Die Freiheit der Reflexion: Zum Zusammenhang der praktischen mit der theoretischen Philosophie bei Hegel, Thomas von Aquin und Aristoteles [Reprint 2014 ed.] 9783050047270, 9783050040011

Freiheit der Reflexion – Reflexivität der Freiheit: beide Ausdrücke bedeuten einen Zusammenhang zwischen der theoretisch

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German Pages 290 [285] Year 2003

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Die Freiheit der Reflexion: Zum Zusammenhang der praktischen mit der theoretischen Philosophie bei Hegel, Thomas von Aquin und Aristoteles [Reprint 2014 ed.]
 9783050047270, 9783050040011

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Michael Städtler Die Freiheit der Reflexion

Hegel-Forschungen Herausgegeben von Andreas Arndt Karol Bai Henning Ottmann

Michael Städtler

Die Freiheit der Reflexion Zum Zusammenhang der praktischen mit der theoretischen Philosophie bei Hegel, Thomas von Aquin und Aristoteles

/0J5§^£\ Akademie Verlag

ISBN 3-05-004001-7 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2003 Das

eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN / ISO 9706.

Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. -

-

Einbandgestaltung: Günter Schorcht, Schildow Gesamtherstellung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Printed in the Federal

Republic of Germany

Für Peter ...

à bien d'autres encor!

Es nützt unter solchen Bedingungen nichts, zu sagen, ich sei woanders, ein anderer, wie ich bin, habe ich alles Nötige bei der Hand, um was zu tun, ich weiß nicht, das, was ich zu tun habe, endlich bin ich wieder allein, welche Erleichterung muß das sein. Ja, es gibt Momente, wie in diesem Moment, wie heute abend, da es beinahe den Anschein hat, als sei ich dem Reich des Möglichen wieder anheimgegeben. Dann geht es vorbei, alles geht vorbei, ich bin wieder weit weg, ich habe noch eine Geschichte in weiter Ferne, ich erwarte mich in der Ferne, damit meine Geschichte beginne, damit sie ende...

(Samuel Beckett,

Texte

um

Nichts IV)

Inhalt

An der Stelle von Einleitung und Schluss.13 friedrich hölderlin: am quell der donau.22

Erstes Kapitel: G.W.F. Hegel.25 I.

Die Reflexion. Ein Kommentar.32

Wissenschaft der Logik. Erster Band: Die objektive Logik. Erstes Buch: Die Lehre vom Sein. Dritter Abschnitt: Das Maß.

Zweites

Kapitel: Das reale Maß. C. Das Maßlose.33

Drittes Kapitel: Das Werden des Wesens.34 A. Die absolute Indifferenz.34

B. Die Indifferenz als C.

umgekehrtes Verhältnis ihrer Faktoren.35

Übergang in das Wesen.36

Wissenschaft der Logik. Erster Band: die objektive Logik. Zweites Buch: Die Lehre vom Wesen.38 Das Wesen.38 Erster Abschnitt: Das Wesen als Reflexion in ihm selbst. Erstes

Kapitel: Der Schein.43

A. Das Wesentliche und das Unwesentliche.45

B. Der Schein.46

C. Die Reflexion.52 1. Die setzende Reflexion.54

Inhalt

10

2. Die äußere Reflexion.57

3. Die bestimmende Reflexion.61 II. Die

Theologie des absoluten Widerspruchs.65

III. Der Wille.67 IV. Die Teleologie des Willens und der Weltgeist.86

Zweites Kapitel: Thomas von Aquin.95 I.

Die Intellektuelle Erkenntnis.100 1. Erkenntnis äußerer Gegenstände.103

2. Erkenntnis seiner selbst.107

3.GeistundTrinität.109 II. Das Absolute.115 1.

Begriff desselben.115 Reflexion des Absoluten.119

2. Absolute Reflexion -

3.

Trinitätsspekulation.122

III. Der Wille.133

1. Der Wille Gottes.134 2. Der menschliche Wille.141

3. Synderesis als IV.

Verknüpfung von Vernunft und Wille.156

Teleologie und Geschichte.160 1. Aporien der Freiheit und Geschichte der Menschen.160 2. Menschheit als corpus mysticum Christi.167

Drittes Kapitel: Aristoteles.173

vßptc.173

I.

Wissenschaft als

II.

Metaphysik zwischen Ontologie und Selbstbewußtsein.181 1. Seiendes und Wesen.181

Inhalt

11

Auffindung der Prinzipien.190 3. Der ontologische Vorrang der Substanz.195

2.

4. Das

unbewegt Bewegende.205

5. Von der Seele.213 III. Ethik ohne Wille.220

Teleologie.220 a. Voraussetzungen aus der theoretischen Philosophie.220 b. Teleologie des Handelns und Ordnung der Güter.225 2. Habituelle Bestimmung der Zwecke.229 1.

IV. Die menschliche Substanz in der Politik.239

1. Ethik und polis.239 2. Die

Ungleichheit der Menschen.244

V. Natürliche Herrschaft und Geschichte.251

1. Herr und Sklave.251 2. Die polis.257

Reproduktion und die historischen Grenzen der polis.262 4. Die historische Bedeutung der Aneignung der Natur.270 3.

Charles Baudelaire: Der Schwan.275

Namenregister.279 Verzeichnis der Abkürzungen.281

Literaturverzeichnis.283

An der Stelle von Einleitung und Schluß Freiheit der Reflexion Reflexivität der Freiheit: beide Ausdrücke bedeuten einen Zusammenhang zwischen der theoretischen und der praktischen Philosophie. Zentrale Bedeutung für die theoretische Philosophie kommt der Reflexion nicht erst bei Hegel zu, sondern die Konstruktion theoretischer Zusammenhänge erfolgt seit den Anfängen der Metaphysik über reflexive Bestimmungen, also solche, die einen Bezug auf sich selbst enthalten: So liegt in jeder Abkürzung eines unendlichen Regresses hinter der dogmatischen Setzung der Anspruch, daß dieses gesetzte Glied aus sich selbst gilt, wo nicht die Philosophie sich selbst als autoritären Sophismus versteht. Die Ordnung von Begriffen, Kategorien oder Substanzen erfolgt durch eminent unterschiedene Begriffe, die selbst nicht mehr in einer höheren Ordnung begründet werden können, wie beispielsweise das unbewegt Bewegende, Gott oder die Totalität, und es ist die denkende Reflexion auf Aporien, die solche Begriffe erschließt, wenngleich sie lange Zeit diesen Akt selbst nicht zum Gegenstand weiterer Reflexion macht, sie also nicht explizit erkenntnistheoretisch oder selbstbewußt so operiert. Reflexion ist so die bestimmende Struktur von Begriffen, von Selbstbewußtsein, von intellektuellen Operationen und sie soll gelegentlich auch die der Dinge selbst sein. Das Verhältnis dieser verschiedenen Formen von Reflexion bestimmt zum großen Teil die jeweilige philosophische Theorie. In neuer Zeit ist die Reflexion allerdings weitgehend außer Kurs gesetzt worden. Statt dessen sollte das Grundlagentrilemma von dogmatischer Setzung, Zirkel oder unendlichem Regreß zum Beispiel wissenschaftstheoretisch gelöst werden, indem verschiedene Sprachebenen logisch unterschieden wurden, wobei aber jede Metasprache wieder dem Problem der Basissprache verfallen muß. Die jedem Urteil über Gegenstände äußerer Erfahrung vorausgesetzte Frage danach, wo der Grund dafür liegt, überhaupt in einer Sprache über diese oder eine andere Sprache urteilen zu können, führt schließlich jedesmal zurück zur Reflexivität der denkenden Subjekte. Deren Entwicklung im Verhältnis zu ihren Objekten bestimmt deshalb die Geschichte der theoretischen Philosophie und aus der Betrachtung dieser geschichtlichen Entwicklung ergibt sich ein Zusammenhang mit der praktischen. In ihr macht Reflexion sich zunächst als Reflexivität der Subjekte bis hin zur selbstbewußten Bestimmung der Organisation der Lebensverhältnisse aller Menschen geltend. Selbstbewußtsein meint theoretisch die Selbstbestimmung vernünftiger Wesen in ihrem Verhältnis zu ihren Gegenständen, praktisch die Selbstbestimmung in ihrem Verhältnis zueinander. Weil die Beziehung zueinander die materielle Existenz voraussetzt, ist immer auch schon die gelungene theoretische Reflexion vorausgesetzt, die ihrerseits ohne zumindest äußerlich geordnete, zivilisierte Verhältnisse der Subjekte untereinander nicht möglich wäre, womit Freiheit als Inhalt praktischer Philosophie auch eine Bedingung der theoretischen ist. Inhalt der praktischen Philosophie ist die Freiheit: Obwohl dieser Satz nicht ohne weiteres auf die Metaphysik der Antike oder des Mittelalters anzuwenden ist, macht -

An der Stelle von Einleitung und Schluss

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sich Freiheit auch in den Ethikentwürfen jener Zeiten geltend, aber negativ. Diese Theorien sind in sich inkonsistent und widersprechen zudem in oft erschreckender Weise den Erkenntnissen der theoretischen Philosophie, der Bestimmung .vernunftbegabtes Lebewesen' tritt ein substantieller Unterschied zwischen Freien und Unfreien gegenüber. An diesen theoretischen Bruchstellen des Praktischen läßt sich das Fehlen eines entwickelten Freiheitsbegriffes ebenso ablesen wie ein realer Mangel an Freiheit. Mangel an Freiheit führt aber gerade auch in den bürgerlichen Theorien, die über einen entwickelten Freiheitsbegriff verfugen, zu Inkonsistenzen, weil dieser sich in die Theorie des bürgerlichen Rechts nicht bruchlos integrieren läßt. Die Bestimmung des Privateigentums bewahrt systematisch die Geschichte der Aneignung auf, und in der Praxis wird Eigentum zum Zweck, gegenüber dem alles andere zum Mittel wird. So sind die Freiheitsbegriffe Kants und Hegels gesellschaftlich gezeichnet: Nach Kant ist Freiheit ein Sollen, dessen Erfüllungsbedingungen verschwiegen werden, nach Hegel ein Moment des Systems, das in seiner puren Aktualität seine Bedingungen ebenso ver-

schweigt.

Freiheit und Reflexion koinzidieren nach Hegel darin, daß sowohl die Rechtsgeschichte als auch die Philosophiegeschichte Ausdruck des Fortschritts des Geistes im Bewußtsein der Freiheit sind. Der fortgeschrittene Stand dieses Bewußtseins ist das absolute Wissen, das sich als selbsttätige, reflexive Entfaltung der Reflexion in der Wissenschaft der Logik bis zur absoluten Idee darstellt. Mit der Logik als absolutem Bewußtsein der Freiheit ist die Freiheit, die in der Rechtsphilosophie näher zu bestimmen ist, ihrer Struktur nach schon als reflexive entstanden und die Reflexion hat ein Moment von Freiheit in ihrer Unabhängigkeit gegen Anderes; sie bezieht sich auf solches nur, indem sie es selbst produziert. Freiheit ist deshalb in Hegels System keine Aufgabe der Vernunft, sondern deren Wirklichkeit selbst. Die historische Entwicklung von Freiheit und Vernunft gerät so zu einem teleologischen System. Sowohl Hegels Verständnis von Politik, als auch das von Logik können nur akzeptiert werden unter Voraussetzung der Gültigkeit dieser Teleologie, in der die menschlichen Individuen faule Existenzen sind. Diese Voraussetzung bestimmt, ob ein immanentes logisches System denkbar ist, oder ob jedes System externe Voraussetzungen hat, die in ihm wohl axiomatisch gesetzt werden können und müssen, aber nie aus ihm selbst hervorgehen: In der axiomatischen Mengenlehre zum Beispiel sind die Antinomien der naiven aufgehoben, aber ohne diese Antinomien bleibt die Axiomatik unverständlich, wenngleich mit ihr operiert werden kann.1 Wie solche Momente von Freiheit in der Reflexion sich finden lassen, so gibt es auch Momente der Reflexion in der Freiheit; wird diese aber in jenen aufgelöst, entsteht ein ganz bewußtloses System. Die These vom Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit unterstellt ein Verhältnis zwischen Reflexion und Freiheit, das sowohl systematisch wie geschichtlich bestimmt ist. Insofern es das Bewußtsein der Freiheit ist, ist eine systematische Verknüpfung gemeint, als Fortschritt meint es die geschichtliche Entwicklung, in 1

Vgl. Jürgen Schmidt, Mengenlehre I, Mannheim 1966, 27ff.

An der Stelle von Einleitung und Schluss

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der diese Verknüpfung ganz unterschiedlich bestimmt war. Die Verknüpfung beider Seiten bezieht sich zunächst darauf, daß neuere Autoren in der Philosophiegeschichte sich kritisch auf ältere beziehen und so mit immer neuem Bezug auf veränderte historische Verhältnisse, etwa technische, ökonomische oder soziale Fortschritte, auch einen Fortschritt in der Philosophie hervorbringen, allerdings ohne das Bewußtsein eines Zieles. Hegel nun idealisiert diese Entwicklungsstufen sowohl ihrem Gehalt wie ihrer Ordnung nach und konstruiert einen steten, sich selbst tragenden logischen Fortschritt des Geistes vom einfachen Abstrakten bis zur in sich konkreten Gestalt. Aus diesen beiden Überlegungen zur Geistesgeschichte läßt sich ein drittes Programm formulieren: Diese Geschichte kann nicht als ideologische vorgestellt werden, aber sie kann retrospektiv unter dem Aspekt der Entwicklung analysiert werden. Wäre das nicht möglich, wären alle Stufen der Philosophiegeschichte gleich hoch und alle historischen Epochen gleich unmittelbar zu Gott. Dann könnte die Bestimmung von Wahrheit wirklich nur als logische Tautologie gesichert werden. Gibt es aber einen Unterschied zwischen dem Wahrheitsgehalt der motor-conjunctus-Theorie und dem des Trägheitsgesetzes, so kann auch der Theorie, die solche Erkenntnisse erklärt, ein analoger Fortschritt beigemessen werden. Parallel gilt das für den Unterschied zwischen der auf Sklavenarbeit gegründeten polis und der auf Lohnarbeit beruhenden bürgerlichen Gesellschaft, die in ganz unterschiedlicher Weise die Verwirklichung des Menschlichen gestatten. Nimmt man eine Entwicklung der Philosophie an, deren Autoren einerseits auf einen Fortschritt bedacht sind, aber kein Ziel voraussehen und die andererseits von jedem erreichten Stand aus auf die Entwicklungslinie der historischen Bedingungen der Möglichkeit dieses Standes hin sinnvoll betrachtet werden können muß, so ergibt sich für die Darstellung neben der üblichen vom Früheren Einfachen zum Späteren Entwickelten ansteigenden Zeitrichtung eine zweite, die absteigend die Bedingungen der Möglichkeit des Entwickelten durch dessen Rückwendung auf das Einfache ermittelt. Diese Gestalt ist nicht gleichgültig erzählend und unterstellt auch keine affirmative Teleologie, die immer nur möglich ist, wo geglaubt wird, das Ziel zu kennen. Die Zielrichtung ist hier negativ, weil nur die Bedingungen eines erreichten Standes gezeigt werden können, nicht aber sein zureichender Grund benannt werden kann und die Rückführung auf diese Bedingungen im Versuch, das Material der Geschichte geordnet zu präsentieren, immer wieder an diesem Material scheitern muß. Wo es sich nicht fügt, können sowohl Mängel liegen, die überwunden, als auch Vorzüge, die verloren gegeben wurden. Schließlich ist keine Stufe der Philosophie in ihr selbst zu betrachten, sie alle sind für uns nur vom Resultat aus zu begreifen. Wer die Griechen griechisch denken will, muß zweieinhalb Jahrtausende Geistesgeschichte vergessen. Der Fortschritt in der Philosophiegeschichte ist nur von dem zu erschließen, der den Rückschritt beherrscht. Wollen heute lebende Menschen Aristoteles philosophisch verstehen, nicht nur aus antiquarischem Interesse, erscheint die auf Aristoteles folgende Geschichte nicht weniger als die ihm vorhergegangene als Bedingung dieses Verständnisses. Das Vokabular solcher Betrachtung muß deshalb gelegentlich anachronistisch sein, um etwa das unbewegt Bewegende mit Begriffen wie

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An der Stelle von Einleitung und Schluss

.Totalität' oder ,Absolutes' in Verbindung bringen zu können. Die Betrachtung steht dadurch aber ebenso wenig außerhalb der Zeit wie ihre Gegenstände. Der sich durchsetzenden Verwendung der Philosophiegeschichte, wo sie überhaupt noch vorkommt, als Reservoir wahrer Sätze, die als fast beliebig kombinierbar gelten, fehlt dagegen mit dem historischen Abstand sowohl die Einsicht, daß es einmal anders war, als auch die, daß es einmal besser sein kann. Immer schon war die Philosophie neben allen ihren spezifischen Inhalten Ort der Entfaltung der Autonomie des menschlichen Selbstbewußtseins und diese hat ihre Dimension in der Zeit. Mit der positivistischen Wende hat sie diesen Anspruch weitgehend aufgegeben, gelegentlich scheint er noch auf im Bezug auf Sprache oder Kultur, aber er hat nicht mehr die rigorose und umfassende Kraft. Im wesentlichen ist Philosophie, wo sie den Anspruch auf Wahrheit oder wenigstens Richtigkeit nicht ganz hat fahren lassen, Verfahrens- und Methodenforschung geworden, die sich an ihrer Geschichte willkürlich bedient. Die populäre Kritik daran will gleich die Vernunft selbst in Mißkredit bringen. Im Zuge der Entstehung des bürgerlichen Subjekts als Person hat die Philosophie ihr Selbstbewußtsein aufgegeben. Die ungewohnte .Freiheit' läßt keinen direkten Blick auf die Gründe der oft miserablen Lebensumstände der Menschen mehr zu. Das Unpersönliche der Herrschaft bleibt verborgen hinter der Personifizierung ihrer Einzelne. Die an Wechsel in der Wirkungen, Schuldzuweisungen Legislative sind eine Verlaufsform der Exekution der beharrlichen Gesetze der modernen Gesellschaftsordnung. Die Subjekte sind monadisch isoliert, ihre Kollektivität, ob national, militaristisch oder anders bestimmt, bleibt äußerlich, eine Einheit zu ihrer effizienten Verwaltung. Die Philosophie, ethisch wie erkenntnistheoretisch, beteiligt sich an der Verwaltung der Subjekte und ihrer Relationen, indem sie Verfahren zu entwickeln trachtet, diese Relationen, auf einander oder auf Anderes, formal oder wenigstens pragmatisch zu ordnen. Da die Menschen sich auch dementsprechend verhalten, ist die Ideologie als Verwaltung der Oberfläche nicht einmal falsch, beziehungsweise von einem übergeordneten Standpunkt aus gesellschaftlich notwendig falsch. Die kritische Wendung der Menschen auf die Verhältnisse, in denen zu leben sie gezwungen sind, vermag erst negative Einsichten einzusetzen, die das Selbstbewußtsein erschließbar machen. Es erweist sich nicht nur in seiner gesellschaftlichen Bestimmtheit, sondern schon in der allgemeinen Struktur als gebrochenes, indem seine Selbstbestimmung mannigfaltig vermittelt ist an Inhalten, die es nicht aus sich zu setzen vermag. Hegels gescheiterter Versuch, Reflexivität als selbstgesetzte zu fassen, ist gleichwohl unabdingbar für die Erreichung des Reflexionsniveaus gewesen, auf dem die Bedingungen der Selbstbestimmung und auch der Fremdbestimmung der Menschen in zunehmend erschütternder Weise aufgedeckt wurden. Unter dieses Niveau, wie es im 19. und bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem noch von der Kunst aller Gattungen, vereinzelt dagegen und in abnehmendem Maße nur in Philosophie und Gesellschaftstheorie vertreten ist, kann keine geistige Äußerung mehr zurück, die es verdiente, Gehör zu finden. So ist es auch die Aufgabe der Philosophie, vom entwickelten Stand des Selbstbewußtseins auszugehen, um dessen

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geschichtliche Manifestationen negativ als Bestimmungsstücke des Entwickelten zu begreifen. Die Philosophiegeschichte geht zu weiten Teilen traditionskritisch vor, indem Philosophie durch Kommentierung ihrer Tradition Mängel zu überwinden sucht. Sie ist darin reflexiv, daß sie sich in der Beziehung auf sich selbst zu ihren Gegenständen verhält. Was sie dabei nach und nach aufgibt, kann vom entwickelten Stand aus zu einem

Teil als Fortschritt, zu einem anderen durchaus aber auch als Verlust erkannt werden. Die Zeitreihen sind dabei gegenläufig: Der Fortschritt ist nur zu erfassen durch den Blick auf das, wogegen er Fortschritt ist. Dieses Unentwickelte ist aber selbst nur als Unentwickeltes bestimmt gegen das Entwickelte. So ist Hegel zu verstehen als Resultat einer Geschichte, die ebenso wohl das Material zu seiner Kritik bereitstellt. Auf dem Weg der Systematisierung ist vieles Unverzichtbare aufgegeben worden, das sich erst unter Voraussetzung des gescheiterten Systems als solches zeigt. Die geschichtliche Gestalt von Philosophie wird hier zu ihrem Gegenstand, an dessen kritischer Untersuchung sich etwas über Philosophie sagen läßt, was sich originell heute nicht mehr sagen läßt. Philosophie kann nur noch als gegen sich selbst und ihre Gegenstände kritische gedacht werden. Zwar ist mit Hegel nicht die Geschichte der Philosophie beendet, aber sehr wohl die Geschichte affirmativer Metaphysik, die bei ihm auf höchstem Niveau gescheitert ist. Die Betrachtung des Verhältnisses von theoretischer und praktischer Philosophie beginnt in historischer Hinsicht mit Aristoteles, weil bei ihm die erste Theorie vorliegt, die den Anspruch eines in sich organisierten Lehrgebäudes erhebt. Aber gerade dieser Theorie, die auf innere Konsistenz so bedacht ist, gelingt es nicht, die praktische Philosophie ohne Brüche auf der Grundlage der Metaphysik zu entwickeln, im Gegenteil, sie kann im Bereich der Politik keinen allgemein verbindlichen Maßstab gültig nachweisen. Der Ausweg, die Aussagefähigkeit der Ethik auf Teleologie zu gründen, führt auf Aporien im Freiheitsbegriff, aus denen schließlich ein schwer lädierter Begriff der menschlichen Substanz hervorgeht, der allerdings eine weitgehend affirmative Interpretation der antiken politischen Welt erlaubt. Die Menschen werden unterschieden in solche, die als Vollbürger die politischen Geschicke bestimmen und solche, die für die Reproduktion der polis zu sorgen haben. Dem entspricht eine theoretische quasi-substantielle Differenz in solche, denen die Vernunftseele uneingeschränkt zukommt und solche, denen sie nur zum Zweck der Befehlsausführung zukommt. Die gesamte politische Organisation ist auf das Wohlleben der Herrschenden im Diesseits ausgerichtet. Die praktische Philosophie hat zur Aufgabe, das dafür unabdingbare Zusammenleben zu organisieren. Auf dem gegebenen Stand der politischen und ökonomischen Entwicklung erschließt die theoretische Philosophie des Aristoteles die Bedingungen und Bestimmungen von Erkenntnis. Aufgrund dessen, daß diese Bedingungen potentiell weiter reichen, als die ihnen historisch korrespondierende Erfüllung, ergeben sich Bestimmungen zu Bewußtsein und Selbstbewußtsein der erkennenden Subjekte, die zwar durchaus vom erreichten Entwicklungsstand gezeichnet sind, aber vielfach über ihn hinausweisen. Die praktische Philosophie teilt das nicht, weil sie explizit die Bedingungen der Erhaltung dieses Ent-

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An der Stelle von Einleitung und Schluss

bestimmt. Dafür geht sie wissentlich hinter den Wissensstand der theoretischen zurück, aber dieser Rückgang ist ebenso historisch bedingt, denn auf dem damaligen Stand der Reproduktion erschien dieser selbst als notwendige Bedingung des menschenwürdigen Daseins wenigstens einiger. Daher geraten auf dieser Stufe theoretische und praktische Philosophie in Konflikt. Die Versuche, in den Teilen des Aristotelischen Werkes ein System zu finden, können somit vor einer kritischen Philosophie nicht bestehen. Aus den Wechselbeziehungen zwischen gegebenen politischen Verhältnissen und politischer Theorie lassen sich allerdings regressive und progressive Elemente der Aristotelischen Philosophie gleichermaßen erklären. Hierfür ist es aber nicht ausreichend, eine dem Aristoteles adäquate Interpretation seiner Philosophie zu geben. Sie muß vielmehr dem Bewußtseinsstand adäquat sein, als dessen historische und systematische Grundlage sie erklärt wird. Daher muß das geistesgeschichtliche Resultat der Geschichte des Aristotelismus hier als systematische Grundlage der Erklärung dienen und die geistesgeschichtliche Grundlage als systematisches Resultat. Vermittelt sind Aristoteles und Hegel durch Epochen der Philosophiegeschichte an deren bedeutendstem Übergang Thomas von Aquin steht. Das ausgehende Mittelalter steht geschichtlich insgesamt einerseits im Erbe der Antike und andererseits in der Antizipation der Neuzeit. Bei weitgehend traditionell beschränkter Produktionsweise entwickeln sich doch Fernhandel und Geld- sowie Kreditsystem. Die Macht geht allmählich von der Kirche auf nationale Fürsten über, die herrschenden politischen und ökonomischen Interessen ändern sich, das Einzelne und auch der Einzelne werden zunehmend wichtiger. In dieser Zeit kommt es zur Wiederentdeckung und Neuübersetzung zahlreicher Aristotelischer Schriften. Mit erstaunlicher Überzeugung wird das corpus Aristotelicum als Inbegriff des möglichen menschlichen Wissens betrachtet, wogegen die Kirche allerdings mit scharfen Mitteln vorgeht. Die Schriften zu lehren wird den Fakultäten mehrfach verboten, Aristotelisch infizierte Lehrsätze werden Verurteilungen unterzogen und Thomas von Aquin setzt im Interesse der Kirche erhebliche Arbeit daran, die Schriften des Aristoteles zu kommentieren, unter anderem, um eine gesicherte wissenschaftliche Grundlage zu schaffen, auf der zu entscheiden ist, welche Lehren des Aristoteles mit der katholischen Dogmatik vereinbar sind und welche es definitiv nicht sind. Die antike Philosophie wird in den Dienst der Theologie gestellt. Dabei entwirft Thomas ein theologisches System, das implizit zum allergrößten Teil philosophisch bestimmt ist. Nur einige Grundsätze, die auf keine Weise zum Christentum passen, wie die Annahme der Ewigkeit der Welt, lehnt Thomas als Theologe ab, obwohl er philosophisch kein Argument dagegen zu fuhren weiß. Die Absicht, Aristoteles nicht zu verehren, sondern ernst zu nehmen, bringt so eine Reihe philosophischer Ein-

wicklungsstandes

sichten mit sich, die in den dogmatischen Zusammenhang nur noch mit großem dialektischem Aufwand einzufügen sind. Allerdings werden dadurch grundlegende Aporien der Metaphysik unter neuen Voraussetzungen wieder diskutiert. Obwohl viele ihrer Lösungen heute als Scheinlösungen zu erkennen sind, entwickelt Thomas im Kontext der historischen Veränderungen, die einen neuen Subjektbegriff vorbereiten, eine Reflexi-

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voraus ist und, wieder von heute besehen, schon auf den absoluten Idealismus weist. Sie beginnt in der Lehre von der intellektuellen Erkenntnis und wird abgeschlossen in der Trinitätstheologie. Die Theologie zeigt sich überall als Motor des philosophischen Fortschrittes und zugleich als dessen enge Grenze. Der Begriff des Willens ergibt sich aus der Trinitätsspekulation als der eines absoluten, der damit durch die theologisch bestimmte Weltordnung, die ihn ermöglicht, zugleich restringiert ist. Mit dem Christentum verändert sich die Bestimmung der Menschen, weil allen eine Vernunftseele zugesprochen wird. Daraus entwickeln zunächst die Kirche, dann die Philosophie ihren Universalitätsanspruch. Zwar ist die reale Stellung der meisten in der Welt noch immer im Widerspruch mit ihrer theoretischen Bestimmung, aber die Welt gilt ohnehin als Durchgangsstadium auf dem Weg zur Realität des corpus mysticum, in dem die Bestimmung der Menschen potentiell realisiert wird. Dieser immer zugrundeliegenden exitus-reditus Struktur korrespondiert der Umstand, daß der philosophische Fortschritt zum allergrößten Teil in Verbindung mit der Theologie und an den theologischen Fakultäten stattfindet und im Zusammenhang wo nicht des monastischen so doch des geistlichen Lebens sich entwickelt. In der Absage an die vergängliche Welt liegt auch der Anfang der Selbständigkeit der Subjekte, in der Ausrichtung der Theorie auf ein transzendentes Prinzip auch die Erstarkung des Selbstbewußtseins der Theorie. Der im Kreislauf vorgestellten Welt, die von Gott ausgeht und über die menschliche Vernunft, die im Willen sich äußert, zu ihm zurückkehrt, entspricht der Aufbau der beiden Summen des Thomas von Aquin. Die theoretische Philosophie erhält neben der Aufgabe, die Bedingungen von Erkenntnis zur Organisation diesseitigen Lebens zu bestimmen, auch die, die Möglichkeit der Rückkehr zu Gott in den Subjekten zu begründen. So steht sie im Dienst einer praktischen Philosophie, die das irdische Leben vor allem um des Himmels Willen regelt, ohne doch dabei aktuelle und zukunftsträchtige Entwicklungen ignorieren zu können. Umgekehrt ergibt sich daraus, daß das Prinzip der praktischen Philosophie in der theoretischen zu suchen ist. Der Versuch, die Vernunft zum Handlungsprinzip zu machen, tritt gegen die Aristotelischen Bestimmungen auf, nach denen im Grunde die Erhaltung der bestehenden Verhältnisse der wesentliche Bestimmungsgrund praktischer Philosophie ist. Das Prinzip der praktischen Philosophie ist der anagogische Sinn der theoretischen. Der Aristotelische Konflikt zwischen der menschlichen Substanz nach metaphysischem Verständnis und der nach politischem wandelt sich in Aporien innerhalb der theoretischen Bestimmungen der Praxis. Während die Aristotelischen Aporien im Verhältnis von Metaphysik und Politik erst sichtbar werden, sind sie bei Thomas schon in den Begriffen der Reflexivität des Selbstbewußtseins und des Willens enthalten und liegen so den weiteren praktischen Bestimmungen

onslehre, die der des Aristoteles

zugrunde.

Das auf der Höhe des Mittelalters gewonnene Selbstbewußtsein wird auf der Höhe des Deutschen Idealismus bei Hegel erneut in Relation zu diesseitigen Verhältnissen gestellt. Die Kritik der Religion ist hier immer schon vorausgesetzt. Das erklärte Ziel

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An der Stelle von Einleitung und Schluss

des Systems Hegels ist es, die Welt auf den Kopf, das heißt auf den Gedanken zu stellen. Um die Freiheit des Selbstbewußtseins zu vollenden, will Hegel es von seiner transzendenten Abhängigkeit befreien, indem er die transzendenten Gründe der Reflexivität in deren Begriff selbst integriert. Das ist der anagogische Sinn der Wissenschaft der Logik von der Objektivität des Seins über deren subjektive Bedingungen bis zu ihrer Einheit in der Idee. Die Schlüsselstelle, von der aus sowohl das Sein als auch der Begriff bestimmt ist, ist die Reflexion, die sich selbst zum Grund ihrer eigenen und anderer Konkretion macht. An dieser allgemeinen Bestimmung von Reflexivität ist auch das Programm der Selbstrealisierung der Vernunft durch die Äußerung des Willens zu messen. Umgekehrt ist die Reflexion an ihrem Anspruch zu messen, immanent auf die Verwirklichung der Vernunft in der Welt angelegt zu sein. Das Verhältnis von theoretischer und praktischer Philosophie fällt bei Hegel in die Immanenz eines Systems, das in sich über sich hinausweisen soll. Dem entsprechen gesellschaftliche Verhältnisse, die sich zu Hegels Zeit entwickeln. Der Maßstab ihrer Selbstbestimmung ist nicht mehr aus transzendenten Gründen oder Zielen abzuleiten und doch weisen sie wenigstens innerhalb ihrer eine Entwicklung auf. Die Subjekte sind als vereinzelte alle wechselseitig ökonomisch miteinander verbunden in einem System, das sich auf progredierendem Maßstab scheinbar selbst erhält, aber über die beständig wiederholte Unterordnung der je partikularen Selbsterhaltung vermittelt ist. Die Subjekte erscheinen dagegen als selbstbewußte Funktionsträger einer rationalen Ordnung, deren affirmative Theorie beansprucht, die Realisierung der Vernunft im Diesseits darzustellen. Das Verhältnis von theoretischer und praktischer Philosophie fällt bei Hegel aufgrund der systematischen Anlage der Philosophie in jeden ihrer zentralen Begriffe selbst und so ist auch nicht mehr nur jenes Verhältnis oder die theoretische Bestimmung der Prinzipien aporetisch, sondern der Versuch, Theorie und Praxis affirmativ zusammenzuzwingen, führt auf jeder Stufe des Begriffs in diesem selbst zum Eklat. Die antizipierte substantielle Bedeutung von Reflexion als realisierter Menschheit, in der theoretische und praktische Hinsicht von Reflexivität zusammenfielen, ist vorläufig nur als Möglichkeit allen und einem jeden der vernunftbegabten Lebewesen in der Vernunftbegabung mitgeteilt: Nicht sich gegeneinander zu bestimmen, sondern sich selbst durch die anderen als seinesgleichen, zu erkennen. Solange die Lebensverhältnisse inhuman sind, ist diese den Menschen substantiell eigene Fähigkeit der Gattungsreflexion, das Bewußtsein der Menschheit in der eigenen Person, der Maßstab jeder Kritik an der Praxis und deren Theorie. Die moderne methodisch reproduzierte Trennung des moralischen Subjekts vom Erkenntnissubjekt verwandelt die Objektivität von Erkenntnissen in die Beliebigkeit ihrer technischen Verwendung. Wissen, das keine technische Verwendung zuläßt, wird dem analog gleich-gültig. Um die katastrophalen Folgen dieser unter dem Ehrentitel der Wertfreiheit' proklamierten Subordination des menschlichen Lebens unter die Evaluation kalkulabler aber heteronomer Zwecke nicht zur Schranke dieser Zwecke selbst anwachsen zu lassen, installieren gewissenhafte Menschen in allen Bereichen partikulare ,

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Ethiken, die außerhalb von Theorie und Technik deren Grenzen nur bestimmen können, weil sie dazu offiziell autorisiert werden. Die praktische Philosophie gibt so ihre eigene Autorität preis, die ihr allein von der theoretischen zukäme. Neben dieser zur beziehungslosen Form erstarrten Disziplin hält sich beharrlich eine in historischen Studien ganz bei sich bleibende Philosophie, die sich weitgehend auf die immanente Darstellung einer historischen Argumentation oder auf einen Vergleich innerhalb eines laborhaft isolierten Zusammenhangs beschränkt. Doch die Philosophiegeschichte ist nicht von bloß antiquarischem Interesse. Sie ist im sachlichen, logischen Sinn Bedingung für ein modernes philosophisch gebildetes Selbstbewußtsein. In diesem wird das Verständnis des Vergangenen bestimmt durch das, was daraus gemacht wurde, und das, was wurde, hat seine durch den Zeitabstand gebrochene Bedingung im Vergangenen präsent. Deshalb dienen dieser Arbeit, obwohl auf kommentierende Ausführungen verzichtet wird, Hölderlins Am Quell der Donau und Baudelaires Schwan nicht als flankierende Ornamente, sondern sie sind Elemente der notwendig gebrochenen und in sich brüchigen Darstellung und sie sind Ausdruck der stets gegenwärtigen Gegenläufigkeit der Zeitreihen. Wie der Fortschritt in der Zeit auf den Trümmern der Vergangenheit gründet, soll der Blick zurück die Bedingungen einer möglichen Zukunft festhalten. Der Kreis schließt sich nicht und er kann nicht geschlossen werden: Er konnte es nie, denn die Aufgabe, ihn zu schließen, ist schon die Lücke; seine Bahn ist so wenig absolut wie die Subjekte, die sie denkend zu beschreiben versuchen. Es bleibt zu hoffen, daß es gelingt, zwischen den Trümmern und Fragmenten noch einen Mittelpunkt zu erhalten, ohne mit dem Kreis in sich kreisender Kreise die alte Identität im Chaos zu beschwören. Ist auch das Ideal einer siegreichen Erlösung schon zur Illusion geworden, wo immer sie nötig ist, weil sie nötig ist und jeder Sieg den hohen Preis dieser Not zahlt, so bleibt doch die unnachgiebige Forderung nach Befreiung der einzige, wenn auch in sich in Konjunktiv und Imperativ gebrochene Mittelpunkt einer selbstbewußten Menschheit. Negativität ist freilich keine affektierte Haltung, sondern intellektuelle Bedingung philosophischer Erkenntnis selbst und Philosophie, die nicht die Mühe auf sich nimmt, fern von konstruktiver Kritik oder gar Jubelgebrüll negativer Ausdruck dieses für immer an seiner Geschichte gebrochenen Selbstbewußtseins zu sein, hat sich gründlicher von ihrer Tradition verabschiedet, als ihre Protagonisten es ahnen. Grundlage dieser Tradition war es unter anderem, die durchaus am Maßstab der Exaktheit orientierte Wissenschaft als Bestimmung und Ausdruck des Menschlichen zu betrachten.

Friedrich Hölderlin

Am

Quell der Donau1

Denn, wie wenn hoch von der herrlichgestimmten, der Orgel Im heiligen Saal, Reinquillend aus den unerschöpflichen Röhren, Das Vorspiel, wekend, des Morgens beginnt Und weitumher, von Halle zu Halle, Der erfrischende nun, der melodische Strom rinnt, Bis in den kalten Schatten das Haus Von Begeisterungen erfüllt, Nun aber erwacht ist, nun, aufsteigend ihr, Der Sonne des Fests, antwortet Der Chor der Gemeinde; so kam Das Wort aus Osten zu uns, Und an Parnassos Felsen und am Kithäron hör' ich 1 Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, Band I, München 1992, 35 Iff. Die im Selbstbewußtsein gegenläufigen Zeitreihen sind asymmetrisch: Es reflektiert auf sich vermittels der Reflexion auf Anderes, auf seine Bedingungen zumindest die notwendigen -, in deren Begriff das Bedingte schon antizipiert wird. Bestimmt Selbstbewußtsein sich von den Bedingungen aus, so stellt sich das Bedingte, vorher Ausgangspunkt des Schlusses auf die Notwendigkeit der Bedingung, aber nicht als notwendiges Resultat dar. Indem Hölderlin mit dem Strom der Donau der Geistesgeschichte in antecedentia folgt, ist ihm jederzeit mit der Antizipation des Stroms im Quell die Möglichkeit geschichtlicher Entwicklung in consequentia aus dem Ursprung thematisch, deren Seite geschichtlicher Kontingenz die Anrufungen motiviert. Daß die diskursive Sprache der Theorie beide Richtungen auseinander setzen müßte und so den Sachverhalt nur unangemessen darstellte, bringt Hölderlin in poetischer Sprache zum Ausdruck, die im Gegensatz zur wissenschaftlichen ihr Scheitern einbekennen kann, ohne gegenstandslos zu werden. Philosophie, die ihren Gegenstand ernstnimmt, bedarf eines ästhetischen Moments. „So wie die Erkenntniß die Sprache ahndet, so erinnert sich die Sprache der Erkenntniß." (Friedrich Hölderlin, „Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ist...", in: Theoretische Schriften, hg. v. Johann Kreuzer, Hamburg 1998, 58.) Erkenntnis als wesentlich mitzuteilende antizipiert auch in ihren nichttheoretischen Bedingungen wie der direkten Beziehung aufs Material ihren sprachlichen Ausdruck; der gelungene sprachliche Ausdruck erinnert diese Bedingungen, indem er einer Reflexion Stimme verleiht, die „in der durchgängigen Begränzung zugleich durchgängig beziehend und vereinigend ist" (a.a.O., 62). Der darin gelegene Gegensatz von Relation und Aufhebung aller Relation, der menschliche Erkenntnis kennzeichnet, wird in jeder bloß formal-theoretischen sprachlichen Darstellung zum disqualifizierenden Widerspruch. Soweit die Sprache der Philosophie zum signifikativen Werkzeug wird, soweit ist deren Erkenntnis auch selbst instrumenten. Autonomie kommt ihr zu aus der konkreten Erinnerung ihrer Geschichte und deren rücksichtsloser Kritik. Im Partikularen der Erinnerung und in der Rücksichtslosigkeit der Selbstkritik reicht Philosophie über ihren Bereich hinaus; nicht nur -

sprachlich.

Friedrich Hölderlin: Am Quell der Donau

O Asia, das Echo von dir und es bricht sich Am Kapitol und jählings herab von den Alpen Kommt eine Fremdlingin sie Zu uns, die Erwekerin,

Die menschenbildende Stimme. Und es faßt' ein Staunen die Seele Der Getroffenen all und Nacht War oftmals über den Augen der Besten. Denn vieles vermag Und die Fluth und den Fels und Feuersgewalt auch Bezwinget mit Kunst der Mensch Und achtet, der Hochgesinnte, das Schwerdt Nicht, aber es steht Vor Göttlichem der Starke niedergeschlagen, Und gleichet dem Wild fast; das, Von süßer Jugend getrieben, Schweift rastlos über die Berg' Und fühlet die eigene Kraft In der Mittagshizze. Wenn aber Herabgeführt, in spielenden Lüften, Das Abendlicht, und mit dem kühleren Stral Der freudige Geist kommt zu Der seeligen Erde, dann erliegt es, ungewohnt Des Schönsten und schlummert wachenden Schlaf, Noch ehe Gestirn naht. So auch wir. Denn manchen erlosch Das Augenlicht schon vor den göttlichgesendeten Gaben, Den freundlichen, die aus Ionien uns, Auch aus Arabia kamen, und froh ward Der theuern Lehr' und auch der holden Gesänge Die Seele jener Entschlafenen nie, Doch einige wachten. Und sie wandelten oft Zufrieden unter euch, ihr Bürger schöner Städte, Beim Kampfspiel, an des Alpheus Bäumen Wo beschattet die glühenden Wagen des Mittags Und die Sieger glänzten und lächelnd die Augen des Richters. Ein unaufhörlich Lieben wars und ists. Und wohl geschieden, aber darum denken Wir aneinander doch, ihr Fröhlichen am Isthmos, Und am Cephyß und am Thaygetos, Auch eurer denken wir, Ihr Thale des Kaukasos,

Friedrich Hölderlin: Am Quell der Donau

24

So alt ihr seid, ihr Paradiese dort Und deiner Patriarchen und deiner Propheten, O Asia, deiner Starken, o Mutter! Die furchtlos vor den Zeichen der Welt, Und den Himmel auf Schultern und alles

Schiksaal,

Taglang auf Bergen gewurzelt, Zuerst

es

verstanden,

Allein zu reden Zu Gott. Die ruhn nun. Aber wenn ihr Und diß ist zu sagen, Ihr Alten all, nicht sagtet, woher? Wir nennen dich, heiliggenöthiget, nennen, Natur! dich wir, und neu, wie dem Bad entsteigt Dir alles Göttlichgeborne.

gehen wir fast, wie die Waisen; Wohl ists, wie sonst, nur jene Pflege nicht wieder; Doch Jünglinge, der Kindheit gedenk, Im Hauße sind auch diese nicht fremde Sie leben dreifach, eben wie auch Die ersten Söhne des Himmels. Und nicht umsonst ward uns In die Seele die Treue gegeben. Nicht uns, auch Eures bewahrt sie, Und bei den Heiligtümern, den Waffen des Worts Die scheidend ihr den Ungeschikteren uns Ihr Schiksaalssöhne, zurükgelassen Zwar

Ihr guten

Geister, da seid ihr auch, Oftmals, wenn einen dann mein Konz die heilige Wölk umschwebt,

Da staunen wir und wissens nicht zu deuten. Sie aber würzen mit Nectar uns den Othem Und dann frohloken wir oft oder es befällt uns Ein Sinnen, lieben sie aber einen zu sehr Er ruht nicht, bis er ihrer einer geworden. Darum, ihr Gütigen! umgebet ihn leicht, Damit er bleiben möge, denn noch ist manches zu Jetzt aber endiget, seeligweinend, Wie eine Sage der Liebe, Mir der Gesang, und so auch ist er Mir, mit Erröthen, Erblassen, Von Anfang her gegangen. Doch Alles geht so.

singen,

Erstes Kapitel: G.W.F.

Hegel

In der Philosophie Hegels gibt es keine voneinander unabhängigen oder methodisch unterschiedenen Disziplinen. Im System der philosophischen Wissenschaften, das sich von der Logik über die Naturphilosophie und die Philosophie des Geistes zum absoluten Wissen und so zum Anfang der Logik zurück entwickelt, steht dem Anspruch nach jede Bestimmung an dem ihr systematisch zukommenden Ort. Die vielen traditionell als substantiell betrachteten Barrieren, die dabei zu überwinden sind, werden als Aufhebung von Mängeln dargestellt, die den je zugrundeliegenden Begriffen immanent seien und sie so als notwendig aufzuhebende qualifizierten. Diese Struktur der reflexiven Negation hat ihre systematische Gestalt in der Bestimmung der Reflexion, deren praktisches Gegenstück der Wille ist, so daß diese beiden Begriffe als wesentliche Momente des Systemzusammenhanges gelten können. Es ist daher zunächst der Begriff des philosophischen Systems selbst zu betrachten. In die„Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist sem Satz ist ausgedrückt, was es bedeutet, Philosophie als System der Wissenschaft zu denken. In ihrem Streben nach wahrer Erkenntnis ist die Philosophie immer schon der Sache nach die Unterscheidung zwischen Denken und Gegenstand, in deren Angleichung die Wahrheit oder das Wissen von etwas bestehen sollte. Der Gegenstand ist damit als erkennbar und das Denken als der Erkenntnis fähig vorausgesetzt. Schwierigkeiten bereitet dabei zwangsläufig die Frage nach der gegenüber diesem Vergleich absoluten Instanz, die ihn doch zugleich erst ermöglicht. Ob diese absolute Instanz nun negativ als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis erschlossen oder affirmativ als Ursprung eingesetzt wurde, ob es als Begriff oder als persönliche Gottheit betrachtet wurde, immer diente es der Vermittlung von Erkennendem und Gegenstand, die ansonsten getrennt blieben. Diese Voraussetzung hält Hegel für den entscheidenden Fehler, nach ihm können Erkennbares und Erkennendes nur in der reflexiven Einheit absoluter

vernünftig."1

Erkenntnis ursprünglich vermittelt sein. Nach Kant ist die oberste Bedingung aller Erkenntnisse die transzendentale Einheit der Apperzeption, das „Ich denke" das alle meine Vorstellungen muß begleiten kön,

1 2

Rechtsphilosophie, XIX. KrV B 131.

Erstes Kapitel: G.W.F. Hegel

26

nen. Es ist das Bewußtsein seiner selbst, das es erst ermöglicht, anderes von sich zu unterscheiden und dann zu ordnen, so daß die Anschauungen oder Vorstellungen unter eine Einheit gebracht werden können. Dieses Selbstbewußtsein ist allen Vorstellungen a priori vorausgesetzt und kann daher keine weiteren Bestimmungen haben, es ist nur die als ursprünglich anzunehmende Reflexivität des Verstandes. Notwendig anzunehmen ist diese Reflexivität, da Erkenntnis die Möglichkeit des Bewußtseins von Gegenständen voraussetzt und dieses Bewußtsein die Möglichkeit der Verknüpfung von Anschauungen. Diese Verknüpfung kann nicht selbst Gegenstand einer Anschauung sein, denn „der Begriff der Verbindung führt außer dem Begriffe des Mannigfaltigen, und der Synthesis desselben, noch den der Einheit desselben bei sich"1. Diese Einheit kann keine kategoriale sein, da Kategorien auf logischen Urteilsfunktionen gründen, die selbst schon den Begriff der Einheit voraussetzen. Dieser ist demnach in dem zu suchen, was „selbst den Grund der Einheit verschiedener Begriffe in Urteilen, mithin der Möglichkeit des Verstandes, sogar in seinem logischen Gebrauche, enthält"2. Dieses reflexive Prinzip benennt damit negativ die Möglichkeit aller Erkenntnis, aber es folgt aus ihm, weil es nur durch die Beziehung auf sich selbst bestimmt ist, keine bestimmte Erkenntnis. Daraus erst ergibt sich die Notwendigkeit der Annahme der Kategorien, durch die dann gegebene Anschauungen mit der ursprünglichen Einheit der Apperzeption vermittelt werden können.4 Nach Hegels Einsicht vermag diese Argumentation den Zusammenhang der Begriffe nicht zu setzen und daher auch ihre Gültigkeit für bestimmte Erkenntnis nicht zu begründen. Da andererseits auch ein Rückfall in traditionelle metaphysische Ontologie vermieden werden soll, steht in der Wissenschaft der Logik die Reflexion als verselbständigtes Resultat der Dialektik der Kategorien der Qualität und der Quantität an der Stelle der Substanzkategorie und wird zum Prinzip aller Bestimmungen der Logik und Philosophie. Ist Reflexion nach Kant die Bedingung der Möglichkeit des logischen Verstandesgebrauchs, so ist sie bei Hegel seine selbständige Wirklichkeit. Daher bedeutet der Ausdruck von der Objektivität der Erkenntnis für Hegel zunächst, daß „Vernunft in der Welt"5 sei. Die Entwicklung der Wissenschaft bestehe nur darin, sich dessen bewußt zu werden, daß sowohl Wissenschaft als auch ihr Gegenstand Vernunft seien. In diesem Selbst-Bewußtsein erfasse die Wissenschaft auf der höchsten Stufe ihrer Entwicklung in ihrem Gegenstand nur sich selbst, sie sei absolutes Wissen. Um die Aufhebung der Trennung von Denken und Gegenstand erfolgreich durchzuführen, darf der Gegenstand nicht als dem System des Wissens äußerlicher betrachtet werden, worin schon die andere Seite dieses Verhältnisses liegt, nach der das Denken sich auf den Gegenstand nicht in äußerlicher Manier beziehen darf. Danach ist die Phi-

1 2 3 4 5

KrV B 130. KrV B 131. Vgl. KrV B 135. Vgl. KrV B 143. Enzyklopädie § 24.

27

Erstes Kapitel: G.W.F. Hegel

losophie „das Bewußtseyn über die Form der innern Selbstbewegung ihres Inhalts" Nur dort, wo sie nicht konsequent zu Ende gedacht sei, nur wenn das Denken selbst sich zu seinen Gegenständen äußerlich argumentierend verhalte, gebe es etwas von der Phi.

wesentlich Unterschiedenes. Dagegen dürfe die Wissenschaft sich der Wahrheit „Bewegung ihrer an ihr selbst"3, durch „das eigene Leben des

losophie

nur

durch

Begriffes"4

organisieren.

Das Beharren Hegels auf der Lebendigkeit des Wissens gegen abstrakte wissenschaftliche Theorie geht aber in der Tat darauf hinaus, daß allein der Begriff die wahre Selbsterhaltung des Begriffenen sei, das selbst schon lange untergegangen sein mag. Hegel hält in gewisser Weise den Begriff des Lebens für lebendiger als das, was lebt, weil seine Reflexivität nicht vergeht. Wiese man gegen Hegel darauf hin, daß es nicht der Begriff ist, der irgendetwas erhält, sondern daß er, um selbst bestehen zu können, schon eines empirischen Subjektes bedarf, in dem allein er Gedachtes ist, müßte man sich sagen lassen, daß ein Subjekt nur als Allgemeines frei sein könne5 und somit gerade das Beharren der empirischen Subjekte auf ihrer konstitutiven Bedeutung für die Wissenschaft Ausdruck ihrer Beschränktheit und Unfreiheit sei. Eine Erscheinungsform der Unfreiheit sei das Festhalten an der Trennung von Denken und Gegenstand, von Hegel als bloße „Meynung" disqualifiziert, wogegen die logische Vernunft selbst das ,Gediegene' sei, „was eine Materie genannt zu werden Die Sache sei nichts anderes als unser Begriff von ihr, denn deren Anders-Sein sei nur wieder durch unser Denken.8 Indem das Denken das Bewußtsein vom Gegenstand trennt, trenne es sich nur von sich selbst und gelange auf diese Weise eben nicht zur vollendeten Erkenntnis. Die Kritik, die spekulative Elemente der Hegelschen Philosophie, also besonders die Wissenschaft der Logik für gegenstandslos hält, weil ihren Bestimmungen keine Gegenstände möglicher Erfahrung zuzuordnen sind, ist allerdings naiv, denn die begriffliche Reflexion auf den Begriff vermag erst dessen eigene Struktur und Gültigkeit zu ermitteln. Umgekehrt bedeutet die Möglichkeit, spekulativ zu denken, aber nicht die Isolierung des Gedankens vom Denkenden, und die Trennung von Denken und Gegenstand, die Hegel für eine affirmativ bestimmte Unterscheidung

pflegt."7

Sein, 37. Vgl. Enzyklopädie, 6.

1 2

Lehre vom

3 4

Phänomenologie, 35. Phänomenonologie, 38. Vgl. Lehre vom Sein, 14.

5 6

Lehre vom

Sein, 30.

7 Lehre vom Sein, 32. 8 Vgl. Lehre vom Sein, 14. 9 Vgl. Nicolai Hartmann, „Hegel und das Problem der Realdialektik", in: Kleinere Schriften II, Berlin 1957, 323-346, bes. V-VII, wo Hartmann die ,Realdialektik' der Geistesphilosophie gegen das ,Luftleere' der Logik abgrenzen will. Anders schreibt er noch 12 Jahre früher in „Aristoteles und He-

gel", in: Kleinere Schriften II, a.a.O., 214-252: „Ohne sie [die Logik] um Hegels ein Unfug" (216).

zu

interpretieren ist alles Studi-

Erstes Kapitel: G.W.F. Hegel

28

hält, ist in der Tat nur negative, erschlossene Unterscheidung. Im Resultat der Kritik an Hegels Theorie vermag klar zu werden, daß nicht die erkannte Bestimmtheit, oder als unbekannt erkannte Bestimmtheit vom Bewußtsein unterschieden wird, sondern daß die Erkenntnis des denkenden Subjektes, daß ein Begriff seiner von sich selbst ohne eminent von ihm unterschiedenes Prinzip seines Inhalts völlig leer, mithin Bewußtlosigkeit wäre, die Voraussetzung erzwingt, daß der Gegenstand nicht im Bewußtsein aufgehen kann. Die spekulative Logik bleibt so für das kritische Denken immer auf Gegenstände bezogen und ist nicht mangels realer Phänomene abzulegen. Hegel identifiziert den Gegenstand aber durchaus soweit mit dem Bewußtsein, daß eine Veränderung der Auffassung des Verhältnisses von Bewußtsein und Gegenstand auch je den Gegenstand verändere, und so erst im absoluten Wissen diese Bewegung in ihre Wahrheit münden könne.1 Was Hegel hier als Gegenstand gilt, ist jedoch Begriff des Gegenstandes überhaupt, der immer schon Ausdruck des Verhältnisses von Gegenständen zum Bewußtsein ist. Soweit er nur Ausdruck dieses Verhältnisses ist, ist die Behauptung, er könne einer Veränderung des Verhältnisses nicht standhalten, eine Tautologie. Was aber als Grundlage dessen bestehen bleibt, sind Gegenstände, mit deren Eigenständigkeit auch die Bestimmung der Äußerlichkeit im Begriff des Gegenstandes überhaupt aufrechterhalten ist. Und darin sind ebenso die Subjekte bewahrt, die im Laufe der Philosophiegeschichte sich in verschiedene Beziehungen zu ihren Gegenständen gestellt haben, aber darin niemals den Kern dieser Beziehung verloren haben, das Verhältnis zu den Mitteln der eigenen Reproduktion sich zu Bewußtsein zu bringen.2 Das heißt, daß die für Erkenntnis notwendige Annahme, daß in den Gegenständen etwas dem erkennenden Denken strukturell entspricht, eben nicht die Identität von Denken und Gegenstand bedeutet. Zwar fällt auch die Differenz wieder in das Denken, das sie feststellt, aber es kann sie nicht aus seiner Identität erzeugen. Nun erscheint gerade Hegels Darstellung der Entwicklung des Geistes als eine, die dem Historischen Rechnung trage. Das Resultat einer Entwicklung, das den Gang derselben nicht berücksichtigt, nennt Hegel mit Recht das „unlebendige Allgemeine"3. Das Resultat müsse enthalten, woraus es resultiert, und das sei schon „eigentlich eine Tautologie"4. Daher enthalte die historisch letzte Philosophie auch alle Die-

vorhergehenden.5

1 2

Vgl. Phänomenologie, 60f.

Insofern die Wesensbestimmung der Menschen schon immer die Verbindung von Entgegensetzem

ausdrückt, ist die Formulierung Haags sinnlos: „Ob die Menschen als geistige Lebewesen sich hätten konstituieren können, ohne daß Geist sich der Natur entgegensetzte, läßt aus der Perspektive dessen, was geworden ist, sich nicht mehr ausmachen." (Karl Heinz Haag, Philosophischer Idealismus, Frankfurt am Main 1967, 16). 3 Karl Heinz Haag, Philosophischer Idealismus, a.a.O., lOf. 4 Lehre vom Sein, 38. 5 Vgl. Enzyklopädie § 13. Nach der Lehre vom Sein, 48, trete die Wissenschaft der Logik gar an die Stelle der Ontologie. So liest Henrich die Logik als eine „Sequenz von Ontologiekernen in ontologischer Absicht beschrieben", die eine Ontologie „freisetzt". (Dieter Henrich, „Hegels Logik der Reflexion", in: Ders., Hegel im Kontext, Frankfurt am Main 1975, 156, auch 139.) Der letzte Ausdruck ist

Erstes Kapitel: G.W.F. Hegel

29

Historische wird aber in der Hegelschen Argumentation selbst zum systematischen herabgesetzt, indem die historische Entwicklung der Philosophie als eine notwendige und vollständige vorgestellt wird.1 Die Systematisierung des Historischen unterschlägt, daß nicht nur jeder Abschnitt der Philosophiegeschichte hätte anders verlaufen können, sondern daß diese Geschichte auch niemals hätte verlaufen müssen. Wahr ist nur, daß für den entwickelten Stand der Philosophie dies nicht im Detail von Belang ist; als Bestimmung der Philosophie überhaupt aber ist es von Belang, denn hieran hat ses

Moment

System seine äußere Bedingung und damit seine Grenze.2 Systematisch wird der Versuch, Denken und Gegenstand als nicht mehr getrennte zu begreifen, durchgeführt in der Anstrengung, Anfang und Ende der Wissenschaft zusammenzuschließen. Der Anfang soll nicht ein Anfang im üblichen Sinne sein, als einer von dem die Wissenschaft anfinge, an dem sie erst entstünde, da er so außer ihr läge, wissenschaftlich nicht bestimmbar wäre.3 Es soll daher die Wissenschaft, indem sie ihren Gegenstand im Anfange selbst erzeugt, in diesem hervorgehen und am Ende in ihn zurückgehen. Die Logik geht vom absoluten Wissen aus, in dem die Trennung des Gegenstandes vom Denken, die nach Hegel des Gegenstandes „Vernichtung sey"5, aufgegeben ist. Indem am Anfang der Logik nur diese resultative Vermittlung abstrahiert werde, was wieder nur ein Akt des Denkens sei, fiele die Unmittelbarkeit im reinen Sein bereits in das System. Durch diese Einheit des absoluten Wissens, die sich nur in sich selbst unterscheide, um in ihren Grund zurückzugehen,6 ist dem Gang der Logik das

also aufgegeben, keine äußerlichen Bestimmungen oder Reflexionen zuzulassen. Der als Unmittelbarkeit entlassene Anfang soll aus sich selbst in die Vermittlung zurückkehren. Hierzu ist die Unmittelbarkeit tauglich gemacht, weil Un-Mittelbarkeit nur als Negation von Vermittlung zu denken, die Negation aber selbst das Mittel der Vermittlung ist. Mit der Unmittelbarkeit des Seins tritt die reflexive Negation in die Logik ein. Deganz unbestimmt. ,Freisetzen' kann bedeuten Hervorbringen', aber eben auch .überflüssig machen'. Daß aber die je letzte Philosophie alle vorhergehenden in sich enthalte, hätte Hegel spätestens seit der Neuscholastik nie gesagt haben wollen. 1 Vgl. Phänomenologie, 28 und 56. 2 Indem Haag der Philosophiegeschichte „immanente Notwendigkeit" (Karl Heinz Haag, „Zur Lehre vom Sein in der modernen Philosophie", in: Die Lehre vom Sein in der modernen Philosophie, hg. v. dems., Frankfurt am Main 1963, 1) oder „Zwangsläufigkeit" (Ders., Philosophischer Idealismus, a.a.O., 22) unterstellt, begibt er sich eines entscheidenden Argumentes gegen den Idealismus. 3 Vgl. Lehre vom Sein, 54f. 4 Vgl. Enzyklopädie § 17. Daß es sich um die Selbstentfaltung des Absoluten handelt, wird deutlich, wenn man diese Konstruktion mit folgender vergleicht: „Jm Anfang war das Wort / Vnd das Wort war bey Gott / vnd Gott war das Wort." Die Bibel, Die gantze Heilige Schrifft, Deudsch 1545 / Auffs new zugericht. Nach der deutschen Übers. Martin Luthers, hg. v. H. Volz, München 1972. Euangelium Johannis I, Iff. und : „Jch bin vom Vater ausgegangen vnd komen in die weit / Widerumb verlasse ich die weit / vnd gehe zum Vater." a.a.O., XVI, 28ff. Christus, mit dem der Geist auf die Gemeinde übergeht, ist zugleich deren Rückgang in den Grund. 5 Lehre vom Sein, 55. 6 Vgl. Lehre vom Sein, 57.

Erstes Kapitel: G.W.F. Hegel

30

und damit die zentrale Stelle der Rückkehr zur Vermittlung macht dabei die Lehre vom Wesen1, insbesondere die Verwandlung von Irreflexivem in Reflexion aus. An den dort entwickelten Bestimmungen muß sich erweisen, ob Denken und Gegenstand prinzipiell als ungetrennte gedacht werden können, und ob es möglich ist, das Verhältnis von Reflexion und Unmittelbarkeit als nicht durch ein reflektierendes Subjekt bestimmt zu denken.2 In der praktischen Philosophie, die bei Hegel Bestandteil der Philosophie des Geistes ist, soll der Willensbegriff die Differenz von Subjektivität und Objektivität aufheben. Der Begriff der Erkenntnis, indem diese sich die Welt subjektiv aneigne, gehe über in den des Rechts, durch das die subjektive Aneignung in allgemeiner Gestalt wieder objektiviert werde. Die Formulierung, der Anfang der Logik sei ,also' das reine Sein, erklärt die Unmittelbarkeit schon im voraus als vermittelte. Indem Hegel mit dem absoluten Wissen den Anfang der Logik bestimmt, der sich wieder zu dem entwickeln wird, woraus er bestimmt ist, und so den Kreis schließt, werden aber mit dem absoluten Wissen auch dessen historische Bedingungen solche der Wissenschaft der Logik. Ohne nachträgliche Systematisierung der Philosophiegeschichte ist zwar deren sinnvolle Rezeption nicht möglich, löst jene aber das Geschichtliche ganz ins System auf, so verschafft sie der Blöße der geschichtlichen Äußerlichkeit, die Philosophie auch zukommt, die schönsten Kleider, die diese je hatte. Hegel hat recht, daß die Betrachtung der Denkbestimmungen, wie sie etwa falsch vorliegen, auf deren Wahrheit führt.4 Dann aber ist die Logik kein geschlossenes System, sondern vielmehr mit der Kritik der falschen Vorstellungen auf deren Material ren

eigene Bestimmung

1 Es hat sich durchgesetzt, von einer .Wesenslogik', einer .Seinslogik' und einer ,Begriffslogik', ja darüber hinaus von einer .Daseinslogik', einer ,Logik des Scheins' usw. zu reden. Dies ist mehr als eine Redensart, denn es unterstellt der Wissenschaft der Logik eine Differenzierung nach Gegenstandsbereichen und nach diesen angemessenen Methoden, die es in Hegels Konzeption nicht gibt. In der Logik entfaltet sich die absolute Idee durch verschiedene Entwicklungsstufen. Deren Darstellung sind dann die Lehre vom Sein usw. Die Vorstellung verschiedener Logiken verdeckt die Brüche in der Wissenschaft der Logik, indem sie die in Konflikt geratenden Bestimmungen sachlich und methodisch trennt.

Zurückgewiesen werden muß, aus Hegels Sicht, die Vorstellung, die Wissenschaft der Logik könals „Aussage über die Struktur denkender Subjektivität" gelesen werden (Friederike Schick, „Was heißt: Der Nous regiert die Welt", in: Jahrbuch des Forschungsinstitutes für Philosophie Hannover, Hildesheim 1992, 88), ebenso jene, in Hegels Dialektik werde „der Begriff [...] dazu gebracht, sich als menschliches Denken auf sich selbst zu besinnen" (Karl Heinz Haag, Kritik der neueren Ontologie, Stuttgart 1960, 36). Erst als Resultat der Kritik an Hegel läßt sich das entwickeln. Eher ließe sich sagen, denkende Subjektivität, menschliches Denken werde bei Hegel dazu gebracht, sich auf sich als Begriff zu besinnen. Auch Schicks Alternative, man könne es „als Aussage über ein höchstes Subjekt" („Was heißt: Der Nous regiert die Welt", a.a.O.) lesen, übersieht, daß die Wissenschaft der Logik eben nur so zu lesen sei, daß die ,Form eines Unheils, nicht geschickt ist, speculative Wahrheiten auszudrücken" (Lehre vom Sein, 78). 3 Vgl. Lehre vom Sein, 56 4 Vgl. Lehre vom Sein, 17. 2

ne

ERSTES KAPITEL: G.W.F. HEGEL

31

bezogen als auf etwas Nichtlogisches. ,J\ein im Elemente des Denkens" befreit die Philosophie sich nicht von der geschichtlichen Äußerlichkeit, sondern unterschlägt sie. Wenn Hegel die zwar schon bei Aristoteles unreflektierte Bestimmung des Verhältnisses der Wissenschaft zu den Bedingungen der Reproduktion derer, die sie betreiben, zitiert,2 übersieht er jedoch zweierlei. Erstens ist bei Aristoteles nicht die „Abstraction von dem Stoffe des Anschauens"3 die Konsequenz, und zweitens ist überhaupt mit der spekulativen Wissenschaft die Not, sich in der Natur zu reproduzieren, nicht erloschen; die Wissenschaft hat im Gegenteil historisch ein Herrschaftsverhältnis zur Voraussetzung, durch das die Wissenschaftler von der Arbeit zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse freigestellt sind. Hegel dagegen hält die Logik für eine auf dem Boden der „Bedürfniß-

losigkeit"4 betriebene Wissenschaft.

Was es mit der „leidenschaftslosen Stille der nur denkenden Erkenntniß"5 für ein Bewenden habe, hatte Hölderlin schon treffend formuliert: „Die Stille seiner Züge war die Stille eines Schlachtfelds. Grimm und Liebe hatt' in diesem Menschen gerast, und der Verstand leuchtete über den Trümmern des Gemüths, wie das Auge eines Habichts, der auf zerstörten Pallästen sizt. Tiefe Verachtung war auf seinen Lippen. Man atmete, daß dieser Mensch mit keiner unbedeutenden Absicht sich befasse."6

1 Enzyklopädie § 14. 2 Vgl. Lehre vom Sein, 12f. 3 Lehre vom Sein, 12. 4 Lehre vom Sein, 12. 5 Lehre vom Sein, 20 6 Friedrich Hölderlin, „Hyperion. Oder: Der Eremit in Griechenland", in: Sämtliche Werke, Kritische Textausgabe auf der Grundlage der von Knaupp und Sattler herausgegebenen Frankfurter Hölderlinausgabe, Darmstadt 1984, Bd. 11, 47.

32

Erstes Kapitel: G.W.F. Hegel

I. Die Reflexion. Ein Kommentar Der Übergang von der Lehre vom Sein zur Lehre vom Wesen ist der Übergang aus dem Nicht-Reflexiven in das Reflexive. In der Wissenschaft der Logik unterscheidet sich die Form dieser metabasis eis alio genos jedoch nicht von der aller übrigen Übergänge; der Mangel der jeweiligen Bestimmungen setzt sie zu Momenten herab, aus deren Verhältnis die neuen Bestimmungen resultieren. So soll es dem Sein selbst immanent sein, sich über seine Irreflexivität zu erheben, sich zum Wesen zu bestimmen, ohne daß einem denkenden Bewußtsein mehr abverlangt würde als reines Zusehen. Die Betrachtung des Hegelschen Wesens- und Reflexionsbegriffes beginnt daher in der Lehre vom Sein. Die Sphäre des Seins, der Unmittelbarkeit, des Nicht-Reflexiven ist im ,Maß' zu seiner konkretesten Gestalt entfaltet worden, der Einheit von Qualität und Quantität: „Das Maaß ist das qualitative Quantum, zunächst als unmittelbares, ein Quantum, an welches ein Daseyn oder eine Qualität gebunden ist."2 Die weitere Entfaltung des Gegenstandes, die Aufhebung dieser Unmittelbarkeit des Seins, das so immer abstrakt bliebe, und damit das Setzen seiner Bestimmungen durch Reflexion, nötigt dazu, die Sphäre des Seins zu verlassen, in der die Reflexion nur erst an sich oder äußerlich als noch zu setzende hinzukommen sollte.3 Dem entgegen sind einige Bestimmungen der Lehre vom Sein aber ohne Reflexivität gar nicht zu fassen. So ist das Etwas schon „die erste Negation der Negation, als einfache seyende Beziehung auf sich"4. Das Fürsichsein ist „Reflexion-in-sich", „es bezieht sich in seinem Andern nur auf sich"5. Hegel kann weder darauf verzichten, an dieser Stelle der setzenden Reflexion vorzugreifen, noch darauf, sie in der Repulsion wieder auf die Unmittelbarkeit zurückzubringen; ohne jenes wäre der Begriff der Einheit, Kontinuität nicht möglich, ohne dieses nicht der der Vielheit, Diskretion. Der Vorgriff ermöglicht erst den Übergang von der Qualität zur Quantität. An der Stellung des Fürsichseins zeigt sich exemplarisch, daß der Logik an jedem Punkt Reflexion unterstellt ist, und zwar in

1 Der geschlossenen Systematik der Hegelschen Darstellung entspricht am nächsten eine Interpretation als dem Text folgender Kommentar, der die Brüche des Systems nicht durch Umstellung und andere Revisionen überbrückt, sondern dort aufzeigt, wo sie entstehen. Die Gliederung folgt hier der He-

gels. 2 Enzyklopädie §

107. 3 Lehre vom Sein, 97: „Daß das Ganze, die Einheit des Seyns und des Nichts, in der einseitigen Bestimmtheit des Seyns sey, ist eine äusserliche Reflexion." Vgl. auch a.a.O., 87, 106, 125, 134. Noch im Übergang zum Wesen ist das so. Vgl. Lehre vom Wesen, 242. 4 Lehre vom Sein, 103. Tatsächlich ist das .unbestimmte', .unmittelbare' Sein die erste Negation der Negation, wenngleich nicht als Resultat eines dargestellten Prozesses. Nur dadurch aber gerät der Prozeß der Logik in Gang. Aus dem Sein folgt nicht einmal Nichts. 5 Lehre vom Sein, 147.

I. Die Reflexion

33

der unableitbaren Gestalt eines reflektierenden Subjektes, durch das allein die Unmittelbarkeit ihre Vermittlung erfährt.1 Hegels Anspruch zufolge begründet sich aber aus dem Mangel des Seins selbst, daß seine Sphäre zu verlassen sei, doch dann müßte es an ihm selbst bereits auf die Reflexion verweisen. Das wäre nur möglich, wenn es bereits im Unterschied und damit im Verhältnis zu der Reflexion bestimmt wäre, die sich erst aus ihm entwickeln soll. Wäre anders der Übergang zum Wesen nicht aus dem Sein selbst motiviert, könnte die Reflexion auch nicht aus ihm entwickelt werden, sondern müßte als bestehende an es herantreten. Damit wäre sie aber nicht vollständig in das System der,Logik' integriert. Hegel versucht, dem zu begegnen, indem er in dieser ersten Stufe des Überganges seine Notwendigkeit zwar aus den Mängeln des soweit entwickelten Seins selbst zu erweisen sucht, ohne daß jedoch dieser Übergang hiermit schon vollzogen wäre; das Sein wird noch nicht verlassen.

Wissenschaft der Logik. Erster Band: Die objektive Logik. Erstes Buch: Die Lehre vom Sein. Dritter Abschnitt: Das Maß. Zweites Kapitel: Das reale Maß C.

Das Maßlose

Die Mängel des Seins treten zutage am Begriff des Substrates, weiter als absolute Indifferenz bestimmt. Das Maß2 ist das spezifische quantitative Verhältnis, die Qualität bestimmend ist es gegen quantitative Veränderung bis zu dem Punkt gleichgültig, an dem diese eine Veränderung des Verhältnisses selbst bewirkt und eine neue Qualität hervorbringt. So folgt einer Qualität eine andere, aber aufgrund bloß quantitativer Veränderung. Nun war die Quantität „das reine Seyn, an dem die Bestimmtheit nicht mehr als eins mit dem Seyn selbst, sondern als aufgehoben oder gleichgültig gesetzt ist"3.

Zumindest ein Aspekt der Stellung des Fürsichseins ist es daher, daß der Übergang in die Quantität der Qualität allein nicht erklärt werden kann, da die Einheit eine Bestimmung ist, die nicht mehr unter die Äußerlichkeit des Daseins fallt, sondern jedes je nur in Bezug auf sich bestimmt. Mit dem Fürsichsein steht und fällt aber nicht nur der Verlauf der Wissenschaft der Logik, sondern stehen und fallen auch gewisse Gestalten des Hegelianismus. Vgl. Dieter Henrich, „Hegels Logik der Reflexion", a.a.O., 147f, dort die besorgte Fußnote 14: Ließen Spekulationen über Umarbeitungspläne Hegels, von deren Gehalt man nichts weiß, sich erhärten, so wäre dies „tödlich für die hier vertretenen Thesen" (147). 2 Hier interessiert am Maßkapitel nur die Vorbereitung auf den Übergang zum Wesen. Ein genauer Kommentar findet sich bei Ulrich Ruschig, Hegels Logik und die Chemie. Fortlaufender Kommentar zum „realen Maaß", Hegel-Studien, Beiheft 37, Bonn 1997. 3 Enzyklopädie § 99. 1

aus

34

Erstes Kapitel: G.W.F. Hegel

Die gleichgültige Veränderung, von Verhältnis zu Verhältnis, von Maß zu Maß geht daher an etwas vor: „Diese so sich in ihrem Wechsel der Maaße in sich selbst continuirende Einheit ist die wahrhaft bestehenbleibende, selbstständige Materie, Sache." Auch der Begriff der Materie, des Substrates ist ein Zitat aus der Lehre vom Wesen. Ohne ihn, der schon Begriff der Reflexion ist, ließen sich die unterschiedlichen Maße nicht auf eine reflexive Einheit zurückführen, gegen die sie nur unwesentliche Zustände sind. Indem Qualität und Quantität eines das Jenseits des anderen sind, gerät das wechselseitige Umschlagen ineinander zum unendlichen Progreß, dessen Einheit, die ,Materie', die „Bestimmung seyender Unendlichkeit"2 hat. Dies ist, anders als die Vorgriffe Hegels gegen seine Intention, die erste Antizipation des Wesens im Maßkapitel. Es wird sich aber zeigen, daß diese Unendlichkeit nur die abstrakte Einheit ausmacht, nicht aber die in sich reflektierte Bestimmung des Wesens erreicht. Diese Einheit ist das Substrat, das den Boden der Veränderung ausmacht, indem es sich in die verschiedenen Zustände kontinuiert: „Die Veränderung ist nur Aenderung eines Zustandes, und das Uebergehende ist als darin dasselbe bleibend gesetzt."3 Der Begriff der Veränderung quantitativer oder qualitativer Bestimmtheit erzwingt den des Substrates, da ohne dieses alle Zustände allen Daseins unvergleichbar als ungeordnete Mannigfaltigkeit nebeneinander stünden. Von Veränderung eines Zustandes in einen anderen ist ohne ein beharrendes tertium comparationis nicht zu reden. Allerdings ist für Hegel das Substrat' nicht schon die wesentliche Einheit von Selbständigkeit und Bestimmtheit, sondern bloß abstrakt Zugrundeliegendes, die Materie, an der die Unterschiede äußerlich als Quantitätsverhältnisse sind. ,

Drittes Kapitel: Das Werden des Wesens A.

Die absolute Indifferenz

Das Sein ist soweit als Substrat bestimmt, das sich indifferent gegen alle Bestimmungen nur äußerlich sein können. So ist es selbst völlig unbestimmt, „abstráete Gleichgültigkeit"4. Indem das Sein sich negativ auf seine Bestimmungen beziehe, sie als äußerliche Zustände von sich unterscheide, setze es zugleich sich selbst als absolute Indifferenz. Darin, daß es „sich mit sich zur einfachen Einheit vermittelt" und die Bestimmungen „nur das sich aufhebende"5 sind, ist sachlich schon die Unterscheidung in Wesentliches und Unwesentliches erreicht, deren Funktion im Abschnitt .Schein' von Hegel dann als obsolet bezeichnet wird. Was dort jedoch als

verhält, welche ihm

1 2 3 4 5

Lehre vom Sein, Lehre vom Sein, Lehre vom Sein, Lehre vom Sein, Lehre vom Sein,

370. 370. 371. 373. 373.

I. Die Reflexion

35

,Schein' von Hegel dann als obsolet bezeichnet wird. Was dort jedoch als Wiederaufnahme und Fortentwicklung eines vorhergegangenen Argumentes erscheint, ist hier selbst nur möglich durch Vorgriff auf den .Schein'. Die Vermittlung des Substrates mit sich selbst ist in der Tat eine Bestimmung, die an dieser Stelle gar nicht erfüllt ist. Die Indifferenz hat den Mangel, die Unmittelbarkeit nicht zu verlassen. Aber um das an ihr selbst zu entwickeln, muß Hegel zumindest die rudimentäre Reflexivität des Wesentlichen' bemühen. Die Indifferenz als

B.

Die Maßverhältnisse aber als Unterschiede

umgekehrtes Verhältnis ihrer Faktoren galten zunächst als selbständige Bestimmtheiten, ergaben

sich einem Substrat, das als Bleibendes im Wechsel gegen die jeweiligen Bestimmtheiten indifferent ist, diese sind an ihm nur äußerliche Zustände. Die Indifferenz, obwohl Prinzip der quantitativen Verhältnisse, damit der jeweiligen Qualität, ist nicht selbst diese Qualität, nicht der Exponent des Verhältnisses. So wäre sie selbst nur Quantität. Tatsächlich ist sie nur in Beziehung auf die Verhältnisse, die aber für sie ein Äußerliches sind. „Es ist nur die abstráete Bestimmtheit, welche in die

Indifferenz fällt"1. Weil die Seiten der

an

Selbständigkeit

und der Bestimmtheit nicht durch einander ge-

sind, weil es eben nur abstrakte Bestimmtheit ist, ohne wesentlichen Inhalt, sei die Indifferenz „die Gleichgültigkeit ihrer selbst gegen sich" die Vermittlung mit sich bleibe „leeres Unterscheiden"3. Es zeigen sich zwei in einander verschränkte Mängel an der so bestimmten Indifferenz. Erstens treten die Bestimmtheiten, die jeweiligen setzt

,

Zustände unvermittelt an ihr hervor. Das negative Verhalten zu den ihr äußerlichen Bestimmungen ist nicht negativer Bezug auf sich selbst, in dem sie sich selbst bestimmte. Zweitens sind damit die Bestimmtheiten nicht wesentlich gebunden an das, dessen Bestimmtheiten sie sind, und stehen so zu diesem in zufälliger Beziehung. Nur wenn die Indifferenz sich aus sich heraus bestimmte und ihre Bestimmungen so durch sie determiniert wären, hätte es die Sphäre des Unmittelbaren verlassen. In der Feststellung dieser Mängel, die deutlich nur in Bezug auf den terminus ad quem Mängel sind, liegt wieder die Antizipation des Wesens, durch die allein es Hegel gelingt, das Sein auf die Reflexion vorzubereiten, denn der Maßstab des Mangels, welcher den Fortgang motivieren soll, ist nicht das Sein, sondern das Wesen. Die Indifferenz war bestimmt worden als das Zugrundeliegende des Überganges von einer Qualität zu einer anderen, das Bleibende im steten Wechsel, und damit auch als das Zugrundeliegende jeder Qualität. Weil die Qualitäten nur in Beziehung aufeinander als bestimmte sind und diese Beziehung ihr Zugrundeliegendes in der Indifferenz hat, ist sie als Zugrundeliegendes -

1 2 3

Lehre vom Sein, 374. Lehre vom Sein, 375. Lehre vom Sein, 373.

Erstes Kapitel: G.W.F. Hegel

36

der Totalität der Bestimmtheiten selbst diese Totalität, denn nur in ihr findet die Beziehung der Qualitäten statt. „Diese Einheit so gesetzt als die Totalität des Bestimmens, wie sie selbst darin als Indifferenz bestimmt ist, ist der allseitige Widerspruch" Die Indifferenz, die gleichgültig gegen alle Bestimmtheit ist, ist zugleich selbst das Ganze und die Grundlage des Bestimmens. Der Widerspruch bringt die Mängel der Indifferenz auf den Punkt: Aufgrund der Gleichgültigkeit gegen ihr Äußerliches kann sie dieses nicht wesentlich in sich zurücknehmen, sie kann es nicht zu ihrem machen. Die Seiten dieses Widerspruches gilt es Hegel nun zu vermitteln: als Momente der bestimmten Einheit, des Wesens. -

.

C

Übergang in das Wesen

Die Indifferenz, die schon Bestimmungen aufwies, die den Übergang zum Wesen nahelegen, ist aber explizit noch eine Bestimmung des Seins, weil der Unterschied, die Bestimmtheit nur eine äußerliche Beziehung bleibt: „Die absolute Indifferenz ist die letzte Bestimmung des Seyns, ehe dieses zum Wesen wird; sie erreicht aber dieses nicht. Sie zeigt sich noch der Sphäre des Seyns anzugehören, indem sie noch als gleichgültig bestimmt, den Unterschied als äußerlichen, quantitativen an ihr hat."2 Dieser Mangel der bloßen Ansichbestimmtheit ergibt sich für Hegel daraus, daß die Indifferenz durch die „äußere Reflexion des denkenden, subjektiven bestimmt ist. Soweit ist die Selbstbestimmtheit der Indifferenz einfache Negation. Als „absolute Negativität"4 soll sie wahrhaft selbstbestimmt, nicht Gegenstand der Reflexion, sondern selbst Reflexion werden. Es wird nun dieser Begriff von der Reflexion abgelöst, in der allein er sich ergeben hatte, und gerade dadurch soll diese Reflexivität zu seiner eigenen Bestimmung werden. Hegel greift den oben festgestellten Widerspruch auf: Als dieser Widerspruch erwies sich die Indifferenz als unverträglich mit sich. Sie war nicht die Bestimmtheiten selbst, aber als Substrat der Bestimmtheiten doch zugleich deren Totalität. Sie sollte alle Bestimmtheit als aufgehobene enthalten, weil sie das an sich Bestimmbare war, die Grundlage der Bestimmtheit; da die Bestimmtheiten aber nur äußerlich hinzukamen, war die Indifferenz selbst völlig bestimmungslos; das Prinzip der Bestimmtheit ist selbst noch gar nichts. „Gesetzt hiemit als das, was die Indifferenz in der That ist, ist sie einfache und unendliche negative Beziehung auf sich, die Unverträglichkeit ihrer mit ihr selbst, Abstoßen ihrer von sich selbst."5 So bestimmt Hegel sie als das Abstoßen ihrer als bestimmter von sich selbst als Indifferenz, der Grundlage jeder Bestimmtheit, zu der keine

Bewußtseyns"3

1 2 3 4 5

Lehre vom Sein, Lehre vom Sein, Lehre vom Sein, Lehre vom Sein, Lehre vom Sein,

377. 381. 382. 382. 382.

I. Die Reflexion

37

Bestimmtheit in Beziehung steht. Als Negation aller Bestimmtheiten ist sie zugleich deren Inbegriff, der in sich mit sich unverträglich ist. Im Abstoßen jedoch sind die Bestimmtheiten ausdrücklich bezogen auf das, was sie abstößt. In dieser Beziehung nun wird das Sein reflektiert. Die Bestimmtheiten selbst sind gegeneinander, negativ bestimmt und heben sich als äußerlich auf. Gerade hiermit setzen sie aber dasjenige, vermöge dessen sie überhaupt aufeinander bezogen sind: die Indifferenz, die so Wesen ist. Die Einheit (Indifferenz) ist nicht mehr abstrakt an sich selbständiges Sein, dem die Bestimmtheit äußerlich ist, sondern dies Sein ist auf seine Unmittelbarkeit als sein Moment bezogen, über die Unmittelbarkeit der Bestimmtheit auf sich als Einheit reflektiert: „So ist das Seyn zum Wesen bestimmt, das Seyn als durch Aufheben des Seyns einfaches Seyn mit sich."1 Oder: „Das Seyn, indem es ist, das nicht zu seyn, was es ist, und das zu seyn, was es nicht ist;-als diese einfache Negativität seiner selbst, ist das Wesen."2 Da in jenem Widerspruch nur die beiden Mängel der Indifferenz auf den Punkt gebracht worden waren, sind diese mit seiner Vermittlung in sich aufgehoben. Die Bestimmtheiten sind erstens keine zufälligen, äußerlichen Zustände, die eine Selbständigkeit gegen das Substrat hätten, sondern sie sind nur durch das Substrat gesetzt, und damit zweitens durch es determiniert. Das Resultat des Überganges in das Wesen ist sachlich ein Zitat aus der setzenden Reflexion, wonach „sie [die Totalität, M.St.] diese einfache Beziehung auf sich nur ist, vermittelt durch das Aufheben dieser Voraussetzung und diß Vorausgesetztseyn und unmittelbare Seyn selbst nur ein Moment ihres Abstoßens ist"3. Der scheinbar so glatte Übergang aus dem Nichtreflexiven ins Reflexive beruht auf dem Vorgriff auf Bestimmungen des Wesens. Soll nämlich die Reflexivität der Indifferenz aus dem Widerspruch hervorgehen, und ist dieser Widerspruch die konsequente Fassung der Mängel der Indifferenz, so ist daran zu erinnern, daß der Maßstab der Mängel selbst nicht Bestimmungen des Seins, sondern bereits solche der Reflexion waren. Auch weist Hegel die Bestimmungen zurück, die von der äußeren Reflexion gemacht werden. Über sie müsse hinausgegangen werden. Damit ist aber das, was die äußere Reflexion zunächst bestimmt, konstitutiv für die Entwicklung der eigenen Reflexivität des Seins. Die als bloß äußerlich geschmähte Reflexion eines denkenden Subjekts leistet ihren erheblichen Beitrag hier, wie auch schon in vorhergegangenen Passagen, weil in ihr das Ziel des Weges der Wissenschaft der Logik vorausgesetzt ist.4 Nur vermöge dessen, das schon reflexiv ist, kommt das Sein zur Reflexion.

Lehre vom Sein, 383. Lehre vom Sein (1812/13), 232. Im Gehalt der Resultate unterscheiden sich die beiden Fassungen Wissenschaft der Logik nicht erheblich; die erste Fassung ist weniger umwunden im Ausdruck. Lehre vom Sein, 382f. Zur Methode Hegels vgl. auch Andreas Arndt, Dialektik und Reflexion. Zur Rekonstruktion des Vernunftbegriffs, Hamburg 1994, 216.

1 2 der 3 4

38

Erstes Kapitel: G.W.F. Hegel

Wissenschaft der Logik. Erster Band: Die objektive Logik. Zweites Buch: Die Lehre vom Wesen Das Wesen

In der Einleitung zur Lehre vom Wesen wird der Übergang vom Sein zum Wesen nicht etwa als vollzogen vorausgesetzt, sondern erneut thematisiert. Hegel beruft sich hier gleich zu Anfang wieder auf die äußerliche Reflexion, indem er den Übergang vom Sein zum Wesen als Weg des Wissens vorstellt, und zwar des Wissens eines theorietreibenden Subjekts. Erkenntnis hat hier nicht nur Vernunft zur Voraussetzung, sondern besonders auch den Willen: „Indem das Wissen das Wahre erkennen will [!, M.St.], was das Seyn an und für sich ist, so bleibt es nicht beim Unmittelbaren und dessen Bestimmungen stehen, sondern dringt durch dasselbe hindurch, mit der Voraussetzung, daß hinter diesem Seyn noch etwas anderes ist, als das Seyn selbst, daß dieser Hintergrund die Wahrheit des Seyns ausmacht."1 Im folgenden spricht Hegel zwar noch vom Weg des Wissens, der Wille jedoch und die Voraussetzung die er macht, finden hier weiter keine Erwähnung. Es ergäbe sich daraus das Problem, wie eine Erkenntnis gewollt werden kann, die noch völlig unbekannt ist.2 Allerdings müssen für den Fortschritt der Erkenntnis vorerst ungedeckte Voraussetzungen gemacht werden und eine dieser Voraussetzungen macht nicht eigentlich der Wille, sondern er selbst ist die unabdingbare Voraussetzung wie von Erkenntnis überhaupt, so hier des Übergangs in die Reflexion. Ohne das Moment des Willens ist die Konstruktion des Verhältnisses von Erkennendem und Erkanntem aus dem Bereich möglicher Erfahrung wie aus dem geschichtlicher Bedingungen herausgenommen, weil dieses Verhältnis so nicht als Beziehung auf äußere Gegenstände motiviert ist. Hegel beabsichtigt das, denn die Reflexion soll auf sich selbst beruhen bleiben. Die Versuche, aus der Reflexion der reinen Vernunft später den Willen zu entwickeln, kranken an dieser Absicht. Der Wille als Moment des reflexiven Geistes macht sich aber geltend in der Antizipation des Wesens, das (erkannt) werden soll.3 Die Erkenntnis des Unmittelbaren, ist schon dessen Vermittlung und Reflexion, weil sie die Unmittelbarkeit zurückwirft auf das, was sie wirklich ist. Das Unmittelbare wird 1 Lehre vom Wesen, 241. 2 Diesem Problem entspricht das der Gotteserkenntnis bei Thomas: Soll das an sich Unerkennbare doch negativ erkannt werden, so bedarf es doch einer intentio der Seele auf Gott, um die Negation bestimmbar zu machen (vgl. De ver. 10, 11 ad 11). Diese Intention ist an die Liebe zu Gott (caritas) geknüpft, die auf ihr Objekt schließlich nur durch Eingießung durch Gott (infusio) gerichtet sein kann (vgl. S.th. II-II, 24, 2). 3 Zwar bemerkt Dieter Henrich, „Hegels Logik der Reflexion", a.a.O., daß der Begriff, weil er die ganze Wissenschaft der Logik bestimme, deswegen nicht schon als geeignet erwiesen sei (vgl. 100), doch motiviere die Lehre vom Sein „alternativelos" (149) zum Wesen. Daran muß sich die von Henrich vernachlässigte Frage schließen, wer motiviert wird, und in Vergleich womit die Alternativelosigkeit bestimmt ist.

I. Die Reflexion

39

und es zeigt sich, daß dort seine Wahrheit ist, und indem dies seine Wahrheit ist, ohne die es nicht ist, und die nicht ohne es ist, erweist sich das scheinbar Unmittelbare dem Erkennen selbst als Vermitteltes. Wenn nun für Hegel die äußerliche Reflexion, die Erinnerung des Wissens die Erinnerung des Seins selbst ist, müßte es aus eigenem Vermögen reflektieren, was ihm als einfacher Unmittelbarkeit nicht möglich ist. Hegel sagt aber nicht, daß der Reflexion des Wissens eine Reflexion des Seins entspreche oder zugrundeliege, sondern in der Tat, daß „dieser Gang [...] die Bewegung des Seyns selbst"1 ist. Reflexion des Wissens und Reflexion des Seins fallen ineins, es ist eine Bewegung, die zur „Wahrheit des Seyns"2 führt. Unter der traditionellen Bestimmung der Wahrheit als Einheit von Denken und Sein erscheint das zunächst sinnvoll. Wenn nämlich die Wahrheit die Übereinstimmungsrelation jener zwei Relata ist, dann ist diese Relation zwar durch ihre Relata bestimmt, aber diese müssen in ihr als Einheit gedacht werden können. Die Relation ist die Einheit der verschiedenen Relata. Durch die Identität der Bewegung des Seins und der des Denkens soll hier die Einheit der Reflexion begründet werden, sowie ihre Ununterschiedenheit und darum Unabhängigkeit vom Denken Einzelner. Allerdings ist hier schon diese Einheit eine Einheit von gar nicht Unterschiedenen, die Wahrheit des Seins eine Wahrheit von Nichts. Hegel bedient sich eines reflektierenden Subjekts auf dem Weg zum Wesen, danach verschwindet es in seinem Resultat.3 Es ergeht ihm wie Muley Hassan im Fiesko. Hegel sagt weiter vom Sein, daß es „durch seine Natur sich erinnert"4, also in sich sich zurückwendet, reflektiert. Er bleibt aber die Erklärung schuldig, um was für eine Natur es sich dabei handeln soll. Die Untersuchung dieses Problems führt den Übergang ins Wesen zurück an den Anfang der Logik, ja bis zum Anfang der Wissenschaft, wo Hegel die Rolle der erkennenden Subjekte in Bezug auf die Wissenschaft der Logik bestimmt hatte. Mit der ,Natur' des Seins kann hier weder die traditionelle metaphysische Wesensnatur gemeint sein, noch Natur im Sinne physischer Erscheinung, denn beides sind dem Sein inadäquate Bestimmungen. Es kann nur die Bestimmung des Begriffs des Seins meinen, das ganz Abstrakte, Bestimmungslose, Mangelhafte. Diese Natur des Seins ergibt sich aber nur als Resultat bestimmter Negation innerhalb erkenntnistheoretischer Überlegung, durch „Beiseitsetzung aller Reflexionen, aller Meinungen, die man

durchdrungen,

Lehre vom Wesen, 241. Lehre vom Wesen, 241. Christian Iber, Metaphysik absoluter Relationalität. Eine Studie zu den ersten beiden Kapiteln von Hegels Wesenslogik, Berlin 1990, bestimmt die absolute Reflexion so: „Mit dem Wesen als Reflexion ist jede äußerliche Betrachtungsweise, jeder externe Gesichtspunkt entfallen." (131) Wer dies formuliert, tut es analog den Scholastikern, die unter Beschwörung der Unerkennbarkeit Gottes dessen Bestimmungen deduzieren. Die Konsequenz ist der deus absconditus oder die Dreingabe des Subjekts seiner selbst: „Hegel löst das zugrundeliegende Subjekt in die zirkuläre Bewegung des Denkens auf. Er entreißt die Reflexion dem ihr vermeintlich zugrundeliegenden Subjekt" (137). 4 Lehre vom Wesen, 241. Zum Begriff .Erinnerung' vgl. Michael Theunissen, Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik, Frankfurt am Main 1978, 320. 1 2 3

40

Erstes Kapitel: G.W.F. Hegel

[...] Die einfache Unmittelbarkeit ist selbst ein Reflexionsausdruck, und bezieht sich auf den Unterschied von dem Vermittelten. [...] Soll aber keine Voraussetzung gemacht, der Anfang selbst unmittelbar genommen werden, so bestimmt er sich nur dadurch, daß es der Anfang der Logik, des Denkens für sich, seyn soll."1 Weiter als auf dieses Sollen des Fortgangs, von Hegel an der gleichen Stelle auch Willkür', Entschluß' genannt, lassen sich die durch privative Negation im Anfang aufgehobenen Bestimmungen nicht reduzieren. So hat das Sein zum einen das movens des Mangels und sonst

hat.

,

anderen die durch bestimmte Negation aufgehobene Bestimmung der Reflexion.2 Da das Sein hiermit von vornherein als Un-Mittelbares, also Nicht-Reflexives bestimmt ist, läßt sich aus der Entfaltung seines Begriffes die Bestimmung der Reflexion gewinnen; die Entfaltung seines Begriffes ist nur möglich, weil er nicht vollständig, sondern mangelhaft ist. Die Erkenntnis des Mangels läßt sich rein systematisch nicht bestimmen. Sie hat die immer auch historische Voraussetzung der Antizipation entfalteterer Erkenntnis. „Was das Erste in der Wissenschaft ist, hat sich müssen geschichtlich als das Erste zeigen. Und das eleatische Eine oder Seyn haben wir für das erste des Wissens vom Gedanken anzusehen"3. Die Reflexion aus der Unmittelbarkeit des Seienden war den ersten Philosophen nur möglich unter der Voraussetzung der Überwindbarkeit der unbefriedigenden Unmittelbarkeit des Verhältnisses ihrer selbst zu den äußeren Bedingungen ihrer Reproduktion. Indem Hegel dies „für das erste des Wissens vom Gedanken" hält, verwandelt er die historische Voraussetzung in eine systematizum

sche.4 Hegel bestimmt nun das Wesen als „das vergangene, aber zeitlos vergangene Seyn"5.

Das Wesen ist das vergangene Sein, weil das Sein das Unmittelbare war und durch die Reflexion die Bestimmtheit der Unmittelbarkeit verloren hat, die es so nicht zurückerhalten kann. Das Sein ist im Gang der Reflexion im Wesen aufgehoben. So ist das Sein vergangen, aber nicht historisch, sondern systematisch, indem die Unmittelbarkeit, die es war, als vergangene Unmittelbarkeit zu einer Bestimmung des Wesens selbst aufgehoben ist, das sich als systematisch vorrangig erweist. Es ist also nicht von einem Sein die Rede, das sich in der Zeit zum Wesen entwickelte. In der Zeitlosigkeit der Entwicklung der Bestimmungen der Logik liegt es auch, daß das Wesen aufgrund seines systeLehre vom Sein, 55f. Daß die privative Negation einer Qualität deren potentielles Sein bedeutet, wußte schon Aristoteles. Vgl. Met. 1089 a, 1069 b, 1033a, 1003 a. 3 Lehre vom Sein, 76. 4 Der von Hegel zitierte Wille des Wissens als Reaktion auf den Mangel liegt jeder authentischen 1 2

Philosophie zugrunde.

5 Lehre vom Wesen, 241. Die bei Hegel folgende Etymologie, die Sprache habe im Partizip .gewesen' das Wesen aufgehoben, ist nicht bloß überflüssig; der durch die Konjunktion ,denn' bezeichnete Begründungszusammenhang, das liege daran, daß das Wesen zeitlos vergangenes Sein sei, ist unsinnig. Der Sprachgebrauch wird seine Mischkonjugation aus den im Angelsächsischen noch vorhandenen bedeutungsgleichen beon und wesan kaum der Tatsache verdanken dürfen, daß immer alle schon wußten, daß das Wesen das zeitlos vergangene Sein ist.

I. Die Reflexion

41

matischen Vorrangs dieser Entwicklung immer schon zugrundeliegt. Dieser systematische Vorrang ist bei Aristoteles ebenso Resultat der Wesensbestimmung durch Reflexion, deren Grundlagen dort aber Bedingungen der materiellen Reproduktion sind. Hiervon ist bei Hegel nicht einmal dort die Rede, wo er die Wesenstheorien der Tradition kritisiert. Sein einziger Maßstab ist der entfaltete Begriff, gegen den seine historischen Voraussetzungen nichts mehr gelten. Eine solche Kritik stellt zunächst der Exkurs zu idealistischen Wesensbegriffen dar, dualistischen Auffassungen von Wesen und Unwesentlichem dar. Die Reflexion auf wesentliches Sein ist in diesen Auffassungen die Reaktion auf das Unbefriedigende der Unmittelbarkeit, des „mannichfaltigen Daseyns"1. Resultat dieser ersten Negation ist aber die Negation aller Bestimmtheit, und was so als Wesen ausgegeben wird, ist nur das reine Sein. Das, was Wesen sein soll ist erstens nur „bestimmungslose einfache Einheit" zweitens ist es Resultat äußerlicher, aber bestimmter Negation, denn die Bestimmungen, die negiert werden, sind selbst äußerlich, also an einem und haben gegen dies auch Selbständigkeit. Werden sie abgezogen, bleiben sie ihm „gegenüber stehen" Das Wesen, als Wahrheit des Seins, sollte das sein, was das Sein an und für sich ist.4 Als so gemachtes' ist es aber weder an sich, noch für sich, denn es ist nur durch die äußerliche Reflexion hergestellt, gar nicht an sich selbst bestimmt, und es ist in Relation auf die äußerliche Reflexion und auf die abstrahierten Bestimmungen, also nicht für sich. Hegel führt den Mangel, daß diese dualistischen Wesensbegriffe das Unwesentliche abstoßen und nicht in sich hineinziehen, darauf zurück, daß sie durch äußerliche Reflexion gewonnen wurden, daß sich in ihnen ein kontingentes Subjekt geltend macht. Allerdings ist seine eigene Darstellung, wie schon im Übergang in das Wesen, selbst auf diese äußerliche Reflexion angewiesen; denn obwohl der dualistische Wesensbegriff schon hier Hegels Kritik unterzogen ist, beginnt die detailliertere Darstellung des Wesens mit dem Kapitel über Das Wesentliche und das Unwesentliche und macht somit noch einmal dieselben dualistischen Auffassungen zum Gegenstand.5 Dieser Auffassung konfrontiert Hegel nun das Wesen, wie es im Übergang in das Wesen entwickelt worden war: „Das Wesen aber, wie es hier geworden ist, ist das, was es ist, nicht durch eine ihm fremde Negativität, sondern durch seine eigene, die unendliche Bewegung des Seyns."6 Es sei also nicht durch Abstraktion des Verstandes aus dem .

.

1 Lehre vom Wesen, 241. 2 Lehre vom Wesen, 241. 3 Lehre vom Wesen, 242. 4 Vgl. Lehre vom Wesen, 241. 5 Hegel reagiert hier weniger auf klassische metaphysische Substanz-Akzidenz-Lehren, sondern vor allem auf den stricten Nominalismus, der die Reflexion auf den Zusammenhang von Wesentlichem und Unwesentlichem durch deren Distinction ersetzt und damit die begriffliche Grundlagenforschung durch zweckmäßige Konstruktion, deren Gültigkeitsnachweis aber allemal noch jener bedürfte. Vgl. z.B. John Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, Hamburg 1968, Bd. 1, 147ff. und 194ff. 6 Lehre vom Wesen, 242.

Erstes Kapitel: G.W.F. Hegel

42

sondern durch immanente Aufhebung der eigenen Mängel des Bestimmtheit sich als Äußerliches eines Substrates erdie unmittelbare indem Seins, wies, dem sie Gleichgültiges war, sich aber ebenso als einziger Inhalt des Substrates erwies, das so unverträglich mit sich selbst war. Die Entfaltung des Widerspruches von Selbständigkeit und äußerer Bestimmtheit zur reflexiven Bestimmung abstrahiere nicht von der Unmittelbarkeit, sondern nehme sie ins Wesen hinein, das dadurch an und für sich bestimmt sei. Das Wesen ist hier zwar genauso Negation der Mängel des Seins, wie in der kritisierten Gestalt, aber hier sei es nicht äußerliche, sondern aus ihm selbst begründete Negation. Es werde nicht Bestimmtheit überhaupt negiert, sondern die Seite der Bestimmtheit, nach der sie äußerlich ist. Das geschehe, indem es sich erweise, daß das Substrat diese Bestimmtheit in sich hineinziehe, die eigene Ansichbestimmtheit aufhebe. Dadurch, daß diese Negation privativ ist, also nicht die Bestimmtheit überhaupt vernichtet, sondern nur ihr Äußerlichsein, gehe das Ansichsein nicht verloren, sondern werde zum „absoluten Ansichsein"1. Das, was Bestimmtheit gegen Anderes war, bleibe Bestimmtheit, aber ohne Relation. Da dieser Widerspruch nach Hegel der Ausdruck der abstrakten Wesensbegriffe ist, darf er bloß Moment sein, das in Vermittlung mit seinem anderen erst zur Wahrheit kommt. Dieses besteht darin, daß die Privation nicht ein äußerlicher Vorgang ist, sondern aus dem Subjekt der Privation selbst hervorgehen soll. Nur dadurch gelingt es, daß das Resultat der Privation nicht ärmer als das Subjekt ist, sondern reicher: Es sei hiermit als sich auf sich Beziehendes, als Fürsichsein bestimmt, das aber das Ansichsein in sich aufgehoben habe. Damit sei das Wesen hier nicht Abstraktion, sondern die Konkretion des An-und-Fürsichseins. Ist aber das Sein sowohl das Zugrundeliegende der Privation, als auch das sie Hervorbringende, bleibt wieder nur übrig, daß das Resultat in ihm schon antizipiert ist, es selbst schon Privation des Wesens ist. Abgesehen davon, daß eine solche Privation der Privation nur das wieder hinzufügt, was zuvor zielbewußt entfernt wurde, untersteht die ganze Bewegung einer Reflexion, die immanent in der Wissenschaft der Logik nicht zu entfalten ist. Da die Bestimmtheit als absolutes Ansichsein nun ein Moment des Wesens ausmacht, ist das Wesen zwar ,an sich' bestimmt, aber nicht ,an ihm'. Es „hat kein Daseyn" Das Wesen als diese ruhig in sich bestimmte Einheit wäre gar nicht in der Lage, sich weiter zu entwickeln. Die Kraft der Negativität des Widerspruches der Indifferenz scheint im Wesen zugrunde gegangen zu sein. Hegel muß die Negativität des An-undFürsichseins gegen seine Einfachheit stark machen, dabei aber zugleich beachten, daß die Fortbestimmung des Wesens dieses nicht wieder in Relation zum Sein setzen darf. Zwar ist es ,äußerlich' die ruhige Einheit, die noch nicht mal äußerlich ist, weil sie zu

Sein

hervorgegangen,

.

1

Lehre

vom

Wesen, 242. Die Momente des Wesens werden im folgenden durchweg von derartigen

Widersprüchen charakterisiert sein.

2 Lehre vom Wesen, 242. Die hier angedeutete Notwendigkeit des Hervorgangs in die Erscheinung soll nicht diskutiert werden. Überhaupt beschränke ich mich auf die Passagen der Einleitung in das Wesen, die im Hinblick auf die Reflexion relevant sind.

I. Die Reflexion

43

nichts in Relation steht, aber innnerlich macht der Unterschied der hineingezogenen Bestimmtheiten zur Einheit sich geltend. Es stößt sich von sich ab und ist zugleich Einheit des Abstoßens und des Abgestoßenen. Die Bestimmungen des Wesens sind so Bewegung des Wesens zu sich selbst, in sich selbst. Dies ist die Ankündigung der bestimmenden Reflexion, mit der eine Form des Wesens gefunden sein soll, die aus sich heraus sich Bestimmungen gegenüber setzt, ohne aber das Reich der Reflexion wieder zu verlassen. Im Sein waren alle Fortschritte im Bestimmen Übergänge von einem zu einem anderen. Es lag in der Unmittelbarkeit, Äußerlichkeit der ganzen Sphäre des Seins, daß jede neue Bestimmung solch ein Übergang sein mußte. Hegel erläutert das durch die Analogisierung des Verhältnisses von Quantität und Qualität zu dem von Wesen und Sein. Das tertium comparationis ist die Gleichgültigkeit gegen die Grenze. Die Quantität war unendliches Überschreiten der Grenze, aber die Grenze war eine äußere und blieb eine äußere. Zwar ist auch das Verhältnis von Wesen zu Sein eines des Überganges, aber wenn das Wesen nicht in die Relationalität zurückfallen soll, muß die Analogie aufbrechen. Sie bricht auf mit der An-und-Fürsichbestimmtheit des Wesens. So hat es keine äußere, andere Bestimmtheit, sondern sie ist durch die Reflexion aus der Unmittelbarkeit ins Wesen selbst übergegangen, durch es gesetzt. So sind Bestimmtheit und Einheit Relata in der Relation des Wesens. Im Wesen, dem verinnerlichten, zu sich gekommenen Sein, gibt es daher „kein Werden noch Uebergehen"1, es ist die Bestimmung, das, was es war, zu sein, und das, was es ist, gewesen zu sein.2

Erster Abschnitt: Das Wesen als Reflexion in ihm selbst. Erstes Kapitel: Der Schein In der

Einleitung in das

Wesen hatte Hegel neben der Vorstellung des zu entfaltenden noch einmal das Problem des Überganges vom Nicht-Reflexiven zum ReArgumentes flexiven behandelt, der im Schluß der Lehre vom Sein als eine dem Sein immanente Bestimmung eingeführt worden war. Wie das immer wiederkehrende Zitat der äußerlichen Reflexion bereits in der Lehre vom Sein darauf hinweist, daß schon die Konstruktion des Anfangsgegenstandes der Logik die Leistung eines Subjekts ist, so ist es hier Indiz für die Schwierigkeit, die Reflexion als immanenten Bestandteil der Logik einzuführen. So beginnt das Kapitel Der Schein, in dem die Reflexion schließlich von ihrer anstößigen Herkunft aus dem Sein befreit werden soll, auch wieder mit der äußerlichen Lehre vom Wesen, 242. Die Formulierung wäre nur parallel zu führen, wenn die deutsche Sprache über einen Infinitiv Imperfekt, oder wenigstens überhaupt über einen Imperfekt verfugte, der es ermöglichte, das Verhältnis von Voraussetzung und Resultat atemporal auszudrücken. So muß der Ausdruck mangelhaft bleiben. 1 2

44

Erstes Kapitel: G.W.F. Hegel

Reflexion in Gestalt von Wesenstheorien der Tradition, die das Wesen abstraktiv seinen unwesentlichen Äußerlichkeiten gegenüberstellen. Nur wenn die Entfaltung des Wesensbegriffes auf seine Geschichte verwiesen ist, hat dieses Zitat der Tradition mehr als illustrativen Charakter. Zwar fallen der ,Weg des Wissens' und der ,Gang der Bewegung des Seins' im Resultat ineins und die Widersprüche einander kritisierender Gestalten von Philosophie, welche die Philosophiege.sc/2/c/2ie vorangetrieben haben, können als motivierende Widersprüche des Begriffs selbst dargestellt werden; aber in jeder mangelhaften Gestalt von Erkenntnis machen sich die Subjekte in ihren historischen Situationen geltend. In der vom Resultat ausgehenden Darstellung ist die Geschichte systematisiert, indem das Mangelhafte als Bedingung des Fortschrittes zum vollständigen Resultat erscheint. Darin aber, daß dieses Mangelhafte einmal die avancierteste Gestalt des Bewußtseins war, scheint durch, daß es in der Funktion als Bedingung des systematischen Fortganges nicht aufgeht. Hegel greift also, indem er die Entfaltung des Wesensbegriffes mit der einfachsten, unmittelbaren Bestimmung desselben beginnt, nicht zufällig auf die dualistische Form der Wesensbestimmung zurück, die er zuvor schon als Abstraktionismus kritisiert hatte.1 Da das Wesen aus dem Sein herkommt, indem es „bestimmte Negation"3 ist, steht das von ihm abgetrennte Unwesentliche ihm gegenüber. So gegen anderes bestimmt, ist nicht eigentlich das Wesen das Resultat der Privation, sondern die wesentliche Bestimmung von etwas, das Wesentliche. Dieser Ausdruck soll verdeutlichen, daß es mit dem Unwesentlichen logisch gleichrangig ist. Einerseits sollen nun beide in der Reflexion des Wesens als Momente und damit symmetrisch vermittelt werden, andererseits ist es Hegels Absicht, den Dualismus Schein Wesen zu vermeiden, weil dies nur die Verdoppelung des Unwesentlichen nach dem Modell des Ideenhimmels wäre, in dem alle äußerlichen Bestimmtheiten des Seienden sich wiederfanden. Wären die Momente aber symmetrisch, enthielte jedes auch die ganze Beziehung auf sein anderes in sich, so der Schein die Bestimmungen des Wesens und andersherum. Es wäre auch so nur Verdopplung. Ein Ausweg wäre, die scheinbare Symmetrie als Asymmetrie zu erweisen, so daß die Unmittelbarkeit des Seins in der Reflexivität des Wesens nicht vollständig begründet wäre. Die Konsequenz wären allerdings Brüche in der intendierten Kontinuität der Reflexion; das philosophische System ließe sich nicht schließen. In Hegels Lösung des Problems macht sich der Gegenstand beharrlich gegen seine Systematisierung geltend; diese Selbständigkeit soll mit der Auflösung der Unmittelbarkeit in Reflexion schließlich in der setzenden Reflexion ihr Ende finden. -

1 Vgl. Lehre vom Wesen, 241 f. Dieter Henrich, „Hegels Logik der Reflexion", a.a.O., hat recht, daß die Betrachtung des Scheins nicht „unerheblich" sei; er irrt, wenn er sie als „nicht äußerlich" (113) bezeichnet. Die Bezeichnung dieser Betrachtung als „Gedankenexperiment" (108) Hegels ist der Versuch, die historische Bedingung systematisch zu interpretieren. 2 Vgl. Lehre vom Wesen, 244. 3 Lehre vom Wesen, 245.

45

I. Die Reflexion A.

Das Wesentliche und das Unwesentliche

So wie das Wesen aus dem Sein hervorgeht, als „Aufheben des Andersseyns und der Bestimmtheit" ist es „einfache und zwar als Privation des Seins überhaupt, das nun in Beziehung auf das Wesen das Negative ist. So bleiben beide als Unmittelbare entgegengesetzt, wie Etwas und Anderes. Weil das Wesen in der Sphäre des Daseins keinen Ort hat, kann Hegel nicht sagen, es sei noch darin befangen. Er sagt: „Der Unterschied von Wesentlichem und Unwesentlichem hat das Wesen in die Sphäre des Daseyns zurückfallen lassen"2. Allein die Einsicht, daß hinter dem Dasein seine Wahrheit zu suchen sei, hatte den Bereich des Unmittelbaren verlassen. Die abstraktive Bestimmung des Wesens führt aber dorthin zurück. Weil die Reflexionsbestimmung des Unterschiedes noch nicht entwickelt ist, kann dieses andere, der Boden des Unterschiedes, nur ein Unmittelbares, Dasein sein. Hegel nennt „diesen Unterschied ein äußerliches Setzen", das „in ein Drittes fällt"3. In diesem äußerlichen Setzen bestimmt sich das Wesen eben nicht durch sich selbst, es ist mithin vor diesem Setzen für dasselbe nicht vorhanden, sondern ist Resultat der Abstraktion. Ist aber das, wovon abstrahiert wird, erst im Resultat von dem, was abstrahiert wird, zu unterscheiden, geschieht es notwendigerweise, daß „derselbe Inhalt deswegen bald als wesentlich, bald als unwesentlich anzusehen"4 ist. Der dieser prinzipiel-

Negativität"1,

len Unentscheidbarkeit zugrundeliegende Fehler ist die Vorstellung überhaupt, das Wesen sei durch Abstraktion zu bestimmen, denn die Voraussetzung, es sei etwas, von dem abstrahiert werden könne, behandelt das Wesen wie ein Ding. Es ergibt sich das Dilemma, daß dieses Ding der Abstraktion vorausgesetzt ist und sich doch erst aus ihr gewinnen läßt. Dieser Fehler ist allerdings konstitutiv für Hegels Argument, das aus dem Gegensatz der nichtreflexiven Wesentlichen und Unwesentlichen die Momente Schein und Wesen entwickelt, als deren Vermittlung dann die Reflexion selbst hervortritt. Das Wesen ist also noch nicht reflexiv bestimmt, das Unwesentliche ist noch nicht als Negatives gesetzt. Daher kann von Wesen noch nicht geredet werden, denn dies wäre schon die Einheit der Momente der Selbständigkeit und dessen, was noch äußerliche Bestimmtheit ist. Im Wesen müßte diese Äußerlichkeit verschwunden sein, sie muß im Wesen verschwinden. Die einfache Negation des Seins kann also das reflexive Wesen nicht hervorbringen, sondern macht aus dem „Seyn nur Daseyn" gegen das Wesen, ein „Sein mit der Negation"6, und das heißt Bestimmtheit. Das wahre Wesen wäre „die absolute Negativität 1 2 3 4 5 6

Lehre vom Lehre vom Lehre vom Lehre vom Lehre vom

Wesen, 242. Wesen, 245. Wesen, 245. Wesen, 245. Wesen, 245. Enzyklopädie § 89.

Erstes Kapitel: G.W.F. Hegel

46

des Seyns"1. Das Wesen muß aus dem Sein hervorgehen, indem es Negation der Unmittelbarkeit ist, und das heißt durch Negation der ganzen Sphäre. Ist diese aufgehoben, können Wesentliches und Unwesentliches weder an einem Dasein sein, noch sich als Unmittelbare entgegenstehen. Was sich nach der Privation als unwesentliche Unmittelbarkeit und damit als Gegensatz gegen das Wesentliche überhaupt erhalten zu haben schien, ist „an und für sich nichtig", „ein Unwesen, der Schein"2. Da die Wahrheit des Seins nur in der Reflexivität des Wesens bestehen sollte, ergibt sich das Unmittelbare selbstverständlich als Unwahres. B.

Der Schein

Aus der Kritik des unmittelbaren

Gegensatzes von Wesentlichem und Unwesentlichem geht nun der Schein als die Vermittlung des unmittelbaren Nicht-Wesentlichen am Wesen hervor. Vom Sein bleibt nichts als Negativität, Nichtsein, und selbst dieses hat es nur in Abhängigkeit von dem, was es nicht ist, und in dieser vom Wesen abhängenden Nichtigkeit ist der Schein. Er macht sich nicht als anderes gegen etwas geltend, sein Anderssein ist nicht seine Bestimmung, sondern er hat es nur kraft des Wesens: „Er ist das Negative gesetzt, als Negatives."3 So ist jeder Anschein einer Selbständigkeit des Scheins gegen das Wesen, jeder Rest von Unmittelbarkeit erloschen. Als Anderes des Wesens betrachtet, vereint er Sein und Nichtigkeit, er ist das Dasein des Nichtdaseins seines Anderen. In der Sphäre des Wehat aber die Unmittelbarkeit des Daseins keinen Ort, das Andere des Wesens ist dessen Moment und hat kein selbständiges Bestehen gegen es. Der Schein wandelt sich daher vom Nichtdasein zum Nichtsein, das „die Negativität des Wesens an ihm selbst"4 ist. So ist er nicht unmittelbares Dasein, sondern „reflectirte Unmittelbarkeit"5, also die Zumutung einer vermittelten Unmittelbarkeit. Obwohl der spekulative Geist den Widerspruch ertragen kann6 und selbst wenn er ihn die Lehre vom Sein hindurch ertragen hat, ist die Vermittlung der Unmittelbarkeit am Wesen anderer Art, denn mit ihr ist die metabasis eis alio genos von der Nichtreflexion zur Reflexion vollständig. Hegel kritisiert die traditionelle Trennung des Unmittelbaren vom Vermittelten, weil diese, soweit sie nur begrifflich gedacht wird, die nicht geringere Zumutung relativer Selbständigkeit unterstellt. So bleibt noch das ,Ding an sich' problematisch. Die Kritik an Hegel vermag nun zu zeigen, daß ubique Vermittlung ihrerseits ins Bodenlose führt: sens

Lehre vom Wesen, 245. Lehre vom Wesen, 246. Lehre vom Wesen, 246. Lehre vom Wesen, 247. Lehre vom Wesen, 246. Hegel versucht, die Selbständigkeit des Scheins gegen das Wesen von vornherein als nur scheinbar zu disqualifizieren, muß aber immer wieder darauf zurückkommen. Wie 1 2 3 4 5

noch zu zeigen ist, kann auch der Begriff der reflektierten Unmittelbarkeit die Harmonie der Momente nicht herstellen. 6 Vgl. Lehre vom Sein, 232.

I. Die Reflexion

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Konsequenz ist das Verschwinden des Gegenstandes; denn ist es einmal akzeptiert, jede Unmittelbarkeit reflektierte Unmittelbarkeit ist, ergibt sich ohne weitere Anstrengung die absolute Einheit von setzender und voraussetzender Reflexion, in der nichts mehr vermittelt werden muß, weil sie alles aus sich selbst schöpft. Die reale Bodenlosigkeit der logischen Konstruktion ist schließlich nur am Modell zu zeigen.1 Die Entfaltung des Widerspruches der reflektierten Unmittelbarkeit' bestimmt inhaltlich die zweite Hälfte des Unterkapitels Der Schein. Als Ausgangspunkt zitiert Hegel auch hier aus der Philosophiegeschichte. Es handelt sich um den Begriff des Phänomens im Skeptizismus und den der Erscheinung im neueren Idealismus Leibnitzens, Kants und Fichtes. Beide Begriffe halten nach Hegel Erkenntnis nicht für wesentliche Erkenntnis, haben aber dennoch in ihrer jeweiligen Form des Scheins die ganze Mannigfaltigkeit der Bestimmtheit der Welt. Hegel wirft ihnen daher vor, den Inhalt der Erkenntnis „nur aus dem Seyn in den Schein übersetzt"2 zu haben. Es trifft sie derselbe Vorwurf der Verdoppelung, wie zuvor den abstrakten Wesensbegriff, aber mit der Vari-

Die daß

ante, daß hier die Inhalte, über die sich reden läßt, in die Seite des Unwesentlichen, des Scheins gelegt werden. Daher können diese Inhalte auch nicht als durch das, dessen Inhalt sie sind, selbst gesetzt verstanden werden, sondern sind unmittelbar an ihm, denn der Schein wird der Reflexion für unfähig gehalten. Er steht nicht in einer notwendigen, daher einsehbaren Verbindung zum Wesen, sondern behält mit seiner Unmittelbarkeit auch Unabhängigkeit. Daß der Schein diese Bestimmtheit als Anderes des Wesens bewahren muß, wenn das Wesen nicht in bestimmungslose Tautologie zusammenfallen soll, hat Hegel bemerkt; aber seine Nichtreflexivität darf nicht außerhalb der Reflexion bestehen bleiben. Das, was das Wesen bestimmt, soll es aus ihm heraus bestimmen. Damit bestimmt das Wesen sich selbst: „Der Schein also enthält eine unmittelbare Voraussetzung, eine unabhängige Seite gegen das Wesen. Es ist aber von ihm, insofern er vom Wesen unterschieden ist, nicht zu zeigen, daß er sich aufhebt und in dasselbe zurückgeht; denn das Seyn ist in seiner Totalität in das Wesen zurückgegangen; der Schein ist das an sich nichtige; es ist nur zu zeigen, daß die Bestimmungen, die ihn vom Wesen unterscheiden, Bestimmungen des Wesens selbst sind, und ferner, daß diese Bestimmtheit des Wesens, welche der Schein ist, im Wesen selbst aufgehoben ist."3 Sprachlich findet die Verschränkung von subjektiver und objektiver Entfaltung des Begriffes Ausdruck in der Formulierung, es sei etwas von dem Wesen zu zeigen. Einerseits ist es möglich, vom Wesen dies zu zeigen, es kann von ihm gezeigt werden, andererseits ist es von ihm zu zeigen, es muß gezeigt sein, denn es ist seine wahre Bestimmung. Die Sache, um die es sich handelt, ist die Relation des Scheins zum Wesen, die 1 2

3

Diese Funktion fallt hier den Teilen III und IV zu. Lehre vom Wesen, 247. Lehre vom Wesen, 247.

Erstes Kapitel: G.W.F. Hegel

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das Wesen davor bewahrte, in die Tautologie zusammensinken. Der Schein als Relatum muß vom Wesen also unterschieden sein. Um den darin liegenden Dualismus zu überwinden, läge es nahe, den Schein in das Wesen zurückzuführen, die Relationalität zu beseitigen, indem eines der Relata verschwindet. Dies aber ist nach Hegel nicht möglich, da das Sein, und damit auch der Schein als dessen Rest, bereits durch Privation ins Wesen übergegangen ist, sich aber dennoch eine Selbständigkeit gegen dasselbe bewahrte. Was so als Problem erscheint, ist unabdingbare Voraussetzung für den Fortgang des Argumentes, denn wäre der Schein im Wesen vollständig verschwunden, käme dieses niemals zur Reflexion. So aber kann oder in Hegels Sinn: muß gezeigt werden, daß gerade dasjenige, wodurch der Schein vom Wesen unterschieden ist, eine Bestimmung des Wesens selbst ist. Dadurch stünde es sich in seinem Anderen selbst gegenüber, und indem es sich auf es bezöge, bezöge es sich auf sich selbst, es würde reflexiv. Da es selbst die Negativität der Privation der Unmittelbarkeit ist, der Schein aber die Negativität der Unmittelbarkeit, und das Wesen sich auf den Schein negativ, unterscheidend bezieht, wäre es die sich durch sich auf sich beziehende Negativität, wenn es gelänge, das, was zu zeigen ist, zu zeigen. Da so die reflexive Identität gerade dadurch zustandekäme, daß Schein und Wesen sich unterscheiden, wäre auch das weitere erfüllt, „daß diese Bestimmtheit des Wesens, welche der Schein ist, im Wesen selbst aufgehoben ist"1. So bestimmte das Wesen sich aus sich selbst. Anlaß zum Zweifel an der Durchführbarkeit dieses Programmes gewähren die Formulierungen Hegels allerdings auch. Es sollen die Bestimmungen des Scheins, die ihn vom Wesen unterscheiden, als 0 Bestimmungen des Wesens erwiesen werden. Das heißt erstens, wenn das Fehlen des definiten Artikels ernstgenommen wird, daß der Schein nicht das ganze Wesen ist, daß es noch darüber hinaus Bestimmungen hat. Zweitens, wenn der Relativsatz als notwendiger verstanden wird, heißt es, daß der Schein noch Bestimmungen hat, die ihn vom Wesen nicht unterscheiden, die aber auch nicht als Bestimmungen des Wesens selbst erwiesen werden können. Die einzige Bestimmung, die darunter zu denken wäre, ist die Selbständigkeit; in ihr wäre der Schein dem Wesen gleich, aber gerade darum nicht in ihm aufzulösen. So ließe sich der Satz aber nur gegen den Anspruch Hegels verstehen, denn aus diesem Verständnis ergäben sich für das System der Philosophie fatale Folgen. Obwohl die Entfaltung des Gegenstandes von der Abstraktion zur Konkretion in der anfänglichen Privation, dem reinen Sein, den terminus ad quem schon intendierte, ergäbe sich hier das Wesen, soweit es nicht Ansich-Sein ist, als eine Gestalt von Objektivität, die über das Erschließen ihres bloßen Vorhandenseins hinaus der Einsicht verborgen bliebe oder davon abgesehen einfach nichts wäre. Dadurch, daß negativ, abstraktiv die Voraussetzungen des Ganges der Reflexion, und damit dieser Gang selbst, durch die Reflexion selbst gesetzt wurden, suchte die Reflexion, die harmonische Entwicklung der Logik und ihres Gegenstandes zu sichern. Indem das Erschlossene aber zum Grund der auf ihm ruhenden Entwicklung des -

-

1

Lehre vom Wesen, 247.

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muß jeder Übergang eine Subreption sein, denn das, was ließ sich zwar als Voraussetzung, als notwendige Bedingung des Überübergehen soll, ganges erschließen; damit liegt aber diese Notwendigkeit in diesem Schluß, und nur soweit in dem Gegenstand selbst, als er schon denkend erfaßt ist. Wieweit er das aber ist, läßt sich affirmativ nicht bestimmen. Da die Brüche, die diese auf Geschlossenheit konzipierte Theorie aufzuweisen hat, somit ein negatives Verhältnis des Denkens zu seinen Gegenständen anzeigen, sind sie solche der Sache selbst. Sie sind an der Sache zu korrigieren oder gar nicht. Der Anspruch des Systems der Philosophie stößt also auf den Unterschied zwischen Schein und Wesen, der eine Trennung in zwei Welten nach sich zöge, deren eine nicht erkennbar wäre. Damit erweist Hegel den Wesensbegriff der dualistischen Theorien, der Bedingung aller Erkenntnis sein sollte, indem er sich im Wechsel des Seienden gleich blieb, gerade als dasjenige, das alle wahrhafte Erkenntnis verhindert, weil er von den nächsten Gegenständen der Erkenntnis getrennt ist. Den dualistischen Wesenstheorien ist zunächst vorzuwerfen, daß ihnen die Reflexion auf diejenige Instanz fehlt, die diesen Dualismus denkt und vermittelt. Trotz der subjektiv angelegten Theorie Kants bleiben aber auch dort Erscheinung und Ding an sich getrennt. Um dem zu entgehen, bestimmt Hegel die vermittelnde Instanz als objektive Reflexion, in der Reflexives und Nichtreflexives ihren logischen Ort haben. Obwohl Hegel auf diesem Wege das Wesen und den Schein in die Reflexion einmünden läßt, ist der Unterschied beider sachlich erfordert, um dem Wesen Bestimmtheit zu verschaffen. In diesem sachlichen Erfordernis bleibt Kants Problematik aufgehoben und führt zu Brüchen in Hegels Argumentation: Wenn Schein und Wesen objektiv vermittelt sind, worin soll dann jener von diesem, ,wie es hier geworden ist', überhaupt noch unterschieden sein? Das Negative, gesetzt als Negatives, der Schein, ist zwar in seiner Nichtigkeit noch in Abhängigkeit vom Wesen, aber in dieser Abhängigkeit, die eine Relation ist, zeigt es sich, daß der Schein selbst bestimmt sein muß. Und dieses, daß der Schein als Negatives des Wesens eine Spur von Unmittelbarkeit sich bewahrt haben muß, ist nach Hegel in der Tat seine einzige Bestimmung. Beide Seiten dieser „Unmittelbarkeit des NichtGedankens

gemacht wird,

1 Das Modell eines Unvernünftigen, das in der Sache zu korrigieren ist, ist die bürgerliche Gesellschaft, die dem Ideal vollkommen entwickelter Menschheit nicht genügt. Soweit die Bedingungen der Reproduktion der Menschen überhaupt der Reflexion zugänglich, aber nicht durch sie gesetzt sind, wie die Organisation der Arbeit, können sie als falsch erkannt und geändert werden. Soweit sie ihr nicht zugänglich sind, wie etwa Arbeit überhaupt als ewige Naturnotwendigkeit, kann die Unannehmlichkeit ihrer Existenz erkannt werden, aber dem läßt sich weiter kein Sinn abringen: ,,[D]ie Arbeit [ist] daher eine von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des Menschen, ewige Naturnotwendigkeit, um den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, also das menschliche Leben zu vermitteln." Karl Marx, Das Kapital I, Berlin 1986, 57. Zwar ist die Bestimmung der Arbeit als Naturnotwendigkeit' insofern falsch, als Arbeit als zweckbewußte Tätigkeit immer schon eine Differenz zwischen erster und zweiter Natur voraussetzt: Die Organisation der Naturnotwendigkeit ist selbst nicht Naturnotwendigkeit; was aber in dieser bewußten Form sich darstellt, ist die gegebene Notwendigkeit, daß Menschen als Naturwesen sich materiell reproduzieren.

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Erstes Kapitel: G.W.F. Hegel

seyns"1 will Hegel nun als Bestimmungen des Wesens erweisen. Er bezieht sich dabei

implizit auf seine Kritik am dualistischen Übergang vom Sein zum Wesen durch Privation, dem er nachweisen konnte, daß der Schein so nur in Abhängigkeit vom Wesen nichts sei, verkürzt diese Abhängigkeitsrelation aber ohne verbindendes Argument zur Immanenz: „Das Seyn ist Nichtseyn in dem Wesen."2 In der Konsequenz bestimmt dann das, was das Negative des Wesens war, „die negative Natur des Wesens selbst."3 Auch die Unmittelbarkeit, durch die der Schein gegen das Wesen bestand, wird ohne weitere Verbindung mit dem Wesen identifiziert. Weil das Wesen als Negation des Negativen „unendliche Negativität" ist, sich auf sich Beziehendes, ist es „nur sich selbst gleich", „ohne alle weitere Bestimmung".5 Es ist Unmittelbarkeit, und diese Unmittelbarkeit soll keine andere sein, als die vorher in falscher Weise dem Schein

zu-

geschriebene. Indem Hegel die „Unmittelbarkeit des Nichtseyns". ungeachtet der engen Verknüpfung beider Bestimmungen auflöst, erhält er zwei separate Bestimmungen, die sich in dieser Form dem Wesen integrieren lassen. Wäre das so, hätte das Wesen zwar in sich die Kraft der Negativität, die aber bloß formell wäre; die sich nur auf sich beziehende Negativität bleibt leer, der einzige Rest von Bestimmtheit ist das „absolute Ansichsein"6, die Bestimmtheit ohne Relation, die schon die dualistischen Wesensbegriffe kennzeichnete.7 Hegel muß den Schein zugleich

durch und gegen das Wesen bestimmen. Ausdruck dessen ist der Widerspruch „vermittelte Unmittelbarkeit"8, der den Schein nun als Moment fassen soll, das in sich mit seinem Anderen vermittelt ist; es drückt sich darin aber das implizite Eingeständnis aus, daß die Reflexion eben nicht in sich subsistiert, sondern aus dem Nicht-Reflexiven existiert. Sie braucht „die Bestimmtheit des Seyns, gegen die Allerdings hatte Hegel schon zu Anfang des Kapitels die Unmittelbarkeit, die den Schein gegen das Wesen bestimmte, mit der Unmittelbarkeit des Wesens, die durch Reflexion bestimmt ist, identifiziert. Der Begriff der .reflektierten Unmittelbarkeit' wird an dieser Stelle aufgenommen, mit der Konsequenz, daß die Bestimmtheit gegen die selbst ein Moment derselben nur ist. Vermittlung Das Sein wird als Moment bezeichnet, weil es hier nicht als selbständige Bestimmung gedacht wird, wie in der Lehre vom Sein, sondern als durch ein anderes vermittelte Bestimmtheit. Das allein rechtfertigt aber diese Bezeichnung im strengen Sinne nicht,

Vermittlung"9.

1 2 3 4 5 6 7 8 9

Lehre vom Wesen, 247. Lehre vom Wesen, 247. Lehre vom Wesen, 247. Lehre vom Wesen, 247. Lehre vom Sein, 68. Lehre vom Wesen, 247. Vgl. Lehre vom Wesen, 242. Lehre vom Wesen, 248. Lehre vom Wesen, 248.

Die Reflexion

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denn Selbständigkeit und Unmittelbarkeit können nicht symmetrisch gedacht werden, eines ist reflexiv, das andere nicht, und das ist notwendig so. Die Reflexion, die nicht absolut bleibt, muß sich an Nichtreflexivem vermitteln, das sie zu ihrem macht, aber gerade dadurch zieht sie eine Bestimmtheit gegen die Vermittlung in sich hinein.1 Die Reflexion ist daher nur, wenn sie durch etwas ist, das sie nicht selbst ist, und dies darf selbst kein Reflexives sein, bei Strafe des progressus ad inflnitum. Wenn dagegen jede Unmittelbarkeit immer schon als reflektierte gilt, dann werden die Bestimmungen des Scheins zu durch einander vermittelten Momenten, und die Momente des Scheins sind die Momente des Wesens.2 Es ist richtig, daß nicht auf dualistische Weise „ein Schein des Seyns am Wesen" ist, aber es ist wenig gewonnen, wenn der Schein „der Schein des Wesens selbst"3 ist, denn das bedeutet für Hegel, daß der Schein in der inneren Selbstbestimmung des Wesens besteht, wodurch es „das Selbstständige"4 ist. Das Wesen, das zunächst durch Reflexion aus dem Sein hervorgegangen war, wird diese Reflexion selbst, der nichts mehr fremd ist, weil sie alles in sich verschlungen hat, um alles aus sich hervorzubringen. Indem das Wesen sich negativ auf sein Negatives bezieht, ist es sich unmittelbar gleich, aber weil diese Beziehung negativ ist, stößt sie die Unmittelbarkeit von sich ab, wird ihr Negatives: Die Momente des Wesens laufen in den Kreis der setzenden Reflexion. Parallel dazu soll die Unselbständigkeit des Scheins, die selbst nichtig ist, nur in anderem ihr Sein hat, Beziehung des Negativen auf sich selbst sein. So kommt auch der Schein zur Unmittelbarkeit, die aber gegen ihn als Unselbständigkeit bestimmt ist. Sie verhält sich als Negatives gegen ein Negatives, ist reines Beziehen auf sich, die Unselbständigkeit gerät zur Selbständigkeit. Auch diese Symmetrie gelingt Hegel nur unter Voraussetzung der reflektierten Unmittelbarkeit. Vergessen ist die auch notwendige Asymmetrie der Negativität des Scheins und der des Wesens.5 Die erste bestand in der 1 Das Kapital als reflexive Bestimmung subsistiert nicht in sich, sondern existiert, setzt die Reflexivität nur durch Kapitalisierung dessen, das nicht Kapital ist. Dazu: Peter Bulthaup, „Idealistische und materialistische Dialektik", in: Gesellschaft, Beiträge zur Marxschen Theorie, Band 3, hg. v. Hans Georg Backhaus, Frankfurt am Main 1975, 175: ,,[W]eil noch ihre [der Tautologie, M.St.] Möglichkeit von ihrer Beziehung auf anderes, das Material, abhängig ist, so daß die Tautologie nicht in sich subsistiert, sondern durch anderes existiert." „Die Verwertung des Werts vollzieht sich notwendig in einem Anderen, in der Produktion, in der sie erscheint als Herrschaft des Kapitals über diejenigen, die in der Produktion als gegenständliche Wesen auf Gegenstände einwirken." 2 Vgl. Lehre vom Wesen, 248. 3 Lehre vom Wesen, 248. 4 Lehre vom Wesen, 248. 5 Vgl. Michael Theunissen, Sein und Schein, a.a.O., 340f: „Während nämlich die Reflexionslogik den Begriff des Wesenlosen im weiteren so umformt, daß sie ihn vom Schein der Gegenständlichkeit befreien und dadurch mit dem Begriff des Nichtigen zur völligen Deckung bringen kann [...], verabschiedet sie die Vorstellung, der Schein, der die Wahrheit des Seins ist, habe eine vom Wesen unabhängige Seite, bei der Entschleierung dieser Wahrheit ganz und gar."

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Abhängigkeit, die zweite darin, daß sie diese Abhängigkeit dominierte. Der mit der reflektierten Unmittelbarkeit zunächst noch konnotierte Unterschied von Reflexion und Unmittelbarkeit besteht nicht mehr: „Diese Negativität, die identisch mit der Unmittelbarkeit, und so die Unmittelbarkeit, die identisch mit der Negativität ist, ist das Wesen. Der Schein ist also das Wesen selbst, aber das Wesen in einer Bestimmtheit, aber so daß sie nur sein Moment ist, und das Wesen ist das Scheinen seiner in sich selbst."1 In der auffälligen Variante, daß Hegel im Übergang zum Abschnitt Die Reflexion dem Unwesentlichen nicht mehr das Wesentliche, sondern genau wie dem Schein das Wesen gegenüberstellt, kommt eine Veränderung der logischen Stellung des Wesens zum Ausdruck. Wie durch den Gegensatz des Endlichen zum Unendlichen dieses noch verendlicht wird,2 so hier das Wesentliche durch den zum Unwesentlichen. Dadurch, daß das Wesentliche als Wesen in die Position des in jeder Beziehung Ersten gesetzt wird, gilt es nun nicht mehr als Resultat der Kritik, sondern es ist das selbständige Prinzip, gegen das die Philosophiegeschichte bloß falsches Auffassen ist. Es ist das ewig durch sich selbst Bestimmte. „Das Wesen in dieser seiner Selbstbewegung ist die Reflexion"3. Und so ist es die am weitesten fortgeschrittene Gestalt der Hypostasierung von Reflexionsausdrücken. Die Verselbständigung gewonnener Erkenntnis gegen ihre Herkunft ist in den Wissenschaften nicht nur üblich, sondern berührt auch die Gültigkeit ihrer Resultate nicht. Aber im Medium allgemeiner Gleichgültigkeit gegenüber logisch oder technisch nicht verwendbaren Bedingungen vermögen die Resultate der Wissenschaften in der Regie der Subjekte, die zunehmend gleichgültig auch gegen die eigene Menschenähnlichkeit sind, zu Instrumenten heteronomer Zwecke zu werden. C.

Die Reflexion

Der Abschnitt Die Reflexion schließt den Übergang des Seins ins Wesen ab. Sowohl die Indifferenz als auch das Wesen mußten als Resultate einer Bewegung entwickelt und dargestellt werden, die vom unmittelbaren Sein ausging. Alle Bestimmungen, die hierüber hinauswiesen, konnten das nur als kataphorat der Reflexion. Der Übergang zur Reflexion, so aus dem Nichtreflexiven motiviert, bewahrte im Resultat die Relation auf das, aus dem es wurde. Wenn die Wahrheit des Seins, dasjenige, in dem es mit sich selbst vollends übereinstimmt, auf den Begriff gebracht werden soll, muß die Relationalität, die Unterschiedenheit der Relata, aufgehoben werden. Die Relation, deren Relata weder voneinander, noch von der Relation selbst unterschieden sind, ist die Reflexion. Gleich zu Anfang ist darauf hinzuweisen, daß Reflexion nicht die Reflexion eines Subjekts, noch nicht einmal die Reflexion des Subjekts meint, sondern „Reflexion 1 2 3 4

Lehre vom Wesen, 248f. Vgl. Lehre vom Sein, 127. Lehre vom Wesen, 249. Michael Theunissen, Sein und Schein, a.a.O., 342, nennt dies

.vorzeitige Begriffe'.

I. Die Reflexion

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überhaupt"1. Wenn das aber so ist, muß den hier entwickelten Bestimmungen der Re-

flexion überhaupt jede bestimmte Gestalt der Reflexion zu subsumieren sein. Der Schein des Wesens wird zum „Scheinen seiner in sich selbst"2. Das erklärt die Beziehung des Scheins auf sich selbst zum einzigen Inhalt des Wesens und soll die weitere Bestimmung rechtfertigen, daß der Schein dasselbe sei wie die Reflexion, wogegen sich aber die Formulierung ,das Scheinen seiner in sich' insofern widerspenstig gibt, als dasjenige, was scheint, unabhängig von dem Scheinen selbst zumindest benannt werden muß.3 Die wesentlich gewordene, damit vermittelte Unmittelbarkeit benennt Hegel nun durch „das Wort der fremden Sprache, die Reflexion"4. Das Wesen als Reflexion erklärt Hegel als „Bewegung des Werdens und Übergehens, das in sich selbst bleibt; worin das unterschiedene schlechthin nur als das an sich negative, als Schein bestimmt ist"5. Dadurch soll die Bestimmung des Wesens in zweifacher Weise von der Bestimmtheit des Seins unterschieden werden. Erstens ist mit der Reflexion, die zwar Bewegung, aber in sich, ist, der resultative Charakter und damit die Relationalität aufgehoben, die dem Wesen zunächst noch anhaftete. Zweitens ist dasjenige, wodurch das Wesen seine Bestimmtheit gewinnt, von demjenigen, wodurch das Sein bestimmtes Sein wurde, unterschieden. Die Entfaltung der Bestimmtheit des Seins soll vonstatten gehen, indem Bestimmungen des Seins gegeneinander bestimmt sind und durch Negation in die je nächste Stufe übergehen. Die Bestimmtheit des Seins ist die von Seiendem, unterschieden von anderem. Der Unterschied ist die negative Relation auf anderes. Das Wesen dagegen ist nicht durch anderes bestimmt, das gegen es ein Bestehen hätte, sondern dies wird durch die Reflexion ins Wesen als dessen Schein entlarvt, der sogar sein Nichtsein noch in Abhängigkeit vom Wesen hat und dadurch an sich negativ ist.6 Indem das Wesen noch sein Negatives zu seinem macht, bleibt ihm außerhalb seiner selbst nichts, in das es übergehen könnte. Es ist Übergehen als Aufheben des Übergehens. Da die Negation der Unmittelbarkeit erst die Konstituierung des Wesens ist, kann das Wesen nicht im unmittelbaren Gegensatz gegen Anderes bestimmt sein. Es bedeutete dies aber, daß die Unmittelbarkeit selbst zur Reflexion würde, mehr noch, daß die Unmittelbarkeit selbst Reflexion wäre. Die Reflexion ist „die Bewegung von Nichts zu Nichts und dadurch zu sich selbst zurück"7, indem das Sein selbst negativ ist, seine Negation das Mittelbare, das Negative als Negatives, das sich auf sich bezieht, und so wieder Un-mittelbarkeit hervorbringt, wieder ein Negatives, dieses Mal jedoch durch Reflexion gesetzt. Diese 1 Lehre vom Wesen, 254. 2 Lehre vom Wesen, 249. 3 Daß mit dem Scheinen seiner in sich nicht das Scheinen des Scheins, sondern ausdrücklich des Wesens gemeint ist, ist dem Zweiten Kapitel zu entnehmen. Vgl. Lehre vom Wesen, 258. 4 Lehre vom Wesen, 249. 5 Lehre vom Wesen, 249. 6 Vgl. Lehre vom Wesen, 249. 7 Lehre vom Wesen, 250.

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dargestellt, unterstellt eine Unmittelbarkeit, die der Reflexion logisch und ontologisch vorhergeht. Aber gerade die Betonung des logischen und ontologischen Vorranges dient der setzenden Reflexion, jede Spur ontischer Unabhängigkeit des Unmittelbaren in Reflexion zu gründen und damit aufzulösen. Trotzdem kann Hegel nicht

Bewegung,

so

vermeiden, der Bestimmtheit der Unmittelbarkeit, die Moment der Reflexion ist, eine

Unmittelbarkeit zugrunde zu legen, die diese Bestimmung noch nicht erfüllt. Dem versucht Hegel zunächst zu entgehen, indem er die Reflexion aus der Unmittelbarkeit nicht als Eigenschaft des Wesens bestimmt, sondern als das Wesen selbst, das so reines Selbstbestimmen wird, „absolute Reflexion"1, gegen die alles andere Nichts ist und als dieses Nichts noch vom Wesen hervorgebracht. Näher betrachtet, wurde jedoch die Reflexion aus der Unmittelbarkeit hergeleitet, um anschließend diese Unmittelbarkeit aus der Reflexion herzuleiten. Wenn diese Unmittelbarkeiten nicht unterschieden sind, läuft die Darstellung in einen Zirkel, der zwar ein Übergehen in sich selbst ist, eine Bewegung von Nichts zu Nichts, deren Seiten aber, konsequent genommen, völlig leer sind, so daß buchstäblich nichts mit ihnen anzufangen ist. Eine solche Bewegung von Nichts zu Nichts wäre nicht in der Lage, ,sich selbst' weiter zu bestimmen, sie hätte sich im Übergang von Bestimmungslosigkeit zu Bestimmungslosigkeit totgelaufen, noch bevor sie hätte anfangen können. Dagegen muß Hegel zugestanden werden, daß die Reflexion, die eine Unmittelbarkeit vorfindet, die nicht aus ihr selbst stammt, auch nicht sich selbst weiter bestimmen könnte, da ihre Bestimmung von dem abhinge, was sie nicht ist. Die Bestimmung aus sich selbst aber ist für Hegel einziger Inhalt der Reflexion, denn in ihr soll ja die Bestimmtheit des Seins in dialektischer Weise aufgehoben sein; die Reflexion soll den Charakter der Gegensätzlichkeit dieser Bestimmtheit ihres einheitlichen Grundes überführen. 1.

Die setzende Reflexion

Das Wesen hat sich in Hegels Darstellung mehrfach wandeln müssen. Zunächst als Negation des Seins gefaßt, dann als Negation des Scheins, mithin beide Male als Privation, konnte es nicht zu sich selbst kommen. Schließlich war die Beziehung des Scheins auf sich selbst „die absolute Reflexion des Wesens"2. Damit ist die Reflexion Beziehung des Negativen auf sich, Negation der Negation, denn der Schein ist nach Hegel das an sich Negative. Nur dadurch gelingt es ihm, Voraussetzung und Resultat der Reflexion in eine Einheit zu bringen. Alle zur Reflexivität, die resultativ waren, hatten eine Voraussetzung außer ihnen. Damit waren Einheit und Unabhängigkeit des Resultates durch die Verwiesenheit auf ein Anderes gebrochen. Die Reflexion des Scheins in sich bietet nun nicht nur die tautologische Einheit, sondern soll die Bestimmung der absoluten Reflexion des Wesens gewährleisten als „sie selbst und nicht sie selbst

Übergänge

1 2

Lehre vom Wesen, 250. Lehre vom Wesen, 250.

I. Die Reflexion

55

und zwar in Einer Einheit" Nur die Beziehung des Negativen auf sich ist ineins Gleichheit und Abstoßen, weil diese Beziehung nur durch das negative Urteil ,Das Negative ist nicht sein Negatives' ausgedrückt werden kann. Damit ist zwar Gleiches auf Gleiches bezogen, aber nur dadurch, daß dieses sich von sich abstößt. Die Gleichheit beider selbständig gedacht, wäre Unmittelbarkeit, das Abstoßen die Vermittlung, weil es Abstoßen innerhalb der Unmittelbarkeit ist. Auf diese Weise ist die Reflexion „Uebergehen als Aufheben des Uebergehens"2. Während im Sein jede Bestimmung so in die nächste überging, daß sie ein Anderes wurde, ist hier der Übergang ins Andere das Zusammenfallen mit sich, also kein Übergang. Zudem wird noch dieses Übergehen, das keines ist, sofort in ein Abstoßen verkehrt. Diese Umwandlung der Reflexion des Scheins in die Negation der Negation unterstellt, daß es sich beim Schein um Negation überhaupt handelt. Die Negativität des Scheins war aber aus der privativen Negation der Sphäre der Unmittelbarkeit durch das Wesen hervorgegangen. Nur deshalb, weil der Schein selbst bestimmtes Negatives war, konnte das Wesen durch seine Reflexion Bestimmtheit erlangen. Diese Bestimmtheit war die im Resultat der Privation aufgehobene Bestimmtheit des Zugrundeliegenden der Privation, der Sphäre der Unmittelbarkeit, die somit vorausgesetzt war. Die Verwandlung des Scheins in Negation überhaupt beseitigt diese Voraussetzung und bringt sie in anderer Form wieder hervor; denn gerade die Beziehung der Negation auf sich hat die Unmittelbarkeit zum Resultat. Allerdings hat diese Unmittelbarkeit den Charakter der nichtgesetzten Voraussetzung verloren. Weil der negative, scheinhafte Charakter der Unmittelbarkeit durch die Abhängigkeit von der Reflexion des Wesens zu sich selbst kommt, ist erst in dieser Vermittlung das Negative als Negatives begründet. Damit erweist sich die Un-mittelbarkeit aber selbst als Negation des Negativen, sie ist eben das, was nicht vermittelt ist. Ist sie aber als das, was sie ist, nur zu bestimmen durch Negation, so ist sie selbst vermittelt, „sich selbst aufhebende Unmittelbarkeit"3. Indem die Reflexion die Unmittelbarkeit als vermittelte hervorbringt, setzt sie sie. Die Unmittelbarkeit, die als Schein den Anfang der Reflexion ausmachte, ist daher nicht der absolute Anfang, sondern selbst Reflexionsprodukt, und zwar Produkt ihrer eigenen Reflexivität: „Statt von dieser Unmittelbarkeit anfangen zu können, ist diese vielmehr erst als die Rückkehr, oder als die Reflexion selbst."4 Die Unmittelbarkeit, die als unbegründete Voraussetzung dem Wesen vorherging, ist hier als Bestimmtheit der Unmittelbarkeit gesetzt, begründet. Damit, daß so der Gegensatz in Einheit zurückgegangen wäre, wäre allerdings die Negation der Negation zum Stillstand gekommen, wenn nicht die Rückkehr des Negativen zum Negativen vermittelte Unmittelbarkeit und damit der reine Widerspruch wäre. Die Seiten des Widerspru.

1 2 3 4

Lehre vom Lehre vom Lehre vom Lehre vom

Wesen, 250. Wesen, 250. Wesen, 251. Wesen, 251.

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Erstes Kapitel: G.W.F. Hegel

ches, Reflexion und Unmittelbarkeit, verhalten sich negativ zueinander, die Reflexion

stößt die Unmittelbarkeit ab und bringt sie so zurück in die Gestalt der Voraussetzung. „So ist sie Voraussetzen"1. Da diese Voraussetzung eine der Reflexion ist, ist sie wiederum von dieser gesetzt. Das Zurückwerfen der Unmittelbarkeit auf sich, das am Anfang der Lehre vom Wesen als Wahrheit des Seins eher brachial eingeführt wurde, findet seinen Grund darin, daß der Unmittelbarkeit nun die Reflexivität als ihre wahre Bestimmung nachgewiesen ist. Die setzende Reflexion setzt damit auch insofern ihre Voraussetzung, als dasjenige, was im ersten Buch der Wissenschaft der Logik über das Sein gesagt wurde, erst jetzt begründet wird. Es ergibt sich, daß die Voraussetzung der Unmittelbarkeit nicht der Anfang ist, aus dem die Reflexion abgeleitet wird, sondern ihren eigenen Anfang in der Reflexion selbst hat. Damit ist aber die Reflexion von Anfang an am Werke, es ist nie vom Sein die Rede, immer von der Bestimmtheit des Seins. Darin soll der Ausweg aus dem Problem dualistischer Wesenstheorien, daß der Schein gar nichts sei, bestehen, weil der Schein selbst durch Reflexion bestimmt ist; das reine Sein hat nur deshalb dieselbe ,Wertigkeit' wie Nichts, weil es selbst Resultat der Negation aller Bestimmtheit ist. So ist in der Wissenschaft der Logik von Anfang an alles Vermittlung, Produkt von Reflexion, aber es wird nichts darüber gesagt, was dort vermittelt wird. Es ist die reine Reflexion, die nichts als sich selbst vermittelt und so leer bliebe. Hegel will dagegen zeigen, daß die Reflexion dennoch nicht leer ist, weil sie ja ihr Negatives ständig in sich bewegt; aber sie bleibt auch notwendig bei sich, weil schon die erkenntnistheoretische Behauptung eines Nichtreflexiven dasselbe in Verbindung zur Reflexion gesetzt hätte. Was zunächst nur wie eine zusammenfassende Paraphrase klingt, ist der reinste Ausdruck des Problems: „Die Reflexion also findet ein Unmittelbares vor, über das sie hinausgeht, und aus dem sie die Rückkehr ist. Aber diese Rückkehr ist erst das Voraussetzen des Vorgefundenen." Würde der Anfang buchstäblich erst mit dem Resultat gegeben sein, wäre kaum zu sagen, wie dieses Resultat Zustandekommen sollte, wovon es ausgehen sollte. Hegel muß eine Äquivokation im Begriff der Unmittelbarkeit vornehmen. Die vorgefundene Unmittelbarkeit kann nicht die Vorausgesetze sein.3 Die vorausgesetzte ist die Unmittelbarkeit, die schon durch die Negationsmühle der Reflexion gegangen ist; diese muß aber etwas vorgefunden haben. Dieser Umstand, daß etwas vorgefunden wird, ist an beiden Stellen, wo er eingeräumt

1 Lehre vom Wesen, 251. 2 Lehre vom Wesen, 252. 3 Auch Dieter Henrich, „Hegels Logik der Reflexion", a.a.O., stellt eine Äquivokation im Begriff der Unmittelbarkeit fest, die jedoch aus dem Prozeß der Negation der Negation resultiere. So bleibt die Feststellung eine Hegel verpflichtete Beschreibung des Überganges von Unmittelbarkeit zu vermittelter Unmittelbarkeit. (vgl. 114ff.) Die entscheidende Variante der vorgefundenen Unmittelbarkeit kommt dabei gar nicht zur Sprache. Christian Iber, Metaphysik absoluter Relationalität, a.a.O., bemerkt auf 158 diese Variante, löst sie aber mit Hegel in die Selbstbewegung des Begriffs auf.

I. Die Reflexion

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wird,1 tatsächlich selbst vermittelt, was im sprachlichen Anschluß mittels der Konjunktion ,also' erscheint. Weil die setzende Reflexion etwas erfordert, das nicht gesetzt ist, muß es erschlossen werden. So soll das, was als selbständig gegen die Reflexion gedacht wird, eben weil es gedacht wird, keine Selbständigkeit gegen die Reflexion haben. Die Äquivokation der Unmittelbarkeit scheint bedeutungslos, weil auch das vermeintliche Eingeständnis, das Vorgefundene sei ein Vorgefundenes, nichts weiter ergäbe, als die sich von sich abstoßende voraussetzende Reflexion, die damit schon wieder bei sich angekommen wäre. Allerdings war die Äquivokation notwendig, weil die Univokation von Voraussetzung und Resultat die Bewegung unmöglich gemacht hätte. So kurzlebig das Vorgefundene auch ist, seiner unumgänglichen Erwähnung in der Bestimmung, daß das Vorgefundene erst als durch die Reflexion Vorausgesetztes für dieselbe ist, ist schon die negative Ontologie eines Nichtreflexiven immanent.2 Durch die sofortige Vernachlässigung der Äquivokation erschleicht Hegel die Geschlossenheit der Reflexion, denn erst der vorausgesetzten Unmittelbarkeit ist nachzuweisen, daß sie selbst reflexives Produkt der Reflexion ist. Der Übergang von der vorgefundenen Unmittelbarkeit zur Reflexion wäre der vom Nichtreflexiven zum Reflexiven, der aus dem Nichtreflexiven nicht motiviert sein kann. Wäre es aber die Bestimmung der Reflexion, den Gegenstand erst zu ihrem zu machen, so müßte zugestanden werden, daß weder Reflexion noch vorgefundene Unmittelbarkeit ableitbar sind. Dieses Zugeständnis müßte einer nur sich selbst setzenden Reflexion eine auf das Vorgefundene gerichtete äußere Reflexion assoziieren, durch die die reine Selbstgewißheit bestimmt werden könnte. Aber Hegel beansprucht, gezeigt zu haben, daß die Reflexion in sich subsistiert. Und das bedeutet nicht nur, daß sie bei sich bleibt, sondern auch, daß sie nicht leer ist, aber alles, an dem ihre Bestimmtheit vermittelt ist, aus ihr selbst stammt. Es ist daher die Frage, was eine äußere Reflexion jetzt noch beitragen könnte, und mehr noch, wie sie überhaupt Zustandekommen soll, wenn doch die Reflexion nichts außer ihr hat. Nun war zwar die Voraussetzung als Setzung erkannt worden, und damit als nicht verschieden von dem, dessen Voraussetzung sie ist; dennoch hat die Voraussetzung die Bestimmtheit eines Negativen. Die Immanenz der Reflexion hat so ihr Negatives, also die ganze Sphäre des Nichtreflexiven in sich reflektiert und sich so zugleich eine Bestimmtheit verschafft. Die äußere Reflexion ist nichts weiter, als daß die Reflexion sich ihre Voraussetzung vorsetzt und sich auf sie bezieht, als sei sie ein Äußeres.

äußere Reflexion Aus keiner Formulierung der Abschnitte Die äußere Reflexion und Die setzende Reflexion ließe sich erkennen, daß die äußere Reflexion eine Fortbestimmung der setzenden 2.

Die

Lehre vom Wesen, 252, vgl. auch 253. Das gegen den Begriff ganz Selbständige ist dann durch diesen selbstverständlich nicht zu bestimmen. Vgl. Andreas Arndt, Dialektik und Reflexion, a.a.O., 147. 1 2

58

ERSTES KAPITEL: G.W.F. HEGEL

oder auch nur der absoluten wäre. Im Gegenteil wird sie eingeführt als eine andere Betrachtungsweise der setzenden Reflexion, die notwendig zusammenbricht und dadurch die setzende Reflexion bestätigt. In der bestimmenden Reflexion sollen beide dann doch selbständig nebeneinandertreten. Allerdings sind äußere und setzende Reflexion nicht umstandslos identisch. Ihre Differenz ist der immanente Mangel der setzenden Reflexion, in deren Vakuum die äußere als absolutes und so ersticktes Desiderat enthalten ist.2 Die Seiten, von denen in der setzenden Reflexion gezeigt wurde, daß sie immer schon durch einander vermittelt sind, sollen nun bei der äußeren Reflexion auseinanderfallen: „das einemal als das Vorausgesetzte, oder die Reflexion in sich, die das Unmittelbare ist. Das andere Mal ist sie die als negativ sich auf sich beziehende Reflexion; sie bezieht sich auf sich als auf jenes ihr Nichtseyn."3 Genauer besehen aber zerlegt die Reflexion sich selbst, sie „setzt sich als aufgehoben, als das Negative ihrer voraus"4. Die Unmittelbarkeit ist hier nicht als Moment in der Selbstbewegung, durch die sie gesetzt würde und die durch sie gesetzt würde, sondern es wird die Verwiesenheit des vermittelten Unmittelbaren auf das, was es vermittelt, der Charakter des Negativen, das Negative von etwas zu sein, beseitigt. So hat die Reflexion eine Unmittelbarkeit außer sich. Aber auch hier faßt Hegel diese Unmittelbarkeit nicht negativ als echte Voraussetzung der Reflexion, sondern die Beseitigung der Abhängigkeit von der Reflexion ist selbst ein Werk der Reflexion. So ist auch diese Unmittelbarkeit schon reflexiv. Der einzige Unterschied zur setzenden Reflexion besteht darin, daß ihre Vermitteltheit sie nichts angehe. Die Vermittlungslosigkeit des Gegenstandes der Reflexion ist nur wie1

Nach Christian Iber, Metaphysik absoluter Relationalität, a.a.O., ergibt sich die äußere Reflexion aus der setzenden, weil die Seite der Unmittelbarkeit in dieser zwar hervorgetreten, aber nicht verarbeitet worden sei (vgl. 167). In der Tat wurde sie doch vollständig verarbeitet: assimiliert. 2 Darstellungen wie die von Charles Taylor, Hegel, Frankfurt am Main 1978, die der spekulativen Unmöglichkeit .allgemeinverständliche' Modelle beigesellen wollen, verfallen auf den Bereich sinnlicher Erfahrung mittels Formulierungen wie ,das äußerlich Wahrnehmbare' oder ,das Beobachtete' fur die ganze Sphäre des Seins (vgl. 339). Deshalb geraten Taylor die Bestimmungen der äußeren und der setzenden Reflexion schon bei der Bestimmung des Scheins unter der Hand durcheinander. Die Verwendung von Modellen oder Beispielen, die nicht selbst spekulativ sind, erweckt zumeist den Anschein, Hegel sei nicht zu kritisieren, da seiner Begriffsdialektik ja etwas Daseiendes entspreche. 3 Lehre vom Wesen, 252f. 4 Lehre vom Wesen, 252. 5 Vgl. Lehre vom Wesen, 253. Obwohl Dieter Henrich, „Hegels Logik der Reflexion", a.a.O., bemerkt, daß die äußere Reflexion ein was-wäre-wenn ist, versucht er gerade an dem hier zitierten Satz, der das ankündigt, zu zeigen, daß noch weitere Argumente in diesem Unterkapitel beigeführt werden (vgl. 126). Das ,als' ist aber entgegen Henrich kein .erläuterndes', sondern ein erkenntnistheoretischbeschränkendes, dem griechischen n, dem lateinischen inquantum entsprechend. Das reflexive .sich' ist nur die Antizipation, daß sich die äußere Reflexion am Ende in setzende wieder auflöse. Daß die äußere Reflexion „dem Vorausgesetzten eigenes Recht" (128) einräume und daher ihre „Selbständigkeit [...] gesichert" (129) sei, ist der Fehler, den selbst die geschickteste affirmative HegelInterpretation machen muß. In der „Neuen Fassung" des Aufsatzes, in: Hegel-Studien, Beiheft 18, 203324, räumt Henrich der äußeren Reflexion noch weitergehende Bedeutung ein, wenngleich mit dem

notwendig

59

I. Die Reflexion

der einer ihrer Vermittlungsschritte: „Die Reflexion in ihrem Setzen, hebt unmittelbar ihr Setzen auf, so hat sie eine unmittelbare Das Äußerliche verfallt damit dem also: „Sie findet also dasselbe vor." Das äußerliche Verhältnis der äußeren Reflexion zum Unmittelbaren erklärt Hegel mit der Unendlichkeit in der Lehre vom Sein: ,,[D]as Endliche gilt als das erste, als das Reale, von ihm wird als dem zu Grunde Liegenden und zu Grund liegen bleibenden angefangen, und das Unendliche ist die gegenüber stehende Reflexion in sich."3 Das Endliche ,gilt' als äußerer Ausgangspunkt der Reflexion, ist es aber schon dort nicht, da schon der Anfang der Logik Reflexionsprodukt ist. Die äußerlichen Bestimmungen können an ihm nur gemacht werden, weil es so vorausgesetzt wurde, daß sie gemacht werden können. Ähnlich tritt zwar in der äußeren Reflexion die Unmittelbarkeit scheinbar aus der Reflexion heraus, aber tatsächlich ist es die Reflexion selbst, die sie heraussetzt. So ist die äußere Reflexion zwar „im Negiren das Negiren dieses ihres Negirens. Sie ist aber damit eben so Setzen"4. Das Negieren, Abstoßen der Unmittelbarkeit setzt sie zugleich in Beziehung auf das, von dem sie abgestoßen wird. Dieses aber negiert sein Negieren gleich mit, das heißt, es tut so, als sei das Voraussetzen kein Setzen. Daß die Unmittelbarkeit hier einmal wahrhaft das Andere ist, ist nur wieder durch die Reflexion. Mit diesem Ergebnis wird auch die Stellung der äußeren Reflexion zur setzenden deutlich: Was in dieser schon ineinander kreiste, soll durch jene endgültig als die „wesentliche Unmittelbarkeit selbst"5 nachgewiesen sein. Der scheinbare Versuch, der setzenden Reflexion eine Äußerlichkeit zu verschaffen, die sie nach dem Bisherigen weder hätte haben noch brauchen können, schnurrt auf eine Bestimmung der äußeren Reflexion zusammen, die von der setzenden gar nicht unterschieden ist: „Das Unmittelbare ist auf diese Weise nicht nur an sich, das hieße für uns oder in der äussern Reflexion, dasselbe, was die Reflexion ist, sondern es ist gesetzt, daß es dasselbe ist."6 In der äußeren Reflexion tauchen die endlichen Subjekte, deren Borniertheit sie nach Hegels Anmerkung sein soll, nur ein einziges Mal auf, aber nicht als reflektierend auf

Voraussetzung."1

Bedauern, daß Hegel nicht einmal versuche, „die Zusammenhänge durchsichtig zu machen, die ihn zur Definition der äußeren Reflexion fuhren" (297). Christian Iber, Metaphysik absoluter Relationalität, a.a.O., 171, versucht die Vermittlung so: „Die äußere Reflexion [...] bezieht sich auf sich, aber so, als wäre dasjenige, worauf sie sich bezieht, ein Äußerliches. [...] So ist die Reflexion sich selbst ein Ande-

res." Man beachte die modi verborum. 1 Lehre vom Wesen, 253. 2 Lehre vom Wesen, 253. 3 Lehre vom Wesen, 253. 4 Lehre vom Wesen, 253. 5 Lehre vom Wesen, 254. 6 Lehre vom Wesen, 253. 7 Lehre vom Wesen, 254. Die äußere Reflexion als logisches Moment des Wesens ist zwar die Struktur der äußerlichen Reflexion, in der denkende Menschen sich zu Gegenständen verhalten, aber beide sind nicht identisch. Vgl. Walter Jaeschke, „Äußerliche Reflexion und immanente Reflexion.

60

Erstes Kapitel: G.W.F. Hegel

endliche, äußere Gegenstände, sondern als erkenntnistheoretisches Subjekt: Entgegen

Befürchtung, daß die Darstellung der setzende Reflexion mit ihrer Ineinssetzung dem, was ineinsgesetzt wird, Gewalt antue, ihm also äußerlich sei, zeige sich hier, daß noch dieser Behauptung von Äußerlichkeit das Setzen dessen, was äußerlich sein soll, nachgewiesen werden könne. Der Abschnitt Die äußere Reflexion ist der apagogische Beweis der setzenden Reflexion, der einmal voraussetzt, es sei nicht so, wie dort bestimmt, und mit dieser Voraussetzung schon gewonnen hat. Allerdings gelingt das nur, weil nie ernsthaft von äußerer Reflexion auf endliche Gegenstände die Rede ist, sondern eigentlich von vornherein die setzende Reflexion auf die Bestimmtheit der Äußerlichkeit reflektiert, die selbst gar nicht äußerlich ist. Hegel wirft zu Recht an anderer Stelle Kant vor, daß in dessen Beweisen zu den Antinomien „dasjenige, was bewiesen werden soll, immer schon in den Voraussetzungen enthalten ist, von denen ausgegangen wird, und nur durch das weitschweifige, apagogische Verfahren der Schein einer Vermittlung hervorgebracht wird" '. Tatsächlich kann der apagogische Beweis das zu Beweisende nicht,setzen', schon gar nicht deduzieren, sondern nur negativ als Bedingung der Möglichkeit aufweisen. Jeder apagogische Beweis in der Philosophie läuft auf eine, wenn auch notwendige, petitio principii hinaus. Derjenige, dem so bewiesen wird, muß irgend etwas zugestehen, aus dem nur deswegen bewiesen werden kann, weil das zu Beweisende schon darin steckt. Wer Rede steht, oder wenigstens nicht in den Brunnen springt, weil es genau so gut wie schlecht sei, dem muß nur Implizites expliziert werden; wer sich aber schweigend oder faselnd in den Brunnen stürzt, dem kann so oder so nichts der

bewiesen werden. Richtig bleibt aber das zentrale Argument der äußeren Reflexion, daß ein affirmativer Begriff von Unmittelbarkeit, die Darstellung dessen, was nicht Denken ist, durch Denken unmöglich ist. Allerdings vermag es die negative Einsicht noch nicht auszuräumen, daß die Reflexion ohne ein Vorgefundenes bestimmungslos unbestimmbarer Punkt bliebe, dem durch die Bezeichnung als Tautologie noch zuviel Inhalt zugesprochen würde. Obwohl Hegel um des Systems willen zeigen muß, daß die Reflexion auf etwas, das nicht in ihr auflösbar ist, diesen Unterschied sofort aufhebt, soll die äußere Reflexion die zuvor zwar gesetzte aber gleich wieder verschlungene Unmittelbarkeit stärken. Darum wird sie in der Anmerkung doch noch ausdrücklich mit dem Tun des Einzelwissenschaftlers identifiziert, indem sie „von einem gegebenen, ihr fremden Unmittelbaren"3 ausgehe. Sie wird damit der reflektierenden Urteilskraft analogisiert, deren Reflexion auf das Besondere das Allgemeine, die Gesetzmäßigkeit ausfindig macht. Die Betrachtung dieser Tätigkeit der äußeren Reflexion zeigt, daß zwar ihre Resultate innerhalb der Eine Skizze der

systematischen Geschichte des Reflexionsbegriffes Hegel-Studien 73,85-117. 1 Enzyklopädie § 48, Zus. Vgl. Lehre vom Begriff, 157f. 2 Vgl. Met. 1008 b. 3

Lehre

vom

Wesen, 255.

in

Hegels Logik-Entwürfen",

in:

61

I. die Reflexion

Reflexion liegen, aber nicht die ganze Tätigkeit selbst, weil sie nicht durch erkenntnistheoretische Reflexion, sondern durch ihr Material bestimmt ist. Hegel unterwirft aber gerade dieses Material, das Gegebene den Gesetzen der Reflexion, indem er schreibt,

die äußere Reflexion beziehe sich „auf das Unmittelbare als auf ein gegebenes" Damit ist das Gegebensein ein Akt der äußeren Reflexion selbst, die so schon Erkenntnistheorie ist, die gar nicht mit dem Ordnen äußerer Gegenstände zu tun hat, sondern auf eine schon vorgängig durch Reflexion geordnete Äußerlicher sich bezieht. Genausowenig, wie die Hegeische Fassung der äußeren Reflexion dazu taugt, der Reflexion bestimmte Inhalte zu verschaffen, ist die setzende Reflexion als erkenntnistheoretische Reflexion zu verstehen. Dort bezieht sich das Denken zwar auf sich, setzt darin sich als Selbstbewußtsein in bezug auf seine Gegenstände und schafft somit die Voraussetzung für selbstbewußte Erkenntnis, aber die Erkenntnistheorie ist nicht in der Lage, genetisch ihren Gegenstandsbereich aus sich zu schöpfen, sie ist keine Bewegung von Nichts zu Nichts.2 Die Konstituierung des Selbstbewußtseins ist immer vermittelt durch schon gegebene Inhalte, denn ein Bewußtsein seiner selbst als von nichts Bestimmtem bleibt ein Bewußtsein von Nichts, und ist damit kein Bewußtsein. Erkenntnistheorie ist die Reflexion auf einen gegebenen Stand der Entwicklung in den Einzel.

wissenschaften, deren Prinzipien als Bedingungen ihrer Möglichkeit erschlossen werden. Zwar hat die so historisch spätere Erkenntnis dann den systematischen Vor-

rang, aber eben dieses Verhältnis von Historischem und Systematischem ist in der Wissenschaft der Logik unterschlagen. Aus den systematischen Bedingungen einer Wissenschaft ist ihre Existenz nicht zu begründen. Nur die Axiomatisierung des Resultates in einer dogmatischen Darstellung kann den Anschein erwecken, Wissenschaft sei in ihren

Bedingungen genetisch enthalten.3

3.

Die bestimmende Reflexion

Sowohl die setzende als auch die äußere Reflexion haben den Mangel, daß aus ihnen kein Fortgang der Logik hervortritt.4 Die setzende Reflexion bleibt bei sich, das Resultat der äußeren Reflexion ist von der setzenden nicht mehr unterschieden, bleibt auch bei sich. Das Unmittelbare ist zwar reflektiert, aber hat in der Reflexion nur erst ein ständig vorübergehendes Bestehen. Nur als „ausser sich gekommene Reflexion"5 könnte das, was die Reflexion bestimmt, Bestand haben. Sie muß ihre durch den Rückgang Lehre vom Wesen, 254, Hervorhebung von mir. Karl Heinz Haag, Philosophischer Idealismus, a.a.O., nennt es „Selbsttäuschung seiner [Hegels, M.St.] Dialektik, die für ihre Setzung ausgibt, was bei der Erkenntnis der Natur sich auskristallisierte" (37). Das Setzen der Reflexion belegt er etwas seltsam mit dem Terminus Produktionssphäre (vgl. 1 2

63f). 3 Vgl. Peter Bulthaup, „Idealistische und Materialistische Dialektik", a.a.O., 163. 4 Den Mangel konstatiert Hegel auch hier ganz offen aus dem terminus ad quem: bestimmende Reflexion" (Lehre vom Wesen, 255) sei noch nicht erreicht. 5

Lehre

vom

Wesen, 257.

Die „vollendete,

62

Erstes Kapitel: G.W.F. Hegel

des Unmittelbaren ins Wesen geschöpften Bestimmungen aus sich heraussetzen, bestimmend werden. Gerade die Wiederaufnahme des schon vorübergegangenen Unterschiedes zwischen setzender und äußerer Reflexion, der nie fest bestand, soll das leisten, die bestimmende Reflexion soll die Einheit von setzender und äußerer sein. Sowenig es eine äußere Reflexion für Hegel geben kann, die konstitutiv für die Reflexion wäre, so unumgänglich ist sie auch an dieser Stelle, um das Argument voranzutreiben.1 Daher müssen zunächst ihre Unterschiede zur setzenden benannt werden und daraus müßte sich auch ersehen lassen, warum beide einer Vereinigung bedürfen. Der Mangel ihrer Resultate rührt aus ihrer jeweiligen Stellung zur Unmittelbarkeit her. Für die setzende Reflexion ist die Unmittelbarkeit nur als Nichtige, für die äußere zunächst als Bestehende. Der Mangel der äußeren Reflexion besteht näher darin, daß sie zwar das Wesen zum Resultat hat, aber es „an die Stelle eines anderen"2 setzt, also nicht aus sich, sondern aus einer Voraussetzung. Die setzende Reflexion setzt ihre eigene Unmittelbarkeit zwar ohne fremde Voraussetzung, aber dies Resultat ist nur Moment der Reflexion, das sofort der Negation durch sie selbst unterworfen ist. Reflexion und Unmittelbarkeit, Dasein müssen so zusammengebracht werden, daß sie Bestehen haben. In der Lehre vom Sein war das Dasein das Sein mit der Negation, also das unmittelbare Sein, an dem die Negation unmittelbar eine Bestimmtheit war. Die Bestimmtheit der Unmittelbarkeit am Wesen ist aber eben nicht am Wesen als einem anderen, denn das Wesen ist reine Negativität, deren Negation nur durch sie ist. Das Dasein ist so durch das Wesen gesetzt und daher unselbständig. Obwohl das „Gesetztseyn"3 das Dasein selbst in seiner Abhängigkeit vom Wesen ist, soll es die Verbindung zwischen Dasein und Wesen sein. Dieser Anspruch wird erst einlösbar, wenn die äußere Reflexion und das, worauf diese sich bezieht, hinzukommen, weil so erst die Relata Reflexion und Dasein auseinandergelangen. Weil dann aber das Dasein nicht mehr als Gesetztsein gilt, muß dessen Bestimmung als Mitte der Relation vor der Trennung der Relata untersucht werden, was ebenfalls Schwierigkeiten bietet. Dieser Bruch in der Darstellung ergibt sich indes aus der Eigenheit der Relation, die Einheit von Einheit und Unterschied zu sein; sie selbst ist bestimmt durch die unterschiedenen Relata, deren Unterschied aber erst in ihr begründet ist. So vergleicht Hegel das Gesetztsein zunächst mit dem Dasein und dem Wesen. Sofern es ans Dasein geknüpft ist, kann es gegen dasselbe als bloßes Produkt subjektiver äußerlicher Reflexion abgewertet werden; es kann aber auch, sofern es ans Wesen geknüpft ist, gegen das Dasein als dessen Wahrheit aufgewertet werden, denn im Gesetztsein kommt das Dasein zu sich selbst, weil das GesetztDie setzende Reflexion kann zur bestimmenden werden „nur vermittels der voraussetzenden, die gar nicht der Sphäre des Wesens allein zugehöriges Moment enthält, das dann beim Übergang zur bestimmenden Reflexion der setzenden Reflexion, die an ihm erst ihre Substanz gewinnt, unterworfen wird. Diese Unterwerfung ist der Schatten, den die reale in die Logik wirft." (Peter Bulthaup, „Das Recht der Logik", in: Hegel-Jahrbuch 1988, 74). 2 Lehre vom Wesen, 255. 3 Lehre vom Wesen, 255. 1

notwendig ein heterogenes,

I. Die Reflexion

63

sein durch die Abhängigkeit vom Wesen das Negative als Negatives ist. Gegen das Wesen hat es dann allerdings niedere Bedeutung, denn es ist als Un-Mittelbares das Negative des Wesens, das Vermittlung ist. Die setzende Reflexion hatte gegen die bestimmende noch den Mangel, das Gesetztsein als Negatives nur in Abhängigkeit von der Reflexion zu haben. Der äußeren Reflexion kommt nun die Aufgabe zu, das Gesetztsein, das als an sich Negatives das der Reflexion gemäß gemachte Dasein ist, von der Reflexion abzustoßen. Indem die äußere Reflexion hier „absolutes Voraussetzen"2 ist, aber nur das voraussetzt, was die setzende Reflexion schon sich gemäß gemacht hat, wird das, was die Reflexion auf diese Weise setzt, zur Reflexionsbestimmung und hat dadurch Bestehen. Es verbirgt sich hier nichts Geringeres als die Begründung von Wesensbegriffen, die traditionell weder induzibel noch deduzibel, sondern selbst Voraussetzung von Induktion wie Deduktion waren. Das Wesen von etwas galt nur als erkennbar, wenn dieses vorausgesetzte Etwas schon als der Vernunft gemäß vorausgesetzt war. Das Aufbrechen dieses Zirkels durch das prinzipielle Zugeständnis, daß jede Erkenntnis von schon Bekanntem ausgehen müsse,3 reicht Hegel nicht. Es vermag die Möglichkeit neuzeitlicher Naturforschung, etwa die Gültigkeit des Kraftbegriffs, nicht zu erklären. Im absoluten Charakter der Reflexion nun soll jenes schon Bekannte begründet sein, das dann als Reflexionsbestimmung aus ihr hervorgeht. Damit sind die Bestimmungen der Reflexion „anderer Art"4 als die des Seins. Die Bestimmtheit des Seins oder die Qualität ist immer an einem Sein, sie ist einfache Negation. Das Seiende, das bestimmt ist, ist nicht selbst diese Bestimmtheit, so ist sie nicht gesetzt, sondern steht in einer Relation zum Bestimmten, die nicht reflexiv ist. Es ist unmöglich, eine notwendige Beziehung zwischen Bestimmtheit und bestimmtem Seienden aufzuzeigen, dieselbe Qualität kann an verschiedenen Seienden sein. Die Qualität ist eine logisch inkonsistente Bestimmung, die darum unbeständig, änderbar, endlich

ist.5

Die Reflexionsbestimmung bestimmt dagegen nicht ein von ihr unterschiedenes Subjekt. Indem die äußere Reflexion ihr Negatives aus sich heraussetzte, erwies sich die Gleichheit beider. Weil die Reflexionsbestimmung so als negative Bestimmung aus der Reflexion, die selbst negativ ist, hervorgegangen ist, ist die Bestimmung von dem, das Bemerkenswert ist die Selbstverständlichkeit, mit der Hegel hier im Haupttext die äußere Reflexials Tätigkeit des erkennenden Subjekts aufnimmt, wovon im Haupttext der äußeren Reflexion selbst nie die Rede war. 2 Lehre vom Wesen, 256. 3 Vgl. Ana. post. 71 a. 4 Lehre vom Wesen, 255. 5 Aristoteles weist nach, daß sich aus Akzidenzen weder das Wesen konstruieren läßt, noch daß Akzidenzen selbst Ordnungskriterium für konsistente Klassen von Gegenständen abgeben können, von ihnen also nicht als von wesentlichen Bestimmungen geredet werden kann. „Es wird nicht aus allen [Akzidentien, M.St.] ein eines [Substantielles, M.St.]" (Met. 1007 b, vgl. auch Met. 1037 b). 1

on

Erstes Kapitel: G.W.F. Hegel

64

sie bestimmt, nicht unterschieden. Als Negation des selbst Negativen ist sie ebenso reflexiv, wie die Reflexion selbst, sie ist nicht einmal in einem Urteil beständig von ihr zu trennen, weil diese Negation gemäß der äußeren Reflexion unmittelbar in ihre Einheit

umschlüge. wesentliche

Bestimmung in sich unendlich, nicht äußerliche, sondern Bestimmung. Hegel faßt das Verhältnis von Qualität und Reflexionsbe-

Damit ist diese

stimmung so zusammen: „Es ist das Bestimmte, das sein Übergehen und sein bloßes Gesetztseyn sich unterworfen, oder seine Reflexion in anderes in Reflexion in sich umgebogen hat."1 Das qualitativ Bestimmte war bestimmt durch die einfache Negation des ,ist nicht'. Jede Bestimmtheit war zurückzuführen auf die unterscheidende Relation zu anderem Seienden, damit war diese Bestimmtheit immer abhängige, nie eigene Bestimmtheit. Das Wesen dagegen ist nicht mehr durch diese Relation bestimmt, weil das Andere, die Unmittelbarkeit des Seins, auf die diese Relationen gerichtet sein könnten, als „wesentlicher Schein" im Wesen selbst aufgehoben, von ihm schließlich selbst gesetzt ist. Damit ist es aber nicht

bestimmungslos, denn die Relationen sind nicht verloSein Gegensatz jedoch, das abstrakt war, und darum der äußeren Bestimist das Wesen in sich konkret. Diese Konkretion gerät außer sich, weil mung bedurfte, sie in der reflexiven Negativität besteht, die sich von sich selbst abstößt. Die Reflexionsbestimmung ist damit zugleich als Resultat der setzenden und der äußeren Reflexion das heißt gefaßt. Als Resultat der setzenden Reflexion ist sie „Negation als aber da sie als nur an sich, reflexiv, gesetzte abhängig vom Setzenden ist. Als Resultat der äußeren ist sie aber die Reflexion, die sich von sich selbst abgestoßen hat und daher selbständig ist. Im Unterschied zur relationalen Bestimmtheit in der Qualität ist durch diese in sich entzweite Einheit die Reflexionsbestimmung sowohl eben Bestimmung, als auch dasjenige, das durch sie bestimmt wird und daher fällt auch die Relation zwischen Bestimmendem und Bestimmtem noch in sie. Dadurch, daß die Negativität des Seins im Wesen zu sich selbst findet und so die Negation sich zugleich identifizierend und unterscheidend auf sich bezieht, ergibt sich eine Bestimmtheit, die nur durch sich bestimmt ist, und trotzdem nicht bei sich bleibt. ren.

Im

zum

Negation"3,

1 2 3

Lehre vom Wesen, 256f. Lehre vom Wesen, 257. Lehre vom Wesen, 257.

65

II. Die Theologie des absoluten Widerspruchs

II. Die Theologie des absoluten Widerspruchs Wie die Reflexion sich nun in dieser ursprünglichen Weise fortbestimmen soll, ist abschließend durch einen knappen Ausblick auf die Reflexionsbestimmungen zu Hegel expliziert aus der Reflexion, die eine Reflexion des Negativen, Negation der Negation oder reflexive Negativität ist, die Identität und den Unterschied als deren Bestimmungen. Da beide Seiten des Unterschiedes aber reflexiv, somit gleich sind, sinkt er in bloße Verschiedenheit zusammen. Nur durch erneute Reanimation der in der bestimmenden Reflexion nun schon zum zweiten Male verendeten äußeren Reflexion kann die Beliebigkeit des Verschiedenen in Gleiches und Ungleiches distinguiert werden, welche dann, an ihnen selbst reflektiert, als Positives und Negatives die Seiten des Gegensatzes ergeben sollen. Der durch die äußere Reflexion herangetragenen Asymmetrie, nach der eines das andere ausschließt, zum Trotz sind beide auch symmetrisch, insofern also Momente, als jedes zuinnerst auf das andere verwiesen ist. Wenn aber so das eine das andere ausschließt, um „selbständige eben Wesenheit zu sein, schließt es doch die Bedingung der eigenen Selbständigkeit, sein Bestimmungsmoment, aus sich aus. Dies nennt Hegel den Widerspruch. Indem der immanente Gegensatz des Positiven wie des Negativen beide dazu bestimmte, selbst der ganze Gegensatz zu sein und dadurch in den Widerspruch überzugehen, identifiziert Hegel die widersprechend Prädizierten mit dem Subjekt des Widerspruchs und mit dem Widerspruch selbst. Damit ist eine Bestimmung, die traditionell nur auf Urteile angewendet werden konnte, absolut gesetzt. Da die Bewegung des Positiven von der des Negativen nicht unterschieden sei, läßt sich nun auch die Einheit beider im absoluten Widerspruch herstellen. In ihm sei die Reflexionsbestimmung voll entfaltet, Identität und Unterschied seien nicht mehr bloß Momente, sondern ihre ausschließende Beziehung mache „die bestimmende Reflexion als ausschließende aus"3. Hiermit erst ist die Reflexion vollständig: „Sie ist aufhebende Beziehung auf sich; sie hebt darin erstens das Negative auf, und zweitens setzt sie sich als Negatives, und dies ist erst dasjenige Negative, das sie aufhebt; im Aufheben des Negativen setzt und hebt sie zugleich es auf."4 Genau dieser Widerspruch, das Resultat zur eigenen Voraussetzung zu haben, ist der Kern des Hegelschen Wesens- und Reflexionsbegriffes. Folgte nun das Resultat nicht mit Notwendigkeit, so gäbe es keine Voraussetzung, und somit auch kein Wesen. Hegels Begriff der Reflexion ist eine säkularisierte analog dem Problem,

zeigen.1

Reflexionsbestimmung"2,

Theologie5,

1 Für eine detaillierte Darstellung der Reflexionsbestimmungen vgl. Michael Städtler, „Widerspruch. Über Geschichte, Systematik und Verfall der Reflexion und ihrer Bestimmungen", in: Mit und gegen Hegel. Von der Gegenstandslosigkeit der absoluten Reflexion zur Begriffslosigkeit der Gegenwart, hg. v. Andreas Knahl, Jan Müller u. Michael Städtler, Lüneburg, 2000, 103-141. 2 Lehre vom Wesen, 279. 3 Lehre vom Wesen, 279. 4 Lehre vom Wesen, 281 5 Das stellt auch Michael Theunissen, Sein und Schein, a.a.O., 332, fest.

Erstes Kapitel: G.W.F. Hegel

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daß der Wille Gottes leer ist, Gott kein Bewußtsein seiner selbst haben kann, bevor er mit der Schöpfung sein Anderes hervorgebracht hat. Um dieses hervorzubringen, müßte er aber schon seiner selbst bewußt sein. Die bloß intellektuale Selbstgewißheit des actus purus ist jeder Tat unfähig, denn die reine Wirklichkeit ist frei von Vermögen und Potentialität, sie vermag gar nichts. So muß der actus purus als absoluter Widerspruch gefaßt werden, der aus der Einheit seiner selbst ausschließt, aber so notwendig sich ausschließt: „Weil das Ausschließen ein Unterscheiden und jedes der Unterschiedenen als Ausschließendes selbst das ganze Ausschließen ist, so schließt jedes in ihm selbst sich aus." So ist das Ausgeschlossene nicht nur das gleiche, wie das Ausschließende, sondern es ist es selbst. Die bestimmende Reflexion, die in den Reflexionsbestimmungen sich selbst vervielfältigt, im Widerspruch als ihr identisches Produkt aus sich hervorgeht, ist eine idealistisch rationalisierte Darstellung des Ausganges der Schöpfung aus der Vorsehung Gottes.2 Durch die Immanenz der logischen Entwicklung wird die Differenz zwischen Vernunftprimat und Willensprimat in Gott insoweit aufgehoben, daß die dem Willentlichen zuzuordnenden Bestimmungen der äußeren Reflexion immer als Äußerungen der Rationalität der Reflexion selbst verstanden werden. Dies ermöglicht die unbegrenzte Garantie der Vernünftigkeit der Welt, das Verhältnis von Prinzip und Prinzipiiertem ist hier ein pantheistisches, die Bestimmungen von Gegenständen haben an diesen kein Maß mehr, sondern fallen mit ihnen zusammen. Kritik wird damit zum Sakrileg, der Wille wird eine Funktion der absoluten Idee.

1 2

Lehre vom Wesen, 279. In der Enzyklopädie (1830) faßt

Hegel die Entwicklung der Momente der Reflexion und die der Reflexionsbestimmungen zusammen. Die aus der Reflexion des Wesens entstehende Reflexion entwickelt sich so in ihren Bestimmungen, die nicht erst als Wesenheiten von ihr hervorgebracht werden. An der inneren Struktur des Begriffs der Reflexion ändert sich dadurch fast nichts, die Darstellung wird aber eingängiger. Zu vermuten ist, daß viele, besonders analytische Interpretationen daher lieber auf die Enzyklopädie zugreifen, weil dort die Reflexion nicht absolut verhandelt wird. Wer ums Absolute sich drückt, gerät z.B. auf irgendein Reflektieren über ein „Vorwissen, das sich aus irgendeinem Grund als problematisch herausgestellt hat [...] über konkrete Inhalte eines Wissens, einer Theorie oder auch von Handlungsschemata, Gebräuchen und Konventionen" und auf die „bedeutsame Einsicht [...] daß Marx das Wesen einer Wesensanalyse nicht begriffen hat", Hegel aber bereits „vor Hypostasierungen der Resultate [...] jeder Spekulation" gewarnt habe (Pirmin Stekeler-Weithofer, Hegels analytische Philosophie. Die Wissenschaft der Logik als kritische Theorie der Bedeutung, Paderborn

1992, 228f).

67

III. Der Wille

III. Der Wille Die Wissenschaft der Logik gibt die allgemeine Struktur der reflexiven Negation vor. Ein Negatives, das Unwesentliche, ist in seiner Negativität, die Unterscheidung bedeutet, an sich schon auf sich selbst bezogen. In der Realisierung dieser Reflexivität entsteht das Wesen als absolute Reflexion, sich auf sich beziehende Negativität. Deren Bewegung, sich negativ auf sich selbst zu beziehen und darin von sich selbst zu unterscheiden, bringt ihre Momente des Setzens und des Sich-Äußerns hervor, die zusammengenommen den Fortgang der Reflexion in ihre weiteren Bestimmungen ausmachen. Diese absolute Produktivität der Negation der Negation bestimmt rückwirkend und fortwirkend die Entwicklung nicht nur der Wissenschaft der Logik, sondern des gesamten Systems der Wissenschaften, wie Hegel es im Grundriß in der Enzyklopädie von der Logik über die Naturphilosophie bis zur Philosophie des Geistes darstellt.1 In der Wissenschaft der Logik vermittelt die Reflexion die Subjektive Logik mit der Objektiven In der Philosophie des Geistes hat die Freiheit des Willens die zentrale vermittelnde Funktion, und sie folgt der Bewegung, die innerhalb der Wissenschaft der Logik allgemein als Reflexion bestimmt wurde. Dabei sind Freiheit und Wille Wechselbegriffe, „das Freie ist der Wille"3. Sie ist Resultat der abstrakten, bloß subjektiven Bestimmungen des Geistes in Anthropologie und Psychologie, in denen der Gegenstand von Bewußtsein und Geist immer als gegeben genommen war.4 Mit der Freiheit des Willens bestimmt der Geist sich selbst als Urheber seiner Gegenstände, diese als sein Eigentum, er setzt seine Vorstellung als Gegenstand und objektiviert so sich selbst in seinen Inhalten. Aus dieser Objektivierung entsteht dann das Recht,5 in dessen System sich der Geist als objektiver weiter entfaltet zur Idee, zum absoluten Geist. Dadurch hält er im Großen den subjektiven und den objektiven Geist ebenso zusammen, wie er im Einzelnen „die Einheit des theoretischen und des praktischen Geistes"6 ist. Damit stellt Hegel heraus, worin die Einheit der Wissenschaften und ihres Systems bestehe: Der Begriff des Willens und damit der Freiheit ist der immanente Zusammenhang von theoretischer -

-

Logik?

1 Zur allgemeinen Bedeutung der Entwicklung von Reflexion und Negation in der Lehre vom Wesen vgl. Christian Iber, Metaphysik absoluter Relationalität, a.a.O., 17 u. 135. Allerdings beklagt Iber mit Dieter Henrich, „Hegels Logik der Reflexion. Neue Fassung", a.a.O., 226f, daß Hegel kein Methodenbewußtsein habe und keine eigene Abhandlung über die Negation der Negation verfaßt habe. Wenn Hegel die Differenz von Form und Inhalt aufheben will, kann eine formelle methodologische Abhandlung von ihm wohl nicht erwartet werden und darin liegt die avancierte Gestalt von ,Methodenbewußtsein'. Vgl. Nicolai Hartmann, „Hegel und das Problem der Realdialektik", a.a.O., 328: „Das schlägt den meisten heutigen Methodologien ins Gesicht." 2 Vgl. Lehre vom Wesen, 243. 3 Rechtsphilosophie § 4 Zus. 4 Vgl. Enzyklopädie §§ 388-467. 5 6

Vgl. Enzyklopädie §§ 468-486. Enzyklopädie § 481.

68

Erstes Kapitel: G.W.F. Hegel

überhaupt.1

Indem die Freiheit des praktischer Philosophie und damit des Systems Willens aber nicht als der Reflexion auch heterogen gefaßt, sondern selbst der Form reflexiver Negation unterworfen wird, stellt tatsächlich diese Negation der Negation sich als Grund der Einheit des Systems heraus. Anders ließe sich mit der Freiheit kein philosophisches System begründen, denn sonst ist ihre Wirklichkeit im Rahmen einer spekulativen Vernunftkritik nicht nachweisbar. Der theoretische Geist ist Erkenntnislehre, die von der Anschauung über die Vorstellung zum Denken voranschreitet, um von der bloßen Gewißheit „zum bestimmten und begriffsgemäßen Wissen"2 zu gelangen, so daß der Begriff, der Inhalt der Vernunft „für sich Vernunft"3 werde. Mit dem Denken, das sich einen ihm adäquaten, nämlich allgemeinen Gegenstand schafft,4 wird die Unmittelbarkeit des Gegenstandes in dem formellen Verhältnis des Bewußtseins zu einem vorgestellten Inhalt aufgehoben: „Die Intelligenz, die als theoretische sich die unmittelbare Bestimmtheit aneignet, ist nach vollendeter Besitznahme nun in ihrem Eigenthume; durch die letzte Negation der Unmittelbarkeit ist an sich gesetzt, daß für sie der Inhalt durch sie bestimmt ist. Das Denken als der freie Begriff, ist nun auch dem Inhalte nach frei. Die Intelligenz sich wissend als das Bestimmende des Inhalts, der ebenso der ihrige, als er als seyend bestimmt ist, ist Wille."5 Der Wille, der den Zusammenhang der Subjektivität und Objektivität von Bestimmungen der Vernunft, die Wirklichkeit des Erkannten bestimmt, ist wesentlich verantwortlich für das der Rechtslehre vorangestellte Motto der Hegelschen Philosophie: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig."6 So wie die äußerliche Beziehung des Subjekts zum Objekt durch reflexive Negation zu ihrer subjektiven Einheit in der besitzergreifenden Intelligenz führt, so soll erneute Negation der Negation die Objektivität als vernünftig bestimmtes Dasein daraus hervorbringen. Die Struktur der Reflexion, indem sie den Willen bestimmt, ist so auch das maßgebliche Motiv, der Grund der Bewegung der Philosophie des Geistes. Der entwickelte neuzeitliche Willensbegriff, wie er bei Kant vorliegt, zeichnet sich gegenüber allen vorhergehenden Stufen besonders durch die Dimension der Allgemeinheit und damit des Spekulativen aus, die durch die Wende von der Bestimmung des Willens durch ein Objekt zur Bestimmung durch das Subjekt, mithin die Möglichkeit der Selbstbestimmung erreicht wird, die als Selbstbestimmung deshalb allgemein ist, weil der Bestimmungsgrund in der Vernunft, im Begriff liegt und nicht in einem partikularen Gegenstand der Erfahrung. Bei Kant ist der Begriff des Willens und der Freiheit ein Desiderat der theoretischen Philosophie. Die Möglichkeit einer Kausalität aus Freiheit hatte in der Kritik der reinen und

1 2 3 4 5 6

Diese These entwickelt: Emil Angehrn, Freiheit und System bei Hegel, Berlin 1977. Enzyklopädie § 445. Enzyklopädie § 445. Vgl. Enzyklopädie § 465. Enzyklopädie § 468. Rechtsphilosophie, XIX.

m. der Wille

69

Vernunft auf die Antinomie von vollständiger Naturkausalität und Kausalität aus Freiheit geführt, die dort nicht zu lösen war.1 Ohne die Annahme vollständiger Naturkausalität wäre die Einheit der Erfahrung jederzeit potentiell außer Kraft gesetzt und keine

wissenschaftliche Erkenntnis sicher; ohne die Annahme einer Kausalität aus Freiheit wäre jede Kausalkette ein unendlicher Regreß. Diese Einsicht ist schon Kritik des Problems, denn der Begriff des regressus fällt nicht selbst in diesen regressus. Der darin wirksamen transzendentalen Freiheit steht nach Kant aber immer die Möglichkeit der Einheit der Erfahrung entgegen. Kant transponiert diesen Widerspruch in den Gegensatz von empirischem und intelligiblem Charakter und stellt fest, daß so die Seiten der dynamischen Antinomien' „alle beide wahr sein können"2, weil die Handlungen der Menschen hinsichtlich deren empirischen Charakteren als Erscheinungen vollständig der Naturkausalität unterlägen, hinsichtlich der intelligiblen Charaktere sich aber vorstellen lasse, daß manche Handlungen nicht hätten geschehen sollen, weil die Menschen dem Denken nach nicht empirisch bedingt sind. So kann derselbe Mensch dieselbe Handlung vernünftig, d.h. außerhalb empirischer Schranken bestimmen und muß sie doch innerhalb derselben ausführen.3 Obwohl Kant die Vernunft so als „die beharrliche Bedingung aller willkürlichen Handlungen"4 bestimmt, bleibt das Problem bestehen, wie das Verhältnis von empirischem und intelligiblem Charakter überhaupt zu denken ist, ohne die dritte Antinomie der reinen Vernunft zu reproduzieren: „Gesetzt nun, man könnte sagen: die Vernunft habe Kausalität in Ansehung der Erscheinung; könnte da wohl die Handlung derselben frei heißen, da sie im empirischen Charakter derselben (der Sinnesart) ganz genau bestimmt und notwendig ist? Dieser ist wiederum im intelligiblen Charakter (der Denkungsart) bestimmt. Die letztere kennen wir aber nicht, sondern bezeichnen sie durch Erscheinungen, welche eigentlich nur die Sinnesart (empirischen Charakter) unmittelbar zu erkennen geben."5 In der Anmerkung erläutert Kant die nicht unerhebliche Konsequenz: „Die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld) bleibt uns daher, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen. Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Charakter bezogen werden. Wieviel aber davon reine Wirkung der Freiheit, wie viel der bloßen Natur und dem unverschuldeten Fehler des Temperaments, oder dessen glücklicher Beschaffenheit (mérito fortunae) zuzuschreiben sei, kann niemand ergründen, und daher auch nicht nach völliger Gerechtigkeit richten."6. Weil das Verhältnis von Freiheit und Kausalität nur in der Vernunft, dem Ver1 Vgl. KrV B 472ff. 2 KrV B 560. 3 Vgl. KrV B. 567. 4 KrV B 581. 5 KrV B 579. 6 KrV B 579 Anm. Nicolai Hartmann, Teleologisches Denken, Berlin 1951, sieht den Konflikt dadurch vermittelt, daß Kausalbeziehungen nur zweckmäßig ausgerichtet werden können, wenn sie nicht von vornherein einem Finalnexus unterworfen sind. Der transzendentale Freiheitsbegriff ist so Bedin-

Erstes Kapitel: G.W.F. Hegel

70

mögen der Freiheit, zu denken ist, kann die Möglichkeit von Freiheit nicht aus Empirie abgeleitet werden, sondern muß als Vernunftidee vorhergehen. So bleibt die Freiheit in transzendentaler Hinsicht

problematisch und bloß regulativ und kann erst im Zusamder praktischen Vernunft sicher bestimmt werden, weil ohne sie das moralische Gesetz nicht bestehen kann, dessen Bestehen die Kritik der praktischen Vernunft nachweist. Es wird so zur ratio cognoscendi der Freiheit. Freiheit selbst wird umgekehrt als ratio essendi des moralischen Gesetzes konstitutiv.1 Der Aporie von Handlungen aus Freiheit unter objektiven Bedingungen der Unfreiheit gegenüber bleibt diese Konstruktion aber unzulänglich, weil die Bestimmung moralischen Sollens durch die Rücksicht auf seine Erfüllbarkeit keine kategorische Forderung bliebe. Der transzendentale Begriff der Freiheit bezeichnet die reflexive Bedingung spontaner Tätigkeit, der negative praktische die Erkenntnis der äußeren Bedingungen und der positive praktische darüber hinaus die Wirklichkeit des vernünftig bestimmten Willens. In der Möglichkeit, sich selbst das Gesetz zu geben, liegt die Universalität und Spekulativität des Kantschen Freiheitsbegriffes, aus ihr ergibt sich die Würde aller Menschen, immer auch Zweck an sich selbst zu sein, eine Einsicht, die der metaphysischen TeleoIn Antike und Mittelalter gelten alle Menschen als Mittel zu von logie ganz fern ihnen nicht zu beeinflussenden Zwecken, innerhalb dieser Ordnung vermögen höchstens einige Privilegierte, ihrer Wesensbestimmung gemäß zu leben. Der Begriff, Zweck an sich zu sein, hat dagegen den der Menschheit in einer Person zur Voraussetzung. Gilt das Subjekt nur als Element der biologischen Art Mensch, hat es seinen Zweck als Mittel in deren Daseinsweise. Wird dagegen die Menschheit in der eigenen Person zur moralischen Bestimmung, so ist in jedem Einzelnen das Allgemeine zu achten: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst."4 Weil das sowohl gegenüber allen Anderen gilt als auch für jeden Einzelnen sich selbst gegenüber, wird es bei einem Versuch, jemanden zum Mittel zu erniedrigen, für den Erniedrigten zum moralischen Gebot, daß die Selbstachtung in Selbstbehauptung umschlage: „Mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck."5 Unter diesen begrifflichen Bedingungen ist es erst möglich, historische Unterschiede im Freiheits- und Menschheitsbegriff zu machen und menhang

liegt.2

gung der Möglichkeit des positiven praktischen. Indem Kausalketten zweckmäßig ausgerichtet werden, enthalten sie sowohl Naturkausalität als auch Kausalität aus Freiheit (122Í). Eine teleologische Ordnung dagegen hebt das moralische Wesen auf (126).

1 2

KpV A 5 Anm.

Gerade das machen moderne Autoren wieder zum Mittelpunkt der Kritik an Kant. Vgl. die Zusammenfassung solcher Kritik bei Wilson John Pessoa Mendonça, „Die Person als Zweck an sich", in:

Kant-Studien, 84. Jg., 167-184. 3 4 5

Vgl. MdS, 236. GzMdS, 429. MdS, 236.

III. Der Wille

71

Begriff geschichtlichen Fortschrittes zu fassen, der vom göttlichen Heilsplan abweicht, wenngleich Kant diesen Begriff nicht faßt, sondern eine Teleologie der bürgerlichen Gesellschaft rückwirkend als ,,Plan[] der Natur"1 in die Weltgeschichte pflanzt. Der metaphysische Gedanke, den Willen vorrangig und überwiegend als das Vermögen der Wahl, der Entscheidung, ein wie immer festgelegtes Ziel so oder anders zu realisieren, führte stets auf das Problem, daß diese Bestimmung der Freiheit die Freiheit zum Falschen, später zum Bösen implizierte. In der Freiheit zum Bösen zerbricht aber das postulierte Verhältnis von Vernunft und Wille, das Bedingung der Zurechenbarkeit von Handlungen ist, denn wie soll die Vernunft, vor allem wider besseres Wissen, sich frei für das Widervernünftige entscheiden? So wäre sie doch ganz unfrei, genötigt durch einen Zweck, der ihr zuwiderläuft, und das absichtliche Verbrechen wäre nicht zurevon

da

aus

einen

chenbar. Kant polemisiert daher gegen jeden Versuch, die Freiheit, selbst der Willkür, als Wahlfreiheit zu erklären: „Denn die Freiheit (so wie sie uns durchs moralische Gesetz allererst kundbar wird) kennen wir nur als negative Eigenschaft in uns, nämlich durch keine sinnliche Bestimmungsgründe zum Handeln genöthigt zu werden." Das heißt, „daß die Freiheit nimmermehr darin gesetzt werden kann, daß das vernünftige Subject auch eine wider seine (gesetzgebende) Vernunft streitende Wahl treffen kann; wenn gleich die Erfahrung oft genug beweist, daß es geschieht (wovon wir doch die Möglichkeit nicht begreifen können)"3. Als Satz der Erfahrung und aufs Sinnenwesen beschränkt sei das Wahlvermögen unbestreitbar, aber theoretisch und als Bestimmung der Freiheit eines Vernunftwesens unmöglich. Die negative Bestimmung der Freiheit der Willkür ist nun näher betrachtet die Negation der Negation, das Vermögen zu wählen ist verwandelt in die bloße „Eigenschaft"4, nicht genötigt zu sein oder nicht nicht wählen zu können. Diese Eigenschaft bezeichnet Kant auch als „Unvermögen"5, also als negatives Vermögen, eines, das zugleich, positiv, keines ist, d.h. ein Vermögen, dessen Realisierung es selbst negiert. Die Freiheit der Willkür hat damit nicht nur eine negative Formulierung, sondern sie ist eine negative Eigenschaft. Durch diesen dialektischen Kunstgriff gelingt es Kant, die bloß problematische und partikulare Bestimmung der Wahlfreiheit (das Vermögen, manches zu wählen), in eine apodiktische und wenngleich negative so doch universale Form zu bringen, die zugleich noch negativ auf die Gegenstände der Erfahrung bezogen ist: die Eigen-

1 Immanuel Kant, „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in Weltbürgerlicher Absicht", in: Kant 's Werke VIII, 15-31, hier 18. Vgl. dens., „Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte", in: Kant's Werke VIII, 107-123. 2 MdS, 226. 3 MdS, 226. 4 MdS, 226. 5 MdS, 227.

72

Erstes Kapitel: G.W.F. Hegel

schaff, durch nichts Sinnliches genötigt zu sein. Diese negative Bestimmung der Freiheit hat die vormalige Beliebigkeit und Undeutlichkeit abgelegt. Auf der Grundlage dessen, daß die Bestimmung der Willkür nicht durch deren mögliche Objekte genötigt ist, ruht der positive Freiheitsbegriff, nach dem die Vernunft selbst nach einem allgemeinen Gesetz sich zum Handeln bestimmt. Ohne den negativen Freiheitsbegriff könnten weder die Zurechenbarkeit noch die positive Freiheit bestimmt werden. Aber ohne den positiven Begriff der Freiheit fiele auch der negative in sich zusammen, denn ein purer Indeterminismus machte die Subjekte zu Spielbällen der Zufalle.1 Erst im positiven Freiheitsbegriff ist mit der Universalität des moralischen Gesetzes, das auch im Rahmen der Legalität der Maßstab der Beurteilung von Handlungen sein soll, ein möglicher Bestimmungsgrund der Freiheit enthalten. In der Moralität ist die Einsicht ins Gesetz auch Triebfeder der Handlungen, in der Legalität kann auch der äußere Zwang, den auszuüben das Recht befugt ist, diese Funktion erfüllen. Kant versucht, die juristische Ordnung der bürgerliche Gesellschaft nach Gesetzen der Freiheit aus dem Begriff der Moralität zu entwickeln, stößt aber auf das Hindernis, daß die juristisch fixierte Moral in den Agenten der Gesellschaft keineswegs zur Triebfeder des Handelns hinreicht. Sie verhalten sich bestenfalls legal, oft noch nicht einmal das. Die Universalität des Gesetzes zerfällt in konkurrierende und konfligierende Partikulare, ohne daß Kant dafür einen Grund anzugeben weiß, außer, daß die Anlage dazu „offenbar in der menschlichen Natur" liege. Das Zustandekommen von Rechtskollisionen bestimmt Kant dadurch, daß „ein gewisser Gebrauch der Freiheit selbst ein Hinderniß der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen (d. i. umecht) ist"3. Wenn Kant hier von einem Gebrauch der Freiheit redet, der zu deren Hindernis werde, ist zweifellos die negative Freiheit der Willkür gemeint, denn der Gebrauch der Freiheit im positiven Sinne wäre ja gerade durch die Übereinstimmung mit der Freiheit aller anderen bestimmt. Er meint also den Gebrauch jener Eigenschaft, die als Unvermögen gar nicht zur positiven Bestimmung eines Willküraktes sollte dienen können. Offenbar schlägt die negative Eigenschaft der Willkür, nicht genötigt zu sein, an eben dem Punkt, wo sie positiv zum Wahlvermögen würde, in Unfreiheit um, so daß eine freie Wahl in sich widersprechend wäre. Solche Vorstellung von Freiheit wäre dann, weil sie immer nur partikular ist, gesellschaftlich der universalen Freiheit nach allgemeinen Gesetzen prinzipiell entgegengesetzt. Damit zeichnet sich die Konsequenz ab, daß in der bürgerlichen Gesellschaft Rechtskollisionen notwendig sind, ganz wie Hegel es im abstrakten Recht entwickelt.4 Damit wäre aber die bürgerliche Gesellschaft nicht einmal der Möglichkeit nach der Boden der Moralität, die dann auch über das 1. Postulat der praktischen Vernunft5, die durch die Annahme der Unsterblich1 2 3 4 5

Vgl. Nicolai Hartmann, Teleologisches Denken, a.a.O., 121. Immanuel Kant, „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht", a.a.O., 20. MdS, 231.

Vgl. Rechtsphilosophie §§ 81ff. Vgl. KpVA219ff.

73

III. Der Wille

keit der Seele ermöglichte unendliche Annäherung nicht realisierbar wäre, weil in der zweiten Natur das 2. Postulat1, die Möglichkeit der Übereinstimmung von Subjektivität und Objektivität durch die Annahme der Existenz Gottes nicht zur Wirkung gekommen wäre. Die Postulate der praktischen Vernunft sind so auch theoretischer Ausdruck eines politischen Problems, nicht nur eines anthropologischen oder ontologischen. Kant versucht, dieser Konsequenz durch die mehrdeutige Formulierung des .gewissen' Gebrauchs zu entgehen. Sie bedeutet sowohl einen quantitativ bestimmten, partikularen Gebrauch als auch einen qualitativ bestimmten, näher unmoralischen Gebrauch. Beide Bedeutungen allein muß Kant meiden, denn jene führt auf die Notwendigkeit der Rechtskollision, die das Recht als Schein entlarvt, diese aber spräche der Freiheit das Vermögen zu, böse zu sein.2 Mit dem Versuch, den Begriff der Rechtskollision, des Verstoßes, zu bestimmen, scheitert die Absicht, das bürgerliche Recht aus der Moralität zu entwickeln. Der Versuch, die Legalität dennoch mit der Moralität zu vereinen, ist das Recht zu zwingen, das sowohl der reinste Ausdruck äußerlicher Legalität ist, aber zugleich die Bestimmung der Moralität mit sich führen soll: Das strikte Recht „gründet sich nun zwar auf dem Bewußtsein der Verbindlichkeit eines jeden nach dem Gesetze; aber die Willkür darnach zu bestimmen, darf und kann es, wenn es rein sein soll, sich auf dieses Bewußtsein als Triebfeder nicht berufen, sondern fußt sich deshalb auf dem Princip der Möglichkeit eines äußeren Zwanges, der mit der Freiheit von jedermann nach allgemeinen Gesetzen zusammen bestehen kann"3. Die zwingende Verbindlichkeit des bürgerlichen Rechtssystems kann auch ausschließlich auf die Herrschaft des Gesetzgebers gegründet sein: „Es kann also eine äußere Gesetzgebung gedacht werden, die lauter positive Gesetze enthielte [das sind solche, die aus Vernunftgründen allein nicht verbindlich sind; M.St.]; alsdann aber müßte doch ein natürliches Gesetz [dessen Verbindlichkeit a priori erkennbar ist; M.St.] vorausgehen, welches die Autorität des Gesetzgebers (d. i. die Befugniß, durch seine bloße Willkür andere zu verbinden) begründete."4 Die Durchsetzung der allgemeinen Dimension der Willensbestimmung scheitert schließlich an den ökonomischen Verhältnissen, die eine reale Allgemeinheit verhindern. In „dem vereinigten Willen des Volkes"5 bleiben, ganz antik, nur die ökonomisch unabhängigen Willenssubjekte übrig.6 Zwar existiert der allgemeine Begriff der Menschheit, der Bedingung der Möglichkeit von Moralität ist, aber dieser Begriff ist in 1 2

Vgl. KpV A 223fr. Das Problem der Zurechenbarkeit

von

unmoralischen

Handlungen hat besonders in letzter Zeit die

analytische Kantforschung aufgegriffen. Vgl. Hud Hudson, "Wille, Willkür and the Insurability of Immoral Actions", in: Kant-Studien, 82. Jg., 179-196. Die Lösung liegt allerdings nicht in einer

sprachanalytischen Umdeutung der Freiheitsbegriffe, sondern im Übergang zur Rechtslehre.

3 4 5 6

MdS, 232. MdS, 224. MdS § 46.

Vgl. MdS § 46.

74

Erstes Kapitel: G.W.F. Hegel

sich noch antinomisch und abstrakt. Unter solchen Umständen ist Moralität nur als Legalität darstellbar und deren Garantie ist der Zwang, der dem Antagonismus eine befriedete Verlaufsform gibt: „Man kann sagen, daß diese allgemeine und fortdauernde Friedensstiftung nicht bloß einen Theil, sondern den ganzen Endzweck der Rechtslehre innerhalb den Grenzen der bloßen Vernunft ausmache; denn der Friedenszustand ist allein der unter Gesetzen gesicherte Zustand des Mein und Dein [...]" Die bürgerliche Gesellschaft gilt Kant deshalb als höchste Stufe der Freiheit, weil es ihr gelingt, den Besitz als Voraussetzung des Gebrauches und damit der gesicherten Existenz zu garantieren.2 Die dazu dienende Bestimmung des intelligiblen Besitzes ist die allseitig negative Beziehung von Personen, die alle wechselseitig vom Gebrauch des Eigentums anderer ausschließt.3 Die Übereinstimmung der Freiheit aller nach einem allgemeinen Gesetz hat damit auch die Seite der universellen wechselseitigen Isolation. Dies ist Resultat des neuzeitlichen Prozesses, in dem das Privatrecht zum wesentlichen Bestimmungsmoment der gesellschaftlichen Identität wird, eine Funktion, die bis dahin das Strafrecht in seinen weltlichen wie kirchlichen Ausprägungen erfüllt hatte. Das hat eine historische Bedingung in der Ausweitung der Märkte, später, im Zuge der Industrialisierung, besonders in dem Bereich des Arbeitsmarktes, die eine zunehmende Verflechtung aller mit allen über Verträge erfordert.4 Hatte die antike Gesetzgebung vor allem die innere politische Ruhe zum Gegenstand des Rechtes, die des hohen Mittelalters die Sicherung des Besitzes und seines Transfers im Handel, so geht es der Legislation der bürgerlichen Gesellschaft um die systematische Ordnung sämtlicher gesellschaftlicher Beziehungen, deren ökonomische Grundlage eben Gegenstand des Privatrechts ist. Dessen theoretische Begründung setzt allerdings einen entwickelten Freiheitsbegriff voraus, weil ihm notwendig die Vorstellung freier wechselseitiger Anerkennung zugrunde liegt. Ohne diese wäre die Erfüllung von Vertragspflichten rein zufällig. Daß im bürgerlichen Staat die Anerkennung zwar prinzipiell vorausgesetzt aber nicht durchgängig verwirklicht ist, zeigt sich darin, daß das Privatrecht nicht nur bestimmt, wie Verträge zu erfüllen sind, sondern auch, wie eine Kompensation unterlassener Erfüllung gegebenenfalls zu erzwingen ist. In der Nähe des Privatrechts zum Strafrecht, in der Befugnis zu zwingen, zeigt sich, daß Eigentum und die Verfügung darüber nicht Gegenstand von Moral sein können. Umgekehrt setzt der entwickelte Freiheitsbegriff auch geschichtliche Veränderungen voraus. Selbst der Versuch, die gesellschaftliche Einheit nicht mehr bloß negativ über Strafen zu bestimmen, sondern scheinbar positiv über Vertragsregeln, setzt sich Aporien aus:5 So ist das Verhältnis der Personen eben doch nur negativ bestimmt, die Annahme einer ursprünglichen Aneignung und die Bestim.

-

-

1 MdS, 355. 2 Vgl. MdS§§8ff. und 44. 3 Vgl. MdS § 17. 4 Vgl. Günther Mensching, Das Allgemeine und das Besondere. Der Ursprung des modernen Denkens im Mittelalter, Stuttgart 1992, 272. 5 Vgl. Hans Georg Deggau, Die Aporien der Rechtslehre Kants, Stuttgart 1983.

III. Der Wille mung des

75

Übergangs vom provisorischen zum peremtorischen Besitz konfrontieren die

Vorstellung vom Rechtszustand mit seiner unmittelbar gewaltsamen Voraussetzung. All das hat aber noch keinen Rechtstheoretiker dazu bewogen, das Eigentum als Grundlage vernünftiger gesellschaftlicher Ordnung in Frage zu stellen. Auch bei Hegel ist der Wille die zentrale Vorbestimmung der Rechtsphilosophie. Anders als bei Kant ergibt er sich aber nicht als Desiderat, sondern ist dem Anspruch nach als Bestandteil des Systems der Philosophie zu verstehen. Hegel besteht deshalb darauf, daß die Rechtsphilosophie nach den Regeln der spekulativen Logik verfahre, deren Bekanntschaft hier allenthalben vorausgesetzt sei.2 Neben gelegentlich zitierten Urteils- und Schlußformen bedeutet dies vor allem, daß die Entwicklung der Rechtsphilosophie und mit ihr die des Willens nach dem Bewegungsprinzip der reflexiven Negation verfahre. Überhaupt sei die Rechtsphilosophie nur zu Umecht methodisch von der Naturphilosophie unterschieden, beide erfaßten das Wirkliche, nicht mehr und nicht weniger, und das heiße das Vernünftige. Die Wirklichkeit könne nicht Gegenstand von Kritik sein, weil das eine Utopie und damit eine Rede über nichts zur Voraussetzung habe.3 Allerdings erscheine das Vernünftige in vielfältigen Gestalten, die auf ihren Vernunftkern hin zu untersuchen seien, die Vernunft sei „die Rose im Kreuze der Gegenwart"4. Hegel erläutert die Metapher in einer Randbemerkung: „mehr Vernunft darin, als man meint, davon ist schon gesprochen; Gegenwart erscheint der Reflexion, besonders dem Eigendünkel als ein Kreuz, allerdings mit Notwendigkeit die Rose, d. i. die Vernunft in diesem Kreuz lehrt die Philosophie erkennen" ; aber der Ausdruck ist verräterisch: Im Kreuz, dem Elend der gegenwärtigen Wirklichkeit ist bereits der Keim zukünftiger Blüte angelegt, aber diese Blüte wird nicht ohne Dornen zu haben sein. Die leicht diabolische ,Freude', die solche Erkenntnis und „Versöhnung mit der Wirklichkeit"6 gewähren soll, wird denen erspart bleiben, die an den im Wachstum aufstrebenden Dornen der Rose aufgespießt werden. Allerdings gesteht die Metapher das Elend in den um den Vernunftkern gewobenen Gestaltungen zu: „Was zwischen der Vernunft als selbstbewußtem Geiste und der Vernunft als vorhandener Wirklichkeit liegt, was jene Vernunft von dieser scheidet und in ihr nicht die Befriedigung finden läßt, ist die Fessel irgendeines Abstraktums, das nicht zum Begriffe befreit ist."7 Hinter dem Problem einer rein antizipierenden Philosophie, die eine Rede über nichts wäre, scheint doch durch, daß Erkenntnisse über die substantielle Freiheit der Menschen denen über die politische -

1 Die Darstellungen der Enzyklopädie und der Rechtsphilosophie verweisen explizit aufeinander (vgl. Rechtsphilosophie § 4 und Enzyklopädie § 487). Die Interpretation hier folgt hauptsächlich der ausführlicheren Version in der Rechtsphilosophie. 2 Vgl. Rechtsphilosophie, IV, §§ 2 u. 31. 3 Vgl. Rechtsphilosophie, Vorrede, bes. IX-XIX. 4 Rechtsphilosophie, XXII. 5 Rechtsphilosophie § 3 Randbemerkung. 6 Rechtsphilosophie, XXII. 7 Rechtsphilosophie, XXII.

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Erstes Kapitel: G.W.F. Hegel

Wirklichkeit dieser Freiheit widersprechen können. Was mit Kant Maßstab der Kritik werden kann, gibt nach Hegel aber Anlaß zur Versöhnung mit dem Elend, hinter dem die Wahrheit verborgen liegt. Im Rechtssystem hat der Geist sich „eine zweite Natur"1 geschaffen, das Recht ist seine Entäußerung in die Objektivität, der der freie Wille als Ausgangspunkt vorausgesetzt ist. Der Wille soll als ein Resultat des Geistes die Objektivität der Vernunft im Recht garantieren. Hegel kritisiert daher die metaphysischen Versuche, die Freiheit des Willens aus dem Gegebensein von Empfindungen wie Reue oder Schuld zu begründen. Das mag sich implizit noch gegen Kant richten, der das Bewußtsein des moralischen Gesetzes als ratio cognoscendi der Bestimmung der Freiheit vorausgehen läßt.2 Hegel führt den Willen ein als die Einheit zweier Momente. Deren erstes ist die Abstraktion des Denkens von allen äußeren Bestimmungen, die reine „Reflexion des Ich in sich, [...] das reine Denken seiner selbst"3. Der Wille geht als Reflexionsform aus dem Denken hervor, indem es sich auf sich selbst beschränkt und so unabhängig, frei ist gegen alles, was es nicht selbst ist. Diese Freiheit bleibt aber partikular, auf sich beschränkt. Das zweite Moment ergibt sich direkt aus der Negativität des ersten: Als UnBestimmtheit ist der Wille durch Unterscheidung auf das bezogen, was er nicht ist, er geht daher aus der absoluten Reflexivität über in das „Setzen eines Inhalts und Gegenstandes"4, das, weil er an sich selbst dieser Gegenstand ist, „Setzen seiner selbst als eines bestimmten"5 ist. „Der Wille ist die Einheit dieser beiden Momente; die in sich reflektierte und dadurch zur Allgemeinheit zurückgeführte Besonderheit, Einzelnheit"6. Die abstrakte Allgemeinheit der reinen Selbstbestimmtheit wird vermittelt an der Besonderheit der Unterscheidung von einem irgendwie bestimmten Inhalt; weil der Wille sich als Urheber des Inhalts, diesen als seinen Inhalt weiß, ist er vermittels der Besonderung wieder in die Allgemeinheit der Selbstbestimmtheit reflektiert, die aber nun nicht mehr leer ist. Durch diese Negation seines Negativen wird das Denken zum Willen. Hegel faßt die Intelligenz, das Denken und den Willen strukturgleich und letztlich als zwei nur formell unterschiedene Äußerungen desselben: „Der Unterschied zwischen Denken und Willen ist nur der zwischen dem theoretischen und praktischen Verhalten, aber es sind nicht etwa zwei Vermögen, sondern der Wille ist eine besondere Weise des Denkens: das Denken als sich übersetzend ins Dasein"7. Damit ist die transzendentale Freiheit, eine Reihe von Erscheinungen beginnen zu können, nicht mehr unterschieden von der moralischen, den Willen durch Vernunft zu bestimmen. Das Sollen, -

-

1 2 3 4 5 6 7

Rechtsphilosophie § 4. Vgl. KpV A 5, Anm. Rechtsphilosophie § 5. Rechtsphilosophie § 6. Rechtsphilosophie § 6. Rechtsphilosophie § 7. Rechtsphilosophie § 4 Zus.

III. Der Wille

77

das Kant aus dieser Differenz zieht, hat bei Hegel keinen Ort, im Gegenteil sei zu zeigen, daß die Reflexion der Vernunft und die des Willens identisch sind. Allerdings ist die nähere Bestimmung des Inhalts des Willens ganz beliebig, und die Willensbestimmung ist nur Möglichkeit, ohne eine notwendige Bindung. Der Wille ist nur bestimmt, insofern er sich als Bestimmtheit seiner selbst setzt. Er weiß sein Objekt als seines und als von ihm unterschieden, er weiß sich als nur durch sich bestimmt und damit auf Objekte verwiesen und aus dieser Reflexivität heraus bestimmt er frei seinen Inhalt. Die zunächst bloß negative Freiheit der Abstraktion wendet sich explizit zur Möglichkeit der Willensbestimmung. Die Freiheit wird auf dem Boden des Wahlvermögens entwickelt. Der soweit bestimmte Wille ist aber bloß formal1, weil die Seite der Objektivität der Subjektivität des Willens äußerlich, letztlich vorgefunden ist und der realisierte Wille ein vom Willen selbst unabhängig bestehendes Objekt ist. Der Wille verhält sich so als Form zu den Objekten, die, insofern sie seine sind, Inhalt dieser Form werden.2 Als äußere Bestimmung bleibt dieser Inhalt unmittelbar, der Wille ist nur „an sich frei"3, die Freiheit bleibt eine ihm eigene Möglichkeit. Diese Unterscheidung von Form und Inhalt ist keine bloß nominelle, sondern charakterisiert die generelle Trennung von Subjektivität und Objektivität, deren Aufhebung das Ziel der Philosophie Hegels ist. Formal ist der Wille in jedem Objekt sein eigener Gegenstand, insofern er es als seines weiß. Aber diese Identität bleibt bei allen Objekten formal, nur bei einem nicht: „Erst indem der Wille sich selbst zum Gegenstande hat, ist er für sich, was er an sich ist."4 Die Freiheit des Willens, sich selbst Zwecke zu setzen, wird unterschieden nach beliebigen äußeren Zwecken, in denen diese Freiheit immer endlich bleibt und nach dem Selbstzweck, worin der Wille seine eigene Freiheit zum Zweck hat und deshalb unendlich ist. Nach dieser formalen Einführung der Bestimmungen des Willens geht Hegel über zu auch phänomenologischen Bestimmungen. Durch die Einführung der Differenz von Form und Inhalt als Grundbeschaffenheit des an sich freien Willens eröffnet Hegel sich die weitere Möglichkeit, die Phänomenologie der Freiheit einige Stufen weiter unten zu beginnen als Kant und so die Freiheit nicht als ein Faktum der Vernunft hinnehmen zu müssen, sondern sie aus der psychischen Natur der Menschen abzuleiten. Der im an sich freien Willen unmittelbar zuerst vorhandene Inhalt sind „Triebe, Begierden, Neigungen"5, das „praktische Gefühl [...] des Angenehmen oder Unangenehmen"6. Allerdings erscheinen diese Natureigenschaften nur als unmittelbar, in Wahrheit sind sie „Bestimmungen des Unterschieds, welchen der sich selbst bestimmende Begriff im

1 2 3 4 5 6

Vgl. Rechtsphilosophie § 8. Vgl. Rechtsphilosophie § 9. Rechtsphilosophie § 10. Rechtsphilosophie § 10. Rechtsphilosophie §11. Enzyklopädie § 472.

Erstes Kapitel: G.W.F. Hegel

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setzt"1.

So sind sie Resultate der begrifflichen Entfaltung von der absoluten Reflexivität zum formellen Willen und sind damit auch Bestimmungen der vernünftigen Genese des Willens, weshalb sie an sich ebenfalls vernünftig sind; dies bleibt aber noch zu setzen.2 Offener als in Kants negativem Freiheitsbegriff, der der Intention nach die Triebe, Begierden und Neigungen noch nicht einmal beinhalten soll, sie gleichwohl durch den negativen Bezug auf sie zur Voraussetzungen alles Weiteren macht, werden sie bei Hegel zur direkten Grundlage der Willensfreiheit. Das ist nur dadurch möglich, daß der Wille zuvor als Abstraktion vom Inhalt, auch vom Vernünftigen verstanden wird. Sonst bedeutete die Formulierung ,an sich vernünftig', daß das Unmittelbare nicht selbst vernünftig ist, aber für das Subjekt unter diese Form gebracht werden kann. Hegel will aber mehr: Die Freiheit soll aus der Reflexion der anthropologischen Bestimmungen hervorgehen. Der Wille ist hier von der tierischen Willkür ganz abgelöst, hat mit ihr gar nichts gemein; die menschlichen Triebe sind durch diese Abgrenzung an sich rational. Der Trieb ist so kein Gegenpol zur Vernunft, sondern deren abstrakte Grundlage. Der graduelle Unterschied zwischen menschlicher und tierischer Entscheidung, über den die Metaphysik nicht hinauskam, weil sie die Stellung der Vernunft zum Willen nicht bestimmen konnte,3 wird hier zu einem der Stufe auf der Reflexionsleiter.4 Wäre das anders, könnte der Wille bei Hegel gar keine eigenen Inhalte haben, weil diese ihm nicht kompatibel wären. Das Problem des Übergangs von der negativen zur positiven Freiheit, das Hindernis das bei Kant in dem ,gewissen' Gebrauch der Freiheit lag, erspart Hegel sich auf diese Weise. Der Inhalt des natürlichen oder unmittelbaren oder an sich freien Willens ist so die unbestimmte Vielheit von Trieben, Neigungen und so weiter, die alle nebeneinander stehen, einander entgegentreten können und die insgesamt eine abstrakte Allgemeinheit ergeben. Indem der Wille sich in ein bewußtes Verhältnis zu den möglichen Inhalten setzt, bestimmt er einen davon als seinen Inhalt. Durch diesen Entschluß „ist er wirklicher Wille" Der Entschluß bleibt zunächst formell, der Wille setzt sich durch Wahl eines Inhalts als bestimmten, einzelnen und so von anderen unterschiedenen Willen. Der Inhalt aber ist nicht sein Resultat, sondern war ihm unter anderen Indem das Denken, dessen Gegenstand Begriffe, also Allgemeines sind, als Wille sich diese Gegenstände zu Inhalten setzt, die er als seine weiß, partikularisiert er diese Gegenstände. Daher wird das Denken im Willen selbst endlich. Dieser endliche, formelle Wille unterscheidet sich von seinem Gegenstand, an den er zugleich als Naturbestimmung geWillen

.

gegeben.6

1

Rechtsphilosophie §

2 3 4

Vgl. Enzyklopädie § 471.

11.

Vgl. dazu die Abschnitte über Thomas von Aquin und Aristoteles. Vgl. Rechtsphilosophie § 4 Zus. Im Zusatz zu § 11 der Rechtsphilosophie

bestimmt Hegel die Triebe im Unterschied zu den tierischen zwar als Naturbestimmtheit, die aber immer schon vermittelt ist. 5 Rechtsphilosophie § 12. 6 Vgl. Rechtsphilosophie § 13.

III. DER WILLE

79

bunden ist; er ist nur soweit über den Inhalt erhaben, als er zwar einen haben muß, aber einen unter vielen wählen kann.1 „Die Freiheit des Willens ist nach dieser Bestimmung Willkür"2. Diese Freiheit beruht auf der Zufälligkeit der Inhalte und betrifft den Menschen als Vernunftwesen nur an sich, und zwar aufgrund einer doppelten Betonung seines Daseins als Sinnenwesen. Als Sinnenv/esen steht er in natürlicher Abhängigkeit von anderem, als Sinnenwesen aber steht er diesem anderen als, wenn auch abstrakte, Reflexivität gegenüber, verliert sich nicht an die Endlichkeit. Diese Reflexion, die sich hier als einfaches Wahlvermögen darstellt, soll zur für sich seienden Freiheit entfaltet werden. Den in der zeitlichen Nachfolge Kants skandalösen Verdacht, Hegel versuche erneut, die Freiheit als positive Willkürfreiheit zu bestimmen, weist dieser selbst vehement zurück. Aufgrund der Trennung von Subjekt und Objekt, der Endlichkeit des Selbstzwecks im formellen Willen sei dieser in der Willkür nur als Widerspruch vor-

handen.3

Weil der Wille nicht

sondern es auch nach Belieben wieder wählen, und so weiter, hat er die Form der aufgeben kann, schlechten Unendlichkeit. Jedes neu Gewählte bleibt doch immer ein Endliches, vom Subjekt unterschiedenes Objekt. Die verschiedenen möglichen Inhalte können nun zueinander in Gegensatz geraten und einander behindern; weil die Triebe als natürliche Inhalte des Willens nicht reflexiv, sondern einfach auf irgendwelche Zwecke gerichtet sind, ist in ihnen selbst kein Maßstab für die Entscheidung zu finden. Alle Entscheidungen der Willkür sind daher zufällig. Diese ,JJialektik der Triebe"5 ist gegen eine moralische Beurteilung gleichgültig, der Mensch gilt sowohl als von Natur aus böse wie als von Natur aus gut. Gut ist er, sofern die unmittelbare natürliche Willensbestimmung immanent zweckmäßig ist, böse, insofern sie als Naturbestimmungen „der Freiheit und dem Begriffe des Geistes überhaupt entgegen [...] sind"6. In gereinigter, das heißt von der bloßen Natürlichkeit befreiter, reflektierter Form werden die Triebe „das vernünftige System der Willensbestimmung, [...] der Inhalt der Wissenschaft des Rechts"7. Dieser Übergang aus der Anthropologie in die Rechtsphilosophie ist hier zwar noch konjunktivisch als Forderung gefaßt; aber selbst so gelingt er Hegel nicht, ohne die ganz unbestimmte „Forderung der Reinigung der Triebe"* offenbar aus dem Alltagsverstand zu zitieren, und zwar nicht, wie sonst üblich in einer Anmerkung, sondern gleich am des des Anfang Haupttextes Paragraphen. Hier hat Hegel das moralische Sollen verum

nur

Beliebiges wählen,

etwas anderes

zu

1 Vgl. Rechtsphilosophie § 14. 2 Rechtsphilosophie § 15. 3 Vgl. Rechtsphilosophie § 15 Anm. 4 Vgl. Rechtsphilosophie § 16. 5 Rechtsphilosophie § 17. 6 Rechtsphilosophie § 18. Hegel konfrontiert hier anachronistisch den antiken Begriff des Guten mit dem mittelalterlichen des Bösen, der allerdings den Vorrang habe. Vgl. Rechtsphilosophie § 18 Zus. 7 Rechtsphilosophie § 19. 8 Rechtsphilosophie § 19.

Erstes Kapitel: G.W.F. Hegel

80

steckt, das den Übergang der ersten zur zweiten Natur ausmacht, aber in seiner praktischen Philosophie nicht vorkommen soll, weil sie das zu deduzieren beansprucht, was erschließt.

Hegel kritisiert daher ausdrücklich Kants Rede vom Faktum der weil die Vernunft, gesamte Sittlichkeit so auf einem bloß Vorgefundenen beruhe. In der Tat muß Kant für den Übergang vom Dasein der Menschen als Sinnenwesen zum Rechtssystem das gegebene Bewußtsein der Freiheit zitieren, weil er nicht aus der Triebnatur der Menschen, überhaupt irgendetwas zu erstreben, die vernünftige Bestimmung des Strebens ableitet. Analog wird an anderer Stelle die absolute Bestimmung des freien Willens, daß er den freien Willen will, als „Trieb des freien Willens"1 bezeichnet, der wieder konjunktivisch daraufgehe, „daß dies unmittelbare Wirklichkeit sei"2. Die Reinigung der Triebe, das heißt, die Entscheidung für das ,Richtige' nach Vergleich aller untereinander und mit dem Ziel der gleich wie bestimmten Glückseligkeit erfolgt noch immer äußerlich, der Maßstab für den Vergleich mag nur angelernt sein.3 „Die Wahrheit aber dieser formellen, für sich unbestimmten und ihre Bestimmtheit an jenem Stoffe vorfindenden Allgemeinheit ist die sich selbst bestimmende Allgemeinheit, der Wille, die Freiheit."* Der Wille ist selbst Urheber der Allgemeinheit, indem er sie zu seinem Inhalt und Zweck macht. Die Reflexivität des Willens war als sinnliche auch endlich, in ihr waren Subjekt und Objekt getrennt als reflexives Subjekt und sinnlich vorgefundenes Objekt. Hat nun der Wille als reflexives Subjekt sich selbst als solches, in seiner Allgemeinheit zum Gegenstand, so ist er der an und für sich freie Wille, denn dadurch werden die Unmittelbarkeit und die Partikularität sowohl auf der Objektseite aufgehoben als auch auf der Subjektseite, soweit diese durch jene bestimmt ist. Dies gelingt, indem im Willen das Denken sich durchsetzt und so als Prinzip des Rechts, der Moralität und der Sittlichkeit sich geltend macht.5 Der Wille wird „wahrhaft unendlich, weil sein Gegenstand er selbst"6 ist. Der Wille, der durch diese Reflexion entstanden ist, ist „schlechthin bei sich, weil er sich auf nichts als auf sich selbst bezieht, so wie damit alles Verhältnis der Abhängigkeit von etwas anderem Mit diesem an und für sich freien Willen beginnt die Rechtslehre. Er ist ganz leer. In der Enzyklopädie, wo der Wille nicht nur Vorbestimmung der Rechtsphilosophie, sondern mit dieser gemeinsam eine Stufe in der Entwicklung zum absoluten Geist ist, Kant

-

nur

-

hinwegfällt"7.

1 Rechtsphilosophie § 27. Zur Ideologischen Interpretation des Triebes vgl. Enzyklopädie § 204 Anm. 2 Rechtsphilosophie § 27. Vgl. Enzyklopädie § 473: „Daß der Wille, d. i. die an sich seyende Einheit der Allgemeinheit und der Bestimmtheit, sich befriedige d. i. für sich sey, soll die Angemessenheit seiner innern Bestimmung und des Daseyns durch ihn gesetzt seyn." 3 Vgl. Rechtsphilosophie § 20. Vgl. Enzyklopädie §§ 469f. 4 Rechtsphilosophie § 21. 5 Vgl. Rechtsphilosophie § 21 Anm. 6 Rechtsphilosophie § 22. 7 Rechtsphilosophie § 23.

81

III. Der Wille

und für sich freie Wille als freier und objektiver Geist noch weitere Befreier Geist, der aus der Vernunft herkommt, ist der Wille die TätigAls stimmungen. keit, die Idee „zu entwickeln und ihren sich entfaltenden Inhalt als Daseyn, welches als Daseyn der Idee Wirklichkeit ist, zu setzen, objectiver Geist"1, denn der Wille ist noch eine Gestalt der Äußerlichkeit der Vernunft, eine Erscheinungsform der Idee, die ihre Darstellung in der Weltgeschichte hat.2 Als objektiver Geist ist der freie Wille auf sich selbst als freien Willen als Zweck bezogen, in dieser Reflexion aber verwiesen auf Diese Angewiesenheit ist erstens durch „eine äußerliche vorgefundene natürliche Bedingungen bestimmt. So sind seine Objekte Naturdinge. Zweitens sind es die Beziehungen zu anderen Willen. Diese beiden Schranken hat der Wille noch aus seiner Herkunft aus der Objektivität des Denkens mitgeschleppt und soll sie nun in seiner Reflexion aufheben: „Die Zweckthätigkeit aber dieses Willens ist, seinen Begriff, die Freiheit, in der äußerlich objectiven Seite zu realisiren, daß sie als eine durch jenen bestimmte Welt sey, so daß er in ihr bei sich selbst, mit sich selbst zusammengeschlossen, der Begriff hiemit zur Idee vollendet sey." Auch hier, am enzyklopädischen Übergang in die Rechtsphilosophie, versteckt Hegel das moralische Sollen hinter einem Konjunktiv des Wunsches oder der Aufforderung. Aus der Selbstbestimmung des Willens, gewissermaßen der Moralität, folgt gemäß Hegel das System der Legalität: „Die Freiheit, zur Wirklichkeit einer Welt gestaltet, erhält die Form von Nothwendigkeit, deren substantieller Zusammenhang das System der Freiheits-Bestimmungen, und der erscheinende Zusammenhang als die Macht, das Anerkanntseyn, d. i. ihr Gelten im Bewußtseyn ist."5 Der einzelne Wille ist darin das Element der Betätigung des vernünftigen Willens, ihre Einheit ist die „Wirklichkeit der Freiheit"6, die in ihrer allgemeinen Form Gesetz und Sitte ist. „Diese Realität überhaupt als Daseyn des freien Willens ist das Recht"7. Aus der Doppelung der Willensobjekte in Naturdinge und Relationen zu anderen Willen folgt dann, sobald der Wille sich der Welt bemächtigt, zwangsläufig das Privatrecht als ,System der Freiheitsbestimmungen', das über die wechselseitige Anerkennung garantiert sein soll, die hier ganz unverhohlen ,Macht'8 genannt wird und schließlich in den Rechtszustand mündet, allerdings ohne daß Hegel einen Grund dafür angibt, warum eigentlich die vernünftige Bestimmung des Willens den einzelnen Willen bestimmen soll. erfahrt der

an

Objectivität"3.

1 2 3 4 5 6 7 8

Enzyklopädie § 482. Vgl. Enzyklopädie § 482 Anm. Enzyklopädie § 483.

Enzyklopädie § 484. Enzyklopädie § 484. Enzyklopädie § 485. Enzyklopädie § 486. ,Macht' heißt hier keineswegs bloß „Vermögen", wie Pirmin Stekeler-Weithofer meint. Vgl. „Kultur und Autonomie. Hegels Fortentwicklung der Ethik Kants und ihre Aktualität", in: Kant-Studien, 84. Jg., 196.

82

Erstes Kapitel: G.W.F. Hegel

Der Form wechselseitiger Anerkennung, die auch das geordnete Verhältnis einzelner Willen bestimmt, liegt immerhin ein Kampf der Selbstbewußtsein auf Leben und Tod der mit der Unterwerfung des einen unter die Herrschaft des anderen endete. Die List der Vernunft, oder Hegels Trick, jenen Kampf, der das Verhältnis der Selbstbewußtsein vorübergehend in ein Aufeinanderprallen bloßer Naturgewalten zurückverwandelt, eben nicht durch die rohe Gewalt des Stärkeren zu entscheiden, sondern durch die Furcht des Schwächeren und letztlich durch die Einsicht in seine Schwäche, läßt ein Verhältnis der sich anerkennenden Parteien entstehen, in dem jede den ihr adäquaten Platz erhält, womit scheinbar die Vernunft sich Geltung verschafft. Das Recht als System der gründet so in einem ursprünglichen Gewaltakt, dem in Hegels Rechtsphilosophie die Affirmation eines sogenannten Heroenrechts3 entspricht. Die erste Gestalt der Allgemeinheit des Willens hat so die Form der Despotie, die in dem nur sich selbst wollenden Willen allemal aufbewahrt ist, aus dessen reflexiver Struktur die Bestimmung der Person folgt, deren Freiheit im Eigentum wirklich werde. Sobald dieser Wille sich nun mittels Besitzergreifung eine Existenz gibt, parti-

zugrunde,1

Anerkennung2

kularisiert er sich selbst und eröffnet damit die Sphäre des abstrakten Rechts, in der Kollisionen von Willensinhalten unvermeidlich sind, weil diese nicht grundsätzlich am Allgemeinen reflektiert sind. Bei Hegel ist das Privatrecht zwar Ausgangspunkt, aber nicht zentraler Inhalt der Rechtsphilosophie. Allerdings ruhen auch die fortgeschrittenen Bestimmungen des Staates auf diesen vertragsrechtlichen Gründen.4 Zunächst aber bedarf es noch einer Reihe von Reflexionsformen, bis eine Umgebung, eine Rechtssphäre entsteht, die dem an und für sich freien Willen adäquat ist, wo also Partikularität und Äußerlichkeit der Gegenstände ins Allgemeine aufgehoben selbst Ausdruck des Allgemeinen sind, und so der Wille in allem sich selbst als Allgemeines zum Gegenstand hat. Hinter der allgemeinen, wechselseitigen Garantie des Einzelnen verbirgt sich die bürgerliche Garantie des Eigentums. Zwar wird diese bei Hegel vom Selbstbewußtsein der Freiheit als Grund der Verfassung abgelöst, aber die Eigentumsgarantie bleibt 1 Vgl. Phänomenologie, 109ff. 2 Daß der Begriff,Anerkennung' seinen Ort in der Bestimmung von Vertrags- und Herrschaftsverhältnissen hat, wird oft übersehen. Vgl. Wilhelm Lütterfelds, „Das soziale Konfliktpotential der Anerkennung", in: Hegel-Jahrbuch 1996, 208-212, oder Axel Honneth, Der Kampf um Anerkennung. Die moralische Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt am Main 1992, wo neben dem Recht noch Liebe und Solidarität als Anerkennungsformen benannt werden. Bemerkenswert ist allerdings, daß die moderne Gesellschaft ihre Menschen soweit konditioniert hat, daß sie ihre Liebes- und sonstigen Verhältnisse zunehmend nach privatrechtlichen Begriffen bestimmen, was z.B. in Metaphern wie .Partnerschaft' oder .Betrug' erscheint. In der neuesten Entwicklung heißt .eine Bekanntschaft machen': .Verträge mit jemandem schließen'. Falsch ist dann allerdings die Annahme, Liebe oder Freundschaft seien das quasi-ontologische, vor-rechtliche Fundament von Recht und Gemeinschaft. 3 Vgl. Rechtsphilosophie § 93. 4 Vgl. Herbert Marcuse, Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie, Darmstadt 1962, 167. Oft wird dieser Zusammenhang aber bestritten, wie z.B. bei Emil Angehrn, Freiheit und System bei Hegel, a.a.O., 169.

m. Der Wille

83

notwendig vorausgesetzt.1 Die der Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem adäquate Sphäre soll der Staat sein, womit aber das Unmögliche verlangt ist, die Besonderheit des Staates, den bestimmten Staatszweck und das entsprechende Staatsrecht aus der Idee des Staates zu deduzieren.2 Zwar bestimmt Hegel die Freiheit zum Inhalt jeder modernen Staatsverfassung; die logische Form des Willens ist jedoch gleichgültig gegen jede Bestimmung des allgemeinen Zwecks. Aus der bloßen Form der Übereinstimmung von einzelnen Willen und allgemeinem Willen kann die Einsicht in die Vernunft ebenso folgen wie die Selbstaufgabe der Subjekte des Willens. Bei Kant stehen sich Partikularität und Allgemeinheit gegenüber als Legalität und Moralität und bleiben einander gegenüber stehen in der Form der Pflicht oder des Sollens. Diese dauerhafte Trennung ist zwingend nur in unfreien Verhältnissen. Hegel will die Versöhnung beider Bereiche ohne Sollen. Kant vereint Moralität und Legalität unter der Moralität, Hegel unter der Legalität, indem die systematische Entfaltung der Rechtsphilosophie die Realität des vernünftig bestimmten Willens verbürge. Ohne jedes Sollen wäre ihm aber hier der Übergang von den Trieben zum Rechtssystem kaum gelungen; das bürgerliche Rechtssystem ist der Triebnatur der Menschen in keiner Weise immanent. Ohne die Möglichkeit der denkenden Reflexion auf möglicherweise zu erstrebende Ziele wäre zweifellos jeder Gedanke an Legalität und schon gar Moralität unmöglich. Aber die Reflexion auf eine ganz ungeordnete Vielheit von einander widersprechenden Elementen bringt nichts Bestimmtes hervor. Aus dem Widerspruch folgt Beliebiges. Nur ein antizipierendes Sollen vermag hier zu ordnen und damit dessen Inhalt nicht ebenso beliebig ist, muß er als Bedingung der Möglichkeit eines gesicherten Begriffes erschlossen werden. Dieses Problem der Vermittlung von Moralität und Legalität will Hegel sich ersparen, indem er das Rechtssystem als ideologische Entfaltung

doch

des Willens darstellt, die mit der Selbstidentifikation des Willens endet und alle vorherigen, konfliktreichen Stufen aufhebt und als unwesentlich ablegt. Zwar kommt er so um die Postulate herum, mit denen Kant eine Annäherung an die Moralität ermöglichen will, handelt sich aber einen Willensbegriff ein, aus dem systematisch nichts Bestimmtes folgt und der historisch bedrückende Implikationen hat. Rein philosophiegeschichtlich hat der an und für sich freie Wille sein Vorbild in der spekulativen Freiheit des Willens Gottes, der selbständig, unabhängig, allgemein und als Totalität das maßgebende Modell für die Bestimmung menschlicher Freiheit darstellt. Das Problem ist die Übertragung seiner Bestimmungen auf menschliche Subjekte, weil ihre Freiheit durch die Totalität des göttlichen Willens allererst denkbar aber zugleich auch restringiert wird. Diese Aporie im Willen Gottes ist der metaphysischspekulative Beginn der praktischen Philosophie der Neuzeit.

1 in: 2

Vgl. Franz Hespe, „Eigentum ist das Dasein der Freiheit. Rechtsbegründung bei Kant und Hegel", Hegel-Jahrbuch 1993/94, 102-112. Vgl. Rechtsphilosophie § 269.

84

Erstes Kapitel: G.W.F. Hegel

Historisch ist dieser Wille, der nur sich selbst zum Gegenstand hat, die Struktur archaischer despotischer Herrschaft.1 Bei Hegel soll aus dieser Struktur durch ihren Bezug aufs Allgemeine eine allseitige durchgängige Verschränkung von Freiheit und Herrschaft aller über alle folgen, so daß jeder, indem er sich selbst will und indem er das Ganze will, auch sich selbst erhält. Hegel, der Sympathisant der französischen Revolution2, sieht das im napoleonischen Staats- und Zivilrecht verwirklicht. Kant, der Gegner aller Revolution, hat bemerkt, daß auch in der ,,sogenannte[n] gemäßigtefn] Staatsverfassung"3 oder gerade dort der Willkür nicht nur Raum sondern Vorschub gegeben ist, so daß die Freiheit des Willens eine Aufgabe oder Pflicht bleibt. Die ökonomischen Bedingungen ihrer allgemeinen Realisierung haben beide nicht gesehen, auch bei Kant zieht die Begründung des Eigentums auf der Grundlage des Eigentums an dem ursprünglichen Produktionsmittel Grund und Boden die Partikularisierung der Produzenten nach sich. Der Sache nach ist das Einzelne zwar längst negativ, durch Vereinnahmung, allgemein, das Allgemeine längst negativ, durch Konkurrenz, partikularisiert. Die äußeren Bedingungen erlauben aber auch die positive Verschränkung von Einzelnen und Allgemeinem, und es bleibt Pflicht, diese Konstruktion Hegels ernst zu nehmen als die Bestimmung einer Gesellschaft, in der die Produktion nicht nur so entwickelt ist, daß sie allen rational vertretbaren Bedürfnissen genügen könnte, sondern in der die durch den Verwertungsprozeß partikularisierte Reflexivität des Produktionsprozesses allgemein reflexiv wird, so daß die Produktion auf die Erhaltung und das Wohlleben der Menschen als auf ihren Zweck ist. Hegel weist jedoch den Gedanken des Sittengesetzes zurück mit der Begründung, wo es positiv zu verstehen sei, sei es bloß formell, sonst sei es allseits negativ, eine bloße der Freiheit anderer. Wenn man zugunsten Beschränkung eigenen überhaupt, wie Kant und vor ihm besonders Rousseau, nicht mit dem allgemeinen reflexiven Willen beginne, sondern mit dem von Individuen, könne niemals etwas Positives dabei herauskommen.4 Damit hat Hegel zweifellos Recht; aber das gesamte Rechtssystem nur als Entfaltung des sich selbst wollenden Willens zu begreifen, gerät unter bürgerlichen Bedingungen nicht zur Entwicklung der Freiheit, sondern zur Perfektion allseitiger Herrschaft. Wendet man die Negativität des Sittengesetzes einmal als Appell gegen die Bedingungen seiner Restriktion, so fordert es Bedingungen, unter denen es die positive Bestimmung

Interpretationen, die hier nur den Willen sehen, der die Freiheit will, übersehen daher den Hang Despotie. Vgl. Emil Angehrn, Freiheit und System bei Hegel, a.a.O., 159f. und Herbert Schnädelbach, Hegels praktische Philosophie, Frankfurt am Main 2000. Theunissen vermißt „Intersubjektivität": Vgl. Michael Theunissen, „Die verdrängte Intersubjektivität in Hegels Philosophie des Rechts", 1

zur

Hegels Philosophie des Rechts, hg. v. Dieter Henrich, u. Rolf-Peter Horstmann, Stuttgart 1982, 317-381. Die aber ist auch gegeben in der despotischen Unterordnung der Anderen. 2 Das Verhältnis Hegels zur französischen Revolution, auch im Zusammenhang seiner scheinbar reaktionären Philosophie, ist gründlich dargestellt bei Joachim Ritter, Hegel und die französische Revolution, Frankfurt am Main 1972. 3 MdS, 320. 4 Rechtsphilosophie § 29 Anm. in:

85

III. der Wille

des Willens gestattete, als eines Willens, der, indem er seine Freiheit will und realisiert, sowohl subjektiv wie objektiv bestimmt ist. Will man Hegels Konzept des absoluten Willens, der in allem und in allen immer nur sich selbst und darin das Allgemeine will, als eine bloße begriffliche Darstellung der Verhältnisse im bürgerlichen Staat fassen, so trifft sie weitgehend zu. Alle bürgerlichen Subjekte sind wechselseitig aufeinander bezogen, indem sie in der arbeitsteilig produzierenden Gesellschaft potentielle Vertragspartner und über Geld-, Waren- und Kapitalkreisläufe miteinander verbunden sind. Im Vertrag als der freien Übereinstimmung freier Willen hat jeder Partner die Freiheit des anderen zum Objekt und in dieser seine eigene. Diese Freiheit steht in direkter Beziehung auf die aller anderen, es ergibt sich ein System der Freiheit. Indem aber schließlich von der allseitigen vertraglichen Bindung die bürgerliche Existenz abhängt, schlägt die Freiheit um in allseitige Herrschaft und Zwang, denn nicht die Versorgung der Menschen ist Zweck des Systems, sondern das über die Verträge sich erhaltende und mehrende Eigentum, insbesondere an Produktionsmitteln, so daß die Freiheit der Subjekte insgesamt zum Mittel wird, sie heteronomen Zwecken zu unterwerfen. Dagegen, ob diese entpersonalisierte Form der Herrschaft in der Gestalt der Monarchie, der ,gemäßigten Verfassung' oder einer parlamentarischen Demokratie auftritt, ist ihre Effektivität weitgehend gleichgültig. aber er Zwar hat Hegel die ökonomische Dialektik der bürgerlichen Freiheit hat nicht gesehen, daß deren Ursache ohne grundsätzliche Veränderung der Verfassung der Gesellschaft nicht beizukommen ist und im Rahmen des Hegelschen Systems ist das auch nicht formulierbar. Wo Kant entgegen seiner Überzeugung mit dem Sittengesetz, dessen Differenz zur Legalität nicht nur eine von an sich und für sich ist, noch die negative Grundlage der Kritik liefert, weil die existentiellen Konflikte, in die Menschen durch Handlungen aus Freiheit geführt werden, die Unfreiheit, in der sie zu leben gezwungen sind, blamiert,2 hat Hegel mit dem absoluten Willen die Grundlage des Mechanismus bürgerlicher Herrschaft auch gegen seine Überzeugung offengelegt.

registriert,1

-

-

1 Vgl. Rechtsphilosophie § 243. 2 Das sieht, wenngleich positiv gedreht, auch Wilson John Pessoa Mendonça, „Die Person als Zweck an sich", a.a.O., 184: „Die Lebensverhältnisse, in denen wir sind, müssen immer schon moralisch oder ,persönlich' sein, wenn auch nur in einem minimalen Sinne, damit wir uns moralische Zwecke setzen können." Daß eine minimale Moral ein hölzernes Eisen ist, hat Theodor W. Adorno in einem Untertitel gezeigt. Vgl. Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt am Main 1951.

86

ERSTES KAPITEL: G.W.F. HEGEL

IV. Die Teleologie des Willens und der Weltgeist Analog zur Position

des Willens ist in der Wissenschaft der Logik die der Teleologie indem diese die Objektivität in die Idee überführt. Wie zwischen Denken und bestimmt, ein es mittelbares Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung im MeGegenstand gibt chanismus.1 Der Zweck ist zunächst das unmittelbare Verhältnis des subjektiven Zwecks zu einem äußerlich objektiven Inhalt und einem äußerlich gegebenen Material zu seiner Realisierung. So ist er überhaupt der „Trieb sich äusserlich zu setzen"2. In der Zwecksetzung steht die Reflexion als „innere Allgemeinheit des Subjects"3 sich selbst als „Reflexion nach aussen"4 gegenüber; „insofern ist der Zweck noch ein So bleibt der subjectives und seine Thätigkeit gegen äusserliche Objectivität Zweck endlich. Der Zweck kehrt sich nun sowohl subjektive negativ gegen die Äußerlichkeit des Objektes als darin zugleich auch gegen seine eigene dadurch bestimmte abstrakte Subjektivität: „Die Bewegung des Zwecks kann daher nun so ausgedrückt werden, daß sie darauf gehe, seine Voraussetzung aufzuheben, das ist, die Unmittelbarkeit des Objects, und es zu setzen als durch den Begriff bestimmt. Dieses negative Verhalten gegen das Object ist ebensosehr ein negatives gegen sich selbst, ein Aufheben der Subjectivität des Zwecks."6 Wie beim Willen die Negation der negativen Beziehung von Denken und Gegenstand die zunächst nur an sich seiende Innerlichkeit des Willens hervorbrachte, und deren negative Beziehung auf seine abstrakte innere Allgemeinheit dann die Äußerung des Willens als objektives Setzen des subjektiv Vernünftigen, so bringt hier der Mechanismus die Zweckrealisierung hervor. Wie dort spricht Hegel hier nicht nur vom ,Trieb', sondern auch vom „Entschluß"7, dessen Subjekt, das wie auch sonst in der Wissenschaft der Logik sprachlich nicht bezeichnet wird, hier nicht der Wille ist, sondern die

gerichtet"5.

1 Vgl. Enzyklopädie § 203. Vgl. Manfred Riedel, „Freiheitsgesetz und Herrschaft der Natur: Dichotomie der Rechtsphilosophie", in: Ders., System und Geschichte. Studien zum historischen Standort von Hegels Philosophie, Frankfurt am Main 1973, 96-120. Riedel hat Recht damit, daß die Rechtsphilosophie auf dem Begriff des freien Willens beruht „statt jenes Ideologischen Stufengangs einander unter- und übergeordneter Herrschafts- und Gesellschaftsverbände" (109). So auch Herbert Schnädelbach, Hegels praktische Philosophie, a.a.O., 178ff. Aufgrund der logischen Struktur und Position des Willens ist damit aber von Anfang an eine strikte Teleologie in die Rechtsphilosophie eingegangen, so daß sie nicht etwa, wie Riedel schreibt, gegen ihren Begriff gelegentlich .einbricht' (vgl. 120). 2 Lehre vom Begriff, 160. Der Zweckbegriff Hegels geht explizit über den des metaphysischen Nützlichkeitssystems hinaus. Vgl. Enzyklopädie § 205 Zus. 3 Lehre vom Begriff, 161. 4 Lehre vom Begriff, 161. 5 Lehre vom Begriff, 161. 6 Lehre vom Begriff, 161. 7 Lehre vom Begriff, 162.

IV. Die Teleologie des Willens und der Weltgeist

87

Reflexion oder der Begriff. Indem in der Realisierung des Zwecks die Objektivität dem Zweck gemäß gemacht werden soll, wird sie zunächst als Mittel bestimmt. Über das Mittel der PF/7/eraTealisierung macht Hegel keine Ausführungen, der Stufe des Mittels, die an sich objektive Vernunft zu sein, entspricht beim Willen aber die Willkür, die noch subjektiv reflektiert und auf beliebige Zwecke gerichtet ist. Insofern sie tätig diese Zwecke realisiert,2 kehrt sie in der Objektivität zu sich selbst zurück. Dieser Vermittlung mit sich in einem Objekt ist in der Teleologie das Mittel zugeordnet, weil das Objekt, solange es der Tätigkeit des dem Zweck Gemäßmachens unterliegt, das materielle Mittel und noch nicht der realisierte Zweck ist, eine Zwischenbestimmung, die für den Willen scheinbar nicht wichtig ist. „Das Mittel ist Object, an sich die Totalität des Begriffs; es hat keine Kraft des Widerstands gegen den Zweck, wie es zunächst gegen ein anderes unmittelbares Object hat. Dem Zweck, welcher der gesetzte Begriff ist, ist es daher schlechthin durchdringlich, und dieser Mittheilung empfänglich, weil es an sich identisch mit ihm ist."3 Die Seite der Voraussetzung des Mittels bleibt aber noch aufzuheben. Bliebe es dabei, daß der Zweck sich in einem Material, einem Mittel realisiert, wäre das Objekt wieder ein nur äußerliches, ein weiteres zweckgemäßes Mittel, das einen unendlichen Progreß eröffnete. Weil das Mittel aber das Objekt ist, insofern es vom Zweck bestimmt wird, gilt Hegel der Prozeß der Zweckrealisierung als ideologischer Prozeß', der eigentlich nur die Selbstverwandlung des Objekts in den Zweck ist, weil es an sich schon selbst durch ihn bestimmt ist. So wird die „Uebersetzung des distinct als Begriffs existirenden Begriffs in die Objectivität [zum] [...] Zusammengehen des Begriffes durch sich selbst, mit sich selbst"5. Die Mittelbarmachung des Objekts ist dabei nur „List der Vernunft"6, die sich mit sich zusammenschließt, aber, weil dies eines äußeren Objektes bedarf, ein Mittel zwischenschiebt, um nicht selbst in dem erforderlichen mechanischen Prozeß Schaden zu nehmen. Der Zweck soll sich so rein erhalten. Dem ist vorausgesetzt, daß die Objektivität der Möglichkeit nach die Zweckrealisierung zuläßt. Das Mittel verbindet dabei Aktualität und Potentialität, indem es der subjektiven Bestimmung nach dem Willen gemäß ist, der objektiven Bestimmung nach aber noch nicht. Die Objektivität als Mittel ist so Einheit von Wirklichkeit und Möglichkeit. Soweit das Mittel als instrumentum mutum verstanden wird, fallt die Seite der Wirklichkeit in die Form des Werkzeugs, die der Möglichkeit in seinen Gebrauch, beim instrumentum semivocale fällt die Wirklichkeit in die erfolgreiche Domestizierung und die Möglichkeit in die Beherrschung des animalischen Eigensinns, beim instrumentum vocale schließlich fallt die Seite der Wirklichkeit in die gelungene Unterwerfung von 1 2 3 4 5 6

Vgl. Lehre vom Begriff, 162. Vgl. Enzyklopädie § 475. Lehre vom Begriff, 164.

Vgl. Lehre vom Begriff, 165. Lehre vom Begriff, 167. Lehre vom Begriff, 166.

Erstes Kapitel: G.W.F. Hegel

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Menschen, die der Möglichkeit aber in den Zwang, ihre Unterwerfung permanent auf-

recht zu erhalten. Soweit das Mittel aber auch der Arbeitsgegenstand sein kann, der subjektiv, der Absicht nach schon zweckgemäß bestimmt ist, objektiv aber noch nicht, löst sich der Gegensatz von Wirklichkeit und Möglichkeit in die bloße Absicht auf, in der die Möglichkeit der Zweckmäßigkeit des Objektes nur angenommen ist. Die Identität von Subjekt und Objekt fällt aufs Subjekt zurück, das aus sich keine Garantie der Objektivierung mehr bietet. Das gilt schließlich auch für die Vermittlung im Werkzeug, denn jedes Werkzeug ist Produkt einer Tätigkeit des Subjekts und war in welchem Sinne auch immer einmal Gegenstand einer Tätigkeit des Subjekts. Die Zweckmäßigkeit des ursprünglichen Produktionsmittels, das zugleich erster Arbeitsgegenstand ist, der Erde, ist aber nicht aus der Subjektivität ableitbar, was sich mindestens in den Abwanderungen von Menschen aus unfruchtbaren Gebieten zeigt. Die absolute Vermittlung von Subjekt und Objekt hat prinzipiell keine Grundlage. Hegel verfolgt hier die Bestimmung absoluter Produktivität, in der die Mittel der Produktion von Produktivität, der Übersetzung des an sich existierenden Begriffs in die Objektivität die Subjekte dominiert: „der Pflug ist ehrenvoller, als unmittelbar die Genüsse sind, welche durch ihn bereitet werden"1. Die vormaligen Objekte, das produzierte Werkzeug, das domestizierte Tier und die abhängig gemachten Menschen erhalten diese Ehre, weil ihr Widerstand gebrochen ist und sie zu Momenten der absoluten Produktivität bestimmt sind. Sobald die subjektive Bestimmung, der beabsichtigte Zweck objektiviert ist, sind auch die vormaligen Subjekte dieser Absicht zu bloß objektiven Momenten geworden.2 Zunächst aber bleibt die Äußerlichkeit des Verhältnisses noch erhalten: „Wie an diesem Producte der zweckmässigen Thätigkeit der Inhalt des Zwecks und der Inhalt des Objects sich äusserlich sind, so verhalten sich auch in den anderen Momenten des Schlusses die Bestimmungen derselben gegeneinander, in der zusammenschliessenden Mitte, der zweckmässigen Thätigkeit, und das Object, welches Mittel ist, und im subjectiven Zweck, dem andern Extreme, die unendliche Form, als Totalität des Begriffes, und sein Inhalt."3 Die Vernunft hat sich gewissermaßen zwar listig Erste Hilfe gegen äußere Verletzungen geleistet, aber noch nicht als innerlich gesund entlassen, denn der „beschränkte Inhalt macht diese Zwecke der Unendlichkeit des Begriffes unangemessen"4. In einem gegen anderes bestimmten, endlichen Objekt kann, insofern es endlich ist, keine Vernunft realisiert sein. Die zunächst äußerliche Negativität der Voraus-

-

-

1 Lehre vom Begriff, 166. Vgl. Peter Bulthaup, „Zweckmäßigkeit, absoluter Zweck, Begriff. Kritik der Hegelschen Deduktion des Begriffs", in:, Mit und gegen Hegel, a.a.O., 184-189. 2 Vgl. die Darstellung der Teleologie bei Nicolai Hartmann, Die Philosophie des deutschen Idealismus II: Hegel, Berlin 1929, bes. 273f. Hartmanns Erläuterungen sind durchweg mit Metaphern politischer Herrschaft durchsetzt. 3 Lehre vom Begriff, 168. 4 Lehre vom Begriff, 169.

IV. Die Teleologie des Willens und der Weltgeist

89

setzung des Mittels kehrt Hegel

nun gegen sie selbst: „In der That aber ist das Resultat eine äussere Zweckbeziehung, sondern die Wahrheit derselben, innere Zweckbeziehung und ein objectiver Zweck. Die gegen den Begriff selbstständige Aeusserlichkeit des Objects, welche der Zweck sich voraussetzt, ist in dieser Voraussetzung als ein unwesentlicher Schein gesetzt, und auch an und für sich schon aufgehoben; die Thätigkeit des Zwecks ist daher eigentlich nur Darstellung dieses Scheins, und Aufheben desselben."1 Indem der Zweck sich entschließe, etwas zum Mittel zu machen, sei dies bereits immer schon dem Zweck gemäß und es gelte daher gar nicht, etwas äußerlich zu negieren, sondern nur gemäß der inneren Negativität der unmittelbaren Objekte zu verfahren, die an sich schon mit dem Zweck vermittelt seien.2 Der innere Gegensatz des als Mechanismus bestimmten Begriffs, die ihn zum Zweck bestimmte, ist nach Hegel selbst schon die Voraussetzung des Objekts, aber nur ,als' nicht durch den Begriff bestimmt. So ist er „die Gewißheit der Unwesentlichkeit des äussern Objects"3. Die Äußerlichkeit, Selbständigkeit des Objekts gegen den Zweck erweist sich als ungewöhnlich zäh, weil sie anders als Formen der Reflexion nicht ganz im spekulativen Vakuum des Begriffes entspringt. Die Behauptung, dasjenige Andere, ohne das keine Zweckrealisierung denkbar ist, das sogar erst dem Zweck gemäß gemacht werden muß, sei von Anfang an nur eine Setzung des Begriffs gewesen, ist steiler als die Selbstäußerung der Reflexion in apagogischer Absicht. Gerade die Stärke der Selbständigkeit des Zweckobjekts benutzt Hegel nun zu dessen Vernichtung: „Daß aber der ausgeführte Zweck nur als Mittel und Material bestimmt ist, darin ist diß Objekt sogleich schon als ein an sich nichtiges, nur ideelles gesetzt."4 Die äußerliche Beschränkung des realisierten Zweckes, als Objekt äußerlich dazusein, wendet Hegel zu dessen Idealisierung. Zwar bestimmt der Zweck ein Objekt, aber es bleibt doch gegen ihn als Objekt bestehen; gerade diese Unangemessenheit der Selbständigkeit an den Begriff bestimmt das Objekt als solches als nichtig und läßt es nur ,ideell' gelten, also nur soweit, als es dem hier zur Idee vorbereiteten Begriff angemessen ist: „Es ist also durch diesen Proceß überhaupt das gesetzt, was der Begriff des Zwecks war, die an sich seyende Einheit des Subjectiven und Objectiven nun als für sich seyend, -die Idee."5 An dieser recht gewaltsamen Verknüpfung von Subjektivität und Objektivität, in der der Zweck nur mit sich selbst zusammengeht, setzt sich durch, was Hegel ignorierte, noch nicht einmal eines Hinweises für wert hielt: Die Möglichkeit, daß die Realisierung von Zwecken an der Selbständigkeit der Objektivität, am Widerstand des Materials scheitert ganz gleich, ob die Zwecke der Objektivität unangemessen waren, also zu

nicht

nur

-

Lehre vom Begriff, 169. Das bedeutet schon etwas mehr als „den einfachen Verzehr irgendwelcher Zweck unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung" (Frank-Peter Hansen, G.W.F. Hegel: Logik". Ein Kommentar, Würzburg 1996, 151). Wovon ernährt sich die Idee? 3 Lehre vom Begriff, 171. 4 Enzyklopädie § 212. 5 Enzyklopädie § 212. 1 2

Gegenstände „

zum

Wissenschaft der

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Erstes Kapitel: G.W.F. Hegel

hoch griffen, ob der Tätige unvermögend oder das Material ungeeignet war oder ob beseeltes und gegebenenfalls vernunftbegabtes ,Material' sich nicht hat zum Mittel machen lassen oder hat machen lassen wollen. Hegels Absicht hinter der Parallelisierung von Teleologie und Willensbegriff ist es nicht, mittels der Teleologie ein voluntaristisches Element in die Logik zu bringen, sondern mit dem Willen eine ideologische Grundlegung der Rechtslehre zu begründen. Vor diesem Hintergrund tritt erneut die Frage auf, wodurch es garantiert sei, daß es der vernünftige Wille ist, der sich durchsetzend die Welt gestaltet. Aus der reinen Beziehung des Willens auf sich selbst folgt gar kein bestimmter Inhalt, sondern nur die reine Form der Selbsterhaltung und SelbstbeOhne ein moralisches Gebot bleibt die Frage nach Partikularität oder Universalität von deren Realisierung völlig offen. Allerdings fällt die Realisierung von Autonomie nach Hegel ohnehin nicht in den Wirkungskreis der potentiell autonomen Subjekte, sondern ist als Funktion des durch diese sich entwickelnden Weltgeistes auf lange Sicht gesichert, denn in ihm haben die logisch bestimmten Philosophien des Geistes und des Rechts auch ein geschichtliches Dasein, die Entwicklungen der Geschichte, der Philosophiegeschichte und der Logik sind nicht wesentlich voneinander unterschieden. Die Idee ist als ewige aber konkrete in sich unterschieden und entäußert sich in das Element des Denkens, entfaltet sich als Philosophiegeschichte. Als bestimmter Geist ist dies Element selbst historisch, ist als Moment der Entwicklung des Weltgeistes an die Weltgeschichte gebunden. Beide Geschichten sind Momente der Universalgeschichte des Geistes,2 der sich der Subjekte als Mittel zum Zweck seiner Realisierung bedient, die Geschichte ist „der an die Zeit entäusserte Geist"3. In begriffener, organisierter Form wird sie zur „Schädelstätte des absoluten Geistes"4 oder eher wohl zu seinem ernsten Beinhaus.5 Die Parallelisierung der Geschichten mit der Logik gelingt Hegel nur, weil er davon ausgeht, daß die Geschichten zu seiner Zeit an ihr Ziel gelangten und daß dies sich ankündigte in dem durch ihn

stimmung.1

1 Insofern läßt sich die Struktur des Zwecks auf die des Selbstzwecks fuhren. Gerade deshalb ist es aber maßlose Überschätzung Hegels, wenn Bruno Liebrucks schreibt: „Der Mensch als bewußter Organismus hat den Zweck in sich auf höherer Stufe. Er ist Selbstzweck. [...] Daß der Mensch nicht nur als Mittel, sondern immer zugleich als Zweck angesehen werden muß, bedarf [...] keiner Überlegung [...] Diese Forderung folgt schon aus der dialektischen Struktur des Zwecks." (Sprache und Bewußtsein. Sprache und Dialektik in den ihnen von Kant und Marx versagten, von Hegel eröffneten Räumen, Band 3, Frankfurt am Main 1966, 336). 2 Vgl. Geschichte der Philosophie I, 62f. Philosophie der Geschichte, 68f, Rechtsphilosophie §§ 34 Iff. 3 Phänomenologie, 433. 4 Phänomenologie, 434. 5 Vgl. Johann Wolfgang Goethe, „Im ernsten Beinhaus", in: Werke, I. Abteilung, Band 3, Weimar 1890, 93: „Im ernsten Beinhaus war's, wo ich beschaute, / Wie Schädel Schädeln angeordnet paßten; / Die alte Zeit gedacht' ich, die ergraute. / Sie stehn in Reih' geklemmt, die sonst sich haßten, / Und derbe Knochen, die sich tödtlich schlugen / Sie liegen kreuzweis zahm allhier zu rasten. / Entrenkte Schulterblätter! was sie trugen / Fragt niemand mehr [...]"

IV. DIE TELEOLOGIE DES WILLENS UND DER WELTGEIST

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systematisch abgeschlossenen Entwicklungsprozeß der Logik.1 Mit dieser Logifizierung bleibt Hegels Dialektik der Geschichte unhistorisch und der Weltgeist streift die Zeit nur in der Rückkehr von Ewigkeit zu Ewigkeit. Die nähere Bestimmung des Ganges der Weltgeschichte nun „ist in ihrer allgemeinen Natur logisch"3. Der Unterschied zum Gang der Logik besteht nach Hegel darin, daß zur logischen Bestimmung die Besonderheit des Geistes, als Volksgeist etwa, zur Bestimmung der Epochen hinzukommen muß.4 Diese historische Besonderheit ist in der Logik nur in aufgehobener Gestalt. Indem aber alle besonderen Geister sich ideologisch vom absoluten Zweck der Geschichte her als Momente des allgemeinen Geistes erweisen, durch die er sich zur Totalität rung schließlich im Geist ewig

bestimmt, werden alle Stufen in ihrer Besonde-

aufgehoben.5 So sollen Logik und Geschichte zusamwird der absolute Begriff der Welt als tätige, die Welt menstimmen, traditionsgemäß regierende Vorsehung bestimmt.6 Der Unterschied zur Tradition besteht in der Säkularisierung: Die Vorsehung richtet Mensch und Welt nicht mehr auf ein transzendentes Heil aus, sondern zielt ab auf ein notwendiges Reich der Freiheit im Diesseits, den Staat. Es läßt sich gegen die absolute Folgerichtigkeit des Weltgeistes keine Grausamkeit, kein Fehler mehr als zufällig oder vermeidbar auffassen. Die Fehler, die vom logischen Gang abweichen, sind die Fehler fauler Existenzen, die zwangsläufig untergehen.7 Der Weltgeist ist nicht nur ohne Eile, sondern kann sich als listige Vernunft in der Etappe vergnügen, während er jede Menge Kanonenfutter, das heute auch Humanressource genannt wird, zwischen sich und die zeitlichen Mechanismen der Wirklichkeit beordert: „Daß er [der Weltgeist, M.St.] ebenso viele Menschengeschlechter und Generationen an diese Arbeiten seines Bewußtwerdens wendet [...] darauf kommt es ihm auch nicht an. Er ist reich genug für solchen Aufwand, er treibt sein Werk im Großen, er hat Nationen und Individuen genug zu depensieren."8 Die Individuen tauchen in Hegels Überlegungen zur Geschichte nur als Opfer auf, deren Betrachtung direkt auf ihre Mittelbarkeit zu einem in sich notwendigen Endzweck übergehen muß: „Aber auch indem wir die Geschichte als diese Schlachtbank betrachten, auf welcher das Glück der Völker, die Weisheit der Staaten und die Tugend der Individuen zum Opfer gebracht worden, so entsteht dem Gedanken auch notwendig die Frage, wem, welchem End1 Vgl. Otto Pöggeler, „Geschichte, Philosophie und Logik bei Hegel", in: Logik und Geschichte in Hegels System, hg. v. Hans-Christian Lucas, u. Guy Planty-Bonjour, Stuttgart 1989, 101-126, bes.

113ff.

2 Vgl. Klaus Düsing, Dialektik und Geschichtsmetaphysik in Hegels Konzeption philosophiegeschichtlicher Entwicklung, in: Logik und Geschichte in Hegels System, a.a.O., 127-145. Vgl. auch Walter Jaeschke, Die Geschichtlichkeit der Geschichte, in: Hegel-Jahrbuch 1995, 363-373. 3 Philosophie der Geschichte, 62f. 4 Vgl. Philosophie der Geschichte, lOlf. 5 Philosophie der Geschichte, 119f. 6 Vgl. Philosophie der Geschichte, 39 und Geschichte der Philosophie I, 65. 7 8

Vgl. Rechtsphilosophie § 15 Zus. Geschichte der Philosophie I, 65, vgl. Philosophie der Geschichte, 47.

92

Erstes Kapitel: G.W.F. Hegel

zweck diese ungeheuersten Opfer gebracht worden sind."1 Jede Reflexion, der diese Mittel als Zwecke an ihnen selbst gelten, und die daher die Weltgeschichte nicht als Werk der Vorsehung zu mystifizieren geneigt ist, wird von Hegel als trübseliger Narzißmus denunziert,2 der nicht an der Einsicht interessiert sei, daß die Irrationalität noch eines jeden Gemetzels die „L i s t der V e r n u n f t "3 ist, die sich unbeschadet im Hintergrund hält, und die Entwicklung doch vorantreibt. In der Betrachtung der bereits abgelaufenen Geschichte hat die Unbestimmtheit, in die der Wille und die Teleologie sich verlaufen hatten, ein Gegenstück: Wie der Übergang des Zwecks zur Idee durch gewaltsame Vernichtung der selbständigen Seite des Objekts bewerkstelligt wird, so massakriert der Weltgeist die Subjekte, die in ihrem Eigendünkel dem Wahn erliegen, eigene Zwecke zu verfolgen. Der Vorrang, nach dem der vernünftige Wille sich in den einzelnen betätigt, muß im geschichtlichen Fortschritt unter unvernünftigen Bedingungen ihre Vernichtung bedeuten. Aber das reicht Hegel nicht. Seine Vorstellung, das ganz unvernünftige, gewaltsame Vorgehen gegen die Unvernunft sei nicht bloß vom Resultat aus notwendig, sondern selbst Ausdruck der sich nur der Unvernunft bedienenden Weltvernunft, verwandelt das Unvernünftige in ein an sich immer schon Vernünftiges. So wird Geschichte entzeitlicht, denn daß der Zweck der Vernunft noch nicht realisiert sei, ist nach Hegel eine Täuschung, die nur aufgehoben werden muß. Die Idee produziert diese Täuschung selbst, um so die Subjekte zum Handeln zu bewegen und damit die Täuschung aufzuheben.4 Insofern ist die Weltgeschichte das ,,Weltgericht[]"5, denn das jüngste Gericht offenbart traditionell nur die Exekution der ewigen Vorsehung, dessen Inhalt den Menschen verborgen blieb, um ihnen das freiwillige Handeln zu ermöglichen.6 Auch Hegel kann die logisch bestimmte Weltgeschichte letztlich nur als ewiges Weltgericht denken, deren zeitlicher Verlauf eine notwendige Illusion sei. Auch die Illusion dieser Illusion vermag aber das vergossene Blut nicht in konsekrierten Wein zu verwandeln. Schließlich kann der Weltgeist seinen Gang nur beschreiten, weil Hegel ihm die ganze Konkretion des Resultates schon vor allem Anfang einpflanzt. Das erscheint auch hier im Griff zu schiefen Metaphern, wie der von Same, Keimling, Pflanze, Frucht:7 Die Analogie zur Natur weist auf materielle Voraussetzungen, im Beispiel den fertigen Baum, ohne den kein Same entsteht. Aus Hegels Vorstellung folgte, daß die Weltge1 Philosophie der Geschichte, 49. Vgl. Nicolai Hartmann, Die Philosophie des deutschen Idealismus II: Hegel, a.a.O., 352: „Die Geschichte ist nicht Realisation der Glückseligkeit, sondern der Vernunft." Diese Differenz ist nicht zwingend. 2 Vgl. Philosophie der Geschichte, 50. 3 Philosophie der Geschichte, 63. 4 Vgl. Enzyklopädie § 212 Zus. 5 Rechtsphilosophie § 340. 6 Zur List der Vernunft als Vorsehung Gottes vgl. Enzyklopädie § 209 Zus. Hiervon wird noch die Rede sein in dem Abschnitt über Thomas von Aquin. 7 Vgl. Geschichte der Philosophie I, 67.

IV. DIE TELEOLOGIE DES WILLENS UND DER WELTGEIST

93

schichte, und zwar materialiter, sich selbst vorhergegangen sein müßte; auch die absolu-

te Reflexivität des Geistes schafft sich dies Material nicht an,

genausowenig wie dessen

Ordnung. Diese wird durch äußerliche Reflexion auf ein telos konstruiert und soll nun für alle Geschichte, auch schon für die ohne Bewußtsein eines solchen telos gelten. Die Konsequenz dieser Rationalisierung der Geschichte aus ihrem telos ist die der Opfer,1 die nur als notwendige Momente des Weltgeistes eine Daseinsberechtigung haben und deren Nachgeborene es sich aussuchen können, ob jene es verdient hatten oder entschädigt sind, sei es im Jenseits oder durch den Nachruhm im Diesseits.

1 Vgl. Henning Ottmann, „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht". Anerkennung und Erinnerung bei Hegel, in: Hegel-Jahrbuch 1995, 204-209: „Eine Theorie der Anerkennung, die eine Anerkennung auch der Opfer einschließen soll, muß eine metaphysische Philosophie der Geschichte sein. [...] Wie anders kann eine Anerkennung der Opfer auch gedacht werden als durch eine transzendente Stiftung auch der Anerkennung?" (207f.) Ottmann spielt hier auf den christlichen Erlösungsgedanken an, der aber, wie zu zeigen ist, ganz ungeeignet hierfür ist, weil er die gleichen Aporien bei sich führt, wie

Hegels Geschichtsbegriff.

Zweites Kapitel: Thomas von Aquin

gibt es bei Thomas von Aquin keine Theorie der Reflexion, aber seine Untersuchungen zum menschlichen Erkenntnisvermögen sowie zur trinitarischen Verfaßtheit

Zwar

Gottes sind durch reflexive Strukturen bestimmt. Beides ist bei Thomas durch erkennt-

Überlegungen

miteinander verknüpft und darin liegt der historischsystematische Ort der Thomasischen Philosophie.1 Sie vermittelt die klassische auf Aristoteles und Piaton aufbauende Metaphysik mit der im absoluten Idealismus kulminierenden klassischen Philosophie der Neuzeit, indem sie ihren Ausgangspunkt in der menschlichen Erkenntnis des Zeitlichen nimmt und deren Bestimmungen in die Ewigkeit transponiert, um durch diese absolute Reflexion die Grundlage alles Erkennistheoretische

Hegels2

konstruieren. Die Gestalt der Wissenschaft ist nach Thomas bestimmt durch die Beschaffenheit ihres logischen Ortes. So ist die Wissenschaft des Menschen in statu viatoris bestimmt durch dessen Wesen, das zunächst ohne weitere Spezifizierung als Verbindung von Körper und Seele zu betrachten ist. Der entscheidende Anstoß, im Begriff des Denkens und der Wissenschaft die Menschen mit der Welt der Erscheinungen zusammenzubringen, geht dabei von der Platonischen Philosophie aus. Thomas bemerkt, daß diese das Leben der Menschen in der Natur nicht befördern kann: „Aber das [die Platonische Ideenlehre] erweist sich zweifach als falsch: erstens, weil, da jene Formen immateriell und unbeweglich sind, die der Naturwissenschaft eigentümliche Erkenntnis der Bewegung und der Materie und der Beweis aus den bewegenden und materiellen Ursachen aus der Zahl der Wissenschaften ausgeschlossen würde; zweitens aber, weil [...] wir [...] nicht über diese sinnlichen Dinge, die uns umgeben, nens zu

-

-

1 Für eine freilich weniger steile aber detaillierte wissenschaftshistorische Einordnung der Thomasischen Philosophie vgl. Fernand van Steenberghen, Die Philosophie im 13. Jahrhundert, München 1977, 287-333, bes. ihre Abgrenzung gegen eine bloße Aristoteles-Renaissance, 31 Off. und 314f. 2 Vgl. Lehre vom Sein, 28: „Der bisherige Begriff der Logik beruht auf der im gewöhnlichen Bewußtseyn ein für allemal vorausgesetzten Trennung des Inhalts der Erkenntniß und der Form derselben", und 48: „Die objective Logik tritt damit vielmehr an die Stelle der vormaligen Metaphysik, als welche das wissenschaftliche Gebäude über die Welt war, das nur durch Gedanken aufgeführt seyn sollte." Für die Mittlerposition vgl. Alois Dempf, Sacrum Imperium, München 1929, 358f.

96

ZWEITES KAPITEL: THOMAS VON AQUIN

urteilen können"1 würden. Die Erkenntnis ,dieser Dinge' ist aber unumgänglich, weil die Seele mit dem Körper vereinigt ist; so sehr das Resultat des Erkennens auch immateriell sein mag, es bleibt, daß „dieser Mensch denkt [oder versteht], weil das principium intellectivum seine Form ist. So erhellt aus der Tätigkeit des Verstandes selbst, daß das principium intellectivum als Form mit dem Körper vereint ist"2. Allein zur Orientierung des körperlichen Wesens in der körperlichen Welt muß „die Verstandesseele nicht nur die Fähigkeit haben zu denken, sondern auch die Fähigkeit sinnlich wahrzunehmen. Die Sinnestätigkeit findet aber nicht statt ohne körperliches Werkzeug. Die Verstandesseele mußte also mit einem solchen Körper vereinigt werden, der ein entsprechendes Organ der Sinne sein kann." So ist die Seele Grund der Erkenntnis, aber nicht alleiniger Grund des Daseins des Subjektes in der Welt, denn die Endlichkeit des Körpers kann von der Seele in statu viae nicht überwunden werden, weil beide aufeinander verwiesen sind: „Wie diese [substantielle Form] kein Sein an sich hat, abgelöst [,absoluf], ohne das, zu dem sie hinzukommt, so auch jenes nicht, zu dem sie hinzukommt, d.h. die Materie."4 Ist es nun einerseits unüberwindbar, daß der Mensch sich in der Endlichkeit erhalten muß, so befähigt ihn die unendliche Vernunft vermittels des Körpers immerhin, sich der Welt produktiv zuzuwenden. In Analogie zum Handwerk bestimmt Thomas den Zweck der Erkenntnis von Allgemeinem in praktischer Hinsicht: „Denn der Schmied sucht die Erkenntnis des Messers nur des Werkes wegen, um dieses besondere Messer herzustellen, und ebenso sucht der Naturforscher nur die Natur des Steines und des Pferdes zu erkennen, um die Gründe von dem zu wissen, was aufgrund der Wahrnehmung als Tatsache erscheint."5 Die praktisch orientierte Erkenntnis befähigt nicht nur, sich die Existenz in der Welt zu erleichtern, sondern sie der Unendlichkeit der Vernunft weitgehend zu unterwerfen: „Sondern statt alles dessen hat der Mensch von Natur die Vernunft und

S.th. I, 84,1 c, 3f. S.th. I, 76. Das Entscheidende dieser Formulierung ist zum einen das Demonstrativum ,dieser', wodurch bezeichnet wird, daß das Denken an ein empirisches Subjekt gebunden ist; ebenso ist das Possessivpronomen ,seine' zu verstehen: Es ist nur daher ein je bestimmter Mensch, der denkt, weil die Form, der Geist in Abhängigkeit vom Körper steht. Dies stellt Thomas nicht in Frage, wenn er im selben Artikel eine Rangfolge der Formen aufstellt. Die Seele soll, weil sie eine hochentwickelte (.edle') Form ist, die Materie weitgehend beherrschen. Diese Erweiterung ist notwendig, weil sonst keine Theorie der Freiheit des Willens oder der Spontaneität des Verstandes möglich wäre; aber unabhängig von der Materie ist der Geist gerade wegen seiner Herrschaftsstellung nicht. 3 S.th. I, 76, 5c Nach der Thomasischen Terminologie bezeichnet Verstand (intellectus) das eigentliche Erkenntnisvermögen, Vernunft (ratio) die sogenannte diskursive Erkenntnisweise endlicher Intellekte mittels Synthese und Analyse in Urteilen, Schlüssen oder Beweisen. Die Vernunft gewinnt den einen Begriff aus der Vielheit, der Verstand erkennt ihn. Die unzulässige Separierung dieser Momente von Erkenntnis bereitet die unmittelbare Erkenntnis Gottes vor, die nur intellectus, nicht ratio ist. 4 De ente, c 6. 5 S.th. I, 84, 8c. 1 2

ZWEITES KAPITEL: THOMAS VON AQUIN

97

die Hand, die das

„Organ der Organe" ist, weil sich der Mensch durch sie Werkzeuge von unbegrenzter Mannigfaltigkeit für unbegrenzte Wirkungen herstellen kann"1.

Überschreitung

der Endlichkeit durch den Geist auch für In der Erkenntnis, daß die die materielle Existenz bestimmend sein kann, wenn die Erkenntnis produktiv gegen das Erkannte, die Welt, gewendet wird, liegt der Keim der modernen Naturwissenschaft sowie des modernen Die darin präformierte Bestimmung der erweiterten Reproduktion umfaßt zwar die Absetzung des Geistes gegen die Natur, damit aber auch die Einsicht, daß die Natur ebenso gegen den Geist abgesetzt ist. Jeder Erleichterung der Reproduktion endlicher Wesen bleibt der Zwang zu dieser erhalten. In der Trennung des Grundes der Erkenntnis vom Grund der materiellen Existenz hat die Thomasische Philosophie noch eine Grenze gegen die Tendenz zum Idealismus. Nur diese Beschaffenheit des erkennenden Subjektes ermöglicht es, durch die Reflexion auf die eigenen Akte sich selbst als insuffizient zu begreifen, und somit eine indirekte Erkenntnis der Existenz des noch nicht gedanklich aufgelösten Gegenstandes als Bedingung der Möglichkeit der eigenen Akte zu haben: Es „erkennt der Geist das Singuläre durch eine gewisse Reflexion, sofern er nämlich in der Erkenntnis seines Objektes, das eine allgemeine Natur ist, zur Erkenntnis seines Aktes sich zurückwendet und darüber hinaus zu der Spezies, die das Prinzip seines Aktes ist, und darüber hinaus zu dem Phantasma, von dem die Spezies abstrahiert ist. Und so empfängt er eine gewisse Erkenntnis von dem Singulären. Zweitens, sofern die Bewegung, die von der Seele zu den Dingen geht, im Geist anhebt und auf den sinnlichen Teil übergreift, in dem Maße, als der Geist die sinnlichen Kräfte lenkt; und so befaßt er sich mit dem Singulären durch Vermittlung der Urteilskraft."3 Die Wahrheit der beschränkten, endlichen Erkenntnis der Menschen vollendet sich im Geist; Thomas stellt dies aber nicht fest, ohne zugleich darauf zu beharren, daß sie ein Fundament in der Sache haben muß, und daß diese Sache außerhalb des Geistes ein Dasein hat. Wahrheit kommt den einzelnen Seienden nur zu, insofern sie auf einen Intellekt bezogen sind. Mit dieser allgemeinen Bestimmung von Wahrheit als Angleichung des Verstandes und der Sache4 legt Thomas die Grundlage jeder Wissenschaft. In ihrer Allgemeinheit ist diese Bestimmung jedoch nur möglich, weil der Verstand „gedes bloß eignet ist [natum], mit jedem anderen übereinzustimmen"5 Die Einzelnen ist nur möglich durch die Unendlichkeit des Geistes. Damit ist aber jedes

Subjektbegriffes.2

Überschreitung

Allgemeine Resultat eines Reflexionsprozesses, und zugleich ist gesagt, daß der Anfang

dieses Prozesses die Konfrontation des Geistes mit bestimmtem gegen ihn bestimmtem Seienden ist.

und das heißt auch:

-

-

1 2 3 4 5

S.th. I, 76, 5 ad 4. Hierzu vgl. Günther Mensching, Das Allgemeine und das Besondere, a.a.O., 222 und 230ff. Dever. 10, 5c. Vgl. Dever. 10, 5. De ver. 1, lc.

98

ZWEITES KAPITEL: THOMAS VON AQUIN

Der Akzent philosophischer Bemühungen kann demgemäß nicht darauf liegen, die Welt aus einem affirmativ verstandenen Grund abzuleiten, sondern sie so, wie sie erscheint, zu erklären: „Aus alledem folgt nun, daß die beiden Wissenschaften auch ihren Weg nicht in derselben Reihenfolge nehmen. So wird in der Philosophie, welche die Kreaturen an sich betrachtet und von ihnen aus zur Gotteserkenntnis gelangt, zuerst von den Kreaturen gesprochen und zuletzt von Gott; während in der Glaubenslehre, welche die Kreaturen nur in Bezug auf Gott betrachtet, zuerst von Gott die Rede ist und dann von den Kreaturen." Die Anordnung der Werke des Thomas ist theologisch. Beide Summen beginnen mit der Bestimmung Gottes und kommen über den Schöpfungsbegriff zur Welt, die dann über den menschlichen Geist noch einmal auf Gott bezogen wird. Aus der bis hier entwickelten Grundgestalt der Wissenschaft des Thomas von Aquin ergab sich aber ihre philosophische Bedeutung. Es gilt nun, aus der theologischen Darstellung den philosophischen Zusammenhang des Thomasischen Denkens zu rekonstruieren. Es muß dadurch deutlich werden, daß die explizit theologischen Erkenntnisse ihrerseits im Zusammenhang philosophischer Reflexion stehen und zu beurteilen sind. Indem die Thomasische Erkenntnistheorie gegen den Strich gebürstet wird, muß es gelegentlich dazu kommen, daß Begründetes und Begründung vertauscht werden. So immer, wenn Thomas von Bestimmungen Gottes auf seine Tätigkeit schließt. In Wahrheit, das heißt systematisch dargestellt, sind die Bestimmungen des Absoluten Resultate der Reflexion auf seine Funktion. Die Interpretation ergreift dabei für keine der Richtungen des Thomismus Partei und will weder den Zusammenhang ausschließlich von der philosophischen Aussage her bestimmen, noch den Sinn der Aussage vom theologischen Zusam1 S.c.G, II 4. Obwohl die Theologie von Thomas idealistisch als .vollkommener' bezeichnet wird, weil aus ihrem Gegenstand alles hervorgehe, nimmt sich ihr Inhalt recht kläglich aus: Die Dinge werden nur betrachtet, insofern sie „von Gott geschaffen und Gott unterworfen sind und dergleichen" (a.a.O.). Was die Dinge sind, ist nicht ihr Gegenstand. Diesen Mangel verdeckt Thomas bezeichnender Weise, indem er die Theologie mit den gleichfalls beschränkten Einzelwissenschaften vergleicht, nicht aber mit der Philosophie. 2 Dies ist zu verstehen gegen die Untersuchungsweise Steenberghens, der meint, die Philosophie autonom gegen die Theologie zu betrachten, hieße, den historischen Thomas zu ignorieren. Vgl. Fernand van Steenberghen, Die Philosophie im 13. Jahrhundert, a.a.O., 328. Hier soll die Theologie philosophisch betrachtet werden, die ebenfalls nach Steenberghen unter philosophischem Einfluß entstand. Die Ehrfurcht vor dem theologischen System war bisher zu groß, als daß es auf seinen philosophischen Gehalt untersucht worden wäre. Bemerkenswert ist vor allem, daß die Literatur zur Erkenntnistheorie des Thomas die Trinitätsspekulation kaum berücksichtigt. Ausnahmen sind Günther Mensching, Thomas von Aquin, Frankfurt am Main u.a. 1995 und Jan A. Aertsen, Nature and Creature, Leiden u.a. 1988. Philosophische Interpretation von Theologie ist immer häretisch. Daher möchten manche Kommentatoren des englischen Doktors gerade in seinen wenig zentralen Argumenten schon die Widerlegung von Kant, Hegel und allem, was da noch kommen mag, sehen. Vgl. z.B. S.c.G. I, in der Ausgabe Zürich 1942 die Note des Herausgebers Nr. 122 und öfter. 3 Eine gute Darstellung dieser Richtungen findet sich in der Einführung zu Wolfgang Kluxen, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, Hamburg 1980, XXVIff.

ZWEITES KAPITEL: THOMAS VON AQUIN

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menhang, noch will sie eine werkgeschichtliche Entwicklungsanalyse bieten. Sie ist allein der systematischen Bedeutung der Thomasischen Philosophie in der Geschichte dieser Wissenschaft oder, mit Hegel, in der Entfaltung des Begriffs verpflichtet, auf deren einer Stufe er in Gestalt der Theologie erscheint. Maßgebend war so eingedenk aller historischen und sachlichen Kontexte doch immer die nicht?

Frage: Stimmt's oder stimmt's

100

ZWEITES KAPITEL: THOMAS VON AQUIN

I. Die intellektuelle Erkenntnis von Ding und Verstand."1 Ausgehend von dem Problem, daß der menschliche Intellekt eines Gegenstandes bedarf, aber diesen Gegenstand immer nur in Relation auf sich erfassen kann, entwickelt Thomas aus dem Sein das Transzendental verum. Die Relation auf den Verstand wird zur inneren Bestimmung des Seins. Das verum, das mit dem ens konvertibel ist,2 läßt sich auf das Ding beziehen, nur „insofern es mit dem erkennenden Geist in Übereinstimmung ist"3. Die Gegenstände selbst sind nur „uneigentlich und sekundär"4 Prinzipien der Wahrheit: Insofern sie erkennbar sind, haben sie die Fähigkeit, Wahrheit zu bewirken, deren Ort aber der Intellekt ist. Wenn die Transzendentalien wirklich austauschbar sind, läßt sich an dieser Stelle nicht mehr absehen, was die Gegenstände außerhalb der Beziehung auf den Verstand, an ihnen selbst, sein könnten. Thomas will diese Konsequenz dadurch vermeiden, daß die Transzendentalien trotz ihrer Konvertibilität je auch ontologisch unterschiedene Hinsichten desselben bezeichnen sollen. Der entscheidende Unterschied ist dabei, daß verum und bonum Bestimmungen des Dinges hinsichtlich der Beziehung auf anderes sind, unum, res und aliud aber hinsichtlich seiner selbst. Daß aber jede wissenschaftliche Bestimmung ihren Gegenstand zu einem relationalen machen muß, erweist sich am aliud, dessen Relationalst sofort auf res und unum zurückschlägt, da sie aus ihnen entwickelt ist. Es bleibt nur das zwangsläufig Vage, daß ,jedem wahren Begriff Die Relation läßt auf ein anderes notwendigerweise irgendein Seiendes Relatum schließen, von dem aber außerhalb derselben nicht mehr bekannt ist, als daß es irgendein Seiendes ist. Das Seiende ist nach Thomas das zuerst Erfaßte, der eigentümliche Gegenstand des Intellekts, aber kein Gegenstand diskursiver Erkenntnis, sondern es „fällt"6 in den Intellekt. Entsprechend dem Ton, der das erste Hörbare ist, steht Seiendes nur erst für die Auffassung, daß etwas ist. Dies ist scheinbar zunächst eine phänomenologische Vorstellung von Sein, aber der Vergleich mit dem Geräusch ist schon problematisch. Bei diesem handelt es sich um etwas Empfundenes, bei jenem um einen, sogar den eigentümli-

„Wahrheit ist Angleichung

entspricht"5.

1 De ver. I, 6c. 2 Vgl. S.th. I, 16, 3c. 3 De ver. 1, 2c. Die Unterscheidung von menschlichem und göttlichem Intellekt hinsichtlich der Wahrheitsrelation wird von Thomas jederzeit, auch explizit, vorausgesetzt. So in De ver. 1, 1 und besonders in S.th. I, 16, 1, wo die Beziehung auf den menschlichen Verstand als .zufällig', die auf den göttlichen dagegen als ,an sich' bestimmt wird. Der Systematik entsprechend können der göttliche Intellekt und die vertías ontologica jedoch erst als Lösungen eines Problems betrachtet werden, das aus der Untersuchung des menschlichen Intellektes entsteht. Thomas wählt daher nicht zufällig eine gegen den genannten Unterschied indifferente Formulierung. 4 Dever. 1,4c. 5 Dever. 1,3 ad 1. 6 S.th. I, 5, 2c.

I. DIE INTELLEKTUELLE ERKENNTNIS

101

chen Gegenstand des Intellekts. Zwar will Thomas betonen, daß das Seiende als Prinzip aller Erkenntnis nicht selbst Resultat von Erkenntnis ist, und wählt daher eine Metapher aus dem Bereich der irreflexiven Empfindung; aber jenes Prinzip gerät mit sich selbst in Widerspruch. Es ist als solches völlig bestimmungslos und wenn Thomas es benutzt, um die Transzendentalien abzuleiten,1 ist ihm das Seiende schon zum Reflexionsbegriff

Weil dieser allgemeine Begriff ,Seiendes' aber ganz abstrakt ist, erscheint die Thomasische Philosophie als idealistische Ableitung von Kategorien, Transzendentalien, ja selbst des Widerspruchsgesetzes aus einem Prinzip. y Der Seinsbegriff erweist sich allerdings selbst als Resultat der Reflexion auf die Möglichkeit der rationalen Verbindung eminent Unterschiedener. Trotz des Unterschiedes muß manches von ihnen gemeinsam ausgesagt werden können, zum Beispiel die Weisheit von Gott und Mensch. Dies kann nicht univok geschehen, weil es sich eben um eminent Unterschiedenes handelt, es kann aber auch nicht äquivok geschehen, weil es ohne eine sachliche Verbindung gar keinen Grund für die Verbindung überhaupt gäbe. In diesem Falle müßte jede menschliche Erkenntnis aufgrund des Zwanges, im Urteil eminent Unterschiedene aufeinander zu beziehen, sich „stets in Trugschlüssen bloßer Wortgleichheit bewegen"3. Wenn nun unterschiedene Seiende nicht erst durch die Bezeichnung ,Sein' vergleichbar werden, dann sind sie schon an sich so beschaffen, daß ihnen die Bezeichnung mit Recht zukommt. Sie sind offenbar auf das Sein bezogen, und durch die Beziehung auf denselben Begriff (àva Áóyov) ist ihr Verhältnis zueinander bestimmt. Die unvollkommene Weisheit des Menschen ist zwar von der vollkommenen Gottes unterschieden, aber von beiden läßt sich nur durch die Beziehung auf das, was Weisheit ist, reden.4 Das substantielle Sein hat eine ihm gemäße Beziehung auf das Sein, das akzidentelle eine andere, die ihm gemäß ist. Dadurch aber, daß sie überhaupt auf dasselbe bezogen sind, sind sie vergleichbar. So ist der Genese des Seinsbegriffs zu entnehmen, daß er selbst nur in den Relationen des Seienden besteht und die Erklärung, daß „alle gleichartigen Aussagen auf eine erste, nicht völlig gleiche, sondern verhältnisgleiche, nämlich auf die Seinsaussage zurückgehen"5, verrät die Herkunft der Vergleichbarkeit der Seienden aus einem aussagenlogischen Problem.6 Die Analogie soll nun ihre ontologische Bedeutung daher erhalten, daß die menschliche Weisheit als Wirkung auf die göttliche als ihre Ursache hingeordnet ist, oder daß das akzidentelle Sein auch in Abhängigkeit vom substantiellen besteht. Der analoge Seinsbegriff ist dann nur noch der sprachliche Ausdruck für den Fixpunkt der realen Einheit der Dinge. So ist dieses Sein an sich schon die Einheit der Welt durch die Re-

geworden.

1 Vgl. Dever. 1,1. 2 Vgl. S.th. I-II, 94, 2. 3 S.th. 1,13, 5c 4 Vgl. De ver. 2, 1 lc. und S.th. I, 13, 5. 5 S.th. I, 13, 5 ad 1, Schon durch die Bestimmung als ana-log erweist sich das Sein als Begriff. 6 Vgl. die Arbeiten von Ralph Mclnnerny, z.B. The Logic ofAnalogy, Den Haag 1961 oder Aquinas and Analogy, Washington 1996.

102

ZWEITES KAPITEL: THOMAS VON AQUIN

flexion. Im Unterschied zu Aristoteles, wo das unbewegt Bewegende diese Funktion der Totalität erfüllt, ist hier das analoge Sein das Organisationsprinzip der Einheit wissenschaftlicher Aussagen. Der Begriff Gottes tritt als zweckbewußt und praktisch ordnendes Prinzip hinzu. Es muß ein Prinzip der Wissenschaft denkbar sein, daß nicht Gott ist, weil dieser vom menschlichen Intellekt nicht vollständig begriffen werden kann. Umgekehrt muß Gott über dieses Prinzip hinausreichen, um den Pantheismus zu vermeiden. Gott muß über das Sein selbst hinausgehen, denn sonst könnte man „mit demselben Recht sagen: der Stein ist Gott, wie man sagt: der Stein ist ein Sein"1. Das analoge Sein für sich genommen schwebt zwischen ontischer Realität und Reflexionsbestimmung. Darin drückt sich das Problem aus, das die Einheit im Denken ein fundamentum in re haben muß, das aber selbst nur durch Denken zu bestimmen ist.2 Zwar wird die Konstitutivität des Seins bei Thomas durch seine Aufhebung in Gott gewährt, aber in der virtuellen Trennung beider Seiten liegt auch die Möglichkeit einer säkularisierten kritischen Wissenschaft. Es hat sich ein Begriff ergeben, der aus der Reaktion auf das Problem des eminenten Unterschiedes heraus geeignet ist, das Seiende noch über die Kategorien hinaus unter eine Einheit zu bringen. Da er aber zur Erklärung des unterschiedenen Seienden dienen soll, müssen die Unterschiede, die in ihm verschwunden sind, aus ihm nun wieder herausgeholt werden. Thomas stellt demgemäß fest, daß es Bestimmungen gibt, die dem Begriff des Seienden schlechthin zukommen, ohne „irgendeine Differenz"3 hinzuzufügen. Diese Funktion erfüllen die Kategorien und Transzendentalien, die zunächst Ausgangspunkt der Seinsbestimmung waren. Dem gesamten Argument ist die Relation des Gegenstands auf das Denken und damit die erkenntnistheoretische Reflexion immanent, diese muß aber zunächst nicht systematisch durchgeführt werden: „Es ist [...] nicht nötig, daß jeder, [...] der das Seiende erkennt, auch den tätigen Verstand erkennt, und doch vermag der Mensch ohne den tätigen Verstand nichts zu erkennen."4 Die Bestimmung der Wahrheit jedoch erfordert die Erkenntnistheorie, weil mit der Feststellung der Notwendigkeit der Relation von Denken und Gegenstand die Reflexion eine andere Qualität erhält, da der Verstand mittels der Relation selbst zur Bestimmtheit der Dinge beizutragen scheint. „Nun ist aber die eigentümliche Tätigkeit des Menschen, sofern er Mensch ist, das Denken." Die anima intellectiva als Form des Menschen umfaßt auch alle anderen Seelenvermögen. Ihre spezifische Eigenschaft ist aber der Geist, der als Ort der Erkenntnisvermögen bestimmt ist. Auch die nähere Bestimmung der anima intellectiva wird erschlossen durch Reflexion auf den Erkenntnisprozeß, die Reflexion des Geistes auf sein Wesen muß an die erkenntnistheoretische Betrachtung der bestimmten Akte ge1 2 3 4 5

S.c.G., I, 26. Zu dem Problem vgl. KrV B 595ff. Dever. 1, lc. De ver. 1, 1 ad 3. S.th. I, 76, lc.

I. Die intellektuelle Erkenntnis

103

bunden bleiben, da der primäre Gegenstand des Denkens in der Reihenfolge des Auffassens dasjenige ist, was nicht selbst Denken ist: „Darum richtet sich die Tätigkeit [actio] unseres Verstandes zuerst auf das, was durch die Phantasmen aufgefaßt wird, und dann wendet sie sich zur Erkenntnis ihres Aktes zurück; und darüber hinaus zu den Spezies und Habitus und Potenzen und dem Wesen des Geistes selbst."1 Dem entsprechend entwickelt Thomas in der Untersuchung des Geistes aus seinem Verhältnis zu materiellen Gegenständen die Selbsterkenntnis. Da etwas nur erkennbar, insofern es wirklich ist, der erkennende Geist zur Erkenntnistätigkeit aber solange in Potenz steht, als er nicht aktuell erkennt, ist die Erkenntnis von Bestimmtem Voraussetzung für die Reflexion. Gleichwohl wird sich zeigen, daß eine ursprüngliche Reflexivität angenommen werden muß, die vorausgesetzte Gewißheit desjenigen Selbst, das in der Reflexion zum Bewußtsein seiner sich entfalten soll.

1.

Erkenntnis äußerer Gegenstände

Weil die Wissenschaft das Wesen des Wirklichen erkennen soll, müssen in der Erkenntnis geistige Vermögen, in denen das Erkannte in allgemeiner Form seinen Ort hat, mit sinnlichen Vermögen zusammenwirken, durch die das Subjekt auf bestimmte Objekte sich beziehen kann. Erkenntnistheoretisch ist die prinzipielle Erkennbarkeit des Körperlichen unumgänglich, wenn eine Orientierung in der Wirklichkeit möglich sein soll. Wäre solche Erkenntnis grundsätzlich ausgeschlossen, hieße das auch, „daß Gott und die Engel das Körperliche nicht erkannten"3. Wäre aber diese Erkenntnis nicht einmal in einem absoluten Intellekt denkbar, könnte kein Grund angegeben werden, in dem immaterielles Gedachtes und materielle Wirklichkeit verbunden wären, der Begriff der Totalität könnte nicht gedacht werden. Wären andererseits alle Gegenstände des Denkens auch dessen Produkte, so wäre Jedes Urteil wahr"4, da die subjektiven Vorstellungen nur an sich selbst zu messen wären; der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch wäre aufgehoben. Das erkennende Subjekt wird mit dem partikulären Gegenstand zunächst durch die Sinnesreize konfrontiert. Die Eindrücke der verschiedenen Sinne werden durch den Gemeinsinn (sensus communis) synthetisiert, der noch zum sinnlichen Teil der Seele 1 2

De ver. 10, 9c Vgl. S.th. I, 84, 3c Die zunächst erschlossene Verbindung von Geist und Körper wird in 84, 7 affirmativ gewendet, indem sie als vernünftig behauptet wird. Solche Vernunft muß sich indes in einem fehlerhaften Kreislauf herumdrehen: Daß körperliche Dinge die Gegenstände unserer Erkenntnis sind, wird begründet durch die Verbindung unseres Geistes mit dem Körper; diese Verbindung wieder sei notwendig, um die körperlichen Gegenstände zu erkennen. 3 S.th. I, 84, 1 ad 2. 4 S.th. I, 85, 2.

Zweites Kapitel: Thomas von Aquin

104

gehört, aber die Verbindung zum Intellekt vorbereitet. Die Synthese der Empfindungen nennt Thomas Wahrnehmung.2 Die Wahrnehmungen von Einzelnem sind in der Seele zwar in anschaulicher Weise, aber können durchaus schon typisierte Gestalt haben, insofern die „Urteilskraft"3 verschiedene Wahrnehmungen miteinander abgleicht. Diese Vorstellungen werden in der Einbildungskraft' oder ,Phantasie'4 aufbewahrt. Daher heißen sie phantasmata. Der Begriff des phantasma, in dem die Notwendigkeit der Anschauung für die intellektuelle Erkenntnis thematisiert wird, ist in der Thomasischen

Bedeutung.5

Erkenntnistheorie von zentraler „Wenn man etwas denken will, [formt man] sich Phantasiebilder nach Weise von Mustern und Vorbildern [...], um in ihnen, was er denken will, gleichsam anzuschauen."6 Jede Erkenntnis, die nicht rein spekulativ ist, ist mit Anschauung verbunden, sowohl wenn sie gewonnen wird, als auch wenn sie schlußfolgernd entfaltet wird oder wenn sie zur Anwendung gelangt. Zudem kann nichts Allgemeines als solches eingesehen werden, beispielsweise keine geometrische Bestimmung ohne daß sie einmal anhand einer Zeichnung vorgeführt worden wäre.7 Das phantasma ist Bedingung der Möglichkeit, daß ein Gegenstand Gegenstand der Erkenntnis wird, genauso wie dessen, daß die Erkenntnis Erkenntnis von Bestimmtem ist, da sie im Verstand nur auf allgemeine Weise sein kann. Da „unser natürliches Erkennen [...] seinen Anfang von der und damit von äußeren Gegenständen nimmt, muß der Verstand als ein Vermögen gedacht werden, das zunächst in Potenz zur Aufnahme der Erkenntnisse dieser Gegenstände steht. Bestünde andernfalls die Erkenntnis darin, daß der Verstand in sich selbst diese vorfände, müßte er alles schon in sich enthalten, und es wäre nicht zu erklären, warum er manchmal denkt und manchmal nicht. Der Verstand muß also zunächst als ein intellectus possibilis auf die Gegenständen bezogen sein.9 Nun muß aber der Inhalt des phantasma, der noch unter der Bedingung der Partikularität steht, in eine allgemeine Form gebracht werden, die

Sinneswahrnehmung"8

1 2

3

Vgl. S.th. I, 87, 3 ad 3. Vgl. S.th. I, 84, 6. S.c.G. II, 60.

Vgl. S.th. I, 78, 4 Die Einbildungskraft ist kein passives Vermögen. Sie muß als tätig angenommen werden, insofern sie aufbewahrte Vorstellungen hervorbringt, zudem als produktiv, insofern sie Vorstellungen erzeugt, die Abwesendes oder gar nicht Existentes darstellen. Vgl. hierzu S.th. I, 84, 3c; 6c; 85, 2 ad 3; 86, 4c; De ver. 10, 4 ad 1; 6 ad 5 und Günther Mensching, Das Allgemeine und das Besondere, a.a.O., 226. 5 Vgl. Karl Rahner, Geist in Welt, München 1957. Das erste Kapitel bietet eine gründliche Interpre4

tation von S.th. I, 84, 7. 6 S.th. I, 84, 7c 7 Dieses Problem behandelt Thomas in S.th. I, 84, 7 in der objectio 3 und der entsprechenden Antwort. Spekulative Erkenntnis, die die Anschauung wesentlich überschritte, soll jedoch einer Analogie zur Anschauung bedürfen; sonst geriete sie in Konflikt mit dem Absoluten. 8 S.th. I, 12, 12c 9 Vgl. In de an. III, lect. 7, Nr. 682 und De ver. 10,6c

I. DIE INTELLEKTUELLE ERKENNTNIS

105

Gegenstand des Denkens sein kann. Außerdem wäre ein rein rezeptiver Intellekt vollständig determiniert. Der Intellekt muß über den intellectus possibilis hinaus als Tätigkeit bestimmt sein, die diese Formen produziert, als intellectus agens. Der Mensch erkennt am Einzelding, das aus Form und Materie zusammengesetzt ist, die erst

wirklich

Form. „Das aber erkennen, was in dem individuellen Stoff ist, nicht sofern es in einem solchen Stoff ist, heißt die Form von der individuellen Materie abstrahieren, die die Phantasmen uns vor Augen stellen."2 Der intellectus agens soll durch Abstraktion die Form aus dem Stoff herauspräparieren, um so zu dem erkennbaren allgemeinen Gegenstand zu gelangen, der species intelligibilis. Vom intellectus agens werden „Dinge zu Gegenständen in Wirklichkeit"4 gemacht. Die erforderte Immaterialität dieser Gegenstände bezieht sich allerdings nur auf die materia signata; in der negativen Bestimmung der materia non signata bleibt die species intelligibilis auf das bezogen, woraus sie gewonnen wurde, wenngleich der Abstraktion alle individuellen Bestimmungen zum Opfer fallen, die nicht zum Begriff der Art Der intellectus possibilis wird zur aktuellen Erkenntnis überführt „durch das intelligible Bild, durch das er informiert wird"6. Dieser Vorgang ist in Analogie zu jenem zu verstehen, durch den die materia prima, die in Potenz zu allen Formen steht, durch diese zur Wirklichkeit überführt wird. Die species intelligibilis, die der intellectus agens vom phantasma abstrahiert hat, kann nun ihren Ursprung in der Belehrung haben oder in Unter den Begriff der inventio fallen mit der selbständigen Erkenntnis äußerer Dinge auch Erkenntnisse, die der produktiven Einbildungskraft entspringen aufgrund spontaner Verstandestätigkeit. In jedem Fall sind die species im intellectus possibilis gleichermaßen durch den intellectus agens und durch das phantasma bestimmt. Während einerseits die Trennung von intellectus agens und intellectus possibilis auch dazu dient, den intellectus possibilis als Ort allgemeiner Erkenntnis von den Einzeldingen so gründlich wie möglich abzutrennen, stellt andererseits das phantasma die Beziehung der species zum extramentalen Gegenstand her. Die species ist nämlich nicht das, was gedacht wird, sondern das „wodurch der Verstand denkt"9. Das Gedachte

gehören.5

„Erfindung"7. a

Vgl. De ver. 10, 6c und S.c.G. II, 76. Die Bestimmungen des Intellekts sind als Bedingungen seiResultate erschlossen und nicht postuliert als deus ex machina, wie Kühn meint. Vgl. Wilfried Kühn, Das Prinzipienproblem in der Philosophie des Thomas von Aquin, Amsterdam 1982, 285ff. 2 S.th. 1,85, lc. 1

ner

3 Die übliche Übersetzung von species mit ,Bild' verleitet zu der falschen Annehme, man habe es mit einer Abbildtheorie zu tun. Der Sache nach bezeichnet species intelligibilis den erkennbaren Artbegriff. Vgl. auch Günther Mensching, Das Allgemeine und das Besondere, a.a.O., 218. 4 S.th. I, 79,4 ad 3. 5 Vgl. S.th. I, 85, 1 ad 1, ad 2, und S.c.G. II, 75. 6 S.th. I, 84, 7 obj. 1. Karl Rahner, Geist in Welt, a.a.O., weist 36f. zu recht daraufhin, daß die objectiones in diesem Artikel keine äußerlichen Einwände sind. 7 S.th. I, 84, 3c 8 Vgl. Dever. 10, 6 ad 7. 9 S.th. I, 85, 2c

Zweites Kapitel: Thomas von Aquin

106

selbst bleibt der äußere Gegenstand: „Die Wissenschaften aber haben die Dinge und nicht die Erkenntnisbilder oder das Bewußtseinsmäßige zum Gegenstand, mit Ausnahme der Der intellectus possibilis als Ort der Erkenntnis ist zugleich der Ort, an dem die Erkenntnis aufbewahrt wird, das intellektuelle Gedächtnis.2 Das Gedächtnis ist nicht Akt, da sein Inhalt nicht Gegenstand aktueller Erkenntnis ist, es ist aber auch nicht bloße Potenz, da sein Inhalt schon bestimmter Inhalt ist. Dies wird von Thomas als „habituelles" Wissen bezeichnet. Die habitus, im Gedächtnis gespeicherte species, sind Voraussetzung für die bestimmte Erkenntnis, indem durch sie „die Seele dazu fähig gemacht wird [perficitur], etwas zu erkennen" ; äußere Gegenstände werden erkannt als das, was sie sind, indem sie unter habituell gewußte species subsumiert werden. Wie oben bereits dargestellt wurde, kann die ursprüngliche Erwerbung der habitus nicht Gegenstand systematischer Untersuchung sein. Es ist unumgänglich, ein habituelles Wissen' anzunehmen, um den Erkenntnisprozeß, aber auch um die Akkumulation von Wissen in den Wissenschaften zu erklären, die darin besteht, daß der Verstand auf bewahrtes Wissen aufbauend dieses erweitert. Zur Aktualisierung der habitus, also dazu, daß der Verstand (sich an) eine species erinnert, ist wieder das phantasma von entscheidender Bedeutung, der Geist kann „selbst das, was er habituell weiß, nicht aktuell betrachten [...], ohne ein Phantasma zu bilden"6. Dieses phantasma kann nun direkt von außen stammen, oder auch aus der produktiven Einbildungskraft, was immer dann der Fall ist, wenn etwas gedacht werden soll, das nicht gegenwärtig ist. Der menschliche Verstand das heißt durch Inbeziehungsetzen von Bedenkt durch „Verbindung und griffen in der Prädikation, im Beweis oder im Schluß. Er muß dazu die nötigen Begriffe auf genannte Weise aktualisieren. Ob nun äußerlich Gegenwärtiges erkannt wird, oder innerhalb des Geistes, der intellectus possibilis muß auf seine Gegenstände bezogen werden. Das kann nicht automatisch geschehen, es müßte sonst alles, was gegenwärtig ist, erkannt werden, oder eine zufällige Auswahl müßte getroffen werden. Da aber Gegenstände bewußt ausgewählt werden können, ist Beziehung des Denkens auf Gegenstände ein Zusammenwirken der Urteilskraft8 mit dem Willen.9 „Es kann aber kein vollkommenes Urteil über irgendein Ding abgegeben werden, [...] wenn man das nicht

Logik."1

Trennung"7,

1 In de an. III, lect. 8, Nr. 718. Mit der ,Logik' ist die Betrachtung des .Bewußtseinsmäßigen', also des Denkens selbst gemeint; es handelt sich um Erkenntnistheorie. 2 Vgl. Dever. 10,3c 3 Dever. 10, 2c 4 Dever. 10, 9 ad 3. 5 Thomas entwickelt diese Überlegung in der Zurückweisung der Bestimmung des Gedächtnisses durch Avicenna in De ver. 10, 2c 6 De ver. 10, 6 c; vgl. auch 2 ad 5. 7 S.th. I, 85, 5 ad 3. 8 Vgl. Dever. 10, 5c 9 Vgl. Dever. 10,2c

I. DIE INTELLEKTUELLE ERKENNTNIS

107

der Bezugspunkt [terminus] und das Ziel des Urteils ist."1 Die Erkenntnis des Besonderen ist bestimmt durch das Allgemeine als telos, das angestrebt wird, um das Besondere zu erklären. Das Streben aber, wodurch das Subjekt auf allgemeine Gegenstände bezogen ist, ist der Wille.2 Thomas versucht, beide ,Teile' des Intellekts zusammenzudenken. Die inneren Vermögen der Seele seien „nicht räumlich getrennt in der Seele zu denken"3. Der intellectus agens und der intellectus possibilis wirken immer zusammen, nur begrifflich sind sie zu unterscheiden. Dennoch versucht Thomas, eine Ordnung der Vermögen zu bestimmen, die Unterscheidung des Geistes in sich faßbar zu machen. Der Begriff der Potenz leistet nicht die dialektische Verknüpfung, die im Begriff des Moments erst möglich ist. Thomas weiß aber, daß die Seele von anderem Seienden dadurch unterschieden ist, daß sie in sich selbst unterschieden ist.5 Diesen Unterschied zu anderem, so legt er Augustinus aus, muß der Geist bestimmen, will er sein eigenes Wesen erfassen. Mit dem Unterschied seiner zu sich selbst in sich selbst wird nun die Reflexivität des Geistes selbst thematisiert. Die Entwicklung des Verhältnisses zu den Gegenständen, sowie des inneren Verhältnisses von intellectus agens und intellectus possibilis, Bestimmtheit und Bestimmbarkeit des Geistes selbst ist notwendig vorausgesetzt, da erst durch die Tätigkeit des intellectus agens der Geist sich einen ihm adäquaten Gegenstand schafft. In ihm erst kann er seiner selbst als von der Natur auch Unterschiedenem bewußt werden.

kennt,

2.

was

Erkenntnis seiner selbst

„Durch den Akt wird der Verstand selbst erkannt."7 Das ist so, weil der Verstand wesentlich potentiell, Erkenntnisvermögen ist. Etwas, das nicht aktual ist, ist aber ohne

Form und daher nicht erkennbar. In der Tätigkeit des Erkennens wird nun der Verstand durch sein Objekt informiert und kann so sich selbst erkennen, insofern er erkennend ist. Die einfache Feststellung, daß man aktuell erkennt, ist offenbar, aufgrund der Selbstgegenwart des Geistes. Die allgemeinen Bestimmungen des menschlichen Geistes dagegen sind Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung, die den Geist jedoch nicht in seinem Wesen erkennt, sondern dieses Wesen nur erschließen kann als Bedingung der

1 2

S.th. I, 84, 8c

Vgl. De ver. 10, 1 ad 2. Thomas stellt die Beziehung von Allgemeinem und Besonderem durch das Subjekt in S.th. 84, 8c und In de an. III, lect. 10, Nr. 735 dar am Modell handwerklicher Tätigkeit. 3 De ver. 10, 9 ad 3 in contr. Was hier auf Verstand und Gemüt bezogen ist, muß auch für die anderen inneren Vermögen geltend gemacht werden. 4 Vgl. De ver. 10, 8 ad 11 in contr. und S.th. I, 85, 1 ad 3. In S.c.G. II, 77. wird das Verfahren der Distinktion besonders deutlich. 5 Vgl. Dever. 10, 8 ad 12. 6 Vgl. S.th. 1,87, lc. 7 S.th. I, 87, 3c

Zweites Kapitel: Thomas von Aquin

108

Möglichkeit der je bestimmten Tätigkeit, von der die Untersuchung ausgeht. Diese Bestimmung der Reflexion, die immer durch anderes bestimmt wäre, eröffnet jedoch Schwierigkeiten. Wenn der Geist vor aktueller Erkenntnis gar nicht bestimmt wäre, wie sollte er dann überhaupt als Unterschiedenes in ein Verhältnis zu Gegenständen treten können? Wenn alle Bestimmungen des Denkvermögens erst aus dem Denken resultierten, wie sollte dann gedacht werden können? Thomas weiß, daß die aktuelle Reflexion zwar bestimmter Inhalte bedarf, aber prinzipiell nicht auf den Erkenntnisakt reduzierbar

wenn Erkenntnistheorie nicht Abbildtheorie sein soll, muß „das Wissen unseres Geistes teils von innen, teils von außen herrühren"2. Die Fähigkeit des Geistes kann nicht nur Potenz sein, sondern mit ihr muß der Geist an sich selbst durch sich selbst bestimmt sein. Diese vorausgesetzte Reflexivität benennt Thomas mit dem schiefen Ausdruck „habituelle Kenntnis seiner selbst"3. Die Bezeichnung als habitus, der etwas Erworbenes, jedenfalls nicht Substantielles ist, soll den menschlichen Geist vom absoluten unterscheiden, der an sich selbst reflexiv ist. Es gelingt Thomas jedoch nicht, diese Bestimmung durchzuhalten, denn daß die Seele sich habituell „durch ihr Wesen sieht"4, kann nichts Anderes heißen, als daß der Geist wesentlich reflexiv ist. Durch ihre Selbstgegenwart weiß die Seele zwar nur unmittelbar, daß sie ist, aber indem „ihr Wesen ihr gegenwärtig ist, ist sie fähig einen Akt der Selbsterkenntnis zu vollziehen"5. Die Vermittlung durch Äußeres ist zwar Bedingung, aber das Äußere kann nicht trennend oder unterscheidend zwischen die Geistesvermögen treten, denn die Selbsterkenntnis ist keine Relation getrennter Relata. Es müßte sonst einen Zirkelschluß bedeuten, daß der Geist sich selbst durch sich selbst erkennt.6 Der Geist ist „sich gegenwärtig [...] ehe irgendwelche species von den Sinnen empfangen werden" es ist ihm sogar „in gewisser Weise alles Wissen ursprünglich eingedenn wenn der intellectus agens die Gegenstände zu seinen Gegenständen zu machen in der Lage ist, muß er diesen Gegenständen adäquat sein, er muß so verfaßt sein, daß die Gegenstände ihren allgemeinen Bestimmungen nach gar nicht ihm andere sind. Das ist dadurch gewährleistet, daß er in sich die allgemeinen Prinzipien der Erkenntnis enthält, die logische und zugleich ontologische Grundsätze sein müssen. Diese Bestimmtheit ist nach Thomas ein angeborenes Abbild des ungeschaffenen Lichtes, der unverletzlichen Wahrheit des Absoluten. Dies ist als geschaffenes Licht, lumen natura-

ist;

pflanzt"8,

,

1 Die Entwicklung dieses Gedankens betreffend vgl. De ver. 10, 8c und S.th. I, 87, lc. 2 Dever. 10, 6c 3 Dever. 10, 8 ad 1. 4 De ver. 10, 8c Die Unableitbarkeit der Reflexivität findet auch in S.c.G. II, 87 Ausdruck. Die Seele kann nach dieser Darstellung nur aus dem Nichts hervorgehen. Das Hervorgehen aus dem Nichts wird mit dem Schöpfungsakt identifiziert, in dem Tiere wohl auch aus Erde und Wasser, also Kontingenten! hervorgehen, die Menschen aber direkte Produkte des Absoluten sind. 5 Dever. 10, 8c 6 Vgl. Dever. 10, 8 ad 9. 7 Dever. 10, 2 ad 5. 8 Dever. 10, 6c

109

I. DIE INTELLEKTUELLE ERKENNTNIS

le, die notwendige Bestimmung des Geistes, „wie er nach ewigen Gründen beschaffen

sein muß"1, und durch sie wird sie selbst offenbar. Bei dieser starken Position der reinen Reflexivität muß daran erinnert werden, daß sie völlig leer bliebe, ohne die Beziehung auf Anderes. Die Reflexion ist so als reine Reflexivität sich selbst vorausgesetzt, aber sie könnte nicht einmal sich selbst setzen, ohne äußere Reflexion; beide bilden eine Einheit. Der intellectus agens setzt zwar die Gegenstände als Gegenstände des Geistes, muß aber die species immer als Resultat betrachten, das auf seine Herkunft bezogen bleibt. Hierin bleibt die anfangs erwähnte Differenz von Erkenntnisgrund und Existenzgrund erhalten.2 Durch die Notwendigkeit der Anschauung und besonders dadurch, daß der Wille zu den Vermögen des Geistes gezählt wird und das Allgemeine mit dem Besonderen vermittelt, verbindet Thomas setzende und äußere Reflexion zur Einheit von Bestimmtheit und Bestimmbarkeit. Die Wichtigkeit der Funktion der äußeren Reflexion ist der Grund, aus dem es bei Thomas in der menschlichen Reflexion keine bestimmende Reflexion gibt. Wenn nämlich der Unterschied des Geistes in sich erst gesetzt wird durch die Beziehung auf das, was er nicht selbst ist, kann dieses andere nicht aus der Selbstunterscheidung des Geistes hervorgehen. Es „ist zu sagen, daß das menschliche Denken selbst nicht der Aktus und die Vollkommenheit der gedachten stofflichen Natur ist, so daß auf diese Weise die Natur des stofflichen Dinges und das Denken zugleich gedacht werden könnte"3.

3.

Geist und Trinität

Die Betrachtung der Reflexion in der Quaestio 10 De veritate erhält im Zusammenhang des Wahrheitsbegriffes einen besonderen Schwerpunkt. Die allgemeine Bestimmbarkeit der Wahrheit als adaequatio erfordert zunächst, daß die verschiedenen menschlichen Intellekte in einem allgemeinen Intellekt zusammen gedacht werden können, es ist „nötig, daß sie [die Kraft des intellectus agens] von einem Grunde in allen hergeleitet wird. Und so weist jene Übereinstimmung der Menschen im Erstverstehbaren auf die Einheit des getrennt bestehenden Verstandes hin" Weiter setzt die adaequatio voraus, daß Geist und Gegenstand strukturgleich sind. Jedenfalls müssen die Dinge und der Geist, die eminent verschieden sind, unter einem Begriff der Totalität zu denken sein, wenn sie vergleichbar, ja angleichbar sein sollen. Fiele dieser Begriff der Totalität, der beides zu.

1 Dever. 10, 8c 2 Vgl. S.th. 1,87, 1. 3 S.th. I, 87, 3 ad 2. 4 S.th. I, 79, 5 ad 3. Vgl. auch S.c.G. III, 47. Der ,getrennt bestehende Verstand' darf hier nicht im Sinne des Averroes interpretiert werden, der annahm, daß der intellectus possibilis für alle Menschen der Zahl nach einer sei und daher getrennt von den Menschen bestehe. Bei Thomas ist die absolute Einheit dagegen nur als Antwort auf das Problem der realen Vielheit zu verstehen. Zur Begründung der Vielzahl der menschlichen Intellekte vgl. daher auch S.c.G. II, 73. Zu diesem Zusammenhang vgl. ferner De unitate int.

Zweites Kapitel: Thomas von Aquin

110

in eines der beiden, die Reflexion, reproduzierte sich das Problem. Die menschliche Reflexion muß den Begriff ihrer selbst rein entfalten, als die absolute Reflexion, in deren Bewegung das real Getrennte unmittelbar zusammengedacht wird. „Da jedoch die Schauung der göttlichen Substanz das letzte Ziel einer jeden intellektuellen Substanz ist [und] das natürliche Streben des Verstandes, die Gattungen, Arten und Kräfte aller Dinge und die gesamte Ordnung des Universums zu erkennen [...], erkennt auch ein jeder, der die göttliche Substanz schaut, zugleich alle diese Einzelheiten."1 Aus dem Zusammenhang dieser Totalität ergibt sich die Möglichkeit eines jeden Gegenstandes, an den menschlichen Verstand angeglichen zu werden, weil er dem Intellekt überhaupt angeglichen ist. Diese Relation wird als ontologisches Fundament der Wahrheit verstanden: „Entsprechend der Übereinstimmung mit dem göttlichen Geist wird es [jedes Ding] wahr genannt, sofern es das erfüllt, wozu es durch den göttlichen Geist bestimmt ist." Die weitere Schwierigkeit ergibt sich nun daraus, wie der menschliche Intellekt selbst sich zu einer so verstandenen Totalität verhält: Umfaßt er sie oder umfaßt sie ihn? Die notwendigen Bestimmungen der Reflexion stellen sich im trinitarischen Verhältnis von Verstand, Gedächtnis und Wille dar. Thomas untersucht nun die menschliche Reflexion, insofern „darin das Abbild der Trinität ist"3. Die göttliche Trinität wird hier als Voraussetzung betrachtet, obwohl sie sich der Sache nach als Resultat des erkenntnistheoretischen Problems der adaequatio erweisen muß, weshalb die Reflexion auf das Absolute bei Thomas den Abschluß der Erkenntnistheorie bildet.4 Der menschliche Geist kann sich als Verstand auf die Dinge beziehen, vermittels des Willens. Der Wille kann aber nichts wollen, das nicht schon erkannt ist, da er sich auf Allgemeines bezieht. „Hieraus wird also klar, weshalb diese Vermögen durch ihre Tätigkeit sich gegenseitig einschließen: der Verstand erkennt das Wollen des Willens, und der Wille will das Erkennen des Verstandes."5 Das Erkannte ist im Gedächtnis und auch die Aktualisierung des Gedächtnisinhaltes kommt durch den Willen zustande. Mittels der bestimmten Erkenntnis der Gegenstände des Geistes, die das Gedächtnis informieren, wird der Geist, wenn er sich willentlich auf sich bezieht, sich selbst zum Gegenstand. Das Selbstbewußtsein ist diese Dreieinheit von Verstand, Wille und Gedächtnis, der Geist wird als dieser Potenzen bezeichnet: In ihm sind sie unterschieden und nicht unterschieden.

sammenbringen soll, vollständig

„Gattung"6

1 S.c.G. III, 59. 2 De ver. 1, 2 c 3 Dever, 10, 1. 4 Wilfried Kühn, Das Prinzipienproblem in der Philosophie des Thomas von Aquin, a.a.O., sieht zwar, daß Selbstbewußtsein bei Thomas eine Bedingung der Möglichkeit des adaequatio-Begriñs ist (vgl. 335); weil er aber die Fortsetzung der Philosophie in die Theologie nicht beachtet, kommt er zu dem Resultat, das werde für die Thomasische Philosophie weiter „nicht bestimmend" (338). 5 S.th. 1,82,4 ad 1. 6 Dever. 10, 1 ad 2.

I. DIE INTELLEKTUELLE ERKENNTNIS

111

„Spur"1,

Diese Dreiheit ist nun unvollkommen, eine insofern der menschliche Geist materielle Dinge erkennt, denn hier wird sie vermittelt durch ein genuin Anderes, den äußeren Gegenstand. Der Geist wendet sich mittels der Sinne nach außen und erst dann wieder zurück. Nur der Geist, soweit er unabhängig von den Sinnen ist, kann in der Selbsterkenntnis vollständig zu sich zurückkehren.2 Diese Selbsterkenntnis ist aber nur aktual, wenn das Gedächtnis nicht bloße Potenz, sondern in bestimmter Weise geformter Geist ist. In dieser Form wird es als „Wort"3 bezeichnet. Indem das Wort die Relation der Bezeichnung, also zwischen Begriff und Gegenstand darstellt, impliziert es Entäußerung. Damit ist die Reflexion aber wieder auf anderes verwiesen, vollkommen wird sie erst in der Erkenntnis des Absoluten, die nicht diskursiv, durch Sätze vermittelt, sein kann. Das Absolute ist das eigentümliche und „höchste des Geistes und offenbart so dessen Wesen. Während beim Erkennen materieller Gegenstände die Erinnerung, das Sich-auf-Sich-Zurückwenden, aus der bestimmten Erkenntnis hervorgehen muß, geht die Erkenntnis des Absoluten rein aus der Erinnerung hervor.5 Nur durch Reflexion, die alle Erfahrung übersteigt, gelangt der Geist zum Begriff des Absoluten, der sich so als seine Form ergibt: „In der Erkenntnis, womit der Geist Gott selbst erkennt, wird der Geist selbst Gott Allerdings ist der Verstand „ein Vermögen

Objekt"4

gleichförmig."6

Dever. 10, 7c Vgl. De ver. 10, 7 und 9. Zum Zusammenhang der reditio vgl. Reto Luzius Fetz, Ontologie der Innerlichkeit, Fribourg 1975. Fetz entwickelt aus der Thomasischen Ontologie die Reflexivität in Gestalt der processio ad intra und der reditio als Ordnungsprinzip. Danach, ob die Wesensäußerung eines Dinges sich bloß nach außen oder aber in verschiedenem Maße auch nach innen wendet, wird das Seiende eingeteilt. Unbelebte Körper wirken nur äußerlich mechanisch, belebte in der Selbsterhaltung sowohl nach außen, als auch nach innen. Das gilt auch für die vernunftbegabten Wesen: „Das Erschließen der menschlichen Natur ist „Rückkehr", weil sie uns sachgerecht in einen Wissensstand versetzt, der im Grunde schon immer der unsrige war." (161) Bemerkenswert ist die Parallele zum xó tí rjv eîvai. „Die reditio kann also nur verstanden werden auf dem tieferen Hintergrund der processio ad intra, die eben besagt, daß der Geist sich in seiner Wesensäußerung präsent bleibt, keine Distanz zu sich selbst schafft [...]. Andererseits gilt aber auch, daß das „Außen" nie vollends wegfallen kann [...]." (162) Allein Gottes Reflexion soll ohne diese Rückkehr auskommen. Da auch Fetz die Trinitätsspekulation außer Betracht läßt (vgl. 179), bemerkt er leider nicht, daß selbst die absolute Reflexion ohne Äußeres nicht besteht und die Behauptung des Gegenteils die idealistische Subreption schlechthin ist. 3 Dever. 10, 7c 4 Dever. 10, 7 ad 4. 5 Vgl. De ver. 10, 7 ad 2. Zur Prinzipienerkenntnis vgl. auch Horst Seidl, „Über die Erkenntnis erster, allgemeiner Prinzipien nach Thomas von Aquin", in: Misc. Med. 19, 103-116. Die differenzierte metaphysische Interpretation sieht freilich in den Kategorien Kants eine ,innatistische Tradition' fortwirken; die Ablehnung, des ,modernen Irrtums', daß das Objekt nur durch Bestimmungen des Subjektes erkannt wird, führt hier unmittelbar zur Verteidigung der positiv verstandenen Verschiedenheit von Objekten und ihren logischen Repräsentationen. So entgehen Seidl die Aspekte der Grundlegung des modernen Denkens bei Thomas. Anders dagegen sieht es Wolfgang Kluxen, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, a.a.O. 6 Dever. 10, 7c 1 2

Zweites Kapitel: Thomas von Aquin

112

der Seele und nicht die Seelenwesenheit selbst"1. Der Geist insgesamt ist zwar Gattung Vermögen, aber auch nicht das Wesen der Seele, der Mensch ist nach Thomas nicht wesentlich Selbstbewußtsein, weil er das Absolute in statu viae nur „im Spiegel und im Rätselwort" 3, durch endliche Erkenntnis hindurch erfassen kann. Die Erkenntnis des Absoluten muß jedoch alle Einzelerkenntnis übersteigen, mithin unendlich sein, was einem endlichen Geist aber nicht möglich sei. Dessen Erkenntnis ist immer an phantasmata gebunden, vom Absoluten gibt es jedoch kein phantasma. Es muß daher in Abhängigkeit vom Anschaulichen auf indirekte Weise erkannt werden, durch „exzessus" und „remotio"5. Indem der Begriff des Endlichen überschritten wird, die spezifischen Bestimmungen negiert werden, soll eine gewisse Erkenntnis des Absoluten möglich sein. Sobald jedoch nur vom Begriff der Endlichkeit ausgegangen wird, ist in diesem Begriff schon eine spekulative, exzessive Erkenntnis ohne Phantasma gegeben, die nach Thomas gar nicht möglich wäre. Darüber hinaus soll die „via remotionis"6 ihren Ausgang von der Bestimmung der Unbeweglichkeit nehmen, die sogar schon Ausdruck der Reflexion auf den Begriff der Endlichkeit ist, eigentlich schon ein Resultat dessen, für das sie der Ausgangspunkt sein sollte. Die Überschreitung der Endlichkeit muß anders als bei Thomas durch einen spontanen Verstandesakt bestimmt sein, der nicht aus der Endlichkeit bestimmter Verstandeserkenntnis selbst motiviert sein kann. Wenn wir von Gott erkennen, „nicht was er ist, sondern was er nicht ist" muß zur Bestimmung dessen, was er nicht ist, das, was er ist, bekannt sein. Thomas sagt, es sei nicht bekannt, aber insofern gegeben, als der Geist eine „Intention"8 auf Gott habe. Wenn diese Intention ihm aber wahrhaft eigen ist, kann er den Begriff des Absoluten aus sich hervorbringen. Andernfalls könnte die Intention ihr Objekt nicht finden. Das Absolute ist jedoch seinem Begriff nach in sich auf sich bezogen: „Das Eigentümliche der Personen aber sind die Beziehungen, in denen die Personen nicht zu den Geschöpfen, sondern untereinander stehen." Da die Beziehung der absoluten Reflexion ihr nicht äußerlich wird, kann sie in der Tat nicht Gegenstand menschlicher Erkenntnis sein. Das Prinzip aller Erkennbarkeit, das an sich intelligibel ist, ist damit für andere

von

-

-

,

S.th. I, 79. Vgl. auch De ver. 10. Mit Martin Grabmann kann man es topographisch sehen: ,hienieden'. Martin Grabmann, Thomas von Aquin, Persönlichkeit und Gedankenwelt, München 1946, 103 u. ö. 3 De ver. 10, 11 ad 9. Thomas zitiert hier 1. Kor., 13,12. 4 Thomas hat ein zwieschlächtiges Verhältnis zum Unendlichen. Obwohl er im Zusammenhang des Absoluten mit dem aktual Unendlichen argumentiert, verwendet er zur Bestimmung der Schranke des menschlichen Verstandes stets das schlecht Unendliche. Vgl. z.B. S.c.G. III, 54. Im Comp. theol., c. 18, 18 jedoch führt er als Modell der aktualen Unendlichkeit Gottes den menschlichen Intellekt an; beide sind dann nur noch der Zahl nach unterscheidbar. 5 S.th. I, 84, 7 ad 3. 6 S.c.G. I, 14. 7 Dever. 10, 11 ad 4. 8 Dever. 10,11 ad 11. 9 Dever. 10, 13c 1 2

I. Die intellektuelle Erkenntnis

113

intelligibel.1 Deshalb ist im strengen Sinne auch kein Verstandesbeweis für seine

nicht Existenz

möglich. Nur aus der Existenz von Dingen überhaupt läßt sich folgern, daß eiRegreß der je nächsten Ursachen abbrechen muß. Das Sein Gottes aber läßt sich nicht einsehen, obwohl es in ihm unmittelbar intelligibel

ne

erste Ursache den unendlichen

ist, da es nicht vom Wesen getrennt ist. Aber der Mensch erkennt Gottes Wesen nicht. In dem Argument jedoch, daß der Begriff des Absoluten sein Sein mit sich führe, weil er ohnedem unvollkommen wäre, .unterläuft' Thomas der ontologische Gottesbeweis.

aufnehmen,4

Er muß diesen Gedanken von Anselm da nur auf diese Weise die Wirklichkeit als Totalität denkbar ist. Genauso muß er den Gedanken kritisieren, denn nach dem ontologischen Gottesbeweis wäre Gott nur ein Ausdruck unserer Reflexion: „Nichts Begriffenes überragt die Grenzen des Begreifenden. Würde nun der geschaffe-

Verstand die göttliche Substanz begreifen, so würde die göttliche Substanz nicht mehr die Grenzen des geschaffenen Verstandes überragen. Das ist aber Thomas behilft sich damit, daß das Absolute wohl in sich selbst intelligibel sei, nicht jedoch für den geschaffenen Intellekt. Daher folgt die seltsame Bestimmung, daß Gott nur wahrhaft erkannt werde, wenn dies mit dem Glauben, ihn nicht vollständig zu erob dies theoretische kennen, Vermutungen, Überzeugung oder Dogmentreue ist, sind müßig oder Aufgabe philologischer Untersuchung. Bezeichnend aber ist der erste Satz von S.th. I, 12 durchaus: „Im vorhergehenden haben wir Gott betrachtet, wie er in sich selbst ist; nun betrachten wir ihn, wie er in unserer Erkenntnis ist."7 Darin, daß die Erkenntnis des Absoluten in statu viae, durch das lumen naturale nicht möglich sei, entgeht Thomas in einer Weise dem Hauptvorwurf Hegels an die Metaphysik, daß diese das Absolute verendliche, indem sie es zum Subjekt prädikativer Urteile mache. Für Thomas kann das Absolute nicht Gegenstand der verbindenden und trennenden Vernunfttätigkeit sein. Wie aber gelangt der Mensch nun zur Vollendung seines Selbstbewußtseins, die ja in der Angleichung an seinen höchsten Gegenstand bestehen soll? Und die Annahme, daß die Menschheit ihr Ziel prinzipiell nicht erreiche, hält Thomas zu recht für Die unmittelbare Erfassung des Absoluten ist dem geschaffenen Verstand nur möglich, wenn er durch das „Glorienlicht dazu tauglich gemacht wird"10. Der scheinbar rein äußerlich der Dogmatik der articuli fidei verne

unmöglich."5

einhergehe.6

widervernünftig.9

1 Vgl. Dever. 10, 12c 2 Vgl. De ver. 10, 12 ad 10 in contr. 3 Vgl. Dever. 10, 12c 4 Vgl. Dever. 10, 12c 5 S.c.G. III, 55. 6 Vgl. S.c.G. I, 55. Vgl. Michael Städtler, „Die dritte Negation", in: Hegel-Jahrbuch, i.V. 7 S.th. I, 12, Ausführung der Titelfrage der quaestio. 8 Vgl. Enzyklopädie §§ 31 und 36. 9 Vgl. S.th. I, 88. 10 De ver. 10, 1 lc. Vgl. auch S.c.G. III, 56. Die Überströmung des Geistes durch das Glorienlicht ist übrigens ein Euphemismus für den Tod. Die einzige Ausnahme hinsichtlich der Gotteserkenntnis bilden die .entrückten' Geister, die durch Gott selbst von ihren irdischen Schranken befreit sind. Sie er-

114

Zweites Kapitel: Thomas von Aquin

ist der Gedanke immanent, daß der Geist die Bestimmung des Endlichen überschreiten muß, um zu spekulativer Erkenntnis zu gelangen. Das trinitarische Wesen Gottes, des Absoluten, als Glaubensartikel für unbeweisbar zu erklären, ist indes ganz aristotelisch: Die Prinzipien können nicht Resultat von Beweisen sein, aber sie sind als Grundlage jedes Beweises als Bedingungen zu seiner Möglichkeit er-

pflichteten Argumentation

schließbar.1

kennen zwar Gott ohne Glorienlicht, dafür aber nichts Irdisches mehr. Die Unbrauchbarkeit jedoch des Glorienlichtes für die Wissenschaft hat Thomas einmalig demonstriert, im Comp. theol. II, 10: „Zweitens wird an einem einleuchtenden Beispiel gezeigt daß dies [die Erlösung] möglich ist." Dies sind die letzten überlieferten Worte des Heiligen. Es sei darauf hingewiesen, daß mit der Entstehungszeit des Compendium auch unklar ist, ob wirklich der Tod den Abbruch verursachte. Vgl. Fernand van Steen-

berghen, Die Philosophie im 13. Jahrhundert, a.a.O, 291f. 1 Das heißt also nicht, daß Thomas hier ,die Kraft versagt'. Vgl. Adolf von Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Darmstadt 1980, Bd. III, 499 und S.th. I, 1, 8 ad 1.

115

II. DAS ABSOLUTE

II. Das Absolute 1.

Begriff desselben

Im Begriff des Absoluten1 hat die Thomasische Erkenntnistheorie ihren Abschluß, aber auch ihren Ausgangspunkt. Ausgangspunkt ist er, insofern jede wissenschaftliche Bestimmung bei Thomas implizit oder explizit auf Gott als Urheber des Weltganzen bezogen ist. Trotzdem dies die Darstellung im Ganzen durchzieht, ist es systematisch erst Gegenstand der Schöpfungstheorie. Derartige Voraussetzungen auch die Trinität zählt dazu seien zwar Gegenstände des Glaubens und als solche nicht beweisbar, sie fügen sich jedoch in die systematische Entwicklung des Thomasischen Denkens ein, denn widervernünftig können sie nach Thomas nicht sein. Das Absolute ist der Abschluß der Erkenntnistheorie, „die Betrachtung fast der ganzen Philosophie [geht] auf die Gotteserkenntnis"3. Mit dem Absoluten soll die Möglichkeit wahrer Erkenntnis grundgelegt werden. Wahrheit hatte sich als Relation von Denken und Welt erwiesen. Da das Denken unter Gesetzmäßigkeiten steht, die nicht dem Zufall oder der Veränderlichkeit unterliegen, muß auch sein Gegenstand unter der Bestimmung der notwendigen und unwandelbaren Ordnung erfaßbar sein, Denken und Gegenstand müssen gemeinsam unter dieser Ordnung stehen. „Nun würden aber die unter sich so verschiedenen Dinge keine solch einheitliche -

-

Ordnung bilden können, wenn sie nicht von einem einzigen in diese Ordnung gebracht worden wären. [...] Denn Ursache des Einen ist grundsätzlich das Eine. [...] Da nun das, was an allererster Stelle steht, auch das Allervollkommenste ist und von jeder Voraussetzung unabhängig, so kann jenes erste Wesen, das alle Dinge in eine Ordnung gebracht hat, nur Eines sein."4 Weil jede Notwendigkeit in der Welt in einer Relation, 1 Im Übergang zum Absoluten hat die Lehre von den getrennten Substanzen ihren Ort, die eine Brücke zwischen Schöpfer und Schöpfung bilden, da sie die Menschen noch führen können, weil sie das, was ihnen nur mittelbar gegeben ist, schauen. Profan ausgedrückt, entwirft Thomas in der .Engellehre' einen Begriff reiner Erkenntnis, die aber nicht wie Gott ursprünglich ist. Da hier versucht wird, den Begriff der Reflexion des Absoluten zu entfalten, bevor er in Schöpfungslehre übergeht, erübrigt sich die Betrachtung des englischen Geistes. Eine knappe aber umfassende Darstellung desselben findet sich im Comp. theol., c 124-126. 2 Vgl. S.c.G. I, 9. 3 S.c.G. I, 4. Reto Luzius Fetz, Ontologie der Innerlichkeit, a.a.O., bemerkt hierzu: „In der Gotteslehre der Metaphysik zeigt sich dann allerdings wohl auch für Aristoteles überraschend die ganze Virtualität dieses Prinzipes, aufgrund dessen der Gottheit nur noch Selbsterkenntnis zuzuschreiben ist [...] Was bei Aristoteles erst am Ende seiner Metaphysik aufleuchtet, wird nun bei Thomas schon immer konsequent mitgedacht [...]." (194) Tatsächlich ist die bewußte Inkonsequenz des Aristoteles seine Stärke, und er läßt sich auf den Begriff absoluter Selbsterkenntnis eben nicht ein. Umgekehrt ließe sich sagen, der konsequente Atheismus des Aristoteles ist bei seinem Explicator bloß virulent. 4 S.th. I, 11,3c -

-

116

Zweites Kapitel: Thomas von Aquin

entweder der Einwirkung oder der Erkenntnis besteht, muß etwas angenommen werden, „das durch sich notwendig ist" und daher „selbst der Grund aller anderen notwendigen Wesen"1. Gäbe es nur Notwendigkeit durch anderes, führte dies auf einen unendlichen Regreß, der Begriff der Notwendigkeit hätte keine Grundlage. Zudem kann das Eine, auf das die Ordnung prinzipiell zurückzuführen ist, nicht in der geordneten Vielheit selbst liegen, da die Vielen wesentlich verschieden voneinander sind. Muß die Ordnung aber notwendig angenommen werden, so kann ihr Prinzip nur als über das Geordnete hinaus bestehend gedacht werden.2 Dieses Prinzip ist wesentlich Einheit, denn Jedes zusammengesetzte Ding ist als solches später" das Prinzip kann aber nicht später sein als das Prinzipiierte. So ergibt sich der Begriff des Einen, „das der Grund für das Viele ,

ist"4.

Die Ordnung der Welt wird weiter als ein Ganzes aus Zweckrelationen verstanden, jedes Seiende ist auf seine Vervollkommnung hingeordnet, d.h. darauf, das zu sein, was es wesentlich ist, und als Vollkommenes ist es möglicher Gegenstand des Begehrens, mithin Zweck für andere Seiende: „Jedes Ding heißt gut, sofern es vollkommen ist; denn erst das macht es zum Gegenstand des Verlangens." Dadurch, daß das Seiende stets ein bonum ist, fügt es sich in das Weltganze ein. Grund dieser Einfügung ist aber nicht das Begehren, intellektuell oder sinnlich, auf das es hingeordnet ist. Indem die Ordnung mit dem bonum durch ein Transzendental hergestellt wird, ist sie ontisch in jedem Seienden verankert. Die gemäß der Entelechie ideologische Bestimmung der Vervollkommnung ist schließlich aus sich selbst zu bestimmen: „Vollkommen aber ist ein Ding dann, wenn ihm nichts mangelt hinsichtlich des Modus seiner Vollkommen-

heit."6

Durch die Ontologisierung von Relationsbegriffen will Thomas die Ordnung der Welt vom Prozeß ihres Erkanntwerdens ablösen. Da in der ideologisch geordneten Welt jedes Seiende ein Gut ist, ergibt sich der Inbegriff dieser Ordnung als Gut schlechthin, in dem die Relationalst als subsistent, also ohne Relation gedacht wird: „Wenn wir [...] das Wesen des Guten tiefer und allgemeiner fassen, finden wir, daß diese Einteilung [in das Edle, Nützliche und Angenehme] ganz allgemein dem Guten als Guten entspricht" und nicht nur dem „was für den Menschen gut ist"7. Soll die Ordnung nun als Einheit von Zweckrelationen bestehen, muß sie als absoluter Zweck der Grund der Relationen sein: „[Es] wird das Wirkende selbst zum Gegenstand des Verlangens

1 S.th. I, 2, 3 c; vgl. S.c.G. I, 19. 2 Vgl. S.c.G. I, 42. 3 S.c.G. I, 18. 4 De ver. 2, 4 ad 2. 5 S.th. I, 5, 5c 6 S.th. I, 5, 5c Die Deutsche Thomas-Ausgabe sieht indes nur die Tautologie und übersetzt wohlwollend: „wenn ihm nichts abgeht von der seinem Wesen gemäßen Seinsfülle". 7 S.th. I, 5, 6c

II. Das Absolute

117

und erhält den Charakter des Guten."1 Die Bestimmung des Guten schlechthin ist der Vielheit der Relationen in jedem Zweck immanent: „Alle Wesen verlangen nach Gott, indem sie nach der eigenen Vollendung verlangen. Denn die Vollkommenheiten aller Wesen sind irgendwie Verähnlichungen mit dem göttlichen Wesen." Der Begriff der Totalität, der als Ausdruck der Reflexion auf die Vielheit gewonnen wurde, bedeutet nach Thomas, „daß ein erstes Sein existiert, welches wir Gott nennen"3. Um den vernünftigen Gang des Argumentes zu entwickeln, ist es umgekehrt erforderlich, den Ausdruck ,Gott' als einen Namen der Totalität zu verstehen. Es ist allerdings zu beachten, daß die Hypostasierung dieses Reflexionsausdruckes, die für jede Teleologie notwendig ist, den Kern des Überganges von kritischer Erkenntnistheorie zum idealistischen System ausmacht.4 Wenngleich dieser Übergang erst einige Jahrhunderte später zur Entfaltung gekommen ist, sind das Bemühen und die Vorgehensweise oft die gleichen. Der Begriff der Totalität des Seins entfaltet sich über absolute Reflexion und Trinitätsspekulation zwangsläufig zur Schöpfungstheorie, wenn er nicht auf den Erkenntnisprozeß, aus dem er gewonnen wurde, bezogen bleibt. Die Totalität kann nicht als bloße Summe von Teilen verstanden werden, weil sie als Einheit schon die Reflexion auf die Vielheit der Teile ist. Daher ist sie in allem gegenwärtig, indem alles in ihr ist: „So ist auch Gott in den Dingen, wie der, der die Dinge hält."5 Diese Dialektik von Einheit und Vielheit, Kontinuität und Diskretion bestimmt den Begriff der Totalität, dessen aporetische Gestalt Thomas jedoch aufzulösen bemüht ist: „Die Einheit ist der Vielheit entgegengesetzt, aber nicht immer in derselben Weise. Denn die Eins als Element der Zahl ist der Vielheit als der Zahl selbst entgegengesetzt, wie das Maß dem Gemessenen. [...] Das Eine dagegen, das mit dem Seienden zusammenfällt, steht der Vielheit entgegen, wie das Ungeteilte dem Geteilten, also wie ein Indem das Verhältnis von Einheit und Vielheit als privatives bestimmt ist, ist jedem in gewisser Hinsicht das andere immanent. Der Gegensatz besteht damit nicht schlechthin, sondern ist in die Hinsichten zu distinguieren. Der menschliche Intellekt kann den Begriff der Totalität aus dem Zusammenhang von Einheit und Vielheit nur schrittweise entwickeln und muß dabei entweder Widersprüche in Kauf nehmen oder Distinktionen machen, die der Sache nicht angemessen sind. Die Feststellung dieses Mangels als Mangel erfordert jedoch schon die spekulative, das diskursive Verfahren

Mangel."6

1 2 3 4

S.th. I, 6,1c S.th. I, 6, 1 ad 2. S.c.G. I, 14. Hans Meyer, Thomas von Aquin, Sein System und seine geistesgeschichtliche Stellung, Paderborn 1961, hält diesen Übergang offenbar für ein einziges systematisches Argument und bildet den seltsamen Ausdruck „Idealrealismus" (460). Fernand van Steenberghen, Die Philosophie im 13. Jahrhundert, a.a.O., 317ff bezeichnet die Aristotelische Metaphysik aufgrund der Vermeidung der Hypostase als „zutiefst mangelhaft". 5 S.th. I, 8, 1 ad 2. 6 S.th. 1,11,2c

118

Zweites Kapitel: Thomas von Aquin

überschreitende Einsicht in den Begriff der Totalität als Einheit von Einheit und Vielheit, die sich sprachlich aber nicht ausdrücken läßt, ohne dasjenige, das verbunden werden soll, wieder zu trennen. Thomas erkennt das Problem, daß die unabdingbare Voraussetzung unseres Denkens demselben nur durch negative Bestimmungen zugänglich ist: Wir müssen, „wenn etwas, was sich in den Geschöpfen findet, Gott zugeschrieben wird, das Gesamte, was zur Unvollkommenheit gehört, abtrennen"1. Dadurch erweist er sich als „etwas von allen Dingen Verschiedenes"2. Diese Negativität gilt es, ihrerseits zu negieren, um den Begriff der Totalität rein zu erhalten. Obwohl Thomas durchgängig darauf beharrt, man könne von Gott nur wissen, „was er nicht ist"4, nähert er sich der Negation dieser Negation. Schon die Bestimmungen der Unendlichkeit5 und auch des ens a se erweisen sich als doppelte Negationen, denn „etwas wird deshalb ein durch sich Seiendes genannt, weil es „nicht" in einem anderen ist" Die Negativität des Begriffes des Absoluten7 hat ihren Grund in der Relation auf den es erfassenden Intellekt, das .Andere', in dem es ist. Mit der Relationalität muß daher dies Andere selbst negiert werden: „Die Beziehung nun, mit der etwas von Gott ausgesagt wird mit bezug auf die Geschöpfe, ist nur in den Geschöpfen eine wirkliche, nicht aber in Gott."8 Indem das Absolute durch die Negation der Relation, Unterschiedenheit, bestimmt ist, bleibt diese in ihm aufgehoben: „In Gott besteht sie nur als Damit ist er die Einheit des Unterschiedenen, und zwar nicht mehr nur als „allgemeines Sein aller Dinge", „welches allein im Verstände wäre"10. Diese Beziehung mußte aufgehoben werden, obwohl Gott „das abstrakte Sein"11 ist, denn es ist „auch zum Vorhandensein der besagten erkannten Dinge in einem der späteren Verstandeswesen das göttliche Erkennen die Vorausset.

gedachte."9

zung"12.

Mit dem Begriff des Absoluten setzt der Intellekt sich die durch erkenntnistheoretische Reflexion erkannten Bedingungen der Möglichkeit seiner Erkenntnis voraus. Die

1 De ver. 2, 1 ad 4. 2 S.c.G. I, 14. 3 Dieser Gedanke geht auf Proklos zurück.

Vgl. Kommentar zu Piatons Parmenides 141E-142A, Sankt Augustin 1990, 75f. und Michael Städtler, „Die dritte Negation", a.a.O. 4 Z.B. S.c.G. 1,30. 5 Vgl. S.c.G. I, 30. 6 S.c.G. 1,25. 7 Hans Meyer, Thomas von Aquin, a.a.O., stellt auf 314 der negativen Bestimmung durch Ausschluß der Unvollkommenheit positive Bestimmungen Gottes entgegen: Vollkommenheit, absolutes Sein, usw. In einem Absatz zeigt er, daß a) diese Bestimmungen durch Negation hervorgegangen sind und sie b) positive sein sollen. 8 S.th. 1,6,2 ad 1. 9 S.th. 1,6, 2 ad 1. 10 S.c.G. 1,26. 11 S.c.G. 1,42. 12 S.c.G. 1,52.

119

II. Das Absolute

Einheit der Welt ist gesetzt als Gegenstand des Intellekts schlechthin, indem sie wird als Inhalt permanenter Erkenntnis eines ewigen Geistes.

2.

Absolute Reflexion

gedacht

Reflexion des Absoluten -

Die passive Materialität des Stoffes kann immer nur eine einzige Form zugleich aufnehmen. Dasjenige, in dem verschiedene Formen zugleich und in Einheit sind, darf weder materiell noch bloß passiv sein. Als ein solches hatte sich der Intellekt ergeben: „Das Erkennende ist dazu angelegt, auch die Form eines anderen Dinges in sich aufzunehmen [zusätzlich zur eigenen Form]. Denn das Bild des Erkannten findet sich im Erkennenden. Daraus wird offensichtlich, daß die Natur eines nichterkennenden Wesens mehr begrenzt und eingeengt ist. Die Natur des erkennenden Wesens dagegen besitzt eine größere Weite und Ausdehnung. Deshalb sagt der Philosoph: „Die Seele ist gleichsam alles". Diese Begrenzung der Form rührt vom Stoff her. [...] Es steht also fest, daß die Unstofflichkeit eines Dinges der Grund ist, weshalb es erkennt."1 Die anima intellectiva ist zwar der Ort der Einheit der Vielheit, aber nur ,gleichsam', da sie durch ihre nur relative Selbständigkeit gegenüber dem Körper unter den Bedingungen der Zeit und des Raumes nur endlich viele species aufnehmen kann. Der Begriff der Totalität wird daher als absoluter Intellekt gedacht: „Weil Gott daher die höchste Stufe der Unstofflichkeit einnimmt, folgt, daß er auch die höchste Stufe der Erkenntnis einnimmt."2 Die Lösung des Begriffes der Totalität vom Raum ist erforderlich, weil die Einheit der Vielheit nicht hinsichtlich der Materie zu bestimmen ist; mehrere ausgedehnte Substanzen können nicht zugleich denselben Raum erfüllen.3 Ihre Einheit ist nur intellektual zu denken, unabhängig ob als Begriff oder als hypostasierter Intellekt. Die Lösung von der Zeit jedoch führt auf eine Aporie, denn sie ist nicht gleichgültig gegen die Alternative Begriff oder Hypostasierung. Einerseits kann die Einheit von allem nicht als ein Nacheinander gedacht werden, andererseits löst die Trennung von der Zeit den Begriff der Totalität auch von der Entfaltung der erkenntnistheoretischen Reflexion ab. Er wird so notwendig zum Selbständigen. Damit ist auch, entgegen der sonst der Dogmatik genügenden Intention des Thomas, der erste Schritt in Richtung auf eine ewige, daher unwandelbare Weltordnung getan, welche Bestimmung für die Verhältnisse derjenigen, die in dieser Welt zu leben gezwungen sind, erhebliche Konsequenzen hat. Die absolute Erkenntnis Gottes muß also zugleich Einheit und Vielheit erfassen: „Wenn also auch wir durch die eine Fähigkeit die allgemeinen und unstofflichen, durch eine andere die vereinzelten und stofflichen Dinge erkennen, so erkennt doch Gott durch sein einfaches Erkennen beides."4 Die Unmöglichkeit, die Einheit in der auf Prä1 2 3 4

S.th. 1,14, 1 c. Vgl. S.c.G. I, 44 und De ver. 2,2. S.th. 1,14, 1 c Vgl. In Boeth. de trin. 4, 3c S.th. 1,14, 11c

Zweites Kapitel: Thomas von aquin

120

dikation

angewiesenen Sprache auszudrücken, führt gelegentlich zu falschen VereinfaEr erkennt „das Verflochtene ohne Verflechtung [complexa incomplexe] sowie die Vielheit auf einfache Weise und geeint [multa simpliciter et unite] und das Materielle immateriell"1. Gott muß durchaus das Materielle als Materielles und auch das Vereinzelte als Einzelnes erkennen, wenn er nicht nur abstrakter Allgemeinbegriff sein soll. Soll aber eine „einzige und einfache Erkenntnis"3 alles erfassen, darf sie „nicht fortschreitend"4 sein und muß ohne das „Zusammensetzen und Trennen von Urteilen"5 auskommen. Es ist ein Erkennen, das „in der Ewigkeit sich vollzieht, außerhalb aller Zeit"6. Stünde dieser Intellekt nämlich unter der Form der Zeit, müßte also diskursiv urteilen und schließen und hätte ein Gedächtnis, so gäbe es immer etwas, das ihm nicht gegenwärtig wäre. So wäre er aber niemals vollständig Totalität.7 Er darf zu keinem Gegenstand in Potenz stehen. Dies führt auf ein Problem bezüglich des Nichtseienden, das als Gegenstand des Denkens ebenso unter die Totalität fällt, wie Seiendes. Zunächst ist eine Distinktion im göttlichen Intellekt unumgänglich. Dasjenige, das niemals sein wird oder war, erfaßt er ohne Umweg über Negation durch einfache begriffliche Erkenntnis, dasjenige, das war oder sein wird, durch Vision.8 Das Zukünftige schaut er allerdings „in sua potentia" Steht es auch in seiner Macht, das Noch-Nichtseiende zu erschaffen, so steht er doch zu dessen Existenz in Potenz. Diese Potenz existiere nun nur aus der Perspektive der Endlichkeit, in der Ewigkeit Gottes werde sie direkt zum Akt, weil in ihr das noch nicht mit dem schon zugleich sei. Ebenso erkenne er notwendig alle zukünftigen Zufalle, ohne für uns die Zufälligkeit derselben aufzuheben.10 In ihm muß sie aber negiert sein, da das Zufällige eintreffen kann oder nicht, und diese Pochungen:

.

tentialität die Totalität einschränken, und somit aufheben würde. Da weiter die Totalität allgemeines Prinzip sein soll, jede Potenz aber eines Früheren bedarf, das sie aktualisiert, widersprechen sich Totalität und Potentialität.11 Der absolute Intellekt muß mithin actus purus sein. „Daher ist Wissen in Gott keine Beschaffenheit noch ein habites, sondem Wesen und reine Wirklichkeit." Das Sein Gottes, das sein Wesen ist, ist die abso1 De ver. 2, 7c 2 S.th. I, 14, 11 ad 1. In S.c.G. I, 77 bemerkt Thomas, daß die Vielheit der Gegenstände in Gott seine Einheit nicht störe, weil sie in ihm nach Weise der Einheit sei. Auf solche Tautologien müßte ein konsequenter Begriff des Ab-soluten auch beschränkt bleiben. 3 S.th.I, 14, lad 2. 4 S.th. I, 14, 7c 5 S.th. I, 14, 14c 6 S.th. 1,14,13 ad 3. 7 Vgl. S.c.G. I, 55. 8 Vgl. S.c.G. I, 66. 9 Dever. 2, 8c 10 Vgl. S.c.G. I, 67. 11 Vgl. S.c.G. I, 16. 12 S.th. I, 14, 1 ad 1. Vgl. S.c.G. I, 73. Um die Potentialität weder aus dem Absoluten ausschließen zu müssen, noch dieses an jener zugrunde gehen zu lassen, bedient Thomas sich der Äquivokation in ,po-

II. Das Absolute

121

lute Erkenntnis selbst.1 Wäre nun der Gegenstand, die Totalität, außerhalb dieses Intellektes, könnte dieser nicht reine Wirklichkeit sein, denn seine Wirklichkeit wäre bestimmt durch etwas, das er nicht selbst ist.2 Der Begriff der Totalität muß sich gewissermaßen selbst denken, Denken und Gedachtes dürfen nicht verschieden sein. „In Ihm [ist] Erkennen und Erkanntes auf jede Weise dasselbe; und zwar so, daß Er weder des Erkenntnisbildes entbehrt wie unser Verstand, wenn er nur in Möglichkeit erkennt, noch daß das Erkenntnisbild etwas anderes ist als das Wesen des göttlichen Verstandes, wie das der Fall ist bei unserem Verstand, wenn er in Wirklichkeit erkennt. Vielmehr ist dieses Erkenntnisbild der göttliche Verstand selbst. Und so erkennt Gott sich durch sich

selbst."3

Die Totalität besteht in der absoluten Reflexion. Die Negativität der unmittelbaren Seienden, die in der Form von Vielheit und Verschiedenheit der Grund der Unvollkommenheit der menschlichen Erkenntnis ist, wird auf sich selbst bezogen, in Gott ist das Negative als Negatives gesetzt. Der Mensch erkennt nämlich nicht „die Verschiedenheit und Vielheit in ihrem Ursprung [...] sondern nur im allgemeinen"4, d.h. die individuelle Verschiedenheit nur vermittelt durch den Wesensbegriff. Wesentliches und Unwesentliches bleiben getrennt. Gott jedoch erkennt „alle Dinge in eigentlicher Erkenntnis, sofern sie voneinander unterschieden sind"5. Auch das Veränderliche wird als Veränderliches zum Gegenstand der absoluten Reflexion: „Wenn Er dagegen weiß, daß etwas sein kann, was noch nicht ist, oder daß etwas aufhört zu sein, was ist, so folgt daraus nicht, daß Sein Wissen veränderlich ist, sondern daß er die Veränderlichkeit der Dinge erkennt."6 Die veränderlichen Dinge und der bleibende Intellekt sind nicht getrennt, die Totalität der Dinge besteht so, ohne Summe zu sein, in dieser Reflexion: „Das göttliche Wesen jedoch, durch welches der göttliche Verstand erkennt, ist die ausreichende Ähnlichkeit aller Dinge, die sind oder sein können, nicht nur in bezug auf die

tentia\ die im Deutschen gut mit .Vermögen' wiederzugeben ist: Es bedeutet einerseits, auf die Dinge bezogen, ,Möglichkeit', andererseits, auf Gott bezogen, ,Macht'. Zwar bedeutet auch ,Macht' dasjeni-

ge, was einer erst vermag, aber im Unterschied zu .Möglichkeit' wird nicht Unvollkommenheit, sondern Vollkommenheit konnotiert. Die potentia dei ist so das reale Vermögen, alles Beliebige auszuführen, mithin Einheit von Akt und Potenz. Vgl. z.B. Comp. theol., Kapitel 23. 1 Vgl. S.c.G. IV, 13. 2 Vgl. S.c.G. I, 48. 3 S.th. I, 14, 2. Noch einmal sei darauf hingewiesen, daß die in der Deutschen Thomas Ausgabe verwendete Übersetzung ,Erkenntnisbild' ungeeignet ist, da die species intelligibilis den Entwicklungsstand des Erkenntnisobjektes bezeichnet, der ganz und gar nicht mehr bildhaft ist. Daß nun auch gar kein terminus vor der Verdeutschung bewahrt wurde, mag damit zusammengehen, daß die Ausgabe „1933, dem heiligen Jahr der Kirche und der Deutschen" erschien (Band 1, (8)). Die Dominikaner und Benediktiner Österreichs haben das in vorauseilendem Gehorsam gleich mitunterschrieben. 4 S.th. I, 14, 6 c. 5 S.th. I, 14, 6 c. 6 S.th. 1,14, 15 ad 2.

122

Zweites Kapitel: Thomas von Aquin

allgemeinen Prinzipien, sondern auch in bezug auf die besonderen Prinzipien eines je-

Dinges."1

den Der Begriff der Totalität, der im Sinne der distributiven Einheit des Erfahrungsgebrauchs des Verstandes noch auf die Welt bezogen war, hat sich verwandelt in die reine Selbsterkenntnis des absoluten Intellektes, die hypostasierte kollektive Einheit des Erfahrungsganzen, die so vom Erfahrungsgebrauch des Verstandes abgetrennt wird.2 Wenn diese absolute Reflexion aber alle Bestimmtheiten von und in Ewigkeit in sich enthält, müssen in dem reinen Sich-auf-Sich-Beziehen Unterschiede gedacht werden. Die absolute Reflexion muß sich in sich unterscheiden, d.h. ohne daß diese Unterschiede wie im menschlichen Intellekt von außen initiiert wären.

3.

Trinitätsspekulation

Bestimmung des Wesens Gottes ist die höchste Gestalt von Reflexivität in der Thomasischen Philosophie, hier hat der menschliche Geist den reinen Begriff seiner selbst als absolute Einheit der Mannigfaltigkeit entwickelt: „Gott erkennt alles durch eines, das der Begriff für das Viele ist, nämlich sein Wesen, welches die wesentliche Ähnlichkeit [similitudo] aller Dinge ist." Nicht zufällig wird in nahezu jedem hier einschlägigen Artikel die betrachtete Bestimmung Gottes zuerst am Menschen oder der Welt entfaltet und anschließend als absolute betrachtet.4 Der Inhalt der Spekulation überschreitet die Verstandeserkenntnis; ohne etwas, das überschritten wird und etwas, das überschreitet, gibt es keine Transzendenz. Thomas schiebt dieser Konsequenz einen Riegel vor: „Es ist unmöglich, durch die natürliche Vernunft zur Erkenntnis der Dreiheit der Personen zu gelangen."5 Dies ist auch eine Konsequenz der im spekulativen Begriff des Absoluten unvermeidbaren Widersprüche, so daß sich der Gegenstand ,Trinität' der an das Prinzip der Widerspruchsvermeidung gebundenen Erkenntnis entzieht.6 Wenngleich Thomas die Trinität in der Tat nicht aus Vernunftgründen herleitet, werden die Bestimmungen, die ihr zukommen, als notwendige, naturgemäße bezeichnet. Die

1 S.th. 1,14, 12 c 2 Vgl. KrV B 609ff. 3 De ver. 2, 4 ad 2. Es ist sinnvoll, ratio durch .Begriff, anstatt wie Edith Stein ,Grund' und similitudo durch .wesentliche Ähnlichkeit' anstatt,Urbild' zu übersetzen. Soweit ist von der Erkenntnis als intellektueller Einheit die Rede. Edith Stein kehrt die stets unterlegte Schöpfungslehre hervor, die systematisch aber später folgt. 4 Vgl. Comp. theol., c 22. 5 S.th. I, 32, lc. Vgl. In Boeth. de trin. 1, 4c Die Trinität ist ein Glaubensartikel, der nicht positiv beweisbar ist. Vgl. auch Comp. theol., c 36. 6 Vgl. Rolf Schönberger, „Evidenz und Erkenntnis", in: Ph.Jb. 95, 4-19. Schönberger sieht hier eine grundsätzliche Gefahr für die Evidenz des Widerspruchsvermeidungsprinzips mit explizitem Verweis auf Hegel. Hier wirkt das Vorurteil, jenes Prinzip gelte bei Hegel nicht.

123

II. Das Absolute

Dieser Notwendigkeit gemäß läßt sich der Begriff Gottes systematisch aber nur spekulativ entwickeln. Thomas ahnt den spekulativen Charakter des Unendlichen. Wenn Gott als Intellekt die Einheit der Welt garantieren soll, muß er die Totalität in sich begreifen; die Relation des Erkennens muß absolut sein. Dies kann sie nur, wenn sie ihren Ort ausschließlich im Erkennenden selbst hat: „Die Hervorgänge im Göttlichen können nur gemäß jener Tätigkeiten angenommen werden, welche im Tätigen verbleiben."1 Damit können Relationen in Gott nur Relationen der Identität sein: „Von dem aber, was in Gott ist, kann nichts ein Verhältnis haben zu dem, worin es ist, oder von dem es ausgesagt wird, als höchstens das Verhältnis der Dieselbigkeit, wegen der höchsten Einfachheit Gottes."2 Gott ist also bezogen auf sich, die Relationen sind reflexive, so daß Gott wesentlich reine Sichselbstgleichheit ist: „Man muß im Göttlichen Gleichheit annehmen."3 Was nur gleich, nur auf sich bezogen ist, bleibt aber unbestimmt; ein Begriff der Totalität, der nur als reine Identität verstanden würde, bedeutete gar nichts. Allerdings ist die Identität eine Relation, und mit dem Begriff der Identität ist dasjenige, was identisch auf sich bezogen ist, schon in sich unterschieden: „Da es nun in Gott wirklicherweise eine Beziehung gibt, muß es dort auch wirklicherweise eine Gegenüberstellung geben. Die beziehunghafte Gegenüberstellung aber schließt in ihrem Begriff den wirklichen Unterschied ein."4 Dieser Unterschied ist jedoch nicht in erster Hinsicht als Trennung zu verstehen, sondern als negative Einheit des Unterschiedenen: Man muß sich „im Göttlichen vor den Ausdrücken Verschiedenheit [diversitas] und Unterschied [differentia] hüten, damit nicht die Einheit des Wesens aufgehoben werde. Den Ausdruck Unterscheidung [distinctio] dagegen können wir verwenden wegen des beziehentlichen Gegensatzes [oppositio Während der Unterschied als diversitas und differentia auf ein Nicht-Göttliches zurückgeführt wäre, erlaubt die distinctio, eines und dasselbe begrifflich in sich zu unterscheiden; der nähere Character der distinctio als relationale, nicht aber reale, wird im Zusammenhang der Trinität deutlich werden. Gott-Vater ist die absolute Einheit des göttlichen Wesens, er ist das Prinzip schlechthin.6 Thomas betont, daß er nicht in erster Linie als Ursache zu betrachten ist, sondern als Prinzip, weil die Ursache, von dem, das sie verursacht, real getrennt ist, was für das Prinzip nicht notwendig gilt, so wie der Begriff des Punktes als Prinzip des Begriffs der Linie in diesem enthalten ist. Stellen wie diese zeigen, daß der Begriff des Absoluten prinzipiell unabhängig von der Schöpfungslehre konstruiert ist. Weil Gott-Vater die ab-

relativa]"5.

1 2 3 4 5 6

S.th. S.th. S.th. S.th. S.th.

I, 27, 5c 1,28,2 ad 1. I, 42, lc. I, 28, 3c 1,31, 2c Vgl. S.th. 1,33, 1.

124

Zweites Kapitel: Thomas von Aquin

solute Einheit der Totalität sein soll, darf das, was von ihm hervorgeht, nicht von ihm getrennt sein, es kann nur als „emanatio intelligibilis"1 gedacht werden. Einerseits muß Gott-Vater das einzige nicht prinzipiierte Prinzip sein, denn gäbe es deren zwei, könnten diese, weil sie nicht auseinander hervorgegangen wären, nicht in ihrer Relation aufeinander unterschieden werden, sondern sie „müßten sich also unterscheiden aufgrund der Verschiedenheit in der Natur"2. Die Konsequenz wäre, daß die Natur selbst inkonsistent wäre, Gott könnte die Einheit nicht garantieren.3 Andererseits hätte Gott-Vater als ungezeugter, ewig nur auf sich bezogener nicht einmal von sich selbst bestimmtes Wissen, er wäre nicht Gott: „So wird auch der Vater offenbar [...] durch die Beziehung zu den Personen, die von ihm hervorgehen."4 Wenn der Vater ohne die Relationen prinzipiell nicht Gegenstand von Erkenntnis, also hier Selbsterkenntnis, sein kann, kann er auch nicht die intellektuale Einheit der Mannigfaltigkeit sein, weil diese ihm nicht als bestimmter Begriff gegenwärtig wäre. Gott, als absolute Reflexion gefaßt, kann nicht einmal willentlich entscheiden, ob er sich gegenwärtig und damit ,offenbar', d.h. bekannt wird oder nicht. Es liegt vielmehr ,naturhaft' im Begriff der reinen Beziehung auf sich, die, wenn sie ideologisch interpretiert wird, ihr Ausgang und ihr Ziel ist, daß Gott sich selbst „will und liebt"5. Wenn er sich will, kann er aber nicht abstrakte Identität bleiben, durch den Willen wird die Selbstgleichheit, die an sich schon Selbstunterscheidung war, als solche gesetzt: Gott Vater zeugt den Sohn, in dem er sich selbst gegenwärtig ist, sich selbst erkennt: „Gott versteht sich selbst naturhaft. Und insofern ist die Empfängnis des göttlichen Wortes naturhaft."6 Der erkennende 1 S.th. I, 27, lc. 2 S.th. I, 33,4 ad 4. 3 Dies ist das wesentliche Argument gegen den Manichäismus, der zwei gleichrangige, aber wesentlich durch Entgegensetzung getrennte Prinzipien annimmt. 4 S.th. I, 33, 4 c Die Hervorhebung ist von mir und dient nur der Vermeidung der Ambiguität. vgl. S.c.G., IV, 14: „Obwohl nämlich die göttliche Wesenheit für sich allein existiert [subsistent ist], so kann sie trotzdem nicht von der Beziehung getrennt werden [...]". Gemeint ist die Beziehung der Selbsterkenntnis. 5 S.th. I, 41, 2 ad 3. Die teleologische Interpretation, die den Willen als wesentliche Bestimmung der Reflexion einführt, ist wie bei Hegel die entscheidende Subreption, nicht weil er eingeführt wird, sondern weil er als objektive Bestimmung der Reflexivität des Wesens dargestellt wird. Im Gegensatz zu Hegel, bei dem diese Bestimmung im Verlauf des Argumentes völlig verschwindet, bleibt sie bei Thomas erhalten. Das gelingt ihm aber nur, indem er den absoluten Willen der Sache nach auf Bestimmungen der Vernunft reduziert, nachdem er geleistet hat, was zu leisten war. 6 S.th. I, 41, 2 ad 4. Thomas weist in In Ev. Jo. I daraufhin, daß Àoyoç mit verbum Wort und nicht mit ratio Begriff übersetzt ist, weil der Begriff nur die Seite der Inhärenz betont, wogegen das Wort sowohl als inneres, also Gedanke, als auch als äußeres, gesprochenes verstanden werden kann. Es komme beim Wort Gottes insbesondere auf die Äußerung an. Die Zeugung des Sohnes hat selbstverständlich nichts mit der Menschwerdung Christi zu tun. Das Wort der Trinität ist gleich ewig wie der Vater (vgl. S.c.G. IV, 5). Die Menschwerdung steht im Zusammenhang der Erbsünde, die durch die Menschwerdung getilgt wird, indem das Anderswerden des Menschen zu Gott durch die Inkarnation zu einem Akt Gottes selbst gemacht wird (vgl. S.c.G. IV, 54). =

=

II. Das Absolute

125

Gott fixiert sich selbst im Begriff seiner selbst als Wort. Der Hervorgang des Wortes in Gott ist eine „emanatio intellectus"1: „Indem nämlich Gott-Vater sich selbst denkt [intelligere], erkennt [empfangt: concipere] er das Wort."2 Wie bei Hegel ist das Setzen der absoluten Reflexion ein ihr immanent bleibender Akt, der hier aber stärker noch subjekthaft vorgestellt wird, weshalb das Antinomische der Konstruktion in der Trinitätsspekulation deutlicher hervortritt. Die mit indem' wiedergegebene Partizipialkonstruktion drückt mit der Gleichzeitigkeit die Identität von Unterschiedenheit und Gleichheit aus. Wenn Gott sich selbst erkennt, dann ist er in sich „wie das Erkannte im Erkennenden"3. Das Erkannte ist aber als Begriff, als inneres Wort im Erkennenden; somit ist „das Wort Gottes gleichsam der erkannte Gott"4. Und „indem nämlich der Vater sich und den Sohn und den Heiligen Geist und alles andere, was in seinem Wissen eingeschlossen ist, versteht, empfängt er das Wort, so daß also die ganze Dreieinigkeit im WORTE ausgesprochen ist und sogar jedes Das Wort muß allerdings in zweifacher Hinsicht betrachtet werden: Sofern es Gott bezeichnet, geht es hervor von dem, das es bezeichnet, hinsichtlich der Dinge jedoch nicht, denn Gott empfängt keine Erkenntnis von anderem, da er ja wesentlich Erkenntnisakt ist; eine Unterscheidung in intellectus agens und intellectus possibilis gibt es im göttlichen Intellekt nicht. Die Differenz muß daher anders gefaßt werden: Das Wissen Gottes seiner selbst ist betrachtendes Wissen, das von den Dingen Wenn nämlich das eine Wort Gott und Schöpfung umfassen soll, dann „muß das Wort Gottes notwendig als die vollkommene Idee [ratio] von allem, was geschaffen worden ist, existieren"7. Durch die Hypostase, die das Absolute als mit Selbstbewußtsein begabt erklärt, verwandelt sich die Erkenntniskritik in eine affirmative Metaphysik der Begründung. Nur weil das Prinzip schon zur selbstbewußten Ursache erklärt ist, muß der Schöpfungsplan als Begriff und Grund existieren. Intellekt, Gegenstand und species intelligibilis sind in Gott „ein und dasselbe"8. Dennoch ist er nicht bloß als diese Einheit zu verstehen, denn ohne sein Wort ist „Er doch nicht Nur durch Selbstunterscheidung, die ihrem Begriff nach immer ,

Geschöpf'5.

hervorbringendes.6

Sprechender"9.

1 S.th. I, 34, 2 c Vgl. auch S.c.G. IV, 11. 2 In Ev. Jo. I. Nützlich ist die Bedeutungskoinzidenz von .empfangen' und .begreifen' im lateinischen concipere. 3 S.c.G. IV, 11. 4 S.c.G. IV, 11. 5 S.th. I, 34, 1 ad 3. Dieses Zusammenfallen von Erkennen und Erkanntwerden, sowie von Erkennendem und Erkanntem macht auch in der Phänomenologie des Geistes den Übergang zum wahrhaften Selbstbewußtsein aus: „Es zeigt sich, daß hinter dem sogenannten Vorhange, welcher das Innre verdecken soll, nichts zu sehen ist, wenn wir nicht selbst dahintergehen, ebensosehr damit gesehen werde, als daß etwas dahinter sey, das gesehen werden kann." Phänomenologie, 102. 6 Vgl. S e.G. II, 85 und S.th. I, 14, 16. 7 S.c.G. IV, 13. 8 S.c.G. IV, 11. 9 S.th. I, 34, 1 ad 3. Thomas zitiert hier Augustinus, De Trinitate, 1, 1.

Zweites Kapitel: Thomas von Aquin

126

mit Identität einhergehen muß, kann der Begriff der Totalität zu inhaltlicher Bestimmtheit gelangen, ohne daß die Einheit zerbricht. Durch die Beziehung von Vater und Sohn wird die absolute Reflexion des Wesens Gottes gesetzt, indem der Vater seine Reflexivität vermittelt am Sohn, durch den er seinen Gegenstand aus sich heraussetzt. Allerdings hat dieser Gegenstand dieselbe Reflexivität, die Selbsterkenntnis des Vaters im Sohne schließt nicht aus, „daß der Sohn sich selbst erkennt"1. Aufgrund der identischen Reflexivität, soll ausgeschlossen werden, daß der Sohn in seiner Reflexion einen Enkel zeugt; zwar erkennt er sich selbst, aber diese Reflexion ist keine andere, als die des Vaters.2 Damit ist nun scheinbar die Selbstunterscheidung in einfache Identität zurückgegangen, „der von Gott gezeugte Sohn existiert nicht außerhalb des zeugenden Vaters, sondern ist in ihm"3. Allerdings ist der Vater in einer Hinsicht vom Sohn unterschieden: Durch die Beziehung der Vaterschaft, beziehungsweise Sohnschaft, ist festgelegt, daß der Sohn nicht den Vater hervorbringt, sondern nur der Vater den Sohn.4 Darin liegt übrigens, daß die Reflexion nicht aus Gott-Vater abgeleitet wird oder durch die Zeugung des Sohnes von selbst entsteht, sondern im Begriff des Vaters als vorgängige Reflexivität bereits enthalten sein muß. Und diese Analyse des Begriffes ist gleichgültig dagegen, daß der Sohn ewig ist.5 Die Unterscheidung der Personen ist also keine distinctio realis, durch die Erkennendes und Erkanntes durch Formbestimmung getrennt wären, sondern eine „distinctio relationis [...] insofern das Wort auf den auffassenden [Gott] bezogen wird, wie auf denjenigen, von dem es stammt"6. So antinomisch diese Unterscheidung der an ihnen selbst identischen Relata erst durch die Relation auch ist: Wenn hieran nicht festgehalten würde, wäre der Begriff der Reflexion nicht möglich. Allerdings führt es auf immer neue Antinomien. Der Sohn muß selbst der Zahl nach dem Vater gleich sein, wenn nicht erst durch die Zeugung das Wesen Gottes hervorgehen soll.7 Auch ist der Sohn, wenn er dem Vater wesensgleich ist, aufgrund der distinctio relationis als „gezeugter Schöpfer" zu bezeichnen, obgleich die Schöpfung die erste Erschaffung ist. Die absolute Reflexion muß der reine Widerspruch, die Einheit von Identität und Unterschied sein. Diese Einheit des Unterschiedenen liegt allgemein im Begriff Q

S.th. 1,36, 2 ad 1. Vgl. S.c.G. IV. Wohlgemerkt ist es nicht die gleiche, sondern dieselbe Reflexion. 3 S.c.G. IV, 11. Die Schwierigkeit des sprachlichen Ausdruckes der Identität von Identität und Unterschied zeigt sich darin, daß Thomas hier ,in' Gott formuliert, was unmittelbares Zusammenfallen anzeigt, und in In Ev. Jo. I ausdrücklich hervorhebt, daß ,bei' Gott die adäquate Formulierung sei, da sie Distanz konnotiere. 4 Vgl. S.th. I, 40, 2 und 4. 5 Vgl. S.th. I, 42, 3c 6 S.c.G. IV, 11. 7 Vgl. S.th. 1,39, 5 ad 2. 8 S.th. 1,34,3 ad 1. 9 Das Antinomische der ganzen Trinitätsspekulation ist in dem Begriff Dreieinigkeit treffend ausgedrückt. Es ist etymologisch die genaue Übersetzung von trinitas, soweit dies, wie Thomas annimmt, auf ,irium unitas' zurückgeht (S.th. I, 31, 1 ad 1). Aufgrund dessen wird verständlich, warum Thomas 1 2

II. Das Absolute

127

der Relation vor. Das Wesen Gottes ist demgemäß Relation: „Weil aber die Beziehung, insofern sie im Göttlichen ein Wirkliches ist, die Wesenheit selbst ist, die Wesenheit aber dasselbe ist wie die Person, so muß die Beziehung dasselbe sein wie die Person."1 Die Personen Gottes sind im Wesen identisch, aber sie müssen auch unterschieden sein. Sie sind es in der Relation. Gott-Vater ist zwar Gott-Sohn, aber die Vaterschaft ist nicht die Sohnschaft. Dennoch ist die Vaterschaft der Vater. In Gott „verhalten sich beide [Beziehung und Absolutes] nach Weise der Identität" So wird jede Relation zur Reflexion und diese, wenn sie überhaupt bestehen soll, zur Hypostase: „Die Person nämlich bezeichnet die Beziehung als etwas, das in göttlicher Natur für sich bestehend ist [rela.

tio

subsistens]"4.

In diesen Relationen sind nicht

nur Relata verbunden, sondern die Relation ist ihre Relata: „Ist sie [die Relation] aber für sich bestehend, so setzt sie die Unterscheidung nicht voraus, sondern bringt sie mit sich."5 Durch die Hypostasierung des erschlossenen Prinzipes der Einheit von Identität und Unterschied wird der erkenntnistheoretische Inhalt in dogmatischer Weise dargestellt. In dieser Darstellung wird die Einheit zur Tautologie: „Im Göttlichen aber sind die Beziehungen etwas für sich Bestehendes. Deshalb können sie, insofern sie sich gegenüberstehen, die Wesensträger unterscheiden. Trotzdem wird die Wesenheit nicht unterschieden, weil die Beziehungen selbst nicht voneinander unterschieden werden, insofern sie wirklicherweise dasselbe sind mit der Wesenheit." Insofern sie dasselbe sind, werden sie nicht unterschieden. Zur subsistenten, auf sich zurückgebogenen Reflexion ohne Relata konnte die Relation nur durch den Begriff des geistigen Hervorganges werden: ,Auch in bezug auf die Beziehungen ist es klar, daß das eine der beiden entgegengesetzten [Glieder] dem Begriff nach beziehentlich im anderen ist. Auch in bezug auf den Ursprung ist es klar, daß der Hervorgang des geistigen Wortes nicht nach außen geht, sondern im Sprechenden verbleibt. Ebenso ist das, was im Worte ausgesprochen wird, im Worte enthalten."7 Gott erinnert sich nur seiner selbst. Allerdings war dieser Vorgang erfolgt aus der Selbstliebe Gottes. Daß Gott sich selbst will, kommt ihm ebenso „naturhaft" zu, wie daß er sich erkennt. Wenn die Beziehung Gottes auf sich in der Weise des Erkennens die Personen des Vaters und des Sohnes begründet, diese Beziehung aber eine Beziehung des Willens einschließt, muß -

die

Bestimmungen Gottes überwiegend unter dem Aspekt des sprachlichen Ausdruckes betrachtet; die möglichst präzise Formulierung dessen, das sich korrekt nicht in Sprache fassen läßt, erfordert das.

1 2 3 4 5 6 7 8

S.th. 1,40, 1. Vgl. S.th. I, 29, 4c S.c.G. IV, 14. S.th. I, 39, lc. Vgl. S.c.G. IV, 14. S.th. I, 40, 2 ad 4. S.th. 1,39, 1 ad 1. S.th. I, 42, 5c S.th. I, 41, 2 ad 3, ad 4; vgl. S.c.G. IV, 19.

Zweites Kapitel: Thomas von Aquin

128

eine weitere Person angenommen werden, die dem Willen Gottes entspricht: der Heilige Geist. Zwar ist der Wille Gottes frei, etwas zu wollen oder nicht, die Voraussetzung dafür ist jedoch, daß er sich selbst will. Die willentliche Beziehung auf sich ist daher Durch die willentliche Beziehung ist das Gewollte einerseits als Begriff im Wollenden, denn was unbekannt ist, kann nicht erstrebt werden. Andererseits ist das Erstrebte nur im Wollenden, als noch nicht im Wollenden, denn was man schon hat, kann auch nicht erstrebt werden. „Also ist es notwendig, daß die Liebe, durch die Gott in seinem Willen wie das Geliebte im Liebenden ist, sowohl vom Worte Gottes ausgeht, als auch von Gott, dem das Wort Der Wille hat erst dann Realität, wenn er mit Erkenntnis verbunden ist, der Vater kann den Geist nur hervorbringen, wenn er auch das Wort hervorbringt. Und doch war der Geist schon seinerseits der Bestimmung des Sohnes vorausgesetzt. Zwar heißt es bei Thomas, „daß der Vater den Sohn nicht mit Willen zeugt, sondern durch die Natur"4, weil etwas, das der Willensentscheidung unterliegt, sein kann und nicht sein kann, was auf die Zeugung des Sohnes nicht zutrifft, die, weil sie dem Willen nicht entgegen ist, nur akzidentell mit Willen erfolgt, denn der Wille ist nicht Grund der Zeugung. Wenn allerdings die Zeugung notwendig ist, weil Gott sich selbst will, und darüber hinaus der Wille nach Thomas rein intellektual, also mit Notwendigkeit bestimmt ist5, muß Gott das, was vernünftig ist, unmittelbar wollen. Wille und Verstand sind inhaltlich nicht unterschieden, sondern eher nach der Form der Relation auf ihr Daher kann gegen Thomas seine eigene Trinitätsspekulation insofern gewendet werden, daß der Wille Voraussetzung für die Zeugung des Sohnes ist, so wie der Sohn Voraussetzung für den Willen ist. Um diesem Zirkel zu entgehen, weist Thomas die willentliche Zeugung ab. Daß aber der Begriff des Selbstbewußtseins ohne den des Willens nicht zu entfalten ist, sowenig wie der des Willens ohne den des Selbstbewußtseins, drückt sich bei Thomas darin aus, daß die Personen gleich ewig sind.7 Die Identität der göttlichen Reflexion ist ausgedrückt in der Gleichheit des Begriffes von Vater und Sohn, der Unterschied durch das Streben des Geistes, das vom Erstrebten naturgemäß unterschieden ist.8 Weil der Wille inhaltlich durch sein Objekt bestimmt ist und das Objekt des göttlichen Willens Gott selbst ist, ist der Geist wiederum wesensgleich mit dem, worauf er strebt.

notwendig.1

-

-

gehört."2

Objekt.6

1 Vgl. S.th. I, 41, 2 ad 3. Der Name ,Geist' ist nur metaphorisch zu verstehen, hat mit Geist als Intellekt nichts zu tun. Es ist nur erforderlich, den Hervorgang dieser Person von der Zeugung des Sohnes zu unterscheiden, weil die Relation anderer Art ist. Eigentlich ist spiritus auch mit .Hauch' zu übersetzen. Vgl. S.c.G. IV, 19. 2 S.c.G. IV, 19; vgl. S.th. I, 36, 3 und 4. 3 Vgl. S.th. I, 36, 2. 4 S.th. 1,41, 2c 5 Vgl. De ver. 22,4. 6 Vgl. De ver. 22, 10c. Und explizit hinsichtlich des göttlichen Willens: S.c.G. IV, 19. Dieses Problem der Notwendigkeit des göttlichen Willens wird noch eigens aufgegriffen. 7 Vgl. S.th. I, 42, 2 und 3; S.c.G. IV, 14, ebenso In Ev. Jo. I. 8 Vgl. S.c.G. IV, 19.

129

II. Das Absolute

Thomas geht schließlich soweit, daß die Personen nur der „Ausdrucksweise"1 nach verschieden seien, womit er die Wesensmerkmale Gottes nicht nur zu Objekten sondern tendenziell auch zu Produkten der menschlichen Logik erklärt. Der Geist ist schließlich erst geeignet, die Einheit der Mannigfaltigkeit zu begründen, indem er in die Welt gesandt wird.2 Der Wille, der nur sich selbst will, bricht in sich zusammen. Will Gott als Gott der Herr der Welt sein, muß er die Welt wollen, über die er herrscht. Nur der Geist aber kann die Welt regieren weil in ihm Gott als Wille außer sich geht: „Da nun der Heilige Geist als die Liebe hervorgeht, geht er in der Eigenschaft einer ersten Gabe hervor. Deshalb sagt Augustinus: Durch die Gabe, die der Heilige Geist ist, werden viele besondere Gaben an die Glieder Christi ausgeteilt." Der Vater selbst kann nicht gesandt werden, er sendet vielmehr seinen Sohn als „Urheber der Heiligung", deren „Zeichen"5 der Geist ist. Der absolute Intellekt bewirkt das xadóAov, dasjenige, das allen zukommt, der Wille jedoch ist die Relation des Strebens, in der die Menschen auf den absoluten Intellekt bezogen sind. Nur durch den Heiligen Geist gelangt die Menschheit zur Erkenntnis des Absoluten.6 Auf diese Weise ist die Gründung der Kirche durch Sohn und Geist im Auftrage des Vaters7 die Begründung der transzendentalen Einheit des menschlichen Bewußtseins, die zuvor nur als Voraussetzung von Erkenntnis erschlossen war. Trotz der Verkehrung des negativen in den affirmativen Begriff des Absoluten hat er nur in der Beziehung auf das, woraus er erschlossen wurde, Realität. Gott, der nur sich selbst denkt und will, ist kein Selbstbewußtsein.8 Denkt und will er aber anderes, so gibt es eine Natur außerhalb des göttlichen Wesens. Es ist demzufolge bei Thomas ausdrücklich von ,Außergöttlichem' die Rede und die veritas ontologica ist die Gleichheit der Naturdinge mit den ihnen korrespondierenden species im göttlichen Geist.9 Es ergeben sich hieraus zwei entscheidende Probleme. Erstens ist der Begriff der Totalität von demjenigen, dessen Einheit durch ihn bestimmt wird, realiter wieder getrennt: Gott muß sich auf die Welt als Anderes beziehen. Zweitens bestimmt dieses absolute Prinzip zwar die Einheit des Bewußtseins, die Einheit von Denken und Gegenstand jedoch nur mittelbar, insofern dieses Problem die Grundlage war, auf der die Einheit des Bewußtseins erschlossen wurde. Diese Probleme lassen sich mit den Mitteln der Erkenntniskritik nicht lösen. Die Thomasische Philosophie vollendet an dieser Stelle die Wandlung von ,

1 2

Dever. 23, 1 ad 3. Vgl. S.th. 1,43, 6. Bewußte Empfänger des Geistes sind die Menschen, vermittels der Sakramente. So konstituiert der Geist zunächst das xadóAov dasjenige, das allen zukommt. 3 Vgl. S.th. I, 39, 8c 4 S.th. I, 38, 2c 5 S.th. I, 43, 7c 6 Vgl. S.th. 1,38, 1. 7 Vgl. S.th. I, 43, 7 ad 6. 8 Es ist nicht ,Nonsens', wenn Hegel lehrt, daß Gottes Selbstbewußtsein an der Gemeinde vermittelt ist, wie Hans Meyer, Thomas von Aquin, a.a.O., S 111 behauptet. 9 Vgl. S.th. I, 16, lc.

ZWEITES KAPITEL: THOMAS VON AQUIN

130

erkenntnistheoretischer Reflexion in ein affirmatives, teleologisch bestimmtes idealistisches System, indem sie die negative Theologie zur Schöpfungstheorie verkehrt, um die Relation des Geistes, in der Gott auf die Welt bezogen ist, ontisch zu fundieren: Es ist „die Liebe, mit der er seine Gutheit liebt, die Ursache für die Erschaffung der Dinge"1. Die scheinbar entgegenstehende Bemerkung, die Schöpfung unterliege der willentlichen Entscheidung Gottes2, verweist nur auf den Unterschied des absoluten Begriffes der Welt zu ihrer realiter kontingenten Ausprägung. Den Willensprimat des späteren Nominalismus, der darin jedoch anklingt, vermeidet Thomas wegen seiner Konsequenzen: Eine ontologisch fundierte Erkenntnistheorie ist damit nicht mehr zu vereinbaren. Durch den Willen wird die in sich gesetzte Reflexivität Gottes zur äußeren, die allerdings, weil sie sich in sich auf sich als ein Anderes bezieht, immanent bleibt, wie Hegels äußere Reflexion. Bestimmend wird sie als schöpferisches Wesen. Entgegen der immanenten Stringenz, die zur Notwendigkeit der Schöpfung führt, muß Thomas dies ablehnen. Dafür gibt es einen systematischen Grund. Würde die Notwendigkeit der Schöpfung zugestanden, wäre Gott ihr unterworfen, mithin nicht das Absolute. Bezöge der Wille sich aber nur auf sich selbst, bliebe er wieder leer. Wird eingewandt, Gott sei als Erkennender bestimmt und dadurch habe sein Wille in ihm einen Gegenstand, folgt daraus aber die Aporie, daß Gott die Schöpfung nicht wollen kann, bevor sie da ist. Der Wille bestimmt dann nicht wie der Verstand sein Objekt, sondern wird bestimmt durch die vernünftige Hinordnung des Gewollten auf den Wollenden: Gott will die Schöpfung nur, insofern sie schon durch ihn auf ihn hingeordnet ist. Die Objektivierung des Willens, die begründen soll, daß Gott nicht notwendig schaffen muß, fällt in die absolute Subjektivität zurück, die gar nicht schaffen kann. Diese Aporie ergibt sich aus der idealistischen Hypostasierung des zunächst negativen erkenntnistheoretischen Begriffes der Totalität, die nicht mehr erklären, sondern begründen soll. Die Einheit der Welt zu begründen, ist aber nur möglich, wenn sie als aus einem rationalen Grund hervorgegangen gedacht wird. Daher entscheidet der Aristoteliker Thomas sich im Zusammenhang der Schöpfungslehre ausdrücklich für die Platonische Ideen- und ¿/¿Teiler-Lehre: „Hierin läßt sich auch einigermaßen Piatons Lehre von den Ideen retten, gemäß derer alles gebildet wurde, was in den materiellen Dingen existiert." Die Ideen gelten als Gedanken Gottes vor Erschaffung der Welt: „Weil nun die Welt nicht durch Zufall entstanden, sondern von Gott erschaffen wurde, der durch den Verstand tätig ist, muß notwendig im göttlichen Geiste die Form vorhanden sein, auf deren Ähnlichkeit hin die Welt erschaffen ist. Und darin besteht das Wesen der Idee."4 Selbstverständlich sind die Ideen nicht in direkter Weise Gründe der -

1 2 3 4

S.c.G. IV, 20.

Vgl. S.th. 1,41, 2c S.c.G. I, 54. S.th. I, 15, lc.

-

II. Das Absolute

131

sie existieren selbst nur im Geist Gottes als Reflexionsbestimmungen oder Wesenheiten. Die Schöpfung, die zwar Hervorgang ist, aber nicht in der Zeit, kann nur als reiner Prozeß, als Entstehen ohne Bewegung gedacht werden,: „Und im Bereich dieser Dinge ist das, was wird; wenn man aber sagt, es werde, so wird damit angedeutet, es stamme von einem anderen her und sei vorher nicht gewesen. Da nun die Erschaffung ohne Bewegung erfolgt, so fallen Erschaffen und Erschaffen-Sein zusammen."1 Die Schöpfung muß unmittelbar aus Gott hervorgehen, weil weder Material noch Zeit vorhanden sind, die den Vorgang vermitteln könnten. Von der Relationalität des Prozesses bleibt aber übrig, daß er Relation überhaupt ist. Diese Bestimmung fällt zwar aufgrund der Identität von Erschaffen und Erschaffen-Sein nicht zwischen Schöpfer und Schöpfung, aber sie ist jeweils in ihnen und kann so die Bindung an den Schöpfer in den Geschöpfen ontisch verankern: „Darum bleibt nur übrig, daß die Erschaffung im Geschöpfe nur eine gewisse Beziehung zum Schöpfer ist als zum Ausgangsgrunde seines Seins, so wie im Erleiden, das in der Bewegung statthat, eine Beziehung zum Prinzip der Bewegung mitenthalten ist."2 Diese Bindung, die in den Geschöpfen real ist und daher vielfältig, ist in Gott intellektual und daher nur eine. Sie besteht in der Güte Gottes, die er kommunizieren will.3 Da jedes Geschöpfens ab alio und als solches unvollkommen ist, erfordert die Darstellung der vollkommenen Güte die Vielheit von Geschöpfen, die einander ausgleichen; diese Vielheit hat in der Güte umgekehrt ihre Einheit.4 Die Einheit zeigt sich in den Dingen als vestigium trinitatis, denn ,jede Wirkung vergegenwärtigt einigermaßen ihre Ursache" und „in allen Geschöpfen findet sich die Vergegenwärtigung der Dreifaltigkeit in der Weise der Spur, insofern sich in jedem Geschöpf einiges findet, was man notwendig auf die göttlichen Personen als auf die Ursache zurückführen muß"5. So wird das Sein interpretiert als Spur des Vaters, die Form als Spur des Sohnes und die Hinordnung als Spur des Geistes. Weil diese Dreiheit in den Dingen nicht selbst bewußt vermittelt ist, sind sie zwar nicht für sich, aber an sich reflexiv; durch die ideologische Verfaßtheit alles wesentlich bestimmten Seins ist die Welt dem erkennenden Geist adäquat. Damit in der Erkenntnis diese Reflexivität zu sich selbst gebracht werde, ist „in den vernunftbegabten Geschöpfen, in welchen Verstand und Wille ist, die Darstellung

Dinge;

1 S.th. I, 45, 2 ad 3. Vgl. auch S.c.G. II, 16, 17 und 19. Die Schöpfung als reiner Prozeß ohne Material und Bewegung widerstrebt dem Begriff des Werdens. Vgl. Comp. theol., c. 69. Die Konsequenz muß nicht die Fähigkeit zur creatio ex nihilo sein, für die ein Übersetzer etwa das schöne Wort,Krongewalt' einfach hinzuerfunden hat. Aristoteles etwa schließt daraus, daß das Absolute wohl Prinzip, nicht aber Ursache sein kann. 2 S.th. I, 45, 3c 3 Vgl. S.th. I, 47, lc. 4 Vgl. S.c.G. II, 45. 5 S.th. I, 45, 7c

132

ZWEITES KAPITEL: THOMAS VON AQUIN

der Dreifaltigkeit nach der Weise des Bildes"1. Mit dieser imago trinitatis ist eine Reflexivität vorausgesetzt, die nicht bloß an sich ist. Die Analyse der Selbsterkenntnis hatte bereits auf die Annahme einer habituellen Selbsterkenntnis geführt, die nur durch Vermittlung an einem ihr Anderen real wurde. Daß dieses Andere ihr strukturgleich sein mußte, ergab sich als Bedingung der Möglichkeit seiner Erkenntnis. Das Problem der Notwendigkeit von Übereinstimmung und Andersheit setzte sich in der absoluten Reflexion fort. Mit der Schöpfung soll die Andersheit nun vollständig in Identität aufgelöst werden. Die Schöpfung kommt „der ganzen Dreifaltigkeit gemeinsam"2 zu. Und zwar so, daß „die Hervorgänge der Personen irgendwie Ursache und Grund der Erschaffung sind"3. Der Vater erkennt die eigene Bestimmtheit im Wort und äußert sie durch den Geist. So ist es die absolute Reflexion, die, weil sie nicht in sich subsistieren kann, im Wort zur setzenden wird. Zwar geht sie durch den Willen außer sich, um sich wahrhaft zu setzen, aber weil die Äußerung in Einheit mit dem Setzen, der Geist in Einheit mit dem Sohn ist, ist der Hervorgang in die Schöpfung Selbstentäußerung. Die Schöpfung erweist sich als das Thomasische pendant der bestimmenden Reflexion. Anders als bei endlichen Vernunftwesen sollen im Absoluten Erkenntnisgrund und Existenzgrund als identisch gedacht werden. Ist aber die Existenz des Absoluten mit der bestimmenden Reflexion Produkt seiner selbst, kann es daneben keine äußere, auf Anderes verwiesene Reflexion geben; durch die Schöpfung ist die Welt der Vernunft vollständig unterworfen. Daß der Mensch manches nicht erkennt, liegt nicht daran, daß es an sich nicht vernünftig wäre. Im Unterschied zu Hegels bestimmender Reflexion ist für die Schöpfung aber der Wille konstitutiv: „[Es] pflegt Gottes Wissen, sofern es Ursache der Dinge ist, Wissen mit Zustimmung genannt zu werden."4 Der Versuch, im Absoluten auch den Willen absolut zu bestimmen, führte auf die Schöpfung; das Absolute verfällt der Antinomie, daß es nicht nur absolut begierig, sondern auch absolut bedürftig ist.

1 2 3 4

S.th. S.th. S.th. S.th.

I, 45, 7c I, 45, 6c I, 45, 7 ad 3. I, 14, 8c

133

m. Der Wille

III. Der Wille Der Wille ist als Bedingung von Reflexivität entwickelt worden, gerät aber in ein aporetisches Verhältnis zum göttlichen Intellekt. So ist Thomas konfrontiert mit einer vielfäl-

tigen lens

Willensproblematik.1 Zunächst ist die Annahme eines freien menschlichen Wildogmatisch2 gefordert aufgrund der Erlösungs- beziehungsweise

Verdammungslehre, besonders aber zur Erklärung der offensichtlichen Unregelmäßigkeiten der Schöpfungsordnung, für die Gott selbst nicht im Einzelnen verantwortlich zu

machen ist. Aber die Willensfreiheit ist noch anders erfordert: Der christlich bestimmPhilosophie gilt die Welt nicht wie der antiken Metaphysik als ewig, sondern als in zweckmäßiger Hinordnung auf den Schöpfer ohne äußeren Anlaß aus dem Nichts geschaffen. Dies ist ohne Willkürakt nicht denkbar, doch die Annahme eines Willensprimates in Gott gilt Thomas als Die Allmacht Gottes mag es mit sich bringen, daß er alles schaffen kann, was er will, ihre wesentliche Bestimmung ist aber, daß durch sie im Unterschied zur beschränkten Potenz der Kreaturen das Rationale ungehindert Wirklichkeit zu werden vermag. Wenn gilt, daß ein in seinen Entscheidungen durch nichts Anderes affiziertes Wesen sich für das Vernünftige entscheidet, kommt der Primat des Willens im Gegenteil einer Beschränkung der Freiheit gleich. Folglich muß ein Vermögen der Durchführung vernünftiger Entscheidungen hinsichtlich Kontingenten! gedacht werden. Gott gilt nicht mehr als das neuplatonische primum principium, dessen Emanation sich notwendig vollzieht, und noch nicht als der nominalistische absolute Wille, dem kaum mehr die Bindung an das Widerspruchsprinzip zugestanden wird.4 Die creatio wird willentlich vollzogen, soll aber einer vom göttlichen Intellekt vorgesehenen Ordnung unterliegen. Die Hypostasierung des ersten Prinzips, der Totalität des Seienden als willensbegabter Gott ist so eine wenngleich nicht unproblematische Voraussetzung des entscheidenden theoretischen Fortschrittes der praktischen Philosophie des Mittelalters gegenüber der Antike, in dessen Verlauf das Kontingente zunehmend in den Vordergrund der Betrachtungen rückt. Die Vermögen, die zu Entscheidungen führen, können nun unabhängig von bestimmten Zwecken und Umständen am Ideal des Willens Gottes spekulativ untersucht werden: ,,[A]lles Vielförmige und Wandelbare und dasjenige, was versagen kann, muß sich auf etwas Einförmiges und Unwandelbares und auf etwas, was niemals versagen kann, als auf sein Prinzip, zurück-

ten

„Blasphemie"3.

-

-

1

Vorwiegend in diesem Zusammenhang ist der Willensbegriff hier zu betrachten. Für eine detailgeAnalyse der Thomasischen Willenslehre, auch im theoriegeschichtlichen Zusammenhang, vgl.

naue

Michael Wittmann, Die Ethik des Hl. Thomas von Aquin, München 1933, 73-194. 2 Vgl. Adolf von Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte, a.a.O., Bd. 1, 536ff. und Bd. 2, 138. Vgl. auch Albert Zimmermann, „Der Begriff der Freiheit nach Thomas von Aquin", in: Thomas von Aquin 1274/1974, hg. v. Ludger Oeing-Hanhoff, München 1974, 135. 3 De ver. 23, 6 c Vgl. S.c.G. I, 87 und II, 24. 4 Vgl. Rolf Schönberger, Evidenz und Erkenntnis, a.a.O., 10.

134

Zweites Kapitel: Thomas von Aquin

führen lassen." Der Begriff des Willens ist so einerseits negativ erschlossen, andererseits sind seine spezifischen Eigenschaften Unwandelbarkeit, Einfachheit und besonders Unfehlbarkeit Ausdruck der metaphysischen Hypostasierung. Analog den Substanzbegriffen ist der göttliche Wille nicht bloß Erklärungsprinzip, sondern auch einzige Wirkursache aller menschlichen Willensakte.2 Der entscheidende Fortschritt wird so zugleich zum größten Hindernis der Willenstheorie, die Bestimmung des Willens bleibt verfangen in der Aporie von Vorsehung und Freiheit, und zwar gilt das in Variationen für den menschlichen wie für den göttlichen Willen. Mit der hiermit erfolgten Verlegung des Maßstabes der Ethik aus der politischen Sphäre in die Transzendenz wird überhaupt erst ein universaler Maßstab geschaffen, obwohl ihm politisch und ökonomisch noch nichts entspricht. Zugleich aber wird die Ethik damit von ihrer Verantwortung befreit, indem ein Produkt des Kopfes zum autonom vorgestellten Herrn erhoben wird. Zweifellos wird der Begriff des göttlichen Willens auf der Grundlage des menschlichen entwickelt. Die meisten einschlägigen Argumentationen beginnen mit einer Darstellung von Naturprozessen oder menschlicher Verhältnisse, um von dort aus den Willen Gottes zu erschließen. Wenngleich die inhaltliche Entfaltung des Ideals diesen Weg gehen muß, hat die Bestimmung der Willensfreiheit die Annahme eines göttlichen Subjektes zur Voraussetzung, das aus freien Stücken eine nicht durchgängig notwendige Ordnung hervorbringt und so auch den Menschen Entscheidungsmöglichkeiten gewährt. Die Entdeckung des freien Willens im Mittelalter ist damit von vornherein an eine teils transzendent, teils natürlich begründete Hierarchie geknüpft, die den Versuch der Menschen, ihr Leben selbstbewußt zu organisieren vor ernsthafte theoretische Schwierigkeiten stellt, deren praktische Konsequenzen in der Folge Geschichte machen. -

-

1.

Der Wille Gottes

Jedes Seiende neigt in je bestimmter Weise auf anderes. Dem bloß materiellen, unbeseelten Seienden wohnen naturhafte Neigungen inne, wie dem Schweren, nach unten zu fallen. Dies ist keine Selbstbewegung des Gegenstandes. Das sensitive Seiende strebt in animalischer Weise, d.h. aus zumeist instinktiver Reaktion auf Sinnesreize. Das intellektbegabte Seiende schließlich strebt in rational, intellektual bestimmter Weise, d.h. aus bewußter Reaktion auf ein in allgemeiner Form als Erkenntnis ins Subjekt aufgenommenes Ziel.3 Für die Möglichkeit zu entscheiden, ist die immaterielle Auffassung des Zieles vorausgesetzt. Während den Tieren das Objekt nur konkret in den Sinnen gegeben und damit von ihnen unmittelbar zu erstreben oder zu meiden ist, hat der Mensch einen Begriff, über den er zu reflektieren vermag, bevor er eine Entscheidung trifft: „In 1 2 3

S.c.G. III, 91.

Vgl. S.c.G. III, 89 und 91. Vgl. De ver. 22, 1 ; 23, 1 und S.th. I, 80.

III. Der Wille

135

der geistigen Natur dagegen, wo etwas vollkommen immateriell aufgenommen wird, findet sich die freie Neigung in vollkommener Reinheit; diese freie Neigung ist ja konstitutiv für die Idee des Willens [...]; und je immaterieller sie [die geistige Substanz] ist, desto mehr entspricht es ihr wesenhaft, einen Willen zu haben. Da nun Gott die äußerste Grenze der Immaterialität bildet, kommt ihm der Wille im höchsten und eigentlichsten Sinne zu."1 Der reine Wille Gottes ist hier Resultat der Abstraktion von der Besonderheit des menschlichen, der aber als besonderer erst unter Voraussetzung des göttlichen darstellbar ist. Zwar ist der rekursive Argumentationsgang der gleiche wie in der theoretischen Philosophie, aber hier rückt Thomas den ontologischen Vorrang des erschlossenen Prinzips radikaler in den Vordergrund; Gott als Wille ist den Menschen nicht bloß theoretisch, sondern herrschaftlich übergeordnet. Um die Freiheit des menschlichen Tuns zu bezeichnen, bemüht Thomas das Modell des Baumeisters, der das von ihm konzipierte Haus bauen kann oder nicht, und unterstellt damit eine Entscheidungsfreiheit, die Aristoteles nicht zu bestimmen vermochte; ein Baumeister, der Häuser ausdenkt, aber nicht baut, wäre für ihn keiner. Thomas betont hier gegenüber der antiken Teleologie die Entscheidungsfreiheit, weil der in der christlichen Vorstellung übergeordnete Zweck des Seelenheils, damit auch ein Moment von Moralität, untergeordnete in sich schlüssige Zweckrelationen zu suspendieren vermag.2 Bei Thomas ist daher das Verhältnis von Intellekt und Wille bedeutend differenzierter bestimmt, beide Vermögen können zusammenstimmen, sie können aber auch diametral entgegengesetzt sein. Der in der Möglichkeit der Übereinstimmung implizierten Differenz ist begrifflich die ideale Identität von Intellekt und Wille im Wesen Gottes vorausgesetzt, allerdings kommen alle zufälligen oder bedingten Bestimmungen dem göttlichen Willen nicht zu. Er ist Wille nicht in dem Sinne, daß er nach dem Guten strebte, sondern in dem, daß er im Ziel ruht, was explizit als Willensakt gilt.3 Zwar will Gott als Mittel zu diesem Ziel, das er selbst ist, auch Außergöttliches, soll aber an diese Dinge, anders als der menschliche Wille, nicht gebunden sein.4 Obwohl Gottes Wille absolut indeterminiert, weder durch objektive noch durch subjektive Schranken gehemmt ist, kann er niemals fehlgehen. Das beruht darauf, daß Gott reine ungeschaffene Wirklichkeit ist, die im Unterschied zu den Geschöpfen nicht am Nichts partizipiert, aus dem diese geschaffen sind und daher auch an der Möglichkeit teilhaben.5 Dieser Unterschied wird am Verhältnis von Wille und Verstand folgendermaßen dargestellt: „In uns freilich ist Verstand und Wille realiter verschieden; und darum ist auch der Wille und die Richtigkeit des Willens nicht dasselbe; in Gott aber sind Verstand und Wille realiter dasselbe; und darum ist die Richtigkeit des Willens dasselbe wie der Wille selbst."6 1 2 3 4 5 6

De ver. 23, lc. Vgl. Michael Wittmann, Die Ethik des Hl. Thomas von Aquin, a.a.O., 100. Vgl. S.th. I, 19, lc Vgl. De ver. 23, 4 ad 2. Vgl. De ver. 24, 3 und 7. De ver. 23, 6c Vgl. S.th. I, 19 4 ad 4 und S.c.G. III, 75: „Der Wille folgt dem Verstand."

Zweites Kapitel: Thomas von Aquin

136

Will Gott unmittelbar das Richtige, ist er nicht frei zu entscheiden; kann er frei entscheiden, so muß er auch das Falsche wollen können. Diese Aporie, die sich in vielfältigen Variationen durch die gesamte Willenslehre zieht, soll geschlichtet werden durch die begriffliche Unterscheidung in Gottes Willen, soweit er durch den Intellekt bestimmt ist und so „außerhalb jener Ordnung nichts tun [kann]; denn jene Ordnung geht ja [...] aus dem Wissen und Willen Gottes hervor"1, und Gottes Willen absolut betrachtet, wonach er doch manches vermag, was nicht der Ordnung untersteht. Aber der absolute Wille hat eigentlich kein Betätigungsfeld. Zwar ist die Welt nur deswegen auf die menschliche Vernunft geordnet, weil Gott es so will; wollte er jedoch anders, müßte er auf die vollständige Demonstration seiner Wesensgutheit verzichten, die Schöpfung wäre lücken- und mangelhaft: „Trotzdem kann Gott sehr wohl noch etwas anderes tun als dasjenige, was seiner Vorsehung oder Tätigkeit unterliegt, wenn man seine Macht absolut betrachtet; aber niemals kann er etwas tun, was nicht von Ewigkeit her der Ordnung seiner Vorsehung unterliegt, und zwar deshalb nicht, weil er sich nicht verändern kann."2 Dieses Argument verwendet Thomas im Zusammenhang der Bestimmung der Möglichkeit der Wunder und versteht unter ,absolut' die Unabhängigkeit von derzeit bestehenden Einzeldingen, an denen Gott als oberstes agens alles wirken kann, wobei allerdings die Natur des Gegenstandes zerstört wird, um dem Widerspruchsgesetz zu genügen. Bedenkt man, daß der Wille Gottes absolut und zeitlos bestimmt ist, verkürzt sich das Resultat auf den zweiten Teil des Zitates. Die ,Unveränderlichkeit' bedeutet, daß es aufgrund des einen instantanen Willensaktes für Gottes Willen keine Ursache {causa) geben kann, wohl aber einen Grund {ratio), nämlich die göttliche Weisheit, die keinem Irrtum unterliegen kann: Alles, was Gott tut, muß daher den Gesetzen der Vernunft unterliegen. Es macht sich hier die erkenntnistheoretische Herkunft des Gottesbegriffes, seine eigentlich negative, regulative Funktion geltend, deren Hypostasierung jene Widersprüche expliziert, die von der antiken Philosophie noch unbewußt tradiert wurden. Die erkenntnistheoretische Grundlage der Überlegungen führt auf die notwendige Bestimmtheit des Willens Gottes, der jedes Ding wollen muß, soll nicht die OrdHinter dieser zwar nicht begründeten, sondern nung der Welt dem Zufall vorausgesetzten Ordnung kündigt sich gleichwohl die kritische Konstruktion der Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis an. Weil Gott dem Gesetz der Widerspruchsvermeidung unterliegt und die wissenschaftliche Axiomatik zum einen unter dessen Voraussetzung konstruiert, zum anderen Ausdruck der ontologischen Ordnung ist, steht Gottes Wille faktisch unter der Seinsordnung und wirkt im Rahmen der

unterliegen.5

Naturgesetze.6

S.c.G. III, 98. S.c.G. III, 98. S.c.G. III, 100. Vgl. S.c.G. I, 82, 87, 89 und II, 24, 95. Vgl. S.c.G. I, 78. Vgl. S.c.G. II, 22 und 25. So gilt auch, daß Gott, wenn er Bedürftiges schafft, gezwungen ist, die Gegenstände seines Bedarfes ebenso zu schaffen. Vgl. S.c.G. II, 29.

1 2 3 4 5 6

III. Der Wille

137

Die der hinter der Weltordnung vermuteten Vernunft zugeschriebene Zweckmäßigkeit ist Ausdruck der metaphysischen Stufe menschlicher Naturerkenntnis, die ihre Voraussetzungen noch ganz außer sich verortet. Die potentia dei ordinata, die durch den vorausgegangenen Willensakt Gottes dessen Anordnung unterworfene Allmacht, ist die theologische Gestalt von Naturgesetzlichkeit. Wunder, Ausnahmen oder Zufälle fallen unter die Bestimmung, daß schon notwendig ist, was „stets oder in den meisten Fällen zutage tritt"1. Weitergehend als bei Aristoteles wird die Regelmäßigkeit zum Problem, denn was der Ordnung nicht sich fügt, wird nur dem Willen Gottes subsumierbar, wenn es als ihr eigener aber negativer Ausdruck verstanden wird. Auch die potentia dei absoluta, die unabhängig von der Anordnung betrachtete Allmacht, ist so im erkenntnistheoretischen Zusammenhang von vornherein ordiniert. Die Hypostasierung Gottes erzwingt dagegen, daß Gott nichts außer sich selbst wollen muß und ganz autark vorzustellen ist. Diese Forderung beschädigt auch die Erkenntnistheorie, weil durch sie die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis in sich problematisch wird. Die kosmologische Ordnung ist ein Gnadenakt, an den Gott sich dann aber zu halten hat, weil er Widersprüchliches nicht wollen kann2 und daher an seine Vorsehung gebunden ist. Kann Gott innerhalb dessen dennoch wählen, so bedeutet das, daß er wählt zwischen Alternativen, die nicht in Widerspruch untereinander oder zur Vorsehung stehen. Dann aber wäre alles, was Gott will, akzidentell, denn substantiell Unterschiedenes steht in kontradiktorischem Verhältnis. So läßt sich von keiner Entscheidung Gottes sagen, sie sei richtig, weil sie allesamt gleichgültig sein müssen. Diese Inkonsequenzen in der Willensbestimmung beschwören den Nominalismus geradezu herauf. Das schwierige Verhältnis von Intellekt und Wille bei Thomas ist folgenreich für die Bestimmung Gottes wie für die der Schöpfung. Die Willensbegabung Gottes wird überhaupt daraus begründet, daß er einen Intellekt hat.3 Wenn der göttliche Intellekt in seiner Erkenntnis des Wahren ruht, und jedes Wahre auch ein Gutes ist, folgt daraus ein Wille, der in dem Guten ruht. Der Gegenstand göttlicher Erkenntnis ist aber sein eigenes Wesen, in dem er die Totalität des Seienden ineins erkennt. Daher ist auch das Gute, das Gegenstand des göttlichen Willens ist, Gottes Wesen, wenngleich nicht als veritas sondern als bonitas divina. Ziel des göttlichen Willens ist seine Gutheit, mithin er selbst. Die Selbsterkenntnis Gottes erhielt nun nur dadurch einen Gegenstand, daß Gott sich selbst gegenständlich wurde im Hervorgang des Sohnes, der wortgewordenen Erinnerung der göttlichen Substanz. Und dieser Gegenstand erhielt einen Inhalt nur durch die Vermittlung der Reflexion an Anderem, der Schöpfung. Ebenso kann die Gutheit nur Ziel des Willens sein, wenn die Substanz Gottes in sich unterschieden wird, weil Ziel und Wille dasselbe Wesen bezeichnen. Der Wille erhält einen Inhalt erst durch die Darstellung der Gutheit Gottes in der Schöpfung, die er wollen muß als Mittel, sich 1 2

S.c.G. II, 24.

Vgl. S.c.G. I, 84. 3 Vgl. S.th. I, 19, lc.

Zweites Kapitel: Thomas von Aquin

138

selbst zu wollen. Gott regiert im öden Land so schlecht wie Kreon. Zudem ist die Reflexion des Intellekts dieselbe wie die des Willens und ihre Objekte, die Wahrheit und die Gutheit des göttlichen Wesens, sind ebenso substantiell identisch. Die Probleme der Trinitätsspekulation wiederholen sich zwangsläufig in der Willensbestimmung: zum einen die Antinomie absoluter Relationalität, der Identität, die durch die Entäußerung nicht aufgehoben sei, und zum anderen der Widerspruch der Schöpfung, die zwangsläufig sich ergibt und doch arbiträr sein soll. Zwar will Gott die Geschöpfe, genauer deren Ordnung, aber nur als Mittel der Darstellung seiner eigenen Gutheit, die das Ziel seines Willens ist.1 Er erlangt durch sie keine zusätzliche Vollkommenheit.2 Allerdings wäre der Gegenstand des göttlichen Willens ohne sie inhaltlich unbestimmt, diese bittere Medizin kann Thomas nicht unterschlagen: „In den Dingen, die wir wegen des Zieles wollen, besteht der ganze Grund der Bewegung im Ziel. Dies ist es, das den Willen bewegt. Das wird uns am besten klar bei den Dingen, die wir nur wegen des Zieles wollen. Wer nämlich etwas Bitteres trinken will, will damit nichts anderes als die Gesundheit. [...] Wenn also Gott das Außergöttliche nur des Zieles wegen will, [...], so folgt daraus nicht, daß etwas anderes Seinen Willen bewegt [...] Wollte Gott im eigentlichen Sinn Außergöttliches, so wäre der absolute Wille zweifach determiniert: erstens durch die Bestimmtheit durch ein fremdes Objekt und zweitens wäre dieses Objekt mit Notwendigkeit von ihm hervorgebracht, da sein Wille ohne es leer bliebe. So ergibt sich als weiteres Problem die Aporie der Schöpfung, da diese ihrer Möglichkeit aktual vorhergehen müßte. Um diese Probleme zu umgehen, muß Thomas ein voluntatives Moment in die Schöpfungstheorie bringen: Ließe sich nachweisen, daß der Schöpfung ein freier Willensakt vorhergehen kann, wären alle drei Probleme gelöst. Als zentrales Argument gegen die Behauptung, die Schöpfung folge direkt aus Gottes Natur, führt Thomas an, daß jede Wirkung in ihrer Ursache deren Seinsweise gemäß formal repräsentiert ist. Die Schöpfung ist daher in Gott präformiert, und weil dessen Sein Erkennen ist, als Erkenntnis. Die praktische Äußerung einer Erkenntnis nun ist ein Willensakt, womit das Gewünschte bewiesen sei. Offenbar übersieht Thomas geflissentlich, daß in Gott der Intellekt und der Wille zwar nach Hinsichten unterscheidbar, inhaltlich aber identisch sind. Der Inhalt der göttlichen Erkenntnis ist in jeder Beziehung notwendig, also auch der seines Willens. Die Freiheit kann nur darin bestehen, daß er etwas wollen kann, um es erst zu einem anderen Zeitpunkt zu wirken,4 oder daß er das Gewollte notwendig als Zufälliges will, weil der Wille wohl den gleichen Inhalt hat wie der Intellekt, aber dieser Inhalt modal anders bestimmt ist, nämlich nicht, wie Erkenntnisse, nach der Seinsweise des Wissenden, sondern nach der Seinsweise des Gewollten, da der Wille sich auf Gegenstände als Äußere bezieht.5 1 2 3 4 5

Vgl. S.th. 1,19, 2c Vgl. De ver. 23, 1 ad

11 und S.th. I, S.th. I, 19,2 ad 2. Vgl. Dever. 23, lad 10. Vgl. S.th. I, 19, 3 ad 6.

19, 3c

III. Der Wille

139

Die Lösung soll schließlich eine Äquivokation im Begriff der Notwendigkeit bringen. Notwendigkeit sei einmal als realer äußerer Zwang zu verstehen und in diesem Sinne sei Gottes Wille nicht notwendig bestimmt; in einem anderen Sinne sei Notwendigkeit eine naturgemäße Bestimmung, die, weil sie eine innere Bestimmung, nicht zwanghaft sei; in diesem Sinne ist Gottes Wille notwendig auf seinen Zweck gerichtet, der er selbst ist. Außerdem komme Notwendigkeit aber logisch einer Folge unter einer bestimmten Voraussetzung zu, wobei das freie Setzen der Voraussetzung eben die Abwesenheit von Zwang beweise; in dieser die absolute und die ordinierte Betrachtung des Willens Gottes verknüpfenden Weise ist er auf die Geschöpfe bezogen: „Absolut notwendig heißt etwas wegen der notwendigen wechselseitigen Beziehung zwischen den Terminis in einem Satz, z. B. daß der Mensch ein Lebewesen sei [...] Bedingt notwendig aber heißt etwas, was nicht von sich aus notwendig ist, sondern nur, wenn etwas anderes gesetzt ist; z. B. daß Sokrates gelaufen sei; an sich nämlich liegt das für Sokrates nicht näher als das Gegenteil; ist aber die Voraussetzung gemacht, er sei gelaufen, so ist es unmöglich, daß er nicht gelaufen sei. So sage ich denn: Wenn Gott etwas in den Geschöpfen will, z. B. daß Petrus gerettet werde, so ist das nicht absolut notwendig [...]; nimmt man aber an, daß Gott es so will oder gewollt hat, so ist es unmöglich, daß er es nicht gewollt habe oder wolle, weil sein Wille unwandelbar ist."1 Eigentlich bezieht diese Notwendigkeit ihre Gültigkeit nicht erst aus der Unwandelbarkeit des Willens, sondern aus der tautologischen Form des Satzes. Die Rettung ist mit Petrus im göttlichen Willen nicht notwendig verbunden, ihre Verknüpfung wird im Unterschied zur Reflexivität dieses Willens nicht in einem analytischen, sondern in einem synthetischen Urteil ausgedrückt. Diese Synthese steht in einem hypothetischen Verhältnis zum göttlichen Willen, das aber durch die Annahme der Erfüllung des Vordersatzes in ein kategorisches umgewandelt wird: Wird Petrus gerettet, so hat Gott es von Ewigkeit gewollt. Da er es gewollt hat, ist es notwendig, daß er es gewollt hat, aber die Notwendigkeit der Relation von Wille und Gegenstand hat in keinem der Relata ihren Grund. Diese Konstruktion ist so raffiniert, daß nicht entscheidbar ist, ob hier die Ewigkeit des ist Willens erschlichen oder oder seine Freiheit beides. Beide Seiten sind in göttlichen sich aporetisch und werden in eine Form gebracht, in der jede unter Voraussetzung der anderen soll bestehen können. Allerdings reproduziert sich der Widerspruch in der Wirksamkeit des göttlichen Willens, da die Kontingenz der Schöpfung darauf beruhe, daß Gott „eine solche Ordnung für die Dinge vorgesehen hat"2. Gott will notwendig die Kontingenz der Schöpfung und sei daher auf kein Geschöpf notwendig bezogen, er hätte es auch anders oder ein anderes schaffen können und konnte es doch nicht, da er es nicht tat. Der Konflikt der hier zugrundeliegenden Bindung an das Prinzip der Widerspruchsvermeidung mit der Verknüpfung von Notwendigkeit und Kontingenz soll logisch entschärft werden: „Das Nichtsein einer Wirkung des göttlichen Willens kann mit -

-

1 2

De ver. 23, 4 ad 1. De ver. 23, 5c

Vgl. S.th. I, XIX, 3.

Zweites Kapitel: Thomas von Aquin

140

dem göttlichen Willen nicht zusammen bestehen, doch die Möglichkeit eines Versagens der Wirkung besteht mit dem göttlichen Willen zusammen."1 Wenn Gott etwa Sanct Pauli Rettung will, so besteht die Möglichkeit seiner Verdammung, die aber nie real werden kann. Da das Willensobjekt in der Zeit existiert, entstehen modale Differenzen, unter deren Voraussetzung die Entgegengesetzten widerspruchsfrei verknüpfbar sind. Das allerdings ist erkauft mit dem neuen Widerspruch, daß die Folge der absoluten Notwendigkeit des Willens seine völlige Wirkungslosigkeit ist, denn die Möglichkeit des Versagens geht nicht auf hindernde Zweitursachen zurück, sondern auf Gottes Anordnung, da die obschon zufällige Ordnung der Zweitursachen so von Gott vorgesehen

ist.2

Um diesen Problemen zu entgehen, werden schließlich Äquivokationen im göttlichen Willen selbst erforderlich, die sich freilich nur der begrenzten Betrachtungsweise des menschlichen Verstandes darstellen. So ist einzuteilen „in Wohlgefallen und in einen Jenes bezeichnet den Willen im eigentlichen Sinn, Willen, der durch Zeichen dieser in übertragener Weise. Ausdruck des Wohlgefallens ist die Schöpfungsordnung, der zeichenhafte Wille ist zu unterscheiden in die Ausführung, die immer identisch mit der Ordnung ist, in Gebot, Verbot und Rat, die mit der Ordnung mal zusammenstimmen, mal nicht und in die Zulassung, die immer von der Ordnung abweicht, weil mit ihr Gott das Böse, das er nicht eigentlich wollen kann, den Menschen anheimstellt; es zu wählen, widerspricht jedoch Gottes Willen. Der Zulassung folgt auf der Seite des Wohlgefallens die Differenz von vorausgehendem und nachfolgendem Willen: „Der vorausgehende Wille ist die Annahme Gottes von seiner Seite; der nachfolgende Wille dagegen ist die Einwilligung angesichts der Sachlage auf unserer Seite."4 Erläutert wird das an einem biologischen Modell. Die Natur strebt in erster Intention an, vollkommene Lebewesen hervorzubringen, wenn aber eine materiale Indisposition vorliegt, führt das in zweiter Intention zu Mißbildungen. Vorausgesetzt ist dabei, daß Gott, obwohl er aus dem Nichts schuf und daher eine vollkommene Welt zu schaffen in der Lage war und noch ist, in seiner Weisheit darauf aber verzichtet und die Geschöpfe so ordnet, wie sie sind. Soweit es an ihm liegt, hat er zum Beispiel in erster Intention alle Menschen auf das Heil hingeordnet, so daß sein Wille sich prinzipiell im Handeln der Menschen verwirklicht. Weicht ein Geschöpf aufgrund seiner unvollkommenen Natur durch die

spricht"3.

1 De ver. 23, 5 ad 2. 2 Vgl. S.th. I, 23, 8. Argumente, die die Widersprüche im Wesen Gottes demonstrieren, weist Antonin Dalmace Sertillanges, Thomas von Aquin, Köln 1954, 237ff. zurück, indem er zeigt, daß sie dem Begriff Gottes widersprechen Allerdings geht es doch nicht darum, welcher Begriff Gottes welcher Willenslehre folgt, sondern ob der hier zugrundegelegte Begriff des Absoluten philosophisch richtig ist. Werden philosophische Argumente religiös in die Schranken gewiesen, so bleibt immer nur das „Geheimnis des Unbedingten; das ist alles" (248). Das Geheimnis des Unbedingten ist eine doppelte Negation; nicht mehr aber auch nicht weniger. 3 De ver. 23, 3, Titelfrage. Für den ganzen Zusammenhang vgl. S.th. I, 19, 6-9. 4 De ver. 23, 2c

III. Der Wille

141

wenngleich nicht gottgewollte, so doch zugelassene Sünde von der Ordnung ab, „so bringt Gott in ihm doch so viel Güte an, wie es aufnehmen kann"1. Im Beispiel heißt das, daß Gottes Wille, die Ordnung sich im abweichenden Sünder in zweiter Intention doch noch verwirklicht, indem er ihn verdammt und so der Ordnung wieder gefügig macht. Die Intentionen geben so eine Differenz im Verhältnis zum Willensobjekt wieder, die zweite gilt nicht als Nachbesserung der ersten. Da Gottes Wille nicht in der Zeit ist, folgen die Akte nicht aufeinander; es ist von Ewigkeit vorgesehen, wer verdammt

und wer gerettet wird. Dies beschränkt die erste Intention nicht, denn obwohl der Verdammte nicht effektiv zum Heil bestimmt ist, ist er mit einer auf es hingeordneten Natur versehen. Der Widerspruch ist vermittelt durch den Zynismus der die Regel bestätigenden Ausnahme; die auf das Heil gerichtete Natur ist die Bedingung der Möglichkeit des Abfallens. Die Spaltung im Verhältnis zum Objekt unterscheidet zunächst den Willen vom Intellekt Gottes. Dessen Erkenntnis war kollektive Totalität des Seienden, der darüber hinaus auch die rationale Einheit der teleologischen Ordnung der Dinge auf Gott zukommen sollte, in die alle scheinbaren Abweichungen als in ihren Grund zurückgehen. Diese Ordnung, in der die Aporie der Trinität aufbrach, ist der eigentliche Gegenstand des Willens, der darum diese Spaltung erfährt. Es ist die Reflexivität Gottes, die nicht nur an der Schöpfung vermittelt, sondern auch in ihr gebrochen ist. Der gespaltene Wille Gottes hat die erkenntnistheoretische Funktion, die diffuse Wirklichkeit, deren allgemeiner Begriff die bloß kollektive Totalität im göttlichen Intellekt ist, mittels Anordnung und Hinordnung zu einer auch wissenschaftlich brauchbaren Allgemeinheit zusammenzuzwingen, allein, insofern Wille und Intellekt, Geist und Vater nur Momente eines Wesens sind, reproduziert sich jene Spaltung auch in der Erkenntnis; die als Vorsehung formulierte affirmative Totalität ist auf bloße Kollektivität zurückgeworfen und taugt so weder als Grundlage einer nicht-metaphysischen Erkenntnistheorie, noch einer substantiellen Einheit der Menschen.

2.

Der menschliche Wille

Der Wille Gottes ist als absoluter Wille die Grundlage der spekulativen Betrachtung der Willensproblematik, er soll nur an sich selbst gebunden und muß daher frei sein. Die Menschen sind dagegen vielfach äußeren Zwängen unterworfen und deshalb geht der Bestimmung des menschlichen Willens die des Strebevermögens positiv voraus.2 Jedes Geschöpf ist mit einer seiner Natur entsprechenden Neigung (inclinatio) begabt, bloß materielle Dinge neigen nur ihrer Naturform gemäß, ohne jedes Urteil, stets in eine bestimmte Richtung, so das Schwere nach unten. Ihre Bewegung ist fremdbestimmt. Die 1 De ver. 23, 2c 2 Die Erörterungen hierzu beziehen sich auf folgende Texte: S.th. I, lo 6.

80; 83, 1; De ver. 22, 4; De ma-

Zweites Kapitel: Thomas von Aquin

142

Wesen, denen ihre potentiellen Zwecke Gegenstand der Auffassung {cognitio) sind,

sind damit der Möglichkeit nach selbstbestimmt. Die Auffassung selbst ist zu unterscheiden in sinnliche und intellektuelle, deren Gegenstandsbereiche substantiell differieren in Körperliches und Unkörperliches. So gibt es ein sinnliches Streben, mit dem Tiere Objekte anstreben oder fliehen. Dieses Streben ist einerseits selbstbewegt, insofern das Objekt durch einen Bewußtseinsakt im Strebenden erfaßt ist, andererseits ist es fremdbewegt, weil das Tier der Neigung oder Abneigung nicht zu widerstehen vermag. Auch die Dressur liefert kein Gegenargument, da es sich dabei nur um das Überdecken einer Neigung mit einer anderen, stärkeren handelt. Das Tier handelt {agere) nicht, aber es strebt gemäß einem „natürlichen Urteil"1. Dem intellektiven Streben ist sein Gegenstand als erkannter in allgemeiner Weise gegeben. Aufgrund dieser Allgemeinheit ist das intellektive Streben potentiell auf vieles gerichtet, der Begriff eines zu bauenden Hauses sagt noch nichts über dessen Gestalt. Es ist noch nicht einmal bestimmt, ob das gedachte Ziel auch tatsächlich zum Gegenstand des Handelns gemacht wird. Dieses Streben ist daher Resultat des Zusammenspiels des Vergleichens verschiedener Möglichkeiten in der Vernunft und der Zustimmung durch den Willen.2 Beim Menschen unterstehen die Vermögen der Sinnlichkeit, die Begierde {appetitus concupiscibilis), die Zuträgliches erstrebt, und der Zornmut {appetitus irascibilis), der Hinderliches hinwegräumt und daher der Begierde nachgeordnet ist, der Vernunft, da der Gegenstand des Strebens durch ein partikulares Urteil bestimmt ist. Diesen Verstandesurteilen sind aber nach Thomas Vernunftschlüsse vorausgesetzt, denn das Besondere wird vom Allgemeinen abgeleitet. Als Besonderes ist es aber auch zufällig und wird daher nicht zwangsläufig angestrebt, sondern das Urteil ist frei und aufgrund der allgemeinen Auffassungsweise des Menschen muß es frei sein. Der Wille {voluntas), wie das menschliche Strebevermögen heißt, verfügt daher über die freie Entscheidung {liberum arbitrium), die, weil ihr Resultat so oder anders ausfallen kann, ausdrücklich ein Vermögen und kein habitus ist.4 Diese vorläufige Bestimmung der Freiwilligkeit ist ihrem Gehalt nach negativ, sie gründet nicht auf vernünftiger Willensbestimmung, sondern auf der Möglichkeit zur Unvernunft.5 Schließlich ist der Wille bei Thomas nicht Resultat der Frage nach den Bedingungen von Subjektivität, seine Beziehung zum Subjekt wird nicht untersucht, sondern nur die zu Objekten. Weil nun einerseits die Menschen wie diese Objekte als Elemente einer ideologischen Ordnung und so als auf ihr Ziel von vornherein 1 2 3 4 5

S.th. 1,83, 1.

Vgl. S.th. 1,81. Vgl. S.th. 1,83,1. Vgl. S.th. I, 83, 2 und De ver. 24, 4.

Wittmanns Rede vom liberum arbitrium und anderen Bestimmungen des Willens als ,freie Selbstbestimmung' hat kein Fundament in der Sache. Vgl. Michael Wittmann, Die Ethik des Hl. Thomas von Aquin, a.a.O., 106 u.ö. Wahrscheinlich handelt es sich um eine sprachliche Ungenauigkeit, was die detaillierte Erörterung der Schwierigkeit, die Tradition, Freiheit vom Intellekt aus zu begründen, mit der, sie vom Willen aus zu begründen, zu verbinden (106ff), nahelegt.

m. Der Wille

143

andererseits der Wille absolut betrachtet frei ist, ergibt sich ein besonderes strafrechtliches Interesse am Willen: Um die menschlichen Handlungen überhaupt zurechnen zu können, muß die Ideologische Ausrichtung des Willens so abstrakt gefaßt werden, daß er bei der Zuordnung von Einzelnem immer irren kann. Dadurch, daß der menschliche Wille Bestandteil der Teleologie ist, wird seine theoretische Bedeutung selbst schon praktisch. Es zeigt sich, daß der theoretische Anspruch auf Freiheit des Willens und Selbstbestimmtheit des Subjekts in der praktischen Philosophie von Thomas nicht zu halten ist, der substantielle Vorrang der Menschen verblaßt in den Aporien gradueller und bedingter Freiheit. So wird der Wille (voluntas) als Prinzip der Handlungen eingeführt vermittels eines transzendenten Zieles aller Handlungen, der beatitudo, die ähnlich wie bei Aristoteles unter stillschweigender Voraussetzung der Sicherung der Reproduktion in der vollen intellektuellen Entfaltung der Menschen bestehen soll, andererseits aber ganz anders nicht das Ziel einiger Glücklicher, sondern wenigstens der Möglichkeit nach aller Menschen sein soll. Dafür muß es in eine Sphäre verlegt werden, in der alle ökonomischen Unterschiede aufgehoben sind. Dies gelingt auf dem mittelalterlichen Entwicklungsstand der Reproduktion nicht mittels ökonomischer Erwägungen, sondern durch die Vorstellung eines Zustandes äußerlicher Bedürfnislosigkeit. Diese Vorstellung ist mit der des status patriae gegeben, in dem die Seelen, nach dem Jüngsten Gericht auch mit verklärten Leibern versehen, in der visio dei beatificans das Wesen Gottes, das alle möglichen Erkenntnisgegenstände umfaßt und zugleich das oberste Gute ist, schauen. Hierüber hinaus kann keine Erfüllung des menschlichen Wesens vorgestellt werden.1 Die einzige Verbindung, die der status viatoris zur beatitudo hat, ist die der Mittelbarkeit. Insofern die Menschen in dieser Welt unglücklich sind und nach dem Glück streben müssen, gerät das Handeln als nach außen gekehrtes Streben in den Blick: „Da also die Glückseligkeit notwendig durch irgendwelche Akte erlangt wird, ist es demzufolge nötig, bei den menschlichen Akte zu betrachten, durch welche Akte die Glückseligkeit erlangt oder der Weg zu ihr versperrt wird".2 Diese Betrachtung der menschlichen Handlungen ist allerdings die Vorbereitung auf die politischen und gesellschaftlichen Untersuchungen, die demzufolge auch unter dem Aspekt der Heilsgeschichte stehen. Die politische und ökonomische Organisation der sozialen Beziehungen unterliegt der Vorstellung vom jenseitigen Reich Gottes. Und wie die Handlungen bezüglich der Erlösung strafbar sein müssen, so sind sie weltlich strafbar, wenn sie durch Störung der Gemeinschaft die Heilsfähigkeit von deren Mitgliedern beschädigen. Aus diesem doppelten strafrechtlichen Grunde kommt der Freiwilligkeit der Handlung eine sehr hohe Bedeutung zu, hinter der ihre sachliche Angemessenheit an das Ziel zurücktritt. Weil so nicht sachliche Bestimmungen von Kooperation und Arbeitsteilung etwa im Vordergrund stehen, sondern die Frage der Zurechenbarkeit, kann die Freiwilligkeit menschli-

bezogen gelten,

1 2

Vgl. S.th. I-II, 3, 8. S.th. I-II, 6, Erläuterung der Titelfrage.

144

ZWEITES KAPITEL: THOMAS VON AQUIN

eher Handlungen nicht substantiell von tierischem Verhalten unterschieden werden. Die Bestimmung des Willens ist immer auf ein gegebenes Objekt bezogen, so daß seine Selbstbestimmung darauf beschränkt bleibt, daß der Intellekt ihm einen Begriff der zu Dabei ist vom Willen selbst {voluntas) bei Thomas so ergreifenden Mittel wie nie die sondern zumeist von seinen Äußerungen, dem voluntarium. Diegut Rede, ses Willentliche oder Freiwillige ist folgendermaßen bestimmt: ,,[W]eil der Mensch in höchstem Maße {maxime) das Ziel seines Wirkens erkennt und sich selbst bewegt, wird in seinen Akten in höchstem Maße Freiwilligkeit Nun bewegen sich aber auch Tiere aus einem ihrer Seele immanenten Bewegungsprinzip und wenn sie auch keinen Begriff des Zieles haben, so haben sie doch eine Auffassung desselben, weshalb auch ihren Tätigkeiten Freiwilligkeit zukomme, wenngleich nur unvollkommen Der Begriff der Freiwilligkeit der Menschen ist nicht über die Reflexivität des menschlichen Intellektes begründet und nicht über die Fähigkeit, den Willen aus allgemeinen Erwägungen zu bestimmen. Zwar ist er ausgezeichnet, weil er Kenntnis vom obersten Ziel hat, aber über dieses befindet er nicht.4 Eine substantielle Auszeichnung des menschlichen Willens selbst gelingt nicht, soweit er auf die Ergreifung von Mitteln zu partikulären Zielen beschränkt bleibt. Allerdings genügt es, daß die Menschen die Gegenstände ihrer Handlungen nicht bloß wahrnehmen und instinktiv verfolgen, sondern wissen, um ihnen deren Verfolgung zuzurechnen. Um die Differenz antizipierend noch zu verdeutlichen: Für eine Bestimmung subjektiver Freiheit und Selbstbestimmung sowie für einen Begriff autonomer Kollektivität und des geschichtlichen Fortschrittes reicht der Thomasische Willensbegriff nicht. Für das vorwiegend strafrechtliche Interesse an der Freiwilligkeit spricht auch die nähere Bestimmung der spezifisch menschlichen Akte, die sich wie der Fragebogen einer Ermittlung liest: „wer, was, wo, mit wessen Hilfe, warum, aufweiche Weise, wann".6 In dieser an den überlieferten Kategorien orientierten Liste scheint noch einmal die Herkunft der Kaxr\ycopia aus der antiken Rechtspflege hell auf.7 Ebenso in diesen Zusammenhang gehören die zum Teil kasuistischen Erwägungen, wieweit Gewalt, Furcht, Begierde und Unwissen-

präsentiert.1

vorgefunden"2.

{imperfecta)?

1 2 3

Vgl. S.th. I-II, 9,2 und 4. S.th. I-II, 6, lc. Vgl. S.th. I-II, 6, 2. Thomas argumentiert inkonsistent: Zwar komme den Tieren eingeschränkt Freiwilligkeit zu, aber sie folgten notwendig ihrer Leidenschaft (I-II, 10, 3). Sie haben zwar eine Absicht (I-II, 12, 5), aber weder Wahl, noch Beratung, noch Gebrauch, weil sie aus Leidenschaft bloß streben. Leidenschaft restringiert wieder beim Menschen die Freiwilligkeit nicht, sondern vergrößert sie (I-II, 6,7). 4 Vgl. S.th. I-II, 9,4; 9,6 ad 3; 9, 10 sowie 13,3. 5 Thomas bezeichnet übrigens die Beziehung partikularer Ziele zum obersten Ziel ausdrücklich als Teilhabe (vgl. S.th. I-II, 9, 6). 6 S.th. I-II, 7, 3c 7 Vgl. Karl Winfried Schmidt, Logik und Polis, Dissertation Hannover 1982, 69f.

III. Der Wille

145

heit die Freiwilligkeit beeinflussen, also auch eine Verminderung oder einen Ausschluß der Zurechenbarkeit Theologisch ist aber zumindest die bloße Möglichkeit der rationalen Willensbestimmung erfordert durch den Erlösungsgedanken: Wäre jede Handlung durch Determination richtig, bedürfte es keiner Erlösung. Wäre andererseits die Entscheidung ganz ungebunden, fielen die Menschen vollständig aus der Schöpfungsordnung heraus, weil sie nicht vollständig und zuverlässig auf Gott geordnet wären; Gott ließe so das malum nicht bloß zu, denn das nicht zu Gott gewendete Geschöpf ist das malum, das er so selbst geschaffen hätte. Aber auch die Annahme vollständiger Rationalität des Willens verteufelte Gott selbst: Es könnten dann nicht die Menschen aufgrund von Kontingenz für die Abweichungen innerhalb der Schöpfung verantwortlich gemacht werden, sondern Gott hätte sie selbst so vorgesehen. Wird aber das Vermögen zur Abweichung von der Ordnung zu deren Bestandteil, zerfällt die Ordnung selbst. Diese Aporie, in der das theologische Desiderat als erkenntnistheoretisches wie als praktisches sich erweist, zwingt Thomas zu einer intensiven Erörterung des Verhältnisses von Vernunft und Wille. Die freie Bestimmbarkeit des Willens ist erforderlich, weil sonst die Existenz von Lohn und Strafe oder auch Ratschlägen unerklärbar wäre.2 Wichtiger daran ist aber, daß ohne Bestimmbarkeit des Willens der Sinn von Geboten und Verboten auch der göttlichen verloren wäre, womit die Behauptung der notwendigen Willensbestimmtheit zur Häresie wird. Außerdem muß alles eine Ursache haben; die menschlichen Willensakte können aber nicht aus Natur verursacht werden, da die Natur immer gleichförmig und nur in eine Richtung wirkt. Andererseits kann auch Gott nicht Ursache sein, „weil das, was unmittelbar von Gott kommt, nur gut sein kann; die menschlichen Werke jedoch sind manchmal gut, manchmal schlecht"3. Die Notwendigkeit der Annahme eines freien menschlichen Willens geht so zurück auf ein schöpfungstheoretisches und ebenso erkenntnistheoretisches Problem: Die diffuse Realität mit ihren Abweichungen vom ordo ist nicht bündig auf die Vorsehung zurückfuhrbar, ohne einen Grund für die Abweichungen anzugeben. Im Bereich der irrationalen Natur liegt dieser Grund in der Negativität der Materie. Bei den vernunftbegabten Lebewesen, die in ihren Entscheidungen über ihre Materialität grundsätzlich erhaben sind, muß zur Vernunft ein von ihr unabhängiges Vermögen gedacht werden, durch das die Menschen für ihr Elend selbst verantwortlich gemacht werden können, was ihnen zu ungeahnter Ehre gereicht, da dies Vermögen zurückgeht auf die „Überschwenglichkeit seiner [Gottes] Güte, um auch die

begründen.1

-

-

1 Vgl. S.th. I-II, 6,4-8. 2 Vgl. S.th. I, 83, 1; De malo 6; De ver. 24, 1 s.c. 5. u. 6. Fast alle Darstellungen der Willenslehre des Thomas referieren nur dessen Argumente und loben die Klarheit, mit der der Heilige auf der Willensfreiheit beharrt. Das stimmt schon, aber die Begründungen der geforderten Freiheit sind aporetisch. Vgl. für viele Robert Edward Brennan, Thomistische Psychologie, Heidelberg 1957. 3 De ver. 24, 1 s.c. 7.

146

Zweites Kapitel: Thomas von Aquin

Geschöpfe an der Würde der Ursächlichkeit teilhaben zu lassen" Innerhalb der Vorsehung sind so die Willensfreiheit und jeder ihrer Akte geplant, der ordo wäre sonst nicht vollständig. Freiheit und Lenkung sollen in einer gemeinsamen Ursächlichkeit zusammen bestehen: Die böse Handlung ist, soweit sie Aktivität ist, von Gott verursacht, soweit sie böse ist, vom Menschen.2 Zwar soll der Mensch dabei eher wie ein Werkzeug agieren, aber seine Funktionsweise doch auch Selbständigkeit haben. Die Hypostasierung des Guten als Gott geriete zur Blasphemie, enthielte sie nicht einen Entlastungsgrund vom malum, das ja offensichtlich existiert. Aus diesen Erwägungen erklärt sich die Notwendigkeit der Willensfreiheit in der christlichen Philosophie. Ihr dogmatischer Charakter erklärt sich aus den immensen Schwierigkeiten, diese Annahme innerhalb der Theologie zu rechtfertigen. Ebenso wie beim göttlichen Willen bilden auch beim menschlichen die Fragen, ob er etwas oder sogar alles, was er will, mit Notwendigkeit will, den Ausgangspunkt der Problematik; alle weiteren Erörterungen, wie die Frage nach dem Verhältnis des Willens zur Vernunft oder nach den Willensvermögen, sind Folgeprobleme im strengen Sinn, die teils systematisch, teils kasuistisch die relative Willensfreiheit im Rahmen der Dogmatik durchsetzen sollen. Zunächst muß auch hier ein dreifacher Sinn von Notwendigkeit' unterschieden werden: durch Zwang, zweckbedingt und naturbedingt. Die beiden letzten Bedeutungen müssen hier unterschieden werden, obwohl sie in einer ideologischen Ordnung sonst nicht auseinanderfallen. Zwang bedeutet, „gegen die Neigung eines Dinges"3 zu sein, Wille hingegen bedeutet gerade die Neigung. ,,[S]o kann etwas unmöglich schlechthin erzwungen [...] und zugleich willentlich sein."4 Das heißt, gezwungen werden kann und muß nur jemand zu etwas, das er eben nicht will; der Wille selbst ist nicht zwingbar, im Gegensatz zum Intellekt, der objektiv gezwungen ist, die Wahrheit einzusehen, auch wenn die Neigung sich sträubt. Neigung und Verstand sind unterschieden, Neigung und Wille identisch.5 Von bestimmten Zwecken abhängig kann dem Wille allerdings eine Notwendigkeit auferlegt sein. Das gilt für solche Zwecke, die nur auf eine Weise realisierbar sind: Will jemand über ein Gewässer fahren, so muß er ein Wasserfahrzeug wollen. Da der Wille immer auf Einzelgüter gerichtet ist, muß das Gut zudem im einzelnen dem Willen angemessen {conveniens) sein. So erstrebt der Gesunde nicht die Medizin, .

S.th. I, 22, 3c Vgl. S.c.G. III, 71. S.th. I, 82, lc. S.th. I, 82, lc. Vgl. De ver. 22, 5 ad 3. An anderer Stelle schreibt Thomas: „Ein durch Willen wirkendes Wesen bringt niemals etwas hervor, was es nicht will." (S.c.G., II, 27) Darin liegt die Ahnung, daß jemand, dem gegen seinen ursprünglichen Willen ein heterogener Zweck aufgezwungen wird, sich in der Ausführung diesen Zweck aneignen muß. Die Unterwerfung durch Gewalt gelingt nicht ohne die Einwilligung des Unterworfenen oder dann sich Unterwerfenden. Gewalt ist dann legitim, weil sie den sich hybrid gebärdenden Willen in seine naturgemäße Ordnung zurück zwingt. 1 2 3 4 5

III. Der Wille

147

die ihm unter anderen Umständen ein angemessenes Gut wäre. Entscheidend ist schließlich das Bestehen einer natürlichen Notwendigkeit hinsichtlich dessen, das als „Zusammenfassung alles Guten"1 in jeder Hinsicht ein Gut ist. Der Wille ist aufgrund seines Wesens auf ein bestimmtes Ziel gerichtet, das er nicht nicht wollen kann, ohne daß dies Zwang wäre, weil die Ausrichtung von innen und nicht äußerlich erfolgt. So wie der Intellekt notwendig auf die ersten Erkenntnisprinzipien festgelegt ist, so der Wille, dessen Gegenstände Güter sind, auf das oberste Gut. Dieses ist die Glückseligkeit (beatitudo), die ihrer Form nach schon deswegen notwendig zu wollen ist, weil sie der Inbegriff des Gutes ist, d.h. es gibt zu ihr kein gegenteiliges Gut, auf das sich eine Auswahl erstrecken könnte. Ein Gut kann nur dann abgelehnt werden, wenn es in irgendeiner Hinsicht nicht ein Gut ist und ein Schlechteres kann nur gewählt werden, wenn es in irgendeiner Hinsicht ein Gut ist; der Wille geht nie auf das Schlechte an sich. Die Glückseligkeit ist hingegen in jeder Hinsicht das beste Ziel, so daß es für den Willen „unmöglich ist, es nicht zu erstreben"2. Allerdings folgen daraus nicht einmal mit Zwecknotwendigkeit die zu wollenden Mittel, denn es können Irrtümer über den Inhalt der Glückseligkeit bestehen. So wie der Verstand Folgesätzen aufgrund der Prinzipien erst zustimmt, wenn er diese eingesehen hat, so kann der Wille Mittel zur wahren Glückseligkeit in Gott erst notwendig wollen, wenn er Gott geschaut hat. In statu viae ist das aber nicht der Fall, so daß der Akt nur inhaltlich nicht aber praktisch notwendig bestimmt ist. Außerdem gibt es Güter, die in keiner notwendigen Relation auf die Glückseligkeit stehen, so daß diese auf verschiedene Weise erstrebt werden kann. Auch hier besteht die Freiheit der Wahl.3 Aufgrund der Existenzweise als Geschöpfe sind die Menschen naturhaft auf ein Ziel gerichtet, aufgrund ihrer Intellekt- und Willensbegabung sind sie zugleich frei. Würde der Wille, der prinzipiell die Handlungen bestimmt, völlig freigelassen, so wäre die Hinordnung auf Gott und damit der gesamte Schöpfungsplan dahin; wäre er unfrei, aber auch, weil dann Gott für das sündhafte Handeln seiner Geschöpfe haftete. Die Freiheit des Willens ist daher ebenso erzwungen wie ihre enge ideologische Begrenzung. Die Bestimmung des freien Subjekts wird erst möglich, wenn theoretisch die Schöpfungsordnung selbst nominalistisch zu einer kontingenten Natur erklärt ist.4 Die Freiheit des Willens weist nach Thomas drei Hinsichten auf:5 Erstens ist bezüglich des Gegenstandes zwar die beatitudo notwendiges Endziel, zu ihr führen aber verschiedene Wege, die wählbar sind. Hier besteht eine Einschränkung, die den Willen in jedem Fall in den ordo naturae zwingt. Aber auch bezüglich der an sich notwendigen Hinordnung zum Ziel besteht Unwägbarkeit, denn aufgrund der Pluralität der Wege und De malo 6c De ver. 22, 6c Vgl. S.th. I-II, 10,1. Vgl. S.th. I, 82, 2 und De ver. 22, 5 und 6. Vgl. Günther Mensching, Thomas von Aquin, ne und das Besondere, a.a.O., S 245f. 5 Vgl. De ver. 22, 6. 1 2 3 4

a.a.O., 64 und Anm. 35 sowie: Dens., Das Allgemei-

148

Zweites Kapitel: Thomas von Aquin

aufgrund der Möglichkeit, das Ziel zu verkennen, sind Irrtümer möglich, und so ist die Freiheit der Wahl zweitens mit der Freiheit, falsch zu wählen, verbunden. Das malum zu wollen, bedeutet aber nicht Freiheit „und auch keinen Teil der Freiheit, obwohl es ein gewisses Zeichen für die Wirklichkeit der Freiheit ist" Das malum kann nur von Geschöpfen gewollt werden, weil sie als nicht subsistente sondern geschaffene am Nichts und damit an der Möglichkeit partizipieren und deshalb unvollkommen frei sind. In der Sünde noch ist das Gute und so die Freiheit bewahrt, insofern sie ein „Schein.

gut"2 ist; sonst wäre sie nie wählbar gewesen. In dieser zweiten Hinsicht muß die Wahl

notwendig als frei aber beschränkt verstanden werden, da die Abweichung vom Schöpfungsplan weder in Gott noch im Geschöpf Gottes begründet sein darf; das eine wird vermieden durch die pilatusartige Zulassung der Sünde, das andere durch einen Willen, der nicht bloß irren kann, sondern gegen den Intellekt, der die Hinordnung des Willens nur bewußt machen kann, selbständig ist: So kann schließlich drittens hinsichtlich des Aktes der Wille bei vorliegendem Ziel tätig werden oder nicht. Darin ist schon der nicht unwichtige aber sehr enge Tätigkeitsbereich des Willens angedeutet: Er trifft eigentlich keine begründeten Entscheidungen, Auswahlen, sondern setzt bloß spontan eine Tätigkeit in Gang, gewissermaßen als Umschaltstelle von Intellekt und Träger des Bewußtseins, von Subjektivität und Objektivität. Ein Praktischwerden der Vernunft selbst ist damit reiner Zufall, als prinzipielles also ausgeschlossen.3 Dementsprechend geschieht die Abwendung des Willens von der Sünde auch nicht durch Einsicht, sondern durch „Strafmittel" und „Pein"4. Das Argument, daß der Wille durch Lust vom Guten abgezogen wurde und nur durch das Gegenteil wieder zurückzubringen sei, vermag nur mühsam den politischen Pragmatismus der Organisation des kollektiven Lebens zu kaschiesarkastisch ren, dessen Plausibilität bisweilen anmutet: ,,[W]as wir durch Mühe und

sorgfältiger."5

Pein erreicht haben, lieben wir mehr und bewahren wir Scheinbar mit Bedacht vermeidet Thomas, die Bezugsgröße des Komparativs anzugeben. Der Wille ist inhaltlich durch Urteile des Intellekts bestimmt, aber die Tätigkeit des Intellekts muß selbst gewollt werden und sein Resultat ist weder vorbestimmt, weil er irren kann, noch bestimmt es notwendig den Willen, denn dieser wird „von sich selbst Der unendliche Regreß, der darin liegt, daß der Wille bloß wollen kann, wenn er will, muß durch einen äußeren Anstoß, eine Initiierung des ersten Willensaktes abgeDiese Ursache brochen werden. ist Gottes Vorsehung, die jedes seiner Natur gemäß

bewegt"6.

1 2

De ver. 22, 6c De ver. 24, 10 ad 11. Die

wäre.

Konsequenz zieht S.c.G. I,

39: Es

gibt nichts,

das wesentlich schlecht

3 Vgl. Ludwig Hödl, „Philosophische Ethik und Moral-Theologie in der Summa Fr. Thomae", in: Misc. Med. 19, Berlin 1988, 24 und Gerhard Krieger, Der Begriff der praktischen Vernunft nach Johannes Buridanus, Münster 1986, 150. 4 S.c.G. III, 158. 5 S.c.G. III, 158. 6 De malo 6c

149

III. Der Wille

bewegt.1

Der Hinweis auf die Natur soll die Freiheit bewahren, denn wie Gott das Schwere nach unten fallen läßt, so bewegt er den Willen gemäß seiner Kontingenz. Indem so noch die ungezügelte Willkür transzendent begründet wird, ist der Gedanke autonomer Willensbildung systematisch ausgeschlossen. Die Auswahl nach Erwägung, die ja zumindest den Inhalt des Willens intellektual bestimmen soll, unterliegt drei Kriterien. Bei Partikulargütern kann erstens eine Hinsicht die andere überwiegen, etwa die Gesundheit den Genuß, oder es wird zweitens eine Hinsicht übersehen. Hier verbirgt sich hinter der freien Willensbestimmung immer noch die ungezügelte Willkür, die theoretisch nicht bestimmbar ist, weil es immer um einzelne Handlungen, nie um allEine vernünftige Bestimmung des Willens ist so immer zufällig, gemeine Gesetze sie hat keinen allgemeinen Legitimationsgrund. Das größere Problem ist allerdings, daß auch die unvernünftige Willensbildung nicht theoretisch bestimmbar und so nicht justitiabel ist. Das dritte Kriterium der Willensbildung scheint der Ausweg zu sein: Dem Menschen erscheint ein Ziel aufgrund einer Disposition als Ziel. Abgesehen von den unveränderlichen natürlichen Dispositionen wie Streben nach „Sein, Leben und Denken" gibt es habituelle und passionsabhängige Dispositionen, die beeinflußbar sind. Gezwungen werden kann der Wille nicht, aber er kann grundsätzlich von Gott geändert werden. Das wäre aber keine Einwirkung im eigentlichen Sinn, denn die Veränderung wäre unmittelbar die neue Natur des Willens selbst.4 Nun können aber auch Geschöpfe hinsichtlich partikularer Ziele auf den Willen einwirken, indem sie Ratschläge erteilen. Diese Beeinflussung bezüglich des Willensgegenstandes kann in das Vermögen nur zurückwirken durch zustimmende Entscheidung des Wollenden, der zum Beispiel ein leidenschaftlich erstrebtes Ziel zugunsten eines angeratenen aufgibt. Diese aus dem Subjekt selbst herrührende Änderung wäre erneut ein Akt des Willens, der sich selbst von den Leidenschaften freimachte. Das Resultat dessen wäre aber immer noch nicht der

geht.2

freie vernunftbestimmte Wille, sondern Willkürfreiheit, Abwesenheit pathologischer Affektion. Allerdings ist der Wille so immerhin potentiell rational, wenn auch eher postuliert als begründet. Solange das Argument nicht negativ, als Reflexion auf Bedingungen der Möglichkeit geführt wird, bleibt es aporetisch, ein regressus ad inßnitum. Die dogmatisch geforderte Willensfreiheit bleibt in ihrer Deduktion dogmatisch, aber sie erwägt die Möglichkeit, daß der Wille sich der Disposition entziehe. Es kündigt sich darin ein Merkmal moderner Subjektivität an, in der der unendliche Regreß zur reflexiven Bestimmung des handelnden Subjektes gewendet wird.

Vgl. S.th. I, 83, 1 ad 3. Albert Zimmermann, Der Begriff der Freiheit nach Thomas von Aquin, a.a.O., weist zu recht darauf hin, daß „Thomas die Gegenüberstellung von „Freiheit" als vernunftbestimmtem Willen und „Willkür" als Belieben des Einzelnen [...] ohne jeden Zweifel vorweggenommen" (157) habe. Thomas kann diese Unterscheidung aber sachlich nicht widerspruchsfrei begründen. 3 De malo 6c Vgl. S.th. I-II, 10, 1. 4 Vgl. De ver. 22, 8 und 9.

1 2

Zweites Kapitel: Thomas von Aquin

150

In der Thomasischen Konstruktion kann der Intellekt aber nicht zum Kriterium dafür werden, daß der Wille eine Intellektentscheidung ausführt. Dafür bleibt die Willkür oder ein Tugendhabitus zuständig; beide sind irrational. Das Verhältnis von Intellekt und Wille ist unter dieser Voraussetzung in sich brüchig. Auf der Suche nach einer Lösung unterscheidet Thomas zunächst hinsichtlich der Vermögen an ihnen selbst betrachtet und in Beziehung auf etwas.1 Da das Wesen von Vermögen bestimmt ist durch die Hinordnung auf ihre jeweiligen Gegenstände, löst sich der Unterschied auf in die Betrachtungen hinsichtlich der Beziehung auf Gegenstände überhaupt und hinsichtlich der Beziehung auf bestimmte Gegenstände. In der ersten Hinsicht überragt der Intellekt den Willen, weil sein Gegenstand als allgemeine species in ihm selbst nach seiner Weise vorhanden ist, das Verhältnis ist reflexiv. Der Wille dagegen ist auf seinen Gegenstand als besonderen, äußerlichen, in dessen Weise bezogen, das Verhältnis ist relational. Derselbe Gegenstand ist als abstraktes Wahres im Intellekt und als besonderes Gutes dem Willen gegeben. Hinsichtlich besonderer Gegenstände ist diese Wertung aber nur gültig in Bezug auf Gegenstände, deren Wesen ontologisch unter dem Intellekt rangieren; das sind Gegenstände, die wesentlich materieller Natur sind. Durch Erkenntnis ihres Wesens werden sie der Geistigkeit des Intellekts angeglichen, vom Willen aber werden sie ihrer Natur nach, als besondere Seiende erstrebt. Hier ist „der Verstand schlechthin erhabener als der Wille, wie es zum Beispiel vollkommener ist, „einen Stein erkennen" als „einen Stein wollen""2. Bei Gegenständen, deren Wesen aufgrund ihrer Immaterialität über dem Intellekt steht, verhält es sich indes anders. So erkennt der Intellekt z.B. Gott nur unvollkommen, und der Begriff Gottes ist im Unterschied zu dem des Steines seinem Gegenstand intellektual unterlegen. Der Wille aber richtet sich auf das Gut nach dessen Natur und partizipiert daher in höherem Maße an dessen Gutheit als der Intellekt. Das Problem scheint zunächst bloß religiöser Natur zu sein: Aufgrund der Hinordnung der Schöpfung auf Gott muß dieser auch Gegenstand der menschlichen Seele sein können, ohne daß sie sich seiner bemächtigt. Allerdings geht es zurück auf die Frage, wie einerseits Erkenntnisse praktisch werden und andererseits zweckvolle Handlungen auf den Intellekt zurückführbar sind, mithin die Frage nach einerseits Rationalität oder andererseits wenigstens Zurechenbarkeit der Daran schließt sich unmittelbar das Problem der Einordnung der Rationalität in den ordo naturae an. Im Zusammenhang der kontemplativen Erkenntnis der geordneten Natur wurde dies nur bedingt zum Problem, sobald aber aus der Reflexivität, die als Bedingung der Möglichkeit auch von Kontemplation sich ergab, die Möglichkeit selbständiger Tätigkeit, freier Bestimmung des Handelns erfolgt, droht die Naturordnung zu zerfallen und mit ihr die Grund-

Handlungen.3

1 2 3

Vgl. S.th. I, 82, 3 und De ver. 22, Dever.

22,

11.

11c.

Vgl. Christoph Horn, „Augustinus und Z.f.ph.F. 1996, 113-132, hier 115f.

die

Entstehung des philosophischen Willensbegriffs",

in:

III. Der Wille

151

Voraussetzung der Thomasischen Erkenntnislehre. Daher konstruiert Thomas eine relative Unabhängigkeit von Intellekt und Wille, nach der im natürlichen Bereich, der dem Menschen zur Beherrschung überlassen ist, alles erkannt und erstrebt werden kann, gemäß seiner eingesehenen Ordnung. Um aber einem möglichen Abweichen des Erkennenden von dieser Ordnung zu steuern, gilt er selbst als durch Gottes Anordnung zum Bestandteil dieser Ordnung gemacht und bleibt übernatürlich auf ihn ausgerichtet. Dieser Ausrichtung muß im Menschen ein Vermögen entsprechen, dem das Wesen Gottes zum Gegenstand wird, ohne ihm überlegen zu sein. Die der Anordnung entsprechende Tätigkeit ist die caritas, eine Form des Strebens, das Vermögen daher das Strebevermögen, dem Gegenstand gemäß das höhere, das beim Menschen der Wille ist. Da sowohl die intellektuelle Unterlegenheit des Menschen wie die Möglichkeit der Sünde gewahrt bleiben muß, ergibt sich zwar eine Einwirkung des Intellekts auf den Willen, gegen die dieser aber prinzipiell unabhängig bleibt. Der theologische Kontext restringiert die Freiheit des Subjekts. Wie jedes Vermögen wird der Wille aus zwei Ursachen bewegt, einmal inhaltlich aus dem Objekt und einmal dem Akt nach, das heißt ob gehandelt wird oder nicht, aus dem Willen selbst. Die inhaltliche, objektive Seite der Handlung ist dem Willen vermittels des Intellekts gegeben, der das Objekt erkennt und dem Willen vorstellt; die Auslösung der Handlung liegt aber beim Willen, der „sich selbst und alle anderen Potenzen beweil sein Gegenstand das oberste Gut ist, auf das alle anderen Gegenstände des Menschen nur als Mittel hingeordnet sind, auch die Erkenntnis, ,,[d]enn ich erkenne, y weil ich will" Das bedeutet aber, daß der Gegenstand des Intellekts und der des Willens identisch sein können, was der Intellekt als Wahres erkennt, will der Wille als Gut. „Daher ist auch das Gute selbst, insofern es irgendeine bestimmte erfaßbare Form ist, unter dem Wahren enthalten als irgendein bestirntes Wahres. Und das Wahre selbst, insofern es das Ziel einer vernünftigen Tätigkeit ist, ist im Guten enthalten als irgendein bestimmtes Um die Tätigkeiten von Wille und Intellekt zu vermitteln, greift Thomas auf die Transzendentalienlehre zurück, nach der jedes Seiende zugleich ein Gut und ein Wahres ist. Was angelegt ist, um die Möglichkeit intellektbestimmten Handelns zu erklären, schließt es jedoch gerade aus. Wenn der Intellekt den Willen inhaltlich nur bestimmt, weil der Wille den Verstand zur Erkenntnis des Gutes bewegt, haben weder Wille noch Verstand ein Kriterium dafür, welcher Gegenstand ein Gut ist. Der Intellekt bietet nur die abstrakte inhaltliche Bestimmung, der Wille nur die Gutheit. Wird die Aporie transzendental gelöst dadurch, daß jedes Gut ein Wahres ist und umgekehrt, führt das mit sich, daß jedes wahr Erkannte zu erstreben ist. Das ist nur möglich unter der Bedingung, daß die Welt rational ideologisch verfaßt ist und so die erkannte Ordnung zugleich ver-

wegt"1,

.

Einzelgutes."3

1 2 3

De malo 6c De malo 6c De malo 6c

ZWEITES KAPITEL: THOMAS VON AQUIN

152

erstrebenswerte Ordnung ist. Der Begriff einer Kritik an Bestehendem ist damit ebenso ausgeschlossen wie der zweckgemäße Eingriff in die Natur, weil das zumindest die Kontingenz des Seienden und deren Erkennbarkeit voraussetzt. Nur wenn die Ordnung auch anders sein könnte, also wenigstens virtuell falsch ist, kann sie zweckgemäß verändert werden. Als virtuell falsch kann die Ordnung aber erst mit dem Willensprimat Gottes gedacht werden. Die zunächst wahre Erkenntnis würde falsch unter der Annahme, daß die Ordnung eine andere wäre. Die Annahme, Gott könnte eine andere Welt schaffen, ermöglicht den Begriff der Veränderung der bestehenden durch den Menschen. Der Grund dieser Möglichkeit ist allgemein gesprochen das Aufgeben der Teleologie. Zwar gilt die Schöpfung aufgrund der Allmacht Gottes auch bei Thomas als kontingent, im Rahmen von Transzendentalienlehre und Vorsehung als Begriff der Totalität sind Kritik und zweckmäßige Veränderung aber nicht konsistent denkbar. Wenngleich Thomas den Willensprimat in Gott als blasphemisch ablehnt, um die Rationalität der Vorsehung und damit die Erkennbarkeit der Schöpfung zu bewahren, so muß er ihn aus demselben Grund im Menschen annehmen: Wären aufgrund vernünftiger Willensbildung Eingriffe in die Schöpfungsordnung möglich, würde diese Ordnung selbst als kontingent der Erkenntnis nachgeordnet; schon die vernünftige Willensbildung selbst wäre Abfall von der Hinordnung auf Gott. Solange der Wille nicht der Vernunft untersteht, sind seine Eingriffe in die Natur selbst kontingent. Das Wechselverhältnis von inhaltlich den Willen bestimmendem Intellekt und auslösend den Intellekt wie alles Andere bestimmendem Willen ist asymmetrisch, denn es gilt trotz allem, „daß der Wille nach der Art einer tätigen Ursache zu bewegen vermag, und nicht der Intellekt" Im Verhältnis beider bedeutet das: ,,[D]er Verstand wird vom Willen zum Handeln bewegt, der Wille jedoch nicht von einem anderen Vermögen, sondern von sich selbst."2 Nur „in gewisser Weise"3 bewegt der Verstand den Willen, indem er ihm den Begriffeines Objektes und die Erwägung, ob es erstrebenswert ist, vorlegt, woraus aber keine bestimmte Willensregung zu folgen braucht. Durch diese Selbständigkeit gegen den Intellekt bleiben Willkür und Wille ungeschieden, die Auslösung der Handlung ist immer irrational.4

nünftige Ordnung und

.

Dever. 22, 12c De malo 6 ad 10. De malo 6 ad 18. Vgl. S.th. I-II, 9; bes. 9, 1. Die Autonomie des Willens fällt so wieder in Anarchie zurück. Gustav Siewerth, Thomas von Aquin. Die menschliche Willensfreiheit, Düsseldorf 1954, 70f. will dem entgehen, indem er den Willen selbst zu einer zweiten Vernunft erklärt, die aufgrund der Erörterungen der ersten dann entscheidet: „Er [der Wille] könnte es gar nicht, d.h. sich selbst ins Spiel bringen, wenn er nicht in der Möglichkeit und Versuchung stünde, auch ein anderer zu sein. In der „Annahme" aber macht er sich zu dem, der er sein will; er tut es freilich in der Helle der transzendentalen Vernunft, in der er sich beurteilen kann und beurteilt ist und beginnt daher die Handlung in absoluter Selbstverantwortung." Klaus Hedwig, „Über die Theorie der Praxis bei Thomas von Aquin", in: Ph.Jb. 1992, 245-261, stellt fest: „Aber dennoch gesteht Thomas der Vernunft keine eigene Handlungsrelevanz zu, denn die Vernunft als solche 1 2 3 4

153

III. Der Wille

So bleibt aber das zweckmäßige Handeln unerklärt. Nur die Ausrichtung des Willens auf das oberste Gut ist quasi a priori bestimmt, alle besonderen Willensakte sind frei. Es muß demnach ein Akt der Wahl (electio) gedacht werden, der in ein Vermögen freier Entscheidung (liberum arbitrium) fällt und als Akt wenigstens eine zweckrational bestimmte Absicht (intentio) Diese Beabsichtigung ist ein „Akt des Willens in Sie spezifiziert das Erstreben eines Gutes der seiner Vernunft"2. zur [...] Beziehung notwendigen Reihenfolge der Mittel gemäß. Diese Reihenfolge legt die Vernunft fest, so wie bei Aristoteles das der Erkenntnis nach Letzte das Erste der Handlung wird. Wollen und Beabsichtigen sind nicht zwei verschiedene Akte, ,,[d]enn wer die Gesundheit will von dem sagt man, daß er sie schlechthin will. Aber nur dann sagt man, daß seine Absicht auf sie geht, wenn er etwas der Gesundheit wegen will"3. Das Wollen des Ziels und das Wollen der Mittel werden so in der Absicht durch die Vernunft koordiniert, da ihre Relation nicht naturgegeben ist. Dadurch beschränkt sich zunächst die Willensfreiheit auf Wahlfreiheit bezüglich der Mittel. Allerdings ist das oberste Gut bei Thomas aber transzendent. Insofern die zweckrationale Mittelwahl sich auf Mittel zu subalternen Zwecken bezieht, ist der Wille blind, da er das oberste Gut in statu viae nicht zuverlässig erkennen kann. So besteht in der Beabsichtigung eine Hinordnung der Vernunft auf den Willen, aus der die Zweckmäßigkeit von Handlungen erklärbar ist, die Wahl der Zwecke aber nicht, denn das Wollen „wird dem Willen schlechthin zugeschrieben"4 und ,,[o]bwohl jeder Akt des Willens eine Erkenntnis der Vernunft voraussetzt, so erscheint doch nicht immer im Akt des Willens das, was der Vernunft eigen

hervorbringt.1

ist"5.

Die Wahl wird von Thomas als ein rationales Streben bestimmt, der Wille überwiegt hier den Verstand, weil der Gegenstand der Wahl ein Gut und damit Willensgegenstand ist. Die Absicht als Ergebnis der Wahl ist zwar ein geordneter, durch den Intellekt bestimmter Wille, aber die Entscheidung selbst, das Gut weiter zu verfolgen, fällt nur in den Willen.6 Der Wille bleibt schließlich auch in seinen partikularen Entscheidungen der Schöpfungsordnung unterworfen, da sie als Mittel insgesamt dem letzten Ziel untergeordnet sind. Weil damit neben der Zweckmäßigkeit immer die Legitimität der Handlungen von Interesse ist, die aber nur aus der prinzipiell nicht erkennbaren Hinordnung auf Gott zu begründen ist, überwiegt der Wille den Intellekt. Wären Handlunhandelt nicht."

(246) Gleichwohl seien Handlungen nach Thomas „stets von einer theoretischen Einstellung begleitet [...], die dem Handeln vorausgeht und in gewisser Weise auch in den Handlungsverlauf selbst eingeht" (ebd.). Bei dieser richtigen aber vagen Bemerkung muß es bleiben, wo nicht die grundsätzliche Aporetik erfaßt wird. 1 Vgl. De ver. 22, 13ff. und De ver. 24. 2 3 4 5 6

Dever. 22, 13c Dever. 22, 15c Dever. 22, 13c Dever. 22, 13 ad3. Vgl. Dever. 22, 15.

Zweites Kapitel: Thomas von aquin

154

der menschlichen Vernunft legitimierbar, hätten die Menschen keine Verantwortung gegenüber Gott und mit der sittlichen wäre auch die epistemologische Ordnung der Welt, da beide Aspekte desselben sind, dem Menschen überantwortet. Wenn Thomas daher die Freiheit der Wahl zunächst als Glaubensverpflichtung bezeichnet, um dann dieser gemäß noch einen ,ganz klaren Beweisgrund' anzuführen,1 übersieht er den darin liegenden Antagonismus ebenso wie er zu einem positiven Freiheitsbegriff nur gelangt durch falsche Übersetzung und Interpretation des Aristoteles. Frei sei „nach Aristoteles das, was Ursache seiner selbst [causa sui] ist" In der Metaphysik heißt es tatsächlich, frei genannt werde, wer „um seiner selbst willen, nicht um eines anderen willen ist" , womit der negative Begriff èÀevdepoç, die Abwesenheit von Zwang gemeint ist. Die negative Bestimmung der Freiheit, nicht durch anderes bewegt zu werden, bliebe in Konflikt mit der allumfassenden Vorsehung und Weltlenkung Gottes. Thomas wendet jene Bestimmung nun aber positiv: Willensfreiheit sei dasselbe „wie „ein freies Urteil haben" über das Tun und Nichttun"4. Tiere entscheiden gemäß einem einfachen Sachurteil, das ihnen ihrer Natur gemäß von Gott gegeben ist. Beim Menschen liegt die Sache komplizierter. Niemand kann etwas Schlechtes an sich erstreben, aber es ist durchaus möglich, etwas zu erstreben, das allgemein betrachtet schlecht ist, unter partikularen Voraussetzungen aber als Gut erscheint. Wenn die Maxime so vom Gesetz abweichen kann, wäre dem Willen ohne eine Möglichkeit der Kontrolle der Weg zur Sünde geebnet. „Das Urteil jedoch liegt in der Macht des Urteilenden, sofern er über sein Urteil urteilen kann [...]. Aber über sein Urteil ein Urteil fällen ist nur Sache der Vernunft, die sich über ihren Akt zurückbeugt [...]. Daher liegt die Wurzel aller Freiheit in der Vernunft Durch die Reflexivität der Vernunft6 wird das erste, naturhafte Sachurteil von der Natur emanzipiert, das „Urteil der Vernunft" ist „ein freies Urteil"7. Die Beurteilung von Urteilen bedarf eines Maßstabes. Thomas führt die Idee des Guten oder Angemessenen an,8 woraus noch einmal die Beschränkung der Freiheit auf Intellektwesen begründet wird. Diese Freiheit bezieht sich allerdings nur auf die Wahl der Mittel und dient hauptsächlich der Befreiung Gottes von der Verantwortung für das Elend, denn ,,[d]er Wille ist per se die Ursache der Sünde"9. Keineswegs eröffnet die so progressiv durch Reflexion begründete Freiheit die Möglichkeit, gen

aus

.

begründet."5

1 2 3

Vgl. De ver. 24,

lc. De ver. 24, lc. Met. 982 b. Ähnlich verfährt Thomas in S.th. 82, 5 s.c, wo er AoyiaziKÓv, eigentlich etwa Berechnungsvermögen, als ratio und ßovAr\oic, eigentlich Wollen, als voluntas bezeichnet, ungeachtet dessen, daß die lateinische Terminologie hier auf einem erheblich höheren Reflexionsniveau ist. 4 Dever. 24, lc. 5 De ver. 24, 2c 6 Vgl.S.c.G. II, 48: „Eine urteilende Potenz kann sich aber nur dann selbst zum Urteilen bewegen, wenn sie über ihren Akt reflektiert [reflectatur]." 7 De ver. 24, lc. 8 Vgl.S.c.G. II, 48. 9 Dever. 24, 10 ad 3.

155

III. Der Wille

gestaltend in die natürliche oder soziale Weltordnung einzugreifen, denn zwar liegt „die Auswahl des Werkes [...] stets in der Macht des Menschen", die Ausführung aber „steht nicht immer in der Macht des Menschen, sondern unter der Leitung der göttlichen Vorsehung wird der Vorsatz des Menschen manchmal zum Ziel geführt, manchmal jedoch nicht"1. ,Nicht immer' bedeutet bei Thomas, daß eine rationale Planung unmöglich ist, weil das Mißlingen nicht aus menschlichem Unvermögen, sondern aus göttlicher Vorsehung folgt. Das Maß jedes Urteils ist das vom als rational geltenden Willen Gottes vorgesehene Endziel der beatitudo. Die Freiheit des Menschen soll zum Tragen kommen, wenn aus allgemeinen Rücksichten einzelne Maximen aufgegeben oder geändert werden, weil sie unter dem allgemeinen Gesetz der Vorsehung nicht bestehen können. Eingeschränkt wird diese Freiheit durch die Vorsehung und Anordnung, in der alles gemäß dem göttlichen Plan geschieht, so daß eine substantiell an der Menschheit orientierte Reflexion auf allgemeine Bedingungen des Handelns nicht zustande kommen kann. Das Maß ist nicht das Gattungssubjekt Mensch, sondern der prinzipiell unerforschliche göttliche Wille, so daß die Reflexion auf die partikularen Maximen grundsätzlich die Anerken-

-

nung des Bestehenden zum Resultat hat. Die Hypostasierung der kosmologischen Ordnung als Schöpfergott, die das ideologisch gefesselte Wahlvermögen zum Willen emanzipierte, der für die Unregelmäßigkeiten in der göttlichen Ordnung voll verantwortlich sein sollte, beschränkt diese Freiheit damit zugleich darauf, ein formelles Funktionselement in der Schöpfungsordnung zu sein. Erst die Lösung der strikten Vernunftbindung des göttlichen Willens zusammen mit der Einsicht, daß das Allgemeine Konstruktion ist, also die Entfesselung der Willkür ermöglicht zugleich die Entwicklung des Begriffs des handelnden Subjekts als eines

sich frei aus Vernunft bestimmenden. Der Thomasische Willensbegriff hat seinen Ort zwischen philosophisch motiviertem Vordringen und theologischer Rücknahme. Zudem ist er gebunden an die Schwierigkeit, den historisch inadäquaten Willensbegriff der neuen Autorität Aristoteles mit der christlichen Heilslehre zu kombinieren, was nur aufgrund des ideologischen Hintergrundes leicht erscheint. Die politischen und theoretischen Entwicklungen widerstehen dem aber, die civitas gleicht nur scheinbar der nôAiç, ihre ökonomische Verfassung ist eine andere. Die Entwicklung des Handels und des Vertragswesens und allmählich auch der Technik und damit der Naturforschung können mit den überlieferten Modellen nicht mehr erklärt werden, die innerhalb des Versuches, Freiheit und Geschichte zu denken, ohnehin nicht mehr problemlos zu formulieren sind. Erst die ökonomischen Erfordernisse in Handel und Produktion nach Bevölkerungswachstum und Pestepidemien, der immer schneller ausgelaugte Ackerboden, die architektonischen Entwicklungen, die an den bloß handwerklich überlieferten Methoden immer öfter scheitern, das Erstarken nationaler Gebilde und weltlicher Macht überhaupt gegenüber Rom schaffen im 14. Jahr1

Dever. 24, 1 ad 1.

Zweites Kapitel: Thomas von Aquin

156

hundert die Basis, ungeachtet der Verurteilungen des 13. Jahrhunderts die zuletzt subtil aber mühsam gekitteten Aporien aufzubrechen.1 In dem Widerspruch eines subjektiv unabhängigen aber objektiv ohnmächtigen Willens, mit dem Thomas die Erhaltung der im Grunde heilen metaphysischen Welt erkauft, ist aber schon strukturell die Ambivalenz der Moderne präformiert, in der die Möglichkeit der Willensbildung durch Vernunft auch das mächtigste Instrument zu deren Knebelung hergeben wird. Die Freiheit des Subjekts erhält historisch die Doppelung, daß sie einerseits die allgemeine Bedingung von Vertragsabschlüssen ist und so Voraussetzung bürgerlicher Gleichheit, andererseits aber als allgemeine Freiheit der Subjekte von den äußeren Mitteln ihrer Reproduktion diese Subjekte zum Eingehen von Vertragsverhältnissen nötigt und ihre Willen so heteronomen Zwecken unterwirft.

3.

Synderesis als Verknüpfung von Vernunft und Wille

Aus der Konfrontation der Bemühung des Thomas von Aquin, theoretische und praktische Einsicht als unterschiedliche Äußerungen derselben Vernunft streng zu verbinden, mit der These, daß die praktische Einsicht im Unterschied zu der Allgemeines erfassenden theoretischen auf partikuläre veränderliche Gegenstände gerichtet sei, ergeben sich also prinzipielle Probleme, zumal Thomas die Universalität von praktischen Einsichten nicht über einen Begriff einer weltlich realisierten Menschheit begründen kann. Die grundsätzliche Fähigkeit zu selbstbestimmtem Handeln bleibt für Thomas aber entscheidend wichtig, weil sie erstens für die juristische Zurechenbarkeit von Handlungen und zweitens für die Heilsfähigkeit der Menschen und damit für die Gültigkeit des Schöpfungsplanes erforderlich ist. Im Bemühen, die Aporien zu lösen, ergeben sich implizit immer wieder Antizipationen der Neuzeit. Als innere Voraussetzung der Befähigung zum guten Handeln entwickelt Thomas schließlich mit der Synderesis eine frühe Gestalt der Form allgemeiner Gesetzmäßigkeit. Sie ist ein habitus der Vernunft und enthält die Bestimmungen der lex naturae, also jenes Gesetzes, dessen Bestimmungen aus dem menschlichen Wesen ohne weitere Vermittlung folgen. Der oberste Grundsatz ist: „Das Gute ist das, wonach alle streben."2 Die Synderesis erschließt Thomas in strenger Analogie der praktischen zur theoretischen Erkenntnis. Wie diese sei jene ein Prozeß von Prinzipien zu Ergebnissen. Wie es in der theoretischen Erkenntnis erste Prinzipien geben müsse, die nicht mehr ableitbar sind, so auch in der praktischen, sonst gäbe es im Menschen keine verläßliche Grundlage der guten Handlung. Abgesehen davon, daß dieses Argument die Analogie, die es begründen soll, schon voraussetzt, ist seine weitere Ausführung doch wichtig für die Bestimmung des Verhältnisses von Theorie und Praxis bei Thomas. Interessanterweise 1 2

Vgl. Jacques LeGoff, Das Hochmittelalter, Frankfurt am Main 1965, 277ff. S.th.

I-II, 94, 2c

III. Der Wille

157

führt er als erstes theoretisches Prinzip den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch an, leitet diesen aber ab aus der Identität. Während bei Aristoteles Identität nur negativ als dem Satz inhärierend gedacht wird, heißt es bei Thomas: ,,[W]as zu allererst erfaßt wird, heißt „Seiendes" [...] Daher lautet der erste, des Beweises nicht bedürftige Satz: „Man kann etwas nicht zugleich bejahen und verneinen"."1 Zwar ist das Ersterfaßte kein Satz, aber es bestimmt den ersten Satz, während bei Aristoteles jede Erfassung erst bestimmt wird durch die Voraussetzung der Widerspruchsvermeidung. Diese Verkehist das ens auch rung ist kein Zufall, denn mit Hilfe der ein bonum und derselbe Gegenstand, der eben Objekt der theoretischen Vernunft war, ist nun Objekt der praktischen Vernunft, wenngleich nicht als allgemeiner sondern als einzelner. Damit ist die strikte Trennung der Objektbereiche von Metaphysik und Politik metaphysisch eingeholt als ihre negative Einheit; freilich ist so noch kein adäquater Begriff menschlichen oder gar sozialen Handelns vorhanden. Insofern ein Gegenstand nun ein bonum ist, gibt die Synderesis den Grundsatz an die Hand, daß es zu erstreben ist. Erstens ist so jedes Seiende als Seiendes ein Gut und daher zu erstreben, was wohl auf die antike eher technische Bedeutung des Begriffes ,Gut' zurückgeht, sie aber im Umfang deutlich übertrifft. Zweitens tritt bei Thomas gegenüber dieser Bestimmung schon die moralische Qualität weit hervor. Aus beiden Gründen sind die Ziele nicht mehr so ohne weiteres vorauszusetzen und es wird eine Instanz notwendig, die ein richtiges Streben ermöglicht, denn die moralische Einsicht beispielsweise, daß „der Geschlechtsverkehr unter Männern [...] in besonderer Weise widernatürliches Laster genannt wird" dürfte in der klassischen Antike nicht Standard gewesen sein. Die Verknüpfung von theoretischer und praktischer Einsicht dadurch, daß die Synderesis ebenso ein habitus der Vernunft ist wie die theoretische Prinzipienerkenntnis, verkennt die historische Bestimmtheit des Moralverständnisses. Allein aufgrund des Wesens der Menschen ist aus dem Satz ,Das Gute ist zu erstreben' kein einziges inhaltliches Gebot abzuleiten, wenigstens nicht solange die Menschen nicht diesem Wesen gemäß leben, und das heißt hier, solange sie in einer ständischen Gesellschaft quasi substantiell unterschieden werden. So fallen die Tugendakte nur hinsichtlich der Tugend alle unter die lex naturae, nicht aber hinsichtlich des Aktes, denn dieser ist durch weitere äußere Bedingungen definiert. ,,[S]o trifft es wegen der verschiedenen Lebensverhältnisse unter den Menschen zu, daß manche Handlungen für die einen tugendhaft sind, weil sie ihnen angepaßt sind und entsprechen, für die anderen dagegen lasterhaft, weil sie ihnen nicht angepaßt sind."4 Sobald die praktische Vernunft praktisch wird, zerfällt sie in Kasuistik, da Thomas über keinen allgemeinen Maßstab verfügt. Soll die

Transzendentalienvertauschung2

,

1 2 3 4

S.th. I-II, 94, 2c Vgl. S.th. I, 79, 12 und De ver. 16. Vgl. Dever. 1, lc. und S.th. 1,5, 3c S.th. I-II, 94, 3 ad 2. S.th. I-II, 94, 3 ad 3.

158

Zweites Kapitel: Thomas von aquin

Bestimmung der Handlung im historischen Kontext mit Hilfe der Klugheit und der moralischen Tugenden erfolgen,1 so ist nicht zu sehen, wozu die Synderesis dann noch erforderlich ist, denn mittels der Tugend ist eine Ausrichtung auf das Gute habituell gegeben und mittels der prudentia werden technisch-praktisch die Mittel zu seiner Realisierung ergriffen. Die Synderesis soll darüber hinaus die Grundlage aller Moralität sein, womit Thomas immerhin eine Vision des Sittengesetzes unterläuft. Erst Kant aber gelingt es, mit dem entwickelten Begriff der Menschheit und der entscheidenden Konstruktion der Menschheit in einer Person, eine Regel anzugeben, nach der Handlungen der Sache nach beurteilt werden könnten, wenn nicht die Forderung nach Moralität noch immer an den gesellschaftlichen Bedingungen zuschanden würde. Der Fortschritt in der Realisierung der Freiheit, wenn auch noch in verkehrter Gestalt,2 ist mitbestimmend für die theoretische Entwicklung von Subjektivität. Schon prinzipiell gelingt die Analogie von praktischer und theoretischer Einsicht nicht, weil die Gültigkeit theoretischer Prinzipien in der Orientierung im eigenen Dasein jederzeit sich geltend macht, die Gültigkeit der Grundsätze der Synderesis aber nicht oder nur sehr mittelbar, indem die Annahme eines solchen habitus jeden Fehltritt strafbar macht. An sich folgt aus dem Streben nach Bösem aber keine existentielle Gefahr. So scheitert der Versuch, die praktische Einsicht ebenso streng zu fassen wie die theoretische, auch deshalb, weil Thomas nicht angeben kann, wie die Vernunft auf diesen habitus zugreift und warum sie es manchmal nicht tut. Die Aktualisierung der Synderesis wird so zum zentralen Problem, das seinen Ausdruck findet in der Frage, ob sie überhaupt ein habitus oder doch eine Potenz sei. Eine Potenz darf sie nicht sein, weil Potenzen inhaltlich nicht festgelegt sind, sondern auf gegensätzliche Weisen aktualisiert werden können. Außerdem wäre die Synderesis als Potenz der Vernunft selbständig beigeordnet und die Entscheidungen für die Handlungen könnten nicht mehr auf die Vernunft zurückgeführt werden. Der Bereich des Handelns wäre dann autonom gegen die Erkenntnis und das Argument, daß Erkenntnis auf einen Gegenstand und sein Gegenteil gerichtet sein kann, wäre dann nicht mehr als Grund für Verfehlungen anzugeben. Es müßte in der Synderesis ein irrationaler Mechanismus angenommen wer-

den. Daher sei sie ein habitus der Vernunft wie es auch die theoretische Prinzipienerkenntnis sei. Nach Aristoteles ist diese aber kein habitus, sondern ein Seelenvermögen,3 und das aus gutem Grund, denn als habitus müßte sie erworben sein. Wie aber schon bei der Reflexivität der Vernunft die Thomasische Verwendung des haè/fas-Begriffes von der Tradition abweicht, so auch hier. Beides soll etwas sein, das von

Vgl. Wolfgang Kluxen, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, a.a.O., 38f. Mit Freiheit in verkehrter Gestalt ist die Emanzipation menschlichen Lebens vom unmittelbaren Naturzwang, aber unter gesellschaftlichen Restriktionen gemeint: Solange die Menschen etwa Funktionen der Ökonomie sind und nicht etwa deren Funktion von den Menschen selbstbewußt organisiert wird, ist diese Gesellschaft höchstens an sich eine menschliche und die in ihr realisierte Freiheit verkehrt. 3 EN IV, 6. 1 2

III. Der Wille Natur vorhanden

159

ist, aber nicht als Vermögen, sondern als Grundbeschaffenheit, die in

Aktualisierung anderer Vermögen sich geltend macht. Eine der Reflexivität vergleichbare Wirksamkeit kann der Synderesis aber nicht nachgewiesen werden, als Befähigung zum Gutes tun wäre sie nur die Fähigkeit überhaupt zu handeln. Die Verbindung der praktischen Philosophie mit der theoretischen durch Unterstellung beider unter die Vernunft gelingt erst durch die Frage nach dem logischen Ort der Unterscheidung der beiden Disziplinen. Als nächstes Resultat der Antwort auf diese Frage würde die reine Vernunft aber aus sich selbst praktisch und bedürfte nicht der Vermittlung durch

der

habitus.

1 Daß Kant Vernunftbestimmung favorisiert und nicht „die neigende Macht der Urgewissenserkenntnis" qualifiziert nach Siewerth die transzendentale Einheit des Selbstbewußtseins zu „heteronomer Gewalt und Despotie". Vgl. Gustav Siewerth, Thomas von Aquin. Die menschliche Willensfreiheit, a.a.O., 43.

Zweites Kapitel: Thomas von Aquin

160

Teleologie und Geschichte

IV. 1.

Apoden der Freiheit und Geschichte der Menschen

Im Willen sind die Menschen auf das oberste Ziel

hingeordnet. Alle anderen Vermögen

sind auf partikulare, subalterne Ziele gerichtet und unterstehen so dem Willen, der ein jedes gegebenenfalls nach rationaler Ordnung. Damit ist sowohl vorausgesetzt, daß die Seelenvermögen grundsätzlich auf das Heil geordnet sind, als auch, daß ihre Gegenstände ihnen adäquat geordnet sind, so daß die Welt, wie sie ist, dem Heil zumindest nicht entgegensteht: „In den Werken Gottes ist nichts vergeblich; ebensowenig in den Werken der Natur f...]"2. „Alles strebt dem Guten zu, nicht nur das, was Erkenntnis besitzt, sondern auch das, was ohne Erkenntnis ist." Dieser Hauptsatz der Teleologie beruht auf der Tautologie, daß jedes Seiende in irgendeiner positiven Relation auf Anderes steht- und wenn es der Stein ist, der nach unten fällt und solches angestrebtes Anderes als Ziel oder Gut bezeichnet wird, weil es erstrebt wird und daher für das Erstrebende ein Gut sei. Zwar weist Thomas auch darauf hin, daß ein Gut nicht durch das Erstrebtwerden gut wird, sondern erstrebt wird, weil es gut ist; das Argument wird aber umgekehrt geführt: Aus der Tatsache, daß ein Gegenstand erstrebt wird, schließt Thomas zwingend auf seine Gutheit. Zwingend kann das aber nur sein, wenn vorausgesetzt ist, daß nur Gutes erstrebt wird. Schließlich hat das bonum im allgemeinen keinerlei ethische Bedeutung, sondern bezeichnet die funktionale Position eines Seienden in der ideologischen Ordnung. Diese Ordnung allgemein vorausgesetzt, ist das Begründungsverhältnis zwischen Gut und Erstrebendem ohne Sinnverlust umkehrbar. Die als unmittelbare ontologische Grundlage der Gutheit verstandene .eigentümliche Tüchtigkeit (virtus)' wird schon in der Thomasischen Konstruktion des Verhältnisses von Erstrebendem und Erstrebtem zur Tautologie vermittelt. Emphatisch aufgeladen erscheint diese Struktur in ihrer transzendenten Ursache: „Da nun alles Naturhafte durch eine gewisse naturhafte Neigung vom ersten Beweger, von Gott, auf sein Ziel hingewendet wird, so ergibt sich daraus mit Notwendigkeit, daß das, worauf alles hingewendet wird, von Gott gewollt und beabsichtigt ist." Das direkte Willensobjekt Gottes aber ist er selbst. Daher ist die gesamte Schöpfung durch ihn auf ihn hingeordnet. Weil Gott das Wesen des Guten ist, strebt alles nach dem Guten; das notwendige Verhältnis von Reflexivität und Irreflexivem, wie es in der Trinitätsspekulation für sich genommen bestimmt war, gerät in der Hypostasierung zum bloßen Postulat, dessen Begründung sich im Kreis dreht.

bewegt,1

-

1 2 3 4 5

Vgl. S.th. I, 82, 4. S.c.G. III, 156. Dever. 22, lc. Vgl. S.c.G. I, 37. De

ver

22, lc.

IV. Teleologie und Geschichte

161

Ein jedes strebt seiner Natur gemäß, manches notwendig durch Hinordnung, manches mit Einsicht in die Hinordnung, aber alles auf Gott. Das menschliche Wesen, das unter den körperlichen Geschöpfen Gott am nächsten ist und so auch am meisten an der ihm eigenen Freiheit partizipiert, ist zugleich seiner Anordnung am strengsten unterworfen: „Je edler etwas im Universum ist, desto mehr muß es an der Ordnung teilnehmen [...] Je mehr [...] Gott etwas liebt, desto mehr fällt dies auch unter seine VorseDa Gott abbildweise in jedem Seienden ist, ist auch in jeder Beziehung eines Seienden auf ein anderes ein implizites Streben zu Gott enthalten.2 Noch die letzte ohnmächtige Hoffnung auf Selbständigkeit wird so in der Vorsehung erstickt: ,,[I]n einigen seiner Wirkungen, sofern diese dem Willen widerstreben, wie z. B. auferlegte Strafen oder Gebote, die zu hart zu sein scheinen, wird Gott selbst gemieden und in gewisser Weise gehaßt. Und dennoch müssen jene, die ihn hinsichtlich einiger Wirkungen hassen, ihn in anderen Wirkungen lieben, wie z. B. [...] die Teufel das Sein und Leben naturhaft erstreben. Und dadurch erstreben und lieben sie Gott selbst." Wie das Ziel, so ist schließlich jede Handlung als Moment der Vorsehung nur eine Fernwirkung Gottes: „Und wie darum Gott deshalb, weil er der Erstwirkende ist, in jedem Handelnden wirkt, so wird er deshalb, weil er das letzte Ziel ist, in jedem Ziel erstrebt."4 Die Reichweite der Vorsehung erstreckt sich auf die gesamte Schöpfung und zwar „nicht nur im allgemeinen, sondern auch im einzelnen"5. Die Vorsehung als Begriff des Schöpfungsganzen ist der Struktur des Inhalts nach der Plan der Hinordnung der Schöpfung auf Gott, der allerdings unmittelbar seine Durchführung ins Werk setzt, so daß jedes Geschöpf seinem Seinsgrad gemäß von Gott zu ihm hin bewegt wird. Dieser Begriff ist absolut und unmittelbar, daher wird er als „providentia", Vor-sich-sehung Unter Vorsehung kann man „sowohl den bezeichnet, nicht temporal als Plan der Hinordnung der Dinge auf ihr Ziel verstehen, als auch die Anordnung der Teile innerhalb des Ganzen"7. Durch den Ausgang der Dinge von Gott, werden sie ,angeordnet', durch die Vorsehung ,hingeordnet'; da sie aber wenigstens nicht ihrer Hinordnung widersprechend angeordnet werden können, ist die Vorsehung auch Prinzip der AnordMit dieser Konstruktion ist die Welt vollständig in ihren intellektuellen Grund Da dieser Intellekt die Erstursache von allem ist, untersteht auch jede

hung."1

„providentia"6.

nung.8 zurückgebogen.9

1 S.c.G. III, 90. 2 De ver. 22, 2 ad 1, ad 2. Vgl. S.c.G. III, 17. Der Gedanke ist die Umkehrung neuplatonischer Emanation: Jedes Ziel ist ein Gut. Als Gut partizipiert es an Gott. Also erstrebt alles Gott. 3 De ver. 22, 2 ad 3. 4 De ver. 22, 2c 5 S.th. I, 22, 2 c 6 Dever., 2, 12c 7 S.th. I, 22, lc. 8 Vgl. De ver. 5, 1 ad 9. 9 Dies System drückt sich durch immer wiederkehrende zirkuläre Begründungen aus: Die Ordnung der Dinge kann nur durch die ordnende Kraft Gottes begründet werden, diese ordnende Kraft wird bewiesen aus der realen Ordnung der Dinge. Vgl. z.B. S.c.G. III, 64. Entsprechend wird in den ersten

162

ZWEITES KAPITEL: THOMAS VON AQUIN

eventuelle sekundäre Ursache letzthin dem Absoluten und die Permanenz der Reflektiertheit der Welt auf Gott ist überdies durch den Begriff der creado continua gesi-

chert.2

geschieht zufällig, weil Gott subalterne Ursachen eingesetzt hat, die ihrem Wesen gemäß zufällig wirken, das heißt sie realisieren notwendig zufällig den Plan Gottes: „Darin ist die Ordnung der göttlichen Vorsehung unveränderlich und unfehlbar, daß alles, was sie vorsieht, auf die Art und Weise erfolgt, wie sie es vorsieht, sei es auf notwendige, sei es auf zufällige Weise." Dieser Widerspruch, der in der Distinktion, Vieles

wie es uns erscheint und wie es in Gott ist, vermittelt sein soll, kann da das Bewußtsein dieser Distinktion nun einmal über die Distinkten sich erhoben hat doch nur dahin aufgelöst werden, daß der Sache nach keine Zufalle geschehen: „Die Vorsehung [...] hebt die Zweitursachen nicht auf, sondern sorgt in der Weise für die Wirkungen, daß auch die Ordnung der Zweitursachen der Vorsehung Gott ist das erste Bewegende, auf das nicht mehr nur theoretisch alle Bewegung zurückgeführt wird: „Mag man darum irgendeine körperliche oder geistige Natur als noch so vollkommen annehmen, sie kann nicht zu ihrem Akt gelangen, ohne von Gott bewegt zu werden."5 Bei den Menschen hat die Vorsehung die Form der Vorherbestimmung, weil sie aufgrund der Willensfreiheit in besonderer Weise der Leitung bedürfen, so daß „auch das, was aus dem freien Willen hervorgeht, aus der stammt und nicht etwa einen blinden Fleck in der Omniszienz und Omnipotenz Gottes begründet. Der dogmatische Konflikt der für die Erkenntnistheorie erforderten ideologischen Ordnung mit der in praktischer Hinsicht erforderten Freiheit des Subjekts führt zu zahlreichen Variationen des immergleichen Widerspruches: „Die Vorherbestimmung zieht vollkommen gewiß und unfehlbar ihre Wirkung nach sich. [...] Dennoch wird die Willensfreiheit nicht aufgehoben, aus welcher die Wirkungen der Vorherbestimmung zufallhaft herDer Kunstgriff, den Willen als subalterne Ursache zu bestimmen, wird an der Gnade endgültig zuschanden, denn ohne Gnade und Hilfe Gottes kommt weder ein guter Willensakt noch überhaupt irgendeine Regung des Wahlvermögens zustande: „Die Wahlfreiheit des Menschen wird von einem äußeren Grunde bewegt, [...] nämlich -

-

unterliegt."4

Vorherbestimmung"6

vorgehen."7

quaestiones der S.th. I zunächst aus dem abhängigen das subsistente Sein bestimmt, aus dessen Subsi-

abhängige bestimmt wird. Schöpfungstheorie und kosmologischer Gottesbeweis sind Momente einer falschen Erkenntnistheorie. 1 Vgl. S.th. I, 22, 3 ad 2: Die Sekundärursachen exekutieren den Schöpfungsplan. Vgl. auch S.c.G. III, 72. 2 Vgl. S.c.G. III, 65. 3 S.th. I, 22, 4 ad 2. 4 S.th. I, 23, 8c 5 S.th. I-II, 109, lc. Die Betonung der Einheit der Vorsehung in S.c.G. III, 76 ist Ausdruck der erkenntnistheoretischen Funktion der Totalität. 6 S.th. I, 23, 5c 7 S.th. I, 23, 6c stenz dann das

163

IV. TELEOLOGIE UND GESCHICHTE

Gott"1. Der Willensakt selbst wird von Gott bewegt und noch seine äußerliche Ausführung kommt ohne seine Hilfe nie zustande.2 Im Stande der Erbsünde, des Bewußtseins seiner selbst, muß der Mensch, um das Heil erlangen zu können, von der Sünde ab- und Gott zugewendet werden. Gerade aufgrund der Sünde aber von sich selbst kann das nicht aus ihm selbst geschehen, er bedarf so der ersten Gnade als einer habituellen Bestimmung der Seele, die ihn überhaupt zu gutem Handeln befähigt. Zudem ist er auch im Stande der ersten Gnade noch aufgrund seiner Beschaffenheit stets gefährdet, in einzelnen Akten sich von Gott abzuwenden, so daß eine ständige Begleitung durch zusätzliche Gnadengaben erforderlich ist.3

von

-

-

Die Gnade wird nun aber dem Einzelnen weder automatisch zuteil, noch kann er sie in irgendeiner Weise erwerben, weil er, wenn er nicht in der Gnade ist, aufgrund der Erstursächlichkeit Gottes ohne dessen Hilfe sie nicht erlangen kann, denn sie besteht in der Hinordnung auf Gott. Das Ziel der Menschen übersteigt ihre natürlichen Fähigkeiten, so daß es ohne Gottes Gnadengabe nicht erreicht werden kann; nicht die Gnade ist Folge guter Werke, sondern diese folgen jener sonst stände der Mensch wirkursächlich über Gott.4 In der politischen Konsequenz wäre durch die Annahme, die Gnade könne durch gute Taten erwirkt werden, die göttlich geordnete Kirchenhierarchie von innen angreifbar. Fundamentalistische Bewegungen wie die Katharer dünkten sich dann mit Recht päpstlicher als der Papst und dürften ihm die Gefolgschaft aufkündigen. So sind auch die Gnade und selbst die Vorbereitung zur Gnade durch gute Taten in „der die anzunehmen sei, deren Details aber menschliVorherbestimmung chem Wissen verborgen blieben. Die Vorbereitung auf die Gnade setzt dann zwar nicht ein weiteres Gnadengeschenk voraus, aber die Hilfe Gottes, ohne die keine gute Tat geschieht, was keinen Abbruch an deren Freiwilligkeit bedeute.6 Auch hier variiert der Widerspruch, etwa in der Gestalt, daß eine Gnadenerlangung durch Verdienst aus freiem Entschluß dann sogar notwendig ist, wenn Gott das so anordnet.7 Schließlich bleibt Gott allein die Ursache des Gnadengeschenkes, das als Teilhabe an Gott die Ursächlichkeit jedes Geschöpfes übersteigt, weshalb auch eine Vorbereitung der Menschen aus -

einbegriffen"5,

1

S.th. I-II, 109, 2 ad 1. Vgl. S.c.G. III, 67 und auch 69f. den ausweglosen Versuch, die Konsequender Araber zu widerlegen. 2 Vgl. S.th. I-II, 111, 2c Die Prädestinationslehre ist nach Nicolai Hartmann, Teleologisches Denken, a.a.O., 125 „einefj wahrhaft teuflische^ Erfindung unter dem Deckmantel religiöser Frömmigkeit". Die durch Sekundärursachen konstruierten pädagogischen Lücken' im Weltplan, in denen die Menschen sich bewähren können sollen, führt Hartmann zurück auf die Verwechslung des Kausalnexus, der ohnehin die Freiheit nicht einschränke und daher auch einer partiellen Aufhebung nicht bedürfe, mit dem Finalnexus, der trotz partieller Aufhebung der Kausalbeziehungen uneingeschränkt erhalten bleibe. 3 Vgl. S.th. I-II, 109, 9 und 110. 4 Vgl. S.c.G. III 147 und 149. 5 S.th. I, 23, 5c 6 Vgl. S.th. I-II, 109,6 ad 1. 7 Vgl. S.th. I-II, 112, 3 und 114, 1 und 2. zen

Zweites Kapitel: Thomas von aquin

164

eigenem Vermögen prinzipiell nicht denkbar ist: „Daher kann keiner sich die erste Gnade verdienen."1 Die Gnade ist als solche nur durch Geschenk zu erhalten und unterliegt damit vollständig der Willkür des Schenkenden, sonst wäre sie Lohn.2 Mit Bezug auf die Schrift zieht Thomas die Konsequenz: „Also wird [...] nicht die freie Wahlentscheidung des Willens ausgeschlossen, [...] sondern diese Worte besagen nur, daß die freie Wahlentscheidung des Willens Gott unterstehe."3 Thomas sieht den Anspruch der Kirche auf Heilsverwaltung durch Bestrebungen bedroht, das Verdienst der Gnade vorzuordnen, und reagiert mit einer konservativen Gnadentheorie. Allerdings verortet Thomas das Problem der Gnade durchaus in einem sozialen und juristischen Zusammenhang und ist darin progressiv, denn der Glaube begründet bei Thomas keine unmittelbare Teilhabe an Gott, sondern die Vermittlung mit Gott steht immer im Kontext sozialer Handlungen. Indem Thomas die Gnade in diesen Zusammenhang stellt, liefert er aber die Gnadenlehre und die Möglichkeit von Moraltheorie gleichermaßen Aporien aus. Schließlich ist in der Verbindung beider der nominalistische Primat des göttlichen Willens präformiert, denn in der praktischen Philosophie, wo es um die göttliche Ordnung unter freien Willenssubjekten geht, verwandelt sich der Vernunftprimat der Erkenntnistheorie und der Schöpfungsordnung in eine Willenssuprematie Gottes, die nicht beeinflußbar oder rational einsehbar ist. Sobald der Mensch, als erkennender und besonders als wollender, es mit Gott zu tun hat, ist dessen Rationalität, die Bedingung der Naturerkenntnis ist, nicht mehr faßbar, es kann alles auch ganz anders sein, weil es nicht den Gesetzen menschlicher Rationalität gemäß sein darf, denn das hieße hier, ih-

unterworfen zu sein. Der Nominalismus zieht aus dieser überrationalen Unbestimmtheit die Konsequenz des Willensprimates Gottes.4 Die Konstruktion, daß die Gnade Voraussetzung für gutes Handeln ist, führt ein strafrechtliches Problem mit sich, denn umgekehrt ist die Sünde, die Abwendung von Gott, Resultat fehlender Gnade und wäre so nicht anrechenbar. Thomas wendet ein, daß man allerdings durch eigensinnige Verstocktheit die Aufnahme der Gnade verhindern könne. Aber auch hier wäre der Mensch wirkursächlich Gott vorgeordnet, die Verstokkung müßte die Macht Gottes übersteigen. Zudem müßte der Sünder sich frei entscheiden können, sich gegen die Gnade zu verstecken, was im Gegenteil schon voraussetzte, daß er bereits in der Gnade wäre, denn wie sollte er sich gegen das Gute frei entscheinen

1 2 3 4

S.th. I-II, 114, 5c.

Vgl. S.th. I, 23, 5. S.c.G. III, 149. „Dieses Ende entspricht dem Gott, der die unergründliche Willkür ist und ebendesshalb ein

uner-

gründlich willkürliches Gnadeninstitut als Lebensversicherungsanstalt errichtet hat." Adolf von Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte, a.a.O., 623. Harnack zeigt auf den Seiten 632ff. minutiös, wie Thomas sich „in seinen eigenen Distinctionen verwirrt" (632), führt dafür aber fast ausschließlich theoriegeschichtliche Gründe an. 5 Vgl. S.c.G. III, 159.

IV. Teleologie und Geschichte

165

den, wenn es ihm ganz unerreichbar wäre? Der Verlust der Gnade bleibt rational ebenso unerklärlich wie ihre Erlangung. So unterliegt das Geschehen einer gegenüber der Antike wesentlich verschärften Teleologie, in der nicht nur alles durch sein Wesen in ein zweckrationales System gebannt ist, sondern von Gott subjekthaft gelenkt wird. Im Stande der Erbsünde, die eigentlich die Ablösung oder Befreiung von Gott ist, bleibt der Mensch prinzipiell unfrei, indem jede Regung des Willens ihren letzten Grund in Gott hat. Die Menschen können ihre Lage nur verbessern, indem sie mittels eines weiteren Eingriffs Gottes durch die Gnade von der Sünde gelöst werden. Noch die Verworfenen, die unmöglich die Gnade erlangen können, müssen es sich gefallen lassen, daß diese Unmöglichkeit nicht absolut, sondern nur bedingt ist, da zwar nicht die Wirklichkeit aber doch die Möglichkeit ihrer Rettung mit ihrer Verdammung zusammen gedacht werden kann. Und sind sie erst verdammt, ist noch ihre Strafe mit ideologischer Ehre verbunden. Durch die Vorherbestimmung der Menschen für das eine oder das andere ist die Gattung Mensch prinzipiell in zwei Lager gespalten, der Begriff ,Menschheit' ist nicht real. Menschheit kann nur gedacht werden als corpus mysticum Christi, das ohnehin erst im Reich Gottes wirklich wird. Aber auch dann noch bleibt das kollektive Selbstbewußtsein dieses corpus gespalten, seinen Inhalt bezieht es aus ergötzlicher Betrachtung seiner abgehackten faulen

Gliedmaßen.1

Thomas fehlt die Einsicht in die konstitutive Funktion des Artprozesses für die Bestimmung des Wesens, nach der die Zweite Substanz als objektive zu denken ist.2 Es bleibt nur die Einsicht, daß „alles, was Verstand besitzt, von Natur aus [verlangt], ewig zu sein. Ein natürliches Verlangen kann aber nicht vergeblich sein"3. Diese Einsicht ist nicht nur melancholisch; sie beschwört wenigstens die Bedingung des kollektiven Gedächtnisses der Menschheit, die nur so als solche sich wissen könnte. Aufgrund der Fesselung des freien Subjektes ist also eine rationale Bestimmung gesellschaftlicher Verhältnisse vorläufig ebenso ausgeschlossen wie ein darauf begründeter Begriff geschichtlichen Fortschrittes.4 Geschichte hätte erst im Jenseits ein kollektives Subjekt. Die großen geschichtswirksamen Subjekte gelten dann als Funktionäre des Schöpfungsplanes, dessen telos in der Aufhebung der Schöpfung am Jüngsten Tage besteht. Herrscher sind sowohl als gute wie als schlechte Agenten des göttlichen Planes 1 Vgl. S.th. Suppl. 94, 3. 2 Der Kampf des Thomas gegen die Averroisten, die von der Einheit zumindest des intellectus possibilis ausgehen, gründet in der Befürchtung, daß eine transzendentale Bestimmung des Selbstbewußtseins des erkennenden Subjektes nicht mehr getrennt vom Absoluten gehalten werden könnte. 3 S.th. I, 75, 6c Vgl. auch S.c.G. II, 55 und 79. 4 Einen Begriff der Geschichte will Max Seckler, Das Heil in der Geschichte, München 1964, 24, gerade darin finden, daß Thomas keine Geschichtsspekulation durchführt und auf Weltalter- und Heilsverfassungslehren nicht Bezug nimmt. Nun ist aus der Vermeidung eines Irrweges noch nicht notwendig die richtige Richtung zu deduzieren. Darauf, daß Seckler dann das exitus-reditus-Schcma (29ff) als Thomasische Geschichtsformel präsentiert, ist zu sagen, daß sicher auch ein Geschichtsmodell, unter dem geschichtlicher Fortschritt nicht denkbar ist, ein Geschichtsmodell bleibt.

166

Zweites Kapitel: Thomas von Aquin

eben dessen Agenten, an ihnen selbst so gut wie Nichts. Die ganze Geschichte ist so die Rückführung des nur scheinbar Kontingenten ins Absolute, der Ausweis des Absoluten seiner selbst, in dem daher von Anbeginn alles an sich überflüssig ist und seine relative Berechtigung nur aus der ersten Verfehlung, der Verselbständigung des Kontingenten und deren Folgefehlern erhält. Der Struktur nach ist dies das Programm, dem sich als selbständig gebärdenden Auffassen des Kontingenten wie dem unmittelbaren Sein, das vom Nichts unterschieden sein will, die Aufhebung ins Absolute als seine eigene Konsequenz nachzuweisen. Der Aporie der Begründung des Bösen entspricht die des Versuches, dem Kontingenten einen Grund seiner Kontingenz anzuschaffen. Während die Abweichung, auch die ethische, in der Antike als nicht eigentlich seiend aus der Teleologie herausfiel, wird sie bei Thomas zu deren Bestandteil, weil nur durch die Manifestation des Vermögens zum Bösen in der Erbsünde die Heilsgeschichte einen Inhalt und der Überwindung der Tatsünden eine Verlaufsform erhält. Mit der Möglichkeit des Bösen oder Schlechten erhält Geschichte negativ ihr Ziel, wäre die Schöpfung tatsächlich ,sehr gut', so wären alle Veränderungen solche zum Schlechten oder sie wären gleichgültig. Heilsgeschichte faßt dieses Ziel positiv und gerät so in die Not, das Böse als dessen notwendige Bedingung zu affirmieren: „Wenn man alles Böse verhinderte, fehlte viel Gutes in der Welt; denn der Löwe kann nicht leben ohne Tötung der

Tiere."1

Auch Mord und Folter haben ihren Ort in der Vorsehung: „Noch gäbe es eine Geduld der Märtyrer, wenn es keine Verfolgung durch Tyrannen gäbe."2 Die Stufenordnung des Seienden im Verein damit, daß Gutes und Übles als Momente der Weltordnung begriffen werden, deren jedes das andere erfordert und in sich trägt, legitimiert ganz allgemein die Herrschaft, denn es soll „die Kreatur Gott auch darin ähnlich sein, daß sie eine andere Kreatur überragt"3. Teilweise analog der Entwicklung der Reflexionsbestimmungen Hegels soll die der Rangordnung der Seienden sogar aus deren bloßer Verschiedenheit hervorgehen, da Verschiedenheit auf den Unterschied zurückgehe, dieser aber auf den Gegensatz hinauslaufe, und von den Extremen des Gegensatzes „ist stets eins das bessere"4. Damit ist die logische Bestimmung der Knechtung des Menschen durch den Menschen zu ontologischen Ehren gekommen: „Jedem gebührt das Seine. Das Seine aber heißt bei einem jeden das, was auf ihn hingeordnet ist. So ist der Knecht des Herrn und nicht umgekehrt. Denn frei ist, was um seiner selbst willen da ist."5 Es wird eine notwendig gespaltene Menschheit unterstellt, die zugleich notwendig gut und notwendig schlecht ist, solange es Menschen gibt. Die Freiwilligkeit, sich der 1 S.th. I, 22, 2c 2 S.th. I, 22, 2c Die Deutsche Thomas-Ausgabe übersetzt Verfolgung von Tyrannen', was ja einmal etwas Anderes wäre. Vgl. auch S.c.G. III, 71. und De ver. 5, 4 ad 4. sowie Comp. theol., c 142. 3 S.c.G. III, 71. 4 Comp. theol., c 73. Diese Asymmetrie ist dieselbe Subreption, wie in der Wissenschaft der Logik. 5 S.th. 1,21, 1 ad 3. ,

167

IV. TELEOLOGIE UND GESCHICHTE

einen oder der anderen Seite zuzuschlagen, reduziert sich auf die Freiheit in der Abwendung von Gott, da die Entscheidung für das Heil selbst negativ durch Abkehr von der Sünde bestimmt ist. So ist der freie Wille einerseits Voraussetzung für den Begriff der Heilsgeschichte, andererseits die permanente potentielle Sabotage ihres Verlaufs. Diese Aporie bestimmt den Thomasischen Geschichtsbegriff.

2.

Menschheit als corpus mysticum Christi

Die

Geschichtslosigkeit des menschlichen Daseins auch in statu viae ergibt sich aus der grundsätzlichen Hinordnung der Menschen auf Gott, aufgrund derer sie im Stande der

Unschuld {status innocentiae) ein statisches Dasein in der caritas führten und im Stande der Heimat {status patriae) wieder führen werden. Nur diese Rückführung ist der Zweck des Pilgerstandes {status viatoris). Das Dasein des alten Bundes war Hinordnung in Erwartung des Erlösers, das des neuen Bundes ist die Bewegung der erlösten Menschen zurück zu Gott, die erst unter der Voraussetzung der Tilgung der Erbsünde durch Menschwerdung und Leiden Christi sinnvoll gedacht werden kann: Die unendliche Beleidigung, die Gott zugefügt wurde, hat durch einzelne endliche Sühnetaten nicht gesühnt werden können. Weil kein Mensch Unendliches, Universales zu wirken vermag, mußte diese Sühne von Gott selbst geleistet werden; dafür mußte er Mensch werden. Das zeitliche Dasein des genus humanum ist so epochal unterschieden in den Glauben an den kommenden, den gegenwärtigen und den gewesenen Christus.1 Nur durch die Ausrichtung des Willens über Christus auf Gott wird die Gattung geeint, nicht durch Reflexion auf die Einheit der Vernunft. Das die Menschen einende Ziel verfolgt schließlich jeder für sich, Heilsgeschichte kennt keine und keine kollektiven Fortschritte, es sei denn als unumgängliche Mittel. Die Vorstellung, sich in der Welt einzurichten, so gut es geht und das Leben erträglich zu gestalten, wird allseits be-

Kooperation2

1 Vgl. S.th. 11161,4. 2 Von der brisanten Konstruktion des Ablasses, vermittels dessen Verdienste der Heiligen übertragbar werden wird hier abgesehen. Das Überschußkonto wird allerdings von Gott verwaltet. Vgl. S.th. Suppl. 25ff. Hans Meyer, Thomas von Aquin, a.a.O., 575, hält dagegen: „Nur durch die Hilfe der Mitmenschen und der Kirche kann der Einzelne sein Heil wirken." Daher stehe „der Einzelne [...] als Volksgenosse [...] im Jenseits vor Gott". Er bezieht sich auf De reg. princ I, 14, aber dort erscheint die Ausrichtung der Gemeinschaft auf die visio dei nicht als Resultat einer Begründung, sondern als Behauptung, aus der das Priesterkönigtum und schließlich die Macht des Papstes begründet werden. Außerdem würden aufgrund der Gnade alle Gläubigen als Glieder des corpus mysticum „Könige und Priester genannt". Sicher ohne es zu beabsichtigen transportiert Thomas in dieser Metapher die latente Dissoziation der Glieder des corpus mysticum. Die Individuen treten als .Könige' in ein äußeres, der Metapher folgend ein außenpolitisches Verhältnis zueinander. Das sieht Meyer so: „Die Anschauung und Liebe Gottes verbleibt Sache der Individualpersonen. Das schließt auch jetzt nicht aus, daß die in eine große Gemeinschaft zusammengeschlossenen Ordnungen der reinen Geister und der Seligen [...] ein intensives Gemeinschaftsleben führen [...]" (575). In der ewigen Schau Gottes bleibt also noch Zeit für Klönschnacks. Vgl. auch S.th. I-II, 4, 8.

Zweites Kapitel: Thomas von Aquin

168

hindert, nicht

dogmatisch, auch erkenntnistheoretisch bräche die Weltordnung zuAnspruch des Thomas, eine auch säkulare, am irdischen Leben ausgerichtete Sozial- und Staatsordnung zu begründen, kann innerhalb der Heilslehre nicht schlüssig eingelöst werden. Zwar tritt bei Thomas die planmäßige gesellschaftliche Teilung der Arbeit1 und mit ihr die soziale Verbundenheit der Einzelnen in den Vordergrund, aber sie müssen doch Erfüllungsbedingungen der Heilsordnung bleiben, denn unter der Anerkennung des evangelischen Rates zur weitestmöglichen Enthaltsamkeit von weltlichen Genüssen oder unter Voraussetzung von deren strikter Unterordnung unter das Ziel ewiger Glückseligkeit ist der Begriff erweiterter Reproduktion nicht systematisch zu fassen.2 sammen.

nur

Der

Die Menschen, die universal erlöst werden, müssen nun zu einer Einheit zusammengefaßt werden, für die sich kein Kriterium vorfinden läßt. Der antike Begriff des Menschen als vernunftbegabtes Lebewesen konnte schon seinerzeit in praktischer Hinsicht nicht durchgehalten werden,3 auch die Universalität der stoischen Ideal war historisch nicht real. Noch bei Thomas ist der Oberbegriff der Exemplare zunächst ein biologischer: genus humanum. Diesem besonderen genus unter anderen kommt es nun in der Kombination von Körperlichkeit und Vernunftbegabung zu, zum wechselseitigen Nutzen in Gemeinschaft zu treten, Aufgaben zweckmäßig zu delegieren. In Analogie zu einem organischen Körper wird so das gesamte genus als zweckmäßig in sich geordnete Vielheit bestimmt,5 allerdings mit besonderer Rücksicht auf die Hinordnung auf Gott, denn dieser ,Körper' ist als corpus mysticum Christi zunächst die Einheit der Kirche, deren Haupt, das heißt organisierender und führender Teil Christus selbst ist. Nun gehören zu diesem mystischen Leib alle, „die vom Anfang bis zum Ende der Welt über diese Erde das bedeutet, daß auch diejenigen dazugehören, „die nur der Möglichkeit nach seine Glieder sind" und bezieht sich zunächst auf solche, die läßliche Sünden begangen haben und potentiell zum corpus mysticum gehören, bis diese Möglichkeit nach entsprechender Genugtuung, unter Umständen erst durch das Fegefeuer, realisiert wird. Unter diesem Aspekt ist die Menschheit in der Zeit nie real, sie ist nicht einmal in der Lage, ihre Einheit aus sich selbst zu gewinnen und bleibt ein transzendentes Ideal, auf das die lebenden Menschen sich durch Selbstaufgabe hinordnen sollen: Die höchste Tu-

gehen"6;

1 Vgl. S.c.G. III, 134 und Günther Mensching, Das Allgemeine und das Besondere, a.a.O., 268ff. 2 Vgl. S.th. I-II, 108, 4. 3 Vgl. das entsprechende Kapitel zu Aristoteles. 4 Vgl. z.B. S.th. III, 1, 4. Noch diese Bestimmung der Einheit der Menschen wird in ihrer Autonomie beschränkt: Weil Gott die Dinge im Sein bewahrt, ist er die Substanz der Artprozesse (Vgl. S.c.G. III, 65). Vgl. auch S.c.G. IV, 81: Humanitas bedeutet die Prinzipien der Art, homo die Prinzipien der Art zuzüglich Individuationsprinzipien. 5 Vgl. S.th. III 8, 1 und Suppl. 71, 1. 6 S.th. III, 8, 3c 7 S.th. III, 8, 3c

IV. TELEOLOGIE UND GESCHICHTE

169

gend ist die des Gehorsams, die „Gott zuliebe den eigenen Willen aufgibt"1, denn ,,[d]as Ziel liegt [...] erst im statu patriae, nicht im statu viae"2. Der Gedanke der potentiellen Zugehörigkeit, der wenigstens Grundlage eines universalen Menschheitsbegriffes sein könnte, dient aber gerade dem Gegenteil dessen: „Von diesen werden manche niemals dem Leibe wahrhaft eingegliedert"3. Weil aufgrund der Generalamnestie von Golgatha die Kirche niemanden von vornherein ausschließen kann, andererseits aber ein Teil der Menschen nicht für die Seligkeit vorherbestimmt ist, gehört dieser Teil zu Lebenszeiten potentiell zur Einheit; das widerspricht logisch nicht seinem tatsächlichen Ausschluß, denn die Möglichkeit muß ja nicht wirklich wer-

den. Zwar werden zusätzlich zum ersten Gericht nach dem Tode der Einzelnen alle Menschen zum zweiten Gericht versammelt werden, aber nur um sie erneut zu teilen, und dann auf denn die potentielle Zugehörigkeit erlischt bei den Verdammten nach dem Tode und die Verdammung wird in der Folge des jüngsten Gerichtes endgültig exekutiert: Die Menschheit bleibt gespalten mit Notwendigkeit und in ihr selbst, denn Gute und Böse leben wegen des zeitlichen Nutzens zusammen, der in der Ewigkeit wegfällt, so daß die Teilung der Menschheit als natürliche Folge, ja als ihr eigentliches Wesensmerkmal hervortritt.5 Unter dieser Ordnung, die von Ewigkeit besteht und nur für uns zeitlich exekutiert wird, hat die Bewegung zu Gott sachlich nichts Geschichtliches. Geschichte ist dann nur die gottgefällige Organisation der Pilgerzeit, so daß gerade die ökonomisch reaktionären Armutsbewegungen als progressive Erneuerung auftreten.6 Die Menschen, die während ihres Lebens nur potentiell eine Einheit bilden, werden nach ihrem Tode unmittelbar wirklich getrennt. Auch die soziale Funktion des Totenkultes, die bis in früheste Zeit nachweisbar ist, schrumpft bei Thomas darauf zusammen, den Hinterbliebenen den Anblick der Leichen zu ersparen, Seuchen vorzubeugen und allenfalls die Lebenden im Auferstehungsglauben zu bestärken sowie die Toten dem Schutz der Heiligen anzuvertrauen; was darüber hinausgeht, sei „völlig lächerlich und Nach dem Tode erstehen die Toten als Individuen auf mit der Beson-

ewig,4

unsinnig"7.

S.th. II-II, 104, 3c S.th. III, 8, 3 ad 2. Bei Kant ist es gerade umgekehrt: „Die Idee einer moralischen Welt hat daher objektive Realität, nicht als wenn sie auf einen Gegenstand einer intelligiblen Anschauung ginge (dergleichen wir uns gar nicht denken können), sondern auf die Sinnenwelt, aber als einen Gegenstand der reinen Vernunft in ihrem praktischen Gebrauche, und ein corpus mysticum der vernünftigen Wesen in ihr, sofern deren freie Willkür unter moralischen Gesetzen sowohl mit sich selbst, als mit jedes anderen Freiheit durchgängige systematische Einheit an sich hat." (KrV, B 836). 3 S.th. III, 8, 3c 4 Vgl. S.th. Suppl. 99, 1. 5 Vgl. S.th. Suppl. 88, 1 6 Das gilt in je besonderer Weise für häretische Bewegungen wie die Katharer, Waldenser oder Humiliaten ebenso wie für die Bettelorden, die nur unter Schwierigkeiten und Zugeständnissen vom Papst anerkannt werden. Vgl. Jacques LeGoff, Das Hochmittelalter, a.a.O., 183ff. und 249ff. 7 S.th. Suppl. 71, 11c 1 2

Zweites Kapitel: Thomas von Aquin

170

derheit, daß die Seligen mit leidensunfähigen Leibern, die Verdammten mit leidensfä-

higen Leibern versehen werden.1 Um den Schöpfungsplan und insbesondere die Schöpfung der Menschen in vollständiger Rückführung abzuschließen, ist das Weltgericht erforderlich, in dessen Folge die gesamte Welt durch Feuer gereinigt und erneuert wird, so daß sie ein adäquater Aufenthaltsort der Seligen sei. Das jüngste Gericht ist die einzige instantané Realität, die der Universalität des genus humanum bei Thomas zugedacht ist. Das äußert sich etwa darin, daß allen Anwesenden die Sünden aller bekannt werden, damit jeder jeden Richtspruch als gerecht einsehe.2 Nachdem die Strafen ja bereits von Ewigkeit feststehen und im ersten Gericht schon zugeteilt wurden, erfüllt das zweite die besondere Funktion, alle Menschen einmal zu versammeln, um die umfassende Gerechtigkeit Gottes zu demonstrieren, was allerdings eher einer öffentlichen Bloßstellung aller gleicht, wie Thomas selbst geahnt hat.3 Zwar wird die Notwendigkeit des jüngsten Gerichtes auch daraus begründet, daß die Menschen Teile der Gattung seien und daher ein solches Gericht ihnen zustehe,4 doch richtet es sich bloß negativ auf das Gattungswesen, verhandelt wird über Einzelne als Einzelne. Über das erste Gericht hinaus wird nach der Auferstehung der seelischen Strafe die körperliche hinzugefügt, beziehungsweise auf der anderen Seite der Leib verherrlicht. Das entscheidend Neue aber ist die „Vollzahl der Heiligen"5, womit aber auch die bloß summarische Einheit selbst des corpus mysticum angedeutet ist. Das jüngste Gericht, das Ende der Welt kann nicht als Einzelurteil über den letzten verstorbenen Menschen vorgestellt werden, denn die Gemeinschaft der Menschen soll über die genetische hinausgehen, so daß Gott mittels Christus Organisationsmoment des corpus mysticum werde. Weil dieses corpus in der Welt nie real ist, müssen einmal alle versammelt werden, um sie kollektiv dem corpus mysticum zuzuordnen oder sie zu verdammen. Allein in dem einen logischen Moment zwischen dem Verklungensein des -

-

letzten Posaunentons und der kollektiven Bloßstellung kann die Menschheit als wirklich gedacht werden; sie zerfallt unmittelbar in Gute und Böse und innerhalb der Gruppen in Individuen, deren Seelen als reine Form nur mit demselben Körper vereint wieder Substanzen werden: Der Mensch aufersteht als personal identischer. Der verklärte Leib ist unzerstörbar, weil er der Seele zur Vervollkommnung zurückgegeben wird. Die Leiber der Erlösten, die nach Thomas allein das corpus mysticum bilden, sind leidensunfähig, versagen nie und gehen auf in der Liebe zu Gott. Zudem sind sie leicht beweglich.6 Diese Bestimmungen, deren letzte, selbst völlig unnütz, nur der Offenbarung der Kraft Gottes dient, machen deutlich, daß die Erlösten in absoluter Identität versinken, deren dialektisches Komplement allenfalls reine Verschiedenheit ist, die nie zum Unterschied 1 2 3 4 5 6

S.th. Suppl., 86, 3. Vgl. S.th. Suppl. 87, 2. Vgl. S.th. Suppl. 87,2 ad 3. Vgl. S.th. Suppl. 88,1 ad 1. S.th. Suppl. 88, 1 ad 2. Vgl. S.c.G. IV, 86.

IV. TELEOLOGIE UND GESCHICHTE

171

gelangt. Das corpus mysticum ist nur von außen betrachtet die Einheit Vieler, in sich selbst ist es ungeschiedene begriffs- und selbstbewußtlose Identität. Aus der Erwartung dieses Zustandes läßt sich in statu viae kein Selbstbewußtsein gewinnen, es sei denn das einfach-negative der Abgrenzung von den Anderen. Reflexionsstiftende Momente wie Negativität oder Selbstunterscheidung fänden sich eher bei den Bösen, die ihren Willen nicht einem ihnen äußeren Zweck unterwerfen, sondern mit der Bestimmung der Freiheit, ihren Willen aus sich selbst zu bestimmen, ernst machen. Die Konstruktion des Daseins nach der Auferstehung analog der Erfahrung lebendiger Individuen taugt weder grundsätzlich für einen spekulativen Begriff von Menschheit, noch mit der Besonderheit der Verklärung versehen. Auch der wesentlich transitorische Menschheitsbegriff des jüngsten Gerichts ist ungenügend, um seine extensionale Bestimmung in eine aus ihm selbst reflexive zu erweitern, denn er ist mit Grund so konstruiert, daß er in der Welt unwirksam ist: Die Verbindung und Verbindlichkeit der Einzelnen liegt in der uneinsehbaren Gnade Gottes und soll auch nirgends anders liegen. Die Unfähigkeit, eine wesenhafte Gleichheit der lebendigen Subjekte zu begründen, setzt sich in die Ewigkeit fort. Die Seligen sind in ihrer Seligkeit abgestuft je nach dem Grad ihrer individuellen caritas sowie nach ihren Verdiensten.1 Auch hier ist die individuelle Hinordnung auf Gott das einzige Band der Individuen zur Gemeinschaft und schlägt eben darum um in das, was die Einzelnen voneinander trennt. Das gemeinsame natürliche Ziel der Menschen, das Wissen, das alle erstreben, wird in der visio dei zu der Exclusivität eines absoluten Wissens, das aus eigener Kraft dem menschlichen Geist y nicht erreichbar ist. Sieht man selbst davon ab und versteht die visio dei als volle Erfüllung des Strebens nach Wissenschaft, ist doch das Leben der Menschen der so verstandenen Wissenschaft geopfert, anstatt daß diese in jenes Dienst stünde. Schon die allzu selbstverständliche Autarkie der Wissenschaft bei Aristoteles erkauft das angenehme Leben mit der Sklaverei, es ist aber so wenigstens historisch der Entwicklung und Vollendung von Wissenschaft vorausgesetzt. Thomas integriert diesen Gestus in die Heilsordnung, wodurch das angenehme Leben der angestrebten Wissenschaft systematisch untergeordnet wird. Bevor Wissenschaft allgemein in den Dienst der Menschen treten kann, muß sie radikal von der bis heute romantisierenden Vorstellung getrennt werden, sie sei an eine wie immer ausgezeichnete Lebensweise geknüpft. Indem etwa Thomas die ohnehin nur transzendente Erfüllung von Wissenschaft an die Gnade Gottes bindet, wird nicht nur der universale Zugang zur Erkenntnis faktisch aufgehoben, sondern es wird die Chance der Universalität des Menschlichen, die über Aristoteles hindurch deren Transzendierung wenigstens theoretisch eröffnet wurde, um der Unaus angreifbarkeit der Ordnung willen preisgegeben. Das spiegelt sich auch darin, daß die durch die visio beatificans begründete Seligkeit vervollkommnet wird durch das skurri-

-

1 Vgl. S.th. Suppl. 93, 3. 2 Eine detaillierte Darstellung, aber keine Kritik dieses Gedankens findet sich bei Jan A. Nature and Creature, a.a.O., 361ff

Aertsen,

Zweites Kapitel: Thomas von Aquin

172

le Spektakel der Betrachtung der leidenden Verdammten,1 für die noch nicht einmal Mitleid vorhanden ist, denn das wäre Ausdruck von eigener Leidensfähigkeit, über die ein Seliger aber zu seinem Glück, denn die Strafen sind entsetzlich nicht verfugt, oder es wäre Ausdruck einer vernünftigen Entscheidung, die aber nur Zustandekommen kann „insofern jemand ein Übel von einem anderen abwenden will"2. Weil aber die Sünder nicht erlöst werden können, kann auch kein Seliger das vernünftiger Weise wollen. Somit erfreut er sich an den Strafen, die Ausdruck der Gerechtigkeit Gottes sind.3 Immerhin bleibt den Verdammten der Anblick dieses eigentümlichen Daseins wie hinter einem einseitig verspiegelten Fenster erspart;4 ihnen ist schon die ewige Erinnerung an den Auftritt der Seligen vor dem jüngsten Gericht eine Strafe. -

1 2 3 4

Vgl. S.th. Suppl. 94, 1. S.th. Suppl. 94, 2c Vgl. S.th. Suppl. 94, 3. Vgl. S.th. Suppl. 98, 8.

-

Drittes

Kapitel:

Aristoteles

I. Wissenschaft als vßptc In vielen Kommentaren zu Aristoteles erscheint die Ironie des Dante affirmativ aufgenommen, daß der Unterschied zu Thomas von Aquin in der Hauptsache auf dem Zeitpunkt der Geburt beruhe, und dem daraus folgenden Aufenthalt des einen im ersten Kreis der Hölle, gewissermaßen dem ewigen Wartezimmer, des anderen als Lichtgestalt im Paradies.1 Dagegen ist die Aristotelische Philosophie nicht als Interpretationshilfe für die Thomasische oder eine andere, sondern in ihrer Eigenständigkeit zu betrachten, wenngleich diese nur negativ zu ermitteln ist als Grundlage der Unterschiede zum modernen Bewußtsein, in denen sie uns erscheint. Die theoretische Philosophie des Aristoteles geht von einem gegebenen Stand des Wissens aus, der in Handwerkskünsten, der Naturphilosophie und der Mathematik vorliegt. Sie fragt danach, wie das Denken und wie die Gegenstände beschaffen sein müssen, um die Erkenntnisse als gesicherte betrachten zu können. Sie ist daher die gesuchte Wissenschaft, in deren Bestimmung ständig die Voraussetzungen von Gegebenem untersucht werden. Wird diese negative Seite des Argumentes übersehen, zerfasert die Aristotelische Philosophie in eine ungeordnete Vielheit von ungelösten Problemen. Die Wissenschaft soll dazu verhelfen, daß man „soviel möglich, alles verstehe, ohne y dabei Wissen vom Einzelnen zu besitzen" Die Einsicht in die wesentlichen Bestimmungen von Gegenständen kann danach nur begrifflich, durch allgemeine Erkenntnis stattfinden, nicht durch jeweilige Betrachtung des Einzelnen, wie es empirisch gegeben ist. Freilich hat Aristoteles, wenn er auch Begriffe bildet und mit ihnen operiert, keine logische Theorie des Begriffs, weil die ontologisch fundierte Beziehung der Begriffe auf die Gegenstände als gegeben vorausgesetzt wird und nun die Bedingungen dieser Beziehung untersucht werden; ein Begriff des Begriffs genauso wie das Wesen des Wesens sind ohne Voraussetzung der nominalistischen Auslegung der Universalien nicht .

1 Vgl. Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, Gesang und Paradies, Zehnter Gesang. 2

Met. 981 b.

übers,

v.

Karl Witte,

Leipzig 1990, Hölle, Vierter

Drittes Kapitel: Aristoteles

174

denken.1 Erst der Nominalismus versteht die Begriffe als Produkte des Denkens und diese Unterscheidung von den Einzeldingen erlaubt es, sie selbst explizit zu Gegenständen des Denkens zu machen. Bei Aristoteles kommt es nicht zu einer Teilung in eine Welt der Dinge und eine des Bewußtseins. Im Gegenteil ergibt die Reflexion auf die Unmöglichkeit, die Welt in ihrer empirischen Vereinzelung zum Gegenstand des Denkens zu machen, daß gerade hierin jeder Gegenstand des Denkens seine unumgängliche Voraussetzung habe, die Erkenntnis des Gegenstandes ist die seiner Prinzipien und umgekehrt2: „So ist es auch Aufgabe beim Lernen, von dem für den Einzelnen Erkennbaren ausgehend zu bewirken, daß das der Natur nach Erkennbare für den Einzelnen erzu

kennbar werde. Freilich ist das, was für den Einzelnen erkennbar und erstes ist, oft an sich sehr wenig erkennbar und enthält wenig oder nichts vom Seienden. Aber dennoch muß man versuchen, von dem an sich zwar wenig Erkennbaren, für den Einzelnen aber Erkennbaren das allgemein Erkennbare zu erkennen, indem man, wie gesagt, durch jenes selbst zu diesem übergeht." Damit ist die Wissenschaft, die doch das spekulative Ganze zum Ziel hat, in zwei Hinsichten begrenzt. Erstens kann die Betrachtung des Allgemeinen nicht von dem getrennt werden, dessen Allgemeines es ist, einen Begriff der dem nicht genügt, nennt Aristoteteles „lächerlich"4. Selbst die Formulierung, daß etwas an ihm selbst intelligibel sei, birgt die Aporie, daß dies in direkter Weise gar nicht festgestellt, sondern nur als Voraussetzung der offenbar eingeschränkten Intelligibilität des Einzelnen erschlossen werden kann, wenn auch im Resultat die Begründung das Begründete an Intelligibilität übertrifft. Zweitens ist die Wissenschaft notwendig gebunden an einen empirischen Träger des Erkenntnisvermögens, dessen bloß vermittelter Zugang zur Einsicht auch in der allgemeinen Bestimmung der erkennenden Seele erhalten bleibt und so den Wahrheitsbegriff selbst als Vermittlung bestimmt. Ein absolutes Wissen kann es hiernach nicht geben. Die Schwierigkeit des Erkennens führt Aristoteles so auf eine Bestimmung der Seele zurück: „Wie sich nämlich die Augen der Eule gegen das Tageslicht verhalten, so verhält sich die Vernunft unserer Seele zu dem, was seiner Natur nach unter allem am offenbarsten ist."5 Dieser vermittelte Zugang der Vernunft zur Wahrheit verdankt sich der Existenz der Seele in einem Lebewesen, das sich in direkter Weise nur sinnlich auf die Welt bezieht. Jedoch ist das Allgemeine von der Sinnesempfindung „am entferntesten [...], ihr am nächsten aber das Einzelne"6. Aristoteles versucht nicht, diese äußere Bedingung systematisch zu integrieren, ebensowenig, die Grundprinzipien des Erkenntnisvermögens weiter zu begründen. Wissenschaftliche Erkenntnis müsse

Vgl. auch Nicolai Hartmann, „Aristoteles und das Problem des Begriffs", in: Ders., Kleinere Schriften II, a.a.O., 100-129. 2 Vgl. Wolfgang Wieland, Die aristotelische Physik, Göttingen 1970, § 6. 1

3

4 5

6

Met. 1029 b. Dean. 414 b. Met. 993 b. Ana. post. 72

a.

I. WISSENSCHAFT ALS

175

vßpic

notwendig „aus vorher vorhandener Erkenntnis"1 hervorgehen. Diese Erkenntnis kann in der Konsequenz nur unmittelbare Einsicht sein, wäre sie selbst Resultat von Wissenschaft, ließe sich der Rückgang zu deren Prinzipien niemals abschließen, Wissenschaft wäre gar nicht möglich. Die doppelte Voraussetzung von Erkenntnis bestimmt nun deren Ort in dem Verhältnis von Denken und Gegenstand; freilich ist dieses Verhältnis kosmologisch bestimmt und kennt das Denken noch nicht als autonomes Subjekt: „Dasjenige, was der Potenz nach ein Wissendes ist, wird nicht dadurch ein Wissendes, daß es bloß selbst in eine Bewegung gesetzt wurde, sondern dadurch, daß ein Anderes vorhanden ist."2 Keine Reflexion kann aus diesem Verhältnis gelöst werden, und mit ihm bleibt die materielle Existenz der erkennenden Seele in der Welt eine Voraussetzung von Erkenntnis, denn „auf die Wahrheit muß man sich von dem wirklich Gegebenen aus richten"3. Ein entscheidendes Mißverständnis dieser Bestimmung ist es, Aristoteles für einen Empiristen zu halten, wogegen statt von Induktion' (ènaycoyr)) eher von Hinzuführung' zu reden ist, denn wenn er schreibt, „aus mehrerem Einzelnen wird das Allgemeine offenbar"5, bedeutet das nicht, daß das Allgemeine in fortschreitender Weise aus dem Einzelnen gezogen würde, sondern es wird „offenbar", oder „zugleich vernunftmäßig erfaßt"6. Die Formulierung macht hinreichend deutlich, daß trotz der notwendigen Verknüpfung von Anschauung und denkendem Erkennen ein eminenter ,

,

Unterschied zwischen beiden bestehe, ein wesentlicher Übergang, den methodisch zu fassen Aristoteles sich nirgends bemüht. Worauf er allein besteht, ist, daß die Grundlage der Erkenntnis die zu erkennenden Dinge von denen ausgehend ihre allgemeinen Bestimmungen zu zeigen sind -, nicht aber die zu Ideen hypostasierten Erkenntnisse selbst -

seien.

Sowenig die Beobachtung das Allgemeine erfassen kann, sowenig ist mit der Kenntnis des Allgemeinen das Einzelne als Einzelnes bekannt.8 Der Gegenstand, den die Wissenschaft aus den empirischen Gegenständen herauspräparieren soll, ist der Begriff, auf den sie sich zurückführen lassen, so daß sie dann aus ihm zu erklären sind. Damit wird aber das Einzelne nicht in allgemeine Bestimmungen aufgelöst, denn als Ereignis bleibt der Gegenstand ein veränderlicher, unwiederholbarer, der so gegen den Begriff 1 2 3 4

Ana. post. 71

5 6

Ana post. 88 a. Ana. post. 88 a. Met. 981 b: „Ferner meinen wir, daß von den Vgl. Ana post. 79 a.

a.

247 b. 81 b.

Phys. Phys. Vgl. Ingemar During, Aristoteles. Darstellung und Interpretation seines Denkens, Heidelberg 1966, 98f. Zur Sache vgl. Wolfgang Wieland, Die aristotelische Physik, a.a.O., 95: „Daß die Induktion vom Einzelnen ausgeht, ist bereits ein Ergebnis der nachträglichen Reflexion; ihrem eigenen Selbstverständnis nach tut sie das gerade nicht." Induktion setzt mit der Wahl des bestimmten Einzelnen eine zu erweisende Allgemeinheit stets voraus. Auch Hegel hält Aristoteles nicht für einen Empiristen. Vgl. Geschichte der Philosophie II, 298f. 7 8

Sinneswahrnehmungen keine Weisheit gewähre."

Drittes Kapitel: Aristoteles

176

keinen Beweis und auch keine Wissenschaft von vergänglichen Der Begriff ist andererseits dann gleichgültig gegen von ihm nicht erfaßbare Momente, wenn es gelingt, durch den Begriff den Gegenstand erkennbar zu bestimmen. Das Problem, das sich hier ankündigt, wird erst in Ethik und Politik thematisch, wo es gilt, Handlungen ungeachtet ihrer kurzlebigen Erscheinung so zu bestimmen, daß sie Gegenstände möglicher Erkenntnis werden. Der wissenschaftliche Rang von Erkenntnis bestimmt sich aus ihrer Allgemeinheit, denn aus dem in dieser Hinsicht „im höchsten Sinne Erkennbaren" werde „alles weitere erkannt"2. Dem Allgemeinen, das so zum Prinzip der weiteren Erkenntnis wird, korrespondieren ontologisch die Ursachen der Dinge, mit deren Erkenntnis auch das Verursachte vollständig erfaßt sei. Allerdings sind die Ursachen nicht als hinreichender Grund des Seienden zu verstehen, auch sie können nur erschlossen werden als formale, materiale und bewirkende Bedingung des Seienden, durch die nur erkannt wird, warum es so ist wie es ist. Darüber hinaus ist das Seiende nicht notwendig aus den Ursachen zu bestimmen, „denn es ist nicht dasselbe, daß alles Seiende notwendig ist, wann es ist, und daß es schlechthin notwendig ist" , wenngleich die Ursache, um der willen etwas geschieht (tó ov evexa), von Aristoteles nur schwer zu den übrigen wird in Beziehung gesetzt werden können. Die durch denkendes Erkennen präparierten Gegenstände der Erkenntnis sind immateriell und als solche haben sie „den Charakter der Notwendigkeit", sie sind Körperliche Gegenstände dagegen können sich zu verschiedenen Zeiten verschieden verhalten, sie können auch aufhören, zu existieren. Ob ein solcher Gegenstand ist, wissen wir nicht, sobald wir den Blick abwenden.6 Von solchen Gegenständen selbst kann es bloß Meinung geben, auch jede Abweichung von der adäquaten Erfassung des Begriffes ist Meinung, die mit der richtigen Einsicht nicht „in demselben"7 bestehen kann,

besteht: „Es

gibt also

(Sachverhalten)"1.

„ewig"5.

1 Ana. post. 75 b. 2 Met. 982 b. Es ist Aristoteles häufig Piatonismus nachgesagt worden, vor allem von Werner Jaeger, Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung, Berlin 1923, aber auch von Haag, der kaum einen Unterschied zwischen Aristoteles und Piaton gelten lassen will (z.B. Der Fortschritt in der Philosophie, a.a.O., 32 u.ö.). Daß dies auf einen äußerlichen Vergleich resultativer Sätze, ohne Berücksichtigung des Argumentes, dessen Resultate sie sind, zurückgeht, zeigt sich bei Johannes G. Deninger, Wahres Sein" in der Philosophie des Aristoteles, Meisenheim 1961. In Kapitel 2 etwa wird durch Vergleich isolierter Formulierungen gezeigt, daß die Aristotelische Wissenschaftstheorie „ganz platonisch" (32) ist. Nervös macht der häufig gebrauchte Komparativ von „wahr" (etwa 92), der schon bei Piaton nur unter Berücksichtigung der Etymologie von àAr)zeia Sinn macht. Ehrlich ist Nicolai Hartmann, „Aristoteles und Hegel", a.a.O. Auf 233f. begründet er den PiatonismusVerdacht aus einer Verletzung seines individuellen Empfindens. 3 Ana post. 71 b. 4 Periherm. 19 a. 5 EN 1139 b. 6 Vgl. EN 1139 b. 7 Ana post. 89 b. Horst Seidls Ergänzung „nicht aber in demselben (Menschen)" ist eine Bedeu„

tungsverschiebung.

I. WISSENSCHAFT ALS

vßpic

177

ihr begrifflich inkompatibel ist. Die richtige Einsicht begründet den Vorrang des Wissenden vor dem Erfahrenen, da jener in der Einsicht zum Allgemeinen fortgeschritten ist. Unter den Wissenden, zu denen auch die Handwerker gehören, ist nun derjenige der Vorrangige, der die jeweilige Tätigkeit nicht nur beherrscht, sondern auch begründend erklären kann. Alle solche Disziplinen haben es mit bestimmten Bereichen des Seienden zu tun, auf das sie sich hauptsächlich als hervorbringende beziehen.1 Wenn nun diese verschiedenen Disziplinen von jedem beliebigen denkenden Wesen erlernt werden können, müssen sie sich allgemein unter den Begriff des Wissens fassen lassen, als ein Verhältnis von Denken und Gegenstand überhaupt, das nicht mehr Gegenstand dieser Disziplinen ist, sondern einer Wissenschaft, die nicht „das Einzelne", sondern „das Ganze"2 zum Gegenstand hat. Die unübersehbare Vielfalt, sowohl spezifisch als auch numerisch, der Beziehungen von Denkenden auf Gegenstände muß sich auf ein endliches System von Grundbegriffen reduzieren lassen, wenn die durch die Bearbeitung der Natur faktische Verselbständigung gegen diese zu Bewußtsein gebracht werden soll. Die Erkenntnis erschließt sich die Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit. Der Gegenstand, den diese Wissenschaft sich so produziert, ist das öv r) öv.3 Mit der Bestimmung dieses Seienden, insofern es Seiendes ist, soll das Verhältnis des Denkens zum Gegenstand allgemein bestimmbar werden. Das Seiende als Seiendes faßt den Gegenstand allerdings unter der Form reflexiver Allgemeinheit, die sich gegen die jeweilige Einzelnheit der Gegenstände der Einzelwissenschaften und Handwerke absetzt.4 Zugleich unterstellt es, daß diesen Gegenständen unbeschadet ihrer Einzelnheit diese Reflexivität auch zukomme, daß zum Beispiel vom Menschen sich sagen lasse, sowohl, daß er Mensch, wie auch, daß er weiß sei, ohne daß der Gegenstand dadurch ein anderer wür-

de.5

Reflexiv ist die Wissenschaft darin, daß sie in ihrer Allgemeinheit Tätigkeit reiner Vernunft ist und auch ihr Gegenstand in seiner Allgemeinheit das rein Vernünftige ist: „Göttlich aber dürfte allein sie [die erste Philosophie, M.St] in zweifachem Sinne sein: Einmal nämlich ist die Wissenschaft göttlich, welche der Gott am meisten haben mag, und zum anderen die, welche das Göttliche zum Gegenstand haben dürfte."6 Das Göttliche ist nicht im Sinne einer metaphysica specialis als Gegenstand religiöser Anbetung zu verstehen, sondern bezeichnet die Seite der Autarkie der Vernunft und der ihr gemäßen Gegenstände.7

1 2 3 4

Vgl. EN 1140 a.

Met. 982 a. Bonitz übersetzt .alles' statt ,ganz'. Vgl. Met. 1003 a. Entsprechend nennt Michael Theunissen die Aristotelische Metaphysik die „Mutter aller Reflexionsphilosophie" (Sein und Schein, a.a.O., 324). 5 Vgl. Ana post. 81 b. 6 Met. 983 a. 7 Vgl. Joachim Ritter, Hegel und die französische Revolution, a.a.O., 9.

Drittes Kapitel: Aristoteles

178

Für den Menschen, der sich zum Herrn der begriffenen Notwendigkeit aufwirft, ist diese Wissenschaft im Grunde vßpic denn „in vielen Dingen ist die Natur des Menschen knechtisch"1. Das Aufbegehren des Knechtes gegen die herrschende Notwendigkeit des Naturzwanges beginnt mit dem „Staunen" über „Unerklärtes" das in dieser Bestimmung schon auf den Willen zur Erkenntnis bezogen ist, dem der Wille zur Befreiung vom Naturzwang immanent ist. Der Naturzwang ist systematisch schon im Handwerk den Menschen untergeordnet, da dort Gesetze der Natur nicht mehr nur als fremde Macht, sondern als Mittel, die Natur praktisch zu organisieren, begriffen werden. Wenn Aristoteles darüber hinaus die historische Entwicklung als konstitutiv für den erreichten Stand der Wissenschaft begreift, ist darin die Bedingung des Bewußtseins des Unterschiedes von Naturgeschichte und Geschichte der Menschen ausgesprochen, die eine Geschichte des bewußten Verhältnisses der Menschen zur Natur und darüber zueinander und zu sich selbst ist, obgleich Begriffe wie Menschheit oder Geschichte von Aristoteles, wie im zweiten Teil zu zeigen ist, noch nicht systematisch entfaltet werden können. Der Mythos ist das erste noch unmittelbare Resultat des Staunens3, in dem aber die Differenz zur Natur schon vorgezeichnet ist.4 Das Handwerk löst sich zwar aus der Notwendigkeit, insofern es auf Überlegung beruht, bleibt aber durch äußere Notwendigkeit bestimmt, insofern es einem Zweck unterworfen ist.5 Allein in dieser Hinsicht sind alle anderen Wissenschaften notwendiger' als die erste Philosophie. Diese aber ist notwendig in prinzipieller Hinsicht, insofern der von ihr allgemein erkannte Gegenstand „sich nicht anders verhalten kann"6. Diese Notwendigkeit ist Resultat der intellektuellen Tätigkeit, das als solches immateriell und dem Naturzwang nicht unterworfen ist, sondern ihn vermittelt. Insofern ist die Wissenschaft um „ihrer selbst willen"7, weder ihre Tätigkeit, noch ihr Resultat läßt sich unmittelbar aus heterogenen Interessen erklären, deren Bearbeitung überläßt sie den Einzeldisziplinen, die sie ordnet.8 Diese Selbständigkeit ist das Resultat kritischer Reflexion sowohl auf die einzelnen Disziplinen, als auch auf ihre eigene Geschichte: „Bei unserer Untersuchung [...] ist es notwendig, wenn wir die Aporien aufwerfen, die wir im Fortgang lösen müssen, zugleich die Ansichten all der früheren Philosophen heranzuziehen, [...] damit wir das zutreffend Gesagte übernehmen, und wenn nicht zutreffend, es vermeiden."9 Das kritische Verhältnis der Philosophie zu sich selbst, das schon Piaton in dialogischer Form dar,

1 2 3 4 5 6 7 8 9

Met. Met. Met. Met.

983 a. 982 b. 982 b. 993 b. Vgl. Ana post. 95 Met. 1015 a. Met. 982 a. Vgl. Met 982 a. De an. 403 b.

a

und Met. 1015 af.

I. WISSENSCHAFT ALS

179

vßpic

stellte, wird von Aristoteles bei nahezu allen Untersuchungen zur Methode erhoben. In-

dem die Wissenschaft so Selbstbewußtsein zu entwickeln beginnt, kann sie der in der Erklärung der natürlichen Welt liegenden Ablösung von derselben Ausdruck verleihen. In theoretischer Hinsicht hat diese Ablösung freilich eine Grenze an dem als kontemplativ verstandenen Verhältnis zur Natur und eine andere an der im nächsten Abschnitt zu behandelnden Struktur der Gemeinwesen, die den Begriff des individuellen Subjektes nicht hervorbringen kann. Reflexivität, Selbstbewußtsein wird als Grundlage der Wissenschaft erschlossen, gelangt aber nicht zur neuzeitlichen Selbstbegründung des Subjekts qua Gewißheit seiner selbst.1 Auch praktisch gedeiht jene Ablösung niemals so weit, daß die Wissenschaft in jeder Hinsicht „um ihrer selbst willen"2 wäre, wie Aristoteles meint. Denn wie aus dem Elend der Alten, die der Natur ausgeliefert waren, und ihr opferreich die Muße abrangen, nährt sich die freie' Wissenschaft in ihrer „Muße" aus dem Elend jener ihrer Zeitgenossen, die den Müßigen mit dem Naturzwang vermitteln, auch wenn das die Wahrheit seiner Erkenntnis nicht berührt. Diesem noch abstrakten Selbstbewußtsein der Metaphysik ist die vorphilosophische Erfahrung des Widerstandes vorausgesetzt, den die äußeren Gegenstände dem menschlichen Erfassen bieten. Diese Erfahrung ist schon in der objektivierten, aber noch wesentlich anschaulichen Darstellung im Mythos gegeben. Sie selbst fällt in eine Zeit, deren affirmative Vorstellung ebenso antinomisch wäre, wie die des missing link der Evolutionsbiologie: In ihr wäre Reflexion zugleich schon und noch nicht. Negativ läßt sich jener Widerstand erschließen als Bedingung der Brechung des Bewußtseins, die zu einem vorläufigen Abschluß erst kommt in der Selbstunterscheidung menschlichen Bewußtseins, wenn dieser Unterschied in dem zu seinesgleichen durch das Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft manifest wird. Die Lösung des Denkens von der Natur wird spezifisch menschlich, weil sie vermittelt ist durch unterworfene Menschen. Diese Herkunft der Freiheit, obwohl sie in ihrer Organisation bewahrt bleibt, ist in der Aristotelischen Philosophie, die auch hierin Ausdruck des Selbstbewußtseins ihrer Zeit ist, schon verschüttet. So bedeutet oxoAr) nicht Muße im Sinne von freigewordener oder freigehaltener Zeit, ist keine negative Bestimmung, sondern bezeichnet das wesentlich verstandene Verhältnis des ,seine Zeit Besitzens'. Die abgeleitete Bestimmung ist dagegen àoxoAia, die „vom Zwang diktierte alltägliche ,

-

-

Diesen Fortschritt wie seine Grenzen hebt Klaus Oehler, Subjektivität und Selbstbewußtsein in der Antike, Würzburg 1997, mehrfach treffend hervor. Sein Lehrer, Gerhard Krüger, formuliert: Der antike Philosoph „erblickt sich selbst wie einen anderen, [...] Er bedenkt nicht, daß er, als der jeweils Sehende, eine Voraussetzung alles Gesehenen ist [...]" („Die Herkunft des philosophischen Selbstbewußtseins", in: Ders., Freiheit und Weltverwaltung, Freiburg 1958, 12). Wegen dieses Unterschieds, mit dem von philosophischem Selbstbewußtsein streng erst seit Descartes zu reden ist, muß Krügers weiterer Auffassung, die „vollständige Geschichte des Selbstbewußtseins müßte bei Augustinus ansetzen" (a.a.O., 18), widersprochen werden. Nur insofern die Vorgeschichte konstitutiv ist für die Geschichte, ist das richtig. 2 Met. 982 b. 3 Met. 981 b. 1

Drittes Kapitel: Aristoteles

180

Arbeit"1.

Beraubung ist, so sehr ist die Muße der gebrochenen Reflexionen der Tragödie ver-

So sehr das Leben der Sklaven eine

Freien dieser selbe Raub. Die ästhetisch mochten die Erinnerung an die blutige Geschichte wohl zu bewahren, aber nicht gegen den objektiven Geist der Metaphysik, der aus seiner inneren Notwendigkeit heraus seine historischen Bedingungen etwa als ontologische Fähigkeit und Unfähigkeit zur Muße auch rückwirkend verewigt und so keine Geschichte kennt. Aber selbst die absolute Reflexivität reiner Gedankenspiele, wenn man so weit gehen wollte, wäre so noch vermittelt durch die heteronome Bestimmung der Beherrschten, die für die Reproduktion der polis herangezogen werden. Dies nicht zu sehen, ist Überhebung über wahrhaft Gleiche, in der sich erst die über die Natur vollendet, die nur der zu Bewußtsein gebrachte Ausdruck einer wirklichen Differenz war. Es ist entgegen seiner Philosophie die eigentliche vßpic des Aristoteles und eines jeden, der meint, die Herkunft der Wissenschaft sei in ihren Resultaten erloschen. -

-

1

Ingemar During, Aristoteles, a.a.O., 481.

II. Metaphysik zwischen Ontologie und Selbstbewusstsein

II.

181

Metaphysik zwischen Ontologie und Selbstbewußtsein

1.

Seiendes und Wesen

„Wissenschaften aller Dinge [...] allgemein"1, aber es sind doch alles bloß Einzelwissenschaften. Gemeinsam ist ihnen, daß sie von .Seiendem' handeln, in ihnen

Zwar sind die

eine Beziehung von Denken und Gegenstand stattfindet. Diese Beziehung, wenn sie sich so allgemein fassen läßt, muß sich prinzipiell bestimmen lassen. Damit werden sie selbst und ihre Relata Gegenstand einer Wissenschaft, die zunächst das „Seiende als solches [...] zu erforschen hat"2. Da bei Aristoteles die Wissenschaft, die wissenschaftliches Erkennen zum Gegenstand hat, auf das Seiende als Solches gerichtet ist, ist das Prinzip aller Wissenschaft der Gegenstand. Wie das Denken sich zu diesem Gegenstand verhält, ist bei Aristoteles nicht in gleich ausgeführter Weise Gegenstand dieser Wissenschaft, die erst so Erkenntnistheorie sein könnte. Das denkende Erkennen wird in der Psychologie untersucht, überhaupt hat die überlieferte Aristotelische Philosophie keine einheitliche Gestalt, die Gründe dafür sind so gleichgültig wie vielfältig, denn eine begriffliche Einheit läßt sich herausstellen.3 Um nun die Vielheit aller Gegenstände unter die Einheit einer Wissenschaft zu bringen, müssen die Gegenstände betrachtet werden, nicht insofern sie hier, jetzt oder irgendwie sind, sondern insofern sie überhaupt sind: ,,[A]lles Seiende als Seiendes [gehört] einer einzigen Wissenschaft an" denn so ist es homogen. Diese Homogenität soll Einheit gewähren, aber nicht die Bestimmtheit auslöschen. Es wäre ein sinnloses Prinzip, wenn es nach bloßer Homonymie ausgesagt würde, denn diese Einheit wäre nur nominell. Auch ein synonymes Prinzip wäre ohne Nutzen, denn so wäre kein verschiedenes Seiendes mehr zu erfassen. Die verschiedenen Seienden können nur paronym, ,

1 2 3

Met. 1003 a. Met. 1004 b. Vgl. Femando Inciarte, „Die Einheit der Aristotelischen Metaphysik", in: Ph.Jb. 101 (1994), 2 und 18, wo der Autor den Büchern IV, VII-IX und XII eine kontinuierliche argumentative Entwicklung konstatiert. So auch Ingemar During, Aristoteles, a.a.O., 593: „Niemand gibt sich heute der Illusion hin, daß es möglich wäre, eine endgültig richtige relative Chronologie festzustellen. [...] Für das Verständnis des aristotelischen Denkens ist die Frage nach der relativen Chronologie von verhältnismäßig geringer Bedeutung." Es gilt ihm doch das Buch XII als isoliert und früh, wobei beide Bestimmungen in wechselweisem Kausalverhältnis stehen, wenngleich nicht mehr in der Schärfe Werner Jaegers (Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung, a.a.O., 174f), der jeden begrifflichen Zusammenhang strikt zurückweist. Der Zusammenhang der Metaphysik ist freilich nicht so abstrakt hegelsch zu konstruieren, wie Klaus Brinkmann es versucht in: Aristoteles' Allgemeine und Spezielle Metaphysik, Berlin 1979. 4 Met. 1003 b.

182

DRITTES KAPITEL: ARISTOTELES

nachbenannt sein und werden auf Eines hin, nämlich, das, nachdem sie benannt sind, ausgesagt. Das Prinzip, das Seiende als solches ist ein Begriff des Seins, auf den jedes einzelne Seiende in besonderer Weise bezogen ist, das eine ist seiend schlechthin, das andere in dieser oder jener Weise. Das oberste Sein ist das Ana-logon, der Begriff, durch den alle Bestimmten bestimmt sind, und nur als solches ist es.1 Zwar benutzt Ari•y stoteles nicht den Begriff der Analogie aber mit dieser Antizipation der analogía ends ist der Bereich aller Gegenstände durch ein Prinzip geordnet, das jeder bestimmten Ein-

teilung vorhergeht.

Das Seiende erhält seine erste Einteilung bei Aristoteles aus der Verschränkung logischer und ontologischer Eigenschaften, solcher, die ihm in der Aussage zukommen und solcher, die ihm bezüglich der Weise seiner Existenz zukommen. Es ist jeweils die Frage, ob etwas von einem anderen ausgesagt werde und ob es in einem anderen existiere. Die verschiedenen Konstellationen teilen das Seiende in Einzeldinge, deren Arten und Gattungen, sinnlich wahrnehmbare Eigenschaften und deren Allgemeinbegriffe ein.3 Es ist von entscheidender Bedeutung, daß logische und ontologische Bestimmung weder identisch, noch Momente sind, sondern nur in ihrer Eigenständigkeit zusammen jene Einteilung hervorbringen können.4 In Bezug auf die logische Bestimmung wären Akzidenz und Art nicht zu unterscheiden, da sie beide an Prädikatsstelle stehen können. Der Unterschied der beiden wäre nur formell, wenn nicht zugleich das Akzidenz abhängig von wesentlich anderem existierte, was der Art nicht zukommt, da sie in Wesensgleichem realisiert ist. Der grundlegende Unterschied ist der zwischen besonderem Akzidenz, dessen Sein relational, mitfolgend (xcná ovpßeßrjKOc) und erster Substanz, deren Sein reflexiv, an sich (Kaz'avTÖ) ist. Andererseits sind Akzidenzien und deren 1 Vgl. Cat. 1 a und Met, 1003 af. Vgl. auch Horst Seidl, Beiträge zu Aristoteles' Erkenntnislehre und Metaphysik, Würzburg 1984. Weil Seidl das 1. Analogat als Gott versteht (145), ist das öv öv r) für ihn eine „positive Einsicht" (148). Philologische Erläuterungen hierzu finden sich bei Erwin Sonderegger, Aristoteles, Metaphysik Z 1-12, Bern u.a. 1993, 179ff. Bei Hermann Schmitz, Die Ideenlehre des Aristoteles, Band 1.2, Bonn 1985, 68f. gibt es keine Analogie, sondern eine ,vielstrahlige konvergente Metaphorik'. Das Begreifen der Welt wird nicht bloß nominalistisch in seine sprachliche Darstellung aufgelöst, sondern auf bloße Symbolik reduziert. 2 Darauf besteht Walter Mesch, Ontologie und Dialektik bei Aristoteles, Göttingen 1994, 133f. 3 Vgl. Cat. 1 af. Die Probleme, die viele Autoren haben, die .logische' Kategorienschrift mit der ,ontologischen' Metaphysik zusammenzudenken, rühren nur von der Ignoranz dessen her, daß Aristoteles immer ontologische und logische Bestimmungen verbindet. Vgl. Horst Seidl, Beiträge zu Aristoteles' Erkenntnislehre und Metaphysik, a.a.O., 9 und 190 oder Christoph Rapp, „Substanz als vorrangig Seiendes", in: Metaphysik Die Substanzbücher, hg. v. dems., Berlin 1996, 28. Geradezu vor einer werkhistorischen Schlucht sieht sich Wolfgang Viertel, Der Begriff der Substanz bei Aristoteles, Meisenheim 1982. Ausdrücklich gegen jene Entgegensetzung der Texte schreibt Karl Heinz VolkmannSchluck, Die Metaphysik des Aristoteles, Frankfurt 1979, 105ff 4 Hartmann irrt darin, daß Aristoteles „die Begriffsverhältnisse unmittelbar als Seinsverhältnisse" betrachte. Vgl. Nicolai Hartmann, „Hegel und das Problem der Realdialektik", a.a.O., 335. 5 Ernst Tugendhat, „Über den Sinn der vierfachen Unterscheidung des Seins bei Aristoteles", in: Ders., Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main 1992, 136-144, kommt dem sehr nah, indem er

II. Metaphysik zwischen Ontologie und Selbstbewusstsein

183

Allgemeinbegriffe nicht eminent unterschieden, beide existieren nur aus der Abhängigkeit von wesentlich Anderem. Sie wären ohne logische, formelle Unterscheidung gar nicht zu unterscheiden. Jedoch wird das Allgemeine, Farbe etwa, von Anderem ausgesagt, dem Rot beispielsweise, das wahrnehmbare Akzidenz aber wird nicht in dieser Weise ausgesagt von dem Subjekt, an dem es ist. Damit ist die Ordnung des Seienden zum Teil eine im Seienden selbst gegebene, die für uns aber nur sinnvoll abgeschlossen werden kann, wenn die Beziehung des Denkens auf den Gegenstand zum integralen Bestandteil dieser Ordnung selbst gemacht wird.1 Daß dies dem Gegenstand gemäß ist, ist zunächst unterstellt. Soweit ist zum einen das jeweils Daseiende unter sein Allgemeines geordnet und zum anderen die fundamentale Unterscheidung in Substanz und Akzidenz dargestellt, dasjenige, das aus sich selbst besteht und dasjenige, das nur an solchem bestehen kann. Da die Substanz als Allgemeinbegriff nur sinnvoll ist, wenn ihrer mehrere sind, gibt es eine Akzidenzkategorie der Quantität. Da quantitative Unterschiede, wenn sie nicht äußerlich sind, auf eine Beschaffenheit der Dinge zurückgehen, folgt eine Akzidenzkategorie der Qualität. Und da verschiedenartige Dinge, wenn sie in eine Vielheit geschieden werden, zueinander in Beziehung gesetzt werden, gibt es eine Akzidenzkategorie der Relation.2 Alle weiteren Kategorien sind diesen subsumierbar. Entscheidend bleibt der Unterschied in selbständiges und abhängiges Seiendes, der darin Ausdruck findet, daß fast alle Kategorien bei Aristoteles durch Fragepronomen bezeichnet sind, dem ist' in ,S ist P' zwei gleichzeitige Bedeutungen zuweist: Einmal bestimme es die Identität des Subjekts mit sich, sodann die des Subjekts mit dem Prädikat. „Dies ist S und dieses selbe ist P." (142). 1 Heideggemd formuliert Karl Heinz Volkmann-Schluck, Die Metaphysik des Aristoteles, a.a.O., 32: Kategorie „nennt die im Ansprechen von etwas als seiend eröffneten Grundweisen des Seins des jeweils Angesprochenen". Dies bezeichnet genau das Bestehen der wissenschaftlichen Begriffe in der Relation des Denkens auf seinen Gegenstand (daher im Ansprechen erst eröffnet) und erfaßt damit den Kern Aristotelischer Philosophie. Ebenso ist die Feststellung, daß die Metaphysik keine Lehre, sondern Austrag einer Frage sei (15), zu verstehen, daß Aristoteles das Argument negativ aus jenem Verhältnis als dessen Voraussetzung entwickelt. Überhaupt ist dies die einzige Arbeit, der eine Entfaltung der Aristotelischen Metaphysik ihrem Begriff gemäß fast durchgängig gelungen ist. Die Kritik, daß das Verhältnis der „Entbergung des Seins" und des „Sichöffnens des Denkens" (293ff.) von Aristoteles nicht aufgenommen sei, ist der Versuch, das, was als Wissenschaft aus dem Verhältnis von Denken und Gegenstand immanent ist, weiter zu erfassen. In Wahrheit ist es nur eine andere Formulierung. Die mitschwingende sogenannte „ontologische Differenz" von Sein und Seiendem ist von Aristoteles nicht ignoriert, sondern abgewiesen worden. Falsch ist die Konsequenz, die Metaphysik habe sich in die Einzelwissenschaften aufgelöst, da diese sich selbst begründen (10). Im Gegenteil wird in der Grundlagenforschung jeder Disziplin Erste Philosophie betrieben; richtig bleibt, daß dies bewußtlos ,

geschieht. 2 Zur Aufzählung der Kategorien vgl. Cat. 1 b. Die Modalität findet sich bei Aristoteles nur in der Unterscheidung der notwendigen Substanz von dem zufälligen Akzidenz. Der Gedanke, daß die Aristotelischen Kategorien nicht ganz sinnlos zusammengestellt sind, findet sich auch bei Hans Meyer, Thomas von Aquin, a.a.O. Kants harsche Kritik an Aristoteles ist nicht voll berechtigt, er irrt auch, wenn er die Postprädikamente für Kategorien hält; nach Aristoteles sind es keine. Vgl. KrV B 107 und dagegen die Einleitungsformulierung zu Cat. c. 10, 11 b.

Drittes Kapitel: Aristoteles

184

die nach der Beschaffenheit der Substanz fragen. Auch die Substanz selbst wird in der Metaphysik durch die Frage tí t)v elvai ausgedrückt. Alles Seiende ist also gemäß Aristoteles nach diesen Kategorien geordnet. Das einzelne Seiende, das Gegenstand einer Einzelwissenschaft ist, kann dies nur vermöge seiner Substantialität sein, das akzidentell Seiende „hat keine wissenschaftliche BetrachEs läßt sich keinem Begriff fügen, da in akzidenteller tung [...] zum Hinsicht jedes Ding einzig ist und Akzidenzien so oder so oder gar nicht sein können. Daher assoziiert Aristoteles den Stoff, der diese oder jene Gestalt aufnehmen kann, dem Akzidenz als dessen Ursache.2 In dem Zusammenhang des Verhältnisses von Substanz und Akzidenz als einer Bestimmung des öv r) öv ist aber das Akzidenz auch Gegenstand der Philosophie, die allein bestimmen kann, von welchen Gegenständen es Wissenschaft gibt, und von welchen nicht.3 Sie hat alles zum Gegenstand, was paronym vom Seienden ausgesagt wird, und das ist auch die das Nichtseiende, dem die Akzidenzien aufgrund ihrer Materialität „nahe verwandt"5 sind. Dies bedeutet aber nicht, daß das öv r) öv nur Substanzen erfasse oder mit der Substanzkategorie identisch sei.6 Im Gegenteil bezieht Aristoteles die Akzidenzien in den entsprechenden Modellen im Zweiten Kapitel des Buches IV der Metaphysik, aber auch explizit in die Analogie ein. Die Hervorhebung der Substanz als ,,vornehmlich[en] und Gegenstand der Betrachtung besagt nur, daß die Untersuchung mit der Substanz zu beginnen habe, weil andere mögliche Gegenstände erst von ihr aus bestimmbar seien. Wäre das öv r) öv mit der Substanz identisch, trüge es zu der Ordnung des Gegenstandsbereiches als Bedingung der Möglichkeit von Wissenschaft nichts bei, was über den Substanzbegriff selbst hinausginge; Gegenstand der Ersten Philosophie wären dann nicht Substanzen, sondern das Wesen des Wesens. Diesen Begriff nimmt Aristoteles aber Hegel nicht vorweg. Die Kategorie der Substanz hat nach Aristoteles drei Bestimmungen. Die erste ist, daß keine Substanz „von einem Zugrundeliegenden ausgesagt wird, noch in einem Zugrundeliegenden ist" Keine Substanz ist logisch oder ontisch abhängig von anderem

Gegenstand"1.

„Beraubung"4,

zunächst[en]"7

.

1 Met. 1026 b. 2 Vgl. Met. 1027 a. Die hierauf sich beziehende Lehre vom principium individuationis wurde erst durch die Interpretation im Neuplatonismus möglich, der die Aristotelische Konstruktion auch einiges

entgegensetzt.

Met. 1026 b. Met. 1003 b. Met. 1026 b. Diese Konsequenz zieht Horst Seidl, Beiträge zu Aristoteles Erkenntnislehre und Metaphysik, a.a.O., 187 Auch Karl Heinz Volkmann-Schluck, Die Metaphysik des Aristoteles, a.a.O., irrt, wenn er dem öv r¡ öv das Nicht-Seiende entgegensetzt (13), denn nach Aristoteles fällt auch dies in gewisser Weise darunter. Vgl. Met. 1003 b. Auf den Unterschied von Seiendem als solchem und Substanz weist Walter Mesch, Ontologie und Dialektik bei Aristoteles, a.a.O., 60 hin. 7 Met. 1003 b. 8 Cat. 2 a. 3 4 5 6

'

II. Metaphysik zwischen Ontologie und Selbstbewusstsein

185

Seienden, soweit sie Substanz ist. Zwar ist etwa jedes Lebewesen Produkt des Arterhaltungsprozesses und kann ohne Assimilation von ihm Anderem nicht bestehen, dadurch ist aber sein Dasein bestimmt, nicht seine substantielle Identität. Wie das Einzelne, so inhärieren auch Art und Gattung nicht als Eigenschaften einem Anderen. Logisch stehen sie zwar in einer prädikativen Beziehung zur Ersten Substanz, im Unterschied zur akzidentellen Prädikation kommt ihr Begriff dem Subjekt aber als solchem und nicht äußerlich zu. Überhaupt ist die Formulierung, es werde nicht ausgesagt, nicht so zu verstehen, daß es nie an Prädikatsstelle stehen könne, sondern genauer, daß es nicht von einem substantiell Unterschiedenen prädiziert werden kann. So kann auch der Begriff einer Ersten Substanz prädiziert werden, aber nur von ihr selbst. Daß die Bestimmung der Substanz so die Kenntnis substantieller Unterschiede schon voraussetzt, ist für Aristoteles kein Mangel. Die Philosophie soll allgemein bestimmen, was Substantialität ist. Dafür muß sie Resultate anderer Disziplinen oder unmittelbar Bekanntes voraussetzen.1 Zweitens läßt sich die Bestimmung, keine Substanz sei in einem Zugrundeliegenden, umkehren: „Somit wird alles andere entweder von den ersten Substanzen als dem Aus der Zugrundeliegenden ausgesagt oder ist in ihnen als dem daß denken etwas des Seienden das selbst zu sich, sei, notwendig Abhängigkeit ergibt nicht abhängig ist, da sonst auch das faktische Bestehen der Welt nicht zu denken wäre. So ergibt sich im logischen Rückgang ein erstes Subjekt der Prädikation, in ontischer Hinsicht ein erstes Seiendes. Dies ist die Erste Substanz. Die dritte Bestimmung der Substanzen ist es, „daß sie in der Weise für Konträres empfänglich sind, daß sie sich selbst verwandeln", das heißt, „daß das, was der Zahl nach eins und dasselbe ist, für Konträres empfänglich ist"3. Akzidenzien verschwinden bei Veränderungen in dem Resultat der Veränderung, das Schwarz vergeht, wenn etwas weiß wird. Den Begriff der Veränderung aber zu denken, erfordert, daß sie an ein und demselben vorgehe, sonst könnten beide Zustände nur als verschiedene Gegenstände empfunden werden. Daher ist die Substanz, an der die Akzidenzien wechseln, das, was sich verändert, damit zugleich feste Grundlage der Diese drei Bestimmungen näher betrachtet, zeigt sich, daß sie nur das in Bestimmungen verwandelte Ausgangsproblem der Kategorienschrift darstellen, das darin bestand, einer Vielheit von Erscheinungen konfrontiert zu sein, die ihre Gestalt wechseln, wobei diese Gestalten immer wieder an verschiedenen Erscheinungen aufzufinden sind. Die Lösung scheint nun bloß der affirmative Ausdruck dieses Problems zu sein, indem die Veränderlichkeit durch ein Beständiges, die Unselbständigkeit durch ein Selbständiges erklärt wird. Die Begründung erscheint tautologisch, wenn etwa der Satz, die Zweite Substanz sei nicht in einem Zugrundeliegenden, begründet wird: „Denn [...] Mensch ist

Zugrundeliegenden."2

Veränderung.4

1 2 3 4

Vgl. unten das Kapitel über die Auffindung der Prinzipien. Cat. 2 b. Cat. 4 a. Vgl. auch GC 319 bff.

Drittes Kapitel: Aristoteles

186

nicht in einem Zugrundeliegenden: Mensch ist ja nicht in dem individuellen Menschen."1 Der Schein trügt jedoch hier wie immer. Obwohl die Resultate der Reflexion dem Inhalte nach bloß die ihr vorausgesetzten Probleme wiederholen, haben sie eine gewandelte Bedeutung. Die Probleme fragen nach den notwendigen Bedingungen, die unmittelbare Vielfalt der erscheinenden Welt zu erklären, die Lösung setzt die Bedingungen schon auf dem Boden der Allgemeinheit des Denkens. Das vorausgesetzte unmittelbare Viele ist nun vermittelt in einem Begriff der Vielheit, der kategorialen Ordnung. Daß die Kategorien selbst viele sind, bestimmt gerade die rationale Einheit des Seienden. Ein abstrakter Begriff der Einheit, der in sich nicht differenziert wäre, wäre begriffslos, diffus. Durch die rationale Einteilung des Gegenstandsbereichs wird mit der Möglichkeit, ihn zu bestimmen, seine Einheit grundgelegt, die in die Wissenschaft, in das Denken fällt, das nach ihr Das Viele, Ungeordnete ließ sich nicht auf der Grundlage der Sinnesempfindung ordnen, da jede Ordnung Relationen beinhaltet, die nicht Gegenstand der Sinne sind, sondern nur gedacht werden können. Erst die Reflexion auf das Viele ergibt Vielheit, die auf das Veränderliche ergibt ein beständiges Medium, die auf das nicht selbständig Vorfindliche ergibt eine selbständige Grundlage. Weil der Substanzbegriff so aus der wissenschaftlichen Reflexion hervorgeht, kann er nur die allgemeine Bestimmung der Einzelnen sein, der Begriff der Ersten Substanz, der das Einzelne bezeichnen soll, kann als ,Kategorie Substanz' das Einzelne nicht im Einzelnen bezeichnen, sondern nur die Einzelnheit, die schon ein ganz allgemeiner Ausdruck ist.3 Indem der Gegenstand Gegenstand des Denkens wird, wird er aus seiner unmittelbaren Existenz in dem Maße herausgelöst wie die Menschen sich die Welt als erkennbar erschließen, wird sie selbst zu einem Produkt der Menschen. Daher weisen die tautologischen Bestimmungen von bei Aristoteles das in Weise vorausgesetzte nicht mehr daß dieser daraufhin, Prinzipien Gegenstand wissenschaftlicher, beweisender Erkenntnis ist, sondern daß es etwa „ohne weiteres klar"4 sei. Der Allgemeinheit des Substanzbegriffs trägt Aristoteles Rechnung, indem er sagt, die Zweite Substanz bezeichne nicht ein .bestimmtes Dieses', also .Mensch' bezeichne den Sokrates nicht, insofern er Sokrates ist, sondern ihn und alle anderen, nach ihrer Bestimmung, Mensch zu sein. Die Art bestimme die Exemplare allgemein und eher wie

fragte.2

1 Cat. 3 a. 2 Wer dagegen bei Aristoteles eine affirmative Ursprungsphilosophie sucht, kann mit Aubenque dem Aristoteles allerlei Absichten unterstellen, mit denen er insgesamt scheiterte, aber produktiv. Vgl. Pierre Aubenque, „Aristoteles und das Problem der Metaphysik", in: Zeitschrift für Philosophie ¡5 (1969), 321-333. 3 Diese noch weiter zu verfolgende Entwicklung des Allgemeinen als Reflexionsausdruck nennt Johannes G. Deninger, Wahres Sein in der Philosophie des Aristoteles, a.a.O., einen „Kompromiß" "



(39). 4

Cat. 3

a.

Die ausführliche

Behandlung dieses Problems stellen die Ana. post. dar.

II. Metaphysik zwischen Ontologie und Selbstbewusstsein

ein

187

„Qualitatives"1, aber in einer Hinsicht, die ihn als substantiell allgemein auszeich-

ist eher von formeller Allgemeinheit, sie umfaßt substantiell Unterschiedenes, daher „ist die Art mehr Substanz als die Gattung" Von der Ersten Substanz behauptet Aristoteles nun, es sei „zweifellos und wahr, daß jede ein bestimmtes „Dieses" bezeichnet", und zwar „individuell"3. Mit Grund führt er kein Beispiel an, denn sobald von ,Sokrates' die Rede wäre und dies mehr als ein Name für ein Gleichgültiges sein sollte, ist die Bezeichnung zuinnerst auf die Zweite Substanz bezogen. Als Einzelnes, individuell Seiendes könnte jedes nur als .Dieses' angesprochen werden, der Ausweis von Einzelnheit verwandelt sich sofort in oberste Allgemeinheit. Daran änderte auch die Benamsung des jeweils Diesen nichts. Soll die Erste Substanz etwas bedeuten, muß sie den Gegenstand als das bezeichnen, was er ist, denn ohne die substantiell allgemeine Bestimmung ist kein Einzelnes zu erkennen. In der Ersten Substanz verschränken sich notwendig Einzelnheit und substantielle Allgemeinheit. In der Betonung der Individualität der Ersten Substanz drückt sich die Absicht aus, den daseienden Gegenstand nicht mit der Allgemeinheit der Resultate der Erkenntnis zu identifizieren. Die Trennung beider erscheint nach Aristoteles in der Beziehung des Denkens auf die Wirklichkeit im Urteil. Zwar habe das Urteil mit dem Gegenstand gemeinsam, daß es Zugrundeliegendes für Konträres sei, wenn aus einem wahren ein falsches würde. Allerdings werden „die Aussage und die Meinung [...] nicht deshalb für Konträres empfänglich genannt, weil sie selbst ein Konträres aufnehmen, sondern deshalb, weil in Bezug auf etwas anderes diese Wirkung eintritt"4. Das Urteil ,Sokrates sitzt.' wird falsch, wenn Sokrates aufsteht, aber nicht deswegen, weil das Urteil aus sich selbst eine analoge Bewegung durchführte, wie Sokrates, sondern weil das Urteil nur ,in Bezug auf etwas anderes', das heißt in der Relation des Denkens zur Welt überhaupt besteht und Bedeutung hat. So ist ,jede Aussage [...] entweder wahr oder falsch [...], von dem aber, was ohne Verbindung geäußert wird, ist nichts entweder wahr oder falsch"5. Damit sind auch die Substanz und andere Begriffe erst im Urteil sinnvoll, und es trifft auch sie die Beschränkung, nur in Abhängigkeit von der Welt zu bestehen. Eine Änderung im Urteil dagegen erwirkt nicht einen Wandel am Gegenstand, weil dieser nicht bloß relativ, sondern auch an ihm selbst besteht. Dieser Vorrang der Substanz macht sie zum ausgezeichneten Gegenstand der Ersten Philosophie, hiervon ausgehend entwickelt sie ihre weiteren Bestimmungen. Jedes substantiell Seiende ist zunächst auch ein Eines, beide Bestimmungen sind zwar nicht identisch, aber „folgen einander mit" Die Einheit der Substanz ermöglicht erst die Identifinet. Die

Gattung

.

.

1 2 3 4 5 6

Cat. 3 b. Cat. 2 b. Cat. 3 b. Cat. 4 b. Cat. 2 a. Met. 1003 b.

Drittes Kapitel: Aristoteles

188

kation des Vielen. So ist jedes Seiende auf ein Eines zurückzuführen. Wenngleich andererseits nicht jedes Eine ein Seiendes ist, so ist doch das „Eine nicht etwas Verschiedenes neben dem Seienden"1, auch begrifflich fixierte Einheiten sind nur in Relation auf Seiendes zu betrachten. Das Eine bestimmt eine besondere Hinsicht des Seienden, indem es dieses schon zu intellektueller Erkenntnis in Beziehung setzt. Das Seiend-Sein gewährt nur Kenntnis dessen, daß etwas ist, das Eines-Sein ist darüber hinaus die erste Bestimmtheit, und nur als Bestimmtes kann es Gegenstand von Erkenntnis sein. Daher erhebt Aristoteles die Einheit in der Form des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch zur fundamentalen Voraussetzung des vernünftigen Denkens, man könne „gar nichts denken, wenn man nicht Eines denkt"2. Dies ist Ausdruck der Forderung, daß man „etwas bezeichne"3, und das heißt, nicht ein Diffuses, sondern ein Bestimmtes, Eines. Die Rede, die eine ungeordnete Vielheit ausdrückte, hätte für die Erkenntnis, in der die Vielheit geordnet werden soll, keine Bedeutung, und so ist „nicht Eines bezeichnen, dasselbe [...] wie nichts bezeichnen" Deutlicher als bei Thomas ist hier das Transzendental des unum schon die Beziehung auf den Intellekt. Damit, daß man ,etwas' bezeichnen solle, ist aber auch vorausgesetzt, daß die Einheit, unter der allein etwas gedacht werden kann, ein sinnvolles Kriterium sei, also ein fundamentum in re habe. Die Voraussetzung bestimmter Substanzen, deren Identifikation Resultat zivilisierter Auseinandersetzung mit der Natur ist, geht allen anderen Prinzipien der Wissenschaft und ihrer Koordinierbarkeit voraus. Keine Substanz ist ohne den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch bestimmbar, aber ohne den Begriff irgendeiner Substanz wäre auch der Satz nicht zu denken. So wird allerdings nicht umgekehrt die Welt mit der Einheit des Bewußtseins identifiziert, sondern dasjenige, was sich dieser Identifikation nicht fügt, ist weder wirklicher noch beabsichtigter Gegenstand von Wissenschaft; sowohl individuelle Objekete, wie Sonne oder Mond, als auch die einzigartigen Leistungen des zivilisierten kultivierten Geistes, wie die Ilias, sowie akzidentelle Einzelnheit sind aus der wissenschaftlichen Betrachtung ausgeschlossen.5 Nichtidentität kann nur indirekt Gegenstand sein; eine Theorie, die darüber hinauswollte, müßte es identifizieren, das Unwiederholbare wiederholen. Während Aristoteles „ein Mensch und seiender Mensch" als „dasselbe" direkt identifiziert, ist das bei den reinen Bestimmungen des Einen und Seienden nicht der Fall. Durch die Formulierung, sie seien „nicht verschieden", wird deutlich, daß Seiendes nicht affirmativ, sondern durch Negation, also durch eine Tätigkeit der Erkenntnisseele das Eine in emphatischem Sinne ist. .

1 2 3 4 5

Met. 1003 b. Met. 1006 b. Met. 1006 a. Met. 1006 b. Zu den Akzidenzen

vgl.

Met. 1027 a,

zur

Ilias

vgl.

1040 a. 6 Die Zitate dieses Absatzes stammen aus Met. 1003 b

Met. 1030 a,

zu

Sonne und Mond

vgl. Met.

II. Metaphysik zwischen Ontologie und Selbstbewusstsein

189

Da weiter Entgegensetzung durch Negation oder Privation ist, in der Privation aber deren Subjekt als Einheit erhalten bleibt, in der Negation aber die Bestimmung, aufgrund deren Abwesenheit Eines nicht das Andere ist, die Einheit ausmacht,1 werden auch „so gut wie alle Gegensätze [...] auf dies Prinzip [die Einheit, M.St.] zurückgeführt"2. Der erste, prinzipielle Gegensatz ergibt sich aus dem Begriff der Einheit selbst, wenn er Resultat der Reflexion auf das Viele ist: Jedes ist „in Vergleich mit jedem entweder dasselbe oder ein anderes. [...] Das Andere oder das Selbige wird daher von jedem in Beziehung auf jedes ausgesagt, sofern jedes von ihnen ein Eines und ein Seiendes ist"3. Indem und nur insofern die Wissenschaft ihren Gegenstand erst identifizieren muß, gehört auch das der Einheit und Dasselbe ist eine Bedeutungsweise von Einheit Entgegengesetzte, das heißt das Viele, Verschiedene, Andere in ihren Gegenstandsbereich. Hätte es die Philosophie nur mit Einheit, nur mit Sein zu tun, wäre sie am Ende. Erst die Negation, das aliquid erfüllt die Bestimmung des Seienden als Seienden, die nicht als univokes Sein gedacht ist, sondern als Resultat der Reflexion auf die Welt. Daher werden auch weder die Kategorien, noch die Einheit oder deren Negation aus dem Seinsbegriff entwickelt. Aber sie sind auch nicht, wie es den Anschein hat, willkürliches Zitat, sondern Bestimmungen des Seinsbegriffes, die sich zwar nicht aus dessen Eigenmotorik ergeben, aber aus der erkenntnistheoretischen Reflexion, deren Ziel ein Begriff war, der in der Lage ist, das Seiende prinzipiell zu ordnen. Soll der Begriff des ov tj ov dies leisten, so ist er erst mit diesen Bestimmungen vollendet, die sich genauso der Reflexion aus dem Seienden verdanken, wie der nackte Begriff des Seins selbst. Es ist das gleiche Verfahren, wie es schon zum Substanzbegriff führte: Soll das Viele erkannt werden, muß die Vielheit als dessen Einheit gedacht werden. So sind Identität, Unterschied, Verschiedenheit, Gegensatz und Widerspruch bei Aristoteles nicht nur als Vorform der Thomasischen Transzendentalien zu verstehen, sondern sind in bemerkenswerter Parallelität zu Hegels Reflexionsbestimmungen durchaus Ausdrükke von Reflexion, aber einer Reflexion auf Gegenstände und eben nicht selbst Wesenheiten. Die Einheit ist nach Aristoteles das Maß und Prinzip jeder Erkenntnis, insofern jeder Zuordnung von Gegenständen zu einem bestimmten Bereich des Seienden schon eine Einheit In den unterschiedlichen Formulierungen des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch wird deutlich, daß Aristoteles der logischen Einheit des Urteils nicht nur ontologisch die des Gegenstandes sondern auch erkenntnistheoretisch die -

-

zugrundeliegt.6

1 2 3 4 5 6

Vgl. Met. 1004 b. Met. 1003 bf. Met. 1054 b, vgl. Met. 1054 a. Vgl. De ver. I, 1. Vgl. den Aufbau von Met. X in Vergleich mit Lehre Met. 1052 b.

vom

Wesen, 258ff.

Drittes Kapitel: Aristoteles

190

des Selbstbewußtseins voraussetzt.1 So ist überhaupt die wissenschaftliche Erkenntnis die Einheit, die alle Gegenstände organisiert und doch sollen die Gegenstände diesen Prozeß bestimmen, die Wissenschaft sei „Maß der Dinge" und doch durch diese „gemessen"2. Die Wissenschaft bringt die Gegenstände auf den Begriff, der aber ohne diese leer wäre. Es sei nun das, was Eines genannt wird, anders zu beurteilen, als das, was das Eine, der Begriff .Einheit'3 an ihm selbst bedeutet. Jedes Seiende sei zwar ein Eines, aber nicht das Eine, und überhaupt sei das Eine kein „selbständiges Wesen"4, ebensowenig wie das Seiende. Das Eine bezeichnet zwar etwas in jedem Seienden, aber nur vermittels der Reflexion auf dessen Verschiedenheit zu Anderem. Die Bestimmung des Einen, unteilbar zu sein, ist die Negation des Geteilten, des Vielen. Nun könnte man sagen, das Geteilte sei selbst Negation, weil es durch die Grenze ist, und es ließe sich aus diesem Verhältnis die Dialektik von Etwas und Anderes sowie Kontinuität und Diskretion entfalten. Aristoteles setzt zwar beide Begriff in ein konträres Verhältnis, in dem einer „die Privation des anderen ist"5, diesem logischen Verhältnis korrespondiert aber ein ontologisches, in dessen Beziehung auf das Subjekt die Korrespondenz gebrochen ist: „Es wird aber das Eine nach seinen Konträren genannt und aus ihm verdeutlicht, das Unteilbare aus dem Teilbaren, weil die Menge und das Teilbare mehr sinnlich wahrnehmbar ist als das Unteilbare. Vermöge der sinnlichen Wahrnehmung ist daher die Menge dem Begriff nach früher als das Unteilbare." Aristoteles muß die Negation, das Andere, nicht zitieren, weil es schon als Voraussetzung der Reflexion in den Begriff der Einheit eingegangen ist. Die Dialektik von Etwas und Anderem ist bei Aristoteles kein Resultat der Betrachtung des Einen, keine Dialektik von Begriffsmomenten, sondern ist bestimmt aus dem Verhältnis des Denkens zu seinen Gegenständen. Dadurch läßt sich erklären, warum Aristoteles das Andere gleich der Vielheit zuordnet,7 während es bei Hegel zunächst genauso Eines ist, wie das Etwas. Die unterscheidenden Bestimmungen, die Hegel nachträgt, sind bei Aristoteles als Gegebenes vorausgesetzt.

2.

Auffindung der Prinzipien

Aristoteles unterscheidet zwischen Prinzipien, ,nach denen' bewiesen werde, den jeweiligen vorausgesetzten Bestimmungen des Gegenstandsbereiches und solchen, .aus de1 Vgl. Michael Städtler, „Widerspruch. Über Geschichte, Systematik und Verfall der Reflexion und ihrer Bestimmungen", in: Mit und gegen Hegel, a.a.O., 104f. und Wilfried Kühn, Das Prinzipienproblem in der Philosophie des Thomas von Aquin, a.a.O., 386f. 2 Met. 1053 a. 3 Vgl. Met. 1052 b. 4 Met. 1053 b. 5 Met. 1054 a. 6 Met. 1054 a. 7 Met. 1054 a.

II. Metaphysik zwischen Ontologie und Selbstbewusstsein

191

nen' bewiesen werde,1 den für alle Bereiche geltenden Bestimmungen. Diese Unterscheidung ist streng nur in den Einzelwissenschaften möglich, denn nur dort sind die Prinzipien, nach denen bewiesen wird, partikulare Bestimmungen des Seienden. Wenn Aristoteles die Zuständigkeit der Philosophie für die Prinzipien, aus denen bewiesen wird, dadurch begründet, daß sie von allem Seienden gälten und daher der, der das Seiende als solches betrachtet, sie zu bestimmen habe, dann unterscheiden sich diese Axiome hierin nicht von den Kategorien und den aus dem Begriff des Seienden als solchem folgenden Bestimmungen. Die enge Verknüpfung dieser mit dem Satz vom zu vermeidenden Widerspruch hatte sich ja schon hinsichtlich des Einen gezeigt. Die Frage nach der Auffindung der Axiome betrifft daher genauso die Auffindung dieser Prinzipien. Während jede Einzelwissenschaft bei der Erklärung ihrer Voraussetzungen schon die Kategorien, das Seiende als Solches und die Folgebegriffe in Gebrauch nehmen kann, muß die Philosophie deren Bestimmung rechtfertigen. So wie „keiner von denen, die sich einer speziellen Wissenschaft widmen, über diese [die Axiome, M.St.] zu sprechen gilt analog vom Einen und Verschiedenen, daß der Geometer es nur ,voraussetzungsweise' zum Gegenstand hat. Insofern die Untersuchung der Axiome und Bestimmungen des Seienden als solchen in die Philosophie fallt, insofern sie also erkenntnistheoretische Reflexion ist, sind ihr die bestimmten Einzelwissenschaften notwendig als Material der Reflexion vorausgesetzt, und in den begrifflichen Resultaten dieser Disziplinen hat sie auch deren empirisches Material zur Voraussetzung. Unter allen Prinzipien nimmt der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch eine besondere Stelle ein. Die anderen Prinzipien sind aus der Reflexion auf das Seiende erschlossen worden, in der Absicht, bestimmte Erkenntnis zu gewinnen. Darin ist der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch jener Reflexion schon vorausgesetzt. Dieser Vorrang drückt sich bezogen auf die logischen Axiome dadurch aus, daß jener Satz „seinem Wesen nach zugleich Prinzip der anderen Axiome"3 sei. Eine sinnvolle, nicht willkürlich zusammengesetzte Axiomatik ist nur möglich unter dem Gesetz der Widerspruchs-

[unternimmt]"2,

vermeidung. Die Gültigkeit jedes wissenschaftlichen Resultats hängt von der Richtigkeit seiner Voraussetzungen ab. Das betrifft sowohl die Prämissen, nach denen bewiesen wird, als auch die Axiome, aus denen bewiesen wird. Ließe deren Richtigkeit sich nicht begründen, wären die Resultate nicht gesichert, und doch muß ihre Begründung auf Prinzipien hinauslaufen, die nicht mehr Gegenstand eines wissenschaftlichen Verfahrens sein können, dieses Verfahren wiederholte sich sonst unendlich oft und könnte gerade nicht zur Sicherung des Resultates beitragen. Daher nennt Aristoteles es einen „Mangel an Bildung"4, für alles einen Beweis zu fordern. Damit ist jedoch das Problem nicht gelöst. 1 2 3 4

Vgl. Ana. post., 88 b. Met. 1005 a, vgl. Ana. post. 77 b. Met. 1005 b. Met. 1006 a.

Drittes Kapitel: Aristoteles

192

Will man etwa aus den Prämissen ,Cajus ist ein Mensch' und ,Alle Menschen sind sterblich' folgern, daß Cajus sterblich sei, muß zunächst im Mittelbriff das ,MenschSein' vorausgesetzt werden,1 weiter im Oberbegriff, daß dem Menschen Sterblichkeit zukomme und außerdem, daß dem Cajus zukomme, ein solcher zu sein. Außer dem Gegenstand Cajus ist nichts vorhanden. Art- und Gattungsbegriffe lassen sich durch das Verfahren der Diairese nicht ermitteln, da dies nur dann auf richtige Ergebnisse führt, wenn man das zu Ermittelnde vorher kennt und die Einteilungen entsprechend auswählt.2 Hinzu kommen die Prinzipien, die unabhängig vom Gegenstand jeder Erkenntnis vorausgesetzt sind. Da jede Form der Herleitung prinzipiell auszuschließen ist, der wissenschaftlich Erkennende aber „die Prinzipien nicht nur mehr kennen und von ihnen mehr überzeugt sein [muß] als von dem zu Beweisenden, sondern [...] ihm auch nichts anderes glaubwürdiger und bekannter sein müssen die Prinzipien auf andere Weise als evidente ins Denken gelangen. Aber selbst für die Auffassung im Denken, wenn sie denn erst aufgefaßt werden, sind sie schon Voraussetzung, denn „wie sollten wir Erkenntnis [der Prinzipien, M. St.] erwerben und etwas lernen, wenn nicht aus vorher schon vorhandener Erkenntnis"4? Daraus ergibt sich die aporetische Formulierung, daß dasjenige, „was jeder erkannt haben muß, der irgendetwas von dem Seienden erkennen soll, [...] er schon zum Erkennen mitbringen Die Aporie soll vermieden werden, indem ein „widerlegender Beweis" sich führen lasse.6 Die Vielzahl der Varianten, die Aristoteles gebraucht, spricht äußerlich schon gegen seine Beweiskraft, und daß der widerlegende Beweis auf eine petitio principii hinausläuft, hat Aristoteles an einer Stelle an anderer Stelle begründet er, daß der Beweisanspruch, aus einer falschen Prämisse und ihrer absurden conclusio jene Falschheit zu demonstrieren, grundsätzlich nicht einzulösen ist.8 Das Verfahren setzt die Bekanntheit der Absurdität des Schlußsatzes voraus, wie die Unbekanntheit der Falschheit der Prämisse; zudem muß die zweite Prämisse unstrittig sein. Damit ist der Schlußsatz bekannter als eine der Prämissen, das Verhältnis von demonstrans und demonstrandum ist umgekehrt. Jeder Widerspruchsbeweis muß sein Resultat voraussetzen, sonst wäre er nicht konstruierbar. Ein Modell wäre: Prämisse A: (Angenommen) alle Menschen seien unsterblich. Prämisse B: Alle Athener sind Menschen, conclusio: Alle Athener sind unsterblich. Da die

[darf]"3,

[muß]"5.

angemerkt,7

1 Das ,Mittlere' faßt Aristoteles über die logische Bedeutung als Mittelbegriff hinaus: „Das Mittlere ist nämlich die Ursache des Seins entweder dafür, daß nicht dies oder das an etwas ist, sondern daß das Wesen einfachhin ist, oder dafür, daß etwas nicht einfachhin, sondern eine von den Eigenschaften ist, die an sich oder akzidentell zukommen." Ana. post. 90 a. So sieht es auch Horst Seidl, Beiträge zu Aristoteles Erkenntnislehre und Metaphysik, a.a.O., 31. 2 Vgl. Ana. pr. 46 af. 3 Ana. post. 72 af. 4 Ana. post. 99 b. 5 Met. 1005 b. 6 Met. 1006 a. 7 Vgl. Met. 1008 b. 8 Vgl. Ana. post. 87 a. '

II. Metaphysik zwischen Ontologie und Selbstbewusstsein

193

conclusio absurd, ist die Prämisse falsch. Die Unsicherheit, die aus dieser Abhängigkeit entsteht, wird deutlich, wo Aristoteles die Unmöglichkeit der Ortsbewegung der Seele beweist. Wäre sie ihrer fähig, so müßte sie den Körper verlassen und wieder in ihn eintreten können. Dies aber sei absurd, da sonst „die Lebewesen, die gestorben sind, wieder aufstünden"1. Verfechtern christlicher Dogmatik ist die Absurdität dieser Vorstellung aber nicht bekannt. Das Verfahren ist gleichwohl sinnvoll in systematisch gefaßten exakten Wissenschaften, wenn gezeigt werden kann, daß unter der Annahme einer Prämisse, deren Zugehörigkeit zum System in Frage steht, innerhalb des Systems ein Satz ableitbar ist, der zu anderen, gesicherten Sätzen im Widerspruch steht. Es kommt dann nicht darauf an, die conclusio positiv zu begründen, sondern nur ihre formale Ableitbarkeit zu demonstrieren. Hier ist zu erwarten, daß jedem, der die Wissenschaft kennt, die Absurdität der conclusio bekannter ist, als die in Frage gestellte Prämisse. Überhaupt ist der Syllogismus für Aristoteles kein Werkzeug der Gewinnung, sondern der Darstellung von Er-

kenntnis.2

In bezug auf die Prinzipien von Wissenschaft überhaupt muß einem Widerspruchsbeweis vorausgesetzt sein, daß es bekannt ist, daß Wissenschaft möglich ist. Somit sind Widerspruchsbeweise der Prinzipien nur in einer Philosophie möglich, die negativ argumentiert. Bei dem Satz vom zu vermeidenden Widerspruch ist aber zudem dessen eigenes Konstruktionsprinzip, seine Gültigkeit das demonstrandum. Der Beweis soll sich selbst beweisen und muß sich dafür voraussetzen. Die Durchführung ergibt, daß unter Annahme der Nichtgeltung des Satzes sich Sätze ableiten lassen, unter deren Geltung keine Wissenschaft möglich ist. Das stört aber keinen der Leugner. Aristoteles muß daher schlechterdings voraussetzen, daß der, dem bewiesen wird, ein ernsthaftes Interesse an Erkenntnis hat und geistig nicht zerrüttet ist.3 Darin allerdings, daß die Leugner des Satzes der Voraussetzung, Wissenschaft sei möglich, gar nicht zustimmen, zeigt sich, daß auch ein negativer Beweis des Satzes immer eine petitio principii ist. Da er Prinzip aller Axiome ist, sind, wenn er, so auch jene nicht beweisbar. Die Einsicht in die Gültigkeit der Prinzipien des Denkens muß eine andere Grundlage haben. Der affirmative Beweis führt auf einen regressus ad inflnitum, der widerlegende auf eine petitio principii; dies Verfahren auf die Spitze getrieben, könnte man versuchen, die Prinzipien zirkulär zu beweisen. Auch dies schließt Aristoteles aus, da es auf eine Tautologie hinauslaufe: „So aber läßt sich alles leicht beweisen."4 Auf noch andere Weise behandelt die Topik solche Begriffe, die nicht erweisbar sind. Dort werden sie durch Schlüsse eingeführt, die auf Wahrscheinlichkeit oder Autorität fußen.5 Aber auch das bestätigt nur, daß es kein vernünftig geregeltes Verfahren gibt, diese Begriffe zu er1 2

De an. 406 b.

3

Vgl. Wolfgang Wieland, Die aristotelische Physik, a.a.O., 98. Vgl. Met. 1005 b.

4 5

Ana. post., 72 b. Vgl. Top. 100 af.

Drittes Kapitel: Aristoteles

194

„unvermittelt"1

sein. Diese Unmittelbarkeit bezieht sich auf das Verhältnis der Prinzipien zum Denken, das sie „voraussetzen oder auf andere Weise bekannt machen muß"2. Dieses Verhältnis läßt sich nur negativ bestimmen aus dem Vermögen der „Geistesgegenwart", einer „Treffsicherheit, ohne Zeit des Überlegens das Mittlere zu erfassen"3. Diese Spontaneität des „intuitiven Verstandes"4 ist erschlossen als notwendig außerwissenschaftliche Bedingung von Wissenschaft: ,,[D]ie Ausgangsposition des wissenschaftlich Erkennbaren [kann] ihrerseits weder das Objekt wissenschaftlicher Erkenntnis, noch des praktischen Könnens, noch der sittlichen Einsicht sein."5 Als Objekte des intuitiven, unvermittelnden Verstandes (vovç im Unterschied zu diskursiver Erkenntnis, ôiavoia), sind die Prinzipien eigentümlicher Gegenstand der Vernunft: Es gibt „wohl von den Prinzipien keine Wissenschaft mehr. Und da im Vergleich zur Wissenschaft nichts wahrer sein kann als Vernunft, dürfte Vernunft auf die Prinzipien Sie müssen eingesehen werden als der Vernunft unmittelbar die Erste kompatibel, Philosophie ist so die Einheit von „intuitivem Verstand und diskursiver Erkenntnis"8. Da die Konfrontation mit den Prinzipien schließlich nur durch ihre Tradierung in der Form von Lehre und Lernen bewirkt werden kann, erweist sich

kennen, sie

müssen

gehen"7.

1 Ana. post. 93 b. Dies bestreitet Walter Mesch, Ontologie und Dialektik, a.a.O. Die topische Dialektik sei in letzter Zeit als die Methode der Metaphysik erwiesen worden (vgl. 6). Darüber noch weit hinaus verfolgt Mesch die These, die Metaphysik sei die Reflexion der Topik, insofern diese sich auf sich selbst anwende und mit den Mitteln einer .unwissenschaftlichen Gesprächsdisziplin' deren eigene Ermöglichungsbedingungen ermittele. Die Dialektik frage nach der Einheit von Äußerungen, die Metaphysik nach der von Sachen. Diese sei aber die Voraussetzung von jener, also seien die Bedingungen der Topik Gegenstand der Metaphysik. Da nun diese mit begrifflicher Unterscheidung und Ähnlichkeitsvergleichung operiere, verwende sie topische Mittel, somit wende die Topik sich auf sich selbst an. Nun mag die Metaphysik Bedingungen der Topik zum Resultat haben, ihr eigentliches Problem sind aber die Bedingungen der Möglichkeit sicheren Wissens und damit ist auch das Wesen ihrer Methode bezeichnet. Meschs Interpretationen sind im Einzelnen beachtlich und die Konzentration auf die Topik scheint daher zu rühren, daß die Arbeit hauptsächlich an der Methode orientiert ist. Die Aristotelische Metaphysik ist aber keine durch Methodenreflexion bestimmte Philosophie, wie es sie eigentlich noch bei Descartes nicht, sondern erst im Neukantianismus gibt. 2 3 4 5 6

Ana. post. 93 b. Ana. post. 89 b. EN 1141 a. Vgl. Met. 1041 b und 1051 b. EN 1140 b. Vgl. Horst Seidl, Der Begriff des Intellekts bei Aristoteles, Meisenheim 1971, Hauptteil I, 2. Ebenso Klaus Oehler, Die Lehre vom noetischen und dianoetischen Denken bei Aristoteles, München 1962. Vgl. auch Karl Heinz Volkmann-Schluck, Die Metaphysik des Aristoteles, a.a.O., 276. Johannes G. Deninger, „Wahres Sein" in der Philosophie des Aristoteles, a.a.O., dagegen behauptet, Aristoteles ignoriere die Frage, wie Substanzen erfaßt werden (92f.). Die intuitive Erkenntnis setzt er der àvapvnaiç gleich (168). Aristoteles wende sich von Ideen ausgehend dem Unbekannten zu (92f). 7 Ana. post., 100. 8 EN 1141 a, vgl. MM 1197 a. ,Diskursiv' ist hier im Sinne der Thomasischen Terminologie übersetzt.

II. Metaphysik zwischen Ontologie und Selbstbewusstsein

195

der intuitive Geist als die Fähigkeit, Einsichtiges von Unsinn zu unterscheiden; sonst wäre der Schüler dem Lehrer ausgeliefert. Mit der Gewißheit der Prinzipien der Vernunfttätigkeit ist aber auch vorausgesetzt, daß die Welt selbst diesen Prinzipien genüge und „nicht so ohne Zusammenhang wie sei. Diese Verfaßtheit der Natur ist aber nicht in gleicher eine schlechte Weise eigentümlicher Gegenstand der Vernunft, wie die Prinzipien selbst. Mehr noch als bei den Prinzipien wurzeln nicht die Voraussetzungen in der Vernunft, sondern die Vernunft ist gezwungen, in ihnen zu wurzeln. Darin ist die Trennung des Erkenntnisgrundes des Denkens von seinem Existenzgrund radikal erhalten: „Warum stürzt er sich nicht gleich frühmorgens in einen Brunnen oder in einen Abgrund, wenn es sich eben trifft, sondern nimmt sich offenbar in acht, indem er also das Hineinstürzen nicht in gleicher Weise für nicht gut und für gut hält?"2 Dieser Hinweis darauf, daß das Leben vernunftbegabter Lebewesen nicht eine logische Folge ihres Denkens ist, sondern eine Orientierung in der Welt voraussetzt, mithin, daß das Denken mit ihm äußeren Bedingungen seiner Existenz in Übereinstimmung gebracht wird, ist der eigentliche Nachweis der Gültigkeit des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch, denn in der dauerhaften materiellen Reproduktion der Träger von Vernunft ist die Möglichkeit, Gegenstände zu identifizieren, realisiert.3 Wenn nun die Übereinstimmung von Vernunft und Welt nur demonstriert werden kann durch den Aufweis, daß sie nicht identisch sind, ist eine Philosophie grundgelegt, deren Absicht es ist, in einem notwendig unvernünftigen Medium soviel Vernunft zu realisieren, wie möglich.

Tragödie"1

Der ontologische Vorrang der Substanz

3. Die

Auffindung der je bestimmten Substantialität kann nicht Gegenstand einer Methodenerörterung sein, jene muß unmittelbar erfaßt werden. Wenn aber die prinzipiellen Bestimmungen über das Verhältnis der Kategorien untereinander Gültigkeit haben sollen, und damit auch das Verhältnis von Denken und Gegenstand, dann muß sich in allgemeiner Weise zeigen lassen, daß den Denkbestimmungen Seiendes korrespondiert. Schon die Bestimmung des Vorranges der Substanz kam ohne ontologische Bestimmungen nicht aus, verlangte aber zunächst nur, daß eine Selbständigkeit gegeben sei.

Worin diese besteht und wie sie zu erfassen ist, muß weiter untersucht werden. Immer bleibt die Bestimmung der Dinge auf den Erkenntnisprozess bezogen, der Vorrang des Wesens ist offensichtlich nur, weil „sein Zugrundeliegendes etwas Be-

1 2 3

Met. 1090 b. Met. 1008 b. Eine detaillierte

spruch 103-141.

-

Entwicklung des Argumentes in Met. IV findet sich in: Michael Städtler, „WiderÜber Geschichte, Systematik und Verfall der Reflexion und ihrer Bestimmungen", a.a.O.,

DRITTES KAPITEL: ARISTOTELES

196

ausgesagt"1

wird. Um aber überhaupt der stimmtes ist" und anderes „ohne dieses nicht erkennenden Seele als Gegenstand gegeben zu sein, muß es als Bestimmtes „selbständig abtrennbar"2 sein, sonst wäre die Welt ein Chaos, in dem nichts zu unterscheiden wäre. Diese Abtrennbarkeit dem Sein nach wird von Aristoteles der begrifflichen Abtrennbarkeit immer parallel geführt, tatsächlich läßt sich die ontologische Abtrennbarkeit nur aus der logischen rekonstruieren, indem unter Absehung von logischen Bestimmungen in Analogie zu bewußten Prozessen die Naturgegenstände bestimmt werden. Daher werden aus den vier überlieferten Grundbedeutungen von „Wesen": „das Sosein, das Allgemeine, [...] die Gattung, [...] das Gattung und Allgemeines ausgeschieden. Es handelt sich um Bestimmungen nicht substantieller, sondern formeller Allgemeinheit, denen kein Seiendes direkt korrespondiert. Das Allgemeine bezieht sich dabei sowohl auf Allgemeinbegriffe überhaupt, als auch auf die Platonischen Ideen. Mit der Gattung sind logische Allgemeinbegriffe gemeint, zu denen Aristoteles auch die ontologischen Gattungen, wie „Lebewesen"5 zählt. Das Sosein und das Zugrundeliegende beziehen sich auf die Einzelsubstanzen, aber nur insofern sie durch substantielle Allgemeinheit bestimmt sind, eben darin besteht ihr Sosein. Da die substantielle Allgemeinheit sich aber nur aus dem Arterhaltungsprozeß ontologisch bestimmen läßt, wird dieser zur zentralen Wesensbestimmung. In ihm erst haben die Bestimmungen des Soseins und des Zugrundeliegenden, die beide äquivok sind, ihre feste Das Zugrundeliegende bedeutet nur dasjenige „von dem das übrige ausgesagt wird, das aber selbst nicht wieder von einem anderen ausgesagt wird"7. So beschaffen sind aber nicht bloß das Einzelding, dem die weiteren Bestimmungen zukommen, und die Artform, die das Einzelding als solches bestimmt, sondern auch die Materie, weil sie übrigbleibt, wenn alle Bestimmungen vom Gegenstand abgezogen werden. Damit genügt die Materie zwar dem Begriff des Zugrundeliegenden, aber sie liegt zugrunde als völlig Unbestimmtes. Das Wesen sollte aber ein selbständig Bestimmtes sein, weshalb es „unmöglich" ist, daß die Materie Wesen ist. Damit scheidet die Materie aus der Wesensbestimmung nicht endgültig aus, wohl aber in dieser bloß formellen, nicht prozessualen Gestalt. Da nun der Begriff des Zugrundeliegenden in dieser Weise nicht eindeutig ist, bezeichnet er nur „im Umriß", was Wesen ist, „diese Bestimmung selbst ist

Zugrundeliegende"3

Grundlage.6

o

1 2

3

Met. 1028 a. Met. 1028 a. Met. 1028 b.

4 Vgl. Met. 1038 bff. 5 Vgl. Met. 1042 a und 1053 b 6 Vgl. dagegen: Michael Frede und Günther Patzig, Aristoteles Metaphysik Z, Text, Übersetzung und Kommentar, München 1988. Die Autoren gehen davon aus, der Gedankengang des Buches VII werde durch die Kapitel 7-9 „unterbrochen" (Bd. 1, 32). 7 Met. 1028 b. 8 Vgl. Met. 1029 a. 9 Met. 1029 a. '

II. Metaphysik zwischen Ontologie und Selbstbewusstsein

197

darf „nicht hierbei allein stehenbleiben"1. Da die Äquivokation im Zugrundeliegenden Bestimmtheit und Unbestimmtheit zu ihren Seiten hat, besteht der nächste Schritt in der Betrachtung der Bestimmtheit, des Soseins, als Wesensbestimmung. Dieses bezeichnet das, was etwas „an sich" ist, was „du an dir selbst bist [...] aber auch nicht dieses alles"2. Dem griechischen Wortlaut nach ist das an sich Aussagen, das dem Sosein logisch entpricht, allerdings eine einstellige Relation, es wird nicht etwas von etwas ausgesagt.3 Das ist sachlich dadurch zu erklären, daß das Wesen vom Gegenstand nicht als von etwas anderem ausgesagt wird, da substantiell zwischen der ersten und der zweiten Substanz kein Unterschied besteht; insofern sind die Sätze ,Von diesem Menschen wird an sich Mensch ausgesagt' und Dieser Mensch wird an sich ausgesagt' intensional nicht unterschieden. Allerdings wird ein Mensch aber nicht ausgesagt und ,Mensch wird an sich ausgesagt' verwandelte den Substanzbegriff in der Tat in eine Idee. In der Prädikation des Wesens vom Exemplar zeigt sich die Reflexivität des Wesens, die keine absolute ist. Das Wesen kann nicht auf die jeweilige Einzelsubstanz beschränkt sein, da es sonst zur Erkenntnis, das heißt Ordnung der Vielheit nichts beitrüge. Daher scheiden Benennungen von individuellen Verbindungen von Akzidenzien ebenso aus, wie einmalige Verbindungen von Teilen zu einem Ganzen.4 Das Sosein soll sich auf ein xöbe xi beziehen, ein einfaches Dies-da, das den weiteren Bestimmungen zugrundeliegt, selbst aber durch das Sosein bestimmt ist, wodurch es als das, was es ist, nach substantieller Allgemeinheit kenntlich ist. Das bedeutet, daß mit dem Sosein die Dinge nach ihrer Artzugehörigkeit bestimmt sind, das Sosein gibt die Definition der Art an. Wenn nun das Sosein etwas bestimmt aus dem Allgemeinbegriff, unter den es zu subsumieren ist, gibt es ein Sosein ebenso unter den Akzidenzkategorien, „denn auch bei dem Qualitativen würden wir fragen, was es ist, so daß auch das Qualitative ein Was ist" Es wäre keine Prädikation möglich, wenn nicht schon außerhalb des Urteils bekannt wäre, um was für ein Akzidenz es sich bei dem Prädikat handelt, genau wie von Sokrates bekannt sein muß, daß er ein Mensch ist, muß von Weiß bekannt sein, daß es eine Farbe ist, und was für eine. Damit ist der Begriff des Soseins auch äquivok, und auch die Distinktion in Substanzen, denen es einfachhin zukomme und Akzidenzien, denen es nur „irgendwie"6, qua Relation, zukomme, hülfe nicht, da es beiden zunächst durch Relation, nämlich die auf die denkende Seele, zukommt. Der Begriff Sosein differenziert aber immanent eine logische und eine ontologische Bedeutung. Das xó xi xö

unklar",

man

,

.

1 Met. 1029 a. 2 Met. 1029 b. 3 Vgl. Hermann Schmitz, Die Ideenlehre des Aristoteles, Bd. 1.1, a.a.O., 59. 4 Eine Benennung einer akzidentellen Verbindung läge vor, wenn man etwa für ,Weißer Mensch' den Namen ,Kleid' setzte. Vgl. Met. 1029 bf. Ein Beispiel für die Verbindung von Teilen zu einem Ganzen ist dort die Ilias. Zum Zusammenhang vgl. auch Met. 1043 b. 5 Met. 1030 a. 6 Met. 1030 a.

Drittes Kapitel: Aristoteles

198

éxáorco elvai, das,

für das Einzelne das Sein war,

setzt im

Imperfekt die BeBestimmten zeitlich ist die dem voraus, genauer Bestimmung ein Prozeß stimmung vom elvai zum éxáoTov.1 Dies kann so verstanden werden, daß die allgemeine Bestimmung vor der Prädikation gedacht werden muß, und so, daß das bestimmte Einzelne dem Sein nach aus dieser Bestimmung selbst hervorgeht. Dann muß sich aber zeigen lassen, in welcher Weise diese Bestimmung, die doch Allgemeines sein sollte, existieren könnte. Die grundsätzliche Bestimmung der Substanz läuft daher hinaus auf eine Betrachtung des Prozesses, besonders jenes Prozesses, der einen selbständig existierenden Gegenstand zum Resultat hat. Das Wesen wird untersucht, nicht, insofern es ist, sondern insofern es wird. „Alles Werdende aber wird durch etwas und aus etwas und etwas."2 Diese allgemeine Bestimmung kann zunächst nur erläutert werden am Modell handwerklicher Tätigkeit, weil hier der ganze Prozeß des Entstehens in Relation auf die denkende Vernunft steht; in dieser gewandelten Konstellation erhält die Formursache auch die von Piaton stammende Bezeichnung ,Modell', ,Vorbild'3. Die Resultate der Untersuchung sollen dann auf Naturprozesse übertragen werden, soweit diese sich den regelmäßigen Bestimmungen einfügen lassen. Damit ist aber nicht etwa die Natur als Produkt eines Demiurgos verstanden, sondern die Analogie bleibt in ihrer Vermittlung an das erkennende Denken gebunden. In der Neigung, diese grundsätzlich negative Analogie ideologisch zu überreizen,4 zeigt sich noch die enge Verknüpfung von Natur- und Kunstprozeß, deren Überwindung Aristoteles antizipiert. Ihre explizite Überwindung setzte indes einen entfalteten Begriff des Willens und damit den des Subjektes voraus; beide sind bei Aristoteles nicht entwickelt, wie im zweiten Teil dieses Kapitels zu untersuchen sein wird. Die ideologische Bestimmung des Technisch-praktischen ist über diese Mängel eng verknüpft mit der des Moralisch-praktischen. Dasjenige schließlich, das sich dieser Analogie nicht fügt, das „von selbst aus"5 entsteht, also ohne äußere Urtco

was

1 Vgl. Hermann Weidemann, „Zum Begriff des ti en einai", in: Metaphysik, hg. v. Christoph Rapp, a.a.O. Nach Weidemann ist das Imperfekt ein „philosophisches Imperfekt" (76), das bloß anaphorisch sei, im Sinne von ,wie wir schon sagten'. Die aus einer zehnseitigen philologischen Erwägung resultierende „neue Deutung dieses Ausdrucks" (75) übersieht die ontologische Bestimmung vollständig. Ebensowenig gelingt es Christoph Rapp, „Substanz als vorrangig Seiendes", a.a.O., den zeitlichen Vorrang der Substanz als allgemeine Prozeßbestimmung zu erkennen (35). Zwar schreibt Weidemann, der fragliche Begriff sei „mindestens ebensosehr Sache der Logik [...] wie eine Angelegenheit der Philologie." (91), daß es sich aber um einen Gegenstand metaphysischer Philosophie handele, kommt nicht zur Sprache. Horst Seidl, Der Begriff des Intellekts bei Aristoteles, a.a.O., gibt dem Ausdruck wenigstens noch eine schwache inhaltliche Bedeutung (187), für Hermann Schmitz, Die Ideenlehre des Aristoteles, Band 1.1, Bonn 1985 hingegen ist der Ausdruck ,groteskest'; die Skurrilität von Schmitzens Begründung ist unreferierbar (13Í). 2 Met. 1032 a. 3 Vgl. Phys. 194 b. 4 GA 734 bf. 5 Met. 1032 a. Hermann Bonitz übersetzt ,von ungefähr', was etwas anderes ist.

II. Metaphysik zwischen Ontologie und Selbstbewusstsein

199

sache, auf die

es erklärend zurückgeführt werden könnte, ist nicht Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung. Im Prozeß des Werdens sind nach Aristoteles vier Arten von Ursachen zu unterscheiden: Dasjenige, „woraus" etwas als seinem Material entsteht; die „Form", die begrifflich als „Sosein" angegeben wird; dasjenige, was „das erste Prinzip der Veränderung" ist, also ein Einwirkendes; schließlich das „Ziel", dasjenige, „weswegen"1 etwas

ist.

Die Form nun ist das substantiell Allgemeine, das allen Wesen einer Art zukommt und sie so bestimmt als das, was sie der Wirklichkeit nach sind. Sie ist erschlossen als Moment des Prozesses, der Entstehung von etwas, das nicht notwendig seiend ist und bezeichnet die bestimmte Existenz des Gegenstandes. In dieser Reflexion ist die Form darauf verwiesen, daß sie nur in der Materie realisiert, das heißt in das Dasein überführt werden kann: „Denn der Begriff ist der des Dinges und muß notwendig an einer Materie sein, wenn er sein soll." Der Begriff der Wirklichkeit von etwas erfordert den der Möglichkeit desselben, da ohne diese Unterscheidung nur erkannt und gedacht werden könnte, was unmittelbar gegeben ist. Jeder Gedanke, der Daseiendes begrifflich faßt, muß die Wirklichkeit des Begriffes in Relation zur Möglichkeit der Existenz seines Gegenstandes fassen, sonst könnte kein Prozeß gedacht werden; da Entstehendes auch nicht sein kann, muß in ihm ein Prinzip der Möglichkeit angenommen werden.3 Wenn Tätigkeit und Wirklichkeit mit dem Vermögen hierzu identifiziert werden, ist auch der Prozeß der Vernunfterkenntnis prinzipiell nicht mehr bestimmbar, ,jene Lehren [...] suchen also etwas gar nicht Kleines aufzuheben"4. Die Materie wird als die Möglichkeit der bestimmten Substanz eingeführt, daher muß es „einen eigentümlichen Stoff für jedes Einzelne"5 geben. Diese Bestimmtheit bleibt dem Begriff des Unbestimmten erhalten, weil die Möglichkeit nur als negativer Ausdruck der Wirklichkeit zu erfassen ist: Es ist „etwas ein Haus der Möglichkeit nach, wenn in dem, was in ihm ist, und in dem Stoff kein Hindernis liegt, daß ein Haus werde, und nichts ist, was erst noch hinzukommen oder abgehen oder sich verändern muß"6. Der Stoff wird so erschlossen als das Zugrundeliegende von Entstehen und Damit steht aber nicht in ontischer Hinsicht die Möglichkeit in Abhängigkeit zur Wirklichkeit, sondern dies Verhältnis ergibt sich aus der Relation auf das erkennende Den-

Vergehen.7

194 b. Vgl. auch Met. 1044 af. 403 b. Met. 1046 bf. und: GC 335 b: Weder Clemens Baeumker, Das Problem der Materie in der Vgl. griechischen Philosophie, Frankfurt am Main 1963, noch Nicolai Hartmann, „Zur Lehre vom Eidos bei Piaton und Aristoteles", in: Ders., Kleinere Schriften II, a.a.O., bemerken, daß Materie und Möglichkeit Reflexionsbestimmungen sind. 4 Met. 1046 b. 5 Met. 1044 a. Vgl. auch 1043 a. 6 Met. 1049 a. 7 Vgl. GC 320 a. 1 2 3

Phys. De

an.

DRITTES KAPITEL: ARISTOTELES

200

ken: „Also wird offenbar das dem Vermögen nach Seiende, wenn es in die Wirklichkeit überführt ist, gefunden. Die Ursache liegt darin, daß die Wirklichkeit Denken ist. Und so geht die Wirklichkeit aus der Möglichkeit hervor, und deshalb kommt man tätig zur Erkenntnis."1 Nur das Wirkliche ist gegeben, und nur von ihm gibt es konsistente Begriffe. Seine Möglichkeit ist erst aus seiner Existenz und Beschaffenheit zu rekonstruieren. Die Trennung von Form und Materie bleibt begrifflich und wird nicht hypostatisch; von einem Haus etwa läßt sich auf seine Ursachen schließen, aber deren Vorhandensein allein bringt noch kein Haus hervor. Die Prinzipien bleiben gebunden an das, dessen Prinzipien sie sind.2 Konsequent bestimmt Aristoteles die Materie negativ als Ungestaltetheit (aoxTjpoovvtj), Ungeformtheit (àpoptyia) oder Unordnung (aTCxEícx)? Vorzeigbar ist sie nur als schon bestimmtes Seiendes, nicht aber als solche, in ihrer Materialität. In dem Zusammenhang ist auch die Bestimmung der Privation (oiéprjoiç) als Zugrundeliegendes in akzidenteller Hinsicht zu verstehen.4 Das Stoffprinzip des Gewordenen ist bestimmt durch den Mangel der Form, die dem Resultat zukommt. So bezeichnet die Privation die Verwiesenheit von Form und Materie aufeinander. Durch diese Konstruktion als Reflexionsbegriffe ist eine Hypostasierung der Prinzipien

ausgeschlossen.5

Nun sind ausdrücklich „der nächste Stoff und die Form dasselbe"6, da sie Bestimmungen sind, die als Teilbestimmungen, Momente, aus der Reflexion auf den Prozeß, der ein Eines hervorgebracht hat, gewonnen wurden. Nur ist die eine die Wirklichkeit, die andere die Möglichkeit desselben Einen. Durch diese Bestimmung löst Aristoteles zugleich das logische Problem, wie eine Definition, die „durch eine Reihe von Worten geschehe" also begrifflich Mehreres verbindet, ein einheitlicher Begriff sein könne. Das sei dadurch gegeben, daß der eine Teil, etwa Lebewesen, in Analogie zur Materie, und der andere, etwa Vernunftbegabung, in Analogie zur Form bestimmt sei, beide also dasselbe bezeichnen, nur in verschiedenen Modi.8 Ontologisch ist die logische Einheit darin gegründet, daß sie „Wesensdefinition von Einem ist"9. ,

1 2

§§

3 4 5 sie 6 7 8

Met. 1051 a. Vgl. GC 337 b: Dazu vgl. Wolfgang Wieland, Die aristotelische 4, 5 und 12, ebenso Ingemar During, Aristoteles, a.a.O., 237 u.ö.

Vgl. Phys. Vgl. Phys.

Physik, a.a.O., besonders in den

190 b. 190 b.

„Wie mir scheint, wird nun der Sinn der aristotelischen Prinzipien am besten getroffen, wenn man als Reflexionsbegriffe bezeichnet." (Wolfgang Wieland, Die aristotelische Physik, a.a.O., 202). Met. 1045 b. Met. 1043 b. Met. 1045 a. Wenn man die Genese von Form und Materie einerseits und Gattung und Differenz andererseits im Erkenntnisprozeß beachtet, bietet das einen Schlüssel zu dem Problem, „daß er [Aristoteles] überhaupt glauben konnte, die Einheit von Gattung und Differenz analog zum Verhältnis von Materie und Form [...] aufschlüsseln zu können" (Holmer Steinfath, „Die Einheit der Definition", in:

Metaphysik, hg. v. Christoph Rapp, a.a.O., 247). 9

Met. 1045

a.

II. Metaphysik zwischen Ontologie und Selbstbewusstsein

201

An die

Bestimmung der Form als Wirklichkeit (èvépyeia) ist die der Vollendung (èvxeAéxeia) geknüpft, die verwandt ist mit dem Weswegen.1 Die èvépyeia ist Tätigkeit im Sinne von Wirklichkeit, genauer: bestimmter Existenz, die nicht mehr auf anderes bezogen, sondern nur in sich und aus sich wirklich, wirkend ist: „Bei demjenigen [...], bei welchem das Entstehende etwas anderes neben und außer dem Gebrauch ist, bei diesem ist die èvépyeia in dem, was hervorgebracht wird; [...] bei dem aber, bei welchem es nicht neben der èvépyeia ein Werk gibt, ist die èvépyeia in ihm selbst, z. B. das Sehen in dem

Sehenden, das Denken in dem Denkenden, das Leben in der Seele Hieraus erhellt [...]. also, daß das Wesen und die Form èvépyeia ist."2 Das Wesen ist mit der èvépyeia zunächst als durch reflexive Tätigkeit sich selbst Bestimmendes gefaßt. Eine Stagnation bedeutet das nicht, da dieses Selbstbestimmen noch auf die Verwirklichung der bestmöglichen Entfaltung seiner selbst gerichtet ist, die nicht durch bloßes Sich-Erhalten erreicht wird, sondern nur als eine zusätzliche immanente Zielgerichtetheit auf die èvxeAéxeia gefaßt werden kann: „Denn das Werk ist Ziel, die Wirklichkeit aber ist das Werk. Daher ist auch der Name Wirklichkeit von Werk abgeleitet und zielt hin auf Ein Modell ist, daß jemand, der seine intellektuellen sich nicht sondern nur seinem Wesen gemäß sich zu dem bildet, verändert, Fähigkeiten auf durch selbst er das entfaltet, jenes hingeordnet ist. So ist die èvxeAéxeia eine Bestimmung der Existenz des Wesens, die selbst nur aus dem Prozeß von Form und Materie erklärbar war: „Die Vollendung jedes Dinges tritt natürlicherweise ein in das, das in Möglichkeit vorliegt, und in die eigentümliche Materie."5 Aus den Modellen, die Aristoteles anführt, wird deutlich, daß die Unterscheidung von èvépyeia und èvxeAéxeia nur bei wenigstens belebten Gegenständen möglich ist, da mit deren Existenz ihre Prozessualität nicht abgeschlossen ist. Bei Artefakten, etwa einem Haus, ist das Ziel, nämlich eine Unterkunft zu haben, lediglich dadurch von der Form, eine Unterkunft zu sein, getrennt, daß jenes explizit auf das Bedürfnis bezogen ist, das aber in dieser implizit enthalten ist, denn darum wird die Unterkunft errichtet. Allein am Modell der handwerklichen Tätigkeit läßt sich aber der Unterschied zwischen Form und Materie treffend erläutern, denn die Form ist als Begriff im Denken des Handwerkers vorausgesetzt, die Materie als das Material, in dem er die Form realisieren

Vollendung."3

1

Vgl.

Werner

les, a.a.O., 617f.

Jaeger, Aristoteles, a.a.O., 409ff. Zu dem Begriffspaar vgl. Ingemar During, Aristote-

2 Met. 1050 af. Vgl. auch 1048 b. 3 Met. 1050 a. Analog faßt Hegel Bestimmtheit und Bestimmung: Die Bestimmtheit (èvépyeia) des Menschen sei „Denken überhaupt", seine Bestimmung (èvTeAéxeia ) aber „denkende Vernunft" (Lehre vom Sein, 111). Enrico Berti, „Der Begriff der Wirklichkeit", in: Metaphysik, hg. v. Christoph Rapp, a.a.O., erkennt den prozessualen Charakter der èvépyeia (296). Josef Stallmach, Dynamis und Energeia, Meisenheim 1959, erklärt èvépyeia und èvzeAéxeia für .synonym', abgesehen davon, daß jenes prozeßhafte Verwirklichung, dieses Verwirklichtes bezeichne, um diese Differenz dann wiederum zurückzunehmen (vgl. 193ff.). 4 Vgl. De an. 417 b und Met. 1050 a. 5 Dean. 414a.

DRITTES KAPITEL: ARISTOTELES

202

will. Ebenso kann daraus die Notwendigkeit einer „bewegenden Ursache" erschlossen werden, da aus Form und Materie allein das Werden nicht erklärbar ist: „denn weder macht das Wasser selbst aus sich selbst ein lebendes Wesen, noch das Holz einen Stuhl, sondern eben die Kunst"1. Die Materie ist darin als bestimmte vorausgesetzt, daß der Handwerker sie im Hinblick auf die zu realisierende Form auswählt. Verbunden werden können beide nur durch ein zweckmäßig tätiges Prinzip, das also zum einen die Weise der Verbindung denkend erfassen, zum anderen sie tätig ausführen muß: „Das Werden und die Bewegung heißen teils Denken, teils Werktätigkeit; nämlich die vom Prinzip und der Form ausgehende Bewegung Denken, dagegen diejenige, welche von dem ausDas Denken analysiert geht, was für das Denken das Letzte ist, heißt den Formbegriff auf die Bedingungen seiner Verwirklichung. Das Resultat, dasjenige, womit begonnen werden muß, ist daher ,für das Denken das Letzte'. Zwar ist das am Modell des Handwerks entwickelt; weil Aristoteles aber die zweckmäßige Tätigkeit als ontologisches Moment des Entstehungsprozesses überhaupt erschließt, ist ihr telos vorgegeben und nicht Resultat eines freien Willensaktes. Was hier in der Ursachenbetrachtung nur beiläufig auffällt, wird in der Theorie der Handlung zum zentralen Problem werden. Die Äquivokation der Form in »Vorbild' und ,Wesen' einerseits und die inhaltliche Indifferenz von Zweck und Form andererseits bilden die erkenntnistheoretische Grundschwierigkeit von Ethik und Politik. Dennoch ist das Modell, in dem die Gegenstände bewußt hergestellt werden, notwendig, denn nur hier lassen sich Form und Materie in bezug auf das Herzustellende nicht bloß analytisch trennen, und nur hier, wo die Gegenstände nicht belebt sind, läßt sich die wirkende Ursache außerhalb der erkenntnistheoretischen Reflexion vorstellen; die scheinbar bloß aus einer Kritik des Sprachgebrauches entwickelte Analyse wird entscheidend bestimmt durch die Beispiele, die ebenso scheinbar bloß illustrieren.3 In der Verallgemeinerung der Betrachtung macht aber immer die Natur sich geltend, denn der Handwerker ist zwar „Ursache der Form an der Materie"4, auch mag er sich seinen Rohstoff selbst herstellen und eine besonders gestaltete Form erfinden, aber weder Form noch Materie werden in letzter Instanz von ihm hervorgebracht, „denn es würde so das Werden ins Unendliche und die Bestimmung des Prozesses verlöre sich in Unbestimmtheit. Das Erlernen der Form ist am wenigsten ein Argument für deren Entstehung, denn erlernt werden kann sie nur, insofern sie allgemein ist, und so ist sie indifferent gegen Zeit. Die Schwierigkeit der Übertragung dieser Betrachtung auf Naturprozesse liegt darin, daß dort weder Form und Materie getrennt bestimmbar sind, noch ein die Einheit Wirkendes festgestellt werden kann. Der Versuch einer strengen Analogie steht daher im

Werktätigkeit."2

gehen"5

1 2 3 4 5

GC 335 b. Met. 1032 b. Hier greift Wolfgang Wieland, Die aristotelische Physik, a.a.O., 262 zu kurz. Met. 1034 a. Met. 1033 b.

II. METAPHYSIK ZWISCHEN ONTOLOGIE UND SELBSTBEWUSSTSEIN

203

Widerspruch zu den bisherigen Bestimmungen: „Der Same bringt in der Weise hervor (der Künstler) das Kunstwerk. Er hat nämlich die Form dem Vermögen nach in sich, und dasjenige, wovon der Same ausgeht, ist in gewisser Weise ein Gleichnamiges."1 Das ,Gleichnamige' steht für die Form, der Same für den Handwerker, was schon wie

seltsam genug ist. Darüber hinaus aber läßt sich die Materie im natürlichen Entstehungsprozeß nur bestimmen, wenn sie mit der Bestimmung der Form verwoben wird, die als ihre eigene Möglichkeit fungiert. Form und Materie sind nicht einzeln aufzuweisen. Zwar sollten sie dasselbe sein, aber eben unterschieden nach den Modi. Ein „elöoc verwischt die ohnehin bloß analytische Unterscheidung. Indes weist das Ineinsfallen beider Bestimmungen auf das einzige Analogon von Artefakt und Natursubstanz, das sich finden läßt. Dies besteht in der Autosemantie der Form, aufgrund der Indifferenz von Allgemeinem und Besonderem, insofern dieses als Bestimmtes gilt. Der schlichte Ausdruck hierfür in der Natur ist: „Der Mensch erzeugt wieder einen Menschen."3 Damit ist dem Hervorgang des Einzelnen seine Bestimmung als existierende Art vorausgesetzt: „Als Eigentümlichkeit des Wesens muß man [...] herausheben, daß notwendig ein anderes in Wirklichkeit existierendes Wesen vorher vorhanden sein muß, welches es hervorbringt; z. B. ein Lebewesen, wenn ein Lebewesen entsteht."4 Im Arterhaltungsprozeß beziehen sich Exemplare zugleich als identische und verschiedene aufeinander, das Allgemeine bezieht sich auf sich, indem es in sich verschieden ist. Zwar ist die Reflexivität der Art gleichgültig dagegen, durch welche Exemplare sie sich erhält,5 doch als Resultat dieses reflexiven Prozesses ist das neue Exemplar durch diese Reflexivität bestimmt.6 Die Arterhaltung ist daher dasjenige, „um deswillen alles wirkt, was (seiner) Natur gemäß wirkt." Denn vermöge ihrer können die Exemplare „am Göttund lichen Ewigen nach Kräften teilhaben". „Das ,um deswillen' ist aber ein zweifa-

bwäpei"1

Met. 1034 a. Vgl. 1034 a. Met. 1033 b. Met. 1034 b. Martin Heidegger, Vorlesungen 1923-1944, Gesamtausgabe, Band 45, Frankfurt 1984, 58ff. hat richtig gesehen, daß sowohl yévoç als auch tó tí r/v eïvai das bezeichnen, was das Wesen allgemein schon war, bevor es als Einzelnes wurde. Merkwürdig sind seine Beispiele: Tisch, Haus, Pflanze. Keines davon bezeichnet eine natürliche Art. 5 Vgl. GC 338 b. 6 Erich Frank, „Das Problem des Lebens bei Aristoteles und Hegel", in: Deutsche Vierteljahreszeitschr. f. Literaturwiss. u. Geistesgesch, Halle 1927, bemerkt unter peinlicher Vermeidung des Wortes .Reflexion', daß das Allgemeine des Begriffes eine .potentielle Existenz' im Zeugungsprozeß habe; dies sei Modell für die Kreisform des Lebens, Denkens und Werdens (vgl. 616). Thomas Buchheim, „Genesis und substantielles Sein", in: Metaphysik, hg. v. Christoph Rapp, a.a.O., 105ff, kommt grundsätzlich zu einer richtigen Interpretation der Kapitel 7-9, ohne aber die Bedeutung der Reflexivität im Verhältnis von Kunst und Natur voll zu erfassen. Nicolai Hartmann, „Aristoteles und Hegel", a.a.O., 250, sieht gerade hier, wo die Nähe zu Hegel deutlich wird, die größte Differenz zu ihm: „Bei Aristoteles ist der Prozeß etwas Untergeordnetes, nur Mittel zum Zweck, an sich selbst aber wertlos." 1 2 3 4

204

Drittes Kapitel: Aristoteles

ches, das eine als das wozu, das andere als das womit." Die Natur, die Art ist real in diesem Prozeß, der als ,wozu' auf die Realisation der unendlichen Reflexivität der Art gerichtet ist, als ,womit' aber restringiert ist durch die Exemplare, in denen selbst diese

Unendlichkeit nicht verwirklicht werden kann. Insofern diese Reflexion gebunden ist an Daseiende, ist sie vermittelt über Nicht-Reflexives, denn die Materialität war zwar in Hinblick auf die Form erschlossen, ließ sich aber nicht in deren Begriff auflösen, weil diese ohne die Seite der Selbständigkeit des Materials unverwirklicht blieb. Darüber hinaus ist die Voraussetzung des Fortpflanzungsvermögens das in dessen Reflexivität der Selbsterhaltung zwar das Einzelwesen durch sich selbst bestimmt, aber darin noch an die fremde Natur gebunden ist. So ist die Substantialität des natürlichen Wesens begründet in seiner reflexiven Existenz, in der es ein allgemeines Bestehen außerhalb des Urteils hat: „Wenn es [die Artform, M. St.] selbständig existiert, so bei den natürlichen Dingen."3 Und doch kommt es als substantiell Allgemeines nur in Betracht für die denkende Vernunft. Obwohl die ontische Substantialität nur durch Analogie zur handwerklichen Tätigkeit aus dieser erschlossen werden konnte, läßt sich die Selbständigkeit von Handwerksprodukten nun nur in Analogie zu den Natursubstanzen bestimmen,4 denn diese haben aufgrund ihrer Reflexivität das „Prinzip von Veränderung und Bestehen" in sich, die Artefakte aber haben es „in anderem und außerhalb"5, nämlich im Handwerker. Daher kann die Einheit und Selbständigkeit ihrer Artform nicht durch eine immanente Reflexion, sondern nur durch die Reflexivität des Begriffes, der unmittelbar eingesehen wird, bestimmt sein. Im Unterschied zu den Natursubstanzen kann es Artefakte außerhalb der Beziehung auf ein denkendes Wesen nicht geben. Nur aus praktischer Beziehung auf die Welt kann das Denken sich diese erschließen, und es erschließt damit zugleich sich selbst als Medium dieses Schlusses. So setzt die Aristotelische Ontologie die Gegenstände nie aus der Relation zum Denken hinaus, denn wenn sie es tut, hat dies schon die Absicht, die Gültigkeit der Vernunfterkenntnis zu bestimmen. Es ist die eher zurückhaltende Einsicht, daß man Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis nicht dort ansiedeln dürfe, wo keine Erkenntnis möglich ist. Hieraus läßt sich auch die Identi-

Nährvermögen,2

1 De an. 415 af. Die unverständliche Übersetzung dieser Stelle durch Seidl ist erheblich verändert worden. Die Korrektur der Übersetzung der Äquivokation des ,Weswegen' folgt dabei der Übersetzung Olof Gigons, Vom Himmel, Von der Seele, Von der Dichtkunst, Zürich 1983. Zur Ewigkeit in der genetischen Reproduktion vgl. Nomoi 721 bff. und Symposion 206 bff. 2 Vgl. Dean. 416 a und 413 af. 3 Met. 1070 a. 4 Klaus Oehler, Ein Mensch zeugt einen Menschen, Frankfurt 1963, sieht den Vorrang der Natursubstanz, aber nicht, daß er nur durch die Reflexion auf das Handwerk erkannt werden kann, daher die Priorität der Natur nicht absolut ist. Es gibt durchaus Brüche in der „teleologischefn] Ontologie" (59) in der Metaphysik des Aristoteles, wenngleich sie nicht beabsichtigt sein dürften. Ähnliches gilt für Erich Frank, „Das Problem des Lebens bei Aristoteles und Hegel", a.a.O., 614, der in der Folge Aristoteles einen „idealistischen Naturbegriff' (620) attestiert. 5 Phys. 192 b.

II. Metaphysik zwischen Ontologie und Selbstbewusstsein

205

fikation von Wesen und Einzelding erklären.1 In Abgrenzung gegen die Ideenlehre ist nach Aristoteles das substantiell Allgemeine nicht außerhalb des Einzeldinges und auf dieses durch Teilhabe bezogen, sondern beide sind, soweit das Einzelne substantiell ist, „notwendig ein und dasselbe"2. Denn wären sie „getrennt voneinander, so würde es von dem einen [dem Einzelding, M.St.] keine Wissenschaft geben, und das andere [das Sosein, M. St.] würde nichts Seiendes sein [...]; denn Wissenschaft findet bei einem jeden Gegenstande dann statt, wenn wir sein Sosein erkannt haben"3. Es ist darum zu tun, eine Wissenschaft nicht über der Welt zu installieren, sondern in ihr. Daß sie praktisch werde, ist darin der Sache nach enthalten; mit der wechselseitig analogischen Bestimmung von Natursubstanz und Artefakt gelingt es aber nicht, den teleologischen Rahmen zu sprengen, weil die Reflexion ihre vermittelnde Funktion und damit die Seite der Freiheit menschlicher Tätigkeit noch nicht voll erfaßt.

4.

Das unbewegt Bewegende

Die Bestimmung der Substantialität als reflexiver Prozeß läßt in zwei Hinsichten offen, wie die Welt des Seienden insgesamt als Einheit zu fassen sei. Erstens: Wie läßt sich, da Substanzen entstehen und vergehen, begründen, daß nicht in jedem Augenblick eine andere Welt bestehe? Zweitens war die Ordnung des Seienden durch die Kategorien bestimmt, die sich ergeben hatten als die prinzipiellen, nicht mehr reduziblen Unterschiede im Seienden. Der Begriff des Seienden selbst konnte zwar als Resultat der Reflexion der erkennenden Seele auf das Viele die Einheit bestimmen, aber daraus ging nicht hervor, ob diese Reflexion ein fundamentum in re habe. Weder durch Annahme einer weiteren Kategorie, noch durch Hypostasierung des Seienden oder Einen läßt sich die Einheit der Welt fassen, „außer dem Wesen und den anderen Kategorien gibt es kein Gemeinsames"4. Die Kategorie Substanz, die am ehesten noch geeignet wäre, die Einheit der Kategorien zu bestimmen, bezieht sich nun selbst auf viele unterschiedene Substanzen, die durch unterschiedliche Formen, Materien und Wirkursachen getrennt sind. Die reflexiven Prozesse der je bestimmten Wesen zu verallgemeinern, ist nach Aristoteles nur durch Analogie möglich, die aber keine konkrete begriffliche Allgemeinheit bewirke; der Begriff des Prozesses, der auf diese Weise entsteht, sei bloß abstrakt.5 Es gilt, soll die Bestimmung der Reflexion und Prozessualität sinnvoll erhalten bleiben, ausgehend von den natürlichen Prozessen einen Begriff des Prozesses zu entwik1 2

Vgl. Karl Heinz Haag, Philosophischer Idealismus, a.a.O., 7.

Met. 1031 b. 3 Met. 1031 b. 4 Met. 1070 b. Hermann Bonitz übersetzt statt .Gemeinsames' .allgemeine Gattungsbegriffe', wodurch die falsche Interpretation des unbewegt Bewegenden als personhafte Gottheit wenigstens begünstigt wird. 5 Vgl. Met. 1070 b.

206

Drittes Kapitel: Aristoteles

kein, der unter allgemeinen Bestimmungen dem Besonderen doch gerecht wird. Die Be-

sonderheit des Besonderen erscheint dabei unter dem Begriff der Bewegung, der bei Aristoteles vor der Ortsbewegung noch qualitative Veränderung sowie Entstehen und Vergehen bedeutet. Damit ist der Bewegungsbegriff Begriff des Prozesses als Vermittlung eines Ausgangszustandes mit einem Endzustand. „Da bei jeder Kategorie geschieden ist das der Verwirklichung nach Seiende und das der Potenz nach Seiende, so ist eben die Verwirklichung des der Potenz nach Seienden, insoferne es ein solches ist, die Der Begriff des Prozesses, so aus der kategorialen Ordnung der Welt gesteht auch für Mannigfaltigkeit. Da sich die Welt ewig in solcher Bewegung bezogen, findet,2 müßte ihr Begriff für sie „den Haltpunkt bilden"3. Nun soll dieser Begriff einerseits nicht abstrakt von der Welt getrennt sein, andererseits muß er eminent von ihr verschieden sein, sonst würde er der Welt „mitfolgen und gleichfalls sich verändern müssen"4, das vorgebliche Prinzip wäre selbst nur Prinzipiiertes. Mit anderen Worten: Es geht um einen Begriff der Totalität, der zugleich der Endlichkeit der Welt und der Unendlichkeit des Begriffs gerecht werde, und damit das durch das öv r) öv antizipierte Verhältnis von Denken und Gegenstand überhaupt prinzipiell fasse. Damit kommt dem unbewegt Bewegenden eine Funktion zu, die noch hinter das öv r] öv zurückgeht; war dieses als erschlossene analoge Einheit des Seienden schon an sich reflexiv, so soll die Totalität des unbewegt Bewegenden das in der erschlossenen Reflexivität liegende Verhältnis von Erschließendem und Erschlossenem selbst noch einmal reflektieren. Obgleich zweifellos in metaphysischer, ontologischer Gestalt, ist hier die Struktur des Begriffs des Begriffs antizipiert. Daß die Totalität kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist, ist eine Konsequenz der Herkunft der Aristotelischen Philosophie aus der Platonischen, aber aufgrund der argumentativen Entwicklung des Theorems keineswegs Plato-

Bewegung."1

nistisch.5

Die Vielzahl der Ausführungen in den Physikvorlesungen zu diesem Gegenstand lassich auf zwei entscheidende Argumente reduzieren,6 die sich beide auf die

sen

1 2 3 4

Unmög-

Phys. 201a. Phys. 251 b.

Phys. 258 b. Phys. 267 a. 5 So will es dagegen Werner Jaeger, Aristoteles, a.a.O., 230f. 6 Obwohl die Herleitung des obersten Prinzips in der Physik nicht nur denselben Ausgangspunkt hat, wie in der Metaphysik sondern auch großteils dieselben Argumente verwendet, hat sie eine andere Position innerhalb der Philosophie. Dies trifft überhaupt auf alle Parallelen der beiden Schriften zu: In der Physik ist der Gegenstandsbereich begrenzt, er umfaßt das .Bewegliche' (vgl. Met. 1069 af, 1005

af, 1025 b). Das heißt, sie handelt von Prinzipien mechanischer Gegenstände, während die Metaphysik auf die Prinzipien alles Seienden ausgerichtet ist, insofern sie die Ergebnisse der Physik spekulativ weiter entfaltet, als diese Wissenschaft selbst, die versucht, noch jedes Phänomen unter den allgemeinen Bestimmungen aufzuweisen. Das Prinzip der Bewegung ist jedoch keine bloße Überschneidung, sondern der Übergang der Naturbetrachtung in die Erste Philosophie. Daher haben die Ausführungen der Physik hier nicht nur ergänzende Bedeutung.

II. Metaphysik zwischen Ontologie und Selbstbewusstsein

207

lichkeit des unendlichen Regresses beziehen, der zum einen entsteht, weil alles Bewegte eine bewegende Ursache außer ihm hat, also nicht aus sich selbst bewegt ist, und es so gar keine Bewegung gäbe, wenn nicht ein Erstes angenommen würde, das sich selbst und anderes bewegte;1 zum anderen setzt jede Bewegung ein bewegbares Substrat voraus, das aber entstanden sein muß. Dieses Entstehen stellt nur wieder eine Bewegung dar, deren Substrat eine weitere voraussetzt und so fort. Beide Argumente gehen von der Erfahrung aus, daß es Bewegung Der Ausdruck, Bewegung werde gesehen, geht darauf zurück, daß nach Aristoteles in mehreren verbundenen Wahrnehmungen schon ein Gegenstand der Erfahrung gegeben ist, wobei ihm durchaus bewußt ist, daß die Auffassung von Bewegung eine synthetische Leistung ist, der Begriff der Bewegung kann nicht ohne eine ,Einheit' gedacht werden, das heißt Anfangs- und Endpunkt des Prozesses müssen durch kategoriale Gleichheit, Artgleichheit oder Identität des Substrates verbunden sein.4 Da nun in der Natur nach Aristoteles unbegrenzt viele solcher Bewegungen zu einer Zeit stattfinden, ergebe sich eine unendliche Bewegung in endlicher Zeit. Da dies nun nicht ein Substrat, sondern selbst unendlich viele habe, sei das kein Widerspruch. Allerdings bilden alle diese Bewegungen, da sie in irgendeiner Weise aufeinander bezogen seien, ein System, das gleich ob es selbst endlich oder unendlich sei ein Eines sei. An ihm könne eine unendliche Bewegung nicht statthaben.5 Auch wenn das Universum nicht aus unendlich vielen Teilen besteht, schlägt hier das Argument an, daß die Einheit aller Teil Veränderungen nicht der Gegenstand einer Einzelwissenschaft, noch weniger der Erfahrung sein kann. Das Resultat ist daher, daß diese Einheit als prinzipiell zugleich Bewegendes und Bewegtes genommen werden muß und ihren Ort in der Spekulation hat. In ihrer Bestimmung überschreitet die Erörterung die Natur und geht über in jene, „welche das er-

gibt.3

-

-

Princip betrifft"6. begründet vorausgesetzte Anfangs- und Endlosigkeit der Zeit7 wird in der Metaphysik das zentrale Argument. Es sei unmöglich, Prozessualität und Zeit getrennt voneinander zu denken.8 Sonst müßte das Entstehen der Zeit zu denken sein, das aber selbst ste

Die

Vgl. Phys. VII, 1, (hg. v. Karl Prantl) 339. Die Bekker-Zählung fehlt hier, da Prantl wegen des „merkwürdigen Schicksales" dieser Passagen den von Spengel hergestellten „ächten Aristotelischen Text" wiedergibt, der von Bekker erst später zur Kenntnis genommen wurde. Hierzu vgl. Phys. (hg. v. Karl Prantl) 337. Nach Klaus Oehler Die Lehre vom noetischen und dianoetischen Denken bei Piaton und Aristoteles, a.a.O., 206 ist dies eine rein methodische Überlegung, die allein zum unbewegt Bewegenden führt. 2 Vgl. Phys. 251a. 3 Vgl. Phys. 256 b. 4 Vgl. Phys. (hg. v. Karl Prantl) 341, auch GC 323 bf. 5 Vgl. GC 323f. 6 Vgl. Phys. 251a. 7 Vgl. Phys. 251 bf. 8 Auch Karl Heinz Volkmann-Schluck, Die Metaphysik des Aristoteles, a.a.O., erkennt im Verhältnis von Bewegung und Zeit den Übergang zum unbewegt Bewegenden. (186). 1

Drittes Kapitel: Aristoteles

208

ein Prozeß ist und als solcher in ein Früheres und ein Späteres, also unter Zeitbestimmungen zu differenzieren ist. Sollte andererseits die Prozessualität entstehen, wäre sie ihrer selbst Weil das Vergehen von Zeit und Prozessualität gleichermaßen undenkbar sind, ist die Welt ohne Ende. Wenn das so ist, können die Wesen nicht schlechthin vergänglich sein, denn vergingen sie vollends, so „ist alles vergänglich" da alles andere Seiende nur durch sie existiert. Die Seite der Unvergänglichkeit der Substanzen hatte sich mit der Reflexivität der Art ergeben; nun soll für die Welt ein Prinzip angegeben werden, das sie nach ihrer Beschaffenheit als Veränderliche erklärt, ohne selbst dieser Veränderlichkeit in gleicher Weise zu unterliegen. Dies ist eben der Begriff der Veränderung, der Bewegung, das „erste Bewegende", das, wenn „es wohl bewegt wird, jedoch nicht von einem Anderen, [...] nothwendig selbst von sich selbst In diesem Begriff wird das, was im Einzelfall separat erscheint, Ausbewegt gangspunkt und Resultat, in Einem vermittelt. Soll Prozessualität überhaupt gedacht werden können, muß sich die Vermittlung von Ausgang und Resultat durch den Prozeß in einem Begriff fassen lassen, in dem er nicht „vermittels eines Etwas", sondern „selbst vermittels seiner selbst bewegend ist"4. Wenngleich Aristoteles in der Physik bemüht ist, diese widersprüchliche Bestimmung durch Distinktionen auseinanderzulegen, muß er doch immer wieder auf die grundsätzliche Einheit des unbewegt Bewegenden hinauskommen. Das Vermitteltsein der Mannigfaltigkeit ist nun in ihrem Begriff reflexiv in sich zurückgenommen; so wird die Vermittlung durch ein Unmittelbares bestimmbar, einen ,Haltepunkt', der wie die anderen Prinzipien nicht weiter reduzibel ist. Die damit verknüpfte Unendlichkeit und Unbewegtheit ist nur begrifflich zu fassen, ein Gegenstand in der Welt des Sinnlichen ist es nicht, im Gegenteil ist es „von dem Sinnlichen getrennt"5. Daher ist dieses Prinzip nicht einfachin als hypostatischer Mittelpunkt einer Ideologischen Ordnung zu verstehen, es wird vorrangig „nicht als jenes, um dessen willen die Bewegung vor sich geht, sondern als jenes, woher der Anfang (Prinzip) der Bewegung ist"6, betrachtet. Die einzige Bestimmung, nach der „das Um-dessen-Willen zu dem Unbewegten gehört"7, bezieht sich schon nicht mehr auf das unbewegt Bewegende im besonderen, sondern auf das Verhältnis von Prinzip und dem durch es Erklärten überhaupt. Die Naturprozesse verlaufen nach Aristoteles gemäß einer inneren Ausrich-

vorausgesetzt.1

,

[wird]"3.

1

Vgl. Met. 1071 b.

Met. 1071 b. 3 Phys. 256 a. Nach Klaus Brinkmann, Aristoteles' Allgemeine und Spezielle Metaphysik, a.a.O., ist das unbewegt Bewegende von der modernen Philosophie nicht mehr erklärbar, sondern eine „Idiosynkrasie" (1), die auf Skurrilitäten führe. So falsch wie dies sind daher alle in dem KapiÜberlegungen tel, das er dann doch geschrieben hat. Die entscheidende Stelle 1072 a lOf. wird vollständig ignoriert, so daß er Aristoteles eine „Letztbegründung" (11) unterstellen kann. 4 Phys. 256 a und 257 bff. 5 Met. 1073 a, vgl. Phys. 254 a. Zu der zitierten Phrase ergänzt Hermann Bonitz aus freien Stücken .selbständig existierendes Wesen'. Davon ist bei Aristoteles nicht die Rede. 6 Phys. VII, 2, (hg. v. Karl Prantl) 343. 7 Met. 1072 b.

2

II. METAPHYSIK ZWISCHEN ONTOLOGIE UND SELBSTBEWUSSTSEIN

209

tung auf die eigene èvxeAéxeia, können aber auch davon abweichen. Soll diese Be-

stimmung des Naturprozesses aber allgemein gefaßt werden, dann nur in einem Prinzip, bei dem es „auf keine Weise möglich [ist], daß es sich anders verhalte"1. So ist durch das Weswegen der theoretische Vorrang des Prinzips bezeichnet, denn das, weswegen etwas ist, ist in seiner Bestimmtheit eben nicht in der gleichen Weise abhängig von dem, das

seinetwillen ist, wie andersherum. So drückt die Relation von „Lieben„Geliebtem"2 allegorisch den eminenten Unterschied zwischen Prinzip und Prinzipiiertem aus. Jede Interpretation der Theorie des unbewegt Bewegenden als Gottesbeweis kann nur einzelnen Formulierungen Rechnung tragen, der Sache wird sie nicht gerecht. Das unbewegt Bewegende ist das erschlossene, damit an das Verhältnis des Denkens zu seinen Gegenständen gebundene Prinzip kontinuierlicher Entwicklung der Welt, nicht aber als Summe von deren Ursachen, sondern als die ewige begriffliche Einheit des Vielen, „denn von dem Immerwährenden und Continuirlichen ist weder ein Einzelnes aus diesem eben genannten [das sind Formen von Ursachen, M. St.] noch Sämmtliches die Ursache, denn das, daß jenes sich so verhält, ist immerwährend und nothwendig, das eben genannte aber als Sämmtliches ist unbegränzt Vieles und existirt nicht zugleich, insoferne es Sämmtliches ist"3. Da das Prinzip Ausdruck des Verhältnisses des Denkens zu seinen Gegenständen ist, ist es allerdings kein bloß nominelles Prinzip, sondern beansprucht zugleich ein fundamentum in rerum. So ist es der begriffliche Ausdruck dessen, was als „eine Art Belebung für das gesammte von Natur aus Bestehende"4, also als Seele der Natur angenommen werden kann. Im Vordergrund steht jedoch die Suche nach einem Prinzip, das die Welt zu erklären vermag, daher läuft die Bestimmung des unbewegt Bewegenden auf den Begriff der Totalität hinaus. In ihm ist die Bewegung, das Zeitliche in der Weise der Ewigkeit gedacht, die Kontinuität des Vielen in der Weise der Einheit; nur so kann die Welt gedacht werden, wenngleich sie nicht so erscheint.5 Die Ideologische Seite dieser Theorie liegt aber darin, daß jedes Seiende in der Totalität des unbewegt Bewegenden rational geordnet ist, und zwar auf dieses hin. Weil die um

dem" und

1 2

Met. 1072 b. Met. 1072 b.

Ausgerechnet in dieser Allegorie sieht Horst Seidl schon systematische Theologie (Beiträge zu Aristoteles' Erkenntnislehre und Metaphysik, a.a.O., 209). Als Gottesbeweis interpretiert dies fast die gesamte Literatur, besonders deutlich: Johannes G. Deninger, Wahres Sein" in der Philosophie des Aristoteles, a.a.O., 177, Enrico Berti, Der Begriff der Wirklichkeit, a.a.O., 307, am deutlichsten aber Seidl, der bei Aristoteles einen induktiven Gottesbeweis annimmt (Beiträge zu Aristoteles' Erkenntnislehre und Metaphysik, a.a.O., 145). Hans Georg Gadamer, „Vorgestalten der Reflexion", in: Ders., Gesammelte Werke, Tübingen 1985 u.a., Bd. 6, 128 zögert nicht, Hegels Begriff der Reflexion als „bloße Metaphern" zu bezeichnen, die Aristotelische Vorstellung Gottes für die Er„

kenntnis der Erkenntnis nimmt er wörtlich. 3 Phys. 258 b. 4 Phys. 250 b. 5 Vgl. Phys. 259 a und 267 af. und GC 336 b.

210

Drittes Kapitel: Aristoteles

Totalität aber in der

Ewigkeit des Begriffs ist, folgt dieser Teleologie die prinzipielle Natur- noch Menschengeschichte kann gedacht werden. In weder Unveränderlichkeit, dieser den Gedanken des Fortschritts wie den des Verfalls ausschließenden Verknüpfung von Begriff und materiell Seiendem in der Totalität liegt, weil sie negativ erschlossen ist, allerdings zugleich das Potential ihrer Überwindung: Die Seite der Rationalität weist dem unbewegt Bewegenden seinen Ort in der Seelentheorie an, in der das Verhältnis von Physik und Metaphysik vermittelt werden soll. Die Erläuterungen der Physik, die an die Anschauung geknüpft sind, stellen den Kern des Begriffes vom unbewegt Bewegenden metaphorisch dar. Die Ortsbewegung gilt dort als das Erste, weder Entstehen noch Veränderung können anfänglich sein, da die Welt als unentstanden gilt. Die Ortsbewegung verläuft nun gewöhnlich von einem Anfang zu einem Ende, in dem sie ruht. In dieser Gestalt kann sie nicht kontinuierlich sein, da jeder Umwendung eine Ruhephase vorausgesetzt ist. •y Allein die Kreisbewegung erfüllt diese Anforderung, weil auf der Kreisbahn der Endpunkt auch wieder Ausgangspunkt ist.3 Damit nähere diese Art der Bewegung sich am weitesten der Vollendung des begrifflich Bestimmten. So gilt sie als „das Maß der Uebrigen"4. Als das prinzipiell unbewegt Bewegende müsse nun die Einheit aus Zentrum und Kreisbahn betrachtet werden, da das Zentrum für die reine, ruhende Selbstbeziehung steht, die Peripherie aber für die durch jenes initiierte vollkommene Bewegung.5 Dies ist die metaphorische Darstellung reiner Reflexivität, die für Aristoteles schon deswegen nicht absolut ist, weil sie aus der Vielheit der Bewegungen als deren Einheit hervorgegangen ist. Aristoteles entwickelt nicht aus dem unbewegt Bewegenden die Vielheit, sondern er setzt das Prinzip, die Einheit der Welt, die Begriff ist, zur Vielheit ihrer Erscheinungen in Beziehung und erklärt daraus: „Wenn nun immer dasselbe im Kreislauf besteht, so muß etwas bleiben, was gleichmäßig in wirklicher Tätigkeit (èvépyeia) ist. Soll aber Entstehen und Vergehen vorhanden sein, so muß etwas anderes existieren, was in anderer und wieder anderer Weise ewig wirklich tätig (èvépyeia) ist."6 Die begriffliche Einheit, die dem Naturprozeß der Selbsterhaltung im Entstehen und Vergehen immanent ist, kann dessen vielfältige Erscheinungen nur erklären, wenn diese Einheit sich in verschiedenen Ursachen in die Welt entäußert. Die Einheit des Prinzips kann die Vielheit nicht ihrer bestimmten Erscheinung nach, aber grundsätzlicher deren unterschiedlichen Daseinsweisen im Räume nach zusammenfassen. Daher erklärt sich auch der erwähnte Vorrang der Veränderung dem Orte nach. In der Räumlichkeit ist die Voraussetzung aller weite1 Zur Teleologie in der Naturphilosophie vgl. Wolfgang Kulimann, „Notwendigkeit in der Natur bei Aristoteles", in: Aristoteles, Werk und Wirkung I, hg. v. Jürgen Wiesner Berlin 1987, 207-238.

2 3

Vgl. Phys. 261 af. und 264 a. Vgl. Phys. 264 b. 4 Phys. 265 b. 5 Vgl. Phys. 267 b. 6 Met. 1072 a. Die Ewigkeit der Vielheit in der Welt hat Hermann Bonitz unterschlagen.

II. Metaphysik zwischen Ontologie und Selbstbewusstsein

211

Veränderung gedacht: „Wenn also nothwendig immer Bewegung sein muß, so muß nothwendig auch immer Raumbewegung, als die erste der Bewegungen, sein."1 Daß es für die Darstellung des ewig im Kreise gehenden Weltprozesses gleich sei, ob man ihn durch zwei oder mehr Glieder beschreibt, weist nur auf die notwendige begriffliche Zirkularität.2 Die Metapher der Kreisbewegung wird schief gegen den Begriff, da das unbewegt Bewegende zugleich bei sich bleibt und nicht bei sich bleibt. Dies läßt sich bildlich nicht mehr darstellen. Die kontinuierliche erste Bewegung bezieht sich mittels anderer wieder auf andere, die so in sie eingebunden sind, aber als eminent unterschiedene, denn sie sind nach „Orten und Formen" differenziert. Sowenig wie das unbewegt Bewegende absolute Reflexion ist, ist es Initialzündung für den Weltlauf, denn „es muß also in der einen Weise in Beziehung auf sich selbst, in der anderen Weise in Beziehung auf anderes wirken, und dies also in Beziehung auf ein verschiedenes drittes oder auf das erste. Notwendig auf dies; denn dies ist wieder sich selbst, wie jenem anderen Ursache der Bewegung"4. Die Reflexivität des Begriffs der Totalität ist nur vermittels der materialen Inhalte der Totalität, so wie diese nur durch den Begriff als je solche bestimmt werden können. Noch in der Verwendung des Begriffes zur Erklärung der Vielheit bindet Aristoteles ihn genetisch an das, was er erklärt.5 Und doch ist das unbewegt Bewegende, „dessen Wesen Wirklichkeit ist"6, eminent von der Natur unterschieden, sonst könnte es nicht Prinzip sein. Als Begriff ist es „untheilbar und theillos und (hat) keine Größe"7. So ist es wirklich in der denkenden Vernunft und als der Vernunft Adäquates.8 Schlicht formuliert heißt das: „Prinzip ist die denkende Vernunft."9 Die Vernunft aber wird nur tätig in der Erfassung ihrer Gegenren

a

1 2 3 4 5

Phys. 260 b. Vgl. auch 261a. Vgl. GC 338 a. Phys. 260 a. Met. 1072

a.

Hegel verschweigt in seiner Interpretation dieser Stelle das Andere. Vgl. Geschichte der Philosophie II, a.a.O., 72. Klaus Oehler, Subjektivität und Selbstbewußtsein in der Antike, a.a.O., 52ff. erkennt das unbewegt Bewegende als absolute Selbstreflexion, aber nicht seine systematische Herkunft. Daher gelangt er zu dem Kompromiß, sie habe zwar ein Objekt, aber keinen Inhalt. Met. 1071 b. Phys. 267 b. Vgl. Phys. 256 b und Met. 1072 b. Met. 1072 a. Horst Seidl, Beiträge zu Aristoteles' Erkenntnislehre und Metaphysik, a.a.O., folgert aus der „reinen Wirklichkeit" in Verbindung mit „Vernunft" (208), daß das unbewegt Bewegende „transzendente" (209) Einheit von Subjekt und Objekt sei. Nun ist diese Einheit nicht transzendent, sondern negativ, indem sie als Voraussetzung der adäquatio rei et intellectus erschlossen ist. Das gelegentlich beachtete (z.B. Nicolai Hartmann, „Aristoteles und Hegel", a.a.O., S.215) und stets für angebracht gehaltene Zitat dieser Stelle am Ende von Hegels Enzyklopädie mißversteht Aristoteles also. Zwar nicht, wie Enrico Berti, „Der Begriff der Wirklichkeit", a.a.O., behauptet, indem Hegel die Substantialität Gottes auf reines Denken beschränkt (309), denn dies ist noch Aristotelisch, aber darin, daß Hegel in der Aristotelischen Bestimmung der Reflexivität die vollständige Vermittlung von Subjekt und Objekt, wie im absoluten Wissen, wähnt. 6 7 8 9

212

Drittes Kapitel: Aristoteles

stände. Zwar sind die Gegenstände nicht materialiter, sondern formaliter Gegenstände der Vernunft, denn sie ist „das aufnehmende Vermögen für das Intelligible und das Wesen"1. Aber als Bedingung dieser Beziehung der Vernunft als Vermögen auf sich als (Vernunft-)Gegenstand ist die Verschiedenheit in der Welt erschlossen, denn ließen sich nicht nur die Formen, sondern die Gegenstände im Ganzen unter die Intelligibilität der Totalität subsumieren, ließe sich Vielheit nicht erklären.2 Insofern aber das Denken im Erfassen des Intelligiblen bei seinem adäquaten Gegenstand ist, ist es vermittelte Reflexion, die vorjoiç vorjoecoç ist immer mitfolgend, aber als Voraussetzung für das jeweilige bestimmte Denken. Diese „göttliche" Tätigkeit des Intellekts, sich selbst als dem Höchsten stets gegenwärtig zu sein, ist daher noch Voraussetzung jedes Prinzips, denn wie sollte es erklärbar sein, daß das Denken aktiv sich auf sich bezieht, wenn es nicht in irgendeiner Weise sich stets gegenwärtig wäre? So ist die vorjoiç vorjoecoç, die einfachhin, nicht durch zeitliche, diskursive Vermittlung, sich erfassende Einheit des Intellekts (vovç). Sachlich zugänglich wird sie erst durch Denken von Inhalten, Stavoicc Sie ist das die Einheit des denkenden Selbstbewußtseins und durch diese die Einheit der erkennbaren Welt ermöglichende Prinzip, das als notwendig erschlossen werden muß und so schon die prinzipielle Unmittelbarkeit einbüßt. Darin ist es inhaltlich sehr wohl vermittelt. Nur insofern es bloß negativ zugänglich ist, könnte man es als dem dianoetischen Erkennen transzendent, gottgleich bezeichnen. Seine Ewigkeit ist aber nicht die einer hypostatischen Existenz, sondern beruht in der Außerzeitlichkeit des Unmittelbaren, in der der menschliche Geist prinzipiell bei sich ist. Das Changieren zwischen unmittelbar vorausgesetzter Reflexivität und vermittelter Reflexion im menschlichen Intellekt wiederholt sich bei der Bestimmung der Totalität, die Aristoteles noch nicht erkenntnistheoretisch an das menschliche Denken zu knüpfen vermag. Der Ausweg in die Gottesmetaphorik führt allerdings als vOTjOLç vorjoecoç zur Analyse des vovo in der Seelenschrift zurück.

1 2 3 4

Met. 1072 b.

Vgl. Met. 1069 b.

Met. 1074 b. Met. 1074 b, auch 1074 a. Auch das Bruchstück aus dem verlorenen Dialog Über das Gebet (vgl. Enrico Berti, „Der Begriff der Wirklichkeit", a.a.O., 208), nach dem Gott noch über dem Denken sei, kann somit als vorjoiç votjoecüc verstanden werden. Ingemar During, Aristoteles, a.a.O., stellt 554ff. fest, daß die Dialoge keineswegs sämtlich als platonisierende Frühwerke zu betrachten seien; man müsse davon ausgehen, daß dort die gleiche Lehre vertreten wird, wie sonst. Zudem weist er die Personifizierung des obersten Prinzips streng zurück (209). Erich Frank, „Das Problem des Lebens bei Aristoteles und Hegel", a.a.O., obgleich bei Aristoteles „religiöses Bewußtsein" (636) entdeckend, versteht vorjaiç vofjaewç als Wesen philosophischer Reflexion (629). Hans Joachim Krämer, Arete bei Piaton und Aristoteles, Heidelberg 1959, beklagt 556ff, daß der ,Unbewegte Beweger' bei Aristoteles im Gegensatz zu Piaton ontologisch undurchsichtig sei; allerdings ist so dieser Begriff auch nicht konstruiert.

II. METAPHYSIK ZWISCHEN ONTOLOGIE UND SELBSTBEWUSSTSEIN

5.

213

Von der Seele

Das unbewegt Bewegende ist nach Aristoteles nicht das letzte Prinzip der Wissenschaft, denn sowohl seine logische wie seine ontologische Bedeutung sind Produkt theoretischer Reflexion, deren Ort Vernunft ist, und nur aus ihr kann sich die Gültigkeit der wissenschaftlichen Prinzipien und Erkenntnisse erweisen.1 Ergäbe die Betrachtung der Vernunft, daß sie die Beziehung von Begriff und Gegenstand nicht vermittelt, wären die Begriffe nutzlos. Daher ist innerhalb der höchsten der Philosophischen Wissenschaften,2 der Ersten Philosophie noch einmal zu unterscheiden. Die Erste Philosophie muß, um die Gültigkeit ihrer primär gegenständlich bestimmten Erkenntnisse zu erweisen, auf ihr Prinzip, das Vermögen der Vernunfterkenntnis reflektieren. Die Vernunfttätigkeit gilt, wie jede Tätigkeit, als Äußerung eines belebten Wesens. Prinzip des Belebten aber ist die Seele, die daher auch Grundlage der Erkenntnis ist: „Wenn wir das Wissen für etwas Schönes und Ehrwürdiges halten, und zwar das eine Wissen mehr als das Andere, weil es mehr Genauigkeit hat oder auf bessere und erstaunlichere Gegenstände geht, so dürften wir aus den beiden Gründen die Forschung über die Seele mit Recht an die erste Stelle setzen. Die Erkenntnis von ihr trägt, wie es scheint, auch für die der Wahrheit im ganzen viel bei."3 Der erstaunlichste Gegenstand der Metaphysik, Gott,4 wird hier ausschließlich als denkende Seele vorgestellt. Indem die Seele zuerst als „Entelechie eines natürlichen, organischen bestimmt ist, ist die Betrachtung der Vernunft an ein daseiendes erkennendes Wesen geknüpft. Erst in der Einheit von Seele und Körper kann das denkende Wesen tätig werDaher muß der Körper eine den, wie der Handwerker nur durch das bestimmte, diesem Zweck genügende Beschaffenheit haben, er muß gegenständlich sein, um in einer gegenständlichen Welt zu bestehen; bei Aristoteles heißt das gemischt' im Unterschied zu elementarer Beschaffenheit.7 Verfügt ein solcher Körper über alle notwendigen Organe, so ist er „das in Möglichkeit Seiende"8. Als Substanz wird das Lebewesen vollendet durch die Seele, die sein organisches Verhältnis und dessen Erhaltung bestimmt. Aus dem näheren Verhältnis des Lebewesens zu den äußeren Bedingungen seiner Existenz, d.h. aus seinen Tätigkeiten und deren Gegenständen lassen sich die Seelenvermögen erschließen. Indem die Vermögen über ihre Tätigkeiten

Körpers"5

Werkzeug.6

1 in 2 3 4 5 6 7 8 9

Karl Heinz Volkmann-Schluck, Die Metaphysik des Aristoteles, a.a.O., erblickt ganz konsequent der Seelenlehre die „volle Bestimmung" (207) des Verhältnisses von Mensch und Absolutem. Zu deren Rangfolge vgl. Met. 1026 a. De an. 402 a. Vgl. Met. 1072 b. Hermann Bonitz übersetzt bewundernswert' statt ,erstaunlich'. De an. 412 b. De an. 407 b. Vgl. De an. 434 b. De an. 413 a. Vgl. Dean. 416 a.

DRITTES KAPITEL: ARISTOTELES

214

vermittelt aus der Relation auf ihre Objekte erschlossen werden,1 erweisen auch sie sich als Resultate von Reflexion, und zwar hier der Sache nach als Resultate der höchsten Stufe erkenntnistheoretischer Reflexion. Das zentrale Vermögen des Lebens ist die Assimilation für den Wachstumsprozeß, dem noch das Ernährungsvermögen vorausgesetzt ist. Sie sind die Grundlage des Belebten, dessen einfachste Gestalt die Pflanze ist. Damit sind jene Vermögen Voraussetzung für die Existenz jedes weiteren Vermögens, zunächst der Wahrnehmung, wodurch sich das Lebe-Wesen auszeichnet. Es bedarf ihrer, da es sich sonst nicht zielbewußt bewegen und damit nicht ernähren könnte. Weil jedes Entstehende sich gemäß seiner èvzeAéxeia entwickeln können muß, „muß das Lebewesen aber notwendig Wahrnehmung haben"3. Verbunden mit der Wahrnehmung und der Ortsbewegung ist das Streassoziiert ist. So orientiert und erhält sich ein bevermögen, dem ein Lebewesen in der materiellen Wirklichkeit. Die Wahrnehmung reagiert nun zwar auf materielle Reize, faßt aber die „wahrnehmbaren Formen ohne die Materie" auf. Die Sinne können sich nicht selbst affizieren, sie bewirken „ohne die Außendinge keine Wenn Aristoteles in expliziter Parallele zum Denken des Denkens von einer Empfindung dessen, daß wir empfinden, bezeichnet er in eher metonymischer Weise das Bewußtsein des eigenen Dadas kein reflektiertes zu sein braucht. Hier, bei der Analyse der Seelenfunktionen, seins, ist Aristoteles genau. Die Sinne müssen so beschaffen sein, daß ein Lebewesen sich durch sie in seinem Gegenstandsbereich orientieren kann, also innerhalb des Wahrnehmbaren Unterschiede erkennen kann.8 Als Bedingungen dieser Funktion werden sie erschlossen. Die Anzahl der Sinne ist mit fünf Für die Verbindung verschiedener Wahrnehmungen zu einer Vorstellung, ist ein Begriff oder wenigstens eine Erinnerung erforderlich, aufgrund derer dann „gemeinsame Empfindungen" synthetisiert werden, d.h. solche, die verschieden sind aber gleichzeitig Ein zusätzlicher Sinn ist hierfür ausdrücklich ausgeschlossen, allein die Erfahrung kann beurteilen lehren, ob die

„Fluchtvermögen"4

Wahrnehmung"6.

spricht,7

vollständig.9

erfolgen.10

1 2 3 4 5 6 7

Vgl. Dean. 415 a. Vgl. Dean. 413 a.

De an. 434 a. Dean. 431 a. De an. 424 a. Dean. 417 a. Vgl. EN 1170 af. und Met. 1074 b. Vgl. zur Interpretation Karen Gloy, Bewußtseinstheorien. Zur Problematik und Problemgeschichte des Bewußtseins und Selbstbewußtseins, Freiburg 1998, 149. 8 Vgl. De an. 422 b. 9 Vgl. De an. 425 a. 10 De an. 425 a. Seidl übersetzt statt .gemeinsamer Wahrnehmung', .gemeinsamer Sinn' und bezeichnet dies im Kommentar als .Gemeinsinn'. Dies ist ungedeckte Interpretation. Eine gründliche und vehemente Zurückweisung dieser falschen Übersetzung findet sich bei Wolfgang Welsch, Aisthe-

sis, Stuttgart 1987, 287ff

II. Metaphysik zwischen Ontologie und Selbstbewusstsein

215

Empfindungen dasselbe Objekt betreffen. Umgekehrt werden verschiedene Empfindun-

gen von demselben durch die Kontinuität und Diskretion der Sinne unterschieden, soweit diese dem vernünftigen Erfassen dienen. Dies wird modellhaft als Punkt dargestellt, sein Gegenstand als eine Linie. Das Erkenntnisvermögen teilt diese Linie und ist so gleichzeitiges Erfassen nach beiden Seiten. Für die bestimmte, und das heißt einheitliche Erkenntnis des Wahrgenommenen ist ein Vermögen erforderlich, das sich zur Wahrnehmung „so verhält, wie die geknickte Linie zu sich selbst als Die Wahrnehmung kann nicht ohne weiteres als rational oder irrational eingeordnet werden,3 es erfolgt von der Wahrnehmung aus ein Sprung zum Denken, ohne sich doch von jener vollständig abzulösen. Der Begriff der Wahrnehmung führt, wenn konkret gefaßt, direkt auf die Analyse des Denkens. Da dessen Bezug auf Gegenstände aber durch jene direkt hergestellt wird, beginnt die Seelenschrift mit der Wahrnehmung. Die Vernunft ist ein Vermögen der Seele, das eine den vernünftigen Wesen adäquate Reproduktion ermöglichen soll. Insofern die Bestimmung nur erklären soll, was ist, ist sie tautologisch. Insofern das, was ist, durch anderes ist, ist sie es nicht. Das vernünftige Wesen ist fähig, über die bloße Erhaltung, das Notwendige hinaus, sich erweitert zu erhalten, das heißt das Niveau der Bedingungen seines Daseins zu erhöhen, sich Annehmlichkeiten zu verschaffen, wozu nach Aristoteles auch die Wissenschaft zählt, wenngleich sie noch nicht als Bedingung erweiterter Reproduktion begriffen wird. Da dies die Bestimmung des vernünftigen Lebewesens ist, ist die Vernunft ein Mittel, sich in der Wirklichkeit zu orientieren. Daher ist sie zunächst aufnahmefähig für ihre Gegenstände, ihre èvxeAéxeia besteht gerade darin, anderes in sich aufzunehmen.4 Da sie aber nicht nur je Anwesendes erkennen soll, sondern Allgemeines, Unendliches, die Totalität der Gegenstände, muß sie selbst von allen Gegenständen eminent unterschieden sein, sie ist im Gegensatz zum Körper „unvermischt"5, d.h. nicht gegenständlich. Auf diese Weise hat sie nicht von vornherein eine bestimmte Gestalt der Wirklichkeit nach, sie ist der Möglichkeit nach alles, in bezug auf dessen Form. Dies ist ihre Wesensbe-

gestreckter"2.

stimmung.

Aktuell ist die Vernunft zunächst als wissende, gebildete Vernunft. Diese Aktualität steht selbst wieder in Potenz zur tätigen Verwendung des Wissens. Das Verhältnis ist das des architektonisch Ungebildeten zum ruhenden Archtitekten und dessen zum bau1 De an. 427 a. In der Seelenlehre faßt Aristoteles das Verhältnis von Kontinuität und Diskretion bemerkenswert anders, als in seiner physikalischen Kritik an Zenon, die dessen spekulativem Anspruch nicht gerecht wird. Im Reich der Vernunft ist Aristoteles zu Bestimmungen bereit, die er in der Naturphilosophie nicht unterbringen konnte. 2 De an. 429 b. 3 Vgl. De an. 432 a. 4 Vgl. De an. 417 b. 5 De an. 429 a, vgl. 434 b. 6 Vgl. De an. 429 a.

Drittes Kapitel: Aristoteles

216

enden.1 Die zweite Potenz ist nicht nur Voraussetzung der gebildeten Tätigkeit, sondern ist zugleich Potenz der bestimmten Reflexion, „dann vermag sie auch sich selbst zu erkennen"2. In der ersten Potenz kann sie sich nicht in bestimmter Weise auf sich beziehen. Es läßt sich aber auch nicht absehen, wie die Vernunft aus reiner Potentialität sich selbst aktualisieren könne, denn anderes als Vernunft selbst kann aufgrund ihres eminenten Unterschiedes zu allem anderen Seienden auf sie nicht wirken. Und ihre adäquaten Gegenstände muß sie sich selbst produzieren, denn unter den materiellen Gegenständen „ist ein jedes Intelligible nur der Möglichkeit nach da"3. So wäre die Vernunft ein Abgetrenntes, Unbestimmtes, dessen Reflexion eine Bewegung von Nichts zu Nichts bleiben müßte. Für die Bestimmung der Reflexion, wie für die des Erkenntnisprozesses überhaupt, ist es erzwungen, eine Aktualität der Vernunft anzunehmen, durch die sie sich realisiert. Da diese aktuale Vernunft äußerlich nicht gegeben ist, muß es eine Bestimmung der Vernunft selbst sein, sie muß das, was sie aufnimmt, selbst herstellen. Diese Fähigkeit muß ihrem Inhalt nach darin bestehen, Vorstellungsbilder von der Anschaulichkeit zu trennen und Gegenstände als Allgemeines zu betrachten. Andererseits kann die Vernunft, wenn sie Bestimmtes denkt, nicht auf Vorstellungen verzichten. So ist sie nicht reine Produktivität, sondern ist auf ihre Gegenstände eben immer auch rezeptiv bezogen. Der Erkenntnisprozeß kann so analog den Prozessen bestimmt werden, die eine Form in einem Material verwirklichen: „[Auch] in der Seele [müssen] diese Unterschiede vorliegen, und es gibt eine Vernunft von solcher Art, daß sie alles (Intelligible) wird, und eine von solcher, daß sie alles (Intelligible) wirkt."4 In diesem Prozeß ist das, was zu etwas wird, und das, wodurch es wird, dasselbe, die Vernunfttätigkeit ist Reflexion. Das, wozu es wird, ist der Vernunft adäquat, bewahrt aber deren Verwiesenheit auf Nicht-Vernünftiges. Erst aus dem Versuch zu dessen Vermittlung mit der Vernunft konnte die Bestimmung der Reflexivität gewonnen werden. Freilich sind wirkende und leidende Vernunft noch nicht, wie später bei Thomas, durch den Willen miteinander vermittelt. Sie sind hier Reflexionsbegriffe, die noch nicht vom Bewußtsein der Reflexion ihrer selbst begleitet sind. Der tätigen Reflexion ist die Bestimmung der Vernunft hierzu vorausgesetzt, die sich höchstens noch als Reflexivität an sich bezeichnen, nicht aber weiter analysieren läßt, 1 2 3 4

Vgl. De an. 417 a.

429 b. 430 a. an. 430 a. Horst Seidl hat in seiner Einleitung zu: Aristoteles, Über die Seele, XXXIX richtig gesehen, daß diese der Materialität analogisierte Vernunft nicht mit der Vernunft der Möglichkeit nach aus Kapitel 4 identisch, sondern erschlossenes Prinzip der Vernunfterkenntnis ist. Er zieht aber die Konsequenz, daß der Gegenstand zweimal aufgenommen werde, durch die vermögende Vernunft (die Seidl nun mit der aktualen identifiziert), die dem Gegenstand gleich werde, und durch die materiale, die ihm nicht gleich werde (XLI). Dagegen muß gesagt werden, daß gerade auch die aktuale Vernunft erschlossenes Prinzip ist; durch beide Prinzipien wird dann die Vernunfttätigkeit bestimmt, die vorläufig als Erkenntnis der Möglichkeit nach gefaßt war. Überdies wird die aktuale Vernunft von Seidl in die Nähe des Averroistischen Monopsychismus gerückt (XL). De De De

an. an.

II. METAPHYSIK ZWISCHEN ONTOLOGIE UND SELBSTBEWUSSTSEIN

217

da sie keine inhaltlichen Bestimmungen aufzuweisen hat. Aristoteles bezeichnet sie daher zunächst als habituell (ë£,iç) und drückt dies metaphorisch aus als eine „Schreibtafel, auf der noch nichts in Wirklichkeit geschrieben steht"1. Die traditionelle Interpretation dieses Bildes als reine Passivität ist falsch, da es schon eine affirmative Bestimmung der Vernunft enthält: Es kann nur auf einen solchen Gegenstand etwas geschrieben werden, der zunächst selbst schon durch sich selbst etwas ist. Darüber hinaus muß er ein solcher sein, der zum Beschreiben auch bestimmt, das heißt geeignet ist. Diese nur den vernunftbegabten Wesen eigene ursprüngliche Reflexivität ist als Einheit von Aktivität und Passivität zu bestimmen. So ist sie an ihr selbst verwiesen auf bestimmte Erkenntnis, Bildung ihrer selbst, als Voraussetzung der tätigen Reflexion. Dieser ist der Begriff der entwickelten bestimmten Reflexivität immanent, die in einem jüngeren Ausdruck Selbstbewußtsein heißt.2 Die Vernunft läßt sich rein nur betrachten, wenn in der erkenntnistheoretischen Reflexion die wirkende Vernunft von der aufnehmenden getrennt wird, so daß sie sich absolut tätig nur auf sich bezieht; das schlechthin bringt beständig die eigene von Intelligibilität hervor, unabhängig körperlichen Organen, da die Vernunft in sich selbst nur Immaterielles zum Gegenstand hat. So als reiner Begriff ihrer selbst ist sie „was sie (ihrem Wesen nach) ist, und nur dieses (Prinzip) ist unsterblich und Als Voraussetzung der Reflexion ist diese absolute Reflexivität notwendig zu denken, aber sie ist völlig leer, und notwendig bleibt sie es auch: „Wir haben (dann) aber keine Erinnerung, weil dieses leidensunfähig ist, die leidensfähige Vernunft hingegen vergänglich ist, und ohne diese jenes nichts (von dem Erinnerbaren) erkennt."5 Die unsterbliche Vernunft ist unbeschadet ihrer Unsterblichkeit nur in sterblichen Wesen tätig, die sich in der Welt reproduzieren. In der Seelenlehre liegt so der Übergang zu Ethik und Politik, vermittels der Theorie der Handlungen, für die noch weitere Seelenvermögen zu entwickeln sind, die für Streben und Entscheidungen zuständig sind. Aber ohne den Begriff der reinen Vernunft wäre Erkenntnis ebensowenig möglich, denn er allein sichert die überindividudle und überzeitliche, das heißt allgemeine Gültigkeit des Erkannten. Ohne die absolute Seite der Vernunft, wäre jedes Urteil individuell beschränkt. Urteile von wissenschaftlicher Bedeutung sollen aber allgemein Daher muß die

Intelligible3

ewig"4.

gelten.6

1 De an. 430 a. Karen Gloy, Bewußtseinstheorien, a.a.O., sieht bei Aristoteles eine strikte Äquivokation zwischen Reflexion als formalem Begleitwissen und als absolutem Wissen, aus der sich zwei geistesgeschichtliche Linien entwickelt haben (156). Am oben zitierten Problem, wie auch schon beim unbewegt Bewegenden, deutet sich aber bereits der Momentcharakter beider Bestimmungen an, der freilich erst bei Hegel entfaltet wurde, nachdem die Philosophiegeschichte ihre scheinbare Trennung und deren Aporien ausgetragen hatte. 2 Das sieht auch Wilfried Kühn, Das Prinzipienproblem in der Philosophie des Thomas von Aquin, a.a.O., 272ff. 3 Vgl. De an. 430 a. 4 De an. 430 a. 5 De an. 430 a. 6 Vgl. De an. 431b.

218

DRITTES KAPITEL: ARISTOTELES

Vernunft ihrem reinen Begriff nach zugrundegelegt werden, was ontologisch darin ausgedrückt ist, daß die Vernunft nicht vergänglich ist, sondern „das vernünftige Einsehen und Betrachten welkt dahin, weil etwas anderes innen vergeht"1. Dies ist das körperliche Organ, in dem die Vernunft ihren Sitz hat. Aristoteles bestimmt die Altersdemenz als Habitus, der in dauerhafter Gestalt dasselbe sei, wie ein Rausch als Disposition. Vernunft selbst ist dagegen indifferent. Daher ist ihre Erkenntnis für jeden gültig, auch für solche, deren natürliche Beschaffenheit wissenschaftliche Betätigung verhindert. Ebenso wie die innere Einheit der Vernunft die Voraussetzung für überindividuelle Einheit ist, ist sie es für die Einheit des Gegenstandes. Sie ist die „Mitte", nach Analogie der „Grenze"2, die das nach allen Seiten Verschiedene zusammenhält. So ist die Seele in ihrem reinen Begriff die Grundlage des Begriffs der Totalität.3 Allerdings ist das Fundament allgemeiner Erkenntnis, da es eben ohne ein denkendes Wesen nicht zu haben ist, auch die Bedingung der Möglichkeit des Irrtums.4 Die Empfindung kann nicht irren, weil sie individuell gegebene Reize auffaßt. Auch die im Denken verbleibende Konzeption von Begriffen kann nicht falsch sein.5 Sobald aber Erkenntnis sich im Urteil, „in der Zusammensetzung"6 äußert, ist sie möglicherweise falsch, notwendig aber dies oder wahr. Bezieht das Denken sich aus der Reflexion hinaus auf die Welt, muß die Vorstellungskraft Erinnerungen aktivieren, die wieder ver-

gangene Wahrnehmung zur Voraussetzung haben.7 Wenn Aristoteles zusammenfaßt, „daß die Seele gewissermaßen [das heißt hier immer der Möglichkeit der Erkenntnis nach, M.St] das Seiende ist; denn alles Seiende ist entweder sinnlich wahrnehmbar oder intelligibel, und die Wissenschaft ist gewissermaßen das Wißbare, die Wahrnehmung aber das Wahrnehmbare"8, so ist damit nur gesagt, daß die Welt, soweit sie dem Denken zugänglich ist, prinzipiell darauf bezogen ist. Daher ist vom Seienden immer schon als dem Wißbaren oder Wahrnehmbaren die Rede.9 Indem die Seele als Einheit von Wahrnehmung und Denken alles der Form nach aufnehmen kann, ist diese prinzipielle Beziehung des Seienden auf die Seele die Einheit des Wirklichen, die für die Erkenntnis erfordert ist. Aber sie hat ein Bestehen nur in der Erkenntnisrelation, aus der sie erschlossen ist. In dieser Relation, die eine von eminent Unterschiedenem bleibt, liegt auch die Trennung von Wirklichkeit und Begriff, die nicht von vornherein für den Vorrang des Be1 2 3

De an. 408 b. Dean. 431a. Karl Heinz Volkmann-Schluck, Die Metaphysik des Aristoteles, a.a.O., vermutet zu recht, daß „der metaphysische Grund des Ganzen des Seienden und der im menschlichen Denken anwesende Grund seiner Wirklichkeit [...] eines und dasselbe sind" (227). 4 Vgl. De an. 430 b. 5 Vgl. De an. 430 b. 6 De an. 430 b. 7 Vgl. De an. 431 äff und 427 bf. 8 Dean. 431b 9 Vgl. auch Cat. 6 bf.

II. Metaphysik zwischen Ontologie und Selbstbewusstsein

griffes entschieden ist.

219

Sofern die denkenden Wesen empirische sind, erhält der Begriff seine Funktion zunächst aus deren Verhältnis zu den äußeren Bedingungen ihrer Reproduktion, die zwar kategorial aufgefaßt und in notwendigen Relationen von Begriffen ausgedrückt werden, aber diese Notwendigkeit überträgt sich auf die äußeren Gegenstände nur, soweit sie je solcher Art sind; was an ihnen zufällig ist, ist unwiederholbar. So werden etwa „alle Relativa ausgesprochen in Beziehung zu reziproken Korrelativa. Zum Beispiel wird der Sklave Sklave eines Herrn genannt, und der Herr wird Herr eines Sklaven genannt; das Doppelte Doppeltes eines Halben und das Halbe Halbes eines Das logische Verhältnis unter diesen Bestimmungen ist notwendig, es kann keine ohne die andere erklärt werden. Sobald den logischen Bestimmungen ontische Substantialität unterlegt wird, läßt sich die Notwendigkeit nicht übertragen: „Wenn ein Sklave nicht als Sklave eines Herrn, sondern eines Menschen [...] angegeben wird, so besteht keine Das abstrakte logische Verhältnis gilt absolut und ist gerade deshalb nicht der Grund der Welt. In der Beziehung der Menschen auf die Welt ist das Verhältnis von Begriff und Wirklichkeit nicht rein, sondern es ist Wandlungen unterworfen. Ohne die Ursachen dieser Wandlungen ob sie aus Naturkausalität oder aus Freiheit geschehen näher zu bestimmen, kann Aristoteles sagen, wenn „fortgelassen sei von Mensch, daß er Herr ist, so wird von Sklave nicht mehr in Beziehung zu Mensch geredet werden, denn wenn es keinen Herrn gibt, so gibt es auch keinen Sklaven"3. Die Entwicklung dieses Gedankens aus dem Verhältnis von Denken und Welt antizipiert Momente des neuzeitlichen Begriffes von Subjektivität und weist dem ÇtDov Aóyov ëxov implizit eine erhabene Position an. An der näheren Bestimmung der tätigen Beziehung von Menschen auf die Natur und aufeinander liegt es nun allerdings, ob die geschichtliche Möglichkeit, die in dieser Überlegung liegt, zu realisieren ist.

Doppelten"1.

Reziprozität."2

-

-

1 2 3

Cat. 6 b. Cat. 7 a. Cat. 7 b.

Drittes Kapitel: Aristoteles

220

III. Ethik ohne Wille 1.

Teleologie

Voraussetzungen aus der theoretischen Philosophie Es erweist sich, daß die teleologische Bestimmung der Aristotelischen Philosophie nicht vorrangig ein Bestandteil oder Charakter der theoretischen Philosophie ist, sondern vielmehr deren eigener innerer Übergang in die praktische. In jener waren die Zweckbestimmungen der Natur erschlossen aus Analogien zu Modellen handwerklicher Tätigkeit; in dieser, da Aristoteles hier die zweckgerichteten menschlichen Tätigkeiten selbst erklären muß, wäre die Grundlage der Analogien zu erbringen. In der Bestimmung des Vorrangs der Substanz aus der Reflexivität des Entstehungsprozesses umfaßt der Begriff der Form sowohl das Bestimmungsprinzip des Werdenden als Formursache als auch die Formbestimmtheit des Gewordenen. „Es ergibt sich also, daß gewissermaßen die Gesundheit aus der Gesundheit hervorgeht, und das Haus aus dem Hause, nämlich das Stoffliche aus dem Nichtstofflichen; denn die Heilkunst und die Baukunst ist die Form der Gesundheit und des Hauses, Wesen ohne Stoff aber nenne ich das Sosein." Die Form als Prinzip ist dann im Einzelding selbst als dessen Formbestimmtheit anwesend, so daß ,jedes einzelne Ding und sein Sosein eins und dasselbe ist"2. Wären nun beide Bestimmungen von Form strikt getrennt, wäre das kein Fortschritt gegenüber Piaton; fielen sie zusammen, folgte eine der Form schlechthin inhärierende Ursache der Selbstrealisation. Die mit der Materie eingeführte Unterscheidung von Möglichkeit und Wirklichkeit soll Einheit und Differenz der Form zugleich gewährleisten. Der damit prozessual angelegte Lösungsversuch kann allerdings nur am Modell handwerklicher Tätigkeit dargestellt werden. Dort ist der Begriff des Formprinzips im Denken des Handwerkers vorzuweisen, und die realisierte Form als Wesensbestimmung des Werks erscheint über dessen Gestalt. Zwischen beiden liegt als Wirkursache die handwerkliche Tätigkeit, deren zweckmäßige Bestimmung von Aristoteles nicht als ein Willensakt verstanden wird, sondern im Rahmen der kosmologischen Teleologie ontologisch verstandenen Zweckursachen unterliegt: „Ungereimt aber ist es, nicht zu glauben, daß etwas um eines Zweckes willen werde, wann man das Bewegende nicht gerade über den Zweck berathschlagen sieht; berathschlagt ja doch auch die Kunst nicht, denn wenn die Schiffsbaukunst schon dem Holze einwohnen würde, so würde sie in gleicher Weise auch schon von Natur aus Schiffe machen. Demnach also, wenn das um eines Zweckes willen Bestehen der Kunst einwohnt, so wohnt es auch der Natur ein; am klarsten aber ist dieß, wenn Jemand sich selbst ärztlich behandelt, denn einem Sol-

a.

1 2

Met. 1032 b. Met. 1031 b.

III. Ethik ohne Wille

221

chen gleicht die Natur."1 Der Unterschied von Handwerk und Natur besteht hier nur in der äußerlichen respective nicht-äußerlichen Weise der Beziehung des Bewegenden auf das Bewegte, die Frage nach der Willensbestimmtheit von Bewegungen ist hinter deren Zweckmäßigkeit noch nicht entdeckt worden. Das Werk des Handwerkers gilt als sowenig durch seine Willkür dieses Bestimmte zu sein wie ein Naturprodukt, sondern Werktätigkeit und Natur sind teleologisch bestimmt durch die Form, die als èvépyeia selbst orientiert ist an der èvxeAéxeia, der in der besten möglichen Weise oder vollkommen realisierten oder vollendeten Form; Unregelmäßigkeiten werden in beiden Bereichen als Scheitern bestimmt, das ebenso wie das zufällig Entstehende nur in sachlicher Abgrenzung zum xéAoç inhaltlich faßbar wird. Da diese inhaltliche Bestimmung des Zwecks2 aber selbst eine allgemeine Konstruktion zur Vermittlung des Verhältnisses von Formprinzip und realisierter Form ist, gerät die Zweckursache zu einer Tautologie der Form, die entweder deren logische Funktion oder ihre ontologische Voraussetzung sein müßte, so daß man „den Zweck, insofern er Endzweck ist, und die Wesenheit, [...] beinahe als eins zu betrachten hat" Die Form, die an ihr selbst zweckgerichtet ist, ist dies nicht mehr aufgrund der rekursiven, privativen Negativität, durch die der Begriff des Prinzips aus der Reflexion auf das Prinzipiierte gewonnen und durch die jener daher auf dieses bezogen wurde; vielmehr werden durch die Identifikation der systematisch geschiedenen Reflexionsausdrücke Form und Zweck diese zur affirmativen Grundlage des Prozesses verkehrt. Die Werktätigkeit erscheint dann als ontologisch durch ihren präponierten, noch gar nicht existenten Gegenstand bestimmte Wirksamkeit.4 Von der Verschränkung von Selbstbestimmtheit und Fremdbestimmtheit in einem auf einen äußeren Zweck gerichteten Willen bleibt die äußerliche Bestimmtheit des tätigen Subjektes, die aber in der ontologischen Interpretation nicht als äußerlich, sondern als wesentlich verstanden wird. Einen Begriff des Willens im modernen Verständnis hat Aristoteles so wenig wie die antike Philosophie .

überhaupt.5

1 Phys. 199 b. Michael Wittmann, Die Ethik des Aristoteles, Regensburg 1920, führt diese Position theoriegeschichtlich auf Sokrates zurück (133ff). 2 Vgl. Phys. 194 a. 3 GA 715 a. Vgl. auch Met. 1044 af. und GC 335 b. 4 Wolfgang Wieland, Die aristotelische Physik, a.a.O., 261, besteht in seinem Zusammenhang, der Physik, mit Recht darauf, daß der Zweck kein kosmologisches Prinzip sei, sondern Reflexionsbegriff. Die Schranke der Teleologie liege bei Aristoteles darin, daß wohl die Mittel auf ihre Zwecke gerichtet seien, aber nicht selbst von ihnen produziert werden. Die ethische Bestimmung der Motivation von zukünftigen Handlungen argumentiert umgekehrt. 5 Das alte Griechisch hat kein Wort für ,Wille'. Vgl. Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes, Hamburg 1948, 173 und Ingemar During, Aristoteles, a.a.O., 283. Zur Sache vgl. auch Gerhard Krieger, Der Begriff der praktischen Vernunft bei Johannes Buridanus, a.a.O., 147f: „Der Begriffeines Willens, der eine eigenständige, geistige Befähigung darstellt, und der Begriff der Freiheit, die in einem derartigen Vermögen gründet und unmittelbar praktisch, d. h. sittlich bedeutsam ist, findet sich bei Aristoteles nicht." Dagegen vgl. Michael Wittmann, Die Ethik des Hl. Thomas von Aquin, a.a.O., 80, der zwischen dem deutschen Sprachgebrauch des 20. Jh. und dem lateinischen wie altgriechischen

222

Drittes Kapitel: Aristoteles

Prinzipien von Naturprozessen durch die Analogie zum Arbeitsprozeß aufzudecken, umgekehrt auch diesem die jenen unterstellte blinde Teleologie anzuschaffen droht, verhindert die objektive Bestimmung des Artefakts diesen Kurzschluß: „Von allem von Natur aus Seienden zeigt sich, daß es in sich selbst einen Anfang von Bewegung und Stillstand hat, [...] ein Stuhl hingegen und ein Kleid, und was sonst eine derartige Gattung ist, hat [...] keinen eingepflanzten Trieb einer Veränderung."1 Die Äußerlichkeit und Getrenntheit der Ursachen des Artefakts schließen die Selbstrealisation der Form aus: „Es besteht nämlich das eine [Prinzip, M. St.] als Stoff und das andere als Gestaltung, es muß aber zu diesen auch noch das dritte vorhanden sein; denn nicht hinreichend sind zur Erklärung des Entstehens jene zwei, sowie sie es auch nicht bei den ursprünglich ersten Wesen sind."2 Wenngleich Aristoteles die Wirkursache hier für Natursubstanzen und Artefakte einfordert, muß er zur Benennung der fehlenden Ursache „welche wohl alle gleichsam im Traume ahnen" wieder, wenn auch nur nominell, auf den Arbeitsprozeß zurückgreifen. Der Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit ist zumindest bei Artefakten als kontingent zu bestimmen. Diese Kontingenz liegt grundsätzlich in Anwesenheit oder Abwesenheit der Wirkursache, mögliche Bedingungen dessen und damit die darin liegende Freiheit menschlichen Handelns werden aber nicht entwickelt. Dieser Schritt wäre nur möglich durch die Verbindung von allgemeinen Einsichten und Handlungen durch EntScheidungsprozesse. Aber schon im Erkenntnisprozeß sind der tätige und der passive Verstand nicht, wie bei Thomas, über den Willen aufeinander bezogen. Zwar werden sie analog der Stoffursache und Wirkursache des Handwerksprozesses erschlossen, aber so wie dort ist auch hier die einzige Verbindung der Ursachen, daß sie als Ursachen desselben Gegenstandes erschlossen wurden. Sie werden dann als systematisch getrennte weiter untersucht.4 Während bei Thomas die Bearbeitung des Erkenntnisgegenstandes im Erkennen hervortritt, gilt Aristoteles das Verhältnis des Denkens zu den Gegenständen noch als das zu einem fertig vorhandenen, wie das von Jäger und Wild.5 Im Zusammenhang der Ortsbewegung des Menschen wird allerdings das Wollen als Funktion in den nach außen gerichteten Tätigkeiten betrachtet.6 Dies ergibt sich aus der Obwohl der Versuch, die

,

keinen Unterschied sehen will. Christoph Jedan, Willensfreiheit bei Aristoteles?, Göttingen 2000, stellt genau heraus, daß Aristoteles keinen Begriff der Willensfreiheit im modernen Sinn hat, sondern die Erörterungen hauptsächlich juristisch motiviert sind (171f); ebensowenig habe er einen Begriff des spontanen Subjekts (105). Die Antinomie von Teleologie und Ethik soll dann allerdings kompatibilistisch vermittelt werden: Zurechnung von Handlungen gelinge auch im Determinismus, denn der Maßstab für ,A hätte anders handeln können' müsse nicht heißen, daß A eine Wahl hatte, sondern daß andere besser gehandelt haben und A deshalb zu verurteilen sei. 1 Phys. 192 b. 2 GC 335 a. 3 GC 335 b. 4 Vgl. De an. 430 a. 5 Vgl. Karl Winfried Schmidt, Logik und Polis, a.a.O. 6 Vgl. De an. 406 b.

III. Ethik ohne Wille

223

Zweckmäßigkeit der Bewegung, wobei die Setzung dieser Zwecke nicht durch Vernunft geschieht, „denn die theoretische Vernunft erkennt nichts, was sich aufs Handeln be-

aus über Zu-Meidendes oder Zu-Erstrebendes, während die Beimmer einem von Meidenden oder einem Erstrebenden ausgeführt wird"1. Ob wegung theoretische Einsichten umgesetzt werden oder nicht, entscheidet das Strebevermögen Dieser vovç gemeinsam mit dem „zweckvoll denkenden vovç ist nicht sondern Zweckrationalität, der .praktische Vernunft', TipaKXiKOç allerdings ihr Objekt vom Streben vorgegeben wird. Dies ist dann „Prinzip des vovç npaxxiKÔç Der Endpunkt (des praktischen Denkens) ist der Anfang der Das praktische Denken ermittelt so bloß die geschickte Realisierung eines Ziels, das selbst als Zweckursache die Handlung initiiert. Seine Annehmbarkeit steht in der Vernunft nicht zur Debatte, sondern fällt dem Streben anheim. Konsequent ist gegen Piatons Bemünicht der die wissenschaftliche sondern Redekunst das Medium der Vortrag, hungen anderer Handelnder: „Die Rhetorik resultiert aus der Analytik und aus Überzeugung dem Teil [der Politik, M.St.], der auf die Ethik zielt, und sie ähnelt der Dialektik und den sophistischen Reden."4 Diese scheinbar bloß ,gegenaufklärerische' Konsequenz ergibt sich aus der Ablehnung der Platonischen Idee des Guten. Wird sie zurückgewiesen, erscheinen die immer noch ontologisch verstandenen Handlungen als so beliebig, daß sie keines allgemeinen Begriffs mehr fähig sind. Es liegt darin der Schritt hinter Piaton zurück, daß keine allgemein begründeten Regeln mehr anzugeben sind, aber die Möglichkeit des Fortschrittes, die Willkür als Bedingung eines aus Freiheit bestimmbaren Willens zu begreifen. Bei Aristoteles jedoch sollen die Begriffe Streben und Wollen zunächst noch zweckrationale Reaktionen auf äußere Reize erklären. Die Möglichkeit, falsch oder gar nicht zu reagieren, ist keine Funktion desselben Wollens, sondern eine der Begierde, die hiervon streng getrennt ist, indem das Wollen dem überlegenden Seelenteil angehört, die Eine Wahl besteht faktisch nicht, weil sie, wie zu Begierde dem zeigen ist, immer schon durch die treffliche oder verworfene habituelle Verfassung der Seele bestimmt ist. Weil bei Aristoteles der Wille noch kein Element der Reflexion selbst ist, gibt es keine Verbindung von der allgemeinen Einsicht zum Handeln: „Das Vermögen wissenschaftlicher Erkenntnis aber bewegt sich nicht, sondern ruht. Da die eine Annahme und Überlegung allgemein ist, die andere auf das Einzelne geht [...], so bewegt nunmehr

zieht, und sagt nichts

npaxxiKOc"2.

Handlung"3. -

-

nichtüberlegenden.5

1 2 3 4 5 6

De an. 432 b. De an. 433 a. De an. 433 a. Vgl. auch Met. 1032 b. Rhet. 1359 b. Vgl. De an. 432 b. Vgl. EN 1114 a.

DRITTES KAPITEL: ARISTOTELES

224

allgemeine."1

diese zweite Meinung, nicht die Zwar erläutert Aristoteles, die theoretische Vernunft gebe an, „daß ein solcher Mensch solches tun muß"2, diese allgemeine Einsicht bleibt aber für das Handeln ohne Bedeutung, weil jene wesentlich kontemplative Aneignung einer unveränderlichen Natur bleibt. Wenn Aristoteles programmatisch formuliert, in der Ethik philosophiere man nicht, „um zu erfahren, was ethische Werthaftigkeit sei, sondern um wertvolle Menschen zu werden"3, ist darin deutlich die Aporetik ausgedrückt. Praktische Erkenntnis und das Handeln selbst bleiben strikt getrennt, weil die Handlung nicht als durch einen rational bestimmten Willen bewirkt gedacht werden kann. Die Konzentration auf die Gestaltung des Handelns (xàç läßt sich so in einer Richtung auf die Organisation von Rechtspflege und Erziehung beziehen, in der anderen auf die höchste praxis, die Reflexion des philosophischen Bewußtseins auf sich selbst, aber sicher nicht als Absicht, die einzelnen Menschen zu moralischer Einsicht zu bringen. Die Überlegungen zur Unterscheidung von theoretischer und praktischer Philosophie sind daher mehr Ausdruck denn Lösung eines Problems. Auch die Bearbeitung der Natur wird, trotz der zentralen Position, die ihr in der theoretischen Philosophie zukommt, ihrer Möglichkeit nach mit der ideologisch am Menschen orientierten Weltordnung erklärt: „Es muß also in der einen Weise in Beziehung auf sich selbst, in der anderen Weise in Beziehung auf anderes wirken, und dies also in Beziehung auf [...] das erste; denn dies ist wieder sich selbst wie jenem anderen Ursache der Mit der an allem Einzelnen vermittelten Selbstbestimmung des Begriffs der Totalität, der seinen Ort in der Vernunft hat, werden die Gegenstände zwar nicht im Begriff aufgelöst, aber doch als auf diesen rational hingeordnet verstanden. Wie auch durch die Kreismetaphorik andeutet, bestimmt das unbewegt Bewegende die Welt so als Totalität der Gegenstände, die in permanenter Veränderung sich stets wesentlich gleich bleibt.6 Der Handwerksprozeß wie jede andere menschliche Tätigkeit gelten als Momente dieses ewigen Prozesses, dessen allgemeiner Ausdruck philosophi-

npáleio)4

Bewegung."5

1 De an. 434 a. „Aber es ist offensichtlich, daß hier alle modernen Auffassungen des Ethischen beiseite bleiben müssen, und daß dies nichts mit „Subjektivität" und nichts mit dem Ursprung des Sittlichen aus einem in sich guten Willen [...] zu tun hat." Joachim Ritter, „Zur Grundlegung der praktischen Philosophie bei Aristoteles", in: Archiv für Rechts- und Staatsphilosophie 46, hg. v. Rudolf Laun und Theodor Viehweg, Neuwied 1960, 186. 2 EN 1114 a. 3 EN 1103 b. 4 Vgl. EN 1103 b. 5 Met. 1072 a. 6 Vgl. auch Eric R. Dodds, „Der Fortschrittsgedanke in der Antike", in : Ders., Der Fortschrittsgedanke in der Antike, Zürich 1977, 7-35 und Wolfgang Wieland, „Die Ewigkeit der Welt", in: Die Gegenwart der Griechen im neueren Denken, hg. v. Dieter Henrich u.a., Tübingen 1960, 291-316.

225

III. Ethik ohne Wille sehe Erkenntnis ist. Kein Bereich menschlicher lichkeit nach über das Bestehende hinaus.1

Handlung geht so

auch

nur

der

Mög-

Teleologie des Handelns und Ordnung der Güter Durch die teleologische Ordnung der Handlungen sind diese an ihnen selbst erstens auf ihr jeweiliges Ziel und zweitens hierarchisch auf das oberste Gut gerichtet. Dies gilt für alle wie auch immer verschiedenen Handlungen, zum Beispiel für Philosophie und Kriegskunst wie für den Schiffsbau.2 Das Mißlingen solcher Handlungen muß dann als Privation an deren Wesen interpretiert werden. Die wissenschaftliche Vergleichbarkeit von Zwecken soll nun bei Aristoteles weder durch eine Idee, noch kann sie mithilfe des Willensbegriffes begründet werden. Der Versuch, die Zwecke durch analoge Beziehungen zum Guten zu erklären, bringt den Bereich des Handelns unter eine ontologische Verfassung und schließt damit eine selbstbewußte Bestimmung von Handlungen aus. Indem also die Relationen der Handlungen zu ihren Zwecken durchweg als wesenhafte Ausrichtung behandelt werden, deren Prinzipien sich genauso erschließen ließen, wie die von gegenständlich Seiendem, bleibt als einzige Möglichkeit der Ordnung der Handlungen und ihrer Zwecke ein ihnen äußeres Prinzip. Daß theoretische Einsicht keinen Einfluß auf Handlungen hat, liegt gerade nicht an einer von Aristoteles begründeten Trennung der Disziplinen Ethik und Ontologie beziehungsweise Metaphysik,3 sondern daran, daß Aristoteles die begrifflichen Mittel nicht zur Verfügung stehen. Die Aristotelische Ethik ist nicht nur eine Ethik ohne Freiheit, Wille und Geschichte, sondern ihre gesamte Konstruktion unterliegt dem telos der polis, die selbst die ontologisch verstandene Natur der Menschen ist. Die Ethik ist ontologisch begründet. b.

1 Philosophische Theorie „würde sich im Leeren verlieren, wenn sie über das, was ist, hinausgeht". Joachim Ritter, „Das bürgerliche Leben. Zur aristotelischen Theorie des Glücks", in: Ders., Schriften zur aristotelischen Ethik, Hildesheim 1988, 127. Wird dies allgemein affirmiert, kann Philosophie nie kritisch sein. Ingemar During, Aristoteles, a.a.O., dagegen erkennt die Aristotelische Politik als Sta-

gnation (vgl. 478). 2 Zur Ontologisierung von Zwecken vgl. auch Piatons Analogie von Arzt und Krankem, Steuermann

und Schiff und Herrscher und Beherrschtem, z.B. Politeia 342. 3 Zu dieser Auffassung vgl. zum Beispiel Otfried Hoffe, Die Nikomachische Ethik, Berlin 1995, 16; Hellmut Flashar, „Die Kritik der Platonischen Ideenlehre in der Ethik des Aristoteles", in: Synusia, Pfullingen 1965, 237; Dieter Henrich, „Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft", in: Die Gegenwart der Griechen im neueren Denken, a.a.O., 82. Olof Gigon, „Probleme antiker philosophischer Ethik", in: Ders., Die Antike Philosophie als Maßstab und Realität, Zürich 1977, 90, ist immerhin der Auffassung, daß Aristoteles hinsichtlich der Teleologie „Ethik und Ontologie bzw. Physik aufs engste miteinander verknüpft", wenngleich ihm Kritik der Teleologie als „verkrampftes Mißtrauen" gilt. Für eine detaillierte Untersuchung des Verhältnisses von Politik, Ontologie und Teleologie vgl. Manfred Riedel, „Metaphysik und Politik bei Aristoteles", in: Philosophisches Jahrbuch 77(1970), 1-14.

226

DRITTES KAPITEL: ARISTOTELES

Bei der Zurückweisung der platonischen Idee des Guten1 unterläuft Aristoteles mit dem Anspruch, das Gute in die Wirklichkeit zu verlegen auch die Destruktion der intellektuellen Einheit der Menschen, denn deren Handlungen können nicht mehr Gegenstand allgemeingültiger Aussagen sein. Damit nun die Hierarchie der Zwecke trotz Analogie nicht auf einen unendlichen Progreß führt, muß es ein oberstes Gut geben, das von einer obersten Tätigkeit angestrebt wird; übrigens ist ,Gut' (ayadóv) keine moralische Bestimmung, sondern bedeutet ,das Nützliche' (ovp.cpépov). Etwas ist nützlich, wenn es irgendjemand erstrebt.2 Jene auf das in diesem Sinne oberste Gut gerichtete Tätigkeit besteht in der realen Durchsetzung der ontologischen Ordnung der Zwecke. Es ist die Kunst der Politik: „Sie nämlich setzt fest, welche Formen praktischen Könnens in den einzelnen Gemeinwesen unbedingt vertreten sein sollen, feiner mit welchen und bis zu welchem Grad der einzelne Bürger sich zu beschäftigen hat."3 Die Bestimmung der polis, genauer ihrer Verfassung (politeia) ist das Ziel der Ethik, weil von dort aus sich die Diffusion der empirischen Handlungen wenn auch nicht beseitigen so doch äußerlich organisieren läßt. Nicht weil aus den ethischen Bestimmungen sich die der polis ergäben, ist die „Ethik ein Teil, ja der Ausgangspunkt der Wissenschaft vom Staate", sondern weil die Theorie der Handlungen aufgrund der Voraussetzung von deren prinzipieller Unbestimmbarkeit sich nur von ihrem terminus ad quem aus konstruieren läßt, so daß „die Benennung der Disziplin denn auch korrekterweise nicht,Ethik' lauten sollte, sondern ,Politik'"4. So ist ,Politik' als philosophische Theorie der polis der Sache nach deren Selbstbewußtsein und keine abstrakte Konstruktion; indem die negative Reflexion aber umgekehrt wird und die polis als natürliches telos des aus ihr als Bedingung Erschlossenen vorgestellt wird, ordnet das Selbstbewußtsein sich dem selbsterzeugten Schein einer notwendigen Ordnung unter.5 1 Vgl. EN 1096 af. 2 Vgl. Rhet. 1362 äff. Zu Ursprung und Geschichte der Verknüpfung von ,gut' und ,nützlich' vgl. Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes, a.a.O., 148ff. 3 EN 1094 af. 4 MM 1181 bf. Die philologische Kontroverse um Echtheit und Reihenfolge der drei Ethiken soll hier unberücksichtigt bleiben, zumal noch immer viel dafür spricht, daß auch MM und EE im wesentlichen Aristotelisch sind. Es werden nur solche Zitate verwendet, die ihrem Gehalt nach Aristotelische Argumente sind. Dieser Gehalt ist dagegen gleichgültig, ob Aristoteles oder ein Peripatetiker es notiert hat. Besonders ist er gleichgültig dagegen, ob die Formulierung warmherzig oder eher schroff ist, was Hellmut Flashar, „Die Piatonkritik", in: Die Nikomachische Ethik, hg. v. Otfried Hoffe, a.a.O., 79 zu einem Argument macht. Die Frage nach der Echtheit auffälliger Passagen und nicht danach, ob es für die Auffälligkeit einen sachlichen Grund gibt, hat immer den Beigeschmack, als könne es bei Aristoteles im Grunde keine Widersprüche geben. Die Passage dann einem Redaktoren anzulasten, muß heißen, daß dieser jeglicher Sachkenntnis ledig gewesen sei, um einen Fehler zu begehen, der Aristoteles nie unterlaufen wäre. Auch die Aristotelische Politik ist ihre Zeit in Gedanken erfaßt und kein abstraktes Reservoir notwendig allgemeingültiger Sätze. Selbst Werner Jaeger, Aristoteles, a.a.O., verwahrt sich gegen überzogene Echtheitsdebatten und Umstellerei (4), Ingemar During, Aristoteles, a.a.O., erklärt noch schärfer die Suche nach einer Urethik wie nach einer Urpolitik für unsinnig (476). 5 Vgl. Karl Winfried Schmidt, Logik und Polis, a.a.O., 4, 9 und 86.

227

III. Ethik ohne Wille

Das oberste Gut, das durch die Politik hervorgebracht werde, sei das Glück (evbaitiovia), weil dieses immer nur Zweck, nie Mittel für weiteres sei. Dieses Glück, das als in sich selbst bestehend das Merkmal der Autarkie (avxápxeia) hat, ist indes äquivok. Als direkter Zweck der polis ist es die Sicherung der Versorgung der Gemeinschaft durch Organisation des oikos (oíkóc).1 Damit unvermittelt erscheint die andere Bedeutung, die Realisation der obersten Tugend (àpexfj) des Menschen, die gegen jeden Zuhörer oder äußeren Zweck gleichgültige Reflexion des theoretischen Denkens auf sich selbst. Sie erweist sich aber als mittelbarer Gegenstand der Politik, da diese die Gemeinschaft so organisiert, daß die Minderheit der edelgeborenen freien Bürger zumindest der Möglichkeit nach freigestellt ist für philosophische Betätigung, die eudaimonia ist daher grundsätzlich Aristokratensache.2 In beiden Bedeutungen ist Autarkie also nicht der Bequemlichkeit geschuldet, sondern Verwirklichung des Wesens der Menschen, nach der Bestimmung der Substanz, selbständig abtrennbar zu sein.3 So gerät dieser Begriff des Glücks der Sache nach zu einer apologetischen Vorstellung von Freiheit durch Herrschaft. Weil die Herrschaft selbst als ontologisch gesetzt gilt, erscheint das Glück als affirmative Autarkie und, da es oberstes Gut ist, als „Ursache"4 alles Tuns. Für diejenigen allerdings, die dafür Sorgen zu tragen gezwungen sind, daß „von den übrigen Gütern die einen als Grundbedingung des Glücks sind, ist die Ursache des Tuns wohl auch das Glück, nur nicht ihr eigenes. Zudem muß die im Glück der Herrschaft antizipierte Einheit des Einzelnen mit dem Allgemeinen abstrakt bleiben, denn die Stellung der Einzelnen im Ganzen wird ontologisch interpretiert, nicht als durch Vernunft Aufgrund der ontologischen Hierarchie der Handelnden ist das „Leben als Wirken des rationalen Seelenteils"7 eine Tätigkeit wie die Schusterei,8 mit der Konsequenz, daß die Vernunft sich mit sich selbst befaßt und auf andere, äußere Tätigkeiten keinen Einfluß haben kann. Die Betätigung der theoretischen Vernunft, die Philosophie ist das oberste Gut, das dem Menschen erreichbare Glück, weil sie in der Ausübung der Tätigkeit nicht auf andere Menschen verwiesen ist: „Der Weise dagegen kann sich der geistigen Schau hingeben, auch wenn er ganz für sich ist, und je weiser er ist, desto eindring-

vorgegeben"5

gesetzt.6

1 Vgl. EN 1097 b und Pol. 1275 b und 1283 a. 2 Vgl. Pol. 1255 b und 1264 b. Ingemar During, Aristoteles, a.a.O., 436 spricht von „Adelsethik". Günther Bien, Die Grundlegung der politischen Philosophie bei Aristoteles, Freiburg 1973, meint 93, daß die Ethik wohl nicht für alle, aber auch nicht für nur einige Menschen gedacht sei, sondern für viele. Er übersieht, daß diese vielen, die Mehrheit der Freien, in der idealen polis eine Minderheit wären. 3 Vgl. Rhet. 1364 a. 4 EN 1102 a. Franz Dirlmeier übersetzt wohlwollend ápxr¡ als ,Grundgegebenheit'. 5 EN 1099 b. 6 Vgl. Geschichte der Philosophie II, 227. Aristoteles, so Hegel, habe zwar die Einzelnheit des Politen als bourgeois gekannt, dieser habe jedoch die staatliche Allgemeinheit abstrakt gegenüber gestanden. Die Einzelnheit, in deren Vernunft das Ganze konsolidiert sei, den citoyen, habe er nicht gekannt. 7 EN 1098 a. 8 EN 1097 b.

Drittes Kapitel: Aristoteles

228

licher."1

Die Dauerhaftigkeit sei dadurch gesichert, daß der habituell Tugendhafte charakterlich und gesellschaftlich so gefestigt sei, daß er nicht in so üble Umstände geraten könne, in denen er nicht mehr zu philosophieren vermöchte. Allerdings ist die Autarkie nicht als Aufforderung zum Eremitendasein zu denken, sie umfaßt die Familie und einen engen Kreis von Freunden, „denn der Mensch ist von Natur bestimmt für die Gemeinschaft"3. Auch bedarf es für die gemeinschaftliche Autarkie äußerer, materieller Bedingungen, denn der sittliche, glückselige Mensch produziert nicht, er konsumiert ausschließlich. Daher gibt es „gewisse Güter, deren Fehlen die reine Gestalt des Glücks trübt, zum Beispiel edle Geburt, prächtige Kinder, Schönheit"4. Die edle Geburt ist unabdingbar, weil sie ihrerseits Bedingung der entscheidenden Voraussetzung ist, der vorzüglichen Gestalt des antiken Reichtums: Grundbesitz und Sklaven.5 Nur Freie edler Abstammung sind des Glücks fähig und die Herrschaft gilt daher nicht als gesellschaftliche Bestimmung sondern als notwendiges Moment der Entelechie des menschlichen Wesens selbst. Wohl ist die Realisierung des Vernunftwesens der Menschen als Selbsterkenntnis erstmals unter der Bedingung der polis möglich, denn diese ist als wenn auch für erste Natur gehaltene rationelle Ordnung sachliche Bedingung der Manifestation der Differenz des Selbstbewußtseins zur Natur.6 Weil gerade diese Unterscheidung aber die Wesensnatur der Menschen ist, gelten ihre Bedingungen und Konsequenzen wie Sklaverei und Herrschaft selbst als Natur. Daher ist auch das Gewaltverhältnis der ursprünglichen Aneignung, das die Verteilung dieser Glücksgüter einmal begründete, schon für Aristoteles zur Naturmacht der Zufallsverteilung erstarrt, deren schließlich tautologische Bestimmung in der Begründung des Erwerbes durch Krieg hervortritt.7 Der Kern Wahrheit, der inhaltlich darin liegt, solange es Herrschaft gibt, zerbricht an der Affirmation: Das Handeln des Philosophen ist richtig und wertvoll und er genießt als Liebling der Götter das höchste Glück.8 In der theoretischen Philoso-

1 2

-

EN 1177 a.

Otfried Hoffe, Die Nikomachische Ethik, a.a.O., 25 gesteht zu, daß Tugend Unglück nicht verhindert, aber kompensiere, ja bei großem Unglück dafür sorge, daß es den Unglücklichen nicht erdrückt. Als ,fortdauernde Erkenntnis' heißt dies wohl, daß der Ruin der bürgerlichen Existenz durch Rekrutie-

rung in die Armee der Arbeitslosen oder ins Lumpenproletariat den Tugendhaften nicht so leicht erschüttert. Gegen so offene Apologie des Elends verwahrt Aristoteles sich allerdings EN VII, 14. 3 EN 1097 b. 4 EN 1099 b. 5 Rhet. 1360 bf. führt den Reichtum eigens auf. Zu dessen Gestalt vgl. auch Moses I. Finley, Die antike Wirtschaft, München 1977, 108f. u.ö. 6 Dies sieht auch Joachim Ritter in jedem seiner Aufsätze. Die vornehm formulierte Einschränkung, daß der „Mensch in seinem Menschsein [...] in der griechischen polis noch die Unfreiheit des Sklaven bei sich hatte" (Joachim Ritter, „Politik und Ethik in der praktischen Philosophie des Aristoteles", in: Ders.: Metaphysik und Politik, Frankfurt am Main 1969, 132), läßt allerdings die Tatsache, daß das Menschsein die Unmenschlichkeit zur historischen Bedingung hat, wie ein leises Beiherspielen erscheinen. 7 Vgl. Rhet. 1362 a und 1388 b, sowie Pol. 1255 a. 8 Vgl. EN 1179 a.

229

III. Ethik ohne Wille

phie korrespondierte den Substanzen ontologisch etwas, von dem die Reflexion abhängig blieb. Dies wird nun auf das Handeln übertragen, indem die Ziele selbst etwas Ontisches seien. Die Reflexion, die sich an ihr Äußeres gebunden weiß, vermag die Seite ihrer darin auch gelegenen Unabhängigkeit noch nicht zu fassen; vielmehr reproduziert sie die Seite der Abhängigkeit. Für Piaton sollte das Denken auch ethisch alle Macht besitzen. Aristoteles, der die Vernachlässigung der unvernünftigen Bedingungen der Realisierung der Vernunft erkennt, muß, um nicht beliebig zu werden, diese doch wieder rationalisieren. Sie geraten ihm daher zum logos in der unnachgiebigen Gestalt des ideologischen kosmos. 2.

Habituelle Bestimmung der Zwecke

Im Bereich der Handlungen sind zunächst die poiätischen Handlungen, die in der Ausübung einer Kunst etwas hervorbringen, getrennt von der praxis. Diese ist selbständige

das heißt nicht auf einen äußeren Zweck gerichtet. So ist sie im Sinne der schlichte engen Lebensprozeß des Freien, seine Selbsterhaltung im oikos) Auf dieser Grundlage ist er befähigt, sein Wesen durch tugendhaftes Handeln zu entfalten. Tugend bedeutet dabei schlicht,Wesensverwirklichung' oder .Tauglichkeit': „Zum Beispiel: der Mantel hat eine Tugend, denn er hat ein bestimmtes Werk und ist in Gebrauch. Und Tugend des Mantels heißt: seine beste Beschaffenheit. Und so (hat) auch ein Schiff (Tugend) und ein Haus und so weiter. Somit auch die Seele; denn sie leistet ein bestimmtes Werk."2 Da der Mensch zoon politikon ist, sind die Tugenden mit weni-

Tätigkeit überhaupt,

Vgl. Pol. 1253 bf. Das Wort praxis wird von Aristoteles äquivok gebraucht, sowohl für Handeln überhaupt wie für Handeln, das nichts außer ihm selbst hervorbringt. Ich verwende es ausschließlich in der terminologischen letzten Bedeutung, im Gegensatz zur poiäsis. Theodor Ebert, „Praxis und Poiesis", in: Z.f.ph.F. 30 (1976), 12-30, will den Unterschied kassieren, da Aristoteles auch Tätigkeiten als praxis bezeichnet, die äußere Ziele haben (vgl. 18); zudem werde manche poiäsis zur praxis, weil sie etwas hervorbringe, das dem Gebrauch zugeführt werde (vgl. 21). Es handle sich schließlich um einen Unterschied von Tätigkeitsaspekten, nicht von Tätigkeitsklassen, was parallelisiert wird mit intensionaler und extensionaler Bestimmung (vgl. z.B. 27). Nun ist das Essen eines Brötchens nicht identisch mit dem Backen. Die poiäsis erlischt im Produkt, ist durch es bestimmt, begrenzt. Die praxis ist nicht durch etwas außer ihr begrenzt, sie ist als Wesensausdruck hier der Menschen unmittelbar auf dieses Wesen, seine Erhaltung oder Entfaltung selbst ausgerichtet, daher reflexiv bestimmt. Den „griechischen Sprachgebrauch" (26) im Rahmen einer syntaktisch-morphologischen Analyse zum Argument zu machen, ist so sinnvoll wie die alltagssprachliche Äquivokation von .relativ' zur Widerlegung der Einsteinschen Theorie heranzuziehen. Zur Verschränkung von praxis und bios vgl. Joachim Ritter, „Zur Grundlegung der praktischen Philosophie bei Aristoteles", a.a.O., 191f. 2 EE 1219 a. Zur Bedeutung von àpeir) vgl. Dorothea Frede, „Staatsverfassung und Staatsbürger", in: Aristoteles. Politik, hg. v. Otfried Hoffe, Berlin 2001, 75-92, hier 82. Wegen der Einheitlichkeit des Gebrauchs und besonders wegen der Notwendigkeit der Verwendung von Wortzusammensetzungen und -ableitungen wie z.B. des Adverbs wird àpeir) hier mit ,Tugend' wiedergegeben. Franz Dirlmeiers Varianten von .Trefflichkeit' über .Vorzug' bis .Tüchtigkeit' erleichtem die Lektüre der Überset1

-

-

230

Drittes Kapitel: Aristoteles

zugeordnet;1

insofern diese das gen Ausnahmen dem Zweck der Erhaltung der politeia gute Leben garantieren soll, fallen sie schließlich unter die Bestimmung der praxis. Der tugendhafte Charakter ist auf das Richtige gerichtet, auf das Mittlere (peoózrjc). Dieser Begriff stammt ursprünglich aus der Medizin, ein zuviel oder zuwenig ist dem Körper abträglich. Über die richtige Mischung der Säfte hat die Mitte in die Harmonielehre und von dort in die theoretische Philosophie Eingang gefunden. Die ästhetische Vermittlung von Natur und Denken scheint noch durch in dem Beispiel des Wuchses der Nase.2 In der Theorie ist das Mittlere im Zusammenhang der zweckgemäßen Wesensverwirklichung (èvzeAéxeia) bestimmt. Weil die Form sowohl im Unterschied zu anderen Formen als auch zu mangelhaften Realisierungen ihrer selbst bestimmt ist, ist das Mittlere „die Ursache des Seins [...] dafür, [...] daß das Wesen einfachhin ist"3. Schließlich gelangt der Begriff des Mittleren in die Ethik, wo er analog bedeutet, daß das Falsche als vielfach, das Richtige hingegen als je eines bestimmt wird, gegen das entweder durch Unterlassung oder durch Übertreibung gefehlt werden kann. Allerdings ist diese Vorstellung der negativen Bestimmung aus der theoretischen Philosophie als affirmative Norm aporetisch. Das Mittlere muß überwiegend durch quantitative Modelle erläutert werden, wie etwa eine zu große oder zu kleine Menge an Nahrung. Die hierbei entstehende Ungenauigkeit aufgrund des individuellen Bedarfs führt dazu, daß die Abweichungen graduell, also ebenfalls quantitativ bestimmt werden müssen.4 Dieses Problem wird keineswegs dadurch beseitigt, daß der Wertschätzung nach die Tugend absolut bestimmt sei, weil sie „auf höchster Warte"5 stehe, denn auch das ist eine relationale Bestimmung, zudem setzt die Wertschätzung jederzeit die wesentliche Bestimmung des Geschätzten voraus. Weil mit dem Verlust der Bestimmbarkeit des Mittleren der der Bestimmtheit der Tugend überhaupt droht, muß Aristoteles einräumen, daß bei zung nicht. Günther Patzigs

Übertragung als „sittliche Rechtschaffenheit" (Günther Patzig, Ethik ohne

Metaphysik, Göttingen 1971, 38) paßt unter Voraussetzung der ursprünglichen Bedeutung als .richtige, zweckmäßige Beschaffenheit'. 1 Vgl. Pol. 1276 bff. 2 Vgl. Pol. 1309 b. 3 Ana. post. 90 a. Vgl. Karl Heinz Volkmann-Schluck, „Ethos und Wissen in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles", in: Sein und Ethos (Walberberger Studien 1), hg. v. Paulus Engelhardt, Mainz 1963, 62. Gegen Franz Wehrli, Ethik und Medizin, in: Schriften zur aristotelischen Ethik, hg. v. Christian Müller-Goldingen, Hildesheim 1988, 79ff. möchte Hans Joachim Krämer, Arete bei Piaton und Aristoteles, a.a.O., 369 darauf bestehen, daß der Begriff wohl aus der Medizin übernommen sei, aber nicht als Leistung des Aristoteles, der es bei Piaton bloß aufgegriffen habe. Ob Piaton diese Apologia nötig hat, sei dahingestellt. Daß der Begriff àpeTij bei Aristoteles in seiner „ideell-normativen Ver-

bindlichkeit" von der medizinischen Kasuistik „nicht berührt" ist, mag vielleicht stimmen; sicher hingegen ist, daß er aus systematischen Gründen bei Aristoteles zur Kasuistik gerät. 4 Nach Hegel muß dies so sein, denn die Äußerung von Pflichten führe wegen des je bestimmten Inhaltes notwendig zu Kollisionen. Hegel unterstellt hier den Antagonismus des abstrakten Rechts als grundsätzliches ethisches Problem. Vgl. Geschichte der Philosophie II, 224. 5 EN 1107 a. Zur Interpretation dieser Stelle vgl. Max Salomon, Der Begriff der Gerechtigkeit bei Aristoteles, Leiden 1937, 90.

III. Ethik ohne Wille

231

deren Namen man schon die Schlechtigkeit ansehen könne, die Theorie des Mittleren nicht greife: Sie sind nicht schlecht, weil sie Abweichungen wären, sondern weil sie an ihnen selbst negativ seien.1 Der situative, schwammige Begriff des Mittleren folgt der Vorgabe, daß es in der Ethik keine prinzipiellen Urteile geben könne, „die Wahrheit wird in Dingen des menschlichen Handelns aus der Wirklichkeit des Lebens gewonnen [...] [Wenn das Festgestellte] mit den Tatsachen übereinstimmt,

Handlungen,

muß man es gelten lassen"2. Die Tugenden sind grundlegend unterschieden in ethische, durch Brauchtum überlieferte, und dianoetische, deren Möglichkeit mit der Intellektseele gegeben ist. Insgesamt unterliegen sie einer immanenten Ordnung, die sich aus dem Zusammenhang des Mittleren mit dem Gegensatz von Rezeptivität und Reflexivität ergibt. Die erste Gruppe der ethischen Tugenden betrifft den Charakter, insofern er ausgeglichen auf äußere Affektion reagiert, also etwa nicht feige oder waghalsig, sondern tapfer. Hierunter fallen außerdem Großzügigkeit, Großgeartetheit, Hochsinnigkeit und Aufrichtigkeit. Hier ist die Mitte der Grad der Nützlichkeit, nach dem Einzelhandlungen bestimmt werden. Einer höheren Stufe ethischer Tugenden gehören die direkt der politeia zuzuordnenden Tugenden an, wie Besonnenheit, Gerechtigkeit und Freundschaft. Weil sie den ausgeglichenen Grundzustand des Charakters betreffen, sind die anderen Tugenden unter diesen schon mitbefaßt. Diese Mitte kann kaum noch quantitativ gefaßt werden. Die dianoetischen Tugenden sind die Bestformen der Funktionen des Intellektes, deren eine wissenschaftlich erkennend (eniaxr¡p,óviKov) und deren andere praktisch abwägend (AoyioxiKÓv) ist.3 Die Tugend der ersten heißt sophia (oocpia), die der zweiten phronäsis (cppóvrjoia). Weitere hexeis (eE,eia)des Intellektes sind epistämä (èniaxr)pr]) und nous (vovç), die unter der sophia begriffen sind, sowie technä (xéxvrj). Die phronäsis soll die Verbindung des inneren Antriebes zur äußeren Handlung herstellen, indem sie die ausgewogene Beschaffenheit des Wahlvermögens bezeichnet, dessen Ort weder dem Intellekt noch der Sinnlichkeit eindeutig zugeordnet wird. Sofern die phronäsis auf äußere Anreize zu Handlungen reagiert, ist sie quantitativ als Mitte bestimmbar, soweit sie die seelischen Voraussetzungen dieser Reaktion bezeichnet, muß sie eher qualitativ verstanden werden. Analog gilt dies für die technä. Die sophia mit ihren hexeis epistämä und nous ist als Tugend der Erkenntnisseele reflexiv gefaßt. Sie kann nur qualitativ und nicht als Mitte bestimmt werden. Aus dieser vorläufigen schematischen Darstellung ist die Trennung der theoretischen Reflexion von den aufs Handeln bezogenen Seelenakten erkennbar. Wenngleich die Unsicherheit des Aristoteles, den Ort der Entscheidung zu bestimmen, immer wieder nahelegt, zumindest der nous sei daran beteiligt, macht schon die Erklärung, das Ziel der Ethik sei „nicht

1 2 3

Zu diesem ganze EN 1179 a. Vgl. EN 1139 a.

Argument vgl. EN 1106 äff.

232

Drittes Kapitel: Aristoteles

Handeln"1, die Trennung von Reflexion und Handlung deutlich. Aristoteles in Wo solchen Zusammenhängen nous oder logos benutzt, stehen sie metonymisch für die technisch-praktische Funktion des Denkvermögens, nicht für vernünftige Bestimmung der Willkür. Bestenfalls wird die freiwillige Handlung durch ein „irgendwie geartetes Durchdenken"2 bestimmt, von dem sachlich aber nur das Erkennen der kontingenten Umstände bleibt. Nun kann das Denken zwar vermittels bestimmter Funktionen auf die ethischen Tugenden reflektieren, aber diese Reflexion trägt weder zur ethischen Bildung noch zur Entscheidungsfindung bei und fügt dem Inhalt der Tugenden nichts hinzu. So werden die ethischen Tugenden unter die Form von Begriffen gebracht, ohne daß sie auch sachlich rational bestimmt würden.3 Die in dem Verhältnis von Tradition und Vernunft liegende aufklärerische Potenz eines Begriffes von Geschichte vermochte Aristoteles noch nicht zu entwickeln. Als Zweckursachen der Handlungen war ihr jeweiliges Gut bestimmt worden, bei der Ausrichtung einer Handlung auf ihr Ziel fallt die Entscheidung in den Bereich der ethischen Tugenden. Allerdings wird nicht das Ziel durch einen Entschluß festgelegt, sondern dieser steht in Abhängigkeit vom Ziel. Nun soll zwar das Strebevermögen fähig sein, auf den rationalen Seelenteil zu hören,4 ob es das tut, ist aber nicht Gegenstand einer willentlichen Entscheidung, sondern Äußerung einer hexis (é¿.io). Diese Vorstellung führt auf einen Zirkel, „denn gerechtes und besonnenes Handeln setze ja schon voraus, daß man gerecht und besonnen sei, genau so wie Leistungen in Grammatik und Musik bereits Vertrautheit damit voraussetzen"5. Da Handlungen nach Aristoteles

Erkenntnis, sondern

EN 1095 a. Die hierin liegende Trennung von Metaphysik und Ethik sieht Georg Wieland, Ethica Scientia Practica, Münster 1981, 54ff. Daß die der Ethik adäquate Argumentationsmethode nach Aristoteles die Topik sein müsse, macht die Ethik nicht zur Wissenschaft. 2 EE 1224 a. Das Freiwillige (ekovoiov) ist nicht als freie Willensäußerung, sondern mehr als Gewolltsein von etwas überhaupt zu verstehen. Vgl. Christoph Jedan, Willensfreiheit bei Aristoteles?, a.a.O., 131. Michael Wittmann, Die Ethik des Aristoteles, a.a.O., erklärt die Tugend als Werk der Vernunft, des freien Willens und .Ausfluß' der freien Entschließung (44). Abgesehen von der unappetitlichen Vorstellung einer gonorrhoe proaireseos nimmt Wittmann später im Grunde dies alles zurück. Von der Vernunft bleibt Bewußtsein überhaupt (59f.), vom freien Willen das nämliche (87f), die freie Entschließung wird zumindest auf eine Aporie geführt (139f). Überhaupt referiert Wittmann insgesamt affirmativ, aber er verschweigt die Aporien nicht; allerdings will er sie philosophiegeschichtlich auflösen, so daß ihr Zwingendes verschwiegen bleibt. 3 Vgl. EN 1179 bf, auch MM 1206 b und EE 1221 b. 4 EN 1102 b. 5 EN 1105 a. Vgl. EE, 1220 a: „[Einerseits entsteht sie [die Tugend, M.St] durch die trefflichsten seelischen Bewegungen und andererseits kommen von ihr her die trefflichsten Werke." Zum Begriff der hexis vgl. Cat. 8 bf. Nicht jeder bemerkt diesen Zirkel, aber fast jeder, der ihn bemerkt, versucht, ihm einen affirmativen methodischen Gehalt abzuringen, anstatt den Fehler, als der er aus heutiger Sicht gelten muß, kritisch fruchtbar zu machen. So bei Otfried Hoffe, Praktische Philosophie Das Modell des Aristoteles, München 1970, 155, Eugen Dönt, „Die Schlußkapitel der Nikomachischen Ethik", in: Schriften zur aristotelischen Ethik, hg. v. Christian Müller-Goldingen, a.a.O., 289 oder Ur-

1

-

-

III. Ethik ohne Wille

233

schlechthin nicht Gegenstand allgemeiner Einsicht sind, kann er das Problem äußerlich beseitigen. Dies geschieht mit Hilfe der Analogie zur Befähigung, ein Musikinstrument zu bedienen, die erlernt, nicht aber rational erkannt wird. Zwar gibt der rationale Seelenteil „richtige Antriebe und leitet zu wertvollen Zielen"1, wie aber das Streben durch einen Teil der Vernunft bestimmt werden soll, kann Aristoteles nicht erklären. Das Streben schwankt zwischen äußerlich und innerlich bestimmtem Antrieb, zwischen Irrationalität und Rationalität, es wird nicht deutlich, ob der rationale Seelenteil, der das Streben bestimmen kann, selbst in den Intellekt fällt oder nicht. Der Zirkel muß auf eine andere Weise aufgebrochen werden, die sich in dem Changieren zwischen Rationalität und Irrationalität schon andeutet. Es ist das autoritäre Vorbild des anovôaioç oder Diese Scheinlösung geht unmittelbar in die neue Aporie über, daß die tuVorbilder entweder ihre eigene Legitimationsinstanz sind oder eine weitere gendhaften außer ihnen gefunden werden müßte, deren Legitimation dann selbst zur Frage stünde; beide Varianten sind vergeblich. Ohne die substantielle Reflexivität eines durch die Autonomie des Willens vermittelten Selbstbewußtseins kann es keine Lösung des ,Norm-

djpovip.oç.2

problems'3 geben.

Die einzige Möglichkeit der rationalen Bestimmung des Strebens ist daher für Aristoteles ein blindes Gehorchen, die Vernunft muß, um das Wollen zu bestimmen, die Form des Irrationalen annehmen: Gehorchen, ermahnen, zurechtweisen und aufmuntern sind die Vokabeln, die das Verhältnis des Strebens zum Intellekt beschreiben, „denn es ist unerheblich, ob sie selbst sittliche Einsicht (cppóvr¡aic) haben, oder solchen gehorchen, welche sie besitzen"4. Ob dies aber überhaupt verfängt, unterliegt der irrationalen Form gemäß nicht der denkenden Vernunft des Zöglings, sondern ist als hexis bestimmt. Der zum Besonnenen Erzogene vermag zu gehorchen, der Unbeherrschte vermag es nicht und, gemäß der Bestimmung der hexeis: „nachdem sie einmal so geworden sind, haben sie keine Möglichkeit mehr, nicht so zu sein"5. Solche Menschen sind geradezu „für sittliche Vollkommenheit gleichsam verstümmelt"6, und sowenig einem ein abgeschlagener Arm wieder anwächst, so wenig ist ein verdorbener Charakter zu regenieren; eine ethische Mikrochirurgie gibt es nach Aristoteles nicht. Die Modelle und Analogien zum Bereich des Handwerks, wie jene aus der Physiologie (Gesundheit, Ernährung, Körpertraining, usw.), führten in der Ethik zur ontologisula Wolf, „Über den Sinn der aristotelischen Mesoteslehre", in: Die Nikomachische Ethik, hg. v. Otfried Hoffe, a.a.O., 9 Iff Hier ist in der Lösung des Ae;«'i-Zirkels von hexis gar nicht mehr die Rede, sondern nur noch von Vernunft. 1 EN 1102 b. 2 Vgl. Top. 100 b. 3 Vgl. Günther Bien, „Die menschlichen Meinungen und das Gute. Die Lösung des Normproblems in der Aristotelischen Ethik", in: Rehabilitierung der praktischen Philosophie, Bd. 1, hg. v. Manfred Riedel, Freiburg 1972, 360f. 4 EN 1143 b. Vgl. EN 1102 bf. und Pol. 1332 a. 5 EN 1114 a. 6 EN 1099 b.

Drittes Kapitel: Aristoteles

234

sehen Ausrichtung aller Handlungen auf ihre Ziele. Nun wird dieser Vergleich aufgrund der Unterscheidung von poiäsis (noirjoiç) und praxis (jipàtiç) aufgegeben. Während der Handwerker sein Ziel erfüllt, wenn das Werk wie auch immer seine erwünschte Gestalt hat, bedarf es bei der Tugendausübung neben dem Wissen von Zweck und Umständen der Handlung auch noch der Wahl und des habituellen Charakters der HandDies ist für die handwerkliche Tätigkeit gemäß Aristoteles nicht erforderlich, weil die Verbindung von Werk und Tätigem durch die Übereinstimmung von Zweckursache und Formursache hergestellt ist. Ob die vermittelnde Tätigkeit habituell und aufgrund von Wahl erfolgt oder aufgrund direkter Unterordnung unter persönliche Herrschaft, hat für das Resultat keine Bedeutung, der Sklave schafft Gebrauchswerte derselben Art wie ein freier Handwerker.2 Die für alle Menschen gültige Bestimmung der poiätischen Tätigkeit steht so gegen den radikalen Unterschied bei der Tugendausübung. Diese Differenz soll durch den Begriff der Freiwilligkeit vermittelt werden. Der Sklave kann grundsätzlich nicht freiwillig handeln. Die Ausrichtung seines Strebens deckt sich allenfalls einmal zufällig mit dem Interesse desjenigen, dem er unterworfen ist. Da jedoch der Antrieb zur freiwilligen Entscheidung ein innerer sein muß, handelt der Sklave auch bei solcher Übereinstimmung fremdbestimmt. Für die Resultate des Arbeitsprozesses ist das unerheblich, auf die Möglichkeit sittlicher Tüchtigkeit wirkt es sich aus, da diese gerade durch die Freiwilligkeit bestimmt ist. 1st der Sklave von Natur einem fremden Willen untergeordnet, kann er von Natur nicht freiwillig, daher nicht tugendhaft handeln. Freiwillig ist eine Handlung, wenn ihr Prinzip im Handelnden liegt, wenn aber der Handelnde nicht selbständig zu handeln vermag, ist sie Es bleibt allerdings bloß die negative Bestimmung der Freiheit der Willkür,4 daß eine freiwillige Handlung nicht unter direktem äußerem Zwang geschieht, denn der Grund der Ent-

-

lung.1

unfreiwillig.3

1 Vgl. EN 1105 a. 2 Vgl. Moses I. Finley, Die Sklaverei in der Antike, München 1981, 96, sowie Pierre Vidal-Naquet, und Michel Austin, Gesellschaft und Wirtschaft im alten Griechenland, München 1984, 83 und den Text 73. Diese auf der Akropolis gefundenen Inschriften geben Auskunft über die Aufteilung und Bezahlung der Arbeiter verschiedenen rechtlichen Status. 3 Vgl. EN 1110 a. 4 Dagegen wird fast stets, wenn behauptet wird, Aristoteles habe eine Theorie des Willens, Wille mit Freiwilligkeit und Freiheit der Willkür verwechselt. Vgl. Josef Derbolav, „Freiheit und Naturordnung im Rahmen der aristotelischen Ethik. Mit einem Ausblick auf Kant", in: Ders., Von den Bedingungen gerechter Herrschaft, Stuttgart 1979, 177-207, Otfried Hoffe, „Ausblick: Aristoteles oder Kant wider eine plane Alternative", in: Die Nikomachische Ethik, hg. v. dems., a.a.O., 299 und etwas anders Anthony Kenny, Aristotle 's Theory of the Will, London 1979, der analytisch den Willensbegriff in Grundbestandteile zerlegt, die bei Aristoteles alle aufzufinden seien, wonach dieser also eine Theorie des Willens habe. Ob Kenny zudem mit practical reasoning das Praktischwerden reiner Vernunft meint, ist fraglich. Albrecht Dihle, Die Vorstellung vom Willen in der Antike, Göttingen 1985, will wieder aufgrund der Verwechslung von Wille und Willkür ausgerechnet aus der Aporie des Notrechts (vgl. EN 1110 a) bei Aristoteles einen Willens- und Freiheitsbegriff nachweisen (vgl. 71). -

-

-

III. Ethik ohne Wille

235

im Handelnden, es ist nicht Selbstbestimmung durch Reflexion: „Also entstehen die sittlichen Vorzüge in uns weder mit Naturzwang noch gegen die Natur, sondern es ist unsere Natur, fähig zu sein sie aufzunehmen, und dem vollkommenen Zustande nähern wir uns dann durch Gewöhnung."1 In den Subjekten liegt bloß ein je unterschiedlich ausgeprägtes Vermögen, Tugenden zu erwerben. Dieser ,Materie' der Tugend ist nicht wie dem Intellekt eine aktive Seite beigeordnet, sondern ihre Aktivierung wird durch Gewöhnung bewirkt, deren Qualität zunächst von äußeren Umständen bestimmt ist. Nicht zufällig wählt Aristoteles als Modell die habituelle Ausbildung der irreflexiven Sinneswahrnehmung. Die Möglichkeit der Bestimmung der Freiwilligkeit von Handlungen erfordert zwar zusätzlich eine Entscheidung aufgrund des Wissens von den Umständen, jedoch ist auch dies keine positive Bestimmung; sie ist erzwungen von dem Problem der Zurechenbarkeit von Handlungen, die nicht unter Zwang, sondern aus Unwissen geschahen. Weil das Unwissen indirekt zu einer äußerlichen, erzwungenen Bestimmung der Handlung führt, geht die Aristotelische Erklärung der Freiwilligkeit durch Wissen von der Abwesenheit des Zwanges aus und ist daher eine wenn auch doppelt negative Bestimmung. In der Differenzierung von unfreiwillig und nicht-freiwillig scheint durch, daß Unwissenheit allerdings nicht mit Zwang identisch ist. Weil sie aber gleichwohl nur die negative Grundlage der Bestimmung der Freiwilligkeit abgibt, verfallt sie und mit ihr die Freiwilligkeit selbst der Kasuistik: Entgegen der Bestimmung des Unrechts kann es unter Umständen doch freiwillig getan oder erlitten werden. Eine positive Bestimmung des Freiwilligen gibt es auch dort nicht, wo sie reflexiv erscheint: „Dementsprechend darf als freiwillig das gelten, dessen bewegendes Prinzip in dem Handelnden selbst liegt." dementsprechend' heißt: weil bei der unfreiwilligen Handlung das movens äußerlich ist. Die Aporie gipfelt in der Erklärung, nur die Entscheidung zum Erwerb einer hexis sei freiwillig, dann aber gehe die Entwicklung einen immer festeren Gang, jede Handlung dagegen sei prinzipiell freiwillig; der fortschreitende Erwerb der hexeis besteht aber in nichts Anderem als dem Wiederholen von

Scheidung liegt prinzipiell keineswegs

-

-

-

-

Handlungen.

Zudem beschränkt sich hinsichtlich einzelner Handlungen die Freiwilligkeit überhaupt auf die Zustimmung zu den Mitteln zur Realisierung eines Zweckes, der Zweck selbst ist nicht Gegenstand der Entscheidung und somit nicht Gegenstand von Freiwilligkeit: „Das Hin und Her unserer Überlegung richtet sich nicht auf das Ziel, sondern auf die Wege zum Ziel."4 Die zentrale Bestimmung ist hier die npoaipeaiç, die nach 1 EN 1103 a. 2 Zur Kasuistik vgl. Olof Gigon, „Probleme antiker philosophischer Ethik", a.a.O., 90. Zum Problem der Zurechenbarkeit vgl. auch Nomoi, 860 dff 3 EN 1111 a. 4 EN 1112 b. Vgl. auch EE 1226 äff. Joachim Ritter, „Das bürgerliche Leben", a.a.O., behauptet, Zwecke werden durch Einsicht, Wille, Vorsatz und Vernunft gesetzt, das Begehrungsvermögen sei nur Stoff (109f). Bei John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1975, erscheint der

Drittes Kapitel: Aristoteles

236

technischer Überlegung sich für den nichtigen Plan' entscheidet, um das Ziel zu erreichen. Auf das Ziel selbst ist der bloße Wunsch gerichtet, der nicht freiwillig ist, sondern durch das Objekt evoziert wird. „Ein Arzt überlegt sich nicht, ob er heilen [...] soll"1; zwar weiß Aristoteles, daß die Kenntnisse des Arztes ihn befähigen, den Mann zu heilen oder ihn zuverlässig zu töten,2 wie überhaupt alle intellektuellen Vermögen auf ihren Gegenstand und sein Gegenteil gehen können. Dennoch zögert Aristoteles nicht, neben dem Ziel des Arztes auch das des Staatsmannes von der Überlegung auszunehmen, obwohl ihm ja denaturierte Staatsverfassungen bekannt waren. Die notwendige Entscheidung der Frage, warum zum Beispiel Ärzte und Mörder unterscheidbar sind, wird aber nicht durch die Reflexion auf den Willen entschieden, sondern ontologisch: Auf das Heilen geht die Heilkunst eigentlich und jede Kunst ist auf ihr Resultat bezogen wie die Schwalbe aufs Nest4 -, aufsein Gegenteil aber uneigentlich. Gegenüber verwerflichen Zielen soll die Freiwilligkeit dann nicht darin bestehen, sie verwerfen zu können, sondern darin, nicht zu Mitteln zu ihrer Realisierung zu greifen.5 Da jedoch der Verweigerung der Realisierung eines Zweckes dessen Ablehnung vorausgehen muß, ist Aristoteles genötigt, die Unterscheidung einzuziehen: ,,[W]enn das Handeln mit edlem Ziel in unserer Macht ist, dann auch das Nichthandeln, wenn das Ziel verwerflich ist. [...] Wenn es aber in unserem Belieben steht, das Edle zu tun und das Verwerfliche und ebenso es zu unterlassen das aber war uns doch gleichbedeutend mit Vortrefflich- und Niedrigsein -, dann ist es auch in unsere Macht gegeben, hervorragenden oder minderen Wertes zu sein."6 Das widerspricht aber der ideologischen Bestimmung des Handelns als Verschränkung von Form- und Zweckursache, wodurch die Handlungen immanent auf bestimmte Zwecke gerichtet sind, worin wiederum ihr Wesen besteht. Sozusagen rückwirkend wird dann auch der Handelnde, die Wirkursache durch den Zweck bestimmt, indem sein Wesen durch Erziehung auf ganz bestimmte Zwecke ausgerichtet ist. Der Satz, daß „der Mensch das bewegende Prinzip oder der ,Erzeuger' seiner Handlungen"7 ist, muß in dem Sinne verstanden werden, daß jeder Mensch als eben dieser durch seine charakterliche Beschaffenheit bestimmt und auf -

-

Wunsch ebenso als unmittelbare Quelle der Ziele, auf die hin ein .vernünftiger Plan' (z.B. 448) entworfen wird. Als Konkretion benennt er einen „Aristotelischen Grundsatz" (463ff), der besagt, daß, was man kann, man gern tut und kann man viel, so am liebsten das schwierigste. Warum das richtig ist, möchte Rawls „hier nicht auseinandersetzen" (465). Überhaupt: Daß Vernunft für jeden etwas Anderes ist (486f), gilt ebenso als anthropologische Konstante, wie daß mancher nicht weiß wo er seinen Urlaub verbringen soll (Abschnitte 63, 83). Oft wird die Argumentation abgebrochen mit Hinweisen wie diesem: „Ich möchte mich nicht mit der Frage beschäftigen, wieweit das richtig ist." (99 u.ö.). 1 EN 1112 b. 2 Vgl. Met. 1046 b. 3 Vgl. z.B. Pol. 1279 a. 4 Vgl. Phys. 199 b. 5 Vgl. EN 1113 b. 6 EN 1113 b. 7 EN 1113 b.

III. Ethik ohne Wille

237

dieser Grundlage Ursache der Handlung ist: ,,[W]enn der einzelne in gewissem Sinne Urheber seiner eigenen Grundanlage ist, dann ist er unbedingt auch selbst in gewissem Sinne Urheber dessen, was ihm als Gut erscheint'."1 Für die tugendhafte Handlung ist das rationale Element des richtigen Plans so weder bestimmend noch leitend, sondern die habituelle Einheit von irrationalem Antrieb und Plan ist entscheidend. Die mangelnde Tugendbildung, die auch auf fehlende charakterliche Voraussetzungen zurückgeht, bestimmt einen Menschen dann als schlecht. Es steht insofern bei ihm, als daß seine hexis Quelle seines Handelns ist. Während bei guten Charakteren eine schlechte Handlung aus Unwissenheit als nicht-freiwillig, als Privation des Wesens bestimmt ist, ist sie bei den schlechten freiwillig und Wesensausdruck. Damit ist die raisonnierende Auswahl der Mittel (proairesis) keine moralische Bestimmung, sondern eine bloß technische. Auf den Zweck selbst ist der Wunsch gerichtet, der außerhalb der Rationalität liegt und je nach Ausbildung der Tugenden entweder naturgemäß auf das Gute gerichtet ist oder naturwidrig auf das Schlechte, ganz analog der Qualität der Ausbildung eines bestimmten Handwerkers.3 Das Laster ist kaum mehr Privation der Tugend, sondern eher wie diese selbst ein Zweck.4 Die Zwecke können nicht allgemein begründet werden, weil Aristoteles sie für bloß Einzelnes hält, für das es kein Wesen geben kann. Ihre Allgemeinheit in einem Reich der Zwecke in ihrer Beziehung auf die praktische Vernunft zu erblicken, erforderte indes die nominalistische Abkehr von der kontemplativen Metaphysik. Es vermag der Mensch erst durch Reflexivität sich selbst das Gesetz zu geben, wenn das Selbstbewußtsein aus der ontologischen Ordnung heraustritt, indem es diese Ordnung selbst zu seinem Gegenstand und Resultat erklärt. So aber sind nur einzelfallbezogene Einschätzungen möglich, wovon die kasuistischen Passagen der Aristotelischen Ethik5 beredtes Zeugnis ablegen in den Unterscheidungen von freiwillig, unfreiwillig und nichtfreiwillig, das heißt der falschen Handlung aufgrund von Unwissenheit, wobei es eine Reihe verschiedener Sorten von Unwissenheit gibt. Hinzu kommt, daß verschiedene Tugenden verschiedenen Menschen auf verschiedene Weise geziemen, was noch situativ variabel ist. Eine allgemeine Regel, die der Vernunft entspränge, kann es ohne den Begriff des Willens sowenig geben wie ohne den der Freiheit. Die Beziehung dieser Begriffe aufeinander kann erst in der bürgerlichen Gesellschaft hergestellt werden, in der tendenziell alle gesellschaftlichen Beziehungen vertraglich, das heißt dem Anspruch nach durch die freie Übereinstimmung freier Willen, geregelt werden. Bei Aristoteles jedoch folgt zunächst aus der Ablehnung des rationalen Anspruchs der Platonischen Tugendlehre die strikte Trennung von Ethik und philosophische Er1 2 3 4 5

EN 1114 b.

Vgl. MM 1198 a. Vgl. EE 1227 af. und MM Vgl. Rhet. 1364 a. Vgl. EN III, 1-3 und 8-15.

1206 b-1208

a.

Drittes Kapitel: Aristoteles

238

kenntnis.1 Warum diese überhaupt im Zusammenhang mit jener behandelt werde, begründet Aristoteles nicht mit einer sachlichen Verknüpfung beider, sondern lediglich mit dem Umstand, daß es sich schließlich auch um eine Tugend handle und die Untersuchung der Vollständigkeit verpflichtet sei, so daß „ihre Behandlung gar nicht für so themafremd zu gelten braucht" .

1 Eine Ausnahme bildet der sogenannte Protreptikos, zitiert nach Ingemar During, Aristoteles, a.a.O., 406-429. Aristoteles versucht durchaus platonisch, teleologische und rationale Handlungsbestimmung zu vereinen (B 8ff), explizit gewährt die Philosophie einen äußeren Nutzen, ist also direkt handlungsbestimmend (B 31, 46, 52). Von der agitatorischen Kraft der Vernunft, die auch der literari-

schen Gattung geschuldet ist (Protreptikos, Paränese), ist selbst in dem oft verglichenen EN X formal wie inhaltlich kaum mehr etwas übrig. 2 MM 1197 b. Interpretationen, die bei Aristoteles Moralphilosophie oder die vernünftige Bestimmung von Zwecken erblicken, übersehen die Bedeutung der hexis, oft auch die der Teleologie. Davon zeugen die Versuche, Aristoteles und Kant durcheinander zu ergänzen (Vgl. Otfried Hoffe, Praktische Philosophie, a.a.O., 42ff. und Die Nikomachische Ethik, a.a.O., 19ff. und 277ff) Es sei eine fortdauernd gültige metaethische Erkenntnis des Aristoteles, daß Ethik eine „Grundrißwissenschaft" (120f.) sei. Dies gehe auf die „ethische Fundamentaldifferenz" (69) zwischen Wissen und Tun zurück. So drückt Hoffe den Abstand des Aristoteles zur modernen Moralphilosophie, der von dieser aus als Mangel zu verstehen ist, affirmativ aus und und will so mit dem Kantischen Anspruch, die Menschen könnten ihre Handlungen vernünftig bestimmen, abschließen. Die Vorstellung vom Grundriß scheint auf das zurückzugehen, was schon bei Gadamer „Umriß" heißt. (Hans Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, in: Gesammelte Werke, a.a.O., Bd. 1,318). Ritter will zeigen, daß bei Aristoteles praktische und theoretische Philosophie durch das telos des Göttlichen im Menschen substantiell verbunden seien. So soll ein Bruch gekittet werden, der bei Aristoteles erzwungen ist. Wenn Ritter sich schließlich von der Rückkehr Gottes in die Wissenschaft die Versöhnung von Theorie und Praxis verspricht, ignoriert er die historische Herkunft dieses Gegensatzes. Vgl. Joachim Ritter, Die Lehre vom Ursprung und Sinn der Theorie bei Aristoteles, in: Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes NordrheinWestfalen 1, Köln 1953, 32-54. -

-

239

IV. Die menschliche Substanz in der Politik

IV. Die menschliche Substanz in der Politik 1.

Ethik und polis

Weil eine Bestimmung der Ziele der Handlungen weder aus den Zielen selbst, noch aus der Vernunft allgemein begründbar ist, fällt sie in den habituellen Charakter der Individuen, aufgrund dessen sie dieses oder jenes Ziel wählen. „Das bedeutet: für den guten Menschen ist Gegenstand des Wünschens, was in Wahrheit ein Gut ist. Für den unbrauchbaren aber kommen nur Zufallsdinge in Frage." Das Resultat der Gewöhnung ist allerdings nicht die Fähigkeit des Menschen, seine Zwecke selbst zu bestimmen, sondern seine Entscheidungen sind geradezu determiniert: „Bei der festen Grundhaltung (hexis) aber ist es nicht so, daß sie, wenn sie ein Glied eines Gegensatzpaares ist, auf gegenteilige Wirkung abgestellt wäre." Auch gegen die für gute Handlungen eventuell hinderlichen Lust- oder Unlustgefühle steht nicht die Vernunft, sondern die Erziehung: „Daher muß schon von früher Jugend an, wie Piaton sagt, eine bestimmte Führung da sein, die Lust und Unlust da empfinden lehrt, wo es am Platze ist."3 Da so zum einen das Wollen nicht durch Vernunft allgemein bestimmbar ist, es zum anderen aber in einer Theorie verhandelt wird, die an der Unterscheidung von richtig und falsch prinzipiell festhält, gerät Aristoteles die Verbindlichkeit der Bestimmung des Wollens zum ontologischen Faktum: In Analogie zur Determination der Entscheidung des Handwerkers durch das Produkt gilt die ethische Entscheidung als Resultat eines Charakters, der trainiert wird wie ein Bizeps: „Denn die wiederholten Einzelhandlungen bewirken einen entsprechenden Grundzustand. Dies sieht man an Menschen, die sich für irgendeinen Wettkampf oder eine Tätigkeit üben: sie wiederholen fortwährend denselben Krafteinsatz. Wer also nicht weiß, daß aus den wiederholten Einzelhandlungen die festen Grundhaltungen hervorgehen, ist einfach Nur durch ein striktes Erist eine edle der Charaktere möglich, die dann freilich ziehungssystem5 Ausrichtung über ihre hexeis nachdenken mögen, jedoch immer mit der Schranke: „irrationaler Trieb weicht nicht dem Wort"6. Obwohl dem Anspruch nach die Beziehung zu anderen durch die Beziehung zu sich selbst bestimmt sein soll,7 das sittliche, kollektive Selbstbewußtsein durch das individu-

stupide."4

1 2 3 4 5

EN EN EN EN

1113 a. 1129 a. 1104 b. 1114 a. Vgl. EN 1102

ligenpoliteia vgl. 6

EN 1179 b.

7

Vgl. EN

1166

a und 1179 a. Zur Ausrichtung der Erziehungssysteme auf die Pol. 1310 a und 1337 a. a.

Erhaltung der jewei-

240

Drittes Kapitel: Aristoteles

eile, erweist sich umgekehrt das Individuum als Produkt der politischen Konstellation,

indem es durch seinen jeweiligen gesellschaftlichen Status und die Veranlagung bestimmt ist, die selbst wieder im Status mitbegründet ist. Die Erhaltung der politeia erfordert eine möglichst reibungsfreie Organisation der Po/wbevölkerung. Das ausgewogene, mittlere Verhalten scheint dafür die sicherste Voraussetzung zu sein. Diese ontologisch verstandene politische Bestimmung ist dann zugleich eine des Lebewesens, das wesentlich auf die Erhaltung der politeia ausgerichtet ist. Wäre es anders, vermöchte das Individuum als vernünftiges, die Sphäre des Sittlichen selbst vernunftgemäß zu bestimmen. Von den dianoetischen Tugenden, den besten Ausprägungsweisen der Intellektseele, die sachlich dafür zuständig wären, sind jedoch außer der technä nur der nous und die phronäsis auf das Handeln bezogen. Nous zeigt dabei nicht die vernünftige Bestimmung von Handlungen an, sondern gemäß der Trennung in wissenschaftliche und abwägende Vernunft die Beteiligung der Intellektseele am Handeln überhaupt, besonders als Treffsicherheit wie bei der Auffindung der Prinzipien, die nicht mehr argumentativ zu begründen sind.3 Der Versuch der Verbindung des Intellekts mit den Handlungen folgt der Einsicht, daß Menschen selbstbewegt zweckgerichtet handeln können,4 die historisch mit dem stets zweckgerichteten poiätischen Handeln verknüpft ist. Die praxis gerät erst in den Blick, wenn es geordnete politische Zusammenschlüsse gibt, die die Zwecke aller Handlungen festlegen. Solange nun keine allgemeine Bestimmung der Zwecke möglich ist, kann auch eine Erklärung des Gelingens poiätischer Tätigkeit nur als naturähnliche Regelmäßigkeit der technä erklärt werden, der eine eingeübte hexis zugrunde liegt. Das Mißlingen ist dann als Privation bestimmbar. Das artistische Moment, daß es vom habituellen Geschick des Handwerkers abhängt, ob die poiäsis gelingt, wird auf die praktischen Handlungen übertragen. Die andere Seite des Gelingens, der auch aus Vernunft zweckmäßig bestimmbare Wille, ist noch nicht bekannt. Die scheinbar allgemeine Erklärung durch hexis ist tatsächlich nur ein allgemeiner Ausdruck für das Prinzip des Individuellen. Aufgrund der juristisch-sittlichen Differenz, daß schlechte praxis die Einheit der politeia in Frage stellt und daher zurechenbar sein muß, das Mißlingen von Handwerksprozessen aber in der Regel nicht, zwingt Aristoteles, trotz der Parallelität Zur Bestimmung des Mittleren als die politeia erhaltend vgl. Pol. 1295 af. Mangels einer knappen Übersetzung bleibt das Wort (bpóvrjoic unübersetzt. Sittliche Einsicht, Einsicht, Klugheit usw. sind gleichermaßen ungenau und irreführend. Die Bedeutung muß aus dem Zusammenhang klar werden. Am nächsten trifft noch die Übersetzung von Habermas als „kluges Situationsverständnis" (Jürgen Habermas, „Die klassische Lehre von der Politik in ihrem Verhältnis zur Sozialphilosophie", in: Ders., Theorie und Praxis, Neuwied 1967, 14). Am steilsten ist die Behauptung von Michael Wittmann, Die Ethik des Aristoteles, a.a.O., es sei darin ein „Bewußtsein des Sollens und der Pflicht" (91), eine „sittliche Gesinnung" (92) zu finden, also etwas, das die Philosophiegeschichte nicht ohne Gründe erst 2000 Jahre später hervorgebracht hat. 3 Noch einmal sei auf EN 1139 a hingewiesen, wo nous etwa Auffassen, logos irgendein Resultat der Intellektseele bedeutet, auch dianoia steht für den nous logistikos. 4 Vgl. EE 1222 bff 1 2

IV. Die menschliche Substanz in der Politik

241

der

Entscheidungsvorgänge, neben der für die poiäsis zuständigen technä mit der phroeigene dianoetische Tugend für die praxis einzuführen, die über die ZweckMittel-Relation hinaus erlaubt, „Wert oder Nutzen für seine Person richtig abzuwägen, und zwar nicht im speziellen Sinn, z. B. Mittel und Wege zu Gesundheit oder zu Kraft, sondern in dem umfassenden Sinn, Mittel und Wege zum guten [...] Leben"1. Die doppelte Bedeutung von eu zän (ei) C/rrv) als Wohlleben und richtig leben gelangt erst in der Gemeinschaft, besonders der politeia zur systematischen Entfaltung. Die phronäsis nun und die sophia werden unterschiedlichen Teilen der Seele zugeordnet.2 Solche Aufteilungen sind bei Aristoteles grundsätzlich nicht äußerlichphysiologisch zu verstehen, sondern als systematische Trennungen, die aus der sachlichen Getrenntheit der Gegenstände der Vermögen hervorgehen. Der Gegenstand der phronäsis ist das Zweckmäßige, das je nach Situation und Person ein anderes sein kann, wogegen der Gegenstand allgemeiner Einsicht notwendig als richtig oder falsch erkannt wird.3 Die phronäsis ist daher keine besondere Erkenntnisform neben der wissenschaftlichen, sondern geht gar nicht auf Erkenntnis.4 Würden in der Absicht, Ethik und Ontologie zu trennen, zwei Erkenntnisweisen unterschieden, wäre ihre Einheit schon durch die Identität des sie unterscheidenden Bewußtseins gesetzt, sie fielen in dieser oder jener oder einer dritten Erkenntnisweise ineins. Die phronäsis ist die Tugend, d.h. beste des Teiles des Wahlvermögens, der in den Intellekt fällt. Der mögliche Ausbildung Zweck wird durch das Streben (öpe£,ic) gegeben. Das Resultat von Verlangen (ßovArjaic) und mit sich zu Rate gehen (ßovAeveodai) hinsichtlich der gegebenen Umstände unter denen die Mittel zum Zweck zu ergreifen sind, ist der Entschluß (npoaipeoiç), der das Handeln auslöst. Alle genannten Funktionen partizipieren sowohl am sinnlichen, wie am intellektuellen Teil der Seele.5 Allerdings wird durch den näsis eine

1 EN 1140 a. Franz Dirlmeier zeigt in der Anmerkung 7, 4, daß die Bedeutung von ev Çrjv „schimmert, bisweilen bewußt, [...] zwischen Wohlleben, glücklich leben, edel leben", meint dann unter Verweis hierauf in der Anmerkung 126, 7, der Ausdruck bedeute hier natürlich „sittliches Leben". Aufgrund der Aristoteles eigenen Ontologisierung politischer und sittlicher Verhältnisse bedeutet der Ausdruck wohl sittlich leben, aber diese Bedeutung ist restringiert durch die anderen und nur mit ihnen im Zusammenhang zu interpretieren. Ob die (bpovnaiç dann ohne Verwirrung zu stiften als ,sittliche Einsicht' zu übersetzen sei, ist zu bezweifeln. 2 Vgl. EN, 1143 b. 3 Vgl. MM 1197 af. 4 Die historisch wie systematisch begründete Trennung des Handelns von der Vernunft wird von der modernen politischen Philosophie in der Verfallsform eines .Nichts Genaues weiß man nicht' gefeiert bis hin zu Rorty, der eine „Hoffnung statt Erkenntnis" vorschlägt. Vgl. das Buch gleichen Titels von Richard Rorty, Wien 1994. 5 Gadamer bestimmt die phronäsis doch analog zum Handwerk, sie sei ein sich Entwerfen des Menschen auf sein Bestes hin. So wird sie selbst zu einem ,,praktische[n] Wissen" (Hans Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, a.a.O., 27), sogar die orexis „das tragende Element des sittlichen Wissens" (317). Die Einsicht in das einem selbst Gute, von Aristoteles stets als quasi-Einsicht behandelt, mystifiziert Gadamer zu einem „Für-sich-Wissen", bzw. „Sich-Wissen" (321). Die Unentschiedenheit (und für Aristoteles Unentscheidbarkeit) der phronäsis zwischen Mittel- und Zweckbezogenheit ist für Ga-

-

Drittes Kapitel: Aristoteles

242

Entschluß der Anstoß zur Bewegung von äußeren mechanischen Ursachen unterschieden, indem er in ein Subjekt der Entscheidung verlegt wird. Das reicht jedoch nicht aus, denn es scheiden zwar die Pflanzen aus, weil ihr Wachstum bloß rezeptiv ist, aber der Unterschied zwischen Mensch und Tier ist durch die proairesis nicht zu begründen, soOhne den Unterschied weiter begründen zu lange sie Wünschen und Trieben darauf muß Aristoteles doch bestehen, daß nur Menschen handeln, denn dies können, erweist sich als notwendig für die Bestimmung der Zurechenbarkeit. Wenn es möglich sein soll, im Gegensatz zu Tieren die Menschen für ihr Handeln verantwortlich zu machen, muß die proairesis auch in Verbindung zum Intellekt stehen, denn nur dieser Teil der Seele vermag vermittelt zu bestimmen, wogegen das sinnliche Streben unmittelbar reagiert. Die Ethik des Aristoteles hat so politisch-juristische Motive, denn die Zurechenbarkeit von Handlungen wird erst in der polis allgemein erfordert. Das scheint durch in den kasuistischen Erörterungen der bis hin zu der Bestimmung des bedingten Vorsatzes. Die phronäsis ist als dianoetische Tugend antinomisch bestimmt. Als Tugendhexis soll sie die Regelmäßigkeit von Handlungen erklären, was durch die zufällige Verschiedenheit aller Handlungen zunächst ausgeschlossen war. Die habituell gesicherte Entscheidung ist zwar nicht mehr bloß zufällig, so aber wieder nicht zurechenbar. Daher muß die phronäsis eine Intellekts-Tugend sein und so antinomisch Zurechenbarkeit und natürliche Ordnung zusammenschließen. Diese Antinomie in der Bestimmung der Entscheidung ist Ausdruck des Problems, die politisch erzwungene juristische Zurechenbarkeit auf der Grundlage einer ontologischen Ethik zu rechtfertigen. Dasselbe Problem erlaubt auch die umgekehrte Formulierung als Ausdruck der Frage, wie die polis sich noch ontologisch bestimmen lasse, wenn bereits eingesehen ist, daß menschliche Handlungen nicht notwendig einer natürlichen Anordnung folgen, denn mit dem Versuch der systematischen Bestimmung der Zurechenbarkeit von Handlungen wird den Handelnden soweit Selbständigkeit zugestanden, daß auch die Bildung von Gemeinschaften nicht mehr als bloßer Ausdruck ihrer Natur zu denken ist. Gerade die

folgt.1

Freiwilligkeit3

damer Ausweis dessen, daß der Zweck im Leben und damit auch die Mittel nicht a priori klar seien. Er hat so die negative Spitze des Kantischen ,Zweck an sich' übersehen. Im ganzen verwandelt Gadamer die historisch erklärlichen Mängel der Aristotelischen Ethik affirmativ in eine besondere Form unorthodoxen Wissens, die er sich schließlich als „eine Art Modell der in der hermeneutischen Aufgabe gelegenen Probleme" (329) dienstbar macht. Vgl. auch Hans Georg Gadamer, „Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik", in: Gesammelte Werke, a.a.O., Bd. IV, und das Frühwerk „Praktisches Wissen", in: Gesammelte Werke, a.a.O., Bd. 5, oder das Spätwerk „Aristoteles und die imperativische Ethik", in: Gesammelte Werke, a.a.O., Bd. VII. Gegen hermeneutische Reanimation dessen, was an der antiken Gestalt des Geistes abgelegt ist, vgl. Manfred Riedel, „Über einige Aporien in der praktischen Philosophie des Aristoteles", in: Ders., Rehabilitierung der praktischen Philosophie I, a.a.O., 96f. 1 Vgl. EN 1111 a und Franz Dirlmeyers Note hierzu, 327, sowie 1141 a. 2 Vgl. etwa EE 1222 b. 3 Vgl. EN III.

IV. Die menschliche Substanz in der Politik

243

Notwendigkeit der Reflexion auf die Bedingungen der Stabilität von Gemeinschaften zeigt mit deren Fragilität auch ihre artifizielle Beschaffenheit. Wie der ersten Formulierung des Problems die historische Grenze der Aristotelischen Konstruktion zugrundeliegt, so enthüllt diese zweite ihren progressiven Impuls. Die phronäsis soll zwar die Verbindung des Denkens zur Empirie vermitteln, kann ' jedoch nichts Allgemeines erkennen, ist nicht Wissenschaft, epistämä. Wenngleich der Zufall vom Bezweckten geschieden ist,2 kann die phronäsis keinen eminenten Unterschied innerhalb des Bezweckten begründen. Für diese Unterscheidung führt Aristoteles eine weitere hexis ein, die „intellektuelle Gewandtheit"3, die auf die Realisierung jedes beliebigen Zweckes gehen kann, wogegen die phronäsis nur auf die Realisierung guter Ziele gerichtet ist. Die Unterscheidung der Vermögen selbst fällt zwar offenbar in das theoretische Denken, das aber auf die gesamte Sphäre des Entscheidens und Handelns umgekehrt keinen Einfluß hat. Die phronäsis verhält sich zur Erkenntnis wie ein Hausmeister, der ihr als dem Hausherrn die Muße schafft, „damit er, durch die Sorge für das Notwendige nicht gehindert und von der Möglichkeit ausgeschlossen werde, etwas Schönes und Geziemendes zu verwirklichen"4. Diese Reflexion sei weder für die erzieherische Ausbildung des Charakters nötig, noch für die Entscheidungsfindung. Der habituellen Wahl des Zweckes werde durch ein Wissen von der Richtigkeit sowenig etwas beigefügt, wie der Gesundheit dadurch, daß der Gesunde weiß, warum er gesund ist.5 Die Bestimmung der phronäsis kulminiert im Selbstzweck, der ganz abstrakt ist: „Auch wenn die sittliche Einsicht auf das Handeln keinen Einfluß nähme,

wäre sie uns sie der eines weil ist."6 deren Seelenteils Die nötig, Wesensvorzug Fähigkeit, Begriff gewonnen wurde als Ausdruck der Aporie, daß das Handeln nicht rational bestimmbar sei, weil es Einzelnes ist, und doch auch nicht ganz irrational sein kann, weil es menschliches Handeln ist, erscheint nunmehr als Etwas, das „an sich zu wählen"7 sei. So wird auch das Vermögen der Wahl bezüglich jener Zwecke, die durch den Grundcharakter nicht vollends eingeholt sind, zu einer gegen ihren Inhalt prinzipiell gleichgültigen ontologischen Bestimmung der Menschen. Auch ihre Bedeutung läßt sich aus der politischen Funktion der Menschen erklären, denn einen Blick dafür, was für die

Vgl. EE 1216 b und 1246 b, auch MM 1196 bf. Die phronäsis ist „ohne jede theoretische Bedeutung" (Werner Jaeger, Aristoteles, a.a.O., 83, vgl. 246f. sowie Ingemar During, Aristoteles, 468).Wenn Josef Derbolav, „Freiheit und Naturordnung", in: Ders., Von den Bedingungen gerechter Herrschaft, a.a.O., 187 den Erkenntnisanspruch nur für eine Last der praktischen Vernunft hielt, bedeuten allgemeine Urteile in der Ethik für Herbert Schweizer, Zur Logik der Praxis, Freiburg 1971, 214 schlicht Terror. Die Denunziation praktischer Vernunft ist von der postmodernen Ächtung der Wahrheit nicht unterschieden: Beides erklärt das Leben zum Mythos der komplexen Strukturen. 2 Vgl. Phys. 195 bf. 1

3 4 5 6 7

MM 1197 b. MM 1198 b. Vgl. EN 1143 af. EN 1145 a. EN 1144 a.

Drittes Kapitel: Aristoteles

244

Menschen wertvoll ist, „schreibt man denen zu, die in der Verwaltung des Hauses und des Gemeinwesens tätig sind"1. Damit ist angedeutet, daß sich hinter der Theorie des Vermögens der Wahl oder Entscheidung ein Herrschaftsverhältnis verbirgt, dessen Bewußtsein so manifest ist, daß der Organisation der Hervorbringung der Mittel zur Reproduktion durch Andere selbst nicht mehr angemerkt wird, daß sie auf einen äußeren Zweck gerichtet ist. Richtig daran ist, daß die Herrschaft zunächst sich selbst und ihre eigene Erhaltung zum Zweck hat. Wenngleich auch die Ethik vom Begriff des L,coov so wird dieser doch dem telos des Qcoov noAitiKÖv subsumiert. Aóyov ëxov Die Reflexivität der Metaphysik, die Aristoteles nicht in der Gestalt des rational bestimmbaren Willens in die Ethik zu retten vermag, macht sich geltend als Selbsterhaltung der Herrschaft, die so nicht bloß Voraussetzung wissenschaftlicher Allgemeinheit ist, sondern auch selbst Voraussetzung dessen ist, daß sie als durch sich selbst bestimmte Allgemeinheit aufzutreten vermag: Sie erhält, reproduziert sich, indem sie ist, ihr Setzen ist ein Voraussetzen, das blind ist gegen die historischen und äußerlichen Bedingungen. Das aus der Unterwerfung Anderer resultierende Selbstbewußtsein übersetzt die negative Befreiung vom unmittelbaren Naturzwang in die hybride Vorstellung der Autarkie, die eine der Sache nach politische Bestimmung, die Organisation von Handlungen, als ontologische Qualität des Geistes ausgibt. Damit ist freilich nur erst allgemein die Struktur selbstbezüglicher Herrschaft gegeben, die erst mit kapitalistischer Produktionsweise als automatisches Subjekt in ihre adäquate äußere Gestalt transformiert wird; aber darin, daß nicht die empirischen Erscheinungen der Herrschaft als detaillierte Anordnungen zur Reproduktion der polis Ausweis der phronäsis sind und nicht die Tätigkeit derjenigen, die Gesetze durchsetzen, sondern nur die Kunst der Gesetzgebung selbst, ist jene Struktur doch präformiert.3

ausgeht,2

2.

Die Ungleichheit der Menschen

Die Ethik hat ihr Ziel in der Politik, ihre Bestimmungen folgen dem auf die polis hingeordneten Wesen (ffjoov tioAixvkóv), wobei dieses ebenso in seiner Funktion gründet, wie diese aus jenem bestimmt wird. Dabei ist zu beachten, daß nicht die Menschen als Menschen, als vernunftbegabte Lebewesen im Vordergrund stehen. Auch der Begriff des Lebewesens, das sich mit seinesgleichen in poleis zusammenschließt, bezieht sich nicht auf den Zusammenschluß als solchen. Die ethischen Bestimmungen des Aristoteles bleiben an die von ihm konzipierte Gestalt der polis gebunden; jeder Versuch, Probleme der Gegenwart durch Restitution antiker Tugenden zu lösen, die den Menschen doch ganz gut zu Gesichte stünden, muß scheitern an der grundsätzlich veränderten

1 2 3

EN 1140 b. Vgl. EN 1098 a, auch Pol. 1253 Vgl. EN 1141b.

a.

IV. DIE MENSCHLICHE SUBSTANZ IN DER POLITIK

245

Verfassung der modernen Gesellschaft, die zu leugnen und daher mit dem Prädikat der Natürlichkeit zu ratifizieren notwendige Voraussetzung jenes Ansinnens ist. Bei Aristoteles ist schon die Unterscheidung zwischen Guten und Schlechten nicht in moralischem Sinn zu verstehen, sondern bezieht sich auf die Funktion der Menschen. Ein Guter erfüllt seine ihm durch die polis wesentlich zugeordnete Funktion, ein Schlechter ist unbrauchbar.1 Der Möglichkeit, sich oder anderen das gute Handeln zu erklären, ist nach Aristoteles Lebenserfahrung vorausgesetzt. Diese Voraussetzung führt auf eine Aporie, denn was man als Gut soll erfahren können, von dem muß man schon wissen, daß es gut ist. Die gewaltsame Lösung faßt Vernunft als Gehorsam, den Gewöhnungs- und Bildungsprozeß als strengste Wenn Aristoteles in diesem Zusammenhang von nous ist damit die so intuitive, nicht durch Erklärung vermittelte Auffassung gemeint. spricht, Damit werden die Tugenden als Prinzipien des Handelns den Prinzipien der theoretischen Philosophie angeglichen, die ebenfalls bloß erlernbar, nicht beweisbar waren. Die Gewaltsamkeit des Verfahrens soll in beiden Fällen durch die Wahrheit legitimiert sein. Allerdings bestand die Wahrheit der theoretischen Prinzipien darin, daß sie immerhin negativ erschlossen werden konnten als notwendige Bedingungen der Orientierung in der Welt, des Lebens schlechthin, während die Tugenden nur Bedingungen des Lebens in der polis sind; der wesentliche, historische Unterschied beider ist erst vom Resultat der Geschichte, also noch nicht für Aristoteles zu erkennen. Gelten aber die ethischen Prinzipien gleich den theoretischen als unmittelbar aufzufassende, werden die sie bestimmenden politischen Verhältnisse als naturgegeben und ewig aufgefaßt. Damit sich nun eine Grundhaltung überhaupt heranbilden kann, muß es scheinbar analog zum intuitiven Geist in der theoretischen Erkenntnis eine angeborene Affinität zur sittlichen Bildung geben, die dann aber wie ihr Resultat wesentlich selektiv ist: nur edelgeborene Junge Leute von freiem Wesen"3 können erzogen werden, mögliches Subjekt ethischer Handlung ist nur der freie Bürger, dessen Eltern beide Freie waren, worin seit Solon ein Verbot der Versklavung begründet war.4 Zwar gab es fast keine spezifischen Arbeiten für Sklaven, sie konnten durchaus gehobene Funktionen erfüllen, sie konnten auch mit Herren befreundet sein, aber eben nicht ethisch handeln, weil sie nicht frei handeln konnten. Kinder und junge Männer können wohl erzogen werden, aber selbst noch nicht ethisch handeln, weil sie mangels Erfahrung noch keine Grund-

Erziehung.2

1

Dagegen vgl.

zum

Beispiel Franz Dirlmeiers Übersetzung von EN 1169 a.

Dort steht für

àyadoç

,ethisch hochstehender Mensch' und für poxQrjpoç .Minderwertiger'. 2 Vgl. z.B. EN 1104 b. Nach Ingemar During, Aristoteles, a.a.O., 457 ist Ziel der Ethik „nicht Erkenntnis der Tugend, sondern Erziehung". Castoriadis übersetzt naiöeia als „Dressur für das Gemeinwesen" (242) oder „gesellschaftliche Dressur" (250). Cornelius Castoriadis, Durchs Labyrinth, Frankfurt am Main 1981. 3 EN 1179 b. 4 Vgl. Pierre Vidal-Naquet u.a.,

Gesellschaft und Wirtschaft im alten Griechenland, a.a.O., 75.

Drittes Kapitel: Aristoteles

246

haltung herausgebildet haben.1 Die Handlungen der Frauen fallen ebenfalls nicht in diesen Bereich, weil ethische Handlungen solche sind, die in der Öffentlichkeit die Mitglieder des Gemeinwesens untereinander verbinden. Die Handlung der Frau findet jedoch im Hause statt. Die Metoiken (pexoiKoi) kommen nicht in Betracht, weil sie gar nicht zum Gemeinwesen gehören, sondern dessen Verbindung nach außen darstellen. Sie durften keinen Grundbesitz im Gebiet der polis haben. Diese Beschränkung der Fähigkeit zum sittlichen Handeln wird frappant in der Bestimmung des Inbegriffs aller Trefflichkeiten, der Gerechtigkeit. Wenn jede Tugend gerecht und die Gerechtigkeit auf bestimmte Personen beschränkt ist, dann sind es auch alle Tugenden.2 Die Gerechtigkeit ist beschränkt auf die Einhaltung „bürgerlicher Gleichheit"3, die dort statt hat, „wo sich Menschen zu gemeinsamer Lebensform mit dem Ziel der Autarkie zusammengeschlossen haben, und zwar freie und gleiche Menschen"4. Der Begriff der Gleichheit wird im Zusammenhang der Zuteilung von Gütern erläutert. Treten Menschen miteinander in freiwilligen Austausch, können die Relationen beliebig bestimmt werden, es gibt kein sachlich bestimmtes Maß, weil Aristoteles den Begriff des Tauschwertes nicht kennt.5 Die Relationen auszutauschender Gegenstände waren kontingent und daher nicht allgemein erklärbar, was besonders auf die Orientierung der antiken Wirtschaft am Gebrauchswert zurückzuführen ist. Die Preise entsprachen grundsätzlich nicht Quanta vergegenständlichter Arbeit wofür die großen Preisschwankungen ein Zeichen sind; der Produktentausch in der polis löst sich gerade erst von der Gestalt der wechselseitigen Bei unfreiwilligem Besitzerwechsel wird gemäß dem Recht der Verlust ausgeglichen, die Parteien werden als gleich betrachtet, was sie grundsätzlich nicht sind. Es ist „nämlich möglich, daß der eine das gleiche wie der andere oder nicht das gleiche zugeteilt erhält"7. Dies ist nicht eine zufällige Ungleichheit, sondern Ausdruck der proportionalen Gleichheit, die durch den Status der Personen erklärt wird. Die proportionale Gleichheit ist „nach Personen und Sachen aufgegliedert. Das heißt also: wie sich das Glied A zu B verhält, so C zu D. Und folglich mit Vertauschung der Stellen: Wie A zu

Schenkung.6

1 2 3 4 5

Vgl. EN 1100 a Vgl. EN 1129 b.

EN 1129 b. EN 1134 a. Vgl. Pol. 1257 äff. und EN 1132 bff. sowie die Interpretation dieser Passage bei Karl Marx, Das Kapital I, a.a.O., 73f. Die Unvereineinbarkeit von Zirkulation und Produktion erklärt Karl Winfried Schmidt, Logik und Polis, a.a.O., damit, daß die Verbindung der Sphären noch nicht durch die Verwandlung der Arbeitskraft in Ware vollzogen ist. Mit Marx bestimmt er dies als den Grund der Resignation des Aristoteles vor der Erklärung der Tauschrelationen (33f). 6 Vgl. Pierre Vidal-Naquet u.a., Gesellschaft und Wirtschaft im alten Griechenland, a.a.O., 34f. und Moses I. Finley, Die antike Wirtschaft, a.a.O., 209. 7 EN 1130 b.

IV. DIE MENSCHLICHE SUBSTANZ IN DER POLITIK

247

C, zu verhält sich B zu D"1. Das nicht gesellschaftlich, sondern ontologisch verstandene

Verhältnis der Personen A und B begründet die Verteilung ihrer Güter C und D. Damit ist zugleich das Verhältnis der Person A zu ihrem Besitz C und das der Person B zu ihrem Besitz D als natürlich fixiert. Die Vertauschung' ist sachlich keine, A könnte nicht in Relation zu D gesetzt werden, ohne das Verhältnis insgesamt zu zerstören. Ein analoges Beispiel gibt Aristoteles im Zusammenhang der Wiedervergeltung: „Wenn zum Beispiel der Träger eines Amtes (einen Bürger) körperlich verletzt hat, so darf der erstere nicht ebenfalls zum Ausgleich verletzt werden. Hat aber jemand den Träger eines Amtes verletzt, so muß er dies nicht nur an seinem Leib zu verspüren bekommen, sondern auch noch (zusätzlich) bestraft werden."2 Arithmetisch gleich sind die Freien in politischer Hinsicht. Weil aber die Gerechtigkeit schon rein kasuistisch quantitativ als Mittleres zwischen Unrechttun und Unrechtleiden bestimmt war,3 und die proportionale Gleichheit den Substanzbegriff ,Mensch' nicht unbeeinträchtigt zurückläßt, gelingt es Aristoteles nicht, die Differenz von positivem Recht und Naturrecht durchzuhalten; die Wesensnatur der Menschen ist der Natur der polis untergeordnet.4 Die Verhältnisse der Menschen sind lokal variabel und daher auch die Rechtsbestimmungen. Zwar sei eine Form der politeia von Natur die Beste, auch politeia im eigentlichen, vorzüglichen Sinne, und so seien auch natürliche Rechtsbestimmungen grundsätzlich gegeben. Allerdings kann Aristoteles kein juristisches Beispiel angeben, weil die Bestimmung des Handelns aus Vernunft vorher schon aufgegeben worden war. Das Beispiel stammt aus einer anderen Sphäre: „So ist von Natur die rechte Hand stärker und doch wäre es möglich, daß alle soweit kommen, in beiden Händen dieselbe Kraft zu haben."5 Es bleibt die beruhigende Feststellung, daß es „leicht einzusehen" sei, welches Recht von Natur ist und welches nicht. Als Kriterium dafür bleibt aber nur das Indiz der Häufigkeit der Erscheinungen.7 Seiner Herkunft nach ,

1 2

EN 1131b. EN 1132 b. Zur Entwicklung der durch Abstammung begründeten Ebenbürtigkeit (óuoiÓTnc) zur politischen, durch Denken Vermittelten Gleichheit (îffoxr/ç) vgl. Karl Winfried Schmidt, Logik und Polis, a.a.O., 36, Anm. 9. 3 EN 1133 bf. 4 Zum fehlenden Naturrecht vgl. Olof Gigon, „Der Begriff der Freiheit in der Antike", in: Ders., Die Antike als Maßstab und Realität, a.a.O., 125 und bei Hegel Geschichte der Philosophie II, 227. Gadamer hält die Inkonsequenz des Aristoteles im Naturrechtsbegriff für „Tiefe seiner Einsicht" (Hans Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, a.a.O., 324). Salomon dagegen will die aporetische Textstelle, nach der auch das Naturrecht wandelbar ist, gar nicht für Aristotelisch gelten lassen (Vgl. Max Salomon, Der Begriff der Gerechtigkeit bei Aristoteles, a.a.O., 56). Wenn sein Argument, die Stelle sei offensichtlich so unsinnig, daß es Aristoteles doch hätte auffallen müssen, stimmt, so wären die posthumen Redaktoren rechte Hornochsen gewesen. 5 EN 1134 b. 6 EN 1134 b. Ritter referiert die Schwammigkeit affirmativ, aber sprachlich treffend als ein „Wissen um". Joachim Ritter, „.Naturrechf bei Aristoteles Zum Problem einer Erneuerung des Naturrechts", in: Ders., Metaphysik und Politik, a.a.O., 168. 7 Vgl. MM 1194 bf. -

Drittes Kapitel: Aristoteles

248

macht sich in dem Unterschied jedoch der Vorrang der polis, in der allein der Einzelne als Mensch bestehen kann, vor dem Einzelnen geltend, denn Unrecht gegen Einzelne fällt unter das positive Recht, Unrecht gegen das Gemeinwesen hingegen unter das Naturrecht.1 So hat das Naturrecht nur erst indirekt seinen Grund in der Natur der Menschen, indem sein Vorrang die Bedeutung der polis für ein Dasein der Menschen als Menschen zum Ausdruck bringt. Zugleich liegt aber schon darin, daß die Diskussion des Rechtsgedankens mit der Konsequenz, daß er etwas Natürliches sei, überhaupt die Voraussetzung eines in sich widersprüchlichen Substanzbegriffes hat, der die Menschen einerseits als Gleiche, und andererseits als Kontrahenten begreift, die von Gütern „zuviel oder zuwenig bekommen können"2, weil die Proportionen in den Einzelnen unterschiedlich festgelegt sind. Das Resultat ist eine Vielheit von Rechtsvarianten, hinter der sich eine ontologisch begründete Apologie von Herrschaft Wie die Ethik im Bereich des Individuums nicht einsehbar war, sondern der gewaltsamen Gestalt der Erziehung bedurfte, so kann die Vernunft in der polis nur realisiert werden, indem sie in gewaltsamer Form manifestiert wird. Weil die Mehrheit der Menschen nicht edelgeboren ist, neigt sie zum Schlechten. Dies ist durch vernünftige Erklärung nicht zu beheben, sondern ihre Angelegenheiten müssen von der frühesten Erziehung bis zu ihrer schließlichen Tätigkeit in der polis gesetzlich geregelt werden, die polis braucht „überhaupt Gesetze, die das ganze Leben erfassen"4. Zwar beruht das Gesetz ausdrücklich auf Vernunft, seine Durchsetzung ist aber durch vernünftige Einsicht

verbirgt.3

1373 b. EN 1137 a. 3 Vgl. EN 1161 af. Eine implizite Voraussetzung dieser Apologetik die Knappheit der Güter hat in der modernen politischen Philosophie wieder Konjunktur. Ohne deren Behauptung, die heute an dem enormen gesellschaftlichen Reichtum blamiert ist, wäre keine politische Theorie möglich, die von einem Verteilungsproblem ausgeht. Darin und das ist der Kern unterscheidet sich der Kommunitarismus Walzers (Michael Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1992) nicht vom Liberalismus Rawls' (John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, a.a.O.). Beide haben kein Bewußtsein davon, daß der gesellschaftliche Reichtum dem Zweck seiner Produktion gemäß nicht in einer gerecht' distribuierbaren Form vorliegt. Der Liberalismus ist brutal genug, indem er die für die Gegenwart zutreffend geschilderten Antagonismen der Menschen als anthropologische Konstante ausgibt; der Kommunitarismus ergänzt zynisch, erstens stimme das und zweitens werde es durch gleichfalls ewige tiefenstrukturelle soziale Bindungen kompensiert. Skurril ist Walzers Auffassung von komplexer Gleichheit: Die Vorstellung des Aristoteles, daß alle Bürger Regierende und Regierte seien, könne nicht mehr gelten, denn ,,[a]ngesichts der großen Zahl von Bürgern und der Kürze des Lebens bleibt [...] nicht soviel Zeit, daß jeder an die Reihe kommen könnte." (451). Da es allerdings viele Sphären der Gerechtigkeit gibt, ist das kein Beinbruch. Etwa so: Daß jemand sein Leben lang unter schlechten Bedingungen lohnabhängig sein wird, kann etwa kompensiert werden dadurch, daß er, wenn er krank ist, von einem Arzt behandelt wird, genau wie diejenigen, die sein sonstiges Schicksal nicht teilen. Das setzt nun wieder- aristotelisch voraus, daß Walzer sich, modern reproduzierende Gesellschaft hin oder her, eine Güterethik leistet, in der so ziemlich alles ein Gut ist, und es gibt ja noch so viel, das man für Geld ohnehin nicht kaufen kann (vgl. auch Kommunitarismus, hg. v. Axel Honneth, Frankfurt am Main 1993). 4 EN 1180 a. 1 2

Vgl. Rhet.

-

-

-

-

-

IV. Die menschliche Substanz in der Politik nicht

249

gewährleisten. Da Vernunft selbst nicht ethisch wirksam ist, bedarf es ihrer Fiin xierung der gewaltsamen Gestalt des Gesetzes. Wenn im Unterschied zum Vieh das Zusammenleben der Menschen nicht im „Grasen auf derselben Weide" erschöpft ist, sondern als „Gemeinschaft von Wort und Gedanke"1 verstanden werden muß, ist damit zunächst die intellektuelle Voraussetzung zum Verstehen und Befolgen der Gesetze bezeichnet, denn die politische Funktion von Sprache und Denken ist, „sich vom Guten und Schlechten, von Recht und Umecht Vorstellungen zu machen. Die Gemeinschaftlichkeit dieser Vorstellungen ruft aber eben das Haus und den Staat ins Leben" Brauchtum und Gesetz, beide durch das Wort nomos bezeichnet, sind sachlich sowenig wie sprachlich exakt differenziert.3 Die Annahme wesentlich unterschiedlicher moralischer Begabungen erzwingt den gesetzlichen Zwang, der aus der Verkehrung künstlich durch Herrschaft geschaffener sozialer Unterschiede in ontologische folgt. So läßt sich das Bewußtsein des Kollektivs in der Ethik bloß als Resultat ontologischer Bestimmungen des Menschen fassen, nämlich von Herrschaft und Freundschaft durch Natur, deren Erörterungen Aristoteles auch gemeinsam durchführt. Für einen Begriff der Gemeinschaft im modernen Sinn gibt es noch nicht einmal einen Ausdruck.4 Daher hat ein reflexives kollektives Bewußtsein höchstens in der philosophischen praxis der autarken Bürger einen Ort; diese kann aber ihrem Anspruch nach keinen von sich selbst eminent unterschiedenen Gegenstand mehr haben, das Selbstbewußtsein der gleichwohl zuvor aus dem Verhältnis zu ihrem Gegenstand ermittelten Aristotelischen Erkenntnislehre wird im Ideal der Autarkie abstrakt. Indem die Herrschaft in der polis einer Argumentation zu ihrer Begründung unterzogen wird und damit einen von ihr selbst unterschiedenen Zweck erhält, ist sie unabhängig von der Richtigkeit jener Argumentation kein unmittelbares Gewaltverhältnis mehr; sie war es schon in dem Homerischen Anspruch der göttlichen Legitimation nicht mehr. Trotzdem bleibt das Bewußtsein ihrer selbst abstrakt, weil die sachliche Reflexivität ihrer Selbsterhaltung durch Unterwerfung Anderer als ihre natürliche Qualität und nicht als historisch begriffen wird. So erscheint sie als hermetisch in sich ruhende absolute Macht. Während der Gegenstand der Poetik die Reflexion auf die Darstellung der Geschichte der Herrschaft es vermochte, Aristoteles zu nötigen, die Gestehungskosten des Kollektivs der polis als Element von dessen Selbstbewußtsein dem bloßen Bewußtsein hinzuzufügen und damit implizit die Ontologie der Herrschaft und ihrer Zwecke zu

.

-

-

1 EN 1170 b. Weiteres vgl. Rhet. 1367 a, 1381 a und Oec. 1343 af. Wenngleich die Verfasserschaft der letzten zweifelhaft ist, so kann sie doch systematisch als Ausdruck antiken Ökonomieverständnisses

gelten.

2 3 4

Pol. 1253

a.

Vgl. Olof Gigon, „Der Begriff der Freiheit in der Antike", a.a.O., 124. Vgl. Hermann Strasburger, „Der Einzelne und die Gemeinschaft im Denken der Griechen", in: Zur griechischen Staatskunde, hg. v. Fritz Gschnitzer, Darmstadt 1969, 114. Auf 97-122 bestimmt er die polis als Zweckgemeinschaft, unter anderem zur Sicherung des Besitzes nach außen.

Drittes Kapitel: Aristoteles

250

aufzubrechen,1 vermag dies der Gegenstand der Politik Herrschaft nicht; in ihr kündigt sich Hegels Motiv es bei sich, zur bloßen Reaktion anhält. -

Vgl. Michael Städtler, „Katharsis. Hegel-Jahrbuch 1999, Berlin 2000. 1

Zur

-

von

die Bestimmung bestehender Minervas Eule an, das, bleibt

politischen Bedeutung eines Begriffes der Ästhetik", in:

V. Natürliche Herrschaft und Geschichte

251

V. Natürliche Herrschaft und Geschichte 1.

Herr und Sklave

Polisbürger im Sinne der theoretischen Bestimmung der besten möglichen politeia sollen nach Aristoteles nur freie Grundbesitzer sein.1 Der historische Sachverhalt, daß deren Selbständigkeit aktual durch ein direktes Herrschaftsverhältnis und daher relational bestimmt ist, wird von Aristoteles ontologisch interpretiert, so daß die Unterwerfung Anderer nicht als Voraussetzung des Status des Freien erscheint, sondern die Freiheit selbst als Voraussetzung der Unterwerfung. Die Freiheit gilt als eine durch Abstammung tradierte Wesenseigenschaft, die einigen Menschen zukommt, anderen nicht.2 Die Ontologisierung der zweiten Natur ist hier wie immer aporetisch. Die Frage, bis ins wievielte Glied jemand von Freien abstammen muß, um selbst als Freier zu gelten, ist prinzipiell nicht zu lösen.3 Es bleibt schließlich der Tagespolitik überlassen, den Rahmen zu variieren. Das Verbot der Versklavung freier Athener würde, allgemein auf Freie übertragen, auch die Versklavung Kriegsgefangener verbieten. Diese wird erlaubt, weil durch die Demonstration militärischer Tugenden zugleich ein Herrschaftsanspruch erworben werde. Die herrschaftliche Durchsetzung eines Sieges in einem Krieg unter

möglich.4

Freien wäre ohnedem nicht Der Freiheit korrespondiert der Zustand der Autarkie, nicht von Anderen oder Anderem abhängig zu sein. Diese Bedingung gilt allerdings auch als erfüllt, wenn die Abhängigkeit durch Andere, besonders Sklaven vermittelt wird. So sind zwar Handwerker, Kaufleute und auch thäten (dtjTiKoi) de jure Freie, der Sache nach aber sklavisch. Weil der Status des Sklaven angeboren ist, die Profession eines Handwerkers aber nicht, ist dessen Tätigkeit „begrenzte Sklaverei"5. Sie ist zum Teil selbst Auseinandersetzung mit der Natur, zum anderen Teil arbeitsteilig organisiert, so daß jeder in vielfältige Abhängigkeitsverhältnisse eingebunden ist, denn nur der Grundbesitzer kann von den Erträgen seines oikos leben, der Werkzeugmacher oder Hafenarbeiter kann es nicht und der freie Kleinbauer kann es nicht, ohne selbst zu arbeiten. Nicht erst die aktuelle Ausübung eines Handwerks, sondern schon die erworbene Kunstfähigkeit macht einen Menschen sklavisch, zudem wird die fehlende Muße eben-

1 2 3 4 5

Vgl. Pol. Vgl. Pol. Vgl. Pol. Vgl. Pol.

1328 bf. 1254 af. 1275 b. 1255 a. Pol. 1260 b. Ingemar During, Aristoteles, a.a.O., 496 erkennt Handwerker als „Bürger nur dem Namen nach". Der Handwerkergott Hephaistos wird dementsprechend unansehnlich geschildert (vgl. Der kleine Pauly, München 1979, 1024ff).

Drittes Kapitel: Aristoteles

252

ontologische Bestimmung aufgefaßt. Die politische Freiheit wird so aus der Selbständigkeit der Existenz entwickelt, deren Voraussetzung, die Überwindung des unmittelbaren Naturzwanges, immer wieder in der Bemerkung, äußere oder Glücksgüter müssen gegeben sein, aufscheint; daß jedoch damit die Freiheit selbst Ausdruck vergangener Gewalt ist, die sich in gegenwärtiger Herrschaft erhält, und nur in der Relatiofalls als

nalität dieses Verhältnisses besteht, wird kaum reflektiert. Die aus der Unsicherheit des Gelingens gewaltsamer Unterwerfung folgende Kontingenz der Herrschaft wird damit verschwiegen. So werden Naturzwang und Gewalt dadurch unterschieden, daß jener nach einer dem Gegenstand immanenten Regel wirke, diese aber nicht. So sind die Sklaven nicht durch kontingente Gewalt unterworfen, da das Unterworfensein zu ihrer Wesensbestimmung gehört. Die Gewalt ist gleichgültig ob gegen sich selbst oder Andere gewendet weiterhin eine Macht, die entgegen der freien Wahl der Mittel nötigt, bestimmte Handlungen aus Bedürftigkeit auszuführen. Auch dies gilt für Sklaven nicht, weil für sie die Unterordnung ihres Strebens unter das herrschaftliche Naturzwang ist. Im Unterschied zur korrespondiert dem logisch notwendigen Verhältnis der Relativität dessen, das ohne einander nicht sein kann, in der Politik eine ontologische Beziehung von Herr und Sklave.5 Diese Affirmation von Herrschaft und Sklaverei ist indes kein schwacher Punkt der Aristotelischen Politik, sondern systematischer Bestandteil. Die politische Gemeinschaft gilt als höchste Organisationsform des menschlichen Lebens, da sie am weitesten entwickelt die Bedingungen des „möglichst besten Lebens"6 zur Verfügung stellt, das heißt zunächst die äußeren Mittel, die dem so Freigestellten Muße zur Entfaltung seiner Tugenden läßt. Diese Organisationsform gilt als ontologische Bestimmung der Menschen, schon die Geschlechterbeziehung ist immanent darauf gerichtet, indem sie die Grundlage für den oikos ist, der wiederum für das Dorf und dieses schließlich für die polis. So dient die polis als causa finolis für jede Form menschlicher Gemeinschaft, stellt die vollendete Gestalt von deren causa formalis -

-

Logik4

1

Vgl. Pol.

1277

a.

Vgl. Günther Bien, Die Grundlegung der politischen Philosophie bei Aristoteles,

a.a.O., 348. 2

Ein

Anklang an solche Reflexion findet sich am ehesten noch in EE

1239 b.

Vgl. Sophokles, Anti-

gonä, 332-375. Ein Modell der Selbstverständlichkeit, Natürlichkeit dieses Verhältnisses stellt das Chorlied dar, in dem die fortschreitende Emanzipation von der Natur mit Scheu und Furcht besungen wird, ohne daß jedoch selbst die Einsicht, daß die Beherrschung der Natur auch zum Schaden der Menschen gebraucht werden kann, auf die Unterwerfung von Menschen durch Menschen reflektierte.

Versklavung als unwürdigen Zustand findet sich nur bei durch Krieg VersklavVgl. etwa Sophokles, Aias, die Klagen der Tekmessa. Vgl. auch Pierre Vidal-Naquet u.a., Gesellschaft und Wirtschaft im alten Griechenland, a.a.O., 17f. und überhaupt Moses I. Finley, Die Sklaverei Eine Reflexion auf die

ten.

in der Antike, a.a.O. 3 Vgl. Rhet. 1368 bff. 4 Vgl. Cat 7 b. 5 Vgl. Pol. 1252 a. 6 Pol. 1328 a. 7 Vgl. Pol. 1252 af.

V. NATÜRLICHE HERRSCHAFT UND GESCHICHTE

253

dar und ist damit ein Wesensmoment. Schließlich wird auch das kleinste Element jeglicher Gemeinschaft, der Einzelne, rückwirkend hierdurch bestimmt: Der Mensch ist „von Natur ein politisches Lebewesen"1, das heißt eines, dessen Wesen es ist, in Gemeinschaften zu treten, und zwar ganz unabhängig von ökonomischen oder irgendwelchen anderen Zwecken.2 Mit dieser Konstruktion werden sowohl rekursiv von der polis alle Beziehungen der Menschen und diese selbst politisiert, als auch progressiv vom politischen Naturwesen Mensch die polis selbst „zu den naturgemäßen Gebilden"3 gezählt. Damit ist sie zwar nicht selbst ein Naturgegenstand, aber eine wesentlich dem Naturwesen Mensch zugehörige Bestimmung, ja als dessen telos ist sie „von Natur ursprünglicher [...] als das Haus und jeder einzelne von uns"4. Die ontologische Hierarchie von Teil und Ganzem, die Aristoteles hier verwendet, ist schon theoretisch begleitet von der aporetischen Verwandlung negativer Prinzipien in positive Bestandteile der Wesen; die Vielzahl von Distinktionen, die dadurch erfordert sind, verwandeln den Begriff eher in eine In praktischer Hinsicht nun ist die Realisierung der besten möglichen politeia, gleichbedeutend mit der Wesensverwirklichung der dort lebenden Menschen, auf dem antiken Stand der Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit nicht ohne die Mehrarbeit Unterworfener möglich. Abgesehen davon, daß aus den erwähnten Gründen Arbeitsteilung ohnehin als sklavisch gilt, erforderte sie die Bereitschaft wenigstens einiger Freier, auf ihre Freiheit zugunsten der Anderen zu verzichten. Wenn daher nicht genügend von ihnen durch mangelnden Grundbesitz gezwungen sind, zu arbeiten, ist die Sklaverei die einzige Möglichkeit, den Zweck der polis zu realisieren. Sobald historisch ausreichend andere abhängige Arbeitskraft zur Verfügung stand, ging die Sklaverei zu Ende.6 Da die Realisierung des Zweckes der polis nun Wesensbestimmung der Menschen ist, haben sie von Natur das Recht, andere zu unterwerfen, und zwar solche, die von Natur zur Bildung einer politeia unfähig sind und daher auch nicht das gleiche Recht haben, sondern das Wesensmerkmal, zum Dienst geeignet zu sein. „Die erste und am wenigsten verzichtbare Art des Besitzes, zugleich die beste und am meisten zur Haushaltungskunst gehörige ist der Mensch."7

Beschreibung.5

1 2 3 4 5 6

a, 1278 b. 1242 a. Pol. 1253 a. Pol. 1253 a. Zum Unterschied zwischen ,naturbeschaffen' und ,naturgemäß' vgl. Phys. 192 bf. Vgl. Met VII, 1 Of. Vgl. Moses I. Finley, Die antike Wirtschaft, a.a.O., 75 und Die Sklaverei in der Antike, a.a.O., 103ff, 160f. und 170f. 7 Oec. 1344 a. Dem apologetischen Anspruch der Aristotelischen Argumentation folgt Bernhard Uhde, Erste Philosophie und menschliche Unfreiheit, Wiesbaden 1976, indem er Menschen annimmt, die von Natur aus zu prinzipiellen Einsichten begabt sind, und solche, die es nicht sind. Der Vertreter der letztgenannten Gruppe „kann aber durch seine Fähigkeit, die Sprache zu hören, durch dieses Wissen der Philosophie beherrscht und angeleitet werden, ohne daß er es selbst erlangen könnte" (98). Nun ist dasjenige, wodurch Menschen real beherrscht werden, kein Wissen, sondern Gewalt, und das-

Pol. 1253

Vgl. EE

Drittes Kapitel: Aristoteles

254

Aufgrund dieser ontologischen Begründung des Herrschaftsverhältnisses gelingt es Aristoteles nicht, die Wechselbeziehung von Herr und Sklave adäquat zu bestimmen. Der Sklave ist zwar nur in der Relation auf den Herrn bestimmt, jedoch der Herr nicht in der zum Sklaven, er soll selbständig schlechthin sein: „Daher ist der Herr bloß Herr des Sklaven und gehört ihm nicht an, der Sklave aber ist nicht bloß des Herrn Sklave, sondern gehört ihm auch ganz und gar an."1 Nur implizit setzt Aristoteles dem Herrschaftsverhältnis die wechselseitige Anerkennung voraus, indem er etwa „die Gemeinschaftlichkeit der von Recht und Umecht als Bedingung ökonomischer Gemeinschaften erkennt. Mit ökonomischen Gemeinschaften sind hier oikos, Dorf und polis gemeint, also alle, in denen Sklaven vorkommen. Bei diesen ist der Intellekt als Ort der Vorstellungen aber nur soweit entwickelt, daß sie zu dienen vermögen; dafür ist ihr Körper als Arbeitswerkzeug entwickelt. Der Herr ist entsprechend anders ausgeDie aufgrund dieser Naturunterschiede verschiedenen Interessen ergänzen sich im „Verhältnis des gemeinsamen Vorteils" da der Sklave analog als Körperglied, der Herr als Seele des Körpers verstanden wird und so zur gemeinsamen Wohlfahrt der eine den anderen leiten soll. Dies gilt jedoch für den Sklaven nur mitfolgend, der substantielle Zweck ist die Wohlfahrt des Herrn und damit die Erhaltung der Herrschaft.5 Freiheit und Selbständigkeit werden so nicht als historische Resultate von Gewalt verstanden, sondern als ontologische Manifestationen eines Strebens der Natur, das auf die polis als Zweck gerichtet ist. „Es wäre [...] eine seltsame Sache, wenn nicht von Natur das eine zum Beherrschtwerden bestimmt wäre, und das andere nicht."6 Die historischen Bedingungen können nicht als historisch und die Geschichte kann nicht als Geschichte begriffen werden, da der Zweck der Entwicklung nicht in ein mit Willen begabtes Bewußtsein

Vorstellung"2

prägt.3

,

jenige Wissen, wodurch

Sklaven angeleitet werden, mit Sicherheit kein philosophisches, sondern ein technisches. Nach Uhde bringt nun ,,[d]ie scheidende Wirkung des prinzipiellen Wissens der Philosophie [...] die Ungleichheit und damit Freiheit und Unfreiheit unter den Menschen hervor" (98). Eines solchen Versuches, politische Herrschaft aus den Prinzipien theoretischer Philosophie zu begründen, hatte Aristoteles sich wenigstens noch enthalten und auch der Anspruch, in der Interpretation zu glätten, was bei Aristoteles uneben ist, führt auf eine Tautologie: „Diese scheidende Wirkung ist notwendig, weil sie Grund für den Maßstab der Unterschiedenheit der Menschen ist" (98f). Die Dummheit der Knechte mache Herrschaft geradezu zur moralischen Pflicht (vgl. 103) und im Gehorchen werde schließlich „auch der Unfreie aufgehoben in den Herrschaftsbereich [des] Wissens" (103). Daß dies „zum Wohle aller" (104) geschieht, wird nicht jeder Geknechtete bestätigen. 1 Pol. 1254 a. 2 Pol. 1253 a. 3 Pol. 1254 b. Hierzu und zur Analogie zum herrschenden und beherrschten Seelenteil vgl. auch 1260 a. 4 Pol. 1255 b. 5 Pol. 1278 b. Pierre Pellegrin, „Hausverwaltung und Sklaverei", in: Aristoteles. Politik, hg. v. Otfried Hoffe a.a.O., 37-58, weist 53f. mit Recht daraufhin, daß dies nicht bedeute, der Sklave gelte als an sich überlebensunfahig; in Bezug auf den Zweck der Herrschaft ist er minderbemittelt. Allerdings begründet die Herrschaft so sich selbst. 6 Pol. 1324 b.

255

V. NATÜRLICHE HERRSCHAFT UND GESCHICHTE

sondern mittels Ontologisierung und Logifizierung die Relationen der Menschen zueinander und zur polis als nahezu zeitlose Realität gelten. Allerdings müssen die Menschen ihr Wesen durch Ausbildung der ihnen eigenen Tugenden entfalten und die Unterwerfung ist gerade die Realisierung der Tugenden beider Seiten, denn im Begriff der Tugend muß differenziert werden. Dies ergibt sich aus einer Aporie im Begriff der Herrschaft: Wenn Herrschern und Beherrschten dieselben Tugenden zukämen, gäbe es keinen natürlichen Grund für Herrschaft, weil dann alle Menschen gleichrangig wären. Hätten sie aber verschiedene Tugenden, könnten Sklaven keine Menschen sein, da Tugend Wesensverwirklichung bedeutet; Sklaven gelten aber durchaus als Menschen: „Zum Sklaven als Sklaven gibt es also keine Freund2 schaft, wohl aber sofern er ein Mensch ist." Der Versuch, die Einheit des Begriffs ,Mensch' durch die Verteidigung des Herrschaftsverhältnisses hindurch zu retten, scheitert zwangsläufig. Es sollen zwar allen die gleichen Tugenden zukommen, jedoch in verschiedener Weise, weil durch das Verhältnis von Herrschenden zu Beherrschten ein Unterschied innerhalb der menschlichen Art begründet wird, der durch das ontologische Fundament, das ihm zugesprochen wird, ein substantieller Unterschied wird. Die Einheit der Art geht zurück auf die biologische Naturordnung. Menschen unterscheiden sich durch vielerlei von den Tieren, neben der Vernunft etwa dadurch, daß sie aufrecht auf zwei Füßen von bestimmter Beschaffenheit Die Einheit ist biologisch gegebevor sie Selbstbewußtsein der zum Art wird. Diese Reflexion gerät unreflektiert ben, ter den historischen Bedingungen aber mit sich selbst in Konflikt: Wird sie vollendet, kann sie nicht Herrschaft als ihre Grundlage setzen, tut sie dies, gelingt ihr jenes nicht. Die Menschheit steht daher, solange es Herrschaft gibt, bloß zur Disposition. Die Einsicht in den Vorrang der Vernunftdifferenz in der theoretischen Philosophie ist großenteils deren Gegenstandsbereich geschuldet; es zeigt sich, daß die historischen Grenzen

gelegt wird,

gehen.3

1 Hoffe schreibt ein Kapitel über den „politischen Ursprung der Freiheit", ohne auf Herrschaftsverhältnisse wesentlich Bezug zu nehmen. Vgl. Otfried Hoffe, Praktische Philosophie, a.a.O., 48ff. In Die Nikomachische Ethik, a.a.O., gesteht er einigen Menschen jene Defizite des Intellekts zu, die nach Aristoteles Sklaven aus ihnen machen, nur sei es nicht gar so grundlegend und die ökonomische Unterordnung von Menschen müsse nicht juristisch fixiert sein (286). In „Aristoteles' politische Anthropologie", in: Aristoteles. Politik, hg. v. dems. a.a.O., 21-36, bezeichnet er den Unterschied zwischen Freien und Sklaven als zeitlos verstandene „unterschiedliche Begabung für den Arbeitsmarkt" (33). Das Verhältnis von Herr und Sklave vermag er problemlos unter das Gemeinwohl zu subsumieren, womit Aristoteles schon der gleiche Universalitätsanspruch zuzusprechen sei wie Kant Der Versuch, antike Ethik für die bürgerliche Gesellschaft fruchtbar zu machen (vgl. Otfried Hoffe, Praktische Philosophie, a.a.O., 16), setzt immer die Nivellierung aller wesentlichen geschichtlichen Veränderungen voraus und hat einen Begriff vom Menschsein zur Folge, der an den realen Existenzbedingungen der Menschen vorbeigeht. Ähnlich ist es bei Olof Gigon, Der Begriff der Freiheit in der Antike, a.a.O., 134: Die ökonomischen Veranstaltungen der Menschen werden „im Prinzip immer und überall die gleichen bleiben". 2 EN 1161 b. Vgl. Oec. 1344 af, auch Moses I. Finley, Die Sklaverei in der Antike, a.a.O., 119. 3 Vgl. Met. 1037 bf. und Harold Cápame Baldry, The Unity of Mankind in Greek Thought, Cambridge 1965, 89.

Drittes Kapitel: Aristoteles

256

der Reflexion, die in der Theorie auch praktische Folgen haben.

gleichwohl hervortreten,

Ursachen in der Praxis und

Da Tugend Wesensverwirklichung ist, führt die Differenz in der Substanz Menschen eine in den je erreichbaren Tugenden mit sich, so daß „die eine Tapferkeit zum Regieren ist, die andere zum Dienen, und ähnlich verhält es sich mit den sonstigen Tugenden"1. In der Konsequenz werden zunächst die Relationen des Herren zu anderen Untergebenen, wie Frau und Kind, schließlich alle gesellschaftlichen, vorwiegend ökonomischen Relationen als Ausdruck ontologischer Unterschiede zwischen den Menschen aufgefaßt. Da diese Relationen Bedingung für die intellektuelle Entfaltung sind, vermag die Einheit der Vernunftbegabung die Unterschiede nicht zu überbrücken. Aristoteles polemisiert gegen Piaton, der die polis wie auch in der Folge des Guten die Tugend mit dem Ideal der Einheit bestimmt,2 denn in Wahrheit sei sie eine Vielheit von der Art nach unterschiedenen Menschen, deren Einheit nur im Falle wechselseitiger Abhängigkeit zustande kommen kann.3 Zunächst ist das auf die Arbeitsteilung bezogen, aber mit dieser auf die Herrschaft, da die Arbeitenden in der besten möglichen politeia keine Ämter innehaben sollen. In den Demokratien, der Pöbelherrschaft, wechseln zwar die Ämter auch unter den arbeitenden Freien, aber das Verhältnis selbst bleibt bestehen und so sei dies noch immer die ,Nachahmung' des natürlichen Artunterschiedes. Wenngleich bép,oç neben ,Pöbel' auch in etwa Gemeinschaft' im nicht pejorativen Gebrauch bedeutet, was auf die weitere Bedeutung Gemeindeland' ist die Aristotelische Beurteilung der Demokratie abschätzig. Indem es ihm aber gelingt, selbst den Versuch, tradierte Gestalten von Herrschaft zu verändern, unter die generellen Wesensunterschiede der Menschen zu subsumieren, zeigt sich trickreich das natürliche Verhältnis gegen den Versuch, Geschichte zu machen, übermächtig. Mit der Enthistorisierung von Herrschaft bricht die Einheit der Menschen nicht bloß aktuell, sondern auch theoretisch auseinander, die Sklaven von Natur5 fallen mit dem Begriff des jagdbaren Wildes zusammen: Der Krieg zum Erwerb von Sklaven gilt analog der Bekämpin der Konsefung wilder oder der Erjagung jagdbarer Tiere als „von Natur -

-

zurückgeht,4

gerecht"6,

1 2 3 4

Pol. 1260

a.

Vgl. Piaton, Politeia, 462ff, auch 423. Vgl. Menon 72 cff. Vgl. EN 1133 b. Pol. 1261 b. (Vgl. Victor Ehrenberg, „Wann entstand die Polis?", in: Zur griechischen Staatskunde, hg. v. Fritz Gschnitzer a.a.O., 9). 5 Ein denkbarer philologischer Rettungsversuch jener Einheit wenigstens als potentielle, der