Vernunft und Freiheit: Zur praktischen Philosophie von Julian Nida-Rümelin 9783110215007, 9783110214994

The analysis of the causal efficacy of reasons and their non-reducibility to deterministic causes is a central concern o

225 100 2MB

German Pages 435 [436] Year 2012

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Table of contents :
Einleitung
Vortrag
Vernunft und Freiheit. Textgrundlage für Vortrag und Kolloquium
Freiheit und praktische Vernunft
Persönliche Projekte als diachrone Orientierungsprinzipien
Der Kern der Willensfreiheit
Intentionalität und Kontrolle
Für eine Kohärenz normativer Überzeugungen ohne Fundierung in Konventionen
Gründe
Gründe – bei Julian Nida-Rümelin
Freiheit und Selbstbewusstsein im Raum der Gründe
Was geschieht eigentlich im Raum der Gründe?
Humanismus und Naturalismus
Humanismus als Naturalismus. Zur Kritik an Julian Nida-Rümelins Entgegensetzung von Natur und Freiheit
Humanistischer Individualismus, Freiheit und Menschenwürde
Neuro-Philosophie ? – Kritische Anmerkungen aus neurowissenschaftlicher Perspektive
Erwiderungen
Erwiderungen
Erwiderung auf Monika Betzler
Erwiderung auf Wolfgang Spohn
Erwiderung auf Eva-Maria Engelen
Erwiderung auf Dietmar von der Pfordten
Erwiderung auf Stefan Gosepath
Erwiderung auf Dieter Sturma
Erwiderung auf Lutz Wingert
Erwiderung auf Volker Gerhardt
Erwiderung auf Matthias Kettner
Erwiderung auf Christian Hoppe und Christian Elger
Nachtrag zur Naturalismusthematik
Anhang
Über menschliche Freiheit
Freiheit und Kausalität
Beiträgerinnen und Beiträger
Personenregister
Sachregister
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Vernunft und Freiheit: Zur praktischen Philosophie von Julian Nida-Rümelin
 9783110215007, 9783110214994

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Vernunft und Freiheit

HUMANPROJEKT Interdisziplinäre Anthropologie Im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften

herausgegeben von

Detlev Ganten, Volker Gerhardt, Jan-Christoph Heilinger und Julian Nida-Rümelin

De Gruyter

Vernunft und Freiheit Zur praktischen Philosophie von Julian Nida-Rümelin Herausgegeben von

Dieter Sturma unter redaktioneller Mitarbeit von Alexandra Spaeth, Lisa Tambornino und Jörg Löschke

De Gruyter

Diese Publikation erscheint mit Unterstützung der Sparkasse Essen.

ISBN 978-3-11-021499-4 e-ISBN 978-3-11-021500-7 ISSN 1868-8144 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalogue record for this book is available from the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Einbandgestaltung: Martin Zech, Bremen Druck: Hubert & Co. GmbH und Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Dieter Sturma Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vortrag Julian Nida-Rmelin Vernunft und Freiheit. Textgrundlage für Vortrag und Kolloquium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Freiheit und praktische Vernunft Monika Betzler Persönliche Projekte als diachrone Orientierungsprinzipien . . .

39

Wolfgang Spohn Der Kern der Willensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

Eva-Maria Engelen Intentionalität und Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

Dietmar von der Pfordten Für eine Kohärenz normativer Überzeugungen ohne Fundierung in Konventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

111

Gründe Stefan Gosepath Gründe – bei Julian Nida-Rümelin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

143

Dieter Sturma Freiheit und Selbstbewusstsein im Raum der Gründe . . . . . . . .

157

VI

Inhalt

Lutz Wingert Was geschieht eigentlich im Raum der Gründe? . . . . . . . . . . .

179

Humanismus und Naturalismus Volker Gerhardt Humanismus als Naturalismus. Zur Kritik an Julian Nida-Rümelins Entgegensetzung von Natur und Freiheit . . . .

201

Matthias Kettner Humanistischer Individualismus, Freiheit und Menschenwürde

227

Christian Hoppe & Christian E. Elger Neuro-Philosophie? – Kritische Anmerkungen aus neurowissenschaftlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

259

Erwiderungen Julian Nida-Rmelin Erwiderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erwiderung auf Monika Betzler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erwiderung auf Wolfgang Spohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erwiderung auf Eva-Maria Engelen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erwiderung auf Dietmar von der Pfordten . . . . . . . . . . . . . Erwiderung auf Stefan Gosepath . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erwiderung auf Dieter Sturma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erwiderung auf Lutz Wingert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erwiderung auf Volker Gerhardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erwiderung auf Matthias Kettner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erwiderung auf Christian Hoppe und Christian Elger . . . . .

287 289 297 305 309 317 325 335 341 347 351

Julian Nida-Rmelin Nachtrag zur Naturalismusthematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

359

Inhalt

VII

Anhang Julian Nida-Rmelin Über menschliche Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

371

Julian Nida-Rmelin Freiheit und Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

391

Beiträgerinnen und Beiträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

419

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

421

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung Dieter Sturma

Julian Nida-Rümelin über Vernunft und Freiheit Die grundsätzliche These, dass Gründe nicht in deterministische Ursachen zu überführen sind, kennzeichnet den freiheitstheoretischen Ansatz von Julian Nida-Rümelin. In ontologischer Hinsicht geht er von der naturalistischen Unterbestimmtheit unserer sozialen Praxis aus. Dabei bewegt er sich systematisch in der Nähe des kantianischen Kompatibilismus: Er hält sowohl an der lückenlosen Kausalerklärung aller physischen Ereignisse als auch an der kausalen Wirksamkeit der jeweils im Spiel befindlichen Gründe fest. Nida-Rümelin spricht in diesem Zusammenhang selbst von einer hybriden Position. Mit ihr verbinden sich drei grundsätzliche Thesen: 1. Jede Handlung ist ein raum-zeitlicher Vorgang. 2. Der Übergang von Wünschen und Überzeugungen in Handlungen ist kausal bestimmt. 3. Das Verhältnis zwischen Intentionen und Handlungen lässt sich nicht nach Maßgabe naturwissenschaftlicher Nomologien erfassen. Die hybride Position beschränkt das Mentale nicht auf eine bloß epistemologische Funktion. Vielmehr verhindere die Komplexität der Welt die Reduktion des Mentalen auf das Physische. Wer Gründe für kausal relevant hält, müsse entsprechend akzeptieren, dass „die komplexeren, anspruchsvolleren Gründe nicht algorithmisch sind“ (Nida-Rümelin, in diesem Band, 330). Es gebe zwar Korrelationen zwischen mentalen und physiologischen Vorgängen. Aber aufgrund der naturalistischen Unterbestimmtheit von Gründen sei es nicht möglich, eine physikalistische Geschlossenheitsthese zu unterstellen. Die hybride Position wirkt sich folgenreich auf die Bestimmung des Verhältnisses von Geistes- und Naturwissenschaften aus. Im Unterschied zu vielen neueren Ansätzen, die – unter welchen Primatvorgaben auch immer – eine Angleichung beider Disziplinen anstreben, unterstellt die hybride Position eine strikte Differenz zwischen geisteswissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Erklärungen. Während Gründe explikativ auf Normativität, Objektivität und Nicht-Algorithmizität abzielten, blieben die Naturwissenschaften in ihren Beschreibungen und Erklä-

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Dieter Sturma

rungen prinzipiell den verschiedenen Spielarten mechanistischer Modelle verpflichtet. Die Differenz zwischen Geistes- und Naturwissenschaften begründet für Nida-Rümelin auch den Unterschied zwischen Humanismus und Naturalismus. Nida-Rümelin hebt hervor, dass sein Nicht-Reduktionismus nicht im Sinne einer dual aspect theory verstanden werden dürfe. Er widerspricht ausdrücklich der Annahme einer Zwei-Aspekt-Konzeption von Gründen und Ursachen beziehungsweise Erlebnissen und Ereignissen – wie sie in diesem Band etwa von Spohn und Sturma vertreten wird. Er geht davon aus, dass man Ereignisse mit den methodischen Mitteln der Physik erklären, in Raum und Zeit sich vollziehende Handlungen aber nicht prognostizieren könne. Es gebe keine prinzipiellen Lücken bei der Erklärung physischer Ereignisse. Die Welt der Physik sei aber – anders als von eliminativistischer Seite unterstellt werde – kausal nicht geschlossen. Freiheit bedeutet für Nida-Rümelin Deliberation nach Gründen. Er interpretiert diesen Sachverhalt nicht im engeren diskursethischen, sondern im realisitischen Sinne: Das Ergebnis beziehungsweise die praktische Umsetzung der Deliberation stehe bei ihrem Beginn noch nicht fest. Freiheit könne dementsprechend auch nicht empirisch widerlegt werden, wie das etwa in einigen neurophilosophischen Ansätzen versucht wird. Gründe verfügen ihm zufolge über kausale Wirksamkeit. Sie seien überdies offen für Differenzierungen in gute und schlechte Gründe. Im Unterschied zur Hauptströmung der analytischen Metaethik, für die eine anti-realistische Einstellung – sei es aus emotivistischer oder expressivistischer Sicht – typisch ist, hält Nida-Rümelin auch für die Belange der praktischen Philosophie an einer realistischen Interpretation unserer moralischen Verständigungen und Evaluationen fest. Unsere lebensweltliche Sprachpraxis sei sowohl deskriptiv als auch normativ „von einem robusten Realismus geprägt“ (Nida-Rümelin, in diesem Band, 318). Die Grundbegriffe der praktischen Philosophie Nida-Rümelins sind Vernunft, Gründe, strukturelle Rationalität, Lebensform und lebensweltliche Begründungspraxis. Sie operiert mit einer Konzeption von Rationalität, die sich an den Bestimmungen von Normativität, Kohärenz und der Teilnehmerperspektive orientiert. Entsprechend weist Nida-Rümelin eine eng gefasste Version des Naturalismus zurück. Das geschieht nicht zuletzt auch deshalb, weil sie sich mit humanistischen Annahmen nicht vereinbaren ließe. Vielmehr sei von unterschiedlichen Beschreibungsebenen und Erklärungstypen auszugehen, die nicht ineinander übersetzt werden könnten.

Einleitung

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Einwände und Erwiderungen Die Diskussionen und Einwände1 organisieren sich um die rechtfertigungsfähige Bestimmung von Vernunft, Freiheit und Gründen sowie um die angemessene Konzeption von Humanismus und Naturalismus. Breiten Raum nimmt die Auseinandersetzung mit Nida-Rümelins humanistischer und anti-naturalistischer Position ein. Freiheit und praktische Vernunft. Der Abschnitt Freiheit und praktische Vernunft enthält Beiträge zur Rolle von persönlichen Projekten, zum Problem der Willensfreiheit, zum Verhältnis von Intentionalität und Handlungen sowie Überlegungen zum kohärenztheoretischen Ansatz. Monika Betzler setzt sich mit Nida-Rümelins These auseinander, dass Handlungsgründe für den rationalen Umgang mit der eigenen Lebensführung kennzeichnend seien. Mehr im Sinne der Ergänzung macht sie auf die praktische Bedeutsamkeit von persönlichen Projekten aufmerksam. Ihr zufolge sind persönliche Projekte, mit denen sich spezifische motivationale und affektive Einstellungen verbinden, eine eigenständige Quelle praktischer Gründe, die im Leben von Personen Orientierungsfunktionen über die Zeit hinweg erfüllen. Ihre praktische Bedeutung sei darin zu sehen, dass sie normativ und nicht-instrumentell seien sowie identitätskonstituierende Funktionen erfüllten. Bei der Frage nach der Freiheit des menschlichen Willens stimmt Wolfgang Spohn mit Nida-Rümelin in der Zurückweisung eliminativistischer Ansätze überein. Er bezieht dabei aber einen anders verfassten erkenntnistheoretischen und ontologischen Ausgangspunkt. Spohn spricht sich für eine von Nida-Rümelin ausdrücklich abgelehnte ZweiAspekt-Konzeption von jeweils nicht eliminierbarer Subjekt- und Beobachterperspektive aus. Er sieht den Vorteil seines erkenntnistheoretischen Ansatzes darin, dass er unterschiedliche ontologische Optionen zulässt. Eva-Maria Engelen nähert sich der Freiheitsproblematik mit der Fragestellung, welche Formen der Intentionalität mit Handlungen einhergehen. Sie setzt sich kritisch mit mechanistischen Beschreibungen auseinander und arbeitet den Unterschied zwischen bloßer Reaktion und absichtsvollem Handeln heraus. Ihre Darlegung des internen Zusammenhangs von Intentionalität, Kontrolle und Handlung kann als Er1

Anlass und Bezug der Einwände ist Nida-Rümelins Vortrag Vernunft und Freiheit (Nida-Rümelin VF, in diesem Band).

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Dieter Sturma

gänzung von Nida-Rümelins Konzeption der praktischen Vernunft verstanden werden. Nida-Rümelins These von der notwendigen normativen Kohärenz normativer Urteile steht im Mittelpunkt von Dietmar von der Pfordtens metaethischer Rekonstruktion und Kritik. Er sieht in Nida-Rümelins begründungstheoretischer Inanspruchnahme des Begriffs der Lebenswelt ein konventionalistisches Bestimmungsstück. Grnde. Der Abschnitt Grnde thematisiert systematische Fragestellungen der Rationalitätstheorie, die Rolle des Selbstbewusstseins im Raum der Gründe sowie eine Rekonstruktion des systematischen Aufbaus des Raums der Gründe. Stefan Gosepath sieht eine Vielzahl von Gemeinsamkeiten mit Nida-Rümelins Theorie der Rationalität. Er wendet allerdings ein, dass mit seinem Ansatz Handlungen zu rechtfertigen, aber nicht alle Handlungen zu erklären seien, was sich etwa beim Umgang mit dem Problem der Willensschwäche zeige. Es sei deshalb nicht davon auszugehen, dass ein Modell für die komplexen Strukturen von Handlungsgründen insgesamt einstehen könnte. Der Dissens zwischen Gosepath und Nida-Rümelin besteht in der Deutung des Verhältnisses von Gründen und Handlungsmotivationen. In seiner Entgegnung stellt Nida-Rümelin heraus, dass man Gründe und Motive nicht losgelöst voneinander betrachten dürfe, anderenfalls müsste Eigeninteresse als vorherrschendes Handlungsmotiv betrachtet werden. Der Beitrag von Dieter Sturma stellt vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Übereinstimmung mit dem freiheitstheoretischen Ansatz Nida-Rümelins drei Unterschiede bei der Gewichtung von Argumentationsstücken heraus. Sie betreffen die Rolle der Selbstreferenz im Raum der Gründe, das Humanismus- und das Naturalismusverständnis. Er unterstellt dabei die Konzeption eines integrativen Naturalismus, der die formale Struktur einer dual aspect theory aufweist, die von Nida-Rümelin auch in der Erwiderung noch einmal ausdrücklich kritisiert wird. Der Raum der Gründe spielt Lutz Wingert zufolge eine entscheidende Rolle bei der Formulierung von Normen für die wissenschaftliche Untersuchung der humanen Lebensform. Seine Rekonstruktion des epistemologischen und normativen Stellenwerts von Gründen zeigt Grenzen der Naturalisierung auf. Gründe setzten Vorkommnisse zu Wahrheitswerten in Beziehung. Diese seien nicht nur durch ihre Faktizität, sondern vor allem durch gebotene und gestattete Reaktionen von Personen gekennzeichnet. Gründe könnten insofern auch nicht auf bloße Dispositionen zurückgeführt werden. Nida-Rümelin teilt die naturalis-

Einleitung

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muskritischen Überlegungen, deutet das Verhältnis von Ursachen und Gründen aber in einem realistischeren Sinne. Humanismus und Naturalismus. Nida-Rümelin geht davon aus, dass der ethische Naturalismus ethisch neutral sei und auf anthropologischen Voraussetzungen beruhe, die der theoretische Humanismus herausarbeite. Das Verhältnis von Naturalismus und Humanismus ist der Ausgangspunkt von Volker Gerhardts Beitrag. Im Unterschied zu Nida-Rümelin geht er von einer grundsätzlichen Vereinbarkeit beider Bestimmungen aus, was nicht zuletzt auch andere semantische Zuordnungen zur Folge hat. Es sei eine verbreitete reduktionistische Verengung des Naturalismus, die den Gegensatz zum Humanismus erzeuge. Für die Belange der Reduktionismuskritik stimmt er Nida-Rümelin zu. Gerade vor dem Hintergrund von Nida-Rümelins Freiheitstheorie ergebe sich aber die Möglichkeit, eine umfassendere Ausdeutung des Naturalismus mit einem humanistischen Selbstverständnis zu vereinbaren. Aufgrund des mechanistischen Paradigmas der Naturwissenschaften fehlt nach Nida-Rümelin der Ansatz für eine derartige Vereinbarkeit. Die Rolle des Begriffs der Menschenwürde für das Humanismuskonzept steht im Mittelpunkt des Beitrags von Matthias Kettner. Sein Ansatz wird von einer diskurstheoretischen Auslegung ethischer Dignität beherrscht. Begründungstheoretische Verfahren sollten auf systematische Grundlegungen verzichten und den normativen Gehalt von Menschenwürde auf wenig aufwendige universalistische Aufforderungen beschränken, die aus der Perspektive der Betroffenen zu konkretisieren seien. Nida-Rümelin wendet gegen diesen Ansatz ein, dass die moralische Dimension der humanen Lebensform nicht auf den Status der Diskursteilnehmer beschränkt bleiben dürfe. Die Annahmen des in den öffentlichen Diskursen sehr präsenten eliminativen Naturalismusverständnisses werden in dem Beitrag von Christian Elger und Christian Hoppe aus neurowissenschaftlicher Sicht einer kritischen Überprüfung unterzogen. Sie stellen heraus, dass die kognitiven Neurowissenschaften – anders als naturalistische Eliminationsszenarien nahelegen – keineswegs in einem Monismus neuraler Mechanismen begründet seien. Vielmehr seien sie methodisch durch die Dualität von Beobachtungsebenen einerseits sowie durch eine korrespondierende Dualität der experimentellen Zugänge andererseits gekennzeichnet. Nida-Rümelin stimmt der Kritik am eliminativen Naturalismus zu, wendet sich aber gegen die von Elger und Hoppe vertretene dualistische Konzeption.

Vortrag

Vernunft und Freiheit Julian Nida-Rmelin Textgrundlage für Vortrag und Kolloquium Diese Einladung als Scientist in Residence möchte ich in Gestalt des Abendvortrags am 14. Juni 2007 und des Kolloquiums am Tag darauf nutzen, um meine philosophische Position in der Freiheitsdebatte so klar, aber auch so kompakt wie es mir möglich ist, zu verdeutlichen. Da ich überzeugt bin, dass menschliche Freiheit angemessen nur über die Rolle von Gründen geklärt werden kann, gibt es einen unlösbaren Zusammenhang zwischen Rationalitätstheorie und Freiheitskonzeption. Der erste Teil meines Vortrags wird daher die Frage „Was ist Vernunft?“ zu klären versuchen. Dabei werden wir uns nicht auf die praktische Dimension beschränken können. Theoretische und praktische Vernunft, die Rationalität des Handelns und des Urteilens sind unauflöslich miteinander verbunden. In einem zweiten Teil ist dann zu klären, was Freiheit mit Vernunft zu tun hat. Und schließlich möchte ich im dritten Teil Überlegungen zur metaphysischen Dimension des Verhältnisses von Vernunft und Freiheit präsentieren. Dieser Text kann die detaillierteren Ausführungen in Strukturelle Rationalitt (Nida-Rümelin 2001) und ber menschliche Freiheit (NidaRümelin 2005)1 natürlich nicht ersetzen, aber ich hoffe, dass er dazu beiträgt, das Gesamtbild der Argumentation deutlicher zu machen.

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Der letzte Teil der kleinen Trilogie ist unterdessen erschienen (Nida-Rümelin 2011).

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Julian Nida-Rümelin

1. Was ist Vernunft? 1.1 Insbesondere in der kantischen Tradition des philosophischen Denkens ist die Unterscheidung zwischen Rationalitt und Vernunft üblich und setzt sich bis in die Gegenwart fort. So war John Rawls ursprünglich darauf bedacht, die Theorie der Gerechtigkeit als einen Zweig der rationalen Entscheidungstheorie zu präsentieren – und in der Tat sind es die rationalen Entscheidungen eigeninteressierter und wechselseitig desinteressierter Individuen unter dem sogenannten Schleier des Nichtwissens, die die fairness der Prinzipien und der auf diesen Prinzipien beruhenden institutionellen Grundstrukturen sichern – um aber dann doch rationality von reason zu unterscheiden und die Theorie in ihrer Endfassung als Konzeption öffentlichen Vernunftgebrauchs (public reasoning) zu präsentieren. Mir scheint die Unterscheidung zwischen Rationalität und Vernunft wenig sinnvoll zu sein. Damit sind bestimmte Formulierungen terminologisch unzulässig, etwa: „Dies ist zwar rational, aber unvernünftig“. „Rational“ meint in Formulierungen dieser Art in der Regel „im eigenen Interesse“ und dann wäre es in der Tat eine offene Frage, ob es immer vernünftig ist, im eigenen Interesse zu handeln. Aber dieses Argument der offenen Frage lässt sich auch hinsichtlich der Rationalität stellen: „Dies mag zwar in deinem eigenen Interesse sein, aber ist es auch rational?“ ist nicht trivialerweise unsinnig. Rationalität mit Eigeninteresse zu identifizieren oder es ausschließlich über Eigeninteresse zu charakterisieren wäre eine begründungsbedürftige inhaltliche Stellungnahme zur Theorie praktischer Rationalität. Rationalitätsaussagen sind normativ. Das Eigeninteresse betreffende Feststellungen sind deskriptiv. Rationalitätsbehauptungen können daher nicht dasselbe bedeuten wie das Eigeninteresse betreffende Behauptungen. Wer behauptet, eine Handlung sei genau dann rational, wenn sie das Eigeninteresse des Akteurs optimiere, stellt eine normative Behauptung auf, er vertritt eine normative Theorie, die praktische Rationalität als Optimierung des Eigeninteresses kriterial bestimmt.

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1.2 Vernunft (oder Rationalität) kann nur über Grnde bestimmt werden: Eine Handlung A ist rationaler als eine Handlung B, wenn bessere Gründe für A als für B sprechen. Eine Handlung ist rational (oder vernünftig), wenn sie wohlbegründet ist, wenn gute Gründe für sie sprechen. Damit kann das Argument der offenen Frage angewandt auf das Prädikat rational (oder vernünftig) bezüglich jeder kriterialen Theorie auf die Form gebracht werden: Diese Handlung A optimiert das Eigeninteresse der Person P, aber sprechen auch die besseren Gründe für A? So mag es im Eigeninteresse eines jungen Mannes sein, der wenig Neigung und Begabung für Erwerbstätigkeit mitbringt, seine Erbtante umbringen zu lassen, aber die gewichtigeren Gründe sprechen dafür, dieses Vorhaben nicht auszuführen. Daher ist die Handlung unvernünftig. Wenn eine Person meint, eine Handlung sei in ihrem eigenen Interesse, so ist dies lediglich ein prima facie Grund, der für diese Handlung spricht. Dieser Grund muss aber gegen andere Gründe, die möglicherweise gegen diese Handlung sprechen, abgewogen werden. Diese Abwägung ist uns lebensweltlich bestens vertraut und es ist keine Gesellschaft menschlicher Wesen vorstellbar, die ohne Abwägungen dieser Art auskommt.2

1.3 Es ist die Theorie (der Rationalität oder der Ethik)3, die sich gegenüber dem Komplex guter Gründe bewähren muss. Die ethische Theorie validiert nicht erst, was gute Gründe sind. Wenn man unter Rationalismus philosophische und wissenschaftliche Auffassungen zusammenfasst, die lebensweltlich etablierte Gründe, seien es theoretische Gründe für Überzeugungen oder praktische Gründe für Handlungen, durch philosophische oder wissenschaftliche Prinzipien ersetzen will, dann kann die 2

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In den fünfziger und sechziger Jahren galt der sogenannte good reasons approach als eine theoretische Alternative sowohl zum Utilitarismus wie zum Kantianismus. In der Tat ist mein Eindruck, dass insbesondere in der Variante von Steven Toulmin An Examination of the Place of Reason in Ethics (1950) die lebensweltlich etablierten praktischen Gründe zu Recht gegenüber ethischen Prinzipien aufgewertet werden. Die späteren Schriften Toulmins, insbesondere Cosmopolis. The Hidden Agenda of Modernitys (1990) zeigen, dass Toulmins Anti-Rationalismus ohne antimoderne und antiaufklärerische Implikationen auskommt. Auf diese Differenzierung kommen wir noch zu sprechen.

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Julian Nida-Rümelin

von mir vertretene Konzeption nicht unter „Rationalismus“ subsumiert werden. Als Alternative zum Rationalismus gilt in der Philosophie der Intuitionismus. Lange Zeit war es im angelsächsischen Sprachraum sogar üblich, zwischen einer wissenschaftlichen Ethik des utilitaristischen Typs einerseits und intuitionistischen Ethiken deontologischen Typs anderseits zu unterscheiden.4 Wenn man unter „Intuitionismus“ Auffassungen zusammenfasst, die einen bestimmten Bereich normativer Überzeugungen als unmittelbar, das heißt ohne jedes Raisonnement einsichtig und deswegen einer Kritik grundsätzlich entzogen ansehen, dann gibt es zwischen Rationalismus und Intuitionismus ein Drittes. Es ist dann möglich, sowohl gegen die rationalistische Ersetzung lebensweltlich verankerter Gründe als auch gegen die intuitionistische Verabsolutierung bestimmter normativer Überzeugungen Stellung zu nehmen. Gegen rationalistische Begründungsprogramme spricht, dass die Prinzipien, auf denen die deduktiven Schlüsse rationalistischer Theorien aufbauen, selbst einer Begründung bedürfen. Gegen den Intuitionismus spricht, dass es keine isolierten (normativen) Überzeugungen gibt, die nicht in bestimmten Situationen mit anderen (normativen) Überzeugungen in Konflikt geraten können. Typischerweise sind intuitionistische Theorien pluralistisch, das heißt sie beharren auf der unmittelbaren Einsichtigkeit (oder Erfahrbarkeit) intrinsischer Qualitäten und optieren daher für einen erkenntnistheoretischen Fundamentalismus (im Sinne von foundationalism).5 Das stärkste Argument gegen intuitionistische Konzeptionen ist die Nicht-Isolierbarkeit einzelner (normativer) Überzeugungen. Jede normative wie deskriptive Überzeugung hängt mit jeder anderen zusammen: In bestimmten Äußerungs-Situationen werden diese simultan relevant, geraten in Konflikt oder ergänzen sich, die eine erscheint als ein Spezialfall der anderen (die eine scheint auf die andere reduzierbar zu sein), beide lassen sich unter eine dritte (allgemeinere) normative oder deskriptive Überzeugung (eine Regel, eine Gesetzmäßigkeit) subsumieren et cetera. Dabei ist es weder so, dass das Allgemeine jeweils durch das Konkretere begründet wird, noch umgekehrt, dass das Konkretere durch das Allgemeinere begründet wird. Beide Begründungsformen kommen vor und keine von diesen führt zu nicht mehr bezweifelbaren Urteilen. Der 4 5

Diese Gegenüberstellung prägt auch die ethische Taxonomie Henry Sidgwicks in Methods of Ethics (1874). Der locus classicus einer solchen intuitionistischen und zugleich im erkenntnistheoretischen Sinne fundamentalistischen Theorie ist die Wertkonzeption, die George Edward Moore in Principia Ethica (1903) entwickelt.

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pluralistische und im Extremfall partikularistische Intuitionismus optiert für die erste Interpretation, der Rationalismus für die zweite. Der hartnäckige Fortbestand beider konkurrierender Theorie-Optionen lässt sich gut damit erklären, dass beide Begründungsformen lebensweltlich gut etabliert sind. 1.4 Diese erkenntnistheoretische Position ist kohrentistisch: Sie bringt gegen rationalistische und intuitionistische Auffassungen die Verbundenheit normativer wie deskriptiver Überzeugungen in Stellung. Diese kohärentistische Position darf nicht selbst in die rationalistische Falle tappen. Und sie darf auch nicht so verstanden werden als beruhe sie auf einer systematischen Theorie der Kohärenz. Dieser Kohärentismus rechtfertigt sich nicht erst durch eine Theorie, auch nicht durch eine Theorie der Kohärenz. Er rechtfertigt sich in alltäglichen Modi des Begründens. Jedes Begründen hat ein Ende. Am Grund allen Begründens steht die praktizierte Lebensform als Ganzes. Diese Beobachtung, dass das Begründen irgendwann einmal ein Ende hat, ist uns allen aus der Lebenswelt, aber auch aus philosophischen Disputen vertraut. Dieses Ende lässt sich in einem Prinzip oder einem System von Axiomen einer Theorie nicht erfassen. Dies schließt keineswegs aus, dass sich das Gesamt der Begründungsrelationen auf wenige Prinzipien und Inferenzregeln reduzieren lässt. Diese Prinzipien und Inferenzregeln hätten dann aber keinen letzt-begründenden, keinen fundamentalen Status. Sie bewährten sich an den lebensweltlich und disziplinär etablierten Begründungsformen.6

1.5 Ich habe in diesem Zusammenhang den Begriff der strukturellen Rationalitt eingeführt. Damit setze ich mich – bei aller Übereinstimmung in der erkenntnistheoretischen Grundhaltung, also in dem, was ich Witt6

Ich habe in diesem Zusammenhang in Anlehnung an Wittgenstein von „Begründungsspielen“ gesprochen, vergleiche Nida-Rümelin (2006, Kapitel 3). Dies kann aber das Missverständnis nahelegen, dass es sich lediglich um Spiele, das heißt um so, aber auch anders konzipierbare regelgeleitete Interaktionsformen handele (vergleiche Gerhardt 2007) und daher spreche ich hier statt von „Begründungsspielen“ von „Begründungsformen“.

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genstein’sche Perspektive nenne – von den irrationalistischen Tendenzen, wenn nicht des späten Wittgenstein selbst, so zumindest eines Gutteils seiner Anhänger, ab. Die Begründungsspiele stehen nicht unabhängig voneinander. Sie bilden ein komplexes Netzwerk, das die alltägliche Praxis, die Interaktionen, Sprachhandlungen und Meinungsäußerungen trägt. Die Akteure dieser Praxis müssen über die Zeit und über ihre Teilnahme an unterschiedlichen Begründungsspielen hinweg erkennbar bleiben, eine personale Identitt aufweisen. Ihr (öffentliches) Verhalten und ihre (öffentlichen) Meinungsäußerungen müssen einen Sinn ergeben, die orientierenden theoretischen wie praktischen Gründe müssen nachvollziehbar sein, dies schließt eine lediglich punktuelle, auf ein spezifisches Begründungsspiel bezogene Begründung aus. Gründe legen in diese lebensweltliche Praxis Strukturen – Strukturen, die sich über Raum und Zeit, über unterschiedliche soziale, kulturelle, temporale, biographische Kontexte hinweg durchhalten. Diese Strukturen sind nicht einfach gegeben, da die Gründe der kritischen Revision zugänglich sind. Das Gesamt dieser Struktur, und damit das Gesamt der epistemischen und konativen Einstellungen propositionaler und nicht-propositionaler Art steht unter der ständigen Prüfung der Stimmigkeit, der Kohrenz. Da es ständig Spannungen zwischen verschiedenen Strängen und Knoten dieses Netzwerkes gibt, findet eine kontinuierliche Revision statt. Dieser Prozess ist nicht irrational, sondern Ergebnis von praktischen wie theoretischen Deliberationen. Wären die Begründungsspiele lediglich lokal und punktuell, so gäbe es eine lediglich lokale oder punktuelle, aber keine übergreifende Rationalität und das Projekt der Aufklrung, also der Kritik von Lebens- und Gesellschaftsformen, würde in der Tat in der Weise kollabieren, wie es manche Wittgensteinianer und postmoderne Theoretiker postulieren. Der Terminus Strukturelle Rationalitt (Nida-Rümelin 2001) soll auf diese größeren Zusammenhänge, diese strukturellen Merkmale in erster Linie unserer lebensweltlichen Praxis, aber dann auch unserer lebensweltlichen Theorie hinweisen.

1.6 Es scheint keinen größeren Gegensatz zwischen dem auf Frank P. Ramsey und Rudolf Carnap zurückgehenden Programm einer Bayesianischen Rationalitäts- und Erkenntnistheorie einerseits und der Wittgenstein’schen Perspektive in dem oben erläuterten Sinne andererseits zu geben. In der Tat scheinen hier zwei unvereinbare Paradigmen

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miteinander verknüpft zu werden: Eine in der Tradition des logischen Empirismus stehende Theorie rationaler Entscheidungen und rationaler Meinungsänderungen (rational belief dynamics) und ein an SprechaktTheorie und Wittgenstein’scher Sprachspiel-Theorie orientiertes pluralistisches Verständnis von Lebensformen. Abgesehen davon, dass wir es hier mit unterschiedlichen philosophischen „Schulen“ zu tun haben, deren Anhänger wechselseitig wenig Respekt füreinander aufbringen, kann ich aber kein Argument dafür erkennen, dass sich diese beiden Perspektiven nicht integrieren ließen. Gefordert ist lediglich, dass der kohrentistische Charakter der Axiome der Wahrscheinlichkeits- und Entscheidungstheorie ernst genommen wird und diesen Axiomen keine konsequenzialistische Gründe gebende Lesart untergeschoben wird, wie das in der entscheidungstheoretischen Literatur und erst recht in den ökonomischen Anwendungen überwiegend erfolgt. Zudem muss gegen einen falsch verstandenen Pluralismus von Begründungsspielen die Einheit des (rationalen) Akteurs über unterschiedliche Kontexte hinweg geltend gemacht werden. Diese Einheit verlangt nach Kohärenz – konativer wie epistemischer. Minimalbedingungen von Kohärenz werden in der Bayesianischen Entscheidungs- und Wahrscheinlichkeitstheorie expliziert. Da die lebensweltlich etablierten praktischen Gründe in den seltensten Fällen Handeln lediglich unter Bezugnahme auf seine Konsequenzen rechtfertigen, sind die Strukturen begründeter Praxis nur in sehr seltenen Fällen konsequenzialistisch, zumeist hingegen deontologisch zu interpretieren. Diese deontologische Imprgnierung unserer lebensweltlichen Praxis verletzt jedoch nicht die minimalen Kohärenzbedingungen der rationalen Entscheidungstheorie. Optimierung ist in den seltensten Fällen das Ziel des rationalen Akteurs. Da die Präferenzen des rationalen Akteurs, auch wenn er deontologischen Gründen folgt, kohärent sind, lassen sich diese Präferenzen in Gestalt einer subjektiven Wertfunktion repräsentieren (Nida-Rümelin 2005b). 1.7 Diese konsequent kohärentistische Perspektive erlaubt eine spieltheoretische Lesart von struktureller Rationalitt. Diese war sogar der ursprüngliche Taufpate bei der Namensgebung. Ich möchte dies an einem besonders durchsichtigen Beispiel, dem vieldiskutierten prisoner’s dilemma (Gefangenen-Dilemma) erläutern. Das Dilemma besteht hier darin, dass ein spieltheoretischer Gleichgewichtspunkt in dominanten Strategien pa-

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reto-ineffizient ist, das heißt dass es eine andere Strategien-Kombination gibt, die alle Akteure besser stellt als in diesem Gleichgewichtspunkt. Diese andere Strategienkombination ist jedoch kein Gleichgewichtspunkt, das heißt es gibt unter der Voraussetzung, dass die anderen Beteiligten bei ihrer Strategie bleiben, jeweils individuell eine Möglichkeit, sich durch Abweichung zu verbessern. Dies gilt für alle an der Interaktion Beteiligten. Die entscheidungstheoretische Orthodoxie quittiert Interaktionssituationen diesen Typs gewissermaßen mit einem Achselzucken: Rationale Akteure wählen dominante Strategien. Die Tatsache, dass die Kombination dominanter Strategien in Interaktionssituationen dieses Typs pareto-ineffiziente Auszahlungen hat, ist bedauerlich, ändert aber nichts an den Rationalitäts-Kriterien. Der empirische Befund, dass ein hoher Prozentsatz von Akteuren in solchen Situationen die dominierte kooperative Strategie wählt, also eine Strategie, die unter der Bedingung, dass auch die anderen Interaktionsbeteiligten ihre jeweils dominierten Strategien wählen, ein pareto-effizientes Ergebnis hat, wird als Zeichen verbreiteter Irrationalität interpretiert. Weniger orthodoxe Entscheidungstheoretiker versuchen, dieser Anomalie des realen Entscheidungsverhaltens dadurch einen Anschein des Rationalen zu geben, dass sie es in den sozialen Kontext iterierter Interaktionen stellen (Axelrod 1984), was aber die Problematik nicht befriedigend löst. Eine strukturelle Sicht auf das prisoner’s dilemma ergibt jedoch schlagartig ein neues Bild. Betrachten wir die Gründe, die Akteure für ihre Entscheidungen anführen werden. Diejenigen, die sich für die dominante Strategie entscheiden, werden darauf hinweisen, dass sie eine möglichst hohe Auszahlung erreichen wollen und da sie nicht wissen, wie sich der andere Akteur verhält, auf „Nummer sicher“ gehen wollten (dies jedenfalls ist die Auskunft von Studenten, mit denen ich das prisoner’s dilemma-Spiel durchgeführt habe). Diejenigen, die die kooperative Strategie wählen (also die dominierte) werden zum Beispiel sagen, dass sie die Erwartung hatten, dass auch der andere kooperiert und dass sie ihren Teil zur kooperativen Lösung beitragen wollten. Der orthodoxe Spieltheoretiker interpretiert dies als einen Übergang vom prisoner’s dilemma-Spiel zum assurance game. Er behauptet, dass die Präferenzen nun eben andere seien und damit das prisoner’s dilemma nicht fortbesteht. Die strukturelle Sichtweise ist eine andere. Sie unterscheidet zwischen den Handlungszielen, die – wie wir annehmen können – weiterhin auf eine möglichst hohe Auszahlung gerichtet sind (zumal wenn es sich um Geldbeträge zwischen zufällig zusammengewürfelten Spielern handelt), fügt jedoch als Bestimmungselement individueller Rationalität die Struktur der Interaktion

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hinzu. Demnach wäre die Information über die unterschiedlichen Auszahlungen an den einzelnen Akteur unvollständig. Dieser sollte zusätzlich die Struktur der Interaktion kennen, um gegebenenfalls kooperativ handeln zu können, das heißt sein Handeln an dem Motiv der Kooperation ausrichten zu können. Die rationale Entscheidung bedarf einer dichteren Information als lediglich der individuell zu erwartenden Auszahlungen. Dies ist kein Bruch mit dem methodologischen Individualismus, da es mir um die adäquate Beschreibung individueller Handlungsmotive geht. Viele Handlungsmotive beziehen sich eben nicht lediglich auf die zu erwartenden Folgen einer Handlung, sondern auch auf die (strukturelle) Rolle der eigenen Handlung im Kontext der Handlungen anderer. Die Übersetzbarkeit von strukturellen Merkmalen in diesem Sinne in Auszahlungsfunktionen ist ein Vorurteil orthodoxer Entscheidungstheoretiker. Die Konzeption struktureller Rationalität bricht mit diesem Vorurteil, ohne auch nur eines der Axiome der Entscheidungs- und Wahrscheinlichkeitstheorie aufgeben zu müssen. Die Repräsentation der kohärenten Präferenzen einer rationalen Person durch eine quantitative Wertfunktion, also das, was in der Regel als utility function bezeichnet wird, ist dann wieder im ursprünglichen Sinne, nämlich strikt kohärentistisch, nicht konsequenzialistisch zu verstehen. Präferenzen, sofern sie die Axiome der Entscheidungstheorie erfüllen, lassen sich durch eine reellwertige, bis auf positiv-lineare Transformationen eindeutige Funktion repräsentieren. Die Präferenzen, wie auch immer motiviert, werden reprsentiert; es wird nicht die Rationalität von Präferenzen durch ein Kriterium der Optimierung von Handlungskonsequenzen festgestellt. Die Entscheidungstheorie ist gegenüber den Motiven der Akteure inhaltlich neutral. Sie ist nicht nur in dem Sinne formal, dass ihre Axiome und Theoreme sich in einer formalen Sprache repräsentieren lassen, sondern auch in dem Sinne, dass sie über die inhaltlichen Bestimmungen der Handlungsmotive nichts aussagt. Sie ist mit allen Typen von Gründen kompatibel, sofern diese in der praktischen Deliberation zu kohärenten Präferenz-Relationen führen. 1.8 Das Konzept der strukturellen Rationalität postuliert eine spezifische Freiheit, nämlich die des rationalen Akteurs, Interaktionsstrukturen insgesamt und nicht lediglich individuelle Auszahlungsfunktionen seiner Entscheidung zugrunde zu legen. Ein Akteur, der lediglich Auszah-

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lungsfunktionen optimiert, wäre berechenbar (außer im Falle von Indifferenz). Diese spezifische Freiheit macht den Akteur unberechenbar. Um es paradox zuzuspitzen: Die Möglichkeit, im Einzelfall nicht lediglich individuelle Auszahlungsfunktionen zu optimieren, kann Bedingung des Handlungserfolgs werden, selbst wenn man den Handlungserfolg in Auszahlungen misst. Der konsequente Optimierer seiner individuellen Auszahlungsfunktion ist zum Beispiel erpressbar.7 Diese von der Konzeption struktureller Rationalität postulierte Freiheit geht über die der etablierten spieltheoretischen Kriterien hinaus. Es ist dabei wichtig zu sehen, dass beim Übergang von Spielen gegen die Natur zu Spielen gegen andere rationale Akteure eine wesentliche begriffliche Veränderung stattfindet. In Spielen gegen die Natur postuliert die rationale Entscheidungstheorie lediglich die Optimierung der subjektiven Wertfunktion, die kohärente Präferenzrelationen repräsentiert. Die Gewichtung möglicher Ergebnisse einer Strategiewahl mit Wahrscheinlichkeiten (natural luck) wird jedoch in Interaktionssituationen nicht fortgesetzt. Würde es fortgesetzt, so sollte es in jeder Interaktionssituation mindestens eine empfohlene Lösung, also mindestens eine rationale Strategie für jeden einzelnen Teilnehmer geben (so wie in Spielen gegen die Natur). In der spieltheoretischen Analyse wird impliciter angenommen, dass die Akteure sich nicht wechselseitig Wahrscheinlichkeiten zuschreiben und dann ihre je individuelle Bewertungsfunktion relativ zu diesen subjektiven Wahrscheinlichkeiten optimieren; vielmehr werden nur solche Rationalitätsempfehlungen zugelassen, die sich simultan an alle Interaktionsbeteiligten richten können. Dies ist ja die Rechtfertigung dafür, nur Gleichgewichtspunkte als Lösungen von Spielen zuzulassen. Für die meisten Personalisten (oder Subjektivisten) unter den Wahrscheinlichkeitstheoretikern hat jedes Ereignis aus der Perspektive der handelnden Person eine (subjektive) Wahrscheinlichkeit, die durch den maximalen Wettquotienten eruiert werden kann. Insofern 7

Die auf wechselseitiger nuklearer Abschreckung beruhende relative Stabilität des Kalten Krieges beruhte auf der wechselseitig unterstellten „Irrationalität“, nach einem wie auch immer gearteten Angriff, selbst mit den überlegenen konventionellen Panzerarmeen des Warschauer Paktes an der deutsch-tschechischen Grenze, bereit zu sein, durch den Einsatz von Nuklearwaffen den eigenen Untergang in Kauf zu nehmen. Diese „Irrationalitätsannahme“ wurde in den Zeiten der Reagan-Administration durch den Aufbau von Theater Nuclear Operations (taktische im Gegensatz zu strategischen Kernwaffen) auf dem potenziellen europäischen Kampffeld zurückgenommen oder wenigstens abgeschwächt, während die französische Nuklear-Strategie bis heute an ihr festhält.

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müsste auch das Ereignis, dass ein bestimmter Spieler eine bestimmte Strategie wählt, eine subjektive Wahrscheinlichkeit aus der Sicht jedes einzelnen Interaktionsbeteiligten haben. Diese subjektiven Wahrscheinlichkeitszuschreibungen könnten neben den Kolmogorov-Axiomen weiteren Restriktionen unterworfen sein, die sich auch aus dem Spiel-Format ergeben könnten. Diesen Weg ist die Spieltheorie bis heute nicht gegangen. Ich denke, aus gutem Grund. Denn Personen lassen sich nicht in dieser Weise kalkulieren, sie rekurrieren nicht nur auf erwartete Strategien anderer, sondern auch auf die Erwartungen anderer bezüglich eigener Erwartungen et cetera, ein iterativer Prozess, der grundsätzlich unbegrenzt ist. Die Unberechenbarkeit rationaler Akteure ist Voraussetzung der Rationalitätskriterien der Spieltheorie.8

2. Was ist Freiheit? 2.1 Unsere alltäglichen Intuitionen menschliche Freiheit betreffend sind besonders stark hinsichtlich einer subjektiven Erfahrung ausgeprägt, die ich als diejenige der Willkrfreiheit bezeichnen möchte. Jemanden, der behauptet mein Handeln sei determiniert, glaube ich damit widerlegen zu können, dass ich ihn um eine Prognose bitte, was ich in der nächsten Minute tun werde – etwa sitzen bleiben oder aufstehen – und dann jede seiner Prognosen widerlege. Oder kurz: Ich entscheide, ob ich mich jetzt erhebe, oder noch eine Minute länger sitze. Für solche Situationen, in denen wir willkürlich so oder auch anders entscheiden können, ist typisch, dass das Abwägen von Gründen keine Rolle spielt. Es ist egal, ob ich sitzen bleibe oder aufstehe und gerade hier scheint sich die menschliche Freiheit besonders eindringlich zu manifestieren. Dieses Argument lässt sich natürlich dadurch unterlaufen, dass man die geäußerte Prognose als kausale Ursache der jeweiligen Zuwiderhandlung annimmt, was die Iteration allerdings nur auf die nächste Stufe hebt. Diese Vermutung der kausalen Determination ließe sich wieder durch die entge8

Das Newcomb’sche Paradoxon ergibt sich aus der Annahme, dass das Entscheidungsverhalten rationaler Akteure grundsätzlich vorhersehbar ist. Entsprechend löst sich das Newcomb’sche Paradoxon auf, sobald man diese Annahme fallen lässt. Kurz: Die Leugnung menschlicher Freiheit führt in eine schwer auflösbare Paradoxie (Campbell/Sowden 1985).

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gengesetzte Handlung „widerlegen“. Dieses Phänomen der Unberechenbarkeit menschlichen Handelns, das in Willkür-Situationen besonders augenscheinlich wird, sollte in der philosophischen Analyse ernst genommen werden. Es lässt sich, wie mir scheint, nicht adäquat in Gestalt eines Zufallsoperators analysieren, der jeweils bei Indifferenz der subjektiven Bewertungen des Akteurs zur Anwendung käme, etwa in Gestalt des Leibniz-Kriteriums: Wenn es keinen Grund gibt, eine von zwei Optionen für wahrscheinlicher zu halten, dann halte beide für gleich wahrscheinlich. Der willkürlich Handelnde erscheint von außen wie von einem Zufallsoperator gesteuert. Die Innenperspektive, die Perspektive der ersten Person, ist eine andere. Es ist egal, was ich tue, aber was ich tue, ist unter meiner Kontrolle. Es ist kein Zufallsoperator, der festlegt, was ich jeweils tue. Für Willkürfreiheit spielen Gründe eine Rolle. Die Kontrolle des eigenen Handelns minimiert sich auf die freie (durch Gründe unterbestimmte) Entscheidung, also die Ausbildung einer handlungsvorausgehenden Absicht, die durch die Handlung selbst erfüllt wird.

2.2 Entscheidungen kann man als Abschluss einer Deliberation charakterisieren. Zwischen Entscheidung und erfüllender Handlung findet in der Regel keine Abwägung mehr statt. Sollte sie dennoch stattfinden, dann wird die Entscheidung aufgehoben, dispensiert und gegebenenfalls eine neue Entscheidung getroffen. Entscheidungen bilden einen spezifischen Typus von Intentionen (Absichten) aus. Zwischen diesen Absichten und den sie erfüllenden Handlungen kann eine unterschiedlich große Zeitspanne liegen. Im einen Extrem beendet eine Entscheidung weitere Abwägungen für Jahre und die dann erfüllende Handlung wird aus der Ich-Perspektive als lange zuvor festgelegt wahrgenommen. Im anderen Extrem folgt die Handlung unmittelbar der Entscheidung, ja, a limine ist zwischen Entscheidung und Handlung die Zeitspanne nicht mehr groß genug, um die Entscheidung auf Dispens setzen zu können. Es gibt eine neurophysiologisch bestimmte untere Grenze dieser Zeitspanne. Die berühmt gewordenen Libet-Experimente spielen sich in diesem Bereich ab. Es handelt sich zweifellos um Willkür-Entscheidungen, da es den Versuchsteilnehmern egal ist, zu welchem Zeitpunkt sie ihren Finger bewegen und die Ausführung der Entscheidung folgt jeweils unmittelbar, das heißt an der unteren Grenze des (neuro-) physiologisch Möglichen. Ob die in den Versuchen reportierten Zeitpunkte der Entscheidung

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verlässlich sind, ist in der neurophysiologischen Literatur umstritten. Die starke Varianz der Angaben und die Tatsache, dass die reportierten Zeitpunkte der Entscheidung sich wiederum auf Wahrnehmungen eines Zeigerstandes beziehen, lassen jedenfalls Zweifel an der Verlässlichkeit dieser Angaben aufkommen. Eine Abweichung in der Größenordnung einer Zehntelsekunde würde ausreichen, um dem Libet-Experiment jede Relevanz für die Willensfreiheits-Debatte zu nehmen.9

2.3 In ber menschliche Freiheit (Nida-Rümelin 2005) habe ich die Willkürfreiheit vollständig aus der Betrachtung ausgeschlossen und die Rolle handlungsleitender Gründe in den Mittelpunkt der Analyse gestellt.10 Der Titel gibt einen Hinweis darauf, warum: Es ging mir um das Spezifikum menschlicher Freiheit. Ich glaube nicht, dass nicht-menschliche Tiere allesamt als (algorithmische) Maschinen funktionieren, die einem genetisch verankerten Programm folgend auf sensorische Stimuli – gegebenenfalls modifiziert durch die Geschichte vorausgegangener sensorischer Stimuli – in jeweils eindeutig festgelegter Weise reagieren. Selbst wenn diese Programme mit Zufallsoperatoren angereichert werden, scheinen mir solche mechanistischen Interpretationen des Tier-Verhaltens unzureichend zu sein. Zumindest höher entwickelte Säugetiere scheinen ihr Verhalten zumindest teilweise zu kontrollieren und in jedem Fall über so etwas wie Willkürfreiheit zu verfügen. Das Abwägen von Gründen und die langfristige Strukturierung des eigenen Lebens über akzeptierte 9 Die Tatsache, dass außer dem Libet-Experiment und seiner Nachfolger keine weiteren experimentellen Anordnungen entwickelt werden konnten, die die These einiger (weniger) Neurophysiologen stützen, dass sich die Existenz menschlicher Willensfreiheit (genauer sollte man sagen Handlungsfreiheit) durch empirische Daten heute widerlegen lasse, macht stutzig. In letzter Zeit werden auch innerhalb der neurophysiologischen Forschung die Vorbehalte gegen die übliche Interpretation der Libet-Befunde deutlicher artikuliert. (Vgl. zu den Libet-Experimenten Kane (2002), insbesondere die Beiträge von Benjamin Libet und Henrik Walter.) 10 Allerdings kann man auch die existenziellen Entscheidungen, deren zentrale Rolle für die Lebensgestaltung, die ich im letzten Kapitel von Strukturelle Rationalitt (Nida-Rümelin 2001) analysiert habe, als eine Form von Willkürfreiheit interpretieren, zumindest hat diese existenzielle Freiheit etwas mit der oben benannten Willkürfreiheit gemeinsam: Sie ist nicht – primär – von Gründen bestimmt.

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Handlungsgründe ist Tieren jedoch fremd. Diese zentrale Rolle der Gründe, Gründe, die dem Leben eine Struktur geben (Nida-Rümelin 2001, Kapitel 4) und die die zwischenmenschlichen Interaktionen generell und unsere Verständnispraxis speziell tragen – ist eine, wenn nicht die conditio humana, sie macht das Besondere der menschlichen Existenz aus. Sich von Gründen affizieren zu lassen, Gründe zu nehmen und Gründe zu geben, scheinen mir die zentralen Charakteristika des Humanen (Nida-Rümelin 2005, Kapitel 1) zu sein. Entsprechend lässt sich die Position eines theoretischen Humanismus dadurch charakterisieren, dass sie dem Gründe-Geben und Gründe-Nehmen einen zentralen Stellenwert in der Analyse menschlicher Praxis beimisst. Dieser humanistische Ansatz stellt sich gegen naturalistische, deren Analyse auf die Eskamotierung von Gründen gerichtet ist. In der vollendeten (wissenschaftlichen) Erklärung menschlichen Verhaltens dürfen nach naturalistischer Auffassung Gründe keine Rolle spielen. Gründe spielen demnach keine eigenständige, sondern bestenfalls eine abgeleitete Rolle, in manchen Varianten des Naturalismus ist diese Rolle in deterministische Kausalzusammenhänge der Neurophysiologie übersetzbar. Unter „Naturalismus“ werden unterschiedliche metaphysische Positionen und Forschungsprogramme subsumiert. Eine Gemeinsamkeit ist jedoch die Überzeugung, dass in der naturwissenschaftlichen Beschreibungsform alles Wesentliche über die Welt, einschließlich der Rolle des Menschen in ihr, ausgesagt werden kann. Der Humanismus, wie ich ihn verstehe, hält dagegen, dass menschliches Handeln ohne eine Bezugnahme auf Gründe nicht vollständig beschreibbar und erklärbar ist und dass die Rede von Gründen sich nicht ohne Verlust in naturwissenschaftliche Beschreibungsformen (weder der Physik, noch der Biologie, noch der Neurophysiologie) übersetzen lässt. Diese These der Unübersetzbarkeit darf nicht im Sinne eines Aspekte-Dualismus einer einheitlichen Welt gelesen werden. Die Beschreibung menschlichen Handelns, menschlichen Lebens, menschlicher Verständigungspraxis unter Rekurs auf Gründe beinhaltet mehr als die Verwendung einer zweiten Sprachform oder den Wechsel auf eine andere linguistische Ebene. Auch der weiche Naturalismus, wie er kürzlich von Jürgen Habermas vertreten wurde,11 ist mit der Grammatik unserer Alltagskommunikation nicht in Einklang zu bringen. Diese Grammatik hat unter anderem die ontologische Präsupposition, dass Grnde eine kausale Rolle für unser Verhalten spielen. Wenn 11 Dieser weiche Naturalismus ist als ein Versöhnungversuch von „epistemischem Dualismus“ und „ontologischem Monismus“ zu verstehen (Habermas 2006).

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Gründe Ursachen sind oder genauer formuliert, wenn das Akzeptieren von Gründen und die vorausgehende Deliberation kausal relevant sind, also einen Einfluss auf den Weltverlauf haben, dann wäre der Weltverlauf anders, wenn anstelle dieser andere Gründe vom Akteur akzeptiert worden wären. Damit A Ursache von B ist, muss A für B unverzichtbar sein. Diese Unverzichtbarkeit muss auf hinreichende Bedingungen von B relativiert werden. Es gibt also einen Komplex von Bedingungen, die zusammen hinreichend für B sind und in dem A notwendig ist. Ursachen sind jeweils für sich genommen in der Regel keine notwendigen Bedingungen für das Ereignis, das sie verursachen. Es gibt andere Konstellationen von Bedingungen, die für B hinreichend sind und in denen A nicht vorkommt (Mackie 1974). Gründe werden kausal relevant nur darüber, dass sie von Akteuren akzeptiert werden. Die kausale Wirksamkeit dieses Akzeptierens von Gründen erfolgt durch Handlungen. Handlungen sind – nicht nur, aber auch – raum-zeitliche Vorgänge, in der Regel Körperbewegungen. Dass Körperbewegungen eine kausale Rolle im Weltverlauf spielen, kann als unstrittig gelten. Strittig ist jedoch die Verbindung zwischen Körperbewegungen und Gründen (dem Akzeptieren von Gründen). Das Akzeptieren von Gründen äußert sich in der Ausbildung bestimmter konativer Einstellungen, nicht umgekehrt.12 Im Sinne des üblichen (naturalistischen) Kausalitätsverständnisses13 sind Körperbewegungen oder allgemeiner der physikalische Aspekt unseres Handelns für den Weltverlauf kausal relevant, sie stellen (natürliche) Ursachen für weitere (natürliche) Ereignisse dar.

2.4 Kann es eine kausale Verbindung zwischen dem nicht-natürlichen Ereignis des Akzeptierens eines Grundes und dem natürlichen Ereignis einer Körperbewegung (im Sinne eines physikalisch-biologischen Prozesses) geben? Die Antwort muss je nach Kausalitätsbegriff, je nach dem Verständnis von Kausalität unterschiedlich ausfallen. Im Sinne einer Regularitts-Theorie der Kausalitt, die noch bis vor wenigen Jahren die analytische Philosophie dominierte (Stegmüller 1983, Kapitel 7), fällt es schwer, einen solchen Kausalzusammenhang zu rekonstruieren. Es wäre erforderlich, eine Sukzessions-Regularität zwischen dem Akzeptieren 12 Die entgegengesetzte Position vertritt Bernard Williams (1981). 13 Das zum Beispiel William Quine, nicht aber Donald Davidson zugrunde legt.

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eines Grundes und bestimmten Körperbewegungen zu beobachten. Mit anderen Worten: Es wäre ein Gesetz erforderlich, das es erlaubte, aus dem nicht-natürlichen Ereignis des Akzeptierens eines Grundes das natürliche Ereignis einer raum-zeitlichen Körperbewegung abzuleiten. Solche Gesetzmäßigkeiten können sich nicht auf token, also einzelne Vorkommnisse des Akzeptierens eines Grundes und einzelne Vorkommnisse einer Körperbewegung, beziehen, sondern nur auf types. Es scheint aber völlig aussichtslos zu sein, Gründe eines bestimmten Typs mit Körperbewegungen in einen gesetzesartigen Zusammenhang zu bringen.14 Günstiger steht es um eine kausale Beziehung zwischen Gründen und Körperbewegungen im Rahmen einer probabilistischen (und epistemischen) Theorie der Kausalitt. Eine bestimmte Körperbewegung erscheint ohne vorausgehende Intentionen des Akteurs unverständlich, ihre AprioriWahrscheinlichkeit ist 0 oder sehr niedrig. Bei Kenntnis eines akzeptierten Handlungsgrundes steigt die (epistemische) Wahrscheinlichkeit für dieses raum-zeitliche Ereignis. Dabei ist natürlich wesentlich, dass das natürliche Ereignis der Körperbewegung als Bestandteil einer Handlung interpretiert wird. Handlungen aber sind duale Ereignisse, sie haben einen äußeren und einen inneren Aspekt, eine physische und eine psychische Komponente. Bloße Körperbewegungen sind keine Handlungen. Körperbewegungen werden zu Handlungen oder können als äußere Form einer Handlung interpretiert werden, wenn sie durch geeignete Intentionen hervorgerufen und begleitet sind. Muss dann nicht auch die Verbindung zwischen diesen (handlungs-)konstitutiven Intentionalitäten kausal sein? Reintegriert die Annahme einer kausal bestimmten Intentionalitätsdynamik aber dann nicht doch Gründe in eine naturalistische Gesamtperspektive? Mir scheint folgende Sichtweise am plausibelsten: Die Deliberation selbst, das Abwgen von Grnden, ist kein kausaler Prozess. Diese Deliberation wird jedoch in der natürlichen Welt kausal wirksam 14 Wer dennoch Gründe für Ursachen hält, wie etwa Donald Davidson, wird in der Regel dem sogenannten anomalen Monismus zugerechnet, eine Terminologie, die nur dann Sinn macht, wenn der „Monismus“ durch Kausalitätsbeziehungen konstituiert wird. Die Welten des Mentalen unter Einschluss der Gründe und Präferenzen und die Welten des Physischen sind dann über Kausalitätsbeziehungen gewissermaßen vereint. Wer jedoch für den Bereich des Physischen eine Regularitätstheorie der Kausalität vertritt oder stärkere, realistische Kausalitätsbegriffe zugrunde legt, wie etwa Mario Bunge oder Karl Popper, ist dann im zweiten Schritt in einem erneuten Dualismus gefangen, da erst einsichtig gemacht werden müsste, welche Gründe rechtfertigen, mit zwei so unterschiedlichen Kausalitätsbegriffen zu operieren.

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dadurch, dass diese Deliberation zum Abschluss gebracht wird. Dieser Abschluss trägt in der Regel den Namen „Entscheidung“. Zwischen Entscheidung und erfüllender Handlung besteht in vielen Fällen erneut die Möglichkeit des intentionalen Eingriffs, der dann die Entscheidung aufhebt (dispensiert, obsolet macht). Unter Normalbedingungen heißt „sich entscheiden“ jedoch, die Deliberation abzuschließen, keine weitere Abwägung von Gründen vorzunehmen. Im Rückblick sprechen wir im Falle eines Dispenses dann auch davon, dass ich zwar „dachte, mich schon entschieden zu haben, dann aber feststellte, dass ich mich doch noch nicht entschieden habe“ oder ähnlichem. Aber auch dann, wenn die Entscheidung ultimativ ist, wenn sie nicht mehr dispensiert wird, kommt erneut Intentionalität in Gestalt der Kontrolle desjenigen Verhaltens zustande, das diese Entscheidung, eine Art vorausgehende Absicht, realisiert. Grob beschrieben ist in dieser letzten Form von Intentionalität (vor der Handlungsausführung) ein Suchprozess eingeschaltet, der die geeignete Form der Ausführung bestimmt. Dieser Suchprozess ist selbst wieder von Gründen gesteuert; Gründe aber, die nicht mehr darauf gerichtet sind, die Entscheidung selbst zu rechtfertigen oder zu überprüfen. Die „Gerichtetheit“ bezieht sich auf die geeignete Mittelwahl, betrifft also eine ganz andere Form von Normativität als diejenige, die zur Entscheidung geführt hat. Am Ende resultiert dieser komplexe, hier nur ganz grob beschriebene intentionale Prozess in einem konkreten, raumzeitlich lokalisierten und mit den Mitteln der Naturwissenschaft beschreibbaren Verhalten. 2.5 Unsere Freiheitsintuitionen haben nur dann ein fundamentum in re, wenn die (praktischen) Gründe, die unsere handlungsrelevante Intentionalität prägen, kausal relevant sind. Wenn das Ergebnis der Deliberation vor aller Deliberation immer schon festläge, etwa durch einen mit naturwissenschaftlichen Mitteln beschriebenen Weltzustand und die wirkenden Naturgesetze allein, dann müssten unsere Freiheitsintuitionen als – vielleicht – nützliche Illusionen gelten. Dies ist jedenfalls die These der Freiheit als naturalistischer Unterbestimmtheit von Grnden. Da wir – auffälligerweise – viel eher geneigt sind, theoretischen Gründen, also Gründen, etwas zu glauben, von etwas überzeugt zu sein, Freiheit im Sinne naturalistischer Unterbestimmtheit zuzugestehen, ist die weitgehend analoge Rolle theoretischer und praktischer Gründe eine Stützung dieser

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Freiheitstheorie (Nida-Rümelin 2002, 79 – 95). Die Vorstellung, theoretische Gründe nach dem Muster physikalischer und deterministischer Kausalität zu erfassen, würde voraussetzen, dass es einen algorithmischen Prozess gibt, der dieses Wirken abbildet (Nida-Rümelin 2007, 30 ff.). Da aber schon die Theoreme der Prädikatenlogik erster Stufe algorithmisch nicht beweisbar sind, ist diese Vorstellung unplausibel. Zudem geriete sie in einen Konflikt mit der Annahme, dass menschliches Wissen für den weiteren Weltverlauf, etwa über die Anwendung von wissenschaftlichen Ergebnissen in Technik, Wirtschaft und Gesellschaft, kausale Effekte hat.

3. Metaphysische Aspekte 3.1 Atomistische und fundamentalistische Interpretationen lebensweltlicher, wie auch wissenschaftlicher Überzeugungssysteme sind mit der tatsächlichen Begründungspraxis – der lebensweltlichen wie der wissenschaftlichen – nicht in Einklang zu bringen. Epistemologien, die diese Merkmale aufweisen, bleiben entweder abstrakte Gedankenspiele oder greifen gewaltsam in die etablierte Begründungspraxis ein. Das ursprüngliche Programm der ideal language philosophy, die logizistische Rekonstruktion der Mathematik und die Axiomatisierung naturwissenschaftlicher Theorien kann heute als gescheitert gelten, womit natürlich keineswegs gesagt sein soll, dass formale Sprachen in der Philosophie nichts zu suchen hätten. Weit offenkundiger ist die Inadäquatheit atomistischer und fundamentalistischer Epistemologien für lebensweltliche Überzeugungssysteme, etablierte Verständigungspraxis und Alltagssprache. Die Alternative ist kohrentistisch und holistisch: Jede einzelne Überzeugung hat eine unendliche Vielfalt von Präsuppositionen und die Begründungsrelationen sind zu komplex, um eine Einteilung in eine Klasse begründender und eine Klasse begründeter Überzeugungen plausibel erscheinen zu lassen. Wenn im Folgenden einige metaphysische Aspekte des Verhältnisses von Vernunft und Freiheit angesprochen werden, so ist dies vor dem Hintergrund einer kohärentistischen und holistischen epistemologischen Perspektive zu sehen und das heißt unter anderem, dass es keine strikte Trennung zwischen metaphysischen und nicht-metaphysischen oder empirischen Aspekten geben kann. Auch das transzendentale Programm, wie es etwa bei Peter Strawson als „deskriptive Metaphysik“ entwickelt wurde, hat sich von den fundamen-

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talistischen Ursprüngen der abendländischen Metaphysik-Tradition noch nicht konsequent genug abgelöst, wie mir scheint. Dennoch ist der Ausdruck „deskriptive Metaphysik“ hilfreich. Die geteilte Verständigungspraxis wird zum Ausgangspunkt der philosophischen Analyse. Der Philosoph tritt nicht von außen an die etablierten Formen des Begründens heran, um diese zu validieren (nach einem Maßstab, der dann letztlich im Dunkeln bleiben muss); vielmehr beschränkt er sich auf die Klärung der Rolle, die bestimmte, besonders zentral erscheinende Überzeugungen für diese Verständigungspraxis de facto haben. Da diese Verständigungspraxis jedoch Inkohärenzen aufweist, kann diese Form der zurückhaltenden philosophischen Analyse dennoch normative Kraft entfalten. Manche Überzeugung, die revidierbar erschien, kann sich als zu zentral erweisen, um mit Gründen bezweifelt werden zu können und andere Überzeugungen können sich angesichts ihrer Unvereinbarkeit mit jenen als unplausibel herausstellen.15 Wenn man im Rahmen einer so verstandenen kohärentistischen Epistemologie dennoch von metaphysischen Aspekten spricht, dann ist das gradualistisch zu verstehen. Metaphysische Aspekte betreffen besonders abstrakte Annahmen, vor allem solche, die erst in der philosophischen Analyse als Präsuppositionen oder Verallgemeinerungen konkreterer Überzeugungen zu Tage treten.

3.2 Die Charakterisierung menschlicher Freiheit als naturalistische Unterbestimmtheit unserer Deliberationen hat einen solchen, in diesem schwachen Sinne metaphysischen Charakter. Ob diese Form einer menschlichen Freiheit real ist, lsst sich nicht durch einen empirischen Test feststellen. Auch die Gegenthese, dass Menschen in diesem Sinne nicht frei seien, dass diese Form menschlicher Freiheit nicht existiere, kann nicht für sich genommen einem empirischen Test unterzogen werden. Die These ist lediglich in dem Maße plausibel, als sie sich gut in das Gesamt unserer Sprach- und Interaktionspraxis einbetten lässt. Die These ist ihrer 15 Das Projekt der Aufklärung wurde oft als Distanzierung von unseren lebensweltlichen Überzeugungen missverstanden, ja in extremen Varianten, als NeuKonstruktion ab ovo, beginnend bei nicht mehr bezweifelbaren Axiomen und endend in den empirischen Einzel-Anwendungen, die durch Deduktion gewonnen werden. Dieses Missverständnis reicht von Descartes über Leibniz und Spinoza bis zu Husserl, Lorenzen und Hare.

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Gegenthese überlegen, wenn sie sich besser als diese einbetten lässt. Die Entscheidung zwischen diesen beiden Thesen ist unmöglich, wenn sich beide gleichermaßen einbetten lassen oder (eine ganz andere Möglichkeit) wenn unsere Sprach- und Interaktionspraxis so starke Inkohärenzen aufwiese, dass beide Optionen bestehen: die Revision dieser Sprach- und Interaktionspraxis auf der Grundlage der These mit dem Ergebnis, dass diese ihre innere Widersprüchlichkeit überwindet und zugleich ihre Revision auf der Grundlage der Gegenthese ebenfalls mit dem Resultat, dass sie ihre innere Widersprüchlichkeit überwindet. Ich glaube nicht, dass es sich so verhält, obwohl die nun in unserem Kulturkreis seit über 2.000 Jahren anhaltende Auseinandersetzung um Freiheit und Determinismus eine solche Aporie nahezulegen scheint. Ich glaube, wie die vorstehenden Argumente deutlich zu machen versuchen, dass es eine Sichtweise gibt, die unser Selbstbild mit unserem wissenschaftlichen Weltbild so verbindet, dass es nicht zu einer derart fundamentalen inneren Widersprüchlichkeit kommt. Ich glaube mit anderen Worten nicht, dass wir zu einer dieser beiden Revisionen gezwungen sind und uns dezisionistisch für den einen oder anderen – jeweils metaphysisch motivierten – Umbau unserer Überzeugungssysteme entschließen müssen. Aber ich gebe zu, dass allein die Möglichkeit einer solchen epistemischen Situation beunruhigend ist. Wer, wie ich, für einen ontologiefreien, „unaufgeregten“ Realismus plädiert, wer epistemische Wahrheitsdefinitionen für inadäquat hält, muss auf die Konvergenz unserer Begründungsspiele hoffen, muss hoffen, dass die Vielfalt der Begründungstypen in ihrer jeweiligen Praxis-Verankerung nicht zu divergenten, jeweils lediglich intern kohärenten Überzeugungssystemen führt. Die Forderung der Inklusion als einer diskursethischen Norm (Habermas 1996), diese Zentralnorm des „Projektes der Aufklärung“, erweist sich damit als unverzichtbar für einen nicht-metaphysischen (ontologiefreien) Realismus.16

16 Vergleiche Putnam (2004), der unterdessen – möglicherweise auch unter dem Einfluss der John-Dewey-Lektüre – nach vielen Wendungen und Irrfahrten nun genau diese Position einzunehmen scheint. Habermas votiert dagegen für eine epistemische Wahrheitsdefinition im Bereich des Normativen und für einen „metaphysischen“ Realismus im Bereich des Empirischen (Habermas 1999, Kapitel 6).

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3.3 Im Sinne einer so verstandenen „deskriptiven Metaphysik“: Was genau präsupponiert unsere alltägliche Verständigungspraxis? Wenn sie, wie Strawson meint, Freiheit präsupponiert, dann stellt sich die Anschlussfrage, welches Verständnis von Freiheit hier genau präsupponiert wird. Kommt diese Freiheit ohne alternative Möglichkeiten aus und ist damit Determinismus-verträglich? Die Strawson’sche Analyse (Strawson 1962) hat eine, wie wir es nennen können, sentimentalistische Einseitigkeit: Sie fokussiert auf moralische Gefühle und reaktive Einstellungen und blendet die Gründe, die diese moralischen Gefühle und reaktiven Einstellungen leiten, aus der Analyse aus. Dadurch entsteht die problematische Gegenüberstellung einer subjektiven, von Zusammengehörigkeitsgefühlen (attachment) geprägten und einer objektiven, den anderen als bloßes Objekt der Manipulation ansehenden Perspektive.17 Ich habe gegen diesen Sentimentalismus geltend gemacht, dass die Verbindung von Freiheit und moralischer Missbilligung über Gründe hergestellt wird (Nida-Rümelin 2005, Kapitel 1). Genauer: dass es die wechselseitige Zuschreibung der Fähigkeit, Gründe abzuwägen und nach Gründen zu handeln, ist, die uns als moralische Akteure erscheinen lässt, die daher moralische Missbilligung und andere moralische Gefühle und reaktive Einstellungen rechtfertigt. Der Austausch von Gründen, wie er in unserer Lebenswelt etabliert ist, setzt jedoch die Existenz objektiver normativer Kriterien voraus: Es gibt eben gute und schlechte Gründe und ob es ein guter Grund oder ein schlechter Grund ist, entscheidet sich nicht an den Gefühlslagen, sondern letztlich an den besseren Argumenten. Dass diese Argumente selbst von Gefühlslagen nicht völlig unabhängig sind, dass Interessen, Empfindlichkeiten, insbesondere in die für die menschliche Existenz so wesentliche Selbstachtung eingehen (müssen), liegt auf der Hand (Nida-Rümelin 2005, Kapitel 5). Damit rücken die praktischen und die theoretischen Deliberationen, die unser Handeln und unsere Meinungsbildung anleiten, ins Zentrum der Analyse, während die den Austausch von Gründen begleitenden Gefühlslagen die Analyse komplettieren. Mit dieser notwendigen Verschiebung ist aber der Weg frei für eine präzisere Bestimmung der spezifischen Freiheit, die unsere lebensweltliche Verständigungspraxis präsupponiert. Die Freiheit und Ver17 Dieser Sentimentalismus verwundert, wenn man bedenkt, dass Strawson einen Gutteil seiner Philosophie in engem Anschluss an die kantische Erkenntnistheorie entwickelte.

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antwortung, die wir uns wechselseitig zuschreiben, ist Ausdruck der wechselseitigen Anerkennung als Akteure, die ihre je eigenen Gründe haben, die für dieses oder jenes Handeln, für diese oder jene Überzeugung sprechen und denen wir zumuten können, dass sie sich so weit von ihren Augenblicksneigungen, ihrer Sozialisation, ihrer genetischen und epigenetischen Prägung distanzieren können, dass sie jedenfalls den überwiegenden Teil ihrer Überzeugungen und Handlungen am Ergebnis der Abwägung von Gründen – theoretischen wie praktischen – ausrichten. Mit dieser Auskunft ist die spezifische Freiheit, die wir in unserer Verständigungs- und Interaktionspraxis voraussetzen, schon näher charakterisiert: Sie verlangt, dass das Ergebnis unserer Deliberationen vor aller Deliberation nicht immer schon feststeht, dass unsere Deliberationen ausschlaggebend sind – man könnte auch sagen kausal relevant – für das, was wir tun und was wir glauben. Verantwortung tragen Menschen für ihre Handlungen, aber auch für ihre Überzeugungen und denjenigen Teil ihrer Gefühle, die einen kognitiven Gehalt aufweisen.

3.4 Es ist ein unverzichtbarer Teil unseres lebensweltlichen Orientierungswissens, dass Menschen Gründe für ihre Handlungen und ihre Überzeugungen haben und auch für manche ihrer Gefühle. Grenzen wir dieses Phänomen zunächst etwas näher ein, um die Integration von Gründen in unser Weltbild vorzubereiten. Manche Menschen haben eine SpinnenPhobie, das heißt sie haben Angst vor Spinnen, laufen weg, wenn sie Spinnen sehen, wenden den Blick ab, wenn sie Photographien von Spinnen sehen, obwohl sie wissen, dass von Spinnen in unseren Breiten keine Gefahr ausgeht. An diesem Beispiel lässt sich das Verhältnis von Gründen sehr schön illustrieren. Die Person weiß, dass sie für dieses besondere Gefühl der Spinnenangst keinen Grund hat, dass von Spinnen de facto keine Gefahr ausgeht. Dennoch kann sie dieses Gefühl nicht unterdrücken. Nennen wir Gefühle dieser Art, die einen kognitiven Gehalt haben, sich von Gründen jedoch nicht beeinflussen lassen, pathologische. Gefühle dieser Art erleidet man, sie lassen sich nicht kontrollieren (Personen, die mit solchen pathologischen Gefühlen konfrontiert sind, erleben dies auch als eine Art Ohnmacht oder Hilflosigkeit). Was begründet ist und was verursacht ist, klafft auseinander. Die Erfahrung des Kontrollverlustes hängt damit zusammen, dass sich das kognitiv Eingesehene (von Spinnen geht keine Gefahr aus) in den

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Gefühlslagen nicht adäquat niederschlägt. Es gibt Strategien, um in solchen Fällen die Kontrolle zurück zu gewinnen; während des Essens Fotos von Spinnen zu betrachten soll im Laufe der Zeit helfen. Was geschieht hier? Die Person weiß um die Irrationalität ihres Gefühls, eines Gefühls, das einen kognitiven Gehalt hat (es gibt auch andere Formen der Irrationalität von Gefühlen) und sie wählt eine Verhaltensstrategie, die den kausalen Nexus zwischen sensorischen Stimuli und Gefühlslagen (hier dem sensorischen Stimulus in Spinnengestalt zum Gefühl der Phobie) unterbricht, um den Gründen die gewünschte Wirkung auf Gefühlslagen erst zu verschaffen. Man könnte auch sagen, diese Einsicht wird kausal wirksam. Wir haben es also mit einer Konkurrenz zu tun zwischen der kausalen Wirksamkeit eines nicht von Gründen gesteuerten Prozesses (der Prozess, der zwischen den sensorischen Stimuli der Spinnengestalt und dem Gefühl der Angst abläuft) und dem kausalen Prozess, der zwischen der Einsicht (Ungefährlichkeit der Spinnen) und dem Gefühl (entspannte Reaktion auf Spinnenwahrnehmung) abläuft. In dieser Interpretation wird – hoffentlich – deutlich, dass eine Zwei-AspekteMetaphysik nicht befriedigen kann. Der kausale Prozess, der von der Wahrnehmung einer Spinne zur pathologischen Spinnenangst führt, steht im Konflikt zu den Gründen, die gegen Spinnenphobie sprechen. Es ist nicht zutreffend, dass (naturwissenschaftlich grundsätzlich erfassbare) Kausalität prinzipiell nicht in Konflikt mit Gründen kommen kann, da diese einer anderen linguistischen Ebene angehörten. Es ist nicht zutreffend, dass die intentionalistische Beschreibung menschlichen Handelns mit der kausalistischen schon deswegen nicht in Konflikt kommen kann, weil die ontologischen Präsuppositionen beider Beschreibungen voneinander unabhängig sind. Dieses einfache Beispiel zeigt, dass diese ontologische Unabhängigkeit nicht besteht. Wenn der Kausalitätsbegriff nicht an nomologische Erklärungsformen der Naturwissenschaften gebunden wird, kann dieser Konflikt auch folgendermaßen zugespitzt werden. Spielen Gründe (genauer: Deliberations-Ergebnisse) eine kausale Rolle? Oder kürzer und unter Umgehung des Kausalitätsbegriffes: Sind Gründe wirksam, haben Gründe eine Wirkung auf das, was wir glauben, das, was wir tun und das, was wir fühlen? Wir können annehmen, dass die kausale Wirksamkeit von Gründen über neurophysiologische Prozesse vermittelt ist. Auch konkrete Deliberation, das konkrete Abwägen von Gründen, realisiert sich in neurophysiologischen Prozessen, wie wir annehmen können. Aber die Regeln guten Begründens ergeben sich nicht aus naturwissenschaftlichen, auch nicht aus psychologischen Gesetzmäßigkeiten. Es gibt keinen Grund, hinter die

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Psychologismus-Kritik Freges und Husserls zurückzufallen. Wenn logische Inferenzregeln nicht als psychologische Gesetzmäßigkeiten interpretiert werden können, so a fortiori nicht als neurophysiologische. Die Welt 3, von der Popper in seinen späteren Schriften redet, die Welt der logischen Inferenzregeln, des Wissens, der Begründungen, der Theorien lässt sich weder auf die naturalistische Welt, bestehend aus natürlichen Tatsachen, die grundsätzlich mit begrifflichen Mitteln der Naturwissenschaft beschreibbar und erklärbar sind, noch auf die Welt der subjektiven Gegebenheiten, der mentalen Zustände, der Dispositionen, der Wünsche und Überzeugungen reduzieren. Die Theorie des naturalistischen Fehlschlusses, die naturalistic fallacy von George Edward Moore, deren Begründung in Principia Ethica (1903) unzureichend ist, die aber bis heute vom ganz überwiegenden Teil der Ethiker und Philosophen akzeptiert wird, markiert nur einen Spezialfall dieser These der NichtReduzierbarkeit. Die Inadäquatheit einer epistemischen Definition deskriptiver oder normativer Wahrheit scheint mir das entscheidende Kriterium dieser Nicht-Reduzierbarkeit des Logischen (im weitesten Sinne), also nicht nur Inferenzregeln, sondern auch Propositionen umfassend, auf das Mentale zu sein, so wie die Nicht-Definierbarkeit von Qualia durch physische (oder ,natürliche’) Prädikate ein umfassendes Kriterium für die Nicht-Reduzierbarkeit des Mentalen auf das Physische markiert. Wenn wir etwa davon sprechen, dass wir diese Gründe eingesehen haben oder dass eine Person zwar glaubte einen Grund zu haben, tatsächlich aber keinen guten Grund hatte, etwas zu tun, dann ordnen wir Gründe (in diesem Sprachgebrauch) der logischen Sphäre zu. In diesem Sinne kann man auch von „objektiven“ oder „guten“ Gründen sprechen.

3.5 Es kann gute Gründe geben, etwas zu tun oder zu unterlassen, ohne dass es auch nur eine Person gibt, die diese Gründe einsieht. Die Ermordung einer unschuldigen Person kann auch dann ungerechtfertigt sein, keinen guten Grund für sich haben, wenn es niemanden gibt, der dies erkennt. Alle diese Behauptungen sind auf den alltäglichen Sprachgebrauch gestützt. Sie rekurrieren nicht auf eine davon unabhängige Metaphysik oder Ontologie. Ja, wir sollten der Versuchung widerstehen, diese Befunde einer deskriptiven Metaphysik zu ontologisieren. Der deskriptive und normative Objektivismus, der in unsere alltägliche Verständigungs- und Interaktionspraxis eingelassen ist, lässt eine Reduktion der (objektiven)

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Gründe auf (subjektive) Motive, wie es der Hume’schen Tradition in der praktischen Philosophie entspricht, nicht zu. Dieser Objektivismus ist unaufgebbar, wenn man an der etablierten Verständigungspraxis festhält und diese nicht in toto verwerfen will. Eine solche Verwerfung wäre nicht möglich; derjenige, der dies versucht, würde sich außerhalb der Verständigungsgemeinschaft stellen und keine Chancen auf Gehör haben, außer vielleicht in sektenartigen Klüngeln von „Halbirren“, um den Wittgenstein’schen Ausdruck zu gebrauchen.18 Die Isolierung, das heißt die Abkoppelung von lebensweltlichen Verständigungsprozessen, ist aber dann die Voraussetzung. Gute Philosophie und gute Wissenschaft sind jedoch mit der lebensweltlichen Verständigungspraxis kompatibel, im besten Falle verbunden durch Regeln der lebensweltlichen Anwendung und komplementär im Sinne eines erweiterten lebensweltlichen Orientierungswissens (Nida-Rümelin 2002, Kapitel 6). Epistemische Revolutionen gibt es in der Wissenschaft,19 sie ziehen in der Regel keine epistemischen Revolutionen unseres lebensweltlichen Orientierungswissens nach sich. Die besonders unter Naturwissenschaftlern verbreitete Vorstellung, dass irrige Alltagsvorstellungen von der Wissenschaft revidiert werden, gilt nur in marginalen Bereichen lebensweltlichen Urteilens. Selbst der Übergang vom geo- zum heliozentrischen Weltbild erfordert keine Revisionen lebensweltlichen Orientierungswissens. Die metaphysischen, religiösen und generell weltanschaulichen Folgen, die wissenschaftliche Revolutionen nach sich ziehen können, stehen dagegen auf einem ganz anderen Blatt. In der Tat führen besonders erfolgreiche naturwissenschaftliche Forschungsprogramme meist einen weltanschaulichen Überschuss mit sich, der unzulässige Verallgemeinerungen auf Bereiche, für die diese wissenschaftlichen Theorien nicht gedacht sind, beinhalten. Dies gilt für den Sozial-Darwinismus des 19. und 20. Jahrhunderts, für die vermeintlich anti-ethischen Implikationen der Soziobiologie und für die Fundamentalkritik der Freiheit und Verantwortung, die manche aus zeitgenössischen neurophysiologischen Befunden glauben ableiten zu können. Es ist eine irreführende Vorstellung zu meinen, 18 Dass die eine oder andere Philosophenschule im Laufe der abendländischen Geistesgeschichte diesem Charakteristikum entsprochen haben mag, will ich gar nicht bestreiten. Ich bestreite aber, dass die Diskurse, die im geschützten Bereich eines Oberseminars oder einer Akademie möglich sind, diesem entsprechen. 19 Thomas S. Kuhn hat diese in eindringlicher Form beschrieben, ohne jedoch die wissenschaftstheoretischen Implikationen zureichend zu erfassen. Die irrationalistischen Interpretationen vieler seiner Anhänger sind jedenfalls nicht zwingend.

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dass die Naturwissenschaften unser lebensweltliches Orientierungswissen erst validieren. Dies gilt weder in historischer, noch in systematischer Betrachtungsweise. In historischer nicht, weil unser lebensweltliches deskriptives wie empirisches Orientierungswissen eine erstaunliche Invarianz über die Zeiten aufweist, ohne damit obsolet zu werden. Die sogenannte folk psychology, also die wechselseitige Zuschreibung von mentalen Eigenschaften, Dispositionen und Intentionen, trägt das alltägliche Beziehungs- und Interaktionsgefüge und ist weder durch die Entwicklung der Psychologie zu einer empirischen Wissenschaft seit der vorletzten Jahrhundertwende, noch durch die jüngste Entwicklung der Neurophysiologie in ihrer Orientierungsleistung erschüttert. Diese Feststellung ist hier deswegen wichtig, weil das gesamte Projekt einer im oben erläuterten Sinne deskriptiven Metaphysik infrage gestellt wäre, träfe diese Feststellung nicht zu. Wenn unser lebensweltliches Orientierungswissen als Ruinenfeld längst vergangener wissenschaftlicher Theorien mit Anbauten aus neueren wissenschaftlichen Theorien gelten müsste, könnte auch die Analyse der begrifflichen, normativen und deskriptiven Präsuppositionen unserer lebensweltlichen Verständigungsund Interaktionspraxis bestenfalls die Fundamente dieses Ruinenfeldes und seiner Anbauten freilegen. Warum sollte man ein systematisches Interesse an diesem Unterfangen haben, wenn doch alle Hoffnung auf die Aufklärungsleistung der empirischen Einzelwissenschaften gerichtet ist? Das Projekt einer deskriptiven Metaphysik setzt – impliciter – die Zurückweisung des Szientismus voraus.

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Freiheit und praktische Vernunft

Persönliche Projekte als diachrone Orientierungsprinzipien Monika Betzler

1. Einleitung Julian Nida-Rümelin zufolge sind rationale Überlegung und die langfristige Strukturierung des eigenen Lebens durch akzeptierte Handlungsgründe kennzeichnend für die menschliche Existenz (Nida-Rümelin VF, in diesem Band, Kapitel 2.3; 2001, Kapitel 3). Philosophinnen und Philosophen kommt hierbei die Aufgabe zu, den Status und die Leistung solcher Gründe, die unser Leben strukturieren, genauer zu klären. Dieses Anliegen möchte ich im Folgenden aufgreifen und auf eine eigenständige Kategorie praktischer Vernunft aufmerksam machen, die meiner Ansicht nach für unser rationales Handeln über die Zeit eine besondere Rolle spielt. Für diese Kategorie werde ich den Begriff „persönliches Projekt“ benutzen. Hierbei möchte ich für die These argumentieren, dass persönliche Projekte eine nicht reduzierbare Quelle praktischer Gründe sind, die unserem Leben wertvollen Gehalt und rationale Struktur geben und somit einen spezifischen normativen Anspruch an uns stellen. Ihnen zu folgen ist nicht nur rational, weil sie uns wertend gebunden sein lassen, sondern auch, weil sie unter anderem unsere praktische Identität konstituieren. Um diese These verteidigen zu können, muss zunächst geklärt werden, was unter persönlichen Projekten genauer zu verstehen ist und inwiefern sie normative Signifikanz besitzen. In einem nächsten Schritt werde ich zu zeigen versuchen, warum persönliche Projekte aufgrund der Gründe, die sie generieren, als genuines Phänomen zu verstehen sind. Diese These gilt es im Vergleich mit anderen Kategorien praktischer Vernunft, vor allem mit Wünschen, Plänen und Idealen, zu erhärten. Bevor ich mich diesen Aufgaben zuwende, sei vorab noch bemerkt, dass auf die normative Bedeutung persönlicher Projekte bereits im Rahmen einer Kritik am Utilitarismus und klassischen Konsequenzia-

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lismus aufmerksam gemacht wurde.1 So lautet eine mittlerweile weit verbreitete Auffassung, dass die unparteiliche Perspektive der utilitaristischen Ethik – der zufolge immer das Wohlergehen aller maximiert werden soll – Personen moralisch überfordert. Sie können ihren eigenen Projekten kein Gewicht mehr verleihen, da sie immer mehr tun können, um das allgemeine Wohlergehen zu befördern. Die unparteiliche Gewichtung der Anliegen aller droht der Verfolgung persönlicher Projekte, deren spezifischer Wert allein erstpersonal – also aus der Perspektive des je eigenen Lebens heraus – erfasst werden kann, jede moralische Legitimität zu entziehen. Persönliche Projekte dürften daher nur verfolgt werden, wenn sie einen Beitrag zum Wohlergehen aller liefern. Da sie zu diesem Zweck selten, wenn überhaupt, das nötige Gewicht besitzen, scheint es niemals (oder fast nie) erlaubt, persönliche Projekte zu verfolgen.2 Aufgrund dieser moralischen Überforderung, so die Kritik, verlieren Personen ihre Integrität sowie den Sinn ihres Lebens (Williams 1963, 4 und 12). Die unpersönliche Perspektive des Wohlergehens aller ignoriert die Unabhängigkeit und Distinktheit der persönlichen Sichtweise (Scheffler 1982, 40). Eine Moraltheorie, die uns nicht erlaubt, diese persönliche Sichtweise einzunehmen, scheint daher grundsätzlich mangelhaft. Oder, positiv gewendet: Eine überzeugende Moraltheorie muss die Berücksichtigung persönlicher Projekte prinzipiell möglich machen. Diese moralphilosophische Debatte sitzt gewissermaßen auf der Frage auf, die die folgenden Überlegungen (zumindest teilweise) zu beantworten suchen. Denn um zu zeigen, inwiefern persönliche Projekte von der Moraltheorie überhaupt berücksichtigt werden können, muss präzisiert werden, was sie sind und was ihnen einen besonderen normativen Status verleiht. Im Folgenden möchte ich daher klären, worin dieser normative Status besteht und inwiefern Projekte diachrone Orientierungsprinzipien eigener Art sind.

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Erstmalige Erwähnung fanden persönliche Projekte meines Wissens bei Williams (1973, 108 – 118). Siehe Nagel (1986, 168); Nida-Rümelin (1993, 91) macht ebenfalls auf die Überforderung strikt konsequenzialistischer Theorien aufmerksam.

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2. Die normative Signifikanz persönlicher Projekte Was genau sind persönliche Projekte und inwiefern verdienen sie einen eigenen Platz auf unserer normativen Landkarte? Um diese Frage zu beantworten, werde ich zunächst aufgrund alltäglicher Beobachtung beschreiben, was Personen tun und wie sie sich verhalten, wenn sie persönliche Projekte haben.3 Im Laufe unseres Lebens verfolgen wir typischerweise viele verschiedene Unternehmungen: Wir haben Berufe, wir widmen uns Hobbies oder anderen Freizeitaktivitäten, wir pflegen interpersonelle Beziehungen und wir engagieren uns für Ziele, die uns am Herzen liegen. Ich gebrauche den Begriff „persönliche Projekte“, um diese verschiedenen Arten von Unternehmungen zu bezeichnen. Sobald wir ein persönliches Projekt verfolgen, erwerben wir besondere und prinzipiell legitime Gründe der Parteilichkeit: Dies sind Gründe, unser Projekt sowohl gegenüber anderen persönlichen Interessen, Zielen oder Wünschen als auch gegenüber rein unparteilichen Erwägungen und somit gegenüber den Interessen anderer oder aller den Vorzug zu geben. Dies schließt nicht aus, dass eine Person sich einem moralischen Projekt widmen kann, das den Interessen anderer dient und daher auch aus unparteilicher Perspektive gerechtfertigt scheint. Die Gründe der Parteilichkeit, die Projekte – und zwar auch moralische Projekte – generieren, bestehen jedoch darin, dass sie besonderes normatives Gewicht für die Person, die sie verfolgt, besitzen. Sie verleihen einem Projekt, sobald es verfolgt wird, normativen Vorrang, ungeachtet dessen, ob das Projekt moralischer oder nicht-moralischer Natur ist. Zum einen lassen sich diese Gründe, die einem Projekt normativen Vorrang verleihen, durch strukturelle Eigenschaften beschreiben: Ein Projekt zu verfolgen impliziert, dass wir es als besonders stabil und handlungsleitend über die Zeit betrachten. Wir haben Gründe, es nicht immer zu hinterfragen und zu überdenken. Diese sind modal stringent, da sie uns das Projekt, das wir einmal verfolgen, auch in einer möglichen Welt, in der das Projekt weniger erfolgreich oder unsere momentanen Motive für das Projekt weniger ausgeprägt sind, weiter verfolgen und nicht revidieren lassen. Zum anderen können diese Gründe durch ihre 3

Zunächst gehe ich von einem intuitiven Begriff persönlicher Projekte aus, um ihn dann begrifflich zu schärfen. Der Einfachheit halber verwende ich bisweilen den bloßen Begriff „Projekte“; es sind jedoch immer „persönliche Projekte“ gemeint.

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substanziellen Eigenschaften beschrieben werden. Es handelt sich um Gründe für eine Menge bestimmter Handlungen und Verhaltensweisen, die das Verfolgen eines konkreten Projekts ausdrücken und die betreffende Person diachron handeln und wertend gebunden sein lassen. Dass sich diese Handlungen und Verhaltensweisen auf Gründe zurückführen lassen, ergibt sich schließlich aus unserer Praxis rationaler Kritik. Typischerweise kritisieren wir Personen, die derartige Verhaltensmuster nicht zeigen und dennoch behaupten, ein persönliches Projekt zu verfolgen. Diese Praxis der Kritik legt nahe, dass es Gründe gibt, aus denen Personen handeln, wenn sie Projekte haben und dass sie diese Gründe typischerweise akzeptieren. Dies impliziert nicht (oder nicht notwendigerweise), dass Personen, die diesen Gründen nicht folgen, kein Projekt haben. Aber sie scheinen es in einer nicht angemessenen Weise zu verfolgen. Und sofern sie auf diese Gründe nie reagieren, so liegt der Schluss tatsächlich nahe, ihnen das Verfolgen eines Projekts abzusprechen. Betrachten wir ein Beispiel, um dies näher zu explizieren. Anna verfolgt ein bestimmtes Projekt: Sie engagiert sich für die Rettung des Regenwaldes. Sie reist daher nach Brasilien, um in einer Gruppe von Umweltschützern mit den Regierungsbeamten der brasilianischen Regierung und mit internationalen Vertretern der Holzwirtschaft zu verhandeln. Sie verkauft in ihrer Heimatstadt Kräuter aus der AmazonasRegion, um fairen Handel zu begünstigen. Darüber hinaus verteilt sie Broschüren bei öffentlichen Veranstaltungen, um das Bewusstsein für die Dringlichkeit eines verbesserten Schutzes des Regenwaldes zu schärfen. Warum tut sie das? Die erste Antwort liegt auf der Hand: Der Schutz des Regenwaldes ist eben Annas Projekt. Aber als Philosophinnen, die herausfinden wollen, inwiefern solche Projekte Gründe stiften und um welche Gründe es sich genau handelt, müssen wir weiter fragen. Auf welche Gründe reagiert Anna genau? Mit Blick auf diese Frage fällt die Antwort differenzierter aus. Zum einen sind Projekte in dem Sinne speziell, als sie Gründe generieren, um Handlungen nicht nur einmalig und episodisch, sondern wiederholt auszuführen. Wenn Anna einmalig Broschüren verteilte, würden wir ihr in der Regel nicht zugestehen, sich für die Rettung des Regenwaldes zu engagieren. Zum zweiten sind Projekte speziell, als sie nicht nur Gründe generieren, einen bestimmten Handlungstyp wiederholt auszuführen. Vielmehr generieren sie Gründe für verschiedene Handlungstypen, die jeweils wiederholt ausgeführt werden. So ist es wenig wahrscheinlich, dass Anna nur regelmäßig Broschüren in ihrer

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Gemeinde verteilt. Wenn der Schutz oder die Rettung des Regenwaldes ihr Projekt ist, dann wird sie eine ganze Menge verschiedener Handlungstypen im Laufe der Zeit ausführen, die gemeinsam ihr Engagement für die Rettung des Regenwaldes ausdrücken. Diese verschiedenen Handlungstypen sind miteinander verbunden, da sie sich auf dasselbe Projekt beziehen. Gleichwohl ist diese Verbindung indirekt, da der Verkauf von Kräutern aus dem Regenwald sowie das Verteilen von Broschüren – um nur zwei Handlungstypen herauszugreifen – nicht unmittelbar aufeinander verweisen. Beide Handlungstypen werden unabhängig voneinander ausgeführt und sie stehen in keinem direkten kausalen oder gar begrifflichen Verhältnis. Das heißt, Broschüren zu verteilen bewirkt nicht, dass Anna Kräuter verkauft (oder umgekehrt).4 Noch viel weniger impliziert das Verteilen von Broschüren logisch, dass Anna Kräuter verkauft. Es ist auch nicht so, dass sich diese verschiedenen Handlungen als Vorkommnisse eines einzigen Handlungstyps, nämlich dem Verfolgen eines Projekts, beschreiben lassen, die in einer „indem“Beziehung zueinander stehen. Auch wenn die Individuierung von Handlungen notorisch schwierig ist, so scheint in diesem Fall Anna auch nicht das Projekt der Rettung des Regenwaldes als einzige individuierbare Handlung zu verfolgen, indem sie Kräuter verkauft und Broschüren verteilt. Dies liegt daran, dass Kräuter verkaufen und Broschüren verteilen in keinem begrifflichen oder kausalen Zusammenhang stehen und somit keine bloße Beschreibung der Handlung „Rettung des Regenwaldes“ sind. Wir scheinen daher mit einem Problem konfrontiert. Wir wollten am Beispiel Annas herausfinden, was es heißt, ein persönliches Projekt zu haben und auf welche Gründe eine Person reagiert, die ein Projekt verfolgt. Jetzt stellen wir fest, dass sie verschiedene Handlungen5 wiederholt ausführt, die in keiner direkten Beziehung zueinander zu stehen scheinen. Doch wie, so könnte man fragen, kann gezeigt werden, dass diese verschiedenen Handlungstypen indirekt, aber nicht-arbiträr, als 4

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Es ist zwar denkbar, dass der Erlös aus dem Verkauf der Kräuter bewirkt, dass Broschüren gedruckt werden können, die Anna dann verteilt. Dieser kausale Zusammenhang zwischen verschiedenen Handlungen ist jedoch nicht notwendig, um Annas Ausführen dieser verschiedenen Handlungen als Engagement für ein Projekt zu deuten. Diese Handlungstypen können ihr Projekt ausdrücken, auch wenn der Erlös aus dem Verkauf der Kräuter nicht für den Druck der Broschüren verwendet wird. Genauer formuliert handelt es sich um das Ausführen von Handlungsvorkommnissen, die unterschiedliche Handlungstypen exemplifizieren.

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plausible Bausteine persönlicher Projekte miteinander verbunden sind, ohne stillschweigend bereits einen Begriff persönlicher Projekte vorauszusetzen? Muss sich eine solchermaßen behauptete Verbindung nicht den Vorwurf der Zirkularität gefallen lassen? Was schließlich die genannten Handlungstypen als Bestandteil oder Ausdruck des Projekts „Rettung des Regenwaldes“ erscheinen lässt, – im Gegensatz etwa zum Verkauf von Mahagoni aus dem Amazonas-Gebiet oder der Beteiligung an der Rodung des Regenwaldes – sind substanzielle Normen, die mehr oder weniger präzise vorschreiben, worin die Rettung des Regenwaldes besteht. Diese Normen müssen vorausgesetzt werden, um eine Menge verschiedener Handlungstypen als indirekt miteinander verbunden fassen zu können – das heißt via einer solchen Norm. Sie enthält Vorgaben darüber, wie die Rettung des Regenwaldes angemessen erzielt werden kann. Diese Norm bestimmt jedoch nicht allein, was ein persönliches Projekt ist. Insofern muss der Begriff eines persönlichen Projekts nicht vorausgesetzt werden, um die Verbindung verschiedener Handlungstypen zum Beispiel als Ausdruck der Rettung des Regenwaldes auszuweisen. Wenn Anna dies als Projekt verfolgt, muss sie mit dieser Norm hinreichend vertraut sein und praktisches Wissen hinsichtlich der zu bewirkenden Rettung des Regenwaldes und ihres dafür möglichen Beitrags besitzen. Wenn man weiß, was zur Rettung des Regenwaldes wesentlich beiträgt, wird man einzelne Handlungstypen als Beitrag verfolgen. Sie sind insofern miteinander verbunden, als sie beitragende Teile zu einem Ganzen sind. Dies schließt nicht aus, dass Anna diese Norm auch verletzen kann, etwa wenn sie Handlungen ausführt, die für die Rettung des Regenwaldes nicht zweckmäßig sind. Sobald sie jedoch zu häufig oder zu fundamental von dieser Norm abweicht (zum Beispiel, weil sie das gesamte Projekt unterminierende Aktivitäten entfaltet und sich plötzlich für die Rodung des Regenwaldes einsetzt), dann verfolgt sie das Projekt „Rettung des Regenwaldes“ nicht mehr. Damit ist jedoch erst eine Art der Gründe geklärt, den Anna hat, sofern sie ein persönliches Projekt verfolgt: Sie hat einen Grund, verschiedene Handlungstypen wiederholt auszuführen, die einer solchen Norm entsprechen und über diese Norm indirekt miteinander verbunden sind. Es ist eine strukturelle Eigenschaft, dass – sobald eine Person auf diesen projektabhängigen Grund reagiert und verschiedene normabhängige Handlungstypen wiederholt ausführt – dieser Grund besonderes normatives Gewicht gegenüber anderen Zielen und anderslautenden Wünschen erhält.

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Diese projektabhängigen Gründe für das Engagement in einer Menge von normbestimmten verschiedenen Handlungstypen über die Zeit sind es, die die Person darauf festlegen, ihre anderweitigen Entscheidungen und Handlungen entsprechend zu koordinieren. Es ist das Verfolgen ihres Projekts, das ihre einzelnen Handlungen rational (beziehungsweise irrational) macht – wie etwa, das Wochenende mit dem Verteilen von Broschüren zu verbringen, anstatt sich einfach auszuruhen. Wenn es Annas persönliches Projekt ist, sich für die Rettung des Regenwaldes zu engagieren, so hat sie Grund, dies – ceteris paribus – weiterzuverfolgen und es zu erhalten, selbst wenn momentane Gegengründe (etwa, weil es bisweilen frustrierend erscheint, sich dafür einzusetzen) dagegen sprechen, oder sie andere Projekte, wie etwa die Blauwale vor dem Aussterben zu bewahren, hätte wählen können. Dieser Grund erlangt somit den Status eines unhinterfragten und gewohnheitsmäßigen Standards. Er gibt unter anderem vor, andere mögliche Projekte nicht zu verfolgen, die das besagte Engagement für den Regenwald verunmöglichen würden. Persönliche Projekte besitzen somit ein normatives Gewicht, das andere Ziele nicht in derselben Weise besitzen. Dies schließt nicht prinzipiell aus, dass auch dieses normative Gewicht bei hinreichend starken Gegengründen überwogen werden kann. Wichtig ist jedoch, dass diese Gegengründe sehr stark sein müssen6 und ein Projekt vor allem nicht (oder nicht vornehmlich) mit dem Ziel verfolgt wird, es aufzugeben. Doch diese genannten projektabhängigen Handlungsgründe mit ihrem spezifischen, normabhängigen Gehalt und ihrer distinkten normativen Struktur, die graduell über das Verfolgen eines Projekts entsteht, sind nicht hinreichend, um das Verfolgen eines persönlichen Projekts zu charakterisieren. Die Crux ist, dass wir diese Normen auch erfüllen können, ohne bereits ein persönliches Projekt zu verfolgen. Betrachten wir etwa Anna2, die den Verhandlungen in Brasilien nur beiwohnt, weil sie damit ein höheres öffentliches Prestige gewinnt, und die Broschüren verteilt, weil sie mit vielen einflussreichen Bürgern der Gemeinde in Kontakt kommt. Oder betrachten wir Anna3, die sich aus reinem Pflichtgefühl engagiert und selbst keinerlei Interesse oder Freude daran hat, oder weil sie von ihrem Guru bei Androhung des Verlusts ihres Seelenheils dazu gezwungen wurde. Wir würden weder im Fall von Anna2 noch im Fall von Anna3 davon sprechen, dass sie die Rettung des 6

Ich kann an dieser Stelle aus Platzgründen nicht zeigen, wie eine solche Schwelle ausbuchstabiert werden könnte.

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Regenwaldes als persönliches Projekt verfolgen. Dies liegt daran, dass ein Projekt zu verfolgen sich nicht darin erschöpft, den Normen zu entsprechen, die verschiedene Handlungstypen als Beitrag zu einem Unternehmen, wie der Rettung des Regenwaldes, ausweisen. Diese Normen stellen notwendige Bedingungen für das Verfolgen eines persönlichen Projekts dar, aber ihnen zu folgen ist nicht hinreichend dafür. Was hinzukommen muss, ist, dass die Person, die ein Projekt verfolgt, dies mit einer bestimmten motivationalen beziehungsweise affektiven Einstellung tut und somit einen Grund für verschiedene derartige Einstellungen implizit oder explizit akzeptiert. Diese emotionalen Einstellungen drücken die distinkte Wertschätzung ihres Projekts aus. Sobald eine Person ein Projekt verfolgt und tatsächlich wertschätzt, entwickelt sie zunehmend eine Bindung an dieses Projekt, die einen unabhängigen Wert erlangt. Ihre Wertschätzung resultiert folglich daraus, dass die betreffende Person ein Projekt als ihres akzeptiert. An ein Projekt solcherart gebunden zu sein ist unabhängig wertvoll, da es – zumindest zum Teil – die praktische oder normative Identität der Person ausmacht. Wenn Anna sich also über einen längeren Zeitraum für die Rettung des Regenwaldes eingesetzt hat und es ihr tatsächlich gelungen ist, dieses Projekt wertzuschätzen, wird sie dieses Projekt zunehmend als ihres verfolgen. Das heißt, sie wird sich als eine Person verstehen, die unter anderem Retterin des Regenwaldes ist. Dieses identitätskonstituierende Merkmal, das aus der wertschätzenden Bindung über Zeit erfolgt, zeichnet persönliche Projekte in besonderer Weise aus und ist neben der diachronen Strukturierung unseres Lebens Teil ihrer normativen Signifikanz. Das heißt, sobald wir im Verfolgen eines Projekts auf projektabhängige Gründe reagieren, strukturieren wir uns diachron und konstituieren unsere Identität in der wertenden Bindung, die wir an unser Projekt entwickeln. Auch diese zweite Art der projektabhängigen Gründe, die unsere Wertschätzung eines Projekts ausdrücken, lassen sich nach substanziellen und strukturellen Merkmalen unterscheiden. Was die substanziellen Merkmale anlangt, so empfindet eine Person, die ein Projekt verfolgt, typischerweise eine Reihe unterschiedlicher Emotionen gegenüber den folgenden Eigenschaften des Projekts: wie es sich über Zeit entwickelt, wie erfolgreich es ist unter den gegebenen Umständen, und in welcher Beziehung es zu der Person steht, die es verfolgt. Kehren wir zu unserem Beispiel zurück: Wenn die internationale Holzwirtschaft die Rettung des Regenwaldes durch massiven Druck auf die brasilianische Regierung zu

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unterminieren droht, wird Anna das Scheitern ihres Projekts befürchten. Sie ist möglicherweise wütend auf diejenigen, die den Erfolg ihres Projekts bedrohen. Dagegen wird sie sich über die Solidarität derjenigen, die ihr Engagement teilen, freuen. Ihre Emotionen sind nicht nur auf andere Personen gerichtet, die das Verfolgen ihres Projekts behindern oder befördern helfen. Einige ihrer Emotionen sind auf das Verfolgen des Projekts gerichtet. Anna wird Aufregung und Glücksgefühle empfinden, wenn sie ihrem Projekt nachgehen kann. Sie wird darüber hinaus Hoffnungen in Bezug auf ihr Projekt haben, und wenn diese Hoffnungen enttäuscht werden, wird sie dies bedauern. Wenn etwa Annas Verhandlungen mit der brasilianischen Regierung nicht das gewünschte Ergebnis erzielen, wird sie in der Regel traurig, enttäuscht oder frustriert sein. Ferner wird Anna zunehmend geneigt sein, reflexive Emotionen zu empfinden. Das heißt, sie wird Eigenschaften ihrer selbst in Abhängigkeit davon, dass sie ein bestimmtes Projekt verfolgt, wahrnehmen. So mag sie stolz und zufrieden mit sich sein, wenn ihr Engagement für den Regenwald erfolgreich ist, von anderen positiv bewertet wird oder ihren eigenen Vorstellungen entspricht. Sie wird dagegen beschämt sein, sich in ihrem Selbstwert vermindert oder gar schuldig fühlen, wenn ihr Projekt misslingt. Die Erfahrungen dieser Emotionen sind jedoch meistens nicht episodisch. Vielmehr gibt es rationale Beziehungen zwischen einzelnen emotionalen Einstellungen, deren gemeinsamer Fokus die Entwicklung eines verfolgten Projekts über Zeit ist und wie es die Person, die es verfolgt, jeweils betrifft. So generiert die Freude und Aufregung, die Anna anlässlich der bevorstehenden Verhandlung mit der brasilianischen Regierung spürt, Gründe, traurig und frustriert zu sein, wenn diese Verhandlungen nicht den erhofften Erwartungen entsprechen. Dieselben rationalen Beziehungen gelten zwischen reflexiven Emotionen. Der Stolz auf das eigene Gelingen im Verfolgen eines Projekts generiert Gründe zur Scham, wenn dem Projekt kein Erfolg beschert ist. Sobald eine Person ein Projekt verfolgt, hat sie Gründe, ihre Einstellungen auf dieses Projekt und auf sich selbst als diejenige, die ein solches Projekt hat, zu richten. Sie ist somit auf ein ganzes Netzwerk rational verbundener, positiver wie negativer, zukunfts- und vergangenheitsgerichteter emotionaler Einstellungen festgelegt, je nachdem,

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wie sich das Projekt über Zeit entwickelt.7 Indem eine Person diese rational verbundenen Emotionen erfährt, drückt sie ihre distinkte Wertschätzung eines Projekts als dem ihren aus.8 Die projektabhängigen Gründe für derartige Netze emotionaler Einstellungen sind insofern besonders, als sie wiederholt und daher über die Zeit die betreffende Person dazu veranlassen, ihnen zu entsprechen. Dieses diachrone emotionale Engagement führt wiederum dazu, dass sich eine Person mit ihrem Projekt in einer Weise identifiziert und sich somit daran bindet, wie es nur für Projekte typisch scheint. Dass eine Person Gründe für diese emotionalen Einstellungen hat, zeigt sich auch hier unter anderem in der Praxis unserer rationalen Kritik. So scheint es angemessen, wenn eine Person, die ein Projekt verfolgt, derartige Einstellungen einnimmt. Wir sind daher geneigt, einer Person abzusprechen, überhaupt ein Projekt zu verfolgen, wenn sie keine derartigen Netze emotionaler Einstellungen erlebt. Auch hier sind punktuelle Abweichungen möglich. Wenn es Anna jedoch nicht affektiv berühren würde, ob ihre Verhandlungen gelingen, dann schiene es uns zweifelhaft, ob sie sich wirklich für die Rettung des Regenwaldes als ihrem Projekt engagiert. Wenn sie sich zwar über den Erfolg ihres Projekts freute, aber nicht traurig oder enttäuscht wäre, wenn es misslingt, dann wären wir verwundert – und zwar deshalb, weil die Gründe, die für Freude Anlass geben, wenn das Projekt erfolgreich ist, dieselben bleiben, die Anlass für Enttäuschung geben, wenn es misslingt. Sie resultieren aus dem Wert, den sie dem Projekt, an das sie sich gebunden hat, zuschreibt. Dass derartige emotionale Einstellungen auch unbegründet oder unproportional sein können, schließt nicht aus, dass sie prinzipiell Gründe wahrnehmen. Es muss jedoch einer eigenen Theorie der Emotionen vorbehalten sein zu zeigen, inwiefern diese als intentionale Einstellungen mit kognitivem Gehalt Gründe aufzuspüren vermögen. Ich gehe im Rahmen dieses Beitrags davon aus, dass dies möglich ist und unsere Praxis rationaler Kritik bestätigt diese Möglichkeit. Die strukturellen Merkmale der Gründe für referenziell verbundene emotionale Einstellungen bestehen in ihrem prinzipiell nicht-instru7

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Siehe etwa Scheffler (2004, 253 f.), der auf die emotionale Bedeutung von persönlichen Projekten hinweist. Auf die rationale Verbindung emotionaler Einstellungen hat Helm (2001, 196) ganz unabhängig von persönlichen Projekten aufmerksam gemacht. Vgl. Helm (2000, 1 – 22). Dies schließt nicht aus, dass rational verbundene emotionale Einstellungen noch andere Objekte als persönliche Projekte haben können.

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mentellen Charakter. Anna engagiert sich nicht (oder nicht ausschließlich), um ein bestimmtes Ziel oder ein von ihrem Engagement unabhängiges Ergebnis zu erzielen. Das mag in dem genannten Beispiel erstaunlich scheinen, sollte die tatsächliche Rettung des Regenwaldes doch das Ziel sein, das herbeizuführen Anna wichtig ist. Schließlich würde sie sich nicht für dieses Projekt engagieren (oder zumindest wäre sie rational kritisierbar, sofern sie es täte), wenn die tatsächliche Rettung des Regenwaldes gar kein erreichbares Ziel wäre. Ebenso rational kritikwürdig erscheint es, wenn es Anna gleichgültig wäre, ob der Regenwald je gerettet werden könnte, oder gar hoffen würde, dass er nie gerettet wird, würde sie doch dann ein wichtiges Projekt verlieren. Das Ziel, den Regenwald tatsächlich zu retten und der damit verbundene ökologische Wert, ist einer der Gründe, warum Anna sich überhaupt für dieses Projekt entscheidet. Aber sobald sie dieses Projekt verfolgt, akzeptiert sie die genannten projektabhängigen Gründe. Diese zu akzeptieren impliziert, das Projekt nicht ausschließlich als Mittel zur Erlangung eines davon unabhängigen Ziels oder Ergebnisses, sondern aufgrund der evaluativen Erfahrungen, die es vermittelt, um seiner selbst willen wertzuschätzen ebenso wie für seinen identitätskonstituierenden Beitrag. Um dies angemessen zu tun, wird das Ende des Projekts nicht als einziges Motiv betrachtet. Bisweilen kann es sogar die Wertschätzung eines Projekts unterminieren, wenn sein Ende überhaupt in Betracht gezogen wird (wie etwa im Fall enger zwischenmenschlicher Beziehungen).9 Diese Wertschätzung wird unter anderem durch die indirekt verbundenen Tätigkeiten ebenso ausgedrückt wie durch ihre emotionalen Einstellungen gegenüber ihrem Projekt. Ihr Verfolgen des Projekts erhält einen vom Erlangen des Ziels unabhängigen Wert als Engagement, das sie 9

Dass unterschiedliche Projekte in verschiedener Hinsicht wertgeschätzt werden, kann sich auch in einer gewissen Zerrissenheit oder Ambivalenz manifestieren, wenn ein Projekt abgeschlossen wird: So soll ein bestimmtes Ziel – wie zum Beispiel die Rettung des Regenwaldes – ja erreicht werden. Zugleich soll das Projekt aufgrund der im Verfolgen liegenden evaluativen Eigenschaften sowie seines identitätskonstituierenden Merkmals weiterhin verfolgt und nicht beendet werden. Wenn eine Person nun gegenüber dem Abschluss eines Projekts Ambivalenz empfindet, liegt dies genau daran, dass das Verfolgen eines Projekts unabhängig vom Erlangen seines Ziels um seiner selbst willen wertvoll ist. Paradox formuliert, möchte die Person das Projekt beenden, da ihr das Ziel am Herzen liegt, und zugleich möchte sie es weiterverfolgen, da ihr das Projekt selbst am Herzen liegt.

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über die Zeit wertend gebunden sein lässt und zunehmend Teil ihrer Identität wird. Das Projekt gibt ihr somit einen Grund, sich zu binden und sich zum Teil darüber selbst zu verstehen. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Sobald eine Person sich auf ein bestimmtes Projekt festgelegt hat, erwirbt sie zwei verschiedene Arten von projektabhängigen Gründen: Erstens, Gründe für eine Menge verschiedener Handlungstypen, die referenziell durch die Norm, die ein partikulares Projekt bestimmen, verbunden sind, sowie zweitens, Gründe für referenziell verbundene Emotionen, die ihre Wertschätzung des Projekts sowie im zunehmenden Verfolgen eines Projekts über die Zeit den Wert ihrer Bindung an dieses Projekt reflektieren. Aufgrund dieser rationalen Muster von Handlungen und Emotionen können wir das zeitlich ausgedehnte Handeln und Verhalten einer Person als Ausdruck eines Projekts verstehen. Beide Arten von projektabhängigen Gründen sind Gründe der Parteilichkeit. Sie lassen die betreffende Person das einmal verfolgte Projekt um seiner selbst willen wertschätzen und andere inkompatible Ziele vernachlässigen. Diese Gründe werden durch das Verfolgen eines Projekts generiert, gleich welche Gründe ursprünglich für die Wahl eines solchen Projekts sprechen.

3. Persönliche Projekte als genuines Phänomen In dem Maße, in dem eine Person implizit oder explizit glaubt, die beiden skizzierten projektabhängigen Gründe zu haben, scheint es angemessen, persönliche Projekte als distinkte Kategorie praktischer Vernunft zu bezeichnen. Der Begriff „persönliches Projekt“ ist jedoch in unserer Alltagssprache unbestimmt und meine Verwendung des Begriffs spiegelt nicht in jeder Hinsicht unseren alltäglichen Gebrauch wider. Im alltagssprachlichen Gebrauch ist die Extension des Begriffs zugleich größer und kleiner als in der von mir bevorzugten Begriffsbestimmung. So bezeichnen manche das Ziel, ein sinnvolles Leben zu führen, als ein Projekt. Ein solches Ziel scheint mir jedoch zu abstrakt und nicht hinreichend normbestimmt, um einer Person konkrete Gründe für eine sinnvoll strukturierte Menge von Handlungen zu geben, die dieses Ziel ausdrücken. Solche abstrakten Ziele qualifizieren sich daher meinem Verständnis nach nicht als persönliche Projekte. Von Wirtschaftsberatern wird häufig gesagt, sie arbeiteten an einem Projekt, wie etwa der Optimierung von Informationsabläufen in einer bestimmten Firma. Derartige Tätigkeiten

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teilen zwar mit persönlichen Projekten in der von mir verwendeten Bedeutung das norm-bestimmte Handeln über Zeit. Gleichwohl ist es nicht notwendig, dass ein Wirtschaftsberater sein sogenanntes Projekt in dem Maße wertschätzt, dass es zum Fokus seiner emotionalen Einstellungen wird.10 Er kann sein sogenanntes Projekt aus rein strategischen Gründen verfolgen, ohne es um seiner selbst willen wertzuschätzen. Ebensowenig muss es konstitutiv für seine Identität sein. Meine engere Begriffsverwendung scheint jedoch dadurch gerechtfertigt, dass nur diejenigen persönlichen Projekte, so wie ich den Terminus gebrauche, normativ privilegiert sind. Meine Verwendung ist zugleich weiter, da sie nicht nur individualistisch oder gar egoistisch verstandene Unternehmungen bezeichnet. Darüber hinaus ist es hilfreich, eine Unterscheidung zwischen persönlichen Projekten und Zielen oder Zwecken zu treffen, wenngleich dies eher terminologischer Art ist. Da Ziele und Zwecke noch allgemeiner und in der Regel unschärfer gebraucht werden und darüber hinaus zu unerwünschten teleologischen beziehungsweise konsequenzialistischen Deutungen Anlass geben, scheint es klarer, Unternehmungen, die die genannten distinkten Gründe generieren, als „persönliche Projekte“ zu definieren. Die These, dass persönliche Projekte in dieser Begriffsverwendung eine eigene Kategorie praktischer Vernunft darstellen, könnte dennoch voreilig erscheinen. Dies scheint vor allem dann der Fall, wenn man bedenkt, dass Unternehmungen wie Hobbies, Berufe, interpersonelle Beziehungen und andere umfassende Ziele äußerst unterschiedlich sind. Warum sollten solch unterschiedliche Unternehmungen eine Quelle derselben zwei Arten von Gründen sein? Inwiefern könnte das Engagement für die Rettung des Regenwaldes also ähnlich relevant sein mit dem Beruf als Friseur oder einem Hobby wie Schachspielen? Schließlich handelt es sich bei verschiedenen Projekten nicht nur um ganz verschiedene evaluative Dimensionen, die zu ganz unterschiedlichen Erfahrungen veranlassen. Sie können sich auch darin unterscheiden, ob sie von einer Person bewusst gewählt werden oder ob sich diese vielmehr darin findet. Sie können von einer oder mehreren Personen zusammen 10 Dies ist freilich nicht ausgeschlossen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass diese Einstellungen keine notwendige Bedingung sind und in dem genannten Kontext der Wirtschaft besonders häufig von „Projekten“ gesprochen wird. Ebensowenig ausgeschlossen ist es, dass Anna die Rettung des Regenwaldes aus rein strategischen Gründen – etwa um viele interessante Personen kennenzulernen – verfolgt.

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verfolgt werden und es gibt prinzipiell keine endliche Menge von Projekttypen. Darüber hinaus unterscheiden sich Personen darin, wie viele Projekte sie im Laufe ihres Lebens verfolgen und auf welche Weise. So bleiben manche einer kleinen Menge von Projekten verpflichtet, andere engagieren sich für eine große Menge unterschiedlichster Projekte. Es ist selbst denkbar, dass eine Person ein Leben ohne Engagement für ein Projekt führt.11 Manche sind sehr beständig im Verfolgen ihrer Projekte, andere sind wechselhafter. Manche engagieren sich mit großer Leidenschaft, andere binden sich weniger stark an ihre Projekte und verfolgen sie mit größerer Gelassenheit. So mögen manche Projekte mehr Bedeutung für eine Person haben als andere und ihre Identität zentraler definieren als andere. Manche Projekte scheinen abgeschlossen beziehungsweise sind abschlussorientiert, wie zum Beispiel das Projekt, in Agrarwissenschaften zu promovieren, oder das Projekt, ein Buch zu schreiben. Andere Projekte sind prinzipiell zeitlich unabgeschlossen, wie etwa das Projekt, Mutter zu sein. Die zeitliche Abgeschlossenheit des Studiums kann zwar im Rahmen eines prinzipiell zeitlich unabgeschlossenen Engagements für die Landwirtschaft – oder im Fall von Anna, als Einsatz für die natürliche Lebensgrundlage zukünftiger Generationen – betrachtet werden, sodass Projekte von zeitlich abgeschlossener Dauer zu zeitlich unabgeschlossenen Projekten führen können. Doch dies muss nicht prinzipiell so sein. Zudem sind manche Projekte stärker durch Normen bestimmt als andere. Das Projekt, Zahnarzt zu werden, erfordert die Kenntnis und Reaktion auf komplexe Normen, die den Beruf des Zahnarztes ausmachen. Das Projekt, sich als Hobbygärtner zu engagieren mag eine weniger komplexe Menge von Regeln und Normen voraussetzen, die überdies nicht institutionell bedingt sind. Darüber hinaus implizieren die Normen, die zwischenmenschliche Beziehungen bestimmen, im Gegensatz zu den Normen, die andere Projekte bestimmen, moralische Rechte und Pflichten. Eine Beziehung zwischen Mutter und Kind ist zum Beispiel durch Normen bestimmt, die die Mutter unter anderem dazu verpflichten, sich um ihr Kind in einer Weise zu sorgen, die den Rechten des Kindes auf Fürsorge entspricht. Damit hängt zusammen, dass enge zwischenmenschliche Beziehungen immer als Projekt verfolgt werden sollen, während dies für Unternehmungen wie Hobbies oder Berufe nicht in derselben Weise gilt. Dies liegt daran, dass im Fall von zwischen11 Dies scheint mir allerdings eine seltene und daher bloße Denkmöglichkeit darzustellen. Ob ein solches Leben noch als „menschlich“ qualifiziert werden kann, scheint mir fragwürdig. Siehe dagegen Calhoun (2009, 613 – 641).

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menschlichen Beziehungen etwas moralisch Falsches getan werden würde, wenn man sich um seine Kinder oder Freunde nicht um ihrer selbst willen sorgt. Es wäre dagegen nicht in demselben Sinne falsch, andere Unternehmungen, wie Berufe, nicht als Projekte zu verfolgen – wenngleich dadurch verunmöglicht wird, sein Leben zu orientieren. Ebenso gibt es eine Bandbreite der Bindungen.12 All diese graduellen Unterschiede scheinen möglich, ohne einer Person abzusprechen, ein Projekt zu verfolgen. Trotz dieser begrifflichen Unschärfe und der damit zusammenhängenden graduellen Unterschiede lässt sich ein Kern von Elementen bestimmen, der Projekte typischerweise auszeichnet. Als Quelle der genannten projektabhängigen Gründe können sie charakterisiert werden durch ihre (i) Normbestimmtheit, (ii) die nicht-instrumentelle Wertschätzung, die Personen ihnen entgegenbringen, sowie (iii) die identitätskonstituierende Bindung, zu der sie die Person veranlassen, die ein Projekt verfolgt. Diese Bindung ist derart, dass sie mit der Zeit dazu führt, dass sich die betreffende Person mit ihrem Projekt identifiziert. Diese drei basalen Elemente zeichnen verschiedene Projekte, wie etwa Hobbies, Berufe, politisches Engagement, oder interpersonelle Beziehungen als Typen einer einzigen Art aus. Sie individuieren persönliche Projekte dann erfolgreich, wenn sie hinreichend erfüllt sind. So verstanden sind sie eine irreduzible Quelle der genannten projektabhängigen Gründe für referenziell verbundene Handlungstypen und Emotionen. Es ist folglich charakteristisch, dass eine Person, die ein Projekt verfolgt, dies über längere Zeiträume wiederholt und auf Dauer tut. Es scheint daher konstitutiv für Projekte, dass eine Person, sofern keine stärkeren Gegengründe sie davon abhalten, dies, sofern möglich und nötig,13 weiterverfolgt. Diese Projekte sind durch Normen bestimmt. Diese Normen sind unabhängig von den Einstellungen der Person und durch einen sozialen und kulturellen Kontext bestimmt. Sie qualifizieren eine Menge unterschiedlicher Handlungstypen als Ausdruck eines Projekts. Sie hängen als Beitrag und Bestandteil eines Projekts miteinander zusammen. Ein Projekt zu verfolgen setzt zudem voraus, dass die Person, 12 Dies wird unabhängig auch von der psychologischen Forschung bestätigt. So scheint es eine Durchschnittsanzahl von Projekten zu geben – die bei 15 liegt – und die von Personen bei Befragungen genannt wird (Little 1989, 18). 13 Diese Einschränkung bezieht sich darauf, dass manche Projekte ein „natürliches“ Ende haben, etwa, wenn sie erfolgreich abgeschlossen sind. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn der Regenwald tatsächlich gerettet wurde. Andere Projekte, wie etwa ein Hobby in der Musik, besitzen kein solches „natürliches“ Ende.

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die es verfolgt, es auf eine Art wertschätzt, die ihr tieferes, identitätsstiftendes Engagement ausdrückt. Sie wird auf eine Weise emotional gebunden, die dem Projekt eine eigene Bedeutung für sie als dem ihren verleiht. Das konstitutive Ziel von Projekten kann vor diesem Hintergrund folgendermaßen formuliert werden: Die Verwendung des Ausdrucks „Ich verfolge ein persönliches Projekt“ ist angemessen, genau dann, wenn eine normbestimmte Unternehmung eine Person über längere Zeit sinnvoll tätig und dauerhaft emotional daran gebunden sein lässt. Projekte sind somit diachrone Orientierungsprinzipien, die einen identitätskonstituierenden Charakter besitzen.

4. Die selbstverstärkende Normativität persönlicher Projekte Ich habe ausgeführt, dass persönliche Projekte zwei Arten von projektabhängigen Gründen generieren. Zugleich habe ich sie als genuine Quelle dieser Gründe bestimmt, die sich durch die drei Merkmale der Normbestimmtheit, der wertenden Bindung und identitätskonstituierenden Funktion auszeichnen lässt. Es bedarf vor diesem Hintergrund nun der Präzisierung, worin die normative Signifikanz persönlicher Projekte besteht. Was genau verleiht den projektabhängigen Gründen normatives Gewicht? Das Besondere ist, dass das normative Gewicht in einer komplexen Struktur liegt, die persönliche Projekte auszeichnet. Die drei genannten Merkmale sind Bestandteile dieser Struktur. Sie stehen hierbei in einem aufeinander aufbauenden Verhältnis, wobei jedes einzelne Merkmal zunehmend einen Teil des normativen Gewichts trägt. Während das erste Merkmal der Normbestimmtheit eine notwendige Voraussetzung dafür ist, um überhaupt ein Projekt verfolgen zu können, so wird ein Projekt erst hinreichend verfolgt, wenn vor allem das zweite und dritte Merkmal erfüllt sind. Persönliche Projekte sind daher zunehmend oder selbstverstärkend normativ, je nachdem, welches Merkmal sich in seinem Verfolgen über die Zeit herausgebildet und intensiviert hat. Während Anna zunächst eine bloße Unternehmung verfolgt – indem sie etwa beginnt, Broschüren über den Regenwald in ihrer Gemeinde zu verteilen – mag sie sich zunehmend für verschiedene Tätigkeiten engagieren, die normbestimmt miteinander verbunden die Rettung des Regenwaldes ausdrücken. Sie wird sich typischerweise für diese verschiedenen Tätigkeiten über die Zeit engagieren und sich an dieser Norm

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orientieren, weil sie dieses Ziel, aber vor allem auch die Tätigkeiten selbst zunehmend wertschätzt. Mit zunehmender und über die Erfahrung wachsender Wertschätzung wird die Rettung des Regenwaldes ein Projekt. Je länger Anna es verfolgt und über verschiedene Phasen und Entwicklungen wertschätzt, je mehr bindet sie sich an dieses Projekt und betrachtet es schließlich als Teil ihres Selbstverständnisses. Die wertende Bindung ist somit konstitutiv für ein Projekt, zugleich aber die Folge des Engagements für eine Unternehmung. Anna wird zu einer Person, die sich vor allem über dieses Projekt identifiziert. Ihre Bindung wird selbstverstärkend, denn wer sich stabil, über längere Zeit mit einer bestimmten emotionalen Intensität einem Projekt widmet, wird in der Regel aufgrund der Erfahrung besser in den damit verbundenen Tätigkeiten. Dies wiederum hat Auswirkungen auf das Selbstverständnis und die Motivation, dieses Projekt weiterzuverfolgen. Dieser selbstverstärkende Effekt erklärt, warum wir an unseren Projekten in der Regel festhalten möchten. Sie erhalten zunehmendes normatives Gewicht, je nachdem, wie lange und wie stark sich eine Person an ihr Projekt wertend gebunden und sich darüber identifiziert hat. Dass jedes Merkmal eigenes normatives Gewicht trägt, zeigt sich vor allem in Fällen, in denen eines der Merkmale nicht oder weniger gut erfüllt ist. Das normative Gewicht jedes einzelnen Merkmals wirkt verstärkend, wenn ein darauf aufbauendes Merkmal punktuell nicht erfüllt ist. Es trägt dann dazu bei, das Projekt trotzdem weiterzuverfolgen und somit aufrechtzuerhalten. Es erklärt aber auch die Schwierigkeit, das Projekt aufzugeben, wenn eines der anderen Merkmale dauerhaft nicht mehr erfüllt ist. Betrachten wir die verschiedenen Möglichkeiten anhand unseres Beispiels, und zwar in aufeinander aufbauender Weise. Wenn die Normen nicht erfüllt sind, um eine Unternehmung als Rettung des Regenwaldes zu qualifizieren, dann kann Anna dies auch nicht wertschätzen oder sich gar darüber identifizieren. Anna kann dann gar kein Projekt verfolgen. Es ist aber denkbar, dass sie es wertschätzt und sich als Retterin des Regenwaldes versteht und der Regenwald unerwartet ein für allemal gerettet ist. Die Normen, die dieses Projekt bestimmen, verlieren dann ihre Kraft (die sie jedoch einst besessen haben). Anna wird dann nicht aufhören, sich an dieses Projekt gebunden zu fühlen. Das Merkmal der Wertschätzung und Identität bleibt jedoch weiterhin erhalten. Dieses Projekt aufzugeben wird mit besonders großen Verlusten verbunden sein. Es ist jedoch auch der Fall denkbar, in dem Anna entsprechend der Normen handelt, die Rettung des Regenwaldes auch wertschätzt, aber es ihr nicht gelingt, sich darüber zu verstehen. Entweder ist dies nur

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punktuell so, da sie sich noch nicht lange genug für den Regenwald engagiert hat. Ihre Wertschätzung wirkt dann über die Zeit selbstverstärkend und wird dazu führen, dass Anna sich zunehmend über das Projekt versteht. Wenn dies jedoch nicht der Fall ist, und sie sich eigentlich als jemand sieht, der unpolitisch und zurückgezogen lebt, dann mag ihre Wertschätzung zwei Folgen haben: Entweder sie führt dazu, dass sie ihr Selbstverständnis ändert oder ihr Selbstverständnis zeigt an, dass sie von einer Unternehmung in den Bann hat ziehen lassen, die nicht zu ihr passt. Ihr Projekt jedoch aufzugeben wird auch mit Schwierigkeiten verbunden sein, da Anna ihre emotionalen Einstellungen, die ihre Wertschätzung ja ausdrücken, nicht unmittelbar wird kontrollieren können. Schließlich mag sich Anna in umgekehrter Weise über ihr Projekt identifizieren, aber keine Wertschätzung dafür empfinden. Sofern dies nur punktuell der Fall ist, mag das identitätskonstituierende Merkmal helfen, das Projekt in Zeiten weiterzuverfolgen, in denen die positive Wertschätzung ausbleibt. Sofern sie aber prinzipiell keine Wertschätzung mehr dafür empfindet, wird es ein schwerer Verlust für sie sein, das Projekt aufzugeben. Dies liegt daran, dass es ein Teil ihres Selbstverständnisses ist und dies unabhängigen Wert besitzt. In allen Fällen wird jedoch deutlich, dass die einzelnen Merkmale, die zusammen die besondere normative Struktur persönlicher Projekte konstituieren, jeweils normatives Gewicht tragen. Dieses Gewicht mag es rational machen, das Projekt weiterzuverfolgen, falls Gründe bestehen, dass auch die anderen Merkmale sich (wieder) einstellen. Ansonsten ist es rational, das Projekt aufzugeben. Doch sofern eines der Merkmale besteht, erklärt das anhaltende normative Gewicht dieses Merkmals, welche Art von Verlust die Aufgabe für die betreffende Person bedeutet. Die selbstverstärkende Normativität von persönlichen Projekten besteht dann, wenn alle drei Merkmale prinzipiell erfüllt sein können und erklärt die zunehmende normative Signifikanz, die Projekte für eine Person aus ihrer Perspektive für ihr Leben gewinnen. Die These, dass persönliche Projekte nicht zuletzt aufgrund ihrer selbstverstärkenden Normativität eine distinkte Kategorie praktischer Vernunft sind, soll im Folgenden durch eine Analyse anderer, etablierterer Kategorien praktischer Vernunft gezeigt werden. Der Vergleich mit Wünschen, Plänen und persönlichen Idealen als typische Quellen praktischer Gründe soll die These stützen helfen, dass persönliche Projekte eine irreduzible Quelle praktischer Gründe sind.

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5. Persönliche Projekte versus Wünsche Man könnte die Auffassung vertreten, dass persönliche Projekte zur Kategorie der Wünsche gehören. Wünsche bezeichnen typischerweise konative Einstellungen eines Akteurs. Da diese Einstellungen Gründe für Handlungen und Verhalten generieren, liegt vor dem Hintergrund der vorangestellten Überlegungen der Gedanke nahe, dass persönliche Projekte möglicherweise auf Wünsche reduziert werden können. Ihre normative Signifikanz wäre dann auf den grundgebenden Charakter von Wünschen zurückzuführen. Es lassen sich hierbei zwei wunschbasierte Auffassungen unterscheiden. Zum einen kann der Wunschtheoretiker die rein reduktionistische These vertreten, dass die Handlungen, die wir im Rahmen eines Projekts ausführen, am besten durch Wünsche erklärt werden. Der Wunsch danach, Kräuter zu verkaufen, generiert demzufolge einen Grund, diese Handlung auszuführen. Was wie ein Projekt aussieht, ist demzufolge nichts anderes als eine Aneinanderreihung von Handlungen, die durch wunschbasierte Gründe verursacht und erklärt werden. Man könnte diese Aneinanderreihung zwar als „Projekt“ bezeichnen, aber abgesehen von einzelnen Handlungen und den sie als Gründe motivierenden Wünschen gibt es keine eigene Kategorie. Zum anderen kann eine anspruchsvollere Wunschtheoretikerin behaupten, dass ein Projekt seinen normativen Status durch das Vorliegen eines Wunsches mit einem bestimmten Gehalt erhält – nämlich eines Wunsches nach dem Verfolgen eines Projekts. Diese Strategie bleibt insofern reduktionistisch, als Projekte nicht unabhängig von einem Wunsch normative Bedeutung haben. Vielmehr wird ihnen diese von einem vorliegenden Wunsch nach einem Projekt verliehen. Was diese Strategie jedoch anspruchsvoller macht, ist, dass sie Schwierigkeiten der ersten Strategie zu vermeiden sucht. So könnte der ersten Strategie vorgeworfen werden, dass sie nicht erklären kann, warum Akteure Handlungen ausführen, für die aus ihrer Sicht unmittelbar nichts spricht. Warum sollte Anna unangenehme Verhandlungen führen oder ihre nicht immer wohlwollenden Mitbürgerinnen davon überzeugen, Kräuter aus dem Regenwald zu kaufen? Diese Handlungen können nicht durch einen bloßen Wunsch Annas, Derartiges zu tun, erklärt werden. Sie scheinen vielmehr nur verständlich, weil sie aus Erwägungen resultieren, die damit zu tun haben, was zur Rettung des Regenwaldes von einzelnen Personen gefordert ist. Das heißt, sofern sie verschiedene Handlungen

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wünscht, tut Anna dies nur deshalb, weil sie ein normbestimmtes Projekt ausdrücken. Anspruchsvolle Wunschtheoretiker können dagegen zeigen, dass Wünsche keinesfalls immer eine Rolle im „Vordergrund“ praktischen Überlegens spielen müssen. So muss eine Handlung, wie der Verkauf von Kräutern aus dem Amazonas, nicht erfolgen, weil Anna einen entsprechenden Wunsch danach hegt und diesen Wunsch durch diese Handlung befriedigen möchte. Vielmehr ist das Verfolgen eines persönlichen Projekts ein Fall, in dem das, was die betreffende Akteurin zum Handeln motiviert, eben das Verfolgen dieses Projekts ist. Und dies hängt nicht davon ab, dass sie einen entsprechenden Wunsch nach den einzelnen Handlungen hegt, die dieses Projekt ausdrücken. Wie Philip Pettit und Michael Smith (1990, 568) ausführen, ist die grund-gebende Reichweite vieler Wünsche größer. Es gibt daher viele Wünsche, die sich nicht auf unmittelbare Befriedigung durch eine einzelne Handlung richten, sondern auf das Erlangen weiterreichender Ziele. Gleichwohl fungiert ein solcher Wunsch nach einem Projekt als Grund für einzelne Handlungen, auch wenn sie im „Hintergrund“ praktischen Überlegens operieren. Eine partikulare Handlung Annas, wie der Verkauf von Kräutern, kann der anspruchsvollen Wunschtheoretikerin zufolge durch einen Wunsch besonderer Art erklärt werden: Es ist ihr „Hintergrund“Wunsch, ihr Projekt zur Rettung des Regenwaldes zu verfolgen, der sie letztlich zum Handeln motiviert. Dieser „Hintergrund“-Wunsch impliziert, dass sie sogar manche ihrer momentanen Wünsche – wie etwa, keine argwöhnischen und skeptischen Mitbürgerinnen vom Verkauf überzeugen zu müssen, oder jetzt lieber mit einer Freundin Kaffee zu trinken statt Kräuter zu verkaufen – verwirft. Daher mag man zu der Überzeugung gelangen, dass das Verfolgen eines Projekts nichts anderes ist als einen Wunsch zu haben – einen Wunsch, ein bestimmtes Projekt, wie die Rettung des Regenwaldes, zu verfolgen. Für diese Auffassung spricht, dass sie die motivationale Disposition zu fassen erlaubt, ohne die ein Akteur gar keinen Grund hätte, ein bestimmtes Projekt zu verfolgen. Schließlich muss Anna die Rettung des Regenwaldes wünschen, um sich dieses Engagement überhaupt zum Projekt zu machen. Sie muss daher entsprechend disponiert sein, verschiedene Handlungen auszuführen, die die Rettung des Regenwaldes zum Ziel haben. Ebenso muss sie die Disposition haben, dieses Projekt auch im Lichte widriger Umstände zu verfolgen. Und dies erlauben Hintergrund-Wünsche zu fassen. Doch selbst Hintergrund-Wünsche können die normative Signifikanz persönlicher Projekte nicht hinreichend fassen.

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Sofern Anna ein Projekt verfolgt, reagiert sie nicht ausschließlich auf den Grund, der sie zunächst zur Wahl ihres Projekts geführt haben mag. Sie reagiert vielmehr auf weitere Gründe, sich ihrem Projekt zu widmen, eine wertende Bindung zu erwerben und sich mit der Zeit als eine Person zu verstehen, die sich unter anderem auch über dieses Projekt versteht. Es besteht daher ein wesentlicher Unterschied zwischen einer Einstellung des Wünschens (und sei dies auch ein „Hintergrund“-Wunsch), die sich auf das Verfolgen eines bestimmten Ziels richtet und insofern Handlungen motiviert, und der Einstellung der wertenden Bindung. Der irreduzible Unterschied zwischen diesen beiden motivationalen Einstellungen wird mithilfe des folgenden Vergleichs noch deutlicher: Die Wirkungen, die ein Fall frustrierten Wünschens auf einen Akteur hat, sind gänzlich anderer Art als die Wirkungen, die die erzwungene Revision einer wertenden Bindung auf ihn hat. Wenn der Wunsch, die Rettung des Regenwaldes als Projekt zu verfolgen, frustriert wird – etwa weil Anna gesundheitlich nicht in der Lage ist, die dafür notwendigen Handlungen auszuführen – dann wird sie wahrscheinlich von dem geplanten Projekt ablassen und ein neues suchen. Dass ihr Wunsch frustriert wurde, wird zwar nicht spurlos an Anna vorbeigehen. So mag sie es kurzfristig bedauern, dass sie sich an einer solch wichtigen Unternehmung nicht beteiligen konnte und ihr Wunsch mag eine gewisse Zeit andauern. Aber sie mag auch schnell erkennen, dass dies einfach nicht das richtige Projekt für sie war und sie gut beraten ist, sich ein anderes Projekt zu suchen. Wenn Anna jedoch ihr Projekt für die Rettung des Regenwaldes bereits wertschätzt, sich teilweise darüber definiert und es dann aufgibt beziehungsweise aufgeben muss – etwa weil Anna nach einigen Jahren des Engagements feststellt, dass sie nicht mehr die dafür nötige Kraft und Energie hat, oder weil sie eine höhere moralische Pflicht hat, sich um ihre alten Eltern zu kümmern – dann verliert sie eine wichtige Betätigung, für die sie unter anderem gelebt hat und die ihr nach wie vor sehr viel bedeutet. Das Verfolgen eines Projekts aufzugeben, hat in der Regel weiterreichende Konsequenzen für die betreffende Person als die Frustration eines Wunsches, der dem tatsächlichen Verfolgen eines Projekts vorausgeht. Ein Projekt wertzuschätzen unterscheidet sich von einem Wunsch nach dem Verfolgen eines solchen Projekts darin, dass die betreffende Person das Projekt im ersten Fall bereits verfolgt hat und die Gründe, zu denen es Anlass gab, bereits akzeptiert hat. Sie hat ihre anderen Ziele bereits entsprechend strukturiert und hat ebenso emotionale Einstel-

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lungen bezüglich des Projekts entwickelt. Wenn sie diesen Gründen nicht mehr entsprechen kann, dann verletzt sie Gründe, die sich bereits für sie als ihre bewährt haben. Sie verliert ein Engagement, mit dem sie sich identifiziert und das ihr Leben unter anderem bestimmt hat. Eine solche wertende Bindung aufzugeben führt zu viel tiefgreifenderer Trauer als ein frustrierter Wunsch.14 Eine neue Selbst-Konzeption und vor allem eine neue wertende Bindung zu finden, kann nicht durch das bloße Auswechseln von Projekten erfolgen, sondern durch einen langsamen Prozess der Umorientierung, in dem die Person über eine zunächst weniger stabile Selbst-Konzeption verfügt und der orientierenden Basis für ihr Handeln ermangelt. Wenn ich das Wertschätzen eines Projekts von dem Wunsch nach dem Verfolgen eines Projekts unterscheide, so impliziert dies nicht, dass diese beiden Einstellungen nicht miteinander verbunden sein können. Wer ein Projekt wertschätzt und sich entsprechend daran gebunden hat, der mag zum Beispiel den Wunsch haben, das Projekt fortzusetzen. Ebenso mag ein Wunsch nach einem sinnvollen Projekt dazu führen, dass eine Person ein Projekt verfolgt und wertschätzt. Die beiden Einstellungen sind jedoch begrifflich unabhängig voneinander und spielen unterschiedliche Rollen. Wenn Anna schließlich das Projekt verfolgt, den Regenwald zu retten, hat sie verschiedene Einstellungen entwickelt, die ihre Wertschätzung dieses Projekts ausdrücken. Diese Einstellungen unterscheiden sich von einem Wunsch nach einem solchen Projekt. Deshalb sind die Gründe, die die wertschätzende Bindung an ein Projekt generiert, auch anderer Art als diejenigen, die ein Wunsch generiert. Die spezifische normative Signifikanz persönlicher Projekte kann durch Wünsche nicht erfasst werden. Ganz abgesehen davon, kann auch bezweifelt werden, ob Wünsche – gleich welcher Art – überhaupt notwendigerweise Gründe generieren (Nida-Rümelin 2001, Kapitel 1). Es gibt jedoch über die motivationale Komponente hinaus eine weitere Eigenschaft persönlicher Projekte, die auf den ersten Blick vermuten lässt, sie seien auf Pläne reduzierbar. Um die These, dass sie gleichwohl eine irreduzible Kategorie darstellen weiter zu verteidigen, muss daher geklärt werden, wie sie sich von Plänen unterscheiden.

14 Ich beziehe mich hier auf Betzler (2004, 197 – 222).

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6. Persönliche Projekte versus Pläne Nach der von Michael Bratman prominent gemachten Planungstheorie absichtlichen Handelns generieren Pläne Gründe für unsere Einstellungen und Handlungen. Sie sind zukunftsgerichtet, in der Regel unvollständig sowie stabil, und tragen durch diese Eigenschaften dazu bei, unser Handeln über die Zeit zu koordinieren (Bratman 1987, 29). Auf diese Weise scheinen Pläne Eigenschaften zu besitzen – und zwar sowohl das normative Gewicht als auch die damit verbundene diachrone Strukturierung der Handlungen und Ziele einer Person –, die ich bisher persönlichen Projekten zugewiesen habe. So erfordern Pläne eine Bindung, die es der planenden Person erlaubt, ihre weiteren Ziele und Handlungen über die Zeit zu kontrollieren und der Ausführung des Plans unterzuordnen. Schließlich bezieht sich Michael Bratman nicht zuletzt aufgrund dieser Eigenschaften auf Projekte als „allgemeine Pläne“ (ebd., 30). Um zu prüfen, ob persönliche Projekte tatsächlich äquivalent mit Plänen sind und insofern dieselbe Quelle von Gründen darstellen, müssen wir jedoch genauer klären, welche Gründe durch Pläne generiert werden. Bratman zufolge generieren Pläne zwei Arten von Gründen, die späteres Handeln beeinflussen. Zum einen handelt es sich hierbei um instrumentelle Gründe. Sich an einen Plan zu binden fungiert als Input für das weitere praktische Überlegen einer Person bezüglich der Mittel, diesen Plan auszufüllen und anzupassen (ebd., 24 und 31 ff.). So könnte man von Anna behaupten, dass sie den Plan habe, nach Brasilien zu reisen und mit dortigen Regierungsbeamten zu verhandeln. Aufgrund dieses Plans hat sie Gründe, die geeigneten Mittel zu ergreifen, wie etwa einen Flug nach Brasilia zu buchen und entsprechende Vorkehrungen für die Verhandlungen zu treffen. Zum anderen fungieren Pläne als „background framework“ (ebd., 33) oder als „framework reasons“ (ebd., 34), die einen Standard für die Gewichtung verschiedener wunschbasierter Gründe bezüglich verschiedener Handlungsalternativen darstellen. Eine Handlungsalternative erweist sich dann als zulässig, wenn sie kohärent mit einem gegebenen Plan ist, an den sich eine Person gebunden hat. So hat Anna aufgrund ihres Plans, nach Brasilia zu reisen, einen Grund, ihrem Wunsch, während des Wochenendes auszuruhen, ein geringeres Gewicht zu erteilen. Ihr Wunsch, einen Flug nach Brasilia zu buchen, wird dagegen durch ihren Plan normativ gestützt. Auch persönliche Projekte setzen eine Bindung der betreffenden Person voraus, die ihnen ihr besonderes normatives Gewicht verleiht. Sie

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ordnen ebenso wie Pläne ihre anderweitigen Ziele und Wünsche unter und führen sie somit über die Zeit. Man könnte daher vermuten, dass persönliche Projekte nichts anderes als Pläne seien. Doch persönliche Projekte generieren projektabhängige Gründe, die sich von den Gründen, die durch das Fassen eines Plans entstehen, wesentlich unterscheiden. Das Haben eines Plans generiert Gründe, diesen Plan auszuführen und somit letztlich zu erfüllen. Der „Witz“ eines Plans – und darin unterscheiden sich Pläne nicht wesentlich von Wünschen – ist somit, ihn überflüssig zu machen, das heißt einen Zustand zu erreichen, in dem es keinen Grund mehr für diesen Plan gibt. Eine planende Person bindet sich hierbei daran, ein bestimmtes, planunabhängiges Resultat in der Zukunft zu erzielen. Dieser Plan ordnet ihre anderen Ziele unter, bis er erfüllt ist. Das Engagement für ein persönliches Projekt generiert dagegen Gründe, sich an dieses Projekt wertend zu binden, zumindest solange keine sehr gewichtigen neuen Gründe gegen das Projekt sprechen. Die Person, die ein Projekt verfolgt, richtet sich nicht auf die Zukunft, um ein anvisiertes Resultat jetzt handlungsleitend zu machen. Sie richtet sich vielmehr auf die Wertschätzung ihres jetzigen Projekts, um sich von da aus über die Zeit in die Zukunft zu führen. Die unterschiedlichen zeitlichen Perspektiven – von der Zukunft zurück auf das jetzige Handeln im Fall von Plänen oder von der jetzigen Wertschätzung ausgehend auf die zukünftige Fortsetzung hin im Fall von Projekten – manifestieren sich in unterschiedlichen Rationalitätsauffassungen. Im Gegensatz zu Plänen generieren Projekte keine Gründe, momentane Wünsche zu gewichten und gegebenenfalls denjenigen Wünschen, die zur Ausführung des Plans dienlich sind, unterzuordnen. Ein bestimmtes Projekt wertzuschätzen impliziert vielmehr, dass man Wünsche, die ein Projekt unterminieren, gar nicht beachtet. Ihnen wird nicht ein geringeres Gewicht zugebilligt, sondern die Wertschätzung eines Projekts bringt es vielmehr mit sich, dass die Person nicht immer wieder potenziell konfligierende Wünsche in Betracht zieht und erneut abwägt. Dies liegt daran, dass eine Person, die ein Projekt verfolgt, sich in ihren Dispositionen stärker daran gebunden hat als eine Person, die lediglich einen Plan gefasst hat. Sie hat die Disposition erworben, konfligierende Wünsche entweder gar nicht mehr zu entwickeln oder zumindest eine weit schwächere Rolle spielen zu lassen, sodass sie nicht zu erneuter Abwägung mit denjenigen Wünschen drängen, die aus ihrem Projekt resultieren. Sofern Pläne Standards für die Gewichtung von Wünschen sind, sind Projekte, die einen Vergleich mit anderen Zielen und die abwägende

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Berücksichtigung von Wünschen typischerweise ausschließen, davon zu unterscheiden. Wenn Anna verschiedene Handlungstypen wiederholt ausführt, die das Projekt ausdrücken und in dem sie rational verbundene emotionale Einstellungen ausbildet, die auf das Projekt sowie auf sie selbst, die das Projekt verfolgt, gerichtet sind, erhält ein Projekt im Gegensatz zu Plänen einen identitätskonstituierenden Charakter. Es wird dann zu ihrem Projekt, das sie zum Teil als die Person, die sie ist und wie sie sich versteht, definiert. Dies erfordert eine hinreichende zeitliche Dauer. Wie lange eine Person sich für etwas engagieren muss, um ein persönliches Projekt in diesem Sinne zu haben, ist freilich unbestimmt. Trotz dieser unscharfen Grenze lässt sich gleichwohl sagen, dass eine Unternehmung eine hinreichend lange Zeit verfolgt werden muss, um das normative Gewicht zu erhalten, das sie als persönliches Projekt auszeichnet. Dies schließt ein, dass eine Person, die ein persönliches Projekt verfolgt ceteris paribus und im Gegensatz zu Plänen daran wertend gebunden ist. Andere Gründe können sie auch nur ab einer relativ hohen, wenn auch unbestimmten Schwelle dazu führen, das Projekt rationalerweise aufzugeben. Es ist jedoch ebenso analytisch wahr für das Verfolgen eines Projekts, dass die Person projektadverse Gründe zunächst nicht nur nicht beachtet, sondern sich an ihr Projekt bindet und insofern als im Prinzip unbeendbar wertschätzt.15 Ein Projekt zu verfolgen mag gleichwohl damit einhergehen, dass eine Person Pläne macht. Anna mag, wie bereits angedeutet, den Plan haben, einen Flug nach Brasilia zu buchen. Ebenso könnte sie den Plan haben, sich einem Projekt, wie der Rettung des Regenwaldes, zu widmen. Pläne und persönliche Projekte sind jedoch begrifflich distinkt und das normative Gewicht von Plänen ist von demjenigen persönlicher Projekte zu unterscheiden. Pläne generieren andere Gründe als Projekte, und die Bindung, die eine Person in beiden Fällen eingeht, ist bei Plänen aufgrund einer anfänglichen Absicht bezüglich eines Zustandes in der Zukunft gegeben. Im Fall von Projekten erfolgt diese Bindung erst im Verlauf der Zeit, nachdem die betreffende Person sich zunehmend emotional einem Projekt verpflichtet und sich dadurch zum Teil iden-

15 In diesem Sinn unterschied Lewis – freilich ohne auf persönliche Projekte Bezug zu nehmen – die Perspektive des „balancing“ von der des „valuing“. Letztere ist für das Verfolgen persönlicher Projekte erforderlich und dies schließt eine „balancing“-Perspektive aus (Lewis 1989, 113 ff.).

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tifiziert hat. Projekte und Pläne sind somit unterschiedliche Quellen von Gründen und generieren verschiedene Arten der Parteilichkeit.

7. Persönliche Projekte versus Ideale Wenn Projekte tatsächlich mehr sind als formale Strukturprinzipien wie Pläne, und vorausgesetzt, dass ihr motivationales Potenzial nicht auf dasjenige von Wünschen reduzierbar ist, so können sie möglicherweise einer dritten Kategorie angeglichen werden. Vielleicht stellen persönliche Ideale die eigentliche Quelle der Gründe dar und persönliche Projekte sind letztlich auf diese reduzierbar. Was dafür sprechen könnte, ist die These, dass ein Projekt – sobald eine Person es über eine bestimmte zeitliche Dauer verfolgt – das, was die Person ausmacht und wie sie sich versteht, zum Teil mitbestimmt. Diese identitätskonstituierende Rolle könnte die These unterstützen, dass Projekte nichts anderes sind als realisierte persönliche Ideale. Letztere sind dabei als Selbst-Konzeption einer Person zu verstehen, nach der sie strebt. Eine Selbst-Konzeption besteht aus komplexen Eigenschaften, wie zum Beispiel tugendhaften Charakterzügen, bewundernswerten Rollen und umfassenden persönlichen Werten, mit denen sich eine Person zu identifizieren vermag. Indem sich eine Person eine solche Selbst-Konzeption gibt, imaginiert sie sich zum Beispiel als fürsorgliche Mutter, als willensstarken NichtRaucher, als großzügige Person oder als politische Aktivistin, und zwar auch und gerade dann, wenn eine angestrebte Konzeption gegenwärtig nicht auf die Person zutrifft (Velleman 2002, 89 – 103). Sich ein solches Ideal zu eigen zu machen impliziert unter anderem, dass eine Person dieses für sich zu realisieren beabsichtigt. Auf diese Weise wird eine Selbst-Konzeption von sich als einer Person verstärkt, die ein solches Ideal realisiert (Buss 2004, 172 ff.). Auch persönliche Ideale fungieren als besondere Quelle von Gründen.16 Sie generieren Gründe, eine bestimmte Art von Person zu sein. Sofern eine Person sich solchen Idealen verschreibt, gibt sie sich mit diesen Gründen einen Standard für die eigenen Handlungen und das eigene Verhalten. Da er die ganze Person beziehungsweise wesentliche Merkmale einer Person betrifft, kann dieser Standard kontinuierlich und über die Zeit hinweg die verschiedensten Handlungen und Einstellungen 16 So etwa Anderson (1993, 6), die Ideale mit einer „Perspektive“ gleichsetzt, die uns manche Ziele wertschätzen lässt, andere nicht.

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regulieren. Dies beinhaltet momentane Wünsche oder andere Ziele, die die Realisierung des angestrebten Ideals unterminieren würden, zu vernachlässigen. So hat David Velleman (2002, 111 – 123) betont, dass die lebendige Vorstellung eines persönlichen Ideals es viel wahrscheinlicher macht, seine Handlungen und Verhaltensweisen daran zu orientieren. Ideale scheinen daher die Entwicklung entsprechender stabiler Einstellungen und das Ausführen bestimmter Handlungen über die Zeit zu begünstigen und die Person entsprechend zu motivieren. Persönliche Ideale und Projekte können sich tatsächlich gegenseitig bedingen. So vermag ein Projekt ein persönliches Ideal auszudrücken und Ideale stellen Gründe für das Verfolgen eines Projekts dar. Annas Engagement für das Amazonas-Gebiet mag das Ideal exemplifizieren, eine mutige politische Aktivistin zu sein, die sich für Gerechtigkeit zwischen den Generationen einsetzt. Ihre Vorstellung dieses Ideals mag sie dazu motivieren, ein Projekt im Regenwald zu verfolgen. Das Projekt ist eine Art, ihr Ideal wahr zu machen. Projekte scheinen demzufolge hilfreiche, wenn nicht sogar notwendige Mittel zu sein, um ein Ideal umzusetzen. Ideale verfügen somit über zusätzliches motivationales Potenzial, das Projekten weitere normative Signifikanz gibt. Die lebendige Vorstellung Annas, eine mutige Aktivistin zu sein, mag ihr helfen, ihr Projekt weiterzuverfolgen, auch wenn sie mit Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Und ob ein Projekt sich als gutes erweist mag zum Teil eine Funktion ihres persönlichen Ideals sein. Schließlich mag das Verfolgen eines bestimmten Projekts ein persönliches Ideal zum Ausdruck bringen. Dies setzt jedoch weder voraus, dass dieses Ideal dem Projekt vorgelagert ist, noch dass die betreffende Person sich auf dieses Ideal als bewusste Selbst-Konzeption festgelegt hat. Es handelt sich daher trotz der Tatsache, dass sich Ideale und Projekte gegenseitig rational stützen und erklären können, um zwei unterschiedliche Kategorien. Zum einen ist es keine Bedingung für das Verfolgen eines Projekts, dass die betreffende Person ein diesem Projekt zugrunde liegendes Ideal haben muss. So könnte Anna auch einfach auf verschiedene Werte verweisen, die ihr Projekt repräsentiert. So mag ihr einfach etwas daran liegen, sich für das ökologische Gleichgewicht einzusetzen. Ein persönliches Ideal muss in der rationalen Erklärung, warum sie ein bestimmtes Projekt verfolgt, keine Rolle spielen. Ihr Projekt besitzt normatives Gewicht auch ohne persönliches Ideal. Zum zweiten mag der Gedanke an ein solches persönliches Ideal das Engagement für ein bestimmtes Projekt sogar unterminieren. Wenn Anna in ihrer lebendigen Vorstellung schwelgt, eine mutige Aktivistin zu sein, so mag ihr Blick zu

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sehr auf einer Selbst-Konzeption ruhen. Dies mag sie daran hindern, sich tatsächlich für etwas einzusetzen, das ihr unabhängig von ihrer SelbstKonzeption wichtig sein kann. Zum dritten ist ein persönliches Ideal eine abstrakte Selbst-Konzeption. Der Person mag es nie gelingen, dieses Ideal zu realisieren, und zwar selbst wenn sie ein Projekt verfolgt, das dieses Ideal auszudrücken scheint. Anna könnte sich als politische Aktivistin imaginieren und deshalb das Projekt für die Rettung des Regenwaldes verfolgen. Es mag sich jedoch ergeben, dass sie sich weniger als politische Aktivistin, sondern als Person im Hintergrund für ein solches Anliegen engagieren mag. Ein Ideal ist daher auch nicht hinreichend für das Verfolgen eines Projekts. Während ein Ideal voraussetzt, dass eine Person sich damit identifiziert, und es aus diesem Grund entsprechend zu realisieren versucht,17 ist der identitätsformierende Charakter im Fall von Projekten eher deren Folge. Darüber hinaus generieren Ideale lediglich Gründe, eine bestimmte Person zu sein. Diese Gründe sind allgemein und abstrakt. Projekte dagegen generieren Gründe für eine distinkte Menge von Handlungstypen und Einstellungen. Entsprechend sind beide Kategorien unterschiedliche Quellen von Gründen, die unter anderem einen unterschiedlichen Grad der Allgemeinheit besitzen und mehr oder weniger konkrete Anweisungen zu geben vermögen. Die vergleichende Analyse hat ergeben, dass Projekte eine irreduzible Kategorie sind. Dies schließt zwar nicht völlig aus, dass es eine weitere Kategorie praktischer Vernunft gibt, auf die Projekte reduziert werden könnten. Mir scheint jedoch, dass Wünsche, Pläne und Ideale die einschlägigsten Kandidaten sind – und zwar aufgrund derjenigen Eigenschaften, die sie mit persönlichen Projekten teilen. Im Fall von Wünschen sind dies die motivationalen Einstellungen der betreffenden Person. Im Fall von Plänen handelt es sich um das normative Gewicht, das es einer Person erlaubt, ihr Verhalten über Zeit zu koordinieren. Im Fall von Idealen ist es der identitätskonstituierende Charakter, der die Handlungen einer Person motiviert. Ich hoffe jedoch hinreichend – wenn auch nicht abschließend – gezeigt zu haben, dass persönliche Projekte weder auf Wünsche noch auf Pläne oder persönliche Ideale reduzierbar sind und somit eine irreduzible Quelle der genannten projektabhängigen Gründe sind. Aufgrund ihrer spezifischen normativen Struktur sind persönliche Projekte grundlegend von anderen Kategorien praktischer Vernunft zu 17 Frankfurt (1993, 114 f.) glaubt, dass Ideale das repräsentieren, womit sich eine Person identifiziert. Dies zeigt sich darin, dass eine Person sich nicht dazu bringen kann, ihr Ideal zu verraten oder aufzugeben.

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unterscheiden und in besonderem Maße als eigenständige diachrone Orientierungsprinzipien ausgezeichnet.

8. Ausblick Ich habe bisher lediglich dafür plädiert, dass persönliche Projekte normativ signifikant sind und habe ausgeführt, worin diese Signifikanz besteht. Ich habe versucht zu zeigen, dass Projekte Gründe eigener Art generieren und dass Projekte selbst eine irreduzible Kategorie darstellen. Doch warum sollen wir Projekte überhaupt verfolgen und auf die distinkten projektabhängigen Gründe reagieren? Diese Frage zu beantworten ist umso dringlicher, wenn man bedenkt, dass meiner bisherigen Analyse zufolge auch Projekte der folgenden Art normative Signifikanz besitzen: Betrachten wir Anna4, die in einer Lebenskrise steckt. Um ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen, sucht sie nach einem Projekt. Durch Zufall gerät sie in Kontakt mit mehreren Mitgliedern eines geheimen Kults. Sie schließt sich dieser Gruppe an und engagiert sich von nun an für das deklarierte Ziel dieses Kults, die Menschheit vor allem Bösen zu retten und sich dem Führer des Kults bedingungslos unterzuordnen. Dieses Projekt gibt ihr Gründe dafür, verschiedene Handlungstypen wiederholt auszuführen und emotionale Einstellungen in Bezug auf dieses Projekt einzunehmen. Ihr Projekt ist durch substanzielle Normen bestimmt, sie schätzt es wert und sie beginnt, sich als Teil dieses Kults und als Retterin der Menschheit zu verstehen. Wir scheinen jedoch in einem solchen Fall nicht der Auffassung zu sein, dass Anna4 dieses Projekt – trotz der normativen Signifikanz, die es für sie besitzt – weiter verfolgen sollte. Dies liegt daran, dass persönliche Projekte zwar Gründe generieren, selbst aber keine Gründe sind. Sie sind lediglich eine Quelle von Gründen. Mein Anliegen im Rahmen dieses Beitrags war darzulegen, inwiefern sie eine solche irreduzible Quelle von Gründen sind. Es muss einer anderen Arbeit vorbehalten bleiben zu zeigen, was persönliche Projekte selbst zu gerechtfertigten Quellen ihrer Gründe macht. Ich kann dies abschließend lediglich andeuten. So bleiben genauer betrachtet zwei Fragen zu beantworten: Welche Gründe lassen sich aus einer drittpersonalen Perspektive anführen, die anzeigen, warum wir Projekte generell verfolgen sollen? Und welche Gründe lassen sich aus der Perspektive der ersten Person anführen, die anzeigen, warum ein partikulares Projekt gewählt und ein anderes partikulares Projekt verworfen werden sollte? Was die erste Frage anlangt, so ist es der Beitrag

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von Projekten zu einem gelungenen Leben der diesen Projekten Autorität verleiht. Die Beantwortung dieser Frage erfordert eine Theorie des gelungenen Lebens, die zu zeigen vermag, inwiefern Projekte dazu beitragen und insofern Fundierung erfahren. Was die zweite Frage anlangt, so sind es sinnvolle Projekte, die einer Person Grund geben, ein partikulares Projekt zu wählen und sich selbst dadurch zu bestimmen. Auch diese Frage kann nicht ohne umfassende Erläuterungen zum Wert und Sinn von Projekten beantwortet werden. Mein Ergebnis kann in diesem Rahmen daher nur vorläufiger Natur sein. Ich hoffe jedoch hinreichend gezeigt zu haben, dass persönliche Projekte als diachrone Orientierungsprinzipien eine irreduzible Kategorie praktischer Vernunft sind. Sie sind normativ signifikant, da sie zwei Typen von Gründen generieren, die unserem Leben diachrone Struktur und Gehalt der genannten Art geben. Dies ist vor allem dann der Fall – und dies müsste, wie angedeutet, noch eigens gezeigt werden – wenn sie selbst sinnvoll sind und unser Leben besser machen.18 Julian Nida-Rümelins These, dass es die Einbettung in umfassende Strukturen ist, die eine vernünftige Person auszeichnet und ihre individuelle Freiheit ausdrückt (Nida-Rümelin 2001, Kapitel 9; 2005, Kapitel 1), findet auf diese Weise Bestätigung und Ergänzung.19 18 Es bleibt ebenso zukünftiger Arbeit vorbehalten zu zeigen, wie verschiedene konfligierende Projekte koordiniert werden können und welchen Vorrang persönliche Projekte gegenüber moralischen Forderungen aufgrund des von mir präzisierten Begriffs besitzen können. 19 Dieser Beitrag geht auf Überlegungen zurück, die ich vor allem in Kap. 2 – 4 meiner Habilitationsschrift Personal Projects As Practical Reasons zu verteidigen versucht habe. Für hilfreiche schriftliche Kommentare zu diesem Beitrag danke ich ganz herzlich Christian Budnik, Susanne Boshammer, Sebastian Elliker, Maren Gehl, Rebecca Gersbach, Magdalena Hoffmann, Fritz Krämer, Andreas Maier, Franz Meier, Alice Ponchio und Christian Seidel. Ebenso bin ich bin den Zuhörerinnen und Zuhörern verschiedener vorgetragener Versionen dieser Überlegungen für kritische Hinweise und hilfreiche Kommentare dankbar, insbesondere anlässlich des fünften Kongresses der European Society for Analytical Philosophy in Lissabon im August 2005, am „Expert Workshop“ der Universität Siena über „Practical Reason and Motivation“ im Dezember 2005, an der Sequitur-Tagung „Autonomie der Person“ im September 2006 in Zürich, am DFG-Rundgespräch „Lebenswelt in Wissenschaft, Ethik und Politik“ in München im Oktober 2006, sowie am Institut für Philosophie der Universität Genf im Juni 2007, an der Universität Dortmund im Juli 2008 und an der ETH Zürich im Dezember 2008. Julian Nida-Rümelin bin ich für seine beständige Unterstützung zu Dank verpflichtet.

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Der Kern der Willensfreiheit Wolfgang Spohn Jedermann bei Verstand glaubt an den freien Willen. Was immer wir genau darunter verstehen, er ist jedenfalls etwas, das wir haben. Die Welt, die uns einschließt, ist vielleicht deterministisch. Damit geraten wir in einen Widerspruch. Oder die Welt ist indeterministisch. Aber die allgemeine Meinung ist, dass uns dies argumentativ nicht weiterhilft. Was aus freiem Willen geschieht, geschieht nicht zufällig. Es gibt keinen Ausweg; wir haben es hier mit einem scharfen Widerspruch zu tun, mit einer richtigen Antinomie. Wenn ich mir die Literatur zum Problem der Willensfreiheit anschaue1 – angesichts der Masse muss ich einräumen, dass mir das nur partiell gelungen ist –2, dann bin ich überrascht, wie viele Gedanken und Theorien es hervorgerufen hat. Alle sind relevant, wohl überlegt, Kerne größerer Forschungsprogramme, und jeder enthält auf seine Weise mindestens ein Quäntchen Wahrheit. In dieser Vielfalt von Reaktionen beweist sich ein echtes, tiefes und fruchtbares philosophisches Problem; wenige philosophische Probleme tun es da dem Problem der Willensfreiheit gleich. Ich will hier nicht wirklich neue Gedanken zu dem Thema äußern; jeder Stein ist schon dutzendfach gewendet worden. Trotz ihres Reichtums scheint mir aber die bestehende Literatur einen bestimmten Punkt nur ungenügend zu betonen, der mir beim Schreiben meiner Dissertation vor über 30 Jahren auffiel (Spohn 1978, 193) und der mir umso zentraler zu sein scheint, je länger ich die Literatur beobachte. Mathematiker wissen, dass ein scharfer Widerspruch eine scharfe Antwort fordert; so lange die Begriffe zurechtzubiegen – wie es nicht wenige tun –,3 bis der Widerspruch irgendwie zu verschwinden scheint, ist nicht erlaubt. Ich will erklären, was ich für eine scharfe Antwort halte. 1

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Dieser Aufsatz ist die erweiterte und verbesserte deutsche Fassung von Spohn (2007), was wiederum aus einem Kommentar zu Walter (1998) entstand, den ich auf dem Pittsburgh-Konstanz-Kolloquium VII in Konstanz im Mai 2005 gegeben habe. Auch hier gilt freilich das Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen. Zum Beispiel macht Walter (1998), finde ich, das Zurechtbiegen mit, liefert aber eine brillante Monographie, die auf der Grundlage der gegenwärtigen Forschung

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1. Ich gehe von der Grundtatsache aus, dass es einen normativen und einen empirischen Standpunkt gibt. Das ist trivial und unstrittig. Der Punkt, den ich erklären will, ist jedoch, dass man selbst als empirischer Wissenschaftler den normativen Standpunkt nicht eliminieren oder auch nur eingrenzen kann. Der normative Standpunkt durchdringt alle menschlichen Angelegenheiten, und diese kann man nicht empirisch untersuchen, ohne auch den normativen Standpunkt einzunehmen. Was hat das mit der Willensfreiheit zu tun? Das will ich im Weiteren erklären. Fragen wir zunächst: Worin besteht der normative Standpunkt? Er besteht darin, normative Fragen zu stellen und normative Antworten zu suchen. Die paradigmatische normative Frage ist: „Was soll ich tun?“ Die paradigmatische empirische Frage ist hingegen: „Was ist passiert?“ oder „Was wird passieren?“ oder auf den menschlichen Bereich bezogen: „Was wird er oder sie tun?“ Ich scheine hier den normativen Standpunkt mit der Ersten-Personoder der Subjekt-Perspektive zu identifizieren und den empirischen Standpunkt mit der Dritten-Person- oder der Betrachter-Perspektive. In gewisser Weise tue ich das. Aber natürlich gebe ich zu, dass die Unterscheidungen nicht zusammenfallen. Ich kann normative Fragen in Bezug auf andere Personen stellen und empirische Fragen in Bezug auf mich; ich kann natürlich auch Prognosen über meine eigenen zukünftigen Handlungen abgeben. Trotzdem hat eine Antwort auf eine normative Frage nur in der Ersten-Person-Perspektive eine unmittelbare normative Kraft. Meine Antwort auf die normative Frage in Bezug auf eine andere Person entfaltet normative Kraft nur, wenn diese andere Person sich diese Frage selbst stellt und meine Antwort akzeptiert. In diesem Sinne ist der normative Standpunkt der Ersten-Person-Perspektive eigentümlich und nie allein aus der Dritten-Person- oder Betrachter-Perspektive einzunehmen. Manche haben ein engeres Verständnis des Normativen. Normative Fragen befassen sich demnach mit Normen, und Normen oder Maximen oder Regeln gelten für jedermann – vielleicht. Aber ich will mich hier nicht mit der Generalisierbarkeit von Antworten auf normative Fragen beschäftigen. Andere möchten lieber die präskriptive und die deskriptive in der Neurophysiologie und der Kognitionswissenschaften erklärt, inwieweit sich ein Kompatibilismus in empirisch informierter Weise durchführen lässt.

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Dimension unterscheiden. Doch ist das für mich dieselbe Unterscheidung wie die zwischen dem Normativen und dem Empirischen. Ich will aber festhalten, dass die Unterscheidung zwischen normativen und empirischen Fragen nicht dieselbe ist wie die zwischen praktischen und theoretischen Fragen. Theoretische Fragen sind ebenfalls ambivalent. Ich kann fragen: „Was ist der Fall?“ Oder ich kann fragen: „Was soll ich glauben?“ Eigentlich frage ich hier zweimal dasselbe, einmal vom Betrachter-Standpunkt aus und einmal vom Subjekt-Standpunkt aus. Mithin steht die normativ-empirisch-Unterscheidung quer zur theoretisch-praktisch-Unterscheidung. Da ich hier aber keine Betrachtungen zur normativen Erkenntnistheorie anstellen will, werde ich mich auf die praktische Seite beschränken. Es ist uns nun ganz unmöglich, die normative Frage: „Was soll ich tun?“ zu vermeiden. Selbst die Verweigerung einer Antwort ist eine Antwort, eine Entscheidung, die Dinge laufen zu lassen. Oft stellen wir uns die Frage nicht oder sind uns ihrer nicht bewusst, einfach weil wir nicht dauernd alles unter Kontrolle halten können. Es ist in der Tat praktisch unmöglich, auch nur all das, was im Prinzip unserer Kontrolle unterliegt, auch tatsächlich zu kontrollieren. Doch können wir die normative Frage nicht auf Dauer absichtlich oder unabsichtlich ignorieren. Allenfalls können wir, auch wenn ich das bezweifle, versuchen, einen Zustand zu erreichen, in dem wir die normative Frage gar nicht mehr stellen; manche beschreiben das als Nirwana. Wie auch immer, wo wir die normative Frage: „Was soll ich tun?“ nicht vermeiden können, müssen wir als nächstes fragen: „Wie finde ich eine Antwort?“ Wie funktioniert die praktische Überlegung? Das ist in der Tat eine komplizierte Angelegenheit. Doch ist die Entscheidungstheorie zweifelsohne unser bestes und lehrreichstes abstraktes Modell der praktischen Überlegung. Wir sollten sie kurz betrachten. Dort habe ich für das, wie man es nennen könnte, Handlungswahrscheinlichkeitenverbot argumentiert (Spohn 1977, 114 ff.; 1978, Abschnitt 2.5, 5.2), welches besagt, dass ein Entscheidungsmodell keine subjektiven Wahrscheinlichkeiten des Handelnden für seine eigenen möglichen Handlungen enthalten darf, die zur Entscheidung anstehen. Dieses Prinzip hatten bis dahin alle Versionen der Entscheidungstheorie stillschweigend akzeptiert. Erst Jeffrey (1983, Kapitel 5) hat es überraschenderweise geleugnet – was mich dazu gebracht hat, explizit dafür zu argumentieren.4 4

Ich denke nach wie vor, dass das ein wichtiger Fehler in Jeffreys Entscheidungstheorie ist. Levi (1986, Abschnitt 4.3) argumentiert für die gleichartige

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Einfach gesagt, besagt das Handlungswahrscheinlichkeitenverbot Folgendes: Wenn Sie sich fragen: „Was soll ich tun? A oder B oder C?“, dann haben Sie keine epistemische Einstellung zu den möglichen Antworten A, B oder C. Vielmehr besinnen Sie sich auf Ihre Ziele und Werte (die natürlich wieder Gegenstand einer normativen Beurteilung sein können), Sie überlegen, was Sie alles über die Welt glauben, über die möglichen Folgen Ihrer möglichen Handlungen, über die Erreichbarkeit Ihrer Ziele und so weiter, und aus all dem versuchen Sie eine normative Schlussfolgerung zu ziehen, welche Handlung nun die beste sei. In all das findet eine epistemische Beurteilung der möglichen Handlungen keinen Eingang. Die Frage, wie wahrscheinlich es wohl ist, dass Sie A, B oder C tun, ist einfach nicht Bestandteil Ihrer praktischen Überlegung. Der nächste wichtige Punkt ist, dass aus dem Handlungswahrscheinlichkeitenverbot das Prinzip der sogenannten Exogenität von Handlungen folgt, welches besagt, dass die möglichen Handlungen, die in einem Entscheidungsmodell zur Entscheidung anstehen, exogen sind, das heißt im Rahmen dieses Modells erste Ursachen oder unverursacht sind. Natürlich steht hinter dieser Schlussfolgerung eine präzise probabilistische Theorie der Kausalität; ohne diese wäre sie ja nicht möglich. Und diese war unter anderem mein eigentliches Anliegen in meiner Dissertation (Spohn 1978, Abschnitt 3.2 und 3.3).5 Der Punkt ist aber eigentlich auch intuitiv und ohne eine solche Theorie klar. Er besteht einfach darin, dass Sie, wenn Sie anfangen, über die Ursachen Ihrer Handlungen nachzudenken, dabei sind, Ihre möglichen Handlungen epistemisch zu beurteilen. Sie verlassen dann die normative Subjekt-Perspektive und nehmen die empirische Betrachter-Perspektive ein. Das heißt nicht, dass Sie in der normativen Perspektive den Determinismus leugnen und stattdessen dem Indeterminismus huldigen. Der Indeterminismus widersetzt sich nicht einer epistemischen Beurteilung; er bedeutet nur, dass

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These, dass die praktische Überlegung die Vorhersage verdränge („deliberation crowds out prediction“). Seitdem ist die These in der Diskussion (Rabinowicz 2002). Der Punkt ist durchaus subtil, da eine Selbst-Vorhersage nicht offenkundig absurd ist. Meine aktuelle Meinung zu dieser Sache findet sich in Spohn (2003, Abschnitt 4). Siehe auch Spohn (1990; 2006). Meine Auffassung, wie diese Theorie auf Entscheidungsmodelle (das heißt: von Bayes’schen Netzen auf Einflussdiagramme) auszudehnen ist, findet sich nur in Spohn (1978, Abschnitt 3.2 – 3). Ähnliche, aber viel detaillierter ausgeführte Theorien finden sich in Spirtes et al. (1993, Kap. 3) und Pearl (2000, Kap. 4). In Spohn (2001) diskutiere ich diese Ähnlichkeiten.

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diese Beurteilung irreduzibel probabilistisch oder noch unbestimmter ist. Der Punkt ist also vielmehr, dass sich in der normativen Perspektive die Frage nach Determinismus und Indeterminismus jedenfalls in Bezug auf Ihre Handlungen überhaupt nicht stellt. Diese Frage gar nicht erst aufkommen lassen, das ist in der Tat genau das, was der Verteidiger der Willensfreiheit tun muss. In gewisser Weise muss man Kant für seine kompromisslose Haltung bewundern. Er akzeptiert die Willensfreiheit, er akzeptiert den Determinismus, und er akzeptiert den Widerspruch. Er ist sich vollkommen im Klaren, dass eine radikale Lösung nötig ist, und er findet sie in seiner Zwei-Welten-Lehre: Der Determinismus gilt in der phänomenalen Welt, die Freiheit gilt in der noumenalen Welt, und damit ist der Widerspruch verschwunden (Kant 1785, Abschnitt 3, insbesondere AA 447 ff.). Die Lehre ist sicherlich nicht haltbar; es gibt nur eine Welt; und ich denke, dass auch eine sorgfältige Auseinandersetzung mit Kant zu keiner anderen Schlussfolgerung gelangen könnte. Gleichwohl zeigt Kant auf brillante Weise, was es heißt, eine prinzipielle Lösung zu geben. Was ich sagen will, ist, dass die Unterscheidung zwischen der normativen und der empirischen Perspektive die gleiche prinzipielle Lösungskraft hat. Es gibt nur eine Welt, aber zwei Perspektiven. In der normativen Subjekt-Perspektive sind die eigenen Handlungen unverursacht, und das ist vollkommen damit verträglich, dass sie in der empirischen Betrachter-Perspektive vollständig determiniert, das heißt durch hinreichende Ursachen bestimmt sind – oder auch nur partiell bestimmt oder probabilistisch verursacht. Das halte ich für den Kern des Problems der Willensfreiheit. Wenn man nach ihm ausschließlich in der empirischen Perspektive sucht, verwickelt man sich in Paradoxien; innerhalb der normativen Perspektive ist dieser Kern hingegen ein Allgemeinplatz. Um mich an die etablierte Terminologie zu halten: Ich plädiere für einen Kompatibilismus, aber nur indem ich zwei Perspektiven unterscheide. Innerhalb jeder einzelnen Perspektive ist kein Kompatibilismus möglich; die normative Subjekt-Perspektive ist eindeutig libertär, während ein strenger Determinismus im Rahmen der empirischen Betrachter-Perspektive vertretbar ist. Man kann den Punkt auch mit der die philosophische Diskussion prägenden Frage nach den kontrafaktischen Alternativen formulieren. Danach entscheidet sich die Existenz der Willensfreiheit mit der Antwort auf die Frage: „Hätte er anders handeln können?“ Die Antwort darauf scheint mir wiederum perspektivenabhängig zu sein. In der empirischen

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Perspektive der dritten Person kann man die Frage durchaus verneinen: Er hätte nicht anders handeln können; seine Handlung war durch das vorliegende Kausalgefüge determiniert. In der normativen Perspektive der ersten Person lautet die Frage aber: „Hätte ich anders handeln können?“ Und jetzt lautet die Antwort: „Ja, natürlich! Ich hatte die Wahl zwischen verschiedenen Alternativen.“ In der normativen Perspektive gibt es nichts, was die Leugnung kontrafaktischer Alternativen rechtfertigen könnte.6 Natürlich liegt der Einwand auf der Hand, dass die Annahme einer perspektivenabhängigen Kausalität kaum weniger verrückt ist als die kantische Zwei-Welten-Lehre. Und weiter lautet der Einwand, dass die beiden Perspektiven doch jedenfalls nicht gleichberechtigt sind. Bevor ich auf diese Einwände eingehe, will ich aber wenigstens erwähnen, dass dieser Gedanke ein sehr alter ist; wie gesagt, jeder Stein in dieser Mine ist vielfach gewendet worden. Offensichtlich hat es mit der Verursachung unserer Handlungen eine besondere Bewandtnis. Es geht nicht um die kosmologische Dimension, um das kausale Rätsel eines ersten Bewegers oder einer causa sui. Es geht um die menschliche Dimension. Zumindest seit Thomas Reid ist die Idee einer besonderen immanenten oder Agenten-Kausalität, wie sie später genannt wurde, im Schwange: Mein Wille, meine Absichten, meine Handlungen sind gewiss verursacht; trotzdem sind sie nicht einfach Teil des universalen Kausalnexus; vielmehr bin ich es, der sie verursacht, ausübt oder fasst. Einige Philosophen finden diese Idee ganz natürlich, die meisten finden sie suspekt. Vielleicht lässt sie sich mithilfe der Unterscheidung verschiedener Perspektiven besser verstehen. Innerhalb einer Perspektive, wie sie normalerweise präsentiert wird, muss sie wohl rätselhaft bleiben. Die Idee, dass man verschiedene Perspektiven (oder gar Welten?) unterscheiden sollte, ist ebenfalls alt. Dennett (1984) nutzt seine Unterscheidung des physikalischen, des Design- und des intentionalen Standpunkts für eine Erklärung des freien Willens. Nagel (1986, Kapitel VII) sagt ganz klar, dass sich Freiheit, Autonomie und Verantwortlichkeit aus der subjektiven und der objektiven Perspektive verschieden darstellen. Noch dramatischer klingt es bei von Wright (1971), der Erklären 6

In Diskussionen wurde oft der Einwand erhoben, ich reduzierte Freiheit damit auf unser subjektives Freiheitsgefhl. Um Gefühle geht es mir aber gar nicht; es geht um die Wahrheit und Falschheit von Kausalaussagen, und diese sind eben perspektivenabhängig oder, wie man auch sagen könnte, auf versteckte Weise ambig.

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und Verstehen in Opposition bringt und damit sogar für eine unüberbrückbare Differenz zwischen Natur- und Humanwissenschaften argumentiert – ein Thema mit einer langen Geschichte. Nida-Rümelin (2005) liegt auf einer ähnlichen Linie mit seiner These der Nicht-Naturalisierbarkeit von Gründen und der Komplementarität einer naturalistischen und einer humanistischen Perspektive. Damit stimme ich ungefähr überein. Er selbst will sich allerdings nicht unter eine solche ZweiPerspektiven-Konzeption subsumieren lassen – was ihn der Kritik aussetzt oder jedenfalls der meinigen im Abschnitt 3. Mit diesen Hinweisen mag es genug sein. Mein primärer Grund für diesen Aufsatz ist meine Überzeugung, dass die Idee, zwei Perspektiven zu unterscheiden, in der oben dargelegten Weise zugespitzt gehört. Ich finde, dass die Tatsache, dass die Kausalbeziehungen in den zwei Perspektiven verschieden zu beurteilen sind, nur ungenügend wahrgenommen wird – das heißt, um es noch einmal explizit zu sagen: die Tatsache, dass die Unterscheidung der beiden Perspektiven und die Unverursachtheit der eigenen Handlungen in der normativen SubjektPespektive eine strenge und notwendige Folgerung aus der allgemein akzeptierten Auffassung von praktischen Überlegungen und aus einer sehr prominenten Auffassung von Kausalität und kausaler Abhängigkeit ist. Nicht einmal bei meinen unmittelbaren Verbündeten finde ich dafür eine hinreichende Wahrnehmung. Pearl (2000) und Spirtes et al. (1993) teilen meine kausalitätstheoretischen Prämissen, sie setzen sie aber nicht mit der Willensfreiheit in Bezug, während Levi (1986, 65 f.), der die praktische Überlegung mit der Willensfreiheit in der erwähnten Weise in Zusammenhang bringt, nichts zur Kausalität sagt.7

2. Die bisherige Argumentskizze wäre unvollständig, wenn ich das Verhältnis der beiden Perspektiven nicht weiter kommentieren würde. Die erste Fragwürdigkeit ist natürlich, dass ich offenbar eine perspektivenabhängige Kausalität annehme, die kaum besser ist als Kants ZweiWelten-Lehre. Die Lage ist allerdings nicht dramatisch. Es gibt ganz 7

Zu erwähnen ist auch, dass es Zweige der Handlungslogik gibt, die die Unverursachtheit von Handlungen annehmen; siehe Åqvist (1974) und von Kutschera (1986). Freilich ist auch dort nicht die Verbindung zu unserem Thema gezogen.

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präzise Aussagen darüber, wie die Kausalverhältnisse gemäß den zwei Perspektiven zueinander in Beziehung stehen. Wie die Kausalverhältnisse gemäß der empirischen Perspektive beschaffen sind, lässt sich durch einen sogenannten kausalen Graphen darstellen. Und dann gelangen wir zu den Kausalverhältnissen gemäß der normativen Subjekt-Perspektive, indem wir den empirischen kausalen Graphen bezüglich der Handlungsknoten, wie es heißt, trunkieren. Das bedeutet, dass die Kausalverhältnisse gemäß der beiden Perspektiven weitgehend übereinstimmen. Nur die kausalen Pfeile, die zu den Handlungen des Subjekts als unmittelbaren Wirkungen führen, sind herausgeschnitten, diese Handlungen sind gewissermaßen einfach die kausalen blinden Flecken der normativen Perspektive.8 Gebe ich damit aber nicht zu, dass die empirische Perspektive das wirkliche und vollständige kausale Bild liefert, welches die lokalen blinden Flecken der normativen Perspektive auffüllt? Ja, gewiss. Sollte ich damit also nicht auch zugeben, dass die empirische Perspektive die primäre ist, die am Ende einzig zählt? Und stecken wir dann nicht wieder tief im Paradox? Nein, ich bestreite beides. Keine der beiden Perspektiven ist die primäre, sie sind ebenbürtig und stehen in einem ziemlich komplizierten Verhältnis zueinander. Diesen Punkt muss ich genauer ausführen. Zunächst ist festzustellen, dass die Verursachung von Handlungen in der empirischen Betrachter-Perspektive kein grundsätzliches Geheimnis ist. Im Idealfall ist es genau die praktische Überlegung, die die daraus folgende Handlung verursacht. Diese Formulierung klingt so, als würden wir permanent aktiv überlegen. So ist das nicht gemeint. Genauer sollten wir sagen, dass die Handlung von der mentalen Konstellation verursacht wird, die durch das für den jeweiligen Fall angemessene Entscheidungsmodell repräsentiert wird. Indem ich das sage, will ich auch einem weit verbreiteten Missverständnis der Entscheidungstheorie entgegentreten. Die Entscheidungstheorie ist entgegen dem Anschein keine komputationelle Theorie über tatsächliche Überlegungsprozesse; sie ist eine Theorie über die Beziehung zwischen unseren Überzeugungen und

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Eine ausführliche Darstellung dieser Trunkierung findet sich in Pearl (2000, Abschnitt 3.2). Diese Trunkierung gleicht dem, was Spirtes et al. (1993, Abschnitt 3.7.2) als Manipulation beschreiben. In der Tat findet sich diese Trunkierung schon in Spohn (1978, Abschnitt 5.2). Einige interessante und folgenreiche Feinheiten dieser Trunkierung werden in Spohn (2003, Abschnitt 4.3) erörtert.

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Wünschen einerseits und unseren Handlungen andererseits und nicht darüber, wie sie komputationell zueinander in Beziehung gesetzt sind.9 Natürlich liefert die Entscheidungstheorie dafür nur die grobe Grundstruktur. Selbst wenn sie ungefähr zuträfe, müssten wir untersuchen, wie das genau funktioniert, wie die zugrunde liegenden Mechanismen zwischen dem Geist im Hirn und den Körperbewegungen letztendlich laufen, wie die aus Überzeugungen und Wünschen bestehende mentale Konstellation ihrerseits verursacht ist, und so weiter. Diese Untersuchungen müssten auf einer psychologischen wie auf einer neurophysiologischen Ebene vorangetrieben werden. Das alles ergibt schon eine unerschöpfliche Forschungsagenda. Darüber hinaus gibt es den bekannten Vorwurf, dass die Entscheidungstheorie nicht einmal annähernd empirisch zutreffend ist; und das macht die empirische Forschung noch schwieriger und undurchsichtiger. Freilich beeindruckt mich dieser Vorwurf nicht besonders. Die Entscheidungstheorie ist in erster Linie eine normative Theorie, die für die normative Perspektive formuliert ist. Auch wenn man die Relevanz empirischer Ergebnisse für die normative Diskussion nicht von vornherein bestreiten und der Schluss vom Sein aufs Sollen nicht unbedingt ein Fehlschluss sein muss, so bleibt doch unklar, welche normativen Folgerungen man aus den empirischen Ergebnissen ziehen kann.10 Daher scheint mir die Kritik an der Entscheidungstheorie von empirischer Seite zumindest kurzschlüssig zu sein. Viel spannender finde ich die Tatsache, dass die Entscheidungstheorie selbst als normative Theorie noch mangelhaft ist. Dabei denke ich weniger an die diversen normativen Zweifel am grundlegenden Prinzip von der Maximierung des bedingt erwarteten Nutzens, auch wenn diese durchaus ernst zu nehmen sind. Der wichtigere Punkt ist, dass die intrinsische nicht-erwartete Nutzenfunktion in Entscheidungsmodellen schlicht als gegeben betrachtet wird, obwohl sie doch in mehrfacher Hinsicht wiederum der normativen Beurteilung unterliegt. In der Tat verorte ich an dieser Stelle die hauptsächliche Literatur zur Willensfreiheit, auch wenn sie sich nicht der entscheidungstheoretischen Terminologie bedient. Die Libertarier leugnen geradewegs den Determinismus, die sogenannten harten Deterministen leugnen geradewegs 9 Ebenso ist die Logik keine Theorie darüber, wie wir beim logischen Schließen vorzugehen haben; sie sagt, welche Schlüsse wir ziehen dürfen und ob die gezogenen Schlüsse korrekt sind oder nicht. 10 In Spohn (1993a) habe ich diese Frage ausführlicher diskutiert.

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den freien Willen, und die Richtung, der ich anhänge, unterscheidet zwei Welten oder Perspektiven, um die Dinge kompatibel zu machen. Alle drei Gruppen sind Minderheiten. Die große Mehrheit versucht den Kompatibilismus dadurch zu retten, dass sie eine Handlung genau dann frei nennt, wenn sie in geeigneter Weise verursacht ist, und dann hängt natürlich alles daran zu sagen, was man unter geeigneter Verursachung verstehen soll. Um frei zu sein, muss eine Handlung wirklich eine Handlung sein, nicht bloß unwillkürliches Verhalten, und sie darf nicht erzwungen oder zwanghaft sein. Sie darf nicht bloß fest gegebene Wünsche oder Nutzenfunktionen erfüllen. Vielmehr muss sie Gründen in einem umfassenderen und nicht bloß instrumentellen Sinn von Gründen zugänglich sein und damit einer umfassenderen Form von Rationalität unterliegen – was immer hier mit „umfassender“ genau gemeint ist. Die Wünsche erster Ordnung müssen sich ihrerseits von Wünschen zweiter Ordnung leiten lassen. Vielleicht müssen sie in einem bestimmten Sinne aufgeklärt sein und sich in einer sogenannten kognitiven Psychotherapie bewährt haben. All diese Auffassungen hängen auch eng mit einem geeigneten Autonomiebegriff zusammen. Das Subjekt muss die Gelegenheit gehabt haben und in der Lage sein, seine eigenen Wünsche und Ziele in einer hinreichend selbstbestimmten und reflektierten Weise zu entwickeln, es muss ihnen gegenüber einen Standpunkt einnehmen und sie von sich aus akzeptieren können. Vielleicht kann man auch ganz direkt verlangen, dass die Wünsche erster Ordnung den richtigen Inhalt haben, dass sie also zum Beispiel den moralischen Pflichten oder dem kategorischen Imperativ genügen oder dass sie in dem Sinne menschengemäß sind, dass sie unsere Vernunftnatur respektieren oder auf die Vervollkommnung unserer Tugenden ausgerichtet sind. Diese und andere Ideen werden in der Literatur mit großer Leidenschaft und Sorgfalt diskutiert. Bei alledem darf man nie vergessen, dass ein angemessener Freiheitsbegriff Hand in Hand geht mit unseren Vorstellungen von Menschenwürde, Verantwortung, Schuld und Schuldfähigkeit und all ihren praktischen, moralischen und rechtlichen Weiterungen. Ich habe gerade auf sehr viele Dinge angespielt, die ich unmöglich alle explizit machen kann. Das ist auch nicht notwendig, da ich jetzt keine dieser Auffassungen diskutieren will.11 Ich wollte nur darauf hinweisen, 11 Kritisch sei nur angemerkt, dass ich eine große Diskrepanz zwischen dem Formulierungsniveau der Standard-Entscheidungstheorie und dem der gerade erwähnten Ergänzungen sehe. Wie etwa die Logik der Wünsche erster und zweiter

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dass es da eine äußerst reichhaltige und höchst interessante Literatur gibt, die in der einen oder anderen Weise damit befasst ist, unser grundlegendes Bild von der Verursachung von Handlungen zu vervollständigen. Dabei ist zu beachten, dass die übliche Argumentationsform eine normative und nicht eine empirische ist. Was behauptet wird, ist, dass unsere Handlungen von moralischen Motiven geleitet sein sollten, dass sie in einem umfassenderen Sinne Gründen zugänglich sein sollten, dass sie von Wünschen zweiter Ordnung gelenkt sein sollten, und so weiter. Der Umfang, in dem sie jeweils tatsächlich auf solche Weise bestimmt sind, ist keine philosophische Frage, wenngleich sicherlich vorausgesetzt wird, dass solche normativen Überlegungen auf die eine oder andere Weise einen tatsächlichen spürbaren Einfluss haben. All das darf uns aber nicht von der Tatsache ablenken, dass die grundlegende Handlungserklärung die vorhin skizzierte entscheidungstheoretische Form hat, wie immer diese genau zu verbessern sei. In dieser Form der Handlungserklärung wird das, was in der normativen SubjektPerspektive die Gründe für die Handlung sind, in der empirischen Beobachter-Perspektive idealiter zu den Ursachen der Handlung.12 In der Tat ist das offensichtlich die einzige Erklärungsform, die mit unserem Selbstverständnis als vernunftbegabten und mit einer normativen Perspektive ausgestatteten Wesen verträglich ist. Kurzum: Natürlich sind unsere Handlungen verursacht. Sie sind mental verursacht, wie gerade skizziert. Sie sind sogar physikalisch verursacht. Ich hänge einer Typ-Typ-Identitätstheorie an, wonach mentale Zustände oder Eigenschaften auf vielleicht in einem breiteren Sinne zu verstehenden materiellen Zuständen oder Eigenschaften supervenieren13 ; in Abhängigkeit davon, was man als Eigenschaft oder Zustand versteht, folgt aus dieser Supervenienz, dass die mentalen Zustände mit materiellen Stufe aussieht, finde ich nirgends erklärt, und alle Erläuterungen praktischer Gründe im erhofften umfassenderen Sinn, einschließlich der Erläuterungen struktureller Rationalität durch Nida-Rümelin (2001), finde ich vergleichsweise weich. 12 So hat es Churchland (1970) in paradigmatischer Weise beschrieben. 13 Der Supervenienzbegriff hat viele Explikationen. Grob gesagt superveniert eine Menge A von Eigenschaften, Zuständen oder Aussagen auf einer Menge B von Eigenschaften, Zuständen oder Aussagen, wenn ein Unterschied bezüglich A einen Unterschied bezüglich B notwendig impliziert. Nun kann man die in dieser Erläuterung versteckten Quantoren auf verschiedene Weisen ausbuchstabieren. Wichtiger ist, dass man den dabei benutzten Notwendigkeitsbegriff verschieden verstehen kann. Ich verstehe ihn im Folgenden immer im Sinne metaphysischer Notwendigkeit.

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Zuständen identisch sind (von Kutschera 1992). Dasselbe gilt für die Kausalität. Kausalität findet sich auf allen Ebenen, nicht nur zwischen Elementarteilchen. Es gibt Kausalbeziehungen unter mentalen Zuständen und zwischen mentalen und materiellen Zuständen, und wenn mentale Zustände materielle Zustände sind, dann sind diese mentalen Kausalbeziehungen materielle Kausalbeziehungen; ich sehe keine besonderen Probleme mit der sogenannten supervenienten Kausalität. Das sind verwegen apodiktische Äußerungen über eine philosophische Schlangengrube. Darum will ich gar nicht erst anfangen, sie zu verteidigen. Das ist auch gar nicht nötig. Die dialektische Lage ist ja vielmehr, dass ich meinem möglichen Opponenten diese stark materialistische Typ-Typ-Identitätstheorie schenken will und kann; ich muss mein Heil gar nicht in raffinierten Theorien über die Beziehung zwischen Geist und Körper suchen, die irgendwelche verschlungenen Argumentationswege öffnen. Damit räume ich auch ein, dass unsere tatsächlichen normativen Vorstellungen auf unserer materiellen Beschaffenheit supervenieren. Wenn diese normativen Vorstellungen irgendwie anders wären als sie tatsächlich sind, dann müsste auch die physische Materie irgendwie anders beschaffen oder verteilt sein, als sie es tatsächlich ist. Das bestreiten zu wollen, schiene mir verrückt. Ich kann sogar zugestehen, dass die normativen Tatsachen selbst, so es sie gibt, auf den physikalischen Tatsachen supervenieren. Ich bin mir unsicher, ob man überhaupt von normativen Tatsachen reden kann; vielleicht liegen die normativen Wahrheiten in den Aussagen, zu denen wir dem Peirceschen Ideal entsprechend am Ende der normativen (und nicht der empirischen) Urteilsbildung gelangen würden. Wenn wir diese Rede zugestehen, so superveniert aber eine apriorische normative Wahrheit, wie es etwa der kategorische Imperativ laut Kant ist, trivialerweise auf den physikalischen Tatsachen, einfach weil sie überhaupt nicht von diesen Tatsachen abhängt. Und zwei Situationen, die kontingenterweise unterschiedlich zu bewerten oder normativ zu beurteilen sind, müssen, so scheint es, sich auch physikalisch irgendwie unterscheiden.14 Zumindest gehört es zu unserer normativen Bewertungsoder Beurteilungspraxis, physikalisch ununterscheidbare Fälle normativ gleich zu beurteilen; und dann gilt dies auch für den Peirceschen Grenzwert der Beurteilung, wenn er denn existiert, also für die normativen Wahrheiten selbst. Das alles kann ich jedenfalls einräumen. 14 Das war der ursprüngliche Ort der Supervenienzdiskussion bei George Moore und später in Hare (1952).

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Der Punkt, auf den es mir jetzt ankommt, ist, dass all diese starken ontologischen Bekenntnisse des Identitäts- und Supervenienztheoretikers, die ich teile, in keiner Weise unsere erkenntnistheoretische Betrachter-Perspektive festlegen. Sie geben dem empirischen Standpunkt keinen Vorrang gegenüber dem normativen, und sie untergraben nicht die Nicht-Eliminierbarkeit des normativen Standpunkts. Wieso? Es ist ein alter philosophischer Schachzug, ontologische Überlegungen mithilfe des Laplaceschen Dämons in erkenntnistheoretische zu überführen. Wenn der Dämon die grundlegende Ontologie unserer Welt, die Verteilung der Materie (zu einem bestimmten Zeitpunkt) und die sie beherrschenden Naturgesetze kennt, dann kann er offenbar alles wissen; er kennt dann alles, was es gibt, er kann alle vergangenen Ereignisse und auch Handlungen erklären und alle zukünftigen Ereignisse und Handlungen und sogar all unsere zukünftigen normativen Vorstellungen vorhersagen. Er scheint die Vervollkommnung unserer empirischen Betrachter-Perspektive zu verkörpern, und in dieser Vervollkommnung ist kein Platz mehr für die normative Perspektive. Dieses Bild vom Laplaceschen Dämon ist allerdings äußerst irreführend. Wir müssen uns klar vor Augen halten, wie sehr der Dämon von menschlichen Gegebenheiten abweicht. Es geht nicht darum, dass selbst der Dämon in unserem indeterministischen Universum schnell versagen würde. Ontologisch können wir einen strikten Determinismus zugrunde legen. Der springende Punkt ist vielmehr, dass weder wir noch der Dämon in der Lage sind, die Supervenienzbeziehung, die in unseren ontologischen Bekenntnissen lediglich behauptet wird, im Detail anzugeben und dass unsere Unfähigkeit und die des Dämons ganz verschiedene Gründe haben, auch wenn sie am Ende konvergieren. Unser Problem ist weniger die vollständige Kenntnis der fundamentalen physikalischen Gesetze; vielleicht sind wir gerade dabei, unser Bild zu vollenden. Was uns ganz unmöglich ist, ist die vollständige Kenntnis aller physikalischen Einzeltatsachen zu einem bestimmten Zeitpunkt, über die der Dämon verfügt. Und wir verfügen auch nicht über die perfekten Rechenfähigkeiten des Dämons. Nach menschlichen und allen physikalischen Maßstäben ist beides vollkommen fiktiv. Ich riskiere praktisch nichts, wenn ich wette, dass wir komplexe Moleküle nie auf quantenphysikalischer Grundlage exakt werden durchrechnen können und dass wir entgegen kühner Ankündigungen unserer Neurowissenschaftler nie über ein nur allergröbstes Verständnis der neurophysiologischen Supervenienzbasis mentaler Prozesse hinauskommen werden

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wie zum Beispiel derjenigen, auf der die Äußerung und das Verständnis eben dieses Satzes beruht. Insbesondere können wir nichts Besseres tun als von unserer früher geschilderten einfachen Form der Handlungserklärung auszugehen, welche die einzige war, die damit konsistent war, dass wir eine normative Perspektive haben. Wir können und müssen diese einfache Form in vielfältiger Weise spezifizieren, qualifizieren und verbessern; einige Möglichkeiten dafür hatte ich angedeutet. Natürlich entwickeln wir auch unseren normativen Standpunkt weiter, wir suchen nach immer besseren und vollständigeren Antworten auf unsere normativen Fragen. Damit bauen wir auch gleichzeitig unseren empirischen Standpunkt aus; unsere normativen Vorstellungen dienen gleichzeitig als empirisches Ideal; die normativen Gründe des Subjekts sind idealiter empirische Ursachen für den Beobachter. Wir tun oft, was wir sollen; oft tun wir es auch nicht. Wir genügen oft unserem normativen Ideal, und oft verfehlen wir es; die verschiedenen Formen des Versagens werden philosophisch unter der Überschrift „Willensschwäche“ diskutiert. Jede empirische Theorie über unser Verhalten muss diesen Punkt berücksichtigen, muss unsere normative Theoriebildung gleichzeitig als eine Idealisierung analog etwa zur reibungslosen Bewegung verstehen und dann diese Idealisierung durch geeignete Korrekturtheorien realistischer machen. Jede empirische Theoriebildung, die den normativen Standpunkt einfach ignoriert, muss unvollständig und inadäquat bleiben. Normative und empirische Theoriebildung sind hier in der Tat in einem komplexen doppelten Überlegungsgleichgewicht verknüpft, welches durchaus einer detaillierten Beschreibung harrt.15 Der Dämon hat die komplementären Probleme. Oder vielleicht auch nicht; er könnte auch ein Eliminativist sein, und daher könnte ihm die Supervenienz gleichgültig sein. Allerdings scheint mir die Prognose des Eliminativisten, dass unser intentionales Idiom sich eines Tages auflösen würde, schlichtweg unglaubwürdig zu sein. Wenn also der Eliminativismus als Option ausscheidet, so ist es für die Allwissenheit des Dämons nicht hinreichend, alles über die ontologisch grundlegende Ebene der Physik zu wissen. Er weiß dann noch überhaupt nichts über all die einschlägigen Supervenienzverhältnisse. Wenn er wissen will, was Wasser ist, muss er erst unseren Begriff von Wasser haben; wenn er diesen hat, dann ist es für ihn natürlich ein Leichtes festzustellen, dass Wasser H2O ist. 15 In Spohn (1993a) habe ich dieses doppelte Überlegungsgleichgewicht etwas ausführlicher zu beschreiben versucht.

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Wenn er vorhersagen soll, ob ich morgen glücklich bin, dann muss er wissen, wie Glück auf seiner Physik superveniert; und um das zu wissen, muss er erst einmal unseren komplexen Glücksbegriff erwerben. Das gilt ebenso für all unsere anderen mentalen Begriffe. Insbesondere muss er auch unsere normative Perspektive haben und ausüben; sonst kann er nie verstehen, worum es in unserem normativen Diskurs überhaupt geht. Es ist auch nicht so, dass der Dämon, wenn er die richtige Supervenienzbeziehung kennt, sich auf das Durchrechnen der physikalischen Ebene zurückziehen und all die mentalen und normativen Begriffe wieder vergessen könnte. Der Dämon kann hier keine definitive Erkenntnis haben. Vielmehr bleibt die Supervenienzbeziehung für ihn ebenso wie für uns hypothetisch und an die Überprüfung durch die fortgesetzte Pflege mentaler und normativer Begriffe gebunden; was deren richtige Anwendung ist, kann auch er nicht über eine bloß hypothetisierte Supervenienzbeziehung entscheiden. Von beiden Seiten her kommen wir also zu der gleichen Schlussfolgerung. Der Dämon muss über die normative Perspektive verfügen und sie ausüben, auch wenn sein einziges Ziel ist, das empirische Bild zu vervollständigen. Wir haben die normative Perspektive und müssen sie als empirische Idealisierung berücksichtigen, auch wenn wir nur empirische Psychologie betreiben wollen. Dass die normative Subjekt-Perspektive nicht zur Gänze eliminiert werden kann, habe ich schon zu Beginn mit der Unvermeidlichkeit normativer Fragen erklärt. Jetzt habe ich das stärkere Argument ausgeführt, dass sich die normative Subjekt-Perspektive nicht einmal aus der empirischen Betrachter-Perspektive verbannen lässt. Man kann die empirische Psychologie nicht vervollständigen, ohne sich auf den normativen Standpunkt einzulassen. Und natürlich gilt dann diese Feststellung nicht nur für die Psychologie; sie verallgemeinert sich auf alle Humanwissenschaften, Soziologie, Ökonomie und politische Wissenschaften. Mithin sind wir auch vom empirischen Standpunkt aus auf die normative Perspektive angewiesen. Es wäre nicht angemessen, eine Perspektive als die primäre auszuzeichnen.16 Natürlich will ich damit nicht sagen, dass die normative Perspektive in der Psychologie dominant wäre. Wenn der Psychologe etwa die Legasthenie untersucht, so wären normative Betrachtungen neben der 16 In Spohn (i.E.) argumentiere ich ausführlicher für die Normativität als das eigentliche Unterscheidungsmerkmal zwischen den Human- und den Naturwissenschaften.

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Sache. Das gleiche gilt für weite Teile der Psychologie. Mein Punkt ist nur, dass die Psychologie den normativen Standpunkt nicht vollkommen außer Acht lassen kann. Damit ist nicht bloß gemeint, dass der Psychologe ständig mit normativen, nämlich methodologischen Fragen über sein wissenschaftliches Vorgehen konfrontiert ist. Das gilt in der Tat für jede Wissenschaft; insofern hat jede Wissenschaft normative Elemente. Die Normativität der Psychologie und damit der anderen Human- und Sozialwissenschaften, für die ich argumentiert habe, geht viel weiter. Fazit: Wenn wir daran festhalten, dass wir einen freien Willen haben und dass unsere Handlungen erste Ursachen sind, dann sagen wir vom normativen Standpunkt aus die Wahrheit. Und das müssen wir auch dann anerkennen, wenn wir zur empirischen Perspektive überwechseln; auch in deren Rahmen können wir den normativen Standpunkt nicht eliminieren. Diese meine These ist, wie betont, nur ein kleiner Teil der reichen Wahrheit über die Handlungs- und Willensfreiheit, aber ein elementarer und vernachlässigter, der es verdient, herausgestrichen zu werden.

3. So weit habe ich versucht, meine Sicht der Dinge möglichst knapp und prägnant darzulegen. Ich spüre damit im Wesentlichen eine große Übereinstimmung mit der Position von Julian Nida-Rümelin; was ich soeben über die notwendige Verschränktheit der normativen und der empirischen Perspektive in der empirischen Psychologie sagte, ähnelt sehr dem, was er theoretischen Humanismus nennt. Dem wäre eigentlich gar nichts hinzuzufügen, wenn ich seine Position nicht als partiell undeutlich empfände. In Nida-Rümelin (2007, 128 ff.) erwähnt er weitere prominente Vertreter der Zwei-Perspektiven- oder -Aspekte-Konzeption, von denen er sich aber kritisch absetzt. Er sagt, dass sich seine eigene Position im Spektrum philosophischer Positionen schwer einordnen lasse: Sie ist in der Hinsicht zur Minderheitenposition des Libertarismus zu rechnen, als ich einen durch deterministische (auch probabilistische) naturwissenschaftliche Gesetze vollständig bestimmten Weltverlauf für unvereinbar mit substanzieller menschlicher Freiheit halte. Andererseits ist sie in einer hybriden Weise kompatibilistisch (Nida-Rümelin 2005, 164).

Er möchte unseren Freiheitsintuitionen ein fundamentum in re geben (Nida-Rümelin VF, in diesem Band, Kapitel 2.5); gleichzeitig sind seine

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Erörterungen metaphysischer und ontologischer Themen durchgängig erkenntnistheoretisch imprägniert oder gar umdefiniert – etwa in (NidaRümelin 2007, Abschnitt 3), wo er für eine epistemologische anstelle einer ontologischen Deutung von Kausalität plädiert.17 Auf diese Weise versucht er, eine einheitliche Perspektive zu bewahren – wie mir scheint, um den Preis unnötiger Angriffsflächen. Denn wir haben auch ontologische Intuitionen, und denen wird er auf diese Weise nicht gerecht. Dieser Punkt lässt sich vielleicht am besten an der für seinen theoretischen Humanismus zentralen These von der naturalistischen Unterbestimmtheit von Gründen verdeutlichen. Unter Naturalismus versteht er dabei: die Auffassung, dass grundsätzlich alle Phänomene, einschließlich mentaler und speziell intentionaler Zustände und Prozesse, also auch menschliches Handeln, mit naturwissenschaftlichen Methoden vollständig beschrieben und erklärt werden können„ – wobei es hinreicht, diese Methoden so weit zu präzisieren, „dass jedenfalls Gründe in naturwissenschaftlichen Beschreibungen und Erklärungen keine irreduzible Rolle spielen dürfen (NidaRümelin 2005, 35).

Von Beginn an – der bei Nagel (1961) liegt – sind die Begriffe der Reduktion und der Reduzierbarkeit von schweren Unklarheiten belastet; man kann sie nicht einfach verwenden und meinen, man hätte etwas Klares gesagt. Versucht man, diese mit dem Begriff der Supervenienz in Beziehung zu setzen, wird die Verwirrung noch größer. Dies im Einzelnen zu belegen, würde hier zu weit führen. Jedenfalls finde ich diese Unklarheiten bei Nida-Rümelin nirgends ausgeräumt. „Bestimmt sein durch“ heißt in einem Sinne „supervenieren auf“, und wenn man einen gewissen Bereich der Wirklichkeit vollständig beschreibt, so hat man in einem Sinne auch alles, was darauf superveniert, vollständig beschrieben. In diesem Sinne scheint Nida-Rümelin mit seiner These von der naturalistischen Unterbestimmtheit von Gründen meiner oben reklamierten Supervenienzthese zu widersprechen. Diese entspricht aber, denke ich, unseren ontologischen Intuitionen. Nun muss man dieser Supervenienzthese nicht anhängen, aber ich nehme doch an, dass man aus der 17 Unter anderem unter Berufung auf meine Habilitationsschrift (Nida-Rümelin 2007, Fußnote 16). Dabei übersieht er, dass diese Schrift auch deswegen unveröffentlicht blieb, weil es mir unbefriedigend schien, bloß eine epistemisch relativierte Explikation von Kausalität anzubieten; man muss eine Lösung für das Problem hinzufügen, wie sich auf einer solchen Basis ein objektiver oder ontologischer Kausalitätsbegriff zurückgewinnen lässt. Dafür habe ich erst in Spohn (1992) einen Vorschlag gefunden.

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menschlichen Freiheit Sinn machen und diese ontologische Frage trotzdem offen lassen kann. Aber nicht einmal das ist möglich gemäß Nida-Rümelins Unterbestimmtheitsthese, wenn man sie ontologisch liest. In dieser Lesart stößt sie zu Recht auf Unverständnis und Opposition. Der Eindruck, dass er diese ontologische Lesart meint, wird durch seine mehrfach entwickelten, bedenkenswerten Argumente bezüglich der Selbstreferentialität des menschlichen Geistes oder der Singularitäten in der klassischen Physik eher verstärkt. Diese laufen darauf hinaus, dass, falls doch alles auf der grundlegenden physikalischen Ebene, auf der Verteilung der Elementarteilchen superveniert, dann jedoch der Determinismus auf dieser Ebene falsch ist (wie immer dann die Indeterminiertheiten auf die supervenierenden Ebenen ausstrahlen, ob als Willkür, als plastische Kontrolle, wie Popper (1972) argumentiert, oder eben als die mikrokausale Unterbestimmtheit von Gründen). Wie immer es um diesen Determinismus steht, wiederum muss man, so hatte ich in Abschnitt 1 dargelegt, aus der Handlungsfreiheit unabhängig von dieser Frage Sinn machen können. Doch muss man die (Unter-)Bestimmtheit gar nicht ontologisch lesen, und Nida-Rümelin tut dies letztlich auch nicht. Wenn die Bestimmtheit tatsächliche Reduktion oder in irgendeinem Sinne menschenmögliche Reduzierbarkeit meint – von prinzipieller Reduzierbarkeit zu reden ist immer gefährlich – oder wenn man Supervenienz durch analytische Implikation oder durch „a priori entailment“ ersetzt (wofür der Apriori-Physikalismus von Jackson (1998) argumentiert), dann hat Nida-Rümelin mit seiner Unterbestimmtheitsthese sicherlich recht; ich habe ja auf meine Weise in Abschnitt 2 für sie argumentiert. Deswegen konstatiere ich auch im Wesentlichen Übereinstimmung zwischen uns. Nur stellt sich dann die Frage, welche ontologische Position er einnimmt. Gar keine, so scheint es; die Ontologie ist bei ihm in der Erkenntnistheorie aufgegangen. Das ist sicherlich ebenfalls nicht befriedigend. Ich halte meine Position für komfortabler. Was die ontologische Seite anbelangt, habe ich große Freiheit. Ich kann Werte hypostasieren oder auch nicht; ich kann Supervenienz- und Identitätstheoretiker sein oder auch nicht. Das muss keine direkten Auswirkungen auf die Freiheitsdiskussion haben. Was die erkenntnistheoretische Seite anbelangt, könnte ich versuchen, mich dem Laplaceschen Dämon anzuverwandeln und die empirische Perspektive so zu vervollständigen, bis sie sich mit der ontologischen Seite deckt. Das kann mir aber nicht gelingen, solange ich

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mich auf die empirische Perspektive beschränke; ich habe immer auch die normative Perspektive und komme, so habe ich argumentiert, ohne sie nicht aus, selbst wenn es mir nur um empirische Erkenntnis geht. Und erst in der normativen Perspektive finde ich die Unverursachtheit und somit Freiheit von Handlungen. Natürlich muss ich dafür den Preis einer Zwei-Perspektiven-Konzeption entrichten. Ich habe versucht darzulegen, dass der Preis erträglich ist; das ist sicherlich strittig. Wenn ich es recht sehe, ist aber Nida-Rümelins Versuch zur Rückgewinnung einer einheitlichen Perspektive ein Scheingewinn.

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Intentionalität und Kontrolle Eva-Maria Engelen In der vorliegenden Abhandlung wird zum einen dargelegt, welche Formen der Intentionalität mit Handlungen einhergehen und insofern auch mit Kontrolle, und bei welchen Formen der Intentionalität das nicht oder nur in einem eingeschränkten Sinne der Fall ist. Zum anderen wird dargelegt, was die Voraussetzungen für solche Formen der Intentionalität sind und warum sie sich nicht auf ein naturalistisches Vokabular reduzieren lassen. Der Beitrag ist in sechs Abschnitte unterteilt: 1. Darlegung der Fragestellung; 2. Klärung des Begriffes „Intentionalität“; 3. Erfüllungsbedingungen, Handlungen und Gründe; 4. Intentionalität ohne Erfüllungsbedingungen; 5. Bewusste Kontrolle; 6. Intentionalität, Kausalität und Repräsentation oder Re-Repräsentation.

1. Darlegung der Fragestellung Wenn wir von Freiheit sprechen, nehmen wir damit oft auf absichtsvolles, also kontrolliertes Handeln Bezug. In welchem Verhältnis Freiheit, Intentionalität und Kontrolle stehen, soll im Folgenden untersucht werden. Dafür werden zunächst einige Aspekte der diesbezüglichen Konzeption von Julian Nida-Rümelin vorgestellt, um anschließend zu zeigen, inwiefern das Moment der Intentionalität oder Absicht, das diesen Ausführungen zugrunde liegt, einen wichtigen Ausschnitt des Intentionalitätsbegriffes umfasst, der darüber hinaus aber auch noch andere Aspekte enthält. Die Überlegungen zu Freiheit, Intentionalität und Kontrolle sind dann auf diesen weiter gefassten Begriff der Intentionalität auszuweiten. Im Weiteren ermöglichen diese Überlegungen eine Analyse der Voraussetzungen für Beabsichtigen sowie eine Analyse des Unterschiedes zwischen einer automatisch ablaufenden Reaktion und intentionaler Gerichtetheit. Abschließend wird dargelegt, inwiefern sich das intentionale Moment des sich Ausrichtens nicht in einer rein mechanistischen Beschreibungsweise erklären lässt.

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Julian Nida-Rümelin setzt Freiheit, Intentionalität und Kontrolle so in ein Verhältnis zueinander, dass die Bestimmung des einen Begriffes die des anderen voraussetzt. Für ihn ist Intentionalität das Merkmal der Unterscheidung zwischen Verhalten und Handlung. Verhalten kann der Organismus nicht selbstbestimmt kontrollieren, während das bei Handlungen, die der Mensch selbstbestimmt kontrolliert, der Fall ist. Ein Verhalten, das durch Intentionen bestimmt wird, ist Handlung. So schreibt Nida-Rümelin in seinem Buch ber menschliche Freiheit: Dasjenige, was wir an unserem Verhalten zu kontrollieren vermögen, sind unsere Handlungen. Wir kontrollieren unser Verhalten, indem wir es durch unsere Intentionen bestimmen; diejenigen Verhaltensweisen, die nicht derart intentional bestimmt werden, sind keine Handlungen und wir sind für dieses Verhalten auch nicht zur Verantwortung zu ziehen. Das essentielle Element von Kontrolle ist das, was Freiheit genannt wird (Nida-Rümelin 2005, 123).

Werden „Intentionalität“, „Freiheit“ und „Kontrolle“ auf diese Weise bestimmt, erwächst der Eindruck, als entstünde Freiheit erst auf der Ebene des Beabsichtigens, der Absichten. Absichten stellen allerdings nur einen Aspekt dessen dar, was in philosophischen Debatten seit Franz von Brentano unter „Intentionalität“ diskutiert wird. Intentionalität in einem weiteren Sinne wird üblicherweise mit „Gerichtetheit“ umschrieben. Ein intentionaler Zustand ist dann dadurch charakterisiert, dass er auf etwas gerichtet ist; beispielsweise die Hoffnung darauf, dass er kommt, die Erwartung darauf, dass morgen die Sonne scheinen wird, die Angst davor, dass der Schlüssel verloren ist, et cetera. Diese Erweiterung des Intentionalitätsbegriffes wirft einige Fragen auf, so auch die, ob es nach dem bisher Gesagten dann auch absichtslose Gerichtetheit oder Intentionalität gibt, die sich von Intentionalität im Sinne absichtsvollen Richtens unterscheiden lässt. Was macht, wenn es ein absichtsloses und ein absichtsvolles Ausrichten und damit eine absichtlose und eine absichtsvolle Form der Intentionalität gibt, den Unterschied aus? Und was bedeutet das für den Begriff der Freiheit? Um diese Fragen anschaulich diskutieren zu können, soll der Phänomenbereich der Emotionen untersucht werden. Hier haben wir es mit Zuständen zu tun, die gerichtet, aber zumeist von dem Individuum, welches sie empfindet, nicht absichtsvoll evoziert sind. So haben wir etwa Angst davor, dass der Schlüssel endgültig verloren sein könnte und sich nicht mehr findet, aber wir richten unsere Angst nicht absichtlich auf den möglichen Verlust. Vielmehr entsteht sie, wenn wir den Schlüssel nach

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mehrmaligem Suchen nicht finden, von alleine. Diese Form der Intentionalität ist demnach keine, die mit Absichten einhergeht.

2. Klärung des Begriffes „Intentionalität“ Intentionalität gilt seit Franz von Brentanos Bestimmung mentaler oder psychischer Zustände als Merkmal des Geistigen.1 Dabei herrscht Einigkeit darüber, dass Intentionalität im Sinne von absichtlichem Handeln oder von Absichten hegen dem Bereich des Mentalen, das heißt dem Geistigen zuzurechnen ist. Daneben ist Intentionalität als diejenige Eigenschaft eines mentalen, bewussten Zustandes bestimmt, auf die zurückzuführen ist, dass der Zustand auf etwas gerichtet ist, von etwas handelt oder etwas anderes als sich selbst repräsentiert. In dem Fall, in dem etwas als etwas wahrgenommen, gewünscht oder gefürchtet wird und eine Erinnerung sich auf etwas Vergangenes bezieht, ist die Form der Bezugnahme keine rein physische oder verursachte. Damit geht einher, dass intentionale Zustände uns über etwas in der Welt oder uns selbst informieren und dass es sich irgendwie anfühlt, die Welt und uns selbst in dieser Weise zu repräsentieren (Graham et al. 2007, 468). Wie ist es zu erklären, dass mit intentionalen Zuständen, seien es Absichten, seien es Wünsche, Emotionen oder Hoffnungen, zu dem beschreibbaren physischen Geschehen etwas hinzukommt, das auf der Ebene des Geistigen und der Bedeutung angesiedelt ist? Können wir etwas Weitergehendes dazu sagen, außer, dass wir an uns selbst feststellen, dass wir uns auf ein bestimmtes Ereignis richten, wenn wir jemanden erwarten oder uns absichtlich jemandem zuwenden? Zunächst lässt sich der Hinweis auf ein Bezugnehmen und ein sich ausrichten lediglich als eine körperliche Ausrichtung beschreiben oder phänomenologisch konstatieren. Die Redeweise vom „sich Beziehen auf“ ist zunächst nichts weiter als eine Metapher. Zwar meinen wir zu „spüren“, dass es mehr als unser 1

„Jedes psychische Phänomen ist durch das charakterisiert, was die Scholastiker des Mittelalters die intentionale (auch wohl mentale) Inexistenz eines Gegenstandes genannt haben, und was wir, obwohl mit nicht ganz unzweideutigen Ausdrücken, die Beziehung auf einen Inhalt, die Richtung auf ein Objekt (worunter hier nicht eine Realität zu verstehen ist), oder die immanente Gegenständlichkeit nennen würden“ (Brentano 1955, 124 – 125). Intentionalität wird von Brentano eingeführt, um physische und nicht-physische Phänomene voneinander unterscheiden zu können.

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Körper ist, der sich auf etwas bezieht, wenn es sich um ein absichtsvolles Tun handelt. Aber wenn wir aufgefordert werden, dafür eine Erläuterung zu geben, nennen wir zumeist Beispiele, aufgrund derer sich lediglich eine körperliche Bezogenheit feststellen lässt. Wie aber lässt sich der Unterschied zwischen einer intentionalen Bezogenheit, die mit einer Körperbewegung einhergeht, von einer Körperbewegung unterscheiden, die reflexartig, automatisch verläuft und somit gerade keiner Kontrolle und keiner Absicht unterliegt? Um zu erklären, wie wir von der Physik zur Semantik beziehungsweise von der Mechanik zur Bedeutung gelangen, muss noch weiter ausgeholt werden. Denn das, was intentionaler Zustand genannt wird, ist bisher nur benannt, aber noch nicht weiter bestimmt worden. Nach John Searle, der darin zum Teil den Überlegungen Ludwig Wittgensteins zu intentionalen Zuständen in den Philosophischen Untersuchungen folgt,2 unterscheiden sich intentionale Zustände von (anderen) biologischen Phänomenen dadurch, dass sie eine logische Struktur haben. Diesen Verweis auf die logische Struktur kann man sich zunutze machen, um zu erläutern, wie es kommt, dass wir mit einer Bezugnahme über das, was wir an physischen Vorgängen beschreiben können, hinaus gelangen können in das Gebiet der Bedeutung (das dem Reich der Gründe schon sehr viel zugänglicher ist als es die Physik oder Biologie sind). Mithilfe des Verweises auf die logische Struktur intentionaler Zustände lässt sich erläutern, inwiefern das Heben eines Armes mehr ist als eine unbewusst und zufällig vorgenommene Bewegung. Denn die Absicht, meinen Arm zu heben, legt bereits fest, was als Erfüllung meiner Absicht zu gelten hat. Nur wenn ich meinen Arm tatsächlich gehoben habe, ist meine Absicht ausgeführt beziehungsweise erfüllt, meinen Arm zu heben. Und so legt auch der Wunsch, die Erwartung, die Hoffnung bereits fest, was sie erfüllen wird. Wenn ich mir zum Geburtstag wünsche, dass das Frühstück für mich gemacht wird, erfüllt das für mich zu meinem Geburtstag zubereitete Frühstück diesen Wunsch. Es gibt für meinen Wunsch mit anderen Worten Erfüllungsbedingungen, die bereits in meinem Wunsch, in meiner Hoffnung oder Erwartung oder in meiner Absicht enthalten sind. Diese Erfüllungsbedingungen stehen in einer 2

„Der Wunsch scheint schon zu wissen, was ihn erfüllen wird, oder würde; der Satz, der Gedanke, was ihn wahr macht, auch wenn es gar nicht da ist! Woher dieses Bestimmen, dessen, was noch nicht da ist? Dieses despotische Fordern? („Die Härte des logischen Muß.“)“ (Wittgenstein 1958, Nr. 437)

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internen (daher logischen) Relation zu meiner absichtsvollen Handlung oder zu meinem Wunsch, meiner Erwartung sowie zu anderen intentionalen Zuständen. Mit „internen Relationen“ sind in der Literatur gewöhnlich diejenigen Relationen bezeichnet, die für relationale Eigenschaften stehen, ohne die bestimmte Gegenstände, Zustände oder Vorgänge nicht existieren können. Nach diesem Verständnis von „interner Relation“ konstituieren interne Relationen ihre gegenständlichen Relata mit. Während sich ein Erfahrungssatz durch die Erfahrung entweder bestätigen oder widerlegen lässt, enthält eine interne Relation eine Regel des Gebrauchs und trägt insofern auch zur Bedeutung der Begriffe bei. Die Unterscheidung zwischen tatsächlichen, kontingent bestehenden Relationen und notwendig bestehenden Relationen entspricht der Unterscheidung zwischen externen und internen Relationen. Als Beispiel für einen notwendigen Satz, dem eine interne Relation zugrunde liegt, führt Wittgenstein Sätze wie den folgenden an: „Das Lautbild Dädalus hat sieben Laute“3. Dieser Satz ist nicht auf eine bestimmte, kontingente Situation eingeschränkt, sondern gilt, unter der Voraussetzung, dass es in einer Lebenspraxis Laute und Sätze gibt, immer. Während der Satz „das Wort, welches nach dem Wort ,Lautbild‘ steht, hat sieben Laute“ nicht in jedem beliebigen Kontext richtig ist, sondern nur in Kontexten, in denen Worte mit sieben Lauten hinter dem Wort „Lautbild“ vorkommen.4 Bereits Wittgenstein hat mit der Unterscheidung in interne und externe Relationen, die er auch auf den intentionalen Zustand des Beabsichtigens anwendet, darauf hingewiesen, dass wir es hier mit einem begrifflichen, das heißt einem logischen Problemzusammenhang zu tun haben und nicht mit einem (rein) empirischen. Das bedeutet auch, dass die empirische Wirklichkeit allein nicht zeigen kann, dass eine Absicht oder ein Wunsch erfüllt wurden. Der Wunsch samt der mit ihm einhergehenden Kenntnis der Erfüllungsbedingungen ist dazu ebenso erforderlich. Einer Analyse von „Intentionalität“ wie der Pierre Jacobs in der Stanford Encyclopedia of Philosophy, in der versucht wird, „Intentionalität“, 3 4

Wittgenstein 1974, 339. „Wer die Buchstaben des Wortes ‘OBEN’ zählt, um zu erfahren wieviele Laute die so klingende Lautreihe hat,[…] tut also etwas, was auch ein Experiment sein könnte. Und das könnte der Grund sein, den Satz ‘OBEN’ habe vier Buchstaben, synthetisch a priori zu nennen“ (Wittgenstein 1974, 338).

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„Absicht“ und „Intensionalität“ fein säuberlich zu trennen, kann daher nur eingeschränkt zugestimmt werden. Jacob bemerkt dort, dass Intensionalität eine logische Eigenschaft von Wörtern und Sätzen sei und deren Bedeutung beträfe, während eine Absicht haben oder Beabsichtigen ein spezifisch mentaler Zustand sei, der anders als andere intentionale Zustände eine sehr distinkte Rolle in unseren Handlungstheorien spiele. Im Gegensatz dazu sei Intentionalität ein durchgängig vorhandenes Merkmal verschiedener mentaler Zustände wie Glaubensannahmen, Hoffnungen, Urteile, Absichten, Liebe und Hass. Diese seien allesamt intentionale Zustände,5 weil sie als Zustand auf etwas gerichtet sind. Es gehöre zu diesen Zuständen dazu, auf etwas gerichtet zu sein, weil sie sonst nicht diejenigen Zustände wären, die sie sind. Denn man könne nicht lieben, ohne etwas zu lieben, nicht hassen, ohne etwas zu hassen, nicht hoffen, ohne etwas zu hoffen, nicht beabsichtigen, ohne etwas zu beabsichtigen und so weiter. Mit anderen Worten: Jacob schränkt das Merkmal intentionaler Zustände auf ein sich Beziehen auf etwas ein, das nicht kausal verursacht ist. Zu sagen, dass die Weise der Bezugnahme nicht kausal verursacht sein soll, um „Intentionalität“ näher zu bestimmen, reicht allerdings nicht aus. Vielmehr muss die begriffliche, logische Analyse hinzukommen, um über die metaphorische Redeweise hinaus Erläuterungen zu „Intentionalität“ geben zu können. Zieht man allerdings die logische Analyse hinzu, wird deutlich, dass Intensionaliät die Bedeutung von Wörtern und Sätzen betrifft, wie Jacob schreibt, dass aber auch Intentionalität im Bereich der Bedeutung angesiedelt ist, da eine Kenntnis der Erfüllungsbedingungen 5

„Although the meaning of the word ‘intentionality’ in contemporary philosophy is related to the meanings of such words as ‘intension’ (or ‘intensionality’ with an s) and ‘intention,’ nonetheless it ought not to be confused with either of them. On the one hand, in contemporary English, ‘intensional’ and ‘intensionality’ mean ‘non-extensional’ and ‘non-extensionality,’ where both extensionality and intensionality are logical features of words and sentences. For example, ‘creature with a heart’ and ‘creature with a kidney’ have the same extension because they are true of the same individuals: all the creatures with a kidney are creatures with a heart. But the two expressions have different intensions because the word ‘heart’ does not have the same extension, let alone the same meaning, as the word ‘kidney.’ On the other hand, intention and intending are specific states of mind that, unlike beliefs, judgments, hopes, desires or fears, play a distinctive role in the etiology of actions. By contrast, intentionality is a pervasive feature of many different mental states: beliefs, hopes, judgments, intentions, love and hatred all exhibit intentionality.“ (Hervorhebungen von E.-M. E.) (Jacob 2003).

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der intentionalen Zustände vorhanden sein muss, wenn von intentionalen Zuständen im obigen Sinne die Rede ist.

3. Erfüllungsbedingungen, Handlungen und Gründe Um die Frage, wann Intentionalität und Kontrolle anfangen und was ihre Voraussetzungen sind, beantworten zu können, werde ich einen genaueren Blick auf Emotionen werfen. Denn es wird allgemein angenommen, dass emotionale Reaktionen mit einer bestimmten Form der Intentionalität einhergehen, aber nicht in demselben Umfang der Kontrolle unterliegen wie Handlungen. Zudem lassen sich emotionale Reaktionen auch bei Tieren ausmachen, die zwar Verhalten zeigen, aber eben nicht handeln und bei denen sich zudem in verschärfter Form die Frage stellt, in welchem Sinne deren intentionale Zustände (wie es auch emotionale Zustände sind) mit der Kenntnis von Erfüllungsbedingungen einhergehen. Diese Frage steht in engem Zusammenhang mit derjenigen, welche Form der Intentionalität für den Umschlag von Verhalten in Handeln ausschlaggebend ist und welche Formen der Intentionalität dementsprechend mit Kontrolle einhergehen. Denn es lässt sich schon einmal festhalten, dass das Subjekt bei Intentionalität im Sinne von zielgerichteter Absicht eine Kontrollmöglichkeit über sein Tun hat, die es bei der Intentionalität der Emotionen, die auf einen ihnen entsprechenden Gegenstand gerichtet sind, nicht in derselben Weise hat. Die beiden Formen der Intentionalität, das Gerichtetsein auf etwas, das sich in einer bestimmten Weise anfühlt, und das absichtliche Tun unterscheiden sich also zumindest hinsichtlich möglicher Kontrolle und damit in Bezug auf Handlungsmöglichkeiten. Die Rede von absichtlichem Handeln setzt zudem voraus, dass man auch anders hätte handeln können. Nun ist es aber so, dass wir nicht so einfach anders empfinden oder fühlen können als wir es tun. Emotionale Zustände können daher, insofern sie auf etwas gerichtet sind, intentional sein, aber sie sind (zumeist) nicht absichtlich gerichtet und unterliegen nicht in demselben Umfang der Kontrolle wie Handlungen. Es könnte also sein, dass wir es im Falle der Emotionen zumindest beim Menschen mit einer Schnittstelle zwischen Verhalten und Handlung zu tun haben, die näher zu untersuchen ist.

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Es wird sich zudem zeigen, dass es die Beantwortung dieser Fragen erlaubt, auf ein weiteres wichtiges Argument von Nida-Rümelin in der Freiheitsdiskussion einzugehen. Dasjenige nämlich, dass die Beschreibungsebene der Naturwissenschaften und der Philosophie nicht lediglich zwei verschiedene Sprachspiele sind. Im Rahmen des vorliegenden Aufsatzes wurde die irreduzible Differenz zwischen naturalistischer Beschreibung und Erklärung durch die Analyse der logischen, begrifflichen Struktur intentionaler Zustände bereits angesprochen als es darum ging, die Gerichtetheit intentionaler Zustände näher zu bestimmen. Von welcher der bereits diskutierten Formen der Intentionalität spricht Nida-Rümelin? Um dies zu klären, seien insbesondere zwei Zitate aus seinem Vortragsmanuskript Vernunft und Freiheit gesondert betrachtet: Dabei ist natürlich wesentlich, dass das natürliche Ereignis der Körperbewegung als Bestandteil einer Handlung interpretiert wird. Handlungen aber sind duale Ereignisse, sie haben einen äußeren und einen inneren Aspekt, eine physische und eine psychische Komponente. Bloße Körperbewegungen sind keine Handlungen. Körperbewegungen werden zu Handlungen oder können als äußere Form einer Handlung interpretiert werden, wenn sie durch geeignete Intentionen hervorgerufen und begleitet sind (Nida-Rümelin VF, in diesem Band, 24).6

Hier wird ein zu beobachtendes äußeres Verhalten von einem inneren Vorgang, des „sich Richtens auf“ und des Beabsichtigens unterschieden. Wenn ich nach langem Sitzen einfach meine Arme nach oben strecke, weil das einem körperlichen Bedürfnis nach Dehnung entspringt, muss diese Körperbewegung nicht mit einer Absicht verbunden gewesen sein, sie kann es aber gewesen sein. Ob wir es mit einem Verhalten oder einer Handlung zu tun haben, lässt sich nur daran entscheiden, ob die Körperbewegung mit der Absicht, sich zu strecken, verbunden gewesen ist oder nicht. In diesem Fall bestünde die Absicht darin, zu sich selbst zu sagen, ich will mich jetzt einmal strecken. Erfüllt wäre diese Absicht, wenn ich die Arme nach oben geführt hätte, um mich zu strecken. Von außen betrachtet unterscheiden sich Körperbewegungen, die mit einer Absicht einhergehen nicht unbedingt von solchen, bei denen das nicht der Fall ist. Wie aber lassen sich Absichten im Speziellen und Intentionen im Besonderen charakterisieren, wenn wir sie nicht von außen beobachten können und wir nicht nur auf phänomenale Beschreibungen Bezug nehmen wollen? 6

Hervorhebungen von E.-M. E.

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Intentionen oder Absichten lassen sich wie folgt charakterisieren: (1) durch ihre Erfüllungsbedingungen, durch welche sich auch das Merkmal der Gerichtetheit fassen lässt und (2) durch das Fassen einer Absicht – was einem Entschluss entspricht. Entschlüsse fassen zu können, setzt sicherlich voraus, dass man sich in dem oben beschriebenen Sinne ausrichten kann, das heißt weiß, wann eine beabsichtigte Handlung erfolgt ist und wann nicht. Nehmen wir, um dies weitergehend zu erläutern, ein Beispiel zu Hilfe: Ein Mensch streckt sich. Um diese Körperbewegung als einen intentionalen Akt zu verstehen, muss dieser Mensch die Absicht gehabt haben, sich zu strecken. Er könnte sich gesagt haben: „Ich muss mich nach dem langen Sitzen auch wieder einmal strecken, sonst bekomme ich wieder Rückenprobleme.“ Wenn er sich gestreckt hat, hat er nicht nur seine Absicht ausgeführt, sondern auch eine Handlung. Er hat dann kein bloßes Verhalten gezeigt, obgleich die Körperbewegung ohne die sie initiierende Absicht reines Verhalten gewesen wäre. Die erfüllten Erfüllungsbedingungen einer Absicht sind demnach eine Handlung. Und man kann darüber hinaus feststellen, dass die Absicht einen Grund darstellt, sich zu strecken. Der Mensch hat sich gestreckt, weil er die Absicht hatte, sich zu strecken, um Rückenbeschwerden vorzubeugen. Das Konzept der Erfüllungsbedingungen eignet sich also nicht nur, um Absichten und andere intentionale Handlungen weiter zu charakterisieren, sondern auch um Handlungen genauer zu bestimmen. So erlaubt es uns unsere Sprache, über unsere Intentionen zu sprechen und damit eindeutig von Verhalten zu unterscheiden. Der Spracherwerb, der dem vorangeht, setzt allerdings eine Fähigkeit zu einem intentionalen Beziehen voraus, das nicht in der soeben dargelegten Weise mit Erfüllungsbedingungen einhergeht. Wir werden gleich noch sehen, inwiefern diese Formen der Intentionalität nicht mir Erfüllungsbedingungen einhergehen. Und auch Nida-Rümelin unterscheidet eine nicht absichtliche Gerichtetheit oder Intentionalität, die mit Verhalten einhergeht, von Absichten, die zu Handlungen führen und in dem hier vorgelegten Sinne mit Erfüllungsbedingungen einhergehen.

4. Intentionalität ohne Erfüllungsbedingungen Nida-Rümelin meint nicht nur Absichtlichkeit, wenn er von Intentionalität spricht, sondern auch schlichte Bezogenheit, wie das folgende Zitat aus seinem Beitrag Vernunft und Freiheit zeigt. Um was für eine Art der

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Bezogenheit oder des sich Beziehens es sich handelt, gilt es noch zu klären: Aber auch dann, wenn die Entscheidung ultimativ ist, wenn sie nicht mehr dispensiert wird, kommt erneut Intentionalität in Gestalt der Kontrolle desjenigen Verhaltens zustande, das diese Entscheidung, eine Art vorausgehende Absicht, realisiert. Grob beschrieben ist in dieser letzten Form von Intentionalität (vor der Handlungsausführung) ein Suchprozess eingeschaltet, der die geeignete Form der Ausführung bestimmt. Dieser Suchprozess ist selbst wieder von Gründen gesteuert; Gründe aber, die nicht mehr darauf gerichtet sind, die Entscheidung selbst zu rechtfertigen oder zu überprüfen. Die „Gerichtetheit“ bezieht sich auf die geeignete Mittelwahl, betrifft also eine ganz andere Form von Normativität als diejenige, die zur Entscheidung geführt hat. Am Ende resultiert dieser komplexe, hier nur ganz grob beschriebene intentionale Prozess in einem konkreten, raumzeitlich lokalisierten und mit den Mitteln der Naturwissenschaft beschreibbaren Verhalten (Nida-Rümelin VF, in diesem Band, 25).

Diese Form „Gerichtetheit“ ist wieder eine andere Form der Bezogenheit oder Intentionalität als die bisher diskutierten, weshalb der Begriff bei Nida-Rümelin wohl auch in Anführungszeichen steht. Um welche Form es sich handelt, lässt sich am besten an einem Beispiel erläutern. Man muss etwa nicht die Absicht haben, das bessere Werkzeug zu wählen, es kann vielmehr sein, dass man die Erfahrung gemacht hat, dass das eine Werkzeug besser ist als das andere und dann aufgrund dieser Erfahrung auf dieses bessere Werkzeug gerichtet oder bezogen ist, weshalb es dann ergriffen wird, ohne dass man es ergreifen wollte, vielmehr hat man es aufgrund der vorangegangenen Erfahrung einfach getan. Das Tun war nicht durch Erfüllungsbedingungen auf ein bestimmtes angestrebtes Tun gerichtet. Daher handelt es sich um Verhalten und nicht um eine Handlung. Wenn wir uns der gemeinsamen Verständigung über etwas (intentional) zuwenden, wenden wir uns der Frage der Intentionalität hinsichtlich einer Ebene zu, die bisher noch nicht ausreichend angesprochen worden ist. Dazu gehören auch Vorformen der Intentionalität. Michael Tomasello nimmt in seiner Spracherwerbstheorie, die auf die Sprachphilosophie des späten Wittgenstein zurückgeht, beispielsweise auf solche Vorformen der Intentionalität Bezug (Tomasello 2006). Er geht davon aus, dass das Selbstverständnis von Kindern sich in Abhängigkeit des Verstehens von anderen als intentionale Wesen entwickelt. Um ein intentionales Wesen mit dem dazugehörigen Selbstverständnis zu werden, das Absichten ausbildet, muss ein Säugling erst lernen, dass es Andere gibt, dass er selbst ein Wesen ist, das sich von den

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anderen unterscheidet, dass diese anderen intentionale Wesen sind und dass es selbst ein solches Wesen ist. Anders ausgedrückt, der Mensch kommt nicht als ein beabsichtigendes Wesen auf die Welt, sondern muss erst mithilfe von anderen lernen, dass es ein solches Wesen ist und das setzt voraus, dass er lernt, die anderen als intentionale, absichtsvolle Wesen zu verstehen. Erst im Alter von neun Monaten ist ein Säugling in der Lage, zu verstehen, dass „es mit einem intentionalen Akteur interagiert, der es wahrnimmt und der ihm gegenber bestimmte Absichten hat“ (Tomasello 2006, 119). In diesem Alter kann es dann auch die intentionale Beziehung des Erwachsenen zur Welt und zu ihm selbst beobachten. Damit kann es auch erstmals die emotionalen Einstellungen des Erwachsenen ihm gegenüber wahrnehmen und sich selbst als so etwas wie ein Selbst, auch wenn dieses noch über kein vollständiges Selbstkonzept verfügt (Tomasello 2006, 121 f.). Um […] Geräusche und Handbewegungen als kommunikativ bedeutsam anzusehen und als etwas, das man selbst lernen und verwenden könnte, muß das Kind verstehen, daß sie von einer besonderen Absicht motiviert sind, nämlich einer kommunikativen Absicht. Das Verstehen einer kommunikativen Absicht kann jedoch nur vor dem Hintergrund gemeinsamer Aufmerksamkeit stattfinden, die seine sozio-kognitive Grundlage darstellt (Tomasello 2006, 126).

Erforderlich ist auch, dass das Kind selbst feststellt, dass es eine Mitspielerrolle hat und selbst seine kommunikative Absicht ausdrücken kann. Nur dadurch, dass das gelingt, kann eine Person die Aufmerksamkeit einer anderen auf etwas in der Welt lenken und sie eine Perspektive in Bezug auf dieses etwas lehren. Sprachliche Referenz ist insofern immer ein sozialer Akt: Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit sind soziale Interaktionen, bei denen das Kind und der Erwachsene während einer bestimmten Zeit ihre Aufmerksamkeit auf einen dritten Gegenstand konzentrieren und außerdem jeweils gegenseitig auf die Aufmerksamkeit des anderen hinsichtlich dieses dritten Gegenstands achten. […] Der entscheidende Punkt ist, daß Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit intentional definiert sind (Tomasello 2006, 128 f.).

Sie stellen auch erst den intersubjektiven Kontext bereit, in dem Szenen der sprachlichen Referenz als solche verstanden werden können. Zumeist richtet sich die gemeinsame Aufmerksamkeit auf einen dritten Gegenstand. Wichtig ist es aber zu sehen, dass dem nicht so sein muss, sondern der „Gegenstand“ der geteilten Aufmerksamkeit auch das

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Kind selbst sein kann: „Das Kind beginnt also, die Aufmerksamkeit des Erwachsenen ihm gegenüber zu beobachten und sich somit gewissermaßen selbst von außen zu sehen“ (Tomasello 2006, 131). Die gemeinsam gerichtete Aufmerksamkeit ist also eine Vorform der Intentionalität, die mit Absichten einhergeht. Aber sie ist nicht nur eine Vorform, sie ist zugleich auch eine Bedingung dafür, dass es zu einem Selbstverständnis als intentionalem Wesen kommen kann, das Absichten hat. Erlernt werden kann das, ebenso wie Sprache nur in Verbindung mit anderen. Obgleich wir unsere Absichten selbst fassen und sie nicht von anderen initiiert werden, benötigen wir, um zu erlernen Absichten zu fassen, eine soziale Gemeinschaft.

5. Bewusste Kontrolle Eine (weitere) Form der nicht erworbenen, natürlichen Intentionalität findet sich bei emotionalen Prozessen. Wenn ein Organismus auf eine Situation mit Angst reagiert, hat er diese Situation als eine für ihn gefährliche eingeschätzt und in dieser Einschtzung, auch wenn sie keine absichtlich vollzogene ist, ist eine Bezogen- oder Gerichtetheit auf die Situation zu sehen. Die Frage ist dann, um was für eine Art der Intentionalität es sich hierbei handelt. Handelt es sich dabei um eine Vorform derjenigen Intention, die kontrolliert gerichtet ist? Oder handelt es sich um Formen der Intentionalität, die zwar mit Erfüllungsbedingungen einhergehen und gerichtet sind, aber nicht mit der Möglichkeit zur Kontrolle, weil Emotionen nicht mit Absichten und auch nicht mit Gründen einhergehen? Was vorliegt, ist eine Einschätzung des Organismus von einem Geschehen oder Objekt. Diese Einschätzung ist eine Bezogenheit auf dieses Geschehen oder dieses Objekt, sie muss aber noch keine bewusste Einschätzung darstellen, sondern kann auf einem angeborenen Mechanismus beruhen. So reagieren Säuglinge beispielsweise auf die gezeichnete Schablone eines lachenden Gesichts, das nur mit Strichen angedeutet ist, ihrerseits mit einem lachenden Gesicht. Da es sich in diesen Fällen allerdings wirklich nur um das Auslösen eines Mechanismus handelt, kann von einer Bezogenheit der ausgelösten Emotion nicht die Rede sein. Ein erster Schritt, um zu einer bewussten Einschätzung zu gelangen, ist daher, dass der emotionale Prozess auf etwas gerichtet ist.

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Um bei der Charakterisierung durch den Begriff der Gerichtetheit nicht nur bei einer Metapher stehen zu bleiben, habe ich bereits das Konzept der Erfüllungsbedingungen herangezogen. Nun werden Emotionen gemeinhin als intentionale Prozesse verstanden, weil sie auf etwas gerichtet sind, aber nicht als solche, die absichtlich hervorgerufen werden. Dennoch lässt sich auch auf Emotionen das Konzept der Erfüllungsbedingungen analog anwenden. Eine Emotion geht für den empfindenden Organismus dann mit Erfüllungsbedingungen einher, wenn die emotionale Reaktion nicht nur gemäß einem mehr oder weniger fest verdrahteten Mechanismus ausgelöst wird, sondern dem empfindenden Organismus zudem bewusst ist, dass sich der emotionale Prozess auf ein bestimmtes Objekt bezieht und abebben würde, sobald das entsprechende Objekt entfernt wäre. Um von einer intentionalen Bezogenheit zu sprechen, muss der Organismus also Kenntnis davon haben, dass das emotionale Empfinden und das dazugehörige Objekt nicht unabhängig voneinander sind. Damit ist noch nicht alles darüber gesagt, mit welcher Form von Intentionalität und Bewusstsein wir es hier zu tun haben, denn diese Bezogenheit ist beispielsweise nicht mit Kontrolle verbunden. Daher lautet eine noch offene Frage, wann und ob sie mit Kontrolle verbunden werden kann. Und was sind die Voraussetzungen dafür, dass das geschehen kann? Eine Antwort, die auszuführen sein wird, lautet, dass man sich auf diese Form der Bezogenheit oder Intentionalität wiederum beziehen können muss, damit eine darauf gerichtete Kontrolle möglich ist. Auf der Ebene der Emotionen lassen sich Verhalten und phänomenales intentional gerichtetes Empfinden, also mentale Prozesse, letztlich nicht trennen. Wohl aber lassen sich Verhalten, das damit einhergehende phänomenale Empfinden und Rationalität trennen, wie wir auch an dem folgenden langen Zitat sehen können, das erneut aus Nida-Rümelins Vortragsmanuskript Vernunft und Freiheit stammt. Es ist ein unverzichtbarer Teil unseres lebensweltlichen Orientierungswissens, dass Menschen Gründe für ihre Handlungen und ihre Überzeugungen haben und auch für manche ihrer Gefühle. Grenzen wir dieses Phänomen zunächst etwas näher ein, um die Integration von Gründen in unser Weltbild vorzubereiten. Manche Menschen haben eine Spinnen-Phobie, d. h. sie haben Angst vor Spinnen, laufen weg, wenn sie Spinnen sehen, wenden den Blick ab, wenn sie Photographien von Spinnen sehen, obwohl sie wissen, dass von Spinnen in unseren Breiten keine Gefahr ausgeht. An diesem Beispiel lässt sich das Verhältnis von Gründen sehr schön illustrieren. Die Person weiß, dass sie für dieses besondere Gefühl der Spinnenangst keinen Grund hat, dass von Spinnen de facto keine Gefahr ausgeht. Dennoch kann

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sie dieses Gefühl nicht unterdrücken. Nennen wir Gefühle dieser Art, die einen kognitiven Gehalt haben, sich von Gründen jedoch nicht beeinflussen lassen, pathologische. Gefühle dieser Art erleidet man, sie lassen sich nicht kontrollieren (Personen, die mit solchen pathologischen Gefühlen konfrontiert sind, erleben dies auch als eine Art Ohnmacht oder Hilflosigkeit). Was begründet ist und was verursacht ist, klafft auseinander. Die Erfahrung des Kontrollverlustes hängt damit zusammen, dass sich das kognitiv Eingesehene (von Spinnen geht keine Gefahr aus) in den Gefühlslagen nicht adäquat niederschlägt. Es gibt Strategien, um in solchen Fällen die Kontrolle zurück zu gewinnen, während des Essens Fotos von Spinnen zu betrachten soll im Laufe der Zeit helfen. Was geschieht hier? Die Person weiß um die Irrationalität ihres Gefühls, eines Gefühls, das einen kognitiven Gehalt hat (es gibt auch andere Formen der Irrationalität von Gefühlen) und sie wählt eine Verhaltensstrategie, die den kausalen Nexus zwischen sensorischen Stimuli und Gefühlslagen (hier dem sensorischen Stimulus in Spinnengestalt zum Gefühl der Phobie) unterbricht, um den Gründen die gewünschte Wirkung auf Gefühlslagen erst zu verschaffen. Man könnte auch sagen, diese Einsicht wird kausal wirksam. Wir haben es also mit einer Konkurrenz zwischen der kausalen Wirksamkeit eines nicht von Gründen gesteuerten Prozesses (der Prozess, der zwischen den sensorischen Stimuli der Spinnengestalt und dem Gefühl der Angst abläuft) und dem kausalen Prozess, der zwischen der Einsicht (Ungefährlichkeit der Spinnen) und dem Gefühl (entspannte Reaktion auf Spinnenwahrnehmung) abläuft, zu tun. In dieser Interpretation wird – hoffentlich – deutlich, dass eine Zwei-Aspekte-Metaphysik nicht befriedigen kann. Der kausale Prozess, der von der Wahrnehmung einer Spinne zur pathologischen Spinnenangst führt, steht im Konflikt zu den Gründen, die gegen Spinnenphobie sprechen. Es ist nicht zutreffend, dass (naturwissenschaftlich grundsätzlich erfassbare) Kausalität prinzipiell nicht in Konflikt mit Gründen kommen kann, da diese einer anderen linguistischen Ebene angehörten. Es ist nicht zutreffend, dass die intentionalistische Beschreibung menschlichen Handelns mit der kausalistischen schon deswegen nicht in Konflikt kommen kann, weil die ontologischen Präsuppositionen beider Beschreibungen voneinander unabhängig sind. Dieses einfache Beispiel zeigt, dass diese ontologische Unabhängigkeit nicht besteht.7 Wenn der Kausalitätsbegriff nicht an nomologische Erklärungsformen der Naturwissenschaften gebunden wird, kann dieser Konflikt auch folgendermaßen zugespitzt werden. Spielen Gründe (genauer: Deliberations-Ergebnisse) eine kausale Rolle? Oder kürzer und unter Umgehung des Kausalitätsbegriffes: Sind Gründe wirksam, haben Gründe eine Wirkung auf das was wir glauben, das was wir tun und das was wir fühlen? Wir können annehmen, dass die kausale Wirksamkeit von Gründen über neurophysiologische Prozesse vermittelt ist. Auch konkrete Deliberationen, das konkrete Abwägen von Gründen, realisiert sich in neurophysiologischen Prozessen, wie wir annehmen können (Nida-Rümelin VF, in diesem Band, Kapitel 3.4). 7

Hervorhebung von E.-M. E.

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Eine physiologisch basierte Einschätzung, wie sie bei der Spinnenangst im angeführten Beispiel vorliegt, ist gegenüber der rationalen oder kognitiven Einschätzung dominant. Bemerkenswert ist aber auch, dass sich in Bezug auf den physiologisch basierten Prozess eine Einschätzung vornehmen lässt, und zwar eine rationale und eine emotionale. Die rationale Einschätzung besteht darin, sich zu sagen, dass die Spinnenangst unbegründet ist, die emotionale Einschätzung besteht darin, die Spinnenphobie ob ihrer Unbegründetheit als unangenehm zu empfinden, weil es in unserer Kultur eine normative Bevorzugung der Rationalität gibt. Auf diese Einschätzung bezieht sich dann des Weiteren der Versuch, die Phobie unter Kontrolle zu bringen. In dem Beispiel ist die Spinnenangst allerdings rational nicht kontrollierbar, die physische Einschätzung ist gegenüber der rationalen Einschätzung beständig. Bewusste Kontrolle, wie die in dem Beispiel angestrebte, setzt zweierlei voraus. Sie setzt zum Einen voraus, dass man Angst als „Angst“ begreifen kann und zum Zweiten, dass man Angst als ein von der Spinne verursachtes Phänomen verstehen kann. Ich muss mich also auf die Angst als „Angst“ beziehen können und auf die Ursache, die zugleich das intentionale Objekt meiner Angst ist. Des Weiteren ist vorausgesetzt, dass sich die mit der Emotion einhergehende implizite Einschätzung gleichfalls rational bewerten lässt. Diese Bewertung der emotionalen Einschätzung aufgrund rationaler Überlegungen ist kein Ergebnis eines Reizes aus der Umwelt, wie die Spinne es ist, sondern das Ergebnis einer Überlegung, also des rationalen Abwägens. Auch das Verstehen der Angst als „Angst“ spielt sich nicht auf der naturalistischen Beschreibungsebene ab, sondern ist aufgrund der Möglichkeit des intentionalen Sprachbezugs gegeben. Das ermöglicht es dem Menschen, auf bei ihm selbst ablaufende mentale Prozesse Bezug zu nehmen, weil es sich um eine Form der Re-Repräsentation handelt, die einen Bedeutungs- oder Informationsgehalt aufgreift, der uns als solcher bewusst wird (die Angst als „Angst“) und auf welchen wir uns beziehen können. Da uns der Bedeutungsgehalt als solcher bewusst wird, ist uns auch eine bewusste Bezugnahme auf den Einschätzungs- oder Bedeutungsgehalt möglich, der seinerseits eine intentionale und damit begriffliche Struktur aufweist. Wenn wir Angst vor dem Hund haben, wobei eine Einschätzung der Gefährlichkeit dieses Lebewesens damit einhergeht, sind wir uns sowohl der Angst als Angst bewusst, als auch der Einschätzung, dass der Hund gefährlich ist – jedenfalls in den Fällen, in denen wir es mit einem gerichteten Fühlen und keinem instinktiven Zurück-

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weichen oder einer bloßen Reiz-Reaktion zu tun haben. Der Hund ist nicht nur (das ist er natürlich auch) Auslöser der Angst (naturalistische Ebene), sondern die Angst ist als Einschätzungsprozess auch auf den Hund gerichtet. Letzteres stellt unter bestimmten Bedingungen die intentionale und im oben beschriebenen Sinne nichtnaturalistische Ebene dar. Handelt es sich bei der Angstreaktion schlicht um einen durch ein Muster ausgelösten und angeborenen Prozess, wie etwa bei dem Lächeln des Säuglings, dann haben wir es nicht mit einem intentionalen Einschätzungsprozess zu tun. Wenn sich aber, wie oben dargelegt, der empfindende Organismus bewusst ist, dass sich der emotionale Prozess auf ein bestimmtes Objekt bezieht und abebben würde, sobald das entsprechende Objekt entfernt wäre, handelt es sich bei dem emotionalen Prozess auch um einen intentionalen, das heißt gerichteten Prozess. Wir haben es hier also mit verschiedenen Beschreibungsebenen zu tun – einer naturalistischen und einer mentalistischen –, denn wenn ich die Angst als „Angst“ begreife, habe ich einen physischen Vorgang, der auch empfunden wird, als etwas Phänomenales und damit als etwas Mentales identifiziert, auf das ich getrennt von dem physischen Vorgang, als einen mentalen Vorgang Bezug nehmen kann, obgleich sich das Empfinden nicht vom physischen Vorgang trennen lässt. Zudem ist der intentionale, mentale Vorgang von dem physischen zwar nicht zu trennen, lässt sich aufgrund seiner begrifflichen, logischen Struktur aber auch nicht auf den physischen Vorgang reduzieren. Diese Analyse ist mithin geeignet, die Ausführungen von NidaRümelin zu unterstützen, die darauf abzielen zu zeigen, dass eine ZweiAspekte-Metaphysik nicht befriedigen kann. Und sie zeigt nochmals wie schwierig es sein kann, physische Vorgänge von phänomenalen und intentionalen Vorgängen zu trennen, auch wenn sie sich nicht aufeinander reduzieren lassen.

6. Intentionalität, Kausalität und Repräsentation oder Re-Repräsentation „Sich einschätzend auf etwas beziehen“ bedeutet, dass ein Einschätzungsprozess nicht automatisch auf einen Auslösemechanismus hin abläuft, sondern dass wir uns intentional auf etwas beziehen. Es handelt sich um eine zielbestimmte Ausrichtung. Bei der Bezogenheit eines emotionalen Zustandes liegt jedoch keine zielbestimmte Ausrichtung vor.

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Wir haben gesehen, dass die Intentionalität des emotionalen Prozesses sich lediglich auf das intentionale Objekt bezieht und sich die Gerichtetheit in analoger Weise zu Erfüllungsbedingungen bei anderen intentionalen Zuständen erklären lässt. Der weitere Aspekt, der neben der Gerichtetheit der Emotion im vorangegangenen Abschnitt zur Sprache kam, betrifft die Möglichkeit, sich auf die emotionalen Prozesse selbst zu beziehen. Es gibt beim Menschen kausal hervorgerufene emotionale Zustände, aber er hat auch die Möglichkeit, sich auf diese zu beziehen. Dass man sich auf sie beziehen kann, setzt voraus, dass sie als etwas ausgemacht sind, auf das man sich beziehen kann. Möglich ist dies, weil Emotionen mit einem Emotionsausdruck einhergehen und zudem empfunden werden. Sie können somit das gemeinsame Objekt bilden, auf das sich Bezugsperson und Kind beim Spracherwerb zusammen richten. Die Möglichkeit, sich auf phänomenale Prozesse wie es Emotionen sind, zu beziehen, hat der Mensch also, weil er es im sozialen Vollzug der Einweisung in die sprachliche Praxis gelernt hat. Da der Empfindende die physiologischen Prozesse spürt (Erstarrung, Gelöstheit, Verkrampfung) und sie durch körperliches Ausdrucksverhalten zum Ausdruck bringt (Weinen, Lachen, Seufzen), kann sich ein Anderer auf dieses Ausdrucksverhalten (Weinen, Lachen, Seufzen) beziehen, – was zunächst ein intentionaler Akt ist. Das, worauf sich Kind und Bezugsperson beziehen, ist für den einen das, was er empfindet und für den anderen das, was der Empfindende ausdrückt. (Auch bei diesem gemeinsamen Bezug lassen sich unterschiedliche Formen der Intentionalität ausmachen.) Sich auf emotionale Prozesses richten zu können ist eine Voraussetzung für rationale (bewusste) Kontrolle und sie geht mit einer Form der Intentionalität einher, die ein emotionaler Zustand als bloß kausal erklärbarer Zustand nicht aufweist. Zwar ist letzterer auch als kausal erklärbarer Zustand auf etwas in der Welt bezogen. Diese Bezogenheit ist aber keine intentionale. Bei der intentionalen Gerichtetheit von Emotionen sind, wie wir gesehen haben, das intentionale Objekt und der darauf gerichtete Einschätzungsprozess wesentlich, um sie als intentionale Zustände oder Prozesse charakterisieren zu können. Um intentional auf etwas bezogen zu sein, reicht das Vorhandensein eines Reiz-Reaktionsmechanismus (wie etwa automatisches Ausweichen) nicht aus. Wir haben zudem gesehen, dass die emotionale Gerichtetheit des Menschen und der damit verbundene Einschätzungsprozess mit einem komplexen Lernprozess einhergeht, der den Spracherwerb mit ein-

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schließt und dass der Lernprozess wiederum gemeinsame Gerichtetheit mehrerer Individuen voraussetzt. Eine solche gemeinsame Gerichtetheit ist bei Tieren beispielsweise nicht gegeben, was es fast ausgeschlossen erscheinen lässt, dass Emotionen etwas anderes als eine Signalfunktion für den empfindenden Organismus und die Artgenossen sind. Ohne diese Gerichtetheit, die die Gerichtetheit auf physische Prozesse im eigenen Organismus und das Ausdrucksverhalten Anderer mit einschließt, ist allerdings auch nicht zu sehen, wie die oben diskutierten Kontrollprozesse auf die emotionalen Prozesse bezogen sein sollen oder der Einschätzungsprozess selbst reflektiert werden kann. Zum Schluss soll noch ein Neurowissenschaftler zu Wort kommen, der die Ansicht vertritt, dass Intentionalität und Bewusstsein auf der rein physiologischen Ebene zu erklären sind. Ein Neurowissenschaftler wie Christof Koch meint beispielsweise, dass Planen, Wünschen, Denken, also intentionale Zustände, rein kausale Vorgänge sind, die zunächst unbewusst verbleibende Mechanismen sind, auf die wir aber bewusst Bezug nehmen können, weil sie dem Menschen in Form von Re-Repräsentationen wie innerer Rede oder Bildern und sensorischen „Reflections“ zugänglich sind (Koch 2004, 305). Wenn wir auf Modelle der Re-Repräsentation zurückgreifen, sind wir allerdings bereits beim Raum der Bedeutung angelangt und haben die bloßen Reiz-Reaktions-Mechanismen, die kausal erklärbar sind, hinter uns gelassen. Warum ist dem so? Weil die Re-Repräsentation beim Menschen ein intentionaler Prozess ist, der durch die ihn jeweils mitbestimmenden Erfüllungsbedingungen charakterisiert ist und damit durch logisch begriffliche Strukturen, die sich nicht auf die physiologische Ebene reduzieren lassen. Die Voraussetzungen dafür, dass Einsichten in dem beschriebenen Fall kausal wirksam werden können, sind also vielschichtig. Weil wir uns auf unsere Angst beziehen können, können wir uns klar machen, was ihre Auslöser sind und ob die geschätzte Gefährlichkeit des auslösenden Objektes zutreffend ist oder nicht. Die damit einhergehenden Formen der Intentionalität und der gezielten Gerichtetheit sind daher eine Voraussetzung dafür. Eine andere besteht darin, dass wir die fragliche phänomenale Empfindung als eine bestimmte Emotion wahrnehmen können. Das müssen wir aber in einem sozialen Lernprozess erworben haben, wie wir gesehen haben. Nur wenn zumindest diese beiden Voraussetzungen gegeben sind, kann so etwas wie gerichtete Emotionsregulation oder Kontrolle wirksam werden. Sie setzt voraus, dass das Wesen, das zur

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Kontrolle fähig ist, sich intentional auf etwas beziehen kann und das bedeutet auch, dass es die Erfüllungsbedingungen der intentionalen Zustände kennt. Diese Form der Kontrolle ist ein Moment der Freiheit.

Bibliographie Brentano, Franz von (1874): Psychologie vom empirischen Standpunkt, Band 1. Hamburg: Meiner 1955. Graham, George/Horgan, Terence/Tienson, John (2007): Consciousness and intentionality. In: Velmans, Max/Schneider, Susan (Hg.): The Blackwell Companion to Consciousness. Oxford: Blackwell Publishing, 468 – 484. Jacob, Pierre (2003): Intentionality. http://plato.stanford.edu/archives/ fall2003/entries/intentionality/ (Stand: 21. 9. 2010). Koch, Christof (2004): The Quest for Consciousness. A Neurobiological Approach. Englewood: Roberts & Company Publishers. Nida-Rümelin, Julian (2005): Über menschliche Freiheit. Stuttgart: Reclam. Tomasello, Michael (2006): Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Wittgenstein, Ludwig (1958): Philosophische Untersuchungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977. Wittgenstein, Ludwig (1974): Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, Band 6. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Für eine Kohärenz normativer Überzeugungen ohne Fundierung in Konventionen Dietmar von der Pfordten Die Reichhaltigkeit des Aufsatzes Vernunft und Freiheit von Julian NidaRümelin schließt eine Auseinandersetzung mit allen darin angesprochenen Aspekten aus. Der vorliegende Versuch beschränkt sich deshalb auf den ersten, metaethischen Abschnitt. In diesem ersten Abschnitt verteidigt Nida-Rümelin zwei zentrale Thesen, die These der notwendigen Kohrenz normativer Urteile und die These der notwendigen Fundierung dieser normativen Urteile in einer Lebensform beziehungsweise Lebenswelt. Beide Thesen werden im Folgenden auch unter Berücksichtigung anderer Schriften Nida-Rümelins untersucht.1 Im ersten Teil dieses Versuchs wird die These, normative Urteile seien nur als Element eines kohärenten Netzes von Überzeugungen zu begründen, weiter entfaltet und gerechtfertigt. Im zweiten Teil wird die These der Fundierung dieser normativen Urteile in einer Lebensform beziehungsweise Lebenswelt diskutiert und kritisiert. Die Annahme einer derartigen konventionalistischen2 Fundierung normativer Urteile wird sich als problematisch erweisen, da sie fundamentalistische, positivistische, relativistische und kollektivistische Implikationen nach sich zieht. Im dritten Teil wird als Alternative zur konventionalistischen eine individualistisch-objektivistische Version des Kohrentismus vorgeschlagen.

1. Für eine Kohärenz der Begründung normativer Urteile Was bedeutet „Kohärenz“? Der Ausdruck lässt sich zunächst einfach als „Zusammenhang“ verstehen, wobei „Zusammenhang“ Widerspruchsfreiheit (Konsistenz) erfordert, sich in ihr aber nicht erschöpft. „Zu1 2

Wichtig sind unter anderem: Nida-Rümelin (1993, 171 – 188; 2001a; 2001b, 11 – 132; 2005; 2006, 76 – 113; 2007, 7 – 21). Vgl. zu einer Kritik der früheren Auffassung Nida-Rümelins: Czaniera (2000, 67 – 85). Diese Kennzeichnung seiner Version des Kohärentismus stammt nicht von NidaRümelin selbst, sondern ist meine.

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sammenhang“ ist ein mindestens zweistelliges Prädikat beziehungsweise ein Relationsausdruck mit mindestens zwei Subjektausdrücken beziehungsweise Referenzen auf Relata. Die erste und entscheidende Frage lautet deshalb: Zwischen welchen Typen von Relata behauptet der Kohärentismus einen Zusammenhang? Dafür gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten. Wenigstens vier lassen sich als Explikation einer metaethischen Theorie denken:3 (1.1) Ein Zusammenhang von Intuition und Vernunft beziehungsweise Induktion und Deduktion beziehungsweise Konkretem und Abstraktem, (1.2) ein Zusammenhang von deskriptiven und normativen Überzeugungen, (1.3) ein Zusammenhang von Überzeugungen des Alltagsdenkens und der ethischen Theorie, (1.4) ein Zusammenhang einzelner und gemeinschaftlicher Überzeugungen zu einem universalen Netz der Überzeugungen. Im Folgenden wird zunächst untersucht, welche dieser Alternativen Nida-Rümelin bejaht und welche Gründe er für seine Bejahung anführt:4

1.1 Der Zusammenhang von Intuition und Vernunft beziehungsweise Induktion und Deduktion Für die erste Form der Kohärenztheorie, also die These des Zusammenhangs zwischen Intuition und Ratio beziehungsweise Induktion und Deduktion argumentiert Nida-Rümelin mittels einer Kritik der vereinseitigenden Alternativen des Rationalismus und des Intuitionismus: 1.1.1 Der Rationalismus ist als metaethische Theorie für Nida-Rümelin unhaltbar, weil die Prinzipien, auf denen die deduktiven Schlüsse rationalistischer Theorien aufbauen, selbst einer Begründung bedürfen (NidaRümelin VF, in diesem Band, Kapitel 1.3). Nun ist es sicher nicht generell unmöglich, Prinzipien zu begründen. Was Nida-Rümelin hier meint, ist, dass es keine Letztbegrndung derartiger Prinzipien geben kann. 3 4

Ich lasse hier den von Nida-Rümelin vielfach angeführten Zusammenhang der Person außer Betracht, da er zu komplex ist, um in diesem Rahmen diskutiert werden zu können. Vgl. zu anderen ethischen Theoretikern des Kohärentismus wie Putnam und Boyd: Czaniera (2001, 119, 128 ff.).

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Nur der unendliche Regress, der willkürliche Abbruch oder der Zirkel in der Begründung sind als Antwort auf die Frage nach einer Letztbegründung von Prinzipien möglich. Man steht also im Rahmen einer Begründung moralischer beziehungsweise ethischer Prinzipien vor dem sogenannten Münchhausen-Trilemma.5 Dieses Argument ist auf einer begründungstheoretischen Ebene überzeugend: Wenn für jedes Prinzip eine Begründung gefordert wird, so wird man nicht umhin können, auch für die Begründung eine Begründung zu verlangen et cetera ad infinitum. Was könnte ein Vertreter einer rationalistischen Theorie, etwa ein Anhänger des kantischen Verallgemeinerungsprinzips, gegen diese Argumentation einwenden? Er könnte vielleicht einwenden, dass eine bestimmte Ebene der Abstraktion die adäquate Ebene des Verallgemeinerungstests der Maximen und damit einer Begründung ex negativo sei. Es sei weder möglich noch nötig dann noch eine weitere, abstraktere Ebene jenseits des Verallgemeinerungstests zu suchen, da der Ausschluss eben auf der Ebene des Verallgemeinerungstests stattfinde. Dies sei kein willkürlicher Abbruch, sondern eine richtige Problemlösung auf der adäquaten Ebene. Der Verallgemeinerungstest sei keine Begründung, sondern ein Ausschlussverfahren, das im Prinzip auf allen möglichen Ebenen der Abstraktion erfolgen könne. Und wenn es nicht zu einem Widerspruch auf einer der möglichen Ebenen komme, sei das als Begründung eben hinreichend, um den Ausschluss der Maxime zu verneinen und die der Maxime zugrunde liegende Handlung zu erlauben. Angesichts des fundamentalen Faktums der Freiheit, müsse nicht das Handeln als Gebrauch der Freiheit begründet werden, sondern die Einschränkung des Handelns als Begrenzung der Freiheit. Dies sei in der gegebenen Bandbreite der Abstraktionen durch Aufweis eines Widerspruchs möglich. Wenn sich kein Widerspruch einstelle, so sei die Handlung nicht verboten. Man wird Kants Verweis auf ein „Faktum der Vernunft“ und das „moralische Gesetz in mir“ vielleicht als einen derartigen Vorschlag zur Lösung des Münchhausen-Trilemmas der Begründung verstehen können (Kant 1788, 34, 161), nachdem seine Fundamentierungsversuche im dritten Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten wenig erfolgreich geblieben waren. An diesem Einwand ist sicher so viel richtig, dass nicht jede Handlung der Begründung bedarf.6 Wenn jemand ohne erkennbare, nicht bloß 5 6

Vgl. Hans Albert (1969, 13 ff.). Nida-Rümelin (2001, 74 f.) geht davon aus, dass ein Verhalten, für das wir keine Gründe angeben können, keine Handlung ist.

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marginale Betroffenheit für andere handelt, muss er sich im Rahmen einer säkularen Ethik – anders allerdings von einem religiösen Standpunkt – vor niemandem rechtfertigen, auch nicht – wenn man Pflichten gegen sich selbst verneint – vor sich selbst. Wenn jemand ein Buch in seinem Zimmer liest, dann bedarf dies keiner Begründung. Es mag dem Zufall geschuldet sein, dass gerade ein entsprechendes Buch auf dem Tisch lag oder einfach einer Laune entspringen. Jemanden, der dafür eine Begründung erwartet, würden wir als merkwürdig ansehen. Es ist also weder deskriptiv zutreffend, dass alle Handlungen beziehungsweise Entscheidungen eine Begründung enthalten, noch ist es normativ gerechtfertigt, eine solche Begründung für alle Handlungen zu fordern. Manche Vertreter der zeitgenössischen Ethik beziehungsweise Metaethik vertreten eine in meinen Augen freiheitsvergessene Theorie der Notwendigkeit des Begründens jeder Handlung. Damit wird aber der Begründungsbegriff derart ausgeweitet, dass er allen Bezug zu Moral und Ethik verliert und jede kognitive Handlungsleitung umfasst. Eine derartige Ausweitung macht dann aber die Fassung eines engeren moralischen beziehungsweise ethischen Begründungsbegriffs notwendig. Allerdings gibt es natürlich Handlungen, bei denen andere von dem Handelnden eine Begründung fordern. Das sind regelmäßig solche Handlungen, von denen andere nicht nur marginal betroffen sind und die zu moralischen, rechtlichen, ökonomischen, politischen oder sonstigen Konflikten führen können.7 Genau diese drei Umstände sind es, welche die Forderung nach der Begründung für ein Handeln auch ethisch rechtfertigen: (1) Andere fordern eine Begründung oder es ist zumindest praktisch nicht ganz ausgeschlossen, dass sie sie fordern. (2) Andere sind von der Handlung nicht nur marginal betroffen. (3) Ein Konflikt ist im Hinblick auf die in Rede stehende Handlung möglich. Die zentrale Frage an den Verallgemeinerungstest lautet dann, ob er in der Lage ist, dieser berechtigten Forderung nach einer Begründung zu genügen. Das ist bekanntlich außerordentlich umstritten und führt tief in die normative Debatte um die Adäquatheit des Verallgemeinerungsprinzips. Es zeigt – dies sei en passant festgestellt –, dass sich die Metaethik nicht einfach von der normativen Ethik ablösen lässt. An anderer Stelle wurde die Frage nach der Adäquanz des Verallgemeinerungstests ausführlicher 7

„Konflikt“ wird in diesem Aufsatz in einem sehr weiten Sinne eines potenziellen oder aktuellen Widerstreits von Belangen beziehungsweise Interessen verstanden, nicht in einem engeren Sinne der Verwendung bestimmter Mittel der Konfliktaustragung, also etwa im Sinne von „Streit“ oder gar „Krieg“.

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diskutiert (von der Pfordten 2007, 314 f./2010, Kapitel 5). Hier soll nur das Resultat erwähnt werden: Das Prinzip der Verallgemeinerung führt in der kantischen Version zur Begründung von Verboten und Geboten, in denen ein Handeln eine gemeinschaftliche Praxis zugleich voraussetzt und untergräbt, also nur dadurch zum Ziel führt, dass es nicht die allgemeine Handlungspraxis ist (Patzig 1983, 156), wie bei der Lüge oder dem unaufrichtigen Versprechen. Das ist zwar überzeugend. Es handelt sich aber dabei nur um einige, eng begrenzte Fälle gemeinschaftlicher Institutionen. Selbst das allgemeine Tötungsverbot als zentrale moralische Norm wäre auf diese Weise nicht zu rechtfertigen, denn der Versuch, einen anderen zu töten, setzt nicht logisch (Widerspruch im Denken) oder auch nur praktisch notwendig (Widerspruch im Wollen) voraus, dass kein anderer versucht, den Handelnden zu töten. Eine Gesellschaft wechselseitiger privater gewalttätiger Auseinandersetzungen mit Tötungsabsicht würde zwar unseren grundlegenden Interessen zuwiderlaufen. Sie erscheint aber im Hinblick auf die Maximen beziehungsweise Handlungen einzelner Tötungsversuche nicht als widersprüchlich. Allerdings zeigen diese Erwägungen, dass es kaum möglich sein wird, eine rationalistische Position ohne Diskussion ihrer jeweiligen konkreten Ausgestaltung allein auf dem Feld der Metaethik auszuschließen, weil jede rationalistische Position immer behaupten kann, dass ihre Begründung auf der adäquaten Rechtfertigungsebene operiert und somit keine weitere, abstraktere Begründung erforderlich ist. 1.1.2 Der Intuitionismus ist als metaethische Theorie für Nida-Rümelin unhaltbar, weil es keine isolierten (normativen) Überzeugungen gebe, die nicht in bestimmten Situationen mit anderen (normativen) Überzeugungen in Widerspruch zueinander geraten könnten (Nida-Rümelin VF, in diesem Band, Kapitel 1.3). Denn in bestimmten Äußerungssituationen würden verschiedene normative Überzeugungen simultan relevant, gerieten in Konflikt oder ergänzten sich, die eine erscheine als ein Spezialfall der anderen, beide ließen sich unter eine dritte (allgemeinere) normative Überzeugung (eine Regel, eine Gesetzmäßigkeit) subsumieren. Eine Mehrzahl von prima-facie-Pflichten wird zwar von manchen Vertretern des ethischen Intuitionismus angenommen, so etwa Ross (2002). Dennoch überzeugt auch dieses Argument im Rahmen der Metaethik. Der Versuch, moralische Konflikte auf der konkreten Ebene der in der einzelnen Situation entgegenstehenden Interessen zu lösen, ist aussichtslos,

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d

weil sich dann einfach die Intuitionen der Konfliktparteien gegenüberstehen. Man kann im Rahmen ethischer Begründungen nicht darauf verzichten, die für einen Einzelfall vorgeschlagenen Lösungen zu abstrakteren Überzeugungen in Beziehung zu setzen. Andernfalls schneidet man Möglichkeiten der Begründung willkürlich ab. Ergänzend lässt sich zum Ausschluss des Intuitionismus auf die Parallele zum Induktionsproblem verweisen. So wie einzelne empirische Beobachtungen allgemeine Gesetze nicht induktiv rechtfertigen können, vermögen intuitive normative Überzeugungen in einzelnen Konfliktfällen allgemeine normative Prinzipien nicht allein zu begründen. Allerdings muss man klar zwischen den Überzeugungen, welche in einer Konfliktsituation moralisch, politisch, rechtlich et cetera richtig oder falsch sind, und den individuellen Belangen beziehungsweise Interessen, das heißt den Zielen, Wünschen, Bedürfnissen und Strebungen der jeweils im möglichen oder wirklichen Widerstreit stehenden Personen beziehungsweise Individuen unterscheiden.8 Diese Belange beziehungsweise Interessen konstituieren den moralischen, politischen, rechtlichen Konflikt erst und müssen deshalb als empirische Faktoren der jeweiligen Situation eine zentrale Rolle in seiner Lösung und damit in der Abwägung spielen. Der Ausschluss des Intuitionismus darf nicht als Ausschluss dieser, ja auch nicht intuitiv sondern empirisch wahrnehmbaren Belange beziehungsweise Interessen der in einer konkreten Situation im möglichen oder realen Widerstreit stehenden Individuen missverstanden werden. Allerdings liefern die Belange beziehungsweise Interessen natürlich für sich genommen keine adäquate Begründung der Lösung des Konflikts, weil sie sich einfach als widersprechende individuelle Normäußerungen gegenüberstehen. Wenn A sagt, er will, dass X geschieht, und B sagt, er will, dass X geschieht, so ergibt das für sich genommen keine Lösung des Widerstreits. Und wenn rein faktisch ein Ergebnis herbeigeführt wird, dann ist das keine moralische beziehungsweise ethische oder rechtliche Lösung des Widerstreits, sondern nur ein faktisches Ergebnis, etwa ein solches der Gewalt, der List, der Überredung, des Aufgebens, des mehr oder minder faulen Kompromisses et cetera.

8

Vgl. zu dieser Kaskade von vier Elementen als Grundlage des abstrakteren Begriffs des Belangs beziehungsweise Interesses: von der Pfordten 2007, 300 ff./2010, Kap. 2.

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1.2 Der Zusammenhang von deskriptiven und normativen Überzeugungen Nida-Rümelin bejaht auch den Zusammenhang zwischen deskriptiven und normativen Überzeugungen.9 Unser System der Überzeugungen ist eine Einheit. Das zeigen die vielen Verbindungen deskriptiver und normativer Urteile. Normative Urteile setzen deskriptive voraus. Wer etwa die Verantwortung der Eltern für das Wohl ihrer minderjährigen Kinder betont, der macht die Tatsache, dass diese nicht in der Lage sind, ihr Wohl allein zu bestimmen und zu verfolgen, als Gegenstand der deskriptiven Überzeugung zur Bedingung. Auch der allgemein akzeptierte Grundsatz „Sollen impliziert Können“ („ought implies can“) fußt auf einem derartigen Zusammenhang. Während die beiden soeben erwähnten Bedingungszusammenhänge zwischen deskriptiven und normativen Überzeugungen allgemein akzeptiert werden, ist ein genuiner Begründungs- oder gar Ableitungszusammenhang zwischen deskriptiven und normativen Überzeugungen umstritten. Realistische und naturalistische Theorien der Metaethik bejahen ihn, während nichtrealistische und nichtnaturalistische Theorien ihn verneinen. Nida-Rümelin akzeptiert die Kritik des naturalistischen Fehlschlusses an naturalistischen Begründungen, will ihn aber auf seinen Wortsinn begrenzen, also nur eine Ableitung aus natürlichen Tatsachen beziehungsweise Propositionen ausschließen, nicht aber eine aus nichtnatürlichen, empirischen und damit deskriptiven Propositionen (NidaRümelin 2007, 17). Fraglich ist, welche Propositionen dies sein können. An dieser Stelle hat sich seine Position in den letzten Jahren weiterentwickelt. Nida-Rümelin nennt nunmehr die etablierten und akzeptierten Regeln der Lebenswelt und Lebensform,10 vertritt also eine konventi9 An anderen Stellen spricht Nida-Rümelin auch vom Zusammenhang von theoretischen und praktischen Gründen, vgl. etwa: Nida-Rümelin (2001a, 93 – 95; 2007, 8 ff.). 10 Nida-Rümelin (2007, 19). In dem Aufsatz Zur Reichweite theoretischer Vernunft in der Ethik von 1993 (Nida-Rümelin 2001a, 13 f.) heißt es noch: „Eine verbreitete Auffassung besagt, daß ein zutreffend (wahres) normatives Urteil das faktische Bestehen einer Norm logisch (begrifflich) voraussetze. Dies ist unzutreffend, wie das folgende Gedankenexperiment zeigt. Fünf Schiffbrüchige von unterschiedlichen Schiffen und aus unterschiedlichen Kulturen haben sich auf eine Insel gerettet. Für alle ist ausreichend Nahrung vorhanden. Mangels gemeinsamer Sprache gibt es keine Möglichkeit der Kommunikation. In dieser Situation kann man die Existenz bestimmter, über Normen konstituierter Institutionen ausschließen. Dennoch wäre es moralisch unzulässig, wenn einer der Gestrandeten

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onalistische Variante des Kohärentismus. Dazu wird im zweiten Teil des vorliegenden Versuchs noch näher Stellung genommen. Vorher sollen aber zwei Divergenzen zwischen deskriptiven und normativen Überzeugungen zur Sprache kommen, die Nida-Rümelin nach meinem Eindruck vielleicht etwas zu unterschätzen scheint und die zu einer gewissen Asymmetrie im Kohärentismus zwischen deskriptiven und normativen Überzeugungen führen. Obwohl sich deskriptive und normative Überzeugungen in ihrer Integration empirischer Propositionen ähneln, gibt es doch einen wesentlichen Unterschied: Während viele gleichartige empirische Daten ein allgemeines Prinzip zwar nicht begründen, aber doch zumindest praktisch bestätigen können, ist dies bei normativen Überzeugungen nicht der Fall. Viele gleichartige Lösungen moralischer Konflikte können allein durch ihre Quantität die Richtigkeit dieser Lösung nicht bestätigen, denn sie können ja bloßes Resultat einer besonders wirksamen Unterdrückungsoder Überredungspraxis der Herrschenden oder Tonangebenden in einer Gemeinschaft oder Gesellschaft sein. Das heißt Gleichartigkeit ist anders als bei deskriptiven Überzeugungen nicht per se eine positive Bestätigung für ein abstraktes Prinzip, sondern nur, wenn es sich um eine einleuchtende Lösung in einem nichtmanipulierten Umfeld handelt. Im Übrigen muss man auch eine modale Asymmetrie des wechselseitigen Verhältnisses von deskriptiven und normativen Überzeugungen konstatieren: Normative Überzeugungen setzen deskriptive notwendig voraus, weil jede Bewertung und jede Verpflichtung an die Beschreibung eines bestehenden beziehungsweise nicht bestehenden Zustands anknüpft, der beurteilt wird oder verändert werden soll. Das Umgekehrte gilt jedoch nicht: Im Verhältnis Beschreibung-Norm ist die Bezugnahme nicht notwendig, sondern nur möglich, das heißt es ist zwar möglich, dass deskriptive Überzeugungen zum Gegenstand von normativen Überzeugungen werden, nicht aber notwendig. Wir können von bestimmten Tatsachen deskriptive Überzeugungen haben, ohne uns darauf normativ zu beziehen. Abgeschlossene Ereignisse in der Vergangenheit können wir sogar nur bewerten, nicht aber zu ihrer Änderung verpflichten. Für

einen anderen zu dem Zweck tötete, sich in den Besitz eines wertvollen Schmuckstücks zu bringen. Wären normative Urteile von Institutionen logisch abhängig, so würde diese Äußerung nicht verständlich und a fortiori nicht normativ plausibel sein können.“ Mir erscheint dieses Gedankenexperiment nach wie vor ein überzeugendes Argument gegen den Konventionalismus zu sein.

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vergangene, faktisch unaufhebbare Ereignisse ist also sogar nur die Bewertung als Element normativer Überzeugungen möglich.

1.3 Der Zusammenhang von Überzeugungen des Alltagsdenkens und der ethischen Theorie Nida-Rümelin kritisiert die in der zeitgenössischen Philosophie verbreitete Auffassung, dass die ethische Theorie gewissermaßen außerhalb jeder lebensweltlichen Praxis steht und mit dieser weder epistemologisch noch praktisch etwas zu tun hat (Nida-Rümelin 2007, 19). Eine philosophische Ethik ohne Stützung in der lebensweltlichen Praxis verkomme zur bloßen intellektuellen Spielerei. Der praktische Philosoph setze vielmehr nur das fort, was in den moralischen Konflikten der Lebenswelt begonnen habe: die Klärung dessen, was richtig und was falsch sei. Es erscheint unbezweifelbar, dass die Ethik keine bloß distanzierte Perspektive auf die moralischen und sonstigen Konflikte des Alltags haben kann. Dies gilt zumindest für die normative Ethik. Die deskriptive Ethik, die ja nichts anderes als Psychologie, Soziologie oder Ethnologie der Moral und des Rechts ist, kann zwar eine solche distanzierte und bloß beschreibende Perspektive einnehmen. Aber wenn man die Ethik als Ganzes nicht – wie es manche Vertreter des logischen Empirismus vorgeschlagen haben (Ayer 1971, 148 f.) – auf die deskriptive Ethik reduziert, sondern die normative Ethik als ihren Kern oder zumindest einen respektablen Teil ansieht, dann kann eine derartige Distanzierung nicht stattfinden, denn die normative Ethik kann als bloß distanziert-betrachtende Theorie die notwendige Normativität, welche allererst ihre Bezeichnung rechtfertigt, nicht allein aus sich selbst heraus erzeugen. Allerdings hängt der Grad der Abhängigkeit der ethischen Theorie von den moralischen Erwägungen des Alltags naturgemäß davon ab, woraus diese Normativität resultieren soll. Wie im zweiten Teil dieses Aufsatzes noch genauer zu erläutern sein wird, liegt für Nida-Rümelin die einzige oder zumindest zentrale Quelle dieser Normativität in der lebensweltlichen Sprach- und Interaktionspraxis. Das hat zur Folge, dass die normativ-ethische Theorie weitgehend von Alltagsüberzeugungen abhängig wird. Kritisiert man diese konventionalistische Fundierung, wie es im zweiten Teil dieses Aufsatzes geschehen wird, dann stellt sich die Frage, woraus die Normativität sonst resultieren kann. Im letzten Teil dieser Untersuchung wird die These vertreten werden, dass die Normativität aus zwei untrennbaren und nur zusammen wirksamen Teilen

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beziehungsweise Quellen besteht beziehungsweise erwächst: den Belangen beziehungsweise Interessen der jeweils Betroffenen und einer vernünftig-objektivierenden Relationierung beziehungsweise Abwägung dieser Belange beziehungsweise Interessen. Während die Belange beziehungsweise Interessen der jeweils Betroffenen nur aus den Alltagsüberzeugungen stammen können, findet diese vernünftige Relationierung beziehungsweise Abwägung sowohl im Alltagsdenken als auch in der ethischen Theorie statt. Als Beispiel für ersteres kann der in den Alltagsüberzeugungen wurzelnde Grundsatz der Goldenen Regel dienen,11 als Beispiel für letzteres der Kategorische Imperativ. Die vernünftige Relationierung beziehungsweise Abwägung erfolgt also in beiden Bereichen gleichermaßen, ohne dass man einen der Bereiche prinzipiell für vorrangig halten könnte. Sie kann allerdings im Rahmen der ethischen Theorie ein erhöhtes Maß an Überzeugungskraft und Kritikfähigkeit durch die Erfüllung bestimmter wissenschaftlicher Standards wie Klarheit, Widerspruchsfreiheit, Vollständigkeit, Systematizität, Begründung, Fruchtbarkeit und so weiter gewinnen. Auch im Hinblick auf den Zusammenhang von alltäglichen und ethisch-theoretischen Überzeugungen erscheint der Kohärentismus also nicht ganz symmetrisch.

1.4 Der Zusammenhang einzelner und gemeinschaftlicher Überzeugungen zu einem universalen Netz Der vierte Aspekt des Kohärentismus liegt darin, dass sich die Überzeugungen verschiedener Personen und Gesellschaften in der Ethik zu einem universalen Netz verbinden. Nida-Rümelin verteidigt allgemeingültige moralische Minimalbedingungen gegen den Partikularismus, den Perspektivismus und den Relativismus (Nida-Rümelin 2001a, 63 – 78 (vor allem 69 ff., 76), 109). Da seine Begründungen meiner Ansicht nach überzeugen, soll deren Detaildiskussion hier nicht aufgenommen werden. Weil aber das Problem des Relativismus noch im zweiten Teil dieser Überlegungen wichtig werden wird, soll nur ein – meiner Ansicht nach zutreffendes – früheres Argument Nida-Rümelins gegen den Relativismus widergegeben werden (ebd., 69): Antirelativistische Kulturen seien nicht nur denkbar, sondern der historische Normalfall. Eine solche Kultur wisse aber charakteristischerweise sehr genau, was in der Fremde 11 Er taucht etwa bereits in der Bibel auf: Matthäus 7, 12.

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zu tun sei, nämlich sich weiterhin an das in der eigenen Kultur für richtig Befundene zu halten, auch wenn damit andere gekränkt oder verletzt werden. 1.5 Hat im Kohärentismus jedes Begründen ein Ende? „Jedes Begründen hat ein Ende.“ (Nida-Rümelin VF, in diesem Band, 13) lautet eine Charakterisierung der spezifischen, von Nida-Rümelin vertretenen Version des Kohärentismus. Das trifft in einem praktischen Sinne sicher zu, weil man die konkrete Entscheidung in einzelnen moralischen Konflikten nicht endlos aufschieben kann, sondern zu einer zeitlich und pragmatisch vertretbaren Lösung kommen muss. In einem von derartigen zeitlichen und pragmatischen Notwendigkeiten der konkreten Entscheidung abstrahierenden Sinn erscheint diese These im Rahmen einer kohärentistischen Theorie aber interpretationsbedürftig. Denn wenn jede Begründung nicht durch Stützung auf konkrete Intuitionen oder Ableitung aus abstrakten Prinzipien, sondern ausschließlich durch das Einfügen in das umfassende Netz unserer Überzeugungen stattfinden kann, dann kann das Begründen nicht aufhören, weil sich das umfassende Netz unserer Überzeugungen in wenigstens drei Hinsichten endlos ändert: (1) Neue Personen mit neuen Belangen beziehungsweise Interessen kommen hinzu und die alten sterben. (2) Die Personen kommen zu neuen praktischen Einsichten. (3) Neue deskriptive Erkenntnisse werden gewonnen. Ein Beispiel: Im Mittelalter wusste man offensichtlich nicht, dass es weibliche Eizellen gibt, so dass Samen- und Eizelle bei der Empfängnis verschmelzen, womit das Erbgut des Menschen unverrückbar feststeht. Man glaubte, dass der weibliche Uterus quasi nur als „Gefäß“ für den wachsenden menschlichen Samen diene. Die Lehre von der Sukzessivbeseelung war insofern verständlich. Sie war aber zu dem Zeitpunkt nicht mehr haltbar, als die Existenz weiblicher Eizellen entdeckt wurde. Ändert sich also das umfassende Netz unserer Überzeugungen endlos, so müssen sich prinzipiell auch die Einpassungsrelationen und damit die Begründungen einzelner Überzeugungen endlos ändern, das heißt zumindest anpassen. Es ist wie mit einem fertig gezimmerten Baumhaus, das man ab und zu neu befestigen muss, weil die Zweige, die es tragen, wachsen und absterben. Allerdings wird man diese theoretische Überlegung der Endlosigkeit der Begründung zur abstrakten Charakterisierung des Kohärentismus

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gleich wieder einschränken müssen, sodass man für wesentliche moralische Überzeugungen sehr nahe an Nida-Rümelins These herankommt: Die einzelnen moralischen Überzeugungen hängen bei der Einpassung in unser umfassendes Netz der Überzeugungen natürlich wesentlich von einigen, sie quasi unmittelbar umgebenden, besonders wichtigen Überzeugungen ab. Und diese unmittelbar umgebenden, besonders wichtigen Überzeugungen sind häufig kaum veränderlich. So sind etwa die Sterblichkeit des Menschen und sein Wille, am Leben zu bleiben, anthropologische Konstanten,12 die sich die gesamte Menschheitsgeschichte hindurch feststellen lassen und das allgemeine Tötungsverbot stützen (insoweit aber auch wieder ein Stück weit in Richtung Fundamentalismus weisen). Insofern kann man von einer weitgehenden Unveränderlichkeit der Einpassung des allgemeinen Tötungsverbots in unser Netz von Überzeugungen ausgehen. Nachdem die erste These Nida-Rümelins, die These des Kohärentismus der Metaethik diskutiert und mit einigen kleinen Nuancierungen als begründet angesehen wurde, wird seine zweite These, die These der Fundierung unserer normativen Überzeugungen in einer Lebenswelt beziehungsweise Lebensform untersucht, die zu Nida-Rümelins spezieller, konventionalistischer Version des Kohärentismus führt.

2. Probleme eines Konventionalismus der Lebenswelt beziehungsweise Lebensform 2.1 Die Vagheit der Ausdrücke „Lebenswelt“ und „Lebensform“ Die Worte „Lebenswelt“ und „Lebensform“ begegnen wegen ihrer Vagheit und Widersprüchlichkeit schon auf einer sprachlichen Ebene Bedenken: Es ist bereits umstritten, was im biologischen Sinne „Leben“ heißt.13 Dies gilt erst recht für einen mit diesen Worten offenbar gemeinten, darüber hinausgehenden, sozialen Sinn des Wortes. Was dann 12 Selbst wenn es gelänge, wie es manche Wissenschaftler anstreben beziehungsweise voraussehen, den biologischen Alterungsprozess des Menschen aufzuheben und somit eine Art biologischer Unsterblichkeit zu erzeugen, wäre der menschliche Körper nach wie vor durch Fremdeinwirkung zerstörbar und damit das allgemeine Tötungsverbot gerechtfertigt. 13 Vgl. dazu Mayr (1998, 21 ff.). „Das Wort ,Leben‘ ist in Wirklichkeit bloß der zum Ding gemachte Vorgang des Lebendseins und existiert nicht als selbständige Entität.“ (Ebd., 22.)

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„Welt“ und „Form“ sein sollen ist jenseits der physikalischen „Welt“ und der räumlichen „Form“, die mit den beiden Wortverbindungen offensichtlich nicht gemeint sind, ebenfalls zweifelhaft. Werden die vagen Ausdrücke „Leben“ und „Welt“ beziehungsweise „Form“ schließlich verbunden, so können die Ergebnisse nur außerordentlich unbestimmte Ausdrücke sein, von denen kaum jemand die Adäquatheitsbedingungen auch nur annähernd angeben kann. Es handelt sich um Ausdrücke, die sogar Widersprüche in sich bergen, etwa weil die Welt vermutlich unendlich, das Leben dagegen sicher endlich ist und weil die Welt auch die unbelebte Natur umfasst. Die Folge ist eine vollkommen uneinheitliche Verwendung dieser Ausdrücke. Solche von der analytischen Philosophie mit gewissem Recht wegen ihrer Vagheit inkriminierten Worte wie das „Absolute“ erscheinen im Vergleich zu „Lebenswelt“ und „Lebensform“ wohlbestimmt, das „Absolute“ etwa als das „Unbedingte“.14 Warum Wittgenstein angesichts seiner zumindest in ihrer Richtung, wenn auch nicht in ihren radikalen Schlussfolgerungen, durchaus berechtigten Kritik an derartigen philosophischen Kunstausdrücken seine eigene Auffassung mit einem solchen weitgehend philosophisch oder zumindest theoretisch-biologisch geprägten Neologismus15 wie dem der „Lebensform“ verbunden hat (Wittgenstein 1953, 277, 363),16 ist kaum verständlich. Allerdings wird die Bedeutung des Terminus von manchen Wittgenstein-Interpreten auch überschätzt. Er kommt etwa in den Philosophischen Untersuchungen nur an fünf Stellen vor, die keineswegs zentral sind. Und dort wird er auch nicht erläutert oder weiter entfaltet, sondern nur erwähnt. Wittgenstein selbst hat ihm also nur marginale Bedeutung zugemessen. Der Terminus wird im Übrigen auch nirgends mit „Regeln“ in Verbindung gebracht, sondern nur an einer Stelle mit einer „Tätigkeit“ (Wittgenstein 1953, 28).

14 Ob es ein solches Absolutes beziehungsweise Unbedingtes gibt, ist eine andere Frage, die mit Recht – von religiösen Vorstellungen einmal abgesehen – bezweifelt werden kann. 15 Der Ausdruck wurde außer von einem biologischen Verständnis vor allem von der geisteswissenschaftlichen, an Dilthey anknüpfenden Auffassung Sprangers (1914) geprägt. 16 Wichtig ist, dass Wittgenstein nur den etwas weniger problematischen Ausdruck „Lebensform“ verwendet, während er den noch vageren, widersprüchlicheren und alltagsferneren Husserlschen Ausdruck der „Lebenswelt“, soweit ersichtlich, nicht gebraucht.

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Nun mag es zwei Gründe geben, in einer philosophischen Theorie diese Ausdrücke trotz ihrer großen Vagheit zu analysieren oder sogar zu verwenden. Der erste Grund bestünde darin, dass sie auch in der Alltagssprache und damit der Alltagswelt eine wichtige Rolle spielen, wie dies etwa bei Ausdrücken wie „Wissen“ oder „Gerechtigkeit“ der Fall ist. Dieser Grund ist für den Ausdruck „Lebenswelt“ sicher nicht zutreffend. Es handelt sich um eine reine Erfindung der Philosophie.17 Ich kann mich nicht erinnern, jemals gehört zu haben, dass ein Nichtphilosoph dieses Wort gebraucht. Für „Lebensform“ mag das abzuschwächen sein. Hier mag es gewisse, nicht sehr zentrale alltagssprachliche Verwendungen im Sinne von „Kultur“ oder „Zivilisation“ oder „Ethos“ geben. Aber auch das sind extrem vage Ausdrücke. Und die alltagssprachlichen Verwendungen von „Lebensform“ sind vermutlich in weiten Teilen auf philosophische oder theoretisch-biologische Einflüsse zurückzuführen. Der zweite Grund könnte darin bestehen, dass man mit diesen Ausdrücken eine neue Entdeckung bezeichnen will, so wie etwa die Physik mit „Quark“ neu entdeckte subatomare Teilchen bezeichnet hat. Meines Wissens hat aber noch niemand behauptet, dass mit den Ausdrücken „Lebenswelt“ oder „Lebensform“ etwas neu Entdecktes bezeichnet werden soll. Es ist vielmehr das Normale, das Alltägliche, das Hergebrachte, das damit ausgedrückt werden soll. Offensichtlich markieren diese Ausdrücke – insbesondere bei Husserl und Wittgenstein – nur den Gegensatz zu „wissenschaftlich-theoretisch“. Es scheint so zu sein, dass eine starke Wissenschaftsorientierung, ein starker Szientismus, wie sie für Husserl und Wittgenstein kennzeichnend waren, oder vielleicht auch die (Selbst-)Kritik an dieser stark wissenschaftsorientierten Haltung für den Normalfall beziehungsweise das Alltägliche, das gerade als solchermaßen Normales und Alltägliches keine eigene Bezeichnung braucht, einen außerordentlich vagen Ausdruck finden musste und muss. Nida-Rümelin schlägt eine Präzisierung vor, indem er von den „etablierten und von uns allen akzeptierten Regeln lebensweltlicher

17 Das dtv-Brockhaus Lexikon (1982) weist zwar einen Eintrag „Lebensform“ auf, nicht aber einen „Lebenswelt“. Der Ausdruck „Lebenswelt“ hat sich also in der Alltagssprache nicht durchgesetzt. Er wurde vor allem von Edmund Husserl (1936) geprägt. Vgl. dazu: Dilcher (2003, 373 – 390) mit weiteren Verweisen auf die Literatur und die Auseinandersetzung mit Husserls Lebensweltbegriff sowie einer eingehenden und grundsätzlichen Kritik.

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Verständigung“ spricht (Nida-Rümelin 2007, 19).18 Der Kern der Lebenswelt sind also offenbar die etablierten und akzeptierten Regeln, also anders ausgedrückt die Normen der Moral, der Konventionen, des Rechts, der Medizin und so weiter. In den Sozialwissenschaften spricht man insofern von „Institutionen“. Bevor dieses Verständnis analysiert wird, muss noch ein anderer Aspekt der Bedeutung der Ausdrücke „Lebenswelt“ und „Lebensform“ erwähnt werden, weil er in der Folge wichtig werden wird. Für „Lebensform“ ist ein pluralistisches und damit relativistisches Verständnis kennzeichnend (Nida-Rümelin VF, in diesem Band, Kapitel 1.6).19 Für „Lebenswelt“ scheint dies ebenfalls zu gelten. Man kann von verschiedenen „Lebenswelten“ sprechen, wobei wohl auch die Vorstellung einer globalen „Lebenswelt“ möglich erscheint. Die einzige Diskrepanz zwischen den beiden Ausdrücken scheint im Übrigen in diesem Umstand des notwendigen oder nur wahrscheinlichen Pluralismus zu bestehen – ein Unterschied, der für Ethik und Moral natürlich hoch bedeutsam ist, weil er entlang der Diskussionslinie Relativismus-Universalismus verläuft.

2.2 Vier Probleme des Konventionalismus Welche Rolle spielt die Lebenswelt beziehungsweise Lebensform nun im Rahmen der Ethik für Nida-Rümelin? Nida-Rümelins Antwort lautet: „Jedes Begründen hat ein Ende. Am Grund allen Begründens steht die praktizierte Lebensform als Ganzes“ (Nida-Rümelin VF, in diesem Band, 13). Die Quelle der Normativität ist also in der lebensförmlichen Sprachund Interaktionspraxis selbst zu suchen (Nida-Rümelin 2007, 18). NidaRümelin erläutert diese These am Beispiel des Versprechens. Für unsere Sprach- und Interaktionspraxis heißt ein Versprechen geben ipso facto Verpflichtungen einzugehen. Versprechen und andere normative Institutionen unserer Sprach- und Interaktionspraxis sind somit die eigentlichen Quellen der Normativität (ebd., 18). Nida-Rümelin formuliert dies nicht ausdrücklich, aber man wird ihn wohl so verstehen müssen, dass 18 In Strukturelle Rationalitt (2001b, 73) wird die von Individuen gewählte Lebensform dagegen als deren besondere Wünsche und Bedürfnisse beziehungsweise Werthaltungen bestimmt. 19 Die Gesellschaftsform als Ganzes wird als Vernetzung unterschiedlicher individueller Lebensformen erklärt (Nida-Rümelin 1993, 187 f.). Vgl. auch Spranger (1914, 447) durchaus mit zusätzlichen hegelianisch-holistischen Elementen.

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dann im Grunde die tatsächlich bestehende Moral, die außermoralischen Konventionen und wohl auch das positive Recht und andere gesellschaftlich akzeptierte Normen, etwa solche der Medizin, der Technik et cetera, letzte Quelle der Normativität sind. Man kann diese Auffassung wie bereits erwähnt als „konventionalistisch“ charakterisieren, wobei „konventionalistisch“ nicht in einem engen Sinne nichtmoralischer und nichtrechtlicher Regeln verstanden wird, sondern in einem weiten Sinne, der alle gesellschaftlich etablierten Regeln der Moral, des Rechts, des Ethos et cetera umfasst.20 Wie ist diese konventionalistische Version des Kohärentismus zu beurteilen? Sie sieht sich, so denke ich, wenigstens vier Problemen ausgesetzt: dem Problem des Fundamentalismus, dem Problem des Positivismus, dem Problem des Relativismus und dem Problem des Kollektivismus. 2.2.1 Der Kohärentismus soll per definitionem – und dies wird von Nida-Rümelin zu Recht ausdrücklich als sein Vorzug benannt – auf ein Fundament verzichten. Damit wird die Frage nach der Letztbegründung in der Ethik gelöst. Sie wird nämlich aufgelöst, weil sich ethische Begründungen nur in unser Netz der Überzeugungen einfügen müssen. Nun sieht es jedoch sehr nach einem Fundamentalismus aus, wenn „am Grund allen Begründens“ die praktizierte Lebensform als Ganzes stehen soll. Was ist dieser „Grund allen Begründens“ anderes als das Fundament der Begründung? Das Netz der sich wechselseitig stützenden Begründungen wird auf diese Weise noch einmal in der tatsächlich in einer bestimmten Gesellschaft akzeptierten und etablierten Regelpraxis fundiert. Prinzipien, wie etwa das Gleichheitsprinzip, das Paretoprinzip, das Maximinprinzip oder das Maximierungsprinzip müssen konsequenterweise aus dem Netz der Überzeugungen ausgeschlossen bleiben, sofern sie den je in einer Lebensform akzeptierten und etablierten Regeln nicht entsprechen. Das ist dann zwar kein Fundamentalismus der Intuitionen, aber ein solcher der etablierten Konventionen in einem weiten Sinne, also aller etablierten Regeln einschließlich solcher der Moral, des Rechts, der Medizin, der Technik, des Ethos et cetera. Die etablierten Regeln setzen sich im kohärenten Netz der Begründungen letztlich gegen alle möglichen abstrakteren, nicht in gleichem Maße in der Lebensform verankerten Prinzipien durch. Damit ist aber die für den Kohärentismus 20 Vgl. zu einer sehr allgemeinen Definition von Konventionen: Lewis (1975, 79 f.).

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kennzeichnende Symmetrie der Begründung von Abstraktem und Konkretem nicht mehr gewahrt. 2.2.2 Werden die etablierten und von allen akzeptieren Regeln der lebensweltlichen Verständigung als die letzte Quelle der Normativität angesehen, so kann man von einem normativen Positivismus sprechen. Dann stellt sich aber die Frage nach der Berechtigung beziehungsweise Begründung der Kritik und Veränderung dieser Regeln, einer Kritik und Veränderung, welche sich ihrerseits als Faktum in allen Gesellschaften und zu allen Zeiten feststellen lässt. Nida-Rümelin gesteht ein Auftreten moralischer Konflikte und daraus resultierender lokaler Skepsis zu. Unterschiedliche Regeln, die gleichermaßen auf die Situation passen, können kollidieren und verschiedene Handlungsweisen fordern (ebd., 18). Er versteht diesen Konflikt aber ausdrücklich nur als Konflikt verschiedener etablierter Regeln, in dem sich eine überlegene Regel gegenüber einer unterlegenen Regel durchsetzt. Die Quellen der Normativität sind weiterhin in etablierten Regeln der lebensweltlichen Sprach- und Interaktionspraxis zu suchen. Die Inkohärenz einer Praxis soll nur zu Zweifeln an ihrer Verlässlichkeit und zur Suche nach abstrakteren, weiter reichenden, verlässlicheren Regeln führen (ebd., 19). Diese Interpretation des Phänomens der Kritik und der Veränderung etablierter Regeln scheint aber nicht unserer allgemeinen Vorstellung von dieser Praxis zu entsprechen.21 Gesellschaftlich etablierte Regeln werden vielmehr häufig auch mit Berufung auf ein ethisches Ideal, kritisiert und verändert, ein Ideal, dem (noch) keine etablierte und akzeptierte Regel entspricht. Das Ideal der Gleichberechtigung aller Menschen war etwa als Ideal die wesentliche Grundlage der Kritik der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse, bevor die Gleichberechtigung aller Menschen durch die Abschaffung der ständischen Privilegien, die Gleichberechti21 Nida-Rümelin (2001a, 122 f.) hat noch – wie ich finde überzeugend – formuliert: „Institutionen scheint etwas Normatives inhärent zu sein. Diese für die verschiedenen Ansätze institutioneller Ethik charakteristische ,Überwindung‘ des naturalistischen Fehlschlusses hat jedoch eine Schwäche: Sie übersieht, daß die vermeintliche Normativität von Institutionen (oder jedenfalls von bestimmten Institutionen) immer auch deskriptiv interpretiert werden kann. Ich kann das de-facto-Bestehen normativer Regelungen beschreiben, ohne sie zu teilen. Ich kann mich außerhalb stellen (einen ,ethnologischen‘ Standpunkt einnehmen) und den Feststellungen normativer Sachverhalte keine subjektiv geteilten Präskriptionen beiheften.“

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gung der Frauen sowie der Menschen divergenter ethnischer Herkunft realisiert wurde. Und auch heute noch sehen wir im Ideal der Gleichberechtigung und in den Belangen der Benachteiligten die entscheidenden normativen Grundlagen für Kritik und Veränderung, nicht aber in einer Regel, die bereits etabliert ist. Selbst in einer ganz homogenen Gesellschaft der Ungleichberechtigung von Frauen und ethnisch Divergierenden, in der nicht einmal eine unterlegene Regel der Gleichberechtigung erkennbar ist, halten wir unsere Kritik an der Ungleichberechtigung für begründet, weil sie sich auf das ethische Ideal der Gleichberechtigung und die Belange der Betroffenen stützen kann. Ließe man nur die bereits etablierten Regeln als Basis der Kritik und Veränderung zu, so könnte man nicht erklären, mit welcher Berechtigung jemand eine abweichende Regel, die dann Basis der Kritik und Veränderung wäre, etablieren dürfte. Man würde das immer schon Bestehende gegenüber dem Neuen und Idealen, das zu einer Verbesserung führen soll, bevorzugen. Mir scheint das zum einen von der Grundidee des Kohärentismus nicht gefordert und zum anderen mit unserem Verständnis von Kritik und Veränderung nicht vereinbar. Die tatsächliche Akzeptanz einer ethischen Norm kann – anders als bei Recht und Moral – keine notwendige Bedingung ihrer Normativität sein. 2.2.3

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Da Lebensformen rein begrifflich nur im Plural vorkommen können, müssen, damit der Begriff eine sinnvolle Verwendung finden kann, notwendig unterschiedliche Lebensformen bestehen, die zumindest in Teilen unterschiedlich etablierte und akzeptierte Regeln zur Basis haben. Sollen nun aber die etablierten und akzeptierten Regeln die letzte Quelle der Normativität sein, dann ist angesichts ihrer notwendigen Pluralität ein Relativismus dieser etablierten und akzeptierten Regeln die unausweichliche Folge. Für jede Gesellschaft oder Gruppe können also im Prinzip nicht nur teilweise, sondern sogar vollständig andere Regeln gelten. Dies führt aber zur Unlösbarkeit von Konflikten, sobald die einzelnen Mitglieder dieser unterschiedlichen Gesellschaften oder Gruppen in Interaktion treten. Was ist etwa verbindlich, wenn in Gesellschaft A die Konvention X besteht, Verunglückten zu helfen, in Gesellschaft B die Konvention X, dies nicht zu tun, weil sich auf diese Weise die Stärkeren und Lebenstüchtigeren durchsetzen? Droht nun C im Grenzfluss zwischen A und B zu ertrinken, muss ihn dann der am Ufer stehende D retten? Oder hängt dies vielleicht davon ab, aus welchem

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Land C oder D kommen oder an welchem Ufer D steht? Und was ist, wenn D aus dem Land A kommt, aber den Fluss schon durchschwommen hat und am Ufer des Landes B steht oder umgekehrt? Der Moral und der Ethik wohnt nach unserer sehr tiefsitzenden Überzeugung ein universalistischer Grundzug inne, weil sonst solche gruppenübergreifenden moralischen Konflikte nicht lösbar wären und die Moral ihren Zweck, nämlich solche Konflikte zwischen divergierenden Belangen, seien sie aktuell oder potenziell, zu lösen, verfehlen würde. Die Moral ist zwar das faktisch Bestehende und damit Akzeptierte, aber sie enthält zur Lösung gruppenübersteigender Konflikte notwendig einen universalistischen Anspruch, der sich nur als Verweis auf ein ethisches Ideal verstehen lässt. Das bedeutet, dass zunächst in gesellschaftsübergreifenden Fällen die bloß relativistische Beschränkung auf einzelne etablierte oder nicht etablierte Regeln einzelner Gesellschaften ausgeschlossen ist. Erkennt man aber den Ausschluss des Relativismus für derart gesellschaftsübergreifende Fälle an, so muss man auch einen allgemeinen gesellschaftsübergreifenden Maßstab der Ethik anerkennen. Der Verweis auf das ethische Ideal lässt sich gerade wegen seines universalen Anspruchs nicht nur auf die gruppenübergreifenden Fälle beschränken. Es ist dann nämlich kein Grund ersichtlich, warum der gesellschaftsübergreifende ethische Maßstab nicht auch für inhaltlich vergleichbare Fälle innerhalb einer Gesellschaft gelten soll. Ist der Universalismus einmal akzeptiert, was notwendig ist, damit die Moral ihre Aufgabe der Konfliktlösung erfüllen kann, dann lässt er sich nicht auf intergesellschaftliche Konflikte limitieren. Die tatsächliche Etablierung und Akzeptanz einer ethischen Norm kann somit allein keine hinreichende Bedingung für ihre Normativität sein. Niemand wird etwa allen Ernstes die verstümmelnde und lebensgefährliche Beschneidung von Frauen mit ihren entsetzlichen Folgen in einigen afrikanischen Ländern für moralisch gerechtfertigt halten, weil sie dort einer etablierten, vielleicht von den Betroffenen sogar selbst akzeptierten Regel entspricht. 2.2.4 Während Nida-Rümelin an anderer Stelle ohne Wenn und Aber einen normativ-ethischen Individualismus vertritt (Nida-Rümelin 2005, 147 – 154), scheint der metaethische Konventionalismus auch auf der Ebene der normativen Ethik zu einem Kollektivismus zu führen. Denn wenn die etablierten und allgemein akzeptierten Regeln in einer Gesellschaft letzte Quelle der Normativität sein sollen, dann muss man davon ausgehen, dass

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diese Gesellschaft mit ihren Regeln als Kollektiv die letzte Quelle der Normierung des Handelns der Individuen ist. Damit können aber die Individuen selbst nicht mehr als letzte Quelle der Normativität angesehen werden, weil sie mit ihrer je individuellen Überzeugung neben der etablierten Regel nicht letztlich ausschlaggebend sind. An anderer Stelle wurde zu zeigen versucht (von der Pfordten 2007, 287 ff./2010, Kapitel 1), warum der normative Individualismus gegenüber dem normativen Kollektivismus den Vorzug verdient. Auf diese Überlegungen soll hier verwiesen werden. Man könnte einwenden, dass man zwischen der metaethischen und der normativ-ethischen Alternative Individualismus-Kollektivismus unterscheiden muss. Das ist zutreffend. Aber daraus darf man nicht folgern, dass jede metaethische Position mit jeder normativ-ethischen Position kompatibel ist. Jedenfalls mit der soeben angeführten Begründung erscheint ein konsequenter metaethischer Konventionalismus nicht mit einem normativ-ethischen Individualismus vereinbar zu sein, weil die metaethische Theorie dann einen Kollektivismus der normativ-ethischen Begründung für notwendig erklärt, den die normative Ethik nicht mehr zurückweisen kann. Die vier soeben erläuterten Züge des Konventionalismus sprechen also offensichtlich gegen ihn. Aber ist Nida-Rümelins Position wirklich eine konventionalistische? Daran kann man zweifeln, zumal er selbst – wie in Fußnote 2 erwähnt – seine eigene Auffassung nicht mit diesem Ausdruck kennzeichnet. Nida-Rümelin wendet sich an anderer Stelle eindeutig gegen jeden Relativismus oder Postmodernismus (Nida-Rümelin 2006, 35 f.). Er verweist zum einen auf die Vernetzung der ganzen Vielfalt von Begründungsspielen. Dieses Phänomen der Einheitsstiftung durch gemeinsame Praxis nennt er „pragmatische Einheit“. Zum zweiten beziehen sich diese divergierenden Begründungsspiele „nicht nur auf eine gemeinsame Praxis, sondern auch auf ein gemeinsames Wissen, auf Annahmen, die wir gemeinsam haben und die wir in toto nicht infrage stellen können, für die lediglich eine lokale Skepsis möglich ist“ (ebd., 36), also eine „epistemische Einheit“. Gegen einen radikalen und irreduziblen Pluralismus von Begründungsspielen spricht für Nida-Rümelin, dass Menschen und Gruppen von Menschen, kulturelle und sprachliche Gemeinschaften über die Zeit und über unterschiedliche Orte und Kontexte hinweg kohärent handeln. Das Phänomen personaler Identität und die damit zusammenhängende Zuschreibung von Verantwortung, Freiheit und Rationalität sind ohne pragmatische und epistemische Kohärenz bloße Chimären.

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Die Annahme von personaler Identität, Verantwortung, Freiheit und Rationalität sind ohne Zweifel übergreifende und unbezweifelte Konstanten. Es handelt sich jedoch im Grunde genommen um ontische Bedingungen praktischer Konfliktlösungen. Als ontische Bedingungen sind sie zwar notwendig für derartige praktische Konfliktlösungen. Aber gerade wegen dieses genuin ontischen Charakters erscheint es fraglich, ob sie die normative Kraft und den inhaltlichen Maßstab für die normative und inhaltliche Bestimmung dieser Konfliktlösungen bereitstellen können. Was könnte dann aber eine Alternative sein, um den Gefahren des Konventionalismus zu entgehen? Oder mündet der Zweifel an der konventionalistischen Variante des Kohärentismus unweigerlich in einen Nichtkognitivismus, also die Verneinung objektiver Begründungen in der Ethik? Dieser Einwand ist ernst zu nehmen. Jede Kritik einer konventionalistischen Metaethik wird zeigen müssen, wie eine andere tragfähige Erklärung der alltäglichen Akzeptanz der Objektivität moralischer Urteile aussehen könnte. Diese andere tragfähige Erklärung sollte meiner Ansicht nach eine individualistisch-objektivistische Version des Kohärentismus sein.

3. Für einen individualistisch-objektivistischen Kohärentismus Der Vorschlag eines individualistisch-objektivistischen Kohärentismus soll zunächst mithilfe einer Analogie zu vier nichtethischen Phänomenen erläutert werden:22 3.1 Vier Analogien (1) Man kann zwei Geraden im zweidimensionalen euklidischen Raum zufällig anordnen. Sind sie nicht parallel, so schneiden sie sich trotz der zufälligen Anordnung an einem bestimmten, sicher ermittelbaren Punkt. Obwohl die Positionierung der Geraden also subjektiv und damit beliebig war, ist als Folge dieser Positionierung ihr Verhältnis im zweidimensio22 Vgl. zu ersten Ansätzen dieses metaethischen Vorschlags: von der Pfordten (1996, 204 – 211; 2000, 17 – 44; 2001, 25 – 31.) Vgl. zu teilweise metaethischen Adäquatheitsbedingungen der normativen Ethik: von der Pfordten (1997, 306 – 315).

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nalen Raum nicht beliebig. Es gibt nur eine objektive Antwort auf die Frage nach dem Schnittpunkt beider Geraden. (2) Man stelle sich die Züge zweier Spieler auf einem Schachbrett vor. Diese Züge sind ganz beliebig und unvorhersehbar. Trotzdem ergibt sich durch jeden Zug aufs Neue eine Stellung, bei der durch Analyse der noch vorhandenen Figuren und der Spielsituation eine relativ objektive Bewertung des Spielstands jedes Spielers ermittelt werden kann. Die relative Objektivität dieser Spielstandsanalyse wird von kaum einem Schachspieler in Zweifel gezogen. (3) Man denke sich einen Werkzeugkasten, der Schrauben und Muttern verschiedener Stärke enthält. Verschiedene Schrauben und Muttern können zufällig beziehungsweise beliebig aus diesem Werkzeugkasten geholt werden. Hat man aber einmal eine Schraube herausgeholt, dann gibt es nur eine objektive Größe für eine zu der Schraube passende Mutter. Und es gibt nur eine Art und Weise, Schraube und Mutter zu verbinden. Auch wenn die Auswahl der Schrauben und Muttern also subjektiv ist, ist doch ihre Passung und Zusammenfügung ohne Zweifel objektiv. (4) Man denke sich den Organisator eines Skirennens, der die Tore am Abfahrtshang beliebig steckt. Trotz dieser Beliebigkeit der Platzierung der Tore kann man danach unter Berücksichtigung ihrer Abstände, des Gefälles des Hangs, der Schneeverhältnisse et cetera eine sogenannte „Ideallinie“ der bestmöglichen Abfahrt bestimmen. Diese Ideallinie ist nicht mehr subjektiv und beliebig, sondern wird als relativ objektiv angesehen, auch wenn sie in Details vielleicht Anlass zu Meinungsverschiedenheiten geben mag.

3.2 Ähnlichkeit zur Ethik Ähnliches gilt nun in der Metaethik beziehungsweise normativen Ethik: Es mag sein, dass die Belange beziehungsweise Interessen der einzelnen, in einer Situation betroffenen Personen relativ subjektiv und beliebig sind, auch wenn zumindest solche zentralen Interessen wie Menschenwürde, Leben, Leib, Gesundheit sehr einheitlich, das heißt überzeitlich und übergesellschaftlich aufgefasst werden. Wenn diese Belange aber in einen potenziellen oder aktuellen Konflikt zu anderen Belangen geraten, dann gibt es wegen der Quasi-Beschränkung des ethischen Raumes, wonach im Regelfall nur eine Handlung realisiert werden kann, nur eine richtige, das heißt beste Lösung. Das bedeutet nicht, dass diese beste

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Lösung keine Abwägung verlangt und damit nicht in einen Unschärfebereich fällt. Es bedeutet auch nicht, dass im Alltag die Suche nach der besten Lösung nicht aus pragmatischen Gründen bei einer vorletzten Lösung abgebrochen werden muss, die dann eben unter einem pragmatischen Vorbehalt die derzeit verfügbare beste Lösung darstellt. Und es bedeutet schließlich auch nicht, dass diese beste Lösung nicht aus zwei oder mehreren gleichwertigen Lösungsalternativen bestehen kann. Soll man etwa einen Ertrinkenden retten, so mag die Rettung per Boot oder per Rettungsring bei Abwägung aller Chancen und Risiken gleich erfolgversprechend und damit die Auswahl zwischen diesen Alternativen erlaubt sein. Aber es bleibt dabei, dass es eine oder mehrere relativ beste Lösungen für das Problem der Relationierung der im Konflikt stehenden Belange beziehungsweise Interessen gibt. Warum ist das so? Der Grund ist der, dass zum einen zwei – beziehungsweise bei mehreren Personen mehrere – Extreme bestehen, nämlich die vollständige Befriedigung der Belange des einen oder die vollständige Befriedigung der Belange des anderen, welche die Menge der möglichen Lösungen limitieren, nämlich auf diese beiden Extreme und alle dazwischen liegenden Lösungen. Und es gibt Maßstäbe für ein Finden der richtigen Lösung, von denen das Gebot der grundsätzlichen Gleichberücksichtigung das Wichtigste ist. Welche Maßstäbe dies dann im Einzelnen sind, ist nicht mehr eine Frage der Metaethik, sondern eine Frage der normativen Ethik, die hier nicht weiter erörtert werden kann. Man kann überlegen, ob es sich bei dieser besten Lösung des Problems der Relationierung widerstreitender Belange um eine bloß erkannte oder eine konstruierte Lösung handelt, ob man also im Hinblick auf die Gewinnung dieser Lösung eher von einem Kognitivismus oder einem Konstruktivismus sprechen sollte. Im Falle ethischer Lösungen erscheint keine dieser Möglichkeiten befriedigend. Die beste Lösung wird weder bloß erkannt, wie wir etwa eine empirische Tatsache erkennen, etwa den Stand der Sonne, noch wird die beste Lösung konstruiert, so wie wir ab ovo eine neue Maschine zu beliebigen Zwecken konstruieren. Die Lösung wird vielmehr in notwendiger Verfolgung des vorgegebenen Ziels der Vermittlung zwischen den jeweils zu berücksichtigenden Belangen nach bestimmten determinierenden Regeln in die vorhandene Struktur der konkreten Situation und der konkret widerstreitenden Interessen eingepasst, so wie ein Zahnarzt einen künstlichen Zahn in die determinierende Reihe der vorhandenen Zähne einpasst oder wie der Bobfahrer seinen Bob zwischen den Banden der Bobbahn auf der Ideallinie zu halten versucht. Das Einpassen ist freier als ein bloß rezeptives Erkennen, aber

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weniger frei als ein beliebig-produktives Konstruieren. Es vereint kognitiv-rezeptive und konstruktiv-produktive Elemente zu einer Art reproduktivem Vorgang, der erstens den vorgegebenen Belangen der jeweils Betroffenen begrenzenden Extremen, zweitens einem vorgegebenen Ziel und drittens klaren Regeln der Lösungsfindung unterliegt.

3.3 Die Quelle der Normativität Woher resultiert dann die Normativität dieses objektivistischen Einpassens einer relativ besten Lösung in den moralischen Konflikt? Oder anders ausgedrückt: Warum wird der Akteur durch die objektiv beste Lösung des moralischen Konflikts verpflichtet? Warum soll er dieser Lösung folgen? Die Normativität resultiert nach meiner Auffassung aus zwei Quellen, die sich nicht voneinander trennen oder auf eine der beiden Quellen reduzieren lassen. 3.3.1 Die erste Quelle ist die tatsächliche Normativität, die andere Betroffene der Handlung eines Akteurs entgegensetzen. Dies geschieht in Form von Zielen, Wünschen, Bedürfnissen oder Strebungen, das heißt in begrifflicher Zusammenfassung von Belangen beziehungsweise Interessen.23 Wir sind also in unserem Handeln moralisch limitiert, unter der Bedingung, dass andere uns ihr Verlangen nach Beschränkung beziehungsweise zumindest Rechtfertigung unseres Handelns faktisch entgegenhalten.24 Dabei ist es nicht notwendig, dass dieses Entgegenhalten verbal oder auch nur kommunikativ geschieht. Es genügt, dass andere ihre eigenen Belange als eigene verfolgen und diese Belange zu den Belangen des Handelnden in einen möglichen Widerspruch geraten können, um dem Handelnden die Beschränkung deutlich werden zu lassen. Folglich können uns auch höhere Tiere und vielleicht auch andere Lebewesen eine solche Beschränkung unseres Handelns durch ihre Belange entgegensetzen. 23 Zu Details dieser Kaskade vgl. Nachweise in Fußnote 8. Die Notwendigkeit einer Berücksichtigung der Belange mahnt auch Czaniera (2000, 80, 82, 84) an. Vorher findet sich diese Forderung auch bei allen subjektivistischen Theoretikern wie etwa Mackie (1977). 24 Im Rahmen einer säkular-immanenten Ethik schließt dies die Annahme genuiner Pflichten gegen sich selbst aus. Dies wird an anderer Stelle ausführlicher begründet. Vgl. von der Pfordten (2010, Kap. 8).

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Verfällt diese notwendige Berücksichtigung der Belange der Betroffenen Nida-Rümelins einleuchtender Kritik am humeanischen Fundamentalismus, nach welchem Wünsche im Zusammenhang mit Überzeugungen die einzige Quelle normativer Gründe sind (NidaRümelin 2001a, 79 – 95)? Dies ist aus mehreren Gründen nicht der Fall: Erstens sind nicht allein Wünsche die Grundlagen der zu berücksichtigenden Belange beziehungsweise Interessen, sondern auch Ziele, Bedürfnisse und Strebungen. Zweitens ist keines dieser vier Elemente, die Belange beziehungsweise Interessen als abstraktere zusammenfassende Kategorie konstituieren, notwendig eigenorientiert zu verstehen. Wir haben selbstverständlich altruistische und gemeinschaftsorientierte Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen, die im Rahmen der ethischen Abwägung in gleicher Weise wie eigenorientierte Belange zu berücksichtigen sind, etwa unser Wunsch nach guten Schulen für unsere Kinder. Drittens setzt die hier angenommene Notwendigkeit der Berücksichtigung der Belange und damit der Wünsche als einer Form von Belangen nicht voraus, dass wir nicht auch Gründe für diese Belange beziehungsweise Wünsche haben beziehungsweise haben können. Der Verweis auf die Begründung von Wünschen stellt das zentrale Gegenargument Nida-Rümelins gegen den humeanischen Fundamentalismus der Wünsche dar.25 Offensichtlich haben wir für manche Wünsche Gründe, für andere nicht, übrigens anders als bei Bedürfnissen und Strebungen, für die es merkwürdig wäre, nach Gründen zu fragen. So haben wir etwa – so das Beispiel Nida-Rümelins – Gründe für den Wunsch, dass jemand bestraft wird. Wir haben aber keinen Grund für den Wunsch, jetzt ein Stück Schokolade zu essen, sondern eben nur den einfachen Wunsch, der als Grund ausreicht, um eine Tafel Schokolade zu kaufen. Wichtig ist nun aber Folgendes: Die Gründe, die wir für Wünsche haben, sind häufig intrasubjektiv-praktische, aber keine intersubjektiv-moralischen beziehungsweise -ethischen, das heißt auf die Lösung einer intersubjektiven Konfliktsituation bezogene Gründe. Das hat aber zur Folge, dass die Tatsache, dass wir praktische Gründe für diese Wünsche haben, nicht ausschließt, die Berücksichtigung dieser Wünsche zu einer wesentlichen Bedingung für die intersubjektive Begründung ethischer Konfliktlösungen zu machen. Wenn ich etwa wünsche, dass mein Sohn nicht so laut tobt, habe ich dafür einen intrasubjektiv-praktischen Grund, nämlich das Bedürfnis, ungestört arbeiten zu können. Dieser Grund ist aber per se noch 25 So der zentrale Einwand Nida-Rümelins gegen die humeanische Theorie. Vgl. Nida-Rümelin (2001a, 24 ff., 82).

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kein intersubjektiv-ethischer, konfliktlösender Grund, weil die Belange meines Sohnes in ihm noch nicht berücksichtigt sind. Die Konfliktlösung und damit ein ethischer Grund ergibt sich erst dann, wenn auch der Wunsch meines Sohnes zu toben, der einem altersgemäßen Bewegungsdrang entspringt, berücksichtigt wird. Die ethische Konfliktlösung und daraus resultierend ein ethischer Grund für beiderseitiges Handeln besteht dann darin, beiden die Verfolgung ihrer Bedürfnisse zu ermöglichen, indem beide ihre Zimmertüren schließen, sodass er in seinem Zimmer toben und ich in meinem Zimmer arbeiten kann oder – wenn das nicht geht – den jeweiligen Bedürfnissen zu unterschiedlichen Zeiten Rechnung zu tragen. Nun mag es aber auch Wünsche geben, deren Begründung tatsächlich in einem intersubjektiv-ethischen Grund liegt oder zumindest liegen kann. Nida-Rümelin gibt für sein Beispiel des Wunsches, dass eine bestimmte Person bestraft wird, etwa folgenden Grund an: Dies gebiete die Gerechtigkeit. Schließt dieser intersubjektiv-ethische Grund die Annahme, dass Wünsche Anteil an der Begründung normativer Überzeugungen haben, aus? Nein, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen sind solche Begründungen offenbar relativ selten, da es sich vor allem um Wünsche handelt, die auf das Handeln anderer gegenüber Dritten gerichtet sind und deshalb quasi implizit schon eine ethische Konfliktlösung im Verhältnis zu diesen Dritten vorschlagen. Zum anderen kann jeder spezifische Wunsch als subjektive Manifestation der Haltung einer ganz spezifischen Person in einer bestimmten Konfliktsituation für eine andere Frage der Ethik relevant werden. So mag die Staatsanwaltschaft etwa im vorliegenden Fall eine Einstellung des Verfahrens wegen geringer Schuld aus Gründen der Billigkeit erwägen. Der Wunsch nach Bestrafung wird hier trotz der ethischen Begründung mit Rekurs auf die Gerechtigkeit für die Abwägung mit dem Gesichtspunkt der Billigkeit seitens der Staatsanwaltschaft relevant sein, etwa wenn der Wünschende selbst Opfer der Straftat war. Die Tatsache, dass Wünsche durch dieselbe allgemeine Kategorie der ethischen Gründe gerechtfertigt werden können, schließt also nicht aus, sie als wesentliche Bedingung für einzelne ethische Konfliktlösungen mit spezifischen Gründen anzusehen. Dies gilt zumindest, sofern es in dem Konflikt nicht genau um die Frage geht, welche die konkrete Begründung des Wunsches beantwortet. Nur wenn nicht die Billigkeit der Bestrafung im Konflikt steht, sondern die Gerechtigkeit von Strafe, kann in unserem Beispiel die Berufung auf die Gerechtigkeit kein guter Grund für den Wunsch nach Bestrafung sein. Aber dieser Spezialfall der Identität von Begründung und Konfliktgegenstand ist nur

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ein argumentatives Hindernis, schließt aber die Kompatibilität der Begründung von Wünschen und normativ-ethischer Signifikanz nicht aus. 3.3.2 Die Entgegensetzung der Belange anderer erzeugt für den Handelnden eine Form von Normativität. Aber diese Normativität ist natürlich zunächst nur eine subjektive, die allein noch nicht zu einer inhaltlich-objektiven, ethischen Normativität zur Lösung des moralischen Konflikts führt, denn bei den Zielen, Wünschen, Bedürfnissen und Strebungen des anderen kann es sich ja um ganz unethische handeln. Geht jemand zum Beispiel spazieren und ein Räuber hält ihn auf, um ihn auszurauben, so sind die Ziele beziehungsweise Wünsche des Räubers für den Spaziergänger zwar subjektiv-faktisch limitierend, aber natürlich nicht objektivethisch verpflichtend. Die Belange beziehungsweise Interessen des anderen können aus ihrer subjektiven Normativität nur zu einer objektiven und damit tatsächlich für den Handelnden ethisch und dann auch begründet moralisch verbindlichen Normativität erwachsen, wenn sie als ein Element der Relationierung beziehungsweise Abwägung mit den Belangen des Handelnden in Ausgleich gebracht wurden. Darin besteht der soeben als „Einpassung“ beschriebene Vorgang der Relationierung beziehungsweise Abwägung. Er ist die zweite notwendige und von der ersten untrennbare Quelle objektiver Normativität. Der entscheidende Maßstab ist dabei, wie erwähnt, derjenige der Gleichberücksichtigung aller betroffenen Belange. Wie die Einpassung, das heißt die Relationierung beziehungsweise Abwägung, konkret vonstattenzugehen hat, ist keine Frage der Metaethik mehr, sondern eine solche der Konfliktlösung im Alltag einerseits und der normativen Ethik als ihrer wissenschaftlichen Rationalisierung andererseits. 3.3.3 Worin unterscheidet sich die hier vorgeschlagene metaethische Position von einer subjektivistischen oder kontraktualistischen Metaethik? Sie unterscheidet sich darin, dass die Belange beziehungsweise Interessen zwar eine notwendige Bedingung für die objektive ethische Lösung darstellen, sich diese Lösung aber nicht in den Belangen erschöpft oder auch nur auf diese Belange logisch oder quasi-logisch rückführbar ist. Die Belange beziehungsweise Interessen liefern zwar eine inhaltliche Determination und einen Ausgangspunkt subjektiv-faktischer Normativität.

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Aber aus dieser inhaltlichen Determination und dieser subjektiv-faktischen Normativität kann mit Rekurs auf den je einzelnen Belang weder direkt faktisch noch im Wege eines faktischen oder hypothetischen Vertrags, etwa im Rahmen der Durchführung eines Diskurses, allein die ethisch beste Lösung des Konflikts abgeleitet oder begründet werden. Wir müssen vielmehr eine vernünftige Relationierung beziehungsweise Abwägung in den Konflikt einpassen, die ihrerseits bestimmten Beschränkungen, Zielen und Prinzipien, vor allem dem Prinzip der Gleichberücksichtigung, gehorcht. Meiner Ansicht nach lernt jedes Kind schon sehr früh diesen objektivierenden Vorgang der Abwägung beziehungsweise Relationierung widerstreitender Belange, zumindest dann, wenn seine eigenen Belange nicht konstant vollkommen missachtet oder vollkommen einschränkungslos akzeptiert werden. Die Fähigkeit der Relationierung beziehungsweise Abwägung ist im Übrigen für alle politischen und rechtlichen Instanzen wesentlich, etwa den Gesetzgeber, die Verwaltung und den Richter. Mit dem Einpassen der reproduktiv besten Lösung in den moralischen Konflikt ist auch – und insofern gehe ich mit Nida-Rümelin wieder ganz konform – eine Antwort auf die Frage nach der Motivation zur tatsächlichen Ausführung dieser besten Lösung gegeben. Der Versuch der Reduktion jeder möglichen Motivation auf einen internen Impetus durch den Internalismus ist nicht überzeugend, weil er schlicht der Realität von Motivationen im Alltag widerspricht. Das Motiv der Einsicht in die beste Lösung ist allerdings nicht immer das einzige Motiv und kann deshalb – ebenso wie übrigens jeder interne Impetus – nicht garantieren, dass der solcherart Motivierte dann auch wirklich im Sinne der besten Lösung handelt. Aber wäre dies der Fall, dann wäre das ubiquitäre Phänomen der Nichtverwirklichung bester Lösungen moralischer Konflikte nicht zu erklären. Und es wäre auch nicht zu erklären, dass tatsächlich etablierte Normensysteme in Form von Sanktionen oder ähnlichen Mitteln vielfach zusätzliche Maßnahmen zur Motivation der Handelnden schaffen, um die beste Lösung moralischer, rechtlicher und sonstiger Konflikte widerstreitender Belange zu realisieren. Das Resultat der hier vorgetragenen Überlegungen lässt sich wie folgt zusammenfassen: Nida-Rümelins Vorschlag der Kohärenz normativer Urteile erscheint als metaethische Lösung mit sehr geringen Akzentuierungen überzeugend. Die spezifische konventionalistische Ausgestaltung, die er dem Kohärentismus seit geraumer Zeit gibt, begegnet allerdings wegen ihrer fundamentalistischen, positivistischen,

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relativistischen und kollektivistischen Züge Zweifeln. Eine individualistisch-objektive Version der Kohärenztheorie verdient deshalb den Vorzug.

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Gründe

Gründe – bei Julian Nida-Rümelin Stefan Gosepath 1. Das Thema, das sich wie ein roter Faden durch das bisherige Werk von Julian Nida-Rümelin zieht, ein Faden an dem viele seiner weiteren philosophischen Auffassungen hängen, ist seine Theorie der Rationalität.1 So basieren auch seine Thesen zur Willensfreiheit und zum theoretischen Humanismus auf dieser Theorie der Rationalität (Nida-Rümelin 2005b). Sein Grundthema in seinem Gesamtzusammenhang hat er in bester Weise in einem konzisen Essay, unbelastet von technischen Details und vielen Fußnoten, vorgelegt (Nida-Rümelin 2001). Nida-Rümelin will uns darin von einem neuen Paradigma überzeugen, das er als „strukturelle Rationalität“ bezeichnet. Darunter ist eine Rationalitätsauffassung zu verstehen, nach der praktische Begründungen für Handlungen nur rein kohärentistisch, also durch das Zusammenspiel von Handlungen und einer gewählten Struktur existieren. Julian Nida-Rümelins Theorie der Rationalität oder Vernunft hat sehr viel für sich: Vor allem – darin sieht er selbst ihren Vorzug – deckt sie sich sehr oft mit unseren Alltagsintuitionen. Nida-Rümelin gelingt es elegant, ein anderes als das übliche Modell der Rationalität zu etablieren, gerade weil es viele Fälle so plausibel als rational darzustellen hilft. Auch ich finde entsprechend viele Stränge der Theorie sehr plausibel. Das mag zunächst wie ein Nachteil für einen Kommentator ausschauen, muss aber kein Nachteil sein, denn schließlich braucht man geteilte Prämissen und Hintergrundannahmen, damit eine philosophische Debatte überhaupt sinnvoll und gewinnversprechend geführt werden kann. Deshalb will ich zunächst kurz die Gemeinsamkeiten unterstreichen, um dann auf mögliche Einwände zu sprechen zu kommen. 2. Ziel sollte es sein, eine normative Theorie der Rationalität beziehungsweise Vernunft zu entwickeln. „Rational“ und „vernünftig“ gebrauchen wir normalerweise wertend und präskriptiv, sie verkörpern also 1

Die vielen Schriften zu dem Thema von Julian Nida-Rümelin zeigen sein durchgängiges Interesse an Rationalität (vgl. Nida-Rümelin 1983; 1994; 1996; 1998; 2000a; 2000b; 2000c; 2005a; Nida-Rümelin/Schmidt 2000).

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normative Begriffe. Die Schwierigkeit ist nun zu klären, woher diese Normativität kommt, was ihre Quellen sind, um eine mittlerweile berühmte Metapher zu gebrauchen. Dieses Klärungsbemühen ist ein genuin philosophisches Unterfangen und muss nach Nida-Rümelins Überzeugung methodisch zum einen kohärentistisch sein, also aus Übereinstimmung mit unseren reflektierten Intuitionen, aller Theorieteile untereinander und mit anderen akzeptierten wissenschaftlichen Theorien gerechtfertigt werden können. Zum anderen ist für diese kohärentistische Rechtfertigungsmethodik die Teilnehmerperspektive wesentlich, weil es ja unsere Intuitionen, also unsere Urteile aus der Perspektive der Ersten Person zu berücksichtigen gilt. Das ist nur aus der Teilnehmerperspektive und nicht aus der Beobachterperspektive möglich. Gleichwohl darf – so meine erste kleine kritische Bemerkung – die Erste-Person-Perspektive nicht per se eine epistemische Privilegierung erfahren. Nicht alles, was aus der Erste-Person-Perspektive richtig scheint, ist deshalb schon richtig. Es ist ja nicht prinzipiell ausgeschlossen, dass sich die Beteiligten irren, auch wenn es ihnen aus ihrer Innensicht nicht so vorkommen mag. Es reicht daher methodisch nicht, hermeneutisch und phänomenologisch die Perspektive der unmittelbar Beteiligten nachzuvollziehen. Vielmehr bedarf es eines kritischen Verständnisses durch eine teilnehmende kritische Beobachtung, welche es ermöglichen soll, die internen Wahrheitsansprüche und den beanspruchten kognitiven Gehalt der Rationalität sowie das Selbstverständnis urteilender Subjekte so gut es geht einzuholen und kritisch zu überprüfen. Wenn ich recht sehe, sollen diese drei Prämissen, die Normativität, der Kohärenzgesichtspunkt und die Teilnehmerperspektive im Wesentlichen schon die Mittel bereitstellen, eine weit verbreitete, aber wie Nida-Rümelin meint, ganz falsche Rationalitätsauffassung abzulehnen. Diese angeblich falsche Theorie beruht auf einem Internalismus und Non-Kognitivismus, weil nach dieser Auffassung praktische Gründe allein auf vorhandenen Wünschen basieren. Das kritisierte Paradigma praktischer Vernunft versteht Gründe als subjektive Wünsche, die eine Handlung rechtfertigen und verursachen, wenn die Handlung den Wunsch optimal befriedigt. Dieses nicht unumstrittene, gleichwohl auch von Nida-Rümelin als Standardmodell bezeichnete, neohumesche, sogenannte belief-desire-Modell von Handlungen und praktischer Vernunft, das vor allem in der vielfach angewandten ökonomischen Entscheidungstheorie vertreten wird, versteht Gründe als die jeweiligen relevanten Wünsche und Meinungen. Nach dem belief-desire-Modell beur-

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teilt man von den Wünschen des Handelnden und seinen relevanten Meinungen aus, welche Handlungsoption rationalerweise zu wählen ist. Man sollte die Handlungsmöglichkeit wählen, die man am meisten wünscht oder genauer, die man unter Berücksichtigung aller anderen Faktoren insbesondere seiner anderen Wünsche am meisten wünscht. Nach gängiger Auffassung muss zwischen einem relevanten Wunsch und einer passenden Mittel-Zweck-Meinung und der ausgeführten Handlung eine bestimmte Beziehung bestehen, nämlich eine sowohl kausal verursachende wie auch eine rechtfertigende Beziehung. Wenn diese Beziehung so nicht besteht,2 dann gilt die Handlung als irrational.3 Dieses Standardmodell könne – so Nida-Rümelins Kritik im Einklang mit der vieler anderer – unseren Alltagsauffassungen über praktische Rationalität nicht gerecht werden. Vor allem die dem Standardmodell der Rationalität zugrunde liegende non-kognitivistische Position ist in der Tat auch meiner Meinung nach zu einer sehr unattraktiven Auffassung verurteilt. So liegt eine erste kontraintuitive Konsequenz aus der non-kognitivistischen Position darin, dass beispielsweise moralische Überzeugungen dann gar keinen kognitiven Gehalt haben. Die Möglichkeit rationaler Argumentationen im Bereich der Moral müsste nach dieser Auffassung allenfalls über andere Wege erklärt werden, sollte man an ihr überhaupt noch festhalten können. Non-Kognitivisten sind jedoch meist der Meinung, dass der im Selbstverständnis der moralischen Subjekte vorkommende kognitive Gehalt moralischer Alltagssprache auf einer Illusion beruht. Ihre nonkognitivistische Analyse moralischer Rede gibt deshalb überhaupt keine Erläuterung dafür, was es für uns aus der Teilnehmerperspektive heißt, aus rechtfertigenden Gründen zu handeln (Darwall 1983, Kapitel 3). Dieser Standpunkt jedoch ist zentral, weil die rationale Rekonstruktion der Innenperspektive derjenigen, die vernünftig überlegen, methodisch das einzige Material ist, von dem wir hier ausgehen können. Natürliche oder psychologische Dispositionen, wie das bloße Haben von Wünschen, reichen zur Rechtfertigung nicht aus.4 Zu demselben Ergebnis kommt man auch mittels einer zweiten Überlegung aus einem außermoralischen Bereich, die zeigt, dass sich der Einwand allgemein auf Werturteile im Bereich des Rationalen bezieht. 2 3 4

Vgl. die vielen Beispiele für solche falschen Beziehungen in Hursthouse 1991. Diese Beziehung wird ausführlich erläutert von Elster 1985 (dt. 1999). Vgl. Quinn 1993, besonders 236; Velleman 1992; Hampton 1998; Korsgaard 1997.

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Wenn uns unsere Wünsche einfach gegeben sind, warum soll ich dann mit ihnen und den aus ihnen resultierenden Handlungen einverstanden sein? Jeder von uns macht von Zeit zu Zeit die Erfahrung eines Auseinanderklaffens, einer Diskrepanz, zwischen dem, was gut ist, und dem, was nur so erscheint als wäre es gut (Schneider 1994, 17). Man denke beispielsweise an ein kleines Kind, das sich immer mehr Schokoladeneis wünscht, und dem dann davon übel wird. Dies ist die Erfahrung eines Werturteils, das sich in uns bildet. Diese Erfahrung besteht sowohl in einem Widerfahrnis als auch in einer kognitiven Deutung. Wesentlich für das Normative ist also ein zugrunde liegendes kognitives Werturteil, das in einer praktischen Überlegung aus der Erste-Person-Perspektive akzeptiert wird. Drittens – das beschäftigt Nida-Rümelin in dem Büchlein Strukturelle Rationalitt besonders – bereiten Paradefälle von rationalem Handeln, wie vorausschauendes Planen oder Kooperieren, diesem Modell Schwierigkeiten, weil die betreffende Person in solchen Fällen ihren subjektiven Vorteil um einer abstrakten Überlegung willen zurücksetzt. Sie hält es nämlich für besser, für die unbekannte Zukunft vorzusorgen oder mit anderen zu kooperieren, auch wenn das momentan stärkere Wünsche frustriert. Viele sehen das alte Modell – allerdings nur in seiner krudesten Form – mit diesen und anderen Argumenten so in Bedrängnis gebracht, dass dessen Charakterisierung als Standard zunehmend zweifelhaft wird. 3. So einleuchtend ich diese Kritiken an dem non-kognitivistischen Aspekt der internalistischen Standardtheorien finde, so wenig bin ich jedoch davon überzeugt, dass deshalb schon die Gegenposition, der kognitivistische Externalismus, richtig ist. Kognitivisten verstehen rationale Gründe als Überzeugungen. Aber wenn man sie nur so versteht, ist in ihren Theorien das moralische Urteil intellektualistisch vom Handeln getrennt. Der Preis dieser Entkopplung ist der Verlust einer moralischen Motivation. Von der Einsicht gibt es keinen gesicherten Übergang zum moralisch motivierten Handeln der Einsicht entsprechend. Zwar soll die moralische Einsicht diesen Theorien gemäß die schwache Kraft epistemischer Gründe entwickeln, verdankt sich aber selbst keinem rationalen, subjektiven moralischen Handlungsmotiv. Da die Behauptung, dass es einen externen Grund gibt, nicht die Existenz eines Motivs impliziert, ist sie laut Bernard Williams bekanntem Argument unbrauchbar, um jemandes Handlungen zu erklären, das heißt

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wir können nicht sagen, dass die Person die Handlung aus einem bestimmten Grund tat, weil dieser Grund für die Person kein Motiv bietet so zu handeln; und das, was wir gerade brauchen, wenn wir erklären wollen, warum die Person so handelte, ist ein Motiv (Williams 1981). Williams wirft damit ein recht generelles Problem für die externalistische Auffassung von Gründen auf. Streng genommen bedeutet das nicht, dass es keine externen Gründe geben kann, es macht aber deutlich, dass die Externalisten zu zeigen haben, wie externe Gründe möglich sind. Sie haben die Beweislast, und die ist ziemlich schwer. Handlungsgründe müssen nämlich zwei wesentliche Bedingungen erfüllen. Diese beiden Bedingungen sind: (1) eine motivationale Bedingung: eine Überlegung, die beansprucht ein Grund zu sein, muss die betreffende Person motivieren und so die Handlung erklären können, (2) eine normative Bedingung: Gründe müssen auch eine rationale Notwendigkeit besitzen; sie müssen aus der Erste-Person-Perspektive als begründete Forderungen, eben als guter rechtfertigender Grund anerkannt werden; eine Forderung, die man jedoch verletzen kann beziehungsweise der man versäumen kann nachzukommen, was die entsprechende Handlung dann irrational machen würde. Ein praktischer Vernunftgrund muss also Motiv und Verpflichtung zugleich sein, muss die Handlung sowohl erklären als auch rechtfertigen. Ich betone die Notwendigkeit beider Bedingungen, weil meines Erachtens ein Großteil der Schwierigkeiten darin besteht, eine Konzeption zu finden, die beide Bedingungen erfüllt. Man könnte behaupten – ohne dass ich das hier zeigen könnte –, dass es den meisten Rationalitätstheorien nur gelingt, eine Vernunftkonzeption zu entwickeln, die überhaupt nur eine Bedingung rationaler Gründe erfüllt. Nida-Rümelins Konzeption erfüllt meines Erachtens nur die normative Bedingung, nicht aber die motivationale. Der Grund dafür, beide Bedingungen zugleich zu fordern, ist ein davidsonianischer: Denn nur so kann man den Unterschied verstehen zwischen (i) dem Fall, in dem S Grund hat zu handeln und auch handelt, aber nicht weil sie Grund hat zu handeln, und (ii) dem Fall, in dem S handelt, weil sie Grund dazu hat. Die einzige einleuchtende Antwort ist,

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dass dieses „weil“ kausal verstanden werden muss.5 Diese Wirksamkeit der Gründe muss man als Kausalität auffassen. Und für Kausalität braucht man Motivation. Mit anderen Worten: Rationale Gründe müssen die Handlung, die sie rational machen, auch erklren können. Sie müssen angeben können, warum die handelnde Person so gehandelt hat, wie sie es tat. Damit fragen wir normalerweise danach, was sie zu der Handlung motiviert hat. Es reicht nicht zu zeigen, dass es für die handelnde Person im Hinblick auf ihre Wünsche und Überzeugungen rational war, so zu handeln. Denn wir müssen zusätzlich noch wissen, ob es diese Erkenntnisse, das heißt ihre psychologischen Zustände waren, die ihre Handlung verursachten, die sie also motivierten so zu handeln. Um die Handlung zu erklären, müssen wir wissen, ob die Gründe der Person (das sind die jeweiligen relevanten Wünsche und Meinungen) auch die Ursachen der Handlung waren. Donald Davidson hat in einem berühmt gewordenen Aufsatz dafür argumentiert, dass Gründe Ursachen sein können (Davidson 1990, 19 – 24). Es ist möglich, dass man gute Gründe für eine bestimmte Handlung hat und auch so handelt, aber nicht aus diesen Gründen. Der Unterschied zwischen diesem Fall und der Handlung aus den Gründen – so sein Argument – kann nur so analysiert werden, dass im zweiten Fall die Gründe die Handlung verursachen und im ersten nicht. Die rechtfertigenden Gründe müssen die entsprechende Handlung auch tatsächlich verursachen und zwar auch noch auf die richtige Weise.6 Es kann jedoch der Fall eintreten, dass jemand auf die Frage, warum er eine bestimmte Handlung ausgeführt habe, sich rechtfertigt, indem er rechtfertigende Gründe für einen solchen Typ von Handlung nennt, diese Gründe aber für seine spezifische Handlung gar nicht kausal verantwortlich gewesen sind. In der ersten Person ist das der Versuch, durch Angabe von Gründen, die den fraglichen Typ von Handlung rechtfertigen können, die spezifische Handlung als rational darzustellen. Aber dazu müssten die Gründe das Ausführen dieser speziellen Handlung auch erklären können. Weil sie diese aber nicht erklären, handelt es sich in gewisser Weise um Scheingründe.7 Erklärende und rechtfertigende Gründe sind logisch verschieden, müssen aber beide zusammen vorliegen, um eine Handlung

5 6 7

Dies ist das wichtigste und prominenteste Argument für eine kausale Theorie von Handlungsgründen (vgl. Davidson 1990, 19 – 24; 1999). Näheres dazu findet sich gut erklärt bei Elster (1999). So ergibt sich der pejorative Sinn von „Rationalisierung“.

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rational zu machen. Rechtfertigende Gründe können unter bestimmten Umständen auch kausal motivierende Gründe sein. Man kann mit einem aprioristischen Argument zeigen, dass so etwas wie Überzeugung allein die Motivationsbedingung nicht erfüllt (Smith 1987). Das Argument läuft so: Nur absichtliches Handeln kann rational sein. Das bedeutet, dass einen rationalen Grund zum Handeln zu haben unter anderem heißt, ein Ziel zu haben. (Die Einschränkung „unter anderem“ bezieht sich darauf, dass mindestens noch eine Mittel-ZweckMeinung vorliegen muss.) Strittig zwischen den Interpretationen von rationalem Grund ist, ob nur Wünsche das Ziel angeben können oder auch Überzeugungen darüber, was gut oder richtig ist. Die Frage ist aber gut zu entscheiden: Denn ein Ziel zu haben ist ein Zustand – so das Argument –, zu dem die Welt passen muss, statt andersherum. Also ist ein Ziel ein Zustand mit der „Passensrichtung“ eines Wunsches. Da ein Wunsch hauptsächlich dadurch charakterisiert ist, diese „Passensrichtung“ zu haben, folgt, dass „ein Ziel haben“ bedeutet, einen Wunsch zu haben. Und daraus folgt dann, dass „einen rationalen Handlungsgrund haben“ unter anderem bedeutet, einen Wunsch zu haben. Wegen der falschen „Passensrichtung“ können Meinungen oder Überzeugungen, zum Beispiel dass etwas gut sei, allein nicht motivieren. Denn wenn die Welt mit Meinungen oder Überzeugungen nicht übereinstimmt, müssen die Meinungen oder Überzeugungen geändert werden. Das liefert kein rationales Motiv zum Handeln, sondern zur Korrektur des Denkens. Dieses Argument zeigt, dass man bei der Explikation von Gründen nicht auf die Motivation zum Handeln durch Wünsche verzichten kann.8

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Wünsche haben (wie Meinungen) einen hybriden Charakter: Sie sind zum einen psychischer Zustand und zum anderen haben sie propositionalen Gehalt. Es verursacht einige Schwierigkeiten, zu verstehen, wie Sinneseindrücke, Emotionen oder Wünsche unsere Erkenntnis oder Handlung begründen können. Ein Lichtstrahl, der unsere Retina trifft und ein „Sinnesdatum“ erzeugt, stellt eine reine Verursachung dar und liegt deshalb außerhalb des Bereichs der Vernunft. Die sich aufgrund dieses äußeren kausalen Einflusses bildende Meinung, dass uns da eine Lichtquelle blende, hat wiederum einen propositionalen Gehalt und kann in vielfältigen Rechtfertigungsrelationen stehen. Sie ist somit vollwertiger Teil des Bereichs der Vernunft. Die Beziehung zwischen dem Ereignis, das in uns etwas verursacht, und der daraus resultierenden Meinung, die zum Bereich der Vernunft gehört, sollte man sich am besten als nur zwei Beschreibungen ein und derselben Welt vorstellen. Diese Auffassung geht wesentlich auf Davidson (1980) zurück. Indem wir die Welt als physikalische Natur beschreiben, nehmen wir sie kausalistisch wahr. Indem wir der Welt ein interpretationistisches Schema mit

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Dieses Argument legt einen aber nicht auf eine enge humesche Motivationstheorie fest,9 nach der die Quelle der Motivation in einem schon der praktischen Überlegung vorhergehenden Wunsch und einer Mittel-Zweck-Meinung besteht. Nach humescher Auffassung kann sich ein Handlungsgrund nur auf die vorhandenen subjektiven Ziele oder Wünsche der betreffenden Person beziehen, die selber nicht weiter begründbar sind. Das aber scheint unplausibel. Vielmehr stützt das Argument der Passensrichtung nur die internalistische Forderung. Eine solche abgeschwächte Bedingung beansprucht lediglich:10 Wenn Vernunft die motivationale Kraft hat, Handlungen hervorzubringen, dann ist dies nur dadurch möglich, dass sie Wünsche hervorbringt oder sich auf gegebene Wünsche stützt. Ob die Vernunft allein Wünsche hervorbringen kann, bleibt dabei die noch offene und strittige Frage. 4. Nida-Rümelin (1993) vertritt diesbezüglich eine starke These. Seine Kritik des Konsequentialismus aufnehmend behauptet er, dass sehr viele der anerkannt guten Gründe nicht deshalb akzeptiert werden, weil sie positive Konsequenzen haben. Gründe – so Nida-Rümelin im Chor mit anderen Philosophen – lassen sich nicht auf Wünsche reduzieren. Gute Gründe können dennoch durchaus von sich aus zu Handlungen motivieren. Man muss dazu kein zusätzliches Motiv in Form eines Wunsches annehmen. Was sind Gründe dann, worauf beruhen sie? Auf diese Frage gibt Nida-Rümelin letztlich keine erklärende Antwort. Die kann es nach seinem methodischen Selbstverständnis auch nicht geben. Denn das, was wir alle in unserem Alltag als gute Gründe ansehen, gibt für seine Theorie das Ausgangsmaterial ab, an dem sich eine jede Theorie praktischer Vernunft bewähren muss. Es gibt einfach gute Gründe und wir wissen

eigenen Regeln und regulativen Prinzipien auferlegen und Dinge in Rechtfertigungsrelationenen zueinander stellen, „rationalisieren“ wir diese Aspekte. 9 Vgl. Hume (1978a), Buch II, Teil III; Smith (1987). 10 In einer Hinsicht wird dieser motivationale Aspekt der praktischen Vernunft auch von einer Reihe von Gegnern des neohumeschen Modells akzeptiert (Nagel 1970; Korsgaard 1996).

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darum. Deshalb glaubt er auch feststellen zu können, gute Gründe seien stets objektiv, so wie Tatsachen. Von einer solchen Theorieauffassung darf man weder eine umfassende Kritik der alltagsweltlichen Auffassung guter Gründe noch eine Erklärung des Charakters guter Gründe erwarten. Damit unterläuft NidaRümelin höher gesteckte Erklärungsansprüche der von ihm kritisierten Theorien. Wenn wir wesentlich als Gründe-Geber und -Nehmer zu charakterisieren sind, warum können, sollen und dürfen wir dann nicht auch nach dem fragen, was unsere Gründe strukturell ausmacht? Ist der quasitranszendentale Verweis auf die nicht vorstellbare Hintergehbarkeit unserer Praxis Grund genug, das Begründungsspiel abzubrechen? Hier gilt gegen Nida-Rümelin Williams’ Hinweis, dass Externalisten die Beweislast haben (Williams 1981), auch wenn er sie leugnet mit Verweis auf unsere lebensweltliche Alltagspraxis, in der wir angeblich bei praktischen Gründen, genauso auch bei theoretischen Gründen, nie nach der Motivation fragen würden. (Auch) Externalisten müssen erläutern können, woher Gründe ihre normative und motivationale Kraft haben. Solange das nicht geklärt ist, ist auch Handlungsrationalität nicht erklärt. Immerhin kennen wir alle Fälle von Willensschwäche sowohl bei theoretischer als auch praktischer Rationalität, in denen sich zeigt, dass das, was normalerweise funktioniert beziehungsweise vorhanden ist, manchmal auch nicht funktioniert. Willensschwach ist nach einer üblichen Auffassung eine Handlung, in der kausal stärkere Ursachen (Wünsche) kausal schwächere Gründe daran hindern, handlungswirksam zu sein.11 In solchen Grenzfällen spätestens zeigt sich, dass sich stets die Frage nach der ausreichenden und richtigen Motivation stellt. Willensschwäche konstituiert ein Problem für eine externalistische Theorie, wie die von Nida-Rümelin. Denn eine solche Theorie muss unterstellen, sofern sie sich um die Erklärungs- und Verursachungsdimension von Gründen nicht ganz drückt, dass jede Handlung durch gute Gründe verursacht wird, weil es natürlich ist anzunehmen, dass der stärkste Grund auch die stärkste Ursache ist. Entsprechend lautet die übliche Sichtweise der Motivation etwa so: Wenn eine praktische Überlegung mit ernsthaftem, um das eigene Wohl besorgtem Engagement durchgeführt wird, ergibt sich aus dem Resultat der praktischen Überlegung, dem Werturteil, dass es für mich in dieser Situation unter Berücksichtigung aller relevanten zur Verfügung stehenden Gründe das Beste ist, etwas Bestimmtes zu tun, eine Hand11 Das ist die Deutung von Willensschwäche, die Davidson (1980, 21 – 42) gibt.

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lungsabsicht beziehungsweise ein Handlungsvorsatz. Das aus einer korrekten praktischen Überlegung sich ergebende Werturteil drückt einen unmittelbar handlungsanleitenden Wunsch aus. Wenn der Handelnde unter Berücksichtigung aller verfügbaren relevanten Gründe eine bestimmte Handlung als die in dieser Situation beste Handlung beurteilt, dann wünscht er auch diese Handlung mehr als alternative Handlungsmöglichkeiten. Aus einem Handlungsvorsatz folgt die Handlung dann notwendig. Andernfalls kann man den entsprechenden Handlungsvorsatz nicht haben. Wenn jemand wirklich und ernsthaft glaubt, er habe die besten Gründe, in dieser Situation etwas zu tun, dann muss sich diese Überzeugung beziehungsweise dieses Urteil in seiner Handlung ausdrücken. Hier gilt also das Prinzip: Wenn eine Person eine bestimmte Handlung für die beste hält und sie frei ist, diese Handlung auszuführen, dann wird sie diese Handlung intentional tun. Wenn man korrekt praktisch überlegt, folgt die Handlung notwendig. Damit wäre erklärt, dass und wie Vernunft praktisch, das heißt handlungsanleitend, wird. Daraus folgt allerdings, dass man nicht frei und absichtlich gegen sein in der korrekten praktischen Überlegung gefälltes Urteil, diese Handlung auszuführen sei in dieser Situation für einen das Beste, handeln kann.12 Diese Auffassung läuft also darauf hinaus, das Phänomen der Willensschwäche zu leugnen. Damit droht hier die ansonsten wegen ihrer Kohärenz mit der Alltagspsychologie beworbene Theorie struktureller Rationalität den Kontakt zum common-sense zu verlieren. Deshalb müsste die Theorie struktureller Rationalität eine plausiblere Analyse von Willensschwäche liefern: Sie muss dazu erstens mit unserer inneren und äußeren Alltagsweltphänomenologie übereinstimmen, sie muss also eine angemessene Beschreibung von Willensschwäche geben, wie sie sich von innen „anfühlt“, wie wir von außen auf sie reagieren und so weiter; sie muss des Weiteren mit den vorgeschlagenen Theorien von praktischer Rationalität, praktischer Überlegung, Motivation und intentionalen Handlungserklärungen übereinstimmen; und sie muss drittens erklären können, warum willensschwache Handlungen allgemein als irrational gelten; sie muss also angeben können, wo der Fehler liegt und 12 Dies ist das bekannte Argument gegen die Möglichkeit von Akrasia. Diese Auffassung hat schon Sokrates (Platon, Protagoras, 354e–358d) vertreten und damit eine bis heute anhaltende heftige Diskussion entfacht. Aristoteles unterscheidet in seiner Schrift Nikomachische Ethik, VII 5 verschiedene Versionen von Willensschwäche und bestätigt für die stärkste Version Sokrates’ Diagnose. Heutzutage wird dieses Argument besonders explizit von Davidson (1979) und Wolf (1985) vertreten.

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wie er möglich ist. Dieses Desiderat der Theorie struktureller Rationalität gilt es noch zu schließen. 5. Wenn meine Kritik berechtigt ist, dann müssen wir nach einer Theorie moralischer rationaler Motivation suchen, in der die Handlung ausgeführt wird, weil man rational verpflichtet ist, weil man die Gültigkeit der Gründe kognitiv einsieht (Nagel 1970). Wie diese Forderung nach rationaler Rechtfertigung und Motivation erfüllt werden kann, lässt sich meines Erachtens gerade an den Prinzipien der Vernunft verdeutlichen. Ein logischer Schluss, beispielsweise mittels des modus ponens, ist nur dann rational, wenn die Person zu der Konklusion gelangt ist, indem sie den modus ponens angewendet hat, und zwar weil sie ihn für die gültige Schlussregel hält. Eine Handlung kann nur als Zweck-Mittel-rational gelten, wenn sie in Anwendung des Prinzips instrumenteller Vernunft und in Anerkennung dieses Prinzips ausgeführt wurde. Um die so zustande gekommene Handlung erklären zu können, müssen keine der Überlegung vorhergehenden Wünsche unterstellt werden. Deshalb sind die non-kognitivistische Auffassung und die humesche Motivationstheorie falsch. Das Beispiel der Vernunftprinzipien zeigt, dass nicht jede rationale Motivation letztlich auf Wünschen basiert, die der rationalen Überlegung vorausliegen. Denn zur Umsetzung der Wünsche braucht man schon wieder zumindest instrumentelle Vernunft. Vielmehr können scheinbar auch die Akzeptanz und Anwendung von Vernunftprinzipien die Motivation zur Handlung hervorrufen.13 Die Akzeptanz von Vernunftprinzipien – so kann man die implizite Begründung vielleicht zusammenfassen – ergibt sich aus der Einsicht, dass sie die notwendige Bedingung dafür sind, dass wir überhaupt denkende und handelnde Personen seien können. In all diesen Fällen dürfte erst unsere Anerkennung der rationalen Notwendigkeit der Prinzipien und Gründe die entsprechende rationale Motivation erklären (Nagel 1970, 31). Damit kann die Motivationsbedingung prinzipiell auch auf kognitivistische Weise erfüllt werden. 6. Das Modell struktureller Rationalität will dadurch überzeugen, dass es die Paradefälle dessen, was wir alltäglich für praktisch rational halten, überzeugender als andere Modelle in eine Theorie zu integrieren vermag. Im Fall des Planens, Sparens oder der Kooperation sind die entspre13 Dies ist Nagels Argument vom Unterschied zwischen motivierten und unmotivierten Wünschen.

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chenden Handlungen deshalb rational, weil die betreffende Person ihre Handlung in eine Handlungsstruktur eingebettet hat, die von ihr insgesamt befürwortet wird. Handlungen, die im Sinne der Standardtheorie als punktuell irrational gelten, weil sie nicht optimal der Interessenbefriedigung dienen, können im Sinne der Konzeption struktureller Rationalität durchaus rational sein, wenn man sich für sie entschieden hat, weil sie mit der selbstgewählten Struktur konform gehen. Ein Raucher kann sich vornehmen, nicht mehr zu rauchen, weil es gesundheitsschädlich ist. Somit wird es für ihn rational, auf eine Zigarette zu verzichten, auch wenn er in diesem Augenblick größte Lust darauf hätte. Kooperationen zwischen Personen sind dann rational, wenn sie zum allseitigen Vorteil gereichen, obwohl es die momentanen Interessen der Beteiligten nicht befriedigt. Allgemeiner: Wenn eine Person eine Handlungsstruktur mit guten Gründen befürwortet, dann ist damit auch ihre individuelle punktuelle Handlung, die Teil der befürworteten Struktur ist, rational. Diese Einbettung eines Teils (der Handlung) in ein geschätztes Ganzes (die Struktur) ist paradigmatisch für die Konzeption struktureller Rationalität. Der Punkt ist in der Tat sehr plausibel. Eine Beunruhigung stellt sich doch ein: Ist eine solche Teil-GanzesBegründung die einzige oder die gewichtigste rationale Handlungsbegründung? Es scheint nicht ganz ausgeschlossen, dass Nida-Rümelin die gleiche Art von Fehler macht wie die von ihm kritisierten Rationalitätstheorien. Beide nämlich wollen das Ganze der komplexen Struktur von Handlungsgründen auf ein einziges Modell reduzieren, entweder das der instrumentellen Mittel-Zweck-Rationalität oder der strukturellen Teil-Ganzes-Rationalität. Da beide Arten der praktischen Begründung sehr plausibel und verbreitet sind, scheinen beide ihre Berechtigung zu haben, denn es ist nicht zu sehen, wie man sie aufeinander reduzieren könnte. Das notwendige Übel, das man gegebenenfalls als einzig verbleibendes Mittel zur Erreichung des gewünschten Ziels umsetzen muss, ist keinesfalls notwendigerweise Teil des zu erreichenden Ziels. Es bleibt also meines Erachtens nach wie vor, trotz Julian NidaRümelins schönen philosophischen Essays über praktische Vernunft, die Aufgabe für die Philosophie bestehen, die vermutete Einheit der Vernunft in der Pluralität ihrer Formen (als theoretische, praktische, instrumentelle, Teil-Ganzes-Rationalität und so weiter) zu explizieren und deren sowohl rechtfertigenden als auch motivierenden Charakter angemessen zu erläutern.

Gründe – bei Julian Nida-Rümelin

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Freiheit und Selbstbewusstsein im Raum der Gründe Dieter Sturma

1. Einleitung: Die Freiheitsproblematik Die alte Frage nach der Freiheit des Menschen steht wieder im Mittelpunkt öffentlicher und interdisziplinärer Diskussionen. Auch wenn die Debatten in vielerlei Hinsicht von scharfen Kontroversen und Überzeichnungen vermeintlicher Positionen geprägt sind, herrscht doch in dem Punkt Einmütigkeit, dass es zunächst darum gehen müsse, die methodischen und begrifflichen Mittel zu identifizieren, um die Frage nach der menschlichen Freiheit überhaupt erst angemessen formulieren zu können. Der methodische Streit ist im Kern eine Auseinandersetzung darüber, ob bei der Beantwortung der Freiheitsfrage vorrangig naturwissenschaftliche oder geistes- und sozialwissenschaftliche Verfahren anzuwenden sind, und in welcher Hinsicht wir es bei menschlichen Handlungen mit Ursachen oder Gründen zu tun haben. Mittlerweile wird von einigen Philosophen bei der Zurückweisung eliminativistischer Theorieszenarien zur Willensfreiheit der Schwerpunkt auf die konstitutive Funktion von Gründen gelegt (Habermas 2004; 2006; Wingert 2004; 2006; Nida-Rümelin 2005; Sturma 2006; 2007a; 2007c; 2008a). Julian Nida-Rümelin gehört zu den exponierten Vertretern dieser freiheitstheoretischen Position. Diesem Ansatz sind die folgenden Überlegungen verpflichtet, mit denen aber auch konzeptionelle Erweiterungen vollzogen werden, die den Selbstverhältnissen der Person einen besonderen systematischen Stellenwert zuweisen. Dieser Ergänzung liegen Bedenken zugrunde, dass die allein auf Zügen im Raum der Gründe aufbauenden Freiheitstheorien den personalen Standpunkt möglicherweise nicht hinreichend in der Welt der Ereignisse verankern.1 Erwiesen sich die Bedenken als berechtigt, hätte das nicht 1

Beim Streit um die Willensfreiheit hat sich im Übrigen gezeigt, dass die Vernachlässigung der Selbstverhältnisse von Personen letztlich eine Gemeinsamkeit von Befürwortern und Kritikern menschlicher Freiheit ist. In der neueren Philosophie des Geistes gibt es gleichwohl einige Ansätze, welche die Rolle des

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zuletzt auch Folgen für den semantischen Rahmen der Freiheitstheorie und ihr Verhältnis zum Naturalismus.

2. Ursachen In der Neurophilosophie und in der Philosophie des Geistes gibt es eine Reihe von Ansätzen, für die szientistische Weltmodelle auch bei der Erklärung von Handlungen grundlegend sind. Sie zielen deshalb vom Ansatz her auf entsprechende methodische Reduzierungen und Einschränkungen des Gegenstandsbereichs ab. Die eliminativistischen Ansätze legen den Eindruck nahe, dass die Erträge der neurowissenschaftlichen Forschung eine Revision des menschlichen Selbstverständnisses unvermeidlich machten. Im Hintergrund steht die Annahme, dass allem, was in der Welt geschieht, Ursachen beziehungsweise naturwissenschaftlich identifizierbare Kausalverhältnisse zugrunde lägen. Methodisch und begründungstheoretisch entspricht diese Position weitgehend dem physikalistischen Determinismus, für den menschliche Handlungen nichts anderes als Ereignisse in einem kausal geschlossenen Raum sind. Dieser unterstellt ein Bewusstseinsmodell, dem zufolge inhaltlich nicht weiter spezifizierte sensorische Reize das Gehirn erreichen und dort durch neuronale Mikromechanismen in Weltvorstellungen und Selbstmodelle übersetzt werden. Der physikalistische Determinismus ist einer Reihe von Einwänden ausgesetzt, die seine epistemologische Unbestimmtheit, seine semantische Undeutlichkeit, seine Elimination von Reflexionsverhältnissen, seine empirisch nicht einlösbaren Generalisierungen sowie seine einseitige Orientierung an nomologisch-deduktiven Begründungsverfahren betreffen (Sturma 1997, 58ff; 2005, 26 ff.). Vor allem liegt seinen Bewusstseinsmodellen eine Vielzahl gravierender Fehlschlüsse zugrunde. Besonders verbreitet sind der atomistische, der referenzielle und der mereologische Fehlschluss. In neurowissenschaftlichen Eliminationsszenarien entsteht ein atomistischer Fehlschluss dadurch, dass das Prädikat ,determiniert‘ zunächst ausschließlich für Ereignisse reserviert wird, die sich nach Maßgabe von naturwissenschaftlichen Modellbildungen in kleinste Einheiten zerlegen lassen. Von diesem methodischen Ansatz ausgehend werden die UnSelbstbewusstseins bei der Freiheitsproblematik deutlich herausarbeiten – zu nennen ist hier vor allem Stuart Hampshire (1959, 169 ff.).

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vereinbarkeit von Freiheit und Determination sowie die ontologische Alternativlosigkeit des Physikalismus behauptet. Vom Standpunkt eines so verfassten physikalistischen Inkompatibilismus erscheinen der Begriff der Freiheit buchstäblich als inhaltsleer und die Determinationsverhältnisse, die sich nicht an die physikalistischen Modellbildungen anpassen lassen, als nicht theoriefähig. Für den atomistischen Fehlschluss ist die Formel ,x ist nichts anderes als y‘ kennzeichnend. Sie kann der Sache nach nur so gelesen werden, dass x eigentlich nicht x, sondern in Wirklichkeit y ist – was letztlich heißt, dass Bewusstseinszustände im Kern neuronale Vorgänge sind und Ausdrücke wie „Selbstbewusstsein“, „Intentionalität“ oder „Qualia“ keine besonderen phänomenalen Zustände bezeichnen. Mit der Gleichsetzung verbindet sich die Erwartung, dass man aus kleinsten Elementen neuronaler Mikromechanismen auf einer höheren Ebene einen personalen Standpunkt wieder „zusammensetzen“ könne. Bei atomistischen Fehlschlüssen wird nicht in Rechnung gestellt, dass Reduktionsverhältnisse auf der letzten Stufe nicht einfach zum Stillstand gebracht werden können. Die kleinsten Einheiten besagen für sich noch nichts über höherstufige Vorgänge. Will man etwa zu einer phänomengerechten Beschreibung personalen Verhaltens gelangen, muss man die Reduktionsschritte, die zu den kleinsten Einheiten geführt haben, Schritt für Schritt wieder rückgängig machen. Ohnehin lassen sich Resultate von methodischen Abstraktionen oder Reduktionen nicht als grundlegende ontologische Einheiten auszeichnen. Ein weiterer, bislang wenig beachteter Fehlschluss eliminativistischer Weltmodelle ist der referenzielle Fehlschluss,2 der in dem Verkennen des Unterschieds zwischen Anzeichen (evidence) für etwas und Bedeutung (reference) von etwas besteht. Dieser Fehlschluss führt dazu, dass die Wahrnehmung von physischen Vorgängen mit der Bedeutung von Ausdrücken für diese Vorgänge gleichgesetzt wird. Im Rahmen von Bewusstseinsanalysen äußert sich der referenzielle Fehlschluss in der Verwechslung der Visualisierung von Gehirnaktivitäten mit dem tatsächlichen Gehalt von Erlebnissen. In der neurophilosophischen Gestalt des referenziellen Fehlschlusses treten die Zugangsweisen zu den Gehirnaktivitäten unbemerkt an die Stelle von Bewusstseinszuständen, die mit ihnen auftreten. Erlebnisse und 2

Auf die Verwechslung von evidence und reference in neueren Ansätzen der Philosophie hat Herbert Feigl (1967, 86 ff.) aufmerksam gemacht. Vgl. Sturma (2005, 27 ff.).

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beobachtbare Gehirnaktivitäten sind strikt zu unterscheidende Ausdrucksformen personalen Lebens. Diese Unterscheidung öffnet im Übrigen nicht das Tor für dualistische Ontologien. Es wird lediglich die epistemologische These einer Koreferenz zwischen psychischen und physischen Bestimmungen vorausgesetzt (Feigl 1967, 110 f.).3 Schließlich ist in eliminativistischen Theorieszenarien häufig ein mereologischer Fehlschluss anzutreffen. Er tritt dann auf, wenn die Einstellung oder Handlung einer Person als Prozess eines Teilsystems ihres Körpers ausgegeben wird.4 Für den mereologischen Fehlschluss sind Thesen wie Das Gehirn entscheidet! oder Das Gehirn hat immer schon entschieden! kennzeichnend. Letztlich liegt dem mereologischen Fehlschluss auch ein referenzieller Fehlschluss zugrunde, denn die Identifikation des Orts neuronaler Vorgänge mit Erlebnissen erzeugt erst ihre Reduzierung auf körperliche Teilsysteme. Anders als vielfach angenommen wird, berührt die Zurückweisung des physikalistischen Determinismus sowie die Aufdeckung der ihm zugrunde liegenden Fehlschlüsse noch nicht die Frage nach dem Primat des wissenschaftlichen Realismus. Eliminativismuskritik stellt die Zuständigkeit des wissenschaftlichen Realismus bei der Beantwortung der Frage nach dem, was es gibt, prinzipiell nicht in Abrede.5 Es ist allerdings herauszustellen, dass epistemologische Konstruktionen nicht ohne Weiteres in ontologische Grundsätze transformierbar sind. Die Möglichkeit, etwas auf grundlegende Naturgesetze zurückzuführen bedeutet nicht, dass das ganze Universum von diesen Gesetzen ausgehend zusammensetzbar ist.6 Dazu müssten alle im Zuge der Abstraktion entfernten Elemente erst wieder eingeführt werden. Wer diesen Sachverhalt übersieht, begeht einen atomistischen Fehlschluss.

3

4 5

6

Die epistemologische These der Koreferenz gehört in den Theorierahmen eines integrativen Naturalismus, der eine monistische Ontologie mit epistemischen Asymmetrien anreichert; siehe Sturma (2005, 37 ff.); vgl. auch Habermas (2004, 879 ff.). Zur Kritik am mereologischen Fehlschluss siehe Bennett/Hacker (2003, 68 ff.). Lutz Wingert (2006, 258) weist darauf hin, dass im Einzelfall eine naturalistische Neubeschreibung von personalem Verhalten durchaus angemessen sein könne. Nur dürfe diese Neubeschreibung nicht „auf den gesamten Gegenstandsbereich des personalen Verhaltens en bloc“ ausgedehnt werden. Vgl. Anderson (1972, 393): „The ability to reduce everything to simple fundamental laws does not imply the ability to start from those laws and reconstruct the universe.“

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Analysen kommen niemals ohne Abstraktionen oder Reduktionen aus und dürfen nicht unter der Hand als ontologische Festlegungen behandelt werden. Genau diese Vorgehensweise findet sich jedoch in neurowissenschaftlichen Eliminationsszenarien, die zudem von einseitigen Ableitungsverhältnissen ausgehen. Sie unterstellen, dass sich Bewusstseinszustände nicht nur explikativ auf neuronale Mikromechanismen reduzieren, sondern auch gleichsam aus ihnen wieder aufbauen ließen. In eliminativistischen Ansätzen werden methodisch unabdingbare Reduktionen symmetrisch ausgelegt. Epistemologisch geklärte Reduktionsverfahren sind aber asymmetrisch formiert. Sie verlaufen nur in eine Richtung: von den epistemischen Einstellungen zu den Untersuchungsgegenständen – und nicht wieder zurück. Die in diesem Zusammenhang vollzogenen Begriffsbildungen erfüllen Erklärungsfunktionen, die sich auf die jeweiligen Phänomene und Sachverhalte richten. Die dabei gewonnenen Einsichten beruhen auf epistemischen Relationen und sind keineswegs Elemente einer Weltbeschreibung von Nirgendwo. In ontologischer Hinsicht ist lediglich von einem Ensemble methodenabhängiger Reduktionen auszugehen, die miteinander kompatibel sind, aber nicht ohne Weiteres voneinander abgeleitet oder aufeinander zurückgeführt werden können. In den Naturwissenschaften gibt es keine einheitliche Ontologie, sondern nur den jeweiligen Disziplinen zuordenbare Teilontologien, die sich bislang keinem einheitlichen Rahmen fügen.7

3. Gründe Die neurowissenschaftlichen Eliminationsszenarien verweigern Gründen eine konstitutive Rolle bei epistemischen Einstellungen und praktischen Verhaltensweisen. Bei der vollständigen Reduktion von Bewusstseinszuständen auf neuronale Aktivitäten fällt der Umstand, dass es Personen sind, die sich auf Sachverhalte beziehen, Erfahrungen machen und Handlungen vollziehen, aus dem Erklärungsrahmen heraus. Menschliche Erfahrung ist aber kein Vorgang, der sich auf das Gehirn beziehungsweise auf neurale Prozesse eingrenzen lässt. Eliminativistische Szenarien klammern den integralen Zusammenhang von Körper, Bewusstsein, 7

Die Ausführungen zum systematischen Rahmen der Freiheitstheorie (Abschnitte 3 – 5) führen Erträge aus Sturma (2005; 2006; 2007c; 2008a) zusammen.

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Handlung und Lebenswelt aus und beschränken sich darauf, die neuronalen Bedingungen zu isolieren. Im Zuge der neurophilosophischen Verengungen gerät der Sachverhalt aus dem Blick, dass der Raum der Gründe8 die entscheidende Bedingung für epistemische Orientierungen ist. Während neuronale Vorgänge nach Maßgabe von Wirkungsverhältnissen im Raum der Ursachen ablaufen, sind Erlebnisse und propositionale Einstellungen in ihrem Ausdruck von inferenziellen Beziehungen sprachlicher Strukturen abhängig, die eigenen Gesetzmäßigkeiten folgen und nicht unmittelbar mit neuronalen Vorgängen identifiziert werden können. Gründe sind Bestimmungen, die Funktionen in Bewertungen, Erklärungen oder Rechtfertigungen erfüllen und in der Gestalt von Handlungsgründen den Umgang mit Sachverhalten formieren. Zu den spezifischen syntaktischen und semantischen Formierungen des Raums der Gründe gehören auch alltägliche Sprachhandlungen, wie etwa die Verwendung von Prädikaten bei Sinneswahrnehmungen. Wahrnehmungen und Erfahrungen, die Personen im Raum der Gründe vollziehen, stehen im systematischen Zusammenhang mit verschiedenen inferenziellen Regeln und besitzen aufgrund dessen die formale Eigenschaft, als Elemente in der Praxis des Begründens und Rechtfertigens auftreten zu können. Die syntaktische und semantische Struktur des Raums der Gründe geht mit einer Präformation von Erfahrungsprozessen einher, deren Beziehungen sich nicht unmittelbar auf neuronaler Ebene abbilden lassen. Einstellungen, Erfahrungen, Handlungen und Erwartungen im Raum der Gründe sind auf vielfältige Weise miteinander verbunden und können nicht in Einzelelemente zerlegt werden. Aufgrund der selbstverständlichen Anwendung der inferenziellen Beziehungen in der Alltagserfahrung gerät die konstitutive Bedeutung des Raums der Gründe zumeist aus dem Blick.9 8 9

Zur Einführung des Begriffs des Raums der Gründe (space of reasons) siehe Sellars (1997, 64 ff.); vgl. McDowell (1994, 70 ff.); Brandom (2000, 189 ff.); Wingert (2004); (2006, 249 ff.); Habermas (2006, 670 ff.). Vgl. Wittgenstein (1984, § 129): „Die für uns wichtigsten Aspekte der Dinge sind durch ihre Einfachheit und Alltäglichkeit verborgen. (Man kann es nicht bemerken, – weil man es immer vor Augen hat.) Die eigentlichen Grundlagen seiner Forschung fallen dem Menschen gar nicht auf. Es sei denn, daß ihm dies einmal aufgefallen ist. – Und das heißt: das, was, einmal gesehen, das Auffallendste und Stärkste ist, fällt uns nicht auf.“

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Es ist kennzeichnend für Personen, dass sie im Raum der Gründe agieren, indem sie Ausdrücke und Aussagen verwenden, mit denen sie schließen, begründen, rechtfertigen und ihre Praxis an den eigenen Erwartungen sowie an den Erwartungen anderer Person ausrichten. Dies gilt für Aussagen über die Einstellungen und das Verhalten von Personen genauso wie für Aussagen über Ereignisse in der Welt. Wahrnehmungen und Erfahrungen sind daher niemals ein bloß passives Verzeichnen von Ereignissen, sondern Aneignungen in der Form der Sprache, mit denen Sachverhalte rekonstruiert und ausdrücklich gemacht werden. Die kulturelle Etablierung des Raums der Gründe eröffnet einen Spielraum von neuen Verhaltens- und Handlungsmöglichkeiten. In ihm werden die Aktivitäten der Personen im sozialen Raum von einem bloßen „Etwas-tun“ in regelgeleitete Praxis und sprachliches Verhalten transformiert.10 Sprachhandlungen bilden nicht etwas ab, sondern drücken Haltungen und Anliegen aus, die sich nur im Raum der Gründe erschließen. Personen sind Akteure, die nicht umhin können, sich mit Gründen praktisch zu sich selbst und ihrer Umwelt zu verhalten. Sie erwägen Handlungsalternativen, bewerten eigene wie fremde Verhaltensweisen und etablieren Werte oder Maximen für ihre Lebensführung. Die Präsenz im Raum der Gründe schließt die Dimension praktischer Selbstverhältnisse mit ihren Bestimmungen von Normativität, Zurechenbarkeit und Anerkennung ein. Die angemessene Berücksichtigung praktischer Selbstverhältnisse ist entscheidend für den theoretischen Umgang mit der Freiheitsproblematik. Als Akteure im Raum der Gründe sind Personen nicht vollständig den Zwangsläufigkeiten des Raums der Ursachen ausgeliefert. Sie können in der Welt der Ereignisse durch Handlungen überlegte beziehungsweise geplante Veränderungen von Vorgängen bewirken. Während bloße Ereignisse ausschließlich von Ursachen hervorgerufen werden, sind Handlungen durch Gründe vermittelt. Der Begriff der Person bezeichnet dementsprechend einen für Gründe empfänglichen Akteur, der im Raum der Ursachen Handlungen vollzieht. Der Be10 Siehe Brandom (2000, 153): „By providing the expressive tools permitting us to endorse in what we say what before we could endorse only in what we did, logic makes it possible for the development of the concepts by which we conceive our world and our plans (and so ourselves) to rise in part above the indistinct realm of mere tradition, of evolution according to the results of the thoughtless jostling of the habitual and the fortuitous, and enter the comparatively well lit discursive marketplace, where reasons are sought and proffered, and every endorsement is liable to being put on the scales and found wanting.“

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stimmung nach ist er bereits jenseits des Körper-Bewusstsein-Problems angesiedelt, denn sein semantisches Feld lässt sich weder auf den Bereich des Physischen noch auf den des Psychischen begrenzen. Beziehungen und Verhältnisse im Raum der Gründe decken sich strukturell nicht mit physischen Kausalitätsverhältnissen im Raum der Ursachen. Sie sind auch keine Epiphänomene des Raums der Ursachen, sondern werden in den Einstellungen und Verhaltensweisen von Personen ausgedrückt. Personen ist es auf diese Weise möglich, Wirkungen zu entfalten, indem sie in praktischer Absicht verallgemeinern und differenzieren oder unter bestimmten Bedingungen autonom – nach selbstauferlegten Regeln und Gesetzmäßigkeiten – handeln. Das Ineinandergreifen des Raums der Ursachen und des Raums der Gründe hat Kant dahingehend zusammengefasst, dass jedes Objekt in Raum und Zeit naturwissenschaftlichen Gesetzen unterworfen sei, die Person aber das Vermögen habe, nach der Vorstellung von Gesetzen zu handeln (Kant, GMS, AA 412).

4. Selbstbewusstsein Züge im Raum der Gründe können nicht einfach als automatisches Regelfolgen verstanden werden. Sie erweisen sich vielmehr auf Seiten der jeweiligen Akteure als überaus voraussetzungsreich. Die Einstellungen und Handlungen von Personen kommen nur durch selbstreferenzielle Konstitutionsleistungen zustande, durch die der jeweilige personale Standpunkt im Raum der Gründe verankert wird. In einer Freiheitstheorie, die sich am Raum der Gründe orientiert, muss die konstitutive Funktion der Selbstreferenz angemessene Berücksichtigung finden. Die formale Selbstreferenz des Denkens ist von ausdrücklichem beziehungsweise selbstthematisierendem Bewusstsein zu unterscheiden. Die Bewusstseinszustände von Personen vollziehen sich zwar immer unter den Bedingungen möglichen Selbstbewusstseins, sie liegen aber keineswegs immer schon in der Form reflektierter mentaler Akte vor. Selbstreferenz erfüllt Konstitutionsleistungen für alle Fälle von Bewusstsein und tritt nicht ausdrücklich in prädikativen Selbstzuschreibungen auf. Selbstzuschreibungen und Formen von Selbsterkenntnis sind dagegen dem Bereich von epistemischen Zuständen und propositionalen Einstellungen zuzurechnen und beziehen sich, im Unterschied zur formalen Selbstreferenz des Denkens, auf Eigenschaften und Daseinszustände der reflektierenden Person.

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Bewusstseinszuständen von Personen ist die Mçglichkeit des Selbstbewusstseins bereits eingeschrieben. Während die Möglichkeit des Selbstbewusstseins Bewusstsein präformiert, öffnet sich ausdrückliches Selbstbewusstsein immer schon den faktischen Bestimmungen personalen Lebens. Personen sind prinzipiell in der Lage, sich in allen ihren Bewusstseinszuständen ihrer selbst in einer spezifischen Situation bewusst zu werden. Selbstbewusstsein hat insofern unmittelbar praktische Konsequenzen. In selbstthematisierenden Fällen von Bewusstsein beziehen Personen die jeweiligen natürlichen und sozialen Kontexte ihres Daseins auf sich selbst. Dabei erfüllt Selbstbewusstsein die Funktion einer Erlebnisperspektive in der Welt. Eine selbstbewusste Person thematisiert sich unter den Bedingungen eines raumzeitlich eindeutig bestimmten Orts. Ihr ist dann bewusst, dass sie von spezifischen Zuständen in der Welt der Ereignisse betroffen ist und sich zu ihnen konkret verhalten muss – was sowohl in der Form des Tuns als auch in der Form des Unterlassens geschehen kann. Selbstbewusstsein ist – anders als vielfach angenommen wird – nicht einfach ein kontemplativer Zustand, sondern eine verhaltensverändernde Einstellung, aus der unmittelbar praktische Weltverhältnisse hervorgehen. Die Aufdeckung der für die Belange personalen Lebens unhintergehbaren Praxis des Selbstbewusstseins ist ein wichtiger Beitrag für die Rekonstruktion der kausalen Rolle des Bewusstseins in der von den Naturwissenschaften beschriebenen Welt. Aus dem Phänomen des Selbstbewusstseins geht eine Praxis hervor, die als Kausalität durch Freiheit angesprochen werden kann (Kant 1998, B 472 ff. und B 577 ff.).11 Aufgrund dieser Praxis des Selbstbewusstseins sind Personen als Personen kausal wirksame Bestandteile einer Welt, in der auch die Naturgesetze gelten. Neurophilosophische Weltmodelle, welche die Praxis des Selbstbewusstseins unberücksichtigt lassen, können nicht als phänomengerecht gelten. Zwar sind Zweifel angebracht, ob jemand tatsächlich aus den von ihm selbst angenommenen Gründen gehandelt hat, gleichwohl sind re11 Kants „offizielle“ Doktrin der Kausalität aus Freiheit ist mit dualistischen Annahmen belastet, die aus heutiger Sicht nicht mehr zu verteidigen sind. Seine erkenntniskritischen Überlegungen enthalten allerdings eine Vielzahl von Aspekten, die auch eine nicht-dualistische Auffassung von Praxis des Selbstbewusstseins und Kausalität durch Freiheit kenntlich werden lassen; siehe Sturma (2004, 270 ff.).

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flektierte Einstellungen als solche bereits Veränderungen in der Welt der Ereignisse. Das gilt sogar für den Fall, dass aus der Reflexion keine äußerlich beobachtbare Handlung hervorgeht. Eine in Bewegungslosigkeit verharrende Person bleibt ein integraler Bestandteil der Welt und verhält sich grundsätzlich anders zu Ereignissen als Wesen, die nicht über Selbstbewusstsein und Gründe verfügen. In einem solchen Fall handelt es sich um eine Unterlassung, die eine Option unter anderen Handlungsoptionen ist.

5. Handlungen Selbstbewusstsein ist eine Erlebnisperspektive in der Welt, welche die reflektierende Person nicht in sich einschließt, sondern zur Welt öffnet. Sie ist in allen ihren Einstellungen und Verhaltensweisen temporal und lokal eindeutig in der Welt ihrer Erfahrungen und Handlungen verankert. Eine Person im Zustand des Selbstbewusstseins erlebt sich unmittelbar in raumzeitlichen Situationen, zu denen sie sich bereits verhält und weiterhin verhalten muss. Unabhängig von den konkreten Absichten und Plänen einer Person ist ihr Selbstbewusstsein Ursprung von veränderten Einstellungen zur Welt und kann aufgrund der bewussten Positionalität in Raum und Zeit praktisch niemals folgenlos bleiben. In der Praxis des Selbstbewusstseins tritt der Eigensinn der humanen Lebensform im Unterschied zu anderen Lebensformen konturiert hervor. Es ist allerdings zu beachten, dass sich die erweiterte Praxis des Selbstbewusstseins unter den Bedingungen epistemischer Unsicherheit vollzieht. Die handelnde Person kennt genauso wenig wie ein äußerer Beobachter mit Sicherheit die Gründe, aus denen sie tatsächlich gehandelt hat. Gleichwohl sind die mit dem Selbstbewusstsein einhergehenden Einstellungen und Absichten – selbst wenn sich aus ihnen keine Handlungsgründe ableiten lassen oder keine beobachtbaren Handlungen hervorzugehen scheinen – Veränderungszustände in der Welt der Ereignisse. Für eine Person hat aufgrund ihres Selbstbewusstseins jeder epistemische Zustand praktische Folgen, zumal Reflexionsverhältnisse stets auch eine Erweiterung des Bereichs der Verhaltensoptionen mit sich bringen. Sie ist der Grund dafür, dass sich nicht genau vorhersagen lässt, wie eine selbstbewusste Person ihre jeweiligen Handlungsspielräume praktisch interpretieren wird, denn es ist immer mit der Möglichkeit zu rechnen, dass die Entscheidung aufgrund von Neubewertungen der

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Handlungssituation doch anders als zunächst geplant ausfällt. Dieser Umstand ist nicht zuletzt die Folge der strukturellen Differenz zwischen der Weise, in der die Handlung einer Person einem äußeren Beobachter als Ereignis erscheint, und der Weise, in der diese Handlung von der handelnden Person erlebt wird. Die epistemische Asymmetrie zwischen Akteur und Beobachter einer Handlung entzieht einfachen Determinationsszenarien die sachliche Grundlage. Anders als etwa der physikalistische Determinismus und strukturell vergleichbare Ansätze der Neurophilosophie unterstellen, werden die Handlungen von Personen nicht endgültig auf der Ebene von Mikromechanismen festgelegt. Im Zustand der ausdrücklichen Kenntnis der Faktoren, die bei einer Handlung Wirkungen ausüben, ist es einer nicht unter Zwang stehenden Person im Normalfall möglich, sich zu den jeweiligen Ausgangsbedingungen zu verhalten und andere Reaktionsformen zu erwägen. Zu den Optionen menschlichen Verhaltens gehören reaktive Haltungen, moralische Bestimmungsgründe und objektive beziehungsweise unparteiische Standpunkte. Die epistemische Indeterminiertheit von Handlungen beruht auf der Offenheit bestimmter Züge im Raum der Gründe. Sie darf nicht mit der Position eines freiheitstheoretischen Indeterminismus verwechselt werden. Sie rührt keineswegs daher, dass es keine Gründe gibt oder wir sie noch nicht kennen, sondern daher, dass wir die Gründe nicht kennen kçnnen. Dieser Umstand ist eine weitere Konsequenz der epistemischen Asymmetrie zwischen der handelnden Person und dem äußeren Beobachter. Handlungen im Raum der Gründe sind Indizien für menschliche Freiheit. Sie äußert sich als Empfänglichkeit für Gründe beziehungsweise als interne Determination durch Gründe. Indem Personen lernen, sich im Raum der Gründe als Akteure zu verhalten, orientieren sie sich praktisch an Gesetzen und Regeln, die nicht durch den Raum der Ursachen festgelegt sind. Personen verfügen über die Fähigkeit, eigenen Zielsetzungen zu folgen. Sie handeln dann frei, wenn sie ein angemessenes Verständnis ihrer Situation haben und ihren Optionsraum in selbstbestimmter Weise ausfüllen. In dieser Hinsicht sind epistemische Einstellungen notwendige Voraussetzungen von Handlungsfreiheit. Im Unterschied zu Ereignissen bleiben Handlungen aber prinzipiell unterdeterminiert: Eine Person hat die Möglichkeit, unter den einschränkenden Bedingungen des Gegebenen ihr weiteres Verhalten nach ihren Absichten und Wünschen – erster wie zweiter Stufe – zu verändern. Nach der hier vorgeschlagenen Freiheitskonzeption sind Personen frei,

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sich zu Gründen zu verhalten, mit Gründen zu differenzieren und aus Gründen zu handeln.

6. Selbstreferenz, Humanismus und Naturalismus Die hier entfaltete freiheitstheoretische Konzeption deckt sich weitgehend mit Nida-Rümelins Position – das gilt besonders für die sich aus der Orientierung an Gründen ergebenden praktischen Folgen. Unterschiede bestehen in der Gewichtung der systematischen Funktion von Selbstreferenz. Die hier vorgeschlagene stärkere Betonung der konstitutiven Rolle von Selbstreferenz wirkt sich allerdings auch auf das konkrete Humanismusverständnis und den ontologischen Theorierahmen aus. Im Weiteren soll Nida-Rümelins Ansatz in der Perspektive der Bestimmungen von 1. Selbstreferenz, 2. Humanismus und 3. Naturalismus näher beleuchtet werden. 1. Selbstreferenz. Nida-Rümelin fasst seine Position in der These zusammen, dass menschliche Freiheit nur über die Rolle von Gründen angemessen geklärt werden könne. Weiterhin stellt er heraus, dass die Kausalität von Gründen darin begründet sei, dass Akteure sie akzeptierten und sie in Handlungen praktisch umsetzten (Nida-Rümelin VF, in diesem Band, Kapitel 2.3). Diese Konzeption der Wirksamkeit von Gründen beschreibt zutreffend die Kausalität menschlicher Freiheit. Gleichwohl muss noch in Rechnung gestellt werden, dass der Vorgang des Akzeptierens von Gründen überaus voraussetzungsreich ist. Insbesondere liegt ihm bereits ein Selbstverhältnis zugrunde – unabhängig davon, ob der Akteur es bewusst vollzieht. Denn handelnde Personen müssen sich in ein epistemisches und praktisches Verhältnis zu Gründen setzen. In den Überlegungen zu Selbstbewusstsein und Handlung (siehe Abschnitt 4 und 5) ist deshalb die Offenlegung der Rolle von Gründen als noch nicht hinreichend für die Erklärung menschlicher Freiheit ausgewiesen und die konstitutive Funktion von Selbstreferenz als notwendige Bedingung der Identität der Person und ihrer praktischen Selbstverhältnisse bestimmt worden. Nida-Rümelin hebt hervor, dass Handlungen immer auch raumzeitliche Vorgänge seien (ebd., Kapitel 2.3). Seine Überlegungen will er in diesem Zusammenhang nicht mit starken ontologischen Annahmen belasten. Gleichwohl ist das praktische Verhältnis von Personen zu Raum und Zeit strukturell überaus komplex und gibt nicht zuletzt auch den

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spezifischen ontologischen Ort der humanen Lebensform in der Welt der Ereignisse zu erkennen. Ihrer zeitlichen Bestimmung nach verlaufen Handlungen von Personen in sogenannten A- und B-Reihen (McTaggart 1908). Personen leben in einer Welt, die durch die Verhältnisse des Nacheinanders und Nebeneinanders strukturiert ist und nehmen sie durch die Zeitverhältnisse von Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit wahr. Die A-Reihe repräsentiert die B-Reihe im Modus perspektivischen Bewusstseins. Personen leben in einer Welt irreversibler Veränderungen, in denen für alle Zeiten ein Ereignis n einem Ereignis m folgt. Der Durchgang von der Zukunft in Gegenwart und Vergangenheit ist nichts anderes als das Bewusstsein irreversibler Veränderungen der B-Reihe. Zeitliche Takte und Einteilungen erfüllen entsprechend konstitutive Funktionen bei der Erfassung von Ereignissen. Die A-Reihe verankert die Handlungsgeschichten von Personen in der Welt der Ereignisse. Jede Wahrnehmungssituation von Personen ist auf die jeweilige Erlebnisperspektive hin ausgerichtet.12 Darin findet die formale Selbstreferenz des Denkens ihren zeitlichen Ausdruck (siehe Abschnitt 4). Die temporalen Manifestationen des Verfügens ber Gründe und des Handelns durch Gründe haben insofern immer schon Formen von Selbstreferenz – nicht von explizitem Selbstbewusstsein – zur Voraussetzung. Der Ausdruck „Freiheit“ bezeichnet demnach eine Relation zwischen Personen und Gründen, die von selbstreferenziellen Aktivitäten abhängig ist. Die Funktion von Selbstreferenz ist vielfältig. Sie reicht von der Präformation der jeweiligen epistemischen Einstellungen bis hin zu ausdrücklichen Fällen von Selbstbewusstsein und formiert in praktischer Hinsicht akteurrelative wie akteurneutrale Handlungsmotive. Das Phänomen der Selbstreferenz stellt aufgrund dieser Komplexität ein entscheidendes Hindernis für eliminativistische Theorieszenarien dar. Der konstituierenden Funktion von Selbstreferenz nähert sich NidaRümelin der Sache nach im Rahmen seiner Kritik am spieltheoretischen Ansatz (Nida-Rümelin VF, in diesem Band, Kapitel 1.8) sowie in seinen Überlegungen zur „Ich-Perspektive“ in Handlungen (ebd., 20) und zum Phänomen der Unvorhersehbarkeit der Verhaltensweisen von Personen. Hinter diesem Phänomen verbirgt sich der interne Zusammenhang von Selbstbewusstsein und epistemischem Indeterminismus. Wenn eine 12 Es kann erwogen werden, dass Wahrnehmung insgesamt formale Selbstreferenz voraussetzt. Dann wäre nicht nur die Erfahrungswelt der humanen Lebensform selbstreferenziell ausgerichtet.

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Person A aufgrund von Beobachtungen zutreffende Aussagen über die Verhaltensweisen einer Person B machen kann, ändert sich die Handlungssituation vollständig, wenn B erfährt, was A über ihr Verhalten weiß. B hat jetzt die Option, bewusst so zu handeln wie bisher – vielleicht um A in Sicherheit zu wiegen – oder anders zu handeln. Wie sich B entscheiden wird, ist nicht mehr sicher vorherzusagen – nicht einmal für sie selbst (Hampshire 1959, 169 ff.; MacKay 1965). Epistemische Selbstverhältnisse erzeugen eine Unterbestimmung von Handlungsgründen (NidaRümelin VF, in diesem Band, Kapitel 2.5, 3.3). Nida-Rümelin verweist deshalb zu Recht auf die „Unberechenbarkeit des menschlichen Handelns“ (ebd., 20). Auch bei der Abgrenzung der humanen Lebensform von anderen animalischen Lebensformen zeigt sich die konstitutive Rolle der Selbstreferenz. Nida-Rümelin macht die Differenz zwischen menschlichem und animalischem Verhalten an dem Verfügen beziehungsweise Nichtverfügen von Gründen fest: „Zumindest höher entwickelte Säugetiere scheinen ihr Verhalten zumindest teilweise zu kontrollieren und in jedem Fall über so etwas wie Willkürfreiheit zu verfügen. Das Abwägen von Gründen und die langfristige Strukturierung des eigenen Lebens über akzeptierte Handlungs-Gründe ist Tieren jedoch fremd“ (ebd., 21 f.). Wenn Freiheit Indeterminiertheit aus Gründen bedeutet, dann kann nicht-menschlichen Tieren nicht die Willensfreiheit zugesprochen werden, die wir Personen zusprechen. Es kann aber erwogen werden, ob Tiere über Fähigkeiten verfügen, die sie nicht bloß Ursachen ausgesetzt sein lassen, ohne dass schon von Gründen die Rede sein müsste. Die Differenz zur humanen Lebensform würde sich dann über das Vorliegen beziehungsweise Nichtvorliegen ausdrücklicher Selbstreferenz einstellen, denn es fehlt Tieren offenbar nicht nur an Gründen, sondern auch an der Fähigkeit zu ausdrücklichen Selbstthematisierungen.13 Allerdings sollte zumindest höheren animalischen Lebensformen Selbstreferenz nicht gänzlich abgesprochen werden, denn jede entwickelte Wahrnehmungsperspektive setzt eine reflexive Struktur voraus, die das jeweilige Wahrnehmungsfeld perspektivisch ordnet. Auch wenn Personen für Gründe empfänglich sein müssen und den Großteil ihrer Handlungen in habitualisierter Form vollziehen, sollte gleichwohl nicht nahegelegt werden, dass das Spiel der Gründe ein 13 Die Fähigkeit zur Selbstthematisierung geht mit Endlichkeits- und Todesbewusstsein einher und ist weder in naturgeschichtlicher noch in subjektiver Perspektive nur von Vorteil.

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passiver Vorgang ist. Das Geben und Nehmen von Gründen setzt selbstreferenzielle Aktivitäten voraus, die zwar Regeln folgen, aber in ihren epistemischen und praktischen Zügen nicht vollständig festgelegt sind. 2. Humanismus. Die Praxis des Nehmens und Gebens von Gründen ist für Nida-Rümelin das Zentrum des theoretischen Humanismus, den er vom ethischen Humanismus abgrenzt (Nida-Rümelin 2005, 35 ff.; Nida-Rümelin VF, in diesem Band, Kapitel 2.3). Der theoretische Humanismus wird durch die funktionale Rolle von Gründen und der ethische Humanismus durch die Befähigung zur Selbstachtung charakterisiert (Nida-Rümelin 2005, 154 ff.). Da für Nida-Rümelin der ethische Humanismus den theoretischen Humanismus voraussetzt (NidaRümelin 2005, 128), drängt sich die Frage auf, welcher Ertrag sich mit dieser Unterscheidung letztlich verbindet beziehungsweise ob aus der Sicht einer sich an Gründen orientierenden Freiheitstheorie die Unterscheidung zwischen theoretischem und ethischem Humanismus erforderlich ist. Ist es nicht vielmehr die Pointe des Begriffs des Humanismus, dass er sich nicht nach Maßgabe des Theoretischen und Ethischen ausdifferenzieren lässt? Historisch wie systematisch richtet sich der Begriff auf die Bildung der sogenannten zweiten Natur des Menschen. Durch die Einbeziehung des erweiterten Naturbegriffs eröffnet sich eine Theorieperspektive, in der sich ein Naturalismus der zweiten Natur beziehungsweise der humanen Lebensform mit einer Theorie der Gründe verbinden lässt.14 Das Konzept der Bildung der zweiten Natur des Menschen im Raum der Gründe beruht auf der unmittelbaren Verbindung von deskriptiven und normativen Bestimmungen des Humanismusbegriffs.

14 Einen systematisch ambitionierten Ansatz zur Bildung der zweiten Natur des Menschen im Raum der Gründe hat John McDowell (1994, 125) vorgelegt: „Now it is not even clearly intelligible to suppose a creature might be born at home in the space of reasons. Human beings are not: they are born mere animals, and they are transformed into thinkers and intentional agents in the course of coming to maturity. This transformation risks looking mysterious. But we can take it in our stride if, in our conception of the Bildung that is a central element in the normal maturation of human beings, we give pride of place to the learning of language. In being initiated into a language, a human being is introduced into something that already embodies putatively rational linkages between concepts, putatively constitutive of the layout of the space of reasons, before she comes on the scene.“

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Von der semantischen Klärung hängt vor allem ab, ob die Annahme eines Gegensatzes zwischen Humanismus und Naturalismus beziehungsweise zwischen Humanismus und wissenschaftlichem Realismus unvermeidlich ist. Bei der Einführung des Begriffs des theoretischen Humanismus erhebt Nida-Rümelin grundsätzliche Einwände gegen Formen des Naturalismus, die Gründen keinen angemessenen Raum zubilligen.15 Seine Vorbehalte sind in ihrer kritischen Ausrichtung berechtigt. Durch die Unterscheidung zwischen theoretischem und praktischem Humanismus wird aber das Verhältnis zum Naturalismus so belastet, dass für alle naturalistischen Ansätze – welcher Ausprägung auch immer – kein attraktiver Theorieraum mehr verbleibt. Auf diese Weise verfestigt sich ein Gegensatz zwischen Naturalismus und Humanismus, der eigentlich nur durch Extrempositionen erzeugt wird und sachlich keineswegs erzwungen ist. Man darf in diesem Zusammenhang den eliminativistischen Naturalismusversionen nicht zubilligen, für den Naturalismus insgesamt sprechen zu können. Naturwissenschaftliche Kausalitätsbestimmungen bilden die Wirklichkeit nicht ab, sondern interpretieren sie revisionsoffen unter spezifischen methodischen Rahmenbedingungen. Sie entscheiden dementsprechend nicht über das Selbstverständnis der humanen Lebensform. Nida-Rümelins Annahme, unser Selbstverständnis sei gegenüber wissenschaftlichen Einsichten oder Innovationen insgesamt immun, ist dadurch aber noch nicht gedeckt. Züge im Raum der Ursachen und Züge im Raum der Gründe fallen nicht zusammen. Aus diesem Sachverhalt lässt sich jedoch noch nicht ableiten, dass es keinen empirischen Befund geben könne, der die „Erschütterung oder gar Zerstörung unseres humanistischen Selbstbildes rechtfertigt“ (Nida-Rümelin 2006, 29) und „unsere Lebenswelt […] gegenüber epistemischen Revolutionen, anders als die Wissenschaft, resistent“ (Nida-Rümelin 2005, 39) sei. Es ist sicherlich nicht von der Hand zu weisen, dass unsere Alltagserfahrung auf wissenschaftliche Revolutionen in der Regel verzögert und träge reagiert, aber wissen15 Nida-Rümelin versteht seinen humanistischen Ansatz als Gegenentwurf zu naturalistischen Ansätzen, „deren Analyse auf die Eskamotierung von Gründen gerichtet ist. In der vollendeten (wissenschaftlichen) Erklärung menschlichen Verhaltens dürfen nach naturalistischer Auffassung Gründe keine Rolle spielen. Gründe spielen demnach keine eigenständige, sondern bestenfalls eine abgeleitete Rolle, in manchen Varianten des Naturalismus ist diese Rolle in deterministische Kausalzusammenhänge der Neurophysiologie übersetzbar“ (NidaRümelin VF, in diesem Band, 22).

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schaftliche Erkenntnisse verändern letztlich doch unser Verständnis von dem, was in der Welt der Ereignisse der Fall ist und das hat auch Folgen für unser Selbstverständnis. 3. Naturalismus. Nida-Rümelins Überlegungen zur Eigenständigkeit des humanistischen Selbstbildes enthalten treffende Abgrenzungen gegenüber weltanschaulichen Selbstinterpretationen der Naturwissenschaften – wie sie etwa in der letzten Zeit im Rekurs auf die Biologie und die Neurowissenschaften präsentiert worden sind. Gleichwohl darf nicht übersehen werden, dass der wissenschaftliche beziehungsweise naturwissenschaftliche Standpunkt am besten geeignet ist, Antworten auf die Frage zu geben, was in der Welt der Fall ist. Es muss in diesem Zusammenhang aber von einem erweiterten Verständnis des wissenschaftlichen Standpunkts ausgegangen werden, für den eliminativistische Szenarien gerade nicht maßgebend sind. Wilfrid Sellars hat ein konstruktives Integrationsmodell vorgeschlagen, das den Primat des wissenschaftlichen Realismus mit einem nichteliminativen Verständnis des wissenschaftlichen Standpunkts verbindet.16 Danach hätten sich sowohl das wissenschaftliche Weltbild als auch die Annahmen zur humanen Lebensform oder zum personalen Standpunkt zu verändern. Der Begriffsrahmen für das Personenverständnis werde nicht einfach an den wissenschaftlichen Standpunkt angeglichen, vielmehr müssten beide Bereiche in ein einheitliches Gefüge gebracht werden. Wir hätten es dann mit einem integrativen Naturalismus (Sturma 2008a; 2010) zu tun, der von der Einheit der Wirklichkeit ausgeht und ontological commitments über die jeweiligen semantischen Zugänge regelt, welche die Wirklichkeit interpretieren und nicht etwa spiegeln – das gilt vor allem für die jeweiligen Kausalitätsbestimmungen. Ein solcher Naturalismus wäre nicht „ontologiefrei“ (Nida-Rümelin VF, in diesem Band, 28) und nicht unabhängig von Veränderungen des wissenschaft16 Vgl. Sellars (1963, 38, 40): „Even if the constructive suggestions […] were capable of being elaborated into an adequate account of the way in which the scientific image could recreate in its own terms the sensations, images, and feelings of the manifest image, the thesis of the primacy of the scientific image would scarcely be off the ground. There would remain the task of showing that categories pertaining to man as a person who finds himself confronted by standards (ethical, logical, etc.) which often conflict with his desires and impulses, and to which he may or may not conform, can be reconciled with the idea that man is what science says he is. […] Thus the conceptual framework of persons is not something that needs to be reconciled with the scientific image, but rather something to be joined to it.“

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lichen Standpunkts. Er hält an der konstitutiven Rolle von Gründen fest, ohne zu bestreiten, dass in naturwissenschaftlichen Beschreibungsformen Wesentliches über die Welt und die humane Lebensform ausgesagt wird. Der integrative Naturalismus hat die Form einer Doppelaspekttheorie, die Nida-Rümelin als theoretische Option ausdrücklich ablehnt.17 Er kritisiert an diesem Ansatz, dass er der naturwissenschaftlichen Weltbeschreibung nur einfach eine zweite Sprachform an die Seite stelle.18 Sein Einwand ist in dem Sinne berechtigt, als dass die Ausdifferenzierung von linguistischen Ebenen das Naturalismusproblem zunächst nur verschiebt. Gründe haben in der Welt der Ereignisse ihre Wirksamkeit zu erweisen, und für raumzeitliche Vorgänge muss prinzipiell festgelegt werden können, ob sie allein nach Maßgabe naturwissenschaftlicher Kausalitätsmodelle beschreibbar oder ob – wie im Fall von Handlungen – zusätzlich noch Gründe anzusetzen sind. Die plausible Kritik an einem sprachlich induzierten Zwei-WeltenModell betrifft aber noch nicht den Ansatz des integrativen Naturalismus, der Ursachen und Gründe gleichermaßen als Elemente der Wirklichkeit begreift, die auch von der Naturwissenschaft erfasst wird. Das Einfügen von epistemologischen Differenzierungen in den naturalistischen Theorierahmen darf allerdings nicht dazu führen, dass die Einheit der Wirklichkeit konzeptionell nicht mehr gewährleistet wird. Für Nida-Rümelin ist „menschliches Handeln ohne eine Bezugnahme auf Gründe nicht vollständig beschreibbar und erklärbar“ (NidaRümelin VF, in diesem Band, 22). Aus diesem Sachverhalt leitet er die Nicht-Übersetzbarkeitsformel ab, „dass die Rede von Gründen sich nicht ohne Verlust in naturwissenschaftliche Beschreibungsformen (weder der Physik, noch der Biologie, noch der Neurophysiologie) übersetzen lässt“ (ebd.). Diese Formel will er von dualistischen Ansätzen abgrenzen. Wenn Gründe praktische Wirksamkeit ausüben und nicht mit Ursachen identisch sein sollen, muss von einer einheitlichen Welt ausgegangen werden, die eben nicht nur Ursachen und Ereignisse, sondern auch Gründe und Handlungen enthält. Damit treten die Umrisse eines 17 Seine Kritik richtet sich ausdrücklich auch gegen Jürgen Habermas‘ Ansatz, einen ontologischen Monismus mit einem epistemologischen Dualismus zu verbinden (Nida-Rümelin VF, in diesem Band, Kapitel 2.3). 18 Eine fehlerhafte Weltverdopplung liegt auch im Fall von Kants berühmter Auflösung der dritten Antinomie von Kausalität durch Freiheit und Naturkausalität vor. Kants Erkenntniskritik enthält dabei durchaus einen anderen Argumentationsweg; zur „inoffiziellen Doktrin“ der Praxis des Selbstbewusstseins siehe Abschnitt 4.

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aspektintegrativen Naturalismus hervor, der in den ontologischen Monismus epistemologische Differenzierungen einführt. Das gilt vor allem für die Bestimmungen des Selbstbewusstseins und der Gründe. Gerade an diesen Bestimmungen lässt sich gut ablesen, dass das Verhalten von Personen nicht auf einfache Ursachen reduzierbar, aber gleichwohl in der Welt der Ereignisse wirksam ist. Nida-Rümelin nähert sich diesem Sachverhalt von Seiten des Handlungsbegriffs und muss entsprechend eine wie auch immer geartete Verbindung zwischen Körperbewegungen und Gründen unterstellen. Er spricht zu Recht davon, dass Handlungen duale Ereignisse seien, die gleichermaßen „einen äußeren und einen inneren Aspekt, eine physische und eine psychische Komponente“ (ebd., 24) aufwiesen. Damit bewegt er sich eigentlich im Umfeld der hier entfalteten Position des integrativen Naturalismus, der drei ontologische Verpflichtungen eingeht: 1. Ereignisse können erlebt werden (Intentionalität), 2. Erlebnisse und Ereignisse beziehungsweise Gründe und Körperveränderungen können wechselseitig voneinander abhängig sein (Wechselwirkung) und 3. Erlebnisse und Ereignisse vollziehen sich in einer numerisch einfachen Welt (Einheit der Wirklichkeit). Man kann in diesem Zusammenhang metaphorisch von einer Kausalität durch Freiheit sprechen. Sie lässt sich auf die Formel bringen, dass Körperbewegungen dann Handlungen sind, wenn sie habituell mit einer Verhaltensgeschichte von Personen verbunden sind. Deshalb ist Nida-Rümelin in seiner Kritik an der vermeintlichen Freiheitssuche Recht zu geben: Nach einfachen Abhängigkeiten von Gründen und empirischen Daten wird man vergeblich suchen.

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Was geschieht eigentlich im Raum der Gründe?1 Lutz Wingert Der Raum der Gründe wird von einigen Philosophen als der natürliche Ort von Menschen angesehen, die Personen sind.2 So wie diese Philosophen sehen es übrigens auch die Leute, die sich nicht mit der Philosophie abgeben können – sagen diese Philosophen. So wie der Karpfen im Süßwasserteich in seinem Element ist, so bewohnen Personen einen Raum der Gründe. Julian Nida-Rümelin spricht deshalb von einem theoretischen Humanismus, der Menschen aus konzeptuellen Gründen unter anderem Willens- und Handlungsfreiheit zuschreibt.3 Ein Ganzkörper-Kernspintomograph ist kein Raum der Gründe. (Ob ein Karpfenteich ein solcher Raum ist, ob also Tiere sich in einem Raum der Gründe bewegen können, sei hier dahingestellt.) Werden Personen in einen Tomographen gelegt, dann werden sie aus dem Raum der Gründe verlegt. Denn man isoliert sie von dem, was für sie charakteristisch ist – von ihrer Bezogenheit auf Gründe. Die Wissenschaften von Menschen, die Personen sind, verlieren ihren Gegenstand, wenn sie den Raum der Gründe aus den Augen verlieren. Das ist eine der recht folgenreichen Thesen, die mit der Rede von einem Raum der Gründe in der Gegenwartsphilosophie einhergehen. 1

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Für hilfreiche Hinweise danke ich insbesondere Logi Gunnarsson, Charles Larmore und Dieter Sturma sowie Jürgen Habermas, Rolf-Peter Horstmann, Matthias Kettner, Maria-Sibylla Lotter, Olaf Müller, Julian Nida-Rümelin, Michael Pauen, Dominik Perler, Thomas Schmidt und Gottfried Seebass. Die Redeweise vom „Raum der Gründe“ geht, soweit ich weiß, auf Wilfrid Sellars zurück. Für Sellars ist zumindest der Mensch, der als ein Wissender gelten darf, in diesem Raum beheimatet: „The essential point is that in characterizing an episode or a state as that of knowing, we are not giving an empirical description of that episode or state; we are placing it in the logical space of reasons, of justifying and being able to justify what one says“ (Sellars 1956, § 36, 169). „The structure of the space of reasons stubbornly resists being appropriated within a naturalism“ (McDowell 1994, 73). Zum Beispiel Nida-Rümelin (2005, 34 – 43). Ähnlich Sturma (2006, 205 – 212); Habermas (2009, 277 – 279, 282 – 283). Julian Nida-Rümelin betont wie Dieter Sturma, dass das moderne naturwissenschaftliche Weltbild mit diesem theoretischen Humanismus vereinbar ist: Nida-Rümelin (2001, 47).

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Andere Thesen haben damit zu tun, dass man wichtige Begriffe wie den Begriff der Person, des Handelnden oder den Begriff des Wissens mithilfe des Begriffs vom Raum der Gründe erläutert. Beispielsweise werden Handelnde als Lebewesen beschrieben, die sich responsiv für Gründe in einem Raum der Gründe bewegen. (So bei Robert Brandom, Philippa Foot, Julian Nida-Rümelin, Martin Seel oder Dieter Sturma). Und Wissen wird als eine Sorte von Überzeugungen oder Fähigkeiten einem Subjekt zugeschrieben, das einen Status im Raum der Gründe innehat und sich nicht bloß in mentalen Zuständen befindet (W. Sellars). Mit Blick auf solche Thesen ist es sinnvoll, zu fragen: Was geschieht eigentlich im Raum der Gründe? – Die Standardantwort lautet: Im Raum der Gründe werden Gründe gegeben und geprüft. Das wirft die nächste Frage auf: Was sind Gründe? – Ich werde zunächst eine grobe Charakterisierung von Gründen unter dem Aspekt geben, dass Gründe Gründe fr oder auch von jemandem sind. Unter diesem Aspekt betrachtet sind Gründe so etwas wie Passierscheine oder Überweisungsscheine. Dann werde ich zweitens diese Charakterisierung im Zuge der Frage etwas verfeinern, was die Funktion von Gründen ist. Erklärende und rechtfertigende Gründe dienen dazu, Antworten auf Warum-Fragen zu geben. Drittens mache ich auf eine Konsequenz aufmerksam, die gute Gründe von Haus aus haben: Sie verleihen einen normativen Status. Diese drei Schritte führen schon zu einer ersten Antwort auf die leitende Frage: Was geschieht eigentlich im Raum der Gründe? Es werden kontrastive Warum-Fragen gestellt und beantwortet. Und es wird ein variierender normativer Status an diejenigen vergeben, für die es Gründe gibt. Diese vorläufige Antwort soll dann in einem vierten Schritt vor einem Missverständnis bewahrt werden: nämlich vor dem intellektualistischen Missverständnis, dass der Raum der Gründe eine Art akademisches Spare ist, das von der Welt der Vorkommnisse, der materiellen Zustände, der Wahrnehmungen, Gefühle und so weiter abgetrennt ist. Gegen diese Auffassung spricht der Zusammenhang von Gründen und Wahrheitsbedingungen oder genereller von Gültigkeitsbedingungen, die zum Teil eben auch realistisch zu verstehen sind. („Realistisch“ meint: einstellungstranszendent.) Nach diesem vierten Schritt werde ich abschließend einige Konsequenzen andeuten, die sich für die Wissenschaften vom Menschen ergeben, wenn man Menschen auch als Bewohner des Raums der Gründe untersuchen will. – Zunächst aber die Frage: Was sind Gründe?

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1. Gründe als Passierscheine und Überweisungsscheine Gründe sind eine Art Passierschein oder eine Art Überweisungsschein. Sie erlauben demjenigen, für den sie Gründe sind, von etwas zu einem intentionalen Verhalten oder einem Urteil überzugehen. Oder Gründe halten dazu an, von etwas zu einem intentionalen Verhalten oder einem Urteil überzugehen. Ein mulmiges Gefhl des Bergsteigers beim Anblick der RakhiotWand mag ein Grund für ihn sein, die Besteigung des Nanga Parbat über diese Felswand zu unterlassen. Der Grund erlaubt ihm, von einem Gefühl zu einer Unterlassungshandlung überzugehen. Die mikroskopisch gestützte Wahrnehmung zahlreicher, kleiner gewordener Telomere4 mag ein Grund für die Molekulargenetikerin sein, zu glauben, das Organ sei gealtert. Der Grund erlaubt ihr, von einer Wahrnehmung zu einem Urteil überzugehen. Die Aussage des Strahlenschutzbeauftragten, dass der radioaktive Grenzwert um das Elffache überschritten wurde, ist vielleicht ein Grund für den Umweltminister zu dem Urteil zu kommen, das Endlager für radioaktiven Müll sei ungeeignet. Der Grund erlaubt ihm, von einer für wahr gehaltenen Aussage zu einer anderen überzugehen. Ein Versprechen des Nachbarns, der Nachbarin beim Umzug zu helfen, mag ein Grund für ihn sein, sich am Umzugstag bei der Nachbarin einzufinden und mit anzupacken. Der Grund hält den Nachbarn an oder weist ihn an, von Worten zu Taten überzugehen. Die Behauptung des Rundfunkkommentators, mit Barack Obama sei zum ersten Mal in der US-amerikanischen Geschichte ein Farbiger zum Präsidenten gewählt worden, ist ein Grund für die Aussage, Obama sei ein auf US-amerikanischem Hoheitsgebiet geborener amerikanischer Staatsbürger („a natural born american“). Der Grund hält den Kommentator dazu an, von einer Behauptung zur Anerkennung einer anderen Aussage überzugehen. Gabriels Eifersucht auf Michael mag ein Grund sein für Gabriel, einzugestehen, dass ihm Gretta viel bedeutet. Der Grund hält Gabriel an, von einem Gefühl zu einem einräumenden Urteil, einem Eingeständnis überzugehen. (James Joyce schildert diesen Übergang in Die Toten natürlich nicht so fade.)

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Telomere sind Eiweißmoleküle, die auf den Enden von Chromosomen sitzen und eine Art Schutzkappenfunktion haben. Vgl. Brady (2010, zum Beispiel 74 ff., 140 ff.).

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Für die grobe Charakterisierung eines Grundes als eines Passierscheins oder als eines Überweisungsscheins spricht, dass sie einige Merkmale von Gründen beachtet: 1. Mit ihr wird berücksichtigt, dass Gründe relational sind. Ein Grund ist ein Grund fr jemanden in Hinsicht auf etwas, wobei dieses Etwas ein Urteil beziehungsweise eine Überzeugung oder ein intentionales Verhalten ist. (Ein Urteil ist eine bejahende Stellungnahme zu einem Geltungsanspruch, also zu dem Anspruch, dass die Wahrheitsbedingungen einer Aussage, die Legitimitätsbedingungen einer Aufforderung oder die Aufrichtigkeitsbedingungen einer Äußerung erfüllt sind.)5 2. Auch fügt sich das Bild von Gründen als Passier- und Überweisungsscheine ein in die Unterscheidung zwischen einem Grund fr jemanden und einem Grund von jemandem. Es kann sein, dass ich von einem Passierschein und auch von einem Überweisungsschein keinen Gebrauch mache. Ist diese Möglichkeit – im Rahmen des gezeichneten Bildes von Gründen –realisiert, dann ist der Grund zwar ein Grund fr mich, nicht aber von mir. 3. Gründe für jemanden und von jemandem verleihen dieser Person einen normativen Status, wie das auch gültige Passier- und Überweisungsscheine tun. Man ist berechtigt oder verpflichtet zu etwas. Oder man ist klug, scharfsinnig, umsichtig oder dumm, einfältig, töricht oder spitzfindig, je nachdem ob die Gründe fr einen auch die Gründe von einem sind. 4. Passier- und Überweisungsscheine können auf alle oder nur auf bestimmte Personen ausgestellt sein. Analog gibt es Gründe, die Gründe nur für bestimmte Akteure oder Urteilende sind. Man denke an die sogenannten akteursrelativen Gründe im Unterschied zu akteursneutralen Gründen.6 Oder es können Gründe für jemanden in diesem epistemischen Kontext, nicht aber in jenem Kontext sein. Für einen alten Bekannten darf das bleiche Gesicht des Freundes ein Grund sein, zu 5 6

Vgl. zum Begriff des Geltungsanspruches auch Habermas (1981, 65). Ein akteursrelativer Grund im hier gemeinten, engen Sinn ist ein Handlungsgrund für A, für den gilt: Seine Triftigkeit schließt seine Anerkennungswürdigkeit durch A und B ein, ohne dass B mit der Anerkennung des Grundes auf das Handeln festgelegt ist, auf das A festgelegt wird. Ein Grund für mich, Rechtsanwalt zu werden, muss kein Grund für Tabea sein, Rechtsanwältin zu werden, auch wenn Tabea einsehen können muss, dass das ein guter Grund für mich ist, wenn es denn ein triftiger Grund für mich ist. B muss natürlich jemand sein, der bestimmte Dinge über A weiß und mit A teilt. –Thomas Nagel fasst die Klasse akteursrelativer Gründe weiter. Vgl. Nagel (1986, 164 – 166).

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glauben, dass der Freund chronisch krank ist. Für einen Versicherungsagenten darf das bei der Prämienfestlegung kein ausreichender Grund sein. 5. Schließlich gibt es gute und schlechte Gründe, so wie es gültige und ungültige Passier- und Überweisungsscheine gibt. Man kann auch fragen, ob ein gültiger Passier- oder Überweisungsschein etwas ist, was nur die Signatur einer sozialen Autorität trägt, oder ob er etwas ist, das verlässlich an ein Ziel führt oder einsehbare Konsequenzen unabhängig von diesen Autoritäten hat. Hängt die epistemische Qualität von Gründen bloß kommunitaristisch an sozial konsentierten Maßstäben oder wird sie von der Erfüllung geistunabhängiger Anforderungen mitbestimmt? Die skizzierte Charakterisierung von Gründen hat auch den Vorteil, an diese Frage zu erinnern. Man kann die Frage „Was sind Gründe?“ weiter auffächern: Was ist die Funktion von Gründen? Was ist ihre sprachliche Form? Was ist die Beziehung zwischen einem Grund und demjenigen, für den der Grund ein Grund ist? Diese letzte Frage werde ich einschränkend unter dem Aspekt des normativen Status behandeln.

2. Die Funktion von Gründen Zunächst zur Funktion von Gründen. – Wozu sollen Gründe gut sein? Ein Grund dient dazu, eine einsichtsstiftende Antwort auf eine WarumFrage zu geben. Ein erklärender Grund soll eine Frage vom Typ „Warum ist/war x der Fall?“ beantworten, und zwar so, dass x verständlich wird für den Fragenden. Warum schreibt Philipp Lahm einen Einladungsbrief an Michael Ballack aus Anlass seiner Hochzeit? Er schreibt den Brief, weil er mit Ballack versöhnt sein will nach dem Streit darüber, wer zukünftig Kapitän der deutschen Herrenfußball-Nationalmannschaft sein soll. Der Grund nennt einen Wunsch und lässt den Einladungsbrief als Versöhnungsangebot erscheinen und verständlich sein. Das Erklärungsbedürftige, der Brief, wird mit dem Grund neu als Versöhnungsangebot beschrieben. Warum fallen die Blätter des Laubbaums im späten Herbst? – Weil der Laubbaum im entlaubten Zustand besser vor Kälte geschützt ist. Der Grund nennt einen Effekt und lässt den Vorgang als Schutzmechanismus erscheinen und verständlich werden. – Warum korrelieren in schweizerischen Gemeinden oft sehr niedrige Steuern mit sehr hohen kommunalen Hausgebühren für Müllabfuhr, Grundwasserschutz, Ka-

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nalreinigung? – Weil die kommunalen Steuerausfälle durch hohe Gebühren für die meist reichen Hausbesitzer ausgeglichen werden. Der Grund für eine statistische Korrelation lässt die hohen Gebühren als kompensatorische Reaktion erscheinen und stellt die Korrelation als Teil einer Kausalverbindung dar. Kurz, ein erklärender Grund bringt das Explanandum unter eine neue Beschreibung, unter der es verständlich wird. Nicht jede Erklärung wird durch einen erklärenden Grund geliefert. Eine Erklärung kann auch eine Antwort auf eine Frage des Typs „Was bedeutet x?“ sein und in der Angabe einer Bedeutung bestehen. Was bedeutet ein rundes, rot umrandetes, weißes Verkehrsschild mit der schwarz geschriebenen Zahl „30“? Es hat die Bedeutung einer Vorschrift, nicht schneller als 30 km/h zu fahren. Jeder erklärende Grund von x ist ein Verständlich-Macher von x, weil er x unter einer Neubeschreibung verständlich macht. Aber nicht jeder Verständlich-Macher ist ein erklärender Grund. Ein erklärender Grund ist auf eine Frage gemünzt, in der etwas als Tatsache behandelt wird. Man fragt nicht, ob beim Laubbaum im Spätherbst die Blätter abfallen oder ob eine statistische Korrelation zwischen sehr niedrigen Steuersätzen und hohen kommunalen Gebühren besteht. Man fragt vielmehr, warum das so ist. Es wird nicht an der Wahrheit von p gezweifelt, das den Sachverhalt x darstellt. Nicht ob x der Fall ist, sondern warum, ist das Thema. Das ist anders bei rechtfertigenden und bei berechtigenden oder ermächtigenden Gründen. Ein rechtfertigender Grund dient dazu, eine Frage des Typs zu beantworten: „Warum soll man p glauben und nicht q?“ oder Fragen des Typs: „Warum darf man dies, aber nicht jenes tun?“. Ein rechtfertigender Grund soll eine Antwort darauf geben, die das Urteil p oder die Handlung h zustimmungswürdig macht. Eine einsichtsstiftende Antwort ist hier eine zustimmungswürdige Antwort. Ein rechtfertigender Grund ist auf Warum-Fragen anderer bezogen. Ein berechtigender oder ermächtigender Grund ist demgegenüber auf eine erstpersönliche Warum-Frage gemünzt: Warum soll ich glauben, dass der Klimawandel menschengemacht ist und nicht, dass er rein natürliche, handlungsunabhängige Ursachen hat? Eine einsichtsstiftende Antwort ist hier eine anerkennungswürdige Antwort. Im Fall eines rechtfertigenden Grundes wird ein je von mir erhobener Geltungsanspruch gegenüber anderen begründet. Im Fall eines berechtigenden Grundes wird ein je von mir erwogener Geltungsanspruch begründet. Die Unterscheidung zwischen rechtfertigenden und berechtigenden Gründen könnte einen Einwand hervorrufen: Der Grund, der ein Urteil

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fr andere zustimmungswürdig macht, muss identisch sein mit einem Grund, der ein Urteil fr mich anerkennungswürdig macht. Urteile haben ja Gültigkeitsbedingungen, die für jeden Urteilenden die gleichen sind. Ein deskriptives Urteil ist eine Aussage und hat Wahrheitsbedingungen als Gültigkeitsbedingungen. Ein normatives Urteil ist eine Präskription oder eine Bewertung und hat Richtigkeitsbedingungen als Gültigkeitsbedingungen. Nun hängt ein Grund, der für die Wahrheit beziehungsweise für die Richtigkeit eines Urteils spricht, mit den Gültigkeitsbedingungen des Urteils zusammen. Weil die Gültigkeitsbedingungen für alle Urteilenden die gleichen sind und Gründe auf Gültigkeitsbedingungen bezogen sind, muss ein rechtfertigender Grund für andere mit einem berechtigenden Grund für mich identisch sein. Dieser Einwand macht zu Recht die wechselseitige Implikation der Zustimmungswürdigkeit eines Urteils kraft eines rechtfertigenden Grundes und der Anerkennungswürdigkeit durch einen berechtigenden Grund geltend. Aber das muss nicht heißen, dass jeder berechtigende Grund identisch ist mit einem rechtfertigenden Grund. Gründe sind diskursive Wegmarken, die zu den Gültigkeitsbedingungen für Urteile führen. Aber es kann auf diesem Weg verschiedene Markierungen geben, je nachdem, wer mit welchen möglichen Abzweigungen konfrontiert ist, je nach dem also, wer mit welchen denkbaren, alternativen Urteilen konfrontiert ist. Die berechtigenden Gründe eines Klimatologen für sein Urteil, dass der Klimawandel menschengemacht ist, werden vielleicht auf methodologische Probleme der eingesetzten Computersimulationsprogramme gemünzt sein, die Laien unbekannt sind.7 Um es zusammenzufassen: Ein erklärender Grund ist eine Antwort auf eine Frage der Art „Warum ist/war x der Fall?“, die x verständlich macht. Ein rechtfertigender und ein berechtigender Grund sind eine Antwort auf eine Frage der Art: Warum soll man beziehungsweise ich glauben, dass das und nicht jenes der Fall ist oder der Fall war? Warum soll oder darf man beziehungsweise ich dies aber nicht jenes tun? Hier macht die Antwort ein Urteil oder ein Handeln anerkennungswürdig beziehungsweise zustimmungswürdig. Natürlich soll auch ein erklärender Grund etwas zustimmungs- oder anerkennungswürdig machen. Aber 7

Solche Gründe werden zum Beispiel den Zweifel entkräften, dass die Änderungen bestimmter Parameter wie der Wirkungen von Aerosolen (unter anderem Staub und Meersalzpartikel) das Verhalten anderer Parameter wie der Wärmeabstrahlung von Wolken (Wolken-Albedo) im Modell beeinflussen, und zwar ber einen Toleranzbereich hinaus. Vgl. Edwards (2010, 342 ff.).

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dabei handelt es sich um die Erklärung, nicht um das Erklärte. Das Erklärte wird verständlich, nicht aber zustimmungs- oder anerkennungswürdig. Demgegenüber wird das Gerechtfertigte oder Begründete durch rechtfertigende und berechtigende Gründe zustimmungswürdig beziehungsweise anerkennungswürdig. Erklärende, rechtfertigende und berechtigende Gründe sind alle Antworten auf kontrastive Warum-Fragen. Warum verliert im Spätherbst die Eiche ihre Blätter, nicht aber der Kirschlorbeer? Warum soll ich glauben, dass Reaktortypen mit von Wasser gebremsten Neutronen sicher sind, und nicht glauben, dass diese Reaktoren ebenso unsicher sind wie die osteuropäischen Reaktortypen, die mit Graphit die Neutronen bremsen? Es gibt auch nicht-kontrastive Fragen des Typs „Was soll ich/ man über x denken?“, „Was soll ich/man tun?“. Dies sind Fragen, bei denen die Antworten, in denen Gründe angeführt werden, die Fragen in kontrastive Warum-Fragen ummodeln. Soweit eine erste Charakterisierung von Gründen durch die Angabe einer Funktion von Gründen. Ich werde noch auf eine zweite Funktion von Gründen, eine Indikatorfunktion, zu sprechen kommen. Aber zunächst möchte ich ein weitere Charakterisierung von Gründen durch ihre sprachliche Form geben.

Exkurs: Zur sprachlichen Form von Gründen Ein Grund für S hat die sprachliche Form der Konjunktion eines WeilSatzes mit einem Satz über S und einem normativen Prädikat: S ist berechtigt/angehalten, x zu glauben/zu tun, weil p. Nach dem „weil“ folgt ein vollständiger Satz, der behauptend verwendet wird. Ein Satz, der – sinnvollerweise – behauptet verwendet werden kann, ist ein Satz, der wahr oder falsch, beziehunsgweise richtig oder falsch sein kann. Aussage- und Aufforderungssätze sind die grammatischen Arten dieser Sätze. Mit ihnen können Urteile gefällt werden. In den Sätzen, die Gründe darstellen, können also auch Ausdrücke für propositionale Einstellungen wie wünschen, befehlen, auffordern oder deontische Operatoren wie „sollen“ vorkommen. In elliptischer Rede nennt man „Grund“ oft auch das, was nach einem „weil“-Satz folgt. Der relationale Aspekt von einem Grund wird in dieser abkürzenden, bisweilen verdinglichenden Rede leicht übersehen. Man muss bei der sprachlichen Darstellung eines Grundes allerdings zwischen zwei Sachen unterscheiden: Einerseits ist da der Grund in seiner

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sprachlichen Form (das Wie der Darstellung des Grundes) und andererseits ist da der Grund als das, was von einem Weil-Satz ausgedrückt wird. Ein Grund hat die sprachliche Form eines Aussage- oder Aufforderungssatzes. Denn Gründe dienen immer auch dazu, einen Anspruch zu begründen, dass etwas gerechtfertigt oder erklärt ist. Nur was die Form von Sätzen haben kann, vermag zu begründen. Denn etwas1 begründen heißt etwas hinsichtlich der Gültigkeitsbedingungen von etwas1 behaupten (= etwas urteilend sagen). Und Urteile haben die Form von Sätzen. Aber das hat nicht zur Konsequenz, dass ein Grund nur etwas Sprachliches ist. Wenn ich nachts erschrocken sage: „Still, da ist jemand im Haus!“ und gefragt werde: „Wieso? Warum glaubst du das?“ und daraufhin antworte: „Weil der Holzboden in der Diele mehrmals geknackt hat“, dann führe ich in der Rechtfertigung eine Tatsache an – die Tatsache, dass der Dielenboden mehrmals geknackt hat. Diese Tatsache ist aber nichts Sprachliches. (Sie ist allerdings etwas wesensmäßig auf eine Sprache Bezogenes.) Die sprachliche Form von Gründen schließt nicht aus, dass der Inhalt von Gründen etwas Nicht-Sprachliches ist. Autoren wie John Searle, Joseph Raz und Charles Larmore sagen deshalb, dass ein Grund eine Tatsache ist. Damit wird der Aussageförmigkeit von Gründen Rechnung getragen. Ein Grund kann wegen dieser Aussageförmigkeit kein kahler Baum oder ein verkürztes Eiweißmolekül oder eine Körperbewegung oder ein Hirnzustand sein. Aber die Gleichsetzung eines Grundes mit einer Tatsache passt nur auf gute Gründe. (Es sei denn, man denkt bei der Tatsache, die ein Grund ist, an die Tatsache des Überzeugt-Seins.9 Aber dieser Gedanke ist zumindest irreführend, wenn nicht oft falsch.) Was für mich eine Tatsache ist, hat für den anderen bloß den Status einer Behauptung von mir. Das macht die Präsupposition deutlich, die im Anführen eines Grundes steckt. Es wird präsupponiert, dass die sprachliche Form von Gründen nur eine Dar8

Searle (2001, 114): „Reasons are factitive entities. The reasons for my action can be facts in the world, such as the fact that it is raining, or they can be intentional states with a factitive structure, such as beliefs and desires, or they can be factitive entities in the world, such as duties, obligations, and commitments […]“. Wie Searle (2001, 103/ Anm. 3) vermerkt, sind für Raz Gründe immer Tatsachen. Vgl. Raz (2006, 18 ff.) Bei Larmore ist ein Grund ein relationaler Sachverhalt des Sprechens von etwas für etwas. Zum Beispiel spricht die Kälte dafür, einen Mantel zu tragen. Larmore betont aber die Normativität des relationalen Sachverhalts, der ein Grund ist. Vgl. Larmore (i.E.), 1. Vorlesung. 9 Vgl. Beckermann (2010, 478): „It is always only the belief that certain reasons obtain […] that brings about any causal effects.“

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stellungsform ist, die dem Dargestellten äußerlich ist. Und diese Präsupposition kann angefochten werden. Die Tatsache erscheint dann nur als propositionaler Gehalt einer Überzeugung. Es ist deshalb am sinnvollsten zu sagen: Ein Grund ist das, was Inhalt eines Für-wahr-Haltens sein kann. Robert Brandom spricht, allerdings en passant und ohne weitere Argumente, von Gründen als believables, als dem Inhalt möglicher Überzeugungen.10 Ich habe bislang zwei Antworten auf die Frage gegeben: „Was sind Gründe?“. Ein Grund ist eine Art Passierschein oder Überweisungsschein. Das war die erste Antwort. Und ein Grund, der seine Funktion erfüllt, ist eine einsichtsstiftende Antwort auf eine kontrastive WarumFrage. Das war die zweite Antwort. Wie hängen die beiden Antworten zusammen? Bei rechtfertigenden und berechtigenden Gründen ist der Zusammenhang leicht zu sehen: Sie berechtigen oder halten dazu an, überzugehen von dem, was rechtfertigt oder berechtigt, zu dem, was dadurch als gerechtfertigt oder legitimiert einsehbar ist. Was aber ist der Übergang bei erklrenden Gründen? Hier ist der Übergang der von einer Beschreibung, die das Erklärungsbedürftige zunächst charakterisiert, zu einer Beschreibung, unter der das Erklärungsbedürftige verständlich wird. Das Abfallen der Blätter des Laubbaumes wird neu als Schutzmechanismus beschrieben. Der Grund ist der erstrebte Zustand, am Leben zu bleiben, in Beziehung zu dem die Entlaubung ein zweckmäßiger Vorgang ist. Der Einladungsbrief von Lahm wird neu als Versöhnungsangebot dargestellt. Der Grund ist ein von Lahm erwünschtes Verhältnis zu Ballack; und in Bezug darauf ist der Einladungsbrief eine förderliche oder inaugurierende Handlung. Die Korrelation zwischen niedrigen Steuersätzen und hohen kommunalen Hausgebühren wird als Teil einer Ursache-Wirkungskette beschrieben. Der Grund ist eine Reaktion der Kommunen auf Steuerausfälle, in Bezug auf die die hohen Gebühren jetzt als eine Kompensation erscheinen. Ein erklärender Grund, verstanden als eine Antwort auf eine Warum-Frage, erlaubt einen Übergang von einer Beschreibung zu einer Neubeschreibung. Er macht im Zuge einer Neubeschreibung einen erklärungsbedürftigen Sachverhalt verständlich. Diese These ähnelt der von Donald Davidson über Handlungsgründe. Ein Handlungsgrund, so Davidson, 10 In seinem Kommentar zu Sellars (1997, 122 f.): „’Nothing can count as a reason for endorsing a believable except another believable’, where believables are the contents of possible beliefs, that is, what is propositionally contentful.“

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„[macht] die Handlung durch Neubeschreibung verständlich.“11 Aber es ist bei Davidson nicht klar, warum allein schon eine Neubeschreibung von etwas, hier von einer Handlung, diese verständlich macht. Lahms Einladungsbrief könnte ja auch als ein Versuch beschrieben werden, den Bundestrainer Löw wohl gesonnen zu stimmen. Eine Neubeschreibung allein macht noch nichts verständlich. Genauer besehen, setzt ein erklärender Grund zum Beispiel ein Vorkommnis oder eine Handlung oder einen statistischen Sachverhalt in Beziehung zu einem erstrebten Zustand, zu einem gewünschten Ziel, zu einer Kausalkette. Das Erklärungsbedürftige bekommt als Glied einer solchen Beziehung eine neue Beschreibung. Erst diese Inbezugsetzung stiftet zusammen mit der Neubeschreibung das zuvor fehlende Verständnis.

3. Gründe und normativer Status Die Beantwortung der Frage, was Gründe sind, kann vertieft werden, wenn man überlegt: Was folgt aus einem Grund in Bezug auf denjenigen, für den der Grund ein Grund ist? Damit komme ich zu einer dritten Charakterisierung: Gründe haben einen normativen Status zur Konsequenz. Ein Grund für S oder von S verleiht S einen normativen Status. (Deshalb ist es falsch, Gründe als Dispositionen zu Urteilen oder zu Handlungen aufzufassen.) Ein normativer Status ist eine Position in einer maßstabsbasierten Ordnung, wobei auf die Position in bestimmter Weise reagiert werden soll oder darf. Man denke an den normativen Status eines Rechtssubjekts. Hier ist die Ordnung eine Ordnung von Ansprüchen und Verbindlichkeiten. Zum normativen Status eines Rechtssubjekts gehört, dass die Missachtung eines Anspruches oder eines Rechts unterlassen werden soll. Ein anderer normativer Status ist der Status eines Funktionsträgers. Das Herz hat den Status einer Blutpumpe. Auf es sollen andere Organe des Körpers nicht so reagieren, dass diese Funktionserfüllung unmöglich wird. Wenn man so spricht, dann wird ein Organismus als eine normative Ordnung aufgefasst. Eine dritte Art von normativem Status ist, Objekt einer Einstufung in einer Rangordnung zu sein, zum Beispiel die schnellste Läuferin, der wertvollste Edelstein oder der schlechteste Schüler zu sein. Die normative Ordnung hat hier die Gestalt einer 11 Davidson (1985, 34; 2001, 13): „a reason makes an action intelligible by redescribing it.“

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Hierarchie. Die gebotene oder gestattete Reaktion ist zum Beispiel, dass das so eingestufte Objekt vergleichsweise vorgezogen oder zurückgestellt beziehungsweise zurückgewiesen werden soll oder darf. Für einen normativen Status ist die Zusammengehörigkeit von Position und gebotener oder gestatteter Reaktion wesentlich. Jemand oder etwas erhält nicht schon einen normativen Status, weil es zutreffend mit einem normativen Begriff beschrieben werden kann. Ein hervorragender Gesundheitszustand ist etwas, das mit einem normativen, hier spezifischer: mit einem evaluativen Begriff charakterisiert wird. Aber erst wenn eine gebotene oder gestattete Reaktion auf den so charakterisierten Zustand zur Vervollständigung der Charakterisierung hinzutritt, liegt ein normativer Status vor. Ein Grund von S oder für S verleiht S einen normativen Status in diesem Sinn. Was ist das für ein normativer Status? Die Antwort findet sich im Wesentlichen bei Robert Brandom12 : S hat den Status, berechtigt zu sein, von etwas überzugehen zu einem Urteil oder einer Handlung. Oder S hat den normativen Status, angehalten oder vielleicht sogar verpflichtet zu sein, einen solchen Übergang zu vollziehen. Die zugehörigen Reaktionen können verschieden ausfallen. So kann es sein, dass man hinnehmen muss, dass S von x nach y übergeht, wenn S dazu berechtigt ist; oder dass man aufgefordert ist, zu prfen, ob man selbst so urteilen oder handeln sollte, wie S berechtigt ist, zu handeln oder zu urteilen. Der Südtiroler Bergsteigerstar Karl Unterkircher war wegen seines anhaltend mulmigen Gefühls gerechtfertigt (genauer: wäre gerechtfertigt gewesen), die Nanga-Parbat-Besteigung auf dieser Route zu unterlassen. Andere Bergsteiger im Himalaya sollten dieses Gerechtfertigtsein zum Anlass nehmen zu prüfen, ob sie von dieser Route Abstand nehmen sollten. Auch kann die gebotene oder gestattete Reaktion, die mit einem normativen Status von S verbunden ist, darin bestehen, dass man S beipflichten muss, also dass man sich das Urteil oder den Handlungsentschluss von S zu eigen machen muss. Andere Reaktionen sind vermittelter. So kann es sein, dass man bewundernd zustimmen oder zweifelnd nachfragen darf oder sich kopfschüttelnd abwenden sollte oder aufregen muss und Kritik üben darf in Reaktion auf S. Hier erfolgt die Reaktion auf einen normativen Status, den S durch seine Stellungnahme zu Gründen erwirbt. Ein Grund fr S wird ein Grund von S oder eben auch nicht. S 12 Robert Brandom: „[…] deontic statuses come in two flavors. Coordinate with the notion of commitment is that of entitlement“ (1994, 159).

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wird dann als kurzsichtig oder als umsichtig charakterisiert. Oder S wird als begriffsstutzig beschrieben, wenn ein erklärender Grund für S kein Grund von S wird und S nicht sieht, wie der Grund zum Verständnis von etwas Erklärungsbedürftigem beiträgt.

4. Ein intellektualistisches Missverständnis des Begriffs vom Raum der Gründe Die leitende Frage war und ist: Was geschieht eigentlich im Raum der Gründe? Die bisherigen Überlegungen zu Gründen erlauben eine vorläufige Antwort (vorläufig, weil unvollständig): Im Raum der Gründe werden kontrastive Warum-Fragen gestellt. Es werden Antworten gegeben, die den Gegenstand der Frage verständlich machen, rechtfertigen beziehungsweise begründen sollen. Es werden mit diesen Antworten Überzeugungen gegen Zweifel verteidigt und unter dem Eindruck von Zweifeln gebildet oder revidiert. Es werden Handlungen empfohlen und Unterlassungen verlangt. Oder es werden zum Beispiel Vorkommnisse, Taten und Korrelationen neu beschrieben und unter dieser Neubeschreibung verständlich gemacht. Bei alledem verleiht man einen variierenden normativen Status an bestimmte Bewohner des Raums der Gründe. Das alles klingt so, als sei der Raum der Gründe ein Gesprächsraum, in dem Plätze in einer Rangordnung vergeben werden. Nennen wir das die Seminarraumauffassung vom Raum der Gründe! Diese Auffassung würde ein verzerrtes Bild vom Raum der Gründe zeichnen. Der Raum der Gründe erschiene abgetrennt und isoliert von der Welt, in der man das Kahlwerden von Bäumen im Spätherbst sieht, in der man mit Elektronenmikroskopen hantiert und die Eiweißmoleküle namens Telomere sichtbar macht, in der man das Altern erlebt oder registriert, in der einen mulmige Gefühle beschleichen oder in der man Vertreter von Steuerbehörden aufsucht und zu ihrer Gebührenpolitik befragt. Simon Blackburn spricht kritisch davon, dass der Raum der Gründe ein gegenüber der Welt versiegelter Raum ist.13 Eine solche separatistische Auffassung vom Raum der Gründe begünstigt die Konzeptualisierung von guten Gründen als kohärente Gründe. Nida-Rümelin zielt auf eine solche Konzeption von Gründen ab, will aber zugleich an einer 13 „It is the entire space of the mind, and it is hermetically sealed“ (Blackburn 2001, 139). Vgl. auch Blackburn (2010, 264 – 271).

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nicht-instrumentalistischen, realistischen Deutung von (lebensweltlichen) Überzeugungen festhalten.14 Die Frage ist dann, wie Kohärenz und Realismus zusammengehen. Um in dieser Frage weiterzukommen, müsste eine Versiegelung des Raums der Gründe vermieden werden. Warum aber ist die Seminarraumauffassung von einem solchen versiegelten Raum überhaupt irreführend? Man erhält eine Antwort, wenn man die Aufmerksamkeit etwas verlagert. Bislang habe ich den Bezug von Gründen auf Urteilssubjekte und Akteure hervorgehoben. Man könnte hier von einer pragmatischen Dimension der Gründe sprechen. Unter dem Aspekt dieser Dimension wurde auf die Funktion von Gründen hingewiesen, jemandem Antworten auf kontrastive Warum-Fragen zu geben. Und es wurde die Rolle von Gründen als Passier-und Überweisungsscheine skizziert. Man kann Gründe aber auch unter dem Aspekt ihrer semantischen Dimension betrachten. Damit sind die Gehalte von Gründen gemeint und ihre Verbindung zu Wahrheitsbedingungen oder genereller zu den Gültigkeitsbedingungen von deskriptiven, bewertenden und präskriptiven Urteilen. In Hinsicht auf diese Bedingungen soll ein Grund anzeigen, dass die Gültigkeitsbedingungen (oder enger: die Wahrheitsbedingungen) erfüllt sind. Das haben Charles Larmore, Thomas Scanlon und Ernst Tugendhat im Blick, wenn sie sagen: Ein Grund ist etwas, das für ein Urteil, eine Handlung, eine Absicht spricht.15 (Gemeint ist hier ein guter Grund.) Ein Grund hat eine Indikatorfunktion. Er soll ein Indikator von etwas als einem Erfüller von Gültigkeitsbedingungen sein. Diese Funktion steht nicht isoliert neben den Funktionen von Gründen, die schon genannt wurden, also der Aufgabe von Gründen, etwas verständlich, gerechtfertigt beziehungsweise begründet sein zu lassen. Ein Grund macht eine Tatsache verständlich, rechtfertigt eine Handlung beziehungsweise ihre Absicht oder begründet ein deskriptives Urteil, indem er etwas als Erfüller der Gültigkeitsbedingungen anführt. (Ich werde der Einfachheit halber im Folgenden nur von Wahrheitsbe14 Nida-Rümelin (2009, 20 f.). 15 „[…] mit einem Grund meinen wir etwas, was für etwas spricht, und dieses zweite ,etwas‘ ist wohl immer ein Urteil oder eine Absicht oder eine Handlung.“ (Tugendhat 2001, 143) unter Bezugnahme auf Scanlon. Thomas Scanlon: „Any attempt to explain what it is to be a reason for something seems to me to lead back to the same idea: a consideration that counts in favor of it“ (Scanlon 1998, 17). Larmore (i.E.) versucht die Gleichsetzung eines Grundes mit einem guten Grund dadurch zu vermeiden, dass für ihn ein Grund immer nur in einer Hinsicht für etwas spricht.

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dingungen sprechen, also von den Gültigkeitsbedingungen für Aussagen oder deskriptive Urteile.) Warum ist die Autobahnbrücke des Ruhrschnellwegs bei Essen zusammengestürzt?16 Weil ein alter Bergwerksstollen wegen extremer Regenfälle einbrach und so die Fundamente der Autobahnbrücke zerstörte. Der erklärende Grund soll verständlich machen, warum die Brücke zusammengestürzt ist und nicht stabil geblieben ist wie all die Jahre. Er soll verständlich machen, warum die Wahrheitsbedingungen der Aussage (1) Die Autobahnbrcke des Ruhrschnellwegs bei Essen ist zusammengestrzt erfüllt sind. Der Grund tut das, indem er ein Vorkommnis, hier: den Zusammenbruch des Bergwerkstollens, als Ursache für die Zerstörung des Brückenfundaments darstellt. Der Zusammenbruch des Stollens und die Zerstörung des Brückenfundaments haben die Rolle von Erfüllern der Wahrheitsbedingungen für die Aussage, die die erklärungsbedürftige Tatsache angibt, dass die Autobahnbrücke des Ruhrschnellwegs bei Essen zusammengestürzt ist. Der Grund zeigt bestimmte Ereignisse als etwas an, was diese Wahrheitsbedingungen erfüllt sein lässt. Genereller gesprochen: Ein Grund soll solche Entitäten anzeigen, die Wahrheitsbedingungen erfüllt sein lassen oder die zu deren Erfüllung beitragen. Diese Entitäten können auch ganz weltartige Dinge und einstellungstranszendente Dinge sein – Bäume im entlaubten Zustand, verkürzte Telomere, zerstörte Brückenfundamente, Erdbeben, Handbewegungen, Ionenflüsse in Nervenzellen. Sie sind das, was dazu beiträgt, dass es Tatsachen gibt, sodass die Wahrheitsbedingungen oder genereller die Gültigkeitsbedingungen von Urteilen erfüllt sind. Gründe dürfen allerdings nicht mit diesen Entitäten gleichgesetzt werden. Denn sie haben epistemische Eigenschaften, die diese Gebilde nicht haben. Ein Grund kann überzeugend, bedenkenswert, rechtfertigend, unsinnig, vernünftig sein. Physiologische Zustände, zerstörte Brückenfundamente, kleiner gewordene Eiweißmoleküle können aber nicht unvernünftig, unplausibel, erwägenswert, rechtfertigend sein. Gründe haben diese Eigenschaft, weil sie eine Indikatorfunktion haben, die sie gut oder besser oder gar nicht erfüllen können. Sie sind das, was Vorkommnisse, Zustände, Körperbewegungen, Eigenschaften, aber auch Tatsachen, Handlungen, propositionale Einstellungen in Beziehung zu Wahrheitsbedingungen setzt. Gründe sind etwas, das Entitäten wie Vorkommnisse, Zustände und so weiter in die Beziehung der Erfüllung 16 Die Illustration ist einem Beispiel von Searle nachempfunden. Bei Searle ist der Ruhrschnellweg der „Oakland freeway“ (Searle 2001, 107 f.).

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oder Nichterfüllung von Wahrheitsbedingungen setzt. Ein Grund ist etwas, was solche Entitäten als Erfüller oder als Beitragende zur Erfüllung von Wahrheitsbedingungen anzeigen soll. Diese Funktion eines Indikators ist nicht das gleiche wie eine Garantiefunktion. Ein Grund muss nicht das Erfülltsein der Wahrheitsbedingungen garantieren, indem er etwas anzeigt, das notwendigerweise diese Bedingungen erfüllt sein lässt. Ein guter Grund muss kein zwingender oder deduktiver Grund sein. Entsprechend hängt die Autorität eines Grundes als Passier- oder Überweisungsschein nicht davon ab, dass auf der Ebene der Gehalte eine wahrheitserhaltende Folgerungsbeziehung zwischen begründungsbedürftigen und begründenden Aussagen besteht. Gründe haben die Aufgabe, dasjenige in der Natur und in der kulturellen Welt der Handlungen und Urteile für Akteure und Urteilende herauszupicken, was als Erfüller von Wahrheitsbedingungen zur Wahrheit hinführt. Wenn man diese Indikatorfunktion beachtet, versteht man, warum die Seminarraumauffassung vom Raum der Gründe in die Irre führt. Die Entitäten, die diese Rolle von Erfüllern der Wahrheitsbedingungen haben, müssen zugänglich gemacht werden für denjenigen, für den etwas ein Grund sein können soll. Diese Zugänglichkeit wird erreicht über Wahrnehmungen, Erlebnisse und Mitteilungen und ihre Interpretationen.17

5. Schlussfolgerungen Das angedeutete Argument gegen die Seminarraumauffassung vom Raum der Gründe zeigt schon eine der Schlussfolgerungen aus dem Gesagten an. Ich hatte eingangs erwähnt, dass der Begriff vom Raum der Gründe eine wichtige Rolle spielt bei der Formulierung von Anforderungen an die Wissenschaften vom Menschen, sofern Menschen Perso-

17 Die Bindung von Gründen an Wahrheitsbedingungen muss nicht dazu führen, dass man dem Aussagegehalt von sinnlichen Erfahrungen das fundierende letzte Wort in der Begründungskette einräumt. – J. Nida-Rümelin hat zu Recht darauf hingewiesen, dass „(einzelne) Beobachtungsdaten […] bei weitem nicht die Relevanz [haben], die die ältere empiristische Wissenschaftstheorie angenommen hat“ (2006, 91). Zu einem Versuch, sinnlich vermittelte (Widerfahrnis) Erfahrungen und Interpretationen dieser Erfahrungen in ein richtiges Verhältnis zu bringen, vgl. Wingert (2002).

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nen sind. Meine abschließenden Bemerkungen betreffen diese Anforderungen: 1. Mit der Kritik an der Seminarraumauffassung geht einher die Absage an ein überintellektualistisches Bild von den Bewohnern des Raums der Gründe. Dieser Raum ist nicht abgeriegelt gegen die Erfahrungswelt, in der sich Personen als fühlende, erlebende, intervenierende Lebewesen bewegen. Zum Inhalt von Gründen können entsprechend auch Gefühle, Stimmungen, Wahrnehmungen und Widerfahrniserfahrungen wie die Erfahrung der Verwunderung, der Enttäuschung und der Erfüllung von Erwartungen gehören. Eine Wissenschaft vom Menschen, die den Raum der Gründe im Blick behält, muss den Bewohner des Raums der Gründe nicht als „Kopf ohne Welt“ (Elias Canetti) verstehen. 2. Die bei Naturalisten wie Gerhard Roth anzutreffende Auffassung von Gründen als sozialverträgliche Rationalisierungen eines Verhaltensgeschehens18 ist unplausibel. Gegen diese Auffassung spricht unter anderem die Indikatorfunktion von Gründen. Unter dem pragmatischen Aspekt der Beziehung ,Grund-Urteilender beziehungsweise Akteur‘ betrachtet, sind Gründe eine Art Passier- oder Überweisungsschein, von etwas zu einem deskriptiven oder normativen Urteil überzugehen. Gültige Passier- und Überweisungsscheine haben eine gewisse Autorität hinter sich, die auch den mit ihnen verbundenen normativen Status des Urteilenden oder Handelnden stützt. Diese Autorität rührt nicht allein von dem sozialen Faktum, dass eine bestimmte Instanz diesen Übergang hinnimmt, begrüßt oder verlangt – gleichgültig ob diese Instanz der Papst, die Analysten der Finanzmärkte, die Partei, die Leitkultur, die Fachkollegenschaft oder der Wissenschaftsrat ist. Die Autorität verdankt sich auch bestandenen Konfrontationen mit Realitäten jenseits dieser Instanzen19, weil gute Gründe gute Indikatoren für Erfüller von Gültigkeitsbedingungen sind und diese Gültigkeitsbedingungen nicht immer mit propositionalen Einstellungen zusammenfallen. 3. Die Wissenschaften vom Menschen können nicht auf normative Begriffe verzichten, wenn sie Menschen im Raum der Gründe untersuchen. Ein solcher Verzicht schlösse wohl die Auffassung von Gründen 18 Vgl. Roth: „Die […] Erkenntnis lautet, dass das bewusste Ich wenig bis keine Einsichten in das hat, was seinen Wünschen, Plänen und Handlungen tatsächlich zugrunde liegt. Das Ich legt sich Erklärungen zurecht, mit denen es vor sich selbst und den anderen bestehen kann; diese haben aber häufig wenig mit den eigentlich bestimmenden Geschehnissen zu tun“ (2003, 151). Vgl. auch ebd. 171 sowie Roth (2001, 370). 19 Vgl. die Überlegungen dazu in Wingert (2001).

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als eine Art Disposition ein. Ein Grund fr S wäre dann die prognostisch erwartbare Disposition von S und ein Grund von S die tatsächliche Disposition, von etwas überzugehen zu einer Überzeugung oder zu einem Entschluss. Ein Grund kann aber nicht naturalistisch neu als Disposition beschrieben werden. Denn eine Disposition kann nicht diejenige Art von normativem Status verleihen, die ein Grund verschaffen kann. Zu diesem Status gehören nicht bloß faktische, sondern auch gebotene oder gestattete Reaktionen auf den Statusinhaber. Der deontische oder normative Charakter von solchen Reaktionen hat seine legitime Grundlage darin, dass ein Grund unter dem semantischen Aspekt des Gehaltes eine Beziehung zu Gültigkeitsbedingungen oder enger: zu Wahrheitsbedingungen herstellt. Wenn ein Grund eine Disposition wäre, dann müsste eine Disposition diese Erfüllungsbeziehung zu Wahrheitsbedingungen herstellen. Ich sehe nicht, wie das gehen soll. Die Entitäten, die die Erfüller von solchen Gültigkeits- oder Wahrheitsbedingungen sind, müssten sich als Erfüller „outen“, wann immer ein Lebewesen mit wahrheitsfähigen Einstellungen – mit Gedanken oder Sätzen in ihrer Nähe wäre. Das würde vielleicht eine posthoc-Beziehung, nicht aber eine legitimierende propter-hoc-Relation zwischen jenen Entitäten und diesen Gedanken des reagierenden Lebewesens stiften. Oder diese Dinge müssten die Kraft haben, sich selbst zur Sprache zu bringen. Es ist, so mein Argument, der normative Charakter der statusbezogenen Reaktionen, der eine Auffassung von Gründen als eine Art von Dispositionen ausschließt. Diese normativen, statusbezogenen Reaktionen gehören zum Kern unseres Selbstverständnisses, das nach Julian NidaRümelin den Inhalt des theoretischen Humanismus ausmacht.

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Humanismus und Naturalismus

Humanismus als Naturalismus Zur Kritik an Julian Nida-Rümelins Entgegensetzung von Natur und Freiheit

Volker Gerhardt 1. Anlass und Absicht. Die Einladung zu diesem Vortrag war mit der Aufforderung verbunden, etwas zum Jahr der Geisteswissenschaften beizutragen. Dass dieses Jahr aber nur der kalendarische Rahmen der Veranstaltung, das szientifische Ziel hingegen die Auseinandersetzung mit der Philosophie Julian Nida-Rümelins sein sollte, habe ich erst kurz vor der Veranstaltung realisiert. Die Organisatoren waren so freundlich, mir zu versichern, ein Bezug zum Jahr der Geisteswissenschaften (Gerhardt 2007a, 6 – 14) sei durchaus willkommen. Ich nutze ihn zu einer kritischen Prüfung der von Julian Nida-Rümelin vorgenommenen Abgrenzung zwischen Naturalismus und Humanismus. Meine Kritik mündet in ein Lob für seine Freiheitstheorie, die ich am Ende durch den Punkt ergänze, der mir in der Kritik an der Trennung von Naturalismus und Humanismus vorrangig erscheint. 2. Parallele und Gegensatz. Julian Nida-Rümelin hat in zwei Vorträgen des Jahres 2003 zur Lage der Geisteswissenschaften Stellung genommen. Sie sind in einem Sammelband unter dem schönen Titel Humanismus als Leitkultur erschienen und überaus lesenswert (Nida-Rümelin 2006, 49 – 56). Die treffende Formel, die den Humanismus mit guten Gründen in die aktuelle politische Debatte einbringt, habe ich an anderer Stelle kommentiert (Gerhardt 2007a, 434 f.). Die in unserem Zusammenhang nahe liegende Frage ist, wie sich der Humanismus zur Wissenschaft verhält und was er mit den disziplinären Unterscheidungen zu tun hat, die nicht unabhängig von den Themen sind, um die es dem Humanismus geht. Das tritt nicht gleich in den Blick, wenn wir, wie es in Deutschland üblich geworden ist, von „Geisteswissenschaften“ auf der einen und „Naturwissenschaften“ auf der anderen Seite sprechen. Aber wir brauchen nur die in der Sache viel besser passende Bezeichnung „Human-

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wissenschaften“ heranzuziehen, um zu erkennen, dass es eine Verbindung zwischen dem Humanismus und der Einteilung der Disziplinen gibt. Die Geisteswissenschaften scheinen die Erbschaft des Humanismus fortzusetzen, während die Naturwissenschaften davon eher nicht berührt erscheinen. Stehen sie dem Erbe der Humanität vielleicht sogar entgegen? Die Vermutung ist so abwegig nicht. Sieht man, wie wichtig es Julian Nida-Rümelin ist, den Humanismus vom Naturalismus abzugrenzen, und nimmt man hinzu, dass der von ihm gemeinte Naturalismus wesentlich in der Präferenz für die Ergebnisse der Naturwissenschaften besteht, dann scheinen sich Human- und Naturwissenschaften zu verhalten, wie Humanismus und Naturalismus. Da Nida-Rümelin den Humanismus als einen „Non-Naturalismus“ versteht, den Naturalismus aber als eine Auffassung vorstellt, die davon ausgeht, „dass grundsätzlich alle Phänomene, einschließlich mentaler und speziell intentionaler Zustände und Prozesse, also auch menschliches Handeln, mit naturwissenschaftlichen Methoden vollständig beschrieben und erklärt werden können“ (Nida-Rümelin 2005, 35), scheint es sogar zu einer Art Gegensatz zwischen Geistes- und Naturwissenschaften kommen zu müssen. Stehen Humanismus und Naturalismus in Opposition, dann wird man auch ihre Leitwissenschaften in einen Gegensatz bringen müssen. Diese Schlussfolgerung käme gängigen Vorstellungen entgegen, hätte aber wenig mit der sachlichen Nähe, den methodologischen Gemeinsamkeiten und den weitgehend deckungsgleichen Zielen von Natur- und Geisteswissenschaften zu tun. Es mag zwar sein, dass die historischen Missverständnisse auf beiden Seiten zur Entfremdung zwischen den Wissenschaftszweigen geführt haben. Aber wenn wir sehen, dass von ihrer Trennung bis ins frühe 19. Jahrhundert noch gar nicht die Rede war, dass sie sich auf vielen Gebieten längst wieder angenähert haben und heute unter dem Anspruch der Lebenswissenschaften zu enger Zusammenarbeit genötigt sind, dann ist es mehr als fragwürdig, sie gegeneinander stellen zu wollen. Wenn dies aber im Verhältnis der Wissenschaften so ist, muss gefragt werden, ob es angemessen ist, das parallel zu den Disziplinen angelegte Verhältnis zwischen Humanismus und Naturalismus nach Art einer Opposition zu begreifen. 3. Motiv und Grund. Im Unterschied zu Nida-Rümelin – und ausnahmsweise einmal in Übereinstimmung mit Karl Marx – gehe ich von der Vereinbarkeit von Naturalismus und Humanismus aus. Nur in der selbstbewussten Einbindung des Menschen in eine Natur auf die er sich

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verlassen können muss, wenn er denn überhaupt handeln können soll, gelingt es ihm, in Übereinstimmung mit sich selbst zu sein. Das war es, was der junge, noch ganz der romantischen Stimmung Schellings verbundene Marx mit dem konkludenten Doppelziel der „Naturalisierung des Menschen“ und einer „Humanisierung der Natur“ erhoffte.1 Der Mensch ist Natur und kann ihr durch nichts entkommen: durch nichts, was aus dieser Natur erwächst, auch durch nichts, was er aus ihr (und insofern auch aus sich selbst) macht. Die Selbstbestimmung, in der die Freiheit des Menschen zu dem für ihn spezifischen Ausdruck kommt, ist ein spezieller Fall der Selbstorganisation, in der sich das Lebendige als spezieller Fall der Natur erweist. Diese These geht von der alten Überzeugung aus, dass die Vernunft zur Natur des Menschen gehört. Die Vernunft, oder wie ich mit Julian Nida-Rümelin sagen kann: die strukturelle Rationalitt, ist ein wesentliches Kennzeichen des Menschen. Sie erlaubt ihm, die Verbindung zwischen seinem Selbstbegriff als individuelle Person und der von ihm in der Selbstbestimmung auf Distanz gebrachten Welt technisch einsichtig zu machen. Das technisch wirksame Mittel sind die Gründe, in denen sich der Einzelne des Grundes versichert, auf dem er als selbstbewusster Teil der Natur mit seinesgleichen stehen kann. Wenn ich Gründe als „angeeignete Motive“ fasse (Gerhardt 1999, 294 ff.), steht zugleich die selbstbewusste Aneignung der eigenen Natur des Menschen durch ihn selbst im Vordergrund. Zu ihr gehört die Erwartung, dass Gründe, gerade auch die eigenen Gründe, einen allgemeinen Anspruch mit sich führen, der Anderen einsichtig sein kann. In der Anerkennung eines Motivs als eines eigenen Grundes liegt das ganze Geheimnis des Übergangs von der Natur zum Geist. Weit davon entfernt, das Geheimnis zu entschlüsseln, bietet schon die Tatsache und die Art des Übergangs die Gewissheit, dass mit ihm die Natur nicht verlassen wird. Über Gründe statt über Motive zu sprechen, setzt einen 1

Wörtlich lautet die Passage: „Also die Gesellschaft ist die vollendete Wesenseinheit des Menschen mit der Natur, die wahre Resurrektion der Natur, der durchgeführte Naturalismus des Menschen und der durchgeführte Humanismus der Natur“ (Marx 1844, 538). Wie ernst Marx die Sache ist, zeigt auch die vorher geäußerte Erwartung: „Das Tierische wird das Menschliche und das Menschliche das Tierische“ (Ebd., 515). Ferner die Aussage über das Wesen des von ihm gewollten Kommunismus: „Dieser Kommunismus ist als vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanismus = Naturalismus, er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen […]“ (Ebd. 536). Dazu: Gerhardt 2001, 339; 2008.

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anderen Zustand der Organisation des zur Erklärung anstehenden Vorgangs voraus, ganz ähnlich, wie es schon im Übergang von den Ursachen zu den Motiven ist. Ursachen unterstellen lineare Wirkungszusammenhänge mechanischer Art. Für sie reicht ein physikalisches Verständnis der Wirkungszusammenhänge aus. Motive sind bewusst gewordene Antriebe lebendiger Systeme, die sich mithilfe eigener Einsichten steuern. Im Unterschied zu Ursachen sind sie auf das Ganze eines lebendigen Organismus bezogen. Sie lassen sich in einer psychologischen Reflexion auf die selbstbewussten Bewegungsimpulse dieses Organismus erfassen. Grnde sind die durch das Ganze einer Person im Bewusstsein ihrer geschichtlich-gesellschaftlichen Stellung akzeptierten Erklärungen, die auch Anderen einleuchten sollen. Ursachen verknüpfen jeweils für sich genommene Zustände oder Ereignisse zu einem wirksamen Geschehen; sie bezeichnen nur die Verbindung zwischen einem Auslöser und seiner Folge. Motive zeigen dem seiner selbst bewussten Organismus Dispositionen an, nach denen er sich als ganzer bewegen kann; in ihnen sind die Ursachen in die organische Einheit eines psychophysischen Vorgangs integriert. Grnde sind für zureichend erachtete Motive zu Handlungen, in denen sich ein sich selbst bestimmendes Individuum im Kontext seiner sozialen Selbstauffassung versteht. Gründe sind niemals bloß auf physikalische Ereignisse oder psychische Zustände bezogen; in ihnen kommt immer auch das gesellschaftliche Selbstverständnis des Handelnden zum Ausdruck. Soweit mir bekannt ist, vertritt niemand die These, dass die physikalisch beschriebene Natur von den Lebewesen, die sich in ihr bilden, verlassen wird. Mit der Selbstorganisation biologischer Systemeinheiten kommt es lediglich zu einer neuen Form des Zusammenwirkens gegebener physikalischer Kräfte. Die ganzheitliche Form ist hier in der Einheit des Organismus gegeben. Entsprechendes gilt für den Übergang einer Beschreibung der Selbstbewegung biopsychischer Einheiten zu ihrer Selbstbeschreibung als sich nach allgemeinen Gründen selbst bestimmende rationale Wesen. Sie bleiben in dem, worauf sich ihre Rechtfertigung bezieht, durch und durch lebendig. Das gilt für ihre Haltung, ihre Handlung, ihr Urteil und für ihr Selbstverständnis. Selbst wer sich als ein Intellektueller begreift, kann damit weder auf seine physische noch auf seine animalische Existenz verzichten. Die Intellektualität liegt nicht in der Abkehr von der eigenen Natur, sondern darin, dass man sich in einer spezifischen, von der Natur ermöglichten, von ihr getragenen und gestalteten Form auf seinesglei-

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chen bezieht, die, wie man selbst, in diesem Bezug den für sie entscheidenden Impuls erkennen. Darin bleibt auch der snobistische Intellektuelle abhängig von denen, auf die er herunter sieht. Die maßgebende Form des Geistes liegt in der unterstellten Gesamtheit der sich im Medium von Gründen verstehenden lebendigen Wesen. Die erste Stufe ist physikalisch, die zweite biopsychisch und die dritte sozial. Wenn es gilt, die dynamische Wirkung einer ganzheitlichen Form zu verstehen, bleibt man wesentlich auf die Kenntnis der physikalischen Gesetze angewiesen, auch wenn sie allein nicht den vollen Aufschluss über die Wirkungsweise der systemischen Einheit der Selbstorganisation des Lebendigen gewähren. Die lebendigen Wesen verbleiben also selbst als Gegenstände einer ihrer Lebendigkeit angemessenen Erklärung ihrer psychischen Dynamik im Bereich der physikalischen Natur, in der sie als besonders auffällige Erscheinungen gelten können. Entsprechendes gilt für die sich als rational begreifenden Individuen: Sie müssen nicht etwa auf ihre biopsychische Lebendigkeit verzichten, um mit ihrer rationalen Explikation ihrer eigenen Motive zur Begründung ihres Verhaltens überzugehen. Sie verstehen sich als rationale Wesen im sozialen Kontext nur, insofern sie sich als physische Körper und zugleich als lebendigempfindende Organismen verstehen. 4. Leben und Geist als Formen der Natur. Im Vergleich zu den kosmischen Sensationen von Sonne, Mond und Sternen, erst recht wenn wir in technischer Vergrößerung die Geburt oder den Tod von Sternenhaufen, die Kollision von Galaxien oder die Existenz von Schwarzen Löchern gewahren, kann das Leben unauffällig wirken. Der Kosmologe kann behaupten, es komme nur in der hauchdünnen Atmosphären- und Bodenschicht unserer Erde vor. Doch da wir uns selbst in diesem dünnen Film der Biosphäre bewegen, können uns die Erscheinungen des Lebens gar nicht entgehen. Und dies vor allem deshalb nicht, weil wir selbst lebendig sind. Die Auffälligkeit des Lebens besteht mindestens für das Lebendige selbst. Das Lebendige tritt insbesondere für das Lebendige gleicher Art hervor. Das gilt vor allem im Vorfeld der Vermehrung, in der Brutpflege oder im Schutzzusammenhang sozialer Verbände. Aber auch bei der Nahrungssuche und in der Gefahrenabwehr gilt dem bewegten anderen Leben eine verstärkte Aufmerksamkeit. Der Mensch hat hier eine sich schon früh zeigende Reizbarkeit, die sich dadurch ankündigt, dass er mit unbelebten Objekten spielt als seien sie lebendig.

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Aufmerksamkeit, Wahrnehmung oder Spiel sind ebenso wie die Handlung oder die Erklärung nach Motiven oder Gründen Lebensvollzge, die unser Verständnis der Natur bereichern. Sie so anzusehen, als fielen sie aus der Natur heraus, widerspräche der alltäglichen Intuition. Auch wissenschaftlich wäre es befremdlich, sie in ein Jenseits der Natur zu verweisen. Das liefe auf eine Exilierung der Physiologie, der Biologie, der Ökologie oder der Ökonomie aus den Naturwissenschaften hinaus. Alle nicht-physikalischen Disziplinen hätten das Stammland der Physik zu verlassen, um sich außerhalb der vorgeblich nur von ihr beschriebenen Natur anzusiedeln. Wo aber fänden sie einen ihnen angemessenen Ort? Eine seit etwa zwei Jahrzehnten mögliche Antwort könnte lauten: In den „Lebenswissenschaften“. Gehört es aber nicht zum Selbstverständnis der life sciences, dass sie sich als Teil der Naturwissenschaften begreifen? Gesetzt, das wäre so, dann wäre auch durch den neueren wissenschaftlichen Sprachgebrauch bestätigt, dass wir in den Naturwissenschaften einen über die Physik hinausgehenden Begriff von Natur unterstellen, sobald wir von den Lebenswissenschaften sprechen. In den folgenden Punkten möchte ich anschaulich machen, dass wir gute Gründe haben, auch die Geisteswissenschaften nicht von den Naturwissenschaften zu separieren. Mehr noch: Sie lehren uns, dass wir die Natur nicht den Naturwissenschaften überlassen dürfen. Die Natur liegt allem zugrunde, was immer wir beschreiben und erklären können. Dabei haben wir den Geist als eine expressive Form des Lebens anzusehen, die auch im engeren Sinn zur Natur gehören muss – wenn denn das Leben selbst als eine Form der Natur begriffen werden soll. Wenn dies so ist, hat das Folgen für den Begriff des Naturalismus, den Nida-Rümelin so gebraucht, als stehe er in Opposition zum Humanismus. Ich hingegen plädiere dafür, den Naturalismus als das umfassende Erklärungskonzept anzusehen, dem alle Wissenschaften zu folgen haben. Im Rahmen des Naturalismus macht dann der Humanismus bewusst, welcher Norm wir nicht nur in der Erklärung der Natur, sondern auch in ihrer an uns selbst vollzogenen Entfaltung zu folgen haben. 5. Die strukturelle Analogie zwischen Wissen und Handeln. Das Kennzeichen der Wissenschaft, die erstmals mit den Zeugnissen der ionischen Naturphilosophie aus dem siebenten und sechsten vorchristlichen Jahrhundert überliefert ist, liegt in der Ausrichtung auf Ursachen oder Gründe (aitiai), die als Träger allgemeiner Gesetzmäßigkeiten (nomoi) überzeugen. Das einzelne Vorkommnis interessiert als exemplarischer Fall, als Beleg für einen logos, der als einsichtige Ordnung (kosmos/taxis) ein überall auf

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gleiche Weise ablaufendes Geschehen beherrscht. Ganz gleich, ob Thales eine Sonnenfinsternis oder eine ertragreiche Ölernte beobachtet: Er sucht nach dem kausallogischen Zusammenhang, der im jeweiligen Ereignis zum Ausdruck kommt. Ihm und seinen Nachfolgern geht es um das Gesetz, das der Vielfalt vorkommender Fälle eine Einheit gibt. Ein Gesetz erlaubt, das Geschehene im Kontext mit anderem Geschehen zu verstehen. Im Rahmen des Verstandenen sind auch Vorhersagen möglich, die ihrerseits Grundlage einer technischen Verfügung über einzelne Naturvorgänge sind. Bei dieser Auffassung ist die Wissenschaft bis heute geblieben, auch wenn in der Neuzeit der Verfügungsanspruch gelegentlich überzogen worden ist. Durch die Vielfalt der in der Natur durchaus gegensätzlich wirksamen Kräfte gestaltet sich die Disposition über einzelne Erscheinungen allerdings oft viel schwieriger als man denkt. Insofern ist der Erkenntnisanspruch der Einzelwissenschaften (wenigstens in der Theorie) bescheidener geworden. Aber am grundsätzlichen Anspruch des Erkennens sowie am verfügenden Zugriff des Handelns hat auch die Kritik an übertriebenen Erwartungen nichts geändert. Das war auch deshalb nicht nötig, weil in der Relation von Gesetz und Einzelfall keine kulturelle Spezialität der frühen Griechen, sondern lediglich die Dynamik eines im öffentlichen Raum kommunizierten Handelns zum Ausdruck kommt. Wer unter Bedingungen allgemeiner Mitteilbarkeit tätig sein will und dabei die prinzipiell mögliche Einsicht eines jeden unterstellt, der muss auch heute noch so verfahren, wie es die Griechen taten. Sie brauchten einen öffentlichen Handlungsraum, in dem jeder Gegenstand im Prinzip von jedem verhandelt werden kann, um mit der favorisierten wissenschaftlichen Erklärungsform zugleich den Zugang zu den Handlungsbedingungen zu eröffnen. So konnten sie verfahren, weil es in jeder politischen, militärischen, pädagogischen, musischen, medizinischen oder technisch-konstruktiven Leistung darauf ankommt, das bestehende Problem als Fall eines erkennbaren Zusammenhangs zu identifizieren. Es muss ein Kontext sein, der sich als Gefüge regelmäßiger Wirksamkeit erschließt. Durch die Beziehung der Gesetzmäßigkeit auf den vorkommenden Fall kann man, entsprechende Eingriffe vorausgesetzt, auf mögliche Handlungsfolgen schließen. Darin besteht die technische Disposition, die jeden Handlungserfolg bestimmt, nicht nur beim Bau von Tempeln oder Schiffen, sondern auch im institutionellen Aufbau des Rechts, in der Diätethik für Olympioniken oder in der individuelle Eigenständigkeit erfordernden Ethik. Die Ethik rechne ich mit größtem Nachdruck hinzu: Auch die

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Selbsterziehung zur Tugend ist ein Fall von Technik, nämlich einer nachvollziehbar und somit einsichtig geordneten Disziplinierung seiner selbst. 6. Kein Unterschied zwischen Natur und Geschichte. Auffällig ist, dass die frühen Griechen nicht die geringste Neigung zeigen, sich auf die Naturerkenntnis zu beschränken. Man könnte sogar die These vertreten, dass sie in allen ihren Bemühungen um Erkenntnis von ethisch-ästhetischen Motiven bestimmt und auf geschichtliche Wirkung ausgerichtet waren. Zwar gibt es die erklärte Abkehr des Sokrates von der Naturphilosophie seiner Vorgänger. Der Weise begründet sie mit der für ihn vorrangigen Selbsterkenntnis, zu der er nur gelangen kann, wenn er sich mit seinesgleichen vergleicht. Also braucht er die Unterredung mit den Menschen auf dem Marktplatz, am Rande sportlicher Übungsstätten oder beim Gastmahl. Es steht außer Zweifel, dass sich dadurch das Interesse der Philosophie hin zu den Fragen des menschlichen Verhaltens verschiebt. Die Ethik, als Lehre von dem seiner Einsicht entsprechenden Handeln des Menschen, entsteht und tritt als drittes Gebiet zu den Erkenntnisbereichen der Physik und der Logik hinzu. Gleichwohl kommt kein Philosoph der Antike auf den Gedanken, zwischen der Logik, der Physik und der Ethik eine methodologische Hürde aufzubauen. Wir sehen im Gegenteil, dass Sokrates die Probleme der Naturphilosophie weiterhin mit einiger Aufmerksamkeit verfolgt (Phaidros 229a–230e), dass sein Schüler Platon ihr eine große Untersuchung widmet (Timaios) und offenbar nicht die geringsten Bedenken hat, selbst den Bürger als Naturwesen zu bestimmen (Politikos 261c–266e). Es ist vielmehr so, dass Platon den Grund für seine Überlegungen sowohl zur Ethik als auch für seine politische Theorie durch eine detaillierte Beschreibung von Naturvorgängen legt, die er selbst schon als geschichtlich versteht (Politeia 368a–374d; Nomoi 676a–686b). Mehr noch: Er lässt sie weit in die gesellschaftlichen Vorgänge hineinragen und verschränkt sie mit den höchsten Erkenntnisvermögen des Menschen, also mit dem nous und dem logos. Und wenn Platon zu erklären sucht, was denn das Wesentliche am Menschen ist, dann zieht er vornehmlich technische Parallelen heran, deren Aussagekraft darauf beruht, dass der Mensch als Wirkursache in den Wirkungszusammenhang der natürlichen Kräfte eingelassen ist und nur unter diesen Bedingungen zeigen kann, was er leistet und – was er, seiner Leistung zufolge, „ist“ (Alkibiades maior 127e–130c).

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Das Selbst des Menschen, also sein, wie wir heute sagen, geistigseelischer Kern, der nach Platon dem Göttlichen am nächsten steht (Nomoi 726a), kann nur erkannt werden, sofern der Mensch als körperliches Wesen, das heißt als natürliche Kraft unter lauter natürlichen Kräften, natürliche Effekte erzielt. Die intellektuelle Qualität des Menschen, die ihn befähigt, ethisch, politisch und historisch wirksam zu sein, ist die Folge seiner physischen Natur, durch die er Teil des Kosmos ist. Dass es in der Antike keine Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften gibt, ist bekannt (Rothacker 1948; Kjørup 2001).2 Das systematisch Bedeutsame daran ist, dass die Alten diese Unterscheidung gar nicht nötig hatten, obgleich sie der Erkenntnis der Natur alles andere als ausgewichen sind. Die Antike stellt sich durchaus dem Problem des spezifisch menschlichen Verhaltens, sie fragt nach der Besonderheit der Seele und des Geistes, sie kennt das Spezifikum des Selbstbewusstseins und mit ihm auch die Beziehung des Menschen zu sich selbst (Alkibiades maior 132b–133e); sie hat einen Begriff von der Individualität einzelner Wesen, einzelner Teile wie einzelner Vorgänge, sie denkt im höchsten Maße geschichtlich, ist zur Analyse ästhetischer und rhetorischer Fragen fähig, hat, wie sich vor allem bei Aristoteles zeigt, eine Theorie des Lebens, schließt eine bis heute unübertroffene Beschreibung der Funktionen der Seele ein und kann das Göttliche als erste „Ursache“, als alles durchdringende Ordnung, als Ideal der Lebensführung oder als dasjenige denken, das dem Geist des Einzelnen am nächsten ist. Und sie kann, spätestens seit der Aristotelischen Unterscheidung zwischen Stoff- und Formursachen, auch Ursachen und Gründe auseinanderhalten. Im Themen- und Problemspektrum der antiken Wissenschaft fehlt somit nichts, zu dessen Entdeckung es einer Zweiteilung der Wissenschaften bedurft hätte. Es genügt, dass der Mensch als ein in Herden lebendes, zweibeiniges, fell-, feder-, flügel- und flossenloses Tier in der Lage ist, mit seinesgleichen ein auf Sachverhalte bezogenes, sich somit in Begriffen bewegendes Gespräch zu führen, das jedem Einzelnen erlaubt, im Abwägen von Argumenten zu einer Einsicht zu finden, die mit der Einsicht anderer exakt übereinstimmen kann. Eben das ist die Leistung des Wissens, das eine Logik hat, die alle Wissenschaften trägt. Die Logik des Wissens stellt die Übereinstimmung zwischen Individuen in der Verständigung über Sachverhalte her. Sie verknüpft die in allen Fällen konkreten Wissens beteiligten Momente der Natur, der Geschichte, der Gesellschaft, der Kultur und des menschlichen Bewusstseins. 2

Zur Situation im Ganzen Frühwald (1991).

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Das aber heißt: Mit Blick auf den Träger des Wissens: den menschlichen Geist, können alle Wissenschaften als Geisteswissenschaften angesehen werden; mit Blick auf ihre Gegenstände aber befassen sich alle Wissenschaften mit der Natur. Denn Geschichte, Gesellschaft und Kultur, ja selbst die psychischen und intellektuellen Phänomene des Geistes müssen letztlich als Formen der Natur begriffen werden. So gesehen, hätten alle Disziplinen Grund, sich zu den Naturwissenschaften zu rechnen (Gerhardt 2007). 7. Individuelles und Universelles stets nur in einem Akt. In seiner problemorientierten Ausrichtung auf Sachverhalte und Gründe ist das ursprünglich auf Mitteilung bezogene Wissen in der Lage, nicht nur abstrakte gesetzliche Zusammenhänge zu erfassen, es hat sich vielmehr bereits in jeder Beobachtung, Beschreibung und Anwendung auf singuläre Situationen und individuelle Vorkommnisse zu beziehen. Also ist es auch in der Lage, geschichtliche Prozesse, seelische Dispositionen und lebendige Konstellationen zu erfassen. Da es in alledem einen Begriff von sich selbst benötigt, kann es die Eigentümlichkeit des Wissens, damit auch die des Wahrnehmens, des Vorstellens, des Erinnerns oder des Glaubens, kenntlich machen. Dabei erweist es sich als so beweglich, dass es einer eklatanten Unterschätzung der darauf beruhenden Wissenschaft gleichkommt, wenn man die epistemischen Leistungen auf simple Alternativen wie etwa das Erklären und das Verstehen, auf das Generalisieren und das Individualisieren oder auf nomothetisches und ideographisches Wissen reduziert. Eine Reduktion dieser Art sollte man schon deshalb vermeiden, weil jede Erkenntnis den in einem Akt erfolgenden Bezug auf individuelle Fälle und auf generalisierende Schlüsse voraussetzt. Wissen ist überdies an einen geschichtlichen Vorlauf gebunden, und es greift notwendig in die Zukunft vor. Was ich jetzt weiß, kommt nicht ohne Erinnerung zustande. Weil zu jedem Wissen aber auch eine Erwartung gehört, greift es notwendig auf Kommendes aus. Darin begreift es sich selbst, selbst bei verzagten Geistern, als zweckmäßig. Schließlich ist es durch die ihm innewohnende Funktion der Mitteilung nicht nur auf das wissende Individuum beschränkt, sondern ursprünglich auf andere Individuen ausgerichtet, die der Vorstellungskraft bedürfen, um das eine Individuum in dem, was es an seiner Stelle sagt, in ihrer davon zwangsläufig unterschiedenen eigenen Position gleichwohl so zu verstehen, als sei die Differenz der Individuen und der Situationen nichtig.

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Daraus kann man folgendes Fazit ziehen: Durch die ihm eigene Tendenz zur zweckmäßigen und nachvollziehbaren Verfügung über etwas Individuelles, das nur in seiner universellen Form begriffen werden kann, ist das Wissen gleichermaßen auf physikalische Strukturen, biologische Konditionen, gesellschaftliche Situationen und historische Perspektiven bezogen. Eine Einteilung des Wissens ist möglich, wenn man es nach Gegenständen oder Problemen sortiert. Soll es darüber hinaus nach unterschiedlichen Methoden unterschieden werden, verbietet es sich, das Individuelle vom Universellen oder den konkreten Einzelfall vom allgemeinen Gesetz zu trennen. Dabei muss man vor allem vermeiden, die (ohnehin fließenden) Unterscheidungen zwischen Natur, Leben, Gesellschaft, Kultur und Geschichte ins Wissen selbst hineinzutragen, so als bilde es für jeden Bereich seine eigenen, für sich bestehenden Formen aus. Was für das Wissen recht ist, sollte für die Wissenschaft billig sein: Man kann deren Disziplinen gewiss nach vielen Kriterien gliedern. Die Themen- und Problembereiche, so sehr sie der historischen Entwicklung unterliegen, bieten dafür stets geeignete Anhaltspunkte, auch wenn sie nichts Definitives an sich haben. Sie wandeln sich mit den Fortschritten des Wissens. Daher ist eine Unterscheidung zwischen den Naturwissenschaften auf der einen und den Geisteswissenschaften auf der anderen Seite mit Sicherheit unangemessen, weil Natur in allem ist und Geist in jedem Fall benötigt wird. Also kann man die These vertreten: Eine kategoriale Trennung zwischen den Wissenschaften, die nach dem Muster einer Unterscheidung zwischen Geist und Natur verfährt, wird weder dem Charakter des Wissens noch dem der Wissenschaft gerecht. Die These schließt ein, dass man zwischen Natur und Gesellschaft ebenso wenig einen eindeutigen Unterschied machen kann wie zwischen Natur und Kultur. Sie stellt ferner den Umstand in Rechnung, dass sich Natur, Leben oder Geist immer nur korrelativ oder situativ voneinander trennen lassen: Nehme ich einen Stein und achte lediglich auf sein Gewicht oder auf seine Größe, kann ich ihn als physischen Gegenstand gut von einem soeben ins Netz gegangenen Schwamm unterscheiden. Der Schwamm lebt und der Stein ist ein totes Ding, und beide lassen sich bequem vom Verhalten des Fischers unterscheiden, der mit seinem Geist in der Lage ist, Schwamm und Stein zu unterscheiden. In dieser Bindung an gegebene Verhältnisse kann man klare Unterscheidungen treffen. Sie haben ihren praktischen Wert. Ein darauf gegründetes System der Wissenschaften müsste die in wissenschaftlicher

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Perspektive von Anfang an mit zu bedenkende historisch-genetische Dimension aller infrage kommenden Gegenstände berücksichtigen. Dann ist der Grund in der „Lebenswelt“ oder in den „Lebensformen“ zu suchen, wie es Dilthey und Spranger im Anschluss an Kant, Fichte und Hegel angeregt haben und wie es heute vornehmlich in Erinnerung an Husserl und Wittgenstein erörtert wird. Julian Nida-Rümelin hat diesen Ansatz insbesondere mit Blick auf Wittgenstein aufgenommen und systematisch weitergeführt. Wenn er dabei feststellt, dass „lebensweltliches Wissen […] für wissenschaftliches Wissen unverzichtbar“ ist (NidaRümelin 2009, 46), verweist er selbst auf eine aus Naturbedingungen emporwachsende Kondition der Wissenschaft. Er arbeitet sie deshalb mit besonderem Nachdruck für die Naturwissenschaften heraus, weil er es für offensichtlich hält, dass die auf Lebensorientierung angelegten Geisteswissenschaften dem Leben nahestehen (ebd., 34 ff.). Also muss man sowohl in der Erkenntnis der Natur als auch in der menschlichen Selbsterkenntnis auf das zurück, was Kant den „Boden“ nannte, auf dem man – gemeinsam – stehen kann. Dann lässt sich selbst die im Prinzip endlose Reihe der Ursachen auf natürliche und geschichtliche Gegebenheiten beziehen, die in der Natur des Menschen verbunden sind. Spätestens dann tritt die Unmöglichkeit hervor, den Menschen zum Opponenten der Natur zu erklären. Er wäre nämlich in Gegensatz zu seiner eigenen Natur gebracht, womit auch seinen gesellschaftlichen und geistigen Leistungen der Boden entzogen wäre. Gesetzt, der Mensch hielte selbst unter den Bedingungen eines lebensweltlich hergeleiteten Wissens an der Trennung zwischen sich als dem humanum und allem anderen als der physikalisch gefassten physis fest, hätte er die Trennung mit Gründen zu belegen, die nur aus der Verbindung von physis und humanum zu gewinnen sind. Ergo: Die Wissenschaft lässt sich in pragmatischer Absicht in mancherlei Hinsicht gliedern. In ihrem ernst genommenen Erkenntnisanspruch kann sie jedoch immer nur eine sein. Diese These wird nicht durch die Tatsache eingeschränkt, dass der Umfang des Wissens Einteilungen nötig macht. Hier können auch Traditionen und Methoden eine Rolle spielen, ja sie müssen es, weil die Wissenschaft der Schulung (disciplina) bedarf, um ihre Kenntnisse und Fertigkeiten zu sichern. Auch die Weitergabe des Wissens bedarf der Disziplin, für die wir den einfachen Namen Schule (disciplina) haben. Für die Entfaltung eines vorbehaltlosen, lebendigen, stets nach neuen Wegen suchenden, selbstkritischen Wissens müssen jedoch die Grenzen der

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Disziplinen offen gehalten werden, ganz gleich, ob dies nun durch Interoder durch Transdisziplinarität geschieht. 8. Einheit in der Vielheit. Die Lebenswissenschaften führen uns derzeit vor Augen, wie wichtig die Grenzüberschreitung zwischen den Disziplinen ist. Sie zeigen in der Sache, wie fraglich eine zementierte Trennung zwischen Natur und Geist sein kann. In ihrem dynamischen Fortschritt machen sie offenkundig, dass eine auf den Methodengegensatz gegründete Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften nur noch eine Reminiszenz an das 19. Jahrhundert ist. Die skizzierte Lage macht verständlich, warum das griechische Modell einer Einheit der Wissenschaften fast 2.500 Jahre in selbstverständlicher Geltung geblieben ist. Die Wissenschaft war vielfältig von Anfang an. Die Unterschiede zwischen dem, was der Anwalt der Vielfalt, Heraklit, und sein Widersacher im Dienste der Einheit, Parmenides, was der Atomist Empedokles und der Intellektualist Anaxagoras, was der Historiker Thukydides und der Arzt Hippokrates, was der Jurist, Staatstheoretiker und Anthropologe Protagoras und seine großen Kontrahenten Sokrates und Platon (und was aus alledem dann wenig später Aristoteles in großartiger Verbindung aus Physik, Meteorologie, Biologie, Ethik, Politik, Rhetorik, Logik, Topik, Ontologie, Theologie und Hermeneutik) gemacht haben, könnten größer nicht sein. Und dennoch haben sie und ihre Nachfolger nicht daran gezweifelt, dass es eine alles verbindende Rationalität des Wissens gibt. Sie unterstellt dem auf alle Vorkommnisse und Erwartungen bezogenen Bemühen um Erkenntnis ein und denselben Anspruch, der in der menschlichen Vernunft seinen Ursprung, in der kontrollierten Erfahrung seine Bedingung und in der öffentlichen Erörterung sein immer wieder neu anzulegendes Kriterium hat. Natürlich hat es ergänzende und erweiternde Gliederungen, neue Themen und Aufgaben gegeben. Das ließe sich mit Blick auf die Wiedergewinnung der antiken Wissenschaft durch die universitäre Gelehrsamkeit des Hochmittelalters zeigen. Theologie und Jurisprudenz kommen als neue, wesentlich berufsbezogen arbeitende Großdisziplinen hinzu. Beide haben ihre in sich wiederum vielfältig gegliederte Arbeitsweise, vornehmlich durch Orientierung an den überlieferten Gehalten und Verfahren. Sie bilden neue Unterschiede aus, pflegen eigene Traditionen und halten sich selbst wechselseitig für etwas Besseres. Aber sie sind und sie bleiben dadurch verbunden, dass sie sich allesamt als Wissenschaften verstehen, die sich zwar in unendlich vielen Einzelheiten,

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in Interessen, in Themen und natürlich auch in ihren Methoden unterscheiden – und dennoch zu einer Wissenschaft gehören. So wurden, um nur ein Beispiel zu geben, im Rahmen der Philosophischen Fakultäten die artes liberales ausgezeichnet, weil sie übergreifende Qualifikationen vermitteln konnten, die dem Arzt und dem Richter nicht weniger dienlich sein sollten als dem Lehrer und dem Geistlichen im hohen wie im niederen Amt. Diese „freien Künste“ sollten Kenntnisse vermitteln, die die allgemeine Verständigung, die Wahrung der überlieferten Bestände sowie die Selbstversicherung der Einheit des Menschen in der Vielfalt seiner Tätigkeiten garantieren. Entsprechende Ziele muss die Wissenschaft auch heute verfolgen. Im Humanismus, den man nicht auf die Renaissance beschränken kann, sondern der, wie die Aufklärung, eine Daueraufgabe von Wissenschaft, Gesellschaft und Politik darstellt, sind sie bis heute lebendig. Die von den Humanisten gepflegten humaniora hatten die Aufgabe, in allgemein bildender Absicht die kulturelle Tradition des Menschen in Erinnerung zu halten. Deren Erschließung, Sicherung und Vergegenwärtigung verlangt Fertigkeiten, die in jeder gesellschaftlichen Stellung von Nutzen sind. In der Sache sollten sie auf Einsichten führen, in der sich die Menschheit als ganze ihrer Herkunft, ihrer Eigenart und ihrer Ziele vergewissert. 9. Zur Tradition des Humanismus. Der jugendliche Pico della Mirandola suchte Ende des 15. Jahrhunderts die Einheit der Wissenschaften gerade angesichts ihrer Vielfalt zu wahren, um in den von ihm als bedrohlich erfahrenen religiösen und kulturellen Gegensätzen der Welt, vornehmlich zwischen Islam, Judentum und Christentum (aber auch zwischen der östlichen Orthodoxie und dem westlichen Katholizismus), den alle verbindenden Grund im Streben nach Einsicht aufzuzeigen. Der Wunsch, dem Göttlichen auf menschliche Weise nahe zu sein, kam hinzu. Eine Generation später hatten sich mit der Reformation die Gegensätze in Europa bereits vervielfacht, und dennoch hat der mit allen Größen seiner Zeit verkehrende und an vielen Orten Europas wirksame Erasmus von Rotterdam das gleiche Ziel verfolgt und im Vertrauen auf die disziplinierende Wirkung der Philologien sowie auf den Zauber der dadurch erschlossenen Kontinuität des Wissens die humanisierende Wirkung der Wissenschaft in den Vordergrund gerückt. In der Leistung der Druckerpresse, der er selber reichlich Arbeit gab, war ihm gegenwärtig, dass sich diese Hoffnung nur in Verbindung mit der neuen Technik erfüllen ließe, und mit seinem Freund, dem für seine Wahr-

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haftigkeit mit dem Tode bestraften Thomas Morus, war er sich einig, dass auch unter den neuen Lebensbedingungen die Naturerkenntnis das Fundament allen verlässlichen Wissens zu sein hat. Und so ließe sich fortfahren: Wir haben Hugo Grotius, der den humanistischen Impuls des Erasmus in die Staatstheorie und in die entstehende Lehre vom Recht der Völker getragen hat, wir haben Pierre Bayle, der das geschichtliche Bewusstsein durch das Medium der Zeitkritik bereichert und wir haben Montesquieu, der die ökonomische mit der geschichtlichen Betrachtung verbindet, der die Differenz der Kulturen im ethnologischen Perspektivwechsel zu erfassen sucht und der 1748 schließlich im Geist der Gesetze (bereits der Titel spricht jeder Abspaltung des Geistes von den natürlichen Gesetzen Hohn) eine politische Prinzipienwissenschaft mit der Lehre von der menschlichen Tugend und ihrer Verwirklichung unter günstigen historischen Konditionen verbindet. In Deutschland sollten wir Gottfried Wilhelm Leibniz nicht vergessen, den ersten Theoretiker, der die Einheit der Wissenschaft angesichts der Vielfalt akademischer Anstrengungen nicht nur zu sichern sucht, sondern in der eigenen – Mathematik, Physik, Chemie, Informatik, Bergbau, Linguistik, Sinologie und Philosophie umschließenden – wissenschaftlichen Leistung repräsentiert. Die Resignation, mit der rückblickend von ihm als dem „letzten“ Universalgelehrten gesprochen wird, ist schon von der Müdigkeit angekränkelt, die uns heute erst gar nicht mehr darauf setzen lässt, dass die Wissenschaft gerade in ihrer Vielfalt das größte einheitliche Vorhaben der Menschheit ist. Wenn wir, um einmal selbst technisch zu reden, in dieses Projekt nicht investieren, hat die Menschheit keine Chance, sich auf dem Niveau ihres Selbstbegriffs zu halten. 10. Kurzer Rckblick auf eine lngst berwundene Trennung. Was ist im Licht dieser Einsicht von der Aufspaltung der Wissenschaften in „zwei Kulturen“, in die Naturwissenschaften auf der einen und die Geisteswissenschaften auf der anderen Seite, zu halten? Meine Antwort: Historisch hat sie ihren Wert, aber systematisch ist sie ohne Belang. Die Grenzziehung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften ist eine Spätfolge der rousseauistisch-romantischen Wissenschaftskritik des 19. Jahrhunderts. Das Ressentiment gegenüber der abstrakten, technisch orientierten, die Innerlichkeit des Menschen angeblich missachtenden Wissenschaft war in der Welt, und nun mussten die Philosophen, Philologen und Historiker erleben, wie ausgerechnet die so verfahrenden

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Naturwissenschaften die größten gesellschaftlichen Erfolge erzielten. Physik, Chemie, Medizin und Ingenieurwissenschaften erfuhren einen grandiosen Aufstieg und nutzen dabei Forschungstechniken, die von den überaus produktiven Geschichtswissenschaften sowie von der innovativen Altphilologie, teils auch von der textkritischen protestantischen Theologie, zur gleichen Zeit entwickelt wurden.3 Was lag näher, als diese angeblich nur technisch, angeblich nur erklärend und angeblich nur äußerlich verfahrende Erforschung der Natur auf ein begrenztes Terrain zu beschränken, von dem sich der angeblich rein geistige Bezirk des Verstehens, des Deutens und der reflexiven Selbstbeziehung definitorisch abgrenzen ließ? Nachdem Naturwissenschaftler wie Hermann von Helmholtz den Begriff der Geisteswissenschaften gebrauchten, um damit die Eigenständigkeit eines inneren Zugangs zu den Erscheinungen von Religion, Recht, Staat, Sprache, Kunst und Geschichte zu würdigen (von Helmholtz 1862, 16 ff.), lag es nahe, daraus eine strikte methodologische Abgrenzung zu machen: Durch sie wurde die „psychologische“, „introspektiv“ erfassende, eben „verstehende“ Einsicht zum einzig legitimen Zugang zur Erkenntnis der menschlichen Dinge. Die Naturwissenschaften waren damit, wenn der Doppelsinn gestattet ist, „draußen“, und die Geisteswissenschaften eröffneten sich selbst den Königsweg zum eigentlichen Verständnis der conditio humana. Während sich zur gleichen Zeit die rivalisierenden Territorialstaaten Europas trotz größter kultureller Gemeinsamkeiten hinter ihren nationalen Gegensätzen verschanzten, suchten sich die Geisteswissenschaften ein uneinnehmbares Territorium zu sichern, von dem aus sie den Naturwissenschaften in prinzipieller Überlegenheit entgegentreten konnten. Mir ist bewusst, dass dies nicht die ganze Wahrheit über die Bemühungen um eine methodologische Unterscheidung zwischen den Naturund den Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert ist. John Stuart Mill hat, übrigens nicht unbeeindruckt von Romantikern wie Coleridge und Carlyle, mit großem sachlichen Gewinn, die, wie er meinte, „logische Differenz“ in den Gesetzesaussagen über die Natur und die Gesellschaft herausgearbeitet (Mill 1843; 1848). Dadurch inaugurierte er die Idee eines Methodendualismus, die von Wilhelm Dilthey und vom südwestdeutschen Kantianismus, nicht zuletzt auch von Max Weber, in nicht 3

Dazu die Beiträge von Bernhard vom Brocke, David Cohen, Lorraine Daston und Stefan Rebenich in Kocka (1999).

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weniger ernsthafter Weise aufgenommen und weiterentwickelt worden ist. Es muss heute gar nicht bezweifelt werden, dass die damals vorherrschende Auffassung von Natur mit der unterstellten strikten Geltung der Kausalität zu einer methodologischen Abgrenzung ökonomischer, soziologischer, psychologischer und hermeneutischer Erkenntnis genötigt hat. Doch das seinerzeit als selbstverständlich geltende Verfahren kausaler Naturbeschreibung hat seine Autorität längst eingebüßt. Statistische, auf das Verstehen angelegte Zugänge sind in der Physik unverzichtbar. Die Biologie braucht nicht erst in den Fragen der Ethologie ein Verständnis für die Eigenart von Systemen, die auf der Analogie zu den vertrauten Systemen des menschlichen Handelns beruhen. Wenn der moderne Biologe den Zusammenhang zwischen Organismus und Umwelt erfassen will, muss er sich wie ein Geisteswissenschaftler verhalten: Er muss Ganzheiten unterstellen, die es erlauben, die Teile nach ihren Funktionen einzuordnen. Das ist die eine Seite. Die andere aber tritt darin hervor, dass eine Wissenschaft wie die Psychologie, die zur Zeit Diltheys als Paradedisziplin der Geisteswissenschaften galt, heute beinahe in ihrer Gesamtheit zu einer Naturwissenschaft geworden ist. Entsprechendes gilt für große Teile der Sprach- und Sozialwissenschaften, die mit Erfolg naturwissenschaftliche Verfahren einsetzen. Mag sein, dass dabei Defizite auftreten; aber warum sollten sie nicht in der gleichen Disziplin behoben werden können? Wäre es nicht unverantwortlich, mit dem Rasiermesser strenger Methodologie produktive Forschungseinheiten zu zerschneiden, nur weil man weiterhin will, dass die alte Titulatur der Disziplinen erhalten bleibt? Die Fragen beantworten sich von selbst, erst recht, wenn man bedenkt, dass wir derzeit vor einem neuen Wachstumsschub der Wissenschaften stehen, der sich allein aus den differenzierten Problemen ihrer Anwendung ergibt. Hier ergeben sich Kriterien zur Einteilung von Forschung und Lehre, die mit der überholten Trennung zwischen Naturund Human- oder Geisteswissenschaften nichts mehr zu tun haben. Wohl aber tritt mit jeder „Entschlüsselung“ der „Codes“ von Natur, Leben und Kultur deutlicher vor Augen, wie viel mehr der Mensch tun muss, um nicht nur klug, sondern auch verantwortlich mit seinem Wissen umzugehen. Dazu braucht er eine breite Kenntnis der Geschichte, der gesellschaftlichen Strukturen, der psychischen Anlagen, der ästhetischen und religiösen Erwartungen sowie, abkürzend gesagt, seiner Ansprüche an sich selbst.

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11. Gute und weniger gute Grnde. Vor diesem Hintergrund wird man es verständlich finden, dass ich Julian Nida-Rümelins Trennung zwischen Naturalismus und Humanismus mit einem Fragezeichen versehe. Er prinzipialisiert einen Unterschied, der nur in partiellen Fragen der Erkenntnis eine Rolle spielen kann, aber nicht zur grundsätzlichen Charakterisierung menschlicher Leistungen taugt. Die Opposition beider Begriffe lenkt von der Stellung des mit ihnen jeweils Gemeinten sowie von ihren wechselseitigen Beziehungen ab. Sie verstellt den Zugang zum natürlichen und zum geschichtlichen Ort des Humanismus, der nirgendwo anders als in einer sich entwickelnden Natur liegen kann. Natürlich bin ich mir bewusst, dass man den Begriff des Naturalismus derart eng fassen kann, dass er mit dem Vollbegriff der Natur, mit ihrem umfassenden Charakter, ihrer kosmischen Dynamik sowie mit ihrer bis in die geistige Beweglichkeit reichenden Lebendigkeit nichts mehr zu tun hat. Ich gestehe auch gerne ein, dass Nida-Rümelin mit Blick auf das in den letzten drei Jahrhunderten wirksam gewordene Selbstverständnis der Physik gute Gründe für die von ihm exponierte Trennung hat. Wenn Naturalismus nur das sein können sollte, was im reduzierten Naturbegriff der Physiker und Chemiker angesprochen ist, dann könnte man ihn in der Tat nur in Opposition zum Selbstverständnis des Menschen begreifen. Dann stünde auch ich auf der Seite Julian Nida-Rümelins und müsste mit ihm auf eine Ergänzung des Naturalismus durch den Humanismus dringen. Dieser den Menschen ausschließende Naturalismus hätte freilich schon mit der lebendigen Natur nichts mehr zu tun und beruhte allein auf einer Methode, die im Zugriff strenger Reduktion zu Erfolgen führt. Wenn man dies so sagt, muss hinzugefügt werden, dass die kausalanalytische Methode auch in den Lebens-, Sozial- und Geisteswissenschaften unverzichtbar ist. Aber sie erfasst die biologische, soziale, psychische und intelligible Dimension der meisten Phänomene nicht. Deshalb bedarf sie der Ergänzung durch Verfahren des lebendigen und geistigen Nachvollzugs, ohne die sich auch viele physikalische Erscheinungen wie die des Raumes, der Zeit, der Körper oder der Kraft nicht erschließen. Der kausalanalytische Reduktionismus ist in allen Wissenschaften von Wert; er ist jedoch in allen unzureichend. Nimmt man ihn als Basis für eine Definition des Naturalismus, wie Nida-Rümelin dies tut, ist die Opposition zum Humanismus unausweichlich. Denn in der Sache grenzt er Reduktionismus und Humanismus voneinander ab. Vor diesem Hintergrund erscheint Nida-Rümelins Begriffsgebrauch angemessen. Denn nach weit verbreiteter, vielleicht sogar nach herrschender Auffassung gilt der Reduktionismus als Königsweg einer jeden

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Erkenntnis, die auf nichts anderes als auf Naturprozesse führen kann, die nach Art mehr oder weniger strenger Determination ablaufen. Der universell zum Einsatz gebrachte Reduktionismus hat demnach einen metaphysischen Materialismus zur Folge. Den kann man im Bewusstsein seiner epistemischen Defizite „Naturalismus“ nennen und wenn man ihn so nennt, muss er entschieden vom Humanismus unterschieden werden. So gesehen kann die Kontraposition von Naturalismus und Humanismus als gerechtfertigt erscheinen: Sie soll das Selbstverständnis des Menschen vor mechanistischer Vereinfachung bewahren und die Eingeständigkeit der menschlichen Gattung vor dem Zugriff eines seelenlosen Mechanismus retten. Wer wollte dem widersprechen? Selbst wenn jemand auf den Gedanken käme, gegen diese Absicht Einspruch zu erheben, hätte er sich bereits über die bloße Mechanik determinierter Naturvorgänge erhoben. Gleichwohl könnte der Vorschlag Nida-Rümelins nur überzeugen, wenn wir unsere Begriffe in freier Entscheidung je nach den anstehenden Bedürfnissen festlegen könnten. Das ist aber nur bei Kunstsprachen möglich, die begrenzte technische Zwecke verfolgen. Verwenden wir einen Terminus wie „Naturalismus“, können wir schlechterdings nicht davon absehen, dass er sich auf den Begriff der Natur bezieht, der nun einmal eine weitläufige alltagssprachliche Bedeutung hat und in der Philosophie mit einer großen Tradition verbunden ist. Die philosophischen Sedimente und die alltägliche Semantik schließen daher aus, unter Natur nur das zu verstehen, was bei der Reduktion übrig bleibt. Auch der Siegeszug der neuzeitlichen Mechanik hat nichts daran geändert, dass der Begriff der Natur nach wie vor die kosmische Ordnung, das stets nur partiell verfügbare Geschehen, das blühende Leben oder das Wesen einer Sache bezeichnet – und vieles andere mehr. Ja selbst, wenn man die alten Sprachspiele vergessen könnte und „Natur“ nur noch die lineare Mechanik von Ursache und Wirkung oder „Naturalismus“ nur noch die Endstation des Reduktionismus wäre, würde es sich nicht empfehlen, so zu verfahren. Denn wir brauchen die alte Begrifflichkeit, um mit der nicht weniger alten Terminologie, in der sich der Mensch selbst zu beschreiben sucht, angemessen umzugehen. Wo wollen wir mit dem Menschen hin, wenn ihm die Natur keinen Raum mehr bietet? In die Gesellschaft? Die ist doch selbst eine Formation einer sich zunehmend selbst organisierenden natürlichen Gattung. In die Kultur? Die ist die Lebensform, in der sich die Natur des Menschen entfaltet. In die Geschichte? Es wäre schon zu viel gesagt, in ihr die Fortsetzung der Naturgeschichte mit genuin menschlichen Mitteln zu

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behaupten. Denn sie ist lediglich der menschliche Schimmer auf der sich fortzeugenden Geschichte der Natur. 12. Das Ineinander von Natur und Intention. Die hier gegen Julian NidaRümelin vertretene Auffassung von der Vereinbarkeit eines umfassend verstandenen Naturalismus mit dem humanistischen Selbstbegriff der menschlichen Gattung wird durch nichts so sehr gestützt wie durch die von ihm selbst vorgetragene These über die Vereinbarkeit von Natur und Freiheit. Der befreiende Akt seiner Abhandlung ber menschliche Freiheit liegt in dem Nachweis, dass die Natur durchaus Raum für die in Handlungen beanspruchte Freiheit hat und somit gar nicht als streng determiniert verstanden werden kann. Zu Ende gedacht kann das nur heißen, dass kein Widerspruch zwischen einer reduktiv verfahrenden Erklärung nach Naturursachen und einer Rechtfertigung von Handlungen durch Gründe bestehen muss. Denn die letztlich aufgefundenen empirischen Ursachen sind unterdeterminiert (Nida-Rümelin 2005, 43). Sie legen nicht eindeutig fest, zu welchen Wirkungen sie führen. Somit bleibt – gleichsam mitten in der mechanisch gedachten Natur – genügend Spiel für die spezifische Wirksamkeit von Handlungsgründen, obgleich diese selbst nicht in der mechanisch gedachten Natur lokalisiert werden können. Denn Handlungen, so heißt es im Anschluss an den herrschenden Sprachgebrauch, sind intentional verfasst (ebd., 36 f.). Sie beruhen auf etwas, das es in der physikalischen Natur nicht gibt und das durch die reduktionistisch verfahrende Naturerkenntnis unter keinen Umständen erfasst werden kann. Gleichwohl gibt die von Nida-Rümelin aufgewiesene naturalistische Unterbestimmtheit der Natur keinen Anlass, die Wirksamkeit von Intentionen auszuschließen. Andernfalls wären weder Handlungen noch Begründungen möglich. Gesetzt, seine Auffassung hat Bestand, gäbe es ein zusätzliches Argument für die Vereinbarkeit von Humanismus und Natur. Denn selbst die Natur, auf welche die reduktionistische Erklärung führt, nötigt nicht zum grundsätzlichen Ausschluss der Intention. Kausalität durch Freiheit, so könnte man in der Sprache Kants (und dennoch von ihm abweichend) sagen, ist möglich – und zwar im Kontext der niemals vollständig determinierenden kausalen Wirkungsmechanismen der Natur. Nach Kant gibt es bekanntlich eine kategoriale Differenz zwischen der Kausalität aus Naturursachen und der Kausalität durch Freiheit. Wer Freiheit beansprucht, behauptet sie damit gegen die (mechanistisch gedachte) Natur. Unter dieser Prämisse entsteht ein manifestes Problem für

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die Vereinbarkeit von Naturalismus und Humanität, dass sich nur durch eine aufwändige lebenstheoretische Deutung seiner Transzendentalphilosophie beheben lässt.4 Nida-Rümelins Freiheitslehre ist von dieser Hypothek befreit. Sie kann einen wohlverstandenen Naturalismus in direkter Verbindung mit dem Humanismus denken, weil die Natur all das nicht grundsätzlich ausschließt, was durch Intentionen geschieht. Die Theorie der strukturellen Rationalität grenzt sich von Konzeptionen ab, die eine in sich abgeschlossene Beschreibung der Natur annehmen. In diesen heute weit verbreiteten Konzeptionen wird eine Natur unterstellt, in der Freiheit prinzipiell ausgeschlossen ist. Dennoch hält Nida-Rümelin daran fest, dass die in der menschlichen Selbsterfahrung gegebene Freiheit nicht nur denkbar, sondern auch praktisch wirksam ist. Damit wird die theoretische Inkompatibilität von Freiheit und Natur – bei gleichzeitiger Kompatibilität ihrer Wirkungen – behauptet (Recki 2009).5 Man spricht daher von „Kompatibilismus“ – ein Terminus, der die praktische Vereinbarkeit des theoretisch Unvereinbaren betont. Es könnte genauso gut von „Inkompatibilismus“ die Rede sein, womit die theoretische Unvereinbarkeit des praktisch immer schon Vereinten herausgehoben wäre. Dem inkompatibilistischen Kompatibilismus setzt Nida-Rümelin ein offenes Modell der Naturbeschreibung entgegen, das er sich nicht scheut, „physikalistisch“ zu nennen. Das Modell hat Raum für die Einsichten der 4

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Einer Lösung liegt die folgende Überlegung zugrunde: In dem auch für Kant bestehenden methodologischen Vorrang der reduktiven Erklärung tritt die Dominanz des technischen Interesses hervor. Es ist dadurch gerechtfertigt, dass sich die menschliche Gattung nur durch den steigenden Einsatz von Techniken im Dasein halten kann. Deshalb kommt in einer menschlichen Kultur – auch nach Kant – alles darauf an, die „Geschicklichkeit“ des Menschen zu steigern, damit er zunehmend bewussten Einfluss auf die Gestaltung seines Daseins nehmen kann. Wenn es selbst bei kritischen, das organische Verstehen wie das ethische Begründen für unverzichtbar ansehenden Denkern heißt, dass auch in der belebten Natur eine Erklärung nach kausalen Ursachen versucht werden „muss“, steht der Zwang zur Kultivierung der eigenen Leistungen im Vordergrund. So könnte man mit Kants eigener Theorie des Lebens, die bekanntlich in eine Theorie der Kultur einmündet, die Apriorität kausalanalytischer Naturerfahrung erklären. Die Transzendentalität der empirischen Naturerkenntnis hätte eine Vorgeschichte in der Entfaltung der technischen Fertigkeiten des Menschen. Einem wesentlich der kritischen Philosophie Kants verpflichteten „Kompatibilismus“ habe ich selbst längere Zeit angehangen. Erst der Versuch, die Naturgeschichte der Freiheit zu denken, hat mir deutlich gemacht, dass die vom inkompatibilistischen Kompatibilismus vorausgesetzte Trennung von Natur und Freiheit nicht zutreffen kann. Siehe dazu Gerhardt (2007).

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Quantenphysik, weswegen der hergebrachte Determinismus auch durch eine probabilistische Beschreibung ersetzt werden kann. Damit bleiben keine vorherbestimmten „Lücken“ offen, in die ein freier Wille mit seinen als frei vorgestellten Impulsen hinein springen und physikalisch wirksam werden kann. Es wird lediglich gesagt – und am Beispiel einer unvorhersagbaren Bewegung einer Kugel, die selbst frei beweglich auf der Rundung einer zweiten Kugel aufruht, demonstriert –, dass die Natur nicht alles vorherbestimmt. In der Natur bleibt ein Freiraum, der es gegenstandslos macht, von einem Widerspruch oder Gegensatz zwischen Natur und freier Handlung zu sprechen. Die Freiheit bietet nach NidaRümelin keinen Anlass, eine „Zwei-Aspekte-Metaphysik“ zu vertreten (Nida-Rümelin VF, in diesem Band, 31). 13. Natur und Freiheit. Nida-Rümelins Konzeption tut einen entscheidenden Schritt über den auch in der analytischen Diskussion vorherrschenden Perspektivendualismus der Freiheit hinaus. Die Freiheit ist nichts der Natur Fremdes, das gleichwohl mit ihr irgendwie zusammen bestehen kann, sondern sie kann als integraler Bestandteil der Natur begriffen werden. Eine Natur, die nicht alles festlegt, sondern in ihren Vollzügen, selbst in Kenntnis der wahrscheinlich wirksamen Kräfte, nicht exakt vorhergesagt werden kann, lässt in und mit ihren Kräften Raum für Handlungen, die „frei“ genannt werden können, nicht nur, obgleich sie Ausdruck natürlicher Prozesse sind, sondern auch weil sie mit den sie durch und durch tragenden Kräften verknüpft sind. Die Handlungen der Menschen können gerade in ihrer physischen Substanz als „frei“ angesehen werden. Was heißt das für das Verhältnis der Natur zu dem, was wir als human oder auch nur intentional, als Einsicht, Geist oder Vernunft zu nennen gewohnt sind und was Nida-Rümelin in den Leistungen der strukturellen Rationalität in Anspruch nimmt? Angesichts der offenkundigen Tatsache, dass alles, was ist, Natur genannt werden kann und dass auch der Mensch, mitsamt seiner Kultur zur Natur gehört (Gerhardt 2007d), hat die Auffassung Nida-Rümelins etwas Befreiendes. Endlich können die „frei“ genannten Handlungen als Momente des Naturprozesses angesehen werden. Ihre reale Bedingung liegt in der Unbestimmtheit, die für alles aktuell Geschehene gelten kann. Die menschliche Freiheit ist dann „nichts anderes als die naturalistische Unterbestimmtheit unserer Handlungs- und Urteilsgründe“ (NidaRümelin 2005, 171).

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Es ist nicht allein die objektive Unterbestimmtheit physikalischer Prozesse, sondern vielmehr immer auch die faktische Vielfalt, durch welche die in jedem Geschehen wirkenden Kräfte unkalkulierbar werden. Es gibt eine unermessliche Pluralität von sich teils aufhebenden, teils abschwächenden und teils verstärkenden Kräften. Durch sie ist es de facto unmöglich, auf dem offenen Feld der Natur sichere Vorhersagen für ein reales Geschehen zu machen. Die Anzahl der an einem lebensweltlichen Vorgang real beteiligten Wirkungsfaktoren ist derart groß, dass es unmöglich ist, eindeutige Prognosen für das kommende Weltgeschehen abzugeben. Die Unmöglichkeit eindeutiger Prognosen im offenen Feld der Natur ist aber nur die eine Seite. Die andere zeigt sich in der Fähigkeit, die im pluralen Mit- und Gegeneinander unzähliger Kräfte gegebene Offenheit des Geschehens für jeweils eigene Aktivitäten zu nutzen. Auf dieser Fähigkeit basiert der Prozess des Lebens von Anfang an. Jeder Organismus entwickelt sich im Mit- und Gegeneinander der physikalischen und chemischen Kräfte. Er überlässt sich ihnen, verwendet sie zugleich jedoch nach seinem eigenen Lebenscode für sich. Nur dadurch gelingt es ihm, sich im Feld der Kräfte als eine eigene Kraft zu etablieren. Um sie zu erhalten und zu entfalten, zerlegt er unablässig gegebene Energien, aus denen er eigene macht, die er in der Form der von ihm evozierten Ereignisse zu neuen Tatsachen im Naturgeschehen verwandelt. Würde die Kausalität eine gleichförmige Sukzession aller Kräfte – gleichsam in einer Front – einschließen, wäre das Leben nie entstanden. Tatsächlich aber gibt es eine unübersehbare Vielfalt von sich wechselseitig beeinflussenden Kräften, in der sich ständig neue Kräfte bilden. Eben davon lebt das Leben, indem es unablässig neue Kräfte schafft, mit denen es sich gegen andere Kräfte behauptet. Mit seiner Natur lebt es immer auch gegen die Natur – und gegen anderes Leben: Es kommt ihm zuvor, verdrängt, verjagt oder vernichtet es, oder es führt in Formen interindividueller Kooperation gänzlich neue Situationen herauf, die es noch schwerer machen, eine Prognose über nächstliegende Ereignisse zu erstellen. Das ist das Terrain, in dem wir die alltägliche Erfahrung der Freiheit machen. Sie ist in jedem Akt an die Entfaltung der lebendigen Kräfte gebunden. Doch darin liegt keine Einschränkung, sondern eine Bedingung der Freiheit, die ohne den Impuls des Lebens gar nicht denkbar wäre. Ein Hindernis der Freiheit erfährt man bekanntlich erst, wenn ihr die Freiheit eines anderen entgegensteht. Vielleicht kommt sie überhaupt

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nur unter der Bedingung sich wechselseitig opponierender Freiheiten zu Bewusstsein. Doch wie dem auch sei: Die Freiheit ist ein Ausdruck des Lebens. Wer in ihr einen Widerspruch zu den kausalen Naturprozessen vermutet, sollte sich zunächst fragen, ob unter dem Diktat des Determinismus der Träger der Freiheit, nämlich das Leben, überhaupt möglich ist. So gesehen, kann das Leben als ein größeres Problem als die Freiheit gelten. Wenn es wirklich die Kausalität sein sollte, die Freiheit ausschließt, hätte das Leben nie entstehen dürfen. Da es nun einmal entstanden ist – und seine Existenz selbst von den Neurophysiologen nicht in Zweifel gezogen wird –, kann der Determinismus, auf welcher Ebene auch immer, kein Hindernis gewesen sein. Gelingt es aber, das Problem des Lebens aus den gegebenen Kräften der Natur zu erklären, haben wir, über den von Julian Nida-Rümelin geführten Beweis hinaus, einen Grund mehr, die Freiheit in einer konstitutiven Verbindung mit der Natur zu denken. Sollte uns dies gelingen, wäre das Band zwischen Naturalismus und Humanismus noch ein wenig enger geknüpft. Das wäre nicht nur für die Theorie von Natur und menschlicher Freiheit von Bedeutung. Es ließe uns auch besser verstehen, warum uns so viel daran liegt, unsere natürliche Lebensgrundlage zu erhalten, wenn uns an unserer Freiheit liegt.

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Humanistischer Individualismus, Freiheit und Menschenwürde Matthias Kettner Es ließe sich eine Geschichte von Projekten der Aktualisierung des Humanismus im 20. Jahrhundert schreiben. Seit den dreißiger Jahren versuchten sich vor allem internationale Institutionen an solchen Projekten im Bewusstsein der Katastrophen des ersten und zweiten Weltkriegs. 1954 führte die UNESCO eine Enquete zur aktuellen Rolle der klassischen Kultur und des Humanismus durch.1 Das magere Ergebnis, eine Agglomeration von Menschenidealen diverser Kulturen, weckt ähnliche Zweifel an der Fruchtbarkeit eines Welthumanismusprojekts, wie man sie auch an neueren, aber geistesverwandten Projekten, etwa dem von Hans Küng angestoßenen Weltethosprojekt, haben kann. Projekte der Aktualisierung des Humanismus als Heilmittel für ideologische Krisenherde laufen offensichtlich Gefahr, Humanismus zu einem modischen kulturpolitischen Schlagwort zu machen.2 Im ersten Abschnitt sondiere ich die Herausforderungen, denen jeder Versuch der begrifflichen Neubestimmung und politischen Anwendung eines Humanismus begegnen muss, um dieser Gefahr zu entgehen. Im zweiten Abschnitt untersuche ich Julian Nida-Rümelins Ausführungen zum „theoretischen“, im dritten Abschnitt zum „ethischen Humanismus“ und frage, mit welchen Herausforderungen diese Konstruktionselemente seiner Konzeption eines „humanistischen Individualismus“ es aufnehmen können und an welchen Herausforderungen sie vorbeigehen. In einem Exkurs nach dem zweiten Abschnitt verstärke ich Nida-Rümelins transzendentales Argument gegen naturalistische Versuche, vernünftige Freiheit wegzuerklären. Im vierten Abschnitt schlage ich zu Nida-Rümelins Anregung, Menschenwürde als eine Erscheinungweise von Selbstachtung rational zu erklären, die Alternative vor, Menschenwürde als den schlechthin grundlegenden moralischen Status rational zu erklären. 1 2

Der Bericht ist nachzulesen unter UNESCO (1955). Vgl. das vielleicht zu skeptische Fazit bei August Buck (1987, 448).

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Zur Dialektik von Humanismus und Aufklärung Humanismus ist ein europäisches Selbstdeutungsmuster mit antiken Wurzeln, allerdings mit einem modernen, individualistischen und darin zugleich normativ-universalistischen Anspruch. Der europäische Humanismus entspringt in einer mehrere Etappen durchlaufenden schöpferischen Umdeutung griechischer paideia (die geistige Durchformung und Bildung des Menschen) und philanthrophia (die unbestimmte Menschenliebe) durch die Römer bis ins zweite nachchristliche Jahrhundert. Die Entwicklungsgeschichte dieser Idee erreicht ihre stabilste, bis ins 20. Jahrhundert überlieferte Semantik mit Cicero. Er gibt dem Wort Humanismus die Doppelbedeutung einer sozialen, auf das zwischenmenschliche Verhalten bezogenen Tugend, einer Tugend der wechselseitigen Achtung und tiefen Zusammengehörigkeit aller Menschen, und zugleich eines individuellen, auf ein „höheres“ Menschsein gerichteten Bildungsideals, das literarische Geistesbildung, umsichtige Glücksfähigkeit, Selbstsorge und Muße (als Gegenentwurf zur Arbeit der Selbsterhaltung) einschließt. Denjenigen Strömungen der griechischen Philosophie, die wir im Rückblick zu den Quellen des europäischen Humanismus zählen, erschien die Erziehung im Sinn der Formung eines höheren Menschen als letzte Rechtfertigung der Existenz menschlicher Gemeinschaft und Individualität (Grassi 1991). Logos, die Gabe des vernünftigen Denkens und Redens, galt als eine privilegierende, die Menschen, jedenfalls die gebildeten Menschen, von allen Tieren und Barbaren wesentlich unterscheidende Fähigkeit und darum auch als Mittelpunkt von Erziehung und Bildung in den Trägerschichten des politischen Lebens der antiken griechischen Stadtstaaten.3 Die überzeugende Rede hat die Menschen aus der Vereinzelung zu einer Gemeinschaft zusammengeführt, hat sie Städte gründen und sich Gesetze 3

Die Unterschiedlichkeit der Logosauslegungen allerdings unterscheidet nicht nur Phasen des Humanismus selbst, sondern am tiefsten auch insgesamt die humanistische, rhetorische Stellung des Gedankens zu Aussageform und Rede, Zeichen und Geltungsansprüchen von den rhetorikskeptischen und antirhetorischen Hauptströmungen der gesamten westlichen Philosophie. Grassi (1986, bes. Kap. VI, 154 – 164) beleuchtet dies unter der Leitdifferenz eines „antiplatonischen“ und „platonischen“ Humanismus. Die philosophisch aufschlussreichste mir bekannte Rekonstruktion des „Sprachhumanismus“ ist die von Karl-Otto Apel (1963, bes. 83 – 94).

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geben lassen, hat sie die handwerklichen Fähigkeiten und Künste gelehrt; kurz, auf der paideia beruht alle Kultur und Zivilisation.4

Vorgezeichnet sind hier bereits jener Bildungsstolz als Wert (und seine Kehrseite: elitäre Verachtung von Unbildung) und jenes Ideal der Perfektibilität (und die Kehrseite dieses Ideals: die Ausblendung menschlicher Unverbesserlichkeit und Beschränktheit5), die viel später, seit der Renaissance und bis zum Aufklärungshumanismus um 1800, im bürgerlichen Denken aufkommen werden. Vielleicht versteht man das universalistische Moment innerhalb des Humanismus-Dispositivs am besten von seiner Rolle her, den Humanismus gegen die Subversion seiner selbst zu schützen: Gegen die elitären und ausgrenzenden Tendenzen der logos-literarischen Geistesbildung fungiert der ursprünglich hierarchische, dann aber zunehmend egalitäre und allmählich sogar auf die Menschheit im Ganzen ausgedehnte, also universalistisch gewendete Gedanke der unbestimmten Menschenliebe als Inbegriff positiver Beziehungen zwischen Menschen als solchen als Gegengewicht. Humanistisch im weiten Sinne ist jedes Selbst- und Weltverständnis, das dem Menschen im Verhältnis zu allen andersartigen Lebensformen eine Schlüsselposition oder wenigstens eine Sonderstellung und eine im Ganzen überragende oder zumindest vergleichsweise höchste Bedeutsamkeit zuschreibt.6 Humanismus im engen Sinne einer bestimmten 4 5

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So pointiert dies Buck (1987, 14). Christliche Kritiker des Humanismus hatten für die Gefahr der Abschattung menschlicher Endlichkeit immer ein besonders waches Auge, siehe zum Beispiel Bultmann (1987, 443): „Der Humanismus, der in der Wissenschaft die Mittel zur Erkenntnis und Beherrschung der Welt ausbildet, der in der staatlichen Rechtsordnung die Gemeinschaft organisiert, der in der Kunst der Welt den Schein des Schönen verleiht, – bedeutet er nicht immer die Gefahr, dem Menschen vorzutäuschen, daß er der Herr der Welt und seines Lebens ist? – die Gefahr, ihn die unheimliche Macht des Schicksals, des Leidens, des Todes vergessen zu machen?“ Die starke und die schwache Variante in meiner Formulierung berücksichtigt den Unterschied zwischen einerseits allen Varianten humanistischen Denkens, die ohne Transzendenz auskommen, und denjenigen, die ein transzendentes, vom Faktum der Existenz der Menschheit metaphysisch unabhängiges Widerlager des Humanismus für notwendig halten. Jean-Paul Sartres existenzialistischer Humanismus (1947, 7 – 52) veranschaulicht die erste, Karl Barth die zweite: „Es gibt kein anderes All als ein menschliches All, als das All der menschlichen Ichheit“. Transzendenz denkt Sartre einzig noch als immanentes, als menschenwesentliches Überschreiten. Der Existenzialismus ist ein Humanismus, insofern „wir den Menschen daran erinnern, daß es außer ihm keinen anderen Gesetzgeber gibt und daß er in seiner Verlassenheit über sich selbst entscheidet; und weil wir zeigen,

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Gestalt der europäischen Geistesgeschichte enthält hingegen die Besonderheit eines Antikenbezugs, genauer: eine selektive Affirmation und Aneignung von einigen zuerst bei den Griechen und Römern zur Blüte gekommenen kulturellen Praktiken, die – so glauben Humanisten – objektiv wertvoll sind, weil sie die Entfaltung jener menschentypischen Potenziale fördern, die Menschen füreinander zu wertvollen Mitmenschen machen. Anhänger des europäischen Humanismus im engen Sinne erkennen diese Praktiken eher in der Literatur und überhaupt den Künsten als in der neuzeitlichen Wissenschaft und eher im Bereich der Beziehungen zwischen Redenden als in dem der Beziehungen zwischen logischen Formen, eher in der Suche nach einem individuell mit Sinn erfüllten Leben in einer Welt, die diese Suche niemandem verweigert, als in der Identifikation mit Kollektiven, sei es der religiösen Rituale oder des materiellen Konsums.7 Das Aufkommen des Christentums in Europa überlebt der erste Humanismus besser als die Spaltung des Christentums durch die Reformation, die die frühhumanistische Synthese von Antike und Christentum empfindlich stört. Wo der europäische Humanismus überhaupt zu einer die Lebensverhältnisse prägenden Größe werden konnte, ist seine Überzeugungskraft weniger von der Rückkehr der religiösen Glaubensmächte bedroht, von deren Überwindung er eher profitiert hat, als von mächtigen Ver-

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daß nicht durch Rückwendung auf sich selber, sondern immer durch Suche nach einem Ziel außerhalb seiner, welches diese oder jene Befreiung, diese oder jene besondere Verwirklichung sein wird – daß dadurch der Mensch sich als humanes Wesen verwirklichen wird.“ Für Barth hingegen dürfte allenfalls ein „Humanismus Gottes“ Anspruch auf den Titel eines Humanismus machen, in dem „die Menschenfreundlichkeit Gottes als die Quelle und Norm aller Menschenrechte und aller Menschenwürde“ gelten muss (Barth, 1950, 22). Eine moderne Formulierung des letzten Punkts findet sich in dem 1933 formulierten, von John Dewey mitunterzeichneten (und wohl auch mitformulierten) Humanist Manifesto. In diesem nur noch nominell auf Religion bezugnehmenden, der Sache nach gänzlich säkularen Manifest heißt es in seiner 14. These: „The humanists are firmly convinced that existing acquisitive and profitmotivated society has shown itself to be inadequate and that a radical change in methods, controls, and motives must be instituted. A socialized and cooperative economic order must be established to the end that the equitable distribution of the means of life be possible. The goal of humanism is a free and universal society in which people voluntarily and intelligently cooperate for the common good. Humanists demand a shared life in a shared world.“ Der Text des Manifests ist abrufbar unter http://www.americanhumanist.org/who_we_are/about_humanism/Humanist_Manifesto_I.

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schiebungen im Selbst- und Weltbild, die man entsprechend ihrer Herkunft aus Naturwissenschaft, Technik und Kapitalismus vielleicht als „Aufklärungsverschiebungen“ zusammenfassen darf. Humanismus und Aufklärung sind dialektische kulturelle Prozesse nicht nur in sich, sondern auch füreinander: Während sie unter bestimmten Bedingungen einander zuarbeiten, kehren sie sich unter anderen Bedingungen gegeneinander. Auf vergleichbarer Abstraktionshöhe wie der europäische Humanismus wird man die europäische Aufklärung als das Projekt beschreiben dürfen, alle menschlichen Freiheiten von allen Restriktionen zu entbinden, die – gemessen an den Maßstäben einer ausschließlich individuenzentrierten Rationalität – ohne Deckung und Fundament sind. Als Inbegriffe solcher Restriktionen erscheinen allemal Tradition, Üblichkeiten und Vorurteile, religiöse und andere Mythen, Ideologien und dann auch die etablierten kulturellen Deutungsmuster für politische und andere Gemeinschaftsbande und deren Geltungsgründe. Im Zuge fortschreitender Aufklärung schwindet nicht nur das Ansehen der religiösen Glaubensmächte, sondern auch die alternative Anziehungskraft des säkularen Humanismus in dem Maße, wie die moderni auf der Bahn der Aufklärung in einen neuen Bann geraten, wonach unser aufgeklärtes Selbstverständnis angeblich restlos in der natürlichen Evolution des Menschen, der Geistlosigkeit „geistbildender“ Strukturen8 und der kosmischen Randständigkeit der Erde aufgehen muss.9 Heute sind Ausmaß und Folgen der Aufklärungsverschiebungen im Selbst- und Weltbild kulturell moderner Gesellschaften nicht mehr zu übersehen, ungeachtet aller „Rückkehr der Religionen“, die neuerdings als eine Gegentendenz beobachtet wird. Die Aufklärungsverschiebungen im Selbst- und Weltbild rufen fragwürdige Gegenbewegungen zur

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Levinas hat die Doppelwirkung und Wahlverwandtschaft von Naturalismus und Strukturalismus in den 60er Jahren als das Ende der überkommenen Humanwissenschaften wahrgenommen und, im Unterschied zu Foucault, bedauert: „Das animal rationale, sofern es animal ist, löst sich in die Natur auf; sofern es rationale ist, verblasst es aber in dem Licht, in dem es die Ideen zum Vorschein bringt; diese Ideen sind zu sich selbst zurückgekehrte Begriffe, logische und mathematische Verkettungen, Strukturen“ (Levinas 2005, 68). Vgl. die pointierte Formulierung bei Karl Jaspers (1993, 27): „Sehe ich den Menschen nur als gegenständlich erkennbare Natur, so verzichte ich auf den Humanismus zugunsten eines Hominismus (Windelband). Ich sehe ihn nur als natürliches Gattungswesen. Alle Einzelnen sind nur endlos viele, an sich gleichgültige Exemplare dieser Gattung.“

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Aufklärung und zum Humanismus hervor, zum Beispiel die synthetische Spiritualität neuer naturreligiöser Kulte. Die Verschiebungen selbst sind Anzeichen einer Aufzehrung des Humanismus durch die neuzeitliche europäische Aufklärung. Sie erreichen ihr fragwürdiges Extrem dort, wo humanistische Visionen einer menschenwürdig eingerichteten Gesellschaft futuristisch überboten werden. Die Post- und Transhumanisten, wie sie sich nennen, ersetzen Philanthropie durch Technophilie, und Paideia durch Science Fiction.10 Für Post- und Transhumanisten wird die Gesellschaft erst dann menschenwürdig sein, wenn einerseits die Selbstüberhebung des „alten“ Menschen innerhalb der Tierwelt beendet und andererseits die Anerkennung „neuer“, technisch erst noch zu schaffender Androiden, Mensch-Maschine-Chimären und biotechnischer Hybridintelligenzen durchgesetzt sein wird.11 Die Schlüsselposition oder wenigstens Sonderstellung der menschentypischen Lebensformen relativ zu allen andersartigen, ohne die kein Humanismus auskommt, löst sich hier auf und verschwindet in der Kontinuität der natürlichen Evolution gewissermaßen „nach unten“ und im Kreationismus der menschlichen Technik sozusagen „nach oben“. Welche Faktoren wären zu berücksichtigen, wenn man erklären wollte, warum die ideologische Konjunktur des Humanismus seit der frühhumanistischen Synthese von Antike und Christentum, die durch die platonistische Strömung im griechischen Philosophieren möglich war, eher abfällt – zwar nicht stetig, aber in der Tendenz –, statt mit wachsender Aufklärung, Säkularisierung und kultureller Liberalisierung anzusteigen? Außer der Reformation und der Entstehung der neuzeitlichen Naturwissenschaft wären sicher auch Verschiebungen im philosophischen Begründungsdenken zu nennen. In paradigmentheoretischer Sichtweise kann dies als Relativierung, wenn nicht als Ablösung des ontologischen Paradigmas durch das mit Descartes anhebende moderne Paradigma der Bewusstseins- und Subjektphilosophie (und im 20. Jahrhundert der Sprachphilosophie) beschrieben werden12 und enger rationalitätstheo10 Für Anschauungsmaterial siehe z. B. das kulturreflexiv interessante H+ Magazin (http://www.hplusmagazine.com/magazine). 11 Zur Entwicklung des Posthumanismus und des Transhumanismus siehe N. Katherine Hayles (1999); Oliver Krüger (2004, bes. Kap. 5); Stefan Herbrechter (2009, bes. Kap. 2). 12 Zu dieser Betrachtungsweise siehe besonders Karl-Otto Apel (2002).

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retisch betrachtet als Umstellung der philosophischen Begründungsbasis von Axiomatiken einer letztlich transzendent bleibenden Autorität auf jene Autorität, die allein in der Autonomie der menschlichen Vernunft selbst ihre Quelle haben soll. „Man mag in Manetti oder in Pico mehr Weisheit finden als in Descartes – an Originalität und Schärfe des Denkens kommen sie ihm bei weitem nicht gleich. Den meisten, die seine Herausforderung ernst genommen und aufgegriffen haben, ist die humanistische Denkform schal geworden, die ja nur eine Autorität – die der Scholastiker – durch eine andere ersetzte, aber sich nie zur Autonomie der Vernunft erhob. In der querelle des anciens et des modernes wurde auch für die Kunst deutlich, dass die Moderne durchaus über eigene Vorzüge verfügt.“13 Vittorio Hösle hat noch einen weiteren Faktor hervorgehoben, dessen Aktualität umso mehr einleuchtet, je näher man auf die Herausforderungen für den heutigen Humanismus in der Epoche der Globalisierung abstellt.14 Der Faktor kann als die Selbstinfragestellung des europäischen Humanismus durch die Freisetzung kulturrelativistischen Denkens beschrieben werden. „Je mehr man die einzelnen Epochen der Antike studierte, desto mehr wurde man der Unterschiede zwischen ihnen gewahr – Vico besitzt völlige Klarheit darüber, dass die moralischen Vorstellungen von Sokrates von denjenigen Homers beträchtlich abweichen. 13 Hösle (1999, 74). 14 Der Historiker Jörn Rüsen und andere Wissenschaftler im Umkreis des bedeutenden kulturwissenschaftlichen Forschungsprojekts „Humanismus in der Epoche der Globalisierung“ sehen im Humanismus ein Selbst- und Weltverständnis, das eine zeitgemäße Antwort auf das Bezugsproblem eines überlebensnotwendigen normativen Regelungsbedarfs bereitstellt. (Das Projekt wurde 2009 zum Abschluss gebracht, siehe http://www.kwi-humanismus.de/de/k3. Humanismusprojekt_Das-Humanismusprojekt.htm) Rüsen erblickt ein kardinales Überlebensproblem der gesamten Menschheit heute und in Zukunft darin, kulturelle Orientierungen zu finden, die den Überlebenswillen menschlicher Gemeinschaftsbildung über alle Abgrenzungen vom Anderssein der Anderen hinweg auf ein differenz-übergreifendes Ziel oder auf eine interkulturell plausible Wertordnung ausrichten. (Siehe Rüsen bes. S.14 – 20 in Rüsen, Jörn & Laass, Henner (Hg.), Interkultureller Humanismus, Wochenschau Verlag: Schwalbach, 2009.) Ein noch einmal erneuerter Humanismus des 21. Jahrhunderts vermöchte die Huntingtonschen Risiken kulturdifferenzgetriebener Konflikte in der modernen Welt zu befrieden. Daher verdiene die Rekonstruktion humanistischen Denkens unser wissenschaftliches Interesse und seine Reanimation unser politisches. Humanismus erscheint als das – womöglich einzige – zum Globalisierungsprozess, der die gegenwärtigen Welt prägt, passende kulturpolitische Engagement für umsichtige, kosmopolitische Demokraten.

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Damit aber verliert die Antike ihren paradigmatischen Charakter; denn die Frage drängt sich auf: Welche Antike?“ (Hösle 1999, 75). Wie die klassischen Philologien die vermeintliche kulturelle Kompaktheit der Antike aufgesprengt haben, so haben die modernen Sozial- und Kulturwissenschaften zunehmend die kulturelle Differenz in der kulturellen Verfassung der Weltgesellschaft hervorgehoben. Der europäische Humanismus ist der westliche Humanismus, nämlich die „bei uns“ erfundene Auslegung des Menschseins des Menschen. Sie steht in Konkurrenz mit anderskulturellen Auslegungen des Menschseins des Menschen. In der humanistischen Berufung auf ein Humanum drängt sich die Frage auf: welches Menschsein? Karl Jaspers hat die kulturrelativistische Herausforderung in seinem Beitrag zur Humanismusdiskussion Mitte des vorigen Jahrhunderts bereits deutlich gesehen: „Ein neuer Humanismus aus einer leeren Idee des Menschen als solchen ohne Geschichtlichkeit ist unmöglich. Wohl aber ist ein kommender Humanismus denkbar, der die chinesischen und indischen Grundlagen des Humanen abendländisch aneignet und zu einem gemeinschaftlichen menschlichen Humanismus aller Erdbewohner in der Mannigfaltigkeit seiner geschichtlichen Erscheinungen wird, die besser sie selbst sind, weil sie umeinander wissen“ (Jaspers 1993, 43).

Was leistet der „theoretische“ Humanismus? Julian Nida-Rümelin hat in einer Reihe von Arbeiten wichtige Konstruktionselemente für einen philosophisch erneuerten Humanismus entwickelt.15 Dieser „humanistische Individualismus“ soll kulturpolitisch anschlussfähig sein, auch im Kontext einer zukünftigen Weltinnenpolitik. Nicht weniger wird anvisiert als die philosophisch ausweisbare normative Grundlage zu einer internationalen „Leitkultur“. Die von Nida-Rümelin bereits ausgearbeiteten Konstruktionselemente möchte ich nun auf die gesamte Problemlage abbilden, mit der jeder Versuch, den abendländischen Humanismus auf die Epoche der Globalisierung einzustellen, konfrontiert ist. Die maßgeblichen Herausforderungen, wie im vorigen Abschnitt beschrieben, lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

15 Siehe besonders Nida-Rümelin (2006).

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(H1) Aufklärungsverschiebungen im vorherrschenden Selbst- und Weltbild: erstens die Verabsolutierung der Denkform des Naturalismus, die von der empirischen Wissenschaft und Technik, sowie zweitens die radikale Individualisierung des Sinn- und Glücksstrebens, die von den formativen Kräften der globalen Marktwirtschaft machtvoll ideologisch unterstützt werden, (H2) Fortbestand oder Rückkehr von religiösen Glaubensmächten, die dem humanistischen Denken, gleich ob in engem oder weitem Sinne, nicht symbiotisch entgegenkommen, sondern widerstreiten, (H3) Umstellung der normativen Quellen für Allgemeingültigkeit anstrebende Formen der Begründung auf die Autorität einer Vernunft individualistischen Zuschnitts – einer Vernunft, die in der Selbstbestimmung von Einzelnen als Einzelnen ihren Sitz hat, (H4) Pluralisierung oder Relativierung von Auslegungen des Humanum, als des Wesentlichen der für Menschen typischen Lebensform, an verschiedenen, sich selbst als verschieden setzenden kulturellen Wir-Identitäten. Ich meine: Nur wenn eine Humanismuskonzeption sich zu jeder dieser Herausforderungen in ein reflektiertes Verhältnis setzen kann und Aussichten auf ihre Bewältigung bietet, hat sie überhaupt nennenswerte Chancen, weltkulturpolitisch attraktiv zu werden, andernfalls nicht. Aber dies bezeichnet nur eine erste Schwelle. Falls eine Humanismuskonzeption weltkulturpolitisch attraktiv würde, wäre damit noch nicht ausgemacht, ob sie wirklich etwas Nennenswertes zur Lösung derjenigen Probleme in der Weltordnung beiträgt, für die ihre Konstrukteure, Befürworter und Propagandisten sie empfehlen, und nicht in unerwünschter Konsequenz neue und vielleicht sogar größere Probleme erzeugt. Über diese zweite Schwelle lässt sich naturgemäß nur wenig vorweg ausmachen. Ich blende diese Problematik im Folgenden aus.16 Allerdings können wir uns an Paradoxien der Menschenrechtspolitik, die man an der kurzen Geschichte der sogenannten humanitären Interventionen analy16 Hier wäre eine Bewertung zum Beispiel von Nida-Rümelins Leistungshoffnung angebracht, dass „ohne einen erneuerten Humanismus […] die Europäische Union […] nicht wirklich integrationsfähig sein“ kann (Nida-Rümelin 2006, 33).

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sieren kann, leicht klarmachen, wie bedeutsam auch diese zweite Schwelle ist. Der von Nida-Rümelin angedachte humanistische Individualismus kombiniert einen „theoretischen“ und einen „ethischen“ Humanismus. Wie sind diese Konstruktionselemente beschaffen? In einem Vortrag über „Vernunft und Freiheit“, den Julian Nida-Rümelin im Jahr 2007 als scientist in residence an der Universität Duisburg-Essen gehalten hat, führt er seine Humanismuskonzeption vor allem als Antwort auf die Herausforderung der Verabsolutierung der Denkform des Naturalismus ein: „Der Humanismus, wie ich ihn verstehe, hält dagegen, dass menschliches Handeln ohne eine Bezugnahme auf Gründe nicht vollständig beschreibbar und erklärbar ist und dass die Rede von Gründen sich nicht ohne Verlust in naturwissenschaftliche Beschreibungsformen (weder der Physik, noch der Biologie, noch der Neurophysiologie) übersetzen lässt“ (Nida-Rümelin VF, in diesem Band, 22). Die Logosauszeichnung des Menschen deutet Nida-Rümelin im Sinne einer menschentypischen Fähigkeit zum argumentativen Diskurs und vermeidet dadurch elegant die Fallstricke einer im Sprachhumanismus angelegten Fetischisierung der welterschließenden Funktion der Sprache ebenso wie die im Empirismus wie im Rationalismus ausgeprägte und überwertig besetzte Idee der logischen Sprachfunktionen. Theoretisch ist Nida-Rümelins theoretischer Humanismus in dem präzisen Sinne, dass er in eine Theorie der für Menschen typischen Freiheit im Umgang mit Gründen investiert, um dem Menschen relativ zu allen andersartigen Lebensformen eine einsehbare Sonderstellung zusprechen zu können. Der Mensch als animal rationale ist das Tier, das Gründe hat. Das zentrale Phänomen des theoretischen Humanismus ist die deliberative Freiheit, die wir genau so weit haben, wie wir einander als ernstzunehmende Bewerter von Gründen anerkennen. „Sich von Gründen affizieren zu lassen, Gründe zu nehmen und Gründe zu geben, scheinen mir die zentralen Charakteristika des Humanen zu sein. Entsprechend lässt sich die Position eines theoretischen Humanismus dadurch charakterisieren, dass sie dem Gründe-Geben und Gründe-Nehmen einen zentralen Stellenwert in der Analyse menschlicher Praxis beimisst“ (Nida-Rümelin VF, in diesem Band, 22). Zentral, denn „Freiheit, Rationalität und Verantwortung sind über Gründe begrifflich eng miteinander verknüpft“ (Nida-Rümelin 2005, 38). Nida-Rümelin untermauert diese Position mit einem (schwach) transzendentalen Argument. Eine Pointe dieser Argumentform ist, dass die so untermauerte Theorie ihre Autorität aus der vortheoretisch vertrauten

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Lebenspraxis bezieht und daher nicht gegen diese Praxis ausgespielt werden kann, etwa eliminativ-reduktiv (Nida-Rümelin 2005, 40). Hierin liegt weniger eine Schwäche als eine Stärke dieser Argumentform. Sie funktioniert als Nachweis der Unverzichtbarkeit von x für y, wobei y etwas ist, das niemand im Ernst preisgeben wollen kann. In Nida-Rümelins Argument ist x die Fähigkeit von Personen, einander wechselseitig die Fähigkeit zuzuschreiben und auszuüben, Gründe abzuwägen und entsprechend dieser Abwägung zu urteilen und zu handeln; y ist die normale menschliche Interaktion, wie wir sie kennen. „Die Option, die Metaphysik unserer lebensweltlichen deskriptiven und normativen Überzeugungen frei zu wählen oder auch nur wesentlich zu modifizieren, steht uns nicht offen. Wir kçnnen nicht anders, als uns selbst und diejenigen, mit denen wir normale menschliche Interaktionsbeziehungen pflegen, als frei, rational und verantwortlich zu interpretieren“ (Nida-Rümelin 2005, 41).17 Dieses Argument zeigt allerdings nur die Nichtverwerfbarkeit (also Wohlbegründetheit) der Präsupposition, dass deliberative Freiheit eine Realität ist, und nicht, dass deliberative Freiheit selbst eine Realität ist. Nida-Rümelin versucht mit einer zweiten, nicht transzendentalen Argumentlinie einen stärkeren Nachweis der Realität deliberativer Freiheit zu geben. Er ist bemüht, deliberative Freiheit als die (inter-theoretische) Tatsache zu erklären, dass Gründe „naturalistisch unterbestimmt“ sind. Dieser Nachweis ist ein (schwach) metaphysisches Argument. Für diese Erklärung muss man sich auf Theorien über Kausalitätstheorien einlassen und die für transzendentale Argumente eigentümliche Selbstgenügsamkeit strikter Reflexion aufgeben. Wenn unsere Gründe und unser bewertender Umgang mit ihnen, Deliberation, naturalistisch bestimmt (vollständig kausal determiniert) wären, dann würde das Ergebnis der Deliberation vor aller Deliberation immer schon festliegen, „etwa durch einen mit naturwissenschaftlichen Mitteln beschriebenen Weltzustand und die wirkenden Naturgesetze allein“ (Nida-Rümelin VF, in diesem Band, 25). Deliberative Freiheit wäre keine Realität, sondern eine Illusion. Aber wenn unsere Gründe und unser bewertender Umgang mit Deliberation naturalistisch unterbestimmt (nicht vollständig kausal determiniert) sind, dann ist es möglich, dass deliberative Freiheit keine Illusion ist, sondern eine Realität. Nicht nur möglicherweise, sondern tatsächlich ist deliberative Freiheit eine Realität, falls unsere von uns bewerteten Handlungsgründe als diese auch wirksam sind, also unsere 17 Meine Hervorhebung, M.K.

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Handlungen nicht nur normativ rechtfertigen, sondern auch kausal erklären können. Können sie es? „Wenn Gründe Ursachen sind oder genauer formuliert, wenn das Akzeptieren von Gründen und die vorausgehende Deliberation kausal relevant sind, also einen Einfluss auf den Weltverlauf haben, dann wäre der Weltverlauf anders, wenn anstelle dieser andere Gründe vom Akteur akzeptiert worden wären.“ Angenommen, wir folgen Nida-Rümelin in diesem Punkt und denken, dass es sich wirklich so verhält: andere akzeptierte Gründe, andere absichtsvolle Körperbewegungen, andere Handlungen. Dann bliebe immer noch offen, ob unsere Aktivität des Bewertens von Gründen, unser Deliberieren im Vollzug, seinerseits frei ist – und dann aber nicht im selben Verhältnis zum sonstigen Weltlauf stehen kann, in welchem unser von Gründen geleitetes Handeln (absichtsvolle Körperbewegungen) steht. Unser Deliberieren im Vollzug müsste sich begreifen lassen als kausal wirksam („kausal relevant“) und gleichwohl nicht vollkommen kausal bewirkt („naturalistisch bestimmt“, determiniert). Es müsste sich begreifen lassen als (absichtsvolle Körperbewegungen) naturalistisch bestimmend und zugleich als seinerseits naturalistisch unterbestimmt und mitbestimmt durch Gründe, die ihrerseits Entitäten sind, die naturalistisch unterbestimmt bleiben. Diese Verhältnisse sind verwickelt und Nida-Rümelins Rede vom „nicht-natürlichen Ereignis des Akzeptierens eines Grundes“ (im Unterschied zu dem „natürlichen Ereignis einer Körperbewegung“) (Nida-Rümelin VF, in diesem Band, 23) bleibt vorläufig ein ontologischer Joker. Das Abwägen von Gründen sei „kein kausaler Prozess“ (NidaRümelin VF, in diesem Band, 24).18 Welche Art von Prozess aber dann? Hier wird der theoretische Humanismus ersichtlich von sehr abstrakten und in sich theoriekonstituierten Annahmen abhängig – wenn man so will: von Metaphysik. Ich meine, dies schwächt diese Humanismuskonzeption mit Bezug auf Herausforderungen (H4) der Pluralisierung, Relativierung und Fragmentierung. Am Ende (Nida-Rümelin VF, in diesem Band, Kapitel 3.5) scheint Nida-Rümelin doch von der metaphysischen wieder auf die transzendentale Argumentationslinie einzuschwenken, die der Königsweg zur Abwehr naturalistischer Wegerklärungen von Freiheit, zumal der mit Vernunft zusammengehenden Form von Freiheit, bleibt. Der metaphysische Weg ist nur ein Umweg ohne humanistischen Mehrwert. 18 Hingegen vertritt Nida-Rümelin in VF 3.4 eine schwächere, aber weit weniger strittige These, nämlich: Die „Regeln guten Begründens ergeben sich nicht aus naturwissenschaftlichen, auch nicht aus psychologischen Gesetzmäßigkeiten“.

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Bevor ich meinerseits ein transzendentalpragmatisches Argument anbiete, um Nida-Rümelins schwach transzendentales Argument für die Realität menschlicher Freiheit zu stärken, möchte ich noch die Leistungsfähigkeit des Bauelements „theoretischer Humanismus“ mit Bezug auf die übrigen Herausforderungen einschätzen. Offenbar ist der theoretische Humanismus auf H1 (Naturalismus) zugeschnitten. Zwar möchte Nida-Rümelin auch die (oben unter H1 mitbeschriebene) Herausforderung der radikalen Individualisierung des Sinn- und Glücksstrebens unter den formativen Kräften der globalen Marktwirtschaft annehmen,19 die hierfür nötige Stoßkraft ist im theoretischen Humanismus aber meines Erachtens nicht vorhanden. Auf H2 (Religion) antwortet der „theoretische Humanismus“ nicht und mit Bezug auf H4 (Relativismus et cetera) ist er eher Teil des Problems als Teil seiner Lösung. Sehr leistungsfähig ist er nur mit Bezug auf H3 (individualistisch geschrumpfte Rationalität), da Nida-Rümelin diesbezüglich eine ausgearbeitete Theorie „struktureller“ Rationalität anbietet. Sie zielt auf die Wiedergewinnung einer breiten, kollektive Intentionalität und komplexe Interaktionsformen in den Blick nehmenden Perspektive in der philosophischen Rationalitätstheorie, ohne das ontologische Prius der Bindung von Rationalitätszuschreibungen an rede- und handlungsfähige Personen, an Einzelsubjekte, zu verwässern (Nida-Rümelin VF, in diesem Band, Kapitel 1.5; Nida-Rümelin 2001, 91, 99).20 Exkurs: Wie frei sind wir, uns unfrei zu denken? Alle Versuche, die Möglichkeit von „Willensfreiheit“ zu erklären oder wegzuerklären, sind Versuche der Konstruktion von (positiven, ihre Wirklichkeit verständlich machen wollenden oder negativen, ihre Wirklichkeit zu einer bloß vermeintlichen herabsetzen wollenden) 19 Das „humanistische Selbstverständnis ist auch als ein Gegenentwurf zu einer Gesellschaft der homines oeconomici zu verstehen, in der der Mensch auf eine Rolle als Konsument und als Produzent reduziert wird. Aber wir sind mehr, wir sind Bürger mit einer gewissen Verantwortung für die res publica, wir sind Teil kultureller Gemeinschaften, wir stehen in einer historischen kulturellen Tradition, wir sind kulturell verfasste Wesen. Der Sinn des Lebens ergibt sich sicher nicht primär aus ökonomischen Interessen“ (Nida-Rümelin 2006, 35). Das reformuliert nur das Problem, zeigt aber keinen Lösungsansatz. 20 Siehe Nida-Rümelin (2001, 133) zur Grundintuition der strukturellen Rationalität.

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Theorien der erstpersonalen praktischen Selbstbestimmung.21 Als Versuche der Theoriekonstruktion beinhalten sie Behauptungen (Annahmen, Hypothesen, Schlussfolgerungen) in Bezug auf die es sinnvoll möglich sein muss, einen genuinen Wahrheitsanspruch – im Sinne eines Geltungsanspruchs für Tatsachenbehauptungen – zu erheben. Andernfalls hätten wir es nicht mit der Praxis wissenschaftlicher Theoriebildung, sondern mit einem andersartigen Genre von Praxis zu tun. Für alle Theoriebildung, die auf etwas hinaus will, für das es sinnvoll möglich sein muss, einen genuinen Wahrheitsanspruch zu erheben, gilt die einschränkende Bedingung der Vermeidung formallogischer Widersprüche, die Forderung logischer Konsistenz. Die Norm, dass die Behauptung von Konjunktionen von Aussagen, die sich wie Position und Negation zueinander verhalten, im Zusammenhang einer einzigen Behauptung vermieden werden soll, salva rationalitate, das heißt bei Strafe des Verlusts der Selbsteinstimmigkeit der Vernunft, das heißt vertrauenswürdiger rationaler Autorität, ist eine vollkommen allgemeingültige Grundnorm der Rationalität („Prinzip vom zu vermeidenden logischen Widerspruch“), deren Relevanz und Gültigkeit niemand im Ernst bestreitet (oder auch nur bestreiten könnte22) überall dort, wo es um Wahrheitsansprüche (und wahrheitsanspruchsanaloge Geltungsansprüche, zum Beispiel ein universalistisch gedachter Anspruch auf moralische Richtigkeit) geht. Sie gilt natürlich auch für negative und positive Selbstbestimmungstheorien. Die Forderung logischer Konsistenz ist aber nicht die einzige Beschränkung, der die Rationalität aller an Wahrheit orientierter Theoriebildung untersteht. Theorien (T) sind Produkte der erkennenden Tätigkeit von Personen und müssen (anders als zum Beispiel Glaubensdogmen) für die erkennende Tätigkeit von Personen anschlussfähig 21 Die wichtigsten innerhalb der Philosophiegeschichte konstruierten Selbstbestimmungstheorien werden expliziert in dem von Uwe an der Heiden und Helmut Schneider herausgegebenen Sammelband Hat der Mensch einen freien Willen?. Eine instruktive Übersicht über die Hauptarten von Argumenten, mit denen die Kontroverse über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Willensfreiheit ausgetragen werden, siehe Henrik Walter (1997, 94 f.). Eine Konzeption von Willensfreiheit als eines „komplexen Vermögens gesunder Menschen im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte“ verteidigt Geert Keil (2008, 131) überzeugend gegen die Verkürzung auf eine Eigenschaft von Handlungen und gegen vermeintlich starke Determinismusthesen naturwissenschaftlicher Provenienz. 22 Die klassische Letztbegründung des formallogischen Widerspruchsvermeidungsprinzip gibt bekanntlich Aristoteles im Buch IV der Metaphysik (1006 a).

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bleiben. Das heißt im einfachsten Fall: Es muss möglich sein, dass es Personen gibt, die T so behaupten, dass es für andere Personen sinnvoll ist, sich von der Wahrheit von T überzeugen zu lassen oder die Wahrheit von T zu bezweifeln oder zu bestreiten. Diese Anschlussfähigkeit an, und Wiedereintrittsmöglichkeit von T in die erkennende Tätigkeit von Personen, aus der T hervorging, können wir kurz die „Diskursivierbarkeit“ von T nennen. Diskursivierbarkeit – egal ob von einzelnen Behauptungen p, q oder von ganzen Theorien T1, T2 – bringt mehr ins Spiel als nur die logische Konsistenzforderung für die involvierten Aussagen. Diskursivierbarkeit bringt zudem die Rationalitätsnorm ins Spiel, dass der Sprechakt des Behauptens des infrage stehenden Inhalts durch einen Proponenten sich von weiteren möglichen Proponenten oder Opponenten als ein gültiger Sprechakt verstehen (und anschließend: aufnehmen, erwidern et cetera) lassen muss. Diese an sich triviale Anforderung erhält nichttriviale Konsequenzen dort, wo die Möglichkeit besteht, dass das Wahrsein oder Falschsein des Inhalts der betreffenden Behauptungen die Gültigkeitsbedingungen des Sprechakts des Behauptens tangiert et vice versa. Besonders interessant ist der Fall, in dem der Sprechakt des Behauptens nicht gültig sein könnte, falls das mit ihm Behauptete wahr wäre. Wenn wir davon ausgehen, dass die Bedingungen der Möglichkeit für behauptende Sprechakte, als gltige Sprechakte zu gelten, Vorrang haben vor den Bedingungen der Möglichkeit für behauptete Aussagen, als wahre Aussagen zu gelten (weil Bedingungen der Möglichkeit des Sinnvollseins vorausgesetzt sind für Bedingungen der Möglichkeit des Wahrseins), dann haben wir im betrachteten Fall einen unüberbietbar guten Grund, das Behauptete für sinnlos zu halten und zurückzuweisen: Denn das, was da behauptet werden sollte, lässt sich gar nicht als möglicherweise wahr oder falsch behaupten oder bestreiten, kurz: es ist nicht diskursivierbar, es hat keinerlei argumentativ-diskursiven Sinn. Inkonsistenzen dieser Art, wenn sie auftreten, treten nicht zwischen Aussageinhalten auf, sondern zwischen Sprechhandlungsabsichten („illokutionären Intentionen“) auf der einen Seite und Aussageinhalten („propositionalen Gehalten“) auf der anderen Seite. Sinnvollerweise nennt man sie „performative Selbstwidersprüche“ oder – wie ich vorziehen würde zu sagen – „performativ-logische Widersprüche“ und die

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Norm, sie salva rationalitate zu vermeiden, das „Prinzip vom zu vermeidenden performativen Selbstwiderspruch“ (PSW-Prinzip).23 Hierin liegt eine interessante Konsequenz: Was immer an Selbstbestimmung begrifflich nötig („sinnnotwendig“) dafür ist, dass wir Diskursivierungen ausführen können, kann in einer negativen Selbstbestimmungstheorie T nicht bestritten werden, ohne dass diejenigen, die T vertreten, gegen das PSW-Prinzip verstoßen und sich in einen performativ-logischen Widerspruch verwickeln. Vertretern totalisierender negativer Theorien der erstpersonalen praktischen Selbstbestimmung, die unsere einsichtsbasierte und ansonsten freie Zustimmung zu den Behauptungen suchen, mit denen sie behaupten, dass wir in Wirklichkeit unfrei sind (und also auch unfrei zu einsichtsbasierten und ansonsten freien Zustimmungshandlungen) sollten wir, solange wir klar denkende Menschen sind, so wenig rationalen Kredit geben, wie wir ihn Theoretikern geben würden, deren Theorien logisch widersprüchlich sind – also keinen. Die rationalitätstheoretisch begründbare Forderung der logischen und der performativen Konsistenz (das Doppelprinzip der Vermeidung des performativ-logischen Selbstwiderspruchs und des formal-logischen Widerspruchs) erlegt positiven wie negativen Theorien über Freiheit und deren Grundbegriffen die Gültigkeitsbedingung auf, (1) dass die Dis23 Zur philosophischen Bedeutung des performativen Selbstwiderspruchs und des Prinzips, ihn zu vermeiden, siehe Karl-Otto Apel (1998). Der Begriff des performativ-logischen Selbstwiderspruchs schließt den des (propositionalen) logischen Widerspruchs ein, – ohne sich auf letzteren reduzieren zu lassen, denn es ist nicht der Fall, dass der performativ sich widersprechende Sprecher aktuell in ein und derselben Hinsicht ein und demselben etwas bestimmtes zu- und abspricht, wie der propositional-logisch sich widersprechende Sprecher. Von einem Sprechakt A eines Sprechers S zu sagen, dass S sich durch A „in einen performativen logischen Selbstwiderspruch verwickelt“, würde ich transzendentalpragmatisch so analysieren. Es heißt: Wenn der Sprecher S seinen Sprechakt A als Versuch eines Diskursbeitrags gelten lassen will, dann wird A kein gültiges Ergebnis haben können, weil dann, wenn A ein gültiges Ergebnis haben würde, S nicht vermeiden könnte, eine offen widersprüchliche Überzeugung-von-Süber-S zugeschrieben zu bekommen. (Die Überzeugung nämlich, dass es eine bestimmte Handlungsabsicht a gibt derart, daß S a auszufhren beabsichtigt (nämlich: p als wahr zu behaupten) und, dass es a nicht gibt (weil aus p folgt, dass es a nicht gibt). Oder S will A nicht als Versuch eines Diskursbeitrags gelten lassen, sondern als etwas anderes, vielleicht als eine künstlerische Aktion. Oder S gehört nicht zu den Personen, die offen logisch widersprüchliche Überzeugungen vermeiden, und ist daher, wie Aristoteles brutal sagte, im Unterschied zu diskursteilnahmsfähigen Personen „wie eine Pflanze“, also kein ernstzunehmender Gesprächspartner.

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kursivierung dieser Theorien nicht unmöglich sein darf, falls die betreffenden Theorien wahr sind, und (2) dass sie sich als möglicherweise wahr müssen denken lassen, um auch nur als sinnvolle wissenschaftliche Theorien gelten zu dürfen. Gegen diese Gültigkeitsbedingung verstoßen reduktionistische Begriffsbestimmungen von Freiheit, allemal von Deliberationsfreiheit. Denn mit solchen Begriffsbestimmungen werden wir aufgefordert uns als Wesen zu denken, die sich eine bloße Illusion von Deliberationsfreiheit bilden, während „in Wirklichkeit“ die Aktivitäten, in denen wir uns als freiwillig Handelnde begreifen (zum Beispiel im Aufstellen von eliminativen Theorien über Selbstbestimmung und Willensfreiheit) durch ein Geschehen hervorgebracht werden, das mit der Zuschreibung der Aktivität zu einem Urheber, der die ihrer selbst bewusste, zur Bewertung von Gründen fähige, handlungs- und verantwortungsfähige Person ist, nichts zu tun hat. In einem genau bestimmbaren Sinne steht es uns also nicht frei, uns als unfrei zu denken. Dass es uns „nicht freisteht“ heißt hier: salva rationalitate steht es uns nicht frei. Falls wir allerdings bereit sind, das Prinzip vom zu vermeidenden performativ-logischen Selbstwiderspruch aufzugeben – oder lokal zu suspendieren – dann steht es uns allerdings auch frei, uns absolut unfrei zu denken. Nur dürfen wir dann nicht mehr davon ausgehen, dass Dritte damit fortfahren uns zuzuschreiben, dass wir überhaupt noch im etablierten Sinne von „denken“ etwas denken. Für vernünftig und einsichtsfähig dürften wir und andere uns nicht mehr halten. Vernnftig und absolut unfrei kann man nicht gleichzeitig sein.

Was leistet der „ethische“ Humanismus? Der theoretische Humanismus hat keinen bestimmten normativen Gehalt, strukturiert keine normative Ordnung, enthält keine normativen Kriterien richtigen Handelns. Er öffnet lediglich einen logischen Ort für jene vernünftige menschliche Freiheit, die real sein muss, wenn irgendeine normative Ordnung möglich sein soll. Der ethische Humanismus hingegen soll normative Kriterien richtigen Handelns enthalten (Nida-Rümelin 2005, 42). Wie ist der Übergang vom ethisch neutralen theoretischen zum ethisch gehaltvollen Humanismus in Nida-Rümelins Konzeption eines humanistischen Individualismus zu denken? Und welche normativen Kriterien sollen es sein?

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Auf dem theoretischen Humanismus „fußend kann sich ein ethischer Humanismus, also eine humane Einstellung gegenüber anderen Menschen entwickeln, die vielleicht in Europa am prägnantesten Immanuel Kant ausformuliert hat. Hierzu gehören Autonomie, Respekt, Menschenwürde im Sinne der Anerkennung der Eigenverantwortlichkeit für das jeweils eigene Leben und für das eigene Handeln. Das stellt den Kern der Menschenrechtsidee dar, die ja im Grunde eine Ausbuchstabierung dessen ist, was wir unter Menschenwürde verstehen und was auf der Basis eines theoretischen Humanismus entwickelt werden kann“ (Nida-Rümelin 2006, 30). Ich sehe nicht, ob Nida-Rümelin zwischen dem theoretischen, Freiheit gegen naturalistische Verschiebungen absichernden Humanismus und einem ethischen Humanismus der Menschenwürde und der Menschenrechte einen Begründungszusammenhang konstruieren will, der stärker wäre als der eines Freigebens von oder Platzmachens für oder eben, metaphorisch ausgedrückt, eines „Fußens auf“. Ich sehe auch nicht, mit welchen Argumentationsmitteln er dies könnte. Der theoretische Humanismus allein, vereinbar mit jeder ethischen Position, ist dafür sicher nicht gerüstet. Soweit ich sehe, gewinnt Nida-Rümelin zusätzliche Argumentationsmittel, die nötig sind für eine an Kant orientierte, auf die Begründung von Menschenwürde und Menschenrechten abzielende ethische Humanismuskomponente durch Rückgriff auf Avishai Margalits politischphilosophische Theorie der Decent Society (Margalit 1999).24 Aus Margalits Konzept einer „anständigen Gesellschaft“ gewinnt Nida-Rümelin einen, wie er meint, nichtpsychologischen, nämlich normativen Begriff der Selbstachtung und ihres Negats, Demütigung: „Demütigung und Selbstachtung sind begrifflich eng miteinander verbunden. Einen Menschen zu demütigen heißt, ihm seine Selbstachtung zu nehmen“ (NidaRümelin 2005, 135). Die zustzliche normative Prämisse „[m]an sollte nichts tun, was einer Person Grund gibt, sich gedemütigt zu fühlen“ (Nida-Rümelin 2005, 134) macht dann folgende Teilinterpretation, welche Gründe wir als gute Gründe gelten lassen wollen dafür, sich gedemütigt zu fühlen, plausibel: „Ein Mensch hat immer dann Grund, sich gedemütigt zu fühlen, wenn bestimmte grundlegende Rechte verletzt wurden“ (Nida-Rümelin 2005, 135). Setzt man Menschenrechte für grundlegende Rechte ein, dann kann man ethischen Humanismus als diejenige normative Position einführen, die die Norm enthält, dass 24 Vgl. Nida-Rümelins Essay „Warum Menschenwürde auf Freiheit beruht“ (2005, 131 – 134).

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Menschen einander nichts tun sollten, was ihre erklärten Menschenrechte verletzt. Denn das gäbe ihnen Grund, sich gedemütigt zu fühlen. Und man sollte nichts tun, was einer Person Grund gibt, sich gedemütigt zu fühlen. Ein Junktim des Begriffs der Menschenwrde mit den erklärten Menschenrechten, ohne ersteren auf ein Kürzel für letztere zu reduzieren, gelingt Nida-Rümelin vordergründig durch die Einschränkung von Selbstachtung und Demütigung auf „existenzielle“ Selbstachtung und Demütigung. Menschenwürde ist dann der Titel für die Norm, dass existenzielle Demütigung nicht sein soll. Das Recht eines jeden Menschen, nicht existenziell gedemütigt zu werden, wäre dann gleichsam das einzige in der Liste der erklärten Menschenrechte nicht explizit auftauchende, aber die meisten Einträge auf dieser Liste verständlich machende, auch die meisten Einträge rechtfertigende und insofern grundlegende Menschenrecht. 25 Das so konstruierte Junktim wirft das Restproblem der Begründung der durch das existenzielle Demütigungsverbot nicht rechtfertigbaren und nicht verständlich zu machenden Menschenrechte auf, die es in den Listen der erklärten Menschenrechte ja auch gibt. Lassen wir das auf sich beruhen. Schwieriger erscheint mir das Doppelproblem, (1) unter allen möglichen Demütigungen, die unter die Generalnorm fallen, dass man nichts tun sollte, was einer Person Grund gibt, sich gedemütigt zu fühlen, diejenigen Demütigungen, die „existenziell“ sind beziehungsweise die „existenzielle“ Selbstachtung verletzen, einzugrenzen, ohne bereits auf vorausgesetzte Menschenrechte (beziehungsweise auf deren Verletzung) zu rekurrieren. Hier tut sich doch ein enger Zirkel zwischen erklärten Menschenrechten und Menschenwürde auf, vielleicht aber kein vitiöser.26 Zweitens bleibt das Problem, (2) die Generalnorm selber zu begründen. Dieses Begründungsproblem wird, soweit ich sehe, nicht weitergeführt als bis zur Behauptung, die Pflicht, die Selbstachtung anderer Mitmenschen nicht zu beschädigen, sei eine elementare moralische 25 Ebd., 141: „Das Recht, nicht gedemütigt zu werden, fügt den übrigen menschenrechtlichen Normen etwas Wesentliches hinzu und die übrigen Menschenrechte lassen sich aus diesem Recht allein nicht deduzieren“. 26 Vgl. ebd., 140. Nida-Rümelin lässt in der Schwebe, ob der Begriff eines individuellen moralischen Rechts oder der Begriff einer existenziellen Demütigung grundlegender ist. Diese Option für Gleichursprünglichkeit löst aber das Problem nicht.

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Pflicht – was sie im Rahmen kantianischer Moralkonzeptionen sicher auch ist.27 Das erste Problem, mit welchem Recht wer welche Substanz in den substanziellen Menschenwürdebegriff, das normative universalistische existenzielle Demütigungsverbot, eintragen darf, führt Nida-Rümelin in Richtung einer hybriden, gegebene und idealisierte normative Intuitionen miteinander abgleichenden rekonstruktiven Theorie. „Ein Menschenwürdebegriff, der sich vom empirischen Phänomen der Beschädigung von Selbstachtung vollständig absondern würde, wäre grenzenlos. […] Da moralische Gefühle wie die der Demütigung aber selbst begründet oder unbegründet sein können, ist das empirische Fundament allein nicht ausreichend zur Bestimmung […] von Menschenwürde. Es bedarf einer normativen Rekonstruktion. […] Wir werden den Standpunkt des unparteilichen Beobachters einnehmen, der von seiner eigenen Situierung so weit als möglich abstrahiert, der versucht, sich auf der Basis aufgeklärter moralischer Intuitionen ein Urteil zu bilden“ (Nida-Rümelin 2005, 144). Damit schließt Nida-Rümelins Konstruktion des ethischen Humanismus ab: „Mit dem Begriff und der normativen Rolle von Menschenwürde, die auf Selbstachtung begründet ist, ist eine Position skizziert, die man als ethischen Humanismus bezeichnen kann. Die Befähigung zur Selbstachtung spielt für den ethischen Humanismus eine zentrale Rolle, in der sich allerdings das Gesamt der ethischen Beurteilungen nicht erschöpft“ (Nida-Rümelin 2005, 154).

Eine diskursethische Alternative: Die moralreflexive Erklärung der Menschenwürde Nida-Rümelins humanistischer Individualismus scheint keinen anderen normativen Gehalt zu haben als die Kopplung einer substanziellen moralischen Menschenwürdeidee mit den erklärten Menschenrechten. Die moralische Menschenwürdeidee selber ist Ausdruck der existenziellen Selbstachtung und insofern substanziell. Die Fixierung der Substanz bleibt jedoch unklar beziehungsweise wird einer Theorie, eigentlich nur einem Theoriedesiderat übertragen. Deshalb erscheint es mir sinnvoll Alternativen zu erwägen, wie Menschenwürde und Menschenrechte in eine rational vertretbare Hu27 Vgl. ebd., 149 den Verweis auf Kant.

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manismuskonzeption eingebettet werden können. Aussichtsreich erscheint mir die Alternative, Menschenwürde als den vergleichsweise höchsten (oder tiefsten, jedenfalls grundlegenden) moralischen Status zu erklären. Menschenwürde, beziehungsweise sie inne zu haben, ist derjenige Status, den alle, die moralische Verantwortung überhaupt aktiv wahrnehmen und somit als „Moralsubjekte“ handeln, sich selbst so wie allen anderen ihresgleichen geben müssen, sobald sie begreifen, dass sie moralische Verantwortung nicht nur aktiv wahrnehmen, sondern dass sie stets auch zum Gegenstand der Wahrnehmung moralischer Verantwortung durch andere Moralsubjekte werden und somit auch als „Moralobjekte“ behandelt werden. Der „Statusthese“ zufolge liegt die Besonderheit des Moralstatus Menschenwürde darin, dass wir diesen Status als den vergleichsweise ranghçchsten Moralstatus begreifen und vernünftigerweise auch gar nicht anders können (Kettner 2004). Was ist ein moralischer Status, was sind „Moralsubjekte“ und „Moralobjekte“? Beide hängen im Begriff des „Moralakteurs“ zusammen, nämlich Handelnde, die beide Positionen einnehmen, die eines Moralsubjekts und die eines Moralobjekts. Um einen denkbar weiten Begriff von Moral zu haben, können wir summarisch alle von einem Menschen oder einer Gesellschaft als richtig und wichtig anerkannten Normen und Ideale des guten und richtigen Sichverhaltens als Moral bezeichnen. Die Statusthese ist an keine bestimmte Moral gebunden (Kettner 2002). Nennen wir Wesen, soweit sie in die Wahrnehmung moralischer Verantwortung passiv einbezogen sind, „Moralobjekte“, soweit sie moralische Verantwortung aktiv wahrnehmen, „Moralsubjekte“. Moralsubjekte sind alle, die an ihr Handeln moralische Anforderungen stellen beziehungsweise an die wir moralische Anforderungen adressieren könnten. Ein Gorilla kann ein Moralobjekt sein, zum Beispiel für Tierpfleger, aber kein Moralsubjekt; ein Menschenkind kann ein Moralobjekt sein, zum Beispiel für die Eltern, und ist normalerweise auch ein Moralsubjekt, nämlich in Zukunft. Moralsubjekte, die wissen, dass sie nicht nur Moralsubjekte sondern auch Moralobjekte sind, nämlich von anderen Moralsubjekten zum Gegenstand einer von diesen wahrgenommenen und ausgelegten Moralverantwortung gemacht werden oder gemacht werden können, können wir „Moralakteure“ nennen. Diese Unterscheidungen machen folgende Abhängigkeiten klar: Moralobjekte kann es ohne Moralsubjekte nicht geben. Denn um moralisch behandelt zu werden, bedarf es solcher, die sich selbst im Handeln für moralisch verantwortlich halten. Moralsubjekte kann es nicht geben, wenn sie sich nicht als Mitglieder von Moralgemeinschaften begreifen,

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denn moralische Überzeugungen werden gemeinschaftlich ernstgenommen. Mitglieder von Moralgemeinschaften kann es nicht geben, wenn es keine Moralakteure gibt. Denn in einer Moralgemeinschaft anerkennen Moralsubjekte, dass sie, eines wie das andere und in Bezug aufeinander, eine bestimmte inhaltlich gefüllte Auffassung moralischer Verantwortung („unsere Moral“) anerkennen. Konkrete Moralakteure sind daher empirisch wie begrifflich die Voraussetzung für unterscheidbare Moralsubjekte und Moralobjekte. Nun zum Statusbegriff: Der moralische Status, den wir innerhalb einer von uns geteilten Auffassung, was moralische Verantwortung wahrzunehmen heißt, etwas Bestimmtem (einem einzelnen A, einem B oder einem C) beilegen, legt uns darauf fest, in welchem allgemeinen Sinne wir auf etwas derartiges (wie A, B oder C es ist) Rücksicht nehmen müssen. Mit dem moralischen Status, den wir einem „Objekt“ geben, bestimmen wir einen gewissen Spielraum moralischer Bedeutsamkeit, den derartige Objekte für uns haben: der moralische Status von A (und so weiter) legt Umfang und Art der moralischen Berücksichtigung von A (und so weiter) fest. Der moralische Status von jemandem oder von etwas ist, so können wir sagen, eine für A (und so weiter) typische Eigenschaft, kraft derer alle so bestimmten Objekte für uns zu moralisch berücksichtigenswerten Objekten werden: zu „Moralobjekten“. Anders gesagt: Jeder Moralstatus lässt sich als eine typische, das heißt nicht bloß Einmaligkeit verleihende Eigenschaft denken, die, wenn ein Individuum A sie hat, uns prima facie einen guten Grund gibt, um auf eine – mehr oder weniger – bestimmte Weise auf A Rücksicht zu nehmen; dass wir etwas an oder von A berücksichtigen; oder wie man auch sagen kann: dass wir A in einem gewissen – dann erst näher zu bestimmenden – Sinne „respektieren“. Wir kennen nicht nur einen einzigen moralischen Status, sondern viele. Wer zum Beispiel einem grandiosen Naturgebilde (etwa dem australischen Felsmassiv Ayers Rock) den moralischen Status der Heiligkeit gibt, wird es für unrecht erklären, es zu beschädigen. Wer empfindungsfähigen Tieren als solchen moralischen Status verleiht, wird es für unrecht erklären, sie grundlos zu quälen. Wer Wesen, die einen vernünftig bestimmbaren Willen haben, als solchen moralischen Status gibt, wird es für unrecht erklären, sie mit Gewalt zu etwas zu zwingen. Da unser moralisches Statusverständnis in sich vielfältig ist, können sich verschiedene Status überlagern, dabei modifizieren und auch übertrumpfen. (Darf man Menschen nicht foltern wegen des Unrechts, das in ihrer Qual liegt, oder wegen des Unrechts, das im Zwingen liegt, ob sie

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darunter physisch leiden oder nicht, oder beides? Und wenn beides, in welchem Verhältnis?) Und so stellt sich die Frage, ob es einen grundlegenden moralischen Status gibt, ohne den alle übrigen nichts wären und der deshalb im Konfliktfall, wenn ein besonderer Status gegen einen anderen besonderen Status stünde und nichts weiter den Ausschlag geben könnte, die übrigen Status übertrumpft? Mit diesen Überlegungen lässt sich der Menschenwürdebegriff ethisch erklären. Fragen wir nach einem Bezugsproblem, das der Statusbegriff Menschenwürde löst, dann werden wir auf das Strukturproblem aller Moral geführt: Wie sollen wir die Streben aufstellen, die das hochelastische Netz unserer moralischen Rücksichtnahmen auf eine bestimmte Weise im Raum aller denkmöglichen Moralsubjekte und Moralobjekte ausspannt? Wie kann innerhalb einer x-beliebigen Moral der Tatsache Bedeutung verliehen werden, dass sie von Moralakteuren aufrechterhalten wird? Der Statusbegriff Menschenwürde löst dieses Problem auf die allgemeinste, einfachste, willkürfreieste (und in diesem Sinne vernünftigste) Weise. Der Status Menschenwürde spielt in unserem moralischen Denken eine konstitutive Rolle: Er konstituiert einen Bezugsbereich so, dass im Bezugsbereich von Moral die Moralakteure ihrerseits vorkommen, und zwar als solche, also in der Doppelrolle von aktiven Moralsubjekten und passiven Moralobjekten. Die Wrde in der Menschenwrde ist demnach eine symbolische Auszeichnung, die im Objektbereich von Moral einen besonderen Status, eine Sonderstellung fr die Moralakteure als solche reserviert. Der Begriff der Würde entspringt also daraus, dass moralische Rücksichtnahme selbstreflexiv wird, sich auf ihren absoluten Ursprung bezieht, nämlich auf Wesen als solche, die berhaupt moralische Rücksichten nehmen können. Kürzer gesagt: Die so entspringende Würde ist die Würde von Wesen, die normalerweise moralische Statusgeber sind. Der ausgezeichnete moralische Status, den sie haben, ist der, moralischen Status geben zu können. Noch kürzer gesagt: Gemäß der ethischen Erklärung der Menschenwürde (als des vergleichsweise höchsten Moralstatus) ist die statusverleihende typische Eigenschaft die Eigenschaft des Statusverleihenkönnens. Der Menschenwürdebegriff hat also den präzisen Sinn, im sehr variablen Bereich möglicher moralischer Berücksichtigungen deren ursprüngliche Voraussetzung hervorzuheben: die Moralakteure selber. Unser reiches Repertoire moralischer Berücksichtigungsreaktionen, so elastisch und plastisch es ist, kann nicht ohne Widersinn so variieren, dass es nicht immer auch noch wenigstens die Berücksichtiger selbst einschlösse und privilegierte, diejenigen Wesen also, von denen ein Wesen

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allererst seine moralische Berücksichtigung erfahren kann. Eine Moral, der zufolge Moralsubjekte immer nur anderes, zum Beispiel Tiere oder Pflanzen, aber nie sich selbst und andere Moralsubjekte berücksichtigen (sollen), oder eine Moral, in der sie im Konfliktfall Tiere, Pflanzen oder Ökotope über Menschenwürde und Menschenrechte stellen (sollten), ist zwar vorstellbar, wäre aber keine Moral, die sich vernünftig begründen ließe. Können wir ein Sortal bestimmen, einen Klassifizierungsbegriff, der aus allen möglichen Wesen genau diejenigen herausgreift, die wir uns als Träger von Menschenwürde denken müssen und denen wir entsprechenden Respekt zollen sollen? Der gesuchte Sortalbegriff muss offenbar eine empirische und eine normative Komponente enthalten. Eine normative Komponente, weil es um einen Moralstatus geht. Jeder Moralstatus hat einen gewissen normativen Inhalt, den wir in der Form von Erlaubnissätzen (und ihren Negationen) artikulieren können. Zum Beispiel hat der Status, empfindungsfähiges Lebewesen zu sein, für uns den normativen Inhalt, dass es nicht erlaubt ist, solche Wesen zu quälen, es sei denn aus guten entschuldigenden Gründen. Die Frageform, die normativen Inhalt offenlegt, lautet so: Was soll normativ daraus folgen, wenn das Wesen A den Status Menschenwürde „hat“? Zweitens muss das Menschenwürde-Sortal eine empirische Komponente haben, denn was auch immer der rechtfertigbare normative Inhalt des Status sei, wir müssen ihn ja allen Wesen zuschreiben können, die nach unserem Kenntnisstand Menschen sind. Auf die empirische Frage, wie wir diejenigen erkennen (die Menschen), denen wir den Status (Menschenwürde) zuschreiben sollen, brauchen wir auch eine empirische Antwort und das heißt heute, eine Antwort aus Gründen, die durch empirische Wissenschaften abgesichert sind. Was ist der Mensch der Menschenwürde? Wir sollten die Zuschreibungskriterien passend halten zum Sinn des normativen Inhalts der Menschenwürde, der sich aus einer normativen „Humanum-Charakteristik“ rechtfertigen lässt. Die Humanum-Charakteristik gibt uns die Rechtfertigungsgründe dafür, einem bestimmten moralischen Status denjenigen normativen Gehalt zu geben, den wir der Menschenwürde geben. Hingegen gibt uns eine empirische Homo-sapiens-Charakteristik die Gründe dafür, einem bestimmten Wesen denjenigen Status zu geben, dem wir denjenigen normativen Gehalt gegeben haben, den wir der Menschenwürde geben. Rechtfertigungsgründe und Zuschreibungsgründe müssen zusammenpassen, müssen, wenn die Passung problematisch wird, auch miteinander vermittelt werden, vernünftigerweise aber

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unter Vorrang der ersteren Gründe. Denn was gute Zuschreibungsgründe wären, muss sich letztlich auch aus den Gründen ergeben, die den Inhalt des Status Menschenwürde rechtfertigen, aber was gute Rechtfertigungsgründe des Status Menschenwürde wären, kann sich nicht aus den Gründen ergeben, die nur die Zuschreibung eines Status dieses Inhalts rechtfertigen. Wie kann man Rechtfertigungsgründe mit Zuschreibungsgründen so vermitteln, dass erstere Vorrang vor letzteren haben? Um diese Frage zu beantworten, muss die Frage wieder aufgenommen werden, woher unsere Gewissheit rührt, Menschenwürde zu haben. Der Statusthese zufolge ist Menschenwürde Ausdruck dessen, dass wir – menschliche Moralakteure – uns selber als die tragenden Elemente in unserer Moral erfassen. Menschenwürde ist ein Verhältnis unter Moralakteuren der Gattung Mensch – das Verhältnis, das sich einstellt, wenn menschlichen Moralakteuren klar wird, dass sie sich allesamt darin gleichen: als Menschen zu einer Art zu gehören, deren Angehörige normalerweise Moralakteure aktuell sind oder es schon waren oder es noch werden. Wenn wir das berücksichtigen, erhalten wir endlich eine plausible Antwort auf die verblüffende Frage nach dem Grund unser aller Gewissheit hier und jetzt, Menschenwürde zu haben: Der Gedanke, es drfe anderen gleich sein, ob und was fr ein Moralobjekt ich fr sie bin und wie sie mich folglich behandeln, es kme dabei auf mich selbst als Moralsubjekt gar nicht an, ist unertrglich. Das ist nicht nur psychologisch gemeint, sondern normativ: Einen Grund, den auch ich selbst gut finden müsste, um diesen ansonsten unerträglichen Gedanken doch zu akzeptieren, kann mir niemand geben. Ich (jeder) weiß genug, um zu wissen, dass es keinen solchen Grund geben kann. Der Grund, den soeben beschriebenen Gedanken für einen Ungedanken halten zu müssen, hängt an der Selbstgewissheit einer Person, dass moralische Subjektivität Achtung verlangt, also nicht gleich nichts zählen darf. Und ich verstehe nicht nur mich allein als ein Moralsubjekt, sondern verstehe mich als eines unter unbestimmt vielen anderen, die mir darin, Moralsubjekt zu sein, gleich sind. Daher halte ich den mir gut erscheinenden Grund, aus dem andere Moralakteure mir die Anerkennung als Moralsubjekt schuldig sein sollen, zugleich für einen mir gut erscheinenden Grund, aus dem ich anderen Moralakteuren die Anerkennung als Moralsubjekt schuldig sein soll, und für einen ihnen genauso wie mir selbst gut erscheinenden Grund, aus dem wir einander die Anerkennung als Moralsubjekte schuldig sein sollen. Die Selbstgewissheit, dass moralische Subjektivität Anerkennung verlangt, und ihre Generalisierung über ein unbestimmt offenes Wir, dies

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beides lässt sich zwar mit geeigneten Argumenten explizit machen, erzeugen lässt sich so aber keines von beiden. Beide Gewissheiten wurzeln vielmehr in mehr oder minder verlässlich und verbreitet kultivierten Einstellungen der Wertschätzung von Äußerungen moralischer Akteurschaft, kurz, in einer Kultur der Menschenwürde – als Teil der Menschenrechtskultur. Das legt folgende Zuspitzungen nahe: (1) Der Rechtfertigungsgrund für den Status Menschenwürde ist die Selbstachtung von normalerweise moralentwickelnden Wesen. Das ist die Humanum-Charakteristik. Auch wenn nicht wirklich jeder Mensch diese Selbstachtung zeigt, ist sie humantypisch, weil es normal für uns Menschen ist, dass wir sie zeigen. (2) Der Zuschreibungsgrund für den Status Menschenwürde ist die Eigenschaft, zu einer Art von normalerweise moralentwickelnden Lebewesen zu gehören. Das ist die Charakteristik des Homo sapiens, angereichert mit einem Verweis auf die Humanum-Charakteristik. Alle Menschen sind Lebewesen dieser Art. Diese Art Lebewesen zu sein, ist etwas humantypisches, weil es normal für uns Menschen ist, dass wir (irgendwelche) Moralauffassungen ausbilden. Unter die Homo-sapiens-Charakteristik – und das ist sehr wichtig – fallen auch jene Menschen, auf die unnormalerweise und unglücklicherweise zutrifft, dass dieser kein potenziell aktives moralisches Wesen, kein Moralakteur im Werden ist – zum Beispiel ein anenzephales Neugeborenes. Der Rechtfertigungsgrund für den Status Menschenwürde (Selbstachtung von normalerweise moralentwickelnden Wesen als solchen) und der Zuschreibungsgrund für den Status Menschenwürde (Zugehörigkeit zu einer Art von normalerweise moralentwickelnden Wesen) sind zusammen notwendig und hinreichend dafür, den Status Menschenwürde zu haben. Mit Blick auf ihren Zusammenhang lässt sich das Menschenwürde-Sortal formulieren, ein Begriff, der genau alle Menschen, die im Sinne der Menschenwürde gemeint sind, unter allen möglichen Lebewesen herausgreift: Alle Wesen haben Menschenwürde, für die gilt, dass sie Einzelwesen einer Gattung sind, deren Exemplare normalerweise Moralgemeinschaften ausbilden und die diese ihre moralisch-normative Gattungsnatur wertschtzen. Welchen normativen Gehalt (Inhalt) hat der Status Menschenwürde? Was schließt er als unmöglich erlaubt aus? Da es um die allgemeinste Form der moralischen Berücksichtigung geht (das moralische Statusgeben, das Zum-Moralobjekt-Machen) und jedes typische Mitglied einer Moralgemeinschaft darin jedem x-beliebigen anderen typischen Mitglied gleich steht, Status geben zu können, kann der Status Menschenwürde

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nicht mehr oder weniger beinhalten als dies, dass jeder, und keiner mehr als irgendein anderer, in die allgemeine Form der moralischen Berücksichtigung einbezogen sein soll. Der normative Inhalt des Status Menschenwürde lässt sich daher als ein vollkommen ausschlussloser und vollkommen gleicher Anspruch explizieren: Menschenwrde beinhaltet den Anspruch, dass die Menschen die Menschen so behandeln, dass auf ihr eigenes Urteil, wie sie behandelt werden wollen und wie nicht, Wert gelegt wird – und zwar berall, wo es darum geht, wie Menschen mit Menschen umgehen sollen. Die Missachtung dieses Anspruchs ist das Einzige, was allen möglichen konkreteren Missachtungen und Verletzungen, die moralisch relevant sind, gemeinsam ist. Und die Realisierung dieses Anspruchs ist das Einzige, was alle möglichen konkreteren „Moralprinzipien“, soweit sie begründbar sind, miteinander sowie mit den Menschenrechten verbindet. Anerkennung dieses Anspruchs bedeutet Zuschreibung und Achtung des moralischen Status, Menschenwürde zu haben; die Nichtanerkennung dieses Anspruchs bedeutet Vorenthaltung oder Missachtung der Menschenwürde. Mit anderen Worten lässt sich der Inhalt der Menschenwürde auch wie folgt beschreiben: Jeder einzelne Mensch (der einen Eigennamen tragen kann) muss wegen unserer Humanum-Charakteristik (Selbstachtung von normalerweise moralentwickelnden Wesen) eine wertende Auszeichnung seiner Homo-sapiens-Charakteristik (Einzelwesen einer Gattung zu sein, deren Exemplare normalerweise Moralgemeinschaften ausbilden) erfahren, die garantiert, dass die Stelle, die ein solches Einzelwesen normalerweise für die Moral einnimmt, innerhalb der Moral niemals einfach durchgestrichen werden darf zugunsten anderer Moralobjekte mit gleichem oder auch ungleichem Status.

Ausblick Die moralreflexive Erklärung der Menschenwürde als basalen moralischen Status zusammen mit der zusätzlichen Annahme, dass die erklärten Menschenrechte diesen Status im Licht von kollektiven historischen Unrechtserfahrungen im Rechtsmedium konkretisieren, unterscheidet sich von Nida-Rümelins demütigungstheoretischer Erklärung unter anderem darin, dass die erstere alle Menschenrechte an den basalen moralischen Status rückbindet, die letztere jedoch nicht. Menschenrechte, die sich nicht so rückbinden lassen, sollten, auch wenn sie bereits erklärt sind, überdacht und gegebenenfalls revidiert werden. Dieser Punkt

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bezeichnet eine wichtige Kontroverse, die aber nur durch fortgesetzte Reflexion auf die Menschenrechtskultur einer Lösung näher gebracht werden kann. Die beiden Versuche, Menschenwürde und Menschenrechte zum Zentrum einer normativen Humanismuskonzeption zu machen, unterscheiden sich trotz vieler Gemeinsamkeiten auch wesentlich darin, dass Nida-Rümelins Ansatz die Spezifizierung des normativen Gehalts des Menschenwürdebegriffs mithilfe einer (zukünftigen) Theorie vornehmen will, also aus einer Theorieperspektive, während meine Begründungsstrategie den normativen Gehalt der Menschenwürde nicht substanziell, aber auch nicht bloß formal, sondern als eine denkbar sparsame universalistische Anforderung spezifiziert, Menschenwürde auf dem Weg realer Diskurse aus der Perspektive von Beteiligten und Betroffenen zu konkretisieren (wie das zum Beispiel in Form von Menschenrechtserklärungen geschehen ist). Jedes Ergebnis solcher diskursiven, durchaus über lange Zeiten und diffuse kulturelle Prozesse laufenden Konkretisierungen ist vorläufig. Insofern hat die moralreflexiv erklärte Menschenwürdeidee einen utopischen, auf die Offenheit der Zukunft und zukünftige Fortschritte im Bewusstsein der Menschenwürde bezogene Seite. Zum Schluss ein Bilanzierungsversuch offener Fragen angesichts der Problemherausforderungen, die im ersten Abschnitt herausgearbeitet wurden: Gegen jene Aufklärungsverschiebungen im vorherrschenden Selbst- und Weltbild, die sich in der Verabsolutierung der Denkform des Naturalismus zeigen, bietet Nida-Rümelins Humanismuskonzeption, wie im zweiten Abschnitt gezeigt, starke Gegenargumente, die, wie im Exkurs gezeigt, transzendentalpragmatisch noch weiter verstärkt werden können. Jenen Verschiebungen, die durch die Kräfte der globalen Marktwirtschaft die Alltagskultur liberaler Gesellschaften in Richtung auf eine radikale Individualisierung des Sinn- und Glücksstrebens verschieben, könnte eine Humanismuskonzeption vermutlich nur dann etwas entgegensetzen, wenn sie moralisch-normative mit hedonistischen, ästhetischen und prudentiell-normativen Aspekten zu einer attraktiven Lebensweise kombinieren kann. Ob, beziehungsweise unter welchen Bedingungen, ein ökologisch inspirierter Humanismus, der sich in Ansätzen abzeichnet, massenhaft Attraktivität gewinnen könnte, ist eine der für die Zukunft des Humanismus wichtige offene Frage. Zaghafte Versuche, die Herausforderungen zu traktieren, die mit dem Fortbestand oder der Rückkehr von antihumanistischen religiösen Glaubensmächten zusammenhängen, finden sich in Nida-Rümelins

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Humanismuskonzeption als Hinweise auf Zivilgesellschaft und Zivilreligion. Mir erscheint eine Diskussion darüber, was Humanismen zu gewinnen oder zu verlieren haben, die sich in einer multireligiösen Welt entweder religiös oder aber säkular auslegen, politisch-philosophisch dringend, aber schwierig zu führen, wenn man sich nicht im empirisch dünnen Reich der Spekulation und der normativen liberalistischen Theorie bewegen will. Welche Logoskonzeption benötigt eine Humanismuskonzeption, die es mit der Umstellung der normativen Quellen auf die Autorität einer Vernunft individualistischen Zuschnitts aufnehmen will? Hier zeichnet sich eine weitere fruchtbare Auseinandersetzung ab. Nida-Rümelins Konzept einer strukturellen Rationalität geht über die individualistische Rationalität, die in Theorien rationaler Wahl tonangebend ist, hinaus. Ob man, etwa auf der Linie der von Habermas vorgezeichneten Konzeption einer in sich differenzierten kommunikativen, epistemischen und teleologischen Rationalität weiter kommt, wäre die Frage. Die härtesten Herausforderungen liegen meines Erachtens in der Pluralisierung oder Relativierung von Auslegungen des Humanum als des Wesentlichen der für Menschen typischen Lebensform in verschiedenen, sich selbst als verschieden setzenden kulturellen Wir-Identitäten. NidaRümelin hofft offenbar, die Relativismusprobleme im selben Streich wie die Naturalismusprobleme zu lösen. Diese Hoffnung scheint mir im Ansatz verfehlt, weil sich kulturrelativistische Probleme auf einer anderen Ebene stellen als Reduktionismusprobleme. Für Kulturrelativisten wäre die wissenschaftsgläubige Anhängerschaft des Naturalismus selber nur eine (Sub-) Kultur unter anderen. Das zeigt die Notwendigkeit weiterer philosophischer Arbeit in Richtung einer nichtrelativistischen Theorie kultureller Differenz. Die Alternative – und auch diese wäre nach ihrer Problemlösekraft zu erwägen – ist die Preisgabe der Prämisse, eine Humanismuskonzeption müsse mit einem normativ universalistischen Anspruch vorgetragen werden können. Gibt man diese Prämisse auf, kann man freilich nicht mehr Menschenwürde und Menschenrechte ins Zentrum einer Humanismuskonzeption setzen. Denn diese verlieren sicher, wenn sie nicht mit einem normativ universalistischen Anspruch vorgetragen werden können. Ob ein mit Menschenwürde und Menschenrechten nur noch lose gekoppelter Humanismus Entscheidendes verlieren würde, ist eine offene Frage.

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Matthias Kettner

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Neuro-Philosophie? – Kritische Anmerkungen aus neurowissenschaftlicher Perspektive Christian Hoppe & Christian E. Elger

1. Was ist „Hirnforschung“? Menschen hören ihr Herz schlagen, können ihren Puls fühlen, die Atmung spüren, sie erfahren den Körper als Leib, mit Haut und Haaren. Das Gehirn dagegen und die darin stattfindenden Prozesse bleiben natürlicher Wahrnehmung gänzlich verborgen, es kommt in der vorwissenschaftlichen Alltagswirklichkeit schlicht nicht vor; es ist nicht einmal tastbar wie etwa Leber oder Milz, von denen man subjektiv sonst auch nichts spürt. Niemand erwartet von Hepatologen, Pulmologen oder Kardiologen philosophisch relevante Erkenntnisse („Kardiophilosophie“). Wie aber konnte es zu der Vorstellung kommen, dass gerade das verborgene Organ in unserem Schädel uns Bedeutendes zu sagen hätte zur philosophischen Anthropologie, zur Ontologie/Metaphysik, zur Erkenntnistheorie und zur Ethik („Neurophilosophie“)? Konkret konnte etwa im Zusammenhang mit den Epilepsien die Vorstellung, dass es sich bei einem epileptischen Anfall nicht um den Eingriff übernatürlicher Kräfte (Dämonen, Götter) im Sinne einer Besessenheit handelt, sondern vielmehr um Fehlfunktionen des Gehirns, nicht eher aufkommen, als dass Hippokrates von Kos (460 – 370 vor Christus) an Soldaten und Gladiatoren mit offenen Schädel- und dadurch sichtbaren Gehirnverletzungen ähnliche epileptische Episoden beobachtete wie an seinen anderen Epilepsiepatienten. Die „heilige Krankheit“ war somit um nichts heiliger oder weniger heilig als andere Krankheiten; im Unterschied zu diesen betraf sie eben das Gehirnorgan (De morbus sacer).1 Die Erkenntnis, dass die Bewegungssteuerung, die Wahrnehmungs- und Denkfunktionen, dann aber auch das Gedächtnis, 1

Der vollständige Text der Schrift On the Sacred Disease findet sich in englischer Übersetzung unter: http://classics.mit.edu/Hippocrates/sacred.html (Stand 11/ 2011).

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die Gefühle und die ganze Persönlichkeit letztlich in intakten Hirnfunktionen wurzeln, hat sich durch die Jahrhunderte erst langsam Bahn gebrochen – und löst bis heute im Alltagsbewusstsein vieler Menschen Irritationen aus, etwa wenn sie erstmals mit neurologischen oder neuropsychiatrischen Erkrankungen konfrontiert werden. Seit den öffentlich zelebrierten Leichensektionen der Renaissance haben sich die Möglichkeiten, das Gehirn in vivo, das heißt weitgehend non-invasiv, zu beobachten stetig erweitert. Mit der Entdeckung der „XStrahlen“ durch Konrad Röntgen (1895) wurde erstmals der (fast) ungefährliche Blick in den Schädel lebender Menschen möglich, zunächst als Schädel-nativ Röntgenbild, später darauf aufbauend die Ventrikulographie (Darstellung der Hirnkammern) und die Angiographie (Darstellung der Hirngefäße unter Nutzung von Kontrastmitteln). Die Nutzung von Computern ermöglicht seit den siebziger Jahren die Herstellung virtueller Schnittbilder des Schädels (cranielle Computertomographie), anfänglich mit nur wenigen und in der Raumrichtung festgelegten „Schnitten“ (tolos, der Schnitt). Seit Mitte der achtziger Jahre ermöglicht die nukleäre Magnetresonanztomographie (MRT) ohne Verwendung ionisierender Strahlung einen äußerst detailreichen und zudem (bei Beachtung aller Sicherheitsregeln) ungefährlichen Blick hinter die Stirn. Es werden Schichtdicken – und damit räumliche Auflösungen – von unter 1 Millimeter erreicht; teilweise erscheinen die MRT-Bilder heute so exakt wie anatomische Zeichnungen aus dem letzten Jahrhundert oder wie histologische Schnittpräparate (siehe Abbildung 1). Auch die im Gehirn stattfindenden Prozesse – neuronale elektrische Vorgänge, Blutfluss, Stoffwechselvorgänge und so weiter – können heute auf ungefährliche Weise beobachtet werden. Die Elektroenzephalographie (EEG) und ihr Pendant, die Magnetoenzephalographie (MEG), messen elektrische beziehungsweise magnetische Feldpotenzialschwankungen an der Kopfoberfläche – und erfassen damit auf direkteste Weise die Aktivität relativ großer Nervenzellverbände in der schädelnahen Hirnrinde. Mit Positronen-Emissions-Tomographie (PET) und SinglePhotonen-Emissions-Computertomographie (SPECT) könnten heute unter Verwendung intravenös injizierter gering radioaktiver Liganden Stoffwechselprozesse des Gehirns, zum Beispiel die Aktivität in einzelnen Proteinsystemen (beispielsweise Dopamintransporter: b-cit-SPECT), in guter räumlicher Auflösung schnittbildweise dargestellt werden. Schließlich kann auch die MRT so ausgerichtet werden, dass die minimalen Störungen eines ansonsten homogenen Magnetfeldes erfasst

Neuro-Philosophie?

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Abb. 1: MRT: frontaler Hirnschnitt bei einer gesunden Person (Short Term Inversion Recovery/STIR-Sequenz, S/W-invertiert; Siemens TRIO, 3.0T)a)a)Quelle: AG Elger/Weber, Life & Brain, Bonn.

werden können, welche mit einem steigenden Anteil sauerstoffbeladenen Hämoglobins (Oxyhämoglobin) einhergehen (BOLD-Response = blood oxygenation level dependent response; siehe Abbildung 2). Es gilt heute als sicher, dass die hämodynamische BOLD-Response eine kernspintomographische Signalintensitätserhöhung „infolge spezifisch erhöhter neuronaler Aktivität“ (Logothetis/Pfeuffer 2004) darstellt (neurovascular coupling). Der Zeitverlauf dieser hämodynamischen Reaktion ist erstaunlich träge: Erst nach circa 4 – 6 Sekunden wird das Maximum erreicht, der Gesamtverlauf erstreckt sich über 10 – 12 Sekunden. Mithilfe geeigneter mathematischer Datenanalyseverfahren kann die zeitliche Auflösung einer funktionellen MRT-Messung jedoch auf circa 3 Sekunden verbessert werden. Die räumliche Auflösung der schnellen MR-Sequenzen liegt heute bei circa 3 Millimetern. Die Geometrie des Blutgefäß- und Kapillarsystems bildet eine natürliche Grenze für die räumliche Auflösung der funktionellen Kernspintomographie (fMRI). Die Verfügbarkeit moderner, leistungsfähiger Untersuchungsmethoden unterscheidet die Hirnforschung noch nicht von anderen medizinischen Forschungsbereichen. Tatsächlich werden ja die meisten der genannten Verfahren auch in der strukturellen und funktionellen Dia-

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Abb. 2: Blood oxygenation level dependent (BOLD-) Response.a)a)Quelle: AG Elger/Weber, Life & Brain, Bonn.

gnostik anderer Organsysteme eingesetzt. Bei anderen Organen ist es jedoch hinreichend, die Organfunktion auf rein physische oder chemische Weise zu bestimmen. Wenngleich Einschränkungen etwa der Nierenfunktionen das subjektive Befinden eines Patienten nachhaltig betreffen – vielleicht hat er Schmerzen –, käme man wohl nicht auf die Idee, diese subjektiven Zustnde selbst direkt mit dem entsprechenden peripheren Organ in Verbindung zu bringen. Im Prinzip wäre daher eine Transplantation fast aller peripheren Organe möglich, ohne dass hier die Persönlichkeit oder gar die Identität des Patienten zur Disposition stände; der Austausch eines geschädigten Herzens oder der Niere geht – entgegen alltagssprachlichen Redewendungen: „das geht mir an die Nieren“, „jemanden auf Herz und Niere prüfen“ – nicht an die Substanz der Person. Im Falle des Gehirns stellt sich diese Situation nun grundlegend anders dar. Um es anschaulich, ja drastisch zu formulieren: Ein Gehirn kann niemals transplantiert werden. Denn wäre es technisch möglich, einer Person A das intakte Gehirn einer anderen Person B zu implantieren, dann wäre nicht A Empfänger des Gehirns von B, sondern B wäre Empfänger des Körpers (abzüglich des Gehirns) von A.2 Die Entnahme 2

Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Eintrag head transplant in der amerikanischen Wikipedia (http://en.wikipedia.org/wiki/Head_transplant, Stand 11/2011).

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und der Austausch des Gehirns ginge aus Sicht des Körpers sehr wohl an die Substanz der Person. In Bezug auf den alltäglich erfahrbaren Körper (den Leib) gilt ein gewisser Leib-Seele-Dualismus: Wir haben einen Körper, wir sind weder mit dem Leib noch mit einzelnen Organen identisch, sondern stehen dem Leib auch erfahrend gegenüber. Bei hohen Querschnittslähmungen, beim Locked-In-Syndrom infolge einer amyotrophen Lateralsklerose oder bei entstellenden Verletzungen wird das leibpessimistische platonische Prinzip syla sgla – der Leib als Kerker der Seele – ohne weiteres nachvollziehbar.3 Dem eigenen Gehirn stehen wir jedoch nie gegenüber; das Gehirn ist kein Aspekt der Leiberfahrung. Über das Gehirn wissen wir aus persönlicher Erfahrung rein gar nichts. Eine dualistische Verhältnisbestimmung von Gehirn und Seele erscheint daher aus einer subjektiven Phänomenologie heraus prinzipiell unmöglich. Ich habe ein Herz, eine Niere und so weiter, insofern ich selbst auch ein anderes Herz, eine andere Niere und so weiter haben könnte. In genau diesem Sinne habe ich jedoch kein Gehirn: Weder habe ich (m)ein Gehirn, noch bin ich (m)ein Gehirn. Aber was dann? Viele Vorgänge im Gehirn lassen sich wie andere Organfunktionen physisch und chemisch beziehungsweise physiologisch bestimmen, zum Beispiel die hemmenden Effekte der zentralen motorischen Kerne des Vagusnerven (X. Hirnnerv) im Hirnstamm auf die Herztätigkeit. Vermutlich würde dieser Bereich der Hirnforschung – reine Neurophysiologie, wenn man so will – philosophische Diskurse jedoch ebenso wenig tangieren wie die oben genannten medizinischen Fachgebiete. Auch die breite Öffentlichkeit dürfte sich für Erkenntnisse der reinen Neurophysiologie/-anatomie kaum interessieren. Offensichtlich meint „Hirnforschung“ in der Öffentlichkeit – und auch im Kontext philosophischer Debatten – etwas anderes. Es sind die sogenannten psychischen Funktionen, die diese besondere Aufmerksamkeit wecken: Wahrnehmung, Gedächtnis, Denken, Fühlen, Persönlichkeit und so weiter – also der Gegenstandsbereich der Psychologie. Der Anspruch der modernen Hirnforschung besteht nun darin, dass sich die psychischen Phänomene als Funktionen des Gehirns (in Verbindung mit einem hinreichend intakten Gesamtorganismus) verstehen lassen. Dies trifft sich mit der modernen Psychologie, deren Gegenstand der „kognitive Apparat“ ist, also zunächst einmal rein theoretisch konzipierte kognitive Strukturen und Prozesse 3

Vgl. hierzu Bauby (2008) beziehungsweise die hervorragende Verfilmung dieser Autobiographie (Schnabel 2008).

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der Informationsverarbeitung, die man sich physisch nicht anders als im Gehirn realisiert vorstellen kann, das heißt als im wesentlichen neuronale Signalverarbeitung. Psychologen richten ihre Beobachtung auf menschliches (und tierisches) Verhalten (inklusive Erlebnisberichten). Aber was genau ist Verhalten? Der Muskelphysiologe kann in jedem Moment einer Verhaltenskette Muskelaktivität messen – aber die mit Elektromyographie aufgezeichnete Muskelaktivität ist allenfalls notwendige Bedingung und Surrogat von Verhalten, nicht jedoch hinreichend für Verhalten und schon gar nicht identisch mit dem Verhalten. Denn dieses ist notwendig in einen situativen, letztlich kognitiven Kontext eingebettet, und nicht zuletzt bestimmt auch das Beobachterinteresse darüber, welche Bewegungen und Reflexe in einer konkreten Beobachtungssituation als Verhalten gelten sollen und was als bloße, psychologisch irrelevante Muskelaktivität ignoriert werden kann. Ein Lidschlag ist solange ein psychologisch irrelevanter physiologischer Reflex, bis er zum Beispiel eingebettet in ein psychologisches Lernexperiment als elementares Verhalten beobachtet wird (Lidschlagkonditionierung). Die „Hirnforschung“ ist somit nicht reine Neurophysiologie, und Psychologie lässt sich nicht muskelphysiologisch buchstabieren. Die kognitiven Neurowissenschaften sind vielmehr gekennzeichnet durch eine Dualitt der Beobachtungsebenen. Aus dieser ersten Dualität – hier neurophysiologische Prozesse im Gehirn, dort gleichzeitig Verhalten (und Erleben) eines Individuums (Mensch, Tier) als ausschließlich psychologisch erfassbares Phänomen – resultiert eine zweite Dualität, nämlich die Dualitt der experimentellen Zugnge zur Ermittlung des vermuteten funktionellen Zusammenhangs beider Phänomenbereiche. Denn entweder kann man auf der neurophysiologischen Ebene experimentelle Variationen durchführen – mechanisch (Läsion), chemisch (Drogen), genetisch (knock-out, knock-in), elektrisch (implantierte intrakranielle Elektroden), magnetisch (repetitive transkranielle Magnetstimulation) und so weiter – und die Effekte dieser physiologischen Veränderungen am Gehirn im Verhalten und Erleben psychologisch erfassen (zum Beispiel Gedächtnisleistungen, Sprachstörungen und so weiter); diesen Zugang nennt man Neuropsychologie. Oder man manipuliert umgekehrt psychologisch auf der Ebene von Verhalten und Erleben – zum Beispiel durch Veränderung des situativen Kontextes, der Reizkonstellation oder der konkreten Aufgabenstellung – und beobachtet die Effekte dieser Intervention auf neurophysiologische Vorgänge im Gehirn (mittels funktioneller MRT, EEG, MEG, Doppler-Sonographie, PET,

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SPECT und so weiter); diesen Zugang nennt man Psychophysiologie. „Die“ Hirnforschung im Sinne der Öffentlichkeit und in ihren für die Philosophie relevanten Ausschnitten stellt sich demnach entweder als Neuropsychologie oder Psychophysiologie dar. In jedem Falle gilt also: ohne „Psycho“ keine „Hirnforschung“. Ist es nicht bemerkenswert, dass heute über die Psychologie akademisch kaum debattiert wird, während die Hirnforschung in aller Munde ist? Ist dies nicht umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass die Psychologie durchaus gravierende methodische (zum Beispiel messmethodische) und konzeptuelle Probleme hat? Es ist ja keinesfalls ausgemacht, dass das noch junge Projekt einer nomothetisch angelegten wissenschaftlichen Psychologie erfolgreich sein wird. Darüber hinaus können philosophische Konzepte (Bewusstsein, Denken, Wille, Moral et cetera) nur vermittels einer psychologischen Operationalisierung überhaupt zum Gegenstand empirischer Studien werden: Erst die Psychologie schlägt die Brücke von der Philosophie in die Neurophysiologie. Vieles spricht dafür, dass die Psychologie die „Achillesferse“ der modernen Hirnforschung (und ihrer manchmal überzogenen Geltungsansprüche) ist. Eine weitere Konsequenz der doppelten methodischen Dualität ist, dass die kognitiven Neurowissenschaften gerade nicht reduktionistisch angelegt sind. Die Fruchtbarkeit und die ganze Faszination des Forschungsfeldes resultiert vielmehr aus der besonderen Spannung der beiden simultanen Beobachtungsebenen, die konzeptuell und methodisch stets sauber unterschieden werden sollten. Insbesondere sollte vermieden werden, hirnphysiologische Prozesse mit psychologischer Terminologie zu beschreiben (zum Beispiel „Das Gehirn entscheidet“), umgekehrt sollten Personen nicht in neurologischer Terminologie beschrieben werden (zum Beispiel „Der Patient verhält sich frontal“). Zumindest sollte jeweils ersichtlich sein, dass es sich bei derartigen Redeweisen lediglich um verkürzenden Jargon ohne besonderen Erkenntniswert handelt.

Exkurs 1: Angewandte Hirnforschung – Neuroökonomie/Neuromarketing Soziales Verhalten, Entscheiden unter Unsicherheit, Beurteilung von Lohnfairness, Einschätzung von Preisen und so weiter sind ganz offensichtlich faszinierende psychologische Phänomene im Kontext von

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Ökonomie und Marketing. Es ist unstrittig, dass die empirisch-psychologische Beobachtung ökonomischen Verhaltens von Menschen (und Tieren) gängigen wirtschaftswissenschaftlichen Modellen (Stichwort: homo oeconomicus) in wesentlichen Aspekten widerspricht (Glimcher 2003; Kenning/Plassmann 2005). Das Phänomen der Marke zum Beispiel ist letztlich nichts anderes als ein durch Werbung gezielt konstruierter psychologischer „Mehrwert“, der sich ökonomisch in Form höherer erzielbarer Preise für das Markenprodukt auszahlt (zum Beispiel Florack/Scarabis/Primosch 2007). Das Label garantiert beziehungsweise signalisiert Qualität – und erspart dem Kunden auf diese Weise eine kostenaufwändige eigene Prüfung der Produktqualität. In vergleichbarer Weise signalisieren Rabattsymbole unschlagbar niedrige Preise und erübrigen somit einen komplizierten Preisvergleich. Der Kunde kann jedoch in beiden Fällen nie ganz sicher sein, dass stark verhaltenswirksame Signale wie Marken oder Rabattsymbole tatschlich mit höchster Qualität oder gesenkten Preisen einhergehen. Im Marketing steht heute eine große Palette von Verfahren der gekonnten Verführung, der mehr oder weniger offenen Manipulation und der legalen und illegalen Verbrauchertäuschung zur Verfügung. Diese Marketing-Techniken sind im Sinne der oben vorgeschlagenen Terminologie methodisch durchweg als „psychologisch“ zu qualifizieren; denn man manipuliert auf der Ebene der Situation, des Kontextes beziehungsweise der Stimuli (zum Beispiel durch Werbung, Rabattsymbole und so weiter) und zielt damit auf das manifeste Verhalten der Zielgruppe beziehungsweise deren Einstellungen. Unbestritten werden markt- und werbepsychologische Phänomene – wie andere psychologische Prozesse – im Gehirn realisiert. Erste bildgebende Untersuchungen aus den Bereichen des sogenannten Neuromarketing sowie der Neuroökonomie zeigen seit wenigen Jahren die hirnphysiologischen Korrelate markt- und werbepsychologischer sowie soziokognitiver Mechanismen.4 Daten aus funktionellen MRT-Aktivierungsstudien erlauben zunächst eine Lokalisation der regionalen Hot Spots der neuronalen Verarbeitung entsprechender Stimuli und Aufgaben. Unter Rückgriff auf bereits vorhandenes neuropsychologisches und 4

Vgl. hierzu etwa die Beiträge in der neu gegründeten Peer-Review-Fachzeitschrift „NeuroPsychoEconomics“ der Association for NeuroPsychoEconomics gGmbH (http://www.neuropsychoeconomics.org/). Ferner: Lee/Broderich/ Chamberlain 2007. Aktuell (11/2011) erbringt das Suchwort „Neuromarketing“ in PubMed gerade einmal elf Treffer, davon vier Reviews.

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psychophysiologisches Wissen über die Funktion der auf diese Weise ermittelten relevanten Hirnareale kann der Mechanismus – sekundär – psychologisch erhellt und entschlüsselt werden. Im Idealfall können Bildgebungsdaten dann dazu beitragen, zwischen konkurrierenden kognitiven Modellen eines bestimmten kognitiven Prozesses zu unterscheiden. Ein Beispiel aus der Neuroçkonomie: Forscher A führt ökonomisch irrational anmutendes, altruistisches Verhalten auf unbewusst aktivierte Erinnerungen an frühere Erfahrungen von Hilfsbereitschaft zurück, während Forscher B eine Art impliziter Selbstbelohnung als psychologischen Mechanismus vermutet. Im Rahmen einer Bildgebungsstudie, bei der Probanden immer wieder in die Situation kommen, auf eigene Kosten (altruistisch) die sozialen Regelverstöße von Dritten zu ahnden, zeigen sich Aktivierungen des Ncl. accumbens, nicht aber temporomesialer Strukturen (de Quervain et al. 2004). In diesem Fall hätte die Hypothese von Forscher B zusätzliche empirische Evidenz gefunden; denn der Ncl. accumbens aktiviert bekanntermaßen in Belohnungssituationen („Lustzentrum“). Die Daten hätten dagegen keine Anhaltspunkte für die Theorie von Forscher A erbracht; denn beim Abruf aus dem deklarativen Langzeitgedächtnis würde man eine Aktivierung der hippocampalen Region im tiefen Schläfenlappen erwarten, die jedoch nicht auftrat. Vermutlich könnten in diesem Fall auch geschickte experimentalpsychologische Interferenzstudien eine Entscheidung zwischen beiden Theorien herbeiführen, aber unzweifelhaft können psychophysiologische Daten auf die genannte Weise zur psychologischen Theoriebildung beitragen. Die oft despektierlich „bunte Bildchen“ genannten fMRT-Daten illustrieren demnach nicht nur einen ansonsten unsichtbaren Prozess, sondern sie liefern (sekundär) psychologisch verwertbare Informationen über die zugrunde liegenden Mechanismen. Unumstritten tragen Bildgebungsstudien und andere psychophysiologische Untersuchungen zum Verständnis der Funktionen bestimmter Hirnareale bei. Genau genommen können bestimmte neurophysiologische Phänomene nur mithilfe experimentalpsychologischer Interventionen induziert, selektiert beziehungsweise extrahiert und mithilfe psychologischer Konzepte charakterisiert werden (vergleiche „Lustzentrum“, „Glückshormon“, „Bereitschaftspotenzial“; siehe auch Exkurs 2). Der konzeptuelle Zusammenhang zwischen Psychologie und Neurophysiologie in den kognitiven Neurowissenschaften ist demnach so zu interpretieren, dass man versucht, spezifische stabile Muster neurophysiologischer Aktivität

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mithilfe psychologischer Methoden zu identifizieren und mittels psychologischer Konzepte zu verstehen. Der reine Anwender – Marketeer, Werbestratege, Verhandlungsführer, aber auch Therapeut, Pädagoge und so weiter – wird sich letztlich nur für Effekte auf der psychologischen (lebensweltlichen) Ebene interessieren; die genaue neuronale Implementierung psychologischer Manipulationstechniken muss ihn nicht weiter interessieren. Er beabsichtigt ja nicht, im Gehirn selbst – neuropsychologisch – mechanische, physische oder chemische Veränderungen vorzunehmen, um zum Beispiel die Vertrauensseligkeit von Kunden vor Kaufentscheidungen zu erhöhen – was durch Applikation von Oxytocin über die Raumluft tatsächlich möglich wäre (Kosfeld et al. 2005).5 Und es interessiert ihn nicht, welche Veränderungen seine Maßnahmen psychophysiologisch im Gehirn bewirken; denn ihn interessiert ausschließlich das manifeste Verhalten der Zielpersonen, das er über Verhaltensbeobachtung (einschließlich Einstellungsmessung) relativ leicht erfassen kann. Wer sich als Anwender jedoch umfassender für die zugrunde liegenden psychologischen (und dann auch neuronalen) Prozesse interessiert, wer genauer verstehen und sich buchstäblich ein Bild davon machen will, was im Kopf des Kunden oder Klienten passiert, wird heute auch funktionelle Hirndaten verwenden wollen. Sicher ersetzen psychophysiologische Daten aus der Bildgebung nicht die Psychologie, aber sie können sie sinnvoll ergänzen und der theoretischen Interpretation von Verhaltensbeobachtungen einen empirisch begründeten Rahmen geben. In den Fällen, wo das Verhalten der Probanden im Labor durch Effekte sozialer (Un-)Erwünschtheit verzerrt und psychologische Daten nicht mehr valide erscheinen, können Bildgebungsstudien in Zukunft möglicherweise die Korrelate der eigentlich handlungswirksamen Reaktionen ermitteln (zum Beispiel Wirkung erotisch getönter Werbung oder „politisch unkorrekter“ Stimuli) (Schleim 2007). Die ethische Brisanz von Neuromarketing und Neuroökonomie beruht eindeutig nicht auf dem Einsatz medizinischer Großgeräte, nicht einmal auf der erst heute möglichen Beobachtung von Hirnprozessen, sondern sie betrifft die Angewandte Psychologie selbst. Das Unternehmen „Psychologie“ bewährt sich in dem Maße, wie es nützliche Psychotechniken generiert, die klinisch und außerklinisch eine gezielte 5

Hier wurde Oxytocin allerdings im Doppelblind-Versuch per Nasenspray über die Nasenschleimhaut appliziert.

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Manipulation menschlichen Erlebens und Verhaltens erlauben.6 Wie bei allen Techniken besteht ein Missbrauchspotenzial. Es ist daher erstaunlich, dass es in den vergangenen Jahrzehnten praktisch keinen öffentlichen ethischen Diskurs über die Angewandte Psychologie gab, während „Neuroethik“ heute in aller Munde ist.7

2. Leitidee der kognitiven Neurowissenschaften Die doppelte methodologische Dualität der kognitiven Neurowissenschaften – Dualität der Beobachtungsebenen (Gehirn einerseits, Verhalten/Erleben andererseits) und Dualität der experimentellen Zugänge (Neuropsychologie, Psychophysiologie) – ist nun gerade nicht Ausdruck eines impliziten ontologischen Substanzdualismus in Sachen Leib-SeeleProblem. Im Gegenteil würde die Annahme, dass Geist/Seele (mind) und Gehirn allenfalls temporär und arbiträr irgendwie verbunden sind, aber eigentlich keine bedeutsamen Zusammenhänge bestehen, gegen den heutigen Forschungsansatz einer korrelativen Verknüpfung beider Beobachtungsebenen sprechen. Nur wenn man starke und wesentliche funktionale Zusammenhänge erwartet, macht es Sinn, Psychologie und Neurophysiologie in kombinierten Untersuchungen zu verbinden. Aus klinisch-neuropsychologischer Perspektive ist es unstrittig, dass auf neuronaler Ebene bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit bestimmte geistige Leistungen erbracht werden können: Hirnerkrankungen können buchstäblich an die Substanz der Person gehen, wie es nicht nur Demenzerkrankungen auf tragische Weise zeigen. Psychophysiologische Studien zeigen umgekehrt, dass bestimmte psychologische Situationen konsistent bestimmte Hirnregionen aktivieren: Diese Befunde spiegeln neuropsychologische Befunde, ohne jedoch ihrerseits die kausale Relevanz der identifizierten neuronalen Aktivierungen für die psychologische Funktion beweisen zu können. Es lässt sich folgende Leitidee der kognitiven Neurowissenschaften formulieren: Nach heutigem Stand des Wissens beruhen kognitive Prozesse auf Hirnprozessen; sie sind physisch als Hirnprozesse realisiert. Es 6 7

Vgl. das dem Psychologen Kurt Lewin zugeschriebene Diktum: „Wenn Du etwas verstehen willst, dann versuche es zu verändern.“ Vergleichbar erstaunlich ist, dass der zunehmende Einsatz der Psychodiagnostik in ganz verschiedenen Kontexten (Personalauswahl/-entwicklung, Schullaufbahn, Studienplatzbewerber und so weiter) nicht kritisch diskutiert wird.

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gibt – nachdem heute in vivo Methoden der Beobachtung von Hirnfunktionen zur Verfügung stehen – bisher keinen überzeugenden empirischen Hinweis auf die Existenz hirnunabhängiger seelisch-geistiger Phänomene. Mentale Zustände schweben nicht beliebig über den Wassern der Hirnphysiologie, sondern es besteht eine denkbar enge Verknüpfung: Mindestens einige Anteile des hirnphysiologischen Zustandes sind unmittelbar relevant für den aktuellen mentalen Zustand beziehungsweise das aktuelle Verhalten und Erleben. Berücksichtigt man die Verschiedenheit der Beobachtungsebenen wird man nicht von Identität sprechen wollen: Gedanken, die eine Person erlebt und äußert, sind nicht identisch mit physiologischen Aktionspotenzialen, die während dieser Gedanken im Gehirn der Person abgefeuert werden; es handelt sich um klar unterscheidbare Phänomene. Dennoch lassen sich beide Phänomene nicht voneinander trennen. 8 Es gibt, um eine Analogie aus der Physik vorzuschlagen, keinen Magnetismus ohne Magneten. Der Magnetismus ist dabei nicht einfach identisch mit dem magnetischen Eisenstückchen, aber der Zustand des Eisenstückchens, das heißt die innere Anordnung der Elementarmagneten, geht notwendig mit eindrucksvollen und überraschenden Phänomenen des Magnetismus einher (zum Beispiel ordnen sich Eisenspäne wie von Geisterhand entlang „magnetischer Feldlinien“ zwischen den Polen) – und umgekehrt. Faktisch lässt sich hier immer nur ein komplexes Phänomen mit zwei klar voneinander unterscheidbaren, jedoch nicht zu trennenden Aspekten beobachten: Eisen mit geordneten Elementarmagneten und Magnetismus. Ähnliches gilt im Sinne der Leitidee der Hirnforschung auch für mentale Phänomene und Hirnzustände: Ein bestimmter mentaler Zustand ist Aspekt eines komplexen Phänomens, zu dem notwendig auch ein bestimmter Hirnzustand gehört. Änderungen des einen Aspekts gehen notwendig mit Änderungen des anderen Aspekts einher. Folgt man der Analogie, so kann man bei einem Hirnzustand, der mit einem mentalen Zustand verbunden ist, nicht einfach – epiphäno8

Damit ist noch nichts darüber gesagt, warum physiologische Zustände im Falle des Gehirns – aller Gehirne? Insektenganglien? primitiver Nervensysteme? – überhaupt mit mentalen Zuständen einhergehen. Will man mentalen Zuständen keine direkte physische Wirksamkeit zuschreiben (Psychokinese), so müsste man sagen, dass im Laufe der Evolution diejenigen komplexeren Hirnzustände selektiert wurden, die – warum auch immer – mit mentalen Zuständen einhergehen, da diese Hirnzustände physiologisch zum Beispiel höhere Kontrolle und verbesserte Lern- und Anpassungsfähigkeit in Nichtroutine-Situationen unterstützen.

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menalistisch – den mentalen Aspekt ignorieren; denn fehlte der mentale Aspekt tatsächlich, so wäre auch der physische Hirnzustand notwendig ein anderer. Von einer „Leitidee“ ist zu sprechen, nicht nur weil diese implizit den Korrelationsstudien in Neuropsychologie und Psychophysiologie leitend zugrunde liegt, sondern weil sie – streng genommen – keiner direkten empirischen Überprüfung zugänglich ist. Ein einzelner Hirnzustand und ein einzelner mentaler Zustand lassen sich überhaupt nicht erfassen. Denn tatsächlich hat sich noch niemals ein bestimmter Hirnzustand wiederholt, und auch geistige Zustände sind prinzipiell einmalig und unwiederbringlich. Ohnehin ist es angesichts der stetig fließenden Zeit problematisch, im Hinblick auf das Gehirn oder den Geist von „Zuständen“ zu sprechen. Das heißt, die These einer denkbar engen Beziehung zwischen beiden Ebenen lässt sich nur unter wiederholter Herstellung eines nur auf der abstrakten Ebene existenten „identischen“ Typs mentaler oder neuronaler Zustände prüfen.9 Die Leitidee wäre allerdings prinzipiell falsifizierbar – und erfüllt damit ein wichtiges Kriterium für die Wissenschaftlichkeit einer Hypothese: Das außerkörperliche Erlebnis (out-of-body experience, OBE), das unter anderem im Rahmen sogenannter Nahtoderlebnisse (NTE) auftreten kann, wird von den Betroffenen als Trennung der eigenen Seele vom Körper beschrieben; meistens beobachten sie die gesamte Szenerie einschließlich ihres Körpers dabei aus einer erhöhten Position. Die Betroffenen können in diesen Zuständen nichts über ihr Gehirn wissen, was diverse Interpreten dieser Erfahrungen jedoch nicht davon abhält zu behaupten, dass sich in diesen Zuständen die Seele nicht nur vom Leib, sondern auch vom Gehirn trenne und dann hirnunabhängig existiere.10 Gelänge für derartige Situationen der experimentelle Nachweis nichttrivialer außersinnlicher Wahrnehmungen (zum Beispiel von Objekten, die nur von oben her sichtbar sind) oder gar nichttrivialer außercerebraler Wahrnehmungen (etwa zum Zeitpunkt eines Nulllinien-EEGs), widerspräche dies der Leitidee der heutigen Hirnforschung. Entsprechende 9 Praktisch resultiert diese Notwendigkeit daraus, dass „Signale“ aus dem Hintergrundrauschen mentaler und neuronaler Aktivität durch Wiederholung und Mittelung (averaging) gefiltert werden müssen. 10 Mit als Erster berichtete Moody (1979) über Nahtoderlebnisse. Neuere Erlebnisberichte mit kritischen Stellungnahmen finden sich unter anderem in Bieneck/Hagedorn/Koll (2006). Dort auch kritisch zu einer dualistischen Deutung Hoppe (2006). Für die Deutung des OBE ist die Unterscheidung zwischen Leib und Organismus äußerst hilfreich.

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experimentelle set-ups sind seit vielen Jahren auf Intensivstationen in London (Peter Fenwick) und Hartford/USA (Kenneth Ring und Madeleine Lawrence) realisiert (Fenwick 2004).11 Bisher ergaben sich jedoch keine Hinweise auf hirnunabhängige seelische Funktionen im Rahmen außerkörperlicher Erlebnisse, obwohl von einzelnen Patienten der Londoner Intensivstation außerkörperliche Erlebnisse berichtet wurden. Die meisten Psychologen und Neurowissenschaftler favorisieren heute die Vorstellung, dass ein außerkörperliches Erlebnis ein innerpsychisches Erleben darstellt, bei dem die visuelle Wahrnehmung mit einer verschobenen außerkörperlichen perspektivischen Mitte konstruiert wird, ohne dass jedoch tatschlich eine Seele den Körper verlässt. Möglicherweise sind Störungen der multisensorischen Integration im Bereich des temporoparietal gelegenen Gyrus angularis ein wichtiger Auslöser für außerkörperliche Erlebnisse. Jedenfalls konnten vergleichbare Zustände mittels Elektrostimulation der Hirnrinde in dieser Region (rechtshemisphärisch) gezielt ausgelöst werden (Blanke et al. 2002).12

3. Implikationen der Leitidee Aus der Leitidee – nicht aus einzelnen empirischen Studien – resultieren (mindestens) zwei wesentliche philosophische Intuitionen. Die erste Konsequenz der Leitidee ist, dass Konzepten einer körper- oder gehirnunabhängigen Seele heute jegliche Erfahrungsbasis fehlt. Frühere Generationen, die über Hirnfunktionen nicht viel wussten und keine Möglichkeit hatten, diese zu beobachten, konnten Nahtoderlebnisse („klinisch Toter“) tatsächlich für einen Bericht aus dem Jenseits halten, in das die Seele des zeitweise Toten – vom Körper befreit wie in einem Traum – einen Blick werfen durfte.13 Heute wissen wir, dass jemand, der Erlebnisse berichtet, niemals tot war, da seine Hirnfunktionen offensichtlich nicht irreversibel verloschen waren; der Hirntod als irreversibler Verlust sämtlicher Hirnfunktionen ist als Minimalkriterium für den Tod eines Menschen unumstritten, wenngleich bestritten werden kann, dass 11 Die dort referierte Methode wurde vorgeschlagen in Holden (1988) sowie Holden/Joesten (1990) und wird derzeit in der groß angelegten AWARE-Studie (S. Parnia, Southampton/UK) untersucht. 12 Mittlerweile liegt eine Vielzahl weiterer Arbeiten dieses Autors zum Thema vor. Diese Arbeit ist übrigens ein ausgezeichnetes Beispiel für eine experimentellneuropsychologische Studie. 13 Vgl. etwa Platon über den pamphylischen Soldaten Er im X. Buch der Politeia.

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er mit dem Tod des Menschen identisch sei. Die Hirnprozesse, die ungewöhnliche Erlebnisse während einer intensivmedizinischen Notfallsituation getragen beziehungsweise physisch realisiert haben, sind für die Person prinzipiell nicht wahrnehmbar – und für Außenstehende auch nur dann, wenn geeignete Messinstrumente zur Verfügung stehen. Vieles spricht dafür, dass eine Störung wichtiger neuronaler Funktionsmodule bei Aufrechterhaltung einer hinreichenden Restaktivität zu ungewöhnlichen Bewusstseinszuständen fern des Alltagsbewusstseins führt (vergleiche zum Beispiel auch drogeninduzierte Rauschzustände). Genau genommen sind Nahtoderlebnisse Erfahrungen eines veränderten, gegenüber dem Alltagsbewusstsein funktionell reduzierten Bewusstseins (altered states of consciousness), welche in prolongierten Übergängen zwischen Wachbewusstsein und Bewusstlosigkeit (zum Beispiel während der notfallmedizinischen Maßnahmen nach einem Herzstillstand) auftreten (near loss of consciousness experience, NLoCE).14 Das eindrucksvolle NTE/ NLoCE-Erlebnis findet im Diesseits hinreichend intakter Neurobiologie statt; aus diesen Erfahrungen folgt demnach nichts im Hinblick auf – aus Sicht der Leitidee unmögliche – Erlebnisse nach dem endgültigen Verlöschen der Hirnfunktion im Tod. Es erscheint heute unverständlich, wie Erleben (in einer uns irgendwie vertrauten Weise) ohne Gehirn, ohne Leib möglich sein sollte, was also unter einer „immateriellen Seele“ oder einem „reinen Geist“ überhaupt zu verstehen sei. Da Existenzaussagen empirisch nicht widerlegt werden können – wie sollte man etwa empirisch beweisen, dass es keine karierten Raben gibt –, steht es jedem frei, weiterhin an die Existenz einer hirnunabhängigen Seele und anderer „übernatürlicher“ Entitäten zu glauben. Ohne Erfahrungsbezug wirkt das Konzept „Seele“ allerdings leer und beliebig, letztlich inkonsistent und unverständlich (zum Beispiel naturphilosophisch hinsichtlich der kausalen Geschlossenheit der Natur). Seelenglauben und alltägliche „Hirnvergessenheit“ gehören eng zusammen und sind in den meisten Kulturen weit verbreitet; auch in westlichen Ländern liegen die Zustimmungsraten zum vulgär-platonischen Dualismus bei deutlich über 50 Prozent. Die Hirnforschung erinnert eindringlich an das Gehirn und seine essentiellen Funktionen – und fordert damit grundle14 Bei den Tausenden von Vollnarkosen, die täglich allein in Deutschland durchgeführt werden, kommt es praktisch nie zu NTE. Die chemische Ausschaltung relevanter Hirnfunktionen führt zum zeitweisen Verlust aller geistig-seelischen Vermögen, doch eine Loslösung der Seele vom Leib wird dadurch offensichtlich nicht begünstigt.

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gende Konzepte des Menschenbildes sowie der individuellen und kulturellen Todesbewältigung heraus, die diesen organischen Aspekt möglicherweise nicht hinreichend beachtet haben. Ist also im Tod mit dem Schicksal des Gehirns das Schicksal einer Person besiegelt? Konkreter: Sind Hoffnungen der Eltern auf ein Wiedersehen mit ihrem sterbenden Kind im Jenseits vergeblich und illusionär?15 Eine zweite Konsequenz aus der Leitidee besteht darin, dass mentale Zustände nicht als unabhängig von biochemischen Prozessen im Gehirn zu betrachten sind; vielmehr sind sie direkt mit den jeweiligen Hirnprozessen verknüpft. Physiologische Prozesse folgen aber naturgesetzlicher Notwendigkeit (und eventuell „echtem Zufall“, falls man der Kopenhagener Deutung der Quantenphysik folgt und Effekte von Quantenprozessen auf die Neurobiologie erwartet) (Koch/Hepp 2006). Bei einer rein physiologischen Betrachtung des Gehirns bleibt jedenfalls keinerlei Spielraum für Übernatürliches: Zusammen mit dem gesamten Weltzustand verändert auch ein Gehirn seinen physischen Zustand von Augenblick zu Augenblick in einer prinzipiell naturgesetzlich beschreibbaren Weise. Natürlich besteht kaum Aussicht, diese Prozesse jemals im Einzelfall präzise vorhersagen zu können – allenfalls stochastische Prognosen sind vielleicht möglich. Aber wenn man die Leitidee akzeptiert, dann ergibt sich auch im Hinblick auf mentale Zustandsänderungen, dass sie prinzipiell angekoppelt sind an die naturgesetzlich beschreibbaren physischen Vorgänge. Versteht man unter Freiheit die Fähigkeit eines übernatürlichen Agenten („Ich“, „Seele“, „Gott“), von 15 Da gerade im Bereich der sogenannten Neurophilosophie eine erstaunliche Unkenntnis der eigenen abendländischen Tradition vorherrscht, sei aus theologischer Sicht daran erinnert, dass das verbreitete platonische Modell der Seelenwanderung auch durch wiederholte Behauptung nicht zu einem christlichen Konzept der Auferstehung wird. Auch wenn der Platonismus die christliche Theologie stark beeinflusst hat, waren und sind wesentliche Entwicklungslinien der christlich-theologischen Tradition nicht dualistisch angelegt (zum Beispiel Hylemorphismus bei Thomas von Aquin). Die ganze begriffliche Mühe der Trinitätstheologie und Christologie macht ebenfalls nur Sinn, wenn man Gott und Welt nicht einfach dualistisch einander gegenüber stellt. Schließlich deckt sich die christliche Vorstellung vom ewigen Leben nicht mit den Jenseitsvorstellungen aus Nahtoderlebnissen, da christlich dieses irdische Leben in seiner Ewigkeit offenbar werden soll. Wie die Metaphysik nicht der Physik folgt, sondern deren begriffliche Grundlagen erhellt, folgt das ewige Leben nicht zeitlich dem irdischen, sondern erhellt dessen letzten Grund und inhärentes Ziel. Eine Rlecture entsprechender Quellen erscheint für die Thematik jedenfalls lohnenswert (zum Beispiel Hoye 2007; Klaeden 2005).

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außen her in natürliche Kausalketten einzugreifen, so wäre dies mit der heutigen naturwissenschaftlichen Sichtweise nicht vereinbar.16 Determination (gegebenenfalls plus quantenmechanischer Zufall) bedeutet nun aber nicht, dass das Gehirn umgekehrt die Zustände des Ichs determiniert – vielmehr determiniert der Weltzustand zum Zeitpunkt t0 (inklusive des komplexen Gehirn/Geist-Zustandes) in Verbindung mit den Naturgesetzen den Weltzustand zum späteren Zeitpunkt t1 (inklusive Gehirn/Geist-Zustand). Ließe sich nachweisen – alles spricht dafür –, dass Hirnprozesse kausal am Zustandekommen meines Verhaltens und Erlebens beteiligt sind, hieße dies im Kontext der Leitidee gerade nicht, dass „nicht Ich, sondern mein Gehirn“ entschieden hätte; im Gegenteil müssten die entscheidungsrelevanten Prozesse in meinem Gehirn als die physische Realisierung meiner persçnlichen Entscheidung betrachtet werden.17 Wenn mein Gehirn meine Entscheidungen physisch realisiert, liegt weder Fremdbestimmung noch verdeckte Manipulation vor; denn ohne Hirnprozesse hätte ich nicht andere, sondern überhaupt keine Intentionen. Die Gründe, die zu einer Entscheidung geführt haben, wären darüber hinaus insofern handlungsrelevant, als dass das Fehlen von Gründen oder das Auftreten anderer Gründe (also das Durchlaufen anderer mentaler Zustände) entsprechend der Leitidee mit anderen physischen Hirnzuständen verknüpft gewesen wäre, sodass dann faktisch der gesamte Weltlauf ein anderer geworden wäre beziehungsweise hätte sein müssen: Man kann das erlebte Abwägen von Gründen nicht „wegdenken“, ohne zugleich eine substanzielle Veränderung der ablaufenden Hirnphysiologie einzukalkulieren.18 Schließlich wäre Determinismus (plus Zufall) zwar mit absolut zufälligen, selbstinitiierten Handlungen aus dem Nichts unvereinbar, nicht aber mit begründeten, selbstbestimmten Handlungen, die frei von Zwang und Behinderung eigenen biographisch und kontextuell eingebetteten Intentionen entsprechen. Denn könnte ich die gesamte Welt zum 16 Knapper könnte man auch sagen, dass ein moderner Freiheitsbegriff Konzepte wie „Willenskraft“ oder „Geisteskraft“ heute nur noch metaphorisch deuten kann und herunter brechen muss auf die bekannten vier physischen Kräfte beziehungsweise Wechselwirkungen. Die Unvereinbarkeit eines Seelenglaubens mit einer naturwissenschaftlichen Weltsicht schließt allerdings nicht notwendig aus, dass er wahr ist. 17 Vgl. dagegen Roth (2004; 2005). 18 An dieser Stelle wird relevant, dass die Leitidee nicht epiphänomenalistisch angelegt ist.

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Zeitpunkt tx einer bestimmten Entscheidung zurückdrehen (inklusive Löschung aller zwischenzeitlich gemachten Erfahrungen), dann gilt für selbstbestimmte Handlungen, dass ich zu diesem bestimmten Zeitpunkt tx immer wieder dieselbe Entscheidung aus denselben Gründen treffen würde – ganz in Entsprechung zum Determinismus, der für diesen bestimmten Zeitpunkt nur genau eine Fortentwicklung der physischen Welt erlaubt. Die Freiheit besteht gerade darin, dass ich zu einem bestimmten Zeitpunkt aufgrund der Gründe, die mich überzeugen, diese bestimmte Handlung wählen muss und mein Handeln aufgrund dieser Gründe selbst bestimme (Pauen 2001).19 Eine hinreichende Zuverlässigkeit des Weltlaufs im Sinne von Determinismus erweist sich dabei als Grundvoraussetzung für absichtsvolles, zielgerichtetes Handeln; denn Intentionen hätten in einer chaotischen Welt ohne Regeln keinen Sinn. Dass der Unendlichkeit und Vieldimensionalität der Welt denkbarer Möglichkeiten die absolute Einspurigkeit und Gradlinigkeit des faktischen physischen Weltlaufs gegenübersteht, muss man nicht als kränkend empfinden, selbst wenn man für dieses Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit wohl kaum den Begriff „Autonomie“ wählen würde.20

19 Es scheint, dass Pauen befriedigend eine denkbare Kompatibilität von Determinismus und Freiheit im Sinne der Selbstbestimmung aufzeigen kann. Für eine philosophisch zureichende Bestimmung der Person und damit personaler Freiheit, reicht das Konzept jedoch nicht. Im Prinzip würde ja auch ein Roboter, der die ihm einprogrammierten Zielhierarchien abarbeitet und entsprechende Handlungsroutinen auswählt, dem Freiheitskriterium der Selbstbestimmung entsprechen. Man müsste hier ausführlich über die (sprachlich/symbolisch vermittelten) Wirklichkeitsverhältnisse von Personen als Bedingung der Möglichkeit von handlungsleitenden Gründen (jenseits bloßer Ursachen) sprechen. 20 Wenngleich in anderen Kontexten stehend, sind die Anklänge der aktuellen Freiheitsdebatte an alte (ungelöste) theologische Debatten über das Verhältnis von menschlicher Freiheit und göttlicher Vorsehung unüberhörbar. Der Mensch ist jedenfalls kein primus movens immotum, das heißt er schafft keine wirklichen Anfänge „aus dem Nichts“ im strengen Sinne. Theologische Einlassungen, die einseitig für „Autonomie“ und gegen eine eher freiheitsskeptische Naturphilosophie argumentieren, ohne die komplexe theologische Freiheitsdebatte ins Spiel zu bringen, erscheinen daher eher enttäuschend.

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Exkurs 2: Empirische Studien zur Willensfreiheit? Empirische Studien zur menschlichen Freiheit verfolgen meist die These, dass Handlungen dem Handelnden nur illusionär frei erscheinen, während diese tatsächlich durch unkontrollierbare Ereignisse in der Vergangenheit kausal festgelegt sind. Man könnte hier von einer diachronen Argumentationsstrategie sprechen, die auf Ereignisse in der Vergangenheit abzielt.21 Solche früheren Ereignisse könnten zum Beispiel die Verschmelzung von Ei und Samenzelle und damit die Definition des Genoms am Lebensbeginn viele Jahre vor einer fraglichen Handlung sein, eine pädagogische Fehlleistung in der frühen Kindheit oder auch ein subjektiv nicht beobachtbares neurophysiologisches Ereignis im Gehirn 500 – 800 Millisekunden vor einer selbstinitiierten Handbewegung wie im Falle der viel diskutierten psychophysiologischen Studie von Benjamin Libet (1985). Diachrone Argumente gegen Willensfreiheit aus der Genetik, der Entwicklungs- oder Sozialpsychologie oder den Neurowissenschaften scheitern jedoch regelmäßig daran, das vermutete ursächliche Ereignis tatsächlich als „hinreichende Bedingung“ für die spätere Handlung aufzuweisen, das heißt als Ursache der Handlung in einem strengen Sinne. In vielen Fällen sind die angeblichen „Ursachen“ wohl notwendige oder begünstigende Bedingungen für später resultierende Handlungen – aber es lässt sich meistens mindestens ein Beispiel finden, bei dem eine Art „Veto“ wirksam wurde (vergleiche Libet-Studie) oder bei dem das Vorliegen der vermeintlichen „Ursache“ doch nicht zu der fraglichen Handlung führte. Ein einziges Gegenbeispiel beweist bereits, dass außer der vermeintlichen Ursache weitere Faktoren vorhanden sein müssen (oder nicht vorhanden sein dürfen), damit die Handlung tatsächlich zustande kommt. Die Studie von Benjamin Libet und ihre variantenreichen Replikationen (auch mittels fMRI) waren genau genommen Studien zur Willentlichkeit spontaner Bewegungen, nicht zur Willens- oder Handlungsfreiheit. Bereits mit der Entdeckung des Bereitschaftspotenzials durch Lüder Deecke und Hans Kornhuber im Jahre 1966 war die Problematik aufgeworfen worden, warum einer willentlichen Bewegung ein Hirn21 Das im vorangegangenen Textabschnitt entfaltete Argument auf Basis der Leitidee könnte man entsprechend „synchron“ nennen, da es für jeden mentalen Zustand gleichzeitig einen biochemischen Zustand annimmt, der der Determination (beziehungsweise dem Zufall) unterliegt.

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prozess vorausgeht, der bis zu einer Sekunde dauern kann, während doch offensichtlich von einem bewussten Entschluss zu einer Bewegung bis zu deren Ausführung höchstens 200 – 300 Millisekunden vergehen (Kornhuber/Deecke 1965). Auch ohne die Studie von Libet war die dualistische Vorstellung, dass ein übernatürlich konzipiertes Ich dem Gehirn einen Befehl erteilt, welches dann aktiv wird, um schließlich eine Körperbewegung zu initiieren, aufgrund der zeitlichen Verhältnisse obsolet. Es ist faszinierend, dass eine willentliche Handlung von einer Reaktion oder einer getakteten Bewegung psychophysiologisch objektiv unterschieden werden kann, nämlich anhand des EEG-Bereitschaftspotenzials.22 Das Bereitschaftspotenzial ist keine rein neurophysiologische, sondern eine psychophysiologische Entität; es veranschaulicht eine psychophysiologische Korrelation. Es wäre im methodologischen Sinne eigenartig – und läge zudem ganz auf der Linie des Libetschen Dualismus, nur mit umgekehrten Vorzeichen – würde man das Bereitschaftspotenzial zum Anlass nehmen, die mentale und die physiologische Ebene gegeneinander auszuspielen („das Gehirn entscheidet“). Der gerne unterschlagene Libet-Befund eines „Vetos“ nach dem Einsetzen des Bereitschaftspotenzials bei einigen seiner Probanden beweist, dass das Bereitschaftspotenzial nicht eine Ursache im strengen Sinne, sondern allenfalls eine notwendige Bedingung für willentliche Handlungen darstellt. Dieses Veto-Phänomen unterminiert die diachrone Argumentationsstrategie, indem es auf eine vorhandene Lücke verweist, während es eine synchrone Argumentationsstrategie im Sinne der oben ausgefhrten Konsequenz der Leitidee in keiner Weise schwächt. Die eigentlich kritische Anfrage an bestimmte (dualistische) Freiheitskonzepte resultiert demnach aus der synchronen Argumentationsstrategie, das heißt dem vermuteten engen funktionellen Zusammenhang zwischen der mentalen und der neurophysiologischen Ebene zu jedem Zeitpunkt (ohne Zeitversatz). Während wir über die Gesetzmäßigkeiten mentaler Zustandsveränderungen wenig wissen, folgen physische Hirnzustandsver-

22 Das Bereitschaftspotenzial ließe sich allerdings auch sensorisch in der Weise deuten, dass Probanden, die spontan, das heißt nicht auf äußere Reize hin, reagieren sollen, auf unbestimmte innere Signale warten; das Bereitschaftspotenzial könnte spontan entstehen und ab einer gewissen Schwelle subjektiv als „Drang“ zu einer frei initiierten Bewegung empfunden werden.

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änderungen den Regeln der Biochemie, sind also determiniert (beziehungsweise zufällig).23

4. Neuro-Philosophie? Neuro-Ethik? Es ist unstrittig, dass die Hirnforschung und ihre Anwendung in besonderer Weise zu philosophischer (zum Beispiel wissenschafts- und erkenntnistheoretischer) und ethischer Reflexion herausfordert. Analog zum gut eingeführten Begriff „Bioethik“ könnte es sinnvoll sein, in diesen Zusammenhängen von „Neuro-Philosophie“ beziehungsweise „Neuro-Ethik“ zu sprechen.24 Der derzeitigen inflationären Verwendung dieser Begriffe in ganz verschiedenen populären und fachphilosophischen Kontexten könnten jedoch (mindestens) zwei mögliche Missverständnisse zugrunde liegen. Erstens könnte der Eindruck entstanden sein, dass philosophische Konzepte durch die „moderne Hirnforschung“ gleichsam im Kurzschluss direkt mit neurophysiologischen Phänomenen in Verbindung gebracht werden können. Dies ist jedoch unmöglich. Vermittelnde Instanz ist in jedem Fall die empirische Psychologie, methodisch und konzeptuell. Die philosophische Relevanz empirischer Befunde dürfte dann davon abhängen, inwieweit eine psychologische Operationalisierung philosophischer Konzepte (Freiheit, Bewusstsein, Geist und so weiter) überhaupt für möglich und im speziellen Fall als hinreichend erachtet wird; eine 1:1Übertragung rein neurophysiologischer Beobachtungen (ohne Psychologie) in die Philosophie wäre jedenfalls absurd. Da es jedoch kaum ein psychologisches Konzept gibt, das frei von philosophischen Konnotationen wäre – schließlich erwachsen beide Fächer aus derselben Alltagserfahrung, und die Psychologie ist historisch aus der Philosophie 23 Faszinierenderweise bilden die semantisch leer oder unbestimmt erscheinenden biochemisch definierten Hirnzustandsveränderungen die materielle Grundlage kohärenter Gedanken, Handlungen und Kommunikationen. 24 Der Begriff Neurophilosophie wurde wahrscheinlich aus dem Angelsächsischen entlehnt und geht möglicherweise auf Churchland (1989) zurück, die einen dezidiert reduktionistischen Ansatz verfolgt. Im deutschen Sprachraum sind besonders die Arbeiten der doppelt promovierten „Philosophen/Neurowissenschaftler“ Thomas Fuchs, Georg Northoff, Günter Rager, Gerhard Roth, Henrik Walter und Kai Vogeley bekannt geworden, die zum Teil die Bezeichnung „Neuro-Philosophie“ verwenden, überwiegend jedoch nicht in einem reduktionistischen Sinne.

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hervorgegangen –, kann man auf den emphatischen Begriff „NeuroPhilosophie“ in vielen Fällen verzichten und weiterhin einfacher von Psychologie, Neuropsychologie beziehungsweise Psychophysiologie sprechen (zum Beispiel Psychophysiologie des Selbst; Neuropsychologie sozialen Verhaltens und so weiter) (Gadenne 2004). Es würde sich dann zeigen, in welchem Ausmaß empirisch-neurowissenschaftliche Befunde und Modelle – über die Tatsache hinaus, dass das Gehirn alle und keinesfalls nur krankhafte mentale Prozesse physisch realisiert – den philosophischen Diskurs in einzelnen assoziierten Themenfeldern informieren, beeinflussen und befördern. Ein zweites Missverständnis könnte darin liegen, dass mit den Begriffen „Neuro-Philosophie“ und „Neuro-Ethik“ mehr oder weniger offen der Anspruch erhoben wird, dass die kognitiven Neurowissenschaften an die Stelle traditioneller Philosophie und Ethik treten und diese mittelfristig ersetzen sollten. Insbesondere in der angelsächsischen Tradition hört man immer wieder einmal die These, dass sich die Philosophie jahrtausendelang vergeblich mit verschiedenen Problemen herumgeschlagen habe und dass die Hirnforschung mit ihren viel besseren Beobachtungsmöglichkeiten nun endlich die Lösungen bringen wird (oder schon gebracht hat) (Gazzaniga 2005; 2007).25 Logik kann jedoch prinzipiell nicht durch Denkpsychologie ersetzt werden; denn faktisch erweist sich menschliches Denken selten als logisch. Ethik ist nicht identisch mit der Neuropsychologie un-/moralischen Handelns oder sozialer Kognition; denn das Normale ist nicht notwendig die Quelle sinnvoller Normen. Und die Psychophysiologie der Persönlichkeit wäre sicher noch keine Philosophie der Person. Zudem geht in empirische Untersuchungen implizit eine Reihe denknotwendiger und unhintergehbarer philosophisch-begrifflicher Vorannahmen ein, die im Zuge einer Deutung naturwissenschaftlicher Beobachtungen und Erkenntnisse nicht ohne performativen Selbstwiderspruch geleugnet werden können (z. B. die Existenz des Denkens oder die Unveränderlichkeit der vergangenen Wirklichkeit).

25 Dagegen methodenkritischer Vogelsang/Hoppe (2008).

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5. Abschluss Die entscheidende philosophische und Philosophie begründende Intuition ist, dass der objektive beziehungsweise objektivierende Blick des Wissenschaftlers auf die Wirklichkeit etwas absolut Entscheidendes übersieht, das auch der wissenschaftlichen Beobachtung notwendig voraus liegt: All die Dinge da draußen – die Quasare, Atome und Nervenzellen – haben keine Welt, sie sind einfach Teil der Welt. Warum aber haben wir dann eine Welt, nehmen sie wahr, können sie systematisch beobachten und beschreiben? Manche sagen: weil wir ein Gehirn haben. Aber das Gehirn ist auch wiederum nur ein Ding unter Dingen, und es besteht seinerseits nur aus Dingen; nichts daran würde einem reinen Neurophysiologen verraten, dass die darin ablaufenden Prozesse mit einem Welterleben einhergehen. Die heutigen kognitionswissenschaftlichen Modelle verfehlen diesen Aspekt notwendig: Kognitive Prozesse, physisch realisiert in Form neuronaler Signalverarbeitung, sind genauso „weltleer“ wie mathematische Algorithmen in einem Computer, der von sich und einer Welt da draußen nichts weiß. Menschliches Denken jedoch gründet und zielt notwendig auf Wirklichkeit. Wissenschaft setzt somit bereits voraus, dass der Mensch nicht nur Teil der Wirklichkeit ist – was sicher wahr ist –, sondern dass er geistig zur Wirklichkeit hin offen ist, dass er der Wirklichkeit gegenüber tritt und dass sich die Wirklichkeit ihm erschließt, wenn er nach ihr fragt und sie sucht.26 Der naturwissenschaftliche Blick erblickt dies und das, aber übersieht diesen Blick und dessen Möglichkeitsbedingungen.27 26 Der Begriff Wirklichkeit (mittelhochdeutsch wercelicheit; Meister Eckhart übersetzte damit das neulateinische actualitas) ist ein genuin theologischer Begriff der mittelalterlichen Scholastik: „Hoc quod dico esse est actualitas omnium actuum … „ (Thomas von Aquin, De potentia, qu. 7, art. 2); letztlich ist actualitas bei Thomas die Gottesdefinition (vgl. Hoye, 2007). Erstaunlicherweise ist auch unser ursprünglichstes Wirklichkeitsverhältnis im unmittelbaren sinnlichen Erleben nur mit theologie-affiner Terminologie beschreibbar (zum Beispiel zeitenthoben gegenwärtig, nunc stans; vgl. Hoppe 2006). 27 Eine einfach aus den Naturwissenschaften gewonnene Philosophie („Physikalismus“) müsste die Frage nach dem ontologischen Status von Sätzen (zum Beispiel Lehrsätzen der Physik) beantworten, welche – im Unterschied zu allen physikalischen Objekten – die Eigenschaft besitzen, wahr oder falsch zu sein. Insbesondere wäre zu erläutern, wie vergangenheitsbezogene Aussagen (Kosmologie, Evolution) wahr zu sein beanspruchen können, inwiefern also denknotwendig angenommen werden muss, dass vergangene Wirklichkeit nicht ungeschehen oder im Nachhinein geändert werden kann, sie also wirklich bleibt.

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Begegnet man dem Blick eines Anderen, so sieht man „objektiv“ lediglich ein Gesicht, die Augen, die Pupille und die Iris. Der Blick des Anderen ist gewissermaßen kein weiteres Etwas, das zusätzlich auch noch da ist. Man wird sich entscheiden müssen, wie weit man sich der Erfahrung des Blickkontaktes öffnet, ob man erkennen und anerkennen will, dass auch der Andere sieht wie ich, dass sich auch ihm die Wirklichkeit erschließt und dass darin (in seiner Leidensfähigkeit) seine Würde begründet ist. Alternativ könnte man den Anderen – naturalistisch konsequent – „rein objektiv“, das heißt ausschließlich als biochemische Maschine betrachten (was er gewiss ja auch ist) und die Empfindung, von ihm angeblickt zu werden, als bloße Illusion abtun; es gibt jedenfalls keinen objektiven, naturwissenschaftlichen Beweis.28 Philosophie beginnt – möglicherweise, nicht notwendig – mit dem Staunen über den eigenen Blick, die Ethik mit dem Erblicken des Blicks des Anderen.

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Erwiderungen

Erwiderungen Julian Nida-Rmelin Alle Beiträge der Kolleginnen und Kollegen, die in diesem Band gesammelt sind, enthalten jeweils eine ganze Reihe interessanter und diskussionswürdiger Argumente. In den nachstehenden Repliken konzentriere ich mich jedoch jeweils auf einen, in meinen Augen zentralen Aspekt der Debatte. In einigen Fällen handelt es sich um den zentralen Punkt der Kontroverse, in anderen lediglich um eine Klärung oder Spezifizierung, die einem Missverständnis vorbeugen oder ein solches beheben möchte. Ich bin mir bewusst, dass die eine oder andere Replik eine Gegen-Replik provozieren mag, aber mehr als eine weitere Diskussionsrunde kann dieser Diskussionsband nicht darstellen.

Erwiderung auf Monika Betzler Konsequenzialistische Theorien, also solche, die die Optimierung von Weltzuständen zum ethischen Kriterium machen, wie der HandlungsUtilitarismus, sind mit einem zentralen Merkmal persönlicher Integrität nicht vereinbar. Sie stellen persönliche Bindungen und Projekte infrage, ja sind in der Regel mit der Aufrechterhaltung persönlicher Bindungen und der Verfolgung persönlicher Projekte unvereinbar. Dieses antikonsequenzialistische Integritätsargument hängt meines Erachtens eng mit einem zweiten zentralen Argument gegen konsequenzialistische Theorien zusammen, nämlich dem der individuellen Rechte. Individualrechte schützen die persönliche Lebensgestaltung, sie erlauben ein autonomes Leben, sie verbieten Interventionen, die diese Autonomie gefährden. Als Brückenbegriff zwischen diesen beiden zentralen Argumenten der Konsequenzialismus-Kritik (Nida-Rümelin 1993, Teil 3) kann der Begriff der menschlichen Würde gelten (Nida-Rümelin 2005, Kapitel V). Bernard Williams, der meines Wissens zum ersten Mal das Integritätsargument gegen den Utilitarismus in Stellung brachte, hat diese Verbindung zu libertären oder kantianischen Ethiken nicht hergestellt, wohl schon deshalb, weil er Kantianismus und Utilitarismus für Brüder im Geiste hielt. Dies scheint mir eine insgesamt schiefe Sichtweise zu sein, die am Ende zur Williams’schen Anti-Theorie geführt hat und eine adäquate Theorieentwicklung blockieren musste. An gerade dieser Stelle scheint mir der Beitrag Monika Betzlers anzusetzen. Ihr ist es daran gelegen die normative Dimension persönlicher Projekte und spezifischer die Rolle, die persönliche Projekte für praktische Gründe spielen zu klären (Betzler 2005). Die Analyse scheint mir insgesamt sehr plausibel zu sein und sie füllt eine Lücke, die mir bei der Abfassung von Strukturelle Rationalitt wohl bewusst war (Nida-Rümelin 2001b). Ich gehe dort im IV. Kapitel auf die Frage ein, ob es nicht doch einen zentralen Unterschied zwischen theoretischen und praktischen Gründen gibt, bei allen Übereinstimmungen hinsichtlich der inferenziellen Verfasstheit von Gründen, ihrer Objektivität und Normativität. Ich habe es dort so formuliert: Bestimmte Entscheidungen generieren Gründe. Dazu gibt es aber keine direkte Analogie im Bereich der theoretischen Gründe, wenn man einmal von der problematischen Redeweise der Entscheidung für eine Methode oder gar für ein Para-

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digma (die sich in zahlreichen sozialwissenschaftlichen Hochschulschriften findet) absieht. Die Disanalogie besteht darin, dass im Falle theoretischer Gründe solche „Entscheidungen“ jeweils lediglich hypothetischen Charakter haben, sich also im Verlaufe der weiteren Klärung der empirischen Sachverhalte bewähren müssen, während Entscheidungen – jedenfalls in vielen Fällen – den weiteren Gang des eigenen Lebens bestimmen und Gründe insofern generieren, als solche Entscheidungen in einem kohärenten Zusammenhang mit späteren Entscheidungen stehen müssen, wenn das Leben insgesamt stimmig bleiben soll. Praktische Entscheidungen generieren praktische Gründe, theoretische (Vor-) Annahmen beeinflussen oder besser bestimmen die Form theoretischer Gründe, generieren diese aber nicht. Wäre letzteres der Fall, wäre ein konstruktivistisches Verständnis der empirischen Wissenschaften angemessen. So schwierig es ist diesen Unterschied präzise zu fassen, so scheint doch auf der Hand zu liegen, dass es diesen Unterschied gibt und dass dieser Unterschied wesentlich ist. Dies aber wurde in Strukturelle Rationalitt und auch in anderen Schriften von mir nicht mehr geklärt. Betzlers Analysen zur Rolle persönlicher Projekte bringen Licht in das Dunkel dieser schwierigen Problematik. Um diese Einsichten für eine in sich stimmige Konzeption praktischer Vernunft fruchtbar zu machen, bedarf es jedoch noch einiger Klärungen. Ich konzentriere mich im Folgenden auf die in meinen Augen zentrale Frage nach dem Verhältnis von Objektivitätsanspruch einerseits und Autonomie andererseits. Bei Immanuel Kant wird dieses Verhältnis in Gestalt des Kategorischen Imperatives auf Restriktionsbedingungen individueller Willkür gebracht. Das Ergebnis ist eine Dichotomie pragmatischer und moralischer Imperative. Moralische Imperative restringieren, sie schränken die Verfolgung pragmatischer, an der eigenen Glückseligkeit orientierter Imperative ein. Objektiv sind praktische Gründe nur als moralische, vernunftnotwendige, die die Verfolgung der eigenen Glückseligkeit in den Grenzen halten, die mit dem autonomen Leben anderer verträglich sind. Diese Dichotomie zwischen Eigeninteresse und Moral, zwischen Subjektivität und Objektivität ist jedoch offenkundig problematisch und der Beitrag Betzlers macht dies in vielen Fassetten deutlich. Anna schützt den Regenwald nicht, weil sie damit ein persönliches Interesse verbindet. Damit, dass sie sich den Schutz des Regenwaldes zum persönlichen Projekt gemacht hat, sind ihre Wünsche und Emotionen von der Verfolgung und dem Erfolg dieses Projektes in hohem Maße abhängig geworden. Aber sie wird dieses Projekt damit begründen, dass der Schutz des Regenwaldes eine (objektive) moralisch-

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politische Pflicht sei, sie wird dieses Projekt nicht mit persönlichen Vorlieben rechtfertigen. Es ist auch viel zu wichtig, um ihr lediglich als Ausdruck einer persönlichen Vorliebe gelten zu können. Anna wird mit anderen, die dieses Projekt für unwichtig halten, streiten und sie wird Gründe anführen für die sie eine objektive Geltung beansprucht – wie sonst könnten sie mit Gründen diskutieren. Vielleicht wird sie einräumen, dass es andere vergleichbar bedeutsame Projekte gibt, für die ebenfalls objektive Gründe sprechen und dass es letztlich ein Akt der Willkür ist, welches dieser Projekte man sich zu eigen macht (NidaRümelin 2001b, 166 f.). Eine, wenn nicht die zentrale These von Strukturelle Rationalitt ist, dass Gründe haben in einer beurteilenden und bewertenden Stellungnahme resultiert, dass Grnde haben in der Regel nicht als Ausdrucksform von Wnsche haben gelten kann, sondern dass es in der Regel gerade umgekehrt ist, dass Wnsche haben ein Ausdruck von Grnde haben ist. Gründe sind aber immer objektiv und normativ. Grnde haben heißt also sich die Überzeugung zu eigen machen, dass dieses oder jenes (objektiv) für X spricht. Das fr X sprechen ist das irreduzibel Normative von Gründen. Es sind Gründe, nicht Wünsche, die die Person ausmachen. Projekte, zumindest solche, die eine existenzielle Rolle für die eigene Lebensgestaltung spielen, sind begründet. Die Person, die sich ein Projekt zu eigen macht, hat Gründe dafür. Sie ist überzeugt, dass diese Gründe – objektiv – für dieses Projekt sprechen. Das macht ja gerade das Gewicht, die Bedeutung dieses Projektes für sie aus. Man kann das auch so formulieren: Es sind normative Überzeugungen, die Projekte konstituieren und die Wünsche, die mit diesem Projekt verbunden sind, sind Ausdruck normativer Überzeugungen. In welchem Sinne kann man aber dann noch davon sprechen, dass es sich um mein oder dein Projekt handelt? Konkurrieren dann nicht alle oder jedenfalls die wichtigen, die existenziellen Projekte, um die – objektiv – beste Begründung? Viele alltägliche Auseinandersetzungen haben den Charakter einer solchen Konkurrenz. Aber es scheint auch andere existenzielle Projekte zu geben, die keiner Rechtfertigung bedürfen und die sich nicht in Konkurrenz zu anderen Projekten sehen. Dazu zählen z. B. personale Bindungen, die das Leben existenziell prägen können. Auch personale Bindungen sind nicht grundlos. Das wird spätestens dann klar, wenn Gründe evident werden, die gegen die Fortsetzung dieser personalen Bindung sprechen. Gründe, die sich aus persönlichen Projekten und Bindungen ergeben, scheinen sowohl ihre Objektivität, wie ihre Normativität einzubüßen. Solche Gründe ließen sich dann gegen meine These anführen, alle Gründe – theoretische, wie praktische – seien objektiv und normativ. Die Nor-

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mativität würde Personen-relativ und die Objektivität müsste zumindest zu so etwas wie intersubjektiver Nachvollziehbarkeit oder sogar lediglich intersubjektiver Akzeptabilität herabgestuft werden. So leicht sollte sich der normative und zugleich pragmatische Objektivismus, für den ich plädiere, jedoch nicht geschlagen geben. Sein erster und vielleicht wichtigster Rettungsanker ist das, was ich als Einheit des Sollens bezeichnet habe (Nida-Rümelin 1997, Kapitel 1). Die Einheit des Sollens bezieht sich auf das genuine normative Sollen, nicht auf das, was in der kantischen Terminologie technische oder pragmatische Imperative sind. Der Satz „Du solltest diese Anlageform wählen, wenn du eine sichere Geldanlage mit relativ hohem Ertrag vornehmen willst“ bringt kein normatives Sollen zum Ausdruck. Dieser Satz lässt sich ohne Bedeutungsverlust übersetzen in: „Diese Anlageform bringt unter allen sicheren Anlagen den höchsten Ertrag“. Dieses (technische) Sollen ist daher nicht normativ, sondern rein deskriptiv. Es informiert in der Regel über einen Kausalzusammenhang. Gleiches gilt für einen pragmatischen Imperativ des Typs „Wenn Du nicht unglücklich werden willst, trenn Dich von ihm“. Denn dieser lässt sich übersetzen zu „Wenn Du Dich nicht von ihm trennst, wirst Du unglücklich“. Wenn praktische Gründe letztlich Ausfluss eigener Wünsche wären, dann würden sie in der gleichen Weise deskriptiv sein beziehungsweise einen deskriptiven Sachverhalt zum Ausdruck bringen. „X hat einen Grund H zu tun“ wäre dementsprechend übersetzt „X hat einen Wunsch und dieser Wunsch lässt sich durch H erfüllen.“ Die Einführung von Projekten als konstitutive praktische Gründe darf diese nicht ihrer Normativität berauben, sie zum Ausdruck eines deskriptiven Sachverhalts machen, sodass die Aussage „Wenn Du dieses Projekt hast, solltest Du jenes tun“ übersetzt werden könnte zu „Die Realisierung dieses Projektes erfordert jenes“. Letzteres ist eine rein deskriptive, keine normative Proposition. Diese Form der Subjektivierung praktischer Gründe auf eigene Wünsche, Ziele oder Projekte nimmt diesen nicht nur ihre Objektivität, sondern auch ihre Normativität. Die Vereinbarkeit von projektrelativen Gründen mit ihrer Normativität (und Objektivität) muss anders gesichert werden. Versuchen wir es mit dem deontologischen Ansatz. Die normative Dimension nimmt die Gestalt von Einschränkungen an – Interventionsverbote, Achtung der individuellen Rechte anderer, Respekt vor der Autonomie anderer, Gerechtigkeit, Universalisierbarkeit (und unterschiedliche Kombinationen dieser Kategorien). Projekte kommen erst dort ins Spiel, wo es gilt die Räume zu füllen, die die deontologischen Einschränkungen lassen. Projektgebundene Gründe hätten damit einen

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Status vergleichbar technischen und pragmatischen Imperativen – sie wären in unserer Analyse Ausdruck deskriptiver Sachverhalte, sie wären im strengen Sinne nicht-normativ, geschweige denn objektiv. Ohne die Einbeziehung eines teleologischen Momentes – man könnte in Anlehnung an Robert Nozick sagen, dass ein „pull“ allein nicht ausreicht, sondern um einen „push“ ergänzt werden muss (Nozick 1981) – scheint mir dieses Ergebnis unausweichlich zu sein: In rein deontologischen Theorien, die die moralischen Pflichten über Einschränkungen des Zulässigen bestimmen, sind projektgebundene Gründe nicht normativ. Die Konzeption struktureller Rationalität schlägt gerade in dieser Hinsicht eine Brücke zwischen „push“ und „pull“, zwischen teleologischen und deontologischen Ansätzen, und etabliert ein eigenständiges Paradigma. Dieses liegt – wie ich zu zeigen versucht habe – unseren lebensweltlichen moralischen Diskursen zugrunde und ist insofern ohne Ausstieg aus den lebensweltlichen Diskursen unhintergehbar. Aber es versucht zudem den genannten Gegensatz, der erst in der modernen Ethiktradition seit der Europäischen Aufklärung aufkommt, zu überwinden. Strukturelle Rationalität ist sowohl strukturell (deontologisch) als auch rational (zielorientiert). Entsprechend ist der paradigmatische Anwendungsfall der Konzeption struktureller Rationalität der der Kooperation. Kooperation ist darauf gerichtet durch den eigenen Beitrag zu einer kollektiven Handlung etwas Gutes zu realisieren, etwas, das für alle an der Kooperation Beteiligten gut ist. Zugleich aber kommt Kooperation nur zustande, wenn die Individuen jeweils davon absehen dieses Gute je individuell zu optimieren, also sich Einschränkungen auferlegen, die erst die kooperative Handlung konstituieren.1 Die Priorität, die wir der Förderung der eigenen Kinder gegenüber Kindern anderer geben ist, dann nicht nur deontologisch erlaubt, sondern strukturell geboten. Wir wollen, dass sich Eltern jeweils um ihre Kinder kümmern, weil wir die so etablierte Lebensform als Ganze befürworten, und wir tun unseren Teil dazu diese Lebensform zu realisieren, indem wir ihre konstitutiven Regeln befolgen. Wir wünschen uns eine Gesellschaft, in der Kinder gefördert werden und wir wissen, dass eine Gesellschaft umso besser ist, je deutlicher sich die jeweiligen Eltern für ihre Kinder selbst verantwortlich fühlen. Wir wünschen uns eine Lebensform, in der es klare Verantwortungszuschreibungen gibt und diese nicht durch unpersönliche Prinzipien, wie etwa das utilitaristische Maximierungsgebot, konterka1

Ich spreche hier bewusst von Konstituieren in dem Sinne in dem John Searle im zweiten Kapitel von Speech Acts (Searle 1969) von konstitutiven Regeln spricht.

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riert werden. Die persönliche Bindung an das eigene Kind oder – analog – an das eigene Projekt konstituiert praktische Gründe der Förderung und der Hilfsbereitschaft, die Personen-relativ (da auf die spezifische personale Bindung Eltern-Kind bezogen) sind. Zugleich hat sie aber einen objektiven und normativen Grund für sich: Das allgemeine Gute einer gedeihlichen Entwicklung von Kindern. Es ist das Gute des menschlichen Gedeihens, dass dieses Projekt der Förderung des Wohles eigener Kinder nicht nur erlaubt, sondern gebietet. Es bleibt die schwierige Frage, welche evaluativen Merkmale Projekte aufweisen müssen, um ihre spezifischen, projektbezogenen Gründe zu objektiven und normativen praktischen Gründen zu machen. Das Projekt des bekannten Serieneinbrechers in Marseille, die umfangreichste Einbruchserie innerhalb eines Jahres zu realisieren, scheint mir keine guten praktischen, keine objektiven und normativen Gründe zu generieren. Wohl können wir technische Imperative formulieren, die aber nichts anderes als Kausalzusammenhänge oder probabilistische Relationen feststellen. Der Serieneinbrecher sollte bei seinen Einbrüchen auf eine gute Maskierung und Verkleidung achten, er sollte möglichst unbeobachtet bleiben, er sollte die Möglichkeit haben schnell wieder zu verschwinden, er sollte sich nicht an die Hochsicherheitstrakte der Wohlhabendsten machen und Anwesen mit Hunden meiden et cetera. In all diesen Fällen gibt es aber keine Pflichten, keine guten Gründe, die die Befolgung dieser Imperative nahelegt. Der Einbrecher mag glauben einen guten Grund zu haben, objektiv aber hat er keinen. Dieses Projekt generiert keine normativen und objektiven Gründe. Annas Projekt den Regenwald zu schützen dagegen ist ein guter Kandidat für projektrelative Gründe, die zugleich gute Gründe, also objektiv und normativ sind. Dass sich nicht jeder dieses Projekt zu eigen machen muss, spricht nicht dagegen. Nicht jeder muss sich jedes Projekt, für das gute Gründe sprechen, selbst zu eigen machen. Ich möchte mit einer Bemerkung schließen, die nicht das Verhältnis der Konzeption struktureller Rationalität einerseits und projektbezogener Gründe andererseits, sondern die Grenzen des Projekt-Paradigmas betrifft.2 Mein Monitum lautet: Nicht alles darf uns zum Projekt werden. Die Nikomachische Ethik des Aristoteles beginnt mit einer Unterscheidung von ergon und energeia. In einem Fall wird eine Praxis jeweils danach 2

Frau Betzler ist dieses Monitum aus unserer Diskussion ihres Habilitationsprojektes gut vertraut, ich möchte es aber hier auch einmal in Kurzfassung schriftlich festhalten.

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beurteilt, was als Produkt, als ergon, herauskommt und im anderen Fall ist der Wert der jeweiligen Praxis inhärent, das heißt eignet der jeweiligen Aktivität selbst (energeia). Im Gefolge des Siegeszuges der Neoklassik auch außerhalb der ökonomischen Disziplin wird alles zum Produkt und die Schritte, die zum Produkt führen, zum Projekt. Praktische Vernunft besteht jedoch aus mehr denn aus Projekten, deren Erfolg sich in Produkten manifestiert. Der strukturell rationale Weise, den ich zum Schluss meines Büchleins ironisiere, trifft nur eine Lebensentscheidung und hält sich an die konstitutiven Regeln, die diese Entscheidung etablieren. Diese eine Entscheidung trifft er rational, da die Bewertungsmaßstäbe erst durch etablierte Strukturen konstituiert werden. Der alte Mönch im koreanischen Film „Frühling, Sommer, Herbst, Winter…und Frühling“ (2003) hat kein Projekt. Er hat – so könnte man paradox sagen – das Projekt keine Projekte zu verfolgen. Die Kohärenz der Lebensform verselbständigt sich, letztere ist darüber hinaus von keinen Projekten gekennzeichnet, deren Verfolgung den Sinn des eigenen Lebens stiftet, auch nicht das Projekt der Glückseligkeit (wie etwa der offenkundig vom westlichen Hedonismus beeinflusste Dalai Lama meint). Die buddhistische Philosophie ist der aristotelischen nicht unähnlich: Glückseligkeit ist das Tätigsein der Seele gemäß der Tugend, „[…] t| \uhq~piuou \cah|u xuw^r ]u]qceia c_uetai jat’ \qet^u […].“3

3

Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1098a, 16, 17.

Erwiderung auf Wolfgang Spohn Ich beginne mit dem offenkundigsten Dissens zwischen Wolfgang Spohn und mir und unternehme damit auch den Versuch meine eigene Position in der Freiheitsdebatte trennschärfer zu machen. Ich schicke dem allerdings eine Warnung voraus: Wenn man sich beginnend bei Moritz Schlick die Literatur aus der analytischen Philosophie zur Freiheitsthematik ansieht, so zeigt sich, dass das überragende Bedürfnis, eine einfache Antwort auf die vielleicht komplexeste philosophische Herausforderung zu finden, immer wieder zu philosophisch fatalen Fehleinschätzungen geführt hat (Nida-Rümelin 2005, Kapitel I). Um dieser philosophischen Herausforderung zu begegnen ist daher eine gewisse Demut gefragt: Unser Selbstbild und unsere Weltauffassung verschränken sich hier, sodass jeder philosophische Lösungsversuch sich sowohl an anthropologischen als auch an normativen wie an empirisch-naturwissenschaftlichen Kriterien bewähren muss. Ich bin überzeugt, dass die Zwei-Aspekte-Theorie, die sich in einem Teil der analytischen Philosophie, aber auch im Deutschen Idealismus großer Beliebtheit erfreut, dieser Vielfalt der Kriterien nicht gerecht werden kann. Zwei-Aspekte-Theoretiker, auch Wolfgang Spohn, meinen, dass aus der Perspektive des Akteurs das eigene Handeln frei (in einem näher zu charakterisierenden Sinne) ist, nicht aber aus der Perspektive des Beobachters. In der Kantischen Formulierung: Der Akteur steht als Vernunftperson unter Freiheitsgesetzen, als Gegenstand der wissenschaftlichen Analyse aber unter (deterministischen) Naturgesetzen. In der Spohn’schen Variante äußert sich die Freiheit des Akteurs darin, dass er nicht über (subjektive) Wahrscheinlichkeiten für seine eigenen Entscheidungen in der Zukunft verfügt.4 Da den Akteuren mindestens so viele Informationen über die eigenen Handlungsbedingungen zur Verfügung stehen wie Außenstehenden, ist es allerdings wenig plausibel, dass gerade ihnen selbst das notwendige Wissen abgehen sollte, Wahr-

4

Ich teile diese Auffassung, lehne aber den Spohn’schen Kompatibilismus ab, der es unbeschadet dieser Besonderheit erlaubt, das Handeln von Personen wie andere Naturereignisse auch mit Wahrscheinlichkeiten zu belegen und als von Naturgesetzen determiniert zu beschreiben.

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scheinlichkeiten für die besonderen Ereignisse zu bestimmen, die ihre eigenen Handlungen darstellen (Nida-Rümelin 2005, 61 f.). Wir sollten unsere Freiheit realistisch interpretieren. Ich kann deswegen nicht wissen, wie ich mich entscheiden werde, weil es zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht festliegt, was ich tun werde. Genauer: Auch eine vollständige Beschreibung der Vorgeschichte, meiner genetischen und epigenetischen Ausstattung, meiner Sozialisation, der Sinneseindrücke, die ich erfahren habe et cetera legen nicht fest, wie ich mich entscheiden werde. Aber wenn diese lange Kette von Antezedens-Bedingungen festlegte, wie ich mich entscheiden werde, dann sollte diejenige Person, die über eine besonders umfangreiche Kenntnis dieser Kette verfügt, am besten beurteilen können, wie sie sich entscheiden wird. Und das bin – meist – ich selbst. Es kommt vor, dass andere besser als ich selbst wissen, wie ich mich entscheiden werde, aber das sind Fälle epistemischer Insuffizienz des Akteurs. Der Normalfall ist, dass die Tatsache, dass ich selbst nicht weiß, wie ich mich entscheiden werde, damit zusammenhängt, dass meine Deliberation noch nicht abgeschlossen ist, vielleicht noch nicht einmal begonnen hat. Denn ich habe vorgeschlagen Entscheidungen als Abschluss einer Deliberation – und sei sie auch noch so rudimentär – zu verstehen. Vor Beginn der Deliberation steht – in dieser realistischen Sichtweise könnte man auch sagen: objektiv – ihr Ergebnis noch nicht fest. Die realistische Interpretation schließt eine Zwei-Aspekte-Theorie aus. Wenn es – objektiv – noch nicht feststeht, wie ich mich entscheide, dann kann niemand wissen, wie ich mich entscheide. Die Einführung von Wahrscheinlichkeiten hilft an dieser Stelle nicht weiter, auch wenn eine radikale Subjektivierung von Wahrscheinlichkeiten die These nahelegt, dass es immer (subjektive) Wahrscheinlichkeiten für Ereignisse gibt, denn für jedes Ereignis gibt es für jede Person einen maximalen Wettquotienten. In diesem – radikal subjektivistischen und anti-realistischen – Sinne wäre die subjektive Wahrscheinlichkeit nur deswegen nicht gegeben, weil die Wette selbst die Versuchsanordnung, nämlich die Entscheidungssituation modifiziert. Realistisch interpretiert können wir dagegen – weil wir jeweils frei wählen können, was wir tun – zumindest in Fällen von Willkürentscheidungen die Erfüllung der Wette jeweils selbst bestimmen und daher bei beliebig großen Wettquotienten in die Wette einwilligen. Die Spohn’sche These, dass es eine Adäquanz-Bedingung entscheidungstheoretischer Modelle sei, dass den Handlungen des Akteurs keine subjektiven Wahrscheinlichkeiten des Akteurs zugeordnet werden (Spohn 1978, Abschnitt 2.5), macht Sinn und ist – rea-

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listisch interpretiert – ein starkes Argument für libertäre Freiheit (NidaRümelin 1988, 142 f.). Die Differenz zwischen Wolfgang Spohn und mir lässt sich anhand des Newcomb’schen Paradoxons illustrieren. Eine rationale Person P hat zwei Behälter vor sich: Der eine Behälter ist durchsichtig und enthält offensichtlich 500 Euro, der andere Behälter ist nicht durchsichtig, aber P weiß, dass er entweder nichts oder eine Million Euro beinhaltet. P steht vor der Alternative, entweder den Inhalt beider Behälter an sich zu nehmen oder sich auf den Inhalt des undurchsichtigen Behälters zu beschränken. Da P rational ist, wird sie den Inhalt beider Behälter an sich nehmen, denn unabhängig davon, ob der undurchsichtige Behälter eine Million Euro enthält oder nicht, sichert P sich dadurch zusätzlich 500 Euro. Es scheint völlig unerheblich zu sein, auf welche Weise der Inhalt des undurchsichtigen Behälters bestimmt wird. Entscheidend ist nur, dass vor der Entscheidung von P und unabhängig von der Entscheidung von P feststeht, ob der Behälter eine Million Euro enthält oder nicht. Man stelle sich nun vor, dass eine Person V, die mit der Persönlichkeit und den Handlungsweisen von P vertraut ist und ihr zukünftiges Verhalten in zahlreichen Fällen zutreffend vorausgesagt hat, über den Inhalt des undurchsichtigen Behälters bestimmt. P weiß, dass V die eine Million in den betreffenden Behälter genau dann legt, wenn V vorausgesagt hat, dass P nur den Inhalt des undurchsichtigen Behälters an sich nimmt. Wenn man nun zusätzlich annimmt, dass V’s Voraussage in Bezug auf P’s Verhalten so gut wie immer zutrifft, dann gibt es eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass V die eine Million hinterlegt hat, wenn P sich dafür entscheidet, nur den Inhalt des undurchsichtigen an sich zu nehmen. Denn die hohe Wahrscheinlichkeit einer richtigen Vorhersage äußert sich darin, dass die Entscheidung von P einerseits und die Entscheidung von V, eine Million zu deponieren andererseits, nicht probabilisitisch unabhängig sind, obwohl das Beispiel so gewählt ist, dass eine kausale Lösung ausgeschlossen ist. Eine realistische Interpretation menschlicher Freiheit schließt aus, dass es so jemanden wie V geben kann. Das Newcomb-Problem kombiniert in genialer Weise zwei scheinbar sichere Intuitionen: Die Intuition, dass menschliches Handeln kausalen Determinanten (und seien sie probabilistisch) unterliegt und daher, soweit erklärbar, grundsätzlich auch prognostizierbar ist – und andererseits die Intuition, dass es Situationen gibt, in denen eine Person zwischen Alternativen frei wählen kann. Das Beispiel ist so konstruiert, dass diese beiden Intuitionen zugleich nicht

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aufrechterhalten werden können. Newcombs Problem ist ein Argument gegen die Vorhersagbarkeit der Handlungen einer rationalen Person: P sollte den Inhalt beider Behältnisse an sich nehmen. Ich bin „Two-Boxer“, Wolfgang Spohn ist „One-Boxer“ (Spohn 2003). Two-Boxing ist rational, One-Boxing ist irrational. Die Zwei-Aspekte-Theorie macht eine offenkundig irrationale Entscheidung rational, das spricht gegen die Zwei-Aspekte-Theorie. In seinem Beitrag macht Wolfgang Spohn deutlich, dass er sich bei aller Sympathie für humanistische Argumente mit einer hybriden Position in der Freiheitsdebatte nicht anfreunden kann. Es stellt die vertrauten Grundpfeiler des zeitgenössischen Materialismus zusammen und ist offenbar davon überzeugt, dass diese tragen. Es ist ein weicher Materialismus, kein harter, eliminativer. Diese Grundpfeiler sind: Eine TypeType-Identitätstheorie des Mentalen und des Materiellen, eine Supervenienztheorie mentaler Zustände und Eigenschaften gegenüber materiellen und schließlich eine kausale Handlungstheorie.5 Dazu einige Hinweise: 1. Natürlich ist jede Handlung, jedenfalls der raum-zeitliche Vorgang, der mit einer Handlung verknüpft ist, verursacht. Der Zusammenhang zwischen Wünschen, Überzeugungen und Handlungen ist kein analytischer, sondern ein kausaler. Hier stimme ich Donald Davidson zu. Wenn der Zusammenhang zwischen Intentionen und Handlungen jedoch anomal ist, da es keine universell gültigen Gesetzmäßigkeiten gibt, die diesen Zusammenhang adäquat erfassen, dann entsteht ein Problem für die Identitätstheorie. Die hybride Position, für die ich argumentiert habe, setzt dem folgende Beschreibung entgegen: Das raum-zeitliche Ereignis, das mit einer Handlung verknüpft ist, lässt sich mit den Mitteln der Naturwissenschaft vollständig erklären. Kein Ereignis, das mit den Mitteln der Physik vollständig beschrieben werden kann (und das für das betreffende Handeln eine Rolle spielt), ist physikalisch ohne Ursache. Daraus folgt jedoch nicht, dass der raum-zeitliche Verlauf als ganzer 5

Ich habe in meinen bisherigen Beiträgen bewusst auf die hier angesprochenen Theorien nicht Bezug genommen und habe auch terminologisch keine Anleihen gemacht. Daher ist der Wiedererkennungswert für analytisch geschulte Leser gering und das irritiert offenkundig, wie der Beitrag von Wolfgang Spohn zeigt. Nur in einem älteren Aufsatz (wieder abgedruckt in Nida-Rümelin 2009, Kapitel 4), bin ich auf die Reduktionismus-Problematik näher eingegangen. Die dort vorgenommene Unterscheidung von Reduktionismus I und Reduktionismus II ist auch für die Freiheitsthematik von Bedeutung.

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naturalistisch determiniert ist. Formulieren wir es so: Jedes physikalische Ereignis der Handlung lässt sich physikalisch erklären, ohne dass der physikalische Prozess der Handlung mit den Mitteln der Physik prognostizierbar ist. Das ist kein Paradoxon, sondern eine Behauptung über die Physik (und menschliches Handeln), die prinzipiell, also nicht lediglich wegen begrenzter Datenverarbeitungskapazitäten, gilt. 2. Naturalistische Unterbestimmtheit meint genau dies: Es ist prinzipiell unmöglich, das Handeln einer Person mit den Mitteln der Physik vorherzusagen. Wenn die Zwei-Aspekte-Theorie, der hybride Materialismus, wie ihn Wolfgang Spohn skizziert, plausibel wäre, dann müsste dies aber möglich sein. Da hilft auch die epistemische Beschränkung des Laplace’schen Dämons nicht. 3. Die Type-Type-Identitätstheorie scheitert an der – im bekannten Einwand Hilary Putnams formulierten (Putnam 1971) – grundsätzlichen Möglichkeit, dass ein mentaler Zustand (Eigenschaft) durch eine Vielfalt materieller Zustände (Eigenschaften) realisiert wird. Die Token-TokenIdentitätstheorie scheitert spätestens an dem Phänomen der Qualia. Aber selbst wenn wir einmal annehmen, eine Identitätstheorie irgendeines Typs ließe sich aufrecht erhalten, hätten wir ein ernstes Problem mit der kausalen Rolle unserer Intentionen für den Gang der Welt beziehungsweise für unser Handeln. Der traditionelle Materialismus endet in einem unbefriedigenden anti-humanistischen Epiphänomenalismus. Für den Epiphänomenalisten sind unsere Wünsche nicht kausal relevant für das, was wir tun. Für den Identitätstheoretiker sehr wohl. Aber Vorsicht: Das Verhältnis ist nicht symmetrisch. Das wird besonders deutlich, wenn man – wie alle zeitgenössischen Materialisten (und sicherlich auch Wolfgang Spohn) – annimmt, dass die physikalische Welt kausal geschlossen ist, dass also jedes physikalische Ereignis durch andere physikalische Ereignisse verursacht ist. Wenn aber das Mentale auf dem Materiellen superveniert, während das Materielle nicht auf dem Mentalen superveniert, so erscheint die freudige Übernahme der humanistischen Beschreibungsform durch materialistische Identitätstheoretiker hohl, ja wie ein rhetorischer Trick.6 4. An dieser Stelle muss ich darauf hinweisen, dass der leichtfüßige Übergang von einer Supervenienztheorie zu einer Identitätstheorie mich noch nie überzeugt hat, ja mir gänzlich unplausibel zu sein scheint. Der Begriff der Supervenienz stammt ursprünglich aus der Ethik, R.M. Hare 6

Interessanterweise ist sich der Hauptbefürworter der Supervenienzthese Jaegwon Kim dieser Problematik sehr wohl bewusst (Kim 1991).

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war wohl der Urheber. Nach Hare supervenieren moralische Eigenschaften auf empirischen: Von zwei Handlungen kann nicht die eine richtig und die andere falsch sein, wenn die Summe der PräferenzenErfüllung im Universum für beide gleich groß ist. Daraus folgt aber keineswegs, dass der moralische Sachverhalt, dass eine Handlung geboten ist, identisch ist mit dem empirischen Sachverhalt, dass die Summe der Präferenzen-Erfüllung im Universum maximal ist. Ich möchte es so formulieren: Es ist ein Adäquatheitskriterium ethischer Theorien, dass ihre moralischen Prädikate auf empirischen supervenieren. Das heißt aber keineswegs, einen naturalistischen Standpunkt einzunehmen und die Ethik zu einer empirischen Disziplin zu machen. Es geht eben gerade nicht um zwei Aspekte der materiellen Welt, sondern um normative Kriterien mit einer ganz eigenen, eben in den Naturwissenschaften nicht adäquat beschreibbaren Form der Begründung. 5. Die hybride – kompatibilistische und libertäre Elemente vereinigende oder besser den Gegensatz zwischen diesen überwindende – Position, für die ich eintrete, lässt sich folgendermaßen in knappster Form charakterisieren: 5.1. Es gibt keine Erklrungslcken physikalischer Ereignisse. Dies gilt im Prinzip, das heißt nicht nur für den heutigen unzureichenden Stand der Physik, sondern für alle zukünftigen, ja vernünftigerweise vorstellbaren physikalischen Theorien und für alle zukünftigen, vernünftigerweise vorstellbaren Datenverarbeitungskapazitäten.7 5.2. Die vollständige Erklärbarkeit aller physikalischen Ereignisse ist damit vereinbar, dass der Weltverlauf als ganzer mit den Mitteln der Physik nicht erklärbar ist. Aus der physikalischen Erklärbarkeit jedes einzelnen Ereignisses folgt nicht die Deduzierbarkeit von universalen Verlaufsgesetzen aus einer vollständigen Beschreibung eines Weltzustandes zu einem bestimmten Zeitpunkt qua physikalische Gesetze. In diesem Sinne ist die physikalische Welt nicht kausal geschlossen. 5.3. Fr Handlungen haben Intentionen und berzeugungen eine kausale Rolle. Diese kausale Rolle ist mit den physikalischen Mitteln aus prinzipiellen Gründen nicht erklärbar, schon deswegen nicht, weil Deliberationsprozesse im Spiel sind. 5.4. In Deliberationen praktischer wie theoretischer Art, also solchen, die in Überzeugungen, und solchen, die in Handlungen münden (NidaRümelin 2001b, 2005, 2011), spielen Inferenzen eine wichtige Rolle. Da 7

Im Gegensatz zu der Vermutung von John Searle ist auf der Ebene der physikalischen Beschreibung keine Erklärungslücke (Searle 1992).

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diese Inferenzen in vielen Fällen nachweislich nicht algorithmisch sind, lassen sie sich nicht als kausale Prozesse erfassen. Kausale Gesetzmäßigkeiten haben immer eine algorithmische Form. Wer das bestreitet, scheint mir den Kausalitätsbegriff in toto aufzugeben. 5.5. Meine These der naturalistischen Unterbestimmtheit will nichts anderes besagen als die Konjunktion von 5.1. und 5.2. und 5.3. und 5.4. Dass bei dieser Charakterisierung die epistemologische und ontologische Ebene nicht getrennt werden, ist kein Versehen, sondern Absicht. Ich bin da in guter Gesellschaft von (zum Beispiel) John Dewey und Ludwig Wittgenstein.

Erwiderung auf Eva-Maria Engelen Eva Maria Engelen befasst sich mit dem komplexen Verhältnis von Intentionalität, Kontrolle und Handlung. Ich kann keinen gravierenden Dissens entdecken, vielmehr halte ich einige in diesem Beitrag behandelte Aspekte für zentral und in der Tat einer weiteren Klärung bedürftig. Das betrifft etwa das Verhältnis von Intentionalität und Intensionalität, die logische Struktur von Intentionalität (die Eva Maria Engelen im Anschluss an John Searle betont), aber auch das in ihrem Beitrag angesprochene Problem des Verhältnisses von Intentionalität und Kausalität. Auf diese Thematik möchte ich mich in meiner Replik konzentrieren. Dass wir es hier mit einer schwierigen, wer will mag sagen metaphysischen Thematik zu tun haben, zeigt schon folgende Überlegung: Gründe sind, jedenfalls wenn man sie wie ich normativ und objektiv versteht, nicht Teil der empirischen Welt, der mit den Methoden der Naturwissenschaft analysierbaren Welt der natürlichen Tatsachen. Die Regeln der Inferenz, die Regeln mit denen wir lebensweltlich und wissenschaftlich unsere Überzeugungen begründen, die logischen Theoreme und Beweise, lassen sich mit den Methoden der Naturwissenschaft nicht entdecken oder beschreiben. Diese Trivialität ist philosophisch spätestens seit Gottlob Freges und Edmund Husserls Psychologismuskritik Allgemeingut. Aber vielleicht sollte man angesichts der heutigen Tendenzen in der Neurophilosophie besser sagen, dass dies philosophisches Allgemeingut war. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass wir nicht hinter die Psychologismuskritik zurückfallen sollten. Jeder Versuch der Naturalisierung logischer Relationen ist self-defeating, da ein solcher Versuch ja vermutlich mit Argumenten, also mit dem Vorbringen von Gründen, die normative und objektive Geltung beanspruchen, vonstatten ginge. Oder mündet konsequenter Naturalismus, sofern akzeptiert, im kollektiven Schweigen? Ob eine naturwissenschaftliche Hypothese gerechtfertigt ist oder nicht; ob gute Gründe für die Richtigkeit dieser Hypothese sprechen; ob es rational ist, sie als Teil einer Theorie zu vertreten; all dies sind Fragen, die einerseits von Daten, andererseits aber von der Plausibilität weiterer Theorien sowie impliziter und expliziter Hintergrundannahmen und inferenzieller, im weitesten Sinne logischer, Relationen abhängen. Logische und faktische Relationen bestimmen zusammen die Plausibilität

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einer Hypothese. Faktische Relationen allein reichen dazu nicht aus. Physikalische Theoriebildung ist immer inferenziell. Die Theoriebildung, die Ableitungs- und Einbettungsbeziehungen, Schlüsse auf die beste Erklärung, die Kohärenzprüfungen sind nicht selbst wiederum ein möglicher Gegenstand der physikalischen Theorie. In diesem Sinne muss das naturalistische Programm scheitern. Nicht alles ist Physik. Die weiche Form des Non-Naturalismus zieht sich auf einen Dualismus der Perspektiven oder Beschreibungsformen zurück. Hier sind sich Kant und der mainstream der analytischen Philosophie sehr nahe. Freiheitsgesetze als Postulate der praktischen Vernunft sind mit dem universellen Kausalprinzip vereinbar, meint Kant. Das noumenale Ich – man könnte auch sagen: die Perspektive der ersten Person – und das phänomenale Ich – man könnte sagen: die Perspektive der dritten Person – widersprechen sich nicht. Zugespitzt: Der universelle Erklärungsanspruch der Physik kann aufrecht erhalten werden, wenn ihr die Perspektive der ersten Person und damit der Freiheit, genauer der Autonomie, an die Seite gestellt wird. Das ist meines Erachtens nicht plausibel. Wenn der äußere Aspekt des Handelns – das heißt das bloße Verhalten, seine lückenlose Folge von Ereignissen, die mit den Mitteln der Physik vollständig beschreibbar ist – unter Kausalgesetzen steht, die auf Intentionen, speziell Handlungsgründe, keinen Bezug nehmen, so wäre individuelle Verantwortung und Freiheit ein bloßes Postulat der praktischen Vernunft ohne empirischen Gehalt. Dann kämen wir uns frei und verantwortlich vor ohne es zu sein. In der Lesart der analytischen dualistischen Kompatibilisten bildeten Handlungsgründe logische Relationen ab, die mit einer kausalen Determination des Handelns vereinbar sind – es handelt sich um zwei Beschreibungsformen, die nicht in Konflikt miteinander geraten können. Der Konflikt, der zwischen diesen beiden Beschreibungsformen auftreten kann (wenn man einmal bei dieser problematischen Formulierung bleibt) hat einen Namen: Es ist die kausale Wirksamkeit von Gründen. Gründe gehören der logischen Sphäre an, das Akzeptieren von Gründen der psychologischen. Die Wirksamkeit von Gründen ist eine kausale und sie äußert sich in Ereignissen, die als natürliche Tatsachen gelten können, als Tatsachen, die grundsätzlich mit den Mitteln der Naturwissenschaft beschreibbar sind. Vernunftwesen sind solche, die sich von Gründen affizieren lassen. Vernunftwesen zeichnen sich also durch eine kausale Wirksamkeit von Gründen aus. Da theoretische wie praktische Gründe eine nicht-algorithmische Form haben, da theoretische wie praktische Inferenzen sich in der Regel nicht von einer Turing-Maschine generieren lassen, ist die Relation des Be-

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gründet-Seins keine kausale. Daraus folgt jedoch nicht, dass Gründe keine kausale Wirksamkeit haben. Die Tatsache, dass die besseren Gründe für die eine und gegen die andere Handlung sprechen, kann eine hinreichend vernünftige Person davon abbringen, eine Handlung zu vollziehen, die ihrer ursprünglichen Neigung entsprach. Der kausale Prozess vom basalen Wunsch zur Wunscherfüllung durch eine Handlung wird durch das Akzeptieren von Gründen doppelt aufgehoben. Einerseits in Gestalt einer Evaluation der Wünsche im logischen und normativen Raum der praktischen Gründe und andererseits im logischen und empirischen Raum der theoretischen Gründe, die die Auswahl einer Handlung als voraussichtlich effektives Mittel der Wunscherfüllung steuern. Wenn ich also von der kausalen Wirksamkeit von Gründen spreche, dann ist dies nicht dahingehend misszuverstehen, dass die von Gründen konstituierten Inferenzen kausaler Natur wären. Ja noch mehr: Es kann nicht sein, dass die neurophysiologischen Prozesse, in denen sich der psychologische Vorgang des Akzeptierens von Gründen realisiert, ein kausaler ist. Wir müssen annehmen, dass diese neurophysiologischen Prozesse, in denen sich das Deliberieren materiell manifestiert, nicht deterministisch sind. Ich bezweifle, anders als Robert Kane (Kane 1996, 2006), dass der Übergang zum quantenphysikalischen Probabilismus die Problematik beheben kann. Mir ist dabei durchaus bewusst, dass diese These eine Zumutung darstellt, weil sie die Einheit der Natur, die kausale Geschlossenheit der Welt infrage stellt. Ich kann mich damit trösten, dass diese kausale Geschlossenheit der Welt eine Vorstellung ist, die nur in der klassischen Physik ihren angemessenen Ort hat. Allerdings ist schon innerhalb der klassischen Physik die kausale Geschlossenheit durch Singularitäten infrage gestellt. Jenseits der klassischen Physik, spätestens beim Übergang zur Quantenphysik, ist die Verbindung von Kausalität und Determinismus aufgelöst. Die Bell’schen Gesetze zeigen zudem, dass sich die Problematik nicht auf den mikrophysikalischen Bereich beschränken lässt. An dieser Stelle sehe ich das wechselseitige Stützungsverhältnis von Quantenphysik einerseits und einer nicht-reduktionistischen oder nonnaturalistischen Neurophilosophie. Die quantenphysikalischen Modelle postulieren singuläre Ereignisse, für die es keine kausale Erklärung gibt, das quantenphysikalische Modell schließt sogar aus, dass es eine kausale Erklärung geben kann. Die Gemeinsamkeit zwischen Deliberation und Quantenphysik ist der nicht-algorithmische Charakter der Prozesse (Nida-Rümelin 2010). Aber die Analogie besteht noch in einer zweiten Dimension. Die quantenphysikalischen Modelle lassen sich, abgesehen von einigen wenigen Anomalien, wie etwa den Bell’schen Gesetzen, so

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weit in eine insgesamt deterministische Konzeption kausaler Prozesse einbinden, dass die Welt als Ganze, der mesophysikalische Kosmos, geordnet und berechenbar erscheint. In ber menschliche Freiheit hatte ich dafür den Terminus der epistemischen Unaufflligkeit gewählt (Nida-Rümelin 2005). Das kausale Wirken der Gründe ist epistemisch unauffällig, das Spannungsverhältnis zwischen den beiden lebensweltlichen Erfahrungen – der kausalen Wirksamkeit von Gründen einerseits und der universellen Determination natürlicher Ereignisse andererseits – kann man sich als in einer vollkommenen, umfassenden wissenschaftlichen Beschreibung der Welt aufgehoben denken.

Erwiderung auf Dietmar von der Pfordten Dietmar von der Pfordten konzentriert sich in seinem Beitrag auf die Begründungsproblematik normativer Überzeugungen. Er stimmt einem kohärentistischen Verständnis ethischer Begründung zu, kritisiert jedoch die Rolle der „Lebensform“, die diese in meiner Philosophie spiele. Von der Pfordten charakterisiert diese Rolle als eine Form „konventionalistischer Fundierung normativer Urteile“ und benennt vier Probleme, die ein solcher Konventionalismus nach sich ziehe: Das Problem des Fundamentalismus, das des Positivismus, das des Relativismus und das des Kollektivismus. In der Tat besteht an dieser Stelle Klärungsbedarf und ich will versuchen diesen in dieser Replik wenigstens teilweise zu befriedigen.8 Ich will meinen zentralen Einwand gegen die Kritik von der Pfordtens vorwegnehmen: Der Kohärentismus, für den ich argumentiere, ist nicht konventionalistisch. Wäre er konventionalistisch, dann würde er in der Tat den von von der Pfordten entwickelten vier Gegenargumenten ausgesetzt sein. Oder anders gewendet: Ich habe mich einmal vor vielen Jahren gegen den Institutionalismus – etwa von Raffael Ferber (eine Variante des Konventionalismus in von der Pfordtens Sinne) – gewandt und sehe nicht, dass ich meine Position in diesem Punkt geändert hätte. Aber es stimmt durchaus, mich haben Quellen der Normativität immer wieder neu beschäftigt und ich habe meinen ursprünglichen Optimismus, was die rationale Begründbarkeit objektiver Geltung angeht, gedämpft. Die Begründungsrelationen sind zu komplex und die sprachlichen und außersprachlichen Institutionen, die unsere moralische Verständigung und Interaktionspraxis leiten, sind zu vielfältig, als dass sie in einer übersichtlichen philosophischen Theorie moralischer Normativität erfasst werden könnten. Aber ich bin im strengen Sinne ethischer Realist geblieben: Normative und deskriptive Wahrheit sind 8

Der große Vorzug des Beitrags von Dietmar von der Pfordten liegt darin, dass er sich nicht lediglich auf meine in diesem Band abgedruckte Stellungnahme bezieht, sondern so gut wie alle relevanten Publikationen von mir zur Thematik ethischer Begründung sorgfältig einbezieht. Ob die zusätzlichen Texte, die erst nach Abfassung seines Beitrages erschienen sind (in Nida-Rümelin 2009) seine Bedenken zerstreut hätten, vermag ich nicht zu sagen.

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nicht epistemisch konstituiert. A forteriori vertrete ich keine konventionalistische Position, weder in der Erkenntnistheorie noch in der MetaEthik. Das philosophische Problem besteht darin zu benennen, woraus sich die Normativität unserer moralischen und rationaltheoretischen Urteile speist. An dieser Stelle scheinen mir Einsichten der Spätphilosophie Wittgensteins wichtig zu sein. Einsichten, die man gegen Wittgenstein für die Ethik fruchtbar machen kann. Ethik und Ästhetik gehörten für Wittgenstein in Bereiche des Unsagbaren und dies hält sich durch, auch noch in ber Gewißheit. Jedenfalls für Wittgensteins Spätphilosophie ist das hochgradig unplausibel, da die normative Verfasstheit unserer (Lebens-) Praxis offenkundig ist. Sprachspiele betreiben heißt, diese normative Verfasstheit zu exponieren oder jedenfalls auf diese zu zeigen. Die Existenz der Außenwelt ist nicht beweisbar, meint Wittgenstein gegen George E. Moores berühmte Verteidigung des common sense. Sie ist nicht beweisbar, weil unsere gesamte Praxis, einschließlich unserer Verständigungspraxis, die Existenz der Außenwelt, die Existenz von Fremdpsychischem, schon voraussetzt. Der Zweifel macht, gegeben diese Praxis, keinen Sinn und daher macht auch der Versuch, solche Annahmen als begründetes Wissen erst noch philosophisch zu rechtfertigen, a fortiori keinen Sinn. Wenn die Beschreibung oder besser Vorstellung von Sprachspielen nichts anderes ist als die Beschreibung beziehungsweise Vorstellung von Teilen unserer geteilten Lebensform, dann enden unsere Begründungsrelationen in dieser, in den Selbstverständlichkeiten der geteilten Lebensform. Bei Husserl sind es Überzeugungen, die vortheoretisch etabliert sind und deren Bezweiflung keinen Sinn macht, die unsere Lebenswelt ausmachen. Die Akzentverschiebung zwischen Lebenswelt und Lebensform ist die zwischen Theorie- und Praxisfokussierung. „Der vernünftige Mensch hat gewisse Zweifel nicht“ (Wittgenstein 1984, 208). Die gilt auch für die Philosophie. Die Philosophie beginnt eben (gegen Descartes) nicht damit, dass sie das, was wir vernünftigerweise nicht bezweifeln können, nun auch bezweifelt. Im Grunde sind das Selbstverständlichkeiten, die für uns alle nicht infrage stehen, deren Infragestellung aber einer unguten Tradition der Philosophie seit der Antike entspricht. Diese Tradition hat die Philosophie in immer neue Aporien geführt und die Philosophie als solche verfügt nicht über die Ressourcen aus diesen herauszuführen. Hier setzt die pragmatistische, die phänomenologische oder die Wittgenstein’sche Kritik an, und diese Kritik teile ich. Die Frage, ob es Gegenstände der Außenwelt gibt, kann durch die philosophische oder wissenschaftliche Theorie nicht

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beantwortet werden. Die Frage stellt sich nicht, weil die Existenz der Gegenstände der Außenwelt vernünftigerweise nicht bezweifelt wird. Es gibt keinen vernünftigen Zweifel an der Existenz von Gegenständen der Außenwelt, diese sind nicht begründungsbedürftig. Begründungen sind deswegen unter normalen Umständen – Wittgenstein erörtert eine Reihe von ungewöhnlichen Situationen, in denen solche Fragen doch Sinn machen könnten – nicht sinnvoll möglich. Impliziert das eine konventionalistische Position? Die Antwort muss klarerweise lauten: Nein. Dass es keinen vernünftigen Zweifel an der Existenz von Gegenständen der Außenwelt für uns geben kann, impliziert nicht, dass deren Existenz konventionell ist, dass es sich lediglich um eine Besonderheit unserer sprachlichen Konventionen handelt. „Die Gegenstände der Außenwelt existieren“ ist unter Normalbedingungen in der Tat keine sinnvolle Behauptung. Aber wir alle teilen eine Praxis, welche die reale, nicht konventionelle, Existenz von Gegenständen der Außenwelt voraussetzt. In einem analogen Sinne scheint mir der ethische Realismus unhintergehbar zu sein. Er ist in die Praxis unserer moralischen Verständigung eingelassen, die Logik unserer Moralsprache setzt ihn voraus. Deswegen ist die Objektivität moralischer Sachverhalte jedoch nicht konventionell, nicht lediglich Ausdruck einer zufällig so und nicht anders etablierten sprachlichen Konvention. Dies gilt selbst dann, wenn man der GriceLewis-Bennett-Schule zustimmt, dass sprachliche Bedeutung im Wesentlichen konventionell ist. Die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke ist dann konventionell, aber ihr Inhalt ist deshalb nicht aus Gründen der Konvention wahr oder falsch, angemessen oder unangemessen. Dieser erkenntnistheoretische Anspruch dieser (meta-ethische) Realismus ist also mit einer kohärentistischen und die Unhintergehbarkeit von Präsuppositionen unserer geteilten Lebensform betonenden Position durchaus vereinbar. Was heißt Präsupposition? Ich trage hier nicht – in unguter rationalistischer Tradition – eine philosophische Theorie an die Verständigungspraxis heran, sondern ich beschreibe Merkmale dieser Verständigungspraxis, die wir nicht dispensieren können. Im Grunde erübrigen sich hiermit die vier kritischen Einwände, die von der Pfordten vorbringt. Ich will dennoch auf jeden kurz eingehen:

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1. Fundamentalismus Die Argumente, die Wittgenstein in ber Gewißheit vorträgt, sind unprätentiös und von einer Klarheit, die man sowohl im Tractatus als auch in den Philosophischen Untersuchungen gelegentlich vermisst. Und dennoch ist in der Sekundärliteratur umstritten geblieben, ob Wittgenstein nun Fundamentalist oder Kohärentist, Realist, Irrealist oder Anti-Realist sei. Wie kann es sein, dass eine erkenntnistheoretische Position so klar formuliert wird und zugleich solche Fragen offen bleiben? Die Antwort scheint mir zu sein, dass diese Kategorisierungen in die Irre führen. Jede Begründung macht, sofern erfolgreich, Ungewisseres gewisser. Der philosophische Rationalismus versucht dem dadurch gerecht zu werden, dass einzelne Postulate oder Axiome als unerschütterliches Fundament genommen werden, aus denen alles andere deduktiv gerechtfertigt werden kann. Aber die Suche nach einem solchen fundamentum inconcussum ist vergeblich im doppelten Sinne: Erstens stellen sich einige als selbstevident erscheinende Postulate als zweifelhaft heraus und zweitens lässt sich das Gesamt unserer begründungsbedürftigen Überzeugungen nicht aus einigen wenigen Postulaten deduktiv gewinnen (ableiten, rechfertigen). Der intuitionistische Fundamentalismus meint, dass es bestimmte unbezweifelbare Oppositionen gibt, die das Fundament aller Theoriebildung sind. Auch hier stellt sich die Frage der Abgrenzung. Nach welchem Kriterium bestimmen wir die Elemente dieser Klasse von Propositionen, von denen alles Begründen ausgehen muss? Zudem führt dann die Theoriebildung zu einer Revision dieser anfänglichen Annahmen, das heißt das intuitiv Unbezweifelbare wird dann im Laufe der Theoriebildung bezweifelt, um überhaupt einen systematischen Zusammenhang entwickeln zu können. Radikale Intuitionisten sind daher Anti-Theoretiker. Sie lehnen jede Theoriebildung ab. Aber diese Kritik zweier Varianten des Fundamentalismus (im Sinne von foundationalism, nicht im Sinne von fundamentalism) darf nicht mit einer Position globaler Skepsis verwechselt werden. Ich habe es so formuliert: Es gibt nur einen lokalen, nie einen globalen Zweifel. Der lokale Zweifel ist (als vernünftiger) begründet. Ein globaler Zweifel ist (aus streng logischen Gründen) unbegründet, er bezweifelt ja solche Propositionen, die einen Zweifel begründen könnten. Anders gesprochen: Einen globalen Zweifel kann es lebensweltlich nicht geben und er lässt sich philosophisch nicht kohärent machen. Was könnte unbezweifelbarer erscheinen als der dreidimensionale Raum (als Kantische Anschauungsform)? Die moderne Physik hat daran

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Zweifel geweckt. Vieles spricht dafür, dass wir in einem vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuum leben. Die dadurch mögliche Uminterpretation (kosmologischer) empirischer Befunde und der Gewinn an Systematik der physikalischen Theorie geraten jedoch nicht in Konflikt zu unseren lebensweltlichen Anschauungsformen. Wäre es anders, würden wir diese Theorie nicht überzeugend finden (Nida-Rümelin 2009, Kapitel 3).9 Auch die fundamentalste und überaus gewiss erscheinende Proposition kann sich im Verlaufe der Theoriebildung als zweifelhaft herausstellen. Die geteilte Verständigungs-Lebenswelt und Interaktionspraxis (Lebensform) – beides ist selbstverständlich miteinander unlöslich verbunden – ist nicht ein für alle Mal fixiert, sondern in einer permanenten Veränderung. Das Projekt der Aufklärung, von dem Jürgen Habermas gerne spricht, besteht darin, diese Praxis vernünftiger zu machen und damit ist die Deliberation treibendes Moment ihrer Veränderung.

2. Positivismus Das, was von der Pfordten als „Positivismus“ kritisiert, ist in etwa das Gleiche, was ich als (Wittgenstein’schen) Quietismus zurückweise. Das Beispiel Gleichberechtigung ist in der Tat instruktiv. In der Sprache der Wissenschaftstheorie könnte man sagen, dass Gleichberechtigung eine Invarianzbedingung ist, so wie die Isotropie des Raumes in der Physik. Invarianzbedingungen dieser Art bewähren sich an einem ganzen Komplex von Überzeugungen, aber sie können auch mit konkreten – lokalen – Praktiken in Konflikt geraten. Die Isotropie des Raumes ist in Kristallgittern verletzt. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau ist in den realen innerfamiliären Interaktionsmustern weithin verletzt. Wie kann man nun zur Einsicht des normativen Gebots der Gleichberechtigung kommen, wenn die reale Praxis doch in vielen Fällen davon abweicht? Dies ist möglich, weil Begründungen im deskriptiven wie im normativen Bereich komplex sind, sie beginnen nicht beim Konkreten und enden im Abstrakten, sondern sie gehen vor und zurück, sie systematisieren, indem sie konkrete Einzelfälle zu verallgemeinern suchen, 9

Man beachte die Analogie der aktuellen Debatte um die vermeintlich neurowissenschaftliche Nicht-Existenz menschlicher Freiheit. Es gibt keine neurowissenschaftlichen Befunde, die das ernsthaft stützen, aber selbst wenn dem so wäre, geriete dies in Konflikt mit zentralen Konstituentien unserer Lebenswelt und wäre ipso facto gescheitert.

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und modifizieren konkrete Einzelfälle anhand abstrakterer Regeln. Die Ungleichbehandlung von Frauen und Sklaven kollidierte schon in der Antike mit normativen Invarianzannahmen.10 Die Praktiken der geteilten Lebensform sind nicht schlicht gegeben, sondern sie sind Ausdruck normativer Stellungnahmen. Diese normativen Stellungnahmen müssen in sich schlüssig sein, in diesem Fall: Ungleichbehandlung bedarf eines rechtfertigenden Unterschiedes und dieser ist im Falle von Freien und Sklaven, von Männern und Frauen nicht gegeben.

3. Relativismus Es ist in der Sekundärliteratur umstritten, ob es sich im Falle der Wittgenstein’schen Verwendung des Lebensform-Begriffes um die eine oder um die vielen, möglicherweise über Sprachgemeinschaften realisierten, Lebensformen handelt. Die Singular-Interpretation läuft Gefahr in einen biologischen Essentialismus zu münden, wonach es die Spezies-Zugehörigkeit ist, die diese Lebensform konstituiert. Die Plural-Interpretation scheint mit einer universalistischen Ethik unvereinbar zu sein. Wer den „holistischen“ Kohärentismus konsequent durchhält, muss an dieser Stelle auf die Dynamik der Diskurse vertrauen. Der Inhalt unserer normativen Überzeugungen ist zweifellos objektivistisch, das heißt wir verbinden objektive Geltungsansprüche mit unseren normativen Überzeugungen. Die Begründungen, die wir vorbringen, enden aber in der geteilten Lebenswelt, aus der wir nicht ausbrechen können. Damit ergibt sich ein Spannungsverhältnis zwischen dem (kulturellen) Kontext der Begründung einerseits und dem objektiven Geltungsanspruch des zu Begründenden andererseits. Dieses Spannungsverhältnis scheint mir in der lebensweltlichen Verständigungspraxis selbst eingelassen zu sein. Eine Auflösung gibt es nur graduell, und diese besteht in der Konvergenz der Überzeugungsinhalte als Folge des diskursiven Austausches. Im interkulturellen Kontakt werden normative Überzeugungen zweifelhaft, die vorher unzweifelhaft erschienen. Dies zwingt zu einem tiefer ansetzenden Deliberationsprozess, der – idealiter – zur Konvergenz der normativen Überzeugungen führt. Der internationale Menschenrechtsdiskurs ist 10 Das zeigt nicht nur die feministische Position Platons, sondern auch die wenig überzeugende Begründung der Unterordnung der Frau und der Sklaven bei Aristoteles und die Kritik der Sklavenhaltung in der griechischen und römischen Stoa.

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dafür das prominenteste, und für mich jedenfalls beeindruckendste, Beispiel. Auch die wissenschaftliche Praxis des Experiments zur Hypothesenprüfung ist keine Kritik unserer lebensweltlichen Verständigungspraxis, sondern setzt diese voraus, setzt diese fort und wirkt auf diese zurück. Es gibt nur wenige, die wegen dieser lebensweltlichen Anbindung unserer wissenschaftlichen Verständigungspraxis zu Relativisten werden. Trotz einiger Ansätze in diese Richtung (Sapir-Whorf-These) hat sich eine kultur-relativistische Interpretation naturwissenschaftlicher Theoriebildung – aus guten Gründen – nicht durchsetzen können. Ich sehe nicht, dass es einen kategorialen Unterschied zu den normativen Diskursen gibt. Beide sind inklusiv, in beiden Bereichen gibt es das Phänomen der Konvergenz und das rechtfertigt das, was ich als epistemischen Optimismus bezeichnet habe, der es erlaubt, trotz der Einbettung wissenschaftlicher und philosophischer Begründung in die lebensweltliche Verständigungspraxis an einer realistischen und universalistischen Perspektive, an der regulativen Idee der Entdeckung und nicht der Erfindung, festzuhalten.

4. Kollektivismus Wir können Gründe oder, allgemeiner gesprochen, die Inferenzen unserer lebensweltlichen Verständigungspraxis nicht neu erfinden. Was im Einzelfall ein guter Grund für eine Proposition ist, kann umstritten sein, aber die allgemeine Praxis des Gründe-Gebens und Gründe-Nehmens ist ein interaktiver, ein kultureller, man könnte auch sagen ein kollektiver Prozess. Aber jede Person hat ihre je individuellen Gründe für ihre Überzeugungen, für ihre Handlungen, für einen Gutteil ihrer emotiven Einstellungen.11 Diese kollektive Verfasstheit der Praxis des GründeGebens und Gründe-Nehmens ist also mit einem Individualismus der spezifischen, ja Personen-konstitutiven Gründe, vereinbar. Wir sind Sozial- und Individualwesen zugleich. Da sehe ich keinen Dissens zu von der Pfordten (2007). Dietmar von der Pfordten äußert selbst gewisse Zweifel, ob die Charakterisierung meiner meta-ethischen Position als „konventionalistisch“ wirklich gerechtfertigt ist. Diese Zweifel sind berechtigt. Ich stimme von der Pfordten zu, dass eine konventionalistische Position, die funda11 In Nida-Rümelin (2011) argumentiere ich, dass es sogar die Identität der Person ausmacht, über eigene Gründe zu verfügen.

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mentalistische, positivistische, relativistische und kollektivistische Implikationen hat, unplausibel wäre. Das, was ich zum Thema ethische Begründung vorgebracht habe, hat diese Implikationen nicht.

Erwiderung auf Stefan Gosepath Wenn ich es recht sehe, gibt es nur einen wesentlichen Dissens, dieser hat es allerdings in sich. Bevor ich auf diesen eingehe und meine Position erläutere, möchte ich ein mögliches Missverständnis ausräumen. Es betrifft die Konzeption struktureller Rationalität.

1. Kohärentismus Stefan Gosepath stellt zu Recht fest, dass diese Konzeption struktureller Rationalität eine spezifische Ausformung kohärentistischer praktischer Philosophie ist. Unter „Kohärentismus“ wird allerdings sehr unterschiedliches verstanden. Meine eigene Auffassung liegt mit den meisten Theorien, die als kohärentistisch bezeichnet werden, über Kreuz. Die kohärentistische Philosophie war historisch zumeist im weitesten Sinne idealistisch. Ich bin jedoch nicht nur im Bereich der theoretischen, sondern auch der praktischen Philosophie Realist, anders als Habermas, der seinen Realismus auf den theoretischen Bereich beschränkt (Habermas 1999). Ob ein naturwissenschaftlicher oder ein moralischer Sachverhalt besteht oder nicht, ist nicht relativ zu epistemischen Situationen. Jeder epistemische Wahrheitsbegriff ist inadäquat, unabhängig von den Kriterien der (epistemischen) Geltung. Auch der ideale rationale Konsens konstituiert keine Wahrheit. Irrtum ist auch unter idealen epistemischen Bedingungen möglich (Nida-Rümelin 2001a). Dieser Realismus versteht sich selbst nicht als eine Theorie mit eigenem Geltungsanspruch, sondern lediglich als eine Feststellung über unsere tatsächliche Verständigungspraxis. Die Form praktischer Diskurse, anders formuliert, die Logik der Moralsprache, erlaubt entgegen der emotivistischen und expressivistischen, jedenfalls subjektivistischen Hauptströmung der analytischen Philosophie, nur eine realistische Interpretation. Spät hat dies auch ein führender Vertreter der analytischen Philosophie der ethische Subjektivist John Mackie eingesehen und aus metaphysischen Gründen (argument from queerness und argument from relativity) am ethischen Subjektivismus festgehalten (Mackie 1977). Dies kann man durchaus als eine kopernikanische Wende der analytischen Metaethik bezeichnen, da die vorausgegangenen Theoretiker von Ayer und Ste-

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vensen bis zu Gibbard und Hare jeweils die These vertraten, dass die Grammatik oder die Logik der Moralsprache einen ethischen Subjektivismus nahelege. Der ethische Realismus der achtziger Jahre (Railton, Werner, Boyd, Brink, Schaber et cetera) kann sich daher auf die Praxis der ethischen Diskurse und der alltäglichen moralischen Verständigung stützen, während der ethische Subjektivismus zu einem Quasi-Realismus abgeschwächt wird (Williams, Blackburn) oder sich wissenschaftstheoretisch abzusichern sucht. In diesem Fall wird die hochentwickelte konsensstiftende und kulturübergreifende Rationalität der (natur-) wissenschaftlichen Theoriebildung den Vagheiten, Widersprüchlichkeiten, Kultur- und Gemeinschaftsabhängigkeiten des moralischen Diskurses gegenübergestellt. Eine realistische (objektivistische) Interpretation sei daher für empirische Überzeugungen naheliegend, für moralische verbiete sie sich. Damit werden jedoch Äpfel mit Birnen verglichen werden. Wenn man im Bereich der Lebenswelt bleibt, sind die Argumentationsformen und Gewissheitsgrade im normativen und im deskriptiven Bereich des Urteilens vergleichbar und beide sind von einem robusten Realismus geprägt, während die wissenschaftliche Theoriebildung, gerade die physikalische, eine realistische Interpretation keineswegs nahelegt und die Unsicherheiten, Widersprüchlichkeiten und ParadigmenAbhängigkeiten sich in weiten Bereich der Natur- und Sozialwissenschaft nicht von denen der ethischen Theoriebildung unterscheiden. Ich will aber gerne hinzufügen, dass ich die Situation in der theoretischen Ethik durchaus als Indiz einer Krise der Disziplin ansehe, vergleichbar mit der Situation in der Kosmologie oder der Soziologie. Ein rationaler wissenschaftlicher Diskurs zeichnet sich durch deutliche Erkenntnisfortschritte und Konvergenz über die Zeit aus (Nida-Rümelin 2006). Der robuste Realismus unserer lebensweltlichen Verständigungspraxis ist für uns als Teilnehmer unhintergehbar. Es bedarf keiner ontologischen Theorie, um diesen Realismus zu rechtfertigen. Wer diesen lebensweltlichen Realismus mit philosophischen Argumenten zu widerlegen sucht, entfernt sich aus der Verständigungsgemeinschaft und treibt die Philosophie in eine splendid isolation. Ich bin fest davon überzeugt, dass die zahlreichen anti-realistischen, idealistischen, solipsistischen und nihilistischen Theorien philosophischer Provenienz nicht ernst gemeint waren, da sich ihre Proponenten diese nicht wirklich, das heißt mit all ihren Implikationen für ihre alltägliche Praxis, zu eigen gemacht haben. In diesem weitesten Sinne ist der Realismus für den ich plädiere lebensweltlich oder „pragmatisch“ begründet. Wenn hier von „Kohärenz“ gesprochen wird, dann in dem Sinne, dass unsere wissenschaftliche

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Theoriebildung mit unserer lebensweltlichen und beide wiederum mit der menschlichen Praxis zusammenhängen, nicht unabhängig sind und sich an dieser bewähren müssen. Mein epistemischer Kohärentismus ist also keine Theorie der Begründung, die von außen (von der Philosophie) an die Praxis der (normativen und deskriptiven) Verständigung herangetragen wird. Er rechtfertigt oder widerlegt nichts. Ich halte auch alle Versuche kohärentistische Begründungskriterien zu entwickeln (wie es etwa Bonjour versucht hat) von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die Formen des Begründens sind zu komplex und zu vielfältig, um sich in dieser Weise systematisieren zu lassen. Am erfolgversprechendsten scheint mir der Ansatz Bayesianischer Erkenntnistheorie zu sein, welche die verschiedenen Gründe, aus denen heraus wir zu subjektiven Wahrscheinlichkeiten kommen, offen lässt, aber gewisse (kohärentistische) Kriterien entwickelt, wie subjektive Wahrscheinlichkeiten sich im Lichte neuer Befunde rational verändern (sollten). Rational belief dynamics ersetzt nicht die in den einzelnen Wissenschaften, in der Philosophie, in den verschiedenen Bereichen unserer Lebenswelt etablierten Praktiken des Begründens, sondern entwickelt (äußerst) schwache Kriterien, die diese Praxis insgesamt wahrscheinlichkeitstheoretisch kohärent machen (Gärdenfors 1988). Eine völlig analoge Rolle spielt im Bereich der praktischen Rationalität die Entscheidungstheorie, vorausgesetzt man interpretiert ihre Postulate konsequent kohärentistisch und nicht konsequenzialistisch wie es in der Ökonomie üblich ist (Savage 1954). Transitivität der Präferenzen ist eine Kohärenzbedingung, ebenso Vollständigkeit oder – wenn Wahrscheinlichkeiten ins Spiel kommen – Monotonie und Stetigkeit. Was diese Präferenzen begründet, bleibt offen. Die Entscheidungstheorie setzt in dieser Interpretation lediglich einen schwachen kohärentistischen Rahmen, der Minimalbedingungen kohärenter Präferenzen und damit einer kohärenten Praxis absteckt. Mehr sollte man von ihr nicht erwarten. Es ist keine Theorie substanzieller Rationalität. In diesem Sinne ist Kohärenz gerade nicht eine Theorie der praktischen Begründung. Die Ausführungen bis hier dienten der Klarstellung, nicht der Zurückweisung einer Kritik. Ich hatte bei der Lektüre der Replik von Stefan Gosepath den Eindruck, dass sich möglicherweise hier ein Missverständnis eingeschlichen hat, jedenfalls, dass ich diesen Punkt – gewissermaßen als Nachtrag – gegenüber dem Text Vernunft und Freiheit deutlicher machen sollte. Der Dissens, auf den ich jetzt eingehen will, betrifft die Rolle von Gründen für die Handlungsmotivation. Gosepath

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meint, dass ich die Beweislast trüge, dass Gründe Handlungen motivieren könnten, und dass ich dieser Beweislast nicht gerecht geworden wäre. In der Tat scheint mir hier ein veritabler Paradigmen-Konflikt vorzuliegen. Und gerade so wie Thomas S. Kuhn solche Konflikte beschreibt, fällt es den Vertretern des einen Paradigmas schwer sich gegenüber den Vertretern des anderen Paradigmas verständlich zu machen. Ich will es dennoch versuchen.

2. Gründe und Motive Der Gegensatz zwischen unseren Auffassungen wird in einem Aufsatz Gosepaths Zum Ursprung der Normativitt besonders deutlich, der im vergangenen Jahr erschienen ist (Gosepath 2009). „Es ist nicht einzusehen, welchen Sinn die Rede von einer praktischen Notwendigkeit (dem normativen Sollen) haben sollte, wenn nicht den einer Sanktion im Falle von Nichtbefolgung“ (ebd., 252 f.). Das wird dann für die drei „Haupttypen von Normen“ ausgeführt: Vorschriften, Spielregeln, Klugheitsregeln. Das scheint mir abwegig zu sein. Zweifellos spielen Sanktionen eine wichtige Rolle, aber sie haben mit der Bedeutung von Handlungsgründen, mit der Bedeutung des normativen Sollens nichts zu tun. Ob eine Norm sanktioniert ist oder nicht, ist eine interessante empirische Frage, die über die Gültigkeit dieser Norm jedoch keineswegs entscheidet. Der Mörder hat auch dann gegen das normative Sollen verstoßen, wenn dieser Verstoß in keiner Weise sanktioniert war, man denke etwa an „Hitlers willige Vollstrecker“. In der Interpretation des normativen Sollens als einer je spezifisch bestimmten Sanktionsform scheint mir ein Art residualer Soziologismus wirksam zu sein, der für die Kritische Theorie lange Zeit charakteristisch war, wenn sich auch Jürgen Habermas selbst, davon entfernt hat. Die dritte Generation scheint hier zu den Ursprüngen zurückzukehren. Erst in der Neuzeit etabliert sich ein Paradigma, wonach Gründe das eine und Motive das andere seien: Dass man zwar Gründe haben mag, etwas zu tun, aber kein Motiv es zu tun. Dies ist eine Reaktion auf die in der frühen Neuzeit aufkommende egoistische Anthropologie, die bei Machiavelli in groben Zügen und in allen Details bei Thomas Hobbes entwickelt ist. Demnach gibt es nur ein natürliches Motiv und das ist das Eigeninteresse. Damit kommt ein Begriff in die Welt, den es im normativen Denken Europas in den Jahrhunderten zuvor so nicht gegeben hat (es liegt auf der Hand, dass die Rede von eudaimonia in der Antike und

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im Mittelalter etwas völlig anderes ist). Diese Rede vom Eigeninteresse hat sich so tief in den Einzelwissenschaften, zumal der Ökonomie und in weiten Bereichen der Sozialwissenschaften und der Biologie, aber auch im Alltag etabliert, dass man dem damit verbundenen Paradigma normativen Argumentierens nur schwer entgehen kann. In der Tat habe ich über viele Jahre, vor allem mit entscheidungstheoretischen Mitteln versucht deutlich zu machen, dass eine Motivationstheorie, die das Eigeninteresse zugrunde legt, sich gerade dann, wenn man sie konsequent zu Ende denkt, in Dilemmata und Paradoxa heillos verstrickt. Folglich wäre das natürliche Handlungsmotiv das Eigeninteresse. Alle anderen Handlungsmotive werfen Probleme auf. In paradoxer Zuspitzung präsentiert dies der zeitgenössische Präferenz-Utilitarismus. Demnach äußern sich die Präferenzen in den jeweiligen Handlungswahlen (personal preferences) (Nida-Rümelin 2005, 110 – 136) und die ethischen Präferenzen fordern dann die gleiche Berücksichtigung dieser persönlichen Präferenzen. Dies hat zur Folge, dass man der moralisch agierenden Person gar keine persönlichen Präferenzen mehr zuschreiben kann, wenn sie sich in ihrer Praxis an diesem utilitaristischen Kriterium orientiert. In einer Gesellschaft moralischer Akteure gäbe es nichts mehr zu aggregieren – mit dem paradoxen Ergebnis, dass das Ergebnis dieser ethischen Theorie in einer Welt moralischer Akteure nicht mehr befolgbar ist. In einer Welt, in der alle ihrem Eigeninteresse folgen, lässt sich dagegen genau sagen, was die utilitaristische Theorie fordert, sie würde aber nicht befolgt, sie wäre praktisch irrelevant. Gründe sind normativ. Ihr Inhalt ist, von was wir überzeugt sein sollten bzw. wie wir handeln sollten. Dieses „Wir“ ist keineswegs so gemeint, dass es etwa ein Kriterium gäbe, das für alle die gleichen normativen Vorgaben macht. Wir können völlig offen lassen, was den Inhalt dieser Gründe angeht, in jedem Falle spricht ein Grund für etwas, für eine Überzeugung oder für eine Handlung. Wenn ich mir einen Grund zu eigen mache, bin ich überzeugt, dass etwas (entsprechend dem Inhalt dieses Grundes) für eine Handlung spricht. Diese normative Überzeugung äußert sich dann, wenn keine anderen Gründe dagegen sprechen, die ich mir zu eigen machen kann, darin, dass ich das betreffende tue. Was sollte sonst die Rede vom normativen Gehalt eigentlich bedeuten? Wenn ich einen Grund habe dafür, dass es in Deutschland keine giftigen Spinnen gibt (zum Beispiel die Auskunft eines wohlfundierten Handbuchs der Spinnenforschung), dann habe ich diese Überzeugung. Eine Person, die sich einen Grund zu eigen macht, für die Überzeugung, dass es in Deutschland keine giftigen Spinnen gibt, die sich zudem keine entge-

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genstehenden Gründe zu eigen macht (vielleicht bestimmte Auskünfte in Wikipedia) und die dennoch davon überzeugt ist, dass es in Deutschland giftige Spinnen gibt, ist offenkundig irrational. Sie stellt uns vor ein Rätsel. Wenn sie uns öfter vor solche Rätsel stellt, dann werden wir uns Sorgen um ihren Geisteszustand machen. Unter Normalbedingungen heißt gute Gründe zu haben, p zu glauben. Unter Normalbedingungen heißt gute Gründe zu haben, h zu tun. Gründe sind normativ unabhängig davon, ob sie sich auf Überzeugungen, Handlungen oder Emotionen beziehen. Diese Normativität äußert sich darin, dass sie unsere Überzeugungen, Handlungen anleiten. Wer dies bestreitet, muss mir erläutern, was er dann unter Normativität versteht. Oder er muss die These vertreten, dass Gründe nicht normativ seien. In beiden Fällen befindet er sich nicht im Einklang mit unserer Praxis der Verständigung und sofern er an dieser Praxis teilhat, befindet er sich nicht im Einklang mit seiner eigenen Praxis. Wenn mich jemand bittet, etwas zu tun, dann habe ich einen prima facie Grund dies zu tun. Es mag sein, dass andere Gründe dagegen sprechen dieser Bitte zu folgen. Wenn ich dieser Bitte folge und gefragt werde, warum ich dieser Bitte gefolgt bin, ist die Antwort „Weil ich gebeten worden bin“ ausreichend. Niemand wird auf die Idee kommen, dann zu fragen: „Na gut. Ich wusste ja, dass Du darum gebeten worden bist. Aber was war Dein eigentliches Motiv?“ Es bedarf keines eigentlichen Motives. Das Motiv war einer Bitte zu folgen. Besser formuliert: Eine ausgesprochene Bitte konstituiert einen Grund etwas zu tun. Wem Gründe nicht reichen, wer jeweils fordert, dass zusätzlich ein Motiv genannt wird, der behauptet implizit, dass es nur einen Typus von Gründen gibt, die legitimerweise motivieren, während alle übrigen keine motivationale Kraft haben. Dies widerspricht aller Empirie und erlegt schon deswegen die Beweislast auf. Was unterscheidet Gründe, die legitimierweise motivieren, von solchen, die das nicht tun?12 12 In dem berühmten Aufsatz Thomas Scanlons Utilitarianism and Contractualism (1982) vertat dieser wie die allermeisten praktischen Philosophen der Moderne,spätestens seit Immanuel Kant die Trennungsthese von Gründen und Motiven. Mir schien das damals ganz abwegig zu sein und ich habe mich gefreut, dann viele Jahre später festzustellen, dass Scanlon seine Auffassung revidiert hat (Scanlon 1998) und sich einem Verständnis von Gründen angenähert hat, das dem meinigen recht nahe ist. Thomas Nagel hat dagegen schon immer die Auffassung vertreten, dass Gründe, die man sich zu eigen macht, unmittelbar motivieren, (Nagel 1971).

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Ich vermeide an dieser Stelle bewusst die Ausdrücke „Internalismus“ und „Externalismus“, da die Auseinandersetzung um diese Begriffe eher in die Irre führt. Es geht um ein Verständnis von Gründen. Sich einen Grund zu eigen machen, heißt überzeugt zu sein, dass A für B spricht (B können Überzeugungen, Handlungen, Einstellungen – eine besondere Art von Emotionen sein). Sich den Grund A zu eigen machen, heißt also für eine rationale Person B eine Handlung vollziehen, eine Überzeugung, eine Einstellung zu haben. Wenn das nicht der Fall ist, liegt die eine oder andere Form von Irrationalität vor. Akrasia gehört zu diesen Formen und ich habe dazu eine Interpretation im Rahmen der Konzeption struktureller Rationalität entwickelt, die den üblichen Paradoxa der Willensschwäche nicht ausgesetzt ist (Nida-Rümelin 2001b, Kapitel 8). Ich fürchte, dass sich vielmehr dazu gar nicht sagen lässt. Ich könnte mit Wittgenstein sagen „Denk nicht, sondern schau“: Schau auf die lebensweltliche Praxis des Gründegebens und Gründenehmens, die Verwobenheit unseres Handelns und unserer Deliberation (im Sinne der Abwägung von Gründen) und löse Dich von einer philosophischen Verhexung des Verstandes, deren Wirkung allerdings beachtlich ist, von der Ökonomie, der Sozialwissenschaft, der Sozio-Biologie und Ethologie bis zur Selbstinterpretation von Philosophie-Studenten im ersten Semester wie Umfragen in den USA zeigen.13 Das eigentliche Problem besteht in meinen Augen nicht in der fehlenden motivationalen Kraft von (Handlungs-) Gründen, sondern im Status der Gründe. Gründe sind offenkundig nichts Materielles. Sie äußern sich in Handlungen und dieses wiederum hat einen Verhaltensaspekt, die Identifikation von raum-zeitlichen Vorgängen (Verhalten) mit Gründen wäre aber offenkundig abwegig. Sie sind nichts Psychisches, auch wenn das Zu-eigen-Machen eines Grundes etwas Mentales ist. Gründe sind jedenfalls dann nichts Mentales, wenn man die Psychologismuskritik eines Gottlob Freges oder Edmund Husserls in der Logik akzeptiert (und das scheint mir zwingend zu sein). Gründe haben eine logische Form, ja man kann durchaus mit dem analytischen Kantianer Sellars und den analytischen Hegelianern Brandom und McDowell sagen, Gründe spannen einen logischen Raum auf. Das kausale Wirken von Gründen über das Phänomen des Sich-Zu-eigen-Machens eines Grundes 13 Demnach ist die ganz überwiegende Mehrheit der Studienanfänger von einer egoistischen Anthropologie und einer subjektivistischen Metaethik überzeugt, beides steht allerdings im auffallenden Kontrast zur eigenen Verständigungspraxis.

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lässt die menschliche Praxis, soweit sie von Gründen geleitet ist, nicht nur kausal, sondern auch logisch bestimmt erscheinen. Die kausale Relevanz der Gründe lässt sich schon deswegen nicht in die naturwissenschaftliche Beschreibungsform integrieren, weil Gründe nicht zu ihren Gegenständen gehören. Sofern die naturwissenschaftlich beschreibbaren Kausalzusammenhänge eine algorithmische Form haben, können Gründe schon wegen ihrer Nicht-Berechenbarkeit nicht integriert werden. Die Zeilen eines prädikatlogischen Beweises lassen sich nicht von einer Turing-Maschine produzieren. Das stellt die kausale Geschlossenheit, der materiellen, der physischen Welt infrage. Dies beunruhigt mich nicht sonderlich, da ich die These von der kausalen Geschlossenheit der physischen Welt für reine Metaphysik halte, die mit der naturwissenschaftlichen Praxis nicht gerechtfertigt werden kann. Auch wenn wir nicht in einer kausal geschlossenen physischen Welt leben, könnte in den Naturwissenschaften alles so bleiben, wie es ist (Nida-Rümelin 2009). Mich beunruhigt vielmehr, dass uns diese Einsicht in Richtung Platonismus zu treiben scheint und das hätte ich gerne vermieden.14

14 Ein interessantes und sehr eigenwilliges Plädoyer für eine platonistische Sichtweise bietet Blau (2008).

Erwiderung auf Dieter Sturma Über weite Strecken gibt es keinen Dissens zwischen Dieter Sturma und mir. Das gilt nicht nur für die Texte, die hier zur Diskussion stehen, sondern auch für andere Beiträge zur Philosophie des Geistes, speziell zur Freiheitsthematik. Das zeigt sich in gewisser Hinsicht auch an den Referenzen, die Verweise auf nahestehende philosophische Positionen. Auch wenn Sturma ganz anderer philosophischer Provenienz ist als ich, stehen beide philosophische Auffassungen einer Tradition nahe, die man in der zeitgenössischen analytischen Philosophie als Sellars-Schule charakterisiert. Die Sellars-Schule unterscheidet sich von den allermeisten anderen philosophischen Richtungen der analytischen Philosophie in ihrem Non-Naturalismus und ihrer Nähe zu Kantischen Auffassungen. Wilfrid Sellars hat, weniger in seinen Schriften, mehr noch in der an seinen Schülern ablesbaren Wirksamkeit seiner Lehre zu einem sehr frühen Zeitpunkt eine Kantische Wende der analytischen Philosophie befürwortet und vorexerziert. Einen Teil seiner Schüler, wie etwa John McDowell oder Robert Brandom, kann man durchaus als analytische Idealisten bezeichnen. Alte Motive der klassischen deutschen Philosophie und des deutschen Idealismus werden in epistemologischer und sprachphilosophischer Fassung reformuliert. Für mich sollte man P.H. Grice, selbstverständlich auch Raimo Tuomela, in dieser Traditionslinie sehen. Der Non-Naturalismus äußert sich in einer anti-reduktionistischen Position bezüglich mentaler und speziell intentionaler Erlebnisse, Ergebnisse, Prozesse. Bei Grice, ebenso bei mir, wendet sich dieser Anti-Reduktionismus auch gegen den in der analytischen Philosophie dominierenden Lingualismus (vgl. Nida-Rümelin 2009, Teil II). Bei McDowell und Brandom ist es die Autonomie des Raums der Gründe, der den Kern der anti-reduktionistischen Position ausmacht. In diesen größeren Kontext sollte man die Naturalismus-Thematik stellen. Ansgar Beckermann hat kürzlich dafür plädiert den Naturalismus zum Wesenskern der analytischen Philosophie zu erklären. Er hat insofern recht, als der allergrößte Teil derjenigen Philosophinnen und Philosophen, die sich der analytischen Philosophie zugehörig fühlen, Naturalisten sind. Er hat in meinen Augen unrecht, wenn er all diejenigen aus der analytischen Philosophie exkommunizieren möchte, die Nonoder Anti-Naturalisten sind. Das halte ich für unangemessen, es entspricht

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nicht der philosophischen Diskurslage. Thomas Nagel oder David Chalmers wären demnach keine analytischen Philosophen. Bislang ist noch jede Charakterisierung dieser fruchtbarsten philosophischen Strömung der letzten Jahrzehnte über inhaltliche Positionen gescheitert. Man kann es auch polemischer formulieren: Jeder dieser Versuche steht unter Ideologieverdacht. Ob eine naturalistische oder nicht-naturalistische Position die philosophisch angemessenere ist, muss sich erweisen und zu seiner Klärung können Methoden und Diskursformen der analytischen Philosophie beitragen.15 An dieser Stelle nun gehen die Meinungen auseinander, möglicherweise gar nicht so sehr inhaltlich als terminologisch und dann könnte man diesen Dissens auf sich beruhen lassen. Der weiche Naturalismus von Jürgen Habermas oder Dieter Sturma16 ist mir durchaus sympathisch, aber ich fürchte, dass er die philosophische Problematik verunklart und letztlich mit den Intentionen der Autoren selbst gar nicht in Einklang zu bringen ist. Ich will an dieser Stelle nicht wiederholen, was ich in meiner Replik auf Volker Gerhardt ausführe, der einen dezidierten Naturalismus vertritt, aber offensichtlich auf der Basis eines Natur-Begriffes, der nicht der der heutigen Naturwissenschaften ist. Ich konzentriere mich auf die Rolle, die für den weichen Naturalismus, das was Dieter Sturma als „integrativen Naturalismus“ bezeichnet, die Freiheits-Thematik spielt. Sturma charakterisiert Freiheit ganz ähnlich wie ich über die Wirksamkeit von Gründen beziehungsweise – dieser Unterschied ist für eine objektivistische Theorie der Gründe wesentlich – über das Phänomen der Affektion durch Gründe. Auch wenn Gründe einen logischen Raum aufspannen, so werden sie doch kausal wirksam in der Welt menschlichen Handelns, die mit der physischen Welt verbunden ist, über Affektion, über das Sich-zu-eigen-Machen, also über einen mentalen Vorgang. Der weiche Naturalismus meint nun, dass dieses Phänomen der Wirksamkeit von Gründen problemlos in ein naturwissenschaftliches Weltbild integrierbar sei. An dieser Stelle ist ein – durchaus auch persönlich gefärbter – Einschub erforderlich, um Missverständnisse auszuschließen. Ich habe Physik 15 Mir persönlich ist übrigens die Schublade herzlich egal, in welche ich gesteckt werde. Ich will nur darauf hinweisen, dass man sich von der Form nicht täuschen lassen sollte. Ich habe früher gelegentlich ausgiebig auf formale Darstellungsmittel zurückgegriffen und tue das heute nur noch sparsam. An meinen inhaltlichen Positionen hat sich jedoch wenig verändert. Allenfalls ist meine Skepsis gegenüber philosophischer Theoriebastelei gestiegen. 16 Neben seiner Kritik in diesem Band vor allem auch in Sturma (2008).

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nicht als Verlegenheitsfach studiert, sondern im Gegenteil aus Faszination für die Naturwissenschaft, speziell für deren grundlegendste Disziplin. Diese Faszination ist bis heute ungebrochen. Ich empfinde bis heute Philosophie und Physik als verwandte Disziplinen. Beide sind abstrakt, sie traktieren hoch komplexe Gegenstände, Faktenwissen spielt eine untergeordnete Rolle und die Ansprüche an logisches Denken sind besonders hoch. Gerade weil ich das physikalische Denken kenne und schätze, bin ich skeptisch gegenüber Vereinnahmungsversuchen. Die klarste Form des Naturalismus ist reduktionistisch, demnach sind alle relevanten empirischen Sachverhalte im Prinzip – das heißt, wenn die epistemischen Beschränkungen aufgehoben wären – mit den Mitteln der Physik vollständig zu erfassen. Die Welt besteht aus physikalisch beschreibbaren Gegenständen (Dieter Sturma spricht hier von der Mikrowelt, der er die Makrowelt menschlichen Handelns gegenüberstellt) und alles was es zu beschreiben und zu erklären gibt, lässt sich auf diese Gegenstände (Elementarteilchen, Atome, Moleküle) zurückführen. Dieser harte physikalistische Naturalismus hatte seine klarste Gestalt in den Hochzeiten der klassischen Physik: Demnach bestand die Welt aus Masseteilchen zwischen denen zunächst zwei, die elektro-magnetischen und die Gravitationskräfte, wirkten und schließlich – nachdem der Magnetismus über die spezielle Relativitätstheorie redundant geworden war – vier, die elektrostatische, die Gravitations-, die schwache und die starke Kernwechselwirkung. Die Welt ist ein großes System von Massepunkten, die durch Anstoßungs- und Abstoßungskräfte in Bewegung gehalten werden. Die philosophische Ontologie der antiken Atomisten schien von der neuzeitlichen Physik bestätigt zu sein. Nicht nur in der Philosophie, sondern auch in anderen Naturwissenschaften als in der Physik, ist ein simplizistisches Bild physikalischer Theorien weitverbreitet. Natürlich ist bekannt, dass sich seit der Zeit der klassischen Physik einiges geändert hat, vieles komplizierter geworden ist, aber dies betrifft – vermeintlich – nicht den Kern. Es wird behauptet, dass indeterministische Vorgänge der Quantenphysik sich auf den Mikrokosmos beschränken lassen und auf den Makrokosmos nicht durchschlagen (das entspricht nicht dem aktuellen Stand der Forschung). Der physikalische Kausalitätsbegriff sei eindeutig und lege einen physikalischen Zustand aufgrund eines vorausgegangenen physikalischen Zustandes und den wirkenden physikalischen Gesetzen klar fest (das ist nicht der Stand der zeitgenössischen physikalischen Forschung, ja das ist nicht einmal für die klassische Physik zutreffend, wegen des Phänomens der Singularitäten). Es sei offensichtlich, dass sich andere naturwissenschaft-

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liche Disziplinen, beziehungsweise deren Theorien und Gesetzmäßigkeiten auf die physikalischen Theorien und Gesetzmäßigkeiten (Beschreibungsformen) im Prinzip – wenn es denn keine epistemische Beschränkung gäbe – reduzieren ließen (das ist keineswegs der Stand der aktuellen naturwissenschaftlichen Forschung). Wer sagt, er sei Naturalist, muss angeben in welchem Sinne. Die klarste Form des Naturalismus ist der Physikalismus. Er behauptet, dass alle Sachverhalte letztlich physikalische Sachverhalte sind und alle Ereignisse sich (kausal) physikalisch (mit den Mitteln der Physik) erklären lassen. Der Physikalismus ist selbst innerhalb der Naturwissenschaften spekulativ, man könnte schärfer sagen, reine Metaphysik, ohne empirische Fundierung. Am besten sieht es noch aus im Bereich der anorganischen Chemie. Schon im Bereich der organischen Chemie steht es seit Jahrzehnten schlecht um das physikalistische Reduktionsprogramm. Die Philosophie kann zu dieser Frage zunächst einmal wenig sagen. Es handelt sich um das Verhältnis unterschiedlicher naturwissenschaftlicher Theorien zueinander. Nach dem heutigen Stand der Wissenschaft sieht es so aus, dass der physikalistische Reduktionismus schon viel früher, nicht erst bei mentalen Phänomenen scheitert. Wohlgemerkt, prinzipiell scheitert, nicht wegen bestimmter epistemischer Beschränkungen. Sturma (auch Habermas oder Gerhardt) vertreten explizit keinen harten, keinen physikalistischen Naturalismus. Dann aber ist weniger klar, was sie eigentlich vertreten. Ist es ein Materialismus, wonach alle Gegenstände der Welt letztlich materielle seien? Ist es die These der kausalen Geschlossenheit des Universums, wobei kausal im Sinne physikalischer Kausalität gedeutet wird? Bei Sturma, auch bei Habermas scheint es das Vertrauen in eine spezifische, nämlich naturwissenschaftliche Beschreibungs- und Erklärungsform zu sein, in der – prinzipiell – alle Sachverhalte (oder Ereignisse), die die Welt ausmachen, beschreibbar und erklärbar sein sollen. Bei Gerhardt geht es offenbar eher um eine wünschenswerte, heute noch nicht realisierte Naturwissenschaft der Zukunft, für die die Einheit der Natur so verstanden wird, dass darunter auch intentionale Phänomene fallen. Hier berührt sich Gerhardt mit Gehlen, Jonas, Spaemann.17 Um die Unschärfe klar zu machen, folgendes Beispiel: Sollen wir die Ethologie zur Naturwissenschaft zählen? Das ist eigentlich 17 Man kann das als Rückgriff auf einen aristotelischen, das Teleologische umfassenden, Naturbegriff charakterisieren. Bei Jonas (2003) ist das ganz explizit. Spaemann/Löw (1981) lehnen sich stärker an katholische und speziell thomistische Naturphilosophien an.

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selbstverständlich. Die heutige Ethologie anders als die behaviouristische, die bis in die sechziger, ja bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein, die Forschung dominierte, kommt jedoch ohne Zuschreibung von mentalen Eigenschaften, Wünschen und Intentionen, Überzeugungen, Wissen und Bewusstsein nicht mehr aus. Sie diskutiert Phänomene wie Meta-Kognition, also die Frage, welche Spezies Tier in welchem Umfange Bewusstsein des eigenen Wissens hat, oder ob und in welchem Umfange Tiere sich wechselseitig mentale Zustände zuschreiben et cetera (Metcalfe/Terrace 2005; Fujita/Itakura 2006). Auch einen Gutteil der Psychologie kann man im weitesten Sinne als eine Naturwissenschaft charakterisieren. Wenn der weiche Naturalismus lediglich besagen soll, dass die Entwicklung naturwissenschaftlicher Disziplinen offen ist, dass kein Gegenstandsbereich sich – prinzipiell – der naturwissenschaftlichen Analyse, der naturwissenschaftlichen Beschreibung und Erklärung entzieht, dann lasse ich mich selbst gerne unter diesen weichen Naturalismus subsumieren. Füge allerdings hinzu: Es ist dann nicht mehr klar, was Naturwissenschaft von Geistes- und Sozialwissenschaft unterscheidet. Die Naturwissenschaft entscheidet darüber, was existiert, postuliert der integrative Naturalismus Sturmas. Existieren Gedichte? Ich meine nicht die Ansammlung von Bleimolekülen, die ein altmodischer Autor auf einem Papier hinterlässt, sondern das Gedicht, für das das Medium irrelevant ist, in dem es festgehalten wird. Wenn Gedichte existieren und wenn die Naturwissenschaft darüber entscheidet, ob etwas existiert, dann müsste die Naturwissenschaft über Kriterien verfügen, die festlegen, ob eine Ansammlung von Bleimolekülen auf einem Papier ein Gedicht darstellt. Die heutige Naturwissenschaft verfügt über solche Kriterien nicht und ich kann mir auch keine zukünftige vorstellen, die über solche Kriterien verfügen könnte. Die Überführung eines Gegenstandes der Geisteswissenschaften in einen Gegenstand der Naturwissenschaft verändert den ontologischen (sic) Charakter dieses Gegenstandes. Was für die Geisteswissenschaft die handschriftliche Hinterlassenschaft eines Gedichtes ist, ist für die Naturwissenschaft eine Ansammlung von Bleimolekülen in einer naturwissenschaftlich nicht weiter erklärbaren, topologischen Struktur auf einem Blatt Papier. Nehmen wir an, auch der weiche Naturalist akzeptiert die Theorie des naturalistischen Fehlschlusses in irgendeiner seiner Versionen. Für jede normative Proposition gilt dann: Es gibt keine empirische Proposition, die mit dieser identisch ist. Wenn wir als Bestimmungsmerkmal

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von Naturwissenschaft festhalten, dass sie ausschließlich empirische Disziplinen umfasst, dann können normative Propositionen – die These des naturalistischen Fehlschlusses vorausgesetzt – nicht Gegenstand der Naturwissenschaft sein. Wenn die Naturwissenschaft alles beschreibt, was der Fall ist, dann legt uns auch der weiche Naturalismus auf irgendeine Variante des ethischen Subjektivismus zum Beispiel den Emotivismus fest. Nicht zufällig war dies die fast schon dogmatisch verfestigte Position der analytischen Philosophie nach George Edward Moores Principia Ethica (1903) und vor John Rawls’ Theory of Justice (1971). Ein Indiz dafür, dass der Naturalismus explizit und implizit während dieser sechzig bis siebzig Jahre die verschiedenen Strömungen der analytischen Philosophie tatsächlich einte. Dies scheint mir überhaupt der Lakmustest für eine naturalistische Position zu sein: Wie halten wir es mit der Ethik? Wer in der Tradition des analytischen Kantianismus die Eigenständigkeit des Raums der Gründe betont, wie Dieter Sturma, kann nicht über die Tatsache hinweg sehen, dass Gründe – theoretische wie praktische – normativ sind. Gründe für Überzeugungen sind Gründe dafür, etwas für wahr zu halten. Diese Gründe sprechen für die betreffende Überzeugung. Die Person sollte sich diese Überzeugung zu eigen machen. Für praktische Gründe gilt ihre Normativität a fortiori. Es gibt einen – beliebten – Ausweg aus diesem Dilemma des Naturalismus: Diese Normativität sei übersetzbar in empirisch zugängliche Größen wie Präferenzen, die Praxis der Zustimmung und Ablehnung in einer kulturellen Gemeinschaft, die linguistisch beschreibbaren, sprachlichen Institutionen et cetera (vgl. Gosepath, in diesem Band). Aber auch hier bliebe die Problematik bestehen, nämlich wie diese empirischen Phänomene zu Gegenständen einer idealen Naturwissenschaft werden könnten (mein erstes Argument, aber wenigstens wäre der naturalistische Fehlschluss kein Einwand mehr gegen den Naturalismus). Für Dieter Sturma dürfte, wenn ich seine Beiträge zur normativen Ethik Revue passieren lassen, diese Strategie nicht attraktiv sein. Und schließlich kann ich auch Dieter Sturma die bitterste Medizin gegen jede Form von Naturalismus nicht ersparen: Wer Gründe für relevant hält (ja sogar für kausal relevant wie Dieter Sturma und ich) für das, was wir meinen, und das, was wir tun, der muss in irgendeiner Weise der Tatsache Rechnung tragen, dass jedenfalls die komplexeren, anspruchsvolleren Gründe nicht algorithmisch sind. Präziser: Die Zeilen eines Beweises im Kalkül des natürlichen Schließens zu einem Theorem der Prädikatenlogik erster Stufe lassen sich nicht durch eine Turing-Maschine produzieren. Das wissen wir schon seit Gödel, Church, Kleene, also seit den dreißiger

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Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Wenn das Ergebnis nicht-algorithmischer Begründungen kausal relevant ist, was ja Dieter Sturma in seiner Replik konzediert, dann haben wir ipso facto einen mit den Mitteln der Naturwissenschaften prinzipiell nicht erfassbaren Prozess (außer man fällt noch hinter Gottlob Freges und Edmund Husserls Psychologismuskritik in der Logik zurück), der kausal relevant ist. So sympathisch mir der Grundimpuls des weichen Naturalismus ist, nämlich keine neuen Dichotomien entstehen zu lassen und den Naturwissenschaften Respekt zu zollen, ich denke, dass er – ungewollt und seinen Protagonisten offenkundig nicht bewusst –, weit über dieses Ziel hinausschießt. Er entzieht den Geisteswissenschaften (ja auch einem Großteil der Sozialwissenschaften) ihren konstitutiven Gegenstandsbereich, weitet die Erklärungsansprüche der Naturwissenschaften weit über das hinaus, was das Gros der Naturwissenschaften selbst für sich in Anspruch nimmt, gerät in Konflikt mit wichtigen philosophischen Erkenntnissen der letzten 150 Jahre (Logizismus-Kritik, Theorie des naturalistischen Fehlschlusses) und mündet schließlich in ein diffuses Bild von Naturwissenschaft, das sich aus meiner Perspektive eher als eine Karikatur der Naturwissenschaften ausnimmt. Kurz: Ich bleibe bei meiner unbequemen und der weiteren Erläuterung bedürftigen These von der naturalistischen Unterbestimmtheit von Grnden, die eine ultimative Grenze für die naturwissenschaftliche Beschreibungsform markiert (schon die Qualia-Debatte markiert eine solche Grenze, die aber ist diesem meta-theoretischen Bild vorgelagert), bin aber mit Dieter Sturma, Jürgen Habermas, John Searle und vielen anderen der Überzeugung, dass damit keinerlei Revisionsbedarf für die Naturwissenschaften selbst verbunden ist. Es gibt keine Erklärungslücke innerhalb der naturwissenschaftlichen Beschreibungsform, die durch diesen Befund markiert würde. In einem früheren Text Reduktionismus und Holismus habe ich dies detaillierter erörtert (Nida-Rümelin 2009). Dieses Konzept besagt, dass es irreduzible Gegenstandskonstitutionen der wissenschaftlichen Disziplinen gibt und das gilt schon innerhalb des naturwissenschaftlichen Spektrums. In der physikalischen Beschreibung und Erklärung lebender Organismen bleibt kein Rest, das heißt alle physikalischen Ereignisse und Sachverhalte, die diesen Organismus ausmachen, sind mit den Mitteln der Physik vollständig beschreibbar und erklärbar. In der biologischen Beschreibungsform jedoch gibt es neue, eben biologische Sachverhalte (Prozesse, Ereignisse), die mit den Mitteln der Biologie – prinzipiell – vollständig beschreibbar und erklärbar sind. Aus der Perspektive der Biologie ist die physikalische Beschreibungsform

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defizitär. Aus der Sicht der Physik ist die biologische Beschreibungsform unverständlich. Auch wenn es in der physikalischen Beschreibungsform des lebenden Organismus keinerlei Erklärungslücken gibt, ist die Funktionsweise dieses Organismus aus physikalischer Sicht ein Rätsel. Die Physik beschreibt die ihr zugänglichen Entitäten und Sachverhalte – prinzipiell – lückenlos. Die biologischen Eigenschaften und Gesetzmäßigkeiten spielen hier die Rolle von Randbedingungen, die nicht selbst zum Gegenstand der physikalischen Erklärung werden. In der ontologischen Redeweise könnte man von der physikalischen Unterbestimmtheit des Biologischen sprechen. Die Randbedingungen könnten so oder auch anders sein – erst die Biologie kann diese Fragen thematisieren und mit ihren begrifflichen und nomologischen Mitteln zu beantworten suchen. Analog dazu ist die naturalistische Unterbestimmtheit des kausalen Wirkens der Gründe von mir gemeint. So wie die Biologie keine Erklärungslücken für die Physik trotz ihrer Irreduzibilität heraufbeschwört, so beschwört die naturalistische Unterbestimmtheit der Gründe keine Erklärungslücken in den Naturwissenschaften herauf. Die Welt ist ein Ganzes. Sie zerfällt nicht in zwei Typen von Entitäten, res cogitantes und res extensae, aber diese Einheit wird nicht durch die physikalischen Gesetzmäßigkeiten des Mikrokosmos gestiftet. Die Welt als ganze ist komplex, sie erscheint uns nicht nur komplex. Die NichtReduzierbarkeit, speziell des Mentalen auf das physikalisch Beschreibbare, ist daher nicht lediglich Ausdruck unserer spezifischen, begrenzten epistemischen Möglichkeiten, sondern reflektiert selbst die Komplexität dieser Welt. Die zeitgenössische Physik ist in dieser Perspektive ein Bündnispartner. Sie hat sich, deutlicher als jede andere Naturwissenschaft, von naiven Vorstellungen kausaler Verursachung und Determination verabschiedet. Sie weiß um die fundamentalen Probleme unseres Kausalitätsverständnisses im Mikrokosmos. Sie ist sich der Nicht-Algorithmizität vieler Vorgänge bewusst. Sie hat das Projekt der Weltformel, wenn es denn je seriös vertreten wurde, längst aufgegeben. Die Physik ist intern durch Irreduzibilitäten geprägt und es ist nach Jahrzehnten intensiver Forschungsbemühungen nicht erkennbar, dass diese überwindbar sind. Die Physik ist geradezu die Musterwissenschaft dieser Komplexitätskonzeption einer Welt. Man sollte sie in ihrer heutigen Gestalt für das meta-theoretische Programm des Naturalismus nicht weiter in Anspruch nehmen. Vielleicht ist der zweite Einwand, den Dieter Sturma vorträgt, die beste Illustration für diese These. In der Tat: Ich habe das Problem des Selbstbewusstseins fast überall weiträumig umgangen. Das hat zum Teil

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damit zu tun, dass ich nicht in die Nachfolgeprobleme des Deutschen Idealismus hineingeraten wollte, die im Oeuvre Dieter Henrichs so beeindruckend präsent sind. Aber ich stimme Dieter Sturma zu: Ohne die Dimension des Selbstbewusstseins fehlt ein wichtiger, ja möglicherweise fundamentaler Baustein eines philosophisch angemessen Verständnisses menschlicher Freiheit. Immerhin habe ich im Anschluss an MacKay (1967) auf die anti-naturalistischen Implikationen hingewiesen, die Selbstreferenzialität beinhaltet. Ein Gehirn, das auf sich selbst Bezug nimmt, ist prinzipiell unterdeterminiert. Dies äußert sich in der Beschreibung darin, dass eine Proposition und zugleich ihre Negation wahr beziehungsweise falsch ist, wenn diese von dem Gehirn, auf das sich diese Proposition bezieht, epistemisch bewertet wird. Diese Redeweise von Gehirnen, die Absichten haben, epistemische Bewertungen vornehmen, nach Kohärenz streben et cetera, die sich insbesondere in der deutschen Neurowissenschaft, jedenfalls in populären Publikationen niedergeschlagen hat, ist natürlich streng genommen Unsinn. Das Gehirn im Sinne eines Gegenstandes der Neurophysiologie hat keine Intentionen, bewertet nicht, strebt nicht nach Kohärenz. Bewertung ist ein mentaler, kein physiologischer Vorgang. Von physiologischen Entitäten zu behaupten, sie bewerteten, ist ein Kategorienfehler. Ich bediene mich dieser Redeweise lediglich als Kurzform für: „Wenn eine Person Überzeugungen hat, die sich auf den neurophysiologischen Zustand ihres Gehirns beziehen“, aber Dieter Sturma hat völlig recht, ich habe diese Problematik des Selbstbewusstseins – bisher – kaum in die Konzeption menschlicher Freiheit integriert. Ich sollte das nachholen und ich bin sicher, dass ich aus den Schriften Dieter Sturmas zu dieser Thematik zahlreiche fruchtbare Anregungen beziehen kann.

Erwiderung auf Lutz Wingert Der Ausgangspunkt der Überlegungen von Wingert und mir zum Thema „Gründe“ ist der gleiche, anti-naturalistische. In den von Lutz Wingert zitierten Worten Wilfrid Sellars: „The essential point is that in characterizing an episode or a state as that of knowing, we are not giving an empirical description of that episode or state as that of knowing […]; we are placing it in the logical space of reasons, of justifying and being able to justify what one says“ (Sellars 1963/1991, 169). Zu den Gemeinsamkeiten zählt auch die Zurückweisung einer von David Hume inspirierten Trennung theoretischer und praktischer Gründe. Man muss nicht soweit gehen wie einige Neo-Pragmatisten, für die theoretische und praktische Gründe in eins fallen, um den Humeanischen Sonderstatus praktischer Gründe als bloße instrumentelle Relationen bei gegebenen Wünschen des jeweiligen Akteurs zurückzuweisen. In meinen Texten habe ich gelegentlich Sympathie für den Stoizismus erkennen lassen und zwar speziell bezogen auf die These, dass jede Präferenz und jede Entscheidung ein Urteil zum Ausdruck bringt (Nida-Rümelin 2001b, 7). Die Rede vom Raum der Gründe, die vor allem durch John McDowell in einem Teil der Kantianisch (und Hegelianisch) ausgerichteten analytischen Philosophie der Gegenwart Karriere gemacht hat, ist in ihrem anti-reduktionistischen (und anti-naturalistischen) Implikationen eindeutig und konfrontiert die naturalistische Philosophie, die nach wie vor unter Analytikern dominiert, mit einer ernsten Herausforderung: Wie lassen sich Gründe in eine naturalistische Beschreibung integrieren? Man kann die Psychologismuskritik von Gottlob Frege und Edmund Husserl als die These der Nicht-Übersetzbarkeit von (theoretischen) Gründen in ein mentalistisches Vokabular analytisch fassen. Wenn es nicht möglich ist, Sachverhalte, die durch Gründe konstituiert sind – etwa „die Überzeugung b ist gerechtfertigt“ oder „die Handlung a ist geboten“ oder „dieses Gefühl e ist nachvollziehbar“ et cetera –, als Sachverhalte aufzufassen, die an Stelle von normativen Prädikaten lediglich solche aufweisen, die mentale Eigenschaften denotieren, dann scheint die Brücke zu einer naturalistischen Umformulierung zu fehlen. Die Brücke bestünde in mentalen Prädikaten, die unter – impliziter – Voraussetzung einer psycho-physischen Identitätstheorie dann in neurowissenschaftliche oder gar physikalische Sachverhalte transformiert

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werden könnten. Beide Teilstücke dieses Brückenwerks scheinen mir brüchig zu sein. Die Identitätstheorien scheitern schon am Problem der Qualia, und es ist nicht einzusehen, warum die nun über hundert Jahre stabile philosophische Einsicht, dass logische Relationen keine psychologischen sind, nun unter dem Ansturm eines modischen Neo-Naturalismus neurophysiologischer Provenienz aufgegeben werden sollte. Die Kritik Lutz Wingerts wirft die Frage auf, ob es erforderlich ist, eine philosophische Konzeption der Gründe zu entwickeln, um einen theoretischen Humanismus vertreten zu können. Es dürfte unumstritten sein, dass von Gründen innerhalb naturwissenschaftlicher Theorien grundsätzlich nicht die Rede ist. Es handelt sich nicht mehr um eine Naturwissenschaft, wenn das anders wäre. Selbstverständlich können Gründe in meta-theoretischen Erörterungen zur Naturwissenschaft eine Rolle spielen. Zum Beispiel dergestalt: Gibt es einen guten Grund die physikalische Theorie T1 der anderen T2 vorzuziehen? Aber diese Frage ist eine meta-theoretische Erörterung, eine solche Formulierung ist Teil der Meta-Sprache, nicht der Objekt-Sprache der Physik. In physikalischen Theorien kommt eine solche Frage und auch der Begriff des Grundes nicht vor, ebenso wenig wie der Begriff der Rechtfertigung, der Plausibilität, der Abwägung und also logische Begriffe im weitesten Sinne. Seitdem neuere Kausalitätstheorien Ursachen als eine besondere Kategorie von Gründen interpretieren (Suppes, Gärdenfors, Spohn) kann man an dieser Stelle den Gegensatz von Gründen und Ursachen nicht mehr geltend machen. Für den klassischen naturwissenschaftlichen Kausalitäts-Begriff waren Gründe und Ursachen kategorisch getrennt. Offenkundig ist es eine unterschiedliche Kategorie von Warum-Fragen, wenn nach Gründen, die eine Person für ihre Handlung oder Überzeugung hatte, gefragt wird, als wenn nach den Ursachen der Überzeugung oder der Handlung gefragt wird. Der Delinquent, der vor Gericht seine schwere Kindheit als Erklärung seiner Straftaten anführt, gibt keine Gründe, sondern lediglich Ursachen an. Zur Klarstellung mag der Fragende einwenden: „Ich habe aber nicht nach den Ursachen, sondern nach Ihren eigenen (Beweg-) Gründen gefragt, ich wollte keine Erklärung, sondern eine Begründung.“ An dieser Stelle wird gerne auf Donald Davidsons anomalen Monismus verwiesen, wonach das geordnete Paar aus belief und desire sowohl Grund als auch Ursache einer Handlung sei. Dieser Monismus ist aber in der Tat anomal, als er die gesetzmäßige Verbindung zwischen Explanans und Explanadum aufgibt. Der anomale

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Monismus ist allenfalls ein programmatisches Postulat, keine Theorie, die den Gegensatz von Naturalismus und Humanismus überwindet. Muss der Humanist über eine Theorie der Gründe verfügen (NidaRümelin 2005, 34 – 43)? Ich habe dies bislang mit Bedacht vermieden. Wittgensteinianisch formuliert: Es ist sonnenklar, was ein Grund ist, auch wenn oft genug unklar ist, ob dieses ein Grund ist für jenes. Umstritten ist nicht, was ein Grund ist, sondern umstritten ist, was jeweils als Grund gelten kann. Ebenso wie es oft genug unklar ist, was wir tun sollten, aber sonnenklar, was es heißt, etwas tun zu sollen. Die jahrzehntelangen Abwege der analytisch geprägten Meta-Ethik im Bereich der Bedeutungstheorie von ought und good bekräftigen diese Position eher, als dass sie sie infrage stellen. In seiner großen Monographie What We Owe to Each Other (1998) verzichtet Tim Scanlon aus der gleichen philosophischen Grundhaltung heraus auf eine nähere Bestimmung dessen, was Gründe eigentlich sind. Scanlon entwickelt keine Theorie der Gründe, stützt aber seine gesamte – kontraktualistische – praktische Philosophie auf dieses Phänomen des Gründe-Habens-für-eine-Handlung. Aber auch wenn es nicht erforderlich ist über eine (begriffliche) Theorie der Gründe zu verfügen, um eine humanistische Konzeption der Rationalität und der Moral zu entwickeln, wie ich es unternommen habe, spricht nichts gegen einen solchen Explikationsversuch. Auch wenn die begriffliche Explikation von Gründen nicht erforderlich ist, so könnte sie, sofern möglich, für das humanistische Projekt durchaus sinnvoll sein.18 „Gründe sind eine Art Passierschein oder eine Art Überweisungsschein. Sie erlauben demjenigen, für den sie Gründe sind, von etwas zu einem intentionalen Verhalten oder einem Urteil überzugehen. Oder Gründe halten dazu an, von etwas zu einem intentionalen Verhalten oder einem Urteil überzugehen.“19 Ich stimme dem zu unter der Vorausset18 Es sei hier angemerkt, dass ich für einen theoretischen und (ethischen) Humanismus nicht „lediglich“ aus konzeptionellen Gründen argumentiere, sondern man ihn durchaus als eine synthetische Disziplin verstehen sollte. Er fügt ausgehend von lebensweltlichen Umständen die Wissensbestände verschiedener Disziplinen zusammen und bemüht sich um Kohärenz aus einer trans- und ultradisziplinären Perspektive. Wohlverstanden vermittelt er zwischen Lebenswelt und Wissenschaft, tritt der weltanschaulichen Übergrifflichkeit wissenschaftlicher Theorien entgegen und verteidigt die Standards wissenschaftlicher Rationalität gegen die interessengesteuerte Irrationalität alltäglicher und öffentlicher Meinungsbildung. Die Philosophie ist weder metaphysische Über-Wissenschaft noch analytisches Propädeutikum, vgl. Fußnote 2 bei Wingert. 19 Wingert, in diesem Band, 337.

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zung, dass dieses Erlauben oder Halten-dazu-an, nicht kommunitaristisch als ein bloßes soziales Faktum interpretiert wird. Anders formuliert: Diese Charakterisierung eines Merkmals von Gründen erlaubt keine ethnologische Interpretation. Der Ethnologe kann bezogen auf eine bestimmte etablierte Kultur sagen „X ist unter diesen Umständen A erlaubt“ und damit meinen, dass es in dieser Kultur unter diesen Umständen als erlaubt gilt, A zu tun. Die Charakterisierung als normativ (und nicht deskriptiv) erlaubt ist dagegen nur aus der Teilnehmerperspektive möglich. Als Teilnehmer kann ich mich nicht in der Weise distanzieren wie es der Ethnologe tut. Ich nehme einen normativen Standpunkt ein. „X hat einen Grund A zu tun“, nimmt – wenn „Grund“ nicht in Anführungszeichen geschrieben oder gemeint ist – normativ Stellung. Insofern kann man nicht fragen, „ob ein gültiger Passier- oder Überweisungsschein etwas ist, was nur die Signatur einer sozialen Autorität trägt.“20 Die Qualität von Gründen ist nicht lediglich kommunitaristisch, an sozial konsentierten Maßstäben, zu messen.21 G ist gegenüber B ein (pragmatisch) guter Grund für X, wenn B sich durch G von der Richtigkeit von X überzeugen lässt. Wie hängt der pragmatische Erfolg vorgebrachter Begründungen mit dem Begriff des guten Grundes zusammen? Drei theoretische Optionen bieten sich an: 1. Es gibt keine (objektiv) guten Gründe. Was ein guter Grund ist, zeigt sich am pragmatischen Erfolg. Da der pragmatische Erfolg vorgebrachter Begründungen je nach Äußerungssituation vom kulturellen Kontext abhängt, wird der Begriff des guten Grundes zeitlich, kulturell, kontextuell et cetera indiziert. 2. Unter idealen epistemischen Bedingungen bringt eine pragmatische erfolgreiche Begründung (objektiv) gute Gründe vor. Und dieser letzte Satz ist analytisch. 3. Ob etwas ein guter Grund ist, entscheidet sich nicht am pragmatischen Erfolg. „X ist ein Grund für Y“ ist eine logische Relation, deren 20 Wingert, in diesem Band, 338. 21 Das macht auch die Unterscheidung zwischen akteursneutralen und akteursrelativen Gründen dubios (Nida-Rümelin 2002). Treffender scheint es mir zu sein, Gründe – zumal praktische Gründe – so zu fassen, dass sie Unterbestimmtheit zulassen. In diesem Bereich der Unterbestimmtheit können es dann Entscheidungen sein, die selbst keiner Begründung mehr bedürftig sind, die diese Unterbestimmtheit beheben. Was als akteursrelativer Grund erscheint, ist in Wirklichkeit die gründestiftende Entscheidung des Akteurs.

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jeweilige Geltung (für Einsetzungen für X und Y) zeitlos, kontext- und kulturunabhängig ist. Dass diese drei Optionen lediglich ein Spektrum abdecken, in dem es weitere Differenzierungen und Untertypen gibt, liegt auf der Hand. Grob entspricht (1) dem postmodernen, kulturalistischen und historistischen Verständnis von Nietzsche bis Lyotard, (2) den epistemischen Wahrheitsdefinitionen wie der des frühen Habermas. (3) steht für realistische, objektivistische Positionen. Das römische Diktum vertitas filia temporum kann man – unterschiedlich, ja geradezu gegensätzlich – jeweils im Sinne von (1), (2) oder (3) übersetzen. Im ersten Sinne wäre Wahrheit an die jeweilige Zeit, die Kultur, den Kontext gebunden. Sachverhalte würden zu wahren beziehungsweise falschen je nach Zeit, Kontext, Kultur. Gemäß (2) wäre es die Entwicklung eines rationalen (herrschaftsfreien et cetera) Diskurses, der a limine Wahrheit garantiert und gemäß (3) ist es die Hoffnung des optimistischen Realisten, dass ernsthafte Bemühungen um richtige Überzeugungen (richtige Handlungen, richtige Einstellungen) zu einer wachsenden Wahrheitsähnlichkeit (verisimilitudo) führen. Ich habe dies als epistemologischen Optimismus bezeichnet, der auch den (wahrheitstheoretischen) Realisten davor bewahren sollte zum globalen Skeptiker zu werden (Nida-Rümelin 2006). Der realistische (epistemologische) Optimist unterscheidet sich vom konsenstheoretischen Rationalisten darin, dass er auch unter idealen epistemischen Bedingungen Irrtum für möglich hält. Auch die gründlichste, vorurteilfreieste, herrschaftsfreie, faire und inklusive Klärung kann am Ende zu einer falschen Theorie, zu einer falschen Hypothese, zu einem falschen Urteil, zu einer falschen Einstellung, einer falschen Handlung führen. Das gilt für empirische sowie normative Fragen gleichermaßen. Der Realist verlagert den epistemologischen Optimismus nicht in den Begriff der Wahrheit. Er bekennt sich zu einem Postulat, von dem er – mit guten Gründen – nur hoffen kann, dass es zutreffend ist. Als Vernunftwesen, als Personen, die in der Lage sind, Gründe abzuwägen und sich von Gründen in ihrem Urteilen, in ihrem Handeln, in ihrem Fühlen affizieren zu lassen, partizipieren wir am Raum der Gründe, dessen Entitäten objektiv und zeitlos sind. Diese Partizipation beeinflusst unsere emotiven Zustände, die – wie wir annehmen können – mit neurophysiologischen korrespondieren und sie beeinflusst den physischen, beobachtbaren Weltverlauf, sofern unser Verhalten von Gründen affiziert ist und als raum-zeitlicher Vorgang entsprechende kausale Wirkungen hat.

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Da Andere aufgrund unseres Verhaltens auf unsere emotiven und epistemischen Zustände schließen, partizipieren wir nicht je individuell, sondern interaktiv am Raum der Gründe. Diese interaktive Partizipation ist ein wesentlicher Teil unserer Kulturalisation. Gründe geben und Gründe nehmen wird im Austausch menschlicher Individuen untereinander gelernt, der Zugang zum Raum der Gründe wird kulturell – ontogenetisch wie phylogenetisch – geebnet. Deswegen wird der Raum der Gründe aber nicht zu einem kulturellen Phänomen. Wenn diese Position platonistisch ist und damit die üblichen anti-platonistischen Einwände provoziert, dann handelt es sich jedenfalls um einen Platonismus, der keiner „Seminarraumauffassung vom Raum der Gründe“22 entspricht, sondern um einen Platonismus der Deliberation, der der Abwägung von Gründen (jedenfalls unter günstigen kulturellen Bedingungen) eine kausale, auf die emotive, die soziale, die physische Welt wirkende Kraft zubilligt.

22 Wingert, in diesem Band, 191.

Erwiderung auf Volker Gerhardt Volker Gerhardt kritisiert meine Gegenüberstellung von Humanismus versus Naturalismus. Ich möchte vermeiden, dass wir aneinander vorbeireden, deswegen rekapituliere ich noch einmal kurz meine Auffassung dazu: 1. Unter „Naturalismus“ verstehe ich zunächst die – wissenschaftstheoretische – These, alle wissenschaftlichen Disziplinen ließen sich – zumindest idealiter – in eine naturwissenschaftliche überführen, beziehungsweise dort, wo dies nicht der Fall ist, handele es sich nicht um eine genuine Wissenschaft.23 2. Unter „Humanismus“ verstehe ich zunächst die – wissenschaftstheoretische – These, dass es Gegenstände wissenschaftlicher Forschung gibt, die sich im Modus der Naturwissenschaften grundsätzlich nicht adäquat beschreiben, analysieren und erklären lassen. Ich habe argumentiert, dass insbesondere die Rolle von Gründen für diese Nicht-Reduzierbarkeit auf naturwissenschaftliche Begriffe und Gesetze zentral sei. 3. Ich habe verschiedentlich ausgeführt, dass die klischeehafte Gegenüberstellung von Natur- und Geisteswissenschaften nicht trägt. Dass etwa mathematische Methoden in den Geisteswissenschaften eine wichtige Rolle spielen; dass Geisteswissenschaften nicht notwendigerweise BuchDisziplinen sind; dass Präzision kein Privileg der Naturwissenschaften sei; dass die Geisteswissenschaften einen wesentlichen Anteil am wissenschaftlichen Weltbild als Ganzes haben et cetera. Es ist zweifellos eine extreme Vergröberung, die aber für eine erste Klärung hilfreich sein mag, den Kern meines Argumentes folgendermaßen zu fassen: Überall dort, wo Gründe relevant sind, stößt der mechanistische Modus naturwissenschaftlicher Beschreibung und Erklärung an seine Grenzen. Diese Grenzen lassen sich durch drei Eigenschaften von 23 Es ist interessant, dass im US-amerikanischen Sprachgebrauch die sogenannten humanities nicht zu den sciences zählen. Die allermeisten Philosophy-Departments US-amerikanischer Universitäten legen ihrerseits Wert darauf, nicht zu den humanities gezählt zu werden. In der Tat kann man mit guten Gründen bestreiten, dass die Philosophie insgesamt eine geisteswissenschaftliche Disziplin sei.

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Gründen (theoretischen, wie praktischen) beschreiben: Normativität, Objektivität und Nicht-Algorithmizität (Nida Rümelin 2010). Die Termini sind also so bestimmt, dass es „Humanismus als Naturalismus“ schon aus logischen Gründen nicht geben kann. Der Naturalismus behauptet die Reduzierbarkeit aller Sachverhalte auf solche, die im naturwissenschaftlichen Modus beschreibbar, analysierbar und erklärbar sind und der Humanismus behauptet das kontradiktorische Gegenteil, nämlich, dass dies nicht der Fall sei. Ich habe mich spezifischer mit der Frage der Reduzierbarkeit von Gründen auseinandergesetzt, aber es gibt andere ebenfalls wichtige Aspekte dieses Gegensatzes, etwa die Frage, ob Qualia oder die subjektive Perspektive (Nida-Rümelin 2006) auf naturwissenschaftlich beschreibbare (jetzt immer in Kurzfassung für „beschreibbar, analysierbar und erklärbar“) Sachverhalte reduzierbar seien. Nun lässt sich gegen diese Terminologie einwenden, sie sei so weitab vom üblichen Sprachgebrauch, dass sie irreführend sei. Ich glaube dies nicht, aber ich will gerne zugeben, dass zumindest der Humanismus-Begriff, den ich zugrunde lege, ein sehr spezifischer ist. Dieser NaturalismusBegriff dagegen ist keineswegs exotisch, sondern entspricht dem Usus der zeitgenössischen philosophischen Debatte. Vor diesem Hintergrund stellt sich nun die Frage, ob es einen inhaltlichen Dissens zwischen Volker Gerhardt und mir überhaupt gibt, oder ob der vermeintliche Dissens nur auf einer unterschiedlichen Terminologie beruht. Keinerlei Dissens gibt es zwischen Volker Gerhardt und mir hinsichtlich der These der engen wechselseitigen Vernetzung, ja Durchdringung von geistes- und naturwissenschaftlichen Disziplinen, Theorien und Perspektiven. Für den ganz überwiegenden Teil der Epoche der Menschheitsgeschichte, in der Wissenschaft eine Rolle spielte, gilt, dass die moderne Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaft, sowie unter Umständen weiterer wissenschaftlicher Großbereiche, wie Sozialwissenschaft, keinen Sinn macht. Noch Isaac Newton stellt sein Hauptwerk als einen Beitrag zur Naturphilosophie vor. Zentrale physikalische Fragestellungen wurden als Teil der philosophischen Erkenntnistheorie betrachtet. Vor dem Hintergrund der heute entwickelten Vielfalt wissenschaftlicher Methoden und dem heutigen Stand der Naturund Geisteswissenschaften allerdings kann man den Gegensatz zwischen Naturalismus und Humanismus durchaus bis in die Antike zurückverfolgen. Demokrit, Leukipp, Epikur waren erklärte Naturalisten. Platon, Aristoteles, die Stoiker waren in meiner Terminologie offenkundig Humanisten (Nida-Rümelin 2005, Kapitel 1). Weder Platon noch Ari-

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stoteles glaubten an die Reduzierbarkeit aller Phänomene auf materielle, auf physikalisch beschreibbare Kausalzusammenhänge. Bei Platon wird dies am deutlichsten in seiner Metaphysik des Guten, dessen Doppelnatur als Bedingung der Erkenntnis und Bedingung allen Werdens einen Naturalismus von vornherein ausschließt. Bei Aristoteles wird dies am deutlichsten in seiner vierfältigen Typologie der aitiai. Der non-naturalistische Anti-Reduktionismus nimmt hier die Gestalt der Nichtreduzierbarkeit einer Kategorie von aitiai auf eine andere an. Bei den Stoikern stellt sich die Sachlage komplexer dar. Sie sind Anhänger des universalen Kausalprinzips, der universalen Determiniertheit aller Ereignisse durch Gesetze, aber diese Gesetze sind Vernunftregeln, die den Kosmos lenken und dessen Erkenntnis leiten. Die Unterscheidung in ev gl_m und \diavoqa verlangt nach einer kompatibilistischen Metaphysik, die damals den Zeitgenossen – ich meine zu Recht – genauso suspekt war, wie der leichtfüßige Kompatibilismus des Moore‘schen Typs des 20. Jahrhunderts. Beide Kompatibilismen bieten eine allzu einfache Lösung für die Versöhnung von deterministischem Weltbild und libertärem Selbstbild. Kompatibilisten sind Philosophen, die ihre libertären Intuitionen aufrecht erhalten, aber nicht bis in die letzte Konsequenz durchdenken wollen. Es gibt billige und teure Varianten des Kompatibilismus. Die billigste ist wohl die des analytischen Zwei-Sprachen-Kompatibilismus. Demnach handelt es sich jeweils lediglich um zwei Begrifflichkeiten, zwei Beschreibungsformen, die voneinander vollständig unabhängig seien. Eine der teuren Varianten des Kompatibilismus ist die Kantianische, wonach das phänomenale Ich (in der dritten Person) unter Kausalgesetzen steht, während das noumenale Ich (in der ersten Person) seinen Status als Vernunftwesen dadurch sichert, dass es sich nur solche Maximen zu eigen macht, die zu einem allgemeinen Naturgesetz werden könnten. Es ist demnach der Wechsel der Perspektive von der dritten zur ersten Person, der menschliche Freiheit möglich macht. Meine eigene Position ist nicht weit entfernt vom Kantischen Kompatibilismus. Sie hält eine lückenlose Kausalerklärung aller physikalischen Ereignisse mittels physikalischer Gesetzmäßigkeiten und Antezedenz-Bedingungen für möglich, postuliert aber im Gegensatz zum Kantischen Kompatibilismus eine kausale Wirksamkeit der Gründe.24 Vernunftwesen sind solche, die die Welt der objektiven, normativen und nicht-algorithmischen Gründe über das psychologische Phänomen des Akzeptierens von Gründen und der Affektion des Verhaltens durch 24 Vgl. hierzu auch den Nachtrag zur Naturalismusthematik, in diesem Band.

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Gründe mit der Welt der physikalischen Sachverhalte kausal verknüpfen. Diese kausale Wirksamkeit von Gründen und die Nicht-Überführbarkeit von Gründen in übliche deterministische Ursachen bilden den Kern meiner non-naturalistischen, eben humanistischen Position. Ich gebe gerne zu, dass die naturwissenschaftliche Konkretisierung des Möglichkeitsraums, in dem eine kausale Wirksamkeit von Gründen sich abspielen kann, ohne vertraute physikalische Gesetzmäßigkeiten außer Kraft zu setzen, aussteht. Angesichts der immensen Komplexität der physikalischen Welt und der Wirkung physikalischer Gesetzmäßigkeiten liegt die Beweislast jedoch bei denen, die behaupten, dass dieser Möglichkeitsraum nicht existiert. Zudem vermute ich, dass das Verhältnis von Physik und Biologie ebenfalls von ähnlichen Unterbestimmtheiten geprägt sein muss. In einer Welt, die ausschließlich physikalisch beschreibbare Identitäten und physikalisch erklärbare Ereignisse kennt, sind die biologischen Gesetzmäßigkeiten, ja die Existenz von biologischen Organismen und ihrer Selbstorganisation ein (physikalisches) Rätsel. Dennoch setzen biologische Organismen und die Gesetzmäßigkeiten, mit denen sich das Funktionieren dieser Organismen beschreiben lässt, physikalische Gesetzmäßigkeiten und die universelle Erklärbarkeit physikalischer Ereignisse durch physikalische Gesetze und Antezedenz-Bedingungen nicht außer Kraft. Die Nicht-Reduzierbarkeit der Biologie auf die Physik ist mit der vollständigen Beschreibbarkeit und Erklärbarkeit physikalischer Ereignisse in biologischen Organismen vereinbar. An dieser Stelle kann ich Volker Gerhardt vollkommen zustimmen, wenn er –sinngemäß – meint, dass sich die Phänomene des Lebens, der biologischen Organismen, in ein mechanistisches Verständnis der Natur nicht integrieren lassen. Aber Volker Gerhardt unterschätzt die Prägekraft des Mechanismus in den Naturwissenschaften. Bis hinein in die Neurophysiologie ist ein mechanistisches Verständnis naturwissenschaftlicher Erklärung dominant (Bechtel 2008; Craver 2007). tekg, causae finales, aber auch causae formales spielen für Erklärungen in der modernen Naturwissenschaft keine Rolle. Sollte die Erklärung über Gründe und Intentionen, im Weiteren über propositionale Einstellungen für die Erklärung menschlichen Verhaltens unverzichtbar sein, wäre menschliches Verhalten naturwissenschaftlich nicht vollständig erfassbar. Entsprechend argumentieren philosophische Naturalisten für die grundsätzliche Eliminierbarkeit des mentalistischen Vokabulars (Churchland 1986). Aber selbst in dem weichen, im Grunde an Aristotelischen Idealen orientierten Verständnis von Naturwissenschaft, stellt sich die Frage nach der Eliminierbarkeit der Geisteswissenschaften. Kann man

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sich vorstellen, dass eine Gedichtinterpretation oder eine historische Studie im Modus naturwissenschaftlicher Beschreibung und Erklärung vorgenommen wird? Solange elementare Spezifika naturwissenschaftlicher Forschung erhalten bleiben, ist es völlig ausgeschlossen, Gedichtinterpretationen oder historische Studien mit den Methoden der Naturwissenschaft zu betreiben. Aber selbst im allerweitesten (oder weichesten) Verständnis von „Naturalismus“ ist die grundsätzliche Reduzierbarkeit aller Wissenschaft auf Naturwissenschaft unaufgebbar – was sollte sonst der Terminus „Naturalismus“ überhaupt noch meinen? In der zeitgenössischen wissenschaftstheoretischen und philosophischen Literatur wird Naturalismus meist im härteren mechanistischen oder physikalistischen Sinne verstanden. Das heißt die klassische Physik, mit deterministischen Kausalgesetzen und einer mechanistischen Interpretation der zu erklärenden Sachverhalte, ist in diesem Verständnis von Naturalismus paradigmatisch. Der philosophische Terminus „Materialismus“ ist so gut wie ausgestorben und an seine Stelle ist „Naturalismus“ im Sinne von „mechanistischem Physikalismus“ getreten. Aber selbst, wer an die Minderheit der Naturwissenschaftler im Bereich der life sciences appelliert, für die die Physik nicht Paradigma der Naturwissenschaft ist und die Reduzierbarkeitsthese entweder im schlechten Sinne metaphysisch oder sogar durch die Praxis der Theoriebildung in ihren Disziplinen als widerlegt gilt, sollte sich hüten, die Reduzierbarkeitsthese der Geisteswissenschaften (einschließlich Kultur- und Sozialwissenschaften) auf Naturwissenschaft in diesem weiteren Sinne zu vertreten. Humanismus (Non-Naturalismus) ist aber gerade dies: Die These der Nicht-Reduzierbarkeit und Nicht-Eliminierbarkeit geisteswissenschaftlicher (kulturund sozialwissenschaftlicher) Methoden zur Beschreibung, Interpretation und Erklärung geistiger, kultureller und sozialer Sachverhalte, dessen, was in der Griechischen Klassik als ta amhqypima bezeichnet wurde.

Erwiderung auf Matthias Kettner Die kritischen Anmerkungen Matthias Kettners sind, wie mir scheint, nicht Ausdruck einer fundamentalen Differenz – weder inhaltlich noch methodisch. Umso ergiebiger könnte es sein, die unterschiedlichen Auffassungen zu diskutieren. Hier beschränke ich mich auf einige wenige Kommentare. 1. Matthias Kettner entwickelt „Menschenwürde“ als einen Statusbegriff der „Moralakteure“, sowohl als Moralsubjekte als auch als Moralobjekte. „Menschenwürde“ ist demnach eine symbolische Auszeichnung, die im Objektbereich von Moral einen besonderen Status, eine Sonderstellung für die Akteure als solche reserviert. „Menschenwürde“ beruht demnach darauf, dass „moralische Rücksichtnahme selbstreflexiv wird“, und schließlich: „Die so entspringende Würde ist die Würde von Wesen, die normalerweise moralische Statusgeber sind. Der ausgezeichnete moralische Status, den sie haben, ist der, moralischen Status geben zu können.“ (Kettner, in diesem Band, 249). Dies ist ein interessanter Versuch den Begriff der Menschenwürde diskursethisch zu rekonstruieren. Meine Bedenken gegenüber dem diskursethischen Programm insgesamt lassen sich an diesem Argument illustrieren. Mit Apel, Habermas, Kettner stimme ich – bei allen Differenzen im Detail – darin überein, dass der (vernünftige) Diskurs normativ verfasst ist, dass die intentionalistische Semantik irrt, wenn sie meint, dass die konstitutiven Regeln, etwa der Wahrhaftigkeit, des Vertrauens und der Verlässlichkeit, lediglich Regeln der Koordination wären. Tatsächlich sind sie offenkundig Regeln der Kooperation und damit normativ (NidaRümelin 2001, Kapitel 6). Die Differenz bezieht sich auf die Frage der Belastbarkeit dieses Befundes: Wer das Gesamt der moralischen Beurteilung aus ihm zu generieren versucht, verkürzt die moralische Dimension der menschlichen Lebensform auf eine Statusfrage, nämlich die des Diskursbeteiligten. Diese Differenz ist nicht ohne inhaltliche Implikationen, aber sie hat auch einen metaphysischen Aspekt, auf den ich zunächst eingehen möchte. Unsere lebensweltlichen Diskurse sind realistisch, Gründe werden ausgetauscht zu der Frage, ob ein Sachverhalt zutrifft oder nicht. Dieser Sachverhalt kann deskriptiv oder normativ sein. Ohne einen deskriptiven wie normativen Realismus müssten wir eine umfassende

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Irrtumstheorie vertreten, das heißt unterstellen, dass unsere lebensweltliche Praxis des Gebens und Nehmens von Gründen auf einem fundamentalen (metaphysischen) Irrtum beruht, nämlich dem, dass es solche Sachverhalte tatsächlich gibt. Für einen Zweifel dieser Art, eine globale Skepsis, fehlen uns jedoch gute Gründe. „Der vernünftige Mensch hat bestimmte Zweifel nicht“ (Wittgenstein 1984, § 220). In diesem – realistischen – Sinne haben empfindungsfähige Lebewesen einen moralischen Status unabhängig davon, ob wir diesen Status „zuschreiben“ oder nicht. Es ist moralisch unzulässig, die Selbstachtung einer Person existenziell zu beschädigen, und dieser normative Sachverhalt ist zutreffend unabhängig davon, ob er in einer Diskurs-, Sprach-, Kulturgemeinschaft anerkannt ist oder nicht. 2. Es ist zutreffend, dass der theoretische Humanismus, wie ich ihn vertrete, ethisch neutral ist. Aus der Tatsache, dass Menschen sich von Gründen affizieren lassen und diese naturalistisch unterbestimmt sind, folgt nicht das moralische Gebot der Rücksichtnahme. Was hier hinzutritt, ist der gleiche Respekt gegenüber der Autonomiefähigkeit der einzelnen Person. Der Begriff der Menschenwürde – über das Verbot die Selbstachtung existenziell zu beschädigen eingeführt und über die normative Orientierung an gleicher Freiheit substantiiert (Nida-Rümelin 2006, Kapitel IV) – bildet den normativen Kern des ethischen Humanismus. Sich wechselseitig als Wesen wahrzunehmen, die sich von Gründen affizieren lassen, impliziert nicht notwendigerweise den gleichen Respekt, der eine menschenwürdige Gesellschaft charakterisiert. Aber der ethische Humanismus präsupponiert anthropologische Bedingungen, die vom theoretischen Humanismus erfasst werden. Für mich enden hier oder jedenfalls in dieser Umgebung die Begründungsrelationen. Es bedarf keiner Fundamentaltheorie und jede Variante einer solchen Theorie, die ich mir vorstellen kann, erscheint mir ungewisser als das, für dessen Begründung sie herangezogen würde. 3. Wenn alles Begründen in der geteilten Lebensform und den diese Lebensform konstituierenden deskriptiven wie normativen (vor-theoretischen) Überzeugungen ein Ende findet, dann scheint der Relativismus erst recht sein furchterregendes Haupt zu erheben. Wir sollten der Versuchung nicht erliegen, der Furcht vor der relativistischen Herausforderung durch eine Fundamentaltheorie zu begegnen. Der Appell an die deskriptiven wie normativen Selbstverständlichkeiten einer Lebensform erübrigt sich nicht im interkulturellen Diskurs. Der Bestand dieser Selbstverständlichkeiten mag kleiner und die Verständigung entsprechend schwieriger sein. Aber die Form der – kohärentistischen – Be-

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gründung von deskriptiven wie normativen Überzeugungen, die sich auf objektive, realistisch gefasste Inhalte beziehen, bleibt unverändert. Wir gehen vom Konkreten zum Allgemeinen und wieder zurück. Wir testen Verallgemeinerungen an ihren konkreten Implikationen und wir überprüfen konkrete Überzeugungen durch bewährte allgemeine (oder abstraktere). Das beste Argument dafür, dass diese Methode unhintergehbar ist, bietet ihr (pragmatischer) Erfolg. Der internationale Menschenrechtsdiskurs hat zu einem beachtlichen Bestand an normativer Übereinstimmung geführt, der aus unterschiedlichen kulturellen Perspektiven Anerkennung findet. Die Einbettungspraxis der Begründungen ist unterschiedlich, was dafür spricht, sich auf der mittleren Ebene kodifizierter Normenkataloge zu einigen und die „tieferen“ kulturellen und religiösen Begründungsrelationen nicht zum Gegenstand der Konsensbildung zu machen. 4. Für einen ethischen Realisten lassen sich moralische Probleme nicht durch Zuschreibungspraktiken lösen. Aber es ist ein Irrtum zu meinen, dass der ethische Realismus mit einer kohärentistischen Begründungspraxis, also der vertrauten Praxis des Gründegebens und Gründenehmens unserer Lebenswelt und auch der Wissenschaften (Nida-Rümelin 2009) unvereinbar sei. Im Gegenteil, ich habe dafür argumentiert, dass ein kohärentistisches Verständnis ethischer Begründung eine realistische Interpretation nahelegt, wenn nicht erzwingt.25

25 Vgl. dazu auch meine Replik zu Gosepath in diesem Band.

Erwiderung auf Christian Hoppe und Christian Elger Zumindest in den Feuilletons und Podiumsdiskussionen wurden zahlreiche neurophilosophische Debatten in den vergangenen Jahren in Deutschland als Streit zweier Fakultäten, nämlich der Neurophysiologie auf der einen und der Philosophie auf der anderen Seite, inszeniert. Im internationalen Vergleich ist dies ziemlich ungewöhnlich, besonders wenn die Auseinandersetzung auf die Frage zugespitzt wird, ob Menschen frei und verantwortlich sind, wobei von Seiten der Neurophysiologie experimentelle Befunde herangezogen werden, die zeigen sollen, dass ein menschliches Selbstverständnis, wie es viele teilen eine Illusion sei, während die Philosophie an einer dualistischen Auffassung festhalte oder gar eine Cartesische Konzeption des Ichs zugrunde lege. So beliebt diese Zuspitzung in den Medien ist, sie entspricht nicht der Realität in den beiden Disziplinen Neurophysiologie und Philosophie. Auch in Deutschland ist es vermutlich nur eine kleine, wenn auch artikulationsstarke Minderheit unter den Neurophysiologen, die sich dieser philosophischen Interpretation neurophysiologischer Befunde anschließen, darunter insbesondere Wolf Singer und Gerhard Roth. In den USA werden solche weitreichenden philosophischen Schlussfolgerungen von Neurowissenschaftlern nur selten und dann eher verhalten vorgetragen. Auf der anderen Seite tendiert ein Großteil der analytischen Philosophie, also derjenigen Strömung, die im englischsprachigen Raum die Debatte dominiert, zu naturalistischen Positionen, wonach sich alle mentalen Ereignisse und Prozesse auf neurophysiologische reduzieren lassen oder mit diesen identisch sind. Vor diesem Hintergrund ist es erfrischend einmal im deutschen Sprachraum eine Positionsbestimmung von Neurowissenschaftlern zu erleben, die sich diesen Schablonen entzieht. Hoppe und Elger nehmen einen prononciert anti-reduktionistischen Standpunkt ein und betonen die Dualität, die der Neuropsychologie eine Brückenfunktion zwischen Neurophysiologie und Neurophilosophie einräumt. Eine der resultierenden Forderungen ist, die Neurowissenschaften gerade nicht reduktionistisch zu verstehen oder gar einen solchen Reduktionismus über den Umweg einer Beschreibung hirnphysiologischer Prozesse mit psychologischen (mentalen) Termini zu erschleichen.

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Allerdings legen die Autoren darauf Wert, dass die doppelte methodologische Dualität der kognitiven Neurowissenschaften (Dualität der Beobachtungsebenen) – Gehirn versus Verhalten/Erleben – und Dualität der experimentellen Zugänge – Psychologie/Physiologie – nicht als Ausdruck eines impliziten ontologischen Substanzdualismus verstanden werden sollte. Hoppe und Elger stimme ich völlig zu, wenn sie betonen, dass mentale Vorgänge ohne neurologische Korrelate kaum denkbar sind. Aber auch, wenn man diese These der notwendigen Korrelationen mentaler und physiologischer Vorgänge akzeptiert, bleibt die Frage, ob der Dualismus, den Hoppe und Elger beschreiben ein lediglich epistemologischer ist. Im Besonderen stellt sich die Frage, welche Implikationen meine These der naturalistischen Unterbestimmtheit von Gründen für eine angemessene Realitätskonzeption hat. Jedenfalls gerät diese These in einen Konflikt mit dem Postulat der kausalen Geschlossenheit der im Prinzip mit den Mitteln der Naturwissenschaft vollständig beschreibbaren Welt. Dieses Postulat ist kein empirischer Befund, ist nicht das Ergebnis naturwissenschaftlicher Forschungen, sondern spielt eher die Rolle einer metaphysischen Hintergrundannahme, die eng mit der von Naturalisten vertretenen Auffassung zusammenhängt, dass grundlegend alles mit den Mitteln der Naturwissenschaften beschreibbar ist.26 Um diese Hintergrundannahme kritisch diskutieren zu können, müsste man sich erst einmal auf einen gemeinsamen Kausalitätsbegriff einigen. Das ist keineswegs eine einfache Aufgabe. Es gibt Kausalitätsbegriffe wie etwa der von Donald Davidson (Anomaler Monismus) oder Peter Gärdenfors, die auch für eine Welt, in der Gründe naturalistisch unterbestimmt sind, kausale Geschlossenheit ermöglichen. Tatsächlich lässt sich mit meiner These der naturalistischen Unterbestimmtheit von Gründen sogar ein Universaldeterminismus vereinbaren, wonach alles, was geschieht, einschließlich menschlicher Handlungen einer deterministischen Gesetzmäßigkeit folgt. Ich selber halte einen solchen Universaldeterminismus für hochgradig unplausibel, möchte aber dennoch auf diese logische Verträglichkeit hinweisen. Unvereinbar mit meiner These der naturalistischen Unterbestimmtheit von Grnden ist allerdings, dass diejenigen Prozesse, die mit den Mitteln der Naturwissenschaften – hier der Neurophysiologie – vollständig beschreibbar sind, ausreichen, um alle Ereignisse einschließlich menschlicher Handlungen und Überzeugungen ohne Rest vollständig zu erklären. Insofern könnte man die von mir vertretene Position als einen Hybrid bezeichnen: Sie ist nicht substanzdualistisch, 26 Vgl. dazu auch den Nachtrag zur Naturalismusthematik, in diesem Band.

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beschränkt aber die Rolle des Mentalen, und speziell der Deliberation, nicht auf eine lediglich epistemologisch relevante eigene Ebene. Es scheint mir in der Argumentation von Hoppe und Elger zu liegen, sich einer solchen hybriden Position, die auch Fragen unseres Realitätsverständnisses als Ganzes und nicht lediglich unserer Epistemologie einbezieht, anzunähern. Ich sehe da jedenfalls keine prinzipielle Unvereinbarkeit, wenn man von dem Postulat der kausalen Geschlossenheit einmal absieht. Um die große Übereinstimmung der Sichtweisen zu überprüfen, möchte ich einen Blick auf das berühmte Libet-Experiment werfen. Die Bedenken, die ich gegenüber der verbreiteten Interpretation der experimentellen Befunde habe, decken sich sehr weitgehend mit der kritischen Darstellung neurophilosophischer Positionen durch Hoppe und Elger. Als Beleg für die vermeintlich neurowissenschaftlich bewiesene Nicht-Existenz menschlicher Freiheit und Verantwortung wird bis heute meist auf die Libet-Studie aus den achtziger Jahren und auf ihre Nachfolgestudien, die bis in die Gegenwart angestellt werden, verwiesen (Libet et al. 1983, 2002; Geyer 2004). Nun gibt es ernstzunehmende methodologische Kritik auch innerhalb der Neurophysiologie an dem Design der Libet-Studien. Immerhin ist die Versuchsperson zugleich Experimentator. Sie berichtet, zu welchem Zeitpunkt sie sich entschieden hat. Es wird also nicht objektiv festgestellt, wann sie sich entschieden hat, sondern man verlässt sich auf die subjektive Mitteilung der Versuchspersonen. Sie teilen mit, wo ein Lichtpunkt sich befand, der sich einmal alle 2,56 Sekunden um ein Zifferblatt mit gewöhnlicher Uhreneinteilung dreht. Zudem ist die Varianz der Daten ungewöhnlich hoch. Die Aussagekraft der Libet-Ergebnisse erscheint daher auch vielen Neurophysiologen zweifelhaft zu sein. Ich möchte aber das Augenmerk nicht auf solche interessante Detailfragen richten, sondern klarmachen, dass die übliche Interpretation der Befunde logisch unhaltbar ist. Die Versuchsanordnung setzt nämlich voraus, was die übliche Interpretation bestreitet. Es handelt sich um einen geradezu klassischen Fall von Petitio. Die Versuchsteilnehmer erhalten die Instruktion, in den nächsten 30 Sekunden ihre Hand (oder ihren Finger) zu bewegen. Tatsächlich hält sich das Gros der Versuchsteilnehmer an diese Anordnung. Vernünftigerweise kann man nicht annehmen, dass sie sich an diese Anordnung gehalten hätten, wenn diese Anordnung nicht gegeben worden wäre. Diese Instruktion, die bewusste Wahrnehmung dieser Instruktion ist also ausschlaggebend dafür, dass die Versuchspersonen sich so verhalten, wie

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sie sich verhalten. Wäre diese Instruktion nicht gegeben worden, hätten sich die Versuchsteilnehmer anders verhalten. Dieses Verhalten ist ein motor-act, eine Bewegung, deren Ursache nur in der Entscheidung, dieser Instruktion zu folgen, liegen kann. Es gibt kein Ereignis, auch kein neurophysiologisches, das vor der Entscheidung seine Hand in den nächsten 30 Sekunden zu bewegen (eine Entscheidung, die aufgrund der gegebenen Instruktionen erfolgt) stattgefunden hat und das hier kausal ausschlaggend ist. Die Versuchsanordnung setzt die kausale Relevanz der Entscheidung voraus. Ein Pedant mag einwenden, es ist nicht die Entscheidung, die kausal relevant ist, sondern lediglich die Instruktion – es gäbe eine Kausalrelation zwischen der Wahrnehmung dieser Instruktion und der Handbewegung, die Entscheidung sei lediglich – analog zur üblichen Interpretation der Libet-Studien – Epiphänomen dieses Kausalprozesses. Dieser Einwand ist allerdings leicht widerlegbar, es genügt zu zeigen, dass Versuchspersonen, die sich entscheiden den Instruktionen nicht zu folgen, einen entsprechenden kausalen Zusammenhang in ihrem Verhalten nicht belegen. Aber selbst wenn man diesem Einwand stattgäbe, bliebe die (bewusste) Wahrnehmung der Instruktion kausal relevant für das, was geschieht. Auch bei dieser – unnötig mühsamen – Interpretation wäre ein bewusster Vorgang kausal relevant für das dann manifeste Verhalten (Handbewegung innerhalb der vorgegebenen 30 Sekunden). Aber es kommt noch schlimmer: Wenn ein Ereignis-Token (kausal, im Sinne eines naturgesetzlichen Zusammenhangs) einen Ereignis-Type verursacht, dann gibt es mindestens ein Ereignis-Token, das diesen Ereignis-Type individuiert, der von dem vorausgehenden Ereignis-Token verursacht ist. Wenn keines der Ereignis-Token, die den verursachten Ereignis-Type individuieren, durch den vorausgehenden Ereignis-Token verursacht ist, dann gäbe es – entgegen der Ausgangsannahme – keine kausale Relevanz des vorhergehenden Ereignis-Token für den betreffenden Ereignis-Type. Übertragen auf die Libet-Studie: Wenn keine der möglichen Handbewegungen, die den Vollzug der Instruktion („Bewege deine Hand innerhalb der nächsten 30 Sekunden“) individuiert durch diese Instruktion beziehungsweise die Entscheidung dieser Instruktion zu folgen, verursacht ist, dann stünden wir vor dem Rätsel, warum die Person überhaupt ihre Hand innerhalb der 30 Sekunden entsprechend der Instruktion bewegt. Die These, dass die Handbewegung nicht durch eine bewusste Entscheidung kausal verursacht ist, führt also geradewegs in eine Reductio ad absurdum. Wie man es auch dreht und wendet, irgendetwas kann an der beliebten Interpretation der Libet-Befunde nicht

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stimmen. Dass es dennoch eine erstaunlich große Anzahl von Neurophysiologen gibt, die sich dieser Einsicht sperren, verweist auf einen eher ideologischen Konflikt. In der Tat ist die grundlegende Intuition mancher Neurophysiologen – beileibe nicht aller, wie die Beiträge von Hoppe und Elger und vielen anderen zeigen – die, dass die mit den Mitteln der Naturwissenschaft im Prinzip vollständig beschreibbaren deterministischen Kausalzusammenhänge zwischen neurophysiologischen Ereignissen und Prozessen jedes mentale Ereignis und jeden mentalen Prozess (im Prinzip) vollständig erklären können und daher mentale Vorgänge (bewusste Wahrnehmungen, Entscheidungen…) keine kausale Relevanz haben können. Diese Schlussfolgerung ist allerdings nur dann gültig, wenn die neurophysiologischen Ereignisse und Prozesse kausal unabhängig sind von mentalen Ereignissen und Prozessen. Das aber ist ja gerade umstritten. Wir sind also auf der grundlegenden methodologischen Ebene erneut mit einer Petitio konfrontiert. Jüngste experimentelle Studien belegen, dass die übliche Interpretation sich nicht aufrechterhalten lässt. Wenn etwa zusätzlich ein Signal die Instruktion im Hinblick darauf, welche Hand bewegt werden soll, spezifiziert, dann tritt interessanterweise das lateralisierte Bereitschaftspotenzial erst nach diesem Signal auf. Diese und andere Befunde deuten darauf hin, dass das Bereitschaftspotenzial das ist, was es ursprünglich bezeichnete, nämlich das neurophysiologische Korrelat für eine „Bereitschaft“ (Deecke et al. 1973). Aber selbst wenn sich herausstellen sollte, dass das vor der „Entscheidung“ auftretende Bereitschaftspotenzial kausal für die Handbewegung verantwortlich ist, lässt sich daraus nicht ableiten, dass Menschen für das, was sie tun, nicht verantwortlich sind und keine Wahlfreiheit hätten. Interessanterweise geht es bei der Libet-Studie und bei vergleichbaren Untersuchungen gerade nicht um Deliberation, das Abwägen von Gründen und die Wahl einer Handlung aufgrund dieser Abwägung. Vielmehr ist es völlig irrelevant, zu welchem Zeitpunkt die Hand bewegt wird, ja in manchen Varianten gehört diese Irrelevanz oder Indifferenz sogar zur Instruktion der Versuchsteilnehmer. Sie sollen sich vorab nicht überlegen, was sie tun, sie sollen so schnell wie möglich agieren, um auszuschließen, dass Abwägungen eine Rolle spielen et cetera. Die substanzielle und für unser Selbstbild ausschlaggebende Dimension verantwortlichen Handelns besteht aber gerade darin, dass die Abwägung von Gründen relevant ist für das, was wir tun. Wo die Abwägung von Gründen irrelevant ist, mag die Entscheidung willkürlichen Impulsen folgen und zu diesen Impulsen mag auch ein auftretendes

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Bereitschaftspotenzial gehören. Empirisch spricht viel dagegen, dass es sich tatsächlich so verhält: Aber wenn die sich aufbauende Negativität, die als Bereitschaftspotenzial interpretiert wird, der Entscheidung seine Hand zu bewegen, vorausgeht, widerlegt dies nicht die für unser Selbstbild zentrale Annahme, dass die Abwägung von richtig und falsch, das Abwägen von Gründen für und wider, die Überlegung, was in dieser Situation die richtige Handlung wäre, für das, was wir tun, eine kausale Rolle spielt. Selbst wenn die gängige Interpretation der Libet-Studien zuträfe, ließe sich daraus nicht die These ableiten, dass verantwortliches und freies Handeln eine Illusion sei.

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Nachtrag zur Naturalismusthematik Julian Nida-Rmelin Es ist auffällig, dass sich ein großer Teil der vorgebrachten Kritiken an meiner humanistischen und anti-naturalistischen Position gerieben hat. Dies ist auch deshalb auffällig, weil das Spektrum derjenigen, die sich für einen mehr oder weniger weichen beziehungsweise harten Naturalismus aussprechen, ungewöhnlich breit ist. Es reicht von Volker Gerhardt bis zu Wolfgang Spohn. Seitdem Jürgen Habermas sich ebenfalls zu einem weichen Naturalismus bekannt hat, scheint sich in Deutschland kaum noch jemand zu anti-naturalistischen Positionen zu bekennen. Dies ist überraschend angesichts der Tatsache, dass viele Kritiker der analytischen Philosophie ihr die unkritische Bewunderung der naturwissenschaftlichen Methode vorgehalten haben. Nun kann ich die Motive für einen, besonders in Deutschland verbreiteten, Anti-Anti-Naturalismus sehr gut verstehen. Eine herablassende Behandlung der naturwissenschaftlichen Methode in den Geisteswissenschaften und der Philosophie ist meist kein gutes Zeichen für die Verfasstheit der eigenen Disziplin. Minderwertigkeitsgefühle und Klischeevorstellungen bilden ein ungutes Ferment und blockieren die interdisziplinäre Verständigung. Den ängstlichen Kritikern stehen die enthusiastischen Adepten naturwissenschaftlicher Methoden, oder jedenfalls einer naturwissenschaftlich gefärbten Terminologie in den Geisteswissenschaften gegenüber. Beides würde sich erübrigen, wenn sich die Disziplinen wechselseitig mit größerem Respekt und mehr Sachkenntnis begegneten. Wenn man unter „Naturalismus“ die These versteht, dass grundsätzlich alle Dinge, Vorgänge und Ereignisse in der Welt mit den Mitteln der Physik vollständig beschreibbar und erklärbar sind, dann wäre Naturalismus nichts anderes als die unkritische Bewunderung einer spezifischen disziplinären Methode. Wenn „Naturalismus“ nichts anderes bedeuten soll, als dass letztlich alles Natur sei, alles gewachsen in einem evolutionären Prozess oder wenn – noch bescheidener – sich ein „weicher Naturalismus“ gegen schlichte Dichotomien – hier das Geistige, dort das Materielle et cetera – richtet, dann müsste ich wohl selbst, qua epistemologischen Kohärentismus als „weicher Naturalist“ gelten. Ich beziehe mich im Folgenden auf den engeren, international dominie-

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renden Naturalismus-Begriff (vgl. etwa Papineau 2009), wonach es im Kern um die Frage geht, ob alles in der Welt letztlich physikalischer Natur ist und das heißt – in erster Näherung – mit den begrifflichen und nomologischen Mitteln der mathematischen Physik beschreibbar und erklärbar ist. Es ist diese Form des Naturalismus, die mit humanistischen Überzeugungen in Konflikt gerät. Zu diesen Überzeugungen gehört die der Verantwortlichkeit für eigenes Handeln. Damit verbunden ist die kausale Rolle der Abwägung von Gründen für das, was wir tun. Die Offenheit der Entscheidung vor Beginn dieser Abwägung. Die Freiheit der Handlung im Sinne der Möglichkeit eine andere Handlung zu wählen. Die Übernahme einer Überzeugung aufgrund der Abwägung von Argumenten für und wider. Die Rolle normativer Erkenntnisse für die eigene Lebensform. Die moralischen Gefühle wie Rücksichtnahme und Empathie, Dankbarkeit und Verzeihen, Abscheu und Kritik. Wir sind Teil der humanen Welt verantwortlicher Akteure sofern wir aus Gründen urteilen, handeln und fühlen.1 Im Folgenden möchte ich ein einziges Argument vorbringen, das mir die naturalistische Position stärker herauszufordern scheint als jedes andere.2 Wenn eine Person P für Handlung h verantwortlich ist, dann muss es einen Zeitpunkt gegeben haben, zu dem P h hätte tun, aber auch unterlassen können. „P hätte h unterlassen können“ heißt nichts anderes als es gibt eine Handlung h‘, die P anstelle von h hätte vollziehen können, wobei das bewusste Unterlassen ebenfalls als Handlung zählen muss.3 Handlungen sind mit äußeren Vorgängen verknüpft, auch wenn sie mit diesen nicht identisch sind. Diese mit den Handlungen verknüpften äußeren Vorgänge lassen sich, wie andere Vorgänge in der Natur auch, kausal analysieren. Bezugnahmen auf mentale Ereignisse und Zustände sind dabei nicht erforderlich. Diese kausale Analyse kann sich auf de1

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Die Physik bewegter und unbewegter Körper, wie sie Thomas Hobbes in De Corpore fantasiert, eignet sich eben nicht als Grundlage einer zivilen Ordnung, so beeindruckend dieses Denkgebäude aus De Corpore (1655), De Homine (1658), De Cive (1642) sich darstellt. Meine Habilitationsschrift Der Konsequentialismus – Rekonstruktion und Kritik enthält ein Kapitel „Freies Handeln“ (108 – 168), in dem diese Überlegungen detaillierter ausgeführt sind. Dieser Teil des Manuskripts ist aber in der Buchpublikation Kritik des Konsequentialismus (1993, 19952) nicht enthalten, um deren Thema (und Umfang) einzugrenzen. Vgl. Birnbacher (1995). Unter den analytischen Philosophen ist insbesondere Roderick Chisholm, der in jüngerer Zeit diese Positionen in aller Klarheit vertreten hat, vgl. etwa Chisholm (1970). Es gibt aber weit ältere Positionen, die ganz ähnlich argumentieren, etwa Ferguson (1769) oder Reid (1785).

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terministische oder probabilistische Theorien beziehen. In beiden Fällen kann man sich den jeweiligen Vorgang in eine lange Kette von Ereignissen eingebettet denken. Kein Glied dieser Kette dürfte sich gegen eine kausale Analyse als grundsätzlich immun erweisen. Wenn diese naturalistische Sicht zutreffen würde, dann bliebe völlig unklar, in welchem Sinne der Handelnde auch hätte anders handeln können. Denn wenn in dieser langen Kette von Ereignissen das eine das andere verursacht, dann lässt sich nicht ein beliebiges Glied in dieser Kette herausgreifen, von dem man sinnvoll sagen könnte, gerade dieses Ereignis sei in das Belieben des Handelnden gestellt gewesen. Es müsste etwas geben, das das Belieben des Handelnden kausal determiniert. Sodass sich auch dieses Glied entgegen erstem Augenschein problemlos in die Kette einreiht. Das prominenteste dieser „Einbettung“ dienende Argument lautet, die Rede davon, P habe auch anders handeln können, besage nichts anderes, als dass P h nicht vollzogen hätte, wenn er etwas anderes gewollt hätte, und das sei vereinbar damit, dass jede Handlung von P kausal determiniert ist.4 Aber das würde voraussetzen, dass es P unmöglich war, eine andere Absicht oder einen anderen Wunsch zu wählen, der nicht ebenfalls zum Vollzug der Handlung h geführt hätte. Wenn der Vollzug von h kausal determiniert ist, dann stellt auch die Rückverlagerung menschlicher Freiheit auf mentale Ereignisse und Zustände, die Determinanten der Handlung sind, die Verantwortlichkeit von P nicht wieder her. P hat nur dann anders handeln können, wenn nicht nur gilt, dass P anders gehandelt hätte, wenn er andere vorausgehende Absichten gehabt hätte, sondern auch, dass es weder äußere noch mentale Ereignisse, Vorgänge oder Zustände gab, die unbeeinflusst von P die Handlung h kausal determinierten. Da die Alternative nicht sein kann, dass Handlungen bloß zufällig sind, liegt es nahe, unter der Handlung einer Person das kausale Hervorbringen eines äußeren Vorganges oder Ereignisses durch eine Person selbst (nicht durch vorausgehende Ereignisse oder Vorgänge) aufzufassen. Diese Auffassung stimmt mit dem konsequenzialistischen Modell der Handlung als einer Wahl von Verzweigungen des Weltverlaufs durch die rationale Person überein. Die Fähigkeit zu handeln ist zumindest eine zentrale, wenn nicht sogar definitorische Eigenschaft der Person. Eine andere wesentliche, 4

Vgl. Ayer (1954). Die stärkere These lautet: „Willensfreiheit“ sei nicht nur vereinbar mit einer deterministischen Sicht menschlichen Handelns, sondern impliziert sie sogar, so zum Beispiel Hobart (1934), ähnlich Nowell-Smith (1948).

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aber sicherlich nicht-definitorische Eigenschaft der Person ist ihre Fähigkeit, ihre Um- und Mitwelt zu beobachten. Zu den Gegenständen von Beobachtung zählen Handlungen anderer Personen, nicht das eigene Handeln. Sie kann zum Beispiel Vermutungen darüber anstellen, was die andere Person glaubt, was sie mit der einen oder anderen Tätigkeit bezweckt, in welcher Stimmung sie ist et cetera. In ähnlicher Weise kann jedoch eine Person auch über sich selbst und speziell über ihre eigenen Handlungen Auskunft geben. Sie kann sagen „Ich glaube, dass dies oder jenes der Fall ist“, sie kann die (motivierenden) Absichten nennen, die ihr Handeln leiten. Sie kann Auskunft darüber geben, ob sie etwas absichtlich oder unabsichtlich getan hat, also ob etwas zu ihren Handlungen zu zählen ist oder nicht et cetera. Aber es gibt einen wesentlichen Unterschied darin, ob die Person über sich selbst oder ob eine Person über eine andere Person Auskunft gibt. Die Rede, „Ich glaube, dass etwas der Fall ist“ ist doppelgesichtig: Sie kann sowohl Information über den Betreffenden selbst als auch eine Art persönlicher Festlegung sein. Bei der Repräsentation intentionaler Zustände durch Sprechakte mit propositionalem Gehalt ist auffällig, dass Sprechakte der Art „Ich verspreche, x zu tun, aber ich beabsichtige nicht, x zu tun“ oder „Ich glaube, dass x, aber x ist nicht der Fall“ verunglücken, obwohl „A glaubt, dass p“ und „p ist nicht der Fall“ logisch verträglich sind. Auch „A verspricht, x zu tun“ ist verträglich mit „A beabsichtigt nicht, x zu tun.“ Eine Person kann sich selbst nicht in der gleichen Weise betrachten wie eine andere Person. Mit jedem Bericht über eigene intentionale Zustände legt sich die Person gegenüber dem propositionalen Gehalt der betreffenden intentionalen Zustände in der einen oder anderen Weise fest. „Ich beabsichtige p“ schließt aus, dass ich p für unmöglich halte. „Ich glaube, dass p“ schließt aus, dass ich von non-p überzeugt bin. „Ich warne Dich vor p“ schließt aus, dass ich glaube, dass non-p. Er warnt ihn vor p, schließt dagegen nicht aus, dass non-p. Personen sind sich selbst gegenüber im Vergleich zu anderen beobachtenden Personen „epistemisch privilegiert“: Nur man selbst weiß wirklich, ob man etwas glaubt oder nicht. Nur man selbst weiß wirklich, ob man etwas beabsichtigt oder nicht. Und genau genommen weiß auch nur man selbst wirklich, ob man etwas wünscht oder nicht. Andere beobachtende Personen müssen sich bei ihrer Beurteilung in vielen Fällen auf Indizien stützen. Das gilt jedoch nicht für jede Eigenschaft der Person: Der Beobachter weiß mindestens so gut wie ich, ob ich ein freundlicher oder unfreundlicher Zeitgenosse bin. Er weiß mindestens so gut wie ich, ob ich mich höflich verhalten oder eine ärgerliche Mine gemacht habe

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oder nicht. Aber er weiß nicht in der gleichen Weise wie ich, ob ich tatsächlich ärgerlich war oder nicht. Die Grenze zwischen Eigenschaften einer Person, zu denen die Person selbst einen „epistemisch privilegierten“ Zugang hat und solchen Eigenschaften, bei denen das nicht der Fall ist, ist die gleiche Grenze, die mentale Zustände und Ereignisse von nicht-mentalen trennt.5 Im Allgemeinen sind Handlungen mit äußeren Vorgängen verknüpft. „Äußere Vorgänge“ sind nicht-mentale Ereignisse – zu diesen hat die Person selbst keinen „epistemisch-privilegierten“ Zugang. Handlungen haben im Allgemeinen sowohl einen mentalen als auch einen äußeren Aspekt. „A ermordete B“ impliziert, dass B nach dieser Tat tot ist. Dies impliziert aber auch, dass A absichtlich und mit motivierenden Absichten eines bestimmten Typs (sogenannte „niedrige Beweggründe“) gehandelt hat. Die handelnde Person hat zu ihren motivierenden Absichten einen „epistemisch-privilegierten“ Zugang – nur sie weiß wirklich (pathologische Fälle ausgenommen), welche motivierenden Absichten bei ihrer Tat eine Rolle gespielt haben. Man kann sich zwei Arten von Beobachtern eines Handelnden vorstellen: Ein Beobachter der ersten Art hat mit dem Handelnden natürliche und kulturelle Gemeinsamkeiten: Er hat ein ähnliches Gefühlsleben, ist in ähnlichen gesellschaftlichen Institutionen sozialisiert worden. Er kennt die Prägungen durch familiäre Beziehungen. Er weiß, was es heißt zu lernen, zu lesen und zu essen. Er kennt wie der Handelnde Gefühle der Freude, Angst oder Liebe. Der Beobachter der zweiten Art teilt mit dem Handelnden keine gemeinsame kulturelle Praxis, daher ist er nicht im Stande Intentionen, emotive Zustände, Verantwortlichkeiten und Handlungen zuzuschreiben. Er muss sich auf die Beschreibung im Modus der Naturwissenschaft beschränken. Der Bericht des ersten Be5

Gegenbeispiele wie die, dass ein Physiologe, der einer narkotisierten Person Reize in bestimmten Partien des Gehirns zufügt und aufgrund vorhergegangener Testreihen oder physiologischer Beobachtungen zu wissen glaubt, dass diese Person jetzt etwa Freude empfinde et cetera und damit besser über den Zustand der Person Bescheid wüsste als diese selbst, gehen in die Irre. Denn das Kriterium dafür, dass die Hypothese „diese Person empfindet gegenwärtig Freude“ zutrifft, ist, dass diese Person tatsächlich Auskunft gibt. Solange sie dies nicht tut, bleibt diese Vermutung in hohem Maße hypothetisch. Wenn der Neurophysiologe vermutet, dass diese Person augenblicklich Freude empfindet, dann muss er aus logischen Gründen vermuten, dass der betreffenden Person diese Freude momentan auch bewusst ist. Sein Problem ist möglicherweise, dass er sie danach nicht fragen kann, und sie nach dem Erwachen aus der Narkose vielleicht keine Erinnerung mehr an ihre mentalen Zustände während der Narkose hat.

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obachters notiert Handlungen, der des zweiten Körperbewegungen, Muskelkontraktionen, raum-zeitliche, mit den Mitteln der Naturwissenschaft beschreibbare Ereignisse. Interessanterweise ist das Verhältnis zwischen diesen beiden Beschreibungsformen asymmetrisch: Ein Bericht des ersten Typs ist mit einer großen, ja unendlich großen Zahl von Berichten des zweiten Typs verträglich. Verträglich in dem Sinne, dass sie beide simultan wahr sein können, während ein hinreichend vollständiger Bericht des zweiten Typs nur mit einem Bericht des ersten Typs verträglich ist. Die beobachtete Person findet sich in Berichten des ersten Typs wieder beziehungsweise kann Berichte des ersten Typs, teilweise in einer autoritativen Rolle, zurückweisen. „Ich habe ihn nicht bestochen“ (weil ich mit der Zuwendung nicht die Absicht verbunden habe, den Nutznießer zu der betreffenden Handlung zu bewegen). Die beobachtete Person ist gegenüber dem Beobachter des ersten Typs epistemisch privilegiert, nicht jedoch hinsichtlich des Beobachters des zweiten Typs. Die Asymmetrie hängt damit zusammen, dass für fast jede (generische) Handlung gilt, dass sie durch eine unendliche Vielfalt von (generischen) Verhaltensereignissen realisiert werden kann. Während die Umkehrung nicht gilt, auch wenn eine gewisse Unterbestimmtheit dadurch entsteht, dass Handlungen durch die Verbindung von Verhalten und Intentionalität individuiert sind. Diese Gegenüberstellung der Berichte des ersten und des zweiten Typs entspricht einer naturalistischen und einer nicht-naturalistischen Betrachtungsweise menschlicher Aktivitäten. Strawson spricht von zwei unterschiedlichen Standpunkten zur Betrachtung menschlichen Verhaltens, dem teilnehmenden im Gegensatz zum objektiven beziehungsweise dem beteiligten im Gegensatz zum unbeteiligten Standpunkt. Der eine Standpunkt ist mit einer Palette von Verhaltensweisen und Reaktionen verbunden, von der der andere unabhängig ist: Ist der Standpunkt der Teilnahme und Beteiligung, mit dem wir von Natur aus und durch die Gesellschaft fest verbunden sind, der richtige, dann sind manche Taten von Menschen tatsächlich moralisch tadelns- oder lobenswert, verabscheuungs- oder bewunderungswürdig, geeignete Gegenstände der Dankbarkeit oder des Mißfallens. […] Ist andererseits der sogenannte ‘objektive’ Standpunkt der einzige, von dem wir die Dinge so sehen, wie sie wirklich sind, dann sind unsere sämtlichen moralischen und quasi-moralischen Urteile, ganz gleich wie natürlich und allgemein anerkannt sie sein mögen, nicht mehr als natürliche menschliche Reaktionen (Strawson 1987, 45 f.).

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Strawson bezeichnet in etwa das, was bei uns der Bericht des zweiten Beobachters ist, als „äußerlichen Standpunkt“, den man als Teilnehmer einer Sprach- und Kulturgemeinschaft in keinem Fall ständig einnehmen kann. Das Verständnis der Sprachpraxis anderer ergibt sich aus unserer Rolle als Beobachter des ersten Typs. Als Mitglieder einer Sprachgemeinschaft haben wir nicht nur das Bedürfnis, das zu sagen, von dem wir erwarten, dass es die Zustimmung der anderen findet, sondern das, was nach unserer Auffassung Kriterien der Angemessenheit, des Zutreffens et cetera genügt. Wenn wir der Auffassung sind, ein bestimmtes Überzeugungssystem sei inkonsistent, dann meinen wir als (potenzielle) Mitglieder einer Sprachgemeinschaft beziehungsweise als Beobachter des ersten Typs etwas anderes als eine tatsächliche oder potenzielle Ablehnung innerhalb einer Sprechergemeinschaft. Bezüglich beider Berichte (des ersten und des zweiten Beobachters) kann man sich jeweils eine erklrende Theorie vorstellen. Diese Theorien erklären nicht die Berichte6 insgesamt, sondern einzelne Aussagen des Berichtes, die sich auf Ereignisse, Vorgänge, Handlungen et cetera beziehen. Würden diese beiden erklärenden Theorien von gleichem oder ganz verschiedenem Charakter sein? In der Diskussion um Handlungsgründe werden Kausalisten und Anti-Kausalisten unterschieden. Unter den Kausalisten gibt es „naturalistische“, die eine Ursachenanalyse nur in Bezug auf den zweiten Bericht für möglich halten und nicht-naturalistische, die alle Elemente des ersten Berichtes grundsätzlich für kausal erklärbar halten. Nach der naturalistischen Auffassung gilt diese Erklärbarkeit im Rahmen des ersten Berichtes, das heißt zur kausalen Erklärung eines im zweiten Bericht erwähnten Ereignisses sind ausschließlich Informationen notwendig, die Bestandteil eines vollständigen Berichtes der zweiten Art wären. Der nicht-naturalistische Kausalist behauptet die kausale Erklärbarkeit nicht bezüglich der Elemente des ersten Berichtes allein, sondern lässt die Einbeziehung von Informationen zu, die nur der erste Beobachter geben kann: (interne) Handlungsgründe spielen dabei eine zentrale Rolle. Für naturalistische Kausalisten sind interne Handlungsgründe zugleich Ursachen der

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Das gilt in „formaler Redeweise“: Das, was erklärt werden soll, wird mit seiner sprachlichen Darstellung identifiziert. Diese gern gebrauchte Redeweise darf nicht dazu verführen, ontologische Kategorienfehler zu begehen: Natürlich werden Sachverhalte, Ereignisse, Vorgänge und nicht Sätze oder Propositionen erklärt.

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Handlung, während für Anti-Kausalisten Gründe als Ursachen der Handlung nicht infrage kommen. Der zweite Beobachter hat zum Zeitpunkt t Kontraktionen der Muskeln M237, M364, M173 et cetera festgestellt (K). Eine Erklärung würde unter anderem bestimmte elektromagnetische und osmotische Veränderungen erwähnen, die der Beobachter vor Ort beobachten konnte. Der erste Beobachter hat zu t notiert, S habe die Hand gehoben (H). Um eine Erklärung gebeten, erläutert er, S habe den Patienten vor einer unbedachten Bewegung warnen wollen. Der erste Beobachter führt eine (vermutete) Absicht als Erklärung für H an (E1), während der zweite Beobachter physiko-chemische Vorgänge zur Erklärung von K heranzieht (E2). Nun ist H eine „reine Körperhandlung“: Wir können zusätzlich annehmen, dass zwischen H und K eine direkte und eindeutige Entsprechung besteht, das heißt immer wenn K, dann auch H und umgekehrt. Beide Erklärungen scheinen sich also in diesem Fall auf den gleichen Vorgang (token) zu beziehen. Während jedoch eine direkte Entsprechung von H und K besteht, gibt es offensichtlich eine ähnliche Entsprechung zwischen (E1) und (E2) nicht: Die genannten elektromagnetischen und osmotischen Vorgänge korrespondieren nicht mit der Absicht von S, P zu warnen. Der Sachverhalt, dass sich zwar H und K entsprechen, aber nicht (E1) und (E2), deutet darauf hin, dass die beiden Erklärungen ganz unterschiedlichen Erklärungstypen angehören. Auch in dem Bericht des ersten Beobachters werden Vorgänge erwähnt, deren Erklärung sich nicht von der Erklärung dessen unterscheidet, was im Bericht des zweiten Beobachters diesen Vorgängen entspricht. So notierte der erste Beobachter um 13.05 Uhr „S rutschte aus“ und der zweite „Der Schwerpunkt der beweglichen und im wesentlichen plastischen Masse verlagerte sich innerhalb 0,2 sec. um 0,5 m in Richtung der Gravitationswechselwirkung…“. Die Erklärung dieses Vorkommnisses im ersten Bericht kann sich auf einen Verweis auf den geringen Reibungskoeffizienten Teppich/Linoleumboden und die starke Fliehkraft der engen Laufkurve beschränken, was auch für den zweiten Bericht eine akzeptable Erklärung wäre. Der erste Beobachter könnte jedoch zur Erklärung auch auf die Nervosität von S verweisen, was dem zweiten verwehrt ist. Naturalismus im weiteren Sinn ist die These, dass der zweite Beobachter bei ausreichendem Informationsstand die Möglichkeit hat die Beschreibung und Erklärung des ersten Beobachters überflüssig zu machen. Genau dies bestreitet der Non-Naturalist oder (theoretische)

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Humanist, wie ich ihn im ersten Kapitel von ber menschliche Freiheit (2005) charakterisiert habe.

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Anhang

Über menschliche Freiheit1 Julian Nida-Rmelin 1. Freiheit in der Lebenswelt Zunächst soll die Rolle der Freiheit in der Lebenswelt betrachtet werden. In seinem berühmt gewordenen Aufsatz Freedom and Resentment argumentiert Peter Strawson (1962) dafür, dass bestimmte moral sentiments oder reactive attitudes anderer Personen für uns gar nicht plausibel wären, wenn wir uns nicht wechselseitig Freiheit unterstellten. Dieser Aufsatz hat viele Debatten ausgelöst, die bis heute andauern. Es gibt sehr schöne Untersuchungen dazu, wie man Strawsons Grundargument – die Strawson’sche Perspektive – ausarbeiten kann, doch auf diese Debatten will ich nicht eingehen. Vielmehr soll zuerst die Stärke dieser Perspektive herausgearbeitet werden, um sie dann zu modifizieren. Die Stärke von Strawsons Perspektive beruht auf folgender Beobachtung, für die es keiner wissenschaftlichen Analyse bedarf, sondern die uns allen aus unserer Lebenswelt vertraut ist. Wenn wir zum Beispiel jemandem Vorwürfe machen und dann wird uns erklärt, dass die Person, der wir Vorwürfe gemacht haben, gar nicht im vollen Bewusstsein, das heißt in Abwägung der Alternativen und ihrer Konsequenzen wohl begründet gehandelt hat, sondern zum Beispiel aufgrund einer psychischen Beschädigung festgelegt war, sich in dieser Weise zu verhalten (Traumata können da eine Rolle spielen, in vielen Gerichtsverhandlungen kommt so etwas zur Sprache) – dann scheint es, dass wir geradezu gezwungen sind, unseren moralischen Vorwurf zurückzunehmen. Es hat 1

Als Scientist in Residence war ich eingeladen, auch einen Abendvortrag vor einem breiteren interessierten Publikum zu halten. Dieser orientierte sich über weite Strecken inhaltlich an dem Eingangstext dieses Bandes Vernunft und Freiheit, verzichtete jedoch auf Details und stellte die Argumentation in einen größeren philosophischen Kontext und war daher inhaltlich und formal verwandt mit meinem Eröffnungsvortrag zum Philosophicum Lech 2006, der hier in gekürzter Form abgedruckt wird. Es handelt sich um eine Tonbandabschrift; der mündliche Stil wurde nur leicht redigiert. Dafür danke ich Frau Christine Bratu, M.A. Die Langfassung findet sich in Liessmann (2007, 16 – 44).

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sich nichts anderes geändert: Das kritisierte Handeln hat nach wie vor jemanden zum Beispiel gekränkt oder geschädigt – vielleicht sogar einen selbst. Aber in dem Moment, in dem wir Gründe dafür hören, dass die Person ihr Verhalten gar nicht kontrolliert hat, dass sie es nicht als eine Person, der man Verantwortung für ihre Handlungen zuschreiben kann, getan hat, dann verzichten wir auf die moralische Beurteilung dieses Verhaltens. Das kann man durchspielen für eine Vielzahl von moralischen Einstellungen und Empfindungen, wie zum Beispiel Dankbarkeit, Sühne, Anerkennung, Kränkung, Vertrauen, Misstrauen und so weiter. An anderer Stelle habe ich hierzu ein Gedankenexperiment angestellt (welches für einige gar kein Experiment ist, sondern aus dem eigenen Umfeld vertraut) zu dem Umgang mit einem Alzheimer-Patienten (Nida-Rümelin 2005, Kapitel I). Ich würde nun sagen, die normale und auch angemessene Form mit ihm umzugehen ist, dass man zu Beginn der Krankheit die Person ganz normal verantwortlich macht für das, was sie tut und lässt. Es wird also weiterhin Auseinandersetzungen darüber geben, was richtig und falsch ist. Je weiter die Krankheit aber fortschreitet, umso unangemessener wird die Zuschreibung von Verantwortlichkeit werden. Vielleicht ist der Ärger über die eine oder andere Verhaltensweise noch unvermeidbar; aber er wird unangemessen, wenn er mit Vorwürfen verbunden ist. Das heißt es entsteht eine andere Einstellung gegenüber der kranken Person, und am Ende, wenn die Krankheit weit fortgeschritten ist, wird man sie überhaupt nicht mehr als moralisch verantwortlich und auch nicht mehr als frei in dem, was sie tut, interpretieren. Man wird lediglich versuchen, größere Probleme zu vermeiden, wie Selbstschädigungen, Fremdschädigungen und so weiter. Strawson spricht von zwei attitudes, einer subjective und einer objective attitude. Er meint, die subjektive Einstellung (subjective attitude) hätte etwas damit zu tun, dass man sich wechselseitig als moralischer Akteur wahrnimmt, sich selbst in einem echten Interaktionsverhältnis sieht. Die objektive Haltung sieht den anderen dagegen als Objekt, als äußeren Gegenstand, der mit verschiedenen Maßnahmen beeinflusst werden kann. Wir nehmen dann eine „objektive“, man kann in vielen Fällen auch sagen eine manipulative Haltung ein und fragen uns: „Was muss ich tun, damit ich die Person zu dem bringe, was ich mir vorstelle?“. Es ist ein wenig beunruhigend, dass in einem wesentlichen Strang der analytischen Philosophie, aus der ich ja selbst komme, zum Beispiel in der Ethik Moritz Schlicks (1930), diese Art der manipulativen Einstellung als Alternative zur Annahme genuiner menschlicher Freiheit gesehen wurde. Moritz Schlick behauptet in seiner Ethik, dass ethische Rationalität gerade darin

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bestehe, dass man sich überlege, wie man Menschen über Sanktionen, vielleicht auch über Vorwürfe, steuern kann, damit sie das tun, was man sich wünscht. Das ist eine Haltung, die nicht sehr respektvoll umgeht mit dem anderen; es ist eine Haltung, die andere im Wesentlichen als Gegenstand der Manipulation, der Steuerung und so weiter sieht. Allerdings muss Strawson an dieser Stelle modifiziert werden: Es sind nicht so sehr die Gefühle, sondern die Gründe, deren Rolle für die conditio humana zu beachten ist. Bei dem Alzheimer-Patienten, der einem etwa als enges Familienmitglied vertraut ist, wird man am Ende keine Haltung einnehmen, die mit dem Prädikat objektiv richtig charakterisiert ist. Man wird vielmehr mitfühlen. Man wird alles tun, damit es dieser Person gut geht. Erst recht gilt das für sehr kleine Kinder: Eltern haben gegenüber ihren Kindern keine objektive Haltung im beschriebenen Sinne, sondern sie identifizieren sich mit dem Wohl ihrer Kinder. Und diese Identifikation, diese starke emotionale Nähe zwischen Eltern und Kindern, ist vielleicht die wesentliche Voraussetzung für den Erziehungserfolg. Nun spitze ich das Argument zu. Solange Sie eine voll zurechnungsfähige Person vor sich haben, gibt es zu Recht Auseinandersetzungen. Es stellt sich zum Beispiel die Frage, ob ein bestimmtes Verhalten akzeptabel ist oder nicht. Hier werden Gründe geltend gemacht, und zwar nicht subjektive, sondern – jedenfalls vom Anspruch her – objektive. Die Vorwürfe, die man sich wechselseitig macht, wenn man sich und solange man sich ernst nimmt, besagen ja in etwa: „Das Verhalten, das du hier an den Tag legst, ist nicht akzeptabel.“ und nicht etwa: „Ich wünsche mir, dass du dich anders verhältst.“. Dies wäre eine völlig falsche Beschreibung der lebensweltlichen moralischen Auseinandersetzung.2 Stattdessen ist der eine tatsächlich überzeugt davon, ein bestimmtes Verhalten sei falsch, während der andere ebenso davon überzeugt ist, es sei richtig. Dann bringen sie Gründe pro beziehungsweise kontra dieses Verhalten vor. Und diese Gründe könnten wir gar nicht angemessen verstehen, würden diese Gründe nicht normative Überzeugungen, das heißt Überzeugungen, dass es sich so und nicht anders verhält, zum Ausdruck bringen. Das heißt auf einmal kippt gewissermaßen das Bild: Es entspricht einer in diesem Sinne objektiven Einstellung sich wechselseitig Freiheit und 2

Diese problematische Intepretation normativer Aussagen als Ausdruck impliziter emotiver Einstellungen (Emotivismus) oder impliziter Vorschriften (Präskriptivismus) charakterisiert den metaethischen Non-Kognitivismus. Vgl. den Klassiker des Emotivismus Stevenson (1944) und den des Präskriptivismus Hare (1952).

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Verantwortung zuzuschreiben. In vielen Fällen wird diese Einstellung subjektiv gestärkt durch Emotionen, durch Bindungen, durch NäheGefühle – selbst dann, wenn ich die Zuschreibung von Freiheit und Verantwortung graduell (wie im Falle des Alzheimer-Beispiels) zurückziehen muss. Hier ist schon der erste Hinweis darauf, dass in der philosophischen Klärung der Freiheitsproblematik Gründe die Schlüsselrolle spielen, und moralische Gefühle, sofern sie sich von Gründen leiten lassen.

2. Freiheit zwischen Lebenswelt und Wissenschaft Wir haben bisher nur von Lebenswelt gesprochen und noch überhaupt nicht von Wissenschaft. Die Freiheitsthematik ist jedoch in der Geschichte der Philosophie meistens durch die Forschungsergebnisse einzelner empirischer Wissenschaften virulent geworden, welche die lebensweltlichen Erfahrungen und Intuitionen bezüglich Freiheit und Verantwortung infrage zu stellen schienen. Wenn man den Begriff „Wissenschaft“ großzügig fasst, dann geht dieser bis fast in die Antike zurück. Ein Beispiel hierfür ist die große Auseinandersetzung in der Stoa um die Freiheitsthematik, die zweifellos auf einem sehr hohen Niveau ausgetragen wurde, wie wir etwa den Fragmenten von Chrysipp (2004) entnehmen können, die von beeindruckender Differenziertheit sind. Diese Auseinandersetzung war eine Urform des Konfliktes zwischen Lebenswelt und Wissenschaft, denn die Stoa vertrat die Vorstellung, dass die ganze Welt nach strengen Vernunft-Gesetzen geregelt sei. Die Trennung von Vernunft-Gesetzen und kausalen Gesetzen ist für die Stoa nicht charakteristisch, vielmehr betrachtet sie diese beiden Elemente als eine Einheit. Die Frage ist nun, welche Rolle dann die persönliche Verantwortung spielt. In der Stoa spitzt sich dieses Problem bereits extrem zu, wie sich an der Rede über die adiaphora zeigt, das heißt über die Dinge, gegenüber denen wir indifferent sein sollten, weil wir sie ohnehin nicht beeinflussen können. Die Dinge, die wir beeinflussen können, sind dagegen eph hemin, im Englischen up to us, liegen in unserer Verantwortung. Wenn es nur diese zwei großen Kategorien gibt, dann stellt sich die Frage, wie sich Freiheit in die Vorstellung integrieren lässt, dass der gesamte Kosmos – einschließlich der einzelnen Personen in diesem Kosmos – nach strikten naturwissenschaftlichen, dem logos, der Vernunft entsprechenden Gesetzmäßigkeiten organisiert, ja determiniert ist?

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Eine zweite Offensive deterministischer Metaphysik wird durch den Erfolg der Newton’schen Physik ausgelöst. Immanuel Kant hätte seine Erkenntnistheorie wahrscheinlich nicht so geschrieben, wie er es getan hat, wenn die Newton’sche Physik nicht dieses Faszinosum gewesen wäre. Die klassische Physik ist so wunderschön klar, beeindruckend und geschlossen, dass ich es bedauere, dass sie spätestens Ende der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts nicht mehr zu halten war. Diese klassische Physik, auch die relativistisch erweiterte klassische Physik, schien nun ein bestimmtes Bild der Welt nahe zu legen, in dem Freiheit keinen Platz hat. Nach diesem Bild existieren lauter Masse-Pünktchen, die durch Wechselwirkung, also Kräfte, aufeinander wirken. Dies sind im Wesentlichen Gravitations- und elektrostatische Wirkungen; vor Einstein sprach man zudem noch von magnetischen Kräften, heutzutage zusätzlich von starker und schwacher Kern-Wechselwirkung. Und alles in der Welt besteht aus solchen Teilchen, die sich bewegen und zum Beispiel in Kristallstrukturen schwingen und so weiter. Dieses Bild ist streng deterministisch. Zwar können wir es nicht en detail beschreiben, weil uns hierzu die Rechnerkapazitäten und das Gehirn fehlen ebenso wie die Papiermengen, um alle relevanten Daten aufzuschreiben – aber so ist es. Wo bleibt da noch so etwas wie ein Freiheitsspielraum für menschliches Handeln? Folgerichtig stellt dies eine weitere Phase der Auseinandersetzung zwischen Determinismus und Freiheitsintuition dar. Die Darwinistische Biologie des 19. Jahrhunderts schien ebenfalls unsere lebensweltlichen Freiheits- und Verantwortungsintuitionen zu erschüttern, insbesondere der Sozialdarwinismus mit seiner deterministischen Metaphysik. Weitere Erschütterungen waren die Psychoanalyse in einer irrationalistischen Lesart, die die Kunst, besonders die britische und amerikanische Filmkunst inspirierte, und natürlich die historistischen und szientistischen Strömungen im Marxismus. Gegenwärtig erleben wir eine vierte oder vielleicht fünfte Offensive deterministischer Metaphysik, diesmal ausgelöst durch die Neurophysiologie beziehungsweise durch die Interpretation neurophysiologischer Ergebnisse durch einige Neurowissenschaftler (denn beileibe nicht alle Neurowissenschaftler teilen diese Ansicht).3 Wir haben hier demnach einen Konflikt und ich kann und will diesen Konflikt nicht in diesem Vortrag lösen. Ich will aber den Hinweis geben, 3

Vgl. Köchy/Stederoth (2006) sowie die Dokumentation einer interdisziplinären Debatte um Willensfreiheit unter Beteiligung aller Klassen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (2004; 2006).

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dass der bestehende Konflikt sich dadurch in einer unnötigen Weise zuspitzt, dass man eine im Grunde immer noch kartesische Erwartung an die Wissenschaft richtet, so wie es Descartes in seinen Meditationes (1641, 63) beschreibt: Schon vor Jahren bemerkte ich, wie viel Falsches ich von Jugend auf als wahr hingenommen habe und wie zweifelhaft alles sei, was ich später darauf gründete; darum war ich der Meinung, ich müsse einmal im Leben von Grund auf alles umstürzen und von den ersten Grundlagen an ganz neu anfangen, wenn ich später einmal etwas Festes und Bleibendes in den Wissenschaften errichten wollte.

Alles Wissen wäre demnach unsicher, denn es könnte ja sein, dass wir es nur träumten. Daher brauchen wir ein sicheres Fundament, das alles neu absichert. Nur dann haben wir methodisch eine neue Begründung und nur in diesem Sinne, das heißt unter Rückgriff auf dieses fundamentum inconcussum, kann die Begründung unserer Überzeugungen streng wissenschaftlich sein. Diese Ansicht, dass alles andere unsicher sei und nur die Wissenschaft auf sicheren Überzeugungen beruhe, existiert nach wie vor. Auch wenn ich diesen Punkt nicht vertiefen will, so muss doch klargestellt werden, dass dies ein falsches Bild von der Wissenschaft ist, schon deswegen, weil eine kartesische, globale Skepsis nicht möglich ist (Nida-Rümelin 2006, 30 f.). Natürlich kann man im philosophischen Klassenzimmer eine globale Skepsis versuchen, aber schon der allererste Beginn von Wissenschaft setzt viel voraus – logische Inferenzregeln, erkenntnistheoretische und ontologische Präsuppositionen ebenso wie interpersonale Verhältnisse und linguistische Bedingungen. Wir bezweifeln nicht die Existenz der alltäglichen, mittelgroßen, festen, unseren Sinnen zugänglichen Dinge unserer Lebenswelt, wir ordnen unsere Wahrnehmungen gemäß der lebensweltlichen Anschauungsformen von Raum und Zeit, wir halten uns an Schlussregeln, die nicht erst die moderne mathematische Logik erfunden hat, wir schreiben anderen aufgrund ihrer Äußerungen Überzeugungen und Intentionen zu, wir verwenden die Begriffe entsprechend ihrem normalen Gebrauch. Der allererste Schritt in die Wissenschaft ist immer schon lebensweltlich imprägniert, und in der weiteren Entwicklung wissenschaftlicher Theorien kommt es in der Regel nicht zu einem Konflikt zwischen wissenschaftlicher Theorie und lebensweltlicher Überzeugung. Das empirische und normative Orientierungswissen ist nicht aus der Wissenschaft abgeleitet, sondern Konstitutionsbedingung von Wissenschaft und wird zwar gelegentlich im Laufe wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse modifiziert, aber nie in toto infrage gestellt. Dies gilt

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auch für die moderne Physik: Sie ist zwar unanschaulich und man kann ihre Modelle nur schwer nachvollziehen – aber man nenne mir eine einzige lebensweltliche empirische Überzeugung oder Beobachtung, die mit der modernen Physik in Konflikt gerät. Man könnte anführen, dass es zum Beispiel Gleichzeitigkeit bei Einstein nicht mehr gibt, aber dies gilt doch nur unter extremen Bedingungen, die lebensweltlich gar nicht vorkommen. Für die Lebenswelt ist die Relativierung der Gleichzeitigkeit irrelevant, denn wir bewegen uns nicht in Geschwindigkeitsbereichen nahe der Lichtgeschwindigkeit. Ebenso sind uns die Mikrovorgänge der Quantenphysik, deren wissenschaftliche Beschreibungsformen sich einer realistischen Interpretation verweigern, lebensweltlich nicht zugänglich. Ich will es noch ein Stück weiter treiben und eine Wissenschaft ansprechen, bei der sich die Situation unklarer darstellt, nämlich beim Verhältnis von lebensweltlichen Überzeugungen und Psychologie. Auch hier könnte man die Meinung vertreten, die Erkenntnisse der Psychologie ersetzten immer mehr unsere lebensweltlichen Überzeugungen bezüglich dessen, welche Intentionen Menschen haben, was sie antreibt, dieses oder jenes zu tun, und so weiter. Doch selbst im Falle einer Wissenschaft, die nicht die Dignität und Sicherheit der klassischen Physik hat, würde ich behaupten, dass die Theorie ein Beitrag zur Rekonstruktion und zur Systematisierung von Überzeugungen und Beobachtungen ist, die ihren Ausgang in der lebensweltlichen Erfahrung haben. Wir schreiben uns zum Beispiel wechselseitig bestimmte mentale Zustände zu; ohne diese Zuschreibungen kann die Lebenswelt nicht funktionieren ebenso wenig wie die Psychologie. Dies ist der Beginn. Doch dann kann irgendwo der Bedarf für Korrekturen eintreten. Man wird sehen, dass es bestimmte Inkohärenzen in unseren lebensweltlichen Überzeugungen gibt – und diese kann vielleicht die psychologische Theorie auflösen. Um es auf den Punkt zu bringen: Das, was in der amerikanischen oder englischen Literatur gerne als folk-psychology bezeichnet wird, wird nicht ersetzt durch eine andere Disziplin, nämlich die Psychologie, sondern ergänzt und sicher auch modifiziert, bleibt aber in seiner Substanz unangetastet. Das Verhältnis ist eher eines der Rekonstruktion: die wissenschaftliche Psychologie rekonstruiert wichtige Elemente der folk psychology, systematisiert diese und erlaubt im günstigen Falle „Tiefenerklärungen“ für „Oberflächenphänomene“. Aber die folkpsychology bleibt lebensweltlich unverzichtbar und ist Ausgangspunkt und Orientierungsmarke der wissenschaftlichen Psychologie.

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Wir haben demnach ein empirisches Orientierungswissen, das unsere Lebenswelt prägt und nicht erst durch wissenschaftliche Erkenntnis etabliert wird. Ebenso haben wir ein normatives Orientierungswissen, zum Beispiel bezüglich unserer je spezifischen Verantwortlichkeiten, bestimmten Regeln, nach denen wir unsere lebensweltliche Praxis beurteilen und so weiter. Und wir haben ein anthropologisches Orientierungswissen – wobei ich mir nicht ganz sicher bin, ob dieses aufzuteilen ist zwischen erster und zweiter Kategorie, sodass ich es als einen dritten Bereich einführe – also ein bestimmtes Selbstbild darüber, was uns und andere als Menschen ausmacht. Unser Selbst- und Menschenbild ist wesentlich für unsere Lebenswelt. Gegenüber diesem Orientierungswissen, dessen drei Bereiche eng miteinander verkoppelt und eigentlich gar nicht säuberlich trennbar sind, ist eine globale Skepsis unmöglich. Eine globale Skepsis würde bedeuten, dass wir unsere lebensweltliche Interaktion, Verständigung, Kommunikation zugleich in Zweifel zögen, und damit auch das Fundament des philosophischen Argumentes verlören. Diese Position soll nicht als philosophischer Quietismus missverstanden werden; es soll nicht behauptet werden, dass alles, so wie es ist, gut sei (Nida-Rümelin 2006, 35 f.). Es gibt genug Inkohärenzen, um unsere lebensweltlichen Intuitionen – vor allem diejenigen, die die Ethik betreffen – kritisch aufzuklären. Zudem treten neue Handlungsbereiche auf, wie etwa die neuen Biotechnologien, die uns nicht vertraut und denen gegenüber wir offenkundig relativ ratlos sind, wie die Diskussion zeigt, die alle paar Wochen in den Zeitungen meist mit den immer gleichen Argumenten ausgetragen wird. Missverstehen Sie daher die dargestellte Position nicht im Sinne eines „Alles ist gut, wie es ist“. Das war vielleicht die Attitüde des späten Wittgenstein, ich aber teile diese nicht. Die Freiheitsthematik zwischen Lebenswelt und Wissenschaft – markiert sie möglicherweise einen Konflikt, in dem die Philosophie auf der Seite der Lebenswelt steht und die Neurowissenschaft dagegen? Ein Streit der Fakultäten, in dem die Philosophie versucht, unsere Alltagssituationen zu verteidigen gegen offenkundige empirische Befunde, die gegen unsere Alltagswahrnehmung sprechen? So ist es sicher nicht, allein schon, weil die Konfliktlinien nicht zwischen, sondern innerhalb der Fakultäten verlaufen. Die Konfliktlinien stecken ein breites Spektrum von Positionen ab, in dem man zum einen unterscheiden kann zwischen Kompatibilisten beziehungsweise Non-Kompatibilisten und AntiKompatibilisten, also denjenigen, die kein Problem für die Zuschreibung von Freiheit und Verantwortung sehen, selbst wenn die Welt durch-

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gängig deterministischen Gesetzen folgen würde, und ihren Gegnern. Gemäß dieser Position ist ausschlaggebend, dass wir das tun können, was wir tun wollen, aber nicht auch, dass unser Wollen wiederum frei ist. Zum zweiten muss man differenzieren zwischen denjenigen, die behaupten, dass unsere lebensweltlichen Freiheitsintuitionen im Großen und Ganzen korrekt seien, dass wir also frei sind, und denjenigen, die der Ansicht sind, dass diese Intuitionen falsch und wir in Wirklichkeit nicht frei seien. Das sind zwei verschiedene Unterscheidungen, die entsprechend ein weites Spektrum von Positionen aufspannen. Dieses kann man noch erweitern, wenn man zudem eine weitere Position aufnimmt: Nämlich die Position derjenigen, die sagen, dass ein Universal-Determinismus zwar unvereinbar mit Freiheitsintuitionen sei; dass diese Unvereinbarkeit aber nicht zum Konflikt führen muss zwischen einer Naturwissenschaft, die sich auf deterministische Gesetze stützt, und einer Theorie des Menschen, einschließlich zum Beispiel der Psychologie, die auf anderen Prämissen fußt – denn diese Unvereinbarkeit zeigt sich nicht. Es handelt sich hierbei um eine Kompatibilität auf der Ebene unserer Wissensbestände, der aber keine Kompatibilität auf der Ebene der Sachverhalte, der Tatsachen als solchen, entspricht. Nimmt man diese letzte Position hinzu, dann wird das Spektrum noch weiter aufzuklären und zu differenzieren sein. Die Frage ist, ob es – etwa im Vergleich zum 18. oder 19. Jahrhundert – unterdessen eine neue Situation der naturwissenschaftlichen empirischen Befunde gibt, die eine Herausforderung bislang nicht gekannter Form darstellt für Freiheitsintuitionen beziehungsweise für die Theorien, die solche Freiheitsintuitionen systematisieren – wie beispielsweise die Philosophie. Mir scheint Folgendes auf der Hand zu liegen: Das Forschungsprogramm, das sich manche im Bereich der Neurowissenschaft vorgenommen haben, besteht darin, Elemente, die wir in unserer lebensweltlichen Praxis zur Begründung von Handlungen anführen, in der Erklärung dieses Handelns durch eine andere Beschreibung zu ersetzen; nämlich eine, die lediglich Bezug nimmt auf neurophysiologische Prozesse und Gesetzmäßigkeiten. Diese Heuristik der Disziplin muss aber in einen gewissen Konflikt geraten mit unseren lebensweltlichen Freiheitsintuitionen ebenso wie mit den philosophischen Theorien, die diese systematisieren. Denn wenn der Theorierahmen, in dem diese Erklärungen erfolgen, deterministisch ist und – definitionsgemäß – ohne Rekurs auf das Abwägen von Gründen auskommt, da Gründe in naturwissenschaftlichen Disziplinen keinen methodischen Ort haben, scheint das, was für unser Selbstbild und unsere lebensweltliche Praxis so

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zentral ist, in der wissenschaftlichen Perspektive irrelevant zu werden. Dies kann man als eine Herausforderung in zwei entgegengesetzte Richtungen verstehen. Eine Herausforderung an unsere lebensweltlichen Intuitionen und diejenigen wissenschaftlichen Disziplinen, wie die Ethik, die Handlungstheorie, die Anthropologie, aber auch die sozialwissenschaftlichen, historischen und philologischen Diszplinen, die diesen Intuitionen vertrauen – und eine Herausforderung an die Neurophysiologie, der lebensweltlichen Rolle von Gründen, der Zuschreibung von Freiheit und Verantwortung eine naturwissenschaftliche Beschreibungsform hinzuzufügen. Es wäre jedenfalls ein Trugschluss zu meinen, dass allein die gegenwärtige Forschungslage in den hier relevanten Disziplinen, die Freiheitsthematik so (im Sinne eines naturalistischen Determinismus) oder so (im Sinne des freien und verantwortlichen Akteurs) festlegen könnte. Eines liegt jedenfalls auf der Hand: die bisherigen empirischen Befunde sind viel zu schwach, um die These zu tragen, man habe jetzt widerlegt, dass es so etwas gäbe wie Freiheit des Handelns beziehungsweise Freiheit des Willens. Deswegen gibt es keinen Grund, auf der Basis der Befunde der zeitgenössischen neurowissenschaftlichen Forschung zum Beispiel das Strafrecht zu reformieren und ein neues Strafrecht zu entwickeln, das ohne den Verantwortungsbegriff auskommt. Wenn solche Ziele ernsthaft verfolgt werden sollten, dann würde es ernst; dann müssten wir anders mit dieser Thematik umgehen, als wir es bislang auf Tagungen praktizieren. Einem Programm, das in dieser Weise an die Substanz der normativen Ordnung unseres Rechts und unseres Staates geht, müsste man mit politischen Mitteln entgegentreten. Tatsächlich gibt es hier und da Tendenzen, das Strafrecht zu reformieren, und sie sind meistens gut gemeint. Manche sprechen sogar von einer Humanisierung des Strafrechts, selbst wenn nicht recht zu sehen ist, wie aus einer solchen Reform eine Humanisierung resultieren soll. Ausschlaggebend ist jedoch, dass eine solche Tendenz die zentralen Elemente, nämlich Verantwortlichkeit des Akteurs, Würde des Einzelnen – im Sinne einer nicht verrechenbaren Würde, wie Kant sie sehr schön auf den Begriff gebracht hat – gefährden würde, sodass die Anschlussfähigkeit der Rechtspraxis an unsere lebensweltliche moralische Praxis nicht mehr gegeben wäre und eine Verelendung, ja Entmenschlichung der politischen und juridischen Praxis drohte.

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3. Gründe und Freiheit Es wurde anfangs angedeutet, dass die Freiheitsthematik aus der von mir eingenommenen Perspektive etwas zu tun hat mit der Rolle von Gründen. Dies soll nun näher erläutert werden. Allerdings stellt sich zuerst die Frage, was für eine Rolle Gründe generell haben. Ich hatte die Strawson’sche Perspektive rekonstruiert und dahingehend modifiziert, dass das entscheidende Element das Spiel des Begründens ist. Wir machen den anderen verantwortlich, wir ziehen ihn zur Rechenschaft, indem wir wollen, dass er sein Handeln begründet; und wir bringen Gegengründe und nehmen ihn dadurch ernst, indem wir mit ihm in dieses Spiel des Begründens einsteigen. Erst wenn wir merken, dass der andere an diesem Spiel nicht partizipieren kann, zum Beispiel weil er an Alzheimer erkrankt ist, ist die Zuschreibung von Verantwortlichkeit und Freiheit nicht mehr angemessen. Dies war die These. Hier stellt sich natürlich sofort die Frage, was gute beziehungsweise schlechte Gründe sind. Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten. Denn es gibt zwar im philosophischen Theorieangebot eine Menge konkreter Antworten – etwa seitens des Utilitarismus, des Kantianismus, des Libertarismus oder partikularistischer Theorien; aber alle diese Theorien geraten in einen gewissen Konflikt mit unserer lebensweltlichen Praxis des Begründens. Für unser weiteres Argument ist hier nur Folgendes wesentlich – damit vertrete ich eine Minderheitenposition in der aktuellen philosophischen Debatte: Nämlich dass diese Gründe, die wir für einzelne Handlungen anführen, nicht etwa bei den Wünschen, die der Akteur hat, enden können. Die Auffassung, dass Gründe in Wünsche münden, entspricht dem, was manchmal als Hume’sches desire-belief Schema bezeichnet wird. Wobei es sinnvoll ist, die desires zuerst zu nennen, weil die beliefs lediglich dazu dienen, die desires in konkrete Handlungsoptionen zu übersetzen. Wenn ich nun – wie es in der lebensweltlichen Praxis tatsächlich geschieht – behaupte, eine bestimmte Handlung sei gerechtfertigt, weil ich den Wunsch habe, das zu tun, dann findet de facto eine Qualifizierung statt. Denn tatsächlich wird implizit zugleich ausgesagt, dass dieser Wunsch ein legitimer Wunsch sei, das heißt dass es sich um einen Wunsch handelt, der nicht mit den Rechten anderer oder mit dem Respekt, den wir gegenüber anderen Menschen haben sollten, kollidiert. Wir nehmen also wertend Stellung zu unseren eigenen Wünschen. Wir sagen nicht, dass ein bestimmter Wunsch eine bestimmte Handlung rechtfertigt, einfach nur, weil es sich um einen de facto gegebenen Wunsch handelt – sondern weil es ein legitimer Wunsch ist.

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Zudem scheint mir – wenn man die verschiedenen Begründungsspiele unserer Lebenswelt sichtet –, dass nur ein kleiner Teil von Begründungen diesem Typus angehört. Tatsächlich scheinen viele unserer Begründungspiele überhaupt nicht an dem, was wir wünschen, anzusetzen, sondern vielmehr an normativen Überzeugungen: Wir haben bestimmte Wünsche und diese Wünsche können wir begründen – aber nicht durch Rückgriff auf grundlegendere Wünsche, aus denen wir diejenigen erster Ordnung ableiten, sondern lediglich aufgrund bestimmter normativer Überzeugungen. Wenn zum Beispiel jemand der Meinung ist, dass die Bestrafung einer Person gerecht sei, so spielen bei der Begründung dieser normativen Überzeugung eigene Wünsche keine große Rolle. Zwar kann jemand, der die besagte Überzeugung hat, zugleich den Wunsch ausprägen, dass die betreffende Person bestraft wird. Aber dieser Wunsch ist nicht Ausdruck eines basalen Wunsches, der höchstens modifiziert wird durch bestimmte hinzutretende Überzeugungen – sondern die normative Überzeugung, was gerecht und ungerecht ist, bestimmt diesen Wunsch unmittelbar (Nida-Rümelin 2001, Kapitel I). Man könnte versuchen, das desire-belief Schema durch den Hinweis zu retten, dass es dennoch bestimmte Wünsche gibt, die nicht durch Überzeugungen imprägniert sind. So habe ich im Laufe eines Tages immer wieder Hunger und dieser mentale Zustand, Hunger zu haben, tritt immer gemeinsam mit dem Wunsch auf, diesen Hunger zu stillen. Und es ist schwierig, sich jemanden vorzustellen, der Hunger hat und nicht gleichzeitig auch den Wunsch verspürt, den Hunger zu stillen. Wenigstens ein Teil unserer Praxis des Begründens scheint demnach auf solche nicht kritisierbaren, basalen Wünsche – das heißt Wünsche, die selbst nicht das Ergebnis von Deliberation sind – Bezug zu nehmen. Tatsächlich wäre die bloße Existenz bestimmter basaler Wünsche jedoch nicht verheerend für mein Argument – aber ich bestreite selbst das. Denn auch diejenigen Wünsche, die meist als Kandidaten für basale Wünsche vorgebracht werden, können noch einer rationalen Kritik – das heißt einer Kritik anhand von Gründen – unterzogen werden. Ein Beispiel hierfür wäre eine übergewichtige Person, die Hunger hat, aber dennoch nicht den Wunsch hat zu essen, weil sie weiß, dass eine weitere Gewichtszunahme ihrer Gesundheit schaden würde. Was sagt das aus in Bezug auf die Freiheitsthematik? Zuerst einmal, dass wir jemandem Freiheit und Verantwortlichkeit zuschreiben, sofern wir die Person im Stande sehen, Gründen zu folgen, Gründe abzuwägen, Gründe hervorzubringen und wir mit der Person anhand von Gründen streiten können, ob etwas angemessen ist oder nicht. Allerdings könnte

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man fragen, was das Vorbringen von Gründen mit Freiheit zu tun haben soll, da es ja sein könnte, dass die Gründe, die ich vorbringe, alle schon immer präformiert sind. Das heißt meine Gründe könnten immer schon eindeutig festgelegt sein durch meine Biografie, meine Sozialisation, meine Psychologie und so weiter, sodass ich gar nicht anders kann als die Gründe vorzubringen, die ich vorbringe. So verstanden wäre es eine lebensweltliche Illusion, dass das Hervorbringen von Gründen etwas mit Freiheit zu tun habe. Auch auf diese Frage möchte ich antworten, indem ich an die Lebenswelt anknüpfe: Wenn jemand um die Begründung einer Handlung gebeten wird und sagt, er hätte die betreffende Handlung ausgeführt, weil er bestimmte Traumata in seiner Jugend davon getragen habe, dann würden wir dies nicht als Begründung akzeptieren. Wir würden ihm ins Wort fallen und sagen, er solle keine kausale Erklärung abgeben, sondern die Gründe nennen, die seine Handlung rechtfertigen. Als Philosoph kann man natürlich hartnäckig sein und hierauf erwidern, dass es zwar augenscheinlich in unserer lebensweltlichen Praxis zwei unterschiedliche Kategorien der Begründung gibt, von denen eine das Austauschen von rechtfertigenden Gründen ist. Gleichzeitig könnte man aber darauf beharren, dass sich die dargestellte Form des Begründens, also des Rechtfertigens von Handlungen, übersetzen lässt in den kausal-erklärenden Modus. Unser Selbstbild und unser Fremdbild gehen davon aus, dass Gründe in der Tat für das, was wir tun, wie wir leben, wie wir interagieren et cetera, eine kausale Rolle spielen, aber dass diese kausale Rolle von Gründen nicht schon vor der Deliberation feststeht. Ansonsten wäre die Deliberation kausal irrelevant und es hätte lediglich den Anschein, dass sie relevant ist. Die entscheidende Frage ist nicht, ob Gründe Ursachen sind, sondern ob Gründe naturalistische Ursachen sind, das heißt solche Ursachen, die sich mit den begrifflichen Möglichkeiten der Naturwissenschaften vollständig beschreiben lassen. Meine These, dass Rationalität, Freiheit und Verantwortung eine naturalistische Unterbestimmtheit unserer Begründungsspiele voraussetzen, ist nicht so zu lesen, dass Gründe keine Ursachen seien (sein könnten), sondern dass ihre kausale Rolle eine andere ist als die aus naturwissenschaftlichen Beschreibungen vertraute. Gründe sind, wie ich in Strukturelle Rationalitt (2001) ausgeführt habe, immer normativ (unabhängig davon, ob es Klugheits- oder MoralGründe, ob es gute oder nur vermeintliche Gründe sind) und unser Handeln ist immer von Gründen gesteuert (dies ist eher (sic) eine begriffliche als eine empirische Behauptung). Ihre normative Rolle kann naturalistisch nicht vollständig erfasst werden.

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Nur ein gradualistisches Verständnis der Rolle von Gründen scheint mir angemessen zu sein. Es gibt nicht rationale und irrationale, freie und unfreie, verantwortliche und unverantwortliche Handlungen, Urteile (Überzeugungen) und (nicht-propositionale) Einstellungen (Gefühle oder Bestandteile von Gefühlen, die einer Begründung fähig sind), sondern mehr oder weniger rationale, freie und verantwortliche Handlungen, Urteile und Einstellungen. Das Maß ihrer Begründetheit bestimmt die Kohärenz einer Praxis, einer Lebens- und schließlich einer Gesellschaftsform. Dieses gradualistische Verständnis erlaubt ein komplementäres Verhältnis (unvollständiger) naturalistischer Erklärungen und Handlungsbegründungen. Die Art und Weise in der wir unser Handeln und Urteilen begründen, uns wechselseitig Freiheit und Verantwortung zuschreiben, schließt eine naturalistische Unterbestimmtheit ein, macht naturalistische Erklärungen aber nicht irrelevant. Der Libertarier muss nicht zum Kartesianer mutieren. Die entscheidende Frage ist, ob unser Selbstbild als Menschen, unsere lebensweltlichen Interaktionen, unsere alltägliche Sprach- und Verständigungspraxis und die conditio humana damit vereinbar sind, dass das Ergebnis der Abwägung von Gründen und damit der kausale Einfluss unserer Deliberationen auf unser Verhalten immer schon durch naturalistische Gesetzmäßigkeiten vorab (also vor aller Deliberation) festliegt. Ich meine, dass die Antwort „nein“ lauten muss. Das ist kein Beweis dafür, dass es sich nicht doch so verhalten könnte. Wenn es tatsächlich so wäre, lebten wir in einem großen Illusionstheater. Das kann sein, aber wir haben keinen Grund, das anzunehmen: Alte wie neue empirische Befunde und Theorien, von der Newton’schen Physik über die Darwin’sche Biologie und die Freud’sche Psychologie bis zur zeitgenössichen Neurophysiologie sind mit dieser negativen Antwort verträglich.

4. Freiheit des Denkens Die vorangegangenen Erörterungen mögen den Eindruck erweckt haben, dass praktische Gründe eigentlich ziemlich theoretisch sind. Hierzu muss noch einiges gesagt werden: Es wurde bereits dargelegt, dass ich Wünsche als legitim und damit als mögliche Instanzen der Rechtfertigung beurteilen kann. Man kann aber noch einen Schritt weiter gehen. In der stoizistischen Tradition findet sich die schöne Formulierung proheiresis krisis estin, die übersetzt in etwa bedeutet: Eine Entscheidung ist ein Urteil, eine Handlung bringt eine Stellungnahme zum Ausdruck. Dies

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scheint mir zutreffend zu sein, denn eine Handlung ist immer auch eine Stellungnahme insofern diese Handlung unter den jeweils gegebenen Bedingungen angemessen ist. Gegen diese These könnte das Argument vorgebracht werden, dass die Handlung immer nur angemessen fr eine bestimmte Person gewesen sei und nicht angemessen an sich. Dieses Gegenargument missversteht aber die Bedeutung des Ausdrucks „angemessen für“. Denn natürlich will man mit obiger These nicht zum Ausdruck bringen, dass eine Handlung „gut für jemanden“ war im Sinne von „nur für ihn gut“; sondern man möchte sagen, es sei für ihn gut (und nicht für irgendeinen anderen, der sich in einer anderen Situation befindet), aber aus der Perspektive jeder rationalen Person. Für ihn ist es angesichts seiner Situation, seiner Interessen, seiner Lage gegenüber anderen Personen, seiner Bindungen, seinen Projekten und so weiter gut – dennoch ist es rationalerweise gut und damit universell rechtfertigbar und legitim. Praktische Gründe sind normative Gründe und zwar unabhängig davon, ob es sich im engeren Sinne um moralische oder um Gründe der Rationalität, also um sogenannte Klugheitsgründe, handelt (wobei ich ohnehin nicht sicher bin, ob man diese zwei Kategorien klar voneinander trennen kann). Mit diesen Gründen nehmen wir Stellung, das heißt wir behaupten, dass eine bestimmte Handlung gerechtfertigt ist – meine Handlung unter den Umständen, in denen ich mich befinde, ebenso wie seine oder ihre gleichartige Handlung, wenn sie sich unter vergleichbaren Umständen befände. Es gibt ein breites Spektrum unterschiedlicher Formen des Austausches von Gründen in der Verständigungspraxis. Die Frage ist, wieweit man die philosophische Analyse treiben kann. Es gibt eine eher sprachphilosophisch ausgerichtete Arbeit von Robert Brandom (1994), in der er eine normativistische Fassung einer von Wittgenstein inspirierten Sprachphilosophie entwickelt. Er beschreibt sprachliche Interaktionen als Spiele, in denen die Spieler jeweils zu bestimmten Zügen berechtigt seien. Diese Theorie Brandoms scheint insofern zweifelhaft, als sie ein hohes Maß an Explizitheit der Regelsysteme voraussetzt und wer sich an Wittgensteins eigene Ausführungen erinnert, der kennt die skeptischen Einwände gegen das Programm einer linguistischen Rekonstruktion der Sprachpraxis. Dennoch lohnt es sich, wenigstens einige Schritte der Analyse mitzugehen und die in unserer lebensweltlichen Verständigungspraxis vorhandenen Inkohärenzen zu klären und diesen gegebenenfalls mit Systematisierung, Linguistik, Erkenntnistheorie und Ethik abzuhelfen.

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Lebensweltlich kommen wir nicht auf die Idee, dass zu den guten Gründen für eine bestimmte empirische deskriptive Überzeugung noch etwas zusätzlich hinzutreten müsse, damit wir ein Motiv haben, uns diese Überzeugung anzueignen. Auf diese Idee ist auch in der Philosophiegeschichte bislang niemand gekommen. Sehr viele sind dagegen auf die Idee gekommen, dass ein gutes Argument für eine Handlung nicht ausreiche, um die Person zu der betreffenden Handlung zu motivieren; damit die Person motiviert sei, müsse noch etwas hinzutreten. So müsse etwa gezeigt werden, dass die betreffende Handlung der Person nütze, in ihrem eigenen Interesse sei, ihren eigenen aktuellen Wünschen entspreche. Ich dagegen plädiere dafür, deskriptive und normative Überzeugungen weitgehend parallel zu behandeln (Nida-Rümelin 2006, 106 ff.). Natürlich kann es vorkommen, dass eine Person ein gutes Argument hat für eine bestimmte empirisch-deskriptive Proposition – und es ihr trotzdem nicht gelingt, sich diese Überzeugung zu eigen zu machen. Dies kommt allerdings nur sehr selten vor, und diese seltenen Ausnahmen können auch im Bereich praktischer Überzeugungen auftreten. Es kann vorkommen, dass ich gute Gründe für eine bestimmte Handlung, für eine bestimmte Entscheidung habe, und mich trotzdem nicht gemäß diesen Gründen verhalte. In so einem Fall muss man untersuchen, was nicht in Ordnung war, ob beispielsweise ein Problem der Willensschwäche vorgelegen hat. Aber erst einmal erscheint das Ganze weitgehend parallel zu sein. Gründe für Überzeugungen führen zu Überzeugungen, Gründe für Handlungen führen zu Handlungen. Dies ist jedenfalls unsere lebensweltliche Erfahrung. Die Philosophie sollte sich nicht ohne guten Grund von dieser lebensweltlichen Erfahrung entfernen. Es gibt also eine Freiheit des Denkens, die darin besteht, dass ich Gründe abwäge und mir dann diejenigen Überzeugungen aneigne, für welche die besseren Gründe sprechen. Vieles spricht dafür, dass das Ergebnis dieses Gründe-Abwägens nicht immer schon präformiert ist, auch nicht für den Laplace’schen Dämon. Für diese These der naturalistischen Unterbestimmtheit von theoretischen Gründen spricht schon ihre unglaubliche Komplexität. Im Bereich der theoretischen Gründe müsste demnach ein Konsens darüber bestehen, dass Gründe naturalistisch unterbestimmt sind, das heißt sich nicht übersetzen lassen in naturwissenschaftlich beschreibbare Gesetzmäßigkeiten. Wer das bestreitet, muss zumindest erläutern, warum wir hinter Frege und Husserl zurück sollten, die beide ja mit ihrer Psychologismus-Kritik die Logik auf ein neues

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Fundament gestellt haben (Frege 1879, Husserl 1900). Leicht darf man es sich damit jedenfalls nicht machen.4 Im Laufe dieses Vortrags habe ich versucht, plausibel zu machen, dass sich das Spiel der praktischen Begründung, also der Begründung von Handlungen, nicht so sehr von dem Spiel der theoretischen Begründung, also der Begründung von Überzeugungen und Theorien empirischer und deskriptiver Art, unterscheidet. Ich habe also die übliche Argumentation gewissermaßen umgedreht: Es ist nicht einfach, Literatur zu finden über die Freiheit des Denkens – dagegen gibt es sehr viel zur Freiheit des Handelns. Vielleicht hätte man die Diskussion in den letzten Jahrzehnten umkehren und zuerst über die Freiheit des Denkens und erst dann über die Freiheit des Handelns sprechen sollen. Denn falls die weitgehende Analogie zwischen theoretischen und praktischen Gründen zutrifft, dann kann die doch recht offenkundige Freiheit des Denkens die Bereitschaft fördern, sich den Argumenten für die Freiheit der Praxis – für die Freiheit des Handelns und des Willens – nicht zu verschließen. Wir schreiben anderen und uns selbst Rationalität zu – theoretische Rationalität im Sinne von Gründen für Überzeugungen und praktische Rationalität im Sinne von Gründen für Handlungen. Mit der Zuschreibung von Rationalität schreiben wir ipso facto auch immer Freiheit zu, ebenso wie Verantwortung. In diesem Bild sind dann drei Aspekte: Rationalität, Freiheit und Verantwortung. Grundlegend scheint mir Rationalität. Wir schreiben demnach Rationalität, Freiheit und Verantwortung immer simultan zu und ich sehe keinen Weg, eines von diesen drei Elementen herauszubrechen, die anderen beiden aber behalten zu wollen. Der heutzutage beliebte Semi-Kompatibilismus5 besagt, dass Freiheit zwar nicht zu halten sei, das Konzept der Verantwortung aber unbedingt beibehalten werden müsse. Dies kann – auch mit viel Aufwand und sorgfältiger Argumentation – nicht gelingen. Die Verantwortung, die wir Akteuren zuschreiben, ist nie punktuell; vielmehr geht es immer um die Einschätzung der ganzen Person – wie sie über die Zeit argumentiert, handelt, hinreichende Kohärenz an den Tag legt et cetera –, sodass wir ihr bestimmte, sich durchhaltende Überzeugungen und Einstellungen zuschreiben können. Das heißt Rationalität, Freiheit und Verantwortung sind nie nur auf einen Zeitpunkt und ein Handlungs4 5

Zur Kontroverse um das Verhältnis von Gründen und Ursachen vgl. Pauen (2005) vs. Nida-Rümelin (2006b). Ein prominenter Vertreter dieser Theorie ist Harry Frankfurt (1969; 1988; 1999). Vgl. dazu auch Betzler/Guckes (2000; 2001).

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oder Überzeugungsereignis bezogen, sondern immer strukturell, über die Zeiten, über die unterschiedlichen Interaktionssituationen, in verschiedenen sozialen und kulturellen Kontexten hinweg. Dies meine ich mit dem Ausdruck strukturelle Rationalitt. Anders formuliert: Die Einheit der Person äußert sich darin, dass sich über die Zeit und über verschiedene Interaktionssituationen hinweg sich durchhaltende Gründe erkennen lassen, welche die Person geltend macht für ihre Überzeugungen und Handlungen. Wenn man dieses Bild attraktiv findet, handelt man sich zwar das Problem ein, Freiheit nicht mehr isoliert, sondern nur noch in diesem größeren Kontext diskutieren zu können, aber damit steht dieser gesamte Komplex infrage, der unser Menschenbild, unser Selbstbild, unsere Interaktions- und Verständigungspraxis, unsere Lebenswelt trägt und der in toto nicht in Zweifel gezogen werden kann.

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Über menschliche Freiheit

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Freiheit und Kausalität1 Julian Nida-Rmelin Bevor ich mit meinen Ausführungen zur Möglichkeit menschlicher Freiheit in einer kausal determinierten Welt beginne, möchte ich zwei Vorbemerkungen vorausschicken: Dieses Thema ist eines der ältesten der Philosophie, da es Fragen aufwirft, bei denen Selbstbild und Weltbild des Menschen zu kollidieren scheinen. Weil es unsere alltägliche Sicht auf die Dinge radikal herausfordert, ist es historisch unzutreffend, erst die moderne Naturwissenschaft für das Aufkommen dieses Themas verantwortlich zu machen – eine Interpretation, die allerdings seit Isaac Newton üblich geworden ist. Tatsächlich findet sich aber eine erste und in meinen Augen – soweit man dies aufgrund der spärlichen Quellenlage beurteilen kann – sehr niveauvolle Bearbeitung des Themas bereits in der Stoa (Arnim 1903). Denn diese setzte sich schon mit der Frage auseinander, wie die Vorstellung eines vernünftig geordneten Weltganzen, in dem der Logos alles bestimmt, mit der Idee menschlicher Verantwortung vereinbar sei für das, was für uns zugänglich ist, unserer Kontrolle unterliegt (ein Sachverhalt, den die Stoiker mit eph’ he¯min beschrieben und der sich am einfachsten im Englischen up to us übersetzen lässt). Tatsächlich hat der Stoiker Chrysipp im Grunde eine Position vorweggenommen, die in der gegenwärtigen Debatte sehr prominent diskutiert wird; denn Chrysipp vertritt den Standpunkt, dass man die Frage nach der Willensfreiheit aufgeben und durch Bedingungen der Autonomie ersetzen sollte. Die zweite Vorbemerkung ist eher methodologischer Art: Viele der alten Themen der Philosophie, aber auch der zeitgenössischen Wissenschaftsphilosophie sind dadurch gekennzeichnet, dass sich zwei Grundpositionen unversöhnlich gegenüberstehen, wobei in unterschiedlichen Wellen mal die eine, mal die andere Position Oberwasser gewinnt, aber 1

Dieser Text ist die redigierte Tonband-Mitschrift der frei gehaltenen Akademievorlesung am 12. April 2007 an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften vor einem interdisziplinär zusammengesetzten Publikum. Redaktion: Christine Bratu, M.A., Universität München. Es bestehen inhaltliche Überschneidungen mit dem Beitrag Vernunft und Freiheit. Wegen der systematischen Zuspitzung auf das Verhältnis von Freiheit und Kausalität ist entschieden worden, den Beitrag gleichwohl in den Band aufzunehmen.

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keine wirklich den Sieg davon trägt. Das andauernde Ringen zwischen Idealismus und Materialismus ist hierfür ein Beispiel. Obwohl viele meiner Kolleginnen und Kollegen aus der Philosophie widersprechen würden, vermute ich für einen Großteil dieser Fälle, dass beide antagonistische Positionen zu einem gewissen Teil Recht haben. Es kann nicht sein, dass so intelligente Leute sich über Jahrhunderte fundamental irren – ein Teil der Wahrheit muss sich auf beiden Seiten verbergen. Daher ist meine metaphilosophische Vermutung, dass Antworten auf philosophische Grundkonflikte hybrid sein müssen, um tragfähig zu sein. Hegelianisch formuliert müssen sie das Problem in einem guten Sinne aufheben, sodass sich beide Positionen in der Antwort wiederfinden. Diese Ansicht ist weder gleichbedeutend mit Eklektizismus, noch suggeriert sie, dass man möglichst viel integrieren sollte. Vielmehr bringt sie zum Ausdruck, dass man die Argumente, die vorgebracht wurden, so ernst wie möglich nehmen sollte. Medientechnisch hat diese Ansicht allerdings einen großen Nachteil: Denn hybride Antworten verwirren. Und in der von Explizitheit geprägten US-amerikanischen intellektuellen Kultur wird man sofort mit der Frage konfrontiert, auf welcher Seite man stehe: Bist du nun Libertarier oder Non-Libertarier, Kompatibilist oder NonKompatibilist und so weiter? Und die Antwort, dass die eigene Position in keine dieser Schubladen passt und auch nicht passen will, ist für einige schwer zu ertragen. Diesen vermeintlichen Nachteil zeitigt auch mein eigenes Buch über Freiheit (Nida-Rümelin 2005): Denn es entwickelt eine hybride Position, die nicht ohne weiteres in die angestammten Schubladen einzuordnen ist. Ursprünglich hatte ich vor, in den nachfolgenden Überlegungen meine eigene Position zur Frage menschlicher Freiheit knapp darzulegen und zur Diskussion zu stellen. Mittlerweile bin ich von diesem Vorhaben abgekommen, aus einem Grund, der im erwähnten Buch unter der Überschrift Entscheidung und Kausalitt verhandelt wird: Wie verhält sich Freiheit zu Kausalität? Beziehungsweise wie lässt sich die – notwendig freie, wie wir gesehen haben – Entscheidung mit dem Anspruch umfassender kausaler Erklärbarkeit aller Ereignisse in Einklang bringen? Oder muss das ’universelle Kausalprinzip‘, von dem z. B. Max Planck sprach, bei diesem Typus von Ereignissen, nämlich menschlichem Handeln, aufgegeben werden? Stehen wir hier vor einer nicht mehr überschreitbaren Grenze kausaler Erklärbarkeit und damit vor einer Grenze wissenschaftlicher Analyse? Es wird uns erwartungsgemäß nicht gelingen, diese Frage befriedigend und abschließend zu beantworten. Sie vollständig auszuklammern, erschiene mir jedoch unredlich. Ich hoffe lediglich einige verbreitete Irrtümer und Konfusionen klären zu können, die die Debatte um diese Frage,

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die sowohl für unser Selbstbild als auch für das wissenschaftliche Weltbild fundamental ist, belasten (Nida-Rümelin 2005, 69).

Die nachfolgenden Überlegungen stellen den Versuch dar, über das Zitierte hinauszugehen und weitere Antworten zu liefern. Diese Antworten möchte ich in vier Schritten darlegen: In einer ersten, sehr allgemeinen Überlegung (1.) möchte ich den Konflikt zwischen Selbstbild und Weltbild umschreiben und einen common senseDualismus stark machen. Daran anschließend will ich in einem zweiten Schritt eine Position darstellen, die ich als humanistische Perspektive bezeichne (2.). Diese ist eine Interpretation des Freiheitsbegriffs – das heißt, eine Antwort auf die Frage, was Freiheit eigentlich ist. Hierbei wird deutlich werden, dass nach meinem Verständnis Gründe eine zentrale Rolle für unseren Freiheitsbegriff spielen. In einem dritten Schritt werde ich mich der Frage widmen, wie der dargelegte Freiheitsbegriff mit dem der Kausalität zusammenhängt (3.). Dabei werde ich über die Ausführungen in meinem Buch hinausgehen und das Thema der Kausalität genauer analysieren. Denn seit meinen ersten Erfahrungen in der Wissenschaftstheorie bei Wolfgang Stegmüller hat sich die Debatte um den Kausalitätsbegriff deutlich weiterentwickelt, und der zeitgenössischen Philosophie und Wissenschaftstheorie muss vorgeworfen werden, dass sie die innerphilosophischen Klärungen, die in der Zwischenzeit stattgefunden haben, nicht in den natur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen publik gemacht haben. Dies ist meiner Ansicht nach ein schwerwiegendes Versäumnis, da es doch Aufgabe der Philosophie sein sollte, ihre Ergebnisse zu vermitteln und aufzuzeigen, inwiefern ihre Resultate für die einzelwissenschaftliche Forschung relevant sind. In den nachfolgenden Ausführungen kann natürlich nicht alles nachgeholt werden, was an Vermittlung in den letzten Jahrzehnten versäumt wurde; dennoch ist das Ziel, wenigstens in Grundzügen nachzuzeichnen, welche unterschiedlichen Paradigmen und Interpretationen von Kausalität es gibt und welche Relevanz diese für unsere Thematik haben. In einem vierten und letzten Schritt möchte ich schließlich versuchen, diese beiden Perspektiven – die humanistische, die auf Gründe, sowie die naturalistische, die auf Realursachen fokussiert ist – zu integrieren (4.); dies soll aber nur insoweit geschehen, als dies ohne eine Einbuße an Präzision möglich ist.

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1. Um das Spannungsverhältnis zwischen Selbstbild und Weltbild darzustellen, möchte ich zunächst eine geistesgeschichtliche Anmerkung vorausschicken. So ist bemerkenswert, dass sich bereits die antike griechische Philosophie in immer wieder neuen Anläufen mit dem Verhältnis von nomo¯ – gemäß menschlicher Setzung – und physei – gemäß der Natur – auseinandergesetzt hat. Das heißt immer wieder wurde neu verhandelt, wie im Bereich der zwischenmenschlichen Relationen das Verhältnis zu verstehen sei zwischen dem, was menschliche Setzung ist – sei es in Gestalt von Gesetzen oder von Institutionen, von Riten, Gebräuchen, Lebensformen et cetera –, und dem, was durch die Natur vorgegeben ist. Diesen Gegensatz zwischen von Natur Gegebenem und menschlicher Setzung sollte man nicht als den zwischen Natur und Kultur übersetzen, weil dadurch der Setzungscharakter, der den Griechen offensichtlich so wichtig war, teilweise verloren zu gehen droht. Denn für viele ist Kultur eher das Ererbte, das Tradierte, das Weitergegebene als das von Menschen frei Gesetzte. Auch aktuelle tierethologische Befunde verwenden den Kulturbegriff auf diese, vom Aspekt der menschlichen Setzung ablenkende Weise, indem sie Kultur als das Ausschöpfen natürlicher Spielräume auffassen. Illustriert wird diese begriffliche Festlegung am Beispiel des Osmiaweibchens, bei dem unterschiedliche Populationen leichte Varianzen darin zeigen, wie sie ihre Nester bauen. Diese Varianzen scheinen nicht genetisch fixiert zu sein, weil genetische Varianz viel zu langsam arbeitet, um die bestehenden Unterschiede erklären zu können. Daher deuten Ethologen den Umstand der Varianz so, dass die unterschiedlichen Populationen den natürlich gegebenen Rahmen des Nestbauens kulturell bedingt unterschiedlich ausgestaltet haben. Da man Osmiaweibchen wohl kaum die Fähigkeit zum nomos, also zur Setzung zuschreiben würde, wird der Kulturbegriff durch eine solche Verwendung näher an den der Natur gerückt. Insofern verschiebt eine Diskussion um Kultur versus Natur den Fokus der darzustellenden Debatte. Obwohl mein Vorgänger im Amt des Kulturstaatsministers seine gesammelten Reden unter dem Titel Kultur als schçnste Form der Freiheit veröffentlicht hat, soll hier eine Engführung von Kultur und freier Setzung vermieden werden, da der Kulturbegriff eben auch unfreiheitliche Konnotationen hat. Um die Überlegung zu fokussieren, möchte ich zwei Perspektiven unterscheiden, die uns im Folgenden beschäftigen werden und die jeder von uns an sich selbst beobachten kann: Wenn man sich über das seltsame

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Verhalten einer Person – insbesondere im sozialen Nahbereich, also unter Familienmitgliedern, Freunden oder Kollegen – ärgert, dann sucht man nach den Ursachen dieses abwegigen Verhaltens. Gewissermaßen tendieren wir also zu einer objektivistischen, naturwissenschaftlichen, um nicht zu sagen ethologischen Betrachtungsweise, und dies umso mehr, je abwegiger uns das Verhalten der betreffenden Person erscheint. Bei uns selbst und unserem eigenen Verhalten sprechen wir dagegen nur selten von Ursachen, sondern vielmehr von den Grnden, die wir für ein bestimmtes Verhalten gehabt haben. Denn als rationale Wesen haben wir natürlich Gründe für das, was wir tun, sodass man nicht nach Ursachen forschen muss. In unserer Lebenswelt klaffen demnach die Erste-PersonPerspektive und die Dritte-Person-Perspektive auseinander, wenn es um die Erklärung von Handlungen und Verhaltensweisen geht. Manche Denker wie beispielsweise Immanuel Kant oder der Physiker Max Planck haben diese Beobachtung ihren theoretischen Überlegungen zum menschlichen Handeln zugrunde gelegt. So meint etwa Planck, dass in der Dritte-Person-Perspektive eine vollständige naturwissenschaftliche Erklärung menschlichen Verhaltens – das heißt jeder Verhaltensweise jedes menschlichen Individuums zu jedem Zeitpunkt – grundsätzlich möglich sei; in der Erste-Person-Perspektive sei dies dagegen nicht zu leisten, weil der Ich-Perspektive die für eine vollständige Erklärung notwendigen Informationen fehlten. Diese Vorstellung scheint mir nun gar nicht überzeugend zu sein: Warum sollten gerade mir selbst die wesentlichen Informationen über mein Verhalten systematisch abgehen, die dritte Personen anscheinend über mich haben? Warum sollte es nicht vielmehr umgekehrt sein, dass ich über einige Informationen über mich verfüge, die Dritte grundsätzlich nicht haben können? Das heißt wieso sollte nicht nach wie vor gelten, was man in der philosophischen Tradition bis zum Aufkommen der analytischen Philosophie als Introspektion bezeichnet hat – das heißt die Annahme, dass das Individuum über einen privilegierten Zugang zu sich selbst verfügt? Die Erklärung, die Planck für die unterschiedlichen Erklärungsmuster für Handlungen anführt – dass wir nämlich in der Er-Perspektive Kausalanalysen erstellen, für die uns in der Ich-Perspektive schlicht die notwendigen Informationen fehlen –, ist zwar beliebt, kann aber intuitiv nicht überzeugen. Eine andere Position der zeitgenössischen Philosophie, die auf die Herausforderung der beiden unterschiedlichen Perspektiven antworten will, hält eine recht brutale Lösung parat: So behauptet die Zwei-Aspekte- beziehungsweise die Zwei-Sprachebenen-Theorie (die zwar nicht identisch, aber doch relativ ähnlich sind), dass wir, wenn wir Verhalten

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erklären, auf einer anderen Sprachebene operieren, als wenn wir die Gründe erwägen, die für eine Handlung sprechen. Zwischen diesen beiden Sprachebenen beziehungsweise zwischen der Darstellung dieser beiden Aspekte kommt es an sich nicht zu Konflikten – man muss nur eben darauf achten, die Sprachebenen nicht zu verwechseln beziehungsweise die unterschiedlichen Aspekte nicht zu vermengen. So haben die Menschen – unter einem gewissen Aspekt betrachtet und auf einer bestimmten Sprachebene dargestellt – natürlich Absichten, Wünsche, Hoffnungen et cetera. Auf dieser Sprachebene und unter diesem Aspekt kann man auch sinnvoll davon sprechen, dass Menschen mit ihren Handlungen Recht oder Unrecht begangen haben, das heißt man kann menschliches Handeln sinnvoll bewerten. Aber darüber hinaus sind menschliche Handlungen – unter einem anderen Aspekt betrachtet und auf einer anderen sprachlichen Ebene verhandelt – durchaus legitime Gegenstände der wissenschaftlichen Kausalanalyse, und auf dieser Ebene kommen Begriffe wie „Absicht“, „Wunsch“ oder „Unrecht“ schlicht nicht vor. Eine ähnliche (auch ähnlich grobe) Form des Dualismus, der allerdings nicht lingualistisch, das heißt auf Sprachebenen zielend, sondern ontologisch ist, stellt die Unterscheidung zwischen phänomenalem und noumenalem Ich bei Kant dar, so wie sie in der Kritik der reinen Vernunft dargelegt ist. So ist das phänomenale Ich grundsätzlich einer Kausalerklärung zugänglich, während sich das noumenale Ich, das heißt das Vernunft- und damit Gründe-bezogene Ich nicht in dieser Kategorie erfassen lässt. Die Freiheit des Menschen besteht für Kant nur in der Freiheit des noumenalen Ichs, wohingegen es im Reich der Kausalität, das heißt im Reich der Natur keine wirkliche Freiheit geben kann. Nach Kant stehen sich also ein universelles Kausalprinzip und somit ein Reich der kausalen Notwendigkeit und der Naturgesetze einerseits und andererseits ein Reich der Freiheit im Sinne der handelnden Person, die sich selbst Maximen gibt, diese auf ihre Universalisierbarkeit überprüfen und nach ihnen handeln kann, gegenüber. Schon auf den ersten Blick muss dieser Dualismus erstaunen; ich will nun aber ein Argument dafür liefern, wieso dieser Befund auch auf den zweiten Blick nicht überzeugen kann. Das heißt ich möchte darlegen, wieso der beschriebene Dualismus weder in der kantischen Variante noch in der der ordinary language-Philosophie tragfähig ist. Grundsätzlich besagen beide Ansätze Folgendes: Zum einen besteht die Möglichkeit einer naturwissenschaftlichen, kausalen Analyse, die den von außen objektiv beobachtbaren Verhaltensprozess einer Person ohne Rest prognostizieren

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kann und in der von Gründen, Wünschen, Hoffnungen sowie von Recht und Unrecht haben nicht die Rede ist. Jede dieser Prognosen soll aber zum anderen mit der Freiheit der analysierten Person vereinbar sein – da sich die Frage nach der Freiheit auf der Sprachebene der wissenschaftlichen Analyse gar nicht gestellt hat. Dies scheint mir nicht zuzutreffen, denn Handlungen haben immer zwei Aspekte: einen äußeren Aspekt, das heißt den Verhaltensaspekt, der grundsätzlich Teil der physikalischen Welt ist, und einen inneren Aspekt, der mit Intentionen, mit Wünschen, mit Überzeugungen zusammenhängt. Wenn der äußere Aspekt nun Gegenstand vollständiger naturwissenschaftlicher Prognostizierbarkeit wäre, dann geriete dies in Konflikt mit unseren common sense-Überzeugungen, denn diese besagen, dass es für eine Handlung relevant ist, was für Abwägungen ich vornehme, welche Wünsche ich habe, welche Überzeugungen et cetera. Die Zwei-Ebenen-Theorie ist demnach mit fundamentalen lebensweltlichen Überzeugungen unvereinbar – und dies gilt nicht nur für den Ansatz Kants, sondern auch für den Malcolms und anderer ordinary language-Philosophen (Malcolm/Armstrong 1984). In einem zweiten Schritt möchte ich das bisher Gesagte zuspitzen, und zwar auf eine Art und Weise, die für die aktuelle Debatte typisch ist. Allerdings sei vorweg bereits angemerkt, dass diese Zuspitzung seltsam ist, da sie einen vollständigen Determinismus der Welt voraussetzt – obwohl doch spätestens seit Ende der zwanziger Jahre die Grundlagendisziplin der Naturwissenschaft, die Quantenmechanik, probabilistisch und nicht mehr deterministisch ist. Doch ohne diese Veränderung zu berücksichtigen spitzt sich der dargestellte Dualismus zu der Frage zu, wie individuelle Freiheit, das heißt die Freiheit des Akteurs, vereinbar sein soll mit dem universellen Determinismus allen Geschehens in der Welt. Dieser universelle Determinismus soll natürlich auch alle menschlichen Verhaltensereignisse einschließen – das heißt alle Sachverhalte, dass sich Menschen in der einen und nicht in einer anderen Weise verhalten haben. Hierbei wird „Verhalten“ als terminus technicus verwendet, Verhalten im Sinne eines potenziellen Gegenstandes der naturwissenschaftlichen Analyse, als ein raumzeitlicher, letztlich mit physikalischen Mitteln beschreibbarer Vorgang in der Welt. Der Konflikt, der sich zwischen universellem Determinismus und menschlicher Freiheit ergibt, ist – wie bereits in der Vorbemerkung angedeutet – sehr alt und lässt sich in den folgenden sechs Stationen nachzeichnen. Die erste Station dieses Konfliktes stellt die Stoa dar – wobei dies zugegeben etwas eurozentristisch gedacht ist, da es im Buddhismus und Hinduismus schon früher Auseinandersetzungen mit diesem

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Thema gegeben hat. Eine zweite Station stellt die Theodizee-Problematik dar, die im Mittelalter ausgiebig verhandelt wurde. Zum dritten Mal wird die Freiheitsfrage durch die klassische Physik aufgeworfen – wobei es mir unklar erscheint, ob Newton selbst in der Interpretation seiner eigenen Theorie so weit gegangen wäre, wie es im Anschluss an ihn einige Newtonianer versuchten. Denn diese verstanden Newtons Theorie nicht als auf bestimmte Entitäten beschränkt – zum Beispiel auf Kugeln, die man anstößt, oder auf Federwagen, an die man Gewichte hängt, oder ähnliches; sondern sie fassten Newtons Theorie als ein umfassendes Weltinterpretationsmodell auf, nach welchem die Welt aus Massepünktchen besteht, zwischen denen Gravitations- und andere Wechselwirkungen auftreten und deren Bahnen, das heißt deren Ortsfunktion in der Zeit, durch diese Wechselwirkungen vollständig determiniert sind. Wenn aber die ganze Welt als eine Ansammlung von solchen Massepunkten gedacht werden muss; und wenn zudem die Newton’schen Gesetze bekannt sind; und wenn wir schließlich über eine einmalige vollständige Beschreibung des Ortes und der Impulse der einzelnen Teilchen verfügen sowie über deren Wechselwirkungen zueinander – so reicht dies im Prinzip aus, um den Weltverlauf all dieser Massepunkte zu jedem Zeitpunkt präzise anzugeben, sowohl für die Gegenwart als auch für alle Zukunft. Natürlich würde die Wissenschaft bei einem solchen Unterfangen an ihre Grenzen stoßen, da hierfür weder genug Papier noch Rechnerkapazitäten zur Verfügung gestellt werden könnten. Dennoch scheint sich – wenn man von diesem kontingenten Mangel an Ressourcen einmal absieht – aus der Newton’schen Physik der berühmte Laplace’sche Dämon in naturwissenschaftlicher Gestalt zu ergeben. Viele haben daher die klassische Physik als eine Herausforderung an die Freiheitsintuitionen des Menschen verstanden, denn letztlich sei der Mensch ja auch nichts anderes als ein Komplex von Masseteilchen. Als eine Herausforderung ähnlichen Typs wurde der Darwinismus angesehen, selbst wenn es nicht immer ganz klar ist, worin die Herausforderung eigentlich liegen soll. Aber gemeint war wohl häufig eine umfassende Determination des Verhaltens von Lebewesen aufgrund biologischer Gesetzmäßigkeiten. Das heißt gemäß dieser Auffassung ist der Mensch – qua Lebewesen – durch biologische Vorgaben und genetische Programme in seinem Verhalten vollständig determiniert. In seiner gesellschaftswissenschaftlichen Ausprägung, das heißt im Sozialdarwinismus hat diese Position eine verheerende Rolle in der Politik insbesondere des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts gespielt.

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Die fünfte Station stellt die szientistische Variante des Marxismus dar, welche in ähnlicher Weise glaubte, das Phänomen individueller Freiheit und damit auch individueller Verantwortung als eine Chimäre zu entlarven, die in einer wirklich wissenschaftlichen Analyse der Gesellschaft keinen Ort habe: Zwar hätte der Einzelne den Eindruck, frei zu handeln, aber in Wirklichkeit sei jeder nur Agent seiner Klasseninteressen, sodass sich seine vermeintliche Freiheit letztlich nur als Illusion erweise. Vor allem amerikanische Hollywood-Autoren haben auch die Psychoanalyse, insbesondere Freud, in ähnlicher Art und Weise interpretiert. Diese Interpretation hat allerdings mit Freud selbst wenig zu tun, da es diesem ja um die Stärke des Ichs ging, welches sich gegen Über-Ich und Es behaupten soll. Da die Relevanz der Marx’schen Theorie heutzutage nicht mehr ohne weiteres erkannt wird, sei noch – ein wenig boshaft – erwähnt, dass es zwischen Marxismus und liberalistischer ökonomischer Theorie enge Zusammenhänge gibt. Nicht nur, dass der wichtigste Theoretiker, auf den sich Marx bezieht, der große liberale Ökonom David Ricardo war; vielmehr gehen sowohl die liberalistische ökonomische Theorie als auch der Marxismus davon aus, dass sich das Verhalten des Einzelnen präzise durch ökonomische Gesetzmäßigkeiten beschreiben lässt. Das heißt obwohl die moderne neoklassische Ökonomie eine am methodologischen Individualismus orientierte Theorie ist (und somit das genaue Gegenteil des Marxismus, der eine kollektivistische Theorie verkörpert), ähneln sich die beiden Ansätze in ihren Ansichten zur Möglichkeit menschlicher Freiheit. Die letzte Welle der Herausforderung gegen unsere Freiheitsintuitionen stellt schließlich die moderne Neurophysiologie dar. Welche Implikationen sich aus deren jüngsten Forschungen für das intuitive Freiheitsverständnis des Menschen ergeben, versucht das Humanprojekt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften zu klären.2 Nach dieser kurzen Darstellung der historischen Etappen, in welchen die Frage nach der Möglichkeit menschlicher Freiheit verhandelt wurde, möchte ich nun drei philosophische Argumente vorführen, die für das Verständnis meiner eigenen humanistischen Perspektive wichtig sind. Das erste Argument, das sein Autor, der Wissenschaftsphilosoph Peter van Inwagen, als consequence argument bezeichnet hat, ist im Grunde sehr einfach und kann als Ausarbeitung des stoizistischen eph’ he¯min interpretiert werden (van Inwagen 1983). Nach van Inwagen gilt, dass uns, wenn die Welt universal deterministisch wäre, bewusst sein müsste, dass 2

Nähere Informationen hierzu finden sich unter http://humanprojekt.bbaw.de.

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ein Weltzustand – etwa ein Zustand vor der Entstehung des Menschengeschlechts – zusammen mit den Naturgesetzen jeden zukünftigen Weltzustand, also auch den Weltzustand morgen oder in fünf Jahren, eindeutig festlegen würde. Da die Naturgesetze nicht unter unserer Kontrolle sind – denn wir können nicht mit unseren Willensakten die Naturgesetze verändern; und da ein Weltzustand vor der Entstehung des Menschengeschlechts ebenfalls nicht unserer Kontrolle untersteht – da wir nicht beeinflussen können, wie ein Zustand vor unserer Zeit ist; so ist schließlich auch der morgige Zustand der Welt, einschließlich der Tatsache, was wir morgen tun, nicht unter unserer Kontrolle. Was immer wir morgen tun – de facto ist es nicht up to us. Damit haben wir ein Problem: Denn tatsächlich haben wir doch den Eindruck, dass manches von dem, was wir tun, durchaus up to us ist, sodass wir hierfür auch zur Verantwortung gezogen werden können; anderes ist dagegen nicht up to us, sodass man uns auch nicht dafür verantwortlich machen kann. Diesen Eindruck müssen wir philosophisch zu integrieren versuchen. Dies bedeutet aber, dass, wenn das consequence argument stimmt, der Universaldeterminismus mit dem common sense-Dualismus, den wir offensichtlich lebensweltlich vertreten, unvereinbar ist. Das zweite Argument wurde in zwei Schritten von Harry Frankfurt (1971, 520) entwickelt. Frankfurts Ziel ist hierbei, unsere Freiheitsintuition mit beliebigen naturwissenschaftlichen Theorien kompatibel zu machen, seien sie nun probabilistischer oder deterministischer Natur. Er tut dies, indem er die Besonderheit des menschlichen Akteurs herausarbeitet, zu seinen eigenen Wünschen Stellung nehmen zu können. Frankfurt vermutet zu Recht, dass diese Fähigkeit bei Tieren nicht vorkommt und vielleicht sogar bei manchen Menschen nicht sehr ausgeprägt ist. Wenn ein Mensch wertend Stellung nimmt zu seinen Wünschen, das heißt wenn er Präferenzen bezüglich seiner Wünsche ausprägt, so bildet er nach Frankfurt Volitionen zweiter Ordnung (im englischen Original second-order volitions) aus. Durch die Einführung dieses terminus technicus kann man elegant zwischen Willensfreiheit und Handlungsfreiheit unterscheiden: Willensfrei bin ich, wenn ich diejenigen Präferenzen habe, die ich gemäß meiner Präferenzen zweiter Ordnung haben will; handlungsfrei bin ich dagegen, wenn ich dasjenige tue, was meinen Präferenzen erster Ordnung entspricht. Eine Person, die mit sich selbst im Reinen ist und sich als autonom empfindet, muss demnach sowohl über Willens- als auch über Handlungsfreiheit verfügen. Das heißt sie tut sowohl das, was sie will (niemand hindert sie daran, das zu tun, was sie will), als sie auch will, was sie tatsächlich will (im Sinne der

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second-order volitions). Unter diesem Schlagwort, das heißt Autonomie statt Freiheit, glaubt Frankfurt das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Determinismus integrieren zu können. Wobei „Autonomie“ hier natürlich nicht im kantischen Sinne zu verstehen ist, sondern im Sinne der Kohärenz der Wünsche zweiter und erster Ordnung. In diesem Zusammenhang ist noch ein zweites Argument von Frankfurt interessant. Denn Frankfurt möchte zeigen, dass man auf das, was ich jetzt bislang zumindest impliciter als wesentliches Merkmal unserer Freiheitsintuition angenommen habe, problemlos verzichten kann: Nämlich auf die Annahme, dass jemand nur dann als frei bezeichnet werden kann, wenn er zwischen verschiedenen Alternativen wählen kann und nicht immer schon auf die Wahl einer bestimmten Handlung festgelegt war. Diese Annahme wird als Prinzip der alternativen Möglichkeiten (Principle of Alternate Possibilities – kurz PAP) bezeichnet – und Frankfurt führt ein berühmtes Gedankenexperiment an, um zu zeigen, dass PAP für Freiheit irrelevant ist: Man stelle sich vor, ein Neurophysiologe hat einen Sensor in das Gehirn eines amerikanischen Wählers eingebaut. Dieser Wähler steht nun vor der Alternative, entweder Bush oder Gore zu wählen. Der Neurophysiologe kann auf einem Monitor sehen, was der Wähler zu tun gedenkt, das heißt wie er abstimmen will – und weil es sich um einen parteilichen Neurophysiologen handelt, beschließt er, in dem Fall, dass der Wähler für Gore stimmen will, zu intervenieren. Auch wenn dieses Szenario vor dem Hintergrund des aktuellen neurophysiologischen Wissens unmöglich erscheint, sei angenommen, dass der Wissenschaftler wirklich dazu in der Lage ist, die Entscheidung des Wählers für Gore zu verhindern, indem er im Gehirn des Wählers ein Bereitschaftspotenzial auslöst, das dann zum Ankreuzen bei Bush führt. Tatsächlich ist es nun aber so, dass die Versuchsperson ohnehin vorhat, für Bush zu stimmen. Laut Frankfurt würden wir den dargestellten Fall als einen Fall von personaler Autonomie werten: Denn zum einen tut der besagte Wähler das, was er tun will – indem er Bush wählt. Zum anderen ist es auch vorstellbar, dass die Person bei dieser Handlung mit sich selbst im Einklang ist, da sie die Präferenz, die sie hat (Bush zu wählen) auch tatsächlich (das heißt im Sinne ihrer second-order volitions) präferiert. Entscheidend ist nun, dass wir nach Frankfurt die Intuition haben, dass der besagte Wähler autonom ist – und dies, obwohl PAP verletzt ist: Die Person erscheint uns laut Frankfurt frei, obwohl sie (aufgrund des in ihr Gehirn eingebauten Sensors und des diesen kontrollierenden Wissenschaftlers) keine andere Wahl hatte als zu handeln, wie sie de facto gehandelt hat.

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In meinen Ausführungen in ber menschliche Freiheit (Kapitel III, 79 – 106) habe ich versucht deutlich zu machen, was an der vorgetragenen Überlegung falsch ist. Betrachten wir das Problem einmal losgelöst von der oben dargestellten Versuchsanordnung und befragen unsere Intuition: Gesetzt den Fall, eine Person S kann eine bestimmte Handlung H nicht tun (aus welchen Gründen auch immer), aber S weiß nicht, dass sie H nicht tun kann, das heißt S ist sich nicht darüber bewusst, dass sie gar nicht die Möglichkeit hat, H zu tun. Nehmen wir nun weiterhin an, dass H gerade diejenige Handlung ist, die für S moralisch geboten ist. Das heißt, wenn man in der betreffenden Situation alle Gründe gegeneinander abwägt, so kommt man objektiv zu dem Schluss, dass S H tun sollte. In dem dargestellten Fall – in dem S aufgrund bestimmter Faktoren nicht in der Lage dazu ist, H zu tun – könnte man S nun keinen Vorwurf dafür machen, dass sie H nicht getan hat: Denn S war es objektiv betrachtet nicht möglich, H zu tun. Wofür wir S aber zweifellos verantwortlich machen können, ist, dass sie nicht versucht hat, H – das heißt die Handlung, zu der sie eigentlich moralisch verpflichtet gewesen wäre – zu tun. Denn da S nicht wusste, dass sie H nicht tun kann, wäre sie durchaus dazu verpflichtet gewesen, H zumindest zu versuchen – sodass wir ihr die Unterlassung dieses Versuches durchaus vorwerfen können. Das heißt im dargestellten Fall machen wir die Person nicht verantwortlich dafür, dass sie nicht das getan hat, was sie zwar hätte tun sollen, de facto aber nicht tun konnte – sondern wir werfen ihr vor, dass sie nicht den Versuch unternommen hat, zu tun, was sie tun sollte, denn sie hat ja nicht gewusst, dass sich dieser Versuch als vergeblich herausstellen würde. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint das Frankfurt’sche Argument in einem neuen Licht. Insbesondere muss uns Frankfurt erklären, wann genau der Neurophysiologe intervenieren will. Hier stehen Frankfurt zwei Möglichkeiten offen. Entweder der Physiologe greift in den Prozess der Deliberation ein: Das heißt er sieht auf seinem Monitor, dass der Wähler im Begriff ist, sich zu überlegen, was für Bush spricht und was für Gore – und stoppt diesen Prozess der Abwägung von Anfang an und induziert dem Wähler durch den Sensor die Bereitschaft, für Bush zu stimmen. In diesem Fall hatten die Gründe, die der Wähler für die Wahl des einen oder anderen Kandidaten hatte, gar nicht mehr die Möglichkeit, wirksam zu werden und zur Ausprägung einer bestimmten Überzeugung hinsichtlich der Wahl zu führen. Oder aber der Physiologe wird erst aktiv, nachdem die Deliberation vonstatten gegangen ist: Das heißt er lässt den Wähler noch seine Gründe abwägen und auf der Basis dieser Gründe eine bestimmte Überzeugung ausprägen – und greift erst ein, wenn er feststellt, dass die

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Überzeugung, die ausgeprägt wurde, diejenige war, Gore zu wählen. In diesem Fall würde der Physiologe nicht den Überlegungsprozess als Ganzen blockieren, sondern lediglich das Wirksam-Werden einer bestimmten Überzeugung. Je nachdem, auf welchen konkreten Zeitpunkt sich Frankfurt festlegt, würde unsere Beurteilung des Falles aber unterschiedlich ausfallen: Für den Fall, dass der Wissenschaftler schon in den Prozess der Abwägung selbst eingreift, kann man nicht davon sprechen, dass die Person autonom ist. Denn ihre Wünsche erster Stufe stehen nicht in der für Autonomie erforderlichen Relation zu ihren Wünschen zweiter Stufe: Es ist nicht so, dass die Wünsche zweiter Stufe diejenigen erster Stufe für zulässig erklären – vielmehr kann der Wähler (aufgrund des Eingriffs des Wissenschaftlers) gar keine Volitionen zweiter Stufe ausbilden. In diesem Fall, in dem man also gar nicht von der Autonomie des Wählers im Frankfurt’schen Sinne sprechen kann, würden wir dem Wähler ohnehin keinen Vorwurf daraus machen wollen, dass er Bush gewählt hat. Die frühe Intervention blockierte die Willensfreiheit. Dies stellt sich aber anders dar für den Fall, dass der Neurologe nicht das Abwägen der Gründe blockiert, sondern nur verhindert, dass eine bestimmte, auf Basis der Gründe entstandene Überzeugung wirksam wird. Dann war der Wähler willensfrei, aber nicht handlungsfrei, er konnte nicht das tun, was er tun wollte. Wenn der Wähler das will und das tut, was keine Intervention des Neurophysiologen hervorruft, hatte er entweder alternative Möglichkeiten (des Wollens oder des Handelns), oder er war nicht autonom und nicht verantwortlich auch im Frankfurt’schen Sinne. Dieses Gedankenexperiment Frankfurts spricht also keineswegs gegen PAP – auch wenn diesbezüglich viele in der aktuellen Debatte von Frankfurts Scharfsinn aufs Glatteis geführt wurden. Bis ein besseres Argument gegen PAP vorgebracht wird, muss PAP weiterhin als geltend anerkannt werden. Wir machen Menschen nur für das verantwortlich, was unter ihrer Kontrolle war – das heißt für das, wofür sie Gründe pro und contra abwägen konnten und bezüglich dessen sie die notwendigen Informationen hatten, um überhaupt die relevanten Gründe zu kennen. Es scheint also, dass das Prinzip der alternativen Möglichkeiten lebensweltlich in unseren Alltagsinteraktionen tief verwoben ist, das heißt in der Art und Weise, wie wir miteinander umgehen, wie wir Gründe austauschen, wie wir Verantwortungen zuschreiben. Und deswegen sage ich gegen Frankfurt: Keine Verantwortung ohne Freiheit – und zwar Freiheit unter Einschluss von PAP.

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Zum Abschluss dieser Überlegung möchte ich auf etwas hinweisen: Die dargestellte Argumentation hat gezeigt, dass Freiheit und Verantwortung offenbar eng miteinander gekoppelt sind. Ebenso wurde klar, dass beide Begriffe wiederum damit zusammenhängen, dass wir Gründe abwägen, das heißt, dass wir deliberieren können. Diese begrifflichen Banalitäten werden aber von einem Gutteil der Naturwissenschaft ebenso wie von einigen Philosophen, die sich von den Argumentationen der Naturwissenschaftler über Gebühr beeindrucken lassen, infrage gestellt. Wenn meine bisherige Argumentationslinie zutrifft, dann haben wir mit diesen drei Begriffen – das heißt mit Rationalitt, Freiheit und Verantwortung – möglicherweise nur drei unterschiedliche Aspekte eines Phänomens vor Augen: Nämlich des Phänomens, dass wir uns von Gründen affizieren lassen, dass wir Gründe haben für das, was wir tun und vielleicht auch für das, was wir glauben und wovon wir überzeugt sind. Zudem erscheint es mir, als sei auch ein Gutteil unserer nichtpropositionalen Einstellungen, also unserer Gefühle und Empfindungen, grundsätzlich zugänglich für das Abwägen von Gründen. So gibt es beispielsweise keinen guten Grund für die Verachtung anderer Ethnien. Wer also Menschen verachtet, nur weil sie eine andere Hautfarbe haben oder einer anderen Religion angehören oder Ähnliches, der tut dies ohne guten Grund – er kann dafür kritisiert werden, er ist für dieses Gefühl – nicht nur für eine eventuelle Praxis, die diesem Gefühl entspricht – verantwortlich. Zugegebenermaßen sprechen wir im Alltag nicht unbedingt davon, dass jemand für seine Gefühle verantwortlich sei; häufig beschränken wir das Zuschreiben von Verantwortung auf öffentliches, das heißt beobachtbares Handeln. Vor allem im Bereich der Rechtsprechung ist dies auch sinnvoll. Aber wenn man die Rolle von Gründen so stark macht, wie es mir sinnvoll erscheint, dann besteht eine unauflösliche Trias von Rationalitt, Freiheit und Verantwortung – sodass wir überall dort, wo Gründe ausschlaggebend sind, auch Verantwortung zuschreiben sollten.3

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Ich habe vor Kurzem den letzten Teil meiner kleinen Trilogie zu Rationalitt (Nida-Rümelin 2001) und Freiheit (Nida-Rümelin 2005) mit einem Bändchen zum Begriff Verantwortung (Nida-Rümelin 2011) abgeschlossen.

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2. Im zweiten Teil meines Arguments möchte ich menschliche Freiheit in drei Schritten genauer bestimmen: Erstens müssen wir unterscheiden zwischen Willkürfreiheit und Freiheit. Willkürfreiheit ist ein Thema, das ich an anderer Stelle nur wenig beleuchtet habe, da mir diese Form der Freiheit nicht relevant erschien; mittlerweile bin ich allerdings zu der Überzeugung gekommen, dass der Willkürfreiheit eine größere Rolle zukommt, sodass ich das Thema nun ein wenig ausführen möchte. Gesetzt den Fall, man präsentiert einem philosophisch noch nicht „verbildeten“ Gesprächspartner A die These von der vollständigen Determiniertheit menschlichen Handelns. Dann wird man häufig – nachdem man besagte These geäußert hat – von A dazu aufgefordert, vorauszusagen, was A jetzt gleich tun wird, zum Beispiel ob er aufstehen oder sitzen bleiben wird. Und je nachdem, was man prognostiziert, verhält sich A dann natürlich genau so, dass er die vermeintliche Prognose falsifiziert: Sagt man voraus, dass er sitzen bleiben wird, wird A aufstehen, und umgekehrt. Das heißt normalerweise versuchen Menschen, die These von der vollständigen Determiniertheit menschlichen Handelns dadurch zu widerlegen, dass sie in einer Situation, in der sie zwischen den verschiedenen sich anbietenden Handlungsalternativen indifferent sind, willkürlich eine wählen und ausführen.4 Ich schlage nun eine gradualistische Perspektive von Freiheit vor: An einem Ende des Spektrums ist die reine Willkürfreiheit angesiedelt, also jene Art von Freiheit, bei der ich völlig indifferent bin zwischen den verschiedenen Handlungsalternativen, mich willkürlich auf eine festlege und dann gemäß dieser Entscheidung handle. Hierbei handelt es sich um eine Art der Freiheit, bei der keine Gründe, keine Abwägungen, keine Vorsichtsmaßregeln oder andere Überlegungen eine Rolle spielen. Das andere Ende des Spektrums bildet dagegen jene Form von Freiheit, die zurückgeht auf grundlegende, langfristig wirksame und möglicherweise 4

Wobei diese Widerlegung selbst wieder relativ einfach widerlegt werden kann: Denn in eine vollständige Beschreibung der Umstände, die eine spezifische menschliche Handlung determinieren, müsste für den beschriebenen Fall natürlich auch der Akt des Prognostizierens beziehungsweise die Prognose selbst eingehen. Vor der Prognose war A den beiden Handlungsalternativen „Sitzen bleiben“ oder „Aufstehen“ gegenüber völlig indifferent; da es aber A‘s Ziel ist, die Prognose durch sein Handeln zu widerlegen, wird sein Handeln durch die Prognose determiniert – da er (aufgrund seines Wunsches, diese zu widerlegen) immer entgegengesetzt der Prognose handeln muss.

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schon lange vor der Ausführung einer konkreten Handlung getroffene Festlegungen einer Person. Diese Festlegungen sollte man als lebensstrukturierende oder existenzielle Entscheidungen auffassen, die oft einen langen Vorlauf und eine lange Nachwirkung haben und für die Gründe entscheidend sind. Diese Gründe werden durch die Entscheidung selbst dispensiert, denn in dem Moment, in dem ich mich für eine bestimmte Handlungsalternative entscheide, beende ich die Deliberation und setze das weitere Abwägen von Gründen aus. Natürlich kann es sein, dass ich die Deliberation wieder aufgreife, weil irgendein Aspekt auftaucht, der mich dazu bringt, an meiner Entscheidung zu zweifeln. Aber üblicherweise bringen Entscheidungen solche Deliberationsprozesse zu einem vorläufigen Abschluss, sodass man Entscheidungen folgendermaßen charakterisieren kann: Sie sind Absichten spezifischen Typs, die durch die Handlung erfüllt werden. Obwohl die beiden dargestellten Extrempunkte sich deutlich unterscheiden, besteht zwischen ihnen ein Kontinuum. Denn auch einer Handlung, die auf Willkürfreiheit zurückgeht, geht Intentionalität (das heißt eine von der Person getroffene Entscheidung, derer sich die Person bewusst ist) zumindest unmittelbar voraus und begleitet die Handlung auch noch während ihrer Durchführung. Wäre dem nicht so, würden sich Personen ihr Verhalten nicht als eigene Handlung zuschreiben. Dies lässt sich am bereits dargestellten Beispiel des Neurophysiologen verdeutlichen, der über den implantierten Sensor Muskelreizungen und somit zum Beispiel Aufstehen hervorrufen kann. Gesetzt den Fall, A hätte sich selbst in einem reinen Willkürakt dazu entschlossen, aufzustehen und nicht sitzenzubleiben. Wenn dann der Neurologe aktiv wird und A qua Muskelreizung dazu veranlasst, aufzustehen – ohne dass dieses Aufstehen durch A’s eigene Entscheidung aufzustehen bedingt beziehungsweise von dieser Entscheidung kontrolliert war – so würde A abstreiten, dass es sich bei diesem Verhalten tatsächlich um eine ihm selbst zuschreibbare Handlung handelt. A’s Reaktion wäre höchstwahrscheinlich ernsthafte Verwunderung darüber, was gerade mit ihm geschehen sei. Aus der subjektiven Perspektive wird also eine klare Unterscheidung vorgenommen, ob ein Ereignis eine von den eigenen Intentionen gesteuerte Handlung ist oder lediglich ein eigenes Verhalten, das sich jedoch nicht kohärent in die zeitliche Entwicklung der intentionalen Einstellungen als Handlung einbetten lässt – und dies gilt auch im Fall von Willkürentscheidungen. Auch bei Willkürentscheidungen geht es also darum, dass Intentionen eine die Handlung bestimmende Rolle spielen. Ich unterscheide dabei motivierende, vorausgehende und begleitende Intentio-

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nalität (Nida-Rümelin 1995, § 7), die handlungskonstitutiv ist – und ohne diese motivierende, vorausgehende und begleitende Intentionalität kommen auch Willkürentscheidungen nicht aus.5 Durch diese Trennung von Willkürfreiheit und solcher, die auf Gründe zurückgeht, können wir nun einen Definitionsversuch für Freiheit unternehmen: Diese besteht meiner Ansicht nach in der naturalistischen Unterbestimmtheit von Grnden, nämlich der Gründe, die die Handlungen leiten beziehungsweise deren Abwägung gegeneinander Handlungen leitet. Naturalistische Unterbestimmtheit bedeutet, dass Gründe beziehungsweise das Abwägen und Akzeptieren der letztlich besten Gründe tatsächlich relevant sind für das was ich tue. Wenn diese These gilt, so kann man Handlungen ohne Bezugnahme auf Gründe nicht erklären und erst recht nicht prognostizieren. Diese These ist mit einer bestimmten Form von Determinismus – nämlich dem Determinismus in seiner naturalistischen Form – unvereinbar. Das heißt Theorien, die behaupten, alle Zustände in der Welt seien in der Sprache der Physik und durch Naturgesetze, die den gesamten weiteren Weltverlauf festlegen, beschreibbar, lassen sich mit dieser These nicht zusammen denken. Diese These macht deutlich, was ich unter „humanistische Perspektive“ verstehe, nämlich dass man anerkennt, dass Gründe für das menschliche Leben, die menschliche Verständigungspraxis, die menschliche Interaktion et cetera eine irreduzible Rolle spielen. Der Naturalist hingegen würde behaupten, dass Gründe reduzibel seien und dass die Redeweise von Gründen zugunsten eines physikalistischen Vokabulars in der wissenschaftlichen Analyse und möglicherweise sogar in der aufgeklärten Lebenswelt aufgegeben werden müsse.

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Die berühmten Libet-Experimente, die lange Zeit als empirischer Beleg der These der vollständigen Determiniertheit menschlichen Verhaltens gewertet wurden, betreffen interessanterweise gerade dieses Extrem des Spektrums, nämlich Willkürentscheidungen. Die Tatsache, dass es bis heute keine experimentellen Anordnungen gibt, die zeigen, dass Bereitschaftspotenziale im Gehirn unabhängig beziehungsweise zeitlich vor der Ausprägung von durch Gründe und Abwägung beeinflussten Überzeugungen auftreten, sollte natürlich skeptisch machen. Unter Umständen zeigt dies nämlich, dass die Ergebnisse der LibetExperimente ausschließlich für Willkürentscheidungen zutreffen. Dies wäre zwar an sich ein interessantes Ergebnis – aber für die Frage echter menschlicher Freiheit, die mit lebensstrukturierenden, langfristigen Entscheidungen und Deliberationsprozessen verbunden ist, völlig unerheblich.

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3. Um sich über den dritten zu behandelnden Punkt – Kausalität – klar zu werden, muss man zuerst deutlich machen, dass es zwei Grundinterpretationen von Kausalität gibt: Die eine könnte man als ontologische, die andere als epistemologische Deutung bezeichnen. Zwischen diesen beiden Deutungen wurde in der Philosophiegeschichte nicht immer sorgfältig unterschieden, selbst wenn die Rede von causa und ratio in der Philosophie des Mittelalters darauf hindeutet, dass die Unterschiede zwischen diesen Interpretationen erkannt wurden. Manche Interpreten gehen so weit, die Unterscheidung schon in der Aristotelischen Vier-CausaeTheorie zu verorten – wobei ich hier eher skeptisch bin. Grundsätzlich gilt, dass die ontologische Deutung von einer Kausalität in den Dingen ausgeht; wenn demnach A B verursacht, dann erklärt die ontologische Interpretation dies damit, dass A eine kausale Kraft hat und mit dieser auf B einwirkt – wobei diese kausale Kraft nicht als physikalische Kraft zu verstehen ist, sondern als Wirkung der Hervorbringung, deren genaue Konkretisierung je nach zugrunde liegender Theorie variiert. Der berühmteste Kritiker dieser Auffassung einer realen Kausalität, also einer Kausalität in den Dingen, ist David Hume. Tatsächlich war Hume insgesamt Kausalitätsskeptiker. Das heißt er hat nicht nur bezweifelt, dass es eine Realkausalität gibt – vielmehr behauptete er, dass es insgesamt keinen wissenschaftlichen Beleg für Kausalität gäbe. Diese Skepsis ist bei Hume erkenntnistheoretisch motiviert (weshalb Humes Kausalitätsbegriff als epistemologisch gekennzeichent werden kann) – denn nach Hume beobachten wir lebensweltlich nichts anderes als Sukzessionen von Ereignissen. Das heißt wir beobachten eine Abfolge von Ereignissen und können in dieser Abfolge Regularitäten erkennen. Als Menschen neigen wir zwar dazu, diese Regularitäten kausalistisch zu interpretieren, das heißt bestimmte unveränderliche Gesetzmäßigkeiten anzunehmen; will man aber wissenschaftlich redlich vorgehen, so muss man nach Hume Kausalität ausschließlich über Regularitäten konzeptionalisieren. Diese Hume’sche Interpretation von Kausalität, also die Regularitätstheorie der Kausalität, ist auch heute noch ein wesentlicher Strang in der philosophischen Interpretation des Kausalitätsbegriffes. Allerdings bringt dieser Kausalitätsbegriff neue Schwierigkeiten mit sich, die mit dem Induktionsproblem zusammenhängen. Dies war gerade für den Begründer dieser Interpretation verheerend, da Hume nicht nur gegenüber einer Realkausalität, sondern auch hinsichtlich der Induktion skeptisch war. Denn auch in dieser erkannte Hume lediglich eine psy-

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chologische Neigung des Menschen – nämlich die zu glauben, aus einem Sachverhalt, den man mehrfach beobachtet hat, einen gesetzmäßigen Zusammenhang – einen Allsatz – ableiten zu können. Diese psychologische Neigung ist jedoch rational nicht gerechtfertigt. Zwar hat ein wichtiger Strang der modernen Philosophie des 20. Jahrhunderts, der sogenannte Logische Empirismus, insbesondere in der Gestalt von Rudolf Carnap (1928), einige Jahrzehnte lang versucht, eine rationale Fundierung der Induktion zu entwickeln. Doch muss man dieses sehr anspruchsvolle und mit viel logischem und mathematischem Aufwand betriebene Projekt als gescheitert betrachten. Das Scheitern des logischen Empirismus hat einem weiten Skeptizismus hinsichtlich der Kausalitätsproblematik erst einmal Raum gegeben. Diese Entwicklung wurde zudem noch durch den allgemeinen Trend in der analytischen Wissenschaftsphilosophie verstärkt: Diese hatte es sich ja zur Aufgabe gesetzt, die Philosophie wieder an die naturwissenschaftliche Praxis und an deren Theorien heranzuführen und somit die Dominanz des idealistischen Denkens sowohl im deutschen wie im englischen Sprachraum zurückzudrängen. Dieser Wunsch, zwischen Naturwissenschaft und Philosophie Brücken zu schlagen, hat für einige Jahrzehnte dazu geführt, dass die meisten Protagonisten der Bewegung – also von Bertrand Russell über Moritz Schlick bis hin zu Ludwig Wittgenstein – der Meinung waren, der Begriff Kausalität habe aus wissenschaftlichen Theorien zu verschwinden, da er nicht oder nur durch schlechte Metaphysik begründet sei. Dieser Trend, der seinen Höhepunkt in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts hatte, beruhte teilweise auch auf den Erfahrungen, die in den zwanziger Jahren mit der neuen Quantenphysik gemacht worden waren und die das Konzept der Kausalität grundsätzlich infrage stellten. Doch just in dem Moment, in dem der Begriff der Kausalität endgültig erledigt schien, das heißt etwa Ende der fünfziger Jahre, vollzieht sich eine Trendwende und neue Kausalitätstheorien kommen wieder auf. Diese Wende ist wohl dadurch zu erklären, dass die Suche nach kausalen Zusammenhängen sowohl in der naturwissenschaftlichen Praxis (wenn auch nicht in der Physik, sondern zum Beispiel eher in der Medizin oder Biologie) als auch in den Sozialwissenschaften eine wichtige heuristische Rolle spielt. Das heißt in vielen wissenschaftlichen Forschungsprogrammen spielen Kausalitätshypothesen die Rolle einer Metatheorie. Anders als in der theoretischen Physik, die diesbezüglich scheinbar ein informelles Bündnis mit der Wissenschaftstheorie des frühen 20. Jahrhunderts geschlossen hat, haben viele Naturwissenschaftler anderer

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Disziplinen metatheoretisch realistische Grundeinstellungen. Das heißt sie versuchen nicht so sehr, einen zweckmäßigen Begriff der Kausalität in ihrem jeweiligen Bereich zu konstruieren, sondern sie wollen herausfinden, was die für ihre Fragestellung relevanten Ursachen sind. So kann man zum Beispiel in der Berichterstattung eines Ärztekongresses lesen, dass es offenkundiger Unsinn sei, dass man sich Erkältungen wegen Unterkühlung hole; die eigentliche Ursache seien vielmehr Viren oder Bakterien. Ein kritisch gesinnter Wissenschaftstheoretiker müsste an dieser Stelle stutzen und nachfragen, was für eine Art Ursachenbegriff denn in obiger Aussage verwendet wird. Aber für die meisten Naturwissenschaften und ebenso Sozialwissenschaften stellt sich diese Frage nicht, da hier eine realistische Interpretation dominiert. In der Wissenschaftsphilosophie überwiegt dagegen nach wie vor die positivistische oder instrumentalistische Position, die besagt, man könne zwar beobachtete Regularitäten als kausale Zusammenhänge interpretieren, aber dies dürfe man nicht metaphysisch aufladen. An dieser Stelle möchte ich kurz die Behauptung untersuchen, man könne an der Form naturwissenschaftlicher Gesetze erkennen, ob sie in einem deterministischen Sinne Kausalität voraussetzen oder Kausalzusammenhänge beschreiben. Hierzu muss man zuerst eine einfache Form dx naturwissenschaftlicher Gesetzmäßigkeit betrachten, etwa f ðxÞ ¼¼ dt , wobei x eine beliebige Eigenschaft innerhalb eines beliebigen Gegenstandsbereiches bezeichnet. Für dieses x stellt die angeführte Formel nun eine beobachtbare wissenschaftliche Gesetzmäßigkeit dar, nämlich die, dass sich die Eigenschaft mit der Zeit verändert und zwar in einem funktional beschreibbaren Zusammenhang. Das heißt in Abhängigkeit von der Zeit (dies ist durch die Funktion f(t) ausgedrückt) verändert sich die Eigenschaft x. Die Zeitfunktion stelle man sich stetig und stetig differenzierbar vor. Offensichtlich trifft dann auf diese Gleichung die Maxime der Physik zu, die bis zur Entdeckung der Quantenphysik galt, nämlich natura non facit saltus. Wenn man noch die These hinzunimmt, dass Veränderungen in der Zeit immer zusammenhängen müssen mit Vorgängen, die in raumzeitlicher Nähe sind, so bringt diese Gleichung prototypisch zum Ausdruck, was man lange Zeit für typisch für Kausalität hielt. ih df ^ Nun möchte ich eine weitere Gleichung heranziehen: 2p  dt ¼ Hf, h2 ^ wobei gilt: Hsteht für den Hamilton-Operator  2m D þ V ðr; tÞ (für den h wiederum gilt:  h ¼ 2p ist das Wirkungsquantum, D der Laplace-Operator, m die Masse und V(r,t) das Potenzial aus Ort r und Zeit t), i für die imaginäre Einheit und f für die Wellenfunktion. Diese Gleichung ist eine

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der berühmtesten Differentialgleichungen der Naturwissenschaft überhaupt, nämlich die Schrödinger’sche Wellengleichung. Auf den ersten Blick scheint diese der ersten angeführten Gleichung durchaus zu ähneln – und dennoch irritiert an ihrer Form etwas. Denn tatsächlich ist die dargestellte f-Funktion eine Wahrscheinlichkeitsverteilung, das heißt wir machen mit dieser Gleichung Aussagen über die Eigenschaften von Zuständen, von denen wir lediglich Wahrscheinlichkeitsverteilungen angeben können. Aus der formalen Ähnlichkeit dieser beiden Gleichungen muss man demnach die Schlussfolgerung ziehen, dass die syntaktische Form und die semantische Deutung nicht so eng zusammenhängen können, wie man gemeinhin angenommen hat. Vor diesem Hintergrund lässt sich nun diskutieren, welchen Zusammenhang es zwischen Kausalität und Freiheit gibt. Interessant wird dieser Zusammenhang aufgrund einer Vorstellung von der klassischen Physik, die weit verbreitet ist. Denn von der Newton’schen Mechanik würden fast alle Abiturienten – ebenso wie der Großteil der Wissenschaftstheoretiker – behaupten, dass sie deterministisch sei. Physiker dagegen stehen dieser Einschätzung skeptisch gegenüber und fragen meistens zurück, was denn genau unter „deterministisch“ verstanden werden soll. Meiner eigenen Auffassung nach ist die Einordnung der Newton’schen Mechanik relativ einfach: Die Newton’sche Mechanik ist insofern deterministisch, als sie keine probabilistischen oder indeterministischen Zusammenhänge postuliert; aber sie ist nicht vollständig deterministisch, denn in den Beschreibungen physikalischer Systeme gemäß der Newton’schen Mechanik gibt es Singularitäten. Dass dies tatsächlich der Fall ist, möchte ich anhand einer einfachen Überlegung veranschaulichen: Man stelle sich vor, eine kleinere Kugel K1 kommt auf einer größeren Kugel K2 zu liegen und zwar so, dass die Schwerpunkte der beiden Kugeln auf einer geraden Linie mit dem Masseschwerpunkt der Erde liegen. Beide Kugeln sind ideale Kugeln, das heißt ihr Durchmesser ist an jeder Stelle gleich groß, sodass die Masseverteilung innerhalb dieser Kugeln gleichförmig ist. Was passiert nun, wenn diese beiden Kugeln in der beschriebenen Art und Weise aufeinander liegen – rollt die obere Kugel K1 herunter oder nicht? Tatsächlich kann man sich über dieses Beispiel trefflich streiten: Viele sind sich sicher, K1 muss herunterrollen – und ebenso viele sind absolut davon überzeugt, dass K1 liegen bleibt. Mir dagegen scheint es angemessen, in dieser Frage Agnostiker zu bleiben, das heißt es kann sein, dass die Kugel K1 oben liegen bleibt – aber ebenso gut kann K1 herunterrollen; und wenn sie herunterrollt, dann kann sie in alle

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Abb. 1: Beispiel für einen Zustand, dessen Nachfolgezustand undeterminiert ist

Richtungen herunterrollen. Das heißt aber, dass in diesem Fall eine Undeterminiertheit des Nachfolgezustandes vorliegt, dass also die klassische Physik hier keine sichere Aussage treffen kann. Damit wäre dieser Fall aber ein Beleg dafür, dass die weit verbreitete Vorstellung falsch ist, dass Theorien der Art der Newton’schen Mechanik nur deterministische Gesetze kennen und eindeutige zeitliche Verlaufsgesetze von Zuständen mit sich bringen. Das Beispiel illustriert, dass dies aufgrund der Existenz von Singularitäten nicht der Fall ist – und derer kann es, in der komplexen Welt, in der wir leben, ziemlich viele geben. Doch selbst wenn man am Auftreten von Singularitäten zweifeln und an dem Bild festhalten will, dass die Newton’sche Mechanik immer deterministische Zusammenhänge aufzeigen kann, so ergibt sich aus dieser Vorstellung noch kein Verlaufsdeterminismus. Der Verlaufsdeterminsimus würde besagen, dass ein Weltzustand, gegeben die physikalischen Gesetze, den nächsten und alle sich aus diesem ergebenden Weltzustände festlegt. Denn dies würde die Geschlossenheit der physikalischen Welt voraussetzen; diese wird zwar häufig als gegeben angenommen – doch tatsächlich ist dies eine offene Frage. Denn zuerst gilt es zu klären, was man sich unter der Geschlossenheit der physikalischen Welt überhaupt vorstellen soll. Von Philosophen (und manchmal auch von Naturwissenschaftlern) wird diese Frage häufig durch Verweis auf den ersten Hauptsatz der Thermodynamik, das heißt auf den Energieerhaltungssatz beantwortet. Diese Antwort hat tatsächlich einen gewissen Charme, ist doch der Energieerhaltungssatz das einzige Theorem der klassischen Physik, das weder durch die Quantenphysik noch durch die relativistische Physik infrage gestellt worden ist. Es stellt sich also die

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Abb. 2: Beispiel dafür, dass Kausalität nicht mit der Veränderung energetischer Zustände verbunden sein muss

Frage, ob diese Antwort überzeugen kann, das heißt ob die energetische Geschlossenheit der physikalischen Welt die kausale Irrelevanz menschlicher Absichten impliziert. Anders formuliert gilt es herauszufinden, ob der erste Hauptsatz der Thermodynamik die Existenz der Willensfreiheit widerlegt. Doch auch diese These muss eindeutig verneint werden, wie sich wiederum an einem einfachen Beispiel verdeutlichen lässt: Gesetzt den Fall, ein Massepunkt bewegt sich gleichförmig auf einer geraden Bahn, auf der keine weiteren Kräfte auf ihn einwirken. Wenn dem so ist, so sind – die Gesetze der Physik zugrunde gelegt – bereits alle Koordinaten festgelegt, die dieser Massepunkt im Verlauf seiner Bewegung einnehmen und „durchschreiten“ wird. Doch nun ist denkbar, dass irgendwann einmal im Verlauf seiner gleichförmigen Bewegung Transversalkräfte auf den Massepunkt einwirken und ihn – unter Erhaltung seiner kinetischen Energie – von seiner Bahn ablenken. Transversalkräfte werden kausal wirksam, ohne die kinetische Energie zu verändern. Also stimmt es nicht, dass Kausalität in jedem Fall mit einer Veränderung energetischer Zustände verbunden ist. Insgesamt haben wir eine ziemlich robuste, in unserer Lebenswelt und ebenso in der wissenschaftlichen Praxis etablierte Form des Umgangs

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mit Kausalität, und diese hängt mit unserer Interventionserfahrung zusammen – also mit unserer Erfahrung, in den Weltverlauf eingreifen zu können.6 Diese Erfahrung spielt beispielsweise eine wichtige Rolle im Bereich des Rechts (Hart/Honoré 1959): So kann man das gesamte Rechtssystem mit seinem normativen Gehalt weder theoretisch noch praktisch aufrechterhalten, ohne die Möglichkeit der Verantwortlichkeit der Person – und zwar der Verantwortlichkeit in einem kausalen Sinne – vorauszusetzen (Windbichler 2007, 6573). Das heißt die Vorstellung von Verantwortung im Sinne kausaler Ursächlichkeit ist für unser Rechtssystem eine notwendige Vorstellung. Ebenso sind die Naturwissenschaften auf einen Begriff der Kausalität angewiesen: Wenn Ingenieure gefragt werden, was die Ursache für beispielsweise einen Wasserrohrbruch war, dann empfinden sie diese Frage als legitim und versuchen, darauf zu antworten. Diese auf Kausalzusammenhänge hinweisende Antwort wird sich nicht in einem anspruchsvollen Sinne rekonstrukieren lassen, das heißt sie wird nicht alle Bedingungen nennen, aus denen sich das zu Erklärende logisch-deduktiv ableiten lässt. Vielmehr wird die Antwort des Ingenieurs so zu interpretieren sein, dass er einen Hinweis darauf gibt, an welcher Stelle das Normale, das zu Erwartende nicht eingetreten ist und aus welchen Gründen. Nennen wir dies die Normalittsinterpretation von Kausalität. Diese hat in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren eine präzise wissenschaftsphilosophische Form erhalten, nämlich in Form eines Kausalitätsbegriffes, den man als probabilistisch und epistemisch charakterisieren kann. Urheber dieser Art von Analyse ist Patrick Suppes, wobei auch europäische Wissenschaftler wie Peter Gärdenfors und Wolfgang Spohn wesentliche Beiträge geleistet haben (Suppes 1970; Spohn 2008; Dullstein 2010). Der Grundgedanke ist, dass C genau dann eine prima facie-Ursache für ein Ereignis E ist, wenn Folgendes gilt: prob (EjHt ) < prob (EjHt & Ct0 ), wobei gilt t’> t. Das heißt gegeben eine Hintergrundtheorie H, die wir zugrunde legen, ist die Wahrscheinlichkeit von Ereignis E vor gegebener Hintergrundtheorie H zum Zeitpunkt t kleiner als die Wahrscheinlichkeit des Ereignisses E vor gegebener Hintergrundtheorie zum Zeitpunkt t’ und der Kenntnis zum Zeitpunkt t’, dass C passiert ist (wobei zudem gilt: t’>t). Natürlich weist auch dieser Ansatz Schwierigkeiten auf, wie die Diskussion um die Frage der Abschirmbarkeit (shieldability) zeigt. Ein banales Beispiel kann diese Schwierigkeiten verdeutlichen: Grundsätzlich 6

Diese Formulierung wähle ich in Anschluss an Georg Henrik von Wright, der sie 1971 in seinem Werk Explanation and Understanding geprägt hat.

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gilt, dass die Regenwahrscheinlichkeit höher ist, wenn das Barometer fällt. Dennoch käme kein Mensch auf die Idee, das Fallen des Barometers als Ursache für den Regen zu bezeichnen. Das heißt man muss die dargestellte Form der Analyse gegenüber solchen Effekten abschirmen, etwa indem man durch einen technischen Eingriff in die Funktionsweise des Barometers zeigt, dass es selbst dann regnet, wenn das Barometer daran gehindert wird, zu fallen.

4. Damit haben wir Kausalität im Sinne einer Normalitätsinterpretation probabilistisch präzisiert und können zum vierten Punkt kommen, nämlich der Frage, wie sich Kausalität und Freiheit vertragen. Die anfängliche These bezüglich Freiheit war, dass Gründe relevant sind oder – wie wir vor dem Hintergrund der gewonnenen Erkenntnisse nun formulieren können – dass Gründe für das, was wir tun, kausal relevant sind. Das heißt hätten wir diese Gründe nicht, wäre gemäß der Normalitätsinterpretation die Wahrscheinlichkeit dafür, dass wir tun, was wir tun, geringer. Hieraus lässt sich die zweite These folgern, dass diese kausale Rolle von Gründen epistemisch unauffällig ist. Wir müssen also – entgegen der allgemeinen Meinung – unsere naturwissenschaftlichen Theorien nicht revidieren oder damit rechnen, dass aufgrund dieses Phänomens die gesamte naturwissenschaftliche Theoriebildung oder auch nur eines der Theoreme naturwissenschaftlicher Theorien infrage gestellt wird. Dies mag auf den ersten Blick unplausibel erscheinen, aber schon ein Hinweis genügt, um die Bedenken zu zerstreuen: Denn wie dargestellt erlauben Singularitäten, dass selbst rein deterministische Theorien Unterbestimmtheiten aufweisen, sodass die reale kausale Relevanz von Gründen verträglich wird mit einer entsprechenden deterministischen Theorie. Intuitiv mag man einwenden, dass Singularitäten doch seltene Ausnahmen seien, sodass man durch sie keine so weitreichende These begründen könne. Diesem Einwand möchte ich mit einer Stufentheorie des Seienden begegnen (die manche für Emergentismus halten werden – wobei ich diese Einschätzung bezweifeln würde): Gesetzt den Fall, man betrachtet einen biologischen Organismus wie etwa ein laufendes Pferd. Man kann nun in physikalischen Termini alle Vorgänge beschreiben, die für dieses Ereignis des Laufens relevant sind, das heißt die elektrostatischen Veränderungen im Muskelgewebe, die Belastungen der Gelenke et cetera. Wenn man sich nun zudem vorstellt,

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jemand verfüge über das notwendige Rechnerpotenzial, um eine vollständige Beschreibung des Ereignisses „laufendes Pferd“ in physikalischen Termini zu liefern – dann ist nicht anzunehmen, dass sich auch nur minimale Erklärungslücken ergeben. Jedes einzelne Ereignis – das heißt der Druck des rechten Hufes auf das Trottoir und so weiter – lässt sich physikalisch genau erklären. Aber uns ist allen klar, dass eine Beschreibung des laufenden Pferdes ohne biologische Terminologie und ohne biologische Gesetzmäßigkeiten in einem bestimmten Sinne unvollständig ist. Zwar nicht unvollständig im Sinne der Physik, denn die Physik wird an keiner Stelle verletzt – aber die vollständige Beschreibung des Organismus „Pferd, welches gerade läuft“ erfordert biologische Gesetzmäßigkeiten. Anders formuliert: Obwohl sich jeder physikalische Vorgang problemlos mit den Mitteln der Physik und mit genauer Beschreibung der jeweiligen Zustandsgrößen erklären lässt, bleibt das laufende Pferd für den reinen Physiker letztlich doch ein Rätsel; für den Biologen, der es in seinem Vokabular erfassen kann, dagegen nicht. Diese – mir offensichtlich erscheinende – Überlegung soll lediglich verdeutlichen, dass biologische Gesetzmäßigkeiten nicht auf physikalische oder chemische reduzierbar sind. Das heißt nicht, dass biologische Gesetzmäßigkeiten an irgendeiner Stelle die physikalischen oder chemischen außer Kraft setzen, sondern lediglich, dass sie eine zusätzliche Information liefern, die nicht schon in der physikalischen Beschreibung enthalten ist. Insofern ist die These von der physikalischen Geschlossenheit der Welt unscharf. Vielmehr muss man genau nachfragen: Wenn „Geschlossenheit“ heißt, dass jeder physikalische Vorgang vollständig erklärbar ist und dass keine Lücken entstehen, so habe ich überhaupt keine Schwierigkeiten mit dem Begriff physikalischer Geschlossenheit. Wenn „Geschlossenheit“ aber bedeuten soll, dass es über die physikalische Beschreibung hinaus keine für eine vollständige Beschreibung relevanten Informationen geben kann, dann habe ich sehr wohl damit Schwierigkeiten. Insofern muss man auch die Rede vom weichen Naturalismus genauer fassen:7 Wenn damit gemeint ist, dass die Welt zwar eigentlich vollständig in naturwissenschaftlichen Termini beschreibbar ist, man aber darüber noch eine andere Ebene der Beschreibung lagern kann, die an der vollständigen Erklärung der Ereignisse allerdings nichts mehr verändert – dann wäre dieser weiche Naturalismus tatsächlich zu weich und zu schwach. 7

Für einen solchen weichen Naturalismus hatte Habermas (2006, 669707) plädiert.

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Damit komme ich zu meiner letzten Überlegung bezüglich der Frage, ob Willensfreiheit mit Determinismus vereinbar ist: Grundsätzlich muss diese Frage angesichts einer Wissenschaftspraxis, in der Verlaufsgesetze eine untergeordnete Rolle spielen, relativ unwichtig erscheinen. Insofern steht sie zu Unrecht im Mittelpunkt der zeitgenössischen Debatte um Willensfreiheit und es ist unbegründet, die Kategorisierung philosophischer Theorien zur Freiheitsthematik ausschließlich anhand dieser Frage zu vollziehen. So hatte ich zwar vorher darauf hingewiesen, dass meine eigene Position in dieser Frage mit einem naturalistischen Determinismus unvereinbar ist; doch wenn man das Wirken von Gründen mit einbezieht, ist meine Position mit einem Universaldeterminismus (unter Einbeziehung intentionaler Kausalerklärungen) nicht unvereinbar. Insofern bleibe ich auch nach langem Abwägen in dieser Frage Agnostiker.

Bibliographie Carnap, Rudolf (1928): Der logische Aufbau der Welt. Berlin: Meiner. Dullstein, Monika (2010): Verursachung und kausale Relevanz. Paderborn: Mentis. Frankfurt, Harry (1971): Freedom of the Will and the Concept of a Person. In: The Journal of Philosophy (68/1), 520. Habermas Jürgen (2006): Das Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft und das Problem der Willensfreiheit: Wie lässt sich der epistemische Dualismus mit einem ontologischen Monismus verbinden? In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie (54/5), 669707. Hart, Herbert L. A./Honoré, Tony (Hg.) (1959): Causation in the Law. Oxford: Oxford University Press. Malcolm, Norman/Armstrong, David M. (Hg.) (1984): Consciousness and Causality. Oxford: Blackwell. Nida-Rümelin, Julian (1995): Kritik des Konsequentialismus. München: Oldenburg. Nida-Rümelin, Julian (2001): Strukturelle Rationalität. Stuttgart: Reclam. Nida-Rümelin, Julian (2005): Über menschliche Freiheit. Stuttgart: Reclam. Nida-Rümelin, Julian (2011): Verantwortung. Stuttgart: Reclam. Spohn, Wolfgang (2008): Causation, Concepts, and Coherence. Dordrecht: Springer. Suppes, Patrick (1970): A Probabilistic Theory of Causality. Amsterdam: North Holland. Van Inwagen, Peter (1983): An Essay on Free Will. Oxford: Oxford University Press. Von Arnim, Hans (Hg.) (1903): Stoicorum veterum fragmenta, Bd. 3: Chrysippi fragmemnta muralia. Fragmenta successorum Chrysippi. Leipzig: Teubner.

418

Julian Nida-Rümelin

Von Wright, Georg H. (1971): Explanation and Understanding. Ithaca: Cornell University Press. Windbichler, Christine (2007): Kausalität im Zivilrecht. In: Debatte (5), 6573.

Beiträgerinnen und Beiträger Monika Betzler ist Professorin für Philosophie an der Universität Bern. Christian Elger ist Professor für Epileptologie sowie Direktor der Klinik für Epileptologie der Universität Bonn und Geschäftsführer der Bonner Life & Brain GmbH. Eva-Maria Engelen ist Professorin an der Universität Konstanz. Volker Gerhardt ist Professor für praktische Philosophie, Rechts- und Sozialphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Stefan Gosepath ist Professor für Internationale Politische Theorie und Philosophie an der Universität Frankfurt am Main. Christian Hoppe ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bonner Universitätsklinik für Epileptologie. Matthias Kettner ist Professor für praktische Philosophie an der Universität Witten/Herdecke. Julian Nida-Rmelin ist Professor für Philosophie und politische Theorie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Dietmar von der Pfordten ist Professor für Rechts- und Sozialphilosophie an der Universität Göttingen. Wolfgang Spohn ist Professor für Philosophie und Wissenschaftstheorie an der Universität Konstanz. Dieter Sturma ist Professor für Philosophie an der Universität Bonn sowie Direktor des Deutschen Referenzzentrums für Ethik in den Biowissenschaften, des Instituts für Wissenschaft und Ethik und des Instituts für Ethik in den Neurowissenschaften am Forschungszentrum Jülich.

420

Beiträgerinnen und Beiträger

Lutz Wingert ist Professor für Philosophie mit Schwerpunkt praktische Philosophie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich.

Personenregister Anaxagoras 213 Apel, Karl-Otto 228, 232, 242, 347 Aristoteles 152, 209, 213, 240, 242, 294f., 314, 342f. Ayer, Alfred J. 119, 248, 317, 361 Bayle, Pierre 215 Beckermann, Ansgar 187, 325 Blackburn, Simon 191, 318 Bonjour, Laurence 319 Boyd, Richard 112, 318 Brandom, Robert 162f., 180, 188, 190, 323, 325, 385 Bratman, Michael 61 Brentano, Franz von 92f. Brink, David 318 Canetti, Elias 195 Carlyle, Thomas 216 Carnap, Rudolf 14, 409 Chalmers, David 326 Chrysipp 374, 391 Church, Alonzo 330 Cicero 228 Coleridge, Samuel T. 216 Davidson, Donald 23f., 148f., 151f., 188f., 300, 336, 352 Demokrit 342 Dennett, Daniel 76 Descartes, René 27, 232f., 310, 376 Dewey, John 28, 230, 303 Dilthey, Wilhelm 123, 212, 216f. Einstein, Albert 375, 377 Empedokles 213 Epikur 342 Erasmus von Rotterdam 214 Fenwick, Peter

272

Ferber, Raffael 309 Fichte, Johann Gottlieb 212 Foot, Philippa 180 Frankfurt, Harry 66, 387, 400–403, 419 Frege, Gottlob 32, 305, 323, 331, 335, 386f. Freud, Sigmund 45, 47f., 363, 384, 399 Gärdenfors, Peter 319, 336, 352, 414 Gehlen, Arnold 328 Gibbard, Allan 318 Gödel, Kurt 330 Grice, Paul 311, 325 Grotius, Hugo 215 Habermas, Jürgen 22, 28, 157, 160, 162, 174, 179, 182, 255, 313, 317, 320, 326, 328, 331, 339, 347, 359, 416 Hare, Richard M. 27, 82, 301f., 318, 373 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 212 Helm, Bennett 48 Helmholtz, Hermann von 216 Henrich, Dieter 333 Heraklit 213 Hippokrates von Kos 259 Hobbes, Thomas 320, 360 Homer 233 Hösle, Vittorio 233f. Hume, David 33, 150, 335, 381, 408 Husserl, Edmund 27, 32, 124, 212, 305, 310, 323, 331, 335, 386f. Inwagen, Peter van Jackson, Frank

88

399

422

Personenregister

Jacob, Pierre 95f. Jeffrey, Richard C. 73 Jonas, Hans 328 Kane, Robert 21, 307 Kant, Immanuel 75, 77, 82, 113, 164f., 174, 212, 220f., 244, 246, 290, 306, 322, 375, 380, 395–397 Kleene, Stephen C. 330 Koch, Christof 108, 274 Kornhuber, Hans 277f. Kuhn, Thomas S. 33, 320 Larmore, Charles 179, 187, 192 Leibniz, Gottfried Wilhelm 20, 27, 215 Leukipp 342 Levi, Isaac 73, 77 Lewis, David K. 63, 126, 311 Libet, Benjamin 21, 277f., 353–356 Lyotard, Jean-François 339 Machiavelli 320 MacKay, Donald M. 170, 333 Mackie, John L. 23, 134, 317 Malcolm, Norman 397 Margalit, Avishai 244 Marx, Karl 202f., 399 McDowell, John 162, 171, 179, 323, 325, 335 Mill, John Stuart 216 Montesquieu 215 Moore, George E. 12, 32, 82, 310, 330, 343 Morus, Thomas 215 Nagel, Thomas 40, 76, 87, 150, 153, 182, 322, 326 Newton, Isaac 342, 375, 384, 391, 398, 411f. Nietzsche, Friedrich 339 Nozick, Robert 293 Parmenides 213 Pettit, Philip 58 Pico della Mirandola 214 Planck, Max 392, 395

Platon 152, 208f., 213, 272, 314, 342f. Popper, Karl 24, 32, 88 Protagoras 152, 213 Putnam, Hilary 28, 112, 301 Railton, Peter 318 Ramsey, Frank P. 14 Rawls, John 10, 330 Raz, Joseph 187 Reid, Thomas 76, 360 Ricardo, David 399 Ross, William D. 115 Roth, Gerhard 195, 275, 279, 351 Russell, Bertrand 409 Sapir, Edward 315 Scanlon, Thomas 192, 322, 337 Schaber, Peter 318 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 203 Schlick, Moritz 297, 372, 409 Searle, John 94, 187, 193, 293, 302, 305, 331 Seel, Martin 180, 209, 263, 269, 271–274, 295 Sellars, Wilfrid 162, 173, 179f., 188, 323, 325, 335 Singer, Wolf 351 Smith, Michael 58, 149f., 361 Sokrates 152, 208, 213, 233 Spaemann, Robert 328 Spirtes, Peter 74, 77f. Spranger, Eduard 123, 125, 212 Stegmüller, Wolfgang 23, 393 Stevenson, Charles L. 373 Strawson, Peter 26, 29, 364f., 371–373, 381 Suppes, Patrick 336, 414 Thukydides 213 Tomasello, Michael 100–102 Tugendhat, Ernst 192 Tuomela, Raimo 325 Velleman, David Weber, Max

64f., 145

216, 261f.

Personenregister

Werner, Richard 318 Whorf, Benjamin 315 Williams, Bernard 23, 40, 146f., 151, 289, 318

423

Wittgenstein, Ludwig 13–15, 33, 94f., 100, 123f., 162, 212, 303, 310–314, 323, 348, 378, 385, 409 Wright, Georg Henrik von 76, 414

Sachregister Absicht 20, 25, 61, 63, 73, 76, 91–103, 149, 152, 164, 166f., 192, 201, 212, 214, 219, 303, 333, 361–364, 366, 396, 406, 413 Anthropologie 5, 122, 259, 297, 320, 323, 348, 378, 380 Autonomie 76, 164, 233, 244, 276, 289f., 292, 306, 325, 391, 400f., 403 Bereitschaftspotential 355f., 401

267, 277f.,

Deliberation 2, 14, 17, 20, 23–25, 27, 29–31, 74, 104, 237f., 298, 302, 307, 313, 323, 340, 353, 355, 382–384, 402, 406 Determinismus 19, 28f., 74–76, 79, 83, 88, 158, 160, 167, 219f., 222, 224, 237f., 275f., 279, 297, 301, 307, 361, 374f., 379f., 391, 397f., 401, 405, 407, 417 Diskursethik 2, 28, 246f. Dual-Aspect Theory 2, 4, 174 Emotionen 46–48, 50, 53, 92f., 97, 102f., 105, 107f., 149, 290, 322f., 374 Epiphänomenalismus 301 Ereignisse 1–2, 23f., 83, 98, 118f., 157f., 163, 165–167, 169, 173–175, 193, 204, 223, 277, 298, 301f., 306–308, 328, 331, 343f., 355, 359–361, 363–365, 392, 408, 414, 416 Ethik 11f., 32, 40, 114, 117, 119f., 125–127, 129–134, 136f., 152, 207f., 213, 259, 279f., 282, 289, 294f., 301f., 310, 314, 318, 330, 337, 372, 378, 380, 385, 419f.

Fehlschluss 32, 79, 117, 127, 158–160, 329–331 – atomistischer 26, 158 – mereologischer 158, 160 – naturalistischer 32, 117, 329–331 – referenzieller 158–160 Freiheit 1–3, 9, 17–19, 21, 25–30, 33, 37, 68, 75f., 86, 88f., 91f., 98f., 103, 109, 111, 113, 131, 157, 159, 165, 167–170, 174f., 201, 203, 220–224, 227, 231, 236–239, 242–244, 274, 276f., 279, 297–299, 306, 308, 313, 319, 326, 333, 343, 348, 353, 360f., 367, 371–375, 378, 380–384, 386–388, 391–394, 396f., 399, 401–405, 407, 411, 415 Fundamentalismus 12, 122, 126, 135, 309, 312 Gefangenen-Dilemma 15 Gradualismus 27, 384, 405 Gründe 1–5, 9, 11f., 14–17, 19–27, 29–33, 39, 41–51, 53f., 56f., 59–68, 77, 80f., 83f., 87f., 91, 94, 97, 100, 102–104, 112f., 117, 124, 133, 135f., 141, 143–154, 157, 161–163, 165–175, 179–196, 201, 203–206, 209f., 212, 218, 220, 228, 236–238, 243f., 250f., 275f., 289–294, 302, 305–308, 311f., 315, 317, 319–324, 326, 330–332, 335–344, 347f., 352, 355f., 360, 363, 366, 372–374, 379–388, 393, 395–397, 402–407, 414f., 417 – erklärende und rechtfertigende 148, 180 – pragmatische Dimension von Gründen 192

426

Sachregister

– semantische Dimension von Gründen 192, 196 – sprachliche Form von Gründen 186f. Grund und Disposition 189, 196 Handlungen 1–4, 10f., 17, 20, 23–25, 30, 42–45, 50, 57–59, 61, 64–66, 72–81, 83, 86, 89, 91f., 95, 97–100, 103, 113–115, 132, 134, 143–154, 157f., 160–164, 166–170, 174f., 184, 188–195, 204, 206, 220, 222, 238, 240, 243, 275–279, 289, 293, 298, 300–302, 305, 307, 315, 320–323, 335–337, 339, 352, 355f., 360–366, 372, 379, 381, 383–388, 395–397, 401f., 405–407 Hirnforschung 259, 261, 263–265, 270f., 273, 279f. Humanismus 2–5, 22, 86f., 143, 168, 171f., 179, 196, 199, 201–203, 206, 214, 218–221, 224, 227–236, 238f., 243f., 246, 254f., 336f., 341f., 345, 348 Ideal 26, 39, 56, 64–66, 82, 84f., 127–129, 209, 229, 247, 317, 330, 338f., 344, 411 Identitätstheorie 14, 39, 46, 50–52, 55, 81–83, 130f., 137, 168, 235, 255, 262, 270, 300f., 315, 335f., 344 Individualismus 17, 51, 111, 129–131, 139, 227f., 234–236, 239, 243, 246, 255, 315, 399 Inferenzen 302f., 306f., 315 Intensionalität 96, 305 Intentionalität 3, 24f., 91–93, 95–100, 102f., 106–108, 159, 175, 239, 305, 364, 406f. Kausalität 23f., 26, 31, 74, 76f., 82, 87, 91, 104, 106, 148, 165, 168, 174f., 217, 220, 223f., 305, 307, 328, 336, 391–393, 396, 408–411, 413–415

Kohärenz 2, 4, 13–15, 111f., 118, 120–122, 126–128, 131, 138f., 152, 192, 295, 309, 314, 317–319, 333, 337, 359, 384, 387, 401 Kollektivismus 126, 129f., 309, 315 Kompatibilismus 1, 72, 75, 80, 221, 297, 343, 387 Kontrolle 3, 20, 25, 31, 73, 88, 91f., 94, 97, 100, 102–105, 107–109, 270, 305, 391, 400, 403 Konvention 111, 118, 122, 125f., 128–131, 309, 311 Laplacescher Dämon 83, 88, 301, 386, 398 Leben 3, 14, 21f., 39–41, 46, 50, 52f., 56, 60, 67f., 122f., 132, 160, 165, 169f., 188, 205f., 209, 211f., 217–219, 221, 223f., 228–230, 239, 244, 274, 289–291, 295, 310, 313, 324, 344, 376, 383f., 407, 412 Lebensform 2, 4f., 13, 15, 111, 117, 122–126, 128, 166, 169–174, 212, 219, 229, 232, 235f., 255, 293, 295, 309–311, 313f., 347f., 360, 394 Lebenswelt 4, 13, 29, 68, 111, 117, 119, 122–125, 162, 172, 212, 310, 313f., 318f., 337, 349, 371, 374, 376–378, 382f., 388, 395, 407, 413 Libet-Experiment 20f., 353, 407 Logik 208f., 213, 280, 311, 317f., 323, 331, 376, 386 Materialismus 82, 219, 300f., 328, 345, 392 Menschenwürde 5, 80, 132, 227, 230, 244–247, 249–255, 347f. Metaethik 2, 114f., 117, 122, 131–133, 137, 317, 323 Metaphysik 9, 22, 26–29, 31–34, 81, 87, 104, 106, 113, 219, 222, 229, 237–240, 259, 274, 305, 317, 324, 328, 337, 343, 345, 347f., 352, 375, 409f.

Sachregister

Motiv, Motive 4, 17, 33, 41, 49, 55, 68, 81, 138, 146f., 148–153, 202–206, 208, 230, 320, 322, 325, 359, 386 Natur 18, 41, 68, 77, 123, 149, 171, 194, 201–213, 215–224, 231, 273, 307, 318, 326, 328, 341f., 344, 359f., 364, 393f., 396, 400 Naturalismus 1–5, 22–25, 27, 32, 77, 87, 91, 98, 105f., 117, 127, 158, 160, 168, 171–175, 196, 199, 201–203, 206, 218–222, 224, 227, 231, 235–239, 244, 254f., 282, 301–303, 305–307, 325–333, 335–337, 341–345, 348, 351f., 359–361, 364–366, 380, 383f., 386, 393, 407, 416f. Neuroethik 269 Neurophilosophie 158, 167, 259, 274, 279, 305, 307, 351 Neurophysiologie 22, 34, 72, 172, 174, 236, 263–265, 267, 269, 333, 344, 351–353, 375, 380, 384, 399 Neuropsychologie 264f., 269, 271, 280, 351 Newcombsches Paradoxon 299f. Normativität 1f., 25, 54, 56, 85f., 100, 119, 125–130, 134, 137f., 144, 163, 187, 289, 291f., 309f., 320, 322, 330, 342 Objektivität 1, 29, 32, 76, 87, 131f., 134, 137, 139, 151, 167, 223, 230, 278, 281f., 289–294, 298, 305, 309, 311, 314, 338f., 342f., 349, 353, 364, 372f., 396, 402 Optimismus 309, 315, 339 Orientierungswissen 30, 33f., 103, 376, 378 Performativer Selbstwiderspruch 241–243, 280 Person, Personen 3f., 11, 17–20, 30–32, 40–57, 59–68, 72, 76, 101, 103f., 112, 116, 120f., 132f., 136, 144, 146–148, 150, 152–154, 157, 160–170, 173, 175, 179f., 182,

427

195, 203f., 237, 239–245, 251, 261–263, 265, 269f., 273f., 276, 280, 291f., 294, 297–301, 306f., 315, 321, 323, 330, 333, 336, 339, 343, 348, 354, 360–364, 371–374, 382, 385–388, 395–397, 400–403, 406, 414 Physik, Physikalismus 1, 2, 22, 84f., 88, 94, 124, 158–160, 167, 174, 206, 208, 213, 215–218, 221, 236, 270, 274, 281, 300–302, 306f., 312f., 326–328, 331f., 336, 344f., 359f., 375, 377, 384, 395, 398, 407, 409–413, 416 Plan 61–63, 108, 146, 163 Positivismus 126f., 309, 313 Projekte 3, 28, 39–42, 44–46, 48–58, 60–68, 227, 289–292, 294f., 385 Psychoanalyse 375, 399 Psychologie 34, 85f., 119, 217, 263–265, 267–269, 279f., 329, 352, 377, 379, 383f. Psychologismuskritik 305, 323, 331, 335 Qualia

32, 159, 301, 331, 336, 342

Rationalität 2, 4, 9–11, 13–18, 21, 80f., 103, 105, 125, 131, 143–146, 151–154, 203, 213, 221f., 231, 236, 239f., 255, 289–291, 293f., 317–319, 323, 337, 372, 383, 385, 387f., 404 Raum der Gründe 4, 157, 162–164, 167, 171f., 179f., 191f., 194f., 325, 330, 335, 339f. Raum der Ursachen 162–164, 167, 172 Realismus 2, 28, 160, 172f., 192, 311, 317f., 347, 349 Reduktionismus 2, 218f., 300, 325, 328, 331, 343, 351 Referenz, referenziell 48, 50, 53, 101, 112, 158–160, 325 Relativismus 120, 125f., 128–130, 239, 309, 314, 348 Repräsentation 17, 91, 105f., 108, 362

428

Sachregister

Selbstbewusstsein 4, 157–159, 164–166, 168f., 174f., 209, 332f. Selbstreferenz 4, 164, 168–170 Selbstverhältnis 168 Selbstverständnis 5, 55f., 81, 100, 102, 144f., 150, 172f., 204, 206, 218f., 231, 239, 351 Status – moralischer 227, 247–250, 253, 347f. – normativer 40, 57, 180, 182f., 189–191, 195 Stoa 314, 374, 391, 397 Subjektivität 15, 18–20, 29, 32f., 73, 76, 127, 131f., 136–138, 144, 146, 150, 170, 251, 259, 262f., 277f., 290, 297f., 319, 342, 353, 372–374, 406 Supervenienz, Supervenienzthese 81, 84, 87f., 301 Überzeugungen 1, 11–13, 26f., 30, 32, 78f., 103, 111f., 115–122, 126, 135f., 145f., 148f., 180, 188, 191f., 237, 242, 248, 291, 300, 302, 305, 309f., 312–315, 318, 322f., 329f., 333, 339, 348f., 352, 360, 373, 376f., 382, 384, 386–388, 397, 407 Universalisierbarkeit 292, 396 Unterbestimmtheit 1, 25, 27, 87f., 220, 222f., 301, 303, 331f., 338, 344, 352, 364, 383f., 386, 407, 415 Verantwortung 30, 33, 80, 92, 117, 130f., 236, 239, 247f., 306, 353,

372, 374, 378, 380, 383f., 387, 391, 399f., 403f., 414 Vernunft 1–3, 9–11, 26, 98f., 103, 111–113, 117, 143, 149f., 152–154, 203, 213, 222, 233, 235f., 238, 240, 255, 319, 371, 374, 396 – praktische 3f., 9, 37, 39, 50f., 56, 66, 68, 144, 150, 154, 290, 295, 306 Verursachung von Handlungen 78, 81 Wahrheit, Wahrheitsbedingungen 32, 71, 76, 82, 86, 180, 182, 184f., 192–194, 196, 216, 240f., 282, 309, 317, 339, 392 Willensfreiheit 3, 21, 71f., 75, 77, 79, 86, 143, 157, 170, 239f., 243, 277, 361, 375, 391, 400, 403, 413, 417 Wirklichkeit 87, 95, 122, 159, 172–175, 239f., 242f., 276, 280–282, 338, 379, 399 Wissen 16, 26, 30, 32, 40, 44, 71, 83–85, 94, 103, 124, 130, 148, 150, 180, 206, 209–215, 217, 234, 247, 251, 263, 267, 269, 271f., 278, 289, 293, 297f., 310, 329f., 363, 376, 401 Wünsche 1, 32, 39, 41, 44, 56–58, 60, 62–66, 79–81, 93f., 108, 116, 125, 134–137, 144–146, 148–151, 153, 167, 186, 195, 290–293, 300f., 307, 329, 335, 373, 381f., 384, 386, 396f., 400f., 403