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German Pages 224 [228] Year 2003
KANT-FORSCHUNGEN XIV
KANT-FORSCHUNGEN
Seit Gründung der »Kant-Forschungen« im Jahre 1987, bislang erfolgreich herausgegeben von Reinhard Brandt und Werner Stark, sind in dieser Reihe dreizehn Arbeiten aus dem Umkreis des Marburger Kant-Archivs veröffentlicht worden, die ausdrücklich folgenden Themenfeldern gelten: Vorstellung der Funde unbekannter oder verschollen geglaubter Kantischer Autographen und Vorlesungsskripte; Erörterung der Editionsprobleme der Kantischen Vorlesungen und Werke; Interpretationen, die die Theorie des Autors, soweit sie durch Texte ausweisbar sind, zum Gegenstand haben; ferner Studien zu Kants Umfeld und zur Kant-Rezeption im 18. Jahrhundert. Mit dem Erscheinen des vorliegenden Bandes wird das Profil der »KantForschungen« nunmehr beträchtlich erweitert: Zusätzlich erscheinen jetzt systematisch angelegte Arbeiten zu Architektonik und System der Philosophie Kants. Reinhard Brandt und Werner Stark gebührt Dank und Anerkennung für die Etablierung dieser viel beachteten Reihe, der sie weiterhin eng verbunden bleiben. Mit dem Ausbau über die von den bisherigen Herausgebern vertretenen Forschungsfelder hinaus geht die Verantwortung für die Aufnahme weiterer Publikationen ganz in die Hände des Verlages über.
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
AXEL HUTTER
Das Interesse der Vernunft Kants ursprüngliche Einsicht und ihre Entfaltung in den transzendentalphilosophischen Hauptwerken
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. – ISBN 3-7873-1660-4
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Meiner Frau
INHALT
einleitung § 1. Die Frage nach dem Ganzen der Kantischen Philosophie . . . . . . . . . § 2. Vernunft und Verstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 3. Erfahrung und System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 4. Wissenschaft und Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 5. Der spekulative und praktische Gebrauch der Vernunft . . . . . . . . .
1 5 11 18 25
erster teil Kants ursprüngliche Einsicht 1. Zwischensein § 6. Vernunft – Interesse – Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 7. Das »höhere Bedürfnis« unserer Erkenntniskraft . . . . . . . . . . . . . . § 8. Transzendentalphilosophie als Übergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33 35 41
2. Einwände § 9. Der objektivistische Standpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 10. Der intellektualistische Standpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 11. Der kritische Weg Kants . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49 53 58
3. Interessen der Vernunft § 12. Erkenntnisinteresse und Handlungsinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . § 13. Horizonte des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 14. Natur und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 15. Die Entwicklung des transzendentalphilosophischen Ansatzes . . .
64 72 78 87
zweiter teil Die transzendentale Vernunftkritik 1. Kritik des spekulativen Vernunftgebrauchs § 16. Sein und Sollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 17. Können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 18. Das menschliche Erkenntnisvermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 19. Zum Streit der Kant-Deutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 20. Irrtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
93 97 100 108 112
VIII
Inhalt
§ 21. Die Spontaneität der Synthesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 22. Die Freiheit der Urteilskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
119 124
2. Kritik des praktischen Vernunftgebrauchs § 23. Übergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 24. Gesetz, Abweichung und Maxime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 25. »Von dem Interesse der Vernunft bei diesem ihrem Widerstreite« . . § 26. Sollen: technische und moralische Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 27. Der Primat der praktischen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 28. Die Natur des Verstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 29. Leben – Vernunft – Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
127 133 140 146 150 155 160
3. Kritik der Reflexion § 30. Reflektierter Übergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 31. Die voll entfaltete Architektur der Erkenntnisvermögen . . . . . . . . § 32. Zwei Formen der Urteilskraft und der Selbsterhaltung . . . . . . . . . § 33. Drei Stellungen zur Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 34. Die »Chiffreschrift« des Naturschönen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 35. Reflexionsstufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 36. Was heißt: sich am »Interesse der Vernunft« orientieren? . . . . . . .
167 169 173 177 182 186 190
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angeführte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
195 197 203 205 213
In der Tat hat die Vernunft nur ein einziges Interesse und der Streit ihrer Maximen ist nur eine Verschiedenheit und wechselseitige Einschränkung der Methoden, diesem Interesse ein Genüge zu tun. Kant: Kritik der reinen Vernunft Die Vernunft als das Vermögen der Prinzipien bestimmt das Interesse aller Gemütskräfte, das ihrige aber sich selbst. Kant: Kritik der praktischen Vernunft
EINLEITUNG
§ 1. Die Frage nach dem Ganzen der Kantischen Philosophie Die vorliegende Abhandlung unternimmt den Versuch, ein besseres und in mancher Hinsicht auch neues Verständnis des systematischen Gesamtzusammenhangs der Kantischen Vernunftkritik zu gewinnen. Der Hauptteil der Untersuchung wird sich dabei an dem bislang kaum berücksichtigten Sachverhalt orientieren, den Kant selbst mit dem eigentümlichen Begriff »Interesse der Vernunft« bezeichnet.1 Bevor sich aber die Untersuchung diesem Begriff zuwenden wird, sollen zunächst einleitend einige Schwierigkeiten angeführt werden, die jeder Versuch, das Ganze der Kantischen Philosophie zu vergegenwärtigen, grundsätzlich berücksichtigen muß. Zugleich sollen in einem ersten Anlauf zentrale Begriffe exponiert werden, deren systematische Verflechtung die bis heute noch ungeklärte »Architektur« der transzendentalen Vernunftkritik bestimmt. Die offenen Fragen, die sich bei solch einem noch ganz vorläufigen Überblick ergeben, leiten dann am Ende auf den systematischen Ansatz, der hier der Deutung Kants zu Grunde gelegt wird. Ein erster Hinweis auf die spezifischen Schwierigkeiten der hier verfolgten Fragestellung läßt sich der Beobachtung entnehmen, daß die sehr intensive und zugleich kontroverse Debatte über das richtige Verständnis der transzendentalen Vernunftkritik, die bereits zu Kants Lebzeiten einsetzte, von Beginn an zwei sehr unterschiedliche Formen der Fragestellung kennt. Zum einen stehen nämlich solche Fragen im Vordergrund, die sich auf einzelne Lehrstücke, Begriffe oder Werke der Kantischen Philosophie beziehen. Zum anderen werden aber immer wieder Stimmen laut, die darauf dringen, über die zweifellos nötige und unverzichtbare Erörterung von Einzelfragen hinaus auch den Gesamtzusammen-
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Ein derartiger Versuch ist bisher noch nicht unternommen worden. Einige jüngere Untersuchungen gehen zwar ausführlicher auf die Begriffe »Interesse« und »Vernunftinteresse« bei Kant ein, ohne sie jedoch als systematisches Zentrum zu begreifen. Ganz im Gegenteil meint eine Studie, die immerhin den Titel »Kants Begriff ›Vernunftinteresse‹« trägt, feststellen zu müssen: »›Vernunftinteresse‹ ist kein zentraler Begriff der Kantischen Philosophie« (Pascher 1991, S. 12; ähnlich Schmidinger 1983, S. 84 f.). Die einzige Ausnahme bildet in gewisser Hinsicht die Dissertation von Volker Gerhardt: »Vernunft und Interesse« (1976a). Diese unveröffentlicht gebliebene Studie versteht sich jedoch ausdrücklich als »Vorbereitung auf eine Interpretation Kants«, so daß ihr Autor selbst einräumt, er habe »die spezifischen Fragen einer Kantinterpretation noch gar nicht berührt« (S. 7 f.).
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Einleitung
hang der Vernunftkritik angemessen zu verstehen, der den jeweiligen Begriffen und Lehrstücken überhaupt erst ihren systematischen Ort und damit ihren spezifischen Sinn gibt. So stellt Ernst Cassirer ein Jahrhundert nach Kants Tod fest, daß die »Detailarbeit, die von der ›Kant-Philologie‹ der letzten Jahrzehnte geleistet worden ist«, die »lebendige Anschauung von dem, was Kants Philosophie als Einheit und als Ganzes bedeutet, häufig eher gehemmt als gefördert« hat (Cassirer 1918, S. V). Und heute, ein weiteres Jahrhundert später, vergleicht Dieter Henrich die Situation der aktuellen Kantforschung mit einem großen Kontinent, auf dem man »von Land zu Land wandern und doch vom Umriß und Aufbau des Kontinents als Ganzem nur eine allgemeine Vorstellung in sehr großem Maßstab haben« kann. Denn je »höher die Ambitionen der Kantforschung, was historische und analytische Genauigkeit betrifft, aufgewachsen sind, um so mehr hat sie sich in diesem Sinne auch regionalisieren müssen«. Eine dergestalt »regionalisierte« Kantforschung bewegt sich jedoch innerhalb eines nicht eigens thematisierten »Vorbegriffs« des systematischen Gesamtzusammenhangs der Vernunftkritik, so »daß der Aufbau des Systems selbst in seinen Grundzügen nicht zur Deutlichkeit gebracht ist« (Henrich 2000, S. 7). Henrich macht aber nicht nur auf ein systematisches Defizit der aktuellen Kantforschung aufmerksam, sondern weist auch auf zwei Schwierigkeiten hin, die heute jeder Versuch, den bislang nicht wirklich geklärten Gesamtsinn der transzendentalen Vernunftkritik zu vergegenwärtigen, berücksichtigen muß. Die erste Schwierigkeit besteht in dem Umstand, »daß Kant selbst kein Werk veröffentlicht hat, in dem der Aufbau des Systems sein eigentliches Thema gewesen ist« (ebd.). Das hat aber zur Folge, daß die Frage nach dem Ganzen der Kantischen Philosophie schon allein aus diesem ganz einfachen Grund nicht in gleicher Weise zum Thema gemacht werden kann wie Fragen, die sich auf einzelne Lehrstücke, Begriffe oder Werke Kants beziehen. Deshalb läßt sich das »Ganze« der Kantischen Philosophie nicht im direkten und unproblematischen Zugriff auf einen bestimmten »Teil« der Vernunftkritik thematisieren. Denn der systematische Gesamtzusammenhang ist nicht als »Region« innerhalb der Kantischen Philosophie zu verorten und einzugrenzen, so daß die Vorgehensweise einer »regionalisierten« Kantforschung hier aus prinzipiellen Gründen an ihre Grenze stößt.2
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Es wird sich später zeigen, daß die allgemeine Frage, wie ein »Ganzes« zu thematisieren ist, das nicht als »Teil« begriffen werden kann, zu den zentralen Fragen der transzendentalen Vernunftkritik gehört. Insofern verweist die angeführte methodische Schwierigkeit, vor die sich jede Gesamtdeutung der Kantischen Philosophie gestellt sieht, auf eine grundsätzliche Schwierigkeit, mit der sich Kant selbst auseinandersetzt. Die »Ganzheit (Totalitas) hat zwar«, so Kant,
§ 1. Die Frage nach dem Ganzen der Kantischen Philosophie
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Die zweite Schwierigkeit wird für Henrich hingegen von den bisherigen Versuchen einer Gesamtdeutung Kants selbst bereitet. Denn bei den immer wieder unternommenen Bemühungen, »über das Kantische System als solches eine tiefere Aufklärung zu gewinnen«, gewannen in der Vergangenheit gerade diejenigen Versuche »den Vorrang, die sich eine solche Aufklärung nur von einer Vertiefung der Kantischen Grundlegungsgedanken selbst versprechen konnten«, wobei sich derartige »Vertiefungen« am Ende stets »als Verschiebungen und sehr bald auch als grundstürzende Veränderungen« der ursprünglichen Absicht Kants erwiesen. Deshalb ergibt sich heute im Rückblick der paradoxe Befund, daß gerade diejenigen Deutungen Kants, die sich vorrangig dem Verständnis der leitenden Grundintention Kants gewidmet haben, bislang zu dem Ergebnis kamen, daß dieses Verständnis nur möglich ist, wenn die leitende Grundintention Kants zugleich »korrigiert« wird.3 »Eine solche Lage« der Kantforschung muß aber Henrich zufolge heute »ein Interesse für jeden Versuch freisetzen, sich über Kants Systemkonzeption, und zwar in systematischer Absicht, so zu verständigen, daß nicht schon in den ersten Schritten, wie immer unwillentlich, der Kontakt mit Kants eigenen Intentionen unsicher wird« oder »ganz verlorengeht« (a. a.O., S. 8). Genau an dieser Stelle setzt nun die vorliegende Abhandlung mit ihrer Zielsetzung ein, ein besseres und neues Verständnis des systematischen Gesamtzusammenhangs der Kantischen Vernunftkritik zu gewinnen. Die leitende Absicht der Untersuchung läßt sich jetzt schon etwas genauer als Versuch kennzeichnen, das Ganze der Kantischen Philosophie in einer Weise zu verstehen, die sich am Ende nicht von Kants eigener Intention distanzieren muß. Deshalb wird sich die Untersuchung auch nicht die pointierte Schlußfolgerung Odo Marquards zu eigen machen, daß »die Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit der Kant-Interpretationen nur die Vieldeutigkeit und Zerrissenheit Kants« reflektiert (Marquard 1982, S. 53). Vielmehr besteht ihr Ziel darin, den systematischen Zusammenhang der Kantischen Philosophie als eine schrittweise Explikation und begriffliche Klärung einer »ursprünglichen Einsicht« Kants darzustellen, die dem Projekt seiner Vernunftkritik zu Grunde liegt und die sich am Leitfaden des Begriffs eines »Interesses der Vernunft« entfalten läßt. Dabei soll freilich keineswegs in Abrede gestellt werden, daß die folgende Feststellung Kants aus der Kritik der reinen Vernunft durchaus auch auf seine ei»den Schein eines alltäglichen und leicht zu fassenden Begriffes an sich«; »allein wenn man sie genauer erwägt, so bildet sie das Kreuz für den Philosophen« (De mundi sensibilis atque intelligibilis, § 2). 3 Ähnlich wie Henrich hat schon Odo Marquard in seinem Überblick über die bisherigen Kantdeutungen eine »fast epidemische Neigung« festgehalten, »Kant als Abweichler zu verklagen«, und zwar als »Abweichler« von eben jener Position, die die jeweilige Deutung gerade als diejenige Kants ausgibt (Marquard 1982, S. 53).
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Einleitung
gene Philosophie zutrifft. »Niemand«, heißt es dort, »versucht es, eine Wissenschaft zu Stande zu bringen, ohne daß ihm eine Idee zum Grunde liege. Allein in der Ausarbeitung derselben« entspricht »die Definition, die er gleich zu Anfange von seiner Wissenschaft gibt, sehr selten seiner Idee; denn diese liegt wie ein Keim in der Vernunft, in welchem alle Teile noch sehr eingewickelt und kaum der mikroskopischen Beobachtung kennbar verborgen liegen« (KrV B 862).4 Nimmt man diesen Hinweis Kants ernst, dann wird man damit zu rechnen haben, daß auch Kant »zu Anfange« seines vernunftkritischen Projekts manche Definition desselben gibt und manche Behauptung aufstellt, die Kants eigener »Idee« der Vernunftkritik nicht entsprechen. Aber der hier verfolgte Gedankengang geht davon aus, daß sich die Abweichungen von der leitenden Grundidee stets mit Kants eigener Hilfe, d. h. anhand seiner eigenen Überlegungen korrigieren und fortentwickeln lassen. Die Entfaltung der ursprünglichen Einsicht Kants in seinen transzendentalphilosophischen Hauptwerken wird sich dergestalt als eine schrittweise Selbstkorrektur erweisen, durch die Kant seiner ursprünglichen Idee eine immer angemessenere und zugleich ausgreifendere Form gibt. Ein wichtiger Aspekt der erheblichen Schwierigkeiten, die Kant »zu Anfange« hat, seiner leitenden Idee eine angemessene »Ausarbeitung« zu geben, läßt sich vorab durch Kants berühmten Satz verdeutlichen, daß das »Geschäft« der »Kritik der reinen spekulativen Vernunft« in dem »Versuch« besteht, »das bisherige Verfahren der Metaphysik umzuändern«, und dadurch »eine gänzliche Revolution mit derselben« vorzunehmen (KrV B XXII). Denn eine solche »Revolution« sieht sich, was immer mit ihr des näheren beabsichtigt sein mag, in jedem Fall vor das prinzipielle Problem gestellt, bei der konkreten »Ausarbeitung« auf die »bisherigen« Begriffe der Philosophie oder aber auf Begriffe der Alltagssprache zurückgreifen zu müssen.5 Daraus ergibt sich jedoch stets von neuem die Schwierigkeit, daß sich gerade die anvisierte »Revolution« der Vernunftkritik in den »alten« Begriffen der philosophischen Tradition nur mißverständlich oder in den Begriffen der Alltagssprache nur terminologisch unscharf ausdrücken läßt. Deshalb wird sich das revolutionär »Neue« der Kantischen Vernunftkritik sicherlich nicht »mit einem Schlag« ausarbeiten lassen, sondern nur schrittweise im Zusammenhang der sich gegenseitig korrigierenden und fortbestimmenden Begriffe und Reflexionsstufen. 4
Kant wird in der üblichen Weise nach den Bänden der Akademieausgabe zitiert, die Kritik der reinen Vernunft hingegen nach der Originalausgabe der ersten (A) und zweiten Auflage (B). 5 So schreibt Kant während der langen und mühsamen Ausarbeitung der Kritik der reinen Vernunft in zwei Briefen an M. Herz, er gelange immer mehr zu der Einsicht, daß er eine »ganz neue Wissenschaft« entwerfe, die zugleich »ganz eigener technischer Ausdrücke« bedürfe (X 144 und 199).
§ 2. Vernunft und Verstand
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Dem wird die folgende Untersuchung methodisch dadurch Rechnung tragen, daß sie ihre Aufmerksamkeit nicht so sehr auf einzelne Begriffe, als vielmehr auf ihre »Konstellation«, d. h. auf ihren systematischen Zusammenhang untereinander richtet. So zielt der hier zum Leitfaden gewählte Begriff eines »Interesses der Vernunft« auch keineswegs auf einen isoliert zu thematisierenden Sachverhalt, sondern – wie der aus zwei Begriffen zusammengesetzte Ausdruck bereits anzeigt – auf eine komplexe Begriffskonstellation, von der gezeigt werden soll, daß sich von ihr aus der systematische Gesamtzusammenhang der Kantischen Vernunftkritik erschließen läßt. Dies läßt sich freilich in den einzelnen Gedankenschritten immer nur »stückweise« leisten, so daß jeder Abschnitt der Untersuchung zur korrigierenden Ergänzung auf die übrigen Abschnitte verweist. Gerade deshalb muß aber die »konstellative« Explikationsmethode auch innerhalb jedes einzelnen Abschnittes verfolgt werden, der sich deshalb in der Regel einer zentralen, als exemplarisch verstandenen Textpassage Kants widmen wird, um sie nicht nur Satz für Satz, sondern häufig auch Begriff für Begriff zu explizieren. Auf diese Weise berühren sich in der vorliegenden Abhandlung zwei methodische »Extreme«, nämlich das »makroskopische« Extrem der Frage nach dem Ganzen der Kantischen Philosophie mit dem »mikroskopischen« Extrem einer im konkreten Gedankengang stets von neuem zu leistenden Detailarbeit, welche die spezifische Begriffskonstellation einer Textpassage expliziert, um so den »Keim« der leitenden Gesamtidee Kants aufzuspüren, der – wie Kant selbst in der oben angeführten Passage sagt – allenfalls einer »mikroskopischen Beobachtung« erkennbar ist. § 2. Vernunft und Verstand Tritt man einen Schritt näher an die Kantische Philosophie heran, so wird ein einleitender Überblick über die spezifische Anlage der Vernunftkritik bei jenem Begriff anzusetzen haben, der für Kant offenbar eine besondere Leitfunktion besitzt: dem Begriff der Vernunft. Dabei wird sofort auffallen, daß Kant den Vernunftbegriff in der Regel nicht isoliert für sich behandelt, sondern im Zusammenhang mit einem »Kontrastbegriff«, um beide Begriffe wechselseitig durch ihre Differenz hindurch zu bestimmen. Der Begriff, mit dem Kant den Vernunftbegriff auf solche Weise am häufigsten in Beziehung setzt, ist aber der Begriff des Verstandes, so daß im Folgenden ein erster orientierender Überblick über die transzendentale Differenz zwischen Vernunft und Verstand sowie die mit ihr zusammenhängende Begriffskonstellation zu geben ist.6 Diese Begriffskonstellation 6
Vgl. allgemein zum Vernunftbegriff sowie zur Differenz von Vernunft und Verstand: Schnädelbach 1991, S. 77–115.
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Einleitung
wird sich zwanglos dadurch ergeben, daß im Zuge der Explikation ein Begriff gleichsam den nächsten »herbeiruft«, wodurch sich allmählich ein Geflecht von Begriffen bildet, die sich gegenseitig erhellen und präzisieren. Im Rahmen der Einleitung können allerdings zunächst nur die erheblichen Verständnisschwierigkeiten angedeutet werden, die sich bei einer näheren Betrachtung der transzendentalen Differenz zwischen Verstand und Vernunft ergeben; erst der Hauptteil der Untersuchung wird sich dann der eigentlichen Arbeit einer schrittweisen und umfassenden Klärung jener Differenz widmen. Wie wichtig die Differenzierung zwischen Vernunft und Verstand für den systematischen Ansatz der Vernunftkritik ist, hat Kant ganz unzweideutig in den Prolegomena ausgesprochen. Dort heißt es sehr prägnant: »Die Unterscheidung der Ideen, d. i. der reinen Vernunftbegriffe, von den Kategorien oder reinen Verstandesbegriffen, als Erkenntnissen von ganz verschiedener Art, Ursprung und Gebrauch, ist ein so wichtiges Stück zur Grundlegung einer Wissenschaft, welche das System aller dieser Erkenntnis a priori enthalten soll, daß ohne eine solche Absonderung Metaphysik schlechterdings unmöglich oder höchstens ein regelloser, stümperhafter Versuch ist […] Wenn Kritik der reinen Vernunft auch nur das allein geleistet hätte, diesen Unterschied zuerst vor Augen zu legen, so hätte sie dadurch schon mehr zur Aufklärung unseres Begriffs und der Leitung der Nachforschung im Felde der Metaphysik beigetragen, als alle fruchtlose Bemühungen, den transzendenten Aufgaben der reinen Vernunft ein Gnüge zu tun, die man von je her unternommen hat, ohne jemals zu wähnen, daß man sich in einem ganz andern Felde befände als dem des Verstandes und daher Verstandes- und Vernunftbegriffe, gleich als ob sie von einerlei Art wären, in einem Striche hernannte« (IV 328 f.). In dieser Passage sind bereits eine ganze Reihe transzendentaler Grundbegriffe konstellativ vereinigt: Idee, reiner Vernunftbegriff, Kategorie, reiner Verstandesbegriff, System, Erkenntnis a priori, Metaphysik, Kritik der reinen Vernunft, transzendente Aufgaben der reinen Vernunft. Es wird sich im weiteren Verlauf der Einleitung zeigen, daß die Herausforderung, die Kants Vernunftkritik an jede systematische Gesamtdeutung stellt, nicht zuletzt darin besteht, den eigentlichen Sinnzusammenhang der genannten Begriffe deutlich herauszuarbeiten. In der angeführten Passage wird sofort ein wichtiger Wesenszug der »Revolution« deutlich, mit der Kant das »bisherige Verfahren der Metaphysik« umändern will. Denn das »bisherige Verfahren« ist gerade darin zu kritisieren, daß es Verstand und Vernunft nicht unterschied und deshalb »Verstandes- und Vernunftbegriffe, gleich als ob sie von einerlei Art wären, in einem Striche hernannte«. Die entscheidende Pointe der von Kant in kritischer Absicht eingeführten
§ 2. Vernunft und Verstand
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Unterscheidung liegt jedoch darin, daß er sie auf die Art der Erkenntnis und ihrer Begriffe bezieht, die das »bisherige Verfahren« fälschlicherweise für »einerlei« hielt. Kants zentrale Unterscheidung von Verstand und Vernunft betrifft somit eine systematische Differenz innerhalb der menschlichen Erkenntnis, die sich primär nicht – inhaltlich – auf verschiedene Gegenstände der Erkenntnis, sondern – formal – auf verschiedene Arten der Erkenntnis bezieht, die sich in »Ursprung und Gebrauch« grundlegend voneinander unterscheiden; ein Unterschied, den Kant auch als Differenz zwischen den »reinen« Verstandes- und Vernunftbegriffen, d. h. zwischen »Kategorien« und »Ideen« beschreibt. Dabei werden diese Begriffe von Kant genau deshalb »rein« genannt, weil sie ihre formale Bestimmung nicht »empirisch« vom Erkenntnisgegenstand empfangen, sondern ihm in dieser Hinsicht »voran« gehen, d. h. »a priori« gelten. Wenn aber die entscheidende Pointe der zentralen transzendentalen Unterscheidung zwischen Verstandes- und Vernunfterkenntnis darin besteht, auf die Differenz zwischen den beiden »Arten« von Erkenntnis zu achten, dann läßt sich folgern, daß eine wesentliche Pointe der Kantischen Transzendentalphilosophie insgesamt darin bestehen wird, primär bei der Reflexion auf die verschiedenen »Arten« menschlicher Erkenntnis anzusetzen. So nennt Kant eine philosophische Untersuchung in seinem Sinne »transzendental«, »die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt« (KrV B 25). In den Prolegomena bezeichnet das Wort »transzendental« für Kant ganz entsprechend nicht »eine Beziehung unserer Erkenntnis auf Dinge, sondern nur aufs Erkenntnisvermögen« (IV 293).7 Kants transzendentale Wende richtet ihre Aufmerksamkeit somit nicht länger primär auf das »Was« der Erkenntnis (Dinge, Gegenstände), sondern auf das »Wie« der Erkenntnis, d. h. auf die Erkenntnisart oder den Erkenntnisgebrauch, wobei dann die spezifische Differenz zwischen verschiedenen Erkenntnisweisen auf ihren unterschiedlichen »Ursprung«, d. h. auf unterschiedliche »Erkenntnisvermögen« schließen läßt. Für das genauere Verständnis von Kants transzendentaler Unterscheidung zwischen Verstandes- und Vernunfterkenntnis ist es daher vor allem wichtig, die spezifische Form (das »Wie«) der beiden Erkenntnisarten und damit die systematische Differenz zwischen reinen Verstandesbegriffen (Kategorien) und Vernunftbegriffen (Ideen) näher zu bestimmen. Hierfür gibt Kant in einer weiteren »Absonderung« von Verstand und Vernunft aus den Prolegomena einen wichtigen Hinweis, indem er Kategorien und Ideen folgendermaßen gegenüberstellt: so wie der »Verstand der Kategorien zur Erfahrung« bedarf, »so enthält die Vernunft in sich den Grund zu Ideen, worunter ich notwendige Begriffe verstehe, deren 7
Vgl. zum Begriff »transzendental« bei Kant: Knoeppfler 1997, Hinske 1998a.
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Einleitung
Gegenstand gleichwohl in keiner Erfahrung gegeben werden kann« (IV 328). Zum »Wie« der Verstandeserkenntnis gehört es also wesentlich, daß sie sich mittels der Kategorien auf »Erfahrung« bezieht, d. h. aber, daß ihr »Gegenstand« in einer »Erfahrung gegeben werden kann«. Die transzendentale Wende zum »Wie« der Erkenntnis hat demnach durchaus nicht zur Folge, daß das »Was« der Erkenntnis (Dinge oder Gegenstände) einfach abgeblendet wird. Allerdings wird der Umstand, daß sich zu Verstandeserkenntnissen in der Regel auch ein jeweils erkannter »Gegenstand« (der Erfahrung) angeben läßt, transzendentalphilosophisch als wichtiger Aspekt der spezifischen Form dieser Erkenntnisart verstanden, der sie zwar wesentlich, aber keineswegs hinreichend kennzeichnet. Denn daß das »Wie« der Verstandeserkenntnis keineswegs im »Was« ihres Gegenstandes aufgeht, machen gerade die von Kant transzendentalphilosophisch herausgearbeiteten Verstandeskategorien deutlich, die der Verstand notwendig zur Erfahrung »bedarf«, die aber genau deshalb nicht selbst »Gegenstände« der Erfahrung, sondern »apriorische« Bedingungen ihrer Möglichkeit sind. Das spezifische »Wie« der Vernunfterkenntnis wird von Kant in der zuletzt angeführten Passage hingegen zunächst nur negativ dadurch bestimmt, daß sie sich vermittels der Ideen nicht auf einen Gegenstand der Erfahrung bezieht, mehr noch: aus prinzipiellen Gründen auf keinen Gegenstand der Erfahrung beziehen kann.8 Gleichwohl bezeichnet Kant die Vernunftideen als »notwendige Begriffe«, so daß ihnen eine eigene Berechtigung zukommen muß, die sich allerdings nicht durch einen direkten Verweis auf »Erfahrung« begründen läßt. Kants positive Bestimmung des spezifischen »Wie« der Vernunfterkenntnis ist also vorab dadurch zu kennzeichnen, daß aus ihr zweierlei ersichtlich werden muß: die »Notwendigkeit« der Vernunftideen und der prinzipielle Grund dafür, daß sie »in keiner Erfahrung gegeben werden« können.
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Das macht im übrigen auch verständlich, warum Kant den Vernunftbegriff in der Regel nicht isoliert für sich behandelt, sondern im Zusammenhang mit dem »Kontrastbegriff« des Verstandes. Kant ist offenbar der Meinung, das »Wie« der Verstandeserkenntnis als etwas unmittelbar Vertrautes voraussetzen zu können, so daß er bei ihr ansetzt, um nun im Kontrast auf die Vernunftideen hinzuführen »als Erkenntnissen von ganz verschiedener Art, Ursprung und Gebrauch«. Daß die empirische Gegenstandserkenntnis des Verstandes tatsächlich etwas unmittelbar Vertrautes zu sein scheint, zeigen schon allein die notorischen Beispiele in den verschiedenen Erkenntnislehren: »Dies ist ein Stein« oder »Die Katze liegt auf der Matte«. Kant setzt freilich bei der scheinbar vertrauten und »einfachen« Verstandeserkenntnis nicht deshalb ein, um bei ihrem naiven Selbstverständnis stehen zu bleiben. Vielmehr zeigt die transzendentale Reflexion auf die kategoriale Form der Verstandeserkenntnis, daß die spezifische Erkenntnisart des Verstandes primär durch die Kategorien bestimmt ist und sich erst sekundär, eben vermittels der Kategorien, auf Gegenstände der Erfahrung bezieht.
§ 2. Vernunft und Verstand
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Beide Erfordernisse werden auch, wie sich gleich zeigen wird, von dem Begriff erfüllt, mit dem Kant die »Art« der Vernunfterkenntnis im allgemeinen charakterisiert. Das spezifische »Wie« der Vernunfterkenntnis ist nämlich Kant zufolge positiv durch die Idee des »Unbedingten« bestimmt, der somit im systematischen Gesamtzusammenhang der Vernunftkritik eine zentrale Bedeutung zukommt. In der Kritik der reinen Vernunft bezeichnet Kant deshalb »das Unbedingte als die eigentliche transzendentale Idee, worauf es ankommt« (KrV B 445 Anm.). Diese enge systematische Verbindung zwischen der Idee des Unbedingten und dem Begriff der Vernunft wird von Kant immer wieder festgehalten. Denn es ist für Kant gerade die »Vernunft, die das Unbedingte fordert« (KrV B 592; vgl. XX 326). Die Vernunftidee einer »unbedingten« Erkenntnisart ist deshalb in gewisser Weise die Idee der Ideen, oder anders gewendet: die Idee des »Unbedingten« ist die Idee der Vernunft, und zwar nicht nur im Sinne des Genitivus subiectivus, sondern auch im Sinne des Genitivus obiectivus. Die Idee des »Unbedingten« und die transzendentale Bestimmung des Vernunftbegriffs verweisen demnach wechselseitig aufeinander. Wenn aber das Unbedingte die eigentliche transzendentale Idee ist, auf die es ankommt, weil sie den Leitbegriff der Transzendentalphilosophie, die Vernunft, bestimmt, dann muß sich die transzendentale Differenz zwischen den Erkenntnisarten von Verstand und Vernunft besonders prägnant am Leitfaden dieser Idee formulieren lassen. So besteht das eigentümliche »Geschäft« der Vernunft, wie Kant sagt, genau darin, »von der bedingten Synthesis, an die der Verstand jederzeit gebunden bleibt, zur unbedingten aufzusteigen, die er niemals erreichen kann« (KrV B 390). Die spezifische Art der Erkenntnis oder »Synthesis« des Verstandes ist also dadurch definiert, daß er nur auf bedingte Weise erkennt, während das spezifische »Wie« der Vernunfterkenntnis darauf aus ist, von der stets unter Bedingungen stehenden Erkenntnis des Verstandes zu einer unbedingten Erkenntnis »aufzusteigen«. Die transzendentale Leitidee einer »unbedingten« Erkenntnisart bildet nun auch den systematischen Grund dafür, warum den Vernunftideen kein Erfahrungsgegenstand entsprechen kann, sie aber gleichwohl »notwendig« sind. »Denn das«, so Kant, »was uns notwendig über die Grenze der Erfahrung und aller Erscheinungen hinaus zu gehen treibt, ist das Unbedingte, welches die Vernunft in den Dingen an sich selbst notwendig und mit allem Recht zu allem Bedingten« verlangt (KrV B XX). Mit »Erfahrung« meint Kant also nichts anderes als die Gesamtheit möglicher Verstandeserkenntnisse, so daß das »Wie« der Erfahrung mit dem »Wie« der Verstandeserkenntnis übereinkommt, nämlich stets bedingt zu sein. Die Einsicht in den prinzipiell bedingten Charakter der Erfahrung führt aber für Kant »notwendig« und »mit allem Recht« zum transzendentalen Gegenbegriff einer »unbedingten« Erkenntnisweise der Vernunft, die »über
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Einleitung
die Grenze der Erfahrung« hinaus geht und deren »Gegenstand« somit per definitionem »in keiner Erfahrung gegeben werden kann«, weil er als Erfahrungsgegenstand nicht unbedingt, sondern bedingt wäre. Der zuletzt zitierte Satz macht zudem deutlich, daß ein wesentlicher Aspekt der transzendentalen Differenzierung zwischen den beiden Erkenntnisarten des Verstandes und der Vernunft von Kant in der Form einer transzendentalen Unterscheidung zwischen »Erscheinung« und »Ding an sich selbst« auf den Begriff gebracht wird. Dabei ist es allerdings für ein angemessenes Verständnis der Kantischen Transzendentalphilosophie von Anfang an wichtig, daß diese Unterscheidung tatsächlich streng im transzendentalen Sinne verstanden wird, d. h. nicht primär bezogen auf »Gegenstände«, sondern auf »Arten« der Erkenntnis. »Erscheinung« bezeichnet demnach bei Kant die spezifische Erkenntnisart des Verstandes, nämlich das zu Erkennende nur so zu erkennen, wie es ihm unter bestimmten Bedingungen erscheint. Demgegenüber verweist Kant mit der Wendung »Ding an sich selbst« auf den keineswegs einfachen Gedanken, daß die an der Idee des Unbedingten orientierte Erkenntnisweise der Vernunft das zu Erkennende »unbedingt« erkennen will, d. h. so, wie es »an sich selbst« ist, und nicht, wie es unter bestimmten Bedingungen erscheint.9 Dieser strikt transzendentale Sinn der Unterscheidung von »Erscheinung« und »Ding an sich selbst« kommt ganz klar in der berühmten Formulierung aus der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft zum Ausdruck, daß die kritische Reflexion der Transzendentalphilosophie das »Objekt in zweierlei Bedeutung nehmen lehrt, nämlich als Erscheinung oder als Ding an sich selbst« (KrV B XXVII).10 Denn die entscheidende Pointe der genuin transzendentalen Differenzierung zwischen »Erscheinung« und »Ding an sich selbst« besteht genau darin, daß es dasselbe »Objekt« der Erkenntnis ist, das in der Transzendentalphilosophie in »zweierlei Bedeutung«, d. h. gemäß der zwei grundsätzlich verschiedenen Arten der Verstandes- und Vernunfterkenntnis in Frage steht. Deshalb verweist Kant in der angeführten Passage mit aller Deutlichkeit auf die »durch unsere Kritik notwendiggemachte Unterscheidung der Dinge als Gegen-
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Daß dieser Gedanke keineswegs einfach ist, daß zunächst nicht einmal verständlich sein mag, was mit ihm überhaupt gemeint sein kann, sei ausdrücklich betont und zugegeben. Es wird daher zu den wesentlichen Aufgaben der vorliegenden Untersuchung gehören, der oft als unsinnig kritisierten Rede Kants vom »Ding an sich selbst« einen sachlichen Sinn zu geben und ihn systematisch mit dem Grundgedanken der Transzendentalphilosophie zu verbinden, der hier die »ursprüngliche Einsicht« Kants genannt wird. 10 Es sei schon hier darauf verwiesen, daß Kant in aller Regel vom »Ding an sich selbst« oder von »Dingen an sich selbst« spricht, und nicht vom »Ding an sich« oder von »Dingen an sich«. Wer dies nicht genau beachtet, hat Kants transzendentale Differenz bereits mißverstanden.
§ 3. Erfahrung und System
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stände der Erfahrung von eben denselben als Dingen an sich selbst« (ebd., Hervorhebung: A. H.). Und an einer anderen Stelle heißt es entsprechend, daß durch die transzendentale Differenzierung der »Gegenstand als Erscheinung von ihm selber als Objekt an sich unterschieden wird« (KrV B 69; Hervorhebung: A. H.). Kants Transzendentalphilosophie ist also nicht, wie häufig vermutet wird, eine Erneuerung, sondern eine tiefgreifende Kritik der traditionellen Zweiweltenlehre. Denn es ist bei Kant ein und dieselbe »Welt«, die von Verstand und Vernunft auf grundsätzlich verschiedene Weise erkannt wird, wohingegen das »bisherige Verfahren« der Metaphysik darin bestand, die »Art« des Erkennens undifferenziert für »einerlei« zu halten, so daß die Differenz zwischen Bedingtem und Unbedingtem zwangsläufig zum Seinsunterschied zwischen zwei »Welten« hypostasiert werden mußte.11
§ 3. Erfahrung und System Mit der vorstehenden Erläuterung zur transzendentalen Differenz von Vernunft und Verstand, Ding an sich selbst und Erscheinung ist bereits ein zentraler Grundzug der Kantischen Transzendentalphilosophie exponiert worden. Kants Vernunftkritik orientiert sich, so ließe sich das bisher Entwickelte kurz zusammenfassen, an der Leitidee einer »unbedingten« Vernunfterkenntnis, die sie im explikativen Kontrast zu einer »bedingten« Verstandeserkenntnis näher zu bestimmen versucht. Es ist also »das Unbedingte«, wie Kant selbst sagt, »um das es doch eigentlich zu tun ist« (KrV B 593). So scheint es zumindest. Denn die angeführte Orientierung Kants an der Leitidee des Unbedingten ist zwar in der Tat ein wesentliches Motiv der Transzendentalphilosophie, doch würde der transzendentale Ansatz nur verkürzt und damit am Ende falsch verstanden werden, wollte man sich ausschließlich und isoliert auf Kants Hervorhebung der Vernunftidee des Unbedingten stützen. Zum bislang Ausgeführten findet sich nämlich bei Kant durchaus auch ein gegenläufiger Gedanke, der die Möglichkeit einer unproblematischen Orientierung am »Unbedingten« in Frage stellt und den jede Deutung der Transzendentalphilosophie sorgfältig berücksichtigen muß, um das Ganze der Kantischen Philosophie wirklich in den Blick zu bekommen. So gibt Kant an einer Stelle der Kritik der reinen Vernunft grundsätzlich zu bedenken, daß wenn man »alle Bedingungen, die der Verstand jederzeit bedarf, um etwas als notwendig anzusehen, vermittelst des Worts: Unbedingt wegwerfen« 11
Diese Überlegung zur transzendentalen Unterscheidung zwischen »Erscheinung« und »Ding an sich selbst« wird später in einem erweiterten Begriffszusammenhang wieder aufgenommen und fortgeführt werden.
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Einleitung
wollte, »noch lange nicht verständlich« sei, ob »alsdann durch einen Begriff eines Unbedingtnotwendigen noch etwas, oder vielleicht gar nichts« erkannt werde (KrV B 621). Hier wird offenbar die anfangs so unproblematisch erscheinende Vorstellung eines von der Vernunft geforderten Übergangs von einer bedingten zu einer unbedingten Erkenntnisweise, der bislang als »notwendig« und »berechtigt« bezeichnet wurde, für Kant zum Problem. Kant macht nun darauf aufmerksam, daß die negative Bestimmung der Vernunfterkenntnis, nicht den Bedingungen der Verstandeserkenntnis zu unterliegen und insofern un-bedingt zu sein, womöglich darauf hinausläuft, mit den Verstandesbedingungen zugleich auch jene Bedingungen zu negieren, die jede Erkenntnis benötigt, um überhaupt eine gehaltvolle Erkenntnis sein zu können. Der so einleuchtend und unverdächtig erscheinende, »notwendige« Vernunftschluß vom Bedingten aufs Unbedingte würde also am Ende nicht zu einer neuen Erkenntnisart »aufsteigen«, sondern sich nur im Nichts eines bloßen Scheins von Erkenntnis verlieren. Dieser Gedanke wird von Kant mit großem Nachdruck vorgetragen und in die extreme, aber auch prägnante Formulierung gefaßt: »Alle Erkenntnis von Dingen aus bloßem reinen Verstande oder reiner Vernunft ist nichts als lauter Schein, und nur in der Erfahrung ist Wahrheit« (IV 374).12 Hier ist die Gegenläufigkeit zum zuvor exponierten Ansatz bei der Idee des Unbedingten mit Händen zu greifen. Die »Reinheit« der Verstandes- und Vernunftbegriffe, die anfangs ganz selbstverständlich als Auszeichnung und Vorzug verstanden wurde, wird nun zu einer eigentümlich zweideutigen Kennzeichnung. Zwar bleibt Kants Ausgangspunkt unverändert der »apriorische« Charakter der Verstandeskategorien und Vernunftideen, die »vor« aller Erfahrung gelten, weil sie der empirischen Erfahrung als Bedingungen ihrer Möglichkeit zu Grunde liegen. Doch sind die »apriorischen« Verstandes- und Vernunftbegriffe für Kant – richtig verstanden – zwar notwendige, aber durchaus keine hinreichenden Bedingungen der »Wahrheit«. Deshalb ist die transzendentale Reflexion auf die »reinen« Momente menschlicher Erfahrung tatsächlich nur der Ansatz Kants, über den die Gedankenbewegung hinausdrängt, wobei sich offenkundig die anfängliche Bewegungsrichtung umkehrt, so daß sie nicht länger von der unreflektierten Erfahrung auf ihre »apriorischen« Bedingungen zurückgeht, sondern nunmehr, um der »Wahrheit« willen, darauf aus ist, von der Erkenntnis »aus bloßem reinen Verstande oder reiner Vernunft« zu einem neuen, transzendental reflektierten Begriff der Erfahrung zu gelangen.
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Kant bezeichnet diesen Satz als den »Grundsatz, der meinen Idealismus durchgängig regiert und bestimmt«, und fügt hinzu: »Mein so genannter (eigentlich kritischer) Idealismus ist also von ganz eigentümlicher Art, nämlich so, daß er den gewöhnlichen umstürzt« (IV 374 f.).
§ 3. Erfahrung und System
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Der neue, transzendental reflektierte Erfahrungsbegriff wird von Kant in der Kritik der reinen Vernunft folgendermaßen umschrieben: »Also beziehen sich alle Begriffe und mit ihnen alle Grundsätze, so sehr sie auch a priori möglich sein mögen, dennoch auf empirische Anschauungen, d. i. auf Data zur möglichen Erfahrung. Ohne dieses haben sie gar keine objektive Gültigkeit«. Daher »erfordert man auch, einen abgesonderten Begriff sinnlich zu machen, d. i. das ihm korrespondierende Objekt in der Anschauung darzulegen, weil, ohne dieses, der Begriff (wie man sagt) ohne Sinn, d. i. ohne Bedeutung bleiben würde« (KrV B 298 f.). In dieser wichtigen Passage exponiert Kant zentrale Aspekte des transzendentalen Erfahrungsbegriffs auf engstem Raum, so daß es zunächst einmal darauf ankommt, die von Kant entworfene Begriffskonstellation zu explizieren und in den hier verfolgten Gedankengang der Einleitung aufzunehmen. Die Einsicht, daß reine Begriffe und Grundsätze a priori zwar eine notwendige, aber durchaus keine hinreichende Bedingung menschlicher Erfahrung sind, wird hier von Kant als eine doppelte Aufgabe für die Erkenntnis beschrieben. Zum einen muß der reine, »abgesonderte« Begriff unbeschadet seines »apriorischen« Charakters »auf empirische Anschauungen, d. i. auf Data zur möglichen Erfahrung« bezogen werden, um »objektive Gültigkeit« zu gewinnen. Dieses später noch näher zu bestimmende Angewiesensein der reinen Begriffe auf die Anschauung läßt sich Kant zufolge an den Begriffen selbst auch als transzendentale Bedeutungsleere fassen, die einem »abgesonderten Begriff« solange zuzuschreiben ist, solange nicht »das ihm korrespondierende Objekt in der Anschauung« dargelegt werden kann. Der transzendentale »Sinn« der reinen Begriffe entspringt also erst aus der spezifischen Erkenntnistätigkeit, die Begriffe »sinnlich« zu machen, d. h. sie auf Anschauungen zu beziehen. Zum anderen bedarf es aber auch umgekehrt einer spezifischen Erkenntnistätigkeit, um von den empirischen Anschauungen zur Erfahrung zu gelangen. Zwar sind, wie man sagt, die empirischen Anschauungen sinnlich »gegeben«, doch ist das »Gegebene« der Sinnlichkeit bei Kant gerade nicht schon die Erfahrung, deren transzendentaler Begriff deshalb genau darin besteht, nicht »gegeben« zu sein. Die »gegebenen« Anschauungen – oder, wie Kant lateinisch sagt, die »Data« – sind nur »Data zur möglichen Erfahrung«, mithin an sich selbst durchaus nicht schon Erfahrung, sondern nur Ausgangsmaterial für die eigentliche Erkenntnistätigkeit, die von der Anschauung aus betrachtet im Übergang von den anschaulichen Daten zur Erfahrung besteht. Der eigentliche »Sinn«, die transzendentale »Bedeutung« der begriffenen Erfahrung gründet bei Kant weder im »abgesonderten« Begriff selbst, noch in der isolierten sinnlichen Anschauung, sondern allein in der Beziehung zwischen Anschauung und Begriff. »Unsre Erkenntnis entspringt aus zwei Grundquellen des Gemüts, deren die erste ist, die Vorstellungen zu empfangen (die Rezeptivität der
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Einleitung
Eindrücke), die zweite das Vermögen, durch diese Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen (Spontaneität der Begriffe)« (KrV B 74). Der »Gegenstand« der Erkenntnis wird also gerade nicht »empfangen«, er ist nicht »gegeben«, sondern wird durch die sinnlichen »Vorstellungen« erkannt, indem die gegebenen »Data« auf Begriffe bezogen werden. Deshalb kommt den »gegebenen« Anschauungen bei Kant ebensowenig eine »objektive Gültigkeit« zu wie den »abgesonderten« Begriffen; vielmehr entspringt die »Objektivität« allererst aus der Tätigkeit, empirisch »gegebene« Anschauungen »verständlich« zu machen, d. h. sie auf Begriffe zu beziehen. Allein das Resultat einer solchen Erkenntnistätigkeit kann für Kant »objektiv-gültig, mithin Erfahrung« (IV 310) sein.13 Nimmt man die beiden genannten »Tätigkeiten« der Erkenntnis zusammen, so läßt sich als Pointe des transzendentalen Erfahrungsbegriffs festhalten, daß weder der reine Begriff noch die reine Anschauung für sich genommen zur Erfahrung ausreichen; weder Begriffe noch Anschauungen können daher in der Transzendentalphilosophie als »Fixpunkte« gelten, von denen aus sich der Zusammenhang der menschlichen Erkenntnis aufbauen ließe. Das drückt Kant an einer berühmten Stelle der Kritik der reinen Vernunft folgendermaßen aus: »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es eben so notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d. i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen), als, seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d. i. sie unter Begriffe zu bringen). Beide Vermögen, oder Fähigkeiten, können auch ihre Funktionen nicht vertauschen. Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen« (KrV B 76). Menschliche Erkenntnis »entspringt« also für Kant einer »ursprünglichen« Vereinigung (Synthese), deren systematische Pointe offenkundig darin besteht, daß sie selbst, als Vereinigung von Anschauung und Begriff, weder »reine« Anschauung noch »reiner« Begriff, sondern die noch näher zu bestimmende transzendentale Grundbedingung von »Erfahrung« ist. Daher kann Kant sagen: »Mein Platz ist das fruchtbare Bathos der Erfahrung, und das Wort transzendental« bedeutet »nicht etwas, das über alle Erfahrung hinausgeht, sondern was vor ihr (a priori) zwar vorhergeht, aber doch zu nichts mehrerem bestimmt ist, als lediglich Erfahrungserkenntnis möglich zu machen«
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Kant empfiehlt »dem Leser« ausdrücklich, »auf diesen Unterschied der Erfahrung von einem bloßen Aggregat von Wahrnehmungen wohl Acht zu haben«, da für Kant mancher Leser wohl noch »in der langen Gewohnheit steckt, Erfahrung für eine bloß empirische Zusammensetzung der Wahrnehmungen zu halten, und daher daran gar nicht denkt, daß sie viel weiter geht, als diese reichen, nämlich empirischen Urteilen Allgemeingültigkeit gibt und dazu einer reinen Verstandeseinheit bedarf, die a priori vorhergeht« (IV 310).
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(IV 373 Anm.). Denn diese systematische »Fruchtbarkeit« der Erfahrung für die transzendentale Reflexion, die sich im weiteren Verlauf der Untersuchung immer wieder zeigen wird, liegt, wie Kant nicht müde wird zu betonen, in der ganz eigentümlichen »Verbindung« von Begriff und Anschauung, Denken und Sinnlichkeit, die der menschlichen »Erfahrungserkenntnis« die für sie spezifische »synthetische« Struktur verleiht. Ein wesentliches Moment des transzendentalen Ansatzes kommt daher gar nicht erst in den Blick, wenn diese Struktur der menschlichen Erfahrung objektivistisch oder intellektualistisch verkürzt, d. h. wenn sie entweder auf die isolierte Anschauung oder den isolierten Begriff reduziert wird, wodurch in beiden Fällen die eigentlich »fruchtbare« Problemstellung für die philosophische Reflexion gerade übersehen und verdeckt wird: das Problem der Verbindbarkeit von Anschauung und Begriff. Mit diesem transzendental reflektierten Begriff der Erfahrung erhält der hier verfolgte »gegenläufige« Gedanke sein eigentliches systematisches Profil: der Erfahrungsbegriff bildet zugleich seine Grundlage wie den Zielpunkt, auf den der Gedankengang hinaus will. Kants Bedenken gegen den »Schein« einer reinen Erkenntnis, die sich allzu unvermittelt an der Vernunftidee des Unbedingten orientiert und allzu leichtfüßig den Bereich der »bedingten« Erfahrung verläßt, mündet jetzt in die »Nüchternheit einer strengen, aber gerechten Kritik«, die »alle unsere spekulative Ansprüche bloß auf das Feld möglicher Erfahrung einschränken« muß, woraus sich dann von selbst die Konsequenz ergibt, daß »die Fahrt unserer Vernunft nur so weit, als die stetig fortlaufenden Küsten der Erfahrung reichen, fortzusetzen« ist (KrV A 395 f.). Die Küstenlinie der Erfahrung umschließt aber für Kant »das Land der Wahrheit«, das einer »Insel« vergleichbar ist, »umgeben von einem weiten und stürmischen Ozeane, dem eigentlichen Sitze des Scheins, wo manche Nebelbank und manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt«, die vor der nüchternen Kritik der Transzendentalphilosophie jedoch keinen Bestand haben (KrV B 294 f.). Innerhalb des hier verfolgten Gedankengangs, der sich am transzendentalen Erfahrungsbegriff orientiert, muß sich am Ende auch das Verhältnis von Vernunft und Verstand anders darstellen als für die zuvor exponierte Überlegung, die sich an der Vernunftidee des Unbedingten orientierte. Denn Kants Charakterisierung der transzendentalen Differenz zwischen Vernunft und Verstand durch den Umstand, daß der »Gegenstand« der Vernunftideen »in keiner Erfahrung gegeben werden kann«, wird in der gegenwärtig eingenommenen Perspektive nicht anders als nachteilig erscheinen können. Das »Land der Wahrheit« ist nämlich das Gebiet der möglichen Erfahrung und als solches »das Land des reinen Verstandes« (KrV B 294), weil dessen »Gegenstand« durchaus und ausschließlich in der Erfahrung gegeben werden kann, da der transzendentale Sinn der Verstandeskategorien ja gerade darin besteht, Erfahrungsgegenstände möglich zu ma-
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chen. Deshalb kann den Vernunftideen hier kein eigenständiger Sinn zugesprochen werden, sondern nur eine mittelbare Bedeutung im Bezug auf den Verstand, der wiederum einen Bezug zur Erfahrung hat. Kant formuliert den Punkt, auf den es ihm hier ankommt, einmal sehr prägnant in einer »Betrachtung, welche es« – wie er mit Nachdruck sagt – »gar sehr verdient in der Transzendentalphilosophie umständlich ausgeführt zu werden«. In dieser Betrachtung aus der Kritik der Urteilskraft heißt es: »Die Vernunft ist ein Vermögen der Prinzipien und geht in ihrer äußersten Forderung auf das Unbedingte; da hingegen der Verstand ihr immer nur unter einer gewissen Bedingung, die gegeben werden muß, zu Diensten steht. Ohne Begriffe des Verstandes aber, welchen objektive Realität gegeben werden muß, kann die Vernunft gar nicht objektiv (synthetisch) urteilen und enthält als theoretische Vernunft für sich schlechterdings keine konstitutive, sondern bloß regulative Prinzipien. Man wird bald inne: daß, wo der Verstand nicht folgen kann, die Vernunft überschwenglich wird und in zwar gegründeten Ideen (als regulativen Prinzipien), aber nicht objektiv gültigen Begriffen sich hervortut« (V 401). Abermals faßt Kant die transzendentale Differenz zwischen Vernunft und Verstand als Unterscheidung zweier Arten von Erkenntnis, die im Falle der Vernunft »auf das Unbedingte« abzielt, im Falle des Verstandes hingegen »immer nur unter einer gewissen Bedingung, die gegeben werden muß, zu Diensten steht«. Die reinen Begriffe der Verstandeserkenntnis, die Kategorien, sind freilich dadurch ausgezeichnet, daß ihnen nicht nur im Bezug auf empirische Anschauungen »objektive Realität« gegeben werden muß, sondern auch gegeben werden kann, wohingegen den reinen Begriffen der Vernunfterkenntnis, den Ideen, dieser direkte Bezug gerade verwehrt ist, so daß ihnen für sich genommen keine objektive Gültigkeit zugesprochen wird: sie »konstituieren« keine eigene gültige Erkenntnisart, sie »regulieren« nur eine andere, nämlich die des Verstandes.14 Die Vernunftidee des Unbedingten verwandelt sich damit zur »regulativen« Idee eines Ganzen der Erfahrung, das – als Ganzes – nicht Gegenstand der Erfahrung ist und sein kann (vgl. IV 328). Dieses unerfahrbare Ganze der Erfahrung ist »regulativ« als formale Anforderung gegenüber der Verstandeserkenntnis präsent, indem der Verstand darauf aus ist, seine einzelnen Erkenntnisse als 14 Das gilt allerdings genaugenommen nur, wie die zuletzt zitierte Passage sagt, für die »theoretische« Vernunft. Diese Unterscheidung einer »theoretischen« von einer »praktischen« Vernunft, oder genauer und besser: die Unterscheidung zwischen einem »theoretischen« und einem »praktischen« Gebrauch der Vernunft wird sich am Ende als der entscheidende Schlüssel zum Verständnis der transzendentalen Vernunftkritik erweisen. Freilich gewinnt Kant selbst erst während der schrittweisen Entfaltung seiner Vernunftkritik Klarheit über die genannte Unterscheidung, so daß auch die rekonstruierende Deutung sie sich schrittweise erarbeiten muß.
§ 3. Erfahrung und System
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»Ganzes« zu fassen, d. h. sie in einen möglichst umfassenden systematischen Zusammenhang zu bringen. Deshalb kann Kant sagen: »Übersehen wir unsere Verstandeserkenntnisse in ihrem ganzen Umfange, so finden wir, daß dasjenige, was Vernunft ganz eigentümlich darüber verfügt und zu Stande zu bringen sucht, das Systematische der Erkenntnis sei, d. i. der Zusammenhang derselben aus einem Prinzip« (KrV B 673). Der bloß regulative Sinn der Systemidee zeigt sich aber daran, daß sie die Verstandeserkenntnis, wie Kant ausdrücklich sagt, »in ihren eigenen Grenzen« beläßt, indem die Idee eines möglichst umfassenden systematischen Zusammenhangs der »empirischen Erkenntnis« einen immanenten Leitfaden an die Hand gibt, durch den sie immer »mehr angebauet und berichtigt wird«, ohne dadurch – in einem für die Erkenntnis konstitutiven Sinne – eine »Erweiterung unserer Erkenntnis über mehr Gegenstände, als Erfahrung geben kann«, zu erreichen (KrV B 699). Das Resultat des hier verfolgten Gedankengangs lautet demnach, daß »die reine Vernunft, die uns anfangs nichts Geringeres als Erweiterung der Kenntnisse über alle Grenzen der Erfahrung zu versprechen schien, wenn wir sie recht verstehen, nichts als regulative Prinzipien« enthält (KrV B 729). Der Gedankengang läuft also auf eine »Restriktion der Idee auf den bloßen regulativen Gebrauch« hinaus (KrV B 717). Dabei ist die eigentliche Restriktion, die Kant hier im Auge hat, nicht schon allein durch die Feststellung hinreichend bestimmt, daß sich »die Vernunft nur auf den Verstandesgebrauch« bezieht (KrV B 383). Vielmehr wird sie erst durch den viel weiter gehenden Satz Kants ausgesprochen: »die reine Vernunft überläßt alles dem Verstande« (KrV B 382). Denn erst durch ihn wird die eigentliche Restriktion der Vernunft festgehalten, durch die »alles«, d. h. die eigentliche Anstrengung der Erkenntnistätigkeit, dem Verstand »überlassen« bleibt, solange die Vernunftideen nicht von konstitutiver, sondern nur von regulativer Bedeutung sind. Der »stolze Name einer Ontologie, welche sich anmaßt, von Dingen überhaupt synthetische Erkenntnisse a priori in einer systematischen Doktrin zu geben«, so Kant, »muß dem bescheidenen einer bloßen Analytik des reinen Verstandes Platz machen« (KrV B 303). Spätestens mit den letzten Sätzen ist geradezu überdeutlich geworden, daß der hier verfolgte Gedankengang Kants nicht ohne weiteres mit dem zuvor exponierten Ansatz bei der Vernunftidee des Unbedingten vereinbar ist. Die Aufgabe, die sich damit für eine Vergegenwärtigung des systematischen Gesamtzusammenhangs der Kantischen Philosophie ergibt, besteht deshalb insbesondere darin, die auf den ersten Blick unvereinbaren Aussagen zur transzendentalen Differenz von Vernunft und Verstand in einer sinnvollen und konsistenten Weise verständlich zu machen. Dabei stellt sich aber vor allem die Frage, ob die Konsistenz des transzendentalen Ansatzes nur auf die Weise zu sichern ist, daß einer der beiden angeführten Orientierungspunkte als der »eigentliche« Ansatz der Transzenden-
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talphilosophie begriffen wird, hinter den dann der andere möglichst weit zurücktreten muß, so daß in diesem Punkt Kants eigene Aussagen zu »korrigieren« wären. Ist Kants Vernunftkritik also »eigentlich« eine Theorie der Erfahrung und ihrer transzendentalen Bedingungen oder ist sie »eigentlich« eine »revolutionäre« Erneuerung der Metaphysik vermittels der transzendentalen Vernunftidee des Unbedingten? Oder ist diese Alternative am Ende irreführend? Möglicherweise ist die zentrale Einsicht, daß sich die transzendentale Differenz von Vernunft und Verstand, »Ding an sich selbst« und »Erscheinung« in ihrer Unterscheidung gerade auf dasselbe beziehen, auch hier ganz grundsätzlich und in alle Konsequenzen hinein zu verfolgen. Ist demnach die Konsistenz des systematischen Ansatzes der Transzendentalphilosophie gerade darin zu suchen, daß die Auszeichnung der Vernunftidee des Unbedingten »als die eigentliche transzendentale Idee, worauf es ankommt«, und die »Restriktion« der Vernunft auf die regulative Systematisierung der Verstandeserkenntnis nur unterschiedliche Weisen sind, auf dasselbe abzuzielen, nämlich auf dasjenige, was hier die ursprüngliche Einsicht Kants genannt werden soll? § 4. Wissenschaft und Metaphysik Die systematische Bedeutung der beiden gegenläufigen Gedankengänge, die im Vorstehenden exponiert wurden, läßt sich nicht zuletzt auch daran erkennen, daß sie die bisherigen Versuche einer Gesamtdeutung der Kantischen Philosophie maßgeblich bestimmt haben. Dies gilt insbesondere für den zuletzt angeführten Gedankengang, der sich am transzendentalen Erfahrungsbegriff orientiert. Denn an ihn knüpft jene Kant-Deutung an, die im Rückblick als die bislang wohl wirkungsmächtigste Deutung zu bezeichnen ist: der so genannte »Neukantianismus«, der nicht nur eine »Schule« der Kant-Deutung, sondern in eins damit eine eigenständige Richtung der Philosophie begründet hat.15 Es wird freilich zu prüfen sein, inwiefern der »Neukantianismus« seine Wirkungsmacht tatsächlich, wie er selbst meint, der besonderen Nähe seines Ansatzes zum ursprünglichen Sinn der Kantischen Vernunftkritik verdankt. Die zentralen Thesen, die für die vorliegende Untersuchung von Interesse sind, finden sich mit exemplarischer Deutlichkeit in Hermann Cohens Buch »Kants
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Der »Neukantianismus« hat vor allem das Denken in der zweiten Hälfte des neunzehnten und der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts auf vielfältige Weise geprägt oder zumindest beeinflußt (vgl. Köhnke 1986). Aber auch in der gegenwärtigen Diskussion wird er durchaus noch als sinnvoller Anknüpfungspunkt betrachtet, wie Herbert Schnädelbachs Rede von »unserem neuen Neukantianismus« zeigt (Schnädelbach 1993).
§ 4. Wissenschaft und Metaphysik
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Theorie der Erfahrung«, das 1871 in erster Auflage erschien und das häufig als eine Art »Gründungsurkunde« des »Neukantianismus« im engeren Sinne verstanden wird.16 Es ist nichts geringeres als »die Wiederherstellung Kants«, die Cohen in der Vorrede zur dritten Auflage des Buches von 1918 als das wesentliche Ziel seiner »ganzen Lebensarbeit« bezeichnet (Cohen 1918, XXII). Für eine solche »Wiederherstellung« kommt es Cohen zufolge vor allem darauf an, gegenüber den vielen Fehl- und Halbdeutungen der Kantischen Philosophie den »festen Punkt« ins Licht zu rücken, »von welchem Kant ausgegangen ist, und von welchem die Rekonstruktion seiner Gedanken zu beginnen hat« (a. a.O., S. 79). Dieser »feste Punkt« ist aber für Cohen, wie der Buchtitel bereits anzeigt, Kants transzendentaler Begriff der Erfahrung, der also genauer zu bestimmen und von dem aus dann eine Perspektive auf das Ganze der Vernunftkritik zu gewinnen sein wird. Die genauere Bestimmung des Erfahrungsbegriffs, die Cohens Kant-Deutung und das Denken des »Neukantianismus« insgesamt leiten wird, besteht nun grundsätzlich darin, das Wesen der in Frage stehenden »Erfahrung« mit dem Wesen der »mathematischen Naturwissenschaft« zu identifizieren (a. a.O., S. 184). Der »feste Punkt« für seine Gesamtdeutung der Kantischen Vernunftkritik ist demnach, wie Cohen ausführt, die »Tatsache« der »durch Newton« begründeten Wissenschaft: »deren Begriff zu bestimmen, gilt ihm [scil. Kant] als die erste Aufgabe der Philosophie« (a. a.O., S. 79). Cohen wird nicht müde, diesen »Punkt« immer wieder zu betonen: »Wenn wir daher sagen, daß Kant von dem Faktum der Newtonschen Wissenschaft ausgegangen sei, so ist damit in dem Sinne der entscheidende Grundzug seines Philosophierens angegeben, daß er die Vernunft als die wissenschaftliche Vernunft, und zwar auf Grund ihrer stetigen Geschichte denkt. Es hat sich ihm der Begriff der Erkenntnis fixiert« (ebd.). In der Tat ist mit diesen zentralen Thesen zumindest Cohens eigener Begriff der Erkenntnis »fixiert«, so daß in den angeführten Sätzen bereits die Pointe der von Cohen anvisierten Kant-Deutung vorgezeichnet ist. Für Cohen verwandelt sich Kants Lehrstück von der nur »regulativen« Gültigkeit der Vernunftideen für die »Erfahrung« der Verstandeserkenntnis in den »festen Punkt« seiner Deutung, daß der transzendentale Vernunftbegriff ausschließlich als »wissenschaftliche Vernunft« zu bestimmen ist. Der »Geist der Philosophie« ist somit, wie Cohen in beschwörendem Ton versichert, »der Geist der wissenschaftlichen Philosophie, der Geist derjenigen Philosophie, welche zum Unterschiede von allem, was sonst mit Unfug als Philosophie sich aufspielt, 16
Cohens Kantdeutung stützt sich teilweise auf unmittelbare Anregungen von Otto Liebmann und Friedrich Albert Lange (vgl. Marquard 1982, S. 32) sowie von Friedrich Adolf Trendelenburg und Kuno Fischer (vgl. Köhnke 1986, S. 272).
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durch die Verbindung mit der Wissenschaft definiert wird« (a. a.O., S. XXIII). Eine solche Abwehr des philosophischen »Unfugs«, der sich nicht vom »Faktum« der Wissenschaft aus legitimieren läßt, führt am Ende wie von selbst zu Cohens Deutung der Transzendentalphilosophie: »Prinzip und Norm« der transzendentalen »Methode«, so Cohen, ist »der schlichte Gedanke«, daß nur »solche Elemente des Bewußtseins« als »Elemente des erkennenden Bewußtseins« anzuerkennen sind, »welche hinreichend und notwendig sind, das Faktum der Wissenschaft zu begründen und zu festigen« (a. a.O., S. 108). Den wesentlichen Punkt dieses »schlichten« Gedankens macht Cohen sofort unmißverständlich deutlich: »Die Bestimmtheit der apriorischen Elemente richtet sich also nach dieser ihrer Beziehung und Kompetenz für die durch sie zu begründenden Tatsachen der wissenschaftlichen Erkenntnis« (ebd.). Demnach handelt es sich bei der »transzendentalen« Begründung der Wissenschaft offenkundig um eine ganz eigene Form der Begründung, da die »Bestimmtheit« der apriorischen Elemente von Cohen ausdrücklich von den »zu begründenden Tatsachen der wissenschaftlichen Erkenntnis« abhängig gemacht wird, d. h. das Begründende richtet sich nach dem Begründeten. Cohen weitet dergestalt Kants Diktum, die Vernunft überlasse alles dem Verstand, zu einer allgemeinen Deutung der Transzendentalphilosophie aus, in der die transzendentale Vernunft schließlich nur noch »festigen« kann, was ohnehin feststeht, nämlich das »Faktum« der Wissenschaft. Sicherlich kann nicht bestritten werden, daß Kants Ansatz der Transzendentalphilosophie sich explizit und mit Nachdruck auf die Wissenschaften bezieht: »Mathematik und Naturwissenschaft« werden in der Kritik der reinen Vernunft ausdrücklich als »Beispiele« angeführt, denen es in transzendentalphilosophischer Absicht »nachzusinnen« gilt, so weit es »ihre Analogie, als Vernunfterkenntnisse, mit der Metaphysik verstattet« (KrV B XV f.). Genau entsprechend lauten der erste und zweite Teil der »transzendentalen Hauptfrage« in den Prolegomena: »Wie ist reine Mathematik möglich?« bzw. »Wie ist reine Naturwissenschaft möglich?«. Diese beiden Fragen gehen dem dritten und letzten Teil der »Hauptfrage« voran: »Wie ist Metaphysik überhaupt möglich?«. Somit liegt es auf der Hand, daß die »Analogie« von »Wissenschaft« und »Metaphysik« ein ganz wesentliches Moment des transzendentalen Ansatzes ausmacht. Allerdings ist die entscheidende Frage noch offen, wie diese »Analogie« des nähern aufzufassen ist, um das Ganze der Kantischen Vernunftkritik in den Blick zu bekommen. Ist sie, wie Cohen meint, in dem Sinne als Identität zu bestimmen, daß »Metaphysik« streng auf den Begriff der »Wissenschaft« zu reduzieren ist, will sie nicht als »Unfug« gelten? Oder ist der Begriff der »Vernunfterkenntnis«, der bei Kant die »Analogie« zwischen »Wissenschaft« und »Metaphysik« herstellt, vielmehr so zu verstehen, daß er zwar eine systematische Vermittlung beider Er-
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kenntnisarten hervorhebt, doch innerhalb dieser Vermittlung zugleich eine Differenz im »Wie« des Erkennens denkbar macht, auf deren präzise Bestimmung es am Ende in der Transzendentalphilosophie ankommt? Nun äußert sich Kant selbst zu der fraglichen Beziehung von »Wissenschaft« und »Metaphysik« klar genug, und zwar zu Beginn des Abschnitts der Prolegomena, der dem dritten und letzten Teil der »transzendentalen Hauptfrage« gewidmet ist. Dort heißt es zunächst, daß Mathematik und Naturwissenschaft einer transzendentalen »Deduktion« zum »Behuf ihrer eigenen Sicherheit und Gewißheit« durchaus nicht »bedurft« hätten, da ihre Evidenz und empirische Gegründetheit für sich selber sprächen. »Beide Wissenschaften«, so Kant weiter, »hatten also die gedachte Untersuchung nicht für sich, sondern für eine andere Wissenschaft, nämlich Metaphysik, nötig« (IV 327). Die Metaphysik ist für Kant also auch eine »Wissenschaft«, aber in einem durchaus anderen Sinne als Mathematik und Naturwissenschaft, was sich eben darin ausdrückt, daß jene – im Gegensatz zu diesen – eine eigene transzendentale Untersuchung »nötig« hat. Die Wesensbestimmung der Wissenschaften im engeren Sinne (Mathematik und Naturwissenschaft) hat somit nur einen vorbereitenden Charakter und darf deshalb nicht einfach mit der von Kant am Ende angestrebten transzendentalen Wesensbestimmung der Metaphysik identifiziert werden. Diesen für das richtige Verständnis des transzendentalen Ansatzes entscheidenden Gedanken macht Kant im folgenden Absatz der Prolegomena vollends deutlich. Die Passage sei daher ausführlich wiedergegeben: »Metaphysik hat es außer mit Naturbegriffen, die in der Erfahrung jederzeit ihre Anwendung finden, noch mit reinen Vernunftbegriffen zu tun, die niemals in irgend einer nur immer möglichen Erfahrung gegeben werden, mithin mit Begriffen, deren objektive Realität (daß sie nicht bloße Hirngespinste sind), und mit Behauptungen, deren Wahrheit oder Falschheit durch keine Erfahrung bestätigt oder aufgedeckt werden kann; und dieser Teil der Metaphysik ist überdem gerade derjenige, welcher den wesentlichen Zweck derselben, wozu alles andre nur Mittel ist, ausmacht, und so bedarf diese Wissenschaft einer solchen Deduktion um ihrer selbst willen. Die uns jetzt vorgelegte dritte Frage betrifft also gleichsam den Kern und das Eigentümliche der Metaphysik, nämlich die Beschäftigung der Vernunft bloß mit sich selbst« (IV 327). Der »Wissenschaft« im weiteren Sinne einer »Vernunfterkenntnis« überhaupt, zu der die Wissenschaften im engeren Sinne wie auch die Metaphysik im engeren Sinne zu zählen sind, entspricht hier umgekehrt ein Begriff von »Metaphysik« im weiteren Sinne, zu der auch die Wissenschaften gehören, »die in der Erfahrung jederzeit ihre Anwendung finden«. Der Punkt, auf den Kant am Ende hinaus will, ist jedoch offenkundig der, daß innerhalb des weiteren Begriffs von Ver-
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nunft und Metaphysik ein »Teil« auszuzeichnen ist, der »den wesentlichen Zweck derselben« ausmacht, »wozu alles andre nur Mittel ist«.17 Die angeführte Passage gibt somit einen wichtigen Fingerzeig, wie das genauere Verhältnis der beiden oben angeführten, »gegenläufigen« Gedankengänge zu verstehen ist. Sie macht nämlich deutlich, daß die vom transzendentalen Erfahrungsbegriff angeleitete Kritik an der metaphysischen Vernunftidee des »Unbedingten« als Mittel zu verstehen ist, um den »wesentlichen Zweck« der Metaphysik zu erreichen. Kants Kritik gilt also nur einer bestimmten Auffassung von Metaphysik, nämlich der, die das »Unbedingte« in eine unvermittelte Opposition zur Erfahrung rückt. Eine solche Kritik ist in der Tat ein wichtiges Mittel, um »das Verfahren der bisherigen Metaphysik umzuändern«. Der »wesentliche Zweck« der Transzendentalphilosophie ist demnach ein kritisch veränderter Metaphysikbegriff, nicht aber ein »Ersetzen« der Metaphysik durch exakte Wissenschaft.18 Die Gleichzeitigkeit von Metaphysikkritik und genuin metaphysischem Anspruch, die sich wie Mittel und Zweck verhalten, prägt deshalb von Grund auf das systematische Profil der Transzendentalphilosophie, deren wesentliche Aufgabe in der begrifflichen Klärung des »Eigentümlichen« oder des »Kerns« der Metaphysik besteht, weil dieser »Kern« mit dem zusammenhängt, was Kant als die »eigene Bestimmung« der Vernunft begreift, wenn er sagt: »Der Erfahrungsgebrauch, auf welchen die Vernunft den reinen Verstand einschränkt, erfüllt nicht ihre eigene ganze Bestimmung« (IV 328). Cohens »neukantianische« Deutung verwechselt demnach Mittel und Zweck der transzendentalen Vernunftkritik. Deshalb klingt es wie eine vorweggenommene Kritik der »neukantianischen« Ausrichtung am »Faktum« der Wissen-
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Damit zeigt sich erneut, daß die Begriffe, die Kant verwendet, häufig keine »fixe« Bedeutung haben, sondern erst vom jeweiligen systematischen Zusammenhang her ihren genauen Sinn erhalten. So ist die Unterscheidung zwischen einem Wissenschaftsbegriff im engeren und weiteren Sinne nicht zuletzt für das richtige Verständnis des Titels der Prolegomena wichtig: »Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können«. Denn nach dem bisher Gesagten ist bereits klar, daß Kant hier »Wissenschaft« im weiteren Sinne, also im Sinne von »Vernunfterkenntnis« verwendet, wohingegen ein angemessenes Verständnis des transzendentalen Ansatzes von vornherein blockiert wäre, wollte man Kants transzendentalen Metaphysikbegriff mit einem Wissenschaftsbegriff in dem engeren Sinne identifizieren, der heute geläufig ist und der auch von Cohen verwendet wird. Freilich ist die Unterscheidung zwischen »weiteren« und »engeren« Begriffen von Wissenschaft, Vernunft und Metaphysik nur eine erste Annäherung an das bei Kant Gemeinte, welches sich am Ende nur einer »konstellativen« Deutung erschließen wird, die den einzelnen Begriffen in ihrem systematischen Zusammenhang nachgeht. 18 Eine pauschale Metaphysikkritik hält dagegen am traditionellen Begriff der Metaphysik durchaus fest, nur daß sie ihn eben negiert, wodurch die Möglichkeit eines kritisch veränderten Begriffs von Metaphysik erst gar nicht in den Blick kommt.
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schaft, wenn Kant ausdrücklich betont, daß die Kritik der reinen Vernunft »nichts als gegeben zum Grunde legt außer die Vernunft selbst und also, ohne sich auf irgend ein Faktum zu stützen, die Erkenntnis aus ihren ursprünglichen Keimen zu entwickeln sucht« (IV 274). Eine Gesamtdeutung der Kantischen Vernunftkritik, die den transzendentalen Vernunft- und Philosophiebegriff vom »Faktum« der Wissenschaft abhängig machen will, verkehrt somit den expliziten Sinn der Transzendentalphilosophie ins genaue Gegenteil.19 Im Gegenzug zu dieser Fehldeutung muß daher von Anfang an festgehalten werden, daß eine wesentliche Absicht der Kantischen Vernunftkritik darin besteht, die kritische Autonomie der Vernunft gegenüber dem geschichtlichem »Faktum« der Wissenschaften zu sichern, indem das kritische Potential der Wissenschaften als wohlbedachtes Mittel in das umfassendere Projekt einer kritisch veränderten Metaphysik eingebunden wird. Kants transzendentale Begründung der Möglichkeit von »Wissenschaft« ist daher zugleich und vor allem eine epistemologische Begrenzung der Art ihrer Erkenntnis. Cohen ist sich im übrigen durchaus klar darüber, daß seine Deutung mit wesentlichen Grundelementen der Kantischen Transzendentalphilosophie unvereinbar ist. Allerdings veranlaßt ihn dies nur zu der Feststellung, »daß eine Revision dieser Grundelemente« für »die Behauptung und Verteidigung der Lehre unentbehrlich und unausweichlich ist« (Cohen 1918, 786). Mittlerweile ist deutlich geworden, daß hier mit »Lehre« vor allem Cohens eigene, »neukantianische« Lehre der Wesensgleichheit von Philosophie und Wissenschaft gemeint ist; und diese Lehre ist sich ihrer selbst so sicher, daß sie dort, wo sie als Kantdeutung auftritt, nicht zögert, im Zweifelsfall nicht die Deutung, sondern das Gedeutete zu »revidieren«, wenn es sich der Deutung nicht fügen will.20 Cohens Deutung, oder besser: Inanspruchnahme der Kantischen Transzendentalphilosophie stützt sich also im Grunde gar nicht primär auf Kants Werk, sondern – aus Cohens Perspektive durchaus konsequent – auf das »Faktum« eines mächtigen Geschichtsprozesses: den Siegeszug der exakten Wissenschaften, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der Cohens Buch erstmals veröffentlicht wird, in besonders glänzendem Licht erscheint.
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Auch Klaus Christian Köhnke kommt in seiner Studie »Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus« zu dem Ergebnis, daß der »Kerngedanke« des »Neukantianismus« auf »einem Mißverständnis und einer falschen Kantauslegung« beruht (Köhnke 1986, S. 284), da Cohen seine Deutung »genau entgegen« dem »Anliegen der KrV« entwickelt (S. 275, vgl. S. 281). 20 Die ausgesprochene »Selbstsicherheit« Cohens drückt sich auch in der häufig monierten »Methode« seiner Kantdeutung aus, mit bloßen »Zitatfetzen« zu operieren: er wählt »Zitate lediglich nach dem Gebrauchswert für seine eigene Theorie aus, ohne deren jeweiligen Stellenwert in der KrV überhaupt nur im mindesten zu berücksichtigen« (Köhnke 1986, S. 273).
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Es kann daher nicht überraschen, daß sich die Koordinaten der Kantdeutung grundlegend verändern, sobald die »Wissenschaft« in einem anderen Licht wahrgenommen wird. Dies setzt aber in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein, wenn etwa Wittgenstein um 1918 schreibt: »Wir fühlen, daß selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind«.21 Oder wenn der späte Husserl in seinem letzten Werk von 1936 die »Krisis der Wissenschaft als Verlust ihrer Lebensbedeutsamkeit« in die Worte faßt: »Die Ausschließlichkeit, in welcher sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die ganze Weltanschauung des modernen Menschen von den positiven Wissenschaften bestimmen und von der ihr verdankten ›prosperity‹ blenden ließ, bedeutete ein gleichgültiges Sichabkehren von den Fragen, die für ein echtes Menschentum die entscheidenden sind. Bloße Tatsachenwissenschaften machen bloße Tatsachenmenschen«.22 Wie immer diese Sätze und der philosophische Kontext, in den sie jeweils gehören, im einzelnen zu beurteilen sein mögen; so sehr man heute auch über den Ausdruck »echtes Menschentum« stolpern mag; in jedem Fall machen die angeführten Sätze zweier Philosophen, die zu den bedeutendsten Denkern des 20. Jahrhunderts gehören, unübersehbar deutlich, daß ein neues, dem »Neukantianismus« fremdes Interesse an einer kritischen Besinnung auf das Erkenntnis-Paradigma der Wissenschaft entstanden ist, das deshalb »kritisch« zu nennen ist, weil es sich die Begriffe, welche die Reflexion anleiten, nicht vom »Faktum« der Wissenschaft vorgeben läßt. Die dadurch bewirkte Veränderung in der Ausrichtung der Kantdeutung zeigt sich nicht zuletzt in einem neuen Interesse an Kants Metaphysikbegriff. So veröffentlichen im selben Jahr 1924 Max Wundt ein Buch über »Kant als Metaphysiker« und Heinz Heimsoeth einen Aufsatz über »Metaphysische Motive in der Ausbildung des kritischen Idealismus«. Und 1929 erscheint Heideggers KantBuch mit dem programmatischen Titel: »Kant und das Problem der Metaphysik«. In ihm heißt es mit unverkennbarem Bezug auf die namentlich nicht genannte Kantdeutung Cohens: »Die Absicht der Kritik der reinen Vernunft« bleibt »grundsätzlich verkannt, wenn dieses Werk als ›Theorie der Erfahrung‹ oder gar als Theorie der positiven Wissenschaften ausgelegt wird« (Heidegger 1973, S. 16).23 Der Versuch einer angemessenen Kantdeutung wird hier offen21
Wittgenstein 1984: Tractatus logico-philosophicus (6.52), S. 85. Husserl 1956: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, S. 3 f. 23 Vgl. zur Kant-Deutung Heideggers: Henrich 1955. In den Kontext der kritischen Auseinandersetzung mit der »neukantianischen« Kantdeutung gehört auch die »Davoser Disputation« zwischen Cassirer und Heidegger (nachzulesen in: Heidegger 1973, S. 246 ff.; vgl. dazu: Rosenzweig 1937). 22
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kundig von dem Interesse geleitet, die neukantianische »Revision« der Transzendentalphilosophie im Hinblick auf Kants ursprüngliche »Absicht« kritisch zu revidieren, um ein zeitgemäßes Verständnis von Philosophie, Vernunft und Metaphysik zu gewinnen, das nicht in einer direkten Identifizierung mit der »Wissenschaft« besteht, ohne deshalb sofort »Unfug« sein zu müssen. An dieses Erkenntnisinteresse, das bis heute in Untersuchungen zu Kant im allgemeinen und seinem Begriff von »Metaphysik« im besonderen fortgewirkt hat, knüpft die vorliegende Untersuchung an.24 Sie versucht die »neukantianische« Verkürzung der transzendentalen Vernunftkritik zu korrigieren, ohne dabei das sachliche Recht einfach zu ignorieren, das in der »neukantianischen« Rede vom geschichtlichen »Faktum« der Wissenschaft liegt. Denn die Beobachtung, daß Kant das kritische Potential der neuzeitlichen Wissenschaftserkenntnis in das Projekt seiner Vernunftkritik aufnimmt, ist in der Tat eine unabdingbare Voraussetzung für ein angemessenes Verständnis der Transzendentalphilosophie, weil der Ansatz bei einem transzendental reflektierten Begriff der Erfahrung Kant überhaupt erst in die Lage versetzt, zwischen dem »bisherigen« Metaphysikbegriff der Tradition und seinem »revolutionär« veränderten Begriff von Metaphysik kritisch zu unterscheiden. Insofern wäre gegenüber dem Erkenntnis-Paradigma der neuzeitlichen Wissenschaften ein »vornehmer Ton« der Philosophie, den schon Kant kritisiert hat, völlig verfehlt und würde zudem leicht in die Irre führen, da er allzu gern in die Denkmuster der traditionellen Metaphysik zurückfällt. Gleichwohl ist gegenüber einer »neukantianischen« Kant-Deutung daran festzuhalten, daß der »wesentliche Zweck« der Kantischen Transzendentalphilosophie in der Entfaltung eines eigenständigen Vernunftbegriffs besteht, der zwar zur empirischen Verstandeserkenntnis vermittelt ist, aber im »Kern« gerade nicht in ihr aufgeht.
§ 5. Der spekulative und praktische Gebrauch der Vernunft Wenn Kant die Vernunfterkenntnis im weiteren Sinne in die transzendentalphilosophisch zu unterscheidenden Erkenntnisarten des Verstandes und der Vernunft im engeren Sinne differenziert, dann ist der »Erfahrungsgebrauch«, auf den »die Vernunft den reinen Verstand einschränkt«, eine Selbsteinschränkung der Vernunft (im weiteren Sinne). Dieser implizite Vernunftbezug macht sich in der spe-
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An speziellen Arbeiten zu Kants Metaphysikbegriff sind u. a. zu nennen: Dempf 1976, Kaulbach 1977, Model 1987, Lorenzen 1991, Effertz 1994, König 1994. All diesen Arbeiten ist gemeinsam, daß sie auf die eine oder andere Weise »Kant als Metaphysiker verteidigen« wollen (König 1994, S. 4).
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zifischen »Art«, im »Wie« der empirischen Verstandeserkenntnis als beständige Unruhe bemerkbar, insofern der Verstand sich bei keiner Erkenntnis »endgültig« beruhigen kann, weil er bereits vor aller Erfahrung weiß, daß jede Einzelerkenntnis revidierbar und Teil eines nicht vollständig erkennbaren, »systematischen« Ganzen ist. Die transzendentale Vernunftidee des »Unbedingten«, die sich dergestalt »mit allem Recht« als beunruhigender Gegenbegriff zur stets »bedingten« Erfahrung der empirischen Verstandeserkenntnis bemerkbar macht, konnte bislang jedoch nur in einem »regulativen« Sinne gerechtfertigt werden, durch den keine eigenständige Vernunfterkenntnis konstituiert wird, sondern am Ende alles dem Verstand überlassen bleibt. Wollte man an diesem Punkt stehen bleiben, ergäbe sich in der Tat ein unbehebbarer und für den transzendentalen Ansatz fataler Zwiespalt zwischen der Emphase, mit der Kant einerseits die Vernunftideen in ihrer qualitativen Differenz zur »Erfahrung« hervorhebt, und der scharfen Restriktion, mit der er andererseits den »Gebrauch« der Ideen auf das Gebiet der »Erfahrung« beschränkt. Deshalb liegt die Vermutung nahe, daß in den bisherigen Überlegungen noch ein wesentlicher Gedanke fehlt: die ursprüngliche Einsicht, auf die der ganze Gedankengang eigentlich hinaus will und die nicht nur eine neue Deutungsperspektive eröffnen, sondern auch den bislang erörterten Begriffen überhaupt erst ihren präzisen systematischen Stellenwert geben würde. Der bereits zurückgelegte Gedankengang verweist auch sehr genau auf den Punkt, der noch weiter zu differenzieren ist. Denn offenbar ist der Vernunftbegriff im engeren Sinne noch nicht präzise genug bestimmt, da die Vernunftideen in höchst zweideutiger Weise auftreten können: einmal als der eigentliche Zweck der Transzendentalphilosophie, zum anderen aber als bloßer »Schein«, der vom Standpunkt der »Erfahrung« aus zu kritisieren ist. Gegen Ende der Kritik der reinen Vernunft, in der »Transzendentalen Methodenlehre«, die sich als zweiter und letzter Hauptteil an den ersten Hauptteil der »Transzendentalen Elementarlehre« anschließt, macht Kant die gesuchte Differenzierung des Vernunftbegriffs deutlich. Die Passage, die zugleich eine knappe Rekapitulation des bisher zurückgelegten Weges enthält, lautet: »Die Vernunft führte uns in ihrem spekulativen Gebrauche durch das Feld der Erfahrungen und, weil daselbst für sie niemals völlige Befriedigung anzutreffen ist, von da zu spekulativen Ideen, die uns aber am Ende wiederum auf Erfahrung zurückführten, und also ihre Absicht auf eine zwar nützliche, aber unserer Erwartung gar nicht gemäße Art erfüllten. Nun bleibt uns noch ein Versuch übrig: ob nämlich auch reine Vernunft im praktischen Gebrauche anzutreffen sei, ob sie in demselben zu den Ideen führe, welche die höchsten Zwecke der reinen Vernunft, die wir eben angeführt haben, erreichen, und diese also aus dem Gesichtspunkte ihres praktischen Interesse nicht dasjenige ge-
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währen könne, was sie uns in Ansehung des spekulativen ganz und gar abschlägt« (KrV B 832). An dieser Stelle wird von Kant – auf engstem Raum – das Thema der vorliegenden Untersuchung umrissen. Im Rahmen der Einleitung sollen zunächst die wichtigsten Begriffe hervorgehoben, weitere Stellen zur Sicherung des Verständnisses herangezogen und die Hauptfragen kurz angedeutet werden, die von dem nun vollständig in den Blick gekommenen Ansatz der Transzendentalphilosophie aufgeworfen werden. Die Binnendifferenzierung des transzendentalen Vernunftbegriffs, die bislang nicht berücksichtigt wurde, ist Kants Unterscheidung zwischen einem spekulativen und einem praktischen Gebrauch der Vernunft. Auch wenn im Moment noch völlig unklar sein muß, was damit des näheren gemeint sein mag, so läßt sich aus der angeführten Passage doch schon so viel entnehmen, daß das bislang Erörterte dem spekulativen Vernunftgebrauch zuzurechnen ist. Denn er ist es, der »durch das Feld der Erfahrung« führt und die Vernunft darin zugleich »unbefriedigt« läßt, so daß sie »mit vollem Recht« zu den unbedingten Ideen übergeht. Aber die Ideen werden jetzt präziser spekulative Ideen genannt, sofern sie im Zusammenhang des spekulativen Gebrauchs der Vernunft stehen; und genau diese »spekulativ« verstandenen Ideen sind es, die keine eigenständige, konstitutive Bedeutung erlangen können, sondern »am Ende wiederum auf Erfahrung« zurückführen, d. h. nur im »regulativen« Sinne gültig sind, so daß die ursprüngliche »Absicht« der Vernunft zwar zu einem »nützlichen« Resultat führt, nicht aber zur Erfüllung ihrer »höchsten Zwecke«. Die eigentlichen Vernunftzwecke, die sich offenbar nur in einer eigenständigen Bedeutung der Ideen erfüllen, können somit Kant zufolge nicht im spekulativen, vielleicht aber im praktischen Gebrauch der Vernunft und ihrer Ideen erreicht werden. Mit dem nun unterschiedenen, doppelten »Gebrauch« der Vernunft geht des weiteren ein zweifaches Interesse der Vernunft einher, so daß Kant nicht nur einen spekulativen und praktischen Vernunftgebrauch, sondern ganz entsprechend ein spekulatives und praktisches Vernunftinteresse unterscheidet. Kants ursprüngliche Einsicht und die neue Perspektive, die sie eröffnet, läßt sich also mit der Wendung umschreiben, daß der Zweck der transzendentalen Vernunft nicht aus dem »Gesichtspunkt« ihres spekulativen, sondern allenfalls aus dem ihres praktischen Interesses heraus erreicht werden kann. Die Vernunft, so Kant an einer weiteren Stelle der »Transzendentalen Methodenlehre«, »ahndet Gegenstände, die ein großes Interesse für sie bei sich führen. Sie tritt den Weg der bloßen Spekulation an, um sich ihnen zu nähern; aber diese fliehen vor ihr. Vermutlich wird auf dem einzigen Wege, der noch übrig ist, nämlich dem des praktischen Gebrauchs, besseres Glück für sie zu hoffen sein« (KrV B 824). Am Eingang des kritischen Weges, der, wie Kant am Ende der Kritik der reinen Vernunft
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sagt, »allein noch offen« ist (KrV B 884), steht also die transzendentale Reflexion auf das Interesse der Vernunft und den systematischen Vorrang, der dem praktischen Vernunftgebrauch vor dem spekulativen Vernunftgebrauch einzuräumen ist. Die angeführte Pointe des transzendentalen Ansatzes wird von Kant aber nicht nur am Ende der Kritik der reinen Vernunft, in der »Transzendentalen Methodenlehre« deutlich gemacht, sondern auch in der Vorrede zur zweiten Auflage des Buches, in der er – wie in der »Methodenlehre« – auf das Ganze der Vernunftkritik eingeht. Dort heißt es : »Nun bleibt uns immer noch übrig, nachdem der spekulativen Vernunft alles Fortkommen in diesem Felde des Übersinnlichen abgesprochen worden, zu versuchen, ob sich nicht in ihrer praktischen Erkenntnis Data finden, jenen transzendenten Vernunftbegriff des Unbedingten zu bestimmen und auf solche Weise dem Wunsche der Metaphysik gemäß über die Grenze aller möglichen Erfahrung hinaus mit unserem, aber nur in praktischer Absicht möglichen Erkenntnisse a priori zu gelangen« (KrV B XXI). Das eigentliche Ziel der Kantischen Transzendentalphilosophie besteht also darin, den »Vernunftbegriff des Unbedingten zu bestimmen«, ein Unternehmen, bei dem allerdings auf »spekulativem« Wege kein »Fortkommen« ist, so daß nur noch der »revolutionäre« Weg offen ist, den praktischen Vernunftgebrauch daraufhin zu untersuchen, ob sich in ihm »Data finden«, auf die hin der Vernunftidee des Unbedingten eine eigenständige transzendentale Bedeutung »in praktischer Absicht« gesichert werden könnte.25 Im nächsten Satz macht Kant noch einmal auf die systematische Vermittlung zwischen der Kritik am Ungenügen des »spekulativen« Vernunftgebrauchs und der erst durch diese Kritik eröffneten Perspektive auf den »praktischen« Vernunftgebrauch aufmerksam: »bei einem solchen Verfahren hat uns die spekulative Vernunft zu solcher Erweiterung immer doch wenigstens Platz verschafft, wenn sie ihn gleich leer lassen mußte, und es bleibt uns also noch unbenommen, ja wir sind gar dazu durch sie aufgefordert, ihn durch praktische Data derselben, wenn wir können, auszufüllen«. Und Kant fährt fort: »In jenem Versuche, das bisherige Verfahren der Metaphysik umzuändern, und dadurch, daß wir nach dem Beispiele der Geometer und Naturforscher eine gänzliche Revolution mit derselben vornehmen, besteht nur das Geschäfte dieser Kritik der reinen spekulativen Vernunft« (KrV B XXI f.). Die »Revolution«, die Kants Vernunftkritik mit dem »bisherigen Verfahren der Metaphysik« vornehmen will, erschöpft sich also nicht im Rückgang vom Erkenntnisgegenstand auf die spezifischen »Arten« des 25
Dieser Gedanke steht in offenkundiger Parallele zu der weiter oben angeführten Stelle, an der Kant die transzendentale Bedeutung der reinen Verstandesbegriffe durch den Bezug auf die empirischen »Data« der Anschauung sicherte.
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Erkennens und in der transzendentalen Reflexion auf das unterschiedliche »Wie« der Verstandes- und Vernunfterkenntnis. Vielmehr kommt die transzendentale Reflexion erst mit der Einsicht an ihr Ziel, daß darüber hinaus das »Wie« des »spekulativen« Vernunftgebrauchs vom »Wie« des »praktischen« Vernunftgebrauchs unterschieden werden muß, weil jener eine eigentümliche Leerstelle aufweist, die dazu »auffordert«, sie »durch praktische Data« der Vernunft »auszufüllen«. Auch die oft beschworene »Analogie« zum Verfahren der »Naturforscher« wird von Kant in einer Anmerkung zu der zuletzt zitierten Passage, die ja erneut auf sie hinweist, deutlich gemacht. Die den neuzeitlichen Wissenschaften »analogische Umänderung der Denkart« in der Vernunftkritik ist Kant zufolge daran festzumachen, daß »die unsichtbare den Weltbau verbindende Kraft« der Newtonischen Gravitation »auf immer unentdeckt geblieben wäre, wenn« Kopernikus »es nicht gewagt hätte, auf eine widersinnige, aber doch wahre Art die beobachteten Bewegungen nicht in den Gegenständen des Himmels, sondern in ihrem Zuschauer zu suchen« (KrV B XXI Anm.). Ganz »analog« reflektiert Kants Transzendentalphilosophie nicht auf die »Gegenstände«, sondern auf »unsere Erkenntnisart von Gegenständen«, wodurch aber die »revolutionäre« Perspektive eröffnet wird, den »spekulativen« Vernunftgebrauch aus seiner traditionellen »Zentralstellung« zu rücken. Durch diesen auf den ersten Blick vielleicht »widersinnigen, aber doch wahren« Ansatz der Transzendentalphilosophie ist somit die systematische Leerstelle sichtbar geworden, die mit dem »herkömmlichen Verfahren« der Metaphysik »auf immer unentdeckt geblieben wäre« und die durch eine nähere transzendentale Untersuchung des spekulativen und praktischen Vernunftgebrauchs »auszufüllen« ist (in Analogie zu jener Leerstelle, welche die kopernikanische »Revolution« in der astronomischen Wissenschaft schuf und die erst durch die Gravitationsgesetze Newtons »ausgefüllt« wurde). Es ist im übrigen bemerkenswert, daß Kant in der angeführten Passage von der Aufgabe einer »Kritik der reinen spekulativen Vernunft« und nicht von einer »Kritik der reinen Vernunft« spricht. Diese Präzisierung macht deutlich, wie die verschiedenen Bedeutungsebenen des Titels »Kritik der reinen Vernunft« zu verstehen sind. Die »Kritik« im negativen, d. h. im begrenzenden, ja polemischen Sinne bezieht sich auf den spekulativen Gebrauch der Vernunft, und zwar vor allem dann, wenn er sich als die einzige oder auch nur grundlegende »Gebrauchsform« der Vernunft mißversteht. Die »Kritik« zielt aber im positiven, d. h. scheidenden, unterscheidenden Sinne auf die transzendentale Leitdifferenz zwischen spekulativem und praktischem Gebrauch der Vernunft. Der »Gesichtspunkt« aber, von dem aus ein solches Projekt der Vernunftkritik nur sinnvoll sich durchführen läßt, ist der »Gesichtspunkt« des praktischen Vernunftgebrauchs, der
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durch die genannte transzendentale Differenzierung im Gebrauch der Vernunft herausgearbeitet und systematisch gesichert werden soll. Allerdings kann es keinesfalls der »Zweck« der Transzendentalphilosophie sein, den »praktischen« Gebrauch der Vernunft abstrakt gegen den »spekulativen« Gebrauch auszuspielen, »weil es doch am Ende«, wie Kant ausdrücklich betont, »nur eine und dieselbe Vernunft sein kann, die bloß in der Anwendung unterschieden sein muß« (IV 391). Die transzendentale Differenz zwischen Spekulation und Praxis bezieht sich also auch hier auf ein und dasselbe, nämlich auf die »eine und dieselbe Vernunft«, deren »Anwendung« freilich wohl »unterschieden« werden muß, so daß erst »am Ende« die für die Transzendentalphilosophie entscheidende Frage gestellt werden kann: Wie ist die in sich differenzierte Einheit der verschiedenen »Anwendungen« der Vernunft angemessen zu denken? Der allenfalls einer »mikroskopischen Beobachtung« sichtbare »Keim« der Antwort auf diese für den systematischen Gesamtzusammenhang der Transzendentalphilosophie letztlich entscheidenden Frage liegt bereits in Kants Unterscheidung zwischen einem spekulativen und praktischen Vernunftgebrauch. Denn was immer damit gemeint sein mag, so leuchtet doch unmittelbar ein, daß ein Vernunftgebrauch stets eine freilich noch näher zu klärende »praktische« Dimension hat. Das genuin praktische Moment des »Gebrauchs« bildet also die gesuchte Vermittlung zwischen der zweifachen »Anwendung« der Vernunft. Insofern liegt es nahe, mit Friedrich Kaulbach von einem »Prinzip Handlung« bei Kant zu sprechen, das »zur Aufdeckung des Grundgewebes« führt, »welches die Philosophie Kants im Ganzen zusammenhält« (Kaulbach 1978, S. VII).26 Denn in der Tat muß nicht nur die auffallend häufige Verwendung von »praktischen« Begriffen (Gebrauch, Anwendung, Absicht, Zweck) in der Transzendentalphilosophie festgehalten und eigens gedeutet werden, sondern ebenso die sehr weitgehende Verwendung des Handlungsbegriffs selber, wenn Kant etwa knapp feststellt: »Das Denken ist die Handlung, gegebene Anschauung auf einen Gegenstand zu beziehen« (KrV B 304). Hier trifft Kaulbachs Ansatz also einen zentralen Sachverhalt, so daß sich die vorliegenden Untersuchung in diesem Punkt an ihn anschließen wird. Dennoch ist das »Prinzip Handlung« nicht der geeignete Ansatz zur Beantwortung der Frage, wie die in sich differenzierte Einheit der verschiedenen »Anwendungen« der Vernunft angemessen zu denken sei. Denn dieser Ansatz beim Handlungsprinzip, wie ihn Kaulbach versteht, stellt allzu einseitig auf die Einheit 26
Eine Weiterführung des Ansatzes von Kaulbach findet sich auf je eigene Weise in den Arbeiten von Gerold Prauss und Volker Gerhardt, auf die im weitern Verlauf der Untersuchung noch einzugehen sein wird.
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der praktischen Momente in Kants Transzendentalphilosophie ab und vernachlässigt darüber – gegen Kants eigene Intention – die wesentlichen Differenzen, die Kant zwischen den verschiedenen »Anwendungen« der Vernunft und den verschiedenen »Arten« der Erkenntnis herausarbeitet. Die in sich differenzierte Einheit der Vernunft, auf die Kants Vernunftkritik am Ende hinaus will, ist nämlich keine Einheit trotz der genannten Differenzen, sondern eine Einheit aufgrund der genannten Differenzen, so daß die transzendentale Vernunfteinheit nicht gestärkt, sondern geschwächt wird, wenn die wesentlichen Differenzen zugunsten eines allgemeinen »Prinzips« in den Hintergrund treten. Deshalb ist der Einwand von Hans Blumenberg ernst zu nehmen, daß es wenig ratsam ist, alles im buchstäblichen Sinne als Handlung aufzufassen, was bei Kant »als transzendentale Handlung des Verstandes dargestellt werden kann«. Denn dergestalt würde »die ganze Kritik der Vernunft, nicht nur die der praktischen (welche als solche natürlich auch theoretisch ist), praktisch. Wenn dann alles praktisch ist und nichts mehr theoretisch, sind zwar alle beruhigt, aber nicht belehrt«. Für Blumenberg ist daher eine undifferenzierte Inanspruchnahme des Handlungsbegriffs für alle »praktischen« Momente der Transzendentalphilosophie nur eine »Irreführung« durch eine »Metapher, die beim Wort genommen wurde« (Blumenberg 1997, S. 105 f.).27 Um dieser Gefahr vorzubeugen, wird sich die folgende Untersuchung im Ansatz an den zahlreichen Unterscheidungen orientieren, die Kants Transzendentalphilosophie von Grund auf bestimmen, um erst am Ende, wie Kant selbst, nach der in sich differenzierten Einheit der Vernunft zu fragen, welche die Unterscheidungen nicht wieder verwischt, sondern als Bedingung der eigenen Möglichkeit festhält. Die Untersuchung nimmt aber ebenso Blumenbergs Andeutungen zur »Metapher« auf und verfolgt sie in Gestalt der These weiter, daß die von Haus aus theoretische Philosophie über »Handlungen« und die mit ihnen zusammenhängende genuin praktische Wirklichkeit stets nur indirekt, nämlich vermittels von »Metaphern« reflektieren kann. Von hier aus wird sich dann zum einen ein besseres und teilweise auch neues Verständnis für das von Kant immer wieder eingeprägte Lehrstück ergeben, daß die Vernunftidee des Unbedingten kein empirischer, d. h. für die Theorie direkt zugänglicher Gegenstand ist und sein kann. Zum anderen wird aber auch die Aufmerksamkeit auf Kants höchst subtile Überlegungen zu einer transzendentalen »Metaphorik« gelenkt, die bei ihm als »Symbolik« des Unbedingten vorgetragen wird und die für das angemessene me-
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Blumenbergs Buch »Schiffbruch mit Zuschauer« ist erstmals 1979 erschienen, ein Jahr nach Kaulbachs Buch über »Das Prinzip Handlung in der Philosophie Kants«, so daß sich Blumenbergs Kritik durchaus auch direkt auf den namentlich nicht genannten Kaulbach beziehen könnte.
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thodische Verständnis der Vernunftkritik und insbesondere der in sich differenzierten Einheit der Vernunft unabdingbar ist. Als systematischer Leitfaden der Untersuchung dient aber Kants Begriff eines Interesses der Vernunft, den er selbst bei seiner Unterscheidung zwischen dem spekulativen und praktischen Gebrauch der Vernunft verwendet und entsprechend in ein spekulatives und ein praktisches Vernunftinteresse differenziert.28 Der erste Teil der Untersuchung widmet sich dabei der ursprünglichen Einsicht Kants, daß der Vernunft überhaupt ein eigenes Interesse und des näheren ein zweifaches Interesse zuzuschreiben ist, sowie den Konsequenzen, die sich daraus für den Ansatz der Transzendentalphilosophie ergeben. Diese Einsicht wird dann im zweiten Teil zunächst als Kritik des spekulativen und praktischen Vernunftgebrauchs entfaltet. Der Schlußabschnitt des zweiten Teils ist schließlich der Frage nach der reflexiven Einheit der Vernunft gewidmet. Dadurch wird zugleich verfolgt, wie sich Kants ursprüngliche Einsicht in der Reihe seiner transzendentalphilosophischen Hauptwerke schrittweise entwickelt und auf jeder neuen Stufe von Kant prägnanter und entschiedener gefaßt wird.
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Mit dem Interesse der Vernunft ist somit bei Kant das systematische Zentrum seiner Vernunftphilosophie bezeichnet. Es muß daher in die Irre führen, wenn bei Jürgen Habermas «der eigentümlich systemwidrige Status des Begriffs« eines Vernunftinteresses bei Kant hervorgehoben wird (Habermas 1973, 250). Habermas hat maßgeblich dazu beigetragen, die Aufmerksamkeit der Philosophie auf das Verhältnis von «Erkenntnis und Interesse« zu lenken (vgl. Habermas 1965); er hat aber durch die angeführte Einschätzung des Kantischen Begriffs eines Interesses der Vernunft ebenso maßgeblich dazu beigetragen, daß die systematische Bedeutung der Vernunftphilosophie Kants für ein angemessenes Verständnis dieses Verhältnisses bis heute verkannt worden ist.
ERSTER TEIL Kants ursprüngliche Einsicht
I.
zwischensein
§ 6. Vernunft – Interesse – Philosophie In Kants später Schrift zum Streit der Fakultäten findet sich die prinzipielle Feststellung, es sei die Vernunft, »deren Interesse die philosophische Fakultät zu besorgen hat« (VII 32). Zunächst ist damit erneut der grundlegende Bezug auf den Vernunftbegriff markiert, der für Kants Philosophieverständnis kennzeichnend ist. Wollte man sich allerdings mit diesen beiden Begriffen begnügen, dann ginge man an dem entscheidenden Punkt der angeführten Formulierung Kants vorbei. Denn in ihr werden Philosophie und Vernunft durchaus nicht unmittelbar aufeinander bezogen, sondern es ist offenbar der Begriff des Interesses, der – in freilich noch gänzlich unbestimmter Weise – den spezifischen Vernunftbegriff des näheren kennzeichnet, der für Kants Transzendentalphilosophie grundlegend ist. Die Vernunft verfügt bei Kant über ein eigenes, sie auszeichnendes Interesse, welches die Philosophie zu »besorgen« hat. Der Hauptteil der vorliegenden Abhandlung nimmt daher – in Fortführung des in der Einleitung Exponierten – Kants keineswegs selbstverständlichen und bislang auch wenig beachteten Begriff eines Interesses der Vernunft zum Ausgangspunkt, um von ihm aus zu einem besseren Verständnis des Sinns und der inneren Einheit der Kantischen Vernunftkritik zu gelangen. Die Untersuchung tut darin nichts anderes, als Kant beim Wort zu nehmen, wenn er das Programm seiner Philosophie in der Kritik der reinen Vernunft folgendermaßen formuliert: »Allemal aber und ohne allen Zweifel ist es nützlich, die forschende sowohl als prüfende Vernunft in völlige Freiheit zu versetzen, damit sie ungehindert ihr eigen Interesse besorgen könne, welches eben so wohl dadurch befördert wird, daß sie ihren Einsichten Schranken setzt, als daß sie solche erweitert, und welches allemal leidet, wenn sich fremde Hände einmengen, um sie wider ihren natürlichen Gang nach erzwungenen Absichten zu lenken« (KrV B 772). Kants Vernunftkritik reflektiert demnach in einem ganz allgemeinen und umfassenden Sinn auf den »natürlichen Gang«, den die Vernunft genau dann vollzieht, wenn »sie ungehindert ihr eigen Interesse besorgen« kann. Kant bestimmt die »völlige Freiheit« der Vernunft in dem angeführten Satz gleich in zweifacher Weise vom »Interesse« her. Zum einen wird sie negativ durch die Abwehr »fremder Hände« und »Absichten« bestimmt, damit – wie es
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Erster Teil
an anderer Stelle heißt – die Vernunft »nicht fremdes Interesse bloß administriere« (IV 441). Zum anderen wird sie aber positiv durch die »Sorge« bestimmt, dem eigenen Interesse gerecht zu werden. Für ein angemessenes Verständnis der Kantischen Vernunftkritik ist es daher entscheidend, von Anfang an darauf aufmerksam zu sein, daß die Abwehr dem fremden Interesse gilt, nicht jedoch dem fremden Interesse, d. h. nicht dem Interesse als solchem. Denn der Sinn einer »völligen Freiheit« der Vernunft ist für Kant keineswegs der, von jedem Interesse frei zu sein, sondern der, dem eigenen Interesse, dem Interesse der Vernunft folgen zu können, und zwar ungehindert von der »Einmengung« fremder Absichten, die überhaupt nur deshalb mit Grund »fremd« genannt werden können, weil die Vernunft ein eigenes Interesse kennt. Neben solch einer ganz eindeutigen und pointierten Inanspruchnahme des Vernunftinteresses gibt es bei Kant auch Stellen, an denen er den Begriff »Interesse« und die mit ihm zusammenhängenden Ausdrücke in einem terminologisch unschärferen Sinn verwendet – und es ist für die hier verfolgte Deutungsperspektive wichtig, diesen Umstand ebenfalls von Beginn an richtig aufzufassen. Aus ihm darf nämlich nicht der vielleicht naheliegende Schluß gezogen werden, daß die terminologisch weniger präzisen Stellen für das hier verfolgte Thema weniger bedeutsam sind.29 Ganz im Gegenteil können sich gerade in derart »vagen« Stellen entscheidende Hinweise für die weitere Interpretation verbergen. Denn nach der Leitthese der vorliegenden Untersuchung wird mit dem »Interesse der Vernunft« nichts anderes als die systematische Grundschicht der Transzendentalphilosophie angesprochen, die den anderen transzendentalen Leitbegriffen überhaupt erst ihre spezifische Bedeutung verleiht, die sich aber genau deshalb selbst einer klaren begrifflichen Fassung zunächst entzieht und von Kant nur mühsam und schrittweise auf den Begriff gebracht werden kann. Es wird also damit zu rechnen sein, daß das Interesse der Vernunft bei Kant auch dort in einer wesentlichen Form thematisch ist, wo nicht exakt vom »Interesse« der »Vernunft«, sondern z. B. von einem »Bedürfnis« unserer »Erkenntniskraft« die Rede ist. Selbstverständlich muß am Ende des Gedankengangs darauf gedrungen werden, daß die Begriffe »Bedürfnis« und »Interesse«, »Erkenntniskraft« und »Vernunft« nicht genau dasselbe bedeuten, schon gar nicht, wenn Kants Orientierung an einem Interesse der Vernunft eine hinreichend genaue be-
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Noch viel weniger darf daraus freilich der völlig irrige Schluß gezogen werden, daß dem Interesse der Vernunft angesichts der terminologischen Unschärfe, mit der Kant sich ihm zuweilen zuwendet, überhaupt keine große Bedeutung in Kants Denken zukommen kann (Pascher 1991, S. 12). Denn dem stehen schon allein jene zahlreichen markanten Stellen entgegen, an denen Kant in terminologisch durchaus präziser Weise dem Vernunftinteresse eine zentrale Stellung im systematischen Gefüge seiner Philosophie zuweist.
§ 7. Das »höhere Bedürfnis« unserer Erkenntniskraft
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griffliche Ausarbeitung erfahren und so gerechtfertigt werden soll. Doch um dieses Ziel erreichen zu können, muß am Beginn darauf geachtet werden, daß die Vielschichtigkeit der von Kant der Philosophie aufgegebenen Fragestellung nicht durch eine voreilige Einschränkung des terminologischen Blickwinkels von vornherein verfehlt wird. Denn Kants eigener »Gang« durch die Stationen der Vernunftkritik hindurch wird eben darin bestehen, den Fragen, die von der transzendentalen Wende in der Philosophie aufgeworfen werden, schrittweise und in mehrfach modifizierten Ansätzen nachzugehen, bis die in »völliger Freiheit« der Vernunft gewonnenen Antworten dem Interesse der Vernunft gerecht werden können. § 7. Das »höhere Bedürfnis« unserer Erkenntniskraft Einen ersten Hinweis auf die Begriffsarbeit, die Kant aufgrund seiner Inanspruchnahme eines Vernunftinteresses selbst und damit auch jedes angemessene Verständnis der Vernunftkritik zu leisten hat, bietet eine Passage aus der Kritik der reinen Vernunft, die nicht zufällig in den Anfangsabschnitten der »Transzendentalen Dialektik« steht, in denen der Begriff der Vernunft näher bestimmt und in eins damit der Gedanke eines transzendentalen »Scheins« eingeführt wird, der das richtige Verständnis der genuinen Vernunftbegriffe, der Ideen, gefährdet. Die Passage aus dem Abschnitt »Von den Ideen überhaupt« lautet: »Plato bemerkte sehr wohl, daß unsere Erkenntniskraft ein weit höheres Bedürfnis fühle, als bloß Erscheinungen nach synthetischer Einheit buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können, und daß unsere Vernunft natürlicher Weise sich zu Erkenntnissen aufschwinge, die viel weiter gehen, als daß irgend ein Gegenstand, den Erfahrung geben kann, jemals mit ihnen kongruieren könne, die aber nichtsdestoweniger ihre Realität haben und keineswegs bloße Hirngespinste sind« (KrV B 370 f.). In diesem vielschichtigen Satz finden sich zentrale Begriffe der Transzendentalphilosophie wieder, die bereits in der Einleitung exponiert wurden: »Erscheinung«, »Erfahrung« und »Gegenstand«. Auf sie soll jedoch nicht sogleich wieder eingegangen werden, da es zunächst darauf ankommt, den thematischen Horizont und die eigentliche Aufgabe der Untersuchung weiter zu präzisieren. Hierzu ist aber vor allem auf das »höhere Bedürfnis« unserer Vernunft zu achten und die Stellung, die es innerhalb der angegebenen Begriffskonstellation einnimmt.30 30
Diese »konstellative« Methode ist für die hier anvisierte Deutungsperspektive unerläßlich und wird deshalb von der vorliegenden Untersuchung durchweg beachtet. Denn die systematische Tragweite des Interesses der Vernunft läßt sich keineswegs durch isolierte Begriffsanalysen,
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Erster Teil
So ist als erstes die Aufmerksamkeit darauf zu richten, daß Kants Rede von einem »höheren« Bedürfnis offenbar den Hinweis auf ein anderes, »niedrigeres« Bedürfnis enthält. Dabei darf die Unterscheidung jedoch nicht so verstanden werden, als handelte es sich um zwei völlig disparate »Bedürfnisse«. Denn Kants Verwendung des Komparativs (»höher«) zeigt an, daß die beiden »Bedürfnisse« bei allen Unterschieden doch vergleichbar sind; vergleichbar sind sie aber deshalb, weil Kant beide Bedürfnisse »unserer Erkenntniskraft« zuschreibt. Es muß also von einem in sich differenzierten Begriff des Erkenntnisbedürfnisses bei Kant ausgegangen werden. Eine solche interne Differenzierung geht aber notwendigerweise mit einer entsprechenden Unterscheidung innerhalb der »Erkenntniskraft« einher. Daher ist der Begriff der menschlichen »Erkenntniskraft« (Vernunft im weiteren Sinne) ebenfalls in sich zu differenzieren, wobei es für die systematische Anlage der Transzendentalphilosophie höchst bezeichnend ist, daß bei dieser für sie grundlegenden Differenzierung zwischen Verstand und Vernunft (im engeren Sinne) die Reflexion auf das »Bedürfnis« zum Leitfaden genommen werden kann.31 Für die genauere Bestimmung des unterschiedlichen Verhältnisses, das die zu differenzierenden Erkenntniskräfte gegenüber dem »Bedürfnis« aufweisen, läßt sich der angeführten Passage ein erster Fingerzeig entnehmen. Denn ein »Bedürfnis« führt Kant explizit nur für die Erkenntnis der Vernunft (im engeren Sinne) an, während die Verstandeserkenntnis unmittelbar nicht durch ein Bedürfnis, sondern durch die Tätigkeit bestimmt wird, »Erscheinungen nach synthetischer Einheit [zu] buchstabieren«. Nun wäre es durchaus möglich, nach dem »Bedürfnis« dieser Tätigkeit zu fragen, doch tritt diese Frage bei der Verstandestätigkeit offenbar in den Hintergrund, weil der Verstand nicht nur das Bedürfnis immer schon zur Tätigkeit hin, sondern auch die Tätigkeit selbst auf ihren Erfolg hin überschritten hat, der dort erzielt wird, wo Erscheinungen als Erfahrung »lesbar«, d.h. wo »Gegenstände« (der Erfahrung) erkennbar werden.32 Es ist demnach der Erfolg der Tätigkeit, d. h. die als gegenständliche Erfahrung »lesbar« gewordene Erscheinung, die im unmittelbaren Verständnis der Verstandeserkenntnis die ganze Aufmerksamkeit auf sich zieht, so daß hier der Erkenntnisgesondern ausschließlich durch die Aufmerksamkeit auf den Zusammenhang der Begriffe erkennen, in dem sich die einzelnen Begriffe wechselseitig definieren und erhellen. 31 Die Differenz zwischen Verstand und Vernunft gehört – mit guten Gründen – zu den zentralen Themen der Kant-Deutung; um so bemerkenswerter ist es daher, daß die von Kant vorgenommene Engführung dieser Differenz mit einem in sich differenzierten Erkenntnisbedürfnis noch keine Beachtung gefunden hat, wodurch die erste Differenz bislang nur verkürzt in den Blick kommen konnte. 32 Auf die Metapher des Lesens, die Kant an dieser Stelle (und öfter) verwendet, wird noch zurückzukommen sein.
§ 7. Das »höhere Bedürfnis« unserer Erkenntniskraft
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genstand die zu ihm hinführende Tätigkeit, mehr noch aber das die Tätigkeit motivierende »Bedürfnis« vollständig in den Hintergrund drängt. Ganz anders stellt sich hingegen die Situation bei der Vernunft (im engeren Sinne) dar. Denn für die Vernunft ist es Kant zufolge gerade charakteristisch, daß mit ihrer Erkenntnis kein Erfahrungsgegenstand »jemals« kongruieren kann. Dadurch wird aber das, was beim Verstand so unproblematisch zu sein scheint, bei der Vernunft fraglich: das Ziel und der »Erfolg« der Erkenntnistätigkeit. Kant zieht daraus freilich nicht – und dies ist für den Ansatz der Transzendentalphilosophie entscheidend – den einfachen Umkehrschluß, daß die spezifischen Vernunfterkenntnisse ziellos ins Leere gehen, die Bestrebungen der Vernunft also schlicht erfolglos sein müssen. Die richtige Beobachtung, Vernunfterkenntnisse seien in dem buchstäblichen Sinne »gegenstandslos«, daß ihnen keine Erfahrungsgegenstände entsprechen, darf nach Kant somit nicht zu dem voreiligen, ausschließlich am Modell der Verstandeserkenntnisse orientierten Urteil verleiten, Vernunfterkenntnisse seien deshalb auch in dem übertragenen Sinne »gegenstandslos«, daß ihnen gar keine »Realität« entspricht und sie mithin »bloße Hirngespinste« sind. Statt dessen muß die transzendentale Reflexion zunächst vom unmittelbar nicht zu thematisierenden »Erfolg« der Vernunfterkenntnis zurückgehen auf die Vernunfttätigkeit als solche und das sie motivierende Vernunftbedürfnis. Wenn nämlich die Erkenntnis nicht einfach vom »Erfolg« her bestimmt werden kann, dann – so ließe sich in einer ersten Annäherung formulieren – tritt ihr Tätigkeitscharakter und mit ihm das »Bedürfnis« in den Vordergrund, die bei der Verstandeserkenntnis vom Gegenstand verdeckt werden. Das Bedürfnis kann selbstverständlich die Realität des Erfolges so wenig »ersetzen« wie die Tätigkeit den Erfolg, auf den hin sie angelegt ist, garantieren kann. Doch lassen sich Vernunftbedürfnis und Vernunfttätigkeit durchaus als die notwendigen Voraussetzungen des fraglichen Erfolges begreifen, so daß sie in einem sehr präzisen Sinn die Möglichkeit der ausstehenden Erfolgswirklichkeit bilden – eine Möglichkeit, die nach Kants Einsicht eine eigene Wirklichkeitsform darstellt: die Realität der Vernunft, die sie vom bloßen Hirngespinst unterscheidet. Kant wird also die Vernunft (im engeren Sinne) zunächst in einem eigentümlichen Zwischensein zu thematisieren haben, in dem sie zwar auf ein Ziel hin orientiert ist, ohne es jedoch schon erreicht zu haben. Was mit solch einem »Zwischensein« der Vernunft des näheren gemeint ist, läßt sich in einem wiederum ganz vorläufigen Sinne mit Kants pointierter Rede vom »Bedürfnis der fragenden Vernunft« (V 477) erläutern. Denn das Fragen stellt eine Tätigkeit dar, deren formale Struktur eine genaue Analogie zum soeben exponierten Zwischensein der Vernunft bildet. Beim Fragen ist nämlich der Erfolg, den es anstrebt, durchaus ungewiß (wäre er gewiß, wäre die Frage keine
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Frage mehr). Gleichwohl besitzt jede Frage bereits für sich, ohne Antwort, eine eigene Realität, die zudem eine notwendige Voraussetzung der erstrebten Antwort ist, da keine Antwort ohne vorausgegangene Frage möglich, d. h. eine Antwort ist. Diese spezifische Realität der Frage gründet somit auch in einem »Bedürfnis«, aus dem die Frage, wie man sagt, »entspringt«, ohne daß die Frage deshalb mit dem motivierenden Bedürfnis identisch wäre. Ebensowenig ist die Frage freilich mit der von ihr antizipierten Antwort identisch, auch wenn ihre Realität darin besteht, auf die Antwort hinzustreben. Die Frage steht also in einem sehr präzisen Sinn zwischen anfänglichem Bedürfnis und beschließender Antwort. Dadurch wird auch verständlich, mit welchem Recht sich Kant am Anfang der zitierten Passage auf Platon berufen kann. Denn das am Leitfaden der FrageStruktur im Ansatz herausgearbeitete Zwischensein der transzendentalen Vernunft ist im platonischen Sinne genuin philosophisch: »Kein Gott«, heißt es im Symposion, »philosophiert oder begehrt, weise zu werden, sondern er ist es«. Ebensowenig »philosophieren auch die Unverständigen oder bestreben sich, weise zu werden. Denn das eben ist das Arge am Unverstande«, daß er »sich selbst ganz genug zu sein dünkt. Wer nun nicht glaubt, bedürftig zu sein, der begehrt auch das nicht, dessen er nicht zu bedürfen glaubt« (Symposion 204a). Das »Bedürfnis« nach Weisheit macht demnach für Platon das innere Wesen der Philosophie aus, weil sie – als φιλοσοφíα, als Liebe zur Weisheit – primär nicht durch den faktischen Besitz der Weisheit, sondern durch das »Streben« nach Weisheit gekennzeichnet ist. Genau entsprechend heißt es bei Kant noch im Opus postumum: »Der Mensch ist nicht im Besitz der Weisheit. Er strebt nur zu ihr und kann nur Liebe zu ihr haben und das ist schon Verdienst genug« (XXI 141).33 Dieses eigentümliche, nicht leicht zu fassende strebende Zwischensein der Philosophie ist es, was Kant mit dem »Bedürfnis« und dem »Interesse« der Vernunft anspricht und im Zuge seiner Transzendentalphilosophie schrittweise zu begreifen sucht. Es hat deshalb eine tiefe Berechtigung, wenn Kant das Wesen der transzendentalphilosophisch zu thematisierenden Vernunft immer wieder mit der eigentümlich ungewissen und antizipierenden Tätigkeit des Fragens verbindet. So ist es kein Zufall, daß der erste Satz, mit dem Kant die Kritik der reinen Vernunft eröffnet, sofort auf die unbeantworteten Fragen verweist, denen sich die Vernunft ausgesetzt sieht: »Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber 33
Es wäre das Thema einer eigenen Untersuchung, im Detail darzustellen, wie präzise Kants Konzeption des »höheren« Vernunftbedürfnisses an Platon anknüpft.
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auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft« (KrV AVII). Die bisherigen Ausführungen machen deutlich, daß hier zunächst von der Vernunft im weiteren Sinne die Rede ist, die in einer Gattung ihrer Erkenntnisse auf besondere Schwierigkeiten stößt, nämlich in der Gattung der »metaphysischen« Erkenntnisse, denen kein Erfahrungsgegenstand »kongruieren« kann. In diesem und nur in diesem Sinne »übersteigen« die metaphysischen Fragen »alles Vermögen der menschlichen Vernunft«, da sie für Kant in der Tat nicht in der Lage ist, die Fragen nach Maßgabe der Verstandeserkenntnis im Zusammenhang der Erfahrungsgegenstände zu beantworten. Gleichwohl haben die Fragen der Vernunft (im engeren Sinne) ihre eigene Realität, eine Einsicht, die Kant nun so ausdrückt, daß die Vernunft »sie nicht abweisen kann«, weil sie »ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben« sind. Mit der letzten Wendung spricht Kant erneut einen Aspekt seines Vernunftbegriffs an, der in den bisherigen Ausführungen bereits mehrfach anklang: die »Natur« der Vernunft. Zuvor sprach Kant bereits von dem »natürlichen Gang« der Vernunft und davon, daß die Vernunft sich »natürlicher Weise« zu den für sie spezifischen Erkenntnissen aufschwingt. Es wäre nun ein prinzipielles Mißverständnis, wollte man Kants Rede von der »Natur« der Vernunft nur als einen anderen Ausdruck für das »Wesen« der Vernunft verstehen.34 Kant zielt nämlich mit den angeführten Wendungen gerade umgekehrt darauf ab, das »Wesen« der Vernunft durch den Bezug auf die »Natur« im Sinne des »Naturhaften«, »Naturwüchsigen« näher zu bestimmen. Dabei ist sich Kant völlig bewußt, mit dem zunächst vagen und mehrdeutigen Begriff der »Natur« gleich zu Beginn der Kritik der reinen Vernunft eine Zweideutigkeit in den Vernunftbegriff zu tragen. Denn genau diese Zweideutigkeit einer »natürlichen« Vernunft macht nach Kants Einsicht das Unternehmen einer Kritik der Vernunft notwendig, bei dem die Vernunft »das beschwerlichste aller ihrer Geschäfte, nämlich das der Selbsterkenntnis«, auf sich nimmt (KrV A XI).35 Die »Natur« der Vernunft ist also bei Kant kein unklarer und zweideutiger Begriff, sondern die durchaus präzise Fassung eines an sich selbst Zweideutigen und Klärungsbedürftigen. Kants Vernunftkritik will zwar am Ende, wie es in den Prolegomena heißt, eine Rechtfertigung jener »Metaphysik« leisten, »wie sie wirklich in der Naturanlage der menschlichen Vernunft gegeben ist«. Eine solche
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So spricht man etwa von der »Natur« einer Sache und meint damit das »Wesen« der Sa-
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Später wird sich zeigen, daß Kants Rede von einer »Natur« der Vernunft am besten im rechtsphilosophischen Sinne eines »Naturzustands« der Vernunft aufzufassen ist, der durch die Arbeit der Vernunftkritik in einen »Rechtszustand« der Vernunft überführt werden soll.
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Rechtfertigung ist jedoch, wie es weiter heißt, nur auf kritischem Wege möglich, d. h. wenn die zentrale Einsicht berücksichtigt wird, daß der »bloß natürliche Gebrauch einer solchen Anlage unserer Vernunft, wenn keine Disziplin derselben, welche nur durch wissenschaftliche Kritik möglich ist, sie zügelt und in Schranken setzt, sie in übersteigende, teils bloß scheinbare, teils unter sich sogar strittige dialektische Schlüsse verwickelt« (IV 362). Die »Realität« der metaphysischen Erkenntnisse der Vernunft (im engeren Sinne) wurzelt demnach in der Wirklichkeit einer »Naturanlage«, welche die Rechtfertigung dieser Erkenntnisweise jedoch zugleich von Grund auf gefährdet und zweideutig macht, indem sie auch den Grund eines dialektischen Scheins bildet, der die Vernunft in einen Streit mit sich selbst zu verwickeln droht. Für Kant stellt sich deshalb nicht primär die Frage, ob »Metaphysik« im menschlichen Bewußtsein überhaupt eine Grundlage findet, sondern ob die »Metaphysik«, die der menschlichen Vernunft als »Naturanlage« einbeschrieben ist, sich philosophisch rechtfertigen läßt und so vor dem dialektischen Schein geschützt werden kann, der mit solch einer »Naturanlage« unmittelbar verwoben ist. »Denn irgend eine Metaphysik«, heißt es in der Kritik der reinen Vernunft, »ist immer in der Welt gewesen und wird auch wohl ferner, mit ihr aber auch eine Dialektik der reinen Vernunft, weil sie ihr natürlich ist, darin anzutreffen sein« (KrV B XXXI).36 Kants Rede von einem »natürlichen Gang« der Vernunft erhält dadurch einen komplexeren Sinn. Die »in völlige Freiheit« versetzte Vernunft vermag zwar ihrem eigenen Interesse zu folgen, doch sieht sie sich hier der Gefahr einer dialektischen Verwirrung ausgesetzt, die aus der Zweideutigkeit ihrer »Naturbasis« entspringt. Die »Freiheit« der Vernunft samt der in ihr angelegten »Metaphysik« sind also durchaus nicht die alles beschließende Antwort, gleichsam der »sichere Hafen« der Transzendentalphilosophie, sondern ihre eigentliche Frage: die systematische Unruhe, welche die transzendentale Vernunftkritik vorantreibt. Deshalb hat die kritische Auseinandersetzung mit dem dialektischen Schein bei Kant vorrangig auf den »natürlichen Gang« zu reflektieren, »den jede menschliche Vernunft, selbst die gemeineste, nimmt, obgleich nicht eine jede in demselben aushält« (KrV B 612). Mit anderen Worten: die transzendentale Kritik richtet sich nicht gegen den »natürlichen Gang« der Vernunft als solchen, sondern dagegen, daß die Vernunft nicht in ihm »aushält« und sich voreilig beim bloßen Schein einer Antwort auf ihre Fragen beruhigt. Der Drohung des dialektischen Scheins kann deshalb Kant zufolge nicht begegnet werden, indem der »natürliche Gang« der Vernunft von vornherein vermieden wird, sondern nur, indem er bis ans 36
In den Prolegomena heißt es ganz entsprechend: »Metaphysik als Naturanlage der Vernunft ist wirklich, aber sie ist auch für sich allein […] dialektisch und trüglich« (IV 365).
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Ende gegangen wird. Genau darin besteht die transzendentale Selbsterkenntnis der Vernunft, die Kant, als »das beschwerlichste aller ihrer Geschäfte«, von ihr fordert und in seiner Vernunftkritik darzustellen sucht. Kants Vernunftkritik sieht sich damit von Beginn an vor eine zweifache Aufgabe gestellt. Sie hat zum einen die Zweideutigkeit der »Natur« der Vernunft in einer bis an die Wurzeln dringenden Analyse darzustellen und zu kritisieren. Zum anderen darf sie dadurch aber die positive Möglichkeit metaphysischer Erkenntnisse, die in derselben »Natur« verborgen liegt, nicht verstellen. Vielmehr muß dieser Ermöglichungsgrund durch die Kritik überhaupt erst einmal freigelegt und vor Mißdeutungen gesichert werden. Für die hier in Frage stehende Erhellung des Ansatzes der Transzendentalphilosophie ist es deshalb gleich zu Beginn wichtig, am Leitfaden des Vernunftinteresses zumindest eine erste Bestimmung von Kants eigenem, für die Transzendentalphilosophie spezifischen Metaphysikbegriff zu geben. § 8. Transzendentalphilosophie als Übergang In der späten Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik 37 spricht Kant das Verhältnis von Vernunftinteresse und Metaphysik folgendermaßen an: Es wäre »niemals auf eine Metaphysik, als abgesonderte Wissenschaft gesonnen worden, wenn die Vernunft hiezu nicht ein höheres Interesse bei sich gefunden hätte, wozu die Aufsuchung und systematische Verbindung aller Elementarbegriffe und Grundsätze, die a priori unserm Erkenntnis der Gegenstände der Erfahrung zum Grunde liegen, nur die Zurüstung war« (XX 316). Vergleicht man den Satz mit der oben angeführten »Platon-Passage« aus der Kritik der reinen Vernunft, so fällt zunächst die große Übereinstimmung auf: die fragliche metaphysische Erkenntnis wird zum einen negativ durch die Abgrenzung gegenüber einer »Erkenntnis der Gegenstände der Erfahrung«, zum anderen positiv durch das »höhere Interesse« der Vernunft bestimmt (das an der früheren Stelle noch das »höhere Bedürfnis unserer Erkenntniskraft« genannt wurde). Allerdings ist hier die Abgrenzung gegenüber »unserm Erkenntnis der Gegenstände der Erfahrung« differenzierter bestimmt. Denn der empirischen Gegenstandserkenntnis (Verstand) wird nun offenkundig selbst eine nicht-empirische Seite in Form von »Elementarbegriffen« und »Grundsätzen« zugesprochen, die a priori, d. h. vor aller Erfahrung, der Gegenstandserkenntnis »zum Grunde lie-
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Die 1791 von der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin gestellte Preisfrage lautete: »Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolf’s Zeiten in Deutschland gemacht hat?«. Kants Manuskript gebliebene Antwort wurde 1804 von Friedrich Theodor Reik veröffentlicht.
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gen«.38 Ihre »Aufsuchung und systematische Verbindung« ist freilich nur »die Zurüstung« zur metaphysischen Vernunfterkenntnis. Der »nicht-empirische« Charakter der Erkenntnis ist also eine notwendige, aber durchaus nicht hinreichende Bedingung für die fragliche Vernunfterkenntnis (im engeren Sinne), da sich auch Verstandeserkenntnisse – in einer bestimmten Hinsicht – auf diese Weise charakterisieren lassen. Umgekehrt kann die Vernunfterkenntnis aber nicht isoliert für sich, ohne Berücksichtigung der Verstandeserkenntnis betrachtet werden, da sie einer gewissen »Zurüstung« durchaus bedarf, auch wenn diese deshalb nicht mit jener verwechselt werden darf. Demnach ist die in Frage stehende »metaphysische« Erkenntnis zwar primär durch ihre Absetzung gegenüber der empirischen Gegenstandserkenntnis bestimmt, doch so, daß die Absetzung ihren spezifischen Sinn erst durch den festgehaltenen Bezug zu dem erhält, wovon sie sich absetzt. In der Preisschrift heißt es dazu weiter: »Der alte Name dieser Wissenschaft µετà τà φωσικá gibt schon eine Anzeige auf die Gattung von Erkenntnis, worauf die Absicht mit derselben gerichtet war. Man will vermittelst ihrer über alle Gegenstände möglicher Erfahrung (trans physicam) hinausgehen, um, wo möglich, das zu erkennen, was schlechterdings kein Gegenstand derselben sein kann«. Daraus ergibt sich für Kant eine »Definition der Metaphysik« nach ihrer leitenden »Absicht«: »Sie ist eine Wissenschaft, vom Erkenntnisse des Sinnlichen zu dem des Übersinnlichen fortzuschreiten« (XX 316).39 In der Regel verwendet Kant allerdings statt des Begriffspaars »sinnlich – übersinnlich« lieber das analoge Begriffspaar »bedingt – unbedingt«, dem, wie bereits in der Einleitung (§ 2) exponiert wurde, für den systematischen Ansatz der Transzendentalphilosophie eine zentrale Bedeutung zukommt. In diesem Sinne bezieht sich die Preisschrift an einer Stelle auch explizit auf das »Bedürfnis der Vernunft, vom Bedingten zum Unbedingten aufzusteigen« (XX 330). Es ist also erneut die Idee des Unbedingten, durch die Kant das Interesse der Vernunft näher bestimmt. Wie so häufig ist hier in Kants Wahl der Verben ein wichtiger Hinweis verborgen. Die Metaphysik wird durch die Absicht definiert, über die Erfahrung »hinauszugehen«, über das Sinnliche hinaus »fortzuschreiten«. Hinausgehen kann 38
Diese »Elementarbegriffe« und »Grundsätze« sind die reinen Begriffe (Kategorien) und transzendentalen Grundsätze des Verstandes, wie sie in den einschlägigen Abschnitten der »Transzendentalen Elementarlehre« der Kritik der reinen Vernunft behandelt werden. 39 Hier zeigt sich erneut, daß Kant den Begriff »Wissenschaft« häufig im weiteren Sinne von »Vernunfterkenntnis« überhaupt verwendet, so daß es für ihn eine »Wissenschaft« geben kann, die »über alle Gegenstände möglicher Erfahrung« hinaus geht. Es liegt auf der Hand, daß es eine heillose Verwirrung stiften würde, wenn man diesen weiteren Wissenschaftsbegriff mit dem engeren Begriff identifizieren wollte, der heute mit »Wissenschaft« üblicherweise verbunden wird.
§ 8. Transzendentalpilosophie als Übergang
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man aber nur über das, von dem man zunächst ausgeht, um es dann zu überschreiten; ebenso behält ein Fortschritt nur dann seinen Sinn, wenn in ihm die Rücksicht auf dasjenige festgehalten wird, was er hinter sich lassen will. Schließlich ist dem Vernunftinteresse, »vom Bedingten zum Unbedingten aufzusteigen«, offenbar nur nachzukommen, wenn zunächst einmal beim Bedingten – als Zurüstung – angesetzt wird, um dann erst in einem weiteren Schritt über den Ansatzpunkt hinauszugehen, ohne ihn dabei – als Basis der Bewegung – aufzugeben. Das »Übersinnliche« oder »Unbedingte«, auf das sich Kant zufolge die metaphysische Absicht richtet, hat also die höchst bezeichnende Eigentümlichkeit, daß es nur in der Differenz zum »Sinnlichen« oder »Bedingten« thematisiert werden kann, ohne daß es deshalb von ihm losgelöst werden könnte. Hier trifft der Gedankengang erneut auf das eigentümlich strebende Zwischensein der transzendentalen Vernunft bei Kant, das zuerst anhand der formalen Struktur des Fragens erläutert wurde. Jetzt läßt sich der entscheidende Punkt, auf den es dabei ankommt, schon etwas genauer im Hinblick auf das metaphysische Vernunftinteresse umschreiben, weil Kant in der Preisschrift eine überaus klare und gültige Bestimmung des Zwischenseins gelingt: »Die Transzendentalphilosophie […] hat zu ihrem Zweck die Gründung einer Metaphysik, deren Zweck wiederum als Endzweck der reinen Vernunft, dieser ihre Erweiterung von der Grenze des Sinnlichen zum Felde des Übersinnlichen beabsichtigt, welches ein Überschritt ist, der, damit er nicht ein gefährlicher Sprung sei, indessen daß er doch auch nicht ein kontinuierlicher Fortgang in derselben Ordnung der Prinzipien ist, eine den Fortschritt hemmende Bedenklichkeit an der Grenze beider Gebiete notwendig macht« (XX 272 f.). Die Transzendentalphilosophie zielt auf »die Gründung einer Metaphysik«, um dadurch dem »Endzweck der reinen Vernunft« nachzukommen, sich »von der Grenze des Sinnlichen zum Felde des Übersinnlichen« zu erweitern. Der systematische Ort dieser Erweiterung, auf den sich die transzendentale Aufmerksamkeit zu richten hat, liegt demnach genau zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem, »an der Grenze beider Gebiete«.40 Der spezifische Erweiterungscharakter der Vernunfterkenntnis ist des näheren durch eine doppelte Abgrenzung bestimmt, bei der allerdings der Sinn der Abgrenzung nach den beiden Seiten hin ein völlig anderer ist. Der von der Vernunft zu vollziehende »Überschritt« ist zum einen dadurch charakterisiert, daß er sich von einem »kontinuierlichen Fortgang in derselben Ordnung der Prinzipien« abgrenzt. Diese Abgrenzung setzt nicht nur voraus, daß es eine solche Erkenntnis40
Die Bedeutung der »Grenze« und der mit ihr zusammenhängenden Begriffe hat Max-Otto Lorenzen in seinem Buch »Metaphysik als Grenzgang. Die Idee der Aufklärung unter dem Primat der praktischen Vernunft in der Philosophie Immanuel Kants« (1991) herausgestellt.
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weise tatsächlich gibt, sondern auch, daß sie – in ihren Grenzen – durchaus berechtigt ist. Der bisherige Gedankengang macht klar, daß mit der in ihren Grenzen berechtigten, »kontinuierlichen« Erkenntnis des Sinnlichen nichts anderes als die empirische Gegenstandserkenntnis des Verstandes gemeint ist. Dadurch wird auch klar, warum Kant die transzendentale Analyse der Gegenstandserkenntnis und ihrer apriorischen Momente als »Zurüstung« zur Vernunfterkenntnis im engeren Sinne bezeichnet. Denn der Überschritt der Vernunfterkenntnis gewinnt in der transzendentalen Analyse der Verstandeserkenntnis seinen systematischen Ausgangspunkt. Die Vernunfterkenntnis bestimmt sich selbst, indem sie zuerst die Verstandeserkenntnis bestimmt und begrenzt (definiert), um mit der bestimmenden Begrenzung des Verstandes zugleich die Möglichkeit der eigenen, die Verstandesordnung überschreitenden Erkenntnisweise zu begründen.41 Zum anderen gewinnt die erweiternde Bewegung der Vernunfterkenntnis dadurch Profil, daß sie sich vom »Sprung« abgrenzt. Hier handelt es sich freilich nicht um eine Voraussetzung, die die Vernunft überschreiten soll, sondern um eine falsche Form der Überschreitung, die die Vernunft vermeiden muß. Ein »Sprung« würde nämlich das Interesse der Vernunft am Überschreiten des Sinnlichen zu einer unvermittelten Negation der Gegenstandserkenntnis verfälschen, wodurch ein philosophisch begründbarer Übergang zwischen den »Gebieten« von vornherein unmöglich gemacht wäre. Denn aus dem »Überschritt« würde nun »ein Übersprung (salto mortale) von Begriffen zum Undenkbaren«, wie Kant an anderer Stelle sagt – und er setzt sofort hinzu: »was dann der Tod aller Philosophie ist« (VIII 394). Die Transzendentalphilosophie wird also ihrer Aufgabenstellung nur gerecht, wenn sie sich weder dem Kontinuum der empirischen Erkenntnis überläßt, noch der Versuchung des Scheins verfällt, das Kontinuum einfach durch einen Sprung verlassen zu können.42 Es ist eigenartig, daß Kant erst sehr spät den geradezu buchstäblichen Zusammenhang explizit macht, der zwischen dem erweiternden »Übergang« der Ver-
41 Das stellt vollends außer Zweifel, daß die »neukantianische« Deutung der Transzendentalphilosophie die leitende Absicht Kants buchstäblich ins Gegenteil verkehrt (vgl. § 4). Denn es ist zwar richtig, daß die philosophische Reflexion auf die Ermöglichungsbedingungen der menschlichen »Erfahrung« im allgemeinen und der exakten Wissenschaften im besonderen einen ganz wesentlichen Teil des Gesamtprojektes einer transzendentalen Vernunftkritik darstellt. Doch ist dieser Teil des Projektes für Kant eben nur die notwendige »Zurüstung«, der systematische Ansatzpunkt, das Mittel, um zum eigentlichen »Zweck« der Transzendentalphilosophie, zur »Metaphysik« als »Endzweck der reinen Vernunft« zu gelangen. 42 An einer anderen Stelle der Preisschrift gliedert Kant deshalb die Übergangsbewegung der Transzendentalphilosophie in drei »Stadien der reinen Vernunft«: »in die Wissenschaftslehre, als einen sichern Fortschritt, – die Zweifellehre, als einen Stillestand, – und die Weisheitslehre als einen Überschritt zum Endzweck der Metaphysik« (XX 273).
§ 8. Transzendentalpilosophie als Übergang
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nunft und der Transzendentalphilosophie besteht. Denn »überschreiten« heißt ja – wie er im Opus postumum festhält – lateinisch wortwörtlich »transscendieren« (XXI 141); umgekehrt bedeutet für Kant »transscendieren« nichts anderes als »den Übergang […] machen und zwar durch Ideen« (XXI 116). Der Zusatz »durch Ideen« macht dabei klar, daß das Transzendieren, welches in der Transzendentalphilosophie thematisiert wird, nicht irgendein »Übergang«, sondern der Übergang der Vernunft ist. Die spezifische Erkenntnisweise der »tran-scendentalen«, der übergehenden Vernunft ist daher primär nicht vom »Erfolg«, d. h. vom Inhalt her zu bestimmen (wie die Gegenstandserkenntnis), sondern zunächst von der Form her, die für die Vernunfterkenntnis spezifisch ist. Vernunfterkenntnis, so läßt sich jetzt sagen, ist nicht nur eine Erkenntnis im Übergang, sondern eine Erkenntnis, die ausschließlich in der Form eines »Übergangs« möglich ist. Kant gibt also mit den Begriffen »Überschritt« und »Übergang« das »trans« in der Vernunftbewegung »trans physicam« wieder, um den eigentümlichen Übergangs- und Erweiterungscharakter der Bewegung zu kennzeichnen, wobei er ihn zugleich gegenüber dem kontinuierlichen Fortschritt und dem unvermittelten »Sprung« abgrenzt. »Der Name des Überganges«, heißt es erneut im Opus postumum, will ausdrücken, daß »nicht ein Sprung (saltus) wie gleichsam über eine Kluft, noch ein Schritt (passus) im fortgesetzten Gange, sondern ein Überschritt« gemeint ist (XXI 641). Diese sehr stark an räumlichen Verhältnissen orientierte Rede von »Fortgang«, »Übergang« und »Sprung« darf jedoch nicht zu dem naheliegenden Irrtum verführen, den Übergang zwischen den beiden »Gebieten« als etwas Nachträgliches und Sekundäres gegenüber dem Ausgangs- und Zielpunkt der Bewegung aufzufassen. Zwar müssen im Raum zuerst die beiden »Gebiete« vorhanden sein, bevor sich so etwas wie ein »Übergang« von dem einen zum andern denken läßt. Demgegenüber ist der transzendentale Vernunftübergang jedoch gerade dadurch ausgezeichnet, daß hier nicht der Übergang von den »Gebieten« aus, sondern umgekehrt das Wesen der »Gebiete« vom Übergang aus zu bestimmen ist.43 Was damit des näheren gemeint ist, kann in einem ersten Anlauf anhand einer wichtigen Bemerkung aus der Vorrede zur Kritik der praktischen Vernunft verdeutlicht werden, in der Kant abermals auf die transzendentale Bewegung des Übergangs zu sprechen kommt. Kant rechtfertigt hier die Notwendigkeit, erneut
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Der systematische Vorrang des Übergangs vor den »Gebieten« wird auch daran sichtbar, daß Kant in den transzendentalphilosophischen Hauptwerken eher den »Übergang« von der »Physik« zur »Metaphysik«, im Opus postumum hingegen mehr den »Übergang« von der »Metaphysik« zur »Physik« thematisiert (XXI 641) – in beiden Fällen aber eben vor allem den Übergang (vgl. Knittermeyer 1946: »Der ›Übergang‹ zur Philosophie der Gegenwart«).
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Erster Teil
auf die »Begriffe und Grundsätze der reinen spekulativen Vernunft« zurückzukommen, die bereits das Thema der Kritik der reinen Vernunft waren. Er tut dies charakteristischerweise mit dem Hinweis auf den »Übergang« der Vernunft »zu einem ganz anderen Gebrauch«: »Ein solcher Übergang macht aber eine Vergleichung des älteren mit dem neueren Gebrauche notwendig, um das neue Gleis von dem vorigen wohl zu unterscheiden und zugleich den Zusammenhang derselben bemerken zu lassen« (V 7; Hervorhebung: A. H.). Hier tritt die Äußerlichkeit der räumlichen Verhältnisse zwischen zwei »Gebieten« zugunsten der kritischen Reflexion auf einen unterschiedlichen Vernunftgebrauch zurück.44 Durch die Dynamisierung der zuvor eher statisch wirkenden »Gebiete« wird aber deutlicher, daß es der (aktive) Übergang zwischen ihnen ist, der das innere Wesen des in sich gegliederten Vernunftgefüges bestimmt, da er überhaupt erst den Zusammenhang stiftet, der den einzelnen Momenten ihren systematischen Sinn verleiht und sie so zu dem macht, was sie sind. Damit geht die philosophische Reflexion Kants von einer »Außenperspektive«, in der die Erkenntnis und ihre »Gebiete« beschrieben werden, zu einer »Innenperspektive« der Vernunft über, in der immanent auf ihren unterschiedlichen »Gebrauch«, d. h. die Erkenntnisweisen oder Erkenntnisarten der Vernunft reflektiert wird. Dieser Übergang ist für den Ansatz der Transzendentalphilosophie entscheidend und daher für ihr angemessenes Verständnis wegweisend. Der transzendentale »Übergang« von der Verstandeserkenntnis zur Vernunfterkenntnis (im engeren Sinne) betrifft demnach zunächst und grundsätzlich nicht den Inhalt, sondern die Form, nicht das »Was«, sondern das »Wie« des Erkennens. Für Kants Transzendentalphilosophie ist die Vernunfterkenntnis gegenüber der empirischen Gegenstandserkenntnis (»Sinnlichkeit«) nicht primär die Erkenntnis eines anderen Erkenntnisobjekts, sondern eine andere Erkenntnisform. Freilich ist das »Was« der Erkenntnis vom »Wie« nicht unabhängig, so daß eine Änderung der Erkenntnisform am Ende auch eine Veränderung des Erkenntnisinhalts zur Folge haben muß. Der Vorrang der dynamischen »Innenperspektive« vor der eher statischen »Außenperspektive« ist auch zu berücksichtigen, wenn Kant in der Preisschrift den »Begriff des Übersinnlichen« als dasjenige bezeichnet, an dem »die Vernunft ein solches Interesse nimmt, daß darum Metaphysik, wenigstens als Versuch, überhaupt existiert, jederzeit gewesen ist, und fernerhin sein wird« (XX 316).45
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Der genauere Zusammenhang zwischen den beiden »Gebieten« des Bedingten und Unbedingten einerseits und dem theoretischen und praktischen »Gebrauch« der Vernunft andererseits kann erst im Verlauf des weiteren Gedankengangs erörtert werden. In einem gewissen Sinne ist die Klärung dieses Zusammenhangs das Thema der gesamten vorliegenden Untersuchung. 45 Eine andere Formulierung der Preisschrift lautet ganz entsprechend: »Die erste und not-
§ 8. Transzendentalpilosophie als Übergang
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Denn das »Übersinnliche« – was immer damit des näheren gemeint ist – steht der Vernunfterkenntnis jedenfalls nicht äußerlich (wie ein Gegenstand) gegenüber, sondern ist einer der Begriffe, mit denen Kant das »Was« bezeichnet, das sich im »Wie« des transzendentalen Vernunftübergangs und nur in ihm philosophisch thematisieren läßt. Der Bezug der transzendentalen Vernunft auf das Metaphysische ist daher immer auch ein Selbstbezug, das Interesse, das die übergehende Vernunft am Übersinnlichen hat, immer auch ein Selbstinteresse der Vernunft. Die Rede von einem Zwischensein der Vernunft gibt sich jetzt als eine eher räumlich gedachte »Außenperspektive« auf das Vernunftgefüge und dadurch in ihrer Vorläufigkeit zu erkennen. Dagegen eröffnet Kants Begriff eines Interesses der Vernunft den philosophischen Zugang zur dynamischen Innenperspektive des Vernunftgebrauchs, der – als Gebrauch – stets interessiert, d. h. auf einen Zweck gerichtet ist, ohne ihn deshalb schon erreicht zu haben. Deshalb spricht Kant an der zuletzt zitierten Stelle charakteristischerweise von dem »Versuch« zur Metaphysik, der durch das Vernunftinteresse stets aufs neue initiiert wird, nicht aber unmittelbar vom Erfolg des Versuchs, dem faktischen Erreichen oder Nichterreichen des Zwecks. Der (noch) nicht erreichte Zweck ist aber deshalb kein Hirngespinst, sondern besitzt seine eigene Realität, weil der Zweck der transzendentalen Vernunft nicht äußerlich, sondern ihrem eigenen Interesse einbeschrieben ist. Der Übergang zur transzendentalen Reflexion auf den unterschiedlichen Vernunftgebrauch führt somit zu einem präziseren und tiefer gehenden Verständnis von Kants Inanspruchnahme eines Vernunftinteresses. Bislang könnte der Eindruck entstanden sein, daß Kant in der Transzendentalphilosophie gewisse Grundfragen der Vernunft thematisiert und dies zuweilen auch so ausdrückt, daß die Vernunft an bestimmten Fragen ein »Interesse« habe. Berücksichtigt man aber die transzendentale Wende vom Erkenntnisinhalt zur Erkenntnisform, dann läßt sich solch ein äußerliches Verständnis des Vernunftinteresses bei Kant nicht länger aufrechterhalten. Denn nun wird deutlich, daß Kants Inanspruchnahme eines Interesses der Vernunft nur dann angemessen zu verstehen
wendigste Frage ist wohl: Was die Vernunft eigentlich mit der Metaphysik will? welchen Endzweck sie mit ihrer Bearbeitung vor Augen habe? denn groß, vielleicht der größte, ja, alleinige Endzweck, den die Vernunft in ihrer Spekulation je beabsichtigen kann, [ist er,] weil alle Menschen mehr oder weniger daran Teil nehmen, und nicht zu begreifen ist, warum bei der sich immer zeigenden Fruchtlosigkeit ihrer Bemühungen in diesem Felde, es doch umsonst war, ihnen zuzurufen: sie sollten doch endlich einmal aufhören, diesen Stein des Sisyphus immer zu wälzen, wäre das Interesse, welches die Vernunft daran nimmt, nicht das innigste, was man haben kann« (XX 259 f.).
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ist, wenn das Vernunftinteresse selbst als die Grundfrage erkannt wird, an der die Transzendentalphilosophie ansetzt. Damit zeichnet sich in ersten Umrissen die ursprüngliche Einsicht der Kantischen Vernunftkritik ab. Kant ist – aus Gründen, die noch näher zu erörtern sein werden – der Überzeugung, daß die Vernunfterkenntnis (im engeren Sinne) nicht in gleicher Weise wie Verstandeserkenntnisse gerechtfertigt werden kann. Zugleich lehnt er aber die skeptische Schlußfolgerung aus dieser Einsicht ab, Vernunfterkenntnisse seien deshalb »Hirngespinste«. Angesichts der allzu engen Alternative, daß Erkenntnisse entweder von einem Erfahrungsgegenstand her oder gar nicht gerechtfertigt werden können, kehrt sich die Transzendentalphilosophie daher von den Gegenständen ab und der Vernunft, genauer: dem Vernunftinteresse und dem unterschiedlichen Vernunftgebrauch zu, um dergestalt die Vernunfterkenntnis auf eine ganz neue Weise zu rechtfertigen. Dieser »kritische Weg«, so Kant, »ist allein noch offen«, und er drückt in den letzten Sätzen der Kritik der reinen Vernunft die Hoffnung aus, der von ihm entdeckte »Fußsteig« der Vernunftkritik möge bald zur »Heerstraße« ausgebaut werden, um »die menschliche Vernunft in dem, was ihre Wißbegierde jederzeit, bisher aber vergeblich, beschäftigt hat, zur völligen Befriedigung zu bringen« (KrV B 884). Die hier verfolgte Deutungsperspektive geht nun davon aus, daß sich diese Hoffnung Kants noch nicht wirklich erfüllt hat. Die umfangreiche und in vielen Einzelpunkten auch fruchtbare Kantforschung hat zwar manche »Heerstraße« für das spätere Denken gebaut, doch ist bis heute strittig, inwieweit es gelungen ist, den genauen Verlauf jenes kritischen »Fußsteigs« anzugeben, den Kant entdeckt zu haben glaubt. Die vorliegende Abhandlung unternimmt deshalb einen neuen Versuch, auf Kants ursprüngliche Einsicht zurückzugehen, indem sie seinen Ansatz bei einem Interesse der Vernunft und die damit zusammenhängenden Begriffe berücksichtigt, die bislang kaum Beachtung gefunden haben.
2.
einwände
§ 9. Der objektivistische Standpunkt Daß Kants Inanspruchnahme eines Interesses der Vernunft bis heute kaum beachtet wurde, obgleich sie durch die angeführten und noch anzuführenden Textstellen außer Zweifel gesetzt wird, liegt wohl kaum daran, daß die Stellen einfach »übersehen« wurden. Vielmehr ist vermutlich in den meisten Fällen die Meinung leitend gewesen, dieser Ansatz Kants zur Rechtfertigung der Vernunfterkenntnisse sei entweder aus sachlichen Gründen aussichtslos oder ein anderer Ansatz sei bedeutend aussichtsreicher. Zum einen kann nämlich die transzendentale Aufmerksamkeit auf »subjektive« Momente der Erkenntnis als grundsätzlicher Irrweg erscheinen, weil die damit einhergehende transzendentale Abwendung vom empirischen Gegenstand als dem primären Rechtsgrund der Erkenntnis prinzipiell nicht einleuchtet. Zum anderen kann hingegen gerade die transzendentale »Wende zum Subjekt« einleuchten, nicht aber der Ansatz bei einem spezifischen Interesse der Vernunft, weil er die transzendentale »Subjektivität« falsch zu bestimmen scheint. Auf beide Standpunkte muß deshalb bereits jetzt, in einem frühen Stadium der Gedankenentwicklung eingegangen werden, um den Ansatz beim Interesse der Vernunft gegen naheliegende Einwände zu sichern und dadurch zugleich die systematische Begründung des Ansatzes weiter zu entwickeln. Für den ersten Einwand korrespondiert einer »objektiven« Erkenntnis stets ein empirisch »gegebenes« Objekt, und zwar in dem Sinne, daß durch das Objekt das Wesen und der Gehalt der Erkenntnis hinreichend bestimmt wird. Dieser »objektivistische« Standpunkt wird gerne an einfachen und deshalb suggestiven Beispielen der Wahrnehmung erläutert. Wenn ich wissen will, welche Form ein bestimmtes Fenster hat, dann muß ich hinsehen, um zu konstatieren, daß es z. B. rechteckig und nicht rund ist. Das Urteil »Dieses Fenster ist rechteckig« ist für den objektivistischen Standpunkt genau dann »objektiv« gültig oder wahr, wenn das Fenster als empirisches Objekt vor aller Erkenntnis rechteckig ist, also eine »objektive« Eigenschaft besitzt, die ihre nachträgliche Erkenntnis im Bewußtsein kausal bewirken oder »hervorrufen« kann. Die »Objektivität« komplexerer Sachverhalte wird nach dem gleichen Modell verstanden, da ihre Komplexität als Zusammensetzung einfacherer Sachverhalte vorgestellt wird. Die Objektivität oder Wahrheit eines Urteils bedeutet also in jedem Fall die getreue Reproduktion eines »objektiven«, d. h. bewußtseinsunabhängigen Sachverhalts im Bewußtsein. Man erkennt nun leicht, in was für eine prekäre Lage die Vernunft (im engeren Sinne) durch die oben angeführte Charakterisierung Kants gebracht wird. Für
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Erster Teil
den objektivistischen Standpunkt ist es nämlich ein höchst zweischneidiges Lob für eine »Erkenntniskraft«, daß sie sich natürlicher Weise zu Erkenntnissen aufschwingt, »die viel weiter gehen, als daß irgend ein Gegenstand, den Erfahrung geben kann, jemals mit ihnen kongruieren könne«. Denn so »weit« zu gehen, daß kein Erfahrungsgegenstand »jemals« mit der Erkenntnis kongruieren kann, heißt das nicht einfach, zu weit zu gehen? Muß nicht eine Erkenntnisform, der kein Erfahrungsgegenstand entspricht, ihren einzig möglichen Rechtsgrund verlieren, der zudem eine begründete Unterscheidung erlaubt zwischen »subjektiv« und »objektiv«, zwischen leerem Hirngespinst und sachhaltiger Wahrheit? Diese objektivistische Skepsis gegenüber der Vernunft (im engeren Sinne) kann nun offenbar durch Kants Inanspruchnahme eines Interesses der Vernunft zur Rechtfertigung metaphysischer Erkenntnisse nicht verringert, sondern – ganz im Gegenteil – nur noch verstärkt werden. Denn träfe das objektivistische Verständnis menschlicher Erkenntnis zu, dann muß eine (zusätzliche) Bestimmung der Erkenntnis durch ein »Interesse« nicht nur als überflüssig, sondern als störend gelten, da ein »Interesse« das Erkennen von seinem Gegenstand nur »ablenken« kann. Zwischen Gegenstand und »Interesse« herrscht dergestalt für den objektivistischen Standpunkt ein striktes Oppositionsverhältnis: eine Erkenntnis kann genau in dem Maße als »sachlich«, »objektiv« oder »angemessen« gelten, in dem sie sich von ihrem Gegenstand bestimmen läßt, und sie muß umgekehrt genau in dem Maße als »unsachlich«, »subjektiv« oder »unangemessen« gelten, in dem sie sich von einem »Interesse« leiten läßt. Denn wo ein »Interesse« das Erkennen bestimmt, droht die Erkenntnis die Fühlung zum Gegenstand zu verlieren und zum bloßen »Hirngespinst« zu werden. Eine unabdingbare Voraussetzung für Kants Programm, »metaphysische« Vernunfterkenntnisse transzendental zu rechtfertigen, besteht also in dem grundsätzlichen Nachweis, daß die objektivistische Auffassung der menschlichen Erkenntnis nicht haltbar ist. Das Zentrum der Auseinandersetzung muß dabei die empirische Gegenstandserkenntnis bilden, weil sie dem objektivistischen Einwand als systematischer Orientierungspunkt und Maßstab dient. Im folgenden soll deshalb – in gedrängter und durchaus noch vorläufiger Form – die grundsätzliche Kritik Kants am Objektivismus und an der objektivistischen Leitthese vergegenwärtigt werden, daß der Gegenstand die Erkenntnis (des Gegenstandes) hinreichend bestimmt. Diese objektivistische Leitthese wird von Kant selbst auch so formuliert, daß für den objektivistischen Standpunkt »der Gegenstand die Vorstellung allein möglich macht« (KrV B 124 f.).46 46
Kants Kritik des Objektivismus ist schon häufig dargestellt worden; eine besonders prägnante Erörterung findet sich in den Studien von Prauss: »Erscheinung bei Kant. Ein Problem der ›Kritik der reinen Vernunft‹« (1971) und »Kant und das Problem der Dinge an sich« (1989a).
§ 9. Der objektivistische Standpunkt
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Der systematische Ort der Auseinandersetzung mit dem Objektivismus ist für Kant die »alte und berühmte Frage«: Was ist Wahrheit? Dabei gesteht Kant dem objektivistischen Standpunkt die »Namenerklärung« der Wahrheit durchaus zu, »daß sie nämlich die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstand sei«. Allerdings ist damit nur die gemeinsame Voraussetzung, die Basis der Auseinandersetzung geklärt, während der strittige Punkt noch gar nicht berührt ist. Denn dieser liegt in dem genaueren Sinn der Wahrheitsfrage, der Kant zufolge auf die nähere Bestimmung dessen zielt, »welches das allgemeine und sichere Kriterium der Wahrheit einer jeden Erkenntnis sei« (KrV B 82). In der JäscheLogik heißt es an der Parallel-Stelle etwas ausführlicher: »Es frägt sich nämlich hier: Ob und in wie fern es ein sicheres, allgemeines und in der Anwendung brauchbares Kriterium der Wahrheit gebe? Denn das soll die Frage: Was ist Wahrheit? bedeuten« (IX 50).47 Kant unterscheidet also zwischen »Wahrheitsdefinition« und »Gültigkeitskriterium«, um so die Möglichkeit der für ihn entscheidenden Frage zu gewinnen, ob – wie es der Objektivismus tut – die Definition zugleich als Kriterium verwendet werden kann.48 Kant bestreitet nun mit Nachdruck die Möglichkeit einer objektivistischen Identifizierung von Wahrheitsdefinition und Wahrheitskriterium, weil für ihn aus prinzipiellen Gründen nicht einsichtig zu machen ist, wie die geforderte Prüfung einer Übereinstimmung zwischen der Erkenntnis und dem Gegenstand konkret durchführbar sein kann, wenn mit »Gegenstand« etwas gemeint ist, das »an sich«, d. h. vor aller Erkenntnis, bestehen soll. Kant zufolge kann ich nämlich »das Objekt nur mit meiner Erkenntnis vergleichen, dadurch daß ich es erkenne.« Eine Prüfung der Erkenntnis am Gegenstand liefe demnach auf die »zirkuläre« Frage hinaus, »ob meine Erkenntnis vom Objekt mit meiner Erkenntnis vom Objekt übereinstimme« (IX 50 – vgl. Refl. 2143: XV, 1, 251). Mit dieser elementaren Überlegung vermag Kant zu zeigen, daß sich das objektivistische Wahrheitskriterium bei näherer Betrachtung als unbrauchbar erweist und nicht aufrecht erhalten werden kann. Denn das vom Objektivismus allzu selbstverständlich in Anspruch genommene »Objekt außer uns ist transzendent, d. i. uns gänzlich unbekannt«, und deshalb »zum Kriterium der Wahrheit unbrauchbar« (Refl. 5642: XVIII, 281). Mit anderen Worten: ein erkenntnisunabhängiger Gegenstand kann grundsätzlich nicht mit einer Erkenntnis von ihm verglichen werden, da er, solange er erkenntnisunabhängig ist, unerkannt und somit unbrauch47
Vgl. zum Wahrheitsbegriff bei Kant: Prauss 1969, Baum 1983 und Schulz 1993. In der neueren Diskussion um den Begriff der Wahrheit hat vor allem Alfred J. Ayer die Differenz zwischen »Worterklärung« der Wahrheit und Wahrheitskriterium betont: eine »Definition von Wahrheit im Sinne einer Analyse unserer Verwendung des Wortes ›wahr‹« ist für Ayer »furchtbar einfach«, aber auch trivial. Dagegen ist die Frage »Wodurch wird eine Aussage wahr?« nicht trivial zu beantworten (Ayer 1989, S. 280 f.). 48
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bar für einen Vergleich ist, während er, sobald er erkannt ist, den Status der Erkenntnisunabhängigkeit einbüßt und somit – für den objektivistischen Standpunkt – ebenfalls unbrauchbar für einen prüfenden Vergleich wird.49 Die Berechtigung des zentralen Einwands Kants gegen den Objektivismus wird noch deutlicher, wenn man berücksichtigt, wie sehr sich die ganze Argumentation im Horizont des Gegensatzes von Tätigkeit und Nichttätigkeit bewegt. Die leitende Idee des Objektivismus läßt sich nämlich auch so formulieren, daß die Tätigkeit des Erkennens und ihr Resultat, die Erkenntnis, nur zu prüfen sind, wenn sie an etwas gemessen werden, was nicht Tätigkeit, sondern »objektiver Gegenstand« ist. Deshalb wird der »Gegenstand« objektivistisch als reine Nichttätigkeit vorgestellt – eine Vorstellung, die jedoch, wie Kant zeigt, bereits an dem elementaren Umstand scheitert, daß jedes noch so »passiv« vorgestellte Hinnehmen eines Gegenstandes stets ein Hinnehmen, also eine Tätigkeit bleibt. Durch diese Kritik an der objektivistischen Vorstellung eines erkenntnis- und tätigkeitsunabhängigen Gegenstands wird aber der objektivistische Einwand hinfällig, die transzendentale Reflexion auf den Gebrauch unserer »Erkenntniskraft« könne vom eigentlichen Maßstab der Erkenntnis nur ablenken. Denn »außerhalb« der Erkenntnistätigkeit gibt es nichts zu erkennen, was ein externes Kriterium für die jeweils in Frage stehende Erkenntnisleistung darstellen könnte.50 Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß der objektivistische Standpunkt sich allzu unreflektiert den Wesenszug der Verstandeserkenntnis zu eigen macht, die eigene Erkenntnistätigkeit immer schon auf das Ziel, den Gegenstand hin überschritten zu haben (vgl. § 7). In einer kritischen Gegenbewegung gegenüber dem objektivistischen Schein der empirischen Verstandeserkenntnis beharrt deshalb Kant darauf, daß Gegenstände der Erfahrung nur als Resultat einer Tätigkeit des Bewußtseins begriffen werden können, nämlich als Erfolg einer spezifischen Verstandestätigkeit, die darin besteht, »Erscheinungen nach synthetischer Einheit [zu] buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können«. Von ihrem Resultat her läßt sich jedoch die Erkenntnistätigkeit offenkundig nicht in hinreichender Weise bestimmen, da der resultierende Gegenstand selbst von der Tätigkeit überhaupt erst konstituiert wird.
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Josef Simon hat diese Pointe der Kantischen Kritik am Objektivismus einmal sehr klar formuliert: »Die Kantische Begründung der Korrespondenztheorie der reinen Möglichkeit nach impliziert geradezu die Unmöglichkeit ihrer Begründung für den wirklichen konkreten Fall« (Simon 1978, S. 8). 50 Bereits im Jahr 1771, also 10 Jahre vor dem Erscheinen der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, schreibt Abraham Gotthelf Kästner in seiner Schrift Über sinnliche Wahrheit und Erscheinung: »Niemand kann die Sache selbst fragen, ob sie da ist.« Mit diesem Satz, so Hans Blumenberg, »sollte jede Stunde Philosophie beginnen« (Blumenberg 1996b, S. 535).
§ 10. Der intellektualistische Standpunkt
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§ 10. Der intellektualistische Standpunkt Der zweite Einwand gegen Kants Inanspruchnahme eines Interesses der Vernunft knüpft in gewisser Weise direkt an die kritische Zurückweisung eines objektivistischen Verständnisses der menschlichen Erkenntnis an. Deshalb verhält er sich in manchen, freilich nicht in allen Punkten wie ein genaues Gegenstück zum ersten Einwand. Wenn nämlich ein »objektiver«, d. h. erkenntnisunabhängiger Gegenstand kein »brauchbares« Kriterium der Wahrheit ist, weil er »außerhalb« der Erkenntnis offenkundig nicht erkannt werden kann, dann bietet sich der umgekehrte Standpunkt an, das Kriterium ausschließlich innerhalb des »subjektiven« Erkenntnisgebrauchs selbst, und zwar in seiner allgemeinen Form aufzusuchen. Dieser Standpunkt wendet sich also von der inhaltlichen Seite der Erkenntnis ab und ihrer formalen Seite zu, wobei die allgemeine »Form« des Erkennens des näheren als Logik des reinen, von allem Inhalt unabhängigen Denkens verstanden wird. Für den zweiten Einwand entspricht eine wahre Erkenntnis stets den formalen Bedingungen des reinen Denkens, und zwar in dem Sinne, daß durch die formallogischen Denkbedingungen das Wesen und der Gehalt der Erkenntnis hinreichend bestimmt wird. Dieser »intellektualistische« Standpunkt hält demnach die Inanspruchnahme eines Interesses der Vernunft nicht schon deshalb für einen Irrweg, weil sie sich von den »objektiven« Gegenständen abwendet und die Aufmerksamkeit auf die »subjektive« Erkenntnistätigkeit selbst richtet. Vielmehr lautet nun der Vorwurf, daß der Versuch, Erkenntnis durch den Bezug auf ein Vernunftinteresse zu rechtfertigen, die einzig sinnvolle, nämlich streng logische Erkenntnisbegründung verwirren muß. Denn ein »Erkenntnisinteresse«, was immer damit des näheren auch gemeint sein mag, würde ein voluntatives oder praktisches Moment in die epistemologische Reflexion hineintragen, das innerhalb eines strikt intellektualistischen Verständnisses der menschlichen Erkenntnis nur als Fremdkörper wirken kann, der die »Reinheit« einer ausschließlich logisch begründeten Wahrheit von Grund auf gefährdet. Diese intellektualistische Skepsis muß sich nun natürlich auch und vor allem gegen Kants Versuch richten, die Erkenntnisse der Vernunft (im engeren Sinne) durch ein »höheres Bedürfnis unserer Erkenntniskraft« zu bestimmen. Denn träfe das intellektualistische Verständnis menschlicher Erkenntnis zu, dann müßte eine (zusätzliche) Bestimmung der Erkenntnis durch ein »Interesse« nicht nur als überflüssig, sondern als störend gelten, da ein »Erkenntnisinteresse« die innere Logik des Erkennens nur verwirren kann, indem es die Aufmerksamkeit nicht mehr ausschließlich auf die formalen Gesetze des reinen Denkens lenkt. Zwischen Logik und »Interesse« herrscht dergestalt für den intellektualistischen Standpunkt ein striktes Oppositionsverhältnis: eine Erkenntnis kann genau in
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dem Maße als »logisch«, »allgemeingültig« oder »wahr« gelten, in dem sie sich von den formalen Gesetzen des »reinen« Denkens bestimmen läßt, und sie muß umgekehrt genau in dem Maße als »unlogisch«, »willkürlich« oder »unwahr« gelten, in dem sie sich von einem »Interesse« leiten läßt. Denn wo ein »Interesse« das Erkennen bestimmt, droht die Erkenntnis ihre logische Allgemeinverbindlichkeit zu verlieren und zur privaten Einbildung, wenn nicht gar zum bloßen »Hirngespinst« zu werden. Eine weitere Voraussetzung für Kants Programm, ein transzendentales Vernunftinteresse zur Rechtfertigung »metaphysischer« Erkenntnisse in Anspruch zu nehmen, besteht also in dem grundsätzlichen Nachweis, daß die intellektualistische Auffassung der menschlichen Erkenntnis zwar ein wesentliches Moment trifft, daß sie dieses Moment aber zu Unrecht verabsolutiert, da es für sich genommen keineswegs ausreicht, um den Wahrheitsgehalt menschlicher Erkenntnisse zu rechtfertigen. Im folgenden soll deshalb – in gedrängter und durchaus noch vorläufiger Form – Kants kritische Einschränkung des Intellektualismus vergegenwärtigt werden, der, wie Kant es ausdrückt, davon ausgeht, »daß die wahren Gegenstände bloß intelligibel wären« (KrV B 882).51 Der systematische Ort der Auseinandersetzung Kants mit dem Intellektualismus ist wiederum – wie bereits bei seiner Kritik des Objektivismus – die Frage nach der Wahrheit, genauer: die Frage nach einem »sicheren, allgemeinen und in der Anwendung brauchbaren Kriterium der Wahrheit«. Durch diese Engführung seiner doppelten Kritik am Objektivismus und Intellektualismus mit der Wahrheitsfrage treten die spiegelbildlichen Entsprechungen der beiden Standpunkte besonders deutlich hervor – auch wenn sich im weiteren Verlauf des Gedankengangs zeigen wird, daß es am Ende vor allem auf die subtilen Abweichungen von der vermeintlichen Symmetrie ankommt. Kant markiert die Einheit und Differenz der symmetrischen Entgegensetzung dadurch, daß er die »wichtige Frage« nach dem Wahrheitskriterium nach zwei Seiten hin differenziert. Denn Kant zufolge »müssen wir das, was in unserm Erkenntnisse zur Materie desselben gehört und auf das Objekt sich bezieht, von dem, was die bloße Form, als diejenige Bedingung betrifft, ohne welche ein Erkenntnis gar kein Erkenntnis überhaupt sein würde, wohl unterscheiden«. Hier wird also in mittlerweile schon vertrauter Weise die Materie der Erkenntnis von
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Kant stellt am Ende der Kritik der reinen Vernunft die »Intellektualphilosophen« den »Sensualphilosophen« gegenüber, um sich von beiden zu unterscheiden. Diese für die Transzendentalphilosophie in systematischer Hinsicht grundlegende Doppelkritik wird hier mit der zweifachen Kritik eines »intellektualistischen« und eines »objektivistischen« Standpunktes wiedergegeben, da der Begriff eines »sensualistischen« Standpunktes heute zu eng aufgefaßt würde, um Kants Gedanken angemessen bezeichnen zu können.
§ 10. Der intellektualistische Standpunkt
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ihrer Form unterschieden und jene dem Objekt, diese aber dem Subjekt der Erkenntnis zugeordnet. Kant gewinnt aus dieser Differenzierung zwei unterschiedliche Ansätze, nach dem Kriterium der Wahrheit zu fragen. Mit »Rücksicht« auf den »Unterschied zwischen der objektiven, materialen und der subjektiven, formalen Beziehung in unserm Erkenntnisse« zerfällt die Wahrheitsfrage bei Kant »in die zwei besondern: 1) Gibt es ein allgemeines materiales, und 2) Gibt es ein allgemeines formales Kriterium der Wahrheit?« (IX 50). Die erste Frage ist in der Kritik des Objektivismus bereits negativ beantwortet worden52; die Auseinandersetzung mit dem Intellektualismus wird sich deshalb konsequenterweise der zweiten Frage zu widmen haben. Was die »Erkenntnis der bloßen Form nach (mit Beiseitesetzung alles Inhalts) betrifft, so ist« für Kant in der Kritik der reinen Vernunft »klar: daß eine Logik, so fern sie die allgemeinen und notwendigen Regeln des Verstandes vorträgt, eben in diesen Regeln Kriterien der Wahrheit darlegen müsse. Denn was diesen widerspricht, ist falsch, weil der Verstand dabei seinen allgemeinen Regeln des Denkens, mithin sich selbst widerstreitet« (KrV B 83 f.). Kant knüpft also zunächst durchaus positiv an die Leitthese des intellektualistischen Standpunkts an, daß das formale Merkmal der logischen Konsistenz ein »brauchbares« Wahrheitskriterium sei. Die eigentliche Auseinandersetzung kann deshalb nicht – wie bei der Kritik des Objektivismus – die grundsätzliche Brauchbarkeit des in Anschlag gebrachten Kriteriums betreffen, sondern die systematische Reichweite des Kriteriums. Kant stimmt mit dem Intellektualismus somit darin überein, daß die logische Form die Erkenntnis wesentlich bestimmt, er fragt aber, wie weit diese Bestimmung reicht, d. h. ob sie für sich genommen zur positiven Bestimmung der Wahrheit einer Erkenntnis ausreicht. Kants Antwort auf diese Frage ist – zumindest im Ansatz – sehr deutlich. Die formalen oder logischen Wahrheitskriterien, heißt es in der Kritik der reinen Vernunft, »betreffen nur die Form der Wahrheit, d. i. des Denkens überhaupt, und 52
Eine besonders elegante Widerlegung der objektivistischen These, der zufolge die Namenerklärung der Wahrheit (Übereinstimmung von Erkenntnis und Gegenstand) auch als Kriterium der Wahrheit zu verstehen ist, lautet bei Kant: »Wenn Wahrheit in der Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstande besteht, so muß dadurch dieser Gegenstand von andern unterschieden werden; denn eine Erkenntnis ist falsch, wenn sie mit dem Gegenstande, worauf sie bezogen wird, nicht übereinstimmt, ob sie gleich etwas enthält, was wohl von andern Gegenständen gelten könnte. Nun würde ein allgemeines Kriterium der Wahrheit dasjenige sein, welches von allen Erkenntnissen ohne Unterschied ihrer Gegenstände gültig wäre. Es ist aber klar, daß, da man bei demselben von allem Inhalt der Erkenntnis (Beziehung auf ihr Objekt) abstrahiert, und Wahrheit gerade diesen Inhalt angeht, es ganz unmöglich und ungereimt sei, nach einem Merkmale der Wahrheit dieses Inhalts der Erkenntnisse zu fragen, und daß also ein hinreichendes und doch zugleich allgemeines Kennzeichen der Wahrheit unmöglich angegeben werden könne« (KrV B 83).
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sind so fern ganz richtig, aber nicht hinreichend« (KrV B 84). Der Punkt, auf den Kant hinaus will, ist damit klar umrissen. Die Logik als die Form »des Denkens überhaupt« ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Wahrheit einer konkreten, d. h. auch inhaltlich bestimmten Erkenntnis. »Also ist das bloß logische Kriterium der Wahrheit, nämlich die Übereinstimmung einer Erkenntnis mit den allgemeinen und formalen Gesetzen des Verstandes und der Vernunft, zwar die conditio sine qua non, mithin die negative Bedingung aller Wahrheit: weiter aber kann die Logik nicht gehen, und den Irrtum, der nicht die Form, sondern den Inhalt trifft, kann die Logik durch keinen Probierstein entdecken« (ebd.). Für Kant umfaßt das Wesen der Wahrheit demnach mehr als die logischen Bedingungen ihrer formalen Möglichkeit, die nur als »negative Bedingung aller Wahrheit« zu verstehen sind, so daß sie nicht hinreichen, den positiven Inhalt, den realen Sachgehalt der Erkenntnis zu ermöglichen. Dieser für den weiteren Gedankengang zentrale, aber auch schwierige Punkt wird von Kant an einer anderen Stelle der Kritik der reinen Vernunft verdeutlicht. Dort heißt es: »Denken kann ich, was ich will, wenn ich mir nur nicht selbst widerspreche, d. i. wenn mein Begriff nur ein möglicher Gedanke« ist. »Um einem solchen Begriffe aber objektive Gültigkeit (reale Möglichkeit, denn die erstere war bloß die logische) beizulegen, dazu wird etwas mehr erfordert« (KrV B XXVI Anm.). Die systematische Unterscheidung zwischen notwendigem und hinreichendem Wahrheitskriterium wird hier von Kant anhand der Differenz von »logischer« und »realer« Möglichkeit näher bestimmt. Jeder Gedanke, der den formalen Regeln der Logik nicht widerspricht, läßt sich denken und ist insofern (logisch) möglich. Ob ein logisch möglicher Gedanke jedoch »objektiv gültig«, ob er also auch eine reale Möglichkeit darstellt, ist eine Frage, die sich mit logischen Mitteln allein nicht beantworten läßt, da hierzu »mehr erfordert« wird. Denn jede reale Möglichkeit ist zwar immer auch eine logische Möglichkeit (notwendige Bedingung), doch gilt umgekehrt eben nicht, daß jede logische Möglichkeit auch schon eo ipso eine reale Möglichkeit ist (hinreichende Bedingung). Kant versucht hier einen sicherlich nicht einfachen Gedanken zu formulieren, ohne daß es ihm sofort gelingt, das Gemeinte wirklich deutlich zu machen. Die weitreichende systematische Perspektive, die Kant andeuten will, läßt sich vielleicht etwas besser ermessen, wenn man einen verwandten Gedanken hinzunimmt, der sich bei Wittgenstein im Tractatus findet. Dort werden »zwei extreme Fälle« von »Wahrheitsbedingungen« behandelt: Tautologie und Kontradiktion (Tractatus 4.46). »Extrem« sind sie deshalb, weil der Wahrheitswert tautologischer bzw. kontradiktorischer Urteile aus rein formalen, logischen Gründen absolut gewiß ist: Tautologien sind stets (logisch) wahr, Kontradiktionen stets (logisch) unwahr. Doch gerade aufgrund ihrer formallogischen »Perfek-
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tion« sind diese Urteile, wie Wittgenstein hervorhebt, im buchstäblichen Sinne nichts-sagend: »Ich weiß z. B. nichts über das Wetter, wenn ich weiß, daß es regnet oder nicht regnet« (Tractatus 4.461). Die Tautologie ist Wittgenstein zufolge daher »nicht unsinnig«, aber »sinnlos«, weil sie nichts Bestimmtes sagt, sondern alle Möglichkeiten gleichermaßen zuläßt. Die Kontradiktion hingegen schließt alle Möglichkeiten aus. Eine Tautologie ist damit einem Wegweiser vergleichbar, der in jede Richtung zeigt, während eine Kontradiktion in keine Richtung zeigt. In beiden Fällen haben die Urteile keinen realen »Sinn«, da sie in keine bestimmte Richtung weisen. Hier wird das »Mehr«, das zur reinen Form des Urteils hinzukommen muß, damit die reale Möglichkeit objektiver Gültigkeit entstehen kann, schon etwas deutlicher: es ist gewissermaßen eine bestimmte Richtung oder eine spezifische »Ausgerichtetheit«, die andere (logisch durchaus mögliche) Richtungen ausschließt. Die bedingungslos wahre Tautologie ist nichtssagend, weil sie den allumfassenden Horizont logischer Möglichkeiten nicht durch ein »Mehr« an Bedingungen auf eine reale Möglichkeit hin spezifiziert. »Tautologie und Kontradiktion«, so Wittgenstein, »stellen keine mögliche Sachlage dar. Denn jene läßt jede mögliche Sachlage zu, diese keine. In der Tautologie heben die Bedingungen der Übereinstimmung mit der Welt – die darstellenden Beziehungen – einander auf, so daß sie in keiner darstellenden Beziehung zur Wirklichkeit steht« (Tractatus 4.462). Diese auf den ersten Blick etwas paradox erscheinende Feststellung Wittgensteins, daß das, was jede mögliche Sachlage zuläßt, eben darum keine mögliche Sachlage darstellt, weist richtig verstanden in dieselbe Richtung wie Kants Unterscheidung zwischen logischer und realer Möglichkeit. Denn die Feststellung meint genaugenommen, daß das, was jede logisch mögliche Sachlage zuläßt, eben darum keine real mögliche Sachlage darstellt. Die reale Möglichkeit umfaßt nämlich über die rein logische Möglichkeit der Erkenntnis hinaus eine darstellende Beziehung zur Wirklichkeit, die »mehr« ist als die logische Möglichkeit des reinen Denkens, weil sie sich auf eine bestimmte Weise auf die Wirklichkeit bezieht. Kants kritische Einschränkung des intellektualistischen Standpunkts läßt sich nun genauer formulieren. Kant macht nämlich geltend, daß der Intellektualismus die Differenz zwischen notwendiger Bedingung (conditio sine qua non) und hinreichender Bedingung der Wahrheit verwischt, indem er diese mit jener identifiziert und dergestalt die logische Konsistenz für ausreichend hält, die Wahrheit einer realen Erkenntnis zu begründen. Träfe dies zu, dann wäre Kants Ansatz bei einem Interesse der Vernunft tatsächlich von vornherein abzulehnen, da er allenfalls ein unwesentliches Erkenntnismoment thematisieren könnte, während das formale Moment der Logik die hinreichende und damit einzige wesentliche Bestimmung menschlicher Erkenntnis vorstellen würde. Umgekehrt schafft Kants
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Kritik des Intellektualismus deshalb überhaupt erst die systematische Voraussetzung für die entscheidende Frage, wie ein umfassenderer Begriff der menschlichen Erkenntnistätigkeit zu denken ist, deren Wesen sich nicht auf die reine Form der logischen Regel reduzieren läßt. Freilich stellt sich hier mit wachsender Dringlichkeit die Frage, was denn mit dem transzendentalen »Mehr« der Erkenntnis bei Kant des näheren gemeint ist, außer, daß es weder vom Intellektualismus, noch vom Objektivismus angemessen thematisiert wird. Denn der vielleicht naheliegende Gedanke, das »Mehr« gegenüber der Form des Denkens sei einfach der »Inhalt« im Sinne einer »äußeren« Wirklichkeit empirischer Gegenstände, ist ja durch Kants Kritik des objektivistischen Standpunkts bereits ausgeschlossen worden. Das »Mehr« der Erkenntnis gegenüber dem reinen Denken läßt sich deshalb nicht, um es drastisch auszudrücken, wie ein »Brocken« Realität vorstellen, den man in die »leere« Form des Denkens wie in eine Schachtel legen könnte. Erkenntnis ist, wie Husserl es einmal ausgedrückt hat, »kein Loch in einem Bewußtseinsraume, in das eine vor aller Erfahrung seiende Welt hineinscheint« (Husserl 1992, Bd. 7, S. 239). Diese Einsicht ist das bleibende, aber doch nur relative Recht des intellektualistischen Standpunkts gegenüber dem Objektivismus. Das bleibende, aber ebenfalls nur relative Recht des Objektivismus besteht hingegen in seinem Insistieren darauf, daß der Wahrheitsgehalt realer Erkenntnis über die rein formale Konsistenz hinausgeht, weil sie »mehr« umfaßt als die Übereinstimmung mit der logischen Form des Denkens.
§ 11. Der kritische Weg Kants Die Umrisse des nunmehr »allein noch offenen« Weges der transzendentalen Vernunftkritik haben sich mit Kants Doppelkritik, die den objektivistischen wie den intellektualistischen Standpunkt kritisiert, weiter verdeutlicht. Zugleich ist aber auch die Aufgabe einer begrifflichen Klärung des systematischen Standpunktes dringlicher geworden, von dem aus die angeführte transzendentale Doppelkritik überhaupt möglich und begründbar ist. Denn es liegt auf der Hand, daß eine »zirkuläre« Kritik, die den Objektivismus nur von einem intellektualistischen Standpunkt und den Intellektualismus nur von einem objektivistischen Standpunkt aus kritisieren kann, von vornherein als sinnvolle Deutung des transzendentalen Ansatzpunktes ausscheidet. Die einzige Möglichkeit, die hier noch offen bleibt, besteht somit darin, dem Selbstverständnis Kants konsequent zu folgen, daß die Transzendentalphilosophie nur als der »kritische« Weg möglich ist, der sich gleichermaßen vom objektivistischen und intellektualistischen Standpunkt unterscheidet (KrV B 881 ff.).
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Um den Punkt, von dem aus Kants kritischer Weg seinen Ausgang nimmt, systematisch möglichst genau zu markieren, muß allerdings die bisher weitgehend getrennt erörterte Kritik am Objektivismus und Intellektualismus auf einen gemeinsamen Kritikpunkt zusammengefaßt und zugespitzt werden. Das zentrale Charakteristikum der menschlichen Erkenntnis, das vom Objektivismus und vom Intellektualismus gleichermaßen (wenn auch auf je verschiedene Weise) verfehlt wird, ist aber ihre eigentümlich tätige oder praktische Verfassung. Menschliches Erkennen, d. h. Vernunft im weiteren Sinne, ist für Kant stets und grundsätzlich als ein Vernunftgebrauch zu verstehen. Dieser für Kant grundlegende Wesenszug menschlicher Erkenntnis wird aber von einem objektivistischen Standpunkt gänzlich übersprungen, der sich primär an einer »äußeren«, der menschlichen Tätigkeit entrückten Objektivität orientieren will. Der genuin praktische Grundzug menschlicher Erkenntnis wird jedoch auch von einem intellektualistischen Standpunkt nur ganz unzureichend berücksichtigt, weil er den spezifischen Tätigkeitscharakter des Erkennens auf die logische Form des reinen Denkens reduziert. Kants kritischer Ansatz wird also – ganz allgemein und vereinfacht ausgedrückt – in einer qualitativen Erweiterung des intellektualistischen Standpunkts und einer praktischen Neubestimmung der transzendentalen Subjektivität am Leitfaden des Vernunftinteresses bestehen. In diesem Sinne stellt Kant gegenüber der intellektualistischen Vorstellung einer logischen Erkenntnis aus reinen Begriffen kritisch fest: »Unser Begriff von einem Gegenstand mag also enthalten, was und wie viel er wolle, so müssen wir doch aus ihm herausgehen, um diesem die Existenz zu erteilen« (KrV B 629). Durch den sehr prägnanten Ausdruck des »Herausgehens« macht Kant hier unmißverständlich deutlich, daß jede »reale« Erkenntnis für den Menschen eine spezifische Anstrengung darstellt, deren praktische Leistung gerade darin besteht, die Immanenz oder Kontinuität der rein logischen Begriffsverwendung zu transzendieren, d. h. überschreitend zu erweitern. Einen Begriff denken und seine Realität (Existenz) erkennen sind genau aus diesem Grunde bei Kant zweierlei, wobei der entscheidende Übergang vom Denken zum Erkennen jene spezifische Erkenntnisleistung ist, die Kants Transzendentalphilosophie vorrangig interessiert. Sie thematisiert deshalb »synthetische« Urteile, bei denen – im Gegensatz zu »analytischen« Urteilen – das Denken »aus dem gegebenen Begriff hinausgehen« muß, »um etwas ganz anderes, als in ihm gedacht war, mit demselben in Verhältnis zu betrachten, welches daher niemals, weder ein Verhältnis der Identität, noch des Widerspruchs ist« (KrV B 193 f. – Hervorhebung: A. H.). Kant unterscheidet »analytische« und »synthetische« Urteile auch als »Erläuterungsurteile« und »Erweiterungsurteile« (KrV B 11). Die »synthetische« Leistung der menschlichen Erkenntnis besteht somit genau in der Erweiterung, für die sie »aus dem gegebenen Begriff hinausgehen« muß. Für Kant sind deshalb die
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Begriffe des reinen Denkens für sich genommen »leer« (KrV B 194; vgl. KrV B 75). Würde sich das menschliche Erkennen intellektualistisch auf ein »konsistentes« Denken am logischen Leitfaden reiner Begriffe beschränken, dann würde, so Kant, »dadurch zwar gedacht, in der Tat aber durch dieses Denken nichts erkannt« (KrV B 195). Was Kant in seiner Kritik des Intellektualismus vor Augen hat, ist demnach stets von neuem die Differenz von Denken und Erkennen, die einem rein formalen (logischen) Verständnis der menschlichen Erkenntnis entgehen muß, weil es die transzendierende Bewegung des Erkennens auf eine rein immanente Bewegung des Denkens verkürzt. Die mögliche Sachhaltigkeit (Realität) einer menschlichen Erkenntnis entspringt aber erst der erkennenden und zugleich tätigen Bezugnahme des Begriffs auf die Wirklichkeit, die – als Bezugnahme – weder vom isolierten (leeren) Begriff, noch gar von der isolierten (blinden) Anschauung ermöglicht werden kann. Denn allein durch die erweiternde Bezugnahme als solche wird überhaupt erst die entscheidende Vermittlung geschaffen, durch die der Begriff zu einem wahren Begriff und die Anschauung zu einer wirklichen Anschauung werden kann. Kants systematische Differenz zwischen analytischem Denken und synthetischem Erkennen gründet daher in der Einsicht, daß jede synthetische Erkenntnis über die analytische Immanenz des Denkens tätig »hinausgehen« muß, weil sie, wie er sagt, auf ein Verhältnis gerichtet ist, das kein logisches Verhältnis ist und deshalb nicht am Leitfaden von »Identität« und »Widerspruch« bestimmt werden kann. Vielmehr wird das synthetische Verhältnis erst durch die aktive Öffnung des Begriffs zur Wirklichkeit (Existenz) hin ermöglicht, ein »Hinausgehen« über den Begriff, das nicht etwa zu einer »äußeren«, d. h. erkenntnisunabhängigen Objektivität übergeht, sondern im transzendentalen Übergang überhaupt erst Wirklichkeit als Wirklichkeit erschließt. Die sachhaltige Wahrheit, das »Reale« eines Urteils gründet daher in einer bestimmten aktiven Bezugnahme, die der allgemeine transzendentale Ermöglichungsgrund dafür ist, daß sich ein Begriff überhaupt »darstellend« auf Wirkliches beziehen kann. Diese ursprüngliche Erschließung von Wirklichkeit als Wirklichkeit, durch die dann erst in der Folge wahre oder falsche Einzelerkenntnisse möglich werden, ist die spezifische Erkenntnisleistung der Vernunft, die Kants Transzendentalphilosophie in ihrem ganzen Umfang zu bestimmen sucht. Die transzendentale Erörterung der ursprünglichen Wirklichkeitserschließung in »synthetischen« Urteilen ist für Kant deshalb unmittelbar mit dem für die Transzendentalphilosophie spezifischen Verständnis von »Metaphysik« verbunden. Denn das »Prinzip analytischer Urteile« beruht Kant zufolge auf »dem Satze des Widerspruches«, mithin ist es »bloß auf einem Prinzip a priori der Logik gegründet, und tut gar keinen Schritt im Felde der Metaphysik, wo es auf Erweiterung der Erkenntnis a priori ankommt, wozu analytische Urteile nichts beitra-
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gen« (XX 278). Die wirklichkeitserschließende Leistung des menschlichen Erkennens ist also für Kant nur im Rahmen einer transzendentalen Metaphysik zu verstehen, weil sie eine Form jener metaphysischen Grundbewegung darstellt, die als »tran-scendentaler Übergang« weder ein »Sprung« noch »ein kontinuierlicher Fortgang in derselben Ordnung der Prinzipien ist«. Mit dem »tran-scendentalen Übergang« kommt die synthetische Erkenntniserweiterung vor allem auch darin überein, daß die in der Erkenntnis zu leistende Erweiterung nicht »räumlich« verstanden werden darf. Die wirklichkeitserschließende Bezugnahme ist, wie der metaphysische »Übergang«, nichts Sekundäres oder Nachträgliches: sie bezieht sich nicht von einem fixen Punkt A (Begriff oder Denken) auf einen fixen Punkt B (Wirklichkeit oder Anschauung). Vielmehr erschließt sie in einem ursprünglichen Sinne überhaupt erst Wirklichkeit für das Denken, weil die »Punkte«, zwischen denen die tätige Bezugnahme ein »Verhältnis« herstellt, erst durch dieses Verhältnis werden, was sie sind. Kant macht dieses primäre oder ursprüngliche »Zwischensein« der transzendierenden Wirklichkeitserschließung an einer wichtigen Stelle der Kritik der reinen Vernunft durch ein Gedankenexperiment deutlich: »Ein Verstand, in welchem durch das Selbstbewußtsein zugleich alles Mannigfaltige gegeben würde, würde anschauen; der unsere kann nur denken und muß in den Sinnen die Anschauung suchen« (KrV B 135). Bei einem göttlichen, d. h. allmächtigen und allgegenwärtigen Verstand kann von einer Beziehung zwischen Begriff und Anschauung, wie Kant sie transzendentalphilosophisch thematisieren will, keine Rede sein, da hier Begriff und Anschauung im strengen Sinne identisch wären. »Unser« Verstand ist hingegen in dem von Kant sehr präzise gefaßten Sinne ein nicht-göttlicher, endlicher Verstand, weil sich dem Menschen die Wahrheitsfrage als Frage überhaupt stellt. Für »unseren« Verstand ist nämlich offenkundig der Begriff nicht von vornherein identisch mit der Wirklichkeit, so daß er sie aktiv und über sich selbst hinausgehend »suchen« muß. Solch ein transzendentales Suchen nach der Wirklichkeit ist jedoch von der besonderen Art, daß es die Möglichkeit, die Wirklichkeit zu »finden«, überhaupt erst eröffnet, denn nur eine gesuchte Wirklichkeit, kann – als Wahrheit - gefunden werden, aber gerade deshalb auch – als Falschheit oder Unwahrheit – verfehlt werden. Für einen göttlichen Verstand mag es daher »Wahrheit« geben, aber sicherlich keine Falschheit, während für »unseren« Verstand die Wahrheit primär in Frage steht, so daß es für ihn zugleich die Möglichkeit von Wahrheit und Falschheit gibt.53 53
Kants Wendung, unser Verstand müsse die Anschauung »in den Sinnen« suchen, ist daher nicht so zu verstehen, daß die Sinnlichkeit selbst bereits die gesuchte Wirklichkeit ist. Vielmehr wird das Gesuchte nur in den Sinnen gesucht, weil die Sinnlichkeit »Data zur möglichen Erfahrung« enthält (KrV B 298), so daß sich eine reale Erkenntnis zwar im Begriff auf die Anschauung bezieht, die transzendentale Möglichkeit der Wirklichkeitserfahrung selbst aber weder im
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Das Grundproblem der Kantischen Transzendentalphilosophie entspringt also sehr genau und buchstäblich aus der Frage nach der Wahrheit, die ein Gott nicht nötig hat und der »Unverstand« nicht nötig zu haben glaubt (wie es in der oben angeführten Passage aus dem Symposion hieß). Allerdings unterscheidet sich die transzendentale Frage vom gewöhnlichen Fragen in einem wichtigen, letztlich sogar entscheidenden Punkt. Eine gewöhnliche Frage erschließt zwar durchaus die Möglichkeit, eine Wirklichkeit (in der Antwort) zu erfahren, doch so, daß sie dabei stets in einem vertrauten, nicht in Frage gestellten Wirklichkeitszusammenhang steht. Wer so fragt, fragt nach einem unbekannten Teil eines für den Fragenden immer schon erschlossenen Ganzen von Wirklichkeit. Demgegenüber eröffnet die genuin transzendentale Wirklichkeitserschließung überhaupt erst das Ganze möglicher Erfahrung, in dem dann Einzelfragen und Einzelerkenntnisse sowie die Möglichkeit ihrer Wahrheit oder Falschheit ihren Ort finden. Denn in »dem Ganzen aller möglichen Erfahrung« liegen Kant zufolge »alle unsere Erkenntnisse, und in der allgemeinen Beziehung auf dieselbe besteht die transzendentale Wahrheit, die vor aller empirischen vorhergeht und sie möglich macht« (KrV B 185). Die transzendentale Wahrheit, »die vor aller empirischen vorhergeht und sie möglich macht«, ist also nicht das Ganze aller möglichen Erfahrung, sondern besteht in der allgemeinen Beziehung auf dieses Ganze. Das »Ganze aller möglichen Erfahrung« kann als solches nicht erfahren werden, und zwar nicht nur, weil es offenkundig kein Gegenstand einer Erfahrung sein kann, sondern vor allem deshalb, weil es überhaupt kein Gegenstand ist, sondern eine Vernunftidee (vgl. § 2 f.). Daher darf das Ganze der Erfahrung am Ende auch nicht im näheren Verständnis der Beziehung, die sich auf das Ganze richtet, vergegenständlicht werden, indem das Ganze von der Beziehung abgelöst und ihr äußerlich entgegengestellt wird. Vielmehr ist das »Ganze der Erfahrung« eine Gestalt jenes Unbedingten, das sich, wie oben gesagt wurde, nur im »Wie« des transzendentalen Vernunftübergangs über die Erfahrung hinaus und nur in ihm philosophisch thematisieren läßt. Die transzendentale Wahrheit, die jede empirische Wahrheit erst möglich macht, beruht also auf der tätigen Erweiterungsleistung der Vernunft, die Kant in einem spezifischen Interesse der Vernunft begründet, das zu allem Bedingten »mit allem Recht« das Unbedingte »fordert« (KrV B XX). In diesem Sinne kann Kant auch sagen: »Das, was zur Möglichkeit eines Vernunftgebrauchs überhaupt erforderlich ist, nämlich daß die Prinzipien und Behauptungen derselben einander nicht widersprechen müssen, macht keinen Teil ihres Interesse aus, sondern isolierten (leeren) Begriff noch in der isolierten (blinden) Anschauung, sondern allein in der Beziehung zwischen ihnen begründet ist.
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ist die Bedingung überhaupt Vernunft zu haben; nur die Erweiterung, nicht die bloße Zusammenstimmung mit sich selbst wird zum Interesse derselben gezählt« (V 120). Die formallogische Konsistenz – »Zusammenstimmung« – der Erkenntnis bildet auch hier die »Möglichkeit eines Vernunftgebrauchs überhaupt«, d. h. die notwendige Bedingung der Vernunfterkenntnis (im weiteren Sinne). Zum spezifischen Interesse der Vernunft ist jedoch allein die Erweiterung zu zählen, die jene transzendentale Grundbeziehung aktiv herstellt, in der nach Kant die transzendentale Wahrheit besteht, und zwar nicht nur in dem oberflächlichen Sinne, daß die Vernunft ein Interesse an der genannten Erweiterung hat, sondern in dem radikalen Sinne, daß das spezifische Interesse der Vernunft nichts anderes als diese Erweiterung selbst ist. Blickt man von hier aus noch einmal zurück auf Kants Doppelkritik des objektivistischen und intellektualistischen Standpunkts, dann läßt sich jetzt feststellen, daß Kants transzendentale Reflexion auf ein spezifisches Interesse der Vernunft den intellektualistischen Standpunkt von innen heraus kritisiert und überschreitet, ohne deshalb einen objektivistischen Standpunkt einnehmen zu müssen. Denn das »Mehr«, das Kant gegenüber der logischen Form des reinen Denkens in Anspruch nimmt, ist dem Denken gegenüber nichts Äußerliches (kein objektivistisch verstandener, passiv gegebener »Gegenstand«), sondern der praktische Tätigkeitscharakter des Denkens selbst, der vom Intellektualismus abgeblendet wird. Der Intellektualismus achtet nämlich allein auf die rein formal begriffene Denktätigkeit, bei der die Frage nach dem zu Grunde liegenden Interesse unterbleibt, nicht aber auf die genuin praktischen Dimensionen der Denktätigkeit, bei der diese Frage nicht umgangen werden kann. Der logische Charakter der Erkenntnis wird also von Kant ganz unzweideutig festgehalten, wenn er auf die Eigentümlichkeiten des menschlichen Vernunftgebrauchs reflektiert, doch wird das intellektualistisch verengte Verständnis des Erkennens immanent überschritten, indem der formale Erkenntnisbegriff um das »Mehr« der praktischen Momente des Vernunftgebrauchs erweitert wird. Dieses »Mehr« wird der Erkenntnis aber nicht äußerlich hinzugefügt, weil die praktischen Momente im konkreten Erkenntnisvollzug immer schon enthalten sind, so daß die transzendentale Reflexion den Intellektualismus kritisch »erweitert«, ohne ihn einfach auf eine »äußerliche« Wirklichkeit hin zu »überspringen«. Vielmehr läßt sich die leitende Absicht des Objektivismus, eine Wirklichkeit »an sich selbst« zu erkennen, nur innerhalb des subjektiven Erkenntnisvollzuges einlösen, der die »Objektivität« also keineswegs subjektivistisch »reduzieren« muß, sondern, wie Kants Transzendentalphilosophie darlegen wird, den systematisch einzig sinnvollen Ausgangspunkt bildet, um das, was der Objektivismus in verkehrter Weise zu verteidigen sucht, als transzendentale Wahrheit angemessen zu begreifen.
3.
interessen der vernunft
§ 12. Erkenntnisinteresse und Handlungsinteresse Kant ist sich durchaus bewußt, daß der Leitgedanke seines »kritischen Weges«, wie er im Vorstehenden zumindest im Ansatz herausgearbeitet wurde, keineswegs einfach zu explizieren und leicht in die angemessenen Begriffe zu fassen ist, so daß Kant immer wieder auf ihn zurück kommt, um die zentralen Begriffe seiner ursprünglichen Einsicht in stets neuen Anläufen zu entfalten. Eine Untersuchung, die den systematischen Gesamtzusammenhang der Kantischen Vernunftkritik verstehen will, wird deshalb ihrerseits Wiederholungen nicht nur nicht vermeiden können, sondern in gewissem Umfang sogar anstreben müssen, da der zu entfaltende Zusammenhang der Transzendentalphilosophie sich offenbar auch von Kant selbst nur in wiederholten Anläufen verdeutlichen läßt. Allerdings sind diese Wiederholungen bei näherer Betrachtung besser als Variationen aufzufassen, durch die Kant die unterschiedlichen Aspekte seines Grundthemas schrittweise entwickelt. Die Deutung wird sie deshalb vor allem als Möglichkeit für die weitere Präzisierung von wichtigen Aspekten des Kantischen Ansatzes zu verstehen haben, um so dem Verständnis des Gesamtzusammenhangs näher zu kommen. Die folgende Passage aus der Kritik der reinen Vernunft ist eine solche Variation des transzendentalen Grundthemas: »Die Vernunft wird durch einen Hang ihrer Natur getrieben, über den Erfahrungsgebrauch hinaus zu gehen, sich in einem reinen Gebrauche und vermittelst bloßer Ideen zu den äußersten Grenzen aller Erkenntnis hinaus zu wagen und nur allererst in der Vollendung ihres Kreises, in einem für sich bestehenden systematischen Ganzen, Ruhe zu finden. Ist nun diese Bestrebung bloß auf ihr spekulatives, oder vielmehr einzig und allein auf ihr praktisches Interesse gegründet?« (KrV B 825) Hier treten zentrale Begriffe der Transzendentalphilosophie, die in der bisherigen Erörterung auch schon behandelt wurden, abermals zu einer Konstellation zusammen. Zugleich wird aber von Kant durch die abschließende Frage ein Aspekt betont, den es noch weiter zu klären gilt: der transzendentale Zusammenhang zwischen der wirklichkeitserschließenden Ausrichtung der Vernunft auf ein »systematisches Ganzes« der Erkenntnis einerseits und den Interessen der Vernunft andererseits, in denen »diese Bestrebung« der Vernunft Kant zufolge »gegründet« sein soll. Zu Beginn der angeführten Passage entwirft Kant erneut eine Stufenfolge der menschlichen Erkenntnis, oder genauer: des menschlichen Vernunftgebrauchs. Die Basis bildet der »Erfahrungsgebrauch« der Vernunft (im weiteren Sinne), der
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von Kant an anderer Stelle als das »Wie« der Verstandeserkenntnis bestimmt wurde, wenn sie »Erscheinungen nach synthetischer Einheit« buchstabiert, »um sie als Erfahrung lesen zu können« (vgl. § 7). Über diesen Erfahrungsgebrauch strebt jedoch die Vernunft (im engeren Sinne) hinaus, um – getrieben »von einem Hang ihrer Natur« – zu einem »reinen« Vernunftgebrauch überzugehen, der von Kant deshalb »rein« genannt wird, weil er sich nicht an der empirischen Erfahrung, sondern an Ideen orientiert, denen kein Gegenstand der Erfahrung »kongruieren« kann. Freilich ist solch ein »Hinausgehen« über den Erfahrungsgebrauch immer ein »Wagnis« für die Vernunft, so daß sie sich nicht sicher sein kann, ob ihre »Bestrebung« das gesuchte Ziel erreichen wird. Diese Inkongruenz zwischen dem »Erfahrungsgebrauch« und dem Vernunftbegriff im engeren Sinne drückt Kant durch die Feststellung aus, daß der »Erfahrungsgebrauch, auf welchen die Vernunft den reinen Verstand einschränkt«, nicht »ihre eigene ganze Bestimmung« erfüllt (IV 328).54 Aufschlußreich ist nun die nähere Begründung, die hierfür gegeben wird. »Jede einzelne Erfahrung« ist nämlich Kant zufolge »nur ein Teil von der ganzen Sphäre ihres Gebietes, das absolute Ganze aller möglichen Erfahrung ist aber selbst keine Erfahrung und dennoch ein notwendiges Problem für die Vernunft, zu dessen bloßer Vorstellung sie ganz anderer Begriffe nötig hat, als jener reinen Verstandesbegriffe« (ebd.). Jede Einzelerfahrung (Verstandeserkenntnis) weist also selbst über sich hinaus auf das nicht erfahrbare Ganze der Erfahrung, in dem sie ihren systematischen Ort hat. In dieser ursprünglichen Bezugnahme auf das Ganze der Erfahrung besteht aber, wie bereits ausgeführt wurde, die transzendentale Wahrheit, welche die empirische Wahrheitsfähigkeit von Verstandeserkenntnissen – ihre faktische Wahrheit oder Unwahrheit – überhaupt erst begründet. Für die philosophische Thematisierung der transzendentalen Wahrheit sind daher »ganz andere Begriffe nötig« als die Verstandesbegriffe, die den stets bedingten Erfahrungsgebrauch möglich machen, aber gerade deshalb das unbedingte oder »absolute« Ganze der Erfahrung verfehlen müssen. Es ist nun sehr genau darauf zu achten, daß Kant das »Ganze aller möglichen Erfahrung« als notwendiges Problem, und zwar als notwendiges Problem für die Vernunft (im engeren Sinne) kennzeichnet. Denn dadurch macht er zum einen erneut das Zwischensein oder die Übergangsbewegung der transzendentalen Vernunft deutlich, da die Erkenntnis eines Problems so wenig das Vorhandensein seiner Lösung garantiert wie das Stellen einer Frage ihre Beantwortung. Gleichwohl hat ein Problem seine eigene Realität, auch wenn seine Lösung noch aussteht, eine Realität, die sich sogar besonders dringlich bemerkbar macht, solange die Lösung noch nicht gefunden ist. Zum anderen gewinnt Kant aber, und das 54
Diese Feststellung Kants ist schon in der Einleitung (§ 4) angeführt worden.
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wird für den weiteren Verlauf der Untersuchung richtungsweisend sein, aus dem Bezug zum problematischen Ganzen der Erfahrung eine sehr präzise Begriffsbestimmung für das spezifische Interesse der Vernunft im expliziten Unterschied zu einem »Interesse« oder einem »Bedürfnis« im üblichen, nicht auf die Vernunft bezogenen Sinne. Kant stellt nämlich fest: »Ohne solche vorausgehende notwendige Probleme gibt es keine Bedürfnisse, wenigstens nicht der reinen Vernunft; die übrigen sind Bedürfnisse der Neigung« (V 142 Anm.). Das Bedürfnis der Vernunft ist daher genau dann ein Bedürfnis der Vernunft, wenn es aus einem notwendigen Problem der Vernunft entspringt, das ihr durch die Endlichkeit, d. h. durch die stets nur bedingte Gewißheit menschlicher Erfahrung aufgegeben wird. Hält man diese für Kants Transzendentalphilosophie und die hier verfolgte Deutungsperspektive grundlegende Unterscheidung zwischen Vernunftbedürfnis (Interesse) und Naturbedürfnis (Neigung) fest, dann läßt sich sagen, daß die transzendentale Vernunft bei Kant vor allem durch ein eigenes, für sie spezifisches Interesse ausgezeichnet ist, das einen wirklichkeitserschließenden Bezug zum problematischen Ganzen der Erfahrung bildet und so den Horizont einer transzendentalen Wahrheit eröffnet, die dann die empirische Wahrheit empirischer Einzelerkenntnisse möglich macht. Wie grundlegend die Unterscheidung von Naturbedürfnis (Neigung) und Vernunftbedürfnis (Interesse) für den Gesamtzusammenhang der Transzendentalphilosophie ist, zeigt sich daran, daß Kant diese Unterscheidung auch ins systematische Zentrum seiner Philosophie der praktischen Vernunft und damit ins Zentrum seiner transzendentalen Handlungstheorie stellt. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Kants erstem Werk zur transzendentalen Handlungstheorie, werden »Neigung« und »Interesse« folgendermaßen unterschieden: »Die Abhängigkeit des Begehrungsvermögens von Empfindungen heißt Neigung, und diese beweiset also jederzeit ein Bedürfnis. Die Abhängigkeit eines zufällig bestimmbaren Willens aber von Prinzipien der Vernunft heißt ein Interesse. Dieses findet also nur bei einem abhängigen Willen statt, der nicht von selbst jederzeit der Vernunft gemäß ist; beim göttlichen Willen kann man sich kein Interesse gedenken« (IV 413 Anm.). Hier umschreibt Kant auf höchst subtile Weise erneut den zentralen Gedanken seines transzendentalen Ansatzes, nur daß er ihn nun für Handlungen und nicht für Erkenntnisse formuliert. Das bislang Erörterte wird insofern hilfreich sein, um den entscheidenden Punkt des Gedankens herauszuarbeiten. Dabei sei von vornherein betont, daß es weder bei Kant noch in der vorliegenden Untersuchung darum gehen kann, »Handlungen« und »Erkenntnisse« einfach unmittelbar miteinander zu identifizieren. Aber gerade vor dem Hintergrund einer un-
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zweideutig festgehaltenen Differenz von »Praxis« und »Theorie« gewinnen die subtilen Verwandtschaften und Vergleichbarkeiten, die Kant zwischen dem menschlichen Handeln und Erkennen aufdeckt, ihre eigentliche Bedeutung für eine umfassende Philosophie der menschlichen Wirklichkeit. Der erste Satz der angeführten Passage bestimmt eine »Abhängigkeit«, und zwar die des »Begehrungsvermögens« von »Empfindungen«. Das Begehrungsvermögen bildet in dieser Bezugnahme die aktive, spontane Seite, die Empfindungen sind hingegen das, was dem Begehren »gegeben« ist und worauf es sich nicht nur beziehen kann, sondern beziehen muß (dies »Müssen« macht gerade die Abhängigkeit aus). Dabei ist die Abhängigkeit des Begehrungsvermögens von Empfindungen nicht so zu verstehen, daß es die »gegebenen« Empfindungen selbst begehren müßte, denn das würde der Spontaneität des Begehrens widerstreiten. Aber alles, was das Begehrungsvermögen spontan begehrt, kann es nur aufgrund empfundener »Data«, in Abhängigkeit von ihnen begehren. Das spezifische »Wie« dieser abhängigen Spontaneität eines begehrenden BezugnehmenMüssens auf Empfindungen nennt Kant Neigung. Die »Neigung« ist dabei – als Form der Bezugnahme – offenkundig selbst keine bestimmte Empfindung oder ein bestimmtes Begehren. Vielmehr erschließt die »Neigung« überhaupt erst das Ganze einer Wirklichkeit, in der einzelne »Bedürfnisse«, d. h. ein bestimmtes Begehren aufgrund bestimmter Empfindungen möglich sind. Die Neigung bildet also den transzendentalen Horizont einer Wirklichkeit, in der dann Bedürfnisse ihre Erfüllung finden können oder nicht. Der zweite Satz bestimmt ebenfalls eine »Abhängigkeit«, und zwar die »eines zufällig bestimmbaren Willens« von »Prinzipien der Vernunft«. In dieser Bezugnahme bildet also der »Wille« die aktive, spontane Seite, die Prinzipien der Vernunft sind hingegen das, was dem Willen »gegeben« ist und worauf er sich nicht nur beziehen kann, sondern beziehen muß.55 Dabei ist die Abhängigkeit des Willens von Prinzipien der Vernunft auch hier nicht so zu verstehen, daß der Wille die Vernunftprinzipien selbst wollen müßte. Aber alles, was er spontan will, kann er nur aufgrund der »gegebenen« Prinzipien, in Abhängigkeit von ihnen wollen. Das spezifische »Wie« dieser abhängigen Spontaneität eines wollenden Bezugnehmen-Müssens auf Vernunftprinzipien nennt Kant Interesse. Das »Interesse« ist dabei – als Form der Bezugnahme – offenkundig selbst kein bestimmtes Vernunftprinzip oder ein bestimmtes Wollen. Vielmehr erschließt das »Interesse« überhaupt erst das Ganze einer Wirklichkeit, in der einzelne Handlungen, d. h. ein bestimmtes Wollen aufgrund bestimmter Vernunftprinzipien möglich sind. 55
Die »Abhängigkeit« des (menschlichen) Willens von »gegebenen« Prinzipien der (praktischen) Vernunft hat besonders nachdrücklich, wenn auch allzu einseitig Gerhard Krüger betont: Philosophie und Moral in der Kantischen Kritik (21967).
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Das Interesse bildet also den transzendentalen Horizont einer praktischen Wirklichkeit, in der dann Handlungen ihren Zweck erreichen können oder nicht. Um die wirklich bemerkenswerte Parallele ganz deutlich vor Augen zu stellen, sei hier noch einmal an eine zentrale Bestimmung der empirischen Verstandeserkenntnis erinnert. Für Kant »beziehen« sich alle Begriffe und Grundsätze des Verstandes, »so sehr sie auch a priori möglich sein mögen, dennoch auf empirische Anschauungen, d. i. auf Data zur möglichen Erfahrung«. Damit ist aber ebenfalls eine grundlegende Abhängigkeit (Endlichkeit) des Verstandes festgehalten: eine Bezugnahme, in der der Verstand die aktive, spontane Seite bildet, die Anschauungen hingegen das sind, was dem Verstand »gegeben« ist und worauf er sich nicht nur beziehen kann, sondern beziehen muß.56 Dabei ist die Abhängigkeit des Verstandes von Anschauungen abermals nicht so zu verstehen, daß der Verstand die Anschauungen selbst für »Erkenntnisse« nehmen müßte. Aber alles, was er spontan erkennt, kann er nur aufgrund der »gegebenen« Anschauungen (»Data«), in Abhängigkeit von ihnen erkennen. Das spezifische »Wie« dieser abhängigen Spontaneität eines erkennenden Bezugnehmen-Müssens auf Anschauungen wäre in systematischer Parallele zum Vorangehenden ein »Erkenntnisinteresse« zu nennen. Das Erkenntnisinteresse des Verstandes ist dabei – als Form der Bezugnahme – offenkundig selbst keine bestimmte Anschauung oder ein bestimmter Verstandesbegriff. Vielmehr erschließt das Erkenntnisinteresse überhaupt erst das Ganze einer Wirklichkeit, in der einzelne Erkenntnisse, d. h. die urteilende Verbindung eines bestimmten Begriffs mit einer bestimmten Anschauung, möglich sind. Das Erkenntnisinteresse bildet also den transzendentalen Horizont einer empirischen Wirklichkeit, in der dann empirische Erkenntnisse wahr sein können oder nicht. Die systematische Verwandtschaft des menschlichen Handelns und Erkennens, die auf eine gemeinsame transzendentale Grundstruktur hinweist, wird von Kant gleichsam »besiegelt« durch eine jeweils genau entsprechende Abgrenzung gegenüber einem »göttlichen« Handeln und Erkennen. Im Falle der Verstandeserkenntnis hatte Kant gesagt: »Ein Verstand, in welchem durch das Selbstbewußtsein zugleich alles Mannigfaltige gegeben würde, würde anschauen; der unsere kann nur denken und muß in den Sinnen die Anschauung suchen« (vgl. § 11). In diesem für Gott undenkbaren »Suchen-Müssen« konstituiert sich für den Verstand die transzendentale Wahrheit, welche die empirische Differenz von Wahrheit und Unwahrheit für das stets endliche Erkennen des Menschen überhaupt erst möglich macht. Ganz entsprechend hält jetzt Kant in der angeführten Pas56 Die Parallele geht hier sogar so weit, daß Kant jedesmal die aktive Seite im Singular (Begehrungsvermögen, Wille, Verstand) nennt, die passiv »gegebene« Seite hingegen im Plural (Empfindungen, Prinzipien, Anschauungen).
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sage fest, daß ein (praktisches) Interesse »nur bei einem abhängigen Willen« stattfindet, »der nicht von selbst jederzeit der Vernunft gemäß ist; beim göttlichen Willen kann man sich kein Interesse gedenken«. Das heißt aber: in dem für Gott undenkbaren »Gemäßsein-Müssen« gegenüber dem Vernunftprinzip konstituiert sich für einen abhängigen Willen die transzendentale Wirklichkeit, welche die Differenz von gut und böse (oder schlecht) für das stets endliche Handeln des Menschen überhaupt erst möglich macht. Damit zeichnen sich die ersten, freilich noch undeutlichen Umrisse eines systematischen Gesamtzusammenhangs der Kantischen Philosophie ab, der sich an der transzendentalen Struktur einer abhängigen Spontaneität und ihrer jeweils unterschiedlichen Ausprägung im endlichen Erkennen und Handeln des Menschen orientiert. Die systematische Vermittlung des menschlichen Erkennens und Handelns durch eine theoretisch-praktische Grundstruktur zeigt sich besonders deutlich daran, daß Kant wesentliche Aspekte des Erkennens und Handelns gleichermaßen am Leitfaden eines sehr spezifisch gefaßten Interessenbegriffs explizieren kann. Dabei scheint freilich die eigentliche Basis für Kants Überlegungen in der praktischen Vernunft zu liegen, da der »Wille«, dem in der oben angeführten Passage ein spezifisches »Interesse« zugeschrieben wird, für Kant »nichts anderes als praktische Vernunft« ist (IV 412). Ist also in diesem Sinne auch die zu Beginn des Paragraphen zitierte Frage Kants zu beantworten, ob die »Bestrebung« der Vernunft »auf ihr spekulatives, oder vielmehr einzig und allein auf ihr praktisches Interesse gegründet« ist? Ist das spekulative Vernunftinteresse, das die empirische Verstandeserkenntnis regulativ anleitet und zugleich über den »Erfahrungsgebrauch« der Vernunft hinaus drängt, in sich selbst zweideutig, weil es im »Erkennen« bereits am praktischen Vernunftinteresse des »Handelns« partizipiert, ohne sich eine solche Vermittlung und ihre Konsequenzen deutlich zu machen? Diese Fragen können hier noch nicht beantwortet werden. Denn die angeführte Strukturverwandtschaft zwischen »Bedürfnis«, »Handlung« und »Erkenntnis« gibt zwar, das ist schon jetzt absehbar, einen entscheidenden Hinweis für das angemessene Verständnis des systematischen Gesamtzusammenhangs der Kantischen Philosophie. Doch die angeführten Parallelen lassen auch – gerade in ihrer bewußt schematisierten Form – erkennen, daß das bislang erarbeitete Reflexionsniveau und die bisher geleistete Begriffsklärung bei weitem noch nicht ausreichen, um den anvisierten Gedanken wirklich durchzuführen und zu begründen. Die verwendeten Begriffe und die angeführten Thesen sind noch viel zu vage und werfen mehr Fragen auf als sie beantworten. Wie ist etwa das genauere Verhältnis von »Bedürfnis« und »Interesse« (der Handlung) zu bestimmen? Gibt es auch eine Beziehung des »Erkenntnisinteresses« zum »Bedürfnis«? Vor allem aber: wie viele transzendentale »Interessen« gibt es eigentlich, welche von ihnen sind wirk-
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lich grundlegend und welche nur abgeleitet? Und schließlich: wie ist die Differenz und zugleich die Einheit der verschiedenen »Grundinteressen« zu bestimmen? Auch diese Fragen können hier noch nicht beantwortet werden. Sie werden jedoch von nun an ständig im Hintergrund der weiteren Untersuchung stehen und ihren Verlauf wesentlich mitbestimmen. Der Versuch, auf sie eine begründete Antwort zu geben, kann aber erst am Ende der Untersuchung stehen. Denn auch Kant selbst ist sich – wie noch zu sehen sein wird – zunächst durchaus nicht immer sicher, wie er die aufgeworfenen Fragen zu beantworten hat. Vielmehr macht sich in diesem Zusammenhang erneut der bereits angesprochene Umstand bemerkbar, daß mit dem »Interesse der Vernunft« und den mit ihm zusammenhängenden Begriffen zwar von Kant die systematische Grundschicht seiner Transzendentalphilosophie angesprochen wird, die den anderen transzendentalen Leitbegriffen überhaupt erst ihre spezifische Bedeutung verleiht, daß die Grundschicht selbst sich aber genau deshalb für Kant lange Zeit einer eigenen Reflexion und einer klaren begrifflichen Fassung entzieht. Die Entwicklung der Kantischen Philosophie durch die transzendentalen Hauptwerke hindurch stellt deshalb keinen bloßen Wechsel des »Gegenstandes« (reine Vernunft, praktische Vernunft, Urteilskraft) dar, sondern eine mehrfache selbstkritische Revision Kants im Verständnis des eigenen Ansatzes. Die genannte Schwierigkeit kann auch so ausgedrückt werden, daß die systematische Grundstruktur der Transzendentalphilosophie für Kant nur äußerst mühsam terminologisch zu »fixieren« ist, da sie das Neue oder »Revolutionäre« seiner Philosophie darstellt, also das, was mit den »alten« Begriffe der »bisherigen« Metaphysik nicht zureichend begriffen werden kann. Deshalb ist bei Kant zuweilen ein geradezu experimenteller Umgang mit den Begriffen zu beobachten, um »alte« Begriffe (z. B. »Metaphysik«) in ihrer Bedeutung so zu verändern oder Begriffe der Alltagssprache (z. B. »Interesse«) so zu präzisieren, daß sie das Neue seiner ursprünglichen Einsicht angemessen und präzise umschreiben können. Gerade die wichtigsten Begriffe müssen daher – isoliert betrachtet – »unscharf« und für ein traditionell eingestelltes Denken »verwirrend« bleiben, so daß allein die für Kant spezifische Konstellation der (neuen) Begriffe ein sicheres Verständnis ermöglicht, da sich in ihr die Begriffe gegenseitig bestimmen und präzisieren. Einer Kant-Deutung entsteht dadurch die doppelte Aufgabe, dem transzendentalen »Experiment«, die menschliche Vernunft von der »Praxis« her am Leitfaden ihres »Interesses« neu zu bestimmen, mit aller Aufmerksamkeit zu folgen, und zugleich stets kritisch zu prüfen, inwiefern Kants »praktische« Begriffe tatsächlich leisten, was sie in systematischer Hinsicht zu leisten haben. Die beschriebene Doppelaufgabe läßt sich gut anhand einer bemerkenswerten Feststellung Kants aus der Jäsche-Logik veranschaulichen. Dort heißt es lapidar: »Alles läuft zuletzt auf das Praktische hinaus« (IX 86). Die eigentümliche
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Schwierigkeit, auf die man angesichts dieses Satzes aufmerksam werden kann, besteht nämlich darin, daß seine grundsätzliche Aussage, die sich auf »alles« bezieht, nur dann wirklich sinnvoll und erhellend sein kann, wenn der Begriff des »Praktischen« in einem neuen, erweiterten und in sich differenzierten Sinne verstanden wird. Denn für das übliche Verständnis der Rede vom »Praktischen« ist es – wie immer auch der Begriff des näheren bestimmt sein mag – wesentlich, daß das »Praktische« gerade nicht »alles«, sondern etwas im Unterschied zu anderem, in der Regel zum »Theoretischen« meint. Würde nun diese Auffassung unverändert bestehen bleiben, dann bekäme der zitierte Satz unvermeidlich einen reduktionistischen Sinn, der einfach »alles« (also auch das, was üblicherweise nicht »praktisch« verstanden wird) auf das unverändert enge Verständnis des »Praktischen« reduziert, das in der gängigen Verwendungsweise des Begriffs impliziert ist. Statt dessen verweist der zitierte Satz jedoch auf die genau entgegengesetzte Absicht Kants, die menschlichen Erkenntnisweisen, die insbesondere bei Kant sehr sorgfältig unterschieden werden, durch den einheitlichen und grundlegenden Bezug aufs »Praktische« gerade in ihrer unverkürzten Eigenart zu verdeutlichen und besser verständlich zu machen. Darauf deutet schon das »zuletzt« in dem Satz: die Feststellung, daß alles zuletzt auf das Praktische hinausläuft, meint gerade nicht, daß alles unmittelbar mit dem Praktischen zu identifizieren und dergestalt auf es zu reduzieren ist. Zuletzt ist für das präzise Verständnis einer Differenz nämlich nicht nur die Bestimmung der Unterschiede, sondern ebenso die Bestimmung der Einheit wichtig, in der sich die Unterschiede überhaupt ausprägen können. Deshalb wird Kant die Leitidee seiner Transzendentalphilosophie immer wieder mit Begriffen zu verdeutlichen suchen, die zwar eine »praktische« Grundbedeutung haben, die aber von Kant in einer neuen, erweiterten und in sich differenzierten Weise verwendet werden, um die Einheit und die Differenz der verschiedenen menschlichen Erkenntnisweisen präzise auf den Begriff bringen zu können. Dieses ambitionierte und umfassende Projekt einer transzendentalen Vernunftkritik wird in den folgenden Paragraphen durch die Betrachtung weiterer »Variationen« verdeutlicht werden, in denen Kant sein Grundthema entwickelt und dergestalt immer wieder neue Aspekte des Themas zur Sprache bringt. Dabei gilt die Aufmerksamkeit zunächst dem eigentümlich »experimentellen« Umgang mit Begriffen, wie er exemplarisch in Kants Verwendung des Begriffs »Horizont« erkennbar wird (§ 13). Im Anschluß daran sollen die Schwierigkeiten, auf die Kant zu Beginn seiner Ausarbeitung des transzendentalen Ansatzes stößt, präzisiert werden (§ 14), um von hier aus einen Überblick über die Entwicklung des transzendentalphilosophischen Ansatzes zu gewinnen, der die weitere Untersuchung leiten wird (§ 15).
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§ 13. Horizonte des Menschen Das »absolute Ganze aller möglichen Erfahrung«, von dem jede Einzelerfahrung »nur ein Teil« ist, kann selbst keine Erfahrung sein, so daß es ein spezifisches »Problem für die Vernunft« darstellt. Denn zur »Vorstellung« eines absoluten Ganzen sind »ganz andere Begriffe nötig« als für die stets bedingten Einzelerfahrungen der empirischen Verstandeserkenntnis. Den reinen Begriffen des Verstandes, den Kategorien, stellt Kant deshalb die reinen Begriffe der Vernunft (im engeren Sinne) gegenüber: die Ideen, die, so läßt sich jetzt sagen, »Vorstellungen« eines absoluten Ganzen der Erfahrung sind. Da sich aber »Teil« und »Ganzes« wie »Bedingtes« und »Unbedingtes« zueinander verhalten, ist die Idee des Unbedingten gleichsam die Idee der Ideen. Das »Unbedingte« ist somit für die Transzendentalphilosophie dasjenige, »um das es doch eigentlich zu tun ist«, weshalb »das Unbedingte« von Kant auch »als die eigentliche transzendentale Idee« bezeichnet wird, »worauf es ankommt« (vgl. § 2). Eine Variation dieses transzendentalen Leitmotivs und zugleich ein besonders eindrucksvolles Beispiel für Kants »experimentelle« Terminologie findet sich gegen Ende der Kritik der reinen Vernunft: »Der Inbegriff aller möglichen Gegenstände für unsere Erkenntnis scheint uns eine ebene Fläche zu sein, die ihren scheinbaren Horizont hat, nämlich das, was den ganzen Umfang derselben befaßt, und ist von uns der Vernunftbegriff der unbedingten Totalität genannt worden. Empirisch denselben zu erreichen, ist unmöglich, und nach einem gewissen Prinzip ihn a priori zu bestimmen, dazu sind alle Versuche vergeblich gewesen. Indessen gehen doch alle Fragen unserer reinen Vernunft auf das, was außerhalb diesem Horizonte, oder allenfalls auch in seiner Grenzlinie liegen möge« (KrV B 787 f.). Das absolute Ganze aller möglichen Erfahrung tritt hier als »Inbegriff aller möglichen Gegenstände für unsere Erkenntnis« auf und wird von Kant mit einem Horizont verglichen. Ihm gleicht der »Vernunftbegriff der unbedingten Totalität«, weil der Horizont eine »Fläche« umschließt und dergestalt zu einem Ganzen macht. Den Horizont (der empirischen Einzelerkenntnisse) kann man freilich weder »empirisch« erreichen, noch nach einem gewissen (spekulativen) Prinzip »a priori« bestimmen. Gleichwohl gehen »alle Fragen« unserer Vernunft auf das, »was außerhalb diesem Horizonte, oder allenfalls auch in seiner Grenzlinie liegen« mag. Die zuletzt angesprochene Alternative löst Kant, wie es seine Formulierung bereits nahe legt, zugunsten der zweiten Möglichkeit auf: die Fragen der transzendentalen Vernunft richten sich auf die Grenzlinie jenes »Horizontes«, der das Ganze der möglichen Erfahrung umschließt. Dies wird auch durch die im vorigen Paragraphen angeführte Passage außer Zweifel gestellt, in der sich die Ver-
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nunft vermittels ihrer »Ideen« über den »Erfahrungsgebrauch« hinaus »zu den äußersten Grenzen aller Erkenntnis« wagte, um erst in einem systematischen Ganzen, d. h. »in der Vollendung ihres Kreises« Ruhe zu finden. Die hier ebenfalls an der Horizontvorstellung orientierte räumliche Metaphorik konnte freilich in der früheren Passage leicht verborgen bleiben; sie wird nun aber im Rückblick unmittelbar deutlich. Kants Vernunftbegriff eines »systematischen Ganzen der Erfahrung« gewinnt somit durch die noch auszulotenden Eigentümlichkeiten, die in der Horizontvorstellung verborgen liegen, sein spezifisches Profil, das es möglichst präzise zu bestimmen gilt. Über die unmittelbar anschauliche Dimension der räumlichen Horizontvorstellung hinaus ist zudem die neuzeitliche Geschichte des Begriffs »Horizont« für Kants spezifische Verwendungsweise von Bedeutung, auch wenn Kant den Begriff nicht einfach unverändert aus der ihm bekannten philosophischen Diskussion übernehmen kann, sondern ihn im Rahmen des transzendentalen Ansatzes von Grund auf neu bestimmen muß. Die philosophische Verwendung des Begriffs »Horizont« beginnt in der Neuzeit mit Leibniz, der den Begriff unabhängig von der langen Tradition gebraucht, die der Begriff in der Spätantike und im Mittelalter besaß.57 Bei Leibniz steht die erkenntnistheoretische Frage im Vordergrund, die Zahl der für den Menschen möglichen wahren oder falschen Sätze zu bestimmen. Der »Horizont« umfaßt hier das Ganze, das dem Menschen als Menschen erkennbar ist. Für Baumgarten wird der Begriff dann wichtig im Rahmen der von ihm entwickelten »Aesthetica«, da der »Horizont« nun zur Unterscheidung verschiedener Erkenntnisarten, vor allem der »logischen« und »ästhetischen« Erkenntnisweise dient. Der »Horizont« teilt sich hier in »horizon logicus« und »horizon aestheticus«, neben die gelegentlich auch noch ein »horizon morum« tritt. Baumgartens Schüler Georg Friedrich Meier übernimmt den Begriff in seiner »Vernunftlehre«, gibt ihm aber eine neue Bedeutung, indem er nun das für den Einzelnen lebenspraktisch sinnvolle Maß an Wissen bezeichnet. Die Frage nach dem »Horizont« thematisiert hier den jeweiligen Wissensumfang, der einem gebildeten Weltbürger in den einzelnen Wissensgebieten noch angemessen ist, ohne daß er zum pedantischen Fachgelehrten wird. Kant übernimmt nun den Ausdruck »Horizont« unmittelbar von Meier, dessen Texte er bei seinen Logik-Vorlesungen als Kompendium benutzte. Kant hat während seiner langen Lehrtätigkeit in 32 Semestern nachweisbar über Logik gelesen, während für weitere 24 Semester lediglich die Absicht anhand entsprechender Vorlesungsankündigungen dokumentiert ist.58 Zu Beginn seiner Lehr57
Vgl. zu Antike, Spätantike und Mittelalter: Hinske 1974; für die Neuzeit: Engfer 1974. Der folgende Überblick orientiert sich an dem Artikel von Hans-Jürgen Engfer. 58 Vgl. Conrad 1994, S. 66. Auf die Bedeutung der Logikvorlesungen Kants für das Ver-
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tätigkeit legt Kant seinen Logik-Vorlesungen noch Meiers ausführliche »Vernunftlehre« zugrunde, ab dem Sommersemester 1757 dann durchgängig Meiers »Auszüge aus der Vernunftlehre«. Kants Verwendung des Horizontbegriffs in den Logik-Vorlesungen wird also bis zu einem gewissen Grade der »Vorlage« Meiers folgen. Die für den transzendentalen Neuansatz spezifischen Bedeutungsmomente wird der Begriff allerdings erst dadurch gewinnen, daß er in Konstellation zu Kants Leitbegriffen der Transzendentalphilosophie tritt. In den Logik-Vorlesungen versteht Kant die »Bestimmung des Horizonts unsrer Erkenntnisse« als eine »Überlegung«, die sich auf »die Angemessenheit der Größe der gesamten Erkenntnisse mit den Fähigkeiten und Zwecken des Subjekts« bezieht (IX 40). In diesem Sinne läßt sich Kant zufolge der »Horizont« des näheren in dreierlei Hinsicht bestimmen: erstens »logisch, nach dem Vermögen oder den Erkenntniskräften in Beziehung auf das Interesse des Verstandes«; zweitens »ästhetisch« in Beziehung »auf das Interesse des Gefühls«; drittens »praktisch« in Beziehung »auf das Interesse des Willens«. Bei der letzten Hinsicht fügt Kant noch hinzu: »Der praktische Horizont, sofern er bestimmt wird nach dem Einflusse, den ein Erkenntnis auf unsre Sittlichkeit hat«, ist »von der größten Wichtigkeit«. Alle drei Hinsichten faßt Kant am Ende noch einmal folgendermaßen zusammen: »Der Horizont betrifft also die Beurteilung und Bestimmung dessen, was der Mensch wissen kann, was er wissen darf, und was er wissen soll« (IX 40 f.). Begriffsgeschichtlich läßt sich Kants Verbindung des Horizonts mit den »Fähigkeiten und Zwecke des Subjekts« auf Meier zurückführen, während die dreifache Unterteilung in einen logischen, ästhetischen und praktischen Horizont an Baumgarten erinnert. Ohne direktes Vorbild und damit für Kants Denken besonders kennzeichnend ist hingegen die direkte Verknüpfung der verschiedenen Horizonte mit unterschiedlichen Interessen.59 Diese systematische Verknüpfung der beiden Begriffe benutzt nun Kant im Rahmen seiner neuen transzendentalen Terminologie, um durch bestimmte Bedeutungsmomente des Horizontbegriffs die spezifische Form der Wirklichkeitserschließung zu veranschaulichen, die er den transzendentalen »Interessen« zuschreibt. Es ist also zu erwarten, daß die grundlegende transzendentale Beziehung, die zwischen dem unbedingten Ganzen einer Wirklichkeit einerseits und dem wirklichkeitserschließenden Vernunftinter-
ständnis der Kritik der reinen Vernunft ist in letzter Zeit häufiger hingewiesen worden: Pinder 1987, S. 90; Conrad 1994, S. 5; Hinske 1998b. 59 Für Meier gehört der Begriff »Horizont« zur Lehre von den sechs Vollkommenheiten der Erkenntnis (Weitläufigkeit, Größe und Wichtigkeit, Wahrheit, Klarheit, Gewißheit, Praxisnähe), und zwar zur ersten Vollkommenheit, der »Weitläufigkeit«. Dabei wird »›Horizont‹ als eine Art innerhalb der Gattung ›Weitläufigkeit‹ verstanden« (Pozzo 2000, S. 201).
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esse andererseits besteht, durch eine nähere Betrachtung des Horizontbegriffes bei Kant weiter präzisiert werden kann. Die Horizontvorstellung variiert gleich in mehrfacher Hinsicht die bisherige Bestimmung der transzendentalen Wirklichkeitserschließung. Denn ein Horizont kann, wie man sagt, eigens eröffnet werden, so daß etwas innerhalb des eröffneten Horizonts »sichtbar« wird. Die Eröffnung eines Horizontes geht also als allgemeine Ermöglichung von Erfahrung jeder Einzelerfahrung voran, die dann innerhalb des einmal eröffneten Raumes der Möglichkeiten gemacht werden kann oder nicht. Hier zeigt sich also in der Tat eine Vergleichbarkeit mit Kants zentralem Lehrstück von der transzendentalen Wahrheit, deren grundlegende Wirklichkeitserschließung einen – wie man jetzt in Anlehnung an Kant sagen kann – transzendentalen »Horizont« eröffnet, der jeder empirischen Wahrheit oder Unwahrheit »vorhergeht und sie möglich macht«. Das für die Transzendentalphilosophie entscheidende Bedeutungsmoment der Horizontvorstellung liegt jedoch darin, daß ein Horizont eine absolute Totalität von Möglichkeiten eröffnet und dabei selbst begrenzt ist, weshalb Kant ihn auch direkt als »Grenzlinie« anspricht. Damit ist aber ein anschauliche Annäherung an den schwierigen transzendentalphilosophischen Grundgedanken gefunden, daß die menschliche Erkenntnis durch eine ursprüngliche transzendentale Wirklichkeitserschließung auf eine Wirklichkeit bezogen und dadurch zugleich auf ein bestimmtes »Wie« der Erkenntnis eingeschränkt wird. Die Wirklichkeitserschließung vermöge eines transzendentalen Interesses eröffnet und begrenzt dergestalt das Ganze möglicher Erfahrungen. Beides gehört untrennbar zusammen. Menschliche Erkenntnis ist im Unterschied zum reinen Denken nur in einem transzendentalen Horizont möglich, der die reale Möglichkeit des Erkennens eröffnet, indem er das Erkennen zugleich auf ein bestimmte Art des Erkennens festlegt. Die räumliche Vorstellung eines »Horizontes« veranschaulicht daher die ursprüngliche Einsicht Kants, daß das absolute Ganze der menschlichen Erfahrung nur eine begrenzte Totalität sein kann, weil es stets als Korrelat zu einer abhängigen Spontaneität des Menschen erschlossen wird. Die unbedingte Idee eines absoluten Ganzen der Erkenntnis, auf die jede Einzelerkenntnis transzendental Bezug nimmt, ist für den Menschen deshalb immer eine endliche Absolutheit oder eine bestimmte Form des Unbedingten. Diese für den »Horizont« konstitutive Begrenztheit macht es aber möglich, von verschiedenen Horizonten zu sprechen, da die Beschränkung eines Horizontes gleichsam »Raum läßt« für andere Horizonte. So spricht Kant von einem logischen, ästhetischen und praktischen Horizont. Allerdings wird an dieser Stelle auch der wesentliche Unterschied zwischen dem optischen Horizont im Raum und dem transzendentalen »Horizont« deutlich, der ganz klar herausgestellt werden muß, damit die anschauliche Vorstellung des räumlichen Horizontes
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nicht von vornherein die keineswegs schon beantworteten systematischen Fragen verdeckt, die von dem im Kern unanschaulichen Gedanken eines transzendentalen »Horizontes« aufgeworfen werden. Denn eine Mehrzahl von Horizonten im Raum ist insofern eine »einfache« Vorstellung, als alle Horizonte ihren »Platz« in dem einen Raum finden, der sie insgesamt umschließt. Der Raum selbst ist jedoch kein optischer Horizont, da er für den Blick nicht begrenzt ist. Demgegenüber ist der transzendentale »Horizont« der ursprünglichen Wirklichkeitserschließung eher dem Raum (und nicht den optischen Horizonten) vergleichbar, weil er selbst eine »umfassende« Wirklichkeit ursprünglich erschließt und deshalb nicht einfach »in« einer umfassenderen Wirklichkeit lokalisierbar ist.60 Daher ist das Spezifische der transzendentalen Wirklichkeitserschließung am Ende nicht in räumlichen Begriffen zu fassen, auch wenn das Denken auf derartige Hilfsvorstellungen angewiesen bleibt. Einem weiteren Mißverständnis, das von der Suggestionskraft des räumlichen Beispiels erzeugt werden kann, ist gleichfalls vorzubeugen. Der optische Horizont im Raum ist nämlich stets auf einen einzelnen, individuellen Standpunkt bezogen, mit dem er, wie man sagt, bei der Bewegung im Raum »wandert«. Es ist stets mein Standpunkt, der meinen individuellen Horizont definiert. Optische Horizonte sind daher notwendigerweise individuelle Horizonte. Diese Eigenschaft läßt sich nun leicht auf andere »Horizonte« übertragen. Kant spricht hier sehr präzise vom »Privat-Horizont«, dessen konkrete Bestimmung offenkundig »von mancherlei empirischen und speziellen Rücksichten, z. B. des Alters, des Geschlechts, Standes, der Lebensart u. dgl. m.« abhängen wird. Für Kant hat deshalb »jeder Kopf nach Maßgabe der Individualität seiner Kräfte und seines Standpunktes seinen eigenen Horizont« (IX 41). Es wäre aber irreführend zu sagen, daß dieser »eigene« Horizont der Individualität ein individuelles Ganzes von »eigenen« Erkenntnissen eröffnen würde. Denn der Ausdruck »individuelle Erkenntnis« ist genau genommen eine contradictio in adjecto, da Erkenntnisse zwar individuell erworben und in gewissen Grenzen auch individuell verstanden werden können, aber doch nur Erkenntnisse (und nicht bloß Meinungen) sind, weil sie von allgemeinerer als nur individueller Geltung sind. Deshalb fragt Kants Transzendentalphilosophie stets nach den allgemeinen Bedingungen der menschlichen Erkenntnis überhaupt, die jeder individuellen Erkenntnisleistung als transzendentaler Ermöglichungs- und Rechtfertigungsgrund zu Grunde liegen. Wenn hier also von einem »Horizont« die Rede ist, dann kann es sich dabei keinesfalls um den »Privat-Horizont« des individuellen Standpunkts handeln. Statt dessen spricht Kant wiederum sehr präzise von »dem ab60
Tatsächlich gehört der Raum bei Kant als reine Form der äußeren Anschauung zu den transzendentalen Bedingungen menschlicher Erfahrung.
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soluten und allgemeinen Horizont«, unter dessen eigentümlicher und keineswegs selbstverständlichen »Begrenzung« des näheren »die Kongruenz der Grenzen der menschlichen Erkenntnisse mit den Grenzen der gesamten menschlichen Vollkommenheit überhaupt zu verstehen« ist (ebd.). Der Horizont der transzendentalen Wirklichkeitserschließung vermöge eines spezifischen Vernunftinteresses ist also, daran ist stets festzuhalten, ein »absoluter und allgemeiner« Horizont. Denn nur vor dieser festgehaltenen Kennzeichnung wird das »Revolutionäre« der ursprünglichen Einsicht Kants überhaupt erkennbar, daß der Vernunfthorizont unbeschadet seiner Absolutheit »begrenzt« ist und daß er sich unbeschadet seiner Allgemeinheit in besondere Horizonte differenziert. Erst durch solch einen Ansatz gibt Kant dem Horizontbegriff »die grundsätzlich erkenntnistheoretische Dimension zurück, die er auf dem Wege von Leibniz über Baumgarten zu Meier zu verlieren drohte« (Engfer 1974, Sp. 1198).61 In diesem grundsätzlich allgemeinen Sinne verwendet Kant den Horizontbegriff auch in der Kritik der reinen Vernunft, um »die systematische Einheit«, die im Vernunftbegriff angelegt ist, »sinnlich« zu machen. »Man kann«, so Kant, »einen jeden Begriff als einen Punkt ansehen, der als der Standpunkt eines Zuschauers seinen Horizont hat, d. i. eine Menge von Dingen, die aus demselben können vorgestellt und gleichsam überschauet werden«. Aber »zu verschiedenen Horizonten, d. i. Gattungen, die aus eben so viel Begriffen bestimmt werden, läßt sich ein gemeinschaftlicher Horizont, daraus man sie insgesamt als aus einem Mittelpunkte überschauet, gezogen denken, welcher die höhere Gattung ist, bis endlich die höchste Gattung der allgemeine und wahre Horizont ist, der aus dem Standpunkte des höchsten Begriffs bestimmt wird und alle Mannigfaltigkeit als Gattungen, Arten und Unterarten unter sich befaßt« (KrV B 687 f.). Der »allgemeine und wahre Horizont« der transzendentalen Vernunft ist also der wahrhaft »gemeinschaftliche« Horizont, der die verschiedenen Horizonte menschlicher Erkenntnis zur systematischen Einheit zusammenfaßt und »aus dem Standpunkte des höchsten Begriffs« die übrigen Zentralbegriffe der Transzendentalphilosophie bestimmt. Der höchste Standpunkt der Vernunft kann daher selbst nur einer und ihr höchster Begriff nur ein einziger sein.
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Der unter dem Titel »Perspektivismus« vor allem von Friedrich Kaulbach (Philosophie des Perspektivismus, 1990) unternommene Anschluß an Kants Transzendentalphilosophie läuft zuweilen Gefahr, der anschaulichen Suggestionskraft der Raummetapher »Perspektive« zu erliegen und dadurch die entscheidende Differenz zwischen »individueller« und »allgemeiner« Perspektive eher zu verwischen als klar herauszustellen (vgl. zum Begriff des »Perspektivismus« auch: Gerhardt 1992). Die spezifisch transzendentale Allgemeinheit und Begrenztheit eines »Horizonts« oder einer »Perspektive« läßt sich aber räumlich gerade nicht präzise veranschaulichen.
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So scheint es zumindest. Denn vor dem Hintergrund der letzten Ausführungen kann nun noch genauer bestimmt werden, welche »revolutionäre« Perspektive eröffnet wird, wenn Kant am Ende der weiter oben zitierten Passage fragt: »Ist nun diese Bestrebung« der Vernunft, sich über den »Erfahrungsgebrauch« hinaus zu wagen, um erst in einem »systematischen Ganzen« Ruhe zu finden, »bloß auf ihr spekulatives, oder vielmehr einzig und allein auf ihr praktisches Interesse gegründet?« Diese Frage macht nämlich, wie immer sie am Ende auch zu beantworten sein wird, bereits als Frage deutlich, daß sich Kants Transzendentalphilosophie im Hinblick auf das problematische Ganze der Erkenntnis genau genommen nicht mit einem Interesse der Vernunft, sondern mit zwei Interessen der Vernunft auseinandersetzt. Die ursprüngliche Einsicht Kants, die dem Projekt seiner Vernunftkritik zu Grunde liegt, wird erst hier vollends deutlich. Das transzendentalphilosophisch zu bestimmende Wesen der Vernunft ist, wie sich jetzt zeigt, nicht nur vor allem anderen dadurch gekennzeichnet, daß der Vernunft ein eigenes, für sie spezifisches Interesse zuzuschreiben ist, sondern des weiteren durch den eigentümlichen Sachverhalt, daß das Vernunftinteresse in zwei unterschiedliche Interessen differenziert werden muß. Kants Transzendentalphilosophie kennt daher grundsätzlich nicht einen, sondern zwei »Standpunkte« der Vernunft: einen »spekulativen« und einen »praktischen« Standpunkt. Genau deshalb unterscheidet Kant einen spekulativen Vernunftgebrauch von einem praktischen Vernunftgebrauch. Jedem von einem spezifischen transzendentalen Interesse geleiteten Vernunftgebrauch ist aber eine eigene Wirklichkeit zuzuschreiben, die von dem jeweiligen Vernunftinteresse ursprünglich erschlossen wird. Das hat aber zur Folge, daß der Gedanke eines zweifachen Vernunftinteresses konsequenterweise auf den Gedanken eines zweifachen Ganzen der Erkenntnis leitet. Dabei begreift Kant das Ganze des spekulativen Vernunftgebrauchs als Wirklichkeit der »Natur«, das Ganze des praktischen Vernunftgebrauchs hingegen als Wirklichkeit der »Freiheit«. Die Frage, auf die Kants ursprüngliche Einsicht am Ende führt, lautet demnach, wie sich der Unterschied und die Einheit von Natur und Freiheit transzendentalphilosophisch begreifen lassen. § 14. Natur und Freiheit Die neue Fragestellung, die sich aus den letzten Überlegungen ergibt, entspringt der Einsicht, daß der transzendentalen Vernunft zwei Interessen zuzuschreiben sind, deren Differenz sich nicht ohne weiteres nach dem vergleichsweise einfachen Modell der systematischen Unterordnung von »Gattung« und »Art« schlichten läßt. Der »spekulative« Vernunftgebrauch und der »praktische« Vernunftgebrauch konstituieren nämlich jeweils für sich eine eigene Wirklichkeit,
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ein selbständiges Ganzes möglicher Erkenntnis. Die transzendentalen Wirklichkeiten des spekulativen und praktischen Vernunftgebrauchs bilden somit je für sich eine »Gattung«, ohne daß sofort anzugeben wäre, ob zu beiden »Gattungen« eine »höchste« Gattung existiert, die beide als »Arten« systematisch unter sich begreift. Denn für Kant kann es keinen Vernunftgebrauch »überhaupt« oder eine Wirklichkeit »überhaupt« geben, weil jeder Vernunftgebrauch als Vernunftgebrauch und jede Wirklichkeit als Wirklichkeit stets bestimmt und damit begrenzt sein muß. Eine »grenzenlose« Vernunft und eine »unbestimmte« Wirklichkeit wären für Kant weder Vernunft noch Wirklichkeit. Es ist daher zunächst zu betrachten, wie Kant die zwei durch den unterschiedlichen Vernunftgebrauch konstituierten Wirklichkeiten in ihrer Bestimmtheit und ihrem Eigenrecht des näheren versteht. Dadurch wird die zuletzt aufgeworfene Frage deutlichere Konturen gewinnen, wie der Unterschied und die Einheit der beiden Wirklichkeiten transzendentalphilosophisch zu begreifen sind. Zugleich wird sich aber auch zeigen, daß Kant in der Vorstellung, wie die von seinem transzendentalen Ansatz gestellte Fragestellung zu lösen sei, durchaus schwankt und verschiedene Anläufe unternimmt, die sich am Ende als ungenügend erweisen. Daraus wird sich für den hier verfolgten Gedankengang nicht nur ein genaueres Verständnis der zentralen Fragestellung ergeben, sondern auch eine systematische Perspektive für die weitere Untersuchung der schrittweisen Entwicklung des transzendentalphilosophischen Ansatzes. Der zweifache »Gebrauch« der Vernunft und der daraus resultierende Ansatz bei zwei selbständigen, vom jeweiligen Vernunftgebrauch erschlossenen Wirklichkeiten ist für Kant so selbstverständlich, daß er ihn und die mit ihm verbundene Systematik seiner Philosophie meist nur ganz knapp und apodiktisch behandelt. So heißt es in der Kritik der reinen Vernunft: »Die Metaphysik teilt sich in die des spekulativen und praktischen Gebrauchs der reinen Vernunft und ist also entweder Metaphysik der Natur, oder Metaphysik der Sitten« (KrV B 869). Kant setzt also durchaus nicht einfach bei dem »Faktum« an, daß es eine »natürliche« Wirklichkeit gibt und – irgendwie davon getrennt – auch noch eine »sittliche« Wirklichkeit. Vielmehr folgt er dem genuin transzendentalen Gedanken, »nichts als gegeben zum Grunde« zu legen »außer die Vernunft selbst und also, ohne sich auf irgend ein Faktum zu stützen, die Erkenntnis aus ihren ursprünglichen Keimen zu entwickeln« (IV 274). Kant setzt daher ganz konsequent bei der Vernunft und ihrem zweifachen »Gebrauch« an, um dann die jeweils erschlossene Wirklichkeit transzendental als von der Vernunft erschlossene Wirklichkeit zu untersuchen. Das jeweilige »Was« der Wirklichkeit muß somit stets transzendentalphilosophisch auf das »Wie« ihrer ursprünglichen Erschließung bezogen werden. »Auf solche Weise«, so Kant, »entspringt die Idee einer zwiefachen Metaphysik« (IV 388).
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Am ausführlichsten geht Kant auf die transzendentalen Grundlagen seiner »Idee einer zwiefachen Metaphysik« in der Einleitung zur dritten und letzten »Kritik« ein. »Wenn man die Philosophie«, heißt es in der Kritik der Urteilskraft, »wie gewöhnlich in die theoretische und praktische einteilt: so verfährt man ganz recht. Aber alsdann müssen auch die Begriffe, welche den Prinzipien dieser Vernunfterkenntnis ihr Objekt anweisen, spezifisch verschieden sein, weil sie sonst zu keiner Einteilung berechtigen würden, welche jederzeit eine Entgegensetzung der Prinzipien« voraussetzt (V 171). Die Zweiteilung der Metaphysik setzt also transzendentalphilosophisch zwei wirklichkeitserschließende Prinzipien der Vernunfterkenntnis voraus, die der jeweiligen Erkenntnis überhaupt erst »ihr Objekt anweisen«. Diese beiden Prinzipien müssen jedoch »spezifisch verschieden sein«, da die »Einteilung« in eine »theoretische« und »praktische« Philosophie für Kant eine so fundamentale »Teilung« bedeutet, daß sie transzendentalphilosophisch auf eine »Entgegensetzung der Prinzipien« zurückgeführt werden muß. In der Fortführung der zuletzt zitierten Sätze aus der Kritik der Urteilskraft gibt Kant nun eine nähere Bestimmung der beiden »spezifisch verschiedenen« Prinzipien, die der »Idee einer zwiefachen Metaphysik« zu Grunde liegen. Die für das richtige Verständnis des transzendentalen Ansatzes maßgebliche Passage lautet: »Es sind aber nur zweierlei Begriffe, welche eben so viel verschiedene Prinzipien der Möglichkeit ihrer Gegenstände zulassen: nämlich die Naturbegriffe und der Freiheitsbegriff. Da nun die ersteren ein theoretisches Erkenntnis nach Prinzipien a priori möglich machen, der zweite aber in Ansehung derselben nur ein negatives Prinzip (der bloßen Entgegensetzung) schon in seinem Begriffe bei sich führt, dagegen für die Willensbestimmung erweiternde Grundsätze, welche darum praktisch heißen, errichtet: so wird die Philosophie in zwei den Prinzipien nach ganz verschiedene Teile, in die theoretische als Naturphilosophie und die praktische als Moralphilosophie (denn so wird die praktische Gesetzgebung der Vernunft nach dem Freiheitsbegriffe genannt), mit Recht eingeteilt« (V 171). Die »zweierlei« Begriffe, mit denen bei Kant der »spezifisch verschiedene« Vernunftgebrauch und die von ihm jeweils verschieden erschlossenen Wirklichkeiten näher bestimmt werden, sind also die theoretischen »Naturbegriffe« und der praktische »Freiheitsbegriff«. »Zweierlei« sind die Begriffe in transzendentalphilosophischer Hinsicht aber nicht deshalb, weil sie sich auf ein unterschiedliches »Was« beziehen, sondern deshalb, weil sie ein unterschiedliches »Wie« des Erkennens konstituieren: Naturbegriffe und Freiheitsbegriff erschließen zweierlei Erkenntnisweisen »von ganz verschiedener Art, Ursprung und Gebrauch« (vgl. § 2). Die Naturbegriffe konstituieren – als Kategorien – die empirische Verstan-
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deserkenntnis, während der Freiheitsbegriff – als Idee – die Erkenntnis der Vernunft (im engeren Sinne) konstituiert. »Natur« und »Freiheit« bezeichnen demnach bei Kant nicht primär das »Was« einer bestimmten Wirklichkeit, sondern das »Wie« ihrer jeweiligen Konstitution durch einen doppelten Vernunftgebrauch am Leitfaden des »spekulativen« oder »praktischen« Vernunftinteresses. Dabei ist die »Entgegensetzung« der beiden Wirklichkeiten und ihrer grundlegenden Vernunftinteressen keineswegs äußerlich im Sinne einer bloßen Verschiedenheit gedacht; vielmehr geht sie als wesentliches Moment in das »Wie« der einen Wirklichkeit, nämlich der Freiheit ein. Denn die Freiheit ist für Kant eine Wirklichkeitsform, welche die »Entgegensetzung« zur Natur schon in ihrem »Begriffe bei sich führt«. Freilich ist diese Entgegensetzung nur der negative Begriff der Freiheit. Kants positiver Freiheitsbegriff besteht hingegen in einer »Erweiterung« der Willensbestimmung durch moralische Grundsätze. Wenn die Willensbestimmung jedoch durch Grundsätze der Freiheit »erweitert« werden kann, dann ist der menschliche Wille bei Kant zunächst gerade nicht durch die Freiheit, sondern durch die Natur bestimmt, so daß auch hier die Freiheit die »Entgegensetzung« zur Natur bereits in ihrem »Begriffe bei sich führt«. Vor dem Hintergrund der letzten Ausführungen läßt sich die neue Fragestellung Kants schon sehr viel präziser fassen und zugleich ihre eigentliche Schwierigkeit benennen. Die Frage läßt sich jetzt so formulieren: Wie sind die eigenständigen Wirklichkeiten der »Natur« und der »Freiheit« in einem philosophischen »System« zu vereinigen, ohne daß dadurch ihre Selbstständigkeit und die eigentümliche »Entgegensetzung« zwischen ihnen verloren geht? Denn eine systematische »Einheit«, die die »Entgegensetzung« von Natur und Freiheit einfach »überwindet«, ohne sie zugleich auch zu bewahren, würde zwar eine Einheit schaffen, aber keine von Natur und Freiheit, da letztere erst durch die »Entgegensetzung« zur Natur das wird, was sie ist. Auf der anderen Seite kann jedoch auch eine verabsolutierte »Entgegensetzung«, d. h. ein Dualismus »zweier Welten« nicht das letzte Wort sein, weil jede Entgegensetzung immer auch eine (negative) Bezugnahme auf das eigene Gegenteil bedeutet. Die Freiheit bliebe also auch nicht das, was sie ist, wenn sie von der Natur völlig getrennt würde. Der einzige Weg, der hier weiter führt, scheint daher in dem Hinweis Kants zu liegen, daß beide Wirklichkeiten (auf je verschiedene Weise) von der Vernunft erschlossen werden, so daß es am Ende »nur eine und dieselbe Vernunft sein kann, die bloß in der Anwendung unterschieden sein muß« (IV 391). Das transzendentale »Rätsel« besteht also in der Frage, wie die Vernunft eine und dieselbe sein kann und zugleich in sich unterschieden sein muß. Kant äußert sich in der Kritik der reinen Vernunft zu der zentralen Frage nach der Einheit des »zwiefachen« Vernunftgebrauchs und damit nach der Einheit so-
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wie dem systematischen Gesamtzusammenhang seiner eigenen Philosophie folgendermaßen: »Die Gesetzgebung der menschlichen Vernunft (Philosophie) hat nun zwei Gegenstände, Natur und Freiheit, und enthält also sowohl das Naturgesetz, als auch das Sittengesetz, anfangs in zwei besonderen, zuletzt aber in einem einzigen philosophischen System« (KrV B 868). Dieses Programm ist, so scheint es zumindest, sehr klar und unkompliziert. Die zweifache »Gesetzgebung« der menschlichen Vernunft wird demnach »anfangs« in zwei besonderen Systemen berücksichtigt, während die Einheitsforderung, die mit dem Vernunftbegriff einhergeht, »zuletzt« zu »einem einzigen System« führt. Freilich kommt hier alles darauf an, wie das »einzige« System die grundlegende Differenz von Natur und Freiheit in der Einheit zu bewahren weiß. Denn ein »System«, das um der Einheitsforderung willen die tiefgreifende »Entgegensetzung« der Freiheit gegenüber der Natur verharmlost oder umgekehrt die Differenz zu einem Dualismus zweier »Welten« ohne konkrete Vermittlung verabsolutiert, würde in beiden Fällen die zentrale Problemstellung Kants von vornherein verfehlen. Kant geht daher sogleich einen Schritt weiter und skizziert die Möglichkeit einer systematischen Einheit der Vernunft, in der wesentliche Differenzen zu einem in sich gegliederten Ganzen vereinigt werden. In diesem Sinne führt er aus: »Wesentliche Zwecke sind darum noch nicht die höchsten, deren (bei vollkommener systematischer Einheit der Vernunft) nur ein einziger sein kann. Daher sind sie entweder der Endzweck, oder subalterne Zwecke, die zu jenem als Mittel notwendig gehören. Der erstere ist kein anderer, als die ganze Bestimmung des Menschen, und die Philosophie über dieselbe heißt Moral« (ebd.) Das System der Vernunft bildet also bei Kant einen in sich gegliederten Zusammenhang von Zwecken, in dem es – »bei vollkommener systematischer Einheit der Vernunft« – nur einen »höchsten« Zweck geben kann. Neben dem »höchsten« Zweck (Endzweck) können allerdings durchaus andere »wesentliche« Zwecke bestehen, die sich aber zum Endzweck nur als »Mittel« verhalten können. Der höchste Zweck der Vernunft ist jedoch für Kant »die ganze Bestimmung des Menschen, und die Philosophie über dieselbe heißt Moral«. Es muß allerdings auffallen, daß Kants Programm in der angeführten Form nicht überzeugen kann, sobald es die allgemeine Idee eines in sich gegliederten Vernunftsystems konkreter bestimmt. Wenn sich nämlich die Moralphilosophie dem »höchsten« Endzweck widmet, ist dann das »einzige« philosophische System, das »zuletzt« Natur und Freiheit in sich vereint, ebenfalls die Moralphilosophie? Bedeutet das, daß »zuletzt« alles »moralisch« ist? Ist Moral nicht vielmehr nur dann Moral, wenn sie nicht »alles« ist? Die Moral mag mit guten Gründen die »höchste« Bestimmung des Menschen genannt werden, aber ist sie deshalb auch die ganze Bestimmung des Menschen? Ist nicht vielmehr die ganze Bestimmung des Menschen eben darin zu suchen, daß er die Einheit von Natur
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und Freiheit ist? Offenkundig hängt hier alles von Kants genauerer Bestimmung des genuin praktischen Vernunftgebrauchs ab, um konkret beurteilen zu können, inwiefern von ihm aus nicht nur die Differenz zum »spekulativen« Vernunftgebrauch, sondern auch die Einheit mit ihm begriffen werden kann. Die Erwartung, daß Kant im Anschluß an das entworfene Programm zu solch einer genaueren Bestimmung des praktischen Vernunftgebrauchs übergeht, wird jedoch vollständig enttäuscht. Im entscheidenden Moment weicht nämlich Kant in der Kritik der reinen Vernunft vor der selbst gestellten Aufgabe aus, den praktischen Vernunftgebrauch transzendentalphilosophisch näher zu bestimmen. Statt dessen behauptet er am Ende der Kritik der reinen Vernunft, daß genuin praktische Begriffe »der transzendentalen Philosophie fremd« bleiben müssen, weil sie stets »auf Gegenstände des Wohlgefallens oder Mißfallens, d. i. der Lust und Unlust, mithin wenigstens indirekt auf Gegenstände unseres Gefühls« gehen und deshalb »nicht in den Inbegriff der Transzendentalphilosophie« gehören, welche es »lediglich mit reinen Erkenntnissen a priori zu tun hat« (KrV B 829 mit Anm.). Es gibt demnach für Kant in der Kritik der reinen Vernunft zwar einen praktischen Vernunftgebrauch und eine durch ihn begründete »Metaphysik der Sitten«, die sogar, als Moralphilosophie, den »Endzweck« der Vernunft behandelt – doch gehören sie nicht »in den Inbegriff der Transzendentalphilosophie«, weil diese es »lediglich mit reinen Erkenntnissen a priori zu tun hat«. Diese Verwirrung im systematischen Gesamtaufbau der Transzendentalphilosophie wird dadurch noch gesteigert, daß Kant in der Kritik der reinen Vernunft nicht nur über keinen angemessenen, transzendentalen Begriff des praktischen Vernunftgebrauchs verfügt, sondern daß er sogar schwankt, welchen Begriff er statt dessen verwenden soll.62 Denn an einer anderen Stelle der Kritik der reinen Vernunft stellt Kant fest: »obzwar die obersten Grundsätze der Moralität und die Grundbegriffe derselben Erkenntnisse a priori sind, so gehören sie doch nicht in die Transzendental-Philosophie« (KrV B 28). Hier wird also im geraden Widerspruch zur vorigen Passage zugestanden, daß »die obersten Grundsätze der Moralität und die Grundbegriffe derselben Erkenntnisse a priori sind«. Das hindert Kant freilich nicht daran, »alles Praktische« ungeachtet des »apriorischen« Charakters moralischer Grundsätze für »empirisch« zu erklären und so weiterhin aus der Transzendentalphilosophie auszuschließen: »alles Praktische, so fern es Triebfedern enthält, bezieht sich auf Gefühle, welche zu empirischen Erkenntnisquellen gehören« (KrV B 29). 62
Der überraschend unausgearbeitete und inkonsequente Begriff der praktischen Vernunft, der in der Kritik der reinen Vernunft zugleich in Anspruch genommen und aus der Transzendentalphilosophie ausgeschlossen wird, ist immer wieder und völlig zu Recht hervorgehoben worden: Wundt 1924, S. 268 u. 317; Gueroult 1963, S. 432 ff.; Heimsoeth 1966–71, Bd. 4, S. 753 Anm. u. 759.
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Vollkommen wird die Verwirrung der Kritik der reinen Vernunft aber erst dadurch, daß Kant in ihr auch den Begriff einer »reinen« Moralität verwendet, die nicht durch irgend eine »Rücksicht« auf empirische Motive bestimmt ist. In diesem Sinne sagt Kant: »Ich nehme an, daß es wirklich reine moralische Gesetze gebe, die völlig a priori (ohne Rücksicht auf empirische Bewegungsgründe, d. i. Glückseligkeit) das Tun und Lassen, d. i. den Gebrauch der Freiheit eines vernünftigen Wesens überhaupt, bestimmen, und daß diese Gesetze schlechterdings (nicht bloß hypothetisch, unter Voraussetzung anderer empirischen Zwecke) gebieten und also in aller Absicht notwendig seien« (KrV B 835). Daß die obersten Grundsätze und Grundbegriffe der »Moralität« in der Kritik der reinen Vernunft gleichwohl aus der Transzendentalphilosophie verbannt bleiben, scheint daher eher auf Kants Unsicherheit darüber zurückzuführen sein, wie er die »reinen« praktischen Gesetze transzendentalphilosophisch begründen und rechtfertigen soll, statt sie bloß »anzunehmen«. Daraus resultiert dann die weitere Unsicherheit Kants, wie er das eigene Programm einer systematischen Ausarbeitung der Differenz und der Einheit von spekulativem und praktischem Vernunftgebrauch konkret durchführen soll. Kants anfängliches Schwanken, ob er den praktischen Vernunftgebrauch überhaupt in den Gesamtzusammenhang der transzendentalen Vernunftkritik aufnehmen soll, verweist also erneut auf die systematische Grundschwierigkeit, wie die »Entgegensetzung« von spekulativem und praktischem Vernunftgebrauch angemessen als Differenz und Einheit zu denken ist. Kant wählt in der Kritik der reinen Vernunft die »Lösung«, die Differenz zu verabsolutieren, indem er die praktische Vernunft aus dem System der Transzendentalphilosophie verbannt, die dergestalt ausschließlich zu einem System des spekulativen Vernunftgebrauchs wird: »Daher ist die Transzendental-Philosophie eine Weltweisheit der reinen bloß spekulativen Vernunft« (KrV B 29). Es liegt aber auf der Hand, daß mit solch einer »Lösung« weder dem philosophischen Verständnis des praktischen Vernunftgebrauchs, noch dem des spekulativen Vernunftgebrauchs gedient ist. Denn das, wie Kant sagt, »demütigende« Resultat der Kritik der reinen Vernunft lautet ja ganz eindeutig, daß die spekulative Vernunft »in ihrem reinen Gebrauche nichts ausrichtet« (KrV B 823). Gerade deshalb verweist Kant am Ende der Kritik der reinen Vernunft auf den praktischen Vernunftgebrauch als den einzigen Weg, der noch übrig ist. Die Vernunft, so Kant, »ahndet Gegenstände, die ein großes Interesse für sie bei sich führen. Sie tritt den Weg der bloßen Spekulation an, um sich ihnen zu nähern; aber diese fliehen vor ihr. Vermutlich wird auf dem einzigen Wege, der noch übrig ist, nämlich dem des praktischen Gebrauchs, besseres Glück für sie zu hoffen sein« (KrV B 824). Wäre also der Ausschluß des praktischen Vernunftgebrauchs aus der Transzendentalphilosophie Kants letztes Wort, dann müßte der einzige Weg, welcher der Vernunft ihm zufolge »übrig«
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bleibt, aus der Transzendentalphilosophie hinaus führen. Die Transzendentalphilosophie wäre allein ein »System« der Demütigung für die (spekulative) Vernunft, die sich somit in ihrer Verzweiflung einem völlig opaken, transzendentalphilosophisch nicht aufzuklärenden praktischen Vernunftgebrauch anheimgeben müßte. Der Ausschluß des praktischen Vernunftgebrauchs aus der Transzendentalphilosophie ist aber nicht Kants letztes Wort geblieben. Vielmehr ist Kant nach der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1781) zu einer transzendentalphilosophischen Untersuchung und Ausarbeitung des praktischen Vernunftgebrauchs übergegangen. Dabei entwickelt bereits die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), wie später noch ausführlich zu zeigen wird, einen genuin transzendentalen Begriff des Praktischen, der sich durchaus nicht »auf Gegenstände des Wohlgefallens oder Mißfallens, d. i. der Lust und Unlust« beschränkt.63 Spätestens die Kritik der praktischen Vernunft (1788) macht dann aber schon durch ihren Titel klar, daß Kant den praktischen Vernunftgebrauch nunmehr als integralen Bestandteil der transzendentalen Vernunftkritik begreift, deren systematischer Gesamtzusammenhang allerdings erst in der Kritik der Urteilskraft (1790) vollständig herausgearbeitet werden kann. In der Kritik der praktischen Vernunft stellt Kant nun grundsätzlich fest, daß es die »reine Vernunft ist, deren Erkenntnis hier dem praktischen Gebrauche zum Grunde liegt«; deshalb muß auch »die Einteilung einer Kritik der praktischen Vernunft, dem allgemeinen Abrisse nach, der spekulativen gemäß angeordnet werden« (V 16). Mit dieser Feststellung, die offenkundig eine Selbstkorrektur Kants an gewissen Ausführungen der Kritik der reinen Vernunft darstellt,
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Es ist eigenartig, daß Kant in der zweiten, überarbeiteten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1787) nur ganz selten die Gelegenheit ergreift, die neuen Einsichten, die er in der Grundlegung über den praktischen Vernunftgebrauch formuliert, in das frühere Werk einzuarbeiten. Ein Beispiel für eine solche Umarbeitung findet sich nicht zufällig an der Stelle, in der Kant den Ausschluß der praktischen Vernunft aus der Transzendentalphilosophie mit den »empirischen Voraussetzungen« der Moral begründen will. In der ersten Auflage ist die »Moralität« auszuschließen, weil sie »die Begriffe der Lust und Unlust, der Begierden und Neigungen, der Willkür etc., die insgesamt empirischen Ursprunges sind«, voraussetzt (KrV A 14). In der zweiten Auflage wird die empirische »Voraussetzung« der Moralität schon sehr viel differenzierter verstanden. Jetzt sind die »moralischen« Grundsätze auszuschließen, »weil sie die Begriffe der Lust und Unlust, der Begierden und Neigungen etc., die insgesamt empirischen Ursprungs sind, zwar selbst nicht zum Grunde ihrer Vorschriften legen, aber doch im Begriffe der Pflicht als Hindernis, das überwunden, oder als Anreiz, der nicht zum Bewegungsgrunde gemacht werden soll, notwendig in die Abfassung des Systems der reinen Sittlichkeit mit hineinziehen müssen« (KrV B 28 f.). Hier macht sich offenkundig der Einfluß der Grundlegung bemerkbar, ohne daß Kant sich entschließen kann, die Kritik der reinen Vernunft anhand des in der Grundlegung neu gewonnenen transzendentalen Praxisbegriffs von Grund auf neu zu konzipieren.
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nimmt die transzendentale Vernunftkritik aber ihre ursprüngliche Fragestellung auf einem neuen Reflexionsniveau wieder auf. Denn nur eine transzendentalphilosophische Untersuchung der praktischen Vernunft vermag den »spekulativen« und den »praktischen« Vernunftgebrauch »anfangs in zwei besonderen« Systemen so darzustellen, daß die systematische Differenz und Einheit des menschlichen Erkennens und Handelns in einer verwandten, aber nicht identischen Strukturierung der beiden Systeme sichtbar wird. Dadurch wird aber überhaupt erst die Möglichkeit eröffnet, am Ende auch auf die theoretisch-praktische Grundstruktur zu reflektieren, welche die systematische Vermittlung zwischen dem Erkennen und Handeln des Menschen bildet. Des weiteren kann auch nur eine transzendentalphilosophische Untersuchung des praktischen Vernunftgebrauchs die Berechtigung klären, mit der Kant den Vernunftideen im spekulativen Vernunftgebrauch zwar eine konstitutive Bedeutung abspricht, ihnen eine solche Bedeutung jedoch im praktischen Vernunftgebrauch durchaus zuschreibt. Es ist deshalb als eine weitere Selbstkritik Kants zu verstehen, wenn er feststellt, daß »allererst« mit einer Kritik der praktischen Vernunft sich »das Rätsel der Kritik« erkläre, wie man den Ideen »in der Spekulation objektive Realität absprechen und ihnen doch in Ansehung der Objekte der reinen praktischen Vernunft diese Realität zugestehen könne; denn vorher muß dieses notwendig inkonsequent aussehen, so lange man einen solchen praktischen Gebrauch nur dem Namen nach kennt« (V 5). Denn immerhin hat Kant selbst durch die unklaren und verwirrenden Äußerungen der Kritik der reinen Vernunft nicht unwesentlich dazu beigetragen, daß ein praktischer Vernunftgebrauch »nur dem Namen nach« bekannt geworden ist. Kants transzendentaler Ansatz erfährt demnach in der Kritik der reinen Vernunft eine erste, bedeutende Ausarbeitung, doch handelt es sich hierbei eben nur um eine erste Ausarbeitung, die aus den angeführten Gründen geeignet ist, den systematischen Gesamtzusammenhang der Transzendentalphilosophie eher zu verdunkeln als zu erhellen, sobald man sie isoliert von den späteren Werken betrachtet. Es muß deshalb in die Irre führen, wenn die Kritik der reinen Vernunft als eine »feste« und »bleibende« Grundlage der ganzen Transzendentalphilosophie verstanden wird, zu der die beiden späteren »Kritiken« allenfalls »Erweiterungen« in speziellere Wissensgebiete (etwa Moral oder Kunst) bieten können. Vielmehr werden in der Kritik der praktischen Vernunft und der Kritik der Urteilskraft gerade die systematischen Grundlagen und Grundbegriffe der Transzendentalphilosophie immer wieder neu, genauer und umfassender bestimmt, so daß sich Kants ursprüngliche Einsicht durch die transzendentalphilosophischen Hauptwerke hindurch schrittweise entfaltet. Erst am Ende, in der Kritik der Urteilskraft, läßt sich daher der systematische Gesamtzusammenhang der Kantischen Vernunftkritik ganz übersehen und angemessen bestimmen.
§ 15. Die Entwicklung des transzendentalphilosophischen Ansatzes
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§ 15. Die Entwicklung des transzendentalphilosophischen Ansatzes Kant weist selbst darauf hin, daß die ursprüngliche Einsicht, die einem begrifflichen »System« als leitende Idee zu Grunde liegt, und die konkrete Ausarbeitung dieser Einsicht zweierlei sind. »Um deswillen muß man Wissenschaften«, so Kant in der Kritik der reinen Vernunft, »nicht nach der Beschreibung, die der Urheber derselben davon gibt, sondern nach der Idee, welche man aus der natürlichen Einheit der Teile, die er zusammengebracht hat, in der Vernunft selbst gegründet findet, erklären und bestimmen. Denn da wird sich finden, daß der Urheber und oft noch seine spätesten Nachfolger um eine Idee herumirren, die sie sich selbst nicht haben deutlich machen und daher den eigentümlichen Inhalt, die Artikulation (systematische Einheit) und Grenzen der Wissenschaft nicht bestimmen können« (KrV B 862). Wie die letzten Ausführungen gezeigt haben, spricht Kant hier gewissermaßen aus eigener Erfahrung. Denn auch ihm gelingt es in der Kritik der reinen Vernunft (noch) nicht, die »Teile« seiner transzendentalen Vernunftkritik (d. h. vor allem: den spekulativen und praktischen Vernunftgebrauch) so »zusammenzubringen«, daß sie in ihrer Unterscheidung auf eine Einheit verweisen, die »in der Vernunft selbst gegründet« ist. Die Kritik an einzelnen »Beschreibungen«, die Kant von seiner Transzendentalphilosophie und ihrem systematischen Gesamtzusammenhang gibt, darf aber nicht von außen an Kant herantreten, um ihm gleichsam vorzuschreiben, wie er seine eigene Philosophie zu verstehen habe. Vielmehr kann es in der vorliegenden Untersuchung nur darum gehen, Kant mit Kant zu kritisieren. Die hier verfolgte Deutungsperspektive geht somit grundsätzlich davon aus, daß Kants Abweichungen von der leitenden Einsicht seiner Transzendentalphilosophie stets mit Kants eigener Hilfe, d. h. anhand seiner eigenen Ausführungen kritisiert werden können. Die Entfaltung der ursprünglichen Einsicht Kants in seinen transzendentalphilosophischen Hauptwerken wird deshalb als eine schrittweise Selbstkorrektur zu begreifen sein, durch die Kant seiner ursprünglichen Idee eine immer angemessenere und zugleich ausgreifendere Form gibt. In diesem Sinne ist daher auch Kants konkreter Ansatz am Ende der Kritik der reinen Vernunft zu betrachten, die »Teile« seiner Vernunftkritik zu einer Einheit »zusammenzubringen«. Denn es wird sich hier zwar ebenfalls zeigen, daß Kant sein eigenes Programm einer umfassenden Vernunftkritik (noch) nicht konkret durchzuführen vermag, weil er den praktischen Vernunftgebrauch auf der einen Seite in die »Einheit« seiner Vernunftkritik einbezieht, ihn aber auf der anderen Seite zugleich aus der Transzendentalphilosophie ausschließt. Doch birgt der von Kant unternommene Versuch gleichwohl den systematischen »Keim« (KrV B 862) für die weitere Entwicklung seines Denkens.
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Im ersten Satz der Kritik der reinen Vernunft hatte Kant darauf hingewiesen, daß die menschliche Vernunft durch bestimmte Fragen »belästigt« wird, »die sie nicht abweisen kann«, weil »sie ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben« sind (vgl. § 7). Diesen Gedanken nimmt Kant am Ende des Buches wieder auf, um den Kreis seiner Vernunftkritik zu schließen. Dabei verknüpft er, was nach dem bisherigen Gedankengang nicht überraschen kann, die Fragen der Vernunft in pointierter Weise mit dem Interesse der Vernunft. Die berühmte Passage (KrV B 832 f.) lautet: Alles Interesse meiner Vernunft (das spekulative sowohl, als das praktische) vereinigt sich in folgenden drei Fragen: 1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen? Offenkundig unternimmt Kant hier den Versuch, sein Programm zumindest im Ansatz konkret durchzuführen, das Wesen des spekulativen und des praktischen Vernunftinteresses begrifflich zu fassen, und zwar zunächst »gesondert«, zuletzt aber »vereinigt«. »Die erste Frage ist bloß spekulativ«, und die Kritik der reinen Vernunft hat für Kant »alle mögliche Beantwortungen derselben erschöpft« (KrV B 833). »Die zweite Frage ist bloß praktisch«, und Kant behandelt sie deshalb in der mittlerweile schon vertrauten Weise: »Sie kann als eine solche zwar der reinen Vernunft angehören, ist aber alsdann doch nicht transzendental, sondern moralisch, mithin kann sie unsere Kritik an sich selbst nicht beschäftigen« (ebd.). Es ergibt sich also erneut die verwirrende Situation, daß Kant das spezifisch praktische Interesse der Vernunft an einer prominenten Stelle seiner Vernunftkritik in Anspruch nimmt und es zugleich aus der Transzendentalphilosophie verbannen will. Dadurch muß aber am Ende der Kritik der reinen Vernunft der Begriff des Vernunftinteresses, also auch der des »spekulativen« Interesses der Vernunft, unklar und schwankend bleiben. Die systematischen Konsequenzen, die sich daraus ergeben, lassen sich unschwer an der dritten Frage ablesen, auf die Kants Überlegungen schließlich hinauswollen: »Die dritte Frage, nämlich: wenn ich nun tue, was ich soll, was darf ich alsdann hoffen? ist praktisch und theoretisch zugleich« (ebd.). Der systematische Sinn der letzten Frage liegt demnach darin, daß sie die beiden ersten Fragen und damit auch das spekulative und praktische Vernunftinteresse »vereinigt«, indem sie »praktisch und theoretisch zugleich« ist. Dabei »führt«, wie Kant sagt, »das Praktische nur als ein Leitfaden« zur »Beantwortung der theoretischen und, wenn diese hoch geht, spekulativen Frage« (ebd.). Wie kann aber »das Praktische« zum »Leitfaden« einer Frage und ihrer Beantwortung genommen werden, wenn zuvor eingeräumt wurde, daß die »praktische« Frage die Vernunftkritik
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»nicht beschäftigen« konnte? Die anvisierte »Vereinigung« von spekulativem und praktischem Vernunftinteresse läßt sich daher am Ende transzendentalphilosophisch nicht ausarbeiten und begründen, weil ein wesentlicher »Teil« der Einheit, nämlich der praktische Vernunftgebrauch, transzendentalphilosophisch von vornherein im Dunkeln bleibt. Deshalb ist die Kritik der reinen Vernunft am Schluß aus systematischen Gründen nicht in der Lage, das von Kant entworfene Programm konkret durchzuführen. Dennoch sind dem angeführten Ansatz wichtige Hinweise für die weitere Entwicklung der Transzendentalphilosophie zu entnehmen. Der transzendentalphilosophischen Ausarbeitung und Begründung des spekulativen Vernunftgebrauchs (Kritik der reinen Vernunft) muß zunächst eine transzendentalphilosophische Ausarbeitung und Begründung des praktischen Vernunftgebrauchs an die Seite treten (Kritik der praktischen Vernunft). Erst dann kann erneut und auf einer völlig veränderten Grundlage die Frage gestellt werden, wie die zunächst »gesondert« behandelten »Teile« der transzendentalen Vernunftkritik zu einer in sich gegliederten Einheit »vereinigt« werden können, die sich »in der Vernunft selbst gegründet findet« (Kritik der Urteilskraft). Für ein angemessenes Vorverständnis der schrittweisen Entfaltung des Kantischen Ansatzes in den drei Hauptwerken der Transzendentalphilosophie ist es daher aufschlußreich, daß Kant in seinen Logik-Vorlesungen zwei Varianten zu den drei angeführten Vernunftfragen kennt. Die erste, oben bereits zitierte Variante knüpft an Kants dreifache Gliederung der menschlichen Erkenntnis in einen logischen, ästhetischen und moralischen Horizont an: »Der Horizont betrifft also die Beurteilung und Bestimmung dessen, was der Mensch wissen kann, was er wissen darf, und was er wissen soll« (IX 40 f.). Die Übereinstimmung mit den drei Fragen aus der Kritik der reinen Vernunft betrifft hier vor allem die Modalverben: können, dürfen, sollen. Ihre Reihenfolge ist jedoch verändert und es fehlt die Zuordnung eines je eigenen Hauptverbs (Wissen, Tun, Hoffen). Der wichtigste und aufschlußreichste Unterschied zwischen den beiden Fassungen besteht aber darin, daß die Systematik der Fragen jeweils eine andere ist. In den Logik-Vorlesungen ergibt sich eine reine Aufzählung, die sich an den drei Horizonten orientiert, die Kant wiederum mit jeweils einem bestimmten Interesse in Verbindung bringt: einem logischen Interesse des Verstandes, einem ästhetischen Interesse des Gefühls und einem praktischen Interesse des Willens. In der Kritik der reinen Vernunft sind die Fragen hingegen nicht nur eindeutig mit dem Interesse der Vernunft verknüpft, sondern den drei Fragen stehen hier nur zwei Interessen gegenüber (das spekulative und das praktische Vernunftinteresse). Das hängt aber offenkundig mit dem systematischen Sinn der dritten Frage zusammen, die beiden anderen zu »vereinigen«. Der dritten Frage kann deshalb kein neues, drittes Interesse zugeordnet werden, so daß sie sich nicht nur inhaltlich,
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sondern auch formal (in ihrer Beziehung zu den Vernunftinteressen) von den beiden anderen unterscheidet. Der Gedanke einer »Vereinigung« der verschiedenen Fragen, der in der ersten Variante fehlt, findet sich hingegen in der zweiten Variante der drei Vernunftfragen aus der Kritik der reinen Vernunft. Sie lautet in den Logik-Vorlesungen: »Das Feld der Philosophie« in ihrer »weltbürgerlichen Bedeutung läßt sich auf folgende Fragen bringen: 1) Was kann ich wissen? 2) Was soll ich tun? 3) Was darf ich hoffen? 4) Was ist der Mensch? Die erste Frage beantwortet die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion und die vierte die Anthropologie. Im Grunde könnte man aber alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen« (IX 25). Hier stimmen die ersten drei Fragen exakt mit denen der Kritik der reinen Vernunft überein. Aber der Gedanke ihrer systematischen »Vereinigung« ist nicht mit der dritten Frage, sondern – im Konjunktiv – mit einer vierten Frage verbunden. Auch »vereinigt« die vierte Frage nicht die drei übrigen, sondern diese »beziehen« sich nur auf jene. Dadurch ist aber der präzise systematische Sinn der drei Vernunftfragen, wie er in der Kritik der reinen Vernunft angegeben wird, abermals verloren gegangen. Denn sobald die »dritte« Frage ihren systematischen Sinn der »Vereinigung« verliert, nimmt die Abfolge der Fragen notwendig den Charakter einer bloßen Aufzählung an. Kants grundsätzliche Unterscheidung zwischen einem spekulativen und praktischen Vernunftgebrauch ist jedoch nicht der Anfang einer fortzusetzenden »Reihe« (eins, zwei, drei, vier …), sondern eine vollständige Disjunktion. Deshalb sind auch die beiden Wirklichkeiten der »Natur« und der »Freiheit« einander ursprünglich entgegengesetzt, so daß sie keineswegs die ersten zwei Glieder einer Aufzählung bilden (bei der man auch in Verlegenheit wäre, sie mit weiteren Begriffen »fortzusetzen«). Ein »Drittes« kann hier also nicht durch Addition als ein »weiterer« Vernunftgebrauch hinzukommen. Vielmehr tritt das »Dritte« als reine Vermittlung zwischen die beiden Seiten der Disjunktion, so daß Kant der dritten Vernunftfrage in der Kritik der reinen Vernunft ganz konsequent kein eigenes Vernunftinteresse zuordnet. Kants »dritte« Kritik ist daher eine Kritik der Urteilskraft und keine »Kritik der urteilenden Vernunft«.64 Die Entfaltung der ursprünglichen Einsicht Kants in den drei transzendentalphilosophischen Hauptwerken bedeutet demnach eine Transformation des systematischen Sinns der Vernunfteinheit, die traditionell als Einzigkeit verstanden wurde. Demgegenüber tritt die Vernunft bei Kant im Zuge der Entwicklung seiner Transzendentalphilosophie in genau drei Erkenntnisweisen auseinander, die 64
Aus demselben Grund kann es bei Kant auch keine Kritik der »ästhetischen« oder »teleologischen« Vernunft, keine Kritik der »religiösen« oder »anthropologischen« Vernunft geben.
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sich gerade als selbständige Erkenntnisweisen auf eine vernünftige Einheit im neuen, transzendentalphilosophischen Sinne beziehen. Genau über diesen in sich differenzierten Vernunftbegriff verfügt aber Kant auf der Stufe der Kritik der reinen Vernunft noch nicht, da in ihr noch die traditionelle Vorstellung einer »einzigen« Vernunft dominiert. Das führt dann am Ende zu dem in sich widersprüchlichen Resultat, daß der praktische Vernunftgebrauch aus dem transzendentalen Vernunftbegriff ausgeschlossen wird, wodurch die traditionelle Vernunfteinheit zugleich »gerettet« und von Grund auf in Frage gestellt wird. Der philosophischen »Revolution«, die zur Kritik der reinen Vernunft führt, muß daher eine mindestens ebenso radikale »Revolution« zur Seite gestellt werden, die über die Kritik der reinen Vernunft hinaus zur Kritik der praktischen Vernunft und zur Kritik der Urteilskraft führt.65 Im Zuge der schrittweisen Entwicklung des transzendentalphilosophischen Ansatzes treten somit die »Teile« der Kantischen Vernunftkritik zunächst selbständig auseinander, um am Ende eine neue Einheit zu finden, die »in der Vernunft selbst gegründet« ist. Der zweite Teil der Untersuchung wird diese Entwicklung in systematischer Absicht nachzeichnen: der erste Abschnitt ist dabei einer »Kritik des spekulativen Vernunftgebrauchs« und der zweite Abschnitt einer »Kritik des praktischen Vernunftgebrauchs« gewidmet. Der dritte und letzte Abschnitt wird hingegen auf Kants neues Verständnis der Vernunfteinheit in Form einer »Kritik der Reflexion« eingehen.
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»Es hat«, wie Reinhard Brandt zu Recht bemerkt, »zwischen 1781 und 1790 eine Revolution nach der sog. kopernikanischen Wende oder Revolution stattgefunden, in deren Verlauf den einzelnen Vermögen der Vernunft je für sich ihre Selbständigkeit und Kritikwürdigkeit zuerkannt worden ist« (Brandt 1994, S. 178). Er fügt in einer Anmerkung hinzu: »Wenn ich richtig sehe, gibt es noch keine Monographie zu Kants Entwicklung von 1781 bis 1790«. Dem versucht die vorliegende Abhandlung abzuhelfen.
ZWEITER TEIL Die transzendentale Vernunftkritik
I.
k r i t i k d e s s p e k u l at i v e n v e r n u n f t g e b r au c h s § 16. Sein und Sollen
In einem ganz allgemeinen und weiten Sinne umfaßt der zentrale Begriff eines »spekulativen Vernunftgebrauchs« in der Transzendentalphilosophie alle Erkenntnisse, die »theoretisch« und nicht »praktisch« sind. Dabei ist für Kant die »theoretische Erkenntnis« des näheren diejenige, »wodurch ich erkenne, was da ist, die praktische aber, dadurch ich mir vorstelle, was dasein soll« (KrV B 661). Die transzendentale Vernunftkritik unterscheidet demnach grundsätzlich zwischen einem »spekulativen« und einem »praktischen« Vernunftgebrauch, indem eine »spekulative« oder »theoretische« Seinserkenntnis von einer »praktischen« Sollenserkenntnis abgehoben wird: der spekulative Vernunftgebrauch (im weiteren Sinne der »Theorie«) richtet sich stets auf das, was da ist, während der praktische Vernunftgebrauch sich demgegenüber auf das richtet, was dasein soll. Kant charakterisiert damit erneut einen transzendentalen Leitbegriff dadurch, daß er ihn zusammen mit einem »Kontrastbegriff« einführt und ihn so in einen weiteren, in sich gegliederten Begriffszusammenhang stellt. Darüber hinaus wird die transzendentale Grundunterscheidung zwischen »spekulativem« und »praktischem« Vernunftgebrauch in einem ersten Anlauf anhand der Differenz von »Sein« und »Sollen« näher bestimmt. Allerdings ist diese Bestimmung keineswegs so zu verstehen, als würde Kant die genuin transzendentale Unterscheidung zwischen »spekulativem« und »praktischem« Vernunftgebrauch einfach auf die (scheinbar) vertraute Unterscheidung zwischen »Sein« und »Sollen« zurückführen und dergestalt »definieren«. Vielmehr ergibt sich die systematische Gesamtanlage der Transzendentalphilosophie nicht zuletzt daraus, daß sie die elementare Unterscheidung zwischen »Sein« und »Sollen«, durch die wir uns in unserem Welt- und Selbstverständnis ursprünglich orientieren, zwar in sich aufnimmt, doch so, daß der konkrete Gedankengang der Vernunftkritik eine tiefgreifende Veränderung, ja eine »gänzliche Revolution« im genaueren Verständnis dieser beiden Elementarbegriffe sowie in ihrem systematischen Bezug aufeinander herbeiführt.66 Ein schrittweiser Nachvollzug des konkreten Gedan66
Für Kant gehört es daher mit gutem Grund zum Wesen der Philosophie, daß sie (im Un-
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Zweiter Teil
kengangs der transzendentalen Vernunftkritik hat also von der allgemein üblichen Auffassung von »Sein« und »Sollen« auszugehen, ohne einer solchen Auffassung deshalb eine maßgebliche Bedeutung für das nähere Verständnis der Transzendentalphilosophie einzuräumen. Bei der allgemein üblichen Verwendung von »Sein« und »Sollen« fällt nun sofort auf, daß die interne Beziehung zwischen den Begriffen »Sein« und »Sollen« in der Regel nicht symmetrisch gedacht wird. Das »Sein« – so scheint es zumindest – ist völlig unabhängig vom »Sollen« zu denken; hingegen ist das »Sollen« stets immanent auf das »Sein« bezogen. Deshalb spricht Kant an der zitierten Stelle auch einerseits von der spekulativ-theoretischen Erkenntnis dessen, »was da ist«, und andererseits von der praktischen Erkenntnis dessen, »was dasein soll«. Das »Sollen« ist also stets auch ein »Seinsollen«, so daß das »Sein« der primäre und zugleich »einfachere« Begriff zu sein scheint, dem gegenüber das »Sollen« oder »Seinsollen« als etwas Sekundäres und somit auch »Komplizierteres« aufzufassen wäre. Es leuchtet daher im Ausgang vom üblichen Verständnis der beiden Elementarbegriffe »Sein« und »Sollen« unmittelbar ein, daß Kant seine transzendentale Vernunftkritik mit der theoretisch-spekulativen Seinserkenntnis beginnt, um erst in einem zweiten Schritt die genuin praktische Sollenserkenntnis zu thematisieren.67 Für ein angemessenes Verständnis des transzendentalen Ansatzes ist es des weiteren wichtig, von vornherein darauf zu achten, daß Kant den Begriff eines »spekulativen Vernunftgebrauchs« – wie den Vernunftbegriff selbst – nicht nur in einem weiteren, sondern darüber hinaus in einem engeren Sinne verwendet. Im weiteren Sinne meint der Begriff, wie eben angeführt, ganz allgemein die »theoretische« Erkenntnis dessen, »was da ist«. Im engeren Sinne ist die Vernunfterkenntnis hingegen »spekulativ, wenn sie auf einen Gegenstand oder solche Begriffe von einem Gegenstande geht, wozu man in keiner Erfahrung gelangen kann«. Diese »spekulative« Erkenntnis im engeren Sinne wird von Kant terschied zur Mathematik) nicht mit Definitionen beginnen, sondern allenfalls mit ihnen »schließen« kann (KrV B 755 ff.). 67 In neueren Untersuchungen zur »praktischen« Philosophie steht ebenfalls die Grundunterscheidung zwischen »Sein« und »Sollen« im Mittelpunkt, auch wenn sie nach dem »linguistic turn« in der Regel als Unterscheidung zwischen (theoretischen) »Indikativsätzen« und (praktischen) »Imperativsätzen« formuliert wird. Dabei wird zuweilen davon ausgegangen, daß ein imperativer Sollenssatz aus einem indikativen Seinssatz durch einen »Zusatz« hervorgeht (vgl. Lorenzen 1970, S. 64); oder es wird die These vertreten, daß beide Sätze aus einem gemeinsamen »Sachverhalt« bestehen, der im einen Fall mit einem indikativen »Zusatz«, im anderen Fall aber mit einem imperativen »Zusatz« versehen ist (vgl. Hare 1972, S. 37 ff.; Ilting 1994, S. 18 f.). Im allgemeinen wird jedoch nicht gefragt, wie diese grundlegende Unterscheidung zwischen indikativen Seinssätzen und imperativen Sollenssätzen zu einer in sich gegliederten Einheit des Unterschiedenen zu vermitteln wäre.
§ 16. Sein und Sollen
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»der Naturerkenntnis entgegengesetzt, welche auf keine andere Gegenstände oder Prädikate derselben geht, als die in einer möglichen Erfahrung gegeben werden können« (KrV B 662 f.). Die »theoretische« Erkenntnis dessen, »was da ist«, muß somit für Kant des näheren in sich differenziert werden, und zwar in die Verstandeserkenntnis dessen, was Gegenstand der Erfahrung sein kann (Natur), und in die eigentliche Vernunfterkenntnis dessen, was niemals Gegenstand der Erfahrung sein kann (Idee). Deshalb unterscheidet Kant gelegentlich einen »natürlichen« von einem »spekulativen Vernunftgebrauch« im engeren Sinne (KrV B 663) und faßt beide im Begriff eines »theoretischen« Gebrauchs der Vernunft zusammen (KrV B 661). In der Regel spricht Kant jedoch nicht von einem »theoretischen«, sondern von einem »spekulativen« Vernunftgebrauch (im weiteren Sinne), der sich in den Erfahrungsgebrauch des Verstandes und den »spekulativen« Vernunftgebrauch (im engeren Sinne) gliedert. In diesem Sinne heißt es bei Kant, daß die Vernunft »in ihrem spekulativen Gebrauche« durch »das Feld der Erfahrungen« führt, »und, weil daselbst für sie niemals völlige Befriedigung anzutreffen ist, von da zu spekulativen Ideen« (KrV B 832). Der in sich gegliederte Begriff eines »spekulativen Vernunftgebrauchs« entspricht also exakt dem ebenso gegliederten Begriff der Vernunft, der von der Kritik der reinen Vernunft in einem weiten Sinne auf die Erkenntnis überhaupt, in einem engeren Sinne hingegen auf die Erkenntnis dessen bezogen wird, dem kein Gegenstand der Erfahrung jemals »kongruieren« kann. Diese eigentümliche Verwendungsweise der Begriffe »Vernunft« und »spekulativer Vernunftgebrauch« bei Kant, die stets eine sorgfältige Unterscheidung zwischen einer weiteren und engeren Bedeutung notwendig macht, ist aber keineswegs »umständlich«, so daß es möglich und sogar besser wäre, die »komplizierte« Doppelbedeutung aufzulösen und jede Bedeutungsebene mit jeweils einem eigenen Begriff zu bezeichnen. Vielmehr gehört es zu den zentralen Eigenschaften der transzendentalen Differenzierungen, daß sie intern aufeinander bezogen sind. Der »natürliche« Vernunftgebrauch und der »spekulative« Vernunftgebrauch (im engeren Sinne) sind nicht äußerlich verschieden, so daß sie gleichgültig nebeneinander stehen könnten und bloß in einem dritten Oberbegriff (dem »theoretischen« Vernunftgebrauch) zu »vereinigen« wäre. Statt dessen ist die in Frage stehende Differenz des Vernunftgebrauchs strikt als Selbstdifferenzierung der Vernunft zu verstehen, die sich also in sich selbst unterscheidet und gerade darin das Unterschiedene auch intern aufeinander bezieht. Die »Vereinigung« des Unterschiedenen findet also nicht in einem »Dritten« statt, sondern in einem in sich differenzierten Begriff der Vernunft, die nicht »über« der Differenz steht, sondern aus der Differenzierungsbewegung selbst hervorgeht. Die Bedeutung der letzten Überlegung für ein angemessenes Verständnis der systematischen Gesamtanlage der Transzendentalphilosophie läßt sich schon
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Zweiter Teil
daran erkennen, daß alle bislang angeführten transzendentalen Leitdifferenzen die Eigenschaft haben, eine Unterscheidung zu bezeichnen, in der das Unterschiedene immanent aufeinander bezogen ist, ohne daß sich ein äußeres »Drittes« angeben ließe, das eine »Einheit« der beiden differenten Begriffe bildete. Ob es sich um die transzendentale Differenz von Verstand und Vernunft, Erscheinung und Ding an sich selbst, Bedingtem und Unbedingtem, Natur und Freiheit oder Sein und Sollen handelt – immer besteht eine interne systematische Beziehung zwischen beiden Begriffen, die sich deshalb nicht extern im Ausgang von einem gemeinsamen »Oberbegriff«, sondern allein aus der immanenten Bewegung einer Selbstdifferenzierung der Vernunft heraus verstehen läßt. Freilich wäre es genauso irreführend, wollte man nun umgekehrt die genannten Unterscheidungen unmittelbar miteinander identifizieren, so daß die jeweils ersten und zweiten Begriffe innerhalb der einzelnen Differenzen genau »dasselbe« meinen würden. Statt dessen sind die angeführten Leitdifferenzen der Transzendentalphilosophie präzise als klar voneinander unterschiedene Reflexionsstufen innerhalb des »natürliches Ganges« einer reflexiven Selbstdifferenzierung der Vernunft zu begreifen, der sich dort entfaltet, wo »die forschende sowohl als prüfende Vernunft in völlige Freiheit« versetzt ist, »damit sie ungehindert ihr eigen Interesse besorgen« kann (vgl. § 6). Dieser »Vernunftgang« und seine einzelnen systematischen Stationen sollen hier am Leitfaden des von Kant in unterschiedlicher Weise thematisierten »Vernunftgebrauchs« konkret verfolgt werden.68 Dabei werden die Begriffe der bisherigen Überlegungen aber nicht nur wieder aufgenommen und weiter bestimmt, sondern sie werden im Zuge einer Kritik des spekulativen und praktischen Vernunftgebrauchs überhaupt erst in ihrem spezifisch transzendentalen Sinn begründet und gerechtfertigt. Im ersten Abschnitt des zweiten Teils der vorliegenden Untersuchung sollen deshalb zunächst die wesentlichen transzendentalphilosophischen Bestimmungen der »spekulativen« Erkenntnis herausgearbeitet werden. Dabei wird es aber nicht zuletzt darauf ankommen, zu verstehen, inwiefern sich aus der transzendentalen Kritik des spekulativen Vernunftgebrauchs ein immanenter Übergang zum praktischen Vernunftgebrauch ergibt, der dann im zweiten Abschnitt darzustellen sein wird. Denn gerade weil die spekulativ-theoretische Erkenntnis systematisch nicht einheitlich, sondern in sich differenziert ist, bildet umgekehrt die
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Es soll und kann daher nicht die Absicht der vorliegenden Untersuchung sein, die transzendentale Vernunftkritik Kants in einer »enzyklopädischen« Vollständigkeit darzustellen. Vielmehr zielt die Untersuchung mit ihrer Fragestellung allein darauf ab, die Gesamtanlage der Vernunftkritik, an der sich jedes nähere Verständnis der Einzelheiten zu orientieren hat, vom Begriff eines in sich differenzierten Vernunftinteresses und Vernunftgebrauchs her in systematischer Absicht aufzuhellen.
§ 17. Können
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Unterscheidung zwischen »spekulativem« und »praktischem« Vernunftgebrauch oder zwischen »Sein« und »Sollen« keine einfache Unterscheidung im Sinne einer simplen Dichotomie, sondern eine in sich gegliederte Differenzierung, deren beide Pole sich wechselseitig aufeinander beziehen und so auf eine in sich gegliederte Einheit der Vernunft verweisen, deren Momente sie sind. Wenn es nämlich »am Ende«, wie Kant sagt, »nur eine und dieselbe Vernunft sein kann, die bloß in der Anwendung unterschieden sein muß« (IV 391), dann muß die transzendentale Unterscheidung von »spekulativem« und »praktischem« Vernunftgebrauch zwar den Ausgangspunkt einer konkreten Vergegenwärtigung des systematischen Gesamtzusammenhangs der Vernunftkritik bilden, doch nur, um »am Ende« auf die in sich vermittelte Einheit der Vernunft zu reflektieren.
§ 17. Können Kant faßt, wie im ersten Teil dargelegt wurde, den spekulativen Vernunftgebrauch und das ihn leitende spekulative Vernunftinteresse in die Vernunftfrage zusammen: »Was kann ich wissen?«. Diese Frage »ist bloß spekulativ«, und Kant glaubt am Ende der Kritik der reinen Vernunft, »alle möglichen Beantwortungen derselben erschöpft« sowie »endlich diejenige gefunden« zu haben, »mit welcher sich« die Vernunft »befriedigen muß, und, wenn sie nicht aufs Praktische sieht, auch Ursache hat, zufrieden zu sein« (vgl. § 15). Die genauere Explikation des »spekulativen Vernunftgebrauchs« wird daher bei einer näheren Betrachtung der ersten transzendentalen Vernunftfrage anzusetzen haben. Dabei muß zunächst festgehalten werden, daß das »Ich« in der Frage »Was kann ich wissen?« kein einzelnes, privates Ich ist. Kant fragt offenkundig nicht, was nur er, Immanuel Kant, wissen kann, sondern was »wir« wissen können, d. h. der Mensch im allgemeinen. Kants Vernunftfrage stellt sich also nicht auf den Standpunkt eines »Privat-Horizontes«, sondern auf den Standpunkt eines »absoluten und allgemeinen Horizontes«, unter dem des näheren »die Kongruenz der Grenzen der menschlichen Erkenntnisse mit den Grenzen der gesamten menschlichen Vollkommenheit überhaupt zu verstehen« ist (vgl. § 13). Das Wissen, nach dem hier gefragt wird, ist demnach ein allgemeines, ja absolutes Wissen – und es hat gleichwohl Grenzen. Diese horizontartige Begrenztheit des menschlichen Wissens, die für den systematischen Ansatz der Transzendentalphilosophie entscheidend ist, kommt in Kants Vernunftfrage zunächst dadurch zum Ausdruck, daß in ihr nach dem Wissen überhaupt gefragt wird, und zwar vom »Standpunkt« eines Subjektes aus, das die Frage nach dem Wissen stellen kann, aber auch stellen muß.
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Der spezifische Charakter der »Begrenztheit« des menschlichen Wissens, die für die formale Grundstruktur der Kantischen Vernunftfrage konstitutiv ist, kommt aber erst in den Blick, wenn sich die Aufmerksamkeit auf die Verwendung des Modalverbs »Können« richtet. Die erste Vernunftfrage lautet nämlich bei Kant nicht bloß: »Was weiß ich?«, sondern viel bestimmter: »Was kann ich wissen?«. Denn in dem ganz elementaren Umstand, daß der Mensch nach dem Wissen fragt, und zwar nicht nach diesem oder jenem Wissen, sondern nach dem Wissenkönnen überhaupt, liegt bereits implizit verborgen, daß das dergestalt in Frage stehende Wissenkönnen aus prinzipiellen Gründen stets zwischen dem reinen Unwissen und dem unbegrenzten Wissen (eines Gottes) stehen wird. Im Fragecharakter jeder Frage schwingt also ein Vorverständnis dessen mit, was die transzendentale Struktur des menschlichen Könnens genannt werden kann: die Einsicht nämlich, daß jedes menschliche Können, und zwar gerade insofern es ein Können (und nicht etwa ein Nichtkönnen) ist, Grenzen des Könnens aufweisen muß, die das Können stets »in Frage stellen« oder »in Frage stehen lassen«. Für den Menschen gibt es daher kein »fragloses« Können und damit auch kein »fragloses« Wissen, weil, so Kants Einsicht, »Wissen« grundsätzlich zum menschlichen Können zu rechnen ist, auch wenn es mit ihm nicht schlicht identifiziert werden darf. Das transzendentalphilosophisch dergestalt als Können begriffene Wissen ist damit stets als eine bestimmte Leistung oder Anstrengung des Menschen zu verstehen. Ein aus prinzipiellen Gründen beständig in Frage stehendes Wissen und Wissenkönnen ist deshalb vor allem als eine Aufgabe zu begreifen, die sich dem menschlichen Vermögen stellt, weil es – als Können – zwar etwas, doch – als begrenztes oder endliches Können – nie alles kann. Die so begriffene Endlichkeit des menschlichen Vermögens im allgemeinen und des menschlichen Erkenntnisvermögens im besonderen schließt jedoch keineswegs aus, daß ihr ein Moment der »Unendlichkeit« – als Moment – eigen ist und sogar eigen sein muß. Denn im menschlichen Wissenkönnen bildet dieses »absolute« Moment gerade die beständige Unruhe, die jedes konkrete Wissen immer wieder in Frage zu stellen vermag. Das Wesen des menschlichen Erkenntnisvermögens ist also erst dann angemessen verstanden, wenn am Ende auch das in ihm wirksame Moment des Unbedingten namhaft gemacht wird, das seine Endlichkeit nicht aufhebt, sondern überhaupt erst begründet. Die spekulative Vernunftfrage »Was kann ich wissen?« wird also, so viel läßt sich jetzt bereits sagen, in Kants Transzendentalphilosophie nicht im Ausgang vom Wissensobjekt, d. h. vom Gewußten, sondern im Ausgang vom Wissenssubjekt, d. h. vom Wissenden und seinem Können zu beantworten sein. Darin weicht Kant ganz bewußt vom »bisherigen Verfahren« ab, welches das Wissen primär vom gewußten Objekt her auffaßte. Zwar gilt auch für Kant, daß der all-
§ 17. Können
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gemeine Gegenstand des (theoretischen) Wissens dasjenige ist, »was da ist«, d. h. das gewußte Sein. Zugleich gilt für ihn aber ebenso die Umkehrung, daß das Sein nur »da ist«, insofern es gewußt wird. Aus diesem Zirkel, in dem das Wissen durch das (gewußte) Objekt, das Sein aber durch das (objektive) Wissen expliziert wird, tritt nun die Transzendentalphilosophie heraus, indem sie das menschliche Wissen nicht länger im gewußten Objekt und noch weniger im Ungedanken eines wissensunabhängigen Objekts begründen will, sondern statt dessen im wissenden Subjekt. Das bedeutet aber, daß das Wesen des menschlichen Wissens von Kant primär in einem Wissenkönnen begründet wird, weil jedes konkrete Wissen dem für den Menschen spezifischen Vermögen entspringen muß, überhaupt etwas erkennen zu können.69 Was damit des näheren gemeint ist, macht Kant in einer programmatischen Passage am Ende der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786) deutlich. Dort heißt es zusammenfassend: »so endigt sich die metaphysische Körperlehre mit dem Leeren und eben darum Unbegreiflichen, worin sie einerlei Schicksal mit allen übrigen Versuchen der Vernunft hat, wenn sie im Zurückgehen zu Prinzipien den ersten Gründen der Dinge nachstrebt«. Das stets gleiche Schicksal, die ersten Gründe der Dinge nicht begreifen zu können, nötigt die Vernunft in der Transzendentalphilosophie deshalb zu einer radikalen Wendung ihrer traditionellen Fragerichtung, weil ihr am Ende, wie Kant fortfährt, »nichts übrig bleibt, als von den Gegenständen auf sich selbst zurückzukehren, um anstatt der letzten Grenze der Dinge die letzte Grenze ihres eigenen, sich selbst überlassenen Vermögens zu erforschen und zu bestimmen« (IV 564 f.). Die Vernunft wendet sich somit bei Kant von den Dingen ab und sich selbst, genauer: ihrem eigenen Vermögen zu. Daß sich die Vernunft bei Kant nicht unmittelbar auf sich selbst, sondern genaugenommen auf ihr »sich selbst überlassenes Vermögen« bezieht – diese Nuance ist durchaus keine so geringfügige, wie es auf den ersten Blick scheinen mag; vielmehr begründet sie überhaupt erst, wie die vorangegangenen Überlegungen gezeigt haben, den spezifischen Ansatz der Kantischen Vernunftkritik. Denn wenn die menschliche Erkenntnis das stets gleiche »Schicksal« erfährt, die »ersten Gründe der Dinge« nicht begreifen zu können, weil ein wirklich erster Grund der Dinge nicht als (stets wieder begründetes) Ding gedacht werden kann, dann ist der einzige Weg, der »noch offen« steht, der kritische Weg einer Tran69
In einer Reflexion formuliert Kant diesen Gedanken und den Ansatz beim Erkennenkönnen als einem Gebrauch der Vernunft folgendermaßen: »Die kritische Hauptfrage lautet, ob die Metaphysik von den Objekten handelt, die durch die Vernunft erkannt werden können, oder von dem Subjekt, nämlich den Prinzipien und Gesetzen im Gebrauch der reinen Vernunft. Weil wir alle Objekte nur durch unser Subjekt erkennen können […], so ist sie subjektiv« (Refl. 4292: XVII 498, Hervorhebungen: A.H.).
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szendentalphilosophie, die sich darauf besinnt, was die menschliche Vernunft überhaupt kann. Damit ist aber der Philosophie die Aufgabe einer Kritik der reinen Vernunft als Kritik des menschlichen Erkenntnisvermögens als einem ungegenständlichen und auch grundsätzlich nicht zu vergegenständlichenden Vermögen gestellt. Das Eigentümliche der Transzendentalphilosophie wird deshalb von Kant ganz ausdrücklich und mit Nachdruck von der genannten Reflexion auf das »Vermögen« her verstanden. Die Transzendentalphilosophie hat es, wie es in der Kritik der reinen Vernunft heißt, »nur mit einer Kritik unserer Vermögensumstände zu tun« (KrV B 766). Ebenso deutlich ist eine andere Formulierung Kants: »Kritische Philosophie ist diejenige«, welche »von der Untersuchung der Vermögen der menschlichen Vernunft (in welcher Absicht es auch sei) Eroberung zu machen anfängt« (VIII 416). Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen transzendentalen Reflexion auf das menschliche Vernunftvermögen richtet sich Kants Aufmerksamkeit nun aber zunächst auf den »spekulativen Vernunftgebrauch«, d. h. auf das menschliche Erkenntnisvermögen. So wird von Kant »das Wort transzendental« auch dadurch definiert, daß es »niemals eine Beziehung unserer Erkenntnis auf Dinge, sondern nur aufs Erkenntnisvermögen bedeutet« (IV 293). Kants Kritik des spekulativen Vernunftgebrauchs setzt also konkret bei einer transzendentalen Analyse des menschlichen Erkenntnisvermögens als einem Vermögen (der Erkenntnis) an.
§ 18. Das menschliche Erkenntnisvermögen Eine konzise und zugleich komplexe Bestimmung der Begriffe »Vermögen« und »Erkenntnisvermögen«, die als Leitfaden für den weiteren Gedankengang dienen kann, findet sich in Kants Anthropologie (1798). Dort heißt es: »In Ansehung des Zustandes der Vorstellungen ist mein Gemüt entweder handelnd und zeigt Vermögen (facultas), oder es ist leidend und besteht in Empfänglichkeit (receptivitas). Eine Erkenntnis enthält beides verbunden in sich und die Möglichkeit, eine solche zu haben, führt den Namen des Erkenntnisvermögens von dem vornehmsten Teil derselben, nämlich der Tätigkeit des Gemüts« (VII 140). Das menschliche Erkenntnisvermögen umfaßt somit – wie Kant an anderer Stelle sagt – »zwei ganz heterogene Stücke« (V 401), so daß die eigentümliche Leistung der Erkenntnis, die transzendentalphilosophisch auf den Begriff zu bringen ist, darin besteht, das handelnde Vermögen mit etwas zu verbinden, was an sich selbst gerade kein aktiv handelndes Vermögen ist, sondern passive Empfänglichkeit.
§ 18. Das menschliche Erkenntnisvermögen
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Es wird sich zeigen, daß das für die Transzendentalphilosophie spezifische Verständnis des menschlichen Erkenntnisvermögens, das Kants Kritik des spekulativen Vernunftgebrauchs zu Grunde liegt, erst mit dieser Verschränkung von Spontaneität und Rezeptivität in den Blick kommt. Das Wesen der menschlichen Erkenntnis ist nämlich in dem ganz eigentümlichen Vermögen begründet, Aktivität und Passivität, Vermögen und Nichtvermögen »verbinden« zu können, eine Verbindung, die sich ihrerseits ganz offenkundig der einfachen Alternative »aktiv oder passiv« bzw. »spontan oder rezeptiv« entziehen muß. Oder anders gewendet: das menschliche Erkenntnisvermögen ist zwar ein aktives Vermögen, es ist aber nur Erkenntnisvermögen, weil seine Spontaneität – und dies ist Kants Pointe – ein rezeptives Moment aufweist, welches das menschliche Erkenntnisvermögen erst zu dem macht, was es ist. Die Spontaneität des menschlichen Erkenntnisvermögens bildet somit stets nur den Ausgangspunkt für Kants transzendentale Kritik des spekulativen Vernunftgebrauchs, die in einem weiteren und entscheidenden Schritt auf die Besonderheit »unserer Vermögensumstände« reflektiert, daß die menschliche Spontaneität von innen her limitiert ist. Die Pointe von Kants vermögenstheoretischer Kritik des spekulativen Vernunftgebrauchs würde daher grundsätzlich verfehlt, wollte man diese Endlichkeit des menschlichen Erkenntnisvermögens in einem äußerlichen, d. h. quantitativen Sinne verstehen: das passive Moment, das Kant in der menschlichen Spontaneität aufspürt, wäre dann die bloße Herabminderung eines für sich genommen »absoluten« Vermögens, dem nur beim Menschen zufälligerweise ein gewisses Quantum an passivem »Unvermögen« beigemischt ist. Statt dessen wird aber das menschliche Erkenntnisvermögen durch das rezeptive Moment, das ihm innewohnt, bei Kant nicht quantitativ gemindert, sondern qualitativ verwandelt.70 Seine eigentümliche Zwischenstellung zwischen reiner Spontaneität und Rezeptivität läßt sich deshalb nicht als eine »Mischung« aus den beiden Momenten begreifen, in die es freilich durch die transzendentale Reflexion analytisch zerlegt werden muß, wenn sie einen ersten Zugang zu dem von Grund auf neu zu denkenden Erkenntnisvermögen des Menschen gewinnen will.71
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Die »Endlichkeit« des menschlichen Könnens liegt deshalb im Können (Vermögen) selbst und nicht etwa in einem »Nichtkönnen« (Unvermögen). In diesem Sinne heißt es bei Heidegger zu Recht: die »Endlichkeit der Vernunft besteht aber keineswegs nur und in erster Linie darin, daß das menschliche Erkennen vielerlei Mängel der Unbeständigkeit und Ungenauigkeit und des Irrtums zeigt, sondern sie liegt im Wesensbau der Erkenntnis selbst. Die faktische Beschränktheit des Wissens ist erst eine Folge dieses Wesens« (Heidegger 1973, S. 21). 71 Die Abwehr des quantitativen und äußerlichen Sinnes der von Kant herausgestellten Endlichkeit der menschlichen Vermögen ermöglicht es auch, eine Deutung der Transzendentalphilosophie zurückzuweisen, die sie auf die harmlose These festlegen will, daß der Mensch zwischen den Extremen stehe und nach keiner Seite hin übertreiben dürfe.
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Die von der Transzendentalphilosophie thematisierte Zwischenstellung des menschlichen Erkenntnisvermögens darf also nicht in einer räumlichen Außenperspektive betrachtet werden, in der das »Zwischen« zu etwas Sekundärem wird, das zu den beiden »Polen«, zwischen denen es vermittelt, nachträglich hinzukommt. Vielmehr muß auch hier die dynamische Innenperspektive des Vernunftgebrauchs gewonnen werden (vgl. § 8), d. h. die transzendentale Kritik des menschlichen Erkenntnisvermögens wird ihre Aufmerksamkeit vor allem auf die spezifische Tätigkeit oder Leistung der theoretisch-spekulativen Erkenntnis zu richten haben. Die für das menschliche Erkenntnisvermögen spezifische Tätigkeit bildet nämlich als Tätigkeit immer schon eine in sich differenzierte Einheit, die freilich als solche dem tätigen Erkennen, d. h. dem spekulativen Vernunftgebrauch nicht ausdrücklich thematisch wird. Es bedarf daher einer eigenen, nämlich transzendentalen Reflexion, um den eigentümlichen Tätigkeitscharakter, der dem nicht auf sich selbst reflektierenden Erkennen verborgen bleiben muß, ins Bewußtsein zu heben. In der transzendentalen Reflexion kommt die anvisierte Einheit der Erkenntnisleistung allerdings zunächst nur als Vereinigung von »zwei ganz heterogenen Stücken« in den Blick. Die Transzendentalphilosophie beginnt also mit einer »Analytik« der elementaren Momente der menschlichen Erkenntnis, aus denen sie dann ihre ursprüngliche Einheit als »Vereinigung« rekonstruiert. Dieses Vorgehen darf deshalb nicht zum Mißverständnis verleiten, als wären die »Stücke« irgendwie außerhalb der Erkenntnis bereits »fertig« vorhanden, so daß sie von ihr nur noch zusammengefügt werden müßten. Vielmehr ist das Verhältnis genau umgekehrt zu verstehen: die transzendentale Analyse trennt nachträglich, was ursprünglich in jeder Erkenntnis vereinigt ist. Diese »zwei ganz heterogenen Stücke« faßt Kant aber nicht nur als Spontaneität und Rezeptivität, sondern ebenso als Begriff und Anschauung. Hier verbindet sich daher der jetzige Gedankengang, der seinen Ausgang von Kants transzendentaler Unterscheidung zwischen Rezeptivität und Spontaneität nimmt, mit früheren Überlegungen, die von Kants Unterscheidung zwischen Anschauung und Begriff ausgegangen sind (vgl. § 3 und § 11). Zum internen Verhältnis beider Unterscheidungen bemerkt Kant: es ist »der logische Unterschied zwischen Verstand und Sinnlichkeit, nach welchem diese nichts als Anschauungen, jener hingegen nichts als Begriffe liefert. Beide Grundvermögen lassen sich freilich auch noch von einer andern Seite betrachten und auf eine andre Art definieren; nämlich die Sinnlichkeit als ein Vermögen der Rezeptivität, der Verstand als ein Vermögen der Spontaneität. Allein diese Erklärungsart ist nicht logisch, sondern metaphysisch« (IX 36). Die transzendentale Grundunterscheidung von Anschauung und Begriff ist jetzt also »von einer andern Seite« zu betrachten, wobei die erneute Erörterung bereits angeführter Aussagen Kants nicht nur nicht zu
§ 18. Das menschliche Erkenntnisvermögen
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vermeiden, sondern für ihr angemessenes Verständnis auch notwendig sein wird. Die »Transzendentale Logik« der Kritik der reinen Vernunft beginnt mit der grundsätzlichen Feststellung: »Unsere Erkenntnis entspringt aus zwei Grundquellen des Gemüts, deren die erste ist, die Vorstellungen zu empfangen (die Rezeptivität der Eindrücke), die zweite das Vermögen, durch diese Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen (Spontaneität der Begriffe)« (KrV B 74). Für Kant entspringt demnach »unsere« Erkenntnis »aus zwei Grundquellen«, die sich primär nicht durch ihren Bewußtseinsinhalt (das »Was«), sondern durch ihre Bewußtseinsform (das »Wie«) unterscheiden: die eine »Quelle« ist rezeptiv, die andere hingegen spontan.72 Es wird sich aber sofort zeigen, daß Kant bei der analytischen Unterscheidung der beiden »Quellen« menschlicher Erkenntnis nur ansetzt, um im unmittelbaren Fortgang des Gedankengangs zur entscheidenden Vermittlung des am Anfang der transzendentalen Reflexion zunächst Unterschiedenen überzugehen. Die Passage aus der Kritik der reinen Vernunft, deren Anfang soeben zitiert wurde, wird deshalb von Kant folgendermaßen weitergeführt: »Anschauung und Begriffe machen also die Elemente aller unsrer Erkenntnis aus, so daß weder Begriffe, ohne ihnen auf einige Art korrespondierende Anschauung, noch Anschauung ohne Begriffe, eine Erkenntnis abgeben können« (KrV B 74). Die »rezeptive« Anschauung und der »spontane« Begriff werden demnach nur als »Elemente aller unsrer Erkenntnis« herausgehoben, damit sogleich deutlich wird, daß jedem einzelnen Element für sich genommen gar kein Erkenntnischarakter zugesprochen werden kann. Die zwei in der transzendentalen Analytik isolierten Erkenntniselemente »Anschauung« und »Begriff« sind somit zwar notwendige, aber durchaus nicht hinreichende Bedingungen der menschlichen Erkenntnis. Das Wesen der menschlichen Erkenntnis ist vielmehr erst dann hinreichend zu bestimmen, wenn im Ausgang von den beiden genannten Erkenntnismomenten auf die Unabdingbarkeit ihrer Verbindung für jede Erkenntnis reflektiert wird. Dazu ist es aber notwendig, die »logische« Unterscheidung von Anschauung und Begriff ganz konsequent mit der »metaphysischen« Unterscheidung von Rezeptivität und Spontaneität zu vermitteln. Diesen für die Kritik des spekulativen Vernunftgebrauchs entscheidenden Grundgedanken macht Kant in der weiteren Fortführung der zitierten Passage deutlich. Zunächst wird die »Rezeptivität unseres Gemüts« von Kant als »Sinnlichkeit«, die »Spontaneität des Erkenntnisses« hingegen als »Verstand« bezeichnet. Dabei wird aber erneut betont, daß keine »dieser Eigenschaften« der »an72
Charakteristischerweise ist es hier erneut nicht »die«, sondern unsere Erkenntnis, auf die Kant in transzendentaler Absicht reflektiert.
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dern vorzuziehen« sei (KrV B 75). Kant gibt nun jedoch auch eine erste Begründung seines Grundgedankens; sie lautet: »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es eben so notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d. i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen), als, seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d. i. sie unter Begriffe zu bringen). Beide Vermögen, oder Fähigkeiten, können auch ihre Funktionen nicht vertauschen. Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen« (KrV B 76 f.). Hier ist der systematische Ansatz der transzendentalen Kritik des spekulativen Vernunftgebrauchs sehr genau in einer komplexen Begriffskonstellation umschrieben, in der einige zentrale Motive, die bereits aus dem bislang zurückgelegten Gedankengang bekannt sind, neu zusammentreten. Das Wesen der menschlichen Erkenntnis wird von Kant als ursprüngliche Verbindung der beiden Erkenntnismomente »Anschauung« und »Begriff« verstanden. Denn nur »daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen«. Deshalb läßt sich das Spezifische der Erkenntnis in Wendungen beschreiben, die sich zunächst symmetrisch auf beide »Elemente« beziehen. Die menschliche Erkenntnis, die weder reines »Anschauen« noch reines »Denken« ist, »entspringt« überhaupt erst aus der Tätigkeit, »Begriffe sinnlich zu machen« oder »Anschauungen sich verständlich zu machen«. Das Machen, das hier in jedem Fall die Erkenntnis als Tätigkeit kennzeichnet, ist also stets eine »Vereinigung« von Verstand und Sinnlichkeit, Begriff und Anschauung. »Deswegen«, so Kant, hat man »große Ursache, jedes von dem andern sorgfältig abzusondern, und zu unterscheiden« (KrV B 77). Denn die zentrale Vermittlungsleistung jeder menschlichen Erkenntnis läßt sich in der transzendentalen Reflexion nur darstellen, wenn sie zuvor analytisch in ihre »Elemente« zerlegt wurde. Der für Kant entscheidende Gedanke wird aber noch deutlicher, wenn man die symmetrischen Wendungen zugunsten einer Formulierung verläßt, die bei der Spontaneität des Verstandes ansetzt. In diesem Sinne sagt Kant von der Spontaneität des Verstandesvermögens: ein »Verstand, in welchem durch das Selbstbewußtsein zugleich alles Mannigfaltige gegeben würde, würde anschauen«; beim menschlichen Verstand verhält es sich jedoch grundlegend anders, denn »der unsere kann nur denken und muß in den Sinnen die Anschauung suchen« (KrV B 135). Hier kommt der eigentümliche Charakter des »Könnens«, der für das menschliche Erkenntnisvermögen kennzeichnend ist, vollends heraus. Die innere Beschränkung der menschlichen Spontaneität macht sich im Denken des Verstandes selbst bemerkbar, weil dem menschlichen Denken, für sich genommen, das Moment der Anschaulichkeit fehlt, durch die das unanschauliche Denken erst zur gehaltvollen, zur Anschauung vermittelten Erkenntnis würde. Des-
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halb bedeuten für den Menschen »Denken« und »Erkennen« zweierlei, so daß der Verstand aus der Spontaneität des reinen Denkens heraustreten und zur Anschauung übergehen muß, ein Übergang, den Kant hier als »Suchen« der Anschauung umschreibt. Die eigentümliche Handlung des »Suchens« kann in der Tat sehr gut veranschaulichen, was Kant als transzendentale Grundstruktur des menschlichen Erkenntnisvermögens explizieren will. Das Suchen ist nämlich eine zunächst spontane Tätigkeit, die aber in sich selbst limitiert ist, weil sie sich nicht aus sich selbst heraus vollenden kann. Das Suchen ist daher (wie das Fragen) eine menschliche Tätigkeit, die bei aller notwendigen Aktivität eines nicht aus sich selbst erzeugen kann: das Gesuchte (die Antwort). Das Gesuchte wird zwar sicherlich nicht gefunden, wenn es nicht gesucht wird, doch kann das Suchen für sich genommen keineswegs sicher sein, daß es auch findet, was es sucht. Diese für alles menschliche »Können« konstitutive Unsicherheit des Gelingens bestimmt demnach auch von Grund auf das menschliche Erkenntnisvermögen als Wissenkönnen. Menschliche Erkenntnis ist immer spontan, doch liegt es nicht in ihrer Macht, zu verhindern, daß sie – als spontane Handlung – nicht nur gelingen, sondern stets auch mißlingen kann. Die analytische Unterscheidung der beiden »Elemente« der Erkenntnis wird damit verständlich als transzendentale Reflexion auf die Bedingungen einer Tätigkeit, die gelingen oder mißlingen kann. Denn eine solche Tätigkeit muß grundsätzlich spontan und auf ein Ziel gerichtet sein, damit überhaupt von einem Erreichen oder Nichterreichen des Intendierten gesprochen werden kann. Zugleich gehört es aber zum Wesen jeder spontanen Intentionalität, daß sie immer nur das Gelingen, niemals aber das Mißlingen intendiert (ein beabsichtigtes Mißlingen wäre, träte es ein, kein Mißlingen). Deshalb muß das faktische Mißlingen und somit auch sein Gegenteil, das faktische Gelingen, auf einem Moment beruhen, das nicht in der Spontaneität aufgeht: auf einem Moment der »Passivität« also, das bei Kant des näheren als sinnliche Anschauung bezeichnet wird, auf die sich das spontane Denken im Erkennen bezieht. Kants Diktum, daß Begriffe ohne Anschauung »leer« sind, bezeichnet somit sehr genau den Umstand, daß das spontane Erkennen, im Unterschied zum reinen Denken, stets über die eigene Spontaneität hinausgeht, indem es sich auf die Anschauung bezieht und in dieser Beziehung erkennen kann, »was da ist«. Die »Objektivität« der Erkenntnis ist jedoch keineswegs eine »fertige« Eigenschaft der isolierten sinnlichen Anschauung, da diese vielmehr für sich genommen »blind« ist und ihrerseits erst die Objektivität einer gehaltvollen Erkenntnis gewinnt, wenn sie im Denken verständlich gemacht wird. Die in der Erkenntnis intendierte »Objektivität« (Wahrheit) gründet also allein in der gelungenen Beziehung selbst, nicht in einem der beiden aufeinander bezogenen Elemente der
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Erkenntnis. Die vom Erkenntnisvermögen geleistete »Vereinigung« von Begriff und Anschauung ist somit eine ursprüngliche Einheit, die nicht nachträglich aus ihren »Elementen« zusammengestückt werden kann, weil den getrennten Elementen gerade dasjenige fehlt, was Kant in seiner Kritik des spekulativen Vernunftgebrauchs vorrangig interessieren muß: die Möglichkeit eines gelingenden oder mißlingenden Erkenntnisbezugs auf dasjenige, »was da ist«. Der nicht leicht zu fassende Punkt, auf den es hier ankommt, wird in der Fortsetzung der eingangs angeführten Passagen aus der Anthropologie noch von einer anderen Seite her beleuchtet. Kant verdeutlicht hier die grundlegende Differenz zwischen der sinnlichen Rezeptivität und der intellektuellen Spontaneität durch den sehr erhellenden Hinweis, daß beide Pole der menschlichen Erkenntnis für sich genommen, also isoliert betrachtet, schon jeweils von einer bestimmten Wissenschaft zum Thema gemacht werden. Das »obere« Erkenntnisvermögen, d. h. die »Spontaneität der Apperzeption«, welche »das Denken ausmacht«, wird nämlich für Kant von der »Logik« untersucht; das »untere« Erkenntnisvermögen hingegen, d. h. die »Passivität des inneren Sinnes der Empfindungen«, wird in der »Psychologie« behandelt. Die Psychologie entwickelt dabei einen »Inbegriff aller innern Wahrnehmungen unter Naturgesetzen«, während die Logik ein »System der Regeln des Verstandes« entwirft (VII 141).73 Damit macht Kant klar, was für Konsequenzen der eigentümliche Charakter des menschlichen Erkenntnisvermögens, weder rein intellektuell, noch rein empirisch zu sein, für die Grundstruktur einer Transzendentalphilosophie haben muß, die sich die »Kritik unserer Vermögensumstände« zum Ziel gesetzt hat. Denn ihr systematischer Ort ist ebenfalls durch ein Weder/Noch gekennzeichnet: die Transzendentalphilosophie ist keine »reine« Logik, die »von allem Inhalt der Erkenntnis, d. i. von aller Beziehung derselben auf das Objekt« abstrahiert (KrV B 79); noch weniger ist sie freilich eine empirische Psychologie. Vielmehr reflektiert eine transzendentale Logik zwar auf die formalen Bedingungen der Möglichkeit menschlicher Erkenntnis, doch verfolgt sie dabei – und dies ist Kants Pointe – die Absicht, ein inhaltliches Moment in den formalen Bedingungen menschlicher Erkenntnis herauszuarbeiten.74 73
Kants Unterscheidung zwischen einem »unteren« und einem »oberen« Erkenntnisvermögen beseitigt dergestalt die Unstimmigkeit, daß einerseits nur die Spontaneität »Vermögen« genannt wird (im Gegensatz zur »Rezeptivität), andererseits aber spontaner Verstand und rezeptive Sinnlichkeit gleichermaßen als »Vermögen« oder »Fähigkeiten« bezeichnet werden. Die sinnliche Anschauung ist für Kant nun auch zu den menschlichen Vermögen zu rechnen, doch ist sie ein »unteres« Vermögen, weil in ihr das Moment des Vermögens, die Spontaneität, nicht das dominierende Moment ist, wie es bei dem »oberen« Vermögen, dem Verstandesdenken, der Fall ist. 74 Im Anschluß an Kant hat Gerold Prauss die Sonderstellung der Philosophie gegenüber
§ 18. Das menschliche Erkenntnisvermögen
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Indem nämlich die »reine« Logik »von allem Inhalt der Erkenntnis« abstrahiert, abstrahiert sie auch von der spezifischen Erkenntnisleistung selbst, die gerade in der transzendentalen Beziehung des Denkens »auf das Objekt« besteht, die sich nicht auf einem rein logischen Weg aus dem »System der Regeln des Verstandes« ergibt, ohne daß dieser objektive Bezug des Denkens deshalb als »unlogisch« oder »irrational« verstanden werden und dergestalt unverstanden bleiben müßte. Vielmehr wird gerade von einer genuin transzendentalen Logik diese »irrationale« Konsequenz eines allzu engen Rationalitätsbegriffs vermieden, indem sie die »Regeln« der reinen Logik als Abstraktion begreift, die »von allem Inhalt der Erkenntnis, d. i. von aller Beziehung derselben auf das Objekt« absieht. Dem reinen Denken liegt also immer schon die konkrete Erkenntnis und die für sie spezifische Vermittlungsleistung zu Grunde, auch wenn das der Sache nach Erste, die »Verbindung« von Anschauung und Begriff, in der nachvollziehenden Reflexion der Transzendentalphilosophie erst am Ende vollständig erkannt werden kann. Das Spezifische einer transzendentalen Logik läßt sich daher nicht innerhalb der üblichen Einteilung der Logik in eine »reine« und eine »angewandte« Logik fassen. Denn die reine Logik, so Kant, »ist ein Kanon des Verstandes und der Vernunft, aber nur in Ansehung des Formalen ihres Gebrauchs, der Inhalt mag sein, welcher er wolle (empirisch oder transzendental)«. Die angewandte Logik ist dagegen »auf die Regeln des Gebrauchs des Verstandes unter den subjektiven empirischen Bedingungen, die uns die Psychologie lehrt, gerichtet« (KrV B 77). Sie gibt dergestalt »eine Vorstellung des Verstandes« unter »den zufälligen Bedingungen des Subjekts, die diesen Gebrauch hindern oder befördern können, und die insgesamt nur empirisch gegeben werden«, während die reine Logik »mit nichts als der bloßen Form des Denkens zu tun« hat (KrV B 78 f.). Gegenüber der reinen und angewandten Logik, die bei Kant beide der »allgemeinen Logik« zugerechnet werden, ist demnach eine transzendentale Logik wesentlich dadurch bestimmt, daß sie auf die nicht »zufälligen Bedingungen des Subjekts« reflektiert, welche den spekulativen Vernunftgebrauch als solchen möglich machen. Eine transzendentale Logik, »in der man nicht von allem Inhalt der Erkenntnis abstrahierte«, wäre mithin eine Logik, die »den Ursprung unserer Erkenntnisse von Gegenständen« ergründet, »so fern er nicht den Gegenständen zugeschrieben werden kann; da hingegen die allgemeine Logik mit diesem Ursprunge der Erkenntnis nichts zu tun hat« (KrV B 80, Hervorhebung: A. H.).
den empirischen Wissenschaften auf der einen Seite und der Logik auf der anderen Seite hervorgehoben: »offenbar«, so Prauss, ist die Philosophie »weder eine empirische Wissenschaft, wie etwa die Naturwissenschaften, noch eine nichtempirische Formalwissenschaft, wie etwa die Logik und Mathematik« (Prauss 1993, S. 8).
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Diese für die Transzendentalphilosophie schlechthin konstitutive Reflexion auf die weder rein formalen, noch zufälligen Bedingungen des Subjekts für jede menschliche Erkenntnis kommt auch darin zum Ausdruck, daß die transzendentale Vernunftkritik, wie bereits angedeutet wurde, nicht von einer Kritik des Erkenntnisvermögens schlechthin handelt, sondern von einer »Kritik unserer Vermögensumstände« – und daß eine solche Verwendung der ersten Person Plural sich immer wieder findet, wenn Kant vom Erkenntnisvermögen spricht. Offenkundig unterscheidet sich ein dergestalt angesprochenes Vermögen von jedem empirisch vereinzelten, zufälligen und in diesem Sinne »psychologischen« Vermögen: die Transzendentalphilosophie untersucht die Grundlagen einer Erkenntnis, die sich von der Verfassung einer zufälligen Privatmeinung – einem »Privat-Horizont« – prinzipiell absetzt. Gleichwohl spricht Kant nicht von einer Erkenntnis »an sich« oder einem Erkennen »überhaupt«. Das von ihm thematisierte Erkenntnisvermögen zielt zwar auf eine überindividuelle Erkenntnis ab, es bleibt aber stets unser Erkenntnisvermögen, weil der transzendentale Wahrheitsgehalt menschlicher Erkenntnis und die besondere Wirklichkeit des Menschen wechselseitig aufeinander verweisen. Und Kants Begriff des menschlichen Erkenntnisvermögens bildet exakt den systematischen »Kreuzungspunkt«, an dem sich die gegenläufigen und zugleich aufeinander bezogenen Momente einer transzendentalen Kritik des spekulativen Vernunftgebrauchs begegnen.
§ 19. Zum Streit der Kant-Deutungen Aus dem bisher Gesagten ergibt sich bereits, daß der vermögenstheoretische Ansatz von Kants Kritik des spekulativen Vernunftgebrauchs nicht ohne weiteres mit dem üblichen Verständnis der Transzendentalphilosophie in Einklang zu bringen ist. Denn wie sollte eine Philosophie, die – so die gängige Auffassung – die Rechtmäßigkeit empirischer Erfahrung durch den Rückgang auf ihre apriorischen Möglichkeitsbedingungen überhaupt erst erweisen will, bei diesem Unternehmen eben jene empirische Erfahrung bereits in Anspruch nehmen können, ohne in einen vitiösen Zirkel zu geraten? Der irreduzible »Erdenrest«, der – wie sich gezeigt hat– für Kants Vermögenstheorie konstitutiv ist, bleibt also peinlich zu tragen, solange davon ausgegangen wird, daß er nur auf etwas bereits Konstituiertes verweisen kann; dies darf aber offenkundig nicht zugestanden werden, weil so ein Konstituiertes zum Konstituens des konstituierenden Erkenntnisvermögens erklärt würde. Es kann daher nicht überraschen, daß die Kant-Deutung in der fragilen Zwischenstellung, die Kants Denken zwischen den hergebrachten Positionen einzunehmen sucht, häufig nicht die Stärke, sondern die Schwäche der Transzenden-
§ 19. Zum Streit der Kant-Deutungen
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talphilosophie vermutet hat. So beanstandet Peter Strawson in seiner einflußreichen Studie »The Bounds of Sense«, daß die Kritik der reinen Vernunft durchweg in einem »psychologischen Idiom« geschrieben sei, der das Verständnis erheblich erschwere. Für Strawson ist Kants Lehre von den menschlichen Erkenntnisvermögen »zweifellos« in sich selbst widersprüchlich, weshalb sie nicht etwa auf den »wirklichen Charakter« von Kants Untersuchung hinführt, sondern ihn nur verdeckt. Die drohende Konfusion kann deshalb bei Strawson nur dadurch vermieden werden, daß die »psychologische« und die »analytische Seite« der Vernunftkritik »entwirrt«, d. h. zugunsten der letzteren strikt voneinander getrennt werden (Strawson 1966, S. 16–19). Das »psychologische« Moment des Vermögensbegriffs wird also abgewehrt, weil es die analytische »Reinheit« der Vernunftkritik bedroht. Eine solche »Reinigung« würde aber allenfalls zu einer »halbierten« Transzendentalphilosophie führen, da sie ignoriert, wie sehr es für Kants Vermögensbegriff von zentraler Bedeutung ist, daß er ein Moment der Faktizität aufweist, durch das er sich von einer »reinen« Spontaneität oder einem »reinen« Denken unterscheidet, ohne dadurch in eine abstrakte Opposition zu ihnen zu treten.75 Diesen Punkt hebt Walter Schulz hervor, wenn er den »Kern« der Vermögenstheorie Kants dahingehend bestimmt, daß die transzendentalen Vermögen »anerschaffene und insofern endliche Anlagen des Menschen« sind. Der endliche Charakter der Vermögen führt dazu, daß die menschliche Spontaneität bei Kant nur als Aktualisierung einer ihr notwendig zuvorkommenden »Anlage« begriffen werden kann, nicht aber als absolute Spontaneität, d. h. als »reines Aus-sich-entspringen« (Schulz 1972, S. 356). Freilich betrachtet auch Schulz diese von ihm zutreffend beschriebene Eigentümlichkeit des Kantischen Vermögensbegriffs nicht als Vorzug, sondern als Mangel, der die Transzendentalphilosophie zur »Episode« auf dem Weg zum »Deutschen Idealismus« herabsetzt. Denn erst hier (insbesondere bei Hegel) findet für Schulz der entscheidende Fortschritt statt, daß sich die Idee der Spontaneität von der Endlichkeit des Kantischen Vermögensbegriffs ablöst (a. a.O., S. 362).
75
Der entscheidende Sachverhalt, daß das Spezifikum von Kants Transzendentalphilosophie in der dem Denken zuvorkommenden Faktizität des Denkens gründet, wird auch von Josef Simon betont: »Es ist der einschneidende Gegensatz Kants zur alten Metaphysik, daß zum Gedanken des sich selbst denkenden Denkens (›noesis noeseos‹) ein Vorfinden und sogar ein Sich-Vorfinden gehört« (Simon 1969, S. 40; ähnlich: Beck 1974, S. 59 und Anacker 1974, S. 1601). Deshalb muß es an der Pointe der Transzendentalphilosophie vorbeiführen, wenn man wie Ingeborg Heidemann das Irritierende des Vermögensbegriffs dadurch zu bändigen sucht, daß die Begriffe »Vermögen« und »Spontaneität« restlos miteinander identifiziert werden (Heidemann 1958, S. 237).
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Damit formulieren Strawson und Schulz aber nur auf je eigene und pointierte Weise eine Schwierigkeit, welche die Kant-Deutung von Anfang an beschäftigt hat. Denn seit Reinholds »Briefen über die Kantische Philosophie« ist das unklare Verhältnis der Transzendentalphilosophie zur »Vermögenspsychologie« moniert worden76, und von Kuno Fischer wird die Frage, ob die Kritik der reinen Vernunft »metaphysisch« oder »anthropologisch« aufzufassen sei, geradezu zum Leitproblem der nachkantischen Philosophiegeschichte erklärt.77 Kants »Verknüpfung« von Logik und Psychologie, Metaphysik und Anthropologie im Projekt seiner Transzendentalphilosophie wird also in der Folgezeit durchaus gesehen und immer wieder thematisiert, aber nur, um die damit entstandene Verwirrung zu »entwirren«, indem Kants Verknüpfung zugunsten der einen oder der anderen Seite wieder aufgelöst wird. Diese ganz knappe Vergegenwärtigung der beiden Hauptstrategien der KantDeutung genügt bereits, um einen überraschenden Sachverhalt zu verdeutlichen: Kants Nachgeschichte ist durch den Widerstreit eben jener zwei Grundpositionen gekennzeichnet, die nach Kants eigenem Verständnis die Vorgeschichte der Vernunftkritik geprägt haben. Kants Grundunterscheidung zwischen sinnlicher Rezeptivität und intellektueller Spontaneität will ja gerade den Ansatz für einen Ausweg aus dem endlosen Streit bieten, in dem entweder (wie bei Leibniz) die Sinnlichkeit »intellektuiert«, oder (wie bei Locke) der Verstand »sensifiziert« wird. Denn »anstatt im Verstande und der Sinnlichkeit zwei ganz verschiedene Quellen von Vorstellungen zu suchen, die aber nur in der Verknüpfung objektivgültig von Dingen urteilen könnten, hielt sich ein jeder dieser großen Männer nur an eine von beiden« (KrV B 327). Der kritische Weg der Transzendentalphilosophie, der hier für Kant »allein noch offen« ist, besteht also darin, auf die ganz eigentümliche Leistung der Verknüpfung von zwei ganz heterogenen Stücken zu reflektieren, die das menschliche Erkenntnisvermögen erst zu dem macht, was es ist. Findet eine solche Reflexion nicht statt, dann ergibt sich Kant zufolge ein Dogmatismus der Vernunft, der meint, »ohne vorangehende Kritik ihres eigenen Vermögens« auskommen zu können (KrV B XXXV). Das »Kindesalter« der dogmatischen Naivität ruft als Gegenreaktion den Skeptizismus der Vernunft hervor, der durch eine »Vorsichtigkeit der durch Erfahrung gewitzigten Urteilskraft« (KrV B 789) geprägt ist. Jetzt wird zwar auf die Struktureigentümlichkeit einer menschlichen Vernunft explizit reflektiert, doch so, daß die Aufmerksam76
Vgl. Beiser 1987. Fischer 1899, S. 631. – Die im 19. Jahrhundert noch durchaus unentschiedene Diskussion wird dann durch Frege und Husserl weitgehend auf eine antipsychologische Richtung festgelegt: nur wenige Philosophen sind seitdem noch das Risiko eingegangen, sich dem Vorwurf des »Psychologismus« bzw. »Naturalismus« auszusetzen (vgl. Kitcher 1990). 77
§ 19. Zum Streit der Kant-Deutungen
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keit auf die Bedingtheit der Vernunft dazu führt, ihr jede Möglichkeit abzusprechen, die eigene Bedingtheit auch überwinden zu können. Diese skeptische Position ist freilich nur auf den ersten Blick der dogmatischen Position diametral entgegengesetzt; denn bei näherem Hinsehen wird ersichtlich, daß sich beide Positionen an einem unkritischen, d. h. »absoluten« Vernunftbegriff orientieren, der eine interne Vermittlung von Bedingtheit und Unbedingtheit von vornherein ausschließt. Der Vernunftdogmatismus zieht daraus den Schluß, daß die menschliche Vernunft, weil sie Vernunft ist, nicht bedingt sein kann. Der Vernunftskeptizismus zieht hingegen aus derselben Voraussetzung den umgekehrten Schluß, daß die menschliche Vernunft, weil sie menschlich ist, nicht unbedingt sein kann. Der »dritte«, d. h. genuin kritische Weg Kants, »der nur der gereiften und männlichen Urteilskraft zukommt« (ebd.), hebt demgegenüber in der Auseinandersetzung mit den beiden anderen Positionen auf die Grundeinsicht ab, daß der Begriff einer menschlichen Vernunft keine contradictio in adjecto darstellt, die man philosophisch entweder zugunsten des Rational-Vernünftigen oder Empirisch-Menschlichen auflösen muß. Vielmehr bestimmt dieser Begriff für Kant sehr genau den wahren »Standpunkt« der Philosophie, »der fest sein soll, unerachtet er weder im Himmel noch auf der Erde an etwas gehängt oder woran gestützt wird« (IV 425). Der transzendentale Übergang von einer »absoluten« zu einer menschlichen Vernunft stellt somit einen wirklichen Neuansatz dar, der das relative Recht der beiden vorangegangenen Positionen aufnimmt und zugleich die gemeinsame Voraussetzung ihres endlosen Streites kritisiert, um sie durch eine vermögenstheoretische Begründung der Transzendentalphilosophie zu ersetzen, die am Ende auf eine grundlegende Neubestimmung des Vernunftbegriffs am transzendentalen Leitfaden des in sich differenzierten Vernunftinteresses und des mit ihm einhergehenden zweifachen Vernunftgebrauchs abzielt. Kant hätte es also gewissermaßen voraussagen können, daß seine Nachfolger erneut in zwei Lager zerfallen werden, sobald sie die von Kant im menschlichen Erkenntnisvermögen aufgespürte »Verknüpfung« nicht länger als Lösungsansatz, sondern nur als eine Verwirrung deuten, die durch eine säuberliche Trennung der bei Kant zusammengedachten Momente behoben werden muß. Demgegenüber läßt sich die hier verfolgte Deutungsperspektive von der These leiten, daß die genannten Interpretationsalternativen »Logik oder Psychologie« bzw. »Metaphysik oder Anthropologie« am Spezifischen der Transzendentalphilosophie vorbei zielen. Kant läßt sich weder auf den Kopf noch auf die Füße stellen. Statt dessen muß noch genauer untersucht werden, wie Kant am Leitfaden des Vermögensbegriffs eine »Zwischenstellung« herausarbeitet, die nicht aus einer äußerlichen Zusammensetzung getrennter Momente resultiert, sondern die Eigenständigkeit des Menschen als ein einheitliches, in sich differenziertes Phänomen kennzeichnet.
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§ 20. Irrtum Der wesentliche Punkt in Kants Kritik des spekulativen Vernunftgebrauchs, der noch näher untersucht werden muß, ist von der bisherigen Überlegung bereits angesprochen worden. Es ist der sachliche Rechtsgrund, der von Kant bei seiner analytischen Unterscheidung der beiden »Elemente« der menschlichen Erkenntnis in Anspruch genommen wird: der zentrale Umstand nämlich, daß jede konkrete Erkenntnis nicht nur gelingen, sondern immer auch mißlingen kann. Das Erkennen dessen, »was da ist«, wird dergestalt transzendentalphilosophisch als besondere Form der menschlichen Tätigkeit oder des menschlichen Könnens begriffen, das zwar spontan auf ein Ziel gerichtet ist, das jedoch das faktische Erreichen des Ziels nicht aus sich heraus verbürgen kann. Diese in der transzendentalen Struktur des menschlichen Könnens begründete Fehlbarkeit jeder konkreten menschlichen Tätigkeit ist nun noch genauer zu entwickeln, wobei zunächst erneut beim menschlichen Vermögen im allgemeinen angesetzt wird, um dann die Aufmerksamkeit schrittweise auf die spezifische Fehlbarkeit des Erkenntnisvermögens und den in ihr enthaltenen Verweis auf die ebenso spezifische Leistung des Erkennens zu konzentrieren. Die besondere Berücksichtigung der Fehlbarkeit des menschlichen Vermögens ist für Kants Philosophie insgesamt kennzeichnend. So heißt es in dem frühen Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen (1767): »Der Mensch kann fehlen; der Grund dieser Fehlbarkeit liegt in der Endlichkeit seiner Natur, denn wenn ich den Begriff eines endlichen Geistes auflöse, so sehe ich, daß die Fehlbarkeit in demselben liege, das ist, einerlei sei mit demjenigen, was in dem Begriffe eines Geistes enthalten ist« (II 202).78 Und in der späten Schrift Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793) wendet sich Kant gegen diejenigen, die annehmen, daß das »Oberhaupt« eines Staates »auch nicht einmal irren« könne; dabei gebraucht er die für die Transzendentalphilosophie höchst charakteristische Wendung, daß eine solche Annahme das Staatsoberhaupt »als mit himmlischen Eingebungen begnadigt und über die Menschheit erhaben vorstellen« würde (VIII 304). Der Umkehrschluß aus dem letzten Satz kann aber nur lauten, daß es für Kant ganz wesentlich zum Menschlichen der »Menschheit« gehört, daß sie nicht »mit himmlischen Eingebungen« irgendwelcher Art »begnadigt« ist und deshalb die Möglichkeit des Irrtums niemals ausschließen kann. Eine eminent politische Konsequenz aus der von Kant stets betonten Irrtumsanfälligkeit des Menschen läßt sich im Anschluß an die eben zitierte Stelle er78
Daher ist auch die »reine« Vernunft bei Kant »eine endliche, prinzipiell fehlbare Vernunft. Leider wird diese Prämisse oft übersehen« (Gerhardt 1987, S. 144).
§ 20. Irrtum
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läutern. Kant fordert nämlich angesichts der prinzipiellen Fehlbarkeit der Obrigkeit, daß jedem »Staatsbürger und zwar mit Vergünstigung des Oberherrn selbst die Befugnis zustehen« muß, »seine Meinung über das, was von den Verfügungen desselben ihm ein Unrecht gegen das gemeine Wesen zu sein scheint, öffentlich bekannt zu machen« (ebd.). Dieser zunächst im politischen Zusammenhang formulierte systematische Zusammenhang aus Fehlbarkeit und öffentlicher Kritik bestimmt aber nach Kants Verständnis auch das Projekt einer transzendentalen Vernunftkritik von Grund auf. So heißt es bereits in der Vorrede zur ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft: »Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion durch ihre Heiligkeit und Gesetzgebung durch ihre Majestät wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können« (KrV A XI Anm.). Die Idee einer transzendentalen Vernunftkritik entspringt nun des näheren der Grundeinsicht Kants, daß die Vernunft nur dann diejenige Instanz ist, die unverstellte, d. h. aus der Möglichkeit einer freien Kritik hervorgehende Achtung »bewilligen« kann, wenn sie sich selbst kritisiert hat. »Die Vernunft muß sich« deshalb für Kant »in allen ihren Unternehmungen der Kritik unterwerfen und kann der Freiheit derselben durch kein Verbot Abbruch tun, ohne sich selbst zu schaden und einen ihr nachteiligen Verdacht auf sich zu ziehen«. Denn auf »dieser Freiheit beruht sogar die Existenz der Vernunft, die kein diktatorisches Ansehen hat, sondern deren Ausspruch jederzeit nichts als die Einstimmung freier Bürger ist, deren jeglicher seine Bedenklichkeiten, ja sogar sein veto ohne Zurückhalten muß äußern können« (KrV B 766 f.). Die Bedingung jeder vernünftigen Kritik ist daher die transzendentale Selbstkritik der Vernunft, durch die sie allein die freie Autorität gewinnt, die jene Achtung »bewilligen« und zugleich für sich selbst fordern kann, die einer »diktatorischen« Autorität niemals zukommt. Die eigentümliche Freiheit der Kritik, auf der »sogar die Existenz der Vernunft« beruht, entspringt also der spezifischen Endlichkeit des menschlichen Vermögens, welche die Kritik zugleich nötig und möglich macht. Diese von Kant immer wieder betonte Endlichkeit der menschlichen Vernunft ist daher, wie bereits bei der transzendentalen Reflexion auf die interne Verschränkung von Aktivität und Passivität im menschlichen Erkenntnisvermögen herausgehoben wurde, durchaus nicht in dem äußerlichen Sinne zu verstehen, daß die »Endlichkeit« eine für sich genommen »unendliche« Vernunft nur irgendwie »einschränken« würde, wodurch sie, wenn sie Fehler macht und sich irrt, nicht mehr die Vernunft bleibt, die sie »eigentlich« ist. Vielmehr bestimmt die von Kant immer wieder reflektierte Endlichkeit das »Wie« des menschlichen Vermögens im allgemeinen und des menschlichen Erkenntnisvermögens im besonderen von Grund auf,
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so daß das Fehlerhafte und das Richtige im »Gebrauch« der menschlichen Vernunft gleichermaßen von ihr geprägt ist. Die Endlichkeit beschreibt somit durchaus nicht das, was die Vernunft nicht ist, sondern das, was sie ist: nicht das, was sie nicht kann, sondern die Art, wie sie das kann, was sie kann. Freilich ist diese allgemeine Struktur der menschlichen Intentionalität noch zu unbestimmt, um das spezifische Wesen des menschlichen Erkenntnisvermögens transzendental erhellen zu können. Denn das menschliche Können läßt sich zwar im allgemeinen durch die angegebene Form (das »Wie«) der Endlichkeit bestimmen, doch ist der Inhalt, d. h. das im Können konkret Beabsichtigte (das »Was«), zugleich völlig unbestimmt. Was er im Einzelfall beabsichtigt, steht also für gewöhnlich im Belieben des Menschen, während es nicht in seinem Belieben steht, daß er das, was er will, nur im »Wie« des Könnens wollen kann, welches das Gewollte zwar spontan intendiert, jedoch den Erfolg der Absicht nicht aus sich heraus garantieren kann. Demgegenüber thematisiert die transzendentale Kritik Kants stets ein menschliches Vermögen, das über die bestimmte Form der Endlichkeit hinaus auch eine bestimmte Absicht aufweist, die nicht im Belieben des Menschen steht. Ein solches Vermögen kann im Unterschied zu den übrigen Vermögen des Menschen ein transzendentales Vermögen genannt werden, das durch ein nicht beliebiges Vernunftinteresse bestimmt ist, welches sich des näheren in ein spekulatives und praktisches Interesse differenziert. Das spekulative Vernunftinteresse und der von ihm angeleitete spekulative Vernunftgebrauch ist deshalb nicht nur durch die Form der endlichen Intentionalität und die in ihr begründete Fehlbarkeit im allgemeinen, sondern durch die nicht im Belieben der theoretisch-spekulativen Erkenntnis stehende Wahrheitsintention im besonderen bestimmt. Die Erkenntnis dessen, »was da ist«, meint stets und notwendig eine Erkenntnis dessen, was in Wahrheit »da ist«. Diese spezifische Intention auf Wahrheitserkenntnis kennt daher auch eine spezifische Form des Verfehlens der eigenen Absicht, d. h. eine spezifische Form des Mißerfolgs: den Irrtum. Die Möglichkeit der Wahrheit und die Gegenmöglichkeit des Irrtums gehören also stets zusammen, da sie aus ein und demselben Ermöglichungsgrund, dem menschlichen Erkenntnisvermögen, entspringen. Die transzendentale Kritik des spekulativen Vernunftgebrauchs wird also vor allem zu ergründen haben, was es für das menschliche Erkenntnisvermögen des näheren in systematischer Hinsicht bedeutet, daß jede Erkenntnis nicht nur wahr, sondern auch stets falsch sein kann.79
79
Es macht einen auffälligen Mangel vieler Erkenntnistheorien aus, daß sie auf diese ganz elementare Gegenmöglichkeit jeder wahren Erkenntnis, den Irrtum, nicht ausdrücklich reflektieren, wodurch der thematisierte Erkenntnisbegriff von vornherein entscheidend verkürzt wird (vgl. Prauss 1983, S. 312 f.; Günther 1978, S. 22).
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Durch die wesentliche Gleichursprünglichkeit von Wahrheit und Irrtum läßt sich der transzendentale Begriff des Erkenntnisvermögens entscheidend präzisieren, »denn Irrtum sowohl als Wahrheit ist nur im Urteile« (IX 53). Die bislang als »Verbindung« der elementaren Momente jeder Erkenntnis nur vorab umschriebene, an sich selbst aber noch völlig unbestimmte Erkenntnisleistung, die jede menschliche Erkenntnis überhaupt erst zu einer Erkenntnis macht, wird hier von Kant als Urteil bestimmt. Denn »Wahrheit« ist für Kant »nicht im Gegenstande, so fern er angeschaut wird, sondern im Urteile über denselben, so fern er gedacht wird. Man kann also zwar richtig sagen, daß die Sinne nicht irren, aber nicht darum, weil sie jederzeit richtig urteilen, sondern weil sie gar nicht urteilen. Daher sind Wahrheit sowohl als Irrtum«, wie Kant erneut betont, »nur im Urteile« (KrV B 350). Die spezifische Leistung des Urteils läßt sich daher in einem ersten Anlauf näher bestimmen, indem die Begriffskonstellation von Wahrheit, Irrtum und Urteil weiter expliziert wird. Aus dem bisherigen Gedankengang ist Kants Gedanke bereits vertraut, daß die Wahrheit einer Erkenntnis nicht im Gegenstand sein kann, »so fern er angeschaut wird«. Neu und aufschlußreich ist jedoch Kants Begründung für diesen Gedanken. Die »Sinne« sind nämlich in ihrer anschaulichen Rezeptivität nur deshalb zu keinem »Irrtum« fähig, weil sie »gar nicht urteilen«, nicht aber, weil sie »jederzeit richtig urteilen«. Der in der Urteilslosigkeit begründete Ausschluß der Irrtumsfähigkeit bedeutet daher zugleich den Ausschluß der Wahrheitsfähigkeit der sinnlichen Anschauung. Daß die Wahrheit der menschlichen Erkenntnis »nur im Urteile« ist, bedeutet daher bei Kant nicht nur, daß das Urteil und nur das Urteil wahr sein kann, sondern ebenso, daß das Urteil und nur das Urteil irrig sein kann. Für Kant haben Wahrheit und Irrtum somit ein und denselben Grund ihrer Möglichkeit: das menschliche Urteil, dessen Wesen folglich nur verkürzt und am Ende gar nicht begriffen wäre, wollte man es ausschließlich als den Ermöglichungsgrund der Wahrheit verstehen. Die Vernunftfrage »Was kann ich wissen?« wird sich demnach allein im Ausgang einer transzendentalphilosophischen Reflexion auf die Struktur des Urteils beantworten lassen, die nur dann unverkürzt in Blick kommt, wenn nicht nur die Wahrheitsfähigkeit, sondern ebenso und sogar primär die Irrtumsfähigkeit des menschlichen Urteils berücksichtigt wird.80 Wäre nämlich das menschliche Erkennen nichts anderes als ein passives Konstatieren von »objektiven« Sachverhalten, dann gäbe es nur zwei Formen der Erkenntnis: Erkennen oder Nichterkennen, d. h. die »Anwesenheit« des Sachver-
80
Vgl. zum philosophischen Begriff des Irrtums im allgemeinen: Schwarz 1976; zu Kants Theorie des Irrtums im besonderen: Guillermit 1981 und Pinder 1987.
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halts in der Erkenntnis oder seine Abwesenheit.81 Die dergestalt durch einen »objektivistisch« verstandenen Gegenstand hinreichend bestimmte Erkenntnis würde aber in dem sehr genauen Sinne »vergegenständlicht«, daß sie, wie der zu erkennende Gegenstand, nur zwei Seinsweisen kennt: Sein und Nichtsein. Tatsächlich kennt die menschliche Erkenntnis jedoch noch eine andere Seinsweise, die den Gegenständen schlechterdings fremd ist: den Irrtum, der nicht etwa das Nichtsein, sondern das Falschsein einer Erkenntnis bedeutet.82 Dieser Seinsmodus ist aber, wie bereits gezeigt wurde, spezifisch für Tätigkeiten, die nicht nur einfach sein und nicht sein können, sondern, insofern sie sind, gelingen und mißlingen können.83 Kants prinzipielle Abkehr vom »objektivistischen« Standpunkt hebt also immer wieder von neuem darauf ab, daß »Erkennen« ein intentionaler Akt ist, dessen spezifische Leistung sich nicht vergegenständlichen läßt. Deshalb muß jede menschliche Erkenntnis primär als Spontaneität begriffen werden, die über die »Passivität« des vergegenständlichten Seins oder Nichtseins grundsätzlich hinausgeht. Denn nur durch den zentralen Sachverhalt, daß der Mensch in jeder Erkenntnis eine gegebene Anschauung spontan auf die in der Erkenntnis intendierte Wahrheit bezieht und dergestalt überschreitet, läßt sich überhaupt die zweifache Möglichkeit verständlich machen, daß jeder Erkenntnis Wahrheit oder Falschheit im Sinne einer gelingenden oder mißlingenden Wahrheitsintention zukommt. Allerdings begründet Kant die Wahrheit (und Falschheit) einer Erkenntnis auch nicht, wie man nun vielleicht erwarten könnte, unmittelbar im Gegenstand, »so fern er gedacht wird«, sondern »im Urteile über denselben, so fern er gedacht wird«. Diese subtile, aber ganz deutliche Differenz zwischen Denken und Urteilen ist für Kants Kritik des spekulativen Vernunftgebrauchs entscheidend. Denn innerhalb der elementaren Differenz zwischen sinnlich passiver Anschauung und begrifflich spontanem Denken setzt Kant zwar offenkundig bei letzterem an, doch so, daß für ihn die Spontaneität des Denkens nur der Ausgangspunkt der transzendentalen Kritik ist, nicht aber bereits der systematische Ort, an dem die spezifische Wahrheit der menschlichen Erkenntnis transzendentalphilosophisch erörtert werden kann. Dieser systematische Ort kommt vielmehr erst dann in den Blick, wenn die Spontaneität zur spontanen Verbindung von Spontaneität und Rezeptivität fortbestimmt wird (vgl. § 18). Die reine Spontaneität 81 Das Modell hierfür ist die einfache Sinneswahrnehmung: mache ich die Augen auf, konstatiere ich, was zu sehen ist; schließe ich die Augen oder ist mir das Objekt auf andere Weise »verdeckt«, dann konstatiere ich das von mir unabhängige Objekt nicht. 82 Genaugenommen ist der Irrtum das Fürwahrhalten einer falschen Erkenntnis: »Das Gegenteil von der Wahrheit ist die Falschheit, welche, sofern sie für Wahrheit gehalten wird, Irrtum heißt« (IX 53). 83 Vgl. zu diesem wichtigen Punkt: Prauss 1971, S. 12 f. und 1989a, S. 65 ff.
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des begrifflichen Denkens ist die notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung menschlicher Erkenntnis, welche daher erst im Urteil, das anschauliche Rezeptivität und begriffliche Spontaneität verbindet, die für das menschliche Erkenntnisvermögen spezifische Wirklichkeit der konkreten Wahrheit oder Falschheit gewinnt.84 Kant kann deshalb das »Urteil« definieren als »ein Verhältnis, das objektiv gültig ist, und sich von dem Verhältnis eben derselben Vorstellungen, worin bloß subjektive Gültigkeit wäre, z. B. nach Gesetzen der Assoziation, hinreichend unterscheidet« (KrV B 142). Von einem »Urteil« kann transzendentalphilosophisch also nicht schon dann gesprochen werden, wenn »Vorstellungen« in ein Verhältnis gesetzt werden, sondern nur dann, wenn sie in ein Verhältnis gesetzt werden, das »objektiv gültig« ist. Die »Objektivität« des Urteils kann dabei offenkundig nicht in den »Vorstellungen« begründet sein, da es ausdrücklich eben dieselben Vorstellungen sind, die einmal nur »subjektive« und einmal »objektive« Gültigkeit beanspruchen. Ebensowenig kann das »Verhältnis«, in das die Vorstellungen gesetzt werden, als solches schon die »Objektivität« ausmachen. Vielmehr ist es erst das ganz eigentümliche »Verhältnis«, das die Vorstellungen eingehen, wenn sie im Urteil mit der Wahrheitsintention verbunden werden, dasjenige zu erkennen, »was da ist«; eine Intention, die dem Verhältnis von Vorstellungen »nach Gesetzen der Assoziation« gänzlich fremd ist. Hier wird nun vollends deutlich, wie wichtig die Betonung der beständigen Irrtumsmöglichkeit für das angemessene Verständnis von Kants transzendentaler Urteilstheorie ist. Denn Kants Lehrstück, die »Objektivität« der menschlichen Erkenntnis sei in der spezifischen Wahrheitsintention des Urteils zu begründen, wäre von vornherein mißverstanden, wollte man unter »Objektivität« ausschließlich die Wahrheit (und nicht ebenso das Falschsein) von Urteilen verstehen. Statt dessen meint »Objektivität« im streng transzendentalen Sinne die Möglichkeit von Wahrheit und Falschheit eines Urteils. Ein falsches Urteil ist nämlich in genau demselben Sinne »objektiv« falsch wie ein wahres Urteil »objektiv« wahr ist. Es kann also keine Rede davon sein, daß für Kant das Urteil faktisch bereits eine wahre Erkenntnis erzielt, nur weil es stets eine solche intendiert. Vielmehr ist der zentrale Umstand, daß der Mensch im theoretisch84
Genau deshalb mußte die ursprüngliche Verbindung des Urteils in der transzendentalen Elementaranalyse zunächst in zwei Momente (Anschauung der Sinnlichkeit und Begriff des Verstandes) zerlegt werden. Denn es ist Kant zufolge nötig, das »Urteil als die Diagonale zwischen zwei Kräften anzusehen, die das Urteil nach zwei verschiedenen Richtungen bestimmen, die gleichsam einen Winkel einschließen, und jene zusammengesetzte Wirkung in die einfache des Verstandes und der Sinnlichkeit aufzulösen, welches in reinen Urteilen a priori durch transzendentale Überlegung geschehen muß, wodurch (wie schon angezeigt worden) jeder Vorstellung ihre Stelle in der ihr angemessenen Erkenntniskraft angewiesen« wird (KrV B 351).
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spekulativen Urteil nicht anders kann, als Wahrheit zu intendieren, der transzendentale Grund dafür, daß er im einzelnen Urteil faktisch Wahrheit oder Falschheit erzielen kann. Oder anders formuliert: gerade weil es auf der Ebene der theoretischen Urteilsintention für den Menschen zur Wahrheit keine Alternative gibt, eröffnet sich ihm auf der Ebene des konkreten Einzelurteils überhaupt erst die Alternative von Wahrheit und Falschheit, d. h. die Möglichkeit des realen Erkennens. Daß der Mensch im theoretisch-spekulativen Urteil keine andere Möglichkeit hat, als Wahrheit zu intendieren, zeigt sich unmittelbar daran, daß er nicht die Möglichkeit hat, einen Irrtum als Irrtum zu intendieren. Denn ein beabsichtigter Irrtum wäre nicht länger ein Irrtum.85 Deshalb erfährt der erkennende Mensch im Irrtum sehr prägnant die innere Limitierung seines Erkenntnisvermögens: der Irrtum widerfährt dem Menschen stets entgegen seiner Absicht, so daß gerade im Irrtum das von Kant für das Urteil beanspruchte Moment der »Objektivität« besonders klar hervortritt.86 Der Irrtum ist somit stets eine eigentümliche Verbindung von Spontaneität und Rezeptivität, da er nur aus Spontaneität hervorgehen kann (die rezeptiven Sinne irren nie), aber nicht (spontan) intendiert werden kann. Diese eigentümliche »Objektivität« muß jedoch Kant zufolge konsequenterweise auch für die Wahrheit eines konkreten Urteils in Anspruch genommen werden, da die Wahrheit wie ihre Gegenmöglichkeit, der Irrtum, aus ein und demselben Ermöglichungsgrund, der Verbindung von Spontaneität und Rezeptivität im Urteil, hervorgehen. Die Wahrheit kann daher vom Menschen zwar allgemein intendiert werden, die konkrete Wahrheit eines bestimmten Urteils »widerfährt« ihm jedoch ebenso wie der konkrete Irrtum, weil die stets intendierte Wahrheit im konkreten Einzelfall nie als faktisch erkannte Wahrheit mit Sicherheit zu antizipieren ist, da die Möglichkeit des Irrtums immer bestehen bleibt. Könnte der Mensch nicht irren, dann könnte er auch die Wahrheit als Wahrheit nicht erkennen: er wäre so »blind« wie die sinnliche Anschauung ohne Begriffe, die nur deshalb nicht irrt, weil sie gar nicht urteilt. Die spezifische Tätigkeit des menschlichen Erkenntnisvermögens, die vor aller empirischen Wahrheit oder Falschheit eines konkreten Urteils vorhergeht und sie möglich macht, besteht also in einer nun noch näher zu untersuchenden Verwandlung von »blinden« Anschauungen zu einer objektiv-gültigen Erkenntnis im Urteil. Denn »über das Empirische, und überhaupt über das der sinnlichen Anschauung Gegebene«
85
»Denn der irren will, wie er sagt, irrt wirklich nicht und nimmt das falsche Urtheil nicht in der That für wahr an, sondern giebt nur ein Fürwahrhalten fälschlich vor, das in ihm doch nicht anzutreffen ist« (VII 27). 86 Vgl. zum eigentümlichen Charakter des »Widerfahrens« beim Mißlingen einer Handlung bzw. beim Irrtum einer Erkenntnis: Wieland 1999, S. 267 ff.
§ 21. Die Spontaneität der Synthesis
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hinaus müssen Kant zufolge »noch besondere Begriffe hinzukommen«, die »ihren Ursprung gänzlich a priori im reinen Verstande haben, unter die jede Wahrnehmung allererst subsumiert, und dann vermittelst derselben in Erfahrung kann verwandelt werden« (IV 297). Es ist also die spezifische Leistung des »Subsumierens«, die ein Urteil zu einem Urteil macht, indem sie Anschauung und Begriff »verbindet«; eine Verbindung, welche die Möglichkeit von Wahrheit und Falschheit überhaupt erst ursprünglich eröffnet, indem sie subjektiv Gegebenes in objektiv gültige Erfahrung »verwandelt«.
§ 21. Die Spontaneität der Synthesis Das Urteil, in dem die Möglichkeit von Irrtum und Wahrheit ursprünglich erschlossen wird, bezieht sich auf den Gegenstand, »so fern er gedacht wird«. Damit ist die transzendentale Möglichkeit von Irrtum und Wahrheit für Kant grundsätzlich allein aus der Spontaneität des menschlichen Erkenntnisvermögens heraus zu verstehen, auch wenn die reine Spontaneität des Denkens, wie noch näher auszuführen sein wird, nur ihre notwendige, nicht aber schon ihre hinreichende Bedingung ist. Im systematischen Zusammenhang der Transzendentalphilosophie kann daher »Gegenstand« nie etwas bedeuten, was der Erkenntnis voranginge oder »außerhalb« der Erkenntnis bereits »fertig« vorhanden wäre und deshalb nur rezeptiv angeschaut werden könnte. Statt dessen ist der »Gegenstand« im präzisen transzendentalen Sinne stets das Resultat einer spontanen Erkenntnisleistung, die somit primär in einer Vergegenständlichung des anschaulichen Materials besteht. Denn erst von einem dergestalt im spontanen Erkennen erzeugten Gegenstand läßt sich fragen, ob er »da ist«, d. h. aber, ob das Urteil, welches das »objektive« Dasein des Gegenstandes behauptet, wahr ist oder falsch. Diese nähere Bestimmung der Spontaneität des menschlichen Erkenntnisvermögens als begriffliche Vergegenständlichung des anschaulich Gegebenen im Urteil gehört zu den wesentlichen Einsichten der transzendentalen Kritik des spekulativen Vernunftgebrauchs. Ihre klassische Formulierung findet sie in der »Transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe«, wo Kant sehr prägnant feststellt, daß zwar das »Mannigfaltige der Vorstellungen« sehr wohl in »einer Anschauung gegeben werden« kann, »die bloß sinnlich, d. i. nichts als Empfänglichkeit ist«, daß aber »die Verbindung (coniunctio) eines Mannigfaltigen überhaupt« niemals »durch Sinne in uns kommen« kann. Denn die entscheidende Verbindung des Anschaulichen zur Einheit eines Gegenstandes »ist ein Aktus der Spontaneität der Vorstellungskraft, und, da man diese, zum Unterschiede von der Sinnlichkeit, Verstand nennen muß, so ist alle Verbindung, wir mögen uns
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ihrer bewußt werden oder nicht«, eine »Verstandeshandlung, die wir mit der allgemeinen Benennung Synthesis belegen« (KrV B 129). Aus der grundlegenden Einsicht in die spontane Verstandeshandlung der Synthesis ergibt sich dann konsequenterweise der spezifisch transzendentale Ansatz, der nicht länger vom Objekt der Erkenntnis ausgeht, sondern sich dem Erkenntnissubjekt und seiner »Erkenntnishandlung« zuwendet. Es gehört daher zu den zentralen Lehrstücken der transzendentalen Kritik des spekulativen Vernunftgebrauchs, »daß wir uns nichts, als im Objekt verbunden, vorstellen können, ohne es vorher selbst verbunden zu haben, und unter allen Vorstellungen die Verbindung die einzige ist, die nicht durch Objekte gegeben, sondern nur vom Subjekte selbst verrichtet werden kann, weil sie ein Aktus seiner Selbsttätigkeit ist« (ebd.). Denn dasjenige, dessen Dasein die menschliche Erkenntnis eigentlich erkennen will, der Gegenstand der Erkenntnis im Sinne einer synthetischen Einheit des anschaulichen Materials, kann gerade nicht »durch Objekte gegeben« werden, da das wesentliche Moment des Gegenstandes, seine Einheit, »nicht zur Rezeptivität der Sinnlichkeit« gehört, »sondern zur Spontaneität des Verstandes, als Begriff a priori« (XX 276). Die im Verstandesbegriff gedachte synthetische Einheit der menschlichen Erkenntnis entspringt somit allein aus der Spontaneität des Verstandes, so daß Kant den Verstand definieren kann als »das Vermögen, Vorstellungen selbst hervorzubringen«, d. h. als »die Spontaneität des Erkenntnisses« (KrV B 75). Die spontan erzeugte, synthetische Einheit des Begriffs ist die spezifische Leistung des Verstandes. »Der Grundsatz der synthetischen Einheit der Apperzeption ist« daher für Kant »das oberste Prinzip alles Verstandesgebrauchs« (KrV B 136). Denn die synthetische Einheit der Apperzeption, auf die jede Erkenntnis bezogen werden muß, damit sie Anspruch auf »objektive« Gültigkeit erheben kann, ist »der höchste Punkt, an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik und nach ihr die Transzendental-Philosophie heften muß, ja dieses Vermögen ist der Verstand selbst« (KrV B 134 Anm.). Der Verstand, als »Spontaneität des Erkenntnisses«, ist deshalb das Vermögen der synthetischen, d. h. einheitsstiftenden Begriffe oder, wie Kant ebenfalls sagt, das Vermögen, »Regeln überhaupt zu denken« (IX 11). Begriffe und Regeln kommen nämlich für Kant in dem entscheidenden Punkt überein, daß sie spontan im Denken erzeugte Einheiten sind, auf die dann das Erkennen das anschaulich Gegebene im Urteil beziehen kann. Die bisher als transzendentale Unterscheidung zwischen Denken und Erkennen gefaßte Leitdifferenz der spekulativen Vernunftkritik läßt sich jetzt noch genauer bestimmen. Zu dem in der sinnlichen Anschauung Gegebenen muß Kant zufolge die begriffliche Synthesis »hinzukommen«, damit im Spannungsfeld von rezeptiver Sinnlichkeit und spontanem Verstand die Anschauung unter Begriffe
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»subsumiert« und dergestalt »in Erfahrung kann verwandelt werden«.87 Kant hält deshalb fest: »die Rezeptivität kann nur mit Spontaneität verbunden Erkenntnisse möglich machen« (KrV A 97). Das bedeutet aber im Umkehrschluß, daß die Spontaneität des Denkens allein so wenig »Erkenntnisse möglich machen« kann wie die isolierte Rezeptivität der sinnlichen Anschauung. Die »Verwandlung« der Erkenntnis betrifft also nicht nur die sinnliche Anschauung, die in Erfahrung verwandelt wird, sondern ebenso die Spontaneität des Denkens, die in eine noch näher zu bestimmende Spontaneität des Urteilens verwandelt wird. Diese für die transzendentale Kritik des spekulativen Vernunftgebrauchs letztlich entscheidende Differenz zwischen zwei Formen der Spontaneität wird von Kant zwar zunächst immer wieder umschrieben, doch nicht wirklich auf einen deutlichen Begriff gebracht. Es wird sich im weiteren Verlauf der Untersuchung auch zeigen, daß eine gewisse Zweideutigkeit durchaus zum Wesen der urteilenden Spontaneität gehört, die im systematischen Zentrum der spekulativen Vernunftkritik steht. Kant neigt aber dazu, die Zweideutigkeit in seiner Darstellung eher zu reproduzieren, statt sie als Zweideutigkeit eindeutig zu fassen. Deshalb muß die Deutung sich zunächst an den Umschreibungen orientieren, die Kant von der nun in den Vordergrund tretenden Spontaneität des Erkennens (Urteil) im Unterschied zur Spontaneität des Denkens (Begriff) gibt. Erst der Übergang von der Kritik des spekulativen Vernunftgebrauchs zur Kritik des praktischen Vernunftgebrauchs wird dann die Zweideutigkeiten klären, die auf der Ebene der spekulativen Vernunftkritik bestehen bleiben und gerade deshalb die transzendentale Reflexion über sie hinaus treiben. Eine erste Umschreibung der fraglichen Unterscheidung zweier Formen der Spontaneität findet sich in der bereits angeführten Bestimmung Kants, der Verstand habe »Erscheinungen nach synthetischer Einheit [zu] buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können« (vgl. § 7). Denn offenkundig werden hier zwei spontane Leistungen des Verstandes unterschieden: zum einen das »Buchstabieren« nach synthetischer Einheit und zum anderen das »Lesen«, das die Buchstaben allererst in sinnvolle Erfahrung verwandelt. Die vielschichtige Metapher des Lesens deutet aber an, daß die eigentümliche Spontaneität des Erfahrungsurteils durch eine »Verbindung« von Spontaneität und Rezeptivität gekennzeichnet sein wird, da die Spontaneität des Lesens nur eine Spontaneität des Lesens ist, wenn sie ihre eigene spontane Unbestimmtheit an dem Gegebenen des Textes bestimmt und dergestalt sich selbst auf den »objektiven« Sinn des Gelesenen hin überscheitet. »Mit dieser bestimmten Unbestimmtheit«, so Hans Blu87
Ganz entsprechend heißt es an einer anderen Stelle bei Kant: »Erfahrung ist verstandene Wahrnehmung. Wir verstehen sie aber, wenn wir sie unter Titel des Verstandes uns vorstellen« (R 4679: XVII 664).
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menberg, »hat es die Metaphorik zur Erfahrbarkeit der Welt zu tun, für die das Paradigma der ›Lesbarkeit‹ steht«.88 Kant drückt diesen Gedanken folgendermaßen aus: »Wenn uns Erscheinung gegeben ist, so sind wir noch ganz frei, wie wir die Sache daraus beurteilen wollen. Jene, nämlich Erscheinung, beruhte auf den Sinnen, diese Beurteilung aber auf dem Verstande« (IV 290). Hier wird von Kant – bezeichnenderweise ganz beiläufig – der Begriff genannt, der sachlich für die Spontaneität des Urteilens angemessen wäre: Freiheit. Denn der Verstand ist Kant zufolge spontan, insofern er eine begriffliche Regel denkt, er ist aber frei, insofern er das in der Anschauung Gegebene unter eine begriffliche Regel im Urteil subsumiert. Die genauere Bestimmung der eigentümlichen Freiheit des Urteils wird aber dadurch behindert, daß das Vermögen der Begriffe und das Vermögen des Urteilens unterschiedslos »dem Verstande« zugeschrieben werden, wodurch der Eindruck entsteht, die Spontaneität der Begriffe sei mit der Freiheit des Urteils identisch. Diese vermeintliche Identität von Spontaneität und Freiheit hat Gerold Prauss seiner Kant-Deutung zu Grunde gelegt. Ihm zufolge besteht der Ansatz der Transzendentalphilosophie in der Aufmerksamkeit auf eine »nichtempirische Tiefendimension« der Erkenntnis, die in der »absoluten Spontaneität des Verstandes« begründet ist. Diese Spontaneität ist des näheren als menschliche Freiheit zu begreifen. Unsere spontane Subjektivität ist nämlich »durch das, was ihr an Sinnesdaten in ihrer Sinnlichkeit auch immer gegeben sein mag, zu einer Erkenntnis als Urteil zwar affiziert, aber nicht determiniert«, weil es uns frei steht, »durch welchen Begriff wir erscheinendes Datenmaterial deuten bzw. welchen Gegenstand wir uns daraus erdeuten wollen« (Prauss 1983, S. 155). Demnach muß sich der erkannte Gegenstand »nach unserem Erkenntnis richten« (KrV B XVI), weil das sinnlich Gegebene nur das bloße Material der deutenden Erkenntnis ist, während der eigentliche Erkenntnisgegenstand erst durch den theoretischen Urteilsakt erzeugt bzw. »erdeutet« wird. Die im Interpretationsansatz von Prauss stets betonte »Absolutheit« der Spontaneität wird allerdings in seinen konkreten Ausführungen merklich modifiziert. Die Spontaneität stößt nämlich im Vollzug der Deutung auf eine immanente Grenze, weil das, worauf die urteilende Erkenntnis aus ist, »keinesfalls sie selbst, sondern immer nur etwas Anderes als sie selbst« sein kann (a. a.O., S. 178). Die spontane Erfolgsorientiertheit der Intentionalität erweist sich somit zugleich als Erfolgsabhängigkeit und »Bedürftigkeit« (a. a.O., S. 164). Spontaneität ist zwar eine notwendige Bedingung für die Möglichkeit eines Erfolges (ein nicht inten88
Blumenberg 1996a, S. 16. Vgl. zu Kants Metapher des Lesens auch: Blumenberg 1996a, S. 186–190; Blumenberg 1996b, S. 531; Riedel 1989, S. 55–57.
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dierter Erfolg wäre kein Erfolg, sondern ein bloßes Vorkommnis), sie ist aber keine hinreichende Bedingung für seine Wirklichkeit. Diese wichtige Differenz zwischen der Möglichkeit des Erfolges, die der spontanen Intentionalität immanent ist, und der Wirklichkeit des Erfolges, die ihr transzendent ist, veranlaßt Prauss, zwischen »Gegenständlichkeit« und »Wirklichkeit« zu unterscheiden (a. a.O., S. 190). So besteht die Täuschung im Traum darin, daß der geträumte Stein, der für uns im Traum- wie im Wachbewußtsein ein bestimmter Gegenstand ist, auch für wirklich gehalten wird, eine Täuschung, die sich erst beim Erwachen verflüchtigt, weil wir im Wachbewußtsein das Vermögen (wieder-)gewinnen, eine Grenze zwischen Gegenständlichkeit und Wirklichkeit zu ziehen. Dementsprechend bezieht sich jedes Urteil auf einen von ihm »erdeuteten« Gegenstand, doch nur das gelungene Urteil bezieht sich auch auf etwas Wirkliches. Spätestens an dieser Stelle stellt sich aber die Frage, ob die Gleichsetzung von Spontaneität (des Denkens) und Freiheit (des Urteils) der transzendentalen Kritik des spekulativen Vernunftgebrauchs wirklich angemessen sein kann. Zwar ist es völlig richtig, daß wir unter »Urteil« stets eine Leistung verstehen, die gelingen oder mißlingen kann; und es trifft auch zu, daß die »Spontaneität« des denkenden Verstandes eine notwendige Voraussetzung des Leistungscharakters jedes deutenden Urteils ist; doch berechtigt dies noch nicht zu der sehr viel weitergehenden These von Prauss, daß die spezifische Leistung des Urteils in der absoluten Spontaneität des Denkens besteht. Die eigentliche Leistung der Urteils besteht nämlich – wie die bisherigen Überlegungen schon hinreichend deutlich gemacht haben – darin, eine spontane »Verbindung« von Spontaneität und Rezeptivität zu leisten, die sich nicht einfach aus einer spontanen und einer rezeptiven Hälfte zusammenstücken läßt, die sich aber auch nicht durch den von Prauss favorisierten Begriff der »absoluten Spontaneität« fassen läßt, da er nur eines ihrer beiden Teilmomente benennt. Dieses Verfehlen der in sich differenzierten Einheit führt dann notwendig zu einer doppelten systematischen Konsequenz. Zum einen wird Kant eine »ungerechtfertigtstrenge Scheidung praktischer von theoretischer Vernunft« vorgeworfen (a. a.O., S. 232 Anm.); zum anderen wird aber der Unterschied zwischen der in sich undifferenzierten Spontaneität und ihrem Gegenmoment zum Gegensatz fixiert. In der Perspektive eines spontaneitätstheoretischen Ansatzes kann nämlich, wie Prauss selbst betont, nur von »Freiheit als äußerstem Gegenteil zur Natur« (a. a.O., S. 276) gesprochen werden. Im Gegensatz zu diesem »spontaneitätstheoretischen« Ansatz versucht der hier verfolgte Gedankengang beim Kantischen Vermögensbegriff anzusetzen, um durch die Differenz von Rezeptivität und Spontaneität hindurch eine Einheit sichtbar zu machen, deren begriffliche Ausarbeitung es ermöglicht, die Unter-
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scheidung zwischen Natur und Freiheit nicht mehr bloß als Gegensatz auffassen zu müssen. In dieser »vermögenstheoretischen« Perspektive wird der Freiheitsbegriff nicht länger als eine »absolute Spontaneität« gefaßt, wodurch zugleich die von Prauss als sinnlos abgelehnte Grundunterscheidung Kants zwischen einem theoretischen und praktischen Vernunftgebrauch ihre transzendentale Berechtigung erhält. § 22. Die Freiheit der Urteilskraft Die weitere Klärung der spezifischen Differenz zwischen der Freiheit des Urteilens und der Spontaneität des Regeldenkens muß sich der eigentümlichen Leistung zuwenden, die im Akt des Urteilens gelingen oder mißlingen kann. Es ist also noch genauer zu fragen, »was denn dasjenige für eine geheime Kraft sei, wodurch das Urteilen möglich wird« (II 60).89 Zwar wird erst der Kant der Kritik der praktischen Vernunft ganz unzweideutig aussprechen, daß ein »Selbstbewußtsein«, in welchem »das Bewußtsein seiner Spontaneität« für »Freiheit gehalten wird«, einer bloßen »Täuschung« erliegt (V 101). Diese Einsicht in die grundlegende Differenz zwischen Spontaneität und Freiheit wird aber in der Kritik der reinen Vernunft dort vorbereitet, wo Kant explizit von einer »transzendentalen Urteilskraft« handelt, die sich in ihrer wesentlichen Leistung vom Verstand als einem Vermögen der Begriffe und Regeln qualitativ unterscheidet. Der fragliche Abschnitt der Kritik der reinen Vernunft trägt die Überschrift: »Von der transzendentalen Urteilskraft überhaupt«. In ihm führt Kant die Urteilskraft mit folgenden Worten in die Transzendentalphilosophie ein: »Wenn der Verstand überhaupt als das Vermögen der Regeln erklärt wird, so ist Urteilskraft das Vermögen, unter Regeln zu subsumieren, d. i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel (casus datae legis) stehe, oder nicht« (KrV B 171). Jetzt wird also von Kant ganz klar und nachdrücklich zwischen Verstand und Urteilskraft unterschieden. Dem spontanen Vermögen der Regeln wird ein ganz anders verfaßtes Vermögen zur Seite gestellt, dessen spezifische Leistung darin besteht, »unter Regeln zu subsumieren«. Kants nähere Bestimmung der transzendentalen Urteilskraft wird somit in dem Maße, wie sie die spezifische Differenz zwischen der Spontaneität des Verstandes und der anderen Spontaneität der Urteilskraft verdeutlicht, auch den systematischen Umriß eines Freiheitsbegriffs vorzeichnen, der erst in der Kritik des praktischen Vernunftgebrauchs zu seiner vollen Bedeutung gelangen wird. Zunächst einmal leuchtet unmittelbar ein, daß erst mit dem Urteil, d. h. mit dem Subsumieren unter einen Begriff bzw. eine Regel, die Möglichkeit der Wahr89
Vgl. Riedel 1989, S. 25.
§ 22. Die Freiheit der Urteilskraft
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heit wie des Irrtums eröffnet wird. Denn die Formulierung eines Begriffs oder einer Regel erhebt für sich genommen gar keinen Wahrheitsanspruch. Erst das Urteil, das ein anschaulich Gegebenes unter einen Begriff bzw. unter eine Regel bringt, erhebt den Anspruch zu sagen, »was da ist«. Ein konkretes Urteil wie »Dies ist ein Stein« kann genau deshalb wahr oder falsch sein, während das anschauliche »Dies« und der Begriff des »Steines« für sich genommen nur Elemente des Urteils sind, die erst in ihrer Verbindung eine wahrheitsfähige Aussage ergeben. Daher gibt es zwar eine allgemeine Logik für den Verstand, nicht aber für die Urteilskraft. »Die allgemeine Logik enthält«, so Kant, »gar keine Vorschriften für die Urteilskraft, und kann sie auch nicht enthalten. Denn da sie von allem Inhalte der Erkenntnis abstrahiert: so bleibt ihr nichts übrig als das Geschäfte, die bloße Form der Erkenntnis in Begriffen, Urteilen und Schlüssen analytisch aus einander zu setzen, und dadurch formale Regeln alles Verstandesgebrauchs zu Stande zu bringen. Wollte sie nun allgemein zeigen, wie man unter diese Regeln subsumieren, d. i. unterscheiden sollte, ob etwas darunter stehe oder nicht, so könnte dieses nicht anders, als wieder durch eine Regel geschehen. Diese aber erfordert eben darum, weil sie eine Regel ist, aufs neue eine Unterweisung der Urteilskraft, und so zeigt sich, daß zwar der Verstand einer Belehrung und Ausrüstung durch Regeln fähig, Urteilskraft aber ein besonderes Talent sei, welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will« (KrV B 171 f.). An dieser Stelle wird die sachliche Berechtigung von Kants Kritik am Intellektualismus erneut und in besonderem Maße deutlich. Der Intellektualismus mißachtet nämlich den entscheidenden Unterschied zwischen dem Verstand als einem Vermögen der Regeln und der Urteilskraft als einem Vermögen, »unter Regeln zu subsumieren«, und meint deshalb, die Logikfähigkeit des ersteren unmittelbar mit der Wahrheitsfähigkeit der letzteren verknüpfen zu können. Wäre solch eine intellektualistische Gleichsetzung von Verstand und Urteilskraft möglich, dann wäre auch die These begründet, daß die formalen (notwendigen) Wahrheitsbedingungen des Denkens zugleich auch die inhaltlichen (hinreichenden) Wahrheitsbedingungen des Erkennens oder Urteilens sind. Demgegenüber hält Kant kritisch an der für die Transzendentalphilosophie grundlegenden Einsicht fest, daß die spezifischen Leistungen des Verstandes und der Urteilskraft qualitativ verschieden sind, wodurch der Gedanke eines absoluten Wahrheitskriteriums aus prinzipiellen Gründen ausgeschlossen ist.90 90
Ein ähnlicher Gedanke findet sich bei Wittgenstein, wenn er fragt: »kann man aus einer Regel ersehen, unter welchen Umständen ein Irrtum in der Verwendung der Rechenregeln logisch ausgeschlossen ist?« Denn er antwortet ganz im Sinne Kants: »Was nützt uns so eine Regel? Könnten wir uns bei ihrer Anwendung nicht (wieder) irren?« (Wittgenstein 1984, Bd. 8, S. 124 f.).
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Damit öffnet sich aber in systematischer Hinsicht die Perspektive auf eine Tiefendimension des spekulativen Vernunftgebrauchs, der sich nicht länger ausschließlich immanent aus der reinen Spontaneität des theoretischen Erkenntnisvermögens verstehen läßt, weil jedes Urteil in seinem Wahrheitsanspruch ein Vermögen voraussetzt, das sich nicht unter eine logische Regel bringen läßt, da es selbst die Bedingung dafür ist, unter Regeln subsumieren zu können. Folgt man Kants Andeutungen, dann ist diese Tiefendimension als Freiheit zu verstehen, deren Umrisse in der transzendentalen Wesensbestimmung der menschlichen Urteilskraft sichtbar werden. Die transzendentale Wahrheit, die aller empirischen Wahrheit voraus geht und sie erst möglich macht, verweist demnach auf die menschliche Freiheit, die von jedem Urteil der Urteilskraft vorausgesetzt und zugleich stets von neuem »geübt« wird. Denn Freiheit läßt sich nicht (theoretisch) »lehren«, sondern nur (praktisch) vollziehen. Allerdings bleibt es im Rahmen der spekulativen Vernunftkritik bei der genannten Andeutung, weil Kant in der Kritik der reinen Vernunft noch der Meinung ist, daß alles Praktische »der transzendentalen Philosophie fremd ist« (KrV B 829, vgl. § 14). Es kann daher nicht verwundern, wenn die transzendentalen Grundbegriffe auf dieser Ebene »durchgängig theoretisch-praktisch zweideutig« bleiben.91 Die systematische Gesamtanlage der transzendentalen Vernunftkritik wird deshalb erst dort vollends deutlich werden, wo die Transzendentalphilosophie den praktischen Vernunftgebrauch nicht länger »nur dem Namen nach kennt«. Dann wird es in der Kritik der praktischen Vernunft heißen: »Der einzige Begriff der Freiheit verstattet es, daß wir nicht außer uns hinausgehen dürfen, um das Unbedingte und Intelligibele zu dem Bedingten und Sinnlichen zu finden. Denn es ist unsere Vernunft selber« (V 105 f.).
91
Prauss 1989b, S. 254 f.
2.
k r i t i k d e s p r a k t i s c h e n v e r n u n f t g e b r au c h s § 23. Übergang
Im systematischen Zentrum des Übergangs vom spekulativen zum praktischen Vernunftgebrauch wird – das haben die letzten Überlegungen deutlich gemacht – der Begriff der Freiheit stehen, der von Kants Kritik des spekulativen Vernunftgebrauchs am Ende in Anspruch genommen werden muß, ohne daß sie ihn aus sich heraus vollständig und angemessen explizieren kann. Allerdings wird damit zu rechnen sein, daß Kant in der Kritik der reinen Vernunft diesen Übergang nur anvisieren, aber transzendentalphilosophisch nicht wirklich vollziehen wird, weil ihm der transzendentale Grundbegriff eines genuin praktischen Vernunftgebrauchs in der ersten Kritik noch nicht zur Verfügung steht (vgl. § 14). Das eigentümliche Schwanken im systematischen Aufbau, das sich daraus für die Kritik der reinen Vernunft insgesamt ergibt, muß aber auch den Freiheitsbegriff der ersten Kritik von Grund auf zweideutig machen, da der angemessene Begriff eines genuin praktischen Vernunftbegriffs und ein angemessener Begriff der Freiheit wechselseitig aufeinander verweisen und sich gegenseitig erhellen. Die Betrachtung von Kants Kritik des praktischen Vernunftgebrauchs wird deshalb beim Freiheitsbegriff der Kritik der reinen Vernunft anzusetzen haben, wie er von der »Transzendentalen Dialektik« exponiert wird, doch so, daß vor allem die Defizite dieses Begriffs sichtbar werden, der in der ungeklärten Spannung seiner einzelnen Begriffsmomente über sich und damit über das Reflexionsniveau der ersten Kritik hinausweist.92 Dabei wird von der durch den Freiheitsbegriff selbst nahegelegten Opposition zum Naturbegriff auszugehen sein; die dualistische Fixierung dieser Differenz scheint sich nämlich durchaus auf Kant berufen zu können, so daß viel daran gelegen ist, bei Kant selbst die Reflexionsebene kenntlich zu machen, die eine solche Fixierung hinter sich läßt. Die Überlegung gliedert sich deshalb am Anfang in zwei Gedankenschritte: in einem ersten Schritt wird Kants transzendentale Unterscheidung zwischen Natur und Freiheit vergegenwärtigt und erst in einem zweiten Schritt die Metareflexion angedeutet, die über sie hinaus geht. Der Übergang vom ersten zum zweiten Schritt 92
Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung kann die »Transzendentale Dialektik« der Kritik der reinen Vernunft aus nahe liegenden Gründen nicht in der ganzen Fülle ihrer Aspekte behandelt werden. Es wäre das Thema einer eigenen Untersuchung, die bis heute wenig verstandene systematische Anlage der »Dialektik« von der spezifischen Freiheit der Urteilskraft und dem Begriff eines in sich differenzierten Interesses der Vernunft her zu deuten. Denn der »Fehler«, der von der »Transzendentalen Dialektik« in verschiedenen Gestalten dargestellt und kritisiert wird, ist Kant zufolge »jederzeit einem Mangel der Urteilskraft, niemals aber dem Verstande oder der Vernunft zuzuschreiben« (KrV B 671, Hervorhebung: A.H.).
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bietet dabei zugleich eine erste Orientierung für den im weiteren Verlauf der Untersuchung eigens auf den Begriff zu bringenden Übergang von der Kritik des spekulativen Vernunftgebrauchs zur Kritik des praktischen Vernunftgebrauchs. Einer häufig zitierten Definition zufolge versteht Kant »unter Freiheit, im kosmologischen Verstande, das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen« (KrV B 561). Auch hier findet also der Vermögensbegriff Verwendung, ohne daß freilich klar zu erkennen wäre, ob ihm in der genannten Definition aus der Kritik der reinen Vernunft eine maßgebliche Bedeutung für das Verständnis des Freiheitsbegriffs zukommt. Denn es scheint näher zu liegen, das Explikationsverhältnis umzukehren und den Vermögensbegriff vom Freiheitsbegriff her zu verstehen, der seinerseits durch die reine Spontaneität des Selbstanfangs definiert ist. In dieser Deutungsperspektive wäre es dann gerechtfertigt, den Vermögensbegriff so unbeachtet zu lassen, wie es in vielen Kant-Deutungen geschieht. Es wird also zu untersuchen sein, ob sich bei der systematischen Entfaltung des am spontanen Selbstanfang orientierten Freiheitsbegriffs immanente Defizite ergeben, die Kant am Ende dazu führen, den am Spontaneitätsbegriff ausgerichteten (kosmologischen) Freiheitsbegriff auf einer zweiten Stufe der transzendentalen Reflexion zu revidieren und ihn statt dessen an einem in sich differenzierten Vermögensbegriff auszurichten. In der Kritik der reinen Vernunft wird die Vernunftidee der Freiheit deshalb »kosmologisch« aufgefaßt, weil ihr systematischer »Ort« in Kants erster Kritik der Zusammenhang der »kosmologischen Ideen« ist, wie er in der »Transzendentalen Dialektik« im Ausgang von den Begriffen der Welt und der Natur entfaltet wird. Dabei bemerkt Kant, daß die »zwei Ausdrücke: Welt und Natur« bisweilen »in einander laufen«. Genaugenommen bedeutet der erste Ausdruck jedoch für Kant »das mathematische Ganze aller Erscheinung und die Totalität ihrer Synthesis im Großen sowohl als im Kleinen«, wohingegen die Welt nur dann Natur zu nennen ist, »so fern sie als ein dynamisches Ganzes betrachtet wird, und man nicht auf die Aggregation im Raume oder der Zeit« sieht (KrV B 447 f.). Die dynamische Betrachtung der Welt als Natur führt dann auf das Kausalgesetz von Ursache und Wirkung, bei dem »die Bedingung von dem, was geschieht, die Ursache und die unbedingte Kausalität der Ursache in der Erscheinung die Freiheit« heißt, »die bedingte« dagegen »im engeren Verstande Naturursache« (ebd.). Der in diesem präzisen Sinne »kosmologische« Freiheitsbegriff wird somit bei Kant im systematischen Rahmen des kausalen Verhältnisses von Ursache und Wirkung verstanden, das unmittelbar auf den Gesetzesbegriff verweist, weil »eine jede wirkende Ursache« ein »Gesetz ihrer Kausalität« haben muß, »ohne welches sie gar nicht Ursache sein würde« (KrV B 567). Das zeitliche Folgeverhältnis zweier Ereignisse ist demnach nur dann ein Kausalverhältnis, wenn die
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Abfolge einem objektiven Gesetz gehorcht, durch das Ursache und Wirkung überhaupt erst als solche erkennbar werden. Diese fundamentale Eigenschaft, nach allgemeinen Gesetzen bestimmt zu sein, wird aber von Kant vorzugsweise der »Natur« zugeschrieben, denn »Natur ist«, so Kant, »das Dasein der Dinge, so fern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist« (IV 294). Genau deshalb wird der Freiheitsbegriff in der Kritik der reinen Vernunft »kosmologisch« genannt, da die in ihm gedachte Freiheit mit dem Naturkosmos die formale Struktur gemeinsam hat, einem objektiven Gesetz zu folgen. In der Kritik der reinen Vernunft werden daher die konkreten Wesensbestimmungen der Freiheit am Leitfaden der allgemeinen Kausalitätsstruktur entwickelt. Man kann sich nämlich, so Kant, »zweierlei Kausalität in Ansehung dessen, was geschieht, denken, entweder nach der Natur, oder aus Freiheit« (KrV B 560). Diese Kausalität aus Freiheit ist es nun, die des näheren als Vermögen bestimmt wird, einen Zustand von selbst anzufangen. Durch einen solchen »absolut ersten Anfang« (KrV B 478) soll sich die Freiheit wesentlich von der Naturkausalität unterscheiden, da sie »nicht nach dem Naturgesetze wiederum unter einer anderen Ursache steht, welche sie der Zeit nach bestimmte« (KrV B 561). Ein so verstandener Freiheitsbegriff zielt somit auf eine Ursache ohne (vorangehende) Ursache, während jede Naturursache nur Ursache sein kann, weil sie ihrerseits Wirkung einer früheren Ursache ist. Der Unterschied zwischen Natur- und Freiheitskausalität betrifft also ausschließlich die nähere Bestimmung, die der Ursache im gesetzmäßigen Kausalzusammenhang von Ursache und Wirkung gegeben wird: entweder handelt es sich um eine mechanisch eintretende oder eine absolut spontane Ursache; die Form des Kausalzusammenhangs selbst bleibt hingegen in beiden Fällen identisch. Die uneingeschränkte Ausrichtung an der formalen Struktur des Kausalzusammenhangs hat für das nähere Verständnis der Differenz zwischen Natur und Freiheit weitreichende Konsequenzen. Sie läßt sich nämlich in »kosmologischer« Hinsicht nur in einem völlig verschiedenen Verhältnis der jeweiligen Ursache zur Zeit, und zwar zur vergangenen Zeit begründen. Denn eine Naturursache ist nicht frei, sondern determiniert, weil sie »unter notwendig machenden Bedingungen der vergangenen Zeit« steht (V 96). Diese kausale Determination des zeitlich Nachfolgenden durch das Frühere erzwingt aber für eine freie Spontanursache innerhalb des Kausalzusammenhangs, daß sie außerhalb der Zeit gedacht werden muß. Genau deshalb muß die »kosmologische« Freiheit einen »absolut ersten Anfang« darstellen, weil sie nur so vor einer Vergangenheit bewahrt werden kann, die sie nach der determinierenden Logik des Kausalzusammenhangs unfrei machen müßte. Das hat, wie Kant in der Kritik der reinen Vernunft sofort hinzufügt, die weitere Konsequenz, daß Freiheit »in dieser Bedeutung eine reine transzendentale
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Idee« ist, die »nichts von der Erfahrung Entlehntes enthält«, und deren Gegenstand »auch in keiner Erfahrung bestimmt gegeben werden kann« (KrV B 561). Denn die »Möglichkeit aller Erfahrung« (ebd.) besteht nicht zuletzt darin, daß jede Gegenwart auf eine Vergangenheit zurückweist, und es ist gerade diese zeitliche Grundstruktur der menschlichen Erfahrung, die aus der Idee eines absolut spontanen Anfangs ausgeschlossen werden muß. Der an der Idee einer absoluten Spontaneität orientierte Freiheitsbegriff muß daher, konsequent zu Ende gedacht, zu einem strikten Dualismus von Natur und Freiheit führen, da Freiheit »im kosmologischen Verstande« nur denkbar ist, wenn sie vom zeitlich verfaßten Naturzusammenhang absolut geschieden ist und deshalb auch nicht zur menschlichen Erfahrung vermittelt werden kann. Dieser absolute Gegensatz zur Zeit und zur Erfahrung ist aber nur notwendig, und dies gilt es festzuhalten, weil der »kosmologische« Freiheitsbegriff am Leitfaden der allgemeinen Kausalitätsstruktur gedacht wird, in der das zeitlich Nachfolgende gegenüber dem Früheren keine Selbständigkeit gewinnt. Der »kosmologische« Freiheits- und Handlungsbegriff ist also, wie Volker Gerhardt ausführlich gezeigt hat, »dem Bereich des mechanischen Naturgeschehens entnommen und bezeichnet selbst noch in der Anwendung auf ausdrücklich dem Menschen zugerechnetes Geschehen die beobachtbare Einheit von Ursache und Wirkung« (Gerhardt 1986, 119). Geht man nun davon aus, daß dieser Freiheitsbegriff der für Kants Transzendentalphilosophie insgesamt maßgebliche ist, dann müßte ein solcher Befund eigentlich mehr befremden, als dies im allgemeinen der Fall ist, da man beim späteren Kant eher eine Begrifflichkeit vermutet, die »auf die Konstitution und Regulation der Welt durch menschliche Aktivität zugeschnitten ist« (ebd.). Es hängt also viel davon ab, ob der ursprünglich in Kants vorkritischen Schriften entwickelte »kosmologische« Freiheitsbegriff auch die Grundlage der kritischen Schriften bildet und ob diese »Kontinuität zwischen dem vorkritischen und dem kritischen Denken Kants« tatsächlich, wie Gerhardt vermutet, »auch über die ›Kritik der reinen Vernunft‹ hinaus[reicht]« (a. a.O., 129). Der hier verfolgte Gedankengang bemüht sich zu zeigen, daß dies nicht der Fall ist. Dabei kann er sich auf eine bemerkenswerte Anmerkung der Prolegomena stützen, in der Kant ausdrücklich festhält: »Die Idee der Freiheit findet lediglich in dem Verhältnisse des Intellektuellen als Ursache zur Erscheinung als Wirkung statt. Daher können wir der Materie in Ansehung ihrer unaufhörlichen Handlung, dadurch sie ihren Raum erfüllt, nicht Freiheit beilegen, obschon diese Handlung aus innerem Prinzip geschieht. Eben so wenig können wir für reine Verstandeswesen, z. B. Gott, so fern seine Handlung immanent ist, keinen Begriff von Freiheit angemessen finden. Denn seine Handlung, obzwar unabhängig von äußeren bestimmenden
§ 23. Übergang
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Ursachen, ist dennoch in seiner ewigen Vernunft, mithin der göttlichen Natur bestimmt« (IV 344 Anm.). Diese wichtige Passage macht deutlich, daß der spätere Kant der Natur zwar weiterhin »Handlungen« zuschreibt, ihr aber deshalb keine Freiheit »beilegt«, so daß die menschlichen Handlungen, insofern sie unter der Idee der Freiheit stehen, von den Handlungen der Natur spezifisch unterschieden sind. Des weiteren geht aus der angeführten Passage hervor, daß der spätere Kant den Vernunftbegriff der Freiheit für keine Handlung »angemessen« findet, die ausschließlich aus ihrem inneren Prinzip erfolgt und dergestalt eine rein immanente Bewegung darstellt. Daher kann weder ein reines Sinnen- oder Naturwesen, noch ein »reines Verstandeswesen, z. B. Gott«, im transzendentalphilosophischen Sinne frei genannt werden. Daraus läßt sich aber schließen, daß Kant die Freiheit im transzendentalen Sinne allein einem Wesen »beilegt«, das Sinnenwesen und Verstandeswesen zugleich ist. Die Idee der Freiheit meint hier also eine ganz eigentümliche Verknüpfung von Spontaneität und Rezeptivität, da sie eine Spontaneität bezeichnet, die gerade nicht immanent bei sich selbst bleibt, sondern transzendierend über sich hinaus geht. Es läßt sich also vorab vermuten, daß in Kants Kritik des praktischen Vernunftgebrauchs die in sich vermittelte Differenz zwischen reiner Spontaneität und realer Freiheit eben jenen systematischen Ort einnehmen wird, den in der Kritik des spekulativen Vernunftgebrauchs die in sich vermittelte Differenz von reinem Denken und realem Erkennen inne hatte. Dieser wichtige Punkt läßt sich in einem ersten Anlauf durch eine Passage aus der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten weiter verdeutlichen, der ersten Schrift Kants also, die sich der Ausarbeitung einer eigenen Kritik des genuin praktischen Vernunftgebrauchs widmet. Hier heißt es, der Mensch habe grundsätzlich »zwei Standpunkte, daraus [er] sich selbst betrachten, und Gesetze des Gebrauchs seiner Kräfte, folglich aller seiner Handlungen, erkennen kann, einmal, so fern [er] zur Sinnenwelt gehört, unter Naturgesetzen (Heteronomie), zweitens, als zur intelligibelen Welt gehörig, unter Gesetzen, die, von der Natur unabhängig, nicht empirisch, sondern bloß in der Vernunft gegründet sind« (IV 452). Diese Passage formuliert Kants Unterscheidung zwischen empirischer Natur und intelligibler Freiheit besonders klar und nachdrücklich; an ihr läßt sich daher auch in exemplarischer Weise studieren, welcher ihrer Aspekte den Anstoß dazu gibt, über eine dualistische Fixierung der Unterscheidung hinauszugehen. Die zwei »Standpunkte« des Menschen, die Kant hier grundsätzlich unterscheidet, betreffen des näheren zwei »Gesetze des Gebrauchs seiner Kräfte«, insofern sie der »Sinnenwelt« oder der »intelligibelen Welt« angehören. Die Berechtigung und den systematischen Sinn dieser Unterscheidung zwischen empiri-
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schem und intelligiblem Charakter kann man sich dadurch klar machen, daß man sie als »begriffliche Selbstauslegung des tätigen Menschen« versteht.93 Denn dann wird deutlich, welcher Erfahrungsgehalt sich in dieser begrifflichen Differenz reflektiert. Wir erfahren nämlich unsere handelnde Intentionalität tatsächlich als Spannungsbogen zwischen Empirischem und Intelligiblem, weil unser Handeln weder mit der puren Faktizität empirischer Gegenstände, noch mit dem Intelligiblen, auf das wir handelnd Bezug nehmen, identisch sein kann, da in beiden Fällen der Spannungsbogen der Handlung verschwunden wäre. Die Differenz zwischen Empirischem und Intelligiblem erhält somit vor dem Hintergrund der menschlichen Selbsterfahrung den Sinn, daß sie die beiden Pole einer Spannung bezeichnet, die ein zentrales Merkmal des nicht-immanenten Handlungscharakters unserer Handlungen bildet. Beide Pole müssen aber zugleich als Differenz und als Einheit begriffen werden, da Spannung nur dort entsteht, wo sich Getrenntes aufeinander bezieht. Mit der letzten Überlegung wird aber deutlich, daß die begriffliche Unterscheidung zwischen empirischem und intelligiblem Charakter für sich genommen zwar einen wesentlichen Zug der menschlichen Selbsterfahrung zu reflektieren, ihren Hauptpunkt jedoch nicht zu fassen vermag. Den Begriffen ist nämlich jeweils nur zu entnehmen, daß sie getrennt, nicht aber, daß sie notwendig aufeinander bezogen sind: der empirische Charakter verweist nicht von sich aus auf den intelligiblen, und umgekehrt. Der Bezug wird allein durch den Menschen hergestellt, der sich selbst nicht nur als interne Differenz, sondern durch sie hindurch als in sich differenzierte Einheit erfährt. Die beiden Begriffe reflektieren also nur das Differenzmoment der menschlichen Selbsterfahrung, nicht aber ihre Einheit, die sich allenfalls noch als »Leerstelle« zwischen beiden Charakteren umschreiben, aber nicht mehr wirklich begreifen läßt, da sie offenkundig mehr meint als das äußerlich bleibende »und« zwischen den beiden getrennten Aspekten. Dieser zentrale Gedanke läßt sich nun auch im Ausgang von Kants Einsicht formulieren, daß es »zwei Standpunkte« gibt, die der sich selbst betrachtende Mensch einnehmen kann. Diese »horizonttheoretische« Formulierung (vgl. § 13) ist nämlich sehr gut geeignet, einer dualistischen Fixierung der Differenz vorzubeugen, weil sie daran erinnert, daß zu den zwei Standpunkten und den beiden jeweils von ihnen eröffneten Horizonten ein und derselbe Mensch gehört, der sie einzunehmen und sich innerhalb des einen oder anderen Horizontes zu orientieren vermag. Das menschliche Vermögen des Standpunktnehmens liegt also der begrifflichen Unterscheidung der beiden Standpunkte voraus, und genau deshalb muß die begriffliche Selbstauslegung des Menschen über die ausschließliche Trennung der Standpunkte (und Horizonte) hinaus gehen, da in ihr das einheitli93
Gerhardt 1989, S. 64 f.
§ 24. Gesetz, Abweichung und Maxime
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che Vermögen verdeckt bleibt, durch das es dem Menschen überhaupt möglich wird, einen Standpunkt einnehmen und ihn gegebenenfalls auch wechseln zu können. Deshalb besteht für Kant seit der Grundlegung die »unnachlaßliche Aufgabe« der Philosophie darin, nicht bloß zu zeigen, daß der empirische und intelligible Standpunkt »gar wohl beisammen stehen können, sondern auch, als notwendig vereinigt, in demselben Subjekt gedacht werden müssen« (IV 456). Diese Hauptaufgabe der transzendentalen Vernunftkritik ist aber durch die bloße Unterscheidung von Natur und Freiheit bzw. empirischem und intelligiblem Charakter nur gestellt, jedoch keineswegs schon gelöst worden. Die Unterscheidung gehört somit nicht deshalb zu den bedeutenden Lehrstücken der Kantischen Vernunftkritik, weil sie die vom Ansatz der Transzendentalphilosophie aufgeworfenen Fragen zu beantworten vermag, sondern deshalb, weil sie die Aufgabe, vor die sich die transzendentale Reflexion gestellt sieht, besonders deutlich formuliert. Die für die systematische Struktur der Transzendentalphilosophie zentrale Differenz zwischen Natur und Freiheit kommt also überhaupt nur richtig in den Blick, wenn man an der Entgegensetzung von empirischem und intelligiblem Charakter festhält; die Aufgabe wäre aber um die wichtigste Frage verkürzt, wollte man bei dieser Entgegensetzung stehenbleiben und sie zur Dichotomie verfestigen. Die transzendentale Reflexion muß daher über die Trennung, die sie in einem ersten Schritt markiert, in einem zweiten und entscheidenden Schritt hinausgehen.
§ 24. Gesetz, Abweichung und Maxime Die systematische Einordnung des Freiheitsbegriffs unter die »kosmologischen Ideen« führt in der Kritik der reinen Vernunft dazu, daß die Freiheit von Kant im Zusammenhang des zweiten »Hauptstücks« der »Transzendentalen Dialektik«, d. h. im Zusammenhang einer »Antinomie der reinen Vernunft« behandelt wird, bei der sich die reine spekulative Vernunft in einen Widerstreit mit sich selbst verwickelt sieht. Der Begriff der »absoluten Spontaneität«, auf dem die erste Stufe der transzendentalen Reflexion zum Freiheitsbegriff aufbaut, wird hier von Kant keineswegs zufällig in der These der dritten Vernunftantinomie eingeführt (KrV B 474). Es kann daher nicht überraschen, daß sich der erste Ansatz zu einer Metareflexion des »kosmologischen« Freiheitsbegriffs ebenfalls in der dritten Antinomie findet, und zwar in der Antithese, die sich freilich auf die negative Aufgabe beschränkt, die immanenten Schwierigkeiten der These zu kritisieren. Gegen die allgemein verbreitete Ansicht, in der dritten Vernunftantinomie werde bereits der für Kants Transzendentalphilosophie am Ende maßgebliche Freiheitsbegriff formuliert, hat deshalb Odo Marquard zu Recht eingewandt, daß die drit-
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te Antinomie »keineswegs die klassische Formulierung des Freiheitsproblems« bei Kant darstellt, da der Zweck der Antinomie allein in der negativen Aufgabe besteht, einen falschen Freiheitsbegriff zu »demaskieren« (Marquard 1982, S. 103). Die positive Aufgabe, einen wirklich angemessenen Freiheitsbegriff zu formulieren, treibt hingegen über die Kritik der reinen Vernunft hinaus und bildet bis zum Schluß die eigentliche »Unruhe« der Kantischen Vernunftkritik.94 Auf der ersten Stufe der transzendentalen Reflexion werden Natur und Freiheit, wie im vorigen Abschnitt gezeigt wurde, zunächst als zwei Formen von Kausalität oder auch als zwei Gegenstände der Gesetzgebung der Vernunft (KrV B 868) unterschieden: Naturgesetz und Sittengesetz sind zwar inhaltlich strikt voneinander getrennt, sie gleichen einander jedoch – als Gesetze – in formaler Hinsicht. An dieser in systematischer Hinsicht zentralen Formidentität von Natur- und Sittengesetz setzt nun die Antithese der dritten Vernunftantinomie an. Kant formuliert ihren Einwand gegen den kosmologischen Freiheitsbegriff der These folgendermaßen: »Die Freiheit (Unabhängigkeit), von den Gesetzen der Natur, ist zwar eine Befreiung vom Zwange, aber auch vom Leitfaden aller Regeln. Denn man kann nicht sagen, daß, anstatt der Gesetze der Natur, Gesetze der Freiheit in die Kausalität des Weltlaufs eintreten, weil, wenn diese nach Gesetzen bestimmt wäre, sie nicht Freiheit, sondern selbst nichts anders als Natur wäre« (KrV B 475). Dieser Einwand hat Gewicht; es lohnt sich deshalb, seine Berechtigung eigens herauszustellen und ihn aus der Fessel der extrem verdichteten Formulierung zu befreien. Das Verhältnis von Freiheit und Gesetz läßt sich ganz allgemein als ein doppeltes, ein negatives und ein positives beschreiben. Das negative Verhältnis besteht darin, daß es zum Wesen der Freiheit gehören muß, vom determinierenden Zwang der Naturkausalität unabhängig zu sein. Würde die Freiheit sich allerdings in diesem negativen Verhältnis erschöpfen, dann wäre sie, darauf macht der erste Teil von Kants Metareflexion aufmerksam, gleichbedeutend mit Regellosigkeit, was den Freiheitsbegriff von vornherein zu einem Unbegriff machen würde, denn – daran hat Kant stets festgehalten – »Regellosigkeit ist zugleich Unvernunft« (IX 139). Dem soll nun das positive Verhältnis der Freiheit zum Gesetz begegnen, das darin besteht, daß sie sich selbst ein Gesetz gibt.95 Freiheit unterscheidet sich demnach erstens von der Regellosigkeit dadurch, daß sie sich
94
Vgl. Henrich 1960, 1975 und 1982. So sagt Kant von der »Freiheit im Denken«, sie bedeute »die Unterwerfung der Vernunft unter keine andere Gesetze als: die sie sich selbst gibt« (VIII 145); vgl. zum Verhältnis von Freiheit und Gesetz im Kantischen Begriff der Autonomie: Forschner 1974 und Wenzel 1992. 95
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selbst Gesetz ist, und sie unterscheidet sich zweitens von der Naturkausalität dadurch, daß sie sich selbst Gesetz ist. Der Mensch ist in diesem Sinne frei zu nennen, weil »er nur seiner eigenen und dennoch allgemeinen Gesetzgebung unterworfen« ist (IV 432). Auf diesen letzten und entscheidenden Punkt bezieht sich der zweite Teil von Kants Metareflexion. Ihr Einwand macht darauf aufmerksam, daß sich die soeben herausgestellte Struktur der Freiheit, einen Spannungsbogen zwischen Eigenem und Allgemeinem zu bilden, innerhalb eines systematischen Ansatzes, der »Gesetze der Freiheit« formal mit Naturgesetzen identifiziert, gar nicht konkret denken läßt. »Gesetze der Freiheit« gelten dann nämlich ebenso ausnahmslos wie Kausalgesetze der Natur, was die Möglichkeit einer Abweichung vom allgemeinen »Gesetz der Freiheit« von vornherein ausschließt und aus prinzipiellen Gründen auch ausschließen muß, da es im Falle der Naturgesetze zur Definition ihrer Gesetzmäßigkeit gehört, daß sie ausnahmslos gelten. Damit wäre aber Freiheit tatsächlich »nichts anders als Natur«, weil mit der Möglichkeit der Abweichung auch jene in sich gespannte Differenz zwischen »Eigenem« und »Allgemeinem« ausgeschlossen ist, durch die sich Freiheit konkret von Naturkausalität unterscheiden ließe.96 Die Stärke des in der Antithese der dritten Vernunftantinomie formulierten Einwandes beruht darauf, daß sich Kants Metareflexion, ohne es freilich explizit zu sagen, auf ein zentrales Moment in unserem Freiheitsverständnis berufen kann, das – auf der ersten Reflexionsstufe – vom »kosmologischen« Freiheitsbegriff des absoluten Anfangs verfehlt wird. Wir verstehen nämlich unter Freiheit vorrangig gar keine Freiheit des (absoluten) Anfangs, sondern eine Freiheit der Folge, die in der Fähigkeit besteht, sich von jeder Regel, der wir frei folgen, auch stets wieder distanzieren zu können.97 Eine Handlung ist in einem konkreten Sinne nur dann frei, wenn es die Möglichkeit gibt, auch anders zu handeln. Eine Freiheit, die statt dessen auf die einmalige und völlig abstrakte Freiheit des Anfangs zusammenschrumpft, muß hingegen ihren konkreten Freiheitscharakter verlieren, weil sie gegenüber dem Gesetz des einmal spontan gesetzten Anfangs in der Folge unfrei wird. Der transzendentale Sinn der konkreten Freiheit verweist daher auf die eigentümliche Souveränität des menschlichen Vermögens, 96
Diese von Kant selbst gesehene und kritisierte Tendenz des »kosmologischen« Freiheitsbegriffs, in Naturkausalität umzuschlagen, hat in der Kant-Deutung zuweilen dazu geführt, die von Kant behauptete Differenz zwischen einer »Kausalität nach der Natur« und einer »Kausalität aus Freiheit« ganz aufzugeben, da es an einem konkreten Merkmal mangelt, beide Formen der Kausalität zu unterschieden. Daraus meint Rüdiger Bittner den Schluß ziehen zu müssen, daß es »zwei Arten von Wirken« gar nicht geben kann, denn »Handlungen sind nichts anderes als Naturwirkungen« (Bittner 1986, S. 24). 97 Vgl. König 1994, S. 127.
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einer Regel folgen zu können und ihr genau deshalb nicht ausnahmslos folgen zu müssen; eine Souveränität gegenüber Regel und Ausnahme, die im Zusammenhang des hier verfolgten Gedankengangs zuerst an der Freiheit der Urteilskraft gegenüber jeder Regel der Subsumtion im Vorgriff sichtbar geworden ist. Damit ist der Gedankengang wieder beim transzendentalen Leitbegriff des »Vermögens« angelangt. Denn das »Vermögen« ist bei Kant – wie die letzten Überlegungen nun vollends deutlich gemacht haben – gerade dadurch gekennzeichnet, daß es jene Zwischenstellung zwischen Natur und Freiheit einnimmt, die sich innerhalb eines dualistischen Ansatzes nicht denken läßt, die aber auf den Begriff gebracht werden muß, um einen systematischen Zugang zur konkreten Freiheit des Menschen zu finden. Deshalb muß der Vermögensbegriff auch mißverstanden oder gar ignoriert werden, wenn er von einem Freiheitsbegriff her verstanden wird, der sich seinerseits am Gedanken einer absoluten und von der Natur strikt geschiedenen Spontaneität orientiert. Dementsprechend wird sich eine Weiterentwicklung des rein negativen Ansatzes der Antithese zu einem positiven Freiheitsbegriff dort finden, wo Kant den Freiheitsbegriff explizit vom Vermögensbegriff her versteht. Was es heißt, die Freiheit ausdrücklich als Vermögen zu denken, macht eine Reflexion Kants deutlich, in der es heißt: »Die Freiheit ist bei uns bloß ein Vermögen, keine nach beständigen Gesetzen wirkende Kraft. Daher ist auf die Maximen unserer Freiheit nicht sicher zu rechnen. Das Vermögen zum Gegenteil ist immer da« (Refl. 7178: XIX 265). Vergleicht man diese Reflexion mit der oben angeführten Definition, der zufolge die »kosmologische« Freiheit das Vermögen meint, einen Zustand von selbst anzufangen, dann wird sofort deutlich, daß die Reflexion einen spezifischeren und zugleich nuancierteren Sachverhalt vor Augen hat, da sie ausdrücklich »unsere« Freiheit thematisiert. Hierbei gewinnt der Vermögensbegriff, der in der kosmologischen Freiheitsdefinition eher nebenbei erwähnt wird und deshalb häufig unbeachtet bleibt, ganz eindeutig eine entscheidende Bedeutung, weil die menschliche Freiheit gerade keine nach beständigen Gesetzen wirkende Kraft, sondern »bloß« ein Vermögen ist. Auf der zweiten Stufe der transzendentalen Reflexion, die jetzt mit der expliziten Hinwendung zur spezifisch menschlichen Freiheit merklich an Kontur und Deutlichkeit gewinnt, kann Freiheit nicht länger am Leitfaden des Kausalgesetzes verstanden werden. Auf eine nach beständigen Gesetzen wirkende Kraft ist sicher zu rechnen, weil ihre Wirkungsweise durch die Struktur des Kausalzusammenhangs eindeutig und ausnahmslos festgelegt ist. Für die menschliche Freiheit ist es hingegen kennzeichnend, daß sie in diesem Sinne niemals festgelegt und auch nicht festlegbar ist, denn »das Vermögen zum Gegenteil ist immer da«. Das bedeutet jedoch nicht, daß sie gar keiner Regel folgen würde; die menschliche Freiheit ist zwar nicht durch beständige Gesetze, wohl aber durch »Maximen«
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bestimmt. Maximen stehen also bei Kant nicht für eine zweite Kausalitätsform (sie sind keine Gesetze), sondern für eine gegenüber der Kausalität andere, und zwar »unsicherere« Form der Regelhaftigkeit.98 Die systematische Engführung von Maxime und Freiheit hat unmittelbar zur Folge, daß der Maximenbegriff primär im Bereich der Praxis verwurzelt ist, denn »praktisch ist alles«, so Kant, »was durch Freiheit möglich ist« (KrV B 828). In diesem grundlegenden Sinne bezeichnet die Maxime bei Kant »das subjektive Prinzip des Wollens« im Unterschied zum »praktischen Gesetz«, dem »objektiven Prinzip« des Wollens (IV 400 Anm.). Die Differenz zwischen Maxime und Gesetz wird noch bestimmter gefaßt, wenn Kant das praktische Gesetz als »dasjenige« bezeichnet, »was allen vernünftigen Wesen auch subjektiv zum praktischen Prinzip dienen würde, wenn Vernunft volle Gewalt über das Begehrungsvermögen hätte« (ebd.). Die Freiheit der menschlichen Subjektivität ist also deshalb von »unsicheren« Maximen bestimmt, weil das objektive Prinzip nicht wie ein Gesetz »volle Gewalt« über das Vermögen gewinnen kann, das hier im Zusammenhang des praktischen Wollens von Kant des näheren als »Begehrungsvermögen« angesprochen wird. Die so verstandene Differenz zwischen Maxime und Gesetz führt in der späten Metaphysik der Sitten dazu, daß Kant terminologisch zwischen »Wille« und »Willkür« unterscheidet, denn »von dem Willen gehen die Gesetze aus; von der Willkür die Maximen«. Dabei kann, so Kant, »nur die Willkür« frei genannt werden, während »der Wille, der auf nichts Anderes, als bloß auf Gesetz geht, […] weder frei noch unfrei« ist (VI 226). Auf der zweiten Stufe der transzendentalen Reflexion kann die menschliche Freiheit demnach nicht länger am Leitfaden der gesetzlich bestimmten Kausalität, sie muß vielmehr in ihrer strukturellen Differenz zum Gesetz verstanden werden, was zur Folge hat, daß die Regel, die sich die Freiheit selbst gibt, nicht die »sichere« Struktur eines Gesetzes, sondern nur die »unsichere« Struktur einer Maxime besitzt. An diesem Punkt des Gedankengangs wird es nun wichtig, daß Kant bereits in der Kritik der reinen Vernunft nicht nur eine Freiheit »im kosmologischen Verstande«, sondern auch eine Freiheit »im praktischen Verstande« kennt, unter der 98
Die Maxime weist damit genau jene Spannung zwischen eigener und dennoch allgemeiner Gesetzgebung auf, die Kant der menschlichen Freiheit zuschreibt. Deshalb kann man »praktische Subjekte« mit Rüdiger Bubner als »Autoren von Maximen« auffassen. Denn »die Maximenregelung wird zwar von den praktischen Subjekten verantwortet, sie unterwirft aber das einzelne Tun einer gewissen Allgemeinheit. Wo Maximen gelten, hat die Beliebigkeit kontingenter Reaktionen bereits einer Handlungsorientierung Platz gemacht, die die Schranken der Privatheit überwindet« (Bubner 1984, S. 212 f.). In ähnlicher Weise spricht Uwe-Justus Wenzel von der »Spannung zwischen ›Selbstsetzung‹ und ›Verallgemeinerung‹« (Wenzel 1992, S. 21). – Vgl. zum Maximenbegriff bei Kant: Bittner 1974, Albrecht 1994, Thurnherr 1994.
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er »die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit« versteht. Die »menschliche Willkür« wird zwar, wie Kant ausführt, stets durch sinnliche Antriebe »affiziert«, doch wird sie deshalb nicht (wie das Tier) von der Sinnlichkeit »nezessitiert«, weil »dem Menschen ein Vermögen beiwohnt, sich, unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe, von selbst zu bestimmen« (KrV B 562). Der praktische Freiheitsbegriff bezieht sich also, im Gegensatz zum »kosmologischen« Freiheitsbegriff, unmittelbar auf die menschliche Wirklichkeit. Allerdings scheint hieraus keine grundlegende Veränderung in der formalen Struktur des Freiheitsbegriffs zu folgen, da Kants nähere Erläuterung, Freiheit sei das Vermögen, sich unabhängig von sinnlicher Nötigung »von selbst zu bestimmen«, den Eindruck erweckt, als wollte sie die formale Struktur der praktischen Freiheit mit dem Leitgedanken der kosmologischen Freiheit identifizieren, einen »absolut ersten Anfang« zu machen. Dieser Eindruck verflüchtigt sich aber, wenn an einer späteren Stelle ganz ausdrücklich hinzugesetzt wird, die praktische Freiheit könne »durch Erfahrung bewiesen werden«, weil es Kant zufolge zum zentralen Bestand unserer Selbsterfahrung gehört, daß wir die Fähigkeit besitzen, die ausschließlich sinnliche Bestimmung unserer Willkür zu »überwinden« (KrV B 830). Hier kündigt sich offenkundig eine wesentliche Differenz zur »kosmologischen« Freiheit an, deren formale Struktur ja zur Folge hatte, daß ihr Begriff »nichts von der Erfahrung Entlehntes« enthalten und ihr Gegenstand »in keiner Erfahrung bestimmt gegeben werden« kann. Der Leitgedanke eines »absoluten« Anfangs machte es nämlich notwendig, den »kosmologischen« Freiheitsbegriff vollständig aus dem zeitlich verfaßten Zusammenhang der menschlichen Erfahrung zu exilieren, da diese aufgrund ihres zeitlich verfaßten Zusammenhangs einen solchen Anfang nicht zuläßt. Kants explizite Ansiedlung des praktischen Freiheitsbegriffs im menschlichen Erfahrungszusammenhang macht deshalb im Umkehrschluß klar, daß die formale Struktur des hier gemeinten Anfangs und der mit ihm gesetzten Unabhängigkeit vom Früheren eine grundlegend andere sein muß. Tatsächlich zeigt die genauere Betrachtung, daß die im praktischen Freiheitsbegriff gedachte Unabhängigkeit des menschlichen Wollens von sinnlichen Antrieben durchaus keine absolute Unabhängigkeit meinen kann. Denn die behauptete Unabhängigkeit bezieht sich ausschließlich auf die Nötigung, nicht aber auf das Bestimmtsein durch sinnliche Antriebe. Deshalb kann Kant das menschliche Wollen gleichzeitig als »arbitrium liberum« und als »arbitrium sensitivum« ansprechen (KrV B 562), da der Umstand, daß das Wollen nicht durch die Sinnlichkeit »nezessitiert« ist, keineswegs ausschließt, daß es gleichwohl von ihr »affiziert« wird. Genau deshalb verbleibt auch der praktische Freiheitsbegriff innerhalb des zeitlich verfaßten Erfahrungszusammenhangs, weil ihm die Bestimmung durch sinnliche »Affekte« in der Zeit vorangeht, ohne daß er durch sie genötigt
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würde. Im menschlichen Erfahrungszusammenhang haben somit die sinnlichen Neigungen, wie Kant sagt, »allemal das erste Wort«; das »moralische Gesetz« kann aber »nachher sprechen, um jene in ihren geziemenden Schranken zu halten, und sogar sie alle insgesamt einem höheren, auf keine Neigung Rücksicht nehmenden, Zwecke zu unterwerfen« (V 147, Hervorhebung: A.H.). Die in Kants Begriff der praktischen Freiheit gedachte »Selbstbestimmung« markiert demnach zwar auch einen Anfang, es gehört jedoch zu den formalen Grundeigenschaften eines praktischen Anfangs, daß er keinen »absoluten«, sondern ein »relativen« Anfangspunkt setzt, der wesentlich auf ein zeitlich Vorangehendes bezogen ist und bleibt, ohne deshalb durch das Frühere »nezessitiert« oder determiniert zu werden. Die so verstandene menschliche Freiheit ist also kein »primäres«, sondern notwendig ein »sekundäres« Phänomen, oder genauer: menschliche Freiheit meint kein Unabhängigsein, sondern ein Unabhängigwerden. Für einen solchen Anfang findet Kant den Begriff der »Überwindung«, da auch von dieser gilt, daß sie keinen »absolut ersten« Anfang setzt: ginge ihr nämlich zeitlich nichts von wesentlicher Bedeutung voran, dann gäbe es auch nichts zu überwinden. »Überwindung« ist daher »nicht ein Sprung (saltus) wie gleichsam über eine Kluft, noch ein Schritt (passus) im fortgesetzten Gange, sondern ein Überschritt« (vgl. § 8). Ein unreduzierter Freiheitsbegriff hat deshalb gegenüber dem Naturgesetz nicht, wie der »kosmologische« Freiheitsbegriff, eine zweite Gesetzmäßigkeit, sondern eine andere Gesetzmäßigkeit zu thematisieren, bei der die formale Struktur der Gesetzmäßigkeit, die beim »kosmologischen« Freiheitsbegriff unangetastet bleibt, nicht einfach negiert, sondern qualitativ verwandelt ist. Eine solche Transformation der formalen Struktur der Gesetzmäßigkeit, die nicht gleichbedeutend mit dem Übergang in bloße »Regellosigkeit« wäre, läßt sich aber nur denken, wenn die schlechte Alternative zwischen Gesetz und Regellosigkeit – die auch von der Antithese der dritten Vernunftantinomie nicht in Frage gestellt wird – aufgebrochen wird. Mit anderen Worten: die konkrete Freiheit des Menschen ist philosophisch allein dann angemessen zu begreifen, wenn die »ausnahmslose« Gesetzmäßigkeit, die den spekulativen Vernunftgebrauch als regulative Idee anleitet, durch eine Metareflexion überschritten wird. Dies gelingt auf sachlich nachvollziehbare Weise aber nur, wenn der spekulative Vernunftgebrauch selbst dadurch überschritten wird, daß er auf einen praktischen Vernunftgebrauch hin transparent gemacht wird, der dem spekulativen Vernunftgebrauch zu Grunde liegt und ihn überhaupt erst (in seinen Grenzen) möglich macht.
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§ 25. »Von dem Interesse der Vernunft bei diesem ihrem Widerstreite« Der antinomische Widerstreit der Vernunft mit sich selbst geht in der Kritik der reinen Vernunft auf die gegenläufige Tendenz zweier Schlußweisen zurück, die gleichberechtigt aus der Spontaneität der reinen Vernunft entspringen. Die eine schließt vom Dasein des Bedingten auf das Dasein eines Unbedingten (am absoluten Anfang der Bedingungskette) zurück, die andere betrachtet jede Bedingung eines Bedingten als ihrerseits bedingt (so daß ein absoluter Anfang ausgeschlossen ist). Aufgrund dieser beiden gegenläufigen Schlußweisen kommt es zu ebenso gegenläufigen, antinomischen Aussagen über die Welt, die Kant in vier kosmologischen Thesen bzw. Antithesen vor Augen führt.99 Kant nennt es »das merkwürdigste Phänomen« der Vernunft, daß solch eine »nicht etwa beliebig erdachte, sondern in der Natur der menschlichen Vernunft gegründete, mithin unvermeidliche und niemals ein Ende nehmende Antinomie« überhaupt möglich ist, und er fügt hinzu, es sei gerade dieses Phänomen des antinomischen Widerstreits, das »unter allen am kräftigsten wirkt, die Philosophie aus ihrem dogmatischen Schlummer zu erwecken, und sie zu dem schweren Geschäfte der Kritik der Vernunft selbst zu bewegen« (IV 338).100 Die überraschende Entdeckung, daß die menschliche Vernunft in einen Widerstreit mit sich selbst geraten kann, hat Kant immer wieder als den systematischen Ausgangspunkt seiner Vernunftkritik bezeichnet: daß »die Vernunft sich also mit sich selbst entzweit sieht«, ist »ein Zustand, über den der Skeptiker frohlockt«, durch den »der kritische Philosoph aber in Nachdenken und Unruhe versetzt werden muß« (IV 340). Kant nennt die Selbstentzweiung der Vernunft mit einem abermaligen Superlativ »das seltsamste Phänomen der menschlichen Vernunft« und fügt hinzu, daß in diesem Phänomen »ein nicht vermuteter Widerstreit« hervortritt, »der niemals auf dem gewöhnlichen, dogmatischen Wege beigelegt werden kann« (IV 339 f.). Von hier aus wird auch erst die eigentliche Berechtigung der »Revolution« verständlich, mit der Kant »das bisherige Verfahren der Metaphysik umzuändern« versucht. Denn eine »dogmatische« Metaphysik ist nicht nur nicht in der Lage, den von Kant entdeckten »Widerstreit« der Vernunft »beizulegen«, sondern sie ist auch unfähig oder unwillig, den Widerstreit zumindest als tiefe Beunruhigung und als Gegenstand des philosophischen »Nachdenkens« zu begreifen. Deshalb ist für Kant jede Metaphysik »dogmatisch«, die ihre Au99
Die vier Thesen behaupten: (1) die Welt hat der Zeit nach einen Anfang und ist dem Raume nach in Grenzen eingeschlossen; (2) sie ist aus einfachen Teilen zusammengesetzt; (3) neben der Naturkausalität muß noch eine Kausalität durch Freiheit angenommen werden; (4) zur Welt gehört ein schlechthin notwendiges Wesen. Die vier Antithesen widersprechen dem. 100 Der Brief an Garve vom 21. September 1798 zeigt, daß Kant hierbei durchaus seine eigene philosophische Entwicklung vor Augen hat.
§ 25. »Von dem Interesse der Vernunft bei diesem ihrem Widerstreite«
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gen vor dem »seltsamsten Phänomen« einer Selbstentzweiung der Vernunft verschließt. Für das Augenverschließen der »herkömmlichen« Philosophie vor dem Phänomen eines Widerstreits der Vernunft mit sich selbst findet Kant den treffenden Ausdruck eines »Schlafes« der Vernunft. So kann er feststellen, daß seine transzendentale Entdeckung die »schlummernde Vernunft endlich aufschrecken« mußte (XX 320). Das »merkwürdigste« oder »seltsamste Phänomen« einer Selbstentzweiung der Vernunft ist nämlich wie nichts anderes dazu geeignet, die Vernunft »stutzig zu machen« und »zur Selbstprüfung zu nötigen«. Daher wendet sich Kant direkt an seinen Leser und bietet ihm gleichsam ein »Bündnis« an, indem er sagt: »Wenn der Leser nun durch diese seltsame Erscheinung dahin gebracht wird, zu der Prüfung der dabei zum Grunde liegenden Voraussetzung zurückzugehen, so wird er sich gezwungen fühlen, die erste Grundlage aller Erkenntnis der reinen Vernunft mit mir tiefer zu untersuchen« (IV 341 Anm.). Es ist daher für die systematische Gesamtanlage der Transzendentalphilosophie von eminenter Bedeutung, daß Kant den Begriff eines Interesses der Vernunft im unmittelbaren Anschluß an die Darstellung der vierfachen Vernunftantinomie in der »Transzendentalen Dialektik« einführt, und zwar in dem Abschnitt: »Vom Interesse der Vernunft bei diesem ihrem Widerstreite« (KrV B 490 ff.). Denn allein aus dieser prominenten Stelle im Gedankengang der transzendentalen Vernunftkritik wird bereits hinreichend deutlich, daß ein Abschnitt, der das »Interesse der Vernunft« bei ihrem antinomischen Widerstreit untersucht, unmittelbar in das systematische Zentrum der Vernunftkritik zielt. Dabei ergibt sich allerdings sofort ein naheliegender Einwand. Wenn nämlich das spezifische Interesse der Vernunft, wie in der bisherigen Untersuchung bereits ausgeführt wurde, eng mit der Differenz zwischen einem spekulativen und praktischen Vernunftgebrauch verknüpft ist, dann scheint einer Einführung des Interessenbegriffs in Kants Antinomienlehre entgegen zu stehen, daß bei Kant beide Seiten der Antinomie von Aussagen der spekulativ-theoretischen Vernunft gebildet werden. Eine Differenz oder gar ein »Widerstreit« zwischen spekulativem und praktischem Vernunftgebrauch scheint somit im Zusammenhang der Vernunftantinomie gar nicht thematisiert werden zu können. Dieser Einwand ist hilfreich, um die Aufgabe vorab sehr genau zu formulieren, die sich Kant stellt: in den scheinbar rein spekulativen Prinzipien der theoretischen Vernunftschlüsse soll nämlich auf beiden Seiten der Antinomie ein Interessenmoment aufgespürt und seine Bedeutung für den Aufbau der Vernunftkritik angezeigt werden. Der fragliche Abschnitt, der somit nicht zufällig direkt an die Exposition der Vernunftantinomie anschließt, beschäftigt sich deshalb nicht mit der spekulativen »Auflösung« der Antinomie, sondern allein mit der Stellung des Interesses der Vernunft zu den vier Thesen und Antithesen der Vernunftantino-
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mie. Zu diesem Zweck will Kant »in Erwägung ziehen: auf welche Seite wir uns wohl am liebsten schlagen möchten, wenn wir etwa genötigt würden, Partei zu nehmen« (KrV B 493). Der »Gesichtspunkt«, unter dem für Kant eine Beurteilung des Widerstreits der Vernunft »allein mit gehöriger Gründlichkeit angestellet werden kann«, »ist die Vergleichung der Prinzipien, von denen beide Teile ausgehen.« Kant beobachtet, daß die vier Thesen bzw. Antithesen jeweils eine verwandte Struktur aufweisen: »Man bemerkt unter den Behauptungen der Antithese eine vollkommene Gleichförmigkeit der Denkungsart und völlige Einheit der Maxime, nämlich ein Prinzipium des reinen Empirismus«. Dagegen »legen die Behauptungen der Thesis, außer der empirischen Erklärungsart innerhalb der Reihe der Erscheinungen, noch intellektuelle Anfänge zum Grunde, und die Maxime ist so fern nicht einfach. Ich will sie aber von ihrem wesentlichen Unterscheidungsmerkmal den Dogmatismus der reinen Vernunft nennen« (KrV B 493 f.). Die Antinomie der reinen spekulativen Vernunft, d. h. der »unvermeidliche und niemals ein Ende nehmende« Streit zwischen Empirismus und Dogmatismus beruht demnach, so hat es zunächst den Anschein, allein auf theoretischen Differenzen. Jener orientiert sich an der strikten Immanenz eines geschlossenen Kausalzusammenhangs der Natur, während dieser den empirischen Kausalzusammenhang zwar gelten läßt, ihm jedoch einen absoluten intellektuellen Anfang (die »kosmologische« Freiheit) überordnet. Kant will jedoch darauf aufmerksam machen, daß sich die anscheinend rein theoretische Differenz der Prinzipien des näheren als Differenz zwischen den jeweils verfolgten Maximen verstehen läßt. Maximen verweisen aber, wie sich gezeigt hat, bei Kant nicht allein auf den spekulativen Vernunftgebrauch, sondern – durch ihn hindurch – auf einen genuin praktischen Vernunftgebrauch (vgl. § 24). Es ist in diesem Zusammenhang aufschlußreich, daß »Maxime« in begriffsgeschichtlicher Hinsicht keineswegs eindeutig auf eine »praktische« Bedeutung (im üblichen Sinne) festgelegt ist. Am Anfang hatte der von Boethius bei der Latinisierung der aristotelischen »Logik« geprägte Begriff sogar eine rein »theoretische«, nämlich logische Bedeutung. »Maximen« stehen bei Boethius – wie es die unmittelbare Wortbedeutung auch anzeigt – noch »über« dem Obersatz (maior) eines logischen Schlusses: sie sind »höchste und oberste Sätze«, »die sowohl universal sind als auch derart bekannt und offenkundig, daß sie des Beweises nicht bedürfen, sondern vielmehr Sätze, die ihrerseits zweifelhaft sind, beweisen«.101 Maximen stellen daher eine Art »Begründungsmaximum« dar: sie sind die un101
Die folgenden Ausführungen stützen sich auf den Artikel »Maxime« von Rüdiger Bubner und Ulrich Dierse im »Historischen Wörterbuch der Philosophie«, Bd. 5 (1980), Sp. 941–44 (die angeführten Zitate sind dort nachgewiesen).
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hintergehbaren Bedingungen der Argumentation oder des Verständnisses. Sie eröffnen gleichsam einen Raum von theoretischen Möglichkeiten, ohne dabei in diesem Raum selbst thematisch werden zu müssen. Deshalb wird »Maxime« in der Tradition häufig mit »Axiom« gleichgesetzt, also mit einem obersten, nicht weiter ableitbaren Grundsatz. »Maxime« ist dergestalt ein anderer Ausdruck für den »höchsten« (maximalen) Standpunkt, von dem aus eine Mannigfaltigkeit untergeordneter Sätze systematisch begründet werden kann.102 Die praktisch-moralische Bedeutung des Maximenbegriffs wird durch die bereits im Hochmittelalter einsetzende Übertragung des Begriffs in andere Bereiche vorbereitet: man beginnt von »Maximen« der Grammatik, der Rhetorik oder der Musik zu sprechen. Jetzt liegt es nicht mehr fern, auch die obersten juristischen Prinzipien mit dem Begriff zu bezeichnen, so daß es nur noch ein weiterer Schritt in dieser Entwicklung ist, unter »Maxime« ebenso die obersten praktischen Grundsätze, d. h. die Grundsätze von Handlungen zu verstehen. So besteht die »morale provisoire« von Descartes in »trois ou quatre maximes«. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts beginnen dann – vor allem in Frankreich – Schriften über »Maximen« im moralisch-praktischen Sinne ein weit verbreitetes Phänomen zu werden, auf die dann die sogenannten »Französischen Moralisten« mit ihren einschlägigen Reflexionen reagieren. Auch in die Schulphilosophie des 18. Jahrhunderts wird der Maximenbegriff aufgenommen, etwa bei Baumgarten, der die »Maxime« als Obersatz praktischer Schlüsse definiert. Gegenüber dieser begriffsgeschichtlichen Tradition setzt nun Kants Transzendentalphilosophie neu an, indem sie dem Maximenbegriff eine allgemeine, theoretisch-praktische Bedeutung gibt, um mit dem so gewonnenen Begriff einer »Maxime der Vernunft« den drohenden Widerstreit der Vernunft mit sich selbst kritisch schlichten zu können. Die transzendentale Vernunftkritik will nämlich zeigen, daß die sich selbst widerstreitende Vernunft einem objektivistischen Schein verfallen ist, der dann entstehen muß, wenn die spekulative Vernunft ihre eigenen Maximen mißversteht, weil sie das praktische Moment des Vernunftinteresses, auf das die Maximen zurückzuführen sind, nicht richtig auffaßt. Deshalb betont Kant noch einmal, daß die »Maximen der spekulativen Vernunft« auf »dem spekulativen Interesse derselben beruhen«, auch wenn es »scheinen mag, sie wären objektive Prinzipien« (KrV B 694). Der objektivistische Schein bedroht also einen spekulativen Vernunftgebrauch, der das praktische Moment
102
Die systematische Verwandtschaft der Begriffe »Horizont« und »Maxime« bei Kant ist offenkundig und bemerkenswert. Beide bezeichnen auf je verschiedene Weise eine »äußerste« oder »höchste« Grenze, die deshalb ein »Ganzes« umschließt oder unter sich befaßt. Zugleich schließt das »Maximum« eines Horizontes oder einer Maxime den Plural nicht aus, so daß von »Horizonten«, sehr viel häufiger noch von »Maximen« gesprochen wird.
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des spekulativen Interesses übersieht, das den spekulativen Gebrauch der Vernunft transzendental begründet. Es kann daher nicht überraschen, wenn Kant in einem weiteren und entscheidenden Schritt daran geht, die jeweils unterschiedliche Maxime, die der »Gleichförmigkeit der Denkungsart« in den Antithesen bzw. Thesen zu Grunde liegt, auf ein jeweils unterschiedliches Interesse zurückzuführen, das sich in ihnen ausdrückt. »Auf der Seite des Dogmatismus« zeigt sich, so Kant, »ein gewisses praktisches Interesse, woran jeder Wohlgesinnte, wenn er sich auf seinen wahren Vorteil versteht, herzlich Teil nimmt« (KrV B 494). Dagegen bietet der »Empirismus dem spekulativen Interesse der Vernunft Vorteile an, die sehr anlockend sind«. Behauptet nämlich dieser eine bruchlose Immanenz der Welt, in welcher »der Verstand jederzeit auf seinem eigentümlichen Boden [ist], nämlich dem Felde von lauter möglichen Erfahrungen, deren Gesetzen er nachspüren, und vermittelst derselben er seine sichere und faßliche Erkenntnis ohne Ende erweitern kann« (KrV B 496), so bestreitet jener die Ausschließlichkeit einer solchen Immanenz des Naturzusammenhangs im Interesse der Möglichkeit einer Praxis aus Freiheit. Das »merkwürdigste Phänomen« einer Antinomie der reinen Vernunft verweist also Kant zufolge auf einen »nicht etwa beliebig erdachten, sondern in der Natur der menschlichen Vernunft gegründeten« Widerstreit unterschiedlicher Erkenntnisinteressen. In den vier Thesen und Antithesen der Vernunftantinomie stehen sich letztlich nicht zwei »theoretische« Schlußweisen gegenüber, sondern zwei unterschiedliche Interessen, deren fundamentale Differenz im Widerstreit der Schlußweisen nur eine besonders faßliche Form gewinnt. Das praktische Vernunftinteresse entwirft in den vier kosmologischen Thesen eine Doppelwelt, die durch die dogmatisch fixierte Differenz zwischen Erscheinungswelt und intelligibler Sphäre gekennzeichnet ist. Das spekulative Vernunftinteresse entwirft hingegen in den vier Antithesen eine streng einheitliche Naturwelt, deren empiristisch fixierte Immanenz jede qualitative Differenz zum Verschwinden bringt. In einer Passage, in der Kant auf engstem Raum die »Wurzel« dieses dialektischen Widerstreits der Vernunft begrifflich zu fassen und zugleich eine Perspektive zu seiner »Entscheidung« anzudeuten sucht, heißt es: »Wenn bloß regulative Grundsätze als konstitutiv betrachtet werden, so können sie als objektive Prinzipien widerstreitend sein; betrachtet man sie aber bloß als Maximen, so ist kein wahrer Widerstreit, sondern bloß ein verschiedenes Interesse der Vernunft, welches die Trennung der Denkungsart verursacht. In der Tat hat die Vernunft nur ein einziges Interesse und der Streit ihrer Maximen ist nur eine Verschiedenheit und wechselseitige Einschränkung der Methoden, diesem Interesse ein Genüge zu tun« (KrV B 694). Der »Streit« der Vernunftprinzipien ist also genau dann »kein wahrer Widerstreit«, wenn die Prinzipien nicht konstitutiv als »objektive Prinzipien«, sondern
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regulativ als »Maximen« verstanden werden. Der Streit der Maximen ist nämlich des näheren nur »eine Verschiedenheit und wechselseitige Einschränkung der Methoden«, dem einzigen Interesse der Vernunft »ein Genüge zu tun«. Die Pluralität, welche die Möglichkeit des Streits mit sich führt, wird also den »Maximen« der Vernunft zugeordnet, während die Einheit, die den Streit verhindert oder schlichtet, als Einzigkeit des Vernunftinteresses gedacht wird, dem der Streit der Maximen als Wettstreit der Methoden zu genügen versucht. Im systematischen Zentrum der Überwindung des dialektischen Widerstreits der Vernunft mit sich selbst steht daher die Rückführung scheinbar objektiver Prinzipien auf »subjektive« Vernunftmaximen. So definiert Kant in der Kritik der reinen Vernunft den Begriff der Maxime folgendermaßen: »Praktische Gesetze, so fern sie zugleich subjektive Gründe der Handlungen, d. i. subjektive Grundsätze werden, heißen Maximen« (KrV B 840). Die »Maximen« werden also in dieser von Kant stets beibehaltenen Definition nicht als »objektive Prinzipien«, sondern als »subjektive Grundsätze« bestimmt – freilich als Grundsätze, die den Grund von Handlungen bilden. Kant stützt sich demnach bei seiner eigentümlichen Begriffsprägung »Maximen der Vernunft« mit offenkundiger Absicht auf die praktische Grundbedeutung des Maximenbegriffs, ohne dabei freilich die festzuhaltende Differenz zwischen »Maximen« (der Handlung) und »Maximen der Vernunft« verwischen zu wollen. Vielmehr verweist die terminologische Neuprägung »Maximen der Vernunft« erneut auf die theoretisch-praktische Tiefendimension, die das systematische Zentrum der Transzendentalphilosophie bildet und durch die sowohl die Einheit wie die Differenz zwischen dem theoretischen Erkennen und dem praktischen Handeln des Menschen transzendental begründet werden soll. Damit ist Kants zentraler Gedanke einer transzendentalen »Dialektik« der Vernunft deutlich geworden. Denn die »Transzendentale Dialektik« der Kritik der reinen Vernunft ist vorwiegend der kritischen Untersuchung eines »transzendentalen Scheins« gewidmet.103 Die allgemeine »Ursache« für die Möglichkeit eines solchen »Scheins« ist aber Kant zufolge der grundlegende Sachverhalt, daß in der menschlichen Vernunft »Grundregeln und Maximen ihres Gebrauchs liegen, welche gänzlich das Ansehen objektiver Grundsätze haben« (KrV B 353). Die den transzendentalen Schein erzeugende Verwechslung von subjektiven Grundregeln mit objektiven Grundsätzen wird hier demnach erneut mit Hilfe des Maximenbegriffs gekennzeichnet. Die Maximen der Vernunft haben »gänzlich das Ansehen objektiver Grundsätze«, weil der spekulative Vernunftgebrauch 103
Vgl. zur »Transzendentalen Dialektik« insgesamt den ausführlichen Kommentar von Heinz Heimsoeth 1966–1971: Transzendentale Dialektik. Ein Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft.
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für Kant gerade dadurch charakterisiert ist, daß in ihm das eigene Erkenntnisinteresse nicht thematisch wird. Deshalb müssen aber die Maximen, die im Interesse der Vernunft begründet sind, das täuschende »Ansehen objektiver Grundsätze« gewinnen.104 Der dialektische Widerstreit der Vernunft läßt sich auf der jetzt erreichten Stufe der Reflexion also dadurch »entscheiden«, daß die scheinbar »objektiven Grundsätze« der spekulativen Vernunft kritisch als »bloß regulative Grundsätze« oder als »Maximen« erkannt werden. Denn nur verschiedene objektive oder konstitutive Prinzipien könnten einen »wahren« Widerstreit der Vernunft mit sich selbst verursachen, während ein Streit regulativer Maximen »nur eine Verschiedenheit und wechselseitige Einschränkung der Methoden« ist, dem einen Interesse der Vernunft »ein Genüge zu tun«, das konstitutiv ist, weil es als transzendentales Vernunftinteresse die Wirklichkeit ursprünglich erschließt.
§ 26. Sollen: technische und moralische Praxis Die Überwindung des Widerstreits der Vernunft mit sich selbst durch die Zurückführung von scheinbar objektiven Prinzipien auf »bloß regulative Grundsätze« setzt voraus, daß die Vernunft zumindest über ein Prinzip verfügt, das nicht »bloß regulativ«, sondern konstitutiv ist. Der Übergang von der »regulativen« zur »konstitutiven« Bedeutung der Vernunft ist aber bei Kant unmittelbar mit dem Übergang vom spekulativen zum praktischen Vernunftgebrauch im engeren Sinne verbunden. So heißt es in der Metaphysik der Sitten: »Der Begriff der Freiheit ist ein reiner Vernunftbegriff, der eben darum für die theoretische Philosophie transzendent, d. i. ein solcher ist, dem kein angemessenes Beispiel in irgend einer möglichen Erfahrung gegeben werden kann, welcher also keinen Gegenstand einer uns möglichen theoretischen Erkenntnis ausmacht und schlechterdings nicht für ein konstitutives, sondern lediglich als regulatives und zwar nur bloß negatives Prinzip der spekulativen Vernunft gelten kann, im praktischen Gebrauch derselben aber seine Realität durch praktische Grundsätze beweiset« (VI 221). Eine konstitutive oder positive Geltung eines reinen Vernunftbegriffs bedeutet aber stets eine unbedingte Geltung, weshalb man auch sagen kann, daß der Freiheitsbegriff im praktischen Vernunftgebrauch zur näheren Bestimmung des Unbedingten wird, d. h. der eigentlichen transzendentalen Idee, »worauf es ankommt« (vgl. § 2). 104
Kant spricht hier auch von »einer natürlichen und unvermeidlichen Illusion«, die folglich »eine natürliche und unvermeidliche Dialektik der reinen Vernunft« hervorrufen muß (KrV B 354).
§ 26. Sollen: technische und moralische Praxis
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Deshalb heißt es in der bereits zitierten Passage aus der Kritik der praktischen Vernunft: »Der einzige Begriff der Freiheit verstattet es«, das »Unbedingte und Intelligible zu dem Bedingten und Sinnlichen zu finden. Denn es ist unsere Vernunft selber, die sich durchs höchste und unbedingte praktische Gesetz« erkennt. Daher »läßt es sich« Kant zufolge »begreifen, warum in dem ganzen Vernunftvermögen nur das Praktische dasjenige sein könne, welches uns über die Sinnenwelt hinaushilft« (V 105 f.). Der Begriff der Freiheit, »so fern dessen Realität durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist«, macht somit in der Gesamtanlage der transzendentalen Vernunftkritik »den Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der spekulativen Vernunft aus« (V 3 f.). Aus diesem Grund hängt das richtige Verständnis des Ganzen der Transzendentalphilosophie wesentlich von dem richtigen Verständnis des »unbedingten praktischen Gesetzes« ab, das dem Vernunftbegriff der Freiheit die »Realität« verbürgt. Wie die Überlegungen zum spekulativen Vernunftgebrauch bei der ersten Vernunftfrage »Was kann ich wissen?« ansetzten, so haben die Überlegungen zum genuin praktischen Vernunftgebrauch nun bei der zweiten Vernunftfrage »Was soll ich tun?« anzusetzen. Dabei ist es wichtig, die Frage nicht von vornherein als moralische Frage zu verstehen. Vielmehr ist sie zunächst in einem ganz umfassend »praktischen« Sinne als Frage nach dem zu verstehen, was einem Handelnden jeweils als »nützlich« oder »gut« erscheint. In diesem Sinne bedeutet die Frage »Was soll ich tun?«: was halte ich für gut oder wünschenswert?105 Kants Antwort auf diese Frage lautet am Beginn der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten folgendermaßen: »Verstand, Witz, Urteilskraft und wie die Talente des Geistes sonst heißen mögen, oder Mut, Entschlossenheit, Beharrlichkeit im Vorsatze als Eigenschaften des Temperaments sind ohne Zweifel in mancher Absicht gut und wünschenswert; aber sie können auch äußerst böse und schädlich werden, wenn der Wille, der von diesen Naturgaben Gebrauch machen soll und dessen eigentümliche Beschaffenheit darum Charakter heißt, nicht gut ist. Mit den Glücksgaben ist es eben so bewandt. Macht, Reichtum, Ehre, selbst Gesundheit und das ganze Wohlbefinden und Zufriedenheit mit seinem Zustande unter dem Namen der Glückseligkeit machen Mut und hierdurch öfters auch Übermut, wo nicht ein guter Wille da ist, der den Einfluß derselben aufs Gemüt und hiermit auch das ganze Prinzip zu handeln berichtige und allgemein-zweckmäßig mache« (IV 393). 105
Ein triviales Beispiel für einen in diesem weiten Sinne »praktischen« Satz wäre: »Diese Wand soll grün gestrichen werden.« Offenkundig meint er so viel wie »Ich halte es für gut oder wünschenswert, daß die Wand grün ist bzw. wird«.
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Damit ist Kants systematischer Ausgangspunkt einer Kritik des praktischen Vernunftgebrauchs bereits bezeichnet. Die allgemeine Frage »Was soll ich tun?« erlaubt inhaltlich sicherlich eine unübersehbare Zahl von Antworten, die aber in formaler Hinsicht alle in einem Punkt übereinstimmen: alles »Wünschenswerte« ist nur »in mancher Absicht gut und wünschenswert«, so daß es in einer anderen Absicht immer auch schlecht sein kann. Oder anders ausgedrückt: alles Wünschenswerte ist immer nur bedingterweise gut, so daß es sich unter veränderten Bedingungen stets ins Gegenteil verkehren kann. Alles dergestalt bedingterweise Seinsollende ist demnach von Grund auf ambivalent, weil es nur beziehungsweise »gut« ist und bei einem Wechsel des Bezugpunktes seinen »Wert« verlieren kann. Kant schließt auch allgemein anerkannte »Tugenden« von dieser generellen Ambivalenz der praktischen »Werte« nicht aus. Zwar sind »Mäßigung in Affekten und Leidenschaften, Selbstbeherrschung und nüchterne Überlegung« nicht »allein in vielerlei Absicht gut, sondern scheinen sogar einen Teil vom innern Werte der Person auszumachen; allein es fehlt viel daran, um sie ohne Einschränkung für gut zu erklären (so unbedingt sie auch von den Alten gepriesen worden). Denn ohne Grundsätze eines guten Willens können sie höchst böse werden, und das kalte Blut eines Bösewichts macht ihn nicht allein weit gefährlicher, sondern auch unmittelbar in unsern Augen noch verabscheuungswürdiger, als er ohne dieses dafür würde gehalten werden« (IV 394). Auch hier ist also die formale Eigenschaft zu beobachten, daß das Seinsollende nur bedingterweise oder relativ zu einer Absicht »gut« genannt werden kann, so daß das Gesollte nicht »an sich selbst« wünschenswert und gut ist. Die angeführten Formulierungen Kants machen aber zugleich deutlich, daß er einen Punkt im Auge hat, der von der allgemeinen Ambivalenz der praktischen Werte ausgenommen ist. Es ist der »gute Wille«, dessen Grundsätze nicht nur einen bedingten, sondern einen unbedingten Wert darstellen. Daher lautet der berühmte erste Satz der Grundlegung: »Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille« (IV 393). Denn für Kant hat alles Gesollte »keinen innern unbedingten Werth, sondern« setzt »immer noch einen guten Willen voraus« (IV 393 f.), der, so kann man unschwer ergänzen, genau deshalb selbst der einzige unbedingte Wert ist, den die Transzendentalphilosophie anerkennt und zu begründen sucht. An dieser Stelle kann eine wichtige terminologische Unterscheidung vorgenommen werden. Die »praktischen« Fragen, die sich auf ein Bedingt-Gutes beziehen, nennt Kant insgesamt »technisch-praktische« Fragen, von denen er die »moralisch-praktischen« Fragen scharf unterscheidet, die sich auf das Unbedingt-Gute beziehen. Die Unterscheidung ist für den Ansatz der Kritik des prak-
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tischen Vernunftgebrauchs grundlegend, da Kant zufolge alle »technisch-praktischen« Prinzipien »zur theoretischen Philosophie« gehören, so daß allein die »moralisch-praktischen« Prinzipien »die praktische Philosophie ausmachen« (V 172). Die Frage »Was soll ich tun?« erschließt also noch gar nicht den genuin praktischen Vernunftgebrauch, sondern erst die Frage »Was soll ich unbedingterweise tun?« – und allein diese Frage ist auch eine transzendentale Vernunftfrage. Kant betont daher ausdrücklich, daß »in uns die moralisch-praktische Vernunft von der technisch-praktischen Vernunft ihren Prinzipien nach wesentlich unterschieden ist« (V 455).106 Die technisch-praktische Vernunft richtet sich nämlich auf Handlungsaspekte, die sie nicht aus sich selbst, sondern nur unter »Bedingungen« der Sinnlichkeit begründen kann, während die moralisch-praktische Vernunft sich auf den Handlungsaspekt richtet, der »unbedingt« gilt, weil er sich aus der Vernunft selbst begründen läßt.107 Was damit des näheren gemeint ist, zeigt die folgende Ausführung Kants aus der Grundlegung: »Es hat nichts einen Wert als den, welchen ihm das Gesetz bestimmt. Die Gesetzgebung selbst aber, die allen Wert bestimmt, muß eben darum eine Würde, d. i. unbedingten, unvergleichbaren Wert haben, für welchen das Wort Achtung allein den geziemenden Ausdruck der Schätzung abgibt, die ein vernünftiges Wesen über sie anzustellen hat« (IV 436). Hier werden die Begriffe von Kant in eine systematische Konstellation gebracht, die für seine Kritik des praktischen Vernunftgebrauchs wegweisend ist. Die Vernunft ist nämlich im transzendentalphilosophischen Sinne genau dann praktisch, wenn sie gesetzgebend »allen Wert bestimmt«, so daß jedes Relativ-Gute nur »gut« ist, insofern es sich auf die (praktische) Vernunft bezieht. Die Vernunft selbst hingegen besitzt – als praktische Gesetzgebung – einen »unbedingten, unvergleichbaren Wert«, der ihre »Würde« ausmacht und für den »das Wort Achtung allein den geziemenden Ausdruck der Schätzung abgibt«. Kant ist sich völlig bewußt, daß hiermit das systematische Zentrum seiner Kritik des praktischen Vernunftgebrauchs und damit auch das seiner ganzen Ver-
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Aus der unübersehbaren Vielfalt von möglichen Fragen heben sich die transzendentalen Vernunftfragen durch ihre Notwendigkeit für den Menschen heraus. In der Frage »Was kann ich wissen« war es des näheren die Intention auf Wahrheit, die für den Menschen im spekulativen Vernunftgebrauch nicht zur Disposition steht. In der Frage »Was soll ich tun?« ist es hingegen die Beziehung auf ein im jeweiligen Tun erstrebtes »Gutes«, die, als Beziehung, nicht zur Disposition steht. Allerdings kann zunächst das jeweils erstrebte »Gute« immer wieder wechseln, so daß die eigentlich praktische Vernunftfrage auf das unbedingt Gute zielt, das nicht im Belieben des individuellen Willens steht. 107 Deshalb sagt Kant in der eingangs zitierten Passage, das Unbedingte sei nichts anderes als »unsere Vernunft selber«.
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nunftkritik angesprochen ist. Daher wendet er sich mit Bedacht und sehr sorgfältig gegen den Verdacht, er suche »hinter dem Worte Achtung nur Zuflucht in einem dunklen Gefühle, anstatt durch einen Begriff der Vernunft in der Frage deutliche Auskunft zu geben« (IV 401 Anm.). Denn wenn Achtung auch »ein Gefühl ist, so ist es doch kein durch Einfluß empfangenes, sondern durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl und daher von allen Gefühlen der ersteren Art, die sich auf Neigung oder Furcht bringen lassen, spezifisch unterschieden«. Diesen entscheidenden spezifischen Unterschied des genuin praktischen Gefühls der Achtung gegenüber allen anderen Gefühlen bestimmt Kant aber in der Folge mit dem Begriff des Interesses: »Die unmittelbare Bestimmung des Willens durchs Gesetz und das Bewußtsein derselben heißt Achtung, so daß diese als Wirkung des Gesetzes aufs Subjekt und nicht als Ursache desselben angesehen wird […] Alles moralische so genannte Interesse besteht lediglich in der Achtung fürs Gesetz« (ebd.). Das Interesse der Vernunft ist also weit davon entfernt, einen »Fremdkörper« in den Begriff der »reinen« Vernunft einzuführen. Vielmehr ist es das durch die Vernunft »selbstgewirkte« Interesse, durch das die Vernunft selbst praktisch wird, und zwar in der Achtung für das unbedingte Sittengesetz. In jedem anderen Fall würde die Vernunft bloß fremdes Interesse »administrieren« (IV 441), d. h. sie wäre keine genuin praktische Vernunft (Selbstzweck), sondern theoretische Vernunft (zu fremden Zwecken). Der systematische Gehalt von Kants Kritik des praktischen Vernunftgebrauchs wird sich also nur durch eine nähere Betrachtung des internen Verhältnisses von Interesse und praktischer Vernunft bestimmen lassen. § 27. Der Primat der praktischen Vernunft Das lateinische Wort »Interesse« bedeutete wörtlich übersetzt: Dazwischen-Sein. Seine Bedeutungsgeschichte beginnt im Römischen Recht, wo »Interesse« die frei ermittelte Wertdifferenz bezeichnet, die der Kläger vom Beklagten als Schadensersatz verlangen kann.108 Der Begriff steht also für ein allgemeines Verfahren, einander widerstreitende Ansprüche zu klären und auszugleichen. Diese formale (juristische) Verallgemeinerbarkeit des Begriffs führt in der Folgezeit rasch zu einer Vervielfältigkeit der Bedeutung von »Interesse«; so wandelt sich die allgemeine Bedeutung »aus Ersatzpflicht entstandener Schaden« (in der Perspektive des Schuldners) zu »Zinsen« (in der Perspektive des Gläubigers), und von hier aus ganz allgemein zu: »Vorteil«, »Nutzen« und »Gewinn«. Die formale Einheitlich108
Dieser begriffsgeschichtliche Abriß folgt: Fuchs 1976 und Gerhardt 1976 b. Eine aufschlußreiche Fortführung der hier nur angedeuteten Begriffsgeschichte bietet: Hirschman 1980.
§ 27. Der Primat der praktischen Vernunft
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keit des Interessenbegriffs erlaubt es auf diese Weise, den inhaltlichen Widerstreit unterschiedlicher Perspektiven konkret aufeinander zu beziehen, wodurch der Ansatz für eine Reflexion geschaffen ist, die eine mögliche Einheit der anfänglichen Differenz thematisiert; eine Einheit, die sich juristisch in der Einigung der beiden Prozeßgegner und der Etablierung eines Rechtsverhältnisses zwischen ihnen ausdrückt. In der Neuzeit wird die Bedeutung des Begriffs nochmals vervielfältigt. Ohne hier auf Details eingehen zu können, läßt sich als neue Tendenz die Ablösung des Interessenbegriffs von der ökonomisch-juristischen Sphäre festhalten, in der er anfangs beheimatet war (die ursprüngliche Bedeutung bleibt allerdings weiter bestehen). Jetzt setzt vor allem eine »anthropologische« Verwendung des Begriffs ein, die anfangs das »Interesse« eher negativ wertet (Habsucht, Selbstsucht, Egoismus), später aber zu neutraleren Bedeutungen übergeht (Anteilnahme, Aufmerksamkeit), was schließlich sogar eine positive Wertung ermöglicht (Mitleid, Sympathie, Liebe). Spätestens zu diesem Zeitpunkt erscheint das »Interesse« auch in der philosophischen Diskussion: in England bei Hobbes, Locke, Hutcheson und Hume; in Frankreich bei La Rochefoucauld, Helvétius, Rousseau. Es ist aber Kant, der den Begriff »Interesse« zum ersten Mal in systematischer Absicht für die Philosophie fruchtbar zu machen sucht. Dabei nimmt er die zuletzt genannte Tendenz zur Subjektivierung des Interessenbegriffs auf, um ihr in der transzendentalen Reflexion auf »unsere Vermögensumstände« eine neue und für den Ansatz der Vernunftkritik grundlegende Bedeutung zu geben. Daraus erklärt sich die enge systematische Beziehung zwischen Interessen- und Vermögensbegriff, die sich in struktureller Hinsicht daran erkennen läßt, daß das Interesse nicht nur von seiner Begriffsgeschichte her, sondern bei Kant auch ganz explizit jene eigentümliche »Zwischenstellung« aufweist, die bereits für Kants Verständnis des menschlichen Vermögens charakteristisch war: »Die Abhängigkeit eines zufällig bestimmbaren Willens«, so Kant, »von Prinzipien der Vernunft heißt Interesse. Dieses findet also nur bei einem abhängigen Willen statt, der nicht von selbst jederzeit der Vernunft gemäß ist; beim göttlichen Willen kann man sich kein Interesse gedenken« (IV 413 Anm.; vgl. § 12). Nur der Mensch, das »Zwischenwesen« par excellence, besitzt demnach ein Interesse. Ein reines Naturwesen kennt nur sinnliche Bedürfnisse109, ein reines Vernunftwesen hingegen weder Bedürfnis noch Interesse. Damit zeichnet sich der systematische Horizont ab, in dem sich der weitere Gedankengang bewegen wird; zugleich werden auch die verbleibenden Aufgaben 109
»Daher sagt man nur von einem vernünftigen Wesen, daß es woran Interesse nehme, vernunftlose Geschöpfe fühlen nur sinnliche Antriebe« (IV 459 Anm.).
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sichtbar, die es nun schrittweise zu lösen gilt. In einem ersten Schritt muß der Gedanke aus der »Transzendentalen Dialektik« der ersten Kritik wieder aufgenommen nehmen, daß allein vom Interessenbegriff her die in sich differenzierte Einheit des theoretischen und praktischen Vernunftgebrauchs zu entfalten ist. Im Anschluß daran ist das näher gefaßte interne Verhältnis von Interesse und Vernunftvermögen für eine erneute Reflexion auf die drei transzendentalen Hauptvermögen des Menschen zu nutzen: Verstand, Vernunft (im engeren Sinne) und Urteilskraft.110 Der Abschnitt, in dem Kant die transzendentale Grundunterscheidung der beiden Formen des Vernunftgebrauchs erneut zu einer in sich differenzierten Einheit zu verbinden sucht, trägt den Titel »Von dem Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen«. Zur Vorbereitung auf die anvisierte Vermittlung des Unterschiedenen heißt es dort: »Einem jeden Vermögen des Gemüts kann man ein Interesse beilegen, d. i. ein Prinzip, welches die Bedingung enthält, unter welcher allein die Ausübung desselben befördert wird. Die Vernunft, als das Vermögen der Prinzipien, bestimmt das Interesse aller Gemütskräfte, das ihrige aber sich selbst. Das Interesse ihres spekulativen Gebrauchs besteht in der Erkenntnis des Objekts bis zu den höchsten Prinzipien a priori, das des praktischen Gebrauchs in der Bestimmung des Willens, in Ansehung des letzten und vollständigen Zwecks« (V 120). In dieser Formulierung ist die interne Differenz des Vernunftgebrauchs abermals bis zum Zerreißen gespannt: Erkenntnis des Objekts nach Prinzipien a priori auf der einen, Bestimmung des Willens in Ansehung des letzten Zwecks auf der anderen Seite – die Dualität scheint kaum vermittelbar zu sein. Gleichwohl zielt Kant auf eine solche Vermittlung ab. Ihm zufolge »ist es doch immer nur eine und dieselbe Vernunft, die, es sei in theoretischer oder praktischer Absicht, nach Prinzipien a priori urteilt« (V 121). Wie kann aber, so muß gefragt werden, »eine und dieselbe« Vernunft zwei Interessen haben, wenn jedem »Vermögen des Gemüts« ein Interesse zuzusprechen ist und die Vernunft sich zudem ihr eigenes Interesse selbst bestimmt? Die angeführte Stelle ist für den hier verfolgten Gedankengang gleich in zweifacher Hinsicht von entscheidender Bedeutung: zum einen eröffnet die erneute und besonders entschiedene Engführung von Vermögens- und Interessenbegriff die Möglichkeit, die früheren Ausführungen zum Vermögensbegriff in die jetzigen Überlegungen aufzunehmen und weiterzuführen; zum anderen bietet die Stelle auch den Schlüssel zum Verständnis der Kantischen Lehre vom Primat der praktischen Vernunft. 110
Dem Verstand und der Vernunft (im engeren Sinne) werden die letzten beiden Paragraphen des zweiten Abschnitts, der Urteilskraft wird hingegen weitgehend der ganze dritte und letzte Abschnitt gewidmet sein.
§ 27. Der Primat der praktischen Vernunft
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Dazu heißt es bei Kant des näheren: in der Verbindung »der reinen spekulativen mit der reinen praktischen Vernunft zu einem Erkenntnisse führt die letztere das Primat«. Denn, so fährt Kant fort, »es würde ohne diese Unterordnung ein Widerstreit der Vernunft mit ihr selbst entstehen«, wenn »sie einander bloß beigeordnet (koordiniert) wären« (V 121). Auch hier geht also die menschliche Erkenntnis aus der Verbindung von zwei verschiedenen Vermögen hervor. Die Verschiedenheit von spekulativer und praktischer Vernunft darf deshalb nicht einfach isoliert nebeneinander bestehen bleiben, weil dann nicht nur jede Vernunfterkenntnis unmöglich, sondern die Einheit und damit die Vernünftigkeit der Vernunft zerstört wäre. Deshalb muß das spekulative Interesse dem praktischen Interesse untergeordnet werden. Warum aber die Spekulation der Praxis und nicht umgekehrt? Kants Antwort lautet: »Der spekulativen Vernunft aber untergeordnet zu sein, und also die Ordnung umzukehren, kann man der reinen praktischen gar nicht zumuten, weil alles Interesse zuletzt praktisch ist, und selbst das der spekulativen Vernunft nur bedingt und im praktischen Gebrauche allein vollständig ist« (V 121). Das Moment des Interesses, das die beiden verschiedenen Vernunftinteressen in formaler Hinsicht miteinander teilen, räumt dem praktischen Interesse aus immanenten Gründen ein Vorrecht ein, da jedes Gemütsvermögen aufgrund seiner Interessenstruktur letztlich praktisch ist. So sagt Kant an anderer Stelle: »Das logische Interesse der Vernunft (ihre Einsichten zu befördern) ist niemals unmittelbar, sondern setzt Absichten des Gebrauchs voraus« (IV 459 Anm.). Deshalb kann sich das spekulative Vernunftvermögen aber nie rein aus sich selbst heraus bestimmen, es bleibt »bedingt«, verweist dadurch aber selbst auf das praktische Vernunftvermögen, das »allein vollständig ist« und somit auch allein die zentrale Aufgabe lösen kann, die Einheit der Vernunft in ihrem widerstreitenden Gebrauch zu sichern.111 Es wäre allerdings ein Mißverständnis, wollte man die »Unterordnung« der spekulativen Vernunft unter die praktische Vernunft einfach als »Unterwerfung« oder »Unterdrückung« des einen Vernunftgebrauchs durch den anderen verstehen. Jede Assoziation mit einer gewaltsam etablierten Hierarchie ist hier sorgfältig zu vermeiden, da die Vernunft nach Kant »kein diktatorisches Ansehen hat« und ihre Existenz allein in der freien »Einstimmung« besitzt (vgl. § 20). Der »Primat« der praktischen Vernunft ist daher bei Kant in Analogie zu einem Rechtsverhältnis zu denken, in dem das Vernunftvermögen der praktischen Gesetzgebung nur deshalb einen Vorrang hat, weil es allein das freie Rechtsprinzip etablieren kann, dem sich alle Vernunftmomente gleichermaßen, also auch die
111
Vgl. Beck 1974, S. 231.
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praktische Vernunft im engeren Sinne, unterzuordnen haben, damit sie das werden, was sie in gegenseitig anerkannter Freiheit werden können.112 Kants häufige Rede von der Vernunft als einem »Gerichtshof« ist also weit davon entfernt, eine harmlose und systematisch wenig gehaltvolle Metapher zu sein. Vielmehr spricht sich in der programmatischen Wendung aus der Vorrede zur ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft bereits der erst viel später prägnant benannte Primat der praktischen Vernunft aus. Das Programm einer »Kritik der reinen Vernunft« ist, so Kant, nichts anderes als »eine Aufforderung an die Vernunft, das beschwerlichste aller ihrer Geschäfte, nämlich das der Selbsterkenntnis, aufs neue zu übernehmen und einen Gerichtshof einzusetzen, der sie bei ihren gerechten Ansprüchen sichere, dagegen aber alle grundlose Anmaßungen nicht durch Machtsprüche, sondern nach ihren ewigen und unwandelbaren Gesetzen abfertigen könne« (KrV A XI f.). Der Gerichtshof der Vernunft ist also der zugleich unerbittlichste und liberalste, indem er allein in der kritischen und rückhaltlosen Selbsterkenntnis besteht, bei der die Vernunft sich in Anklägerin, Angeklagte und Richterin differenziert und allererst durch diese prüfende und reflektierende Selbstdifferenzierung die Kompetenz gewinnt, dem »beschwerlichsten aller ihrer Geschäfte« nachzukommen, der transzendentalen Vernunftkritik. In einer bemerkenswerten Vertiefung der metaphorischen Rede vom »Einsetzen« eines Gerichtshofs der Vernunft vermittels einer radikalen Selbstkritik und Selbsterkenntnis der Vernunft versteht Kant auch den dialektischen Widerstreit der Vernunft mit sich selbst in einer rechtlichen Perspektive. Mit Bezug auf die politische Philosophie von Hobbes bezeichnet Kant jeden sich stets mit innerer Notwendigkeit erneuernden Streit als einen Naturzustand, der allein durch die Etablierung eines Rechtszustands bleibend überwunden und dergestalt befriedet werden kann (VI 96, KrV B 780).113 Kants wiederholte Rede vom »Kampfplatz« der Metaphysik ist also durchaus ernst zu nehmen.114 Der bittere Ernst der Diagnose eines persistierenden Naturzustands der Vernunft bildet den beständigen Hintergrund für Kants unermüdliche Redlichkeit in dem Versuch, die Vernunft endlich über sich selbst aufzuklären. Die praktisch-rechtliche Sicherung der Vernunfteinheit vollzieht sich daher keineswegs durch eine oberflächliche »Vereinigung« und Harmonisierung der unterschiedlichen Interessen, sondern nur durch den konkreten und ernsten Widerstreit hindurch. Denn der durch den neu eingesetzten Gerichtshof der Ver112
Es wird sich daher am Ende erweisen, daß es gerade im Interesse der praktischen Vernunft liegt, dem theoretischen Vernunftgebrauchs eine neue Eigenständigkeit zu sichern, und zwar im Sinne einer aus dem Primat der praktischen Vernunft heraus neu verstandenen Kontemplation (vgl. § 34). 113 Vgl. zum Verhältnis von Hobbes und Kant: Adam 1999. 114 Vgl. KrV A VIII, B XV, B 450, B 771, B 804 sowie VIII 419.
§ 28. Die Natur des Verstandes
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nunft gewonnene Rechtsfriede kann nur Bestand haben, wenn jede Partei in ihrem primär divergierenden Eigeninteresse und Eigenrecht gehört und anerkannt wurde. Die hierfür entscheidende Einsicht, daß auch der vermeintlich »interesselose« theoretische Vernunftgebrauch von einem untergründigen Interesse geleitet ist, bedeutet ja keineswegs, daß es sich hierbei um das Interesse der praktischen Vernunft (im engeren Sinne) handelt, was den antinomischen Widerstreit der Vernunft mit sich selbst von vornherein verharmlosen und im Grunde völlig unverständlich machen würde. Vielmehr läßt sich jetzt mit Kants Feststellung, daß jedes Interesse »letztlich praktisch ist«, überhaupt erst die entscheidende Frage stellen: Welchem praktischen Interesse folgt eigentlich der theoretische Vernunftgebrauch, der dem praktischen Vernunftgebrauch widerstreitet?
§ 28. Die Natur des Verstandes Die nunmehr nötig gewordene Wiederholung und »Vertiefung« der transzendentalen Betrachtung des menschlichen Erkenntnisvermögens kann an eine bemerkenswerte Reflexion Nietzsches anknüpfen, in der es heißt: »Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? fragte sich Kant, – und was antwortete er eigentlich? Vermöge eines Vermögens: leider aber nicht mit drei Worten, sondern so umständlich, ehrwürdig und mit einem solchen Aufwande von deutschem Tief- und Schnörkelsinne, daß man die lustige niaiserie allemande überhörte, welche in einer solchen Antwort steckt«.115 Nietzsches leichtfüßiger und ironischer Spott zielt durchaus auf eine gewichtige Frage, die in den bisherigen Erörterungen noch nicht eigens thematisiert wurde: Ist die vermögenstheoretische Begründung der Transzendentalphilosophie tatsächlich eine sinnvolle Antwort auf die Fragen, die von der spezifischen Verfassung menschlicher Erkenntnis aufgeworfen werden, oder ist sie vielleicht, wie Nietzsche vermutet, »nur eine Wiederholung der Frage«? Nietzsches Vermutung, die Kantische Vermögenstheorie sei am Ende nicht mehr als eine durch formale »Schnörkel« kaschierte Tautologie, geht auf den grundsätzlichen Verdacht zurück, daß sich Kants Erkenntnistheorie insgesamt auf einen leeren Formalismus beschränkt, dem es an einer konkreten Vermittlung zur Wirklichkeit gebricht. Deshalb ist es für Nietzsche »endlich an der Zeit, die Kantische Frage ›wie sind synthetische Urteile a priori möglich?‹ durch eine andre Frage zu ersetzen ›warum ist der Glaube an solche Urteile nötig?‹ – nämlich zu begreifen, daß zum Zweck der Erhaltung von Wesen unsrer Art solche
115
Nietzsche, Werke, Bd. 2, S. 575.
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Urteile als wahr geglaubt werden müssen«.116 Nietzsche zufolge sind Urteile somit Werkzeuge des sich selbst erhalten wollenden und müssenden Lebens, die für den mit Naturnotwendigkeit vorgegebenen Zweck der eigenen Selbsterhaltung im konkreten Fall tauglich (»wahr«) oder untauglich (»unwahr«) sein können. Kants transzendentale Vermögens- und Interessentheorie und die sich aus ihr ergebende Urteilstheorie (vgl. § 22) wären also nur dann mehr als eine formale Tautologie, wenn sie in der konkreten Nötigung des Lebens zur Selbsterhaltung begründet würden; doch eine solche Begründung ist, so meint jedenfalls Nietzsche, bei Kant nicht zu finden. Diese kritische Überlegung zum vermögenstheoretischen Ansatz der Transzendentalphilosophie trifft einen wichtigen Punkt bei Kant, wenn auch nicht genau den, den Nietzsche im Auge hat. Denn die ausdrückliche Reflexion auf das Verhältnis des menschlichen Vernunftvermögens zur Nötigung der natürlichen Selbsterhaltung, die Nietzsche vermißt, findet sich durchaus bei Kant; deshalb führt Nietzsches Hinweis auf die Wirklichkeit des Lebens auch nicht von Kant weg, sondern nur tiefer in das systematische Fundament der Transzendentalphilosophie hinein.117 Der spezifische Ernst der Kantischen Vernunftkritik, der bereits angesprochen wurde, gewinnt hier eine neue und wesentliche Dimension hinzu. Denn »es ist«, wie vor allem Hans Blumenberg in seiner großen Studie zur Legitimität der Neuzeit gezeigt hat, »wirklich eine neue Art von ›Ernst‹, was den Erkenntniswillen der Neuzeit prägt und an die elementare Sorge der Selbstbehauptung bindet« (Blumenberg 1983, 213 f.). Dieser neue »Ernst« des Erkenntniswillens, wie er sich für Blumenberg insbesondere in den neuzeitlichen Wissenschaften ausprägt, wird von Kant durchaus berücksichtigt und sein kritisches Potential in das Projekt einer transzendentalen Vernunftkritik aufgenommen (vgl. § 4). Allerdings gewinnt Kant dadurch nicht – wie Nietzsches kritische Gegenthese suggeriert – bereits die Antwort, sondern überhaupt erst die eigentliche Fragestellung seiner Transzendentalphilosophie. Kants transzendentale Vernunftkritik fragt nämlich, wie sich im weiteren Verlauf der Untersuchung zeigen wird, ob sich gegenüber dem »Ernst« und der »elementaren Sorge der Selbstbehauptung«, die das primäre Movens der menschlichen Erfahrung und ihrer wissenschaftlichen Systematisierung bilden, eine spezifische Selbstbehauptung der Vernunft denken läßt, die, so Kant, »eine Selbsterhaltung von ganz andrer Art« meint (V 261, vgl. VIII 147 Anm.). Kants durchaus intensive Aufmerksamkeit auf die Nötigung der natürlichen Selbstbehauptung wird in einer Passage der Kritik der praktischen Vernunft 116
A. a.O., S. 576. Das erklärt auch die Möglichkeit einer wechselseitigen Befruchtung der Kant- und Nietzsche-Deutung (vgl. Kaulbach 1987, 1990; Simon 1992; Gerhardt 1995). 117
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besonders deutlich, in der Kant feststellt: »Der Mensch ist ein bedürftiges Wesen, so fern er zur Sinnenwelt gehört und so fern hat seine Vernunft allerdings einen nicht abzulehnenden Auftrag, von Seiten der Sinnlichkeit, sich um das Interesse derselben zu bekümmern« (V 61). Hier wird also die enge Verschränkung der sinnlichen Bedürftigkeit des Menschen mit dem Vernunftvermögen ausdrücklich benannt und anerkannt: die menschlichen Vermögen ruhen bei Kant insgesamt auf einer Naturbasis, die der Vernunft weder strikt entgegenzusetzen noch mit ihr einfach zu identifizieren ist. Daß gleichwohl der Eindruck entstehen kann, Kant würde die Bindung der Vernunft an die Nöte der natürlichen Selbsterhaltung ignorieren, rührt allein daher, daß er bei ihr nicht stehenbleibt, sondern sie tatsächlich nur als »Basis«, d. h. als Ausgangspunkt ansieht. Der Mensch, heißt es in der Fortsetzung der eben zitierten Passage, ist nämlich »doch nicht so ganz Tier«, um die Vernunft »bloß zum Werkzeuge der Befriedigung seines Bedürfnisses, als Sinnenwesens, zu gebrauchen. Denn im Werte über die bloße Tierheit erhebt ihn das gar nicht, daß er Vernunft hat, wenn sie ihm nur zum Behuf desjenigen dienen soll, was bei Tieren der Instinkt verrichtet« (V 61). Diese Emphase einer Erhebung der Vernunft über die Sinnlichkeit »zu einem höheren Zwecke« (ebd.), die sich bei Kant an zahllosen Stellen findet, gehört zweifellos zu den wichtigsten Leitmotiven der gesamten Vernunftkritik. Was hierbei jedoch in der Regel übersehen wird, ist, daß eine Kritik des »Werkzeugcharakters« des Erkenntnisvermögens in keiner Weise die Leugnung einer solchen Möglichkeit bedeutet. Liest man Kants Formulierungen, der Mensch sei nicht ganz Tier und er solle deshalb die Vernunft nicht nur als Werkzeug verwenden, hinreichend genau, dann wird klar, wie sehr sie zunächst einmal implizieren, daß der Mensch überwiegend sinnlich bestimmt ist und daß er die Erkenntnis zumeist und für gewöhnlich als Werkzeug verwendet. Vor der Erörterung der Frage, wie die Erhebung der Vernunft über die Sinnlichkeit bei Kant des näheren gedacht wird, muß also zunächst die Frage geklärt werden, wie Kant den »Normalfall« einer Erkenntnis, die als Werkzeug vitaler Bedürfnisse fungiert, im systematischen Zusammenhang der Vernunftkritik auf den Begriff bringt. Kants Theorie der »normalen« Erkenntnis findet sich aber in seiner Lehre vom Verstand und seinem Verhältnis zur Natur. Dieses Verhältnis ist bei Kant zunächst durch den berühmten Satz gekennzeichnet, daß der Verstand seine Gesetze nicht aus der Natur schöpft, sondern ihr vorschreibt. Hier ist mit »Natur« der »Inbegriff der Regeln« gemeint, »unter denen alle Erscheinungen stehen müssen, wenn sie in einer Erfahrung als verknüpft gedacht werden sollen« (IV 318). Und einer so verstandenen Natur kann, ja muß der Verstand, »als das Vermögen der Regeln«, die Gesetze vorschreiben, denn ohne die vom Verstand spontan geleistete Strukturierung »würde es überall nicht Natur, d. i. synthetische Einheit des Mannigfaltigen der Erscheinungen nach Regeln geben«
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(KrV A 126 f.). Die einheitliche Ordnung und Regelmäßigkeit der Natur ist also keine Eigenschaft einer »Natur an sich selbst«, sondern verdankt sich allein ihrer spontanen Vereinheitlichung durch die begriffliche Synthesis des Verstandes. Folgt man Kants Verstandestheorie nur bis hierher, dann ist sie zwar vertraut, doch läßt sich in ihr nicht der geringste Anhaltspunkt erkennen, wie mit ihr der Verstand als Werkzeug natürlicher Bedürfnisse gedacht werden könnte. Denn von einer Natur, welcher der Verstand die Gesetze vorschreibt, kann er offenkundig nicht seinerseits angeleitet sein. Das ändert sich erst, wenn man in Kants offen zu Tage liegender Antwort auf die Fragen, ob und wie der Verstand der gegenständlichen Natur die Regel vorschreibt, auch die verborgene Antwort auf die Frage entdeckt, warum er dies tut. Unser Verstand kann nämlich nicht nur das »Mannigfaltige der Erscheinungen« unter die Einheit einer Regel bringen – er muß es auch, um seine Endlichkeit in der Unendlichkeit des Mannigfaltigen zu behaupten. Wenn es bei Kant vom Verstand heißt, er sei »jederzeit geschäftig, die Erscheinungen in der Absicht durchzuspähen, um an ihnen irgend eine Regel aufzufinden« (KrV A 126), dann kommt in der unablässigen Geschäftigkeit bereits die verborgene Nötigung des Verstandes zum Vorschein, in der, wie Kant sagt, »übergroßen Mannigfaltigkeit« auf Regeln angewiesen zu sein, um sich »in ihr orientieren zu können« (V 193). Die Orientierung des Verstandes wird dabei durch die Bedürftigkeit des Menschen erfordert und zugleich auch angeleitet. Denn dem Verstand liegt nicht nur ein abstraktes Bedürfnis nach Regeln zu Grunde, sondern die Bedürftigkeit der menschlichen Endlichkeit erzeugt überhaupt erst den spezifischen Erkenntnishorizont der verständig geregelten Naturerfassung, indem sie die unendliche Mannigfaltigkeit der Welt so »finitisiert«118, daß aus der Gleichgültigkeit des Unendlichen konkrete Bedeutungen hervortreten, die Wichtiges von Unwichtigem unterscheidbar machen. So führt Kants Theorie der Verstandeserkenntnis schrittweise dazu, das transzendentale »Vermögen der Regeln« (vgl. § 21 f.) in einer für den Verstand grundlegenden Weise als »Werkzeug« der natürlichen Selbsterhaltung des Menschen zu begreifen, der sich inmitten einer »übergroßen Mannigfaltigkeit« orientieren und erhalten muß.119 Selbstbehauptung ist somit die »Naturbasis« des Verstandesvermögens. Kants Theorie des Verstandes leitet demnach am Ende genau auf 118 Der sehr erhellende Gedanke, daß die endliche Verstandeserkenntnis eine »finitisierte« und zugleich »finitisierende« Erkenntnis ist, findet sich bei Josef Simon: »Gegenüber der unendlichen Mannigfaltigkeit der Dinge muß unser (diskursiver) Verstand in endlich vielen Bestimmungsschritten mit seiner Beurteilung der Dinge zum Schluß kommen. Er muß sich bei wesentlich unendlicher Anschauung sein Urteil aufgrund einer endlichen Erfahrung bilden« (Simon 1977, S. 16). 119 So urteilt auch Odo Marquard: die synthetischen Urteile a priori des Verstandes »sind
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jene Einsicht in den Zusammenhang von Erkenntnis und Selbstbehauptung, die Nietzsche meint, gegen Kant anführen zu müssen. Dieses Ergebnis ist nun geeignet, ein neues Licht auf Kants zentrale Unterscheidung des spekulativen und praktischen Vernunftgebrauchs zu werfen. Denn das empirische Interesse des spekulativen Vernunftgebrauchs richtete sich ja ausdrücklich darauf, daß »der Verstand jederzeit auf seinem eigentümlichen Boden« bleibt, um »seine sichere und faßliche Erkenntnis ohne Ende« erweitern zu können (vgl. § 25). Das heißt aber, daß das spekulative Vernunftinteresse sich im Grunde nur das technisch-praktische Interesse des Verstandes zu eigen macht, die Erscheinungen unermüdlich zum Zwecke der natürlichen Selbsterhaltung nach Regeln »durchzuspähen«. Tatsächlich sagt Kant von der theoretischen Vernunft ganz lapidar: sie »überläßt alles dem Verstande« (KrV B 383). Dadurch erhält die theoretische Vernunft jedoch einen zutiefst zwiespältigen Charakter: sie unterscheidet sich – als Vernunft – vom Verstand, ohne daß die Differenz – im theoretischen Gebrauch – wirklich zum Tragen käme. Der Verstand ist ein Werkzeug, die theoretische Vernunft macht sich zu einem, indem sie alles dem Verstand überläßt. Damit hat Kants Feststellung, daß der »bloß« spekulative Vernunftgebrauch dem Interesse der Vernunft nicht gerecht zu werden mag, deutlich an Schärfe und inhaltlichem Gewicht gewonnen (KrV B 824; vgl. § 5). Das Interesse der Vernunft, so läßt sich jetzt sagen, zielt darauf, daß die Vernunft dem Menschen nicht »nur zum Behuf desjenigen« dient, »was bei Tieren der Instinkt verrichtet«. Ein solches Interesse impliziert offenkundig, daß die »Möglichkeit zum Gegenteil« sehr wohl besteht – und diese Möglichkeit ist der »bloß« spekulative Vernunftgebrauch. Hat die Vernunft, wie Kant sagt, »eigentlich nur den Verstand und dessen zweckmäßige Anstellung zum Gegenstand« (KrV B 672), so rührt die Möglichkeit ihres Zwiespalts und antinomischen Widerstreits mit sich selbst letztlich daher, daß sie dem Verstand entweder nur das zum Zweck setzt, was er immer schon von sich aus beabsichtigt, oder ihn, wie Kant fordert, »zu einem höheren Zweck« bestimmt. Hat dergestalt die Differenz zwischen theoretischer und praktischer Vernunft eine hinreichende Schärfe und Deutlichkeit erlangt, so muß sie nun für die nähere Bestimmung der nach wie vor sehr vagen Einheit der Vernunft fruchtbar gemacht werden. Der Primat der praktischen Vernunft bei Kant wird dadurch die nähere und konkretere Bestimmung erhalten, daß die gesuchte Einheit nur im Übergang vom technisch-praktischen Interesse der natürlichen Selbsterhaltung zum »höheren Wert« der moralisch-praktischen Vernunft darzustellen ist. möglich, denn sie sind nötig«; durch »Nötigkeit gerechtfertigt zu sein« ist aber »die Eigenart von Werkzeugen« (Marquard 1982, S. 64 f.).
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§ 29. Leben – Vernunft – Person Auf den letzten Seiten der Kritik der praktischen Vernunft stellt Kant ein bemerkenswertes und für das Verständnis der systematischen Gesamtanlage der Transzendentalphilosophie ungemein erhellendes Gedankenexperiment an: Was wäre eigentlich die Folge, wenn das Sittengesetz mit all seinen Implikationen »uns unablässig vor Augen liegen« (V 147) und so volle Gewalt über unser Freiheitsvermögen haben würde? »Die Übertretung des Gesetzes«, so Kant, »würde freilich vermieden, das Gebotene getan werden«, doch der Preis, der für solch einen Ausschluß der Möglichkeit, vom Gesetz abzuweichen, gezahlt werden muß, ist hoch. Denn da »die Vernunft sich nicht allererst empor arbeiten darf, um Kraft zum Widerstande gegen Neigungen durch lebendige Vorstellung der Würde des Gesetzes zu sammeln«, kann »ein moralischer Wert der Handlungen«, auf dem »doch allein der Wert der Person« beruht, »gar nicht existieren«. Und Kant setzt noch hinzu: das Verhalten der Menschen »würde also in einen bloßen Mechanismus verwandelt werden, wo, wie im Marionettenspiel, alles gut gestikulieren, aber in den Figuren doch kein Leben anzutreffen sein würde« (ebd.). Ein Freiheitsvermögen, für das von vornherein die Möglichkeit eines Abweichens vom Gesetz ausgeschlossen ist, wäre also kein lebendiges Vermögen mehr. Und solch eine Konsequenz kann nicht gewollt werden, da der Wert der Person, auf den es bei Kant am Ende ankommt, auf eine freilich noch völlig undeutliche Weise mit dem Leben zusammenhängt. Freiheit ist somit für Kant nicht ein Vermögen, sondern sie ist das Vermögen, nämlich das »Vermögende« oder Lebendige des Menschen. Mit der letzten Überlegung ist die Vergegenwärtigung der vermögenstheoretischen Begründung der Transzendentalphilosophie durch Kant zu einem Ergebnis gekommen, dessen Fruchtbarkeit für das Verständnis sich dadurch anzeigt, daß die bislang erörterten Begriffe und Fragestellungen sich anschicken, zu neuen Begriffen und Fragestellungen überzugehen, die sie nicht einfach ablösen, sondern in einem systematisch präzisen Sinne fortführen und fortbestimmen. Die Frage, wie über den fixierten Gegensatz von Empirischem und Intelligiblem, Natur und Freiheit in einer transzendentalen Metareflexion hinauszukommen sei, konnte am Leitfaden des Vermögensbegriffs so weit beantwortet werden, daß sich der konkrete Sinn des empirischen und intelligiblen Spannungspols aus der Fixierung befreit hat und nun auf die Begriffe des Lebens und der Person verweist. Und zwischen beiden Polen vermittelt jetzt eine Vernunft, die sich zum vollen Begriff ihrer selbst erst »emporarbeiten« muß, aber auch soll, da diese Arbeit ein unverzichtbares Moment der Würde und des Lebens der Person ausmacht. Der Sinn der neuen Begriffskonstellation »Leben – Vernunft – Person« wird daher im Ausgang von Kants Vernunftbegriff zu klären sein, der jetzt, nach der erneuten Betrachtung des Verstandes, ins Zentrum der Betrachtung rückt.
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»Die Vernunft in einem Geschöpfe ist«, so Kant, »ein Vermögen, die Regeln und Absichten des Gebrauchs aller seiner Kräfte weit über den Naturinstinkt zu erweitern« (VIII 18). Ganz ähnlich heißt es an einer anderen Stelle, die Vernunft sei ein Vermögen, »das sich über die Schranken, worin alle Tiere gehalten werden, erweitern kann« (VIII 112). Die Vernunft wird also von Kant als Erweiterung der Natur begriffen. Diese Definition scheint auf den ersten Blick nicht sehr aussagekräftig zu sein; bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, daß in ihr bereits jene eigentümlich »gespannte« Zwischenstellung angelegt ist, die im bisherigen Gedankengang das Charakteristikum der transzendentalen Leitbegriffe war. Die vernünftige Naturerweiterung ist nämlich durch die dialektische Bewegung gekennzeichnet, daß sie den Naturzusammenhang nur erweitern kann, indem sie ihn transzendiert. Der positive Aspekt, daß die Natur selbst erweitert wird, ist somit notwendig mit dem gegenläufigen, negativen Aspekt verbunden, daß sie überschritten wird, wobei der negative Aspekt das Vermögen einer Überwindung der Natur repräsentiert, das Kant der Vernunft im Zusammenhang der praktischen Freiheit zusprach (KrV B 830; vgl. § 24). Die beiden gegenläufigen Aspekte gehören offenkundig zusammen: eine Naturerweiterung ist nur vernünftig zu nennen, wenn sie die Natur auch überwindet, und umgekehrt ist nur eine Naturüberwindung vernünftig, die sie auch erweitert. Der Vernunftbegriff steht demnach bei Kant in dem genannten, sehr präzisen Sinne für den Übergang von der Natur zur Freiheit. Der Übergang muß dabei sowohl dem diskontinuierlichen Aspekt der Überwindung wie dem kontinuierlichen Aspekt der Erweiterung gerecht werden: er muß einerseits trennende Zäsuren enthalten, darf aber andererseits die so erzeugten Differenzen nicht zu Gegensätzen fixieren. Oder in Kants Worten: der Übergang der Vernunft ist »nicht ein Sprung (saltus) wie gleichsam über eine Kluft, noch ein Schritt (passus) im fortgesetzten Gange, sondern ein Überschritt« (vgl. § 8). Ein so begriffener Vernunft-Übergang zwischen Natur und Freiheit würde also die in sich differenzierte Einheit, auf die der bisherige Gedankengang schon mehrfach hingewiesen hat, zu einer Abfolge von Entwicklungsstufen einer Bildungsgeschichte dynamisieren. Was damit im Zusammenhang der Transzendentalphilosophie konkret gemeint ist, zeigt eine Passage, in der Kant »von der ursprünglichen Anlage zum Guten in der menschlichen Natur« handelt. Dort heißt es, man könne solch eine Anlage »auf drei Klassen, als Elemente der Bestimmung des Menschen, bringen«: erstens die «Anlage für die Tierheit des Menschen, als eines lebenden«; zweitens die Anlage für «die Menschheit desselben, als eines lebenden und zugleich vernünftigen«; drittens die Anlage für «seine Persönlichkeit, als eines vernünftigen, und zugleich der Zurechnung fähigen Wesens« (V 126). Hier ist die Begriffskonstellation »Leben – Vernunft – Person« von Kant auf engstem Raum zu einem mächtigen Dreiklang vereinigt worden. Und es wird die Aufgabe des
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Zweiter Teil
deutenden Nachvollzugs sein, sie aus dieser Enge und räumlichen Statik zu befreien, um ihren dynamischen Sinn systematisch zu entfalten und zu klären. Der Schlüssel zu der auf den ersten Blick kaum verständlichen Passage liegt in den beiden »Zugleichs«, mit denen Kant die drei Teilaspekte der »Bestimmung des Menschen« zu einer komplexen Struktur vereinigt. Zum einen ist der Mensch ein lebendes und zugleich vernünftiges Wesen; er ist zum anderen aber auch ein vernünftiges und zugleich der Zurechnung fähiges (persönliches) Wesen. Beide »Zugleichs« markieren also jeweils eine Spannung zwischen zwei klar unterschiedenen und doch aufeinander bezogenen Aspekten der menschlichen »Bestimmung«. Die eigentliche Pointe des Kantischen Gedankens besteht aber darin, daß die Vernunft an beiden Spannungsbögen mitwirkt und so den Übergang vom einen zum anderen bildet. Die so begriffene Vernunft ist weder das Tiefste im Menschen (das ist das Leben) noch das Höchste (das ist die Persönlichkeit); diese Zwischenstellung macht sie aber zum eigentlich Menschlichen des Menschen, das von Kant in seiner doppelten Spannung zum Natürlichen und zum Intelligiblen thematisiert wird. Der »große« Spannungsbogen, der das Wesen der menschlichen Vernunft bei Kant ausmacht, läßt sich also nur im Durchgang durch die beiden »kleinen« Spannungsbögen zwischen Leben und Vernunft sowie zwischen Vernunft und Person verstehen. Kant definiert das Leben als »das Vermögen eines Wesens, seinen Vorstellungen gemäß zu handeln« (VI 211).120 Diese Definition mutet zunächst überaus »rationalistisch« an, so daß der Verdacht entstehen könnte, hier werde zugunsten der Möglichkeit eines Übergangs vom Leben zur Vernunft das konkrete Phänomen des Lebens intellektualistisch verkürzt. Deshalb wird es vor allem darauf ankommen, die sachliche Angemessenheit der Definition und ihre Fruchtbarkeit für die Deutung des Lebensphänomens herauszustellen. Denn nur der Nachweis, daß Kants Lebensbegriff in phänomenologischer Hinsicht gehaltvoll ist, kann die weiterführende These rechtfertigen, das Leben bilde die Naturbasis der Vernunft. Dem Sinn der Kantischen Definition nähert man sich am besten durch die Überlegung, daß das Lebendige sich vom unbelebten Sein nicht nur durch »positive« Eigenschaften, sondern auch durch »negative« Eigenschaften unterscheidet, die für das Verständnis des Lebensphänomens besonders aufschlußreich sind. Das unbelebte Sein kennt nur eine Negation: das Nichtsein; das Lebendige hingegen kennt noch einen zweiten Modus des Negativen: das Nichtseinsollende, wie es sich z. B. in den spezifischen Lebensphänomenen der Verletzung, der Krankheit oder der Mißbildung manifestiert. In der unbelebten Natur geschehen keine »Fehler«, weil hier das Gesetz die »volle Gewalt« über die konkreten Phä120
Vgl. zum Lebensbegriff bei Kant: Löw 1980.
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nomen besitzt; in der belebten Natur jedoch ist die Befolgung der Regel unsicher, so daß sie stets auch »verfehlt« werden kann. Das Lebendige ist nicht einfach das, was es ist, sondern es muß sich selbst erhalten, eine Leistung, die wie jede Leistung gelingen oder mißlingen kann.121 Die elementare Selbsterhaltung des Lebendigen, die sich negativ in der allgemeinen Vulnerabilität des Lebens zeigt, kann positiv als »Selbstregulation« des Lebens beschrieben werden, bei der ein konkreter »Ist-Zustand« stets auf die für das jeweilige Lebewesen gültigen »Soll-Zustände« bezogen wird. Genau das meint aber Kants Definition, das Leben sei das Vermögen, »seinen Vorstellungen gemäß zu handeln«, denn jeder »Soll-Zustand« stellt etwas vor, dem »gemäß« sich das Lebewesen verhält. Selbstverständlich denkt Kant nicht, daß hier ein bewußtes Vorstellen oder ein bewußtes Handeln des Lebens vorliegen muß. Allerdings hebt er sehr wohl darauf ab, daß in der Art und Weise, wie jedes Lebendige bewußtlos sein faktisches Sein nach einer Vorstellung von dem, was es sein soll, ausrichtet, auch die Möglichkeit des bewußten Vorstellungs- und Handlungsvermögens angelegt ist. Die »tierische« Anlage des lebendigen Menschen geht also als Naturbasis in die intern differenzierte Anlage der »Menschheit« ein, zugleich lebendig und vernünftig zu sein. Für die menschliche Vernunft hat das bei Kant zur Folge, daß sie als eine Form des Lebens, oder genauer: daß sie als Erweiterung des Lebens begriffen werden muß.122 Die interne Struktur des Vernunftvermögens wird deshalb zum einen dadurch gekennzeichnet sein, daß sie an die natürliche Anlage des Lebens positiv anknüpft und sie fortführt, zum anderen aber auch dadurch, daß sie die Kontinuität mit der natürlichen Selbsterhaltung »über-schreitet« und sie dergestalt kritisch transzendiert. Diese beiden einander primär widerstreitenden Tendenzen der Vernunft werden sich jedoch, so steht zu vermuten, nur dann zu einer intern gegliederten Einheit verbinden lassen, wenn es gelingt, einen systematischen Zusammenhang zwischen ihnen und dem zweiten Spannungsbogen zwischen Vernunft und Person herzustellen. Die Person wird bei Kant häufig in Abhebung zur Sache definiert: »Person ist dasjenige Subjekt«, so Kant, »dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind«, während die Sache ein Ding ist, »was keiner Zurechnung fähig ist« (VI 223). Ganz entsprechend unterscheidet Kant zwischen Mittel und Zweck, wenn er 121 Hier liegt offenkundig eine systematische Analogie zum nichtseinsollenden »Irrtum« in der Erkenntnis vor (vgl. § 20), die freilich nicht zu einer simplen Identifikation von Leben und Erkenntnis führen darf. 122 In diesem Sinne sagt Robert Spaemann, die Vernunft sei »eine Form des Lebens« (Spaemann 1996, S. 56); bei Volker Gerhardt findet sich die verwandte These, daß die menschliche Vernunftanlage auf eine »über das rein Organische hinauswachsende Logik des Lebens« verweist (Gerhardt 1995, S. 606).
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sagt: »vernunftlose Wesen [haben] nur einen relativen Wert, als Mittel, und heißen daher Sachen, dagegen vernünftige Wesen Personen genannt werden, weil ihre Natur sie schon als Zwecke an sich selbst, d. i. als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, auszeichnet« (IV 428). Wenn aber vernünftige Wesen per se Personen sind, dann scheint sich Kants gespannte Einheit zwischen Vernunft und Person zur Identität zu entspannen. Daher stellt der zweite Spannungsbogen das Verständnis vor die Aufgabe, die Differenz in einer augenscheinlich verständlichen Einheit zu finden, wohingegen beim Spannungsbogen zwischen Leben und Vernunft umgekehrt die Einheit in einer augenscheinlich verständlichen Differenz zu suchen war. Der systematische Hintergrund für Kants Unterscheidung zwischen Vernunft und Person kann durch einen Aphorismus von Lichtenberg deutlich gemacht werden: »Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt. Zu sagen cogito, ist schon zu viel, so bald man durch Ich denke übersetzt. Das Ich anzunehmen, zu postulieren, ist praktisches Bedürfnis«.123 Lichtenberg macht hier auf den Umstand aufmerksam, daß das reine Denken durchaus unpersönlich ist. Ein bestimmter Gedanke ist nicht deshalb sachhaltig, weil ich ihn denke. Deshalb ist das Subjekt des Gedankens auch beliebig austauschbar; es macht für seine Sachhaltigkeit keinen Unterschied, ob ich oder irgend jemand anderes oder »es« ihn denkt, und gerade die prinzipielle Austauschbarbarkeit ist ein gutes Kriterium dafür, daß der Gedanke im theoretischen Sinne sachhaltig ist.124 Kant drückt diesen Sachverhalt so aus, daß die »Natur unseres denkenden Wesens« nur eine »gänzlich leere Vorstellung« enthält, nämlich ein »Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denket« (KrV B 404).125 Daß ein solches »Ich oder Er oder Es« für seine Handlungen »einer Zurechnung fähig« ist, scheint aber kaum möglich zu sein, da es schon höchst zweifelhaft ist, ob das reine Denken überhaupt eine »Handlung« genannt werden kann. Hier trifft der Gedankengang erneut auf die Unterscheidung zwischen (spekulativer) Spontaneität und (praktischer) Freiheit (vgl. § 21 f.), die sich jetzt noch genauer fassen läßt. Die Unterscheidung läßt sich nämlich nun als Differenz zwischen der anonymen Spontaneität eines »Ich oder Er oder Es denkt« und der eo 123
Lichtenberg, Schriften und Briefe, Bd. 2, S. 412. – Eine ausführliche Diskussion der Unpersönlichkeit des cartesischen »Cogito« und der dadurch provozierten philosophischen Kritik an ihm findet sich in: Hutter 1996, S. 133–149. 124 Das Unpersönliche des reinen Denkens kann man sich auch mit Nietzsche durch die »kleine kurze Tatsache« klar machen, »daß ein Gedanke kommt, wenn ›er‹ will, und nicht wenn ›ich‹ will; so daß es eine Fälschung des Tatbestandes ist zu sagen: das Subjekt ›ich‹ ist die Bedingung des Prädikats ›denke‹. Es denkt: aber daß dies ›es‹ gerade jenes alte berühmte ›Ich‹ sei, ist, milde geredet, nur eine Annahme« (Nietzsche, Werke, Bd. 2, S. 580 f.). 125 Vgl. Wenzel 1992, S. 63 f.
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ipso persönlichen Freiheit einer zurechenbaren Handlung begreifen. Das »Ich« der transzendentalen Apperzeption ist notwendigerweise ein einziges und unpersönliches Subjekt, so daß Kant es genauso gut als »Er, oder Es (das Ding), welches denket« bezeichnen kann. Demgegenüber ist das genuin praktische Subjekt einer freien und zurechenbaren Handlung ebenso notwendig eine Person unter mehreren Personen. Die synthetische Einheit der transzendentalen Apperzeption erschient von hier als eine von der natürlichen Selbsterhaltung aufgenötigte Abstraktion von der Persönlichkeit der Person, um dergestalt am zuverlässigsten die »technisch-praktischen« Ziele verfolgen zu können, die alle Menschen als Sinnenwesen teilen. Mit dieser Zwischenüberlegung ist aber nicht nur die Spannung zwischen Vernunft und Person wieder hergestellt, sondern auch Kants eigenes Argument für die Notwendigkeit, beide Begriff zu unterscheiden, vorbereitet worden. »Denn es folgt daraus«, so Kant, »daß ein Wesen Vernunft hat, gar nicht, daß diese ein Vermögen enthalte«, für »sich selbst praktisch zu sein« (VI 26 Anm.). Es wäre nämlich möglich, setzt Kant hinzu, daß selbst die »allervernünftigste« Vernunft »doch immer gewisser Triebfedern, die [ihr] von Objekten der Neigung herkommen, bedürfen« würde, um vom reinen Denken zum praktischen Handeln überzugehen. Der Spannungsbogen zwischen Vernunft und Person wird demnach von Kant als Differenz zwischen einer rein theoretischen Vernunft und einer genuin praktischen Vernunft verstanden, die es vermag, durch ein selbstgewirktes Gefühl der Achtung praktisch zu werden. Damit ergibt sich aber auch für den zweiten Spannungsbogen ein Widerstreit der Vernunft mit sich selbst. Dieser Widerstreit läßt sich mit Dieter Henrich als »Antinomie« der philosophischen Ethik beschreiben: »Entweder die Ethik wahrt den rationalen Charakter der sittlichen Forderung; dann sind die Triebfedern des sittlichen Willens nicht verständlich zu machen. Oder sie geht von der Sittlichkeit als einer Kraft zu handeln aus; dann ist der Vernunftcharakter des Guten nicht zu wahren«.126 Mit anderen Worten: der von Kant behauptete Spannungsbogen zwischen Vernunft und Person läßt sich nur aufrecht erhalten, wenn eine Nichtidentität zwischen theoretischer und praktischer Vernunft verständlich gemacht werden kann; dies scheint aber nur möglich zu sein, wenn der praktischen gegenüber der theoretischen Vernunft ein unvernünftiges Moment zugesprochen wird, was aber mit dem von Kant unzweideutig festgehaltenen Vernunftcharakter der Person nicht vereinbar ist. Es bedarf also einer erneuten Reflexion auf die Einheit der in sich differenzierten Vernunft, bei der jene Momente der Vermittlung stärker berücksichtigt wer-
126
Henrich 1982, S. 30 f.
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den, die in den bisherigen Überlegungen eine Verbindung oder einen Übergang zwischen den unterschiedlichen Vernunftmomenten ermöglicht haben. Dabei wird das transzendentale Vermögen der Urteilskraft wieder in den Vordergrund treten.
3. kritik der reflexion § 30. Reflektierter Übergang Der Abschnitt über den Primat der praktischen Vernunft und seine Überlegungen zur Einheit der differierenden Interessen des Vernunftvermögens bilden in der Kritik der praktischen Vernunft sicherlich eher eine Episode, da der Hauptakzent der zweiten Kritik zweifellos auf der Abgrenzung von empirischer Natur und intelligibler Freiheit liegt. So betonte Kant bei der angeführten Unterscheidung zwischen einer »Werkzeugvernunft« und einem »höheren« Vernunftzweck ganz eindeutig die scharfe Entgegensetzung der zwei »Gebrauchsweisen« der Vernunft, ohne daß sogleich zu erkennen gewesen wäre, wie Kant die Einheit der sich selbst widerstreitenden Vernunft sichern will. Mit dieser ganz überwiegenden Betonung der Inkommensurabilität von natürlicher und vernünftiger Selbsterhaltung bzw. technischer und moralischer Praxis entspricht die konkrete Ausführung der zweiten Kritik also keineswegs der Forderung der Grundlegung, eine Kritik der reinen praktischen Vernunft müsse, »wenn sie vollendet sein soll«, vor allem die Einheit der Vernunft in ihrer unterschiedlichen »Anwendung« darstellen (IV 391). Deshalb treibt die Kantische Vernunftkritik auch noch über die Kritik der praktischen Vernunft hinaus, um sich erst in der Kritik der Urteilskraft zu vollenden. Angesichts der ausgesprochen wechselvollen Deutungsgeschichte der Kritik der Urteilskraft sah sich Heidegger zu dem Urteil genötigt, Kants dritte Kritik habe »bislang nur auf Grund von Mißverständnissen gewirkt«.127 Tatsächlich wird die offenkundige Absicht Kants, mit diesem Werk die von den beiden vorangegangenen Kritiken aufgeworfene Frage nach der Einheit der in sich differenzierten Vernunft zu beantworten, bis heute nur selten wirklich ernst genommen. Das führt dann aber fast notwendig zu dem Mißverständnis, die Analyse der ästhetischen und teleologischen Urteilskraft stelle keine Metareflexion der Vernunftkritik, sondern nur ihre Ausweitung auf ein »drittes« Themengebiet dar; Kunst und organisches Leben wären also bloß zwei neue Anwendungsgebiete der in ihren systematischen Grundlagen bereits »vollendeten« Transzendentalphilosophie. Von hier aus ist es dann nur noch ein Schritt, die ästhetische von der teleologischen Urteilskraft abzutrennen und die Kritik der Urteilskraft auf eine »Ästhetik« zu reduzieren, womit ihr eigentlicher Sinn und ihr systematischer Zusammenhang mit den beiden früheren Kritiken vollends mißverstanden werden muß.128 127 128
Heidegger 1961, S. 127. Eine Kritik dieses Mißverständnisses findet sich bei: Gerhardt/Kaulbach 1989, S. 98 f.
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Maßgeblichen Anteil an diesem Mißverständnis hat die unmittelbare Wirkungsgeschichte der Kritik der Urteilskraft, die vor allem durch Schiller geprägt wurde.129 In der Schillerschen Anverwandlung wird die dritte Kritik Kants zu »einem dritten, fröhlichen Reiche des Spiels und des Scheins«, das sich gleich weit entfernt enthält vom »furchtbaren Reich der [natürlichen] Kräfte« und vom »heiligen Reich der [moralischen] Gesetze«.130 Gegen eine solche »Lösung« des Widerstreits von theoretischer und praktischer Vernunft hat Gadamer zu Recht eingewandt, daß »die Überwindung des kantischen Dualismus von Sinnenwelt und Sittenwelt, die durch die Freiheit des ästhetischen Spiels und die Harmonie des Kunstwerks repräsentiert wird«, nur zu einem »neuen Gegensatz« führt. Denn an »die Stelle des Verhältnisses positiver Ergänzung, das seit alters die Beziehung von Kunst und Natur bestimmt, tritt jetzt der Gegensatz von Schein und Wirklichkeit«, der es nur noch erlaubt, der Wirklichkeit durch die schöne Kunst »einen flüchtigen und verklärenden Schimmer« zu verleihen, nicht aber, sie wirklich zu verwandeln.131 Eine »ästhetische« Lösung der kantischen Vernunftantinomie führt also, solange die Ästhetik als »drittes« Gebiet von der theoretischen und praktischen Philosophie isoliert wird, nur zu einem tieferen und von vornherein unlösbaren Dualismus. In bewußter Absetzung von einer solchen Strategie wird sich der hier verfolgte Gedankengang von der expliziten Programmatik Kants leiten lassen. Seine dritte Kritik »gibt den vermittelnden Begriff zwischen den Naturbegriffen und dem Freiheitsbegriff«; sie macht dadurch »den Übergang vom Gebiete des Naturbegriffs zu dem des Freiheitsbegriffs möglich« und ist so das entscheidende »Verbindungsmittel der zwei Teile der Philosophie zu einem Ganzen« (V 176). Das erklärte Ziel der Kritik der Urteilskraft besteht demnach – wie Wolfgang Bartuschat es einmal ausgedrückt hat – darin, »die Möglichkeit des Verbindens selbst zum Gegenstand ihrer Reflexion« zu machen.132 Vergegenwärtigt man sich an dieser Stelle noch einmal, daß »Interesse« dem Wortsinn nach »Zwischen-Sein« bedeutet, so wird deutlich, daß die Kritik der Urteilskraft genau deshalb zum Schlußstein der Kantischen Vernunftkritik wird, weil in ihr dem eigentümlichen »Zwischen-Vermögen«, auf das Kant in den beiden früheren Kritiken nur aus jeweils verschiedenen Blickwinkeln hingewiesen hat, nunmehr selbst eine eigene transzendentale Reflexion oder »Kritik« gewidmet wird. Das
129
Schiller hat, »indem er die Kantischen Begriffe und Lehren seiner eigenen inneren Geistesform gemäß gestaltete, […] ihnen auch eine neue Richtung gegeben, die für den Fortgang der nachkantischen Spekulation entscheidend geworden ist« (Cassirer 1981, S. 85). 130 Schiller, Werke, Bd. 2, S. 518. 131 Gadamer 1990, S. 88 f. 132 Bartuschat 1972, S. 250.
§ 31. Die voll entfaltete Architektur der Erkenntnisvermögen
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Vermögen des anvisierten Übergangs ist also die Urteilskraft – auf sie werden sich deshalb die folgenden Überlegungen zur Einheit der Vernunft zu konzentrieren haben. In der gesuchten Einheit der Vernunft, so viel läßt sich aufgrund der bisherigen Überlegungen sagen, muß der Widerstreit zwischen dem theoretischen und praktischen Vernunftgebrauch eine neue Form finden, ohne daß damit das zentrale Spannungsmoment als solches verloren ginge. Kants exemplarische Ausführung zu dieser vernunftinternen Spannung entwirft deshalb sehr genau die Aufgabe, die in der Kritik der Urteilskraft gelöst werden soll: »Ob nun zwar eine unübersehbare Kluft zwischen dem Gebiete des Naturbegriffs, als dem Sinnlichen, und dem Gebiete des Freiheitsbegriffs, als dem Übersinnlichen, befestigt ist, so daß von dem ersten zu dem anderen (also vermittelst des theoretischen Gebrauchs der Vernunft) kein Übergang möglich ist, gleich als ob so viele verschiedene Welten wären, deren erste auf die zweite keinen Einfluß haben kann: so soll doch diese auf jene einen Einfluß haben« (V 176). Hier kommt der große Spannungsbogen, der in der Transzendentalphilosophie von der Natur über die Vernunft zur Freiheit reicht, in dem emphatischen Akzent auf dem »soll« zum Ausdruck: Vernunft gründet zwar bei Kant in der Differenz zweier »Gebiete«, sie lebt aber nur in der Überbrückung dieser Differenz. Die interne Vernunftspannung ist, wie sich Kants Ausführung entnehmen läßt, subtil gegliedert. Auf einer ersten Stufe entspringt sie in der grundlegenden Differenz zwischen Natur und Freiheit, die sich, verbleibt man auf dieser Stufe, zu einer unüberwindbaren »Kluft« zwischen empirischer und intelligibler Welt verfestigt. Und Kant fügt ausdrücklich hinzu, daß es der theoretische Gebrauch der Vernunft ist, der die Kluft verfestigt, und zwar, wie sich gezeigt hat, nicht so sehr, weil er den Freiheitsbegriff, sondern weil er – aufgrund seiner Unterordnung unter die Verstandesnatur – den Naturbegriff verfehlt, der eine Vermittlung mit dem Freiheitsbegriff ermöglichen würde. Genau deshalb zielt die transzendentale Metareflexion der Kritik der Urteilskraft in erster Linie auf einen neuen Naturbegriff ab, der sich wesentlich von dem Naturbegriff des Verstandes und der theoretischen Vernunft unterscheiden muß.
§ 31. Die voll entfaltete Architektur der Erkenntnisvermögen Die Philosophie, so rekapituliert Kant einleitend den bisherigen Gedankengang seiner transzendentalen Vernunftkritik, gliedert sich grundsätzlich in einen theoretischen und einen praktischen Teil, wobei jenem die Naturbegriffe und der Verstand, diesem aber der Freiheitsbegriff und die Vernunft zugeordnet werden
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(V 171 ff.; vgl. § 14). Bemerkenswerterweise findet die theoretische Vernunft in dieser fundamentalen Zweiteilung der Philosophie keinen eigenständigen Ort, da die Vernunft, wie Kant begründet, »in Ansehung des theoretischen Erkenntnisses (der Natur)« bloß aus »vermittelst des Verstandes« gegebenen Gesetzen Schlußfolgerungen ziehen kann, »die doch immer nur bei der Natur stehen bleiben« (V 175). Die Kritik der Urteilskraft setzt demnach mit einem zum theoretischen Hauptvermögen aufgerückten Verstandesbegriff und einem dezidiert auf den praktischen Freiheitsbegriff fokussierten Vernunftbegriff (im engeren Sinne) ein. Sie spart damit das zwiespältige Phänomen einer theoretischen Vernunft gleichsam aus, um so seinen systematischen Ort zwischen Natur und Freiheit durch eine Urteilskraft neu bestimmen zu können, die »den Übergang vom Verstande zur Vernunft möglich macht« (V 179). Die neue Architektur der Erkenntnisvermögen, die sich daraus ergibt, wird von Kant in der Erstfassung der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft erörtert, und zwar im Abschnitt über das »System der obern Erkenntnisvermögen, das der Philosophie zum Grunde liegt«. Hier »fällt die systematische Vorstellung des Denkungsvermögens dreiteilig aus, nämlich erstlich in das Vermögen der Erkenntnis des Allgemeinen (der Regeln), den Verstand, zweitens das Vermögen der Subsumtion des Besondern unter das Allgemeine, die Urteilskraft, und drittens das Vermögen der Bestimmung des Besondern durch das Allgemeine (der Ableitung von Prinzipien), d. i. die Vernunft« (H 7).133 Die Dreiteilung des »Denkungsvermögens« ergibt sich demnach – so hat es zumindest den Anschein – durch eine rein logische Differenzierung, die sich an der Unterscheidung zwischen Begriff, Urteil und Schluß orientiert (vgl. KrV B 169); sie beschränkt sich zudem ausschließlich auf das obere Erkenntnisvermögen.134 Die angeführte Einteilung erinnert dergestalt an die Kritik der reinen Vernunft, in der Kant einmal erläuternd feststellt, er verstehe »unter Vernunft das ganze obere Erkenntnisvermögen, und setze also das Rationale dem Empirischen entgegen« (KrV B 863). Eine solche Unterscheidung zwischen einem oberen, spontan-rationalen Erkenntnisvermögen und einem unteren, rezeptiv-empirischen Erkenntnisvermögen wird zwar durch die interne Differenzierung des Vermögensbegriff in ein »unteres« und ein »oberes« Vermögen zur Einheit vermittelt, doch scheint diese komplexere Struktur für Kants Vernunftbegriff gerade nicht gelten zu können, solange er ausschließlich dem oberen Vermögen zugeordnet wird. Vernunft wäre somit, auch wenn sie im weiteren Sinne verstanden
133
Die Erstfassung der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft wird mit der Sigle »H« nach der Paginierung der Rostocker Handschrift zitiert (abgedruckt in: Kant, Werke in sechs Bänden, hrsg. von W. Weischedel, Bd. 5, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1983). 134 Vgl. Brandt 1994, S. 178 f.
§ 31. Die voll entfaltete Architektur der Erkenntnisvermögen
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wird, als »rationales« Vermögen dem »empirischen« Vermögen entgegengesetzt, so daß es den Anschein hat, als habe das »untere« Erkenntnisvermögen für Kants Vernunftbegriff keine Bedeutung. Dem widerspricht jedoch schon die Gesamtanlage der Kritik der reinen Vernunft, die dem »unteren« Erkenntnisvermögen in der »Transzendentalen Ästhetik« einen ganz wesentlichen Platz im Aufbau des Werkes einräumt. Wenn es aber einen integralen Bestandteil der Vernunftkritik bildet, dann kann das »untere« Vermögen dem Vernunftbegriff nicht nur entgegengesetzt sein. Durch diesen Rückblick auf die Kritik der reinen Vernunft wird deutlich, wie wichtig es ist, daß Kant in der Kritik der Urteilskraft das in den beiden vorangegangenen Kritiken unklar gebliebene Verhältnis des oberen Erkenntnisvermögens zum unteren Erkenntnisvermögen explizit thematisiert und deutlich macht. Die Kritik der Urteilskraft beschränkt sich nämlich keineswegs auf eine Betrachtung des »oberen« Erkenntnisvermögens, da dem im »System der obern Erkenntnisvermögen« nicht behandelten »unteren« Erkenntnisvermögen der unmittelbar nachfolgende Abschnitt gewidmet ist, der die anspruchsvolle Überschrift trägt: »Von dem System aller Vermögen des menschlichen Gemüts«. Dort heißt es: »Wir können alle Vermögen des menschlichen Gemüts ohne Ausnahme auf die drei zurückführen: das Erkenntnisvermögen, das Gefühl der Lust und Unlust und das Begehrungsvermögen« (H 10). Diesen drei Grundvermögen des menschlichen Gemüts wird dann von Kant jeweils eines der drei »oberen« Erkenntnisvermögen – Verstand, Urteilskraft und Vernunft – zugeordnet. Der dreifachen Binnendifferenzierung des rationalen Vermögens korrespondiert somit in der Kritik der Urteilskraft eine ebenfalls dreigliedrige Binnendifferenzierung des sinnlichen Vermögens. Der Umstand, daß die Kritik der reinen Vernunft nur ein oberes Erkenntnisvermögen kennt, die Kritik der Urteilskraft hingegen drei, reflektiert die Entwicklungsgeschichte der Vernunftkritik. Hatte Kant noch in der ersten Kritik, wie bereits ausführlich gezeigt wurde, alles »Praktische« und die »Begriffe der Unlust und Lust« aus der Transzendentalphilosophie ausgeschlossen (KrV B 28 f., vgl. § 14), so entdeckte die Kritik der praktischen Vernunft zunächst einen transzendentalen Zugang zum praktischen Begehrungsvermögen. Erst die Kritik der Urteilskraft entdeckt nun auch einen transzendentalen Zugang zum Gefühl der Lust und Unlust. Beide Entdeckungen sind jedoch in den jeweils früheren Kritiken nicht vorgesehen, so daß sie das System der transzendentalen Grundvermögen schrittweise erweitern und umformen müssen.135 Deshalb kommt Kants ver135
Schon Kuno Fischer hat zu Recht darauf hingewiesen, »daß auf dem Wege durch die drei kritischen Hauptwerke das System eine Ausbildung gewonnen hat, für welche die erste Grundlage weder berechnet war noch ausreicht« (Fischer 1899, S. 622).
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mögenstheoretische Begründung der Transzendentalphilosophie erst in der komplexen »Vermögensarchitektur« der dritten Kritik zur vollen Entfaltung und Deutlichkeit. Die systematischen Konsequenzen, die sich aus der voll entfalteten Architektur der transzendentalen Erkenntnisvermögen ergeben, hat Georg Picht einmal sehr klar benannt. In der Fortentwicklung der Kantischen Vernunftkritik wird immer deutlicher, so Picht, daß sich die drei oberen Erkenntnisvermögen »nach Gesichtspunkten spezifizieren, die mit der logischen Unterscheidung von Begriffen, Urteilen und Schlüssen nichts mehr zu tun haben«. So »zeigt schon der Vergleich der ›Kritik der reinen Vernunft‹ mit der ›Kritik der praktischen Vernunft‹, daß die Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft primär nicht durch die Verschiedenheit der logischen Formen von Begriff und Schluß, sondern durch die Verschiedenheit der Gebiete konstituiert wird, auf denen diese Vermögen gesetzgebend sind. In der Transzendentalphilosophie können diese Gebiete nur durch die irrationalen Vermögen repräsentiert werden, die sie zur Vorstellung bringen. So steht dem Verstand in der theoretischen Erkenntnis die Anschauung, der Vernunft in der praktischen Erkenntnis das Begehrungsvermögen gegenüber, und erst durch diesen Bezug auf ein gegenüberstehendes irrationales Vermögen kommt das Erkenntnisvermögen überhaupt ins Spiel«.136 Mit anderen Worten: das jeweilige »obere« Erkenntnisvermögen ist zwar ein rationales Vermögen, doch wird in seiner transzendentalen Erörterung stets ein Bezug auf ein »unteres«, »irrationales« Vermögen thematisiert. Diese synthetische Bezugnahme einer »oberen« Spontaneität auf eine »untere« Rezeptivität steht aber stets im systematischen Zentrum der transzendentalen Reflexion, weil sie das »obere« und das »untere« Vermögen erst zu dem macht, was sie sind. Dieser von Kants Transzendentalphilosophie in immer neuen Anläufen reflektierten Grundstruktur des menschlichen Vermögens wird allerdings Pichts allzu direkte Entgegensetzung von Irrationalem und Rationalem nicht gerecht. Denn die unteren Erkenntnisvermögen können bei näherer Betrachtung nicht als irrationaler Gegensatz, sondern sie müssen als vorrationale Naturbasis der oberen Erkenntnisvermögen begriffen werden. Ein solcher Übergang zwischen Naturbasis und Vernunft wird auch bei Picht mit der Formulierung angedeutet, die »irrationalen« Vermögen würden in den oberen Vermögen »zur Vorstellung gebracht«, was aber nur möglich ist, wenn sie auch von sich aus auf die bewußte Vorstellung hin angelegt sind, sonst könnten nicht sie selbst zur Vorstellung gebracht werden. Die »oberen« Vermögen sind demnach bei Kant zwar durch ihre spontane Intentionalität gekennzeichnet, doch bleiben sie in ihrer Spontaneität notwendig 136
Picht 1980, S. 346.
§ 32. Zwei Formen der Urteilskraft und der Selbsterhaltung
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an das korrespondierende »untere« Vermögen zurückgebunden. Umgekehrt sind die »unteren« Vermögen zwar durch ihre passive Empfänglichkeit gekennzeichnet, doch muß ihre Passivität die Anlage zu Intentionen besitzen, die dann vom korrespondierenden »oberen« Vermögen zur bewußten Vorstellung gebracht werden können. Die Einheit des nach »oben« und »unten« differenzierten Vermögens gründet somit konkret darin, daß die in der Naturbasis angelegten Möglichkeiten immer schon eine urteilende »Vorstellung« im bewußten Vermögen erfahren haben, ein Urteil, das freilich – das haben die früheren Überlegungen gezeigt – stets auch mißlingen kann. Transzendentale Rationalität besteht demnach im rationalen Übergang vom »Irrationalen« zum »Rationalen«, ein Übergang, der eine urteilende Verwandlung der »unteren« Anlage in ein »oberes« Bewußtsein leisten muß. Damit ist die systematische Aufgabe der Kritik der Urteilskraft bezeichnet: sie soll die Urteilskraft als das eigentliche Vermögen dieses Übergangs von der Natur zur Freiheit untersuchen. Es ist also zu erwarten, daß sich die hier vorab entworfene Struktur des urteilenden Übergangs in der Vermögensstruktur der Urteilskraft wiederfinden lassen wird. Auf diese Weise mündet der Gedankengang in die neue Frage ein, ob sich das bislang anhand des Vermögens- und Interessenbegriffs erörterte Verhältnis von Differenz und Einheit noch weiter bestimmen läßt, wenn in der hier verfolgten Deutungsperspektive nach der internen Vermögens- und Interessenstruktur der Urteilskraft gefragt wird.
§ 32. Zwei Formen der Urteilskraft und der Selbsterhaltung Kant unterscheidet in der Kritik der Urteilskraft zwei Formen der Urteilskraft: die bestimmende und die reflektierende. Jene subsumiert das Besondere unter das durch den Verstand vorgegebene Allgemeine, diese sucht hingegen vom Besonderen aus eine nicht von vornherein gegebene Allgemeinheit (V 179 ff.). Bereits in rein logischer Hinsicht steht also das vermittelnde Vermögen der Urteilskraft stets zwischen Besonderem und Allgemeinem; aber erst Kants transzendentale Untersuchung der Urteilskraft, die über die rein logische Betrachtung hinausgeht, wird den zentralen Sachverhalt deutlich machen, daß der konkrete Sinn der zweifachen Vermittlung jeweils ein anderer, genaugenommen sogar ein gegenläufiger ist. Dies läßt sich schon daran erkennen, daß die zwei genannten Formen der Urteilskraft zwar beide in der Kritik der Urteilskraft behandelt werden, doch nicht in gleichberechtigter Weise. Denn es ist ausschließlich die reflektierende Urteilskraft, die bei Kant zum Thema einer eigenständigen Kritik erhoben werden kann (und muß), damit die Eigentümlichkeiten und Grenzen dieses transzendentalen
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Erkenntnisvermögens bestimmt werden.137 Nach Kant ist es die »unmittelbare Beziehung auf das Gefühl der Lust und Unlust, die gerade das Rätselhafte in dem Prinzip der Urteilskraft ist, welches eine besondere Abteilung in der Kritik für dieses Vermögen notwendig macht« (V 169).138 Deshalb wird Kants Aufklärung dieses »Rätsels« auch den ersten Hinweis auf die gesuchte Vermögensstruktur und die spezifische Leistung der reflektierenden Urteilskraft geben. Kants Erklärung des »Rätsels« beginnt mit der allgemeinen Feststellung: »Die Erreichung jeder Absicht ist mit dem Gefühle der Lust verbunden« (V 187). Diese auf den ersten Blick eher harmlos wirkende Verbindung des Lustgefühls mit einer Absicht reicht Kant bereits aus, um den entscheidenden Unterschied zu kennzeichnen, der zwischen der Vermittlung der reflektierenden Urteilskraft und der ganz anders gearteten Verbindung von Anschauung und Verstandesbegriff besteht, wie sie von der bestimmenden Urteilskraft hergestellt wird. In der Verstandeserkenntnis finden wir nämlich bei »dem Zusammentreffen der Wahrnehmungen mit den Gesetzen nach allgemeinen Naturbegriffen (den Kategorien) nicht die mindeste Wirkung auf das Gefühl der Lust in uns«. Die strikte Abwesenheit jenes Lustgefühls, das sich bei »Erreichung jeder Absicht« einstellt, entspringt aber des näheren einer prinzipiellen Eigenschaft der Verstandeserkenntnis, da hier »der Verstand«, so Kant, »unabsichtlich nach seiner Natur notwendig verfährt« (V 187). Dem reinen Verstand muß demnach das Gefühl, eine Absicht zu erreichen, fremd sein, weil er stets »unabsichtlich« verfährt. Diese eigentümliche »Unabsichtlichkeit« eines »nach seiner Natur notwendig« verfahrenden Vermögens kennzeichnet nun auch den Schematismus der bestimmenden Urteilskraft, denn »in Ansehung der allgemeinen Naturbegriffe« hat »die Reflexion im Begriffe einer Natur überhaupt, d. i. im Verstande, schon ihre Anweisung und die Urteilskraft bedarf keines besondern Prinzips der Reflexion« (H 18). Die bestimmende Urteilskraft erweist sich damit selbst als bestimmt – bestimmt durch den unabsichtlich verfahrenden Verstand, der ihr die »Anweisung« gibt. Im Gegenzug hierzu muß sich demnach die reflektierende Urteilskraft dadurch auszeichnen, daß ihr eine Absicht zu Grunde liegt, deren Gelingen »mit
137
Die bestimmende Urteilskraft wurde hingegen von Kant bereits im Schematismus-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft ausführlich behandelt (vgl. § 22). 138 Mit der unmittelbaren »Beziehung auf das Gefühl der Lust und Unlust« nimmt Kant das Thema der lebendigen Naturbasis der menschlichen Vernunft wieder auf (vgl. § 29). Denn das ästhetische Urteil der reflektierenden Urteilskraft bezieht »die Vorstellung gänzlich auf das Subjekt und zwar auf das Lebensgefühl desselben unter dem Namen des Gefühls der Lust oder Unlust« (V 204; Hervorhebung: A.H.). Von hier aus ergibt sich unmittelbar der systematische Zusammenhang zwischen der Reflexion auf das Schöne (insbesondere auf das Naturschöne) in der Kritik des ästhetischen Urteilskraft und der Reflexion auf das Lebendige der Natur in der Kritik der teleologischen Urteilskraft.
§ 32. Zwei Formen der Urteilskraft und der Selbsterhaltung
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dem Gefühle der Lust verbunden« ist. Es ist also diese »Absicht«, die dem Verstand und der durch ihn bestimmten Urteilskraft fremd ist und die gerade deshalb »eine besondere Abteilung in der Kritik« für die reflektierende Urteilskraft notwendig macht. Natürlich drängt sich sofort die Frage auf, was für eine Absicht es sein könnte, die Kant hier dem Verstand ab- und der reflektierenden Urteilskraft zuspricht. Denn die bisherigen Überlegungen haben ja deutlich gemacht, daß die Transzendentalphilosophie jedem Vermögen ein eigenes Interesse zuspricht. Und gerade vom Verstand hieß es bei Kant, daß er die Erscheinungen in der Absicht »durchspäht«, an ihnen irgend eine Regel aufzufinden. Es muß sich also um eine besondere Form von Absicht handeln, die bei Kant die reflektierende Urteilskraft vor den anderen transzendentalen Vermögen und insbesondere vor dem Verstand und der durch ihn bestimmten Urteilskraft auszeichnet. Die spezifische Form der Absicht oder des Interesses der reflektierenden Urteilskraft läßt sich an der Besonderheit ablesen, daß ihr in der vermögenstheoretischen Systematik der Kritik der Urteilskraft zwar ein »unteres« Vermögen zugeordnet wird (das Gefühl der Lust und Unlust), daß ihr aber gleichzeitig ein eigenes Gebiet abgesprochen wird. Sie ist also nicht gesetzgebend, wie es der Verstand in theoretischer Hinsicht für das Gebiet der Natur, die Vernunft in praktischer Hinsicht für das Gebiet der Freiheit ist (V 176 f.). Diese Sonderstellung der reflektierenden Urteilskraft ist aber in ihrer vermittelnden Zwischenstellung zwischen den Vermögen und damit auch zwischen den bereits konstituierten Gebieten der Natur und der Freiheit begründet. Die formale Besonderheit ihrer Absicht besteht demnach darin, daß sie sich in ihrem eigenen Interesse auf ein ihr vorangehendes »primäres« Interesse bezieht. Das spezifische Interesse der reflektierenden Urteilskraft ist deshalb in einem durchaus nicht herabmindernden Sinne ein »sekundäres«, d. h. ein reflektiertes Interesse, das sich reflektierend auf ein anderes Interesse bezieht. Da die Aufgabe der reflektierenden Urteilskraft jedoch des näheren darin besteht, einen Übergang vom Gebiet des Verstandes (Natur) zum Gebiet der Vernunft (Freiheit) zu finden, bezieht sich ihr »sekundäres« Interesse konkret auf das »primäre« Interesse des Verstandes. Oder anders ausgedrückt: das »sekundäre« (reflektierte) Vermögen der reflektierenden Urteilskraft besteht in der Fähigkeit, den ihr primär vom Interesse des Verstandes vorgegebenen Standpunkt zu wechseln. Und das Gelingen des von ihr beabsichtigten Standpunkt-Wechsels ist dann auch mit einem besonderen »Gefühle der Lust« verbunden. Die exemplarische Darstellung eines solchen Standpunkt-Wechsels findet sich in der Kritik der Urteilskraft dort, wo Kant das eigentümliche »Lustgefühl« erörtert, das wir z. B. »bei dem Anblicke himmelansteigender Gebirgsmassen, tiefer Schlünde und darin tobender Gewässer« (V 269) erfahren. Die »Unwider-
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stehlichkeit« der entfesselten Naturmacht – so Kant – gibt »uns, als Naturwesen betrachtet, zwar unsere physische Ohnmacht zu erkennen, aber entdeckt zugleich ein Vermögen, uns als von ihr unabhängig zu beurteilen, und eine Überlegenheit über die Natur, worauf sich eine Selbsterhaltung von ganz andrer Art gründet, als diejenige ist, die von der Natur außer uns angefochten und in Gefahr gebracht werden kann« (V 261, Hervorhebung: A. H.). In der besonderen Gefühlserfahrung des Erhabenen »entdeckt« der Mensch also ein Vermögen, sich, wie Kant weiter sagt, von seiner primären »Sorge« um »Güter, Gesundheit und Leben« zu distanzieren (V 262). Das Unabhängigwerden vom vitalen Bedürfnis der natürlichen Selbsterhaltung, wie es dem Verstand zu Grunde liegt, führt auf eine »Selbsterhaltung von ganz anderer Art«, da zwar das menschliche »Naturwesen« vor der natürlichen Übermacht unterliegen muß, wobei jedoch, so Kant, »die Menschheit in unserer Person unerniedrigt bleibt«. Auf diese Weise »beurteilt« die reflektierende Urteilskraft die primär »furchterregende« Natur in einem eigentümlichen Standpunkt-Wechsel »als erhaben« (V 261 f.). Der reflexive Standpunkt-Wechsel gegenüber der primären Selbsterhaltung besteht Kant zufolge darin, »das, was nach der ersteren groß ist, als klein abzuwürdigen, und so das Schlechthin-Große nur in seiner (des Subjekts) eigenen Bestimmung zu setzen« (V 269). Gelingt aber dieser Standpunkt-Wechsel, dann vermag der Mensch im Gefühl des Erhabenen »die eigene Erhabenheit seiner Bestimmung, selbst über die Natur, sich fühlbar [zu] machen« (V 262).139 An dieser Stelle verbinden sich die verschiedenen Aspekte der bisherigen Untersuchung zu einem einheitlichen Gedanken, der sich erneut an der Begriffskonstellation »Leben – Vernunft – Person« orientiert: Der Mensch als lebendes Naturwesen ist durch die primäre »Sorge« der Selbsterhaltung, der Mensch als Person hingegen durch eine Selbsterhaltung von ganz anderer Art bestimmt. Der Übergang zwischen beiden »Bestimmungen des Menschen« wird aber durch den eigentümlichen Standpunkt-Wechsel ermöglicht, den die reflektierende Urteilskraft leistet. Sie »entdeckt« auf diese Weise in der konkreten Gefühlserfahrung des Erhabenen einen Rechtsgrund für Kants Forderung, die Vernunft nicht »bloß zum Werkzeuge der Befriedigung seines Bedürfnisses, als Sinnenwesens, zu gebrauchen«. Die reflektierende Urteilskraft ist deshalb bei Kant umgekehrt ein »Werkzeug der Vernunft und ihrer Ideen, als solches aber eine Macht, unsere Unabhängigkeit gegen die Natureinflüsse zu behaupten« (V 269). Diese Selbstbehauptung der Vernunft ist aber nichts anderes als jene »Selbsterhaltung von ganz anderer Art«, die Kant von der primären natürlichen Selbsterhaltung abhebt. Kant spricht deshalb ausdrücklich von einer »Selbsterhaltung der Vernunft« (XIII 147 Anm.). 139
Vgl. zur neueren Diskussion über das »Erhabene«: Pries 1989, 1995.
§ 33. Drei Stellungen zur Natur
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Genau in diesem Sinne heißt es in der nach der Kritik der Urteilskraft geschriebenen Metaphysik der Sitten: »Die, wenn gleich nicht vornehmste, doch erste Pflicht des Menschen gegen sich selbst, in der Qualität seiner Tierheit, ist die Selbsterhaltung in seiner animalischen Natur« (VI 421). Die zweite und zugleich »vornehmste« Pflicht ist hingegen eine Selbsterhaltung von ganz anderer Art, nämlich die »moralische Selbsterhaltung« (VI 419). Hier kommt der bereits mehrfach betonte Folgecharakter des eigentlichen Vernunftinteresses besonders deutlich zum Ausdruck: »primär« ist stets das Natürliche, »sekundär« das eigentlich Vernünftige, das seine Naturbasis erweitert und zugleich transzendiert, wobei der Vernunftübergang erneut »nicht ein Sprung (saltus) wie gleichsam über eine Kluft, noch ein Schritt (passus) im fortgesetzten Gange, sondern ein Überschritt« ist. Die Selbstbehauptung der Vernunft meint deshalb bloß auf einer ersten Bedeutungsebene die vernünftige Überwindung der menschlichen Naturbestimmung. Auf einer zweiten und entscheidenden Bedeutungsebene meint sie zudem eine vernünftige Erweiterung der menschlichen Naturbestimmung. Denn die Selbsterhaltung der Vernunft kann zwar nur vernünftig genannt werden, wenn sie gegenüber der natürlichen Selbsterhaltung »von ganz anderer Art« ist, sie wird sich aber nur erhalten können, wenn ihr in der festgehaltenen Differenz auch eine Vermittlung zur Selbsterhaltung in der Natur gelingt. Die Vernunft darf sich demnach nicht nur gegen die Natur, sondern sie muß sich auch in der Natur erhalten können. Daraus ergibt sich aber die letztlich entscheidende Frage, wie eine solche Begründung der Vernunft in der Natur gedacht werden kann, ohne daß dadurch die Differenz zwischen Natur und Vernunft verwischt wird. Die Aufgabenstellung der Kritik der Urteilskraft, einen Übergang über die »Kluft« zwischen dem Freiheits- und dem Naturbegriff zu finden, erweist sich somit tatsächlich als das systematische Zentrum der Transzendentalphilosophie, auf das die Kantische Vernunftkritik von Anfang an Bezug genommen hat. Kants Antwort auf die genannte Frage kann deshalb nur ganz verständlich werden, wenn es gelingt, sie in den systematischen Gesamtzusammenhang der Vernunftkritik einzufügen.
§ 33. Drei Stellungen zur Natur Der systematische Gesamtzusammenhang der Kantischen Vernunftkritik läßt sich jetzt unter Berücksichtigung des zuletzt Gesagten dadurch aufklären, daß die Interessendifferenz der drei »oberen« Erkenntnisvermögen als dreifache Stellung der Vernunft zur Natur begriffen wird. Den Leitfaden der Überlegung bildet die im Abschnitt über den Primat der praktischen Vernunft erfolgte Kennzeich-
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nung der Vernunft, daß sie »das Interesse aller Gemütskräfte« bestimmt, »das ihrige aber sich selbst«. Die Selbstbestimmung des Vernunftinteresses im engeren (rein moralisch-praktischen) Sinne gewinnt aber bei Kant die Form eines kategorischen Imperativs, wie er erstmals in der Grundlegung formuliert wird: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst« (IV 429).140 Es wird also anzugeben sein, inwieweit sich die einzelnen Vermögen der Vernunft im weiteren Sinne durch die angeführte Differenz zwischen Mittel und Zweck auch in ihrem Verhältnis zur Natur bestimmt zeigen. Das nähere Verständnis der drei Bezugnahmen des menschlichen Erkenntnisinteresses auf die Natur hat bei der »primären« Erkenntnissituation anzusetzen, die in der natürlichen Selbsterhaltung begründet ist. Für sie trifft die folgende Charakterisierung von Friedrich Kaulbach zu: »Ich kann keine ›Dinge an sich‹ erkennen, sondern nur immer Sachen, die ›für mich‹ erkennbar sind. Das ›Wie‹ meines Anschauens bestimmt, daß ich nur Erscheinungen, aber keine Dinge an sich zu erkennen vermag«.141 Die theoretische Verstandeserkenntnis bezieht sich also notwendigerweise nur auf »Erscheinungen«, weil sie alles nur »auf sich«, und das heißt: auf das »Wie« des eigenen Interesses an der Beherrschbarkeit der Natur bezieht. Das spezifische Interesse des rein theoretischen Erkenntnisinteresses, das in der Kritik der Urteilskraft dem Verstand zugeschrieben wird, läßt sich demnach dahingehend bestimmen, daß es die Natur bloß als Mittel zur eigenen Selbsterhaltung begreift bzw. begreifen will. Gerade hierin erweist sich der Verstand aber selbst als Mittel (Werkzeug), nämlich als Mittel der natürlichen Selbsterhaltung, die den Verstand bei seiner kategorialen Eroberung der Natur anleitet. Das theoretische Interesse ist bei Kant also in Wahrheit ein praktisches, und zwar ein technisch-praktisches Interesse, dem alles zum Mittel für den einzigen Zweck der eigenen Selbsterhaltung wird. Es wäre allerdings ein Mißverständnis, wenn man diese Analyse der Verstandeserkenntnis als Kritik oder gar Geringschätzung auffassen wollte. Denn Kants theoretische Philosophie zeigt ja gerade die Unvermeidlichkeit des theoretischen Vernunftgebrauchs, welche die Kategorien des Verstandes zu »notwendigen« Bestimmungen unseres Denkens macht. Diese überindividuelle Allgemeinheit der Verstandeserkenntnis beruht aber des näheren auf der vorindividuellen Notwendigkeit der primären Selbsterhaltung. Deshalb ist die theoretische Erkenntnis, wie bereits erwähnt, auch wesentlich eine unpersönliche Erkenntnis, da die tech-
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Die entsprechende Formulierung in der Kritik der praktischen Vernunft lautet, daß jedes vernünftige Wesen als »Zweck an sich selbst« zu begreifen und deshalb »niemals bloß als Mittel, sondern zugleich selbst als Zweck zu gebrauchen« ist (V 87). 141 Kaulbach 1982, S. 120.
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nisch-pragmatische Perspektive nicht nur am Erkenntnisobjekt alles ausblendet, was sich kategorial nicht fassen läßt, sondern ebenso am Erkenntnissubjekt: die Person darf hier nur als »Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denket«, in die Erkenntnis eingehen, um ihre »theoretische« Allgemeinheit nicht zu gefährden (vgl. § 29).142 Es wäre freilich ebenso ein Mißverständnis, wenn man aus der Unvermeidlichkeit der Verstandeserkenntnis auf ihre Unüberschreitbarkeit schließen wollte. Die für den Menschen primäre Erkenntnissituation ist nicht schon deshalb seine einzige. Das zeigt sich bereits daran, daß uns der spezifische Horizont unserer Verstandeserkenntnis überhaupt als solcher bemerkbar wird, was impliziert, daß wir aus ihm in einem grundlegenden Standpunkt-Wechsel auch heraustreten können. Dieser Standpunkt-Wechsel kann demnach nicht einen bloßen Wechsel innerhalb des primären Erkenntnishorizontes meinen, so daß genauer von einem Wechsel zwischen zwei qualitativ verschiedenen Horizonten oder Standpunkten gesprochen werden muß. Denn bei diesem Wechsel verändert sich der transzendental jeweils ursprünglich erschlossene Erfahrungshorizont von Grund auf, so daß es zunächst zu der bereits festgehaltenen Inkommensurabilität des spekulativen und praktischen Vernunftgebrauchs kommt. Die Einsicht, daß dem Menschen das »Was« des zu Erkennenden stets nur durch das »Wie« einer menschlichen Erkenntnisweise hindurch zugänglich ist, bedeutet deshalb keineswegs, daß eine Wirklichkeit »an sich selbst«, wie sie Kant im Unterschied zur »für uns« erscheinenden Gegenständlichkeit anvisiert, dem Menschen prinzipiell unzugänglich sein muß, da sie immer nur »für uns« zugänglich sein kann. Denn Kants Unterscheidung zwischen »für uns« und »an sich« zielt auf die Differenz zwischen zwei grundlegend verschiedenen Formen der Erkenntnis, also auf zwei Arten des »Wie« unserer Erkenntnis ab, die in den zwei Arten von Selbsterhaltung begründet sind, die Kant unterscheidet. Das einzig angemessene Verständnis der transzendentalen Differenzierung zwischen »Erscheinung« und »Ding an sich selbst« besteht also tatsächlich – wie in der Einleitung bereits vorab angedeutet wurde (vgl. § 2) – genau darin, daß es stets dasselbe »Objekt« der Erkenntnis ist, das in der Transzendentalphilosophie in »zweierlei Bedeutung«, d. h. gemäß der zwei grundsätzlich verschiedenen Arten der Verstandes- und Vernunfterkenntnis in Frage steht.
142
Odo Marquard hat den anonymen Charakter des in der natürlichen Selbsterhaltung gründenden Verstandesdenkens als »Kontroll-Ich« beschrieben, das »als Subjekt des exakten Wissens in solcher Weise individuell [ist], daß seine Individualität zugunsten seiner Kontrollfähigkeit belanglos wird; seine Individualität ist verschwindende (vertauschbare), d. h. an Kontrolle verschwendete Individualität« (Marquard 1982, S. 66).
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Zweiter Teil
Das »Wie« des theoretischen Verstandes ist dabei durch den Grundbegriff »eines Gegenstandes überhaupt« (KrV A 251) des näheren bestimmt.143 Kant betont, daß der Begriff für »alle Erscheinungen einerlei ist« (KrV A 253), um anzuzeigen, daß er nichts am Gegenstand »an sich selbst« bezeichnet und so gleichsam einen Leerraum vorzeichnet, in den wir die Bedeutungen des Gegenstandes »für uns« einzeichnen können. Der Leitbegriff des Verstandes144 meint also keinen »Gegenstand der Erkenntnis an sich selbst« (KrV A 251), sondern nur »ein Etwas = x« (KrV A 250), das der Verstand als synthetischen Bezugspunkt denken muß, um das Mannigfaltige der Erscheinungen unter seine Regeln bringen zu können. Im Begriff eines Gegenstandes überhaupt drückt sich daher das »Wie« des primären Erkenntnishorizontes, der in der natürlichen Selbsterhaltung begründet ist, am reinsten aus, da er anzeigt, wie der Verstand das zu Erkennende nie »an sich selbst« (als Zweck), sondern nur »für uns« (als Mittel) betrachten will. Das »Wie« der praktischen Vernunft ist hingegen durch den Grundbegriff »Zweck an sich selbst« (V 87) bestimmt. Der Begriff bezeichnet bei Kant die »Achtung erweckende Idee der Persönlichkeit« (ebd.), um anzuzeigen, daß wir gegenüber anderen Personen die moralische Verpflichtung anerkennen, sie nicht »bloß als Mittel« zu begreifen. Im »Zweck an sich selbst« der Person erkennen wir demnach eine Wirklichkeit »an sich selbst« an, die uns dazu bringt, den primären Horizont des Verstandes zu verlassen, da in ihm die Person nur als Gegenständlichkeit »für uns«, mithin nur als Mittel erscheinen kann. Der Horizont-Wechsel, der Übergang vom technisch-praktischen Standpunkt des Verstandes zum moralisch-praktischen Standpunkt der Vernunft ist demnach selbst moralisch-praktisch begründet in der von der Vernunft gewirkten Achtung vor der Person »an sich selbst«.145 Im primären Verstandeshorizont bestimmt sich jede Einzelperspektive durch das generelle Interesse, das zu Erkennende daraufhin zu betrachten, inwieweit es als Mittel der Selbsterhaltung tauglich ist. Im »sekundären« oder reflektierten Vernunfthorizont, zu welchem der genannte Standpunkt-Wechsel übergeht, bestimmt sich die konkrete Einzelperspektive hingegen durch das Interesse, das zu Erkennende nicht nur als Mittel, sondern immer auch als Zweck zu begreifen. Die Möglichkeit, daß der Erkennende einen »Zweck an sich selbst« erkennt und anerkennt, der nicht der Zweck des Erkennenden ist, beruht aber darauf, daß der Zweck der natürlichen Selbsterhaltung, der innerhalb des primären Verstandeshorizontes tatsächlich unhintergehbar ist, durch eine Selbsterhaltung
143
Vgl. Prauss 1989a, S. 107 f.; Willaschek 1992, S. 288 f. In einem Brief an Herz vom 26. Mai 1789 schreibt Kant, der »Begriff von einem Objekte überhaupt« müsse »dem Verstande, als einem besonderen Vermögen«, zugeschrieben werden. 145 Vgl. Spaemann 1989, S. 150 f. 144
§ 33. Drei Stellungen zur Natur
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von ganz anderer Art überschritten wird. Die »moralische« Selbsterhaltung der Person unterscheidet sich nämlich in formaler Hinsicht von der primären Selbsterhaltung gerade darin, daß sich die Person nur selbst als »Zweck an sich selbst« erkennen kann, wenn sie auch andere Personen als Selbstzweck anerkennt.146 Der Standpunkt- und Horizont-Wechsel vom spekulativen Interesse des Verstandes zum praktischen Interesse der Vernunft (im engeren Sinne) vollzieht somit den Übergang von Kants erster Bestimmung des Menschen, daß er ein lebendes und zugleich vernünftiges Wesen ist, zur zweiten Bestimmung, daß er ein vernünftiges und zugleich der Zurechnung fähiges Wesen ist. Wäre der Gedankengang der Kantischen Vernunftkritik jedoch mit diesem Übergang bereits abgeschlossen, dann bliebe er bei einer »Kluft« stehen zwischen dem Gebiet des Naturbegriffs, als dem Sinnlichen, und dem Gebiet des Freiheitsbegriffs, als dem Übersinnlichen. Die in sich reflektierte Einheit der Vernunft erfordert es demnach, den trennenden Wechsel zwischen dem ersten und dem zweiten »Zugleich« durch ein übergreifendes »Zugleich« zu verbinden. Der Gedankengang der Vernunftkritik kommt also erst dort wirklich ans Ziel, wo das Vernunftinteresse im engeren Sinne zu einem Vernunftinteresse im weiteren Sinne übergeht, das den Menschen als moralische und zugleich als lebendige Person begreifen will. Das spezifische Interesse des theoretischen Verstandes läßt sich deshalb zusammenfassend so beschreiben, daß er die Natur bloß als Mittel begreift bzw. begreifen will (und gerade hierin erweist sich der Verstand selbst als Mittel, nämlich als Mittel der natürlichen Selbsterhaltung, die dem Erkenntnisinteresse des Verstandes unbewußt zugrunde liegt). Die praktische Vernunft will hingegen den Menschen als Zweck begreifen, was sie aber in einem ersten Anlauf nur um den Preis erreicht, daß sie ihn weitgehend getrennt von der Natur betrachtet. Damit ist aber die spezifische Aufgabe der Kritik der Urteilskraft und ihre Stelle im Gesamtzusammenhang der Vernunftkritik gekennzeichnet. Der Grundbegriff der Kritik der Urteilskraft ist nämlich der »transzendentale Begriff einer Zweckmäßigkeit der Natur«, und das spezifische Interesse der (reflektierenden) Urteilskraft besteht somit darin, die Natur nicht länger bloß als Mittel, sondern auch als Zweck zu begreifen. »Dieser transzendentale Begriff einer Zweckmäßigkeit der Natur ist«, wie Kant betont, »weder ein Naturbegriff, noch ein Freiheitsbegriff« (V 184); gerade deshalb ist er aber geeignet, auf die verborgene Einheit der Kantischen Vernunftkritik zu verweisen und den von Kant geforderten »Übergang vom Verstande zur Vernunft« (V 179) möglich zu machen. 146
Daß die Person als »Zweck an sich selbst« den primären Zusammenhang der natürlichen Selbsterhaltung überschreitet, haben in letzter Zeit besonders Emmanuel Lévinas (1992) und Robert Spaemann (1996) betont.
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Zweiter Teil
§ 34. Die »Chiffreschrift« des Naturschönen Die Natur nicht nur als Mittel, sondern auch als Zweck zu begreifen, bedeutet des näheren, einen Reflexionsübergang von der moralischen Selbsterfahrung der Person (als Zweck an sich selbst) zur Naturerfahrung zu finden.147 Wenn die Vernunft bei Kant deshalb daran »interessiert« ist, »daß die Ideen (für die sie im moralischen Gefühle ein unmittelbares Interesse bewirkt) auch objektive Realität haben« (V 300), dann stellt sich diesem Vernunftinteresse unmittelbar die Schwierigkeit in den Weg, daß »immer Anschauungen erfordert« sind, um die »Realität unserer Begriffe darzutun« (V 351). Für die theoretischen Verstandesbegriffe leistet der Schematismus der bestimmenden Urteilskraft die geforderte Vermittlung zur Anschauung. Wird nun darüber hinaus gefordert, »daß die objektive Realität der Vernunftbegriffe, d. i. der Ideen, und zwar zum Behuf des theoretischen Erkenntnisses derselben dargetan werde, so begehrt man etwas Unmögliches, weil ihnen schlechterdings keine Anschauung angemessen gegeben werden kann« (ebd.). Im Zusammenhang der theoretischen, vom Verstand und der bestimmenden Urteilskraft dominierten Erkenntnis ist somit eine »objektive Realität« der Vernunftideen im erfahrbaren Naturzusammenhang undenkbar. Denkbar wird sie nur, wenn es der reflektierenden Urteilskraft in einem erneuten Standpunkt-Wechsel gelingt, das Monopol des schematischen Begriffs von »Realität« und »Natur« zu brechen. Die reflektierende Urteilskraft muß also gegenüber der Natur eine andere Stellung einnehmen als der Verstand und die von ihm »angewiesene« bestimmende Urteilskraft. Im Unterschied zum Schematismus der bestimmenden Urteilskraft bezeichnet Kant die von der reflektierenden Urteilskraft geleistete Veranschaulichung von Begriffen als Symbolisierung. »Schematisch« ist eine »Versinnlichung« von Begriffen, so Kant, wenn »einem Begriffe, den der Verstand faßt, die korrespondierende Anschauung a priori gegeben wird«; »symbolisch« hingegen, wenn »einem Begriffe, den nur die Vernunft denken, und dem keine sinnliche Anschauung angemessen sein kann, eine solche untergelegt wird« (V 351). Dieses »Unterlegen« der Anschauung erfordert aber den indirekten Weg der Reflexion. Die »symbolische« Versinnlichung von Vernunftideen geschieht »nicht vermittelst einer direkten Anschauung, sondern 147
Der Übergang zwischen Natur und Freiheit, der in der Erfahrung des Erhabenen stattfindet, reicht zur Lösung der Aufgabe, die sich die Kritik der Urteilskraft gestellt hat, nicht aus. Denn in der Erfahrung des Erhabenen liegt der Akzent auf dem negativen, überwindenden Verhältnis der Vernunft zur Natur, so daß hier die übermächtige (furchterregende) Natur nur der Anlaß, nicht aber der eigentliche Gegenstand der Erfahrung ist. Die Erfahrung des Erhabenen ist im Grunde keine Naturerfahrung, sondern eine Selbsterfahrung des zugleich lebenden und vernünftigen Menschen, in der er sich als Person entdeckt. Deshalb ist der »Übergang« zwischen Natur und Freiheit in der Erfahrung des Erhabenen eher ein »Übersprung«.
§ 34. Die »Chiffreschrift« des Naturschönen
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nur nach einer Analogie mit derselben, d. i. der Übertragung der Reflexion über einen Gegenstand der Anschauung auf einen ganz andern Begriff, dem vielleicht nie eine Anschauung direkt korrespondieren kann« (V 353). Der gesuchte Übergang von der moralischen Selbsterfahrung der Person zur Naturerfahrung ist also nur denkbar, wenn sich die paradoxe Aufgabe der »Symbolisierung« lösen läßt, für eine Idee, der keine sinnliche Anschauung angemessen sein kann, gleichwohl eine anschauliche Analogie zu finden, die »kein Schema für den Begriff, sondern bloß ein Symbol für die Reflexion enthält« (ebd.). Damit ist die Fragestellung eines Abschnitts der Kritik der Urteilskraft umrissen, der »Vom intellektuellen Interesse am Schönen« handelt. An den Eingang dieses für das Verständnis der dritten Kritik besonders wichtigen Abschnitts stellt Kant die Frage, ob »es für ein Zeichen eines guten moralischen Charakters« gelten kann, »am Schönen überhaupt ein Interesse zu nehmen« (V 298). Kant verneint die Frage, weil »Virtuosen des Geschmacks« sich nicht ebenso durch eine »besondere Anhänglichkeit an sittliche Grundsätze« auszeichnen.148 Die Erfahrung bietet also keinen Anhalt für die, wie Kant sagt, »gutmütige« Behauptung, das »Gefühl für das Schöne« sei mit dem »moralischen Gefühl« verwandt und könne so als Anzeichen für das Vorhandensein des letzteren verstanden werden. Deshalb müssen beide Gefühle als »spezifisch unterschieden« betrachtet werden, so daß die Erfahrungsgehalte des Geschmacksurteils, die sich allgemein auf das Schöne beziehen, den moralischen Ideen keine »objektive Realität« verleihen können (ebd.).149 Die Zurückweisung der genannten Behauptung dient Kant vor allem dazu, einer Verwechslung mit der eigenen These vorzubeugen, da sie auf den ersten Blick ähnlich lautet. Ihr zufolge weist »ein unmittelbares Interesse an der Schönheit der Natur« durchaus eine »innere Affinität« mit dem moralischen Interesse auf (V 298). Die von Kant selbst hervorgehobenen Begriffe zeigen an, worin sich seine These von der anderen Behauptung unterscheidet. Zum einen wird ausdrücklich auf das Naturschöne abgehoben; zum anderen ist jetzt von einem Interesse und nicht länger von einem Gefühl die Rede. Das Ziel des Gedankengangs ist somit, wie bereits der Titel des Abschnitts anzeigt, die Einführung eines besonderen »intellektuellen« Interesses am Naturschönen, das sich vom allgemeinen »Gefühl für das Schöne« wesentlich unterscheiden und genau deshalb einen Rechtsgrund für die gesuchte »innere Affinität« zwischen moralischer Selbsterfahrung und
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Kant argwöhnt sogar, daß sie eher »gewöhnlich, eitel, eigensinnig, und verderblichen Leidenschaften ergeben« sind (ebd.). 149 Alfred Baeumler hat die für Kant relevante Geschichte einer Abgrenzung des reinen Geschmacksurteils von anderen Formen des Urteils ausführlich dargestellt (Baeumler 1981).
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Zweiter Teil
reflektierter Naturerfahrung bieten soll. Der Weg zu diesem Ziel führt jedoch über die nähere Bestimmung der konkreten Erfahrung des Naturschönen. Der Erfahrungsgehalt des Naturschönen wird von Kant anhand der »merkwürdigen« Beobachtung thematisiert, daß, wenn man einen »Liebhaber« des Naturschönen »insgeheim hintergangen, und künstliche Blumen (die man den natürlichen ganz ähnlich verfertigen kann) in die Erde gesteckt, oder künstlich geschnitzte Vögel auf Zweige von Bäumen gesetzt hätte, und er darauf den Betrug entdeckte, das unmittelbare Interesse, was er vorher daran nahm, alsbald verschwinden« würde (V 299). Ebenso ergeht es dem, der meint, dem Gesang einer Nachtigall zu lauschen, der in Wahrheit durch »einen mutwilligen Burschen« bloß täuschend genau nachgeahmt wird: sobald man »inne wird, daß es Betrug sei, so wird niemand es lange aushalten, diesem vorher für so reizend gehaltenen Gesange zuzuhören« (V 302). Es zeigt sich also, so Kant, wie direkt das Interesse, daß »wir hier an Schönheit nehmen«, davon abhängt, »daß es Schönheit der Natur sei; und es verschwindet ganz, sobald man bemerkt, man sei getäuscht, und es sei nur Kunst« (ebd.).150 Kant läßt hier ganz bewußt »Kunst« und »Künstliches« ineinander spielen. Das Naturschöne wird also in erster Linie nicht dem Kunstschönen im engeren Sinne, sondern ganz generell dem durch menschliche Absicht Bewirkten und Hervorgebrachten entgegengesetzt. Er stellt dergestalt die »Enttäuschung« unseres Interesses am Naturschönen ins Zentrum, sobald wir entdecken, daß die vermeintlich erste Natur »nur Kunst«, d. h. die zweite Natur der Künstlichkeit gewesen ist. Auf diese Weise wird überhaupt erst der Boden für die entscheidende Frage gewonnen: Worin ist eigentlich der Vorzug begründet, den die erste vor der zweiten (technisch-praktischen) Natur in den angeführten Erfahrungsbeispielen für unser Interesse besitzt? Denn der Vorzug kann offenkundig nicht einfach ein Vorzug des sinnlich Wahrnehmbaren sein, da der »Gesang« der Nachtigall 150
Kants Ausführungen zur Differenz von Natur- und Kunstschönem atmen offenkundig die Luft des späten 18. Jahrhunderts, in dem es mit moralischer Hochachtung betrachtet wird, »wenn ein Mann, der Geschmack genug hat, um über Produkte der schönen Kunst mit der größten Richtigkeit und Feinheit zu urteilen, das Zimmer gern verläßt, in welchem jene, die Eitelkeit und allenfalls gesellschaftliche Freuden unterhaltenden, Schönheiten anzutreffen sind, und sich zum Schönen der Natur wendet, um hier gleichsam Wollust für seinen Geist in einem Gedankengange zu finden, den er sich nie völlig entwickeln kann« (V 300). Die Grenze der Kantischen Philosophie der Kunst besteht hier offenkundig darin, daß in ihr Kunstwerke nur »die Eitelkeit und allenfalls gesellschaftliche Freuden« unterhalten können. Um so bemerkenswerter ist es dann allerdings, daß Kants Philosophie des Naturschönen in der Ästhetischen Theorie Adornos gleichwohl den Ansatz zu einer Bestimmung der autonomen und modernen Kunst bietet. Denn für Adorno ist es zwar mit der formalen Selbständigkeit autonomer Kunst unvereinbar, daß sie als »Nachahmung der Natur«, nicht aber, daß sie als »Nachahmung des Naturschönen« begriffen wird (Adorno, Ges. Schriften, Bd. 7, S. 111).
§ 34. Die »Chiffreschrift« des Naturschönen
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sich als solcher nicht verändert, nachdem seine »Künstlichkeit« entdeckt wurde. Ganz im Gegenteil zeigt die Erfahrung, so Kant, daß die erste Natur durch die technisch-praktischen Produkte der zweiten Natur »der Form nach sogar übertroffen« werden kann (V 299).151 Warum bringen wir dann aber trotzdem der Schönheit von natürlichen Blumen ein besonderes Interesse entgegen, das wir an einer sinnlich ununterscheidbaren Nachahmung und auch an einer »kunstvollen« Überbietung nicht nehmen würden? Die Antwort kann nur lauten, daß das Interesse letztlich gar nicht – wie das Gefühl – dem sinnlich Wahrnehmbaren als solchem in seiner Beziehung zum Subjekt gilt. Vielmehr richtet sich das von Kant ausdrücklich »intellektuell« genannte Interesse auf eine intellektuelle, d. h. nichtsinnliche Dimension des Naturschönen. Was damit gemeint ist, macht Kant mit seinem zentralen Gedanken deutlich, daß das Naturschöne einer »Chiffreschrift« vergleichbar ist, »wodurch die Natur in ihren schönen Formen figürlich zu uns spricht« (V 301). Diese ebenso riskante wie erhellende These Kants will darauf hinweisen, daß unser Interesse am Naturschönen sich nicht auf die sinnlichen Formen als solche bezieht, sondern dem Umstand gilt, daß sie uns »ansprechen« und deshalb den Eindruck der Beurteilbarkeit oder Deutbarkeit erwecken. Dabei ist es wichtig festzuhalten, daß sich das Interesse wirklich nur auf die Deutbarkeit, also die reine Möglichkeit des Urteils bezieht, und nicht auf ein inhaltlich bestimmtes Urteil. Deshalb spricht Kant nicht einfach von einer »Schrift«, sondern von einer »Chiffreschrift«, für die ja ebenso gilt, daß sie für sinnvoll gehalten wird, auch wenn sie nicht unmittelbar verständlich ist. Worauf bezieht sich dann aber unser Interesse an der Deutbarkeit des Naturschönen, wenn es sich nicht auf die Deutung bezieht, die uns verborgen bleibt? Unserem Interesse genügt bereits die reine Möglichkeit der Deutung des Naturschönen, weil sie ausreicht, um die schönen Formen der Natur für zweckmäßig in dem Sinne zu halten wie es Schriftzeichen zum Zweck der verschlüsselten Mitteilung sind. Denn wir halten Zeichen auch dann für sinnvoll, wenn wir die Schrift nicht lesen können, aber glauben, sie könnte gelesen werden. Interessant wird diese Zweckmäßigkeit des Naturschönen aber nur dadurch, daß sie nicht im technisch-praktischen Zweck-Mittel-Zusammenhang menschlicher Absichten begründet ist, in den die künstlichen Blumen und die Nachahmung der Nachtigall gehören. Deshalb ist es für unser Interesse so entscheidend, daß »die Natur jene Schönheit hervorgebracht hat« (V 299), weil nur so die Regel des
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Selbstverständlich bringen wir dem »Künstlichen« auch ein Interesse entgegen. Es ist aber, und darauf kommt es Kant an, verschieden von dem, das wir am Naturschönen nehmen.
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Zweiter Teil
Verstandes, welche die Natur bloß als Mittel zu menschlichen Zwecken begreift, eine Ausnahme erleidet.152 Die Einsicht, daß das Interesse am Naturschönen im Grunde ein Interesse an einer empirischen Ausnahme von der Verstandesperspektive ist, bietet nun den Rechtsgrund für seine von Kant behauptete Verwandtschaft mit dem moralischen Interesse. Wenn nämlich die praktische Vernunft ihrerseits daran interessiert ist, daß ihre Ideen »auch objektive Realität haben«, dann besteht notwendigerweise auch ein Vernunftinteresse daran, daß, wie Kant sagt, die Natur in dieser Hinsicht »wenigstens eine Spur zeige, oder einen Wink gebe« (V 300). Diese »Spur« kann freilich keine direkte Veranschaulichung der Vernunftideen bedeuten, sondern nur eine indirekt-symbolische Veranschaulichung »vermittelst einer Analogie«. Das Naturschöne negiert nämlich innerhalb der empirischen Welt in vergleichbarer Weise den primären Horizont des technisch-praktischen Verstandes wie es die intelligible Person tut. Die anschaulich erfahrbare »Ausnahme« des Naturschönen ist deshalb zwar keine direkte Veranschaulichung der prinzipiell unanschaulichen Vernunftideen, doch läßt sie sich als Symbol einer inneren Affinität zwischen Freiheit und Natur deuten.
§ 35. Reflexionsstufen Mit der letzten Überlegung läßt sich auch eine Frage klären, die in der Kantischen Vernunftkritik von Anfang an virulent gewesen ist, ohne daß sie in den früheren Kritiken beantwortet wurde. In der Kritik der reinen Vernunft findet sich häufiger der Gedanke, »aus dem Begriffe einer Erscheinung überhaupt« folge »natürlicherweise«, »daß ihr etwas entsprechen müsse, was an sich nicht Erscheinung ist« (KrV A 251, vgl. A 252, B 306). Es bleibt aber bei Kant zunächst unklar, worin genau der Rechtsgrund für ein solches Transzendieren der Erscheinungswelt besteht, da es nicht schon rein logisch im bloßen Begriff der Erscheinung impliziert sein kann.153 Erst in der Kritik der Urteilskraft wird die sich bereits in der Kritik der praktischen Vernunft abzeichnende Einsicht auf den Be152
Das genuin ästhetische Urteil wird daher von Kant auch – im Gegensatz zum »Erkenntnisurteil« – eine »Kontemplation« genannt (V 209). Hatte die Kritik des spekulativen Vernunftgebrauchs dem Verstandesurteil das kontemplative Moment absprechen müssen, weil die bestimmende Urteilskraft eine »praktische« Form der primären Selbsterhaltung ist, so findet das kontemplative Moment nunmehr im reflektierenden Urteil seinen neuen, transzendentalphilosophisch begründeten Ort. 153 Gerold Prauss hat ausführlich gezeigt, warum alle »Versuche, jene Notwendigkeit, die Dinge auch an sich selbst zu betrachten, analytisch aus ihrem Begriff als Erscheinungen selbst herzuleiten, zum Scheitern verurteilt sind« (Prauss 1989a, S. 93).
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griff gebracht, daß dieser Rechtsgrund in dem durch die (praktische) Vernunft eröffneten Zugang zu einer gegenüber der Verstandeswelt »ganz anderen Art« von Selbsterhaltung liegt. Denn nur von ihr aus läßt sich das vom Verstand völlig unbestimmt gelassene Unbedingte, das sich von der erscheinenden Gegenständlichkeit prinzipiell unterscheidet und allein im Naturschönen symbolisch veranschaulicht wird, konkret als praktische und ungegenständliche Wirklichkeit der Freiheit bestimmen. Diese Gedankenbewegung vom Verstand über die Urteilskraft zur Vernunft (im engeren Sinne), die den inneren systematischen Zusammenhang der Transzendentalphilosophie bildet, wird von Kant in der Kritik der Urteilskraft in die prägnante Formulierung gefaßt: »Der Verstand gibt, durch die Möglichkeit seiner Gesetze a priori für die Natur, einen Beweis davon, daß diese von uns nur als Erscheinung erkannt werde, mithin zugleich Anzeige auf ein übersinnliches Substrat derselben; aber läßt dieses gänzlich unbestimmt.« Erst die Urteilskraft, so Kant weiter, »verschafft durch ihr Prinzip a priori der Beurteilung« dem »übersinnlichen Substrat« der Natur »(in uns sowohl als außer uns) Bestimmbarkeit durch das intellektuelle Vermögen. Die Vernunft aber gibt eben demselben durch ihr praktisches Gesetz a priori die Bestimmung; und so macht die Urteilskraft den Übergang vom Gebiete des Naturbegriffs zu dem des Freiheitsbegriffs möglich« (V 196). Auf diese Weise schafft die reflexive Bewegung der Urteilskraft den großen Spannungsbogen der Kantischen Vernunftkritik, der den inneren Widerstreit des lebendigen und zugleich vernünftigen mit dem vernünftigen und zugleich persönlichen Menschen zur intern differenzierten Vernunft vereinigt. Das zentrale Vermögen der menschlichen Vernunft im weiteren Sinne ist demnach das Reflexionsvermögen der Urteilskraft. Auf einer ersten Stufe der transzendentalen Reflexion überwindet die Vernunft die ausschließliche Bindung an die primäre Selbsterhaltung des Lebens, wodurch die Spannungsdifferenz zwischen Natur und Freiheit erzeugt wird. Die Metareflexion der ersten Reflexion eröffnet dann auf einer zweiten Stufe einen neuen Zugang zur Natur, indem der bislang »gänzlich unbestimmt« gebliebene Grund der inneren und äußeren Natur eine deutende Bestimmung durch die Freiheit erfährt, die dem Bestimmten nicht äußerlich ist, weil die Deutung auf die im Naturgrund selbst angelegte Möglichkeit der Freiheit reflektiert. Im Vermögen der Reflexion kommt so die lebendige Anlage des Menschen, die der Freiheit als Naturbasis zu Grunde liegt, zum Bewußtsein ihrer selbst. Daraus ergibt sich aber die Forderung, die symbolische Versinnlichung der Vernunftideen nicht nur als Gegensatz zum Schematismus zu verstehen, da sonst die soeben beschriebene Einheit der in sich differenzierten Reflexionsbewegung von der Natur zur Freiheit undenkbar wäre. Daher muß der »sekundäre« Cha-
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rakter des Symbols noch stärker berücksichtigt werden, der darin zum Ausdruck kommt, daß eine Symbolisierung stets auf einer vorangehenden Schematisierung beruht. Die reflektierende Urteilskraft »verrichtet« nämlich, wie Kant sagt, »ein doppeltes Geschäft«, weil sie »erstlich den Begriff auf den Gegenstand einer sinnlichen Anschauung« bezieht und »dann zweitens die bloße Regel der Reflexion über jene Anschauung auf einen ganz andern Gegenstand [überträgt], von dem der erstere nur das Symbol ist« (V 352).154 Das »erste« Geschäft der reflektierende Urteilskraft ist also kein anderes als das der bestimmenden Urteilskraft, so daß jetzt klar wird, daß die reflektierende Urteilskraft nur deshalb ihr »zweites« Geschäft der Reflexion leisten kann, weil sie – als Urteilskraft – auch zum »ersten« Geschäft des Bestimmens in der Lage ist. Die reflektierende Urteilskraft stellt daher genaugenommen gar kein zweites Vermögen gegenüber der bestimmenden Urteilskraft dar, sondern sie ist dasselbe Vermögen in einer erweiterten, oder besser: in einer reflektierten Form.155 Das wirft aber ein neues Licht auf den großen Spannungsbogen von der Natur über die Vernunft zur Freiheit und läßt die innere Logik dieser von der Kantischen Vernunftkritik beschriebenen Bewegung vollends hervortreten. Denn der »Übergang vom Gebiete des Naturbegriffs zu dem des Freiheitsbegriffs« muß jetzt ebenso als ein Reflexionsprozeß begriffen werden, in dem das primäre und unreflektierte Interesse des Verstandes zum Bewußtsein seiner selbst kommt. Die Vernunft ist deshalb kein zweites Vermögen, sondern der in sich reflektierte Verstand. Und die »Selbsterhaltung von ganz anderer Art« bedeutet keine zweite Selbsterhaltung, sondern die in sich selbst reflektierte Selbsterhaltung der Natur. Der für den systematischen Sinn der Transzendentalphilosophie entscheidende Sachverhalt besteht somit darin, daß die menschliche Vernunft ein Vermögen ist, das eine »Naturanlage« voraussetzt. Diese Vermögensstruktur der menschlichen Vernunft hat zur Folge, daß ihr Möglichkeiten zu Grunde liegen, die sie nicht selbst geschaffen hat, durch die sie sich vielmehr vor die Aufgabe gestellt sieht, das in ihr nur »Angelegte« zu verwirklichen. So ist die transzendentale Vernunft ein über-gehendes Vermögen, weil sie das ihr Vorausgesetzte überwindet; sie ist aber zugleich ein reflektierendes Vermögen, weil sie die in ihrer Naturbasis angelegten Möglichkeiten in bewußte Wirklichkeit verwandelt. Beides gehört streng zusammen. Die spezifische Souveränität der Vernunft beruht demnach darauf, daß sie kein absolutes, schlechthin erstes Vermögen, sondern ein »nachträglich« reflektierendes, d. h. ein menschliches Vermögen ist.156 154 155 156
Vgl. Kaulbach 1990, S. 102 ff. Vgl. Deleuze 1990, S. 124. »Der Reflexionsbegriff betont«, wie Michael Theunissen sagt, »die Nachträglichkeit«,
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Das bedeutet freilich nicht, daß Kant die Idee eines »Absoluten« völlig aufgibt. Denn es gehört zur eigentümlichen »Zwischenstellung« der menschlichen Vernunft in der Transzendentalphilosophie, daß sie sich nicht nur über das rein Empirische erhebt, sondern sich in dieser Bewegung auch auf ein rein Intelligibles bezieht. Kant bestreitet nur, daß es philosophisch sinnvoll ist, die menschliche Vernunft von diesem Absoluten her begreifen zu wollen, da es ausschließlich innerhalb der reflexiven Vernunftbewegung als eines ihrer Momente gedacht werden kann. Wollte man es hingegen aus der Bewegung herauslösen, um von einem »absoluten« Standpunkt aus die menschliche Vernunft beurteilen zu können, so würde man nicht nur das Wesen der Vernunft, sondern auch das des Absoluten verfehlen.157 Denn das Resultat wäre kein absolutes Urteil über die menschliche Vernunft, sondern, wie Kant sagt, ein »Anthropomorphismus« des Absoluten (V 459). Der Gefahr eines solchen »dogmatischen Anthropomorphismus« beugt Kant durch den »symbolischen Anthropomorphismus« seiner Vernunftkritik vor, der allein auf der reflexiven Selbsterkenntnis des Menschen beruht, ohne sie deshalb zu einem Absoluten machen zu wollen (IV 357).158 Die in der Kritik der Urteilskraft gewonnene Einsicht, daß der »Verstandesbegriff« der Natur in der Kritik der reinen Vernunft sowie der Chorismos zwischen Natur und Freiheit in der Kritik der praktischen Vernunft zwar wichtige Stationen, aber keineswegs das Resultat der Kantischen Vernunftkritik bedeuten, macht überhaupt erst verständlich, warum Kant schon im allerersten Satz der Kritik der reinen Vernunft von einer »Natur der Vernunft« sprechen konnte: »Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft« (KrV A VII; vgl. § 7). Ganz entsprechend lautete die systematische Leitfrage der Vernunftkritik in der zweiten Auflage: »Wie ist Metaphysik als
weil er aus Gründen, die im Wesen der Reflexion selbst liegen, keinen »absolut ersten« Anfang bezeichnen kann (Theunissen 1991, S. 24). 157 In diesem Sinne ist der folgende, überaus prononcierte Satz aus der Kritik der reinen Vernunft zu verstehen: »Wir werden, so weit praktische Vernunft uns zu führen das Recht hat, Handlungen nicht darum für verbindlich halten, weil sie Gebote Gottes sind, sondern sie darum als göttliche Gebote ansehen, weil wir dazu innerlich verbindlich sind« (KrV B 847). 158 Die reflektierte Einheit der in sich differenzierten Vernunft zeigt sich also hier nicht zuletzt in einer transzendentalen Symbolik oder Metaphorik des Absoluten, die sich mit guten Gründen zwischen dem dogmatischen Begreifenwollen und dem skeptischen Nichtbegreifenwollen des Absoluten bewegt. Die Überlegungen der vorliegenden Untersuchung haben gezeigt, daß dieses »Zwischen« durchaus keine »halbe« Mittelstellung zwischen den Extremen, sondern die genuin kritische Gegenposition gegenüber einer schlechten Alternative bedeutet.
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Zweiter Teil
Naturanlage möglich? d. i. wie entspringen die Fragen, welche reine Vernunft sich aufwirft«, aus »der Natur der allgemeinen Menschenvernunft?« (KrV B 22). Eine solche »Natur der Vernunft«, die das große Unternehmen der Vernunftkritik in Gang setzt, kann nämlich offenkundig keine »Natur« sein, der vom Verstand die Gesetze vorgeschrieben werden. Vielmehr steht bereits am Beginn der Vernunftkritik die ursprüngliche Einsicht Kants, daß die »reine« Vernunft einen Grund voraussetzt, der sie erst zu dem macht, was sie ist – einen Grund, den Kant mit den Wendungen »Interesse der Vernunft«, »Natur der Vernunft« oder auch »Bedürfnis der Vernunft« umschreibt. Diese Wendungen werden bei Kant aber nur deshalb zur initialen Herausforderung für das philosophische Denken, weil das Vernunftinteresse der Vernunft nicht als »unvernünftig« entgegengesetzt werden kann, sondern seinerseits als vernünftig begriffen werden muß. Dementsprechend kann der lange Gedankengang der Kantischen Vernunftkritik nur als ein allmähliches Bewußtmachen des Vernunftgrundes durch die Vernunft, als reflexive Aufklärung der Vernunft über sich selbst verstanden werden.
§ 36. Was heißt: sich am »Interesse der Vernunft« orientieren? Der zusammengesetzte Ausdruck »Interesse der Vernunft« legt stets das Mißverständnis nahe, ihn als bloßes Kompositum zweier getrennter Momente aufzufassen, so daß eine Hauptaufgabe der Deutung darin besteht, die verborgene Einheit des offenkundig Unterschiedenen darzustellen. Hierfür ist es aber hilfreich, die Einheit, die der in sich gespannte Ausdruck »Interesse der Vernunft« umschreiben soll, in verschiedenen Anläufen auf einen Begriff zu bringen, bei dem nun die Aufgabe der Deutung umgekehrt darin besteht, in der unmittelbar von ihm bezeichneten Einheit die verborgene Differenz aufzuspüren. So wurden in der vorliegenden Untersuchung vor allem die Begriffe »Vermögen«, »Urteil« und »Reflexion« als Zugangsmöglichkeiten zum »Interesse der Vernunft« exponiert. Diese Überlegungen lassen sich am Schluß der Untersuchung in eine Betrachtung des Kantischen Begriffs der Orientierung zusammenfassen. Eingeführt wird der Orientierungsbegriff von Kant in der kleinen, aber wichtigen Schrift Was heißt: sich im Denken orientieren?.159 In ihr setzt sich Kant mit dem naheliegenden Einwand auseinander, daß der Nachweis eines Interessenmomentes der Vernunft ihre autonome Vernünftigkeit in Frage stellen muß. Unter Verwendung des Orientierungsbegriffs lautet derselbe Einwand: die kritische Einsicht, daß die reine Vernunft auf ein »gewisses Leitungsmittel« angewiesen 159
Die nachfolgenden Zitate sind allesamt diesem kurzen Text entnommen (VIII 131–147).
§ 36. Was heißt: sich am »Interesse der Vernunft« orientieren?
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ist, um »sich zu orientieren«, beschwöre die Gefahr herauf, »zum Grundsatze der Schwärmerei und der gänzlichen Entthronung der Vernunft zu dienen«. Denn der von Kant als »Interesse der Vernunft« thematisierte Umstand, daß das Orientierungsvermögen der Vernunft seinerseits der Orientierung bedarf, könnte als Versuch verstanden werden, ihm ein vernunftfremdes Prinzip, d. h. eine »überschwengliche Anschauung unter dem Namen des Glaubens« entgegen- und vorauszusetzen, »worauf Tradition oder Offenbarung, ohne Einstimmung der Vernunft, gepfropft werden kann«. Gegen diesen Einwand soll der von Kant »erweiterte und genauer bestimmte Begriff des Sich-Orientierens« deutlich machen, inwiefern das Vernunftinteresse die Vernunft, die sich an diesem Interesse orientiert, nicht einschränkt, so daß das Vernunftinteresse der Vernunft nicht entgegengesetzt werden kann. Kant gewinnt den völlig neuen Sinn, den er mit dem Orientierungsbegriff verbindet, in enger Anlehnung an den buchstäblichen Sinn des Wortes. Sich orientieren bedeutet zunächst: »aus einer gegebenen Weltgegend (in deren vier wir den Horizont einteilen) die übrigen, namentlich den Aufgang zu finden.« Und jetzt folgt die entscheidende Beobachtung Kants: »Zu diesem Behuf bedarf ich aber durchaus das Gefühl eines Unterschiedes an meinem eigenen Subjekt, nämlich der rechten und linken Hand. Ich nenne es ein Gefühl; weil diese zwei Seiten äußerlich in der Anschauung keinen merklichen Unterschied zeigen«. Also »orientiere ich mich geographisch bei allen objektiven Datis am Himmel doch nur durch einen subjektiven Unterscheidungsgrund«. Die Orientierung im Raum gründet also in einem unverzichtbaren subjektiven Moment (der Differenzierung zwischen rechts und links, die kein objektives »Datum« ist); das bedeutet aber, daß die Begründung der Orientierung im Subjekt kein Defizit bedeuten kann, da eine »absolute«, vom Subjekt losgelöste Orientierung von der Sache her undenkbar ist. Die konstitutive Bedeutung des »subjektiven Unterscheidungsgrundes« für das Phänomen der Orientierung führt Kant anhand eines Gedankenexperiments vor Augen. Man nehme an, so Kant, daß »durch ein Wunder alle Sternbilder zwar übrigens dieselbe Gestalt und eben dieselbe Stellung gegen einander behielten, nur daß die Richtung derselben, die sonst östlich war, jetzt westlich geworden wäre«.160 Mit anderen Worten: der neue Sternenhimmel ist ein genaues Spiegelbild des alten, bei dem zwar die Relationen zwischen den Sternen exakt gleich geblieben sind, ihre Rechts-Links-Ausrichtung jedoch verkehrt worden ist. Der entscheidende Punkt, auf den Kant hinauswill, besteht nun darin, daß »objek160
Überlegungen zur Inkongruenz von »gespiegelten« Gegenständen finden sich erstmals in Kants Aufsatz »Von dem ersten Grunde des Unterschieds der Gegenden im Raume« (1768); vgl. Kaulbach 1960 und 1966, Enskat 1978, Buroker 1981, Jensen 2003.
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Zweiter Teil
tiv«, d. h. ohne Bezug zum Subjekt, nur die einzelnen Relationen zu beschreiben sind, nicht aber die »Ausrichtung« des Ganzen. Deshalb würde ein Astronom, »wenn er bloß auf das was er sieht und nicht zugleich was er fühlt Acht gäbe«, die Differenz zwischen den beiden Sternenhimmeln gar nicht bemerken. Denn erst das subjektive Gefühl macht die Verkehrung ersichtlich, und zwar aus zwei Gründen. Einmal ist das eigene Gefühl für die Differenz zwischen rechts und links der einzige Maßstab, an dem sich die RechtsLinks-Ausrichtung des Sternenhimmels überprüfen läßt. Zum anderen kommt aber das Ganze des objektiven Sternenhimmels überhaupt nur in den Blick, wenn das Subjekt ihm gleichsam gegenüber tritt und ihn als Zusammenhang, der eine bestimmte Ausrichtung hat, wahrzunehmen sucht. Dieser Gesamtzusammenhang bleibt nämlich der Aufmerksamkeit auf die »objektiven Datis« notwendig verborgen, die immer nur einen Teil des Ganzen in Relation zu einem anderen Teil vorstellen kann, nie aber das Ganze selbst, um dessen »Ausrichtung« es geht.161 Kant zögert nicht, seine Reflexionen zur »geographischen« Orientierung auf die Begründung der Vernunft im vernünftigen Interesse zu übertragen. »Sich im Denken überhaupt orientieren heißt also: sich, bei der Unzulänglichkeit der objektiven Prinzipien der Vernunft, im Fürwahrhalten nach einem subjektiven Prinzip derselben bestimmen.« Was unter diesem »subjektiven Prinzip« näher zu verstehen ist, kann nach dem hier verfolgten und nun an sein Ziel gelangten Gedankengang keinem Zweifel unterliegen: es ist »ihr eigenes Interesse«, das Kant nun auch »ein wirkliches Bedürfnis« nennt, »welches der Vernunft an sich selbst anhängt«. Tritt also der Fall ein, daß sich das Denken nicht an »objektiven Prinzipien« ausrichten kann (was Kant zufolge für den gesamten Bereich genuiner Vernunftfragen gilt), so »tritt das Recht des Bedürfnisses der Vernunft ein, als eines subjektiven Grundes, etwas vorauszusetzen und anzunehmen, was sie durch objektive Gründe zu wissen sich nicht anmaßen darf; und folglich sich im Denken […] lediglich durch ihr eigenes Bedürfnis zu orientieren.« Auch hier gilt also, daß die Begründung der Vernunft-Orientierung im Subjekt kein Defizit bedeuten kann, da eine »absolute«, vom Subjekt losgelöste Orientierung bei Vernunftfragen aus prinzipiellen Gründen ausgeschlossen ist. Und erst mit dieser Überlegung ist Kants These wirklich begründet, daß die Vernunft zu ihrer Orientierung kein vernunftfremdes »Leitungsmittel«, sondern nur ihr eigenes Interesse benötigt, weshalb die Vernunftkritik durchaus an der Forderung festhalten kann, »den letzten Probierstein der Zulässigkeit eines Urteils hier, wie allerwärts, nirgend, als allein in der Vernunft zu suchen«. 161
Hier zeigt sich also erneut, daß das Ganze der Erfahrung keine Erfahrung, d. h. kein »objektives Datum« sein kann.
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Daraus ergibt sich am Ende, daß das Wesen der orientierten Vernunft nach zwei Seiten hin verfehlt werden kann. Der dogmatische Vernunftbegriff nimmt, wie Kant sagt, das »Bedürfnis für Einsicht«, d. h. er reduziert das vernünftige Interesse auf eine angeblich uninteressierte Vernunft. Umgekehrt reduziert der skeptische Vernunftbegriff die interessierte Vernunft auf ein vermeintlich unvernünftiges Interesse, d. h. auf ein reines Naturbedürfnis. Beide Vernunftbegriffe kommen aber darin überein, daß sie an der eigentümlichen Zwischenstellung der menschlichen Vernunft – nach der einen oder anderen Seite – vorbei gehen, so daß sie auch das menschliche Grundphänomen der Orientierung nicht angemessen auf den Begriff bringen. Wird aber dergestalt der genuin kritische Vernunftbegriff einer interessierten Vernunft systematisch verfehlt, dann bleibt allein die schlechte Alternative, die menschliche Vernunft entweder dogmatisch zu einer strikt unbedingten Vernunft zu überhöhen (um angeblich ihre Vernünftigkeit zu »retten«) oder sie skeptisch zu einer strikt bedingten Vernunft zu erniedrigen (um angeblich ihre Menschlichkeit zu »retten«). Demgegenüber bildet Kants ursprüngliche Einsicht in das Interesse der Vernunft und ihre Entfaltung in den transzendentalphilosophischen Hauptwerken ein Lehrstück, das auch heute noch dazu anleiten kann, sich nicht bei solch einem im ewigen Streit zwischen Dogmatismus und Skeptizismus zerrissenen Vernunftbegriff zu beruhigen.
DANKSAGUNG
Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2002/2003 von der Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik der Ruhr-Universität Bochum als Habilitationsschrift angenommen. Der damals eingereichte Text wurde für die Drucklegung geringfügig überarbeitet. Ich danke Herrn Prof. Dr. Michael Theunissen für die bei der Konzeption der Arbeit gewährte Anregung und Hilfe sowie Herrn Prof. Dr. Walter Jaeschke für die intensive und freundschaftliche Begleitung bei der Fertigstellung der Arbeit. Ebenso möchte ich mich bei Prof. Dr. Thomas Buchheim, Prof. Dr. Volker Gerhardt und Prof. Dr. Gerold Prauss für ihre wertvollen Hinweise und Denkanstöße bedanken. Die Arbeit wurde durch ein dreijähriges Habilitations-Stipendium der DFG gefördert, für die Drucklegung gewährte die VG Wort einen großzügigen Zuschuß.
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PERSONENVERZEICHNIS
Kursive Seitenzahlen verweisen hier (wie auch in den übrigen Registern) auf Fundstellen in einer Fußnote. Adam, Arnim 154 Adorno, Theodor W. 184 Albrecht, Michael 137 Anacker, Ulrich 109 Ayer, Alfred J. 51 Baeumler, Alfred 183 Bartuschat, Wolfgang 168 Baum, Manfred 51 Baumgarten, Alexander Gottlieb 73, 77, 143 Beck, Lewis White 109, 153 Beiser, Frederick 110 Bittner, Rüdiger 135, 137 Blumenberg, Hans 31, 52, 122, 156 Boethius 142 Brandt, Reinhard 91, 170 Bubner, Rüdiger 137, 142 Buroker, Jill Vance 191 Cassirer, Ernst 2, 24, 168 Cohen, Hermann 18, 19, 20, 22, 23, 24 Conrad, Elfriede 73, 74
Garve, Christian 140 Gerhardt, Volker 1, 30, 77, 112, 130, 132, 150, 156, 163, 167 Gueroult, Martial 83 Guillermit, Louis 115 Günther, Gotthard 114 Habermas, Jürgen 32 Hare, Richard M. 94 Heidegger, Martin 24, 101, 167 Heidemann, Ingeborg 109 Heimsoeth, Heinz 24, 83, 145 Helvétius, Claude Adrien 151 Henrich, Dieter 2, 3, 24, 134, 165 Herz, Markus 4, 180 Hinske, Norbert 7, 73, 74 Hirschman, Albert O. 150 Hobbes, Thomas 151, 154 Hume, David 151 Husserl, Edmund 24, 58, 110 Hutcheson, Francis 151 Ilting, Karl-Heinz 94
Deleuze, Gilles 188 Dempf, Alois 25 Descartes, René 143 Dierse, Ulrich 142 Effertz, Dirk 25 Engfer, Hans-Jürgen 73, 77 Enskat, Rainer 191 Fischer, Kuno 19, 110, 171 Forschner, Maximilian 134 Frege, Gottlob 110 Fuchs, Hans-Jürgen 150 Gadamer, Hans-Georg 168
Jensen, Bernhard 191 Kästner, Abraham Gotthelf 52 Kaulbach, Friedrich 25, 30, 31, 77, 156, 167, 178, 188, 191 Kitcher, Patricia 110 Knittermeyer, Hinrich 45 Knoeppfler, Nikolaus 7 Köhnke, Klaus Christian 18, 19, 23 König, Peter 25, 135 Krüger, Gerhard 67 Lange, Friedrich Albert 19 La Rochefoucauld, François 151
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Personenverzeichnis
Leibniz, Gottfried Wilhelm 73, 77, 110 Lévinas, Emmanuel 181 Lichtenberg, Georg Christoph 164 Liebmann, Otto 19 Locke, John 110, 151 Lorenzen, Max-Otto 25, 43 Lorenzen, Paul 94 Löw, Reinhard 162 Marquard, Odo 3, 19, 133, 134, 158, 159, 179 Meier, Georg Friedrich 73, 74, 77 Model, Anselm 25 Newton, Isaak 19, 29 Nietzsche, Friedrich 155, 156, 159, 164 Pascher, Manfred 1, 34 Picht, Georg 172 Pinder, Tillmann 74, 115 Platon 35, 38 Pozzo, Riccardo 74 Prauss, Gerold 30, 50, 51, 106, 107, 114, 116, 122, 123, 124, 126, 180, 186 Pries, Christine 176
Reik, Friedrich Theodor 41 Reinhold, Karl Leonhard 110 Riedel, Manfred 122, 124 Rosenzweig, Franz 24 Rousseau, Jean Jacques 151 Schiller, Friedrich 168 Schmidinger, Heinrich M. 1 Schnädelbach, Herbert 5, 18 Schulz, Gudrun 51 Schulz, Walter 109, 110 Schwarz, Balduin 115 Simon, Josef 52, 109, 156, 158 Spaemann, Robert 163, 180, 181 Strawson, Peter F. 109, 110 Theunissen, Michael 188 f. Thurnherr, Urs 137 Trendelenburg, Friedrich Adolf 19 Wenzel, Uwe Justus 134, 137, 164 Wieland, Wolfgang 118 Willaschek, Marcus 180 Wittgenstein, Ludwig 24, 56, 57, 125 Wundt, Max 24, 83
BEGRIFFSVERZEICHNIS
Abhängigkeit 66–68, 122, 151 Absicht 33, 114, 147 f., 153, 158, 161, 174 f., 184 absolut, Absolutes 65, 72, 75, 77, 97 f., 101, 111, 122–125, 130, 133, 135 f., 138–140, 142, 189, 191 f. Abweichung 135, 160 Achtung 113, 149 f., 165, 180, 184 Affinität 183, 186 affiziert 122, 138 Akt 116, 119 f., 122, 124 Aktivität 101, 105, 113, 130 Allgemeingültigkeit 14, 54, 178 Alltagssprache 4 Ambivalenz 148 Analogie 20, 29, 183, 185 Anerkennung 154, 180 Anfang, Anfangen 128–130, 135 f., 138 f., 140, 142, 188 f. Anonymität 164 f., 178 f., 179 Anschauung 13–15, 30, 60 f., 68, 102–106 f., 115 f., 117, 118 f., 121, 125, 174, 182 f., 188, 191 Anstrengung 17, 59, 98 Anthropologie 90, 110 f., 151 Anthropomorphismus 189 Antinomie 133 f., 140–142, 159, 165 Antwort 38, 105 Apperzeption 106, 120, 165 Apriori 5, 7, 8, 12 f., 44, 60, 68, 72, 83 f., 108, 119 f., 155, 182, 187 Arbeit 160 Assoziation 117 Ästhetik 74, 167 f. Aufklärung 154, 190 Ausnahme 136, 186 Autonomie 134, 139 Autorität 113 bedingt 9 f., 42, 62, 111, 126, 128, 140, 147 f., 153
Bedingung 11 f., 16, 56 f., 103, 117, 119, 143, 148 f., 152 Bedürfnis 34–38, 41 f., 53, 66 f., 69, 151, 157 f., 164, 176, 192 f. Bedürftigkeit 122, 158 Begehrungsvermögen 66 f., 68, 137, 171 Begriff 13–15, 21, 34, 44, 59–61, 68, 70, 72, 102–104, 106 f., 117, 119, 122, 124 f., 170, 172, 183, 188 Begriffsgeschichte 150 f. Bewußtsein 40, 49, 102, 124, 150, 173, 187 f. Beziehung 13, 57, 61 f., 105, 107 Bezugnahme 60 f., 65, 67 f., 172 Bildungsgeschichte 161 böse 69, 147 f. Buchstabieren 35 f., 52, 121 Charakter 147, 183 –, empirischer 131–133 –, intelligibler 132 f. Chiffreschrift 185 Deduktion 21, 119 Denken 14, 53, 55 f., 58–61, 63, 75 f., 105–107, 109, 116, 119–121, 123, 131, 164, 192 Denkungsart 142, 144 determiniert 122, 129, 134 Deuten 122, 185, 187 Dialektik 40, 144–146, 146 –, transzendentale 35, 127 f., 133, 145, 152, 154 Dichotomie 133 Differenz 71, 78, 82–84, 86, 95, 121, 123 f., 127, 129, 131–133, 135, 137, 144, 152, 159, 165, 169, 177 Differenzierung 30, 36, 95, 97 diktatorisch 113, 153 Ding an sich selbst 10, 18, 96, 178 f., 186 dogmatisch 110, 140, 142, 144, 189, 193
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Begriffsverzeichnis
Drittes 89 f., 95 f., 167 f. Dualismus 81 f., 127, 130–132, 136, 152, 168 Einheit 30, 35 f., 52, 65, 77, 79, 81–84, 86–88, 97, 106, 119, 121, 123, 132, 145, 151, 153, 157–159, 161, 165, 167, 173 Elementarbegriff 41, 42, 93 f. Empfindung 66 f., 68, 106 Empirie, empirisch 7, 13, 14, 41 f., 44, 49 f., 62, 68, 72, 80, 83, 106 f., 118, 131–133, 142, 160, 167, 169 f., 186, 189 Empirismus 142, 144 Endlichkeit 61, 66, 68 f., 98, 101, 109, 113 f., 158 Endzweck 43 f., 47, 82 f. Erfahrung 7 f., 9, 10–15, 17, 19, 21 f., 25–27, 35 f., 41 f., 44, 50, 52, 62, 64, 68, 95, 108, 110, 119, 121, 130, 138, 144, 146, 157 Erfahrungsbegriff 13 f., 19, 22 Erfahrungsgegenstand 48, 50, 95 Erfolg 36 f., 45, 47, 52, 114, 122 f. Erfolgsabhängigkeit 122 Erhabenes 176, 182 Erhebung 157 Erkennen 59 f., 86, 105, 116, 120 f., 125, 131 Erkenntnis 5, 12 f., 16, 19, 23, 35, 38, 48, 50 f., 53, 55, 55, 63, 66, 68, 72, 83, 93, 101, 103 f., 115, 120–122, 144, 152, 159 –, menschliche 59–61, 67–69, 75, 76 f., 97, 108 Erkenntnisart, -weise 7–9, 16, 23, 26, 28 f., 31, 46, 73, 75, 80, 114, 178 Erkenntnisbedürfnis 35 Erkenntnishorizont 158 Erkenntnisinteresse 68 f., 144, 146 Erkenntniskraft 34–36, 41, 50, 53, 117 Erkenntnisleitung 107, 115, 119 Erkenntnistätigkeit 13 f., 120 Erkenntnisunabhängigkeit 51–53 Erkenntnisvermögen 7, 98, 100 f., 106, 108, 110 f., 113–115, 119, 126, 157, 170 f.
–, oberes 106, 170–173, 177 –, unteres 106, 170–173, 175 Ermöglichungsgrund 115, 118 Erscheinung 9 f., 11, 18, 35 f., 65, 96, 121 f., 128, 130, 142, 144, 157–159, 175, 178, 180, 186 f. Erwachen 123 Erweiterung 43, 59–61, 63, 161, 177 Ethik 165 Existenz 59 f., 113 Faktizität 109, 132 Faktum 19 f., 22–24, 79 Falschheit 21, 61, 116–119 Fehlbarkeit 112–114 Fehler 113, 162 Finitisieren 158 Form 46, 53, 55–59, 67, 107, 114, 121, 125, 129, 185 Formalismus 155 Frage 37–40, 43, 47 f., 54, 61 f., 72, 78, 88–90, 97 f., 189 Freiheit 33–35, 40, 78, 81 f., 84, 96, 113, 122–124, 126–131, 133–139, 142, 144, 146 f., 154, 160 f., 164 f., 167–169, 173, 175, 182, 186–188 Freiheitsbegriff 80 f., 124, 127–130, 133–135, 138 f., 146 f., 168 f., 170, 181, 187 f. Furcht 150, 176, 182 Fürwahrhalten 116, 118, 192 Gang, natürlicher 33, 39 f., 96 Ganzes 62, 64, 78 f., 128, 168, 192 – der Erfahrung 16 f., 62, 65 f., 72 f., 75 – einer Wirklichkeit 67 f., 74 Gattung 77–79 Gebiet 15, 26, 43–46, 65, 73, 168 f., 172, 175, 181 Gefühl 83, 150, 171, 174–176, 183, 185, 191 f. Gegebenes 13, 16, 49, 67 f., 116, 118–121, 125, 192 Gegenstand 7, 8, 10 f., 14 f., 17, 30 f., 35–37, 39, 41, 47, 49–52, 55, 59, 62 f., 65, 72, 80, 107, 115 f., 119 f., 122 f., 130, 132, 180, 188
Begriffsverzeichnis Gegenständlichkeit 123, 187 Gegenwart 130 Geist 112 Gelingen 105 f., 112, 116, 124, 174 f. Gemüt 100, 147, 152, 171 Gerichtshof 154 f. Geschichte 19 Geschmack 183, 184 Geschmacksurteil 183 Gesetz 53 f., 56, 84, 128 f., 131, 136 f., 139, 144 f., 147, 149 f., 154, 157, 160, 162, 187 Gesetzgebung 80, 82, 113, 134 f., 137, 149, 153 Gesetzmäßigkeit 139 Gesichtspunkt 26 f. Gewalt 137, 160, 162 Gleichgültigkeit 158 Glückseligkeit 147 Gott 38, 62, 68 f., 98, 130 f., 151, 189 Grenze 9 f., 43, 43, 44, 64, 72, 75, 77, 79, 97–99, 122 f., 139 Grundsatz 13, 41, 42, 68, 83 f., 120, 144–146, 148, 183 Grundstruktur, theoretisch-praktische 69, 86 –, transzendentale 68, 105 Gültigkeit, objektive 13 f., 16, 56, 110, 117, 119 f. –, regulative 19, 26, 49 –, subjektive 117 gut 69, 147–149, 161, 165 Handlung 30 f., 66–69, 86, 105, 130–132, 135, 145, 160, 163 f. Heteronomie 131 Hirngespinst 21, 35, 37, 47 f., 50, 53 Horizont 57, 66–68, 71–77, 89, 132, 143, 179, 186 –, absoluter 76 f., 97 –, individueller 76, 97 Ich 97, 164 f., 179 Idealismus 12 Idee 6 f., 9, 11 f., 15–17, 21 f., 26 f., 31, 35, 45, 64 f., 72, 75, 81, 86, 95,
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128–131, 133, 146, 150, 176, 182 f., 185, 187 –, spekulative 26 f. Illusion 146 Immanenz 59 f., 142, 144 Imperativ, kategorischer 178 Individualität 76 Inhalt 46, 53, 55, 56, 107, 125 Instinkt 157, 159, 161 Intellektualismus 53–60, 63, 125 intellektuell 106, 110, 130, 142, 183, 185, 187 intelligibel 54, 126, 131–133, 144, 147, 160, 162 f., 167, 169, 186, 189 Intention, Intentionalität 105, 114, 117 f., 122 f., 132, 172 Interesse 1, 27, 32, 34, 38, 47, 50, 53, 63, 66 f., 69, 74 f., 78, 84, 89, 96, 144, 150–153, 155, 157, 168, 175, 177 f., 180–186, 192 Irrtum 56, 112, 114 f., 115, 116–119, 125, 163 Kategorie 6, 7, 11 f., 15 f., 65, 72, 80, 120, 174, 178 Kausalgesetz 128, 136 Kausalität 128–130, 134, 135, 137 – aus Freiheit 129, 135, 140 Kausalzusammenhang 129, 142 Kindesalter 110 Kluft 45, 139, 161, 169, 177, 181 Kongruieren 35, 37, 39, 50, 95 Können 97 f., 101, 104 f., 112, 114 Konsistenz 57 Konstellation 5 f., 13, 22, 35, 35 f., 64, 70, 74, 115, 149, 160 f. konstitutiv 16 f., 27, 86, 144, 146 Kontemplation 154, 186 Kontinuität 59 Kontradiktion 56 f. Kontrastbegriff 5, 8, 93 Korrespondenztheorie 52 kosmologisch 128–130, 133–135, 137–139, 140, 142 Kraft 124, 136, 160 f. Kritik, kritisch 15, 27 f., 29, 40, 58 f., 108, 110, 113
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Begriffsverzeichnis
Kunst, Kunstwerk 86, 167 f., 184 f. Kunstschönes 184 Leben 156, 160–163, 174, 176, 181, 187 Lebensproblem 24 Leere, Leerstelle 29, 99, 132, 180 Leistung 59, 61, 98, 100, 102, 112, 115 f., 120 f., 123 f., 163 Lesbarkeit 122, 185 Lesen 35 f., 36, 121, 122, 185 Logik 53–60, 63, 73 f., 102, 106, 106 f., 107, 110 f., 120, 125 –, angewandte 107 –, reine 107 –, transzendentale 107 Lust und Unlust 83, 85, 171, 174 f. Macht 176 Mannigfaltiges 61, 119, 143, 157 f., 180 Marionettenspiel 160 Material, anschauliches 54 f., 119 f., 122 Mathematik 20 f., 93 f., 106 f. Maxime 136 f., 142 f., 143, 144–146 – der Vernunft 143, 145 Mechanismus 129 f., 160 Mensch, menschlich 14, 72–75, 77, 82, 89 f., 97–99, 101, 105, 108 f., 111 f., 118, 130–133, 135 f., 138 f., 151, 157 f., 160–162, 165, 176 f., 181, 182 Menschheit 112, 161, 176, 178 Metapher, Metaphorik 31, 77, 122, 154, 189 Metaphysik 4, 6, 11, 18, 20–22, 22, 23–25, 28, 39 f., 40, 41–43, 44, 46 f., 47, 50, 53, 60 f., 70, 79 f., 90, 99, 102, 109, 110 f., 140, 154, 189 – der Natur 79 – der Sitten 79, 83 Metaphysikkritik 22, 22 Metareflexion 127, 133–135, 139, 160, 167, 169, 187 Methode 5, 20, 23, 35, 144–146 Mißerfolg 114 Mißlingen 105 f., 112, 116, 124 Mittel 21 f., 82, 163 f., 178, 180–182, 186 Möglichkeit 61 f.
–, formale 56 f. –, reale 56 f., 75 –, transzendentale 61 Moral, Moralität 82–84, 85, 86, 88, 90, 139, 147, 150, 160, 177, 180–183 Moralphilosophie 80, 82 f. Natur 39, 78, 81 f., 95 f., 123 f., 127–131, 133–136, 144, 157 f., 160–163, 167–169, 173, 174, 175–178, 181 f., 182, 183, 184–189 – der Vernunft 38 f., 41, 64, 88, 140, 144, 189 –, zweite 184 f. Naturalismus 110 Naturanlage 39 f., 40 Naturbasis 40, 157 f., 162 f., 172 f., 174, 177, 187 f. Naturbedürfnis 66, 193 Naturbegriff 21, 80, 127, 168 f., 181, 187 f. Naturerkenntnis 95 Naturgesetz 82, 106, 129, 131, 134 f., 139 Naturkausalität 129, 135, 140 Naturmacht 176 Naturschönes 174, 183 f., 184, 185–187 Naturursache 128 f. Naturwesen 131, 151, 176 Naturwissenschaft 19–21, 106 f. Naturzustand 39, 154 Negation 44, 162, 186 Neigung 66 f., 85, 139, 150, 160, 165 Neukantianismus 18 f., 22 f., 23, 24 Nötigung 138, 155 f., 158 Notwendigkeit 8, 149, 154, 156, 178 Obersatz 142 f. Objekt 10, 49, 51, 54, 80, 99, 106 f., 116, 120, 152, 179 –, korrespondierendes 13 Objektivismus 49–55, 58 f., 63, 116, 143 Objektivität 49, 60, 63, 105, 117 f. Öffentlichkeit 113 Ohnmacht 176 Ontologie 17 Organisches 163, 167
Begriffsverzeichnis Orientierung 37, 50, 93, 122, 132, 137, 158, 190–193 Passivität 105 f., 113, 115 Person 148, 160, 162–165, 176, 178, 180–183, 186 Persönlichkeit 161 f., 180 Perspektivismus 77 Pflicht 85, 150, 177, 180 Philosophie 19 f., 23, 25, 33 f., 38, 44, 52, 80, 82, 93 f., 106 f., 111, 141, 168, 170 Plural 68, 108, 143 Politik 112 f. Praxis 67–71, 74, 80, 83–85, 88, 93 f., 97, 114, 123, 126, 137–139, 142–145, 147–149, 153, 154, 161, 164 f., 167, 170 f., 175, 178, 180, 187 Primat 152–154, 159, 167, 177 Prinzip 16 f., 43, 62, 66 f., 68, 72, 80, 120, 130 f., 137, 141–146, 147, 149, 152 Privat-Horizont 76, 108 Probierstein 56, 192 Problem für die Vernunft 65 f., 72 Psychologie 106 f., 109–111 Psychologismus 110 Rationalität 173 Rätsel 81, 86, 174 Raum 75 f., 76, 77, 130, 140, 143, 191 Realität 35, 37–40, 47, 58–60, 65, 146 f. –, objektive 16, 21, 86, 182 f., 186 Rechtfertigung 40, 49 f., 54, 76 Rechtsfriede 155 Rechts-Links-Ausrichtung 191 Rechtsverhältnis 151, 153 Rechtszustand 39, 154 Reflexion 63, 107 f., 110, 113, 115, 121, 128, 133 f., 137, 151, 165, 168, 174–176, 182 f., 187 f., 188 f., 190 Regel 56, 58, 106 f., 120, 122, 124–126, 134–137, 156–159, 161, 163, 170, 175, 180, 188 Regellosigkeit 134, 139 regulativ 16–19, 26 f., 69, 139, 144–146 rein 7, 12, 14, 16, 20, 43, 53 f., 57–60, 63, 65, 72, 75, 83, 109, 131
209
Religion 90, 113 Restriktion 17 f. Resultat 14, 52, 119, 189 Revolution 4, 6, 25, 28 f., 77, 91, 93, 140 Rezeptivität 13 f., 100, 102, 106, 110, 115, 117 f., 120 f., 123, 131 Richtung 57, 191 f. Salto mortale 44 Schein 12, 15, 35, 40, 44, 143, 145, 168 Schematismus 174, 182, 187 f. Schlaf der Vernunft 141 Schlummer, dogmatischer 140 Schlußstein 147, 168 Schönes 174, 183 f., 184, 185 Schrift 185 Schwärmerei 191 Sein 93 f., 94, 96 f., 99, 116, 162 Seinserkenntnis 93 f., 154 Seinsmodus 116 Selbstanfang 128 Selbstbehauptung 156, 159, 176 f. Selbstbewußtsein 61, 68, 124 Selbstdifferenzierung 95 f., 154 Selbsterfahrung 132, 138, 182 f. Selbsterhaltung 155–159, 163, 165, 167, 176–181, 186, 187 f. Selbsterkenntnis 39, 41, 154, 189 Selbstzweck 150, 180 f. Sinn 13, 57, 96, 132 Sinnenwelt 131, 147, 157, 168 Sinnenwesen 131, 165, 176 Sinnliches, Sinnlichkeit 13 f., 42–44, 61, 102, 104, 106, 110, 115, 117, 118–120, 122, 126, 138, 147, 149, 151, 157, 169, 188 Sittengesetz 82, 134, 150, 160 Sittenwelt 168 Sittlichkeit 165, 183 Skepsis 50, 53, 110, 140, 193 Sollen 93 f., 94, 96 f., 146, 147, 148 f. Sollenserkenntnis 93 f. Sorge 33 f., 156, 176 Souveränität 135 f., 188 Spannung 127, 132, 135, 160, 162, 165, 169 Spannungsbogen 132, 163, 165, 169, 187
210
Begriffsverzeichnis
Spekulation 94–97, 114, 133, 141, 143 f., 153 Spiel 168 Spontaneität 14, 67 f., 101–106, 109 f., 116–124, 126, 128–131, 133, 164, 172 –, abhängige 69, 75 –, absolute 133, 136 Sprung 43–45, 61, 139, 161, 177 Spur 186 Standpunkt 76–78, 97, 111, 131–133, 143, 179 f., 189 Standpunkt-Wechsel 133, 175 f., 179–182 Streit 40, 108, 110 f., 145 f. Subjekt 74, 99, 107 f., 120, 133, 150, 163–165, 176, 178, 185, 191 f. Subjektivität 49, 59, 137 Subsumieren 119, 121 f., 124–126, 173 Suchen 61, 105 Symbol 31, 182 f., 186–189 Synthesis 9, 15 f., 35 f., 52, 59, 119 f., 128, 157 f., 165 System 6, 17, 22, 26, 82, 85–87, 106 f., 147 Tätigkeit 36 f., 52, 100, 102, 104 f., 112, 116, 118 Tätigkeitscharakter 37, 59, 63, 102 Täuschung 123 f., 145 f. Tautologie 56 f., 155 f. Terminologie 34, 34, 35, 70, 72, 74, 137, 145, 148 Theorie 67, 80, 93–96, 99, 123, 126, 141 f., 144–146, 149, 154, 164, 169, 175, 178, 180–182 Tiefendimension 122, 126, 145 Tier 157, 159, 161, 163, 177 Totalität 2, 72, 75, 128 Tradition 4, 25, 70, 73, 191 Transformation 139 transzendent 51, 146 transzendental 7, 10, 14 f., 60–62, 107, 119 Transzendentalphilosophie 7, 9, 11, 14–16, 20, 22 f., 34–36, 38, 40, 43–45, 47 f., 58, 60, 62 f., 83–85, 120
–, 17 f., 20, 26 f., 29, 41, 46, 48, 64, 66, 79, 94, 97, 99, 120, 122, 133, 151 –, Gesamtzusammenhang der 1–3, 5, 9, 17, 30, 64, 66, 69, 84, 86, 93, 96, 97, 141, 177, 181 Transzendieren 45, 59 f., 131, 161, 177, 186 Traum 123. Triebfeder 165 Tugend 148 Übereinstimmung 51, 55, 57 f. Übergang, Überschritt 43–45, 45, 46 f., 60 f., 65, 96, 105, 111, 116, 127, 139, 159, 161 f., 166, 168 f., 172, 181, 187 Unabhängigkeit 138 f., 176 Unbedingtes 9–11, 15–18, 22, 26, 31, 42 f., 46, 62, 72, 75, 96, 98, 111, 126, 128, 140, 146–150, 187 Unbedingtnotwendiges 12 Unendlichkeit 98, 138 Unsicherheit 105, 137 Unvernunft 134 Unverstand 38, 62 Unwahrheit 65, 68, 75, 156 Ursache 128–131 Ursprung 6–8, 80, 85, 107, 119 Urteil 14, 16, 49, 57, 115–121, 123–126, 155 f., 158, 170, 186, 189 f., 192 –, analytisch 59 f. –, synthetisch 59 f. Urteilen 121 f., 124 f., 176 Urteilskraft 110 f., 124–126, 127, 136, 147, 152, 166 f., 169–171, 173, 187 f. –, bestimmende 173–175, 182, 186 –, reflektierende 173–176, 181 f., 188 Veranschaulichung 182, 185 Verbindung, Vereinigung 14 f., 89 f., 95, 100, 102 f., 106 f., 115–121, 123, 125, 153, 166 Verfehlen 114 Vergangenheit 129 f. Vergegenständlichung 116, 119 Verkehrung 192 Verknüpfung 110 f., 131
Begriffsverzeichnis Vermittlung 20 f., 60, 86, 152, 165, 168 Vermittlungsleistung 104, 107 Vermögen 14, 16, 39, 98–101, 104, 106, 108 f., 111–113, 120, 122–126, 128 f., 133, 135 f., 138, 151 f., 155, 157 f., 160–162, 165, 168, 171, 174–176, 178, 187–190 –, transzendentales 114 Vernunft 5–12, 15–17, 19–21 f., 22, 25–27, 30, 33, 35–39, 41 f., 44–48, 50, 60, 64 f., 69, 72, 78, 80–82, 88, 94 f., 97, 99 f., 110 f., 113, 126, 130 f., 133, 137, 140, 147, 150, 152, 157, 159– 165, 169–172, 175–177, 181 f., 186– 193 –, menschliche 35, 38–40 –, praktische 66, 69, 83, 84–86, 150, 152 f., 165, 167, 177, 180 f., 186 f. –, spekulative 28, 84 f., 152 f. –, theoretische 16, 165, 169 f. Vernunftantinomie 133, 135, 139, 141 f., 144, 168 Vernunftbedürfnis 37, 66 Vernunftfrage 88–90, 97 f., 115, 147, 149, 192 Vernunftgebrauch 30, 46, 47, 59, 62–64, 79 f., 96, 99, 102, 111, 152 – praktischer 26–30, 32, 46, 69, 78 f., 81, 83–87, 91, 96 f., 121, 124, 126–128, 131, 139, 141 f., 146, 148 f., 152, 155, 159, 169 – spekulativer 27–30, 32, 46, 69, 78 f., 83 f., 86, 93 f., 96 f., 101, 106, 108, 112, 114, 116, 120 f., 123 f., 126–128, 139, 141–143, 146, 152, 155, 159, 169 Vernunftinteresse 1, 27 f., 32, 33–35, 40, 41–44, 46–48, 50, 53, 59, 62–64, 66, 78, 88 f., 111, 114, 127, 141, 143–146, 150, 159, 177 f., 181 f., 190–193 Vernunftübergang 62 Vernunftwesen 149, 151, 164 Versinnlichung 182, 187 Verstand 5–12, 15–17, 19 f., 22, 26, 36 f., 39, 41 f., 44, 46, 48, 52, 61, 61, 65, 68, 72, 80, 95, 102, 105–107, 110, 117, 119 f., 122, 124 f., 144, 147, 152,
211
157–159, 169–171, 174–176, 178, 180–182, 186–188 Verstandeshandlung 119 Verstandeswesen 130 f. Verwandlung 118 f., 121 Virtuose 183 Vorfinden 109 Vorstellung 13 f., 50, 65, 72, 75 f., 100, 103, 110, 117, 119 f., 162–164, 172 Vorstellungskraft 119 Vulnerabilität 163 Wachbewußtsein 123 Wahrheit 12, 15, 21, 49–51, 51, 53, 55, 57, 60, 65, 68, 75, 105, 114–119, 124 f., 149, 156 –, transzendentale 62 f., 65 f., 68, 75 Wahrheitsanspruch 125 f. Wahrheitsdefinition 51 Wahrheitsfähigkeit 125 Wahrheitsfrage 61 f. Wahrheitsintention 114, 116 f., 149 Wahrheitskriterium 51–56, 125 Wahrheitswert 56 Wahrnehmung 14, 106, 116, 119, 121, 174 Welt 57 f., 122, 128, 130 f., 140, 144, 148, 158, 169 Wende, kopernikanische 91 –, transzendentale 7, 8, 35, 48, 49, 99, 120 Werkzeug 156–159, 176, 178 Wert 148 f., 157, 160 Widerstreit 110, 133, 140–142, 144– 146, 151 f., 154 f., 159, 165, 168, 169, 187 Wille 66 f., 68, 69, 137, 147 f., 150–152, 165 –, guter 148 Willkür 137 f. Wirklichkeit 31, 57, 60–63, 67 f., 76, 78, 81, 123, 138, 155, 168, 179, 187 Wirklichkeitserschließung 60–62, 74–76, 79, 146 Wirklichkeitszusammenhang 62 Wirkung 128–130 Wissen 73, 88 f., 97–99, 147
212
Begriffsverzeichnis
Wissenschaft 4, 19–25, 29, 41, 42, 106, 106 f., 156 –, Krisis der 24 Wollen 137 f. Würde 149, 160 Zeit 128–130, 138 f., 140 Zeit, vergangene 129 Ziel 37, 112, 165 Zinsen 150 Zirkel 99, 108 Zufall, zufällig 66 f., 107, 151 Zurechnung 161–163
Zurüstung 41–44 Zwang 134 Zweck 21 f., 25, 27, 30, 47, 68, 82, 139, 150, 152, 155 f., 159, 163 f., 178, 180–182, 186 Zweckmäßigkeit 181, 185 Zweideutigkeit 39–41, 69, 121, 126 f., 159 Zwischensein 37 f., 43, 47, 61, 65, 98, 150, 168, 189 Zwischenstellung 101 f., 108, 111, 136, 151, 161 f., 175, 189, 193
STELLENVERZEICHNIS
Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren II 60 . . . . . . . . . . . . . .
124
Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen II 202 . . . . . . . . . . . . .
112
De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis II 391 . . . . . . . . . . . . .
2 f.
Kritik der reinen Vernunft A VII . . . . . . . . . . . . . A XI . . . . . . . . . . . . . A XI Anm. . . . . . . . . . A XI f. . . . . . . . . . . . . A 14 . . . . . . . . . . . . . A 97 . . . . . . . . . . . . . A 126 . . . . . . . . . . . . A 126 f. . . . . . . . . . . . A 250 . . . . . . . . . . . . A 251 . . . . . . . . . . . . A 252 . . . . . . . . . . . . A 253 . . . . . . . . . . . . A 395 f. . . . . . . . . . . .
38 f., 189 39 113 154 85 121 158 157 f. 180 180, 186 186 180 15
B XV f. . . . . . . . . . . . B XVI . . . . . . . . . . . . B XX . . . . . . . . . . . . . B XXI . . . . . . . . . . . . B XXI Anm. . . . . . . . B XXI f. . . . . . . . . . . . B XXII . . . . . . . . . . . . B XXVI Anm. . . . . . . B XXVII . . . . . . . . . . B XXXI . . . . . . . . . . . B XXXV . . . . . . . . . . B 11 . . . . . . . . . . . . . . B 22 . . . . . . . . . . . . . . B 25 . . . . . . . . . . . . . .
20 122 9, 62 28 29 28 4 56 10 f. 40 110 59 189 f. 7
B 28 . . . . . . . . . . . . . . B 28 f. . . . . . . . . . . . . B 29 . . . . . . . . . . . . . . B 69 . . . . . . . . . . . . . . B 74 . . . . . . . . . . . . . . B 75 . . . . . . . . . . . . . . B 76 . . . . . . . . . . . . . . B 76 f. . . . . . . . . . . . . B 77 . . . . . . . . . . . . . . B 78 f. . . . . . . . . . . . . B 79 . . . . . . . . . . . . . . B 80 . . . . . . . . . . . . . . B 82 . . . . . . . . . . . . . . B 83 . . . . . . . . . . . . . . B 83 f. . . . . . . . . . . . . B 84 . . . . . . . . . . . . . . B 124 f. . . . . . . . . . . . B 129 . . . . . . . . . . . . . B 134 Anm. . . . . . . . . B 135 . . . . . . . . . . . . . B 136 . . . . . . . . . . . . . B 142 . . . . . . . . . . . . . B 169 . . . . . . . . . . . . . B 171 . . . . . . . . . . . . . B 171 f. . . . . . . . . . . . B 185 . . . . . . . . . . . . . B 193 f. . . . . . . . . . . . B 194 . . . . . . . . . . . . . B 195 . . . . . . . . . . . . . B 294 . . . . . . . . . . . . . B 294 f. . . . . . . . . . . . B 298 . . . . . . . . . . . . . B 298 f. . . . . . . . . . . . B 303 . . . . . . . . . . . . . B 304 . . . . . . . . . . . . . B 306 . . . . . . . . . . . . . B 327 . . . . . . . . . . . . . B 350 . . . . . . . . . . . . . B 351 . . . . . . . . . . . . . B 353 . . . . . . . . . . . . . B 354 . . . . . . . . . . . . .
83 85, 171 83, 84 11 13 f., 103 60, 103 f., 120 14 104 104, 107 107 106 107 51 55 55 55 f. 50 119 f. 120 61, 104 120 117 170 124 125 62 59 60 60 15 15 61 13 17 30 186 110 115 117 145 146
214 B 370 f. . . . . . . . . . . . B 382 . . . . . . . . . . . . . B 383 . . . . . . . . . . . . . B 390 . . . . . . . . . . . . . B 404 . . . . . . . . . . . . . B 445 Anm. . . . . . . . . B 447 f. . . . . . . . . . . . B 474 . . . . . . . . . . . . . B 475 . . . . . . . . . . . . . B 478 . . . . . . . . . . . . . B 490 ff. . . . . . . . . . . B 493 . . . . . . . . . . . . . B 493 f. . . . . . . . . . . . B 494 . . . . . . . . . . . . . B 496 . . . . . . . . . . . . . B 560 . . . . . . . . . . . . . B 561 . . . . . . . . . . . . . B 562 . . . . . . . . . . . . . B 567 . . . . . . . . . . . . . B 592 . . . . . . . . . . . . . B 593 . . . . . . . . . . . . . B 612 . . . . . . . . . . . . . B 621 . . . . . . . . . . . . . B 661 . . . . . . . . . . . . . B 662 f. . . . . . . . . . . . B 663 . . . . . . . . . . . . . B 671 . . . . . . . . . . . . . B 682 . . . . . . . . . . . . . B 673 . . . . . . . . . . . . . B 687 f. . . . . . . . . . . . B 694 . . . . . . . . . . . . . B 699 . . . . . . . . . . . . . B 717 . . . . . . . . . . . . . B 729 . . . . . . . . . . . . . B 755 ff. . . . . . . . . . . B 766 . . . . . . . . . . . . . B 766 f. . . . . . . . . . . . B 772 . . . . . . . . . . . . . B 780 . . . . . . . . . . . . . B 787 f. . . . . . . . . . . . B 789 . . . . . . . . . . . . . B 823 . . . . . . . . . . . . . B 824 . . . . . . . . . . . . . B 825 . . . . . . . . . . . . . B 828 . . . . . . . . . . . . . B 829 . . . . . . . . . . . . . B 829 mit Anm. . . . . .
Stellenverzeichnis 35 17 17, 159 9 164 9 128 133 134 129 141 142 142 143 f. 144 129 128, 129 138 128 9 11 40 11 f. 93, 95 94 f. 95 127 159 17 77 144 17 17 17 93 f. 100 113 33 154 72 110 84 27, 84, 159 64 137 126 83
B 830 . . . . . . . . . . . . . B 832 . . . . . . . . . . . . . B 832 f. . . . . . . . . . . . B 833 . . . . . . . . . . . . . B 840 . . . . . . . . . . . . . B 847 . . . . . . . . . . . . . B 853 . . . . . . . . . . . . . B 861 . . . . . . . . . . . . . B 862 . . . . . . . . . . . . . B 863 . . . . . . . . . . . . . B 868 . . . . . . . . . . . . . B 869 . . . . . . . . . . . . . B 881 ff. . . . . . . . . . . B 882 . . . . . . . . . . . . . B 884 . . . . . . . . . . . . .
138, 161 26 f., 95 88 88 145 189 84 129 f. 4, 87 170 82, 134 79 58 54 28, 48
Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können IV 274 . . . . . . . . . . . . IV 290 . . . . . . . . . . . . IV 293 . . . . . . . . . . . . IV 294 . . . . . . . . . . . . IV 297 . . . . . . . . . . . . IV 310 . . . . . . . . . . . . IV 318 . . . . . . . . . . . . IV 327 . . . . . . . . . . . . IV 328 . . . . . . . . . . . . IV 328 f. . . . . . . . . . . IV 338 . . . . . . . . . . . . IV 339 f. . . . . . . . . . . IV 340 . . . . . . . . . . . . IV 341 Anm. . . . . . . . IV 344 Anm. . . . . . . . IV 357 . . . . . . . . . . . . IV 362 . . . . . . . . . . . . IV 365 . . . . . . . . . . . . IV 373 Anm. . . . . . . . IV 374 . . . . . . . . . . . . IV 374 f. . . . . . . . . . .
23, 79 122 7, 100 129 119 14, 14 157 21 7 f., 16, 22, 65 6 140 140 140 141 130 f. 189 39 f. 40 14 f. 12, 23 12
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten IV 388 . . . . . . . . . . . . IV 391 . . . . . . . . . . . . IV 393 . . . . . . . . . . . . IV 393 f. . . . . . . . . . . IV 394 . . . . . . . . . . . .
79 30, 81, 97, 167 147 f. 148 148
215
Stellenverzeichnis IV 400 Anm. . . . . . . . IV 401 Anm. . . . . . . . IV 412 . . . . . . . . . . . . IV 413 Anm. . . . . . . . IV 425 . . . . . . . . . . . . IV 428 . . . . . . . . . . . . IV 429 . . . . . . . . . . . . IV 432 . . . . . . . . . . . . IV 436 . . . . . . . . . . . . IV 441 . . . . . . . . . . . . IV 452 . . . . . . . . . . . . IV 456 . . . . . . . . . . . . IV 459 . . . . . . . . . . . . IV 459 Anm. . . . . . . .
137 150 69 66 ff., 151 111 164 178 135 149 34, 150 131 133 151 153
Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft IV 564 f. . . . . . . . . . .
99
Kritik der praktischen Vernunft V 3 f. . . . . . . . . . . . . . V5 .............. V7 .............. V 16 . . . . . . . . . . . . . V 61 . . . . . . . . . . . . . V 87 . . . . . . . . . . . . . V 96 . . . . . . . . . . . . . V 101 . . . . . . . . . . . . V 105 f. . . . . . . . . . . . V 120 . . . . . . . . . . . . V 121 . . . . . . . . . . . . V 126 . . . . . . . . . . . . V 142 Anm. . . . . . . . . V 147 . . . . . . . . . . . .
147 86 46 85 157 178, 180 129 124 126, 147 62 f., 152 152 f. 161 66 139, 160
Erstfassung der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft H7 .............. H 10 . . . . . . . . . . . . . H 18 . . . . . . . . . . . . .
170 171 174
V 176 . . . . . . . . . . . . V 176 f. . . . . . . . . . . . V 179 . . . . . . . . . . . . V 179 ff. . . . . . . . . . . V 184 . . . . . . . . . . . . V 187 . . . . . . . . . . . . V 193 . . . . . . . . . . . . V 196 . . . . . . . . . . . . V 204 . . . . . . . . . . . . V 209 . . . . . . . . . . . . V 261 . . . . . . . . . . . . V 261 f. . . . . . . . . . . . V 262 . . . . . . . . . . . . V 269 . . . . . . . . . . . . V 298 . . . . . . . . . . . . V 299 . . . . . . . . . . . . V 300 . . . . . . . . . . . . V 301 . . . . . . . . . . . . V 302 . . . . . . . . . . . . V 351 . . . . . . . . . . . . V 352 . . . . . . . . . . . . V 353 . . . . . . . . . . . . V 401 . . . . . . . . . . . . V 455 . . . . . . . . . . . . V 459 . . . . . . . . . . . . V 477 . . . . . . . . . . . .
168 f. 175 170, 181 173 181 174 158 187 174 186 156, 176 176 176 175 f. 183 184 f. 182, 184, 186 185 184 182 188 183 16, 100 149 189 37
Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft VI 26 Anm. . . . . . . . . VI 96 . . . . . . . . . . . . .
165 154
Die Metaphysik der Sitten VI 211 VI 221 VI 223 VI 226 VI 419 VI 421
............ ............ ............ ............ ............ ............
162 146 163 137 177 177
Der Streit der Fakultäten Kritik der Urteilskraft V 169 . . . . . . . . . . . . V 171 . . . . . . . . . . . . V 171 ff. . . . . . . . . . . V 172 . . . . . . . . . . . . V 175 . . . . . . . . . . . .
174 80 169 f. 149 170
VII 27 . . . . . . . . . . . . VII 32 . . . . . . . . . . . .
118 33
Anthropologie in pragmatischer Absicht VII 140 . . . . . . . . . . . VII 141 . . . . . . . . . . .
100 106
216
Stellenverzeichnis
Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht VIII 18 . . . . . . . . . . . .
161
Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte VIII 112 . . . . . . . . . . .
161
Was heißt: sich im Denken orientieren? VIII 131 ff. . . . . . . . . VIII 145 . . . . . . . . . . . VIII 147 Anm. . . . . . .
190 ff. 134 156, 176
Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis VIII 304 . . . . . . . . . . .
112 f.
Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie VIII 394 . . . . . . . . . . .
44
Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie VIII 416 . . . . . . . . . . .
100
Logik IX 11 . . . . . . . . . . . . . IX 25 . . . . . . . . . . . . . IX 36 . . . . . . . . . . . . . IX 40 f. . . . . . . . . . . .
IX 41 . . . . . . . . . . . . . IX 50 . . . . . . . . . . . . . IX 53 . . . . . . . . . . . . . IX 86 . . . . . . . . . . . . . IX 139 . . . . . . . . . . . .
76 f. 51, 55 115, 116 70 134
Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolff’s Zeiten in Deutschland gemacht hat? XX 259 f. . . . . . . . . . XX 272 f. . . . . . . . . . XX 273 . . . . . . . . . . . XX 276 . . . . . . . . . . . XX 278 . . . . . . . . . . . XX 316 . . . . . . . . . . . XX 320 . . . . . . . . . . . XX 326 . . . . . . . . . . . XX 330 . . . . . . . . . . .
46 f. 43 44 120 60 f. 41, 42, 46 141 9 42
Reflexionen Nr. 2143 (XV, 1, 251) Nr. 4292 (XVII 498) Nr. 4679 (XVII 664) Nr. 5642 (XVIII, 281) Nr. 7178 (XIX 265)
51 99 121 51 136
Opus postumum 120 90 102 74, 89
XXI 116 . . . . . . . . . . XXI 141 . . . . . . . . . . XXI 641 . . . . . . . . . .
45 38, 45 45, 45