzip der Gesetzmäßigkeit übrig. Daraus ergibt sich als kategorischer, d. h. keinen weiteren Bedingungen untergeordneter Imperativ: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ (KpV VII, 140) Kant formuliert den kategorischen Imperativ in zahlreichen Fassungen. Auch die – wiederum in verschiedenen Zusammenhängen unterschiedlich formulierte – Zweck-an-sich-Formel ist für Kant inhaltlich äquivalent mit der bereits zitierten Formel: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“⁸⁶ (GMS VII, 61) Wurde Freiheit zunächst nur negativ als Unabhängigkeit von der Naturkausalität gedacht, so ist jetzt die positive Bestimmung der Willensfreiheit als Autonomie möglich: Der reine Wille ist frei, weil er ausschließlich durch seine eigene Gesetzlichkeit bestimmt wird, d. h. dass die Wahl der Handlungsmaximen allein dem kategorischen Imperativ folgt. Negative und positive Bestimmung der Freiheit verhalten sich wie zwei Seiten einer Medaille zueinander: Kein autonomer Wille ohne Unabhängigkeit von der Naturkausalität, aber auch keine Unabhängigkeit von der Natur ohne eine gesetzmäßig bestimmte Kausalität aus Freiheit.
Kant schwankt offenbar zwischen einem substantiellen und einem formalen Glückseligkeitsbegriff. Für den formalen Glückseligkeitsbegriff gehört per definitionem all das zur Glückseligkeit, was man will („alles, was nach Wunsch und Willen geht“, KpV VII, 255) – für einen Masochisten ist das u. a. Schmerz. Dass dann Glückseligkeit der Zweck jedes Menschen ist, ist eine Tautologie. Der substantielle Glückseligkeitsbegriff, der der oben paraphrasierten Stelle der GMS zugrunde liegt, hat mit positiven Gefühlszuständen zu tun, wie etwa „Macht, Reichtum, Ehre, selbst Gesundheit, und das ganze Wohlbefinden und Zufriedenheit mit seinem Zustande“ (GMS VII, 18). Im Falle des substantiellen Glückseligkeitsbegriffs liegt es an der Natur des Menschen, dass (zumindest fast) alle Menschen den Zweck der eigenen Glückseligkeit teilen. Die Äquivalenz von Zweck-an-sich-Formel und den Standard-Formeln ist schon deshalb fraglich, weil die Zweck-an-sich-Formel keinen rein formalen Charakter mehr aufweist, sondern bereits einen Zweck als notwendig vorstellt. Vgl. etwa Deggau 1983, 26.
3.1 Kants Grundlegung der Moralphilosophie
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Weil Moralität allein am guten Willen festgemacht wird, können tatsächlich vollzogene Handlungen kein direktes Kriterium der moralischen Beurteilung sein: Handlungen, die mit dem Gesetz übereinstimmen, sind zwar gesetzmäßig, aber allein deshalb noch keine moralischen Handlungen. Hinzukommen muss, dass die Handlung aus Pflicht erfolgt, d. h. dass das Sittengesetz als „für sich hinreichende[.] Triebfeder“ (RGV VIII, 674) zur Willensbestimmung auftritt.Während der gesetzmäßigen Handlung lediglich Legalität zukommt, wohnt der Handlung aus Pflicht Moralität inne. Die kantische Dichotomie von Legalität und Moralität berührt – entgegen dem allgemeinen Wortsinn – das Verhältnis von Moral und Recht zunächst nicht. Sie bezieht sich auf alle Handlungen, die nicht moralisch indifferent sind. Legalität kommt nicht nur „schuldigen“, also (vernunft‐)rechtlich einforderbaren Handlungen zu, sondern auch „verdienstlichen“. Im zweiten Fall liegt „Tugend, der Legalität nach“ (RGV VIII, 697) vor; dieses Begriffspaar ist kein Widerspruch, denn Legalität bezeichnet hier nur, dass die Frage nach dem Bestimmungsgrund des Willens unbeachtet bleibt. Selbst die Frage, welche Zwecke man sich faktisch setzt, kann deshalb auf ihre Legalität hin beurteilt werden.⁸⁷ Ob der legalen Handlung zugleich Moralität zukommt, liegt allein an der Triebfeder des Willens. Autonomie des Willens, Sittengesetz und Willensfreiheit sind für Kant notwendigerweise miteinander verbunden. Doch durch diesen internen Verweisungszusammenhang ist die objektive Realität der drei Begriffe noch nicht erwiesen; Sittlichkeit könnte sich als „chimärische Idee ohne Wahrheit“ oder als ein „Hirngespinst“ (GMS VII, 80) entpuppen. Deshalb ist es das Ziel der KpV darzutun, „dass es reine praktische Vernunft gebe“ (KpV VII, 107), d. h. zu zeigen, dass „reine Vernunft zur Bestimmung des Willens für sich allein zulange“ (KpV VII, 120). Es kann jedoch nicht gelingen, das Sittengesetz transzendental zu deduzieren;⁸⁸ vielmehr ist es „gleichsam als ein Faktum der reinen Vernunft, dessen wir uns a priori bewußt sind und welches apodiktisch gewiß ist“ (KpV VII, 161), unmittelbar gegeben. Ausgehend vom Faktum der Vernunft lässt sich aber die transzendentale Freiheit als Bedingung der Möglichkeit desselben deduzieren. Was die KrV nur als Möglichkeit offen gelassen hatte, bekommt von der reinen
So kann man sich etwa die Glückseligkeit anderer aus pathologischen Gründen zum Zweck machen. Der Zweck stimmte dann mit dem Sittengesetz überein, nicht aber die Triebfeder. 1785 spricht Kant in Bezug auf die Frage, wie ein kategorischer Imperativ möglich sei, dagegen noch von einer Deduktion (GMS VII, 90). Inwieweit die KpV von der GMS abweicht, ist umstritten; vgl. z. B. Wolff 2009, 540 – 548.
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3 Der praktisch-philosophische Kontext des Geschichtsdenkens Kants
Vernunft „im praktischen Gebrauche“ (KpV VII, 165) objektive Realität zugesprochen.⁸⁹ Kant steht damit vor dem Problem, dass der reine Wille des homo noumenon in irgendeiner Weise in der empirischen Wirklichkeit wirksam werden können muss. Wie es sein kann, dass die Kausalität aus Freiheit Wirkungen in der Welt der Phänomene entfaltet, sei schlicht unerklärlich: „Wie nun aber reine Vernunft, ohne andere Triebfedern, […] für sich selbst eine Triebfeder abgeben, und ein Interesse, welches rein moralisch heißen würde, bewirken, oder mit anderen Worten: wie reine Vernunft praktisch sein könne, das zu erklären, dazu ist alle menschliche Vernunft gänzlich unvermögend, und alle Mühe und Arbeit, hievon Erklärung zu suchen, ist verloren.“ (GMS VII, 99)
Noch problematischer als die Schwierigkeit zu erläutern, wie reine Vernunft praktisch sein könne, ist allerdings die Frage, warum sie es nicht immer ist: Ganz offensichtlich kommen in der realen Welt unmoralische Handlungen – und damit verbunden unmoralische Gesinnungen – vor. Reine Vernunft kann sich aber unmöglich gegen das Sittengesetz entscheiden. Es muss daher neben der reinen Vernunft eine weitere Instanz geben, die den Ausschlag darüber gibt, ob die reine Vernunft gegenüber der bloßen Naturkausalität den Vorzug bekommt. Kant nennt diese Instanz, die er erst in den 1790er Jahren explizit herausarbeitet, die Willkür.⁹⁰ Es liegt nahe, Kant so zu verstehen, als würde der weite Willensbegriff der KpV und der GMS in den späten Schriften ausdifferenziert in die Willkür einerseits und den reinen Willen im engeren Sinne andererseits.⁹¹ Die Willkür ist das „Vermögen, nach Belieben zu tun oder zu lassen“ (RL VIII, 317) – genauer ist dies die Fähigkeit, nach Belieben Maximen zu wählen (vgl. RL
Wie sich objektive Realität im theoretischen und praktischen Gebrauch der Vernunft voneinander unterscheiden, lässt Raum für verschiedene Interpretationsansätze. Teils sieht es so aus, als würde die objektive Realität der Freiheit im praktischen Gebrauch lediglich darin bestehen, dass, wer handelt, sich nicht anders verstehen kann als unter dem Sittengesetz stehend. Es ist nicht einzusehen, weshalb sich dieses notwendig gegebene Selbstverständnis nicht doch noch als ‚Hirngespinst‘ entpuppen können sollte. Auch wenn das Konzept der Willkür eine notwendige Ergänzung des reinen Willens darstellt, stehen beide in einer Spannung zueinander: Die „moralische, gesetzliche Freiheit […] schließt eine Bestimmung zum Bösen aus und braucht sie“ (Brandt 2010, 75; vgl. auch die Diskussion in Klar 2007, 68 – 82). Dies ist jedoch nicht unbedingt eine spezifische Schwäche der Theorie Kants, sondern der Sache geschuldet; die philosophische Theoriebildung steht hier vor einem ernsthaften Problem. So auch Geismann (2006, 11), der sogar so weit geht, exakt feststellen zu wollen, an welchen Stellen der KpV und der GMS der Willensbegriff mit dem späteren Begriff der Willkür zusammenfällt.
3.1 Kants Grundlegung der Moralphilosophie
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VIII, 332). Ebenso wie der freie Wille in der KpV wird auch die freie Willkür negativ und positiv bestimmt: „Die Freiheit der Willkür ist jene Unabhängigkeit ihrer Bestimmung durch sinnliche Antriebe; dies ist der negative Begriff derselben. Der positive ist: das Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein.“ (RL VIII, 318) Der reine Wille wird in den späteren Schriften zunehmend nicht mehr als frei bezeichnet; er ist mit Notwendigkeit vom Gesetz bestimmt. „Von dem Willen gehen die Gesetze aus; von der Willkür die Maximen. Die letztere ist im Menschen eine freie Willkür; der Wille, der auf nichts anderes, als bloß auf [sic] Gesetz geht, kann weder frei noch unfrei genannt werden […].“ (RL VIII, 332) Die Willkür ist nach der positiven Bestimmung frei, wenn sie sich völlig vom reinen Willen bestimmen lässt – sie soll nicht als „Vermögen der Wahl, für oder wider das Gesetz zu handeln“ (RL VIII, 332 f), bestimmt werden.⁹² Dadurch wiederholt sich das oben genannte Problem: Wie es zur Annahme von gesetzwidrigen Maximen kommen kann, bleibt rätselhaft; der Gebrauch der freien Willkür kann nicht die Ursache sein. Kant versucht deshalb folgende Differenzierung: „Die Freiheit, in Beziehung auf die innere Gesetzgebung der Vernunft, ist eigentlich allein ein Vermögen; die Möglichkeit, von dieser abzuweichen, ein Unvermögen.“ (RL VIII, 333)⁹³ Die Alternative, von seinem Vermögen Gebrauch zu machen oder sein Unvermögen vorzuziehen, muss eine freie Wahl eröffnen, die nicht wiederum an ein Gesetz gebunden sein kann; eine solche Art von Freiheit bleibt unerklärlich.⁹⁴ „Das Phänomen nun: daß der Mensch auf diesem Scheidewege (wo die schöne Fabel den Herkules zwischen Tugend und Wohllust [sic] hinstellt) mehr Hang zeigt, der Neigung als dem Gesetz Gehör zu geben, zu erklären ist unmöglich; weil wir, was geschieht, nur erklären können, indem wir es von einer Ursache nach Gesetzen der Natur ableiten; wobei wir aber die Willkür nicht als frei denken würden.“ (TL VIII, 509)⁹⁵
In der Religionsschrift scheint Kant jedoch genau diese Definition der Freiheit der Willkür im Kopf zu haben, die er hier in der Rechtslehre ablehnt. Vgl. etwa RGV VIII, 667 und 670. In der Religionsschrift spricht Kant mit gleicher Intention vom „Gebrauch“ und „Mißbrauch“ der Willkür (RGV VIII, 667). – Ebendeshalb kann der Gebrauch der Willkürfreiheit als „Unvermögen“ nicht in gleicher Weise als „authentische[r] Ausdruck des Freiheitsgebrauchs“ (Höffe 2011, 21) gelten wie der Gebrauch der reinen praktischen Vernunft. So aber Höffe, der daraus sogar folgert, Moral führe deshalb unumgänglich zur Religion, weil nur der Rückgriff auf den Gottesbegriff den Gebrauch der reinen Vernunft vor dem Missbrauch der Willkür auszeichnen könne. Vgl. dagegen meine Interpretation in Kapitel 3.2. In der Literatur wird unterschiedlich bewertet, ob Kants Konzeption konsistent ist. Kritisch ist etwa Klar 2007, 73 f.; ein umfangreicher Rettungsversuch findet sich bei Bojanowski 2006, Teil III. Auch in Kants Moralphilosophie könnten vermutlich zahlreiche Säkularisierungsphänomene nachgewiesen werden, die zu kritischen Nachfragen anregen würden. So tritt etwa die Vernunft
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3 Der praktisch-philosophische Kontext des Geschichtsdenkens Kants
3.2 Die Eigenart des Rechts Die Schriften zur Grundlegung der Moralphilosophie haben die Frage nach Staat und Recht nicht im Blick.⁹⁶ Allerdings wird eine vorläufige⁹⁷ Einteilung der moralischen Pflichten vorweggenommen, die für das Recht eine gewisse Relevanz aufweist. Kant unterteilt die Pflichten in der GMS (VII, 52 ff.) in solche gegen sich selbst und solche gegen andere einerseits, und in vollkommene und unvollkommene Pflichten andererseits. Vollkommene Pflichten, auch „strenge“, „enge“, „schuldige“ oder „unnachlaßliche“ Pflichten genannt, sind dadurch gekennzeichnet, dass die Handlungsmaxime, versucht man sie als allgemeines Gesetz zu denken, einen direkten Widerspruch erzeugt. Vollkommene Pflichten gestatten deshalb keinerlei Ausnahme. Im Falle der unvollkommenen, d. i. verdienstlichen Pflichten können die Handlungsmaximen zwar als allgemeines Gesetz gedacht werden, man kann dieses Gesetz jedoch nicht wollen. ⁹⁸ Solche Pflichten lassen einen gewissen Rahmen offen, innerhalb dessen sie erfüllt oder zugunsten der Neigung zurückgestellt werden können.
als „Gott in uns“ (FS XI, 315) auf und verkündet mit „himmlische[r] Stimme“ (KpV VII, 147) das moralische Gebot, dem wiederum „freie Huldigung“ (RGV VIII, 853) gebührt. Die Konstruktion einer zeitlosen Welt der Dinge an sich, die der Welt der Phänomene gegenübergestellt wird, erinnert strukturell an das traditionelle Zeit-/Ewigkeitsverständnis der Theologie; vgl. dazu Ertl 2004. Auch die Konzeption des moralischen Subjektes dürfte theologische Muster spiegeln: „Es ist evident, daß dieses Ich nach dem Bilde des abendländischen Gottes geschaffen wurde. So wie dieser sich bei der Erschaffung der Welt im Menschen ein Ebenbild erschuf, so bildet umgekehrt der Philosoph das subjektivitätstheoretische Freiheitszentrum nach dem Muster Gottes. Nichts weniger als ein selbstmächtiger Hervorbringer freier Handlungen, der keinerlei Voraussetzungen bedürftig ist, nur sich selbst voraussetzen muß, nichts weniger als ein selbst unbewegter Beweger ist dieses Selbst.“ (Kersting 2004, 25) Mehrere konkrete theologische Vorlagen, an denen sich Kant orientiert hat, weist Wolff (2009, 534 und 548) nach. Ich kann diesen Säkularisierungsphänomenen hier freilich nicht weiter nachgehen. Dennoch mangelt es in der Gegenwart nicht daran, die Grundlegungsschriften zur Lösung juridischer bzw. politischer Probleme heranzuziehen. Um nur ein Beispiel zu erwähnen: Langthaler (1991, 34 ff.) interpretiert den Begriff eines „Reiches der Zwecke“, den Kant in der GMS entwickelt, als ein „Reich des Rechtes“, an dem sich bestehende Rechtssysteme messen müssen. Für Kant wäre dies unmöglich: Im Reich der Zwecke wird eine systematische Einheit der Zwecke u. a. dadurch erreicht, dass seine Glieder sich gegenseitig zum Zweck machen – und sich damit die (vernunftgemäßen) Zwecke der anderen zu eigenen Zwecken machen. Genau dies wäre in einem Reich des Rechts nicht nötig; ja, dürfte nicht einmal angestrebt werden. In der GMS behält sich Kant eine spätere, bessere Einteilung vor (vgl. GMS VII, 52). In der KpV heißt es, die Einteilung der Pflichten gehöre „zum System der Wissenschaft, nicht zum System der Kritik“ (KpV VII, 113), weil sie eine Bestimmung der menschlichen Natur voraussetze. Eine ähnliche Unterscheidung von vollkommenen und unvollkommenen Pflichten gibt Kant im Zusammenhang mit der Zweck-an-sich-Formel, vgl. GMS VII, 61 f.
3.2 Die Eigenart des Rechts
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Kants Ethik wird im Rahmen des „kritischen Geschäfts“ (dazu zählen sowohl die GMS als auch die KpV) zwar grundgelegt, jedoch nicht systematisch entfaltet.⁹⁹ Dies erfolgt vielmehr erst 1797/1798 unter dem Titel einer Metaphysik der Sitten ¹⁰⁰. Die Moral (gleichbedeutend mit Ethik und Sittlichkeit im weiten Sinne) wird dort unterteilt in die Rechtslehre und die Ethik oder Sittlichkeit im engeren Sinne, auch Tugendlehre genannt. „Die Moral besteht aus der Rechtslehre (doctrina iusti) und der Tugendlehre (doctrina honesti) jene heißt auch ius im allgemeinen Sinne, diese Ethica in besondrer Bedeutung (denn sonst bedeutet auch Ethic die ganze Moral).“¹⁰¹ Diese Unterordnung der Rechtslehre unter die Moralphilosophie könnte erwarten lassen, dass Kant unter dem Recht einfach einen Teil der moralischen Pflichten, die sich aus dem kategorischen Imperativ ergeben, fasst. Auf den ersten Blick legt dies auch die Tafel zur Einteilung der Pflichten nahe, die sich im Anhang zur Einleitung in die Rechtslehre¹⁰² befindet. Kant greift dort die Terminologie von „vollkommenen“ und „unvollkommenen“ Pflichten auf, die er bereits in der GMS verwendet hatte.Vollkommene Pflichten gegen sich selbst und gegen andere sind demnach Rechtspflichten; unvollkommene Pflichten gegen sich selbst und gegen andere sind Tugendpflichten. Es zeigt sich jedoch, dass die Rechtsphilosophie gegenüber der Moralphilosophie, deren Bestandteil sie sein soll, und auch gegenüber der Tafel zur Einteilung der Pflichten erheblich abweicht. Kants Rechtsphilosophie betrachtet ausschließlich die äußere Freiheit, d. h. die Handlungsfreiheit, sofern sie in die Freiheit anderer möglicherweise eingreift. „Der Begriff des Rechts […] betrifft […] nur das äußere und zwar praktische Verhältnis einer Person gegen eine andere, sofern ihre Handlungen als Facta aufeinander […] Einfluss haben können.“ (RL
Vgl. Oberer 2006, der die systematische Ausführung der Ethik als deren „materialen“ Teil bezeichnet. Man muss sich allerdings fragen, weshalb Kant im Rahmen der Grundlegungsschriften so viele Beispiele von konkreten Pflichten diskutiert, die nach dieser Lesart eigentlich zum „materialen“ Teil der Ethik gehören müssten. Dieser Begriff ist nicht identisch mit der Metaphysik der Sitten, mit der in der GMS der Zweite Abschnitt endet und der Dritte Abschnitt beginnt. Vorarbeiten zur MS, AA XXIII, 386; vgl. auch TL VIII, 508. Das Zitat zeigt, dass Kant die Begriffe „Moral“ und „Ethik“ nicht einheitlich verwendet. „Moral“ bezeichnet zuweilen die gesamte Sittenlehre, zuweilen nur den kritischen Teil, zuweilen das Vernunftrecht im Gegensatz zum positiven Recht, und zuweilen die Tugendlehre in Abgrenzung zur Rechtslehre. Und merkwürdigerweise nicht innerhalb der Einleitung in die Metaphysik der Sitten. Die Komposition von Vorrede, Einleitung in die Metaphysik der Sitten und Einleitung in die Rechtslehre erscheint äußerst verwirrend. Allerdings kann Bernd Ludwigs Versuch, die Einleitungen in stark veränderter Reihenfolge neu zu edieren (Ludwig 2009), die Probleme nicht wirklich beseitigen.
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3 Der praktisch-philosophische Kontext des Geschichtsdenkens Kants
VIII, 337) Pflichten gegen sich selbst sind deshalb – auch dann, wenn es sich um vollkommene Pflichten handelt – immer nur Bestandteil der Tugendlehre.¹⁰³ Gegenüber dem von allen empirischen Bedingungen befreiten kategorischen Imperativ fließt in die Rechtsphilosophie damit eine empirische Tatsache ein: Menschen können bei Ausübung ihrer (äußeren) Willkürfreiheit miteinander in Konflikt geraten.¹⁰⁴ Menschen können sich also, indem sie nebeneinander leben, gegenseitig bei Ausübung ihrer äußeren Freiheit dergestalt stören, dass nicht alle das von ihnen Angestrebte erreichen können. Es stellt sich daher die Frage, wer zu welchen (äußeren) Handlungen befugt ist. Diese Frage ist gleichbedeutend mit der Frage, was recht und was unrecht ist. Die Antwort gibt zunächst das – wiederum rein formale – allgemeine Rechtsgesetz: „Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann ect.“ (RL VIII, 337) Die gesetzliche äußere Freiheit eines jeden endet dort, wo sie die gesetzliche Freiheit der anderen berührt; gleichzeitig weist das allgemeine Rechtsgesetz jedem eine gleich große Freiheit zu.¹⁰⁵ Schon hier fällt an der Formulierung des allgemeinen Rechtsgesetzes ins Auge, dass es mit dem kategorischen Imperativ auch nicht in Teilen zusammenfallen kann. Der kategorische Imperativ macht Maximen notwendig, nach denen gehandelt werden soll; das Rechtsgesetz bezieht sich dagegen auf (äußere) Handlungen. Das unter dem kategorischen Imperativ stehende Subjekt verpflichtet sich selbst; das Rechtsgesetz verpflichtet alle, deren Willkür in Konflikt mit anderen geraten kann. Das Rechtsgesetz ist an den zentralen Stellen nicht einmal als Imperativ formuliert,¹⁰⁶ und dies scheint einen Grund zu haben: Es handelt sich eher um eine unpersönliche Art des Sollens, die einen Zustand
Zu diesem Problem vgl. Joerden 2009 und Durán Casas 1996, die beide jedoch keine konsistenten Lösungsvorschläge anbieten. Joerden geht im Gegensatz zu Durán Casas davon aus, dass vollkommene Pflichten gegen sich selbst in der TL als Tugendpflichten (und nicht als Rechtspflichten) behandelt werden. Dagegen spricht allerdings Kants These, der Selbstmord sei ein Verbrechen. Damit ist – entgegen einer verbreiteten Lesart – nicht notwendigerweise eine Knappheit an Gütern verbunden, wie sie etwa bei Ralws als objektive Anwendungsbedingung der Gerechtigkeit ausschlaggebend ist (vgl. Rawls 1975, Kap. 3). Für Kant reicht aus, dass die Willkür verschiedener Menschen auf dasselbe Objekt gerichtet sein kann. Gegen den Vorwurf, das allgemeine Rechtsgesetz sei mit jeder beliebigen gesetzlichen Freiheitsverteilung vereinbar, vgl. Kersting 1993, 99 – 101. Zur einzigen Stelle, an der das Rechtsgesetz als Imperativ formuliert wird, siehe Kapitel 2.4.
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vorschreibt, ohne dass dadurch einzelne Menschen direkt¹⁰⁷ verpflichtet würden.¹⁰⁸ Dem Recht wohnt, wie Kant weiter ausführt, notwendigerweise eine besondere Eigenschaft inne: Es ist „mit der Befugnis zu zwingen verbunden“ (RL VIII, 338). Vorläufig unabhängig von der Existenz einer staatlichen Zwangsgewalt¹⁰⁹ gilt: Wer Unrecht tut, darf mit Gewalt in seine ihm das Recht zuschreibenden Grenzen verwiesen werden. Die Verbindung des Rechts mit der Befugnis zum Zwang hat für Kant aufgrund des allgemeinen Rechtsgesetzes einen logisch notwendigen Charakter: Unrecht ist mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen unvereinbar; die Verhinderung des Unrechts stimmt daher immer mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammen. Die Befugnis zu zwingen ist mit dem Recht „nach dem Satze des Widerspruchs verknüpft“ (RL VIII, 339). Wenn das Recht erzwingbar sein soll, kann es auf die Triebfeder des Handelnden keine Rücksicht nehmen. Die Moral siedelt das sittlich Gute im Bereich des Willens an und macht es allein von dessen Triebfeder abhängig. Das Recht ist gegenüber der Triebfeder indifferent; es kennt ausschließlich Legalität, keine Moralität und kein sittlich Gutes.¹¹⁰ Die Moral ist in ihrer Ausübung auf die Autonomie des Willens und damit auf den positiven Begriff der transzendentalen Freiheit angewiesen. Die Verwirklichung des Rechts setzt dagegen lediglich äußere Willkürfreiheit, also Handlungsfreiheit voraus. Zieht man Kants Unterscheidung von Rechtslehre und Tugendlehre (d. h. Ethik im engeren Sinne) heran, lassen sich die Eigentümlichkeiten des Rechts noch weitergehend erhellen. Die Tugendlehre ist als konsequente Weiterführung der Moralphilosophie intendiert, insofern sie die Lehrstücke vom Faktum der Vernunft und der Autonomie des Willens ohne Einschränkung übernimmt. Über den rein formalen Charakter des Sittengesetzes geht sie zugleich hinaus: Tugendpflichten sind Pflichten, die „auf einen Zweck gehen, der (oder welchen zu
Einzelne Menschen werden natürlich in diesem Zustand verpflichtet – aber vorrangig nicht vom Vernunftrecht, sondern vom positiv gesetzten Recht. Nur deshalb kann Kant davon sprechen, dass die „Konstruktion“ des Rechtsbegriffs in der „Darstellung desselben in einer reinen Anschauung a priori“ besteht, und zwar „nach der Analogie der Möglichkeit freier Bewegungen der Körper unter dem Gesetze der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung“ (RL VIII, 340). In der hier eingenommenen Beobachterperspektive spielt die subjektive Verpflichtung keine Rolle. Vgl. dazu ausführlich Horn 2009. Anders als etwa Höffe (1999, 55 f.) und Eberl (2008, 288 f.) behaupten, bedeutet die Zwangsbefugnis (zumindest in der RL, anders evtl. in ÜdG XI, 144 f.) nicht automatisch eine öffentliche (staatliche) Zwangsbefugnis. Es gibt auch im Naturzustand, definiert als Zustand des Privatrechts, legitimen und illegitimen Zwang. Deshalb ist die Unterscheidung von Legalität und Moralität überhaupt nur für die Moral von Bedeutung. Vgl. Kersting 1993, 175 – 197.
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haben) zugleich Pflicht ist“ (RL VIII, 347). Die Tugendpflicht schreibt keine Handlung, sondern eine Absicht, einen Zweck vor. Der Erfolg, mit dem der Handelnde seinem Ziel näherkommt, ist ethisch völlig gleichgültig. Die Zwecke, die zugleich Pflicht sind, lassen sich unter den Stichpunkten „Eigene Vollkommenheit – Fremde Glückseligkeit“ (TL VIII, 515) zusammenfassen. Damit tauchen in der Ethik plötzlich zwei materiale Elemente auf, die in der allgemeinen Moralphilosophie, die sich der Begründung von Pflichten und nicht deren Inhalt widmet, streng ausgenommen wurden. Wie verhält sich zusammengefasst die Rechtsphilosophie zur Ethik im engeren Sinne? Es lassen sich drei wesentliche Abgrenzungsmerkmale angeben: (1) Die Rechtslehre ist der „Inbegriff der Gesetze, für die eine äußere Gesetzgebung möglich ist“ (RL VIII, 336), d. h., deren Einhaltung grundsätzlich erzwungen werden kann. Weil die für die Ethik entscheidende innere Einstellung in doppelter Hinsicht nicht erzwingbar ist, ergeben sich die beiden weiteren Merkmale: (2) Nicht erzwingbar ist zum einen die Triebfeder der Willensbestimmung. Die Ethik begnügt sich nicht mit gesetzmäßigem Handeln (Legalität); sie fordert, sich das Sittengesetz zugleich als Triebfeder des Willens zu eigen zu machen. Das Recht ist dagegen indifferent gegen die Motivation des Handelns; es verlangt nicht, um des Rechts willen recht zu handeln. (3) Nicht erzwingbar sind zum anderen die Zwecke, die sich ein vernünftiges Wesen setzt (vgl. RL VIII, 347). Die Sittlichkeit im engeren Sinne hängt ausschließlich am Zweck des Handelnden. Der Erfolg, mit dem der Handelnde seinen Zwecken nachgeht, bleibt moralisch irrelevant. Dem Recht ist dagegen der Zweck gleichgültig; es fragt nicht, welche Zwecke einer äußeren Handlung zugrunde liegen, sondern nur, ob sie die äußere Freiheit anderer Subjekte potentiell beeinträchtigt. Recht und Tugend werden bei Kant dadurch verbunden, dass jede Rechtspflicht indirekt eine Tugendpflicht begründet. Es ist ethisch geboten, sich jederzeit die Rechtspflicht zur Triebfeder zu machen und der Rechtspflicht etwa auch dann nachzukommen, wenn sie in der konkreten Situation nicht erzwungen werden kann (vgl. RL VIII, 325). Andersherum liegt selbstverständlich nicht jeder Tugendpflicht eine Rechtspflicht zugrunde.
3.3 Staat und internationaler Rechtszustand Kant versucht, aus dem Rechtsbegriff analytisch die Notwendigkeit von Staat und Völkerrecht abzuleiten. Das einzige angeborene Recht des Menschen ist, wie sich aus dem allgemeinen Rechtsgesetz ergibt, die „Freiheit (…), sofern sie mit jedes
3.3 Staat und internationaler Rechtszustand
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anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann“ (RL VIII, 345). Doch diese Formel bleibt inhaltslos, wenn es nicht möglich ist, in Übereinstimmung mit dem Rechtsgesetz konkrete Rechte zu erwerben. Der Erwerb solcher Rechte führt zur Unterscheidung vom „äußeren Mein und Dein“ (RL VIII, 353) und damit zum Privatrecht. Die Einzelheiten und philosophischen Besonderheiten des kantischen Privatrechts können hier übergangen werden.¹¹¹ Von Bedeutung ist lediglich der Übergang zum öffentlichen Recht: In einem staatslosen Zustand, dem Naturzustand, ist der Erwerb von Rechten zwar nicht völlig ausgeschlossen, er bleibt aber defizitär. Es kann nämlich nicht objektiv entschieden werden, wem welche Rechte zustehen; stattdessen kann nur jeder selbst über seine vermeintlichen Rechte urteilen. So kann nur „nach jedes seinen Rechtsbegriffen etwas Äußeres durch Bemächtigung oder Vertrag erworben werden“ (RL VIII, 430; meine Hervorhebung). Der entscheidende Punkt liegt darin, dass im Einzelfall Unklarheit herrschen wird, wem welche Rechte zustehen, nämlich genau dann, wenn sich die Rechtsbegriffe des einen mit denen des anderen nicht decken.¹¹² Eigentumserwerb ist im Naturzustand deshalb nur „provisorisch“ denkbar, nämlich in Erwartung eines staatlichen Zustands, der erst wirkliches, „peremtorisches“ Eigentum möglich macht (vgl. RL VIII, 367).
Auf die philosophisch einzigartige Leistung des Privatrechts weist Kersting (1993, 225 – 324) hin; meist stehen die Interpreten diesem Teil der Rechtslehre jedoch eher kritisch gegenüber. Welche Rolle das Privatrecht für Kants Begründung des Staatsrechts spielt, ist in der Literatur umstritten. Während Städtler (2011, 137) und Zotta (2000, Kap. 1) im Privatrecht eine wesentliche Basis des Staatsrechts sehen, tendiere ich dazu, seine Funktion, die ihm in der RL offensichtlich zugesprochen wird, nicht überzubewerten. In der Friedensschrift beispielsweise verzichtet Kant völlig auf das Privatrecht als Recht auf Eigentum und versteht Gewalt nicht als Angriff auf die erworbenen Rechte, sondern auf die Person und ihre körperliche Unversehrtheit (vgl. ZeF XI, 203). Kurz gesagt wäre die Notwendigkeit des öffentlichen Rechts m. E. auch dann gegeben, wenn Privateigentum nicht vernunftnotwendig oder sogar widervernünftig wäre. Dass zumindest für die Spätschriften Kants hierin – und nicht etwa im Problem der Rechtsdurchsetzung – die entscheidende Pointe liegt, wird auch im Streit der Fakultäten deutlich: „Denn darin besteht eben das Ansehen der Regierung, daß sie den Untertanen nicht die Freiheit läßt, nach ihren eigenen Begriffen […] über Recht und Unrecht zu urteilen.“ (SF XI, 287). Meine Interpretation teilen etwa Eberl/Niesen (2011, 134 f.); überwiegend wird aber die Rechtsdurchsetzung als das wesentliche Problem angesehen und damit der Unterschied zwischen Kant und Hobbes eingeebnet. Man kann sich diese Differenz im Gedankenspiel des Zusammenlebens von Engeln vor Augen führen: Für Kant bräuchte ein solches Volk einen Staat. Gegen diese Vorstellung wendet sich Gerhardt (2004, 206). Sofern Gerhardts Argument darauf beruht, dass Engel sich gar nicht wechselseitig behindern könnten, verlagert sich der Streit auf den Begriff des Engels. Sofern Gerhardt aber unterstellt, Engel bräuchten kein Recht, weil ihnen das Sittengesetz nicht als nötigender Imperativ entgegentritt, dem man zuwiderhandeln könnte, missversteht er die Funktion des kantischen Rechtsbegriffs.
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Wenn jeder aufgrund der Struktur des Naturzustands tun darf, „was ihm gut und recht dünkt“ (RL VIII, 439), so heißt das nicht, dass schlechthin alles erlaubt ist. Die Rechtlosigkeit des kantischen Naturzustands meint nicht die generelle Ungültigkeit von vernunftrechtlichen Normen. Vielmehr liegt das Problem des Naturzustands in der Tatsache, dass die individuellen Vorstellungen des Erlaubten zu kollidieren drohen. Es ist nicht möglich, im Naturzustand peremtorisch über erworbene Rechte zu verfügen, weil es jederzeit passieren kann, dass mir die nach meinem eigenen Urteile zustehenden Rechte streitig gemacht werden, ohne dass ich aus der Perspektive des anderen dadurch Unrecht erleide. Hinzu kommt das seit Hobbes populäre Problem, dass im Naturzustand keine öffentliche Gewalt die erworbenen Rechte eines jeden sichert. In einem solchen Zustand muss jeder ständig damit rechnen, dass andere seine Rechte nicht respektieren. Und weil die anderen keine Sicherheit für die eigenen Rechte garantieren, ist niemand verpflichtet, seinerseits auf die Rechte der anderen Rücksicht zu nehmen (vgl. RL VIII, 424). Um zu Zwangshandlungen gegen einen Mitmenschen befugt zu sein, muss die „wirkliche Feindseligkeit“ nicht abgewartet werden, denn der Mitmensch droht „schon seiner Natur nach“ (RL VIII, 425). Der Naturzustand ist deshalb aus strukturellen Gründen ein Zustand der Gewaltherrschaft. Die Naturzustandsproblematik liegt laut Kant vor, ohne dass substantielle Annahmen über die Natur des Menschen getroffen werden müssen. Lediglich die empirische Möglichkeit von Willkürkonflikten muss vorausgesetzt werden. „Es ist nicht etwa die Erfahrung, durch die wir von der Maxime der Gewalttätigkeit der Menschen belehrt werden, und ihrer Bösartigkeit, sich, ehe eine äußere machthabende Gesetzgebung erscheint, einander zu befehden, also nicht etwa ein Faktum, welches den öffentlich gesetzlichen Zwang notwendig macht, sondern, sie mögen auch so gutartig und rechtliebend gedacht werden, wie man will, so liegt es doch a priori in der Vernunftidee eines solchen (nicht-rechtlichen) Zustands, daß, bevor ein öffentlich gesetzlicher Zustand errichtet worden, vereinzelte Menschen, Völker und Staaten niemals vor Gewalttätigkeit gegen einander sicher sein können […].“ (RL VIII, 430)
Was also fehlt, ist ein hinreichend konkret formuliertes, öffentlich bekanntes Rechtssystem und eine Gerichtsinstanz, die im Streitfalle einem jeden objektiv sein ihm zustehendes Recht zusprechen und dieses notfalls auch durchsetzen kann. Solange kein kompetenter Richter vorhanden ist, bleibt gar nichts anderes übrig, als dass jeder selbst über die Reichweite seiner Rechte entscheidet und diese mit Gewalt verteidigt (vgl. RL VIII, 430). Der Naturzustand macht das Privatrecht, sofern es tatsächlich allgemeinverbindlich einem jeden seine erworbenen Rechte zuweisen und sichern soll, unmöglich. Deshalb geht aus „dem Privatrecht im natürlichen Zustande (…) das Postulat des öffentlichen Rechts hervor: du sollst, im Verhältnisse eines unver-
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meidlichen Nebeneinanderseins, mit allen andern, aus jenem heraus, in einen rechtlichen Zustand (…) übergehen.“ (RL VIII, 424) Da dieses „Sollen“ eine Rechtspflicht darstellt, ist sie mit der Befugnis zu zwingen verbunden. Es darf „ein jeder den andern mit Gewalt antreiben“ (RL VIII, 430), den Naturzustand zu verlassen.¹¹³ Das Verlassen des Naturzustands bringt für alle Beteiligten Vorteile und ist insofern ein interessenmotiviertes Klugheitsgebot. Aus diesem Grund ist es „selbst für ein Volk von Teufeln“ (ZeF XI, 224) möglich, sich eine bürgerliche Verfassung zu geben. Es mag auch sein, dass der tatsächliche Grund der Staatserrichtung in der Unfähigkeit des Menschen wurzelt, im Naturzustand überleben zu können (vgl. IaG XI, 39 f.). Aber Klugheit und Überlebenswille sind nicht konstitutiv für das unbedingte Sollen des Postulats des öffentlichen Rechts. Dieses ist vielmehr für alle vernünftigen Wesen verbindlich, „weil die Vernunft selbst es so will, und zwar die reine a priori gesetzgebende Vernunft, die auf keinen empirischen Zweck (…) Rücksicht nimmt“ (ÜdG XI, 145).¹¹⁴ Der ursprüngliche Vertrag ist nicht Mittel zu den Zwecken derer, die ihn schließen, sondern er ist „an sich selbst Zweck“ (ÜdG XI, 144); er ist eine unbedingte Pflicht, die allein dem Begriff des Rechts faktische Geltung verschaffen kann. Nicht jeder beliebige Staat ist eine gleich gute Lösung des Naturzustandsproblems. Vielmehr unterliegt jeder Staat den normativen Anforderungen des Staates „in der Idee, wie er nach reinen Rechtsprinzipien sein soll“ (RL VIII, 431), die sich sowohl aus dem allgemeinen Rechtsgesetz als auch aus der Idee des „ursprüngliche[n] Kontrakt[s]“ (RL VIII, 434) ergeben. Wie der ideale Staat aussehen soll, lässt sich Kants Schriften nur bedingt entnehmen. Kant stützt sich weitgehend auf die Unterscheidung von Staatsform und Regierungsart: Die Vertragskonstruktion zeichne demnach keine bestimmte Staatsform aus, weder Autokratie (=Monarchie) noch Aristokratie oder Demokratie. Lediglich pragmatische Argumente können einer der drei den Vorzug geben (vgl. RL VIII, 462), wobei Kant mehrfach andeutet, dass für den Fall Preußens aufgrund der außenpolitischen Lage die Monarchie den Vorzug erhalten muss (vgl. ZeF XI, 243 sowie Refl
Diesem Recht steht allerdings das Weltbürgerrecht mit der im Naturzustand gültigen Forderung, den Fremden aufgrund seiner bloßen Anwesenheit nicht feindselig zu behandeln (vgl. RL VIII, 476; ZeF XI, 213), gegenüber. Es ist fraglich, ob die beiden Forderungen sich daher nicht widersprechen. Dies ist ein wesentlicher Unterschied zwischen Kants Vertragstheorie und seinen Vorläufern, z. B. Hobbes. Dieser kann lediglich zeigen, dass es für alle Beteiligten rational ist, den Staatsvertrag zu schließen. Horn (2009, 403) übersieht diesen Unterschied und macht deshalb eine allzu große Spannung zwischen der kantischen Vertragskonzeption und dem naturrechtlich intendierten allgemeinen Rechtsgesetz aus.
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8077, AA XIX, 604). Die Vertragskonstruktion gibt jedoch eine Regierungsart vor, nämlich die republikanische (vgl. ZeF XI, 204; RL VIII, 464). Diese umfasst, das Volk ungeachtet der Staatsform „nach Prinzipien zu behandeln, die dem Geist der Freiheitsgesetze (wie ein Volk mit reifer Vernunft sie sich selbst vorschreiben würde) gemäß sind, wenn gleich dem Buchstaben nach es um seine Einwilligung nicht befragt wurde“ (SF XI, 365). Während Kant in der Friedensschrift bei der Forderung nach einer republikanischen Regierungsart stehen bleibt,¹¹⁵ scheint in der Rechtslehre und im Streit der Fakultäten die Unterscheidung von Staatsform und Regierungsart nur vorläufigen Charakter zu haben. In der „wahre[n] Republik“ (RL VIII, 464; vgl. SF XI, 364), in der die republikanischen Prinzipien in der Verfassung verwirklicht sind, erübrigt sich diese Unterscheidung, und die dreigliedrige Alternative der Staatsformen scheint zugunsten der Republik überwunden zu sein: An die Stelle der drei Staatsformen tritt die institutionell verwirklichte Republik, in der zwangsläufig nach republikanischen Prinzipien regiert wird. Kants Republikanismusbegriff orientiert sich am Prinzip der Gewaltenteilung, an der (zumindest potentiellen¹¹⁶) Zustimmung der Staatsbürger zu staatlichen Hoheitsakten und am Prinzip der Repräsentation. Üblicherweise wird Kants Republikanismusbegriff in etwa mit dem heutigen Konzept des demokratischen Rechtsstaats gleichgesetzt; man sollte sich allerdings der Grenzen dieser Gleichsetzung bewusst sein.¹¹⁷ Was ist aber, wenn sich ein Staat nicht von der Vernunftidee der Republik leiten lässt? Zwar ist die Annäherung an die Vernunftidee der Republik für alle Staaten verbindlich, dies ändert jedoch nichts an der Verbindlichkeit des einmal gesetzten positiven Rechts – wie auch immer es formuliert ist und gehandhabt wird. Ein Recht auf Widerstand gegen die bestehende Staatsordnung schließt Kant
Thiele (2008) weist darauf hin, dass im Ersten Definitivartikel der Friedensschrift eine republikanische Verfassung (und nicht eine republikanische Regierungsart) gefordert wird. Die Erläuterung zum Ersten Definitivartikel legt allerdings das Gegenteil nahe. Die Frage, ob eine tatsächliche oder nur eine potentielle Zustimmung der Staatsbürger gefordert wird, ist umstritten. Für eine Diskussion dieser und weiterer Interpretationsschwierigkeiten von Kants Republikanismusbegriff vgl. Thiele 2008. Kant ersetzt, wie bereits erwähnt, die tatsächliche Abstimmung weitgehend durch das Gedankenexperiment der potentiellen Zustimmungsfähigkeit; Lohnarbeiter und „alles Frauenzimmer“ (RL VIII, 433) sind überhaupt nicht stimmberechtigt. Es ließen sich problemlos weitere Beispiele anführen. Kant selbst hat sich gegen eine Gleichsetzung seines Republikanismusbegriffs mit dem damaligen Demokratiebegriff ausdrücklich gewehrt (vgl. ZeF XI, 206). – Maus (1992) versucht ausführlich zu zeigen, dass Kant demokratischer denkt als die meisten Demokratietheoretiker von heute. Nicht nur aus den hier aufgeführten Gründen muss dieser Versuch scheitern.
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kategorisch aus.¹¹⁸ Bürger dürfen lediglich öffentlich Kritik üben und sich über Missstände beschweren (vgl. RL VIII, 438). Von „seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen“ (WA XI, 55) ist für Kants Aufklärungsprogramm sogar von überragender Bedeutung. Entsprechend ist die „Freiheit der Feder“ das „einzige Palladium der Volksrechte“ (ÜdG XI, 161). Auch wenn die intellektuelle Elite (die „Philosophen“) bei der öffentlichen Meinungskundgebung eine besondere Rolle einnehmen (vgl. ZeF XI, 227 f), steht das Recht auf öffentliche Äußerungen grundsätzlich allen Staatsbürgern zu.¹¹⁹ Wie für alle anderen Rechte gilt aber auch im Falle des Rechts auf öffentliche Meinungsäußerung, dass seine Verletzung durch den Regenten keinerlei Konsequenzen nach sich ziehen kann. Kant nennt drei¹²⁰ Argumente, die ein Recht auf Widerstand als in sich widersprüchlich erweisen sollen. Erstens folgt aus dem selbstzweckhaften Charakter des Staates, dass der oberste Zweck der Verfassung die Erhaltung ihrer selbst sein muss. Durch Rebellion würde kurzzeitig die Gesellschaft aber in den Naturzustand zurückfallen, mithin der vermeintlich rechtmäßige Widerstand die Bedingung allen öffentlichen Rechts zerstören (vgl. ÜdG XI, 156 und 158; RL VIII, 439). Zweitens müsste das Widerstandsrecht den Bürgern einräumen, selbst zu entscheiden, ob die positive Gesetzgebung dem Vernunftideal entspricht oder nicht, und damit würde sich im Verhältnis zwischen Untertan und Regenten die Naturzustandsproblematik wiederholen: Es gibt keinen kompetenten Richter zwischen Souverän und Volk (vgl. ÜdG XI, 156; RL VIII,
Gegen die Versuche mancher Autoren, das radikale Widerstandsverbot Kants durch gewiefte Interpretationen wegzuvernünfteln, wendet sich treffend Zotta (2000, 212– 239). Kant schränkt das Recht auf öffentliche Beschwerden allerdings in aus Sicht der heutigen Demokratietheorie problematischer Weise ein. So dürfe das Volk seine Rechte nur „negativ“ (ÜdG XI, 162) beurteilen, also darüber urteilen, was seinen Rechten offensichtlich widerspricht. Zur Kritik dürfen nur Rechtsgründe herangezogen werden; Gründe, die das Wohlergehen des Volkes betreffen, bleiben außen vor (vgl. ÜdG XI, 154). Schließlich reicht für die Rechtmäßigkeit von staatlichen Handlungen, dass das Volk seine Zustimmung geben könnte. Ob faktisch die Mehrheit des Volkes einen Rechtsakt bejaht, muss für die öffentliche Kritik unbeachtet bleiben („ist es aber nur möglich, daß ein Volk dazu zusammen stimmte, so ist es Pflicht, das Gesetz für gerecht zu halten“, ÜdG XI, 153). Deggau (1983, 267– 273) unterscheidet sogar acht verschiedene Argumente Kants gegen das Widerstandsrecht, die jedoch alle – ebenso wie die von mir unterschiedenen drei – in die gleiche Richtung weisen. Zuweilen werden als weiteres Argument Kants geschichtsphilosophische Überlegungen angeführt (so etwa Matthews 2005, 249 und Zotta 2000, 231). Diese können aber – zumindest nach dem Selbstverständnis Kants – als Urteile der reflektierenden Urteilskraft keine für die Rechtsphilosophie relevante Funktion übernehmen. Richtig scheint mir deshalb eine umgekehrte Beziehung zu sein: Das ernüchternde Resultat, dass aufgrund des Widerstandsverbots Rechtsfortschritt nur schwer möglich erscheint, soll geschichtsphilosophisch aufgelöst werden, indem auf künftige Reformen vertraut wird. Vgl. ÜdG XI, 171 sowie Kapitel 7.1.
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440). Schließlich kann drittens Widerstand nur heimlich vorbereitet werden. Da für das öffentliche Recht dessen Öffentlichkeit konstitutiv ist, können Vorgänge, die notwendig Heimlichkeit erfordern, nicht Teil des Rechts sein (vgl. ZeF XI, 245). Die einzige, bescheidene Ausnahme vom Widerstandsverbot besteht im Recht auf Ungehorsam, wenn staatliche Gesetze „dem Sittengesetz unmittelbar zuwider sind“ (RGV VIII, 758; vgl. RL VIII, 497).¹²¹ Kants anspruchsvolle Vernunftrechtskonstruktion auf der einen und sein striktes Beharren auf der Verbindlichkeit jedes positiv gesetzten Rechts auf der anderen Seite führt zu der widersprüchlich anmutenden Konsequenz, dass dem Volk einerseits „unverlierbare[.] Rechte“ zukommen, dass diese Rechte aber zugleich keine „Zwangsrechte“ (ÜdG XI, 161) sein können.¹²² Wenn das Recht analytisch mit der Befugnis zu zwingen verbunden sein soll, gerät Kant an dieser Stelle in eine nicht auflösbare Aporie.¹²³ Statt durch Revolution soll sich der Staat durch Reform an das Ideal der Republik annähern. Ob und wann dies geschieht, bleibt der Tugend des Herrschers überlassen – und dem weiteren Verlauf der Geschichte, der eine Tendenz zu solchen Reformen aufweisen könnte (siehe Teil III). Gäbe es nur einen einzigen Rechtszustand, also einen Weltstaat, wäre die Konzeption des Weltfriedens als Rechtsfrieden an dieser Stelle bereits komplett. Dem steht jedoch der Staatenpluralismus als unbestreitbares historisches Faktum gegenüber. Die verschiedenen Staaten, die als ‚Inseln des Rechts‘ bereits (mehr oder weniger) der Vernunftforderung entsprechen, sind zugleich Auslöser eines weiteren Naturzustands: Zwischen den Staaten herrscht ein rechtsfreier Raum, der in gleicher Weise vom Naturzustandsdilemma betroffen ist wie der Naturzustand zwischen Individuen. Da es auf internationaler Ebene keine objektiven Rechte und keine öffentliche Rechtsdurchsetzung gibt, ist das „Recht zum Kriege (zu Hostilitäten) die erlaubte Art, wodurch ein Staat sein Recht gegen einen andern Staat verfolgt, nämlich, wenn er von diesem sich lädiert glaubt, durch eigene Gewalt; weil es durch einen Prozeß […] in jenem Zustande nicht geschehen kann“ (RL VIII, 469). Sich von anderen lädiert zu glauben, ist zugleich der einzige Grund, der ein Man muss sich fragen, ob nicht alle in irgendeiner Beziehung vernunftwidrigen positiven Gesetze dem Sittengesetz unmittelbar zuwider sind – in diesem Fall ließe sich entgegen der bescheidenen Absicht Kants Ungehorsam in gigantischem Ausmaß rechtfertigen. Vgl. RL VIII, 438: „Hieraus folgt nun der Satz: der Herrscher im Staat hat gegen den Untertan lauter Rechte und keine (Zwangs‐)Pflichten.“ Die Mehrzahl der Interpreten löst diese Aporie, indem schlicht festgestellt wird, dass aufgrund der Prämissen Kants das „Verbot des tätigen Widerstands gegen die Staatsgewalt […] inkonsequent, also falsch“ (Oberer 2006, 266) sei. Andere Interpreten sehen dagegen im Widerstandsverbot eine unvermeidliche Folge aus Kants Rechtsbegriff. Beispielhaft seien hier Deggau 1983, 280 und Zotta 2000, 212 erwähnt. Wie sich oben andeutet, tendiere ich zu der letztgenannten Interpretation.
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Recht zum Krieg abgibt. Humanitäre Interventionen schließt Kant ebenso wie jede andere Einmischung in innere Angelegenheiten kategorisch aus.¹²⁴ Der Naturzustand zwischen Staaten ist daher ein vernunftwidriger Zustand, in dem Gewalt statt Recht herrscht. Ebenso wie im Falle des Naturzustands zwischen Individuen gilt daher das unbedingte Vernunftgebot, diesen Zustand zu verlassen und einen Rechtszustand zu gründen.¹²⁵ Was die Form dieses internationalen Rechtszustands betrifft, scheint Kant sich unterschiedlich geäußert zu haben.¹²⁶ Kant entwickelt wiederholt die Idee eines Völkerstaates, der über die Mitgliedsstaaten eine ähnliche Gewalt ausübt, wie diese über ihre Bürger. Der Völkerstaat würde wohl mit rechtssprechenden und rechtsdurchsetzenden Organen ausgestattet sein, dürfte aber nur Konflikte zwischen Staaten regeln und nicht in innere Angelegenheiten eingreifen – eine humanitäre Intervention ist in der Logik Kants auch innerhalb eines internationalen Rechtszustands nicht legitim. In der Idee zu einer allgemeinen Geschichte und eventuell auch im Gemeinspruch scheint Kant in einem solchen Staat über den Staaten die Lösung des internationalen Naturzustands gesehen zu haben.¹²⁷ Doch spätestens seit 1795 wird der Völkerstaat allenfalls noch als ein regulatives Ideal, aber nicht mehr als eine zu verwirklichende Vernunftidee angesehen.¹²⁸ Welche Vgl. RL VIII, 467 und 471. Wenn an einer anderen Stelle davon die Rede ist, dass es geboten sei, den ungerechten Feind „eine neue Verfassung annehmen zu lassen“, so ist dieser Eingriff in innere Angelegenheiten nur deshalb möglich, weil die neue Verfassung „ihrer Natur nach, der Neigung zum Kriege ungünstig ist“ (RL VIII, 473), also direkten Einfluss auf das äußere Staatenverhältnis hat. Anders liest diese Stelle allerdings Höffe 2002, 394. Vgl. RL VIII, 467; 474 und 478. Dem steht allerdings die für Interpreten rätselhafte Formulierung in ZeF entgegen: „gleichwohl aber von Staaten nach dem Völkerrecht nicht eben das gelten kann, was von Menschen im gesetzlosen Zustande nach dem Naturrecht gilt, ‚aus diesem Zustande herausgehen zu sollen‘“ (ZeF XI, 211). Zuweilen wird der Versuch unternommen zu zeigen, dass die verschiedenen Äußerungen Kants Bestandteil einer einzigen, konsistenten Konzeption sind und sich lediglich in ihrem Blickwinkel oder in ihrer Ausdifferenzierung unterscheiden (etwa Geismann 1997; Beestermöller 1995). Solange dieser Versuch nicht überzeugend gelingt, muss man davon ausgehen, dass es sich um verschiedene, einander ausschließende Konzeptionen handelt. Auch der kleinste Staat könne „seine Sicherheit und Rechte, nicht von eigener Macht, oder eigener rechtlichen Beurteilung, sondern allein von diesem großen Völkerbunde (Foedus Amphictyonum), von einer vereinigten Macht und von der Entscheidung nach Gesetzen des vereinigten Willens, erwarten“ (IaG XI, 43); gegen den Krieg sei „kein anderes Mittel, als ein auf öffentliche mit Macht begleitete Gesetze, denen sich jeder Staat unterwerfen müsste, gegründetes Völkerrecht“ mit „Zwangsgesetzen“ (ÜdG XI, 171 f.). In der gleichen Schrift heißt es jedoch auch, dass „ein solcher Zustand eines allgemeinen Friedens […] der Freiheit noch gefährlicher“ als der Kriegszustand sein könne, „indem er den schrecklichsten Despotismus herbei führt“ (ÜdG XI, 169), weshalb eine losere Vereinigung der Staaten vorzuziehen sei. Vgl. ZeF XI, 213; RL VIII, 467 und 474.
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Gründe Kant zu der Ablehnung des Völkerstaates bewogen haben, kann seinen Schriften nicht eindeutig entnommen werden. Manche Interpreten sehen den Grund in Kants Beharren auf dem Hobbesschen „Dogma von der Unteilbarkeit der staatlichen Souveränität“¹²⁹, das einen Völkerstaat oberhalb von souveränen Staaten als widersprüchlich erscheinen lässt.¹³⁰ Andere Interpreten betonen, dass Kant aus empirischen Gründen an der Realisierbarkeit der Völkerstaatsidee gezweifelt hat.¹³¹ Eine weitere Gruppe sieht in Kants Konzept einen Kompromiss zwischen der Vernunftforderung und dem, wozu sich die Politik realistischerweise durchringen könnte.¹³² Wieder andere finden das entscheidende Argument in Kants Geschichtsphilosophie, die den kulturellen Fortschritt durch die Rivalität der getrennten Völker in Aussicht stellt.¹³³ Für eine letzte Gruppe ist die Ablehnung des Völkerstaates keine grundsätzliche; er dürfe allerdings noch nicht verwirklicht werden.¹³⁴ Wie dem auch sei, Kant setzt „an die Stelle der positiven Idee einer Weltrepublik“ als „negative[s] Surrogat“ (ZeF XI, 213) einen Völkerbund¹³⁵, der ohne eine
Kersting 2004, 161. Das Souveränitäts-Dogma wird von Kersting auf Hobbes zurückgeführt, findet sich aber freilich bereits zuvor wirkmächtig bei Bodin. Betrachtet man heutige Probleme des Völker- und Europarechts, so scheint das Souveränitätsdogma viel weniger ein lediglich ideengeschichtlich interessantes Phänomen zu sein, als Kersting suggeriert (vgl. Hoesch/Lüdenbach 2009). Diese Position muss freilich durch das weitere Argument ergänzt werden, dass Kant einen ‚homogenen Weltstaat‘, der nicht bundesstaatlich organisiert ist, für untauglich hält, weil dieser notwendig ein Despotismus wäre; dieses zweite Argument bringen konsequenterweise Eberl/ Niesen 2011, 239 und Kersting 2004, 157. Dem mag ein bedenkenswerter Gedanke zu Grunde liegen, das Argument lässt sich aber m. E. in den Texten Kants nicht belegen. Die immer wieder zitierte Stelle in der Friedensschrift betrifft ausdrücklich nicht Kants Konzept eines Zusammenschlusses gleichberechtigter Staaten zu einem Weltstaat, sondern lediglich die Zusammenschmelzung von Staaten „durch eine die andere überwachsende, und in eine Universalmonarchie übergehende Macht“ (ZeF XI, 225). Dass eine solche hegemoniale Herrschaft zu despotischen Zügen neigt, wird niemand bestreiten wollen. Z. B. Rawls 2002, 40; Gloy 2008, 338 f; Pinzani 1999, 251 f. Z. B. Höffe 1995, 274 f.; Lutz-Bachmann 1996, 43 f. Siep 2003, 105 f.; Siep 1995, 368; Brandt 2004, 140 f. Problematisch an dieser These ist, dass die Geschichtsphilosophie eigentlich die Annäherung an das Vernunftideal garantieren soll, und nicht seine Unmöglichkeit (siehe Kapitel 7). Z. B. Geismann 1996; Kleingeld 2004 und 2009; Euler 2008. Kants Terminologie ist, was die Organisationsform des internationalen Rechts angeht, etwas verwirrend. Der Begriff „Völkerbund“ wird von Kant vermutlich meist als ein Oberbegriff verstanden, der sowohl den Völkerstaat als auch den Staatenbund ohne öffentliche Gewalt umfasst. Letzteres bezeichnet Kant in der Regel als „Föderation“. Um Missverständnisse aufgrund des heutigen Sprachgebrauchs zu vermeiden, folge ich der in der Literatur üblichen Gegenüberstellung von Völkerbund und Völkerstaat.
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öffentliche Gewalt auskommen soll und die Souveränität der Mitgliedsstaaten unangetastet bestehen lässt. Kant äußert sich nicht ausdrücklich darüber, auf welche Weise ein solcher Völkerbund das Naturzustandsdilemma lösen könnte. Weshalb sollte das Völkerrecht, wenn es offenbar gerade nicht mit dem entscheidenden Merkmal des Rechts, nämlich der „Befugniß zu zwingen“ (RL VIII, 338) verbunden ist, Rechtsverletzungen zwischen den Staaten verhindern können? Es bleibt bei Kant weiterhin unklar, ob der Völkerbund einen Rechtszustand stiften oder nur eine weniger bedrohliche Situation im Naturzustand schaffen soll.¹³⁶ Dem Völkerbund beizutreten ist laut Kant zwar für alle Staaten Pflicht; gleichwohl besteht kein Recht dazu, andere Staaten mit Gewalt in den Völkerbund zu zwingen.¹³⁷ Genau so wenig kann verhindert werden, dass Mitgliedsstaaten aus dem Völkerbund austreten. Er bleibt daher eine „zu aller Zeit auflösliche¹³⁸ Zusammentretung verschiedener Staaten“ (RL VIII, 475).¹³⁹
Kant spricht teils ausdrücklich von dem rechtlichen Zustand, den der Völkerbund schafft (vgl. ZeF XI, 246 f.; ÜdG XI, 170; evtl. auch RL VIII, 475), teils weist er dies mehr oder weniger deutlich zurück (vgl. RL VIII, 474; ZeF XI, 211). Staaten sind aufgrund ihrer inneren Rechtsordnung „dem Zwange anderer, sie […] unter eine erweiterte gesetzliche Verfassung zu bringen, entwachsen“ (ZeF XI, 211). Kants Aussagen in der Rechtslehre sind zwar etwas verwirrend, stehen dem aber m. E. nur scheinbar entgegen. Vgl. RL VIII, 466 („teils das [Recht; MH], einander zu nötigen, aus diesem Kriegszustande herauszugehen“) und RL VIII, 466 („Bei jenem ursprünglichen Rechte zum Kriege […] (um etwa einen dem rechtlichen sich annähernden Zustand zu stiften) […].“). – Kleingeld (2009, 181 f.) sieht den Grund für die Zurückweisung des Zwangsrechts in dem Respekt vor der demokratisch zustande gekommenen Entscheidung eines Staates, dem Bund nicht beitreten zu wollen. Wäre dies der ausschlaggebende Grund, dürfte die Zurückweisung des Zwangsrechtes allerdings nur für Republiken gelten. Ich folge hier der Akademie-Ausgabe. In der Weischedel-Ausgabe heißt es „ablösliche“. Kants Rechtsphilosophie ist – wie bereits für die Moralphilosophie diagnostiziert wurde – von Formulierungen durchzogen, die auf Säkularisierungsprozesse verweisen. So spiegelt etwa das Prinzip der Gewaltenteilung für Kant die Dreieinigkeitslehre wieder und wird entsprechend als „trias politica“ (RL VIII, 431) bezeichnet. Auch das Recht selbst bekommt religiöse Züge zugeschrieben: Das „Heiligste, was Gott auf Erden hat“, sei es, „das Recht der Menschen zu verwalten“ (ZeF XI, 207 Anm.). Im Anschluss an Carl Schmitt wird zudem häufig das Widerstandsverbot als Übertragung göttlicher Eigenschaften auf den weltlichen Herrscher angesehen. Es muss an dieser Stelle offen bleiben, wie diese Beobachtungen zu bewerten sind.
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3.4 Zum Verhältnis von Moral und Recht Wer nach dem Verhältnis von Moral und Recht fragt, gerät unweigerlich zwischen die Fronten (rechts‐)positivistischer Theorien auf der einen und nichtpositivistischer Theorien auf der anderen Seite. Folgt man der einflussreich gewordenen Definition von Robert Alexy, dann besteht das entscheidende Merkmal positivistischer Theorien in der These, „daß es keinen begrifflich notwendigen Zusammenhang zwischen dem Recht und der Moral, zwischen dem, was das Recht gebietet, und dem, was die Gerechtigkeit fordert, oder dem Recht, wie es ist, und dem Recht, wie es sein soll, gibt“ (Alexy 1992, 15). Die Geltung des Rechts beruht demnach auf nichts anderem als der positiven Setzung des Rechts und seiner sozialen Wirksamkeit. Die Konsequenz dessen drückt Hans Kelsen treffend mit den Worten aus: „Daher kann jeder beliebige Inhalt Recht sein.“ (Kelsen 1960, 201)¹⁴⁰ Dem Rechtspositivismus steht in der klassischen Diskussion die Naturrechtslehre diametral gegenüber. Mit Naturrecht wird eine von der Vernunft erkennbare Klasse von Rechtssätzen bezeichnet, die als überpositives Recht immer und überall gelten – unabhängig von ihrer Positivierung. Für Vertreter der Naturrechtslehre ist das positive Recht diesen höheren Maßstäben verpflichtet. Positives Recht gilt, weil und insofern es Ausdruck von überpositivem Recht ist. Positivistische und nicht-positivistische Theorien sehen entsprechend im Recht eine sehr unterschiedliche Form von Normativität am Werk. Während der Positivismus dazu neigt, die Geltung des Rechts auf seine nicht weiter hinterfragbare, faktische soziale Anerkennung zu reduzieren, weisen nichtpositivistische Ansätze eine Tendenz zu einem instrumentellen Verständnis des positiven Rechts auf: Dieses diene vor allem der Durchsetzung übergeordneter moralischer Prinzipien, welche wiederum kategorisch gelten. Ein essentielles Unterscheidungsmerkmal von positivistischen und nichtpositivistischen Ansätzen wird weiterhin in der Frage gesehen, ob in einer Rechtstheorie rechtmäßiger Widerstand denkbar sei. Weil in positivistischen Theorien, wie Kelsen sagt, jeder beliebige Inhalt Recht sein kann, ist rechtmäßiger Widerstand gegen geltendes Recht grundsätzlich ausgeschlossen.¹⁴¹ In nichtpositivistischen Ansätzen hört positives
Der Rechtspositivist kann gleichwohl einen faktischen Bezug des Rechts auf die Moral bejahen, etwa indem in einer Verfassung moralische Prinzipien „inkorporiert“ sind. Er bestreitet lediglich, dass es ein begrifflich notwendiges Verhältnis beider gibt. Vgl. Alexy 1992, 121 f. Dies lässt nach einer verbreiteten Ansicht offen, dass bestimmte Formen des Widerstands bzw. des zivilen Ungehorsams durch die positive Rechtsordnung selbst ermöglicht werden können – nicht nur durch einen ausdrücklichen Widerstandsparagraphen wie den Art. 20 des
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Recht, das gegen grundlegende Prinzipien der Moral verstößt, dagegen auf, legitimes Recht zu sein. Rechtmäßiger Widerstand erscheint aus dieser Sicht als möglich, wenn nicht sogar als geboten. Zahlreiche Autoren versuchen selbstverständlich, zwischen den Extremen des Positivismus und der Naturrechtslehre einen Mittelweg zu finden. Zu diesen zählt sicherlich auch Kant. Doch auf welche Weise er versucht, seinen Rechtsbegriff „zwischen den Klippen des Rechtspositivismus und des Naturrechts“¹⁴² hindurchzusteuern, ist in der Literatur höchst umstritten. In den Fokus der Interpreten gerät dabei nicht nur das Verhältnis von positivem Recht und Vernunftrecht, sondern zudem das Verhältnis von Kants Rechtsphilosophie zu den moralphilosophischen Grundlegungsschriften. Die Ursache des Dissenses in dieser Frage dürfte vor allem darin liegen, dass Kant das allgemeine Rechtsgesetz nirgends ausdrücklich begründet¹⁴³ und entsprechend sein Verhältnis zum kategorischen Imperativ an keiner Stelle expliziert. Innerhalb des Interpretationsstreits steht an dem einen Ende der Skala die Position, Kants Vernunftrecht sei in seiner Entwicklung und seiner Geltung völlig unabhängig vom kategorischen Imperativ und der damit verbundenen Notwendigkeit transzendentaler Freiheit konzipiert.¹⁴⁴ „Das Problem der Freiheit des Willens beginnt erst jenseits der Rechtslehre“ (Ebbinghaus 1968, 114), folgern die Vertreter der meist als „Unabhängigkeitsthese“ bezeichneten Behauptung.¹⁴⁵ Sie wird vor allem von zwei Beobachtungen gestützt: Zum einen beschränkt sich, wie oben entwickelt, Kants Rechtsbegriff auf die äußere Freiheit und lässt damit die moralische Perspektive außen vor. Zum anderen lasse sich in Kants Rechtsphilosophie – anders als in der Erkenntnistheorie, Natur- und Moralphilosophie – deutschen Grundgesetzes, sondern auch durch die Formulierung von Grundrechten, welche die Geltung von verfassungswidrigen Gesetzen aushebeln. Mit dieser Formulierung charakterisiert Habermas seinen eigenen, diskurstheoretischen Ansatz. Vgl. Habermas 1998, 668 (Nachwort zur 4. Auflage). Vielmehr behauptet Kant, die Vernunft fordere die Einschränkung der Willkür auf das allgemeine Rechtsgesetz „als ein Postulat, welches gar keines Beweises weiter fähig ist“ (RL VIII, 338). Die Unabhängigkeitsthese findet sich, wie sie hier von Bedeutung ist, v. a. bei Ebbinghaus (z. B. 1968, 110 f.), Geismann (1974, 56 und 60 f. sowie 2006, 72– 88, wobei Geismann dort die Unabhängigkeitsthese etwas zu relativieren scheint, ohne dies offenzulegen), Willaschek (1997) und Deggau (1983, 53 f). Sie findet sich aber auch im Neukantianismus. Dort wird allerdings der angeblich fehlende Bezug zur Transzendentalphilosophie als Vorwurf gegen Kant verwendet (vgl. Kersting 1983, 282). Auch wenn Ebbinghaus’ Formulierung die bekannteste Fassung der Unabhängigkeitsthese darstellt, ist deren exakte Bedeutung bis heute umstritten. Vgl. die unterschiedlichen Deutungen von Kersting 2004, 35; Geismann 2006, 72– 88; Pogge 1997, 187; Oberer 2006, 265 und Willaschek 2009, 53.
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keine vorkritische von einer kritischen Phase unterscheiden.¹⁴⁶ Deshalb könne die in den 1780er Jahren entwickelte Grundlegung der Moralphilosophie keine Rolle für die Rechtsphilosophie spielen. Die Unabhängigkeitsthese teilt mit dem Positivismus die Annahme, dass das Recht keinerlei Beziehung zur Moral im umfassenden Sinne aufweist. Sie unterscheidet sich aber vom Positivismus darin, dass die Existenz eines dem positiven Recht in einer bestimmten Weise übergeordneten Vernunftrechts bejaht wird.¹⁴⁷ Am anderen Ende der Skala findet sich die Interpretation, das Recht beziehe seine Verbindlichkeit ausschließlich von seiner instrumentellen Funktion für ein moralisches Zusammenleben. „Erst von diesem Standpunkt bekommt auch der Rechtsstaat einen anderen Stellenwert, denn während der Rechtsstaat im Rahmen der Kultur der Geschicklichkeit lediglich als besonders geschickte Art und Weise, die Eigeninteressen zu koordinieren, erscheint, wird diese Staatsform aus der Perspektive der Möglichkeit einer ethischen Gemeinschaft zur moralischen Pflicht.“ (Stangneth 2000, 137) Das Recht wäre nach dieser Lesart nur insofern vernünftig begründet, wie es moralisches Handeln ermöglicht bzw. erleichtert.¹⁴⁸ Im Ergebnis ähnlich, aber in einem entscheidenden Punkt davon abweichend, ist die Position, die Rechtsphilosophie ginge direkt aus Kants Moralphilosophie hervor. „Kant lässt die Politische Philosophie, die so wesentlich Rechtsphilosophie ist, aus der Moralphilosophie als ihrem metaphysischen Fundament hervorgehen. Und das heißt nicht weniger als den moralischen Gesetzen die Form von Prinzipien im Politischen zugestehen.“ (Adam 2002, 147) Gemäß dieser Position dient das Recht nicht mehr bloß als Mittel zum Zweck der Moralisierung der Gesellschaft, sondern würde selbst dafür sorgen, dass die Gebote der Moral, sofern sie äußeres Handeln einfordern, umgesetzt werden – wo nicht freiwillig, da mit Zwang. Häufig wird die Herleitung des Rechts aus der Moral darin gesehen, dass das allgemeine Rechtsgesetz ein auf äußere Handlungen beschränkter Spezialfall des kategorischen Imperativs sei, für den die Forderung, er müsse als principium executionis auftreten, fallen gelassen werden muss.¹⁴⁹ Dass es sich hierbei um eine in hohem Maße antipositivistische Position handelt, ist offensichtlich. Von So etwa ausführlich Ritter, 1971, insb. 339. Auf einige Ausnahmen vor allem im Privatrecht weist Kersting 1983, 283 hin. Es ist deshalb problematisch, dass Brandt unterstellt, die Vertreter der Unabhängigkeitsthese würden einen „Juristen-Kant“ propagieren, indem sie die „Absicht einer Reduktion der Kantischen Rechtsphilosophie auf eine positivistische Rechtslehre“ (2010, 129) verfolgten. In diesem Sinne verstehe ich auch Pogge (1997, 176): Kant „establishes that R’s failure would entail the failure of M […]. And this does not imply, of course, that R ist dependent upon (cannot stand without) M“, wobei „R“ für die Rechtslehre und „M“ für die Moralphilosophie steht. Vgl. z. B. Herb/Ludwig 1993, 286; Klar 2007, 135.
3.4 Zum Verhältnis von Moral und Recht
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‚Naturrecht‘ zu sprechen, ist dennoch schwierig. Kants Moralprinzip ist bewusst formal gehalten und erlaubt es nicht, ohne weiteres materiale Rechte – etwa einen Menschenrechtskatalog¹⁵⁰ – abzuleiten. Es dürfte nach dem oben Gesagten nicht überraschen, dass alle genannten Positionen mit großen Problemen konfrontiert sind. Gegen die Unabhängigkeitsthese sprechen drei ganz offenkundige Einwände:¹⁵¹ Erstens legt die Unterordnung der Rechtsphilosophie unter das Projekt der Metaphysik der Sitten,¹⁵² welches wiederum in der GMS und der KpV grundgelegt wird, vehement einen Zusammenhang zwischen Moral und Recht nahe, der nirgends ausdrücklich bestritten wird. Zweitens soll das Recht laut Kant kategorisch gelten – d. h. unabhängig von subjektiven Wünschen bzw. von positiven oder negativen Folgen für die Glückseligkeit. Kategorische Geltung ist aber, wie Kant ausführlich in der GMS und der KpV begründet, nur aufgrund der Autonomie des Willens und des Sittengesetzes möglich.¹⁵³ Drittens widerspricht der Unabhängigkeitsthese, dass Kant – zwar selten, aber eben doch – innerhalb der Rechtsphilosophie auf die Zweck-an-sich-Formel des kategorischen Imperativs rekurriert.¹⁵⁴ Diese ange-
Immer wieder wird versucht, Kant als Vorreiter einer Theorie der Menschenrechte heranzuziehen. Bei Kant gibt es lediglich ein einziges grundrechtsanaloges Recht, nämlich „Freiheit […], sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammenbestehen kann“ (RL VIII, 345). Die Formulierung weiterer konkreter Rechte ist innerhalb einer kantischen Theorie nicht möglich, aber auch nicht nötig. Ähnlich argumentiert auch Brandt 2010, 127– 130. Man könnte weitere Überlegungen ergänzen: Kant begründet die Möglichkeit von Strafe offensichtlich moralisch, indem er in der KpV (VII, 150) das Konzept der „Strafwürdigkeit“ entwickelt (vgl. auch MpVT XI, 108 Anm. und 111 Anm.). Auch die Zurechnungslehre, die gleichermaßen für Recht und Tugend gelten soll, setzt praktische Freiheit im moralischen Sinn voraus (vgl. RL VIII, 329 f.). Diese Unterordnung ergibt sich nicht nur durch Kants Werkarchitektonik, sondern wird – wie oben bereits zitiert – von ihm mehrfach bestätigt. Vgl. Vorarbeiten zur MS, AA XXIII, 386; TL VIII, 508. „Wenn man annimmt, dass reine Vernunft einen praktisch, d. i. zur Willensbestimmung hinreichenden Grund in sich enthalten könne, so gibt es praktische Gesetze; wo aber nicht, so werden alle praktischen Grundsätze bloße Maximen sein.“ (KpV VII, 125) Ohne Zweifel ist auch das allgemeine Rechtsgesetz aufgrund seiner objektiven Geltung ein praktisches Gesetz. Weiterhin ist Verbindlichkeit – ausdrücklich sowohl auf die Tugendlehre als auch auf die Rechtslehre bezogen – „die Notwendigkeit einer freien Handlung unter einem kategorischen Imperativ der Vernunft“ (RL VIII, 327). Die Notwendigkeit einer Handlung kann aber nur durch die Vorstellung eines „Reichs der Zwecke“ (GMS VII, 66) gedacht werden, in dem von jeder Neigung abgesehen und die Vernunft gewissermaßen sich selbst überlassen wird (GMS VII, 89 f.). Und zwar im Zusammenhang mit der Auslegung der Formeln des Ulpian (RL VIII, 344), im Strafrecht (RL VIII, 453), bei der Frage, weshalb der Herrscher seine Untertanen zum Krieg einsetzen darf (RL VIII, 469) sowie zwar nicht wörtlich, aber doch der Sache nach im Eherecht (RL VIII, 390). Auch in der KU heißt es in einer Anmerkung, jedes Glied des Staates „soll freilich
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3 Der praktisch-philosophische Kontext des Geschichtsdenkens Kants
deuteten Argumente zeigen deutlich, dass das Recht in irgendeiner Beziehung zur Moralphilosophie stehen muss. „Freilich, wenn es keine Freiheit und darauf gegründetes moralisches Gesetz gibt, sondern alles, was geschieht oder geschehen kann, bloßer Mechanism der Natur ist, so ist Politik (als Kunst, diesen zur Regierung der Menschen zu benutzen) die ganze praktische Weisheit, und der Rechtsbegriff ein sachleerer Gedanke.“ (ZeF XI, 232) Es wird aber zugleich deutlich, dass Kants Rechtsbegriff nicht als bloßes Mittel zum Zweck der Ermöglichung moralischen Handelns angesehen werden darf.¹⁵⁵ Das Recht gebietet kategorisch, d. h. unabhängig von seinen Konsequenzen; der Staat ist ein ‚Zweck an sich‘ (vgl. ÜdG XI, 144). Es trifft zwar zu, dass Kant behauptet, der Rechtszustand ermögliche oder erleichtere moralisches Handeln.¹⁵⁶ Seine Legitimität gewinnt er jedoch nicht aus dieser funktionalen Bestimmung. Eine Abwägung, ob der Rechtszustand seinem vermeintlichen Zweck, der Ermöglichung von moralischem Handeln, gerecht werde, ist für Kant undenkbar. Schließlich erweist sich auch die These, der Rechtsbegriff erwachse aus einer Begrenzung des kategorischen Imperativs auf Legalität einerseits und auf äußere Handlungen andererseits, als unzutreffend. Kant gibt zwar einen guten Grund für diese These an die Hand, indem er an einer einzigen Stelle das allgemeine Rechtsgesetz so formuliert, dass es die Form einer solchen Fassung des Sittengesetzes anzunehmen scheint: „handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann […].“ (RL VIII, 338) Kant formuliert das Rechtsgesetz hier als Imperativ; er lässt aber keinen Zweifel daran, dass das Vernunftrecht aus juridischer Perspektive nicht als Imperativ Wirkung entfalten muss.¹⁵⁷ Wirkung entfaltet vielmehr das positiv gesetzte Recht. Die Frage, ob ein Subjekt sich als Adressat des Rechtsimperativs ansieht, gehört deshalb allein zur Ethik, nicht zur Rechtslehre. Zwischen der Form des kategorischen Imperativs und der Form des allgemeinen Rechtsgesetzes gibt es einen kategorialen Unterschied: Der katego-
in einem solchen Ganzen nicht bloß Mittel, sondern zugleich auch Zweck“ (KU X, 323) sein. – Zugegebenermaßen ist auch für den Kritiker der Unabhängigkeitsthese dieser Befund erklärungsbedürftig: Wie kann Kant auf die Zweck-an-sich-Formel rekurrieren, wenn doch in der Rechtsphilosophie Zwecke, die sich jemand setzt, gar nicht beachtet werden dürfen (vgl. RL VIII, 337)? In den genannten Fällen scheint Kant davon auszugehen, dass bestimmte äußere Handlungen es unmöglich machen würden, den andern noch als Zweck anzusehen. Hierin ist Horn (2009, 407 f.) Recht zu geben. Horn geht allerdings davon aus, dass jede moralische Deutung der Rechtslehre Kants eine solche konsequentialistische Interpretation des Rechts teilen muss; dies trifft m. E. nicht zu. Darauf komme ich in den Kapiteln 5 – 8 noch mehrfach zurück. Ein Imperativ, der nicht fordert, dass man ihm Folge leistet, weil er ausgesprochen wurde, kann vermutlich sogar als performativer Widerspruch bezeichnet werden.
3.4 Zum Verhältnis von Moral und Recht
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rische Imperativ macht als Gesetz des autonomen Willens Maximen zur Pflicht; das Rechtsgesetz ist die Grundlage für äußere Gesetze, die die Handlungen zwischen Subjekten so koordinieren sollen, dass Willkürkonflikte ausgeschlossen werden. Eine einfache Ableitung der einen Form aus der anderen ist nicht möglich. Im Ergebnis scheint Kant also davon auszugehen, dass das Rechtsgesetz in irgendeiner Weise im kategorischen Imperativ seinen Geltungsgrund findet; gleichzeitig kann es im kategorischen Imperativ aber nicht enthalten sein. Nur weil Menschen als moralische Subjekte angesehen werden müssen, stellt sich in der empirischen Welt die Frage von Recht und Unrecht; zugleich ist die Frage von Recht und Unrecht aber keine moralische Frage im engen Sinn mehr. Aus dem kategorischen Imperativ kann „nachher das Vermögen, andere zu verpflichten, d. i. der Begriff des Rechts, entwickelt werden“ (RLVIII, 347; meine Hervorhebung), wie Kant sich ausdrückt. Damit wird nach meiner Interpretation angedeutet, dass eine direkte Ableitung des Rechts aus der Moral nicht möglich ist. Damit bleibt weiter offen, wie Kant sich die Deduktion des Rechtsgesetzes aus dem Sittengesetz vorstellt – ja, grundsätzlicher noch: ob ihm eine solche Deduktion überhaupt gelingen kann. In der Literatur sind verschiedene Vorschläge einer Ableitung des Rechtsgesetzes unterbreitet worden.¹⁵⁸ Es bleiben zum einen ernsthafte Zweifel, ob diese Vorschläge der Intention Kants entsprechen, und zum anderen eine gewisse Skepsis, ob sie wirklich leisten, was sie versprechen, nämlich eine bruchlose Deduktion der Heteronomie aus der Autonomie und damit eine Deduktion eines Zustands, der aus juridischer Perspektive an sich wertvoll sein soll, aus der Moral, die diesen Zustand gerade nicht als an sich wertvoll klassifizieren kann.¹⁵⁹ Der einflussreichste Versuch geht auf Kersting (2004, 40 – 42) zurück, der behauptet, Kant trage die Frage nach der Möglichkeit moralisch legitimen Zwangs „von außen“ an den kategorischen Imperativ heran. Daneben gibt es weniger beachtete Vorschläge z. B. von Rapic (2008). Unter den Kritikern dieser Deduktion steht häufig die These im Mittelpunkt, dass es unmöglich sei, die Möglichkeit von Zwang aus dem Prinzip der reinen Vernunft abzuleiten (so Cohen 1910, 394– 405; Willaschek 1997, 222; Klar 2007, 138 – 143). Ohne dass ich auf diese Überlegungen im Einzelnen eingehen kann, sei kurz die Argumentation von Klar erwähnt. Klar folgert aus Kants These, dass der kategorische Imperativ Handlungen an sich, d. h. unbedingt für gut oder recht deklariere, dass es nicht möglich sei, Bedingungen anzugeben, unter denen eine Handlung gut oder richtig sei. Genau dies sei aber in der Rechtslehre der Fall: Zwang sei an sich zwar verwerflich, aber unter der Bedingung der Verhinderung von Unrecht erlaubt. Klar möchte seine Kritik mit dem Hinweis auf Kants Schrift Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen (VRML) belegen. Hierbei handelt es sich m. E. um ein Missverständnis des kategorischen Imperativs einerseits und der genannten Schrift andererseits. Wenn Kant davon spricht, dass Gebote unbedingt gelten, so ist damit gemeint, dass sie unabhängig von der konkreten Einstellung des Subjekts gelten: „Zum praktischen Gesetze muss [lies: darf; MH] also niemals eine praktische Vorschrift gezählt werden, die eine materiale (mithin empirische) Bedingung bei sich
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3 Der praktisch-philosophische Kontext des Geschichtsdenkens Kants
Unabhängig von der Bewertung dieses Problems lässt sich Kants systematischer Weg von der Moral zum Recht in groben Zügen umreißen, indem zwei paradox anmutende Schritte unterschieden werden: Zunächst begründet Kant aus der Moral den Vorrang des Vernunftrechts vor der Moral. Dieser wurzelt einerseits in der Beschränkung des Rechts auf vollkommene Pflichten, andererseits offenbar in der Überlegung, dass Minimalforderungen Vorrang vor perfektionistischen Forderungen zukommt. „Der ein Recht wieder [sic] jemand hat, kan [sic] ihn in allen Freuden stöhren, ihn vom Altar wegholen. Alle Macht des Himmels steht auf der Seite des Rechts.“ (Refl 7006, AA XIX, 224)¹⁶⁰ Im zweiten Schritt begründet Kant aus dem Vernunftrecht den Vorrang des positiven Rechts vor dem Vernunftrecht. ¹⁶¹ Dieser zeigt sich vor allem in Kants kategorischem Ausschluss von Widerstand. Weil das Vernunftrecht aus den oben skizzierten Gründen unbedingt nach positiv gesetztem Recht verlangt und einmal gesetztes Recht nicht widerspruchsfrei als Unrecht klassifiziert werden kann, gilt das, wie Kant selbst sagt, „zufällig“ und „willkürlich“ (RL VIII, 334) formulierte positive Recht ebenso kategorisch wie die formalen Prinzipien des Vernunftrechts – und muss im Konfliktfall sogar bevorzugt werden. Dass damit das positive Recht einerseits eine herausragende Stellung einnimmt, andererseits aber an die Moral zurückgebunden wird, spiegelt sich in den folgenden zwei Thesen Kants: (1) Es gibt ein Recht auf Ungehorsam, wenn das positive Recht Handlungen fordert, die dem Sittengesetz unmittelbar zuwider sind (vgl. RGV VIII, 758; RL VIII, 497). Kant kann trotz seiner radikalen Argumente für die Unmöglichkeit recht-
führt.“ (KpV VII, 145) Jede Bedingung aus Maximen verbannen zu wollen, ist schlicht unmöglich: Maximen werden mit Begriffen formuliert, die durch hinreichende und notwendige Bedingungen definiert sind. Die einzige Maxime, die tatsächlich durch keine Bedingung eingeschränkt werden darf, ist die der Wahrhaftigkeit. Als Bedingung der Möglichkeit, überhaupt in Rechtsverhältnisse treten zu können, ist Wahrhaftigkeit eine den anderen (Rechts‐)Pflichten vorgelagerte Pflicht. Sinn und Zweck von VRML ist gerade aufzuzeigen, dass sich das Prinzip der Wahrhaftigkeit in diesem Punkt von allen anderen Prinzipien unterscheidet (vgl. auch MPVT XI, 123). Der Vorrang des Rechts vor der Moral zeigt sich etwa auch am Vorrang des Rechtsstaates vor dem ethischen Gemeinwesen. Siehe dazu Kapitel 5.2. Am deutlichsten zeigt sich der vernunftrechtlich begründete Vorrang des positiven Rechts in der Unmöglichkeit rechtmäßigen Widerstands. Er wird aber auch darin deutlich, dass nach Kant selbst positiviertes Naturrecht nur dann gelten kann, wenn es eine naturrechtliche Begründung der willkürlichen Gesetzgebung des Gesetzgebers gibt (vgl. RL VIII, 331).
3.4 Zum Verhältnis von Moral und Recht
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mäßigen Widerstands von diesem minimalen Widerstandsrecht nicht ablassen, denn aus der Moral darf nichts folgen, was der Moral direkt widerspricht.¹⁶² (2) Es ist eine moralische Pflicht (im Sinne einer Tugendpflicht), sich – von der erwähnten Ausnahme abgesehen – an das positive Recht, wie immer es formuliert ist, zu halten. Weil „das Gebot: Gehorche der Obrigkeit! doch auch moralisch ist“ (RGV VIII, 653), und das Wesen der Religion in der Erkenntnis seiner Pflichten als göttlicher Gebote besteht, gilt sogar: „Sobald etwas als Pflicht erkannt wird, wenn es gleich durch die bloße Willkür eines menschlichen Gesetzgebers auferlegte Pflicht wäre, so ist es doch zugleich göttliches Gebot, ihr zu gehorchen.“ (RGV VIII, 758) Wenn zusammenfassend nochmals die Frage gestellt wird, wie Kant zwischen den Fronten positivistischer und nichtpositivistischer Theorien einzuordnen ist, ergibt sich ein gespaltenes Bild: Einerseits steht das Recht in einer notwendigen Beziehung zur Moral – es soll in irgendeiner Weise aus der Moral abgeleitet werden. Zugleich ist Kant jedoch, wie Alexy (1992, 194) anmerkt, positivistischer als Kelsen: Es kann (fast) jeder beliebige Inhalt Recht sein, und die Adressaten des Rechts müssen dieses nicht nur notgedrungen dulden (wie bei Kelsen), sondern sind diesem sogar noch moralisch verbunden. Als Resultat der Überlegungen zum Verhältnis von Moral und Recht lässt sich damit Folgendes festhalten: Die Geltung des Vernunftrechts ist letztlich auf die Geltung des kategorischen Imperativs zurückzuführen. Auch wenn rätselhaft bleibt, wie Kant versucht, das Rechtsprinzip aus der Moral zu gewinnen, steht doch fest, dass das Recht im Ergebnis eine selbstständige normative Sphäre begründet, die unabhängig von moralischen Fragen im engeren Sinne bewertet werden kann. Dass Menschen in vernunftgemäßen Rechtsverhältnissen leben, ist für Kant auch dann ein intrinsisch wertvoller Zustand, wenn dort keine moralischguten Handlungen stattfinden. Deshalb – das ist für die folgende Untersuchung das entscheidende Ergebnis – ist es möglich, den vollkommenen Rechtszustand als ein in der Geschichte zu verwirklichendes Ideal anzusehen, ohne dass dabei per se die Moralisierung der Menschheit in den Blick genommen werden muss.Vor dem Hintergrund dieses Vorverständnisses kann nun die Darstellung der moralischen Fortschrittskonzeption in der Religionsschrift sowie der überwiegend juridischen Fortschrittskonzeption in den kleineren geschichtsphilosophischen Schriften begonnen werden.
Man muss bezweifeln, dass Kants Versuch, mit dieser Einschränkung Recht und Moral soweit zu harmonisieren, dass sie sich zumindest nicht widersprechen, überzeugen kann.
Teil II: Vernunftreligion und moralischer Fortschritt
4 Kants Religionsphilosophie in den drei Kritiken 4.1 Grundlagen der Religionsphilosophie Kants Kants Religionsphilosophie ist zu einem bemerkenswerten Teil nichts anderes als die Zurückweisung dessen, was jahrhundertelang unter dem Namen einer natürlichen Theologie als Religionsphilosophie betrieben wurde: Der Beweis der Existenz Gottes sowie die Einsicht in sein Wesen, in sein Verhältnis zur Welt und zum Menschen. Solche „Theologie aus spekulativen Prinzipien“ (KrV B659 = IV, 556), die auf Erkenntnis und Wissen dessen zielt, was kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist, ende lediglich in „dogmatische[n] Überredungen“ (KrV B667 = IV, 561), nicht aber in gültigen Beweisen. Kant gibt sich nicht damit zufrieden, die Unzulänglichkeiten aller bisherigen Versuche spekulativer Theologie aufzuzeigen. Sein Anspruch ist vielmehr, in grundsätzlicher Weise die Unmöglichkeit einer solchen dogmatischen natürlichen Theologie zu demonstrieren. Insbesondere führt er einen auf seiner Erkenntnistheorie basierten Beweis der Unbeweisbarkeit der Existenz Gottes. Was für die Existenz Gottes gilt, gilt freilich auch für die Gegenbehauptung: Der Theismus kann zwar nicht bewiesen, aber auch nicht widerlegt werden (vgl. KrV B668 ff. = IV, 562 f.). Trotzdem könne die Frage nach dem Absoluten deshalb nicht einfach beiseitegeschoben werden. „Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.“ (KrV AVII = III, 11) Ausgerechnet die Annahme der Zweckmäßigkeit der menschlichen Vernunft, die ja selbst bereits metaphysisch, wenn nicht gar theologisch begründet zu sein scheint, bringt Kant zu der Vermutung, dass auch die unabweisbaren Fragen zu etwas gut sein müssen (vgl. KrV B670 f. = IV, 564 und B697 = IV, 582). Die daran anschließende Religionsphilosophie zielt aber eben nicht mehr auf Erkenntnis eines der Vernunft äußerlichen Gegenstandes. Vielmehr vollzieht Kant eine subjektphilosophische Wende, nach der der Begriff eines höchsten Wesens nicht mehr primär durch den äußeren Gegenstand definiert wird, auf den er sich bezieht. Stattdessen ist er ein von der menschlichen Vernunft hervorgebrachter Begriff; eine in der Vernunft gegründete „Idee“ bzw. ein „Ideal“¹⁶³. Wird in der
Unter „Ideal“ versteht Kant „die Idee, nicht bloß in concreto, sondern in individuo, d. i. als ein einzelnes, durch die Idee allein bestimmbares, oder gar bestimmtes Ding“ (KrV B596 = IV, 512).
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4 Kants Religionsphilosophie in den drei Kritiken
traditionellen Metaphysik die menschliche Vernunft als Abbild der göttlichen verstanden, bleibt bei Kant die Rede vom Göttlichen ganz und gar von der menschlichen Vernunft abhängig.¹⁶⁴ Als von der Vernunft hervorgebrachte Idee kommt dem höchsten Wesen zunächst für die theoretische Philosophie Bedeutung zu.¹⁶⁵ Ein erster Versuch, die spezifische Art dieser Bedeutung zu bestimmen, findet sich in der KrV. Auch wenn das höchste Wesen weder als Gegenstand erkannt noch als konstitutives Prinzip der Erfahrung transzendental deduziert werden kann, so hat es doch als „regulatives“ Prinzip eine wichtige Funktion. Demzufolge werden die Dinge der Welt so betrachtet, „als ob sie von einer höchsten Intelligenz ihr Dasein hätten“ (KrV B699 = IV, 583; Hervorhebung von Kant). Die Natur wird durch das regulative Prinzip als zweckmäßig interpretierbar betrachtet, auch wenn damit nicht behauptet wird, dass sie tatsächlich zweckmäßig eingerichtet ist. Kant sieht hier in der Gottesidee in erster Linie ein heuristisches Prinzip, das der naturwissenschaftlichen Forschung „nutzen und dabei doch niemals schaden“ (KrV B715 = IV, 595) kann. Bei dieser instrumentellen Bestimmung der Gottesidee scheint Kant nicht stehen zu bleiben. Vielmehr ist der Gebrauch der regulativen Prinzipien ein Gebot der Vernunft.¹⁶⁶ Das „spekulative Interesse der Vernunft macht es notwendig, alle Anordnung in der Welt so anzusehen, als ob sie aus der Absicht einer allerhöchsten Vernunft entsprossen wäre“ (KrV B714 = IV, 594; meine Hervorhebung). Die Vernunft ist also nicht nur berechtigt, aus heuristischen Gründen einen Welturheber anzunehmen; sie ist dazu sogar verbunden. ¹⁶⁷ Ein richtiges Argument liefert Kant
Besonders prägnant zeigt sich die subjektphilosophische Wende etwa an einer Formulierung im Streit der Fakultäten: Nur wenn Schriftauslegung nach dem Prinzip der Sittlichkeit verfahre, sei sie „authentisch, d. i. der Gott in uns ist selbst der Ausleger, weil wir niemand verstehen, als den, der durch unsern eigenen Verstand und unsere eigene Vernunft mit uns redet, die Göttlichkeit einer an uns ergangenen Lehre also durch nichts, als durch Begriffe unserer Vernunft […] erkannt werden kann“ (SF XI, 315). Dies wird in den Kapiteln 6 und 9 nochmals relevant. Die spekulativen Ideen möchten nichts weiter sagen, „als daß die Vernunft gebiete, alle Verknüpfung der Welt nach Prinzipien einer systematischen Einheit zu betrachten, mithin als ob sie insgesamt aus einem einzigen, allbefassenden Wesen, als oberster und allgenugsamer Ursache, entsprungen wären“ (KrV B714 = IV, 594; meine Hervorhebung). „Auf solche Weise aber können wir doch (wird man fortfahren zu fragen) einen einzigen weisen und allgewaltigen Welturheber annehmen? Ohne allen Zweifel; und nicht allein dies, sondern wir müssen einen solchen voraussetzen.“ (KrV B725 = IV, 601; Hervorhebungen von Kant) Immerhin ist die Notwendigkeit des Gebrauchs der regulativen Ideen nicht allgemeingültig, sondern bleibt von der Entscheidung abhängig, ob jemand Wissenschaft treiben möchte oder nicht. Wie sich zeigen wird, fällt diese Bedingung im Falle des moralischen Gottesbegriffs weg. Vgl. die allerdings im Detail schwierig zu interpretierenden Aussagen in KrV B854 = IV, 692 und KpV VII, 109 und 277.
4.1 Grundlagen der Religionsphilosophie Kants
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in der KrV dafür nicht – abgesehen von der genannten These, dass die unabweisbaren Fragen zu irgendetwas gut sein müssen. Diese Argumentation setzt eine teleologisch verfasste Welt aber bereits voraus und kann sie nicht begründen. Ausführlicher setzt sich Kant mit der Thematik in der KU auseinander. Die einschlägige Unterscheidung ist hier nicht mehr nur die zwischen konstitutiven und regulativen Prinzipien, sondern zusätzlich die zwischen bestimmenden und reflektierenden Urteilen. Während die bestimmende Urteilskraft das gegebene Besondere unter ein gegebenes Allgemeines subsumiert, muss die reflektierende Urteilskraft das Allgemeine, unter das subsumiert werden kann, erst finden. Das Prinzip der reflektierenden Urteilskraft besteht darin, dass die „besonderen empirischen Gesetze in Ansehung dessen, was in ihnen durch jene unbestimmt gelassen ist, nach einer solchen Einheit betrachtet werden müssen, als ob gleichfalls ein Verstand (wenn gleich nicht der unsrige) sie zum Behuf unserer Erkenntnisvermögen, um ein System der Erfahrung nach besonderen Naturgesetzen möglich zu machen, gegeben hätte“ (KU X, 89). Mit dem Verstand, der nicht der unsrige ist, spielt Kant deutlich auf die Gottesidee an. Anders als in der KrV bemüht er sich jetzt um eine ausführliche Rechtfertigung und Beschränkung des Gebrauchs der Gottesidee (siehe Kapitel 6.2). Es stellt sich natürlich die Frage, ob und inwieweit die Teleologie der spekulativen Vernunft trotz des Bezugs zur Gottesidee überhaupt als Theologie betrachtet werden sollte – dient sie doch lediglich der Naturerkenntnis, und nicht dem Glauben. Kant selbst lehnt es bekanntlich ab,von einer physischen Teleologie zu einer Physikotheologie vorzuschreiten.¹⁶⁸ Was Kant primär unter dem Begriff der Theologie fasst, fällt daher nicht in den Bereich der theoretischen Vernunft. Religion wird vielmehr im Kern definiert als „Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote“ (KpV VII, 261) und ist daher Gegenstand der praktischen Vernunft. Der Vorzug der praktischen Vernunft zeigt sich wesentlich bereits in der Frage, was unter dem Begriff „Gott“ zu verstehen ist. Die spekulative Vernunft kann diesen nur durch Analogien und Anthropomorphismen beschreiben.¹⁶⁹ Die praktische dagegen führt auf den „Begriff eines einigen, allervollkommensten und vernünftigen Urwesen“ (KrV B842 = IV, 683 f.) und damit zur Ethikotheologie. Moralische Attribute können Gott nicht nur in Analogie, sondern im Wortsinn zugeschrieben werden. Die drei nicht aufeinander reduzierbaren Eigenschaften Heiligkeit, Güte und Gerechtigkeit sollen den moralischen Begriff Gottes vollständig bestimmen (vgl.
Vgl. KU, §85. Den Übergang von der Physiko- zur Ethikotheologie markiert treffend Dörflinger 2010. Dazu jüngst ausführlich Maly 2012.
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4 Kants Religionsphilosophie in den drei Kritiken
MpVT XI, 107 und RGV VIII, 806 f.). Von besonderer Bedeutung ist für Kant die göttliche Gerechtigkeit: Der Begriff Gottes wird untrennbar mit der Hoffnung verknüpft, dass der Glückswürdige auch glückselig wird. Deshalb ist die Idee Gottes zugleich die Idee einer „Intelligenz, in welcher der moralisch vollkommenste Wille, mit der höchsten Seligkeit verbunden, die Ursache aller Glückseligkeit in der Welt ist, so fern sie mit der Sittlichkeit (als der Würdigkeit, glücklich zu sein) in genauem Verhältnisse steht“ (KrV B838 = IV, 681). Daraus folgt, dass Gott zugleich allmächtig und allwissend sein muss, denn anders kann er nicht als diese Ursache gedacht werden (vgl. KrV B843 = IV, 684). Der wahre Gottesdienst besteht demzufolge in der Erfüllung der moralischen Pflichten in der Hoffnung auf eine sich einstellende, angemessene Glückseligkeit. Kant entwickelt damit einen rein moralischen Religionsbegriff, der ‚innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft‘ verbleiben soll, ohne sich auf dogmatische, vernünftig nicht weiter zu rechtfertigende Geltungsansprüche wie etwa Offenbarung oder religiöse Erfahrung zu stützen. Gegenüber der traditionellen Theologie und der religiösen Praxis nimmt diese Vernunftreligion eine doppelte Funktion ein: eine kritische und eine bewahrende.¹⁷⁰ Einerseits werden zahlreiche Bestandteile des Glaubens als unvernünftig oder – wie Kant sich ausdrückt – als Afterdienst, Religionswahn, Fetischmachen und Schwärmerei entlarvt. Andererseits sollen wesentliche Aspekte der Theologie vernünftig gerechtfertigt werden. In diesem Sinne ist etwa das erklärte Ziel der Religionsschrift zu zeigen, „daß zwischen Vernunft und Schrift nicht bloß Verträglichkeit, sondern auch Einigkeit anzutreffen sei“ (RGV VIII, 659).
4.2 Der ‚moralische Gottesbeweis‘ Ging es bei der Darstellung der Ethikotheologie bislang um eine Bestimmung des Gottes- und Religionsbegriffs aus reiner Vernunft, ist noch nichts darüber gesagt, ob diesem Begriff auch ein wirklicher Gegenstand entspricht. Ein Einhorn lässt sich zwar relativ genau definieren; es bleibt jedoch ein reines Phantasieprodukt. Ein Begriff ist für Kant mehr als ein solches Phantasieprodukt, wenn ihm
Hierzu ausführlich Habermas 2005. Die beiden Funktionen greifen derart ineinander, dass keine als die vorrangig intendierte ausgezeichnet werden kann. Es ist nicht nur so, dass „kaum zu unterscheiden [ist], ob es Kant vorrangig darum zu tun ist, zu zeigen, daß das Ideal [der Begriff Gottes, MH] auch ohne Religion denkbar sei, oder darum, zu zeigen, daß Religion trotz allen Zweifeln an ihr doch möglich sei“ (Städtler 2011, 481). Den hier angesprochenen Unterschied kann Kant vielmehr gar nicht sinnvoll benennen, weil für ihn das eine nur durch das andere möglich wird.
4.2 Der ‚moralische Gottesbeweis‘
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„objektive Realität“ zukommt. Die Schwierigkeit besteht nun darin, dass Kant die objektive Realität des Gottesbegriffs begründen möchte,¹⁷¹ ohne seine erkenntnistheoretische Kritik an den Gottesbeweisen zurückzunehmen. Um die aus diesem Anspruch entsprungene Postulatenlehre¹⁷² ist schon zu Kants Lebzeiten eine lebhafte, meist kritische Debatte entstanden, die heute in noch größerem Umfang fortgeführt wird.¹⁷³ Es kann an dieser Stelle nicht um eine eingehende Diskussion der Lehre Kants und ihrer widerstreitenden Interpretationen und Kritiken gehen. Vielmehr werden hier zwei bescheidenere Ziele verfolgt: Einerseits soll das Fundament der kantischen Religionsphilosophie erläutert werden, auf dem die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft aufbaut; andererseits soll die Diskussion über mögliche Parallelen zwischen Postulatenlehre und Geschichtsphilosophie (Kapitel 9) vorbereitet werden. Daher beschränke ich mich im Folgenden auf die Frage, wie sich Kant die Rechtfertigung der objektiven Realität des Gottesbegriffs prinzipiell vorstellt. Das abendländische Denken ist bis weit in die Frühe Neuzeit hinein von der Überzeugung geprägt, dass es ohne die Annahme der Existenz Gottes keine moralischen Handlungen geben könne.¹⁷⁴ Kant steht durchaus in dieser Tradition,
Nicht einmal diese, noch sehr unbestimmt formulierte These zieht sich konstant durch Kants Werk. Während es in der KpV (VII, 264) heißt, die Postulate gäben den Ideen der spekulativen Vernunft objektive Realität, und Kant in der RGV (VIII, 651) noch davon spricht, durch den Endzweck werde der „Verbindung der Zweckmäßigkeit aus Freiheit mit der Zweckmäßigkeit der Natur objektive Realität verschafft“, heißt es in der Logik (VI, 523): „Man kann keiner theoretischen Idee objektive Realität verschaffen oder dieselbe beweisen, als nur der Idee von der Freiheit […]. – Die Realität [nicht: die objektive Realität, MH] der Idee von Gott kann nur durch diese und also nur in praktischer Absicht […] bewiesen werden.“ Die Forschung folgt üblicherweise den von Kant selbst veröffentlichten Texten, zu denen die Logik nicht gehört; vgl. Langthaler 1991, 294. – Indessen sollte nicht der Eindruck entstehen, nur die Ethikotheologie könne objektive Realität begründen. Laut KrV (B693 = IV, 580) soll auch der regulative Gebrauch der Ideen objektive Realität haben. Ich beschränke mich im Folgenden auf das Postulat der Existenz Gottes. Die Unsterblichkeit der Seele bietet keine relevanten neuen Aspekte, und das Freiheitspostulat fällt ohnehin aus der Reihe der eigentlichen Postulate; siehe Fußnote 204. Zu den frühen Kritikern zählen etwa namhafte Personen wie Heine und Schelling. Zur Kritik an der Ethikotheologie in der Gegenwart vgl. Beck 1974, Teil III; Weidemann 2007, 188 – 213; Habermas 2005, 222– 231; Stevenson 2001; Thies 2007, 307 f. und Hoesch/Federsel 2014. Nur wenige Autoren verteidigen die Möglichkeit einer Ethikotheologie im Anschluss an Kant. Eher vorsichtig argumentieren diesbezüglich Wimmer 1990 und Langthaler 1991. Zu den radikalen Verteidigern Kants zählen Rohs 2013; Silber 1963; Hösle 1995, 31 und Geismann 2000. Die Kontroverse in der Literatur wird übersichtlich in Keller 2008, 92– 102 aufgearbeitet. Es ist bezeichnend, dass Bayles These, auch Ungläubige seien zu moralischem Handeln fähig, als „Bayles Paradox“ rezipiert und kritisiert wurde – so tief war die genannte Überzeugung offenbar im geistigen Horizont der Frühen Neuzeit verwurzelt. Es ist aus der Perspektive
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4 Kants Religionsphilosophie in den drei Kritiken
spezifiziert und revidiert sie aber in wesentlichen Teilen. So soll einerseits gelten, dass Moral „unausbleiblich zur Religion“ (RGV VIII, 655 Anm.) führe. Andererseits steht für Kant fest: „Die Moral […] bedarf weder der Idee eines andern Wesens über [dem Menschen], um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten.“ (RGV VIII, 649)¹⁷⁵ In dieser Spannung verbleiben alle Formulierungsversuche der Postulatenlehre, die sich seit Beginn der kritischen Phase durch Kants Werke, insbesondere durch die drei Kritiken, ziehen. Erstmals entwickelt Kant in der KrV ein Argument, die Existenz Gottes annehmen zu müssen, das allerdings in der Forschung zu Recht als sehr unausgereifter Versuch gilt¹⁷⁶. Ausgangspunkt ist der Begriff der „moralischen Welt“, die „so fern bloß als intelligibele Welt gedacht [wird], weil darin von allen Bedingungen (Zwecken) und selbst von allen Hindernissen der Moralität […] abstrahiert wird“ (KrV B 836 = IV, 679). In einer moralischen Welt handeln daher alle notwendigerweise moralisch.¹⁷⁷ Zugleich wäre, so Kant, die Glückseligkeit der Handelnden ihrer Glückswürdigkeit, d. i. ihrer Moralität, mit Notwendigkeit angemessen. In der moralischen Welt lasse sich „ein solches System der mit der Moralität verbundenen proportionierten Glückseligkeit auch als notwendig denken, weil die durch sittliche Gesetze teils bewegte, teils restringierte Freiheit selbst die Ursache der allgemeinen Glückseligkeit, die vernünftigen Wesen also selbst, unter der Leitung solcher Prinzipien, Urheber ihrer eigenen und zugleich anderer dauerhaften Wohlfahrt sein würden. Aber dieses System der sich selbst lohnenden Moralität ist nur eine Idee, deren Ausführung auf der Bedingung beruht, dass jedermann tue, was er soll“ (KrV B 837 f. = IV, 680).
des 21. Jahrhunderts einfach nicht zu sehen, wo hier ein „Paradox“ angelegt sein sollte. Hierzu ausführlich Forst 2003, 312 ff. Diese grundsätzliche Revision der traditionellen theonomen Ethik wird bis heute immer wieder übersehen; so etwa Murrmann-Kahl 2005 und Rudolph 1999. – Vossenkuhl (1992, insb. 178) möchte zeigen, dass die Postulatenlehre der KpV dem oben zitierten Satz aus der Religionsschrift widerspricht; Siep (2013, 38) sieht in dem Satz den Beginn einer Abwendung Kants von der Postulatenlehre. Beides trifft m. E. nicht zu: Kant betont an der zitieren Stelle, dass die Moral den Gottesbegriff nicht voraussetzt; dies lässt offen, dass das Gottespostulat aus der Moral folgt. Die RGV setzt die Postulatenlehre voraus und weist sie nicht zurück; siehe dazu auch Kapitel 5.2. Vgl. z. B. Habichler 1991, 93 – 108; Wimmer 1990, 57– 62; Zobrist 2008. Es scheint aber sehr voreilig zu sein, die Ausführungen der KrV völlig unbeachtet zu lassen, wie dies der Regelfall geworden ist. Insofern ist die Idee der moralischen Welt identisch mit der Idee eines Reiches der Zwecke, die Kant in der GMS entwickelt. Das Zusammenfallen von Glückseligkeit und Moralität wird allerdings in der GMS nicht behauptet.
4.2 Der ‚moralische Gottesbeweis‘
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Es verwundert, dass Kant von einer intelligiblen Welt spricht, in der es Glückseligkeit geben soll – ist doch für Kant Glückseligkeit das Paradebeispiel eines empirischen Begriffs. In der Literatur wird zuweilen angenommen, mit „intelligibel“ meine Kant hier „noumenal“; es ginge also um eine Welt von Personen, die nur aus reiner Vernunft bestehen. Glückseligkeit wäre dann nicht mehr die physische Glückseligkeit, von der Kant andernorts spricht, sondern eine „intellektuelle Glückseligkeit“¹⁷⁸, die durch moralisches Handeln gewirkt wird. Dies kann m. E. nicht gemeint sein: Glückseligkeit wird in der KrV als die „Befriedigung aller unserer Neigungen“ (KrV B 834 = IV, 677) bestimmt, die stets empirisch bedingt sind.¹⁷⁹ In der intelligiblen Welt wird zwar von Neigungen abstrahiert, sofern sie der Moralität hinderlich sein könnten, nicht jedoch die empirische Natur des Menschen ausgeblendet.¹⁸⁰ Intelligibel ist die moralische Welt also nur, weil sie eine reine Vernunftkonstruktion, eine „Idee“, darstellt. In der moralischen Welt begrenzt jeder seine Wünsche freiwillig auf ein allgemeinverträgliches Maß und macht sich zugleich die Glückseligkeit der anderen zum Zweck. Die Folge der Moralität aller ist nicht nur eine der Glückswürdigkeit proportional angemessene Glückseligkeit, sondern damit zugleich die maximale Glückseligkeit für alle. Das von Kant identifizierte Problem besteht nun darin, dass die Wirklichkeit von dieser Idee insofern abweicht, als dass eben nicht alle moralisch handeln. Damit wird dem Einzelnen unter Umständen durch das moralische Handeln ein Verzicht auf Glückseligkeit abgenötigt: Wer moralisch handelt,
Vgl. Düsing 1971, 23; Habichler 1991, 98 und G. Schwarz 2004, 88 – 98. Ricken behauptet ähnlich paradox, das höchste Gut könne nur in der „Natur in einer noumenalen Welt“ (2004, 169 ff.) verwirklicht werden. Wenn Düsing und Habichler als Beleg ihrer These auf mehrere Reflexionen verweisen, so liegt dem ein Missverständnis zugrunde: Kant unterscheidet in diesen Reflexionen zwar empirische und nichtempirische Ursachen der Glückseligkeit, die Glückseligkeit als deren Wirkung bleibt – entgegen der Meinung von Düsing und Habichler – jedoch immer etwas Empirisches. – An anderer Stelle unterscheidet Kant zwischen moralischer und physischer Glückseligkeit (RGV VIII, 721 und 730). Unter der moralischen Glückseligkeit kann nichts anderes gemeint sein als das Bewusstsein von der eigenen Glückswürdigkeit, welches mit einem positiven Gefühl einhergeht. Diejenige Glückseligkeit, die als Folge des moralischen Handelns erhofft wird, ist jedenfalls eine physische. – Auf dem Begriff einer „noumenalen Glückseligkeit-aus-Freiheit“ beruht die These von G. Schwarz (2004), Kant wolle in der Postulatenlehre der KrV und der KpV nicht die Existenz Gottes als eines vom Menschen trennbaren Wesens rechtfertigen, sondern die menschliche Vernunft selbst mit Gott identifizieren. M. E. scheitert diese These bereits daran, dass es keine rein noumenale Glückseligkeit im relevanten Sinn geben kann. Glück kann zwar möglicherweise aus Freiheit gewirkt sein, bleibt aber ein empirisches Phänomen. Glückseligkeit entspringt daher höchstens in Teilen der Moralität; soll auf ein ganzes Leben bezogen Glück mit Moral im Einklang stehen, kann nur ein externer Schöpfergott die Ursache dafür sein. So auch Geismann 2000, 476 f.; Albrecht 1978, 189 und Wimmer 1990, 60.
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macht sich selbst zum Opfer der Unmoralischen. Diese Erkenntnis (und nur diese) scheint mir das zentrale Problem zu sein, das Kant zur Rechtfertigung des Glaubens in der KrV heranzieht.¹⁸¹ Dass Kant nun in der KrV ¹⁸² nicht die Unmoral der Mitmenschen abschaffen, sondern moralisches Handeln trotz vorherrschender Unmoral sicherstellen möchte, ist zu Recht als „Kurieren von Symptomen“¹⁸³ bezeichnet worden. Kant argumentiert jedenfalls, dass moralisches Handeln außerhalb der moralischen Welt nicht stattfinden könne, wenn die Einheit von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit nicht in einer künftigen Welt erhofft werden dürfe. Der Grund hierfür ist, wie Kant nur sehr beiläufig ausführt, dass der „ganze Zweck“ bzw. das „vollständige Gut“, das die Vernunft erstrebt, nicht Tugend allein, sondern eine der Tugend angemessene Glückseligkeit sein muss. Moralische Gesetze blieben auch ohne die Möglichkeit des ‚ganzen Zwecks‘ Gesetze, die vernünftig erkannt werden können. Das Subjekt könnte sich diesen Gesetzen aber nicht mehr unterwerfen; sie wären zwar „Gesetze“, aber keine „Gebote“ mehr, wenn sie nicht „Verheißungen und Drohungen bei sich führten“ (KrV B839 = IV, 682). Kant fasst diese anspruchsvolle Argumentation in die knappen Worte: „Es ist notwendig, daß unser ganzer Lebenswandel sittlichen Maximen untergeordnet werde; es ist aber zugleich unmöglich, daß dies geschehe, wenn die Vernunft nicht mit dem moralischen Gesetze […] eine wirkende Ursache verknüpft, welche dem Verhalten nach demselben einen unseren Zwecken genau entsprechenden Ausgang, sei es in diesem, oder in einem anderen Leben, bestimmt. Ohne also einen Gott, und eine für uns jetzt nicht sichtbare, aber gehoffte Welt, sind die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls
Meine Interpretation, die vom Mainstream der Forschung sicher abweicht, kann durch eine Reflexion gestützt werden, die allerdings aus den 1760er Jahren stammt: „Wäre kein Gott, so würden alle Pflichten schwinden, weil eine Ungereimtheit im Gantzen wäre, nach welcher das Wohlbefinden nicht mit dem Wohlverhalten stimmete, und diese Ungereimtheit würde die andere entschuldigen. Ich soll gerecht gegen andere seyn; aber wer sichert mir mein Recht?“ (Refl 6674, AA XIX, 130; meine Hervorhebung) Kant schlägt in der Religionsschrift einen anderen Weg ein; siehe Kapitel 5.2. „Statt sich aber mit der Wurzel des Problems zu befassen, geht Kant in einer Weise weiter, die man am besten als das Kurieren von Symptomen bezeichnen könnte. […] Die Frage nach der Möglichkeit der Moralisierung der Menschheit stellt Kant nicht.“ (Kleingeld 1995, 146) Mit ähnlicher Intention fragt Ricken (2004, 168), weshalb die Lösung des Problems, dass nicht alle moralisch handeln, in der Existenz Gottes gesucht wird, obwohl dieses Problem doch nur zu lösen sei, indem eben alle moralisch handelten. Seine Lösung über einen „doppelten Naturbegriff“, den er bei Kant finden möchte, ist allerdings nicht überzeugend. – In Kapitel 9 versuche ich zu erläutern, warum Kant sowohl die Wurzel angehen als auch die Symptome kurieren will: Die Wurzel kann nur in einem langwierigen historischen Prozess behandelt werden; die bis vorerst unter unmoralischen Bedingungen lebenden Menschen bedürfen deshalb einer rein symptomatischen Therapie.
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und der Bewunderung [können als Gesolltes erkannt werden; MH], aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung [werden also nicht mehr wirksam; MH], weil sie nicht den ganzen Zweck, der einem jeden vernünftigen Wesen natürlich und durch eben dieselbe reine Vernunft a priori bestimmt und notwendig ist, erfüllen.“¹⁸⁴
Kant weicht in späteren Schriften von der KrV in mindesten zwei Hinsichten ab: Das Grundanliegen der GMS sowie der KpV ist es aufzuzeigen, dass reine Vernunft für sich selbst praktisch werden kann – die These, nur durch ‚Verheißungen‘ und ‚Drohungen‘ könne das Sittengesetz eine motivationale Kraft entfalten, ist deshalb nicht aufrechtzuerhalten.¹⁸⁵ Zweitens ergänzt Kant ein neues Problem: Auch dann, wenn alle moralisch handelten, würde sich die durch die Natur bedingte Glückseligkeit nicht als notwendige Folge des moralischen Handelns einstellen. Explizit weist Kant in den späteren Schriften auf zwei Quellen des Auseinanderfallens von Tugend und Glückseligkeit hin: erstens das unmoralische Verhalten der Mitmenschen und zweitens die natürlichen, vom Menschen nicht beherrschbaren Ursachen des Leids: „Betrug, Gewalttätigkeit und Neid werden immer um [den rechtschaffenen Mann] im Schwange gehen, ob er gleich selbst redlich, friedfertig und wohlwollend ist; und die Rechtschaffenen, die er außer sich noch antrifft, werden, unangesehen aller ihrer Würdigkeit glücklich zu sein, dennoch durch die Natur, die darauf nicht achtet, allen Übeln des Mangels, der Krankheiten und des unzeitigen Todes, gleich den übrigen Tieren der Erde, unterworfen sein und es auch immer bleiben, bis ein weites Grab sie insgesamt […] verschlingt […].“ (KU X, 415)
Doch auch innerhalb der späteren Texte stellt sich die Postulatenlehre im Detail verschieden dar. In der KpV findet die Postulatenlehre ihre Begründung innerhalb einer Argumentation, die Kant formal in Analogie zur Dialektik der KrV verstanden KrV B840 f. = IV, 682. Im gleichen Sinn heißt es an anderer Stelle, „es gebe Verbindlichkeiten, die in der Idee der Vernunft ganz richtig, aber ohne alle Realität der Anwendung auf uns selbst, d. i. ohne Triebfedern sein würden, wo nicht ein höchstes Wesen vorausgesetzt würde, das den praktischen Gesetzen Wirkung und Nachdruck geben könnte“ (KrV B617 = IV, 527). Die Formulierung von „Verheißungen und Drohungen“ wird sogar wortwörtlich zurückgenommen, denn das moralische Gesetz hat seine Besonderheit gerade darin, dass es etwas fordert, „ohne doch dabei weder etwas zu verheißen noch zu drohen“ (RGV VIII, 700). – Geismann (2000, 467 f.) weist zu Recht darauf hin, dass Kant die These der für sich selbst praktisch werdenden Vernunft auch schon in der KrV vertreten hatte. Es heißt dort z. B., das Moralische habe „zum Bewegungsgrunde nichts anderes“ (KrV B834 = IV, 678) als Glückswürdigkeit, also Tugend. Offenbar war sich Kant 1781 über diesen Gedanken noch nicht voll im Klaren, denn andernfalls hätte er die logische Konsequenz daraus ziehen müssen, dass moralisches Handeln möglich sein muss, ohne auf die Verheißung einer späteren Glückseligkeit zu hoffen.
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wissen möchte:¹⁸⁶ Im „höchsten Gut“ der praktischen Vernunft „werden Tugend und Glückseligkeit als notwendig verbunden gedacht“ (KpV VII, 242). Sie können aber nur dann notwendig verbunden sein,wenn entweder Glückseligkeit definiert, was moralisches Handeln ist, oder wenn moralisches Handeln notwendig zur Glückseligkeit führt. Der „Widerstreit der Vernunft mit sich selbst“ (KpV VII, 235) besteht hier nicht darin, dass diese zwei Thesen gleichermaßen begründet erscheinen – so ja die Antinomien der spekulativen Vernunft –, sondern darin, dass beide Thesen zunächst einmal falsch sind, somit das als unmöglich erscheint, was die Vernunft als möglich einfordert. Der Gehalt der ersten These – Glückseligkeit bestimme, was moralisches Handeln sei – erweist sich aufgrund der moralphilosophischen Überlegungen Kants als „schlechterdings unmöglich“ (KpV VII, 242). Die zweite These ist zwar auch falsch, aber nicht schlechterdings, sondern nur „bedingter Weise“ (KpV VII, 243). Glückseligkeit ist empirisch bedingt und insofern dem naturgesetzlich determinierten, aber moralisch willkürlichen Lauf der Natur überlassen; sie stellt sich insofern nicht als notwendige Folge der Tugend ein. Zur Auflösung der Antinomie weist Kant darauf hin, dass uns die Natur zwar lediglich als „Objekt der Sinne“ bekannt ist und sie sich aus moralischer Perspektive stets nur „zufällig“ (KpV VII, 244) verhält, es aber trotzdem möglich bleibe, die Natur zugleich als Produkt eines intelligenten Urhebers zu denken, der sie in notwendiger Verbindung zur Tugend gestaltet. Es ist offenkundig, dass der notwendige Zusammenhang von Moral und Glück – wie auch in der KrV – nur durch die Vorstellung einer künftigen Welt gedacht werden kann.¹⁸⁷ Unklar bleibt dagegen, ob Kant im höchsten Gut vollkommene Moralität mit vollkommener Glückseligkeit verbunden sieht, oder nur irgendein Maß an Moralität mit dem ihm angemessenen Grad an Glückseligkeit.¹⁸⁸
Dass tatsächlich eine Analogie zwischen den Antinomien in der KrV und der Antinomie der praktischen Vernunft vorliegt, wird in der Literatur zu Recht einhellig bestritten. Vgl. dazu ausführlich Albrecht 1978 sowie Wimmer 1990, 62 ff. Beide vertreten u. a. die Ansicht, dass die Antinomie, wenn man diesen Begriff überhaupt hier sinnvoll verwenden kann, nicht zwischen den beiden Thesen besteht, die Kant präsentiert, sondern zwischen der (bedingten) Unmöglichkeit und der gleichzeitigen Notwendigkeit des höchsten Gutes. Vgl. KpV VII, 260. Anders interpretieren dies z. B. Förster 1998, 346 und Kleingeld 1995, 149. Vgl. dazu die treffende Diskussion bei Geismann 2000, 490 f. und 514 ff. Es heißt zwar, im mit dem Begriff des höchsten Gutes identifizierten Reich Gottes würden „vernünftige Wesen sich dem sittlichen Gesetze von ganzer Seele weihen“ (KpV VII, 260). Alle anderen Stellen legen aber nahe, dass das höchste Gut bereits realisiert ist, wenn jeder eine seiner mehr oder weniger ausgeprägten Moralität angemessene Glückseligkeit erfährt (z. B. „ganz genau in Proportion der Sittlichkeit“, KpV VII, 239; „in dem Anteil, den er jedem am höchsten Gute bestimmt“, KpV VII, 253). Vgl. auch Geismann 2000, 475.
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Der entscheidende und problematische Schritt besteht nun darin zu zeigen, dass die Vernunft die Möglichkeit des höchsten Gutes tatsächlich notwendig ¹⁸⁹ einfordern muss. In der KpV argumentiert Kant, das höchste Gut sei ein „a priori notwendiges Objekt unseres Willens“ (KpV VII, 242), sodass es dem Menschen als Pflicht gegenübertritt, die von der reinen Vernunft¹⁹⁰ aufgegeben wird. Dabei schwankt Kant auffällig zwischen der Formulierung, die Beförderung des höchsten Gutes sei Pflicht, und der stärkeren These, das Hervorbringen des höchsten Gutes sei Pflicht.¹⁹¹ Während die erste Formulierung nahelegt, die Beförderung des höchsten Gutes sei nur in dem Maße Pflicht, wie sie dem Menschen auch möglich ist (vgl. v. a. KpV VII, 249), bildet die zweite These den tatsächlichen Anknüpfungspunkt des Arguments: Was Pflicht ist, muss auch möglich sein; ist das Hervorbringen des höchsten Gutes Pflicht, dann muss das höchste Gut möglich sein. Wäre das höchste Gut als Totalität aller Gebote dagegen unmöglich, so könnte es laut Kant gar keine Pflichten geben: „Da nun die Beförderung des höchsten Guts, welches diese Verknüpfung [von Tugend und Glückseligkeit, MH] in seinem Begriffe enthält, ein a priori notwendiges Objekt unseres Willens ist, so muß die Unmöglichkeit des ersteren [des höchsten Gutes, MH] auch die Falschheit des zweiten [des moralischen Gesetzes, MH] beweisen.“ (KpV VII, 242)
Weil aber die Unmöglichkeit des höchsten Gutes – wie in der KrV gezeigt – nicht bewiesen werden könne, andererseits aber das moralische Gesetz „gleichsam als ein Faktum der reinen Vernunft“ (KpV VII, 161) unverrückbar feststehe, müsse das höchste Gut möglich sein. Zur Möglichkeit des höchsten Gutes sei aber wiederum die „Existenz Gottes […] notwendig gehörig“ (KpV VII, 255; meine Hervorhebung).¹⁹²
Die These, dass die Möglichkeit des höchsten Gutes wünschenswert sei, wäre vielleicht aussichtsreicher zu begründen, reicht aber nicht dazu aus, dass die praktische Vernunft berechtigt wäre, über die Erkenntniskritik hinauszugehen (vgl. KpV VII, 251). In diesem Sinne deutet Siep (2013, 38 f. und 46) an, dass der Gottesglaube zwar vernünftig, aber nicht vernunftnotwendig sei, was philosophisch nicht hinlange, um ein Gottespostulat zu rechtfertigen; Kant habe im opus postumum sogar selbst an der Vernunftnotwendigkeit Gottes gezweifelt. Das höchste Gut ist das „ganze Objekt der reinen praktischen Vernunft“ (KpV VII, 249) bzw. der „Endzweck der reinen praktischen Vernunft“ (KpV VII, 261; jeweils meine Hervorhebungen). Dass Glückseligkeit Bestandteil des Objekts des reinen, von aller Neigung abstrahierenden Willens werden kann, soll offenbar über die Vorstellung des „vollkommenen Wollen[s] eines vernünftigen Wesens, welches zugleich alle Gewalt hätte“, begründet werden (KpV VII, 238; so auch schon KrV B841 = IV, 683). Vgl. z. B. KpV VII, 241; 249; 256; 261. Dazu Geismann 2000, 474 und Wimmer 1990, 66 ff. Zu dem problematischen Schritt von der Möglichkeit des höchsten Gutes auf die Notwendigkeit der Existenz Gottes vgl. Ricken 2004, 164. In der KrV (A830 = IV, 694) argumentiert Kant
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Die ausgereifteste Version der Rechtfertigung des Gottespostulates, die sich in der KU sowie in der RGV findet, nimmt an dieser Argumentstruktur nur noch wenige, aber nicht unbedeutende Änderungen vor. Zunächst nimmt Kant die These zurück, das höchste Gut sei das notwendige Objekt der reinen Vernunft. Stattdessen ist das Objekt der reinen Vernunft nur noch das „Rechthandeln“ (RGV VIII, 651), also die Erfüllung moralischer Pflichten. Für vollkommene Vernunftwesen würde gelten: „Was brauchen sie den Ausgang ihres moralischen Tuns und Lassens zu wissen, den der Weltlauf herbeiführen wird? Für sie ist’s genug, daß sie ihre Pflicht tun […].“ (RGV VIII, 654) Menschen sind aber keine vollkommenen, sondern endliche Vernunftwesen, d. h. Wesen, die stets unter der Bedingung des Verlangens nach Glückseligkeit agieren (vgl. KpV VII, 133). Nur solche endlichen Wesen sind in den Spätschriften genötigt, die Existenz Gottes anzunehmen.¹⁹³ Weiterhin modifiziert Kant seine Position dahingehend, dass er das höchste Gut als Endzweck bezeichnet. Fiel dieser Begriff in der KpV nur beiläufig, wird er jetzt zum Kern der Argumentation. Endzweck ist der Zweck, der „die unumgängliche und zugleich zureichende Bedingung aller übrigen enthält“ (RGV VIII, 653).Wer handelt, kann sich demnach nicht einfach einen beliebigen Zweck setzen und die Handlung für beendet erklären, sobald der Zweck erreicht ist. Vielmehr sind einzelne Zwecke immer eingebettet in ein System von Zwecken, das nur durch einen Endzweck abgeschlossen werden kann. Dass Zwecke auf einen Endzweck bezogen sein müssen, liegt nicht in der reinen Vernunft begründet, sondern stellt für Kant eine unvermeidliche Bedingung menschlicher Handlungen dar. Es gehört zu „unserm natürlichen Bedürfnisse, zu allem unsern Tun und Lassen im ganzen genommen irgend einen Endzweck, der von der Vernunft gerechtfertigt werden kann, zu denken“ (RGV VIII, 651; vgl. KU X, 414). „Nun ist’s aber eine von den unvermeidlichen Einschränkungen des Menschen und seines (vielleicht auch aller anderen Weltwesen) praktischen Vernunftvermögens, sich bei allen Handlungen nach dem Erfolg aus denselben umzusehen, was zum Zweck für ihn dienen“ (RGV VIII, 654 Anm.)
diesbezüglich etwas differenzierter: Die Überzeugung von der Möglichkeit der Existenz Gottes sei ausreichend, den Ausbruch der bösen Gesinnungen zurückzuhalten. Nur die Überzeugung von seiner tatsächlichen Existenz reiche aber hin, gute Gesinnungen zu bewirken. Kant vollzieht die Beschränkung auf endliche Vernunftwesen ausdrücklich in der KU (X, 412): „der Mensch (und nach allen unsern Begriffen auch jedes vernünftige endliche Wesen)“. Sinngemäß taucht sie auch in der RGV auf, vgl. die Zitate im Haupttext. Zugleich gibt es aber auch Stellen in der RGV, an denen ausdrücklich von der reinen Vernunft die Rede ist (z. B. RGV VIII, 654 Anm.). – Düsing (2010, 64) unterstellt die Beschränkung auf endliche Vernunftwesen bereits für die KpV. Diese These lässt sich m. E. am Text nicht belegen.
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könnte. Deshalb „kann es der Vernunft¹⁹⁴ doch unmöglich gleichgültig sein, wie die Beantwortung der Frage ausfallen möge: was dann aus diesem Rechthandeln herauskomme“ (RGV VIII, 651). Das moralische Gesetz gebietet demnach nur, die moralischen Pflichten zu erfüllen; wer sich aber moralische Zwecke setzen möchte, der muss den Endzweck immer hinzudenken. „Die subjektive Bedingung, unter welcher der Mensch (und nach allen unsern Begriffen auch jedes vernünftige endliche Wesen) sich, unter dem obigen Gesetze, einen Endzweck denken kann, ist die Glückseligkeit.“ (KU X, 412) Der Endzweck kann daher nur im höchsten Gut als Verbindung von Tugend und Glückseligkeit bestehen. Das höchste Gut zu befördern, wird demnach – wie schon in der KpV – durch das Sittengesetz verbindlich gemacht (vgl. KU X, 412 f.). Die Explizierung des Endzweck-Begriffs zeigt aber, dass die Beförderung des höchsten Gutes nicht einfach eine von vielen anderen gleichwertigen und aus dem Sittengesetz abgeleiteten Pflichten ist, wie man die KpV noch verstehen konnte.¹⁹⁵ Vielmehr stellt der Endzweck das Ziel allen moralischen Handelns unter den Bedingungen der endlichen Vernunft dar.¹⁹⁶ Kant greift über den Begriff des Endzwecks zugleich die Frage nach der moralischen Motivation, die in der KrV im Vordergrund stand, in abgewandelter Form wieder auf: Sich zu seinen moralischen Handlungen keinen Endzweck hinzudenken zu können, würde ein „Hindernis der moralischen Entschließung“¹⁹⁷ darstellen; allerdings nicht, weil das Sittengesetz überhaupt nicht als Triebfeder wirken könne, sondern weil moralisches Handeln unsinnig er-
Aus dem Kontext ergibt sich m. E., dass hier nicht die reine, sondern die menschliche Vernunft gemeint sein muss. Der häufig rezipierte Einwand Becks, das höchste Gut könne nicht Pflicht sein, weil es Glückseligkeit enthalte, scheint auf dem hier zurückgewiesenen Verständnis zu beruhen. Für Beck ist entsprechend lediglich die erste der beiden Komponenten des höchsten Guts Pflicht, nämlich die eigene Glückswürdigkeit (vgl. 1974, 227). Offenbar geht Kant sogar davon aus, dass sich mit der Erfüllung der ‚normalen‘ Pflichten die Pflicht zur Beförderung des höchsten Gutes bereits erschöpft. Wenn Interpreten durch Kants Ausführungen zum höchsten Gut dazu bewegt werden, die Tugendpflicht, die Glückseligkeit seiner Mitmenschen zu befördern, durch die vermeintliche Pflicht zu ersetzen, nur die jeweils der Glückswürdigkeit angemessene Glückseligkeit zu befördern (Ricken 2004, 169; Timmermann 2005), liegt m. E. ein Missverständnis vor. Dem widerspricht ja schon die von Kant immer wieder betonte Tatsache, dass uns die Glückswürdigkeit unserer Mitmenschen gar nicht bekannt sein kann. RGV VIII, 651; vgl. KU X, 414 f. Im Zweiten Stück der RGV heißt es dagegen, Vorstellungen von einer seligen oder unseligen Ewigkeit seien „mächtig genug […], um dem Bösen, so viel möglich noch Abbruch zu tun, mithin zu Triebfedern zu dienen“ (RGV VIII, 723; meine Hervorhebung). Zum Problem der moralischen Motivation in der KrV und den späteren religionsphilosophischen Schriften vgl. Zobrist 2008.
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scheinen muss.¹⁹⁸ Wer die Existenz Gottes leugnet, hat die Wahl, entweder „wie ein Thor oder wie ein Bösewicht“ (V-Met-L1/Pölitz, AA XXVIII, 304) zu handeln. Ein Bösewicht ist er, wenn er sich ganz von der Geltung des Sittengesetzes freispricht; ein Tor ist er dagegen, wenn er moralisch handelt, ohne dass er einen Sinn in seinen Handlungen entdecken kann. Interessanter als die Rekonstruktion der konkreten Argumentationsschritte, mit denen Kant das Postulat der Existenz Gottes stützen möchte, ist im Kontext dieser Arbeit die Frage, wie Kant die spezifische Art von Rechtfertigung charakterisiert, die der Postulatenlehre zugrunde liegt. Kant äußert sich unterschiedlich zu dieser Frage. Dies zeigt sich schon daran, dass er einmal schreibt, es handele sich um einen Beweis, der leicht an die Form der logischen Präzision angepasst werden könne (vgl. KU X, 413), wogegen es an anderer Stelle vorsichtig heißt, er könne über die Auflösung des Problems nur andeuten, soviel er davon einzusehen glaubt (vgl. RGV VIII, 653 Anm.). Eine wesentliche Unterscheidung findet sich durchgängig in fast allen Werken¹⁹⁹, nämlich die von Glauben und Wissen. ‚Glauben‘ fällt dabei mit dem zusammen, was Kant an anderer Stelle – etwa innerhalb der dritten der drei Grundfragen der Philosophie – als ‚Hoffen‘ bezeichnet.²⁰⁰ Wie werden diese beiden Begriffe nun vom Wissen abgegrenzt? „Das Fürwahrhalten, oder die subjektive Gültigkeit des Urteils, in Beziehung auf die Überzeugung (welche zugleich objektiv gilt), hat folgende drei Stufen: Meinen, Glauben und Wissen. Meinen ist ein mit Bewußtsein sowohl subjektiv, als objektiv unzureichendes Fürwahrhalten. Ist das letztere nur subjektiv zureichend und wird zugleich für objektiv unzureichend gehalten, so heißt es Glauben. Endlich heißt das sowohl subjektiv als objektiv zureichende Fürwahrhalten das Wissen. Die subjektive Zulänglichkeit heißt Überzeugung (für mich selbst), die objektive Gewißheit (für jedermann).“ (KrV B850 = IV, 689)
Ich sehe nicht, dass das Dilemma, entweder auf die Autonomie der Moral oder auf den motivationalen Charakter des höchsten Gutes verzichten zu müssen, dadurch ausreichend gelöst ist. Vgl. dazu Hoesch/Federsel 2014. Sie findet sich in der KrV und den späteren Kritiken ebenso wie in VT aus dem Jahr 1796 (V, 385) und in der Logik aus dem Jahr 1800 (VI, 494 ff.). Dass Glauben und Hoffen dem epistemischen Status nach identisch sind, ergibt sich etwa aus einer Stelle der KrV: „Jenes [das Hoffen; MH] läuft zuletzt auf den Schluß hinaus, daß etwas sei […], weil etwas geschehen soll; dieses [das Wissen; MH], daß etwas sei […], weil etwas geschieht.“ (KrV A806 = IV, 677) Kants Terminologie läuft dem üblichen Sprachgebrauch zuwider: In der Alltagsprache ‚glaubt‘ man etwas, wenn man zumindest schwache Gründe für dessen Richtigkeit hat; ‚hoffen‘ kann man dagegen auch ohne jeden Grund. Diese alltagssprachliche Verwendung des Hoffens fasst Kant unter den Begriff einer „Hoffnung, als Affekt“, welche etwa „durch die unerwartete Eröffnung der Aussicht in ein nicht auszumessendes Glück“ (Anth XII, 584) ausgelöst wird.
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Dass Kant diese Sätze mit dem Hinweis abschließt, er werde sich „bei der Erläuterung so faßlicher Begriffe nicht aufhalten“ (ebd.), kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass wirklich klar damit noch nichts geworden ist. Die zentrale Frage ist zunächst, was mit „subjektiv“ und „objektiv“ hier gemeint sein könnte.²⁰¹ Wimmer schlägt vor, die Begriffe ‚subjektiv‘ und ‚objektiv‘ „besagen, daß Gottes Dasein nicht aufgrund (der Überzeugung von der Geltung) empirischtheoretischer Vernunft, sondern nur aufgrund (der Überzeugung von der Geltung) moralisch-praktischer Vernunft erkannt werden kann“ (Wimmer 1990, 77). Wenn damit einfach gesagt werden soll, dass die Postulatenlehre nur für moralische Wesen, nicht aber für solche Wesen gelte, die zwar erkennen, aber nicht moralisch handeln können, so ist dies sicher richtig.²⁰² Wimmer ergänzt aber, zur lediglich subjektiven Überzeugung führe die praktische Vernunft deshalb, weil „das moralische Selbstverständnis von jedem einzelnen für sich selbst und sein Leben angeeignet und in Geltung gesetzt werden muß“ (Wimmer 1990, 78). Diese Auffassung scheint mir aufgrund der Überzeugung Kants, dass jedes Wollen immer schon unter der Bedingung praktischer Vernunft stattfindet, jene selbst aber als Unbedingtes nicht erst durch einen Willensakt in Kraft gesetzt werden kann und muss, nicht teilbar zu sein. Kant schließt Wimmers Deutung sogar ausdrücklich aus, indem er das Fürwahrhalten von moralischen Geboten nicht als Glaube, sondern als Wissen bezeichnet (vgl. KrV B851 = IV, 689; KpV VII, 108) und so unmissverständlich das Freiheitspostulat vom Gottespostulat abgrenzt.²⁰³ Die Unterscheidung von theoretischer und praktischer Vernunft kann deshalb nicht mit der Unterscheidung von Glauben und Wissen zusammenfallen. Ricken (2004, 166) verbessert die These Wimmers dahingehend, nicht das moralische Selbstverständnis, sondern nur das höchste Gut als Endzweck müsse durch ein Subjekt bejaht werden, um das Postulat als gerechtfertigt ansehen zu können. Diese Position kann man so verstehen, als entspränge das subjektive Element nicht der reinen Vernunft selbst, sondern der Einschränkung derselben, sich zu jeder Handlung einen Endzweck hinzudenken zu müssen. Subjektiv zu Zur weiteren Verwirrung trägt bei, dass Kant nur wenige Absätze vorher behauptet, das Fürwahrhalten hieße Überzeugung, wenn der Grund desselben objektiv hinreichend sei (vgl. KrV A820 = IV, 687), was der zitierten Stelle direkt zu widersprechen scheint. In der KU heißt es, das moralische Argument sei „ein subjektiv, für moralische Wesen, hinreichendes Argument“ (KU X, 413 Anm.). Dies kann so verstanden werden, als sei der Zusatz „für moralische Wesen“ die Erläuterung des Begriffs „subjektiv“. Zwar müssen wir, „so weit als das [moralische Gesetz] notwendig ist, so weit (d. i. in demselben Grade und aus demselben Grunde)“ (KU, X, 413), auch eine moralische Weltursache notwendig annehmen. Trotzdem will Kant damit „nicht sagen: Es ist eben so notwendig, das Dasein Gottes anzunehmen, als die Gültigkeit des moralischen Gesetzes anzuerkennen“ (KU X, 413). Zur Differenz von Freiheits- und Gottespostulat vgl. Geismann 2000, 475.
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länglich wäre ein Fürwahrhalten demnach dann, wenn es aufgrund einer Einschränkung der menschlichen Natur mit dem Sittengesetz notwendig verbunden wäre. Hiermit scheint der plausibelste Deutungsversuch der kantischen Unterscheidung von Glauben und Wissen gefunden zu sein.²⁰⁴ Kants Versuch, die subjektive Zulänglichkeit dadurch vom Wissen abzugrenzen, dass sie nur für mich selbst, jene aber für jedermann gelte,²⁰⁵ stiftet eine weitere Verwirrung. Kants Postulatenlehre gilt ja gerade für jedermann, und zwar so rigoros, dass Kant sogar konstatiert, ein moralischer Atheist müsse sich eben irgendwie dazu bringen, die Existenz Gottes anzunehmen (vgl. KU X, 416).²⁰⁶ In welchem Sinne gilt dann ein Glaubenssatz ‚nur für mich‘? Eine denkbare Lösung wäre wiederum der Rückgriff auf die menschliche Natur: Eine Glaubensüberzeugung habe ich als Mensch, nicht aber „jedermann“ im Sinne von „jedes vernünftige Wesen“. Obwohl mit der Unterscheidung von Glauben und Wissen zwei ganz verschiedene Arten der Überzeugung eingeführt wurden, soll der Grad der Überzeugung jedoch im Falle des moralischen Glaubens nicht geringer sein als im Falle des Wissens: „Dagegen der Vernunftglaube, der auf dem Bedürfnis ihres Gebrauchs in praktischer Absicht beruht, ein Postulat der Vernunft heißen könnte: nicht, als ob es eine Einsicht wäre, welche aller logischen Forderung zur Gewißheit Genüge täte, sondern weil dieses Fürwahrhalten […] dem Grade nach keinem Wissen nachsteht, ob es gleich der Art nach davon völlig unterschieden ist.“ (WDO V, 277) „[So] werde ich unausbleiblich ein Dasein Gottes und ein künftiges Leben glauben, und ich bin sicher, daß diesen Glauben nichts wankend machen könne […].“ (KrV A828 = IV, 693)
In diesem Sinne verstehe ich auch die Definition des Glaubens in der Logik: „Nur solche Gegenstände sind Sachen des Glaubens, bei denen das Fürwahrhalten notwendig frei, d. i. nicht durch objektive, von der Natur und dem Interesse des Subjekts unabhängige, Gründe der Wahrheit bestimmt wird.“ (Log VI, 499) – Wie gesagt, hat Kant vor 1790 in der Postulatenlehre nicht auf die Einschränkung der menschlichen Natur rekurriert. Entsprechend kann man innerhalb des Rahmens der KrV und der KpV der Unterscheidung von Glauben und Wissen m. E. keinen Sinn abgewinnen. Thies 2007, 306 bezieht sich offenbar auf diese Stelle, wenn er behauptet, Glauben hieße subjektive, aber nicht intersubjektive Rechtfertigung. Kant hätte sich über Religion nicht öffentlich äußern brauchen, wenn er tatsächlich der Ansicht gewesen wäre, es sei keine intersubjektiv gültige Argumentation möglich. Ein ähnliches Problem stellt sich mit der Behauptung, der Glaube sei in dem Sinne frei, dass ich „keinen andern durch Gründe nötigen kann“ (Log VI, 498 Anm.). Ganz offensichtlich ist es Kants Anspruch, mit der Postulatenlehre genau solche Gründe zu liefern, die natürlich – wie alle guten Gründe – nur in dem Sinne ‚nötigen‘, dass sie überzeugen.
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„[Der Vernunftglaube ist] in mir eben so fest, ja wohl noch fester, als die mathematische Demonstration. Denn auf diesen Glauben kann ich alles verwetten; aber wenn ich auf eine mathematische Demonstration alles verwetten sollte, so möchte ich doch stutzen; denn es könnte sich doch wohl etwas finden, wo der Verstand geirrt hätte.“ (V-Met-L1/Pölitz, AA XXVIII, 304 f.) „Und diese praktische Überzeugung oder dieser moralische Vernunftglaube ist oft fester als alles Wissen. Beim Wissen hört man noch auf Gegengründe, aber beim Glauben nicht; weil es hierbei nicht auf objektive Gründe, sondern auf das moralische Interesse des Subjekts ankommt.“ (Log VI, 501 f)²⁰⁷
Wie besonders an diesen Zitaten deutlich wird, wurzelt die Unterscheidung von Glauben und Wissen in dem spannungsreichen Versuch, zugleich die Unmöglichkeit und die Möglichkeit eines Beweises der Existenz Gottes aufzuzeigen.²⁰⁸ Entsprechend widerspruchsvoll wirkt der Begriff des Glaubens, der für eine felsenfest gerechtfertigte Überzeugung steht, für die es zugleich keine objektiven Gründe geben kann. Der Satz Kants, man dürfe nicht sagen, „es ist moralisch gewiß, daß ein Gott sei ect., sondern, ich bin moralisch gewiß“ (KrVA829 = IV, 693; Hervorhebungen von Kant), steht paradigmatisch für diese Spannung: Warum sollte ich in einer Sache gewiss sein dürfen, die einfach nicht gewiss ist? Es ist nur konsequent, dass in der Literatur um die Frage gestritten wird, ob oder in welchem Sinne Kant denn nun wirklich meine, dass die Existenz Gottes erwiesen sei. Dabei steht auf der einen Seite die These, Kant wolle nur zeigen, dass moralische Wesen genötigt seien, die Existenz Gottes anzunehmen, d. h. so zu handeln, als ob Gott existiere. „Kant ist nicht müde geworden, immer aufs Neue zu betonen, daß es stets nur um ‚Ideen‘ zu rein praktischem Gebrauch ohne den geringsten (theoretischen) Erkenntniswert geht.“ (Geismann 2000, 478). Obwohl
Den starken Grad an Überzeugungskraft, der mit dem Glauben verbunden ist, verkennt Habermas, wenn er sich in jüngeren Publikationen (z. B. 2005) auf Kants Unterscheidung von Glauben und Wissen mit der Intention bezieht, diskursiv zu rechtfertigende Behauptungen von religiösen Behauptungen zu trennen (vgl. dazu Linde 2009, 174, die ihrerseits allerdings Ethikound Physikotheologie durcheinanderwirft). Ebenso unzutreffend scheint mir zu sein, den kantischen Gottesglauben als „Wagnis“ zu bezeichnen (so Fischer 2010, 14 ff.; ähnlich Cavallar 1993, 102 und Schulte 1991, 392 f.). Worin sollte das Wagnis bestehen, wenn ich auf den Glauben getrost „alles verwetten“ könnte? – Klaus Müller bringt dagegen die Vorstellung Kants auf den Punkt, wenn er schreibt, die Ethikotheologie habe für Kant eine „Überzeugungskraft, die von der der klassischen Gottesbeweise buchstäblich dimensional verschieden ist, ohne ihr erkenntnistheoretisch nachzustehen“ (Müller 2005, 152; meine Hervorhebung). Dass das moralische Argument einen „Beweis“ darstelle, behauptet Kant meines Wissens nach nur in der KU und in der Logik. Er schränkt jeweils sofort ein, dass es sich nicht um einen „objektiv-gültigen Beweis“ (KU X, 413 Anm.; vgl. Log VI, 523) handele und insofern von den in der KrV kritisierten Beweisen zu unterscheiden sei.
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4 Kants Religionsphilosophie in den drei Kritiken
das Gottespostulat ausdrücklich die Existenz (und nicht nur die Möglichkeit der Existenz) Gottes beinhalte (vgl. ebd., 480), soll gelten: „Der Glaube an Gott impliziert keine Existenzbehauptung; vielmehr bezieht er sich auf eine Idee, der gemäß der Mensch sein eigenes Wollen und Handeln bestimmen soll.“ (ebd., 479)²⁰⁹ Dieser These entspricht etwa folgende Äußerung Kants: „Man postuliert also nicht Sachen, oder überhaupt das Dasein irgend eines Gegenstandes, sondern nur eine Maxime²¹⁰ (Regel) der Handlung eines Subjekts.“²¹¹ Dagegen wird auf der anderen Seite eingewendet, Kant sei sehr wohl von der Existenz Gottes überzeugt; die praktische Vernunft rechtfertige einen theoretischen Satz,²¹² der als solcher auch in theoretischer Hinsicht – wenn auch nicht in theoretischer Absicht – eine Existenzbehauptung aufstelle.²¹³ Beleg hierfür ist die
Ebenso argumentiert Düsing 2010, 69 f. Eine ähnliche Position vertreten auch Axinn 2001 und Stevenson 2001; diese versuchen jedoch anders als Geismann, Kants Religionsphilosophie völlig nonkognitivistisch zu lesen: „Religious terms, God, immortality, ect, […] may have the power of poetry.“ (Axinn 2001, 655; ähnlich Stevenson 2001, 719) Daran ist richtig, dass für Kant das Gottespostulat auch dann gerechtfertigt wäre, wenn Gott nicht existierte. Kant geht es aber um eine auf Vernunft gegründete Form von Gewissheit, die über den Status von Symbolen und Texten der Offenbarungsreligionen weit hinausgeht. Nur was Offenbarungsreligionen betrifft, könnte man Kant mit einem gewissen Recht als Nonkognitivisten bezeichnen; siehe dazu Kapitel 5.3. Dass es auch bereits in der KU heißt, man „müsse die Annehmung dieses Satzes unter die Maximen seiner praktischen Vernunft aufnehmen“ (KU X, 413), widerlegt m. E. die These Weidemanns (2007, 193 Fn. 33), Kant habe seine Position in dieser Frage 1796 verändert. VNAEF VI, 411. Ähnlich heißt es in der Logik: „Die Realität der Idee von Gott kann nur durch diese und also nur in praktischer Absicht, d. i. so zu handeln, also ob ein Gott sei, – also nur für diese Absicht bewiesen werden.“ (Log VI, 523) Eine weitere Belegstelle findet sich in VT: An Gott „moralisch-praktisch glauben heißt nicht seine Wirklichkeit vorher theoretisch für wahr annehmen, damit man jenen gebotenen Zweck zu verstehen Aufklärung und zu bewirken Triebfedern bekomme […]; sondern um nach dem Ideal jenes Zwecks so zu handeln, als ob eine solche Weltregierung wirklich wäre“ (VT VI, 387 Anm.; meine Hervorhebung). Dieser Satz kann jedoch unterschiedlich gelesen werden: Interpretiert man „um […] zu handeln“ als Ersatz für „damit man […] bekomme“, behauptet der Satz genau das Gegenteil von Geismanns These. Unter einem Postulat versteht Kant „einen theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satz […], so fern er einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt“ (KpV VII, 253). Vgl. Yovel 1980, 297; Ricken 2004, 176; Dörflinger 2004; Weidemann 2007, 190 ff. und Maly 2012, 420, der das Problem als Realismus-Antirealismus-Streit diskutiert. – Dörflinger scheint sogar das wesentliche Merkmal des Glaubens darin zu sehen, dass die Existenz Gottes nicht nur gedacht, sondern für wahr befunden wird. Auch der Ungläubige könne zugestehen, dass „Gott als Garant der nicht im Menschenvermögen liegenden Vollendung der Rationalität praktischer Vernunft notwendig zu denken sei, daß aber […] von der tatsächlichen universellen Vernünftigkeit der Verhältnisse nicht mit der zum Glauben nötigen Gewißheit auszugehen sei“ (Dörflinger 2004, 216 f.). – Weidemann möchte in Kants Ausführungen zwei verschiedene Typen
4.2 Der ‚moralische Gottesbeweis‘
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mehrfach wiederholte Aussage Kants, die Postulatenlehre sei eine „Erweiterung der theoretischen Vernunft und der Erkenntnis derselben in Ansehung des Übersinnlichen überhaupt, so fern als sie genötigt wurde, daß es solche Gegenstände gebe, einzuräumen“ (KpV VII, 268; Hervorhebung von Kant). Darüber hinaus ist offensichtlich, dass der Glaube seinen Zweck nur dann erfüllt, wenn der Gläubige tatsächlich von der Existenz Gottes überzeugt ist.Wer nur so tut, als gäbe es Gott, der wird in der Logik Kants an der Alternative ‚Narr oder Schurke‘ nicht vorbeikommen, denn er handelt zwar, als ob der Endzweck möglich wäre, weiß aber zugleich, dass dies eine allzu optimistische Annahme ist. Der Streit der beiden genannten konträren Positionen, deren Vertreter mit bemerkenswertem Fleiß das Werk Kants nach Belegstellen durchforsten, muss hier nicht gelöst werden.²¹⁴ Die interessante Beobachtung scheint mir stattdessen zu sein, dass die kontroverse Suche nach der ‚eigentlichen‘ Intention Kants offenlegt, dass diese Intention in sich gespalten ist und dass ihr ein ernsthaftes Problem in der Sache zugrunde liegt, an dem sich die Religionsphilosophie bis heute abzuarbeiten hat: Wie ist ein Fürwahrhalten möglich, das subjektiv gerechtfertigt sein soll, obwohl keine objektiven Gründe dafür vorliegen; wie kann es eine „Hoffnungsgewissheit“ geben, die zwar mehr als bloßes Wünschen ist, aber keine „Wissensgewissheit“ (Schärtl 2011, 159)? Dieses Problem ist freilich ebenso im Hinterkopf zu behalten, wenn in den folgenden Kapiteln die Hoffnung auf Fortschritt in der Geschichte thematisiert wird.
von Argumenten entdecken: Ein theoretisches, das die Existenz Gottes begründe, und ein praktisches, das den Glauben an die Existenz Gottes zur moralischen Pflicht mache. Das, was Weidemann das ‚praktische Argument‘ nennt, wird von Kant wiederholt vehement bestritten, denn es kann nicht zur Pflicht gemacht werden, eine theoretische Überzeugung zu haben (vgl. etwa KpV VII, 278 f.) – vielmehr wird jedes vernünftige Wesen automatisch zur Gottesannahme kommen, wenn es ausreichend nachdenkt. Weidemanns Rekonstruktion des ‚theoretischen Arguments‘ erweist sich als ein sehr einseitiges Verständnis, das den Unterschieden zu den traditionellen teleologischen und ontologischen Beweisen nicht gerecht wird. Dies zeigt sich etwa in der Behauptung, Kant schlösse vom Faktum der Vernunft auf das Faktum (!) der Existenz Gottes (vgl. Weidemann 2007, 195). Während Kant mit dem Faktum der Vernunft auf das anspielt, was die Vernunft aus sich heraus selbst macht, beinhaltet ein Postulat das, was die Vernunft einfordert. Es bleibt sogar zweifelhaft, ob es sich um einen echten Streit handelt. Worin genau besteht der Unterschied, ob ich ‚nur‘ handeln muss, als ob Gott existiere, oder ob ich die Überzeugung von der tatsächlichen Existenz Gottes als vernunftnotwendig ansehe?
5 Säkularisierte Eschatologie in der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft 5.1 Moral und Geschichte als Thema der Religionsschrift Kants religionsphilosophisches Hauptwerk, die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft von 1793, weicht in mehreren Hinsichten von den anderen großen Schriften ab. Ein erster Unterschied zeigt sich bereits am Titel: Weder als „Kritik“ noch als „Metaphysik“ bezeichnet, lässt sich die RGV weder dem „kritischen“ noch dem „doktrinalen Geschäft“ zuordnen, zumal auch das Erscheinungsdatum genau zwischen diese beiden Phasen im Schaffen Kants fällt. Eine zweite Besonderheit liegt in Kants Publikationsstrategie: Obwohl von vornherein als einheitliches Werk geplant, versuchte Kant zunächst, die beiden ersten „Stücke“ (Kant bezeichnet jedes der vier Teile des Werkes als „Stück“) jeweils selbstständig als Aufsatz zu veröffentlichen, was aufgrund der geltenden Zensurvorschriften mit einem deutlich höheren Risiko verbunden war als eine Buchveröffentlichung. Entsprechend wurde die Publikation des Zweiten Stücks in der Berlinischen Monatsschrift von der Zensurbehörde tatsächlich untersagt, und Kant blieb nichts anderes als die Buchform übrig.²¹⁵ Der dritte bedeutende Unterschied zu Kants übrigen Werken betrifft die verwendete philosophische Methode. Auch wenn Kants Ankündigung, zum Verständnis der RGV bedürfe es „nur der gemeinen Moral, ohne sich auf die Kritik der p. [sic] Vernunft, noch weniger aber der theoretischen einzulassen“ (RGV VIII, 661), durch den Inhalt der Schrift reichlich konterkariert wird, steht doch außer Frage, dass Kant weder auf eine transzendentalphilosophische noch auf eine strenge a priori-Methode zurückgreift. Vielmehr erfolgt die Entwicklung seiner Theorie in ständiger Auseinandersetzung mit christlichen Gehalten. Folgt man dem Vorwort zur ersten Auflage, dann möchte Kant „von der biblischen Theologie etwas entlehn[en], um es zu seiner Absicht zu brauchen“ (RGV VIII, 656), nicht aber in religionskritischer Absicht etwas in die Theologie ‚hineintragen‘ (vgl. ebd.). Abgesehen davon, dass die RGV dann doch deutliche Anweisungen zur biblischen Hermeneutik²¹⁶ und eine radikale Kritik an bestimmten Lehren und Glaubensformen in die Theologie ‚hineinträgt‘, stellt sich die Frage, weshalb ein trans-
Die Wirrungen um das meist Woellner zugeschriebene Religionsedikt und Kants merkwürdiges Verhalten im Zusammenhang mit der Publikation der RGV werden in Stangneth 2003 hervorragend aufgearbeitet. „Der Kirchenglaube hat zu seinem höchsten Ausleger den reinen Religionsglauben“ (RGV VIII, 770).
5.1 Moral und Geschichte als Thema der Religionsschrift
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zendentalphilosophisches System in irgendeiner Weise aus einem dogmatischen System etwas ‚entlehnen‘ könne, was es nicht mit eigener Begrifflichkeit ebenso klar zum Ausdruck bringen könnte.²¹⁷ Wenn diese und weitere Differenzen und Ungereimtheiten seit Erscheinen der RGV bis heute dazu führen, dass Kants „schädliche Schriften“²¹⁸ geeignet erscheinen, selbst „den Anhänger Kants an ihm irre zu machen“²¹⁹, so steht dem dennoch in den letzten Jahren eine fast schon erstaunliche Wieder- oder Neuentdeckung der Relevanz der RGV, insbesondere für die Theologie, aber auch für die Kant-Forschung und die systematische Philosophie, gegenüber.²²⁰ Neben der religionsphilosophischen Deutung der Schrift hat sich jüngst eine eigene ‚politische‘ Interpretationsrichtung etabliert, die weniger die Forderung nach der Vernünftigkeit religiöser Ansprüche in den Vordergrund rückt, sondern den Rückgriff auf das Modell der Religion als Versuch der Lösung spezifischer Probleme der Sozialphilosophie auffasst.²²¹ Bevor die säkularisierte Eschatologie im Dritten Stück der Religionsschrift ausführlich abgehandelt wird, sei zunächst nach wenigen Bemerkungen zur Struktur der Schrift auf zwei Stellen im Ersten Stück hingewiesen, die die
Habermas findet in Kants Religionsphilosophie seinen eigenen Ansatz wieder, demzufolge die Übersetzung religiöser Begriffe in die Sprache säkularer Diskurse verschüttete Intuitionen wecken kann. Entsprechend verwende Kant das Christentum als „Inspirationsquelle“ (Habermas 2005, 234). Siehe auch Kapitel 5.6. So bezeichnete Friedrich Wilhelm II die RGV in einem Brief an Woellner; vgl. Vorländer 1974, 180. So ein Rezensent bereits 1793. Zitiert nach Stangneth 2000, 13. Die Relevanz für die Kant-Forschung zeigen ausführlich Klar 2007 und Stangneth 2000; vgl. auch Städtler 2005a, 22– 24. Paradigmatisch für das Interesse an Kants Religionsphilosophie in der systematischen Philosophie ist Habermas 2005; einen ganz anderen Ansatz verfolgt Städtler 2005. Beleg für die Wiederentdeckung Kants in der Theologie ist die Flut an Sammelbänden in den letzten 20 Jahren (z. B. Rossi/Wreen 1991; Ricken/Marty 1992; Fischer 2004; Thiede 2004; Essen/Striet 2005 und Göcke/Wasmaier-Sailer 2011). Trotz des aufkommenden Interesses wird die RGV bislang überwiegend nicht in der gebotenen Gründlichkeit behandelt; es mangelt nicht zuletzt an Monographien. „Wenn diese Grundlegung [des menschlichen Handelns; MH] im Rahmen einer Kultur der Geschicklichkeit [gemeint ist die Rechtsphilosophie, MH] nicht verständlich gemacht werden kann, eine Kultur mit Moral aber nur als Religion möglich ist, dann ist die Religion Kants eine Schrift zur Politik und das heißt, daß sie theologisch nur umwillen ihrer politischen Zielsetzung ist.“ (Stangneth 2000, 83; meine Hervorhebung). In diese Richtung tendieren auch Klar 2007 sowie die Sammelbände Langthaler/Nagl-Docekal 2004 und Sädtler 2005; zur Intention der politischen Interpretation vgl. Städtler 2005a, 19 – 22. Der Begriff einer ‚politischen Interpretation‘ mag zu Missverständnissen führen: Gemeint ist ‚Politik‘ nicht im Sinne Kants als „ausübende Rechtslehre“ (ZeF XI, 229), sondern als die Thematik des Zusammenlebens von Menschen überhaupt.
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5 Säkularisierte Eschatologie in der Religionsschrift
Problematik von Moral und Geschichte als zentrales Thema der Religionsschrift einführen. Während das Vierte Stück der Religionsschrift, das eine Kritik an bestehenden Religionspraktiken und kirchlichen Vorschriften enthält, als in sich geschlossenes Fazit gelesen werden kann, bilden die ersten drei Stücke eine durchgängige Entwicklungslinie. Das Erste Stück setzt unausgesprochen bei dem Problem an, wie es sein kann, dass Menschen trotz ihrer praktischen Vernunft böse handeln.²²² In Auseinandersetzung mit der christlichen Erbsündenlehre löst Kant dieses Problem mit der Konzeption eines selbst unerklärlichen, zeitlosen und selbstverschuldeten Hanges des Menschen, die sinnlichen Triebfedern der Triebfeder der reinen Vernunft vorzuziehen. Der Mensch kann nur deshalb böse handeln, weil er in diesem Sinn trotz des Faktums der Vernunft „von Natur böse“ (RGV VIII, 680) ist. Der „natürliche[.] Hang zum Bösen“ (RGV VIII, 685) kann nur durch eine ebenso atemporale²²³ „Revolution in der Gesinnung“ überwunden werden, der allerdings im beobachtbaren Verhalten nur eine „allmähliche Reform“ (RGV VIII, 698) korrespondiert. Im Zweiten Stück wird unter Verwendung christologischer Motive zunächst aufgezeigt, dass der Mensch darauf verwiesen ist, nach dem Vorbild Jesu – der zugleich als Mensch dem Bösen ausgeliefert ist und sich aufgrund seiner göttlichen Abstammung darüber hinwegsetzen kann – das Böse zu überwinden. Daraus folgert Kant, dass er die Überwindung des Bösen auch können muss – und zwar so weitgehend, dass er trotz seines ursprünglichen bösen Charakters letztlich als „Gott wohlgefällig“ (RGV VIII, 714), also – in der Sprache der Theologie – als „gerechtfertigt“ gelten kann. Auch wenn die grundsätzliche Möglichkeit der Rechtfertigung damit gezeigt ist, bleibt der Mensch dem „Kampf beider Prinzipien miteinander“ (RGV VIII, 734), dem Kampf des guten Prinzips mit dem bösen, ausgeliefert. Erst das Dritte Stück entwickelt das Konzept einer endgültigen, weil intersubjektiven Überwindung des Bösen.²²⁴ Wenn man sich diese Struktur der ersten drei Stücke der RGV ansieht, muss es verwundern, dass Kant im Ersten Stück mit einer Diskussion zweier gängiger Deutungen von Geschichte beginnt. Die von Kant gestellte Frage, ob der Mensch
Siehe auch Kapitel 3.1. Kant entwickelt m. E. in der RGV keine neue, in Konkurrenz mit den Ergebnissen der Grundlegungsschriften tretende Theorie (so aber Horn 2011, 65 und Klar 2007, 68 – 82), sondern behandelt offene Probleme dieser Schriften. Kants Theorie bleibt in diesem Punkt von seiner sicherlich problematischen Lehre von nicht der Zeit unterworfenen „Dingen an sich“ abhängig. Horn (2011, 65 f.) läuft mit seiner Kritik, die Revolution der Denkungsart sei an keinem Zeitpunkt festzumachen, aber ins Leere, weil Kant selbstverständlich genau das behaupten möchte. Für eine Übersicht über die Argumentationsstruktur der Religionsschrift vgl. auch Hoesch 2012a.
5.1 Moral und Geschichte als Thema der Religionsschrift
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„von Natur gut, oder […] von Natur böse“ (RGV VIII, 667) sei, hat ja dem ersten Anschein nach gar keinen direkten inhaltlichen Bezug auf die Frage nach einem historischen Verfall oder Fortschritt: Erstens gilt, dass ein böser Mensch immer böse, ein guter Mensch immer gut bleiben, und ein von Natur guter Mensch durch seine Biographie böse werden kann und umgekehrt – jede Antwort auf die gestellte Frage ist mit mehreren Entwicklungs- oder Stillstandsthesen vereinbar. Zweitens beträfe diese Entwicklung zunächst nur jedes einzelne Individuum, nicht aber die Menschheit als Ganzes. Ein wichtiges Ergebnis der frühen Kritiken ist es gerade, dass jeder Einzelne gut handeln soll. Entsprechend müsste, wenn der Mensch denn von Natur aus böse wäre, die Entwicklung zum Guten jeden Einzelnen betreffen – und zwar unabhängig von den historischen Umständen, die er zunächst einmal als unveränderliche Rahmenbedingungen seiner eigenen Existenz vorfindet. „Daß die Welt im Argen liege: ist eine Klage, die so alt ist, als die Geschichte²²⁵, selbst als die noch ältere Dichtkunst, ja gleich alt mit der ältesten unter allen Dichtungen, der Priesterreligion.“ (RGV VIII, 665) Nun könnte diese Klage grundsätzlich mit jedem Geschichtsbild vereinbar sein. Der Verfallstheoretiker wird behaupten, die Welt läge schon im Argen; der Fortschrittstheoretiker müsste sagen, mit ihr sei es noch schlecht bestellt. Kant scheint aber vorauszusetzen, dass dies nicht die Intention der überlieferten Formen von Geschichtsdeutung sein kann. Der Verfallstheoretiker ist vielmehr Pessimist; seine Klage beruht auf einem negativen Menschenbild, das nur als Resultat eines moralischen Niedergangs zu deuten ist. Der Fortschrittstheoretiker vertritt dagegen eine optimistische Anthropologie: Nur weil der Mensch über eine gute Anlage verfügt, also schon von Grund auf gut ist, kann die Menschheit moralisch fortschreiten. Wer also die Gegenwart im Argen liegen sieht, lässt paradoxerweise „gleichwohl die Welt vom Guten anfangen: vom goldenen Zeitalter, vom Leben im Paradiese, oder von einem noch glücklicheren, in Gemeinschaft mit himmlischen Wesen“ (RGV VIII, 665). Kant spielt mit dem goldenen Zeitalter auf Hesiod²²⁶ und mit der Gemeinschaft mit himmlischen Wesen vermutlich auf Platon an.²²⁷ Außerdem erwähnt er den hinduistischen Weltalter-Mythos, nach dem „der Welt Untergang vor der Tür ist“ (RGV VIII, 665). Ausdrücklich wird auch das Christentum der Verfallstheorie zugerechnet: zum einen durch den Verweis auf das
Gemeint ist offensichtlich die antike Geschichtsschreibung. Vgl. zu diesem Motiv auch MAM: Kant bringt dort das von den „Dichtern“ (gemeint ist Hesiod und die an ihn anknüpfende Tradition) so gepriesene goldene Zeitalter mit der Sehnsucht in Verbindung, die „die Robinsone und die Reisen nach den Südseeinseln so reizend macht“ (MAM VIII, 101). So auch Horn 2011, 44.
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5 Säkularisierte Eschatologie in der Religionsschrift
Paradies, zum anderen durch die schon genannte Formulierung, die Welt läge „im Argen“, welche ein Zitat aus dem ersten Johannes-Brief darstellt.²²⁸ Dass Kant griechische, christliche und hinduistische Beispiele der Verfallstheorie nennt, spiegelt nicht nur „sein weitläufiges religionsgeschichtliches Interesse wider“ (Horn 2011, 44), sondern hat an dieser Stelle die Funktion, die Verfallstheorie als die traditionelle Geschichtsauffassung schlechthin zu erweisen. Dieser Anspruch bringt zweifellos frappante Vereinfachungen mit sich: Selbst die griechische Tradition kennt nicht nur eine rückblickende Verfallstheorie, sondern durchaus auch eine optimistische Zukunftshoffnung, die in ein zyklisches Geschichtsbild eingebettet ist.²²⁹ Vor allem aber kann die christliche Tradition nicht auf die Verfallstheorie eingeengt werden, benutzt Kant sie doch später als Modell seiner eigenen Theorie (siehe Kapitel 5.5). Dass Kant die Verfallstheorie für falsch hält, zeigt sich nicht nur an der distanzierenden Rhetorik, mit der er sie zu illustrieren versucht. Nebenbei trägt er auch ein Argument vor, das die Verfallstheorie als unplausibel, wenn nicht als widersprüchlich erscheinen lassen soll. Die Verfallstheorie neigt nämlich dazu, die jeweilige Gegenwart als Endpunkt des Verfalls anzusehen, auf den nur noch das Weltende folgen kann. Weil diese Behauptung aber „so alt [ist], als die Geschichte“ (RGV VIII, 665), wird letztlich jeder Zeitpunkt der Weltgeschichte als Tiefpunkt der moralischen Entwicklung dargestellt – wenn die Verfallstheoretiker also Recht haben, widerlegen sie damit beständig ihre eigene These. Die Fortschrittstheorie ist laut Kant nicht in gleicher Weise zum Gemeinplatz geworden wie die Verfallsthese. Sie ist zum einen eine neuere Erscheinung²³⁰, womit Kant sich offensichtlich auf die Entstehung der Geschichtsphilosophie in der Aufklärung bezieht. Das schließt nicht aus, dass vereinzelt auch antike Philosophen der Fortschrittstheorie zugerechnet werden können – Kant zitiert etwa Seneca (vgl. RGV VIII, 666). Zum anderen ist sie „wohl allein unter Philosophen, und in unsern Zeiten vornehmlich unter Pädagogen“ (RGV VIII, 665) beliebt – alles in allem also „weit weniger ausgebreitet“ (RGV VIII, 665) als die Verfallstheorie.²³¹ Insbesondere scheint Kant ausdrücklich behaupten zu wollen, dass die Fortschrittstheorie nicht Teil irgendeiner Religion sei („wohl allein unter Philosophen“), auch nicht des Christentums. Wie Kant dann später die christliche
„Wir wissen, daß wir von Gott sind und die ganze Welt im Argen liegt.“ (1. Joh 5,19) Dies zeigt mit Beispielen Demandt 2011, 54– 69. „Neuer […] ist die entgegengesetzte heroische Meinung…“ (RGV VIII, 665) Bohatec (1938, 1168 – 174) versucht zu plausibilisieren, dass Kant v. a. an Basedow, Shaftesbury, Hutcheson, Hume, Montesquieu und den Abbé de Saint-Pierre gedacht habe; dazu bezieht sich Bohatec u. a. auf Äußerungen Kants an anderen Stellen. Letztlich kann man über vage Vermutungen wohl kaum hinauskommen.
5.1 Moral und Geschichte als Thema der Religionsschrift
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Eschatologie als Fortschrittstheorie deuten kann, bleibt offen: Vielleicht sieht er zwischen seiner optimistischen Theorie der kontinuierlichen Annäherung an einen vollkommenen Endzustand und der biblischen Reich-Gottes-Idee, die ursprünglich aus der Erlösungshoffnung von der so defizitären Welt lebt,²³² eine größere Differenz, als später zum Ausdruck kommt. Wie wird die Fortschrittstheorie nun genauer charakterisiert? Fast scheint es, als wolle Kant mit ironischem Unterton zeigen, dass die Fortschrittstheoretiker sich alle Mühe geben, ihre These dadurch aufrechtzuerhalten, dass sie deren Reichweite bis nahezu zur Inhaltslosigkeit aushöhlen. Ihre Behauptung sei nämlich, „daß die Welt gerade in umgekehrter Richtung, nämlich vom Schlechten zum Bessern, unaufhörlich (obgleich kaum merklich) fortrücke, wenigstens die Anlage dazu in der menschlichen Natur anzutreffen sei“ (RGV VIII, 665). Die starke These des „unaufhörlichen“ Fortschritts wird also zunächst dadurch eingeschränkt, dass dieser „kaum merklich“ sei, im zweiten Schritt dann fast ganz zurückgenommen, weil eine bloße „Anlage“ zum Fortschreiten überhaupt keinen sichtbaren Fortschritt mehr impliziert. Eine solche Zurücknahme des messbaren Gehalts der Fortschrittsthese wird durch einen Blick auf die Empirie offensichtlich unumgänglich: „Diese Meinung aber haben sie sicherlich nicht aus der Erfahrung geschöpft, wenn vom Moralisch-Guten oder Bösen (nicht von der Zivilisierung²³³) die Rede ist: denn da spricht die Geschichte aller Zeiten gar zu mächtig gegen sie […].“ (RGV VIII, 665 f.) Weil der Fortschritt empirisch gerade nicht feststellbar ist – was von den Vertretern der Fortschrittsthese laut Kant wohl gar nicht bestritten wird –, muss die Fortschrittsthese eine gegen jede Empirie abgeschottete Gestalt einnehmen. Dadurch wird sie aber zur bloßen „heroische[n] Meinung“ (RGV VIII, 665), deren Richtigkeit durch nichts gestützt wird. Kant geht sogar noch weiter und entlarvt die Fortschrittsthese als eine mutwillige Erfindung in pädagogischer Absicht: Sie sei nämlich „vermutlich bloß eine gutmütige Voraussetzung der Moralisten von Seneca bis zu Rousseau, um zum unverdrossenen Anbau des vielleicht in uns liegenden Keimes zum Guten anzutreiben“ (RGV VIII, 666). Ein einziges wirkliches Argument legt Kant den Vertretern der Fortschrittsthese in den Mund: Da man den Menschen in seinem physischen Normalzustand als „gesund“ einstuft, gäbe es keinen Grund, seinen durchschnittlichen morali-
Siehe dazu den Hinweis auf die generelle Differenz spät- und nachantiken Geschichtsdenkens zur biblischen Eschatologie in Kapitel 2. Es bleibt offen, ob mit der Zivilisierung ein Fortschritt des Wohlstands und der Technik gemeint ist – in diesem Fall würde die Empirie wohl ein klares Votum abgegeben – oder ein Fortschreiten der Verfassungen hin zur Republik – hier äußert sich Kant unterschiedlich über die Aussagekraft empirischer Befunde; siehe Kapitel 6. Zum Begriff der Zivilisation bei Kant vgl. IaG XI, 44 und Kapitel 6.1.
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schen Zustand nicht ebenso für gesund zu halten. Dies hieße nichts weniger als anzunehmen, dass uns „die Natur selbst beförderlich“ wäre, die „sittliche Anlage zum Guten in uns auszubilden“ (RGV VIII, 666). Kant setzt sich mit diesem Argument nicht weiter auseinander. Es wird aber implizit deutlich, dass er es in gleicher Weise für eine „gutmütige Voraussetzung“ hält wie die Fortschrittsthese selbst.Vergleicht man aber seine Haltung gegenüber der Fortschrittsthese mit den Äußerungen zur Verfallstheorie, dann zeigt sich zwar jeweils Ablehnung, jedoch aus unterschiedlichen Gründen: Die Verfallstheorie liefert für Kant gar keine sinnvolle Beschreibung der Geschichte; die Fortschrittsthese könnte – wenigstens in einer Lesart, die mit den Einwänden der Empirie konform geht – möglicherweise für eine solche Beschreibung tauglich sein, aber nur dann, wenn an die Stelle gutmütiger Voraussetzungen Vernunftgründe treten würden.²³⁴ Was beide Geschichtsauffassungen teilen, ist offenbar die Annahme, der Mensch verhalte sich jedenfalls in der Gegenwart eher schlecht als recht. Dem schließt sich Kant auch ausdrücklich und mit eindrucksvollen Illustrationen, die von der Blutrünstigkeit der Hundsrippen-Indianer bis zur alltäglichen „geheimen Falschheit“ reichen (vgl. RGV VIII, 681), an. In diesem Zusammenhang – also inmitten des Nachweises der Bösartigkeit der menschlichen Natur – kommt Kant überraschend erneut auf das Thema der Geschichte zu sprechen. Die Bösartigkeit der Menschen zeige sich nämlich besonders im Naturzustand zwischen den Staaten. Kant verzichtet darauf, dies mit Beispielen zu illustrieren. Was die Bösartigkeit der menschlichen Natur am stärksten belegt, scheinen auch gar nicht die konkreten Gräuel zu sein, die Kriege zwischen den Staaten mit sich bringen, sondern ist vielmehr die Tatsache, dass Staaten im Naturzustand „sich auch fest in den Kopf gesetzt haben, nie daraus zu gehen“; dass sie weiterhin nach „nie abzulegende[n] Grundsätze[n]“ handeln, die „noch kein Philosoph mit der Moral hat in Einstimmung bringen“ (RGV VIII, 682) können. Im Ergebnis werde deshalb „der philosophische Chiliasm, der auf den Zustand eines ewigen, auf einen Völkerbund als Weltrepublik gegründeten, Friedens hofft, eben so wie der theologische, der auf des ganzen Menschengeschlechts vollendete moralische Besserung harret, als Schwärmerei allgemein verlacht“ (RGV VIII, 682 f.). Diese Aussagen sind in mehrfacher Hinsicht interessant und werfen Probleme auf. Zunächst ist festzustellen, dass Kant ausdrücklich zwei Vorstellungen von historischem Fortschritt parallelisiert: Auf der einen Seite steht der Rechtsfort-
Mit dieser Interpretation erweist sich der Vorwurf von Horn (2011, 45), Kant würde hier eine Position zurückweisen, die er später selbst teilt, als haltlos: Kant weist nicht die Position zurück, sondern macht nur auf das bisherige Fehlen einer philosophisch befriedigenden Grundlegung der Position aufmerksam.
5.1 Moral und Geschichte als Thema der Religionsschrift
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schritt, als ‚philosophischer Chiliasmus²³⁵‘ bezeichnet; auf der anderen Seite der moralische Fortschritt, der ‚theologische Chiliasmus‘. Die Begriffe ‚philosophisch‘ und ‚theologisch‘ dürfen hier nicht als Gegensätze gelesen werden, wie Kant sie an anderer Stelle²³⁶ gebraucht. Der theologische Chiliasmus ist nach Kants Vorstellung selbstverständlich auch Teil der Philosophie – bzw. der Religion, die innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft verbleibt.²³⁷ Dennoch macht Kant mit dieser Gegenüberstellung deutlich, dass die philosophische Theologie für den moralischen Fortschritt eine fundamental andere Rolle übernimmt als für den Rechtsfortschritt (siehe auch Kapitel 9). Sodann verwundert, dass Kant die gesuchte anthropologische Konstante – die Gut- oder Bösartigkeit des Menschen – an dieser Stelle in ein ganz anderes Verhältnis zur Geschichte setzt als zu Beginn des Ersten Stückes. Wurde dort die Bösartigkeit als Resultat einer Verfallsgeschichte bzw. als Ausgangsstadium einer Entfaltung der guten Anlage angesehen, ist jetzt die Bösartigkeit schuld daran, dass jede positive historische Entwicklung der Menschheit ausgeschlossen erscheint. Rechtsfortschritt ist demnach gar nicht möglich, weil die Menschen aufgrund ihres Hanges zum Bösen die Strukturen des internationalen Rechts nicht verbessern können. Spätestens diese Beobachtung provoziert die Frage, inwieweit Kant an der zitierten Stelle überhaupt von seiner eigenen Position spricht oder eher – wie schon zu Beginn des Ersten Stücks – gängige Vorstellungen darstellt, die er selbst gar nicht teilt. Eine ganze Reihe von Aussagen widerspricht nämlich allzu deutlich dem, was Kant andernorts klarerweise vertritt: Seine Theorie internationaler Beziehungen soll, wie in Kapitel 3.3 dargelegt, die Moral mit den Handlungsgrundsätzen der Staaten in Übereinstimmung gebracht haben, was nach der zitierten Stelle noch kein Philosoph geschafft habe; seine Moralphilosophie, bei der das Sollen ein Können impliziert, erlaubt keine Negierung der Möglichkeit, dass Staaten zukünftig den Naturzustand verlassen werden;²³⁸ und seine Reli-
Zum Begriff des Chiliasmus in der biblischen und theologischen Tradition vgl. Kapitel 2. Kants Aufgreifen des Begriffs wird in dieser Arbeit noch mehrfach zur Sprache kommen. So z. B. in der Gegenüberstellung des Philosophen mit dem biblischen Theologen in der Vorrede zur ersten Auflage der Religionsschrift. Anders etwa Biesterfeld/Mühlmann 1971 und Stangneth (2000). Stangneth (2000, 83) behauptet, Kant vollziehe hier einen Vergleich der beiden Disziplinen Philosophie und Theologie. Kant kann hier aber nur die sog. „philosophische Theologie“ meinen, die „das anvertraute Gut einer anderen [nämlich der philosophischen; MH] Fakultät“ (RGV VIII, 655) ist. In der in der zweiten Auflage ergänzten Fußnote zu dieser These erläutert Kant ausführlich, dass man im Lauf der Geschichte einen Mechanismus erkennen könne, der dazu führt, dass es immer Kriege geben wird. Dies widerspricht eindeutig seiner Geschichtsphilosophie; siehe insbesondere Kapitel 7.
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gions- und Geschichtsphilosophie – so viel kann vorweggenommen werden – rechtfertigt die Hoffnung auf moralischen und juridischen Fortschritt, sodass diese in beiden Fällen keine „Schwärmerei“ mehr darstellt.²³⁹ Wenn man deshalb annimmt, dass Kant hier fremde Positionen referiert,²⁴⁰ stellt sich allerdings das Problem, dass schwer zu erklären ist, wie er mit aus seiner Sicht falschen Prämissen den Nachweis der Bösartigkeit der menschlichen Natur führen möchte. Allenfalls könnte er die falschen Prämissen aus rhetorischen Gründen verwendet haben, um diesen Nachweis unter Rückgriff auf eine damals allgemein geteilte Einschätzung der Aussichtslosigkeit friedlicher Kooperation von Staaten möglichst überzeugend führen zu können. Hier bleibt ein ungelöstes Interpretationsproblem bestehen. So bleibt an dieser Stelle kein anderes Fazit, als dass die Hinweise auf das Verhältnis von Moral und Geschichte, die sich im Ersten Stück an prägnanten Stellen finden und somit ein Leitmotiv des gesamten Werkes vorgeben, vorläufig nur als Problemaufriss aufzufassen sind. Kant möchte mit seinem Bezug auf die Geschichtlichkeit moralischer Entwicklung im Ersten Stück nicht nur mögliche Fragen rund um Entwicklungstheorien präsentieren²⁴¹ und seine rigoristische Haltung in der Frage nach Gut und Böse untermauern²⁴². Vielmehr deuten sich bereits Schwierigkeiten an, die Kant im Dritten Stück ausführlich wieder aufgreift. Zentral ist dabei folgende Feststellung: Gleich ob man ein optimistisches oder ein pessimistisches Menschenbild vertritt – beide Varianten gehen üblicherweise mit einer Geschichtsvorstellung einher, nämlich mit Verfall, Fortschritt oder der Un-
McGaughey (2011, 287) liegt deshalb mit der Behauptung falsch, Kant lehne den Chiliasmus grundsätzlich als Schwärmerei ab; siehe die Kapitel 5.5, 6.1 und 7.2. So etwa Stangneth (2000, 83): Sie liest die Passage als einen Vorwurf Kants an die Philosophie seiner Zeit mit der Intention, dass diese sich endlich ernsthafter mit der Thematik befassen solle. Man könnte auch argumentieren, lediglich die im Passiv wiedergegebene Geringschätzung der beiden Chiliasmen sei eine nur zitierte Position, die Kant nicht teilt; damit wäre immerhin ein Teil der Widersprüche gelöst. So Stangneth 2000, 45. Ich verdanke Stangneth die Einsicht, dass die Religionsschrift gezielt eine Theorie moralischer Entwicklung enthält; dies schlägt sich in der folgenden Interpretation immer wieder nieder. So Horn 2011, 45 f.: „Kants eigentliches Anliegen in der gesamten Passage ist es jedoch, mit der intermediären These aufzuräumen“, wonach der Mensch weder gut noch böse oder beides zugleich sei. Ich halte den Absatz, auf den sich Horn zur Begründung seiner These bezieht (RGV VIII, 666), für mindestens editorisch falsch platziert, wenn nicht gar völlig ungewollt in den Text geraten; vgl. dazu Kants Brief an Biester vom 18. Mai 1794 und Brandt 1995. Auch unabhängig von diesem editorischen Problem muss man an Horns These zweifeln, dass die beiden vorgestellten Geschichtsauffassungen eine Zurückweisung der intermediären Position implizieren, denn der Mensch ist entweder noch nicht ganz gut oder nicht mehr ganz gut, also in jedem Fall gut und böse zugleich.
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möglichkeit künftigen Fortschritts.Warum ist das so; wieso reicht eine individuelle Sicht auf das Problem des Bösen nicht aus? Wenn der Mensch aber böse ist, wie ist dann überhaupt eine historische Entwicklung zum Guten möglich? In welchem Verhältnis steht ferner die Empirie zur These eines moralischen Fortschritts? Kant stellt die Religionsschrift von vornherein in den Kontext von Moral und Geschichte, ohne dass eine Lösung dieser Probleme auch nur am Horizont sichtbar wäre.
5.2 Das ethische Gemeinwesen als Volk unter göttlichen Gesetzen Fragt man nach säkularisierter Eschatologie in Kants Religionsphilosophie, verspricht bereits der Titel des Dritten Stücks fündig zu werden: „Der Sieg des guten Prinzips über das böse, und die Gründung eines Reichs Gottes auf Erden“. Was Kant sich hier vornimmt, kann mit gutem Recht als „philosophische Eschatologie“ (Höffe 2011, 12) bezeichnet werden, wenngleich diese Begrifflichkeit noch offen lässt, worin der philosophische Charakter der Eschatologie bzw. der eschatologische Charakter der Philosophie hier bestehen könnte. Dies herauszuarbeiten ist das zentrale Anliegen der folgenden Interpretation. Kant unterteilt das Dritte Stück in eine „Philosophische Vorstellung“ und eine „Historische Vorstellung“ der Gründung der Herrschaft des guten Prinzips. Die philosophische Vorstellung war für meine Zwecke nochmals zu gliedern, nämlich in eine Entwicklung des Begriffs eines ethischen Gemeinwesens als Volk unter göttlichen Gesetzen (5.2), einen Übergang vom reinen Begriff des ethischen Gemeinwesens zu seinen geschichtsphilosophischen Implikationen (5.3) und sodann einer pointierten Darstellung der christlichen Eschatologie als Muster einer Geschichtsphilosophie (5.4). Die historische Vorstellung befasst sich schließlich mit einer Deutung der Kirchengeschichte (5.5). Dass der Mensch gut handeln soll, ist eine unbedingte, d. h. ausnahmslose Forderung der Vernunft. Da aus dem Sollen das Können folgt, muss der Mensch auch gut handeln können – so ja auch das Ergebnis des Ersten und Zweiten Stücks. Aber dieses Können impliziert nicht, sich von seinem Hang zum Bösen endgültig lösen zu können.Vielmehr muss der Mensch sich immer wieder neu zu guten Taten motivieren. Aus Pflicht zu handeln ist kein Selbstläufer, sondern bedarf einer aktiven Tat der reinen Vernunft. Diesen Zusammenhang fasst Kant bildreich als immerwährenden Kampf des guten Prinzips mit dem bösen:²⁴³
Wenn Baumgartner die These vertritt, das Dritte Stück setze voraus, dass „jeder einzelne
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5 Säkularisierte Eschatologie in der Religionsschrift
„Daß er frei, daß er ‚der Knechtschaft unter dem Sündengesetz entschlagen wird, um der Gerechtigkeit zu leben‘²⁴⁴, das ist der höchste Gewinn, den er erringen kann. Den Angriffen des letztern [des bösen Prinzips; MH] bleibt er nichts destoweniger noch immer ausgesetzt; und seine Freiheit, die beständig angefochten wird, zu behaupten, muss er forthin immer zum Kampfe gerüstet bleiben.“ (RGV VIII, 751)
So weit, so gut. Doch warum sollte die Philosophie genötigt sein, über diesen Zustand des immerwährenden²⁴⁵ Kampfes hinauszudenken und den Zustand eines endgültigen Sieges über den Hang zum Bösen begrifflich zu entwickeln? Es könnte ja völlig genügen, den Kampf immer aufs Neue zu bestehen; in der Lebenserfahrung der moralischen Subjekte wird vermutlich auch nichts dem endgültigen Sieg Entsprechendes aufzufinden sein. Wenn man zumindest versuchen möchte Kant so zu lesen, als habe er das Konzept des endgültigen Sieges nicht nur deshalb eingeführt, damit er christlichen Gehalten überhaupt noch irgendeinen vernünftigen Sinn abgewinnen kann,²⁴⁶ lassen sich zwei Überlegungen anführen, die die Notwendigkeit dieses Konzeptes offensichtlich begründen sollen. Während die erste nur sehr kurz anklingt, scheint die zweite Kants ‚eigentliche‘ Motivation darzustellen und bestimmt den weiteren Verlauf seiner Argumentation. Erstens erinnert Kant an seine These, der Hang zum Bösen sei dem Menschen nicht etwa notwendig vorgegeben, sondern durch seine eigene intelligible Tat hervorgebracht und somit selbstverschuldet. Was er selbst verschuldet hat, muss aber soweit in seiner Verfügungsgewalt liegen, dass er in irgendeiner Weise an seinem Defizit arbeiten können wird.²⁴⁷ Es muss also möglich sein, in Richtung
Mensch […] durch die Ausbildung einer guten Gesinnung von der Herrschaft des Bösen befreit ist“ (1992, 157), dann kann das nur bedeuten, dass sich jeder Mensch in jeder einzelnen Situation von der guten Gesinnung leiten lassen kann. Baumgartners Folgerungen, im ethischen Naturzustand habe sich bereits jeder „das Sittengesetz zur obersten Maxime gemacht“ (1992, 158) und das Individuum sei „schon sittlich“ (1992, 160), gehen eindeutig zu weit, denn in diesem Fall würde sich kein weiteres Problem stellen. Kants Pointe ist dagegen, dass jedes Individuum erst dann vollkommen sittlich werden kann, wenn es die Gemeinschaft auch wird. Kant spielt offenbar auf 1 Petr 2,24 und Röm 6,18 an, wenngleich er den Bibeltext – anders als die Anführungszeichen vermuten lassen – nicht wörtlich wiedergibt. Wie das Zitat hinreichend zeigt, kommt Kant nicht an der Aporie vorbei, dass der im Zweiten Stück eingeführte Kampf des guten gegen das böse Prinzip einerseits den zeitlosen homo noumenon betreffen soll, andererseits aber nur als zeitlicher Kampf vorgestellt werden kann („immer“, „beständig“, „forthin“). Dies korrespondiert dem Problem, dass zeitlose Vernunftursachen irgendwie ‚stattfinden‘ müssen, was zeitliche Dimensionen zu verlangen scheint. In diese Richtung tendiert z. B. Sala 2004, 254. Im Zweiten Stück ist von dieser Konsequenz noch nichts zu sehen; vielmehr gilt der Mensch auch im Zustand des immerwährenden Kampfes als vollständig gerechtfertigt. Es wird dort sogar
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eines endgültigen Sieges über das Böse vorzudringen, auch wenn zunächst nicht absehbar ist, wie dies vonstattengehen könnte. „In diesem gefahrvollen Zustande [des immerwährenden Kampfes; MH] ist der Mensch gleichwohl durch seine eigene Schuld, folglich ist er verbunden, so viel er vermag, wenigstens Kraft anzuwenden, um sich aus demselben herauszuwinden. Wie aber?“ (RGV VIII, 751) Wichtig ist, dass es hier nicht darum geht, sich in konkreten Situationen stets neu für moralische Handlungen zu motivieren, sondern darum, den Zustand der Anfeindung durch das Böse insgesamt zu verlassen. Kants These ist mehr als eine sophistische Folgerung aus Sätzen des Ersten Stückes. Sie impliziert einerseits, dass entgegen der biblischen Tradition das Moment der Erlösung des Menschen durch Gott nicht das zentrale Anliegen ist, welches Kant hier verfolgt. Vielmehr geht es vorrangig (wenn auch nicht ausschließlich) darum, was Menschen tun müssen, um das Böse zu überwinden. Andererseits verbirgt sich hinter der harmlos wirkenden These eine gewichtige Aussage über die Rolle des Ideals einer Welt, in der das Böse überwunden wäre: Wer ein solches Ideal als bloße Utopie abtäte, auf die hinzuarbeiten nicht lohne, der müsste die Möglichkeit des Bösen als eine dem Menschen von außen vorgegebene, unabänderliche Tatsache ansehen, was für Kant jeden adäquaten Moralbegriff unmöglich machen würde. Zweitens aber bereitet Kant die Antwort auf die Frage „Wie aber?“ vor, indem er das Zusammenleben von Menschen als wichtige Ursache dafür identifiziert, dass der Mensch stets der Versuchung des Bösen ausgeliefert ist. Das damit verbundene Konzept eines ethischen Naturzustands²⁴⁸ wird zum Leitmotiv für die weitere Argumentation. Wenn der Mensch „sich nach den Ursachen und Umständen umsieht, die ihm diese Gefahr zuziehen und darin erhalten, so kann er sich leicht überzeugen, daß sie ihm nicht sowohl von seiner eigenen rohen Natur, sofern er abgesondert da ist, sondern von Menschen kommen, mit denen er in Verhältnis oder Verbindung steht“ (RGV VIII, 751). Kant möchte mit dieser These den intelligiblen Ursprung des Bösen nicht zurücknehmen. Offenbar soll das Zusammenleben von Menschen eine Bedingung darstellen, unter der das potentiell Böse leichter aktualisiert wird.²⁴⁹ Was genau befördert die Entwicklung böser Gesinnungen?
offengelassen, dass ein wesentlicher Baustein der Rechtfertigung von außen – nämlich durch Gott – erfolgen muss (vgl. RGV VIII, 712 und 730). Den Bezug auf den Naturzustand könnte Kant durchaus von der christlichen Dogmatik übernommen haben, die „status gratiae“, „status naturae“ und „status moralis“ unterschied. Bohatec (1938, 401 f.) argumentiert, dass Kant zwar zunächst der kirchlichen Dogmatik folgt, dann aber mit dem Rückgriff auf Rousseau und Hobbes bewusst davon abweicht. So auch Lutz-Bachmann 2005, 213 f.; Sala 2004, 140 und Bohatec 1938, 399.
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Für sich allein genommen ist der Mensch laut Kant bescheiden und genügsam. „Seine Bedürfnisse sind nur klein, und sein Gemütszustand in Besorgung derselben gemäßigt und ruhig. Er ist nur arm (oder hält sich dafür), sofern er besorgt, daß ihn andere Menschen dafür halten und darüber verachten möchten. Der Neid, die Herrschsucht, die Habsucht und die damit verbundenen feindseligen Neigungen bestürmen alsbald seine an sich genügsame Natur, wenn er unter Menschen ist (…).“ (RGV VIII, 751 f.; Hervorhebung von Kant) Kant greift damit einen an Rousseau angelehnten Gedankengang auf, demzufolge der Mensch für sich genommen gut – oder zumindest nicht ganz so verderbt – sei. Anders als bei Rousseau übernimmt die Idee eines ethischen Naturzustands als eines Zustands, in dem Menschen ohne gemeinsam geachtete moralische Gesetze quasi regellos aufeinanderprallen, aber bereits die Funktion, das Verderben des Menschen vorzuführen. Der ethische Naturzustand ist für Kant ein Naturzustand sui generis, der nicht mit den bekannten Naturzustandsszenarien der kontraktualistischen Staatstheoretiker der Neuzeit zusammenfällt. Er soll auch dann bestehen können, wenn ein juridischer Rechtszustand bereits existiert.²⁵⁰ Strukturell weisen der ethische und der juridische Naturzustand aber weite Analogien auf. So sollen nicht erst die tatsächlichen bösen Handlungen der Mitmenschen das Naturzustandsdilemma auslösen, sondern bereits die potentiellen: Es „ist nicht einmal nötig, daß diese schon als im Bösen versunken, und als verleitende Beispiele vorausgesetzt werden; es ist genug, daß sie da sind, daß sie ihn umgeben, und daß sie Menschen sind, um einander wechselseitig in ihrer moralischen Anlage zu verderben und sich einander böse zu machen“ (RGV VIII, 752).
Der Naturzustand sei deshalb ein Zustand der „unaufhörlichen Befehdung durch das Böse“ (RGV VIII, 755), ja sogar eine „öffentliche wechselseitige Befehdung der Tugendprinzipien und ein Zustand der innern Sittenlosigkeit“ (RGV VIII, 756; Hervorhebung von Kant) – freilich nicht in dem Sinne, dass die wechselseitige Befehdung durch böse Handlungen sichtbar stattfände, sondern allein dadurch, dass die vorhandenen bösen Gesinnungen jederzeit zum Durchbruch gelangen könnten. Auch hierin zeigt sich die Analogie zum juridischen Naturzustand, in dem der tatsächliche Krieg jederzeit auszubrechen droht. Während Kant, was die juridischen Aspekte des Zusammenlebens von Menschen angeht, gute Gründe nennt, die einen solchen Mechanismus nahelegen, ist
„In einem schon bestehenden politischen gemeinen Wesen befinden sich alle politische [sic] Bürger, als solche doch im ethischen Naturzustande […].“ (RGV VIII, 754) Zu Kants Konzeption des juridischen Naturzustands siehe Kapitel 3.3.
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hier nicht leicht nachzuvollziehen, worin das Naturzustandsszenario überhaupt bestehen könnte.Was soll dafür ausschlaggebend sein, dass die pure Existenz von möglicherweise bösen Menschen in mir den Hang zum Bösen aktualisiert? Kant gibt dazu (fast) keine Erläuterung. Da die gesamte Konzeption des ethischen Gemeinwesens von der Plausibilität des ethischen Naturzustands abhängt, scheint in dieser Frage aber eine entscheidende Aufgabe der Interpretation zu liegen. Die in der Literatur immer wieder vorgetragene Vermutung, Kant habe plötzlich den gemeinschaftlichen Aspekt moralischen Handelns bzw. seine unvermeidliche Geschichtlichkeit entdeckt,²⁵¹ scheint mir – sofern sie überhaupt mit Kants Moralphilosophie vereinbar ist – als Erläuterung nicht ausreichend zu sein. Daher sei hier der Versuch unternommen zu rekonstruieren, worin die Probleme des ethischen Naturzustands liegen können. Zunächst zu den wenigen Bemerkungen, die Kant neben den zitierten Stellen noch an die Hand gibt: Kant sieht als Problem des ethischen Naturzustands, dass „jeder sich selbst das Gesetz“ gebe und „jeder sein eigner Richter“ sei; außerdem sei „keine öffentliche machthabende Autorität“ (RGV VIII, 753) vorhanden. Für die juridische Gesetzgebung ist dies alles plausibel – warum aber für ethische Gesetze? Anders als im juridischen Naturzustand steht erstens der Inhalt der moralischen Gesetze ausreichend bestimmt fest bzw. muss bei weiten Pflichten nicht exakt bestimmt werden, weil niemand lädiert zu werden droht – insofern bedarf es keiner öffentlichen Gesetze, um moralisch handeln zu können.²⁵² Es
So etwa Keller 2008, 196 und 198; Stangneth 2000, 128; Despland 1973, 204 sowie Habichler 1991, 215. Die kürzeste Abhandlung (und Beseitigung) des Problems findet sich in Wood 1991, 342: „In other words, Kantian ethics is communitarian, not individualistic.“ Auch Sala sieht im lapidar vermuteten „gesellschaftlichen Aspekt des Bösen“ (2004, 239) Kants einzige Erläuterung des ethischen Naturzustands, er kommt dann allerdings konsequenterweise zu dem Schluss, dass Kant die Konzeption des ethischen Naturzustands nicht gelingen kann. – Für Städtler liegt der „Mangel der Moral in Hinblick auf reale Sittlichkeit“ (2005, 166) im Sinne Hegels zugrunde. Auch diese These wäre für Kants Moralbegriff erst genauer zu erläutern und in Beziehung zu Kants individualistisch geprägtem Moralbegriff zu setzen. – Anderson-Gold (2001) möchte zeigen, dass der kollektive Charakter der Moral nicht erst in der RGV eine Rolle spielt, sondern in den Grundlegungsschriften bereits angelegt ist, aber erst in der RGV durchgeführt wird. Der Mainstream der Kant-Forschung steht dem allerdings deutlich entgegen. Wood vertritt die These, die ethische Gesetzgebung sei auf gemeinsame Institutionen angewiesen, weil man sich mit anderen darüber austauschen müsse, was die Pflicht gebiete, und dann das Urteil der Gemeinschaft darüber akzeptieren solle: „We may conjecture that what Kant means is that when I join an ethical community, I involve myself in relations with others that help me to determine what my ethical duties require in specific cases, and I accept the community’s judgement about this.“ (Wood 2011, 134) Eine solche diskursiv gewendete Form der Erkenntnis des Inhalts ethischer Pflichten, wie Wood sie Kant unterstellt, lässt sich jedoch bei Kant nicht belegen; im Gegenteil scheidet das Urteil anderer als Entscheidungshilfe aus („Es
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gehört sodann zu den Charakteristika der ethischen Gesetzgebung, dass nur das Subjekt sich selbst binden kann, aber keine äußere Instanz – dann kann es kein Problem darstellen, dass „jeder sich selbst das Gesetz“ gibt. Schließlich ist die Erfüllung ethischer Pflichten nicht erzwingbar – wozu braucht es dann eine „machthabende Autorität“? Kants Andeutungen stellen also selbst mehr Rätsel, als dass sie zur Auflösung des Problems beitragen könnten. Man ist deshalb darauf angewiesen, innerhalb der kantischen Theorie nach weiteren Anhaltspunkten zu suchen. Ich sehe drei²⁵³ denkbare Gründe, die dazu Anlass geben, das Zusammentreffen von Menschen trotz staatlicher Strukturen als ethischen Naturzustand zu beschreiben: Erstens ganz allgemein die Mängel eines bloßen Rechtszustandes (1); zweitens die These einer anthropologisch verwurzelten Konkurrenzhaltung der Subjekte zueinander (2); und drittens die Zumutbarkeit moralischer Handlungen unter unmoralischen Bedingungen (3). (1) Erstens reicht der Rechtszustand alleine noch nicht hin, um das Zusammenleben von Menschen moralisch zu gestalten. Der Rechtszustand lässt Konkurrenz, große soziale Ungleichheiten und vor allem beliebige Gesinnungen und Zwecke zu. Ein ethischer Naturzustand liegt in einem bestehenden Staat demnach schlicht deshalb vor, weil es dem Einzelnen überlassen bleibt, ob er nun moralisch handeln möchte oder nicht; eine allgemeine Befolgung des Sittengesetzes wäre höchstens als Ergebnis eines großen Zufalls denkbar. Gesetze, die auf äußerem Zwang beruhen, können „dem Reiche der Finsternis keinen wesentlichen Abbruch“ (RGV VIII, 735) tun, wie Kant im Zweiten Stück schreibt. Dabei trifft nicht nur zu, dass der Rechtsstaat nicht dafür sorgen kann, dass sich die Bürger moralisch verhalten – er muss darüber hinaus selbst immer wieder zu einem moralisch unerwünschten Mittel greifen, nämlich Zwang anwenden. Die
muß also ein anderer, als das Volk sein, der für ein ethisches Gemeinwesen als öffentlich gesetzgebend angesehen werden könnte.“ RGV VIII, 758). Ethische Pflichten können für Kant nur dann aus Pflicht erfüllt werden, wenn das Subjekt sie selbst als Pflichten erkannt hat – das Urteil anderer kann keine moralische Handlungsgrundlage sein. Ich folge hier nicht der Dreiteilung, die Wimmer (1990, 187 ff.) vorschlägt. Zwar kommt Wimmer ein großes Verdienst zu, weil er sich überhaupt der Aufgabe stellt, Kants Gründe für die Notwendigkeit eines ethischen Gemeinwesens relativ ausführlich zu hinterfragen. Seine Einteilung ist aber nicht nur heuristisch ungeschickt und übersieht wichtige Aspekte, sondern ist darüber hinaus begrifflich höchst irreführend. So bezeichnet er etwa die gesamte Thematik des Naturzustands als geschichtsphilosophisches Argument und den Bezug aufs höchste Gut als moralisch-praktisches Argument. Während ersteres über geschichtsphilosophische Überlegungen weit hinausgeht und insofern begrifflich zu eng gefasst wird, ist das letztere viel zu global formuliert: Unter den Begriff eines „moralisch-praktischen Argumentes“ könnte so ziemlich alles fallen, was Kant zur Thematik überhaupt sagt.
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Problemlage des ethischen Naturzustands besteht demnach nicht in einem klassischen Naturzustandsdilemma, das aus Unsicherheitsbedingungen resultiert, sondern ergibt sich als Folgeproblem der rechtsstaatlichen Lösung des juridischen Naturzustands. Gerade weil sich das Sicherheitsdilemma des juridischen Naturzustands nur durch eine staatliche Zwangsgewalt lösen lässt, macht es der Rechtszustand vernunftnotwendig, ihn selbst der Idee nach zu transzendieren. Die Überwindung des ethischen Naturzustands würde zu einem Zustand führen, in dem Zwang schlicht nicht mehr nötig ist.²⁵⁴ Soweit ist zwar gezeigt, dass mit dem juridischen Rechtszustand aus moralischer Sicht noch nicht allzu viel gewonnen ist und die Akteure insofern im ethischen Naturzustand verbleiben. Aber das hilft noch nicht weiter, wenn man wissen möchte, warum das Zusammenleben der Menschen dazu führt, dass sie sich wechselseitig die moralische Anlage verderben, wie Kant schreibt. Hierfür sind die beiden weiteren Überlegungen aussagekräftiger. (2) Die zweite Ursache nimmt Kant im Ersten Stück der Religionsschrift vorweg.²⁵⁵ Dort wird erläutert, wie die an sich positive Anlage des Menschen, „sich in der Meinung anderer einen Wert zu verschaffen“ und mit anderen in einen „Wetteifer“ einzutreten, der eigentlich „Wechselliebe“ (RGV VIII, 674) nicht ausschließen darf, verkehrt wird in Emotionen wie Eifersucht und Nebenbuhlerei. Während die Natur die positive Anlage der „vergleichenden Selbstliebe“ (RGV VIII, 673) gewollt habe, um das Anwachsen der Kultur zu befördern, entspringen letztere deren Per-
Ähnliche Versuche der Rekonstruktion des Problems, das mit dem ethischen Gemeinwesen gelöst werden soll, finden sich in Städtler 2011, 53 und 59; Stangneth 2005, 137 f. und Klar 2007, 200 f. Städtler (2011, 54) und Klar (2007, 200) folgern daraus, das ethische Gemeinwesen müsse das juridische ersetzen, statt es zu ergänzen. Dies widerspricht offensichtlich der Intention Kants (vgl. etwa RGV VIII, 754) und ist auch sachlich nicht ganz nachvollziehbar. Allenfalls wären die Zwangsorgane des Rechtsstaates durch die Errichtung eines ethischen Gemeinwesens überflüssig geworden; alle weiteren Institutionen des juridischen Gemeinwesens wie Gesetzgebung und Rechtsprechung wären nach wie vor unerlässlich. Bei Städtler steht die These im Hintergrund, der Rechtszustand erfordere oder provoziere in irgendeiner Weise die „Maxime der konsequenten Konkurrenz mit dem Ziel des eigenen Vorteils zum Nachteil anderer“ (2011, 58). Zumindest nach dem Selbstverständnis Kants steht das Recht aber begrifflich in gar keiner Beziehung zu Maximen, nach denen die Rechtssubjekte handeln. Damit bleibt offen, ob das Konkurrenzprinzip entgegen der Intention Kants eine konstitutive Rolle im kantischen Rechtsdenken übernimmt. Es überrascht, dass trotz der inhaltlichen Nähe der Zusammenhang zum Ersten Stück in der Literatur in der Regel nicht gesehen oder zumindest nicht erwähnt wird. Ausnahmen sind Baumgartner (1992, 157) und Anderson-Gold (2001, 46). Anderson-Gold schießt über das Ziel hinaus, indem er behauptet, das radikal Böse sei überhaupt nur als sozial verursachtes zu sehen (2001, 36 f.). Die soziale Komponente ist jedoch nur der Auslöser eines individuell auftretenden und zu verantwortenden Hanges zum Bösen.
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vertierung: Es entsteht eine Neigung, nicht nur Gleichheit im Lebensstandard anzustreben, sondern sich eine Überlegenheit zu verschaffen. Dies ist nicht mehr von der Natur gewollt, sondern eine „ungerechte Begierde“ (RGV VIII, 674), die ihren Ursprung nur in der bösen Gesinnung des Menschen haben kann. Wie Kant im Ersten Stück andeutet, ergibt sich aus dieser Konstellation ein klassisches Naturzustandsszenario: Weil stets damit gerechnet werden muss, dass die anderen den eigenen Lebensstandard übertreffen, versucht jeder „der Sicherheit halber“ (RGV VIII, 674), sich einen Vorsprung zu verschaffen. Dies befördert zwar das Anwachsen der Kultur, führt aber zu Eigensucht und Habgier. Im juridischen Rechtszustand können diese unerwünschten Neigungen immerhin derart eingehegt werden, dass keine äußeren Rechtsgüter verletzt werden. Moralisches Handeln, das Kant an anderer Stelle gar als „Selbstverleugnung“ (GMS VII, 35) bezeichnet, insofern es die Beförderung der eigenen Glückseligkeit unter die Bedingung des kategorischen Imperativs stellt, ist mit diesem Wechselspiel des gegenseitigen Übertreffens am Besitz physischer Güter aber nicht zu vereinen – und zwar selbst dann nicht, wenn keine äußeren Rechtsgüter verletzt werden. Kants Argumentation lebt allerdings von einer problematischen Anthropologisierung der Neigung, andere zu übertreffen,²⁵⁶ die wiederum auf Kants teleologischer Beschreibung des Menschen fußt: Wer bezweifelt, dass die Natur die Gattung Mensch mit pervertierbaren Anlagen ausgestattet hat, der wird in Kants Darstellung lediglich eine empirische Vermutung sehen können, die sich erst als richtig erweisen müsste. (3) Der letzte mögliche Grund, der für das Naturzustandsdilemma verantwortlich sein könnte, wurzelt in dem Problem von moralischen Handlungen unter unmoralischen Bedingungen, also in der Frage, warum man moralisch handeln soll, solange andere nicht moralisch handeln.²⁵⁷ Kant präsentiert solche Überlegungen wiederholt im Zusammenhang mit der Postulatenlehre (siehe Kapitel 4.2). Soll das Problem dort mit der Einführung des Gottespostulats behoben werden, kann es im jetzigen Zusammenhang dazu dienen aufzuzeigen, wie äußere Bedingungen unmoralisches Handeln begünstigen. Wer moralisch handelt, obwohl in seinem Umfeld regelmäßig unmoralisch gehandelt wird, stellt die eigene Glückseligkeit aufs Spiel: Seine Gutmütigkeit wird ausgenutzt und aus seiner Ehrlichkeit ziehen andere Vorteile, die ihm selbst letztlich zum Nachteil gereichen können. Auch hier lässt sich ein Sicherheitsdilemma konzipieren, das an Natur-
Anthropologisiert wird freilich nur eine Neigung; Kant hält die Bedingungen, unter denen sie virulent wird, für aufhebbar. Diese Ursache arbeiten auch Städtler (2013a) und Klar (2007, 205) heraus.
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zustandsszenarien anknüpft: Wer nicht wissen kann, ob sich seine Mitmenschen moralisch verhalten werden, läuft Gefahr, moralische Handlungen mit dem Preis seines verdienten Wohlergehens zu bezahlen; er wird das eigene moralische Handeln als Zumutung empfinden müssen.Weil somit jeder das eigene moralische Handeln als Zumutung empfindet, sinkt zugleich die Chance, dass die anderen moralisch handeln werden – aus der Unsicherheit über den moralischen Charakter der Mitmenschen wird die Vermutung fremder böser Gesinnungen. Man muss sich fragen, inwieweit Kant diese Überlegung überhaupt akzeptieren könnte. Kants Ethik fordert moralisches Handeln um jeden Preis – gerade auch dann, wenn man sich der Moralität seiner Mitmenschen nicht sicher sein kann: Obgleich „das vernünftige Wesen darauf nicht rechnen kann, daß, wenn es auch gleich diese Maxime selbst pünktlich befolgte, darum jedes andere eben derselben treu sein würde […]: so bleibt doch jenes Gesetz: handle nach Maximen eines allgemein gesetzgebenden Gliedes zu einem bloß möglichen Reich der Zwecke, in seiner vollen Kraft, weil es kategorisch gebietend ist“ (GMS VII, 72 f.). Wenn sich das vernünftige Subjekt derart unter dem kategorischen Imperativ weiß, wird es sich von einer unmoralischen Umgebung nicht von der eigenen Moral abbringen lassen. Auf der anderen Seite gesteht Kant andernorts der Unsicherheit über die Folgen des moralischen Handelns für die eigene Glückseligkeit ein entschuldigendes Moment zu: Stimmt Glückseligkeit nicht mit Glückswürdigkeit überein, so würde „diese Ungereimtheit“ das eigene unmoralische Handeln „entschuldigen“. Hinter dieser These verbirgt sich tatsächlich ein Naturzustandsszenario: „Ich soll gerecht gegen andere seyn, wer aber sichert mir mein Recht?“ (Refl. 6674, AA XIX, 130; wird den 1760er Jahren zugeordnet) Ausdrücklich ist dieser Satz hier nicht auf ein juridisches Problem bezogen, sondern zielt auf die Situation des moralisch Handelnden schlechthin; damit kann sie als frühe Formulierung dessen gelesen werden, was Kant in der RGV den ethischen Naturzustand nennt. Damit lässt sich wohl zumindest festhalten: Wenn man sich sicher sein könnte, dass alle anderen moralisch handelten, hätte man weniger Hemmungen, ebenfalls moralisch zu handeln. Dies wäre der Kern des dritten Grundes, von einem ethischen Naturzustand zu sprechen. Damit verbunden ist aber auch die Idee, dass moralisches Handeln unter unmoralischen Bedingungen zu einer paradoxen Situation führt: Wer im ethischen Naturzustand blind dem Sittengesetz folgt, forciert mit seinen Handlungen paradoxerweise eine ungerechte Verteilung von Glückseligkeit; er selbst bekommt zu wenig, der Unmoralische zu viel. Insofern ist auch die Idee des höchsten Gutes ein Aspekt des Naturzustandsproblems.²⁵⁸
Bohatec (1938, 403; 397) sieht dagegen in Kants noch zu besprechendem Bezug zum
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Damit sind drei mögliche Gründe identifiziert, die Kant zu der These eines zu überwindenden ethischen Naturzustands bewogen haben können. Keiner der Gründe lässt sich exegetisch eindeutig dem Dritten Stück der Religionsschrift zuordnen, denn Kant lässt eine ausdrückliche Entfaltung der Naturzustandsproblematik vermissen. Dass alle drei Gründe zumindest der Sache nach im Hintergrund der kantischen Theorie stehen, dürfte aber hinreichend gezeigt sein. Bevor die Lösung der Naturzustandssituation, das Konzept des ethischen Gemeinwesens, diskutiert werden kann, ist zunächst die Besonderheit der Pflicht, den Naturzustand zu verlassen, herauszuarbeiten, denn sie führt auf ein wichtiges Problem. Kants Ausgangspunkt ist die an Hobbes und den juridischen Naturzustand angelehnte These, dass „der natürliche Mensch, so bald wie möglich“, aus dem ethischen Naturzustand „herauszukommen sich befleißigen soll“ (RGV VIII, 756) und eine „allgemeine Republik nach Tugendgesetzen“ (RGV VIII, 756) bzw. ein „ethisches gemeines Wesen“ (RGV VIII, 757) gründen muss. Diese Pflicht unterscheidet sich in einem wichtigen Punkt von der Pflicht, den juridischen Naturzustand zu verlassen: Ist es dort möglich, den anderen mit Gewalt in einen Rechtszustand zu zwingen, so ist hier Zwang rigoros ausgeschlossen. Der zwangsweise Eintritt in eine Gemeinschaft nach Tugendgesetzen wäre ein „Widerspruch (in adiecto)“ (RGV VIII, 754), denn das Prinzip der Freiwilligkeit folgt analytisch aus dem Begriff einer moralischen, auf Autonomie beruhenden Gemeinschaft. Was aber zumindest logisch möglich bliebe, wäre der Versuch, die Gesinnung anderer zu beeinflussen, so weit dies Machtmittel eben zulassen. Ein solcher „Geisteszwang (tortura spiritualis)“ (RL VIII, 421) wäre nicht nur aus Rechtsgründen unzulässig, sondern brächte sogar das Risiko einer prinzipiellen Gefährdung des Rechtszustands mit sich: „Weh aber dem Gesetzgeber, der eine auf ethische Zwecke gerichtete Verfassung durch Zwang bewirken wollte! Denn er würde dadurch nicht allein gerade das Gegenteil der ethischen bewirken, sondern auch seine politische untergraben und unsicher machen.“ (RGV VIII, 754)
Aus dieser scheinbar harmlosen Feststellung ergibt sich ein fundamentales Problem, das die weitere Argumentation bis hin zur Konzeption der ‚sichtbaren Kirche‘ prägen wird: Es ist zwar Pflicht, den Naturzustand zu verlassen, aber der Einzelne hat es nicht in der Hand, das Geforderte zu bewirken – sieht man einmal von seiner eigenen Bereitschaft ab, das ethische Gemeinwesen zu gründen. Die Moralität
höchsten Gut innerhalb des Dritten Stücks ein ganz neues Argument für die Errichtung des ethischen Gemeinwesens, das mit dem Naturzustandsszenario noch nicht angesprochen ist.
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meiner Mitmenschen ist notwendige Bedingung für das ethische Gemeinwesen, kann aber nur von diesen selbst bewirkt werden, nicht von mir. Freilich kann ich für das ethische Gemeinwesen werben und meinen Beitrag zur Erziehung der Heranwachsenden leisten, aber stets bleibt es der Entscheidung der anderen überlassen, ob mein Einsatz Erfolg haben wird – unter Naturzustandsbedingungen stehen die Chancen reichlich schlecht. Den Naturzustand zu verlassen, können daher nicht individuelle, sondern nur gemeinschaftliche Handlungen bewirken. Den Ausweg, den der juridische Naturzustand zur Verfügung stellte – einmal Gewalt anwenden, damit danach das Gewalt reproduzierende Naturzustandsdilemma überwunden ist – können die moralischen Subjekte hier nicht wählen. Das Dilemma einer moralischen Pflicht, der der Einzelne nicht nachkommen kann, bringt Kant dazu, sie als eine Pflicht sui generis aufzufassen, die nicht auf den einzelnen Menschen, sondern auf die Gattung Mensch bezogen ist. „Hier haben wir nun eine Pflicht von ihrer eignen Art, nicht der Menschen gegen Menschen, sondern des menschlichen Geschlechts gegen sich selbst. Jede Gattung vernünftiger Wesen ist nämlich objektiv, in der Idee der Vernunft, zu einem gemeinschaftlichen Zwecke, nämlich der Beförderung des höchsten, als eines gemeinschaftlichen Guts, bestimmt. Weil aber das höchste sittliche Gut durch die Bestrebung der einzelnen Person zu ihrer eigenen moralischen Vollkommenheit allein nicht bewirkt wird, sondern eine Vereinigung derselben in ein Ganzes zu ebendemselben Zwecke […] erfordert […]: so ist die Pflicht, der Art und dem Prinzip nach, von allen andern unterschieden.“ (RGV VIII, 756 f.)
Es muss überraschen, dass Kant die Errichtung einer auf ethische Zwecke gerichteten Verfassung unvermittelt mit dem zentralen Begriff der Religionsphilosophie, dem höchsten Gut, in Verbindung bringt. Noch in der Vorrede der Religionsschrift spielt das höchste Gut als Verbindung von Tugend mit der ihr angemessenen Glückseligkeit zur Rechtfertigung des Gottespostulates eine entscheidende Rolle und scheint insofern der gesamten Schrift zugrunde zu liegen. Es steht dort aber – andernfalls müsste das Gottespostulat ja seine Berechtigung einbüßen – für ein Gut, das Gott in einer künftigen Welt bewirken wird. Seine Beförderung wird in der Vorrede und andernorts als Pflicht jedes einzelnen Menschen angesehen, und nicht der Gattung Mensch. Im Dritten Stück findet demgegenüber offenbar eine entscheidende Transformation statt. Das höchste Gut ist hier nicht mehr Gegenstand einer passiven Hoffnung auf Gottes Eingreifen, sondern soll (zumindest weitgehend) selbst von der Menschheit als kollektivem Akteur hervorgebracht werden. Kant ‚säkularisiert‛ seinen eigenen Begriff des höchsten Gutes in dem Sinne, dass die Idee einer moralisch guten Welt von einer göttlichen Aufgabe zu einem menschlichen Auftrag wird. Nimmt Kant damit die Lehre vom höchsten Gut, die im Gottespostulat mündet, zurück? Dies ist schon deshalb ausgeschlossen, weil er das in der Vorrede gelegte
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Fundament der Religionsphilosophie kaum innerhalb ihrer Durchführung wieder aufbrechen kann. Mir scheint entscheidend zu sein, dass Kant hier vom höchsten Gut als einem gemeinschaftlichen Gut spricht. Diese Formulierung legt nahe, dass dem höchsten Gut unterschiedliche Aspekte anhaften, die aus je verschiedenen Blickwinkeln sichtbar werden.²⁵⁹ Diese Beobachtung wird von einer Erläuterung zum höchsten Gut in der Allgemeinen Anmerkung zum Dritten Stück gestützt: Die „Idee des höchsten Guts“ könne „nicht allein von Seiten der dazu gehörigen Glückseligkeit, sondern auch [von Seiten, MH] der notwendigen Vereinigung der Menschen zu dem ganzen Zweck“ (RGV VIII, 806) betrachtet werden.Während der erste Aspekt auf die Postulatenlehre führt, liegt der zweite Aspekt dem Dritten Stück zugrunde. Doch auch dieser hat einen gewissen Bezug auf Glückseligkeit, wie sich schon aus der KrV ²⁶⁰ergibt: Das Auseinanderfallen von Sittlichkeit und Glückseligkeit hat seine Ursache auch in unmoralischem Verhalten. Die kollektive Überwindung dieses Verhaltens stellt das höchste Gut als gemeinschaftliches her. In einer moralischen Welt ist das höchste Gut jedoch noch nicht vollends erreicht; das Dritte Stück der Religionsschrift steht nicht in Konkurrenz zur Postulatenlehre (siehe auch Kapitel 9.2). Wenn es also eine spezifische Pflicht der Gattung Mensch ist, einen Staat nach Tugendgesetzen zu gründen, dann muss man sich fragen, wie das Kollektiv dieser Pflicht nachkommen können soll, wo doch, wie gezeigt, nur die einzelnen Subjekte handeln können, diese Subjekte aber je für sich genommen (fast) nichts austragen können. Ohne Zweifel ist es logisch möglich, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt „ein jeder seiner Privatpflicht gehorcht“; eine solche „zufällige Zusammenstimmung aller zu einem gemeinschaftlichen Guten“ wäre ohne „besondere Veranstaltung“ (RGV VIII, 819) möglich. Auf diesen Zufall untätig zu hoffen, käme allerdings einer philosophischen Kapitulation vor der faktischen Unüberwindbarkeit des Bösen gleich. Kant stellt sich dagegen die Aufgabe zu zeigen, wie das ethische Gemeinwesen als „besonderes Geschäft“ (RGV VIII, 819) bewusst herbeigeführt werden kann. Vorerst ist eine Lösung dieses Problems nicht in Sicht. Kant deutet aber an, dass das individuelle menschliche Wirken durch göttliches Handeln unterstützt werden müsse:
In der Literatur wird kontrovers diskutiert, inwiefern der in der RGV verwendete Begriff mit dem höchsten Gut der KpV und der KU identifiziert werden darf; vgl. Keller 2008 und Geismann 2000, 515 und die Literaturhinweise dort. Vgl. KrV B836 f. = IV, 679 f.; siehe auch Kapitel 4.2.
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„Man wird schon zum voraus vermuten, daß diese Pflicht der Voraussetzung einer andern Idee, nämlich der eines höhern moralischen Wesens bedürfen werde, durch dessen allgemeine Veranstaltung die für sich unzulänglichen Kräfte der einzelnen zu einer gemeinsamen Wirkung vereinigt werden.“ (RGV VIII, 757)
Fast klingt es, als wolle Kant damit einen neuen Beweis der Existenz Gottes starten: Wir sollen ein ethisches Gemeinwesen gründen, unsere einzelnen Handlungen sind dazu nicht in der Lage, also müssen wir die Idee eines allmächtigen Gottes voraussetzen, der (wie auch immer das möglich sein soll) die nötige Nachhilfe leistet. Parallel zur Postulatenlehre führt die moralische Notwendigkeit der Errichtung eines ethischen Gemeinwesens die praktische Vernunft zur Notwendigkeit, die Existenz Gottes anzunehmen.²⁶¹ Kant entfaltet dieses Argument vermutlich nur deshalb nicht explizit, weil er die Vernünftigkeit der Gottesannahme bereits mit der Vorrede voraussetzt und keinen weiteren Begründungsbedarf sieht. Der Bezug auf einen göttlichen Beistand beim Übergang vom Naturzustand zum ethischen Gemeinwesen wird an einer anderen Stelle nochmals deutlich aufgegriffen.²⁶² Dort schreibt Kant, Menschen könnten ein ethisches Gemeinwesen nur sehr eingeschränkt errichten, weil nicht zu erwarten sei, dass „aus so krummen Holze etwas völlig Gerades gezimmert werde“ (RGV VIII, 760) – ein Spruch, den Kant auch in anderen Zusammenhängen gerne zitiert. Direkt im Anschluss heißt es dann: „Ein moralisches Volk Gottes zu stiften, ist also ein Werk, dessen Ausführung nicht von Menschen, sondern nur von Gott selbst erwartet werden kann. Deswegen ist aber doch dem Menschen nicht erlaubt, in Ansehung dieses Geschäfts untätig zu sein, und die Vorsehung walten zu lassen, als ob ein jeder nur seiner moralischen Privatangelegenheit nachgehen, das Ganze der Angelegenheit des menschlichen Geschlechts aber (seiner moralischen Bestimmung nach) einer höhern Weisheit überlassen dürfe. Er muss vielmehr so verfahren, als ob alles auf ihn ankomme, und nur unter dieser Bedingung darf er hoffen, daß höhere Weisheit seiner wohlgemeinten Bemühung die Vollendung werde angedeihen lassen.“ (RGV VIII, 760)
Diese Stelle gibt, so nebensächlich sie auf den ersten Blick im Text platziert ist, in konzentrierter Form Auskunft über Kants Lösung des oben angedeuteten Pro-
So auch Despland 1973, 205 und Wimmer 1990, 195 f. Wimmer übersieht allerdings den Unterschied zwischen Gott als Verwirklichungsbedingung des ethischen Gemeinwesens (darum geht es hier) und Gott als Bedingung der Möglichkeit, das Gemeinwesen begrifflich konsistent formulieren zu können (siehe unten). Die Stelle befindet sich bereits dort, wo der ‚Übergang zur Geschichte‘ (Kapitel 3.3.3) einsetzt. Ich möchte die Thematik hier am Stück diskutieren.
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blems der Unzulänglichkeit individueller Handlungen für die Lösung des Naturzustandskonflikts. Kant greift dazu auf den Vorsehungsgedanken zurück, den er fast unverändert von der Schultheologie übernehmen kann.²⁶³ Primär ist freilich die Zurückweisung einer bestimmten Form des Vorsehungsglaubens, der zufolge dem Menschen keine Anstrengung abverlangt wird. Aber hinter dieser kritischen Aussage verbirgt sich die Affirmation eines anderen, calvinistisch geprägten Vorsehungskonzeptes: Insofern der Einzelne das Geforderte nicht bewirken kann, soll er sich darauf verlassen, dass ein göttlicher Beistand die Defizite menschlicher Handlungen ausgleichen wird.²⁶⁴ Wie das vor sich gehen soll, worin genau der göttliche Beistand bestehen könnte – dazu schweigt Kant. Innerhalb der Allgemeinen Anmerkung zum Dritten Stück stellt er sich zwar die Frage, „was Gott hiebei tue, ob ihm überhaupt etwas, und was ihm (Gott) besonders zuzuschreiben sei“ (RGV VIII, 806). Eine Antwort gibt es auf diese Frage freilich nicht: Es eröffne sich „der Abgrund eines Geheimnisses“ (RGV VIII, 806), über das die Vernunft nichts aussagen könne, ohne in metaphysische Spekulation zu verfallen. Wissen über das Geheimnis sei sogar völlig irrelevant für den moralischen Zweck, in dessen Dienst die Idee Gottes steht. „Es liegt uns nicht sowohl daran, zu wissen, was Gott an sich selbst (seine Natur) sei, sondern was er für uns als moralische Wesen sei […].“ (RGV VIII, 806) Demgegenüber wäre allerdings zu fragen, ob es nicht für moralische Wesen überaus interessant wäre einzusehen, wie ihr Wirken den Beistand Gottes aushalten könne, ohne dass dabei ihre Autonomie Schaden nimmt: Denn nur mittels dieser Einsicht könnten sie ihre Handlungen noch als moralische ansehen. Blickt man auf das Ausgangsproblem zurück, zeichnet sich damit jedenfalls folgende These ab: Das Problem einer Überwindung des Naturzustands durch individuelle Handlungen wird von Kant nicht aufgelöst, sondern lediglich verschoben. Die Individuen müssen ihre eigenen Handlungen zwar nicht mehr aufgrund ihrer Ohnmacht angesichts der Existenz anderer, womöglich unmoralisch handelnder Individuen als wirkungslos empfinden, dafür aber aufgrund ihrer Ohnmacht angesichts der Allmacht Gottes. Der allmächtige Gott spielt die entscheidenden Schachzüge, aber dennoch soll der Mensch so handeln, als ob es auf ihn allein ankäme.²⁶⁵ Dieses Folgeproblem aufzulösen, versucht Kant an dieser Stelle nicht – und er muss es vermutlich auch nicht versuchen, denn er bewegt sich in einem ‚geistigen
Ein Quellennachweis findet sich bei Bohatec (1938, 410). Siehe den Hinweis auf die calvinistische Vorsehungsethik in Kapitel 2.2. Die folgende Thematik wird in den geschichtsphilosophischen Schriften erneut relevant; siehe insb. Kapitel 8.4.
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Horizont‘²⁶⁶, der dieses Problem als längst gelöst betrachtet: Vorsehungstheologie und Concursus-Lehre sind im theologischen und philosophischen Diskurs präsent,²⁶⁷ sodass Kant das dem heutigen Leser ins Auge fallende Problem einfach unkommentiert übergehen kann. Insbesondere kopiert Kant Elemente der protestantischen Vorsehungsethik: Schon bei Calvin findet sich die Überzeugung, man müsse handeln, als ob alles von einem selbst abhänge, obwohl man wisse, dass es letztlich nur auf Gott ankomme; wie Gott wirke, sei aber ein Geheimnis.²⁶⁸ Mit dem Rückgriff auf die theologische Theorie des geschichtsmächtigen, aber menschliche Verantwortung zugleich nicht einschränkenden Gottes löst sich die von Kant entwickelte Aporie der Gründung eines ethischen Gemeinwesens somit stillschweigend in Luft auf. Weder hat Kant gezeigt, wie ein von den handelnden Subjekten verschiedener Gott deren Handlungen zu einer „gemeinsamen Wirkung“ vereinigen kann,²⁶⁹ noch hat er eine Lösung des Dilemmas von menschlicher Verantwortung und göttlichem Beistand entwickelt. Der von Kant bewusst eingeführte Gottesbegriff befreit gewissermaßen von der Notwendigkeit, die Lösung der eigentlichen Probleme noch rational aufzeigen zu müssen. Kants ‚philosophische Eschatologie‘ bleibt damit in einem wesentlichen Punkt Theologie. Dies hat Folgen für die Plausibilität seiner Thesen: Konnte sich Calvin innerhalb des theologischen Rahmens noch problemlos auf unergründliche göttliche Geheimnisse berufen, dürfte die neuzeitliche säkulare Vernunft solchen Überlegungen skeptisch gegenüberstehen. Zwar ist Kant zuzugestehen, dass keine Erkenntnis über das Wirken Gottes möglich ist; aber daraus wäre gegen Kant zu folgern, dass göttliches Wirken für moralische Subjekte keine Rolle spielen kann. Noch heikler ist die Beziehung von Autonomie und Vorsehung. Schon Calvin geht es offenbar um den Versuch, autonomes Handeln angesichts einer undurchschaubaren Welt durch das Vertrauen in die Vorsehung zu ermöglichen; doch dieser Versuch kann nur gelingen, weil Calvin dazu tendiert, autonomes Handeln mit der Unterordnung unter Gottes Willen gleichzusetzen. Indem Kant
Ich verwende den Begriff des geistigen Horizonts in dem in Kapitel 1 entwickelten, an Blumenberg und Marquard angelehnten Sinn. Dass die Concursus-Lehre der Schulphilosophie und -theologie des 18. Jahrhunderts tatsächlich ein wesentlicher Kontext der Vorsehungslehre Kants ist, zeigt ausführlich Lehner 2007. Zu Kants Position zum Concursus siehe Kapitel 8.4. Siehe Kapitel 2.2 und Fuchs 2008, 184 f. Dass Kant sich hier eindeutig auf die protestantische Ethik in der Tradition Calvins bezieht, ist meines Wissens in der Literatur bislang nicht gesehen worden. Dass Kant Calvin selbst als Quelle benutzt hat, mag unwahrscheinlich sein; die calvinistische Vorsehungsethik ist aber in der protestantischen Ethik des 18. Jahrhunderts sehr präsent, und auch etwa der Lutheraner Spener vertritt eine ganz ähnliche Position. Kant gibt im Zusammenhang mit der Entwicklung der sichtbaren Kirche noch einige Hinweise zur Wirkweise der Vorsehung; siehe Kapitel 5.3, letzter Absatz.
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Autonomie radikalisiert, wird der Gegensatz von menschlicher Freiheit und Vorsehung unüberwindlich. Gegen diese These kann freilich ein Einwand erhoben werden: Es drängt sich die Frage auf, ob sich das Dilemma von menschlicher Verantwortung und göttlichem Beistand Kant tatsächlich in der hier unterstellten Schärfe stellt. Der Bezug auf den Vorsehungsgedanken ist schließlich vor allem ein negativer: Man dürfe gerade nicht so handeln, als ob die Vorsehung schon für die Gründung des ethischen Gemeinwesens sorgen würde. In diesem Zusammenhang ist insbesondere auf die subjektphilosophische Transformation der natürlichen Theologie Acht zu geben. Die göttliche Vorsehung bleibt an die Existenz moralischer Subjekte zurückgebunden; sie ist eine bloße regulative Idee, die nicht unabhängig von der Vernünftigkeit der Subjekte für vernünftige Verhältnisse sorgen kann.²⁷⁰ Kant fasst dies am deutlichsten in der These, nur unter der Bedingung eigener Anstrengungen dürfe überhaupt auf den göttlichen Beistand gehofft werden. Ist somit das behauptete Dilemma lediglich die „dialektische Zuspitzung“ (Wimmer 1990, 194) eines eher harmlosen Grundsatzes? Wo liegt das Problem, wenn der Mensch mit ganzer Kraft am ethischen Gemeinwesen arbeiten muss und Gott nur in dem Ausmaß, in dem menschliche Kräfte nicht ausreichen, ein wenig aushilft? Das Problem liegt m. E. mindestens darin, dass für den Menschen bei der Erfüllung der Gattungspflicht (fast) nichts mehr übrig bleibt, was er aus eigener Kraft noch erreichen könnte. Am entscheidenden Schritt von individuellen moralisch-guten (oder besser: weil individuellen, eben nur gut gemeinten) Handlungen hin zu einer moralisch verfassten Gemeinschaft erscheint das Individuum völlig machtlos, um nicht zu sagen: überflüssig. Städtler spitzt dies treffend zu: „Weil ein Mensch Gottes Allmacht nicht bewegen, sondern nur auf seine unerforschliche Gnade hoffen kann, ist sein Handeln für den Erfolg vollkommen gleichgültig.“ (Städtler 2013a, Abschnitt II) „Beruhte aber dergestalt die Verbindung des Handelns zum Ziel auf der Gnade Gottes oder auf Zufall, könnte jede Handlung genauso gut unterlassen wie ausgeführt werden.“ (Städtler 2011, 63) Versucht man, aus dem hier deutlich gewordenen Problembestand einen greifbaren Erkenntnisgewinn zu formulieren, so bleibt ein zweischneidiges Resultat: Kant motiviert einleuchtend die Idee kollektiver Moralität und legt zugleich scharfsinnig einige ihrer Schwierigkeiten offen. Seine Lösungsvorschläge sind aber kaum vertretbar. Auf den Punkt gebracht lautet das zentrale der sichtbar gewordenen, aber nicht gelösten Probleme: „Entweder also ist der Mensch
In diesem Punkt stellt Kant die calvinistische Ethik auf den Kopf: War dort die Vorsehung das Fundament der Ethik (siehe Kapitel 2.2), ist hier die Ethik das Fundament der Vorsehungslehre.
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alleiniges Subjekt des Geschichtsprozesses, dann kommt das Reich Gottes nie; oder der Mensch bekommt Unterstützung durch eine fremde Macht, dann ist die Vollbringung des Guten keine freie Tat, mithin nicht gut.“ (Klar 2007, 233) Mit diesen Überlegungen zur These der Besonderheit des Heraustretens aus dem Naturzustand hat sich Kants Bezug auf den Gottesbegriff noch lange nicht erschöpft. Vielmehr tritt erst in der Entfaltung des Begriffs des ethischen Gemeinwesens dessen ganze Tragweite zu Tage. Bestand der Mangel des Naturzustands in einem Mangel an Öffentlichkeit der Tugendgesetze, muss genau diese das Kennzeichen des ethischen Gemeinwesens sein. „Wenn ein ethisches gemeines Wesen zustande kommen soll, so müssen alle einzelne einer öffentlichen Gesetzgebung unterworfen werden, und alle Gesetze, welche jene verbinden, müssen als Gebote eines gemeinschaftlichen Gesetzgebers angesehen werden können.“ (RGV VIII, 757)
Die Pointe der kantischen Argumentation wird genau verfehlt, wenn man etwa schreibt, der ethische Naturzustand würde „durch die Befolgung von Tugendgesetzen überwunden“ (Cheneval 2002, 461).²⁷¹ Für das Befolgen von Tugendgesetzen an sich bräuchte man kein ethisches Gemeinwesen; allein die Notwendigkeit der öffentlichen Befolgung generiert das Problem, um das es Kant geht. Die öffentliche Befolgung soll offenbar dazu führen, dass man weiß oder erwarten kann, dass andere sich moralisch verhalten werden; erst dadurch wäre das Naturzustandsdilemma gelöst. Moralische Gesetze im Sinne Kants können durch die folgenden drei Merkmale charakterisiert werden: Erstens sind moralische Gesetze nicht heteronom auferlegt, sondern in der eigenen Vernunft gegründet. Zweitens lässt sich die Befolgung moralischer Gesetze nicht aus einer Außenperspektive beurteilen, sondern allenfalls – und auch das nur eingeschränkt – vom handelnden Individuum selbst. Drittens schließlich ist die Einhaltung von Tugendgesetzen nicht heteronom erzwingbar; nur das Subjekt selbst kann sich dazu bringen, moralisch zu handeln. Alle drei Merkmale stehen aber im Widerspruch zu der geforderten Öffentlichkeit von Tugendgesetzen im ethischen Gemeinwesen: Erstens ist schwer einzusehen, weshalb die Pflichten, die ich mir selbst auferlege, zugleich als öffentliche gemeinschaftliche Gesetze für alle gelten sollen. Dabei besteht das Problem nicht darin, dass jeder sich das gleiche Gesetz gibt – das hat Kant in den Grundlegungsschriften bereits abgesichert –, sondern darin, dass das je indivi-
Es könne ganz im Gegenteil auch dann noch „Anarchie“ (RGV VIII, 785) herrschen, wenn jeder Einzelne dem selbstgegebenen Sittengesetz folgt.
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duell gegebene Gesetz als ein von einer öffentlichen Instanz für alle gemeinsam gegebenes vorgestellt werden soll.²⁷² Zweitens würde die Öffentlichkeit der Moral erfordern, dass man nachvollziehen kann, ob der andere moralisch handelt oder nicht. Dies ist nicht nur relevant, um die eigene moralische Anlage nicht durch womöglich unmoralische Mitmenschen verderben zu lassen; es würde auch Sanktionen für unmoralisches Verhalten ermöglichen. Eine solche Einsicht in die Gesinnung anderer kann es aber nicht geben. Schließlich kann drittens die Einhaltung der Tugendgesetze per definitionem nicht erzwungen werden. Dass eine staatsähnliche Institution „jene [die Tugendgesetze] in allgemeine Ausübung bringe“ (RGV VIII, 754) – so formuliert Kant die Anforderung an das ethische Gemeinwesen ausdrücklich –, scheint a priori unmöglich zu sein. Anstatt nun von dem spezifischen Charakter moralischer Gesetze darauf zu schließen, dass diese nicht analog zu juridischen Gesetzen öffentlich verfasst sein können, möchte Kant an der Möglichkeit einer moralischen Gemeinschaft festhalten. Die unvermeidliche Konsequenz ist, dass Kant eine Instanz einführen muss, für die die genannten Widersprüche nicht existieren. Das ethische Gemeinwesen ist nur dann begrifflich möglich, wenn die „durch den Menschen nicht aufhebbare Unvermitteltheit von Gesinnung und Publizität, Innerlichkeit und Öffentlichkeit (…) transzendiert werden könnte. Das aber erscheint Kant nur unter der Voraussetzung der Annahme eines göttlichen Gesetzgebers und moralischen Weltherrschers möglich, für den dieser Widerstreit nicht besteht.“ (Wimmer 1990, 195) Entsprechend heißt es bei Kant: „Also ist ein ethisches gemeines Wesen nur als ein Volk unter göttlichen Geboten, d. i. als ein Volk Gottes, und zwar nach Tugendgesetzen, zu denken möglich.“ (RGV VIII, 758) Kant schließt damit erneut in Analogie zur Postulatenlehre von der moralischen Notwendigkeit des ethischen Gemeinwesens auf die Vernünftigkeit des Gottesglaubens: Gott anzunehmen ist nötig, damit das ethische Gemeinwesen überhaupt sinnvoll gedacht werden kann.²⁷³
Ob es einen ernsthaften Unterschied zwischen einem von allen gleichermaßen sich selbst vorgeschriebenen und einem allen zugleich gegebenen Gesetz gibt, ist sicherlich fraglich. Es bleibt Kant aber offensichtlich sowohl in der GMS wie in der RGV ein deutliches Anliegen, den allgemeingültigen Charakter der Moral über die Vorstellung einer universalen Vernunftstruktur hinaus durch die Idee eines Oberhauptes, als dessen Gebote die moralischen Gesetze erscheinen, abzusichern. – Interessanterweise wird durch die Innerlichkeit der Gesetzgebung ausgeschlossen, dass in Analogie zum republikanischen Rechtsstaat die „sich zu einem Ganzen vereinigende Menge selbst“ (RGV VIII, 757) Gesetze gibt – solche wären nämlich heteronome Gesetze. So auch Stangneth 2000, 138 und Wimmer 1990, 195. Baumgartner sieht hier eine „spezielle Modifikation des allgemeinen ethiko-theologischen Gottesbeweises“ (1992, 160). Eine „Modifikation“ im strengen Sinn scheint mir allerdings nicht vorzuliegen, weil die Idee eines ethischen
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Weshalb stehen für Gott die drei Aspekte der Innerlichkeit nicht im Widerspruch zu deren geforderter Publizität? Weil Religion in der „Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote“ (KpV VII, 261) besteht, mithin „alle wahren Pflichten (…) zugleich als seine Gebote vorgestellt werden müssen“ (RGV VIII, 758), soll erstens im Begriff des göttlichen Gesetzgebers der Gegensatz von autonomer und heteronomer Willensbestimmung verschwinden. Wenn Gott als äußere Instanz vorgestellt wird, so bleibt er nichts anderes als ein Spiegelbild der eigenen Vernunft: Seine Gebote sind zugleich diejenigen, die sich das Subjekt selbst gibt.²⁷⁴ Die von Kant unterstellte Vereinbarkeit von autonomer und göttlicher Gesetzgebung ist freilich immer wieder bestritten worden.²⁷⁵ Zweitens wird Gott in Anlehnung an die biblische Terminologie (Apg 15,8) als Herzenskündiger eingeführt. Kant überträgt die schon alttestamentlich belegbare, im Neuen Testament fest verwurzelte Vorstellung von Gott als der einzigen Instanz, die ‚ins Herz blicken‛ kann,²⁷⁶ auf seine Lehre der noumenalen Welt: Zur göttlichen Allwissenheit gehört, dass ihm der homo noumenon epistemisch zugänglich ist und er deshalb sicheres Wissen über Gesinnungen haben kann. Diesen Aspekt verbindet Kant – wie auch die Bibel²⁷⁷ – unmittelbar mit der Vorstellung Gottes als gerechten Richters: Der oberste Gesetzgeber des ethischen Gemeinwesens müsse „ein Herzenskündiger sein, um auch das innerste der GeGemeinwesens einen eigenständigen Zugang bietet, der keine Prämisse der Postulatenlehre voraussetzt (anders aber Geismann 2000, 488). Baumgartner gesteht später (1996, 424) die Eigenständigkeit der Prämissen des Beweises zu, hält aber seltsamerweise an der Rede von einer „Modifikation“ fest, anstatt von einem neuen, lediglich analog argumentierenden Beweis zu sprechen. In keinem Fall ist ein ‚methodischer Bruch‘ zwischen dem Vernunftglauben der Postulatenlehre und dem Vernunftglauben der RGV zu diagnostizieren; so aber Sala 2004, 258. Das Gesetz, das der Mensch „sich selbst vorschreibt“, kann er „zugleich als den ihm durch die Vernunft geoffenbarten Willen des Weltherrschers ansehen“ (RGV VIII, 785). „In ihrem höchsten Ausdruck untergräbt Autonomie sich selbst“, formuliert Städtler (2011, 547) in Bezug auf den Gottesbegriff. „Das Subjekt von Selbstbestimmung, das sich selbst nur bestimmen kann durch Rekurs auf etwas, was es erstens nicht selbst ist und was zweitens auch seiner Verfügung entzogen ist, ist nicht selbstbestimmt.“ (Städtler 2013a, Abschnitt II) Sala (2004, 242) fasst den genannten Widerspruch als Grundproblem der gesamten kantischen Religionsphilosophie auf. Auch Cheneval (2002, 465 – 470) sieht einen Widerspruch zwischen dem Autonomieprinzip und der theologischen Konzeption des ethischen Gemeinwesens; Cheneval bringt die kantische Konzeption aber durch seine polemische Sprache allzu nah in Verbindung mit von partikularen Religionen bestimmten Theokratien wie islamistischen Staaten oder dem mittelalterlichen Papismus. Daran hat Kant ausdrücklich nicht gedacht; die Vorstellung einer Vernunftreligion soll solche partikularen Herrschaftsstrukturen gerade überwinden. Vgl. etwa 1. Sam 16,7: „Ein Mensch sieht, was vor Augen ist, der Herr aber sieht das Herz an.“ Ähnlich Lk 16,5 und Jer 17,10. Vgl. Jer 17,10: „Ich, der Herr, kann das Herz ergründen und die Nieren prüfen und geben einem jeglichen nach seinem Tun, nach den Früchten seiner Werke.“
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sinnungen eines jeden zu durchschauen, und, wie es in jedem gemeinen Wesen sein muß, jedem, was seine Taten wert sind, zukommen zu lassen“ (RGV VIII, 758). Damit ist zugleich ausgesagt, dass Gott auch (all)mächtig genug sein muss, um für die angemessene Glückseligkeit sorgen zu können. Spätestens an diesem Punkt wird deutlich, dass Kants Gottesbegriff stark von der christlichen Vorstellung einer handlungsfähigen Person geprägt ist und insofern über den Begriff einer „hypostatisierten Vernunft“ (Städtler 2011, 60) hinausgeht. Der „Begriff, der [von Kant] ‚Gott‘ genannt wird“ (Städtler 2011, 61), trägt diese Bezeichnung aus gutem Grund.²⁷⁸ Die dritte Hinsicht von Innerlichkeit, die Nicht-Erzwingbarkeit moralischer Gesinnungen, kann auch im Gottesbegriff nicht aufgehoben werden. Obwohl Kant, wie gesagt, davon spricht, dass ein Manko des ethischen Naturzustands im Fehlen einer Instanz bestehe, die Pflichten „in allgemeine Ausübung bringe“ (RGV VIII, 754), so kann er die Überwindung desselben nicht in der Schaffung einer solchen, zur Moral nötigenden Instanz sehen. Auch die möglichen göttlichen Sanktionen und Belohnungen dürfen nicht als Nötigung zum moralischen Handeln verstanden werden, wie Kant im Rahmen der Postulatenlehre betont (siehe Kapitel 2.2). Vielmehr ist er offensichtlich davon überzeugt, dass im Volke Gottes niemand mehr unmoralisch handeln wird, folglich auch niemand mehr zur Moral gezwungen werden muss. Hier endet die Analogie zum juridischen Gemeinwesen: Lebte dieses noch davon, dass im Notfall Gehorsam erzwungen werden kann und muss, ist ein analoger Vorgang im ethischen Gemeinwesen weder möglich noch nötig. Die auf Zwang beruhende Form menschlichen Zusammenlebens wäre ja – wie in der Rekonstruktion des ethischen Naturzustands herausgearbeitet – überwunden. Dass für den Gottesbegriff der Gegensatz von Publizität und Innerlichkeit nicht besteht, ist damit gezeigt. Aber hat Kant sein Ziel erreicht, die Möglichkeit eines ethischen Gemeinwesens darzulegen? Daran muss man zweifeln. Unklar bleibt nämlich, wie sich die Vereinbarkeit der Gegensätze im Gottesbegriff auf die analysierten Probleme im Zusammenleben der Menschen auswirken soll. In der Literatur wird etwa argumentiert, der Gottesbegriff werde wirksam, indem die Selbstbetrachtung der Individuen einen göttlichen Standpunkt einnehme: „Wir
Auch Anderson-Gold (2001, 108f.) unterschätzt den direkten Bezug zum christlichen Gottesbegriff, der hier zur Lösung moralphilosophischer Probleme herangezogen wird, indem er lediglich schreibt: „Kant’s moral project has religious dimensions because the scope of the social project and the nature of the social union go beyond what merely cultural, economic, or material conditions of human existence can produce.“ Nicht alles, was über kulturelle, ökonomische oder materielle Bedingungen hinausgeht, ist per se schon als religiös einzustufen; die eigentlichen christlich-religiösen Charakteristika des ethischen Gemeinwesens übersieht Anderson-Gold.
5.3 Der Übergang zur Geschichte: sichtbare und unsichtbare Kirche
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müssen uns aus der Perspektive eines Wesens betrachten, dem wir prinzipiell nichts vormachen können, und die Idee eines solchen Wesens nennt man traditionell Gott.“ (Stangneth 2000, 136) Aber hier liegt gerade das Problem: Durch die begriffliche Einführung eines solchen Wesens ändert sich noch nichts daran, dass uns der epistemische Standpunkt dieses Wesens nicht zugänglich ist. Wir können uns und unsere Mitmenschen auch dann nicht aus der Perspektive Gottes betrachten, wenn wir den Begriff Gottes und dessen objektive Realität voraussetzen. Besonders deutlich wird dies vielleicht daran, dass mir weiterhin das Wissen darüber versagt bleibt, ob meine Mitmenschen tatsächlich den Übergang ins ethische Gemeinwesen mit mir vollzogen haben oder ob sie dies nur vorgeben – um etwa aus diesem Täuschungsmanöver einen Vorteil zu ziehen. Hier bleibt ein ernsthaftes Problem bestehen, das Kant offenbar lösen möchte, indem er eine empirisch greifbare Form des ethischen Gemeinwesens als Produkt der Geschichte aufzufassen beginnt.
5.3 Der Übergang zur Geschichte: sichtbare und unsichtbare Kirche Oben wurde die Frage aufgeworfen, warum die Religionsschrift überhaupt auf das Thema Geschichte zu sprechen kommt: Geht es um die Überwindung des Bösen, müsse die Entwicklung des Individuums betrachtet werden, so die anfängliche Vermutung. Die Notwendigkeit des ethischen Gemeinwesens stellt demgegenüber bereits den ersten Schritt des Übergangs zur Geschichtsphilosophie dar: Moralisch gut zu werden, ist wesentlich eine Aufgabe der Menschengattung, die den Umfang eines individuellen Lebens sprengt. Die Gründung eines ethischen Gemeinwesens als Gattungspflicht macht eine Entwicklung der Gattung notwendig, die nur historisch vonstattengehen kann. Indem eine historische Entwicklung zur Pflicht gemacht wird, wird die Gestaltung der Geschichte selbst dem Menschen als Aufgabe aufgetragen – der er freilich, wie gezeigt, nicht ohne göttlichen Beistand nachkommen kann. Auch eine zweite geschichtsphilosophische Vorentscheidung ist durch die Konzeption des ethischen Gemeinwesens getroffen: Im ethischen Gemeinwesen wäre das Böse endgültig überwunden. Einen Rückfall in den Naturzustand, der Staaten in Form von Bürgerkriegen und Revolutionen ständig droht, kann es damit nicht mehr geben; mit der Gründung des ethischen Gemeinwesens wäre die moralische Entwicklung der Menschheit unumkehrbar abgeschlossen. Wenn es überhaupt eine lineare Entwicklung auf ein ‚Ende der Geschichte‘ hin geben kann, dann muss dieses im ethischen Gemeinwesen bestehen.
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Schließlich hängt ein dritter geschichtsphilosophisch relevanter Aspekt mit der Konzeption des ethischen Gemeinwesens zusammen: Der Begriff des ethischen Gemeinwesens sei – Kant betont hier merkwürdigerweise: im Gegensatz zum politischen Gemeinwesen²⁷⁹ – „immer auf das Ideal eines Ganzen aller Menschen bezogen“ (RGV VIII, 755). Eine Gesellschaft von Menschen, die untereinander nach Tugendgesetzen leben möchten, hat, wenn sie sich nach außen hin im ethischen Naturzustand befindet, die gegenseitige Anfeindung durch das Böse nicht endgültig überwunden und kann lediglich als „eine Vorstellung oder ein Schema“ (RGV VIII, 755) des eigentlichen ethischen Gemeinwesens bezeichnet werden. Eine solche „besondere Gesellschaft“ von „in jener Absicht vereinigten Menschen“ (RGV VIII, 755) muss zwangsläufig „zur Einhelligkeit mit allen Menschen (ja aller endlichen vernünftigen Wesen) hin[streben]“ (RGV VIII, 755). Soll das ethische Gemeinwesen als Resultat einer geschichtlichen Entwicklung vorgestellt werden, so muss diese eine weltgeschichtliche Entwicklung sein. Damit säkularisiert Kant den Universalitätsanspruch der christlichen Kirche, indem er die Struktur beibehält, aber eine ‚naturrechtliche‘ Begründung anbietet. Mit dieser Säkularisierung übernimmt er zugleich ein wichtiges Merkmal der christlichen Geschichtsauffassung: deren Einheitlichkeit.²⁸⁰ Mit diesen drei geschichtsphilosophischen Vorentscheidungen im Hintergrund konstruiert Kant in den Abschnitten IV, V und VII der ‚philosophischen Vorstellung‘ des ethischen Gemeinwesens einen Übergang vom Begriff des ethischen Gemeinwesens zu Möglichkeitsbedingungen seiner historischen Verwirkli-
Auch politische Gemeinwesen sind (zumindest vermittelt über die Konzepte des Völkerbunds und der Weltrepublik) auf das Ganze aller Menschen bezogen (siehe Kapitel 2.3). Vielleicht möchte Kant darauf hinaus, dass Staaten als ‚Inseln des Rechts‘ im internationalen Naturzustand neben ihrer Bezogenheit auf das Weltganze auch ein selbstständiges Existenzrecht aufweisen und deshalb auch eigene Entwicklungen durchmachen, die nur indirekt kosmopolitische Auswirkungen aufweisen – sie sind in diesem Sinn nicht „immer“ auf das Ganze bezogen. Die Geschichte Frankreichs ließe sich aus der Sicht Kants etwa einerseits als Entwicklung eines besonderen Staates, andererseits als Wegbereiter zu einem Völkerbund beschreiben. Dass Kant hier tatsächlich bewusst auf den christlichen Universalitätsanspruch zurückgreift, zeigen seine Ausführungen zum Allgemeinheitsanspruch der Kirche (RGV VIII, 761). Damit scheint nicht nur die verbreitete These richtig zu sein, dass der Universalitätsanspruch vermittelt über die mittelalterliche Geschichtstheologie Einzug in das neuzeitliche Geschichtsdenken hält; Kant bezieht sich auch direkt auf diesen ideengeschichtlichen Ursprung. – Vermutlich geht Kants aus heutiger Sicht frappierende These, die katholische Kirche vertrete zu Recht den Anspruch, dass außerhalb ihrer kein Heil sei (vgl. SF XI, 331), auf den notwendigen Universalitätsanspruch des ethischen Gemeinwesens zurück.
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chung, welche schließlich die ‚historische Vorstellung‘ überhaupt erst notwendig macht.²⁸¹ Die Hinwendung zur Frage nach der historischen Verwirklichung des ethischen Gemeinwesens fällt interessanterweise mit der ersten Verwendung des Reich-Gottes-Begriffs seit dessen Nennung in der Überschrift des Dritten Stücks zusammen: „Der Wunsch aller Wohlgesinnten ist also: ‚daß das Reich Gottes komme, daß sein Wille auf Erden geschehe‛; aber was haben sie nun zu veranstalten, damit dieses mit ihnen geschehe?“ (RGV VIII, 760) Dass der Reich-Gottes-Begriff genau an dieser Stelle erstmals fällt, legt zumindest nahe, dass Kant mit diesem Begriff vor allem einen Aspekt betonen möchte, den er in der christlichen Eschatologie vorzufinden meint: Die tiefe eschatologische Überzeugung, dass das, was geboten ist, irgendwann auch sein wird, macht aus dem bloßen Begriff des ethischen Gemeinwesens das tatsächliche Ziel kollektiven menschlichen Handelns. Die zweite Satzhälfte spiegelt prototypisch die in Kapitel 5.2 angesprochene Paradoxität aktiver und passiver Elemente bei der Gründung des ethischen Gemeinwesens wider, die auch für die weitere Argumentation prägend bleiben wird: Gefragt wird danach, was aktiv „zu veranstalten“ sei, damit passiv etwas „mit ihnen geschehe“. Den Übergang vom Begriff des ethischen Gemeinwesens zu seiner Verwirklichung in der Welt vollzieht Kant im Wesentlichen, indem er die Gegenüberstellung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche einführt. Seit Augustinus unterscheidet die Theologie mit diesen Begriffen die von Gott gestiftete Kirche als Gemeinschaft der (wahrhaft) Gläubigen von der beobachtbaren und institutionell verfassten Gemeinschaft derer, die sich äußerlich zum christlichen Glauben bekennen; mit der Reformation wird diese Unterscheidung sogar zu einem zentralen Aspekt der Dogmatik. Kant greift sie auf, indem er das Vernunftkonzept einer Tugendgemeinschaft um eine sichtbare Form derselben erweitert. Als „Vereinigung aller Rechtschaffenen unter der göttlichen aber unmittelbaren moralischen Weltregierung“ kommt nämlich die Idee des ethischen Gemeinwesens nur der unsichtbaren Kirche gleich und ist als solche „kein Gegenstand möglicher Erfahrung“ (RGV VIII, 760). Sichtbar ist dagegen eine durch Mitgliedschaften, Ämter und Rituale institutionalisierte Gemeinschaft. Die unsichtbare Kirche dient der
Dass der Übergang zur Geschichte erst an dieser Stelle stattfindet, wird zuweilen übersehen. Habichler (1991, 222 f.) lokalisiert den Übergang zur Geschichte am Beginn des Dritten Stücks, denn dort wechsle Kant vom menschlichen zum göttlichen Standpunkt, der alle Handlungen stets eingebettet in ihren historischen Kontext betrachtet; dadurch steige das Reflexionsniveau. Dies scheint mir eine sehr unzureichende Erklärung zu sein; vgl. die folgende Interpretation.
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sichtbaren dabei als „Urbild“²⁸² (RGV VIII, 760); andersherum ist die sichtbare Kirche eine „bloße Repräsentantin eines Staats Gottes“ (RGV VIII, 761). Während die unsichtbare Kirche von Gott gestiftet bzw. von der Vernunft als bloße Idee entworfen wird, ist die sichtbare Kirche eine „von Menschen zu stiftende“ (RGV VIII, 760). Die institutionellen Notwendigkeiten einer sichtbaren Gemeinschaft von Tugendhaften erfordern gewisse Machtbefugnisse geistlicher Ämter, deren Träger sich allerdings nur als „Diener“ des unsichtbaren Oberhauptes betrachten dürfen.²⁸³ Schon am Begriff der „sichtbaren Kirche“ tritt das doppelköpfige Anliegen, das Kant verfolgt, bereits voll zu Tage: Wenn Moralität per se „kein Gegenstand möglicher Erfahrung“ sein kann, der Begriff der Kirche aber vernünftigerweise nur als ethisches Gemeinwesen aufgefasst werden darf, dann ist die sichtbare Kirche eine empirische Vereinigung von Menschen, die nicht trotz, sondern mit ihrem empirischen Charakter auf das Ideal noumenaler Moralität bezogen bleiben soll.²⁸⁴ Sie teilt mit dem Staat die Verfasstheit in Raum und Zeit, hat aber im Gegensatz zum Staat den Anspruch, die sichtbare Verwirklichung von nichträumlicher und nicht-zeitlicher kollektiver Moralität zu sein. Auch der Staat ist freilich nur die Annäherung an eine Idee der reinen Vernunft. Diese Idee bezieht sich aber nur auf äußere Handlungen, die grundsätzlich Teil der erfahrbaren Wirklichkeit sein können. Die sichtbare Kirche ist dagegen eine empirische Annäherung an ein Ideal, welches grundsätzlich nicht empirisch gegeben sein kann, weil es sich auf Moralität bezieht.²⁸⁵
Kants Deutung des Verhältnisses von unsichtbarer zu sichtbarer Kirche verläuft weitgehend – auf die Differenz weise ich noch hin – analog zu der in der Rechtsphilosophie vertretenen Auffassung von republica noumenon und republica phaenomenon (SF XI, 364; siehe Kapitel 3.3) und steht damit, wie der Begriff des Urbilds schon verrät, deutlich in platonischer Tradition. Ob er damit der theologischen Intention gerecht wird, sei dahingestellt. Vgl. RGV VIII, 760. Kant spricht von einer „Unterordnung“ der Gläubigen unter die Amtsträger; dies entspricht dem damaligen reformierten Amtsverständnis ebenso wie dem katholischen. Dies soll an der Freiwilligkeit der Kirchenzugehörigkeit freilich nichts ändern. Wimmer (1990, 200 – 206) sieht dieses Problem, meint aber, dass die spezifische moralische Öffentlichkeit des ethischen Gemeinwesens immer für Menschen sichtbar sein muss. Daraus ergeben sich einige Interpretationsschwierigkeiten, und er muss Kant letztlich „eine gewisse Widersprüchlichkeit“ (204) unterstellen. Ich halte es für sehr irreführend, die sichtbare Kirche als „Beispiel“ für die unsichtbare Kirche zu bezeichnen (vgl. Stangneth 2000, 141 und 146). Wenn man überhaupt davon reden möchte, dass es in der empirischen Welt „Beispiele“ von Vernunftideen geben kann – was schon problematisch genug ist –, dann wäre etwa ein konkreter Staat x aufgrund seiner Eigenschaften y ein Beispiel für die Vernunftidee der Republik, die durch ebenjene Eigenschaften in idealischer Form bestimmt wurde. Die sichtbare Kirche ist aber durch ganz andere Eigenschaften bestimmt als die unsichtbare Kirche: Diese wird von Gott gestiftet, jene von Menschen etc. Konkrete
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Nichtsdestotrotz kann die sichtbare Kirche natürlich von ihrer Bestimmung, das ethische Gemeinwesen zu verkörpern, stark abweichen. Als „wahre“ sichtbare Kirche verkörpert sie die bestmögliche Annäherung an ihre Bestimmung. „Die (wahre) sichtbare Kirche ist diejenige, welche das (moralische) Reich Gottes auf Erden, so viel es durch Menschen geschehen kann, darstellt.“ (RGV VIII, 761) Die sichtbare Kirche ist damit zugleich der Ort, an dem sich Menschen in die eigentlich Gott vorbehaltene Stiftung²⁸⁶ des ethischen Gemeinwesens einbringen können: Was in menschlicher Macht steht, muss und kann nur in der sichtbaren Kirche verwirklicht werden. Genau das scheint der Aspekt der Ekklesiologie, ja von gelebter Religion überhaupt zu sein, der Kant vor allem interessiert: Es gibt einen Ort, an dem sich Menschen für etwas einsetzen können, was eigentlich außerhalb ihrer Macht steht. Damit ist die Notwendigkeit der sichtbaren Kirche keinesfalls dem „moralische[n] Versagen der Menschheit“ (Wimmer 1990, 197) geschuldet. Im Gegenteil eröffnet sie erst die Möglichkeit, dass Menschen ihrer moralischen Aufgabe gerecht werden können, am Kommen des Reichs Gottes mitzuarbeiten.²⁸⁷ Die zentrale Frage ist natürlich, wie es möglich sein kann, die Vernunftidee des ethischen Gemeinwesens in die Form einer sichtbaren Kirche zu gießen. Damit verbunden ist das Grundproblem des Konzeptes des ethischen Gemeinwesens: Das ethische Gemeinwesen muss öffentlich verfasst sein und zugleich auf Tugendprinzipien beruhen, die per se nicht öffentlich sein können. Wie geht Kant bei der Konzeption der sichtbaren Kirche mit diesem Problem um? Zunächst führt Kant die Unterscheidung zwischen einem „reinen Religionsglauben“, auch als „Vernunftglaube“ bezeichnet, und einem „historischen Glauben“, auch „Kirchenglaube“, „Offenbarungsglaube“ und „Geschichtsglaube“ genannt, ein. Der reine Religionsglaube besteht in nichts anderem als der Befolgung seiner moralischen Pflichten als göttlicher Gebote unter der Hoffnung auf den „zum sittlichen Endzweck zusammenstimmenden Effekt“ (RGV VIII, 764) dieser tugendhaften Lebensweise. Ein weiterer Dienst an Gott ist aus Sicht des reinen Religionsglaubens weder nötig noch möglich: Der Gott, dessen Existenz vernünftig gerechtfertigt werden kann, lässt sich weder durch Riten noch durch andere Formen von Ehrbezeichnungen und Bittgesten ‚bestechen‘; für ihn gilt allein die Moralität.
Religionsgemeinschaften sind daher Beispiele von sichtbaren Kirchen, aber nicht Beispiele der unsichtbaren. „In der Tat ist es auch ein widersinnischer Ausdruck, daß Menschen ein Reich Gottes stiften sollen […]; Gott selbst muß der Urheber seines Reiches sein.“ (RGV VIII, 820) Die fundamentale Bedeutung der sichtbaren Kirche innerhalb der Theorie vom ethischen Gemeinwesen wird in der Literatur immer wieder unterschätzt; vgl. etwa Wittwer 1996 und Geismann 2000.
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Ein historischer Glaube kennt dagegen weitergehende Inhalte und Gebote, die nicht auf Vernunft, sondern auf Offenbarung zurückgeführt werden können. Gesetze, die über moralische Pflichten hinausgehen, bezeichnet Kant als „statutarische Gesetze“. Kant hebt ausdrücklich Religionen hervor, die ihren Glauben auf eine heilige Schrift gründen.²⁸⁸ Die Vernunft kann die Wahrheit einer solchen historischen Religion zwar nicht bestreiten, muss aber dennoch sämtliche statutarische Gesetze als willkürliche, nur durch das „Vorgeben göttlicher Autorität“ gesetzte Regeln ansehen, die nicht selten dazu dienen, „der Menge ein Joch aufzulegen“ (RGV VIII, 766).²⁸⁹ Die entscheidende These Kants besagt nun, dass das ethische Gemeinwesen nicht einfach aus dem Stegreif auf dem Vernunftglauben aufbauen kann, sondern notwendigerweise ihren Anfang mit einem historischen Glauben nehmen muss: „Die Konstitution einer jeden Kirche geht allemal von irgend einem historischen Glauben aus“ (RGV VIII, 762).²⁹⁰ Kant liefert für diese These zwei Begründungen, die nicht recht zusammenpassen wollen. Zunächst heißt es, an der Notwendigkeit einer historischen Religion sei die „besondere Schwäche der menschlichen Natur“ (RGV VIII, 762) schuld, dem von der Vernunft postulierten Gott neben dem guten Lebenswandel auch immer Ehrenbezeigungen und zusätzliche Dienste erweisen zu wollen.
In diesem Zusammenhang beweist Kant seine ironisch-literarischen Qualitäten: „Ein heiliges Buch erwirbt sich selbst bei denen (und gerade bei diesen am meisten), die es nicht lesen, wenigstens sich daraus keinen zusammenhängenden Religionsbegriff machen können, die größte Achtung, und alles Vernünftlern verschlägt nichts gegen den alle Einwürfe niederschlagenden Machtspruch: da steht’s geschrieben.“ (RGV VIII, 767) Damit möchte Kant den rationalistischen Anspruch seiner Religionsphilosophie retten und nicht aufgeben. Kern (2007, 453) verdreht diesen Punkt, indem er Kant in den Mund legt, der göttlich gesetzgebende Wille äußere sich auch durch statutarische Gesetze. Troeltsch hält treffend fest, dass damit zwischen Vernunftreligion und Kirchenglauben ein „Verhältnis der inneren Aufeinanderbeziehung“ besteht, indem der Vernunftglaube „zur historischen Wirksamkeit des Kirchenglaubens als Vehikel“ bedarf, aber umgekehrt auch der Kirchenglaube „unbewusst aus der im Psychologischen wirkenden und in ihm sich gestaltenden religiösen Vernunft“ (1904, 131) hervorgeht.
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„Daß sie, wenn sie ihre Pflichten gegen Menschen […] erfüllen, eben dadurch auch göttliche Gebote ausrichten, […] und daß es auch schlechterdings unmöglich sei, Gott auf andere Weise näher zu dienen, […] will ihnen nicht in den Kopf. Weil ein jeder großer Herr der Welt ein besonderes Bedürfnis hat, von seinen Untertanen geehrt und durch Unterwürfigkeitsbezeigungen gepriesen zu werden, […] so behandelt man die Pflicht, so fern sie gleich göttliches Gebot ist, als Betreibung einer Angelegenheit Gottes […].“ (RGV VIII, 763)
Dieser Argumentation zufolge wäre der historische Glaube entbehrlich, wenn es nicht diese konkrete (und in diesem Sinn „besondere“) menschliche Schwäche gäbe. Direkt im Anschluss bringt Kant eine neue Begründung seiner These, die sich besser in den Kontext einpassen lässt und insofern das bedeutendere Argument darstellen dürfte.²⁹¹ Der Mensch, „bloß als Mensch betrachtet“ (RGV VIII, 764), sei von der Notwendigkeit des historischen Glaubens nicht betroffen.Vielmehr sei für jeden Einzelnen nur die Vernunftreligion maßgebend. „Nicht, die da sagen: Herr, Herr, sondern die den Willen Gottes tun“ (RGV VIII, 764 f; vgl. Mt 7,21), d. i. die einen guten Lebenswandel führen, verhalten sich als Individuen richtig. Von der besonderen Schwäche, Ehrbezeigungen erweisen zu wollen, ist nicht mehr die Rede.²⁹² Wird der Mensch aber nicht „bloß als Mensch“, sondern zugleich als „Bürger in einem göttlichen Staate auf Erden“ angesehen, kommt der historische Glaube ins Spiel. Hier tritt der Mensch nicht mehr als Individuum auf, sondern als Teil des ethischen Gemeinwesens. Und es stellt sich damit das Problem, wie das ethische Gemeinwesen öffentlich verfasst sein kann, obwohl Moralität für Menschen nicht öffentlich sein kann. Der historische Glaube soll dieses Manko nicht vollends beseitigen, aber doch umgehen. Eine „Kirche aber, als Vereinigung vieler Menschen unter solchen [d. h. moralisch-guten] Gesinnungen zu einem moralischen gemeinen Wesen, bedarf einer öffentlichen Verpflichtung, einer gewissen auf Erfahrungsbedingungen beruhenden kirchlichen Form, die an sich zufällig und mannigfaltig ist, mithin ohne göttliche statutarische Gesetze nicht als Pflicht erkannt werden kann.“ (RGV VIII, 765) Für Menschen öffentlich werden können nur statutarische, aber keine rein moralischen Gesetze.²⁹³ Der historische Glaube steht
Dieses neue Argument wird in der Literatur regelmäßig ignoriert. Despland etwa findet Kants These, die Konstitution der Kirche müsse von einem historischen Glauben ausgehen, deshalb schlicht „surprising“ (1973, 205) und schlecht begründet. Kant scheint davon auszugehen, dass Menschen insofern auch bereits jetzt Mitglieder des Reichs Gottes sein können; vgl. RGV VIII, 802 f. und Kapitel 3.3.5. Grotesk erscheint deshalb die These, Religion werde an dieser Stelle „primär ein Thema der individuellen Lebensführungspraxis“ (Murrmann-Kahl 2005, 264). Im Gegenteil soll Religion sittliche Gemeinschaft sichtbar machen. Ebenso wenig ist die These nachvollziehbar, dass mit
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damit für diejenige Instanz, deren Bestimmung es ist, Moralität durch das Gegenteil von Moralität, nämlich statutarische Gesetze, öffentlich zu machen. Besonders plastisch wird dieses Modell an Kants moralischer Rekonstruktion des religiösen Ritus: Im gemeinsamen Gebet wird der „Wunsch eines jeden mit den Wünschen aller zu einerlei Zwecke (der Herbeiführung des Reichs Gottes) als vereinigt vorgestellt“ (RGV VIII, 873 Anm.); der Kirchgang ist „nicht allein ein für jeden einzelnen zu seiner Erbauung anzupreisendes Mittel“, sondern „für das Ganze unmittelbar obliegende Pflicht“ (RGV VIII, 874 f.; Hervorhebungen von Kant). Die Konsequenz daraus ist, dass reiner Vernunftglaube in der Welt nur für Individuen verwirklicht werden kann, nicht aber als gemeinschaftlicher Glaube innerhalb der sichtbaren Kirche. Reine Vernunftreligion „als öffentlicher Religionsglaube“ (RGV VIII, 820) ist zwar unter Rückgriff auf den Gottesbegriff als Vernunftidee konzipierbar, mehr aber auch nicht: Er „verstattet“ „nur die bloße Idee von einer Kirche (nämlich einer unsichtbaren)“ (RGV VIII, 820), kann aber nicht von Menschen institutionell errichtet werden (vgl. ebd.). Deshalb ist in der sichtbaren Kirche die „Materie“ des Glaubens – die Beobachtung moralischer Pflichten – immer an die „Form“ (RGV VIII, 765) eines historischen Glaubens gebunden. Solange Kirche in dieser Welt existieren und von Menschen verwaltet werden soll, kann sie sich von statutarischen Gesetzen nicht völlig lösen. Die Notwendigkeit des historischen Glaubens ist nach dieser Argumentation grundsätzlich nicht mehr überwindbar: Keine Materie kann ohne Form existieren. Kant redet deshalb unvermittelt auch nicht mehr von einer „besonderen“ Schwäche der menschlichen „Natur“, sondern von einer „unvermeidlichen Einschränkung der menschlichen Vernunft“ (RGV VIII, 777), die nur darin bestehen kann, dass für die menschliche Vernunft Moralität nicht öffentlich werden kann. Damit ist festzuhalten: Kant liefert, ohne dies zu kennzeichnen, zwei verschiedenartige Argumente für die These, die Kirche müsse vom historischen Glauben ausgehen. Während sich das eine auf eine möglicherweise überwindbare, konkrete Schwäche der menschlichen Natur bezieht, rückt das andere die prinzipielle Beschränktheit endlicher Vernunftwesen ins Zentrum. Wie schon eingeführt, soll die unsichtbare Kirche der sichtbaren als „Urbild“ dienen, auch wenn Abbild und Urbild von so verschiedener Art sind, dass das Urbild nicht einmal in Ansätzen erreicht werden kann. Nachdem die sichtbare Kirche immer mit einer historischen Religion zusammenfällt, folgt daraus, dass historische Religionen in irgendeiner Form normativen Anforderungen unter-
dem Übergang zur sichtbaren Kirche die Forderung nach Öffentlichkeit aufgegeben werde (so Sala 2004, 255 und 259).
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worfen sind, die über die bloße Widerspruchsfreiheit zwischen statutarischen und moralischen Gesetzen hinausgehen; historische Religionen sind trotz ihrer willkürlichen statutarischen Gesetze auf das Ideal der unsichtbaren Kirche bezogen und sollen auf dieses hin verstanden und eingerichtet werden. Eine wesentliche Bedingung dieser Normativität liegt darin, dass historische Religionen nur als von Menschen errichtete und gelenkte Institutionen verstanden werden dürfen. Statutarische Gesetze und institutionelle Regeln sind nicht als starre, ein für alle Mal feststehende Gebote zu betrachten. Vielmehr gilt, dass, „ob die Menschen zwar manche Form einer Kirche mit unglücklichem Erfolg versucht haben möchten, sie dennoch nicht aufhören sollen, nötigenfalls durch neue Versuche, welche die Fehler der vorigen bestmöglich vermeiden, diesem Zwecke nachzustreben“; diese Aufgabe sei „gänzlich ihnen selbst überlassen“ (RGV VIII, 766). Damit ist dem Menschen die Entwicklung der sichtbaren Kirche ausdrücklich als Aufgabe angetragen: „Kant uses the image of the ethical commonwealth […] also to characterize the concrete task that the duty to promote the highest good places upon all human persons. […] Kant affirms, first, that the task is precisely to make the invisible and atemporal moral world a public and visible one, and, second, that the actual shape such public and visible exhibition of the moral world takes in the course of history is concretely determined by human activity.“ (Rossi 1991, 159)²⁹⁴
Der lange vorbereitete Übergang zur Geschichte ist mit diesem Schritt endgültig vollzogen. Die Gründung des Reichs Gottes auf Erden wird – vermittelt über das Konzept der sichtbaren Kirche, das wiederum nur in Form historischer Religionen denkbar ist – zu einer geschichtlichen Aufgabe menschlicher Subjekte, genauer der menschlichen Gattung. Kant bleibt nicht dabei stehen, diese Aufgabe einfach festzustellen. Vielmehr dient sie ihm als Ausgang einer begrifflich bestimmbaren Ordnung einzelner historischer Ereignisse, d. h. einer Geschichtsphilosophie. Der Begriff der sichtbaren Kirche ist zwischen den Angeln von nicht-öffentlicher Moralität und öffentlicher, dafür nicht-moralischer Gesetzesklauberei aufgehängt: Die sinnliche Form ist auf eine übersinnliche Bestimmung bezogen. Indem das Abbild/Urbild-Schema
Wenn Rossi vom „highest good“ spricht, übersieht er allerdings, dass sich Kant in der RGV auf das höchste Gut als ein gemeinschaftliches beschränkt (siehe oben). Dies bringt ihn dann zu der problematischen Vermutung, dass das ethische Gemeinwesen das höchste Gut in einer jenseitigen Welt ersetzen solle (vgl. Rossi 1991, 160 ff.; siehe auch Kapitel 9.2).
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auf Anfang und Ende der Geschichte übertragen wird,²⁹⁵ werden diese Angelpunkte zugleich zu den Fixpunkten, zwischen denen Geschichte aufgespannt ist. Der Religionsgeschichte wird als „allmähliche[r] Übergang des Kirchenglaubens zur Alleinherrschaft des reinen Religionsglaubens“ (RGV VIII, 777) gedeutet; aus dieser Spannung gewinnt sie ihre Dynamik.²⁹⁶ Die anvisierte „Alleinherrschaft des reinen Religionsglaubens“ stellt den Interpreten allerdings vor ein gewaltiges Problem: Da der reine Religionsglaube nur die Idee einer unsichtbaren Kirche „verstattet“ (RGV VIII, 820), nicht aber eine statutarisch verfasste Gemeinschaft, bedeutet seine Alleinherrschaft zugleich die Überwindung der sichtbaren Kirche. In diesem Sinne schreibt Kant, dass der göttliche Willen einst „alle unter einer gemeinschaftlichen Regierung unsichtbarer Weise in einem Staate verbindet, welcher durch die sichtbare Kirche vorher dürftig vorgestellt und vorbereitet war“ (RGV VIII, 786; meine Hervorhebung). Dies ist – wenn die Problematik überhaupt gesehen wurde – so verstanden worden, dass die von Menschen organisierte sichtbare Kirche angehalten ist, sich im Laufe der Geschichte selbst aufzulösen, um durch die unsichtbare Kirche ersetzt zu werden, sobald der richtige Zeitpunkt gekommen scheint. Baumgartner kommt in diesem Sinne zu dem Ergebnis, „daß der Begriff der sichtbaren Kirche bei Kant zweideutig bleibt: Die sichtbare Kirche mit ihren Statuten und ihrer Organisation ist für den Menschen in dieser (sinnlichen) Welt notwendig, und sie soll sich zugleich schon in dieser Welt in die unsichtbare Kirche (in eine Idee also) auflösen“ (Baumgartner 1992, 161; meine Hervorhebung).²⁹⁷ Diese Interpretation findet sicherlich in vielen Formulierungen Kants eine mehr oder weniger deutliche Unterstützung. Dennoch scheint sie alles in allem in die falsche Richtung zu weisen, denn sie unterstellt Kant einen Widerspruch: Die sichtbare Kirche wäre für Menschen zugleich notwendig und überwindbar. Ein Vorgriff auf die „historische Vorstellung der Herrschaft des guten Prinzips auf Erden“ gibt eine alternative Lesart an die Hand, in der dieses Problem gelöst wird.
Das platonisch-augustinische Abbild/Urbild-Schema wird deshalb von Kant nicht ersetzt, wie Wittwer (1996, 181) unterstellt; die Differenz zwischen Kant und der Theologie ist deutlich kleiner, als Wittwer zugestehen möchte. Wobei zu beachten ist: „Nicht der reine Religionsglaube entwickelt sich – er hat keine Geschichte –, sondern der historische Kirchenglaube entwickelt sich auf den reinen Religionsglauben zu.“ (Brachtendorf 2011, 152) Ähnlich heißt es bei Wimmer (1990, 204): „Es fragt sich nämlich, wieso eine Kirche die wahre genannt werden kann, wenn sie ein Prinzip ihrer Selbstaufhebung enthält – eine wahrhaft paradoxe Konzeption.“ Wittwer (1996, 186) löst das Problem, indem er behauptet, der Endzustand solle und könne gar nicht eintreten; er bleibe ein regulatives Ideal. Dann wäre die Gattungspflicht eine Pflicht, der man nicht nachkommen soll – wiederum ein paradoxes Ergebnis.
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Es heißt dort, erst dann, wenn „alles Erdenleben ein Ende hat“ und „Unsterblichkeit anhebt“, könne „die Form einer [sichtbaren; MH] Kirche aufgelöset“ werden, und Gott sei „alles in allem“ (RGV VIII, 801 f.).²⁹⁸ Genau diese Formulierung, dass „Gott sei alles in allem“, verwendet Kant zuvor zur Beschreibung der Herrschaft der reinen Vernunftreligion (RGV VIII, 785).²⁹⁹ Daraus ist zu folgern, dass die Alleinherrschaft des reinen Religionsglaubens als öffentlicher Glaube³⁰⁰ nur eine künftige Welt betreffen kann, biblisch gesprochen: erst nach dem jüngsten Tag einsetzen wird.³⁰¹ In einer künftigen Welt, deren
Zur Interpretationsproblematik dieser Stelle siehe auch Kapitel 5.5. Interessanterweise zitiert auch Augustinus diese Bibelstelle, und zwar um den ewigen Frieden zu charakterisieren, der – das wird genau dort ausdrücklich betont – nur nach dem jüngsten Gericht stattfinden könne (vgl. De civitate Dei, Buch XIX, Kapitel 20). Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Kant De civitate Dei als Vorlage verwendet hat; vgl. etwa auch den Begriff des ewigen Friedens (RGV VIII, 788; siehe auch Kapitel 2.2 und 8.2) sowie die Struktur der Eschatologie in der „historischen Vorstellung“, die sehr deutlich Augustinus folgt. – An anderer Stelle rekurriert Kant auf den Gegensatz von streitender und triumphierender Kirche, der ihm aus dem Pietismus (insbesondere durch Spener) bekannt gewesen sein dürfte. Auch hier dürfte Kant sehr nah an der theologischen Vorlage geblieben sein, denn die triumphierende Kirche wird ausdrücklich im Jenseits angesiedelt: „Am Ende der Welt, d. i. am jüngsten Tag, soll die Wende von der zeitlichen streitenden Kirche zur ewigen triumphierenden Kirche stattfinden.“ (Yamashita 2000, 263) Wie schon erwähnt, ist der Vernunftglaube für den Menschen „bloß als [einzelner; MH] Mensch betrachtet“ (RGV VIII, 764), also als Privatglaube, sehr wohl möglich. Kant spiegelt hier einen wesentlichen Zug protestantischer Theologie wider: Der Einzelne vor Gott bleibt auf Erden wichtiger als die Gemeinschaft. In der Literatur wird diese Interpretation bislang quasi nicht vertreten. Mir ist nur ein einziger Autor bekannt, der ausdrücklich meine These teilt, das aber ohne jegliches Problembewusstsein: Yamashita ist in seiner viel zu ungenauen Arbeit offenbar durch den Vergleich mit Spener für die Frage nach der Jenseits-Orientierung sensibilisiert und formuliert ohne weitere Erläuterung, dass die „formale Kirche […] laut Kant erst bei der Ankunft Christi entbehrlich [wird], was vollständig der christlichen Lehre gemäß ist“ (2000, 269). Abgesehen davon wird die von mir vertretene Interpretation in der Literatur nicht einmal als Möglichkeit in den Raum gestellt oder diskutiert. Bohatec erwägt immerhin, dass Kant „seine Eschatologie in den endgeschichtlichen Rahmen einfaßt“ (1938, 479 f.); im Übrigen findet sich bei ihm jedoch die Standardinterpretation (vgl. etwa 488). Am deutlichsten tendiert vielleicht noch H. Schwarz in meine Richtung; er bezieht sich aber nicht ausdrücklich auf den Zustand der Herrschaft der reinen Vernunftreligion: „Der Mensch schafft nicht das Reich Gottes auf Erden durch Erfüllung des moralischen Gesetzes und lebt darin in ewiger Seligkeit. Am Ende unserer Zeit und dieser Welt steht der Gerichtstag […].“ (2004, 200) „Immerhin weiß [Kant] sich so sehr der christlichen Tradition verpflichtet, dass er eine Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden ablehnt.“ (2004, 204) – Meine Interpretation ist in zwei weiteren Hinsichten besser mit Kants Texten vereinbar: Erstens wird der Widerspruch ausgeschlossen, dass einerseits Kant einen Weltstaat für unmöglich hält, andererseits das ethische Gemeinwesen nur innerhalb eines Staates existieren
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Existenz schon mit der Postulatenlehre gerechtfertigt ist,³⁰² fallen die unvermeidlichen Einschränkungen des Menschen weg; erst dann kann sich die sichtbare Kirche auflösen. Diese These scheint der Intention des Textes zunächst entgegenzustehen. Insbesondere provoziert sie die Nachfrage, warum Kant immer wieder vom „Reich Gottes auf Erden“ spricht, wenn dieses letztlich nicht auf Erden vollends erreicht werden kann. Kant scheint tatsächlich unterschiedliche Dinge mit dem Begriff des Reichs Gottes auf Erden einfangen zu wollen. Einmal bezieht sich Kant damit auf die Konzeption des ethischen Gemeinwesens, die durch die sichtbare Kirche nur „dargestellt“, nicht verwirklicht werden kann (vgl. RGV VIII, 761). Dies wäre nach meiner Lesart dahingehend zu interpretieren, dass ein irdisches Reich Gottes zwar als Vernunftidee fassbar ist, aber nicht (oder besser: nur in der kläglichen Form einer sichtbaren Kirche) ausführbar; eine adäquate Verwirklichung findet diese Idee nicht mehr auf Erden, sondern im Jenseits. Sodann referiert Kant mit dem Begriff des Reichs Gottes auf Erden auf den Chiliasmus, die tausendjährige Herrschaft Christi vor dem Jüngsten Tag. Dieser ist – anders als das ethische Gemeinwesen – keine Vernunftidee, sondern nur eine „symbolische Vorstellung“ (RGV VIII, 800), die ihren guten Zweck haben kann (siehe auch Kapitel 5.5). Der vorgelegten Deutung steht dies nicht entgegen. Schließlich kennt Kant in der Tradition der präsentischen Eschatologie ein Reich Gottes, das insofern auf Erden stattfindet, als es den Beginn einer neuen Zeit innerhalb der irdischen Geschichte markiert, aber vorerst noch nicht vollendet ist (vgl. RGV VIII, 786 sowie Kapitel 5.4 und 5.5). Auch dieser Begriff des irdischen Reiches fügt sich gut in meine These ein. Ich halte die vorgeschlagene Lesart deshalb für vereinbar mit den Äußerungen Kants, die auf den ersten Blick tatsächlich ein irdisches Vollendungsdenken nahelegen. Auch wenn sicherlich einige Zweifel bestehen bleiben,³⁰³ scheint sie mir alles in allem die aussichtsreichste zu sein. Ich verstehe entsprechend die „Annäherung des Reichs Gottes“, die im Abschnitt VII thematisiert wird, als kann und zugleich auf das „Ganze aller Menschen“ (RGV VIII, 754) bezogen sein muss. Zweitens wird deutlich, weshalb Kant zu Beginn des Dritten Stücks formuliert, die Entscheidung für das Moralisch-Gute bleibe „in diesem Leben“ (RGV VIII, 751) ein Kampf, d. h. das ethische Gemeinwesen ist in dieser Welt unerreichbar. Auch andernorts vertritt Kant deshalb ohne weitere Begründung die Vorstellung, auf das Ende der Welt folge nach einem göttlichen Gericht eine zeitlose Ewigkeit (vgl. EaD XI, 176). So spricht Kant etwa davon, der Kirchenglaube werde „vielleicht […] als Vehikel immer nützlich und nötig sein“ (RGV VIII, 802) – als ginge es hier um eine empirische Frage. Es mag sein, dass Kant sich selbst nicht ganz klar darüber war, ob die Auflösung der sichtbaren Kirche in dieser Welt möglich erscheinen könnte.
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Annäherung des jenseitigen Reichs Gottes, nicht aber des Reichs Gottes auf Erden. Das Grundthema des Dritten Stücks, die „Gründung eines Reichs Gottes auf Erden“ (RGV VIII, 751; meine Hervorhebung), besteht nach dieser Lesart in nichts anderem als der „Annäherung des [jenseitigen; MH] Reichs Gottes“ (RGV VIII, 777; meine Hervorhebung). Sämtliche genannten Argumentationsschritte Kants laufen auf diese These hinaus: Soll das Reich Gottes auf Erden überhaupt als wirklich gedacht werden können – und diese Denkmöglichkeit fordert die Vernunft ein –, dann nur im historischen Prozess der Annäherung statutarisch verfasster Religionen an ein Ideal, dessen eigene Wirklichkeit in dieser Welt nicht denkbar ist. ³⁰⁴ Damit stellt sich in besonderer Weise das Problem, dass sich die sichtbare Kirche in „kontinuierliche[r] Annäherung“ (RGV VIII, 797) zu etwas befinden soll, was sie selbst hilflos transzendiert. Die Interpretation wird durch die begriffliche Unschärfe erschwert, mit der Kant hantiert. Teils bezieht sich die Annäherung auf die Vernunftidee des ethischen Gemeinwesens (vgl. RGV VIII, 786) bzw. den reinen Religionsglauben (vgl. RGV VIII, 777), teils aber nur auf die Annäherung an die „sichtbare Vorstellung (das Schema) eines unsichtbaren Reichs Gottes auf Erden“ (RGV VIII, 797). Die „Annäherung des Reichs Gottes“ schließlich kann als zunehmende Angleichung an das Reich Gottes verstanden werden;³⁰⁵ es könnte aber auch das zeitliche Nahen des Reichs Gottes gemeint sein. Unabhängig davon stellt sich vor allem die Frage, nach welchem Prinzip ein moralischer Fortschritt in der sichtbaren Kirche überhaupt möglich wäre, wenn sie das Ideal nie adäquat abbilden kann: Was kann es heißen, dass in der sichtbaren Kirche der Kirchenglaube im Laufe der Geschichte allmählich in den Religionsglauben übergeht, wenn der Kirchenglaube ‚auf Erden‘ unverzichtbar ist? Die Notwendigkeit des Kirchenglaubens wurde doppelt begründet: Einerseits in der natürlichen Schwäche des Menschen, seinem Herrn Ehrbezeigungen entgegenbringen zu wollen; andererseits durch die Notwendigkeit, die im ethischen Gemeinwesen vorausgesetzte Öffentlichkeit sichtbar zu machen. Während die zweite Begründung quasi ahistorisch – nämlich unüberwindbar – verläuft, eröffnet die erste die Möglichkeit, einen historischen Prozess begrifflich zu be-
Ich setze bei der Darstellung des weiteren Gedankengangs diese Lesart voraus. Fast alle der folgenden Thesen können aber problemlos auf eine immanente Lesart übertragen werden, sollte der Leser nicht überzeugt sein. Dass Kant die Annäherung des Reichs Gottes entgegen der eigentlichen Bedeutung des Genitivs so versteht, legen die Formulierungen „kontinuierliche Annäherung zu“ (RGV VIII, 797) und „dem reinen Religionsglauben sich kontinuierlich zu nähern“ (RGV VIII, 777) nahe. Habermas (2005, 232) trifft diesbezüglich die Unterscheidung von genitivus subiectivus und genitivus obiectivus; die letztere Variante existiert aber beim deutschen Begriff des Annäherns eigentlich gar nicht.
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stimmen. Sofern menschliche Schwäche im Spiel ist, kann ein strukturierendes Ordnungsprinzip gefunden werden, das die (Kirchen‐)Geschichte als Entwicklung darstellbar macht. In dieser Lesart ist freilich das zu Überwindende nicht mehr der Kirchenglaube selbst, sondern nur eine pervertierte Form desselben. Auf diesen wichtigen Unterschied weist Kant in einem Nachtrag der zweiten Auflage selbst ausdrücklich hin: „Nicht daß er [der Kirchenglaube; MH] aufhöre (denn vielleicht mag er als Vehikel immer nützlich und nötig sein), sondern aufhören könne […].“ (RGV VIII, 802; meine Hervorhebung) Wie ist zu deuten, dass er aufhören könne, obwohl er nicht aufhören wird? Sinn und Zweck des historischen Glaubens kann immer nur sein, das unsichtbare Reich Gottes in sichtbarer Gestalt zu vertreten. Der historische Glaube ist deshalb ein „Vehikel und Mittel der öffentlichen Vereinigung der Menschen“ (RGV VIII, 767). Die pervertierte Form des statutarischen Glaubens bestünde in einer Missachtung dieser Mittel-Zweck-Relation, also in dem Bestehen auf statutarischen Gesetzen als Selbstzweck. In diesem Sinne fordert Kant, die Mittel-ZweckRelation müsse in der richtig verstandenen historischen Religion ihren Mitgliedern bewusst sein: „Wenn also gleich […] ein historischer Glaube als Leitmittel die reine Religion affiziert, dann doch mit dem Bewußtsein, daß er bloß ein solches sei […].“ (RGV VIII, 777) Damit ist nicht weniger eingefordert als das Einhalten statutarischer Gesetze in dem Bewusstsein, dass diese im Grunde überflüssig sind – oder besser: überflüssig wären, gäbe es nicht die unvermeidliche Einschränkung der menschlichen Vernunft, für die Moralität stets ‚unsichtbar‘ bleiben muss.³⁰⁶ Die Ausrichtung der sichtbaren Kirche auf ein Ideal, das sie unaufhebbar transzendiert, führt damit auf eine merkwürdige Forderung, nämlich die bleibende Befolgung statutarischer Gesetze in einer Weise, als ob sie in einer bestimmten Hinsicht entbehrlich wären. Somit wäre das Entwicklungsprinzip gefunden, nach dem sich (Kirchen‐)Geschichte auf den Endpunkt zubewegt. Damit Geschichte als Entwicklung darstellbar wird, müssen zusätzlich zu dem Entwicklungsprinzip zwei weitere Bedingungen eingeführt werden: Die Geschichte muss beim Schlechten anfangen, und im Schlechten muss die Möglichkeit der Besserung bereits enthalten sein.
Dieses Prinzip wird entsprechend im Vierten Stück als kritischer Maßstab an bestehende Religionsgemeinschaften angelegt. – Städtler zweifelt daran, dass bei anhaltender Befolgung statutarischer Regeln deren autoritärer Charakter verschwinden kann, denn dieser werde „durch die Verweisung auf gottesdienstliche Rituale nicht, auch nicht allmählich, überwunden, sondern bedient und gefestigt“ (2011, 70). Es bleibt offen, ob gottesdienstliche Rituale tatsächlich derart auf heteronome Autorität angewiesen sind, wie Städtler annimmt.
5.3 Der Übergang zur Geschichte: sichtbare und unsichtbare Kirche
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Dass der Ausgangszustand der Menschheit ein schlechter sein muss, geht für Kant offensichtlich aus der Natur des Menschen hervor. Die erwähnte ‚besondere Schwäche der menschlichen Natur‘ führt dazu, dass statutarische Gesetze als „Angelegenheit Gottes, nicht der Menschen“ (RGV VIII, 763) angesehen werden. Eben dadurch bekommen sie den Selbstzweckcharakter zugesprochen, welcher das Kennzeichen eines pervertierten Kirchenglaubens ist. Die begriffliche Konstruktion der Geschichte nimmt diesen ‚natürlichen‘ Zustand als Ausgangspunkt. Die zweite Bedingung ist anspruchsvoller. Eine jede Entwicklungstheorie muss plausibel machen können, wie der Endzustand aus dem Anfangszustand entstehen kann, d. i. wie etwas aus etwas ganz anderem hervorgehen kann. In einem gewissen Sinne muss der Anfangszustand den Endzustand als Möglichkeit bereits in sich tragen. Ein analoges Problem ist aus der Anmerkung zum Ersten Stück der Religionsschrift bekannt: Wie kann der Mensch aus sich selbst heraus besser werden, wenn er doch radikal böse ist? Kant beharrt dort auf der Möglichkeit dieser Entwicklung, weil sie vom moralischen Gesetz vorgegeben wird. Er bestreitet aber die Möglichkeit zur Einsicht, wie die Entwicklung vor sich gehen könnte. Kann über die historische Entwicklung des Kirchenglaubens mehr gesagt werden? Während das Individuum als moralisches Subjekt immer schon das Potential zur Besserung mitbringt, scheint Kant bei historischen Religionen zu differenzieren: Einerseits gebe es Religionen, die ein solches Potential enthalten, andererseits aber auch welche, die eine moralische Entwicklung nicht ermöglichen. Zur Konstruktion einer Geschichte in moralischer Absicht taugten nur diejenigen Religionsgemeinschaften, die den „Keim“ (RGV VIII, 789) der Vernunftreligion bereits in sich tragen. Ohne die Aspekte vorwegnehmen zu wollen, die Kant innerhalb der „historischen Vorstellung“ diskutiert, kann eine Bedingung bereits formuliert werden, die diesen Keim wesentlich ausmacht: Die der Religion zugrundeliegende heilige Schrift muss im Sinne des Vernunftglaubens interpretierbar sein. Sie darf deshalb nichts enthalten, „was die Annahme derselben als unmittelbarer göttlichen Offenbarung unmöglich machte;³⁰⁷ welches hinreichend sein würde, um diejenigen, welche in dieser Idee besondere Stärkung ihres moralischen Glaubens zu finden meinen, und sie daher gerne annehmen, nicht zu hindern“ (RGV VIII, 774). Die an sich weitgehend moralisch indifferenten Offenbarungssätze bekämen dann ihren eigentlichen Sinn erst durch ihre Auslegung nach Prinzipien des Vernunftglaubens (vgl. RGV VIII, 770 ff.). Die treibende Kraft
Als unmittelbare göttliche Offenbarung annehmbar kann für die Vernunft nur sein, was dem Vernunftglauben nicht widerspricht. Ob es sich um eine tatsächliche göttliche Offenbarung handelt, spielt keine Rolle.
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der Entwicklung wäre demnach nicht ein der Offenbarung innewohnendes Prinzip, sondern ein an sie herangetragenes: die Vernunft. Was das Christentum angeht, sieht Kant offenbar noch bessere Voraussetzungen gegeben, als für die moralische Entwicklung zwingend nötig gewesen wären: „Glücklich! wenn ein solches den Menschen zu Händen gekommenes Buch, neben seinen Statuten als Glaubensgesetzen, zugleich die reinste moralische Religionslehre mit Vollständigkeit enthält, die mit jenen (als Vehikeln ihrer Introduktion) in die beste Harmonie gebracht werden kann […].“ (RGV VIII, 768)
Wenn die Offenbarung selbst die Inhalte der reinen Vernunftreligion umfasst, scheint der „Keim“ besonders entwicklungsfähig zu sein. Aber auch hier müsste für Kant gelten, dass die Auslegung der Schrift für die Entwicklung einer Religionsgemeinschaft bedeutender als deren Inhalt ist. Denn ohne Zweifel lässt sich auch ein vernünftiger Inhalt unvernünftig auslegen. Indem die Geschichte der Menschheit auf diese Weise als Übergang des Kirchenglaubens zum reinen Religionsglauben gedeutet wird und insofern offenbar mit einem kontinuierlichen Zuwachs an Moralität verbunden sein soll, arbeitet der Mensch zwar beständig am Verlassen des Naturzustands, bleibt aber – selbst wenn sich die Mitglieder der sichtbaren Kirche beständig wechselseitig ihrer moralischen Einstellung versichern – dem Naturzustandsdilemma prinzipiell noch ausgesetzt. Wie oben vorweggenommen, soll in den Augen Kants die Vorsehung dieses Problem beheben, indem sie innerhalb des Naturzustands möglichst günstige Bedingungen schafft und die Bemühungen der Einzelnen zu einer vernünftigen Entwicklung des Kollektivs zusammenfasst. In die Gesinnung der moralischen Subjekte kann die Vorsehung offenbar nicht eingreifen; sie begünstigt aber – wie verstreuten Äußerungen Kants zu entnehmen ist – auf verschiedene Weise die Ausbildung kollektiver Moralität: Sie schafft durch Revolutionen die nötigen politischen und kirchenpolitischen Umstände (vgl. RGV VIII, 786); sie sorgt für eine vernunftgemäße Heilige Schrift (vgl. RGV VIII, 768 Anm.); und schließlich vollzieht sie den Übergang von dieser Welt zur künftigen (vgl. RGV VIII, 800). Auch wenn mit der sichtbaren Kirche ein Raum geschaffen werden soll, in dem sich Menschen aktiv an der Annäherung an das Reich Gottes beteiligen können, bleiben diese durchweg auf göttliche Unterstützung angewiesen.
5.4 Eschatologie als Geschichtsphilosophie
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5.4 Eschatologie als Geschichtsphilosophie: Kommentar zu RGV VIII, 785 – 787 Bevor Kant im Rahmen der „[h]istorische[n] Vorstellung der allmählichen Gründung der Herrschaft des guten Prinzips auf Erden“ (RGV VIII, 788) eine Deutung der Geschichte der christlichen Kirche versucht, fasst er die theoretischen Vorüberlegungen in zwei Absätzen zusammen, in denen der Bezug auf die christliche Eschatologie in konzentrierter Form greifbar wird. Eine eingehendere Untersuchung dieser beiden Absätze (RGV VIII, 785 f.) ist deshalb angebracht. Die weitere Entwicklung des Gedankengangs soll aus diesem Grund in Form einer satzweisen Kommentierung der beiden Absätze erfolgen. Die für den weiteren Verlauf der Arbeit relevanten Ergebnisse werden anschließend zusammengefasst. „Es ist also eine notwendige Folge der physischen und zugleich der moralischen Anlage in uns, welche letztere die Grundlage und zugleich Auslegerin aller Religion ist, daß diese endlich von allen empirischen Bestimmungsgründen, von allen Statuten, welche auf Geschichte beruhen, und die vermittelst eines Kirchenglaubens provisorisch die Menschen zur Beförderung des Guten vereinigen, allmählich losgemacht werde, und so reine Vernunftreligion zuletzt über alle herrsche, ‚damit Gott sei alles in allem‘.“ (RGV VIII, 785)
Physische und moralische Anlage des Menschen sind gemeinsam Voraussetzung einer Beschreibung der Religionsgeschichte als Entwicklung. Als Folge der physischen Anlage sind empirische Bestimmungsgründe und Statuten in der Religion überhaupt nötig. Was aus der moralischen Anlage resultiert, ist in wenigstens einer Hinsicht doppeldeutig: „daß […] losgemacht werde“ kann als Vorhersage eines zukünftigen Zustands verstanden werden, aber ebenso als normative Forderung. Diese Doppeldeutigkeit ist keinesfalls banal: Geht es das eine Mal darum, dass Geschichte künftig so verlaufen kann, dass sie eine Deutung als Fortschritt ermöglicht, umfasst die andere These eine Aussage über den tatsächlichen Verlauf der Geschichte in der Zukunft. Bleibt Kant dabei stehen, die historische Annäherung an die reine Vernunftreligion als bloße Norm darzustellen, oder folgt er der Theologie darin, das tatsächliche Eintreten des Gesollten in Aussicht zu stellen? Eine eindeutige Antwort auf diese Frage scheint an dieser Stelle nicht möglich zu sein.³⁰⁸ Die Doppeldeutigkeit bleibt nämlich auch in den nächsten Sätzen erhalten: Zunächst formuliert Kant normativ („müssen abgelegt werden“; „treten soll“), um dann unvermittelt in futurisches Präsens zu wechseln („wird nach und nach entbehrlich“ etc.). Den ganzen Absatz über wird somit nicht wirklich klargestellt, ob Kant nur einen Soll-Zustand beschreibt, oder ob er den gesollten Zu Ich komme in Kapitel 5.5 darauf zurück.
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stand als Endzustand der Geschichte ‚postuliert‘. Der mehrfache Rekurs auf den Vorsehungsbegriff legt allerdings eher letzteres nahe.³⁰⁹ Mit der Bezeichnung des Kirchenglaubens als „provisorische“ Vereinigung spielt Kant auf eine Unterscheidung an, die später in seiner Rechtsphilosophie von Bedeutung sein wird. Provisorische Rechte gelten im Naturzustand (vgl. RL, §9). Die Geltung von Rechten im „Zustand der Rechtlosigkeit“ (RL VIII, 430) kann nur durch den Bezug zu einem künftigen Rechtszustand erklärt werden; provisorische Rechte gelten in Erwartung ihrer späteren Umwandlung in peremptorische Rechte. Weil zugleich jeder einzelstaatliche Rechtszustand erst mit Errichtung eines internationalen Rechtszustands als dauerhaft gesichert gilt – fehlt nur ein einziger Baustein im System aus Staatsrecht,Völkerrecht und Weltbürgerrecht, würde „das Gebäude aller übrigen unvermeidlich untergraben“ und „endlich einstürzen“ (RL VIII, 429) –, dieser aber in der Rechtslehre eine „unausführbare Idee“ (RL VIII, 474) darstellt, bleibt nach einer gängigen Interpretation jedes Recht provisorisch, und zwar in Erwartung des politischen ‚ewigen Friedens‘. Gleiches soll offenbar für die sichtbare Kirche gelten: Wie in der Rechtsphilosophie die Geltung aller historisch beanspruchten Rechte von dem unerreichbaren Ideal des internationalen Rechtszustands lebt, gewinnen für Kant sichtbare Kirchen – noch halb im ethischen Naturzustand versunken – ihren Geltungsanspruch aus ihrer teleologischen Ausrichtung auf die historisch nicht erreichbare Idee des ethischen Gemeinwesens. Das Bibelzitat „damit Gott sei alles in allem“ (vgl. 1. Kor 15,28) verweist auf eine zentrale Stelle paulinischer Eschatologie: Nach der Überwindung des Todes übergibt Christus die Herrschaft über die Welt an Gottvater (siehe auch Kapitel 5.5). Wenn die oben dargelegte Interpretation richtig ist, dass reine Vernunftreligion erst im Jenseits – also „zuletzt“ im engeren eschatologischen Sinn – über alles herrscht, verbleibt die säkularisierte Eschatologie Kants relativ nah am theologischen Vorbild.
Kant argumentiert in der zeitgleich entstandenen Schrift Über den Gemeinspruch, das Gesollte sei nur dann möglich, wenn die Vorsehung verbürgt, dass es tatsächlich eintreten wird; vgl. Kapitel 7.1 und 8.3.
5.4 Eschatologie als Geschichtsphilosophie
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„Die Hüllen, unter welchen der Embryo sich zuerst zum Menschen bildete, müssen abgelegt werden, wenn er nun an das Tageslicht treten soll. Das Leitband der heiligen Überlieferung, mit seinen Anhängseln, den Statuten und Observanzen, welches zu seiner Zeit gute Dienste tat, wird nach und nach entbehrlich, ja endlich zur Fessel, wenn er in das Jünglingsalter eintritt. So lange er (die Menschengattung) ‚ein Kind war, war er klug als ein Kind‘ und wußte mit Satzungen, die ihm ohne sein Zutun auferlegt worden, auch wohl Gelehrsamkeit, ja sogar eine der Kirche dienstbare Philosophie zu verbinden; ‚nun er aber ein Mann wird, legt er ab, was kindisch ist‘.“ (RGV VIII, 785)
Kant bringt hier einen Gedanken, der sich in der gesamten Argumentation zuvor noch nicht angedeutet hat: die Übertragung der Entwicklung des einzelnen Menschen auf die Entwicklung der Menschengattung. Die Analogie des individuellen und des historischen Reifungsprozesses hat eine lange theologische, wenn auch kaum biblische Tradition;³¹⁰ in der Neuzeit wird sie durch Lessings Erziehung des Menschengeschlechts (1777) populär. Steht dort der Erziehungsgedanke im Vordergrund, bezieht Kant sich hier³¹¹ aber eher auf die natürliche Entwicklung. Walter Jaeschke (1976, 289) betont zu Recht den nicht-eschatologischen Charakter der Erziehungsmetapher; vielmehr sei ein geradezu prototypisch säkulares, humanistisches Muster zur Grundlage der Geschichtsphilosophie gemacht worden. Was Kant angeht, hilft diese Diagnose kaum weiter: Einerseits hat die Analogie von Embryo und Geschichte eindeutig einen Vorläufer in der paulinischen Eschatologie, nämlich die Vorstellung von der Schöpfung in Geburtswehen (vgl. Röm 8,22 und Kapitel 2.1). Nun könnte man natürlich einräumen, ungeachtet dessen handele es sich bei der Geburt um einen überkulturellen Vorgang, sodass seine Übertragung auf die Geschichte kein spezifisch christliches Erbe darstelle. Das mag grundsätzlich zutreffen, aber Kant stellt andererseits die Metapher der natürlichen Entwicklung des Individuums bewusst in den Kontext der Eschatologie. Mit der Metapher ließen sich prinzipiell fast alle Geschichtsbilder illustrieren, insbesondere natürlich zyklische. Kant verwendet sie jedoch gezielt, um die eschatologische Struktur einer positiven Entwicklung zu
Dazu ausführlich Jaeschke 1976; vgl. auch Bohatec 1938, 453. Selbstredend gibt es in der Bibel Bezüge auf das Motiv der natürlichen Entwicklung des Menschen (vgl. die von Kant paraphrasierte Stelle in 1. Kor 13,11 sowie Hebr 5, 13 f.); diese werden aber nicht auf die Geschichte übertragen. In der Anthropologie greift Kant auch den Gedanken einer Erziehung des Menschengeschlechts durch die Vorsehung auf; vgl. Anth XII, 683. Als Dilemma taucht die Idee der Erziehung auch im Streit der Fakultäten auf (siehe Kapitel 7.2: Auch die Erzieher müssen erzogen werden); dort ist aber der Gedanke einer Erziehung des Menschengeschlechts durch eine höhere Macht nur implizit enthalten.
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einem dauerhaften Endzustand abzubilden. Entsprechend hat die Metapher keine eigene rechtfertigende Kraft; Kant möchte den Fortschritt der Menschheit nicht auf die Erfahrung individueller Entwicklungen zurückführen.³¹² Die Analogie wird in drei Anläufen durchgeführt: die Geburt als Übergang vom Embryo zum Menschen; die Pubertät als Eintritt in das Jünglingsalter; schließlich den allgemein gehaltenen Übergang vom Kind zum Mann. Während der erste und der dritte Anlauf mehr oder weniger deutlich Paraphrasen anderer Autoren sind – die Embryo-Metapher kann auf die christliche Dogmatik zurückgeführt werden;³¹³ die Kind-Mann-Metapher findet sich bei Paulus in 1. Kor 13,11 – greift Kant im zweiten Anlauf Formulierungen seiner eigenen Theorie auf: In der Aufklärungsschrift bezeichnet Kant „Satzungen und Formeln“ als „Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit“ (WA XI, 54). Zumindest der erste Anlauf ist unabhängig von den anderen zu lesen, d. h. Kant konzipiert keine Entwicklung vom Embryo bis zum ausgewachsenen Mann, sondern möchte im Bild der Geburt die gesamte Analogie aufzeigen. Wie sich der zweite und der dritte Anlauf zueinander verhalten, bleibt unklar: Möglicherweise soll das Kind in zwei Schritten – zunächst als Jüngling, dann als Mann – erwachsen werden. Aber auch hier bleibt möglich, dass jede Übergangsphase die ganze Analogie darstellen soll. Wie dem auch sei, ist offensichtlich, dass Kant die ohnehin durch die Analogie schon geraffte Zeitstruktur (die Geschichte der Menschheit wird auf ein Menschenleben projiziert) noch stärker verdichtet: Entscheidend sind nicht die Phasen der Entwicklung, sondern lediglich der Übergang von einer Phase in die nächste. Was Kant auf die historische Entwicklung der Menschengattung projizieren möchte, ist nicht die andauernde Phase vor der Geburt bzw. die Phase der Kindheit, sondern der Prozess der Geburt bzw. der Prozess des Ablegens dessen, was kindisch ist. Entsprechend spielen stabil bleibende historische Episoden für Kant kaum eine Rolle; die Geschichte wird im Wesentlichen als Übergang gedeutet: Zumindest ab der Aufklärung befinde sich die Geschichte der Menschheit im Übergang zu einer neuen Phase, aber ein Ende des Übergangs ist nicht abzusehen. Die Geburt des Embryos soll offenbar keine Grenzlinie zwischen zwei Perioden der Geschichte markieren, sondern sie ist selbst der entscheidende Zeitraum, in dem Geschichte, wie sie sich uns darstellt, stattfindet. Die verdichtete Zeitstruktur wird noch verschärft, indem der „allmähliche Übergang“ (RGV VIII, 777) des Kirchenglaubens zum reinen Religionsglauben metaphorisch Übergängen zugeord-
Es wäre zu prüfen, ob nicht Gleiches auch für Lessing gilt – dann wäre Jaeschkes geradezu anti-eschatologische Interpretation zu relativieren (vgl. Jaeschke 1976). Der Nachweis findet sich in Bohatec 1938, 491.
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net wird, die gewöhnlich als sehr abrupt erlebt werden: Geburt und Beginn der Pubertät. Das tatsächliche Eintreten der neuen Phase, also der Phase der reinen Vernunftreligion, ist – und dabei spielt es keine Rolle, ob man der Interpretation des Reichs Gottes als eines jenseitigen Reichs folgt – für die Konstruktion der teleologischen Entwicklungsstruktur der Kirchengeschichte unerheblich. Ihre Dynamik gewinnt Geschichte dadurch, dass sie als andauernder Übergang gedeutet wird, dessen Einmündung in die neue Phase nicht abzusehen ist. „Der erniedrigende Unterschied zwischen Laien und Klerikern hört auf, und Gleichheit entspringt aus der wahren Freiheit, jedoch ohne Anarchie, weil ein jeder zwar dem (nicht statutarischen) Gesetze gehorcht, das er sich selbst vorschreibt, das er aber auch zugleich als den ihm durch die Vernunft geoffenbarten Willen des Weltherrschers ansehen muß, der alle unter einer gemeinschaftlichen Regierung unsichtbarer Weise in einem Staate verbindet, welcher durch die sichtbare Kirche vorher dürftig vorgestellt und vorbereitet war.“ (RGV VIII, 785 f.)
Der Satz enthält eine knappe Zusammenfassung der kantischen Idee des Endzustands, der vollkommenen Verwirklichung des ethischen Gemeinwesens. Ob der verwendete Indikativ als futurisches Präsens oder als indikativische Beschreibung eines Soll-Zustands gelesen werden muss, kann erneut nicht entschieden werden. Den ausgeprägten eschatologischen Charakter erhält die Stelle nicht nur durch die Vorstellung eines utopischen Ausgangs der Geschichte, der das bisher Dagewesene radikal überwindet, sondern noch stärker durch die Idee eines göttlichen Weltenherrschers. Entsprechend den Ausführungen zum Begriff des ethischen Gemeinwesens wird im Reich Gottes das autonome Sittengesetz als von Gott gegeben vorgestellt. Gott stiftet „unsichtbarer Weise“, d. h. ohne statutarische Gesetze, Gemeinschaft unter den Menschen. Mit den statutarischen Gesetzen fällt auch die gesamte kirchliche Hierarchie weg; übrig bleiben gleichberechtigte Bürger unter der Regierung Gottes. Diese soll eine „gemeinschaftliche Regierung“ sein, womit aber keine dem juridischen Gemeinwesen analoge Form gemeint sein kann (vgl. RGV VIII, 762). Der gemeinschaftliche Charakter kommt vielmehr dadurch zustande, dass der Wille Gottes notwendig identisch sein muss mit dem reinen Willen der Bürger. Mit dem Wegfall der Statuten und Ämter hört die sichtbare Kirche auf zu existieren. War sie „vorher“ noch nötig, um das Reich Gottes auf Erden darstellen zu können, tritt jetzt an ihre Stelle allein die unsichtbare Kirche. Wenn aber im Laufe der Geschichte das Reich Gottes nur in Form der sichtbaren Kirche auftreten kann, ist zugleich das Ende der Geschichte erreicht, d. h. eine künftige Welt beginnt (siehe Kapitel 5.3). Gleichwohl hat die sichtbare Kirche das Kommen der
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unsichtbaren „vorbereitet“, war also aktiv in das Geschehen eingebunden. Dieses Problem wird in den nächsten Sätzen noch deutlicher. „Das alles ist nicht von einer äußeren Revolution zu erwarten, die stürmisch und gewaltsam ihre von Glücksumständen sehr abhängige Wirkung tut, in welcher, was bei der Gründung einer neuen Verfassung einmal versehen worden, Jahrhunderte hindurch mit Bedauern beibehalten wird, weil es nicht mehr, wenigstens nicht anders, als durch eine neue (jederzeit gefährliche) Revolution abzuändern ist. – In dem Prinzip der reinen Vernunftreligion, als einer an alle Menschen beständig geschehenen göttlichen (ob zwar nicht empirischen) Offenbarung, muß der Grund zu jenem Überschritt zu jener neuen Ordnung der Dinge liegen, welcher, einmal aus reifer Überlegung gefaßt, durch allmählich fortgehende Reform zur Ausführung gebracht wird, so fern sie ein menschliches Werk sein soll; denn was Revolutionen betrifft, die diesen Fortschritt abkürzen sollen, so bleiben sie der Vorsehung überlassen, und lassen sich nicht planmäßig, der Freiheit unbeschadet, einleiten.“ (RGV VIII, 786)
Dass Kant das Muster der lutherischen Vorstellung einer ecclesia semper reformanda kopieren möchte, dürfte schon zuvor hinreichend deutlich geworden sein. Mit der Gegenüberstellung von Reform und Revolution wird die Entwicklungsform der sichtbaren Kirche spezifiziert: Nicht in großen Umwälzungen, sondern durch zahlreiche kleine, einzeln oft kaum wahrnehmbare Schritte vollzieht sich der evolutive Prozess. Worauf Kant sich mit dem Ausdruck „Das alles“ bezieht, ist fraglich. Der Referenzgegenstand könnte sowohl der Prozess des allmählichen Überschrittes als auch der Eintritt des Endzustands selbst sein. Letzteres könnte auf den ersten Blick als Einwand gegen die Deutung der Herrschaft des reinen Religionsglaubens in einer künftigen Welt sprechen: Wenn Reform und Revolution mögliche Mittel sind, den Endzustand herzustellen, dann fällt dessen Errichtung offenbar noch in die irdische Geschichte. Dies ist jedoch nicht überzeugend: Nur „so fern“ der Überschritt zur „neuen Ordnung“ ein „menschliches Werk sein soll“, ist eine allmähliche Reform angemessen. Das Kommen des Reichs Gottes soll offenbar durch eine Zusammenwirkung göttlichen und menschlichen Handelns zustande kommen. Menschen sind voll verpflichtet, das Kommen der „neuen Ordnung“ voranzutreiben. Gleichwohl können sie ohne göttlichen Beistand dieses Ziel niemals erreichen. Die „neue Ordnung“ – Kant spricht an anderer Stelle auch von der „neuen Epoche“ (RGV VIII, 739); er möchte damit offenbar an die biblische Rede von einer „neuen Schöpfung“ (2. Kor 5,17) bzw. eines „neuen Himmels und einer neuen Erde“ (Apk 21,1) anknüpfen – setzt begrifflich eine scharfe Trennung zwischen dem alten und dem neuen Zustand voraus, die mit einer allmählichen Reform gar nicht kompatibel ist. Besonders deutlich wird dies an dem Endgültigkeitsanspruch, den Kant mit der „neuen Ordnung“ verbindet. Während Reformen an ständige Lern-
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prozesse gebunden sind, die auf immer neue Problemstellungen reagieren, soll die neue Ordnung Moralität ein für allemal garantieren. Der letzte Schritt in die neue Epoche hinein kann also nur eine göttliche Revolution sein.³¹⁴ Wenn hier von Revolutionen die Rede ist, hat Kant aber primär nicht diesen letzten Schritt vor Augen; vielmehr geht es um kirchenpolitische oder politische Umwälzungen, sofern diese Auswirkungen auf die Verfassung der sichtbaren Kirche haben. Kant knüpft somit nicht an seine Unterscheidung zwischen einer Revolution in der Gesinnung und einer allmählichen Reform im beobachtbaren Verhalten an, die er im Ersten Stück der Religionsschrift eingeführt hat.³¹⁵ Die hier angesprochene äußere Revolution möchte etwa mit den Mitteln des Rechts oder anderer Formen des Zwanges einen Fortschritt in Richtung Vernunftreligion erreichen. Es liegt durchaus nahe, dass Kant die Französische Revolution im Sinn hat, in deren Folge eine (nicht unbedingt kantische) Form der Vernunftreligion per Verfassung eingeführt wurde.³¹⁶ Die Gegenüberstellung von Revolution und Reform verläuft also eher parallel zu deren Behandlung im Rahmen der Aufklärungsschrift und den rechtsphilosophischen Schriften. Es geht hier aber nicht um die rechtliche Zulässigkeit solcher Revolutionen.³¹⁷ Stattdessen stellt Kant – wie auch in der Aufklärungsschrift – die Frage nach den Erfolgsaussichten von Revolutionen, sofern mit ihnen der Übergang zur reinen Vernunftreligion beschleunigt werden soll. Kant nennt zwei verschiedene Argumente, die zeigen sollen, dass Revolutionen keinen gangbaren Weg darstellen. Zum einen ist das Prinzip Revolution in gewisser Weise selbstwidersprüchlich. Jede Revolution stürzt zwar eine starre Institution, ist aber durch diesen Sturz darauf aus, selbst eine neue und ebenso starre Institution zu errichten. Das neu errichtete Gebäude mag zwar wünschenswerter als das alte sein, es verhindert mit seinem starren Charakter aber die weitere Entwicklung. Wenn es nicht selbst wieder „Jahrhunderte hindurch mit Bedauern beibehalten“ werden soll, helfen nur weitere Revolutionen. Jede Revolution provoziert somit neue Revolutionen gegen sich selbst und verhindert damit eine dynamische Entwicklung. Gott müsse „selbst der Urheber seines Reiches sein“, er muss also den letzten Schritt der Gründung eigenhändig durchführen; Menschen können sich dagegen nur „zu Gliedern desselben tauglich machen“ (RGV VIII, 820). So aber Bohatec 1938, 453. Bezugsstelle ist RGV VIII, 698. Dies vermutet auch Lehner 2007, 365. Dies unterstellt Matthews 2005, 249: „Eine Grundlage für das unbedingte Verbot aller Arten von Widerstand findet man in Kants Vorstellung, daß die Geschichte gemäß einem vernünftigen göttlichen Vorhaben ablaufe. […] Politischer Widerstand ist a priori gegen das göttliche Vorhaben, d. i. böse.“ Siehe dagegen meine Darstellung der kantischen Begründung(en) des Widerstandsverbots in Kapitel 3.3.
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Zum anderen ist der Erfolg einer Revolution von vielen zufälligen Umständen abhängig, und ihre Folgen sind unabsehbar. Die Revolution lässt sich deshalb von Menschen überhaupt nicht „planmäßig“ und mit „reifer Überlegung“ vorbereiten und durchführen. Der Mensch überträgt im Akt der Revolution gleichermaßen die Hoheit über die Geschichte an den Zufall. Er kann so am Kommen des Reichs Gottes nicht mehr aktiv mitarbeiten. Gleichwohl können Revolutionen, von denen die Geschichte der Menschheit und (vermittelt oder direkt) auch die Kirchengeschichte zweifellos geprägt ist, ihren Sinn behalten. Aus menschlicher Perspektive zwar ein unbeherrschbares Instrument, können sie aus der Perspektive der Vorsehung, die die langfristigen Folgen voraussehen kann, ein nützliches Mittel sein.³¹⁸ Wenn Kant damit behaupten möchte, dass die Vorsehung Revolutionen tätig hervorbringt, stellt sich allerdings die Frage nach dem Theodizeeproblem.³¹⁹ „Man kann aber mit Grunde sagen: ‚daß das Reich Gottes zu uns gekommen sei‘, wenn auch nur das Prinzip des allmählichen Übergangs des Kirchenglaubens zur allgemeinen Vernunftreligion, und so zu einem (göttlichen) ethischen Staat auf Erden, allgemein, und irgendwo auch öffentlich Wurzel gefaßt hat: obgleich die wirkliche Errichtung desselben noch in unendlicher Weite von uns entfernt liegt.“ (RGV VIII, 786)
Die paulinische Eschatologie lebt von der Spannung zwischen ‚schon jetzt‘ und ‚noch nicht‘: Einerseits hat das Reich Gottes mit Christus bereits begonnen (präsentische Eschatologie); andererseits steht seine Vollendung noch aus (futurische Eschatologie). Dass Kant dieses Muster auf die historische Annäherung der sichtbaren Kirche an das Reich Gottes übertragen möchte, deutete sich deutlich im Zusammenhang mit seinem Kirchenbegriff an. Trotz ihrer Zerrissenheit kann die sichtbare Kirche die „wahre“, wenn auch „streitende Kirche“ heißen, allerdings mit der Aussicht, in die „triumphierende auszuschlagen“ (RGV VIII, 777 f.). Der Begriff der wahren Kirche wird damit vom unsichtbaren Ideal auf das sichtbare Abbild übertragen: Die sichtbare Kirche ist jetzt schon die wahre, obgleich noch nicht in vollendeter Form. Gleiches geschieht jetzt mit dem Reich-
Offenbar beachtet Stangneth den Unterschied zwischen menschlicher und göttlicher Perspektive nicht, denn sie sieht in der „gemeinschaftlichen Abschaffung der kirchlichen Strukturen und der Entlassung der Kleriker“ (2000, 152) eine legitime Abkürzung der Entwicklung zur Vernunftreligion. Siehe dazu insbesondere Kapitel 8.6. M. E. stellt sich das Theodizeeproblem in den geschichtsphilosophischen Schriften in noch fundamentalerer Weise, weil dort Konkurrenz und Krieg selbst als ‚Motor des Fortschritts‘ angesehen werden, während in der Religionsschrift der Motor überwiegend die Moral selbst sein soll.
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Gottes-Begriff, indem Kant das Vaterunser variiert: Es heißt nicht mehr „das Reich Gottes komme“ (RGV VIII, 760), sondern: Es ist bereits gekommen. Kant fügt dieser begrifflichen Übertragung der unsichtbaren Idee auf die sichtbare Variante allerdings eine Bedingung ein, die – funktionsäquivalent zu Jesu Tod und Auferstehung – einen Beginn des ‚vorläufigen‘ Reichs Gottes innerhalb der Kirchengeschichte markieren soll. Sobald sich zumindest eine breite intellektuelle Elite³²⁰ über den Vehikel-Charakter der sichtbaren Kirche aufgeklärt und diesen öffentlich diskutiert hat, kann „mit Grunde“ davon gesprochen werden, dass die biblische Forderung nach dem Eintreten des Reichs Gottes in gewisser Weise erfüllt ist.³²¹ Ob Kant die Aufklärung als den entscheidenden Wendepunkt in der Kirchengeschichte ansieht, mit dem das Reich Gottes ‚anbricht‘, oder das frühe Christentum, ist nicht eindeutig zu klären.³²² Der Begriff der Öffentlichkeit bereitet eine Interpretationsschwierigkeit: Gemeint sein könnte einerseits die Öffentlichkeit moralischer Gesetze, wie sie für das ethische Gemeinwesen kennzeichnend ist. Demnach wäre Moralität mindestens „irgendwo“ schon öffentlich geworden, ohne dass das ethische Gemeinwesen erreicht worden wäre. Plausibler ist eine andere Interpretation: Wenn von der „Öffentlichkeit“ des Prinzips der reinen Vernunftreligion die Rede ist, ist diese im Kontext der politischen Philosophie zu verstehen, also als im öffentlichen Raum geäußertes und wahrgenommenes Statement. Es gibt somit Gelehrte, die das Prinzip des Übergangs zur Vernunftreligion öffentlich einfordern, ohne dass damit die Moral der Handelnden öffentlich geworden wäre – dies ist sie nur vor Gott bzw. erst im Jenseits. Kant deutet jedenfalls unter Verwendung eines biblischen Musters den ReichGottes-Begriff um auf den Prozess der Annäherung an das Reich Gottes. Anders als im Mainstream der theologischen Tradition³²³ führt dies bei Kant aufgrund seiner weiteren religionsphilosophischen Prämissen zu einer starken Ungleichgewichtung von präsentischer und futurischer Eschatologie zugunsten ersterer. Der Ort, an dem Menschen handeln, ist die sichtbare Kirche. Dass diese zu Recht als Reich Mehr dürfte Kant mit „allgemein“ kaum gemeint haben. Vgl. auch RGV VIII, 819. Sobald der Kirchenglaube seine Abhängigkeit vom reinen Religionsglauben „öffentlich anerkennt“ (RGV VIII, 788), beginnt der Prozess der Annäherung der allgemeinen Kirche an das Reich Gottes; dies ist mit dem „Ursprunge des Christentums“ (RGV VIII, 792) der Fall. Andererseits ist es „die jetzige“ Zeit, also die Aufklärung, in der der Keim des wahren Religionsglaubens „zwar nur von einigen, aber doch öffentlich gelegt worden“ (RGV VIII, 797) ist. Die Tradition kennt diesbezüglich eine erstaunliche Bandbreite; man denke etwa an die chiliastische Bewegung im 17. und 18. Jahrhundert (siehe Kapitel 2.2) sowie an die protestantische Aufklärungstheologie. Dennoch gehört die Jenseitsorientierung zu den Grundcharakteristika auch dieser Formen christlicher Theologie.
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Gottes bezeichnet werden kann, ist die dem Menschen übertragene Aufgabe. Ob und wann das Reich Gottes tatsächlich und endgültig eintritt, spielt für menschliches Handeln letztendlich keine Rolle. Abgesehen von der Denkmöglichkeit seines Eintritts, die für sinnvolles Handeln gesichert sein muss, kann das endgültige Reich Gottes getrost eine ‚bloße Idee‘ bleiben. Paradigmatisch lässt sich diese Verschiebung der Gewichte an der Irrelevanz der zeitlichen Nähe des Reichs Gottes zeigen. Herrschte bei Paulus noch die Naherwartung, später zumindest die Hoffnung auf ein baldiges Kommen des Reichs Gottes vor – man denke an die Chiliasten –, spielt dessen zeitliche Nähe oder Ferne für Kant überhaupt keine Rolle mehr. Wenn Kant andernorts konstatiert, der reine Religionsglauben solle künftig herrschen, „wie ferne diese Zukunft auch sei“ (RGV VIII, 779), kommt die Belanglosigkeit des Zeitpunkts deutlich zum Ausdruck. In der oben zitierten Stelle scheint sich sogar noch eine weitere Verschärfung dieser Transformation anzudeuten. Die Errichtung des Reichs Gottes liege nämlich „noch in unendlicher Weite von uns entfernt“. Was aber in unendlicher Ferne vorgestellt wird, kann nur noch der Orientierung dienlich sein³²⁴ – nicht einmal, ob das Reich Gottes jemals eintritt, macht dann einen lebenspraktischen Unterschied. Nicht nur, „was Gott unmittelbar tue“ (RGV VIII, 820; meine Hervorhebung), sondern ebenso wann und ob er es überhaupt tut, ist unwichtig für die Frage, wie wir uns hier und heute zu verhalten haben. „Denn, weil dieses Prinzip den Grund einer kontinuierlichen Annäherung zu dieser Vollkommenheit enthält, so liegt in ihm als in einem sich entwickelnden, und in der Folge wiederum besamenden Keime das Ganze (unsichtbarer Weise), welches dereinst die Welt beherrschen soll. Das Wahre und Gute aber, wozu in der Naturanlage jedes Menschen der Grund, sowohl der Einsicht als des Herzensanteils liegt, ermangelt nicht, wenn es einmal öffentlich geworden, vermöge der natürlichen Affinität, in der es mit der moralischen Anlage vernünftiger Wesen überhaupt steht, sich durchgängig mitzuteilen.“ (RGV VIII, 786)
Die präsentische Eschatologie, die mit Übertragung des Reichs-Gottes-Begriffs auf den Prozess des Übergangs zum reinen Religionsglauben vollzogen wird, findet ihre Begründung jetzt in einer an die antike Philosophie³²⁵ angelehnten Entwicklungsteleologie: Im Prozess des Übergangs sei „das Ganze“, also der End (Nur) in diesem Sinne trifft m. E. zu, dass das ethische Gemeinwesen lediglich eine regulative Idee darstellt (so Wittwer 1996, 186). Man könnte mutmaßen, dass Kant sich zugleich auf Jer 31,27 bezieht. Dort heißt es nach Luther 1545: „Sjhe / es kompt die zeit / spricht der HERR / Das ich das haus Jsrael vnd das haus Juda / besamen wil“; der Ausdruck „besamen“ fällt auch bei Kant. Die vorhandenen Studien zu Kants Quellen gehen darauf nicht ein. Es dominiert natürlich eindeutig der Bezug auf die Teleologie der griechischen Philosophie; vgl. den Hinweis auf die Naturanlage.
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zustand, bereits enthalten. Wie der Keim in einem bestimmten Sinn bereits den Baum enthalte, müsse die geschichtliche Entwicklung der Kirche ihren Endpunkt enthalten, d. h., sie muss in gewisser Weise mit dem Endzustand identisch sein. Auf die sichtbare Kirche übertragen heißt das: In ihr ist die Anlage zur Vollendung enthalten, auch wenn von dieser momentan noch nichts zu sehen ist; deshalb darf sie bereits als Reich Gottes bezeichnet werden. Ein wesentlicher Zug paulinischer Eschatologie wird von Kant durch griechische Philosophie gerechtfertigt. Die Entwicklungsfähigkeit der sichtbaren Kirche steht ihrerseits wiederum unter einer Bedingung: Ihre Mitglieder, die Gläubigen, müssen ebenso entwicklungsfähig sein. Das sind sie nur aufgrund ihrer moralischen Anlage, die Kant bereits im Ersten Stück der Religionsschrift ausführlich begründet hat. Die moralische Anlage sei eine „Naturanlage“; freilich nicht im Sinne der physischen Natur, sondern im Sinne einer teleologischen Ausrichtung des menschlichen Wesens. Mit der Naturanlage gehe eine „natürliche Affinität“ zum Wahren und Guten einher, d. h. unter gewöhnlichen Umständen ist der Mensch für die Grundsätze der Moral empfänglich. Hatte Kant diese These im Ersten Stück noch den gutmütigen Moralisten in der Mund gelegt (vgl. RGV VIII, 666; siehe Kapitel 5.1), scheint sie nun eine wichtige Rolle für die Möglichkeit künftigen Fortschritts zu spielen.³²⁶ Eine neue Dimension der Öffentlichkeit tritt hierbei zu Tage: Das Prinzip der Vernunftreligion kann, ist es einmal im oben erläuterten, politischen Sinn „öffentlich“ geworden, auch „durchgängig“ (also bis in den Bereich des Kosmopolitischen) mitgeteilt werden – weil es als in der reinen, allgemein geteilten Vernunft gegründet keiner besonderen Fähigkeiten oder Erfahrungen, insbesondere keiner geteilten nicht-moralischen Werte und keines gemeinsamen Kirchenglaubens bedarf. Entgegen der Tendenz zur Partikularisierung, die historische Religionen mit sich bringen, ist die moralische Anlage universalistisch gedacht.
Die Vorstellung, dass sich die Menschheit von selbst zum Guten entwickeln wird, wenn ihr nur keine Hindernisse in den Weg gelegt werden, spielt in Kants „Aufklärungsprogramm“ (Scholz 2009) durchweg eine große Rolle (vgl. insb. WA und SF; siehe auch Kapitel 7.2); die Übertragung dieses Gedankens auf die Entwicklung des Kirchenglaubens wird in der „historischen Vorstellung“ wiederaufgegriffen (siehe Kapitel 5.5).
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„Die Hemmungen³²⁷ durch politische bürgerliche Ursachen, die seiner Ausbreitung von Zeit zu Zeit zustoßen mögen, dienen eher dazu, die Vereinigung der Gemüter zum Guten (was, nachdem sie es einmal ins Auge gefaßt haben, ihre Gedanken nie verläßt) noch desto inniglicher zu machen.“ (RGV VIII, 786 f.)
Politisches und ethisches Gemeinwesen wurden begrifflich derart voneinander geschieden, dass das politische das ethische weder erzwingen noch behindern, das ethische dem politischen aber nicht zuwiderlaufen dürfe (vgl. RGV VIII, 754). Diese Regelung kann offensichtlich nur sinnvoll sein, wenn eine Kollision beider Arten sozialer Organisationsform grundsätzlich möglich erscheint. Oben wurde bereits dargelegt, dass politische Revolutionen sicherlich keine positiven Auswirkungen auf die historische Entwicklung der sichtbaren Kirche haben können. Jetzt thematisiert Kant den Fall, dass das politische Gemeinwesen negative Auswirkungen auf die Entwicklung des ethischen hat. Denkbar wäre erstens, dass es seine rechtlichen Grenzen missachtet und dem ethischen Gemeinwesen Vorschriften bezüglich dessen Verfassung erteilt, die ihren statutarischen Charakter untermauern. Denkbar wäre aber zweitens auch, dass sich politische Konflikte, die nicht bewusst gegen das ethische Gemeinwesen gerichtet sind, dennoch auf seine Entwicklung auswirken, denn diese kann sich nur im Rahmen einer funktionierenden bürgerlichen Ordnung vollziehen (vgl. RGV VIII, 752 f.). Solche verschiedenartigen Hemmungen sind sowohl aus der älteren Geschichte wie auch aus dem zeitgeschichtlichen Kontext Kants hinreichend bekannt – man denke nur einerseits an den Niedergang Roms, andererseits an die Religionsedikte oder die Französische Revolution. Die auf den ersten Blick negativ zu beurteilenden politischen Ereignisse sollen laut Kant zu etwas „dienen“, d. h. Kant springt in eine teleologische Betrachtung der Geschichte. Aus der von Kant hier eingenommenen Perspektive dient die politische Geschichte dem Zweck der Weiterentwicklung der Kirchengeschichte, indem sie die sozialen Bande zwischen den Mitgliedern noch stärkt. Kant folgt damit deutlich dem Muster der spätantiken und mittelalterlichen Geschichtstheologie (siehe Kapitel 2.2). Dass Kant damit zugleich behauptet, rechtlich unzulässige politische Eingriffe oder Umwälzungen könnten die Entwicklung der Religion nur hemmen, aber auf lange Sicht keinen spürbaren Einfluss auf die Religionsgeschichte haben, muss überraschen. Eine ernsthafte Beeinträchtigung der Religion durch Politik wird damit ausgeschlossen; nur andersherum scheint Kant eine Beeinträchtigung der staatlichen Souveränität durch falsch verstandene Religion für realistisch zu
Ich folge hier der Akademie-Ausgabe; bei Weischedel steht „Hemmung“ im Singular, was nicht zu den Verbformen passt.
5.4 Eschatologie als Geschichtsphilosophie
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halten (vgl. insbesondere RGV VIII, 758 Anm.). Dies ist erstaunlich, weil Kant andernorts funktionierende Politik als notwendige Bedingung vollkommener Moral und vernünftiger Religion betrachtet.³²⁸ Der interessanteste Gedanke des Satzes ist allerdings die These, dass die Vernunfteinsicht in die Prinzipien des zur Pflicht gemachten Entwicklungsprozesses der Kirche, wenn sie einmal erfolgt („ins Auge gefaßt“) ist, historisch nicht mehr verloren gehen kann. Eine ähnliche Argumentation findet sich in Kants später Geschichtsphilosophie (vgl. SF XI, 361; siehe Kapitel 7.2). Diese intuitiv nicht unplausible These ist bei näherem Hinsehen durchaus voraussetzungsreich. Historisches Lernen erfordert ein kollektives Gedächtnis: Individuen stehen im Normalfall ihre Lebenserfahrungen als Handlungsorientierung zur Verfügung; in der sichtbaren Kirche sind es mindestens aufgrund laufender Generationswechsel stets andere Subjekte, die handeln. Das einmal öffentlich geäußerte, moralische Gedankengut muss daher in Schriften und ‚Köpfen‘ aufbewahrt und weitergegeben werden.Vermutlich führt Kant nicht zuletzt aus diesem Grund im Vierten Stück die „Fortpflanzung“ des moralischen Glaubens „auf die Nachkommenschaft […] als Pflicht, sie darin auch zu belehren“ (RGV VIII, 868), ein. Warum sollte aber durch unglückliche Zufälle das moralische Gedankengut nicht wieder völlig verlorengehen können? Offenbar soll die moralische Anlage der Menschen die Gewähr bieten, dass die einmal errungene moralische Einsicht zu jedem Zeitpunkt wenigstens bei einigen noch aufgehoben ist.³²⁹ Fassen wir die Ergebnisse des Stellenkommentars zusammen, sofern sie für den weiteren Verlauf der Arbeit von Interesse sind: Kant greift gegen Ende der „philosophischen Vorstellung“ in gedrängter Form verschiedene Motive und Metaphern unterschiedlicher Herkunft auf, die für sich betrachtet in keinem inneren Zusammenhang stehen: Die biblische Eschatologie; die natürliche Entwicklung des Menschen; die Gegenüberstellung von Reform und Revolution; und schließlich die Metapher des Keimes mit der These einer moralischen Naturanlage des Menschen. Zusammengehalten wird dieser Mix an Motiven durch die Idee des moralischen Fortschritts; sie alle sollen zur Illustration und Plausibilisierung dieser Idee dienen. Insbesondere wird gezeigt, dass Kant Geschichte dynamisch als Übergang zwischen zwei Stadien begreift. Diese Stadien selbst sind nicht weiter von Interesse: Das Ausgangsstadium einer im Bösen versunkenen Welt ist mit Christus oder spätestens mit der Aufklärung überwunden; das Endstadium wird in unendlich
In diesem Sinne interpretiere ich etwa IaG XI, 45 und RGV VIII, 775. Siehe auch die kritische Diskussion in Kapitel 8.3 und 10.
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ferne Zukunft verlegt. Zwar bleibt die biblische Vorstellung eines radikalen Bruchs bestehen, mit dem das Endstadium als ‚neue Welt‘ die bisherige Geschichte übersteigt; zugleich liegt die Betonung aber deutlich auf dem allmählichen und zielgerichteten Zugehen auf diesen Bruch hin. Die Spannung zwischen menschlicher Reform und letztem göttlichen Einschreiten spiegelt dabei die gegenläufigen Tendenzen innerhalb der theologischen Motive. Die Entwicklung auf das Endstadium zu wird wesentlich durch die moralische Wesensanlage des Menschen ermöglicht: Der Mensch tendiert von selbst zur Moral.
5.5 Die „Historische Vorstellung der allmählichen Gründung der Herrschaft des guten Prinzips“ Die Zweite Abteilung des Dritten Stücks der Religionsschrift – von Kant als „historische Vorstellung“ von der „philosophischen“, also begrifflichen Vorstellung abgegrenzt – wird in der Literatur kaum beachtet. Lediglich Kants Äußerungen zum Judentum erscheinen den Interpreten aus kulturhistorischer Perspektive interessant. Dass Kant eine knappe philosophische Deutung der Geschichte des Christentums versucht, wird in der Regel höchstens erwähnt, nicht aber besprochen. Ein wichtiger Grund dafür liegt sicherlich in der Beobachtung, dass der entscheidende geschichtsphilosophische Schritt mit der Konzeptualisierung der sichtbaren Kirche noch innerhalb der philosophischen Vorstellung durchgeführt wird, die historische Vorstellung also in dieser Hinsicht lediglich eine Konkretisierung des Stoffes darstellt.³³⁰ Dennoch bleibt die historische Vorstellung für Kant unerlässlich: Hat er bislang nur ein philosophisches Konzept entwickelt, das eine moralische Entwicklung der Menschheit darstellbar macht, gilt es jetzt aufzuzeigen, dass diesem Konzept in der Wirklichkeit etwas entspricht. Nur wenn sich eine historische Religion findet, deren Geschichte als teleologische Entwicklung einer sichtbaren Kirche im kantischen Sinn dargestellt werden kann, ist der Begriff des ethischen Gemeinwesens mehr als eine bloße Chimäre.³³¹ So verstehe ich jedenfalls die nebenbei vorgebrachten Bemerkungen von Sala (2004, 236) und Baumgartner (1992, 156). So auch Städtler, der allerdings den Bezug zur Religion überhaupt auf dieses historische Moment reduzieren möchte: „So entfaltet [Kant] den sonst auf bloße Spekulation oder Utopie angewiesenen, an sich völlig leeren Begriff vernünftiger Kollektivität am Modell der – kirchlich verfaßten – Religion, denn ein Beispiel universaler Moralität gibt die politische Geschichte nicht ab.“ (2013a, Abschnitt III) Demgegenüber sollte die hier vertretene Auffassung zeigen, dass die Idee vernünftiger Kollektivität für Kant schon begrifflich nur als Religion zu denken ist – unabhängig von der Frage, welches empirische Modell zu ihrer Darstellung herangezogen werden kann.
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Demgegenüber gibt es allerdings auch Autoren, die die Existenz einer historischen Durchführung der Idee des ethischen Gemeinwesens gänzlich leugnen, da dieses auf Moralität, mithin auf den homo noumenon abziele, der per se nicht Gegenstand einer Geschichtsschreibung sein könne.³³² Insofern enthalte der mit „Historische Vorstellung“ überschriebene Abschnitt eine Darstellung der empirischen Kirchengeschichte, die mit der Idee des ethischen Gemeinwesens gar nichts zu tun habe. Diese Überlegung verweist sicherlich auf eine wichtige Schwierigkeit. Sie übersieht aber, dass es gerade Kants besonderes Anliegen ist, im Konzept der sichtbaren Kirche eine Form kollektiver Moralität zu formulieren, die trotz des Gegensatzes von phänomenaler und noumenaler Welt im Lauf der Geschichte fassbar werden kann. Man mag von diesem Anliegen halten, was man will: bestreiten wird man es kaum können. Kant stellt in diesem Sinne sofort zu Beginn der „historischen Vorstellung“ fest: „Der Kirchenglaube ist es daher allein, von dem man eine allgemeine historische Darstellung erwarten kann […].“ (RGV VIII, 788) Wenn Kant hier den Kirchenglauben von der „Religion auf Erden (in der engsten Bedeutung des Worts)“ abgrenzt, die „als auf dem reinen moralischen Glauben gegründet, kein öffentlicher Zustand“ (RGV VIII, 788) sein kann, muss man sich fragen, ob er die oben aufgestellte Forderung nach Öffentlichkeit im ethischen Gemeinwesen zurücknehmen möchte.³³³ Will man Kant nicht einen allzu offensichtlichen Widerspruch unterstellen, ist dies dahingehend zu interpretieren, dass die Idee eines ethischen Gemeinwesens in ihrer reinen, nicht-statutarischen Form auf Erden kein öffentlicher Zustand sein kann, sehr wohl aber im Jenseits. Das Programm, das Kant zu Beginn der historischen Vorstellung präsentiert, führt verschiedene Voraussetzungen einer teleologischen Darstellung der Kirchengeschichte, die Kant in der philosophischen Vorstellung bereits eingeführt hat, zusammen. Die zu betrachtende Kirche müsse den „Keim“ (RGV VIII, 789) des wahren Religionsglaubens in sich tragen und insbesondere das Erfordernis der Einheit der Kirche erfüllen, mit der allein die Einheit der Kirchengeschichte gewährleistet sei. Die nach diesem Prinzip durchgeführte Kirchengeschichte müsse „Eine Idee zu einer allgemeinen Geschichte in religiöser Absicht, also in Hinsicht […] auf die wahre Kirche oder das Reich Gottes auf Erden, ist somit ausgeschlossen.“ (Geismann 2000, 524) „[D]er Sieg des guten Prinzips beginnt dann, wenn jede historische Vorstellbarkeit aufhört […].“ (Stangneth 2000, 154) Dem ist entgegenzuhalten, dass der Sieg des guten Prinzips sehr wohl in der Geschichte beginnt, aber nicht vollendet wird. Ähnliche Ablehnungen einer historischen Durchführung des ethischen Gemeinwesens finden sich bei Wittwer (1996, 188 ff.) und Ludwig (2005, 45). – Entgegen dieser Interpretationsrichtung soll aufgezeigt werden, in welchem Sinn das ethische Gemeinwesen dennoch geschichtlich aufzufassen ist. Ich folge daher Haga: „Die Religionsphilosophie Kants ist zugleich Geschichtsphilosophie!“ (1991, 77) Dies behauptet Sala 2004, 259.
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eine „Erzählung von dem beständigen Kampf zwischen dem gottesdienstlichen und dem moralischen Religionsglauben sein“ (RGV VIII, 788). Die methodische Setzung dieses Entwicklungsprinzips ermöglicht es Kant, aus der unendlichen Vielzahl an Ereignissen der Kirchengeschichte einige wenige als relevant auszuwählen. Dass die Kirchengeschichte ein „beständiger Kampf“ bleibt, klingt wie eine paradoxe Zurücknahme des Anspruchs, im ethischen Gemeinwesen solle der Kampf des guten gegen das böse Prinzip endgültig überwunden werden³³⁴ – diese Schwierigkeit löst sich auf, wenn man sich vor Augen führt, dass die endgültige Überwindung des Bösen ins Jenseits verlagert wird. Immerhin ist durch die teleologische Ordnung der einzelnen historischen Ereignisse auf das Jenseits hin gewonnen, dass der Kampf in großen Zeitspannen betrachtet eine klare Tendenz bekommt. Natürlich muss man sich fragen, wie ein Kampf zwischen dem gottesdienstlichen und dem moralischen Glauben in einer Geschichtserzählung darstellbar sein soll, obwohl nur der gottesdienstliche Glaube empirisch fassbar werden kann. Um den moralischen Glauben operabel zu machen, benutzt Kant einerseits den auch andernorts verwendeten Schluss von bösen Handlungen auf fehlende Moralität. Dieser erlaubt natürlich keine positiven Aussagen über die moralische Entwicklung. Deshalb geht es andererseits in der historischen Vorstellung insgesamt weniger um die Frage nach der Moralität der Glaubensgenossen, sondern mehr um die in der Öffentlichkeit kursierenden Prinzipien, die deren Zusammenleben regulieren, insbesondere natürlich die Prinzipien bezüglich der Rolle statutarischer Gesetze. Diese sind selbstverständlich historisch darstellbar, allerdings nicht mehr in Form einer Erzählung von äußeren Ereignissen, sondern in Form einer Geistesgeschichte. Dass Kant das ethische Gemeinwesen nur in Form einer Religionsgemeinschaft für realisierbar hält, und nicht in anderen, womöglich säkularen Versuchen sozialer Organisationsstrukturen, dürfte hinreichend deutlich geworden sein.³³⁵ Warum er aber lediglich Judentum und Christentum auf die Eignung zu einer ‚allgemeinen Geschichte in religiöser Absicht‘ prüft, kann kaum geklärt werden. Spätestens seit Lessings Nathan der Weise (1779) wird in der Aufklärung zumindest noch der Islam positiv bewertet, was eine Tauglichkeit zur Vernunftreligion betrifft. Über hinreichende Kenntnisse über den Islam, aber auch über den Buddhismus oder Hinduismus hätte Kant verfügt, wie aus einigen seiner Vorlesungen hervorgeht. Für die Beschränkung kommen verschiedene andere Gründe Zu diesem Aspekt siehe Kapitel 5.6. Entgegen dieser Interpretation hält Städtler den Bezug auf Religionsgemeinschaften nicht für systematisch, sondern lediglich für historisch bedingt; vgl. Städtler 2011, 63 und oben Fußnote 331.
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in Frage: Buddhismus und Hinduismus könnten an einem adäquaten Gottesbegriff scheitern; im Vergleich zum Islam wäre das Christentum dann als „erste[.] wahre[.] Kirche“ (RGV VIII, 828; meine Hervorhebung) die historisch ältere. Ebenso könnte ein latenter und unbewusster Eurozentrismus, der auch an anderen Stellen in Kants Werken sichtbar wird (vgl. etwa EaD XI, 190; IaG XI, 48), im Hintergrund stehen. Jedenfalls gilt: Indem Kant den Fokus nur auf Judentum und Christentum richtet, erspart er sich das schwierige Problem, wie die Einheit der Kirchengeschichte gewährleistet sein soll, wenn es mehrere sichtbare Kirchen gibt, die alle mit dem Anspruch der alleinigen Universalität aufeinandertreffen.³³⁶ Kants Auffassung vom Judentum³³⁷ ist von mancherlei Vorurteilen³³⁸ und Missverständnissen durchzogen, die sich auch bei anderen Aufklärern finden. Lessing etwa vergleicht in der Erziehung des Menschengeschlechts das Judentum mit einer frühen Entwicklungsphase des Menschen, in der das Verhalten von äußeren Vorgaben und unter Androhung von unmittelbarer Strafe bestimmt werden muss. Einsicht in die Richtigkeit der Gebote sei in dieser Phase dem Subjekt noch nicht möglich. Auch Kant hebt auf die Äußerlichkeit der alttestamentlichen Gesetzesvorstellung ab. Eine entsprechende gottgefällige innere Gesinnung sei im Judentum gar nicht intendiert. Kant zieht daraus den Schluss, dass in der religiösen Hülle des Judentums dessen eigenem Anspruch nach gar keine Religion im eigentlichen Sinn enthalten sei, sondern lediglich ein theokratisch fundierter politischer Herrschaftsanspruch (vgl. RGV VIII, 735 und 790).³³⁹ Dass das Judentum nicht als Gegenstand einer allgemeinen Geschichte tauge, zeigt sich für Kant zusätzlich noch in dem fehlenden Allgemeinheitsanspruch. Das „aus-
Es drängt sich sogar die Vermutung auf, dass das Anliegen einer einheitlichen Geschichte den Eurozentrismus befördert: Geht man davon aus, dass das Christentum zur allgemeinen Weltreligion bestimmt ist (vgl. EaD XI, 190), droht die Kirchengeschichte nicht in die Geschichte des Islam, die Geschichte des Buddhismus etc. zu zerfallen. Zu Kants Verhältnis zum Judentum ausführlich und unvoreingenommen Stangneth 2001. Kant redet mit Selbstverständlichkeit etwa von „diesem sonst unwissenden Volke“ (RGV VIII, 793). Eine pauschale „schroffe Ablehung des Judentums“ (Brachtendorf 2011, 151) ist damit nicht verbunden. Indem Kant das frühgeschichtliche Judentum als politisches Gemeinwesen auffasst, nimmt er sich vielmehr die Möglichkeit einer Kritik anhand der Schablone der Vernunftreligion. Die normative Bewertung kann dann nur noch nach Grundsätzen eines bürgerlichen Gemeinwesens erfolgen. – Ob Kant unterstellen möchte, dass auch das Judentum seiner Zeit auf eine bürgerliche Vereinigung hinauslaufe, lässt sich anhand der Textbasis nicht beantworten, da er sich ausdrücklich auf den jüdischen Glauben „seiner ursprünglichen Einrichtung nach“ (RGV VIII, 789) beschränkt. Eine positive Auffassung vom zeitgenössischen Judentum findet sich etwa in einem Brief an Mendelssohn vom 16.08.1783 (AA X, 347).
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erwählte Volk“ habe vielmehr „das ganze menschliche Geschlecht von seiner Gemeinschaft“ (RGV VIII, 791) ausgeschlossen. Entsprechend sieht Kant in der Entstehung des Christentums einen radikalen Bruch mit der jüdischen Tradition.³⁴⁰ Dass die Evangelisten und frühen Theologen sich darum bemühen, das Christentum gerade als Erfüllung jüdischer Verheißungen zu deuten, ist für Kant lediglich der Versuch, sich an die Bedürfnisse einer religiös-konservativen Bevölkerung anzupassen, der ein solcher Prinzipienwechsel anders nicht zu vermitteln gewesen wäre (vgl. RGV VIII, 792). Der Prinzipienwechsel selbst sei aber nichts weniger als eine „Revolution“ (RGV VIII, 792). Hiermit ist keine ‚äußere Revolution‘ gemeint, wie sie innerhalb der philosophischen Vorstellung zurückgewiesen wurde (siehe Kapitel 5.4), sondern lediglich ein innerer radikaler Umbruch, der äußerlich nur nach und nach sichtbar wird. Jesus habe zwar zunächst versucht, „durch Stürzung des alle moralischen Gesinnungen verdrängenden Zeremonialglaubens³⁴¹ […] eine öffentliche Revolution (in der Religion) zu bewirken“. Nach dem vorläufigen Scheitern dieses Versuchs sei die Revolution aber „nach seinem Tode, in eine sich im stillen [sic], aber unter viel Leiden, ausbreitende Religionsumänderung übergegangen“ (RGV VIII, 737 f.). Weil die Lehre des historischen Jesus, dessen göttliche Abkunft Kant nicht bekräftigen, aber auch nicht zurückweisen möchte, die Prinzipien der reinen Vernunftreligion, mitunter den „Keim“ (RGV VIII, 789) des wahren Religionsglaubens enthalte, könne die Darstellung der Kirchengeschichte jedenfalls mit dem Christentum beginnen. „Wir können also die allgemeine Kirchengeschichte, sofern sie ein System ausmachen soll, nicht anders, als vom Ursprunge des Christentums anfangen […].“ (RGV VIII, 792) Ob die frühe Christenheit ein moralisches goldenes Zeitalter dargestellt haben mag, könne nicht beurteilt werden, denn „es bleibt uns unbekannt, welche Wirkung die Lehre desselben auf die Moralität seiner Religionsgenossen tat, ob die ersten Christen wirklich moralischgebesserte Menschen, oder aber Leute von gewöhnlichem Schlage gewesen“ (RGV VIII, 795) seien. Interessant ist Kants Begründung für diese Urteilsenthaltung: Da das frühe Christentum selbst keine Geschichtsschreibung betrieb und die römischen Geschichtsschreiber auf die frühchristlichen Gemeinden nicht eingehen, bleibt „die Geschichte desselben dunkel“ (RGV VIII, 795). Diese Begründung ist deshalb problematisch, weil Kant
Auch mit dieser These steht Kant in der Aufklärung nicht allein da; vgl. die Angaben in Bohatec 1938, 475. Damit kann nicht gemeint sein, dass jeder Zeremonialglaube die moralischen Gesinnungen verdrängt. Offenbar sieht Kant im Judentum eine spezifische Form des statutarischen Glaubens, die der Vernunftreligion diametral entgegengesetzt ist, anstatt ein Schema von ihr darzustellen.
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verschiedentlich einräumt, dass Moralität nicht Gegenstand von Geschichtsschreibung sein kann. Allenfalls weisen schlechte Handlungen auf böse Gesinnungen hin; eine Gewähr für gute Gesinnungen kann die Geschichte kaum abgeben. Welche historischen Zeugnisse der frühen Christenheit hätten also überhaupt einen Beleg für die vermeintliche außergewöhnliche Moralität darstellen können? Mit der Zurückweisung des sicheren Wissens über die Moralität der ersten Christen kritisiert Kant offenbar eine gängige, romantisierende Vorstellung vom idealen Urchristentum, zu dem nach einer langen Phase der Dekadenz nun zurückzukehren sei.³⁴² Damit wiederholt Kant zugleich die zu Beginn des Ersten Stücks der RGV vorgebrachte Ablehnung von Dekadenztheorien, die die Geschichte bei einem „goldenen Zeitalter“ (RGV VIII, 665) anfangen lassen (siehe Kapitel 5.1). Desgleichen erteilt er jeder Form von zyklischen Geschichtsbildern eine klare Absage: Die Vorstellung von einem wahren Keim, der sich entwickeln soll, verläuft notwendig zukunftsgerichtet. Ein Zurück zum Ausgangspunkt kann niemals erstrebenswert sein. Gleichwohl kopiert Kant in der folgenden Darstellung einen grundlegenden Zug der Dekadenztheorie. Zwar gibt es keinen moralischen Ausgangszustand, von dem nach und nach abgefallen wird. Aber dennoch wird im Laufe der Kirchengeschichte der wahre Keim zunächst in sein Gegenteil verkehrt. Das Mittelalter stellt Kant als ein äußerst düsteres Kapitel europäischer Geschichte dar. Von mystischer Schwärmerei und Aberglauben über die allzu machtbesessene Hierarchie der Geistlichen, die permanente Missachtung der Religionsfreiheit und Kirchenspaltungen bis zur Vermengung von Kirche und Staat mitsamt den Kreuzzügen illustriert Kant mit allen rhetorischen Mitteln die Vernunftwidrigkeit des mittelalterlichen Christentums. Diese ist für Kant freilich nicht zufällig entstanden: Die Geschichte des Christentums konnte, „sofern es auf einem Geschichtsglauben errichtet werden sollte, auch nicht anders ausfallen“ (RGV VIII, 797), denn das Prinzip des auf statutarischen Gesetzen beruhenden Geschichtsglaubens führt mit Notwendigkeit zu vernünftig nicht lösbaren Konflikten (vgl. auch RGV VIII, 769). Weil – wie in Kapitel 5.3 gezeigt – Bedingung jeder Entwicklungstheorie ist, dass sich der gute Keim zunächst in einem schlechten Ausgangszustand befinden muss, aus dem heraus er sich entfaltet, durfte Kants Urteil über das Mittelalter freilich ebenso wenig anders ausfallen.³⁴³
Ich folge hier Stangneth 2000, 160. Bohatec (1938, 473) betont, Kants Argumentation richte sich gegen den mittelalterlichen Katholizismus. Wenn damit unterstellt werden soll, Kant teile die Geschichte in eine dunkle Phase des Katholizismus und eine Phase der Besserung unter dem Einfluss des Protestantismus, so scheint mir diese These in die Irre zu führen. Für Kant bildet explizit die Aufklärung den
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Das dunkle Kapitel der Geschichte der Christenheit neigt sich in der Darstellung Kants in der Gegenwart seinem Ende zu. „Fragt man nun: welche Zeit der ganzen bisher bekannten Kirchengeschichte die beste sei, so trage ich kein Bedenken, zu sagen: es ist die jetzige […].“ (RGV VIII, 797; Hervorhebung von Kant) Die Gegenwart hat den Tiefpunkt der Geschichte überwunden, und sie trägt zugleich die Chance in sich, sich künftig positiv weiterzuentwickeln: Lässt „man den Keim des wahren Religionsglaubens […] nur ungehindert sich mehr und mehr“ entwickeln, so kann man eine „kontinuierliche Annäherung“ zu derjenigen Kirche „erwarten, die die sichtbare Vorstellung (das Schema) eines unsichtbaren Reichs Gottes auf Erden ausmacht“ (RGV VIII, 797). Damit befindet sich das Christentum gegenwärtig im entscheidenden Stadium: Herausgelöst aus dem einem „schlimmen Hang der menschlichen Natur“ (RGV VIII, 797) geschuldeten Anfangszustand, ist Kirche bereits im Prozess der Annäherung an die wahre sichtbare Kirche begriffen. In der Gegenwart ist damit die Zeit gekommen, der geschichtlichen Aufgabe des Menschen gerecht zu werden. Die Ausrede, die Menschheit habe in ihrem jetzigen Entwicklungsstadium den pervertierten Kirchenglauben noch nötig, kann nicht vorgebracht werden. Kants Aussagen an dieser Stelle provozieren zwei Nachfragen. Erstens stellt sich die Frage, in welchem Sinn Kant die Gegenwart als beste aller Zeiten empfindet. Interpretationsbedürftig ist, ob er das ausgehende 18. Jahrhundert objektiv als beste Zeit auszeichnen möchte, oder ob für Kant nicht jeder jeweils seine Zeit für die beste halten müsste. Kant nennt mit dem Aufkommen der Vernunftreligion (vgl. RGV VIII, 798) und der Einsicht darin, dass wahre Religion nicht im bloßen Glauben besteht, sondern in dem, „was wir tun müssen“ (RGV VIII, 799), zwei typische Merkmale der Spätaufklärung. Möglicherweise teilt er das emphatische Empfinden seiner Zeitgenossen, dass mit Aufklärung und Französischer Revolution erstmals die Chance besteht, dass Menschen ihre Geschicke selbst in die Hand nehmen und eine nachhaltige Besserung der Verhältnisse bewirken können. Demgegenüber scheint Kant aber die Pflicht zur Gründung des ethischen Gemeinwesens nicht an besondere welthistorische Umstände knüpfen zu wollen. Aus diesem Grund kann vermutet werden, dass Kant die Interpretation der Gegenwart als der entscheidenden Zeit nicht an das Jahr 1793 binden möchte. Seine
Wendepunkt der Geschichte des Christentums, und nicht die Reformation. Es sticht ins Auge, dass die Reformation von Kant nicht eigens erwähnt wird und dadurch überhaupt keine eigene Wertschätzung erhält. Wenn Kant allgemein von Kirchenspaltungen spricht, hält er stets beide Konfliktparteien gleichermaßen für unvernünftig, weil sie gegen das Prinzip der Universalität des ethischen Gemeinwesens verstoßen. – Hegel weicht in diesem Punkt deutlich von Kant ab, denn er sieht die Reformation als entscheidendes historisches Ereignis an (z. B. Grundlinien der Philosophie des Rechts, 27).
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Geschichtsauffassung kann vielmehr so verstanden werden, dass die jeweilige Gegenwart aus Sicht des Interpreten als Schlüsselstelle aufgefasst wird – für uns wäre das entsprechend das 21. Jahrhundert. Wenn die Interpretation der Aufklärung aus heutiger Sicht von Kants Einschätzung abweicht, so entspräche das nur der Überzeugung, dass verschiedene Standpunkte zu verschiedenen Interpretationen der Geschichte kommen werden. Diese Lesart der Theorie Kants würde es den moralischen Subjekten erlauben, je ihre eigene Zeit als die ‚entscheidende Zeit‘, als Übergang von einer unvernünftigen Vergangenheit zu einer besseren Zukunft aufzufassen – was der Idee Rechnung tragen würde, dass Kirchengeschichte den Subjekten einen Ort anbietet, an dem sie mit ganzer Kraft an der moralischen Besserung der Menschheit mitarbeiten können. Die zweite Nachfrage bezieht sich auf Kontingenz oder Notwendigkeit der weiteren Entwicklung des Keims. Es wiederholt sich die schon oben aufgeworfene Frage, ob Kant die Annäherung an die wahre Kirche als bloße Aufgabe, oder als Prognose versteht. Wenn man den Keim nur „ungehindert“ lasse, sei eine Annäherung an die wahre Kirche zu „erwarten“. Dies scheint so zu lesen zu sein, dass unter einer einzigen, sogar nur negativen Bedingung der Fortschritt ein Selbstläuferdasein entwickle. Kant nimmt selbst diese Bedingung noch zurück: Verstößt der Staat gegen die Pflicht, die Kirche ihrer Entwicklung frei zu überlassen, könne zwar „der von der Weltregierung beabsichtigte Fortgang im Guten vielleicht auf lange Zeit gehemmt, ja wohl in einen Rückgang gebracht werden“ (RGV VIII, 800).³⁴⁴ Dies ändere aber nichts daran, dass der Fortschritt „durch keine menschliche Macht und Anstalt jemals gänzlich aufgehoben werden kann“ (RGV VIII, 800). Welche Hindernisse also auch eintreten mögen: In der ganz großen Perspektive scheint der Fortschritt mit Notwendigkeit einzutreten. Einer solchen Geschichtsauffassung kann empirisch nicht widersprochen werden: Was auch eintritt, kann prinzipiell immer als vorübergehende Hemmung des Fortschritts gedeutet werden. Im Vergleich zu dem in unendlicher Ferne vorgestellten Reich Gottes auf Erden bleibt jedes historische Ereignis nur eine kurze Episode, die als in der Zukunft überwindbar erscheint. Damit wird die Fortschrittsthese aber nahezu empirisch gehaltlos, denn sie ist mittelfristig mit jedem weiteren Verlauf der Geschichte vereinbar. Egal, welche Ereignisse eintreten, bleibt Geschichte als Fortschritt interpretierbar.
Diese These steht in einer gewissen Spannung zu der Aussage, politische Hemmungen wären dem ethischen Gemeinwesen nicht hinderlich, sondern sogar förderlich (vgl. RGV VIII, 786 f.; siehe auch Kapitel 5.4). Beide Überlegungen koinzidieren zwar in der Überzeugung, dass die Entwicklung des ethischen Gemeinwesens auf lange Sicht nicht aufzuhalten ist; aber hier wird erstmals ein moralischer Rückschritt in Betracht gezogen.
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Dennoch scheint Kant Geschichte nicht nur in diesem Sinn als Fortschritt interpretieren zu wollen. Wenn Kant tatsächlich glaubt, zur menschlichen Natur gehöre eine moralische Anlage, die sich irgendwann entfalten müsse, stellt er vielmehr künftigen Fortschritt als Tatsachenbehauptung in den Raum. Es kommt somit – ähnlich wie in Kapitel 4.2 in Bezug auf die Postulatenlehre festgestellt – zu einer gewissen Spannung zwischen der Fortschrittsthese als regulativem Ideal (einer ‚als ob‘-Interpretation) und der These einer sich mit Notwendigkeit entwickelnden moralischen Anlage. Ob für letztere der Hinweis auf die im kollektiven Gedächtnis bewahrte Vernunfteinsicht eine ausreichende Rechtfertigung sein kann, ist sicherlich fraglich. Kant bleibt bei dem Rückblick auf die Entwicklung der Kirche von den Anfängen über das verderbte Mittelalter bis zur Aufklärung und dem groben Ausblick, ein weiterer Fortschritt werde sich einstellen, nicht stehen. Die Interpretation der Geschichte des Christentums endet vielmehr mit einem christlichen Blick auf ihr künftiges Ende. Kant ist sich des Methodenwechsels durchaus bewusst: Die „Vorstellung einer Geschichtserzählung der Nachwelt“ kann „selbst keine Geschichte“ (RGV VIII, 802) sein. Kann die Vergangenheit anhand von überlieferten Daten rekonstruiert und interpretiert werden,³⁴⁵ bleibt für die Zukunft nur ein völlig anderes Vorgehen: Kant greift auf die in der Lehre des Christentums enthaltene Eschatologie zurück. „Das Himmelreich wird zuletzt auch, was die Leitung der Vorsehung betrifft, in dieser Geschichte nicht allein als in einer zwar zu gewissen Zeiten verweilten, aber nie ganz unterbrochenen Annäherung, sondern auch in seinem Eintritte vorgestellt.“ (RGV VIII, 800) In dem sich daran anschließenden, längeren Absatz (RGV VIII, 800 – 802) setzt sich Kant erneut ausdrücklich und ausführlich mit der christlichen Eschatologie auseinander. Die biblische Vorlage bildet vor allem die Johannes-Offenbarung; Kant ist in ihrer Interpretation offenbar von dem Theologen Johann Albrecht Bengel geprägt.³⁴⁶ Daneben bezieht sich Kant auf 1 Kor 15, 23 – 28; dort ist eine in mehreren Hinsichten vergleichbare eschatologische Struktur enthalten. Die innere Struktur des Absatzes bringt mindestens zwei Schwierigkeiten mit sich, die zu Fehldeutungen Anlass geben können.³⁴⁷ Zum einen sind zwei Stufen
Dass die Religionsgeschichte bis zur Gegenwart damit zum Bereich des „Wissens“ gehöre (so Stangneth 2000, 157), scheint mir problematisch zu sein. Wenn Kant offen lassen möchte, dass es verschiedene mögliche Interpretationen der Geschichte gibt, von denen seine eigene durch einen moralischen Standpunkt motiviert ist, gehört Geschichte in den Bereich der reflektierenden Urteilskraft, und nicht zum „Wissen“ im strengen Sinn. Dies zeigt Bohatec 1938, 489. Zum Kontext der Theologie Bengels siehe Kapitel 2.2. Vgl. die abweichenden Interpretationen von Stangneth 2000, 158 ff. und Bohatec 1938, 480 ff., die m. E. die Struktur des Absatzes sinnentstellend verkennen. Stangneth sieht in der
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des Eintritts des Reichs Gottes zu unterscheiden: Kant behandelt zunächst unter dem Stichwort eines „sichtbaren Reichs Gottes auf Erden“ (RGV VIII, 800) den Sieg Christi über den Antichrist und seine darauffolgende tausendjährige Herrschaft in dieser Welt. Als „letzte Folge“ (RGV VIII, 801) der Errichtung des göttlichen Staates wird im zweiten Schritt das Jüngste Gericht skizziert, das mit Unsterblichkeit und der Auflösung der sichtbaren Kirche verbunden ist. Es ist Vorsicht geboten, beide Schritte nicht durcheinanderzuwerfen. Zum anderen interpretiert Kant Teile der christlichen Eschatologie als „symbolische Vorstellung“³⁴⁸ (RGV VIII, 800), die zwar pragmatisch sinnvoll sein kann, aber keinen klaren kognitiven Gehalt mitbringt. Gleichwohl kommt anderen Aspekten der Eschatologie offensichtlich ein solcher kognitiver Gehalt zu – dem göttlichen Gericht etwa hat Kant in der Postulatenlehre objektive Realität zugesprochen. Eine wichtige Aufgabe bei der Interpretation des Abschnitts besteht deshalb darin zu unterscheiden, welche Aspekte Kant für eine bloße „symbolische Vorstellung“ hält, und welche Aspekte Teil der rational gerechtfertigten Vernunftreligion sein sollen. Die Interpretation wird erschwert, indem das christliche Vokabular immer wieder mit spezifisch kantischen Ausdrücken vermengt wird. Mit diesen Vorklärungen im Hintergrund kann versucht werden, zumindest soweit als möglich Licht ins Dunkel der gedrängten, unheimlich verwirrenden religiösen Bildersprache Kants zu bringen. Kant beginnt, wie vorweggenommen, mit einem Rekurs auf den Chiliasmus: „Man kann es nun als eine bloß zur größern Belebung der Hoffnung und des Muts zur Nachstrebung zu demselben abgezweckte symbolische Vorstellung auslegen, wenn dieser Geschichtserzählung noch eine Weissagung (gleich als in sibyllinischen Büchern) von der Vollendung dieser großen Weltveränderung in dem Gemälde eines sichtbaren Reichs Gottes auf Erden (unter der Regierung seines wieder herabgekommenen Stellvertreters und Statthalters) und der Glückseligkeit, die unter ihm nach Absonderung und Außstoßung der Rebellen, die ihren Widerstand noch einmal versuchen, hier auf Erden genossen werden soll, samt der gänzlichen Vertilgung derselben und ihres Anführers (in der Apokalypse) beigefügt wird, und so das Ende der Welt den Beschluß der Geschichte macht.“ (RGV VIII, 800 f.)
gesamten Stelle den Versuch der Anwendung des hermeneutischen Prinzips einer Bibelauslegung am Leitfaden der Vernunftreligion. Das Ende der Welt, das mit der Auflösung der Kirche und einer ausgeglichenen Glückseligkeit zusammenfalle, sei zudem ein Symbol für die Errichtung des ethischen Gemeinwesens in der Welt. Bohatec gesteht zwar zu, Kant ‚fühle‘, dass die irdische Geschichte auf das Jenseits bezogen sei und dass Glückseligkeit auf Erden nicht erreicht werden könne; Kant bliebe aber dennoch bei einer innergeschichtlichen Endzeitvorstellung stehen. Zum Begriff der symbolischen Vorstellung vgl. Maly 2012, insb. 367 ff. Laut Maly liegen in RGV und KU unterschiedliche Bedeutungen des Begriffs vor.
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Als „symbolische Vorstellung“ wird keinesfalls die gesamte Eschatologie bezeichnet,³⁴⁹ sondern nur die „Weissagung“³⁵⁰, die der Geschichtserzählung – gemeint ist die „Geschichtserzählung der Nachwelt“ (RGV VIII, 802), die von der eigentlichen „Geschichte“ abzugrenzen ist – „beigefügt wird“ (meine Hervorhebung).³⁵¹ Kant fasst später nochmals zusammen, welche Aspekte zu dieser „Weissagung“ gehören: „Die Erscheinung des Antichrist, des Chiliasm, die Ankündigung der Nahheit des Weltendes³⁵² können vor der Vernunft ihre gute symbolische Bedeutung annehmen […].“ (RGV VIII, 802) Mehr als eine symbolische Bedeutung kann einer Weissagung, die mit der antiken Orakelpraxis („sibyllinische Bücher“) verglichen wird, nicht zukommen. Die Geschichtserzählung der Nachwelt selbst gehört jedoch nicht zur „Weissagung“ bzw. zur „symbolischen Vorstellung“. Dass das Himmelreich zuletzt auch „in seinem Eintritte vorgestellt“ (RGV VIII, 800) wird, ist keine Ausschmückung einer Offenbarungsreligion, sondern folgt aus der Konzeption des ethischen Gemeinwesens. Die Vernunft fordert seine Möglichkeit; da diese nur als Resultat eines historischen Prozesses eintreten kann, wird Geschichte so interpretiert, als ende sie mit dem Eintritt des Himmelreiches. Die „Vorstellung einer Geschichtserzählung der Nachwelt“ ist also keine Weissagung und keine symbolische Vorstellung, sondern „ein schönes Ideal³⁵³ der durch Einführung der wahren allgemeinen Religion bewirkten moralischen, im [Vernunft³⁵⁴‐]Glauben vorausgesehenen Weltepoche“ (RGV VIII, 802; Einfügung von mir; Hervorhebung von Kant). Auch die später genannten Elemente der Unsterblichkeit und des göttlichen Gerichts sind Teil einer vernünftig gerechtfertigten Gotteslehre, die ohne Symbole, Anthropomorphismen und Bildersprache auskommt. Sie sind allerdings derart mit Metaphern ausgeschmückt, dass sicherlich nicht für jeden einzelnen Aspekt,
So H. Schwarz 2004, 202, Yamashita 2000, 269 und Stangneth 2000, 159. Kant grenzt später das (prophetische) ‚Weissagen‘ vom (philosophischen) ‚Wahrsagen‘ ab. Ersteres sei ein durch „Mitteilung und Erweiterung der Aussicht in die künftige Zeit“ (SF XI, 351) erworbenes Wissen, welches nur eine übernatürliche Ursache haben und deshalb vor der Vernunft keinen Geltungsanspruch erheben kann. Die kantische Geschichtsphilosophie selbst ziele dagegen auf Wahrsagen. So auch Maly 2012, 368. Maly versteht aber dennoch wenige Sätze später die gesamte Vorstellung einer Geschichtserzählung der Nachwelt als „symbolische Vorstellung“. Wie beide Auffassungen miteinander verträglich sein sollen, ist mir nicht klar. Nicht die Ankündigung des Weltendes ist symbolische Vorstellung – diese ist nämlich vernünftig gerechtfertigt –, sondern nur die Ankündigung seiner „Nahheit“. In der Vernunftkonzeption des Weltendes ist der zeitliche Abstand dagegen unerheblich (siehe Kapitel 5.4). Wittwer (1996, 186 f.) folgert dagegen aus dem Begriff des Ideals, dass es sich um eine symbolische Vorstellung handeln müsse. Siehe die Erläuterung unten.
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den Kant innerhalb des Absatzes vorbringt,völlig klar angegeben werden kann, ob er als symbolische Vorstellung oder als Ideal der Vernunft anzusehen ist. Dass dennoch nicht daran zu zweifeln ist, dass Kant an der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen symbolischer Vorstellung und Gehalten des Vernunftglaubens festhalten möchte, wird deutlich, wenn Kant davon spricht, es handele sich um eine symbolische Vorstellung „bloß“ zur Belebung der Hoffnung. Mit dem Wörtchen „bloß“ möchte er sich sicherlich primär von wörtlichen Lesarten der biblischen Weissagungen abgrenzen.³⁵⁵ Zugleich betont er aber auch den genannten Unterschied zwischen den Gehalten des Vernunftglaubens und den Inhalten einer Offenbarungsreligion, sofern sie über jene hinausgehen: Während die Vernunftreligion Ideale formuliert und Postulate rechtfertigt, dient die Offenbarungsreligion eher der empirisch und pragmatisch bedingten Frage, wie der Vernunftglaube endlichen Wesen nähergebracht werden kann. Weshalb aber ist der Chiliasmus lediglich eine „symbolische Vorstellung“, und nicht Teil der Vernunftreligion? Andernorts schien es doch, als setze Kant das Reich Gottes auf Erden mit dem Chiliasmus gleich (vgl. RGV VIII, 638). Wenn jetzt vom Chiliasmus die Rede ist, bezieht sich Kant allerdings auf die „Vollendung dieser großen Weltveränderung in dem Gemälde eines sichtbaren Reichs Gottes auf Erden“ (meine Hervorhebung). Das sichtbare Reich Gottes muss, wie oben dargelegt, in der Realität immer defizitär bleiben; erst die Auflösung der sichtbaren Kirche könnte die ‚Vollendung‘ des Geschichtsprozesses darstellen. Die christliche Vorstellung eines vollendeten sichtbaren Reiches ist daher widersprüchlich, sofern sie als reale Beschreibung eines künftigen Zustands dienen soll. Sie kann folglich nur als symbolische Vorstellung gedacht werden und als solche einen moralischen Nutzen haben: Das tausendjährige Reich Christi ist das Symbol einer sichtbaren Gottesherrschaft, auf die menschliches Handeln letztlich abzielt, die durch menschliche Handlungen aber nie erreicht werden kann. Die kontrafaktische Vorstellung ihres Eintritts in Form eines ‚Gemäldes‘ (!) hilft, das unerreichbare Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Zu der Weissagung mit rein symbolischem Nutzen rund um die sichtbare Verwirklichung des Reichs Gottes auf Erden gehört zunächst die Rebellenherrschaft (eine Anspielung auf den Antichrist), die dann von dem wieder herabgekommenen Christus aufgelöst und durch seine eigene tausendjährige Herrschaft ersetzt wird. Die Symbolfigur Christus vermittelt dabei zwischen dem für das ethische Gemeinwesen nötigen göttlichen Oberhaupt, für den moralische Gesinnungen öffentlich zugänglich sind, und der für endliche Wesen gegebenen Notwendigkeit, dass dieses Oberhaupt selbst sichtbar, also menschlich sein muss. Die
Das betonen Brachtendorf 2011, 164 und Maly 2012, 368 f.
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Zeit der Christusherrschaft wird zugleich als Zeit der Glückseligkeit vorgestellt, die „hier auf Erden genossen werden soll“ (RGV VIII, 800). Auch hierbei kann es sich nur um eine symbolische Vorstellung handeln, denn in dieser Welt bleibt es weitgehend dem Zufall überlassen, ob sich Glückseligkeit einstellt. Das Thema der Glückseligkeit dient in den nächsten Sätzen als Übergang zum göttlichen Gericht. Jesus habe seinen Jüngern das Reich Gottes „nur von der herrlichen, seelenerhebenden, moralischen Seite, nämlich der Würdigkeit, Bürger eines göttlichen Staates zu sein, gezeigt“ (RGV VIII, 801). Auf Glückseligkeit sollten sich die Jünger dagegen „in ihrem Erdenleben keine Rechnung machen“ (RGV VIII, 801), wenngleich sie auf Glückseligkeit im Himmel hoffen durften („es wird euch im Himmel wohl vergolten werden“, RGV VIII, 801). Soweit entspricht die Lehre Jesu den Forderungen der Vernunftreligion. Diese kontrastiert Kant anschließend nochmals mit dem Chiliasmus: Der „angeführte Zusatz zur Geschichte der Kirche“ (RGV VIII, 801), also die Weissagung vom tausendjährigen Reich, geht über die Gehalte der Vernunftreligion hinaus, denn er stellt die sichtbare (!) Kirche „nun endlich als triumphierend, d. i. nach allen überwundenen Hindernissen als mit Glückseligkeit noch hier auf Erden bekrönt vor“ (RGV VIII, 801; meine Hervorhebung). Die symbolhaft vorgestellte triumphierende sichtbare Kirche ist deshalb nicht identisch mit der Vernunftidee der triumphierenden Kirche zum Zeitpunkt der Herrschaft des reinen Religionsglaubens (vgl. RGV VIII, 778). Damit kommt Kant endgültig auf das göttliche Gericht zu sprechen: „Die Scheidung der Guten von den Bösen, die, während der Fortschritte der Kirche zu ihrer Vollkommenheit, diesem Zwecke nicht zuträglich gewesen sein würde (indem die Vermischung beider untereinander gerade dazu nötig war, teils um den ersten als Wetzstein der Tugend zu dienen, teils um die andern durch ihr Beispiel vom Bösen abzuziehen), wird nach vollendeter Errichtung des göttlichen Staats, als die letzte Folge derselben vorgestellt; wo noch der letzte Beweis seiner Festigkeit, als Macht betrachtet, sein Sieg über alle äußere Feinde, die eben sowohl auch als in einem Staate (dem Höllenstaat) betrachtet werden, hinzugefügt wird, womit dann alles Erdenleben ein Ende hat, indem ‚der letzte Feind (der guten Menschen), der Tod, aufgehoben wird‘, und an beiden Teilen, dem einen zum Heil, dem anderen zum Verderben, Unsterblichkeit anhebt, die Form einer Kirche selbst aufgelöset wird, der Statthalter auf Erden mit denen zu ihm, als Himmelsbürger, erhobenen Menschen in eine Klasse tritt, und so Gott alles in allem ist.“ (RGV VIII, 801 f.)
An dieser Stelle bleibt besonders unscharf, welche Elemente für Kant lediglich symbolischen Charakter haben und welche Elemente sich aus der Theorie des ethischen Gemeinwesens bzw. aus der Postulatenlehre ergeben. Spricht Kant hier von der „Scheidung der Guten von den Bösen“, steht das in einer deutlichen Spannung zu den Prinzipien der Postulatenlehre: Moralität ist im Kontext der Postulatenlehre eindeutig graduell zu verstehen; anders wäre eine „proportio-
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nierte[.] Glückseligkeit“ (KrV B 837 f. = IV, 680) undenkbar. Hier aber gibt es eine klare Grenzlinie zwischen den Guten, denen das Gericht Heil bringt, und den Bösen, denen die Unsterblichkeit „zum Verderben“ wird. Der Scheidung der Guten von den Schlechten kann man daher am ehesten noch einen gewissen Sinn abgewinnen, wenn man sie als symbolische Vorstellung oder als Bild für moralische und unmoralische Aspekte eines einzelnen Subjekts versteht. Das Gericht führte dann zum Heil, sofern sich das Subjekt glückswürdig gemacht hat. In zweifacher Hinsicht widerspricht die Passage allerdings auch der Konzeption des ethischen Gemeinwesens. Ist dieses bei Kant so konzipiert, dass es letztlich Unmoral ausrotten soll, bleibt in der von Kant referierten Erzählung der Apokalypse das Böse bis zum Schluss existent; es herrscht nur nicht mehr. Noch merkwürdiger ist die Erläuterung, weshalb eine Trennung der Guten von den Bösen erst am Ende der Geschichte stattfinden könne: Zuvor seien unmoralische Menschen als „Wetzstein der Tugend“ und als schlechtes Beispiel noch nötig gewesen. Kant hat doch bei der Beschreibung des ethischen Naturzustands argumentiert, das Vorhandensein anderer potentiell unmoralischer Menschen verhindere es, selbst moralisch zu werden. Dies steht in direktem Widerspruch zu der hier vertretenen These, das Vorhandensein anderer unmoralischer Menschen befördere eine moralische Entwicklung, oder ist – nach einer stärkeren Lesart – für die moralische Entwicklung sogar zwingend erforderlich. Kant greift damit ein klassisches Argument der Theodizeedebatte auf, das zwar nicht ausdrücklich, aber doch unverkennbar den Gang der Vorsehung rechtfertigen soll. Auffallend ist Kants Übersetzung der biblischen Herrschaftsbeziehungen in die Sprache des Politischen. Die gesamte Konzeption des ethischen Gemeinwesens zehrt von der Analogie zum juridischen und damit von politischem Vokabular. Dies wird hier in überspitzter Form sichtbar: In dem „göttlichen Staat“, der auf den „Höllenstaat“ folgt, werden Menschen zu „Himmelsbürgern“. Auch Christus, der während des tausendjährigen Reichs als „Statthalter“ Gottes auftritt, verliert dann seinen Sonderstatus. Anders als in der biblischen Vorlage (1 Kor 15, 28) reiht sich aber nicht Christus in die Klasse der Bürger ein, sondern die Menschen werden zu seiner Klasse „erhoben“. Wenn Christus als Symbol für ein Gott wohlgefälliges, immer moralisch handelndes Wesen steht, ist damit der ständige Kampf des guten gegen das böse Prinzip, der den Ausgangspunkt des Dritten Stücks bildete, erst hiermit – und nicht schon in der Vorstellung eines sichtbaren Reiches Gottes auf Erden – endgültig beendet.³⁵⁶ Stangneth vertritt die These, erst hiermit beginne die „eigentliche moralische Entwicklung“ (2000, 159) der Menschheit. Teilt man Stangneths Auffassung, dass das ethische Gemeinwesen in dieser Welt vollkommen verwirklicht werden kann, wäre allenfalls noch eine weitere Entwicklung hinsichtlich der Kultur und der Funktionalität der Verwaltungsorgane denkbar; Kant
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Die entscheidende Aussage des Satzes findet sich allerdings erst ganz am Ende: Die „Form einer Kirche selbst“ würde aufgelöst, und Gott sei „alles in allem“. Wie Kant in der beigefügten Fußnote erläutert, bezieht er sich mit dem letzteren Ausdruck – wie auch schon zuvor (vgl. RGV VIII, 785) – auf die Herrschaft der reinen Vernunftreligion. Diese kann ebenso wie die Auflösung der Kirche keine ‚bloße‘ symbolische Vorstellung sein, denn beide Aspekte wurden ausdrücklich aus dem Begriff des ethischen Gemeinwesens entwickelt. Im Gegensatz zu der symbolischen Vorstellung eines (eigentlich in sich widersprüchlichen) sichtbaren Reichs Gottes auf Erden spricht Kant hier über das Kommen des unsichtbaren Reichs. Wenn man nicht eine völlig willkürlich-chaotische Aneinanderreihung biblischer und vernünftiger Gehalte unterstellen möchte, sagt Kant hier, dass das unsichtbare Reich Gottes erst nach der Überwindung aller gegenwärtigen physischen Bedingungen, also nur in einer künftigen Welt verwirklicht werden kann (siehe Kapitel 5.3). Wie schon zuvor, blieb in der Passage eine Frage bislang unklar: Dass es eine Vernunftidee des vollkommenen Endzustands gibt, kann vorausgesetzt werden; aber ist die Vorstellung des tatsächlichen Eintretens künftigen Fortschritts bzw. des tatsächlichen Kommens des Reichs Gottes nur ein moralisch-belebender Gehalt des Christentums als Kirchenglauben, oder betrachtet Kant beides als vernünftig gerechtfertigte These über den künftigen Verlauf der Geschichte? Ist es nur aus pragmatischen Gründen sinnvoll, sich moralischen Fortschritt bis hin zur Vollendung im Eschaton vorzustellen, oder folgt die Annahme von Fortschritt und Vollendung aus der Vernunft? Einmal mehr geht es dabei darum, ob Kant das ethische Gemeinwesen lediglich als Pflicht betrachtet, die verwirklicht werden soll, oder ob er aus der Pflicht auch die Zukunftsprognose ableitet, dass es entstehen wird. Auf dieses Problem kommt Kant noch kurz zu sprechen: Die Geschichtserzählung der Nachwelt sei ein „schönes Ideal der durch Einführung der wahren allgemeinen Religion bewirkten moralischen, im Glauben vorausgesehenen Weltepoche, bis zu ihrer Vollendung, die wir nicht als empirische Vollendung absehen, sondern auf die wir nur im kontinuierlichen Fortschreiten und Annäherung zum auf Erden möglichen Guten […] hinaussehen, d. i. dazu Anstalt machen können.“ (RGV VIII, 802; Hervorhebungen von Kant)
Fraglich ist, ob Kant auf den Kirchenglauben oder auf den Vernunftglauben anspielt, wenn er von einer „im Glauben vorausgesehenen Weltepoche“ spricht. Nachdem die kommende Weltepoche die Auflösung aller Arten von Kirchen-
äußert sich nicht darüber. Die moralische Entwicklung im engeren Sinn ist aber in jedem Fall abgeschlossen.
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glauben mit sich bringt und es ungereimt wäre, wenn der Kirchenglaube seinen eigenen Untergang als Dogma enthielte, bezieht sich Kant offenbar auf den Vernunftglauben. Der Vernunftglaube gibt also Gründe an die Hand, die eine Aussage über die künftige moralische Entwicklung der Menschheit erlauben. Dies fügt sich gut in andere Beobachtungen ein: Mit der Postulatenlehre gelten einige Bestandteile der Eschaton-Darstellung als gerechtfertigt, nun auch die öffentliche Einführung der Vernunftreligion. Die Rekurse auf die Vorsehung und die moralische Anlage des Menschen geben weitere Hinweise, dass Kant den künftigen moralischen Fortschritt nicht nur als Pflicht betrachtet, sondern wirklich eintreten sieht.³⁵⁷ Zugleich endet die „Historische Vorstellung“ – und damit Kants Ausführungen zum ethischen Gemeinwesen insgesamt – aber mit einer unvermittelten Relativierung des Endzustands der Geschichte. Denn letztlich geht es Kant nicht darum, ob das Eschaton eintreten wird oder nicht; vielmehr ist für ihn zentral, was Menschen tun können und sollen: Wir als Menschen können „Anstalten machen“, am Fortschritt mitzuwirken. Da menschliches Handeln nicht auf das Eschaton selbst ziele, sondern nur auf die Annäherung zum höchsten auf Erden möglichen Guten, sei darin „nichts Mystisches“, es gehe „alles auf moralische Weise natürlich“ (RGV VIII, 802) zu. Kant betont hier nochmals, dass das primäre Anliegen der Religionsphilosophie in den kategorischen Forderungen zu suchen ist, denen Subjekte in der Gegenwart unterworfen sind. In dieser Logik schließt Kant mit einem Hinweis auf die präsentische Eschatologie: Wir könnten uns „jederzeit“, also auch schon heute, „wirklich als berufene Bürger eines göttlichen (ethischen) Staats“ (RGV VIII, 802) ansehen. Dennoch enthält sein Schlussgedanke noch eine überraschende Wendung: „‚Wenn kommt nun also das Reich Gottes?’ – ‚Das Reich Gottes kommt nicht in sichtbarer Gestalt. Man wird auch nicht sagen: siehe hier, oder da ist es. Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch!’“ (RGV VIII, 802 f.; vgl. Luk 17,20 f.) Offenbar möchte Kant mit dem Zitat aus dem Lukas-Evangelium eine Brücke zum Anfang der historischen Vorstellung schlagen: Religion im engsten Sinn sei nicht geschichtlich zu denken. Die Debatte innerhalb der theologischen Exegese kennt zwei gegenläufige Deutungen des Lukas-Zitats, eine individualistische und eine kollektivistische, wobei zur Zeit Kants die individualistische dominiert.³⁵⁸ Beide Deutungen könnten hier gemeint sein:
Die geschichtsphilosophischen Schriften bringen die Fortschrittsannahme dennoch unvergleichlich stärker zum Ausdruck; siehe Teil III. Die individualistische Lesart dominiert in der Theologiegeschichte einschließlich der Zeit Kants, obwohl es seit dem späten 16. Jahrhundert auch Vertreter der kollektivistischen Deutung gibt; vgl. Bovon 2001, 180 – 183. Die gegenwärtige Theologie bevorzugt dagegen Varianten der
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Nach der kollektivistischen Lesart wäre das Reich Gottes hinter dem Rücken der sichtbaren Kirche überall dort eingetreten, wo Menschen die sichtbaren Zeichen im Sinne der Vernunftreligion deuten und auf diese Weise eine unsichtbare Gemeinschaft von Rechtgläubigen bilden. Dies entspräche durchaus der theologischen Konzeption von sichtbarer und unsichtbarer Kirche: Die wahrhaft Gläubigen sind nicht erst im Jenseits, sondern schon jetzt vollständig in der unsichtbaren Kirche vereint. Gegen diese Lesart spricht aber, dass für Kant – wie mehrfach gezeigt – die unsichtbare Kirche ein Element von öffentlich gewordener Moralität enthalten müsste, dies aber in dieser Welt nicht möglich ist. Insofern weicht Kant meines Erachtens konsequent von der theologischen Konzeption ab: Die unsichtbare Kirche dient der sichtbaren als Maßstab, denn sie ist eine Vernunftidee; sie existiert aber (noch) nicht.³⁵⁹ Es bleibt die individualistische Deutung: Demnach sei das Reich Gottes genau dort gekommen, wo Menschen je für sich moralisch handeln und je für sich auf das höchste Gut im Jenseits vertrauen. Das Reich Gottes ist in dieser Lesart ‚inwendig‘, weil es sich lediglich auf die äußerlich verborgene Tugend des Einzelnen bezieht.³⁶⁰ Wenn es aber tatsächlich Kants abschließende Schlussfolgerung ist, dass das Reich Gottes lediglich in den Herzen der einzelnen Rechtgläubigen aufzufinden sein kann, muss man sich fragen, ob seine Bemühungen zu einer geschichtsphilosophischen Durchführung des Reichs Gottes anhand der sichtbaren Kirche noch irgendeine ernsthafte Relevanz haben kann.
5.6 Ergebnisse Die Interpretation des Dritten Stücks der Religionsschrift ist einigen Schwierigkeiten ausgesetzt: Die Argumentation ist komplex und mutet oftmals widersprüchlich an, es gibt zahlreiche unvermittelte Wendungen, und die ständige Bezugnahme auf die theologische Dogmatik führt zu einer vielschichtigen und teils mehrdeutigen Sprache. Nicht zu Unrecht schreibt schon Albert Schweitzer in kollektivistischen Lesart. Bovon übersetzt den Bibeltext wie folgt: „Es verhält sich so, daß das Reich Gottes in dem Raum ist, der der Eure ist“ (2001, 160). Diesbezüglich ist zu beachten, dass Kant die sichtbare Kirche als wahre Kirche bezeichnet, wenn er betonen möchte, dass das Reich Gottes in einer gewissen Hinsicht schon in dieser Welt angebrochen ist; vgl. RGV VIII, 761 und 777. Daraus ist zu folgern, dass keine unsichtbare wahre Kirche parallel zur sichtbaren existiert. Diese Sicht vertritt ausdrücklich Geismann 2000, 519 und 524. Ob das Reich Gottes gekommen sei, könne „(wenn überhaupt) nur jeder für sich selbst feststellen“ (Geismann 2000, 524). Dann wäre aber der Aspekt der öffentlichen und gemeinschaftlichen Verfolgung der Tugendhaftigkeit schlicht weggefallen.
5.6 Ergebnisse
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seiner Arbeit zu Kants Religionsphilosophie, dass Kant gerade dort, „wo die Schwierigkeit sich fühlbar macht, in der Sprache des Christentums redet“ (1899, 145); damit wird aber die Interpretation der kantischen Sprache doppelt schwierig. Zentrale Fragen werden sicherlich strittig bleiben: Kann das ethische Gemeinwesen, wie hier vorgeschlagen, für Kant erst nach dem Ende der diesseitigen Geschichte vollkommen erreicht werden? Welchen Status hat die These künftigen Fortschritts in der Kirche? Welche Rolle spielt die ‚historische Vorstellung‘ für die Argumentation? Darüber hinaus stellen sich zahlreiche Probleme, die im Rahmen meiner Darstellung gar nicht angesprochen wurden. Dennoch soll versucht werden, mit Blick auf die Frage nach säkularisierter Eschatologie einige greifbare Ergebnisse festzuhalten und diese mit Bezug auf die in Kapitel 1 entwickelten Vermutungen zu diskutieren. Zunächst sei der Fokus auf die Kant-immanente Frage gerichtet, in welcher Hinsicht die in der Religionsschrift entfaltete Lehre über das hinausgeht, was Kant in den moralphilosophischen Schriften entwickelt. Kants Konzepte des ethischen Gemeinwesens und des Reichs Gottes auf Erden haben in der Literatur insbesondere die Frage provoziert, in welchem Verhältnis sie zu den Begriffen der moralischen Welt, des höchsten Gutes und des Reichs der Zwecke stehen.³⁶¹ Jenseits des Streits um bloße Begrifflichkeiten scheint Folgendes von Bedeutung zu sein: Kant ergänzt seinen eigenen Begriff des Reichs Gottes, der in der KpV als von Gott bewirkter Zustand in einer künftigen Welt angesehen wird (vgl. KpV VII, 259), um das Vernunftkonzept eines Reichs Gottes auf Erden, dessen Neuerung in Vergleich mit der KpV vor allem darin besteht, dass die Gründung dieses Reiches nicht allein Gott überlassen wird, sondern zugleich als eine Pflicht der menschlichen Gattung aufgefasst wird.³⁶² Eine weitere neue Bedeutungsrichtung bekommt er durch seine Übertragung auf den Prozess der Annäherung an das eigentliche Reich Gottes nach dem Muster der präsentischen Eschatologie. Enger als mit dem Begriff des künftigen Reichs Gottes ist die Vernunftidee des Reichs Gottes auf Erden mit dem Begriff der moralischen Welt (KrV) bzw. dem Teils wird behauptet, Kant verwende die genannten Begriffe synonym (so etwa Sala 2004, 234; Keller 2008, 358); dagegen wenden sich Städtler 2005b, 170; Klar 2007, 194; Anderson-Gold 2001, 48 f. und Habichler 1991, 220. Auf möglichst präzise Unterscheidungen ist außerdem Geismann 2000 aus; vgl. auch die Literaturangaben dort. Es sei aber an die Einschränkung des irdischen Charakters des Reichs Gottes auf Erden erinnert: Oben wurden Probleme sichtbar, die nahelegen, dass das Reich Gottes zwar als immanente Vernunftidee konzipiert ist, aber aufgrund der Einschränkungen der menschlichen Natur erst im Jenseits vollendet werden kann. – Zur Frage, ob der so verstandene Reich-GottesBegriff das jenseitige Reich der KpV ersetzen kann, siehe Kapitel 5.2 und die Diskussion in Kapitel 9.3.
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Begriff des Reichs der Zwecke (GMS) verwandt. Im Reich der Zwecke werden die Glieder sogar als unter einem gesetzgebenden Oberhaupt stehend gedacht (vgl. GMS VII, 66), eine klare Anspielung auf den Gottesbegriff. Das Reich Gottes auf Erden übernimmt aber eine ganz andere Funktion als diese beiden Begriffe, denn es zielt eindeutig auf eine Realisierung ab. In der Grundlegung galt noch, dass das vernünftige Subjekt sich „jederzeit“ (!) als Glied im Reich der Zwecke „betrachten“ (GMS VII, 67) müsse – und damit kann nur eine kontrafaktische Betrachtung gemeint sein. Dass ein Reich der Zwecke, in der das Sittengesetz allgemein befolgt würde, wirklich zu Stande käme, sei nicht zu erwarten, stellt Kant ohne Enthusiasmus fest (vgl. GMS VII, 72 f.). Ganz anders das Reich Gottes auf Erden: Hier geht es ganz wesentlich um seine Realisierung, wenn auch nicht gleich in idealer Form. „The ethical community, however, is not to be a merely ideal one (like the realm of ends), but it must exist on earth, as a human institution.“ (Wood 2011, 136) Diesen Punkt hat zuletzt auch Habermas prominent gemacht: Kant ziele darauf ab, „die Idee vom ‚Reich der Zwecke‘ aus der transzendentalen Blässe des Intelligiblen³⁶³ in eine innerweltliche Utopie zu übersetzen.“ (Habermas 2005, 230)³⁶⁴ Realisierbar ist das Reich Gottes auf Erden aber nur in Form der sichtbaren Kirche, die sich an das Ideal annähert, ohne es je erreichen zu können. Die Idee kollektiver Moralität wird damit vom platonischen Ideenhimmel letztlich sogar auf die erfahrbare Wirklichkeit übertragen. Man kann deshalb davon sprechen, dass Kant seine eigene Reich-Gottes-Idee in einem bestimmten Sinne ‚säkularisiert‘ bzw. ‚verweltlicht‘: Aus dem jenseitigen Reich wird ein immanentes Reich, dessen Verwirklichung wenigstens teilweise dem Menschen aufgetragen ist, und aus den Vernunftideen, die im platonischen ‚Ideenhimmel‘ lokalisiert werden könnten, werden empirische, institutionell verfasste Formen moralischen Zusammenlebens.
Diese Formulierung kann – insbesondere weil sie mit der innerweltlichen Utopie kontrastiert wird – so verstanden werden, dass das Reich der Zwecke eine Vereinigung von reinen Vernunftwesen darstelle und als solche der intelligiblen Welt zuzuordnen ist. Wenn Habermas seine Formulierung tatsächlich so intendiert hat, so ist dies problematisch: Das Reich der Zwecke ist m. E. zwar ein platonisches Ideal, aber es beinhaltet die Vorstellung einer wirklichen Vereinigung von Menschen, und nicht von reinen Vernunftwesen; es könnte zumindest theoretisch „wirklich zu Stande kommen“ (GMS VII, 72). Welche „eigenen Zwecke“, die im Reich der Zwecke in systematischer Verknüpfung stehen könnten (vgl. GMS VII, 66), wären in der transzendentalen Blässe des Intelligiblen denn überhaupt denkbar, wenn man sie als die Welt reiner Vernunftwesen auffasste? Anders Kleingeld (2012, 17), die unter Berufung auf die KrV (B836 = IV, 679) sowohl die „moralische Welt“ als auch das „Reich der Zwecke“ als Ideal ansieht, das im gleichen Sinne wie das ethische Gemeinwesen annäherungsweise zu realisieren sei.
5.6 Ergebnisse
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Bedeutender als dieser Kant-immanente Zusammenhang ist allerdings, welche Strukturen Kant aus dem theologischen Horizont seiner Zeit übernimmt und welche systematischen Auswirkungen sich daraus ergeben. In welchem Sinne trifft zu, dass das Dritte Stück der Religionsschrift nichts anderes als eine „philosophische Eschatologie“ (Höffe 2011, 12) ist, und wie ist Kants These der Notwendigkeit einer endgültigen Überwindung des Bösen im Reich Gottes zu bewerten? Die Einschätzung, Kants Reich-Gottes-Gedanke entbehre „aller traditionell eschatologischen Elemente und Ausrichtung“; er verweise „sonach auf keine externe göttliche Instanz mehr, die dieses ‚Reich‘ erst aufrichten würde“; es handele sich deshalb um eine „rein immanente Fassung des Reiches Gottes“ (Murrmann-Kahl 2005, 266), wird durch meine Interpretation gründlich widerlegt. Kants letztlich geschichtsphilosophisch durchgeführte Theorie kollektiver Moralität folgt in zahlreichen Punkten dem eschatologischen Muster: Schon die häufig vertretene These, der einheitliche Charakter der modernen Geschichtsphilosophien stehe genetisch in Zusammenhang mit der christlichen Vorstellung einer einheitlichen Heils- und Kirchengeschichte, findet sich im Selbstverständnis der kantischen Religionsphilosophie ausdrücklich wieder. Weiterhin greift Kant die Vorstellung auf, moralische Pflichten seien als Gesetze eines göttlichen Gesetzgebers zu deuten. Diese Vorstellung soll nicht nur mit der Autonomie der Handelnden vereinbar sein, sondern sogar notwendig aus ihr folgen, weil kollektive Moralität nicht anders denkbar sei. Vor allem aber wird Geschichte, aufgespannt zwischen dem Anfangsstadium menschlicher Schwäche und der endgültigen Überwindung des Bösen im Eschaton, zugleich als Produkt menschlicher Handlungen und des Wirkens der göttlichen Vorsehung angesehen. Dabei resultieren einerseits die entstehenden Spannungen der kantischen Theorie aus der religiösen Vorlage. Zugleich sind diese Spannungen wiederum nur in der Sprache der Theologie aufzulösen: Die Vereinbarkeit göttlicher und autonomer Gesetzgebung wird ebenso vorausgesetzt wie die Vereinbarkeit der Vorsehung mit freien Handlungen. Dass Kant dabei „ohne alle theologischen Subtilitäten“ (Irrlitz 2004, 51) argumentiere, erweist sich spätestens dann als falsch, wenn man Kants Begrenzung menschlicher Einsicht in den concursus selbst als theologische Subtilität begreift, nämlich als Affirmation des Prinzips göttlicher Geheimnisse. Aus der Vielzahl an verwendeten theologischen Motiven und Begriffen seien an dieser Stelle vier besonders hervorgehoben: (1) Erstens betrifft dies die Idee eines Reich Gottes auf Erden, an dessen Errichtung Menschen beteiligt sind. Stellt der Begriff tatsächlich eine „philosophische Verfremdung“ (Höffe 2011, 21) der theologischen Reich-Gottes-Idee dar?
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Ist es richtig, dass Kant „die religiöse Vorstellung vom Reiche Gottes gleichsam vom Himmel auf die Erde herab[holt]“ (Wimmer 1990, 195)? Zunächst ist in Erinnerung zu rufen, dass auch für Kant der Urheber des Reichs Gottes nur Gott sein kann. Die These, es liege ein ‚irdisches Heilsversprechen‘ vor, das allein durch die Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse eingelöst werden könne,³⁶⁵ trifft deshalb keinesfalls zu. In der oben favorisierten Lesart ist das Reich Gottes, sofern es nicht nur in Annäherung, sondern in seinem Hereinbrechen vorgestellt wird,von Kant sogar als ein jenseitiges Reich konzipiert. Die Differenz zur theologischen Tradition ist in jedem Fall kleiner, als oftmals suggeriert wird. Vergleicht man etwa die Struktur des kantischen ethischen Gemeinwesens mit der augustinischen Civitas Dei oder mit Speners Gegenüberstellung von streitender und triumphierender Kirche, fallen erstaunlich viele Parallelen auf.³⁶⁶ Sodann muss festgehalten werden, dass die Vorstellung eines Reichs Gottes auf Erden keinesfalls eine kantische Erfindung ist. Schon die Bibel kennt mit dem Chiliasmus eine (vorübergehend) innerweltliche Variante des Reichs Gottes; diese wird in der Neuzeit von der Strömung der Chiliasten betont. Auf der anderen Seite gibt es Pietisten, die eine Theorie der Eschatologie stark machen, derzufolge der Mensch aktiv am Kommen des Reichs Gottes mitwirken solle (vgl. Kapitel 2.2) Diese Vorstellung ist am Ende des 18. Jahrhunderts so verbreitet, dass der junge, theologisch ausgebildete Hegel 1795 an Schelling schreibt: „Das Reich Gottes komme, und unsere Hände seien nicht müßig im Schoße!“³⁶⁷ In diesem Kontext erscheint Kants Theorie, in der das Zusammenspiel menschlicher und göttlicher Taten eine wichtige Rolle spielt, weniger als „philosophische Verfremdung“, sondern eher als philosophischer Rückgriff auf eine theologische Verfremdung der frühchristlichen Reich-Gottes-Vorstellung. Kant betreibt also in diesem Punkt keine Metamorphose des Christentums, sondern möchte der der christlichen Tradition wie der Theologie seiner Zeit positiv etwas abgewinnen. Insofern ist Habermas zuzustimmen: Was „Kant an der jüdisch-christlichen Überlieferung vor allem interessieren muss“, ist „eher als das Jenseitsversprechen vom Dasein Gottes […] die Perspektive auf das verheißene Reich Gottes auf Erden ³⁶⁸“ (2005, 230; Hervorhebung von Habermas). Damit geht sicherlich auch der
In diese Richtung tendiert etwa Klar 2007. Siehe Fußnote 299. Hegel, Brief an Schelling vom Januar 1795, 18. Habermas führt als Beleg eine Stelle aus der KpV an; offenbar identifiziert er das Reich Gottes der KpV mit dem Reich Gottes auf Erden, welches die Religionsschrift einführt. Er übersieht damit die Differenz zwischen dem jenseitigen Gottesreich der KpV und dem Gottesreich auf Erden der RGV.
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„eschatologische Gedanke eines in der Geschichte wirkenden Gottes“ (ebd.) einher, der die Transformation des bloßen Ideals zum realen Ziel der Geschichte ermöglicht. Ganz genauso bedarf es dazu aber – und in diesem Punkt ist über Habermas hinauszugehen – der Zusammenführung von göttlichen und menschlichen Handlungen, die Kant im Pietismus vorfindet. Und so scheint die Möglichkeit der aktiven Mitarbeit an einer dem Handeln Einzelner eigentlich entzogenen Aufgabe dasjenige zu sein, was Kant am Christentum besonders fasziniert. Die originelle Leistung Kants besteht vor allem darin, diese christlichen Vorstellungen in den Zusammenhang des Problems kollektiver Moralität zu stellen. Indem Kant allerdings die Gründung des ethischen Gemeinwesens als Gattungspflicht entwickelt, steht er der Idee einer vernünftigen Gestaltbarkeit der Geschichte durch kollektive Handlungen deutlich näher als die theologische Tradition: Zwar muss auch bei Kant göttlicher Beistand noch ‚nachhelfen‘; aber was menschliche Pflicht ist, ergibt sich nicht allein durch die vorgegebene göttliche Ordnung, wie sie die Vorsehungsethik kennt. (2) Mit der Betonung menschlicher Verantwortung geht zweitens bei Kant die Übernahme des theologischen Konzepts der sichtbaren Kirche einher, die trotz ihres empirischen Charakters eine übernatürliche Bestimmung aufweist. Die Vorstellung, dass eine sichtbar verfasste Gemeinschaft ihrem eigenen Anspruch nach einem unsichtbaren Zweck nachgeht, ist sicherlich ein wesentlicher Aspekt, den Kant von der theologischen Dogmatik übernehmen möchte.³⁶⁹ Menschen handeln in der Welt der Phänomene, doch zielen ihre Handlungen, sofern sie sich am Zweck des höchsten gemeinschaftlichen Gutes orientieren, auf eine Änderung der noumenalen Welt ab: Es sollen Bedingungen abgeschafft werden, die moralische Gesinnungen erschweren. Die Schwierigkeit, die sich daraus ergibt, wurzelt hier weniger in der theologischen Vorlage, sondern in Kants Unterscheidung zweier Welten, von denen die eine zwar die moralisch entscheidende ist, aber epistemisch verschlossen bleiben muss. Kant scheint ein seiner eigenen Theorie inhärentes Problem mit Hilfe eines theologischen Konzepts lösen zu wollen. Ob dies gelingt, muss fraglich bleiben, denn das theologische Konzept ist natürlich der gleichen Spannung ausgesetzt. Die sichtbare Kirche spielt aber noch eine weitere Rolle für Kant, die auf ein weiteres, ganz anders beschaffenes Verhältnis zur historischen Religion hinweist. Kant begnügt sich nicht damit, die normative Notwendigkeit einer sichtbaren Kirche zu benennen. Er möchte vielmehr aufzeigen, dass es in der Geschichte der Menschheit eine greifbare Institution gibt, die als sichtbare Kirche in diesem Sinn
Hierin stimme ich mit Leiner 2004, 166 und Habermas 2005, 233 f. überein. Der Mainstream der Forschung scheint den Aspekt eher für unwesentlich zu halten.
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gedeutet werden kann – hierin scheint die philosophische Bedeutung der historischen Vorstellung zu liegen. Dass es – sozusagen als Gegenüber zu dem auf Rechtszwang basierenden Staat – eine institutionell verankerte Macht gibt, die ihrem Anspruch nach auf das Innere des Menschen zielt und deren Geschichte als teleologische Entwicklung auf das Reich Gottes hin interpretiert werden kann, belegt für Kant die Möglichkeit des ethischen Gemeinwesens.³⁷⁰ (3) Ein dritter wichtiger Aspekt, den Kant von der Theologie übernimmt, ist die Idee einer endgültigen Überwindung des Bösen. Zu Beginn der Interpretation des Dritten Stücks stellte sich die Frage, weshalb Kant überhaupt auf die Idee einer endgültigen Überwindung des Bösen in Form eines Sieges des guten Prinzips zu sprechen kommt; das moralphilosophisch relevante Problem schien eher der ständige Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen zu sein. Die utopische Vorstellung einer Welt, in der niemand mehr unmoralisch handelt, wird von vielen sogar als illusorische, geradezu aberwitzige Wunschvorstellung belächelt.³⁷¹ Die Interpretation des Dritten Stücks kommt zu dem eigentümlichen Ergebnis, dass das tatsächliche Eintreten eines Zustands, in dem das Böse in der vollkommenen moralischen Gemeinschaft ausgerottet ist, letztlich keine Rolle mehr spielt: Möglich ist nur die Annäherung an das ethische Gemeinwesen, und das nur in der defizitären Form der sichtbaren Kirche. An die Stelle des Endzustands tritt der Prozess einer Annäherung, der selbst vom fortwährenden Kampf des Guten gegen das Böse geprägt ist. Während der Begriff des ethischen Gemeinwesens die Vorstellung eines „ewigen Frieden[s]“ (RGV VIII, 788) noch beinhaltet, muss die Geschichte der sichtbaren Kirche notwendig ein „beständige[r] Kampf“ (RGV VIII, 788) bleiben. Wird das Ende des Kampfes in unendlicher Ferne vorgestellt, tritt es faktisch nie ein. Der Zustand vollkommener Moralität bleibt für Kant dennoch eine praktischnotwendige Vernunftidee: Ohne das Konzept eines Reichs Gottes auf Erden gäbe es für die moralische Entwicklung der Menschheit weder eine Orientierung noch einen Maßstab; erst der Bezug auf das Ideal gibt der sichtbaren Kirche eine bestimmbare teleologische Richtung vor. Ob die Vorstellung vollkommener kollek-
Städtler folgert daraus, für Kant ergebe sich die Konstellation, „daß das Modell Kirche vom geschichtlichen Entwicklungsstand der aufgeklärten bürgerlichen Gesellschaft aus obsolet ist und dennoch über ihn hinaus in eine mögliche Zukunft weist“ (2013a, Abschnitt III). Es bleibt fraglich, inwieweit Kant die historische Religion tatsächlich für obsolet hielt; unterstreicht er doch ausdrücklich die Notwendigkeit eines Kirchenglaubens. „Daß, bei Fortfall gewisser Anreize zum Gegenteil, die Menschen überhaupt in einem bisher unbekannten Grad gutartig, neidlos, fair, brüderlich, ja liebevoll zueinander werden […], so daß der Staat nur noch aus Tugendhaften besteht – das kann kein Wissender im Ernste glauben […].“ (Jonas 2003 [1979], 284 f.)
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tiver Moralität eine bloße Chimäre ist, deren Unmöglichkeit jedem aufgeklärten Erwachsenen bewusst ist, muss Kant sich deshalb gar nicht fragen.Worauf es Kant vor allem ankommt, ist die Gestaltung der sichtbaren Kirche als Ort der Tugendwilligen, nicht aber der Tugendhaften. Hierin liegt mindestens eine Akzentverschiebung, wenn nicht eine Korrektur des theologischen Vorbilds. (4) Der Übergang vom Begriff des endgültigen Sieges des guten Prinzips zu der Vorstellung einer kontinuierlichen Annäherung an den Sieg dient Kant als Ausgangspunkt einer Geschichtsphilosophie. Diese orientiert sich in der Tradition der Geschichtstheologie an der Struktur einer von der Vorsehung gelenkten teleologischen Entwicklung auf das Reich Gottes hin, welches abschließend endgültig hereinbricht und die irdische Geschichte zum Ende bringt. Gleichzeitig bezieht sich Kant auf Elemente einer im weitesten Sinn aristotelischen Entwicklungstheorie: Ein Keim entfalte sich nach und nach zu seiner Bestimmung. Kants Theorie steht dabei in einer unreflektierten Spannung zwischen einer Tatsachenbehauptung und einer Interpretationsmaxime: Teils legt Kant nahe, dass sich der Keim mit Notwendigkeit faktisch entwickeln wird; teils scheint es, als liefere die Theorie lediglich einen Leitfaden, anhand dessen die Geschichte zu interpretieren sei.Wie oben gezeigt, scheint Kant in jedem Fall darauf abzuzielen, eine Hoffnung auf künftigen Fortschritt vernünftig zu begründen. Gelingt ihm dies? Kants Argumentation kann vielleicht am ehesten wie folgt zusammengefasst werden: Der Begriff des ethischen Gemeinwesens folgt notwendig aus den Forderungen der Vernunft. Er führt zu einer Gattungspflicht, das ethische Gemeinwesen im Laufe der Geschichte annäherungsweise zu realisieren. Die Forderung der Vernunft kann deshalb nur als historische Annäherung an das ethische Gemeinwesen gedacht werden. Aber folgt daraus die Berechtigung, die tatsächliche Geschichte als historische Annäherung zu interpretieren? Und lässt sich daraus eine Hoffnung auf zukünftigen Fortschritt begründen? In Anlehnung an die geschichtsphilosophischen Schriften könnte man Kants Argument folgendermaßen weiterführen:³⁷² Aus der Pflicht, die sichtbare Kirche an das ethische Gemeinwesen anzunähern, folgt die Möglichkeit dieser Annäherung. Für jedes einzelne Subjekt alleine ist die Annäherung nicht möglich; nur, wenn die Annäherung wirklich ist, bleibt eine Mitwirkung für jeden einzelnen möglich. Die Tragfähigkeit dieser Argumentationsform sowie der Idee einer sich notwendig entwickelnden moralischen Anlage wird im Zusammenhang mit den geschichtsphilosophischen Schriften noch zu diskutieren sein (siehe Kapitel 8.3). Dass Kant eine solche Weiterführung tatsächlich im Hinterkopf haben dürfte, wird aus dem Bezug auf den Vorsehungsbegriff deutlich; dieser solle die „für sich unzulänglichen Kräfte der einzelnen zu einer gemeinsamen Wirkung“ (RGV VIII, 757) vereinigen. Kant macht diese Weiterführung aber nicht explizit.
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Mit dem Zweifel an der Überzeugungskraft der Argumente Kants, die sich durch alle vier Aspekte zieht, stellt sich abschließend nochmals die schon anfangs aufgeworfene Frage, in welche Beziehung sich Kant in der Religionsschrift zur Theologie setzt, wenn er deren Gehalte säkularisiert. Insbesondere ist fraglich, ob die Theologie auf Kants Überlegungen eine fundierende Kraft ausübt, die deren Vertretbarkeit vor der autonomen Vernunft gefährden. Habermas konstatiert eine „epistemische Abhängigkeit der philosophischen Begriffs- und Theoriebildung von der Inspirationsquelle der religiösen Überlieferung“ (2005, 234). Eine epistemische Abhängigkeit besagt freilich nur, dass die Vernunft der historisch überlieferten Vorstellungen bedarf, um auf konkrete Gehalte zu stoßen; dabei wäre denkbar, dass diese Gehalte sich nachträglich einer Rechtfertigung unterziehen ließen. Bei dieser Behauptung bleibt Habermas nicht stehen. Kant würde nämlich nicht nur dasjenige aus der religiösen Überlieferung herausgreifen, was „vor der Vernunft Bestand hat; vielmehr scheint diese dabei auch ihrerseits Impulse für die Erweiterung eines eng umschriebenen Vernunfthaushalts zu empfangen“ (Habermas 2005, 233). Dies ist offenbar so zu verstehen, dass zumindest Teile der Theorie Kants nicht vor der Vernunft (oder diskursiv) zu rechtfertigen sind. Diese These läuft – wie auch Habermas (2005, 231 f.) sieht – dem Anspruch zuwider, den Kant selbst an seine Theorie stellt.³⁷³ Kant stellt 1786 fest: „ein Vernunftglaube ist der, welcher sich auf keine andere Data gründet, als die, so in der reinen Vernunft enthalten sind“ (WDO V, 276). In der Vorrede der Religionsschrift scheint er diese These nicht zurücknehmen, sondern bekräftigen zu wollen. Dass Kant aber entgegen seiner eigenen Intention die Grenzen der bloßen Vernunft verlässt, folgert Habermas vor allem aus der Tatsache, dass Kant das Reich der Zwecke um die Idee des Reichs Gottes auf Erden ergänzt und daher über die reine Moralphilosophie hinausgehe. Dieses Argument reicht aber nicht aus, um Habermas’ Beweisziel zu stützen. Es bliebe die Möglichkeit offen, dass Kant ein neues moralphilosophisches Problem behandeln möchte, das am Modell der Religion lediglich illustriert werden soll, oder dessen Lösung durch den Verweis auf die Existenz historischer Religionen über den Status einer chimärischen Utopie hinaus plausibilisiert wird. Für diese Lesarten spricht vor allem, dass es Anhaltspunkte dafür gibt, dass das Konzept eines ethischen Gemeinwesens tatsächlich aus moralphilosophischen Überzeugungen Kants folgt. Dies ergibt sich insbesondere aus der ausführlichen Analyse des Naturzustandsproblems in Kapitel 5.2. Es hilft daher nicht weiter, den Von Kant sei in diesem Punkt sogar zu lernen, dass eine „schwärmerische Philosophie“ zu vermeiden sei, die „sich verheißungsvolle Konnotationen eines erlösungsreligiösen Wortschatzes nur ausleiht und zunutze macht, um sich von der Strenge diskursiven Denkens zu dispensieren“ (Habermas 2005, 257).
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Grund für eine Zurückweisung der kantischen Theorie in ihrer theologischen Herkunft zu suchen. Die Probleme der Theorie müssen vielmehr am konkreten Gegenstand aufgezeigt werden. Gerade das von Habermas gewählte Beispiel, die philosophische Notwendigkeit des Begriffs des ethischen Gemeinwesens, könnte durchaus vor der säkularen Vernunft noch einen tieferen Sinn bekommen – muss es doch tatsächlich unbefriedigend erscheinen, Moralphilosophie in Bezug auf einzelne Phänomene zu betreiben, ohne dabei zumindest das Ideal einer umfassenden Besserung der Menschheit im Hinterkopf zu behalten, die freilich nicht gleich mit der vollständigen Abschaffung von Konflikten einhergeht. Als problematisch erwiesen sich dagegen insbesondere Kants Versuche, das ethische Gemeinwesen an den Gottesbegriff zu binden, Geschichte teleologisch zu deuten, die Vorsehungslehre für die Moralphilosophie fruchtbar zu machen und das tatsächliche Kommen des Reichs Gottes als vernünftige Annahme zu erweisen. Dennoch wird ein Verständnis der Religionsschrift immer bei Kants Auseinandersetzung mit dem Christentum ansetzen müssen. Versucht man, diese Besonderheit der Schrift zu ignorieren und eine gänzlich säkulare Lehre darin aufzufinden,³⁷⁴ wird man sich den Blick auf manche Schwierigkeiten tendenziell verstellen.Weshalb aber ist Kant die vernünftige Rekonstruktion des Christentums so wichtig? Religion wird für Kant gerade deshalb kritisierbar, weil er einen vernünftigen Kern in ihr entdeckt, der als Maßstab der Kritik dienen kann. Insofern ist die Religionsschrift ein Zeugnis aufklärerischer Religionskritik, das seine Besonderheit in der prinzipiellen Anerkennung der Religion erfährt, ohne die die Kritik gar nicht möglich wäre.³⁷⁵ Kant führt die Religionskritik durch, indem er die Kirchengeschichte als weitgehende Auflösung der theologischen Dogmatik begreift. Dass Kant in dieser Kritik selbst noch Teilen genau dieser Dogmatik verbunden bleibt, habe ich zu zeigen versucht.
In diese Richtung tendieren Stangneth 2000 und Klar 2007, teils auch Städtler 2011. In der Literatur wird Kant zuweilen entweder als radikaler Religionsvernichter oder als verkappter Theologe dargestellt (vgl. die Darstellung der Forschungslandschaft bei Leiner 2004, 159 ff.). Dabei wird der genannte Zusammenhang von Religionskritik und Wertschätzung der Religion gerade übersehen. Ebenso trifft nicht zu, dass die „reflexive Aneignung“ christlicher Gehalte „im Streit mit dem religionskritischen Ziel“ (Habermas 2005, 236) liege – erst die Aneignung ermöglicht die Kritik.
Teil III: Geschichtsphilosophie zwischen Naturteleologie und Friedensutopie
6 Teleologie und Geschichte Die Analyse der geschichtsphilosophischen Schriften Kants muss aus zwei Gründen methodisch – und infolgedessen in der Darstellungsform – von der Analyse der Religionsschrift abweichen. Zum einen liegt keine durchgängige Theorie vor; stattdessen ist die Geschichtsphilosophie Gegenstand verschiedener kleiner Schriften sowie kurzer Ausschnitte der Kritik der Urteilskraft und der Rechtslehre. Die einzelnen ‚Fragmente‘ erstrecken sich nicht nur über einen großen Zeitraum, nämlich von der frühen kritischen Phase (1784) bis zum Spätwerk (1798), sondern decken auch thematisch ein weites Feld ab: Teils in einen erkenntnistheoretischen, teils in einen moralphilosophischen Kontext eingebettet, behandeln sie neben der Frage nach der systematischen Darstellbarkeit der Geschichte ebenso anthropologische Fragestellungen, Deutungen der Zeitgeschichte sowie die Einschätzung empirisch-politischer Fragen, wie etwa die nach der Friedfertigkeit von Republiken und nach den Auswirkungen des globalen Handels. Der interne Zusammenhang der ‚Fragmente‘ ist dabei ebenso umstritten wie deren systematische Einordnung in das Gesamtwerk Kants. Zum anderen gestaltet sich die Frage nach eschatologischen Gehalten deutlich schwieriger: Stellte das Dritte Stück der Religionsschrift unbestreitbar einen Versuch der Säkularisierung der christlichen Eschatologie dar, sind deren Spuren in den geschichtsphilosophischen Schriften eher versteckter Natur. Die Analyse muss sich deshalb mit der Suche nach historisch vermittelten Strukturanalogien und einer Deutung der Funktion theologischer Begriffe auf einen etwas spekulativeren Boden begeben, ohne dabei die Grenzen der hinreichenden Belegbarkeit zu verlassen. Den nicht zu unterschlagenden Differenzen zwischen den verschiedenen ‚Fragmenten‘ einerseits und der einheitlichen Fragestellung der vorliegenden Arbeit andererseits soll durch die folgende Darstellungsform Rechnung getragen werden: Im ersten Schritt (Kapitel 6 und 7) erfolgt eine Darstellung und Interpretation der relevanten Inhalte einzelner Schriften. Im zweiten Schritt (Kapitel 8) werden konkrete Fragen an Kants Geschichtsphilosophie gestellt, die textübergreifend zu beantworten sind, auch wenn freilich nicht ganz auf eine erneute Differenzierung nach einzelnen Schriften oder Phasen verzichtet werden kann. Die geschichtsphilosophischen Schriften Kants lassen sich prinzipiell in zwei Gruppen einteilen, die – sei es Zufall oder nicht – auch chronologisch einigermaßen auseinandergehalten werden können: Kant behandelt das Thema Geschichtsphilosophie zunächst im Kontext erkenntnistheoretischer Überlegungen zur Teleologie. Dabei schließt die Idee zu einer allgemeinen Geschichte (1784) unverkennbar an die Teleologielehre der KrV an; der §83 der KU (1790) befindet
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6 Teleologie und Geschichte
sich ohnehin im Kontext der Kritik der teleologischen Urteilskraft. Schon 1786 im Mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte spielt die Geschichtsphilosophie dann im moralphilosophischen Kontext eine Rolle. Diese Schrift steht aber insofern etwas außerhalb der Reihe, weil sie zur Hälfte der Religionsphilosophie zuzuordnen ist und nur im Schlussteil das eigentliche Thema der kantischen Geschichtsphilosophie aufgreift. Ab den frühen 1790er Jahren, vornehmlich im dritten Teil der Schrift Über den Gemeinspruch (1793), in Zum ewigen Frieden (1795), im „Beschluß“ der Rechtslehre, in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) sowie im zweiten Abschnitt des Streits der Fakultäten (1798), steht dann der moralphilosophische Kontext deutlich im Vordergrund. Aufgrund der Vielzahl der Texte war es nötig, für den ersten Schritt der Untersuchung eine Auswahl zu treffen, die schlaglichtartig die zentralen Eigenarten des geschichtsphilosophischen Denkens Kants verdeutlicht. Auf weitere Werke soll nur dann verwiesen werden, wenn dies inhaltlich notwendig erscheint. Mit der Idee zu einer allgemeinen Geschichte und der KU sind die Texte mit erkenntnistheoretischem Kontext komplett vertreten; ihre überragende Bedeutung innerhalb der geschichtsphilosophischen Überlegungen Kants ist offensichtlich. Aus dem moralphilosophischen Kontext sind der Gemeinspruch und der Streit der Fakultäten als die Texte mit der höchsten Aussagekraft insbesondere zur Rechtfertigung des Fortschrittsmodells herausgegriffen worden. Im zweiten Schritt der Untersuchung werden selbstverständlich auch diejenigen Schriften herangezogen, die in dieser Auswahl nicht berücksichtigt werden konnten.
6.1 Die Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht Im Schatten seines Meisterwerks zur Teleologie, der KU, liefert Kant weit weniger beachtet bereits in der KrV eine Rechtfertigung teleologischen Denkens. Ausgangspunkt ist die These, dass auch die unabweisbaren Fragen der spekulativen Vernunft, die die Reichweite ihrer Einsicht überschreiten, noch zu etwas gut sein müssen.³⁷⁶ Die Idee einer höchsten Weltursache, die sich als überschwänglich erwiesen hatte, sofern sie das Resultat philosophischer Erkenntnis sein soll, kann demnach in anderer Hinsicht noch einen guten Zweck erfüllen, sofern sie nämlich ein „spekulative[s] Interesse der Vernunft“ (KrV B714 = IV, 594) befriedigt. Nach Kant hat der Mensch nicht nur aufgrund seiner sinnlichen Natur Interessen, die zu
Vgl. KrV B670 f. = IV, 564 und B697 = IV, 582 f.; siehe auch Kapitel 4.1.
6.1 Die Idee zu einer allgemeinen Geschichte
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befriedigen sind, sondern ebenso aufgrund seiner Vernunft. Solche Vernunftinteressen können – anders als sinnliche Interessen – der Rechtfertigung von regulativen Ideen bzw. Idealen dienen, sofern diese widerspruchsfrei gedacht werden können (vgl. KrV B701 = IV, 585). In diesem Sinne schreibt Kant, dass „ihr spekulatives Interesse und nicht ihre Einsicht“ die Vernunft „berechtige“, als heuristisches Prinzip den Standpunkt eines höchsten Welturhebers, „der so weit über ihrer Sphäre liegt“ (KrV B704 = IV, 587), vorauszusetzen. Gerechtfertigt ist dadurch – gegebenenfalls anders als im Falle der Postulate der praktischen Vernunft – allerdings ausdrücklich nicht die Annahme der Existenz Gottes, sondern nur die Betrachtung des Weltganzen, als ob es von einer höchsten Weisheit erschaffen sei (vgl. KrV B701 f. = 585 f.). Das zentrale Interesse der spekulativen Vernunft ist laut Kant die systematische Einheit ihrer Erkenntnisse. Dasjenige, was die Vernunft in unseren zahlreichen einzelnen Verstandeserkenntnissen sucht, ist „das Systematische der Erkenntnis […], d. i. der Zusammenhang derselben aus einem Prinzip“ (KrV B673 = IV, 566). Eine solche systematische Einheit setzt aber die Idee von der „Form eines Ganzen der Erkenntnis“ voraus, die „vor der bestimmten Erkenntnis der Teile vorhergeht und die Bedingungen enthält, jedem Teile seine Stelle und Verhältnis zu den übrigen a priori zu bestimmen“ (KrV B673 = IV, 566). Diese Idee soll es ermöglichen, die Verstandeserkenntnis, welche zunächst „bloß“ als „ein zufälliges Aggregat“ erscheint, als „ein nach notwendigen Gesetzen zusammenhängendes System“ (KrV B673 = IV, 566) zu denken. Die höchste Form einer solchen systematischen Einheit ist die „zweckmäßige Einheit der Dinge“ (KrV B714 = IV, 594). Damit führt das spekulative Vernunftinteresse direkt auf eine teleologische Betrachtung des Weltganzen. Eine solche Betrachtung setzt – so jedenfalls die KrV – den „Vernunftbegriff von Gott“ (KrV B713 = IV, 594) voraus, denn die Zweckmäßigkeit der Welt muss als das Resultat einer „obersten Intelligenz, als der alleinigen Ursache des Weltganzen“ (KrV B715 = IV, 594), bzw. als Folge der „weise[n] Absichten eines Urhebers“ (KrV B715 = IV, 595) gedacht werden. Dabei wird die oberste Intelligenz freilich nur als regulatives Prinzip angenommen, das zwar vernünftig gerechtfertigt ist, dabei aber keinerlei metaphysische Implikationen mit sich bringt. Es ist genau dieser Kontext, in dem sich Kant vergleichsweise kurze Zeit nach Erscheinen der ersten Auflage der KrV dem Thema der Geschichte zuwendet.³⁷⁷
Die zahlreichen Bezüge von IaG zur Teleologie der KrV sind bei Kleingeld (1995, 16 – 20 und 90 – 108) wesentlich ausführlicher nachgewiesen, als ich sie hier andeute. Mehrfach zitiert Kant nahezu wörtlich Passagen aus der KrV. Gleichwohl wird in der Literatur immer wieder übersehen, dass IaG im Kontext der Teleologie der KrV gelesen werden muss. Horn (2011a, 118) unterstellt etwa, der Gegensatz von regulativen und konstitutiven Prinzipien sei in IaG noch nicht
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6 Teleologie und Geschichte
Kant scheint das wissenschaftliche Ziel einer möglichst großen Einheit, das in der KrV nur im Zusammenhang mit Naturwissenschaften diskutiert wurde, nun auf die Geschichtswissenschaft anzuwenden: Die Mannigfaltigkeit der historischen Erkenntnisse, die ein bloßes „Aggregat“ ausmacht, soll als ein „System“ (IaG XI, 48) dargestellt werden. Die Stellung der Teleologie im Rahmen der philosophischen Grundlegung einer Behandlung der Geschichte weicht allerdings von ihrer Stellung innerhalb der KrV ab: Lieferte Kant im Falle der Naturwissenschaften zunächst eine allgemeine Erkenntnistheorie, innerhalb derer die Forderung nach größtmöglicher Einheit lediglich den Schlussstein bildete, so erschöpft sich die Behandlung der Geschichte in diesem Schlussstein. Die Möglichkeit der Erkenntnis einzelner historischer Ereignisse, die erst im 19. Jahrhundert in den Blickpunkt der Geisteswissenschaften gerät, scheint Kant einfach vorauszusetzen.³⁷⁸ Kant betont, dass seine Überlegungen zu einem Projekt einer Geschichtsschreibung Anlass geben, das die gewöhnliche Geschichtswissenschaft als „bloß empirisch abgefasste[.] Historie“ (IaG XI, 49) keinesfalls ersetzen solle. Damit bleibt aber offen, ob Kants geschichtsphilosophische Überlegungen nicht doch eine direkte Relevanz für die Geschichtswissenschaft haben müssen. So ist einerseits fraglich, ob Kant die Geschichtsschreibung überhaupt als Wissenschaft bezeichnen würde, solange sie sich nicht in einem System darstellen lässt.³⁷⁹ Andererseits könnte man die geschichtsphilosophischen Überlegungen analog zum regulativen Ideal der naturwissenschaftlichen Forschung als normative Forderung sehen: Ebenso wie der Naturwissenschaftler sich von der Idee einer Einheit der Erkenntnisse leiten lassen soll, müsse eben auch der gewöhnliche
präsent; vgl. dagegen die Ausführungen zum Status regulativer Ideen in der KrV, auf die sich IaG zweifellos bezieht. Allison (2009, 27) sieht die Rechtfertigung der Naturteleologie, die IaG voraussetzt, erst mit der KU nachgeliefert. Zwar ist seine Beobachtung richtig, dass Kant in IaG mit der „Naturabsicht“ einen Begriff verwendet, der in der KrV noch nicht explizit vorkommt. Es kann aber nicht bestritten werden, dass Kant diesen Begriff der Sache nach bereits in der KrV vorbereitet (vgl. etwa die „weise[n] Absichten eines Urhebers“; KrV B715 = IV, 595), und dass die KrV bereits eine Rechtfertigung der Naturteleologie enthält. Flach (2006) möchte bei Kant bereits eine Theorie des historischen Erkennens ausfindig machen; dies überzeugt jedoch nicht. Sicherlich gibt es bei Kant einige Ansätze in Richtung einer Grundlegung der Geschichtswissenschaft (vgl. Burg 1991), mehr aber nicht. Riedel (1973, 208 – 210) deutet jedenfalls einige Bemerkungen Kants dahingehend, dass Geschichte nur dann als Wissenschaft zu verstehen sei, wenn sie sich an einem nicht-empirischen Prinzip als Leitfaden orientiere.
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Historiker nach Möglichkeit versuchen, einzelne Ereignisse teleologisch zu verbinden.³⁸⁰
Problemaufriss Der Titel der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (November 1784) ist zugleich ein affirmativer Rekurs auf die zeitgenössische Diskussion des Themas wie auch eine zynische Spitze gegen einen der prominentesten Zeitgenossen. Kant greift zustimmend das Projekt einer ‚universalen‘ oder ‚allgemeinen‘ Geschichte auf, das im Zuge der Aufklärung an Bedeutung gewinnt.³⁸¹ Dass Kant an einer Form von Geschichte interessiert ist, die die partikularen Geschichten einzelner Völker in einer ‚Geschichte der Menschheit‘ überformt, ist nicht zuletzt dem Vernunftinteresse an Einheit geschuldet. Zugleich spiegelt es die moralphilosophische Vorstellung Kants wider, dass die politischen Geschichten der Völker in einem Völkerbund zusammenlaufen müssen. In besonderer Weise knüpft der Titel der Schrift aber an Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1. Teil April 1784) an, mit der sich Kant später in Rezensionen intensiv auseinandersetzt. Man kann davon ausgehen, dass der im Singular verwendete Begriff der „Idee“, wie er im Titel der Schrift Kants auftaucht, einen bewussten Affront gegen die verschiedenen, in den Augen Kants willkürlich gewählten „Ideen“ darstellt, die der empiristisch geprägte Herder im Titel seiner Schrift andeutet.³⁸² Ganz im Einklang mit den drei Kritiken ist
Solche und ähnliche Konsequenzen finden sich jedenfalls innerhalb einer Richtung der Kant-Rezeption der letzten Jahre, die die Relevanz der Geschichtsphilosophie Kants für die Wissenschaftstheorie der Geschichte betont; ausführlich wird dies in Zwenger 2008 ausgearbeitet; auch Kleingeld tendiert in diese Richtung; vgl. etwa Kleingeld 1996. Der Titel, den Kant gewählt hat, erinnert z. B. an August Ludwig Schlözers Vorstellung seiner Universal-Historie (1772), der unter dieser Überschrift das an Kant erinnernde Projekt betreibt, diejenigen historischen Ereignisse auszuwählen, die „für den Weltbürger, den Menschen überhaupt, wichtig sind“ (Band 1, 30 f.). Ähnlich auch Johann Martin Schroeckh: Lehrbuch der allgemeinen Weltgeschichte (1774), und Johann Christoph Gatterer: Vom historischen Plan und der sich darauf gründenden Zusammenfügung der Erzählungen, in: ders.: Allgemeine historische Bibliothek 1 (1767). Die Ähnlichkeiten der Geschichtsphilosophie Kants mit den genannten universalgeschichtlichen Ansätzen sind bei Sturm (2012) aufgearbeitet. Bücher von Schroeckh und Gatterer befanden sich tatsächlich in Kants Besitz; vgl. Warda 1922. Der Begriff der „Idee“ im Titel der Schrift Kants ist bewusst mehrdeutig gehalten. Kant sieht sich im Februar 1784 durch die in der Gothaischen gelehrten Zeitung abgedruckte Bemerkung, es sei eine „Lieblingsidee“ Kants, dass der Endzweck des Menschengeschlechts die vollkommene Staatsverfassung sei, genötigt, eine Schrift zu diesem Thema zu verfassen; vgl. die Anmerkung Weischedels in IaG XI, 33. Der Titel von IaG spielt unverkennbar primär auf die Formulierung „Lieblingsidee“ an – dies wird schon dadurch deutlich, dass Kant nicht von der „Idee einer
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Geschichtsphilosophie für Kant nichts, was sich allein aus der Beschäftigung mit empirischen Daten ergeben kann; ihre Möglichkeit muss vielmehr mit Prinzipien a priori begründet werden, welche zusammengenommen die ‚Vernunftidee einer allgemeinen Geschichte‘ bilden würden. Diese Prinzipien auszuformulieren, ist Aufgabe der kurzen Schrift. Diese Interpretation des Titels findet in dem Problemaufriss, der den neun „Sätzen“ der Schrift vorangestellt ist, ihre Bestätigung. Geschichte hat es zwar mit Erscheinungen zu tun, die als solche allgemeinen Naturgesetzen unterliegen. Zugleich handelt Geschichte aber als Erzählung der Erscheinungen des freien Willens (vgl. IaG XI, 33) von menschlichen Akteuren, die sich ihre je eigenen Zwecke frei setzen. Die Handlungen der einzelnen Subjekte fallen deshalb zunächst „verwickelt und regellos in die Augen“ (IaG XI, 33), als seien sie ein bloßes „Spiel“ der Freiheit des Willens. Das Projekt, das Kant sich vornimmt, wird – aus gutem Grund, wie sich zeigen wird³⁸³ – zunächst als Gegenstand der Hoffnung eingeführt: Die Geschichte lasse „von sich hoffen: daß, wenn sie das Spiel der Freiheit des menschlichen Willens im großen betrachtet, sie einen regelmäßigen Gang [der Erscheinungen dieser Freiheit] entdecken könne“ (IaG XI, 33). Kant nimmt vorweg, dass solch ein regelmäßiger Gang nur in Form einer Teleologie, nämlich als „stetig fortgehende obgleich langsame Entwickelung der ursprünglichen Anlagen“ (IaG XI, 33), denkbar sein kann. Fraglich ist damit zunächst, ob es gelingen kann, trotz der Regellosigkeit einzelner Handlungen eine Planmäßigkeit im Gesamt der Geschichte zu finden. Dass Regellosigkeit im Mikrobereich mit einer Planmäßigkeit im Makrobereich grundsätzlich vereinbar ist, zeigt Kant anhand von zwei Beispielen: Erstens ist das Wetter auf einzelne Tage bezogen (zumindest mit den Mitteln des 18. Jahrhunderts) nicht vorauszusagen und wechselt daher scheinbar planlos; dennoch lässt das Wetter über die Jahreszeiten hinweg eine Konstanz erkennen, die die Natur in einem „gleichförmigen ununterbrochenen Gange“ (IaG XI, 34) erhält. Zweitens sind Eheschlüsse und Geburten zweifellos der Willkür einzelner Menschen überlassen und entziehen sich auf individueller Ebene jeder Gesetzallgemeinen Geschichte“ spricht, sondern von der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte“, ‚Idee‘ also vorrangig im Sinne von ‚Einfall‘ verwendet. Eine zweite Konnotation des Begriffs der Idee sind offensichtlich die regulativen Ideen der KrV (einseitig auf diesen zweiten Aspekt verweisen Brandt 2011, 91, Allison 2009, 24 und Wood 2009, 112). Die dritte Konnotation ist schließlich Herder: Nachdem im April 1784 Herders Ideen erscheinen, muss sich Kant darüber klar sein, dass seine Schrift mit dieser in Verbindung gebracht werden wird; wenn sein im November 1784 erschienener Text mit „Idee“ überschrieben ist, ist dies damit auch eine bewusste Anspielung auf Herder. Das Projekt der Geschichtsphilosophie könnte nämlich an der Empirie scheitern, wie im Achten und Neunten Satz zugestanden wird.
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mäßigkeit; dennoch zeigen die Statistiken eine erstaunliche Konstanz – und damit Planmäßigkeit – über Jahre hinweg. Dass Kant dieses zweite Beispiel vorbringt, ist kein Zufall: Es galt zu seiner Zeit als gängiges Argument für die empirische Erkennbarkeit der göttlichen Vorsehung.³⁸⁴ Es ist eben die von diesem Argument gestützte Intuition, die Kant beim Leser hervorrufen möchte:Trotz der scheinbaren Regellosigkeiten, die uns überall begegnen, leben wir in einem wohlgeordneten Kosmos. Freilich ist die Form von Gesetzmäßigkeit, die sich oberhalb der einzelnen Willkürakte der Heirat oder Zeugung entdecken lässt, eine rein statistische, die auf die politische Geschichte unanwendbar ist. Es geht Kant allerdings hier auch noch nicht um ein Argument für die Möglichkeit einer Geschichtsteleologie, sondern lediglich um eine Analogie,³⁸⁵ die zeigen soll, dass scheinbare Planlosigkeit unter bestimmten Umständen mit Regelmäßigkeiten aus einer größeren Perspektive vereinbar ist.³⁸⁶ Die Geschichtsphilosophie steht vor einem ähnlichen Problem; die Lösung des Problems muss aber eine eigenständige sein. Kant setzt entsprechend zu einer erneuten Entfaltung des Gegensatzes regelloser Einzelereignisse und planmäßiger Gesamtabläufe an (vgl. IaG XI, 34, 2. Absatz); erst hier wird die Argumentation geschichtsphilosophisch relevant. Dass sich das Problem willkürlich-regelloser Ereignisse im Falle menschlicher Kooperation überhaupt wiederholt, ist nicht wie im Falle des Wetters eine empirisch zu beobachtende, unverrückbare Tatsache, sondern resultiert teils aus der Natur des Menschen als eines frei handelnden Wesens und teils aus der Weise, wie er in der Kooperation mit seinen Artgenossen damit umzugehen in der Lage ist. Menschen verhalten sich aufgrund ihrer Natur nämlich „nicht bloß instinktmäßig, wie Tiere“ (IaG XI, 33). Eine planmäßige Erzählung der Abläufe in Bienenschwärmen und Biberkolonien hält Kant offensichtlich für möglich, da das Verhalten der Bienen und Biber erkennbar auf bestimmte kollektive Zwecke ausgerichtet ist. Ein ähnlich typisiertes Verhalten spricht Kant dem Menschen ab. Der Mensch ist vielmehr als Vernunftwesen fähig, sich ständig willkürlich eigene Zwecke zu setzen. Dies zeigt z. B. Lehner 2007, 18. Dass Kant die Debatte sehr genau gekannt und verfolgt hat, wird in den vorkritischen Schriften deutlich: In DBG (AA II, 122) setzt sich Kant mit Süßmilchs Werk Die göttliche Ordnung (1741) auseinander, in dem eine teleologische Erklärung für die empirisch feststellbare Regelmäßigkeit der Geschlechterverteilung bei Geburten geliefert wird. Dass Kant tatsächlich bewusst eine Analogie konstruiert, sehe ich in der Parallele im sprachlichen Aufbau bestätigt: Ehen und Geburten „scheinen“ keiner Regel unterworfen zu sein, sind es aber doch (IaG XI, 33); es „scheint“ keine planmäßige Geschichte möglich zu sein, sie ist es aber doch (IaG XI, 34). Anders Kleingeld, die dann konsequenterweise zu dem Schluss kommt, dass Kant „soziologische Statistiken […] mit Kausalgesetzen verwirrt“ (1995, 17).
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Was beim Tier instinktiv verläuft, könnte natürlich prinzipiell von vernünftigen Wesen bewusst getan werden. Von ihrer Vernunft könnte die Menschheit daher derart Gebrauch machen, dass menschliche Kooperation dennoch langfristigen kollektiven Zwecken untergeordnet wäre – allein, sie tut es nicht. Einzelne Handlungen bleiben deshalb regellos, weil Menschen einerseits nicht instinktmäßig, andererseits „auch nicht, wie vernünftige Weltbürger, nach einem verabredeten Plane, im ganzen verfahren“ (IaG XI, 34).³⁸⁷ Vereinzelte Bemühungen, nach kollektiven Zwecken zu handeln, gibt es zwar, sie bleiben aber folgenlos. Ein solcher Zustand ist für den Beobachter, der den Sinn historischer Handlungen in einer umfassenden narrativen Struktur zu erfassen sucht, zweifellos unbefriedigend: „Man kann sich eines gewissen Unwillens nicht erwehren, wenn man ihr Tun und Lassen auf der großen Weltbühne aufgestellt sieht; und, bei hin und wieder anscheinender Weisheit im einzelnen, doch endlich alles im großen aus Torheit, kindischer Eitelkeit, oft auch aus kindischer Bosheit und Zerstörungssucht zusammengewebt findet“ (IaG XI, 34).
Kant legt damit offen, dass seine Motivation zu einer allgemeinen Geschichte über das spekulative Vernunftinteresse an systematischer Einheit der Erkenntnisse hinausgeht.³⁸⁸ Ohne Zweifel spielt das spekulative Vernunftinteresse auch eine große Rolle; daneben tritt aber auch ein moralisch-praktisches Interesse. ‚Regellosigkeit‘ heißt nämlich nicht nur, dass die theoretische Vernunft keine übergeordneten Strukturen ausmachen kann, sondern impliziert zugleich, dass Menschen mit „Bosheit“ und „Zerstörungssucht“ handeln. Das moralisch-praktische Interesse an der Geschichtsphilosophie besteht freilich nicht darin, aus der Geschichte herauszulesen, wie zu handeln Pflicht ist. Die Geschichtsphilosophie steht stattdessen im Dienste einer existentiellen Aufgabe, die sowohl das bloße Erkenntnisinteresse als auch die bloße Frage nach dem moralischen Sollen übersteigt: Es geht darum, das „trostlose Ungefähr“ einer „zwecklos spielende[n] Natur“ (IaG XI, 35) derart zu überwinden, dass eine Versöhnung mit der Welt Denn ihre Vernunft hätte ihnen „auch ohne so viel traurige Erfahrung“ (IaG XI, 42) sagen können, wie Geschichte zu gestalten ist. Vgl. auch TP XI, 170: „was guter Wille hätte tun sollen, aber nicht tat“. Kleingeld (1995, 30) sieht dagegen den Bezug zum moralischen Interesse der Vernunft erst mit dem Neunten Satz gegeben. Hübner (2011, 18 ff.) erwägt, mit dem Begriff „Idee“ im Titel der Schrift könne sich Kant auf ein praktisches Postulat oder auf eine regulative Idee beziehen. Daran ist richtig, dass sich in IaG theoretische und praktische Vernunft ‚treffen‘; sie treffen sich – wie sich zeigen wird – aber nur deshalb, weil das regulative Ideal die moralische Bestimmung des Menschen berücksichtigen muss. Kleingeld ist darin Recht zu geben, dass das vorrangige Interesse von IaG eines der theoretischen Vernunft ist.
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möglich wird – ein traditionell in den Aufgabenbereich der Religion fallendes Unterfangen. Wie ist aber dem trostlosen Ungefähr abzuhelfen? Hier muss die Analogie mit Geburtsstatistiken bemüht werden. Indem ein jeder Mensch seinen eigenen Absichten nachgeht, wird er, ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen, zu einem Baustein der gesetzmäßig erscheinenden Gesamtzahl von Geburten, die für eine ausgeglichene Auslastung öffentlicher Einrichtungen und eine Erhaltung der Einwohnerzahl sorgt. Man kann deshalb zusätzlich zu den einzelnen, sich teils entgegenstehenden Absichten der Individuen eine weitere, überindividuelle, doch nach Analogie menschlicher Handlungen gedachte Absicht annehmen, der die Individuen nachkommen, ohne dass sie sich dessen bewusst werden. Diese Absicht, die eine große strukturelle Ähnlichkeit mit Smiths ‚unsichtbarer Hand‘ oder Hegels ‚List der Vernunft‘ aufweist, nennt Kant, ohne diesen Begriff bei seiner Einführung in irgendeiner Weise näher zu erläutern, „Naturabsicht“. „Einzelne Menschen und selbst ganze Völker denken wenig daran, daß, indem sie […] ihre eigene Absicht verfolgen, sie unbemerkt an der Naturabsicht, die ihnen selbst unbekannt ist, als an einem Leitfaden fortgehen, und an derselben Beförderung arbeiten […].“ (IaG XI, 34) Wenn Kant hinzufügt, dass den Individuen an dieser Naturabsicht, „selbst wenn sie ihnen bekannt würde, […] doch wenig gelegen sein würde“ (IaG XI, 34), so gilt das sicherlich nicht nur als empirische Feststellung, sondern auch als Verhältnisbestimmung von Naturabsicht und Moral: Der Gegenstand der Naturabsicht ist als solcher für Individuen moralisch bedeutungslos.³⁸⁹ Die Geschichtsphilosophie begründet keine objektiven Zwecke, denen nachzukommen dem Menschen auferlegt ist. Das schließt nicht aus, dass der Gegenstand der Naturabsicht zugleich moralisch geboten ist – er wäre es dann aber aus anderen Gründen. Eine solche Naturabsicht in der Geschichte anzunehmen, ist für Kant keine besonders elegante Lösung des Problems regelloser Handlungen auf der „großen Vgl. auch ZeF XI, 221. – Hannah Arendt (1985, 72) unterscheidet passend zur oben zitierten Stelle die Beobachter- von der Teilnehmerperspektive: Als Beobachter interessieren sich Menschen für die Naturabsicht und können Einsicht in sie erlangen; als am Geschehen Beteiligte ist die Naturabsicht schlicht bedeutungslos. Ganz anders wird die Stelle von Städtler (2011, 99) interpretiert: Kant misstraue den Subjekten so weit, dass er ihnen unterstellt, dass ihnen an der Realisierung des Naturzwecks wenig gelegen wäre. – In der Tugendlehre spielen Naturzwecke hingegen eine Rolle bei der Rechtfertigung konkreter Pflichten. Der Naturzweck der Arterhaltung dient etwa zur Rechtfertigung des Verbots der Selbstbefriedigung; vgl. TL VIII, 557. Zwar gibt es auch hier keine Pflicht, dem Naturzweck bewusst nachzukommen; man darf ihm aber nicht zuwiderhandeln. Eine vergleichbare Argumentation findet sich in der Geschichtsphilosophie m. E. nicht.
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Weltbühne“. Anders als Smith würde Kant ganz offensichtlich einen verabredeten Plan vernünftiger Weltbürger vorziehen. Der Rückgriff auf die Naturabsicht ist eher eine Art letzte Chance, wie man Geschichte trotz der Unvernunft ihrer Akteure noch vernünftig denken kann: „Es ist hier keine Auskunft für den Philosophen, als daß, da er bei Menschen und ihrem Spiele im großen gar keine vernünftige eigene Absicht voraussetzen kann, er versuche, ob er nicht eine Naturabsicht in diesem widersinnigen Gange menschlicher Dinge entdecken könne; aus welcher, von Geschöpfen, die ohne eigenen Plan verfahren, dennoch eine Geschichte nach einem bestimmten Plane der Natur möglich sei.“ (IaG XI, 34)
Insofern ist Angehrn zuzustimmen: „Für Kant gilt, was Marx zur These zuspitzt, daß es nur von einer vernünftigen, freien Geschichte ein wirkliches, volles Begreifen gäbe.“ (2004, 345) Die Geschichte ließe sich für Kant offenbar besser begreifen, wenn sie das Resultat vernünftiger Handlungen wäre. Geschichtsphilosophie ist dagegen nur ein Surrogat des vollständigen Begreifens; sie ist der Versuch, Geschichte trotz der Unvernunft in ihr doch noch begreifen zu können. Das Anliegen, den a priori-Leitfaden einer teleologischen Geschichtsphilosophie zu entwickeln, ist für Kant damit bereits gerechtfertigt: Wir haben ein Vernunftinteresse an einer planmäßigen Darstellung der Geschichte und sind damit – wie aus der KrV folgt – berechtigt, wenn nicht sogar angehalten, einen Versuch zu unternehmen, die mannigfaltigen historischen Fakten nach dem Leitfaden einer Naturabsicht zu interpretieren. Dieser Versuch könnte konzeptionell oder empirisch scheitern: Einerseits lässt sich möglicherweise gar nicht vernünftig bestimmen, nach welchen Prinzipien eine Interpretation der Geschichte vorgehen könne; andererseits könnten sich die Daten einer solchen Interpretation versperren. Die neun „Sätze“ der Schrift sollen diese beiden Probleme lösen. Sie sollen deshalb keine syllogistische Deduktion bilden, innerhalb derer von wahren Prämissen auf eine wahre Konklusion geschlossen wird.Wäre dies der Fall, dann träfe tatsächlich der immer wieder vorgebrachte Vorwurf zu, dass Kant schlecht begründete, dogmatisch gesetzte Thesen aufstellt und aus diesen seine Geschichtsphilosophie ableitet.³⁹⁰
Immer wieder werden die „Sätze“ in diesem Sinne verstanden und entsprechend kritisiert, begleitet von der Verwunderung, wie Kant sich zu solchen dogmatischen Annahmen verleiten lassen kann. Vgl. z. B. Ameriks 2009, 57 ff. und Schröder 2011, 42. – Höffe (2011b, 5) vermutet, Kant wolle die ‚geometrische‘ Methode Spinozas kopieren und stelle „Lehrsätze“ auf; der Erste Satz sei ein allgemeines Postulat, das anschließend weiter spezifiziert werde. Wollte Kant tatsächlich mit mathematischer Logik argumentieren, wäre ihm das von Ameriks und Schröder diagnostizierte Argumentationsdefizit noch stärker vorzuwerfen. Sinn ergeben die „Lehrsätze“
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Ihre Funktion ist aber eine andere: Kant endet den Vorspann der Schrift mit der Ankündigung: „Wir wollen sehen, ob es uns gelingen werde, einen Leitfaden zu einer solchen Geschichte [d. h. einer Geschichte nach einem Plan der Natur; MH] zu finden“ (IaG XI, 34), und kommt im Neunten Satz zu dem Ergebnis: „Ein philosophischer Versuch, die allgemeine Weltgeschichte nach einem Plane der Natur […] zu bearbeiten, muß als möglich […] angesehen werden.“ (IaG XI, 47) Was sich zwischen der Ankündigung im Vorspann und dem Achten Satz findet, ist nichts anderes als eine Ausarbeitung von konzeptionellen Bedingungen der Möglichkeit einer Geschichtsteleologie: Es wird expliziert, unter welchen Annahmen eine teleologische Betrachtung der Geschichte möglich ist. Im Achten und Neunten Satz kommt schließlich auch die tatsächliche Durchführbarkeit ins Spiel. Denn letztlich muss sich der Leitfaden a priori an der Erfahrung bewähren: „Es kömmt nur darauf an, ob die Erfahrung etwas von einem solchen Gange der Naturabsicht entdecke.“ (IaG XI, 45) Entsprechend ergänzt Kant die in den Kernaussagen a priorische Argumentation der ersten sieben Sätze um eher empirisch einzuordnende Überlegungen im Achten und Neunten Satz. Fassen wir dieses wichtige Ergebnis nochmals zusammen: Kant setzt – in unausgesprochener Anlehnung an die KrV – bereits voraus, dass das Anliegen einer Geschichtsteleologie gerechtfertigt ist, weil es ein Vernunftbedürfnis befriedigt. Er buchstabiert dann aus, unter welchen Prämissen die Geschichtsteleologie möglich ist – diese Prämissen bilden den Leitfaden der Geschichtsinterpretation, und sie sind als Bedingungen der Möglichkeit der Geschichtsteleologie ebenfalls gerechtfertigt. Schließlich ergänzt er empirische Überlegungen zur Frage, ob der entwickelte Leitfaden auf die vorhandenen historischen Erkenntnisse auch faktisch anwendbar ist. Unter dieser Präsumtion sind die neun „Sätze“ zu interpretieren; ich möchte sogar behaupten, dass sich nur auf diese Weise eine innere Logik der Schrift ausfindig machen lässt, deren Vorhandensein in der Literatur so oft bestritten worden ist.³⁹¹
jedenfalls nicht, wenn man sie als Beweisschritte in Form von Syllogismen betrachtet, sondern nur als Sätze, die die Bedingung der Möglichkeit von Geschichtsphilosophie explizieren. In den genannten Vorannahmen – Versuch der Teleologie gilt bereits als gerechtfertigt; die neun ‚Sätze‘ arbeiten die Bedingungen der Möglichkeit der Teleologie heraus und prüfen diese in einem gesonderten Schritt empirisch – liegt eine Besonderheit der folgenden Interpretation; in der Literatur ist mir kein vergleichbarer Ansatz bekannt. Die Richtigkeit meiner Annahme kann kaum hieb- und stichfest bewiesen werden. Sie ergibt sich aber, wenn man dem principle of charity folgt und versucht, Kants Thesen noch einigermaßen als Argument darzustellen, das nicht völlig auf vorkritisch-dogmatischen Annahmen über die menschliche Natur beruht.
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Erster, Zweiter und Dritter Satz Die grundlegende Bedingung der Möglichkeit, die Geschichte der Menschheit als Plan einer Naturabsicht zu denken, besteht darin, Naturwesen überhaupt teleologisch beurteilen zu können. Naturwesen teleologisch zu beurteilen heißt, alle ihre Organe und Eigenschaften auf Zwecke bezogen zu denken, denen sie dienen. Ist der Zweck aktuell noch nicht erreicht, muss er nach der teleologischen Naturlehre in der Zukunft verwirklicht werden. Auf zukünftige Zwecke bezogene Organe und Eigenschaften nennt Kant „Anlagen“, die sich entfalten müssen. Deshalb formuliert Kant im Ersten Satz als teleologisches Prinzip: „Alle Naturanlagen eines Geschöpfes sind bestimmt, sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln.“ (IaG XI, 35) Als einfache Bestätigung dieses Prinzips verweist Kant auf die biologische Forschung, für die ein „Organ, das nicht gebraucht werden soll“ (IaG XI, 35) schlicht einen „Widerspruch“ bilde. Gegen Kant ist eingewendet worden, seine These, dass alle Naturanlagen zu ihrer vollständigen Entwicklung bestimmt seien, sei zu stark und für seine Zwecke auch unnötig; sie bilde ein „understandable but unfortunate relic“ (Ameriks 2009, 67; vgl. auch 46). Dabei wird einerseits der regulative Status des Ersten Satzes übersehen, der lediglich eine Forschungsmaxime bildet und keine essentielle Behauptung über Naturwesen enthält. Andererseits wäre jede Beschränkung des teleologischen Prinzips auf bestimmte Anlagen entweder willkürlich oder empirisch begründet – beides sind für Kant keine gangbaren Wege. Kant bleibt deshalb bei seinem strikten „Grundsatz“, von dem abzugehen das Ende aller Teleologie wäre, indem „das trostlose Ungefähr […] an die Stelle des Leitfadens der Vernunft“ (IaG XI, 35) trete.³⁹² Mit dem teleologischen Grundprinzip alleine ist freilich noch keine Geschichtsteleologie möglich. Kant knüpft soweit vielmehr an eine aristotelische Naturphilosophie an, die zwar über einen Entwicklungsbegriff verfügt, aber über längere Zeiträume hinweg keine linearen Entwicklungen kennt, sondern nur zyklische:³⁹³ Die Natur ist ein ständiger Kreislauf sich entwickelnder und wieder vergehender Organismen, die derart in zweckmäßiger Harmonie nebeneinander existieren, dass wechselseitig der eine für den anderen da ist. Eine spezifische historische Entwicklungsstufe auszumachen, der alle zu einem Zeitpunkt lebenden Organismen angehören, ist in diesem Bild nicht möglich, gleichwohl für eine
Auch in der KU betont Kant, dass das teleologische Prinzip nicht auf bestimmte Aspekte eingeschränkt werden kann: „Nichts an ihm [dem Naturprodukt; MH] ist umsonst, zwecklos […].“ (KU X, 324) In der Literatur wird selten gesehen, dass Kant seine Geschichtsteleologie damit aus einer ganz unhistorischen Form der Teleologie entwickelt, die ursprünglich biologischen Erkenntnisinteressen dient. Zumindest angedeutet wird dieser Aspekt in Wood 1998, 21 f.
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Geschichtsteleologie erforderlich. Wenn Geschichtsteleologie möglich sein soll, muss die zyklische Zweckmäßigkeit des Gesamtorganismus Natur durchbrochen werden. Der Zweite Satz postuliert deshalb die Idee einer generationenübergreifenden Entwicklung der Gattung Mensch. Diese Entwicklung soll dem teleologischen Grundprinzip nicht entgegenstehen, sondern sich als ein Spezialfall desselben, als seine Anwendung auf den Menschen, erweisen. Die Argumentation zielt deshalb darauf ab, dass eine spezifische Anlage des Menschen sich nicht im Individuum, sondern nur in der Gattung vollständig entfalten kann. Die einzige spezifisch menschliche Anlage, die hier in Frage kommt, ist seine Vernunft: „Am Menschen (als dem einzig vernünftigen Geschöpf auf Erden) sollten sich diejenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind, nur in der Gattung, nicht aber im Individuum verwirklichen.“ (IaG XI, 35) Wie ist es möglich, dass sich die vernünftige Anlage des Menschen nur in der Gattung, alle anderen bekannten Anlagen aber im Individuum gänzlich entwickeln können? Unter „Vernunft“ versteht Kant hier das „Vermögen, die Regeln und Absichten des Gebrauchs aller seiner Kräfte weit über den Naturinstinkt zu erweitern“ (IaG XI, 53), d. i. die Befähigung, eine Kultur zu entwickeln. Wie deutlich wird, fällt darunter die Entwicklung von Wissenschaft und Technik ebenso wie die Steigerung des Wohlstands, die Verfeinerung des ästhetischen Geschmacks und die Entfaltung der moralischen Anlage (vgl. IaG XI, 36; 38). Diese Art Kultur ist aber nicht einfach vorhanden oder angeboren, sondern muss erst im Laufe der Zeit entstehen; sie „bedarf Versuche, Übung und Unterricht“ (IaG XI, 35). Auf der anderen Seite kennt sie keine natürliche Grenze, an der die Entwicklung zum Stehen käme. Ihre Entwicklung ist deshalb – vorausgesetzt, das Individuum verfügt nur über eine begrenzte Lebensdauer – nur als allmähliche Entwicklung innerhalb der Gattung denkbar. Kant lässt dabei offen, ob die Entwicklung irgendwann einen Zustand erreicht haben wird, der als vollständige Verwirklichung der Anlage gelten kann: Sie bedarf auf dem Weg zur vollständigen Verwirklichung der Naturabsicht einer „vielleicht unabsehlichen Reihe von Zeugungen“ (IaG XI, 35; meine Hervorhebung). Voraussetzung des allmählichen Reifens der Kultur ist die Möglichkeit, kulturelle Errungenschaften von Generation zu Generation zu überliefern („deren eine der andern ihre Aufklärung überliefert“; IaG XI, 35). Die Vernunft soll also in das teleologische Mittel-Zweck-System der Naturabsicht eingeordnet werden; sie versperrt sich einer solchen Einordnung aber in einer wichtigen Hinsicht: Zur Vernunft gehört die Fähigkeit, aus sich selbst heraus Zwecke hervorzubringen. Sie kann damit in gewisser Weise selbst bestimmen, wozu sie da ist, d. h., sie ist in erster Linie für sich selbst und die von ihr kate-
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gorisch geforderten Zwecke da. Damit widersetzt sie sich der Zuordnung auf ein telos, das nicht ihr eigenes, sondern das der Natur ist. ³⁹⁴ Mir scheint, dass sich Kant im Dritten Satz vorrangig mit genau diesem Problem befasst. Nach dem bisherigen Verlauf der Argumentation steht fest, dass die Bedingung der Möglichkeit von Geschichtsphilosophie eine teleologische Betrachtung der Vernunft ist – was jetzt noch geliefert werden muss, ist der Nachweis, dass eine solche Naturteleologie der Vernunft überhaupt möglich ist. Kant möchte diesen Nachweis offenbar dadurch erbringen, dass der der Vernunft eigenen Freiheit selbst ein Platz innerhalb des teleologischen Systems zugewiesen wird; die Freiheit muss als von der Natur gewollte gedacht werden. Der Zweck der Natur kann folglich nur in der freien (also mitunter: übernatürlichen) Verwirklichung von eigenen Zwecken bestehen: „Die Natur hat gewollt: daß der Mensch alles, was über die mechanische Anordnung seines tierischen Daseins geht, gänzlich aus sich selbst herausbringe, und keiner anderen Glückseligkeit, oder Vollkommenheit, teilhaftig werde, als die er sich selbst, frei von Instinkt, durch eigene Vernunft, verschafft hat.“ (IaG XI, 36) Dies umfasst einerseits die Vorstellung, dass die „naturale Zweckmäßigkeit […] gewissermaßen auf ihre Selbsttranszendierung angelegt [ist], sofern sie gerade selbstbestimmtes Handeln hervorbringen soll“ (Angehrn 2004, 333). Andererseits wird aber – das darf nicht übersehen werden – zugleich selbstbestimmtes Handeln auf eine Funktion der naturalen Zweckmäßigkeit reduziert. Kant versucht, die Autonomie der Vernunft als heteronom vorgegebene auszuweisen. Diese Konzeption führt zu der Besonderheit, dass das Ziel der teleologischen Entwicklung – die Entfaltung der Vernunftanlage – von der Natur gewollt, insofern vorhergesehen, geplant und mit geeigneten Mitteln vorangetrieben wird, aber zugleich in der vollen Verantwortung der frei handelnden Menschen steht. Diese Verantwortung erscheint ebenfalls als Teil des teleologischen Systems, denn Kant ergänzt, dass der Mensch einen Verdienst erlangen muss: Die Natur, die die Entwicklung des Menschen doch eigentlich schon vorausblickend durchgeplant hat, scheine zugleich zu wollen, dass der Mensch, „wenn er sich aus der größten Rohigkeit dereinst zur größten Geschicklichkeit, innerer Vollkommenheit der Denkungsart, und (so viel auf Erden möglich ist) dadurch zur Glückseligkeit empor gearbeitet haben würde, hievon das Verdienst ganz allein haben, und es sich selbst nur verdanken dürfen“ (IaG XI, 36 f.) solle. Die wichtigere Bestimmung des
Diese These zu begründen, ist nicht einfach, und dennoch drängt sie sich auf. „Selbst zu bestimmen, was sie leisten, wozu sie dienen soll, und zwar nicht nur in einzelnen Stücken, sondern in ihrer Totalität, ist das auszeichnende Merkmal der denkerischen Tätigkeit.“ (Horkheimer 1988 [1937], 216) „Subjektivität, die sich über sich selbst als Funktion Rechenschaft ablegt, löst sich tendentiell auf.“ (Städtler 2011, 543 f.)
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Menschen sei daher nicht seine Glückseligkeit, sondern, „daß er sich so weit hervorarbeite, um sich, durch sein Verhalten, des Lebens und des Wohlbefindens würdig zu machen“ (IaG XI, 37) – also Moralität.³⁹⁵ Moralität als Naturzweck ist somit Kants Ausweg, mit dem er die moralische Bestimmung des Menschen in das naturteleologische System zu integrieren können glaubt. Überraschenderweise findet sich aber noch ein ganz anderer Bezug auf die praktische Vernunft des Menschen, der in einer deutlichen Spannung zur Naturteleologie steht. Aus naturteleologischer Perspektive ist, wie gesagt, nicht davon auszugehen, dass die Zwecke der Natur für die Zweckbestimmung des Menschen in irgendeiner Weise relevant sind (vgl. IaG XI, 34). Und dennoch heißt es wenig später, der „Zeitpunkt“ der vollkommenen Verwirklichung der Naturabsicht müsse „wenigstens in der Idee des Menschen das Ziel seiner Bestrebungen sein, weil sonst die Naturanlagen größtenteils als vergeblich und zwecklos angesehen werden müßten; welches alle praktische Prinzipien aufheben“ (IaG XI, 35 f.; meine Hervorhebung) würde. Das heißt im Klartext, dass weder Regeln der Klugheit noch moralische Normen für den Menschen Verbindlichkeit entfalten können, wenn er sich nicht den Endpunkt der teleologischen Entwicklung zum letzten Zweck macht; ohne eine Geschichtsteleologie wäre jedes menschliche Handeln – ob moralisch oder am langfristigen Eigeninteresse orientiert – ein bloßes Spiel ohne eine bewusste, zielgerichtete Handlungsabsicht. Das Interesse an der Geschichtsteleologie wäre dann aber keines der spekulativen Vernunft mehr, sondern würde aus der praktischen Notwendigkeit der Geltung moralischer Grundsätze resultieren. Dieses Projekt verfolgt Kant tatsächlich in späteren Schriften, insbesondere im Gemeinspruch (siehe Kapitel 7.1). Innerhalb der IaG wirkt der Gedankengang allerdings eher wie ein Fremdkörper, der sich in die Argumentationsstruktur nicht recht einfügen lässt. Der entscheidende Argumentationsschritt im Zweiten und Dritten Satz besteht, wie deutlich geworden sein sollte, in der Durchbrechung der zyklischen Naturteleologie der Biologie durch die Einführung einer sich über Generationen hinweg zugleich frei wie zielgerichtet entwickelnden Vernunft. Die generationenübergreifende Teleologie bringt allerdings einen Preis mit sich, den Kant nicht unterschlagen möchte: Sind in einem zyklischen Bild der Natur die Organe bzw. die verschiedenen Lebewesen wechselseitig füreinander da, stehen die Generationen auf dem linear verlaufenden Zeitstrahl nur in einseitigen Mittel-Zweck-
Kant nimmt hier das berüchtigte teleologische Argument des ersten Abschnitts der GMS vorweg, vgl. GMS VII, 20 f., aber auch KU X, 388 f. Anders als in den moralphilosophischen Schriften findet die vollkommene Entwicklung der moralischen Bestimmung hier aber nur in der Gattung statt, nicht im Individuum; dies steht insbesondere im Gegensatz zur Begründung des Postulats der Unsterblichkeit der Seele in der KpV; vgl. KpV VII, 252– 254.
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Relationen.³⁹⁶ Die früheren Generationen sind für die späteren da, nicht aber umgekehrt. Die Vorstellung von einer der Subjektivität anhaftenden unverwechselbaren Selbstzweckhaftigkeit, die im zyklischen Bild von ständigem Werden und Vergehen gar nicht möglich ist, wird im teleologischen angedeutet und zugleich wieder aufgelöst: Jedes Individuum hat zwar seinen besonderen, nicht austauschbaren Platz in der Geschichte; es ist aber zugleich in geschichtsphilosophischer Perspektive nur Mittel zur Verbesserung der Ausgangslage der nachfolgenden Individuen. „Befremdend bleibt es immer hiebei: daß die älteren Generationen nur scheinen um der späteren willen ihr mühseliges Geschäft zu treiben, um nämlich diesen eine Stufe zu bereiten, von der diese das Bauwerk, welches die Natur zur Absicht hat, höher bringen könnten; und daß doch nur die spätesten das Glück haben sollen, in dem Gebäude zu wohnen, woran eine lange Reihe ihrer Vorfahren […] gearbeitet hatten, ohne doch selbst an dem Glück, das sie vorbereiteten, Anteil nehmen zu können.“ (IaG XI, 37; meine Hervorhebung)
Statt damit die Möglichkeit der Geschichtsteleologie doch noch in Frage zu stellen, zerschlägt Kant den Knoten kurzerhand: „Allein so rätselhaft es ist, so notwendig ist es doch zugleich […].“ (IaG XI, 37)
Vierter Satz Die in der Religionsschrift dargestellte moralische Entwicklung des Menschen versteht Kant als Entfaltung der moralischen Anlage des Menschen innerhalb einer zwanglosen, auf Tugendgesetzen beruhenden Gemeinschaft unter halbwegs stabilen politischen Bedingungen. Die Triebkräfte der Entwicklung der sichtbaren Kirche in Richtung eines zwanglosen ethischen Gemeinwesens können – sofern sie nicht göttlichen Ursprungs sind – dabei nur dieser moralischen Anlage entspringen; was der moralischen Anlage widerspricht, muss als Rückfall gedeutet werden. Die geschichtsphilosophischen Schriften haben demgegenüber eine ganz andere Ausgangslage: Sie beziehen in ihre Reflexion die politischen Bedingungen ein, die faktisch vornehmlich von Zwang und Konkurrenz geprägt sind. Die teleologische Betrachtung politischer Ereignisse macht es notwendig, deren wesentliche Merkmale als gewollt auszuweisen. Angesichts der Tatsache, dass
Die Differenz zwischen zyklisch-naturteleologischem und historisch-teleologischem Denken übersieht z. B. Pauen 2001, 36 f., der auch für die Geschichtsphilosophie das Bild des Organismus für einschlägig hält. Im Organismus sind – wie Kant in der KU ausdrücklich zeigt – die Organe wechselseitig füreinander da; in der Geschichtsteleologie sind dagegen die einen Menschen für die anderen da.
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Geschichte bis in die Gegenwart Zwang und Konkurrenz enthält, ist Bedingung der Möglichkeit von Geschichtsphilosophie eine Integration von Zwang und Konkurrenz in die Teleologie. Zwang und Konkurrenz können unmöglich als Produkt der sich entwickelnden moralischen Anlage des Menschen angesehen werden. Anders verhält es sich, beschränkt man sich auf den Rechtsfortschritt: Da das Recht mit Zwang, Konkurrenz und unmoralischen Motiven vereinbar ist (siehe Kapitel 3), steht einer teleologischen Deutung (zumindest auf den ersten Blick) nichts im Wege, die Zwang und Konkurrenz als Triebfedern des Rechtsfortschritts begreift. Die Natur verwirklicht ihre Zwecke in der Geschichte überwiegend dadurch, dass sie die menschliche Natur in einer Weise gestaltet, dass Menschen den Zwecken der Natur nachkommen.Wenn politische Konflikte von der Natur gewollt sind, müssen diese also anthropologisch fundiert sein: Die Konfliktbereitschaft kann nicht mehr als zufällige Eigenschaft bestimmter Menschen unter bestimmten Bedingungen angesehen werden, sondern ist eine anthropologische Konstante.³⁹⁷ Kant bringt diese Konstante – offensichtlich als Paraphrase eines Gedankens Montaignes³⁹⁸ – auf den grandiosen Begriff der „ungeselligen Geselligkeit“ der Menschen. Darunter versteht Kant „den Hang derselben, in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesellschaft ständig zu trennen droht, verbunden ist“ (IaG XI, 37). Demnach hat der Mensch sowohl eine natürliche Neigung, sich zu „vergesellschaften“, d. h. sein Leben in Harmonie mit anderen zu führen, als auch einen natürlichen Hang, sich zu „vereinzeln (isolieren); weil er in sich zugleich die ungesellige Eigenschaft antrifft, alles bloß nach seinem Sinne richten zu wollen, und daher allerwärts Widerstand „Hiezu liegt die Anlage offenbar in der menschlichen Natur.“ (IaG XI, 37) Vgl. auch ZeF XI, 222: „Der Krieg […] scheint auf die menschliche Natur gepfropft zu sein […].“ Dies führt zu der merkwürdigen Konsequenz, dass Kants Geschichtsphilosophie zur Annahme ganz und gar ungeschichtlicher, da unveränderlicher Tatsachen führt: Indem Kant „die gesellschaftlichen Widersprüche geradezu als anthropologische Konstanten interpretiert, weist er sein Geschichtskonzept im Grunde als geschichtslos aus.“ (Städtler 2011, 541 f.) – Wood (2009, 114 f.) hält die These der ungeselligen Geselligkeit offenbar für eine These der empirischen Anthropologie. Ähnlich unterstellt Schneewind (2009, 106), Kant habe die Einsicht in die Natur des Menschen durch einen induktiven Schluss von einzelnen Ereignissen der Vergangenheit auf das generelle Wesen des Menschen gewonnen. Kant wehrt sich aber mehrfach gegen diese Form der Verallgemeinerung partikularer empirischer Sätze. Er gewinnt die These der anthropologisch verwurzelten ungeselligen Geselligkeit m. E. gar nicht durch Empirie. Vielmehr müssen bestimmte empirische Gegebenheiten in einer bestimmten Weise gedeutet werden, wenn eine Geschichtsteleologie möglich sein soll. Anthropologisiert wird die ungesellige Gesellschaft also erst durch die Deutung der Geschichte als Naturabsicht. „Il n’est rien si dissociable et sociable que l’homme […].“ (Montaigne, Essais [1580], Bd. 1, 388)
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erwartet, so wie er von sich selbst weiß, daß er seiner Seits zum Widerstande gegen andere geneigt ist“ (IaG XI, 37 f.). Durch den Antagonismus der ungeselligen Geselligkeit sind Menschen ständig zwischen den beiden Polen des harmonischen Zusammenlebens mit anderen und des Verfolgens eigener Zwecke gegen den Widerstand anderer hinund hergerissen. Die daraus resultierende Spannung muss im teleologischen Weltbild als Triebkraft – oder, in einer schönen Metapher Höffes (2011b, 14), als „Motor“ – des historischen Fortschritts aufgefasst werden, denn ohne diese Funktion müsste ein solcher Widerspruch natürlicher Anlagen zweckwidrig erscheinen. Indem sich der Mensch einerseits nicht als Einsiedler zurückziehen möchte, andererseits aber seinen Privatinteressen nachgeht, deren Befriedigung durch die Mitmenschen steter Gefahr ausgesetzt ist, muss er sein Leistungspotential bis aufs äußerste ausschöpfen und alle Kräfte mobilisieren, um dem Antagonismus gerecht werden zu können.³⁹⁹ „Dieser Widerstand [der Mitmenschen gegen seine Privatzwecke; MH] ist es nun, welcher alle Kräfte des Menschen erweckt, ihn dahin bringt, seinen Hang⁴⁰⁰ zur Faulheit zu überwinden, und getrieben durch Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht, sich einen Rang unter seinen Mitgenossen zu verschaffen, die er nicht wohl leiden, von denen er aber auch nicht lassen kann. Da geschehen nun die ersten wahren Schritte aus der Rohigkeit zur Kultur […]; da werden alle Talente nach und nach entwickelt, der Geschmack gebildet […].“ (IaG XI, 38)
Wenn Geschichte zu einem vernünftigen Ende gelangen soll, die Triebkräfte aber auf unvernünftig-widersprüchlichen Neigungen beruhen, wird die teleologische Reflexion den Triebkräften in dem Sinne eine dialektische Struktur zuweisen, als
Nach dieser Interpretation ist es nicht die ungesellige Natur des Menschen, die Geschichte vorantreibt, sondern das Zusammenspiel von geselligen und ungeselligen Neigungen. Anders dagegen Höffe 2011b, 15 und Kneller 2011, 52. – Der Vorschlag von Kneller (2011, 55 ff.), Kant habe neben der „ungeselligen Geselligkeit“ als Motor der Geschichte implizit auch (oder sogar vorrangig) eine „gesellige Geselligkeit“ vorausgesetzt, offenbart m. E. ein grundlegendes Missverständnis: Im Begriff der ungeselligen Geselligkeit ist das gesellige Moment des anthropologischen Motors der Geschichte bereits enthalten; das zweite Prinzip fügt dem nichts hinzu, sondern lenkt lediglich von der Tatsache ab, dass Kant bewusst die unschönen Seiten des Menschen und der Geschichte in seine Teleologie einbaut. Daher ist Pollmann zuzustimmen: „Selten wird darauf hingewiesen, dass die ungesellige Geselligkeit gleichwohl eine Geselligkeit ist.“ (2011, 78) Dieser Hang gehört selbst zur menschlichen Natur; warum hat die Natur nicht einfach statt eines Hanges zur Faulheit einen Hang zur freiwilligen Entfaltung seiner Vernunftanlagen gelegt? – Hier wird besonders deutlich, dass Kant nicht a priori entwickelt, wie die Natur prinzipiell eine Entwicklung vorbereiten kann, sondern dass Kant eine teleologische Reflexion über grundlegende Charakteristika der menschlichen Geschichte versucht, in die deren Unzulänglichkeiten integriert werden müssen.
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diese zu ihrer Selbstüberwindung – oder zumindest ‚Aufhebung‘ im hegelschen Sinne – führen müssen. Und tatsächlich hebelt sich für Kant die ungesellige Geselligkeit am Ende der Geschichte wenigstens partiell selbst aus, denn sie ist „am Ende die Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung“ (IaG XI, 37), innerhalb derer die verschiedenen Bedürfnisse des Menschen zwar noch vorhanden sind, aber auf höherem Niveau spannungsfrei gleichzeitig befriedigt werden können. Kant geht dem Gedanken einer gesetzmäßigen Ordnung im Fünften Satz weiter nach. Im Vierten Satz geht er aber zunächst noch einen Schritt weiter und deutet an, dass am Ende der Geschichte der auf Zwang beruhende Rechtszustand in einem von zwangsfreien Moralprinzipien bestimmten Zustand aufgeht, indem die „pathologisch-abgedrungene Zusammenstimmung zu einer Gesellschaft endlich in ein moralisches Ganze“ (IaG XI, 38) verwandelt wird. In einer solchen Gemeinschaft wäre das ungesellige Moment des Motors der Geschichte offensichtlich gänzlich überwunden: In einem Reich der Zwecke gibt es keinen Widerstreit zwischen Privatinteressen und kollektiven Zwecken mehr. Aber der für Kant interessantere Abschnitt der Geschichte der Menschheit ist nicht der friedliebende Endzustand, sondern die spannungsvolle Entwicklung auf diesen hin. Die Rechtfertigung von eigentlich vernunftwidrigen Spannungen als Mittel der Entwicklung ist deshalb das wesentliche Merkmal der kantischen Geschichtsphilosophie schlechthin – jedenfalls sofern sie ihren Ausgang beim Prinzip der Teleologie nimmt. Die „an sich zwar nicht eben liebenswürdige“ (IaG XI, 38) Eigenschaft der Ungeselligkeit, aus der „so viele Übel entspringen“ (IaG XI, 39), ist eine wichtige Komponente des Motors der Geschichte und bewirkt nicht nur wissenschaftlich und ästhetisch wünschenswerte, sondern auch juridischgute und letztlich sogar moralisch-gute Zwecke. Kant geht mit der Natur als Quelle übergeordneter Zweckmäßigkeit deutlich über das hinaus,was Smith als ‚unsichtbare Hand‘ bezeichnet hat: Für Smith rufen die vielen Einzelzwecke, mit denen die je eigene Glückseligkeit befördert werden soll, langfristig die größte kollektive Glückseligkeit hervor; in diesem Modell geht es für die Individuen als auch für das Kollektiv immerhin gleichermaßen um Glückseligkeit. Bei Kant sind die Zwecke der Natur dagegen ganz anderer Art als die privaten Zwecke. Ohne die Ungeselligkeit würde der Mensch nur „Eintracht“ wollen; aber „die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht“ (IaG XI, 38 f.; meine Hervorhebung). Die Natur verhält sich somit paternalistisch zum Menschen. Dass Kant genau an dieser Stelle unvermittelt in religiöse Sprache wechselt, ist sicher kein Zufall. Indem die Natur derart über den Menschen erhoben wird, dass sie über seine ‚eigentliche‘ Bestimmung mehr weiß als er selbst, nähert sie sich asymptotisch an das an, was traditionell dem höchsten Wesen vorbehalten wird. Die teleologische Struktur der Geschichte wird deshalb von Kant auf einen ‚weisen Schöpfer‘ zurückgeführt. Kants
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Teleologie überträgt auf diese Weise die schöpfungstheologische Überzeugung, dass die Welt, wie sie ist, gut sei, auf die menschliche Geschichte. Denn es ist nicht zuletzt der möglich gewordene Zweckzusammenhang in der Geschichte, der „die Anordnung eines weisen Schöpfers“ verrät, und keine Indizien für die „Hand eines bösartigen Geistes, der in seine herrliche Anstalt gepfuscht oder sie neidischer Weise verderbt habe“ (IaG XI, 39), mehr bestehen lässt. „Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die mißgünstig weitteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben, oder auch zum Herrschen!“ (IaG XI, 38) Die Ironie dieser Ode wird nur dadurch getrübt, dass Kant sie aus der teleologischen Perspektive der Geschichtsphilosophie – wohlgemerkt: nur aus dieser Perspektive – ernst meint.
Fünfter, Sechster und Siebenter Satz Wenn Kant den Antagonismus der menschlichen Natur in die teleologische Betrachtung mit einbezieht, stellt sich die Frage, wie sichergestellt werden kann, dass der Antagonismus tatsächlich als Motor der kulturellen Entwicklung dient und nicht dessen Gegenteil bewirkt: Der Schuss könnte schließlich nach hinten losgehen und der Antagonismus entgegen der Naturabsicht dazu führen, dass sich Menschen gegenseitig derart beherrschen und unterdrücken, dass gar kein Fortschritt mehr möglich ist. Der Antagonismus alleine ist deshalb kein hinreichendes Mittel; nur unter geeigneten Bedingungen entfaltet er die gewünschte Wirkung. Wenn Geschichte teleologisch gedeutet werden soll, müssen solche geeignete Bedingungen zusätzlich als von der Natur beabsichtigte eingeführt werden. Für Kant fallen diese Bedingungen, wie im Fünften Satz erläutert wird, mit dem Bestehen eines Rechtsstaates zusammen. Unter Rechtsgesetzen wird die Freiheit eines jeden derart gesichert, dass der Antagonismus, der Konkurrenz und Konflikte mit sich bringt, niemandem schaden kann, aber zugleich die kulturelle Entwicklung befeuert. Dabei hat Kant ein sehr anspruchsvolles Rechtskonzept im Sinn, das die Grundzüge der späteren Rechtsphilosophie vorwegnimmt: Das Recht schafft subjektive Freiheiten unter „äußeren Gesetzen“; in der „vollkommen gerechte[n] bürgerliche[n] Verfassung“ (IaG XI, 39) müssen die subjektiven Freiheiten so ausgestaltet werden, dass sie mit der größtmöglichen Freiheit aller verträglich sind. Anders als in den rechtsphilosophischen Schriften findet das Ideal der vollkommenen Verfassung in IaG keine explizite Begründung durch die praktische Vernunft. Aus Perspektive der hier entwickelten Geschichtsphilosophie hat der Rechtszustand lediglich die instrumentelle Funktion, den Antagonismus der
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Bürger wirksam zu regulieren. Dass der Rechtszustand auch als Zweck an sich angesehen werden kann, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle.⁴⁰¹ Die exakte Übereinstimmung der instrumentell erforderlichen Einhegung der konfligierenden Privatzwecke mit den Forderungen der praktischen Vernunft ist streng genommen nur eine zufällige.⁴⁰² Die Schaffung eines Rechtsstaates ist somit selbst ein Naturzweck, wenn auch nicht die „höchste Absicht der Natur“ (IaG XI, 39) – diese wäre die Entwicklung der Kultur. Dass Menschen unter Rechtsgesetzen leben werden, ist aber – ganz in neuzeitlicher Tradition – kein naturgegebener Zustand, sondern muss vom Menschen erst eingerichtet werden. Da die Schaffung des Rechtszustands für Kant den entscheidenden Schlüssel zur naturgewollten Entwicklung darstellt, bezeichnet er sie als „höchste Aufgabe der Natur für die Menschengattung“ (IaG XI, 39). Obwohl diese „Aufgabe“ ausdrücklich dem Menschen angetragen wird, sorgt die Natur gleich auch für deren Erfüllung: „In diesen Zustand des Zwanges zu treten, zwingt den sonst für ungebundene Freiheit so sehr eingenommenen Menschen die Not; und zwar die größte unter allen, nämlich die, welche sich Menschen unter einander selbst zufügen, deren Neigungen es machen, daß sie in wilder Freiheit nicht lange nebeneinander bestehen können.“ (IaG XI, 39 f.)
Die „Not“ des Überlebenskampfes, die den Antagonismus der Menschen in richtige Bahnen lenken soll, ist damit selbst ein Resultat des Antagonismus.⁴⁰³ Sie treibt den Menschen erst einmal überhaupt unter Rechtsgesetze, also in einen zunächst despotischen Staat. Dieser muss sich jedoch dem Ideal eines vollkommenen Staates annähern, wenn er seiner Funktion gerecht werden soll. Hierin sieht Kant ein grundsätzliches Problem begraben, das er im Sechsten Satz anspricht.
Geismann (2000, 508) weist darauf hin, dass Recht und Staat im Zusammenhang mit der Geschichtsphilosophie „bloß zur natürlichen Bestimmung des Menschen“ gehören, während sie aus Perspektive der Moralphilosophie zugleich der moralischen Bestimmung des Menschen zuzurechnen seien. Meine Ansicht weicht von der Geismanns in zwei Hinsichten ab: Zum einen enthält die Idee der kulturellen Entwicklung durchaus Elemente der moralischen Bestimmung des Menschen; das Recht wird als Instrument auch der moralischen Entwicklung angesehen. Zum anderen gilt dieser Zusammenhang nur für die frühen Schriften zur Geschichtsphilosophie; später ist der moralische Eigenwert des Rechts Voraussetzung der Argumentation. Dies steht in Spannung zu der oben als Fremdkörper bezeichneten These, der Zweck der Natur müsse zugleich Endzweck des Handelns der moralischen Subjekte sein. Man kann die weitergehende These aufstellen, dass alle Beispiele von Triebkräften, die laut Kant die Entwicklung der Geschichte vorantreiben, Spezifizierungen des Antagonismus sind; so Höffe 2011b, 15.
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Aufgrund des Antagonismus der menschlichen Natur bedarf der Mensch einer ‚von oben‘ gegebenen Einschränkung seiner wilden Freiheit; die Notwendigkeit einer äußeren Autorität ist eine anthropologische Konstante: „[D]er Mensch ist ein Tier, das, wenn es unter anderen seiner Gattung lebt, einen Herrn nötig hat“ (IaG XI, 40). Doch jeder, der die Ausübung dieser Autorität übernimmt, ist selbst wieder ein Mensch und insofern den Schwächen des Antagonismus ausgesetzt. Als Oberhaupt kann er aber nicht wiederum jemanden über sich anerkennen, welcher der Ausübung seiner Autorität Grenzen setzt. Er wird also die Freiheit, die mit seinem Amt einhergeht, missbrauchen und sich selbst von den Gesetzen ausnehmen. Damit liegt ein Dilemma vor: Der Mensch braucht aufgrund des Antagonismus Rechtsgesetze; ebenjener Antagonismus macht optimale Rechtsgesetze aber unmöglich. Dieses Dilemma spiegelt sich in der Problematik, ob Moralität der Bürger Voraussetzung des Rechtsstaates ist oder ob sie dort erst entstehen kann: Einerseits konstatiert Kant, die moralische Vervollkommnung des Menschen könne erst in einem späten Stadium der geschichtlichen Entwicklung, mithin nur unter Rechtsgesetzen erfolgen – nicht zuletzt, weil die unmoralischen Folgen des natürlichen Antagonismus erst im Rechtszustand wegfallen (vgl. IaG XI, 38; 36 und 45). Andererseits ist die Bedingung der Einrichtung einer vernunftgemäßen Verfassung, dass alle, die an der staatlichen Autorität mitwirken werden, einen zur Annehmung der Verfassung „vorbereitete[n] gute[n] Wille[n]“ (IaG XI, 41) aufweisen – welcher wiederum erst unter vernunftgemäßen Rechtsgesetzen entstehen kann. Es liegt nahe, Kant so zu verstehen, dass das Dilemma durch einen langsamen historischen Prozess gelöst werden soll: Erst werden die politischen Verhältnisse ein bisschen besser; dies bewirkt ein moralisches Lernen der Bürger, was wiederum eine weitere Verbesserung der politischen Verhältnisse ermöglicht und so fort.⁴⁰⁴ Das geschilderte Dilemma sorgt aber dafür, dass die Aufgabe der Verwirklichung einer vernunftgemäßen Verfassung als „höchste“, aber auch „schwerste“ (IaG XI, 41) Aufgabe nie vollkommen aufgelöst werden kann. „Nur die Annäherung zu dieser Idee ist uns von der Natur auferlegt.“ (IaG XI, 41) Zugleich sei diese Aufgabe damit diejenige, welche „von der Menschengattung am spätesten aufgelöset wird“ (IaG XI, 40).⁴⁰⁵
Kleingeld (2012, 66) argumentiert, Kant habe dieses Dilemma später anders, nämlich durch das Konzept der Republik, gelöst. Moral sei in der Republik keine Voraussetzung mehr, denn Selbstinteresse reiche aus; Moral könne aber als Folge des republikanischen Zusammenlebens entstehen. Pinzani (2011, 73) sieht im Sechsten Satz einen „Fremdkörper“ in der Argumentation, der auf ein „Abstellgleis“ führe; erst mit dem Siebenten Satz nehme Kant die Argumentation der
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Damit haben sich die Akzente der Geschichtsteleologie Kants gewaltig verschoben: Zunächst als Mittel zur Verwirklichung der Vernunftanlagen des Menschen eingeführt, wird der Rechtsstaat zum in unendlicher Ferne vorgestellten ‚Endzustand‘, auf den die Dynamik der Geschichte hinarbeitet. Die Entwicklung der Kultur, die neben moralischen Aspekten auch Wissenschaft, Technik und ästhetische Momente enthält, vollzieht sich in dieser Sicht nur noch am Rande eines langsamen konstitutionellen Fortschritts im Rechtsstaat. Diese Akzentverschiebung ist sicherlich dem (politisch‐)praktischen Interesse geschuldet, das Kant trotz der Fundierung in der theoretischen Vernunft schon 1784 unverkennbar an das Projekt der Geschichtsphilosophie heranträgt. Dass der Rechtsstaat damit faktisch das eigentliche Ziel der Geschichte ausmacht, ergibt sich nicht aus den Bedingungen der Möglichkeit einer Geschichtsteleologie, sondern ist der herausragenden Rolle geschuldet, die Kant dem Staat in IaG zuschreibt. Die weiteren Aspekte der Geschichte, die Kant in die Geschichtsteleologie einbindet – sie entstammen dem Bereich des Völkerrechts –, werden in IaG deshalb als Mittel zur Beförderung der Entwicklung des Staates dargestellt. Während sich in späteren Schriften Staatsrecht und Völkerrecht gegenseitig bedingen und der „ewige Friede“ zum Ziel der Geschichte wird, dient die völkerrechtliche Entwicklung in IaG lediglich als Hilfsmittel, das Bestehen des Staates zu sichern: „Das Problem der Errichtung einer vollkommenen bürgerlichen Verfassung ist von dem Problem eines gesetzmäßigen äußeren Staatenverhältnisses abhängig, und kann ohne das letztere nicht aufgelöst werden.“ (IaG XI, 41)⁴⁰⁶ Durch welchen Mechanismus das äußere Verhältnis der Staaten deren innere Rechtsentwicklung beeinträchtigen soll, legt Kant nicht offen. Man kann vermuten, dass er den inneren Rechtsfrieden durch Kriege (oder auch nur mögliche Kriege) derart bedroht sieht, dass die von der Natur gewollte Rechtsentwicklung ständig aus der Bahn zu gleiten in Gefahr ist. Andernorts bestimmt Kant das Verhältnis des drohenden Krieges zur innerstaatlichen Rechtsentwicklung allerersten fünf Sätze wieder auf. Meine Interpretation macht dagegen deutlich, dass dem Sechsten Satz eine Funktion zukommt, die die Stringenz der Argumentation erst sichert: Im Fünften Satz wird der Staat eingeführt; seine Vervollkommnung soll, wie spätestens im Siebenten Satz klargestellt wird, die Funktion des Endpunkts der Geschichte übernehmen. Wenn dem so ist, muss Kant aber plausibel machen, warum der vollkommene Staat erst sehr spät zustande kommt, denn gäbe es übermorgen die perfekte Republik, wäre damit die Dynamik der Geschichte am Ende. Der Sechste Satz sichert mithin die Bedingung der Möglichkeit, Geschichte als Entwicklung des Staatsrechts zu denken. Die rein instrumentelle Funktion des Völkerrechts wird im Achten Satz nochmals betont: „um eine innerlich- und, zu diesem Zwecke, auch äußerlich-vollkommene Staatsverfassung zu Stande zu bringen“ (IaG XI, 45; meine Hervorhebung).
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dings genau gegenläufig: Weil Kriege drohen, müsse der Herrscher seinen Untertanen gewisse Freiheiten einräumen (vgl. MAM XI, 99 f.). Kants Ausführungen zum Völkerbund im Siebenten und Achten Satz gehören zu den am meisten beachteten Stellen der Schrift, weil Kant hier erstmals das Konzept eines internationalen Friedenszustands entwickelt, können aber hier weitgehend übergangen werden.⁴⁰⁷ Interessant ist der Völkerbund hier nur insofern, als ihn Kant benötigt, um dem Krieg einen Platz in seiner Geschichtsteleologie zuzuweisen. Die Geschichte der Neuzeit ist zweifellos von Kriegen geprägt, und auch Kants Lebenszeit ist hier keine Ausnahme. Dass es Kriege gibt, muss deshalb in die teleologische Betrachtung der Geschichte integriert werden. Dazu wird der Krieg zunächst – analog zur Konkurrenz der Menschen untereinander – als historisch unvermeidlich dargestellt:⁴⁰⁸ Dieselbe anthropologisch vorgegebene „Ungeselligkeit“, die Menschen gegeneinander verspüren, ist auch die Ursache dafür, dass Staaten, die sich in „ungebundener Freiheit“ begegnen, voneinander „eben die Übel erwarten“ (IaG XI, 41 f.) müssen, die sich Individuen im Naturzustand zufügen würden. Die Geschichte der Menschheit wird deshalb, sind einmal aus der Not heraus Staaten installiert, notwendig als Kriegszustand fortgesetzt. Den zwischenstaatlichen Natur- und Kriegszustand gilt es daher zu überwinden und einen internationalen Rechtszustand einzurichten, wenn die Natur für eine ungestörte Entwicklung der Vernunftanlagen sorgen möchte. Und gerade das, was dem zwischenstaatlichen Rechtszustand am stärksten entgegengesetzt erscheint, soll groteskerweise als Mittel der Natur angesehen werden, den internationalen Rechtszustand zu errichten: wiederum der Krieg.⁴⁰⁹ Was der Krieg in Ansehung des Rechtszustands leistet, wird einerseits durch die übergroße Not bewirkt, die schon vom drohenden Krieg ausgeht und den Rechtszustand für alle Beteiligten als Gegenstand ihres eigenen Interesses auszeichnet.⁴¹⁰ Kant sieht aber noch einen zweiten, nicht minder wichtigen Mechanismus am Werk: Der Krieg sorgt dafür, dass sich auf internationaler Ebene keine Hegemonialmächte festigen können; die einseitige Vorherrschaft eines Staates Siehe Kapitel 3.3 dieser Arbeit. Die Stellen aus IaG werden u. a. in Kleingeld 2011 und 2012, 44– 47; Steinvorth 1996, 257– 259; Brandt 2004, 138 f. sowie Höffe 2001, 202 besprochen. Die These, dass Krieg historisch unvermeidlich sei, findet sich in der Neuzeit schon bei Rousseau, Diderot und – im Zusammenhang mit dem Theodizeeproblem – Leibniz. Vgl. dazu Merle 2011, 26. Höffe weist zu Recht darauf hin, dass damit für Kant gerade die „üblichen Kronzeugen der Fortschrittsskepsis […] zur Antriebskraft des Fortschritts werden“ (2001, 197). „Der Krieg ist so schrecklich, daß je schrecklicher er wird, desto größer die Wahrscheinlichkeit ist, daß die Menschen vernünftig werden und auf internationale Abmachungen, die zum Frieden führen mögen, hinarbeiten.“ (Arendt 1985, 75)
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würde nämlich den freien Zusammenschluss zu einem Völkerbund gleichberechtigter Staaten verhindern. Stattdessen soll der Völkerbund das Produkt eines chaotischen Ablaufs des Entstehens und Vergehens von halbwegs konkurrenzfähigen, aber nicht übermächtigen Staaten darstellen. Gebe es nur häufig genug wechselnde Machtverhältnisse der Akteure, werde sich irgendwann per Zufall eine Konstellation ergeben, in der die Errichtung des Völkerbundes möglich erscheint: Durch „Zerstörung, wenigstens Zerstückelung“ der bestehenden Staaten bilden sich stets neue, „die sich aber wieder, entweder in sich selbst oder neben einander, nicht erhalten können, und daher neue ähnliche Revolutionen erleiden müssen; bis endlich einmal, teils durch die bestmögliche Anordnung der bürgerlichen Verfassung innerlich, teils durch eine gemeinschaftliche Verabredung äußerlich, ein Zustand errichtet wird, der, einem bürgerlichen gemeinen Wesen ähnlich, so wie ein Automat sich selbst erhalten kann“ (IaG XI, 42 f.).⁴¹¹
Die bewusste, vernunftgesteuerte „gemeinschaftliche Verabredung“ der Akteure soll offenbar durch das Wirken der Natur nicht vollständig ersetzt werden; sie spielt für Kant ausdrücklich eine wichtige Rolle für das Zustandekommen des Völkerbunds. Sie wird aber paradoxerweise nur durch ihr pures Gegenteil ermöglicht, nämlich durch den chaotischen Prozess einer sich gewaltsam in stetem Umbruch befindenden Staatenwelt.⁴¹² Nur weil die politische Situation prinzipiell durch menschliche Steuerung nicht beherrschbar ist, sie sich deshalb ständig planlos und zufällig ändert, kann es eines Tages zu einer glücklichen Situation kommen, in der Menschen in der Lage sind, vernünftige Pläne zu fassen und umzusetzen. „Alle Kriege sind demnach so viel Versuche (zwar nicht in der Absicht des Menschen, aber doch in der Absicht der Natur), neue Verhältnisse der Staaten zu Stande zu bringen“ (IaG XI, 42); mithin ist Krieg unvermeidlich, um den Krieg abzuschaffen. Dies impliziert immerhin, dass aus teleologischer Perspektive Geschichte zwar als Kriegszustand beginnt, dieser aber in den Augen der Natur möglichst schnell zu überwinden ist. Andernorts geht Kant noch einen bedeutenden Schritt weiter: Krieg sei ein „unentbehrliches Mittel“ (MAM XI, 99) zur Entwicklung der Kultur; insofern dürfe die Abschaffung des Krieges aus Per Kant diskutiert drei Interpretationen, die dieses Geschehen erfahren kann: Erstens eine Kontingenz-Interpretation, derzufolge der chaotische Prozess des Aufeinanderprallens von Staaten höchstens „von ungefähr“, also zufällig, zu einem Staatenverbund führt, der damit sehr unwahrscheinlich wird; zweitens eine Stagnations-Interpretation, nach der aus dem chaotischen Prozess „im großen überall nichts, jedenfalls nichts Kluges herauskomme“, und drittens seine eigene Interpretation, der chaotische Prozess sei selbst von der Natur gewollt und führe deshalb „ganz regelmäßig“ (IaG XI, 43) zur Entwicklung der Anlagen. Ein ähnliches Argument findet sich in ZeF XI, 225.
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spektive der Natur (freilich nicht aus Perspektive des Menschen als moralischem Wesen⁴¹³) erst dann erfolgen, wenn die Kultur weit genug entwickelt worden sei. Da sich Kant wiederholt deutlich darüber äußert, dass dem Krieg selbst keinesfalls etwas Positives abzugewinnen sei,⁴¹⁴ ist der zuweilen vorgebrachte Vorwurf, Kant habe trotz aller moralischer Ablehnung doch noch eine (zeitbedingte) Affirmation des Krieges betrieben, wie sie etwa auch Hegel zuweilen zugeschrieben wird, unberechtigt. Der Krieg an sich ist und bleibt für Kant ein großes Übel. Seine instrumentelle Wertschätzung ist deshalb keiner latenten Kriegsbegeisterung geschuldet, sondern wurzelt in dem Anliegen der Geschichtsteleologie: Wie lässt sich dem, was für sich selbst betrachtet nichts als ein Übel darstellt, doch noch ein historischer Sinn abgewinnen? Wenn Krieg an sich schon schlechthin vernunftwidrig ist, kann er dann wenigstens zusätzlich noch für etwas Vernunftgewolltes gut sein? Auch wenn Kant offensichtlich ‚nur‘ vergleichsweise harmlose Kabinettskriege vor Augen gehabt haben dürfte, stellt der Versuch der Integration des Krieges in historische Zweckzusammenhänge ein Problem dar, das das ganze Projekt einer Fortschrittstheorie fraglich macht. Kant scheint diesen Punkt zu sehen, möchte aber zugleich zeigen, dass sich die Geschichtsteleologie trotzdem aufrechterhalten lässt. Er gesteht nämlich zu, dass die Existenz von Kriegen zu einer ganz anderen Geschichtsauffassung führen kann. „Rousseau hatte so Unrecht nicht“ (IaG XI, 44), wenn er in dem Übergang vom Naturzustand in die Zivilisation, die überhaupt erst zwischenstaatliche Kriege hervorbringt, einen Verfall sieht: „Ehe dieser letzte Schritt (nämlich die Staatenverbindung) geschehen, also fast nur auf der Hälfte ihrer Ausbildung⁴¹⁵, erduldet die menschliche Natur die härtesten Übel (…).“ (IaG XI, 44)
Bei Kant finden sich insgesamt drei Perspektiven, aus denen der Krieg beurteilt wird: Aus moralischer Perspektive sei er schlechterdings verboten; aus ästhetischer Perspektive könne er unter bestimmten Umständen etwas Erhabenes an sich haben; aus geschichtsphilosophischer Perspektive sei er als Mittel des Fortschritts zu bewerten. Die verschiedenen Perspektiven, unter denen Kant den Krieg behandelt, werden in Cavallar 1995; Siep/Karakuş 2006 und Arendt 1985, 72– 74 herausgearbeitet. Es bleibt freilich offen, ob eine solche perspektivenabhängige Bewertung des Krieges gelingen kann; siehe auch die mit dieser Frage verwandte Diskussion in Kapitel 8.4. So auch in IaG: Krieg entsteht durch die „barbarische Freiheit“ der Staaten, richtet „Verwüstungen“ und „Übel“ (IaG XI, 44) an. Eine Ausnahme ist eventuell die These der KU, Krieg habe aus ästhetischer Perspektive etwas Erhabenes an sich (vgl. KU X, 187). Inwieweit das tatsächlich als Affirmation des Krieges aufgefasst werden kann, ist fraglich. Diese Stelle ist insbesondere in der englischsprachigen Literatur mehrfach so interpretiert worden, dass die Staatenverbindung in Form des Völkerstaates erst die Hälfte der Entwicklung der menschlichen Anlagen markiere; die zweite Hälfte bestünde dann in einer Moralisierung der
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Kant möchte gegen Rousseau aber zeigen, dass die Fortschrittsthese trotz dieser Übel immer noch vertretbar bleibt. Für Kant muss auch der größte Kronzeuge der Fortschrittsskepsis, der Krieg, in den teleologischen Rahmen eingefügt werden können, denn alles andere hieße, „Zweckmäßigkeit der Naturanstalt in Teilen und doch Zwecklosigkeit im Ganzen anzunehmen“ (IaG XI, 43 f.) – eine absurde Konsequenz. Kant argumentiert deshalb, Rousseaus pessimistischer Blick auf die Geschichte sei eben nur dann gültig,wenn man „diese letzte Stufe, die unsere Gattung noch zu ersteigen hat, wegläßt“ (IaG XI, 44). Der „letzte Schritt“, die Gründung eines internationalen Rechtszustands, eröffnet nach dieser Argumentation die Möglichkeit, alles, was zuvor geschehen ist, neu zu deuten: Ohne das happy end in der Staatenverbindung hätte Rousseau mit der Verfallstheorie Recht gehabt; bezieht man das happy end mit ein, erscheint Geschichte als fortschreitende Entwicklung der Vernunftanlagen. Im Rahmen der kantischen Geschichtsphilosophie muss freilich nicht einmal darauf gewartet werden, ob die Staatenverbindung eines Tages zustande kommt: In Kants Geschichtsteleologie wird – ganz wie in der theologischen Tradition, die Geschichte vom Eschaton aus denkt – Geschichte schon jetzt so gedeutet, als wäre das künftige Eintreten des Endzustands gewiss. Vermutlich ist es der Bezug zu Rousseau, der Kant gegen Ende des Siebenten Satzes dazu bringt, sich unvermittelt dem Verhältnis von Moralität und internationalem Rechtszustand zuzuwenden. Er gesteht Rousseau nämlich einen negativen Blick auf die „Zivilisierung“ der Menschheit zu, um zugleich gegen Rousseau darauf hinzuweisen, dass sich in dieser Zivilisierung der für die Zukunft in Aussicht gestellte Fortschritt nicht erschöpft: „Wir sind im hohen Grade durch Kunst und Wissenschaft kultiviert. Wir sind zivilisiert, bis zum Überlästigen, zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit. Aber, uns für schon moralisiert zu halten, daran fehlt noch sehr viel. Denn die Idee der Moralität gehört noch zur Kultur; der Gebrauch dieser Idee aber, welcher nur auf das Sittenähnliche in der Ehrliebe und der äußeren Anständigkeit hinausläuft, macht bloß die Zivilisierung aus.“ (IaG XI, 44)
Der Übergang zu dieser Thematik wirkt deshalb unvermittelt, weil Kant sich seit dem Fünften Satz konsequent nur noch mit Recht und Staat, nicht mehr mit Moralität auseinandersetzt.⁴¹⁶ Im Zusammenhang mit der Rechtfertigung des
Menschheit unter schon feststehenden Rechtsgesetzen (vgl. Wood 1991, 341 und Allison 2009, 43; siehe auch Kapitel 9.1). Mir scheint die viel naheliegendere Interpretation zu sein, dass die menschliche Natur insofern zur Hälfte ausgebildet ist, „ehe“ der letzte Schritt vollzogen ist, als es zwar schon Staaten, aber noch keinen Rechtszustand zwischen Staaten gibt. Zur Problematik von Moral und Recht in IaG und anderen Schriften siehe Kapitel 8.1.
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Krieges als Mittel zur Herstellung des internationalen Rechtszustands erscheint es Kant offenbar besonders wichtig nachzuweisen, dass der internationale Rechtszustand derart wertvoll ist, dass sich das unliebsame Mittel des Krieges ‚lohnt‘. Es lohne sich, weil der internationale Rechtszustand in unmittelbarem Verhältnis zur Vollendung der menschlichen Vernunftanlage stehe, die Kant in der Moralität erblickt: Zwar fällt für Kant der Rechtszustand als solcher nicht analytisch mit einer Moralisierung der Bürger zusammen, aber er wird sie doch bewirken. Sobald der Rechtszustand eingeführt ist, fallen die Hemmnisse der „inneren Bildung der Denkungsart“ (IaG XI, 45) der Bürger weg;⁴¹⁷ im Gegenteil kann der Staat seinen Beitrag zur „Bildung seiner Bürger“ leisten, und es steht nichts mehr dagegen, dass sich „die Gesellschaft endlich in ein moralisches Ganze [sic] verwandeln“ (IaG XI, 38) kann.Wenn alles, was „nicht auf moralisch-gute Gesinnung gepfropft“ ist, „nichts als lauter Schein und schimmerndes Elend“ (IaG XI, 45) ist, und die moralisch-gute Gesinnung nur durch die Errichtung eines weltbürgerlichen Zustands ermöglicht wird, dann scheint dieser jeder Mühe wert zu sein.
Achter und Neunter Satz Mit dem Siebenten Satz ist eine lange Argumentation abgeschlossen, die von der Annahme einer generellen Zweckmäßigkeit der Natur über die Einbeziehung der Spezifika des Menschen bis hin zur Integration der unliebsamen Seiten der menschlichen Geschichte – Egoismus, Konkurrenz und schließlich sogar Krieg – die Bedingungen herausarbeitet, unter denen eine teleologische Betrachtung der Geschichte möglich ist. Der Achte Satz fasst – als „Folgerung aus dem vorigen“ (IaG XI, 45), aber ebenso die Resultate der übrigen Sätze und des Vorspanns aufgreifend⁴¹⁸ – zusammen, wie allein Geschichtsphilosophie möglich ist: „Man kann die Geschichte der Menschengattung im großen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen, um eine innerlich- und, zu diesem Zwecke, auch äußerlich-vollkommene Staatsverfassung zu Stande zu bringen, als den einzigen Zustand, in welchem sie alle ihre Anlagen entfalten kann.“ (IaG XI, 45)
Hier steht offenbar die Überzeugung im Hintergrund, dass sich ein Publikum von selbst aufkläre, wenn man ihm nur keine Hindernisse in den Weg legt; vgl. die zeitgleich entstandene Aufklärungsschrift. Hübner unterstellt, Kant werde, wenn man den Achten Satz als „Folgerung“ versteht, darauf festgelegt, „ohne weitere Begründung [zu] behaupten, dass die Unterstellung einer Naturteleologie, die in Richtung einer vollkommenen inneren und äußeren Verfassung wirke, regulativ legitim sei“ (2011, 22). Damit verkennt Hübner das Begründungsmuster der gesamten Schrift; siehe auch die Erläuterung zum argumentativen Aufbau von IaG oben.
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Wie ist zu verstehen, dass „man“ die Geschichte teleologisch ansehen „kann“? Offensichtlich meint Kant nicht, dass a priori feststeht, dass sich eine Geschichtsphilosophie tatsächlich durchführen lässt, denn er fügt sogleich die Bedingung hinzu: „Es kömmt nur darauf an, ob die Erfahrung etwas von einem solchen Gange der Naturabsicht entdecke.“ (IaG XI, 45) Kant scheint also sagen zu wollen: Es ist im Prinzip möglich, Geschichte teleologisch zu denken. Entsprechend heißt es im Neunten Satz, ein „Versuch“(!), Geschichte nach einem Plan der Natur zu bearbeiten, muss „als möglich (…) angesehen werden“ (IaG XI, 47).⁴¹⁹ Dass „man“ Geschichte teleologisch als Naturplan der Errichtung von Rechtsverhältnissen zur Entwicklung der menschlichen Anlagen interpretieren „kann“, heißt also vor allem: Man kann sie – vorausgesetzt, die Empirie lässt es zu – nur als Vollziehung genau eines solchen Planes teleologisch deuten, nicht aber nach anderen Prinzipien. Es gibt keine unterschiedlichen ‚Ideen‘, nach denen Geschichte zu interpretieren möglich wäre, sondern nur eine einzige, die im Einzelnen freilich zu unterschiedlichen Deutungen historischer Ereignisse führen kann.⁴²⁰ Die Erläuterungen zum Achten und zum Neunten Satz widmen sich überwiegend dem noch offenen Problem, welche Rolle die Erfahrung für die Geschichtsphilosophie einnehmen muss. Kant spricht zuweilen davon, man würde die teleologische Entwicklung in der Erfahrung ‚entdecken‘ können (vgl. IaG XI 45; 48; 49).Wie ist dies zu verstehen? Die empirischen Daten der Geschichte liegen, so die Ausgangslage der Schrift, als „planloses Aggregat“ (IaG XI, 48) vor; ihnen ist
Kleingeld unterschlägt in ihrer Paraphrase des Neunten Satzes den Begriff „Versuch“; entsprechend liest sie den Achten Satz stärker: Es stehe für Kant fest, dass man Geschichte teleologisch deuten kann; damit bleibe nur noch die Frage, ob eine solche Deutung „brauchbar“ sei. Nur die Brauchbarkeit der Teleologie ist nach Kleingelds Lesart Gegenstand der empirischen Bewährung, nicht die Möglichkeit der Teleologie selbst. Vgl. Kleingeld 1995, 28 – 30. Horn folgert aus der Formulierung, der Leitfaden a priori sei „nur ein Gedanke von dem, was ein philosophischer Kopf […] noch aus einem anderen Standpunkte versuchen könnte“ (IaG XI, 50), dass Kant die in IaG entwickelte Theorie „nur als einen glaubwürdigen Vorschlag“ verstehe, der „noch der eigentlichen Plausibilisierung und vor allem der detaillierteren Ausführung bedarf“ (2011a, 108 f.). Letzteres ist sicher richtig, denn Kant möchte ja nur den Leitfaden auffinden, anhand dessen man Geschichte interpretieren kann – die konkrete Interpretation der Geschichte in all ihren Einzelheiten ist nicht sein Ziel. Dennoch ist der aufgefundene Leitfaden nicht nur ein „glaubwürdiger Vorschlag“, sondern das Ergebnis einer Darlegung der Bedingungen der Möglichkeit einer Geschichtsteleologie. Horns Interpretation leidet m. E. an einem Missverständnis dessen, was Kant mit dem „anderen Standpunkte“ meint, den Horn zitiert. Damit ist keineswegs ein anderer Standpunkt als der kantische gemeint, sondern der kantische Standpunkt selber, der nur aus Perspektive des empirisch arbeitenden Historikers einen „anderen Standpunkt“ darstellt. – Meine Interpretation teilt dagegen Kuehn: „In fact, for Kant, it presents the (only possible) idea and point of view for such a history.“ (2009, 68)
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keine Ordnung ontologisch eingeschrieben. Erst durch den „Leitfaden a priori“ (IaG XI, 49) wird es möglich, Geschichte „als ein System darzustellen“ (IaG XI, 48), die Ordnung also in die Daten hineinzutragen. Wenn Kant davon spricht, dass etwas in den Daten der Geschichte ‚entdeckt‘ wird, dann kann deshalb damit nicht gemeint sein, dass den Daten selbst eine Ordnung inne wohnt, die rezeptiv erkannt wird, sondern nur, dass die Daten dem gewählten Leitfaden entgegenkommen, indem sie sich besonders gut teleologisch interpretieren lassen. ⁴²¹ Dies impliziert, dass Kant davon ausgeht, dass nicht jeder Verlauf der Geschichte zu einer Fortschrittsgeschichte ‚zurechtgebogen‘ werden kann. Es sind mithin Verläufe der menschlichen Geschichte denkbar, die sich der Möglichkeit einer teleologischen Interpretation entziehen.⁴²² Gleichwohl scheint das nur für sehr extreme Geschichtsverläufe zu gelten. Kant konstatiert, es reiche aus, „etwas weniges“ von einem Gang der Naturabsicht zu entdecken, „denn dieser Kreislauf scheint so lange Zeit zu erfordern, bis er sich schließt, daß man aus dem kleinen Teil, den die Menschheit in dieser Absicht zurückgelegt hat, nur ebenso unsicher die Gestalt ihrer Bahn und das Verhältnis der Teile zum Ganzen bestimmen kann“ (IaG XI, 45), wie man die Zukunft des Universums aus den vergangenen Bewegungen der Himmelskörper zur Zeit Kants vorhersehen konnte.⁴²³ Es wurde bereits gezeigt, dass prinzipiell auch Kriege in den teleologischen Rahmen integriert werden können. Ob das für jeden Krieg gilt, muss in Frage gestellt werden: Es bleibt offen, ob Kant die Weltkriege noch für zweckmäßig interpretierbar gehalten hätte. Dass der Bogen, den die Geschichtsphilosophie spannt, so groß ist, dass fast jedes historische Ereignis noch als kleiner Ausrutscher in das Geschichtsbild integriert werden kann, liegt nicht zuletzt an der futurischen Perspektive, die Kant
Das wird auch in der Friedensschrift betont: Die Vorsehung können wir „zwar eigentlich nicht an diesen Kunstanstalten der Natur erkennen […], sondern (wie in aller Beziehung der Form der Dinge auf Zwecke überhaupt, nur hinzudenken“ (ZeF XI, 217 f.). Auch der Status der reflektierenden Urteilskraft in der KU ist in diesem Sinne zu verstehen. Anders z. B. Zotta 2000, 192 und 2014, 176. Wenn man Zottas Interpretation stark machen wollte, müsste man m. E. zeigen, dass die kantische Geschichtsphilosophie aufgrund ihrer Grundstruktur entgegen der ausdrücklichen Einschränkung Kants mit jedem Verlauf der Geschichte vereinbar ist – denn Kant sagt klipp und klar: „Es kömmt nur darauf an, ob die Erfahrung etwas von einem solchen Gange der Naturabsicht entdecke.“ (IaG XI, 45) Es ist interessant, dass Kant hier in Anlehnung an das griechische Geschichtsdenken von einem „Kreislauf“ spricht, der sich „schließt“, obwohl seine Geschichtsphilosophie die zyklische Zeitauffassung der Antike gerade durchbrochen hat. Dies mag der Analogie der Himmelskörper geschuldet sein, zeigt aber auch, dass aus heutiger Sicht ein Bruch zwischen neuzeitlichem und antikem Zeitdenken diagnostiziert wird, der im Selbstverständnis Kants vielleicht gar nicht vorliegt. – Zum Motiv der Bewegung von Himmelskörpern vgl. ausführlich Brandt 2011.
6.1 Die Idee zu einer allgemeinen Geschichte
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eröffnet: Geschichte wird zwar vom jeweiligen Heute aus rückblickend interpretiert, aber anders als bei Hegel⁴²⁴ gilt das Heute nicht als Ziel, auf das die Geschichte zuläuft.Vielmehr werden – ganz nach dem Muster der Eschatologie – die Daten der Vergangenheit und die Ereignisse der Gegenwart auf ein Ziel hin geordnet, das weit in der Zukunft liegt. Das Geschichtsbild könnte deshalb auf zwei verschiedene Arten an der Empirie scheitern: Erstens könnte sich das in der Zukunft liegende Ziel als Luftschloss erweisen.Wenn angesichts des Zeitgeschehens einfach nicht denkbar ist, dass das Ziel einmal verwirklicht werden kann, wäre eine Deutung der Geschichte auf dieses Ziel hin mindestens ungereimt.⁴²⁵ Erscheint das Ziel dagegen als realisierbar, könnten sich zweitens die empirischen Daten der Vergangenheit einer teleologischen Deutung entziehen, indem die Fortschrittsthese durch permanente, allzu große Untaten oder gar durch einen beobachtbaren moralischen Verfall in Frage gestellt wird. Im Achten und Neunten Satz möchte Kant andeuten, dass die Empirie in beiden Fällen eine teleologische Deutung ermöglicht. Erstens soll deshalb im Achten Satz gezeigt werden, dass das denkbare Ziel der Geschichte – der Rechtszustand, in dem sich die menschlichen Anlagen entfalten können – kein Luftschloss ist, sondern es Anzeichen gibt, die das Zustandekommen des Rechtszustands in irgendeiner Form nahe legen. Ein solches Anzeichen wäre, dass in der gesellschaftlichen Situation der Gegenwart die Orientierung am Eigeninteresse unbeabsichtigt dazu führt, nebenbei auch den Naturzweck zu befördern. Kant diagnostiziert entsprechend für seine Zeit eine Staatenkonstellation, in der die „ehrsüchtigen Absichten“ der Staaten die Konsequenz mitbringen, dass „keiner in der inneren Kultur nachlassen kann“, denn andernfalls würde er „gegen die anderen an Macht und Einfluss […] verlieren“ (IaG XI, 46). Wer etwa bürgerliche Freiheiten einschränkt, riskiert ökonomische Nachteile – das Eigeninteresse der Staaten führt deshalb dazu, dass sich das Staatsrecht zumindest nicht zurückentwickelt. Auch Kriege seien zunehmend mit ökonomischen Risiken verbunden, sodass eines Tages den Staaten gar nichts
Die Philosophie könne nicht „über ihre gegenwärtige Welt“ hinausgehen; und wer dennoch über die Gegenwart hinausgehe, dessen Welt existiere „nur in seinem Meinen – einem weichen Elemente, dem sich alles Beliebige einbilden läßt“ (Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 26). Man kann sich fragen, ob für Kant ein empirisch fundierter Einwurf dieser Art tatsächlich möglich wäre; in späteren Schriften scheint er davon auszugehen, dass es keinen empirischen Beleg der Undurchführbarkeit philosophischer Ideen geben kann (vgl. z. B. RL VIII, 478). Aber in IaG reagiert er offensichtlich auf genau solche Vorwürfe gegen die Fortschrittsthese.
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anderes übrig bleibe, als Schiedsgerichte an die Stelle gewaltsamer Konflikte zu setzen.⁴²⁶ Zweitens zeigt Kant im Neunten Satz zumindest schemenhaft, dass sich die bisherige Geschichte tatsächlich als Naturplan interpretieren lässt – und gibt damit zugleich einen Hinweis darauf, wie er sich die konkrete Durchführung der Geschichtsphilosophie vorstellt, die er nicht selbst leisten möchte, sondern einem Philosophen vorbehält, der „sehr geschichtskundig sein müßte“ (IaG XI, 50).⁴²⁷ Beginnt man Geschichtsschreibung mit dem antiken Griechenland als ältester historisch belegbarer Epoche und schreitet über das Römische Reich und die „Barbaren“ der Spätantike bis heute fort, so „wird man einen regelmäßigen Gang der Verbesserung der Staatsverfassung in unserem Weltteile“ (IaG XI, 48) entdecken. Die großen Reiche hätten demnach stets so lange existiert, wie ihre Rechtsform dazu diente, „Völker (mit ihnen auch Künste und Wissenschaft) empor zu heben und zu verherrlichen“ (IaG XI, 49); ihre fehlerhaften Züge hätten dann zu ihrem Verfall geführt, der Platz für die weiterentwickelten Verfassungsformen schaffte.⁴²⁸ Die Geschichte, auf die sich Kant in seinen kurzen Andeutungen bezieht, ist freilich nur die europäische. Nun macht bereits der Titel der Schrift klar, dass die Form von Geschichte, auf die Kant abzielt, eine Universalgeschichte ist; alles
Was Kant hier und an einigen anderen Stellen betreibt, kommt dem nahe, was Habermas (1999, 199 f.; 2004, 142 f.) als die Suche nach „entgegenkommenden Tendenzen“ bezeichnet, um seine normative Theorie von dem Vorwurf der Realitätsferne zu befreien (siehe auch Kapitel 8.3). Zuweilen wird angenommen, die wesentliche Zielrichtung der Geschichtsphilosophie Kants sei eben dieses Aufspüren von entgegenkommenden Tendenzen. Mit Bezug auf Kant schreibt Habermas etwa, die geschichtsphilosophischen Überlegungen sollten „der Idee des weltbürgerlichen Zustands empirische Wahrscheinlichkeit und Plausibilität verschaffen“ (2004, 143). Für Eberl/Niesen (2011, 271) besteht dies insbesondere in dem Nachweis, dass normative Forderungen langfristig dem Inhalt nach mit prudentiellen Forderungen übereinstimmen. Es sollte deutlich geworden sein, dass solche Aspekte nur kleine Bausteine der Geschichtsphilosophie Kants sind. Diese soll nämlich weit über diese Anliegen hinausgehend eine transzendentalphilosophische Geschichtsteleologie begründen – mit all ihren fraglichen Konsequenzen, die von der Zulässigkeit einer als-ob-Philosophie bis zum Theodizeeproblem reichen. Kant ist gar nicht daran interessiert, einen solchen historisch gebildeten Philosophen für sein Projekt zu gewinnen; stattdessen schreibt er nicht ohne Ironie, er wolle „es dann der Natur überlassen, den Mann hervorzubringen, der im Stande ist“, eine solche Geschichte nach dem gefundenen Leitfaden „abzufassen“ (IaG XI, 34). Mit der Deutung des Entstehens und Vergehens von Reichen und Verfassungen greift Kant mehrere Traditionen auf: einerseits die antike Vorstellung eines Kreislaufs der Verfassungen; andererseits die teleologische Interpretation des Römischen Reiches in der Geschichtsteleologie, etwa bei Bossuet; schließlich Vico mit seiner Principj di scienza nuova (1725/1744; insb. Buch 4 und 5).
6.1 Die Idee zu einer allgemeinen Geschichte
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andere wäre mit dem Anspruch, Geschichte als „System“ darzustellen, auch gar nicht vereinbar. Deshalb gewinnt ein kleiner, in Klammern gesetzter Einschub Kants eine durchaus wichtige Bedeutung: Unser Weltteil sei nämlich derjenige, „der wahrscheinlicher Weise allen anderen dereinst Gesetze geben wird“ (IaG XI, 48). Jeder Fortschritt der europäischen Geschichte ist vermittelt über das künftige Gesetzgebungsverhältnis damit auch ein Fortschritt der globalen Rechtsgeschichte. Obwohl Kants These, von Horn (2011a, 108) etwas verharmlosend „Globalisierungsthese“ genannt,⁴²⁹ nur eine deskriptive Vermutung der Kolonialzeit darstellt und nicht als normative Forderung intendiert ist, bekommt sie im Kontext der Geschichtsteleologie doch den Anschein einer wünschenswerten Entwicklung: Wer eine Universalgeschichte als Fortschrittsgeschichte präsentieren möchte, muss dazu tendieren, einen bestimmten kulturellen Raum als den künftig dominierenden anzusehen, um zu verhindern, dass sich die intendierte Weltgeschichte in viele partikulare Geschichten auflöst. Im Achten und Neunten Satz thematisiert Kant einen weiteren wichtigen Punkt: die praktische Dimension der Geschichtsphilosophie. Dass die Geschichtsteleologie in zwei Hinsichten einen Bezug zur praktischen Philosophie aufweist, hat Kant bereits gezeigt: Zum einen muss die Reflexion über die Anlagen des Menschen dessen moralische Anlage mit einbeziehen. Zum anderen ist die Entwicklung der Anlagen nur in gesellschaftlichen Verhältnissen möglich, die den Forderungen des Vernunftrechts gleichkommen. Aber das Projekt der Geschichtsphilosophie hat in einer dritten Hinsicht noch eine fundamentalere Beziehung zur praktischen Philosophie: Richtig verstandene Geschichtsphilosophie wirkt selbst daran mit, dass ein juridischer Fortschritt erzielt wird. „Ein philosophischer Versuch, die allgemeine Weltgeschichte nach einem Plane der Natur […] zu bearbeiten, muß als möglich, und selbst für diese Naturabsicht beförderlich gehalten werden.“ (IaG XI, 47; meine Hervorhebung)⁴³⁰ Kant erläutert nur andeutungsweise, durch welchen Mechanismus Geschichtsschreibung einer bestimmten Art selbst Rückwirkungen auf den Verlauf der Geschichte haben kann. Offenbar geht er davon aus, dass die Interpretation der Geschichte als Fortschritt zu einem Bewusstseinswandel führt, der eben diesen Fortschritt herbeiführt. Insbesondere würde die Geschichtsschreibung auf die politischen Entscheidungsträger, nämlich die „Staatsoberhäupter“ und ihre
Es mag zwar sein, dass Globalisierung faktisch darauf hinausläuft, dass die Industrienationen des Westens dem Rest der Welt Gesetze vorschreiben. Dennoch ist begrifflich Globalisierung nicht gleichbedeutend mit dieser These. Hübner (2011, 22) erwägt eine Lesart des Achten Satzes, nach der dort diese These bereits vorweggenommen wäre: Man solle Geschichte in einer bestimmten Weise interpretieren, „um“ damit die geforderte Rechtsverfassung „zu Stande zu bringen“ (IaG XI, 45).
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„Diener“ (IaG XI, 50) – gemeint ist der Staatsapparat mit seinen Beamten – zurückwirken. Diese seien aufgrund ihrer Ehrbegierde darauf aus, dass die künftige Geschichtsschreibung ihnen ein „rühmliches Andenken“ (IaG XI, 50) bereitet. Macht man ihnen klar, dass sich die künftige Geschichtsschreibung vor allem für das interessiert, „was Völker und Regierungen in weltbürgerlicher Absicht geleistet oder geschadet haben“ (IaG XI, 50), treibt sie ebenjene Ehrliebe dahin, den prognostizierten Fortschritt selbst herbeizuführen. Durch die Hintertür wäre damit eine höhere Ebene eingeführt, auf der Individuen zumindest in engen Grenzen plötzlich doch wieder zu den Herren der Geschichte werden: Zwar wird in der teleologischen Reflexion die wesentliche Verantwortung für das Fortschrittsgeschehen der Natur zu- und damit der menschlichen Verantwortung (wenigstens in einem bestimmten Umfang) abgesprochen. Und doch ist paradoxerweise für Kant gerade diese Reflexion Teil dessen, was Menschen bewusst und vernunftgeleitet in Rücksicht auf den Fortschritt tun können.⁴³¹ Geschichtsphilosophie wird damit zu einer Art selbsterfüllenden Prophezeiung. Diese Überlegung scheint im Nachhinein noch eine Rolle für die Rechtfertigung des Fortschrittsgedankens übernehmen zu sollen: Der philosophische „Chiliasmus“⁴³² sei offenbar auch aus dem Grund „nichts weniger als schwärmerisch“, weil die philosophische Idee zu dessen Herbeiführung, „obgleich nur von sehr weitem, selbst beförderlich werden kann“ (IaG XI, 45). Die Fortschrittsthese gewinnt ihre Plausibilität deshalb neben der oben entfalteten Rechtfertigung über das Vernunftbedürfnis nach Einheit auch noch aus ihrer eigenen Rückwirkung auf die empirische Geschichte. Es scheint, als sei damit die praktische Bedeutung der Geschichtsphilosophie noch immer nicht erschöpft. Sie betrifft schließlich in einer vierten Hinsicht das Bewusstsein der moralischen Subjekte auf einer noch fundamentaleren Ebene, die das Verhältnis von Mensch und Welt in einer existentiellen Dimension berührt: Geschichtsphilosophie leistet nichts weniger, als dass sie den Menschen vor der Verzweiflung bewahrt. Die zu beobachtende Zweckmäßigkeit der nicht-menschlichen Natur wird für Kant durch die scheinbare Zweckwidrigkeit der menschlichen Geschichte derart konterkariert, dass wir, „indem wir verzweifeln“ (IaG XI, 49; meine Hervorhebung), Zuflucht im Jenseits suchen müssten.⁴³³ Geschichtsphilo-
Zu dieser Thematik siehe auch Kapitel 8.4. Zum Begriff „Chiliasmus“ siehe auch Kapitel 2 und 8.2; zur Gegenüberstellung von philosophischem und theologischem Chiliasmus Kapitel 5.1 und 8.1. Später scheint Kant der Möglichkeit, in einer anderen Welt Trost vor der Zwecklosigkeit der menschlichen Geschichte zu finden, etwas positiver gegenüberzustehen: „Warum erwarten die Menschen überhaupt ein Ende der Welt? […] weil die Vernunft ihnen sagt, daß die Dauer der
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sophie schafft es aber, eine innerweltliche „tröstende Aussicht in die Zukunft“ (IaG XI, 49) zu eröffnen. Eine solche „Rechtfertigung der Natur – oder besser der Vorsehung“ (IaG XI, 49) scheint die tiefste praktische Bedeutung zu sein, die der Geschichtsphilosophie zukommt.⁴³⁴
6.2 Der §83 der Kritik der Urteilskraft Die entscheidende Neuerung der Geschichtsphilosophie, die Kant in der KU entwirft, ist nicht in ihrem Inhalt zu suchen, der im Wesentlichen Gedanken aus der IaG wiederholt. Sie besteht vielmehr in dem Kontext, in dem die Geschichtsphilosophie entwickelt wird: Einerseits ist dies das gesamte Projekt einer Kritik der teleologischen Urteilskraft, innerhalb derer teleologische Prinzipien eine neuartige Begründung erfahren; andererseits ist es konkret die Argumentationslinie der „Methodenlehre“, die vom Prinzip der äußeren Zweckmäßigkeit über die Geschichtsphilosophie zur Frage nach dem Endzweck der Schöpfung übergeht und schließlich in die Ethikotheologie einmündet. Der Kontext des §83 hat für das Projekt der kantischen Geschichtsphilosophie insgesamt eine besondere Bedeutung: Dass Kant die Geschichtsphilosophie im Rahmen einer seiner drei Kritiken behandelt, stellt unter Beweis, dass sie nicht als außerphilosophisches intellektuelles Spiel zur Erbauung des Bildungsbürgertums oder als essayistische Verarbeitung des Zeitgeists mit verminderten Begründungsansprüchen intendiert ist,⁴³⁵ sondern einen festen Platz im transzendentalphilosophischen Denken Kants einnimmt.
Welt nur insofern einen Wert hat, als die vernünftigen Wesen in ihr dem Endzweck ihres Daseins gemäß sind, wenn dieser aber nicht erreicht werden sollte, die Schöpfung selbst ihnen zwecklos zu sein scheint wie ein Schauspiel, das gar keinen Ausgang hat, und keine vernünftige Absicht zu erkennen gibt.“ (EaD XI, 179) Während Kant in IaG die Hoffnung auf ein Ende der Welt noch als pure Notlösung ansieht, ist sie in EaD die Lösung schlechthin. – In Kapitel 9 soll gezeigt werden, dass in Kants Theoriegebäude beide Aspekte, der innerweltliche Fortschritt und die endzeitliche Sinngebung, als komplementäre Bausteine nebeneinander stehen. Dies wird noch mehrfach zur Sprache kommen; siehe v. a. die Kapitel 8.4 und 8.6. Mir wurde auf Konferenzen etwa gesagt, man dürfe Kants geschichtsphilosophische Schriften „nicht so ernst nehmen“; sie klängen halt „in unseren heutigen Ohren merkwürdig“. Wer das vertritt, sollte konsequenterweise die KU auch nicht ernst nehmen. Dass Kant in der Geschichtsphilosophie verminderte Begründungsansprüche stellt, da der Adressatenkreis ohnehin teleologiefreundlich eingestellt gewesen sei, legt Horn (2011a, 112) nahe. Eine solche pragmatisch-sparsame Argumentationsstrategie kann jedenfalls der KU nicht ernsthaft unterstellt werden.
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Das Grundanliegen der KU besteht für Kant darin, ein „Verbindungsmittel“ (KU X, 84) für die theoretische und die praktische Philosophie zu entwickeln, das zwischen dem Begriff der Natur und dem der Freiheit vermittelt⁴³⁶. Die Kluft, die zwischen beiden Begriffen herrsche, sei zwar unüberwindlich – es sei unmöglich, „eine Brücke von einem Gebiete zu dem anderen hinüberzuschlagen“ (KU X, 106 f.) –, aber eine Vermittlung sei insofern notwendig, als „nämlich der Freiheitsbegriff […] den durch seine Gesetze aufgegebenen Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen [soll]; und die Natur muß folglich auch so gedacht werden können, daß die Gesetzmäßigkeit ihrer Form wenigstens zur Möglichkeit der in ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheitsgesetzen zusammenstimme“ (KU X, 83 f.; vgl. auch 107 f.). Die KU steht damit als Bindeglied zwischen der theoretischen und praktischen Vernunft: Sie hat einerseits Erkenntnis zum Gegenstand, eröffnet aber „zugleich Aussichten, die für die praktische Vernunft vorteilhaft sind“ (KU X, 76). Auch wenn die verschiedenen Themen der KU über den Begriff der Zweckmäßigkeit miteinander systematisch in Zusammenhang stehen, liegt es nahe davon auszugehen, dass Kant nicht einen einzigen, großen Vermittlungsversuch unternimmt, sondern verschiedene Themenbereiche je für einen anderen Weg der Vermittlung stehen.⁴³⁷ Einer dieser Wege ist offenbar die Geschichtsphilosophie: Ohne dass Natur und Freiheit miteinander vermengt werden sollen, gibt sie einen Grund ab, von der Möglichkeit der Verwirklichung moralischer Ideale in der Natur auszugehen.⁴³⁸ Kants Weg zu dieser These gilt es kurz nachzuzeichnen. Die Urteilskraft tritt als „Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken“ (KU X, 87), in zweierlei Form auf: Als bestimmende Urteilskraft subsumiert sie das Besondere unter ein gegebenes Allgemeines. Weil dazu nicht mehr erforderlich ist als die in der KrV aufgesuchten Kategorien des
Der Begriff der „Vermittlung“ ist hier nicht der Versuch einer Hegelianisierung, sondern er findet sich tatsächlich bei Kant: Zweckmäßigkeit sei der „vermittelnde Begriff zwischen den Naturbegriffen und dem Freiheitsbegriffe“ (KU X, 108). Pauen 1999, 198 grenzt vier solcher Wege voneinander ab; die Geschichtsphilosophie sei darunter der entscheidende Weg. Pauens Darstellung müsste m. E. zumindest noch um die Postulatenlehre als fünftem Weg ergänzt werden. Hübner beharrt zu Recht auf der strikten Trennung von Natur und Freiheit bei Kant. Er kommt aber zu dem Schluss: „Eine potentielle Einheit von Sein und Sollen ist daher zu keinem Zeitpunkt Thema der Philosophie oder auch spezieller der Geschichtsphilosophie Kants.“ (Hübner 2011, 51) Dem stehen die oben zitierten Stellen der KU entgegen. Auch wenn (oder gerade weil) Natur und Freiheit bei Kant strikt getrennt sind, muss die Möglichkeit der Verwirklichung der Freiheit in der Natur deutlich gemacht werden; in diesem Sinne muss Sein und Sollen potentiell zusammenfallen können. Vgl. auch den Abschnitt zur Geschichtsphilosophie im Streit der Fakultäten: „welches allein Natur und Freiheit, nach inneren Rechtsprinzipien im Menschengeschlechte vereinigt“ (SF XI, 361).
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Verstandes, ist eine weitere „Kritik“ der bestimmenden Urteilskraft nicht nötig. Als „bloß reflektierend[e]“ (KU X, 87) Urteilskraft soll sie dagegen das Allgemeine zu einem gegebenen Besonderen finden. Weil aus dem Besonderen alleine kein Allgemeines eindeutig abzuleiten wäre, bedarf die reflektierende Urteilskraft eines Prinzips a priori, das den Übergang vom Besonderen zum Allgemeinen ermöglicht. Ein solches Prinzip könne nur in der Annahme einer „Zweckmäßigkeit der Natur“ bestehen, ist also das Prinzip, die besonderen Naturgesetze „nach einer solchen Einheit“ zu betrachten, „als ob gleichfalls ein Verstand (wenn gleich nicht der unsrige) sie zum Behuf unserer Erkenntnisvermögen“ (KU X, 89) gegeben hätte. Dieses Prinzip gründe in einer „notwendigen Absicht (einem Bedürfnis) des Verstandes“ (KU X, 93) und sei transzendental deduzierbar, allerdings nur als subjektives und regulatives⁴³⁹ Prinzip: Weder ist die Zweckmäßigkeit der Natur Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung, noch lässt sie sich beweisen. Man betrachtet die Natur lediglich so, als ob sie zweckmäßig eingerichtet wäre; ja – es steht nicht einmal a priori fest, dass es überhaupt etwas gibt, was als Naturzweck beurteilt werden kann. Die reflektierende Urteilskraft sucht nach einer übergeordneten Einheit, doch ob sie eine solche antreffen wird, muss sich in ihrer Anwendung auf besondere Erkenntnisse erst zeigen. Sie ist mithin – ganz analog zur Argumentation der IaG – ein „Leitfaden“ (KU X, 95) der Erkenntnis, der an der Erfahrung scheitern kann. Die Erfahrung kommt dem transzendentalen Prinzip der Urteilskraft dahingehend entgegen, als dass sie Dinge umfasst, die nur als Naturzwecke beurteilt werden können. Während äußere Zweckmäßigkeit – x ist für y da – immer schon voraussetzt, dass y ein Zweck ist und insofern immer nur hypothetisch zu einer teleologischen Beurteilung Anlass gibt (vgl. KU X, 315 und 326 f.), führt der Begriff einer inneren Zweckmäßigkeit auf eine notwendige ⁴⁴⁰ Beurteilung eines Dinges als Naturzweck. Innere Zweckmäßigkeit liegt vor, wenn in ein und demselben Ding seine verschiedenen Teile wechselseitig füreinander da sind, d. i. sie sich wechselseitig erzeugen und am Leben erhalten. Ein Naturprodukt ist somit ein Ding, „in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist“ (KU X, 324). Ein solches Ding würde sich der bloß mechanischen Beurteilung versperren, denn es wäre höchstens durch einen abstrusen Zufall denkbar, dass ein mechanischer Ablauf von Ursache und Wirkung ein Ding hervorbrächte, dessen Teile wechselseitig Ursache und Wirkung voneinander sind (vgl. z. B. KU X, 306 und 364).
Zum subjektiven Charakter vgl. z. B. KU X, 93 und 95; zum regulativen 108 und 347. Pauen 1999, 202 f. diagnostiziert eine Spannung zwischen der behaupteten Notwendigkeit einer teleologischen Betrachtung und der Zurückweisung der Teleologie als konstitutivem Erkenntnisprinzip.
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Solche Dinge, die aufgrund ihrer inneren Zweckmäßigkeit als Naturzwecke zu beurteilen wären, gibt es nun tatsächlich: „organisierte Wesen“, d. i. Lebewesen.⁴⁴¹ Das Herz versorgt die Lunge mit Blut und diese den Herzmuskel wiederum mit Sauerstoff – nur im Zusammenspiel der einzelnen Organe können sie jeweils existieren. Solche Lebewesen könnten für Kant zwar zufällig entstanden sein; dies sei aber keine zulässige Form, über sie zu urteilen. Gegen Kant wird man heute einwenden, die Existenz komplexer Lebewesen sei heute sehr wohl durch einen „blinden Mechanism der Natur“ (KU X, 325) erklärbar, nämlich evolutionstheoretisch. Dann wäre aber immerhin die Entstehung von Leben überhaupt noch ein Vorgang, der sich einer solchen Erklärung entzöge.⁴⁴² Dass es in der Welt Dinge gibt, die nur als Naturzweck aufgefasst werden können, ist für Kant ein wichtiger Baustein in der Rechtfertigung der Teleologie: Gäbe es keine solchen Naturzwecke, wäre man „schlechterdings nicht berechtigt“ (KU X, 324), die Teleologie überhaupt in die Naturwissenschaft einzuführen. Es ist nicht ganz einzusehen, weshalb diese Behauptung trotz der prinzipiellen Rechtfertigung des teleologischen Prinzips in der Einleitung der KU gelten sollte – wurde dort doch ein Vernunftbedürfnis nach Einheit vorgestellt (vgl. KU X, 93), das zwar in Extremfällen an der Erfahrung scheitern kann, aber nicht in diesem starken Sinn auf sie angewiesen ist. Kant markiert in der Rechtfertigung der Teleologie jedenfalls einen Unterschied zur KrV, der indirekt auch für die Geschichtsphilosophie relevant sein dürfte: Die Pointe der kantischen Argumentation besteht nämlich darin, dass die Existenz organisierter Wesen berechtigt oder sogar verpflichtet, die gesamte Natur als ein System von Zwecken zu deuten. Denn wenn wir ein Ding so beurteilen, als sei es von einem zweckmäßig handelnden Verstand hervorgebracht, drängt sich die Frage auf: „wozu ist es da?“ (KU X, 382); zu welchem Zweck hat der angenommene Verstand es hervorgebracht? Dadurch wird das Prinzip äußerer Zweckmäßigkeit, das zunächst als hypothetisch zurückgewiesen wurde, rehabilitiert: Weil irgendetwas in der Natur als Naturzweck interpretiert werden muss, sind wir „berechtigt, ja berufen“ (KU X, 328), auch die Natur als Ganze zweck-
Kant deutet allerdings an, dass neben Lebewesen auch die Natur als Ganze als ein organisiertes Wesen aufgefasst werden könnte; vgl. KU X, 322: Die Natur „organisiert sich vielmehr selbst“. Entgegen der Tendenz mancher Naturwissenschaftler und Philosophen der Gegenwart (die Vertreter des intelligent design) weist Kant ausdrücklich den Anspruch zurück, aus solchen Erklärungslücken auf die Existenz Gottes schließen zu können; stattdessen gehe lediglich die naturwissenschaftliche Beurteilung solcher Wesen davon aus, dass eine nach Zwecken handelnde Ursache am Werk war. Wie groß der Abstand zum Theismus dann aber tatsächlich noch ist, bleibt offen.
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mäßig zu interpretieren.⁴⁴³ Die Maxime, die der Forscher anzuwenden hat, lautet daher: „Alles in der Welt ist irgend wozu gut; nichts ist in ihr umsonst […].“ (KU X, 328) Dieses Prinzip ist zunächst nur als bloße Forschungsmaxime eingeführt, die etwa den Biologen dazu bringen soll, größere Gesamtzusammenhänge in der Natur aufzuspüren. Dennoch hat Kant damit den ‚harmlosen‘ Bereich innerer Zweckmäßigkeit verlassen, in dem alles zugleich als Zweck und als Mittel erscheint, und sich stattdessen auf die Suche nach einem linearen System gemacht, in dem alles letztlich nur noch Mittel zu dem einen Endzweck ist, den es noch zu bestimmen gilt – denn ohne einen solchen Endzweck bräche das System von Zwecken in sich zusammen. Ein solches System der Unterordnung aller Gegebenheiten unter einen Endzweck bringt, spätestens wenn es auf den Menschen angewendet wird, notwendig⁴⁴⁴ zwei miteinander zusammenhängende Tendenzen mit sich: Zum einen enthält es einen konservativen Zug. Wenn alles zu etwas gut ist, dann ist die Welt so, wie sie ist, sinnvoll eingerichtet und in ihren Zweckzusammenhängen zu bewahren. Dies gilt dann auch etwa für Unterschiede zwischen Rassen oder Geschlechtern: Wenn die mangelnde Geschicklichkeit des Afrikaners zu etwas gut ist (vgl. ÜGtP AA VIII, 174), gibt es keinen Grund, ihr durch Bildung entgegenzuwirken.⁴⁴⁵ Zum anderen tendiert ein solches System dazu, Missstände, die zunächst zweckwidrig erscheinen, durch die Ausrichtung auf den Endzweck als zweckmäßig zu erweisen. So erwägt Kant etwa, das Ungeziefer, welches als scheinbar Zweckwidriges die Menschen in ihren Kleidern, Haaren oder Bettstellen plagt, sei ein Antrieb zur Reinlichkeit, die wiederum eine Bedingung der Gesundheit darstelle. Und Moskitomücken und andere stechende Insekten in den Wüsten von Amerika, die das Leben der Wilden beschwerlich machen und insofern zweckwidrig erscheinen, sollen „diese angehende Menschen“ (KU X, 328) anstacheln, die Böden zu entwässern und so allmählich eine Kultur zu entwickeln.
Andernorts formuliert Kant bescheidener, wir müssten „die gedachte Maxime der Urteilskraft auch am Ganzen der Natur wenigstens versuchen“ (KU X, 350; meine Hervorhebung). Die nachstehend aufgeführten Zitate sind deshalb nicht als zeitbedingte Ausrutscher Kants zu entschuldigen, sondern folgen direkt aus dem Anliegen, die Welt nach Prinzipien äußerer Zweckmäßigkeit zu deuten. „Geschichtliche Erklärungsmomente werden schon durch die bloße Beurteilungsweise der Natur als teleologisch abgehalten. Alles erscheint an seinem Platz.“ (Städtler 2012, 9) Zur rassistischen Tendenz der Teleologie vgl. auch Zotta 2000, 260 f. Eine partielle Verteidigung Kants versucht dagegen Kleingeld 2012, Kap. 4.
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Kant entwickelt die Geschichtsphilosophie, die offensichtlich an genau dieses Rechtfertigungsschema anknüpft, innerhalb dem in der „Methodenlehre“ unternommenen Versuch, die Anwendbarkeit der Forschungsmaxime aufzuzeigen. Dazu besteht das wesentliche Ziel der verwickelten⁴⁴⁶ Argumentation darin, ein System der Zwecke ausfindig zu machen, in dem es über- und untergeordnete Zwecke gibt, die letztlich alle von der Ausrichtung auf den Endzweck leben. Der Endzweck wäre ein solcher, der zu seiner Möglichkeit keines weiteren übergeordneten Zwecks bedarf (vgl. KU X, 393); er würde aber durch seine Existenz allen anderen Zwecken eine Realität verschaffen, die über einen bloß hypothetischen Status hinausgeht. An unterster Stelle des Systems steht die unbelebte Materie: Sie kann nur als Mittel zum Zweck der Existenz organisierter Wesen angesehen werden. Aber sind organisierte Wesen damit schon als Endzwecke anzusehen? Kant verneint dies, denn nichts in der Natur könne qua Naturwesen als Endzweck beurteilt werden: Zu jedem Naturding kann erneut gefragt werden, wozu es denn da sei. Höchstens wäre es möglich, organisierte Wesen in ein hypothetisches System von Zwecken zu bringen, an dessen Spitze ein „letzter Zweck“ stünde, d. i. ein Zweck, der zwar in der faktischen Beurteilung zu nichts anderem mehr als Mittel dient, der aber dennoch aus sich selbst heraus kein Zweck an sich ist. Ein solches hypothetisches System bleibt notwendig unterbestimmt: Da es keinen Zweck gibt, der an sich als letzter Zweck ausgezeichnet ist, sind mehrere solcher Zwecksysteme denkbar.⁴⁴⁷ Kant geht aber davon aus, dass wir eine „hinreichende Ursache“ (KU X, 387) haben, uns für eine dieser möglichen Zweckhierarchien zu entscheiden, nämlich folgende: Die Fruchtbarkeit des Bodens sei für die Pflanzen da, diese wiederum für die Tiere, welche zusammen mit dem gesamten Naturreich für den Menschen als den „letzte[n] Zweck der Schöpfung hier auf Erden“ (KU X, 384) existieren. Sich für ein solches System zu entscheiden liegt nahe, weil der Mensch das einzige Wesen ist, das sich einen Begriff von Zwecken bilden und über Zwecke reflektieren kann.⁴⁴⁸ Ohne Zweifel Auf einige Probleme der Argumentation weist Kleingeld 1995, 36 – 49 hin. Kant diskutiert deshalb im Konjunktiv zwei verschiedene Möglichkeiten, ein System von Zwecken zu konstruieren („Die Antwort würde etwa sein“; „Man könnte auch“; „Und so würde der Mensch“, KU X, 383 f.). Anders Höffe 2008, 297, der unterstellt, dass Kant die zweite Möglichkeit, die als Sicht des Ritters Linné vorgestellt wird, strikt zurückweist. Der Text ist hier nicht eindeutig; meine Lesart scheint der Sache, insbesondere der Unterscheidung zwischen letztem Zweck und Endzweck, angemessener zu sein. Höffe findet freilich bereits diese Unterscheidung „erstaunlich“ (2008, 294). Vgl. KU X, 384. – Kant erwägt im Streit der Fakultäten, für die „Allgewalt der Natur“ sei der Mensch „nur eine Kleinigkeit“, und sie könne das Menschengeschlecht jederzeit wieder auslöschen, „um andere Geschöpfe auf diese Bühne treten zu lassen“ (SF XI, 362). Es ist fraglich, ob
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bekommt diese Entscheidung ihre endgültige Rechtfertigung erst nachgereicht, indem der Mensch auch als Endzweck ausgewiesen wird.⁴⁴⁹ Wird der Mensch als letzter Zweck der Natur angesehen, kann weiterhin gefragt werden, was am Menschen es ist, das die Natur bezweckt. Da der letzte Zweck der Natur noch angehören soll, muss ein Aspekt des Menschen gesucht werden, der mit der Natur in Verbindung steht. Kant diskutiert zunächst die Möglichkeit, die Glückseligkeit des Menschen als den letzten Zweck der Natur zu betrachten.⁴⁵⁰ Dieser Versuch muss aber an der Erfahrung scheitern, denn nichts in der Welt deutet darauf hin, dass sie derart eingerichtet ist, dass Menschen dort glückselig werden sollen. Ganz im Gegenteil hält die Umwelt zahlreiche Plagen und Unannehmlichkeiten bereit; die Menschen fügen sich darüber hinaus selbst jede Menge Schaden zu und sind zuletzt auch noch so beschaffen, dass ihre Ansprüche in dem Maße steigen, wie sie der Umwelt ein angenehmeres Dasein abtrotzen können – Glückseligkeit scheint unerreichbar zu sein. Der Mensch ist, sofern er auf Glückseligkeit ausgerichtet ist, lediglich als ein Glied in der Kette der Naturzwecke anzusehen, nicht aber als letzter Zweck (vgl. KU X, 388 f.). Wenn der Aspekt des Menschen, der als letzter Zweck der Natur auszuzeichnen ist, nicht in der Glückseligkeit besteht, muss zu seiner Bestimmung von jeder Materie der menschlichen Zwecksetzung abgesehen werden. Zugleich muss der letzte Zweck, soll aus dem hypothetischen System von Zwecken ein durch die Vernunft determiniertes werden, im Übergang des Bereichs der Natur zum Bereich des Übersinnlichen liegen, dem allein ein Endzweck entstammen kann. Gesucht sind also die natürlichen Grundlagen dessen, was der Mensch aufgrund seiner übernatürlichen Bestimmung selbst hervorzubringen hat, mithin dasjenige, „was die Natur zu leisten vermag, um ihn [den Menschen; MH] zu dem vorzubereiten, was er selbst tun muß, um Endzweck zu sein“ (KU X, 389).
Kant dadurch die These, der Mensch sei „letzter Zweck“ der Natur, zurücknehmen möchte: Man kann den Streit der Fakultäten so lesen, dass dort nur für die bestimmende Urteilskraft die Möglichkeit des Aussterbens der Menschen offengelassen wird; solange dies nicht eintritt, könne die reflektierende Urteilskraft vom Menschen als dem letzten Zweck der Natur ausgehen. In diesem Punkt ist Kleingeld (1995, 42) zuzustimmen. Kleingeld unterstellt Kant aber darüber hinaus, er habe im §82 zu beweisen versucht, dass nur der Mensch als letzter Zweck der Schöpfung beurteilt werden könne (41 f.); dass Kant diese starke These nicht begründen könne, zeige eine grundsätzliche Schwäche im Aufbau seiner Argumentation. Nach meiner Interpretation begründet der §82 demgegenüber nur ein hypothetisches System von Zwecken, das sich gegenüber anderen Systemen lediglich als brauchbarer erweist. Dies ist vermutlich als eine direkte Kritik an Herder zu verstehen, der sowohl den letzten Zweck der Natur als auch den Endzweck der Schöpfung in der Glückseligkeit des Menschen gesehen hat; vgl. Riedel 1973, 223.
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Wird von der Materie des Willens abgesehen, bleibt als möglicher letzter Zweck der Natur nur noch die formale Bedingung der menschlichen Zwecksetzung übrig, d. i. die „Tauglichkeit: sich selbst überhaupt Zwecke zu setzen, und […] die Natur den Maximen seiner freien Zwecksetzung überhaupt angemessen, als Mittel, zu gebrauchen“ (KU X, 389). Menschen handeln nach Zwecken, und der letzte Zweck der Natur kann in nichts anderem bestehen als in der Perfektionierung der Möglichkeit, sich solche Zwecke zu setzen und diese in der Natur umzusetzen. Diese Perfektionierung nennt Kant „Kultur“.⁴⁵¹ Kultur tritt zunächst als „Kultur der Geschicklichkeit“ (KU X, 390) auf. Die Geschicklichkeit umfasst die Fähigkeit, beliebige Zwecke, die man sich setzt, in der Natur zu verwirklichen. Eine Kultur der Geschicklichkeit ist die Perfektionierung dieser Fähigkeit, insbesondere durch Wissenschaft und Technologie, die es erlauben, sich die Natur immer stärker für seine willkürlich gesetzten Zwecke nutzbar zu machen. Eine Kultur der Geschicklichkeit wäre jedoch immer noch nicht ausreichend, um einen letzten Zweck zu bestimmen, der als Übergang zum Endzweck vor allen anderen Naturzwecken ausgezeichnet wäre. Vielmehr muss auch der Akt der Zwecksetzung selbst berücksichtigt werden. Da es beim letzten Zweck der Natur, der definitionsgemäß noch zur Natur gehören muss, um die natürlichen Grundlagen des Menschen als moralischem Wesen geht, spielt die moralische Zwecksetzung, die dem Sittengesetz unterworfen ist, noch keine Rolle. Vielmehr geht es nur um die negative Seite der Willkürfreiheit: Zwecke „selbst zu wählen“ (KU X, 390) heißt zunächst nicht mehr, als dass die Zwecksetzung nicht von sinnlichen Trieben determiniert ist. Die Perfektionierung der Fähigkeit, sich von sinnlichen Begierden unabhängig Zwecke zu setzen, nennt Kant „Kultur der Zucht“ oder „Disziplin“ (KU X, 390). Die Bedingung der Tauglichkeit, „den Willen in der Bestimmung und Wahl seiner Zwecke, zu befördern“, welche man „die Kultur der Zucht (Disziplin) nennen möchte, ist negativ, und besteht in der Befreiung des Willens von dem Despotism der Begierden, wodurch wir, an gewissen Naturdinge geheftet, unfähig gemacht werden, selbst zu wählen“ (KU X, 390). Das Letzte, was die Natur in Ansehung der moralischen Vermögen des Menschen leisten kann, besteht also in der bloß negativen Propädeutik⁴⁵², seine sinnlichen Begierden regulieren zu lernen.
„Die Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt […] ist die Kultur.“ (KU X, 390) Kleingeld (1995, 44) weist darauf hin, dass Kultur damit den Prozess der Hervorbringung bezeichnet, und nicht das Resultat. Eine Propädeutik ist es deshalb, weil die Herrschaft der Vernunft nur ‚vorbereitet‘ wird; vgl. KU X, 392. Dass die hier angesprochene Kultur noch keine Moralität ausmachen kann, betont
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Erst nachdem Kant den letzten Zweck der Natur damit eindeutig bestimmt hat – die menschliche Kultur in den beiden Aspekten der Kultur der Geschicklichkeit und der Kultur der Zucht – wird die Argumentation explizit geschichtsphilosophisch. Hatte Kant zunächst eine zeitlos-vertikale Zweckhierarchie bestimmt – an der Spitze der Mensch, darunter die Tiere und Pflanzen, ganz unten schließlich die unbelebte Materie –, ist durch die Bestimmung der Kultur nun auch eine Zweckhierarchie auf einer Zeitachse erforderlich. Der Mensch ist nicht als solcher Zweck der Natur, sondern nur, insofern er im Laufe der Geschichte Kultur hervorbringt.⁴⁵³ Dadurch werden im System der Zwecke, das nun zusätzlich eine Zeitachse berücksichtigt, die früheren Menschen (zumindest auch) zum Mittel der späteren. Der eigentliche letzte Zweck ist ein gedachter Zustand in weiter Zukunft, angesichts dessen die gegenwärtigen Ereignisse als Mittel anzusehen sind. Es fällt auf, dass Kant in der knapp angedeuteten Durchführung einer solchen Zweckhierarchie Gegebenheiten nicht nur einfach als Mittel zur Beförderung der Kultur, sondern stets als notwendige Mittel ausweist.⁴⁵⁴ An den eher naturphilosophisch oder biologisch orientierten Stellen zur äußeren Zweckmäßigkeit finden sich solche Notwendigkeits-Behauptungen nicht. Man muss sich fragen, was Kant zu diesen Aussagen verleitet. Dass bloß empirische Überlegungen im Vordergrund stehen, kann bezweifelt werden. Kants Forschungsmaxime, alles in der Welt sei zu etwas gut und nichts umsonst (vgl. KU X, 328), legt vielmehr genau dann nahe, in Mittel-Zweck-Beziehungen die Mittel als notwendige Mittel aufzufassen, wenn die Mittel außergewöhnlich aufwändig oder besonders unerwünscht sind: Warum sollte die Natur ‚Umwege‘ wählen, warum sollte sie Wege wählen, die (etwa aus moralischer Perspektive) problematisch erscheinen? Ist dies Kants Motiv, bestimmte Gegebenheiten als notwendige Mittel für den letzten Zweck der Natur darzustellen, dann steht auch die KU im Dienst des Projekts einer „Rechtfertigung der Natur“ (IaG XI, 49).
auch Geismann (2000, 507). Höffe (2008, 302) argumentiert, die Betonung der natürlichen Vorbedingungen der Moralität stehe im Dienste des Vermittlungsinteresses zwischen Natur und Freiheit. Dies entspricht der ohne Erläuterung in IaG vorweggenommenen These, die Geschichte des menschlichen Geschlechts enthalte den Zweck der gesamten nicht-menschlichen Natur; vgl. IaG XI, 49. „Die Geschicklichkeit kann […] nicht wohl entwickelt werden, als vermittelst der Ungleichheit unter Menschen“ (KU X, 390); Krieg ist „unvermeidlich“ (KU X, 391).
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Kultur der Geschicklichkeit Kant führt zunächst aus, inwiefern Geschichte als Entwicklung der Geschicklichkeit aufzufassen ist. Dabei lässt er sich auf zwei Themenfelder ein: zum einen auf die Existenz sozialer Ungleichheiten – ein Problem, das Kant andernorts nicht behandelt; zum anderen die aus IaG bekannte Thematik von Krieg und Recht. „Ungleichheit zwischen Menschen“ (KU X, 390) sei eine notwendige Bedingung, um Wissenschaft und Kunst zu entwickeln. In der Erläuterung dieser These wird klar, dass es hier keinesfalls (oder jedenfalls nicht vorrangig) um natürliche Unterschiede an Begabung und Intelligenz geht, sondern um soziale Unterschiede: Sofern nicht der Großteil der Menschheit stupiden Tätigkeiten nachgeht, „gleichsam mechanisch“ arbeitet, „ohne dazu besonders Kunst zu bedürfen“ (KU X, 390), und auf diese Weise die nötigen Ressourcen erwirtschaftet, könnte es keine kleine Gruppe Auserwählter geben, die sich der Wissenschaft und Kunst widmen, ohne sich noch um die Unannehmlichkeiten der niederen Tätigkeiten wie Nahrungsmittelproduktion etc. kümmern zu müssen. Damit die Bereitstellung ausreichender Ressourcen gesichert werden kann, muss die arbeitende Klasse „in einem Stande des Drucks, saurer Arbeit und wenig Genusses gehalten“ (KU X, 390) werden. Ohne (offensichtlich mit Zwangsapparaten aufzubauenden) Druck arbeiteten sie zu wenig, und räumte man ihnen Genussmittel ein, bleibe zu wenig für die Elite übrig.⁴⁵⁵ Dass die durch soziale Ungleichheiten ermöglichte technologische Entwicklung auf Dauer auch auf die arbeitende Klasse zurückwirkt, indem sich „manches von der Kultur der höheren nach und nach“ (KU X, 390) auch dort verbreitet, dürfte für diese nur ein schwacher Trost sein. Wenn Kant hinzufügt, die absurde Folge der wachsenden Kultur sei, dass die „Plagen“ der Menschheit in gleichem Schritt zunehmen – im Falle der Arbeiterklasse durch die Erzeugung immer neuer Bedürfnisse, die zur „Ungenügsamkeit“ führt; im Falle der herrschenden Klasse durch „fremde Gewalttätigkeit“ (KU X, 391) –, dann möchte er offenbar (wie in IaG) herausstellen, dass die Zwecke des Menschen, insbesondere Glückseligkeit, nicht mit den Zwecken der Natur zusammenfallen: „der Zweck der Natur selbst, wenn es gleich nicht unser Zweck ist, wird hiebei erreicht“ (KU X, 391). Mit dieser geschichtsteleologischen Deutung der sozialen Verhältnisse wird aber das auf den Kopf gestellt, was der Beobachter des
Laut Städtler wurzelt diese Argumentation in konkreten historischen Bedingungen: Zwar habe Kant eine anspruchsvolle Konzeption von Selbstbestimmung formuliert, doch seien die materiellen Lebensbedingungen nicht ausreichend gewesen, um allen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Anstatt dass Kant in der Kultur der Geschicklichkeit die Aufgabe sehe, der Natur die nötigen materiellen Lebensbedingungen für alle abzutrotzen, betrachte er das Manko als unaufhebbar und perpetuiere die Ungleichheit als von der Natur gewollte. Vgl. Städtler 2011, 540 – 542.
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Geschehens originär empfinden muss: Dass nämlich die Unterdrückung der arbeitenden Klasse im Interesse der Elite geschieht, und nicht lediglich im unpersönlichen, nicht (an)greifbaren Interesse der ‚Natur‘. Wohlgemerkt versteht Kant seine Bewertung ‚nur‘ als geschichtsphilosophische Reflexion, und nicht als moralisches Statement – nur fragt sich, ob das zutiefst moralische Verhältnis zweier sozialer Klassen einer solch amoralischen Deutung überhaupt zugänglich sein kann (siehe auch Kapitel 8.4). Der diagnostizierte konservative Zug eines Systems äußerer Zweckmäßigkeit kommt hier jedenfalls voll zum Tragen. Kant wiederholt im Anschluss die aus IaG bekannte These, die Entwicklung der Kultur sei nur unter Rechtsgesetzen möglich: „Die formale Bedingung, unter welcher die Natur diese ihre Endabsicht allein erreichen kann, ist diejenige Verfassung im Verhältnisse der Menschen untereinander, wo dem Abbruche der einander wechselseitig widerstreitenden Freiheit gesetzmäßige Gewalt in einem Ganzen, welches bürgerliche Gesellschaft heißt, entgegengesetzt wird; denn nur in ihr kann die größte Entwickelung der Naturanlagen geschehen.“ (KU X, 391) Der Staat spielt hier erneut nur eine instrumentelle Rolle, und nicht in seinem normativ-selbstzweckhaften Charakter. Zu der bürgerlichen Verfassung muss auch ein internationaler Rechtszustand hinzutreten. Dabei ist nicht eindeutig zu bestimmen, ob der internationale Rechtszustand lediglich – wie in IaG – dazu dienen soll, die bürgerliche Verfassung zu ermöglichen, oder ob er – wie in späteren Schriften – neben dem Staat eine gleichberechtigte Bedingung zur kulturellen Entwicklung darstellt.⁴⁵⁶ Dieser wäre eigentlich von Menschen zielgerichtet einzuführen und durch freiwillige Absprachen zu organisieren.Weil Menschen aber dazu nicht in der Lage sind, sich nicht als „klug“ und „weise“ genug erweisen, um sich dem Zwange des internationalen Rechts „willig zu unterwerfen“, sondern aufgrund von „Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht“ (KU X, 391) den Rechtszustand systematisch zu verhindern suchen, muss die Natur zu einem ungewöhnlich harten Mittel greifen: Krieg sei „unvermeidlich“, um einen internationalen Rechtszustand entweder zu stiften oder zumindest vorzubereiten. Wie in IaG trägt der Krieg dazu bei, die Staatengemeinschaft in einem ständigen Veränderungsprozess zu halten: Er führt dazu, dass laufend Staaten zerfallen und andere sich vergrößern (vgl. KU X, 391). Aufgrund der Parallele zu IaG kann man davon ausgehen, dass sich Kant auch hier
„Zu derselben“ wäre das weltbürgerliche Ganze erforderlich. Das lässt offen, ob es zusätzlich zu derselben erforderlich ist, oder erforderlich, um eine solche zu entwickeln. In jedem Fall ist auch der internationale Rechtszustand hier nicht als Selbstzweck, sondern nur als Mittel der Natur relevant. Daran ändert nichts, dass Kant ihn als „moralisch begründete[s] System[.]“ (KU X, 391) bezeichnet – das ist er auch, aber hier ist dieser Aspekt nicht von Bedeutung.
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von diesem Prozess eines Tages eine Machtkonstellation erhofft, die die Gründung eines weltbürgerlichen Ganzen ermöglichen würde. Die geschichtsphilosophische Reflexion führt dazu, dass hinter dem planlosen Verhalten der Menschen ein langfristiger Plan der Natur angenommen wird. Was Menschen „unabsichtlich[.]“ und „durch zügellose Leidenschaften angeregt [.]“ betreiben, sei als ein „absichtlicher“ Versuch der „obersten Weisheit“⁴⁵⁷ (KU X, 391) zu deuten, die Gründung des internationalen Rechtszustands voranzutreiben. Dass Kant diese Deutung in der zweiten Auflage mit einem „vielleicht“ relativiert, ist weniger ihrem regulativen Status geschuldet, sondern eher einer Art agnostizistischem Vorbehalt: Zwar wird (regulativ, aber doch unbeirrbar) vorausgesetzt, dass es einen Plan der Natur gibt; wie dieser Plan genau aussieht, kann aber nur vorläufig vermutet werden, denn er bleibt „tief verborgen[.]“ (KU X, 391). Der weitere Verlauf der Geschichte müsste entsprechend in Kants Sicht zu Korrekturen führen können. Der Krieg, dessen furchtbare Konsequenzen in Form der „schrecklichsten Drangsale, womit er das menschliche Geschlecht belegt, und der vielleicht noch größern, womit er die beständige Bereitschaft dazu im Frieden drückt“ (KU X, 391 f.), nicht bestritten werden, übernimmt noch eine weitere Funktion: Er dient durch die ökonomische und militärische Konkurrenz, die er mit sich bringt, als „Triebfeder […], alle Talente, die zur Kultur dienen, bis zum höchsten Grade zu entwickeln“ (KU X, 392). Noch einmal weist Kant darauf hin, dass Glückseligkeit nicht der Zweck der Natur sein kann, sondern ihren Zwecken diametral entgegensteht: Ein Zustand, in dem es allen gut ginge, alle Bedürfnisse erfüllt wären, würde im „Ruhestande einer Volksglückseligkeit“ (KU X, 392) enden, der die Entwicklung der Anlagen zum Stillstand bringen würde. Die Dynamik der Geschichte lebt dagegen davon, dass Ungemächlichkeiten und Bedrohungen, wie sie auch der Krieg erzeugt, den Fortschritt am Laufen halten. Der Krieg, der zunächst zweckwidrig erscheinen muss, wird durch die teleologische Reflexion als in zweifacher Weise – nämlich in juridischer und kultureller Hinsicht – als zweckmäßig ausgewiesen. Auch die zweite oben diagnostizierte Tendenz der Unterstellung von Zweckmäßigkeit in der Welt findet damit im Abschnitt zur Geschichtsphilosophie ihre Bestätigung: Das scheinbar Zweckwidrige erweist sich durch die geschichtsphilosophische Reflexion als zweckmäßig.
Es überrascht, dass Kant unvermittelt den Begriff der obersten Weisheit verwendet, der an den Gottesbegriff erinnert. Zu diesem Problembereich siehe Kapitel 8.5.
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Kultur der Zucht Menschen haben Neigungen, die in mancherlei Hinsicht sehr zweckmäßig sind, der Eigenschaft des Menschen, Endzweck zu sein, aber entgegenstehen und insofern „die Entwickelung der Menschheit sehr erschweren“ (KU X, 392). Die Natur soll daher neben ihrer Leistung zur Kultur der Geschicklichkeit so gedeutet werden, als hebelte sie die Neigungen, die sie selbst zu bestimmten Zwecken in den Menschen gelegt hat, im Laufe der Geschichte derart wieder aus, dass der Mensch seiner Bestimmung, Endzweck zu sein, nachkommen kann. Die daraus resultierende ‚Kultur der Zucht‘ beinhaltet eine paradox anmutende Vorstellung: Die Natur muss mit natürlichen Mitteln die natürlichen Anlagen des Menschen so eindämmen, dass seine übernatürliche Bestimmung sichtbar wird. Kant versucht dies im Wesentlichen mit der Entwicklung ästhetischer Empfindungen, daneben auch allgemeiner mit dem Fortschritt der Wissenschaft durchzuführen. Dabei greift er Themen der „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“ auf. Die „Verfeinerung des Geschmacks bis zur Idealisierung desselben, und selbst der Luxus in Wissenschaften“ erzeugen zwar immer mehr Bedürfnisse und vermehren dadurch das gefühlte „Übel“ (KU X, 392). Der verfeinerte Geschmack bringt den Menschen aber zugleich dahin, seine besonders ‚tierischen‘ Neigungen regulieren zu lernen: Selbstliebe und Genusssucht treten uns mit „Rohigkeit“ und mit „Ungestüm“ entgegen; sie werden zu einer „Tyrannei des Sinnenhangs“ (KU X, 392), die es mit ganzer Kraft zu brechen gilt. An die Stelle der „Neigungen des Genusses“ (KU X, 392) sollen solche Neigungen treten, die mit einem eher selbstlosen Wohlgefallen verbunden sind – offenbar denkt Kant insbesondere an das Bedürfnis nach sinnlich Schönem oder Erhabenem. Eine solche „Lust“ (KU X, 392) nach ästhetischen Werten fällt zwar selbst noch in den Bereich der Natur, übersteigt diese aber zugleich durch intersubjektive Mitteilbarkeit und weist auf die moralische Bestimmung des Menschen hin. Der Schritt zur Moral muss dann freilich vom Menschen selbst vollzogen werden: Solange man nur die sinnlich bedingte Lust in den Blick nimmt, kann man zwar eine „Geschliffenheit und Verfeinerung für die Gesellschaft“ beobachten, die den Menschen „gesittet“ (KU X, 392) machen. Eine Perfektionierung dieser qualifizierten Neigungen, die in der geschichtsphilosophischen Reflexion als letzter Zweck der Natur angesehen werden, macht den Menschen aber noch nicht „sittlich“ (KU X, 392).
Der Übergang zum Menschen als Endzweck Die Kultur der Zucht läuft darauf hinaus, dass sie uns „eine Tauglichkeit zu höheren Zwecken, die in uns verborgen liegt, fühlen lässt“ (KU X, 393); uns dadurch sogar zur Ausbildung höherer Zwecke „empfänglich macht“ (KU X, 392). Die
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Frage, welche höheren Zwecke damit gemeint sind, wäre eine rhetorische: Es geht, wie schon lange deutlich wurde, um die moralischen Zwecke der reinen praktischen Vernunft. Der Mensch als moralisches Wesen soll also zugleich „Endzweck“ sein und damit als Schlussstein das aufgebaute System von Zwecken vor dem Einsturz sichern. Nur wenn es einen Endzweck gibt, von dem nicht weiter gefragt werden kann, wozu er wiederum da wäre, kann das ins Unendliche und ins Hypothetische abzugleiten drohende System von Zwecken vernünftig abgesichert werden. Da von jedem Naturding gefragt werden kann, wozu es da sei (vgl. KU X, 383), muss der Endzweck, wie schon vorweggenommen, außerhalb der Natur liegen. Damit ändert sich aber auch die Art der Beziehung zwischen Natur und Zweck: War der letzte Zweck ein Zweck der Natur in dem Sinne, dass die Natur so vorgestellt wird, als habe sie sich etwas als Zweck gesetzt, so ist der „Endzweck der Natur“ (KU X, 417) dasjenige, wofür die Natur selbst da ist.⁴⁵⁸ Um diesen Unterschied zu markieren, spricht Kant überwiegend vom „Endzweck der Schöpfung“ (z. B. KU X, 417) oder sogar vom „Endzwecke des Daseins einer Welt“ (KU X, 393). Diese Redeweise suggeriert, dass nicht nur die Natur zweckhaft handelt, sondern dass es hinter der Natur eine weitere Instanz gibt, die mit der Erschaffung der Welt ein Ziel verfolgt. Da der Endzweck der Schöpfung der Mensch als moralisches Wesen ist, muss diese weitere Instanz nicht nur über ausreichend Macht verfügen, eine Welt zu schaffen, sondern auch mit moralischen Prädikaten beschreibbar sein – alles deutet darauf hin, dass an dieser Stelle der Gottesbegriff ins Spiel kommt. Tatsächlich formuliert Kant, es sei „von einem objektiven obersten Zwecke die Rede, wie ihn die höchste Vernunft zu ihrer Schöpfung erfordern würde“ (KU X, 395).⁴⁵⁹ Warum muss der Endzweck in der moralischen Natur des Menschen liegen? Der Endzweck dürfte von „keiner anderweitigen Bedingung, als bloß seiner Idee abhängig“ (KU X, 394) sein. Dies koinzidiert mit der Unbedingtheit des moralischen Gesetzes. Der Mensch ist zwar einerseits als Naturwesen Teil der Schöpfung, andererseits weist er „als Noumen betrachtet“ (KU X, 394) über die natürliche Seite der Schöpfung hinaus. „Von dem Menschen nun (und so jedem vernünftigen Wesen in der Welt), als einem moralischen Wesen, kann nicht weiter gefragt
Vgl. dazu Geismann 2000, 506 Fn. 505, der darauf hinweist, dass einmal ein genitivus objectivus und einmal ein genitivus subjectivus vorliegt. Dass hier ein Gottesbegriff im Hintergrund steht, wird erst im Zusammenhang mit der Ethikotheologie explizit gemacht; vgl. KU X, 405. Man kann aber davon ausgehen, dass sich diese Erläuterung schon auf den §84 bezieht. Anders Höffe: „Der Gedanke des Endzwecks hat, so weit entwickelt, keine theologischen Prämissen“; er sei „theologisch unkontaminiert“ (Höffe 2008, 295 und 304).
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werden: wozu (quem in finem) er existiere.“ (KU X, 394) Damit geht die Überlegung einher, dass dem Menschen ein unendlicher intrinsischer Wert zukommt, und nicht nur ein begrenzter und instrumenteller (vgl. KU X, 393 Anm.). Mit dem Menschen ist zugleich das Endzweck, was der Mensch als moralisches Wesen zum höchsten Zweck hat: das „höchste Gut in der Welt“ (vgl. KU X, 394).⁴⁶⁰ Der Übergang vom naturimmanenten letzten Zweck zum übersinnlichen Endzweck der Schöpfung bringt ein gewaltiges Problem mit sich. War der letzte Zweck der Natur noch durch eine Zeitachse bestimmt – Ereignisse der Gegenwart sind Mittel zum Zweck der Beförderung der künftigen Kultur –, lässt der Mensch als Endzweck eine solche Achse nicht mehr zu: Der Mensch an sich ist Endzweck der Natur, und nicht eine Gruppe zukünftiger Menschen am Ende der Geschichte. Zwar könnte der Ausdruck „höchstes Gut in der Welt“ dazu verleiten, auch den Endzweck in Anlehnung an die Religionsschrift historisch zu deuten. Dagegen spricht aber erstens, dass ausdrücklich jeder Mensch als Zweck an sich anzusehen ist.⁴⁶¹ Zweitens ist diese Interpretation unplausibel, weil das höchste Gut hier als Übereinstimmung von Glückseligkeit und Glückswürdigkeit aufgefasst wird (vgl. KU X, 395 Anm.) – was für das innerweltliche höchste Gut als gemeinschaftliches, das in der Religionsschrift thematisiert wird, nur bedingt gilt.⁴⁶² Dieser ahistorische Fokus auf jeden einzelnen Menschen führt zu einer prekären Konsequenz: In den Augen der Natur konnten Menschen noch als „Mittel zu unbestimmtem Endzwecke“ (KU X, 393 Anm.) aufgefasst werden – in den Augen des Weltschöpfers sollen sie aber zugleich Wesen sein, von denen nicht einmal mehr gefragt werden kann, wozu sie gut sind. Kant sieht die Lösung dieser Aporie offenbar darin, dass der Mensch einerseits als Naturwesen, andererseits als Noumenon aufgefasst wird. Trotz dieser Unterscheidung zweier Aspekte des Menschen handelt es sich aber um die gleichen Subjekte, von denen die Rede ist – es ist nicht einzusehen, weshalb eine andere Perspektive auf den Menschen seinen intrinsischen Wert in Frage stellen kann.⁴⁶³ Der Begriff des höchsten Gutes, der durch die Endzweck-These im §84 eingeführt wird, ist für Kant die Überleitung zur Ethikotheologie, auf die er allerdings nicht ohne eine vorausgehende Kritik an der Physikotheologie zu sprechen kommt. Die Geschichtsphilosophie Kants wird dadurch in einen merkwürdigen Rahmen eingebettet: Einerseits resultiert sie aus naturteleologischen Überle-
Später stellt Kant seine Sicht so dar, als wäre nur das höchste Gut Endzweck; vgl. das Problem böser Menschen, die nicht Endzweck sein könnten (KU X, 404) und die ausdrückliche Formulierung in TP XI, 132. „jedes vernünftige Wesen“ (KU X, 394; meine Hervorhebung). Siehe Kapitel 5.2. Zu dieser Problematik siehe auch Kapitel 8.6.
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gungen, die wiederum auf spezifisch biologischen Erkenntnisproblemen aufruhen; der naturwissenschaftliche Kontext des Prinzips innerer und äußerer Zweckmäßigkeit ist unübersehbar. Sie führt dann aber zu einer Art Schöpfungstheologie, die den Menschen als moralfähiges Wesen in den Blick nimmt; direkt im Anschluss finden sich religionsphilosophische Thesen, die zu guter Letzt in Kants Individualeschatologie einmünden.⁴⁶⁴ Die Mischung von erkenntnistheoretischen und theologischen Motiven macht es schwer, Kant einer geschichtstheoretischen Tradition zuzuordnen bzw. die Nähe oder Differenz zur Eschatologie zu bestimmen. Immerhin lässt sich festhalten, dass die teleologische Urteilskraft durchweg die Vorstellung eines göttlichen Standpunkts voraussetzt – sei es in Form eines Verstandes, der nicht der unsrige ist (vgl. KU X, 89); in der Vorstellung einer nach Zwecken handelnden ‚Natur‘ oder im Begriff der „obersten Weisheit“ (KU X, 391). Zugleich interpretiert Kant nach dem geschichtstheologischen Muster den Verlauf der bisherigen Geschichte und die Ereignisse der Gegenwart als Entwicklungen, die erst in der Zukunft vollendet werden (so jedenfalls der internationale Rechtszustand und die „bis zum höchsten Grade“ entwickelten Talente). Dass die Geschichtsphilosophie innerhalb der KU genau an der Schnittstelle zwischen Erkenntnistheorie und Moralphilosophie liegt, soll abschließend zum Anlass genommen werden, noch einmal zur Ausgangsfrage der KU zurückzukehren: Inwiefern ist die Geschichtsphilosophie ein „Verbindungsmittel“ (KU X, 84) für theoretische und praktische Vernunft, und in welcher Weise ‚vermittelt‘ sie zwischen Natur und Freiheit? Allgemein gesprochen erfolgt die Vermittlung durch die teleologische Ausrichtung der Natur auf die Freiheit: Die gesamte Natur existiert nur der Freiheit wegen; sie ist so eingerichtet, dass Freiheit optimal ermöglicht wird. Für die Geschichtsphilosophie heißt das konkret, dass die Natur im Laufe der Geschichte alle Bedingungen hervorbringt, die zur Realisierung der Freiheit erfordert werden. Sie kommt dem Menschen als moralischem Wesen soweit wie irgend möglich entgegen – nur die Freiheit selbst liegt noch allein in dessen Hand. Die höchste Form der moralischen Propädeutik stellt die Kultur der Zucht dar, vornehmlich in Form einer Verfeinerung der ästhetischen Vermögen des Menschen. Quasi nebenbei manifestiert sich die Vermittlung auch in der Entwicklung des Rechts, für die die Natur sorgt. Das Recht ist einerseits moralisch begründet (vgl. KU X, 391) und insofern Ausfluss der Freiheitsvermögen des Menschen; andererseits ist es in seiner Ausübung nicht auf die Freiheit angewiesen. Weil es be-
Ob der Übergang zur Theologie für die Geschichtsphilosophie überhaupt relevant ist, diskutiere ich kurz in Kapitel 9.3.
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grifflich möglich ist, heteronom in einen vernunftgemäßen Rechtszustand gezwungen zu werden, kann die Natur die juridischen Aspekte vernünftigen Zusammenlebens auch gegen die Unvernunft der Menschen durchsetzen. Es ist deshalb kein Zufall, dass der Rechtsfortschritt in den späteren Schriften Kants zunehmend zur beherrschenden Thematik der Geschichtsphilosophie wird.
7 Praktische Vernunft und Geschichte 7.1 Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, III. Teil Die drei thematisch sehr verschiedenen Teile der Schrift Über den Gemeinspruch sind laut Kant durch ein einheitliches Motiv miteinander verbunden: die Kritik an der im intellektuellen Milieu offenbar verbreiteten Haltung, Theorie zwar nicht als falsch zurückzuweisen, ihr aber jegliche praktische Relevanz abzusprechen. Was in der Theorie durchaus richtig sein könne, sei unzureichend, Handlungsanweisungen für die Praxis zu generieren. Statt auf die Ergebnisse von Philosophie und Wissenschaft zurückzugreifen, könne deshalb der Praktiker nur auf die Erfahrung vertrauen. Politik hieße in dieser empiristischen Sicht dann nur noch, historisch bewährte Strukturen zu erhalten.⁴⁶⁵ Dem Praktiker sei demzufolge an besserer Theorie gar nicht gelegen; er belächele vielmehr den Theoretiker und orientiere sich unbeeindruckt jeglicher abstrakter Argumente an dem, was sich in der Vergangenheit als handhabbar und nützlich erwiesen habe. Eine solche Haltung, typischerweise vorgebracht „in einem vornehmen wegwerfenden Ton“ voller Anmaßung und Weisheitsdünkel, werde „zum Skandal der Philosophie“ (TP XI, 129). Dabei beraube sich der Praktiker selbst jedes rationalen Geltungsanspruchs: Indem die „empirischen und daher zufälligen Bedingungen der Ausführung eines Gesetzes zu Bedingungen des Gesetzes selbst gemacht“ werden und so die Praxis, „welche auf einen nach bisheriger Erfahrung wahrscheinlichen Ausgang berechnet ist“ (TP XI, 129), den Vorzug über die in allgemeinen Begriffen verankerte Theorie erhält, lässt sich über die Angemessenheit einer bestimmten Praxis nicht einmal mehr sinnvoll diskutieren. Der Bezug zum Theorie-Praxis-Problem innerhalb der drei Teile der Schrift wirkt mitunter künstlich. Kant diskutiert im ersten Teil Einwände gegen die begriffliche Trennung von Glückseligkeit und Moralität; im zweiten Teil werden vernunftrechtliche Fragen des Staatsrechts mit besonderer Berücksichtigung des Problems des Widerstands behandelt. Am deutlichsten wird der Einwurf des Praktikers tatsächlich im dritten, geschichtsphilosophischen Teil angesprochen:⁴⁶⁶ Im Kern der Argumentation steht die Zurückweisung der empiristischen These, Staaten würden sich ja doch nicht auf eine Verrechtlichung des interna-
Vgl. Brandt 2004, 136 f. Dort finden sich auch Vermutungen, auf welche Personen Kant hier anspielt. Anders Kleingeld 1995, 51: Im dritten Teil käme das Theorie-Praxis-Thema auffallend wenig zur Sprache.
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tionalen Raums einlassen; insofern müsse man jede normative Theorie darüber verlachen (vgl. TP XI, 172). Dieses Argumentationsziel wird allerdings zunächst dadurch versteckt gehalten, dass Kant eine auf den ersten Blick ganz andere Frage stellt: „Ist das menschliche Geschlecht im ganzen zu lieben, oder ist es ein Gegenstand, den man mit Unwillen betrachten muß […]?“ (TP XI, 165) Dabei geht es Kant nicht unbedingt um eine Diskussion des humanistischen Gebots einer allgemeinen Menschenliebe. Das wird schon dadurch deutlich, dass Kant die Antwort von der Einschätzung einer anderen Frage abhängig macht: „Die Beantwortung dieser Frage beruht auf der Antwort, die man auf eine andere geben wird: Sind in der menschlichen Natur Anlagen, aus welchen man abnehmen kann, die Gattung werde immer zum Besseren fortschreiten; und das Böse itziger und vergangener Zeiten sich in dem Guten künftiger verlieren?“ (TP XI, 165) Es geht also nicht darum, welche Einstellung gegenüber dem menschlichen Geschlecht oder gar gegenüber den jetzt lebenden Menschen moralisch wünschenswert wäre – diese Frage wäre für Kant durch das allgemeine Gebot „praktischer“ Liebe (vgl. GMS VII, 25 f.) bzw. der „Liebe des Wohlwollens“ (TP XI, 165) zu beantworten, demzufolge man sich die Glückseligkeit aller Menschen zum Zweck machen sollte. Vielmehr steht im Vordergrund die Überlegung, ob die Menschheit es in den Augen eines unparteiischen Beobachters verdienen könne, geliebt zu werden. Was wäre das Kriterium, mit dem man sich verdienen kann, geliebt zu werden? Es liegt auf der Hand, dass Kant moralische Aspekte im Auge hat. Doch dies präziser zu fassen, bereitet Schwierigkeiten. Gegenstand der Abhandlung ist, wie der Titel vorwegnimmt, überwiegend Rechtsfortschritt im Völkerrecht. Aber wäre das menschliche Geschlecht aufgrund eines Rechtsfortschritts liebenswert? In einer Anmerkung gleich zu Beginn verneint Kant dies, indem er darauf hinweist, dass Anlagen die Menschheit liebenswürdig machen könnten, die allein im internationalen Rechtszustand entwickelt werden können (vgl. TP XI, 165) – der Rechtszustand selber oder die Anlage zur Begrenzung äußerer Handlungen nach dem allgemeinen Rechtsgesetz können nicht ausschlaggebend sein. Auch kulturelle Anlagen spielen in der Schrift keine Rolle.⁴⁶⁷ Gemeint ist deshalb offenbar nur die moralische Anlage des Menschen. Im Gegensatz zu IaG wird damit das Völkerrecht hier nicht in seiner instrumentellen Funktion für das Staatsrecht gewürdigt. Es bekommt aber ebensowenig einen echten Eigensinn zugesprochen, sondern bleibt ein instrumenteller Wert, diesmal für die Entwicklung moralischer Anlagen.
An einer Stelle erwähnt Kant das kulturelle Fortschreiten; dieses wird aber einfach unkommentiert vorausgesetzt, um für das moralische Fortschreiten argumentieren zu können (vgl. TP XI, 167).
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7 Praktische Vernunft und Geschichte
Dennoch fällt auf, dass Kant der Frage nach der Entwicklung des moralischen Vermögens nicht mehr ernsthaft nachgeht – die Schrift thematisiert ausschließlich juridische Entwicklungen. Zwar fallen mehrfach Begriffe wie ‚moralisch‘ oder ‚Moralität‘. Kant hat aber im Vorspann der Schrift explizit darauf hingewiesen, dass er diese Begriffe in einem weiten Sinn versteht: „etwas Moralisches (Tugendoder Rechtspflicht)“ (TP XI, 129). Nur an drei Stellen scheint sich Kant tatsächlich auf die Moral in der engeren Bedeutung zu beziehen: Die Nachkommenschaft könnte „immer zum Besseren, selbst im moralischen Sinn, fortschreiten“ (TP XI, 170); zweitens habe die Vernunft ein freies Spiel, die Neigungen „insgesamt zu unterjochen“ und „das Gute […] herrschend zu machen“ (TP XI, 171); drittens sollte die „moralisch-praktische Vernunft […] endlich über [das Böse] siegen“ (TP XI, 172 – eine klare Anspielung auf die RGV). Alle drei Stellen beziehen sich aber eindeutig auf mögliche Wirkungen des Rechts in moralischer Hinsicht; die Entwicklung der Moral selbst spielt keine Rolle. Auch wenn die Frage nach der Liebenswürdigkeit also auf die moralische Anlage zielt, bleibt der konkrete Maßstab für Kant das Recht. Der Übergang von der Frage, ob das menschliche Geschlecht zu lieben sei, zur Geschichtsphilosophie enthält ein weiteres Problem: Die Liebenswürdigkeit der Menschheit von der Frage nach Fort- oder Rückschritt abhängig zu machen, impliziert, dass künftige wertvolle Zustände in irgendeiner Weise vergangenes Übel übertrumpfen können. Das „Böse itziger und vergangener Zeiten“ müsse sich in dem „Guten künftiger verlieren“ (TP XI, 165; meine Hervorhebung). Betrachtet man die Entwicklung eines Individuums, könnte dies noch plausibel sein: Wer nach einigen Seitensprüngen zu einem tugendhaften Charakter findet, wird alles in allem als liebenswert zu beurteilen sein. Eine direkte Übertragung dieser Überlegung auf die Geschichte der Menschheit bringt aber Probleme mit sich: Offenbar soll nach Kant, ist die Fortschrittsthese richtig, das menschliche Geschlecht im Ganzen liebenswürdig sein, ohne dass aber jedes einzelne Exemplar dieses Geschlechts liebenswürdig wäre. Nicht nur müsste die späte Entwicklungsstufe der Menschheit selbst durch ihre brutale Entstehungsgeschichte unbelastet bleiben, sondern sie müsste sogar das vergangene Unrecht in irgendeiner Form wiederaufwiegen. Kant geht nicht weiter darauf ein, wie dies möglich sein soll.⁴⁶⁸ Statt-
Man könnte eine Stelle aus der Anthropologie als Auseinandersetzung mit dieser Problematik lesen: Die Frage, ob die menschliche „als eine gute oder schlimme Rasse anzusehen sei“ (Anth XI, 688), wird gelöst, indem die Menschengattung „nicht als böse, sondern als eine aus dem Bösen zum Guten […] emporstrebende Gattung“ (Anth XI, 690) aufgefasst wird. Dabei soll gelten, dass „ihr Wollen, im allgemeinen, gut, das Vollbringen aber dadurch erschwert ist, daß die Erreichung des Zwecks nicht von der freien Übereinstimmung der einzelnen, sondern nur durch fortschreitende Organisation der Erdbürger in und zu der Gattung als einem System […]
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dessen verfolgt er im Hauptteil der Schrift nach einem kurzen Referat der These Mendelssohns, die Sittlichkeit der Menschheit oszilliere fortschrittslos um einen eher niedrigen Wert, allein das Ziel, die Fortschrittsthese als richtig zu erweisen. Die Argumentation umfasst vier Schritte: Nach einer kurzen Einleitung, dass die These Mendelssohns unbefriedigend ist (1), stellt Kant die Fortschrittsthese auf und verteidigt sie vorläufig damit, dass ihr Gegenteil nicht beweisbar sei (2). Er liefert dann ein positives Argument für die Fortschrittsthese (3) und führt ansatzweise den Fortschrittsmechanismus vor (4). (1) Wenn Mendelssohn recht damit hätte, dass die Sittlichkeit der Menschen nach jeder Phase leichter Besserung sogleich wieder zurückfallen würde und langfristiger Fortschritt nicht möglich wäre, sei Geschichte nur als sinnloses Spiel begreifbar. Kant bemüht erneut (vgl. IaG XI, 35) den Vergleich der Weltgeschichte mit einem Theaterstück: Der Zuschauer könne einem solchen strukturlosen Auf und Ab keinen Sinn abgewinnen; zwar könne er dem „Trauerspiel“ eine Weile zusehen, doch schnell gerät es zum „Possenspiel“ (TP XI, 166), von dem man sich bald müde abwenden wird. Den Prototyp der Struktur eines solchen Theaterstücks liefert der Mythos des Sisyphos (vgl. TP XI, 166). Ohne Zweifel wird jeder Theaterbesucher seine Probleme mit einem solchen endlosen Stück ohne dramatische Entwicklung haben. Doch die Erwartung des Theaterbesuchers speist sich aus dem künstlerischen und damit ‚gekünstelten‘ Charakter des Theaters: Eine narrative Struktur mit Ausgangsproblem, Prüfungen und gelungenem oder gescheitertem Ende wohnt dem Stück ja deshalb inne, weil es das Kunstprodukt eines Autors ist. Aber warum sollte der Philosoph der Weltgeschichte mit gleichen Erwartungen gegenübertreten wie der Zuschauer dem Theaterstück? Ein Argument liefert Kant hier nicht; es geht bislang eher um eine Motivation, die Mendelsohnsche Sicht zurückzuweisen, als um einen Beweis. Denn selbst wenn Geschichte einen dem Menschen „höchst unwürdige[n] Anblick“ (TP XI, 166) böte, kann dies allein nicht hinreichen, um sich dieses Anblicks zu entziehen.⁴⁶⁹
erwartet werden kann“ (Anth XI, 690). Das hieße, dass der Wille der Menschengattung durchweg gut ist, aber aufgrund schlechter Organisation über weite Teile der Geschichte nicht zum Tragen kommt – Kriege etc. entstünden trotz des guten Willens. Es bleibt ein Rätsel, wie dies mit Kants Moralphilosophie zusammenpassen soll. Man könnte erwägen, ob Kant hier ein Argument aus einem ‚Vernunftbedürfnis nach sinnvoller Geschichte‘ andeuten möchte – dann diente der Absatz nicht nur dazu, ein gewisses Unbehagen gegenüber der These Mendelssohns aufzuzeigen, sondern würde eine Rechtfertigung für Kants Sicht leisten. Der Verlauf des Textes deutet aber darauf hin, dass Kant diese Rechtfertigung erst später, nämlich mit dem Hinweis auf eine moralische Pflicht, beginnen möchte.
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Kant diskutiert sodann die Frage, ob der auf der Weltbühne gesuchte Sinn nicht darin liegen könnte, dass ein jeder am Ende seiner gerechten Strafe zugeführt wird. Offensichtlich bezieht er sich mit dieser Stelle auf die Postulatenlehre: Wäre der Verlauf der Geschichte für den Beobachter nicht einerlei, solange jeder Einzelne im Jenseits bekommt, was er verdient? Kant weist darauf hin, dass die gerechte Strafe am Ende eines Schauspiels durchaus die „unangenehmen Empfindungen […] wiederum gut machen“ (TP XI, 167) kann, die man während des Stücks erleiden musste. Dies sei jedoch auf die reale Welt nicht übertragbar: Es könne unmöglich als sinnvoll angesehen werden, dass möglichst viel Unmoral produziert wird, um dann um so mehr strafen zu können. In der eschatologischen Perspektive, die eine solche Überlegung einnehmen müsste, verschärft sich das Problem sogar: Mit der künftigen Strafe für moralische Vergehen muss zugleich die Existenz eines weisen Welturhebers vorausgesetzt werden. Dieser kann aber die Welt kaum zu dem Zwecke erschaffen haben, möglichst viel zu strafen. „Aber Laster ohne Zahl (wenn gleich mit dazwischen eintretenden Tugenden) in der Wirklichkeit sich über einander türmen zu lassen, damit dereinst recht viel gestraft werden könne: ist, wenigstens nach unseren Begriffen, sogar der Moralität eines weisen Welturhebers und Regierers zuwider.“ (TP XI, 167)
(2) Damit kann die Fortschrittsthese lediglich als „Voraussetzung“ (TP XI, 167) im Sinne einer vorläufigen Annahme eingeführt werden: „Ich werde also annehmen dürfen: daß, da das menschliche Geschlecht beständig im Fortrücken in Ansehung der Kultur, als dem Naturzwecke derselben, ist, es auch im Fortschreiten zum Besseren in Ansehung des moralischen Zwecks seines Daseins begriffen sei, und daß dies zwar bisweilen unterbrochen, aber nie abgebrochen sein werde.“ (TP XI, 167)
Mit den Begriffen der „Kultur“ und des „Naturzwecks“ greift Kant unvermittelt Bausteine aus der KU wieder auf; beide Begriffe kommen in der Schrift nicht nochmals vor. Es stellen sich eine Reihe von Interpretationsproblemen: Weshalb trennt Kant den Kulturbegriff von der These moralischen Fortschritts, obwohl im Anschluss lediglich juridischer Fortschritt thematisiert wird, den Kant in der KU doch unter den Kulturbegriff subsumiert hat? Wenn Kant dagegen nicht auf juridischen, sondern auf moralischen Fortschritt hinaus möchte, weshalb kann dieser plötzlich parallel zum kulturellen Fortschritt verlaufen, und nicht erst hinterher (so ja in der KU)? Wie ist die Relation der Rechtfertigungen von kulturellem und moralischem Fortschritt zu verstehen: Besteht tatsächlich ein Kausalverhältnis, wie das Wörtchen „da“ (verstanden im Sinne von ‚weil‘) nahelegt? Dann würde Kant entweder das Argument für den kulturellen Fortschritt in der KU voraussetzen und von diesem auf moralischen Fortschritt schließen; oder Kant bezöge sich nicht auf die KU, sondern auf das geteilte Bewusstsein der
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Neuzeit, dass mit Blick auf Wissenschaft und Technik ein Fortschritt nicht zu leugnen sei – man dürfe deshalb auch moralischen Fortschritt annehmen, solange es keine Gegenargumente gebe. Oder versteht Kant den Einschub eher als additives Element: Ebenso wie den Fortschritt in Ansehung der Kultur müsse man auch den moralischen Fortschritt voraussetzen? So kryptisch die These Kants in diesen Fragen bleibt, so klar ist sein sich anschließendes Argument dafür, die strikte Gegenthese, es gäbe prinzipiell keinen Fortschritt in der Geschichte, zurückzuweisen: Es gibt eine Pflicht, „so auf die Nachkommenschaft zu wirken, daß sie immer besser werde“ (TP XI, 167). Diese Pflicht setzt voraus, dass eine Besserung der Nachkommenschaft möglich ist. Könnte bewiesen werden, dass eine Besserung der Nachkommenschaft nicht möglich ist, müsste man die Pflicht aufgeben, denn ultra posse nemo obligatur. Ein solcher Beweis ist bislang nicht erbracht und in den Augen Kants auch prinzipiell gar nicht zu erbringen: Dass etwas, „was bisher noch nicht gelungen ist, darum auch nie gelingen werde“ (TP XI, 168), wäre ein ungültiger Schluss von der kontingenten Vergangenheit aufs Prinzipielle. Solange also Zweifel herrschen, ob Fortschritt möglich sei, muss aufgrund der Pflicht, die Nachkommenschaft zu befördern, immer von einer affirmativen Antwort ausgegangen werden. Die Pflicht überwiegt die „bloße Hypothese“, Fortschritt sei etwas „Untunliche[s]“ (TP XI, 167).⁴⁷⁰ Unklarheit bekommt das Argument, das eine unübersehbare Ähnlichkeit mit der Postulatenlehre aufweist und daher als ‚praktisches Argument‘ bezeichnet werden kann, erst durch das Beweisziel: Kant scheint mit seiner Überlegung tatsächlich mehr rechtfertigen zu wollen als die bloße Möglichkeit des Fortschritts. Vielmehr führt die Zurückweisung des Anspruchs, die Unmöglichkeit des Fortschritts zeigen zu können, für Kant zu der Konsequenz, dass die Wirklichkeit des Fortschritts zumindest angenommen werden darf. „Diese Voraussetzung [nämlich die des tatsächlichen Fortschritts; MH] zu beweisen, habe ich nicht nötig; der Gegner derselben muß beweisen.“ (TP XI, 167) Ohne dass Kants Voraussetzung also bewiesen wäre, soll er dennoch berechtigt sein, ihre Gültigkeit anzunehmen.
Ganz ähnliche Überlegungen finden sich in der Friedensschrift, im „Beschluß“ der Rechtslehre und in der Anthropologie: Der künftige Fortschritt sei von einer Sicherheit, die „in praktischer Absicht zulangt, und es zur Pflicht macht, zu diesem (nicht bloß schimärischen) Zwecke hinzuarbeiten“ (ZeF XI, 227); „das Handeln nach der Idee jenes Zwecks, wenn auch nicht die mindeste theoretische Wahrscheinlichkeit da ist, daß er ausgeführt werden könne, dennoch aber seine Unmöglichkeit gleichfalls nicht demonstriert werden kann, das ist es, wozu uns eine Pflicht obliegt“ (RL VIII, 477 f.); dass die Menschheit sich, unterstützt durch eine Tendenz der Natur, vom Bösen zum Guten emporarbeite, sei mit „moralischer (zur Pflicht der Hinwirkung zu jenem Zweck hinreichender) Gewißheit“ (Anth XII, 684) zu erwarten.
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Es reicht Kant nicht, bei der theoretischen Einsicht stehen zu bleiben, dass immer „ungewiß […] sein und bleiben mag, ob für das menschliche Geschlecht das Bessere zu hoffen sei“ (TP XI, 167). Er möchte die darüber hinausgehende, vermeintlich „notwendige Voraussetzung“ der Pflicht „in praktischer Absicht“ (TP XI, 167 f.) verteidigen, dass es tatsächlich Fortschritt gibt, dass das menschliche Geschlecht wirklich „im Fortschreiten zum Besseren in Ansehung des moralischen Zwecks seines Daseins begriffen sei“ (TP XI, 167). Kant ist deshalb vorgeworfen worden, er sitze hier einem Fehlschluss auf: Sein Argument zeige weniger, als es beweisen müsse.⁴⁷¹ Eine andere Interpretationsrichtung intendiert, zwischen den Zeilen weitere Bausteine aufzufinden, die die Argumentation schlüssiger erscheinen lassen. So hat Axel Honneth (2004, 90 ff.), von der Ungültigkeit des praktischen Arguments motiviert, sogar einen ganz anderen Begründungsansatz ausfindig zu machen versucht: Kant habe zwischen den Zeilen ein anderes Argument geliefert, als er liefern wollte, nämlich ein „hermeneutisches“. Demnach sei seine Theorie nichts anderes als die Explikation dessen, was wir implizit voraussetzen, wenn wir auf nationaler und internationaler Ebene versuchen, uns an moralischen Maßstäben zu orientieren.⁴⁷² Tatsächlich findet sich bei Kant ein solcher Hinweis auf die Phänomenologie der im politischen Raum Handelnden: „Diese Hoffnung besserer Zeiten […] hat auch jederzeit⁴⁷³ auf die Bearbeitung der Wohldenkenden Einfluß gehabt; und der gute Mendelssohn mußte doch auch darauf gerechnet haben, wenn er für Aufklärung und Wohlfahrt der Nation, zu welcher er gehörte, so eifrig bemühet war.“ (TP XI, 168) Aber bei näherem Hinsehen bietet auch Honneths hermeneutische Interpretation keinen Ausweg: Es zeigt nicht, warum im Bewusstsein der politisch Handelnden die Tatsächlichkeit des Fortschritts vorausgesetzt werden muss, und nicht nur die Möglichkeit. So gesehen erweist sich die hermeneutische Interpretation
So ausführlich Kleingeld 1995, 53 ff. und 1999, 180 f. Honneth (2004, 89) betont, der moralische Standpunkt, aus dem heraus Besserung möglich erscheint, müsse auch vergangenen und künftigen Generationen zugeschrieben werden – hierin sei das wesentliche ‚praktische‘ Argument zur Rechtfertigung der Fortschrittsthese zu suchen. Auch dieses überzeugt Honneth freilich nicht; er vermutet sogar, Kant scheine dieser Konstruktion selbst nicht zu trauen. Diese Rechtfertigung des Fortschrittsdenkens sei sogar „systemsprengend“, weil mit kantischer Philosophie nicht in Einklang zu bringen; Kant bewege sich mit der historischen Situierung der Vernunft auf Hegel zu (vgl. Honneth 2004, 92 f.). Hannah Arendt merkt an, die Fortschrittsidee sei erst historisch entstanden, aber auch zuvor hätten Menschen schon politisch gehandelt; insofern sei Kants These bereits widerlegt (vgl. Arendt 1985, 70). Im Sinne Kants ließe sich dann immerhin noch die These vertreten, unter den Bedingungen der Moderne sei politisches Handeln nur unter der Fortschrittsannahme möglich.
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eher als eine hilfreiche Erläuterung dessen, wie Kants praktisches Argument zu verstehen sei, denn als zusätzliches Argument. Hat Kant dieses banale Defizit seiner Argumentation einfach übersehen? (3) In meinen Augen versucht Kant das diagnostizierte Defizit an späterer Stelle explizit zu beheben. Zwar suggeriert er bereits früher, die Fortschrittsthese sei gerechtfertigt (vgl. TP XI, 167); ihre eigentliche Rechtfertigung liefert er m. E. allerdings erst nach, weshalb sie in der Literatur regelmäßig übersehen wird. Die Pointe der Argumentation besteht in der These, dass aus Perspektive des Einzelnen ein Beitrag zum Fortschritt nur möglich ist, wenn es wirklich Fortschritt gibt. Warum soll dies gelten? Fortschritt im Ganzen zu bewirken, ist für die einzelnen Menschen schlichtweg „zu groß“; er steht außerhalb dessen, worauf einzelne Menschen „ihren Einfluß erstrecken können“ (TP XI, 169); sie leben im „Bewußtsein ihres Unvermögens“ (TP XI, 171). Zwar können sich Individuen Ideale setzen, ihren „Entwürfen“ und „Ideen“ nachzugehen versuchen – Kant denkt offenbar insbesondere an die im öffentlichen Leben wahrgenommenen Aufklärer. Aber die Entwürfe und Ideen werden kaum einen Effekt erzielen. Denn dazu würde erfordert, dass die vielen Individuen, obwohl „in ihren Entwürfen einander widerwärtig, sich aus eigenem freien Vorsatz […] vereinigen“ (TP XI, 169) müssten – und das ist nicht zu erwarten. Es liegt damit ein Handlungsdilemma vor, das in ähnlicher Form bei der Interpretation der Religionsschrift sichtbar wurde: Viele⁴⁷⁴ Subjekte gemeinsam könnten Fortschritt herbeiführen; dass dies einträfe, wäre aber nur einem extrem unwahrscheinlichen Zufall überlassen. Verschärft wird dies noch durch Kants Widerstandsverbot:⁴⁷⁵ Selbst wenn die Mehrheit der Bevölkerung juridischen Fortschritt wollen würde, ist sie darauf angewiesen, dass der Herrscher sich dem nicht entgegenstellt. Der Einzelne kann deshalb gar nicht am Fortschritt mitwirken, wenn dieser nicht anderweitig garantiert wäre; er wäre machtlos. Was nottut, ist daher ein Fortschritt, der „aufs Ganze und von da auf die Teile geht“, wohingegen „die Menschen mit ihren Entwürfen nur von den Teilen ausgehen, wohl gar nur bei ihnen stehen bleiben, und aufs Ganze, als ein solches,
Im Gegensatz zur Errichtung des ethischen Gemeinwesens müssen hier nicht alle am Fortschritt mitwirken, sondern nur viele – vernünftige Rechtsgesetze ließen sich gegen den Widerstand einzelner Nicht-Kooperationswilliger durchsetzen. Kant kommt unvermittelt auf das Widerstandsverbot zu sprechen, bevor er den Vorsehungsbegriff einführt (TP XI, 171). Daher sehe ich hier einen direkten Zusammenhang: Auch weil das Widerstandsverbot gilt, kommt die Geschichtskonstruktion nicht ohne von oben gelenkten Fortschritt aus.
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welches für sie zu groß ist, zwar ihre Ideen, aber nicht ihren Einfluß erstrecken können“ (TP XI, 169). Dass es Fälle gibt, bei denen das von Kant diagnostizierte Dilemma tatsächlich besteht, wird niemand bestreiten können. Es dürfte Konsens sein, dass zahlreiche Probleme insbesondere im internationalen Raum nur durch die vernünftige Kooperation vieler Beteiligter zu lösen wären – man denke nur an den Kampf gegen Armut, die Regulierung der Finanzmärkte oder den Klimaschutz. Kommen solche Kooperationen nicht zustande, ist durch den guten Willen Einzelner nicht nur wenig Fortschritt, sondern gar kein Fortschritt möglich. Eine Reduktion des Kohlendioxidausstoßes in Deutschland etwa hat auf das Weltklima keinerlei Auswirkungen, solange nicht andere Staaten ebenfalls ihren Kohlendioxidausstoß reduzieren. Das Problem besteht nun darin: Was sollte in solchen Fällen den Einzelnen noch dazu motivieren können, am Fortschritt zu arbeiten, wenn seine Bemühungen vollkommen wirkungslos bleiben? Muss der Einzelne nicht zugestehen, dass sein ehrbares Streben überflüssig ist? Bezieht man das Handlungsdilemma auf das oben dargelegte Argument, ergibt sich: Es ist Pflicht, am Fortschritt mitzuwirken.Was Pflicht ist, muss möglich sein. Die Mitwirkung am Fortschritt ist nur möglich, wenn Fortschritt wirklich ist. Fortschritt ist nur wirklich, wenn er von einer externen Instanz – der „Natur“ oder der „Vorsehung“⁴⁷⁶ – garantiert⁴⁷⁷ wird. Ergo: Man muss auf die Garantie des Fortschritts vertrauen, um die Mitwirkung am Fortschritt als Pflicht verstehen zu können.⁴⁷⁸ So klar Kant die Problematik politischer Handlungen gesehen hat, so fraglich bleibt freilich seine Lösung: Wenn Fortschritt garantiert ist, wird dadurch die Pflicht, am Fortschritt mitzuwirken, konterkariert: Was trägt eine Pflicht noch aus, wenn es gar „nicht sowohl davon abhängen werde, was wir tun […], und nach welcher Methode wir verfahren sollen, um es zu bewirken“ (TP XI, 169; Hervorhebungen von Kant)? Warum an etwas mitwirken, was ohnehin eintritt? Wie kann Fortschritt überhaupt noch als menschliches Produkt verstanden werden, wenn eine nicht-menschliche Macht für ihn einstehen muss? Kants Versuch, die Mög Zum Wechsel zwischen den Begriffen „Natur“ und „Vorsehung“ in TP siehe Kapitel 8.5. In diesem Sinne heißt es in der Friedensschrift, die „große Künstlerin Natur“ würde die „Gewähr (Garantie)“ (ZeF XI, 217) des Fortschritts leisten. Kant verwendet den Begriff „Garantie“ vor allem in Anspielung auf die Form der damaligen Friedensverträge, in denen sich die Vertragsparteien gegenseitig Garantien zur Einhaltung des Vertrags zusagen mussten. Es geht bei Kant aber auch im Wortsinn darum, dass eine äußere Instanz die Stiftung des Friedenszustands garantieren, also mit Sicherheit herbeiführen soll. Der vermeintlich überraschende Bezug auf die Naturabsicht in TP ist, wie das vollständig ausformulierte Argument zeigt, nicht lediglich eine „Rückversicherung“ (Honneth 2004, 90), die zusätzlich zur moralischen Rechtfertigung der Fortschrittshoffnung eingeführt wird, sondern selbst ein notwendiger Baustein dieser Rechtfertigung.
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lichkeit autonomer Handlungen zu retten, führt – mindestens auf den ersten Blick; siehe die Diskussion in Kapitel 8.4 – zu deren totaler Unmöglichkeit in einer heteronom bestimmten Welt. (4) Damit trotz der Erfahrungen der Vergangenheit und Gegenwart eine Garantie des Fortschritts möglich erscheint, müssen gerade die bisherigen Übel der Geschichte als seine Antriebskräfte angesehen werden – anders wäre keine konsistente Reflexion über die Geschichte möglich.⁴⁷⁹ Kant stellt deshalb erneut ansatzweise einen Fortschrittsmechanismus vor, innerhalb dessen gerade die größten Übel am meisten zum Fortschritt beitragen – das Böse soll das Gute zur Herrschaft bringen, indem es „sich selbst zerstört“ (TP XI, 171).Weil der dritte Teil des Gemeinspruch dem Völkerrecht gewidmet ist, fokussiert Kant hier auf die völkerrechtlichen Übel, also den Krieg. Die „Not aus den beständigen Kriegen“ (TP XI, 169) soll die Ursache sein, einen internationalen Rechtszustand zu gründen. Selbst die der Fortschrittsthese zunächst zuwiderlaufende These, dass sich im Laufe der Zeit „die Kriege vervielfältigen“ (TP XI, 170), muss sich als dem Frieden dienlich erweisen. Denn die Kosten, die die Kriege selbst, aber auch die notwendige Aufrüstung in den Kriegspausen verursachen, treiben den Staat in Schulden, die „zwar ein sinnreiches, aber sich zuletzt selbst vernichtendes Hülfsmittel“ (TP XI, 170) sind. Offenbar geht Kant davon aus, dass die Staatsverschuldung langfristig den despotischen Machthabern ihre Macht raubt und damit die Umwandlung zu einer Republik erzwingt. Republiken seien aber prinzipiell friedfertig und würden sich in internationalen Konflikten „allein am Recht halten“ (TP XI, 170).⁴⁸⁰ Kant versäumt nicht, den dargestellten Mechanismus sofort auf einen schwachen epistemischen Status zurückzuschrauben: „Dieses ist indes nur Meinung und bloß Hypothese“ und insofern „ungewiß“ (TP XI, 170 f.). Sicherlich soll damit die Unhaltbarkeit der Fortschrittsthese für die theoretische Vernunft betont werden: Für die theoretische Vernunft gebe es keine Gewähr, dass Fortschritt eintreten wird, und sichere Prognosen sind unmöglich. Dennoch muss Kants Formulierung verwundern: Als ‚bloße Hypothese‘ hat Kant zuvor die These der Unmöglichkeit des Fortschritts bezeichnet (vgl. TP XI, 167); sollte seine eigene Theorie nicht darüber hinausgehen? Unter ‚Meinung‘ versteht Kant in der KrV (B850 = IV, 689) ein subjektiv wie objektiv unbegründetes Führwahrhalten – kann es möglich sein, dass die Geschichtsphilosophie für Kant selber eine haltlose Annahme dieser Art ist?
Siehe dazu meine Ausführungen in Bezug auf IaG in Kapitel 6.1. Auf die in den letzten Jahren intensiv diskutierte These Kants, Republiken würden zu friedlichen Lösungen internationaler Konflikte neigen, gehe ich hier nicht näher ein. Zur Reichweite der These Kants vgl. Hoesch 2012, 118 f. und 124 f.; die empirische Belegbarkeit wird bei Höffe 2002, 282– 292 und Ottmann 2008, 191 f. kritisch diskutiert.
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Nein, denn ohne Zweifel sollen für Kant die „moralischen Wünsche[.] und Hoffnungen der Menschen“ (TP XI, 171) aus Perspektive der praktischen Vernunft legitim sein und über bloße Meinungen hinausgehen („mit Grunde hoffen“, TP XI, 170; „annehmen dürfen“, TP XI, 167). Wenig später wird dies in der Friedensschrift noch deutlicher zum Ausdruck gebracht: Die Naturabsicht sei zwar „in theoretischer Absicht überschwenglich, in praktischer aber […] ihrer Realität nach wohl gegründet“ (ZeF XI, 218).⁴⁸¹ Daher drängt sich auf, dass Kant nicht die gesamte Geschichtsphilosophie als bloße Hypothese bezeichnen möchte. Stattdessen ist nur der konkrete Mechanismus des Fortschritts eine Hypothese, denn er kann sich als falsch erweisen: Ob Staatsschulden und Kriege die von Kant erhoffte pazifizierende Wirkung haben werden, ist ungewiss und nicht mit Sicherheit vorherzusehen. Dass die Menschheit aber prinzipiell im Fortschreiten begriffen ist, kann nach dem praktischen Argument immer vorausgesetzt werden, solange überhaupt noch Menschen handeln – selbst dann, wenn die Geschichte noch so sehr dagegen spräche. Die gänzliche Unmöglichkeit einer empirischen Falsifizierung der Fortschrittsthese ist ein wichtiger Unterschied zur Argumentation in IaG. Nach der Verteidigung der Fortschrittsthese im Hauptteil der Schrift kommt Kant erst in den beiden Schlussabsätzen auf das Argumentationsziel des Aufsatzes zu sprechen: Dem Recht eines Völkerstaates würden sich Staaten „doch nie“ (TP XI, 172) unterwerfen, so der Vorwurf der Empiristen gegen die kantische Rechtslehre vom Weltfrieden.⁴⁸² Da ein allgemeiner Völkerstaat „sein soll“, gilt für Kant dagegen auch, dass „er sein kann“ (TP XI, 172). Er kann aber nach der vorgestellten Argumentation nur sein, wenn „zugleich aber auch (in subsidium) auf die Natur der Dinge, welche dahin zwingt, wohin man nicht gerne will (fata volentem ducunt, nolentem trahunt)“ (TP XI, 172) vertraut wird. Da dieses Vertrauen als gerechtfertigt erwiesen wurde, löst sich der empiristische Vorwurf in Luft auf. Wenn man sich abschließend fragt, welche Rolle die Geschichtsphilosophie damit für die praktische Philosophie einnimmt, so lassen sich verschiedene Funktionen unterscheiden: Erstens dient Geschichtsphilosophie dazu, im philosophischen Grundlagenstreit zwischen Empiristen und Rationalisten ein gängiges
Vgl. auch FM VI, 647: „Daß die Welt im Ganzen immer zum Bessern fortschreite, dies anzunehmen berechtiget ihn keine Theorie, aber wohl die reine praktische Vernunft […].“ – Die Geschichtsphilosophie ist im Schema der KrV deshalb dem Glauben zuzuordnen; siehe Kapitel 9.3. In TP spricht Kant entsprechend auch überwiegend von ‚Hoffnung‘; diese ist mit dem Status des Glaubens gleichzusetzen (siehe Fußnote 200). Brandt (2004, 136 f.) vermutet, dass Kant insbesondere an englische Empiristen wie Edmund Burke denkt.
7.2 Der Zweite Abschnitt des Streits der Fakultäten
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Argument auszuhebeln: Die Forderungen der Vernunft seien keine Chimären, die ohnehin nie eingelöst werden könnten. Zweitens ermöglicht sie, der Pflicht nachzukommen, an der Besserung der Nachkommen mitzuwirken – und dies besonders im politischen Kontext: Der Einzelne könne sich an langfristigen moralischen Maßstäben orientieren, ohne dass dies von vornherein als sinnlos zu bewerten wäre. Drittens befriedigt sie einen ‚moralischen Wunsch‘ (vgl. TP XI, 171), d. i. ein moralisch qualifizierter, selbstloser Wunsch: Es „erheitert sich doch das Gemüt durch die Aussicht, es könne künftig besser werden: und zwar mit uneigennützigem Wohlwollen, wenn wir längst im Grabe sein, und die Früchte, die wir zum Teil gesäet haben, nicht einernten werden“ (TP XI, 168). Viertens schließlich macht nur sie es möglich, das Menschengeschlecht trotz der Grausamkeit Einzelner „im ganzen zu lieben“ (TP XI, 165). Zwar „erscheint“ die menschliche Natur „nirgend weniger liebenswürdig, als im Verhältnisse ganzer Völker gegen einander“ (TP XI, 171), d. i. im Krieg. Doch dieser Schein löst sich für Kant auf, wenn die Aussicht auf eine friedvolle Zukunft eröffnet wird. Geschichtsphilosophie wird damit sogar noch zur ‚Anthropodizee‘: Der Mensch als solcher soll trotz allem als liebenswürdig erwiesen werden. Vor allem der dritte und der vierte Aspekt zeigen, dass Geschichtsphilosophie für Kant mehr ist als ein notwendiges Kalkül pflichtbewusster Subjekte. Sie verändert vielmehr das Verhältnis des Menschen zur Welt und zu sich selbst in fundamentaler Weise.
7.2 Der Zweite Abschnitt des Streits der Fakultäten Der Streit der Fakultäten umfasst drei unabhängig voneinander entstandene Teile, die Kant unter dem Motto eines unvermeidlichen Streites, den die Philosophie mit den „oberen“ Fakultäten – Theologie, Juristerei und Medizin – austrägt, zu einem seiner beiden letzten selbst veröffentlichten Werke verbindet. Dem übergeordneten Motto gemäß streift die Schrift Themen wie die Funktion universitärer Gelehrsamkeit in der Öffentlichkeit, das Verhältnis von Staat und Wissenschaft sowie das Problem der staatlichen und kirchlichen Zensur, mit der Kant selbst einschlägige Erfahrungen machen musste. Inwieweit diese Problematiken für den Zweiten Abschnitt, der hier allein von Interesse ist, tatsächlich konstitutiv sind oder eher einer nachträglichen Vorwortsrhetorik entsprechen, kann offen bleiben.⁴⁸³ Der Zweite Abschnitt lässt sich aufgrund seiner unabhängigen Entstehung
Brandt bemüht sich um den Nachweis, dass die drei Abschnitte des Streits tatsächlich von einer systematischen Einheit getragen werden; vgl. Brandt 2003, 15 ff. Im Zentrum stehe dem-
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jedenfalls interpretieren, ohne den komplexen Rahmengedanken der Schrift zu entwirren. Nichtsdestotrotz ist auch der Zweite Abschnitt mit Formulierungen von politischer Sprengkraft durchzogen, die Kants zynischen Äußerungen über die preußische Zensurpraxis zu Beginn der Schrift in nichts nachstehen. Neben seiner harschen Kritik am politischen System Englands haben insbesondere seine Kommentare zur Französischen Revolution die Schrift berühmt gemacht. Auch heute liegt in der Literatur zum Streit der Fakultäten der Schwerpunkt neben der Debatte um den Begriff der Republik⁴⁸⁴ auf dieser Thematik.⁴⁸⁵ Im Folgenden konzentriere ich mich demgegenüber auf die geschichtsphilosophisch relevanten Aspekte des Textes. Der Zweite Abschnitt, der als „Streit der philosophischen Fakultät mit der juristischen“ Eingang in die Gesamtkomposition des Streites der Fakultäten gefunden hat, trägt den Titel Erneuerte Frage: Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei?; unter diesem Titel ist die Schrift spätestens 1797 zur eigenständigen Veröffentlichung konzipiert worden.⁴⁸⁶ Die Titelformulierung provoziert zwei Nachfragen, die naturgemäß in der Literatur ausführlich verhandelt werden: Zum einen lässt Kant offen, welche Frage es ist, die hier ‚erneuert‘ werden soll; zum anderen löst der Titel Mutmaßungen aus, warum diese Frage ein weiteres Mal gestellt werden muss. Kant beantwortet beide nicht direkt. Was erstere betrifft, gibt es einige Hinweise⁴⁸⁷ darauf, dass Kant sich konkret auf den dritten Teil des Gemeinspruchs bezieht – letztlich muss dies jedoch Spekulation bleiben.⁴⁸⁸ Was Kants Motivation angeht, könnten kritische Anfragen durch Zeitgenossen ebenso ausschlaggebend gewesen sein wie eine inhaltliche Kehrtwende Kants, deren genaue Gestalt noch aufzudecken sein wird.⁴⁸⁹
nach die Dynamik von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung, die sich aus der Opposition der wissensorientierten Philosophie mit den staatlichen Zwecken unterworfenen oberen Fakultäten ergebe. Überwiegend wird der Bezug zum übergeordneten Thema des Streites zwischen Fakultäten aber wesentlich lockerer gesehen; vgl. etwa Kleingeld 1995, 68 und 82. Vgl. dazu etwa Thiele 2008; Hoesch 2012, 124 und Dreier 2005. Vgl. etwa Siep 2010; Muglioni 2011, 208 f.; klassisch geworden sind die Untersuchungen von Henrich 1976 und Vorländer 1912. Zur Editionsgeschichte des Zweiten Abschnitts vgl. Brandt 2003, 16 und Kleingeld 1995, 67. Brandt bemüht einen Vergleich beider Texte, insbesondere der Themenexpositionen; vgl. Brandt 2003, 121. Insofern erscheint mir die These Brandts, die Frage nach dem Titelbezug sei „problemlos und eindeutig zu beantworten“ (2003, 121), denn die Rückbeziehung auf den Gemeinspruch sei „gesichert“ (2003, 139), problematisch. Meine Einschätzung teilt Kleingeld 1995, 68. Klaus Reich (1959) hat vor längerem die These vertreten, Kant reagiere auf kritische Anmerkungen von Schlegel. Dies wird heute überwiegend zurückgewiesen; vgl. etwa Brandt 2003,
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Der Text ist ohne weitere Einführung in zehn durchnummerierte, überwiegend sehr kurze Teile untergliedert, deren entweder als Fragen oder als Thesen formulierte Überschriften den argumentativen Aufbau der Schrift bereits klar machen: Nach einigen Vorklärungen in den Teilen 1– 3 folgt im Teil 4 eine negative Antwort auf die Frage nach dem Fortschritt; in den Teilen 5 – 7 die positive Antwort, der in 8 – 10 weitere Erläuterungen beigefügt werden.
Vorklärungen Von Beginn des Textes an provoziert Kant den Leser: Die Frage nach dem Fortschritt ziele auf ‚Wahrsagen‘ ab, was parallel zum religiösen Projekt der Prophetie zu verstehen sei. Es werde nämlich eine ‚vorhersagende Menschengeschichte‘ zu wissen verlangt; da diese nicht nach naturwissenschaftlichem Vorbild Voraussagen treffen kann, sei sie entweder „wahrsagend“ oder „weissagend (prophetisch)“ (SF XI, 351). Die wahrsagende unterscheidet sich von der prophetischen dabei nicht ihrer Struktur oder ihrem möglichen Inhalt nach, sondern nur in der Erkenntnisquelle: Während der Wahrsager seine Erkenntnisse aus der Erfahrung oder aus der Vernunft schöpft, kennt der Prophet die Zukunft durch „Mitteilung und Erweiterung der Aussicht in die künftige Zeit“ (SF XI, 351).⁴⁹⁰ Offenbar möchte Kant am ironisch konnotierten Begriff des ‚Wahrsagens‘, der für das aufgeklärte Publikum eine offene Provokation darstellen musste, in einer nicht-ironischen Lesart festhalten; in einer Fußnote grenzt er ihn vom ‚Wahrsagern‘ ab, wie es „von der Pythia bis zur Zigeunerin“ betrieben wird. ‚Wahrsagen‘ bedeutet für Kant anscheinend im wörtlichen Sinne, über die Zukunft die Wahrheit zu sagen. Dem korrespondierend spricht er auch von ‚Wissen‘⁴⁹¹ (vgl. SF XI, 351). Ein solcher Anspruch macht die Frage, der sich der zweite Teil des Textes widmet, besonders brisant: „Wie kann man es wissen?“ (SF XI, 351) Denn auf den ersten Blick drängt sich beim Leser die Antwort auf: Überhaupt nicht! Gegen diese, von Kant vermutlich bewusst provozierte Reaktion des Lesers möchte er an einem vernünftig gerechtfertigten Begriff des Wahrsagens festhalten. Auf das prophetische ‚Weissagen‘ geht Kant dagegen nicht mehr ein, denn die Richtigkeit einer angeblich göttlichen Botschaft kann von der Vernunft prinzipiell nicht geprüft
137 ff. Brandt vermutet stattdessen, dass Kant von den Äußerungen Gentz’ und Rehbergs zur Französischen Revolution zu einer Reaktion veranlasst wurde. Vermutlich hat diese Parallelführung von Philosophie und Prophetie Paul Natorp zu seiner polemischen Kritik an Kants Geschichtsphilosophie verleitet: „Ein für allemal: Philosophie ist nicht Prophetie.“ (2008 [1924], 47) Auf mögliche Interpretationen des Wissensbegriffs an dieser Stelle komme ich noch zurück.
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werden. Wenn er im Folgenden noch von weissagenden Propheten spricht, dann nur noch in dem Sinne, dass diese eine übernatürliche Erkenntnisquelle vorgeben. Kant beurteilt die Weissagungen aber nur noch nach Vernunftkriterien, die gleichermaßen das Wahrsagen betreffen. Über die Zukunft könne genau dann etwas gewusst werden, wenn eine „Geschichte a priori“ (SF XI, 351) möglich ist. Auch dieser Terminus enthält natürlich eine Provokation: Geschichte als das, was tatsächlich geschehen ist, kann niemals a priori möglich sein – allenfalls würde daraus ein fiktionaler Roman resultieren, wie Kant in IaG feststellte (vgl. XI, 48). In IaG ging es entsprechend nicht um eine Geschichte a priori, sondern um einen Leitfaden zu einer solchen Geschichte, dem gemäß empirische Daten in eine Ordnung zu bringen wären. Vergleichbares ist hier nicht abzusehen: Das erkenntnistheoretische Projekt einer systematischen Ordnung historischer Daten spielt in SF keine vorrangige Rolle; es geht im Wesentlichen um die künftige Zeit, über die ja noch gar keine Daten vorliegen. Die „Geschichte a priori“ ist deshalb am ehesten als eine a priori mögliche Geschichtserzählung der Zukunft zu verstehen: Die Möglichkeit der Einsicht in die Zukunft kann nicht in irgendwelchen empirischen Daten gegründet sein, sondern sie besteht entweder a priori, oder überhaupt nicht. Weshalb soll nun eine solche Geschichte möglich sein? Sie ist für Kant genau dann möglich, „wenn der Wahrsager die Begebenheiten selber macht und veranstaltet, die er verkündet“ (SF XI, 351). Denn das, was der Wahrsager selbst tun wird, kann er voraussehen. Kant illustriert diese These, die er ja eigentlich in positiver Stoßrichtung zur Stützung des Fortschrittsgedankens benötigt, nur an Negativbeispielen. So konnten die jüdischen Propheten die Auflösung des israelitischen Staates vorhersehen, weil sie mit ihrem Verhalten selbst entscheidend dazu beitrugen, dass eine untaugliche Verfassung aufrechterhalten wurde, die zwangsläufig zum Verfall des Staates führen musste. Den gleichen Mechanismus diagnostiziert Kant auch für seine Zeit: Politiker geben vor, man müsse die Menschen nehmen, wie sie sind, und nicht, wie sie sein sollten. Entsprechend sei hartes Durchgreifen angebracht, denn die Menschen, wie sie sind, neigten zu gewaltbeladenen Konflikten. Diese Gewaltbereitschaft ist für Kant jedoch eine erst gesellschaftlich erzeugte: „Das wie sie sind aber sollte heißen: wozu wir sie durch ungerechten Zwang, durch verräterische, der Regierung an die Hand gegebene, Anschläge gemacht haben, nämlich halsstarrig und zur Empörung geneigt; wo dann freilich, wenn sie ihre Zügel ein wenig sinken läßt, sich traurige Folgen eräugnen, welche die Prophezeiung jener vermeintlich-klugen Staatsmänner wahrmachen.“ (SF XI, 352; Hervorhebungen von Kant) Nicht besser stehen die Vertreter der Kirche da. Sie sagen den Verfall der Religion und das Nahen des
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Antichrists voraus; für den Verfall der wahren ‚inneren‘ Grundsätze sorgen sie aber durch das Beharren auf dem historischen Glauben⁴⁹² selbst. In allen drei Fällen – den jüdischen Propheten sowie den zeitgenössischen Politikern und Geistlichen – diskutiert Kant Voraussagen, die entweder einen Verfall prognostizieren oder zumindest fortschrittsskeptisch eingestellt sind. Zwar ist in solchen Fällen das Wahrsagen möglich, sofern der Wahrsager sich nur um das Eintreten seiner Prognose kümmert. Aber es kann sich nicht um eine philosophische Form von Wahrsagen handeln, wie sie Kant selbst vorschwebt.Vielmehr betreiben die genannten Protagonisten eine ‚faule‘ Wahrsagerkunst; ihre vermeintliche Weisheit beruht nur darauf, dass nicht durchschaut wird, dass sie selbst es sind, die auch einen anderen Verlauf der Geschichte hätten herbeiführen können. Anstelle einer solchen Wahrsagerkunst müsste man es der Redlichkeit der Machthabenden abverlangen, die prinzipielle Offenheit der Zukunft zuzugestehen. Damit ist eine kritische Stoßrichtung gegenüber allen Zukunftsprognosen vorgezeichnet, die sich durch den weiteren Verlauf des Textes hindurchzieht.⁴⁹³ Zu Recht wird dieser Zug der kantischen Geschichtsphilosophie in der Literatur als derjenige angesehen, dessen Gültigkeit und Relevanz bis heute uneingeschränkt zu akzeptieren sind.⁴⁹⁴ Der gesellschaftskritische Charakter, der mit Kants Entlarvung der Rhetorik von Machthabenden einhergeht, steht in einer auffallenden Spannung zur konservativen Tendenz der stärker teleologisch ausgerichteten Schriften (siehe v. a. Kapitel 6.2): Musste dort ‚alles an seinem Platz‘ erscheinen, hebelt Kant jetzt jegliche praktische Kraft von Argumenten dieser Art aus. Die Charakteristika des Menschen werden nicht mehr als naturgegebene und dem Naturzweck dienende unveränderliche Größen aufgefasst, sondern als gesellschaftlich bedingte; keine geschichtsphilosophische Reflexion dürfe verschleiern,
Zum Begriff des historischen Glaubens siehe Kapitel 5.3. Die kritische Stoßrichtung der Geschichtsphilosophie klingt auch in TP, ZeF und der RL an: Der Empirist dürfe sich nicht auf die künftige Unmöglichkeit der Vernunftforderungen berufen. Nirgends wird sie aber so scharf durchgeführt wie in SF. So etwa Angehrn 2004; Herold 2006, 211 und Pollmann 2011. Auch Kleingeld gesteht zu, dass Kants Argument für die Annahme möglichen Fortschritts überzeugt; vgl. etwa 1996, 180 f. Ohne direkten Bezug auf Kant, aber doch in kantischer Tradition arbeitet Baumgartner (1996b) heraus, Geschichtsphilosophie habe heute genau eine solche kritische Funktion gegenüber substantiellen Geschichtsbildern zu erfüllen. – Die Zustimmung zu diesem Aspekt der Geschichtsphilosophie Kants darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die kritische Stoßrichtung nur eine Seite der Geschichtsphilosophie Kants ist. Zu einseitig auf die kritische Stoßrichtung fixiert sind etwa Pollmann 2011 und Lutz-Bachmann 1988, 212.
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dass Menschen sich möglicherweise anders verhalten könnten, wenn man ihnen die Zügel nur einmal ganz abnähme.⁴⁹⁵ Die kritische Stoßrichtung bildet aber nicht das letzte Argumentationsziel Kants: Vielmehr möchte er zu einer „[w]ahrsagende[n] Geschichte der Menschheit“ (SF XI, 360) fortschreiten, die nicht auf einer solchen faulen Wahrsagerei beruht. Offensichtlich soll dazu an der Bedingung festgehalten werden, dass der Wahrsager selbst der Akteur ist, der die Zukunft in der Hand hat – dies war schließlich seine ausdrückliche „Antwort“ auf die Frage: „Wie kann man es wissen?“ Als Akteur kommt nur – „universorum“, nicht „singulorum“, wie Kant betont (SF XI, 351) – die Menschheit als Ganzes in Frage. Ohne dies näher zu erläutern, stellt Kant deshalb implizit die These auf, der Mensch könne wahrsagen, weil er selbst seine Geschicke in der Hand hält. Damit wäre ein Übergang von epochaler Bedeutung markiert: Wie im Gemeinspruch und in der Religionsschrift bereits vorbereitet, vollzöge Kant endgültig und ausdrücklich die Wende zu einem Geschichtsbegriff, der Geschichte nicht mehr als eine dem Menschen vorgegebene, ihm bloß widerfahrene Entwicklung fasst, sondern als menschliche Aufgabe versteht – nicht zuletzt in Abgrenzung zur biblischen Eschatologie und zum mittelalterlichen Vorsehungsgedanken, ebenso natürlich als Korrektur der Lehre von der Naturabsicht in Kants früheren Schriften. Inwieweit sich diese Beobachtung als treffende Interpretation des Textes im Ganzen halten lässt,⁴⁹⁶ muss zunächst allerdings offen bleiben. Bevor sich Kant in den Teilen 4– 7 näher damit beschäftigt, wie Fortschritt vorhersehbar ist, trifft er im dritten Teil eine Unterscheidung von möglichen Zukunftsmodellen, die diejenigen Theorien zusammenführt, die schon in der Religionsschrift und im Gemeinspruch vorgestellt wurden:⁴⁹⁷ Die künftige Geschichte der Menschen könne entweder als Verfall vorhergesehen werden, oder als Fortschritt, oder als stetes Auf und Ab, was einem moralischen Stillstand
Städtler (2011, 76) weist deshalb zu Recht darauf hin, dass Kants These über die von Politikern gemachte Halsstarrigkeit und Gewaltbereitschaft mit der Behauptung unvereinbar sei, der Mensch sei aus „so krummem Holze“, dass daraus „nichts ganz Gerades gezimmert werden“ (IaG VIII, 41) könne: Wenn einige schlechte Charaktereigenschaften aus mangelhaften gesellschaftlichen Bedingungen resultieren, wird die Möglichkeit eröffnet, dass dies für alle gelten könnte. Langewiesche (2011, 216) möchte aus der zitierten Stelle (SF XI, 351) das entscheidende Charakteristikum des Textes gewinnen; auch Brandt (2003, 124 ff.) betont, dass sich der Durchbruch zu einer autonomen Gestaltung der Geschichte (mit kleinen Ausnahmen) durch die Schrift im Ganzen ziehe. Vgl. den Gegensatz von Verfalls- und Fortschrittstheorie in RGV VIII, 665 f. sowie den Gegensatz von Stillstands- und Fortschrittstheorie in TP XI, 165 f.; siehe dazu auch Kapitel 5.1 und 6.1.
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gleichkäme. Die erste Möglichkeit bezeichnet er überspitzt als „terroristische Vorstellungsart“, die zweite als Eudämonismus und die dritte als Abderitismus (vgl. SF XI, 353). Der Eudämonismus könne, sofern nur das „Ziel des Fortschreitens im weiten Prospekt gesehen wird“, auch „Chiliasmus“ (SF XI, 353) genannt werden. Dass Kant damit einen Begriff griechischer Provenienz kommentarlos mit dem Chiliasmus auf eine Ebene stellen kann, weist darauf hin, dass er mit letzterem kaum noch religiöse Konnotationen verbindet. Dies erhärtet sich daran, dass Kant offenbar mit dem Chiliasmus das Fortschreiten selber bezeichnen möchte – und nicht einen künftigen Zustand der Herrschaft des Guten, der sich von der ‚Vorgeschichte‘ erkennbar abgrenzen ließe. Von der biblischen Vorstellung eines hereinbrechenden tausendjährigen Reiches unter der Regierung Christi bleibt bei Kant hier nur noch die vage Vorstellung einer graduellen innerweltlichen moralischen Besserung übrig. Kant verwirft im Rahmen der vorläufigen Kurzdarstellung alle drei Vorstellungsarten, jedoch in sehr unterschiedlicher Form. Die These eines zunehmenden moralischen Verfalls sei ganz und gar denkunmöglich, denn „bei einem gewissen Grade desselben“ würde sich das menschliche Geschlecht „selbst aufreiben“ (SF XI, 353). Eine Selbstvernichtung der Menschheit ist natürlich nicht a priori auszuschließen und nach den Erfahrungen von entgrenzter Macht, entgrenzter Technik und entgrenzter Gewaltbereitschaft im 20. und 21. Jahrhundert sogar zu einem nicht mehr völlig abwegigen Geschichtsbild geworden. Was bringt Kant zu der These, die Selbstvernichtung könne nicht als mögliches Weltende betrachtet werden? Kant spielt vermutlich mit dem Gedanken, dass die Menschheit im Jahr 1798 gar nicht mehr existieren dürfte, wenn sie „beständig fortwährend“ ins „Ärgere“ (SF XI, 353) verfiele. Zugleich stellt Kant aber an jede Geschichtstheorie den Anspruch, als Entwicklungstheorie zu fungieren. Verfall als Entwicklungstheorie zu denken ist aber insofern widersprüchlich, als er prinzipiell zu einem Punkt führt, der jede weitere Entwicklung unmöglich macht – es ist denkunmöglich, Verfall als ‚beständig fortwährende‘ Entwicklung anzusehen. In dieser zweiten Deutung ergibt es vielleicht noch am ehesten Sinn, dass Kant im Zusammenhang mit der Verfallstheorie unvermittelt auf die christliche Eschatologie zu sprechen kommt und in ihr offenbar einen rationalen Kern aufdecken möchte. Die Eschatologie kennt mit der Vorstellung vom Antichrist einen zeitweisen Verfall ins Böse, der dann mit umso größerem Glanz durch die Herrschaft Gottes überwunden wird. Ebendiese Überwindung der Grausamkeit der Welt scheint für Kant als eine rationale Vorstellung gelten zu können, wenn sie auf der Maxime fußt, dass Geschichte über den Verfall hinaus als Entwicklung gedacht werden muss. Denn er zitiert das eschatologische Muster, für welches sich die künftige Besserung gerade aus der gegenwärtigen Grausamkeit erschließt, ein-
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deutig affirmativ: „Daher beim Anwachs großer, wie Berge sich auftürmenden Gräueltaten und ihnen angemessenen Übel gesagt wird: nun kann es nicht mehr ärger werden: der jüngste Tag ist vor der Tür […].“⁴⁹⁸ (SF XI, 353) Der „fromme Schwärmer“ bleibt allerdings bei der (für Kant offenbar gerechtfertigten) Überzeugung, dass irgendeine mit der Vernunft vereinbare Entwicklung folgen müsse, nicht stehen. Er malt sich diese vielmehr bildhaft als „Wiederbringung aller Dinge“ und als eine „erneuerte[.] Welt, nachdem diese im Feuer untergegangen ist“ (SF XI, 353), aus. Auch die Fortschrittsthese wird von Kant kritisch diskutiert. Es bleibt diesmal aber vorläufig offen, inwieweit Kant die Argumentation, die er referiert, tatsächlich für überzeugend hält, denn abschließend heißt es nur, die Fortschrittsidee „scheint also unhaltbar zu sein“ (SF XI, 354; meine Hervorhebung). Der vorgetragene Einwand fußt auf der verbreiteten Annahme, dass der Mensch in einem bestimmten Grad gut und böse zugleich sei; wie sollte er aber besser werden, wenn er doch von seiner Anlage her nun mal (auch) böse ist? „Die Wirkungen können das Vermögen der wirkenden Ursache nicht übersteigen, und so kann das Quantum des mit dem Bösen im Menschen vermischten Guten ein gewisses Maß des letzteren nicht überschreiten, über welches er sich emporarbeiten, und so auch immer zum noch Besseren fortschreiten könnte.“ (SF XI, 354)
Nicht zuletzt weil Kant damit der Theorie der Religionsschrift widerspricht, scheint er ein ihm fremdes Argument vorzutragen. Und tatsächlich läuft seine Argumentation später darauf hinaus, die allein gute Anlage des Menschen aufzuzeigen. Trotzdem wird sich Kant später nicht einfach den Eudämonisten anschließen, sondern versuchen, seine eigene Fortschrittstheorie von „sanguinischen Hoffnungen“ (SF XI, 354) frei zu halten. Gegen den Abderitismus, die Stillstandsthese, bringt Kant gar keine Argumente im eigentlichen Sinn vor. Er verweist lediglich darauf, dass eine solche Geschichtsauffassung, obwohl sie „wohl die Mehrheit der Stimmen auf ihrer Seite haben“ (SF XI, 254) wird, für den Philosophen unbefriedigend ist. Ebenso wie in IaG und im Gemeinspruch vergleicht Kant die Geschichte, wie sie der Abderitismus darstellt, mit dem Stein des Sisyphos und einem „Possenspiel“ (SF XI, 354), das der Menschheit „keinen größeren Wert in den Augen der Vernunft verschaffen kann, als den die andere [sic] Tiergeschlechter haben“ (SF XI, 354 f.). Anders als in den älteren Schriften formuliert Kant daraus aber kein Argument für die Fortschrittsthese; er beruft sich nicht auf ein „Vernunftbedürfnis“, das es zu befrie-
Zur Rezeption dieses Gedankens bei Adorno und Benjamin vgl. Städtler 2011, 74 f.
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digen gäbe, oder auf eine moralische Pflicht, die nur unter der Fortschrittsannahme gelten könne.
Die negative Antwort Nach diesen Überlegungen müsste Kant eigentlich eine vierte Auffassung nahe liegen: Die Zukunft der Menschheit könnte als offen angesehen werden, sodass einfach keine der drei Theorien verifizierbar wäre. Für diese Auffassung spricht auch die These, durch „Erfahrung unmittelbar“ (SF XI, 355) sei die Frage nach der künftigen Entwicklung der Menschheit nicht aufzulösen, für die Kant im Teil 4 argumentiert. Denn zwar könnte womöglich für die Vergangenheit empirisch eine lange Phase des Fortschritts oder des Verfalls ausgemacht werden, doch ließe dies keinen Schluss auf die Zukunft zu: Die Entwicklung könnte sich zu jedem Zeitpunkt umkehren.⁴⁹⁹ Schuld daran sei das Freiheitsvermögen der Menschen: „Denn wir haben es mit freihandelnden Wesen zu tun, denen sich zwar vorher diktieren läßt, was sie tun sollen, aber nicht vorhersagen läßt, was sie tun werden […].“ (SF XI, 355)⁵⁰⁰ Einen anderen Blick auf menschliche Handlungen hätte dagegen die „Vorsehung“. Für das „göttliche Auge“ (SF XI, 356) gäbe es keinen Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft; die Geschichte wäre gewissermaßen in ihrer ganzen Entwicklung einzusehen. Kant merkt an, dass für das göttliche Auge aufgrund der weitgehenden Perspektive die menschliche Geschichte weniger „widersinnisch“ (SF XI, 355) erscheinen könnte als für uns Menschen. Damit ist das Theodizeemotiv zumindest angedeutet: Geschichte könnte sich durch den Blick auf ihr Ende als weniger grausam erweisen. Der göttliche Blickwinkel ist für den Menschen natürlich unerreichbar: Uns in den „Standpunkt der Vorsehung“ (SF XI, 356) zu versetzen, seien wir Menschen, was „die Vorhersagung freier Handlungen angeht, […] nicht vermögend“ (SF XI,
Vgl. SF XI, 355. – Pollmann (2011, 77) versteht diese These als das letzte Wort Kants: Weil empirisch möglich bleibe, dass der Fortschritt jederzeit einem Rückschritt weiche, vertrete Kant nur einen ‚gedämpften Optimismus‘. Kant möchte aber lediglich argumentieren, die Fortschrittsthese sei empirisch nicht begründbar, sehr wohl aber in anderer Weise. Dieser Einschätzung steht die in der KrV grundgelegte und in IaG geäußerte These, die „Erscheinungen“ des freien Willens, „die menschlichen Handlungen“, seien „eben so wohl als jede andere Naturbegebenheit, nach allgemeinen Naturgesetzen bestimmt“ (IaG XI, 33), freilich diametral entgegen. Denn wenn menschliche Handlungen determiniert sind, dann müssten sie auch vorhersehbar sein, wenn man nur über die nötigen Daten verfügte. An dieser letzten Bedingung scheint die Vorhersehbarkeit von Handlungen eher zu scheitern, legt man die KrV zugrunde. Ich kann auf dieses Problem, das mit einigen Schwierigkeiten der KrV verbunden ist, nicht weiter eingehen.
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356). Heißt das, dass Menschen gar kein Standpunkt möglich ist, von dem aus Geschichte weniger widersinnig erscheinen würde? Eine Grundüberzeugung von IaG wäre dann revidiert. Die Stelle in SF ist diesbezüglich sicherlich unklar formuliert, denn Kant fragt zunächst nach der Wahl eines besseren Standpunkts – er vergleicht dies mit den Planetenbewegungen, die von der Sonne aus betrachtet regelmäßig, von der Erde aus aber chaotisch anzusehen sind – und gelangt letztlich zu einem negativen Ergebnis.⁵⁰¹ Doch nach der in meinen Augen plausibelsten Lesart nimmt Kant die Annahme eines vernunftgemäßen Standpunkts zur Betrachtung der Geschichte, wie er sie in IaG vertreten hat, nicht zurück; negativ ist seine Auskunft nur insofern, wie die Vorhersage künftiger Handlungen betroffen ist. Nur in diesem Punkt wird die Theorie aus IaG korrigiert: Dort sollte die Teleologie aus dem Standpunkt der Natur oder Vorsehung hinreichen, um die Hoffnung auf künftigen Fortschritt zu begründen; hier muss das Wissen über die Zukunft explizit auf eine andere Weise erworben werden. Unter dieser Bedingung ist dann aber die Wahl eines Standpunktes möglich, der eine vorteilhafte Sicht auf die Geschichte bietet. Damit betont Kant: Wenn Geschichtsphilosophie möglich ist, dann ist sie es nicht aus einer allwissenden göttlichen Perspektive,⁵⁰² sondern nur aus einem vorsehungsäquivalenten ‚weltlichen‘ Standpunkt unter der zusätzlichen Bedingung der Möglichkeit einer aus anderer Quelle gewonnenen Einsicht über die Zukunft. Worin diese andere Erkenntnisquelle beruhen soll, nennt Kant am Ende des 4. Teiles: „Wenn man den Menschen einen angebornen und unveränderlich-guten, obzwar eingeschränkten Willen beilegen dürfte, so würde er dieses Fortschreiten seiner Gattung zum Besseren mit Sicherheit vorhersagen können; weil es eine Begebenheit träfe, die er selbst machen kann.“ (SF XI, 356) Damit steht die Aufgabe fest, die für eine positive Antwort auf die Frage nach dem Fortschritt zu lösen ist: Entgegen dem oben referierten Einwand gegen den Eudämonismus ist zu zeigen, dass dem Menschen trotz seiner Schwäche eine allein gute Anlage zuzusprechen ist. Damit greift Kant ein Leitthema der Religionsschrift wieder auf, um es zu einem Argument für die Fortschrittshoffnung weiterzuentwickeln. Brandt (2003, 124 f.) geht davon aus, dass Kant zunächst die Wahl eines anderen Standpunkts erwägt und diesen aber sofort und endgültig als unerreichbar verwirft. Entsprechend kommt Brandt ins Rätseln, welche Funktion die „Anführung [des] Sonnenstandpunkts bei sofortiger Revozierung ihrer Verwendbarkeit“ (2003, 125) haben könnte und vermutet als Motiv die Unterscheidung von theoretischem und moralischem Standpunkt. Nach meiner Interpretation wird der ‚andere‘ Standpunkt dagegen nur verworfen, sofern er mit dem Anspruch einhergeht, aus göttlicher Perspektive die Zukunft vorherzusehen; die Stelle hat in dieser Lesart eine klar erkennbare Funktion innerhalb der Argumentation. Vgl. dazu auch z. B. ZeF XI, 243: „aber dieser Standpunkt der Beurteilung ist für uns viel zu hoch“.
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Die positive Antwort: das Geschichtszeichen Wenn auch Erfahrung allein nicht hinreichen kann, Fortschritt zu prognostizieren, so könne der Philosoph ebenso wenig ganz ohne Rückgriff auf Erfahrung auskommen: Es müsse „irgendeine Erfahrung“ (SF XI, 356) geben, die „als Begebenheit, auf eine Beschaffenheit und ein Vermögen [des Menschengeschlechts] hinweiset, Ursache von dem Fortrücken desselben zum Besseren“ (SF XI, 356) zu sein. Eine solche Begebenheit würde als „Geschichtszeichen“ (SF XI, 357) fungieren. Der Begriff des Geschichtszeichens ist eine Neuschöpfung Kants. Unübersehbar spielt Kant – wie schon mit den Begriffen des Wahrsagens und des prophetischen Weissagens – auf die der Aufklärung fremde Tradition göttlicher oder abergläubischer ‚Zeichen‘ an, mit denen vermeintlich die Zukunft vorhergesehen werden könne.⁵⁰³ Diese Anspielung soll bewusst provozieren, denn das Geschichtszeichen soll gerade das Gegenteil einer prophetischen Verheißung verbürgen, indem es für einen strengen Nachweis der Fortschrittstheorie herhält, und damit den Vorbehalt mancher fortschrittsskeptischer Aufklärer wie etwa Mendelssohn brechen. Das Geschichtszeichen soll beweisen, dass der Mensch der Anlage nach über einen rundum guten, obgleich „eingeschränkten“ Willen (SF XI, 356), d. h. über einen „moralischen Charakter […] wenigstens in der Anlage“ (SF XI, 357) verfügt; dieser Charakter soll zugleich den Fortschritt garantieren (vgl. SF XI, 356); ja sogar einen Grund geben, die Geschichte rückblickend als Fortschritt zu interpretieren (vgl. SF XI, 357 und 362). Mit diesen Ansprüchen gehen einige Probleme einher: Ist es nach der Theorie der KrV denkbar, dass eine Erfahrung, also etwas Empirisches, Aufschluss über den intelligiblen Charakter des Menschen geben kann? Müsste nicht für Kant gelten, dass sich für alle empirischen „Begebenheiten“, seien sie Naturereignisse, Handlungen oder Empfindungen (‚Qualia‘), empirische Erklärungen finden lassen müssten? Andernorts argumentiert Kant, man könne von einer guten Handlung nie mit Sicherheit auf eine gute Gesinnung schließen (vgl. z. B. RGV VIII, 666) – weshalb sollte das Geschichtszeichen dann für den guten Willen verbürgen können?⁵⁰⁴ Ein zweites Problem wurzelt in Kants Anspruch, aus dem moralischen Charakter des Menschen auf den künftigen Fortschritt zu schließen.Wenn der Mensch zwar der Anlage nach gut, aber sein guter Wille „eingeschränkt“ ist, sodass sich das Gute nicht zwangsläufig durchsetzt, weshalb sollte es dann zwingend einen
Dass für Kant solche Konnotationen des Zeichenbegriffs präsent gewesen sein mussten, weist Kittsteiner (1999, 87– 90) ausführlich anhand Zedlers Universallexikon von 1746/49 nach. Die Skepsis der Aufklärung gegenüber diesen Begriffen belegt Kittsteiner mit den entsprechenden Einträgen in Diderots Encyclopédie. Einen ähnlichen Einwand trägt Brandt 2003, 136 f. vor.
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moralischen Fortschritt geben? Auch ein der Anlage nach guter Wille könnte auf Dauer Einschränkungen unterworfen bleiben. Die gute Anlage des Menschen würde dann nur dafür einstehen, dass Fortschritt sein kann; dass er aber sein wird, müsste offen bleiben. Dies wäre zwar ein gutes Argument gegen den Abderitismus, aber noch kein ausreichendes für den Eudämonismus. Kant scheint diese Schwierigkeit in den Griff bekommen zu wollen, indem er – wie schon in der Religionsschrift (RGV VIII, 797; siehe Kapitel 5.5) – die These vertritt, die gute Anlage komme unter bestimmten äußeren Bedingungen zwangsläufig zum Tragen. Er illustriert dies mit einem Vokabular, das der naturwissenschaftlichen Vorhersage entstammt, also eher auf die Kausalität der Natur zutrifft als auf die Kausalität aus Freiheit: „aus einer gegebenen Ursache aber läßt sich eine Begebenheit als Wirkung vorhersagen, wenn sich die Umstände eräugnen, welche dazu mitwirkend sind.“⁵⁰⁵ (SF XI, 356) Wie bei einem Experiment im Labor soll demnach aus hinreichenden Bedingungen eine Vorhersage über die menschliche Entwicklung abgeleitet werden. Die Bedingungen selbst werden für Kant aber nicht wie im Labor bewusst herbeigeführt; sie kommen vielmehr eines Tages durch Zufall zustande: Wie beim „Kalkul der Wahrscheinlichkeit im Spiel“ kann vorhergesagt werden, dass die richtigen Umstände „irgend einmal“ (SF XI, 356) vorkommen werden, wenn man nur ausreichend viel Zeit abzuwarten bereit ist. Wann die richtige Kombination der relevanten Bedingungen vorliegen wird, kann dagegen nicht vorausgesehen werden;⁵⁰⁶ die Wahrscheinlichkeitsrechnung erlaubt nur ein dass. ⁵⁰⁷ Was heißt aber unter dieser Voraussetzung noch, dass der Mensch den Fortschritt vorhersagen kann, weil er ihn selbst macht? Kant kann damit nicht Diese Stelle sowie SF XI, 363 zeigen die inhaltliche Nähe des Streites der Fakultäten zur Aufklärungsschrift: Dass ein Publikum sich selbst aufkläre, sei „nahezu unausbleiblich“ (WA XI, 54), wenn die richtigen Bedingungen dafür geschaffen werden. Es kann etwa „nicht bestimmt werden, ob es sich in meinem Leben zutragen“ (SF XI, 356) werde – oder viel später; der Zustand einer republikanischen Verfassung könne, „was die Zeit betrifft, nur als unbestimmt und Begebenheit aus Zufall verheißen“ (SF XI, 361) werden. Vgl. SF XI, 356: Es kann „aber nicht bestimmt werden, ob es sich in meinem Leben zutragen und ich die Erfahrung davon haben werde“. – Kleingeld (1995, 76) behauptet, für die richtigen Umstände müsse die Vorsehung sorgen; deshalb muss Kant sie später wieder ins Spiel bringen. Später argumentiert Kant tatsächlich in diese Richtung (siehe unten). Hier heißt es aber eindeutig, dass die richtigen Umstände allein durch Zufall irgendwann eintreten werden. – Auch Zotta (2014, 169) missversteht diesen Punkt: Erst durch Ergänzung einer durchgängigen teleologischen Entwicklungslinie sei die moralische Anlage Gewähr für Fortschritt. Die Idee der Entwicklung einer moralischen Anlage, die lange verborgen bleiben kann, aber unter bestimmten Bedingungen hervorbricht und sich dauerhaft aufrecht erhalten kann, ist eine ganz andere Entwicklungsvorstellung als die teleologische, und sie kann und muss durch letztere nicht gestützt werden.
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meinen, die Menschheit würde die Zukunft vorhersehbar machen, indem sie nach weitläufigen, kollektiv abgesprochenen Plänen handelt, die nicht durchkreuzt werden können, weil sie auf dem Konsens aller beruhen.⁵⁰⁸ Vielmehr sei in der Natur des Menschen etwas angelegt, was irgendwann automatisch zum Tragen kommen werde. Eine dritte Schwierigkeit ist die Übertragung des Fortschrittsprinzips auf die Vergangenheit: Nicht nur solle es, vom Geschichtszeichen gewissermaßen schon antizipiert, irgendwann in der Zukunft Fortschritt geben, sondern die gesamte Menschheitsgeschichte dürfe rückblickend als Fortschritt gedeutet werden. Die Begründungsrichtung wird im Vergleich zum Standardargument empirischer Vertreter von Fortschrittstheorien geradezu umgedreht: Nicht weil es rückblickend Fortschritt gegeben hat, kann künftiger Fortschritt erwartet werden, sondern weil Fortschritt in Zukunft zu erwarten ist, müsse es auch früher schon Fortschritt gegeben haben. Es scheint offensichtlich zu sein, dass Kants Argument – wenn nur die richtigen Umstände eintreten, wird die gute Anlage zum Tragen kommen – nicht ausreicht, um die Behauptung eines Fortschrittes in der Vergangenheit zu stützen. Solange die Bedingungen nicht eingetreten sind, unter denen sich die moralische Anlage entfalten kann, wird diese auch nicht die Ursache des Fortschritts sein.⁵⁰⁹ Es ist darüber hinaus nicht einmal einzusehen, warum das Geschichtszeichen überhaupt für eine Entwicklung in der Vergangenheit herangezogen werden soll – hatte doch Kant wenige Absätze vorher implizit die Möglichkeit eingeräumt, empirisch Fort- oder Rückschritte in der Vergangenheit bestimmen zu können. Sein Argument gegen empirisch fundierte Fortschrittstheorien bestand ja darin, dass eine jede diagnostizierte Entwicklung sich plötzlich umdrehen kann. Dies setzt offenkundig voraus, dass für die Vergangenheit solche Entwicklungen empirisch einzusehen sind.⁵¹⁰ Mit dem Schritt, von der Idee eines Geschichtszeichens auf Fortschritt in der Vergangenheit zu schließen, verlässt Kant dieses empirische Unterfangen. Es geht ihm offenbar nicht darum, in der Vergangenheit Entwicklungen aufzudecken, sondern sie hineinzuprojizieren. Dadurch deutet sich an, dass
In diese Richtung interpretieren aber z. B. Brandt 2003 und Langewiesche 2011 den Streit der Fakultäten. Auch die Tatsache, dass die gute Anlage des Menschen zu seinem intelligiblen Charakter gehört und deshalb zeitlos sein soll, reicht nicht aus, um Fortschritt in der Vergangenheit zu behaupten: Statt Fortschritt zu garantieren, schiene diese Überlegung eher auf Stillstand hinzuweisen. So aber Kleingeld 1995, 75 f. In IaG hat Kant dies nicht für möglich gehalten, denn ohne einen Leitfaden a priori ergäben die empirischen Daten nur eine ungeordnete Mannigfaltigkeit, aus der keine Ordnung abzulesen wäre; siehe Kapitel 6.1
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Kant auch im Streit der Fakultäten auf Elemente der teleologisch fundierten Schriften zur Geschichtsphilosophie zurückgreift. Wie weithin bekannt ist, erblickt Kant das Geschichtszeichen in der Reaktion der Öffentlichkeit auf die Französische Revolution. Die Zuschauer hätten die Revolution mit einer „Teilnehmung […], die nahe an Enthusiasmus grenzt“ (SF XI, 358), beobachtet und diese öffentlich geäußert. Aufgrund der Allgemeinheit dieser Reaktion könne auf einen generellen Charakterzug des Menschen geschlossen werden. Dass es sich um einen moralischen Charakter handelt, sei aus der Uneigennützigkeit zu erschließen, mit der sich die Öffentlichkeit auf den Rechtsbegriff berufe, denn sie riskiere aufgrund der repressiven Politik vieler Herrscher mit ihrer öffentlichen und ehrlichen Meinungsäußerung einen eigenen Nachteil. Während die Revolutionäre selbst aus verschiedenen, auch amoralischen oder gar unmoralischen Motiven und Emotionen heraus agierten, sei die öffentliche Reaktion der Zuschauer, die ins Geschehen gar nicht involviert sind, nur auf ihre moralische Anlage zurückführbar. Entsprechend möchte Kant der Revolution selbst nicht viel Gutes abgewinnen; entscheidend ist für ihn die öffentliche Debatte über die Revolution.⁵¹¹ Nicht nur dürfte die Allgemeinheit des Enthusiasmus eine historisch strittige Behauptung sein. Kants Beweisführung leidet an diesem Punkt auch unter der ersten der oben diagnostizierten Schwierigkeiten: Die These, der Enthusiasmus sei nur auf eine moralische Anlage zurückzuführen, kann jedenfalls in der gewünschten argumentativen Strenge nicht überzeugen. Zwar bemüht sich Kant darum Belege anzuführen, die eine moralische Motivation des Publikums nahelegen. Aber auch scheinbar uneigennützige Reaktionen können, gerade wenn sie hochemotionalisiert in Erscheinung treten, empirisch motiviert und die Berufung auf den Rechtsbegriff nur vorgeschoben sein. Immerhin wird man zugestehen, dass das Geschichtszeichen eine gewisse Plausibilität der These rechtfertigt, der Mensch sei ein moralisches Wesen. Daran schließt sich allerdings die Frage an, was die Lehre vom Geschichtszeichen den moralphilosophischen Schriften noch hinzufügt – die Lehre vom Faktum der Vernunft ist doch ebenfalls schon zu diesem Ergebnis gekommen. Deshalb überrascht es nicht, dass Kant unvermittelt ein weiteres Argument hinterherschiebt, nachdem er die These formuliert hat, er könne „auch ohne Sehergeist“ (SF XI, 361) die Entstehung und Beständigkeit von friedliebenden
In der Literatur wird kontrovers diskutiert, ob nicht auch die Revolution Teil des Geschichtszeichens sei, oder ob nicht auch der Enthusiasmus der Revolutionäre zu berücksichtigen wäre. Ich übergehe diesen Streit, der für den Fokus dieser Arbeit nichts austrägt. Vgl. aber z. B. Siep 1995, 363; Brandt 2003, 123 ff.; Recki 2005, 241; Langewiese 2011, 218 f.; Kittsteiner 1999, 97; Städtler 2011, 78 und Muglioni 2011, 207 f.
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Republiken vorhersagen. „Ein solches Phänomen“ wie der teilnehmende Enthusiasmus „vergißt sich nicht mehr“ (SF XI, Hervorhebung von Kant), behauptet Kant ohne eine substantielle weitere Erläuterung. Mit dieser These, die inhaltlich an die Überlegungen zum generationenübergreifenden Lernen im Gemeinspruch und in der Religionsschrift⁵¹² anknüpft, ist vielleicht der stärkste Punkt angesprochen, den Theorien der Rechtsevolution zur Möglichkeit des Fortschreitens anführen können: Bestimmte normative Standards sind derart im kollektiven Gedächtnis verankert, dass ein Rückschritt kaum noch vorstellbar ist. Damit bleibt zwar offen, dass gegen diese Normen immer wieder verstoßen wird. Aber dass ihnen Geltung zukommt, scheint kaum bestritten werden zu können, wenn sie erst einmal im kollektiven Gedächtnis verwurzelt sind. Was für Kant die prinzipielle Gutheißung der Rechtsidee war, dürfte im 20. Jahrhundert etwa auf die Anerkennung der Menschenrechte zutreffen: Es ist kaum vorstellbar, dass das internationale Rechtssystem nochmals hinter das heute anerkannte Prinzip überstaatlich geltender Menschenrechte zurückfallen wird.⁵¹³ Wenngleich sich normative Prinzipien auf diese Weise weiterentwickeln könnten, ist dies für die politische Wirklichkeit direkt noch nicht gesagt. Noch so weit entwickelte normative Ideale können durch repressive Herrschaft oder ökonomische Zwänge derart in Zaum gehalten werden, dass sie keine handlungsleitende Kraft entfalten können. An dieser Stelle kommt jedoch Kants Argument ins Spiel, eines Tages müssten sich rein statistisch die passenden Umstände ereignen: Wenn man nur lange genug abwartete, werde irgendwann eine politische Konstellation eintreten, in der sich die Ideale auch in Institutionen niederschlagen können. Indem sich das fortschrittsverbürgende Prinzip aber nicht in der vernunftgemäßen Entwicklung von Institutionen findet, sondern in einer bloßen Haltung gegenüber der Revolution, welche sich ins kollektive Gedächtnis einbrennt, befreit Kant seine ‚Vohersage‘ von einer drohenden schnellen empirischen Falsifizierung: Nur über sehr lange Zeit hinweg werde sich Fortschritt in den Institutionen einstellen; die normativen Ideale im kollektiven Gedächtnis sind dagegen empirisch kaum fassbar. Die Revolution muss 1798 in wesentlichen Teilen als gescheitert gelten, die Institutionen mögen trotz des Enthusiasmus noch über Jahrzehnte hinweg vernunftwidrig bleiben: All dies kann gegen Kants Fortschrittsbehauptung nichts ausrichten (vgl. SF XI, 361).
„was, nachdem sie es einmal ins Auge gefaßt haben, ihre Gedanken nie verläßt“ (RGV VIII, 787). Siehe dazu auch Kapitel 8.3 und 10.
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Die Vorstellung eines kontinuierlichen Fortschritts in der Geschichte lässt sich auch mit diesem Argument freilich nicht rechtfertigen. Lediglich die These, dass auf lange Sicht keine großen Rückschritte mehr erfolgen werden und so jeder erreichte Fortschritt ‚konserviert‘ werden kann, könnte gerechtfertigt sein, wenn man Kants Prinzip des „vergißt sich nicht mehr“ anerkennt. Geschichte hätte die „Gestalt eines immer wieder gewaltsam unterbrochenen, nie aber wirklich stillzustellenden Lernprozesses“ (Honneth 2004, 97).⁵¹⁴ Während Kant in seinen älteren Schriften den epistemischen Status seiner Geschichtsphilosophie tendenziell bescheiden formuliert und ihren regulativen und reflektierenden Charakter betont, grenzt er sich im Streit der Fakultäten bewusst von allzu vorsichtigen Formulierungen ab: „Es ist also ein nicht bloß gutgemeinter und in praktischer Absicht empfehlungswürdiger, sondern allen Ungläubigen zum Trotz auch für die strengste Theorie haltbarer Satz: daß das menschliche Geschlecht im Fortschreiten zum Besseren immer gewesen sei, und so fernerhin fortgehen werde […].“⁵¹⁵ (SF XI, 362) Die wesentlichen beiden Interpretationsfragen, die sich hier stellen, sind die folgenden: Möchte Kant behaupten, die Fortschrittsthese sei nicht nur in praktischer Hinsicht gerechtfertigt, sondern auch für die theoretische Vernunft?⁵¹⁶ Nimmt Kant mit dem Verweis auf die „strengste Theorie“ den regulativen und reflektierenden Charakter zurück? Kleingeld (1995, 80) bejaht beide Fragen. Sie möchte die Konsistenz der kantischen Position anschließend dadurch retten, dass sie – u. a. unter Verweis auf die KU – eine alternative Lesart dafür vorschlägt, was es heißt, dass eine These „haltbar“ sei. Demnach ginge es Kant lediglich darum, dass seine These durch die strengste Theorie nicht zu widerlegen sei. Diese Lesart ist nicht ausgeschlossen. Dennoch erscheint sie unbefriedigend, weil sie nicht erklären kann, weshalb die Haltbarkeit gegenüber der strengsten Theorie dem „Ungläubigen“ irgendetwas entgegensetzen sollte: Der Ungläubige ist ja typischerweise nicht jemand, der die Fortschrittsthese mit Gegenargumenten vermeintlich hieb- und stichfest zurückzuweisen vermag, sondern jemand, dem die Argumente für die These nicht aus-
Dass ein solcher Geschichtsbegriff bei Kant zumindest angelegt ist, übersieht Habermas. Mit der Lehre vom Geschichtszeichen erübrigt sich Habermas’ Einwurf gegen Kant, er verkenne den engen Zusammenhang von Moral, Recht und politischen Lernprozessen, weil die „dichotomische Begriffsbildung der Transzendentalphilosophie das Innere vom Äußeren, die Moralität von der Legalität trennt“ (1999, 206). Vgl. auch die Formulierungen „mit Sicherheit vorhersagen“ (SF XI, 356) und „die Tendenz […] beweisen“ (SF XI, 357). In ZeF heißt es dagegen, es handle sich um eine „Sicherheit, die nicht hinreichend ist, die Zukunft […] (theoretisch) zu weissagen“ (ZeF VIII, 368). Vgl. dagegen die klare Beschränkung auf die praktische Vernunft in ZeF XI, 218 und FM VI, 647.
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reichen. Dann wäre es absurd, dem Ungläubigen zum Trotz auf den fehlenden Gegenbeweis zu pochen. Mir erscheint es daher angemessen, wenigstens die erste der beiden Fragen zu verneinen. Es geht Kant nicht darum zu bestreiten, dass die Fortschrittsthese in praktischer Absicht gilt.⁵¹⁷ Die im Streit der Fakultäten angelegte Theorie ist ja schon deshalb der praktischen Vernunft zuzuordnen, weil die theoretische Vernunft nicht einmal einen moralischen Begriff von Freiheit ausbuchstabieren kann, geschweige denn eine moralische Anlage im Menschen ausmachen könnte. Vielmehr möchte Kant die Haltung zurückweisen, die Fortschrittsthese sei ein „bloß gutgemeinter und in praktischer Absicht empfehlungswürdiger“ Satz. Die Fortschrittsthese ist nämlich nicht nur pragmatisch von Nutzen – in dieser Funktion ziehen ihn etwa Pädagogen heran (vgl. RGV VIII, 665) –, sondern gilt aus Vernunftgründen und insofern „für die strengste Theorie“. Wenn Kant hier von Theorie spricht, geht es also nicht um die Gegenüberstellung von theoretischer und praktischer Vernunft, sondern um die Gegenüberstellung von Theorie und Praxis: Kant weist zurück, dass es sich um einen für die philosophische Theoriebildung zu unsicheren Satz handele, der lediglich in der Praxis hilfreich und nur insofern in bestimmten Kontexten erlaubt sei. Vielmehr liege eine These vor, die innerhalb der kantischen Theorie der praktischen Vernunft gerechtfertigt werden kann. Der Bezug auf den „Ungläubigen“ ist in dieser Lesart als direkte Anspielung auf die Postulatenlehre zu lesen: Ebenso wie Kant mit der Postulatenlehre den religiös Ungläubigen ‚bekehren‘ möchte, soll die Geschichtsphilosophie den Fortschrittsskeptiker davon überzeugen, dass die Fortschrittsannahme in praktischer Hinsicht gerechtfertigt sei. Indem Kant in diesem Kontext von einem „Ungläubigen“ spricht, deutet er zumindest an, dass Geschichtsphilosophie innerhalb des Schemas von Meinen-Glauben-Wissen dem Status des Glaubens zuzuordnen ist.⁵¹⁸ Diesem Interpretationsvorschlag steht allerdings die Verwendung des Wissensbegriffs zu Beginn des Streites mit der juristischen Fakultät entgegen (vgl. SF XI, 351). Dieser Begriff kann so gelesen werden, als wolle Kant unterstellen, die Fortschrittsthese gehöre im Gegensatz zur Postulatenlehre dem Bereich des Wissens an. Dann könnte der Bezug auf den Ungläubigen anders verstanden
Auch in der zeitgleich erschienenen Anthropologie vertritt Kant noch die Beschränkung auf die praktische Vernunft: Man könne auf den Fortschritt „mit so weit gegründeter Erwartung schließen, als nötig ist, an diesem […] Fortschreiten zum Besseren nicht zu verzweifeln, sondern, mit aller Klugheit und moralischer Vorleuchtung, die Annäherung zu diesem Ziele […] zu befördern“ (Anth XI, 683). Siehe dazu auch Kapitel 9.3.
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werden: Denjenigen zum Trotz, die bezüglich der Frage nach dem Fortschritt im Unsicheren verbleiben, würde Kants Theorie zum Wissen führen – entsprechend der These, man könne Fortschritt „mit Sicherheit vorhersagen“ (SF XI, 356). Diese ‚strenge‘ Lesart des Wissensbegriffs ist freilich nicht zwingend; es ist nicht ausgemacht, dass Kant sich mit dem Wissensbegriff überhaupt auf das Schema Meinen-Glauben-Wissen beziehen möchte. Dennoch führt das aus dem Geschichtszeichen entwickelte Argument auf eine stärkere Form von Zukunftsprognose als die Überlegung im Gemeinspruch. So viel kann festgehalten werden, wenn man eine Synthese der gegenläufigen Beobachtungen versucht: Wissen über die Zukunft kann nur die praktische, nicht die theoretische Vernunft erlangen; das Wissen um künftigen Fortschritt ist aber mehr als eine womöglich kontrafaktische als-ob-Annahme, wie sie aus den teleologischen Schriften und dem Gemeinspruch folgt. Auf den Status der bloß reflektierenden Urteilskraft bleibt daher nur der Versuch festgelegt, konkrete Fortschrittsmechanismen aufzuzeigen, den Kant in Teil 10 der Schrift unternimmt. Dass Fortschritt sein wird, kann dagegen eindeutig bestimmt werden.
Legalität und Moralität Die Argumentation Kants nimmt in den beigefügten Erläuterungen zur ‚positiven Antwort‘ auf die Fortschrittsfrage zwei überraschende Wendungen: Zum einen beschränkt Kant den Fortschritt auf den Bereich der Legalität, zum anderen knüpft er an die älteren Überlegungen zum Vorsehungsbegriff an. Das Geschichtszeichen diente ausdrücklich dazu, als empirisches Ereignis auf einen intelligiblen Charakterzug des Menschen, nämlich seine moralische Anlage, hinzuweisen. Umso erstaunlicher ist es, dass Kant auf die ironisch in ökonomischen Begriffen formulierte Frage, welchen „Ertrag“ der Fortschritt „abwerfen“ würde, antwortet: „Nicht ein immer wachsendes Quantum der Moralität in der Gesinnung, sondern Vermehrung der Produkte ihrer Legalität in pflichtmäßigen Handlungen, durch welche Triebfeder sie auch veranlaßt sein mögen; […] also in den Phänomenen der sittlichen Beschaffenheit des Menschen […].“ (SF XI, 365)⁵¹⁹
Muglioni möchte sich der Interpretationsprobleme entledigen, indem er zu zeigen versucht, dass die zitierte Stelle moralischen Fortschritt nicht ausschließe, sondern vielmehr die erste Stufe einer moralischen Entwicklung darstelle, auf den man ebenfalls hoffen dürfe. „Der Rechtsfortschritt würde vor allem keinen Sinn machen, wenn wir nicht auf einen moralischen Fortschritt hoffen dürften.“ (2011, 204 f.) Dass wir auf letzteren nicht berechtigterweise hoffen können, sagt Kant aber ausdrücklich (vgl. SF XI, 365 f.). Immerhin spricht für Muglionis Interpretation, dass Kant auch später im Text einen moralischen Fortschritt andeutet: Es gehe nicht
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Kant bezieht sich damit natürlich vorrangig auf juridischen Fortschritt: „Gewalttätigkeit von Seiten der Mächtigen“ werde abnehmen, „Folgsamkeit in Ansehung der Gesetze“ werde zunehmen, und die Reichweite des Rechts werde sich „bis zur weltbürgerlichen Gesellschaft erstrecken“ (SF XI, 364). Aber auch die Befolgung ‚weiter‘ Pflichten werde zunehmen, wenn auch nicht notwendig mit der für Tugendpflichten nötigen moralischen Gesinnung: Es werde mehr Wohltätigkeit geben, die „teils aus Ehrliebe, teils aus dem wohlverstandenen eigenen Vorteil“ (SF XI, 365) entspringe. Es geht Kant also überwiegend um Rechtsfortschritt, aber daneben auch um einen Zuwachs an „Tugend, der Legalität nach“ (RGV VIII, 697).⁵²⁰ Nun könnte man dies zunächst einmal folgendermaßen deuten: Geschichte als Wissenschaft hat reale Ereignisse zum Gegenstand, die in der empirischen Welt ablaufen. Aus diesem Grund kann das Quantum an Moralität gar nicht zu den Fragen gehören, mit denen sich die Geschichtswissenschaft oder die wahrsagende Geschichte befasst: Mit welcher Gesinnung Menschen handeln, ist der Beobachtung des Historikers entzogen; der intelligible Charakter könnte daneben gar nicht in den auf Zeitlichkeit beruhenden Begriffen des Historikers beschrieben werden.⁵²¹ Mit dieser Intention, die sich ähnlich auch zu Beginn der „Historischen Vorstellung“ der Reich-Gottes-Thematik in der Religionsschrift findet, wäre die Beschränkung auf Legalität durchaus nachvollziehbar. Eine derartige Begründung findet sich hier jedoch nicht. Stattdessen scheint Kant eine noch stärkere inhaltliche Kehrtwende zu vollziehen: Explizit ging es zuvor darum, dass die gute Anlage des Menschen Ursache des Fortschritts sein soll. Dies wird auch nicht zurückgenommen, denn die zahlreicher werdenden pflichtgemäßen Handlungen seien „Phänomene[.] der sittlichen Beschaffenheit des Menschengeschlechts“ (SF XI, 365). Zugleich darf der Fortschritt jedoch mit der guten Anlage nichts zu tun haben: Kant behauptet, dass die Triebfedern der Handlungen für den Fortschritt keine Rolle spielten; es sei einerlei, aus welchen Motiven das positive Recht der Vernunftforderung angenähert werde. Wenn die Triebfedern aber keine Rolle spielen, mag Fortschritt an Legalität aus der Perspektive des Philosophen immer noch wünschenswert erscheinen – so das
bloß um „gute Staatsbürger“, sondern darum, die Menschen „zum Guten, was immer weiter fortschreiten und sich erhalten kann, zu erziehen“ (SF XI, 366). – Städtler (2011, 79) weist darauf hin, dass Fortschritt an Legalität zumindest die negativen Bedingungen für moralischen Fortschritt schaffen würde. Wenn aber gilt, dass die moralische Entwicklung einen übernatürlichen Einfluss voraussetzt (vgl. SF XI, 365), ist das Wegfallen von weiteren negativen Bedingungen tendenziell bedeutungslos. Dies wird zuweilen übersehen; vgl. etwa Muglioni 2011, 204 f. und Siep 1995, 363. In diese Richtung argumentiert Geismann 2000.
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Resultat des Kapitels 3.4 –, er wäre dann jedoch nicht mehr die phänomenale Seite der intelligiblen Sittlichkeit, sondern möglicherweise ausschließlich empirisch verursacht. Diese Problematik hält sich in der Begründung, die Kant anschließend für die Beschränkung auf die Legalität vorbringt, durch: Der Grund läge darin, dass nur „empirische Data (Erfahrungen)“ als Basis der Vorhersagung dienen könnten; diese empirischen Daten bestünden in der „physischen Ursache unserer Handlungen“ (SF XI, 365). Genau dies hatte Kant aber zuvor bestritten: Empirische Daten, die sich auf die Gegenwart und Vergangenheit beziehen, seien ja gerade nicht ausreichend für eine Vorhersage. Vielmehr soll das Geschichtszeichen ein empirisches Merkmal für eine nichtempirische Eigenschaft des Menschen bilden, die für den Fortschritt einsteht. Es bleibt unklar, wie Kants Verweis auf empirische Daten zu diesem Schema passen soll. Kant schiebt wenige Zeilen später einen weiteren Grund hinterher, der an die Diskussion des Eudämonismus zu Beginn der Schrift anknüpft. Den „sanguinischen Hoffnungen“ (SF XI, 354) des Eudämonisten hält er entgegen, man dürfe sich „von Menschen in ihren Fortschritten zum Besseren auch nicht zu viel versprechen, um nicht in den Spott des Politikers mit Grunde zu verfallen“, der den Fortschritt für die „Träumerei eines überspannten Kopfs halten möchte“ (SF XI, 365 f.).⁵²² Denn für eine substantielle Änderung der moralischen Grundlage des Menschen sei „eine Art von neuer Schöpfung“ (SF XI, 366) erforderlich – diese kann jedoch nicht vom Menschen hervorgebracht werden, weil „er sonst sein eigener Schöpfer hätte sein müssen“ (SF XI, 366 Anm.). Kant spricht damit den Einwand an, der anfangs gegen den Eudämonisten vorgebracht wurde: Wie sollte sich der Mensch selbst besser machen, wo dieser Akt doch schon „eines größeren Fonds des Guten bedürfen würde, als er einmal hat“ (SF XI, 354)? Nach dieser Sichtweise wäre moralische Besserung auf göttlichen Beistand („übernatürlicher Einfluß“, SF XI, 366) angewiesen und der Religionsphilosophie zuzuordnen. Die Geschichtsphilosophie im engeren Sinn hätte lediglich die Legalität menschlicher Handlungen zum Gegenstand. Dass Kant auf das Problem der ‚neuen Schöpfung‘ eingeht, provoziert jedoch einen Verdacht: Liegen nicht den verschiedenen Argumentationssträngen zwei differierende Modelle moralischer Entwicklung zu Grunde? Im Zusammenhang mit der Lehre vom Geschichtszeichen beruhte das Modell darauf, dass die gute
Für einen solchen „süße[n] Traum“ hält Kant offenbar „Platos Atlantica, Morus’ Utopia, Harringtons Oceana und Allais’ Severambia“ (SF XI, 366 Anm.) – wobei auffallend offen gelassen wird, ob für Kant das Problem eher darin besteht, dass solche Utopien „nie […] auch nur versucht worden“ (SF XI, 366 Anm.) sind, oder darin, dass sie überzogene Wunschvorstellungen enthalten.
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Anlage des Menschen sich genau dann entfaltet, wenn bestimmte Bedingungen vorliegen. Eine Mischung von Gutem und Bösem in der Anlage hat Kant gerade ausgeschlossen, denn anders sei keine Entwicklung vorhersehbar (vgl. SF XI, 356). Kein übernatürlicher Eingriff wäre nötig, um diese Entwicklung in Gang zu setzen: Lediglich die Umstände müssten eintreten; diese führten aber eine substantielle Änderung der moralischen Gestalt des Menschen herbei, weil die zuvor schlummernde Anlage sich nun entfaltet. Nach dem anderen Modell moralischer Entwicklung, das die Lehre vom Geschichtszeichen übergeht, müsste sich dagegen der Mensch gewissermaßen am eigenen Schopf aus dem Sumpf des Bösen ziehen: Sein guter Wille wäre immer schon vom Bösen korrumpiert, und der Ausweg aus dem Bösen scheint unmöglich, solange nicht ein göttlicher Eingriff erfolgt. Nach dem ersten Modell ist moralischer Fortschritt in der Geschichte möglich; nach dem zweiten wäre – sieht man vom göttlichen Eingriff, den Kant nicht weiter thematisiert, einmal ab – nur ein Fortschritt an Legalität denkbar, der ja auch das Resultat amoralischer Eigenschaften des Menschen sein könnte. Wie kommt es, dass Kant vom ersten Entwicklungsmodell und damit von der These moralischen Fortschreitens zunehmend abweicht zugunsten der mit heteronomen Triebkräften vereinbaren Idee juridischen Fortschreitens? Eine mögliche Deutung wäre, dass die Beschränkung auf die Legalität eine notwendige Vorbereitung ist, um den Vorsehungsbegriff in die Theorie des Streites der Fakultäten einführen zu können. Dies ist genauer zu zeigen.
Der Vorsehungsbegriff Obwohl es schien, als wäre die Frage nach dem Fortschritt mit der Lehre des Geschichtszeichens endgültig beantwortet worden, ergänzt Kant am Ende des Streites mit der juristischen Fakultät die Frage, „in welcher Ordnung allein“ (SF XI, 366) dieser erwartet werden könne. Nachdem gezeigt wurde, dass sich Fortschritt auf lange Sicht notwendigerweise einstellen wird, müsste die Antwort eigentlich lauten: In jeder Ordnung. Dennoch scheint Kant der Meinung zu sein, jetzt noch besondere Bedingungen nachliefern zu müssen, unter denen Fortschritt gelingen kann. Dass diese Erläuterung der eigentlichen Argumentation nachträglich beigefügt ist, ergibt nur Sinn, wenn sie nicht selbst eine Beweiskraft für den Fortschritt entfalten soll, sondern umgekehrt die Unbestreitbarkeit des Fortschritts dazu dient, eine weitere Konklusion zu rechtfertigen. Kant möchte offenbar der folgenden Argumentationsstruktur nachgehen: Es wurde gezeigt, dass es Fortschritt geben wird. Unter dieser Prämisse gilt: Sollten sich Bedingungen der Möglichkeit des Fortschritts angeben lassen, muss deren Vorhandensein gesetzt werden, denn die Sicherheit künftigen Fortschreitens garantiert, dass dessen Bedingungen erfüllt sind. Auf diese Weise könnte die Vorsehungslehre, die die älteren
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geschichtsphilosophischen Schriften Kants prägt, nun ebenfalls mit strenger Beweiskraft deduziert werden. Auch wenn dies m. E. die plausibelste Lesart des Teils 10 darstellt, liegt die Schwäche einer solchen Argumentation auf der Hand: Sofern Fortschritt tatsächlich unter weiteren Bedingungen steht, ist möglicherweise die Prämisse nicht mehr aufrechtzuerhalten. Worin besteht die Bedingung der Möglichkeit des Fortschritts, auf die Kant abschließend hinweisen möchte? An die Lehre des Gemeinspruchs angelehnt – dort heißt es: nicht von den Teilen aufs Ganze, sondern vom Ganzen auf die Teile (vgl. TP XI, 169) –, formuliert Kant jetzt: „nicht durch den Gang der Dinge von unten hinauf, sondern den von oben herab“ (SF XI, 366) sei Fortschritt möglich. Dies ist zunächst auf die ganz praktische Frage bezogen, ob die Summe einzelner um Fortschritt bemühter Bürger einen gesellschaftlichen Impact haben kann, oder nicht vielmehr staatliche Institutionen auf die Besserung der Einzelnen wirken müssen. Kant antwortet, nur „nach einem überlegten Plane der obersten Staatsmacht“ (SF XI, 366), der insbesondere das Bildungssystem verbessern müsste, sei Fortschritt möglich. Dahinter steht die auch andernorts oft durchscheinende Überzeugung, Reform von oben sei besser als Revolution von unten. Aber diese erste Antwort hält Kant für unbefriedigend: Dass ein solcher Plan gelingen kann, hängt von zu vielen Umständen ab, die dem Zufall überlassen bleiben. Was das Bildungssystem angeht, weist Kant darüber hinaus auf das prinzipielle Problem hin, auch die Erzieher haben erst erzogen werden müssen; wie sollten sich unter schlechter Erziehung aber gute Erzieher entwickeln können?⁵²³ Bedingung der Möglichkeit des Fortschritts ist für Kant deshalb, dass Hilfe ‚von ganz oben‘ kommt. Die Hoffnung des Fortschreitens sei nur „von einer Weisheit von oben herab (welche, wenn sie uns unsichtbar ist, Vorsehung heißt)“ (SF XI, 367) zu erwarten. Diese Weisheit wäre die „positive Bedingung“ des Fortschritts. Für die negativen Bedingungen – gemeint sind Bedingungen, die für tatsächlichen Fortschritt nicht hinlangen, aber zumindest dafür sorgen, dass Fortschritt nicht verhindert wird – reichten dagegen die Kräfte des Menschen aus: Der Krieg, das „größte Hindernis des Moralischen“ (SF XI, 367), müsste menschlicher und seltener werden, bis er letztlich ganz verschwände. Dass Fortschritt nun gedanklich von der Vorsehung geplant und geleitet wird, bringt einen radikalen Wechsel des Geschichtsbildes mit sich: An die Stelle des Lernprozesses, der jederzeit gewaltsam unterbrochen werden kann, tritt jetzt kontinuierlicher Fortschritt; Kant spricht ausdrücklich von einer „Evolution“⁵²⁴ (SF Ein ähnliches Argument findet sich in der zeitgleich erschienen Anthropologie; vgl. Anth XII, 683. Kant verwendet den Begriff der Evolution natürlich nicht im heutigen Sinn, sondern fasst darunter offenbar ganz allgemein eine kontinuierliche Weiterentwicklung. – Ich verstehe den
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XI, 367).Werden im ersten Fall eintretende Krisen als vorübergehende Rückschritte gewertet, die es zu überwinden gilt, stellt die Krise im zweiten Fall schon das Mittel zur weiteren Evolution und damit selbst einen Fortschritt dar. Es ist kein Zufall, dass Kant wenig später mit ganz anderer Intention auf den Krieg zu sprechen kommt: Soeben noch als größtes Hindernis der moralischen Entwicklung angesehen, wird er jetzt als Motor des Fortschreitens eingeführt: „Die Nachwehen des gegenwärtigen Krieges aber können dem politischen Wahrsager das Geständnis einer nahe bevorstehenden Wendung des menschlichen Geschlechts zum Besseren abnötigen, das schon jetzt im Prospekt ist.“ (SF XI, 368)⁵²⁵ Gerade der Krieg soll den künftigen Fortschritt verbürgen. Dass Kant damit auf die Lehre der älteren geschichtsphilosophischen Schriften zurückgreift, muss den Interpreten verwirren. War noch zu Beginn des Textes die Möglichkeit der Vorhersage des Fortschritts daran gebunden, dass der Mensch selbst Urheber der Geschichte ist, behauptet Kant jetzt genau das Gegenteil: Nicht der Mensch, sondern die Vorsehung müsse Geschichte machen, sonst sei Fortschritt allenfalls einem extrem unwahrscheinlichen Zufall überlassen. Entsprechend ist es nicht erstaunlich, dass in der Literatur eine größere Kontroverse um die Bewertung des Rückgriffs auf die Vorsehung entstanden ist: Für manche ist er ein unerklärlicher ‚Rückfall‘ in die eigentlich überwundene Problematik der älteren Schriften. Er wird dann entweder einfach beiseitegeschoben oder dient als Beleg für die Inkonsistenz des Textes – je nachdem ist der Streit der Fakultäten dann zu feiern oder zu verschmähen.⁵²⁶
Text so, dass das Staatsoberhaupt die Evolution versuchen soll, die Vorsehung aber die Evolution garantiert – trotz aller Widerstände. Kant führt mit diesem Argument eine Überlegung aus IaG und TP weiter: Krieg sei so schrecklich, dass er einfach irgendwann aufhören muss. – Dieser Satz ist nicht nur verwirrend, weil Krieg in der Tradition der älteren Schriften als Fortschrittsmotor angesehen wird. Kant widerspricht außerdem zwei grundlegenden Thesen, die er vorher eingeführt hat: Erstens sei Fortschritt ‚nahe bevorstehend‘, wogegen Kant zuvor betont hat, über die zeitliche Entfernung nichts sagen zu können. Zweitens soll Fortschritt empirisch, nämlich mit Blick auf den gegenwärtigen Krieg, vorherzusehen sein; dies hat Kant zuvor explizit ausgeschlossen. Brandt (2003, 120) gibt zwar zu, dass im Streit der Fakultäten die Vorsehung in einer interpretationsbedürftigen Spannung zur Hauptlinie der Argumentation steht, übergeht diesen Problembefund in der anschließenden, äußerst wohlwollenden Analyse aber mit erstaunlicher Hartnäckigkeit. Paradigmatisch ist die Formulierung, „nicht (nur) die Vorsehung“ (2003, 133) sei für den Fortschritt verantwortlich – lässt man „nur“ weg, widerspricht Brandt dem Text; lässt man „nur“ stehen, widerspricht Brandt sich selbst. – Auf der anderen Seite steht etwa Honneth (2004, 97 f.), der den Rückgriff auf die Vorsehungslehre für eine Schwäche Kants hält, die man ausblenden müsse, wenn man heute noch etwas mit Kants Geschichtsphilosophie anzufangen versucht. Kleingeld diagnostiziert ein „Spannungsverhältnis“ (1995, 84) innerhalb des Textes,
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Eine andere Interpretationslinie versucht, die Lehre vom Geschichtszeichen mit der Vorsehungslehre in Einklang zu bringen: Demnach habe Kant 1797 festgestellt, dass seiner a priori begründeten Geschichtsteleologie ein semi-empirischer Beweis fehle, den er nun nachzuliefern gedenke. Die durchweg vertretene Vorsehungslehre bekomme so nachträglich ein zweites Fundament.⁵²⁷ Es ist schwierig, dem Text in die eine oder die andere Richtung Sinn abzugewinnen: Zwar hat Kant ganz offensichtlich versucht, die Vorsehungslehre weiterzuführen, indem sie mit der Lehre vom Geschichtszeichen mindestens kompatibel gemacht, oder diese sogar als neues Fundament der Vorsehungslehre verwendet werden soll. Aber die Aporie, in die Kant dadurch gerät, ist allzu offensichtlich: Fortschritt kann man vorhersagen, weil man ihn selbst macht; aus dieser Vorhersage wird aber durch einen Schluss auf die Bedingungen seiner Möglichkeit abgeleitet, dass der Mensch ihn nicht selbst machen kann. Vielleicht lässt sich dieser Befund am ehesten wie folgt erklären: Kants Begriff vom Fortschritt ist nicht der unsere. Statt mit der Idee eines krisengeschüttelten Lernprozesses zu arbeiten, der nicht auf ein fest vorgegebenes Ziel zusteuert, sondern auf die sich ständig ändernden Probleme immer neu zu reagieren sucht, lässt sich Kant von einem teleologischen Fortschrittskonzept leiten, das strukturell der Vorsehungslehre entspricht. Schon wenn Kant die Frage stellt, ob die Menschheit fortschreite, ist es die Idee eines von langer Hand geplanten, kontinuierlichen Fortschritts, die gerechtfertigt werden soll. Deshalb muss für Kant das Wirken der Vorsehung Bedingung der Möglichkeit des Fortschritts bleiben. Wird dieses Konzept aber mit seiner Freiheitslehre in Verbindung gebracht, gerät Kant unweigerlich in eine Sackgasse voller Aporien. Diese zeigen sich nicht erst im letzten Teil des Streites mit der juristischen Fakultät, sondern sie ziehen sich durch den gesamten Text: – Die Vorsehungslehre fasst Fortschritt als kontinuierlichen Prozess; der Freiheitsgedanke lässt dagegen nur Lernschritte zu, die jederzeit gewaltsam unterbrochen werden können. – Die Vorsehungslehre interpretiert auch die Vergangenheit als Fortschritt; eine Entwicklung aus Freiheit sieht in der Vergangenheit eher Katastrophen, die künftig zu vermeiden sind.
welches mit ausschlaggebend dafür ist, dass sie den Streit der Fakultäten in ihrer Arbeit nicht weiter berücksichtigt (vgl. 1995, 86). „Kant vollzieht mit seiner Lehre vom Geschichtszeichen auch keinen revolutionären Bruch mit dem, was er zuvor seit den 80er Jahren über den Fortschritt gedacht hatte, sondern er setzt seine natur- und geschichtsteleologische Konzeption weiterhin voraus und ergänzt sie lediglich durch das, was er hier als einen empirischen Beweis darstellt.“ (Recki 2005, 240) Eine ähnliche Beziehung sieht Muglioni (2011, 212) sogar zur KpV: Kant habe im Streit der Fakultäten das Argument nachgeliefert, dass seine Moralphilosophie auf den historischen Menschen zutrifft.
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Schließlich kann die Vorsehung die Triebfedern des Fortschritts nicht beeinflussen: Sie kennt nur Legalität. Die gute Anlage frei handelnder Menschen entfaltet sich dagegen nur im moralischen Fortschritt.
So bleibt als vielleicht unbefriedigendes Resultat zahlreicher ungeklärter Interpretationsprobleme die folgende Vermutung: Kants Lehre von einem Geschichtszeichen, das einerseits eine moralische Anlage im Menschen aufdeckt und andererseits eine Stufe der Entwicklung markiert, die im kollektiven Gedächtnis auf Dauer verankert sein wird, soll einen Begriff des Fortschritts rechtfertigen, der zur Beschreibung der Handlungen frei handelnder Menschen einfach nicht passt. Wie ist die Geschichtsphilosophie im Streit der Fakultäten in das Gesamtbild der geschichtsphilosophischen Schriften einzuordnen? Die Funktion des Streits mit der juristischen Fakultät ist m. E. der des Gemeinspruchs sehr nahe: Im Wesentlichen geht es um eine Zurückweisung eines Rechtspositivismus, der normative Ideale mit dem Argument verwirft, diese würden in der empirischen Welt nichts austragen können. Man müsse „die Menschen nehmen, wie sie sind“ (SF XI, 352), ist der Slogan der Positivisten, den Kant widerlegen möchte. Wie schon in der KU soll die Geschichtsphilosophie demgegenüber die mögliche Vereinigung von Natur und Freiheit verbürgen (vgl. SF XI, 361). Daneben taucht das Motiv auf, ob das Menschengeschlecht „in den Augen der Vernunft“ einen „Wert“ (SF XI, 354 f.) habe, der über den der Tiergeschlechter hinausgeht – auch dieses Motiv ist aus dem Gemeinspruch bekannt.⁵²⁸ Es erscheint mir mehr als fraglich, ob es die eine Innovation im Denken Kants gibt, die ihn angeregt hat, das Problem des Fortschritts als „erneuerte Frage“ wiederaufzugreifen.Wenn man eine solche sucht, so dürfte sie kaum darin liegen, dass Kant nun plötzlich dem Menschen die Hoheit über die Geschichte zuspricht⁵²⁹ – diese These wird vielmehr nicht konsequent durchgehalten. Eher scheint es die neue Beweisführung durch das Geschichtszeichen zu sein, die Kant zu einer erneuten Auseinandersetzung mit der Thematik gebracht hat, denn sie korrigiert insbesondere das praktische Argument des Gemeinspruchs.
Kleingeld 1995, 85 betont dagegen, im Unterschied zu den früheren Texten spiele nun das Bedürfnis nach einem systematischen Zusammenhang der Erkenntnisse und die Durchführbarkeit des moralischen Gebots, die Welt besser zu machen, keine Rolle mehr. Dies ist nur bedingt richtig, denn sowohl die praktische wie auch die theoretische Dimension der kantischen Geschichtsphilosophie werden weitergeführt – nicht zuletzt in der These, die Vergangenheit müsse teleologisch interpretiert werden. Dies behauptet aber Brandt 2004, 120.
8 Übergreifende Problemstellungen der Geschichtsphilosophie Die Interpretation der vier ausgewählten Schriften in den voranstehenden Kapiteln gibt Auskunft über die grundlegenden Charakteristika und Argumentationsformen der Geschichtsphilosophie Kants. Im Folgenden sollen konkrete Aspekte, die für die Frage nach säkularisierter Eschatologie besonders relevant sind, textübergreifend vertieft werden. Ganz ohne eine erneute Differenzierung nach einzelnen Schriften oder Phasen komme ich dabei freilich nicht aus. Es geht zunächst um die Frage, ob das Ziel der Geschichte in einer vollkommenen Rechtsverfassung zu suchen ist, oder vielmehr – wie in der Religionsschrift – in der Entwicklung der Moralität (8.1). Danach werden – basierend auf den Ergebnissen der Kapitel 6, 7 und 8.1 – Strukturanalogien zur Eschatologie aufgezeigt (8.2), die die Fragen nach einer eigenständigen Rechtfertigung des Fortschrittsmodells (8.3) sowie nach einer Lösung des traditionellen Problems der Vereinbarkeit eines Vorsehungsmodells mit menschlicher Freiheit und Verantwortung aufwerfen (8.4). Der entscheidende Begriff der göttlichen Vorsehung, den Kant mit dem Begriff der Natur variiert (8.5), bildet schließlich eine Brücke zur Theodizeeproblematik (8.6).
8.1 Recht oder Moral als Ziel der Geschichte? Überblickt man die geschichtsphilosophischen Texte Kants, fällt auf, dass die Frage, ob ein vollkommener Rechtszustand oder die vollkommene Entwicklung der Moral für Kant das Ziel der Geschichte bildet, fast durchgängig ambig beantwortet wird. Die Analyse der einzelnen Texte ergab in dieser Frage kurz gefasst folgendes Bild: – In IaG besteht das Ziel der Geschichte einerseits darin, die Gesellschaft in ein moralisches Ganzes zu verwandeln (vgl. IaG XI, 38); andererseits ist die Errichtung eines vernunftgemäßen Rechtsstaats das Problem, welches „von der Menschengattung am spätesten aufgelöset wird“ (IaG XI, 40; meine Hervorhebung). – In der KU besteht der letzte Zweck des Menschen nur in den natürlichen Vorbedingungen der Moral, welche insbesondere den Rechtszustand umfassen; zugleich zielen die Vorbedingungen letztlich auf die Moralisierung des Menschen ab. – Im Gemeinspruch deutet Kant zwar eine Entwicklung der moralischen Anlage an (vgl. TP XI, 165); der Text nimmt aber später nur die rechtliche Entwicklung
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der Menschheit in den Blick. Zwar fällt mehrfach der Begriff der Moralität; es bleibt aber offen, ob Kant sich damit nur auf die moralischen Aspekte des Rechts, also auf das Vernunftrecht beziehen möchte („etwas Moralisches“ kann nämlich „Tugend- oder Rechtspflicht“ sein; TP XI, 129). Ein ähnliches Bild findet sich in der Friedensschrift: Auch dort fällt zwar mehrfach der Begriff der Moral (z. B. ZeF XI, 223). Es heißt aber auch ausdrücklich, dass die Natur den Menschen zwinge, ein „guter Bürger“ zu sein, „wenn gleich nicht ein moralisch-guter Mensch“ (ZeF XI, 224). Schließlich wird noch angedeutet, dass eine gute Staatsverfassung die „gute moralische Bildung eines Volkes“ (ZeF XI, 224) erwarten lasse. Auch der Streit der Fakultäten steht im Spannungsfeld von Moral und Recht: Einerseits soll der Fortschritt aus der moralischen Anlage des Menschen resultieren, andererseits ausdrücklich auf Legalität der Handlungen beschränkt sein, womit überwiegend Rechtsfortschritt gemeint ist (vgl. SF XI, 365). Anders als in den früheren Schriften ist Moralisierung hier nicht mehr als Folge von vernunftgemäßen Rechtsverhältnissen gedacht, sondern die gebesserten Rechtsverhältnisse als Phänomen der moralischen Anlage. Gleichzeitig sollen diese mit moralischen Triebfedern aber nicht notwendig etwas zu tun haben.
Den ambigen Äußerungen Kants entsprechen zwei gegenläufige Tendenzen in der Sekundärliteratur: Nach einer über lange Zeit vorherrschenden und zuletzt vehement von Georg Geismann verteidigten Sicht sei Gegenstand der Geschichtsphilosophie nur das Recht; die Verwirklichungsbedingungen der Moral seien dagegen Gegenstand der Postulatenlehre.⁵³⁰ Die direkte Gegenposition, die am prominentesten von Pauline Kleingeld vertreten wird, versteht die Rechtsentwicklung dagegen nur als ersten Schritt auf dem Weg zur Moralisierung des Menschen, die unter vernunftgemäßen Rechtsverhältnissen eintrete und das ‚eigentliche‘ Ziel der Geschichte bilde.⁵³¹ Sowohl das Schwanken Kants als auch das Faktum diametral entgegengesetzter Interpretationen haben ihre Ursache freilich nicht (oder nicht nur) in der In diese Richtung neben Geismann 2000 etwa Baumgartner 1996a, 80 – 83; Cavallar 1992, z. B. 322; Allison 2009, 27; Siep 1995 und Höffe 2001. Höffe vertritt neuerdings allerdings eine differenziertere Sicht; vgl. Höffe 2011b. – Geismann (2000, 527) gesteht immerhin zu, Kant habe sich zuweilen mit der Frage beschäftigt, ob nicht die Erfüllung „weiter“ Pflichten im Laufe der Geschichte zunehmen könne. Dies ginge über das Recht hinaus, würde aber nicht Handeln aus Pflicht voraussetzen, sondern nur pflichtgemäßes Handeln („virtus phaenomenon“). Interessanterweise verweist Geismann nicht auf die einschlägigste Stelle für diese Art Fortschritt in SF (XI, 365; vgl. Kapitel 7.2). Vgl. Kleingeld 1995; Hübner 2011, z. B. 48 ff.; Wood 1991, 342 f.; Stangneth 2000; Baumann 2012; Kittsteiner 1980, 191 f.
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mangelnden denkerischen Klarheit des Autors, sondern in Schwierigkeiten in der Sache. Soweit ich sehen kann, lassen sich wenigstens vier Schwierigkeiten auseinanderhalten: (1) In Kants Unterscheidung von Phänomen und Ding an sich muss das entscheidende Merkmal der Moralität, der gute Wille, dem Bereich des Intelligiblen zugeordnet werden. Dies führt einerseits zu einem epistemischen Problem: Der Historiker hat es nur mit Erscheinungen zu tun. Er kann sich nie sicher sein, welche Gesinnung äußeren Handlungen zugrunde liegt. Wann immer er von vergangenen Ereignissen berichtet (oder künftige Ereignisse vorhersagen möchte), muss er sich auf die äußere Seite der Handlung beschränken.⁵³² Andererseits führt die Unterscheidung des Phänomens vom Noumen auch auf ein konzeptionelles Problem: Der Bereich des Intelligiblen muss als ein zeitloser vorgestellt werden. Als Folge dessen ist nicht zu sehen, wie eine moralische Entwicklung, die natürlich in der Zeit stattfinden muss, überhaupt begrifflich gefasst werden könnte.⁵³³ Auf jede Form moralischer Entwicklung zu verzichten, ist für Kant ebenfalls kein gangbarer Weg: Wie er nicht zuletzt in der Religionsschrift gezeigt hat, ist die Möglichkeit einer moralischen Besserung des Menschen ein wichtiger Baustein der kantischen Theorie.⁵³⁴ (2) Eine zweite Schwierigkeit wurzelt im Verhältnis von Moral und Recht, wie es in Kapitel 3.4 diskutiert wurde. Dabei geht es im Wesentlichen um folgende Frage: Hat die Verwirklichung des Rechts auch dann einen Eigensinn, wenn ihm kein Zuwachs an Moralität entspricht? Kant vertritt bekanntlich einerseits die These, es gäbe nichts an sich Gutes als den guten Willen; in IaG heißt es in diesem Sinne, alles, was „nicht auf moralisch-gute Gesinnung gepfropft ist, ist nichts als lauter Schein und schimmerndes Elend“ (IaG XI, 45). Andererseits sieht er in der Verwirklichung des Rechts dann doch einen intrinsisch wertvollen Zustand, wie sich aus den rechtsphilosophischen Schriften ergibt. In der Geschichtsphilosophie gewinnt diese Frage an Brisanz, weil Kant ausdrücklich eine Verbindung zu dem Problem herstellt, ob das Menschengeschlecht zu lieben sei (siehe Kapitel 7.1). Nachdem die Staatserrichtung selbst für ein Volk von Teufeln möglich wäre (vgl. ZeF XI, 224), dürfte ein vollkommener Rechtszustand die Liebenswürdigkeit des Menschengeschlechtes kaum begrün-
Dieses Problem nennt Kant selbst im Zusammenhang mit der Beschränkung des Fortschritts auf die sichtbare Kirche in der Religionsschrift; vgl. RGV VIII, 788. Wood möchte dieses Argument offenbar zurückweisen: Wer behauptet, Kants Moralbegriff könnte nicht historisch verstanden werden, fasse Kants Thesen als dogmatische auf; der freie Wille gehöre zur Geschichte (Wood 2009, 127). Ich kann nicht sehen, was es für das Problem von Moral und Geschichte austrägt, wenn man Kants Thesen nicht-dogmatisch versteht. Das ist jedenfalls die überzeugende Quintessenz der Studie von Stangneth (2000).
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den können. Dennoch steht in den einschlägigen Schriften, im Gemeinspruch und im Streit der Fakultäten, die Rechtsentwicklung im Vordergrund der Überlegungen, als wäre sie allein Bedingung der Liebenswürdigkeit der Menschen. In den naturteleologischen Schriften wird der Rechtszustand ohnehin nur als Instrument für die Entwicklung der Kultur verstanden, dem selbst kein Eigensinn zukommt. (3) Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich aus der Ambivalenz, dass für Kant Fortschritt einerseits von Menschen hervorgebracht werden soll, andererseits aber von einer externen Instanz verbürgt werden muss. Paradigmatisch für diesen grundlegenden Zug der kantischen Geschichtsphilosophie steht sicherlich der Streit der Fakultäten: Die moralische Anlage soll einerseits Grundlage des Fortschritts sein, doch könne dieser andererseits nur von der Vorsehung und damit heteronom bewirkt werden. Während der vom Menschen aus Freiheit bewirkte Fortschritt ein moralischer wäre, kann jede externe Instanz – ob sie nun als Natur oder als Vorsehung bezeichnet wird – nur für Rechtsfortschritt einstehen, da sie überhaupt nur auf die äußere, ‚natürliche‘ Seite der Handlungen des Menschen Einfluss nehmen kann. (4) Schließlich besteht eine letzte Schwierigkeit darin, dass Kant nicht in Frage stellt, dass die Geschichte der Menschheit (zumindest bislang) von Konkurrenz, Krieg und Konflikten geprägt ist. All dies muss in die Fortschrittsgeschichte integriert werden, für die Kant argumentiert. Der gewaltsame Konflikt selber kann aber in moralischer Hinsicht nie einen Fortschritt darstellen, denn moralisch handelnde Subjekte zeichnen sich gerade dadurch aus, dass Interessenkonflikte vernünftig gelöst werden. Es ist nicht möglich, dass die Subjekte zunehmend moralisch werden, die Geschichte aber noch Kriege hervorbringt. Anders ist dies für das Recht: Das Recht ist begrifflich mit Konkurrenz und Konflikt nicht nur vereinbar; es spricht sogar nichts dagegen, dass beides die vernunftgemäße Entwicklung des Rechts vorantreiben kann. Sofern Kant die politische Geschichte reflektiert, muss er sie deshalb auf einen Rechtsfortschritt einschränken, obwohl der eigentliche moralische Wert des Menschen dabei ausgeblendet wird. Allenfalls für die Zukunft wäre eine politische Entwicklung denkbar, die die moralische Anlage des Menschen betrifft. Deshalb bliebe immerhin noch ein Zwei-Stufen-Modell denkbar: Demnach würde Kant moralischen Fortschritt erst in der Zukunft erwarten, sobald die rechtlichen Voraussetzungen dafür geschaffen, Konflikte also nicht mehr notwendig sind.⁵³⁵
Siehe auch Fußnote 415. In Kapitel 9.1 diskutiere ich die verwandte These, dass die moralische Entwicklung im ethischen Gemeinwesen erst nach einer weitgehend vollendeten Entwicklung der Rechtsverhältnisse einsetze.
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Die genannten vier Schwierigkeiten zeigen, dass die Alternative Recht oder Moral für Kant durchweg ein ernsthaftes Problem darstellt. Trotz dieser durchgängigen Problemlage lässt sich jedoch zugleich eine gewisse chronologische Tendenz ausmachen: Sind die frühen Schriften noch sehr stark von dem Ideal eines moralischen Fortschritts geprägt (insbesondere IaG und KU), findet sich seit 1793 eine deutlichere Beschränkung auf das Recht bzw. auf Legalität,welche schließlich in der Friedensschrift und im Streit der Fakultäten den explizitesten Ausdruck findet. Wie gezeigt wurde, sind die erläuterten Probleme auch in diesen Texten nicht beiseite geschafft. Aber Kant scheint sich bewusst entschieden zu haben, die Geschichtsphilosophie auf den Rechtsfortschritt zu beschränken. Wie kommt er dazu? Sicherlich werden externe Faktoren eine Rolle gespielt haben – Kant beobachtet, wie die Französische Revolution nach und nach in eine Despotie umschlägt, und mag dadurch ein Stück weit seinen Optimismus verloren haben. In meinen Augen gibt es aber zugleich eine systeminterne Erklärung. Es fällt auf, dass der entscheidende Wendepunkt hin zu einer ausdrücklichen Beschränkung auf das Recht mit dem Erscheinen der Religionsschrift zusammenfällt. Denn während das Projekt eines moralischen und das eines rechtlichen Fortschritts in den frühen Schriften noch identisch ist, scheint Kant ab 1793 zwei parallel laufende Projekte zu verfolgen: Auf der einen Seite das der profanen Geschichte, die Rechtsfortschritt verbürgt; auf der anderen Seite das der Kirchengeschichte, die als sichtbarer Ausdruck der moralischen Entwicklung der Menschheit fungiert. Wie zuvor beide Projekte durcheinandergehen, lässt sich etwa an der Schrift Mutmaßlicher Anfang des Menschengeschlechts (1786) zeigen: Der erste Teil behandelt unter Rückgriff auf biblische Texte die religionsphilosophische Frage eines Anfangs der Geschichte durch eine Art moralischen Sündenfall; der zweite Abschnitt behandelt ganz ohne Rückgriff auf solche moral- und religionsphilosophischen Überlegungen die künftige politische Geschichte. Ein solches Nebeneinander von Religionsphilosophie und Überlegungen zur profanen Geschichte findet sich in dieser Form später nicht mehr. Stattdessen ist das religionsphilosophische Projekt einer moralischen Besserung des Menschen vom geschichtsphilosophischen Projekt einer rechtlich-politischen Besserung sorgfältiger getrennt. Kant unterscheidet in der Religionsschrift ausdrücklich den philosophischen Chiliasmus, der mit der Gründung des Völkerbundes das Ziel der profanen Geschichte darstellt, vom theologischen Chiliasmus, welcher mit der Moralisierung der Menschheit im Reich Gottes auf Erden gleichzusetzen ist (vgl. RGV VIII, 682 f.).⁵³⁶ Er differenziert zwischen den beiden Projekten nirgends so scharf wie hier.
Zum Verhältnis von Kirchen- und profaner Geschichte siehe Kapitel 9.1; zur Interpretation des Begriffs eines theologischen Chiliasmus siehe Kapitel 5.1.
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Die systeminterne Erklärung für Kants Trennung der beiden Projekte ist daher im Inhalt der Religionsschrift zu suchen. Was bringt Kant dazu, gerade dort Recht und Moral deutlicher voneinander zu trennen als in den anderen geschichtsphilosophischen Schriften? Weil Kant Kirche als ethisches Gemeinwesen rekonstruieren möchte, versucht er, die Kirchengeschichte als historische Entwicklung der moralischen Anlage zu begreifen. Dieser Versuch bringt Kant erstmals dazu, in der Reflexion auf die Geschichte bewusst nur die Seite der Moralität im engeren Sinn in den Blick zu nehmen. Denn auch wenn historisch nur die sichtbare Kirche erfasst werden kann, steht diese stellvertretend für eine unsichtbare Entwicklung von Gesinnungen. Dadurch sieht sich Kant m. E. zum ersten Mal direkt mit dem vierten der oben genannten Probleme konfrontiert: Mit einem linearen Anwachsen von Moralität sind zwischenzeitliche Rückfälle wie Kriege nicht zu vereinbaren; der Krieg würde die moralische Entwicklung nicht kurzzeitig unterbrechen, sondern gänzlich zerstören. Ein Modell, nach dem sich die moralische Anlage des Menschen zunehmend entfaltet, kann die Missstände der Geschichte nicht in die Fortschrittsthese integrieren. Will man überhaupt an einem Modell moralischer Entwicklung festhalten, muss man die Missstände deshalb ausgliedern: Neben die Entwicklungsgeschichte der Moral tritt die des Rechts; Konkurrenz und Krieg gehören nur zu den Entwicklungsprinzipien des Rechts, nicht aber der Moral. Die ‚reine‘ Entwicklung der Moral kann sich nur in der von der profanen Geschichte isolierten Kirche vollziehen: Inmitten einer ambivalenten Umgebung und unbeschadet von negativen äußeren Ereignissen läuft diese auf das Ideal einer unsichtbaren Kirche zu. Nach meiner Deutung kopiert Kant damit bewusst den doppelten Geschichtsbegriff der spätantiken und mittelalterlichen Geschichtstheologie⁵³⁷, um ein analoges Problem zu lösen: Die spätantike und mittelalterliche Eschatologie wollte an einer von Gott gelenkten Entwicklung zum Heil festhalten, auch wenn die politische Realität eine solche Entwicklung nahezu undenkbar macht. Die Geschichtstheologie fand eine Lösung darin, das Auf und Ab der politischen Geschichte aus der Heilsgeschichte auszuklammern; es kann demnach lediglich als Mittel zu einem höheren Zweck, als Mittel des Fortschritts der Heilsgeschichte angesehen werden. Ähnlich möchte Kant Kirchen- und Rechtsgeschichte als prinzipiell eigenständige Entwicklungsformen begreifen, wobei die Rechtsgeschichte in einer gewissen Mittel-Zweck-Relation zur moralischen Entwicklung steht (vgl. etwa RGV VIII, 786).
Dass Kant den doppelten Geschichtsbegriff bewusst kopiert, beweist m. E. neben der Gegenüberstellung von philosophischem und theologischem Chiliasmus auch der doppelte Begriff des ewigen Friedens, der eindeutig auf Augustinus zurückgeht. Siehe dazu Kapitel 8.2.
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Freilich ist bei Kant wie in der theologischen Tradition ein gewaltiges Problem angelegt: Es sind dieselben Personen, die gleichzeitig als Teile beider Entwicklungsformen gedacht werden. In der traditionellen Trennung von profaner Geschichte und Heilsgeschichte möchte Gott die Gläubigen unter brutalen politischen Bedingungen zum Guten führen, obwohl doch die Gläubigen selbst ihren Anteil an den politischen Bedingungen haben. In Kants Theorie sollen Menschen als Glieder des ethischen Gemeinwesens ihre Moralität entwickeln, treiben gleichzeitig aber aus heteronomen Motiven – etwa als egoistische Marktteilnehmer oder als Bürger von um die militärische Vorherrschaft konkurrierenden Staaten – die Entwicklung der Kultur voran.⁵³⁸ Anders als etwa Geismann (2000) meint, scheint mir die Trennung von Recht und Moral nur eine Tendenz der späteren Schriften darzustellen, die Kant nicht in systematischer Strenge durchhält. Auch die geschichtsphilosophischen Schriften nach 1793 haben einen nicht zu leugnenden Bezug zur Moralphilosophie; das Problem der Entwicklung der moralischen Anlage in einer konfliktbeladenen Welt wiederholt sich ausführlich noch im Streit der Fakultäten. Das Verhältnis von Moral und Recht bleibt in den geschichtsphilosophischen Schriften daher nicht weniger ein offenes Problem als in Kants Schriften zur praktischen Philosophie.
8.2 Zwischenfazit: Strukturanalogien zur Eschatologie Die Analyse der einzelnen Texte Kants in den Kapiteln 6 und 7, aber auch die Debatte über Recht und Moral als die beiden Ziele der Geschichte zeigten immer wieder, wie die kantische Geschichtsphilosophie strukturell in vielen Aspekten ganz der christlichen Vorsehungslehre entspricht. Es kann hier nicht mehr ausführlich wiederholt werden, wie die übernommenen Strukturen im Detail aussehen und in welche Kontexte sie eingebettet sind; dennoch soll im Folgenden das Ergebnis thesenhaft im Überblick dargestellt werden. Die wichtigsten Punkte, in denen Kants Geschichtsdenken und die eschatologischen Muster koinzidieren, wie sie in Kapitel 2 vorgestellt wurden, können wie folgt zusammengefasst werden: – Geschichte wird teleologisch gedeutet: sie läuft – mit kleineren zwischenzeitlichen Rückschritten, aber aus einer weitläufigen Perspektive dennoch kontinuierlich – linear auf einen Endzustand zu.
Dass hierin ein wesentlicher Unterschied zwischen der Rechtsentwicklung und dem moralischen Fortschritt liegt, vertritt als einer von wenigen Despland (1973, 265); er sieht darin aber kein Problem begründet.
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Der Endzustand, auf den Geschichte teleologisch hinausläuft, liegt in der Zukunft. Nicht nur wird die Vergangenheit als vernünftige Entwicklung zur Gegenwart gedeutet, sondern sowohl Vergangenheit als auch Gegenwart werden teleologisch auf einen künftigen Endzustand bezogen, dessen Eintreten in gewisser Weise zweifelhaft bleiben muss. Kant ist mit dem Anliegen, Geschichte von ihrem vorausgesehenen Ende aus zu interpretieren, sogar heilgeschichtlicher ausgerichtet als Hegel.⁵³⁹ Der Endzustand ist nicht willkürlich gewählt, sondern als VollkommenheitsIdeal konzipiert und entspricht dem, was als letzte Bestimmung des Menschen angesehen wird. Damit enthält die Geschichtsphilosophie explizit Aussagen über die Zukunft, die strukturell Prophezeiungen entsprechen (vgl. SF XI, 351). Sie teilen als (vermeintlich) berechtigte Hoffnungen mit der eschatologischen Tradition den schwer zu fassenden Status zwischen sicherem Wissen und bloßem Wunschdenken.⁵⁴⁰ Möglich wird die telelogische Betrachtung nur durch eine göttliche (oder quasi-göttliche) Perspektive auf die Geschichte, die die Vernunft zwar nicht einnehmen kann, aber doch annehmen muss. Die übergeordnete Instanz – die „Natur“ oder „Vorsehung“⁵⁴¹ – dient als „Ordnungsprinzip“ (Sommer 2006,
Siehe Fußnote 424. – Die eschatologische Vorwegnahme des Endes der Geschichte kann durchaus als Bedingung der Möglichkeit von Geschichtsphilosophie angesehen werden: „Sich inmitten der Geschichte an ihr orientieren wollen, das wäre so, wie wenn man sich bei einem Schiffbruch an den Wogen festhalten wollte.“ (Löwith 1962, 38) Insofern ist Kants Theorie in diesem Punkt nicht nur radikaler, sondern auch konsequenter als Hegels. Pollmann vertritt die These, Kant würde sich in die Ideengeschichte eines ‚säkularisierten Heilsgeschehens‘ nicht ohne Weiteres einfügen lassen“, denn anders als die eschatologische Tradition stelle Kant den Fortschritt „zwar als Möglichkeit, aber nicht schon als Versprechen in Aussicht“ (2011, 71). Dem ist deutlich zu widersprechen: Schon in den frühen Schriften geht es nicht nur um die Möglichkeit des Fortschritts, sondern um die Notwendigkeit, die Tatsächlichkeit des Fortschritts regulativ anzuerkennen. In SF wird dies dann mit der Behauptung, Fortschritt werde aufgrund der moralischen Anlage notwendig irgendwann zu vernünftigen Verhältnissen finden, auf die Spitze getrieben. Sicherlich ist Kants Theorie etwas anderes als das eschatologische Versprechen der Offenbarung; aber dies ist problemlos mit der Säkularisierungsthese vereinbar (siehe Kapitel 1). Sommer (2006, 382) argumentiert für die These, der Vorsehungsbegriff des 18. Jahrhunderts stünde zwischen Theologie und Philosophie; es könne gar nicht gesagt werden, welcher der beiden akademisch-organisatorisch frisch ausdifferenzierten Fakultäten er eher zuzurechnen sei. Dies ist mit dem oben entfalteten Säkularisierungsbegriff vereinbar, demzufolge sich die von der Theologie frisch abgelöste ‚säkulare‘ Philosophie mit Konzepten und Mustern traditioneller Theologie konfrontiert vorfindet und diese in das neue säkulare Rechtfertigungsschema übernimmt.
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382), das es ermöglicht, die mannigfaltigen Daten der Geschichte entlang eines Leitfadens teleologisch auf einen Endzustand hin zu ordnen. Die übergeordnete Instanz steht dem Menschen nicht teilnahmslos gegenüber, sondern ‚kümmert‘ sich um den Menschen. Nicht nur ist der Mensch der letzte Zweck der Schöpfung; die Natur betreibt auch „Vorsorge“ (KU X, 333) und weiß besser als der Mensch selbst, was für diesen gut ist (vgl. IaG XI, 38 f.). Insofern lässt sich zu Recht formulieren, der „Glaube an die Vorsorge der Natur“ sei eine „säkularisierte Form des Glaubens an die Güte Gottes“ (Demandt 2011, 154). Die übergeordnete Instanz ist damit nicht nur Schöpfer bzw. Lenker der Natur; sie wird zugleich zur geschichtsbestimmenden Macht. Sie soll jedoch bei Kant wie in der theologischen Tradition mit menschlicher Freiheit wenigstens vereinbar sein, wenn nicht sogar eine Bedingung dieser Freiheit darstellen. Die biblische Eschatologie deutet Geschichte gerade aufgrund von gegenwärtigen Unrechtserfahrungen teleologisch; die Vorsehungstheologie in der antiken Tradition versucht dagegen, analog zur (vermeintlich) zweckmäßig eingerichteten Naturordnung auch Zweckmäßigkeiten in der Geschichte vorzufinden. Beide Züge wiederholen sich bei Kant: Einerseits leuchte aus dem Lauf der Natur sichtbarlich Zweckmäßigkeit hervor (vgl. ZeF XI, 217); wo dies nicht der Fall ist, wird entgegen aller Empirie quasi mit dem Brecheisen Zweckmäßigkeit in die Geschichte hineingedeutet. Mit dem dadurch grundsätzlich positiven Geschichtsbild einher geht ein motivierender Charakter: Wie die Eschatologie zunächst angesichts der Unterdrückung des Volkes Israel, später gegenüber einer christenfeindlichen Umgebung oder gegenüber einer als Abfall vom wahren Christentum gedeuteten kirchlichen Hierarchie ein ‚Durchhalten‘ ermöglichen sollte, besteht die Funktion der Geschichtsphilosophie zumindest auch darin, gegenüber einer aufklärungsfeindlichen Staatsordnung an den Idealen der Aufklärung festzuhalten. Insbesondere den konservativen staatstheoretischen Empiristen wird entgegengehalten, dass die Orientierung an Idealen nicht zwecklos sei. Zwar wird der (quasi‐)göttliche Standpunkt als Ordnungsprinzip herangezogen, um konkrete Ereignisse teleologisch beschreiben zu können. Dennoch bleibt bei Kant wie in der christlichen Tradition dieser Standpunkt für Menschen unerreichbar und damit der Wille Gottes bzw. der Natur letztlich der menschlichen Einsicht entzogen. Weil „wir gleich zu kurzsichtig sind, den geheimen Mechanismus“ der Veranstaltungen der Natur „zu durchschauen“ (IaG XI, 48), können wir die Daten der Geschichte immer nur vorläufig ordnen. Jede Deutung der Geschichte steht damit unter dem Vorbehalt, dass sie durch den weiteren Verlauf der Geschichte (oder durch andere göttliche Zeichen) als
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falsch erwiesen werden könnte. Insbesondere sei der Zeitpunkt des Eintreffens des Idealzustands unbestimmt (vgl. etwa Mk 13, 32 und SF XI, 356). Die Entwicklung der Geschichte folgt nach dem Vorbild der ecclesia semper reformanda dem Prinzip der Reform, nicht der Revolution.⁵⁴² Die kosmopolitische Dimension der Geschichtsphilosophie Kants garantiert die Einheit der Geschichte, für die in der christlichen Eschatologie der universale Heilswille der monotheistischen Gottheit einsteht. In der Tradition der Trennung der profanen von der Heilsgeschichte, wie sie sich etwa bei Augustinus und Bossuet⁵⁴³ findet, kennt Kant einen doppelten Geschichtsbegriff: Die politische Geschichte auf der einen, die Kirchengeschichte als sichtbares Moment der moralischen Entwicklung der Menschheit auf der anderen Seite. Beide Seiten der Geschichte werden je nach ihrer eigenen Logik (Recht/Moral) zu einem guten Ende geführt: Die profane Geschichte zum höchsten politischen Gut (vgl. RL VIII, 479); die Kirchengeschichte zum höchsten gemeinschaftlichen Gut (vgl. RGV VIII, 756).⁵⁴⁴ Die Ausrichtung auf ein künftiges Ideal wird herangezogen, um die Missstände der Vergangenheit und Gegenwart in ein positives Weltbild integrieren zu können. Indem Geschichte zu einem guten Ende kommen wird, erscheint das Böse der Gegenwart in einem anderen Licht; das „Böse itziger und vergangener Zeiten“ könne „sich in dem Guten künftiger verlieren“ (TP XI, 165), wie Kant sich ausdrückt. Dem entspricht einerseits die Funktion der Sinnstiftung oder des Trostes⁵⁴⁵ angesichts einer sinnlos erscheinenden Welt, die die Geschichtsphilosophie gleichermaßen wie die traditionelle Eschatologie
Dass sich Kant am Konzept der ecclesia semper reformanda orientiert, vertritt ausdrücklich Siep 2010, 138. Die deutsche Übersetzung von Bossuets Discourse befand sich tatsächlich in Kants Bibliothek (vgl. Warda 1922), und Kant zitiert ihn (allerdings in einem anderen Zusammenhang) in SF XI, 331 Anm. – Dass Kant sich auch an Augustinus orientiert, kommt unten noch zur Sprache. Zu diesem Punkt siehe auch die ausführlicheren Bemerkungen in Kapitel 8.1 und 9. – Wittwer (1996) möchte anhand des doppelten Geschichtsbegriffs zeigen, dass die Säkularisierungsthese auf Kant nicht zutreffe; vielmehr gäbe es bei Kant einen eschatologischen Geschichtsbegriff in der Religionsphilosophie und einen politisch-praktischen in der Geschichtsphilosophie. Wittwer täuscht sich schon deshalb, weil diese Unterscheidung selbst eine Säkularisierung der Geschichtstheologie darstellt. Zur Trostfunktion der Geschichtsphilosophie bei Kant und anderen Autoren sowie ihren Analogien und Differenzen zur Eschatologie vgl. ausführlicher Sommer 2006, 472– 480. Sommer kommt zu dem Ergebnis: „Die Trostfunktion gehört zu den essentiellen Bestimmungen der spekulativ-universalistischen Geschichtsphilosophie. […] Plötzlich vertritt die Philosophie theologische Kernanliegen.“ (Sommer 2006, 474) – Pollmann (2011) versteht die Trostfunktion im Sinne moderner (Psycho‐)Therapien, was ihrer Nähe zur Theologie allerdings m. E. nichts nimmt.
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ausfüllen soll: Geschichte und die Menschheit als Ganzes erscheinen in einem anderen Licht, wenn ein happy end vorausgesetzt werden darf; dies trifft eine existentielle Dimension das menschlichen Daseins (siehe v. a. Kapitel 6.1 und 7.1). Andererseits übernimmt die Geschichtsphilosophie auch die Rolle einer Theodizee (siehe dazu ausführlich Kapitel 4.8). Für die These, in Kants Geschichtsphilosophie fänden sich Elemente säkularisierter Eschatologie, reicht – wie in Kapitel 1 gezeigt wurde – der Nachweis von Strukturanalogien nicht aus. Hinzukommen muss die Plausibilisierung der historischen Vermittlung der analogen Strukturen. Anders als in der Religionsschrift arbeitet Kant in den geschichtsphilosophischen Schriften nicht mit theologischen Quellen, von denen er Theoriestücke übernimmt. Der Nachweis gestaltet sich daher etwas schwieriger. Es dürfte aber ausreichen, auf die Verwendung einiger Begriffe hinzuweisen, die dem Vokabular der theologischen Tradition entstammen: Der prägnanteste und durchgängigste dieser Begriffe ist zweifellos der Vorsehungsbegriff. Kant variiert ihn mit dem Begriff der Natur, und es bleibt wahrscheinlich, dass die ‚säkulare‘ Variante die letztlich von ihm bevorzugte ist (siehe Kapitel 8.5). Aber dass der Vorsehungsbegriff immer wieder fällt, zeigt auf, dass die Natur funktional an die Stelle dessen tritt, was in der Debatte des 18. Jahrhunderts überwiegend unter dem Begriff der göttlichen Vorsehung verhandelt wurde. Selbst die traditionellen Attribute der Vorsehung werden von Kant wiederholt (vgl. etwa „höchste Weisheit“, TP XI, 169; auf den Begriff der Natur bezogen „Vorsorge“ und „Wohltätigkeit“, KU X, 333). Mit der Vorsehungslehre verbunden ist die Vorstellung einer zielgerichteten Schöpfung der Welt: Kant spricht ausdrücklich von der „Anordnung eines weisen Schöpfers“ (IaG XI, 39), und auch die Frage nach dem „Endzweck der Schöpfung“ in der KU trägt unübersehbar die Spuren einer (vielleicht eher platonisch als biblisch geprägten) Schöpfungstheologie. Ein zweiter Begriff, der in den geschichtsphilosophischen Schriften immer wieder auftaucht, ist der Chiliasmus (vgl. IaG XI, 45; RGV VIII, 682 und SF XI, 353). Dass Kant die theologische Herkunft und den biblischen Kontext des Begriffs vor Augen hat, zeigt seine Verwendung im Zusammenhang mit der Diskussion der biblischen Vorstellung des Hereinbrechens des Reichs Gottes (vgl. RGV VIII, 802). Weil die inhaltliche Konzeption des „philosophischen Chiliasmus“ aber als ein internationales Rechtssystem von republikanischen Staaten theologisch auffallend unbelastet bleibt – kein göttlicher Richter und keine übernatürliche Macht wird zur idealen Verwirklichung des Rechts vorausgesetzt –, muss man sich fragen, warum Kant in den Schriften zur Geschichtsphilosophie auf diesen Begriff immer wieder zurückkommt – soll doch die Geschichtsphilosophie im Gegensatz
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zur Religionsschrift offenbar eine Form des Zusammenlebens als Ziel der Geschichte ausweisen, die nicht auf (vernunft)religiösen Fundamenten steht. Ist es deshalb lediglich die Funktion eines idealen und stabilen innerweltlichen Reiches am Ende der Geschichte, die Kant vom Chiliasmus auf die Geschichte überträgt? Dann wäre von dem in der biblischen Bildersprache und der religiösen Kunst ausdrucksstark angereicherten Begriff der tausendjährigen Christusherrschaft nicht mehr viel übrig geblieben; er wäre für Kant eher nebensächliches Beiwerk, als dass er noch starke Intuitionen beim Leser wecken sollte. Mir erscheint eine solche Interpretation ein Stück zu kurz gegriffen. Zumindest ein Aspekt lässt sich nennen, den Kant wohl weniger vom biblischen Begriff des Chiliasmus als vom Millenniarismus des 17. und 18. Jahrhunderts übernehmen möchte: Entgegen den empirischen Zweifeln an der Durchsetzbarkeit der wahren Religion halten die Millenniaristen unbeirrbar und mit ganzer Kraft an der Hoffnung auf die baldige Christusherrschaft fest; was sie selbst dazu beitragen können, treiben sie unerschütterlich voran. Genau diese Haltung wird von den scheinbar realistischeren Fortschrittskeptikern „als Schwärmerei allgemein verlacht“ (RGV VIII, 683); und doch möchte Kant genau an dieser Haltung festhalten. Mit dem Begriff des Chiliasmus wird daher nicht nur auf ein künftiges innerweltliches Idealreich angespielt, sondern vor allem auf die Attitüde, die diesem Reich gegenüber einzunehmen ist. Ein letztes Begriffspaar, das die historische Vermittlung der Strukturanalogien nahelegt, findet sich in Kants Gleichsetzung des „ewigen Friedens“ mit dem „höchsten politischen Gut“ (RL VII, 479). Den scholastischen Begriff des summum bonum säkularisiert Kant schon innerhalb der Postulatenlehre: Nicht mehr Gott oder die Anschauung Gottes wird als höchstes Gut verstanden, sondern die Übereinstimmung von Glückseligkeit und Glückswürdigkeit als Totalität eines Endzwecks der praktischen Vernunft. Offenbar bezieht er sich auf den EndzweckCharakter des höchsten Gutes, wenn er den Begriff 1797 im Zusammenhang mit der Geschichtsphilosophie aufgreift: Der Endzweck politischen Handelns müsse der vollkommene Rechtszustand sein,⁵⁴⁶ dessen Verwirklichung an das Ende der Geschichte projiziert wird. Auch wenn Kant den Begriff des summum bonum somit primär aus dem Kontext seiner eigenen Religionsphilosophie übernimmt und nicht aus dem theologischen Gemeingut seiner Zeit, enthält der Begriff in seiner geschichts-
Am Rande sei darauf hingewiesen, dass die Pointe der Argumentation Kants darin besteht, dass nicht weniger, aber auch nicht mehr als der Rechts- und Friedenszustand das höchste politische Gut darstellt: Einerseits ist der Rechtszustand um seiner selbst willen gefordert; andererseits darf das Ziel politischen Handelns aber auch nicht darüber hinausgehen und etwa Glückseligkeit oder Moralität umfassen.
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8 Übergreifende Problemstellungen der Geschichtsphilosophie
philosophischen Variante eine unverkennbare Anspielung auf Augustinus. Dieser betrachtete als höchstes Gut der Geschichte den ewigen Frieden, der erst mit dem Reich Gottes im Jenseits erlangt werden kann, aber von dem aus Geschichte zu deuten ist; daneben gebe es mit dem irdischen Frieden auch ein höchstes Gut des irdischen Staates (siehe Kapitel 2.2). Bei Kant findet sich eine eindeutige Parallele, denn auch hier wird das höchste Gut der Geschichte in zweifacher Weise auf den ewigen Frieden bezogen: In der Religionsschrift heißt es, durch die „fortgehende Bearbeitung des guten Prinzips“ werde ein Reich errichtet, „welches den Sieg über das Böse behauptet, und unter seiner Herrschaft der Welt einen ewigen Frieden zusichert“ (RGV VIII, 788); dieses Reich wurde zuvor mit dem ‚höchsten gemeinschaftlichen Gut‘ identifiziert, welches als vollkommene moralische Gemeinschaft das summum bonum der Geschichte darstellt. In den politischen Schriften entwickelt Kant – anders als bei Augustinus ebenfalls unter dem Titel eines „ewigen Friedens“ – ein profanes, ‚irdisches‘ Friedenskonzept, das ausdrücklich mit dem höchsten politischen Gut identifiziert wird. Die Trennung von politischer und Kirchengeschichte mit ihren je eigenen Endzuständen lässt sich über das Zusammenspiel der Begriffe des höchsten Gutes und des ewigen Friedens daher m. E. eindeutig auf Augustinus zurückführen. Kant selbst nennt freilich eine andere Quelle des Begriffs des ewigen Friedens: Es handele sich um einen satirischen Schriftzug auf einem Wirtshausschild, auf dem ein Friedhof zu sehen sei (vgl. ZeF XI, 195); die Provokation dieser Darstellung liegt für Kant darin, dass Friede demzufolge für Lebende gar nicht möglich sei. Vermutlich liegt es an dieser Schilderung Kants, dass in der Literatur insbesondere zur Friedensschrift der eigentlich überdeutliche Bezug zu Augustinus in der Regel übersehen wird. Bevor man jetzt voreilig den Schluss zieht, Kants Geschichtsphilosophie sei damit nichts anderes als verkappte Theologie, sollte man sich ebenfalls die zahlreichen Differenzen vor Augen führen, die zwischen Kants Vorstellung des politischen Fortschritts und der Eschatologie bestehen: – Zunächst ist bei Kant das Ziel der Geschichte, wie es in den geschichtsphilosophischen Schriften dargestellt wird, ohne theologische Konnotationen konzipiert.Weder ist es ein mystischer paradiesischer Zustand, dessen Gestalt man sich allenfalls bildhaft und in Metaphern vor Augen führen kann, noch scheint es sich um ein in sich widersprüchliches Konzept zu handeln, das durch den Gottesbegriff ‚zusammengehalten‘ werden soll. Kants Auffassung von der politischen Geschichte unterscheidet sich in diesem Punkt radikal von seiner Konzeption der Kirchengeschichte in der Religionsschrift.
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Da das Ziel der Geschichte eine in säkularen Begriffen formulierbare, innerweltliche Vernunftidee darstellt, kann es nach und nach in gradueller Annäherung realisiert werden, ohne dass ein klar definierbarer letzter Schritt die Schwelle zur ‚endgültigen‘ Realisierung des Ideals überschreiten müsste. Diese Struktur markiert einen deutlichen Unterschied zur traditionellen Vorstellung eines plötzlichen Hereinbrechens des Reichs Gottes in die Geschichte. Sie markiert aber auch noch einen relevanten Unterschied zu der Vorstellung, dass nach einer tatkräftigen Vorbereitung durch den Menschen Gott den letzten Schritt vollziehen muss, wie sie in der Chiliastenbewegung oder bei Kant in der Konzeption des ethischen Gemeinwesens vorliegt. Allein eine Formulierung in der KU deutet noch auf einen letzten Zustand hin, der mit einem Schritt einen qualitativen Sprung mit sich brächte: Die Idee eines Zustands, in welchem „die Vernunft allein Gewalt haben soll“ (KU X, 392), ähnelt sehr stark dem Reich-Gottes-Gedanken der Religionsschrift. Die Geschichtsphilosophie Kants ist zunächst der erkenntnistheoretischen Motivation einer Einheit der Erkenntnisse geschuldet. Zwar dienen auch die traditionellen theologischen Vorsehungskonzepte immer wieder zur Lösung erkenntnistheoretischer Probleme; darin liegt jedoch nicht die primäre theologische Funktion dieser Begriffe. Der Vorsehungsbegriff wird auf das Konzept einer ‚allgemeinen Vorsehung‘ beschränkt. Eine ‚besondere Vorsehung‘, die sich um das Wohl einzelner Menschen sorgt und zu diesem Behuf etwa Wunder wirkt, schließt Kant explizit aus.⁵⁴⁷ Die Vorsehung wirkt für Kant also nur in den allgemeinen Gesetzen der Naturordnung, welche auch die Natur des Menschen umfasst; sie bleibt ein an den Naturwissenschaften, insbesondere der Biologie orientiertes regulatives Prinzip. Einzelne Ereignisse dürfen daher nicht als göttliche Eingriffe gedeutet werden. Kants Fortschrittsbegriff bezieht sich nicht nur auf moralischen bzw. rechtlichen Fortschritt, sondern ebenso auf kulturellen, d. i. wissenschaftlichen, technologischen und ästhetischen Fortschritt. Dies ist sicherlich ein spezifisch neuzeitliches Merkmal: Die christliche Eschatologie kennt neben dem Fortschreiten im wahren Glauben allenfalls noch ein Zunehmen an Gerechtigkeit und Frieden, mehr nicht. Bei Kant wird der beobachtbare kulturelle Fortschritt stellenweise gar als Muster für den moralischen herangezogen (vgl. TP XI, 167).
Vgl. ZeF XI, 217 Anm. Kant spricht dort nicht von der besonderen Vorsehung, sondern von „Fügung“; den Gegensatz von allgemeiner und besonderer Vorsehung weist er komplett zurück (vgl. ZeF XI, 218 Anm.). Ich folge hier dagegen der bis heute üblichen Terminologie.
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Noch stärker als die scholastische und frühprotestantische Eschatologie ringt Kant um einen Geschichtsbegriff, der Geschichte als menschliche Aufgabe versteht. Kant geht es dabei weniger um das traditionelle metaphysische Problem einer Vereinbarkeit menschlicher Freiheit mit göttlichem Vorsehungshandeln (siehe Kapitel 8.4). Er deutet vor allem einen Begriff von Geschichte als Lernprozess an, den nicht Gott, sondern die Menschheit selbst steuert. Ein derartiger Geschichtsbegriff, der bei Kant zwar nicht konsequent durchgeführt, aber doch angelegt ist, muss jede traditionelle teleologische Vorstellung von Geschichte aufsprengen.⁵⁴⁸ Der kosmopolitische Charakter der kantischen Geschichtsphilosophie kennt kein exkludierendes Kriterium; letztlich wird die ganze Welt vom Fortschritt ergriffen. Dies steht im Gegensatz zur traditionellen Idee eines ‚auserwählten Volkes‘ in all seinen Spielarten: Es gibt bei Kant keine ‚anderen‘ – Ungläubige, Andersgläubige oder durch Prädestination zur Verdammnis Bestimmte –, die aus der Heilsgeschichte auszuschließen wären. Dem entspricht eine funktionelle Veränderung des Fortschrittsdenkens: Mit der Frage, ob das Menschengeschlecht im Ganzen zu lieben sei, spezifiziert Kant die Funktion der Sinnstiftung in humanistischer Absicht. Kant stellt sich mit der positiven Bewertung des gesamten Menschengeschlechts sowohl gegen das pessimistische Menschenbild der reformierten Tradition, demzufolge der Mensch aus sich selbst heraus niemals liebenswürdig sein oder werden kann, als auch gegen die konkurrierenden theologischen Modelle, nach denen nur ein Teil der Menschheit (prädestiniert oder durch eigenen Verdienst) erlösungswürdig ist. Geschichtsphilosophie steht mithin im Dienst der Verteidigung eines spezifisch neuzeitlichen, vom Gattungsbegriff geprägten und prinzipiell positiven Menschenbildes. Eine weitere Differenz betrifft den epistemischen Status des Fortschrittsdenkens: Während die philosophische und theologische Tradition Aussagen über Eigenschaften treffen möchte, die der Geschichte ontologisch innewohnen, werden bei Kant durch die Reflexion über die Geschichte Eigenschaften in sie hineinprojiziert. Geschichtsphilosophie fußt auf einem regulativen Prinzip der reflektierenden Urteilskraft und ist daher der als-obPhilosophie zuzurechnen. Dies ändert jedoch nichts daran, dass wir für Kant
Vgl. dazu Langewiesche 2011, der sich insbesondere auf Arbeiten von Koselleck bezieht, um den Paradigmenwechsel von der Geschichtstheologie zu Kant zu beschreiben (siehe dazu auch meine Ausführungen in Kapitel 7.2). Das genannte Merkmal grenzt Kant nicht nur von der theologischen Tradition ab. Auch etwa das Geschichtsmodell Lessings beschreibt noch einen Lernprozess, der von einer äußeren Instanz (Gott) gelenkt wird. – Es versteht sich von selbst, dass die Eschatologie des 20. Jahrhunderts in diesem Punkt Kant nicht mehr nachsteht.
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an der teleologischen Betrachtung der Geschichte nicht vorbeikommen können; sie gilt mit der gleichen Strenge wie konstitutive Urteile als gerechtfertigt. Deshalb bleibt offen, wie groß die Differenz zwischen Kant und der Tradition letztlich sein mag: Kants Zurückweisung des dogmatischen Gebrauchs der teleologischen Urteilskraft steht in einer Spannung zu seiner Rehabilitierung ihrer Inhalte durch den kritischen Gebrauch.⁵⁴⁹ Mit der genannten Differenz im epistemischen Status geht schließlich eine Änderung der Begründung der Fortschrittshoffnung einher: Selbstredend kann bei Kant weder eine Offenbarung als Rechtfertigung herangezogen werden, noch lässt er die traditionelle metaphysische Vorstellung einer von Gott vernünftig eingerichteten Welt als Begründung gelten. In die frei gewordene Stelle treten Argumentationen, die der kritischen Philosophie Kants gerecht werden sollen und die noch überblickshaft nachzuzeichnen ist (siehe Kapitel 8.3).
Eine Gesamtschau ergibt damit ein differenziertes Bild: Auf der einen Seite geht fehl, wer in Kants Geschichtsphilosophie nur das Säkularisat christlicher Eschatologie sehen möchte. Die Einschätzungen, Kant gebe eine „säkulare Paraphrase der theologisch-heilsgeschichtlichen Perspektive“, ist daher mindestens spezifizierungsbedürftig.⁵⁵⁰ Die These, Geschichte könne für Kant „letztlich nur Heilsgeschichte sein“ (Zotta 2000, 158), scheint mir sogar derart überzogen zu sein, dass auch eine Spezifizierung sie nicht retten könnte.⁵⁵¹ Auf der anderen Seite lassen sich ganz ohne Zweifel Elemente säkularisierter Eschatologie nachweisen. Auch dies ist in der Literatur – mehr oder weniger explizit – angezweifelt worden. Otfried Höffe (2011b, 3) betont etwa, Kants Geschichtsphilosophie sei in Abgrenzung zur heilsgeschichtlichen Theologie
Städtler stellt mit Blick auf die Naturteleologie treffend fest, Kant schwanke „ständig zwischen Überschwenglichkeit und Beschränkung des Vernunftgebrauchs“ (2012, 10). Kleingeld (1996) und Booth (1986) betonen dagegen durchgängig den nicht-dogmatischen Charakter der Geschichtsphilosophie Kants, der sie gegen zahlreiche Einwände immun mache. Ebenso spezifizierungsbedürftig ist die These, die Geschichtsphilosophie der Friedensschrift habe explizit eschatologischen Charakter (vgl. H. Schwarz 2004, 191). Schon treffender ist demgegenüber die Formulierung Horns, der Endpunkt des Geschichtsprozesses läge in einer „säkularisierten Heilserwartung“ (Horn 2011a, 112). Horn trifft damit aber nur einen der eschatologisch geprägten Aspekte der kantischen Geschichtsphilosophie. Ähnlich überzogen erscheint mir die polemische Formulierung Herbs: „Kant glaubt an den Erfolg des Unternehmens [Weltrepublik]. Seine republikanische Heilsgeschichte ist Parusie ohne große Verzögerung.“ (Herb 2007, 48) Hier liegt ein Fehler schon darin, dass übersehen wird, dass Kant das Zustandekommen der Weltrepublik erst in weiter Ferne vermutet.
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bewusst säkular gehalten.⁵⁵² Daran ist richtig, dass Kant das Projekt der Geschichtsphilosophie ausdrücklich vom Projekt einer Deutung der Kirchengeschichte und von spekulativen Reich-Gottes-Vorstellungen abgrenzt. Jedoch zeugen die Begriffe des weisen Schöpfers und der göttlichen Vorsehung weder von einem bewusst säkularen Charakter der Geschichtsphilosophie, noch garantiert die Abgrenzung von der heilsgeschichtlichen Tradition, dass Kant nicht doch einige ihrer Motive weiterführt. Mit ähnlichen Überlegungen ist die zentrale These Manfred Riedels zurückzuweisen, der sich in einem hervorragenden, aber wenig beachteten Aufsatz als bislang Einziger ausführlich mit der Säkularisierungsthese in Bezug auf Kants Geschichtsphilosophie auseinandergesetzt hat (Riedel 1973). Er versucht zu zeigen, dass der Ausgangspunkt der kantischen Geschichtsphilosophie nicht die theologische Eschatologie ist, die mit anderen Mitteln weitergeführt werden soll. Vielmehr reagiere Kant auf bestimmte Probleme der Geschichtsphilosophie und Geschichtsschreibung seiner Zeit, wie sie etwa bei Herder sichtbar werden. Kant habe demgegenüber „auf dem Boden eines spezifisch neuzeitlichen Geschichtsund Wissenschaftsverständnisses“ (Riedel 1973, 211) eine ganz neue Form von Geschichtsphilosophie und sogar von Geschichtsschreibung als Wissenschaft begründet, die diese Mängel beheben sollte (und dies – so Riedel – auch tatsächlich geschafft hat; vgl. 1973, 221 und 226). Deshalb dürfe Kants Geschichtsphilosophie nicht als Säkularisat aufgefasst werden.
Ähnlich Wittwer: Bei Kant fänden sich philosophische Betrachtungen über die Geschichte, „die ihrer Art nach politisch praktisch, nicht eschatologisch sind“ (1996, 193); deshalb träfen die Säkularisierungsthesen Löwiths und Taubes auf Kant nicht zu. – Pollmann (2011, 84) möchte anhand dreier Differenzen zwischen Kant und der Eschatologie zeigen, dass dieser sich der Säkularisierungsthese versperre. Dabei liegt aber m. E. weder ein adäquates Verständnis der Eschatologie vor, noch ist die Kant-Rekonstruktion hinreichend genau. Pollmann behauptet erstens, Kant wolle nicht wie die Theologie aufs Jenseits vertrösten. Er übersieht dabei, dass die Theologie keinesfalls auf eine derartige Vertröstung festgelegt ist; selbst Löwith hat schon ausreichend auf innerweltliche Aspekte der Eschatologie hingewiesen. Zugleich verschweigt Pollmann, dass Kant genau wie die Theologie neben den Trost durch innerweltlichen Fortschritt eine Individualeschatologie stellt. Zweitens behauptet Pollmann, bei Kant gehe es um vermeidbares Leiden, in der Eschatologie um unvermeidbares. Pollmann hat zwar Recht, dass für Kant historisches Leid menschengemacht ist, aber in der historischen Reflexion wird es als unvermeidlich vorgestellt, wie oben mehrfach gezeigt. Und dass es die Eschatologie nur mit unvermeidlichem Leid zu tun habe, ist nicht minder anzweifelbar. Drittens gehe es Kant nicht um einen ‚neuen Menschen‘, sondern nur um Besserung der Rechtsverhältnisse. Dies ist mit Bezug auf die geschichtsphilosophischen Texte jedoch wenigstens umstritten (siehe Kapitel 8.1), und die Vervollkommnung des Menschen in der Religionsschrift verschweigt Pollmann komplett.
8.3 Rechtfertigung des Fortschrittsdenkens
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An den Beobachtungen Riedels ist nichts auszusetzen; nur kranken seine Schlussfolgerungen an den zu simplen Gegenüberstellungen, die er bei der Suche nach einer angemessenen Interpretation zugrunde legt: Entweder sei die Geschichtsphilosophie aus der Eschatologie hervorgegangen, oder aber Kant habe wissenschaftstheoretische Probleme Herders lösen wollen; entweder sei die Geschichtsphilosophie als Ganzes ein Säkularisat, oder sie sei gar keines. Motiviert sind diese vereinfachten Gegenüberstellungen offenbar von der an Löwith anknüpfenden, nicht minder problematischen Überzeugung, wenn Geschichtsphilosophie ein Säkularisat darstelle, müsse sie sofort und einschränkungslos aufgegeben werden. Das Beweisziel Riedels ist deshalb die unumschränkte Zurückweisung des Säkularisierungsvorwurfs. Bricht man dagegen die dichotome Gegenüberstellung von „methodischem Neubeginn“ und „Säkularisierung einer alten Tradition“ (Riedel 1973, 221) auf, wird eine differenziertere Interpretation möglich. Die interessanten Fragen sind dann nicht mehr nur mit ‚ja‘ oder ‚nein‘ zu beantworten: In welchen Aspekten leistet Kant Neues, in welchen knüpft er an überlieferte Theoriemodelle oder an den ‚Zeitgeist‘ an? Wo werden bei dem Versuch eines Neubeginns bewusst oder unbewusst Elemente der Tradition fortgeführt? Dass diese Fragestellungen zu einem umfassenderen und detaillierteren Verständnis der Philosophie Kants führen, lässt sich an den stichpunktartig zusammengefassten Resultaten schon ablesen. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, diesen Befund auch mit einem eher systematischen Interesse auszuwerten: Welche Probleme ergeben sich, indem Kant Elemente der Eschatologie in säkularisierter Form übernimmt? Dabei geht es zunächst um die beiden zentralen Fragen, ob Kant die Hoffnung auf künftigen Fortschritt ausreichend rechtfertigen kann, und wie menschliche Freiheit und Verantwortung mit dem Vorsehungsdenken zusammengedacht werden können. Ein weiterer Abschnitt soll genauer untersuchen, weshalb Kant zwischen den Begriffen der Natur und der Vorsehung schwankt, und damit den letzten Problembereich, das Problem von Geschichte und Theodizee, vorbereiten.
8.3 Rechtfertigung des Fortschrittsdenkens Wie während der Interpretation der geschichtsphilosophischen Schriften immer wieder deutlich wurde, liefert Kant gute Gründe für die Zurückweisung von Geschichtsauffassungen, die langfristigen Fortschritt für unmöglich halten. Soweit haben Kants Überlegungen m. E. bis heute an Relevanz nichts eingebüßt: Gegenüber vorgeblich empirisch fundierten ‚wissenschaftlichen‘ Belegen, dass sich Menschen oder Staaten immer in erster Linie am Eigeninteresse bzw. am ökonomischen Vorteil orientieren werden – man denke etwa an den politikwis-
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8 Übergreifende Problemstellungen der Geschichtsphilosophie
senschaftlichen Realismus und seine Ablehnung supranationaler Instanzen⁵⁵³ –, kommt der Philosophie die kritische Aufgabe zu, die impliziten Fehlschlüsse von der Vergangenheit in die Zukunft aufzudecken und am Primat normativer Ideale festzuhalten. Indem Kant aber – „von seiner Umwelt gedrängt“, wie Herold (2006, 208) vermutet, bzw. durch „Imitationspflichten“ veranlasst, wie Marquard sich ausgedrückt hätte (siehe Kapitel 1) – über die Zurückweisung solcher Theorien hinausgeht und positiv eine analog zur Vorsehungslehre konzipierte Fortschrittshoffnung behauptet, übernimmt er eine schwere Begründungslast: Warum sollten wir berechtigt sein, die Vergangenheit als Fortschrittsgeschehen zu interpretieren und künftigen Fortschritt anzunehmen? Zu Recht weist Kant Versuche zurück, aus der Empirie allein vergangenen oder künftigen Fortschritt abzuleiten, wie sie bis heute – quasi als Antipoden zu den soeben genannten empirisch gestützten Realisten – in der akademischen und öffentlichen Debatte vorkommen.⁵⁵⁴ Kant steht damit jedoch unter Druck, eine andersartige Begründung für die Fortschrittsthese vorbringen zu müssen. Seine wesentlichen Argumente sind sukzessive im Laufe der Analyse der einzelnen Texte bereits angesprochen worden. Im Folgenden geht es einerseits um eine systematisierende Übersichtsdarstellung und andererseits um eine zusammenfassende Bewertung der Argumente. Kant knüpft zur Rechtfertigung der Fortschrittsthese an sehr unterschiedliche Traditionen und Argumentationsformen an: Überlegungen zur Naturteleologie sind ebenso präsent wie die anthropologische These einer moralischen Anlage und eine an das Gottespostulat erinnernde Argumentationsstruktur. Dabei lässt sich prinzipiell eine theoretische von einer praktischen Rechtfertigung unterscheiden, wobei beide sowohl a priori durchgeführt als auch um eine empirische Beweisführung ergänzt werden. Grundsätzlich spricht nichts dagegen, beide Rechtfertigungen als einander ergänzende aufzufassen.⁵⁵⁵ Die praktische Rechtfertigung setzt mit der Darstellbarkeit der Geschichte als teleologischem Geschehen sogar eine theoretische Überlegung voraus. Allerdings stehen die unterschiedlichen Motive teils auch in Spannung zueinander: Der konservative Zug Vgl. dazu Höffe 2002, Kapitel 9.1. Ich denke dabei etwa an soziologische Modernisierungstheorien und ökonomische Theorien über den langfristigen Abbau von Armut durch liberale Märkte, die beide mindestens eine gewisse Tendenz dazu haben, vergangene lineare Entwicklungen vorschnell aus Daten abzulesen und in die Zukunft fortzuschreiben. In letzter Zeit wurde als Reaktion auf den Arabischen Frühling ein empirisch gestützter politischer Fortschrittsoptimismus verstärkt in öffentlichen Debatten vorgebracht, wobei die Skepsis mittlerweile wieder zu überwiegen scheint. Ausdrücklich leitet Fukuyama (1992) eine Fortschrittshoffnung aus der Empirie ab; sein Optimismus ist offenbar der Erfahrung des Niedergangs der Sowjetunion geschuldet. Dies versucht z. B. Hübner 2011.
8.3 Rechtfertigung des Fortschrittsdenkens
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der Naturteleologie, Missstände als naturgewollt auszuzeichnen, passt nicht recht zum entlarvenden Zug der praktischen Rechtfertigung; innerhalb der praktischen Rechtfertigung steht die als-ob-Philosophie des Fortschrittspostulates in einer Spannung zur These eines unvermeidbaren Fortschritts aufgrund der moralischen Anlage. Zu guter Letzt bleibt sogar offen, ob Kant in den späten Schriften die theoretische Rechtfertigung im Ganzen nicht zurücknehmen möchte.⁵⁵⁶
Theoretische Vernunft und Geschichte Der zentrale Gedanke der IaG und der KU ist die These, dass die theoretische Vernunft nach größtmöglicher Einheit strebe und diese nur durch die Anwendung teleologischer Begriffe erzielen könne.⁵⁵⁷ Die Fortschrittsidee käme nach dieser Argumentation einem regulativen Prinzip gleich, vergleichbar mit erkenntnistheoretischen Prinzipien des Teleologie-Kapitels der KrV bzw. der KU. Ergänzt wird das a priori eingeführte Grundprinzip größtmöglicher Einheit durch das empirische Faktum der Existenz organisierter Wesen sowie durch die These einer Beobachtbarkeit von Zweckzusammenhängen beim Blick auf die europäische Geschichte. Auf die Schwächen der Argumentation Kants, was das „Vernunftbedürfnis“ nach Einheit sowie die vermeintlichen empirischen Belege angeht, möchte ich im Einzelnen gar nicht eingehen.⁵⁵⁸ Denn zentral scheint mir zu sein, dass es eine bleibende Berechtigung geben dürfte, das Ziel der Wissenschaft in der Formulierung und Bestätigung möglichst allgemeiner Theorien zu sehen. Ein bloßes Sammeln von einzelnen Daten alleine stellt noch keine Wissenschaft dar, hierin wird man Kant kaum widersprechen können. Für historisch arbeitende Wissenschaften hieße das, dass das historische Material nach Möglichkeit unter allgemeinen Begriffen geordnet und interpretiert werden müsste – was dem Anliegen Kants entspricht. Fraglich bleibt aus meiner Sicht, ob mit Kant die Auffassungen geteilt werden müssen, dass (1) nur eine teleologische Sicht auf die Geschichte dazu hinlangt, und dass (2) die allgemeine Kategorie, unter der Geschichte interpretiert wird, mit einem
Vgl. etwa ZeF XI, 218: Geschichtsphilosophie sei „in theoretischer Absicht überschwenglich“. Die offene Interpretationsfrage liegt darin, ob Kant sich hiermit auf die theoretische Vernunft im Ganzen bezieht, oder nur auf deren konstitutiven Gebrauch. Auch in neueren Publikationen wird zuweilen immer noch vertreten, die Geschichtsphilosophie Kants habe mit der theoretischen Vernunft nichts zu tun; vgl. etwa Lindstedt 1999. Meine Analyse in Kapitel 4.1 widerlegt dies deutlich; vgl. auch die in dieser Frage deutlich ausführlichere Studie von Kleingeld (1995) und die pointierte Interpretation von Städtler (2011, Kapitel I,3). Siehe aber die Bemerkungen in Kapitel 6.
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(im weiten Sinne) moralischen Fortschritt gleichgesetzt werden muss. Für Kant hängen (1) und (2) sogar unmittelbar zusammen, weil er in IaG und in der KU den moralisch qualifizierten Endzustand der Geschichte aus der Notwendigkeit einer Teleologie ableitet: Der Mensch und seine Geschichte lasse sich nur in seiner Ausrichtung auf das Gebotene teleologisch interpretieren, da sich anders die Vernunftanlage des Menschen nicht integrieren ließe (siehe Kapitel 6). Sicherlich können teleologische Begriffe den Zweck, eine Einheit der Erkenntnis zu stiften, erfüllen. Der Geschichte aber ein telos zu unterstellen, auf das sie unweigerlich zuläuft, ist ein derart erkenntnistheoretisch waghalsiges, empirisch unplausibles und politisch missbrauchbares Unterfangen, dass jede Alternative vorzuziehen ist. Solche Alternativen scheinen sich aufzutun, wenn an die Stelle eines klaren telos eher auf vagere Tendenzen abgestellt wird, die sich weniger in der Geschichte überhaupt, sondern eher in größeren Abschnitten der Geschichte ausfindig machen lassen. Mir scheint dies völlig auszureichen, um der Geschichtswissenschaft zur nötigen Allgemeinheit zu verhelfen. Verzichtet man auf die teleologische Deutung der Geschichte, fällt zugleich das Argument Kants weg, die Deutung der Geschichte sei nur als moralischer Fortschritt möglich. Vielmehr liegt es nahe, die Formulierung solcher Tendenzen nicht mehr den a priori-Überlegungen des Philosophen zu überlassen, sondern als einen Prozess zu verstehen, bei dem sich Empirie und Theorie wechselseitig inspirieren und korrigieren. In den letzten Jahrzehnten sind von historisch arbeitenden Wissenschaften zahlreiche solche Entwicklungsmodelle vorgeschlagen worden. Konzepte wie „Rationalisierung“, „Entzauberung“, „Modernisierung“, Säkularisierung“ oder „Differenzierung“ können zur Beschreibung allgemeiner Tendenzen dienen und sind empirischer Bewährung ausgesetzt. Solche Entwicklungsmodelle haben mehrere Vorzüge gegenüber der Teleologie Kants: Die genannten Beispiele teilen – jedenfalls nach heutigem Verständnis⁵⁵⁹ – neben dem nicht-teleologischen einen nicht-deterministischen Charakter. Deshalb bleibt es möglich, Entwicklungen für begrenzte Zeiträume zu diagnostizieren bzw. die großen historischen Umwälzungen sogar als Wechselspiele gegenläufiger Konzepte zu sehen. Differenzierung kann mit Entdifferenzierungsprozessen einhergehen oder sich mit ihnen abwechseln; die „Sakralisierung der Person“ (Hans Joas) in ständiger Konkurrenz zu anderen Sakralisierungsprozessen stehen. In solchen Modellen wird es möglich, Empirie
Es wird allerdings kontrovers diskutiert, ob solchen Konzeptionen nicht implizit teleologische oder deterministische Vorstellungen zu Grunde liegen, auch wenn sich deren Vertreter explizit vor diesem Vorwurf verwahren.
8.3 Rechtfertigung des Fortschrittsdenkens
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ernst zu nehmen, anstatt sie wie bei Kant so weit als möglich in das Schema einzupassen. Schließlich stehen die genannten Entwicklungskonzepte in der Regel nicht in einer notwendigen Beziehung zu den Forderungen der Moral: Rationalisierungsprozesse können moralisch wünschenswerte wie abzulehnende Tendenzen mit sich bringen. Im Rahmen solcher Versuche einer Deutung der Geschichte in allgemeinen Begriffen können immerhin die empirisch argumentierenden Elemente der Geschichtsphilosophie Kants noch einen Platz finden: Wenn auch die Rechtfertigung der Teleologie nicht überzeugt, mag trotzdem noch stimmen, dass aus der Sicht Kants das historische Material für einen Rechtsfortschritt gesprochen haben könnte. Dabei denke ich weniger an die Teleologie der KU, innerhalb derer von der Existenz organisierter Wesen auf Zweckmäßigkeit in der Geschichte geschlossen wird: Selbst wenn man evolutionstheoretisch gewendet eine metaphorische Rede von Naturzwecken (getarnt als Zwecke von Genen) zulassen möchte, übersieht der Übergang zur Geschichtsphilosophie den Unterschied von Natur und Kultur. Stattdessen sind die empirischen Argumente der kleineren geschichtsphilosophischen Schriften beachtenswert: Wenn Kant etwa formuliert, dass aus dem Lauf der Natur „sichtbarlich Zweckmäßigkeit hervorleuchtet“ (ZeF XI, 217), scheint er den Rechtsfortschritt (jedenfalls auch) aus empirischen Gründen für eine angemessene Beschreibung der menschlichen Geschichte zu halten; hieran ließe sich möglicherweise kritisch anknüpfen.⁵⁶⁰ Eine Kritik an einer solchen aus der Erfahrung entnommenen These eines juridischen Fortschritts in der Vergangenheit wäre nicht ohne die Auswertung des historischen Materials möglich. Dass das historische Material aus Sicht des 20. Jahrhunderts weniger einen Rechtsfortschritt im vernunftrechtlichen Sinne, sondern eher einen dialektischen Prozess der Rationalisierung nahelegt, haben Horkheimer und Adorno eindrücklich gezeigt.⁵⁶¹ Aus heutiger Perspektive wird man sich zudem vor Augen führen müssen, wie die zunehmende Verrechtlichung internationaler Beziehungen nicht nur den positiven Effekt einer öffentlichen und allgemein verbindlichen öffentlichen Rechtsordnung schafft, sondern ebenso Machtpositionen zementiert und globale Ungerechtigkeiten produziert.⁵⁶² Dies
Vgl. auch die oben diagnostizierte Funktion des Achten und Neunten Satzes von IaG. Empirische Gründe können freilich nur rückblickend Tendenzen feststellen. Zukunftsprognosen sind damit niemals gedeckt. Vgl. insbesondere natürlich die Dialektik der Aufklärung (1947), aber auch weitere Studien, die sich bewusst am historischen Material orientieren. Dass das internationale Regelsystem nicht nur Ungerechtigkeiten zulässt, sondern sie aktiv hervorbringt, hat Thomas Pogge in mehreren Arbeiten gezeigt; vgl. etwa Pogge 2002. – Ein angemesseneres Konzept, die Entwicklung der Geschichte seit Beginn der Neuzeit zu verstehen,
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8 Übergreifende Problemstellungen der Geschichtsphilosophie
schließt nicht aus, dass partikular Fortschritte zu diagnostizieren sind, etwa im Schutz der Menschenrechte.
Praktische Vernunft und Geschichte Die zweite Rechtfertigungsstrategie der Fortschrittsthese, die sich vor allem im Gemeinspruch findet, aber auch in der Friedensschrift, im „Beschluß“ der Rechtslehre und in der Anthropologie ⁵⁶³ angedeutet wird, verläuft analog zur Argumentation der Postulatenlehre:⁵⁶⁴ Es ist geboten, an einer moralischen Besserung der Menschheit bzw. an einer Verbesserung politischer Institutionen mitzuwirken. Dieses Gebot setzt voraus, dass man erfolgreich an einer Besserung mitwirken kann. Dies sei jedoch nur möglich, wenn durch eine externe Instanz garantiert wird, dass Fortschritt auch tatsächlich eintreten wird – andernfalls blieben die einzelnen Bemühungen der Besserung nur hilflose Versuche betretenohnmächtiger Subjekte, die kaum noch als Akteure bezeichnet werden könnten (siehe die ausführlichere Darstellung des Arguments in Kapitel 7.1). Die Fortschrittsthese stützt sich damit auf ein praktisches Interesse der Vernunft⁵⁶⁵, was mit dem Vernunftbedürfnis der Postulatenlehre gleichgesetzt werden kann.⁵⁶⁶ Wie die Postulatenlehre voraussetzt, dass die Existenz Gottes für die theoretische Vernunft zumindest als möglich angesehen werden muss, ist hier die
könnte deshalb das der Modernisierung sein, welche positive wie negative Aspekte umgreift, insgesamt aber dennoch als normatives Konzept verstanden werden kann. Habermas spricht etwa von einer „entgleisenden Modernisierung“ (z. B. 2005a, 26), um das negative Gesicht der Moderne zu zeichnen; dennoch möchte er an der Moderne als einer prinzipiell positiven Entwicklung festhalten. Siehe die Stellenangaben und Zitate in Fußnote 477. Von einigen Interpreten wird deshalb der historische Fortschritt zu Recht als Postulat der praktischen Vernunft bezeichnet. Vgl. etwa Recki 2005, 238; Hübner 2011, 18; Sommer 2006, 314 Anm. und Lindstedt 1999. – Lindstedt versucht allerdings eine einheitliche Darstellung aller geschichtsphilosophischen Texte Kants als Argument in Analogie zur Postulatenlehre; er übersieht, dass es daneben eine eigenständige theoretische Rechtfertigung des Fortschrittsgedankens gibt. – Kain (2011, 149) sieht zwar einen starken Zusammenhang zwischen der Postulatenlehre und der Fortschrittshoffnung, möchte aber eine minimale Differenz ausmachen: Die Fortschrittshoffnung möge „weniger subjektive Gewissheit beinhalten als der ‚moralische Glaube‘ „. – Höffe bezeichnet Fortschritt als „moralisch-praktische Vernunftidee“ (2011b, 21) und bringt ihn damit ebenfalls in die Nähe zur Postulatenlehre. Sein Textbeleg ist aber problematisch, da er sich auf eine Passage einer Notiz auf einem losen Blatt bezieht, die Kant offensichtlich durchgestrichen hat, was Höffe in seinem Zitat nicht kennzeichnet. Der Begriff des Interesses fällt in RL VIII, 477; die sachliche Entsprechung in den anderen oben genannten Texten dürfte keiner Erläuterung bedürftig sein. So auch Kleingeld 1995, 92.
8.3 Rechtfertigung des Fortschrittsdenkens
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theoretische Unwiderlegbarkeit der Fortschrittsthese erforderlich (vgl. etwa RL VIII, 478; TP XI, 167). Kant bleibt entsprechend in der Spannung verhaftet, die schon für die Postulatenlehre diagnostiziert wurde (siehe Kapitel 4.2): Einerseits wird nur bewiesen, dass wir berechtigt sind so zu handeln, als ob es Fortschritt geben würde;⁵⁶⁷ andererseits ist dies den Subjekten nur möglich, wenn sie auch tatsächlich davon ausgehen, dass es Fortschritt geben wird. Weil die Fortschrittsthese nicht zu der theoretischen Behauptung berechtige, Fortschritt werde eintreten, bleibt ein offenes Problem in der Frage bestehen, ob man es einem vernünftigen Wesen zumuten kann, Fortschritt wider besseren Wissens ⁵⁶⁸ als gegeben anzunehmen.⁵⁶⁹ Kants Argument führt aber auch unabhängig davon in eine Aporie: Soll die Annahme des Fortschritts eigentlich den Erfolg individueller moralisch-guter Handlungen sichern, werden jene damit zugleich überflüssig. Denn Fortschritt tritt ja gemäß dem Geschichtsbild des Subjekts unabhängig davon ein, ob es seiner Pflicht nachkommt und am Fortschritt mitwirkt oder nicht. Waren die Subjekte zunächst keine relevanten Akteure, weil sie ohnmächtig waren, sind sie in Kants Lösung keine relevanten Akteure mehr, weil ihre Handlungen überflüssig erscheinen (siehe dazu auch Kapitel 7.1 und 8.4). Dennoch muss man Kant zugestehen, dass er ein fundamentales Problem diagnostiziert hat, dem politisches Handeln insbesondere auf internationaler Ebene ausgesetzt ist: Wie kann sich der einzelne Bürger, der einzelne Politiker und der einzelne Staat sinnvoll an normativen Maßstäben orientieren, wo doch substantielle Fortschritte nur erreicht werden, wenn alle gemeinsam an einem Strang ziehen würden, dies aber gleichzeitig nahezu ausgeschlossen erscheint? Immer wieder scheinen sich Entwicklungen von Recht, Wirtschaftsform und globalen Märkten derart zu verselbstständigen, dass überhaupt nicht mehr zu sehen ist, wer durch welche konkreten Handlungen noch wirksam in den scheinbar unaufhaltsamen Lauf der Dinge eingreifen könnte.⁵⁷⁰ Wenn Kants Lösung nicht über-
„Es versteht sich von selbst: daß nicht das Annehmen (suppositio) der Ausführbarkeit jenes Zwecks, welches ein bloß theoretisches und dazu noch problematisches Urteil ist, hier zur Pflicht gemacht werde, denn dazu (etwas zu glauben) gibt’s keine Verbindlichkeit, sondern das Handeln nach der Idee jenes Zwecks […], das ist es, wozu uns eine Pflicht obliegt.“ (RL VIII, 478) Kant geht freilich davon aus, dass es kein Wissen darüber geben kann, dass Fortschritt nicht eintreten wird. Dennoch soll man so handeln, als würde er eintreten, obwohl man weiß, dass er möglicherweise nicht eintreten wird; insofern handelt man wider besseres Wissen. Im Streit der Fakultäten geht Kant über diese Behauptung hinaus und spricht von Wissen; siehe Kapitel 7.2. Das Problem spiegelt sich auf einer anderen Ebene in einem Methodenstreit in der Soziologie: Können soziale Systeme auf der Makro-Ebene derart eine Eigenlogik entfalten, dass ihre Entwicklung kaum noch durch individuelle Handlungen auf der Mikro-Ebene beeinflusst
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zeugt, leben wir dann einfach in einer Welt, deren künftige Entwicklung ihren Weg weitgehend unbeeinflussbar vom Willen der Individuen durchschreiten wird, wo auch immer er hinführen mag? Die Auskunft des Philosophen wird hier denkbar bescheiden, aber entschieden sein müssen: Solange auch nur die geringste Chance besteht, dass Fortschritt möglich ist, muss an der Pflicht, an einer besseren Weltordnung mitzuwirken, festgehalten werden. Eine solche geringe Chance besteht offenbar in dem von Kant zwar gesehenen, aber nicht weiter verfolgten „verabredeten Plane“ vernünftiger Weltbürger (IaG XI, 34), die die Zukunft durch gemeinschaftliche Beratung gestalten wollen. So utopisch er klingen mag, reicht seine pure Möglichkeit dennoch aus, dem moralischen Gebot seine Gültigkeit zu bewahren. Kant hat in unterschiedlicher Weise versucht, das praktische Argument um Überlegungen zu ergänzen, die auf die scheinbare Aussichtslosigkeit einer besseren Zukunft reagieren und künftigen Fortschritt plausibler erscheinen lassen sollen: (1) Erstens deutet Kant an, der sich verselbstständigende Entwicklungsprozess von Recht und globalen Märkten könnte für den moralischen Akteur ‚entgegenkommende Tendenzen‘ aufweisen; (2) zweitens führt er die These einer moralischen Anlage des Menschen ein, die sich früher oder später zwangsläufig entfalten wird; (3) drittens schließlich entwickelt er den Gedanken, die Menschheit könne sich als ‚lernfähig‘ erweisen. Bietet einer dieser Wege die Möglichkeit, die Utopie einer kollektiven vernünftigen Gestaltung der Zukunft zumindest als etwas realitätsnäher auszuweisen? (1) Habermas hat zur Stützung seines Modells einer Konstitutionalisierung der Weltgesellschaft versucht, in Anlehnung an Kant in den nicht-moralischen Triebkräften der Geschichte ‚entgegenkommende Tendenzen‘ ausfindig zu machen. Wie Kant etwa die These vertreten habe, der Handelsgeist führe letztlich zur Schaffung internationalen Rechts,⁵⁷¹ versucht Habermas, in den Entwicklungsprozessen des 20. Jahrhunderts Tendenzen zu sehen, die eine Konstitutionalisierung der Weltgesellschaft unbeabsichtigt vorantreiben (vgl. Habermas 1999, 199 f.; 2004, 142 f). werden kann? – Rohbeck (2010, 116) sieht in der Erfahrung der nicht bewusst steuerbaren Selbstregulierung von Systemen das eigentliche Problem, das die Geschichtsteleologie der Aufklärung zu bewältigen versuche; die Vorsehung solle dafür herhalten, dass die verselbstständigten Entwicklungen letztlich doch in die richtige Richtung laufen. In dieser einfachen Weise lässt sich das Problem jedenfalls in Kants Geschichtsphilosophie nicht einfach hineinprojizieren: In IaG wird verdeutlicht, dass Geschichte aus sich selbst heraus überhaupt keiner Logik folgt, also auch keiner Systemlogik. Ich möchte daher mit dem genannten Problem Kant nicht interpretieren, sondern seine bleibende Relevanz aufzeigen. Vgl. ZeF XI, 226. Für diese Art Argumentation siehe auch meine Ausführungen zum Achten Satz der IaG in Kapitel 6.1.
8.3 Rechtfertigung des Fortschrittsdenkens
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Mir erscheint ein solches Unterfangen äußerst spekulativ: Weil der Zusammenhang zwischen solchen Tendenzen und dem moralisch Gesollten nur zufällig ist, ist es keinesfalls ausgemacht, dass die von Kant und Habermas genannten Tendenzen in die richtige Richtung führen. Nichts garantiert, dass sie nicht irgendwann ins moralisch Unerwünschte umschlagen. Wenn man sich überhaupt von nicht-moralischen Triebkräften einen im weiten Sinne moralischen Fortschritt erwartet, dann wohl kaum von Tendenzen, die einfach vorhanden sind. Vielmehr scheint man sich nicht-moralische Triebkräfte höchstens bewusst zu Nutze machen zu können, indem etwa durch geschickte Rahmengesetze ökonomische Anreize entstehen, moralisch wünschenswert⁵⁷² zu handeln. Aber auch das setzt voraus, dass moralische Subjekte sich über ein solches Vorhaben zunächst einmal verständigen. (2) In einer gewissen Spannung zu dem oben entwickelten Argument der praktischen Vernunft steht Kants Überlegung, der Mensch sei so gebaut, dass er nach unabsehbar langer Zeit seine moralische Anlage entfalten müsse (siehe Kapitel 7.2, aber auch 5.4) Denn während das praktische Argument darauf zielt, die notfalls kontrafaktische Annahme von Fortschritt als denknotwendig zu erweisen, würde diese Überlegung zu Sicherheit führen, dass tatsächlich Fortschritt stattfinden werde. Das dem praktischen Argument zugrunde liegende Problem wäre damit freilich auch gelöst. Doch ist die Überlegung plausibel? Die These, dass zum Wesen des Menschen zwar nicht Moralität per se, aber doch die Anlage zur Moralität gehört, ließe sich gegen den vorherrschenden AntiEssentialismus der Philosophie der Gegenwart womöglich noch verteidigen. Doch kann die moralische Anlage nicht ohne Weiteres in einem starken teleologischen Sinn als eine gedeutet werden, die sich in unserer Welt zwangsläufig entfalten wird. Kant versucht dem mit einem Wahrscheinlichkeitskalkül Rechnung zu tragen: Zwar mögen aktuell die Bedingungen nicht vorliegen, unter denen sich die moralische Anlage entfaltet; doch ändern sich diese Bedingungen laufend, sodass irgendwann eine günstige Situation eintreffen wird; ist die moralische Anlage dann erst einmal über eine gewisse Schwelle hinaus gereift, werden sich die günstigen Bedingungen perpetuieren (siehe Kapitel 6.1 und 7.2). Die Annahme, dass sich die moralische Anlage des Menschen notwendig entfalten müsse, wenn einmal bestimmte Bedingungen eingetreten sind, scheint mir immer noch zu stark zu sein. Selbst wenn man dieses Problem einmal beiseitelässt, lebt Kants Argument von der Vorstellung, dass sich die gesellschaftlichen Bedingungen ständig chaotisch ändern; nur dies kann statistisch garantie-
Also pflichtgemäß, wenn auch nicht unbedingt aus Pflicht.
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ren, dass mal schlechtere und mal bessere Bedingungen entstehen. Dies ist aber keine plausible Beschreibung der Entwicklung gesellschaftlicher Verhältnisse. Vielmehr scheinen sich zahlreiche Bedingungen, unter denen wir leben, zu reproduzieren. Kant deutet dies selbst an: Wird ein Volk unterdrückt, so bietet es selbst den Grund für eine weitere Unterdrückung, denn es tendiert zu vorschnellem Aufruhr (vgl. SF XI, 352). Wenn mit einem solchen Selbsterhaltungsmechanismus unvernünftiger Systeme negative Bedingungen verstetigt werden können, ist Kants Argument nicht mehr zwingend. (3) Schwächer als die These einer sich zwangsläufig entfaltenden Anlage ist die Annahme Kants, die Menschheit sei lernfähig. Denn ein Lernprozess setzt nicht notwendig ein; vielmehr bergen bestimmte Umstände das Potential einer Lernerfahrung, die – einmal verarbeitet – nicht mehr rückgängig zu machen ist. Realistisch gesehen bezieht sich Fortschritt in dieser Argumentation nur auf das, was als moralisch verwerflich angesehen wird, und nicht (oder kaum) auf das, was tatsächlich passiert. So scheint es, gestützt auf die Vorstellung eines kollektiven Gedächtnisses der Menschheit, Anhaltspunkte dafür zu geben, dass Sklaverei sowie Rassen- und Geschlechterdiskriminierung in künftigen Zeiten nicht mehr als moralisch legitim ausgewiesen werden können, sofern keine Katastrophen das kollektive Gedächtnis zwischendurch auslöschen.⁵⁷³ Dies entspräche der Überzeugung Kants, dass sich bestimmte Phänomene nicht mehr vergessen.⁵⁷⁴ Auf diese Weise könnten sich historische Unrechtserfahrungen derart akkumulieren, dass eine nachhaltige Besserung der Denkungsart künftiger Generationen möglich wird. Sicherlich hängt das Modell der Geschichte als Lernprozess an durchaus anspruchsvollen Voraussetzungen, die expliziert und verteidigt werden müssten – darunter möglicherweise auch problematische Annahmen über die menschliche
Ein solches Fortschrittsmodell vertritt Siep: „Einsichten in immer wieder unterdrückte menschliche Fähigkeiten oder in ein möglich gewordenes würdevolles Leben ohne persönliche oder ideologische Herrschaft, die diese heute geteilten Maßstäbe begründen, können durchaus historische Irreversibilität beanspruchen. Es sind schlicht keine Gründe mehr denkbar, die eine grundsätzliche Revision der Menschenrechte rechtfertigen würden.“ (2013, 219: meine Hervorhebung) „In [der Erfahrungsgeschichte] haben sich einige Errungenschaften und Entdeckungen als unaufgebbar erwiesen. Dazu gehören die Grundrechte und elementaren Entfaltungsmöglichkeiten des Menschen und die Institutionen der Machtkontrolle und Konsensbildung im modernen Verfassungsstaat.“ (2011, 273). Zugleich bleibt Siep skeptisch gegenüber teleologischen Varianten der Fortschrittsthese: Es falle schwer, „angesichts der Rückfälle und Zufälle der jüngsten Geschichte noch von ehernen Gesetzen des Fortschritts auszugehen“ (2011, 272; vgl. auch 1995, 373 ff.). Vgl. SF XI, 361, aber auch RGV VIII, 787 und TP XI, 167.
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Natur, die Kant als Voraussetzung des Lernprozesses anzusehen scheint.⁵⁷⁵ Aber es dürfte zu den aussichtsreichsten Versuchen gehören, Geschichte wenigstens in einiger Hinsicht rückblickend als Fortschritt beschreiben zu können. Demgegenüber scheint die Geschichte aber keine guten Gründe dafür abzugeben, dass sich der Lernerfolg der Menschheit über den Fortschritt in der Denkungsart hinaus auf das ausdehnen könnte, was in der politischen Geschichte tatsächlich passiert. Die Gräueltaten der realen Welt können sich ihrer zunehmenden negativen Beurteilung durch die (Welt‐) Öffentlichkeit zum Trotz immer noch wiederholen. Akkumulierte Macht, die sich durch Loyalitäts- oder Unterdrückungsmechanismen reproduzieren lässt, kann sich trotz wachsender Sensibilitäten in der Bevölkerung problemlos einer Orientierung am Rechtsbegriff versperren. Eine „Garantie“ (ZeF XI, 217), dass es etwa kein zweites Auschwitz geben kann, ist weder aus der Geschichte abzulesen, noch darf sich Geschichtsphilosophie anmaßen, eine solche zu leisten.
8.4 Vorsehung und menschliche Freiheit Die theologische Tradition mühte sich jahrhundertelang an dem Problem ab, wie eine von Gottes Allmacht geschaffene und erhaltene, von seiner Vorsehung regierte Welt, in der das Allwissen Gottes einer verbreiteten Ansicht nach auch künftige Ereignisse umfasst, mit frei handelnden Wesen vereinbar sein könnte. Wenn Kant wesentliche Strukturelemente der theologischen Tradition aufgreift, ist zu erwarten, dass sich auch dieses Problem in modifizierter Form in seiner Geschichtsphilosophie wiederfindet: Ausgangspunkt der praktischen Philosophie Kants ist der Freiheitsbegriff, der Bedingung der Möglichkeit einer moralisch-normativen Perspektive auf die Welt ist. Die Reflexion auf die Geschichte, die nach der praktischen Rechtfertigung der Fortschrittsthese die Möglichkeit freier und selbstbestimmter Handlungen gerade retten möchte, führt absurderweise aber auf den Begriff der Naturabsicht, die in den Menschen wirkt, mögen diese wollen oder nicht ⁵⁷⁶.
Siehe die Andeutungen in Kapitel 5.4 und 7.2. Ich komme in Kapitel 10 nochmals kurz auf diesen Aspekt zurück. Die Natur „tut es selbst, wir mögen wollen oder nicht (fata volentem ducunt, nolentem trahunt)“ (ZeF XI, 223). – Wittwer übersieht diesen Aspekt der kantischen Geschichtsphilosophie völlig: Der Gang der Geschichte sei „zwar als Aufgabe vorgezeichnet, nicht aber vorherbestimmt“ (1996, 190). Tatsächlich finden sich bei Kant mehrfach Ansätze, Geschichte als Aufgabe zu verstehen – aber zugleich ist für Kant Geschichte so zu interpretieren, als würde diese
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Die Spannung, die sich daraus ergibt, kann besonders prägnant an einem Zitat aus dem Gemeinspruch illustriert werden: Was „guter Wille hätte tun sollen, aber nicht tat“, bewirke die letztlich auf die Naturabsicht zurückführbare „Ohnmacht“ (TP XI, 170). Der Mensch hat somit die Freiheit, moralisch zu handeln; macht er aber von seiner Freiheit keinen Gebrauch, dann setzt eine andere intentionale Instanz die Wirkmächtigkeit des Menschen außer Kraft und sorgt selbst für die Ausführung des Gesollten. Dies gilt mit umgekehrtem Vorzeichen auch für die Gräueltaten der Vergangenheit: Da in der Reflexion auf die Geschichte Kriege zur Beförderung der Kultur als notwendig erscheinen, wird der Hang zum Krieg als derart in die menschliche Natur eingepflanzt vorgestellt, dass das frei handelnde Subjekt den moralisch geforderten pazifistischen Weg faktisch gar nicht gehen kann. Die hier angelegte Spannung spiegelt sich auf verschiedenen Ebenen wieder: Erstens stellt sich etwa die eher praktische Frage, was die Anstrengungen moralischen Handelns oder ein bewusster politischer Wille überhaupt noch austrägt, wenn Fortschritt ja ohnehin erreicht wird. Zweitens muss man sich fragen, ob historische Gräueltaten dem Menschen noch zugerechnet werden können, wenn sie als unvermeidliche dargestellt werden. Drittens stellt sich die eher handlungstheoretische Frage, wie es möglich ist, dass ein und dasselbe Ereignis zugleich als menschliche Handlung interpretiert wird und der Absicht der Natur entspringen soll. Die Tradition hat vor allem die zuletzt genannte Problematik durch die concursus-Lehre zu beheben versucht: Menschliche Handlungen könnten (oder würden stets) unter der Mitwirkung Gottes stattfinden; es sei demnach kein Widerspruch, eine Handlung gleichzeitig dem Menschen und Gott zuzusprechen. In einer Fußnote in der Friedensschrift, die zu den mehreren rätselhaften ausführlichen Fußnoten der Schrift zählt, die in keinem ernsthaften Zusammenhang zur Argumentation im Haupttext stehen, kommt Kant unvermittelt auf die concursus-Lehre zu sprechen – als wollte er einfach die Gelegenheit nutzen, einen Kommentar loszuwerden, der sich andernorts nicht unterbringen ließ. Dieser Kommentar beinhaltet wiederum selbst erneut eine merkwürdige Wendung. Prinzipiell sei nämlich das Konzept des concursus abzulehnen. Eine Handlung könne entweder als göttliche oder als menschliche interpretiert werden, nicht aber als beides zugleich. Letzteres wäre erstens widersprüchlich; zweitens „bringt eine solche Denkungsart auch um alle bestimmte Prinzipien der Beurteilung eines Effekts“ (ZeF XI, 219 Anm.). Es ist schwer zu sehen, was Kant mit diesem Satz
Aufgabe eines Tages von der Natur selbst erledigt; die Spannung zwischen diesen Polen übersieht Wittwer.
8.4 Vorsehung und menschliche Freiheit
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gemeint haben könnte, wenn er sich nicht auf das oben angesprochene Problem einer moralischen Beurteilung von Ereignissen bezieht, die durch die concursusLehre erschwert wird. Und dennoch fährt Kant fort: „Aber in moralisch-praktischer Absicht […] ist der Begriff des göttlichen Concursus ganz schicklich und sogar notwendig.“ (ZeF XI, 219 Anm.; vgl. auch V-Phil-Th/Pölitz XXVIII, 1105 – 1113) Trotz seiner Widersprüchlichkeit und des Problems der Beurteilung von Effekten hält Kant also in praktischer Hinsicht am Konzept des concursus, den er wenige Zeilen zuvor vehement verworfen hatte, fest. Inhaltlich scheint er dies dann aber gar nicht auf die in der Friedensschrift entfaltete Geschichtsphilosophie zu beziehen, in deren Kontext die Fußnote steht, sondern lediglich auf das in der Religionsschrift diskutierte Problem einer göttlichen Ergänzung der eigenen Anstrengungen, ein guter Mensch zu sein.⁵⁷⁷ Es fällt also schwer, aus diesem ziemlich im Dunkeln bleibenden Kommentar zur concursus-Lehre den Versuch einer Vereinigung von Naturzwecken und menschlichen Zwecken herauszulesen, und auch andernorts bemüht sich Kant kaum ausdrücklich um dieses Problem. Es drängt sich deshalb erneut die Vermutung auf, dass sich Kant in einem geistigen Horizont bewegt, in dem die Vereinbarkeit von Freiheit und Vorsehung einfach unhinterfragt vorausgesetzt wird (so ja schon in Kapitel 5.2). Gleichwohl werden in der Literatur einige Argumente vorgebracht, die zeigen sollen, dass Kant von den Vorwürfen gegen die Geschichtstheologie in dieser Hinsicht nicht oder nicht vollständig getroffen wird. Es lassen sich wenigstens fünf solcher Versuche unterscheiden: (1) Matthias Lutz-Bachmann (1988, 62 – 80) unterstellt, die Theorie einer Naturabsicht werde nur für die Vergangenheit herangezogen; die Gegenwart sei demgegenüber eine Umbruchphase, und die Zukunft gehöre völlig autonomen Subjekten, die von keiner Naturabsicht mehr bestimmt seien.⁵⁷⁸ Lutz-Bachmanns Vorschlag ist mit den Texten Kants kaum vereinbar: Immer wieder gibt Kant klare Hinweise darauf, dass auch in der Zukunft die Naturabsicht am Werk sein wird. Immerhin wird in der KU ein Zustand angedeutet, in welchem „die Vernunft allein Gewalt haben soll“ (KU X, 392); dieser Zustand sei von der Natur nur vorzubereiten, seine Verwirklichung wäre allein dem Menschen überlassen. Ähnlich heißt es in IaG (XI, 42 f.), dass der letzte Schritt zum Übergang in den Völkerbund in
Zu diesem Aspekt der Religionsschrift siehe die kurzen Bemerkungen in Kapitel 5.1. – Städtler (2011, 93) deutet dagegen an, es ginge Kant hier tatsächlich um das Problem der Geschichte. Die offene Interpretationsfrage dahinter ist, ob die Fußnote auf die im Haupttext vorgebrachte Geschichtsphilosophie bezogen werden sollte, oder nur ihrem Wortlaut nach gelesen werden darf. Eine ähnliche Überlegung präsentiert Sommer 2006, 322 f., wobei nicht ganz klar wird, ob Sommer sie für überzeugend hält oder nur Kant in den Mund legen möchte.
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einer bewussten gemeinschaftlichen Verabredung bestehen müsse, die offenbar nicht mehr von der Natur geleistet wird. Aber damit bezieht sich Kant jeweils nur auf Grenzpunkte der Geschichte, die erst in weiter Ferne oder überhaupt nicht vollständig erreicht sein werden.⁵⁷⁹ Die Geschichte selbst wird als Annäherung an ihren Endzustand aufgefasst. Geschichtsphilosophie thematisiert entsprechend überwiegend das, was die Natur leisten kann. Insofern wird für Kant auch die Zukunft mindestens noch für eine lange Zeit von der Naturabsicht bestimmt. Abgesehen davon muss man sich fragen, wie frei das letzte Stadium der Geschichte noch hervorgebracht werden kann, wenn es bis hin zum vorletzten Schritt durch den Zwang der Vorsehung vorbereitet ist und in dieser Hinsicht immer heteronom vorbelastet bleibt. Der Hinweis auf einen möglichen Endzustand unter der Herrschaft der Vernunft kann vom Vorwurf der heteronomen Determinierung der Geschichte nicht befreien. (2) Ein weiterer Rettungsversuch könnte darin bestehen, auf die These Kants hinzuweisen, die Freiheit des Menschen sei selbst als Naturzweck anzusehen: Die Natur habe gewollt, dass der Mensch alles, was über sein tierisches Dasein hinausgehe, von selbst und durch seine eigene Vernunft hervorbringe (vgl. den Dritten Satz von IaG sowie die Endzweck-These in KU X, 389). Entsprechend könne die Natur dem Menschen diese Arbeit gar nicht abnehmen; die Teleologie selbst garantiere ihre Vereinbarkeit mit menschlicher Freiheit, weil Freiheit ein Naturzweck ist. Kant mag tatsächlich einen solchen Versuch unternommen haben, Freiheit und Naturabsicht miteinander zu verbinden. Wenn es überhaupt überzeugen kann, Freiheit als eine naturgegebene Bestimmung aufzufassen (siehe den Zweifel daran in Kapitel 6.1), dann wäre dieses Vorhaben spätestens innerhalb der materialen Durchführung der Geschichtsphilosophie kläglich gescheitert: Kant schreibt der Natur nämlich sehr wohl konkrete Absichten zu, die dem Menschen die Aufgabe der Selbstvervollkommnung abnehmen. Paradigmatisch ist die Aussage, die Natur wisse besser, was für den Menschen gut sei (IaG XI, 38 f.). Raum für eine freie und selbstbestimmte Entwicklung der Menschheit bleibt damit nicht – oder allenfalls ganz am Ende der Entwicklung. (3) Immer wieder wird darauf hingewiesen, zwar sei die prinzipielle Gestalt der Geschichte als Fortschrittsgeschehen durch die Natur vorgegeben, es blieben
Insofern dürfte eher Städtlers Versuch zutreffen, zwischen einer von der Natur bestimmten und einer freien Phase der Geschichte zu unterscheiden: Kant habe eine „Vorgeschichte der Moral als Naturgeschichte“ (2011, 115) konzipiert, die bis zur Erreichung des weltbürgerlichen Zustands reiche. Trifft darüber hinaus Städtlers These zu, dass in dieser Phase die Geschichte „einer strengen moralischen Beurteilung entzogen“ (2011, 115) bleibe, würde Kant allerdings in einen Widerspruch zu seinem Moralbegriff geraten.
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aber dem (einzelnen) Menschen innerhalb dieses Rahmens immer noch ausreichend Gestaltungsmöglichkeiten, die ihm einen Raum von Freiheit eröffnen würden.⁵⁸⁰ So könne der Mensch den Fortschritt etwa beschleunigen (vgl. IaG XI, 46); Menschen wirkten außerdem schon dadurch aktiv am Fortschritt mit, indem sie Geschichtsphilosophie betreiben (vgl. IaG XI, 47 und 50). Im Streit der Fakultäten versucht Kant sogar, die Wirkbereiche von Mensch und Vorsehung grundsätzlicher voneinander abzugrenzen: Der Mensch habe für die negativen Bedingungen zu sorgen; die Vorsehung für die positiven (vgl. SF XI, 367). Sicherlich wird damit ein richtiger Punkt getroffen: Die Natur legt nur die groben Züge der Geschichte fest, indem sie der menschlichen Natur bestimmte Neigungen einpflanzt und die geographischen Voraussetzungen schafft (so insb. in ZeF XI, 219 ff.). Einzelne Handlungen könnten dennoch so oder so ausfallen. Freiheit auf Mikroebene wäre demnach mit einer durch die Natur determinierten Makroebene zusammenzudenken. Gegenüber mancher Formen der Vorsehungslehre mag dies tatsächlich einen Fortschritt darstellen. Dennoch wird menschliche Freiheit auch in diesem Modell noch marginalisiert: Erstens träfe, was wir jetzt durch bewusstes Handeln nicht erreichen, später einfach von selbst ein. Was ist dann bewusstes Handeln noch wert? Zweitens bleiben faktisch zahlreiche Handlungsmöglichkeiten auch auf individueller Ebene ausgeschlossen. Die Neigung zum Krieg ist für Kant offenbar derart „auf die menschliche Natur gepfropft“ (ZeF XI, 222), dass der pazifistische Weg (zumindest in der Vergangenheit) keine wählbare Handlungsoption für einzelne Subjekte gewesen wäre. (4) Ein weiteres Argument, das für Kant ins Feld geführt wird, wurzelt in der Verankerung der Geschichtsphilosophie in der praktischen Vernunft: Nur weil wir moralische Wesen mit einem freien Willen sind, haben wir demnach überhaupt die Berechtigung, die Geschichte teleologisch zu deuten. Die teleologische Betrachtung stehe deshalb unter der Bedingung der menschlichen Freiheit und laufe ihr nicht zuwider. Insbesondere könne man sich nicht von der Pflicht, am Fortschritt mitzuwirken, befreien, indem man darauf hinweist, dass Fortschritt ohnehin einträfe: Wir sind ja nur deshalb berechtigt, auf Fortschritt zu hoffen, weil
Dies vertreten z. B. Pauen 2001, insb. 40 und etwas vorsichtiger Höffe 2011b, 15. Pollmann (2011, 79 f.) geht noch einen Schritt weiter: Kant schwanke zwischen der These, der Mensch könne Fortschritt durch Aufklärung beschleunigen, und der These, nur im Zusammenspiel mit vom Menschen bewirkter Aufklärung könne die Natur Fortschritt bewirken; gelingt dem Menschen Aufklärung nicht, drohe der Naturmechanismus ins Negative abzugleiten. Diese zweite These ist m. E. durch die Analysen der Kapitel 6 und 7 deutlich widerlegt; für Kant würde die Natur notfalls selbst Aufklärung herbeiführen.
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wir die Pflicht, am Fortschritt mitzuwirken, anerkannt haben.⁵⁸¹ Einschlägig ist etwa die in Kapitel 5.2) besprochene Stelle der Religionsschrift: Der Mensch müsse „so verfahren, als ob alles auf ihn ankomme, und nur unter dieser Bedingung darf er hoffen, daß höhere Weisheit seiner wohlgemeinten Bemühung die Vollendung werde angedeihen lassen“ (RGV VIII, 760). Auch dieses Argument trifft etwas Richtiges: Wer einfach behauptet, nach Kants Geschichtsauffassung wäre die individuelle normative Perspektive der Naturabsicht komplett zum Opfer gefallen, übersieht einen wichtigen Zug der Argumentation Kants.⁵⁸² Aber diese Überlegung kann die in sich widersprüchliche Gestalt der Geschichtsphilosophie nicht überdecken: Natürlich soll Geschichtsphilosophie unter der Bedingung der Betrachtung des Menschen als frei handelnden Wesens stattfinden; aber Geschichtsphilosophie konterkariert diese Sicht gleichzeitig, indem sie die Triebkraft der Geschichte dem menschlichen Wollen abspricht. Insofern trifft Marquards Satz, dass die Geschichtsphilosophie „die Autonomie des Menschen nicht allein betreibt, sondern sie, ohne es zu wissen, zugleich auch hintertreibt“ (1982, 80), auf Kant uneingeschränkt zu. (5) Der am häufigsten bemühte Rettungsversuch besteht in dem Hinweis auf die transzendentalphilosophische Einbettung der Geschichtsphilosophie, die durch die kritische Methode den Dogmatismus der Vorsehungslehre überwinde. Die Argumentationen setzen dabei verschiedene Akzente: Georg Cavallar (1992, 377– 380) bemüht zunächst einen Vergleich mit der Freiheitsantinomie der KrV. Ohne das Argument voll auszuführen, legt er nahe, der scheinbare Widerspruch zwischen Freiheit und Naturteleologie könne ebenso gelöst werden wie der zwischen Freiheit und Naturdeterminismus. Dies ist jedoch nicht überzeugend: Geht es in dem einen Fall um die Vereinbarkeit sich frei Zwecke setzender Subjekte mit einer mechanistisch verstandenen Natur, steht im zweiten Fall die Vereinbarkeit freier Zwecke des Menschen mit einer selbst nach Zwecken
In diese Richtung argumentieren Pauen 1999, 213 f. und 2001, 40; Kleingeld 1995, 65 sowie Gerhardt 1995, 119. So etwa Höffe mit seiner These, die Geschichtsphilosophie Kants würde jeden politischen Willen überflüssig machen: „Die Berufung auf die ‚Künstlerin Natur‘ ist ein Argument der unsichtbaren Hand: (…) die Sache läuft hinter unserm Rücken ab, einen politischen Willen braucht es nicht.“ (Höffe 1995, 275) Damit trifft Höffe eben nur eine Seite der ambivalenten Theorie Kants. Geschichtsphilosophie soll ja zunächst einmal die Möglichkeit sichern, dass ein politischer Wille in der Welt überhaupt etwas austragen kann; wäre der politische Wille nicht den Forderungen der Moral unterworfen, gäbe es auch keine Geschichtsphilosophie. Zugleich lässt die Geschichtsphilosophie den politischen Willen – hier ist Höffe zuzustimmen – auch entbehrlich erscheinen; darin besteht die Aporie, in die Kant gerät.
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handelnden Natur in Frage. Die Problemlage ist daher derart verschiedenartig, dass die Freiheitsantinomie nicht weiterhelfen kann.⁵⁸³ Mehrfach findet sich in der Literatur die Auffassung, der kritische Charakter der Geschichtsphilosophie Kants zeige sich in ihrem regulativen Status. Nichts könne demnach zeigen, dass Geschichte wirklich ein Fortschrittsgeschehen ist; die These sei nur, dass wir sie nicht anders beurteilen können. Kant sei demnach auf keinerlei ontologische Annahmen über die Natur und deren Zweckmäßigkeit festgelegt. Vielmehr handele es sich um „menschliche Konstruktionen“ (Cavallar 1992, 381), die nicht hypostatisiert werden dürften. Die Natur sei deshalb gar nicht als ‚echter‘ Akteur hinter dem Rücken der Subjekte zu verstehen.⁵⁸⁴ Soweit betrachtet leidet die Argumentation daran, dass sie das Problem nicht beseitigt, sondern nur verschiebt: Zwar geht es bei Kant tatsächlich nicht mehr um die Vereinbarkeit zweier ontologischer Instanzen, auf die die theologische Tradition abzielte. Allerdings gilt das Prinzip der Widerspruchsfreiheit natürlich nicht nur für ontologische Behauptungen, sondern ebenso für ‚bloße‘ Beurteilungsweisen. Auch als regulatives Prinzip der reflektierenden Urteilskraft steht die Geschichtsteleologie nicht unangreifbar im luftleeren Raum, sondern kann durchaus zu anderen Prinzipien in Widerspruch stehen. Die referierte Position lässt sich also nur dann zu einem Argument weiterentwickeln, wenn erfolgreich gezeigt wird, dass die Perspektive der Naturteleologie derart von der Perspektive
Diese Ansicht teilt Städtler 2013, 101. Vgl. z. B. Nagl-Docekal 2003, 247 f.; Gerhardt 1995, 112– 114; Rohbeck 2010, 104 und 115. Ähnlich auch Geismann: Es gehe nicht um eine „zum Willenssubjekt hypostatisierte Natur“; die Geschichte habe „nicht etwa selber ein Telos“ (2000, 510). Für Laberge ist der Ausdruck einer „Naturabsicht“ eine bloße „Redeweise“, von der jeder wisse, dass ihr nichts korrespondiere, denn „niemand käme ernsthaft auf die Idee, der Natur Absichten zuzuschreiben“ (2011, 108). An der Stelle, auf die sich Laberge bezieht, heißt es dagegen, dass niemand der Natur „Absicht in eigentlicher Bedeutung des Worts“ (KU X, 333) beilegen wird, wodurch impliziert ist, dass der vermeintlichen „Redeweise“ doch ein bestimmter Gehalt korrespondiert. Gegen Laberge drängt sich nicht zuletzt deshalb die Frage auf, warum Kant die „Redeweise“ allzu ernsthaft verwendet. – Im Anschluss an solche Überlegungen wird häufig die Differenz zwischen Kant und den Geschichtsphilosophien des 19. Jahrhunderts, insbesondere der Hegels, betont; vgl. etwa Hübner 2011, 49; Stangneth 2000, 35 und Kleingeld 1995, 19 sowie 1996, 173. Dagegen wendet sich entschieden Zotta 2000, 192: Wenn wir philosophisch genötigt seien, Geschichte als Fortschritt zu interpretieren, käme das der substantiellen Geschichtsmetaphysik Hegels gleich. Aus dem gleichen Grund weist Städtler Versuche zurück, Kants Begriff der geschichtswirkenden Natur zu „entschärfen“ (2011, 101 f.), indem er als bloße Metapher aufgefasst wird. – Eine gegenläufige Beurteilung findet sich bei Rohbeck (2010, 105): Kant habe den als-ob-Charakter explizit gemacht, doch seien auch alle anderen Geschichtsphilosophien der Aufklärung und des Idealismus, einschließlich der Hegels(!), nur im Sinne solcher als-ob-Beurteilungsweisen zu interpretieren; daher träfen die typischerweise vorgebrachten Vorwürfe nicht zu.
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8 Übergreifende Problemstellungen der Geschichtsphilosophie
des Menschen als moralischen Wesens getrennt werden kann, dass beide Sichtweisen nicht miteinander in Konflikt geraten können. Tatsächlich möchten einige Interpreten Kant durch eine solche Überlegung retten: Als moralisches Wesen betrachte der Mensch die Geschichte als gestaltbar; reflektiere der Mensch dagegen über die Geschichte, interpretiere er Geschichte als einen von der Natur auf ein Ziel hingesteuerten Prozess.⁵⁸⁵ Entsprechend falle auch die Beurteilung des Krieges zweischneidig aus: Auf der einen Seite sei Krieg aus moralischer Perspektive kategorisch verboten; auf der anderen Seite sei Krieg historisch notwendig und diene einer sinnvollen Entwicklung der Menschheit.⁵⁸⁶ Kann eine solche Trennung von Perspektiven, unter denen Subjekte über die Welt urteilen, die Spannung zwischen ihrer Geschichtsmächtigkeit und der Macht der Natur lösen? Städtler hat dies vehement bestritten: Die Subjekte könnten nicht die geschichtsphilosophischen Vorstellungen, die zwangsläufig auch normativer Natur seien, einfach beiseitelegen, sobald es darum gehe, Handlungen moralisch zu beurteilen (vgl. 2011, 96). Vielmehr führe die doppelte Bestimmung des Verhältnisses der Subjekte zur Geschichte zu einem „Widerspruch, an dem sie irre werden müssen“ (2011, 93). Sich selbst derart zugleich als autonom und heteronom bestimmt zu betrachten, kommt für Städtler einer „Schizophrenie“ (2011, 116) gleich.⁵⁸⁷ Es fällt schwer zu beurteilen, ob Städtler mit der Einschätzung richtig liegt, Subjekte könnten prinzipiell nicht zwischen den verschiedenen Perspektiven der Beurteilung hin- und herwechseln, wenn diese zu einander ausschließenden Ergebnissen führen. Mir scheint deshalb eine Zusatzüberlegung angebracht zu sein, um aufzeigen zu können, dass die vorgeschlagene Lösung nicht greifen kann. Dabei kann offen bleiben, ob eine solche Trennung von Perspektiven prinzipiell möglich sein könnte. Kant zielt aber mit der Geschichtsteleologie darauf ab,
Geismann etwa deutet eine solche Perspektiventrennung an: Es gehe Kant bei der Geschichtsteleologie „um die Frage: was darf ich hoffen? – und nur um diese; denn die Frage: was soll ich tun? Hat die Moralphilosophie bereits vollständig beantwortet“ (Geismann 2000, 512). Bei vielen weiteren Interpreten scheinen ähnliche Überlegungen unausgesprochen im Hintergrund zu stehen. Vgl. etwa Cavallar 1995 und Arendt 1985, 72– 74. In eine ähnliche Richtung, aber vorsichtiger argumentiert Siep: Es sei schwer zu sehen, wie die gleiche praktische Vernunft einerseits Krieg verbieten und andererseits Krieg als Mittel zur Beförderung der Kultur gutheißen könne (vgl. 1995a, 264). Siep sieht allerdings einen Wandel nach 1793: Kant habe später nicht mehr vertreten, dass Krieg in seiner Zeit noch zur Entwicklung der Kultur notwendig sei. Selbst wenn Siep mit dieser These Recht hätte (vgl. aber z. B. SF XI, 368), bliebe der Widerspruch zwischen den beiden Beurteilungsweisen für die Vergangenheit weiterhin bestehen – denn wer heute über die Vergangenheit nachdenkt, muss im Krieg etwas zugleich kategorisch Verbotenes und kulturell Notwendiges erblicken.
8.5 ‚Naturabsicht‘ oder ‚göttliche Vorsehung‘?
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substantielle Urteile über den Menschen und sein Verhältnis zur Welt zu rechtfertigen: Die Geschichtsteleologie soll dazu hinreichen, das Menschengeschlecht im Ganzen als liebenswert einschätzen zu können; sie soll dem Menschen Trost spenden und die Welt als eine zum Menschen passende ausweisen. Schließlich soll sie der Rechtfertigung der Natur dienen – sie soll zeigen, dass die Welt, in der wir leben, trotz all ihrer Gräueltaten eine gute Welt ist.Wenn dies aber zur Funktion der Geschichtsphilosophie gehört, ist es mit einer harmlosen Beurteilung ‚als ob‘, die jederzeit zugunsten einer anderen Perspektive beiseitegelegt werden kann, nicht getan. Kant konzipiert Geschichte seinem eigenen Anspruch nach so, dass sie das Weltbild des Menschen als Ganzes betrifft. Hierin liegt in meinen Augen das Argument, in der Beschränkung der Geschichtsphilosophie auf eine bloße Konstruktion und der Trennung verschiedener Perspektiven keine Lösung des Problems der Vereinbarkeit von Vorsehung und Freiheit sehen zu können.
8.5 ‚Naturabsicht‘ oder ‚göttliche Vorsehung‘? Wie sich gezeigt hat, spricht Kant in den geschichtsphilosophischen Schriften nicht ausschließlich von „Natur“ und „Naturabsicht“, um die den Fortschritt verbürgende Instanz zu beschreiben. Immer wieder benutzt er den Ausdruck „Vorsehung“ oder gar „göttliche Vorsehung“. Für die Fragestellung dieser Arbeit ist dieses begriffliche Zusammenspiel von besonderem Interesse: Nicht nur ist der Vorsehungsbegriff, wie in Kapitel 8.2 gezeigt, ein Beleg für historisch vermittelte Strukturanalogien. Warum Kant in die Schwierigkeit gerät, zwischen den beiden Begriffen zu schwanken, ist in meinen Augen von besonderem Interesse, weil es zwei wichtige Problemstellungen aufdeckt: Zum einen geht es um die Frage, inwieweit Kant selbst die Geschichtsphilosophie als ein religionsphilosophisches Projekt betrachten müsste, das in enger Verbindung zu seinem Gottesbegriff steht. Zum anderen verweist die Unterscheidung von Natur und Vorsehung m. E. auf einen spannungsreichen Aspekt des Theodizeeproblems und spiegelt insofern ein grundlegendes Problem der kantischen Geschichtsphilosophie wider. Blickt man etwas genauer auf die einschlägigen Textpassagen, zeigt sich ein komplexes Bild: Kant scheint teilweise die Identität beider Begriffe zu unterstellen, teilweise den Begriff der Vorsehung vorzuziehen, überwiegend jedoch den Begriff der Natur für den angemesseneren zu halten. Die Identitätsthese wird in der KrV nahegelegt: Dort heißt es, es müsse „völlig einerlei sein, zu sagen: Gott hat es weislich so gewollt, oder die Natur hat es also weislich geordnet“ (KrV B727 = IV, 602). Der Kontext der Stelle zeigt aber, dass es Kant hier weniger darum geht, für eine Identität von Gott und Natur zu argumentieren. Auf den Gottesbegriff kommt er nur deshalb zu sprechen, weil dieser in
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den gängigen Debatten Verwendung gefunden hat. Kant unterstellt sogar, „Philosophen aller Zeiten“ hätten „von der Weisheit und Vorsorge der Natur, und der göttlichen Weisheit, als gleichbedeutenden Ausdrücken“ (KrV B729 = IV, 604) geredet. Er möchte diese traditionelle Verwendung des Gottesbegriffs zulassen („Ja, das könnt ihr auch tun“; KrV B727 = IV, 602), weist aber zugleich darauf hin, dass sich jeder, der den Begriff mit Blick auf die zweckmäßig geordnete Welt verwendet, darüber klar sein sollte, dass sich der Begriff hier nicht auf einen moralischen Welturheber, sondern nur auf eine verständige Instanz bezieht, die prinzipiell auch als innerweltliche gedacht werden kann. Kants Mahnung ist damit eine asymmetrische: Wer den Gottesbegriff verwendet, muss sich darüber bewusst sein, dass man auch ‚Natur‘ sagen kann; wer dagegen den Ausdruck ‚Natur‘ verwendet, macht von vornherein alles richtig.⁵⁸⁸ Zu dieser Interpretation der KrV passt die in der Friedensschrift vorgebrachte These, der Gebrauch des Begriffs „Natur“ sei „schicklicher für die Schranken der menschlichen Vernunft“ (ZeF XI, 219). Auch hier findet sich eine gewisse begriffliche Ineinssetzung von Natur und Vorsehung, denn „die große Künstlerin Natur“ werde unter bestimmten Umständen „Vorsehung genannt“ (ZeF XI, 217). Wie in der KrV ist der Vorsehungsbegriff nichts weiter als eine zusätzliche Bezeichnungsweise für das, worum es eigentlich geht, nämlich die zweckhaft handelnde Natur.⁵⁸⁹ Zwischen Vorsehung und Natur gibt es demnach keine inhaltliche Differenz; fraglich bleibt nur, welcher der beiden Begriffe für die Bezeichnung des unstrittigen Inhalts eher benutzt werden sollte. Und hier kommt dem Begriff der Natur der Vorteil zu, dass er nicht unnötig Konnotationen mit sich bringt, die den Bereich möglicher Erfahrung übersteigen. Einsicht in die göttliche Vorsehung zu haben, ist ein starker Anspruch, mit dem man sich „vermessenerweise“ – und, wie zu ergänzen wäre: unnötigerweise – „ikarische Flügel ansetzt, um dem Geheimnis ihrer unergründlichen Absicht näher zu kommen“ (ZeF XI, 219). Eine Einsicht in die Wirkweisen der Natur erlangen zu können, klingt demgegenüber „bescheidener“ (ZeF XI, 219).
Entsprechend begrüßt es Kant wenig später, dass der Begriff der Natur unter Fachphilosophen häufig vorgezogen werde (vgl. KrV B729 = IV, 604). Anders etwa Despland, der betont, dass Kant den Vorsehungsbegriff nach 1790 dezidiert theistisch intendiert hat. „Kant could not find anywhere else than in God the metaphysical guarantee that culture is not a sham or is not doomed to a tragic failure. Nature herself cannot provide a guarantee for something that transcends it, and this remains true no matter what metaphysical meaning is given to ‚Nature‘.“ (Despland 1973, 93) Dass Despland damit ein tatsächlich vorhandenes Sachproblem benennt, wird sich in meiner Analyse noch bestätigen. Als Textinterpretation der einschlägigen Stellen scheint mir seine Auffassung aber fehl zu gehen.
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Es fällt auf, dass Kant einschränkt: Nur hier, wo es „bloß um Theorie (nicht um Religion) zu tun ist“ (ZeF XI, 219), sei der Ausdruck Natur schicklicher. Der Gegensatz Theorie – Religion ist nicht einfach nachzuvollziehen: Im Satz vorher wird noch klargestellt, dass Geschichtsphilosophie nur für die praktische, nicht für die theoretische Vernunft Gültigkeit erlange. Offenbar bezieht sich die „Theorie“ deshalb nicht auf die theoretische Vernunft, sondern auf die theoretische Arbeit des Philosophen überhaupt. Trifft dies zu, kann mit „Religion“ nicht die Vernunftreligion der praktischen Philosophie gemeint sein – diese wäre ja ein Teil der Theorie –, sondern nur das empirische Phänomen des Kirchenglaubens.⁵⁹⁰ Passend zu der Passage aus der KrV scheint Kant also sagen zu wollen: Innerhalb des religiösen Weltbildes des durchschnittlich gebildeten Bürgers ist die Vorstellung einer göttlichen Vorsehung durchaus akzeptabel. Wer dagegen Philosophie treibt, sollte besser von der Natur sprechen.⁵⁹¹ Diesem soweit halbwegs konsistent rekonstruierbaren Befund steht nun nicht nur entgegen, dass Kant den Vorsehungsbegriff selber immer wieder verwendet. Es finden sich sogar zwei Stellen, an denen er den Ausdruck „Vorsehung“ nicht nur verwendet, sondern ganz explizit vorzieht. So heißt es in IaG, eine „solche Rechtfertigung der Natur – oder besser der Vorsehung – ist kein unwichtiger Bewegungsgrund, einen besonderen Gesichtspunkt der Weltbetrachtung zu wählen“ (IaG XI, 49; Hervorhebung von mir). Und im Gemeinspruch schreibt Kant, „von ihr [gemeint ist die Natur; MH], oder vielmehr (weil höchste Weisheit zu Vollendung dieses Zwecks erfordert wird) von der Vorsehung allein“ (TP XI, 169; Hervorhebung von mir) sei ein erfolgreicher Fortschritt zu erwarten. Auch der Streit der Fakultäten kann als eine bewusste Entscheidung für den Vorsehungsund gegen den Naturbegriff gelesen werden: Fortschritt sei von einer „Weisheit von oben herab (welche, wenn sie unsichtbar ist,⁵⁹² Vorsehung heißt)“ (SF XI, 367) zu erwarten.⁵⁹³
Diese Interpretation wird von der Beobachtung gestützt, dass Kant später explizit den Begriff „Religion“ für historische Religionsgemeinschaften verwendet; vgl. ZeF XI, 225. So lässt sich auch die Formulierung verstehen, die große Künstlerin Natur werde unter bestimmten Umständen Vorsehung genannt (ZeF XI, 217): Das, was landläufig Vorsehung genannt wird, möchte Kant mit dem Begriff der Künstlerin Natur philosophisch rekonstruieren. Dies ist eine ganz merkwürdige Einschränkung: Jede Weisheit ist unsichtbar; auch die Weisheit der Natur oder des „Kunstverstands“ wäre natürlich kein Gegenstand möglicher Erfahrung. Auch in EaD wird der Vorsehungsbegriff vorgezogen, doch steht er hier in Abgrenzung zur bloß mechanisch-kausal bestimmten Natur: Der Erfolg aus den zum besten Endzweck gewählten Mitteln bleibe, „wie er nach dem Laufe der Natur ausfallen dürfte, immer ungewiß“, er sei daher „der Vorsehung zu überlassen“ (EaD XI, 186).
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Wie ist mit dieser Beobachtung umzugehen? In der Literatur wird die schwankende Terminologie meist beiseitegeschoben, indem eine der Äußerungen Kants absolut gesetzt wird, sodass die jeweils anderen als Ausrutscher präsentiert werden – die Interpreten entscheiden sich dann entweder für die Natur oder für die Vorsehung als Kants eigentlichem Ausdruck für die den Fortschritt gewährleistende Instanz.⁵⁹⁴ Sofern von den Interpreten der Begriff der Natur vorgezogen wird, geht damit zuweilen die These einher, Kant habe mit dem Begriff der Naturabsicht eine Säkularisierung der Vorsehungstheologie vollzogen: Aus der transzendenten Vorsehungsidee werde eine immanente Vorstellung der zweckmäßig geordneten Welt.⁵⁹⁵ Manchmal wird dagegen der Versuch unternommen, die wechselnde Begrifflichkeit chronologisch aufzulösen: Je älter Kant wurde, desto eher wollte er demnach auf den metaphysischen Terminus der göttlichen Vorsehung verzichten. Dies lässt sich aber weder am Text belegen (der Begriff der Vorsehung findet sich noch 1798 im Streit der Fakultäten), noch wäre die Behauptung sachlich plausibel, denn Kants Abneigung gegenüber der theologischen Metaphysik besteht schon mit der KrV. Am ausführlichsten hat sich bislang Pauline Kleingeld (2001) mit der Thematik auseinandergesetzt. Sie meint ein eindeutiges Prinzip gefunden zu haben, das Kant im Einzelfall bei der Wahl des einen bzw. des anderen Terminus geleitet habe. Demnach habe Kant im Kontext der Rechtfertigung der Geschichtsteleologie durch die theoretische Vernunft von ‚Natur‘ gesprochen und sich damit auf ein regulatives Ideal bezogen; wenn aber die praktische Vernunft betont werden soll, sei er zum Ausdruck ‚Vorsehung‘ übergegangen, der seinem Status nach mit einem praktischen Postulat gleichzusetzen sei. An der Position von Kleingeld scheint mir soweit richtig zu sein, dass die Gewährsinstanz des Fortschritts Aspekte der theoretischen und der praktischen Vernunft in sich vereinigt. Das teleologische Prinzip wird in der KrV, in der IaG wie auch in der KU im Bereich der theoretischen Vernunft entwickelt, in seiner
Stangneth 2000, 35 f. folgt unter Berufung auf die KrV der Identitätsthese; zum gleichen Ergebnis gelangt Bohatec 1938, allerdings mit Bezug auf ZeF XI, 219; Cavallar 1993, 96 zieht unter Berufung auf IaG den Begriff der Vorsehung vor; Geismann 2000, 510 f. und Eberl/Niesen 2011, 270 versuchen entschieden zu zeigen, dass Kant eigentlich nur von der Natur und nicht von der Vorsehung sprechen wollte; auch Pauen 1999, 213 und Gerhardt 1995, 114 halten den Naturbegriff für Kants ‚eigentliche‘ Bezeichnung. – Die sprachliche Ambivalenz Kants betonen dagegen Kersting und Honneth mit den Ausdrücken eines „Zwitters von Vorsehung und Natur“ (Kersting 1993, 86) bzw. einer „natürlichen Vorsehung“ (Honneth 2004, 95). Vgl. Pauen 1999, 213. Diese Interpretation liegt voll auf der Linie des soeben vorgestellten Interpretationsansatzes, der landläufige Begriff der Vorsehung solle philosophisch mit dem Begriff einer zweckmäßigen Natur rekonstruiert werden. Allerdings kann sie nicht erklären, weshalb Kant selbst immer wieder von Vorsehung spricht.
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Anwendung auf die Geschichtsphilosophie aber ganz offensichtlich um eine praktische Dimension erweitert. Man kann im Hintergrund dieser beiden Perspektiven die Unterscheidung von Physikotheologie und Ethikotheologie sehen, die Kant in der Methodenlehre der KU trifft: Die zweckmäßig gedeutete Natur lässt lediglich auf Naturzwecke schließen, also auf die „große Künstlerin Natur“ (ZeF XI, 217) als einem „Kunstverstand“ (KU X, 401), nicht aber auf einen moralischen Welturheber. Die personifizierte Natur, deren Annahme die Teleologie der theoretischen Vernunft nötig macht, hat demnach zwar einen Verstand, aber keine Vernunft. Mehr erfordert die Teleologie nicht; zu einer weitergehenden Qualifikation des teleologischen Prinzips sind wir daher nicht berechtigt.⁵⁹⁶ Wie gesagt, geht Geschichtsphilosophie aber über dieses teleologische Prinzip der theoretischen Vernunft hinaus. Die Annahme, dass die Natur dem Sittengesetz gemäß eingerichtet ist, erfordert mehr als eine verständige Natur; sie führt auf den Begriff der göttlichen Vorsehung als einer moralischen Instanz. Entsprechend heißt es etwa im Gemeinspruch, man müsse deshalb „vielmehr“ von der Vorsehung sprechen, „weil höchste Weisheit zu Vollendung dieses Zwecks erfordert wird“ (TP XI, 169), womit offensichtlich eine moralische Weisheit⁵⁹⁷ gemeint ist.⁵⁹⁸ In Kleingelds Deutung würde Kant je nachdem, ob er Geschichtsphilosophie gerade als theoretisches oder als praktisches Projekt betreibt, den Begriff der Natur oder den Begriff der Vorsehung wählen. Wie Kleingeld (2001, 214) jedoch selbst feststellt, lässt sich diese Behauptung für Kants Texte nicht ausnahmslos aufrechterhalten. Kant schwankt nämlich auch innerhalb des praktischen Kontexts zwischen den beiden Begriffen. Die bekannteste Stelle findet sich mit der bereits zitierten Bescheidenheits- bzw. Vermessenheitsbehauptung in der Frie-
Insofern ist es überraschend, dass Kant in der KU unvermittelt von der „obersten Weisheit“ (KU X, 391) spricht, welche über den Kunstverstand hinauszugehen scheint. Der Begriff der Weisheit taucht bei Kant, wie er selbst klarstellt, in verschiedener Bedeutung auf: Einmal als Kunstweisheit eines bloß verständigen Welturhebers, einmal als moralische Weisheit des Schöpfergottes (vgl. MpVT XI, 106). Wenn Kant der Natur Weisheit beimisst, ist in der Regel wohl Kunstweisheit gemeint. Da hier von „höchster Weisheit“ die Rede ist, geht es jedoch um moralische Weisheit. Diese These Kants scheint in der Anthropologie aber wieder zurückgenommen zu werden: Dort heißt es, mit Vorsehung sei dieselbe Weisheit gemeint, die für die Erhaltung der Gewächse und Tiere angenommen wird – dann wäre die Vorsehung aber nicht moralisch qualifiziert. – Kleingeld (2001, 218) verweist neben der zitierten Stelle aus dem Gemeinspruch auf die oben bereits genannte Stelle der Friedensschrift, in der der Vorsehungsbegriff als unangemessen dargestellt wird, wenn es „bloß um Theorie“ geht. Dies interpretiert sie so, dass der Vorsehungsbegriff für die theoretische Vernunft überschwänglich, für die praktische aber angemessen sei. Ich habe bereits dafür argumentiert, dass eine andere Lesart der Stelle vorzuziehen ist.
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densschrift. Auch diese Argumentation bezieht sich eindeutig auf die Unterscheidung von Physiko- und Ethikotheologie in der KU, ⁵⁹⁹ jedoch kommt Kant zu einem erstaunlichen Ergebnis: Die Argumentation der KU, die Physikotheologie führe nicht zum Gottesbegriff, sondern nur zum Begriff einer personifizierten und handlungsfähigen Natur, wird ausgerechnet im Kontext einer rein praktischen Rechtfertigung der Fortschrittshoffnung wiederholt. Kleingeld möchte ihre Theorie retten, indem sie ein zweites Prinzip ergänzt: Kant habe innerhalb des praktischen Kontexts immer dann von ‚Natur‘ gesprochen, wenn er sich auf das Ordnungsprinzip bezieht, welches die konkreten Ereignisse zu einem teleologischen Zusammenhang verbindet; dagegen habe er den Begriff ‚Vorsehung‘ verwendet, wenn es um den Grund dieser Ordnung geht (vgl. Kleingeld 2001, 214– 218). Die einzelnen Vorkommnisse würden gedanklich durch den Begriff der Natur teleologisch verknüpft, um keine übernatürlichen Instanzen als Erklärung für natürliche Ereignisse geben zu müssen; der dahinterliegende Grund der teleologisch verfassten Weltordnung sei aber die göttliche Vorsehung („Providence as the Cause of the Order in Nature“, 214).⁶⁰⁰ Tatsächlich lässt sich, wie Kant in der KU andeutet, als Ergänzung der Naturteleologie die Frage stellen, wozu Natur überhaupt da sei; diese Frage führt notwendig auf die Idee eines Weltschöpfers, der vermittelt über den moralischen Endzweck theistisch zu interpretieren ist.⁶⁰¹ Aber die damit angesprochene Differenz zwischen Natur und Schöpfergott kann nicht mit der Differenz von Natur und Vorsehung zusammenfallen: Natur und Vorsehung sind, wie oben gezeigt wurde, verschiedene Ausdrücke für dieselbe Entität; sie können sich nicht wie
Kant verwendet in der Friedensschrift sogar das gleiche Vokabular wie in der KU: Einsicht in die göttliche Weisheit sei „vermessen“ (KU X, 333); die Rede von Zwecken der Natur dagegen „schicklicher“ und „bescheiden“ (KU X, 331). Alle drei Ausdrücke fallen auch in ZeF XI, 219. Eine relativ ähnliche Sicht vertritt Laberge 2011, 110: Zwar könnten wir nur Einsicht in die Absichten der Natur haben, nicht in die Einsichten der Vorsehung. Wir könnten aber dennoch davon ausgehen, dass die Vorsehung die Natur zum Guten lenkt: So wie die Natur die Menschen ohne ihr Wissen für ihre eigenen Zwecke gebrauche, verwende wiederum die Vorsehung die Natur für ihre moralischen Zwecke. Auch bei Laberge ist damit die Vorsehung ein noch hinter der Natur liegendes Prinzip, welches diese reguliert. Wenn mit dieser Überlegung der epistemischen Unmöglichkeit der Einsicht in göttliche Zwecke Rechnung getragen werden soll, wie Laberge vorgibt, handelt es sich freilich nur um einen faulen Trick: Was über die Vorsehung gesagt werden soll, wird der Natur zugeschrieben, aber letztlich der Vorsehung zugerechnet. Vgl. KU §84 und Kapitel 6.2. Sinngemäß wird die Differenz zwischen Natur und dem Schöpfer der Natur auch in SF XI, 362 zum Ausdruck gebracht: „Denn für die Allgewalt der Natur, oder vielmehr ihrer uns unerreichbaren obersten Ursache, ist der Mensch wiederum nur eine Kleinigkeit.“
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Ordnung und Grund der Ordnung als Kategorien verschiedener Stufen zueinander verhalten.⁶⁰² Kleingeld könnte dennoch damit Recht haben, dass der Bezug auf den hinter der Natur liegenden Schöpfer für Kant entscheidend ist, zuweilen den Vorsehungsbegriff vorzuziehen: Statt die Vorsehung vorschnell mit dem göttlichen Grund zu identifizieren, könnte sie der geeignete Ausdruck für die ordnungsstiftende Instanz sein, sobald eine Rolle spielt, dass die Ordnung letztlich auf Gott zurückgeht. Demnach kann man, obwohl die Ordnung in der Welt im Normalfall auf die Naturabsicht zurückzuführen ist, immer dann von Vorsehung sprechen, wenn betont werden soll, dass die Natur selbst und die in ihr erkennbare Ordnung einem göttlichen Grund entstammen. Ein klares Prinzip, wie es Kleingeld sucht, wäre damit sicherlich noch nicht gewonnen, denn es geht ja mehr um sprachliche Betonungen als um inhaltliche Differenzen. Dies passt dazu, dass Kant die beiden Begriffe eher abwägt, als dass er sich im Einzelfall eindeutig für einen der beiden entscheiden würde, wie die verwendeten Komparative zeigen: „vielmehr“, „besser“, „schicklicher“. Aber immerhin wäre eine Erklärung gefunden, weshalb Kant so uneindeutig bleibt. Das philosophische Problem scheint mir dadurch jedoch noch nicht ausgeräumt zu sein. Denn wenn jederzeit vorausgesetzt werden darf, dass sich hinter der Natur ein Schöpfer verbirgt, warum sollte es dann „schicklicher“ sein, von Natur zu reden? Sollte im Gegenteil Kant nicht innerhalb der praktisch-philosophischen Behandlung der Geschichtsphilosophie bewusst offenlegen, dass er über die Idee einer moralfreien Naturabsicht hinausgehen muss? Es ist unerklärlich, dass Kant in der Friedensschrift just dort den Naturbegriff favorisiert, wo er gerade auf die Notwendigkeit der Einbeziehung praktischer Vernunft verwiesen hat. Wenn es aber für die Geschichtsphilosophie tatsächlich aus irgendwelchen Gründen schicklicher sein sollte, bei dem immanenten Begriff der Natur zu bleiben, warum dann doch immer wieder der Bezug auf die Vorsehung? Statt zu versuchen, die widersprüchlich anmutende Begrifflichkeit Kants durch das Ausmachen spitzfindiger Prinzipien aufzulösen, scheint es mir deshalb
Dies beweist auch die von Kleingeld angeführte Stelle aus der Friedensschrift: Die Natur werde „als tiefliegende Weisheit einer höheren […] Ursache“ (ZeF XI, 217) Vorsehung genannt – Natur und Vorsehung sind daher gleichermaßen von einer höheren Ursache abhängig. Kleingeld missversteht den Satz in mehreren Hinsichten: Sie spricht in einem indirekten Zitat davon, die Natur werde „as caused by a higher wisdom“ (2001, 218) betrachtet, obwohl bei Kant nur von einer höheren Ursache die Rede ist, die Natur und Vorsehung gleichermaßen betrifft; und aus der deskriptiven, im Passiv gehaltenen Feststellung Kants, unter bestimmten Umständen werde die Künstlerin Natur Vorsehung genannt, macht Kleingeld, der Vorsehungsbegriff sei unter diesen Umständen „more suitable“ (2001, 218).
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angemessener zu sein der Frage nachzugehen, ob sich nicht hinter der sprachlichen Erscheinung des Schwankens zwischen den beiden Begriffen Sachprobleme ausfindig machen, die Kant zu verdecken sucht. Ich vermute, dass sich sogar mehrere Problemkreise ausmachen lassen, die unmittelbar mit dem begrifflichen Schwanken zusammenhängen: Ein großer Problemkreis scheint die durch Spinozas Deus sive natura ausgelöste Atheismus-Debatte zu sein, in deren Folge sowohl der Naturbegriff theistisch interpretiert worden ist⁶⁰³ als auch der Vorsehungsbegriff eine breite ‚säkulare‘ Verwendung erfahren hat⁶⁰⁴. Kant führt die mehrdeutig gewordenen Begrifflichkeiten fort und muss sich damit nicht eindeutig auf eine Seite innerhalb der Debatte schlagen. Ein weiterer Problemkreis dürfte in Kants gleichzeitiger Weiterführung und Revision des traditionellen Gedankenguts zu suchen sein: Kant möchte die Vorsehungstheologie funktional weiterführen; zugleich möchte er dafür einen erkenntnistheoretisch abgesicherten Boden bereiten. Dies führt zu einem ständigen Oszillieren zwischen Bescheidenheit und Überschwang, welches sich auch begrifflich niederschlägt. Die Zurückweisung des „vermessenen“ Vorsehungsbegriffs soll offenbar mit Nachdruck eine Differenz zur Vorsehungstheologie markieren, die möglicherweise nur marginal ist. Laut Kant können wir keine Einsicht in göttliche Zwecke haben und sollen daher Zurückhaltung üben; wir dürfen aber gleichzeitig genau das, was traditionell als göttliche Zwecke angesehen wurde, der von Gott geschaffenen (!) Natur zusprechen. Ich kann nicht sehen, dass Kant damit erkenntnistheoretisch tatsächlich einen Vorteil gegenüber der Tradition errungen hat. Der dritte Problemkreis betrifft die Architektonik des kantischen Systems: Die theoretische Vernunft entwirft das regulative Ideal eines Kunstverstands, der zugleich als Schöpfer der physischen Welt gedacht wird (vgl. etwa KrV B699 = IV, 583); die praktische Vernunft kommt zum Begriff eines moralischen Welturhebers. Geschichtsphilosophie übernimmt,wie gezeigt, Aspekte der theoretischen und der praktischen Vernunft. Doch kann Kant ohne weiteres das, was er sorgfältig auseinandergehalten hat, in der Geschichtsphilosophie problemlos zusammenbringen? Sollen die beiden Prinzipien nebeneinander stehenbleiben, oder möchte Kant sie in einem ‚letzten‘, absoluten Prinzip zusammendenken? Erstaunlicherweise setzt sich Kant mit diesen Fragen kaum auseinander. Die einzige mir bekannte Äußerung verbleibt in einer skeptischen Haltung, die gleichwohl zeigt, dass sich Bohatec meint deshalb, auch bei Kant sei der Naturbegriff „theistisch mit dem weisen Schöpfer identifiziert“ (1938, 492) worden. Vgl. die interessanten Hinweise auf die Debatte um den Vorsehungsbegriff im 18. Jahrhundert bei Sommer 2006, 382 ff.
8.6 Geschichte und Theodizee
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Kant mit dem unverbundenen Nebeneinander beider Prinzipien schwer tut: „Aber von der Einheit in der Zusammenstimmung jener Kunstweisheit mit der moralischen Weisheit in einer Sinnenwelt haben wir keinen Begriff; und können auch zu demselben nie zu gelangen hoffen.“⁶⁰⁵ (MpVT XI, 115). Auf dieses Problem wird in Kapitel 9.3 noch einzugehen sein. Der letzte und entscheidende Problemkreis, auf den Kants Schwanken zwischen Natur und Vorsehung verweist, scheint mir aber im Theodizeeproblem zu liegen: Natur und Vorsehung können nicht im selben Sinn herangezogen werden, um die Übel der Welt zu rechtfertigen. Dies soll im Folgenden vor dem allgemeineren Hintergrund einer Spannung zwischen Kants Geschichtsphilosophie und seiner Antwort auf die Theodizeefrage ausführlicher aufgezeigt werden.
8.6 Geschichte und Theodizee Kant widmet dem Theodizeeproblem 1791 eine eigene kleine Schrift. Doch wer sich für Kants Haltung zur Theodizeefrage interessiert, stößt dort zunächst einmal auf jede Menge Interpretationsschwierigkeiten.⁶⁰⁶ Rätselhaft ist bereits, weshalb Kant unter dem Titel „Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee“ (Hervorhebung von mir) genau dessen Gegenteil zu beweisen sucht: die endgültige Beseitigung der Theodizeefrage aus dem Argumentationskanon des Religionskritikers.⁶⁰⁷ Kant verwirft nämlich die sogenannte „doktrinale“, spekulativ-metaphysisch argumentierende Theodizee nur, um gleichzeitig eine „authentische“ Theodizee einzuführen. Letztere gehöre zwar nicht mehr zur „eigentliche[n] Theodizee“ (MpVT XI, 116), wie Kant sich ausdrückt, verbietet aber jeden weiteren Zweifel an der moralischen Weisheit Gottes. Merkwürdig ist weiterhin, warum Kant während der Auseinandersetzung mit den einzelnen Argumenten der Theodizee-Debatte mehrfach Thesen verwirft, die er andernorts ausdrücklich vertritt – die Annahme einer ausgleichenden Gerechtigkeit in einem Leben nach dem Tod nennt er etwa eine „willkürlich[e]“ Voraussetzung (MpVT XI, Folgt man Dieringer (2009, 114– 117), sagt auch diese Stelle nicht allzu viel über das Verhältnis von Kunstverstand und moralischem Welturheber aus: Laut Dieringer gehe es lediglich darum, dass gegen die Existenz des moralischen Welturhebers keine empirischen Argumente vorgebracht werden könnten; dagegen sei die Annahme des Kunstverstands empirisch, nämlich durch die Existenz organisierter Wesen, gerechtfertigt. Im Gegensatz dazu folgert Despland aus der zitierten Stelle: „We must postulate the unity of artistic wisdom and moral wisdom in the Creator of the world […].“ (1973, 94; meine Hervorhebung) Vgl. zum Folgenden auch Hoesch 2011. Brachtendorf 2002 stellt deshalb die provokante These auf, Kant ginge es gar nicht um eine Theodizee-Kritik, sondern um die „Bedingungen des Gelingens philosophischer Theodizee“.
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113), und auch die sonst⁶⁰⁸ von ihm unterstützte Behauptung, am malum morale sei nicht Gott, sondern der Mensch schuld, lässt er nicht gelten (vgl. MpVT XI, 109 f.). Ungeachtet dieser und weiterer Interpretationsschwierigkeiten⁶⁰⁹ stellt sich die Grundstruktur der kantischen Behandlung der Theodizeefrage jedenfalls wie folgt dar: Theodizee wird als Verteidigung Gottes gegen die Anklage bestimmt, die die Vernunft aus dem Zweckwidrigen in der Welt gegen Gott erhebt (vgl. MpVT XI, 105). Die (vermeintlichen) Zweckwidrigkeiten in der Welt sind dabei dreierlei Art: (1) Das schlechthin Zweckwidrige, d. i. das Zweckwidrige,welches weder als Zweck noch auch nur als Mittel zu anderen Zwecken gewollt werden darf; Kant bezieht sich hiermit auf das moralisch Böse. (2) Das bedingt Zweckwidrige, das zwar nicht als Zweck, aber doch als Mittel zu anderen (höheren) Zwecken gewollt werden darf, nämlich Schmerz und Leid. (3) Das Auseinanderfallen von Moralität und Glückseligkeit, in dem Elemente aus (1) und (2) vereinigt werden. Auch (3) ist als schlechthin Zweckwidriges anzusehen: Zwar wäre das temporäre Auseinanderfallen von Glück und Moralität innerhalb eines Lebens als Mittel zur persönlichen Weiterentwicklung denkbar – in diesem Sinn spricht Kant etwa davon, dass Leid als „Wetzstein der Tugend“ (MpVT XI, 112) dienen kann. Aber es darf nicht als Mittel zu anderen Zwecken gewollt werden, dass ein Leben im Gesamten von einer Disproportion von Glück und Moral geprägt ist. Der Vertreter der doktrinalen Theodizee kann zu jeder dieser drei Arten des Zweckwidrigen wiederum drei Strategien einschlagen, indem er zeigt, „daß das,was wir in der Welt als zweckwidrig beurteilen, es nicht sei; oder: daß,wenn es auch dergleichen wäre, es doch gar nicht als Faktum, sondern als unvermeidliche Folge aus der Natur der Dinge beurteilt werden müsse; oder endlich: daß es wenigstens nicht als Faktum des höchsten Urhebers aller Dinge, sondern bloß […] der Menschen […] angesehen werden müsse“ (MpVT XI, 105).
Nach dieser Bestimmung besteht eine der drei wesentlichen Strategien der Theodizee darin zu zeigen, dass etwas vermeintlich Zweckwidriges doch nicht zweckwidrig ist. Ohne genauer auf die einzelnen Argumente der Theodizeeschrift einzugehen, kann festgehalten werden, dass Kants Antwort eindeutig ausfällt: Alle solchen Versuche müssen scheitern. Insbesondere für das moralisch Böse gilt: Es darf weder in seiner Zweckwidrigkeit bestritten noch als Mittel zu irgendeinem weiteren Zweck gerechtfertigt werden.
Siehe etwa die Zitate aus MAM unten. Zu den Kontroversen um die Theodizeeschrift vgl. etwa Dieringer 2009, 17– 22 und 121 f. sowie die dort genannte Literatur.
8.6 Geschichte und Theodizee
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Kants eigene Lösung der Theodizeefrage macht seine Ablehnung der doktrinalen Theodizee noch deutlicher. Kant möchte – ganz auf der Linie seiner Kritik an jeder spekulativen Metaphysik – ausschließen, dass Theodizee ein Projekt sein kann, das die theoretische Vernunft mit dem Ziel der Einsicht in göttliche Zwecke führt. Gottes Wege bleiben für den Menschen unerforschlich; Kant lässt deshalb den Hiob gestehen, „unweislich über Dinge abgesprochen zu haben, die ihm zu hoch sind, und die er nicht versteht“ (MpVT XI, 118). In diesem Sinne schreibt Kant gegen Ende der Schrift: „Die Theodizee hat es, wie hier gezeigt worden, nicht sowohl mit einer Aufgabe zum Vorteil der Wissenschaft, als vielmehr mit einer Glaubenssache zu tun.“ (MpVT XI, 119) Wenn Kant hier vom „Glauben“ spricht, so darf das freilich nicht als vernunftkritischer Fideismus gelesen werden,⁶¹⁰ sondern bezieht sich auf Kants Konzept des Vernunftglaubens. Die somit ins Spiel gebrachte praktische Vernunft scheint in der Theodizeeschrift meines Erachtens⁶¹¹ mit dem Theodizeeproblem in ganz anderer Weise umzugehen, als es die theoretische Vernunft versuchen konnte: Statt sich überhaupt auf die drei Anklagepunkte einzulassen, die gegen die göttliche Weisheit vorgebracht werden, weist die praktische Vernunft die Anklage „durch einen Machtspruch der Unstatthaftigkeit des Gerichtshofs der menschlichen Vernunft“ (MpVT XI, 105) ab.⁶¹² Den Streit durch einen „Machtspruch“ aufzulösen heißt gerade, kein gewöhnliches Urteil zu fällen, sondern den Wunsch nach einem solchen Urteil zurückzuweisen.⁶¹³ Immerhin (und etwas überraschend) meint Kant noch dafür argumentieren zu können, dass trotz des nicht abstreitbaren Vorhandenseins von Zweckwidrigkeiten in der Welt die Existenz Gottes logisch
So aber Schulte 1991, 392 und Cavallar 1993, 102; vgl. dagegen Brachtendorf 2002, 65. Anders etwa Brachtendorf, nach dessen Interpretation Kant behauptet, „daß Theodizee dann möglich ist, wenn sie auf dem Boden der kritischen Philosophie durchgeführt wird. Denn dann lassen sich alle genannten Zweckwidrigkeiten durchaus mit der moralischen Weisheit Gottes versöhnen.“ (2002, 73) Die zitierte Formulierung wird in der Regel als eine Sicht gelesen, die Kant gleich zu Beginn der Schrift vehement zurückweist. Dass ich in dieser Formulierung dagegen Kants eigene Lösung des Theodizeeproblems wiedererkenne, liegt erstens an der inhaltlichen Entsprechung zu dem, was Kant später über seine authentische Theodizee sagt, zweitens an dem hier und dort verwendeten Begriff des „Machtspruchs“ (vgl. MpVT XI, 116), und drittens an der Aussage, der Verfasser einer Theodizee willige ein, dass die besagte Anklage vor dem Gerichtshof der Vernunft zulässig sei (vgl. MpVT XI, 105) – genau das möchte Kant ja bestreiten. Vgl. Kants Erläuterung des „Machtspruches“ als eines Majestätsrechts in RL VIII, 457. Dieringer geht deshalb fehl, wenn er den Machtspruch als „Grundsatzurteil“ bezeichnet, das Kant vom „Richterstuhl der Vernunft“ aus verkündet habe; vgl. Dieringer 2009, 93 und 98.
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möglich bleibt (vgl. MpVT XI, 114). Das moralische Subjekt dürfe und müsse deshalb am Vernunftglauben festhalten.⁶¹⁴ Blickt man auf die Struktur der kantischen Geschichtsphilosophie, wie sie in den voranstehenden Kapiteln entwickelt wurde, zeigt sich, dass diese der Zurückweisung des Anspruchs, Gott durch den Verweis auf die Zweckmäßigkeit des scheinbar Zweckwidrigen zu rechtfertigen, deutlich entgegensteht: Ein wesentlicher Zug der Geschichtsphilosophie besteht gerade darin, Missstände der Gegenwart durch ihre Ausrichtung auf ein höheres, künftiges Gut als sinnvoll zu erweisen. Aufgabe der Geschichtsteleologie sei es ausdrücklich, in dem „widersinnigen Gange menschlicher Dinge“ doch noch einen vernünftigen „Plan“ (IaG XI, 34) aufzufinden, also das Zweckwidrige zweckmäßig zu denken. Dass Kants Geschichtsphilosophie einen sachlichen Bezug zur Theodizeefrage aufweist, dürfte somit bereits klar geworden sein. Kant stellt diesen Bezug aber auch selbst ausdrücklich her, und zwar – sieht man vom vorkritischen Werk, unveröffentlichten Textstücken und Vorlesungsmitschriften ab – an drei Stellen. Erstmals greift Kant die Thematik in IaG auf. Der dort von Kant vorgeschlagene Leitfaden zur Interpretation der Geschichte könne „eine tröstende Aussicht in die Zukunft eröffne[n], in welcher die Menschengattung in weiter Ferne vorgestellt wird, wie sie sich endlich doch zu dem Zustande empor arbeitet, in welchem alle Keime, die die Natur in sie legte, vollständig entwickelt und ihre Bestimmung hier auf Erden kann erfüllet werden. Eine solche Rechtfertigung der Natur – oder besser der Vorsehung – ist kein unwichtiger Bewegungsgrund, einen besonderen Gesichtspunkt der Weltbetrachtung zu wählen.“ (IaG XI, 49)
Was Kant hier durchführt, kommt dem gleich, was er in der Theodizeeschrift als doktrinale Theodizee bezeichnet; selbst die Terminologie ist die gleiche („Rechtfertigung der Vorsehung“; vgl. MpVT XI, 113). Es soll gezeigt werden, wie das scheinbar Zweckwidrige in den Augen der „Natur“ oder der „Vorsehung“ doch noch einem höheren Zweck dient. Da Kant im Anschluss an die zitierte Stelle auch noch auf die Schöpfung zu sprechen kommt, kann kein Zweifel daran bestehen, dass es ihm letztlich um eine Rechtfertigung Gottes geht. Kant stellt sich darüber hinaus sogar in die Tradition derer, die das Theodizeemotiv verfolgen, um die Welt im Ganzen als eine gute auszuweisen: „Denn was hilft’s, die Herrlichkeit und Weisheit der Schöpfung im vernunftlosen Naturreiche zu preisen und der Betrachtung zu empfehlen: wenn der Teil des großen Schauplatzes der obersten Weisheit, der von allen diesem den Zweck enthält, – die Geschichte des menschlichen Geschlechts – ein unaufhörlicher Einwurf dagegen bleiben soll, dessen Anblick uns
Dass diese Lösung des Theodizeeproblems überzeugen kann, wird bei Weidemann 2007 vehement und plausibel bestritten.
8.6 Geschichte und Theodizee
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nötigt, unsere Augen von ihm mit Unwillen wegzuwenden, und, indem wir verzweifeln, jemals darin eine vollendendete vernünftige Absicht anzutreffen, uns dahin bringt, sie nur in einer andern Welt zu hoffen?“ (IaG XI, 49)
Zwei Jahre später greift Kant die Theodizeethematik in der Schrift Mutmaßlicher Anfang des Menschengeschlechts (1786) erneut auf, ändert aber die Argumentation in einem wichtigen Punkt. Ziel der „Schluß-Anmerkung“ der Schrift ist es zu zeigen, dass durch eine teleologische Darstellung der Geschichte „Unzufriedenheit mit der Vorsehung, die den Weltlauf im Ganzen regiert“ (MAM XI, 99), verhindert werden kann. Kant verfährt hier aber zweigleisig: Zum einen rechtfertigt er den Krieg als notwendige historische Gegebenheit auf dem Weg zur kultivierten Gesellschaft. Der Krieg zwinge nämlich die Oberhäupter der Staaten, aus Eigennutz „Achtung für die Menschheit“ (MAM XI, 100) zu bewahren – die Oberhäupter seien schließlich auf ihre Untertanen als Soldaten und Steuerzahler angewiesen und müssten ihnen entsprechend mit einem Mindestmaß an Respekt begegnen. Krieg sei in diesem Sinne ein „unentbehrliches Mittel“, die Kultur weiter zu bringen; erst nach Vollendung der kulturellen Entwicklung würde ein „immerwährender Friede für uns heilsam“ (MAM XI, 99 f.) sein.⁶¹⁵ Neben diese Argumentation tritt aber eine weitere, die mit jener wohl kaum zu vereinbaren ist: Kant möchte gerade ausschließen, dass wir die Schuld an den Übeln des Kriegs „aufs Schicksal schieben“ (MAM XI, 99) – und als „Schicksal“ bezeichnet Kant andernorts eine Variante der Vorstellung einer zweckmäßig verfahrenden Natur (vgl. ZeF XI, 217). Dadurch würde nämlich übersehen, dass unsere eigene Schuld „die vielleicht einzige Ursache dieser Übel sein mag“ (MAM XI, 100). Der Mensch dürfe deshalb „der Vorsehung, wegen der Übel, die ihn drücken, keine Schuld geben“ (MAM XI, 101). Die Entlastung der Vorsehung durch die Mittel-Zweck-Relation, in die das Übel des Krieges eingebettet wird, wird also ergänzt durch die Behauptung, für den Krieg sei gar nicht die Vorsehung verantwortlich, sondern der frei handelnde Mensch – eine zweite Theodizee-Strategie, die Kant in der Theodizeeschrift ausdrücklich zurückgeweist⁶¹⁶. Die Theodizee-Problematik taucht – erneut in etwas anderer Form – schließlich in der Friedensschrift auf. Dabei wird die Interpretation dieser Textstelle dadurch erschwert, dass sie in eine Argumentation eingebettet ist, die Kant dem „politischen Moralisten“, also dem, der die Moral zum Zwecke seiner politischen Interessen missbraucht, in den Mund legt. Kant bezeichnet den hier
Eine ähnliche Rechtfertigung des Krieges, die ausdrücklich in Zusammenhang mit der Theodizeefrage steht, findet sich bei Leibniz; vgl. Merle 2011, 26. Dass eine Spannung zwischen Theodizeeschrift und MAM besteht, übersieht Pollmann (2011, 74 f.), der in MAM Kants Lösung der in der Theodizeeschrift gestellten Fragen findet.
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vorgebrachten Bezug zur Theodizee sogar als „verzweifelte[.] Folgerungen“ (ZeF XI, 243) aus der Sicht des politischen Moralisten. Dennoch ist offensichtlich, dass wesentliche Züge der Argumentation Kants eigene Theorie widerspiegeln. Kant lässt den politischen Moralisten sagen: „Regent und Volk, oder Volk und Volk tun einander nicht Unrecht, wenn sie einander gewalttätig oder hinterlistig befehden, ob sie zwar überhaupt darin Unrecht tun, daß sie dem Rechtsbegriffe […] alle Achtung versagen. Denn weil der eine seine Pflicht gegen den andern übertritt, der gerade eben so rechtswidrig gegen jenen gesinnt ist, so geschieht ihnen beiderseits ganz recht, wenn sie sich unter einander aufreiben, doch so, daß von dieser Rasse immer noch genug übrig bleibt, um dieses Spiel bis zu den entferntesten Zeiten nicht aufhören zu lassen, damit eine späte Nachkommenschaft an ihnen dereinst ein warnendes Beispiel nehme. Die Vorsehung im Laufe der Welt ist hiebei gerechtfertigt; denn das moralische Prinzip im Menschen erlöscht nie, die pragmatisch zur Ausführung der rechtlichen Ideen nach jenem Prinzip tüchtige Vernunft wächst noch dazu beständig durch immer fortschreitende Kultur, mit ihr aber auch die Schuld jener Übertretungen. Die Schöpfung allein: daß nämlich ein solcher Schlag von verderbten Wesen überhaupt hat auf Erden sein sollen, scheint durch keine Theodizee gerechtfertigt werden zu können (wenn wir annehmen, dass es mit dem Menschengeschlechte nie besser bestellt sein werde noch könne); aber dieser Standpunkt der Beurteilung ist für uns viel zu hoch, als daß wir unsere Begriffe (von Weisheit) der obersten uns unerforschlichen Macht in theoretischer Absicht unterlegen könnten.“ (ZeF XI, 243)
Der letzte Halbsatz scheint sich unmittelbar und konsistent in Kants skeptische Ausführungen in der Theodizeeschrift einfügen zu lassen; es gibt jedoch eine wichtige Differenz: Die Grenze der Vernunft gilt jetzt nicht mehr der Theodizee im Gesamten, sondern nur noch einem Teilaspekt, nämlich der Frage, warum es überhaupt eine Welt mit frei handelnden Menschen gibt. Und selbst in dieser Frage könnte eine Antwort möglich sein, wenn sich die von Kant in Klammern hinzugesetzte Bedingung, es werde um die Menschen nie besser bestellt sein, als falsch erweisen sollte. Es bleibt unklar, ob Kant mit dieser Einschränkung nur dem politischen Moralisten mit seinen nüchtern-realistischen Zukunftsvorstellungen eine letzte Antwort auf das Theodizeeproblem absprechen möchte, oder ob auch seine eigene Vorstellung eines juridischen Fortschritts die genannte Bedingung nicht widerlegen kann. Jedenfalls hält Kant eine Theodizee, sofern es um Revolutionen und (Bürger‐) Kriege geht, sehr wohl für möglich. Krieg erweist sich hier als sinnvoll, weil er die Kultur fortschreiten lässt und als warnendes Beispiel dienen kann. Zugleich wird die Möglichkeit angedeutet, dass den beteiligten Kriegsparteien, die wechselseitig ihre Pflichten verletzten, gar kein Unrecht geschehe; sich die Vorsehung also an keinen konkreten Individuen versündigt, wenn sie auf beiden Seiten der Kämpfenden Menschenleben für den Fortschritt opfert. Dass die Vorsehung den Menschen dabei zu Handlungen bringt, die in höchstem Maße Unrecht darstellen und
8.6 Geschichte und Theodizee
333
den Rechtsbegriff selbst untergraben (siehe Kapitel 3.3), scheint für Kant kein Problem darzustellen.⁶¹⁷ Wie ist der Befund eines sich durchhaltenden Theodizee-Anliegens der Geschichtsphilosophie zu bewerten, in welchem Verhältnis steht er zur Theodizeeschrift? In den geschichtsphilosophischen Schriften soll, im Einklang mit der Theodizeeschrift, die Zweckmäßigkeit der Welt nicht durch die theoretische Vernunft erkannt werden; sie wird ja den historischen Ereignissen ‚nur‘ von der Vernunft beigelegt. Hierin liegt sicher eine Differenz zur ‚herkömmlichen‘ bzw. doktrinalen Theodizee. Aber die Grundstruktur der doktrinalen Theodizee wird dennoch in den geschichtsphilosophischen Schriften beibehalten: Es werden konkrete Zwecke der Vorsehung angegeben, die das scheinbar Zweckwidrige als unvermeidliches Mittel zu einem höheren Gut zweckmäßig erscheinen lassen. Wie kann es zusammenpassen, dass Kant das, was er in der Theodizeeschrift verwirft, in den geschichtsphilosophischen Schriften selbst betreibt? Versuche in der Sekundärliteratur, den Problembestand zu beseitigen, indem in den Jahren 1790/91 ein Bruch Kants mit der klassischen Behandlung der Theodizee-Problematik angenommen⁶¹⁸ oder das Vorkommen der Theodizee-Thematik in Kants Geschichtsphilosophie gänzlich bestritten wird,⁶¹⁹ halte ich für aussichtslos. Kant könnte eher zugutegehalten werden, dass er in der Theodizeeschrift die doktrinale Theodizee nicht ausdrücklich verbietet, sondern nur als unzureichend darstellt. Aus dieser Sicht ergäbe sich das Bild, dass Kant die doktrinale Theodizee im Einzelfall für wichtig gehalten habe; nur dann, wenn diese versagt, müsse mit Hiob die „höhere Weisheit“ ins Feld geführt werden. So geht Kant ja in der Friedensschrift ausdrücklich vor: Theodizee wird betrieben, soweit sie möglich ist; an dem Punkt, an dem sie nicht mehr gelingt, heißt es dann, die göttliche Weisheit sei zu hoch für den menschlichen Verstand. Ein solcher ad hoc- Rückgriff auf das Totschlagargument der höheren Weisheit passt aber nicht zu Kants Anspruch, mit einem „Machtspruch“ die Anklage gegen Gott als unzulässig abzuweisen. Wenn nämlich die Anklage gar nicht statthaft ist, wie Kant m. E. in der Theodizeeschrift behauptet, wäre jeder Versuch einer Verteidigung nicht nur unnötig, sondern würde zu Unrecht den Theodizee-Vorwurf als
Ähnliches lässt sich in der Religionsschrift beobachten; vgl. Kapitel 5.4. So Cavallar 1993 und Schulte 1991. Schulte übersieht völlig, dass Kant auch noch 1795 die Theodizee-Frage im Rahmen der Geschichtsphilosophie verhandelt. So Geismann 2000, 511; Stangneth 2000, 35 und Horn 2011a, 104. Gegen eine solche Verharmlosung wenden sich entschieden Sommer 2006, 321 und Kleingeld 1995, 179 ff. Die Bedeutung des Theodizee-Motivs in Kants Geschichtsphilosophie betonen auch Zotta 2014 und Brandt 2010, 167.
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bedenkenswert berücksichtigen und damit die fehlende Festigkeit des Vernunftglaubens demonstrieren. Mit dem Aufgreifen der Theodizee-Thematik in seiner Geschichtsphilosophie gerät Kant aber noch in eine weitere Aporie, die über das gleichzeitige Verwerfen und Betreiben des Theodizee-Projekts noch hinausgeht: Die Theodizeeschrift geht davon aus, dass die Anklage gegen Gott unentscheidbar sei, dass es also zumindest möglich bleibe, dass die Existenz Gottes mit den vermeintlichen Zweckwidrigkeiten in der Welt vereinbar ist. Zugleich kann Gott, dem das Attribut der Heiligkeit zugesprochen wird, nicht gegen moralische Gesetze verstoßen. Diese umfassen u. a. das unbedingte Gebot, niemanden bloß als Mittel zu gebrauchen; der Mensch dürfe „niemals bloß als Mittel von jemanden (selbst nicht von Gott⁶²⁰), ohne zugleich hiebei selbst Zweck zu sein, […] gebraucht werden“ (KpV VII, 263). In der geschichtsphilosophischen Reflexion wird Gott jedoch als Instanz vorgestellt, die genau hiergegen verstößt: Wenn die Vorsehung etwa Krieg beabsichtigt, um künftigen Generationen den Weg zum Frieden zu bereiten, missachtet sie die Selbstzweckhaftigkeit derer, die sich zum Wohle anderer gegenseitig dahinmetzeln. Wie geht Kant damit um? An dieser Stelle scheint mir sein Schwanken zwischen den Begriffen der Natur und der Vorsehung wieder relevant zu werden. Kant kann nicht akzeptieren, dass Gott die Verantwortung für die Gräueltaten der Geschichte zugeschrieben wird; andererseits gelingt es Kant nicht, auf eine strukturell die Funktion Gottes übernehmende Instanz zu verzichten, um Geschichte als Entwicklung denken zu können. Es drängt sich auf, dass der unsichere Versuch, die Natur an der Stelle Gottes als geschichtsmächtige Instanz zu etablieren, der Lösung dieses Dilemmas dienen soll. Der Naturbegriff wird zwar analog zum Gottesbegriff eingeführt, insofern die Natur intentional handelt und vorausschauend die Geschicke der Menschheit lenkt. Sie ist aber ein moralfreies Wesen, das nur über Verstand, nicht über Vernunft verfügt. Als solches verfolgt sie ihre weitläufigen, durchaus mit den Forderungen der Moral konvergierenden Zwecke, ohne aber in der Wahl ihrer Mittel an moralische Einschränkungen gebunden zu sein. Aus dieser Perspektive ist der oben genannte erkenntnistheoretische Zweifel gegenüber dem Vorsehungsbegriff nicht Kants einziges Motiv, überwiegend den Begriff einer akteursgleichen Natur heranzuziehen. Daneben versucht Kant
Eine wichtige Pointe der Verortung der Religionsphilosophie in den Bereich der praktischen Vernunft besteht darin, dass moralische Prädikate und Begriffe auf Gott angewendet werden können, ohne dass man sich einem Anthropomorphismus schuldig macht; gleiches würde für theoretische Begriffe nicht gelten. Entsprechend ist Gott in gleicher Weise an das Sittengesetz gebunden wie der Mensch. Die Berufung auf eine höhere Weisheit, für die sich moralische Gebote anders darstellen als für den Menschen, ist daher für Kant nicht möglich.
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offenbar, eine Instanz zu kreieren, die aus dem Dilemma herausführt, entweder die Absichten Gottes für unmoralisch zu halten, oder auf eine Geschichtsteleologie ganz verzichten zu müssen. Soweit scheint meine Interpretation die Hypothese Odo Marquards auf ganzer Linie zu bestätigen, die Geschichtsphilosophie diene der Lösung des Theodizeeproblems, indem an die Stelle Gottes eine Ersatzinstanz tritt (siehe Kapitel 1.4). Die Natur übernehme nach dieser Überlegung die Funktion des geschichtsmächtigen Gottes und entlaste ihn dadurch von dem Vorwurf, unmoralische Handlungen zuzulassen oder sogar an ihnen mitzuwirken. Ähnliches wird vereinzelt in der Literatur tatsächlich vertreten.⁶²¹ Aber soweit ist dem Befund m. E. noch nicht vollends Rechnung getragen, denn Kant spricht gerade nicht einheitlich von der „Natur“; besonders dann, wenn es um das Theodizeeproblem geht, bevorzugt er den Begriff der Vorsehung. Es wäre zu kurz gegriffen, wollte man Kant einfach unterschieben, er habe das Wirken der Vorsehung zur Naturabsicht säkularisiert und diese an die Stelle des geschichtsmächtigen Gottes gesetzt. Reinhard Brandt teilt vermutlich aus diesem Grund meine Auffassung nicht, nur die Natur sei als moralfreies Wesen gedacht, die Vorsehung dagegen moralischen Gesetzen unterworfen. Für ihn sind Natur und Vorsehung gleichermaßen von den Forderungen der Moral befreit, wenn es um die Wahl der Mittel zu einem moralischen Ziel geht: „Felix culpa: Die Vorsehung brauchte und wollte das Böse, das dem Menschen verboten ist. Der Krieg, das größte Übel der Menschheit, war gut, weil er ein Instrument des Fortschritts war.“ (Brandt 2003, 133). „Die Natur oder die Vorsehung […] verfährt […] nach dem Prinzip der Erfolgsethik: Jedes Mittel ist recht, wenn es zum Ziel der Geschichte beiträgt.“ (ebd., 135)⁶²² Träfe dies zu, dürfte der kantische Vorsehungsbegriff gar nichts mehr mit dem moralischen Gottesbegriff zu tun haben. Dem widerspricht aber, was in Kapitel 8.5 gezeigt wurde. Eine wirklich befriedigende Lösung scheint dem Interpreten kaum gelingen zu können. Soweit ich sehen kann, spricht aber alles dafür anzunehmen, dass Kants Changieren zwischen den Begriffen Natur und Vorsehung eine Schwierigkeit überdecken soll: Einerseits geht es Kant in der Geschichtsphilosophie ums Ganze; er möchte die gesamte Welt als eine gute ausweisen, was ihm eine Rechtfertigung des höchsten Prinzips abnötigt. „Die Welt als göttliches Werk ist die beste Welt“ (VMet-K2 AA XXVIII, 809), wie es in einer Vorlesungsmitschrift heißt. Andererseits ist dafür eine Integration der unmoralischen Elemente der Geschichte in die
Vgl. Zotta 2000, 259 Anm. und die wenigen, überwiegend älteren Literaturangaben dort. Vgl. auch Brandt 2010, 173: Die Vorsehung sei nicht an den kategorischen Imperativ gebunden.
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Geschichtsteleologie nötig; diese würde dazu führen, dass Gott das schlechthin Zweckwidrige in der Welt gewollt habe. Weil dies wiederum begrifflich ausgeschlossen ist, spricht Kant von der Naturabsicht. Unter dieser Prämisse können die Beobachtungen Kleingelds nochmals zum Tragen kommen: Kleingeld scheint recht damit zu haben, dass Kant meist dann von Natur spricht, wenn es um die Angabe konkreter Mittel geht, die den Fortschritt vorantreiben sollen; diese Mittel sind aber teils unmoralischer Art. Die begriffliche Dopplung läuft somit darauf hinaus, dass die Natur die Verantwortung für die negativen Seiten der Geschichte übernehmen, die Vorsehung aber durch diese Denkfigur gerechtfertigt werden soll.⁶²³ Mit dieser Besonderheit scheint Kant als Beleg für Marquards Hypothese gültig zu sein. Kants Position ist freilich nicht nur wegen der aufgedeckten systeminternen Widersprüche und Doppeldeutigkeiten zu kritisieren. In systematischer Hinsicht ist das größere Problem einer Geschichtsphilosophie, die als Theodizee fungieren soll, dass die Rechtfertigung der Natur bzw. der Vorsehung letztlich zu einer Rechtfertigung der Existenz von Unrecht führt. Jede Reflexion auf die Geschichte sollte demgegenüber unter der Bedingung stehen, dass sie Unvernünftiges als solches akzeptiert und in seiner Unbegreiflichkeit kritisiert, anstatt es als Pseudovernünftiges doch noch begreifen zu wollen. Die Philosophie muss nicht zuletzt aus diesem Grund von einer als Theodizee konzipierten Geschichtsphilosophie Abstand nehmen. Sofern jede teleologische Betrachtung der Geschichte ein solches Rechtfertigungsmuster notwendig mit sich bringt, wie in Kapitel 6.1 anklingt, gilt dies allgemeiner sogar für teleologisches Geschichtsdenken schlechthin.
Ein entsprechendes Dilemma fand sich innerhalb der KU: Gott will den Menschen als Selbstzweck; die Natur kann den Menschen dagegen als Mittel zu anderen Zwecken gebrauchen. Wenn die Natur aber von Gott geschaffen ist, hätte Gott die Verantwortung einfach abgeschoben. Vgl. Kapitel 6.2.
Teil IV Synthese: Geschichte und Religion
9 Geschichte und Religion im System Kants Nach der Analyse und Diskussion der religionsphilosophischen und geschichtsphilosophischen Texte Kants, die insbesondere auf Elemente säkularisierter Eschatologie ausgerichtet war, bleibt ein letzter Fragenkomplex offen, der die beiden großen Teile dieser Arbeit zusammenführt: Wie hängen Religionsphilosophie und Geschichtsphilosophie zusammen; in welchem Verhältnis stehen Geschichte und Religion, wenn man auf das Gesamtsystem der kantischen Philosophie blickt? In der Literatur werden solche Fragen in den letzten Jahren kontrovers diskutiert. Im Kontext dieser Arbeit kommt ihnen vor allem deshalb Bedeutung zu, weil sich in ihrer Beantwortung zeigt, inwieweit Kant selbst seine Geschichtsphilosophie als ein ‚religiöses‘ Projekt angesehen hat – etwa als ein Projekt, das der Vernunftreligion und dem kantischen Konzept des ‚Glaubens‘ zuzuordnen ist. Darüber hinaus drängt es sich auf zu prüfen, ob nicht aus den Ergebnissen der Analyse in den Kapiteln 3 und 4 Schlussfolgerungen zu ziehen sind, die die aktuelle Debatte um das Verhältnis von Geschichte und Religion voranbringen können. Die Frage nach der Stellung der Geschichtsphilosophie im kritischen System Kants ist schon deshalb problematisch, weil Kant sie nie selbst diskutiert. Bekanntlich teilt er die Philosophie nach den drei Fragen ein, die alles Interesse der Vernunft ausmachen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? (vgl. KrV B833 = IV, 677) Die erste Frage ist im Wesentlichen Gegenstand der KrV. Die zweite Frage wird zunächst in der Grundlegung und der KpV einheitlich behandelt, in der Metaphysik der Sitten dann aber in die Rechts- und Tugendlehre unterteilt. Folgt man den Äußerungen Kants, so muss man annehmen, er habe die dritte Frage mit seiner Religionsphilosophie abschließend beantwortet (vgl. z. B. Brief 574, AA XI, 429 sowie KrV B833 f. = IV, 677 f.). Der Ort der Geschichtsphilosophie bliebe dann unbestimmt. Es hat sich in der Literatur durchgesetzt, die genannten Äußerungen nicht überzubewerten. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass Kant auch die dritte Frage zweifach behandelt, nämlich in der Geschichtsphilosophie, die überwiegend an die Rechtsphilosophie Kants anknüpft, und in der Religionsphilosophie, die die Moralphilosophie weiterführt.⁶²⁴ Trotz dieser gemeinsamen Zuordnung zur dritten Frage, die die Zustimmung der Mehrzahl der Interpreten finden dürfte, ist das Verhältnis beider damit noch nicht genauer geklärt.
Vgl. z. B. Cavallar 1992, 39 f.; Despland 1973, 269 ff.; Geismann 2000, 512; Kleingeld 1995, 163; Wittwer 1996; Baumgartner 1996, 409; Höffe 2011b, 23.
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Eine Schwierigkeit bei der detaillierteren Bearbeitung des Fragenkomplexes dürfte darin liegen, dass keine Einigung darüber besteht, inwieweit überhaupt von einem über einen längeren Zeitraum konstant bleibenden ‚System‘ Kants gesprochen werden kann. Schon die Aneinanderreihung der drei Kritiken, von denen keine bei Abschluss der vorherigen bereits geplant war, kann Zweifel an einem solchen konstanten System wecken. Meine Analyse zeigte darüber hinaus gewisse diachrone Entwicklungstendenzen der geschichtsphilosophischen Schriften auf – nicht nur, was die Zuordnung zur theoretischen bzw. praktischen Vernunft betrifft, sondern auch bezüglich der Frage, ob sich der Fortschritt auf das Recht beschränke. Es kann hier offen bleiben, wie konstant Kants Denken tatsächlich gewesen sein mag. Den folgenden Überlegungen liegt lediglich die Interpretationsmaxime zugrunde, dass ein einheitliches System zu unterstellen sei, solange nichts direkt dagegen spricht.⁶²⁵ Sofern es relevante Änderungen gegeben haben mag, beziehe ich mich im Folgenden auf die Schriften seit 1793. Eine weitere Schwierigkeit liegt in der Vielfalt an Beziehungen, die zwischen Geschichte und Religion bestehen könnten. Die gegenwärtige Kontroverse über Geschichte und Religion bei Kant ist nicht zuletzt deshalb schwer zu überblicken, weil häufig relativ vage bleibt, was genau zur Debatte steht. Dies sei ganz kurz an zwei Beispielen illustriert: Geismann moniert in seinem ausführlichen Beitrag Sittlichkeit, Religion und Geschichte in der Philosophie Kants etwa, die Religionsphilosophie Kants werde zu Unrecht „in eine enge Beziehung zu dessen Geschichtsphilosophie“ (2000, 504) gesetzt. Worin diese „enge Beziehung“ genau bestehen könnte, ist dem Text dann aber nur schwer zu entnehmen. Auf der anderen Seite möchte Kleingeld für eine „Koppelung zwischen der zweiten Kritik [also der Postulatenlehre; MH] und der Geschichtsphilosophie“ (1995, 155) werben – auch hier bleibt offen, was mit „Koppelung“ wohl gemeint sein könnte. Zahlreiche weitere Autoren verbleiben bei vagen Stellungnahmen, weil sie sich nur sehr kurz und pauschal über die systematischen Zusammenhänge äußern. Ein Ziel dieses Kapitels ist deshalb erst einmal, einige mögliche Bezüge von Geschichte und Religion auseinanderzuhalten und deren grundsätzliche Interpretationsproblematiken darzustellen. Nur soweit die in Kapitel 3 und 4 durchgeführten Textanalysen eine Antwort geben können, soll dann auch noch gezeigt werden, welche dieser Bezüge auf Kant tatsächlich zutreffen. Selbstredend ist nicht zu erwarten, dass meine Ergebnisse auf alle fraglichen Bezüge eine klare Antwort ermöglichen werden. Geismann gesteht zu, dass seine Thesen auf der „Überzeugung eines seit der Kritik der reinen Vernunft im wesentlichen konsistenten systematischen Zusammenhangs“ (2000, 437) des kantischen Denkens basieren. Diesen Anspruch teile ich nicht, und muss ihn für mein moderates Erkenntnisinteresse auch nicht teilen.
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Soll der Fragenkomplex möglichst differenziert bearbeitet werden, ist zunächst wichtig, innerhalb der kantischen Religionsphilosophie konsequent zwischen der Postulatenlehre und der Lehre vom ethischen Gemeinwesen zu unterscheiden. Damit sind insgesamt drei Bausteine miteinander ins Verhältnis zu setzen, denen jeweils eine Variante des Begriffs vom höchsten Gut entspricht: (1) Das höchste Gut als Übereinstimmung von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit, wie es der Postulatenlehre zugrunde liegt; (2) das höchste Gut als ein gemeinschaftliches, welches sich auf die Verwirklichung des ethischen Gemeinwesens bezieht; und (3) das höchste politische Gut, womit der internationale Rechtsfrieden gemeint ist, der in den geschichtsphilosophischen Schriften als Ziel der Geschichte angesehen wird. Die Frage nach dem Verhältnis von Geschichte und Religion ist demnach aufzuspalten in (9.1) die Frage nach dem Verhältnis der geschichtsphilosophischen Schriften zur historischen Vorstellung des ethischen Gemeinwesens; (9.2) die Frage nach dem Verhältnis der historischen Vorstellung des ethischen Gemeinwesen und der Postulatenlehre; und (9.3) die Frage nach dem Verhältnis der geschichtsphilosophischen Schriften zur Postulatenlehre. Innerhalb jeder der drei untergeordneten Fragen wären mögliche Verhältnisse der beiden jeweiligen Relata: (a) das der Ersetzung, d. h. das eine Theoriestück soll für Kant an die Stelle des anderen treten und dieses damit überflüssig machen; (b) das der Analogie, d. h. die Strukturen verlaufen parallel, und/oder die Rechtfertigung erfolgt mit analogen Argumenten; (c) über die Analogie hinausgehend die Abhängigkeit beider Relata von gleichen Prämissen; (d) das der einseitigen oder wechselseitigen Bestätigung der beiden Theoriestücke, d. h. die Rechtfertigung des einen zehrt von der Bejahung des anderen Theoriestücks; und (e) das des Ineinanderfallens, d. h. beide Theoriestücke erweisen sich entweder als gleichbedeutend, oder sie werden zumindest als Spezialfälle einer einheitlichen übergeordneten Theorie aufgefasst. Manch Punkt dieser Liste mag noch Binnendifferenzierungen notwendig machen, und es mag sein, dass die Liste auch dann noch unvollständig ist; sie bietet aber beim gegenwärtigen Stand der Debatte eine geeignete Grundlage, auf der aufbauend das Thema zumindest einigermaßen differenziert diskutiert werden kann. Nicht alle der Beziehungen (a) bis (e) sind für die Fragen (5.1), (5.2) und (5.3) jeweils von Bedeutung. Ich beschränke mich in der folgenden Diskussion jeweils auf einige der Beziehungen (a) bis (e), die mir relevant erscheinen oder die in der Literatur eine wichtige Rolle spielen.
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9 Geschichte und Religion im System Kants
9.1 Profane Geschichte und Kirchengeschichte Beschränkt man sich auf die Schriften seit 1793, gibt es für Kant zwei voneinander unabhängige Ziele der Geschichte: Die politische Geschichte zielt auf den Völkerbund von Republiken; die Kirchengeschichte auf die vollkommene Moralisierung der Menschheit im ethischen Gemeinwesen. Was in IaG noch als einheitliche Theorie eines moralischen Fortschritts konzipiert wurde, fällt später auseinander in die Lehre vom höchsten Gut als einem gemeinschaftlichen und die Lehre vom höchsten politischen Gut (siehe Kapitel 8.1). Dass beide Theoriestücke nicht miteinander identifiziert werden dürfen, wird in der Literatur oft übersehen.⁶²⁶ Prinzipiell folgen vielmehr profane Geschichte und Kirchengeschichte ihrer je eigenen Logik; daneben hat die profane Geschichte auch instrumentellen Charakter für die Kirchengeschichte bzw. die Entwicklung der Moral.⁶²⁷ Cheneval (2002, 443) vertritt die These, das höchste politische Gut solle das höchste Gut der Religionsschrift ersetzen, mithin der Fortschritt in der profanen Geschichte an die Stelle der als Fortschritt gedeuteten Kirchengeschichte treten (a). Dies verbindet Cheneval mit dem Vorwurf, in der Religionsschrift vertrete Kant eine „gottesstaatsbürgerliche Sichtweise“ (444), die er mit dem Begriff des höchsten politischen Gutes wieder aufgegeben hätte. Ohne dass Cheneval näher erläutert, wodurch er die gottesstaatsbürgerliche Sichtweise charakterisiert sieht, wird deutlich, dass sie jedenfalls eine Negativschablone darstellt, von der er die vermeintlich aufgeklärt-säkulare Sicht des späten Kants abgrenzen möchte. Seine Interpretation ist am Text nicht haltbar; es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass Kant die Idee des ethischen Gemeinwesens nach 1793 wieder aufgegeben habe; andererseits vertritt Kant die Idee eines juridischen Fortschritts auch schon vor und sogar in der Religionsschrift. Chenevals Sicht scheint deshalb eher der Versuch einer rückwirkenden Vereinnahmung Kants für die moderne Konzeption des
Zu den wenigen, die überhaupt ausdrücklich zwei differierende Ziele der Geschichte diskutieren, gehören Walther (2005, 27), Anderson-Gold (2001, z. B. 84), Baumgartner (1996a) und Despland (1973, 265). Kleingeld z. B. integriert die Religionsschrift einfach in Kants „Vorstellung vom Verlauf der Geschichte“, ohne eine Differenz zu markieren (1995, Teil III, insb. 198 ff.). Hübner schreibt zunächst korrekt, Religions- und politische Geschichte würden Parallelen aufweisen; später heißt es aber, beide würden sich in je unterschiedlicher Sprache auf denselben Gegenstand beziehen (2011, 41 ff.). Sein Fehler wurzelt darin, dass er die kantische Differenz von Moral und Recht verkennt (vgl. z. B. 2011, 44 f.). Auch Sala verwischt Religions- und profane Geschichte, wenn er in der Religion den alleinigen „tragenden Grund der Geschichte“ (2004, 232) sieht. Vgl. insb. RGV VIII, 787 und meine Interpretation in Kapitel 5.4; auch in den geschichtsphilosophischen Schriften findet sich immer wieder der Hinweis eines instrumentellen Verhältnisses von Recht und Moral.
9.1 Profane Geschichte und Kirchengeschichte
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säkularen Staates zu sein, als eine angemessene Interpretation.Verzerrt wird Kant dadurch in doppelter Weise: Weder ist Kant ein Wegbereiter einer Theorie der pluralistischen Gesellschaft, in der Religion keinerlei Rolle für das menschliche Zusammenleben spielen darf; noch ist seine Konzeption des ethischen Gemeinwesens mit den Formen einer fundamentalistischen Theokratie vergleichbar, mit denen man heute eine „gottesstaatsbürgerliche Sichtweise“ verbindet. Prinzipiell weisen Religions- und politische Geschichte zweifelsohne analoge Strukturen auf (b): Geschichte wird in beiden Fällen als Fortschritt verstanden und soll im Idealzustand enden; jeweils unterstützt die Vorsehung den gewünschten Verlauf der Geschichte. Trotz dieser Analogie gibt es eine Asymmetrie, was Kants Ausführungen zur Rechtfertigung des Fortschritts betrifft: In der Religionsschrift finden sich kaum explizite Argumente, die die Annahme künftigen Fortschritts rechtfertigen würden. Vielmehr bleibt überwiegend erstaunlich offen, ob die Gründung des ethischen Gemeinwesens lediglich eine künftig zu verwirklichende Pflicht der Menschengattung darstellt, oder ob sie darüber hinaus auch ‚prophezeit‘ wird. In der historischen Durchführung legt Kant letzteres nahe, bringt aber keine Begründung dafür vor. Die geschichtsphilosophischen Schriften enthalten dagegen klar identifizierbare Argumente, die die Annahme künftigen Fortschritts als denknotwendig erweisen sollen. Aufgrund der weitgehenden inhaltlichen Analogie halte ich es für legitim, die Argumente der praktischen Vernunft als Erläuterung auch der Religionsschrift zu verstehen (siehe Kapitel 5.6). Eine weitere Differenz zwischen Religions- und politischer Geschichte bildet der Bezug auf den Gottesbegriff. Während das ethische Gemeinwesen seiner Denkmöglichkeit nach auf den Begriff Gottes angewiesen ist und seine Einführung eines mysteriösen göttlichen Beistands bedarf, führt die politische Geschichte nur noch auf die Idee einer göttlichen Vorsehung, die als ‚Naturabsicht‘ in säkularer Terminologie gefasst werden kann. In den geschichtsphilosophischen Schriften bezieht sich das Wirken der Vorsehung dann konsequent auch nur auf äußere Gegebenheiten. Die Religionsschrift kennt diese Vorstellung auch – so könne die Vorsehung äußere Revolutionen in Gang setzen, die die Entwicklung der Kirche begünstigen (vgl. RGV VIII, 786) –, scheint aber darüber hinaus auch einen göttlichen Beistand zu erwägen, der an der inneren Entwicklung der Subjekte einen Anteil hat und das tugendhafte Zusammenleben auf diese Weise erst ermöglicht (siehe Kapitel 5.2).⁶²⁸
Insofern ist die Einschätzung Baumgartners (1996a), es lägen parallele Argumentationsstrukturen vor, zwar richtig, aber zu präzisieren. – Wittwer (1996, insb. 80 und 195) folgert zu Recht aus den Differenzen zwischen Kirchen- und profaner Geschichte, dass es möglich bleibt, Kants Interpretation der Kirchengeschichte zu verwerfen und die Geschichtsphilosophie im engeren Sinne gleichzeitig zu verteidigen.
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9 Geschichte und Religion im System Kants
Wenn akzeptiert wird, dass Religions- und politische Geschichte zwei eigenständige Teile der Geschichte ausmachen, bleibt offen, inwieweit sie nebeneinander verlaufen, oder in einer zeitlichen Abfolge stehen. Zu widersprechen ist der Behauptung, das ethische Gemeinwesen solle im Laufe der Zeit den Rechtsstaat ersetzen (so Klar 2007, 200; siehe oben Kapitel 5.2).Wood (1991, 343 ff.) vertritt dagegen die bedenkenswertere These, für Kant zerfalle die gesamte Geschichte in zwei Epochen, die sich überlappen („overlapping phases“): Die erste Epoche stehe als „epoch of nature“ im Zeichen der Entwicklung des Staates und des Völkerbundes; die zweite, mit der Aufklärung beginnende Epoche als „epoch of freedom“ (1991, 344) im Zeichen der Kirche. Gegen Wood spricht allerdings Kants Überzeugung, dass für die Entwicklung des ethischen Gemeinwesens zwar die Existenz (irgend)eines Rechtsstaates vorausgesetzt wird, aber nicht die eines vollkommenen Rechtsstaates; auch unter problematischen politischen Verhältnissen könne sich die sichtbare Kirche weiter entwickeln. Kant lässt die Kirchengeschichte deshalb auch nicht mit der Aufklärung beginnen, sondern mit Christus. Damit verliert die Rede von zwei zu unterscheidenden Epochen, mit der Wood Kant in enge Verbindung mit Marx bringen möchte (vgl. 1991, 344), an Plausibilität. Prinzipiell scheinen daher profane Geschichte und Kirchengeschichte für Kant parallel zu verlaufen. Für eine gewisse zeitliche Aufeinanderfolge spricht immerhin, dass die Kirche erst unter Rechtsgesetzen entstehen kann. Städtler (2011, 52) weist darüber hinaus zu Recht darauf hin, dass die dauerhafte Existenz des Völkerbundes erst durch die endgültige Überwindung des Bösen im ethischen Gemeinwesen gesichert wäre: Rechtssysteme können zugrunde gehen, und ein Rückfall in den Naturzustand bliebe denkbar, solange das Rechtssystem über keine moralische ‚Absicherung‘ verfügt. Auch diese Überlegung spricht für eine gewisse zeitliche Aufeinanderfolge: Erst entsteht ein Rechtsstaat; dann die Kirche; in der Zukunft wird zunächst der Rechtsstaat im Völkerbund zur Vollkommenheit gebracht, und erst ganz am Ende des Entwicklungsprozesses entfaltet sich die moralische Anlage vollständig. Dass die politische und die moralische Entwicklung der Menschheit nicht nacheinander, sondern nebeneinander verlaufen sollen, führt freilich zu einem gewaltigen Problem: Die Triebkraft der Entwicklung des ethischen Gemeinwesens kann nur Moralität sein; zum Motor der Rechtsentwicklung gehören dagegen auch Konkurrenz und Konflikt. Dieselben moralischen Subjekte sollen somit gleichzeitig an zwei ganz verschiedenartigen Formen von Entwicklung teilhaben: Die Entwicklung des Rechts lebt von trial and error; ihr Fortschritt verdankt sich immer wieder dem politischen Scheitern. Die Entwicklung des ethischen Gemeinwesens markiert dagegen einen ‚reinen‘, unverdorbenen Fortschritt in den Grundsätzen
9.2 Ethisches Gemeinwesen und Postulatenlehre
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der sichtbaren Kirche, die sich am (unerreichbaren) Ideal der unsichtbaren Kirche orientiert.⁶²⁹
9.2 Ethisches Gemeinwesen und Postulatenlehre Zum Verhältnis von ethischem Gemeinwesen und Postulatenlehre sind in Kapitel 5.2 und 5.6 die entscheidenden Aspekte schon genannt worden. Das höchste gemeinschaftliche Gut, das im ethischen Gemeinwesen thematisiert wird, unterscheidet sich vom höchsten Gut, wie es der Postulatenlehre zugrunde liegt, fundamental: Geht es in der Postulatenlehre um die vollkommene Übereinstimmung von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit, spielt diese im Begriff des höchsten gemeinschaftlichen Gutes nur eine untergeordnete Rolle. Es fällt mit dem Verschwinden von unmoralischem Verhalten im ethischen Gemeinwesen zwar eine Ursache des Auseinanderfallens von Glückseligkeit und Glückswürdigkeit weg. Dennoch wird die Natur nicht als dem Sittengesetz gemäß gedacht; natürliche Ursachen der Glückseligkeit bzw. des Leids sind von der Moralität der Subjekte unabhängig. Das höchste gemeinschaftliche Gut ist also lediglich das letzte Ziel, das die Menschheit als Gemeinschaft haben kann; es fällt mit der Totalität eines Gegenstands der praktischen Vernunft nicht zusammen. Damit ist klar, dass ethisches Gemeinwesen und Postulatenlehre nicht zu identifizieren sind (e).⁶³⁰ Interessant bleibt die Frage, ob Kant mit der Theorie des ethischen Gemeinwesens nicht die Lehre des höchsten Gutes der KpV ersetzten wollte (a). Eine solche Ansicht vertritt etwa Reath (1988).⁶³¹ Im Hintergrund steht bei Reath die Auffassung, dass die Postulatenlehre nicht sonderlich überzeugend ist. Aus dieser Sicht ist es attraktiv, Kant eine Position zuzusprechen, nach der er seinen eigenen Fehler korrigiert und als reifer Philosoph nur noch ein innerweltliches, ‚säkulares‘⁶³² Konzept vom höchsten Gut vertreten hätte. Dem widersprechen allerdings die Schriften Kants allzu eindeutig. Die Postulatenlehre wird in der Religionsschrift selbst wiederholt und auch später noch mehrfach Siehe dazu ausführlicher Kapitel 8.1. Siehe aber die Diskussion in Kapitel 9.3, ob Geschichtsphilosophie und Postulatenlehre Teile einer einheitlichen Theorie des höchsten Gutes darstellen; diese Diskussion betrifft gleichermaßen das ethische Gemeinwesen. Neben Reath vertritt auch Rossi (1991, 160 ff.) die Ersetzungsthese; siehe Fußnote 294. Auch Cohen scheint in diese Richtung zu tendieren: „Die Gemeinschaft autonomer Wesen ist das alleinige [!] höchste Gut.“ (1910, 350). Reath hält tatsächlich nicht nur den Begriff des politischen höchsten Gutes, sondern auch den des gemeinschaftlichen höchsten Gutes für „secular“ (1988, 603); im Gegenzug dazu sei das höchste Gut der KpV die „theological version“ (1988, 601).
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9 Geschichte und Religion im System Kants
angesprochen; nichts spricht dafür, dass Kant sie zu irgendeinem Zeitpunkt zurücknehmen wollte.⁶³³ Stattdessen scheint Kant ein komplementäres Verhältnis zwischen der Postulatenlehre und dem ethischen Gemeinwesen entwickeln zu wollen. Dies ist zwar konzeptuell nicht zwingend, aber doch naheliegend: Die Postulatenlehre löst ein auf das individuelle Leben bezogenes Problem. Wie kann moralisches Handeln vom Individuum als sinnvoll empfunden werden, wenn es zu einer Verminderung der Glückseligkeit führen kann? Auf dieses Problem kann das höchste gemeinschaftliche Gut keine Antwort geben – und zwar nicht nur, weil dort eine gewisse Diskrepanz zwischen Glückswürdigkeit und Glückseligkeit bestehen bleibt, sondern auch, weil all jene Menschen, die das Erreichen des höchsten gemeinschaftlichen Gutes nicht erleben, davon nicht ‚profitieren‘ können. Hätte das ethische Gemeinwesen die Postlatenlehre ersetzen sollen, müsste dieses Problem ungelöst bleiben. Andersherum bleibt die Postulatenlehre von den Spezifika des höchsten gemeinschaftlichen Gutes unberührt: Jedenfalls überwiegend ist das höchste Gut so konzipiert, dass die Proportionalität zwischen Glückswürdigkeit und Glückseligkeit ausreicht; es beinhaltet nicht die Forderung, dass alle Menschen vollkommen moralisch werden müssen. Gleichwohl scheint es ein legitimes Anliegen der Moraltheorie zu sein, als letztes telos der Menschheit ihre vollkommene Moralisierung auszuweisen. Genau dies ist die Aufgabe des höchsten gemeinschaftlichen Gutes. Auf diese Weise sollen sich Postulatenlehre und ethisches Gemeinwesen im System Kants offenbar gegenseitig ergänzen. Es bleibt die Frage, ob die Rechtfertigung der beiden Theorieteile zusammenhängt (d). Wie meine Analyse zeigte, setzt Kant in der Religionsschrift die Gültigkeit der Postulatenlehre von vornherein voraus. Dies lässt freilich offen, ob die Postulatenlehre eine konstitutive Rolle für die Argumentation der Religionsschrift spielt. In meinen Augen ist dies nicht der Fall: Die Entwicklung des ethischen Gemeinwesens setzt an keiner Stelle an einer durch die Postulatenlehre gerechtfertigten Prämisse an, und die Religionsschrift enthält ein eigenständiges Argument zum Beweis der Denknotwendigkeit Gottes (siehe Kapitel 5.2). Da Postulatenlehre und ethisches Gemeinwesen aber mit der Annahme der Existenz Gottes auf ein identisches Resultat hinauslaufen, kann man davon sprechen, dass sich beide Theoriestücke wechselseitig bestätigen.
Jedenfalls bis 1798; im opus postumum finden sich Ansätze in dieser Richtung. – Reath lässt sich offenbar nicht zuletzt von einer mangelhaften englischen Übersetzung täuschen; vgl. den Hinweis in Geismann 2000, 518.
9.3 Geschichte und höchstes Gut
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9.3 Geschichte und höchstes Gut Den provokantesten und schwierigsten Diskussionsstoff dürfte die Frage bieten, welcher Zusammenhang zwischen den geschichtsphilosophischen Schriften und der Postulatenlehre besteht. Deshalb sollen der Reihe nach sämtliche der oben genannten Beziehungen diskutiert werden. (a) Immer wieder wird in der Literatur die These formuliert, Kant wolle mit der Geschichtsphilosophie die Postulatenlehre ersetzen. Dies fällt oft mit der Einschätzung zusammen, die Postulatenlehre sei deutlich weniger schlüssig als die Geschichtsphilosophie⁶³⁴; und dies nicht zuletzt, weil ‚innerweltlichen‘ Hoffnungskonzeptionen prinzipiell mehr Überzeugungskraft zukäme als jenseitigen⁶³⁵. Hiermit geht letztlich eine wertende Säkularisierungsthese einher: Kant habe seinen eigenen Begriff des höchsten Gutes verweltlicht, indem er ihn vom Jenseits auf die irdische Welt übertragen habe; diese Säkularisierung sei als Fortschritt im Denken Kants zu bewerten.⁶³⁶ Diese Interpretationsrichtung scheint sehr von der Religions- und Metaphysikskepsis des 20. und 21. Jahrhunderts eingenommen zu sein und diese weitgehendst in Kant hineinprojizieren zu wollen. Soweit ich sehen kann, lässt sie sich angesichts des Textmaterials jedoch nicht halten. Postulatenlehre und Geschichtsphilosophie werden über die gesamte kritische Phase Kants nebeneinander vertreten; zu keinem Zeitpunkt hat Kant eines von beiden zurückgenommen. Es finden sich in Kants Philosophie sogar explizit Argumente dafür, weshalb Geschichte und Postulatenlehre sich gar nicht ablösen können, weil sie Probleme behandeln, die nicht aufeinander zu reduzieren sind: Einerseits kann die Geschichtsphilosophie nicht die Postulatenlehre ersetzen, denn während in der Geschichtsphilosophie der Fortschritt nicht allen Menschen, sondern nur den späteren Generationen zugutekommt – was Kant als „befremdend“ (IaG XI, 37)
So etwa Reath, der glaubt, dass die Postulatenlehre nicht in Kants System passt, die Geschichtsphilosophie aber schon. Aus diesem Grund seien wir frei, nur letztere als Kants Sicht anzusehen (1988, 595). In ähnlicher Weise hält Kleingeld die Geschichtsphilosophie für die „bessere Lösung“ (1995, 162) des mit dem Begriff des höchsten Gutes entfalteten Problems; sie unterstellt zwar nicht, dass Kant das eine durch das andere ersetzen wollte, aber immerhin, dass er es hätte ersetzen können (und sollen). Yovel (1980, 276) unterstellt mit einem problematischen Bezug auf KpV VII, 280, für Kant habe man die „Wahl“, ob man das Problem des höchsten Gutes mit der Postulatenlehre oder mit der Geschichtsphilosophie lösen möchte, wobei die Geschichtsphilosophie vorzuziehen sei. So Cheneval 2002, 443 ff. Für Cheneval ersetzt das höchste politische Gut sowohl die Postulatenlehre als auch das höchste gemeinschaftliche Gut der RGV; siehe deshalb auch die Diskussion in Kapitel 9.1. In diese Richtung etwa Berger 2005, 192.
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bezeichnet –, hält die Postulatenlehre eine Individualeschatologie bereit, die das Leben eines jeden Menschen zur Vollendung bringt. Andererseits wäre eine bloße Individualeschatologie ohne Fortschrittshoffnung für Kant nicht befriedigend, denn „Laster ohne Zahl […] sich über einander türmen zu lassen, damit dereinst recht viel gestraft werden könne: ist, wenigstens nach unseren Begriffen, sogar der Moralität eines weisen Welturhebers und Regierers zuwider“ (TP XI, 167). Darauf angewiesen zu sein,Vernünftigkeit „nur in einer anderen Welt“ zu erhoffen, ist für Kant keine hinnehmbare Situation (IaG XI, 49). Im Ergebnis kann deshalb mit Höffe festgehalten werden: Die „geschichtsund religionsphilosophischen Überlegungen enthalten also nicht, wie heute in aller Regel, konkurrierende, vielmehr komplementäre Modelle der Sinngebung“ (Höffe 1988, 240).⁶³⁷ (b) Die Strukturen von Geschichtsphilosophie und Postulatenlehre vergleichen zu wollen, ist nicht ganz einfach: Zum einen sind beide Theorieteile von 1781 bis 1798 einem gewissen Wandel ausgesetzt. Zum anderen besteht zwischen Postulatenlehre und Geschichtsphilosophie eine gewisse Asymmetrie, was die Einordnung in das kantische System angeht: Die Postulatenlehre ist explizit nur der praktischen Philosophie zuzuordnen. Zwar spielt der Gottesbegriff auch innerhalb der theoretischen Philosophie eine gewisse Rolle, aber er wird dort lediglich als Hypothese eingeführt, nicht ‚postuliert‘; Physiko- und Ethikotheologie werden klar voneinander unterschieden. In der Geschichtsphilosophie vermischen sich dagegen Elemente der theoretischen und der praktischen Vernunft, denn beide tauchen in den verschiedenen Texten in unterschiedlichen Rollen auf: Während in den frühen Schriften zwar der Begriff des Menschen als eines moralfähigen Vernunftwesens in die teleologische Überlegung eingefügt wird, die Fortschrittshoffnung aber auf einem Bedürfnis der theoretischen Vernunft beruht, kehrt sich dies in den späten Schriften um: Hier stellt die theoretische Vernunft nur noch die Struktur teleologischen Denkens zur Verfügung; deren Notwendigkeit wird von der praktischen Vernunft erwiesen. Mit diesen Schwierigkeiten im Hinterkopf lassen sich zwischen Postulatenlehre und Geschichtsphilosophie im Wesentlichen zwei Analogien erkennen: Eine bezieht sich auf die Rechtfertigung, die andere auf den epistemischen Status. Postulatenlehre und Geschichtsphilosophie beziehen ihre Überzeugungskraft letztlich aus einem Vernunftbedürfnis. Während dieses im ersten Fall lediglich ein Bedürfnis der praktischen Vernunft ist, sind in der Geschichtsphilosophie zwei Phasen zu unterscheiden: Spielt zunächst das Bedürfnis der theoretischen
Zu diesem Ergebnis kommt auch Langthaler 1991, 59; dort finden sich auch weitere Literaturangaben zu konkurrierenden Thesen.
9.3 Geschichte und höchstes Gut
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Vernunft die entscheidende Rolle, ist es später das Bedürfnis der praktischen Vernunft.⁶³⁸ Die frühen geschichtsphilosophischen Schriften weisen sicherlich nur eine weitläufige Analogie zur Postulatenlehre auf, denn das Vernunftbedürfnis ist je von verschiedener Art und führt auf unterschiedliche Resultate: Einerseits eine teleologische Interpretationsmaxime; andererseits die moralische Notwendigkeit der Gottesannahme. Die weitgehendere Analogie zur Postulatenlehre findet sich daher in den späten Schriften: Hier kann auch historischer Fortschritt mit gutem Recht als ‚Postulat‘ bezeichnet werden.⁶³⁹ Beide Argumentationen nehmen ihren Ausgangspunkt bei einem moralischen Bedürfnis bzw. Interesse der Vernunft.⁶⁴⁰ Unter der Bedingung der Unbeweisbarkeit des Gegenteils⁶⁴¹ sei die Vernunft berechtigt, aus einer ihr aufgetragenen Pflicht auf die Möglichkeit der Verwirklichung der Pflicht zu schließen. Die Geschichtsphilosophie unterscheidet sich von der Postulatenlehre allerdings darin, dass das Argument durch empirisch gestützte Überlegungen ergänzt werden soll (die Sichtbarkeit teleologischer Strukturen in der Welt bzw. das Geschichtszeichen). Als Resultat der gemeinsamen Rechtfertigung teilt die Geschichtsphilosophie mit der Postulatenlehre den schwer zu fassenden epistemischen Status zwischen Wissen und Nicht-Wissen bzw. bloßem ‚Meinen‘.⁶⁴² Zwar diskutiert Kant an keiner Stelle den Begriff des Glaubens ausdrücklich mit Bezug auf die Geschichtsphilosophie,⁶⁴³ ordnet diese stellenweise gar dem Wissen (vgl. SF XI, 351) oder der Meinung (vgl. TP XI, 170) zu.⁶⁴⁴ Dennoch scheint es angemessen, die geschichtsphilosophischen Thesen unter den Glaubensstatus zu subsumieren, sofern die praktische Rechtfertigung überwiegt. Dafür spricht vor allem, dass Kant im Zusammenhang mit der Postulatenlehre von ‚Hoffen‘ spricht (siehe Kapitel 4.2); dieser Begriff fällt mehrfach auch in den geschichtsphilosophischen Schriften (vgl. z. B. IaG XI, 49; TP XI, 168 und ZeF XI, 229). Aber auch der Sache nach fällt die Hoffnung auf die Geschichte unter Kants Verständnis des Glaubens: „Der Glaube Zum Begriff des Vernunftbedürfnisses in der Geschichts- und Religionsphilosophie vgl. ausführlich Kleingeld 1995. Siehe Kapitel 8.3 und Fußnote 564. Vgl. für die Geschichtsphilosophie RL VIII, 477; für die Postulatenlehre z. B. RGV VIII, 651. Vgl. für die Geschichtsphilosophie TP XI, 167 f. und RL, 477; für die Postulatenlehre z. B. KpV VII, 250 und KU X, 603. Vgl. dazu auch Höffe 2011b, 22– 25. Kant grenzt sich allerdings an einer Stelle vom „Ungläubigen“ (SF XI, 362) ab; dies kann so gelesen werden, als wolle er der Geschichtsphilosophie ausdrücklich den Glaubensstatus zusprechen (siehe Kapitel 7.2). Siehe dazu allerdings die möglichen Interpretationen in Kapitel 7.1 und 7.2.
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(schlechthin so genannt) ist ein Vertrauen zu der Erreichung einer Absicht, deren Beförderung Pflicht, die Möglichkeit der Ausführung derselben aber für uns nicht einzusehen ist“ (KU X, 603); er umfasst Urteile, die zwar für die theoretische Vernunft problematisch bleiben, für die praktische Vernunft aber gerechtfertigt sind (vgl. z. B. KpV VII, 252 f.) – dies gilt auch für die Geschichtsphilosophie (vgl. ZeF XI, 226 f.). Entsprechend gilt für Geschichtsphilosophie und Postulatenlehre gleichermaßen, dass es kein Gebot geben kann, sich von der Existenz Gottes (vgl. etwa KpV VII, 278 f.) bzw. der Wahrheit der Fortschrittsthese (vgl. RL VIII, 478) überzeugen zu lassen. Mit dem Status des Glaubens teilen Geschichte und Postulatenlehre auch dessen Schwierigkeiten. Wenn so zu handeln ist, als ob Gott existiere, oder wenn im Handeln historischer Fortschritt gegebenenfalls kontrafaktisch vorausgesetzt werden muss (so insb. RL VIII, 478), besteht ein Problem darin, dass sich das Subjekt in der einen oder anderen Weise eine Überzeugung aneignen muss, von der es weiß, dass sie auch falsch sein kann. Die geschichtsphilosophischen Texte gehen allerdings über die These einer als-ob-Interpretationsmaxime hinaus, sobald die Idee einer sich notwendig entwickelnden moralischen Anlage zur Rechtfertigung der Fortschrittsidee eingeführt wird – ausgehend von dieser Überlegung ist Fortschritt mehr als nur ein Postulat.⁶⁴⁵ (c) Folgt aus der Analogie in der Rechtfertigung, dass Geschichte und Religion von gemeinsamen Prämissen abhängen? Auch wenn die Argumentationen selbst eigenständig konzipiert sind, setzen sie zumindest gemeinsam voraus, dass der verwendete Argumentationstypus zulässig ist. Dies umfasst einerseits die prinzipielle Legitimität des Rückgriffs auf ein ‚Vernunftbedürfnis‘ mit rechtfertigender Kraft, andererseits konkret den Schluss vom Sollen auf die Wirklichkeit des Gesollten. Wenigstens in diesem Punkt gilt, dass Geschichte und Religion gemeinsame Prämissen teilen. Diese Einsicht ist, obgleich banal, nicht ganz unbedeutend. In der Literatur ist versucht worden, die Unabhängigkeit der Geschichtsphilosophie von der Religionsphilosophie zu betonen; Geismann (2000, 512) spricht in diesem Zusammenhang von einer „Autarkie“ der Geschichtsphilosophie. Die vermeintliche Unabhängigkeit der Geschichtsphilosophie zielt bei manchen, etwa bei Wittwer (1996), direkt darauf ab, die Religionsphilosophie verwerfen zu können, ohne auch die Geschichtsphilosophie fallenlassen zu müssen. Gegen solche Versuche kann festgehalten werden, dass wenigstens einige Grundlagen der Postulatenlehre geteilt werden müssen, wenn Kants Geschichtsphilosophie für überzeugend gehalten werden soll. Damit ist natürlich noch nicht gesagt, dass jeder, der die
Kant vertritt dies in SF, aber auch in der Religionsschrift; vgl. die Kapitel 5.5, 7.2 und 8.3.
9.3 Geschichte und höchstes Gut
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Geschichtsphilosophie vertritt, notwendig auch die Postulatenlehre vertreten muss. (d) Statt gemeinsamer Prämissen könnte eine argumentationslogische Verbindung von Postulatenlehre und Geschichtsphilosophie auch darin bestehen, dass das eine ein Argument für das andere liefert. Dabei muss es sich nicht um ein Argument im strengen Sinne handeln, das eine konstitutive Rolle für den Gedankengang spielt. Es käme auch in Frage, dass die Richtigkeit des einen die Richtigkeit des anderen nachträglich bestätigt und auf diese Weise ähnlich wie ein ‚Kreditiv‘⁶⁴⁶ zusätzlich plausibilisiert; eine solche Bestätigung könnte sogar wechselseitig bestehen. In der Literatur werden diesbezüglich nahezu alle Möglichkeiten vertreten: Einerseits beharrt Geismann auf der These, es läge keine Form eines Abhängigkeitsverhältnisses von Geschichte und Religion vor. Beide würden zwar in einem gemeinsamen Konzept praktischer Vernunft wurzeln, darüber hinaus aber nichts mehr miteinander zu tun haben. Der Geschichtsphilosophie komme „Autarkie“ gegenüber der Religionsphilosophie zu, auch wenn beide in einer bestimmten Weise Moralität voraussetzen (vgl. Geismann 2000, insb. 512 und 528 Fn.). Auf der anderen Seite stehen Interpretationen, die einen sehr engen Zusammenhang zwischen Geschichte und Religion sehen, der insbesondere darin besteht, dass Geschichtsphilosophie nur unter der Annahme eines weisen Welturhebers plausibel sei. „Kant thought that, ultimately, we cannot fully understand how even the secular version of the Highest Good would be possible without the postulate of a moral author of the world, who orders the laws of history in a certain way.“ (Reath 1988, 601) Die Annahme der Existenz eines weisen Welturhebers ‚leihe‘ sich Kant gewissermaßen von der Postulatenlehre; die Geschichtsphilosophie nehme insofern den Vernunftglauben der KpV und mit ihm „das Postulat der Existenz Gottes als der weisen Vorsehung in Anspruch“ (Kleingeld 1995, 163).⁶⁴⁷ Weniger auf die Postulatenlehre im engeren Sinn, aber doch auf Kants
Als Kreditiv bezeichnet Kant die Zusammenstimmung von moralischem Gesetz und theoretischer Vernunft, welche der Freiheit einen Raum zuweisen könne; sie sei „statt aller Rechtfertigung“ (KpV VII, 162) hinreichend, um das Faktum der Vernunft zu akzeptieren. Ich verstehe das als eine Plausibilisierung, die zwar nicht in einem strengen deduktiven Sinn einen Satz beweisen, aber doch ausreichende Gründe liefern kann. Kant legt auch andernorts nahe, dass er solchen Plausibilisierungsargumenten durchaus eine wichtige Rolle zuweist: So spricht er in der KU etwa von einer „erwünschten Bestätigung“ (KU X, 448), die die physische Teleologie dem moralischen Argument für die Existenz Gottes leiste. Auch Siep sieht eine Verbindung des durch die Postulate gerechtfertigten Gottesbegriffs zur Geschichtsphilosophie: „Die Absicht eines solchen [moraltheologisch durch Postulate einge-
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Gottesglauben stellen Weyand und Despland ab: Kant habe die Geschichtsphilosophie mit ihrer starken Fortschrittshoffnung nur aufgrund seiner religiösen Grundeinstellung vertreten. „Kants unausgesprochener Glaube“ an einen „unendlich weisen Schöpfer“ sei die „tragende Grundvoraussetzung der Kantischen Geschichtsphilosophie“ (Weyand 1963, 60); Despland sieht eine „theistic basis to the hope Kant held before men in his philosophy of history“ (Despland 1973, 92; vgl. auch 267).⁶⁴⁸ Zwischenpositionen sehen zwar in Geschichts- und Religionsphilosophie jeweils eigenständige Argumentationen, die sich aber doch in die eine oder andere Richtung stützen. Sommer (2006, 321) vertritt die Ansicht, durch den mitunter empirisch ausgewiesenen juridischen Fortschritt in der Welt gewänne Kant einen empirischen Anhaltspunkt für die Annahme der Existenz eine weisen Welturhebers; die Geschichtsphilosophie sichere auf diese Weise die Postulatenlehre a posteriori ab. Kleingeld schreibt (m. E. in einer Spannung zu der soeben zitierten These, die Geschichtsphilosophie nehme die Postulatenlehre in Anspruch), Geschichtsphilosophie und Postulatenlehre stünden in einem Verhältnis der wechselseitigen „Bestätigung“, da die Zweckmäßigkeit der Geschichte eine „Konvergenz und Übereinstimmung“ (1995, 159) mit der Möglichkeit des höchsten Gutes aufweise. Tatsächlich heißt es bei Kant – allerdings ohne ausdrücklichen Bezug auf die Geschichtsphilosophie –, die Möglichkeit einer teleologischen Interpretation der Natur diene „dem moralischen Argument zu erwünschter Bestätigung“ (KU X, 448). Sieht man einmal von der allzu spekulativen Rückführung der Geschichtsphilosophie auf Kants persönlichen Glauben ab, wie sie etwa Weyand vertritt, fällt es schwer, sich zwischen den angeführten Positionen zu entscheiden. Dass in gewisser Weise eine wechselseitige Plausibilisierung zwischen beiden Theorieteilen vorliegt, ist einigermaßen klar. Aber ob diese so weit reicht, dass der eine nur gemeinsam mit dem anderen überzeugt, bleibt offen: Weder stellt Kant in den einschlägigen Schriften einen starken argumentativen Bezug zwischen Religion führten; MH] Wesens muß also notwendig in Erfüllung gehen. Das gilt […] für den natürlichen Prozeß der Kultivierung […].“ (1995, 360) In diese Richtung ist auch Natorp einzuordnen: Kants Glaube, dass sich das Rechte eines Tages durchsetzen werde, beruhe auf „tiefster, echtester, gerade weil aller Schwärmerei abholden Religiösität“; seine Geschichtsphilosophie sei im Ganzen nichts anderes als ein „Wagnis des Glaubens“ (Natorp 2008 [1924], 23). – Eine andere Interpretationsrichtung sieht das Ringen um den Gottesbegriff gar als Motiv des gesamten Denkens Kants; darunter würde dann auch die Geschichtsphilosophie fallen. Vgl. etwa Heidegger: „Nun wird aber und bleibt für Kant die Frage, ob und wie und in welchen Grenzen der Satz ‚Gott ist‘ als absolute Position möglich sei, der geheime Stachel, der alles Denken der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ und die nachfolgenden Hauptwerke bewegt.“ (1976 [1961], 455) Daran hat später wirkungsreich Georg Picht angeknüpft.
9.3 Geschichte und höchstes Gut
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und Geschichte ausdrücklich her, noch wäre dieser sachlich auszuschließen. In einer Vorlesungsmitschrift heißt es zwar deutlich: „Wenn Gott alles regieret; so sind wir auch befugt, in der Natur einen teleologischen Zusammenhang anzunehmen.“ (V-Phil-Th/Pölitz XXVIII, 1114) In der KU wird eine solche Argumentation jedoch nicht wiederholt; das Argument zur Rechtfertigung der Teleologie ist dort ein eigenständiges. Dass Kant wiederholt in geschichtsphilosophischen Kontexten von der Vorsehung oder der Schöpfung spricht, scheint mir ebenfalls kein zwingender Beleg für einen engen Zusammenhang mit der Postulatenlehre zu sein. (e) Die These, dass die Geschichts- und Religionsphilosophie Kants letztlich in einer übergeordneten, einheitlichen Theorie des höchsten Gutes zusammenfallen, ist nicht notwendigerweise ein Spezialfall der Behauptung, es gäbe eine argumentationslogische Verbindung zwischen Fortschrittshoffnung und Postulatenlehre. Denn die These kann zwar so verstanden werden, dass sich Geschichte und Religion als Teile einer gemeinsamen Theorie einseitig oder wechselseitig bedingen. Sie kann aber auch als Zusammenführung der beiden Themenbereiche aufgefasst werden, die die je eigenständigen Argumentationen bestehen lässt und lediglich die Resultate begrifflich vereinigt. Im ersten Fall würde Kant von einer allgemeinen Theorie auf den konkreten Fall der Geschichtsphilosophie schließen – Kleingeld bezeichnet die Geschichtsphilosophie etwa als „Konkretisierung der Lehre vom höchsten Gut“ (1995, 216).⁶⁴⁹ Im zweiten Fall würden Geschichte und Religion unabhängig voneinander entwickelt, danach aber im Gottesbegriff oder in einem übergeordneten Begriff des höchsten Gutes zusammengeführt. So verstehe ich die Position Desplands: „The efforts of man in time rest upon faith in man’s future and the possibility of that future as a future of justice: such faith is also a faith in God.“ (1973, 264) Ein Indiz dafür, dass Kant Geschichte und Religion in irgendeiner Weise als Bestandteile einer übergeordneten Theorie auffasst, könnte der Aufbau der Methodenlehre der KU sein. Kant geht dort unvermittelt von den geschichtsphilosophischen Überlegungen zur Ethikotheologie und dem moralischen Gottesbeweis über. Natürlich lässt sich die Methodenlehre prinzipiell so deuten, dass sich zwischen den Paragraphen 84 und 85 einfach ein radikaler Themawechsel vollziehe (so Geismann 2000, 509). Dies kann aber aus verschiedenen Gründen angezweifelt werden: Zum einen folgen viele andere Paragraphen der Methodenlehre sichtbar einem bruchlosen Gedankengang, sodass dieser prima facie auch für die genannten zu unterstellen ist. Zum anderen lebt die Argumentation des §83 von der Einführung des Menschen als Endzweck der Schöpfung im §84; der
Ähnlich Yovel 1980, 29 ff. und Michalson 1976.
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9 Geschichte und Religion im System Kants
Übergang zur Theologie ist damit bereits schon vollzogen.⁶⁵⁰ In der KU bleibt weiterhin fraglich, ob Kant den verständigen Welturheber nicht letztlich mit der obersten moralischen Weisheit identifizieren und so Physiko- und Ethikotheologie miteinander verbinden möchte. Eine solche Verbindung liefert ja bereits die Vorstellung, dass sich hinter der Naturteleologie ein göttlicher Grund verberge (siehe Kapitel 6.2 und 8.5). Kant schreibt jedoch ebenso, „daß also die Teleologie keine Vollendung des Aufschlusses für ihre Nachforschungen, als in einer Theologie, findet“ (KU X, 350).⁶⁵¹ Rätselhaft bleibt ebenfalls die in Kapitel 8.5 bereits zitierte Stelle aus der Theodizeeschrift: „Aber von der Einheit in der Zusammenstimmung jener Kunstweisheit mit der moralischen Weisheit in einer Sinnenwelt haben wir keinen Begriff; und können auch zu demselben nie zu gelangen hoffen.“ (MpVT XI, 115). Folgt daraus, dass eine solche Zusammenstimmung nicht denkbar ist, oder aber, dass sie angenommen werden muss, ohne dies begrifflich einholen zu können? Eine deutlichere Textstelle findet sich in der nach 1791 entstandenen, aber von Kant nie selbst veröffentlichten Schrift über die Preisfrage, welche Fortschritte die Metaphysik seit Leibniz und Wolff erzielt habe. Hier findet sich die These, dass „die Welt im Ganzen immer zum Besseren fortschreite“ (FM VI, 647), inmitten einer Diskussion des höchsten Gutes. Kant scheint anzunehmen, dass eine „moralisch-teleologische Verknüpfung“ (FM VI, 647), die zwischen dem Physischen und dem Moralischen gedacht werden muss, sich gleichermaßen in der Geschichte und in einem Ausgleich der Glückseligkeit im Jenseits zeige. Es scheint also so zu sein, dass Kant Postulatenlehre und Geschichtsphilosophie letztlich als Bestandteile einer größeren Einheit betrachtet hat. Dies bleibt aber – zumindest auf Grundlage der vorliegenden Arbeit – eher eine vage Vermutung, als dass eine klare Intention Kants erkennbar wäre. Welches Fazit lässt sich aus diesen Beobachtungen für die Frage ziehen, ob Kant seine Geschichtsphilosophie als ein religionsphilosophisches Projekt angesehen hat? Eine eindeutige Antwort scheint kaum möglich. Zu viele Fragen bleiben offen: Wie ist die Beschränkung auf den Naturbegriff zu verstehen, obwohl immer wieder die göttliche Vorsehung ins Spiel gebracht wird? Wird die vernünftig verlaufende Geschichte letztlich auf denselben Gottesbegriff zurückgeführt, der mit der Postulatenlehre schon als denknotwendig erwiesen werden sollte? Oder soll der
Dies betont etwa Hübner 2011, 37. Zu diesem Streit in der Kant-Literatur vgl. z. B. Thies 2007; Städtler 2012, 11; Ricken 2004, 177 und Düsing 1968, 48 ff.
9.3 Geschichte und höchstes Gut
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Bezug zum Vernunftglauben sogar ausdrücklich zurückgewiesen werden, wenn Kant 1798 von ‚Wissen‘ spricht? Aber immerhin lässt sich festhalten: Die Geschichtsphilosophie ist zwar im Vergleich mit der Theorie vom ethischen Gemeinwesen nochmals stärker an einer immanenten Lehre von der Geschichte orientiert; sie weist aber derart viele explizite und implizite Bezüge zur gesamten kantischen Religionsphilosophie auf – zur Teleologie und dem gottgleichen „Kunstverstand“; zur Postulatenlehre mit der Lehre vom Vernunftbedürfnis und dem Status des Glaubens; schließlich zur eschatologischen Lehre vom ethischen Gemeinwesen –, dass sie mit Recht mindestens als quasi-religiös bezeichnet werden kann. Kants geschichtsphilosophische Schriften als Beleg für eine rein säkulare Geschichtstheorie der Neuzeit zu verwenden,⁶⁵² ist schon deshalb zum Scheitern verurteilt, weil Kant sie selbst in mehrfacher Hinsicht in einen theologischen Rahmen eingebettet hat.
So z. B. Wittwer 1996; Riedel 1973 und Höffe 2011b, 3.
10 Rück- und Ausblick: Ist eine säkulare Geschichtsphilosophie möglich? „Jeder philosophische Denker baut, so zu sagen, auf den Trümmern eines andern sein eigenes Werk; nie aber ist eines zu Stande gekommen, das in allen seinen Teilen beständig gewesen wäre.“ (Log VI, 448) Kant mag die Glaubwürdigkeit der dogmatischen Eschatologie der Offenbarungsreligionen in Frage gestellt haben; in den Ruinen der kantischen Religions- und Geschichtsphilosophie fanden sich einige ihrer Elemente dennoch als tragende Säulen wieder. Doch auch der hier vorgelegte Versuch, aus Kants Überlegungen etwas lernen zu wollen, endet eher mit einem Trümmerhaufen denn mit einer fertigen Geschichtstheorie. Um auszuloten, welche Aspekte der Philosophie Kants als Bausteine zu einem angemessenen Verständnis der Geschichte dienen können, sei ein doppelter Blick zurück und ein doppelter Blick nach vorne gerichtet: Lässt man zunächst die Resultate dieser Arbeit Revue passieren, so ist zu fragen: (1) Hat sich der gewählte methodische Ansatz bewährt, säkularisierte Eschatologie herauszuarbeiten; welche Erkenntnisse sind besonders hervorzuheben? (2) Und welche Einsichten gibt die Interpretation der kantischen Geschichts- und Religionsphilosophie an die Hand, die für eine philosophische Reflexion über die Geschichte zu berücksichtigen sind? Sodann ist mit vorwärtsgewandtem Blick auf die Suche nach einem angemessenen Geschichtsbegriff für die Philosophie der Gegenwart zu fragen: (3) Welche Optionen tun sich auf, um den diagnostizierten Problemen der kantischen Geschichtsphilosophie zu entgehen? (4) Eröffnen diese die Möglichkeit einer säkularen Geschichtsphilosophie, und was grenzt sie von heutigen theologischen Geschichtsmodellen ab? (1) Sicherlich sind nicht alle Ergebnisse meiner Kant-Interpretation von dem speziellen Zugang einer Suche nach säkularisierter Eschatologie abhängig. Dennoch hat sich diese Perspektive als ergiebig erwiesen. Dabei geht es mir weniger darum, dass sich tatsächlich in quantitativer Hinsicht eine ganze Menge Strukturanalogien zur Eschatologie ausfindig machen ließen, die das pauschale Säkularisierungsmodell Löwiths in Bezug auf Kant detailliert korrigieren. Wichtiger ist mir einerseits, dass durch den Säkularisierungsansatz oft übersehene Zusammenhänge sichtbar wurden; andererseits, dass die Diagnose von Säkularisierungsmomenten mehrfach wie erhofft eine problemaufschließende Funktion übernahm. So ist aus meiner Sicht in ideengeschichtlicher Hinsicht etwa die Erkenntnis hervorzuheben, dass die Idee eines innerweltlichen Reichs Gottes, welche das Dritte Stück der Religionsschrift prägt, keineswegs eine spezifische Säkularisie-
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rung Kants darstellt, sondern dieser solche Konzepte ganz im Gegenteil in der Theologie seiner Zeit vorfindet und dankend aufgreifen kann: Gerade die Vorstellung einer irdischen Verwirklichung des höchsten Ideals interessiert Kant an den selbst in die Aufklärungsdebatte verwickelten theologischen Diskursen protestantischer Prägung (siehe Kapitel 5.6). Auch was die Kant-immanente Forschung betrifft, führte das Säkularisierungstheorem in meinen Augen interessante Zusammenhänge vor Augen. So ergab sich aus dem Nebeneinanderlegen der beiden großen eschatologischen Themenblöcke – Geschichtsphilosophie und Theorie der Kirchengeschichte – eine Erklärungshypothese für die Beobachtung, dass Kant nach 1793 verstärkt nur noch den juridischen Fortschritt in den geschichtsphilosophischen Texten als Ziel der Geschichte ausweist: Indem Kant durch die Thematik der Religionsschrift dazu gebracht wird, Kirchen- und profane Geschichte voneinander zu trennen, wird die profane Geschichte nach einem eigenständigen Prinzip strukturiert. Daraus ergab sich wiederum die These von zwei verschiedenen, sich eigentlich wechselseitig ausschließenden Entwicklungsmodellen, die bei Kant nach augustinischem Muster gleichzeitig nebeneinanderher verlaufen sollen: Während die politische Geschichte durch Krieg und Konkurrenz vorangetrieben wird, ist eine zunehmende Entwicklung der moralischen Anlage des Menschen, die in der sichtbaren Kirche modellhaft abgebildet werden soll, mit solchen heteronomen Antriebskräften unvereinbar (siehe Kapitel 8.1 und 9.1). Freilich gilt dies nur in groben Zügen. Dass Kant auch innerhalb der religionsphilosophischen bzw. geschichtsphilosophischen Texte teils unterschiedliche, kaum miteinander vereinbare Entwicklungs- und Fortschrittsmodelle verschiedener Provenienz verwendet, konnte ebenfalls gezeigt werden (siehe v. a. Kapitel 5.4 und 7.2). Verbunden mit dieser Beobachtung ist sichtbar geworden, wie Kant um einen Fortschrittsbegriff ringt, der die Gestaltbarkeit der Geschichte durch den Menschen ermöglicht: Vor allem in der Religionsschrift und dem Streit der Fakultäten liegt darin ein sich durchziehendes Grundmotiv. Kant sieht sich jedoch zugleich dazu genötigt, auf den Vorsehungsgedanken nicht verzichten zu können. Dies folgt für ihn nicht nur aus erkenntnistheoretischen Überlegungen, wie sie v. a. in Kapitel 6 dargestellt wurden, sondern auch aus der Überzeugung heraus, dass menschliche Kooperation, sofern sie auf eine grundlegende Änderung der moralischen und politischen Bedingungen des Zusammenlebens zielt, nur ‚von oben‘ erfolgreich zu einem zweckmäßigen System verbunden werden kann. Indem die Vorsehungslehre den Versuch retten soll, Geschichte als gestaltbar zu denken, zugleich aber dem Menschen die Hoheit über die Geschichte wieder absprechen muss, gerät Kant in einige Probleme (siehe etwa Kapitel 5.2, 7.2, 8.1 und 8.4). Problemaufschließend erwies sich der Säkularisierungsansatz insbesondere in Bezug auf das Theodizeeproblem. Es konnte nicht nur ein systeminterner
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Widerspruch bei Kant aufgedeckt und das Schwanken zwischen den Begriffen Natur und Vorsehung dazu in Beziehung gesetzt werden (siehe Kapitel 8.6). Im Durchgang durch die einzelnen Texte wurde darüber hinaus deutlich, wie sich das Motiv konsequent durchzieht, trotz aller Missstände daran festzuhalten, dass wir in einer guten Welt leben. Die „Unausdenkbarkeit der Verzweiflung“⁶⁵³ angesichts der in moralischer Hinsicht höchst fragwürdigen Geschichte der Menschheit scheint tatsächlich ein wesentlicher Antrieb Kants zu sein. Neben diesen großen Themenblöcken, die vielleicht die wichtigsten Resultate der Arbeit enthalten, führte die Suche nach säkularisierter Eschatologie zu einigen weiteren Korrekturen an gängigen Lesarten der Texte Kants. So wurde mit Bezug auf die Religionsschrift argumentiert, dass Kant entgegen dem ersten Anschein die Auflösung der sichtbaren Kirche zugunsten der unsichtbaren nicht einfach als Weiterführung der irdischen Geschichte verstehen kann, sondern erst mit dem Anbruch einer künftigen Welt für möglich hält (siehe Kapitel 5.3). Was die Idee zu einer allgemeinen Geschichte betrifft, ist ein Verständnis der Argumentationsstruktur vorgeschlagen worden, das den gängigen Vorwurf ausräumt, Kant reihe ohne weitere Begründung dogmatische Thesen aneinander. Die innere Logik, die dadurch sichtbar wird, macht die Theorie Kants freilich nicht sympathischer; sie legt vielmehr offen, mit welcher Radikalität Kant sich auf das Projekt einer Naturund Geschichtsteleologie einlässt (siehe Kapitel 6.1). Schließlich wurde versucht, die Vorsehungslehre im Gemeinspruch entgegen den üblichen Interpretationen als Baustein der praktischen Rechtfertigung des Fortschritts zu verstehen, wodurch allein ein vollständiges (wenn auch noch nicht überzeugendes) Argument entsteht (siehe Kapitel 7.1). Es soll nicht verschwiegen werden, dass die erzielten Ergebnisse in mancher Hinsicht noch keine volle Befriedigung mit sich bringen. Dort, wo sich der Säkularisierungsansatz als einschlägig erwies, stellte sich schnell das Problem ein, dass er weit mehr Fragen aufwarf, als hier zu beantworten möglich gewesen wäre: Auf welche theologischen Positionen bezieht sich Kant konkret; welche Aspekte des theologischen Diskurses übergeht er? Worin besteht Kants Eigenleistung, und welche Transformationsprozesse wurden bereits von seinen Zeitgenossen vollzogen? In welchem Wechselverhältnis stehen also philosophischer und theologischer Diskurs in der Spätaufklärung? Der pauschale Bezug auf ‚die christliche Eschatologie‘, wie er anfangs als Ausgangspunkt der Fragestellung nicht anders formuliert werden konnte, verliert zunehmend an Bedeutung, wenn die philosophiegeschichtlichen Bezüge erst ein gewisses Maß an Detailliertheit erreicht haben. Zwar zielt mein vorrangiges Er-
Darin sieht Adorno (1975, 378) das „Geheimnis“ der gesamten kantischen Philosophie.
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kenntnisinteresse, wie anfangs offengelegt, nicht auf den Nachweis konkreter Quellen ab. Aber ein vertieftes Verständnis von Transformationsprozessen lebt natürlich auch von der Bearbeitung der transformierten Debatten, die hier nicht geleistet werden konnte. Möchte man den Transformationen des traditionellen Geschichtsdenkens, wie sie sich in der vorliegenden Arbeit angedeutet haben, genauer nachgehen, wären daher weitere Quellenstudien oder vergleichende Studien nötig. Auch in anderer Hinsicht musste letztlich manches unbeantwortet bleiben; darunter auch solche Fragen, die zu dem Säkularisierungsansatz ursprünglich motiviert haben. Ob den theologischen Begriffen in der Geschichtsphilosophie für Kant eine systematisch relevante Funktion zukommt, ist ebenso wenig abschließend geklärt wie die Fragen, weshalb Kant die Begriffe Natur und Vorsehung variiert, und ob Geschichtsphilosophie im Ganzen auf einem Theismus fußt (siehe Kapitel 8.2, 8.5 und 9.3). Aber die hier geleisteten Überlegungen vermögen sicherlich künftigen Debatten noch als Problementfaltung zu dienen. (2) Kants Geschichtsdenken mag von vielen Einwänden, die heute pauschal gegen das Projekt der modernen Geschichtsphilosophie vorgebracht werden, nicht getroffen werden.⁶⁵⁴ Kant sieht von ontologischen Thesen über die Struktur der Geschichte ab, er vertritt keinen strengen Geschichtsdeterminismus, und die Geschichtsphilosophie ist durch ihre Anbindung an seine universelle Moraltheorie wenigstens ein Stück weit immun gegen Ideologisierungen im Namen partikularer Interessen. Dennoch ist auch Kant mit ernsthaften Problemen konfrontiert, die dazu führen, dass nur wenige Überlegungen in ihrer ursprünglichen Intention für eine Theorie der Geschichte relevant sein können. Überwiegend wird man daher – was nicht minder einer Wertschätzung seiner Philosophie gleichkommt – negativ aus Kant lernen müssen: Aus den Problemen, in die Kant gerät, sind Bedingungen abzuleiten, unter denen jede philosophisch vertretbare Auffassung von der Geschichte stehen muss. So ergab sich, dass Kants Geschichtskonzeption aufgrund ihrer teleologischen Struktur zu einer Negierung der Vernunftwidrigkeit von historischen Ereignissen tendiert – Geschichtsphilosophie wird unweigerlich zu einer Art Theodizee bzw. Verteidigung der Vollkommenheit der Welt, sobald rückblickend Mittel-Zweck-Beziehungen in die Geschichte hineininterpretiert werden (siehe insbesondere Kapitel 6 und 8.6). Im Umkehrschluss ist zu folgern, dass jede teleologische Auffassung von der Geschichte samt der vorsehungsanalogen Instanz vermieden werden sollte.⁶⁵⁵ Dies betonen u. a. Kleingeld 1996; Höffe 2011b, 19; Horn 2011a, 110; Pollmann 2011, 84; LutzBachmann 1988, 103 und Angehrn 2004, 329 – 331. Es ist verharmlosend, wenn Rohbeck (2010, 106 – 113) versucht, die Teleologie zu retten, indem er auf die narrative Struktur jeder Geschichtserzählung verweist. Es trifft zwar zu, dass
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Ebenso ergab sich, dass Kants Argumente nicht hinreichen, um künftigen Fortschritt prognostizieren oder eine Fortschrittshoffnung begründen zu können (siehe Kapitel 8.3). Solange keine besseren Argumente in Sicht sind, ist daraus zu folgern, dass jede Geschichtsphilosophie auf Zukunftsprognosen verzichten muss und die Vergangenheit nicht ohne weiteres in Bezug auf einen erwarteten Idealzustand interpretieren darf. Das hat weitreichende Folgen für die grundsätzliche Gestalt des Projektes Geschichtsphilosophie: Wenn jedes Urteil über die historische Bedeutung konkreter Ereignisse von dem künftigen Verlauf der Geschichte abhängt,⁶⁵⁶ kann es eine ‚wahre‘ oder ‚letzte‘ Deutung von Ereignissen nicht geben; der alles begreifende Blick vom Eschaton auf die Geschichte bleibt der Philosophie verwehrt. Einige Überlegungen Kants sind aber, wie mir scheint, von direkter und kaum zu überschätzender Relevanz für den geschichtstheoretischen Diskurs der Gegenwart. Zu den Argumenten mit bleibender Gültigkeit zählt vor allem, was ich die kritische Stoßrichtung genannt habe: Gegen alle Einwürfe der Empiristen, man könne oder brauche sich nicht an Idealen zu messen, sondern müsse zuallererst bewährte Machtstrukturen zu erhalten suchen, beharrt Kant auf der Möglichkeit einer vernunftgemäßen Zukunft (siehe v. a. Kapitel 7.1). Gegen alle Versuche, Herrschaftsbeziehungen auf die Natur des Menschen zurückzuführen, macht Kant geltend, dass die scheinbar unveränderlichen Charakterzüge des Menschen das Produkt genau dieser Herrschaftsbeziehungen sein könnten (siehe Kapitel 7.2). Damit ist nichts weniger gesagt, als dass der Blick auf das, was in der Geschichte schief gelaufen ist, noch eine Hoffnung auf künftige Veränderung mit sich bringen kann: Indem der Selbsterhaltungsmechanismus der Zwangsherrschaften der Vergangenheit entlarvt ist, erscheint er plötzlich als überwindbar. Geht man über die kritische Stoßrichtung hinaus, fallen womöglich Kants Überlegungen zur Geschichte als generationenübergreifendem Lernprozess noch in den Bereich systematischer Relevanz. Diese Idee wäre allerdings über die kurzen Andeutungen von Kant hinaus erst noch auszuarbeiten (siehe unten). Von Kant ist in meinen Augen schließlich in einem letzten Punkt zu lernen: Die moralischen Forderungen der Vernunft dürfen sich nicht auf das ethische Klein-
Geschichtswissenschaft nicht ohne eine narrative Strukturen auskommen kann und insofern Ereignisse anhand einer konkreten Perspektive auswählt und in Verbindung bringt (hierzu treffend Zwenger 2008). Aber das ist gerade nicht Teleologie im relevanten Sinn, denn die Geschichtserzählung stellt nicht alle Ereignisse als Mittel zu dem einem erkennbaren telos dar, sondern berücksichtigt, dass die verschiedenen Akteure um das Erreichen ihrer je eigenen Ziele konkurrieren. Dafür hat einflussreich Danto 1974 argumentiert. Dies trifft natürlich nicht notwendig für die moralische Beurteilung historischer Ereignisse zu.
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Klein des Alltags beschränken; sie müssen konsequent weitergedacht werden bis zu den großen Visionen einer gerechten Gesellschaft, die nur das ferne Produkt der künftigen Geschichte sein können (siehe insbesondere Kapitel 5.2, 5.3 und 7). Denn nur ein solches Ideal bietet eine abgesicherte Basis, um Fehlentwicklungen der Gegenwart begründet kritisieren (und nicht lediglich als dysfunktional zu dem ein oder anderen Partikularzweck ausweisen) zu können. Zwar verlässt die Philosophie ihre Grenzen, wenn sie das tatsächliche Eintreten solcher Idealzustände für die Zukunft postuliert; sie kann aber auf die abstrakte Ausformulierung von Idealen ebenso wenig ganz verzichten.⁶⁵⁷ Wenn solche Ideale nur kooperativ und über lange Zeiträume hinweg zu erreichen sind, dann lässt sich die Idee, dass Geschichte dem Menschen als Aufgabe übertragen ist, direkt aus dieser normativen Basis entwickeln.⁶⁵⁸ Aus diesem Anspruch ergeben sich Konsequenzen, die in der einen oder anderen Hinsicht dem Mainstream der gegenwärtigen philosophischen Forschung entgegenlaufen könnten: Gegen die Tendenzen innerhalb der Philosophie, sich auf ethische Detailfragen zu beschränken, die oftmals erst unter unmoralischen Bedingungen entstehen, ist m. E. mit Kant daran festzuhalten, dass der letzte Zweck des Vernunftgebrauchs im utopischen Ideal einer moralischen Welt zu suchen ist, in der solche Detailfragen ein Stück weit überflüssig geworden sind. So kann es etwa nicht ausreichen, globale Hilfspflichten der reichen Länder gegenüber den armen zu diskutieren, ohne die Strukturen in Frage zu stellen, die die bestehenden globalen Ungleichheiten erzeugt haben oder erhalten. Debatten in der politischen Philosophie und der angewandten Ethik, die die Möglichkeit einer solchen umfassenden Änderung globaler Strukturen nicht ausreichend berücksichtigen, laufen Gefahr, die aktuellen Bedingungen des Handelns vorschnell für prinzipielle zu halten. Weiterhin folgt aus dem formulierten Anspruch philosophischen Denkens, dass entgegen allen Versuchen, die Idee einer gemeinsamen Geschichte des Menschengeschlechts zugunsten von vielen parti-
Pollmann (2011, 87) konstatiert treffend, dass die Geschichtsphilosophie nicht „historisch notwendige Endzwecke versprechen“ dürfe, gleichwohl „philosophisch denknotwendige Endzwecke“ propagieren müsse. – Selbstredend kann es nicht darum gehen, konkrete Institutionen und Regeln auszuformulieren, die Gültigkeit für alle Zeit beanspruchen. Lediglich das abstrakte Ideal soll philosophisch entworfen werden; die konkrete Umsetzung hängt an vergangenen und künftigen Erfahrungen sowie am tatsächlichen Willen der Beteiligten. Hierin sehe ich die systematische Bedeutung des Konzepts der Gattungspflicht, das Kant in Bezug auf das ethische Gemeinwesens entwickelt, das aber m. E. in den relevanten Punkten für die Ideale des juridischen Gemeinwesens ebenso herangezogen werden kann. Sicherlich sind mit dem Konzept eine ganze Reihe von Schwierigkeiten verbunden (wer genau ist zu was verpflichtet?), aber das konsequente Durchdenken unserer normativen Überzeugungen legt m. E. nahe, dass an einer solchen Idee festzuhalten ist.
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kularen Geschichten der Völker aufzulösen, ein universaler philosophischer Geschichtsbegriff zu formulieren ist, der mit einer vernünftigen Gestaltbarkeit der Geschichte vereinbar ist. (3) Wenn deshalb die philosophische Aufgabe der Formulierung eines adäquaten Geschichtsbegriffs nicht aufgegeben werden darf, Kants Geschichtsphilosophie aber nur beschränkt brauchbar ist, welche Optionen tun sich auf, um das Desideratum auszuarbeiten? Es kann hier nicht darum gehen, das vollständige Programm einer systematischen Theorie der Geschichte zu entwerfen und sämtliche Themenfelder abzuhandeln, die in den letzten Jahren für die Rehabilitierung der Geschichtsphilosophie herangezogen wurden. Vielmehr möchte ich im Anschluss an meine Beobachtungen zu Kant einige Thesen und Vermutungen benennen, die auszuarbeiten lohnenswert erscheinen. Aus meiner Sicht stellt sich die Ausgangslage des geschichtsphilosophischen Problems wie folgt dar: Der Blick in die Vergangenheit führt durchaus weitläufige Entwicklungstendenzen vor Augen. Versucht man, anhand des empirischen Materials Geschichte nach allgemeinen Begriffen zu denken, so drängen sich Rationalisierungs- und Differenzierungstheorien auf. Diese sind keineswegs mit moralischem Fortschritt gleichzusetzen; vielmehr sind sie mit einer Ökonomisierung aller Lebensbereiche, einem Verlust an Gemeinsinn und einer wachsenden globalen Ungleichverteilung genauso verbunden wie mit den klassischen Indizien des Fortschritts, einem wachsenden Menschenrechtsschutz und dem Abbau von Diskriminierung wegen Rasse, Geschlecht und sexueller Orientierung. Der Moral entgegenkommende Tendenzen gibt es in der Geschichte allenfalls partikular, und diese sind auch noch beständig von einem Abdriften ins Unerwünschte bedroht (siehe dazu Kapitel 8.3). Die verschiedenen Entwicklungstendenzen scheinen dabei eine erstaunliche Eigenlogik zu entwickeln, die daran zweifeln lässt, ob sie sich durch bewusste Regulierung in gewollte Bahnen lenken ließen. In vielerlei Hinsicht drängt sich der Eindruck auf, die Lebenswelt der handelnden Subjekte, ja deren Bewusstsein selbst, werde stärker von historischen Tendenzen ‚ergriffen‘ und geprägt, als dass diese Geschichte nach ihrem Willen gestalten könnten. Dennoch bleibt, so das obige Resultat, die Vorstellung einer vernünftig gestalteten Geschichte philosophisch denknotwendig – und zwar nicht nur hinsichtlich vernünftig eingerichteter Rechtssysteme auf allen Ebenen, sondern auch, was eine Verbesserung der Bedingungen des moralischen Handelns im engeren Sinn betrifft.⁶⁵⁹
Dabei ist unstrittig, dass angesichts von Ökonomisierungs- und Individualisierungsprozessen ein Fortschritt an Moralität bedeutend unwahrscheinlicher ist als ein Rechtsfortschritt. Aber es ist m. E. nicht legitim, aus der geringen Wahrscheinlichkeit abzuleiten, dass eine
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Ein angemessener Geschichtsbegriff ist demnach mit zwei Problemen konfrontiert: Zum einen muss er trotz der scheinbaren Eigendynamik der Geschichte an ihrer Gestaltbarkeit festhalten – wenn auch noch nur als Möglichkeit. Zum anderen hieße Geschichte gestalten ja, die Welt künftig besser zu machen – doch wie ist dem Problem zu entgehen, dass ein darauf basierendes Fortschrittskonzept erneut den Blick auf die Vernunftwidrigkeiten der Welt verstellen könnte zugunsten des anvisierten Ideals, welches alle Mittel rechtfertigen würde? Zur Lösung der beiden Probleme drängt es sich auf, an Überlegungen anzuknüpfen, die bei Kant allenfalls angeklungen sind, am deutlichsten aber vermutlich bei Walter Benjamin⁶⁶⁰ ausgearbeitet wurden. Demzufolge eröffnet gerade der Blick auf die scheinbar unaufhaltsam sich durchsetzende Entwicklungslogik der Vergangenheit die Möglichkeit ihrer Überwindung, denn indem die Bedingungen offengelegt werden, unter denen diese Logik ‚funktioniert‘, ist zugleich der Weg angedeutet, wie sie zu durchbrechen wäre. Weil Ausgangspunkt des möglichen Fortschritts dabei stets eine sensible Wahrnehmung der Vergangenheit als Aneinanderreihung von Katastrophen bleibt, wird in einem solchen Rahmen eine Instrumentalisierung von Missständen zugunsten des Ideals vermieden. Fraglich erscheint mir, ob die Möglichkeit der künftigen Besserung tatsächlich mit einem radikalen Bruch mit der bisherigen Geschichte verbunden sein muss, wie Benjamin nahezulegen scheint. Denn bei dem Blick zurück auf den „Trümmerhaufen“ der Geschichte, der „zum Himmel wächst“ (Benjamin 1977 [1942], 255), lassen sich möglichweise doch partikulare historische Lernprozesse ausmachen, an die positiv anzuknüpfen möglich wäre. Dabei scheint mir die These noch überzogen zu sein, dass etwa die Rechtsentwicklung der Vergangenheit als Fortschritt gedeutet werden müsse, wenn dem Recht überhaupt ein Vernunftanspruch zukommen soll.⁶⁶¹ Aber die Idee, aus den Katastrophen der Vergangenheit nachhaltig lernen zu können, wie sie insbesondere Ludwig Siep in neueren Texten andeutet,⁶⁶² ist mit einem nicht-teleologischen Geschichtsbegriff durchaus vereinbar und würde diesen um ein bescheidenes positives Fortschrittskonzept erweitern. Demnach können unter günstigen Umständen historische Erfahrungen zu irreversiblen Fortschritten im kollektiven Bewusstsein
Verbesserung der Bedingungen des moralischen Handelns ganz aufzugeben oder aus dem Geschichtsbegriff auszuklammern wäre. Nämlich in Über den Begriff der Geschichte (1942) und dem Passagen-Werk (1982; postum). So Gutmann 2012. Auch Habermas’ Vorschlag, man könne „die Europäische Union als Schritt auf dem Wege zu einer politisch verfassten Weltgesellschaft begreifen“ und daraus „ein neues, überzeugendes Narrativ entwickeln“ (2011, 12), läuft zu sehr Gefahr, kontrafaktisch eine Entwicklung in die Geschichte hineinzuprojizieren, die den Blick auf Missstände verstellt. Siehe die Literaturangaben in Kapitel 8.3.
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führen: Es sei nicht mehr vorstellbar, dass irgendwann Sklaverei oder die Diskriminierung von Frauen nochmals als moralisch legitim angesehen werden könne (siehe auch Kapitel 8.3). Ein solches Lernkonzept hängt aber an Voraussetzungen, die von Siep nicht einzeln benannt und verteidigt werden. Dass Unrechtserfahrungen tatsächlich auf Dauer konserviert und nicht je nach Interessenslage in die eine oder andere Richtung ‚uminterpretiert‘ werden können, setzt – hier knüpfe ich an Überlegungen Kants aus den Kapiteln 5.4 und 7.2 an – eine stabile Fähigkeit des Menschen voraus, nach allgemeinen und reziproken Kriterien moralisch urteilen zu können, sowie eine konstante emotionale Reaktion auf Verstöße gegen universale Regeln. Trifft dies zu, müsste gegen den Antiessentialismus einiger Gegenwartsphilosophien eine moralische Wesensanlage des Menschen verteidigt werden. Angesichts einer möglich erscheinenden Änderung des menschlichen Wesens durch den Menschen selbst (etwa durch Enhancement) sind allerdings Szenarien vorstellbar geworden, in denen überlieferte Lernerfahrungen tatsächlich nicht mehr geteilt werden können. Eine weitere Bedingung historischen Lernens scheint mir eine Kultur der Erinnerung zu sein, die in globaler oder diachroner Perspektive nicht selbstverständlich sein dürfte. Fehlt Bereitschaft oder Erfolg, späteren Generationen Unrechtserfahrungen als solche zu vermitteln, dürfte die emotionale Bindung an historische Errungenschaften schnell abnehmen. Gelingt es, nach den hier skizzierten Kriterien einen angemessenen Geschichtsbegriff auszuformulieren, so lässt sich möglicherweise die Idee einer teleologisch strukturierten Geschichte in einem ganz anderen Sinn noch brauchbar machen, als sie in den Geschichtsphilosophien der Aufklärung intendiert war:Teleologie kann von einer Interpretationsmaxime zu einer Aufgabe bzw. einem kritischen Maßstab umgewandelt werden. Statt Geschichte so zu interpretieren, als ob sie ein telos hätte, sind demnach Menschen dazu angehalten, Geschichte so zu gestalten, dass in ihr ein langfristiger Plan sichtbar wird.⁶⁶³ In diesem Sinne ist Horkheimers These unbestreitbar: Es ist immer nur so viel Vernunft in der Welt,wie die Menschen selbst in ihr verwirklichen – und sie ist nur insofern vernünftig zu deuten,wie Menschen sich in ihr vernünftig verhalten (vgl. Horkheimer 1987 [1930], 268). (4) Jede Geschichtsphilosophie, die Teleologie im kantischen Sinn als Interpretationsmaxime versteht, scheint auf einen quasi-göttlichen Standpunkt angewiesen zu sein,von dem aus sich Geschichte vernünftig erschließen lässt. Sollen
Diesen Gedanken übernehme ich von Städtler. „Das geschichtlich Gegebene ist zu messen an der Möglichkeit, es unter die Einheit der Vernunft zu bringen, es zu denken, ohne irre daran zu werden.“ (Städtler 2013, 105)
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dann, wie bei Kant, Ereignisse der Gegenwart und Vergangenheit auch noch in Bezug auf einen in der Zukunft liegenden Endzustand hin gedeutet werden, wird Geschichtsphilosophie in bestimmten Hinsichten zu Eschatologie – hierin ist Löwith Recht zu geben. Doch gilt dies prinzipiell; etwa auch für einen Geschichtsbegriff, wie er soeben skizziert wurde, oder für andere Geschichtskonzepte, die in jüngere Zeit vertreten worden sind? Natürlich nicht, denn einige der ‚theologischen‘ Elemente sollen in solchen Modellen ja gerade vermieden werden. Dennoch stehen, wie mir scheint, einige der zeitgenössischen philosophischen Geschichtskonzepte in der gegenwärtigen Debatte unter dem Verdacht, mit einem theologischen Beigeschmack behaftet zu sein – und dies je stärker, desto optimistischer sie ausgerichtet sind und je mehr Bedeutung die Hoffnung auf eine bessere Zukunft einnimmt. Ein Symptom dieser Debattenlage ist sicherlich, dass Theoretiker wie Bloch und Benjamin heute in der Theologie stärker rezipiert werden als in der akademischen Philosophie, was ihrem Selbstbild sicherlich nicht entspricht. Es erschiene reizvoll, Bloch und Benjamin einmal eingehend auf die Frage hin zu untersuchen, ob auf ihrer Grundlage eine säkulare Geschichtsphilosophie möglich erscheint. Damit verbunden ist freilich auch die Frage, welche Rolle der Eschatologie als theologischem Konzept noch bleibt. Denn obzwar religiöser Glaube mit dem Wissen einhergehen muss, keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen zu können, kann er womöglich auch in der Moderne noch einen Beitrag zu einer besseren Welt leisten. Motivation zu außergewöhnlichem Engagement, das sich von vorübergehenden Rückschlägen nicht die Hoffnung auf späteres Gelingen nehmen lässt, kann durchaus einer eschatologischen Grundüberzeugung entspringen. Allerdings darf sich die theologische Deutung der Geschichte, die selbstverständlich nicht vollständig innerhalb der engen Grenzen der Vernunft stehenbleiben muss, nicht von allen Bedingungen freisprechen, die oben formuliert wurden; sie darf etwa Geschichte nicht als Theodizee instrumentalisieren. Die Theologie der Gegenwart distanziert sich daher zu Recht von der Vorsehungslehre oder einer vorschnellen ‚letzten‘ Deutung historischer Ereignisse.⁶⁶⁴ Übrig bleibt als theologisches Spezifikum dann aber noch das der philosophischen Theoriebildung nicht mehr zugängliche abstrakte Vertrauen in einen guten Ausgang der Anstrengungen menschlichen Handelns. Dass die daraus entspringende motivierende Kraft nicht in Fundamentalismus abgleitet, sondern zur Kooperation moralischer Subjekte führt – dafür kann wiederum nur eine säkulare Vernunft einstehen, von der auch der Gläubige sich nicht entbinden darf.
„Ein urteilender und verurteilender Blick auf die Weltgeschichte muss uns [den Theologen; MH] untersagt bleiben.“ (Schärtl 2011, 172)
Siglenverzeichnis AA Anth BDG
Akademie-Ausgabe Anthropologie in pragmatischer Hinsicht Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes EaD Das Ende aller Dinge FM Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolff‘s Zeiten in Deutschland gemacht hat? GMS Grundlegung zur Metaphysik der Sitten IaG Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht KpV Kritik der praktischen Vernunft KrV Kritik der reinen Vernunft KU Kritik der Urteilskraft Log Logik MAM Mutmaßlicher Anfang des Menschengeschlechts MpVT Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee MS Metaphysik der Sitten Refl Reflexion RGV Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft RL Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (=Metaphysik der Sitten, Erster Teil) SF Der Streit der Fakultäten TL Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre (=Metaphysik der Sitten, Zweiter Teil) TP Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Paxis ÜGtP Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie V-Met-L1/Pölitz Vorlesung zur Metaphysik L1 (nach Pölitz) V-Met-K2 Vorlesung zur Metaphysik K2 V-Phil-Th/Pölitz Philosophische Religionslehre (nach Pölitz) VNAeF Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie WA Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? WDO Was heißt: sich im Denken orientieren? ZeF Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf
Literaturverzeichnis Werke von Immanuel Kant werden in der Regel zitiert nach der von Wilhelm Weischedel herausgegebenen Werkausgabe in 12 Bänden, Frankfurt am Main 1986. Die Stellenangabe erfolgt in der Form: Siglum Band, Seite. Stellen der KrV werden zusätzlich mit der Seitenangabe der ersten (A) bzw. der zweiten Auflage (B) gekennzeichnet. Reflexionen, Vorlesungsmitschriften und Briefe von Kant werden zitiert nach der von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Akademie-Ausgabe, Berlin 1900 ff. Die Stellenangabe erfolgt in der Form: Siglum AA Band, Seite. Bibelstellen, auf die ich verweise, beziehen sich auf die Lutherbibel 1984. Bibelstellen, die von Kant zitiert werden, folgen der Lutherbibel 1545. Adam, Armin 2002: Despotie der Vernunft? Hobbes, Rousseau, Kant, Hegel, 2. Auflage, Freiburg. Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max 1947: Dialektik der Aufklärung, Amsterdam. Adorno, Theodor W. 1975: Negative Dialektik, Frankfurt am Main. Agersnap, Sören 1999: Baptism and the New Life. A Study of Romans 6.1 – 14, Aarhus u. a. Albertz, Rainer 1992: Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit, 2 Bde., Göttingen. Albrecht, Michael 1978: Kants Antinomie der praktischen Vernunft, Hildesheim/New York. Alexy, Robert 1992: Begriff und Geltung des Rechts, Freiburg/München. Allison, Henry E. 2009: Teleology and history in Kant: the critical foundations of Kant’s philosophy of history, in: Amélie O. Rorty/James Schmidt (Hg.): Kant’s Idea for a Universal History with a Cosmopolitan Aim, Cambridge, 24 – 45. Ameriks, Karl 2009: The purposive development of human capacities, in: A. Rorty/J. Schmidt (Hg.): Kant’s Idea for a Universal History with a Cosmopolitan Aim. A Critical Guide, Cambridge, 46 – 67. Anderson-Gold, Sharon 2001: Unnecessary Evil. History and Moral Progress in the Philosophy of Immanuel Kant, New York. Angehrn, Emil 1991: Geschichtsphilosophie, Stuttgart. Angehrn, Emil 2004: Kant und die gegenwärtige Geschichtsphilosophie, in: Dietmar Heidemann/Kristina Engelhard (Hg.): Warum Kant heute? Systematische Bedeutung und Rezeption seiner Philosophie in der Gegenwart, Berlin/New York, 328 – 351. Arendt, Hannah 1985: Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie, München. Asendorf, Ulrich 1982: Eschatologie. VII: Reformations- und Neuzeit, in: Theologische Realenzyklopädie (TRE), Band 10, Berlin. Assmann, Jan 2000: Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa, München u. a. Augustinus, Aurelius 1979: De civitate Dei, hgg. von C.J. Perl, Paderborn u. a. Axinn, Sidney 2001: Kant on Possible Hope: the Critique of Pure Hope, in: Volker Gerhardt u. a. (Hg.): Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. internationalen Kant-Kongresses, Band III, Berlin/New York, 649 – 655.
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Personen- und Sachregister Personenregister Adorno, Theodor W. 266, 305, 358 Alexy, Robert 80, 87 Amos 52 Arendt, Hannah 205, 220, 222, 254, 318 Aristoteles 7, 56, 191, 208 Assmann, Jan 5 Augustinus 22, 28, 33, 56 – 58, 141, 148 f., 188, 289, 293, 296, 357 Baumgartner, Hans Michael 45, 120, 125, 136 f., 148, 263, 343 Bayle, Pierre 95 Bengel, Johann Albrecht 59, 176 Benjamin, Walter 266, 363, 365 Blumenberg, Hans 9 – 19, 25, 30, 34 – 37, 40 f., 44 f., 133 Bohatec, Josef 28, 114, 121, 127, 132, 149, 157 f., 161, 172 f., 176 f., 322, 326 Bossuet, Jacques-Bénigne 22, 58, 228, 293 Brandt, Reinhard 64, 82 f., 118, 220, 226, 248, 258 – 261, 264, 268 – 272, 281, 283, 335 Burckhardt, Jacob 21 f., 25 Burke, Edmund 258 Calvin, Johannes 8, 59, 132 – 134 Casanova, José 5, 16 Cassirer, Ernst 9 Cavallar, Georg 38, 40, 107, 222, 285, 316 – 318, 322, 329, 333, 339 Cheneval, Francis 135, 137, 342, 347 Cicero, Marcus Tullius 58 Clemens Alexandrinus 27 Cohen, Hermann 30, 85, 345 Comte, Auguste 22, 31 Condorcet 22
Ebbinghaus, Julius 81 Eusebius von Caesarea 56 Ezechiel 52 Fichte, Johann Gottlieb 37 – 40 Friedrich Wilhelm II 111 Gadamer, Hans-Georg 44 Gatterer, Johann Christoph 201 Geismann, Georg 99, 107 f., 169, 184, 217, 285, 290, 317 f., 340, 350 f., 353 Gentz, Friedrich 261 Gogarten, Friedrich 5 f. Graf, Friedrich Wilhelm 5, 12, 17 Gutmann, Thomas 8, 14 – 17, 363 Habermas, Jürgen 25, 81, 94 f., 107, 111, 151, 186 – 189, 192 f., 228, 274, 306, 308 f., 363 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 4, 22, 31 f., 39 f., 123, 174, 188, 205, 215, 222, 227, 232, 254, 291, 317 Heidegger, Martin 352 Heine, Heinrich 95 Herder, Johann Gottfried 40, 201 f., 237, 300 f. Hesiod 113 Hirsch, Emmanuel 28, 33, 43 Hobbes, Thomas 71 – 73, 78, 121, 128 Höffe, Otfried 65, 119, 187, 206, 214, 220, 236, 244, 299, 306, 316, 348 Honneth, Axel 254, 256, 274, 281, 322 Horkheimer, Max 8, 210, 305, 364 Horn, Christoph 73, 84, 112 – 118, 199, 225, 229, 231, 299 Irrlitz, Gerd 187
Descartes, René 29, 38 Despland, Michael 145, 290, 320, 327, 352 f. Diderot, Denis 220, 269 Dilthey, Wilhelm 4, 19
Jaeschke, Walter Jesaja 52
11 – 17, 27 f., 34, 157 f.
Personen- und Sachregister
385
Jesus Christus 53 – 55, 156, 162, 167, 172, 179 – 181, 295, 344 Joachim von Fiore 22, 57 Joas, Hans 6, 17, 304
Riedel, Manfred 11, 30, 200, 237, 300 f., 355 Rohbeck, Johannes 30, 308, 317, 359 Rousseau, Jean-Jacques 115, 121 f., 220 – 223 Rupert von Deuz 57
Kelsen, Hans 80, 87 Kersting, Wolfgang 66, 68 – 71, 78, 81 f., 85, 322 Kleingeld, Pauline 3, 47, 79, 98, 186, 199, 203 f., 218, 225, 237, 270, 274, 281 – 285, 322 – 325, 336, 340, 342, 347, 351 – 353
Schelling, Friedrich Wilhelm Josef 38 – 40, 95, 188 Schlegel, Friedrich 260 Schlözer, Ludwig 201 Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich 20 Schmitt, Carl 15, 17, 79 Schroeckh, Johann Martin 201 Schweitzer, Albert 184 Seneca 114 f. Siep, Ludwig 96, 101, 293, 310, 318, 351, 363 f. Sisyphos 251, 266 Smith, Adam 205 f., 215 Sommer, Andreas Urs 17, 58, 291, 293, 306, 313, 326, 333, 352 Spener, Philipp Jacob 59, 133, 149, 188 Städtler, Michael 23, 30 f., 71, 94, 123, 125, 134, 137 f., 152, 168, 190, 210, 213, 235, 240, 264, 299, 314, 318, 344, 364 Stangneth, Bettina 29, 47, 82, 110 – 142, 162, 169 – 181, 193, 285 f., 317, 322, 333 Süßmilch, Johann Peter 203
Leibniz, Gottfried Wilhelm 37 f., 220, 331, 354 Lessing, Gotthold Ephraim 27 f., 157 f., 170 f., 298 Löwith, Karl 4, 9, 18 – 39, 58, 291, 300 f., 356, 365 Lübbe, Hermann 4, 12 f., 17 Luis de Molina 57 Marquard, Odo 11, 19, 34 – 42, 45, 133, 302, 316, 335 f. Marx, Karl 4, 22 – 24, 31, 35, 39, 206, 344 Matthes, Joachim 7 Mendelssohn, Moses 251, 254, 269, 271 Mittelstrass, Jürgen 30 Montaigne, Michel de 213 Murrmann-Kahl, Michael 96, 145, 187 Natorp, Paul, 261, 352 Nietzsche, Friedrich 21, 25 Origenes 27 Orosius 22 Paulus 27, 54 f., 156 – 158, 162, 164 f. Picht, Georg 352 Platon 27, 56, 113, 142, 148, 186, 278, 294 Pogge, Thomas 81 f., 305 Pollmann, Arnd 214, 263, 267, 291, 293, 300, 315, 331, 361 Pott, Sandra 6 f., 7, 10, 17, 32 Proudhon, Pierre Joseph 22 Reath, Andrews
345 – 347, 351
Taubes, Jacob 19, 34, 300 Taylor, Charles 5, 16 Thomas von Aquin 57 Troeltsch, Ernst 6, 14, 144 Turgot, Anne Robert Jacques
22
Vattimo, Gianni 6, 13 f., 17 Vergil 27 f. Vico, Giambattista 22, 228 Voegelin, Eric 8, 19 Voltaire 22 Weber, Max 8 Wimmer, Reiner 105, 124, 131, 134, 136, 142 f., 148, 188 Woellner, Johann Christoph 110 f. Wood, Allen 123, 186, 213, 286, 344 Zotta, Franco 71, 75, 226, 270, 299, 317
386
Personen- und Sachregister
Sachregister Allmacht 41, 44 f., 56 f., 94, 131 – 134, 138 311 Allwissenheit 56, 94, 137, 268, 311 Analogie – A. von individuellem und historischem Entwicklungsprozess 157 – A. von Gottespostulat und Fortschrittshoffnung 306, 341, 348 f. – A. als Mittel der Beschreibung Gottes 93 – Strukturanalogien 10 f., 15 – 18, 35, 43 – 45, 48, 197, 284, 290, 294 f., 319, 356 Antagonismus 214 – 218 Anthropologie/anthropologisch 113, 117, 124, 126, 197, 213 f., 218, 220, 302 Antichrist 23, 55, 57, 177 – 179, 263, 265 Antinomie 38, 100, 316 f. Apokalypse/apokalyptisch 51 – 55, 177, 181 Atheist/Atheismus 23, 31 f., 106, 326 – methodischer Atheismus 38, 40 f. Aufklärung als Wendepunkt der Geschichte 158, 163, 167, 173, 344 Autonomie 29, 38 – 42, 45, 85, 104,. 128, 13 – 134, 137, 187, 210, 316 – A. des Willens 62 f., 69, 83 Biologie 208, 211, 235, 239, 246, 297 Böse – Hang zum Bösen 119 – 125 – Kampf des guten Prinzips mit dem Bösen 112, 119 – 121, 170, 181, 190 – Scheidung der Guten von den Bösen 180 f. Chiliasmus 27, 32, 55 f., 59, 118, 150, 177 – 181, 188, 265, 294 f. – philosophischer und theologischer Ch. 116 f., 230, 288 f., 294 concursus 57, 133, 187, 312 f. Determinismus/deterministisch 23, 61, 100, 237 f., 267, 304, 315 f., 359
Einheit – E. als Ziel der theoretischen Vernunft 92 f., 199 – 201, 204, 230, 233 f., 297, 303 f. – E. der (Kirchen‐)Geschichte 10 f., 140, 169, 171, 187, 293 – E. der Kirche 169 Ende – E. der Geschichte 32, 55, 139, 148, 159, 181, 215, 245, 295 – E. der Welt → Welt Erbsünde 112 Erziehung 27 f., 129, 157, 171, 280 Eschatologie – biblische E. 22, 27 – 29, 52 – 55, 57, 115, 167, 264, 292 – Eschatologiebegriff 19, 51 – eschatologischer Vorbehalt 55 – futurische E. 54, 162 f. – Individualeschatologie 46, 51, 246, 300, 348 – paulinische E. 54 f., 156 f., 162, 165 – philosophische E./Philosophie und E. 44, 119, 133 – präsentische E. 54, 150, 162 – 164, 183, 185, 187 – Reichseschatologie 56 – Universaleschatologie 46, 51 Ethikotheologie 93 – 95, 107, 231, 244 f., 323 f., 348, 353 f. Evolution 160, 273, 280 f. – Evolutionstheorie 234, 305 ewiger Friede 56, 116, 149, 156, 190, 219, 289, 295 f. Faktum der Vernunft 63, 69, 101, 109, 112, 272, 351 Fortschritt in Kultur, Wissenschaft und Technik 29 f., 48, 78, 115, 125, 216 – 222, 243, 249, 252 f., 297 Freiheit – F. des Willens 61 – 63, 81, 202 – F. der Willkür 65, 68 f., 238
Personen- und Sachregister
– Vereinbarkeit von Vorsehung und F. → Vorsehung Funktionsmodell der Säkularisierung → Säkularisierung Gericht/Weltgericht/Jüngster Tag 23, 31 f., 51 f., 54 – 56, 149 f., 177 – 181, 266 Geschichtsschreibung 5, 20, 113, 169, 172 f., 200, 228 – 230, 300 Geschichtswissenschaft 200, 277, 304, 360 Geschichtszeichen 269 – 279, 282 f., 349 Gestaltbarkeit von Geschichte 1 f., 189, 357, 362 f. Glauben und Wissen 33, 104 – 107, 132, 176, 261, 275 f., 291, 307, 349, 355 Glückseligkeit – fremde G. 63, 70, 97, 103, 249 – intellektuelle G. 97 – G. als (letzter) Zweck der Natur 237, 242 – proportionierte G. 94, 96 – 100, 129, 138, 180 f., 346 – substantieller und formaler Glückseligkeitsbegriff 62 Heilsgeschichte 24, 56, 58, 289 – 293, 298 f. Hermeneutik – Bibelhermeneutik 110, 177 – hermeneutische Funktion des Säkularisierungsbegriffs 44 – hermeneutisches Argument 254 Herzenskündiger 137 historisches Bewusstsein 9, 20 f., 25 historische Vermittlung von Begriffen 11, 35, 43, 294 f. höchstes Gut 47 f., 56, 97, 100 – 105, 124, 127 – 130, 147, 184 f., 295 f., 341, 345 – 347, 353 f. – höchstes gemeinschaftliches Gut 129 f., 147, 189, 245, 293, 341 f., 345 – 347 – höchstes Gut in der Welt 245 – höchstes politisches Gut 293, 295 f., 341 f., 345, 347 Irreversibilität
310, 363
Judentum 22, 27, 35 f., 53, 168, 170 – 172, 262 f.
387
Katastrophe 40, 53, 282, 310, 363 Kategorischer Imperativ/Sittengesetz 62–71, 76, 81 – 87, 99, 103 – 106, 120, 124 – 127, 135, 159, 186, 238, 323, 334 f., 345 Keim 115, 153 f., 163 – 175, 191, 330 Kirche – Einheit der K. 169 – Kirchenspaltung 173 f. – sichtbare/unsichtbare K. 57 f., 128, 133, 139 – 191, 212, 286, 289, 344 f., 357 f. – streitende/triumphierende K. 149, 162, 180, 188 – Universalität der K. 140, 171, 174 – wahre Kirche 57, 143, 148, 162, 169 – 175, 184 kollektives Gedächtnis 167, 176, 273, 283, 310 Kreislauf → Zyklus Krieg 83, 116 f., 122, 162, 213, 219 – 227, 239 – 242, 251, 257 – 259, 280 f., 287, 289, 312, 315, 318, 331 – 335, 357 – Bürgerkrieg 139, 332 – Recht zum K. 76 f., 79 Kultur 209, 214, 223, 227, 235, 238, 252, 287, 290, 305 – K. der Geschicklichkeit 82, 111, 238 – 242 – K. der Zucht 238 f., 243, 246 – K. und Krieg 221, 242, 312, 318, 331 f. – kultureller Fortschritt → Fortschritt Leid 25, 42, 54, 99, 172, 300, 328, 345 Lernprozess 160 f., 167, 274, 280, 282, 310 f., 360, 363 lineares Geschichtsbild/lineares Fortschreiten 1, 20 – 22, 27, 53, 56, 139, 208, 211, 253, 289 f., 302 List der Vernunft 39, 205 malum morale 40, 328 Menschenrechte 1, 83, 273, 306, 310, 362 Modernisierung 6, 302, 304, 306 Motivation zu moralischem Handeln 52, 99, 103 f., 119, 121, 256, 292, 365 Naherwartung 55, 164
388
Personen- und Sachregister
Natur des Menschen 62, 66, 72, 97, 106, 115 – 118, 144, 146, 153, 165, 174, 176, 185, 203, 207, 213 – 223., 244, 249, 259, 297, 309 – 312, 315, 360, 364 Naturabsicht 200, 205 – 216, 225 f., 229, 256, 258, 264, 311 – 325, 335 f., 343 Naturanlage 164 f., 167, 208 – 211, 241 Naturrecht 73, 77, 80 f., 83, 86, 140 Naturzustand – ethischer N. 120 – 132, 135, 138 – 140, 154, 156, 181, 192 – juridischer N. 69 – 79, 116 f., 122 – 129., 139 f., 156, 220, 222, 344 Neid 99, 122, 216 objektive Realität 63 f., 95, 108, 139, 177, 258 Öffentlichkeit 16, 75, 162 – 167, 170, 255, 259, 272, 302, 311 – Ö. im ethischen Gemeinwesen 122 – 124, 135 f., 142 – 152, 169, 179, 184 – Öffentliche Meinungsäußerung 75 – Öffentliches Recht 69 – 73, 76 – 79, 305 Organismus/organisierte Wesen 208 f., 212, 234, 236, 303, 305, 327 Paradies 113 f., 296 Pax Romana 56, 58 Pflicht – Gattungspflicht der Gründung des ethischen Gemeinwesens 129 f., 134, 139, 148, 185, 189, 191, 343, 361 – P. der Mitwirkung am Fortschritt 191, 256, 307 f., 315 f., 350 – P. der Beförderung des höchsten Guten 101 – 103, 350 – P. gegenüber Nachkommen 167, 253, 259 – Rechtspflicht 67 – 73, 250, 285 – Tugendpflicht 67 – 70, 87, 103, 277 vollkommene/unvollkommene P. 66 – 68, 86 Physikotheologie 93, 107, 245, 323 f., 348, 354 Pietismus 52, 59, 149, 188 f. Positivismus 80 – 82, 87, 283 Prophetie/prophetisch 24, 51 – 55, 178, 261 – 263, 269, 291 – selbsterfüllende Prophezeiung 230, 262
Realismus 108 – politikwissenschaftlicher R. 302 Rechtfertigungslehre 22, 112, 120 f. Rechtsgesetz 68 – 73, 81 – 85, 216 – 218, 223, 241, 249, 344 reflektierende Urteilskraft 75, 93, 176, 226, 233, 237, 274 – 276, 298, 317 Reform 75 f., 112, 160 f., 167 f., 280, 293 Reformation 57, 59, 141, 74 Reich der Zwecke 66, 83, 96, 125, 185 f., 192, 215 Reich Gottes 22, 24, 35, 51, 54 – 59, 100, 115, 135, 141 – 146, 150 – 152, 159, 162 – 165, 177, 180, 184 – 188, 190 – 193, 277, 294 – 297, 300 – irdisches/innerweltliches R. G. 23 f., 46, 59, 150, 186 – 188, 295, 356 (siehe auch Chiliasmus) – Mitwirkung am Eintritt des R. G. 59, 143, 154, 160 – 162, 186, 188 – R. G. auf Erden 46, 119, 143, 147 – 151, 159, 169, 175, 179, 181 – 192, 288 – unsichtbares/sichtbares R. G. 174, 177, 179, 182 f. Religionskritik/religionskritisch 23, 31, 110, 193, 327 Republik 74, 76, 79, 115, 142, 197, 218 f., 257, 260, 273, 342 – Friedfertigkeit der R. 197, 257 – R. nach Tugendgesetzen 128 – wahre R. 74 – Weltrepublik 78, 116, 140, 299 Revolution – Französische R. 40, 161, 166, 174, 260 f., 272 f., 288 – göttliche R. 161 – R. im Denken 30 – R. in der Gesinnung 112, 161 – R. in der Religion 172 – R. (politisch) 76, 139, 154, 160 – 162, 166, 221, 280, 293, 332, 343 – Weltrevolution 23 Säkularisierung – Geschichte des Säkularisierungsbegriffs 4 f., 12 f. – Funktionsmodell der S. 9 f., 13, 17, 34 f.
Personen- und Sachregister
– S. als einstellige Relation 8, 14, 16 – S. als zweistellige Relation 7 f., 14 f-16 – S. als Interpretationskategorie 26, 43 f. – S. der Gesellschaft 5, 8, 15 Schöpfung 41, 45, 54, 157, 160, 231, 278, 294, 330, 332, 353 – Endzweck der Sch. 237, 244 f., 294, 353 – letzter Zweck der Sch. 236 f., 292 – Schöpfer/Schöpfergott/Welturheber 28, 37, 56, 92, 97, 199, 215 f., 245, 252, 292, 294, 300, 320 – 327, 348, 351 – 354 Selbsterhaltungsmechanismus 310, 360 Sinn – letzter Sinn 20 f., 26 – Geschichte als sinnloses Spiel 251 – Sinn/sinnvolle Deutung historischer Ereignisse 10, 20 f., 24, 52, 54, 222, 252, 330, 332 – Sinn der Geschichte 21, 24 – Sinn moralischer Handlungen 104, 164, 259, 307, 346– – Sinngebung/Sinnstiftung/sinnstiftend 45, 54, 293, 298, 348 – sinnvoll eingerichtete Natur → Zweck – Vernunftbedürfnis nach sinnvoller Geschichte → Vernunftbedürfnis Strafrecht 8, 10, 83 Strukturanalogie → Analogie Teleologie – antike/aristotelische T. 164, 191, 208 – Geschichtsteleologie 23, 202 f, 207 – 216, 219 – 225, 228 f., 282, 304, 308, 314, 316 – 319, 322, 330, 335 f., 358 – 360 – konservative Tendenz der T. 235, 241, 263, 302 f. – Naturteleologie 27, 93, 200, 210 f., 224, 234, 299, 302 f., 316 f., 324, 354, 358 – T. als kritischer Maßstab 364 Theater/Schauspiel/Bühne 204, 206, 231, 236, 251 f. Theodizee 19, 37 – 45, 57, 59, 162, 181, 220, 228, 267, 294, 301, 327 – 336, 357, 359, 365 – authentische Th. 327, 329 – doktrinale Th. 327 – 333 Theokratie 13, 137, 171, 342 f.
Trost
389
204 f., 208, 230 f., 293, 300, 319, 330
Umbesetzung 30, 34, 45 ungesellige Geselligkeit 213 – 215 Universalismus/universal 23, 136, 165, 168, 293, 364 – Universalgeschichte → Weltgeschichte – Universalität der Kirche → Kirche unsichtbare Hand 205, 215, 316 Utopie/utopisch 121, 159, 168, 186, 190, 192, 278, 308, 361 Verfall/Verfallsgeschichte 21, 25, 57 – 59, 113 – 118, 173, 222 f., 227, 262 – 267 Vernunftbedürfnis/Vernunftinteresse – V. der theoretischen Vernunft 92, 198 – 201, 204, 206 f., 211, 230, 233 f., 283, 303, 306, 339, 348 – V. der praktischen Vernunft 106 f., 204, 211, 266, 283, 306, 339, 349 f., 355 – V. nach sinnvoller Geschichte 251 Völkerbund 77 – 79, 116, 140, 201, 220 f., 288, 313, 342, 344 Vorsehung – allgemeine und besondere V. 58, 297 – biblisches Konzept der V. 22, 27, 57 – Vereinbarkeit von V. und Freiheit, 41 f., 44, 57, 133 f., 187, 284, 311 – 319, s.a. concursus – Vorsehungsethik 59, 132 – 134, 189 – Vorsehungstheologie 1 f., 57 f., 133, 322, 326 Welt – beste aller möglichen Welten 41, 335 – gute Welt 41 f., 44, 235, 319, 330, 335, 358 – höchstes Gut in der Welt → höchstes Gut – moralische Welt 96 – 98, 129 f., 185 f., 361 – Weltende 55, 114, 149 f., 177 f., 230 f., 265 Weltgeschichte/weltgeschichtlich 20, 23 f., 32, 36, 40, 58, 114, 140, 207, 229, 251, 365 – Weltgeschichte und Heilsgeschehen 19 – 21, 30, 36 – Lehrbuch der allgemeinen Weltgeschichte 201
390
Personen- und Sachregister
Widerstandsrecht 74 – 76, 79 – 81, 86 f., 161, 248, 255 Willkür 64 f., 68 f., 72, 81, 84 f., 87, 202 Wissen → Glaube und Wissen Zeitalter/Äon 53, 55 – goldenes Zeitalter 113, 172 f. Zivilisierung/Zivilisation 115, 222 f. Zyklus/Kreislauf 208, 226 – Kreislauf der Verfassungen 21, 228 – zyklisches Geschichtsbild 21, 27, 53, 114, 157, 173, 208, 226
– zyklische Zweckmäßigkeit 209, 211 f. Zwang 69, 72, 76 – 79, 82, 85, 124 f., 128, 161, 212 – 217, 241, 262 Zweck – Endzweck 56, 95, 101 – 109, 143, 201, 217, 243 – 245, 294 f., 314, 321, 361 (siehe auch Schöpfung) – zwecklos 204, 208, 211, 223, 230 f. – zweckmäßig/sinnvoll eingerichtete Natur 21, 235, 322 – Zweckwidriges 37 f., 214, 230, 235, 242, 328 – 336