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German Pages [460] Year 2022
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BEITRÄGE ZU EVANGELISATION UND GEMEINDEENTWICKLUNG
Benjamin Stahl
VERÄNDERUNGEN UND ENTWICKLUNGSMÖGLICHKEITEN DES PFARRAMTS IM LÄNDLICH-PERIPHEREN OSTDEUTSCHLAND
BEG 32
BEITRÄGE ZU EVANGELISATION UND GEMEINDEENTWICKLUNG Herausgegeben von Michael Herbst, Jörg Ohlemacher und Johannes Zimmermann
Benjamin Stahl
Veränderungen und Entwicklungsmöglichkeiten des Pfarramts im ländlich-peripheren Ostdeutschland
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter, Niederkrüchten Wissenschaftlicher Satz: satz&sonders GmbH, Dülmen
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2567-9074 ISBN 978-3-666-50190-6
Amicis
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
Teil I
Pfarramt im Kontext der ostdeutschen, ländlichen Räume
1.
Pastoraltheologisch forschen – theoretische Grundlegungen . . . . .
19
1.1 1.2 1.2.1
Forschungsgegenstand und -ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pastoraltheologie: ein Begriff im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konfessionell unterschiedlicher Gebrauch des Begriffs Pastoraltheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historische Entwicklung der evangelischen Pastoraltheologie: Von der Anleitungsliteratur zur Berufstheorie des Pfarramtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Probleme des Gegenstandsbereichs und der Methodik in der Pastoraltheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegenstandsbereich der Pastoraltheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissenschaftliche Methodik in der Pastoraltheologie . . . . . . . . . . Gegenstandsbestimmung und theoretische Ansätze aktueller pastoraltheologischer Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Kirchentheorie in der Praktischen Theologie . . . . . . . . . . Pastoraltheologisches Arbeiten innerhalb der Kirchentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eingrenzung des Kontexts auf ländlich-periphere Räume in Ostdeutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eingrenzung auf ländliche Räume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskussionslage zu Ostdeutschland als eigenständigem Kontext außerhalb der Praktischen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . Diskussionslage zu Ostdeutschland als eigenständiger Kontext innerhalb der Praktischen Theologie . . . . . . . . . . . . . . .
19 19
1.2.2
1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3
1.3.4 1.4 1.4.1 1.4.2 1.4.3
20
20 26 26 29 30 43 46 50 52 54 57
8
Inhalt
1.5 1.5.1 1.5.2 1.5.3 1.5.4 2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7
3. 3.1 3.2 3.3 3.4 4. 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.2
Forschungsstand: Pastoraltheologie für ländlich-periphere Räume in Ostdeutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsbeiträge von Winkler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsbeiträge von Alex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsbeiträge von Menzel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
62 63 70 74 82
Religionssoziologische Beschreibung des ostdeutschen Kontexts . . 83 Religionssoziologische Theorien im Kontext Ostdeutschland . . . . . 83 Ostdeutschland ein Sonderfall? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Religionssoziologische Erklärungen zur Genese der ostdeutschen Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Religionssoziologische Jugendforschung – Zeichnet sich ein religiöser Aufschwung ab? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Das konfessionslose Feld – Indifferenz als normale Haltung von Menschen gegenüber der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Das konfessionelle Feld – Engagement und höhere Verbundenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Ertrag der religionssoziologischen Ergebnisse für das Pfarramt im ländlich-peripheren Ostdeutschland . . . . . . . . . . . . 111 Charakteristika ländlicher Räume in Ostdeutschland . . . . . . . . . . Ist das soziale Leben im Dorf ein leitendes Merkmal ‚ländlicher Räume‘? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wandel der ländlichen Sozialstrukturen und Lebensweise . . . . . . . Drei charakteristische Merkmale der Lebensbedingungen in ländlichen Räumen und ostdeutsche Besonderheiten . . . . . . . . . . Erfassung ländlicher Räume in der Raumordnung . . . . . . . . . . . . Schrumpfung als Leitentwicklungsdynamik in ländlichen Räumen Ostdeutschlands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Demographie als Schrumpfungsfaktor in Gesellschaft und Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Demographische Entwicklungen im ländlich, peripheren Ostdeutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kirchendemographische Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regionale kirchendemographische Analysen im ländlich-peripheren Sachsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Demographisierung – eine Kritik am Gebrauch vermeintlich demographischer Begründungen . . . . . . . . . . . . . . Peripherisierung als zentraler Diskurs zu Entwicklungsdynamiken im ländlichen Bereich . . . . . . . . . . . . .
113 113 116 119 129
141 143 143 148 153 167 170
Inhalt
4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.3 4.3.1 4.3.2 4.4 4.4.1 4.4.2
Peripherisierung – die Rückseite von Zentralisierungsprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dimensionen der Peripherisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Folgen der Peripherisierung und Ansatzpunkte zum Gegensteuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peripherisierung und Kirche – eine Problemanzeige . . . . . . . . . . . Peripherisierung in der Kirche: Regionalisierung ohne Regionalentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Kirchenkreis Altenburg – ein Beispiel für kirchliche Peripherisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regionalentwicklung – Wachstums- und Schrumpfungsprozesse . . Wachstums- und Schrumpfungsstrategien in der Regionalentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kirchliche Regionalentwicklung in Zeiten der Schrumpfung – ein Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
170 173 178 184 186 192 198 199 201
5.
Wandlungsprozesse im ostdeutschen, ländlichen Pfarramt . . . . . . 211
5.1
Personalmanagement und demographischer Wandel in Ostdeutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Herausforderungen für das Personalwesen durch den demographischen Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Personalmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personalentwicklerische Herausforderungen und Reaktionen auf die Kontextbedingungen in Ostdeutschland . . . . . Kirchliches Personalwesen und die Herausforderungen des ostdeutschen Kontexts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die befürchteten Auswirkungen des demographischen Wandels auf Kirche und Pfarramt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung des Pfarramts in Ostdeutschland seit 1990 nach statistischen Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überalterung und Unterjüngung als besondere Probleme im ostdeutschen Pfarramt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aktuell beobachtbare Maßnahmen im Bereich der kirchlichen Personalbeschaffung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Altern im Pfarrberuf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheit im (Land-)Pfarramt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aus-, Fort- und Weiterbildung als eine Dimension des kirchlichen Personalwesens mit steigender Bedeutung . . . . . . . . . Pfarrbildprozesse – Hilfen im Wandel des Pfarramts? . . . . . . . . . .
5.1.1
5.1.2 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.2.5 5.2.6 5.2.7 5.2.8
216 216 218 221 227 227 229 233 239 242 249 255 259
9
10
Inhalt
6.
Zusammenfassung und Standortbestimmung: Pfarramt im Kontext der ländlich-peripheren Räume in Ostdeutschland . . . . . 263
Teil II Theologische Grundlagen für eine Pastoraltheologie im Kontext landlicher Raume Ostdeutschlands 7.
Erarbeitung theologisch relevanter Felder in der Diskussion um das Pfarramt in ländlich-peripheren Räumen in Ostdeutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
7.1
Ausgangspunkt: Theologische Bestimmungen von Alex und Menzel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hintergrund: Kirchentheoretische Modelle von Herbst und Wagner-Rau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kirchentheoretisches Modell von Wagner-Rau . . . . . . . . . . . . . . Kirchentheoretisches Modell von Herbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übereinstimmungen und Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3
275 277 278 292 306
8.
Diskussion theologisch relevanter Felder für eine Pastoraltheologie im Kontext der ländlich-peripheren Räume Ostdeutschlands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311
8.1 8.1.1 8.1.2 8.1.3
Verständnis der Grundlage: missio dei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mission und Wachstum? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mission – ein Begriff mit unangenehmem Beigeschmack? . . . . . . . Das Verhältnis von Mission und Dialog nach Sundermeier als Brücke zwischen liberalem und missionarischem Paradigma? . Priestertum aller Gläubigen, Predigtamt und Pfarramt . . . . . . . . . Das Priestertum aller Gläubigen und das Predigtamt . . . . . . . . . . Verhältnis von Pfarramt und Predigtamt: Wie sind ‚Öffentlichkeit‘ und ‚Leitung‘ zu begründen? . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Das Pfarramt als Profession? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überlegungen zur Ekklesiologie: Kirche als plurale Gemeinschaft . Christsein – Individualität in Sozialität: aktuelle Adaptionen des liberalen Paradigmas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Neu-)Begründung und Förderung einer kirchlichen Pluralismusfähigkeit – Bildung der Gemeinde als Schlüssel . . . . . Überlegungen zu fluideren Grenzziehungen – Mitgliedschaft in Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.2 8.2.1 8.2.2
8.3 8.3.1 8.3.2 8.3.3
311 311 315 320 325 325 329 334 341 341 348 354
Inhalt
Teil III Adaptionen bei den Handlungsträgern und Handlungsfeldern – Entwicklungsmöglichkeiten des Pfarramts im ländlichen Ostdeutschland 9.
9.1 9.2 9.3 9.3.1
9.3.2 9.4 9.4.1 9.4.2
10.
Kirchliche Entwicklungen im ländlich-peripheren Ostdeutschland: Auf der Suche nach einem Entwicklungspfad für das Pfarramt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Basis: Entwicklung pluraler kirchlicher Gemeinschaften als Zukunftsaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fokussierung auf das Predigtamt statt Fokussierung auf das Pfarramt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konsequenzen für das Pfarramt und mögliche Entwicklungspfade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Teampfarramt‘ – ein vielversprechender Entwicklungspfad für das Pfarramt in ländlich-peripheren Räumen Ostdeutschlands? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Pfarramt im ‚multiprofessionellen Team‘ als Zukunft in den ländlich-peripheren Regionen Ostdeutschlands? . . . . . . . . . . Die ‚regionale und lokale Zeugnis- und Dienstgemeinschaft‘ und das Pfarramt – ein Gedankenexperiment . . . . . . . . . . . . . . . Ist Potential für ehrenamtliches Engagement vorhanden? . . . . . . . Regiolokale Zeugnis- und Dienstgemeinschaften als Idee für ländlich-periphere Räume in Ostdeutschland . . . . . . . . . . . . . . .
361 364 368 381
383 389 399 399 404
Neuausrichtung der Pastoraltheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425
11
Vorwort
Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Situation in den peripheren, ländlichen Räumen Ostdeutschlands und zeichnet diese ausgehend von den 90er Jahren nach. Das Augenmerk liegt dabei auf der Bedeutung des Kontextes für das Pfarramt und der Entwicklung des Pfarrpersonals. Auf dieser Basis wird auch gefragt, wie es mit Kirche und Pfarramt in den ländlichen Räumen weitergehen kann. Dazu wurden kirchentheoretische Entwürfe und deren theologische Grundlegungen untersucht, die bereits in der Forschung für die ländlichen Räume in Ostdeutschland ins Gespräch gebracht wurden. Ziel der Arbeit war es, pastoraltheologische Reflexionen innerhalb der Kirchentheorie vorzunehmen. Dass dies alles andere als selbstverständlich ist, zeigt der forschungsgeschichtliche Abriss zur Pastoraltheologie. Ein weiteres Anliegen dieser Dissertation war es zu überprüfen, inwieweit die pastoraltheologische Forschung von dem akademischen Diskurs zum Personalwesen profitieren kann. Hier zeigte sich ein Feld, von dem die Pastoraltheologie in Theorie und Praxis künftig einiges lernen kann. Weiterhin hat sich gezeigt: Eine Pastoraltheologie, die sich allein auf das Pfarramt konzentriert wird nicht mehr ausreichen. Angesichts der starken Umbrüche ist es notwendig, den Personaleinsatz im Verkündigungsdienst zu pluralisieren und neu aufzustellen. Am Schluss der Arbeit wird gefragt, welcher Weg am ehesten empfohlen werden kann: Einzelpfarramt, Teampfarramt oder multiprofessionelle Teams? Teampfarrämter mussten äußerst kritisch bewertet werden und für die zerdehnten Räume auf dem Land ist es sicherlich am sinnvollsten, in multiprofessionellen Teams zu arbeiten. Es wäre eine Chance, die Kommunikation des Evangeliums auf unterschiedliche Handlungsträgerinnen und Handlungsträger zu verteilen und plurale Anstellungsverhältnisse zu entwickeln. Das wird nicht einfach sein und bedarf ganz sicher einer Investition in Aus- und Fortbildung. Dass die Stellschraube „Aus-, Fort- und Weiterbildung“ zur wichtigsten geworden ist, legen auch andere Sachverhalte nahe. Dies zeigen die Diskussionen im Personalwesen. Insgesamt bleibt der Kontext Ostdeutschland aus vielen Gründen sehr herausfordernd und die Arbeit ist der Versuch, einen analytischen Beitrag zur Situation zu leisten.
14
Vorwort
Dieses Buch entstand als Inauguraldissertation während meiner fünfjährigen Forschungstätigkeit am Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung (IEEG) in Greifswald. Die Dissertation wurde im Wintersemester 2020/21 von der Theologischen Fakultät der Universität Greifswald als Promotionsschrift angenommen. Ich bin sehr dankbar für das Umfeld, in dem die Arbeit entstehen konnte. Zum einen habe ich von dem Forschungsschwerpunkt „Kirche in ländlichen Räumen“ am IEEG profitieren können. Unsere Studie „Stadt, Land, Frust?“ zur arbeitsbezogenen Gesundheit im Stadt- und Landpfarramt lehrte mich Probleme präzise zu beschreiben und diese nicht vorschnell mit einem oberflächlichen Begriff von „Ländlichkeit“ in Verbindung zu bringen. Zum Forschungsschwerpunkt „Kirche im ländlichen Raum“ gehörte auch die Geschäftsführung des Forschungskonsortiums „Think Rural!“. Durch diese interdisziplinäre Arbeit habe ich gelernt ländliche Räume aus unterschiedlichen Perspektiven anzuschauen und wurde angeregt über die Zusammenwirkung unterschiedlicher gesellschaftlicher und ökonomischer Akteure nachzudenken. Zum anderen war ich Teil des EKD-Zentrums für Mission in der Region (ZMiR). Das Thema Regionalentwicklung und die Begleitung von aktuellen Regionalentwicklungsprozessen hat meinen Blick für Herausforderungen sowie Chancen und Schwierigkeiten in der derzeitigen Entwicklungslage für das Landpfarramt geschärft. Ähnliches gilt für die Land-Kirchen-Konferenzen der EKD, in denen immer wieder ein Austausch zwischen Forschung und Praxis angestrebt wurde. Durch die Arbeit am IEEG und im ZMiR konnte, durfte und musste ich immer wieder aktuelle Forschung in Theologie und Empirie mit aktuellen Entwicklungen aus der Praxis in Zusammenhang bringen. Diese beiden Dinge immer wieder aufeinander zu beziehen, ist Teil meiner Motivation als Praktischer Theologe und ich hoffe, dass dieses Anliegen auch vom vorliegenden Text transportiert wird. In diesem Umfeld konnte ich gedeihlich an einer Dissertation arbeiten. Vor allem zwei Personen ist dies zu verdanken: Meinem Doktorvater und Direktor des IEEG Prof. Dr. Michael Herbst, dessen Wechselspiel aus Fordern und Fördern sowie seine Leidenschaft für Theologie und Kirchenentwicklung mich beständig begleitet und motiviert haben; und Pfr. Hans-Hermann Pompe, ehemaliger Leiter des Zentrums für Mission in der Region, der mir Ermutigung und Freiraum gab sowie kritische Fragen aus der Praxis mit mir diskutierte. Streng nach dem Motto: „Ich liege lieber öffentlich falsch als im Privaten Recht zu haben.“ danke ich allen, denen ich meine Arbeit in Vorträgen und Workshops vorstellen konnte. In diesem Austausch habe ich viel gelernt und werde gerne weiter ein Lernender bleiben. Für die konstruktive und kritische Begleitung meiner Arbeit will ich mich bedanken: An erster Stelle sind hier die Gutachter meiner Arbeit zu nennen: Prof. Dr. Michael Herbst (Erstgutachter) und Prof. Dr. Ralf Kunz (Zweitgutachter). Danach folgen die Kolleginnen und Kollegen des
Vorwort
IEEG, mit denen ein Gespräch über Ideen und Herausforderungen ständig möglich war. Ebenso gilt mein Dank den Kolleginnen und Kollegen aus dem ZMiR sowie den Studierenden am IEEG und den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Greifswalder Doktorrandenkollquiums zur Praktischen Theologie, mit denen Forschungsergebnisse immer wieder diskutiert werden konnten. Ich danke den Herausgebern der Reihe „Beiträge zur Evangelisation und Gemeindeentwicklung“ für die Aufnahme des Buches. Ebenso bedanke ich mich bei denjenigen, die die Veröffentlichung unterstützt haben: Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und die Union Evangelischer Kirchen (UEK), der Verein zur Förderung der Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung e. V., die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO), die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland sowie die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens (EVLKS). Ich bedanke mich beim Verlag Vandenhoek & Ruprecht für die Begleitung und Drucklegung. Besonders wichtig sind mir Antje Gusowski und Benjamin Philipp, die unermüdlich Korrektur gelesen haben. Euch gilt ein besonders herzlicher Dank! Dankbar bin ich meiner Frau und unseren vier Kindern, die für mich eine Quelle beständiger Ermutigung sind. Theologie und Forschung leben vom kritischen Miteinander und profitieren vom Austausch, darum ist diese Dissertation den Freunden und Wegbegleiterinnen gewidmet. Danke, dass ich mit Euch und durch Euch lernen darf und durfte. Großharthau, Ostern 2022 Benjamin Stahl
15
Teil I Pfarramt im Kontext der ostdeutschen, ländlichen Räume Was wissen wir eigentlich über das Pfarramt in den ländlichen Räumen Ostdeutschlands? Streift man durch aktuelle Beiträge der Praktischen Theologie, entsteht der Eindruck, dass das Landpfarramt das momentane Sorgenkind ist. So formulierte bspw. Koll jüngst im Deutschen Pfarrerblatt das, was offensichtlich zu sein scheint: Klar ist: Selbst wenn ungünstige Prognosen für die Mitgliederentwicklungen eintreffen sollten und Pfarrstellen dementsprechend abgebaut werden, wird das zur Verfügung stehende pastorale Personal nicht ausreichen, um die verbleibenden Stellen zu bekleiden. Schon heute bleiben 13 % der vorgesehenen Pfarrstellen unbesetzt. Das Problem trifft ländliche und strukturschwache Regionen in besonderer Schärfe. 1
Ebenso wies Grethlein gleich im Vorwort seiner kürzlich veröffentlichten Kirchentheorie auf die Umbruchsprozesse hin, die das Landpfarramt besonders treffen: Es ist nicht mehr von der Hand zu weisen: Kirche befindet sich in einem tief greifenden Veränderungsprozess, der meist als Krise empfunden wird: – [. . . ] – Es zeigen sich erste Konsequenzen aus der zu geringen Zahl an Theologie-Studierenden [sic] in den letzten Jahren. Pfarrstellen vor allem im ländlichen Bereich sind nur noch schwer zu besetzen; die dadurch entstehenden Vakanz-Vertretungen [sic] bringen manche Pfarrer/innen an ihre Grenzen. 2
1 Koll (2018), 64. 2 Grethlein (2018), I.
18
Teil I: Pfarramt im Kontext der ostdeutschen, ländlichen Räume
So entsteht der Eindruck, dass es um das Pfarramt auf dem Land nicht gut bestellt ist. Koll und Grethlein brachten unterschiedliche Sachverhalte mit der Sorge um das Landpfarramt in Verbindung: Koll verwies auf die sinkenden Mitgliederzahlen und die noch geringeren Zahlen des Pfarrnachwuchses und behauptete, dass deswegen 13 % der Pfarrstellen vor allem auf dem Land unbesetzt seien. Grethlein hingegen, der ebenfalls von Nachwuchsmangel sprach, verwies auf die Konsequenzen für die aktiven Pfarrerinnen und Pfarrer auf dem Land, die vermehrt Vakanzvertretungen leisten müssen und dadurch unter möglichen Überlastungen leiden. Man kann die Sorgen noch vergrößern, indem man fragt: Was bedeutet das dann für die ostdeutschen Landeskirchen mit ihren strukturschwachen, ländlichen Räumen? Wie entwickelt sich dort das Landpfarramt unter den momentanen Bedingungen? Schließlich gilt der Osten Deutschlands als stark säkularisiert und damit für kirchliche und religiöse Entwicklungen als besonders herausfordernd. Derartige ‚Sorgen‘, die im praktisch-theologischen Diskurs hier und da recht knapp zum Ausdruck gebracht werden, sind vor allem eines: Problemanzeigen. Problemanzeigen dienen nicht dazu, Angst zu verbreiten, sondern fordern heraus, vermeintlich ‚bekannte‘ Sachverhalten genau zu untersuchen und zu durchdringen. Aus den beiden angeführten Zitaten ließen sich Fragen ableiten wie beispielsweise: – Wie hängen die demographische Entwicklungen in der Gesellschaft und der Kirche mit dem Pfarramt zusammen? – Welche Auswirkungen hat der Pfarrpersonenmangel auf die kirchliche Organisation und ihr Personal? – Wie lassen sich eigentlich strukturschwache, ländliche Räume beschreiben und welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Es zeigt sich, dass diese und andere relevante Fragen bisher kaum umfassend bearbeitet wurden. Angesichts der starken Problemanzeigen ist das verwunderlich – und gleichzeitig ist zu hoffen, dass der Diskurs zum Thema Pfarramt und Kirche in ländlichen Räumen weiter wächst, um die kirchlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen zu erforschen und sinnvolle Entwicklungspfade auszuloten. Diese Arbeit soll einen Beitrag liefern, der sich vor allem den aktuellen Entwicklungsdynamiken der ländlichen Räume in Ostdeutschland widmet und ergründet, was diese für Kirche und die (nahe) Zukunft des Pfarramts bedeuten.
1.
Pastoraltheologisch forschen – theoretische Grundlegungen
1.1 Forschungsgegenstand und -ziel Die vorliegende Studie untersucht das Pfarramt im ländlich-peripheren Ostdeutschland und fragt nach den aktuellen und künftigen Entwicklungen für das Pfarramt in diesem Kontext. Das Ziel der Studie ist, einen Beitrag zum genaueren Verständnis der derzeitigen Situation zu leisten und Möglichkeiten zur konstruktiven Weiterentwicklung aufzuzeigen. Konventionell gehört dieser Forschungsgegenstand in das Feld der Pastoraltheologie. Die Studie folgt dieser Konvention in konstruktiv-kritischer Absicht, denn es ist davon auszugehen, dass die Pastoraltheologie als Reflexionsrahmen die Ergebnisse beeinflussen wird. Deswegen muss sie selbst zum Gegenstand der Untersuchung werden. Folglich ist zu prüfen, welche Grundannahmen die pastoraltheologische Forschung derzeit hat und inwiefern hier Weiterentwicklungen stattfinden oder notwendig sind.
1.2 Pastoraltheologie: ein Begriff im Wandel Zunächst gilt es zu klären, was unter dem Begriff Pastoraltheologie zu verstehen ist, denn „[d]er Gebrauch des Begriffs Pastoraltheologie ist vieldeutig.“ 1 Es ist sinnvoll beim Gebrauch des Begriffs drei Aspekte zu unterscheiden: den konfessionell unterschiedlichen Gebrauch des Begriffs Pastoraltheologie (1.2.1), den Begriffswandel in der historischen Entwicklung der akademischen Disziplin Pastoraltheologie (1.2.2) und unterschiedliche aktuelle evangelische Konzeptionen bzw. Beiträge zur Pastoraltheologie deren Gemeinsamkeit der Untersuchungsgegenstand ‚Pfarramt‘ ist (1.2.3). 1 Wagner-Rau (2017), 106, Herv. getilgt.
20
Teil I: Pfarramt im Kontext der ostdeutschen, ländlichen Räume
1.2.1 Konfessionell unterschiedlicher Gebrauch des Begriffs Pastoraltheologie In der katholischen Tradition hat die Pastoraltheologie „alle Dimensionen und Bereiche kirchlichen Handelns [. . . ] zum Gegenstand“ 2. In dieser Hinsicht kann der Begriff nahezu synonym für die evangelische Disziplin Praktische Theologie verwendet werden. In qualitativer Hinsicht wird allerdings ein Unterschied geltend gemacht: Die katholische Pastoraltheologie betrachtet das kirchliche Handeln als ‚pastorales‘, d.h. als wesenhaft christologisch qualifiziertes Handeln, sofern in diesem das heiligende und heilende, erlösende und befreiende, wegbegleitende und heimsuchende Handeln Gottes mit seinem Volk durch den einzig wahren und Guten ‚Hirten‘ Jesus Christus realsymbolisch gegenwärtig wird und zeichenhaft in Geschichte und Gegenwart zur Wirkung kommt (bzw. kommen soll). 3
Hinsichtlich des konfessionell unterschiedlichen Gebrauchs ist demnach festzuhalten, dass katholische Pastoraltheologie sehr viel umfassender verstanden wird als der evangelische Begriff Pastoraltheologie.
1.2.2 Historische Entwicklung der evangelischen Pastoraltheologie: Von der Anleitungsliteratur zur Berufstheorie des Pfarramtes Die Geschichte der evangelischen Pastoraltheologie ist eine Geschichte des Begriffswandels, die auch heute noch nicht abgeschlossen ist. 4 Seit der Reformation war die Pastoraltheologie zunächst eine eher weisheitlich-kasuistische Anleitungsliteratur für Praktiker und deren Lebensweise im Pfarramt. 5 Mit der Begründung einer wissenschaftlichen Praktischen Theologie durch Schleiermacher bekam die Pastoraltheologie auf dem Feld der Praxisreflexion Konkurrenz. Insofern die Praktische Theologie den wissenschaftlicheren Status beanspruchte, geriet die Pastoraltheologie ins Hintertreffen. 6 Einen Höhepunkt in diesem Diskurs stellen die Debatten um die Pastoraltheologie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar. 1970 kann man als Schlüsseljahr für das Ende einer pastoraltheologischen Tradition betrachten. In diesem Jahr legte Rau seine Dissertation vor, in der er argu2 Fürst/Merkel (1996), 70. 3 Fürst/Merkel (1996), 70. 4 Eine ausführliche Darstellung anhand zahlreicher und historisch bedeutsamer Konzeptionen findet sich bei: Pohl-Patalong (2007), 515–574. 5 Klessmann (2012), 140. 6 Pohl-Patalong (2007), 525.
Pastoraltheologisch forschen – theoretische Grundlegungen
mentierte, dass die Pastoraltheologie zugunsten der Praktischen Theologie als eigenständige akademische Disziplin aufgegeben werden kann. 7 Steck wies der Pastoraltheologie deswegen einen Platz außerhalb der Universität zu: ihr Ort war nun das Pastoralkolleg. 8 Dort hatte sie die Funktion einer „eigenständige[n], nichtwissenschaftliche[n] Disziplin, die das Persönliche, die ‚innere Seite‘ der pastoralen Existenz beschreiben solle und von der Unmittelbarkeit der Darstellung lebe.“ 9 Steck behauptete dann, dass „[n]icht der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, sondern die ethische Evidenz [das] Kriterium“ 10 für die Pastoraltheologie ist. „Im Gegensatz zur Praktischen Theologie zeige die Pastoraltheologie ein persönliches Interesse am Pastor und mache ihn zum Subjekt ihrer Darstellung.“ 11 Ebenfalls im Jahr 1970 wurde die Umbenennung der seit 1911 etablierten theologischen Fachzeitschrift Pastoraltheologie vorgenommen. 12 Dieser Traditionsbruch „schien damals absolut plausibel“ 13. Marsch bringt einen der damals plausiblen Gründe im Vorwort der Zeitschrift auf den Punkt: [Der Begriff, BS] ist im evangelischen Bereich, zumal für Nicht-Theologen, unverständlich geworden. [. . . ] Er erweckt zudem die Assoziation, daß es für den Pfarrer im Amt eine besondere Art von theologischer Reflexion gäbe – einen Gegensatz von Pastoralund Laientheologie; der Nicht-Pfarrer könnte meinen, daß eine ‚pastorale‘ Theologie für ihn nicht tauge. Eine solche Entgegensetzung von Pfarrern und Laien von Theologen und Nicht-Theologen, scheint uns überholt. 14
Außerdem sollten „die zahlreichen Verflechtungen der theologisch-kirchlichen Arbeit mit zahlreichen Erfahrungswissenschaften“ 15 aufgegriffen werden. Mit einem neuen Namen wurde daher auch das Arbeitsfeld neu justiert. Die Zeitschrift hieß nun: Wissenschaft und Praxis in Kirche und Gesellschaft (WuPKG). 16 Als Adressaten hat sie die „Mitarbeitergemeinschaft [vor Augen, BS], die als Widerspiegelung einer unhierarchischen Kirche gesehen werden möchte“ 17 und versteht darunter verschiedene hauptamtliche Berufsgruppen in der Kirche: „Pfarrer, Diakon, Pädagoge, Arzt, Psychologe, Publizist oder Organisator“ 18. Einerseits zeigt sich darin der ‚achtundsechziger Geist‘ und andererseits die Stärkung
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Vgl. Rau (1970), 317–334, bes. 317. Steck (1974), 56. Karle (2001), 20, beruft sich auf: Steck (1974), 31. Steck (1974), 55. Karle (2001), 20, Herv. original, beruft sich auf: Steck (1974), 51. Stolt (1995), 228. Stolt (1995), 228. Marsch (1970), 1. Stolt (1995), 228. Möller (2004), 32. Stolt (1995), 229; zitiert implizit Marsch (1979), 2. Stolt (1995), 229; zitiert implizit Marsch (1979), 2.
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des Praxisfelds in Ablehnung einer deduktiven Theologie im Gefolge Barths. 19 So kann man mit dem Jahr 1970 den Abschluss eines allmählichen Rückzugs der traditionellen Pastoraltheologie als eher weisheitlich-kasuistische Reflexion der Pfarramtspraxis markieren. 1971 erschien der für die künftige Pastoraltheologie wegweisende Entwurf von Dahm: Beruf: Pfarrer. 20 Dieser pastoraltheologische Neuansatz brachte erhebliche Verschiebungen mit sich. Als erstes ist die Verschiebung des Ausgangspunktes für die Pastoraltheologie zu nennen. Dahm setzt nicht mehr dogmatisch beim ‚Auftrag der Kirche‘ an. Damit bricht er mit einer seiner Meinung nach einseitigen, nur die dogmatische Seite betonenden theologischen Tradition. Er will auf eine theologische Reflexion nicht verzichten, sondern lediglich mehr auf die ‚alltäglichen Aufgaben‘ beziehen. Allerdings hält er auch fest, dass die theologische Besinnung aufgrund der Neuheit des zu erschließenden Feldes mit einiger Wahrscheinlichkeit ins Hintertreffen gerät. Das zu erschließende Feld ist nun nicht mehr das Leben des Pfarrers. Stattdessen setzt Dahm bei der „Erörterung und Problematisierung der Funktionen“ 21 von Kirche in der Gesellschaft an, um so „Bausteine für eine Theorie des kirchlichen Handelns zu gewinnen.“ 22 Mit dem Stichwort ‚Funktion‘ verbindet er zwei theoretische Konzeptionen, die für seinen Ansatz grundlegende Bedeutung haben: Einerseits ist damit die „wechselseitige Abhängigkeit von Institution oder einer Tatsache mit anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen“ 23 gemeint, so dass kirchliches Handeln nicht mehr isoliert von den gesellschaftlichen Bedingungen sowie Folgen und Wirkungen betrachtet werden kann. Andererseits meint für ihn ‚Funktion‘ im Gegenüber zu dem allgemeinen Wort ‚Aufgabe‘, dass damit die „verantwortliche Teilnahme eines Trägers an der Erfüllung der Aufgabe und damit zugleich die Verflechtung dieses Trägers in andere gesellschaftliche Bindungen zum Ausdruck gebracht wird.“ 24 Dadurch werden Pfarrerinnen und Pfarrer zu wichtigen Funktionsträgern im Berufsfeld der Kirche. Dementsprechend erhebt Dahm „[m]it Hilfe der empirischen Kirchensoziologie, was die Menschen von der Kirche erwarten, wie sie den Pfarrer / die Pfarrerin sehen; daraus wird eine Kirchentheorie und eine Pastoraltheologie bzw. -theorie entwickelt.“ 25 Dahm bestimmt auf Basis seiner Daten dann zwei wesentliche Funktionsbereiche für kirchliches Handeln und damit die Tätigkeitsfelder für den Pfarrbe19 20 21 22 23 24 25
Stolt (1995), 229. Vgl. dazu und zum Folgenden: Dahm (1971), 99ff. Dahm (1971), 100. Dahm (1971), 100. Dahm (1971), 101. Dahm (1971), 101. Klessmann (2012), 157.
Pastoraltheologisch forschen – theoretische Grundlegungen
ruf. Zum einen ist das der „Funktionsbereich A: Darstellung und Vermittlung von grundlegenden Deutungs- und Wertsystemen“ 26, der vor allem durch kirchliche Bildungsangebote charakterisiert ist. Hier stellt Dahm einen Rückgang der kirchlichen Akzeptanz fest. Zum anderen ist das der „Funktionsbereich B: Helfende Begleitung, in Krisensituationen und an Knotenpunkten des Lebens.“ 27 Hier verzeichnet Dahm eine ansteigende Nachfrage. Diese beiden Funktionsbereiche leitet Dahm aus den Bedürfnislagen der von ihm sogenannten ‚distanziert-volkskirchlichen‘ Gemeindeglieder ab, die die große Mehrheit bilden im Gegenüber zu 1 % bis 10 % der ‚Kerngemeinde‘. Vier Aufgabengebiete werden benannt, in denen die Bedeutung des Funktionsbereiches B deutlich zum Ausdruck kommt: Seelsorge am Einzelnen, Kasualdienst, karitative (Gemeinde-)Diakonie und religiöse Erziehung. Außerdem stellt Dahm fest, dass die personelle Orientierung bei einer distanziert-volkskirchlichen Grundeinstellung sehr viel stärker auf die hauptamtlichen Mitarbeiter als etwa auf die Gemeinde ausgerichtet [ist]. Nach wie vor ist es in den Augen der Mitglieder vor allem der Gemeindepfarrer, der die Kirche repräsentiert. 28
Die Kerngemeinde hingegen weist eher ein „horizontales Kirchlichkeitsbewusstsein“ 29 auf. Die Deutung dieses Befundes hinsichtlich der Stellung von Pfarrerinnen und Pfarrern im Verlauf der Zeit ist nicht nur interessant, sondern auch relevant. Dahm schreibt es der Tradition zu, die sich aus dem „Kreislauf von Vollzug und Zuständigkeitserwartung“ 30 speist und so bei distanziert-volkskirchlichen Mitgliedern kaum andere Erwartungen aufkommen lässt: Wo seit je der Pfarrer fest und als einziger zuständig ist für Kindtaufe, Konfirmandenunterricht, Krankenbesuch oder Beerdigung, da kommt das unbefangene Gemeindeglied kaum auf die Idee, daß das auch jemand anderer tun könnte. 31
Mit anderen Worten: die Wahrnehmung der Zentralstellungen von Pfarrerinnen und Pfarrern gerade bei distanziert-volkskirchlichen Mitgliedern kann kaum überraschen. Grethlein hat jüngst die veränderte Deutung dieses Befundes, der in allen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen wiederkehrte, nachgezeichnet. 32 Während 26 27 28 29 30 31 32
Dahm (1971), 305. Dahm (1971), 306. Dahm (1971), 108. Dahm (1971), 109. Dahm (1971), 126. Dahm (1971), 126. Grethlein (2017), 13–19.
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bei Dahm die Zentralstellung des Pfarrers eine traditionsorientierte Deutung erfährt, wird sie in der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung von 1974 zum „Schlüsselproblem“ 33. Die Deutung des Befundes wandelt sich in den folgenden Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen zum „Schlüsselberuf“ 34. In der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung von 1974 wurde die Pfarrzentrierung als empirisch unumgänglicher Ausgangspunkt jeder Kirchenreform erörtert und eine strategische Entscheidung angemahnt: Der empirische Befund [s.c. der Zentralstellung der Pfarrer, BS] stellt die Kirche als System vor die Alternative, ob sie die Tatsache, daß die pastorale Struktur der Volkskirche vorerst ziemlich unversehrt ist, positiv aufnehmen und ausbauen will oder ob sie sich langfristig auf den gemeinde-kirchlichen Aspekt, die volle Mitbestimmung und Mitverantwortung der Laien, die Gleichwertigkeit aller Ämter, Dienste und Verantwortungen als Ziel einlassen will. 35
Roosen sieht die strategischen Optionen für die Kirche im Jahr 1997 immer noch ähnlich. Die distanziert-volkskirchliche Mehrheit und die kerngemeindlich-engagierte Minderheit werden von ihm in Opposition zueinander gestellt. Er fragt dann, welche Gruppe kirchenstrategisch zu favorisieren ist – und welche Konsequenzen das für den Pfarrberuf hat. Roosen führt aus, dass sich die Kirchen allerdings schon entschieden haben: Man kann nicht beides gleichzeitig haben, eine volkskirchliche Größenordnung und eine hohe intrinsische Glaubensmotivation unter sämtlichen Mitgliedern. Hier muß man sich entscheiden. Faktisch haben sich die Landeskirchen auch entschieden, und zwar für den Bestand der Größenordnung. 36
Roosen folgt dieser Entscheidung und fordert eine konsequentere Ausrichtung des Pfarrberufs auf diese in seinen Augen ohnehin schon getroffene Entscheidung ein. Der Pfarrberuf ist auf die Bedarfe und Bedürfnisse der distanziert-volkskirchlichen Mehrheit auszurichten. Die Pfarrer bleiben dann in einer zentralen Position und wirken als ‚Mentoren volkskirchlicher Christlichkeit‘ 37. Auch in der neu aufblühenden Pastoraltheologie zeigt sich diese Tendenz, die Zentralstellung der Pfarrerinnen und Pfarrer eher als ‚Schlüsselberuf‘ denn als ‚Schlüsselproblem‘ zu sehen und so wird recht häufig mit der hervorgehobenen Bedeutung der Pfarrerinnen und Pfarrer auf Basis der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen argumentiert. 38 Dabei geraten die Pfarrerinnen und Pfarrer in 33 34 35 36 37 38
Grethlein (2017), 15. Grethlein (2017), 14–16. Hild (1974), 279. Roosen (1997), 2. Roosen (1997), 605. Kunz (2018), 13.
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eine Sonderstellung, die aufgrund der hervorgehobenen Bedeutung des Priestertums aller Glaubenden in den evangelischen Kirchen nicht nur bei Dahm und Grethlein Kritik hervorruft. 39 Ob nun ‚Schlüsselberuf‘ oder ‚Schlüsselproblem‘ – es kann festgehalten werden, dass mit der Ausrichtung des Pfarrberufes als zentrale Funktion der Kirche auf die Betreuung der kirchlich-distanzierten Mitglieder eine grundlegende Gemeinsamkeit in pastoraltheologischen Beiträgen beschrieben ist, die in der wegweisenden Arbeit Dahms angelegt ist. Im Gefolge Dahms wurde die Pastoraltheologie zur „Berufstheorie des Pfarramtes“ 40. Dies ist heute die Standardauffassung dessen, was Pastoraltheologie im evangelischen Sinne ist. Diese Studie folgt dieser Auffassung und wird den Begriff Pastoraltheologie dementsprechend verwenden. Allerdings sei hier auch angemerkt, dass dies nicht kritiklos geschehen wird. Da die Zentralstellung Schlüssel und Schlüsselproblem gleichzeitig sein kann, ist dies notwendig. Angefragt wird deswegen bspw., warum die Gleichbeachtung anderer Ämter, Dienste und Handlungsträger nicht mehrheitlich zum Gegenstand der Pastoraltheologie geworden ist. Insofern die Pastoraltheologie Berufstheorie der Pfarramtes geworden ist, steht die Frage nach ihrer Wissenschaftlichkeit kaum noch zur Debatte. Pohl-Patalong hält diesbezüglich fest, dass heute auf der Basis eines offeneren und weiteren Wissenschaftsbegriffs, der eine detaillierte Wahrnehmung von Praxis nicht aus-, sondern einschließt, Pastoraltheologie als praktisch-theologische Disziplin [begriffen wird]. Ihre besondere Nähe zu praktischen Verhältnissen und Handlungen kann dann möglicherweise für die gesamte Praktische Theologie fruchtbar werden, statt sie als Argument für ihre Ausgliederung zu betrachten. 41
Pastoraltheologie ist somit heute im evangelischen Kontext eine akademische Disziplin innerhalb der Praktischen Theologie und nicht mehr der Ersatz oder die nicht-wissenschaftliche Schwester der Praktischen Theologie. Diese Studie folgt auch dieser Einordnung: Pastoraltheologie wird als Teilgebiet der Praktischen Theologie aufgefasst.
39 Vgl. Dahm (1971), 109, Grethlein (2017), 16 u. Kunz (2018), 3–22. 40 Wagner-Rau (2017), 106. 41 Pohl-Patalong (2007), 518f.
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1.3 Probleme des Gegenstandsbereichs und der Methodik in der Pastoraltheologie In dieser Studie wird davon ausgegangen, dass Pastoraltheologie im Kontext der Praktischen Theologie die Berufstheorie des Pfarramtes ist. Allerdings ist hinsichtlich des Gegenstandsbereiches und auch der Methodik in der Pastoraltheologie auf Theorieebene ein Problem gegeben. Pohl-Patalong führt hinsichtlich der Pastoraltheologie aus: Die Pastoraltheologie ist wohl dasjenige der theologischen Themengebiete, dessen Ort und Charakter am stärksten diskussionsbedürftig war und ist. Entsprechend groß ist die Spannbreite der pastoraltheologischen Fragestellungen und Antwortversuche. 42
Aufgrund dieser Sachlage ist zunächst Rechenschaft darüber abzulegen, wie Fragestellung und Antwortversuche der Pastoraltheologie theoretisch gefasst werden können. Das heißt, es ist zunächst das „Was?“ (Fragestellungen), also der Gegenstandsbereich der Pastoraltheologie, und dann auch das „Wie?“ (Antwortversuche), also die Methodiken und Ansätze der Pastoraltheologie, zu erfassen.
1.3.1 Gegenstandsbereich der Pastoraltheologie Um den Gegenstandsbereich genauer zu erfassen, lohnt sich ein Vergleich zweier gängiger Definitionen. Dazu wird einerseits die einschlägige Definition von Merkel aus der Theologischen Realenzyklopädie herangezogen und andererseits die Definition von Klessmann aus dessen aktuellen pastoraltheologischen Lehrbuch. Merkel definiert Pastoraltheologie wie folgt: Evangelische Pastoraltheologie läßt sich verstehen als wissenschaftliche Reflexion des Auftrages der Kirche unter dem besonderen Aspekt des pastoralen Dienstes. In ihr wird der in der Ordination übertragene Dienst theologisch bedacht und die sich aus ihm ergebenden Aufgaben, Pflichten und Rechte sowie die persönliche Qualifikation für das Amt der Evangeliumsverkündigung kritisch beschrieben. Sie ist Reflexion über professio, Profession und Professionalität, des Pfarrers und der Pfarrerin im Hinblick auf die von ihnen wahrzunehmenden spezifischen Obliegenheiten unter den jeweils gegebenen kirchlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen. 43
An Merkels Definition fällt auf, dass eine sehr grundlegende Reflexion, nämlich die des ‚Auftrages der Kirche‘, mit dem pastoralen Dienst verknüpft wird. Der
42 Pohl-Patalong (2007), 515. 43 Merkel (1996), 76.
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pastorale Dienst wird dann näher bestimmt durch die Ordination. Hier schwingen die Bestimmungen aus CA XIV mit, die das ‚Amt der Evangeliumsverkündigung‘ ordnen. Die sich daraus ergebenden Sachverhalte sind nach Merkel zunächst theologisch zu bedenken. Im weiteren Verlauf der Definition beschreibt Merkel eine zweite notwendige Reflexion, die sich mit den Pfarrpersonen im Kontext von Kirche und Gesellschaft befasst. Klessmann definiert Pastoraltheologie wie folgt: Pastoraltheologie reflektiert Verständnis, Begründung und Aufgaben des Pfarramtes, die Pflichten und Rechte von Pfarrerinnen und Pfarrern sowie die Fragen nach dem Verhältnis von Amt und Person, darin eingeschlossen die Frage nach der Bedeutung einer persönlichen Qualifikation für dieses Amt. 44 [. . . ] Es geht in der Pastoraltheologie um das Verhältnis von Pfarramt und Gemeinde (oder Krankenhaus, [sic] oder Diakonie), von Pfarramt und anderen haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden im Kontext gegenwärtiger Kirche, gegenwärtiger Gesellschaft und ihrer pluralen Religionsform. 45
Klessmanns Definition ist stark auf das Pfarramt ausgerichtet. Bei ihm geht es vor allem um die theologischen Grundlagen des Pfarramtes, die Aufgaben, Rechte und Pflichten, die sich daraus ergeben, sowie die notwendige Qualifikation. Er sieht als Aufgabenfeld der Pastoraltheologie vor allem die Beschreibung der Relationen, in die das Pfarramt eingebettet ist. Dies beginnt bei einer innerlichen Relation von Person und Amt, geht über die möglichen kirchlich-organisatorischen Relationen, in denen das Pfarramt eingebettet ist, bis hin zur Relation zwischen Pfarramt und Gesellschaft. Im Vergleich der Definitionen von Merkel und Klessmann lassen sich vier Themenfelder herausarbeiten, die für die Pastoraltheologie wesentlich sind und deswegen das Grundgerüst einer Pastoraltheorie ausmachen. Ohne eine inhaltliche Gewichtung zu implizieren, werden im Folgenden diese vier Themenfelder dargestellt (vgl. Abb. 1, S. 28): Die Pastoraltheologie reflektiert erstens das Themenfeld „Handlungsträgerinnen und Handlungsträger“ 46. Beide Definitionen rekurrieren auf die notwendige Qualifikation der Personen sowie die übertragenen Rechte und Pflichten, die bedacht werden müssen. Klessmann legt vor allem Wert auf die Reflexion der Relationen, in die die Handlungsträger eingebettet sind. Im Grunde qualifiziert Merkel das Verhältnis von Amt und Person näher, wenn er mit dem Begriff professio – Bekenntnis – operiert, da das persönliche Glaubensbekenntnis im kirchlichen Kontext ein relevanter personenbezogener Aspekt ist. In der Pastoraltheologie
44 Klessmann (2012), 139, Herv. getilgt. 45 Klessmann (2012), 140, Herv. getilgt. 46 Pohl-Patalong (2007), 519.
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Abbildung 1: Pastoraltheologische Raute Quelle: Eigene Darstellung.
werden demnach die Einstellung (‚Bekenntnis‘) und die Fähigkeiten (‚Qualifikation‘) der Handlungsträger sowie die Übertragung von Rechten und Pflichten auf sie bedacht. Als zweites gemeinsames Feld der Definitionen ist der Aspekt ‚Kontext‘ zu nennen. Merkel definiert die Pastoraltheologie als kontextsensible Wissenschaft, da die Erwägungen den jeweils „gegebenen kirchlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen“ 47 Rechnung tragen müssen. In der Erweiterung seiner pastoraltheologischen Definition wertet auch Klessmann die Kontextbedingungen für das pastoraltheologische Arbeiten stark auf, er nennt die Relationen (Krankenhaus, Diakonie, Gemeinde etc.), in die das Pfarramt in Kirche und Gesellschaft gestellt ist. Je nach Kontext ändert sich auch die Gestalt des Pfarramts und die Rolle der Pfarrerinnen und Pfarrer. Sowohl bei Klessmann als auch bei Merkel ist der Kontext somit doppelt bestimmt: Einerseits sind kirchliche Gegebenheiten zu betrachten und andererseits der gesellschaftliche Kontext, in dem sowohl Kirche als auch Pfarramt eingebettet sind. Als drittes Themenfeld lässt sich die Reflexion der pastoralen Handlungsfelder bestimmen. Es geht mit Merkel um die Aufgaben, spezifischen Obliegenheiten, Rechte und Pflichten für das in der Ordination übertragene Amt. 48 Klessmann formuliert diesbezüglich ähnlich und spricht auch von Pflichten und Rechten. 49 In der Pastoraltheologie wird in der Reflexion der Handlungsfelder immer wieder 47 Merkel (1996), 76. 48 Merkel (1996), 76. 49 Klessmann (2012), 139.
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neu bedacht, wozu die Pfarrerinnen und Pfarrer da sind. Es geht um die Frage, was zu den Pflichten gehört und welche Rechte damit einhergehen. Als viertes Feld lassen beide Definitionen die Reflexion der theologischen Grundlagen für das Pfarramt bzw. der Kirche erkennen. 50 Es fällt auf, dass Merkel hier weiter formuliert und den ‚Auftrag der Kirche‘ als Ausgangspunkt nimmt, während Klessmann direkt auf das Pfarramt hin formuliert: „Pastoraltheologie reflektiert das Verständnis, die Begründung und Aufgaben des Pfarramtes“ 51. Dieses Themenfeld dreht sich also um theologische Aussagen, die in Bezug auf die kirchlichen Handlungsträger und deren Amt relevant sind. Als Ertrag dieses Vergleichs lässt sich festhalten, dass beide Definitionen mit unterschiedlicher Gewichtung ähnliche Dinge beschreiben und sich so der Gegenstandsbereich einer pastoraltheologischen Theorie ergibt. Dieser Gegenstandsbereich besteht aus den vier Aspekten: Handlungsträger, Pfarramt im Kontext, Reflexion der Handlungsfelder und (unterschiedlich bestimmbare) theologische Grundlage. Man könnte den Gegenstandsbereich als ‚pastoraltheologische Raute‘ bezeichnen, mit deren Hilfe pastoraltheologische Fragestellungen auf verschiedene Art und Weise bearbeitet werden können. Die pastoraltheologische Raute leistet zunächst einmal die Benennung der grundlegenden theoretischen Felder der Pastoraltheologie. Es kann an dieser Stelle noch offen bleiben, auf welche Art und Weise mit der pastoraltheologischen Raute methodisch zu verfahren ist, da zunächst eine allgemeine wissenschaftliche Methodik der Pastoraltheologie herausgestellt werden muss. 52
1.3.2 Wissenschaftliche Methodik in der Pastoraltheologie Mit den Ausführungen zum Gegenstandsbereich sind die Möglichkeiten des „Was?“ geklärt. Offen ist die Frage nach dem „Wie?“, nach dem Weg, den die kritische Reflexion einzuschlagen hat, um wissenschaftliche Ergebnisse erzielen zu können. Während man den Gegenstandsbereich durch einen Definitionenvergleich noch einigermaßen sinnvoll abstecken kann, zeigt sich bei Fragen hinsichtlich der wissenschaftlichen Vorgehensweise eine große Pluralität und Offenheit. Diese Weite lässt sich anhand Klessmanns methodischer Minimalforderung zeigen. Klessmann beschreibt die Methodik der Pastoraltheologie im Unterschied zum Arbeiten in der Praktischen Theologie. Das methodische Vorgehen der Prak50 Vgl. Merkel (1996), 76 u. Klessmann (2012), 139. 51 Klessmann (2012), 139. 52 Vgl. zum methodischen Vorgehen dann die pastoraltheologische Raute innerhalb der Kirchentheorie: Kap. 2, S. 50.
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tischen Theologie ist mit dem Dreischritt „Wahrnehmen – Urteilen – Handeln“ umrissen. 53 Die Pastoraltheologie hingegen kennt keinen allgemeingültigen Ansatz. Klessmann hält lediglich fest: Pastoraltheologie [. . . ] beansprucht, die mit dem Pfarramt in der gegenwärtigen Kirche und Gesellschaft gegebenen Themen und Problemstellungen kritisch-konstruktiv zu durchdringen und insofern auch die Grundlage für Reformbemühungen zu legen. 54
Diese methodische Offenheit ist in der Pastoraltheologie Stärke und Schwäche zugleich, denn dies bedeutet einerseits eine hohe Flexibilität bei der Annäherung an den eigenen Untersuchungsgegenstand und andererseits führt es zu einem fragmentierten Diskurs. Als Stärke kann gelten, dass sich in diesem Diskurs viele zu Wort melden können, die im Gegenstandsbereich der Pastoraltheologie einen konstruktiv-kritischen Beitrag leisten wollen. Das bedeutet gleichzeitig, dass die Lage schlicht unübersichtlich ist. Pohl-Patalong arbeitet bestimmte Phasen in der pastoraltheologischen Forschung heraus. Ein Kennzeichen der Pastoraltheologie seit 1990 ist, dass die Pluralität der Ansätze weiter zugenommen hat. 55 Es erscheint darum sinnvoll, Ansätze von 1990 und später wahrzunehmen, um sie sowohl auf die spezifische Darstellung des Gegenstands als auch auf die gewählten Ansätze hin zu befragen. Auf der Basis dieses Durchgangs wird es möglich sein, zumindest eine methodische Richtung mit Gründen zu favorisieren.
1.3.3 Gegenstandsbestimmung und theoretische Ansätze aktueller pastoraltheologischer Beiträge Im Folgenden werden pastoraltheologische Ansätze ab dem Jahr 1990 wahrgenommen und auf Gegenstandsbestimmung und Ansatz hin befragt. 56 Wie bereits ausgeführt, gibt es pastoraltheologische Beiträge in großer Fülle. 57 Dies hat mit der Zentralstellung des Pfarrberufs in der Kirche zu tun. So gibt es genuine pastoraltheologische Beiträge, die sich ganz dem Arbeitsfeld der Pastoraltheologie in Monographien widmen – die damit auch der erste und natürliche Bezugspunkt eines akademischen pastoraltheologischen Beitrags sind – und 53 54 55 56
Klessmann (2012), 140. Klessmann (2012), 140, Herv. BS. Pohl-Patalong (2007), 557. 1990 ist einerseits das Jahr, in dem Pohl-Patalong einen Schnitt in der pastoraltheologischen Entwicklung setzt (vgl. Anm. 55) und andererseits ist es das Jahr, in dem die Berücksichtigung Ostdeutschlands in der Literatur aufgrund der Wiedervereinigung mehr und mehr wahrscheinlich und damit relevant für diese Arbeit wird. 57 Vgl. Kap. 1.3.2, S. 30.
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es gibt eine Fülle von Beiträgen in Einzelaufsätzen und Buchkapiteln, die einen bestimmten Hintergrund oder eine bestimmte Perspektive für den Pfarrberuf durchdenken. Hier wäre bspw. an Arbeiten aus den Bereichen Kybernetik und Kirchentheorie zu denken, die oft eine Pastoraltheologie in nuce mit sich führen. Der notwendige Überblick über Gegenstandsbestimmungen und gewählte Ansätze braucht eine gewisse Breite, aber keine Vollständigkeit. Dass das Feld plural ist, kann als Konsens der Forschung festgehalten werden. Ziel dieses Überblicks ist, zu prüfen, ob sich eine Entwicklungstendenz in aller Pluralität ausmachen lässt. Dies hilft einerseits, die bisherige Entwicklung einzuschätzen, und gibt diesem Beitrag einen Ort innerhalb der pastoraltheologischen Forschung. Andererseits ist dies notwendig für ein methodisch reflektiertes Vorgehen. So kann sichergestellt werden, dass sich auch dieser Beitrag auf der Höhe der Zeit bewegt und nicht nur den derzeitigen Forschungsstandards genügt, sondern sie im besten Falle auch weiterentwickelt und vertieft. Deswegen werden im Folgenden unterschiedliche Beiträge aus der Pastoraltheologie in chronologischer Abfolge aufgerufen. Diese werden nach Gegenstandsbestimmung und Ansatz befragt, um so eine Entwicklungslinie der jüngeren Pastoraltheologie zu eruieren. Rössler charakterisierte die Stoßrichtung des pastoraltheologischen Arbeitens bis in die 90er Jahre hinein als „das Interesse des Pfarrers an sich selbst.“ 58 Kennzeichen dieser Phase ist nach Rössler eine Interessenverschiebung: „Das Interesse verlagert sich weg von der Gemeinde und den durch sie gestellten Aufgaben auf die innere Situation des Pfarrers selbst, auf das Problem seiner Handlungsgewißheit oder seiner Konfliktfähigkeit“. 59 Diese Phase befasst sich demnach vordringlich mit der Subjektivität der Pfarrerinnen und Pfarrer und bestimmt den Gegenstand der Pastoraltheologie personenzentriert, da es um die Pfarrerin und den Pfarrer geht. Bei diesen pfarrpersonenzentrierten Ansätzen geht es mehrheitlich darum, dass die Pfarrerin oder der Pfarrer an sich als Subjekt die Botschaft des Christentums lebenspraktisch erfahrbar werden lässt. 60 Dies geschieht im Gegenüber zur Kirche als Institution, die als überkommen und verkrustet gilt, wenn sie die Bedürfnisse der Kirchenmitglieder aus dogmatischen Gründen diskreditiert und aufgrund dieses Sachverhalts ihrer eigenen gesellschaftlichen Funktion im Wege steht. 61
58 Rössler (1994), 124. 59 Rössler (1994), 124. 60 „Die lebenspraktische Repräsentanz christlich-ethischer Werte soll deshalb der Pfarrer übernehmen. Die Ethisierung des Christentums wird so zum Akte seiner Personalisierung. Der Pfarrer soll das leben, was die christliche Botschaft verkündigt und damit deren Handlungsrelevanz unter Beweis stellen“ (Lämmermann (1991), 27). 61 Vgl. Gräb (2000), 322–324, Lämmermann (1991), 24f u. Drehsen (1998), 268.
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Die Analyse Rösslers bezieht sich vor allem auf die Veröffentlichung von Josuttis: 62 Der Pfarrer ist anders. 63 Allerdings gibt es weitere pastoraltheologische Beiträge, die vor allem die Subjektivität der Pfarrerinnen und Pfarrer in den Vordergrund stellen. Zu nennen sind: Drehsen, Lämmermann und Gräb. 64 Drehsen stellt die Person des Pfarrers und dessen Vorbildhaftigkeit in den Mittelpunkt seiner pastoraltheologischen Überlegungen. Diese Vorbildhaftigkeit bezeichnet er als „missionarische Kompetenz“ und meint damit: In der Person des Pfarrers veranschaulicht sich, was christliches Wissen, Wollen und Handeln bedeuten können; denn erst durch die konkrete, lebendige, individuell-persönliche Veranschaulichung gewinnen die an sich abstrakten werthaften Zusammenhänge ihre sinnträchtige Vorstellbarkeit, ihre Anschauungskraft und ihre mögliche Identifikationsfähigkeit – und zwar im positiv-zustimmenden wie auch im negativ-kritischen Sinne. 65
Aufgrund der Orientierungskrise der Kirche, der gesellschaftlichen Erwartung, dass die Kirche diakonisch handelt und dem Wunsch der Pfarrerinnen und Pfarrer als Seelsorger anerkannt zu werden, misst Drehsen der Poimenik zentrale Bedeutung zu. 66 Drehsen sieht in der Seelsorge als Leitorientierung für den Pfarrberuf das Potential „eines problemlösenden Zauberstabs“. 67 Von hier aus ließe sich die Aufgabenvielfalt und Erwartungsdiffusion im Pfarrberuf ordnen. 68 So wird bei ihm die Nähe zur Pastoralpsychologie deutlich. 69
62 Josuttis hat sich in der Pastoraltheologie mit immer wieder neuen Entwürfen hervorgetan: Josuttis (1982), Josuttis (1988), Josuttis (1993), Josuttis (1996), die einen erstaunlichen Wandel vor allem hinsichtlich des pastoraltheologischen Ansatzes belegen. 63 Dieser Ansatz von Josuttis wurde aufgrund des unklaren Ansatzes schon 1983 kritisiert: Die „Vermischung theologischer, sozialkritischer und psychoanalytischer Urteile, die nicht etwa nur im Gegenstand der Untersuchung, der ‚Rollendiffusion der pastoralen Existenz‘, sondern im Ansatz einer beklemmenden standortlosen Position der Untersuchung ihren Ursprung hat, [ist] dazu angetan, den vorhandenen Fragen nur neue hinzuzufügen“ (Thimme (1983), 101). 64 Drehsen (1989), 88–109, Drehsen (1998), 263–280, Lämmermann (1991), 21–33, Lämmermann (2001), 188–196 u. Gräb (2000), 304–333. 65 Drehsen (1998), 272. Drehsen macht deutlich, dass diese Authentizität und Vorbildlichkeit sich gegenüber einer kirchenamtlichen Vereinnahmung durchsetzen muss: „Die Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit der Sache des Christentums, für das die Kirche steht, scheint vor allem von der erfahrbaren Person des Pfarrers abzuhängen [. . . ]. Nicht kirchenzuchtliche Kontrolle, nicht dogmatisch-autoritative Lehre, nicht der Einforderung einer entschiedenen Kirchlichkeit, sondern einer überzeugungskräftigen, von ihrem autoritären Beigeschmack gereinigten Vorbildlichkeit der Pfarrersperson kommt offenbar eine Schlüsselrolle in der Verbreitung und Vertiefung des Christentums zu“ (Drehsen (1998), 271). 66 Drehsen (1998), 277–280. 67 Drehsen (1998), 277. 68 Drehsen (1998), 278. 69 Drehsen (1998), 263–280.
Pastoraltheologisch forschen – theoretische Grundlegungen
Lämmermann bestimmt den Gegenstand seiner pastoraltheologischen Beiträge ähnlich. Für ihn ist die Pfarrerin bzw. der Pfarrer „elementarer Repräsentant von Subjektivität“. 70 Anders als Drehsen leitet er seine Überlegungen weniger aus pastoralpsychologischen denn aus pädagogischen Zusammenhängen her. 71 Als Grundlage für seine Thesen führt Lämmermann eine Interpretation soziologischer Befunde an: Pfarrerinnen und Pfarrer haben ein hohes gesellschaftliches Ansehen – die Kirche jedoch nicht. 72 Wenn Erfahrungen mit der Kirche gemacht werden, dann sind das Erfahrungen mit der Pfarrperson – alles andere tritt dahinter zurück. Ist die Erfahrung gut, dann wird sie der Person zugerechnet, und sollte es eine schlechte Erfahrung sein, dann hat die Institution Kirche die Pfarrperson überformend vereinnahmt – oder mit Lämmermann: „eskamotiert“. 73 Er findet hier das „explizite Bedürfnis nach einem Modell authentischer Subjektivität, die souverän mit Institutionen umgehen kann, ohne von ihnen verschlungen zu werden.“ Demnach stellt Lämmermann die These auf, „daß die Volkskirche ihre Überlebenschancen dem gesellschaftlich akzeptierten Pfarrberuf verdanken wird und nicht umgekehrt. Die Kirche gehört – quasi als Standesorganisation – zum Pfarrer, wie etwa die kassenärztliche Vereinigung zum Arztberuf.“ 74 Die Kirche wird so zur Funktion des Pfarramtes. 75 So wird auch bei Lämmermann – ähnlich wie bei Drehsen – eine Abwertung der Institution Kirche deutlich. Auch Gräb legt in seinem pastoraltheologischen Beitrag Gewicht auf die Subjektivität von Pfarrpersonen. In seinem Entwurf erarbeitet er eine Praktische Theologie gelebter Religion und verhandelt im Schlusskapitel seine pastoraltheologische Pointe: „Der Pfarrer / die Pfarrerin als exponierte religiöse Subjektivität“. 76 Gräb setzt sich zwar auch von der Kirche als Institution ab, aber weniger scharf als Lämmermann und Drehsen. Diese tritt als Organisation hinter der Person zurück. 77 Gräb führt dafür ebenfalls das Argument der gesellschaftlichen Relevanz der Pfarrerinnen und Pfarrer samt ihrer religiösen Funktion an. Nach Gräb sind so die Pfarrerinnen und Pfarrer „heute für die professionelle Wahrnehmung des kirchlich organisierten religiösen Handelns“ zuständig. 78 Gräb bringt dabei mit Worten von Rendtorff auf den Punkt, wie Pfarrerinnen und Pfarrer „das Amt in die eigene Regie nehmen“ müssen: 79 der Pfarrer „muß versuchen [. . . ] ‚das Amt als ‚Chance‘ für sein persönliches Wirken zu er70 71 72 73 74 75 76 77 78 79
Lämmermann (1991), 21. Vgl. Lämmermann (1991), 27. Lämmermann (1991), 23. Lämmermann (1991), 21 u. 23. Lämmermann (1991), 24f. Lämmermann (1991), 23. Gräb (2000), 319–333. Vgl. Gräb (2000), 326. Gräb (2000), 325. Gräb (2000), 325.
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greifen, um etwas daraus zu ‚machen‘ und es durch seine individuelle Wirksamkeit auszubauen‘“. 80 Die pfarramtliche Tätigkeit wird von Gräb dann wie folgt bestimmt: Die „Funktionsträger“ müssen „ihre Arbeit nun dezidiert zur öffentlichkeitsrelevanten Gestaltungsaufgabe der eigenen (religiösen) Subjektivität bzw. zum kulturpraktischen Produkt angeeigneter und selbstentworfener konzeptioneller Vorgaben in der Vermittlung von Religion, Kultur und Gesellschaft werden [. . . ] lassen.“ 81 Das Pfarramt ist demnach als Funktion von Kirche auf die Gesellschaft ausgerichtet, um dort der „Vermittlung ethisch-religiöser Gewißheit in der Gesellschaft“ zu dienen. 82 Notwendige Hilfsmittel für diese Aufgabe sind die Religions- und Kulturhermeneutik, die den theoretischen Hintergrund des Ansatzes von Gräb ausmachen. 83 Mit Drehsen, Lämmermann und Gräb ist der Gegenstand der Pastoraltheologie personenzentriert bestimmt, da es um die Subjektivität der Pfarrerinnen und Pfarrer geht, die für die Gesellschaft in Dienst genommen wird. Alle drei Ansätze sind institutionskritisch gegenüber der Kirche. Sie greifen jeweils andere Begleitwissenschaften auf und tragen so zur Vielfalt der Ansätze in der Pastoraltheologie bei. Am stärksten fanden dabei sicherlich Ansätze mit pastoralpsychologischem Hintergrund Berücksichtigung. Rössler stellt zumindest fest, dass diese personenzentrierte Anlage der Pastoraltheologie „in offensichtlicher Übereinstimmung mit Lehr- und Lernzielen in der neueren Seelsorgeausbildung [steht].“ 84 Von diesem Strang der Pastoraltheologie setzt sich Manfred Josuttis mit einem neuen pastoraltheologischen Entwurf ab. Josuttis legt seinem Entwurf Die Einführung in das Leben die Religionsphänomenologie zugrunde und arbeitet pastoraltheologische Themen und pfarramtliche Arbeitsfelder konsequent innerhalb dieses Ansatzes durch. 85 In seinem Ansatz nimmt der Gottesdienst eine Zentralstellung ein. Damit will Josuttis das Zeugenmodell der kerygmatischen Theologie ablösen, für die die Verkündigung bzw. allein die Predigt zentral war und das Helfermodell einer hermeneutisch und psychologisch ausgerichteten Theologie, die der Seelsorge eine Zentralstellung einräumte. 86 Josuttis sieht eine Schwäche in der Wahrnehmung der Gesellschaft bei den kerygmatischen Pastoraltheologien und sieht darin die Stärke der seelsorgerlich ausgerichteten Ansätze. Allerdings sind
80 81 82 83
Gräb (2000), 326, zitiert Rendtorff (1960), 90. Gräb (2000), 328. So Gräb in Anschluss an Martin Schian (Gräb (2000), 321). „Das Pfarramt als offene Gestaltungsaufgabe der es ausübenden individuellen religiösen Subjektivität zu begreifen, als Gestaltungsaufgabe der gebildeten, sich fortwährend religions- und kulturhermeneutisch bildenden Subjektivität“ (Gräb (2000), 332). 84 Rössler (1994), 124. 85 Josuttis (1996), 9. 86 Josuttis (1996), 19.
Pastoraltheologisch forschen – theoretische Grundlegungen
Letztere für ihn nur eine „Übergangslösung“, da sie „die theoretische Begründung wie die praktische Ausrichtung des Pastorenberufes“ nur unzureichend leisten. 87 Josuttis fragt besonders nach dem Unterschied von Seelsorge und Psychotherapie und weist auf die Spannungen hin, die entstehen, wenn der Pfarrberuf zu klar auf eine therapeutische Seelsorge hin ausgerichtet wird: Die Orientierung an der Helferrolle hat damals für die Pfarrerschaft zwei problematische Konstellationen mit sich gebracht. Das war einerseits das Minderwertigkeitsgefühl des therapeutischen Dilettanten. Gerade wenn man ‚therapeutische Seelsorge‘ praktizieren wollte, drängte sich der Vergleich mit anderen Berufen unvermeidlich auf. Und im Blick auf deren Ausbildungsintensität, Methodenreichtum und Erfolgsbilanzen konnte die eigene Arbeit meist nur sehr gering eingestuft werden. Dann litt man auf der anderen Seite in der unklaren Bestimmung der spezifischen Aufgabe für die eigene Tätigkeit: deshalb tauchte etwa die Frage nach dem Proprium der Seelsorge im Verhältnis zur Therapie in zahlreichen Varianten immer wieder auf. 88
Dieses Proprium der Seelsorge findet Josuttis im ‚Machtbereich des Heiligen‘. Das Heilige ist für ihn eine „eigenständige Wirklichkeit“ und eine „selbsttätige Macht“. 89 Dieser Bereich des Heiligen, in dem die Pfarrerinnen und Pfarrer arbeiten, ist „mit herkömmlich theologischen und sozialwissenschaftlichen Kategorien nicht zureichend zu erfassen“ 90. Deswegen erfolgt der theoretische Zugriff über die Religionsphänomenologie. So kann der Gegenstand der Pastoraltheologie, den Josuttis im Grunde als das Heilige bestimmt, sinnvoll erfasst werden und die Pastoraltheologie hilft dann, Fähigkeiten auszubilden, die für die „Arbeit im Machtbereich des Heiligen“ angemessen sind. 91 Rituale und Symbole, die bspw. im Gottesdienst zur Geltung kommen, sind für ihn „seit jeher Medien der Grenzüberschreitung“. Hier werden Pfarrer und Pfarrerinnen dann zu Führungspersonen – sie „führen in die Zone des Heiligen, die immer verborgen war, die aber in der modernen Gesellschaft verboten ist, weil diese Macht die einzige reale Alternative gegenüber den destruktiven Tendenzen des Mammonismus darstellt“ 92. Die Kardinalfähigkeit ist nach Josuttis ‚Führung‘, denn es gilt, Menschen im gefährlichen Grenzgang in eine „spezifische Wirklichkeit“ zu führen. 93 Die Konsequenz dessen ist ein absolutes Zurücktreten der Subjektivität oder Person hinter das Amt. Karle hat diesen Aspekt kritisch und pointiert erfasst:
87 88 89 90 91 92 93
Josuttis (1996), 17. Josuttis (1996), 17. Josuttis (1996), 9 u. 18. Josuttis (1996), 9. Josuttis (1996), 9. Josuttis (1996), 20. Josuttis (1996), 18.
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Das Konzept vom Pfarrer als Führer bzw. der Pfarrerin als Führerin in das Heilige verlangt eine totale Verschmelzung von Person und Amt, wobei das Amt bzw. präziser die archaisch interpretierten Rollen des Priesters, des Schamanen, des Meisters und Mystagogen so stark dominieren, daß die Individualität des Geistlichen ganz in den Hintergrund tritt. 94
Vereinfacht gesagt zeigt sich Josuttis damit als Kritiker der Entwürfe, die von der religiösen Subjektivität der Pfarrperson etwas erwarten, und setzt dem das Heilige als selbsttätige Macht entgegen. Gleichzeitig wertet er die Pfarrpersonen stark auf, da sie die Wegkundigen im selbstwirksamen Machtbereich des Heiligen sind. Damit ist auch bei Josuttis die Vermittlung des Heiligen letztendlich von den Pfarrpersonen abhängig. Festzustellen ist, dass Josuttis eine pastoraltheologische Gesamtkonzeption entwirft, die sich vor allem von den seelsorgerlich-therapeutischen Ansätzen absetzt. Es erfolgt eine Aufwertung von spirituellen Aspekten im Pfarramt und deswegen wählt er dezidiert ein religionswissenschaftliches Theoriekonstrukt für seinen Ansatz. Auch er setzt die Pastoraltheologie in ein kritisches Verhältnis zur Kirche als Organisation. 95 Gerade die Wende hin zu spirituellen Kategorien und die damit einhergehende eingängige Beschreibung von religiöser Praxis brachte dem Entwurf von Josuttis eine hohe Resonanz in der Pfarrerschaft ein. 96 Karle setzt sich mit ihrem Entwurf ebenfalls von den subjektorientierten Ansätzen ab und führt Kritik in Bezug auf drei Aspekte an. Erstens seien die durch gesellschaftliche Prozesse ausgelösten Verunsicherungen bei Pfarrerinnen und Pfarrern von den Ansätzen, die auf die Amtspersonen als Individuum setzen, verstärkt worden: Die Enttäuschungslasten, die ein so stark individualistisch geprägtes Amtsverständnis mit sich bringt, sind selbstredend groß. Es erstaunt deshalb nicht, daß viele Pfarrerinnen und Pfarrer schon nach wenigen Jahren über Identitätskrisen und Symptome des ‚burnout‘ klagen. 97
Zweitens habe „[die] Konzentration auf die Individualität des Pfarrers bzw. der Pfarrerin [. . . ] nicht nur zu einer radikalen Vernachlässigung von Inhalten geführt. Paradoxerweise hat sie zugleich [– drittens –, BS] auf der Beziehungsebene viele destruktive Folgewirkungen mit sich gebracht und eine integrierende, für multiple Perspektiven offene Gemeindeleitung eher verhindert als gefördert.“ 98 In Bezug auf die gesellschaftlichen Veränderungen erläutert Karle den Wandel von der Ständegesellschaft im Mittelalter hin zur funktional differenzierten Mo94 95 96 97 98
Karle (2001), 317, Herv. original. Josuttis (1996), 78f. Wagner-Rau (2012), 18. Karle (2001), 13. Karle (2001), 14, Herv. original.
Pastoraltheologisch forschen – theoretische Grundlegungen
derne. Die Position der Kirche hat sich mit der Wandlung der Gesellschaft verschoben. Ihr Platz an der Spitze der hierarchischen Ständegesellschaft gehört der Vergangenheit an. 99 Aufgrund von Pluralisierungs- und Individualisierungsprozessen wird die Kirche in der funktional differenzierten Gesellschaft „zu einem Sozialsystem neben anderen“ 100. Die Krise im Pfarramt, die als ein Positions- und Bedeutungsverlust erscheint, hat ihre Gründe im gesellschaftlichen Wandel. Dieser Wandel ist für die Kirche aber nach Karle nicht bedrohlich, da man weiterhin monopolhaft eine wichtige Funktion in der Gesellschaft ausfüllt – nämlich die Religion – und außerdem kann dieser Wandel unter bestimmten Gesichtspunkten als Folge der Reformation verstanden werden. 101 Wenn nun dieser lediglich scheinbare Positions- und Bedeutungsverlust nach Karle nur mit individuellen Kategorien reflektiert wird, wie es bei den pfarrpersonenzentrierten Ansätzen der Fall ist, dann wird eine gesellschaftliche Veränderung zur individuellen Problemfrage für Pfarrerinnen und Pfarrer umgedeutet und trägt so zu deren Überlastung bei. 102 Eine Konzentration auf das absolute Individuum will Karle deswegen überwinden. Sie legt dazu einen pastoraltheologischen Ansatz vor, welcher das Individuum im sozialen Kontext erfasst. Sie arbeitet heraus, dass „Individualität [. . . ] unabhängig vom sozialen Kontext [. . . ] gar nicht denkbar“ ist. 103 Das Verhalten von Pfarrerinnen und Pfarrern soll demnach nicht „psychologisch, sondern soziologisch rekonstruiert und erfaßt“ 104 werden. So überwindet Karle die Fixierung auf das absolute Individuum mit Hilfe der Professionstheorie nach Stichweh: 105 Die vorliegende Studie bricht mit der Tradition bisheriger Pastoraltheologie, insofern sie sich nicht am Subjekt oder Persönlichkeit des Pfarrers bzw. der Pfarrerin orientiert, sondern von vornherein von der sozialen Situation des Pfarrberufs im Kontext der modernen Gesellschaft ausgeht. [. . . ] Die vorliegende Studie schließt an Schleiermachers Wissenschaftsverständnis und seine pastorale Berufstheorie unmittelbar an. Sie will Berufspraktikern keine unmittelbaren Handlungsanweisungen für alle Wechselfälle des Lebens geben, sondern versteht sich als theoretische Reflexion kirchlich-professioneller Praxis im Kontext der modernen Gesellschaft. Sie ist nicht an der Kasuistik und dem ‚pastoralen Kleinhandel‘ der nichtwissenschaftlichen Pastoraltheologie orientiert [. . . ]. 106
Der Gegenstand der Pastoraltheologie ist für sie nicht die Pfarrperson in ihrer Subjektivität, sondern die Sachthematik, für die die Pfarrerinnen und Pfarrer in 99 100 101 102 103 104 105 106
Vgl. Karle (2001), 12. Karle (2001), 12. Karle (2001), 154f. Karle (2001), 13. Karle (2001), 22. Karle (2001), 22, Herv. original. Karle (2001), 25. Karle (2001), 21f u. 24, Herv. original.
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der Gesellschaft einzustehen haben. Denn der Pfarrberuf ist mit der gesellschaftlich relevanten Vermittlung einer Sachthematik – dem Evangelium – betraut. Somit ist der Gegenstand der Pastoraltheologie nach Karle im Grunde: ‚Vermittlung einer gesellschaftsrelevanten Sachthematik‘. Die Vermittlung der Sachthematik bedarf vor allem des Wissens um die Funktionsweise sozialer Beziehungen und Rollenzuschreibungen in einer funktional-differenzierten Gesellschaft. An dieser Stelle treffen sich die sehr unterschiedlichen Konzeptionen von Karle und Josuttis: die Ablehnung der Zentralstellung von Person und Persönlichkeit des Pfarrers im Sinne eines absoluten Individuums. Das Pfarramt ist in soziale Beziehungen vor Ort eingebunden und hat dort nicht für die eigene Person einzustehen, sondern für etwas Drittes – mit Karle gesprochen für eine ‚Sachthematik‘ – sprich das Evangelium – oder in Worten von Josuttis für das ‚Heilige‘. 107 Weiterhin votiert Karle gegen die bspw. bei Drehsen, Josuttis und anderen zu findenden Abwertungen der Kirche als Institution. Insofern die Organisationsebene in der Gesellschaft dazu beiträgt, bestimmte „Erwartungserwartungen“ kenntlich und stabil zu kommunizieren, würde „dem einzelnen Pfarrer und der einzelnen Pfarrerin die Basis ihrer pastoralen Wirksamkeit und damit auch ihrer potentiellen ‚Vorbildlichkeit‘ (Drehsen) und professionellen Ansprechbarkeit“ 108 fehlen. Es ist demnach „völlig unrealistisch, Pfarrerinnen und Pfarrern zu empfehlen, sich von der Kirche soweit wie möglich zu distanzieren.“ 109 Bei Karle erfährt die Parochie als Organisationsform eine starke Aufwertung, da diese Organisationsform für die soziale Vermittlung der Sachthematik essentiell ist: Es ist das Wiedererkennen des Konkreten, der vertraute Ort, die heimatliche Kirche, das bekannte Gesicht, das viel überzeugender als jedes Rollenbild Vertrauen und Orientierung vermittelt und die Erwartungsbildung lenkt. ‚Elementare Sozialordnungen, die auf
107 Auch die kurzen Skizzen von Grözinger und Deeg sind ein Hinweis in diese Richtung. Ihre Bestimmung des Pfarramtes als „Amt der Erinnerung“ bzw. die normative Beschreibung der Pfarrerinnen und Pfarrer als „pastor legens“ zeigen die Notwendigkeit der Konzentration auf die grundlegende Aufgabe des Amtes an: die Beschäftigung mit dem Wort. Grözingers Hauptthese lautet: „Die Menschen der Postmoderne suchen im Pfarrer, in der Pfarrerin nicht den großen Kommunikator, sondern den Interpreten, die Interpretin der biblisch-christlichen Tradition in jeweils bestimmten lebensgeschichtlichen Kontexten“ (Grözinger (1998), 139, Herv. getilgt). Er bestimmt damit das Pfarramt als „intellektuelles Amt“, welches von allen anderen Aufgaben (vor allem Leitung) befreit werden soll (Grözinger (1998), 139, Herv. original). Deeg hat dieses Bild unterstützend präzisiert und bestimmt das welterkundende Lesen der Schrift inmitten der Gemeinde als Hauptaufgabe des studierten Pastors (vgl. Deeg (2004), 424). So zeigt sich eine Phase mit theoretischen Neuansätzen in der Pastoraltheologie, die die Überbetonung der Subjektivität mitsamt deren Schwachstellen im Hinblick auf Sachthematik und Bezug auf die Kontakte vor Ort überwinden wollen. 108 Karle (2001), 262. 109 Karle (2001), 261.
Pastoraltheologisch forschen – theoretische Grundlegungen
umfassende persönliche Bekanntschaft bauen können, wurzeln damit in einer Grundsicherheit, die durch noch so ausgearbeitete und sanktionsbewährte Verhaltensregeln nicht ersetzt werden kann.‘ Es ist deshalb von kaum zu überschätzender Bedeutung, daß die Pfarrerin bzw. der Pfarrer in der Gemeinde vor Ort wohnt und lebt, daß man sich beim Einkaufen, aber auch auf Konzerten und bürgerlichen Festen zufällig oder beiläufig treffen kann und im Gottesdienst und bei anderen Veranstaltungen und Versammlungen auf bekannte Gesichter stößt. Die niedrigschwellige, persönliche Bekanntschaft ist die große Stärke der Parochie. 110
Karles Entwurf hat zurecht viel Aufmerksamkeit aus der Praxis erfahren, denn im Grunde genommen plausibilisiert er auf theoretisch einsichtiger Basis die entstehungsgeschichtlichen Linien des Pfarrberufes im Kontext der modernen Gesellschaft. 111 Hinzu kommt, dass es derzeit neben Josuttis der einzige pastoraltheologische Entwurf ist, der den Pfarrberuf theoretisch fundiert und umfassend beschreibt. Es wird bei Karle sehr deutlich, wie die bei Josuttis begonnene Abwendung von der Pfarrperson als eigentlichem Gegenstand der Pastoraltheologie fortgeführt wird. Jedoch folgt sie nicht Josuttis, der eine religionstheoretische Rahmentheorie zugrunde legt, sondern reflektiert den Pfarrberuf mit Hilfe der Professionstheorie Stichwehs als gesellschaftlich relevanten Dienst mit sachthematischem Bezugspunkt. 112 Trotz der Abwendung und Kritik an der therapeutischen Seelsorge in den neueren pastoraltheologischen Entwürfen ist festzustellen, dass die Beliebtheit des Selbstbildes als Seelsorgerin oder Seelsorger in der Pfarrerschaft ungebrochen ist. 113 Gleichzeitig decken Studien auf, dass Anspruch und Wirklichkeit der Pfarrerschaft in Bezug auf die seelsorgerliche Tätigkeit auseinanderklaffen: In der Befragung Pastorin und Pastor im Norden wurden die Probanden gebeten, sowohl verschiedene Arbeitsfelder und den Zeitaufwand dafür einzuschätzen als auch anzugeben, auf welchem Arbeitsfeld sie gerne mehr oder weniger Zeit investieren wollen. Es zeigte sich, dass mit großem Abstand die Leitungstätigkeiten an erster Stelle beim Vergleich des Aufwandes stehen und die Seelsorge erst auf den sechsten Platz kommt. 114 Schaut man dann auf die erhobenen Werte, die abbilden, wo
110 Karle (2001), 243f, Herv. IK., zitiert Luhmann (1972), 355. 111 Pohl-Patalong (2007), 562. 112 Zur Erläuterung des Begriffes ‚Profession‘ und zur Bedeutung der Professionstheorie: vgl. 8.2.2, S. 334ff. 113 Dies belegen die Studien zum Pfarrberuf der hannoverschen Kirche und der Nordkirche eindrücklich. In Hannover erfährt dieses Selbstbild die höchste Zustimmung von allen Selbstbildern mit 61,3 % und in der Nordkirche ist es bei einer Zustimmung von 62,85 % ebenfalls an der Spitze (vgl. Kronast (2010), 58 u. Maagard/Nethöfel (2011), 5). 114 „Wie viel Arbeitszeit verwenden Sie pro Arbeitsfeld (inkl. Fahrzeiten und Verwaltungsarbeiten) und wie bewerten Sie dies?“ – Zustimmung auf einer 5-stufigen Skala von „sehr viel“ bis „sehr wenig“ (Zwischenstufen nicht verbal formuliert): Leitungstätigkeiten („viel“ u. „sehr viel“) = 54 %; Amtshandlungen (mit Vorgesprächen) („viel“ u. „sehr viel“) = 43 %,
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Pfarrerinnen und Pfarrer gerne mehr Zeit investieren möchten, zeigen sich sowohl die Auswirkungen der pastoralpsychologischen Ansätze sowie die von Josuttis’ Konzeption. So wollen 50,89 % gerne weniger Zeit mit Leitungstätigkeiten zubringen, dafür wollen 74,4 % mehr Zeit in die Pflege des geistlichen Lebens, 46,91 % mehr Zeit in Fortbildung / Supervision / Coaching und 39,49 % mehr Zeit in Seelsorge (Krisensituationen / Beratungsgespräche) investieren. 115 Dieser Befund zeigt eine Diskrepanz zwischen dem Wunsch eher als Seelsorger oder Spirituale zu wirken und der pfarramtlichen Wirklichkeit. Hermelink hinterfragt das seelsorgerliche Ideal, welches durch die Hochschätzung von Subjektivität bzw. Individualität entsteht: Die [. . . ] Maxime, der Pfarrberuf sei besonders ‚nahe bei den Menschen‘, auch das von vielen Pfarrerinnen und Pfarrern akzentuierte Selbstbild, primär als Seelsorger/in, also vornehmlich im ganz persönlichen Gespräch über den Glauben wirken zu wollen – diese Bilder erscheinen [. . . ] unrealistisch und konzeptionell irreführend. In pragmatischer Hinsicht ist nicht nur zu bedenken, dass angesichts der gegenwärtigen – und erst recht zukünftigen – zahlenmäßigen Relation zwischen Gemeindegliedern und Pfarrstellen der pastorale Anspruch einer ‚flächendeckenden‘, umfassenden seelsorgerlichen Gesprächskultur unrealistisch ist. 116
Die Kritik Hermelinks an der Zentralstellung der Seelsorge bzw. der Hochschätzung der Individualität ist differenziert. Dass Pfarrerinnen und Pfarrer Seelsorger sind und dies zu ihrem Aufgabenbereich dazugehört, bestreitet Hermelink nicht. Sie gehört für ihn jedoch zu den „Pflichten aller Christen – und insofern auch wesentlich zur pastoralen Arbeit.“ 117 Allerdings lehnt Hermelink die Seelsorge als „eigenständiges, für die spezifisch pastorale Arbeit besonders charakteristisches Handlungsfeld“ 118 ab, wie dies seiner Meinung nach bei Klessmann und Karle der Fall ist. Grundsätzlicher richtet sich die Kritik gegen die pastoraltheologischen Ansätze, die die Pfarrperson mit dem Potential ihrer Subjektivität für die Erhaltung der Volkskirche betonen. Angesichts des ‚großkirchlichen Pfarramts‘ sind diese Ansätze – mit Hermelink gesprochen – realitätsfern. 119 Dieses kontextuelle Argument gewinnt an Gewicht, wenn man es vor dem Hintergrund der ländlich-peripheren Regionen Ostdeutschlands betrachtet.
115 116 117 118 119
Lebensbegleitung (Geburtstage, Besuche, Gespräche) („viel“ u. „sehr viel“) = 40 %, Gottesdienst (mit Predigt, Liturgie. . . ) („viel“ u. „sehr viel“) = 39 %, Konfirmandenarbeit / Christenlehre („viel“ u. „sehr viel“) = 35 %, Motivation und Koordination ehrenamtlicher Tätigkeit („viel“ u. „sehr viel“) = 31 %, Seelsorge (Krisensituationen, Beratungsgespräche) („viel“ u. „sehr viel“) = 30 % etc. (Maagard/Nethöfel (2011), 3). Maagard/Nethöfel (2011), 3. Hermelink (2014a), 31f. Hermelink (2014a), 32. Hermelink (2014a), 31. Hermelink (2014a), 31.
Pastoraltheologisch forschen – theoretische Grundlegungen
Mit Grethlein ist festzuhalten, dass die beiden doch so unterschiedlichen Entwürfe von Josuttis und Karle eine weitere Überschneidung haben: Gemeinsam ist ihnen, dass jeweils Anregungen aus anderen Bereichen bzw. Wissenschaften die vorgeschlagene Profilierung des Pfarrberufs plausibilisieren sollen. 120
Die Wahl der Ansätze ist an sich nicht kritikwürdig, nur stellt Grethlein weiterhin fest: Überblickt man die skizzierten [Beiträge von Karle u. Josuttis, BS] (und durch weitere Literatur erheblich erweiterbaren Beiträge) zum Berufsbild der Pfarrer sowie der pastoraltheologischen Vorschläge fällt auf, dass wichtige Veränderungen im Pfarrberuf bzw. in seinem Umfeld kaum oder gar nicht zur Kenntnis genommen werden. 121
So zählt Grethlein auf, dass Funktionspfarrstellen, zunehmende Teilzeitverhältnisse, die „wachsende Feminisierung“ des Pfarrberufs, die erhebliche Ausweitung von Lektoren und Prädikaten und vieles mehr unberücksichtigt bleibt. 122 Außerdem ruft Grethlein den Wandel von der Institution Kirche hin zur Kirche als Organisation auf, die dem Pfarrberuf neue Rahmenbedingungen verschafft. 123 Mit anderen Worten sind die kirchlich-organisatorischen Umfeldbedingungen des Pfarramts wesentlich stärker zu berücksichtigen, als das in den bisher aufgeführten Entwürfen der Fall ist – die den Pfarrberuf bzw. den Pfarramtsinhaber zum Teil durch eine ausgesuchte Ablehnung der Kirche als Institution oder Organisation profiliert haben. Genau diesbezüglich macht Hermelink auch einen neuen Konsens aus: Dass das pastorale Handeln – in seinen Voraussetzungen wie in seinen Wirkungen – durch und durch organisationsbestimmt ist, das scheint sich – ungeachtet sprachlicher und theologischer Differenzen – zum kirchlichen Konsens zu entwickeln. 124
Insofern Hermelink herausarbeitet, dass die Vielschichtigkeit und Komplexität des pastoralen Berufs besonders durch plurale und differierende Kirchenbilder und Unsicherheiten hinsichtlich der gesellschaftlichen Funktionen der Kirche verstärkt wird, rückt die Untersuchung von kontextuellen Bedingungen sowie der Kirche als organisationalem Rahmen in den Fokus neuester pastoraltheologischer Beiträge. 125
120 121 122 123 124 125
Grethlein (2009), 93f. Grethlein (2009), 99. Grethlein (2009), 99f. Grethlein (2009), 100. Hermelink (2014c), 141. Hermelink konstatiert: „Die Diffusität des pastoralen Berufsprofils ist von Ernst Lange, m.E. [sic] zu Recht, auf die Unklarheit der gesellschaftlichen Funktion(en) der Kirche zu-
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Explizit steht dafür der umfassende Beitrag von Wagner-Rau: Auf der Schwelle. 126 Hauptanliegen dieser Monographie ist es, „kirchentheoretische und pastoraltheologische Überlegungen an zentralen Problemstellungen der gegenwärtigen kirchlichen Situation zueinander in Beziehung“ zu setzen. 127 Dieser „erstaunlicherweise bislang selten vorgenommene Versuch“ findet bei der Kirchentheoretikerin Pohl-Patalong große Zustimmung. 128 Wagner-Rau will die „Kontur des Pfarrberufs und seiner Aufgaben im Zusammenhang mit der Veränderung der Kirche schärfen.“ 129 Sie führt dazu in aktuelle kirchentheoretische Debatten ein, um dafür Konsequenzen für das Pfarramt abzuleiten. 130 Fünf Aspekte werden von ihr bedacht. Erstens: der Kontext „Spätmoderne“; zweitens: das Verhältnis einer wachsenden Nachfrage nach Religion und Kirche; drittens: die Notwendigkeit eines Strukturwandels, der die flächendeckende Präsenz in Frage stellt; viertens: die Bedeutung von sozialwissenschaftlichen Wahrnehmungsinstrumenten für kirchliches Handeln; fünftens: „Anregungen zum möglichst konstruktiven Umgang der Kirchenleitung mit den widersprüchlichen Reaktionsweisen der Menschen“ 131. Der Pfarrberuf wird dann als „Beruf im Übergang“ bestimmt, da die Institution, in der der Pfarrberuf seinen Ort hat, einem „umfassenden Veränderungsprozess unterliegt, der nicht zuletzt von Pfarrern und Pfarrerinnen mit zu gestalten ist.“ 132 Recht knapp behandeln auch Hauschildt und Pohl-Patalong das Pfarramt aus kirchentheoretischer Perspektive und zeigen einmal mehr, wie sehr das Pfarrbild bzw. unterschiedliche Modelle des Pfarramts durch das unterliegende Kirchenbild bzw. -modell geprägt ist. 133 Sie werben für ein Konglomerat der Pfarrbilder, in dem Pfarrerinnen und Pfarrer in sich sowohl Anteile des Repräsentanten des Christentums (Karle), des Geistlichen (Josuttis) sowie der Leitung (EKD-Impulspapier) vereinen, und stellen fest, dass es wiederum die Umbrüche sind, die sich verstärkt auf das derzeitige Pfarrbild auswirken: Jedoch treten nunmehr neue organisationale Anforderungen hinzu und bringen diese ver-
126 127 128 129 130 131 132 133
rückgeführt worden“ (Hermelink (2014c), 140). Das heißt: Wenn die Kirche sich in ihren gesellschaftlichen Funktionen nicht klar ist, kann sie keine sinnvolle bzw. klare Struktur ausbilden und muss dann dazu neigen, diese Unklarheit und Diffusität an ihr Personal weiterzugeben (vgl. Hermelink (2014c), 129). Wagner-Rau (2012), 13: Diese Monographie versteht sich nicht als eigenständige pastoraltheologische Konzeption, sondern lediglich als Beitrag zur laufenden Debatte. Wagner-Rau (2012), 13. Pohl-Patalong (2010), 507. Wagner-Rau (2012), 14. Wagner-Rau (2012), 14. Wagner-Rau (2012), 15. Wagner-Rau (2012), 32. Hauschildt/Pohl-Patalong (2013), 375.
Pastoraltheologisch forschen – theoretische Grundlegungen
traute Balance durcheinander, weil Schwerpunktsetzungen, Kürzungsmaßnahmen, Finanzierungsanstrengungen verlangt werden. 134
Ob die Balance zwischen den Rollen so postuliert werden kann, wie sich das Hauschildt und Pohl-Patalong vorstellen, sei dahingestellt. Deutlich wird auch, dass sie die Konturen des Pfarramts vor dem Hintergrund kirchentheoretischer Einsichten gewinnbringend beschreiben und gleichzeitig davon ausgehen, dass die organisationalen Herausforderungen weiter zunehmen werden. So ergibt sich insgesamt eine Entwicklung, die – ausgehend von den frühen 90ern – einige interessante Entwicklungspfade erkennen lässt. Zum einen wandelt sich der bearbeitete Gegenstand der pastoraltheologischen Entwürfe weg von der Pfarrperson und ihrer Subjektivität über etwas vorgegebenes, theologisches Drittes hin zum Pfarrberuf im organisationalen Kontext. Dementsprechend wandeln sich die Ansätze der Pastoraltheologie, die von psychologischen Aspekten über weitere Konzeptionen, die mit ‚Wissenschaften aus anderen Bereichen‘ operieren, wie Grethlein formuliert, hin zu pastoraltheologischen Beiträgen, die nicht beanspruchen, eine systematische Konzeption zu sein, jedoch ihren Gegenstand – den Pfarrberuf – vor dem Hintergrund kirchentheoretischer Debatten bearbeiten. Als Konsens bildet sich dabei ab, dass vor allem Umbrüche einen organisationalen Druck auslösen, den auch eine Pastoraltheologie reflektieren muss. Die hier vorgelegte Studie nimmt diese Entwicklung auf und will pastoraltheologisches Arbeiten im Rahmen der Kirchentheorie vertiefen. Oberflächlich sind außerdem viele Gemeinsamkeiten zwischen einer ‚Berufstheorie des Pfarramtes‘ und der ‚Kirchentheorie‘ auszumachen. Dass in der Pastoraltheologie das Reflexionsgewicht auf den handelnden Personen liegt, wird als markantester Unterschied nicht weiter verwundern. Die Ähnlichkeit und Gemeinsamkeit beider Felder der Praktischen Theologie sind zu einem guten Teil sicherlich auf die Arbeiten von Dahm zurückzuführen, dessen Arbeiten als Geburtsstunde der Kirchentheorie gelten und vor allem auf den Pfarrberuf bezogen sind. 135 Bevor nun ein pastoraltheologisches Arbeiten innerhalb eines kirchentheoretischen Rahmens erfolgen kann, muss zunächst im Exkurs geklärt werden, was unter Kirchentheorie zu verstehen ist.
Exkurs: Kirchentheorie in der Praktischen Theologie Kirchentheorie ist ein junger Zweig in der praktisch-theologischen Forschung. Grethlein beobachtet, dass dieses Arbeitsgebiet sich erst in den letzten zwanzig 134 Hauschildt/Pohl-Patalong (2013), 376, Herv. original. 135 Becker (2007a), 281.
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Jahren entwickelt hat. 136 Allgemein gesagt, „geht es [in der Kirchentheorie, BS] darum, die gegenwärtige Situation von Kirche zu analysieren und Handlungsorientierungen zu entwerfen.“ 137 Als „erste programmatische Entfaltung von ‚Kirchentheorie‘“ ist die Monographie von Reiner Preul zu nennen. 138 Preul definiert Kirchentheorie wie folgt: Kirchentheorie bezieht den dogmatischen Lehr- oder Wesensbegriff auf einen gegebenen kirchlichen Zustand mit dem Zweck einer kritischen Beurteilung und gegebenenfalls Verbesserung dieses Zustandes. 139
Preul fordert mit dieser Definition eine normative Stellung der Dogmatik bzw. Ekklesiologie ein, die dann auf einen „gegebenen kirchlichen Zustand“ bezogen wird. Die normative Stärke Preuls führt auf der Seite der Wahrnehmung zu Schwächen. Becker hat dem kirchentheoretischen Ansatz Preuls vorgeworfen, dass er sich nicht mit „validen und reliablen (Kirchen-)Daten“ auseinandersetze. 140 Auch Grethlein kommt zu diesem Ergebnis, dass „die empirischen Defizite unübersehbar“ seien. 141 Mit anderen Worten: Durch eine starke dogmatische Rekonstruktion wird eine Wahrnehmung der Kirche begünstigt, die sich nur geringfügig von gegenwärtigen Veränderungen ‚aus dem Konzept bringen lässt‘. 2011 legte Hermelink einen kirchentheoretischen Entwurf vor. Sein Anliegen ist die „Verbindung theologisch-theoretischer Reflexion mit empirischer Detailwahrnehmung der gegenwärtigen Verhältnisse“ 142. Hermelink weitet das Instrumentarium zur Wahrnehmung der gegebenen kirchlichen Verhältnisse gegenüber Preul aus. Während Preul vor dem Hintergrund der Institutionentheorie von der Kirche als Bildungsinstitution spricht, durchdringt Hermelink die kirchlichen Verhältnisse auf Basis der Systemtheorie mit den vier Leitbegriffen „Organisation, Institution, Interaktion und Inszenierung“ 143.
136 137 138 139 140
Grethlein (2018), XIV. Grethlein (2018), XIV. Grethlein (2018), 8. Preul (1997), 3. Becker (2007a), 284. Becker fordert außerdem den konsequenten Einbezug empirischer Forschung in den Methodenkanon der Praktischen Theologie. Er meint, dass „[n]ur durch die Anwendung empirischer Methoden zur Wirklichkeitswahrnehmung [. . . ] es für Theologie und Kirche möglich [ist], ihren Auftrag zur angemessenen Verhältnisbestimmung zwischen Gott und Welt im aktuellen Kontext wahrzunehmen“ (Becker (2007b), 55). Der in diesem Verständnis innewohnende Zug zur Exklusion anderer Zugänge zur „Wirklichkeit“ wirft Fragen auf, die an dieser Stelle nicht geklärt werden müssen. Konsens in der Praktischen Theologie ist, dass für die Wahrnehmung von Wirklichkeit in der Kirchentheorie mehrere Ansätze zur Verfügung stehen und die Kirchentheorie für neue Ansätze prinzipiell offen ist. (Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong (2013), 50). 141 Grethlein (2018), 9f. 142 Hermelink (2011), 15. 143 Grethlein (2018), 11; vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong (2013), 49.
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Am weitesten verbreitet ist derzeit das kirchentheoretische Modell von Hauschildt und Pohl-Patalong. Sie beschreiben die erfahrbare Kirche anhand von drei unterschiedlichen Logiken, die in der Kirche – nicht reibungsfrei – als „Hybrid“ funktionieren. 144 Diese Logiken werden von Hauschildt und Pohl-Patalong wie folgt charakterisiert: a. die Institutionslogik: Zu ihr gehören bei Dominanz der distanzierten Kommunikation u.a. eine Kirchenleitung durch rechtliche und inhaltliche Rahmensetzungen, automatische kirchliche Sozialisation der Mitglieder, Normalfall distanzierten Institutionenbezugs der Mitglieder [sic] und die Existenz bereitstehender Dienste der Institution für alle. b. die Organisationslogik: Zu ihr gehören bei Ausbau der geplanten Kommunikationswege u.a. zielorientierte Unternehmensleitung und Werbung durch Zielgruppenangebote zur Einbindung der Mitglieder in die aktive Zielerreichung. c. die Gruppenlogik / Bewegungslogik: Zu ihr gehören bei Dominanz der Kommunikation der Nähe Zuneigungs- und Angleichungsdynamiken. 145
Folgt man dem Entwurf von Hauschildt und Pohl-Patalong, dann meint Kirchentheorie „jede Theologie der Kirche, die systematische und empirische Sachverhalte bewusst verknüpft.“ 146 Sowohl bei Preul, Hermelink und Hauschildt und Pohl-Patalong kommt es also auf eine Verbindung von Ekklesiologie und Empirie an. Grethlein spricht an dieser Stelle von einer „Grundspannung“ zwischen Kirche als „sog. verfasste[r] Kirche“ und Kirche als „die ‚zwei oder drei‘, die im Namen Jesu versammelt sind (Mt 18,20)“ 147. In der Kirchentheorie wird also zwischen den dogmatischen Grundlagen von Kirche und der heutigen Sozialgestalt der Kirche unterschieden. Wie beides sinnvoll aufeinander bezogen werden kann und einerseits nicht das Faktische zum Normativen wird und andererseits das Normative nicht die Sicht auf das Faktische verstellt, ist die Herausforderung in der Kirchentheorie. In der Regel orientiert man sich hier am Leit- und Rahmenbegriff ‚Kommunikation des Evangeliums‘, um theologische und empirische Aspekte aufeinander zu beziehen und zu gewichten. 148
144 145 146 147 148
Hauschildt/Pohl-Patalong (2013), 216–219. Hauschildt/Pohl-Patalong (2013), 216f. Hauschildt/Pohl-Patalong (2013), 49, Herv. original. Grethlein (2018), XIV. Hauschildt/Pohl-Patalong (2013), 409–411, vgl. Grethlein (2016b), 8–11. Inwiefern ein theologischer Gehalt aus der Formel „Kommunikation des Evangeliums“ zum Tragen gebracht wird und somit eine formale Bestimmung übersteigt, ist bei Grethlein zumindest fraglich (vgl. Engemann (2014), 15–32).
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1.3.4 Pastoraltheologisches Arbeiten innerhalb der Kirchentheorie Wie kann nun eine pastoraltheologische Studie im Rahmen der Kirchentheorie durchgeführt werden? Als erstes ist die methodische Grundspannung der Kirchentheorie aufzunehmen: In der Kirchentheorie geht es um den Bezug von systematisch-theologischen Grundlagen auf die vorfindliche Sozialgestalt der Kirche. Analog dazu geht es in der Pastoraltheologie um die systematisch-theologischen Grundlagen der Kirche und ihres Auftrags in Bezug auf die vorfindliche Gestalt des Pfarramts. Wie nun in der Kirchentheorie die Sozialgestalt der Kirche recht unterschiedlich bestimmt werden kann – bspw. als Bildungsinstitution oder als Hybrid aus Institution, Organisation und Bewegung, – so ist auch die Beschreibung dessen, was das Pfarramt ist, plural. So wird der Begriff ‚Pfarramt‘ in der Pastoraltheologie sehr verschieden gefüllt und nuanciert: Hier kann zwischen Pfarramt, Pfarrberuf und Pfarrdienst unterschieden werden, wobei Äquivokationen nicht ausbleiben. Klessmann weist bspw. auf den Unterschied zwischen Pfarramt und Pfarrberuf hin, wobei der Pfarrberuf für die das ganze Leben umfassende Beauftragung steht und Pfarramt für Begrenzung in bestimmten Bereichen (bspw. Trennung Arbeitszeit und Freizeit durch Arbeitszeitbegrenzung, Residenzpflicht). Allerdings gebraucht Klessmann die Begriffe synonym. 149 Schneider und Lehnert unterscheiden zwischen Pfarramt und Pfarrdienst. Pfarramt betont für sie die Eigenständigkeit und das Gegenüber zur Gemeinde, Pfarrdienst steht für die Eingliederung in die Gemeinde. 150 In der RGG4 wird auch zwischen Pfarramt und Pfarrberuf unterschieden, wobei Pfarramt im weiteren und engeren Sinne definiert werden kann: Im weiteren Sinne ist das Pfarramt „das Amt des Pfarrers und der Pfarrerin, d.h. ein von seinem Träger unabhängiger, für einen bestimmten, umgrenzten Bereich im Rahmen der Kirchenordnung definierter, durch Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung geprägter Aufgabenkreis“; im engeren Sinne: „die den Pfarrern und Pfarrerinnen obliegenden Aufgaben der gemeindlichen Kirchenverwaltung“ 151. Pfarrberuf hingegen wird in der RGG4 als ein weltweit höchst unterschiedlich ausgeformter Dienst definiert, der durch Laien, geweihte Priester oder hochgebildete Spezialisten ausgeführt werden kann. 152 In der TRE ist „Pfarramt“ als Stichwort nicht aufgenommen, bereits genannte Aspekte werden aber unter den Schlagworten „Amt“ und „Pfarrei“ (als Schlagwort für „Parochie“) verhandelt.
149 150 151 152
Klessmann (2012), 14. Schneider/Lehnert (2009), 39. de Wall (2003, 1189f). Dahm (2003), 1990f.
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Dieser kurze Durchgang zeigt eine facettenreiche Verwendung des Begriffes und das Fehlen eines einheitlichen Begriffsgebrauches. 153 Dies macht eine eigene Begriffsbestimmung notwendig. In der vorliegenden Studie wird ‚Pfarramt‘ als eine theologisch begründete Position innerhalb der kirchlichen Organisation verstanden, die von dafür qualifizierten und berufenen Personen ausgefüllt wird. Mit Becker gesprochen ist mit diesem Begriff zunächst eine organisationsrechtliche Eindeutigkeit erreicht, jedoch noch keine funktionale. 154 An dem seit 2010 gültigen Pfarrerdienstrecht wird unter anderem ersichtlich, dass die Organisationsgestalt des Pfarramts im Wandel ist. Bisher war das Gemeindepfarramt die Norm des Pfarramts als theologisch begründete Position in der Kirche. Nun ist diese Organisationsgestalt zu einer Möglichkeit unter anderen geworden. 155 Dieser Wandel ist zur Kenntnis zu nehmen. Insofern in dieser Studie das Pfarramt in der Fläche untersucht wird, ist jedoch die traditionelle Variante und auch noch am häufigsten vorfindliche Gestalt des Pfarramts als parochiales Gemeindepfarramt maßgeblich im Blick. 156 Mit der Eingrenzung auf das Gemeindepfarramt in ländlichen Räumen Ostdeutschlands ist somit weitgehend auch eine funktionale Eindeutigkeit des Begriffs beschrieben. Es wird also gezielt die Organisationsgestalt bzw. der Wandel der Organisationsgestalt des Gemeindepfarramts in ländlichen Räumen Ostdeutschlands untersucht. Kirchentheorie nutzt – wie bereits dargestellt 157 – verschiedene Zugänge, um die empirische Gestalt der Kirche zu beschreiben. Die Frage ist nun, wie im Rahmen der Kirchentheorie die organisationale Gestalt des Pfarramts sinnvoll erfasst
153 154 155 156
Vgl. auch Becker (2007b), 271. Becker (2007b), 273. Hermelink (2014b), 216–218. Zur Begründung dieser Auswahl seien weitere Sachverhalte angeführt: Zum einen fällt in den ostdeutschen Landeskirchen das Verhältnis von Gemeinde- und Funktionspfarrstellen deutlich zu Gunsten der Gemeindepfarrstellen aus. Dies hat historische Gründe, da erst nach 1990 verschiedene Funktionsdienste wie Schulpfarrämter, Militär- und Polizeiseelsorge etc. aufgebaut werden konnten. Im Hinblick auf die ländlichen Räume in Ostdeutschland ist damit mit dem Gemeindepfarramt eine maßgebliche Größe im Blick. Denn Funktionspfarrstellen befinden sich eher in der Stadt, wie bspw. aus einer Studie von Becker hervorgeht, der das Verhältnis von Gemeindedienst zu Funktionsamt nach Stadt und Land aufschlüsselt: Land: 360:25 und Stadt: 203:76 (Becker (2005), 127). Hinzu kommt, dass die Konzentration auf einen möglichst spezifischen Aspekt des Pfarramts auch der Forschungsstand nahelegt. Becker arbeitet nämlich heraus, dass unter dem „Gattungsbegriff“ Pfarramt eine Vielzahl von Funktionsbereichen und Anforderungsprofilen verborgen sind, die nicht sinnvoll mit der einheitlichen Bezeichnung „Pfarramt“ in personalstrategischer Hinsicht beschrieben werden können (Becker (2007b), 273). Demzufolge ist anzuraten, mindestens zwischen Flächen- und Funktionsdiensten zu unterscheiden sowie „Diversifikationsaspekte der Kirchengemeinde“, die sich in einem Stadt-Land-Kontinuum bei Becker niederschlagen, zu berücksichtigen (Becker (2007b), 272–274). 157 Vgl. Kap. 1.3.3, ‚Exkurs Kirchentheorie‘, S. 43ff.
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werden kann. Dazu soll hier auf den fachwissenschaftlichen Diskurs des Personalwesens bzw. des Personalmanagements zurückgegriffen werden, da in diesem relevante Faktoren und Zusammenhänge für den Untersuchungsgegenstand diskutiert werden. Dies ermöglicht es auch, den derzeit stattfindenden Wandel und dessen personalentwicklerische Auswirkungen auf Mitarbeiter und Organisation sinnvoll zu beschreiben. Die so untersuchte Organisationsgestalt des Pfarramts (Deskription) wird dann mit den dafür angemessenen theologischen Grundlagen (Normation) ins Gespräch gebracht. Pastoraltheologie ist an dieser Stelle methodisch gesehen eine auf spezifische Themen gerichtete Variante der Kirchentheorie: In der Kirchentheorie wird die Ekklesiologie als Bezugspunkt der Reflexion kirchlicher Sozialgestalt(en) aufgerufen, während in der pastoraltheologischen Diskussion die Organisationsgestalt des Pfarramts in Bezug auf den kirchlichen Auftrag, dem Priestertum aller Gläubigen sowie der Amtstheologie reflektiert wird. Während die Kirchentheorie soziologische oder organisationale Wissenschaften zur Beschreibung der kirchlichen Sozialgestalt aufruft, wird in dieser Studie zur Beschreibung des Pfarramts der fachwissenschaftliche Diskurs des Personalwesens herangezogen. Weiterhin ist die besondere Relevanz des Kontexts in der Kirchentheorie zu beachten. Kirchentheorie ist eine ausgesprochen kontextabhängige Wissenschaft und Grethlein vertritt insgesamt die These, dass der derzeitige Wandel im Wesentlichen ein Ausdruck von Kontextualisierungsprozessen ist. 158 Es gehe kirchentheoretisch darum, dass „Gründe und Kontexte der Veränderungen bzw. der Metamorphose beschrieben und verstanden werden.“ 159 Auch Hauschildt und Heinemann plädieren dafür, dass zurzeit vor allem der Kontext entscheidend ist, wenn man die Sozialgestalt der Kirche samt deren Entwicklungsmöglichkeiten beschreiben und verändern muss. 160 Allgemeine und auch theologisch normative Vorgaben müssen für den Kontext und dessen Entwicklungsmöglichkeiten sinnvoll sein: „Darum spricht alles dafür, situativ und bezogen auf die faktischen Verhältnisse zu entscheiden“ 161. Für die Bearbeitung des beschriebenen Gegenstandsbereichs (vgl. Abb. 1, S. 28) bedeutet das, dass vor allem ‚Theologische Grundlagen‘ und ‚Pfarramt im Kontext‘ aufeinander bezogen werden müssen. Der Fokus auf die Pfarrpersonen ist das Eigene der Pastoraltheologie. Im Rahmen der Kirchentheorie wird deutlich, dass das Pfarramt einerseits wichtig ist – und deswegen auch gesondert betrachtet werden kann – andererseits ist auch her158 Grethlein (2018), XIV. 159 Grethlein (2018), XIII. 160 Vgl. dazu auch Winkler, der eine gleiche Aussage trifft: „Theologische Ansätze lassen sich nur ‚kontextuell‘, also im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Bedingungen, kybernetisch gestalten“ (Winkler (1998), 34). 161 Hauschildt/Heinemann (2016), 53, Herv. original.
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auszustreichen, dass damit bei weitem nicht die Mehrheit der kirchlichen Handlungsträger berücksichtigt wurde. 162 Allerdings wird für das Pfarramt aufgrund seiner theologischen Funktion ein Sonderstatus reklamiert. Mit Hauschildt und Pohl-Patalong gesprochen: „Das Pfarramt ist und bleibt unverzichtbar für die Kirche wie kein anderes Amt darin, dass Verkündigung samt Reichung der Sakramente unverzichtbar sind“. 163 Inwiefern Pfarrerinnen und Pfarrer einen Sonderstatus einnehmen müssen oder sollen, wird in dieser Studie überprüft. Die Handlungsfelder, die alle in der Kirchentheorie bedacht werden, kommen nur dann in den Blick, wenn sie das Pfarramt betreffen. 164 Hierin liegt – mit Pohl-Patalong gesprochen – ein Wert der Pastoraltheologie, da die sektoralen Handlungsfelder der Praktischen Theologie aus der Perspektive der Handlungsträgerinnen und Handlungsträger reflektiert werden und somit auch zu fragen ist, was alles von Einzelnen überhaupt geleistet werden kann und was geleistet werden muss. 165 Bringt man die hier vorgenommene Verhältnisbestimmung von Kirchentheorie und Pastoraltheologie ins Verhältnis, ergibt sich ein Schema wie in Abb. 2 (S. 49) dargestellt.
Abbildung 2: Verhältnis von Pastoraltheologie und Kirchentheorie Quelle: Eigene Darstellung.
162 Vgl. dazu den kirchentheoretischen Entwurf von Hauschildt / Pohl-Patalong, die neben dem Pfarrberuf auch andere Akteure bedenken: Hauschildt/Pohl-Patalong (2013), 357–382. 163 Hauschildt/Pohl-Patalong (2013), 382. 164 Vgl. die Beschreibung der Handlungsfelder im kirchentheoretischen Lehrbuch von Hauschildt / Pohl-Patalong: Hauschildt/Pohl-Patalong (2013), 422–437. 165 Pohl-Patalong (2007), 519.
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Pastoraltheologie ist dann eine Disziplin innerhalb der Kirchentheorie, die deren methodische Grundanliegen aufnimmt und die normativen Grundlagen des Pfarramtes bearbeitet, um diese mit der wahrgenommenen Organisationsgestalt des Pfarramts in einem bestimmten Kontext ins Gespräch zu bringen. Das Eigene der Pastoraltheologie ist dabei die Reflexion der Handlungsträger und deren Aufgabenbereiche bzw. deren Handlungsfelder. Ziel des pastoraltheologischen Arbeitens sind dann Beiträge zu der Frage: Wer tut das theologisch Gebotene auf welche Art und Weise unter den Bedingungen eines spezifischen kirchlichen und gesellschaftlichen Kontexts? Im Einzelnen ist dann zu klären, was das theologisch Gebotene ist, welche Bedingungen und Entwicklungen in der kirchlichen Organisation in einem bestimmten Kontext derzeit vorherrschen und wer wie unter diesen Bedingungen mit Gründen bestimmte Handlungsfelder favorisieren sollte.Die horizontale Achse der pastoraltheologischen Raute ist somit die grundlegende: Zuerst sind die beiden Pole ‚Theologische Grundlage‘ und ‚Pfarramt im Kontext von Gesellschaft und Kirche‘ zu erarbeiten und aufeinander zu beziehen. Darauf aufbauend folgt die Reflexion des Feldes ‚Handlungsträger‘. Anschließend kann die Bestimmung der notwendigen und der zu favorisierenden ‚Handlungsfelder‘ vorgenommen werden.
1.4 Eingrenzung des Kontexts auf ländlich-periphere Räume in Ostdeutschland Ziel dieser Studie ist es, einen Beitrag für die Wandlungsprozesse des Pfarramts in ländlich-peripheren Räumen Ostdeutschlands zu erstellen. An dieser Stelle ist nach der Sinnhaftigkeit und Möglichkeit dieser Eingrenzung des äußeren Kontexts zu fragen. Inwiefern ist es also sinnvoll, möglich und angemessen, den äußeren Kontext auf die ländlichen Räume in Ostdeutschland zu begrenzen? Dazu ist es zunächst nötig, über den Begriff ‚Kontext‘ und ‚Kontextualität‘ Rechenschaft abzulegen und dann nach Abgrenzungsmöglichkeiten des hier zu untersuchenden Kontexts gezielt zu fragen. Grundsätzlich gilt, dass Kontextualität zu jeder Theologie dazugehört. 166 Feldtkeller definiert den Begriff „Kontextualität“ in der RGG4 : Der Begriff leitet sich daraus her, daß christl. Theol. ihre Prägung nicht nur durch den bibl. Text erhält, sondern auch aus einem ihr eigenen Kontext, wobei damit nicht nur im lit. Sinne weitere Texte gemeint sind, sondern alle mit der menschlichen Gemeinschaft gegebenen Umweltbedingungen wie kulturelle, polit., soziale, wirtschaftliche und
166 Feldtkeller (2003), 1643.
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rel. Verhältnisse. Solche K. ist unentrinnbar für jede Theol., ebenso wie für jede Äußerung von Rel. überhaupt, da Theol. und Rel. sich nur im Medium menschlicher Kommunikation (sprachlich und nichtsprachlich) manifestieren können, die grundsätzlich mit ihren Sinngehalten in die genannten Bedingtheiten verwoben ist. 167
Diese dichte Definition fasst viele Linien zusammen. Zum besseren Verständnis ist es nützlich, sich Folgendes bewusst zu machen: „Die Rede vom ‚Kontext‘ hat ihren ursprünglichen Ort in der Beschäftigung mit literarischen Texten, somit im Bereich der Erkenntnislehre, der Hermeneutik und Logik.“ 168 Der Begriff „kontextuelle Theologie“ entstand dann im Zusammenhang ökumenischer Diskussionen. 169 „In neuerer Zeit lassen sich vor allem drei Gesichtspunkte erkennen, unter denen der gesellschaftliche Kontext einer Zeit und / oder eines Raumes betrachtet wird: [. . . ] sozio-ökonomisch-politische [. . . ], geistesgeschichtlich-kulturelle [sowie] weltanschaulich-religiöse“ 170 Zustände. Zur Betrachtung der sozio-ökonomisch-politischen Zustände gehört bspw. auch die Betrachtung von Stadt und Land und zur Betrachtung der weltanschau-lich-religiösen Zustände unter anderem auch der „Prozeß der Entchristlichung“ 171. Ein Beispiel für regionalisierte oder lokale Theologien ist die lateinamerikanische Befreiungstheologie. 172 Hieran zeigt sich, wie umfassend die induktiv vorgehenden, kontextuellen Theologien ausgeformt werden können und dass „[d]as Postulat einer kontextuellen Theologie [. . . ] nicht als Absage an den universalen Anspruch des Christentums mißzuverstehen [ist]“ 173. Innerhalb eines solchen Zusammenhangs platziert auch Francis eine Rural Theology, die von ihm und einigen wenigen anderen für den Kontext der Church of England propagiert wird. 174 Diese lokale Theologie – in diesem Falle auf die ländlichen Räume Englands bezogen – beansprucht mit ihrer Sonderperspektive einen Beitrag für die Kirche als Ganze zu leisten. 175 Die Rural Theology nimmt die sozio-ökonomisch-politischen Zustände und die weltanschaulich-religiösen Zustände ernst, um in und aus dieser Situation heraus Theologie um der Erkenntnis und Kirchenleitung willen zu treiben. 176 Hier zeigt sich, dass Kontexte als Betrachtungsgegenstand nicht nur Großregionen (bspw. Südamerika), sondern auch innerhalb einer Kultur bzw. eines 167 168 169 170 171 172 173 174 175 176
Feldtkeller (2003), 1643. Waldenfels (1987), 224. Löffler (1987), 721. Waldenfels (1987), 226. Waldenfels (1987), 227f. Waldenfels (1987), 229. Waldenfels (1987), 229. Francis (2012), 2. Francis (2012), 2. Vgl. Francis (2012), insbes. 1 u. 2–6 u. Francis (2014), 136–141.
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Staates ausgemacht werden können. Offenbar sind für die Etablierung eines Kontextes als Betrachtungsgegenstand Zusammenhänge wichtig, die vor Ort das Leben besonders prägen. Erst wenn sich hier signifikante Unterschiede zur weiteren Umgebung ergeben, wird man von einem Kontext sprechen können. Dies ist für die Unterscheidung Stadt-Land sowie West- und Ostdeutschland zu prüfen.
1.4.1 Eingrenzung auf ländliche Räume Dass eine Stadtumgebung signifikante Unterschiede zu einer ländlichen Umgebung aufweist, scheint in der praktisch-theologischen Diskussion eine unhinterfragte Annahme zu sein. Zumindest wächst seit 2005, dem Jahr der Erscheinung der umfänglichen Dissertation von Hansen mit dem Titel Evangelische Kirche im ländlichen Raum 177, die Anzahl der Fachbeiträge zum Thema stark an. 178 Festzuhalten ist, dass es im praktisch-theologischen Diskurs keinen einheitlichen Begriff dessen gibt, was unter ‚Land‘ bzw. ‚Ländlichkeit‘ zu verstehen ist. Sehr grob könnte man die Beiträge im protestantischen Raum in zwei Kategorien einteilen: Zum einen gibt es da Beiträge, die einen traditionellen Landbegriff favorisieren, der auf dörfliche Sozialstrukturen und Nähe abzielt oder gar den Begriff ‚Land‘ nur als Metapher verwenden. 179 Zum anderen wird in der Forschung die Heterogenität der ländlichen Räume betont und der ländliche Raum mit Hilfe von statistischen Markern wie Siedlungsgröße, Bevölkerungsdichte oder elaborierteren Maßen aus der bundesdeutschen Raumordnung beschrieben. 180 Selbstverständlich gibt es zwischen diesen beiden Richtungen immer wieder Mischformen und damit auch sehr unterschiedliche Arbeitsdefinitionen dessen, was mit ‚Land‘ gemeint ist. So ergibt sich ein sehr heterogenes Bild, wenn man auf die Forschungslage zum Thema Kirche und ländliche Räume schaut. Diese Heterogenität hat offensichtlich auch etwas mit gesellschaftlichen Verschiebungen zu tun, die das Land177 Hansen (2 2010) – erste Auflage 2005. 178 Eine Übersicht zum Forschungsstand des Themas Kirche und Land bieten Hauschildt/ Schlegel (2016), 24–33. 179 In chronologischer Reihenfolge wären in dieser Kategorie unter anderem folgende Beiträge zu nennen: Möller (2009), Wulz (2010), Wulz (2012), Cordes (2013), Mantey/ Sadowski/Schmidt-Ropertz (2013), Ziermann (2018). 180 In chronologischer Reihenfolge sind in dieser Kategorie unter anderen folgende Beiträge zu nennen: Hansen (2 2010), Scherz (2005), Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (2007), Winkler (2010), Hörsch/Pompe (2012), Schlegel/Alex (2012), Alex/Schlegel (2014a), Dünkel/Herbst/Schlegel (2014), Guba (2014), Herbst (2014), Kötter (2014), Zentrum für Mission in der Region (2014), Menzel (2015), Meyer/Miggelbrink (2015), Kaiser (2015), Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (2016), Herbst/Dünkel/Stahl (2016).
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leben nachhaltig verändert haben. Diese Verschiebungen konnten allerdings noch nicht alte Bilder des Landlebens aus dem kulturellen Gedächtnis verdrängen. Dies macht ein interaktives Feature der Wochenzeitung Die Zeit von 2017 besonders deutlich: Hier wird auf die Diskrepanzen aufmerksam gemacht, die zwischen empirischen Daten zum Landleben und der allgemeinen Einschätzung bestehen. 181 Als Beispiel sei angeführt, dass das Dorfleben als geselliger eingeschätzt wird als das Stadtleben. 64 % der Leser dieser Zeitung teilen diese Einschätzung und liegen damit falsch: denn je größer die Einwohnerzahl einer Siedlung, desto eher verbringt man in der Woche Zeit mit Freunden, Verwandten und Nachbarn. Auch hinsichtlich des Kirchgangs ist die Lage anders als gedacht. Traditionell gilt, dass der Kirchgang auf dem Land wesentlich größer ist als in den Städten. Die empirischen Ergebnisse können diese Tendenz zwar noch belegen, aber nur mit einem sehr knappen Vorsprung der Dörfer. Somit ist auch im Hinblick auf die Religiosität im ländlichen Raum ein Wandel zu verzeichnen. Hinzu kommt, dass ländliche Räume traditionell als Problemgebiete betrachtet werden und deswegen nicht nur mediale Aufmerksamkeit anziehen, sondern auch politisch beachtet und von unterschiedlichen Wissenschaften untersucht werden. Während man städtisches Leben bspw. mit Fortschritt und schnellem Internet verbindet, sind die Assoziationen für das Landleben neben einigen vermuteten gesundheitlichen Vorteilen und höherer Lebenszufriedenheit vor allem Förderbedarf und Schrumpfung. 182 Die befürchteten, vermuteten und tatsächlichen Auswirkungen der Umbrüche auf dem Land müssen möglichst präzise untersucht werden, um deren Folgen für so große Institutionen wie die Kirche, die in Deutschland flächendeckend organisiert ist, abzuschätzen. Insgesamt ist deswegen festzuhalten, dass landauf landab von einem deutlichen Unterschied zwischen Stadt und Land ausgegangen wird. Dies rechtfertigt die Untersuchung des Landes als eigenständigen Kontext. Die hier schon angedeuteten Verschiebungen zwischen Einschätzung und den Ergebnissen empirischer Studien ist genauer zu untersuchen. Nur so kann festgestellt werden, was die Besonderheiten einer ländlichen Umgebung heute sind und welche Konsequenzen dies für Kirchen und Pfarramt in sich trägt.
181 Vgl. dazu und zum Folgenden: https://www.zeit.de/feature/deutsche-bevoelkerung-stadtland-unterschiede-vorurteile, aufgesucht am 7. Feb. 2019, 8:37 Uhr. 182 Wobei auch hier die Intuition nicht den Daten entspricht: Die Lebenszufriedenheit ist im Vergleich von Metropole und Dorf gleich groß, wie die Umfrage der Zeitung Die Zeit belegt.
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1.4.2 Diskussionslage zu Ostdeutschland als eigenständigem Kontext außerhalb der Praktischen Theologie Während die Eingrenzung des Kontexts auf den Bereich ‚Land‘ sich auf eine breite und derzeit wachsende Forschung stützen kann, bedarf die Eingrenzung auf Ostdeutschland einer stärkeren Begründung. Denn nach nun bald 30 Jahren Deutscher Einheit muss berechtigterweise gefragt werden, ob es noch einen Sonderkontext Ostdeutschland gibt. Da 2021 der sogenannte Soli (Solidaritätszuschlag) auslaufen soll 183 wird diese Frage zugleich politisch heftig debattiert, da es sich hier um die nicht geringe jährliche Summe von 15,6 Milliarden Euro handelt, die für die Entwicklung der neuen Bundesländer bestimmt ist. 184 In diese Debatte ist hier nicht einzugreifen. Es ist ausreichend zu prüfen, inwiefern weiterhin oder noch von Ostdeutschland als Sonderkontext gesprochen wird. 185 Busch, Kühn und Steinitz fragen in einer Studie, die für die Bundestagsfraktion DIE LINKE erarbeitet und von der Rosa-Luxemburg-Stiftung gefördert wurde, ob „es noch ‚die‘ ostdeutsche Region [gibt]“ 186. Die Autoren bejahen diese Frage und begründen sie mit spezifischen wirtschaftlichen Problemen und Pfadabhängigkeiten der ostdeutschen Situation. Selbst nach regionalen Differenzierungen im Ost-West-Vergleich bleibt Ostdeutschland als Sonderkontext erkennbar. 187 Im Einzelnen erläutern sie den Unterschied, erstens, anhand internationaler wirtschaftlicher Verflechtungen Deutschlands in der Welt: Ostdeutschland erweist sich als besonders, insofern es überwiegend mit Westdeutschland verflochten und davon abhängig ist. Zweitens sind kartographisch statistische Unterschiede zwischen Ost und West nachweisbar, die weiterhin eine ungleiche Entwicklung vorhersehen lassen. Drittens ist Ostdeutschland durch Schrumpfungsprozesse in der Bevölkerung und bei den natürlichen Ressourcen gekennzeichnet. Viertens treten verschärfte soziale Differenzierungen in den Regionen auf. 188 In der Konsequenz fordern die Autoren wirtschaftspolitische Lösungsansätze, die den gesamten Osten im Blick haben und gleichzeitig „spezifische Überlegungen und Lösungen für die verschiedenen Regionen, insbesondere für die peripheren Regionen“ 189 bedenken. 183 Vgl. https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/solidaritaetszuschlag-1662388, aufgesucht am 14. August 2020, 12:46 Uhr. 184 Angabe für das Jahr 2015, vgl.: https://www.bundeshaushalt-info.de/# /2015/soll/einnahmen/gruppe/044.html, aufgesucht am 16. Mai 2017, 6:23 Uhr. 2017 belief sich die Summe auf 17,45 Milliarden Euro, https://www.bundeshaushalt-info.de/# /2017/soll/einnahmen/ gruppe/044.html, aufgesucht am 16. Mai 2017, 6:23 Uhr. 185 Einen Literaturüberblick bis ins Jahr 2008 bietet: Busch/Kühn/Steinitz (2009), 166–168. 186 Busch/Kühn/Steinitz (2009), 31–36. 187 Busch/Kühn/Steinitz (2009), 34–36. 188 Busch/Kühn/Steinitz (2009), 34–36. 189 Busch/Kühn/Steinitz (2009), 36.
Pastoraltheologisch forschen – theoretische Grundlegungen
Reißig vom unabhängigen Brandenburg-Berliner Institut für Sozialwissenschaftliche Studien (BISS e. V.) zeichnet Ostdeutschland in einen gesamtdeutschen Umbruch ein, der den gesellschaftlichen Umbruch von 1989 mehr und mehr überlagert. 190 Vier Aspekte dieses neuen Umbruchs streicht Reißig besonders heraus. Erstens ist der Übergang zur Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft zu nennen, der für den Osten „eine besondere Tragweite“ hat, da es hier „keine selbst tragende Wirtschaftsbasis“ gibt. 191 „Zugleich ist der Osten heute ungewollt Vorreiter dynamisch schrumpfender Entwicklungen in ganz Deutschland: Deindustrialisierung, massenhafte Unterbeschäftigung 192, Abwanderung, entleerte Räume.“ 193 Zweitens geht es im Osten vorwiegend um demographische Entwicklungen, die von Abwanderung und Alterung gekennzeichnet sind. 194 Drittens zeichnet sich eine Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhaltes durch Armut ab, die tendenziell öfters im Osten zu erwarten ist. 195 Viertens sind „weiter zunehmende regionale Differenzierungen, wachsende Disparitäten, neue Entwicklungs- und neue Schrumpfungsprozesse in der Bundesrepublik, besonders aber im Osten, zu erwarten.“ 196 Insofern für den Osten „‚fragmentierte wirtschaftliche Entwicklung‘, ‚soziale[. . . ] Exklusion‘ und ‚Schrumpfungsprozesse‘ als charakteristische Merkmale“ gelten, spricht Reißig von einer „Fortdauer einer Ost-West-Differenz“. 197 Gleichzeitig „handelt es sich um strukturelle Wandlungen, die die gesamte Bundesrepublik betreffen und die im Osten oft nur frühzeitiger und zugespitzter zutage treten und manche Spezifika aufweisen.“ 198 Es zeigt sich eine Verschiebung in der Wertung ähnlicher Argumente: Während Busch / Kühn / Steinitz stark für einen ostdeutschen Kontext plädieren und gesamtdeutsche regionale Disparitäten im Blick haben, betont Reißig öfters die gemeinsamen Entwicklungen in Ost und West, die im Osten lediglich etwas „zugespitzter“ und „frühzeitiger“ aufkommen. In den meisten Punkten basieren die Thesen auf den gleichen Argumenten: die wirtschaftliche Abhängigkeit bzw. Uneigenständigkeit des Ostens, die demographischen Entwicklungen und die sich verstärkenden regionalen Disparitäten. 190 Reißig (2007), 24. 191 Reißig (2007), 28. 192 Nach derzeitigem Stand der Entwicklung der Arbeitslosenzahlen zeigt sich keine massenhafte Unterbeschäftigung mehr. Vgl. https://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-undfakten/soziale-situation-in-deutschland/61718/arbeitslose-und-arbeitslosenquote, aufgesucht am 19. Mai 2020, 6:22 Uhr. 193 Reißig (2007), 28. 194 Reißig (2007), 28f. 195 Reißig (2007), 30. 196 Reißig (2007), 39 (im Original teilweise hervorgehoben). 197 Reißig (2007), 23f. 198 Reißig (2007), 27.
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Vergleicht man dies mit den Angaben der (ehemaligen) Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Bundesländer Gleicke, dann ergibt sich eine weitere Verschiebung. Die Gesamtdeutschen regionalen Unterschiede werden in den Vordergrund gestellt und Eigenheiten des Kontextes Ostdeutschland als besondere Herausforderung werden weiterhin genannt: „Wir brauchen [. . . ] eine gesamtdeutsche und gerechte Regionalpolitik, die die besonderen Bedingungen im Osten berücksichtigt.“ 199 Sucht man dann nach den besonderen Bedingungen Ostdeutschlands, fällt auf, dass es positive Entwicklungen gibt: Schaut man auf die Infrastruktur, steht der Osten in mancher Hinsicht besser da als der westliche Teil Deutschlands und auch wirtschaftlich und im Hinblick auf den Arbeitsmarkt gibt es Erfolgsmeldungen zu verzeichnen. 200 Diese erfreulichen Entwicklungen, die für ein Verwischen der ehemaligen uneinheitlichen Lebensverhältnisse stehen, sind die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite steht der demographische Wandel, der besonders in den peripheren Gebieten zu „enormen Herausforderungen“ 201 führt. Dieser differenzierte Blick wird auch durch die Studie zum Ost-West-Vergleich des Berlin-Institutes für Bevölkerung und Entwicklung von 2015 geteilt. 202 Hier wird nach 25 Jahren Einheit festgestellt: Das Ergebnis hat uns selbst überrascht. Denn nach wie vor sind beide Teile Deutschlands erstaunlich verschieden [. . . ]. Ob bei der Bevölkerungsentwicklung, der Wirtschaftskraft, den Vermögen, den Erbschaften oder der Größe der landwirtschaftlichen Betriebe: überall zeichnet sich ziemlich exakt die alte Grenze ab [. . . ]. Doch in anderen Bereichen, bei den Kinderzahlen, der Bildung oder den Umweltbedingungen hat sich die klare Teilung Deutschlands aufgelöst. Sie ist einem Flickenteppich gewichen, der sich über die ganze neue Republik ausbreitet. So weist der einst kaputte Osten heute die größte Dichte an restaurierten Unesco-Kulturerbe-Stätten auf. Boomende Städte wie Leipzig oder Potsdam verfügen über eine Infrastruktur, die der Westen selten zu bieten hat. Umgekehrt finden sich in den neuen Ländern auch leerlaufende Landstriche, in der Altmark, der Prignitz oder Vorpommern, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Im damals wie heute rei-
199 http://www.beauftragte-neue-laender.de/BNL/Redaktion/DE/Kurzmeldungen/Nachrich ten/2017/2017-04-07-gleicke-schluss-mit-der-erbsenzaehlerei.html, zuletzt eingesehen am 18. Mai 2017, um 14:59 Uhr. 200 Vgl.: http://www.beauftragte-neue-laender.de/BNL/Navigation/DE/Themen/Gleichwertige_Lebensverhaeltnisse_schaffen/Infrastruktur/infrastruktur.html und vgl. auch: http:// www.beauftragte-neue-laender.de/BNL/Navigation/DE/Themen/Gleichwertige_Lebensverhaeltnisse_schaffen/Infrastruktur /infrastruktur.html und vgl. auch: http://www.beauftragte-neue-laender.de/BNL/Navigation/DE/Themen/Gleichwertige_Lebensverhaeltnisse_schaffen/Arbeitsmarkt_Ausbildung/arbeitsmarkt_ausbildung.html zuletzt eingesehen am 18. Mai 2017, um 14:59 Uhr. 201 http://www.beauftragte-neue-laender.de/BNL/Navigation/DE/Themen/Gleichwertige_Le bensverhaeltnisse_schaffen/Demografie/demografie.html, zuletzt eingesehen am 18. Mai 2017, um 14:59 Uhr. 202 Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung (2015).
Pastoraltheologisch forschen – theoretische Grundlegungen
cheren Westen ist die Lage ebenfalls gespalten: Bankrotte Kommunen in den alten Industrierevieren und ganze Bundesländer, wie das Saarland oder Bremen, die vor lauter Schulden kaum noch handlungsfähig sind, existieren neben prallen Wirtschaftswunderzonen in Oberbayern und wachsenden Metropolregionen wie Hamburg oder dem RheinMain-Gebiet. Problem- und Erfolgsgebiete gibt es mittlerweile in Ost und West. 203
Dieser Einblick in die Diskussion sozio-ökonomisch-politischer Verhältnisse zeigt, dass der Kontext Ostdeutschland im Wandel ist. Eine simple Abgrenzung zwischen Ost und West ist nach knapp 30 Jahren Deutscher Einheit nicht mehr gegeben, wenn man auf unterschiedliche sozio-ökonomische und politische Verhältnisse schaut. Regionale Disparitäten treten als gesamtdeutsche Problematik in den Vordergrund. Hier scheinen vor allem abgelegene, ländliche Räume mit sozio-ökonomischen Problemen zu kämpfen zu haben, während in Ost und West die großen Städte mehrheitlich boomen. Dennoch bleiben signifikante Unterschiede zwischen Ost und West bestehen und dies gilt insbesondere für den peripheren Bereich – vor allem in demographischer Perspektive. So tritt neben die Wahrnehmung, dass Ostdeutschland insgesamt ein eigener Kontext ist, die Beobachtung, dass ländliche Regionen abseits boomender Städte im Osten vor besonderen Herausforderungen stehen. Ländlich-periphere Räume rücken somit nicht nur ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit und des Forschungsinteresses, sondern bilden gleichzeitig einen Sonderkontext mit großen Herausforderungen für die Gesellschaft. Insofern sich diese Arbeit mit den ländlich-peripheren Regionen in Ostdeutschland beschäftigt, ist diese Kontextabgrenzung aufgrund des sozio-ökonomisch-politischen Diskurses gedeckt. Zu fragen ist nun, inwiefern innerhalb der Praktischen Theologie Ostdeutschland als eigener Kontext diskutiert wird.
1.4.3 Diskussionslage zu Ostdeutschland als eigenständiger Kontext innerhalb der Praktischen Theologie Hermelink gibt zu bedenken, dass die Auswahl möglicher Kontexte kaum Grenzen kennt: bspw. könnte man über Nord-Süd-Unterschiede oder konfessionelle Kontexte wie lutherische oder reformierte Kirchen nachdenken. Hermelink fragt auch, ob „solche Unterschiede das kirchliche Leben nicht viel stärker als die Lage östlich einer ehemaligen Grenze“ 204 prägen. Er führt weiter aus, dass „[n]ach fast 203 Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung (2015), 5. 204 Hermelink (2002a), 100. Wie stark bestimmte Kontexte tatsächlich wirksam sind, ist in den von Hermelink aufgemachten Vergleichen kaum erforscht. Lediglich in der Studie „Pastorin und Pastor im Norden“ (Maagard/Nethöfel (2011)) gibt es einen Hinweis hinsichtlich der theologischen Prägungen unter Pfarrerinnen und Pfarrern. Matthias de Boor stellt in
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zehn Jahren des Arbeitens, z.T. auch des Lebens in Ostdeutschland [ihm] die Rede von einer spezifisch ostdeutschen Situation gleichwohl realistisch“ 205 erscheint. Bei allen Möglichkeiten einen Kontext zu bestimmen, ist die ostdeutsche Situation also eine plausible Variante. Diese Einschätzung ist in der Praktischen Theologie im Grunde unbestritten. Als Beleg kann dafür die Arbeit von Zimmermann aufgerufen werden. 206 Zimmermann greift den Kontext Ostdeutschland in seiner Arbeit zum Gemeindeaufbau gesondert auf und entwickelt von dort aus spezifische Impulse für den Kontext. Neben Hermelink fordert auch Domsgen in kirchentheoretischer Perspektive eine Sonderstellung des Kontextes Ostdeutschland. 207 Im Anschluss an diese drei Praktischen Theologen soll die Eingrenzung auf den Kontext Ostdeutschland in kirchentheoretischer Hinsicht plausibel gemacht werden. Hermelink markiert als Konsens und Ausgangspunkt für die kirchentheoretische Debatte die Erkenntnisse der Religionssoziologie. Die Besonderheit des Kontexts ist vor allem gekennzeichnet durch eine „massive Entkirchlichung, deren Ausmaß in Europa seinesgleichen sucht“ 208. Allerdings bedeutet diese massive Entkirchlichung keine blühende Religiosität außerhalb der Kirchen, denn zu diesem postsozialistischen Kontext gehört eine „weitgehende Identifizierung ‚religiöser‘ und christlich-kirchlicher Einstellungen“ sowie die Erkenntnis, dass sich die Artikulation und Transformation „religiöse[r] Überzeugungen faktisch in den Räumen und Ritualen der Kirche“ vollziehen. 209 Prägend für diesen Kontext ist, mit Domsgen gesprochen, die Verdrängung der christlichen Religion, der Normalitätsanspruch der konfessionslosen Mehrheit und „eine tief verinnerlichte Norm, [. . . ] dass explizierte Religion nicht für die eigene Lebensführung von Bedeutung ist.“ 210 Deswegen plädiert Hermelink für „ein [. . . ] sonst eher marginalisiertes Grundverständnis der Praktischen Theologie“ – nämlich für das „ekklesiale Paradigma“ 211. Diese „Fokussierung auf das kirchliche Handeln“ 212 stellt dann keine „begriffliche und empirische Engführung dar, sondern [das] sachgemäße Funda-
205 206 207 208 209 210 211 212
der Auswertung fest: „Die Größe und Anzahl der signifikanten Abweichungen sind unterschieden nach Kirchen höher als nach Geschlecht und Alter, Land oder Stadt. [. . . ] Die Befragung zeigt, dass die Herkunftskirche und die damit verbundene theologische Prägung anscheinend stärker wirkt als die gemeinsame Partnerschaft oder DDR-Erfahrung“ (de Boor (2011), 94). Hermelink (2002a), 100. Zimmermann (2006). Vgl. Hermelink (2002b), u. Domsgen (2014a). Hermelink (2002b), 471. Hermelink (2002b), 487. Domsgen (2014a), 66. Hermelink (2002b), 487, Herv. getilgt. Hermelink (2002b), 487, Herv. getilgt.
Pastoraltheologisch forschen – theoretische Grundlegungen
ment praktisch-theologischer Reflexion.“ 213 Dieses Votum „für ein regional und religionstheoretisch differenziertes ‚ekklesiales Paradigma‘ der Praktischen Theologie“ 214 steht aus den genannten kontextuellen Gründen neben den praktischtheologischen Reflexionen für den Westen: Die eigentümlichen Verhältnisse in Ostdeutschland erzwingen eine soziologische und praktisch-theologische Reflexion, die mit den westdeutschen Debatten nicht unmittelbar zu verschränken ist. Ich plädiere darum dafür, die empirische wie auch theologische Positionierung der Praktischen Theologie noch differenzierter für diese besondere Region zu bedenken, ohne zu rasch ein einheitliches Modell der Verhältnisbestimmung anzuzielen. 215
Zimmermann, der auch eine eigenständige Betrachtung des ostdeutschen Kontexts vornimmt, reflektiert über die Verhältnisbestimmung dieses Kontexts zu Westdeutschland. Er geht allgemein von einer abnehmenden kulturgestützten Christlichkeit aus. Er fragt, wie der ostdeutsche Kontext zu dieser Entwicklung in Beziehung gesetzt werden kann. Der offensichtliche Hintergrund der Frage ist, ob auch im Westteil Deutschlands ein so drastischer Rückgang der Kirchenmitgliedschaft erwartet werden kann und was getan werden kann, damit eben „der christliche Glaube für den Einzelnen plausibel bleibt und wird“ 216. Ist der ostdeutsche Kontext „Speerspitze oder Sonderfall“ 217? Die Antwort auf diese Frage fällt differenziert aus. Im Ergebnis wird festgehalten, dass 40 Jahre SED-Politik einen deutlichen Unterschied zwischen Ost und West geschaffen haben. Jedoch entfaltete diese Politik in einem sowohl in Ost- als auch Westdeutschland laufenden Erosionsprozess katalytische Wirkung, so dass hier im Grunde von Sonderfall und Speerspitze gleichzeitig gesprochen werden kann. 218 Domsgen prüft die Leistungsfähigkeit des kirchentheoretischen Modells von Hauschildt / Pohl-Patalong für den ostdeutschen Kontext. 219 Domsgen argumentiert nicht nur für eine Regionalisierung der Kirchentheorie, sondern plädiert für einen Neuansatz. 220 Denn der „Kontext bestimmt in entscheidendem Maße über die ‚Plausibilitätsstrukturen‘“ 221. Domsgen begründet diese These, indem er Begrenzungen des Modells von Hauschildt / Pohl-Patalong im ostdeutschen Kontext erläutert. 222 213 214 215 216 217 218 219 220 221 222
Hermelink (2002b), 487. Hermelink (2002b), 469. Hermelink (2002b), 485, Herv. original. Zimmermann 2006, 365. Zimmermann 2006, 385. Zimmermann 2006, 386f. Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong (2013). Domsgen (2014a), 79. Domsgen (2014a), 79. Domsgen (2014a), 63.
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Die Kirche als Institution steckt hier in einem Dilemma: Kirche kann nur als Institution bestimmte Felder besetzen und sich gesellschaftlich in Szene setzen. Davon profitieren Kirchenmitglieder wie Konfessionslose. Allerdings wird dieses Engagement nicht entsprechend der Institutionslogik gewürdigt. 223
Eine Würdigung im Sinne der Institutionslogik wäre eine breite Mitgliedschaft in der Kirche und deren breite Akzeptanz. Jedoch verweist Domsgen darauf, dass in Ostdeutschland die Kirche eine starke Institution aufgrund der staatlichen Unterstützung ist. Die Unterstützung der Kirche durch ihre Mitglieder und vor allem durch die Mehrheit der Konfessionslosen nimmt mehr und mehr ab. 224 Auch die Kirche als Organisation steht vor einer doppelten Herausforderung und steckt damit nach Domsgen gleichzeitig in einem Dilemma: Einerseits muss sie versuchen, den Bedürfnissen ihrer Mitglieder gerecht zu werden. Andererseits jedoch reicht dies bei weitem nicht mehr aus. Vielmehr müssten neue Mitglieder gewonnen werden. Hier aber jedoch ergibt sich ein Dilemma. Die personellen und finanziellen Möglichkeiten, die sich aus der vorhandenen Kirchenmitgliedschaft ergeben, lassen kaum Neuausrichtungen zu, und zwar in beiden Richtungen. So kann den Wünschen und Bedürfnissen der Kirchenmitglieder nur teilweise entsprochen werden. Und: werbendes Handeln unter Konfessionslosen findet jenseits von Postulaten nicht statt. 225
Die Kirche als „Gruppe, Gemeinschaft und Bewegung“, der dritte Teil des Hybridmodells, bekommt nach Domsgen im Osten seine besondere Bedeutung im Bereich der Familie. Familien und Glaubensweitergabe in den Familien bedürfen der vermehrten Unterstützung, da dem kommunikativen Nahumfeld hohe Bedeutung zukommt. 226 Als Schwierigkeit des Hybridmodells erscheint hier wiederum der Aspekt der Institution: Kirche wird mit persönlichem Kontakt assoziiert, mit Gemeinschaft, in der man sich gegenseitig wahrnimmt und auch etwas bewegen kann. [. . . ] Die in den letzten zwei Jahrzehnten forcierte Institutionalisierung von Kirche wird als entfremdend und als Distanz aufbauend erlebt. [. . . ] Die Stärkung der Institution hat Mitarbeiter vor allem in ihrem Amt gestärkt und damit den darin innewohnenden Machtaspekt betont. Aus der Sicht der Mitglieder würden Mitarbeiter aber als Kommunikatoren, als Netzwerker gebraucht. 227
Auch Zimmermann kommt zu dem Ergebnis, dass der kirchentheoretische Aspekt von ‚Gruppe, Gemeinschaft, Bewegung‘ im ostdeutschen Kontext eine besondere Rolle spielt. 223 224 225 226 227
Domsgen (2014a), 69. Domsgen (2014a), 70. Domsgen (2014a), 71. Domsgen (2014a), 74. Domsgen (2014a), 75.
Pastoraltheologisch forschen – theoretische Grundlegungen
[Denn] offensichtlich [ist] eine von Konventionalität gekennzeichnete Plausibilitätsstruktur der Volkskirche, die ihre stärksten Stützen in der religiösen Sozialisation (Religions- und Konfirmandenunterricht) und in den kirchlichen Handlungen bei Lebenswenden (Kasualien) hat, im kulturellen und gesellschaftlichen Gegenwind nur sehr eingeschränkt in der Lage, den christlichen Glauben ebenso wie die Zugehörigkeit zur Kirche auf Dauer plausibel zu machen. 228 Dem christlichen Glauben bleibt als Plausibilitätsstruktur in einer solchen Situation nur die Gemeinde bzw. – sofern vorhanden – die Familie und überschaubare Gruppen. 229
Kirchentheoretisch gesprochen, ergibt sich aufgrund der Beobachtungen von Domsgen und Zimmermann hier eine kontextbedingte Verschiebung weg von Institution und Organisation hin zur Bevorzugung von Gruppe / Bewegung – mit einem Fokus auf Familie. 230 Domsgen und Zimmeramnn sind sich in einem weiteren Aspekt einig: „An der Situation der Kirche in Ostdeutschland lässt sich gut erkennen, dass es nicht mehr ausreicht, Mitgliederpflege zu betreiben.“ 231 Domsgen sucht deswegen nach Kontaktflächen und fordert zwei Dinge ein: einerseits mit Blick auf das Kirchenrecht die Ermöglichung von Mitgliedschaft, die vor-institutionell ist, und andererseits mahnt er, die Kontaktflächen im Bereich des christlich motivierten Handelns zu stärken. 232 Zimmermann hingegen arbeitet mit Begriffen von Zulehner eine „Pastoral des Gewinnens“ aus, die auf Zustimmung unter Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern abzielt und die die „Pastoral der Zuweisung von Christlichkeit“ 233 ablöst. Mit diesen Beobachtungen wird eine missionstheologische Reflexion in der Pastoraltheologie für den ostdeutschen Kontext notwendig gemacht. Insgesamt lässt sich festhalten, dass der Fokus auf den Kontext Ostdeutschland sich auch nach fast 30 Jahren Einheit sehr gut und plausibel begründen lässt. Dies kann man als Konsens unter den drei angeführten Praktischen Theologen ausmachen. Der triftigste Grund für die eigenständige Betrachtung Ostdeutschlands ist die religiöse Situation. Hier werden einhellig kirchentheoretische Sondermodelle eingefordert, die sich von der westdeutschen ‚Norm‘ unterscheiden und einen Fokus auf den kirchentheoretischen Aspekt von Gruppe / Bewegung sowie missionstheologische Reflexionen legen sollten. Grethlein moniert sogar die ausbleibende Beachtung dieses Kontexts in der Praktischen Theologie: Die besondere Situation in den Gebieten der früheren DDR, in denen nur noch ein kleiner Teil der Bevölkerung zur Kirche gehört, wird kaum beachtet. Vielfach setzen praktisch-theologische Entwürfe die alten bundesrepublikanischen Verhältnisse, ja teilweise 228 229 230 231 232 233
Zimmermann (2009), 378. Zimmermann (2009), 382. Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong (2013), 216–219. Domsgen (2014a), 75. Domsgen (2014a), 78. Zimmermann (2009), 446.
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die besonderen Verhältnisse in Süddeutschland mit hoher Kirchenmitgliedschaft und ökonomisch gut ausgestatteten Kirchen voraus. 234
In diesem Sinne ist die Erforschung und Beachtung des Kontexts Ostdeutschland ein Forschungsdesiderat der Praktischen Theologie. Auch die angeführten wirtschafts- und sozialgeographischen Analysen sowie der politische Diskussionsstand zeigt gleichermaßen, dass eine Betrachtung Ostdeutschlands sinnvoll ist. Die Engführung auf ländlich-periphere Räume wurde aus der praktisch-theologischen Forschung begründet. Periphere, ländliche Räume werden besonders in Ostdeutschland als Krisenregionen wahrgenommen. Jedoch scheinen die Umbrüche in diesen Gebieten gerade für das Pfarramt interessant zu sein: Die Zukunft einer veränderten Ausgestaltung von Pfarrberuf und Ehrenamtlichenrolle wird auf dem Land schon angegangen. 235
In diesem Sinne erscheint die Eingrenzung des Kontexts auf die peripheren, ländlichen Räume in Ostdeutschland als ein besonders ertragreiches Forschungsgebiet für die Pastoraltheologie, die nach aktuellen Umbrüchen und Entwicklungsmöglichkeiten des Pfarramts fragt.
1.5 Forschungsstand: Pastoraltheologie für ländlich-periphere Räume in Ostdeutschland Arbeiten zur Pastoraltheologie in ländlichen Räumen Ostdeutschlands gibt es sehr wenige. Wendet man die Kriterien ‚Kontext Ost‘, ‚Kontext Land‘ und ‚Gegenstandsbereich der Pastoraltheologie‘ auf die Forschungsbeiträge aus Pastoraltheologie und Kirchentheorie an, dann wird lediglich ein kleiner – hoffentlich beginnender und wachsender – Diskurs sichtbar. Im Großen und Ganzen geht es hier um Beiträge – meistens in Aufsatzlänge – von drei Personen: Winkler, Alex und Menzel. Im Folgenden sollen die Beiträge mit Hilfe der pastoraltheologischen Raute dargestellt werden, um so Schwerpunkte und Besonderheiten der Forschung zur Pastoraltheologie in ländlichen Räumen Ostdeutschlands herauszustellen. Die Reihenfolge der Darstellung folgt dem Datum der ersten Publikation der Forscher zum Thema. 236
234 Grethlein (2016b), 98. 235 Schlegel et al. (2016), 164. 236 Für weitere Forschungsbeiträge zum Thema ‚Ländlicher Raum‘ und / oder ‚Ostdeutschland‘ vgl. 3., 113ff u. Kap. 4., 141ff.
Pastoraltheologisch forschen – theoretische Grundlegungen
1.5.1 Forschungsbeiträge von Winkler Ein Beitrag Winklers zur Lage der ländlichen Räume in Ostdeutschland wurde 1987 veröffentlicht. 237 Dies macht den Beitrag in mehrerlei Hinsicht besonders. Zum einen handelt es sich hierbei um einen genuinen Beitrag eines ostdeutschen Praktischen Theologen aus der Zeit der DDR – also einer Zeit, die für Umbrüche in der Kirche besondere Bedeutung hatte. Zum anderen kommt hier ein Vertreter der Praktischen Theologie und Pastoraltheologie zu Wort, den man nicht ohne weiteres in die so prägenden Leitlinien der Pastoraltheologie nach Dahm einordnen kann. 238 Winkler ist in dieser Hinsicht ein typischer Vertreter einer ostdeutschen Pastoraltheologie. Im Gegensatz zu den westdeutschen Positionen, die seit Dahm mit der Schlüsselbedeutung des Pfarrberufs ringen und sich – mit Roosen gesprochen – für den Erhalt der Größe und damit für ein starkes Pfarramt als Schlüsselberuf in der Volkskirche entschieden haben, fällt bei ostdeutschen Konzeptionen, wie bspw. im Handbuch Praktische Theologie, auf, dass dem Pfarramt keine exklusive Stellung gegenüber anderen Diensten eingeräumt wird. Die theologische Gleichwertigkeit des Amtes gegenüber anderen Ämtern wird betont. 239 In den einzelnen Verantwortungsbereichen sind die Dienste und Ämter unterschieden, jedoch wird immer wieder die Dienstgemeinschaft und deren Gleichheit betont: „Die Teilhabe am gemeinsamen Dienst in gemeinsamer Verantwortung kennt geistliche Rangstufen nicht, die zu dienstrechtlichen Abwertungen führten.“ 240 Für eine solch starke Betonung der Dienstgemeinschaft und deren (kirchen-)recht-liche Gleichstellung sind unter anderem die kontextuellen Bedingungen verantwortlich zu machen. Eine von der breiten volkskirchlichen Masse getragene Orientierung am Pfarramt – als Schlüsselproblem oder Schlüsselberuf – war im Osten angesichts des Verlustes von öffentlicher Bedeutung und des Rückgangs der Volkskirchlichkeit offensichtlich weniger plausibel. Vor dem Hinter237 Winkler (1987), 161–170. 238 Dies zeigt sich bspw. auch in der Bestimmung derjenigen, für die das Pfarramt hauptsächlich da ist. Dahm richtet das Pfarramt vor allem auf die Mehrheit der Kirchenmitglieder aus im Gegensatz zum Bereich der Kerngemeinde (vgl. Kap. 1.2.2, S. 22ff). Diesbezüglich gibt Winkler aufgrund seiner Erfahrungen im säkularen ostdeutschen Kontext zu bedenken: „Die von Dahm genannten Aufgaben liegen der Kirche natürlich sehr am Herzen, aber die Frage ist, ob die Menschen dafür die Kirche beanspruchen wollen“ (Winkler (1998), 29, Herv. getilgt). 239 Pohl-Patalong (2007), 553. 240 Holtz (1975), 302; vgl. auch im selben Buch den Beitrag von Ammer: „Das allgemeine Priestertum der Gläubigen und die Grundrechte der ‚Gleichheit‘ und ‚Brüderlichkeit‘ aller Christen verpflichten die Kirche und alle ihre Glieder hier zu besonderer Sorgfalt. Im Grunde muß das Dienstrecht aller in der Kirche Tätigen gleichgestaltet sein“ (Ammer (1975), 275).
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grund der Diasporasituation, in der man sich wiederfand, wurde deswegen auch diskutiert, welchen Weg das Pfarramt einschlagen sollte. Krusche gab damals zu bedenken: Die Kirche muss sich überlegen, ob diese Entwicklung zu einem einheitlichen Berufstyp der bestmöglichen Wahrnehmung ihres Auftrags in der Diasporasituation, in die sie hineingeht, entspricht oder ihr entgegen ist. Man könnte einwenden, mit der Rede von einem Einheitstyp werde eine Karikatur gezeichnet; denn die Unterschiedlichkeit der Begabungen, Interessen, Temperamente, Frömmigkeitsprägungen, Lebensstile und Altersstufen wird eine solche Variationsbreite der Gestaltung und Wahrnehmung dieses Berufes gewährleisten [. . . ]. Im Blick auf den [. . . ] Einwand [dass die Rede vom Einheitstyp eine Karikatur sei, BS] wäre zu fragen, ob die durch die dort genannten Faktoren [. . . ] gewährleistete Variabilität ausreichen kann, um den differenzierten Erfordernissen des Auftrags und der Vielfalt der Ansprüche und Erwartungen gerecht werden zu können, ob es hierzu nicht vielmehr besonderer Ausbildungen bedarf. Persönliche Ausprägungen können fachliche Ausbildungen doch heutzutage wohl kaum ersetzen. 241
Ideen und Gedankenanstöße wie diese führten dazu, dass andere Berufe aufgewertet und professionalisiert wurden. Vor allem der Bereich der Gemeindepädagogik war hier im Fokus und ist Ausweis des Bestrebens, eher die Gemeindlichkeit und die unterschiedlichen Gemeinschaften in der Kirche zu stärken. 242 Letztlich gehen Traditionen, wie das sächsische Dreigespann, bestehend aus Pfarrer, Gemeindepädagoge und Kantor als Mitarbeiter im Verkündigungsdienst, auf die ausgeführten Überlegungen der Kirchenleitungen in der DDR zurück. In der Umsetzung der geforderten Gleichheit und der Aufwertung anderer Berufsstände blieben die Kirchen jedoch hinter ihren Überlegungen zurück, wie Winkler in einer Replik kritisch anmerkt. 243 Vor diesem hier skizzierten Hintergrund einer ostdeutschen Linie der Praktischen Theologie werden Winklers Ausführungen zum Thema ländlicher Raum und Pfarramt leicht plausibel. Wie bereits angeführt, äußert sich Winkler schon 1987 zum Thema des ländlichen Raums und verhandelt dort eine amtstheologische Gretchenfrage: Wer darf ordiniert werden bzw. wann ist eine Ordination durch wen sinnvoll? Ausgehend von diesem Beitrag und unter Berücksichtigung weiterer Beiträge Winklers zum Thema Pfarramt sollen nun die Themen der pastoraltheologischen Raute nach den Bestimmungen Winklers dargestellt werden.
241 Krusche (1981), 126–139. 242 „Der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR wollte damit einen gleichermaßen theologisch und pädagogisch qualifizierten Beruf schaffen, der gleichberechtigt neben dem des Pfarramtes steht und auch pastorale Aufgaben in der Ortsgemeinde übernehmen kann, besonders aber die ‚Kirche als Lerngemeinschaft‘ stimuliert“ (Winkler (1997b), 24). 243 Winkler (1997b), 24.
Pastoraltheologisch forschen – theoretische Grundlegungen
Der Kontext wird von Winkler als säkulare Diaspora bestimmt, in der die Kirche als Missionsgemeinschaft gefordert ist. 244 Winkler führt die Wirkungen der Säkularisierung unter anderem anhand der abnehmenden Kirchenmitgliedschaftszahlen aus und fokussiert dann die Situation des Landes. 245 Vor Augen hat er Dorfgemeinden, „zu denen heute 50 bis 100 überwiegend im Rentenalter lebende Gemeindeglieder gehören“ 246. Er moniert, dass die Situation der Dörfer nicht genug beachtet wird und die Kirchenleitungen sich eher mit städtischen Verhältnissen beschäftigen. 247 Recht dicht beschreibt er die ländliche Situation, vorherrschende Entwicklungsdynamiken und die Folgen für die Kirche. Winklers Pointe ist dabei eine pastoraltheologische, da er vor allem die Pfarramtsstruktur für einerseits ungeeignet hält und sie andererseits mitverantwortlich für die Misere der damals gegebenen Situation macht: Es gehört viel Kraft dazu, angesichts des Teufelkreises [sic] nicht zu resignieren, der durch die Krise des pastoralen Betreuungssystems entstand: Schrumpfende Gemeinden und der Pfarrermangel führten dazu, daß immer weniger Pfarrstellen besetzt wurden. Darunter leidet die Qualität der Gemeindearbeit, was zur weiteren Minorisierung der Gemeinden beiträgt. Die Pfarrer, oft die einzigen hauptamtlichen Mitarbeiter, investieren viel Zeit und Kraft in den Kampf gegen den Verfall der Gebäude. Von ihnen wird erwartet, daß sie sich um die Kirchensteuern kümmern, in mehreren Dörfern mit Minigemeinden Gottesdienste feiern, Christenlehre halten, Zeit für Seelsorge haben, Hausbesuche durchführen. Fast alle Initiativen gehen vom Pfarrer aus. Kann er nicht in 8 Dörfern mit insgesamt nur noch 800 Gemeindegliedern all das tun, was er früher in zwei Dörfern mit zusammen 1600 Mitgliedern tat? Eine solche Rechnung ist schon für die Stadt problematisch, auf dem Lande führt sie völlig in die Irre. 248
Im Hinblick auf die ländliche Situation zeichnet Winkler also ein Bild, dass damals durch massive Schrumpfungen, Überalterung und Pfarrermangel gekennzeichnet war. Diese Entwicklungen brachten eine ungeahnte Aufgabenfülle und deswegen auch ein Potential zur Überlastung der Stelleninhaber mit sich. In Abgrenzung zur Stadt führt Winkler aus, dass es sich lediglich um Unterschiede „gradueller Art“ handelt und die Übergänge fließend sind. 249 Er plädiert allerdings für eine Wahrnehmung auch dieser nur graduellen Unterschiede, „weil der quantitative Schwund in eine negative neue Qualität umschlägt, die als destruktiv
244 245 246 247
Vgl. Winkler (1987), 161f u. ausführlicher Winkler (1998), 25–30. Winkler (1998), 29. Winkler (1987), 163. Winkler nimmt hier die ganze Praktische Theologie in die Pflicht und gibt für die Bereiche der Homiletik und Liturgik zu bedenken, was es bedeutet, wenn nur noch einmal im Monat ein Gottesdienst in einem Dorf stattfindet (Winkler (1987), 163). 248 Winkler (1987), 163. 249 Winkler (1987), 164.
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erfahren wird“ 250. Insgesamt überwiegt bei Winkler die Beschreibung der Probleme in der Darstellung des ländlichen Kontexts. Im Hinblick auf die theologischen Grundlagen konzentriert sich Winkler vor allem auf Luthers Verständnis des Predigtamtes. 251 Winkler arbeitet vor allem den Unterschied zwischen Predigtamt (CA V) und Pfarramt heraus. Das Predigtamt ist für Winkler eine grundlegende „Hörordnung“ der Kirche, denn „[o]hne das Hören kann [. . . ] keine Gemeinde leben.“ 252 Das Predigtamt ist somit dem Wort Gottes verpflichtet, aus dem die Kirche und ihre Vitalität hervorgeht. 253 Winkler führt zunächst die Lehre des Priestertums aller Gläubigen aus und hält fest, dass „[j]eder [. . . ] in der Gemeinde sein ‚Amt‘ [hat], das heißt einen für das Ganze wichtigen Auftrag.“ 254 Gleichzeitig sind alle Priester und Bischöfe, das heißt, dass sie ‚eines geistlichen Standes‘ sind. Jedoch müssen deswegen nicht alle das Gleiche tun (bspw. predigen) oder nur ihr Eigenes (bspw. ein Dienst nach der persönlichen Begabung wie Krankenbesuche). Vordringlich ist der Gemeinde aufgegeben, ihre Existenzgrundlage zu ordnen und so die Verantwortung für den Dienst an Wort und Sakrament zu gestalten. 255 In der Öffentlichkeit der Gemeinde wird deswegen eine Person zum Dienst an der ganzen Gemeinde berufen, um zu gewährleisten, dass Gottes Wort zur Sprache kommt. 256 Auf der Basis dieses Amtsverständnisses argumentiert Winkler dann in zwei Richtungen: Zum einen zeigt er auf, dass das Pfarramt nur eine mögliche Ausformung des Predigtamtes ist und nicht durch eine Art göttliche Stiftung gesetzt ist: 257 Gott hat aber nicht das empirische Pfarramt ‚gestiftet‘ oder gar seine beamtenähnliche Gestalt geordnet, sondern den Predigtauftrag erteilt, der nun eben doch der ganzen Gemeinde gilt. Die Gemeinde kann sich diesem Auftrag nicht entziehen, indem sie ihn an einzelne Amtsträger/innen delegiert. 258
Dies zielt darauf, dass das „‚Einmannsystem‘, der kirchliche Amtsmonopolismus, überwunden werden muß, damit die Gemeinde ihren Auftrag in der Welt von heute wahrnehmen kann.“ 259 Zum anderen ist mit diesem erhellenden Zitat gleichzeitig ausgedrückt, dass Winkler in einer klassisch lutherisch orthodo250 251 252 253 254 255 256 257 258 259
Winkler (1987), 164. Vgl. Winkler (1983), 9–21. Winkler (1983), 15. Winkler beruft sich hier auf ein Lutherzitat: „Tota vita et substantia Ecclesia est in verbo Dei“ (Winkler (1983), 15, zitiert nach WA 7, 721,12). Winkler (1983), 13. Winkler (1983), 13. Winkler (1983), 15. Winkler (1983), 16. Winkler (1998), 21. Winkler (1971b), 185.
Pastoraltheologisch forschen – theoretische Grundlegungen
xen Auslegung eines gestifteten Pfarramts eine theologisch illegitime Verkürzung sieht: Für eine Beschreibung des von Christus der ganzen Gemeinde gegebenen Auftrages reicht diese Bestimmung [des Predigtamtes als Verkündigung des Evangeliums und Verwaltung der Sakramente, BS] jedoch nicht aus, da sie nur am herkömmlichen Pfarramt orientiert ist. Christus gab seiner Gemeinde nicht nur den Auftrag, zu predigen, das Herrenmahl zu feiern und zu taufen, sondern auch dem Mitmenschen zu helfen wie der barmherzige Samariter [. . . ]. Es ist deshalb nicht akzeptabel, wenn Heubach erklärt: ‚Der eine, zentrale hauptsächliche Auftrag, der von Gott der Kirche eingestiftete Auftrag, ist der Weideauftrag zur Weidung der Kirche durch das Wort, und der ist das Amt.‘ Hier wird die traditionelle Gemeindestruktur im Sinne binnenkirchlicher Milieuverengung dogmatisiert: Wir können danach notfalls auf alle Dienste verzichten, nur nicht auf das Pfarramt. Mit welchem Recht wird der ‚Weideauftrag‘ zum Zentrum erhoben, der missionarische Auftrag aber als Konstitutivum des Amtes außer Betracht gelassen? 260
Damit wird deutlich, dass das Predigtamt für Winklers Amtsverständnis die Grundlage ist. Dieses Predigtamt schließt einen missionarisch-diakonischen Auftrag der Gemeinde ein und richtet sich gegen eine Pfarramtsstruktur, die als ‚Einmannsystem‘ wahrgenommen wurde. Winkler wäre missverstanden, wenn man ihm unterstellte, er würde für eine generelle Abschaffung des Pfarramtes eintreten. Das ist nicht der Fall. Im Gegenteil, er will das Besondere dieses Amtes herausarbeiten und strebt eine „Neuordnung des geistlichen Dienstes“ an. 261 Aufgrund dieser theologischen Überlegungen zum Predigtamt und der Wahrnehmung der Dörfer zeigt Winkler einen recht eigenständigen Weg in Bezug auf die Handlungsträger auf. Hier wirbt Winkler – konsistent mit seinen theologischen und empirischen Untersuchungen – für eine Pluralisierung. Das Predigtamt ist bei ihm nicht allein den universitär gebildeten und beamtenähnlich angestellten Pfarrerinnen und Pfarrern überlassen. Hinsichtlich der ländlichen Situation stellte er die amtstheologische Gretchenfrage: Nehmen wir das Beispiel der zehn Christen in einem Dorf! Muß der nächste Pfarrer 20 km zu ihnen fahren, um mit ihnen das Abendmahl zu feiern? Warum kann nicht einer der Zehn die Mahlfeier leiten? Weil jeder rite vocatus sein muß, der diesen Dienst tut?
260 Winkler (1971b), 185. 261 Winkler (1971b), 187. Winkler redet auch nicht einer totalen kirchenrechtlichen Gleichbehandlung aller Dienste das Wort. Er denkt hier streng funktional. Dies wird anhand seines Beispiels zur Unterscheidung von Pfarrer und Bischof deutlich: „Theologische Gleichheit darf nicht mit kirchenrechtlicher Gleichstellung verwechselt werden. So ist z. B. der Bischof theologisch dem Pfarrer gleichgestellt, er besitzt diesem gegenüber keine besondere theologische Qualität, aber niemand wird ihn deshalb kirchenrechtlich dem Pfarrer gleichstellen, weil es ihm dadurch unmöglich gemacht würde, seine spezifische Funktion auszuüben“ (Winkler (1971b), 197f). Trotzdem findet man bei ihm Aussagen, die ein allzu starkes Auseinanderfallen der Berufsgruppen in Status und Gehalt kritisieren.
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Teil I: Pfarramt im Kontext der ostdeutschen, ländlichen Räume
Das ist richtig, aber warum kann nicht jemand aus der Gruppe rite berufen werden? Dazu bedarf es der Ausbildung, wird man einwenden, weil sonst nicht gewährleistet ist, daß das heilige Mahl stiftungsgemäß gefeiert wird. Natürlich sage ich nichts gegen eine gediegene Ausbildung, aber es gibt eine Bildung durch geistliches Leben, die auch ohne viel Theorie zum Dienst befähigt. Ob unter den zehn Christen im Dorf N. jemand diese Qualifikation mitbringt? Entscheidet das der 20 km entfernte Pfarrer oder ein noch entfernterer höherer Amtsträger? Oder trauen wir den zehn Christen die Entscheidung zu? 262
Dies öffnet den Vollzug von Verkündigung des Evangeliums und Verwaltung der Sakramente für einen Personenkreis jenseits des Pfarramts und würde zu einer Pluralisierung der Handlungsträger führen. Winkler benennt an anderer Stelle weitere Kriterien, die zu den hier genannten Bildungskriterien hinzukommen. Für eine Ordination, die für ihn allein ‚funktionsbezogen‘ richtig verstanden ist, sind seiner Meinung nach drei Dinge konstitutiv: „erstens der Gemeindebezug, zweitens der Dienst am Wort in der Doppelgestalt von Predigt und Sakrament und drittens die Kontinuität dieses Dienstes.“ 263 Weiter verdeutlicht Winkler seine Position zu diesen Kriterien in einem Nachsatz: „Diese drei Konstitutiva bedingen nicht eine Anstellung als Pfarrer.“ 264 Das heißt insgesamt, dass Winkler ein Vertreter der Ordination von Ehrenamtlichen ist und sich den Pfarrdienst auch im Nebenberuf vorstellen kann. Dies hat Auswirkungen auf die Handlungsfelder der studierten und ordinierten Theologen. Winkler ist um eine Konzentration der Aufgaben von Pfarrern bemüht. Dazu folgt er an unterschiedlichen Stellen verschiedenen kirchenrechtlichen Ordnungen. 265 Pfarrer sind im Wesentlichen für die öffentliche Wortverkündigung, die Feier der Sakramente und die Seelsorge zuständig, wobei ihr Kerngeschäft die Hauptverantwortlichkeit für die Interpretation der biblischen Botschaft sowie der Zurüstung von Mitinterpreten ist. 266 Die Leitung der Gemeinde als Vorsitzender und die Verwaltung gehören nach Winkler nicht zu den Kernaufgaben des Pfarramts und können deswegen von Pfarrern allenfalls optional wahrgenommen werden. 267 Diese Fokussierung bringt eine „notwendige Reduktion der pfarramtlichen Funktionen“ 268 mit sich. Insofern die Aufgaben- und Handlungsfelder durch Entlastung des Pfarramts nicht verschwinden, muss dies durch eine „partnerschaftliche Kooperation kompensiert werden.“ 269 An dieser Stelle wird wiederum ein spezifisch ostdeutsches Verständnis von ‚Dienstgemein262 263 264 265 266 267 268 269
Winkler (1987), 167. Winkler (1983), 18. Winkler (1983), 18. Vgl. Winkler (1971b), 191 u. Winkler (1998), 231. Vgl. Winkler (1971b), 191f u. Winkler (1998), 231. Winkler (1998), 231. Winkler (1971b), 192. Winkler (1971b), 192.
Pastoraltheologisch forschen – theoretische Grundlegungen
schaft‘ deutlich, welches sowohl auf weitere, spezialisierte kirchliche Berufe sowie Mitarbeit der Gemeindeglieder setzt. Interessant ist bei Winkler, dass die Handlungsfelder nicht nur auf bestimmte Aufgaben hin reflektiert werden, sondern auch räumlich überdacht werden. Er spricht in diesem Zusammenhang von der „Raumordnung des geistlichen Dienstes“ 270. Grundlage dieser Raumordnung ist die Gemeinde als offene (Klein-)Gruppe. 271 Diese kleinen Gruppen sollen in größeren ‚Raumschaften‘ zusammenarbeiten. In dieser Zusammenarbeit regieren zwei Prinzipien: zum einen das Prinzip der Nähe, damit „jedem Gemeindeglied optimale Möglichkeiten zu persönlichem Kontakt bleiben“, und zum anderen ist die Zusammenarbeit daran auszurichten, „wie der der ganzen Gemeinde gegebene Auftrag am besten erfüllt werden kann.“ 272 Winkler erhofft sich von den offenen Gruppen eine missionarische Wirkung, da sie Träger des Weide- und Missionsauftrages sind. 273 Winkler überdenkt das Pfarramt in diesen Zusammenhängen jeweils kritisch und entwickelt Kriterien für die Ordination, die er, wie oben ausgeführt, an Gemeinde, Dauer des Dienstes sowie Wort und Sakrament bindet. Kritisch sieht er, dass das Pfarramt zu sehr im ‚Weideauftrag‘ verhaftet ist. 274 So sehr die kritische Seite deutlich wird, so wenig wird eine mögliche positive Entwicklung des Pfarramts deutlich. Wie stellt sich Winkler eine positive Entwicklung des Pfarramts vor? Bleiben Pfarrer für die Gottesdienste und die Zurüstung der Gemeinde verantwortlich, die dann Träger und Agent des Missionsauftrages ist, oder kommt dem Pfarramt auch eine missionarische Komponente zu? Dies ist bei Winkler offen und in diesem Sinne unscharf. Zu bedenken ist, dass diese Beiträge von Winkler nun 30 Jahre und älter sind. Zum größten Teil stammen sie aus einer Zeit, in der die Wiedervereinigung Deutschlands noch nicht absehbar war. Das Pfarramt war eine kirchliche Position, die laut Winkler mit maximal 800 Mark (Währung der DDR) vergütet war. Es ist erstaunlich, dass die pastoraltheologische Forschung nirgends an diese Arbeiten anknüpft bzw. sich damit auseinandersetzt. Die Arbeiten sind trotz späterer Wortmeldungen Winklers wohl in Vergessenheit geraten. Insofern ihnen für die Situation des Ostens eine besondere Bedeutung zukommt, sind sie deswegen hier ausführlich wieder aufgenommen worden. Es ist zu prüfen, inwiefern diese
270 271 272 273
Winkler (1971b), 192. Vgl. Winkler (1971b), 193 u. Winkler (1987), 165–167. Winkler (1971b), 194 u. 195. Winkler knüpft hier an die damalige ökumenische Diskussion der ‚Mission als Strukturprinzip‘ an, die vor allem auf die Ermächtigung von Ehrenamtlichen und Arbeit von Gruppen setzte (vgl. Winkler (1971a), 881–893). 274 Winkler (1971b), 195.
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Beiträge 30 Jahre später in einer anderen – sicherlich nur in Teilen vergleichbaren – Situation wertvolle Impulse setzen können.
1.5.2 Forschungsbeiträge von Alex Alex’ erster Beitrag geht auf das Jahr 2011 zurück, in dem das Thema ‚ländlicher Raum‘ das erste Mal umrissen wird. 275 Hier führt Alex in das Themenfeld Kirche und Land ein und konzentriert sich vor allem auf die Heterogenität der ländlichen Räume sowie die Raumtypen des Bundesinstitutes für Bau-, Stadt- und Raumforschung als zu adaptierende Kategorisierung für die Kirchen. 276 Gemeinsam mit Schlegel werden in den Folgejahren unter anderem die Bedeutung der Raumordnung für die Kirche im ländlichen Raum vertiefend erarbeitet und verschiedentlich zugänglich gemacht. 277 Zu fragen ist, inwiefern die Beiträge von Alex – und mit ihm auch Schlegel – als Beiträge für den ostdeutschen Kontext zu verstehen sind. Hier zeigt sich, dass beide dem neueren Strom der Forschung zu Ostdeutschland zuzurechnen sind, da sie ihre Beiträge auf ländlich-periphere Räume in ganz Deutschland hin anlegen, jedoch den Kontext Ost als zu erforschenden Kern im Sinne eines Spezialthemas vor Augen haben. Dies lässt sich anhand von einigen Beobachtungen verdeutlichen: Zum einen weist Schlegel darauf hin, dass er in seiner Forschung die ländlich-peripheren Räume Ostdeutschlands besonders im Blick hat. 278 Zusammen mit Hauschildt nimmt Schlegel an, dass „[d]ie regionale Identität ‚Ost‘“ als ein „dritte[r] Faktor (neben Lage und Größe)“ geltend gemacht werden kann. 279 Die regionale Identität ‚Ost‘ wird hier wiederum in der Manier der Praktischen Theologie allein mit den besonderen Kirchenmitgliedschaftsverhältnissen näher bestimmt. Alex folgt diesem Ansatz, welcher die strukturellen Umbrüche in ländlichen, peripheren Räumen für ganz Deutschland betrachtet, sich aber schwerpunktmäßig mit den Umbrüchen in Ostdeutschland auseinandersetzt. Dies wird an seinem pastoraltheologischen Beitrag deutlich. 280 Damit liegt der Forschungsbeitrag von Alex als aktueller Beitrag genau auf dem zu untersuchenden Feld und bildet im Sinne des Forschungsstandes einen Ausgangspunkt für diese Studie. Um den Beitrag von Alex präziser zu erfassen, sollen seine Ausführungen wiederum mit Hilfe der pastoraltheologischen Raute geordnet werden. 275 276 277 278 279 280
Alex (2011), 89–107. Alex (2011), 93. Vgl. Schlegel/Alex (2012), Alex/Schlegel (2014a), u. Alex/Schlegel (2014b), 53–61. Schlegel (2012), 36, Anm. 25. Hauschildt/Schlegel (2016), 19, Anm. 9. Alex (2013a), 49–66.
Pastoraltheologisch forschen – theoretische Grundlegungen
Wie bereits angedeutet, nimmt Alex die Kategorien der bundesdeutschen Raumordnung auf, um sein Forschungsgebiet abzustecken. Er untersucht vor allem die Landeskirchen, die einen hohen Anteil an sehr peripheren, ländlichen Räumen haben, (vornehmlich ostdeutsche) und diejenigen mit einem hohen Anteil an peripheren, ländlichen Räumen (ausgewählte westdeutsche Landeskirchen). 281 Als vorherrschende Entwicklung bzw. Herausforderung macht er die „bipolare Transformationsdynamik von Schrumpfung und Ausdehnung“ 282 in diesen Gebieten aus. Das heißt, dass in diesen Gebieten komplexe Veränderungen ablaufen, die aufgrund des Bevölkerungsrückgangs und der Ausdehnung bestehender Organisationen ins Dysfunktionale umzuschlagen drohen. Die Komplexität und Bandbreite wird von Alex überblickartig beschrieben. Im Ergebnis steht: Pfarrerinnen und Pfarrer in diesen Regionen arbeiten in einem insgesamt herausgeforderten und herausfordernden Umfeld. Von einer stabilen Gesamtsituation kann in vielen Regionen nicht (mehr) gesprochen werden. 283
Im Hinblick auf den kirchlichen Kontext sind die Analysen von Alex noch alarmierender als die allgemeingesellschaftlichen: Zum Ersten verlieren die meisten Landeskirchen mit großem Anteil an ländlich-peripheren, vor allem aber ländlich-sehr peripheren Regionen bis zu drei Mal schneller Gemeindeglieder als der gesamtdeutsche Kirchendurchschnitt. Zum Zweiten verlieren diese Kirchen wesentlich schneller Gemeindeglieder, als allgemein Bewohner wegziehen oder sterben. Der allgemeine Bevölkerungsrückgang kann also den großen Rückgang der Gemeindegliederzahlen allein nicht erklären. 284
Exemplarisch untersucht Alex die Zahlen zum Mitgliederschwund in der Evangelischen Kirche Mitteldeutschlands für die Jahre 2002 bis 2010. Nach seinen Berechnungen entfallen 45 % der Schrumpfung auf Sterbeüberhänge gegenüber Taufen sowie weitere 45 % auf den negativen Saldo von Wegzügen (gegenüber Zuzügen) und die restlichen 10 % entfallen auf den negativen Saldo von Kirchenaustritten (gegenüber Aufnahmen). Diese letztgenannten 10 % sind nach Alex der Anteil, auf den die Kirchen Einfluss haben könnten, wenn über wirksame Maßnahmen zur Stabilisation nachgedacht wird. Zum einen wird hier ein geringer Einfluss der Kirchen auf derzeitige demographische Prozesse behauptet und zum anderen muss auch gefragt werden, wie hoch der Einfluss auf die Austrittszahlen ist. Diese Thesen bedürfen der Überprüfung und Vertiefung.
281 282 283 284
Vgl. dazu und zum Folgenden Alex (2013a), 42–66. Alex (2013a), 46. Alex (2013a), 48. Alex (2013a), 50.
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Die theologischen Grundlagen sind im Beitrag von Alex recht kurz gehalten. Es findet keine umfassende theologische Diskussion statt. Alex identifiziert lediglich die Auseinandersetzung mit dem Priestertum aller Gläubigen als möglichen Impuls für innovative Entwicklungen im Landpfarramt. Er spricht vom ‚kritischen Potential‘, das die Lehre des Priestertums aller Gläubigen gegenüber einer Pastorenkirche hat. Der Schwerpunkt der Ausführungen liegt – unter Rückgriff auf Luther – auf dem Predigtamt und dessen Bindung an die Getauften. Den allgemeinen Priestern kommen nach Alex zwei Aufgaben zu: kritische Überprüfung der Predigt und das Weitersagen der guten Botschaft im Lebensumfeld. In der Versammlung gilt allerdings, dass bei einer möglichen Vielfalt von Ämtern und Diensten die ordentliche Berufung wichtig ist. Auf Grundlage dieser Ausführungen schlägt Alex vor: Diese Vorstellung zu konkretisieren könnte zu einer Entlastung der Pfarrerinnen und Pfarrer in ländlich-peripheren Räumen führen. 285
Dieser Gedanke wird bei Alex nicht weiter ausgeführt oder konkretisiert. Es folgt lediglich ein Verweis auf zwei Praxisbeispiele, die er als gute Umsetzung des Gedankens des allgemeinen Priestertums anführt. Zum einen ein Projekt des Kirchenkreises Egeln, in dem eine Gemeindeagende entwickelt wurde, mit der Ehrenamtliche selbstständig Gottesdienst feiern können, und zum anderen die Entwicklungen in der katholischen Diözese in Portiers. 286 Inwiefern die Vorgänge in einer katholischen Diözese als gelungenes Beispiel der Umsetzung des Priestertums aller Gläubigen gelten kann, ist eine spannende Frage, die sicherlich eher die Wertschätzung der Getauften und deren Verantwortungsübernahme im Blick hat als den theologischen Kern dieser Lehre. Insofern Alex sich eine Entlastung der Pfarrer erhofft und die Beispiele sicherlich noch nicht den theologischen Kern des Priestertums aller Gläubigen treffen, ist hier im Gegensatz zu Winkler nicht die prinzipielle Pluralisierung der Handlungsträger das Ziel. Hier ist eher an ein Modell der Ergänzung zum Pfarramt gedacht. Im Blick auf die Handlungsträger arbeitet Alex insgesamt ein spezifisches ländliches Belastungsprofil heraus. Aufgrund der den Pfarrern zugeschriebenen Generalistenrolle und der „gesetzlich geregelten Letztverantwortung der Pfarrpersonen in Bezug auf Gemeindeangelegenheiten“ 287 neige der Beruf strukturell zur Überforderung der Stelleninhaber. Dies gilt besonders für das ländliche Pfarramt, da hier die Mitarbeiterschaft deutlich schneller schwindet als in der Stadt und Pfarrer oft die letzten Hauptamtlichen sind. Dies trägt zu einer für sehr pe285 Alex (2013a), 64. 286 Vgl. auch die Auswertung der Vorgänge in Poitiers: Alex (2013b), 12–14. 287 Alex (2013a), 61.
Pastoraltheologisch forschen – theoretische Grundlegungen
riphere Gebiete typischen Entfunktionalisierung bei und bedeutet, dass eine Berufsgruppe mit spezifischer Aufgabe letztendlich für alles Mögliche zuständig ist. So steigen die Arbeitsanforderungen und Zumutungen für Landpfarrer spezifisch an und die erhöhte Gefahr für Überlastungserscheinungen sei gegeben. 288 Mit Hinblick auf die Handlungsträger sieht Alex vor allem Potential im Bereich der Ehrenamtlichen. 289 In einer Studie zum Engagement von kirchlich gebundenen Ehrenamtlichen in ländlich-peripheren Räumen arbeitet er heraus: Die Situation ehrenamtlichen Engagements in peripheren, ländlichen Räumen ist mit der vorliegenden Studie nicht so pessimistisch einzuschätzen, wie von vielen Kirchenleitungen und Pfarrpersonen angenommen. 290
Bei den Handlungsfeldern der Pfarrerinnen und Pfarrer sieht Alex erhebliche Verschiebungen. Diese Verschiebung wird bildhaft als Wechsel vom ‚Hirten‘ zum ‚Apostel‘ beschrieben, wobei eine theologische Deutung dieser Bilder ausbleibt und lediglich die Mobilität und der geweitete Aufgabenbereich der Pfarrpersonen beschrieben wird. 291 Trotz aller Verschiebung wird davon ausgegangen, dass gerade auf dem Land traditionelle Erwartungen an das Pfarramt bestehen bleiben. 292 Hinzu kommen weniger berufsspezifische Tätigkeiten: Sie werden so z. B. zum Verwalter für Gemeindegrundstücke, ein mit CD-Player ausgerüsteter Kirchenmusiker (weil keine Kantoren vorhanden sind) oder zum Kirchmeister, der vor dem Gottesdienst die Kirche putzt. 293
So geschieht aufgrund dieser Verschiebungen in den Handlungsfeldern nach Alex schon die Umgestaltung der pastoralen Rolle aufgrund der Gegebenheiten vor Ort. Hinzu kommen verwaltende Tätigkeiten, die aufgrund der durch Fusionen gestiegenen Zahl der Liegenschaften, Friedhöfe etc. erhöht ist. Außerdem wird der Pfarrerin und dem Pfarrer „sowohl von Seiten der Kirchenleitung als auch von Seiten der Gemeinde [. . . ] die Rolle des Koordinators und Umsetzers von Strukturveränderungen“ 294 zugeschrieben. Dies ist ein weiteres potentiell belastendes Handlungsfeld. Aufgrund der Entwicklungsdynamiken vor Ort, die vor
288 Alex beruft sich hier auf Beobachtungen aus einem Papier der Evangelischen Kirche Mitteldeutschlands: „Die Strukturveränderungen führen zu einer permanenten Mehrbelastung durch Aufgaben und Erwartungen“ (Freund et al. (2009), 21). Vgl. auch hinsichtlich der Mehrbelastungen im Landpfarramt: Alex/Schlegel (2014a), 34f. 289 Vgl. dazu auch Alex/Schlegel (2014a), 40f, wo die Notwendigkeit für neue Akteure anhand von staatsanalogen Entwicklungen verdeutlicht wird. 290 Alex (2016), 113. 291 Alex/Schlegel (2014a), 34. 292 Alex (2013a), 53. 293 Alex (2013a), 55. 294 Alex (2013a), 55.
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allem durch Sterbeüberhang, Wegzug und Rückbau gekennzeichnet sind, kommt es zu einer weiteren Verschiebung: Für die Pfarrerinnen und Pfarrer bedeutet dies eine Schwerpunktverlagerung ihrer kasualen Arbeit auf Abschiede. Zugespitzt formuliert: Tod und Wegzug werden die bestimmenden Kasus – Taufen, Konfirmationen, Hochzeiten die Ausnahme. 295
Insgesamt hält Alex fest, dass „[d]ie Beachtung des speziellen Kontextes ‚Land‘ in der pastoraltheologischen Forschung [. . . ] erst am Anfang [steht].“ 296 Er fordert „Kirchenleitung, Pfarrerschaft und Gemeinden“ dazu auf, „eine ars bene moriendi einzuüben“ 297, da in den vielen Umbrüchen auch starke Abbrüche zu verzeichnen sein werden. Besonders für den Osten gibt er zu bedenken, dass „viele Menschen [. . . ] nie oder nicht mehr in Berührung [mit dem Evangelium kommen].“ 298 Hier wäre zu fragen, inwiefern das Evangelium auch unter den erschwerten Bedingungen eine „Mut machende, lebensbejahende und kreative Kraft entfalten“ 299 kann.
1.5.3 Forschungsbeiträge von Menzel 2012 ist das Jahr des ersten Beitrags von Menzel, in dem sie pastoraltheologische Forschung in ländlichen Räumen Ostdeutschlands aufgreift. 300 Danach legt sie drei weitere Aufsätze zu diesem Themengebiet vor. 301 2019 erscheint ihre in Marburg angenommene Dissertation mit dem Titel: Kleine Zahlen, weiter Raum. Pfarrberuf in ländlichen Gemeinden Ostdeutschlands. 302 Die pastoraltheologische Pointe von Menzel ist in den Aufsätzen noch nicht so klar wie in der Dissertation. Die Aufsätze erscheinen im Licht der Dissertation als Annäherung an das Thema mit bestimmten interessanten Akzenten – wie bspw. dem Nachdenken über die Situation der Gemeindepädagoginnen und -pädagogen in ländlichen Räumen sowie eine Studie zur Entwicklung der Geschlechterverhältnisse im ostdeutschen Pfarramt. Insofern die Dissertation genau das hier untersuchte Forschungsgebiet behandelt, wird diese auch hauptsächlich als Quelle zum derzeitigen Forschungsstand herangezogen. Erwähnenswert ist die Selbstverortung der Forschung Menzels innerhalb der Pastoraltheologie: Sie legt eine empirische Untersuchung des Pfarramts im länd295 296 297 298 299 300 301 302
Alex (2013a), 52. Alex (2013a), 65. Alex (2013a), 65. Alex (2013a), 65. Alex (2013a), 65. Menzel (2012), 206–221. Menzel (2013), 89–114, Menzel (2014), 167–188, Menzel (2015), 78–112. Menzel, (2019).
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lich-peripheren Ostdeutschland vor und stützt sich dabei auf eine qualitativ-rekonstruktive Methodik. 303 Die Arbeit lässt sich in drei Teile gliedern: Zunächst wurden auf das Thema hinführende Aspekte bearbeitet: Menzel erarbeitete einen historischen Überblick zu den Kirchen in Ostdeutschland während der DDR-Zeit und stellt dann die aktuelle Lage der Kirchen in Ostdeutschland mit Fokus auf die Situation in den ländlich-peripheren Räumen dar. Danach folgt der Schwerpunkt der Arbeit, eine empirische Studie zur ostdeutschen Pfarrerschaft. Dafür hat sie acht Pfarrerinnen und Pfarrer in den Jahren 2011 und 2012 interviewt. Die Basis für die Wahl der Interviewpartner war das Bestreben, möglichst starke Kontraste hinsichtlich der Pfarrerschaft im ländlich-peripheren Ostdeutschland zu erhalten. 304 So bilden die acht Interviewpartner eine große Bandbreite an theoretisch möglichen Merkmalen ab. 305 Ihr Ziel ist dabei die Erarbeitung eines differenzierten Bildes zur Lage im ostdeutschen Pfarramt, welches die beruflichen Rahmenbedingungen sowie die „persönlichen Einstellungen, biografischen Erfahrungen und beruflichen Orientierungen mit erfasst“. 306 Abschließend stellt Menzel die Ergebnisse ihrer empirischen Arbeit in drei Themenkapiteln dar, wobei sich das erste mit den ‚ländlichen Räumen als pastorale Lebens- und Arbeitsorte‘ beschäftigt, das zweite mit ‚Erklärungsmustern, Zielen und Erfolgserleben im Kontext von Konfessionslosigkeit und kirchlicher Schrumpfung angesichts der kleinen Zahlen‘ und das dritte mit ‚Belastungen, Schwerpunktsetzungen und Freiräumen im Kontext von Arbeitsverdichtung und Ausdehnung der Verantwortungsbereiche angesichts des weiten Raums‘. 307 Die Arbeit schließt mit einer Ergebnisbündelung im Schlusskapitel. Die Hauptlinien ihrer Arbeit und die pastoraltheologische Pointe sollen wiederum mit der pastoraltheologischen Raute erarbeitet werden: Hinsichtlich des Kontexts sind die beiden Titelschlagworte ‚kleine Zahlen‘ und ‚weiter Raum‘ leitend. 308 Die ländlichen Räume kommen als Lebensorte der Pfarrerinnen und Pfarrer in den Blick und es wird untersucht, ob Faktoren des Landes wie bspw. „[h]öhere soziale Dichte, weniger hauptamtliche kirchliche Mitarbeiter, die Bedeutung lokaler Traditionen oder eine starke Bindung an das Kirchengebäude im Ort“ 309 wirksam sind. Außerdem wird gefragt, inwiefern die klei-
303 Vgl. Menzel (2019), 21–30 u. 219f. 304 Vgl. Menzel (2019), 228f. 305 Hierbei handelt es sich um inhaltliche und äußerliche Merkmale: Alter, Geschlecht, Ort der Sozialisation, Familienverhältnisse, Anzahl der Kirchen, Nähe zu Städten, Einstellung zu und Sichtweise auf die ländlichen Räume etc. (vgl. Menzel (2019), 219f u. 236). 306 Menzel (2019), 218, Herv. getilgt. 307 Vgl. Menzel (2019), 10f. 308 Menzel (2019), 18. 309 Menzel (2019), 17.
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nen Zahlen andere Zukunftsperspektiven eröffnen und welche Belastungsfaktoren dann auch der weite Raum mit sich bringt. 310 Zu beachten ist, dass Menzels Studie dem eigenen Anspruch nach nicht auf einen Vergleich von Ost-West oder Stadt-Land abzielt. 311 Mit einem Hinweis auf soziologische Forschung wird konstatiert, dass sich Stadt-Land-Differenzen tendenziell eingeebnet haben und die Grenzen durchlässig geworden sind. 312 Das hindert die Autorin allerdings nicht daran, später festzuhalten, dass es übertrieben ist, „generalisiert ein ‚Ende der ostdeutschen Dorfgemeinschaften‘ nach der Wende zu konstatieren“ 313 – und damit doch eine Stadt-Land-Differenz festzuhalten. Grundsätzlich geht Menzel vor allem von der Heterogenität der ländlichen Räume aus, in der sich ihrer Meinung nach einige typische soziale Muster erhalten haben. 314 In der Beschreibung der ländlichen Räume folgt sie vor allem dem Strang der Praktischen Theologie, der sich nach den Kategorisierungen der Raumordnung richtet. 315 Sie beschreibt den von Alex und Schlegel bereits in den praktisch-theologischen Diskurs eingeführten Begriff der ‚Peripherisierung‘ als Herausforderung für ländliche Räume. 316 Insgesamt hält sie fest, dass die Entwicklungen in ländlichen Räumen sehr viel „vielfältiger und widersprüchlicher sind als in den gängigen Defizitbildern“ 317 angenommen wird. Dies ist für Menzel der Kontext, in dem Kirche und Pfarramt eingebettet sind. Diese Ambivalenz muss durchschaut werden, um Sinnvolles für kirchliche Entwicklungen lernen zu können. 318 Menzel summiert: Die Situation der Kirche in ostdeutschen ländlichen Räumen ist ambivalent. Einerseits kommen bisherige kirchliche Strukturen durch die Veränderung im ostdeutschen ländlichen Raum an ihre Grenzen. Andererseits ist auch die noch immer vorhandene breite Anwesenheit von Kirche wahrzunehmen, sei es mit ihren Gebäuden, ihren Mitarbeitenden oder den Menschen vor Ort, die für Kirche einstehen. 319
Als zweite Kolorierung des Kontexts beschreibt Menzel ‚Ostdeutschland‘. Hier bietet sie eine konzise historische Darstellung der kirchlichen Entwicklung der 310 311 312 313 314
315 316 317 318 319
Menzel (2019), 18. Menzel (2019), 19. Menzel (2019), 19. Menzel (2019), 148. Menzel zeichnet insgesamt ein facettenreiches Bild der ländlichen Räume, der Kirche und des Pfarramts in Ostdeutschland (vgl. die Zusammenfassungen: Menzel (2019), 108–110 u. 216). Menzel (2019), 111f. Menzel (2019), 128. Menzel (2019), 151. Menzel (2019), 151f. Menzel (2019), 214.
Pastoraltheologisch forschen – theoretische Grundlegungen
Kirche zu Zeiten der DDR mit besonderem Fokus auf das Pfarramt. Sie beschreibt auch die Umbrüche der Nachwendezeit und leitet daraus die historische Prägung des Pfarrberufs im Osten her. 320 Über diesen historischen Zugang wird die Besonderheit des untersuchten Forschungsgegenstandes gegenüber Westdeutschland deutlich. Menzel arbeitet heraus, inwiefern sich diese historischen Entwicklungen in der Kirchenmitgliedschaft und -mitgliedschaftspraxis niederschlagen. Es ist Konsens, dass die ostdeutsche Gesellschaft hinsichtlich der Religion und Kirchenzugehörigkeit außergewöhnlich ist. Menzel fast in dieser Hinsicht zusammen: Als Gesamttendenz sind jedoch das hohe Ausmaß der Entfremdung von Kirche und Religion und die Normalität der Nichtzugehörigkeit und des Atheismus bzw. der religiösen Indifferenz festzuhalten. 321
Weiterhin hält Menzel drei weitere Aspekte bezüglich der Kirchenmitgliederstruktur fest: Prägend sind die fortgesetzte Schrumpfung sowie die verstärkte Überalterung und eine gewisse Milieuverengung. 322
Die beiden ersten Aspekte liegen – empirisch gut belegt – auf der Hand. Vor allem die Altersstruktur zeitigt bei bleibendem Traditionsabbruch nach Menzel langfristig „gravierende Folgen“ 323. Die von Menzel festgehaltene Milieuverengung wirft Fragen auf. Dies ist zu überprüfen – gerade auch deshalb, weil Menzel der Kirche in Ostdeutschland eine gewisse Volkskirchlichkeit bescheinigt. Der von Menzel favorisierte Begriff ‚Volkskirche‘ impliziert ja eine gewisse Breite der Mitgliedschaft und legt so zunächst alles andere als eine Milieuverengung nahe. Ein Hauptpunkt der Analyse Menzels ist die Mitgliedschaftspraxis der ostdeutschen Kirchenmitglieder. Ähnlich wie in Westdeutschland sind hier viele Statistiken rückläufig – besonders bemerkenswert ist die Bestattungsziffer als Indikator für die eigentlich volkskirchlich stabilste Kasualie, die 2010 nur noch bei 73 % lag. 324 Weitere Besonderheiten sind die höhere Identifikation der ostdeutschen Kirchenmitglieder mit der Kirche sowie das relativ höhere Engagement. 325 Trotz dieser Besonderheiten verweist Menzel mit Nachdruck auf die grundlegende Parallelität von ost- und westdeutschen Beteiligungsmustern, die vorwiegend als „selektiv-distanziert“ 326 zu charakterisieren sind. Deswegen ist die Kirchenmitglied320 321 322 323 324 325 326
Menzel (2019), 31–73. Menzel (2019), 103. Menzel (2019), 81. Menzel (2019), 77. Menzel (2019), 77. Menzel (2019), 81–85. Menzel (2019), 86.
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schaftspraxis der minorisierten Kirchen in Ostdeutschland im Großen und Ganzen der Kirchenmitgliedschaftspraxis der westdeutschen Volkskirchen ähnlich. Dies ist hier Hauptargument in deskriptiver Hinsicht, um auch in Ostdeutschland von einer Volkskirche zu sprechen. Analysiert man dann die theologischen Grundlagen von Menzel, ist zunächst das Fehlen eines eigenständigen theologischen Kapitels in der Dissertation festzustellen. So wird man einerseits der Arbeit eine deskriptiv-analytische Stärke attestieren können, muss aber anderseits fragen, wie mit dem Ausfall einer kritischtheologischen Reflexion umzugehen ist. In solchen Fällen besteht die Gefahr, dass die Deskription normativ aufgeladen wird, wie bei der Ausführung zu den Herausforderungen der Kirchentheorie schon gezeigt werden konnte. 327 Menzel setzt sich aber zumindest mit unterschiedlichen Kirchenbildern auseinander und nimmt in diesem Zusammenhang eine theologische Selbstverortung vor. Ausgehend von der Frage, inwiefern man im Osten noch von einer Volkskirche sprechen kann, legt sie ihr Kirchenbild dar. Sie beantwortet die Frage nach der Volkskirche im Osten auf differenzierte Weise positiv. Dies ist bemerkenswert, da dies den allgemeinen Einschätzungen von bspw. Huber, Ratzmann oder auch Wagner-Rau entgegensteht. 328 Als Argumente für die Volkskirchlichkeit zieht sie die in der Deskription dargestellten Ähnlichkeiten zwischen den ost- und westdeutschen Landeskirchen heran. So sprechen sowohl die Strukturähnlichkeiten der Landeskirchen als auch die analoge ‚volkskirchliche‘ Mitgliedschaftspraxis für die Deklaration der ostdeutschen Landeskirchen als Volkskirche – wenn auch einer stark geschwächten Form. 329 Die dargelegten ostdeutschen Besonderheiten, wie das relativ höhere Engagement der Kirchenmitglieder, werden in dieser Konzeption überspielt. Das ist bemerkenswert. Ratzmann geht davon aus, dass die ostdeutschen Kirchen sich auf einen Weg zwischen Volks- und Beteiligungskirche gemacht haben und dringend ein Konzept für diesen dritten Weg benötigen. 330 Menzel hingegen votiert stark für die Volkskirchlichkeit in einem bestimmten Sinn: Volkskirche in Ost und West ist dann für Menzel nicht die Zugehörigkeit aller zur Volkskirche, sondern – ähnlich wie bei der emeritierten Marburger Praktischen Theologin Wagner-Rau – ein Konzept, welches auf eine offene und plurale Kirche setzt, die mit ihren gegebenen Strukturen wertvolle Beiträge leistet: 331
327 Vgl. Kap. 1.3.3, Exkurs Kirchentheorie, S. 43ff. 328 Vgl. Menzel (2019), 91, Ratzmann (2000), 64 – zitiert und folgt Huber u. Wagner-Rau (2012), 78. 329 Vgl. dazu Menzel (2019), 91–94. 330 Ratzmann (2000), 70. 331 Menzel (2019), 172f.
Pastoraltheologisch forschen – theoretische Grundlegungen
Volkskirche als Konzeptbegriff verweist auch auf das Überschreiten der eigenen Grenzen, auf eine Orientierung am Gemeinwesen vor Ort. Angesichts der Reduzierung der Infrastruktur in peripheren Regionen ist Kirche als Entwicklungsträgerin und ‚Teil der dörflichen Caring Community nicht zu unterschätzen‘. 332
So leitet Menzel aus Aspekten ihrer Deskription eine passende theologische Orientierung her und grenzt diese von einem gängigen Alternativkonzept – der „Bekenntnis- oder Beteiligungskirche“ 333 – ab: Nicht das Vereinschristentum kann der normative Maßstab sein, das Ideal ist vielmehr eine ‚offene Volkskirche‘, die die ‚Individualisierungsprozesse in der Kirche und durch die Kirche hindurch‘ aufnimmt, verstärkt und gestaltet. 334
Diese offene, plurale Volkskirche ist nun auf ein Außen gerichtet, welches dem Kontext nach – wie bereits deutlich gemacht wurde – sehr differenziert beschrieben wird. Die theologische Deutung des Kontexts fällt wiederum sehr knapp aus. Menzel lehnt den historisch naheliegenden Begriff der ‚Diaspora‘ ab. Dieser theologische Leitbegriff wurde während der Zeit der DDR und darüber hinaus intensiv diskutiert. Menzel beruft sich bei ihrer Argumentation auf eine theologische Meinung von 1981. 335 Ihrer Ansicht nach birgt der Begriff der Diaspora „die Gefahr, die heutige Situation in ihrer Komplexität nicht differenziert genug in den Blick zu nehmen, im Rückgriff auf biblische Konzepte theologisch zu verklären und Abgrenzungs- und Rückzugstendenzen zu verstärken.“ 336 Diese sehr knappe Feststellung ohne weiterführende Auseinandersetzung mit dem Diasporabegriff kann kaum überzeugen, zumal der Diasporabegriff gerade erneut europaweit von den Kirchen aufgenommen und zur differenzierten Beschreibung der Situation aufgerufen wird. 337 Interessanterweise wird er dabei sogar mit einer Form von öffentlicher Theologie in Verbindung gebracht, die den eher veralteten Argumenten Menzels diametral entgegensteht. 338 Menzel grenzt ihr Konzept der offenen Volkskirche überdies von missionstheologischen Überlegungen ab. Sie möchte den Missionsbegriff mit Hauschildt nicht als Grundlagenbegriff verwenden und reserviert ihn für das werbende Handeln der Kirche. 339 Weiterhin kritisiert sie etwas undifferenziert an missionstheo332 333 334 335 336 337
Menzel (2019), 173. Menzel (2019), 92 und auch die vertiefenden Ausführungen dazu: Menzel (2019), 172f. Menzel (2019), 92f, Zitat unter Berufung auf Fechtner. Vgl. Menzel (2019), 95. Menzel (2019), 95. Vgl. dazu auch die Rezension von Winkler: „Das Ideal der ‚offenen Volkskirche‘ impliziert ein negatives Verständnis des Diasporabegriffs, dem unterstellt wird, er verstärke Abgrenzungs- und Rückzugstendenzen. Damit werden entsprechende Impulse ostdeutscher Theologen gründlich missverstanden“ (Winkler (2019), 962). 338 Vgl. Körtner (2019), 103–126. 339 Menzel (2019), 105.
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logischen Konzepten, dass diese dazu neigen, aufgrund des Wachstumsgedankens zur Überforderung in Schrumpfungssituationen werden zu können, eher negative Situationswahrnehmungen bestärken, eine defizitäre Wahrnehmung von Nichtchristen beinhalten sowie in ihrer Reichweite überschätzt werden. 340 Sie votiert dann für diejenigen Angebote und Handlungsvollzüge der Kirche, die auch gesellschaftlich positiv aufgenommen werden. Damit stehen „das diakonische und gemeinschaftsstiftende Handeln von Kirche“ 341 im Mittelpunkt. Menzel verweist auf die vielen Angebote der Kirche – von Tauf- und Glaubenskursen, Ausstellungen, Chorarbeit etc., die gerne und gut aufgenommen werden. Ihre Überlegungen zur ‚offenen Volkskirche‘ münden dann – und das ist nach der deutlichen Kritik am Missionsbegriff etwas verwirrend – in das missionstheologische Konzept der Konvivenz von Sundermeier ein. 342 Diese Missionstheologie hält Menzel für inspirierend angesichts des ostdeutschen Kontexts, in dem sich die Kirche wiederfindet. Allerdings wird dieser Inspiration nicht vertiefend nachgegangen. Dies ist zu bedauern, hat doch letztendlich Sundermeier selbst seine Ideen im Hinblick auf die ostdeutsche Situation ins Gespräch gebracht. 343 Hinsichtlich der kirchlichen Handlungsträger hat Menzel einen weiten, inklusiven Blick. Sie nimmt sowohl die Verschiebungen durch den Kontext im Pfarramt als auch anderer Hauptamtlicher (Gemeindepädagogik, Kirchenmusik, Verwaltung, Diakonie, Mitarbeiter an Schulen und Kindertagesstätten) sowie bei den Ehrenamtlichen wahr. 344 Menzel stellt aufgrund der Entwicklungen in ländlichen Räumen Ostdeutschlands fest: „[P]astoraltheologisch besteht Diskussionsbedarf, z.B. über das Verhältnis zwischen Pfarrberuf und anderen hauptamtlich Mitarbeitenden bzw. Ehrenamtlichen.“ 345 In ihren Überlegungen, die auf die empirische Studie hinführen, arbeitet sie heraus, dass eine Konzentration auf das Pfarramt als Schlüsselberuf die Komplexität der kirchlichen Situation unterläuft. 346 Unterschiedliche Berufe eröffnen unterschiedliche Zugänge bzw. Zugänge in unterschiedliche gesellschaftliche Räume und dienen so der Öffentlichkeit der Kirche. Vor diesem Hintergrund verweist sie auf „die bleibende Relevanz der Überlegungen zur ‚Gemeinschaft der Dienste‘ aller kirchlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im Verkündigungsdienst in den DDR-Kirchen“. 347 Auch in Bezug auf das
340 341 342 343 344 345 346 347
Menzel (2019), 105–107. Menzel (2019), 104. Menzel (2019), 108. Sundermeier (1996), 227. Menzel (2019), 191–202. Menzel (2019), 157. Menzel (2019), 194. Menzel (2019), 195.
Pastoraltheologisch forschen – theoretische Grundlegungen
Ehrenamt hält Menzel fest, dass damit ein „Schlüsselthema [. . . ] für die zukünftige Gestalt des Pfarrberufs“ 348 gegeben ist. Menzels Schlussüberlegungen geben diesen Vorarbeiten eine bestimmte Richtung, die mit dem Konzept der offenen Volkskirche harmonieren. Obwohl nun das Ehrenamt wichtig ist und die Begleitung und Förderung der Ehrenamtlichen nach Menzel eine bleibende pastorale Aufgabe darstellt, sieht Menzel das Ehrenamt im Grunde genommen als überbewertet an. Zurecht kritisiert sie, dass es schnell in eine kompensatorische Funktion gerät, wenn das Hauptamt zurückgebaut wird. Weiterhin führt sie aus, dass die Entwicklungen im Ehrenamt hin zu fluideren Formen des Engagements führen und deswegen mehr Zeit und Kraft für die Organisation benötigt wird. So ist das Ehrenamt kaum eine Ressource für Entlastung im Pfarralltag. 349 Insofern im weiteren Verlauf der Schlussüberlegungen prominent Karle und Klessmann aufgerufen werden, um eine starke Handlungsautonomie des Pfarramts zu begründen und für die Zukunft verstärkt zu fordern, ist Menzel als Vertreterin eines starken, volkskirchlichen Versorgungspfarramts anzusehen. Dies muss trotz ihres Verweises auf die Gemeinschaft der Dienste so festgehalten werden, da eine hohe professionelle pfarramtliche Handlungsautonomie nur schwerlich mit einer Gemeinschaft der Dienste zusammenzuführen ist. 350 Zwar erscheint die Residenzpflicht zugunsten alternativer Formen kirchlicher Präsenz als verzichtbar und auch die Reduktion von Verwaltungslasten wird gefordert, aber das Pfarramt bleibt die grundlegende kirchliche Strukturform. 351 Nach Menzel sind Pfarrerinnen und Pfarrer angehalten, ein situationsadäquates Leitbild dialogisch zu entwickeln, um so nach eigenen Möglichkeiten und Begabungen, im Team und in der Region zu arbeiten. 352 Da es dafür keine allgemeinen Vorgaben geben kann und kontextspezifisch agiert werden muss, ist damit konsequenterweise ein starkes, autonomes Pfarramt notwendig. Folglich müssen Pfarrerinnen und Pfarrer im Grunde als Generalisten ausgebildet sein, die dann im Kontext über die hohe Amtsautonomie kontextgemäße Spezialisierungen ausbilden und vor allem öffentlich sichtbar sind. Diese interessanten Überlegungen, die Menzel als Fazit aus ihrer Studie zieht, zeigen ein eher konservatives – eben volkskirchliches – Bild vom Pfarramt, welches im Rahmen des stattfindenden
348 Menzel (2019), 202. 349 Menzel (2019), 489f. 350 Vgl. dazu die Überlegungen von Karle zur Gemeindepädagogik, die dem Pfarramt als ‚Semiprofession‘ zuzuordnen ist. Dieses Gefüge, welches mit der hohen Autonomie des Pfarramts einhergeht, ist nur schwerlich mit dem Gleichheitsgedanken der Gemeinschaft der Dienste vereinbar. 351 Menzel (2019), 493 u. 497. 352 Menzel (2019), 493f.
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Rückbaus auf relevante Ressourcen verwiesen wird und vor allem zur öffentlichen Präsenz von Kirche beitragen soll. Dementsprechend knapp sind die Handlungsfelder zu behandeln. Insofern Menzel für kontextuelle Ausformungen der pfarramtlichen Tätigkeiten votiert, sind die Handlungsfelder plural. Gemäß des vorgeschlagenen Konzepts der offenen Volkskirche ist die öffentliche Präsenz unverzichtbar.
1.5.4 Zusammenfassung Forschungsstand Überblickt man den Forschungstand zum Thema Pastoraltheologie in ländlichperi-pheren Regionen Ostdeutschlands, dann lässt sich ein zusammenfassendes Ergebnis wie folgt formulieren: Die Forschungsarbeiten zum Thema sind noch in der Anfangsphase. Neben den älteren Beiträgen von Winkler haben lediglich Alex und Menzel substantielle Beiträge geleistet. Es ist wünschenswert, dass dieser Diskurs weiter wächst und durch weitere Forschungsarbeit angereichert wird, da Umbrüche genauso rasant wie komplex sind. Diesbezüglich besteht Einigkeit: der ländliche Raum in Ostdeutschland ist derzeit besonders durch Peripherisierungsdynamiken herausgefordert, welche auch die kirchliche Organisation unter Druck bringen. Gegenüber den allgemeinen gesellschaftlichen Dynamiken kommen in Bezug auf die Kirche noch die Abbrüche in der Kirchenmitgliedschaft hinzu, welche den Druck auf die Kirche als Organisation verschärfen. Insofern diese Dynamiken als besonders relevant angesehen werden und auch äußerst komplex sind, sollte dazu weitere Forschung stattfinden. Das Bild vom Landpfarramt in Ostdeutschland ist sicherlich zu negativ besetzt. Hier hat Menzel mit ihrer empirischen Studie einen wichtigen Beitrag geliefert und vor allem auf die Ambivalenzen aufmerksam gemacht. Weitere, vertiefende Analysen sind nötig, um nicht nur Ambivalenzen aufzudecken, sondern auch Entwicklungsdynamiken sichtbar zu machen und Ansatzpunkte für aussichtsreiche Entwicklungen zu eruieren. Auffallend ist weiterhin, dass sowohl bei Alex als auch bei Menzel eine theologische Durchdringung des pastoraltheologischen Themas notwendig ist. Hier ist eine Lücke in der Forschung auszumachen, da es dazu nur anfängliche Überlegungen gibt. Außerdem lohnt sich der Blick auf das pastoraltheologische Arbeiten selbst. Offensichtlich befindet sich der ostdeutsche Kontext in einem so starken Umbruch, dass auch die Grundlagen bzw. die Grundvoraussetzungen des pastoraltheologischen Denkens und Arbeitens ebenso überdacht werden müssen – wie es in dieser Einleitung bereits angebahnt wurde.
2.
Religionssoziologische Beschreibung des ostdeutschen Kontexts
Das folgende Kapitel ist nun dem bisherigen Hauptdifferenzkriterium zur Unterscheidung von Ost- und Westdeutschland in der praktisch-theologischen Forschung gewidmet. Im Folgenden werden Ergebnisse von Studien aus der religionssoziologischen Forschung herangezogen, um den Kontext Ostdeutschland zu beschreiben. Dabei wird auch die wissenschaftliche Interpretation der Ergebnisse erörtert und danach gefragt, welche Bedeutung die Ergebnisse im Hinblick auf die momentane und künftige Entwicklung des Pfarramtes haben. Nach einer kurzen Einführung in die Hauptthesen der religionssoziologischen Forschung wird die Genese der ostdeutschen Situation untersucht. Hier geht es darum die Frage zu klären, ob die massenhafte Konfessionslosigkeit eine weltweite Ausnahme oder die Speerspitze einer künftigen Entwicklung ist. Es wird vor allem nach Faktoren gesucht, die die Situation erhellen und bei der Einschätzung hilfreich sind. Weiterhin wird auf die Entwicklung der Religiosität der Jugend geschaut, um so künftige Trends abschätzen zu können. Das Kapitel endet mit einer Beschreibung des konfessionslosen und des konfessionellen Feldes, welche Aufschluss über die Einstellung zu Kirche, Glauben und religiöser Praxis von Kirchenmitgliedern und Nicht-Kirchenmitgliedern im Osten gibt.
2.1 Religionssoziologische Theorien im Kontext Ostdeutschland In der religionssoziologischen Forschung werden derzeit drei theoretische Modelle eingesetzt, um Erhebungen theoriegeleitet durchzuführen und auszuwerten. 1 Es handelt sich hierbei um die Säkularisierungstheorie, die Individualisierungstheorie und das (religiöse) Marktmodell. 2 1 Vgl. dazu ausführlich Pickel (2011c), 135ff. 2 Für einen kurzen aktuellen Überblick zu den drei religionssziologischen Theorien vgl. Pollack (2016), 7–10.
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Alle drei Theoriemodelle haben normative Grundannahmen: Bei der Säkularisierungsthese wird unter anderem angenommen, dass Modernisierungsprozesse sich negativ auf den gesellschaftlichen Einfluss und die Vitalität von Religion auswirken. 3 Allerdings ist diese Annahme bei Vertretern der neueren Säkularisierungsthese weniger teleologisch als probabilistisch zu verstehen. 4 Damit ist auch gesagt, dass es unter den Bedingungen der Moderne zu Revitalisierung kommen kann. Vertreter der neuen Säkularisierungstheorie distanzieren sich ausdrücklich von einer missverstandenen Theorie, die das komplette Verschwinden von Religion vorhersagt. 5 Die Individualisierungsthese impiliziert den homo religiosus und kann theoriegeleitet nie zu einem Verschwinden der Religion kommen. Allerdings zeichnet sie einen „Prozess der zunehmenden Selbstbestimmung des Individuums bei gleichzeitiger abnehmender Fremdbestimmung durch äußere gesellschaftliche Instanzen und Faktoren“ 6 nach. In der Religionssoziologie wird zudem noch das Marktmodell diskutiert, welches unterschiedliche Merkmale in Annahme und Abgrenzung von Säkularisierungs- und Individualisierungsthese kombiniert und dessen Hauptmerkmal die Entscheidungsfähigkeit der religiösen Individuen ist. Das religiöse Bedürfnis und die Entscheidungsfreiheit des Individuums führen nach diesem theoretischen Modell zum Konkurrenzkampf unter den Anbietern von Religion. Dieser Konkurrenzkampf auf dem religiösen Markt soll zur Qualitätssteigerung und Pluralisierung der Angebote führen und erklärt so die Vitalität von Religion in der Gesellschaft. 7 Alle Theoriemodelle müssen an ihrer Angemessenheit gegenüber dem Kontext geprüft werden. Dies kann man als Konsens des religionssoziologischen Diskurses betrachten. 8 Gleichzeitig kann festgehalten werden, dass sich für den ost-
3 Pickel (2011c), 137–143, 142. 4 Vgl. Pollack (2016), 7. Als Gegenbeispiel zu Pollack, einem Vertreter der neueren Säkularierungstheorie sei Klohr genannt. Als Lehrstuhlinhaber im Fach ‚wissenschaftlicher Atheismus‘ in Jena prognostizierte er 1985 für das Jahr 2000 auf dem Gebiet der DDR einen Anteil von religiösen Menschen von unter 10 %. Seine Annahmen fußten auf einem ideologiegeleiteten Verständnis von Säkularisierung, in dem die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse Religion und deren Funktion der Kontingenzbewältigung konsequent ablöst (vgl. Stengel (2014), 126f). 5 Pollack (2017), 88f. 6 Pickel (2011c), 178–197, 180 u. 195. 7 Pickel (2011c), 198–217, 219. 8 Vgl. die Aussagen von Berger, dass die Empirie zur Religion die Säkularisierungsthese im weltweiten Maßstab nicht stütze (Berger (2015), 8), und die Aussagen von Pollack, dass alle Modelle an der Empirie geprüft werden müssen (Pollack (2016), 10).
Religionssoziologische Beschreibung des ostdeutschen Kontexts
deutschen Kontext die Deskriptionen der Säkularisierungstheorie als besonders aufschlussreich erweisen. 9 Dem Marktmodell, welches hier eher der Vollständigkeit halber aufgeführt ist, kommt in Ostdeutschland die geringste Plausibilität zu. 10 Jagodzinski konnte bezüglich des Marktmodells für Ostdeutschland nachweisen, dass nicht nur das religiöse Angebot, sondern auch die Nachfrage nach Religion fehlt. 11 Demnach lassen sich Teile der normativen Implikationen des Marktmodells nur schwer auf den ostdeutschen Kontext anwenden. Jagodzinski hielt diesbezüglich fest: „Die Annahme einer konstanten Nachfrage nach Religion ist also revisionsbedürftig.“ 12 Damit ist gezeigt, dass das Markmodell für den ostdeutschen Kontext kaum Erklärungskraft entfaltet. Die Voraussetzungen des Modells müssten zunächst überprüft und weiterentwickelt werden. Der Individualisierungsthese wird nach empirischer Prüfung eine eingeschränkte Erklärungskraft für bestimmte Zusammenhänge vor allem in Westdeutschland zugesprochen. 13 Diese Einschätzungen sind auch dann gedeckt, wenn man weltweit von einem Aufblühen der Religion ausgeht, wie es beispielsweise Berger wiederholt in Ablehnung der von ihm einst selbst vertretenen Säkularisierungsthese getan hat. Berger sagte selbst, „dass sich die Säkularisierungstheorie als empirisch unhaltbar erwiesen hat“ 14 und belegte dies mit weltweiten Trends. Diese der Säkularisierungsthese widersprechenden Trends kennen nach Berger jedoch Ausnahmen: „Europa und eine internationale Inteligenzja“. 15 Individualisierungstheorie und Säkularisierungstheorie sind damit die beiden wichtigsten Modelle zur Erhellung der religiösen Lage in Deutschland. Für die Situation in Ostdeutschland ist die Säkularisierungstheorie leitend. 16 Interessanterweise besteht zwischen den beiden Theorieschulen hinsichtlich der Kirchen ein Konsens: ob nun in modernen Gesellschaften der Einfluss von Religion schwindet oder ob die zunehmende Individualisierung zur Lösung der Mitglieder von der Institution führt, läuft zunächst auf das gleiche Ergebnis hinaus – die Volkskirchen verlieren an Bedeutung und Einfluss. 17
9 Vgl. dazu Pickel (2011b), 165–190, der Ostdeutschland in bestimmter Hinsicht als „Paradebeispiel“ bezeichnete, „welches gegen die Individualisierungsthese spricht“ (180). Auch dem Marktmodell sprach er valide Erklärungen der Datenlage für Ostdetuschland ab (vgl. 181). 10 Pollack (2016), 26. 11 Jagodzinski (2000), 66. 12 Jagodzinski (2000), 61. 13 Pollack (2016), 24; vgl. auch Großbölting (2013), 252f. 14 Berger (2015), 8. 15 Berger (2015), 8. 16 Pickel (2011b), 182f. 17 Pickel (2011c), 135f.
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2.2 Ostdeutschland ein Sonderfall? Ostdeutschland ist aus religionssoziologischer Sicht speziell. Gefragt wird, inwieweit das Ergebnis der religiösen Entwicklungen in Ostdeutschland einen Ausnahmefall darstellt oder durch größere Zusammenhänge erklärt werden kann. Beispielsweise fragte Großbölting danach, ob Ostdeutschland ein Sonderfall sei, und stellte als Antwort einen historischen Abriss der Beziehungen zwischen Staat und Kirchen in der DDR dar. 18 Implizit bedeutet das die Bejahung der Frage, insofern dieser historische Prozess in dieser Art und Weise einmalig war und nachhaltig zu einer Schwächung der Kirchen führte. Schaut man auf die kirchlichen Verhältnisse und vergleicht sie mit Westdeutschland, scheint sich die These des ‚Sonderfalls‘ zu bestätigen. Das Ergebnis von 40 Jahren DDR lässt sich anhand der Kirchenmitgliedschaftsverhältnissen (bzw. anhand des Anteils der Nicht-Kirchenmitglieder an der Bevölkerung) in Deutschland verdeutlichen. Für die Veranschaulichung sind Materialien vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) gut geeignet, da man hier die Zensusdaten von 2011 kartographisch darstellen kann. Die hier gewählten Indikatoren (Abb. 3, S. 87) erfassen alle Einwohner Deutschlands, auf die nicht das Merkmal ‚katholisch‘ oder ‚evangelisch‘ zutrifft. Auf den ersten Blick ist die ehemals deutsch-deutsche Grenze nach wie vor sichtbar. Für die Mehrheit der neuen Bundesländer ergibt sich eine Minderheitensituation der Kirchenmitglieder, da im Hinblick auf die Fläche größtenteils 70 % und mehr nicht der Kirche angehören (dunkelrot). Ein großer Teil Thüringens sowie die ost- und westdeutschen Großstädte gehören zu rund 50 % bis 70 % nicht der Kirche an (rot / orange). In den westdeutschen Flächenländern kehrt sich die Minderheitensituation um. Hier sind die sogenannten Konfessionslosen in der Minderheit und die Kirchenmitglieder in der Mehrheit. In Bayern, im Saarland und in Rheinland-Pfalz ist der Anteil an Nicht-Kirchenmitgliedern am geringsten (hellgelb). Somit lässt sich anhand der Kirchenmitgliedschaft für Ostdeutschland eine zweifache Aussage treffen: zum einen lässt sich mit Hilfe des Indikators ‚Kirchenmitgliedschaft‘ der ostdeutsche Kontext als Gegenüber zu Westdeutschland leicht identifizieren und zum anderen zeigt dies eine Minderheitensituation der Kirchenmitglieder in Ostdeutschland. Interessant ist, dass letzteres auch von den Großstädten wie bspw. Hamburg, Bremen und Berlin zu sagen ist, wobei die Kirchenmitgliedschaft dort oberhalb des ostdeutschen Durchschnitts zu verorten waren. Das Besondere an dieser Minderheitensituation ist ihr Ausmaß, welches sich in geringen und geringsten religionssoziologisch relevanten Werten ausdrückt. 18 Großbölting (2013), 230–241.
Religionssoziologische Beschreibung des ostdeutschen Kontexts
Abbildung 3: Bevölkerungsanteil der Nicht-Kirchenmitglieder Quelle: Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR), INKAR-CD 2013. Dargestellt ist auf Basis der Zensusdaten von 2011 der Indikator ‚Einwohner andere / keine Religion‘, wobei sich ‚keine / andere Religion‘ auf eine Abweichung hinsichtlich der Mitgliedschaft in katholischer und evangelischer Kirche bezieht.
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Kann diese Minderheitensituation nun ausschließlich durch die politische Benachteiligung erklärt werden, so dass Ostdeutschland in dieser Hinsicht ein Sonderfall ist? Oder gibt es größere Zusammenhänge, die den Osten zur „Speerspitze“ 19 einer entkirchlichten und religionslosen Gesellschaft machen? In der Forschung bildet sich diesbezüglich ein Konsens ab: Ostdeutschland ist kein Sonderfall. Es gibt europaweit Phänomene, die zur Minderung der religiösen Vitalität in den verschiedenen Ländern beitragen. Ostdeutschland ist dahingehend speziell, dass alle wesentlichen Faktoren zusammentreffen und sich gegenseitig überlagern, so dass hier die Säkularisierung besonders ausgeprägt ist. 20 Nur in diesem Sinne wird von Ostdeutschland als Sonderfall gesprochen. Insofern die diskutierten Faktoren und Hintergründe, die zu dieser besonderen Situation in Ostdeutschland geführt haben, für die Erschließung des Kontexts relevant sind, soll ihnen nun vertieft nachgegangen werden.
2.3 Religionssoziologische Erklärungen zur Genese der ostdeutschen Situation Smith stellte auf der Datengrundlage des International Social Survey Program (ISSP) die Werte für den Glauben an Gott dar. 21 Es zeigte sich, dass Ostdeutschland mit der Ablehnung eines Glaubens an Gott im Ländervergleich das Extremum bildet. 22 In gleicher Weise bescheinigte auch Großbölting Ostdeutschland eine „internationale Spitzenstellung“ 23 hinsichtlich der Säkularisierung. Der Glaube an einen persönlichen Gott ist hier zu 50 % weniger vorhanden als beispielsweise in der Tschechischen Republik, in der die Werte für den Gottesglauben gleichfalls generell niedrig sind. Während in Ostdeutschland 2008 nur 8,2 % an einen persönlichen Gott glaubten, waren es in der Tschechischen Republik immerhin 16,1 %. Global gesehen bildeten die Philippinen das gegenüberliegende Extremum. Dort stimmten der Frage nach einem persönlichen Gott 91,9 % zu. 24 Genauso wie Ostdeutschland die Extremposition für eine Ablehnung des Gottesglaubens einnimmt, so steht es andererseits an der Spitze in der Zustimmung zu atheisierenden Positionen. 25 Im internationalen Vergleich nimmt 19 Zimmermann (2009), 385–388. 20 Vgl. zu diesen sich wiederholenden Ergebnissen: Tomka (2003), 351f; Zimmermann (2009), 387; Pickel (2011b), 165–190, bes. 183–186. 21 Smith (2012), 2. 22 Smith (2012), 7f. 23 Großbölting (2013), 229. 24 Smith (2012), 9. 25 Smith (2012), 11.
Religionssoziologische Beschreibung des ostdeutschen Kontexts
Ostdeutschland aufgrund der Besetzung von Extrempositionen hinsichtlich einer Ablehnung des Gottesglaubens also eine beachtenswerte Sonderposition ein. Tomka hielt fest, dass sich hier ein Spezifikum der ostdeutschen Areligiosität zeige: Es sei vor allem durch den fehlenden Gottesglauben gekennzeichnet. 26 Nicht nur im internationalen Vergleich gibt es große Unterschiede. Auch innerdeutsche Vergleiche zeigen deutliche Unterschiede. In religiöser Hinsicht spricht man in Deutschland von zwei unterschiedlichen Kulturen, die in Ost und West vorherrschen: eine „Kultur der Konfessionslosigkeit“ in Ostdeutschland und eine „Kultur der Konfessionsmitgliedschaft“ in Westdeutschland. 27 Dieser Unterschied ist kaum zu überschätzen. So machte der ostdeutsche Theologe Grabner klar, „dass gerade in kirchlich-religiöser Hinsicht, [. . . ] ein riesiger kultureller Graben zwischen den alten und neuen Bundesländern klafft.“ 28 Der Osten erscheine so im Gegensatz zum Westen als „weitgehend säkularisierte Gesellschaft“ 29, in dem „Kirche und Religion“ 30 an Bedeutung verloren haben. Verdeutlichen lässt sich die Relevanz dieses Unterschiedes für pastorales Handeln beispielsweise mit einem Befund von Sammet. Sie hat im Zuge der Perikopenrevision eine Studie zum Umgang mit der Bibel in Ost (‚Säkularität‘) und West (‚Volkskirche‘) durchgeführt. Während in Westdeutschland religiöse Bildung, Werte und Moral vorausgesetzt werden kann und Bibeltexte häufig bekannt sind, werden alternative Übersetzungen zu Luther verwendet, um eine neue Perspektive auf die Texte zu bekommen. Im Osten dagegen ist jede Begegnung mit den biblischen Texten für die Meisten an sich fremd genug. Hier geht es darum, in der Auseinandersetzung mit den biblischen Texten Werte und Normen zu gewinnen bzw. deutlich zu machen. 31 Wie zeigt man nun, dass dieser kulturelle Unterschied zwar besonders, aber dennoch kein Sonderfall – im Sinne einer unerklärlichen Ausnahme – ist? In der Religionssoziologie wird diesbezüglich gefragt, wie eine Kultur der Religionslosigkeit entstehen konnte. Zur Ergründung dieser Frage werden im religionssoziologischen Diskurs verschieden Faktoren zur Erklärung herangezogen und diskutiert. Tomka bedachte 2003 sechs Faktoren: die geringere Bindekraft des Protestantismus, das Verhältnis von Kirche und Staat samt dessen als Religionsersatz geförderten Marxismus, einen relativen Wohlstand mit geringen sozialen Unterschieden, Migration (mehrheitlich aus Osteuropa) in die DDR sowie Flucht aus der DDR, das Verhalten der Kirchenleitungen gegenüber dem Staat und das Feh-
26 27 28 29 30 31
Tomka (2003), 349. Müller/Pickel/Pollack (2005), 29, Herv. getilgt. Grabner (2009), 300, Herv. BS. Müller/Pickel/Pollack (2005), 61, Herv. original. Müller/Pickel/Pollack (2005), 61, Herv. original. Sammet (2013), 152f.
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len einer Besinnung auf die nationale Identität. 32 Müller, Pickel und Pollack rekurrierten 2005 auf drei Faktoren: das repressive Verhältnis des Staates gegenüber der Kirche, die geringere Bindungskraft des Protestantismus und die relativ erfolgreiche soziökonomische Modernisierung Ostdeutschlands. 33 2011 überprüfte Pickel mögliche Faktoren im europäischen Vergleich und bestätigte die drei Hauptfaktoren: kulturelle und historische Prägung eines Landes (insbesondere die konfessionelle Prägung), politische Rahmenbedingungen sowie Modernisierungseffekte. Er fügte hinzu, dass die gegebenen Pfadabhängigkeiten der einzelnen Länder zu beachten seien, wenn es darum gehe deren Grad an Säkularisierung zu erklären. 34 Schaut man auf den ersten der drei Hauptfaktoren, dem repressiven Verhältnis von Staat und Kirche, so zeigt sich, dass sich die säkulare Zuspitzung im Osten historisch aus der „jahrelangen politischen Unterdrückung von Kirche und Religion“ 35 erklären lässt. Tomka sah in diesem Faktor eine mögliche Schwäche, da auch diskutiert wird, dass Staat und Kirche ein relativ gutes Verhältnis hatten und nicht die „harsche[n] Methoden der Verbreitung der Religionslosigkeit erfolgreich“ 36 waren. Demzufolge sei der Rückgang von Religion und Kirchlichkeit auf die monopolhafte Etablierung des „Marxismus-Leninismus als Ersatzreligion“ 37 bei gleichzeitiger Unterbindung eines Diskurses über Weltanschauung zurückzuführen. Dem ist entgegenzusetzen, dass eine solche monopolhafte Durchsetzung bei gleichzeitiger Unterbindung einer Auseinandersetzung darüber eine deutliche Repression von Religion darstellen. Außerdem wurde der historische Prozess der Repression mittlerweile von Pollack und Rosta aus religionssoziologischer Perspektive nachgezeichnet. Die Autoren konstatierten, dass es sich hierbei um einen „unbestreitbaren Effekt der Verfolgung, Unterdrückung und Ausgrenzung von Christen und Kirche“ 38 handele. Als zweites wird der Grad der Modernisierung eines Landes geltend gemacht, um dessen schwindende religiöse Vitalität zu erklären. Dies gilt als ein „zentraler Kennzeichnungsindikator“ 39 der Säkularisierungstheorie und wird dementsprechend debattiert. Pickel stellte zudem heraus, dass die Fakten aus der Perspektive dieses Indikators erklärungsbedürftig seien, denn der Grad der sozioökonomischen Modernisierung sei in Westeuropa deutlich stärker ausgeprägt als in Osteuropa. Dennoch seien die Werte der religiösen Vitalität in Osteuropa
32 33 34 35 36 37 38 39
Tomka (2003), 360–367. Müller/Pickel/Pollack (2005), 62. Pickel (2011b), 186f. Müller/Pickel/Pollack (2005), 62. Tomka (2003), 362. Tomka (2003), 362. Pollack/Rosta (2015), 274. Pickel (2011b), 170.
Religionssoziologische Beschreibung des ostdeutschen Kontexts
geringer ausgeprägt. 40 Hier entzündete sich eine Debatte zu den theoretischen Modellen und dem Einfluss verschiedener Variablen. Tomka führte aus, dass die Trennung von Kirche und Staat in Amerika unter Modernisierungsbedingungen zu „säkularisierungsresistente[n] und modernitätskonforme[n] Muster[n] religiöser Selbstproduktion“ 41 geführt habe. Modernisierung muss demnach nicht mit einem Niedergang der religiösen Vitalität einhergehen. 42 Die religionssoziologische Debatte kann an dieser Stelle nicht geklärt werden, jedoch wird zur Kenntnis genommen, dass bestimmte Regionen offensichtlich mit manchen Theorien eher harmonieren. So konnte Pickel zeigen, dass der Modernisierungsgrad in Europa hilft, die Besonderheit Ostdeutschlands aufzuklären. Denn: „Egalisiert man (auf statistischem Wege) die Wirkungen der drei generellen Erklärungsstränge [sozialistische Vergangenheit, Modernisierungsgrad und traditionell protestantisch geprägtes Gebiet, BS] dann ist Ostdeutschland keine Besonderheit mehr, was seinen Grad an religiöser Vitalität angeht.“ 43 Insofern dieser Indikator hilft, Varianz aufzuklären, muss er für diese Region als gültig und damit relevant angesehen werden. Beispielhaft könnte man dafür die Entwicklung von Ostdeutschland und der Tschechischen Republik anführen, die im Vergleich zu anderen Staaten in Osteuropa eine relativ starke sozioökonomische Entwicklung erlebt haben und in Bezug auf religiöse Vitalität im internationalen Vergleich auf den unteren Plätzen der Rankings zu finden sind. 44 Als dritte Variable sind die protestantisch geprägten Gebiete zu betrachten. Hier zeigte sich, dass der Protestantismus gegenüber dem Katholizismus eine geringere Bindungskraft auswies. Die geringere Bindungskraft des Protestantismus lässt sich in Deutschland anhand eines Nord-Süd-Gefälles hinsichtlich Kirchenmitgliedschaft und religiösen Einstellungen zeigen. 45 Dies wird in Grundzügen anhand der Abbildung 3 (S. 87) verdeutlicht: Traditionell katholische Gebiete, wie beispielsweise Bayern, wiesen insgesamt nicht nur eine höhere Kirchenmitgliedschaft als eher protestantisch geprägte Gebiete aus, auch die Zustimmung zu Glaubensinhalten in der Bevölkerung war in solchen Gebieten allgemein höher. Die erhöhte Kirchenmitgliedschaftsrate in Thüringen erklärte sich auch aus einer
40 Pickel (2011b), 184. 41 Tomka (2003), 333. 42 Interessant ist an dieser Stelle auch, wie unterschiedlich der Faktor „staatliche Regulierung von Religion“ wirkt: Pickel konnte zeigen, dass ein freundliches Verhältnis des Staates gegenüber der Kirche in Deutschland eine positive Wirkung auf die religiöse Vitalität hat (Pickel (2011b), 184) während Tomka gerade das Sich-Einlassen auf die Trennung von Kirche und Staat für die religiöse Vitalität in Amerika verantwortlich machte – und damit eine zentrale These des religiösen Marktmodells aufnahm (Tomka (2003), 333f). 43 Pickel (2011b), 184. 44 Müller/Pickel/Pollack (2005), 41. 45 Müller/Pickel/Pollack (2005), 39.
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Abbildung 4: Christliche Konfessionen in Europa Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung (BpB): http://www.bpb.de/nachschlagen/ zahlen-und-fakten/europa/70534/christliche-religionen, aufgesucht am 22. August 2018, 10:02 Uhr. – Geänderte und vereinfachte Darstellung.
starken katholischen Präsenz in Westthüringen. Hier fiel das stark katholische Eichsfeld statistisch ins Gewicht. 46 Auf europäischer Ebene ist der unterschiedliche Effekt der Bindungskraft gut belegt. 47 Unter anderem lässt sich das anhand der ‚Zahlen und Fakten‘ der Bundeszentrale für politische Bildung verdeutlichen (vgl. Abb. 4, S. 92). 48 Hier zeigte sich, dass in den katholisch und auch orthodox geprägten Staaten ein hoher Anteil der Bevölkerung der Kirche angehört. Staaten mit protestantischer Prägung fanden sich erst auf den mittleren Plätzen des Diagramms (vgl. Abb. 4, S. 92). Hierbei handelte es sich um die Staatskirchen ohne sozialistische 46 Das kleinere, traditionell katholische Gebiet der Sorben in Sachsen ist ein ähnlicher Sonderfall, der allerdings statistisch weniger ins Gewicht fällt. 47 Vgl. Tomka (2003), 328, Müller/Pickel/Pollack (2005), 53, Pickel (2011b), 184. 48 Vgl. http://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/europa/70534/christliche-reli gionen, aufgesucht am 22. August 2018, 10:02 Uhr.
Religionssoziologische Beschreibung des ostdeutschen Kontexts
Vergangenheit in Skandinavien. Deutschland mit seinem hohen Anteil an Protestanten befand sich auf den unteren Rängen – Estland, ein Land, in dem der Katholizismus kaum eine Rolle spielt, auf dem letzten Platz. Die Daten aus Abbildung 4 (S. 92) gehen auf das Jahr 2001 zurück. Vergleicht man stichprobenartig die Entwicklung der Konfessionszugehörigkeit in katholisch und protestantisch geprägten Ländern bis heute, bestätigt sich der Befund der höheren Bindekraft des Katholizismus. Besonders deutlich wird dies anhand der Entwicklung von Schweden – 2001 immerhin das Land mit der stärksten protestantischen Kirchenzugehörigkeit – und Polen, dem Land mit der stärksten katholischen Konfessionszugehörigkeit und ehemaliger Zugehörigkeit zum Ostblock. Während die katholischen Kirchen in Polen 2001 eine Mitgliedschaftsrate von 90,7 % aufwiesen, lag die Evangelisch Lutherische Kirche Schwedens, die seit 2000 keine Staatskirche mehr ist, bei 86,5 %. 49 2015 lebten in Polen rund 38 Millionen Menschen, davon gehörten ca. 32,7 Millionen zur katholischen Kirche. 50 Das heißt, dass die Kirchenmitgliedschaft im mehrheitlichen katholischen Polen 2015 bei 86,56 % lag und um nur 4,14 % zurückging. Der Rückgang in der Evangelisch Lutherischen Kirche Schwedens war im Vergleich dramatisch. 2015 gehörten nur noch 61,2 % der Bevölkerung der Kirche an. 51 Das war ein Rückgang um 25,3 %. Dieser Vergleich mag die geringere Bindungskraft des Protestantismus verdeutlichen. Da Ostdeutschland ein traditionell protestantisches Gebiet ist, spielt auch die geringere Bindungskraft des Protestantismus für die geringe Religiosität in Ostdeutschland eine Rolle. Die Situation in Ostdeutschland verdankte sich damit drei Faktoren, die überall in Europa zu finden waren oder sind, jedoch nirgendwo anders so starke Ausprägungen erreichten und zusammenwirken konnten: Repression durch die Politik, wirtschaftlicher Aufschwung und Modernisierung, geringe Bindekraft des Protestantismus. Die Bedeutung dieser ungünstigen Rahmenfaktoren stellte Pickel für Ostdeutschland pointiert heraus: Was bedeutet dies [das Vorhandensein dieser Rahmenbedingungen, BS] inhaltlich? Im Prinzip nichts anderes, als dass unter der Kombination dieser drei Bedingungen die Kirche nicht in der Lage war, ihre Gläubigen dauerhaft zu binden. Doch dies ist nicht nur
49 Vgl.: http://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/europa/70534/christliche-reli gionen, zuletzt aufgesucht am 18. Okt. 2017, 14:00 Uhr. 50 Vgl. Einwohnerzahl: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/19312/umfrage/gesamtbevoelkerung-in-polen/, aufgesucht am 2. Mai 2018, 10:47 Uhr. Mitgliederzahl der katholischen Kirche in Polen: vgl. Instytut Statystyki Kosciola Katolickiego (ISKK): http://iskk.pl/ images/stories/Instytut/dokumenty/AnnuariumStatisticum2016.pdf, aufgesucht am 2. Mai 2018, 10:50 Uhr. 51 Vgl. Svensky kyrkans medlemsutveckling ar 1972-2016: https://www.svenskakyrkan.se/ default.aspx?id=1626624, aufgesucht am 2. Mai 2018, 10:57 Uhr.
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ein institutioneller Effekt; er hat auch manifeste Auswirkungen auf die subjektive Religiosität, fällt doch auch diese unter den gegebenen Bedingungen besonders niedrig aus. Es handelt sich also um eine eingangs erzwungene Säkularisierung, welche sich aber über die Zeit hinweg in den Köpfen der Menschen festgesetzt und von diesen von Generation zu Generation weiter tradiert wird. 52
Die Beschreibung der Genese der ostdeutschen Situation bezog sich bis jetzt vor allem auf europaweite Faktoren. Für Ostdeutschland ist jedoch festzuhalten, dass alle drei Hauptfaktoren (politische Repression, gute sozioökonomische Entwicklung, geringe Bindungskraft des Protestantismus), die die besondere Entwicklung bis 1989 erhellen, nicht ausreichen, um die Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten zu erklären. Die politische Repression wich einer eher religions- und kirchenförderlichen Politik. Die sozioökonomische Entwicklung des Ostens hinkte hinter der des Westens her. Mehrheitlich protestantisch geprägte Gebiete gab es ebenso im Westen. Trotzdem „verlief die Entkirchlichung und Säkularisierung in den letzten zwanzig Jahren selbst vor dem Hintergrund des viel niedrigeren Gesamtniveaus zu Beginn der 1990er Jahre allerdings weitaus schneller und umfassender als im Westen.“ 53 Müller, Pollack und Pickel gingen diesem Sachverhalt nach. 54 Zunächst stellten die Forscher heraus, dass die intergenerationalen Abbrüche in der Glaubensvermittlung für den Osten ‚dramatisch‘ sind. Von den zwischen 1925 und 1934 – also vor der DDR-Zeit – Geborenen, gaben im Jahr 2000 60 % der Befragten an, religiös erzogen worden zu sein. In den letzten Kohorten, die zu DDR-Zeiten geboren wurden, ging diese Zahl auf 14 % zurück. Im Vergleich von west- und ostdeutschen Konfessionsangehörigen ist festzustellen: Während die Fähigkeit zur Weitergabe der religiösen Zugehörigkeit von einer Generation auf die andere bei den Konfessionsangehörigen im Westen Deutschlands bei über 80 % liegt, beläuft sie sich bei den Konfessionsangehörigen in Ostdeutschland auf etwa 50 bis 60 %. Genau umgekehrt sieht es bei der Reproduktionsfähigkeit von Konfessionslosigkeit in den beiden Teilen Deutschlands aus: Im Osten bleiben so gut wie alle, die ohne religiöse Erziehung aufgewachsen sind, konfessionslos; im Westen fanden von den nicht konfessionell Erzogenen hingegen 1991 etwa 50 % und 2008 etwa 25 % wieder den Weg zur Kirche. 55
Dieser Traditionsabbruch führte dazu, „dass seit der Wiedervereinigung die Kluft zwischen West und Ost nicht kleiner, sondern größer geworden ist.“ 56 Nun ist zu fragen, wie sich diese Entwicklung plausibilisieren lässt. 52 53 54 55 56
Pickel (2011b), 185f. Müller/Pollack/Pickel (2013), 128. Vgl. dazu und auch die folgenden Zitate: Müller/Pollack/Pickel (2013), 123–148. Müller/Pollack/Pickel (2013), 133. Müller/Pollack/Pickel (2013), 135.
Religionssoziologische Beschreibung des ostdeutschen Kontexts
Müller, Pollack und Pickel zeigten, dass es einerseits Alterseffekte gibt und andererseits der Traditionsabbruch einen Großteil der Varianz aufklärt. Hinzu kommt allerdings noch der Effekt der umgebenden Mehrheitskultur, der die Religiosität der Bevölkerung beeinflusst. 57 Für beide Teile Deutschlands belegten die Forscher, dass „vor allem diejenigen, die sich an den ‚Rändern‘ der jeweiligen Minderheitskultur (und an den ‚Grenzen‘ zwischen den Kulturen) befinden,“ von der jeweiligen Mehrheitskultur „[b]eeinflusst werden“. 58 Das heißt einerseits, dass hochverbundene Kirchenmitglieder von diesem Effekt nicht berührt werden, und andererseits, dass im Westen Religiosität allgemein plausibler ist und deswegen Konfessionslose eher – wenn auch ‚undogmatische‘ – Vorstellung von Religiosität bewahren. Im Osten hingegen übt die konfessionslose Mehrheitskultur Druck auf Religiosität und Kirchenmitgliedschaft aus, weshalb hier die weniger hochverbundenen Kirchenmitglieder sich der konfessionslosen Mehrheit anpassen und dementsprechend weniger religiös sind. 59 Beispielhaft lässt sich dann mit folgender Beobachtung belegen: Insgesamt sind fast zwei Drittel (64 %) der aus der Evangelischen Kirche Ausgetretenen in Ostdeutschland mehr oder weniger dezidiert davon überzeugt, dass es weder einen Gott noch eine höhere Kraft gibt; im Westen beläuft sich diese Gruppe gerade einmal auf 35 %. 60
Die Forscher kamen zu dem Schluss, dass man „mit einiger Berechtigung behaupten [könne], dass West- und Ostdeutschland auch mehr als 20 Jahre nach der Wiedervereinigung zwei getrennte Gesellschaften darstellen.“ 61 Großbölting kam aufgrund seiner Analysen zu einem identischen Ergebnis. Während der Osten „in einer soliden und anscheinend dauerhaften Religionslosigkeit“ 62 verharre, gelte für Westdeutschland: „Das konfessionell geprägte religiöse Feld stützt die traditionellen Formen von Religion.“ 63 Die Frage ist nun, ob sich für Ostdeutschland eine Trendwende ausmachen lässt. Im Allgemeinen prognostiziert die Forschung eine Stabilität im Rückgang: Die erhoffte religiöse Revitalisierung nach 1989 klang nach drei Jahren wieder ab, wobei die Kircheneintrittszahlen die Austrittszahlen nie überstiegen; der Anteil der Konfessionslosen erhöhte sich im Zeitraum von 1990 bis 2008 um 15 %; einen Aufschwung der nicht-kirchlichen Religionsausübung ließ sich nicht verzeichnen 57 58 59 60
Müller/Pollack/Pickel (2013), 137f. Müller/Pollack/Pickel (2013), 138. Müller/Pollack/Pickel (2013), 138f. Pickel sprach an anderer Stelle in diesem Zusammenhang von zwei unterschiedlichen „Austrittskulturen“ (vgl. Pickel (2015b), 76). 61 Müller/Pollack/Pickel (2013), 143. 62 Großbölting (2013), 253f. 63 Großbölting (2013), 253f.
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und auch unter Jugendlichen maßen 2008 6 % der Religion weniger Bedeutung zu als noch 1990. 64 Ob dieser stabile Rückgang weiterhin anhält, soll mit einem Blick auf die religionssoziologische Forschung zur Jugend eingeschätzt werden.
2.4 Religionssoziologische Jugendforschung – Zeichnet sich ein religiöser Aufschwung ab? Nachdem nun historisch die ostdeutsche religionssoziologische Entwicklung dargestellt und sowohl auf vorherrschende Dynamiken in diesem Kontext als auch auf Besonderheiten dieses Kontexts eingegangen wurde, stellt sich nun die Frage nach künftigen Entwicklungen. Hierzu sollen Studien herangezogen werden, die sich auf die Jugend in Ostdeutschland beziehen. Schon Wohlrab-Sahr arbeitete heraus, dass die jüngste Generation ihres Samples nicht mehr von dem Phänomen der ‚forcierten Säkularität‘ erfasst wurde, sondern Rezipienten von tendenziell religionslosen Verhältnissen und Werten wurden. 65 Für diese Jugend kann festgestellt werden, dass Religion für sie wiederum zum Thema werden kann – allerdings eher „in Form neugieriger Spekulation“ 66 denn als „religiöses ‚Erwachen‘“ 67. Eine Bindung zu Kirche entsteht dabei allerdings selten. 68 Für 2001 galt sogar, dass die „Regel ‚je jünger, desto säkularer‘, die im Westen Deutschlands und auch anderswo in Europa trotz mancher Veränderungen nach wie vor gilt,“ 69 sich in ihr Gegenteil verkehrte: Am Ende stand freilich keine ‚religiöse Generation‘, die mit Hilfe der Religion mit dem materialistisch-säkularen Erbe der Eltern abrechnet. [. . . ] Die größere Zustimmung zu transzendenzbezogenen Fragen, die in den Statistiken zum Ausdruck kommt, offenbart sich in unseren Interviews häufiger als experimentelle Denkbewegung denn als wirkliches Bekenntnis zu einem Leben nach dem Tod oder gar – im christlichen Sinne – zur Auferstehung. 70
Domsgen nahm diesen Befund von Wohlrab-Sahr auf und verstärkte ihn mit weiteren Indizien: 71 42 % der nicht-religiös erzogenen Jugendlichen gaben an, dass sie ‚zumindest manchmal beten‘. Als Begründung dafür führten die Jugendlichen
64 65 66 67 68 69 70 71
Pollack/Rosta (2015), 286f. Wohlrab-Sahr (2012), 32 u. Wohlrab-Sahr/Karstein/Schmidt-Lux (2009), 226. Wohlrab-Sahr (2012), 32. Wohlrab-Sahr (2012), 32. Wohlrab-Sahr (2012), 32. Wohlrab-Sahr/Karstein/Schmidt-Lux (2009), 26 u. 225. Wohlrab-Sahr/Karstein/Schmidt-Lux (2009), 27. Domsgen (2014c), 233f.
Religionssoziologische Beschreibung des ostdeutschen Kontexts
an, dass sie zu einer weltweiten Mehrheit dazugehören wollen und sich deshalb an solchen religiösen Praktiken probieren. 72 Als kontextuelle Besonderheit des Ostens konnte Domsgen herausarbeiten, dass man sich im Osten hinsichtlich der Religion einsam fühle. 73 Dies führte aufgrund von medialen Einflüssen zu einem Differenzgefühl: „Die Konfessionslosen, vor allem die jüngeren unter ihnen, fühlen sich in gewisser Weise anders, weil ihrer Meinung nach alle Welt religiös ist.“ 74 Diese Befunde verweisen auf zwei Sachverhalte: Zum einen scheint es hier, eine gelegentliche, private religiöse Praxis unter Jugendlichen gegeben zu haben, deren Inhalt und Ausführung recht wenig von traditionellen christlichen Inhalten und Praktiken geprägt war. Zum anderen zeigte sich, wie groß das Tabu über dem religiösen Thema war. Es ist bemerkenswert, wie schwer es Konfessionslosen und Kirchenmitgliedern fiel, über dieses Thema zu sprechen, und wie die Ablehnung desselben eine durchgängige Grundannahme darstellt. 75 Beide Sachverhalte wurden von Domsgen mit der Individualisierungsthese in Verbindung gebracht, die ja eine von institutionellen Vorgaben gelöste, private Bastelreligiosität nahelegt. 76 Den Befund des Rückgangs eines traditionellen oder klassischen Glaubens unter Jugendlichen belegte auch die letzte Shell-Jugendstudie. 77 Interessanterweise ließ sich jedoch ein Anstieg unter ostdeutschen Jugendlichen hinsichtlich des Items ‚Wichtigkeit des Glaubens an Gott für die Lebensführung‘ zeigen. Im Vergleich zu den konstanten Werten aus den Vorgängerstudien (2002, 2006, 2010) zeigte sich 2015 ein Anstieg um 3 % unter denjenigen, die den Glauben für sehr wichtig hielten. 78 In den drei Vorgängerstudien hatte der Wert jedesmal bei 16 % gelegen. Nun lag er bei 19 %. Gensicke bewertete dieses Ergebnis mit aller Vorsicht: „Ob sich hier auf geringem Niveau wieder eine religiöse Kultur ausbreitet, bleibt abzuwarten.“ 79 Im Hinblick auf Deutschland allgemein hielt Gensicke fest, „dass sich immer mehr Jugendliche nicht zu ihrem Glauben äußern“ 80.
72 Domsgen (2014c), 234. 73 Domsgen (2014c), 235. 74 Domsgen (2014c), 235; Der Kontext der Entstehung der Studie hatte sicherlich einen Einfluss auf diese Ergebnisse, da sie auf Hallenser Weihnachtsmärkten durchgeführt wurde und man eine religiöse Stimmung dieses Familienfestes (Gegenwert zu „Einsamkeit“) sicherlich nicht ohne Weiteres von der Hand weisen kann. 75 Beispielsweise brauchte „Stefan, 32 Jahre, katholisch“ zwei Anläufe, um Weihnachten als religiös zu deklarieren: „Ja, für mich ist das ganz klar, entgegen der Vorstellung, die man hier jetzt vermittelt bekommt, ein religiöses . . . eine religiöse Feier im Ursprung“ (Domsgen (2014c), 235). Während „Hans, 47 Jahre“ ablehnte, „irgendwie religiös zu sein“, um dann doch anzumerken: „Man muss Weihnachten, Silvester nicht unbedingt religiös eingestellt sein, um das Fest zu schätzen“ (Domsgen (2014c), 235). 76 Domsgen (2014c), 237. 77 Gensicke (2015), 252. 78 Gensicke (2015), 250. 79 Gensicke (2015), 252. 80 Gensicke (2015), 256.
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Die Auswertung der Daten des Religionsmonitors von 2013 wiesen in eine ähnliche Richtung: „In Bezug auf die neuen Bundesländer lassen die Daten des Religionsmonitors vermuten, dass es bezüglich des Glaubens in den letzten fünf Jahren einen Aufschwung gegeben hat.“ 81 Analog zur Shell-Jugenstudie zeigte sich auch im Religionsmonitor, dass der Religion im Alltag in Ost und West eine geringe Bedeutung zukam. 82 Allerdings zeigte sich für die ostdeutschen Jugendlichen hinsichtlich der Spiritualität ein kleiner Effekt: [I]m Osten scheint sich dagegen die landläufige Annahme zu bestätigen, dass es eher die jüngeren und mittleren Altersgruppen sind, die sich der ‚alternativen‘ Spiritualität zuwenden. Angesichts der insgesamt geringen Zustimmung und der Tatsache, dass die Begeisterung dafür unter der jüngsten Altersgruppe der 16- bis 30-Jährigen im Osten (25 %) sogar schon wieder etwas geringer ausfällt als bei den 31- bis 60-Jährigen (27 %), ist jedoch auch hier abzuwarten, ob sie eine ‚neue‘ Spiritualität als zukünftiger Trend durchsetzen wird. 83
Spricht das nun für die zunehmende Säkularität der Jugendlichen oder für eine zunehmende Religiosität? Gärtner hielt diesbezüglich fest: „Der empirische Befund, dass die kirchlich gebundene Religiosität und Praxis seit den 1960er Jahren kontinuierlich sinkt, ist als solcher unstrittig“ 84. In diesem Sinne lässt sich von einer zunehmenden Säkularisierung bzw. zumindest von Entkirchlichung sprechen. Gärtner zeigte jedoch auch: „Forscher, die stärker die Pluralisierung des religiösen Feldes und die Besonderheit der Jugendphase in den Blick nehmen, heben dagegen die Vielfalt jugendlicher Religiosität und das neue Interesse an Spiritualität hervor“ 85. Hier liegen die religionssoziologischen Schulen im Streit miteinander. Folgt man denjenigen, die eher der Individualisierungsthese nahe stehen, zeigt sich eine religionsproduktive Generation. 86 Folgt man denjenigen, die der Säkularisierungsthese nahestehen, zeigt sich eher der Rückgang des Religiösen. 87 Vertreter, die eher der Individualisierungsthese nahe stehen, argumentieren, dass ein substantieller Religionsbegriff in Kombination mit quantitativen Befragungen wesentliche Elemente des Religiösen nicht erfassen könne und außerdem oft stark kirchlich genormt sei. 88 Das ist ein starkes Argument für die Lesart der Individualisierungsthese. Studien, die auf diese Theorie bauen, besitzen eine Stärke in der Deskription von Jugendreligion. Allerdings wandte Pollack mit 81 82 83 84 85 86 87 88
Pollack/Müller (2013), 11. Pollack/Müller (2013), 11. Pollack/Müller (2013), 15. Gärtner (2013), 212. Gärtner (2013), 212. Vgl. Feige/Gennerich (2008), Gärtner (2013), Ziebertz/Kalbheim/Riegel (2006). Vgl. Pickel (2010), Gladkich (2011), Kläden (2013), Müller/Pollack/Pickel (2013). Vgl. Feige/Gennerich (2008) 19, Gärtner (2013), 216f
Religionssoziologische Beschreibung des ostdeutschen Kontexts
Recht ein, dass diese Konzeptionen eine Schwäche haben, da ihr Religionsbegriff unscharf bzw. überdehnt sei. 89 Zudem fällt auf, dass die Studien zur Jugendreligion mehrheitlich in Westdeutschland durchgeführt wurden und somit eher im Zusammenhang einer ‚Kultur der Konfessionszughörigkeit‘ zu verorten sind. Feige und Gennerich hatten zwar eine Stichprobe von ‚deutlich über 8.000 Befragten‘, merkten jedoch an, dass „[d]as Gebiet der neuen Bundesländer [. . . ] fast nicht vertreten [ist] (allerdings Sachsen mit n = 367), was an der weitgehenden Nicht-Präsenz des Religionsunterrichts (RU) an den Berufsbildenden Schulen (BBS) in diesen Regionen liegt.“ 90 Bedenkt man die Bedeutung der Schulen für die Vermittlung von Religion und auch an das religionslose familiäre Umfeld im Osten, dann macht dieser Befund hinsichtlich einer religionsproduktiven Generation in Ostdeutschland skeptisch. 91 Gerade konnten Szagun und Pfister anhand ihrer Studien mit Kindern zeigen, wie sehr die Religionsproduktivität von einem religiösen Umfeld abhängig ist: Generell scheinen Erfolg und theologischer Gehalt kindertheologischer Gespräche von einem religiös sozialisierten Umfeld abhängig zu sein. Kindertheologische Gespräche in nicht religiös sozialisierten Kontexten verlaufen oftmals wenig ergiebig. 92
Bedenkt man nun, dass auch Ziebertz, Kalbheim und Riegel sich weitgehend auf Jugendliche aus einem konfessionell geprägten Umfeld (Süddeutschland) bezogen und Gärtner ein einziges ostdeutsches Beispiel benannte, bei dem eine hohe familiär bedingte religiöse Sozialisation vorlag (beide Eltern hauptamtlich in der Kirche arbeitend), dann kommt die Frage auf, inwiefern das Gros der ostdeutschen Jugendlichen, die sich nach dem bekannten Diktum als weder evangelisch noch katholisch, sondern als ‚normal‘ beschreiben, erfasst sind. 93 Dieser Durchgang durch die Datengrundlagen der bekannteren Studien lässt Skepsis hinsichtlich der quantitativen Einschätzung des Phänomens einer individuellen Religion auf der Basis Individualisierungstheorie aufkommen. Gladkich verglich die ostdeuschen und westdeutschen Jugendlichen miteinander. 94 Sie bestätigte, dass sich Jugendliche in Ost und West gleichermaßen mit Fragen nach Transzendenz und Lebenssinn beschäftigten: „Nach den bisherigen Ergebnissen, die doch deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen und auch zwischen Ost und West zeigen, ist es erstaunlich, dass sich alle Grup-
89 Pollack (2016), 8. 90 Feige/Gennerich (2008), 23. 91 Vgl. bezüglich der Bedeutung von Schule: Gärtner (2013), 281 und familiärer Sozialisation: Szagun/Pfister (2017), 18. 92 Szagun/Pfister (2017), 18. 93 Ziebertz/Kalbheim/Riegel (2006), 205 u. Gärtner (2013), 221–223. 94 Gladkich (2011), 217–235.
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pen im gleich (moderaten) Maße Gedanken um den Sinn des Lebens machen.“ 95 Fragte man dann jedoch die Glaubensvorstellungen ab, ergaben sich wiederum erhebliche Unterschiede: Ein sehr hoher Anteil religiös geprägter Jugendlicher glaubte an einen personalen Gott im Unterschied zu Jugendlichen aus moderat religiösen Verhältnissen. 96 Hier zeigten sich unter den moderat religiös geprägten Jugendlichen diffuse Gottesbilder „oder gar ernsthafte Zweifel.“ 97 Summarisch ist festzuhalten: Im Ost-Welt-Vergleich fällt auch hier wieder eine wesentlich stärkere Ablehnung unter den ostdeutschen, nicht religiös geprägten Jugendlichen auf. Drei von vier unter ihnen geben an, an keine Gottesvorstellung zu glauben. [. . . ] Während ein nicht religiöser familiärer Hintergrund in Westdeutschland also eher zu Zweifeln oder einem diffusen Gottesbild führt, kommt es im Osten eher zu einer totalen Ablehnung. Dies bestätigt die schon geäußerte Vermutung, dass die Abkehr von Religiosität und Kirchlichkeit in Ostdeutschland ein ganz eigenes – und permanentes – Phänomen darstellt. 98
Eine Wiederkehr der Religion konnte Gladkich nicht feststellen. 99 Zu beobachtende Aufschwünge hinsichtlich der Religiosität von Jugendlichen erläuterte Gladkich als Lebenszykluseffekte: Denn betrachte man die intergenerationellen Unterschiede im Zeitverlauf, so zeigt sich, dass Jugendliche zwar oft ein etwas höheres Niveau religiöser Vitalität aufweisen, allerdings sinkt dieses während der Adoleszenz und Postadoleszenz. Erst in der vierten Lebensdekade scheint das Verhältnis zu Religion weitgehend gefestigt – zumeist auf einem niedrigeren Niveau als bei der vorhergehenden Generation. 100
Für die Jugendphase als Experimentierphase gilt dann, dass sie keine Trendwenden anzeigt, sondern das Jugendliche religiöse Spekulationen testweise ausprobieren, die dann jedoch selten zu dauerhaften Überzeugungen oder religiöser Lebenspraxis führen. 101 95 96 97 98 99 100 101
Gladkich (2011), 230. Gladkich (2011), 231. Gladkich (2011), 231. Gladkich (2011), 231. Gladkich (2011), 233. Gladkich (2011), 233. Vgl. Pickel, der die Jugendphase als religiöse Experimentierphase charakterisierte, die nicht zu stabilen religiösen Haltungen führt: „Rather, frequently, they are intermediate religious stages in a temporary experimental phase. Unlike researchers who assume that these patterns can be used to predict future developments, I believe that they do not necessarily lead to stable religious convictions. [. . . ] Concerning the future of East Germany, we assume that it will be a non-religious area without Christian traditions. Single instances of a return to Christian traditions are far outweighed by additional processes of a discontinuation of traditions from generation to generation. So far, other kinds of beliefs have also failed to fill this gap“ (Pickel (2010), 282 u. 284, Herv. original).
Religionssoziologische Beschreibung des ostdeutschen Kontexts
Gilt für den Ostteil Deutschlands nun, dass es hier nur „Säkularisierung [. . . ] und kein Ende“ 102 gibt? Obwohl Pickel diese Aussage für Gesamtdeutschland traf und davon ausging, dass sich die westdeutschen Verhältnisse eher an die ostdeutschen anpassen werden, scheint sich in Ostdeutschland eine Nivellierung des religiösen Abwärtstrends abzuzeichnen. Als Anzeichen dafür können die Ergebnisse aus der jüngsten Shell-Jugenstudie und des Religionsmonitors gewertet werden, wenn hier auch noch nicht sicher ist, welche weitere Entwicklung dieser Anstieg im Gottesglauben nehmen wird und wie er zu bewerten ist. Weiterhin spekulierte Pickel, dass sich in Ostdeutschland so etwas wie ein „untere[r] Schwellenwert der Säkularisierung“ 103 etabliert. Anhand der Entwicklungen in der Kirchenmitgliedschaft zeigte Pickel, dass sich in Ostdeutschland ein ‚Kondensierungseffekt‘ unter den Kirchenmitgliedern einstellt. Der Anteil der Hochverbundenen ist gestiegen und dies liegt sehr wahrscheinlich daran, dass „[d]ie heutigen ostdeutschen Mitglieder [. . . ] schon im Jugendalter eine dichtere Sozialisationseinbettung [besitzen], also in Sozialmilieus und Sozialgruppen, wo sie leben, hat das ‚Christsein‘ oder ‚Evangelischsein‘ eine größere Bedeutung.“ 104 Damit ist die Zunahme der höher Verbundenen nicht als Revitalisierung zu werten, sondern darauf zurückzuführen, dass im Osten die Kirchen „bereits stärker auf eine ‚Stammbelegschaft‘ abgeschmolzen“ 105 sind. Damit geht aber einher, dass auch die Wichtigkeit der ‚Weitergabe religiöser Sozialisation‘ über alle Kohorten hinweg in Ostdeutschland ein stabil höheres Niveau einnimmt. 106 Auf die Aussage hin: ‚Ich denke, dass es wichtig ist, dass Kinder eine religiöse Erziehung bekommen.‘ antworteten in Ostdeutschland über alle Alterskohorten hinweg nahezu 60 % auf einer 4-Punkte-Skala im oberen Bereich von ‚stark und eher zustimmend‘. Dies markierte einen deutlichen Unterschied zu Westdeutschland, in dem sich ein Kohortteneffekt zeigte, der die abnehmende Religiosität wahrscheinlich machte und „eine zentrale Argumentationslinie der Säkularisierungstheorie“ 107 darstellte. Ingesamt zeigte sich ein gebremster Abwärtstrend, denn 60 % sahen die Glaubensweitergabe an die nächste Generation zwar als wichtig an, das heißt jedoch auch im Umkehrschluss, dass rund 40 % der Kirchenmitglieder dem weniger Bedeutung zumaßen. Somit zeichnete sich keine vollständige Stabilisierung der Kirchenmitgliedschaftszahlen ab, zumal die Betonung der Wichtigkeit einer religiösen Erziehung auch noch keine vollzogene oder gelungene generationale Weitergabe der religiösen Praxis beschreibt. 102 103 104 105 106 107
Pickel (2013), 95. Pickel (2013), 95. Pickel (2016), 84. Pickel (2016), 85. Pickel (2016), 95. Pickel (2016), 85 u. 95.
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2.5 Das konfessionslose Feld – Indifferenz als normale Haltung von Menschen gegenüber der Religion „Was nahezu gewohnheitsmäßig die Überzeugung der Mehrheit ist, bezeichnet man gewissermaßen als Normalzustand.“ 108 Der Normalzustand in Ostdeutschland ist demnach die Konfessionslosigkeit, insofern gut drei Viertel der Bevölkerung in Ostdeutschland als konfessionslos gemeldet sind. 109 Die religionssoziologische und auch -philosophische Erforschung der ostdeutschen Konfessionslosigkeit steht noch am Anfang, so dass auch noch um einen angemessenen Begriff gerungen wird, der das zu untersuchende Phänomen erfasst. 110 Es geht um die religionssoziologische Erfassung einer Mehrheit, auf die das Merkmal ‚Religion‘ nicht zutrifft. An der Suche nach einem angemessenen Begriff werden die Hürden und der Sachverhalt dahinter deutlich: Tiefensee skizzierte die „Geschichte der Wahrnehmung bzw. Nicht-Wahrnehmung“ des Phänomens, welches bislang nur in negativer Abgrenzung erfasst wurde: „Konfessionslosigkeit, praktischer Atheismus, Areligiosität, religiöse Indifferenz, etc.“ 111 Er sprach dann vom homo indifferens oder homo areligosus, der unter dem Radarschirm der wissenschaftlichen Forschung blieb. Als Grund dafür führte er den Konsens der bisherigen Forschung an: „der Mensch sei ‚unheilbar religiös‘ (A. Sabatier), so dass es einen ‚homo areligiosus‘ eigentlich gar nicht geben dürfte.“ 112 Tiefensee traf dann eine Unterscheidung auf anthropologischer Ebene: Einerseits gibt es die Aussagen über das Wesen des Menschen und andererseits die Beschreibung des konkreten Menschen. Insofern die Ebenen unterschieden sind, kann man differierende Aussagen gleichzeitig treffen. So gehört die Religion zum Wesen des Menschen. Im konkreten Fall kann Religiosität beim Menschen fehlen – ohne, dass daraus ein defizitäres Menschsein abgeleitet werden müsste. 113 Dieses Fehlen einer konkreten Religiosität wies Tiefensee immer wieder am Beispiel Ostdeutschlands nach. Für die (religionssoziologische) Erfassung stellte er eine Faustregel auf: Religion ist nicht zu unterstellen (auch wenn der geschulte Beobachter religionsartige Muster erkennen kann), wenn es dem Selbstverständnis der Gruppe widerspricht. 114 Diese Gruppe fasste Tiefensee unter dem Begriff der ‚religiösen Indifferenz‘. Religiöse Indifferenz ist für ihn ein ‚Art von Säkularisierung von neuer Qualität‘, die drei Merkmale hat: (1) hohe Anteile der Bevöl108 109 110 111 112 113 114
Zeddies (2002), 152. Vgl. Domsgen (2014b), 12. Vgl. Domsgen (2014b), 26. Tiefensee (2011), 80. Tiefensee (2011), 80. Tiefensee (2011), 93f. Tiefensee (2011), 91.
Religionssoziologische Beschreibung des ostdeutschen Kontexts
kerung sind nichtkirchlich, konfessionslos oder areligiös – wobei diese Begriffe für ihn im Fall von Ostdeutschland identische Sachverhalte ausdrücken; (2) die ganze Kultur ist betroffen, so dass man von einer Normalität sprechen kann; und (3) scheint dieses Phänomen langfristig weiter zu existieren. 115 Um das Phänomen zu erfassen, schlug Tiefensee eine spekulative Klassifizierung vor: Den Theisten als denjenigen, die Gottgläubige sind, stehen die Atheisten als Gottesleugner gegenüber – beides selbstverständlich jeweils sehr plurale Gruppen. Als dritte Position können die Agnostiker gelten, die sich in der Gottesfrage enthalten, man könnte sie auch als in religiösen Fragen Unsichere bezeichnen. Daneben gibt es noch die vierte Gruppe der religiös Indifferenten, die in der Gottesfrage weder wie Atheisten mit Nein noch wie Agnostiker mit Enthaltung votieren, sondern die Frage als solche nicht verstehen bzw. sie schlicht für irrelevant halten. Diese Gruppe scheint weniger zur agnostischen Unsicherheit in religiösen Fragen zu tendieren, so dass sie eine besonders starke Form des Atheismus darstellt, ist doch dieser wenigstens ex negativo mit der Gottesfrage befasst und so gesehen sogar als irgendwie noch religiös einzustufen. 116
Religiöse Indifferenz ist demnach eine ‚Haltung‘ gegenüber der Gottesfrage, die als stärkste Form des Atheismus ausgemacht wird. Domsgen teilte diesen Begriffsgebrauch nicht und plädierte für den Begriff „Konfessionslosigkeit [. . . ] als Leitbegriff in Ermangelung eines besseren.“ 117 Damit ist zunächst nicht die Haltung der Menschen gegenüber religiösen Sachverhalten bestimmend für die Begriffsbildung, sondern die schlichte Tatsache der Nicht-Kirchenzugehörigkeit. 118 Damit wird gleichzeitig ein Forschungskonsens aufgenommen, nämlich dass in Ostdeutschland Konfessionslosigkeit „mit einer Distanz nicht nur den verfassten Kirchen, sondern auch allem explizit Religiösen gegenüber einhergeht“ 119. Domsgen veranschlagte dann für einen großen Teil der Konfessionslosen eine indifferente Haltung gegenüber Religion, „die ‚sich außerhalb des Gegensatzes von Glauben und Unglauben‘ befinden, ‚da sie die Frage nach der Existenz Gottes gar nicht aufwirft‘“ 120. Damit steht auch hier religiöse Indifferenz für Areligiosität, die gewohnheitsmäßig Religion schlicht nicht ausübt oder überdenkt. Obwohl religiöse Indifferenz nach Domsgen unter den Konfessionslosen in Ostdeutschland weit verbreitet ist, gilt dies nicht für alle Konfessionslosen. Auf der Basis der Forschung von Pickel zeichnete er dann sieben Typen von Konfes115 116 117 118
Tiefensee (2011), 83–85. Tiefensee (2011), 86. Domsgen (2014b), 11. Diesen Weg schlug bspw. auch Storch ein und stimmte mit Domsgen darin überein, dass die Forschung dazu am Anfang stehe (Storch (2003), 232). 119 Domsgen (2014b), 19. 120 Domsgen (2014b), 11, zitiert: Kleinsorge (2008), 148.
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sionslosen nach, so dass ein Feld der multiplen Säkularitäten vor Augen geführt wurde. 121 Die Nicht-Zugehörigkeit zur Kirche ist damit ein umfassender Begriff, der unter anderm die Haltung bzw. mehrheitlich die Haltung der religiösen Indifferenz einschließt. Allerdings markierte Domsgen die Grenzen seines Leitbegriffs: „Konfessionslosigkeit ist ein vielschichtiges, hochkomplexes Phänomen, das nicht einfach im Gegenüber zur Kirchlichkeit zu beschreiben ist.“ 122 Konfessionslosigkeit in diesem Sinne lässt sich auch auf dem Feld der Kirchlichkeit ausmachen. 123 Insofern der Begriff hier seine ursprüngliche, definitorische Grenze überschreitet, ist er für Domsgen eine bleibende Problemanzeige, die das Phänomen von Konfessionslosigkeit, Areligiosität und Indifferenz nur unscharf markiert. 124 Während Tiefensee sich auf die Haltung der Menschen fokussierte und Domsgen vorrangig mit dem Statusmerkmal ‚Konfessionszugehörigkeit‘ operierte, welches schlussendlich zwischen Haltung und Statusmerkmal schwer fassbar bleibt, schlug Pickel einen Mittelweg ein. Er unterschied mit Petzold zwischen „Religion und Religiosität: ‚Religionslosigkeit bezeichnet den Ausfall von Religion, während religiöse Indifferenz das Ausbleiben von Religiosität artikuliert. Religiöse Indifferenz thematisiert den Tatbestand auf der Ebene der Religiosität als des subjektiven Vollzugs von Religion. [. . . ]‘“. 125 Damit ist „zwischen Religion als Institution und Religiosität als die Bindung des Einzelnen an religiöse Überzeugungen, Moralvorstellungen und Denksysteme“ unterschieden. Demnach kann man Formal-Konfessionslose (Nicht-Kirchenmitglieder) und Formal-Religionslose (keine Zugehörigkeit zu irgendeiner religiösen Gruppierung) von religiös Indifferenten (mögliche Zugehörigkeit zu einer Konfession ohne deren Vollzug) unterscheiden. Als nächstes muss dann eine inhaltliche Bestimmung des Begriffes ‚Indifferenz‘ – also Unbestimmtheit – vorgenommen werden. Hier zeigen sich häufiger Begriffsauffassungen, die von dem harten Atheismus Tiefensees abweichen und bei Indifferenten in all ihrer Unbestimmtheit auch Offenheit für Religion und Kirche sehen. 126 Dementsprechend schlug Pickel weitere Kategorien vor, um das 121 Vgl. Domsgen (2014b), 19–25, fusste auf: Pickel (2011a), 43–77: Domsgen unterschied mit Pickel: (1) durchschnittliche Konfessionslose, 40,5 %; (2) volldistanzierte Konfessionslose, 20,5 %; (3) nichtgläubige Konfessionslose, 14,8 %; (4) herkunftschristliche Konfessionslose, 8,7 %; (5) individualistische Konfessionslose, 5,4 %; (6) traditionalistische Konfessionslose, 5,3 %; (7) gläubige Konfessionslose, 4,8 %. Die große Mehrheit (Positionen 1–3 u. 6) wurde mit kaum bis mehrheitlich keiner subjektiven Religiosität sowie geringer bis keiner Alltagsrelevanz von Religion beschrieben. 122 Domsgen (2014b), 27. 123 Domsgen (2014b), 27. 124 Domsgen (2014b), 26. 125 Pickel (2015b), 62 zitiert: Petzoldt (2009), 137. 126 Pickel beobachtete diesen positiv gedeuteten Begriffsgebrauch bei Rose/Wermke (2014). Ähnlich zeigte sich das auch bei Pompe (2017). Im Gegensatz dazu warnte Domsgen da-
Religionssoziologische Beschreibung des ostdeutschen Kontexts
nicht-religiöse Feld zu klassifizieren: Areligiosität bzw. religiöses Desinteresse (als Steigerung zur Bezeichnung ‚Indifferenz‘), Atheismus (als Negierung der Gottesfrage) und Antireligiosität (als Feindschaft oder Ablehnung gegenüber Religion). 127 Insofern religiöse Indifferenz eine deutende Klassifizierung ist, kann sie in Umfragen nicht an sich erhoben werden. Deswegen werden Daten zu Konfessionslosen herangezogen, um deren Haltung aufgrund der mit Clusteranalysen sortierten Datenlage einzuschätzen und zu deuten: 128 Es lassen sich vier Typen von Konfessionslosen mit verschiedenen Merkmalen und quantitativen Anteilen im Feld der Konfessionslosen extrahieren: „Gläubige Konfessionslose“ – mit 11 % die kleinste Gruppe der Konfessionslosen und damit eher die Ausnahme dessen, was ein Konfessionsloser ist, als die Regel – finden sich eher in Westdeutschland (26 % West; 6 % Ost). Sie differenzieren zwischen Religion und Kirche und suchen nach Religion und Spiritualität. Da 80 % ihrer Eltern noch zur Kirche gehören bzw. gehörten, haben sie religiöse Sozialisationserfahrungen gemacht. 129 Typ zwei sind die ‚toleranten Konfessionslosen‘, für die Religion keine Alltagsbedeutung hat. Sie machen 17 % des konfessionslosen Feldes aus und finden sich wiederum mehrheitlich in Westdeutschland (26 % West; 13 % Ost). 60 % der Elterngeneration gehörten zur Kirche. Das Adjektiv ‚tolerant‘ bezieht sich auf deren Einstellung zu Kirche und den Kirchenmitgliedern. Hier zeigt sich eine gewisse Offenheit, die jedoch nicht bedeutet, dass Religion für sich selbst in Anspruch genommen wird. 130 Mit Domsgen ließe sich zwischen Typ eins und den folgenden Typen der Unterschied zwischen ‚frischer und ererbter Konfessionslosigkeit‘ festmachen. Frische Konfessionslosigkeit hat noch Erfahrungen mit Kirche und so ist eine Anschlussfähigkeit in Richtung Glaube und Kirche gegeben. Dies trifft auf den Fall ‚ererbte Konfessionslosigkeit‘ nicht zu. Letztere macht die Mehrheit in Ostdeutschland aus. 131 Außerdem verwies Domsgen darauf, dass es auch unter ostdeutschen Konfessionslosen positive Bezüge zur Religion gibt: Das Christentum wird als Ordnungsfaktor in der Gesellschaft verstanden und wertgeschätzt, jedoch „mit der tief verinnerlichte[n] Norm, [. . . ] dass Religion nicht für die eigene Lebensführung von Bedeutung ist.“ 132 Weiterhin hielt Domsgen fest, dass es in Bezug auf die große Transzendenz verschiedene Versatzstücke gibt, die ei-
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vor, ‚Unbestimmtheit‘ als ‚Offenheit‘ zu deuten, weil hier Religion unterstellt werde, die dem Selbstverständnis widerspreche (Domsgen (2014b), 18f). Pickel (2015b), 64. Vgl. Pickel (2015b), 79–102. Vgl. Pickel (2015b), 79. Vgl. Pickel (2015b), 79f. Domsgen (2014b), 20. Domsgen (2014b), 18.
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nerseits nichts mit Christentum zu tun haben, jedoch kommunikative Anschlüsse erleichtern. 133 Typ drei sind die ‚normalen Konfessionslosen‘ die einen Anteil von 21 % der Konfessionslosen insgesamt ausmachen. Sie unterscheiden sich kaum von den ‚toleranten Konfessionslosen‘ – lediglich ihre Haltung zu Kirche und Religion ist deutlich distanzierter: „eine Beschäftigung mit Spiritualität, Religion oder Religiosität [sehen sie, BS] als vollkommen überflüssig an.“ 134 Dieser Typ Konfessionslosigkeit findet sich tendenziell eher im Osten (16 % West; 23 % Ost). 135 Typ vier, die ‚volldistanzierten Atheisten‘, sind mit 51 % die größte Gruppierung unter den Konfessionslosen. Dieser Typ findet sich überwiegend in Ostdeutschland wieder (32 % West; 58 % Ost). Kirchen werden hier lediglich als politische Interessenvertreter gesehen und Religion wird als irrational abgelehnt. In Ostdeutschland lässt sich sogar eine ‚Konfessionslosenidentität‘ nachweisen, denn hier zeigt sich ein Bereich, in dem sich die Ostdeutschen den Westdeutschen als überlegen fühlten – im Sinne einer moderneren, aufgeklärteren und rationaleren Haltung. 136 Betrachtet man die Anteile der Konfessionslosen, die von Kirche und Religion unberührt sind und bleiben wollen, dann wird wiederum nachvollziehbar, warum man in Ostdeutschland nicht nur von Konfessionslosigkeit, sondern auch von Religionslosigkeit spricht. Außerdem erhärten die Analysen, dass religiöse Indifferenz wenig mit ‚unbestimmter Offenheit‘ zu tun hat. Pickel hielt fest, dass die Mehrheit der Ostdeutschen schlicht als areligiös bzw. religiös desinteressiert zu klassifizieren ist. 137 Religiöse Indifferenz als „Haltung der Unentschiedenheit und Gleichgültigkeit gegenüber der Existenz Gottes oder der Gottesfrage“ 138 bürgert sich somit als ‚säkulare Option‘ mehr und mehr in Deutschland ein und kann im Osten als Normalzustand gelten. In der fünften Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung wurde der Begriff Indifferenz als Gegenpol zu Engagement aufgemacht. Es zeigte sich ein – wenn auch schwaches – Driften der Verteilung der Kirchenmitglieder auf diese beiden Pole zu. 139 Damit findet sich diese Haltung sowohl bei Kirchenmitgliedern als auch bei Konfessionslosen – wobei Indifferenz zum Hauptgrund des Kirchenaustritts avanciert ist: „Einfach gesagt: Die [sc. zum Austritt, BS] Befragten antworten ein-
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Domsgen (2014b), 17. Pickel (2015b), 79–102. Vgl. Pickel (2015b), 79f. Vgl. Pickel (2015b), 79f. Pickel (2015b), 99. Pickel/Spieß (2015), 249. Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) (2014), 130f u. Pollack/Pickel/Christof (2015), 192.
Religionssoziologische Beschreibung des ostdeutschen Kontexts
heitlich in Distanz und Gleichgültigkeit zu allem, was aus ihrer Sicht mit Religion zu tun hat. Diese Dimension kann man nun wohl weitesgehend als eine Dimension religiöser Indifferenz verstehen, verkörpert sie doch eine gewisse Unwichtigkeit von und vor allem Gleichgültigkeit gegenüber allem Religiösen.“ 140 Diese Indifferenz ist ein Erschwernis im Kontakt zu den Menschen sowie in der Kommunikation des Evangeliums. Sie ist in Teilen kein Erschwernis in der Hinsicht, dass Menschen nicht auf Religion hin ansprechbar wären, die Kirche nicht gut fänden oder keine guten Erfahrungen mit kirchlichen Personal hätten. Festzuhalten ist, dass Jugendliche für religiöse Spekulationen offen sind und die Kirche aufgrund ihres diakonischen Engagements geschätzt wird. Ahrens konnte in einer Studie unter Berliner Konfessionslosen nachweisen, dass 75 % der „schon immer Konfessionslosen [angeben], dass sie bereits Kontakt zur evangelischen Kirche hatten.“ 141 Ein Drittel dieser Berührungspunkte beziehen sich auf Pfarrerinnen und Pfarrer anlässlich einer Kasualie. 142 Weitaus öfter ist die Besichtigung eines Kirchengebäudes ein Kontaktpunkt zwischen evangelischer Kirche und den immer schon Konfessionslosen. 143 Diese positive Sichtweise der Kirche und sogar die positiven Erlebnisse in Kasualgottesdiensten führen aber nicht dazu, dass Menschen in die Kirche eintreten – geschweige denn, dass dem Thema Religion eine höhere Bedeutung beigemessen wird. 144 Pickel fasste zusammen: So besteht bei Konfessionslosen eine potentielle Offenheit, sich mit Christen normal zu unterhalten und auszutauschen. Man sollte allerdings nicht zu viel in diesen Befund hineinlesen. Weder bedeutet die bestehende Offenheit eine aktive Suche nach religiösen Angeboten (im Sinne einer anthropologischen Konstante der Religiosität), noch kann sie gleich als Potential für Bekehrung ausgemacht werden. Religion ist dem Gros der Konfessionslosen nicht wichtig genug, um sich dafür politisch oder ideologisch zu positionieren. Entsprechend positionieren sie sich aber auch nicht gegen Religion oder organisieren sich in dieser Weise. 145
Damit ist die erschwerte Situation für die Kommunikation des Evangeliums differenziert beschrieben: Kontakte, Berührungspunkte und Wohlwollen sind durchaus vorhanden. Diese positiven Sachen dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Religion, und damit Kirchlichkeit – besonders im Osten – eine stark 140 Pickel/Spieß (2015), 254, Herv. original. 141 Ahrens (2016), 60. 142 Ahrens (2016), 60. Voraussetzung für diese Kontakte mit Kirche ist allerdings das soziale Umfeld (vgl. Pickel/Spieß (2015), 257). 143 Ahrens (2016), 60. 144 „Für den einzelnen Konfessionslosen entsteht trotz eines positiven Erlebnisses eines Gottesdienstes, einer Beerdigung oder einer Taufe in der Regel keine Notwendigkeit eines Kircheneintritts. Am ehesten könnte dies in sozialen Gruppen im Umfeld der Kirche der Fall sein“ (Pickel/Spieß (2015), 257). 145 Pickel/Spieß (2015), 258, Herv. original.
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untergeordnete Alltagsrelevanz hat: „Familie, Arbeit, Beruf, selbst Freizeit werden von den meisten Menschen als wichtiger eingestuft als Religion. Diese relational geringere Wichtigkeit gilt in besonderem Ausmaß für Konfessionlose, betrifft aber auch Kirchenmitglieder.“ 146 Hinsichtlich der Ansprechbarkeit und Sprachfähigkeit bezüglich religiöser Themen ist in Ostdeutschland ein erhebliches Hindernis festzustellen: „Kaum jemand redet mit anderen über Religion“ 147. Mit ‚kaum‘ sind 69 % der Ostdeutschen gemeint, die selten oder nie über religiöse Themen reden, sowie 23 % der ostdeutschen Bevölkerung, die gelegentlich darüber reden. 148 Lediglich 9 % der Ostdeutschen reden oft bis sehr oft über religiöse Themen. 149 Dieser Befund zeigt eine Sprachbarriere im Alltag hinsichtlich von Glaubensthemen an. Dies wurde unter anderem auch in der ethnographischen Studie unter Kirchenmitgliedern im ländlichen Raum Sachsens deutlich, denn hier kann Stückrad als Zwischenergebnis festhalten: „Es fällt im Allgemeinen nicht leicht, in Alltagssituationen über den Glauben zu reden.“ 150 Bei allen Erschwernissen, die eine alltägliche, gewohnheitsmäßige religiöse Indifferenz mit sich bringt, ist jedoch festzuhalten, dass damit „keineswegs [. . . ] ein Dauerzustand von Religionsferne festgeschrieben“ 151 ist. Vor allem geht die religiöse Indifferenz nicht mit Feindseligkeit gegenüber Religion und Kirche einher. 152 Pickel spekuliert sogar, dass in Ostdeutschland die nicht selbstverständliche Mitgliedschaft zu einer Kirche der Individualisierungstendenz in unserer Gesellschaft entgegenkommt und „vor dem Hintergrund der weiter voranschreitenden Individualisierung eine Rückkehr oder Zuwendung zur Religion wieder erleichter[t]“ 153 werden könnte.
2.6 Das konfessionelle Feld – Engagement und höhere Verbundenheit Die Erforschung des Feldes der Konfessionslosen hat im Grunde erst begonnen, wie man an der Debatte zur Verwendung der Begriffe merkt. Im Gegenzug dazu gibt es für das ‚konfessionelle Feld in Ostdeutschland‘ reichlich Daten und Litera146 147 148 149 150 151 152 153
Pickel/Spieß (2015), 257, Herv. original. Pickel (2015b), 95f. Pickel (2015b), 95f. Pickel (2015b), 95f. Stückrad (2017), 58. Pickel/Spieß (2015), 264. Pickel/Spieß (2015), 264. Pickel (2011a), 73.
Religionssoziologische Beschreibung des ostdeutschen Kontexts
tur. Zur genaueren Beschreibung der Kirchenmitglieder stehen vorrangig die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD zur Verfügung. Im Hinblick auf die Erfassung und Auswertung regionaler Unterschiede ist die neueste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung eher schwach aufgestellt, auf den Kontext Ostdeutschland hin ein Totalausfall: Wegen der geringen Fallzahlen konnten die kleineren Landeskirchen sowie die Kirchen Ostdeutschlands nicht berücksichtigt werden. 154
Deswegen ist hier auf älteres Material zurückzugreifen, das in Bezug auf Ostdeutschland vor allem von Grabner gesichtet und aufbereitet wurde. 155 Grundsätzlich ging man von der These aus, „dass aus einer Kirche schrumpfender Quantität eine Kirche neuer Qualität wird, eine Kirche, in der jeder einzelne weiß, wozu er als Christ da ist“ 156. Diese Hoffnung aus DDR-Zeiten hat sich in Ostdeutschland nicht vollständig erfüllt und so haben sich volkskirchliche Mitgliedschaftsverhältnisse en miniature erhalten. 157 An der fünften Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung entzündete sich nun wieder die Debatte des ‚Gesundschrumpfens‘, insofern hochverbundene, engagierte Mitglieder relativ zunahmen, genauso wie die als indifferent einzuschätzenden Kirchenmitglieder am Rand. 158 Zumindest für den Westen lassen sich „schwache Hinweise auf einen Konzentrationsprozess wahrnehmen“ 159. Die These, dass dieser Konzentrationsprozess für Ostdeutschland stärker ausgeprägt sei, liegt aufgrund der Minderheitensituation nahe. Wie bereits im Abschnitt zur religionssoziologischen Jugendforschung ausgeführt, konnte Pickel für den Osten nachzeichnen, dass die Kirchen „bereits stärker auf eine ‚Stammbelegschaft‘ abgeschmolzen“ 160 sind. Dafür spricht auch eine höhere Verbundenheit und die höhere Zustimmung der kirchlichen Belange der ostdeutschen Kirchenmitglieder. 161 Grabner wies darauf hin, dass zwischen 1992 und 2002 das Verbundenheitsgefühl im Osten stärker zugenommen hat als im Westen. 162 Insofern es vor allem an den jüngeren Alterskohorten und deren dichterer religiöser Soziali-
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Grubauer (2015), 316. Vgl. Grabner (2009), 299–322. Schönherr (1979), 195. Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong (2013), 338 u. 340 u. Grabner (2009), 301. Vgl. Pollack/Pickel/Christof (2015), 189f. Insofern Pollack / Pickel / Christof nur Daten von evangelischen Kirchenmitgliedern aus dem Westen zugrundelegen, können keine Aussagen über einen solchen Effekt und seine Stärke im Osten getroffen werden (vgl. Pollack/ Pickel/Christof (2015), 191 u. 193). Pollack/Pickel/Christof (2015), 192. Pickel (2016), 84f. Vgl. Schloz (2006), 54 u. 86. Grabner (2009), 303.
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sation liegt, ist anzunehmen, dass sich die Verbundenheitswerte im Osten relativ zu denen im Westen weiter erhöhen. 163 Diese dichtere Sozialisationseinbettung zeigt sich unter anderem anhand der erfahren religiösen Erziehung. 164 Im Osten zeigt sich eine relativ stabile Linie unter den jüngeren Alterskohorten. Rund 60 % haben nach eigenen Angaben eine religiöse Erziehung erfahren. 165 Ähnlich zeigt sich auch, dass den ostdeutschen jugendlichen Kirchenmitgliedern eine Weitergabe dieser religiösen Sozialisation wichtiger ist als ihrem westdeutschen Pendant. Auch hier zeigt sich eine Zustimmung bei rund 60 % der jüngeren Kohorten zu dem Item: „Ich denke, dass es wichtig ist, dass Kinder eine religiöse Erziehung bekommen.“ 166 In Westdeutschland zeigt sich hinsichtlich der Zustimmung ein Stufeneffekt über die Alterskohorten: 14- bis 21-Jährige: 39 %, 22- bis 29-Jährige: 54 %, 30- bis 45-Jährige: 62 %. Je älter also die Kohorten sind, desto eher halten sie eine Weitergabe religiöser Sozialisation für erstrebenswert. Dies spricht im Westen für eine fortlaufende Säkularisierung und im Osten deutet das eine verlangsamte Schrumpfung an. 167 Auch wenn sich in Ostdeutschland hier eine Stabilisierung langsam ergeben könnte, ist ein Abbruch der religiösen Sozialisiation bei mindestens einem Drittel der Jugendlichen in Ostdeutschland zu erwarten und dies ist „nicht anders zu interpretieren als eine drastische Problemanzeige.“ 168 Schaut man auf die Beteiligung am gemeindlichen Leben, verzeichnen die ostdeutschen Kirchen markante Zuwächse: ‚Mitbekommen, was in Kirche und Kirchengemeinde passiert, zur Kirche gehen und die Bibel lesen‘ fallen besonders auf. 169 „Dass die Bibellese zum Evangelisch-Sein gehört, wird 2002 im Osten mit 41 % von fast doppelt soviel Gemeindegliedern bejaht wie im Westen.“ 170 Ebenso zeigte sich ein Anwachsen des mindestens monatlichen Gottesdienstbesuchs zwischen 1992 und 2002, während in Westdeutschland sinkende Zahlen zu verzeichnen waren. 171 Außerdem liegen auch die Zahlen zum Engagement in der Kirche oberhalb westdeutscher Vergleichswerte. 172 „So beteiligt sich nach eigenen Angaben immerhin ein Fünftel der deutschen Protestanten aktiv an kirchlichen und religiösen Sozialgruppen (18 % aktiv in Westdeutschland, 22 % aktiv in Ostdeutsch163 Von den 14- bis 21-Jährigen fühlen sich im Westen 22 % der Kirche verbunden, im Osten 40 % (Pickel (2016), 83). 164 Weitere Beispiele wären das höhere Engagement sowie die stärkere Teilnahme am kirchlichen Leben (vgl. Döhnert (2000), 88). 165 Pollack/Pickel/Spieß (2015), 133. 166 Pickel (2016), 95. 167 Pickel (2016), 85 u. 95. 168 Pickel (2016), 94. 169 Grabner (2009), 306. 170 Grabner (2009), 306. 171 Hauschildt/Pohl-Patalong (2013), 338 u. 340. 172 Hauschildt/Pohl-Patalong (2013), 338 u. 340.
Religionssoziologische Beschreibung des ostdeutschen Kontexts
land)“ 173. Hinzu kommt, dass auch die Frömmigkeit in den ostdeutschen Kirchen relativ zugenommen hat: „Während im Westen die Veränderungen von 1992 zu 2002 zu vernachlässigen sind, hat die Zustimmung zu dem explizit christlichen Glaubenssatz (Gott in Jesus Christus) in Ostdeutschland in den letzten zehn Jahren um zwölf Prozentpunkte und damit deutlich zugenommen.“ 174 Ähnliches ließe sich von den christlich-religiösen Erfahrungen sagen, die eher von ostdeutschen Kirchenmitgliedern angegeben werden. 175 So kann man im Osten von einer „identitätsbildenden Wirkung einer konfessionellen Bindung“ 176 sprechen, insofern Kirchlichkeit hier insgesamt mit stärkerem Vertrauen und höherer Identifikation einhergeht. Man gehört somit im Osten „entschiedener“ 177 zur Kirche. Diese Einstellung der Kirchenmitglieder geht auch mit einem anderen Erwartungsbild an die Pfarrer und Pfarrerinnen einher: Man erwartet hier stärker als in Westdeutschland, dass „sie ‚Gemeindegliedern helfen, eigene Interessen und Fähigkeiten in Kirche und Gemeinde einzubringen‘ (55 %>47 %) bzw. dass sie ‚andere haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter/innen an der Verantwortung für die Gemeindearbeit beteiligen‘ (58 %>48 %).“ 178 Deswegen fordert Grabner konsequenterweise für die Pfarrerinnen und Pfarrer in Ostdeutschland, dass deren „Motivations- und Qualifikationskompetenz, die das Engagement der Ehrenamtlichen fördert und bestärkt“ 179 weiter zu entwickeln ist.
2.7 Ertrag der religionssoziologischen Ergebnisse für das Pfarramt im ländlich-peripheren Ostdeutschland Die Sichtung der aktuellen religionssoziologischen Literatur hat verschiedenes deutlich gemacht: Aufgrund der anhaltenden Säkularisierung werden die Kirchen weiter schrumpfen. Dies betrifft auch unmittelbar das Pfarramt: zum einen in organisationaler Hinsicht, wenn rückläufige Zahlen zu Strukturveränderungen führen, und zum anderen in inhaltlicher Hinsicht, weil Pfarrerinnen und Pfarrer in einer Umgebung Dienst tun, die mehrheitlich dem Glauben ‚indifferent‘ gegenübersteht. Durch diese Haltung ist der Dienst besonders herausgefordert, da religiöses Leben alles andere als plausibel erscheint. 173 Pickel (2015c), 284. 174 Grabner (2009), 307. 175 Grabner (2009), 309. Als eines von mehreren möglichen Beispielen kann hier das Item „Mein Glaube gibt mir das Gefühl der Geborgenheit“ angeführt werden: 50 % Ost, 35 % West. 176 Pickel (2015c), 294. 177 Hermelink (2006), 423. 178 Grabner (2009), 307. 179 Grabner (2009), 321.
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Obwohl einige Studien einen Anstieg der Religiosität unter Jugendlichen verzeichneten, bleibt festzuhalten, dass dieser Anstieg den Kirchen kaum zugute kommen wird. Natürlich bleibt diese Entwicklung abzuwarten. Dennoch muss es nachdenklich stimmen, dass sowohl Vertreter der religionssoziologischen Individualisierungsthese als auch Vertreter der Säkularisierungsthese keine Zugewinne für die Kirche prognostizieren. Für die Kirchen in Ostdeutschland bedeutet das eine ‚drastische Problemanzeige‘. Trotzdem darf in dieser Hinsicht als Positivum festgehalten werden, dass die kirchliche Jugend zum Großteil eng mit der Kirche verbunden ist und Glauben als relevant erachtet. Dies führt nicht zu einem Stabilisierungseffekt, jedoch zu einer gebremsten Schrumpfung – Pickel sprach von einem ‚Kondensierungseffekt‘. Neben der besonderen religiösen Großwetterlage in Ostdeutschland, die mit unterschiedlichen Faktoren dargelegt wurde, ist das Bindungsverhalten der Gemeindeglieder interessant: Kirchenmitglieder in Ostdeutschland sind ‚entschiedener‘ in der Kirche. Relativ gesehen partizipieren mehr Kirchenmitglieder an den Angeboten der Kirche und stimmen Glaubensinhalten auch eher zu als in Westdeutschland. Hinzu kommt gleichzeitig das andere Extrem: Kirchenmitglieder am Rand der Kirchen tendieren eher zu atheistischen oder indifferenten Positionen. Hier macht sich der Einfluss der Mehrheitskultur bemerkbar. Es ist ein interessanter Befund, dass sich Menschen auch in religiösen Aspekten eher nach Mehrheitsverhältnissen richten. Diese Polarisierung der Kirchenmitglieder in hochverbundene und indifferente scheint insgesamt charakteristischer für Ostdeutschland zu sein als der Befund, dass sich eine volkskirchliche Mitgliedschaftspraxis – wenn auch nur im Kleinen – erhalten hat.
3.
Charakteristika ländlicher Räume in Ostdeutschland
3.1 Ist das soziale Leben im Dorf ein leitendes Merkmal ‚ländlicher Räume‘? Die Frage nach den ländlichen Räumen stellte sich in der praktisch-theologischen Forschung verstärkt mit dem Papier Kirche der Freiheit. 1 In diesem Reformprozess der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) wurde „das Thema ‚Kirche in der Fläche‘ fest [. . . ] verankert.“ 2 Ziel war, zu erarbeiten, wie sich eine Strategie der Leuchtfeuer im Sinne von Qualitätssteigerung und Zentralisierung mit den Bedarfen und Verhältnissen einer flächendeckenden Organisation verhält. Möller reagierte auf den EKD-Text Kirche der Freiheit 2009 mit dem Buch: Lasst doch die Kirche im Dorf! Ziel dieses Bandes war die Stärkung der Ortsgemeinden, die er durch Regionalisierungsmaßnahmen und den Ausbau übergemeindlicher Dienste bedroht sah. 3 Obwohl für Möller das Thema ‚Ländlichkeit‘ eine untergeordnete Rolle spielte, ist bei ihm ein Sachverhalt zentral, der sich stark aus einem traditionell ländlichen Kriterium speist: Es ging Möller um „überschaubare, menschliche Verhältnisse“ 4. Auch Cordes will mit seinem Buch Kirche im Dorf – Glaube im Alltag einen „kleinen Beitrag zu den großen Fragen, die unsere Kirche bewegen“ 5, leisten. Ähnlich wie Möller setzte auch er auf die überschaubaren Verhältnisse im Dorf und betont die traditionelle Verwobenheit von Leben und Glauben im Dorfalltag:
1 2 3 4
Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) (2006). Alex/Schlegel (2012), 10. Möller (2009), 14. Diese Verhältnisse kann es nach Möller auch in der Stadt geben (Möller (2009), 13), jedoch schimmert das ländliche Ideal durch, wenn Möller beschreibt: „Wenn eine Dorflaterne nicht brannte, sagte man es abends dem Bürgermeister oder Gemeindediener im Wirtshaus, und am nächsten Morgen wurde die Lampe ausgetauscht. Wenn dem Zaun ums Feuerwehrhaus eine Latte fehlte, hat sie derjenige, dem es auffiel, einfach wieder eingesetzt. Kurz und gut: Man fühlte sich in seinem Dorf für das Dorf verantwortlich“ (Möller (2009), 12). 5 Cordes (2013), 11.
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Die Kirchengemeinde im dörflichen Kontext muss nicht neu erfunden werden; sie ist an vielen Orten schon (oder noch) da. Sie wartet – wie ein lange brachliegendes Feld – darauf, mit ihren Möglichkeiten wahrgenommen zu werden und gute Frucht zu tragen. Nicht zu vergessen die Dörfer und ländlichen Räume, in denen Kirche und Dorf, Glaube und Alltag schon jetzt eng miteinander verbunden sind, ohne dass dieses angemessen wahrgenommen und als Chance für die kirchliche Arbeit der Zukunft gewürdigt wäre. 6
Dieser Fokus auf die Möglichkeiten des Dorfes wird getragen von den gedeuteten Erfahrungen des Landpastors. 7 Cordes beabsichtigte mit seinem Buch, keinesfalls eine Differenz von Stadt und Land zu befeuern, sondern lediglich dem dörflichen Kontext seine volle Aufmerksamkeit zu widmen. Obwohl Cordes auf empirische Befunde der vierten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung verwies, die kaum noch Unterschiede zwischen Stadt und Land feststellen konnte, arbeitete er als wichtigen Aspekt das Lebensgefühl des einzelnen Dorfbewohners heraus. 8 Cordes ging es vor allem um eine charakteristische Grundlage des Zusammenlebens, nämlich um das Gemeinschaftsgefühl, welches charakteristisch für dörfliche Strukturen sei und „was sich selbst an solchen Stadt- oder Ortsteilen ablesen lässt, die per definitionem Teil eines Ober- oder Mittelzentrums sind, faktisch aber in vielfältiger Hinsicht Strukturen dörflichen Lebens aufweisen und pflegen.“ 9 Zwischenmenschlichkeit, die auch als belastend empfunden werden kann, Überschaubarkeit, die unter anderem aufgrund der geographischen Struktur der Siedlungen zustande kommt, und Traditionalität wurden hier als zentrale Faktoren des ländlichen Lebens angeführt. Diese von Cordes und Möller aufgerufenen Faktoren sind in unserem kulturellen Gedächtnis stark mit dem Thema Land verknüpft. Es sind allgemeine Beschreibungen des Landes, die häufig anzutreffen und augenscheinlich plausibel sind. Um eine Definition des Landes und des Landlebens zu erhalten, braucht man eigentlich nur noch die Naturnähe sowie Land- und Forstwirtschaft hinzufügen, um ein Leben im Dorf charakteristisch zu erfassen. Schaut man in die geographische Forschung zum Thema Land und Dorf, dann ist mit Henkel festzustellen, dass die ältere Forschung genau auf diese Weise den ländlichen Raum definierte. Der ländliche Raum war demnach: [. . . ] ein naturnaher, von der Land- und Forstwirtschaft geprägter Siedlungs- und Landschaftsraum mit geringer Bevölkerungs- und Bebauungsdichte sowie niedriger Wirtschaftskraft und Zentralität der Orte, aber höherer Dichte der zwischenmenschlichen Beziehungen. Überwiegend sind es also traditionelle Kriterien, die trotz aller Wandlungsprozesse von der Forschung immer noch zur Kennzeichnung des ländlichen Raumes 6 7 8 9
Cordes (2013), 14. Cordes (2013), 10. Cordes (2013), 11 u. 16. Cordes (2013), 16.
Charakteristika ländlicher Räume in Ostdeutschland
herangezogen werden. Zu bedenken ist freilich, daß mit einer derart generalisierten Definition naturgemäß die Wirklichkeit eines so komplexen Begriffes verkürzt dargestellt wird. 10
An dieser Definition und den darin enthaltenen zusätzlichen Hinweisen wird deutlich: „Der ländliche Raum ist nicht leicht zu fassen“ 11. Es besteht eine „große Unsicherheit“ 12, was der ländliche Raum eigentlich ist und was ihn noch ausmacht. Grundsätzlich gilt: Das Dorf ist stärker als je zuvor in den Sog des Urbanen geraten, es hat – graduell sehr unterschiedlich – seine Gestalt, seine überkommenen Funktionen, seine traditionellen Lebensinhalte gewandelt. 13
Diesen Befund nahm Hansen bereits 2005 auf und verwies konsequent auf die Heterogenität der ländlichen Räume. 14 Diese Feststellungen lassen Zweifel an der Argumentation von Möller und Cordes aufkommen, die vor allem die überschaubaren (sozialen) Verhältnisse betonten. Hansen führte aus: Ländliche Räume jedoch sind längst nicht mehr nur geographisch und siedlungsstrukturell uneinheitlich, sondern – vor allem in sozialer Hinsicht – auch in sich selbst: Schon in jedem Dorf finden sich ganz unterschiedliche Sozialräume und Lebenswelten. 15
Die Heterogenität und der Wandel werden so zu Hauptfaktoren des ländlichen Raums, die eine Definition dieses komplexen Kulturbegriffes erschweren. 16 Bezüglich der Heterogenität ist einschränkend festzuhalten: Den ländlichen Raum hat es freilich nie gegeben – höchstens als Produkt romantischer Vorstellungen – dafür waren auch in vormoderner Zeit die Agrarstrukturen (Realteilung, Anerbenregelung, Gutswirtschaften) zu unterschiedlich. 17
10 11 12 13 14 15 16
Henkel (2004), 33, Herv. getilgt. Henkel (2004), 17. Henkel (2004), 31. Henkel (2004), 17. Hansen (2010), 74f, Erstauflage 2005. Hansen (2010), 74. Vgl. auch die Analysen im Raumordnungsbericht von 2005: „Abgelegenheit, niedrige Bevölkerungsdichte, Abwanderungstendenzen und geringe Durchschnittseinkommen zählen somit ebenso zu typischen Merkmalen ländlicher Räume wie Suburbanisierungsdruck, zentrennahe Lage, attraktive Wohnstandorte, Entstehung neuer Wirtschaftscluster und Fremdenverkehrsgebiete. Das traditionelle Erscheinungsbild des ländlichen Raumes als agrarabhängiges Gebiet mit Tendenzen zur Unterbeschäftigung und zur Bevölkerungsabwanderung trifft die heutige Realität somit nicht mehr und ist allenfalls in sehr abgelegenen und strukturschwachen ländlichen Gebieten anzutreffen“ (Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) (2005), 203). 17 Neu (2010), 257.
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Darum ist es sinnvoll, den Wandel in den Blick zu nehmen und besonders zu fragen, inwiefern die idealtypischen Merkmale, die Möller und Cordes als Argument für die Verbindung von Kirche und Dorf nutzten, für die ländlichen Räume – besonders in Ostdeutschland – noch als angemessene, leitende Beschreibungen gelten können.
3.2 Wandel der ländlichen Sozialstrukturen und Lebensweise Der Wandel und die Umbrüche im ländlichen Raum lassen sich überblickartig gut anhand des Wandels der Sozialschichten und Berufsgruppen verdeutlichen. Henkel fertigte dazu ein Diagramm an, welches die Zusammensetzung der Sozialschichten und Berufsgruppen des kleinen Dorfes Helte, bei Meppen in Niedersachsen, abbildete (vgl. Abb. 5, S. 116).
Abbildung 5: Entwicklung der Sozialschichten und Berufsgruppen im Dorf Helte (bei Meppen in Niedersachsen) von 1800 bis 1995 Quelle: Henkel (2004), 81. Geänderte und vereinfachte Darstellung.
In diesem westdeutschen Dorf war im 19. Jahrhundert die Landwirtschaft bestimmend: Die unterschiedlichen Besitzverhältnisse und Einflussmöglichkeiten der Groß- und Kleinbauern sowie der Landarbeiter bildeten die Grundlage für die sozialen Strukturen. 18 Spätestens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fand ein massiver Wandel statt. Den Großteil der Dorfbewohner machten nun aus Sicht der Erwerbstätigkeit Arbeiter und Angestellte aus. Diese pendelten zumeist in umliegende Städte. Eine von der Landwirtschaft bestimmte Lebensweise traf nun nur noch auf eine Minderheit im Dorf zu. Henkel arbeitete heraus, dass sich der Wandel auf zwei Punkte fokussierte: „Lösung des Dorflebens von der 18 Vgl. dazu ausführlich Henkel (2004), 69–100.
Charakteristika ländlicher Räume in Ostdeutschland
Land- und Forstwirtschaft, Annäherungen der Gegensätze und Eigenarten zwischen Stadt und Land.“ 19 In den Dörfern bildeten sich somit ähnliche Lebensweisen wie in der Stadt aus – man kann insgesamt von einer Urbanisierung der dörflichen Lebensverhältnisse sprechen. 20 Während Henkel die ablaufenden Prozesse in seinen Formulierungen eher als anfänglich betrachtete, kam Neu zu dem Schluss, dass der Wandel rasanter und fortgeschrittener sei. Sie stellte fest: Die agrargesellschaftliche Trias von ländlichem Raum, Landwirtschaft und ländlicher Gesellschaft hat sich (fast) gänzlich aufgelöst. 21
Die Sichtweise der fortgeschrittenen Auflösung traditionell ländlicher Lebensverhältnisse erwies sich als neuer Konsens in der Landsoziologie. Seit 2002 sprechen Soziologen vom Ende des Dorfes als besonderer Sozialform. 22 Dementsprechend wurde im Handwörterbuch der Raumordnung einschlägig festgehalten: Die ländlichen Räume in Deutschland – wie auch in Europa – waren in den letzten Jahrzehnten einem Prozess tief greifender Veränderungen unterzogen. Konnte unter dem Begriff ‚ländlicher Raum‘ noch bis in die 1960er Jahre ein relativ homogener Raumtyp verstanden werden, der vor allem durch die große Bedeutung der Landwirtschaft und eine relativ geringe Bevölkerungsdichte zu charakterisieren war, so trifft dieses Bild inzwischen nicht mehr zu. 23
Dieser Befund spiegelte sich auch in den Milieustudien wider. Hansen arbeitete heraus, dass in älteren Milieustudien „eine gewisse Raumblindheit“ 24 vorherrsche und so zunächst keine Aussagen über ein ländliches Milieu gemacht werden können. In neueren, übergreifenden Studien jedoch stellte sich heraus, dass sich „keine spezifisch ländlichen oder städtischen Lebensstile nachweisen“ 25 ließen. Spellerberg, die den Unterschied von städtischen und ländlichen Lebensstilen untersuchte, arbeitete heraus: Offensichtlich können Lebensstile empirisch nicht eineindeutig bestimmten Raumtypen zugeordnet werden, sondern es gibt nur erhöhte Wahrscheinlichkeiten in bestimmten räumlichen Gelegenheitsstrukturen. Mögliche Gründe bestehen darin, dass berufliche Mobilität, Abstimmungen im Haushalt, unzureichende Informationen, Preisstrukturen des Wohnungsmarktes, Erbschaften oder mangelnde Angebote Kompromisse beim
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Henkel (2004), 98, Herv. getilgt. Henkel (2004), 98. Neu (2010), 244. Spellerberg (2014), 204. Mose (2005), 573. Hansen (2010), 288f. Hansen (2010), 289, Herv. original.
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Wohnen erzwingen. Die Stellung im Lebenszyklus und die Einkommensstärke sind weitere, teilweise entscheidende Variablen, die die Wohnstandortwahl bestimmen. 26
Damit sind zahlreiche Faktoren benannt, die die Entscheidung der Wohnortwahl beeinflussen. Die Pluralität dieser Faktoren führt vor Augen, dass dies nicht zu einem mehr oder minder gut abgrenzbaren ländlichen Sozialmilieu führt. Hansen kam zu dem gleichen Ergebnis: Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass bestimmte räumliche Situationen und Lebenskontexte keineswegs nur bestimmte Lebensstilgruppen anziehen und dass siedlungsstrukturelle Gegebenheiten allein wenig über soziale Zugehörigkeiten aussagen – den Ergebnissen vieler älterer Dorfstudien zum Trotz. Dass kaum eine Typologie spezifisch ländliche Milieus oder Lebensstile aufführt, ist somit vor allem darauf zurückzuführen, dass es rein ländliche Lebensstilgruppen schlicht nicht gibt. 27
In neueren Dorfstudien wurde der Befund der Heterogenität der sozialen Verhältnisse ebenfalls bestätigt. Hier ist die vom Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) in Auftrag gegebene und vom Thünen-Institut durchgeführte Langzeitstudie Ländliche Lebensverhältnisse im Wandel 1952, 1972, 1993 und 2012 anzuführen. 28 Die Studie untersuchte seit 1952 im Abstand von 20 Jahren immer wieder dieselben Dörfer. 29 Als Ergebnis wurde festgehalten: Insgesamt zeigt die Studie einen heterogenen Wandel der ländlichen Lebensverhältnisse, der sich abstrakten Vereinfachungen und Schematisierungen entzieht. Ungeachtet dessen zeichnet alle Untersuchungsorte eine hohe Wohnzufriedenheit der dort lebenden Menschen aus. 30
Diese Heterogenität in den Lebenstilen hat Folgen für die immer wieder angeführte Behauptung, dass es auf dem Land eine „höhere Dichte der zwischenmenschlichen Beziehungen“ 31 gebe. In der Stadt ist die Anonymität nicht größer als auf dem Land. Der Soziologe Gensicke konnte nachweisen, dass die Anonymität nicht mit der Siedlungsgröße zunimmt. 32 Die Netzwerke auf dem Land sind also weder dichter noch qualitativ hochwertiger. Die bestehenden Unterschiede sind aufgrund ihrer geringen Ausprägung kaum nennenswert und sollten deswegen nicht überbewertet werden – bspw. ist die primäre Bezugsgruppe auf dem 26 Spellerberg (2014), 208. 27 Hansen (2010), 290. 28 Thünen-Institut für ländliche Räume/Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (2015). 29 1993 wurden Dörfer aus ostdeutschen Regionen hinzugenommen. 30 Thünen-Institut für ländliche Räume/Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (2015), 2. 31 Henkel (2004), 33, Herv. getilgt. 32 Gensicke (2005), 151.
Charakteristika ländlicher Räume in Ostdeutschland
Land die Familie, Verwandte und Nachbarn, in der Stadt sind es Freunde und Bekannte. 33 Und trotzdem ist „die allgemeine Neigung, anderen Menschen zu vertrauen, in ländlich geprägten Regionen nicht höher [. . . ] als in großstädtisch geprägten“ 34. Mit Hansen gesprochen bedeutet dies: Dass Landbewohner als solche automatisch stärker in Gemeinschaften eingebunden sind, muss [. . . ] als ein Mythos beurteilt werden. 35
Dieser Befund hat Konsequenzen für die Argumentationsgrundlagen der bereits aufgeführten Beiträge von Cordes und Möller. 36 Insofern sie vor allem von der Überschaubarkeit der Lebensverhältnisse ausgingen und ihre Argumentation stark auf diese Wahrnehmung des Dorfes stützten, können diese Beiträge bestenfalls als Einzelwahrnehmung eines Dorfes oder eventuell als Binnensicht auf ein kleines kirchliches Milieu gelten. Gegen diese Überschaubarkeit steht auf jeden Fall der Befund der „ungeheuren Vielfalt“ 37 des ländlichen Soziallebens, die sich auch hier auf die allgemeinen Trends der Pluralisierung und Individualisierung zurückführen lassen.
3.3 Drei charakteristische Merkmale der Lebensbedingungen in ländlichen Räumen und ostdeutsche Besonderheiten An dieser Stelle ist zu fragen, ob es überhaupt besondere Kennzeichen des ländlichen Lebens gibt. Ein ‚ländlicher Lebensstil‘ oder ‚überschaubare Verhältnisse‘ gehören jedenfalls nicht zu den Kennzeichen ländlicher Räume. Trotzdem hält sich die Vorstellung eines einigermaßen homogenen ‚dörflichen Lebens‘ hartnäckig und empirische Befunde werden allzu schnell im Sinne dieser Prämisse interpretiert. Darum sollen nun drei Kennzeichen des Landlebens erörtert werden, die in verschiedenen Untersuchungen immer wieder als statistische Auffälligkeit bestätigt wurden. Zu fragen ist dabei, inwiefern diese Ergebnisse tatsächlich für die Begründung eines dörflichen Sozialmilieus sprechen. Zunächst ist auf eine Unterscheidung von Gensicke zu verweisen: Er unterschied zwischen Lebensstilen und lokalen Lebensbedingungen. 38 Die lokalen Lebensbedingungen zwischen Stadt und Land seien durchaus unterschiedlich. Diese
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Gensicke (2005), 152. Gensicke (2005), 152. Hansen 2010, 400. Vgl. Kap. 3.1, S. 113f. Hansen (2010), 312. Gensicke (2005), 146.
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lassen sich auch statistisch zeigen. Allerdings gehe mit diesen Unterschieden in den lokalen Lebensbedingungen nicht sofort ein bestimmter Lebensstil einher. 39 Im Großen und Ganzen gibt es drei Unterschiede in den Lebensbedingungen von Stadt und Land: In der Langzeitstudie des BMEL klang einer dieser Aspekte schon an: Auf dem Land wurden die Wohnverhältnisse besser eingeschätzt als in der Stadt. 40 Dies zeigten auch Studien von Gensicke, der feststellte, dass der Wohnraum auf dem Land günstiger sei und man dort im Schnitt einen Raum bzw. deutlich mehr Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung habe. 41 Hinzu kommen weitere lokale Lebensbedingungen, die im Sinne von Gelegenheitsstrukturen einige Unterschiede zwischen Stadt und Land ausmachten: Großzügiges und preiswertes Wohnen, saubere Umwelt und erhöhte persönliche Sicherheit sind die Aktivposten des ländlichen Raumes, Arbeit und Ausbildung, Shopping, öffentliche Verkehrsanbindung sowie Freizeit- und Kulturszene diejenigen der (großen) Städte. 42
Als Zweites ist das wohl wichtigste Kennzeichen des Landlebens heute zu nennen: die Mobilität. Wie aus Henkels Diagramm (Abb. 5, S. 116) zu entnehmen ist, spielt das Pendeln zur Arbeit für den Großteil der Bevölkerung eine wesentliche Rolle. In der Langzeitstudie des BMEL, die 20 Dörfer Deutschlands untersuchte, zeigte sich ein vergleichbares Muster: In vielen Orten pendelt die Mehrzahl der örtlichen Arbeitskräfte ein, die große Mehrheit der im Ort wohnenden Arbeitskräfte jedoch aus. [. . . ] Dabei erreichen 80 % in 30 min ihren Arbeitsplatz und 16 % fahren 60-90 min. 43
In Deutschland hat das Pendeln zur Arbeit insgesamt – auch zwischen den Metropolen – zugenommen: Im Jahr 2000 pendelten 53 % der sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer zur Arbeit, im Jahr 2015 stieg die Zahl auf 60 % an. Auf der dargestellten Karte (Abb. 6, S. 121) wird einerseits deutlich, wie sehr die großen Städte Knotenpunkte der Pendlerverflechtungen sind, und andererseits in
39 Lebensstil ist hier im Sinne der Definition von Huinink / Schröder verwendet: „Lebenstil: Spezifisches und als solches identifizierbares Muster alltäglich wiederkehrender Verhaltens-, Äußerungs- und Interaktionsweisen von Akteuren, in denen sich – bewusst oder unbewusst stilisiert – bestimmte, möglicherweise milieu- oder lebensphasentypische Formen des Denkens, Wissens und Beurteilens ausdrücken“ (Huinink/Schröder (2008), 197). 40 Thünen-Institut für ländliche Räume/Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (2015), 2. 41 Gensicke (2005), 148. 42 Gensicke (2005), 146. 43 Thünen-Institut für ländliche Räume/Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (2015), 16f.
Charakteristika ländlicher Räume in Ostdeutschland
Abbildung 6: Pendlerverflechtungen Quelle: http://www . bbsr . bund . de / BBSR / DE / Home / Topthemen / 2017 - pendeln . html; aufgesucht am 2. Okt. 2017, 10:06 Uhr.
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welchen Gebieten hohe Fahrzeiten für den Arbeitsweg in Kauf genommen werden. 44 Angesichts dieser immensen Mobilität und regionalen Verflechtungen ist es nicht verwunderlich, dass sich der alte Gegensatz von Stadt und Land eingeebnet hat. 45 Es mag hier Unterschiede in der Lebensführung geben, da bestimmte örtliche Gelegenheitsstrukturen eher genutzt werden. So kann Neu anführen, dass die Arbeit an Haus und Hof (preiswertere Wohnmöglichkeiten) und eine naturnahe Freizeitgestaltung eine größere Rolle als im städtischen Raum spielen, wo die Gelegenheitsstrukturen andere Möglichkeiten bieten. 46 Allerdings geht mit diesen Aspekten der Lebensführung aufgrund bestimmter Gelegenheitsstrukturen kein einheitliches ländliches Sozialmilieu einher. Heute verbringen die Menschen ihr Leben an mehreren Orten und wollen sowohl die ländlichen Freizeitangebote als auch die städtischen Kulturangebote nicht missen. 47 Das Städtische und das Ländliche sind dann nur mehr Aspekte oder Akzente von Orten, von ‚zwischenstädtischen Lebensorten‘, wo Menschen ihr Leben führen. 48
Neben der Pkw-Mobilität und dem günstigen Wohnraum gibt es eine dritte statistische Auffälligkeit bei Stadt-Land-Unterschieden: die Kirchenbindung. Dieser Unterschied ist sogar besonders auffällig und deutete sich schon im Vergleich der Kirchenmitgliedschaft zwischen Ost- und Westdeutschland an, wo die Stadtstaaten ähnlich niedrige Werte aufwiesen wie das säkularisierte Ostdeutschland (vgl. Abb. 3, S. 87). Wahrscheinlich ist dieser empirische Befund die Grundlage der Idee, dass sich Religion und Landleben gegenseitig stützen. Gerade in kirchlichen Debatten ist diese Idee weit verbreitet und soll deswegen nochmals geprüft werden. Als Erstes ist mit einiger Ernüchterung festzuhalten, dass der Unterschied in der Kirchenbindung von Stadt und Land vor allem in älteren Bevölkerungsschichten ausgeprägt ist, wie Spellerberg herausarbeitete. 49 Trotzdem soll zunächst die geographische Basis des Befundes einer höheren Kirchenbindung auf dem Land dargestellt werden: Müller, Pickel und Pollack können Unterschiede in der Religiosität nach Siedlungsgröße nachweisen. Allgemein konstatieren die Forscher vor allem für westdeutsche Gebiete:
44 Vgl. http://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/Home/Topthemen/2017-pendeln.html; 2. Okt. 2017, 10:06 Uhr. 45 Hahn (2005), 237. 46 Neu (2010), 249. 47 Hahn (2005), 236 u. 239. 48 Hahn (2005), 237. 49 Spellerberg (2014), 228.
Charakteristika ländlicher Räume in Ostdeutschland
In kleineren Ortschaften finden sich im Allgemeinen mehr Personen mit einer kirchlichen Bindung bzw. religiösen Orientierung als in den Städten. 50
Ein differenzierter Blick zeigt, dass das Stadt-Land-Gefälle in Ostdeutschland erheblich geringer ausfällt als in Westdeutschland. Dies lässt sich anhand von Daten zu ‚Gottesglaube‘, ‚subjektive Religiosität‘ und ‚Kirchenmitgliedschaft‘ belegen. 51 Die Werte zu ‚Gottesglaube‘ fallen im Osten wie im Westen um 10 %, wenn man kleine Gemeinden mit Großstädten vergleicht. Dabei ist im Osten das absolute Niveau insgesamt deutlich niedriger: bei einer Siedlungsgröße von 5.000 Einwohnern wird rund 16 % der Bevölkerung ein ‚Gottesglaube‘ attestiert, in Städten über 500.000 Einwohner sind es nur noch 6 %. 52 In Westdeutschland fallen die Werte von 49 % (5.000–19.999 Ew) auf 39 % (über 500.000 Ew). 53 Schaut man im Osten auf die Kategorie ‚subjektive Religiosität‘, so zeigt sich, dass es lediglich in Städten mit über 500.000 Einwohnern einen nennenswerten Unterschied gibt. Einen allzu starken Unterschied zwischen städtischer und ländlicher Religiosität oder Kirchenbindung wird man deswegen in Ostdeutschland nicht annehmen dürfen. In Westdeutschland kann man sicherlich von einem Stadt-Land-Gefälle ausgehen. Für den Osten gilt allerdings, dass bei Bezugnahme auf unterschiedliche Indikatoren sowie aufgrund des geringen Ausgangsniveaus im Vergleich zu Westdeutschland die Unterschiede geringer und uneindeutiger ausfallen. Dieser Befund bestätigt sich, wenn man sich die Verteilung der Kirchenmitgliedschaft im ostdeutschen Gebiet anschaut (vgl. Abb. 7, S. 124). Einerseits stechen traditionell katholische Gebiete wie das Eichsfeld und das Gebiet der Sorben als regionale Besonderheiten hervor, andererseits sind Gebiete mit erwecklicher Tradition wie bspw. das Erzgebirge anhand einer vergleichsweise hohen Kirchenmitgliedschaft zu erkennen. Weiterhin sind die Städte und ihr Umland durch besonders niedrige Kirchenmitgliedschaft gekennzeichnet, wobei es hier Ausnahmen gibt: Berlin und Dresden sowie Jena und Erfurt unterscheiden sich hinsichtlich der Kirchenmitgliedschaftsrate kaum von weiten Teilen der ländlichen Gebiete. Damit ist auch hier als Ergebnis festzuhalten: Wenn man im Osten von einem religiösen Stadt-Land-Gefälle sprechen möchte, dann ist die Geringfügigkeit der Unterschiede hervorzuheben.
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Müller/Pickel/Pollack (2005), 40, Herv. getilgt. Vgl. die Zahlen zum Kirchgang: Müller/Pickel/Pollack (2005), 35. Müller/Pickel/Pollack (2005), 36. Interessanterweise liegt die kleinste Gemeindegröße (unter 5.000 Ew) mit 41 % nicht weit von den Großstädten entfernt. Hier wird der Trend der abnehmenden Religiosität mit der steigenden Gemeindegröße eher bei Kirchgang und subjektiver Religiosität deutlich (vgl. Müller/Pickel/Pollack (2005), 36).
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Teil I: Pfarramt im Kontext der ostdeutschen, ländlichen Räume
Abbildung 7: Bevölkerungsanteil der Nicht-Kirchenmitglieder Ost Quelle: Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR), INKAR-CD 2013. Dargestellt ist auf Basis der Zensusdaten von 2011 der Indikator ‚Einwohner andere / keine Religion‘, wobei sich ‚keine / andere Religion‘ auf eine Abweichung hinsichtlich der Mitgliedschaft in katholischer und evangelischer Kirche bezieht.
Charakteristika ländlicher Räume in Ostdeutschland
In Westdeutschland fiel der Unterschied hinsichtlich der Zugehörigkeit zur Kirche zwischen Stadt und Land wesentlich höher aus. Dies könnte die empirische Basis für die häufig aufgestellte These sein, die sich als cantus firmus durch den Beitrag von Cordes zieht: „Auf dem Dorf ist gut leben. Und glauben.“ 54 Es ist an dieser Stelle nochmals zu betonen, dass dies wohl eher ein westdeutsches Phänomen ist. Hansen ging der These nach, ob ein wesentlicher Unterschied zwischen ländlicher und städtischer Kirchlichkeit die „je unterschiedliche Einbettung und Einbindung der Kirchen in die sozialen Netzwerke der jeweiligen Ortsgesellschaften“ 55 seien. Verdichtet werde dieser Eindruck durch die Kirchengebäude, die die Ortsbilder häufig bestimmen und auch von Nicht-Kirchenmitgliedern erhalten werden. Hinzu kommen kirchliche Feste, die besonders ein Erbe aus dem 19. Jh. sind (bspw. Volkstrauertag, Erntedank) und auch der geteilte Dialekt wird angeführt, um einen scheinbaren Zusammenhalt zu belegen. 56 Dies führt intuitiv dazu, dass die These plausibel wird, dass „[l]ändliche Sozialstrukturen [. . . ] die Kirche fester ein[binden] als städtische, und entsprechend fester hat sich unter diesen Bedingungen auch die Einbindung der Menschen in die Kirche gezeigt.“ 57 Dass diese Annahme weit verbreitet ist, zeigte bspw. auch Fechtner. Er nahm den Wandel des Dorfes wahr und konstatierte die Annäherung der Alltagskulturen von Stadt und Land. Trotzdem hielt er als bleibendes Charakteristikum des Dorfes die „dauerhaften Beziehungen“ 58 fest. Herkunft, Besitz und Familie sowie gewachsene Nachbarschaft und das Vereinswesen bilden seiner Meinung nach „ein soziales Gefüge, das den dörflichen Radius des Lebens absteckt.“ 59 Fechtner vermerkte, dass es dies alles auch in der Stadt gebe, behauptete aber, dass diesem Gefüge auf dem Dorf eine besondere Bedeutung zukomme. 60 Selbst in dem differenzierten EKD-Text zum Thema Land Wandeln und Gestalten ist das überschaubare Dorfmilieu eine Grundannahme. 61 Es ist mit Interesse zu bemerken, dass sowohl Fechtner als auch Cordes ihre Abgrenzung zur Stadt hin relativieren. Beide behaupteten, dass die dargestellten
54 55 56 57 58 59 60 61
Cordes (2013), 13 u. öfter. Hansen (2010), 386. Hansen (2010), 387–395. Hansen (2010), 386, Herv. original. Fechtner (2010), 122, Herv. getilgt. Fechtner (2010), 122. Fechtner (2010), 122. „Zu den spezifischen Merkmalen ländlicher Räume gehören u.a. eine schwächer ausgebildete allgemeine Infrastruktur, eine geringere Besiedlungsdichte, die Notwendigkeit individueller Mobilität, eine Gesellschaft des ‚Sich-Kennens‘ und sozialer Überschaubarkeit, die agrarkulturelle Prägung, ein besonderes Natur- und Zeitempfinden, die starke Bedeutung des unmittelbaren Lebensraumes, z.T. ausgeprägte verwandtschaftliche Verbindungen“ (Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (2007), 40).
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Teil I: Pfarramt im Kontext der ostdeutschen, ländlichen Räume
sozialen Gegebenheiten auch in Städten zu finden seien, um dann doch zu sagen, dass sie für das Land besonders gelten. Überzeugend ist das nicht. Wie gesagt, gibt es für eine solche Meinung in Westdeutschland immerhin kleine empirische Indizien wie bspw. die erhöhte Kirchenmitgliedschaft auf dem Land. Für Ostdeutschland hingegen ist die Sachlage anders. Insgesamt ist mit Hansen eine „starke Erosion“ 62 dieser Belange festzuhalten, auch wenn die Deutung des einheitlichen Landlebens hermeneutisch immer noch dominant ist: Die tatsächliche Vielfalt der Lebensentwürfe und Lebensstile der Landbevölkerung wird auch in den Angeboten und der Rhetorik der ländlichen Kirchengemeinden häufig verdeckt. 63
Die langlebige These von glaubensförderlichem Landleben ist demnach als überholt zu betrachten und es besteht – mit Hansen gesprochen – ein starker Nachholbedarf hinsichtlich der Einschätzungen zur Entwicklung der Kirchen und des Glaubenslebens auf dem Land: Auf evangelischer Seite hat man offenbar die ländlichen Kirchengemeinden allzu lange mit der an sich bereits labilen Sozialform Dorf identifiziert und es versäumt, auf die unterschiedlichen Lebensstile und Sozialmilieus sowie – daraus folgend – die unterschiedlichen Lebensräume, kirchlichen Beteiligungsformen, Pfarrerbilder usw. der Menschen in ländlichen Räumen wirklich einzugehen. 64
Dieses allzu lange Identifizieren der Kirchgemeinden mit der ‚Sozialform Dorf‘ dürfte sich in Westdeutschland als langlebiger herausstellen als in Ostdeutschland. Während sich in Westdeutschland die Dorfgesellschaft und Sozialstruktur trotz gehörigen Wandels ein gutes Stück erhalten konnte, gilt dies für den Osten nicht. Dies wird deutlich, wenn man auf das einstige dörfliche Kernmilieu schaut. In Henkels Abbildung zur ländlichen Sozialstruktur (vgl. Abb. 5, S. 116) wird anschaulich, dass sich vor allem die Großbauern gehalten haben und man hier bei allem Wandel von einer gewissen Traditionsweitergabe ausgehen kann. Für Ostdeutschland sieht dieser Befund anders aus, denn die westdeutsche Agrarsoziologie orientierte sich am Leitbild des bäuerlichen Familienbetriebes, während die ostdeutsche Agrarsoziologie auf den Pfad des industriemäßig produzierenden, genossenschaftlichen oder staatlichen, landwirtschaftlichen Großbetrieb gebracht wurde. 65 Dies brachte massive Umbrüche für den ländlichen Bereich in vielerlei Hinsicht mit sich. 66 62 63 64 65 66
Hansen (2010), 392. Hansen (2010), 386. Hansen (2010), 408, Herv. original. Neu (2010), 252. „In der Tat haben die massiven politischen Eingriffe – Bodenreform, Kollektivierung und Industrialisierung – sowohl die traditionelle Agrarstruktur als auch die ländliche Sozial-
Charakteristika ländlicher Räume in Ostdeutschland
Insofern aufgrund der DDR-Politik aus den Bauern Landarbeiter wurden, änderte sich auch das Siedlungsbild, denn die Arbeiter bevorzugten, in modernen und damals hochkomfortablen Plattenbauten zu wohnen. 67 Dies war Teil einer politisch forcierten Urbanisierung der ländlichen Lebensverhältnisse in der ehemaligen DDR, die die Kluft zwischen Stadt und Land und den dort vorherrschenden Abwanderungstendenzen schließen sollte. 68 Dies führte insgesamt zu einer stärkeren und zügigeren Veränderung der ländlichen Verhältnisse als in Westdeutschland. Das heißt, dass gerade für den Osten der Ansatzpunkt bei den ‚dörflichen‘ Strukturen bzw. beim ‚dörflichen‘ Milieu verfehlt ist. Auch religionssoziologisch zeichnete sich dieser Umbruch schon lange ab. Tiefensee berichtete von Kirchenaustrittswellen auf dem Land im Zusammenhang der Vertreibung von Gutsbesitzern und der voranschreitenden Industrialisierung nach 1945. 69 Winkler widmete in den 80er Jahren der „neue[n] ländlichen Diaspora“ einen Aufsatz, in dem er die Folgen der auf dem Land stattfindenden Urbanisierung für die Kirchen beschrieb. 70 Er stellte fest: In der zünftigen Praktischen Theologie sind die Probleme der durch die Säkularisierung und den Zerfall der Volkskirche entstandenen neuen ländlichen Diaspora noch kaum im Blick. 71
Den Großstädten räumte er einen Vorteil ein, da die Säkularisierungsprozesse dort schon länger andauerten und somit mehr Zeit vorhanden war, sich auf die Situation einzustellen. Das Land war demgegenüber im Nachteil, da hier Überal-
67 68 69 70 71
struktur in der SBZ / DDR grundlegend verändert. Die überwiegend kleinbäuerliche Agrarstruktur Mitteldeutschlands und die gutsherrschaftliche Landwirtschaft ‚Ostelbiens‘ wurden in eine einheitlich nach industriemäßigen Planvorgaben strukturierte Landwirtschaft mit landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) und Volkseigenen Gütern (VEG) umgewandelt. Aus den Einzelbauern und Landarbeitern wurden Genossenschaftsbäuerinnen und -bauern oder ‚Angehörige der Arbeiterklasse auf dem Land‘, mit spezialisierten Berufsausbildungen und formal festen Arbeitszeiten und Urlaubsplänen. Diese ‚sozialistischen Errungenschaften‘ wie die Bildungsoffensive, sicheres Einkommen, feste Arbeits- und Urlaubszeiten in der Landwirtschaft wurden auch von Agrarsoziologen genutzt, um die Vorzüge der sozialistischen Landwirtschaft herauszustreichen und im gleichen Atemzug die Nachteile der familienbäuerlichen Landwirtschaft zu geißeln: Selbstausbeutung der gesamten bäuerlichen Familie, vor allem aber der Bäuerin, unsichere finanzielle und betriebliche Zukunft. Am Vorabend der Wende hätten die beiden Agrarstrukturen in Ost- und Westdeutschland nicht unterschiedlicher sein können, 649.000 überwiegend einzelbäuerliche Wirtschaften mit durchschnittlich 18 Hektar standen 3.844 LPGen und 464 VEG gegenüber, die 95 Prozent der LN der DDR bewirtschafteten. Die durchschnittliche Größe einer LPG (Pflanzenproduktion) lag bei 4.300 Hektar, der durchschnittliche Viehbestand einer LPG (Tierproduktion) bei 1.500 Großvieheinheiten“ (Neu (2010), 252). Vgl. Henkel (2004), 99. Beetz (2004), 167. Tiefensee (2011), 88. Winkler (1987), 161–170. Winkler (1987), 163.
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terung und Mangel an ehrenamtlicher Mitarbeit unter anderem die Schwierigkeiten verschärfte. 72 Außerdem verwies Winkler auf die starken regionalen Unterschiede – nicht nur im Gegenüber zu Westdeutschland, sondern auch innerhalb Ostdeutschlands: Es gibt Großstadtbezirke mit ca. 3% evangelischen und noch weniger katholischen Einwohnern und sogar Dörfer mit mehr als 90% Konfessionslosen. Andererseits gehören in manchen Orten fast alle Einwohner einer Kirche an. Diese Unterschiede verblassen, wenn man mit Durchschnittswerten wie etwas 25% [sic] Evangelische in den neuen Bundesländern rechnet. 73
So zeigt sich, dass Kirche in ländlichen Räumen in Ostdeutschland schon lange in ihren Traditionen und in ihrer Organisationsform angefochten ist. Der Zusammenhang von Dorfkultur und Glaubensleben ist seit längerem destabilisierenden Einflüssen ausgesetzt. Je mehr Zeit vergeht, um so deutlicher wird die Veränderung der ländlichen Regionen. Dies fragt die momentane Organisationsform der Kirche und damit des Pfarramts an. Es finden sich deswegen immer wieder Hinweise in der praktisch-theologischen Literatur, dass „sich die kirchlichen Organisationseinheiten geographisch enorm vergrößert [haben] – bis dahin, dass die flächendeckende Versorgung des Parochialsystems nicht mehr zu gewährleisten ist“ 74. Dieser Einschätzung eines überdehnten Parochialsystems in den ostdeutschen Bundesländern schlossen sich auch Wagner-Rau und Fechtner an, wobei eine genauere Analyse dieser spezifischen Situation ausblieb. 75 Trotz dieser Dynamiken wurde den Landeskirchen im Osten attestiert, eine „geradezu programmatische parochiale Fokussierung“ 76 zu haben. Ob dem so ist, sei zunächst einmal dahin gestellt. Festgehalten werden muss, dass man nicht mehr von stabilen Dorfmilieus, die sich positiv auf die Glaubensweitergabe auswirken, ausgehen kann: Dass Kirche im Dorf ist, wird zunehmend weniger selbstverständlich sein. Gerade die Mobilität und die ‚zwischenstädtische Lebensweise‘ fragen eine Organisation an, die besonders stark auf den Wohnort fixiert ist. Wenn nun in ländlichen Räumen kein lokales Dorfmilieu mehr auszumachen ist, dann muss die parochiale Organisation auch in diesen Gebieten adaptiert werden. Manche Landeskirchen diskutieren deswegen auch alternative Organisationsformen, die dem Eindruck nach aber häufig für Zentren geplant und erprobt werden. Gedacht wird dabei neben dem Parochialprinzip, welches sich 72 73 74 75
Winkler (1987), 163. Winkler (1998), 20. Hansen (2010), 403. Wagner-Rau (2012), 51. Auch Fechtner stellt lediglich Schrumpfung auf dem Land fest und zeigt als Problem an, dass der ständige Umbau mürbe macht sowie Kirche strukturell überfordert (Fechtner 2010, 7 u. 122). 76 Hansen (2010), 405.
Charakteristika ländlicher Räume in Ostdeutschland
nach dem Wohnort richtet, an das „Personalprinzip (gemeinsame Entscheidung), Funktionsprinzip (gemeinsame Lebenslage) [und] Bekenntnisprinzip (gemeinsame theologische Prägung)“ 77. Auch Landgemeinden sollten mit den weiteren Organisationsprinzipien experimentieren und Innovation suchen. 78 Andernfalls besteht die Gefahr, dass Fusionen weiterhin auf das Wohnortprinzip setzen und so einem ländlichen Leitbild folgen, welches nicht mehr angemessen ist. Diese Erkenntnis trägt weitreichende Folgen für das Gemeindepfarramt in sich. Von dieser Erkenntnisbasis aus bereits Schlussfolgerungen für die künftige Entwicklung zu ziehen, ist an dieser Stelle verfrüht. Darum ist vorerst zusammenfassend festzuhalten: Dörfer in Ostdeutschland waren wesentlich stärker den Einflüssen der Urbanisierung ausgesetzt. Ein religiös-kirchliches Stadt-Land-Gefälle ist nicht mehr vorhanden. Ländliche Räume sind genauso wie Städte heterogene Lebensräume. Als besondere Kennzeichen sind andere Gelegenheitsstrukturen für Freizeit, mehr Wohnraum und das Pendeln zur Arbeit mit dem Pkw auszumachen. Daraus generiert sich jedoch kein ländlicher Lebensstil, der von einem städtischen Lebensstil zu unterscheiden wäre. Diese Befunde fragen die parochiale Organisation an – und damit auch die für das Pfarramt bedeutendste Organisationseinheit. Offen ist nun, wie dann von ‚ländlichen Räumen‘ zu sprechen ist, wenn es nicht mehr um den traditionell naturnahen Lebensstil geht, der in unserem kulturellen Gedächtnis so stark verhaftet ist. Dies gilt es als Nächstes zu ergründen.
3.4 Erfassung ländlicher Räume in der Raumordnung Aus der vorangegangenen Darstellung wurde deutlich, dass eine ‚innere‘ Definition des ländlichen Raumes kaum noch sinnvoll möglich ist. Henkel hielt fest: Während sich diese Bezeichnungen Ländlicher Raum, Ländliche Siedlung und Dorf als dauerhaft erwiesen haben, sind deren Inhalte inzwischen so sehr vom Wechsel gekennzeichnet, daß eine allgemeingültige Beschreibung kaum noch möglich erscheint. 79
So wird weiterhin von ländlichen Räumen sowie Stadt-Land-Unterschieden gesprochen. Im alltäglichen Sprachgebrauch ist dies sicherlich unproblematisch, jedoch konnte gezeigt werden, dass dies im wissenschaftlichen Sprachgebrauch zu
77 Zentrum für Mission in der Region (2014), 27. 78 Vgl. dazu auch Zentrum für Mission in der Region (2014), 137ff. 79 Henkel (2004), 31, Herv. original.
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unpräzise ist. 80 Trotzdem wird auch in unterschiedlichen Wissenschaftszweigen weiterhin von Stadt und Land gesprochen. Es ist ratsam, dann sehr genau hinzuschauen, was als Land oder ländlich definiert wird. Eine Möglichkeit der Unterscheidung ergibt sich mit Hilfe des Minimalkonsenses, der besagt, dass alles das ländlich ist, was nicht als städtisch gilt. 81 Allerdings ist diese Definition mit dem Problem behaftet, dass sie ihren Gegenstand lediglich ex negativo bestimmt. Eine weitere Unterscheidungsmöglichkeit ist die Verwendung von äußerlichen, statistischen Markern. Dieser Weg wird in der bundesdeutschen Raumordnung auf differenzierte Weise begangen. Hier wird weiterhin zwischen städtischen und ländlichen Räumen unterschieden. 82 Das Bundesgebiet wird nach der Bevölkerungsdichte und dem Siedlungsflächenanteil erfasst. 83 Für das gesamte Bundesgebiet ergeben sich aufgrund der genannten Indikatoren eine Raumeinteilung nach ‚ländlichen‘, ‚teilweise städtischen‘ und ‚überwiegend städtischen‘ Gebieten (vgl. Abb. 8, S. 131). Festzuhalten ist allerdings, dass dabei nicht mehr über das Thema Land gesagt wird, als die statistischen Indikatoren erfassen. 84 Bereits Henkel wies darauf hin, dass dieser Erfassung von Ländlichkeit eine gewisse Willkür innewohne, insofern die Kategoriengrenzen nach unterschiedlichen Kriterien gesetzt werden können. 85 So gab Henkel an, dass eine Einwohnerdichte unter 200 Ew/km2 als ländlich gelte, während der Raumord80 Einen anderen Weg hat Ziermann eingeschlagen, die eine Sprachinventur vornimmt, um zu überprüfen, wie vom ländlichen Raum gesprochen wird, und so ein interessantes Bild der Lage aus linguistischer Sicht zeichnet (vgl. Ziermann (2018)). 81 Henkel (2004), 37. 82 Während der Raumordnungsbericht von 2005 in der Kategorisierung keine ländlichen Räume erfasste, wurde im darauffolgenden Raumordnungsbericht die Erfassung des ländlichen Raumes wieder eingeführt. Vgl. Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) (2005), 15–26 u. Bundesinstitut für Bau-, Stadt und Raumforschung (BBSR) (2012), 14f. 83 Vgl. https://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/Raumbeobachtung/Raumabgrenzungen/Raumtypen2010_vbg/Raumtypen2010_alt.html?nn=443270, aufgesucht am 10. Okt. 2018, 9:42 Uhr. 84 Es ist festzustellen, dass das genaue Verfahren zur Erstellung der Kategorien in den Raumordnungsberichten nicht dargestellt ist und so eine Nachvollziehen erschwert wird. Immerhin findet sich in einem Vortrag von Spangenberg eine Beschreibung des Verfahrens (wobei nicht beurteilt werden kann, ob das lediglich eine Vorarbeit für den Raumordnungsbericht von 2011 war oder schon das finale Verfahren): Als ländlich geprägt gelten dann diejenigen Räume, die weniger als 10 % Siedlungsflächenanteil umfassen und eine Siedlungsdichte bis unter 7,5 Ew/ha aufweisen. Eine städtische Prägung wird festgelegt, wenn ein Gebiet 10 % - 25 % Siedlungsflächenanteil umfasst und 15 Ew/ha und mehr hat oder mehr als 25 % Siedlungsflächenanteil aufweist und 7,5 und mehr Ew/ha hat. Eine relativ hohe und dichte Bodennutzung für Siedlung und Gewerbeflächen samt einer hohen Bevölkerungsdichte definieren dann städtische Regionen. Mittlere Verdichtungsgrade werden der Kategorie gemischt geprägt bzw. ‚teilweise städtisch‘ zugeordnet und geringe Verdichtungsgrade der Kategorie ‚ländlich‘ (vgl. https://www.zukunftsforum-laendliche-entwicklung.de/fileadmin/SITE_MASTER/content/Dokumente/Downloads2008/2Spangenberg.pdf, aufgesucht am 10. Okt. 2018, 11:02 Uhr). 85 Henkel (2004), 34.
Charakteristika ländlicher Räume in Ostdeutschland
Abbildung 8: Raumtypen 2010: Besiedelung Quelle: Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung: https://www.bbsr.bund. de/BBSR/DE/Raumbeobachtung/Raumabgrenzungen/Raumtypen2010_vbg/Raum typen2010_alt.html?nn=443270, aufgesucht am 10. Okt. 2018, 10:38 Uhr.
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nungsbericht von 2005 feststellte, dass „[d]ie Dichtestufe von 100 Einwohnern je km2 [. . . ] in Raumordnung und Landesplanung oft zur Abgrenzung des ländlichen Raumes herangezogen“ werde. 86 Damit ist die Bevölkerungsdichte kein hinreichendes Kriterium für die schwierige Erfassung bzw. kaum mögliche Erfassung von Ländlichkeit. Im Raumordnungsbericht 2005 wurden ländliche Räume deswegen zusätzlich durch ihre Funktionen bestimmt. Folgende Funktionen wurden dort den ländlichen Räumen zugewiesen: Wohnfunktion, Wirtschafts- und Arbeitsplatzfunktion, Naturschutzfunktion, Erholungs- und Tourismusfunktion, Ressourcenbereitstellungsfunktion, Standortfunktion für (flächenintensive) Infrastrukturen. 87 Diese Vielfalt an Funktionen der ländlichen Räume belegt einmal mehr, dass „die Landund Forstwirtschaft in ländlichen Räumen [zwar] prägend für das Landschaftsbild [ist], die Sozial- und Wirtschaftsstruktur wird allerdings schon lange nicht mehr von ihr dominiert.“ 88 Insgesamt zeigt sich, dass für die Raumordnungspolitik die Erfassung ländlicher Räume über statistische Marker sicherlich sinnvoll ist, jedoch können diese Indikatoren lediglich als Grundkomponente einer Erfassung des ländlichen Raums dienen, die je nach weiteren Forschungs- oder Sachgegenstand erweitert werden können. Grundlegend wurde bezüglich der ländlichen Räume im Raumordnungsbericht 2005 festgehalten: Eine eindeutige Abgrenzung gegenüber verdichteten Gebieten wird mit der fortschreitenden Angleichung ländlicher Räume an städtische Verhältnisse und die weitere Ausdifferenzierung ihrer Wirtschaftsstruktur immer schwieriger. Gängige Unterscheidungen von Stadt und Land verlieren so zunehmend ihre lebensweltliche Grundlage. Nicht zuletzt vereitelt die große Vielfalt ländlicher Räume selbst einfache Unterscheidungsversuche. Der ländliche Raum ist heute weniger denn je eine einheitliche Raumkategorie. Die Unterschiede in der Wirtschafts- und Beschäftigtenstruktur und den zukünftigen Entwicklungschancen sind zwischen einzelnen ländlichen Räumen dabei vielfach stärker ausgebildet als zwischen städtisch geprägten Gebieten und ländlichen Räumen. Eine Thematisierung des ländlichen Raumes, einzig und allein gestützt auf Merkmale der Siedlungsstruktur und der Bevölkerungsdichte, kann dieser Heterogenität nur noch unzureichend gerecht werden. Vielmehr sind komplexere Raumanalysen erforderlich [. . . ]. 89
Diese komplexen Raumanalysen zogen als zweiten wichtigen Indikator die Lage im Raum mit ein. Die Lage im Raum wird durch die Erreichbarkeit der Zentren bestimmt. Seit dem Raumordnungsbericht 2005 sind die beiden Indikatoren ‚Be-
86 87 88 89
Vgl. Henkel (2004), 34 u. Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) (2005), 19. Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) (2005), 204. Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) (2005), 203. Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) (2005), 203.
Charakteristika ländlicher Räume in Ostdeutschland
völkerungsdichte‘ und ‚Zentrenerreichbarkeit‘ als „Kernindikatoren der Raumstruktur“ etabliert. 90 Die Lage im Raum wird in Relation zu Agglomerationsräumen bestimmt. 2005 wurde dafür die Erreichbarkeit wichtiger Infrastruktur in Pkw-Minuten als Indikator benutzt. 2010 wurde dieser Indikator durch die Berechnung der erreichbaren Tagesbevölkerung ersetzt. „Tagesbevölkerung bedeutet, dass nicht nur die die Wohnbevölkerung repräsentierende Einwohnerzahl, sondern die Einwohnerzahl mitsamt des (Berufs-)Pendlersaldos der Gemeindeverbände einbezogen wird, um die funktionale Bedeutung von (Arbeitsmarkt-) Zentren [sic] zu berücksichtigen.“ 91 Die unterschiedliche Erreichbarkeit wurde dann in vier Kategorien dargestellt und ‚sehr zentrale‘, ‚zentrale‘, ‚periphere‘ und ‚sehr periphere‘ Räume voneinander unterschieden (vgl. Abb. 9, S. 134). 92 Mit diesen beiden „Kernmetriken“ sind sowohl kleinräumige (Stadt-LandKontinuum) als auch regionale bzw. großräumige (Lage) Relationen von Orten berücksichtigt. Ländlichkeit gibt es dann sowohl in der Nähe von Agglomerationsräumen als auch in großer Distanz zu ihnen. Das heißt, mit diesen Raumbeschreibungen ist man in der Lage bspw. Dörfer in der Nähe von München (zentral, ländlich) von Dörfern in der Uckermark (sehr peripher, ländlich) zu unterscheiden. Von ‚ländlichen Räumen‘ wird aber nach dieser Systematik erst auf der Kreisoder Regionenebene gesprochen, die dann auch städtische Zentren mit einschließen können. 93 Betrachtet man ländliche Räume als dünn besiedelte Gebiete abseits der großen Städte, dann ließen sich folgende Aussagen für den ländlichen Raum treffen: Nach der Kombination der Merkmale ‚ländlich‘ und ‚peripher‘ sowie ‚sehr peripher‘, zeigt sich, dass diese Gebiete rund 50 % der Fläche Deutschlands ausmachen. Hier leben circa 13 % der Bevölkerung, also rund 10,8 Millionen Menschen. 94
90 Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) (2005), 16–18. 91 Bundesinstitut für Bau-, Stadt und Raumforschung (BBSR) (2010), 16. 92 Zur Berechnung der Kategorien des BBSR-Erreichbarkeitsindex vgl. Alex/Schlegel (2014a), 18, Anm. 14. Spangenberg gab an, dass Regionen in denen 0 - 70.000 Personen „Tagesbevölkerung“ zu erreichen sind als „sehr peripher“ gelten, 70.001 - 150.000 als „peripher“, 150.001 - 500.000 als „zentral“ und 500.001 - 3.555.932 als „sehr zentral“ (vgl. https://www.zukunftsforum-laendliche-entwicklung.de/fileadmin/SITE_MASTER/content/Dokumente/ Downloads2008/2Spangenberg.pdf, aufgesucht am 10. Okt. 2018, 11:02 Uhr). 93 Bundesinstitut für Bau-, Stadt und Raumforschung (BBSR) (2010), 18. 94 Ländlich-periphere und ländlich-sehr-periphere Räume machen 49,4 % der Fläche Deutschlands aus. Hier wohnen 13,1 % der Bevölkerung. Die absolute Zahl der Bevölkerung (10,8 Millionen) wurde für das Jahr 2007 errechnet, da auf diesem Jahr die Prozentangaben des BBSR beruhen (vgl. https://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/Raumbeobachtung/Raumabgrenzungen/Raumtypen2010_vbg/Raumtypen2010_alt.html?nn=443270, aufgesucht am 4. September 2018, 7:59 Uhr).
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Abbildung 9: Raumtypen 2010: Lage Quelle: Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung: https://www.bbsr.bund. de/BBSR/DE/Raumbeobachtung/Raumabgrenzungen/Raumtypen2010_vbg/Raum typen2010_alt.html?nn=443270, aufgesucht am 10. Okt. 2018, 10:38 Uhr.
Charakteristika ländlicher Räume in Ostdeutschland
Analysen zeigten, dass die ‚Lage‘ einen stärkeren korrelativen Zusammenhang mit ökonomischen und soziostrukturellen Faktoren als die Ländlichkeit aufwies. 95 Statistisch gesehen sind es eher die peripheren und sehr peripheren Gebiete, die mit Strukturschwäche, sinkender Wirtschaftskraft und Bevölkerungsverlust zu kämpfen haben. Das heißt, dass auch Städte in diesen Regionen von Schrumpfungsdynamiken betroffen sind. Mit Hilfe dieser statistischen Unterscheidungen ist es nun möglich, differenziert über das Phänomen ‚ländlicher Raum‘ zu sprechen. So können prosperierende, meist zentrennahe Regionen von abgelegenen, schrumpfenden Regionen unterschieden werden. Wer heute über ländliche Problemregionen spricht, hat meistens die peripheren oder sehr peripheren Gebiete im Blick. Dies lässt sich anhand der raumordnerischen Analysen nachweisen, denen ein wichtiger Teil des praktisch-theologischen Diskurses folgt. Scherz und Hansen wiesen bereits zeitig auf den Wert der Raumordnung für die Kirchenentwicklung hin. 96 Das EKD-Papier Wandeln und Gestalten nahm ebenso Erkenntnisse aus der Raumordnung auf. Es entwarf ein facettenreiches Bild ländlicher Räume von prosperierenden wachsenden ländlichen Räumen hin zu stagnierenden und schrumpfenden Problemgebieten. 97 Auch Alex und Schlegel brachten die Raumordnung immer wieder in den Diskurs ein und identifizierten damit Räume mit besonderen Herausforderungen für die kirchliche Entwicklung. 98 Insgesamt steht damit eine differenzierte Analyse ländlicher Räume in der Praktischen Theologie bereit. Für die Gebiete im Osten zeichnet sich erneut eine gewisse einheitliche Besonderheit ab: Die Entwicklungsdynamiken sind hier für die Peripherräume insgesamt negativ. 99 Hansen summierte und hielt hinsichtlich Ostdeutschland fest: Die Wettbewerbsfähigkeit derjenigen Regionen wird sich verringern, bei denen strukturelle Schwächen mit ungünstigen Erreichbarkeiten, peripherer Lage oder dünner Besiedelung zusammenfallen und nicht durch Pendeln kompensiert werden können. In den
95 Spangenberg/Kawka (2008), 30–31. 96 Vgl. Scherz (2005) u. Hansen (2010), 236–240. 97 Vgl. Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (2007), 25–39. Dieses Papier ist am Raumordnungsbericht von 2005 orientiert und übernimmt vor allem die Einschätzung, dass periphere Räume mit geringer Dichte besonders wenig Chancen auf Wachstum bieten (vgl. Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (2007), 25). 98 Alex/Schlegel (2014a), 16–18 u. Alex/Schlegel (2014b), 53–61. 99 Diese Besonderheit des Umbruchs und Rückbaus zeigt auch eine Kehrseite: In der empirischen Studie Landaufwärts konnten innovative missionarische Aufbrüche vermehrt in Ostdeutschland ausgemacht werden, da hier herkömmliche kirchliche Organisations- und Sozialformen ersetzt werden mussten (Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (2016), 195f).
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ostdeutschen Ländern wird dies noch lange eine flächendeckende Erscheinung darstellen, verstärkt durch den ständigen Verlust an sog. ‚Humankapital‘. 100
Die beiden Kernmetriken ‚Besiedelung‘ und ‚Lage‘ sind allein nicht dazu geeignet, die wesentlich komplexeren Dynamiken im Raum zu erfassen. Es ist an dieser Stelle hervorzuheben, dass die Besiedelungsdichte oder ungünstige Lage zwar statistisch mehrheitlich mit Schrumpfungsdynamiken einhergehen, aber damit ist keine Aussage über die Ursachen dieser Dynamiken getroffen. Dünne Besiedelung und abgelegene Lage stehen nicht per se und ausschließlich für strukturschwache Regionen oder Regionen mit Problemen. Es gibt sehr wohl Beispiele für florierende abgelegene ländliche Räume, wie zum Beispiel das Emsland, sowie schrumpfende zentrale Metropolregionen, wie zum Beispiel das Ruhrgebiet. Deswegen wurde zur Einschätzung der Raumtypen eine weitere Dimension etabliert: die Dimension des Wachsens und des Schrumpfens. 101 Denn – dies sei noch einmal hervorgehoben: Die regionale Wirtschaftkraft [sic] und ihre Entwicklung lassen sich keinesfalls an den Dimensionen Siedlungsstruktur und Lage festmachen, sondern müssen gesondert betrachtet werden. 102
Zur Erfassung von Wachstum und Schrumpfung werden deswegen weitere sechs Indikatoren verwendet: Bevölkerungsentwicklung, Gesamtwanderungssaldo, Arbeitsplatzentwicklung, Arbeitslosenquote, Realsteuerkraft und Kaufkraft. 103 Schrumpfung wird somit mehrdimensional als „tiefgreifende[. . . ] Umstrukturierungen in Wirtschaft, Bevölkerung und Baustruktur“ 104 begriffen. Die kartographische Darstellung der Entwicklung dieser Indikatoren gibt Aufschluss über Wachstums- und Schrumpfungsdynamiken in Deutschland (vgl. Abb. 10, S. 137). Die Visualisierung der Daten verrät einige Auffälligkeiten: 105 Zum einen wird durch die Messung von drei Zeitintervallen deutlich, dass Schrumpfung ein Phänomen ist, das sich ausbreitete. Die Zunahme zeigt sich vor allem in westdeut100 Hansen (2010), 269, Herv. BS. 101 Vgl. Bundesinstitut für Bau-, Stadt und Raumforschung (BBSR) (2010), 10–20 u. Spangenberg/Kawka (2008), 29. 102 Bundesinstitut für Bau-, Stadt und Raumforschung (BBSR) (2010), 19. 103 Vgl. http://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/Raumbeobachtung/Raumabgrenzungen/wachsend-schrumpfend-gemeinden/Wachs_Schrumpf_Gemeinden_node.html, 12. Januar 2017, 6:11 Uhr. 104 Es fällt einerseits auf, dass in der Indikatorenauswahl der Bereich der ‚Baustrukturen‘ nicht aufgenommen wurde. Andererseits werden die Indikatoren im Bereich der Bevölkerung stärker gewichtet (vgl. http://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/Raumbeobachtung/Raumabgrenzungen/wachsend-schrumpfend-gemeinden/Wachs_Schrumpf_Gemeinden_node. html, 12. Januar 2017, 6:11 Uhr). 105 Vgl. dazu Milbert (2015), 9f.
Charakteristika ländlicher Räume in Ostdeutschland
Abbildung 10: Wachsende und schrumpfende Städte und Gemeinden Quelle: Milbert (2015), 12.
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schen Gebieten und hier vor allem im ländlichen Raum, wobei auch einige Mittel- und Großstädte betroffen sind. Weiterhin zeigt sich, dass Wachstum und Schrumpfung räumlich gesehen eng beieinander liegen. Es gibt somit kaum stagnierende Zwischenzonen. Hierfür hat sich das Stichwort der „regionalen Disparitäten“ 106 etabliert. Zum anderen wird zwar deutlich, dass Schrumpfung nicht allein auf Ostdeutschland beschränkt ist, aber die ostdeutschen Regionen schrumpfen mehrheitlich sehr stark. Im Großen und Ganzen sind es lediglich einige Großstädte als Wachstumsregionen auszumachen. In der Darstellung des Zeitintervalls von 2008 bis 2013 sind die Städte Erfurt, Jena, Chemnitz, Dresden, Halle, Leipzig, Berlin, Schwerin, Rostock und Greifswald sowie das Einzugsgebiet von Stettin an der polnischen Grenze sehr leicht identifizierbar. Nun ist Schrumpfung im Osten kein neues Phänomen. Seit 1950 ist in den östlichen Bundesländern ein Bevölkerungsrückgang festzustellen. 107 Jedoch ist derzeit eine Veränderung abzusehen. Durch nationale und internationale Immigration verzeichneten alle östlichen Bundesländer einen Bevölkerungszuwachs. 108 Genauer gesagt, überwiegen seit 2012 die Zuzüge die Wegzüge in den östlichen Flächenländern. 109 Allerdings ist zu beobachten, dass vor allem die genannten Großstädte von diesen Zuzügen profitieren. 90 % der Gemeinden müssen weiterhin mit Wanderungsverlusten leben. 110 Und das bedeutet vor allem für abgelegene ländliche Gemeinden weiterhin einen Abwärtstrend. 111 Diese Ergebnisse aus der Studie Im Osten auf Wanderschaft des Berlin-Institutes für Bevölkerung und Entwicklung wird auch durch die Studie Schwarmverhalten in Sachsen gedeckt: 112 Die vier großen sächsischen Städte, Leipzig, Dresden, Chemnitz und Freiberg gewannen überdurchschnittlich an Bewohnern hinzu. Neun weitere Städte mit über 20.000 Einwohnern gewannen ebenso an Einwohnern hinzu. Diese befinden sich jedoch mehrheitlich im Umland der vier großen Städte. In der Größenklasse unter 20.000 Einwohnern gewannen lediglich 15 Städte an Einwohnern hinzu – auch hier befinden sich neun dieser Städte im Umfeld der vier großen Städte.
106 Spellerberg (2016), 350–359. 107 Vgl. Gans (2005), 1005 und die kartographische Darstellung bei Milbert (2015), 7. 108 Vgl. Sulpina/Damm/Klingholz (2016), 10 u. die Graphik des Bundesinstitutes für Bevölkerungsforschung (BiB), welche ab 2012 eine Annäherung der Wanderungssalden verzeichnet: https://www.bib.bund.de/DE/Fakten/Fakt/M34-Wanderungen-West-Ost-ab-1991. html;jsessionid=66145A7CE1623CD934942C105C724728.2_cid389?nn=9992182, aufgesucht am 3. Juni 2020, 8:48 Uhr. 109 Sulpina/Damm/Klingholz (2016), 8. 110 Sulpina/Damm/Klingholz (2016), 6. 111 Sulpina/Damm/Klingholz (2016), 10. 112 Vgl. https://www.vdw-sachsen.de/schwarmverhalten-in-sachsen-wie-sieht-die-zukunftder-saechsischen-kommunen-aus/, aufgesucht am 13. Januar 2017, 6:21 Uhr.
Charakteristika ländlicher Räume in Ostdeutschland
Das zeigt wiederum, dass Oberzentren und deren Umfeld stark mit Wachstum korrelieren. 113 Doch die Nähe zu einem Oberzentrum ist im Osten kein Garant für das Wachstum von Dörfern, wie in der Studie Die Zukunft der Dörfer belegt werden konnte. 114 So bleiben abgelegene Gebiete sowohl im Osten als auch im Westen in der Haupttendenz Schrumpfungsregionen, die stark unter Bevölkerungsverlusten leiden: So büßten ländliche Gemeinden mit mehr als 60 Minuten Fahrzeit zu einem Oberzentrum zwischen 2003 und 2008 durchschnittlich fast sieben Prozent ihrer Bevölkerung ein. 115
Dieser Bevölkerungsverlust bedeutet für besonders kleine Dörfer (unter 500 Einwohner) in Zukunft eine Existenzbedrohung. 116 Zusammenfassend ist festzuhalten: Ländliche Räume werden bestenfalls mit Hilfe statistischer Marker von städtischen Räumen abgegrenzt. Die so gruppierten Räume sind äußerst heterogen. Als zweites Kriterium wird deswegen die Lage im Raum herangezogen, die zentrennahe ländliche Räume von peripheren ländlichen Räumen unterscheiden hilft. Die periphere Lage geht auf dem Land – vor allem in Ostdeutschland – mit anhaltenden Schrumpfungsdynamiken einher. Inwiefern sich diese Schrumpfungsdynamiken auf dem Land in der Gesellschaft und dann auch auf Kirche und Pfarramt auswirken, muss genauer untersucht werden.
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Kröhnert et al. (2011b), 6. Kröhnert et al. (2011b), 6. Kröhnert et al. (2011b), 6. Kröhnert et al. (2011b), 7.
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4.
Schrumpfung als Leitentwicklungsdynamik in ländlichen Räumen Ostdeutschlands
Aus den bisherigen Analysen wurde deutlich, dass es in den östlichen Bundesländern außerhalb bestimmter Städte in ökonomischer und bevölkerungssoziologischer Hinsicht überwiegend negative Entwicklungsdynamiken gibt. Auch durch die Phänomene Säkularisierung und Individualisierung verliert die evangelische Kirche an Mitgliedern und schrumpft. Aufgrund dieser massiven und langfristig negativen Tendenzen ist Schrumpfung als Leitentwicklungsdynamik genau zu untersuchen, um ihre Auswirkungen im peripheren Bereich zu verstehen, und um sie vor allem hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Kirche sinnvoll einschätzen zu können. Alex und Schlegel identifizierten dieses großflächige Schrumpfen als „Schlüsselthema“ 1 für die peripheren Gebiete. Im Handwörterbuch der Raumordnung definierte Gans Schrumpfung wie folgt: Schrumpfung, Rückgang oder Abnahme stellen quantitative Aspekte bei der Bevölkerungsentwicklung, bei Veränderungen von Arbeits- und Wohnungsmarkt oder bei Versorgungseinrichtungen sowie Infrastrukturen in den Vordergrund. Der Bevölkerungsrückgang in einem Gebiet spielt dabei eine zentrale Rolle, da er sich bei konstant bleibendem Wohlstand auf nationaler Ebene direkt und indirekt über eine sinkende regionale Nachfrage sowie über ein rückläufiges Angebot von Arbeitskräften negativ auf alle Lebensbereiche auswirken kann. 2
Diese Definition enthält drei wichtige Aspekte. Zum einen ist Schrumpfung zunächst Rückgang und noch kein Niedergang. Neu verwies darauf, wie schwierig es in einer Wachstumsgesellschaft ist, dem demographischen Wandel etwas Positives abzuringen. 3 Schrumpfung ist demnach häufig ein angstbesetzter Prozess weitab des gesellschaftlichen Normempfindens. Ein Bewusstsein für den Unter-
1 Alex/Schlegel (2014a), 20. 2 Gans (2005), 1004, Herv. original. 3 Neu (2013), 19.
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schied zwischen Niedergang und Rückgang ist bei Schrumpfungsprozessen ein erster wichtiger Aspekt. Als Zweites nennt die Definition von Gans fünf Indikatoren für Schrumpfung: Bevölkerungsentwicklung, Arbeitsmarkt, Wohnungsmarkt, Versorgungseinrichtungen und Infrastrukturen. Mit Hilfe dieser Indikatoren wird Schrumpfung erfasst. 4 Als Drittes wird der Bevölkerungsentwicklung eine Schlüsselrolle für die Bestimmung von Schrumpfungsprozessen zugeschrieben: Eine Abnahme der Einwohnerzahlen dünnt mittelfristig das Angebot privater und öffentlicher Dienstleistungen wie Arztpraxen, Einzelhandel, Schulen, Kultureinrichtungen, ÖPNV-Verbindungen aus, führt u. a. zu Wohnungsleerständen und zum Verfall der Immobilienwerte, verringert die Zahl der Personen z. B. im erwerbsfähigen Alter, verursacht Stilllegungen von Betrieben, mindert die Anziehungskraft einer Region für Menschen und Unternehmen. Solche Attraktivitätsverluste intensivieren noch den fortschreitenden regionalen Bevölkerungsrückgang aufgrund selektiver Migrationsprozesse, welche die Wettbewerbsfähigkeit schwächen und sich zusätzlich negativ auf die dortigen Geburtenzahlen auswirken. Schrumpfung und demographischer Wandel ändern die Verteilung und die Struktur der Bevölkerung bei sich verstärkenden regionalen Disparitäten. 5
Bevölkerungsentwicklung ist nach dieser Beschreibung ein wichtiger Faktor in der regionalen Entwicklung, jedoch nicht die alleinige Ursache für Schrumpfung. Hinsichtlich der Schrumpfung ist die Bevölkerungsentwicklung jedoch der wichtigste Indikator. 6 Deshalb werden im Folgenden relevante demographische Phänomene untersucht, die die Entwicklung der Bevölkerung für ländliche, periphere Räume in Ostdeutschland erfasst und deren Auswirkung auf die Organisation ‚Kirche‘ – besonders vor dem Hintergrund einer volkskirchlichen Mitgliedschaftslogik – nachgeht.
4 Vgl. dazu auch Abb. 10, S. 137. 5 Gans (2005), 1011. 6 Der Indikator Bevölkerungsentwicklung setzt sich aus der „natürlichen“ und „räumlichen Bevölkerungsbewegung“ zusammen. Erstere besteht aus den jährlichen Geburten und Sterbefällen und letztere aus nationalen und internationalen Wanderungsbewegungen (vgl. Henkel (2004), 46–61 u. Gans (2005), 1005).
Schrumpfung als Leitentwicklungsdynamik in ländlichen Räumen Ostdeutschlands
4.1 Demographie als Schrumpfungsfaktor in Gesellschaft und Kirche 4.1.1 Demographische Entwicklungen im ländlich, peripheren Ostdeutschland Die Diskussion des demographischen Wandels wird schon seit längerem geführt und es mangelt nicht an Datenmaterial und Analysen. 7 Eine grundlegende Einführung in die Verfahrensweise der demographischen Forschung bieten Huinink und Schröder. 8 Eine Kurzdefiniton der wichtigsten demographischen Faktoren verwenden Fuchs und Mayer: Der demografische Wandel bedeutet die Veränderung der Bevölkerung unter den demograpischen Aspekten Schrumpfung, Alterung, Fertilitätsentwicklung und Migration. Aus diesen Prozessen gehen alle Folgewirkungen hervor. 9
Die Aspekte der Alterung und Fertilitätsentwicklung gehören zur natürlichen Bevölkerungsbewegung. 10 Seit 1972 liegt die Sterberate konstant über der Geburtenrate in Deutschland, woraus sich eine potentiell negative Bevölkerungsbilanz ergibt (vgl. Abb. 11, S. 144). Aufgrund der Erhöhung der Lebenserwartung und der geringen Fertilitätsrate altert und schrumpft die Bevölkerung. Neben der natürlichen Bevölkerungsbewegung gilt es, die räumliche Bevölkerungsbewegung zu beachten, die sich aus den Salden der Binnen- und Außenmigration zusammensetzt. Bisher konnte das Bevölkerungsdefizit der natürlichen Bevölkerungsbewegung durch die Nettozuwanderung ausgeglichen werden, so dass Deutschland als Zuwanderungsland gilt. 11 Diese Bevölkerungsgewinne durch Migration kommen jedoch kaum den neuen Bundesländern zugute. Ostdeutschland war außerdem lange ein Abwanderungsgebiet und dies gilt für die ländlichen Räume in Ostdeutschland immer noch. 12 Es wurde bereits aufgezeigt, dass zwar die Bevölkerung auch im Osten seit 2012 zunimmt, davon jedoch nur die größeren Städte profitieren. 13
7 Vgl. Kösters (2007) u. http://www.demografie-portal.de/DE/Home/home_node.html, aufgesucht am 15. Okt. 2018, 17:10 Uhr. 8 Vgl. Huinink/Schröder (2008), 49–95. 9 Fuchs/Mayer (2013), 14. 10 Vgl. Henkel (2004), 46–61. 11 Vgl. http://www.demografie-portal.de/SharedDocs/Informieren/DE/ZahlenFakten/Bevoelkerungszahl.html, aufgesucht am 15. Okt. 2018, 18:07 Uhr. 12 Vgl. die knappe Zusammenfassung der Parallelen und Unterschiede zur Bevölkerungsentwicklung in Ost und West bei Klingholz (2016), 11–16. 13 Vgl. Grobecker/Pötzsch/Sommer (2016), 21 u. zum Wachstum der Städte sowie Schrumpfung des ländlichen Raums vgl. Kap. 10, S. 138f.
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Abbildung 11: Lebendgeborene und Gestorbene in Deutschland (1946 bis 2014; in Tausend) Quelle: Grobecker/Pötzsch/Sommer (2016), 18. Vereinfachte Darstellung.
Langanhaltende demographische Schrumpfungsprozesse und deren Folgen wurden von Weiß für ländliche Räume in Nordost-Deutschland untersucht. 14 Weiß führte für dieses sehr peripher gelegene und sehr dünn besiedelte Gebiet nordwestlich von Berlin die Kategorie „ländlichster Raum“ ein. 15 Schrumpfung führt in diesem Gebiet zu erheblichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Problemen. Weiß benennt hier den Faktor der Unwirtschaftlichkeit für viele Angebote und Dienstleistungen aufgrund der ‚Distanzlast‘. Dies führt zu Monopolstrukturen, die sowohl in wirtschaftlicher als auch gesellschaftlicher Hinsicht grundlegende gesellschaftliche Mechanismen unterlaufen: Zum einen ist da das Gesetz des Marktes zu nennen, welches aufgrund der fehlenden Konkurrenz nicht greift. Zum andern ist auch die kulturelle Verarmung anzuführen. Wenn aufgrund dieser ein regionaler Konformismus entsteht, kann das ab einem gewissen Punkt demokratiegefährend werden. 16 Hinzu kommt der Verlust von regionalem Qualifikationspotential durch Abwanderung, so dass für Politik und Wirtschaft kaum noch geeignete Akteure als Ansprechpartner vorhanden sind und somit das endogene Potential zu einer Verbesserung der Situation immer weiter abnimmt. 14 Geographisch untersucht Weiß das nordostelbische Dünnsiedelareal, welches sich als zusammenhängendes sehr peripheres Gebiet auf der Karte ‚Lage‘ (vgl. Abb. 9, S. 134) leicht verorten lässt. 15 Vgl. dazu und für das Folgende: Weiß (2002). 16 Weiß warnt hier vor möglicher starker Sozialkontrolle, die beispielsweise die Wahrung des Wahlgeheimnisses unterlaufen könnte. Vgl. dazu auch die Forschung zu ‚Rechtsextremismus in ländlichen Räumen‘ von Heitmeyer (2014), 131–146.
Schrumpfung als Leitentwicklungsdynamik in ländlichen Räumen Ostdeutschlands
Diese ländliche Schrumpfungsregion, das sogenannte nordostelbische Dünnsiedelareal, ist nach Weiß allein mit dünner Besiedelung unzureichend beschrieben. Das Hauptmerkmal und damit auch das Hauptproblem für diese stark ländliche und strukturschwache Region ist die Dispropertion der Bevölkerung – also eine Überalterung und Unterjüngung sowie das Fehlen von Frauen im demographisch aktiven Alter und Personen mit höheren Bildungsabschlüssen. 17 Allgemein gesagt, ist damit eine Entwicklungsdynamik beschrieben, die man wie folgt ausführen könnte – ohne damit alle Prozesse vollständig erfasst zu haben und ohne damit weder Reihenfolge, Ursache noch Wirkung festzulegen: Die Abwanderung von jungen Qualifizierten führt zur Unterjüngung, denn es fehlt der natürliche Nachwuchs in der Region. Da sich die meist besser gebildeten Frauen als mobiler erweisen, wird das Potential der regionalen Bevölkerung zum Selbsterhalt eingeschränkt. 18 Außerdem wird die Gesellschaft aufgrund der höheren Lebenserwartung insgesamt älter, so dass man von einer Überalterung spricht. Das damit einhergehende Problem wird meist im Rahmen der Rentensicherung verhandelt, da auf einen Rentner zunehmend weniger Erwerbstätige kommen. 19 Dies kann bspw. zu Engpässen in der Rentensicherung führen. Außerdem kommt es zu Engpässen bei anderen Versorgungsleistungen: Wenn die Mobilität im Alter abnimmt, entsteht ein Bedarf an lokaler Versorgung, der bspw. im gesundheitlichen Bereich aufgrund der geringen Bevölkerungsdichte nicht kostendeckend zu gesetzlich festgelegten Qualitätsstandards angeboten werden kann. 20 Wenn nun durch Abwanderung und Überalterung das sogenannte ‚Humankapital‘ abnimmt, dann sinkt damit auch das Potential in der Region ab, selbstständige, innovative Lösungen vor Ort zu generieren oder in der Region Wirtschaftszweige anzusiedeln, die hochqualifizierte Fachkräfte benötigen. Nun ist das von Weiß untersuchte nordostelbische Dünnsiedelareal ein Extremfall, jedoch zeigen sich in allen schrumpfenden und stark schrumpfenden Gebieten Anzeichen einer sich ähnlich entwickelnden Bevölkerungsdispropertion mit potentiell gleichen negativen Konsequenzen. So konnte Milbert für schrumpfende Gebiete in ganz Deutschland zeigen, wie sich zwischen 2003 und 2016 sowohl die Altersstruktur schneller in Richtung älterer Bevölkerungsanteile als auch die Geschlechterverhältnisse schneller zu ungunsten weiblicher Bevölkerungsanteile im demographisch aktiven Alter verschoben haben als in wach17 Weiß (2002), 254. 18 Kröhnert/Klingholz (2007), 6f. Hinsichtlich der Dispropertion der Geschlechter in der Bevölkerung gilt Ähnliches wie bei der Binnenmigration: Auf der Makroebene zeigt sich eine Trendwende für Ostdeutschland, denn die Abwanderung von gut gebildeten, jungen Frauen nimmt ab (vgl. Kröhnert et al. (2011a), 29). Bei genauerer Analyse zeigt sich jedoch, dass nur die ostdeutschen Großstädte von diesem Trend profitieren und dass in ländlichen Regionen die Schrumpfungsdynamiken anhalten (vgl. Kröhnert et al. (2011a), 29). 19 Kröhnert/Medicus/Klingholz (2006), 34f. 20 Vgl. die Studie von Fleßa zu Krankenhäusern im ländlichen Raum: Fleßa (2014), 53–63.
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senden Regionen (vgl. Abb. 12, S. 146 und Abb. 13, S. 146). Die von Weiß erarbeiteten Analysen und Herausforderungen sind somit auf die ländlich-peripheren Gebiete in ganz Ostdeutschland übertragbar, insofern hier demographische Schrumpfungsdynamiken anhalten.
Abbildung 12: Änderung der Altersstruktur in wachsenden und schrumpfenden Städten und Gemeinden zwischen 2000 und 2013 Quelle: Milbert (2015), 14. Geänderte Darstellung.
Abbildung 13: Ungleiches Geschlechterverhältnis der Bevölkerung im Alter von 18 bis unter 30 Jahren Quelle: Milbert (2015), 14. Geänderte Darstellung.
Mit diesen Analysen gehen notwendige Vertiefungen bzw. kontextbedingte Korrekturen zu den allgemeinen Einschätzungen bezüglich des demographischen Wandels einher. Allgemein wird der demographische Wandel mit den Stichworten „weniger, bunter, älter“ 21 diskutiert. Das Stichwort ‚weniger‘ bezieht sich hier21 Vgl. Kösters (2007) u. Fuchs/Mayer (2013).
Schrumpfung als Leitentwicklungsdynamik in ländlichen Räumen Ostdeutschlands
bei auf den Bevölkerungsrückgang, der aufgrund negativer Salden bei natürlicher und räumlicher Bevölkerungsbewegung erwartet wurde. Sulpina konnte aktuell zeigen, dass unter anderem aufgrund des Zustroms von Flüchtlingen in den letzten Jahren „statt ‚weniger‘ heute ‚mehr‘ Menschen“ 22 in Deutschland leben, als die Prognosen erwarten ließen. Jedoch kommt dieser Aufwärtstrend den ländlichen Gebieten in Ostdeutschland nicht zugute, da anerkannte Asylbewerber diese Gebiete verlassen. 23 So bleibt ‚weniger‘ als bleibender Trend für die ländlich-peripheren Gebiete der neuen Bundesländer bestehen. 24 Gleiches gilt für den Trend, der mit dem Stichwort ‚älter‘ beschrieben wird. Gerade aufgrund der Disproportion der Bevölkerung in diesen Gebieten nimmt dort die Alterung der Gesellschaft schneller zu im Vergleich zur Alterung wachsender Städte in Ostdeutschland bzw. im Vergleich zu Alterung in Deutschland insgesamt. Gerade in Ostdeutschland ließ sich der demographische Wandel im ‚Eiltempo‘ verfolgen, denn „[a]us den ‚jungen‘ Bundesländern [sind] nach der Wende [. . . ] längst die ältesten geworden.“ 25 Die Erwartung, dass die Gesellschaft aufgrund des Zuzugs sich in eine Gesellschaft der Multiminoritäten wandelt und damit ‚bunter‘ wird, ist für abgelegene und schrumpfende ländliche Räume nicht zu erwarten. Schrumpfungsprozesse in diesen Räumen zeigen, dass sich als Folge der Schrumpfung eine „Reduzierung eines zuvor vielfältigeren Profils in funktionaler, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht“ 26 einstellt. So ist gerade das Gegenteil der Fall, denn es erfolgt eine Entdifferenzierung statt einer Ausdifferenzierung und Pluralisierung. Mit Milbert ist demnach für Räume mit schrumpfenden Entwicklungsdynamiken Folgendes festzuhalten: Schrumpfende Kommunen sehen sich also vor dem Problem, den gesellschaftlichen Umbau bewerkstelligen zu müssen, obwohl ihnen hierzu ganz wesentlich an dem Prozess beteiligte Bevölkerungsgruppen abhandenkommen. Zudem setzt der Staat hinsichtlich dauerhaft anfallender sozialer Aufgaben immer stärker auf bürgerschaftliches Engagement. Das Potenzial an Bürgern für dieses Engagement erschöpft sich in den schrumpfenden Kommunen rasch. Schrumpfende Kommunen benötigen daher viel stärker institutionalisierte und finanzielle Hilfe als wachsende Kommunen, um sich an den sich in schnellerem Tempo vollziehenden demographischen Wandel anpassen zu können. Zugleich fehlt ihnen das Potenzial an bürgerschaftlich Engagierten, auf die dieser Prozess staatlicherseits vertraut. 27
22 Sulpina (2018), 34. 23 Klingholz (2016), 15. 24 Die Stagnation der ostdeutschen Bevölkerung bzw. deren Anstieg ergibt sich aus dem Wachstum bestimmter Stadtregionen (vgl. Kap. 10, S. 138). 25 Klingholz (2016), 13f. 26 Keim (2006), 5. 27 Milbert (2015), 14.
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Zudem gilt speziell im Hinblick auf die ländlichen Räume in Ostdeutschland: Die neuen Länder werden auch künftig stärker vom demografischen Wandel als die alten Länder betroffen sein, wobei sich die daraus resultierenden Herausforderungen noch stärker als bisher auf die peripheren Ländlichen Räume [sic] konzentrieren werden. Bevölkerungsverluste von fast 20 Prozent, das mit Abstand höchste Durchschnittsalter der Bevölkerung (51,4 Jahre) und eine Einwohnerdichte, die in den peripheren Ländlchen [sic] Räumen Mecklenburg-Vorpommerns und Brandenburgs nur noch bei 34 Einwohnern je km2 liegen wird, bringen immer größere Herausforderungen für die regionalen Akteure in Politik, Verwaltung und Wirtschaft mit sich. 28
Da Kirche als Volkskirche von der Verteilung und Bewegung der Bevölkerung im Raum direkt betroffen ist, gilt es nun, die ausgeführten Auswirkungen auf kirchliche Verhältnisse zu untersuchen. Dies ist ein sehr junges Forschungsgebiet und so können hier nur erste Versuche unternommen werden, Zusammenhänge herzustellen – insgesamt zeigt sich ein Forschungsdesiderat für die Kirchentheorie. 29
4.1.2 Kirchendemographische Entwicklungen Die demographischen Verhältnisse der Kirche hängen selbstverständlich auch mit den natürlichen und räumlichen Bevölkerungsbewegungen zusammen. Hinzu kommen jedoch noch die Faktoren von Eintritt (Taufe, Aufnahme, Wiedereintritt) in und Austritt aus den evangelischen Kirchen. Seitens des Kirchenamtes der EKD wird der demographische Faktor – also das Altern und Sterben der Kirchenmitglieder – als Hauptgrund der Schrumpfung angeführt. 30 Diese Aussage ist einerseits zutreffend und andererseits werden damit bestimmte Dynamiken überdeckt. Eigen und Schmitz-Veltin untersuchten die Entwicklung der Kirchenmitglieder in Relation zur Gesamtbevölkerung für den Zeitraum von 1956 resp. von 1991 bis 2008 (vgl. Abb. 14, S. 149). 31 Hier zeigte sich,
28 Maretzke/Weiß (2009), 41. 29 Vgl. dazu die Mitteilung des Berlin-Institutes für Bevölkerung und Entwicklung vom 12. Okt. 2006: „Um sich an den Wandel so gut wie möglich anzupassen, brauchen die Kirchen neue Strategien und dazu müssen sie zunächst Strukturen und Entwicklung der Mitglieder kennen. Allerdings sind die Basisdaten kaum aufbereitet – der Einfluss des demografischen Wandels auf die Kirchenmitglieder ist bisher nur für Stuttgart untersucht“ ( https://www. berlin-institut.org/newsletter/Newsletter_25.html.html#Artikel0, aufgesucht am 17. Okt. 2018, 7:47 Uhr). 30 Vgl. https://www.ekd.de/ekd-statistik-2018-36432.htm, aufgesucht am 18. Okt. 2018, 6:42 Uhr. 31 Vgl. dazu und für das Folgende: https://www.destatis.de/DE/Publikationen/WirtschaftStatistik/Gastbeitraege/EntwicklungKirchenmitglieder.pdf?__blob=publicationFile, aufgesucht am 18. Okt. 2018, 7:03 Uhr.
Schrumpfung als Leitentwicklungsdynamik in ländlichen Räumen Ostdeutschlands
dass die Sterbefälle den größten Anteil der Kirchenmitgliederverluste ausmachten. Es wurde jedoch außerdem deutlich, dass Austritte eine wichtige Rolle spielten und Taufen sowie Aufnahmen diese Verluste nicht kompensieren konnten. So mag einerseits für die geringen Taufen und die häufigeren Sterbefälle die Unterjüngung und Überalterung der Gesellschaft mitverantwortlich gewesen sein, jedoch zeigte sich auch, dass die Austritte und Taufabnahme ebenfalls der Tendenz der Säkularisierung folgten. 32
Abbildung 14: Mitgliederentwicklung in der Evangelischen Kirche in Deutschland nach Komponenten Quelle: https://www.destatis.de/DE/Publikationen/WirtschaftStatistik/Gastbeitraege/Ent wicklungKirchenmitglieder.pdf?__blob=publicationFile, aufgesucht am 18. Okt. 2018, 7:03 Uhr. Geänderte Darstellung.
Die von Eigen und Schmitz-Veltin errechneten Gesamtwerte der einzelnen Komponenten für den Zeitraum von 1991 bis 2008 machen das Verhältnis von Kirchenmitgliedergewinnen und -verlusten deutlich (vgl. Abb. 15, S. 150). Hier zeigt sich, dass 5,3 Millionen Taufen / Aufnahmen und der Zuwachs von 0,2 Millionen Kirchenmitgliedern durch Zuwanderung die Sterbefälle von 6,7 Millionen Kirchenmitgliedern bei weitem nicht aufwiegen können. 33 Hinzu kommt der Ver32 Vgl. dazu die Ausführungen Kap. 2.4, S. 101. 33 Die Zuwanderung ist „im Wesentlichen auf Zuwanderungen deutschstämmiger evangelisch getaufter Personen aus den Ländern des ehemaligen Ostblocks zurückzuführen. Da hier in Zukunft nicht mehr mit einer nennenswerten Zuwanderung zu rechnen ist, wird der Wanderungssaldo [. . . ] für die evangelische Kirche an Bedeutung verlieren“ ( https://www. destatis.de/DE/Publikationen/WirtschaftStatistik/Gastbeitraege/EntwicklungKirchenmitglieder.pdf?__blob=publicationFile, aufgesucht am 18. Okt. 2018, 7:03 Uhr).
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lust von 3,7 Millionen Kirchenmitgliedern durch Austritte. Somit ist die Rede vom demographischen Wandel als Hauptfaktor der Schrumpfung nachvollziehbar. Trotzdem überdeckt diese demographisierende Rhetorik, dass ein weiterer erheblicher Teil der Schrumpfung auf Austritte zurückgeht. Diese Austritte verstärken natürlich die Überalterung der in der Kirche verbleibenden Mitglieder und verschärfen die Problemlagen für die Kirchen, da vor allem Jüngere zum Austritt neigen. 34
Abbildung 15: Saldo der Mitgliederentwicklung in der Evangelischen Kirche in Deutschland 1991 bis 2008 nach Komponenten Quelle: https://www.destatis.de/DE/Publikationen/WirtschaftStatistik/Gastbeitraege/Ent wicklungKirchenmitglieder.pdf?__blob=publicationFile, aufgesucht am 18. Okt. 2018, 7:03 Uhr. Geänderte Darstellung.
Jüngst wurde die Altersentwicklung der Kirchenmitglieder in der Studie Kirche im Umbruch untersucht. 35 Diese Studie zeigt, wie die altersbedingte Schrumpfung in Zukunft zu gewichten ist. Sollten derzeitige Trends so weiterlaufen, dann bleibt der demographisch bedingte Rückgang zwar ein wesentlicher Faktor, aber der Großteil der Schrumpfung ist auf Effekte des Traditionsabbruchs zurückzuführen: 36 Bis 2060 werden alle vier Regionen [sc. Nord, Ost, Süd, West, BS] Kirchenmitglieder verlieren. Die höchsten absoluten Mitgliederverluste erfolgen im Westen. Die relativ größten Verluste im Osten sind im Wesentlichen auf den hohen Anteil älterer Kirchenmitglieder zurückzuführen. 34 Vgl. Pickel (2015a), 149. 35 Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) (2019), vgl. auch: https://www.ekd.de/kircheim-umbruch-projektion-2060-45516.htm, aufgesucht am 22. Juli 2019, 13:49 Uhr. 36 In der Studie wird im Gegenüber zu demographischen Faktoren von „kirchenspezifischen Faktoren“ gesprochen – dabei wird auf Taufe sowie Aus- und Eintritte Bezug genommen (vgl. Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) (2019), 9f).
Schrumpfung als Leitentwicklungsdynamik in ländlichen Räumen Ostdeutschlands
Diese Entwicklungstendenzen legen insgesamt nahe, dass sich die Alterung in der evangelischen Kirche nochmals rascher vollzieht als der schon im ‚Eiltempo‘ ablaufende demographische Wandel in den ostdeutschen Gebieten. In der Tat weisen die Kirchenmitglieder ein wesentlich höheres Durchschnittsalter auf als die Gesamtbevölkerung. 37 2009 war die Gesamtbevölkerung im Schnitt 43,2 Jahre alt, die evangelischen Kirchenmitglieder 45,7 Jahre. Fokussiert man die Analyse auf den Osten, geht die Schere zwischen alternder Bevölkerung und alternden Kirchenmitgliedern weiter auseinander. Der Osten Deutschlands ist ein Gebiet, welches stabil oberhalb des gesamtdeutschen Altersdurchschnitts sowohl der Bevölkerung als auch der Kirchenmitglieder liegt. Ostdeutschland wies 2009 einen Altersdurchschnitt der Kirchenmitglieder von 50 Jahren und älter auf. 38 Nimmt man zur Kenntnis, dass bereits 2009 das Durchschnittsalter der Kirchenmitglieder 50 Jahre und älter war, dann zeigen die Daten zur Normalbevölkerung von 2019, wie groß der Vorsprung der Kirchenmitglieder in Bezug auf die Alterung ist: Sachsen-Anhalt hat das höchste Durchschnittsalter im Osten mit einem Wert von 47,5 Jahren, danach kommt Thüringen mit 47 Jahren, Brandenburg mit 46,9 Jahren, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen mit jeweils 46,7 Jahren. Berlin gehört mit 42,6 Jahren zu den jüngsten Regionen im deutschen Vergleich. 39 So zeigt sich, dass der Vorsprung der Kirchenmitglieder im Alterungsprozess größer als 10 Jahre ist. Damit bestätigt sich, dass die Kirchenmitglieder im Schnitt wesentlich älter sind als die Gesamtbevölkerung und im Osten trifft diese Feststellung in erhöhtem Ausmaß zu. 40 Alex und Schlegel wiesen nach, dass die ostdeutschen Landeskirchen mit hohen Anteilen ländlich-peripherer Räume überproportional schrumpfen. 41 Sie verglichen außerdem die Schrumpfung der evangelischen Kirchen mit dem Rückgang der Bevölkerung und kamen zu dem Ergebnis: Dieser statistische Einblick zeigt, dass die meisten Landeskirchen mit hohem Anteil peripherer ländlicher Räume bis zu drei Mal schneller Gemeindeglieder verlieren als der
37 Grundlage für diese Aussagen ist ein Vortrag von Christiane Kayser, Referat Statistik der EKD, anlässlich des 5. Demographie-Kongresses vom 6. bis 7. Sept. 2010 in Berlin mit dem Titel: Die Gestaltung kirchlicher Arbeit unter sich ändernden demografischen Bedingungen. 38 Einzige Ausnahme mit einem etwas jüngeren Durchschnittsalter bildet die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, da hier der Einflussfaktor Berlin ins Gewicht fällt. 39 Vgl. https://de.statista.com/infografik/15636/durchschnittsalter-in-den-bundeslaendern/ , aufgesucht am 18. Okt. 2018, 8:19 Uhr. 40 Schlegel weist in einer Veröffentlichung von 2011 darauf hin, dass das Durchschnittsalter der „Pommerschen Evangelischen Kirche“ 54 Jahre beträgt, während das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern lediglich einen Altersdurchschnitt von 45 Jahren aufweist (Schlegel (2011), 155). 41 Vgl. Alex/Schlegel (2014a), 28, Alex (2013a), 50f u. Schlegel (2011), 153–158.
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Kirchendurchschnitt insgesamt. Zudem verlieren diese Kirchen deutlich schneller Gemeindeglieder, als die Bevölkerung insgesamt schrumpft. Der allgemeine Bevölkerungsrückgang kann also den hohen Rückgang der Gemeindegliederzahlen allein nicht erklären. Kirchen in diesen Räumen weisen vor allem einen überdurchschnittlich hohen Altersdurschnitt [sic] auf. Sie schrumpfen besonders stark durch diesen demografischen Effekt, der begleitet wird von geringen Kindertaufzahlen. Der Anteil der Christen an der Gesamtbevölkerung nimmt also damit weiter ab – besonders stark in peripheren ländlichen Räumen. 42
Es ist hier festzustellen, dass es bemerkenswert wenig Beschäftigung mit der demographischen Struktur der evangelischen Kirchenmitglieder und den daraus folgenden Konsequenzen gibt. Weder der jährliche statistische Bericht der EKD noch die jüngste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung befassen sich mit dem Thema der Altersverteilung und demographischen Entwicklung der evangelischen Kirchenmitglieder. 43 Allenfalls streifte Pickel in der fünften Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung das Thema im Zusammenhang mit dem Thema „Jugend und Religion“ und der Abnahme der jugendlichen Religiosität. 44 Pickel merkte an: Diese religiöse Indifferenz – will man sie einmal als Desinteresse an religiösen Themen bezeichnen – ist in der Regel unter den Jugendlichen und jungen Erwachsenen stärker ausgeprägt als in der Gesamtbevölkerung. Da weitere Dimensionen der subjektiven Religiosität kaum andere Ergebnisse erbringen und nicht zwingend auf eine weithin vorhandene, unterschwellige subjektive Religiosität verweisen, muss sich die evangelische Kirche die Frage stellen, wie sie vermeiden kann, eine ‚Seniorenkirche‘ statt einer ‚Volkskirche‘ zu werden. 45
Inwieweit die evangelische Kirche auf dem Weg ist, eine ‚Seniorenkirche‘ zu werden, oder gar schon ist, kann nur schwer beurteilt werden. Hinweise auf eine Überalterung sind allerdings unübersehbar, wie schon das erhöhte Durchschnittsalter der Kirchenmitglieder zeigt. Exemplarisch soll hier eine Sichtung von kirchlichen Verhältnissen vorgenommen werden, um zumindest einen Eindruck zu gewinnen, wie sich die analysierten Tendenzen in peripheren, ländlichen Regionen Ostdeutschlands auf die Kirchen auswirken. Diese Sichtung bleibt exemplarisch und anfänglich, denn dieses Thema und die Analyse dieser Daten steht im praktisch-theologischen Diskurs erstaunlicherweise erst am Anfang. 46 42 Alex/Schlegel (2014a), 28. 43 Vgl. https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/kirch_leben_2015.pdf, aufgesucht am 18. Okt. 2018, 8:30 Uhr u. Bedford-Strohm/Jung (2015). 44 Pickel (2015a), 142–160. 45 Pickel (2015a), 142–160. 46 Zur Einführung in die Kirchendemographie vgl. Hörsch (2011), 35–66.
Schrumpfung als Leitentwicklungsdynamik in ländlichen Räumen Ostdeutschlands
4.1.3 Regionale kirchendemographische Analysen im ländlich-peripheren Sachsen Für diese exemplarische Sichtung wurden Daten in unterschiedlichem Umfang aus vier sächsischen Kirchenbezirken herangezogen: Marienberg, Zwickau, Meißen-Großenhain und Bautzen-Kamenz. 47 Demographische Daten liegen für den Kirchenbezirk Zwickau vor sowie für die beiden ländlich-peripheren Kirchenbezirke Bautzen-Kamenz und Meißen-Großenhain. Insofern der Kirchenbezirk Zwickau um den Zentralort bzw. das lokale Oberzentrum Zwickau gruppiert ist, werden vor allem die beiden letztgenannten, mehrheitlich ländlich-peripheren Kirchenbezirke analysiert. Der Kirchenbezirk Meißen-Großenhain liegt im Nordenwesten von Dresden, dehnt sich bis an die Grenze zu Brandenburg aus und wird von der Elbe in nahezu zwei gleich große Flächen geteilt. Im Süden befindet sich mit der A4 eine wichtige Verkehrsader und im Osten verläuft die A13 von Dresden nach Berlin. Entlang dieser Verkehrsadern befinden sich Gebiete, die nicht als peripher, sondern als zentral einzuschätzen sind. Meißen, Riesa und Großenhain sind als Mittelzentren wichtige räumliche Bezugspunkte neben dem die Region bestimmenden Oberzentrum Dresden. Der Kirchenbezirk Bautzen-Kamenz liegt nordöstlich von Dresden und dehnt sich ebenfalls bis an die Grenze Brandenburgs aus. In der Fläche ist er im Vergleich zum Kirchenbezirk Meißen-Großenhain größer. Bautzen als Teil des Oberzentrenverbunds Bautzen-Hoyerswerda-Görlitz ist für die Region zentral, wobei Hoyerswerda und Görlitz nicht Teil des Kirchenbezirks sind. Hinzu kommt Kamenz als Mittelzentrum. 48 Die A4 verbindet Dresden und Bautzen und verläuft weiter bis nach Görlitz an die polnische Grenze. Diese Autobahn wirkt als Raumtrenner: Im Norden befinden sich zunehmend dünner besiedelte, sehr periphere Gebiete, während im Südteil ländliche Räume mit Verdichtungsansätzen zu finden sind. Der Zwickauer Kirchenbezirk liegt in einem wirtschaftlich starken, zentralstäd-tischen Gebiet und ist vor allem durch das Oberzentrum Zwickau geprägt. Mit der Nähe zu Chemnitz als nächstem Oberzentrum liegt der Kirchenbezirk verkehrsmäßig günstig zwischen A4 und A72 und kann als eine Art städtische
47 Die Auswahl ist zufällig, insofern die Kirchenbezirke zu unterschiedlichen Zeitpunkten an das Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung herantraten und um eine Analyse und Auseinandersetzung mit der Zukunft der Kirche in ländlichen Räumen baten. Dass die zur Verfügung gestellten Daten hier für die Forschung gebündelt genutzt werden können, ist der freundlichen Genehmigung der jeweiligen Superintendenten geschuldet, denen an dieser Stelle dafür herzlich gedankt sei. 48 Vgl. https://www.landesentwicklung.sachsen.de/download/Landesentwicklung/karte01raumstruktur.pdf, aufgesucht am 8. Aug. 2019, 9:25 Uhr.
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Kontrollgruppe als Gegenüber zu den ländlich-peripher geprägten Kirchenbezirken im Nordosten Sachsens herangezogen. 49 Betrachtet man nun die Alterspyramiden dieser Kirchenbezirke (vgl. Abb. 16, S. 154 für Meißen-Großenhain, Abb. 17, S. 155 für Bautzen-Kamenz und Abb. 18, S. 156 für Zwickau), dann sind zunächst zwei Vergleichswerte zu nennen, die als Referenzwerte gelten: Das Durchschnittsalter der Bevölkerung Sachsens beläuft sich auf rund 47 Jahre. 50 Weiterhin ist auf den Gebieten der Kirchenbezirke von einer niedrigen Kirchenmitgliedschaft auszugehen. 51
Abbildung 16: Altersverteilung der Kirchenmitglieder im Kirchenbezirk Meißen-Großenhain Quelle: Eigene Darstellung nach Daten des Ev.-Luth. Landeskirchenamtes Sachsens, Stand der Daten: 2019.
Es ist nun festzustellen, dass das Durchschnittsalter der Kirchenbezirke fünf bis sechs Jahre über dem Altersdurchschnitt der sächsischen Bevölkerung liegt. Mit dieser ersten Feststellung ist nun geboten, einen genaueren Blick auf die Charakteristika der Altersverteilung zu werfen. Die Form aller drei Alterspyramiden erinnert an die Alterspyramiden in westlichen Ländern und wird von Soziologen als Urne oder Pilz bezeichnet. 52 Dieser Formentyp zeigt eine schrumpfende Entwicklung an. 49 Zur Lage und Einschätzung der Raumtypen vgl. Abb. 9, S. 134. 50 Vgl. https://www.statistik.sachsen.de/html/369.htm, aufgesucht am 5. Aug. 2019, 15:52 Uhr. 51 Vgl. dazu die kartographische Darstellung: Abb. 7, S. 124. 52 Huinink/Schröder (2008), 55.
Schrumpfung als Leitentwicklungsdynamik in ländlichen Räumen Ostdeutschlands
Abbildung 17: Altersverteilung der Kirchenmitglieder im Kirchenbezirk Bautzen-Kamenz Quelle: Eigene Darstellung nach Daten des Ev.-Luth. Landeskirchenamtes Sachsens, Stand der Daten: 2019.
Interessanterweise zeigen sich beim Vergleich mit der Bevölkerungspyramide von ganz Deutschland trotz der schmalen Datenbasis in den Kirchenbezirken vergleichbare Merkmale. 53 Hier ist als Erstes die schmale Spitze zu nennen. Bei den über 86-Jährigen ist diese auf das Geburtentief in der Wirtschaftskrise der 1930er zurückzuführen bzw. auf die Gefallenen im 2. Weltkrieg. Der Einschnitt bei den ca. 70- bis 75-Jährigen geht auf das Geburtentief nach dem 2. Weltkrieg zurück. Die starke Ausprägung bei den rund 50- bis 65-Jährigen zeigt die sogenannte Babyboomer-Generation an. Hier ergibt sich nun die erste Abweichung zur Gesamtbevölkerung, denn die Babyboomer sind eigentlich die am häufigsten vertretene Generation. Dies stimmt für die Kirchenmitglieder nicht, denn hier ist die vorherige Generation stärker vertreten. Auffällig ist auch, dass Frauen dieser Generation in der Kirche überrepräsentiert sind. Nach der Generation der Babyboomer folgt ein Geburtenrückgang, der langfristig zu einer negativen Bevölkerungsentwicklung führt – allerdings in Wellen, so dass sich die Ausprägung der Babyboomer noch länger und in abgeschwächter Form in weiteren Generationen zeigt und zeigen wird. Für Ostdeutschland ist der Einschnitt bei den 2453 Vgl. und zum Folgenden: https://www.demografie-portal.de/SharedDocs/Informieren/ DE/ZahlenFakten/Bevoelkerung_Altersstruktur.html, aufgesucht am 6. August 2019, 6:42 Uhr.
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Abbildung 18: Altersverteilung der Kirchenmitglieder im Kirchenbezirk Zwickau Quelle: Eigene Darstellung nach Daten des Ev.-Luth. Landeskirchenamtes Sachsens, Stand der Daten: 2019.
bis 28-Jährigen charakteristisch. Dies ist auf das Geburtentief in den 90er Jahren zurückzuführen. Insofern es sich hier um eine Kirchenmitgliedschaftspyramide handelt und der Kircheneintritt traditionell mit der Kindertaufe erfolgt, muss es nicht verwundern, dass 1- und 2-Jährige kaum erfasst sind. Obwohl Kirchenmitglieder nur einen Teil der Bevölkerung darstellen, lässt sich in diesem Sample durchaus die demographische Geschichte Deutschlands nachvollziehen. Zudem ist der Traditionsabbruch zu erkennen, da die Babyboomer in der Kirche zwar stark, aber gegenüber vorangehenden Alterskohorten nicht stärker vertreten sind. Damit zeigt sich auch, dass es durchaus sinnvoll ist, eine demographische Auswertung der Kirchenmitgliedschaft in dieser Form vorzunehmen. Interessant ist die Ähnlichkeit der beiden ländlich-peripheren Kirchenbezirke untereinander und mit dem städtisch-zentral geprägten Kirchenbezirk Zwickau. Für Zwickau kann noch angeführt werden, dass die zu erwartende Ausprägung bei der Babyboomer-Generation nicht sehr stark ist und die Form deswegen eher einer umgekehrten Pyramide gleicht. Weiterhin lässt sich feststellen, dass für diese Kirchenbezirke die von Weiß festgestellte Disproportion zwischen den Geschlechtern zu Ungunsten der Frauen nicht zutrifft – im Gegenteil: in der Kirche sind Frauen eher stärker vertreten als Männer. 54 Eine Disproportion hinsicht54 Vgl. Kap. 11, S. 145.
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lich der Altersverteilung – also eine Unterjüngung und Überalterung – tritt dafür umso deutlicher zutage. Nun sind diese Kirchenmitgliedschaftspyramiden eine Darstellung auf Kirchenbezirksebene, jedoch leben die Kirchenmitglieder unterschiedlich verteilt in der Region und nicht kompakt an einem Ort. Mit dieser Situation gehen strukturelle und organisatorische Herausforderungen einher. Somit steht die Frage im Raum, wie es eigentlich um die einzelnen Gemeinden bzw. Gemeindeteile in demographischer Hinsicht bestellt ist. Dazu wurden für die Kirchenbezirke Bautzen-Kamenz und Meißen-Großenhain jeweils einzelne Kirchenmitgliedschaftspyramiden für die strukturell niedrigste erfasste Organisationsebene erstellt, verglichen und ausgewertet. In Sachsen gibt es dazu derzeit drei strukturelle Konstrukte: die Ortsgemeinde bzw. vereinigte Gemeinde, die Teilgemeinde eines Schwesternkirchverhältnisses und die Teilgemeinde eines Kirchspiels – wobei letztere rechtlich gesehen die unselbstständigste Form ist. Zur Einschätzung der (Teil-)Gemeindegröße sind folgende Angaben der sächsischen Landeskirche relevant: 55 Kategorie 1: Gemeinden über 2.300 Gemeindeglieder gelten als städtisch und erhalten bei ca. 2.000 Gemeindegliedern eine Pfarrstelle, 0,675 VzÄ Gemeindepädagogik und 0,4 VzÄ Kirchenmusik. Kategorie 2: Gemeinden über 700 bis 2.229 Gemeindegliedern gelten als durchschnittlich und erhalten bei ca. 1.500 Gemeindegliedern eine Pfarrstelle, 0,45 VzÄ Gemeindepädagogik und 0,3 VzÄ Kirchenmusik. Kategorie 3: Gemeinden unter 700 Gemeindegliedern gelten als ländlich und erhalten bei ca. 1.000 Gemeindegliedern eine Pfarrstelle, 0,225 VzÄ Gemeindepädagogik und 0,2 VzÄ Kirchenmusik. Diese Angaben zeigen, dass es sich hierbei um gleitende Werte handelt, die als Richtwerte anzusehen sind. Schaut man damit die Gemeinden bzw. Teilgemeinden im Kirchenbezirk Meißen-Großenhain an, fallen lediglich vier von 60 (Teil-)Gemeinden in Kategorie 1, eine in Kategorie 2 und der Rest – also 55 (Teil-)Gemeinden – in Kategorie 3. Im Kirchenbezirk Bautzen-Kamenz ist die Verteilung leicht anders: Hier fallen vier Gemeinden in Kategorie 1, vier in Kategorie 2 und die 49 übrigen (Teil-)Gemeinden in Kategorie 3. Das heißt nun nichts anderes, als dass die große Mehrheit der Gemeinden Hauptamtliche nicht allein finanzieren kann und deswegen auf regionale Zusammenarbeit angewiesen ist. In ländlichen Räumen Ostdeutschlands von Einzelgemeinden auszugehen, ist deswegen nicht realitätsgerecht. ‚Ein Dorf, eine Kirche, ein Pfarrer‘ ist ein Ideal, welches selten weniger der Realität entsprach als heute. Da es in Bautzen-Kamenz bspw. 20 (Teil-)Kirchengemeinden unter 500 Kirchenmitgliedern und 17 (Teil-)Kirchengemeinden zwischen 1.000 und 501 Kirchenmitgliedern gibt, sind Pfarrstellen mit mehreren Predigtstätten durch die vergangenen Strukturreformen zum Standard geworden. 55 Vgl. zum Folgenden: Evangelisch-Lutherisches Landeskirchenamt Sachsens (2015), 11.
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Nach einem Vergleich aller Demographiebäume der (Teil-)Gemeinden in den Kirchenkreisen Bautzen-Kamenz und Meißen-Großenhain, konnten unterschiedliche Typen herausgestellt werden: 56 Zum einen gibt es die großen städtischen Gemeinden mit mehr als 1.500 Kirchenmitgliedern. Sie ähneln sehr den bereits dargestellten Alterspyramiden der Kirchenbezirke und zeichnen sich besonders durch einen hohen Anteil älterer und weiblicher Kirchenmitglieder aus. Dann gibt es die (Teil-)Gemeinden mittlerer Größe, die zwischen 700 und 1.500 Kirchenmitglieder haben. Bei ihnen lassen sich die Babyboomer-Generation und die daraus resultierenden Wellen in den folgenden Alterskohorten noch erahnen. Je kleiner die Gemeinde wird, desto mehr nimmt die Alterspyramide die Form eines Kamms an. 57 Dadurch senkt sich auch der Altersdurchschnitt und erreicht teilweise den Schnitt der Bevölkerung in Sachsen mit 47 oder 48 Jahren. Auffällig ist auch, dass Gemeinden im Kirchenbezirk Meißen-Großenhain mit vielen Kindern und Jugendlichen in Gemeinden mit ca. 1.000 Kirchenmitgliedern entlang der Autobahnen zu finden sind (Bsp: Sacka, Radeburg, Röhrsdorf). Hier machen sich wahrscheinlich der Einfluss Dresdens und die entsprechende Pendelnähe zu Dresden bemerkbar. Im Kirchenbezirk Bautzen-Kamenz tritt dieses Phänomen nicht auf. Hier scheinen die Mittelstädte im Bereich der Kinder und Jugendlichen im Vergleich zum Land besser gestellt zu sein. Eine Ausnahme ist Gaußig, auf das noch zurückzukommen ist. Stichprobenartige Überprüfungen im Bereich des Kirchenbezirks Zwickau ließen hinsichtlich der hier vorgestellten Typen kaum nennenswerte Abweichungen erkennen. Die große Masse der Teilgemeinden mit unter 700 Gemeindegliedern, die von dem Papier Kirche mit Hoffnung in Sachsen als „ländlich“ eingestuft werden, sind einer gesonderten Betrachtung wert. Es wurde bereits ausgeführt, dass diese Gemeinden im Altersaufbau weder Pilz, Urne noch umgekehrte Pyramide sind, sondern eher einem Kamm gleichen. Damit geht auch ein deutlich niedrigeres Durchschnittsalter einher. Nun ist zu fragen, ob dies im Sinne der demographischen Entwicklung ein positives Zeichen ist. Um dies besser erfassen zu können, wird eine beliebig ausgewählte (Teil-)Gemeinde dieser Kategorie näher beschrieben (vgl. Abb. 19, S. 159). Die Kirchgemeinde Crostau ist mit den Gemeinden Kirschau und Schirigswalde verschwestert. Diese Gemeinden liegen im Südosten des Kirchenbezirks Bautzen-Kamenz, nah an der Grenze zur Tschechischen Republik. Mit 598 Kirchenmitgliedern gehört diese Gemeinde zu den ländlichen Gemeinden im oberen
56 Die Daten gehen auf eine bisher unveröffentlichte Studie am Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung zurück: Demographische Faktoren in den Strukturprozessen der Kirchenbezirke Meißen-Großenhain und Bautzen-Kamenz. 57 Vgl. dazu die Ausführungen zu Crostau: Abb. 19, S. 159.
Schrumpfung als Leitentwicklungsdynamik in ländlichen Räumen Ostdeutschlands
Abbildung 19: Altersverteilung der Kirchenmitglieder in der Gemeinde Crostau Quelle: Eigene Darstellung nach Daten des Ev.-Luth. Landeskirchenamtes Sachsens, Stand der Daten: 2019.
Bereich der Mitgliedschaft – dementsprechend ist auch das Durchschnittsalter hoch. Es liegt bei 53 Jahren. Wie gesagt erinnert diese Form eher an einen geraden Kamm als an die üblichen Formen, die von Demographen bemüht werden. Erstaunlich ist, dass trotz der geringen Ausprägungen in allen Altersstufen auch hier der ostdeutsche Knick der 90er Jahre zu sehen ist. Etwas erschütternd ist die Vorstellung der kirchlichen Arbeit vor Ort, wenn man an einen Konfirmandenjahrgang denkt. Häufig sind es zwei Jungen und zwei Mädchen pro Jahrgang – es gibt Gemeinden, in denen sich auch diese Zahl noch reduziert. Gerade in noch kleineren ländlichen Gemeinden handelt es sich dann nur noch um zwei Personen oder weniger. Meistens wurde die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen schon in die Region verlagert, da bei diesen Gruppengrößen kaum sinnvolles Arbeiten stattfinden kann. Gerade im Konfirmandenalter ist die Peergroup von erhöhter Bedeutung. Man muss davon ausgehen, dass es in den Dörfern keine christlich geprägten Peergroups gibt – das heißt dann auch, dass Konfessionslosigkeit den Alltag dominiert. Hier zeigt sich einmal mehr, dass das Dorf keine Stütze mehr für die Glaubensweitergabe ist. Der sehr dünn gesäte Nachwuchs findet so kaum glaubensförderliche Umweltbedingungen. Dies bestätigen auch Überlegungen, die die nächste Alterskohorte betreffen. Schaut man auf die heiratsfähigen Kirchenmitglieder bzw. die Kirchenmitglieder im demographisch aktiven Alter, dann ist bei den derzeitigen Trends die demo-
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graphische Prognose für Gemeinden dieser Art alles andere als positiv. Die Frage ist: Wie wahrscheinlich ist es, dass eine Partnerschaft in diesem Dorf zustande kommt und Kinder geboren werden? Nun wird man das Zustandekommen einer Partnerschaft nicht auf das Dorf begrenzen dürfen, denn Partnerschaften werden eher in der Region eingegangen und sind von regionalen Bedingungen abhängig. 58 Dies bringt angesichts der Sogwirkung von größeren Städten und deren Umland wiederum abgelegene Dörfer wie Crostau ins Hintertreffen und mindert deren Chance auf Nachwuchs. Allerdings muss auch gefragt werden, wie wahrscheinlich es ist, dass die beiden Partner ihren Nachwuchs konfessionell erziehen. Dies sieht für konfessionelle Ehen quer durch die unterschiedlichen Mitgliedschaftstypen gut aus, denn die „‚sehr‘, ‚ziemlich‘ und ‚etwas‘ kirchenverbundenen Evangelischen“ 59 signalisieren eine hohe Taufbereitschaft. Ganz anders sieht das für alleinerziehende Evangelische und in konfessioneller Hinsicht gemischte Partnerschaften aus. 60 Domsgen weißt hier auf eine Entwicklung hin, die in ihrer Bedeutungsschwere noch nicht erfasst wurde: Es zeigt sich eine Korrelation von Taufe und als traditionell zu bezeichnenden Familienformen. Alleinerziehende und nicht Verheiratete lassen ihre Kinder deutlich weniger taufen als verheiratete Eltern. Zudem zeigt sich, dass viele Taufeltern ‚offenkundig in erheblichem Abstand zu Kirche und Kirchengemeinde‘ leben, was daran deutlich wird, dass ‚zunehmend ein Elternteil von Täuflingen kein Kirchenmitglied ist.‘ Damit wird eine Entwicklung angesprochen, deren Auswirkungen zwar schon jetzt langsam hervortreten, die jedoch in ihrer Konsequenz bisher noch deutlich unterschätzt wird. Die auf der gesellschaftlichen Ebene zu beobachtende Pluralisierung spiegelt sich auch auf der Partner- und Familienebene wider. Konfessionell homogene Konstellationen im christlichen Sinne, also Eltern, die beide evangelisch oder katholisch sind, befinden sich in der Minderheit. Und selbst, wenn man die sog. konfessionsverbindenden Konstellationen mit einbezieht, bildet diese Gruppe christlicher Eltern deutschlandweit nicht mehr die Mehrheit. 61
Das heißt nun, dass die Wahrscheinlichkeit der christlichen Erziehung von Kindern in konfessionsgemischten – das meint hier mehrheitlich die Ehen zwischen konfessionsgebundenen und konfessionslosen Partnern – eine besondere Herausforderung ist. Domsgen resümiert hinsichtlich des Themas Religion in der Erziehung:
58 59 60 61
Vgl. Domsgen (2019), 295. Domsgen (2019), 293. Domsgen (2019), 293. Domsgen (2019), 293.
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Nicht selten führt das dazu, dass dieses Thema ausgeklammert wird mit dem Kompromiss, das Kind solle einmal selbst darüber entscheiden. 62
Wird nun das Thema ausgeklammert und kein Kontakt gesucht, dann zeigt sich hier wiederum ein Effekt, den Pickel als „Spirale des Schweigens“ 63 bezeichnet hat. Wie die Verteilung der Paarbeziehungen in Deutschland genau aussieht, hat Grünheid erforscht. Sie untersuchte die Eheschließungen nach Konfessionen der Partner in West- und Ostdeutschland für das Jahr 2010 (vgl. Abb. 20, S. 161). Hier zeigt sich, wie stark konfessionelle Paare im Osten in der Minderheit sind und dass die Mehrheit durch entweder rein konfessionslose Paare zustande kommt bzw. durch Ehen zwischen konfessionslosen und konfessionsgebundenen Partnern. Für die letzteren gilt wie bereits ausgeführt, dass eine christliche Erziehung eher wenig wahrscheinlich ist.
Abbildung 20: Eheschließungen nach Konfession der Partner im Jahr 2010 Quelle: Grünheid (2011), 9. Geänderte, schematische Darstellung.
So zeigt sich neben der demographisch-regional ungünstigen Prognose für Gemeinden wie Crostau auch der Traditionsabbruch als Hindernis für den Erhalt der Gemeinde. Mit Domsgen ist festzuhalten: Das „Gesamtgefüge gerät nun immer deutlicher aus den Fugen.“ 64 Diese Entwicklungsdynamik trifft nun auf alle Typen und Kategorien von Gemeinden zu – offensichtlich ist, dass kleinere
62 Domsgen (2019), 295. 63 Pickel (2010), 268. 64 Domsgen (2019), 296.
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Landgemeinden dadurch schneller an ihre Existenzgrenze gebracht werden als größere Gemeinden. 65 Nun soll auf zwei besonders auffällige Gemeinden geschaut werden. Zum einen handelt es sich um die Lutherkirchgemeinde aus dem Kirchenbezirk Zwickau – eine Zwickauer Stadtgemeinde (vgl. Abb. 21, S. 162) – und zum anderen um die Landgemeinde Gaußig aus dem Kirchenbezirk Bautzen-Kamenz (vgl. Abb. 22, S. 163).
Abbildung 21: Altersverteilung der Luthergemeinde Zwickau Quelle: Eigene Darstellung nach Daten des Ev.-Luth. Landeskirchenamtes Sachsens, Stand der Daten: 2019.
Die Luthergemeinde Zwickau zeigt zwei Besonderheiten: Zum einen ist bemerkenswert, dass diese Stadtgemeinde, die pro Jahrgang kaum mehr als 10 Personen aufweist, im Bereich der 26- bis 40-Jährigen sehr stark ist. Zum anderen ist es genau die Stärke dieser Alterskohorte, die ungewöhnlich ist, da in den anderen Alterspyramiden sich hier mehrheitlich der ostdeutsche Knick zeigt, der die geburtenschwachen Jahrgänge der 90er widerspiegelt. Diese ‚Kategorie 3‘-Gemeinde sticht hervor. Der Grund dafür ist ein Modellprojekt der sächsischen Landeskirche. Insofern diese Arbeit vom Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung evaluiert wurde, kann hier folgendes festgehalten
65 Es sei angemerkt, dass damit ein Niedergang und erhöhte Dysfunktionalitäten erwartet werden können – ob es zu einem Verschwinden kommt, ist schwer bis gar nicht prognostizierbar. Vgl. dazu die Ausführungen zu möglichen Wüstungen in Deutschland: Kap. 4.2.3, S. 178.
Schrumpfung als Leitentwicklungsdynamik in ländlichen Räumen Ostdeutschlands
Abbildung 22: Altersverteilung der Kirchgemeinde Gaußig Quelle: Eigene Darstellung nach Daten des Ev.-Luth. Landeskirchenamtes Sachsens, Stand der Daten: 2019.
werden: Die Luthergemeinde galt als überalterte Gemeinde, die durch – missionstheologisch gesprochen – eine Aufpfropfung vitalisiert werden sollte. 66 Aus demographischer Perspektive kann man das als gelungen bezeichnen, weil die Gemeindemitgliedschaft im Bereich der jungen Erwachsenen für ihre Verhältnisse außergewöhnlich gut aufgestellt ist – deutlich wird das auch im Vergleich zur Alterspyramide der Kirchgemeinde Gaußig, die aus anderen Gründen interessant ist. 67 Bei der Kirchgemeinde Gaußig ist die starke Präsenz der Kinder und Jugendlichen auffällig, die hinsichtlich der Jahrgangsstärken die vorangegangenen Kohorten teilweise deutlich übersteigt. Die Gemeinde liegt auf sorbischem – und damit stark katholisch geprägtem – Gebiet. 68 Für die starke Präsenz der Kinder und Jugendlichen scheint aber weniger ein konfessioneller Diasporaeffekt verantwortlich zu sein als das Vorhandensein des Evangelischen Schulzentrums Gaußig mit Kindergarten, Grund- und Mittelschule sowie beruflichem Gymnasium. 69 Das Schulzentrum scheint eng mit den umliegenden Kirchengemeinden verflochten 66 Herbst (2007), 208f. 67 Interessant ist auch die Spitze bei den Männer im Alter von ca. 30 Jahren. Dies ist wohl auf das Taufbegehren iranischer Flüchtlinge zurückzuführen, denen durch die Flüchtlingsarbeit der Gemeinde geholfen wurde. 68 Vgl. Abb. 7, S. 124. 69 Vgl. https://www.evsv-gaussig.de/index.php, aufgesucht am 6. Aug. 2019, 16:40 Uhr.
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und so gibt es offensichtlich einen positiven, sich gegenseitig befruchtenden Effekt, der zu jener Auffälligkeit in der Altersstruktur der Gemeinde führt. Einen ähnlichen aber schwächeren Effekt ließe sich auch für die Vereinigte Kirchgemeinde Großharthau im Kirchenbezirk Bautzen-Kamenz zeigen, die auf ihrem Gebiet ebenfalls eine evangelische Grundschule hat, mit der sie eng vernetzt ist. Hier zeigt sich allerdings keine besondere Ausprägung bei den Kindern und Jugendlichen als eher ein verhältnismäßig geringes Durchschnittsalter von 48 Jahren bei einer Gemeinde mit ca. 1.200 Kirchenmitgliedern. Diese ‚Projekte‘ zeigen, dass evangelische Kirchen unterschiedliche Dinge tun können, um Gemeinden zukunftsfähig zu machen. Die hier beobachteten demographischen Verschiebungen sind nicht nichts! Obwohl mehrheitlich Prozesse ablaufen, auf die Kirchen wenig Einfluss haben, ist an dieser Stelle besonders darauf hinzuweisen, dass es offensichtlich Strategien gibt, die sinnvoll um- und eingesetzt werden können und deren Effekte sich auch zeigen lassen. In dieser Hinsicht ist vor eine Demographisierung zu warnen. 70 Dies bringt die abschließende Frage auf, worauf Kirchgemeinden vor Ort überhaupt Einfluss haben. Um dieser Frage nachzugehen, werden Daten aus dem Kirchenbezirk Marienberg herangezogen. Diesem erzgebirgischen Kirchenbezirk gehörten im Jahr 2006 rund 50.500 Personen an. Im Jahr 2015 waren es noch rund 42.300 . Die sächsische Landeskirche geht in ihren Prognosen davon aus, dass im Jahr 2040 noch 21.100 Personen zu diesem Kirchenbezirk gehören werden. 71 Damit geht die sächsische Kirche von einem Verlust von über 50 % aus. Im Zeitraum von 2006 bis 2015 betrug der Verlust allerdings ‚nur‘ 16,18 %. 72 Auch dieser Kirchenbezirk liegt im ländlich-peripheren Bereich, jedoch gilt hier: je südlicher und weiter man in das Erzgebirge schaut, desto eher haben sich volkskirchliche Strukturen erhalten. Dies ist für den protestantischen Bereich in Ostdeutschland höchst ungewöhnlich und muss wohl auf die evangelisch-pietistisch geprägte Frömmigkeitstradition des Erzgebirges zurückgeführt werden. Nimmt man nun die Ausführungen von Pollack zur Kirchenmitgliedschaft ernst, dann sind die Austritte und selbstverständlich die Sterbefälle außerhalb des Einflussbereiches der Kirchen. Hinsichtlich der Kirchenaustritte weist Pollack nämlich darauf hin, „dass Kirchenaustritte primär von kirchenexternen Faktoren, weniger vom Handeln der Kirchen beeinflusst werden.“ 73 Zu fragen ist dann, wo sich der Einflussbereich des kirchlichen Handelns auch in den Statistiken nie70 Vgl. dazu ausführlich: Kap. 4.1.4, S. 167ff. 71 Vgl. Evangelisch-Lutherisches Landeskirchenamt Sachsens (2016). 72 Vgl. die Werte der Landeskirchen mit wesentlich höherem Anteil an (sehr) peripheren, ländlichen Räumen, die im Zeitraum von 2003 bis 2011 höhere Verluste in Kauf nehmen mussten: „Landeskirche Anhalt [. . . ] 26 % [. . . ], Pommern 21 %, EKM 18 %, EKBO 16 %, Mecklenburg nur 12 %“ (Alex/Schlegel (2014a), 28). 73 Pollack (2017), 99.
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derschlägt. Hier bietet sich die Beachtung der Zahlen zum kirchlichen Leben an. Anhand dieser Zahlen lässt sich die Partizipation an kirchlichen Angeboten nachvollziehen. Für den untersuchten Kirchenbezirk zeigt sich bspw. für das Jahr 2014, dass 43.300 Personen zur evangelischen Kirche gehörten. Die Teilnahme an unterschiedlichen Angeboten der Kirchen fiel allerdings weit niedriger aus. 74 So nahmen 2014 rund 27.000 Personen an den Gottesdiensten an Heilig Abend teil – traditionell einer der bestbesuchten Gottesdienste im Kirchenjahr. An Erntedank, einem weiteren gut besuchten Gottesdienst, nahmen rund 8.000 Personen teil. An normalen Sonntagsgottesdiensten nahmen durchschnittlich 5.000 Personen teil. Am ‚Zählsonntag‘ Invokavit lag die Teilnahme bei rund 3.500 Personen. Betrachtet man diese Zahlen im Zeitverlauf über rund 10 Jahre (2006-2015), dann zeigen sich unterschiedliche Dynamiken: Die Anzahl der Gottesdienstbesucher an Heilig Abend nahm über den genannten Zeitraum um ca. 4.000 Teilnehmer ab – das ist ein Rückgang um rund 13 %. Betrachtet man die durchschnittliche Zahl der Gottesdienstteilnehmer, zeigt sich ein Rückgang von lediglich 3 %; am ‚Zählsonntag‘ Invokavit ist sogar ein leichter Anstieg des Gottesdienstbesuchs zu verzeichnen! Insgesamt sind diese Partizipationszahlen der regelmäßigen und häufigen kirchlichen Angebote im Vergleich zur sinkenden Kirchenmitgliedschaft nahezu stabil. Betrachtet man die Teilnahmezahlen zu Angeboten für Kinder und Jugendliche, ergibt sich ein anderes Bild: Die Zahlen für die Junge Gemeinde, dem kirchlichen Angebot für Jugendliche nach der Konfirmation, gingen um 22 % von rund 700 Teilnehmern auf rund 550 Teilnehmer zurück. Auch die Taufzahlen (alle Taufen: Säuglings-, Kinder- und Erwachsenentaufen) gingen im Zeitraum von 2006 bis 2015 um 21 % zurück (2006: 475 – 2015: 371). Um so erstaunlicher ist der Anstieg um 7 % bei dem Angebot des Kindergottesdiensts (2006: 496 – 2014: 535). Interessant ist nun folgende Beobachtung: Für die Gottesdienstbesucher ist belegt, dass diejenigen, die häufig und regelmäßig gehen, sich von denen, die weniger regelmäßig einen Gottesdienst besuchen, vor allem hinsichtlich des Alters unterscheiden: So haben diejenigen, die mindestens wöchentlich in den Gottesdienst gehen, zu 51 % ein Alter von 60 Jahren und mehr; von den Kirchgängern im Monatsrhythmus sind es nur 43 %, immerhin 39 % sind dagegen unter 45 Jahre alt (Wochengeher: 26 %). 75
74 Diese Aussagen sind notwendigerweise unscharf, da die Zahlen zur Partizipation nichts über die Kirchenzugehörigkeit der Partizipanten an kirchlichen Angeboten aussagen. Weiterhin lässt sich mit diesen Zahlen auch nicht festlegen, ob immer ähnliche oder gleiche oder sehr unterschiedliche Personengruppen miteinander verglichen werden. Insgesamt ist dies kein überraschender Befund, da dieser Befund aus allen Kirchenmitgliedschaftsstudien bekannt ist. 75 Hermelink/Koll/Hallwaß (2015), 94f.
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Mit anderen Worten sind gut zwei Drittel der regelmäßigen und häufigen Kirchgänger 45 Jahre und älter. Vergleicht man diesen Befund mit der Bevölkerungspyramide in Sachsen, dann zeigt sich, dass diese Altersgruppe zwischen 1990 und 2017 einigermaßen stabil geblieben ist. 76 Schaut man auf die jüngeren Jahrgänge in der Alterspyramide mit dem Stand von 2017, dann ist ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen. Allerdings ist es nur schwer möglich diesen demographischen Rückgang mit den Zahlen der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen im Kirchenbezirk zu koppeln. Landesweite Daten auf eine Region zu beziehen ist nicht sinnvoll. Eine demographische Begründung des Rückgangs in der Kinder- und Jugendarbeit erscheint nicht als angemessen. Hier wäre nach anderen Ursachen zu forschen. Diese regionale Stichprobe stellt ein interessantes Einzelergebnis dar. Anhand dieser Stichprobe konnten die meisten Großtrends nachvollzogen werden: Die Anzahl der Kirchenmitglieder nimmt deutlich ab und es zeigt sich neben der allgemeinen Alterung eine durchaus schmerzliche Unterjüngung, da sowohl die Taufzahlen stark rückläufig sind als auch die Teilnehmerzahlen der Jungen Gemeinde, als eines der wichtigen und regelmäßigen Angebote der Jugendarbeit in Ostdeutschland. Beachtlich im Vergleich zu den durchschnittlichen Gottesdienstbesuchen ist die hohe Anzahl der Teilnehmer an den Gottesdiensten zu Heilig Abend, obwohl auch diese stark rückläufig sind. Außerdem zeigten sich bei der Analyse des Gottesdienstbesuchs auch Wachstumstendenzen. Bei diesem regelmäßigen und zentralen kirchlichen Angebot ist dieser Befund beachtlich und kann angesichts weitverbreiteter Schrumpfung kaum hoch genug eingeschätzt werden. 77 Geht man davon aus, dass Pfarrerinnen und Pfarrer schwerpunktmäßig mit den Gottesdienstgemeinden arbeiten – dies soll hier auch Angebote für weitere Erwachsene in der Altersklasse 45+ einschließen –, dann ergibt sich eine beachtenswerte Parallele: Einer Pfarrstelle in Sachsen stehen im Schnitt rund 1.300 Kirchenmitglieder gegenüber. 78 Wie bereits mit Pollack dargelegt, kann die Kirche durch ihre Angebote keinen stabilisierenden Einfluss auf die Anzahl der Kirchenmitglieder ausüben. Dazu ist der Schlüssel von einer Pfarrperson auf 1.300 Mitglieder – obwohl im EKD-Vergleich ein günstiges Verhältnis – offensichtlich nicht geeignet. Allgemein geht man davon aus, dass „Menschen mit kaum
76 Vgl. https://www.statistik.sachsen.de/download/010_GB-Bev/grafik_bestand_Basis.pdf, aufgesucht am 18. Okt. 2018, 16:47 Uhr. 77 Beachtlich ist in diesem Zusammenhang auch die steigende Anzahl der Teilnehmer am Kindergottesdienst. 78 Vgl. Evangelisch-Lutherisches Landeskirchenamt Sachsens (2016), 10. Rechnerisch liegt die Quote für 2019 in besagtem Kirchenbezirk bei 1241,48 Gemeindegliedern pro Pfarrperson.
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mehr als 200 anderen Menschen eine Beziehung aufbauen und halten können“ 79. Nimmt man nun an, dass die 31,25 VzÄ Pfarrstellen im untersuchten Kirchenbezirk rund 200 Kontakte pro ein VzÄ halten können, dann ergeben sich daraus insgesamt 6.250 ‚Beziehungen‘. Erstaunlicherweise ist diese Zahl nicht so weit von der durchschnittlichen Gottesdienstbesucherzahl im Kirchenbezirk entfernt, unter der ja auch Wachstum zu verzeichnen war. 80 Die Verhältnisse vor Ort sind natürlich wesentlich komplexer, wie vor allem in der Netzwerkerhebung aus der fünften EKD-Erhebung zur Kirchenmitgliedschaft herausgearbeitet wurde. Dennoch ist es pastoraltheologisch sinnvoll, die Kommunikationsreichweite und Beziehungsmöglichkeit der kirchlichen Akteure zu überdenken, um herauszuarbeiten, welches ‚Zuordnungsverhältnis‘ angemessen ist – vor allem hinsichtlich der Bewertung von bzw. der Erwartung an kirchliche Arbeit. Die hier lediglich angedachte und vage Verhältnisbestimmung von einem Hauptamtlichen auf 200 Personen – einem Verhältnis, das modellmäßig eher in Richtung Beteiligungskirche weist und auch anderer Finanzierungsprinzipien bedarf – ist gegenüber dem volkskirchlichen Modell mit einem Verhältnis von einem Pfarrer auf 1.300 Personen oder mehr zumindest als Alternative gedanklich aufzunehmen.
4.1.4 Demographisierung – eine Kritik am Gebrauch vermeintlich demographischer Begründungen Mit Gans konnte bereits festgehalten werden, dass die demographische Entwicklung ein wichtiger Indikator und auch ein starker Faktor in Schrumpfungsprozessen ist. 81 Dementsprechend wurde die demographische Situation für Gesellschaft und Kirche in peripheren, ländlichen Räumen Ostdeutschlands untersucht. Einige Folgen des Bevölkerungsverlustes konnten schon benannt werden. Zu fragen ist aber in diesen komplexen Zusammenhängen, was Ursache und was Wirkung ist. Ganz sicher sind im komplexen Feld der Regionalentwicklung einzelne Faktoren als Ursache oder Wirkung nicht sinnvoll zu identifizieren. Trotzdem lässt sich feststellen, dass es eine Tendenz zur Überbewertung von demographischen Faktoren gibt. Deswegen ist auf die Kritik am Gebrauch mancher demographischer Analysen hinzuweisen.
79 Hauschildt/Pohl-Patalong (2013), 309. Vgl. diesbezüglich auch die Ergebnisse der Netzwerkerhebung der fünften EKD-Erhebung zur Kirchenmitgliedschaft: Heidler et al. (2015), 374 u. 399. 80 Hinzuzählen wären noch Besucher von Gemeindegruppen – allerdings sind hier starke Überschneidungen nicht auszuschließen, so dass darauf verzichtet wurde. 81 Vgl. Kap. 4., S. 142.
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Im Kern geht es in der Demographie um die Entwicklung der Fertilitäts- und Sterberate, die Struktur der Bevölkerung sowie räumliche Bevölkerungsbewegungen. 82 Darauf haben selbstverständlich viele Faktoren Einfluss. Allerdings beobachtet Küpper eine starke Ausweitung der Faktoren, die in demographischen Begründungszusammenhängen herangezogen werden: Insgesamt lässt sich jede Politik, die auf die Attraktivitätssteigerung einer Region oder Kosteneinsparungen abzielt, als Reaktion auf den demographischen Wandel interpretieren, auch wenn andere Motive eine wichtigere Rolle bei der Entscheidung gespielt haben. 83
Dieses Phänomen wird auch als ‚Demographisierung‘ bezeichnet. Neu machte darauf aufmerksam, dass gerade in peripheren, ländlichen Gebieten demographische Argumentationen genutzt werden, um Zentralisierungsmaßnahmen als Kürzung und Rückbau zu begründen. Dies verschleiert jedoch komplexe Zusammenhänge. Aufgrund der demographischen Analysen erscheint indes das politische Handeln als ‚zwangsläufig‘ oder gar effizient – allerdings zeigt sich dadurch vor allem, „dass die infrastrukturellen Um- und Rückbaumaßnahmen nach wie vor fest an den Vorstellungen industriegesellschaftlicher Produktion und wirtschaftlichem Wachstum orientiert sind.“ 84 Ein Missbrauch von demographischen Analysen wäre demzufolge, wenn in peripheren Lagen ein Rückbau demographisch begründet durchgesetzt wird, ohne dass regionale Herausforderungen im Wechselverhältnis von Zentrum und Peripherie kontextabhängig – d.h. mit Standards, die für die Region angemessen sind und nicht zu sozialer Ungleichheit führen – erarbeitet worden sind. Diesbezüglich besteht offensichtlich Nachholbedarf, denn Neu wies explizit auf diesen Zusammenhang hin: Diese Demografisierung des Gesellschaftlichen – von der Bevölkerungszusammensetzung wird auf die Gesellschaft, ihre wirtschaftliche Zukunft, ihre politischen Möglichkeiten und kulturellen Leistungen geschlossen – verschleiert jedoch, dass nicht der Bevölkerungsaufbau an sich schon, sondern vor allem ökonomische und noch mehr politische Entscheidungen über die Zukunft von Regionen entscheiden. 85
Demographische Begründungen und daraus abgeleitete Schicksalsergebenheit ist im Zusammenhang von Regionalentwicklung demnach unangemessen. So arbeitete Küpper außerdem heraus, dass „eine klare Verbindung zwischen Demographischem [sic] Wandel und der Regionalpolitik kaum möglich“ 86 sei. In der Re82 83 84 85 86
Vgl. Huinink/Schröder (2008), 49–53. Küpper (2011), 54. Neu (2014), 121. Neu (2009), 83. Küpper (2011), 54.
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gionalentwicklung geht es um komplexe, mittelbare Zusammenhänge von Migration, regionalen Besonderheiten hinsichtlich der wirtschaftlichen und institutionellen Rahmenbedingungen und politischen Maßnahmen, die Einfluss auf die Regionalentwicklung nehmen. Unter diesen Faktoren ist der demographische Wandel – im Sinne der gesteigerten Lebenserwartung und Verringerung der Geburten – nur einer von vielen Faktoren. Deswegen ist mit einer demographischen Argumentation umsichtig zu verfahren, um daraus keine wie auch immer gearteten Zwangsläufigkeiten abzuleiten. Gleiches gilt für die Raumklassifizierungen. Auch hier ist mit Neu darauf hinzuweisen, dass eine geringe Dichte und Abgelegenheit von Zentren zwar eher mit Schrumpfung zusammenfallen, es aber stark vom politischen Willen abhängt, Gebiete dieser Art zu fördern oder fallen zu lassen. 87 Gerade wenn man ländliche, periphere Schrumpfungsregionen hinsichtlich der demographischen Entwicklung beobachtet und feststellt, dass hier eine starke Überalterung vorhanden ist, sollte nicht vergessen werden, dass die wirtschaftliche Prosperität bzw. deren Rückgang den demographischen Prozessen vorgelagert ist. 88 So ist hier festzuhalten, dass die demographische Entwicklung einerseits ein Indikator für Schrumpfungsprozesse ist und selbstverständlich auch ein wirksamer Faktor in ihnen. Aber die demographische Entwicklung kann in regionalen Entwicklungsprozessen nicht zur alleinigen Ursache oder zum entscheidenden Kriterium der ablaufenden Entwicklungen stilisiert werden. Dafür sind die regionalen Prozesse zu komplex und das Verhältnis dieser Regionalentwicklungen zur Bevölkerungsentwicklung ist eben bestenfalls ‚mittelbar‘. Diese Beobachtung hat auch Relevanz für kirchliche Strukturprozesse. Zum einen ist festzuhalten, dass politische und ökonomische Prozesse und Entscheidungen den demographischen Prozessen vorgelagert sind. Kirche hat darauf nur bedingt Einfluss und ist gleichzeitig Teil dieser Prozesse. Dieses Verhältnis ist komplex und mit Interesse wahrzunehmen. Zum anderen kann man mit dem Stichwort ‚Demographisierung‘ kirchliche Strukturprozesse kritisch reflektieren. Es wäre ein Fall von kirchlicher Demographisierung, wenn Gemeindefusionen angebahnt werden allein aus dem Grund, dass sich eine Alterung und Schrumpfung abzeichnete. Wenn dies als Argument für Zentralisierung ins Feld geführt wird, ohne weitere Indikatoren zu beachten, kann und werden aller Wahrscheinlichkeit nach auch vitale und profilierte Arbeiten vor Ort betroffen sein. Hier ist dringend nach der Suche weiterer Indikatoren für einen sinnvollen Rückbau zu raten. Angedacht wurden im vorigen Kapitel im Grunde genommen dazu drei Dinge: Es gibt Gemeinden, die offensichtlich in einer Altersgruppe Schwerpunkte 87 Neu (2010), 244. 88 Neu (2010), 244.
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ausbilden: Zwickau Luther bei den jungen Erwachsenen und Gaußig im Bereich der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Hinzu kommt der Verweis auf die Partizipationszahlen. Insofern diese Gruppen, Kreise, Chöre, Kasualien, Gottesdienste etc. einschließen, geben sie ein aufschlussreicheres Bild der Arbeit vor Ort als die Gemeindegliederzahl. Damit ist hier nur gesagt, dass weitere Indikatoren durchaus vorhanden sind, die einer demographisierenden Begründung abhelfen könnten. Welche Indikatoren herangezogen werden, muss sicherlich kontextuell und in regionalen Abstimmungsprozessen eruiert werden. Hauptsache ist, dass man die Tendenz zu einer rein ‚kirchendemographisierenden‘ Begründung hinter sich lässt.
4.2 Peripherisierung als zentraler Diskurs zu Entwicklungsdynamiken im ländlichen Bereich 4.2.1 Peripherisierung – die Rückseite von Zentralisierungsprozessen Wenn nun Schrumpfung zwar statistisch feststell- und beschreibbar ist, die Demographie aber nicht als alleinige Ursache angeführt werden kann, stellt sich die Frage, wie man die komplexen Prozesse in Regionen beschreiben kann und welche Faktoren zu unterschiedlichen Entwicklungsdynamiken beitragen. Seit 2006 wird deswegen ein Diskurs über ‚Peripherisierung‘ geführt. Peripherisierung wird verstanden als Rück- oder Schattenseite von Zentralisierungsvorgängen und somit im Sinne eines Komplementärbegriffs zu Zentralisierung verwendet. 89 Der Diskurs zur Peripherisierung hilft nun dabei, ablaufende Entwicklungen eines voranschreitenden Funktions- und Machtverlustes in Räumen zu beschreiben, benennt wesentliche Faktoren und fragt nach Verantwortlichkeiten verschiedener (institutioneller) Akteure. Keim definierte den Begriff ‚Peripherisierung‘ dementsprechend: ‚Peripherisierung‘ wird hier zusammengefasst als graduelle Schwächung und / oder Abkopplung sozial-räumlicher Entwicklungen gegenüber den dominanten Zentralisierungsvorgängen bezeichnet. 90
Der Begriff ist nach Keim ein Prozessbegriff und hat eine sozialstrukturelle sowie eine ökonomische und kulturelle Dimension. 91 Priorität kommt dabei den ökonomischen Entwicklungen zu. Wenn sich die Ökonomie auf bestimmte Ge89 Keim (2006), 3. 90 Keim (2006), 3. 91 Dazu und zum Folgenden Keim (2006), 3–5.
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biete konzentriert und dabei vom Umland unabhängig ist oder unabhängiger wird, dann führt das in den ehemals miteinander verflochtenen Gebieten zu Peripherisierung. Soziostrukturelle Umwälzungen erfolgen, so dass die Bevölkerung sich in den Zentren konzentriert und die Gebiete, die verlassen werden aufgrund der geringeren Nachfrage in nahezu jeder Hinsicht unter Druck geraten: Wohnungsleerstand, Unterauslastung der Infrastruktur und Finanzknappheit wären da als Beispiele zu nennen. Die dabei ablaufenden Prozesse werden als Prozesse der ‚Entdifferenzierung‘ und ‚Fragmentierung‘ charakterisiert. Sind Sozialräume jedoch ‚abgehängt‘, ergeben sich nach Keim zwei denkbare Entwicklungen: Wüstungen oder ‚unter günstigen Umständen ein schmaler, provinzieller, stagnierender Regionalismus‘ 92 mit Vor- und Nachteilen. Somit beschreibt Peripherisierung einen umfassenden und negativen Entwicklungstrend. Neu wies besonders auf den Anteil politischer Leitvorstellungen und Machtverschiebungen hin, um Peripherisierungsprozesse zu beschreiben. Sie warnte davor, dass die von Keim beschriebenen Prozesse zu „einer Gefahr für den sozialen und territorialen Zusammenhalt der Gesellschaft werden [können].“ 93 Politisch relevant ist dieser Sachverhalt deswegen, da gerade die Leitvorstellungen für die Entwicklung von Räumen geändert werden. Nach Grundgesetz Art. 72 Absatz 2 zielt die Politik auf die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse. Diese Gleichwertigkeit wird nicht aufgegeben, jedoch neu definiert. So sollte bisher – in Zeiten der wirtschaftlichen Prosperität – die Gleichheit durch eine Anpassung nach oben erreicht werden: Die ländlichen Räume wurden an die Infrastrukturstandards der Städte angepasst, um so Gleichwertigkeit herzustellen. 94 Dieser Weg erscheint aus finanziellen Gründen nicht mehr möglich. 95 Deswegen kommt eine Debatte um Mindeststandards für abgekoppelte Räume auf. 96 Allerdings argumentierte Neu, dass die Debatte um Mindeststandards einer Peripherisierung eher zuträglich sei und forderte deswegen, sich von der Frage ‚Wie wenig darf ’s denn sein?‘ zu lösen und nach neuen Wegen der Integration und Teilhabe hinsichtlich der Daseinsvorsorge zu suchen. 97 Im Grunde wird damit organisationale Innovation gefordert, um bedarfsgerechte Angebote in neuen Strukturen 92 93 94 95
Keim (2006), 5. Neu (2009), 82. Neu/Barlösius (2008), 20. Als Beispiel dafür sei der Ausbau von schnellen Internetverbindungen im ländlichen Bereich genannt: Insgesamt kostet der Ausbau 20 Milliarden Euro – davon entfallen 8 Milliarden Euro auf die letzten 5 % der anzuschließenden Haushalte, die sich in Randlage befinden. (Vgl. Sulpina/Klingholz/Sütterlin 2015, 71f. 96 Vgl. Neu/Barlösius (2008), 22 u. Neu (2009), 84 u. 93. 97 Im Hinblick auf eine zukunftsfähige Gestaltung der Daseinsvorsorge könnte es hilfreich sein, sich von dem Gedanken der Mindeststandards zu lösen und den alten Leitgedanken der sozialen und territorialen Integration über Infrastrukturen neu zu beleben. Also nicht die Frage ‚wie wenig darf ’s denn sein‘ ist entscheidend, sondern wie kann Zugang und Teilhabe zu erstrebenswerten Gütern und Dienstleistungen wie Bildung und Gesund-
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vorzuhalten und so auf neue Art eine sozial-räumliche Integration zu ermöglichen. 98 Die Ermöglichung solcher Innovation ist natürlich eng mit dem vorherrschenden politischen Leitbild gekoppelt. Peripherisierung beschreibt folglich einen Prozess, der zu sozialer Ungleichheit führt mit räumlichem Bezug. 99 Dabei ist mit Neu zwischen territorialen Unterschieden und territorialen Ungleichheiten zu unterscheiden: Allerdings werden Unterschiede in der naturräumlichen oder infrastrukturellen Ausstattung erst dadurch zu sozialen Ungleichheiten, wenn diese sich günstig oder ungünstig auf andere, und zwar auf ungleichheitsgenerierende Lebensbereiche wie Beruf, Bildung und Gesundheit auswirken und so Handlungs- und Gestaltungsräume festlegen. 100
Hinsichtlich des Raumbezugs bedarf es wiederum einer Präzisierung. Dies legt die Assoziation von peripheren, ländlichen Räumen und Peripherisierung rein begrifflich nahe. Allerdings ist Strukturschwäche keine Eigenschaft von Räumen und es geht vordergründig nicht um geographische Distanzen, sondern um die Verschiebung von Machtverhältnissen. 101 Periphere Räume per se als strukturschwach und dauerhaft schrumpfend einzustufen, ist einerseits falsch, wie die blühende, periphere Region des Emslands beweist und trägt anderseits zur Peripherisierung abgelegener ländlicher Räume bei. Peripherisierung ist also als Kon-
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heit für annähernd alle Menschen organisiert werden – unabhängig von ihrem Wohnort. Dann ist es nicht zwanghaft notwendig, gleiche Lebensverhältnisse herzustellen, sondern Integration über Teilhabe zu gewährleisten. Die Organisation der Daseinsvorsorge braucht flexible Lösungen, die vor allem an den Bedarfen der Bürger ausgerichtet sind. Wer diese Leistungen zukünftig zu erbringen hat und wie, wird Teil eines (langen und harten) Aushandlungsprozesses sein. Der soziale und territoriale Zusammenhalt der Bundesrepublik könnte auf diese Weise aber gestärkt und gesichert werden (Neu (2009), 93f). Innovation bedarf es vor allem aufgrund eines Dilemmas: In manchen Regionen gerät die Daseinsvorsorge stark unter Druck. Deswegen wird der Ruf nach Bürgerbeteiligung laut (Neu (2009), 91f). Allerdings ist die Erbringung von Leistungen der Daseinsvorsorge in der Regel eine hoheitliche Aufgabe des Staates – und staatliche Aufgaben, die über Steuern finanziert werden, sind nicht einfach in das Engagement der Bürger delegierbar. Warum sollten Bürger Leistungen erbringen, für deren Bereitstellung sie schon zahlen? Insofern die Finanzierung in betroffenen Regionen unter Druck gerät und dennoch grundlegende Güter der Daseinsvorsorge zu sichern sind, müssen neue Wege beschritten werden. Neu fordert deswegen eine Ausrichtung an den Bedürfnissen der Bürger und dass die Aushandlung, wie diese Leistungen zu erbringen sind, vor allem mit den Bürgern durchgeführt wird (Neu (2009), 94). Ohne diese Mitwirkungsspielräume und Flexibilisierungen in der Daseinsvorsorge steht für Neu fest, dass Schließungen und Unterversorgung in peripherisierten Regionen bestimmend sein werden (Neu (2009), 92). „Peripherisierung – so unser Vorschlag – könnte eine geeignete Perspektive sein, um die Eigenart der neuen Verräumlichungsprozesse zu fassen: dynamisch, losgelöst von einem festgelegten Territorium, nationalen und anderen politisch bestimmten Grenzen, relational durch Zentralisierungs- und Machtprozesse bestimmt und mit einem expliziten Bezug zu räumlichen Qualitäten.“ (Neu/Barlösius (2008), 23). Neu/Barlösius (2008), 19. Beetz (2008), 9.
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zept von peripheren, ländlichen Räumen unabhängig zu denken. Es geht hierbei eben nicht um die statische Größe des Raums. Im Gegenteil: Wird Peripherie nicht als statische Größe verstanden, sondern dynamisch gefasst, als Prozess eines voranschreitenden Funktions- und Machtverlustes – hervorgerufen durch das Ineinandergreifen von ökonomischer Strukturschwäche und demographischen Veränderungen – der zu Abkopplungstendenzen ganzer Räume (Stadtviertel, Regionen, Nationen) führt, so lässt sich dieser dynamische Prozess als Peripherisierung beschreiben. 102
Denn nicht Eigenschaften von Räumen kreieren Peripherien, sondern überregionale Entwicklungen, die „ungleiche Verteilung von Zugangswegen, Wertschöpfungen, Abhängigkeiten, Entwicklungschancen und Ressourcennutzungen im Raum“ 103 hervorbringen. Besonders „einseitige Abhängigkeiten und fehlende Durchsetzungsfähigkeit“ 104 sind Bedingungen dafür, dass Räume in eine Abwärtsspirale geraten. Mit dem Konzept der Peripherisierung können so Ungleichheiten aufgedeckt werden und die Konstruktion von Räumlichkeit kann transparenter vorgenommen werden. 105 Insgesamt geht es um das komplexe Ineinander der Möglichkeiten des Raumes und der Akteure, wobei die Unterscheidung von Ursache und Wirkung bestimmter Aspekte aufgrund der Komplexität schwer fällt.
4.2.2 Dimensionen der Peripherisierung Auf Basis der Definition Keims wurden von 2009 bis 2011 vom Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS) in Erkner und dem Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung (ILS) in Dortmund ‚Stadtkarrieren in peripherisierten Räumen‘ untersucht. Kühn und Weck arbeiteten in diesem Zusammenhang vier Dimensionen von Peripherisierung heraus: Abwanderung, Abkopplung, Abhängigkeit und Stigmatisierung. 106
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Neu (2010), 248. Beetz (2008), 10. Beetz (2008), 11. Vgl. auch die Gegenüberstellung der Begriffe ‚Peripherie‘ und ‚Peripherisierung‘ bei Liebmann/Bernt (2013b), 219. Hier steht Peripherie für einen Zustand, Peripherisierung im Gegensatz dazu für einen Prozess oder Handlungen; Peripherie zeigt die disparitäre Verteilung von Ressourcen und eine bestimmte geographische Lage an, Peripherisierung reflektiert die Relation zwischen den Akteuren; Peripherie zeigt einen Mangel an Ressourcen an, Peripherisierung erhellt die Kontrolle über Ressourcen; Peripherie legt den Fokus auf einen Ort, während Peripherisierung Mehrebenenbeziehungen im Fokus hat. 106 Dazu und zum Folgenden: Kühn/Weck (2013), 30–41.
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Abwanderung ist ein allgemeiner sozioökonomischer Indikator für die Strukturschwäche einer Region. Es wird damit angezeigt, dass es einen brain drain gibt (junge, qualifizierte Menschen gehen) und eine schrumpfende und überalterte Bevölkerung zurückbleibt. Dies stellt sich als Ergebnis aufgrund von Defiziten im regionalen Ausbildungs- und Arbeitsmarkt ein. Periphere, ländliche Regionen sind statistisch recht häufig von dieser Dimension der Peripherisierung betroffen. Dies zeigte sich bereits anhand der durch Wanderung zunehmenden Disproportion der Bevölkerung in diesen Regionen, unter denen die sehr peripheren, ländlichen Regionen im Norden Ostdeutschlands eine Sonderstellung im Sinne eines Extremums einnehmen. 107 Peripherisierung wird deswegen ein Thema für periphere, ländliche und schrumpfende Gebiete sein, auch wenn Peripherisierungsdynamiken sich unabhängig von geographischen Lagen entfalten können. Nichtsdestotrotz ist darauf hinzuweisen, dass Prozesse dieser Art in peripheren, ländlichen Lagen besonders sind. Im Gegensatz zu den Zentren besteht hier viel eher die Gefahr des „Ausblutens“ 108. Sterbeüberhang und Abwanderung, insbesondere der unter 35-Jährigen, führt zu einer Situation, die mit schrumpfenden Zentren nicht gleichzusetzen ist. Schrumpfende Zentren können häufig die Abwanderungen mit Zuwanderungen kompensieren und verlieren Bevölkerung eher durch einen Sterbeüberhang. Hinzu kommen Stadt-Umland-Wanderungen, die das Bevölkerungspotential in der Region erhalten – und damit auch die Nachfrage nach Gütern und Infrastruktur. 109 Nicht umsonst gewinnen die Peripherisierungsforscher ihre Erkenntnisse aus abgelegenen Gebieten: 110 Die wirtschaftlichen und demografischen Veränderungen haben in den vergangenen Jahren zu deutlichen regionalen Disparitäten geführt, in deren Gefolge eine neue soziale Frage nach ‚der Exklusion von Menschen, Gruppen und Regionen‘ aufscheint. Aktuell stellt sich diese Frage mit besonderer Härte in den peripheren ländlichen Räumen Ostdeutschlands, doch längst sind auch ländliche Räume im Westen und ganze Stadtviertel von Peripherisierungsprozessen betroffen. 111
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Vgl. dazu den Abschnitt zu Abb. 12, S. 146. Wirth/Bose (2007b), 165. Wirth/Bose (2007b), 165f. Beetz untersuchte die ländlich-periphere Region zwischen Berlin und Stettiner Haff (vgl. Beetz (2008), 7) und Neu die Gemeinde Galenbeck in Mecklenburg-Vorpommern (vgl. Neu (2009), 84). Die oben genannten untersuchten ‚Stadtkarrieren‘ beziehen sich mehrheitlich auch auf Städte in peripherer Lage; vgl. Liebmann/Bernt (2013a), 12: vier von sechs der untersuchten Städte befinden sich im Peripherraum. Untersucht wurden: Völklingen (sehr zentral), Pirmasens (zentral), Sangerhausen, Eisleben, Eschwege und Osterode (peripher). Die Einordnung wurde anhand der von Thomas Pütz / BBSR freundlicherweise zur Verfügung gestellten Referenzdatei für Gemeindegebiete („gem12-refRT.xls“) vorgenommen. 111 Neu (2009), 92f.
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An dieser Stelle ist deswegen nochmals auf die Verbindung von Wirtschaft und Abwanderung von jungen, qualifzierten Arbeitskräften hinzuweisen, wie sie auch die Studie Not am Mann belegt hat. Diese Studie stellt dar, wie Frauen als die besser Gebildeten, Mobileren und wirtschaftlich Erfolgreicheren vor allem die ostdeutschen Gebiete verlassen. 112 In Bezug auf die Defizite auf dem ‚regionalen Ausbildungsmarkt‘ hält die Studie fest, dass es vor allem Geschlechterunterschiede sind, die die Abwanderung von jungen, gut qualifizierten Frauen erklären: Diese Unterschiede [sc. hinsichtlich der Bildung, BS] lassen sich weder mit unterschiedlicher Begabung oder Neigung noch mit einer erhöhten Ablenkung von Jungen durch Computer- und Medienkonsum allein erklären. Vielmehr besteht eine erhebliche Benachteiligung junger Männer im allgemeinbildenden Schulsystem der neuen Bundesländer. 113
Diese Form der selektiven Abwanderung hat Folgewirkungen, da für die Regionalentwicklung potentiell wichtige Akteure gehen und mit Hinblick auf den Bildungsgrad die lokale Elite es schwerer hat, mit den Eliten der wirtschaftlich attraktiven Gebiete mitzuhalten. Dieser Sachverhalt wird unter dem Begriff der ‚Abkopplung‘ näher beleuchtet: Eine ‚Abkopplung‘ von Städten und Regionen bedeutet, dass sich ihre Integration in die übergeordneten Regulierungssysteme von Markt und Staat lockert und Zugänge in diese erschwert werden. 114
An erster Stelle sind hier Gebietsreformen zu nennen, in denen aufgrund von Zusammenfassungen und Einsparungen Kommunikationsprozesse erschwert werden, wenn bspw. Bürgermeisterstellen gestrichen werden müssen und in einem Dorf an diese Stelle ‚nur noch‘ ein ehrenamtlicher Ortsvorsteher tritt. Das soll die Fähigkeit von Ehrenamtlichen nicht in Frage stellen, flächendeckend wird man jedoch aufgrund der unter ‚Abwanderung‘ dargestellten Dynamiken von einer Verschlechterung der Verhältnisse ausgehen müssen. Vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, dass durch Abkopplung vor allem die Innovationsfähigkeit geschwächt wird. Es besteht dann die Gefahr, dass die lokale und regionale Wirtschaft und Verwaltung den Anschluss an Innovationsdynamiken verlieren. Abkopplung beschreibt als Dimension von Peripherisierung zudem Effekte, die durch ausbleibende Adaptionen oder kostenbedingte Einsparungen in den unterschiedlichen Infrastrukturen entstehen. Hier ist das schnelle Internet zu nennen, gleichzeitig geht es aber auch um das Verkehrsnetz, den ÖPNV sowie 112 Kröhnert/Klingholz (2007), 6. 113 Kröhnert/Klingholz (2007), 6. 114 Kühn/Weck (2013), 33.
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die Versorgung der Bevölkerung mit Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen. Im Vergleich von peripheren, ländlichen Räumen und Zentren zeigt sich, dass bei ersteren die Prozesse der Abkopplung oft drastischer verlaufen. In der Peripherie ist eine mögliche Kompensation von Schließungen (bspw. Schulen) kaum möglich und so erlebt die Peripherie einen „schleichenden Funktionsverlust“ 115. In einer Großstadt bedeutet die Schließung einer Einrichtung in der Regel nicht, dass es die letzte ihrer Art war. 116 Durch diesen Funktionsverlust werden peripherisierte Gebiete abhängig von der Versorgung aus anderen Gebieten, was in Teilen die nächste Dimension von Peripherisierung benennt. Abhängigkeit ist die Sachlage, dass peripherisierte Räume von Entscheidungsträgern in Politik und Wirtschaft außerhalb abhängig sind und somit eine fehlende Autonomie die eigenen Handlungsmöglichkeiten stark einschränkt. 117 In diesem Zusammenhang wird häufig auf die überdimensionierten und auf Bevölkerungswachstum ausgelegten Abwasseranlagen hingewiesen, die erhebliche Remanenzkosten mit sich bringen und aufgrund der geringen Auslastung dysfunktional werden. 118 Die daraus und anderen ähnlich gelagerten Problemen folgende Verschuldung bringt Kommunen bezüglich ihres Haushalts besonders in Abhängigkeit von nächsthöheren Ebenen. So ist hinsichtlich der Politik eine zweifache Abhängigkeit gegeben: Einerseits sind Kommunen von staatlichen Transferleistungen übergeordneter Stellen abhängig, wie zum Beispiel von Zuweisungen oder Förderprogrammen, und andererseits von Entscheidungen übergeordneter Gremien. Im Hinblick auf die Wirtschaft ist hier zum Beispiel an Zweigwerke zu denken. Die Entscheidungen über die Zukunft dieser Art wirtschaftlicher Standorte werden eben nicht in der Region gefällt, sondern meistens von Akteuren in entfernten Metropolen. 119 Peripherisiert wären dann Gegenden, in denen sich Akteure „nicht (mehr) gegen Benachteiligungen wehren [. . . ] können.“ 120 Eine solche Verschiebung von Machtverhältnissen beschrieb Neu als Extremfall: Den Akteuren gelingt es nicht, sich auf Grund ihrer ‚schwachen‘ sozialen Stellung und in dünn besiedelten Räumen wohl auch wegen der großen Entfernung zusammenzuschließen und Gegenmacht zu bilden, um Handlungsspielräume für die Gestaltung der eigenen Lebensvorstellungen (zurück)zugewinnen. Ja, es gelingt den Betroffenen in peripheren Lagen nicht einmal, ihre Interessen ‚lautstark‘ zu artikulieren, um sich so Gehör und 115 116 117 118 119
Wirth/Bose (2007b), 185. Wirth/Bose (2007b), 185. Kühn/Weck (2013), 36. Sulpina/Klingholz/Sütterlin (2015), 55f. Vgl. dazu die Karte der Zentren mit Entscheidungs- und Kontrollfunktion in Politik und Wirtschaft bei: Kühn/Weck (2013), 38. 120 Neu (2006), 13.
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Einfluss zu verschaffen. Ihre Sicht auf die Dinge bleibt, selbst wenn sie gehört werden, irrelevant. Die Deutungs- und Benennungsmacht (Bourdieu) liegt bei den anderen. 121
Mit der Deutungs- und Benennungsmacht ist bereits die letzte der vier Dimensionen von Peripherisierung angesprochen, die Stigmatisierung: Stigmatisierung ist die Zuschreibung negativer Merkmale auf Personen oder Gruppen, die von der Mehrheit abweichen und ‚die damit in eine randständige Position zur Gesellschaft geraten‘. 122
Damit ist unter anderem auch die Berichterstattung in den Medien über bestimmte Regionen gemeint, die auf ihre Weise zur Produktion von Peripherien beiträgt. Durch Stigmatisierung entstehen dann Hemmnisse in kommunikativen Prozessen, da man zumindest Vorurteile abbauen muss. Stigmatisierung benennt jedoch noch mehr. Sie umfasst auch das Phänomen einer ‚Kultur der Hoffnungslosigkeit‘, die häufig beobachtet wird: Beispielsweise zeigte sich dieses Phänomen in einer Studie zu Schrumpfungsphänomenen in der sächsischen Kleinstadt Johanngeorgenstadt. Hier wurde das Außen- und Binnenimage der Stadt erhoben. Erstaunlicherweise klafften die Selbst- und Fremdwahrnehmung weit auseinander. Die Bewohner vor Ort hatten ein negatives Bild ihrer Stadt, Besucher und Gäste jedoch ein positives. 123 Das Binnenimage, das mit einer hohen Bewertung der eigenen Probleme und geringen Aussichten auf Besserung einherging, wirkte sich auch auf die Möglichkeiten aus, Veränderungsprozesse anzugehen und zu gestalten. 124 Steinführer und Kabisch sprechen mit Matthiesen von einer „Peripherisierung im Kopf“ 125. Matthiesen beschrieb auf Grundlage seiner Studien im deutsch-polnischen Grenzgebiet, wie ein negatives Selbstimage zu „struktureller Melancholie“ führen und zu einem Hemmnis für regionale Lernprozesse werden kann: 126 An diesem Syndrom aus Angst, Verzweiflung und Überforderung, von Trotz und Fluchttendenzen, gemischt mit weiterhin durchaus anschlussfähigen Formen von Renitenz und lokalem Stolz, von Einsatzwillen und Innovationsbereitschaft scheinen nun externe Lernangebote auf örtlicher und teilregionaler Ebene folgenlos abzufließen. 127
Mit diesen vier Dimensionen von Peripheriserung ist der derzeitige Forschungsstand zum Thema erfasst. 128 Vertiefungen in verschiedenen Bereichen und Hand121 122 123 124 125 126 127 128
Neu (2006), 13. Kühn/Weck (2013), 39. Steinführer/Kabisch (2007), 120f. Wirth/Bose (2007a), 157. Wirth/Bose (2007a), 120 u. 157. Matthiesen (2003), 100f. Matthiesen (2003), 101. Kühn (2016), 76.
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lungsfeldern sind selbstverständlich jederzeit möglich und notwendig. 129 Gleichzeitig sind damit Auswirkungen auf bestimmten Feldern beschrieben.
4.2.3 Folgen der Peripherisierung und Ansatzpunkte zum Gegensteuern Als Konsequenz von Peripherisierung insgesamt sah Keim, wie bereits zitiert, Wüstungen oder „unter günstigen Umständen [. . . einen] schmalen, provinziellen, stagnierenden Regionalismus“ 130 mit Vor- und Nachteilen. Mit allem Ernst ist deswegen zu fragen, inwiefern Wüstungen in Deutschland tatsächlich eintreten könnten. Wüstungen haben nach Reichert-Schick im Großen und Ganzen drei Ursachen: Naturereignisse (bspw. ein Vulkanausbruch) können Wüstungen hervorrufen. Konkurrierende Flächennutzungsansprüche (bspw. Tagebergbau) können zu Wüstungen von Siedlungen führen; ebenso räumliche Disparitäten und Peripherisierungsprozesse, die Siedlungsregressionen hervorrufen. 131 Für den hier untersuchten Zusammenhang werden lediglich Aussagen zur dritten Ursache, den Schrumpfungsprozessen langer Dauer, getroffen. Diese „können zu totalen Wüstungen führen, bedingen aber auch häufig lediglich eine Verkümmerung von Siedlungen“ 132. Hinsichtlich ländlich-peripherer Räume in Deutschland trifft die Gefahr des Wüstfallens allerdings nur auf einen kleineren
129 Als Beispiel kann dafür die Gesundheitsvorsorge im Bereich der Krankenhäuser genannt werden: Bliebe es bei einem einseitigen Rückbau, könnte das dazu führen, dass Ressourcen aus der Region nach allgemein geltenden Standards und Gesetzen abgezogen werden. Dies wirkt sich nachteilig auf die Verhältnisse in peripheren Regionen aus, denn wenn eine Struktur zurückgebaut wird, ist auch zu fragen, wer oder was die Funktion dieser Struktur in Zukunft übernimmt. Werden Gesetze, Standards und Finanzierung nicht auf die Situation angepasst, wird im schlimmsten Fall Innovation verhindert (bzw. nicht angebahnt) und die betroffenen Räume gleiten in verstärkte Schrumpfungsdynamiken hinein. Dies ist ein Problem für die Versorgungslage mit Krankenhäusern im ländlichen Raum: Durch sinkende Auslastung der Krankenhäuser in ländlichen Räumen gerät sowohl die Finanzierung unter Druck als auch die vorgegebenen Standards zur Qualitätssicherung (‚Mindestmengenanforderungen‘) (vgl. Fleßa (2014) u. Fleßa/Gieseler (2016)). Muss nun das Krankenhaus oder eine Abteilung geschlossen werden, dann entsteht gerade im ländlichen Raum eine Versorgungslücke, die mit dem Grundgesetz nur schwer vereinbar ist (vgl. dazu die Versorgungslage zu Kinder- und Jugendmedizin in Vorpommern und die kartographische Darstellung der Erreichbarkeit in PkW-Minuten von entsprechenden Fachärzten u. Krankenhäusern in: van den Berg et al. (2015), 24 u. 56). Zu fragen ist dann, wie die Funktionen von anderen Akteuren oder durch Innovationen weiter vorgehalten werden können. 130 Keim (2006), 5. 131 Dazu und zum Folgenden: Reichert-Schick (2015), 27–47. 132 Reichert-Schick (2015), 32.
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Teil der Bevölkerung zu. 133 Bezüglich der Gefahr zur Entstehung von Wüstungen ist hinzuzufügen, dass aufgrund der prognostisch nicht beherrschbaren Langfristigkeit solcher Prozesse und anderer Faktoren totale Wüstungen in Deutschland eher unwahrscheinlich sind. Allerdings ist dies gleichzeitig nur eine halbwegs positive Einsicht: Denn gerade die Tatsache, dass voraussichtlich keine Dörfer im größeren Umfang wüst fallen werden, bringt Probleme mit sich. Pragmatisch betrachtet wäre es aus Sicht der Raumordnung und insbesondere der Infrastrukturbetreiber einfacher, wenn die Dörfer wüst fielen; denn es ist schwierig, für die noch verbleibende Bevölkerung in langsam schrumpfenden Siedlungen die Lebensqualität zu stabilisieren. 134
Auch wenn totale Wüstungen als Folge von Peripherisierungsprozessen im Großen und Ganzen für Deutschland eher unwahrscheinlich sind, haben die ablaufenden Peripherisierungsprozesse trotzdem das Potential, Wüstungen hervorzubringen. Es sind deswegen vor allem diese Prozesse, die hier genauer untersucht werden. Im Kern geht es bei der Peripherisierung weniger um Wüstungen, als um die Untersuchung von Schrumpfungs- oder Abwärtsspiralen und deren Folgen für die territoriale Integration bestimmter Räume. Küpper beschrieb eine Abwärtsspirale wie folgt: Demnach führt die Bevölkerungsabnahme zu einem Rückgang der Kaufkraft, öffentlicher Einnahmen und Infrastrukturnutzer. Die Folgen sind der Verlust von Arbeitsplätzen sowie die Schließung öffentlicher und privater Einrichtungen. Damit verschlechtern sich die Lebensbedingungen bezüglich des Zugangs zu Einrichtungen der Daseinsvorsorge und zum Arbeitsmarkt sowie der Einkommensmöglichkeiten, so dass Abwanderung und weitere Bevölkerungsverluste resultieren. 135
Er zeigte hier, wie sich unterschiedliche Faktoren der Regionalentwicklung gegenseitig bedingen, überlagern und verstärken. Die Auslöser für positive oder negative Entwicklungen in der Regionalentwicklung können recht unterschiedlich sein, jedoch zeichnet sich schon lange ab, dass Menschen in Gebiete ziehen, in denen es Arbeit gibt und die lokale Wirtschaft deswegen ein starker Faktor ist. Dies wird besonders in der graphischen Darstellung von Weber deutlich (vgl. Abb. 23, S. 180), die exemplarisch für die Darstellung solcher Abwärtsspiralen steht. 136 Insgesamt ist die Schwierigkeit zu betonen, in dem komplexen Feld Ursache und Wirkung zu verorten: 133 Reichert-Schick geht hier von einer Einwohnerzahl von 262.000 Menschen aus, die 2010 in entsprechend peripherisierten Gebieten lebten (Reichert-Schick (2015), 42). 134 Reichert-Schick (2015), 42. 135 Küpper (2011), 52. 136 Vgl. auch die wesentlich komplexere, aus drei Regelkreisläufen bestehende Darstellung bei Reichert-Schick (2015), 36.
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Abbildung 23: Schrumpfung als Entwicklungsprozess Quelle: Weber (2016), 94. Vereinfachte und geänderte Darstellung
Die Schwierigkeit bei der Analyse von Ursachen räumlicher Benachteiligung und Peripherisierung besteht darin, dass Erscheinungsformen und Ursachen nicht immer eindeutig abgegrenzt werden können, da die Regressionsdeterminanten in enger Wechselwirkung stehen. Sie haben also gleichzeitig Ursache- und Wirkungscharakter. So kann zum Beispiel die Stigmatisierung von Regionen nicht nur eine Ursache, sondern auch eine Folge wirtschaftlicher Strukturschwäche darstellen. Ebenso kann eine schrumpfende Bevölkerung zugleich Ursache und Auswirkung von Regressionsprozessen sein. 137
Obwohl diese Zusammenhänge mehr und mehr untersucht und verstanden werden, kann Regionalforschung nicht versprechen, solche Abwärtsspiralen umzukehren. 138 Nach Keims Analyse ist ein Gegensteuern bei Peripherisierungsdynamiken kaum möglich. Es könnte allenfalls auf der Ebene der Region mit geringen Mitteln etwas Milderung geschaffen werden. 139 „[I]m Übrigen [sei] jedoch zu lernen, mit Peripherisierungsverlusten zu leben.“ 140 Trotzdem gibt es eine Reihe hilfreicher Einsichten aus der Forschung im Umgang mit Peripherisierungsprozessen und auch Beispiele von Entperipherisierung. Kurzgefasst sind für eine Abschwächung von Abwärtsspiralen und Peripheriesierungstendenzen drei Dinge relevant: die kommunalen Regelzuweisungen, eine Prozess- und Planungsbegleitung betroffener Regionen sowie die Bildung und Qualifizierung von Akteuren vor Ort.
137 138 139 140
Reichert-Schick (2015), 32. Küpper (2011), 41. Keim (2006), 6. Keim (2006), 7.
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Mit diesen Maßnahmen ist ein Unterschied zu älteren Entperipherisierungsprozessen benannt. Für einen Entperipherisierungsprozess älterer Ordnung steht das Emsland. An ihm wird deutlich, wie stark politische Entscheidungen Einfluss auf die Regionalentwicklung haben können. 141 Noch zu Beginn des letzten Jahrhunderts war das Emsland eine periphere strukturschwache Region und erfuhr einen Aufschwung durch den Emslandplan der Bundesregierung von 1950. 142 So konnte durch massiven Aufbau von Infrastruktur und Wirtschaftsförderung das Emsland vom Armenhaus der Nation zu einer erfolgreichen Wirtschaftsregion gefördert werden. Hierfür wurden vor allem Investitionen in Straßen und Urbarmachung der Moorlandschaft getätigt sowie Industrie angesiedelt – bspw. die Werft in Papenburg, ein Kernkraftwerk in Lingen sowie Erdölraffinerien. Hinzu kam die Entstehung vieler Arbeitsplätze in der Landwirtschaft: 143 Nach vier Jahrzehnten Strukturförderung hatte sich das Emsland zu einer wirtschaftlich stabilen und erfolgreichen Region entwickelt. Das Land rund um die Ems hat nicht mehr viel gemein mit der rückständigen Moor- und Ödlandschaft. Doch nicht allein das Geld, welches großzügig in die Region floss, hat diesen Aufschwung bewirkt. Die Mittel kamen in die Hände von Menschen, die mit Fleiß, Tatendrang und Erfindergeist etwas daraus machen wollten. 144
So ist das Emsland heute eine wirtschaftlich starke ländliche Region. Kühn untersuchte die Region Bodensee-Oberschwaben als Beispiel einer aktuellen Entperipherisierung. 145 Hier wurde auf den Ausbau schnellen Internets gesetzt sowie eine Fachhochschule eröffnet, die die Hochqualifizierung in der Region fördert. In der Tat wurde die Region für junge Familien und gut qualifizierte Arbeitskräfte attraktiv. Diese konnten die Vorteile eines ländlichen Lebens und die Anbindung an die moderne Wissensökonomie miteinander verbinden. So entstand eine Region mit einer der niedrigsten Arbeitslosenquoten Deutschlands. Als Hauptfaktoren dieser Entperipherisierung machte Kühn folgende Faktoren aus: a) die starke Vernetzung der Akteure in der Region durch Formen interkommunaler Kooperationen, Städtenetze und Regional-Governance-Formen zwischen Politik, Verwal-
141 Damit ist nicht gesagt, dass es allein politische Entscheidungen benötigt, um periphere Räume wirtschaftlich zum Blühen zu bringen. Nicht in jedem Fall liegen Investitionsgründe vor, wie es im Emsland vor ca. 70 Jahren der Fall war: Der Grund hierfür war durch den Zuzug von Flüchtlingen gegeben sowie Ansprüchen aus den Niederlanden, die das Emsland als Reparationszahlung nach dem zweiten Weltkrieg forderten (vgl. Damm et al. (2017), 14). 142 Vgl. Kühn (2016), 172 u. Damm et al. (2017), 14. 143 Vgl. Damm et al. (2017), 13–22. 144 Damm et al. (2017), 15. 145 Vgl. dazu Kühn (2016), 173.
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tung und Wirtschaft; b) die grenzüberschreitende Kooperation mit Nachbarregionen aus Österreich und der Schweiz. 146
Insgesamt wird die „Kombination von endogenen Akteurs-Netzwerkbildungen mit der Nutzung exogener Ressourcen“ 147 zum Schlüssel für neue Handlungsspielräume. Diese Kombination aus lokalen Akteuren und hinzukommenden Ressourcen von außerhalb ist ein wesentlicher, oft beobachteter Erfolgsfaktor. Berndt und Liebmann wiesen nach, dass die Entstehung tragfähiger lokaler Netzwerke von Akteuren aus Politik, Wirtschaft und bürgerschaftlichem Engagement einerseits zentral wichtig jedoch zugleich schwer zu bewerkstelligen ist, andererseits jedoch von außen gefördert werden kann. 148 Auch Müller, Bose und Wirth sehen derartige Akteurskonstellationen als Grundbaustein einer zukunfts- und innovationsfähigen Regionalentwicklung: Wie Erfahrungen zeigen, ist es sowohl durch innere als auch durch äußere Impulse möglich, in Umgebungen, die durch Strukturkrisen geprägt sind, Innovationen auszulösen. Allerdings sind solche Konstellationen kaum planbar. Sie werden von Akteurskonstellationen hervorgebracht, die zufällig entstehen können und deren Gedeihen stark von den Rahmenbedingungen beeinflusst wird. 149
Diese Kombination zeigt die Wichtigkeit der genannten Faktoren ‚Begleitung und Ressourcen von außen‘ sowie ‚Bildung von Akteuren vor Ort‘ an. So sollten Maßnahmen zur Entperipherisierung hier ansetzen und nicht unbedingt bei großen Infrastrukturmaßnahmen, wie es beim Emslandplan der Fall war. Interessanterweise wurde aus den Analysen auch hier deutlich, dass die Akteure vor Ort mit ‚Tatendrang‘ und ‚Erfindergeist‘ ein wesentlicher Faktor des Gelingens waren. 150 Kühn hielt diesbezüglich jedoch pointiert fest: Anstelle die knapp vorhandenen Ressourcen peripherisierter Städte und Regionen in städtebauliche Projekte oder Verkehrs-Projekte zu investieren, verspricht die Investition in qualifiziertes Personal eher neue Wege zur Entperipherisierung von Städten und Regionen zu eröffnen. Damit kommt der Qualifizierung von Menschen in Schulen, Hochschulen und Weiterbildungseinrichtungen sowie in den Verwaltungen von Städten,
146 Kühn (2016), 173. 147 Kühn (2016), 173f. 148 „In der Praxis erweist sich die Entwicklung tragfähiger Akteursstrukturen vor Ort regelmäßig als schwieriges Unterfangen: Partnerschaftliche Strukturen entwickeln sich häufig nur im Zusammenhang mit Programmen der Bundes- und Landespolitik; sie hängen damit vom Vorhandensein von Ressourcen ab, mit denen Kooperation ‚belohnt‘ wird. Lokale Netzwerke und Kooperationen sind damit oft labil und können nur selten die notwendigen Ressourcen aufbringen, um eine strategische Stadtentwicklung zu befördern.“ (Liebmann/ Bernt (2013b), 227). 149 Müller/Wirth/Bose (2007), 175. 150 Damm et al. (2017). 15.
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Landkreisen und Regionen eine maßgebliche Bedeutung zu, um eine weitere Abwärtsspirale von Städten und Regionen zu vermeiden und den Anschluss an die Wissensgesellschaft zu sichern. 151
Damit ist der Bereich der Bildung ein wesentlicher und wichtiger Bereich quer durch alle Handlungsfelder der lokalen Akteure, der gefördert werden muss. Ein zweiter wichtiger Bereich befasst sich mit dem Verhältnis der knappen Ressourcen und der Macht über die Ressourcenverteilung. Es gibt unterschiedliche Förderprogramme und Wettbewerbe, die schwache Regionen unterstützen wollen und sollen. 152 Es zeigt sich jedoch, dass bei diesen Instrumenten der Förderung gerade besonders schwache Regionen durch das Netz fallen, wenn nämlich Kompetenz oder Kapazität für die Teilnahme an solchen Programmen fehlt. Bernt und Liebmann kamen aufgrund ihrer Studien deswegen zu dem Ergebnis, dass der Ansatz bei den kommunalen Regelzuweisungen langfristig am besten gegen Peripherisierungsdynamiken helfe: Wir halten deshalb eine Politik, die die lokale Handlungsfähigkeit stärkt, indem sie die Basisfinanzierung von Kommunen verbessert, für den zentralen Strategieansatz im Umgang mit Peripherisierungsproblemen. 153
Die Abhängigkeit von überregionalen Akteuren ist damit nicht aufgehoben, jedoch würde dies zur Vereinfachung des „Managements von Abhängigkeitsbeziehungen“ 154 beitragen, die Peripherisierung prägen. In diesem Zusammenhang verwies Beetz darauf, dass sich langfristiger Erfolg nur einstellen könne, wenn die regionale Wertschöpfungskette in den Blick genommen werde. Es solle zu einem reziproken Werttausch zwischen Zentrum und Peripherie kommen, um eine realistische Entwicklung von Räumen anzustreben und Regionen auch nicht durch Überförderung weiter abhängig zu halten. Findet lediglich eine Umverteilung größerer Summen in die Peripherie statt, könne dies die Region mitunter schädigen. 155 Die Entwicklung solcher lokal angemessenen Perspektiven bedeutet deswegen nicht unbedingt eine Erhöhung des Haushaltsetats, sondern Unterstützung und Prozessbegleitung bei Strategieentwicklung und Umsetzung: Eine Unterstützung peripherisierter Kommunen braucht deshalb nicht allein mehr Geld, sondern sie sollte Hilfen zur Qualifizierung von strategischen Konzepten und Entschei151 Kühn (2016), 174. 152 Vgl. dazu Böcher (2016), 61–80, der den Wert von Regionenwettbewerben, unterschiedlichen Förderprogrammen für ländliche Räume und deren Mehrwert für die regionale Selbststeuerung untersucht. 153 Liebmann/Bernt (2013b), 229. 154 Liebmann/Bernt (2013b), 226. 155 Beetz (2008), 13.
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dungsprozessen, eine Stärkung der Kompetenzen vor Ort sowie eine Unterstützung von (auch kritischen und kontroversen) lokalen bzw. regionalen Initiativen einschließen. 156
So kommt es auf die Erstellung möglichst realistischer Perspektiven an, die sich nicht an unrealistischen bzw. unwahrscheinlichen (Wachstums-)Entwicklungen orientieren. 157 Entsprechend orientieren unsere Handlungsempfehlungen auf einen differenzierten Umgang mit Peripherisierungsprozessen, der vor allem die Handlungsfähigkeit lokaler Akteure stärkt und diese befähigt, der jeweiligen lokalen Problemlage angepasste Strategien zu verfolgen. 158
Insgesamt ist der Forschungsbedarf in diesem Bereich weiterhin hoch. Bis jetzt ist jedoch festzuhalten, dass im Falle der von Kühn untersuchten peripherisierten Städte „sich bisher durch die Landespolitiken [[k]einer der interviewten lokalen Führungskräfte] benachteiligt, ‚vergessen‘, ‚abgehängt‘ oder ausgeschlossen“ 159 fühlte. So ist trotz ablaufender Schrumpfungsdynamiken ein schematisches Verhältnis von Peripherie und Zentrum unangemessen. 160 Peripherisierung beschreibt so ein komplexes Wechselverhältnis zwischen räumlichen Gegebenheiten, Infrastrukturen, Entscheidungsprozessen sowie lokalen und regionalen Akteuren. Im Sinne der gleichwertigen Lebensverhältnisse und der Daseinsvorsorge erscheint eine Vertiefung und Ausweitung dieses Diskurses angebracht.
4.3 Peripherisierung und Kirche – eine Problemanzeige Die ablaufenden Prozesse in ländlich-peripheren Räumen Ostdeutschlands können mit den Dimensionen der Peripherisierung sinnvoll erhellt und beschrieben werden. Die Frage ist nun, was die damit beschriebenen Entwicklungsdynamiken für die Kirche austragen. Ausgangspunkt der Überlegungen ist, dass die Kirche als flächendeckende Großorganisation in diese Entwicklungsdynamiken verwoben ist. So ist auch die Kirche als Organisation bestimmten Peripherisierungsdynamiken ausgesetzt. Wenn beispielsweise gut gebildete junge Menschen aus einer Region abwandern, dann geht dies an der gemeindlichen Arbeit nicht spurlos vorüber. Es wäre – im Sinne einer ersten Forschungsfrage – im Einzelnen zu fragen, 156 157 158 159 160
Liebmann/Bernt (2013b), 229. Liebmann/Bernt (2013b), 229. Liebmann/Bernt (2013b), 220. Kühn (2016), 169. „Ein einfaches Zentrum-Peripherie-Verhältnis im Sinne von Macht und Ohnmacht erscheint nicht angemessen“ (Kühn (2016), 168).
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inwiefern die dargestellten großen Trends sich auch in der Kirche niederschlagen und vor Ort spürbar werden. Es ist auch möglich in eine andere Richtung zu fragen, nämlich ob die Kirche zur Peripherisierung mancher Gebiete beiträgt, wenn beispielsweise Kirchengemeinden zusammengelegt werden oder bestimmte kirchliche Angebote aus den unterschiedlichsten Gründen nicht mehr vorgehalten werden können. Diese wäre eine zweite interessante Fragerichtung für die Forschung. Für die Menschen vor Ort – unabhängig ihrer Kirchenzugehörigkeit – scheint es ein deprimierendes Signal zu sein, wenn sich auch die Kirche aus der Fläche zurückziehen muss. 161 Eine dritte sinnvolle Fragerichtung ist, inwiefern Kirche zur Entperipherisierung beitragen und im Bereich der Daseinsvorsorge weiterhin oder neu gesellschaftlich relevante Funktionen übernehmen kann. Da Kirchen Orte ehrenamtlichen Engagements sind, sind die Akteurskonstellationen in den Kirchengemeinden für Prozesse der Entperipherisierung sicherlich nicht irrelevant. Hier ist auf die Studie Landaufwärts zu verweisen, die in dieser Hinsicht besonders das diakonische Engagement missionarischer Projekte im peripher-ländlichen Bereich als besonderes Charakteristikum herausgearbeitet hat. Sie zeigt, wie kirchliche Akteure vor Ort gegen Formen der Peripherisierung stemmen. 162 All diese genannten Fragestellungen sind sowohl interessant als auch relevant und zeigen ein weites neu und weiterhin zu erschließendes Feld für kirchentheoretische Forschung auf. 163 In der vorliegenden Arbeit sind diese Fragen jedoch nicht vordringlich im Blick, da es um den Wandel des Pfarramts geht. Darum ist 161 In Bezug auf die Forscher Miggelbrink und Meyer vom IfL Leipzig wurde in einem Beitrag des Deutschlandfunks festgehalten: „Besonders überrascht hat die beiden Wissenschaftler die Reaktion der Befragten auf die Einsparungen bei der Kirche. Die Kürzung von Pfarrstellen schaffe größte Unsicherheit, so ihr Befund: ‚Und wir haben die Wahrnehmung dieser Entwicklung, dass Menschen dies eben als Zeichen deuten, dass das Leben in dieser Region eben nicht mehr so von Vorteil zu sein scheint. Wenn im Pfarrhaus kein Licht mehr brennt, dann sind wir eigentlich von allen verlassen! Also diese Frage der kirchlichen Zugehörigkeit, die ist vielleicht statistisch gesehen gar nicht so bedeutsam, aber die Symbolik, die damit einhergeht, wenn bestimmte Dinge einfach nicht mehr vorhanden sind, nicht mehr genutzt sind, wenn etwas, was anwesend war, nicht mehr anwesend ist, das hat so eine ganz hohe symbolische Bedeutung, die uns da auch immer wieder präsentiert worden ist‘“ ( https://www.deutschlandfunk.de/demografie-und-demokratie-wenn-gefuehle-der.724.de.html?dram:article_id=371973, aufgesucht am 23. Juli 2019, 14:13 Uhr). 162 Schlegel et al. (2016), 304–314. 163 Es wird sich zeigen, inwiefern im Kontext des Greifswalder Forschungskonsortiums Think Rural! diese Themenfelder weiterhin interdisziplinär bearbeitet werden können. Derzeit gibt es Pläne für ein DFG-Forschungsprojekt zu adaptiven Infrastrukturen in ländlichen Räumen, in dem untersucht werden soll, inwiefern sich unterschiedliche Infrastrukturen (Gesundheitswesen, Kirche, Politik, Mobilität etc.) an die sich wandelnden Bedingungen in Peripherräumen anpassen. Weiterhin lassen sich Einsichten zu den genannten Fragestellungen auch aus den Evaluationsarbeiten der Erprobungsräume der EKM gewinnen,
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zu fragen, inwiefern innerhalb der kirchlichen Strukturprozesse selbst eine Art Peripherisierung stattfindet. Interessant ist deswegen die Fragestellung, ob und wie kirchliche Strukturprozesse mit Hilfe der vier Dimensionen von Peripherisierungsprozessen beleuchtet werden können. Wo finden innerhalb der Kirche Peripherisierungsprozesse statt? Wie sind sie zu beschreiben und was ließe sich aus den Funden der Forschung zur Regionalentwicklung zur Verbesserung der Situation lernen? Welche Auswirkungen haben diese Zusammenhänge auf das Pfarramt? Diesen Fragen soll nun nachgegangen werden.
4.3.1 Peripherisierung in der Kirche: Regionalisierung ohne Regionalentwicklung Im Geleitwort zur ersten Buchveröffentlichung des Zentrums für Mission in der Region schrieb Noack mit aufgeladener Bedeutung über Regionalisierung: Ein Gespenst geht um in der Kirche – das Gespenst der ‚Regionalisierung‘. 164
Er spielte hier auf das kommunistische Manifest von Marx und Engels an, welches zu unterschiedlichen revolutionären Umstürzen geführt hatte. „Regionalisierung“ scheint nun auch in der Kirche ein Begriff zu sein, der beschreibt, wie Machtverhältnisse neu geordnet werden und wie eine bisherige Ordnung ersetzt wird. Dementsprechend sinnvoll ist es, diesem Umbruch mit dem Konzept der Peripherisierung nachzuspüren. Noack führte weiter aus: Manche können es schon nicht mehr hören, erscheint es doch als leicht geschönter Sammelbegriff für ‚Zusammenlegung‘, ‚Stellenkürzung‘ und ‚Sparmaßnahme‘ zu sein. [. . . ] Ja, dass wir heute so intensiv nach regionaler Zusammenarbeit fragen, hat auch und vor allem mit dem Prozess des Kleinerwerdens unserer Kirche zu tun, also – um es ganz deutlich zu sagen – mit dem Schrumpfen und nicht so sehr mit dem ‚Wachsen gegen den Trend‘. Dabei tröstet es nur wenig, dass ‚Schrumpfen‘ heute überall viel mehr im Trend liegt als das ‚Wachsen‘. 165
Angesichts dieser Einschätzung steht die berechtigte Frage im Raum, inwiefern Regionalisierung nicht nur Hoffnungsbild für eine zukunftsfähige Kirche der einen ist, sondern auch ein Peripherisierungsprozess für die anderen. Um dies zu beurteilen, bedarf es zunächst einer Auseinandersetzung mit dem Begriff der die derzeit am Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung durchgeführt werden. 164 Noack 5. 165 Noack 5.
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Regionalisierung und als Z weites der Betrachtung von empirischem Material mit Hilfe der Dimensionen von Peripherisierung. Regionalisierung als Begriff ist schwer zu fassen. Feststellen lässt sich jedoch, dass ungefähr ab den 2000er Jahren eine Regionalisierungsdebatte eingesetzt hat, die auf kirchliche Strukturveränderungen zurückblickt und mögliche Folgeentwicklungen kommentiert. Hermelink merkte dazu an, dass Regionalisierung und damit einhergehende Phänomene keineswegs neu seien. 166 Allerdings lassen sich neue Aspekte in der Debatte zeigen: Nach Hermelink ist dies einerseits das Konkurrenzverhältnis zur Ortsgemeinde. Hier ist die Region die „vor allem von Finanzen diktierte [. . . ] Alternative zur Ortsgemeinde, die dann von Stellenkürzung und Identitätsverlust (und vielem anderem) gefährdet erscheint“ 167. Andererseits zeigen sich neue Formen der Kooperation zwischen Gemeinden. Auch Pohl-Patalong hielt fest, „dass die vorfindliche Ortsgemeinde die wesentliche Bezugsgröße der Regionalisierung ist“ 168. Das ist sehr interessant, denn in der älteren Debatte zur Regionalisierung kam die Region als Größe in den Blick, in der sich modernes Leben abspielt und welche von der missio dei durchdrungen wird. Die Region war gedacht als „symbolischer Ausdruck der Ganzheit des Lebens, auf die es die missio Dei letztlich abgesehen hat.“ 169 Mit der Veränderung der Bezugsgröße weg von der misso dei hin zur Ortsgemeinde änderte sich auch der Charakter der Regionalisierung. Ratzmann arbeitete heraus: Die Region wird zum Verwaltungsbegriff. [. . . ] Offenkundig ist [. . . ]: Man denkt nun von den vorhandenen kirchlichen Strukturen aus, ohne deren Relevanz für das Lebensgefühl und für die sozialen Kontakte der Gemeindeglieder zu überprüfen. Und der Radius der Regionen wird zunehmend kleiner gezogen: Es geht nun um die organisatorisch nach einem bestimmten rechtlichen Modell abgesicherte verbindliche Form von Zusammenarbeit von Nachbargemeinden. 170
Mit der Zeit verlor die Regionalisierung ihre missionstheologische Fundierung bzw. eine theologische Fundierung überhaupt. Beyer konstatierte in Bezug auf die sächsischen Strukturreformen Ende der 90er Jahre: Waren die Reformversuche der Vergangenheit zumindest der Absicht nach von missionarisch orientierten Motiven geprägt, handelte es sich hier um eine finanzpolitisch und arbeitsrechtlich motivierte Strukturreform. 171 166 167 168 169
Hermelink (2008), 61. Hermelink (2008), 61. Pohl-Patalong (2008), 94. Ratzmann zitierte den Abschlussbericht der westeuropäischen Gruppe zum Prozess des Ökumenischen Rates der Kirchen zum Thema „Missionarische Struktur der Gemeinde“, der nach 1961 angestoßen wurde: „Kirche für andere“ (Ratzmann (2008a), 45). 170 Ratzmann (2008a), 49. 171 Beyer (2003), 32. Vgl. dazu auch die Feststellung von Ratzmann zum Theologiedefizit in den Strukturprozessen der Nachwendezeit: Ratzmann diagnostizierte ein „Theologiedefi-
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Weiterhin wies Ratzmann auf die unterschiedlichen Füllungen des Begriffs ‚Region‘ hin und stellte heraus, dass die ursprüngliche Großregion, die mit missionarischen Gruppen und Angeboten durchdrungen werden sollte, heute gar nicht mehr in den Blick komme. Dies bedeute ja auch eine zusätzliche Bereitstellung von finanziellen Mitteln, die in Schrumpfungszeiten nicht einfach bereitzustellen seien. 172 So ist es eben ein Unterschied, eine Großstadtregion samt ihres Einzugsgebiets wie Leipzig zu gestalten, die höchst unterschiedliche Bedarfe und Möglichkeiten bietet, oder eben einen Zweckverband aus zwei Nachbargemeinden als Region zu entwickeln. Das Erstere bedeutet zusätzliche Finanzierungsbedarfe und das Letztere hat das Potential zur Einsparung von knapper werdenden Mitteln. Die aktuelle Diskussion um Regionalisierung ist jedoch fast ausschließlich auf die letztgenannte Bedeutung von Region ausgerichtet. Häufig lässt sich jedoch ein Ineinander der beiden Regionalisierungsbegriffe beobachten. Es zeigt sich dabei, dass die dem jeweiligen Regionalisierungsbegriff unterliegenden Wachstums- oder Schrumpfungsabsichten schwer miteinander zu harmonisieren sind. Dies lässt sich anhand der Zusammenfassung der Regionalisierungsdebatte von Pohl-Patalong gut nachvollziehen: 173 Sie führte sechs Aspekte der Regionalisierung an: (1) finanzielle Notwendigkeit von Regionalisierung, (2) inhaltlicher Mehrwert von Regionalisierung, (3) Hemmnisse in der Regionalisierung, (4) Langfristigkeit der Prozesse, (5) Freiwilligkeit (und Zwang) der Regionalisierung und (6) Regionalisierung als Begriff für unterschiedliche Kooperationsformen. Zunächst ist Regionalisierung also motiviert durch schwindende Mittel und dann wiederum freiwillig. Diese beiden Merkmale passen nicht sinnvoll zueinander. Unter Aspekt zwei führte Pohl-Patalong aus, dass es gute inhaltliche Gründe für die Regionalisierung gebe – vornehmlich „die Vermehrung von Anknüpfungspunkten für die Kirchenmitglieder gegenüber dem geringen Spektrum in der Ortsgemeinde“ 174. Damit kommt wohl die ursprünglich missionarische Dimension zum Ausdruck, die durch weitere – d.h. zusätzliche – Finanzen hergestellt werden sollte. Dieser Aspekt steht jedoch gegen den dritten: Die vermeintlich engen Ortsgemeinden fürchten einen Identitätsverlust und werden so zum Hemmnis in der Regionalisierung, da sie mit Einsparmaßnahmen zurechtkommen müssen. Angesichts dieser Gemengelage ist es nicht weiter verwunderlich, dass der Begriff Regionalisierung als Euphemismus für Kürzung wahrgenommen wird, wie es bei Noack eingangs stellvertretend für viele ausgedrückt wurde. Beyer machte auch noch einmal auf genau diese Diskrepanz aufmerksam. Regionales Arbeiten zit“ (Ratzmann (2000), 32) in den Umbauprozessen, welches seinen Grund „sicher in der Massivität des strukturellen Veränderungsbedarfs“ (Ratzmann (2000), 32) finde. 172 Ratzmann (2008a), 53 u. 58. 173 Vgl. zum Folgenden: Pohl-Patalong (2008), 92f. 174 Pohl-Patalong (2008), 92.
Schrumpfung als Leitentwicklungsdynamik in ländlichen Räumen Ostdeutschlands
werde da akzeptiert, wo es über die Dinge hinausgehe, die vor Ort getan werden. Werden lokale Angebote oder Strukturen jedoch in die Region verlegt, dann werde dies als Verlust empfunden: 175 Das Schrumpfungsprodukt Region ist ein Organ der Mangelverwaltung. Und Mangel führt nicht automatisch zu Kooperation. Im Gegenteil: Knappe Ressourcen werden nicht geteilt. Es behauptet in der Regel auch keiner, dass traditionell parochiale Aufgaben regional besser erledigt werden könnten. Es geht viel mehr darum, dass sie überhaupt noch erledigt werden können. 176
Das Zentrum für Mission in der Region brachte mit einer Begriffsunterscheidung etwas Klarheit in diese Gemengelage. Hier wurde zwischen Regionalisierung und Regionalentwicklung unterschieden. 177 Regionalisierung meint die Prozesse, die als „Top-down-Verfahren und Kürzungsveranstaltung erlebt wurden“ 178 und werden. Sie geht mit Zentralisierung von gemeindlichen Angeboten, Entmachtung von Leitungsgremien sowie der Kürzung von finanziellen und personellen Ressourcen einher. 179 Das Hauptcharakteristikum von Regionalisierungsprozessen sei, dass sie „vor allem strukturell ausgerichtet gewesen [sind] [. . . ]. Sie hatten die Effektivität der Strukturen zum Ziel, vor allem vor dem Hintergrund schwindender materieller Ressourcen.“ 180 Diese Charakterisierung zeigt deutlich, dass einer solchen Regionalisierung die Peripherisierung inhärent ist: Aufgrund von Rückbaumaßnahmen (Schrumpfung) werden Akteure in der Peripherie entmachtet. Dies bringt sie in Abhängigkeiten, da nun Entscheidungen, die sie betreffen, jenseits ihres lokalen Verantwortungsraums getroffen werden. Mit dem Rückbau gehen notwendigerweise Abkopplungsprozesse einher, da Kommunikationsstrukturen verschlankt werden. Inwiefern die vierte Dimension von Peripherisierung – Stigmatisierung – zum Tragen kommt, kann an dieser Stelle nur vermutet werden. Plausibel wäre, wenn Menschen sich in diesen Prozessen zunehmend ausgegrenzt fühlten und negative Bilder hinsichtlich der übergeordneten Organisation ausprägten. Demgegenüber stehen Prozesse zur Kirchenentwicklung. Hier ist die Leitfrage: In welchen Formen mit welchen Rahmenbedingungen in gemeindlicher wie personeller Hinsicht kann Kirche ihrem Auftrag gemäß in unserer Region zur Begegnung mit dem lebendigen Evangelium dienen? 181
175 176 177 178 179 180 181
Beyer (2012), 166. Beyer (2012), 166. Kleemann (2014), 218. Kleemann (2014), 217. Kleemann (2014), 218. Kleemann (2014), 218. Kleemann (2014), 219.
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Diese theologisch qualifizierte Leitfrage lässt eine plurale Entwicklung in der Region zu und kann auch dazu führen, dass sich eine kirchliche Region in ihren Stärken und Schwächen solidarisch entwickelt. Wichtig ist nun die Einsicht, dass die Regionalentwicklung und die Regionalisierung Schwestern sind. 182 Regionalentwicklung wird es derzeit nicht ohne Regionalisierung geben können – zurzeit ist ein Umbau nur im Rückbau möglich. Jedoch kann es eine Regionalisierung ohne Regionalentwicklung geben, wenn Gemeinden oder Kirchenbezirke vordringlich neue Strukturen bilden müssen, kaum über Auftrag und Sinn sowie Bedürfnislagen für den kirchlichen Dienst nachdenken und auch keine oder nur wenig Hilfe in diesen langwierigen Prozessen des Rückbaus bekommen. In diesem Sinne neigt Regionalisierung sicherlich zur Peripherisierung der ortsgemeindlichen Arbeit. Herbst resümierte seine Auseinandersetzung mit dem Regionalisierungsbegriff in diesem Sinne: Die Konzentration auf die zentralen Orte führt dann in der Regel zur weiteren Schädigung der peripheren Orte. 183
Erwähnenswert ist an dieser Stelle, dass es in der praktisch-theologischen Landschaft derzeit zwei einigermaßen bekannte und verbreitete Konzepte gibt, die beide zwischen Aspekten der Regionalisierung und Regionalentwicklung vermitteln wollen. Zum einen handelt es sich dabei das Konzept ‚regiolokale Kirchenentwicklung‘, welches aus den praktischen Regionalentwicklungserfahrungen des Zentrums für Mission in der Region sowie aus Studien und der Forschungsarbeit des Institutes zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung entstanden ist und dort noch weiter adaptiert wird. Zum anderen ist das Modell ‚kirchliche Orte‘ von Pohl-Patalong recht bekannt, welches eine Alternative zur Regionalisierung darstellen will. 184 Insofern beide Modelle zwischen aktuellen Schrumpfungstendenzen und der Frage nach einer zukunftsfähigen Kirche Wege suchen, sind sie im Großen und Ganzen recht ähnlich – vor allem in struktureller Hinsicht. Es geht jeweils darum, eine Region als kirchlichen Gestaltungsraum zu begreifen, in dem unterschiedliche kirchliche Arbeitszweige nicht nur koexistieren, sondern sich im besten Falle gegenseitig stützen. Beide Modelle versuchen im derzeit stattfindenden Rückbau einen sinnvollen Weg hin zu einem zukunftsfähigen Umbauprozess einzuschlagen. Obwohl beide Modelle – besonders in struktureller Hinsicht – recht ähnlich sind, gibt es dennoch einen strukturellen Unterschied, der benannt werden soll. Pohl-Patalongs ‚kirchliche Orte‘ wollen den Konflikt zwischen ortsgemeindlicher 182 Kleemann (2014), 219. 183 Herbst (2018), 117. 184 Vgl. Herbst/Pompe (2017) u. Pohl-Patalong (2003), Pohl-Patalong (2008), 91.
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Arbeit und Funktionsdiensten überwinden. Deswegen wird ein dritter Weg gesucht, indem beide Flügel an bestimmten Orten in sinnvollen Profilen zusammenkommen. Pohl-Patalong führte weiter aus, dass die vereinskirchliche Arbeit in die Hände Ehrenamtlicher übergeben werden solle, die unter anderem von Gemeindepädagogen unterstützt werden sollen. Für Pfarrerinnen und Pfarrer seien andere Arbeitsfelder vorgesehen. 185 Die Idee ist beachtenswert, aber es taucht dabei eine Frage auf: da das vereinskirchliche Leben eng mit dem verwoben ist, was gemeinhin als ortsgemeindliche Arbeit bezeichnet wird, ist es fraglich, ob der Konflikt zwischen Ortsgemeinde und Funktionsdienst überwunden ist. Letztendlich werden dadurch der Ortsgemeinde aus Prinzip Ressourcen entzogen, wenn die Finanzen für Hauptamtliche zurückgefahren werden – sei es gänzlich, wenn die Verantwortung komplett in die Hände von Ehrenamtlichen übergeben wird, oder nur teilweise, wenn an Stelle einer Pfarrerin oder eines Pfarrers Gemeindepädagogen zuständig werden. Es ist an dieser Stelle zu vermuten, dass das Modell der ‚kirchlichen Orte‘ in dieser ursprünglichen Form entgegen seiner Intention zu kirchlichen Peripherisierungsprozessen beiträgt. Das Konzept der ‚regiolokalen Kirchenentwicklung‘ hingegen setzt bei den Ortsgemeinden an und versucht, mit den Menschen vor Ort bestimmte Profile zu entwickeln. Man muss der ortsgemeindlichen Arbeit nicht aus bestimmten Prinzipien die Pfarrerinnen und Pfarrern entziehen. Es kann durchaus sinnvoll sein, die ortsgemeindliche Arbeit in den Händen der Pfarrerinnen und Pfarrer zu belassen. Größtenteils liegt es ja derzeit an der Regionalisierung, dass dem nicht mehr so ist und Gemeinden in unterschiedlichen rechtlichen Modellen fusioniert werden. Demgegenüber stärkt das Modell der ‚regiolokalen Kirchenentwicklung‘ gerade die lokalen Gemeinschaften, um den Peripherisierungstendenzen etwas entgegenzusetzen. Lokale Gemeinschaft wird hier betont – gleichzeitig kann das natürlich nicht heißen, dass jede dieser Gemeinschaften von Pfarrerinnen und Pfarrern geleitet und betreut wird. Es geht um einen erzwungenen Rückbau einerseits und um kontextuelle Innovationen andererseits, die unterschiedlichste vor Ort zugängliche Mittel nutzen. Das Ziel ist die Stärkung von lokalen kirchlichen Gemeinschaften. Dieses Ziel – und das unterstreicht die Bedeutung der lokalen Gemeinschschaften bzw. des Gemeindebegriffs als Grundlage für kirchliches Arbeiten – wurde auch von Pohl-Patalong für ihr Modell aufgenommen: Aus diesen Einsichten und Erkenntnissen ergibt sich ein Bild der Kirche, die die Kommunikation des Evangeliums in unterschiedlichen Gemeinden mit unterschiedlichen Arbeitsformen und -inhalten realisiert und seine Relevanz in der Gesellschaft plausibilisiert und fördert. Die künftige Gestalt von Kirche baut auf den bisherigen Organisationsformen auf, verändert diese aber so, dass Stärken ausgebaut und Schwächen minimiert werden. Anders als in der ursprünglichen Entwicklung des Modells ‚kirchlicher Orte‘ vertre185 Vgl. Pohl-Patalong (2003), 230–246.
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ten, erscheint uns der Gemeindebegriff für die Zukunft der Kirche mittlerweile unaufgebbar. 186
Dieser Impetus auf die Gemeinde ist also grundsätzlich und damit grundlegend wichtig. 187 Gleichzeitig muss festgehalten werden, je länger Regionalisierungsprozesse als Peripherisierungsprozesse laufen, desto schwieriger wird es, Gemeinde vor Ort zu entwickeln – aus personellen und strukturellen Gründen. Trotzdem bleibt die lokale Gemeinschaft ein höchst wichtiger Ansatzpunkt für die kirchliche Regionalentwicklung. Mit Beyer gesprochen: Solange mit Regionalisierung nicht mehr gemeint ist, als dass die gleiche Arbeit auf einer größeren Fläche mit weniger Menschen getan werden soll, gibt es für die Gemeinden vor Ort keinerlei Motivation, daran mitzutun. [. . . ] Entscheidend ist die konzeptionelle Kraft, die von den Ortsgemeinden ausgehen muss – sie sind nun einmal die vorfindlichen Größen –, aber eben an ihren Grenzen nicht stehen bleiben kann. Sicher wird manches lokal bleiben. Aber nicht, weil es immer so war, sondern weil es dort am besten aufgehoben ist. Anderes wird nur regional möglich sein. Aber nicht, weil die Kapazitäten für mehr nicht reichen, sondern weil dies die angemessene Form ist, weil die Lebensräume von Menschen sich ohnehin nicht an Gemeindegrenzen orientieren. 188
Augenscheinlich wird an diesen Zusammenhängen, dass es zu organisationalen und kirchlichen Innovationen kommen muss, wenn man weiterhin Kirche bei, für und mit den Menschen sein und bleiben möchte. Deutlich ist auch geworden, dass bei dem Begriff Regionalisierung Momente der Peripherisierung mitschwingen. Allerdings kann aufgrund der Begriffsbestimmung das Vorhandensein innerkirchlicher Peripherisierungsprozesse nur vermutet werden. Ob eine Regionalisierung zu Peripherisierung führt, muss an empirischem Material geprüft werden. Dieser Fragestellung ist der nächste Abschnitt gewidmet.
4.3.2 Der Kirchenkreis Altenburg – ein Beispiel für kirchliche Peripherisierung Küpper vermerkte, dass sich zur Erforschung und Überprüfung des Zusammenhangs von Planung und Schrumpfung vor Ort besonders gut Fallstudien eignen. 189 Derlei Fallstudien sind im kirchlichen Bereich eher dünn gesät. Es gibt 186 Hauschildt/Pohl-Patalong (2013), 307. 187 Vgl. die differenzierte Darstellung dessen, was mit Gemeinde alles gemeint sein kann, bei der auch die Verwobenheit dieser Sachverhalte miteinander deutlich wird: Hermelink (2008), 62–65. 188 Beyer (2003), 36f. 189 Vgl. Kap. 4.4.1, S. 200.
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Evaluationen von Regionalentwicklungsprojekten, wie zum Beispiel den Evaluationsbericht des Zentrums für Mission in der Region zum Kirchenkreis Wittstock-Ruppin. Hierbei handelte es sich um die unabhängige Begleitung eines Innovationsvorhabens. 190 Diese Art von Evaluationsberichten wäre sicherlich auch gewinnbringend mit Fragestellungen zu Peripherisierungsprozessen zu erforschen. Noch interessanter ist aber eine Studie, die eher den kirchlichen Normalfall eines regionenorientierten Rückbaus dokumentiert. Hier haben Meyer und Miggelbrink vom Leibnitz-Institut für Länderkunde (IfL) in Leipzig Pionierarbeit geleistet. 191 Diese Fallstudie zur kirchlichen Strukturplanung im Kirchenkreis Altenburger Land soll deswegen für die Frage nach Peripherisierung in kirchlicher Regionalisierung herangezogen werden. Zudem hat sie einen weiteren Vorteil gegenüber der Evaluation zum Kirchenkreis Wittstock-Ruppin: Sie wurde 2015 veröffentlicht und zeichnet damit ein ziemlich aktuelles Bild zum Stand kirchlicher Strukturplanungen in den Jahren 2013 und 2014 nach. 192 Die Studie ist in zwei Teile gegliedert. Teil A stellt die Studie sowie deren Ergebnisse dar. Hier wird nach einer knappen Einführung die Veränderung der kirchlichen Strukturen des jetzigen Kirchenkreises Altenburger Land von 1960 bis 2013 kartographisch dargestellt und zusätzlich beschrieben. Exemplarisch wurde die Region um Gößnitz im Hinblick auf kirchliche Fusionsprozesse analysiert. Anschließend wurden die aktuellen Umstände, die mittels unterschiedlicher Interviewformen erhoben wurden, dargestellt. Hier zeigten sich exemplarische Probleme der Regionalisierung. Abgeschlossen wird Teil A durch Vorschläge von Meyer und Miggelbrink, die zur Verbesserung der Situation beitragen könnten. Teil B gab dem verantwortlichen Superintendenten des Kirchenkreises die Möglichkeit zum kirchenleitenden Kommentar. Schaut man nun mit den Dimensionen der Peripherisierung auf diese Studie, dann zeigt sich, wie zutreffend das Konzept für den dargestellten Regionalisierungsprozess ist. Gleichzeitig hilft das Konzept der Peripherisierung, wichtige Debattenstränge zu identifizieren und Faktoren auszumachen, die einer Peripherisierung entgegenstehen und – so die Hoffnung – diese Prozesse auch mindestens dämpfen können. Betont werden muss: Es geht vor allem um eine möglichst sachgerechte Analyse und Beschreibung der Prozesse, um daraus für die Zukunft zu lernen und keinesfalls darum, nach Schuldigen zu suchen. Das wäre eine wenig konstruktive Verwendung der Dimensionen zu Peripherisierungsprozessen.
190 Vgl. Zentrum für Mission in der Region (2002). 191 Meyer/Miggelbrink (2015). 192 Meyer/Miggelbrink (2015), 39.
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Diese vier Dimensionen wurden bereits dargestellt. 193 Sie beschreiben einen gesamtgesellschaftlichen Prozess, dessen dysfunktionale Auswirkungen auch innerhalb von kirchlichen Regionalisierungsprozessen zu vermuten sind. Im Folgenden werden nun die Momente von ‚Abwanderung‘, ‚Abkopplung‘, ‚Abhängigkeit‘ und ‚Stigmatisierung‘ im kirchlichen Strukturprozess des Kirchenkreises Altenburger Land herausgearbeitet. Die mit ‚Abwanderung‘ beschriebene negative Bevölkerungsdynamik zeigt sich auf dem Gebiet des Kirchenkreises Altenburger Land. Die gesamte Region leidet unter „hoher Arbeitslosigkeit, einer schwachen ökonomischen Leistungsfähigkeit, schlechten Platzierungen in sog. Regionalrankings, Überalterung als auch unter der Abwanderung vor allem junger und gut ausgebildeter Menschen.“ 194 Die Kirche ist von diesen Dynamiken mitbetroffen, leidet aber zusätzlich noch am Rückgang der Kirchenmitgliedschaft. 195 Dies geht auf schon länger anhaltende Säkularisierungsprozesse zurück. 196 In diesem Schrumpfungsprozess lassen sich nun gleichzeitig Momente der ‚Abhängigkeit‘ ausmachen. Es wird davon berichtet, dass 2011 ein Finanzgesetz verabschiedet wurde, dessen Umsetzung den regionalen Rückbau maßgeblich mitbestimmt hat. In diesem Gesetz wurde festgelegt, wie die finanziellen Mittel zu verwenden sind: 60 bis 70 % der Finanzen sind für Pfarrerinnen und Pfarrer reserviert, weitere Prozente fließen in die Stellenanteile anderer Mitarbeiter. 197 Landeskirchliche Vorgaben regeln damit per Gesetz die Verwendung der Finanzmittel auf Kirchenkreisebene recht detailliert. Diese Beobachtung ist interessant, denn sie will nicht anzeigen, dass der Kirchenkreis etwa von der Landeskirche bevormundet wird – damit wäre die Arbeitsweise der kirchlichen Gremien, die ja von der Basis aus gewählte Mitglieder entsenden und so über ihre Belange mitbestimmen, unterschätzt. Es ist eher beachtenswert, dass innovative Abweichungen kaum möglich sind, da die rechtlichen Bestimmungen anderswo verbindlich festgelegt wurden. Das ist einerseits eine Schutzfunktion, die sicherlich einer Fehlverwendung von Mitteln vorbeugen soll – andererseits macht es die Wege für organisationale Innovation sehr lang und bringt diejenigen in Abhängigkeit, die nicht mehr das Potential haben, mit den vorhandenen Strukturen zu arbeiten. Dies scheint in diesem Kirchenkreis der Fall zu sein. Gewählte ehrenamtliche Leitungspersonen sehen sich zwar stimmenmäßig in den Gremien mindestens gleichrangig vertreten, jedoch mangelt es ihnen an Zeit zur Erarbeitung von sachgerechten Expertisen. So sind sie abhängig von den Hauptamtlichen – meist Pfarrerinnen und Pfarrern vor Ort, die wiederum an den engen Rahmen der Be193 194 195 196 197
Vgl. Kap. 4.2.2, S. 173. Meyer/Miggelbrink (2015), 10. Meyer/Miggelbrink (2015), 10. Meyer/Miggelbrink (2015), 9. Meyer/Miggelbrink (2015), 11.
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schlüsse der Bezirkssynode und den Expertisen höherer Ebenen gebunden sind. Ehrenamtliche meldeten auf allen Ebenen zurück, überfordert und somit abhängig von anderen zu sein. 198 Es muss hinsichtlich der ‚Abhängigkeit‘ nachdenklich stimmen, was Meyer und Miggelbrink herausgearbeitet haben: Allseits wird bemängelt, dass Verantwortlichkeiten für das Zustandekommen von Entscheidungen zwischen landeskirchlichen Vorgaben, Synodalbeschlüssen, Ausschussvorlagen und Kreiskirchenrat insofern unklar ist [sic], als dass selbst betroffenen Pfarrern die Mechanismen nicht klar sind. 199
Aus den Interviews wurde zitiert, dass damit eine Art ‚Scheindemokratie‘ ablaufe, deren größtes Problem die Intransparenz sei. 200 Gerade in Bezug auf Pfarrstellenplanung und Stellenkürzung scheint die Intransparenz ein Maximum zu erreichen: Die Bedingungen der Kalkulation [sc. der Pfarrstellen, BS] sind also komplex; sie nachzuvollziehen ist schwierig und mithin erscheint auch ihre Darstellung in Zeiten rapider Änderungen annähernd unmöglich, so dass Komplexität zur praktisch wahrgenommenen Intransparenz wird, die nur mit erheblichem Aufwand durchdrungen werden kann. 201
Diese wahrgenommene Intransparenz und die annähernde Unmöglichkeit, die Komplexität zu durchdringen, unterminieren Vertrauen. So gerät man vor Ort in eine Opferrolle und operiert mit ungünstigen Vermutungen und Unterstellungen gegenüber den jeweils übergeordneten kirchlichen Organen. 202 Gleichzeitig erhöht sich dadurch das Abhängigkeitsgefühl. Hinsichtlich der ‚Abkopplung‘ muss zunächst der langandauernde Rückbauprozess beschrieben werden. 2009 entstand die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland aus der Fusion der ehemaligen Thüringischen Landeskirche und der Kirchenprovinz Sachsen. Allerdings wurde nicht nur auf der Makroebene fusioniert, sondern auch auf den Ebenen darunter. Der Kirchenkreis Altenburger Land entstand aus drei vormals eigenständigen Superintendenturen. 203 Von 1993 bis 2013 wurden außerdem Pfarrstellen massiv abgebaut. 1993 gab es auf dem Gebiet des heutigen Kirchenkreises Altenburger Land 58 Pfarrstellen. 2013 waren davon noch 17 übrig. 204 Dies ist ein Rückgang von rund 71 % über einen Zeitraum von 20 Jahren.
198 199 200 201 202 203 204
Meyer/Miggelbrink (2015), 24. Meyer/Miggelbrink (2015), 32. Meyer/Miggelbrink (2015), 32. Meyer/Miggelbrink (2015), 12. Meyer/Miggelbrink (2015), 13. Meyer/Miggelbrink (2015), 10. Meyer/Miggelbrink (2015), 14–17.
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Pfarrstellen sagen noch nichts über deren Besetzung aus. In einer Fokusanalyse der Region um Gößnitz wurde deutlich, dass von den drei 1993 vorhandenen Pfarrstellen 2013 zwar noch zwei übrig waren, jedoch nur eine besetzt war. Damit noch nicht genug: Die sieben Kirchen, die 1993 von drei Pfarrerinnen und Pfarrern betreut wurden, wuchsen bis 2013 durch Gebietsvergrößerungen auf elf an. Diese wurden nun faktisch von einer Pfarrperson betreut. 205 Dieser Stellenabbau brachte Abkopplungsprozesse in Gang. Pointiert stellten die Forscher dar, dass die Verringerung des Personals und die Vergrößerung der Fläche zu erhöhten Reibungsverlusten in der Kommunikation führte. Die benötigte Zeit für bestimmte Aufgaben und für Kommunikation wird durch die Vergrößerung der Fläche faktisch größer – die dafür vorhandene Zeit zugleich kleiner, da Stellen abgebaut werden. 206 Insofern die Kommunikationsprozesse abnehmen und in einigen Belangen für die Akteure vor Ort intransparenter und frustrierender werden, ist zu vermuten, dass das endogene Potential zur Innovation ebenfalls abnimmt. Die Dimension der ‚Stigmatisierung‘, die ein Selbst- und Fremdlabeling sowie das Phänomen der ‚Peripherisierung im Kopf‘ beinhaltet, ist besonders deutlich zu beobachten. Meyer und Miggelbrink betonten gehäuft das Ohnmachtsgefühl der Ehrenamtlichen vor Ort. 207 Interessant ist auch das Labeling der Kirche bzw. der übergeordneten Strukturen, die im pejorativen Sinne als ‚Firma‘, ‚Wasserkopf‘ oder ‚Moloch‘ bezeichnet werde. 208 Daran lasse sich eine fortgeschrittene Frustration belegen. Die Forscher sprachen hier von „intensiven Emotionen“ 209. Insgesamt zeichneten die Akteure vor Ort ein „hilfloses Bild der Zukunft“ 210. Auch der Kommentar des damals amtierenden Superintendenten bestätigt die hier ausgeführte und begründete Behauptung, dass kirchliche Strukturplanung ohne zusätzliche regionalentwicklerische Elemente peripherisierend wirke. Aus seiner Perspektive haben die benannten Entwicklungen im Kirchenkreis eine stark abträgliche Wirkung entfaltet: Die Situation der letzten Jahre hat in einigen Teilen des kirchlichen Lebens einen negativen Kreislauf in Gang gesetzt: Indem die Planung und Wahrnehmung sich generell an der weniger werdenden Zahl der Gemeindeglieder orientierten, wurde die Zahl der Mitarbeitenden reduziert und die Räume, in denen diese Mitarbeitenden tätig sind, deutlich erweitert. Die inhaltliche Fragestellung, wie in den nun geschaffenen Räumen gearbeitet werden soll, wurde in den Bereich der Gemeindekirchenräte verlagert. Überlastung und
205 206 207 208 209 210
Meyer/Miggelbrink (2015), 18–22. Meyer/Miggelbrink (2015), 17 u. 27. Meyer/Miggelbrink (2015), 24. Meyer/Miggelbrink (2015), 25. Meyer/Miggelbrink (2015), 33. Meyer/Miggelbrink (2015), 33.
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Frustration sowohl der ehrenamtlichen als auch der hauptamtlich Mitarbeitenden waren die Folge. 211
Damit ist eine Art kirchliche Abwärtsspirale beschrieben, wie sie für komplexe Peripherisierungsprozesse typisch ist. 212 Am Ende entsteht ein dysfunktionales konfliktreiches Gebilde, dessen Funktion wohl als stark eingeschränkt betrachtet werden muss. Abschließend ist noch auf einen pastoraltheologischen Aspekt hinzuweisen: Ein Konfliktzentrum ist das Pfarramt. Meyer und Miggelbrink hielten im Hinblick auf das Pfarramt einige aufschlussreiche Sachverhalte fest. Zum einen verwiesen sie auf die enge Verzahnung von Gemeindegliederzahlen, Finanzen und Pfarramt. 213 Gleichzeitig arbeiteten sie heraus, dass von 1960 bis 1993 trotz rückläufiger Gemeindegliederzahlen die Pfarrstellen sogar angewachsen waren! 1993 gab es zwei Pfarrstellen mehr als 1960. 214 Erst in den 90er Jahren setzt der massive Rückbau der Pfarrstellen ein, so dass 2013 nur noch 17 Pfarrstellen übrig blieben, wie bereits ausgeführt wurde. Als Grund für diese Entwicklungen wird die bessere Bezahlung der Pfarrerinnen und Pfarrer nach der Wiedervereinigung angeführt, die zu dieser Verschlechterung geführt habe. 215 So sei dann bei den Kirchenmitgliedern vor Ort, die „Wahrnehmung des Allein-gelassen-werdens“ 216 entstanden. Pfarrerinnen und Pfarrer geraten im Zuge dieser Entwicklungen in eine Doppelrolle: Einerseits werden sie der fernen unverständlichen kirchlichen Bürokratie zugerechnet, andererseits „verkörpern sie aber genau jenes ‚knappe Gut‘, dessen Verknappung ‚von oben‘ oftmals kritisiert wird.“ 217 So entstehe dann ein Konflikt, in dem die Pfarrer die viele Arbeit und hohen Ansprüche betonen und die Kirchgemeindeglieder das zu viele Geld dafür. 218 Insgesamt scheint es in dieser Konfliktdynamik nur Verlierer zu geben. Die Forscher hielten fest, dass die ‚Planenden‘ und ‚Beplanten‘ im Kirchenkreis das allseitige Gefühl [haben], selbst nicht in einer gestaltenden Position zu sein: Hauptamtliche müssen Träger_innen von Einsparungen sein, sind jedoch auch deren Auswirkungen sowie den Vorwürfen der Ehrenamtlichen ausgesetzt. Ehrenamtliche wiederum würden gerne intervenieren, sehen sich aber einerseits einer wachsenden Intransparenz ausgesetzt, die sie andererseits aufgrund der
211 212 213 214 215 216 217 218
Meyer/Miggelbrink (2015), 42. Vgl. Abb. 23, S. 180. Meyer/Miggelbrink (2015), 12. Meyer/Miggelbrink (2015), 14f. Meyer/Miggelbrink (2015), 24. Meyer/Miggelbrink (2015), 24. Meyer/Miggelbrink (2015), 26. Meyer/Miggelbrink (2015), 26 u. 28.
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Komplexität und des schnellen Verlaufs der Anpassungsprozesse auch durch vermehrtes Engagement nicht aufklären können. 219
Abschließend wurde von Meyer und Miggelbrink beobachtet, dass es auch vereinzelt positive Entwicklungen gab, wenn eine Pfarrstelle gestrichen wurde, und dass diese gestützt werden müssen: An die Stelle der Pfarrstelle tritt zumindest im Einzelfall eine aktive ‚Kerngemeinde‘, die aber – aus unserer Sicht – unbedingt der Unterstützung bedarf. 220
Dies zeigt und betont noch einmal die wichtige Erkenntnis, dass eine engagierte Gemeinschaft vor Ort von hoher Bedeutung ist. Die beiden praktisch-theologischen Modelle, die im vorangegangenen Abschnitt dargestellt wurden, nehmen diesen Aspekt deswegen auch zentral auf – im Fall der ‚kirchlichen Orte‘ gilt dies mit Verzögerung ebenso. So setzt besonders die ‚regiolokale Kirchenentwicklung‘ auf lokale Gemeinschaften. Zu fragen ist dann mit Meyer und Miggelbring, wie diese lokalen Gemeinschaften unterstützt werden können und inwiefern diese Unterstützung dann auch einer Peripherisierung entgegenwirkt. Für Kirche in peripheren, ländlichen Räumen ist damit ein wichtiger Faktor identifiziert, der bei der Ausrichtung der Handlungsfelder des Pfarramts berücksichtigt werden sollte.
4.4 Regionalentwicklung – Wachstums- und Schrumpfungsprozesse Die bisher gewonnenen Erkenntnisse zeichnen das Bild eines starken Rückbaus, der dysfunktionale Gebilde hervorbringt sowie Beteiligte demotiviert und als hilflos erscheinen lässt. Ein solcher Rückbau kann schwerlich in dieser Form weiterhin betrieben werden. Es braucht an bestimmten Stellen Wachstum für Stabilisierung oder positive Entwicklungsprozesse. Gleichzeitig müssen Prognosen beachtet werden, die gerade nicht auf ein Wachstum oder eine Erholung der verschiedenen Systeme Hoffnung machen. Zu fragen ist deswegen, inwiefern in gesellschaftlichen und kirchlichen Regionalplanungs- und Entwicklungsprozessen mit den unterschiedlichen Dynamiken umgegangen wird. Dazu wird zunächst ein Blick in die allgemeine Regionalentwicklung geworfen und dann im Sinne eines Ausblicks die kirchliche Regionalentwicklung betrachtet.
219 Meyer/Miggelbrink (2015), 32. 220 Meyer/Miggelbrink (2015), 34.
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4.4.1 Wachstums- und Schrumpfungsstrategien in der Regionalentwicklung Da in Deutschland seit langem Schrumpfungs- und Peripherisierungsprozesse in allen Raumlagen zu beobachten sind, reagieren auch Forscher mit neuen Paradigmen und Regionalentwicklungsmodellen. Hier wird um realistische Perspektiven und Entwicklungsmöglichkeiten für bestimmte Raumlagen gerungen. Müller und Wiechmann stellten 2003 fest, dass die „Raumplanung in der Praxis noch nicht ausreichend auf Schrumpfungsprozesse vorbereitet“ 221 sei. Sie mahnten deswegen an, „dass neben das traditionell wachstumorientierte Planungsparadigma in Zukunft ein ‚Paradigma der Schrumpfung‘ treten muss.“ 222 Der Kern des traditionellen Wachstumsparadigmas sei das Vertrauen auf quantitative Zuwächse. 223 So konnte man sich lange Zeit auf den Zuwachs an Einwohnern und Arbeitsplätzen in bestimmten Regionen verlassen und nutzte so auch Infrastrukturvorleistungen als Anreiz für das Anziehen neuen Wachstums und neuer Investitionen. Flächen werden in diesem Paradigma neu erschlossen und bestimmten differenzierten Funktionen zugewiesen (bspw. Wohnen oder Arbeiten). Dieses auf Wachstum und Anreiz ausgerichtete Instrumentarium ist für Regionen mit Schrumpfung denkbar ungeeignet. Hier geht es nicht um Neuerschließung von Flächen, sondern um die Entwicklung und Revitalisierung des Bestands. Das bedeutet, Wiedernutzung und Rückbau werden so betrieben, dass die Infrastruktur in allen Belangen möglichst kompakt und effizient aufgestellt ist. Planung und Management von Schrumpfungsprozessen sowie die Suche nach alternativen Entwicklungsmöglichkeiten nehmen wesentlich mehr Raum ein als das vergleichsweise einfache Ausweisen von Neubauflächen mit bestimmten Funktionen. In einem solchen Schrumpfungsparadigma ändert sich auch das Zusammenspiel der Kommunen. In Zeiten des Wachstums standen sie miteinander im Wettbewerb, nun wird hier Kooperation gefordert. Der Wechsel kann bei manchen Aspekten kaum größer sein. Küpper untersuchte in einer bundesweiten Studie, inwiefern solche Handlungsempfehlungen im Umgang mit Schrumpfung in der Praxis angekommen seien. 224 Es zeigte sich, dass mehrheitlich eher Maßnahmen ergriffen werden, die den Schrumpfungsprozessen entgegensteuern sollen und auf Wachstum hin angelegt sind. Es wird also weiter eher im Sinne des Wachstumsparadigmas gehandelt, anstelle adaptive Maßnahmen im Sinne des Schrumpfungsparadigmas zu ergreifen. 225 Insgesamt besteht hinsichtlich einer strategischen Planung für 221 222 223 224 225
Müller/Wiechmann (2003), 114. Müller/Wiechmann (2003), 115. Vgl. dazu und zum Folgenden: Müller/Wiechmann (2003), 115ff. Küpper (2010), 168–180. Küpper (2010), 177 u. 179.
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Schrumpfungsprozesse also Nachholbedarf. Küpper wies darauf hin, dass „Prozessanalysen im Rahmen von Fallstudien“ 226 ein gutes Mittel seien, um besser verstehen zu können, wie mit Schrumpfung in Theorie und Praxis umgegangen werden könne. Die Zahl der Fallstudien und empirischen Studien, die sich auf Räume in der Peripherie beziehen, sei bisher allerdings übersichtlich. 227 Die umfassendste Studie dazu wurde von Wirth und Bose publiziert. 228 Wirth und Bose untersuchten die extrem schrumpfende (18 % Bevölkerungsverlust zwischen 1990 und 2001) und peripher gelegene Stadt Johanngeorgenstadt in Sachsen. 229 Auf der Basis einer Bevölkerungsprognose für Johanngeorgenstadt (weiterer Bevölkerungsverlust von 25 % bis 2016) wurden Szenarien für den Wohnungsmarkt, die Wohnfolgeinfrastruktur (Soziale Infrastruktur), Stadttechnik und die Landschafts- und Siedlungsstruktur erstellt und deren Wechselwirkungen untereinander untersucht. Zu den Rahmenbedingungen für diese Wechselwirkungen zählten die öffentlichen Finanzen, das Image bzw. Selbstimage der Bewohner und die Umwelt, die in diesem speziellen Fall aufgrund des abgeschlossenen Uranbergbaus eigene Fragen aufwarf. 230 Als Steuerinstrument wurde das Konzept „Integrierte Regionale Anpassungsstrategie (INRAS)“ 231 vorgestellt. Die Basis dieses Konzeptes ist eine Bevölkerungsprognose und zielt vor allem auf die Anpassung von Infrastruktur und Wohnungsbestand, wobei andere Entwicklungsfaktoren (Verkehr, Wirtschaft, Kultur) zu den Rahmenbedingungen zählen. 232 Wichtig bei einer solchen Anpassungsstrategie sei die „Verknüpfung von Anpassung und Entwicklung [. . . , da] eine ‚reine‘ Anpassungsstrategie, die sich ausschließlich auf die Bevölkerungsprognose, die daraus resultierenden Zwänge für die Kommunen und den Rückbau kommunaler und sozialer Substanz [stütze], politisch schwer vermittelbar [sei].“ 233 Dem Entwurf eines zukunftsfähigen Leitbildes komme deswegen eine zentrale Bedeutung zu. 234 Die Betonung der Aspekte von ‚Anpassung‘ (Rückbau) und ‚Entwicklung‘ (Leitbild) zeigt wiederum, dass Abbau allein schwer zu vermitteln ist und keine Beteiligung oder Motivation erwarten lässt. Entwicklung und Motivation müssen aber im Kontext der Schrumpfung gefunden werden. Damit ist die Herausforderung beschrieben, auf Schrumpfung nicht mit einer einfachen Wachstumsstrategie zu reagieren, sondern in der Schrumpfung positive Entwick226 Küpper (2010), 179. 227 Wirth/Bose (2007b), Hahne/Sigel/Vieth (2007), Sedlacek (2007), Rosenfeld (2007), Steinführer/Küpper/Tautz (2012), Küpper et al. (2013). 228 Wirth/Bose (2007b), Wirth et al. (2016). 229 Wirth/Bose (2007b), 153 u. 162. 230 Wirth/Bose (2007b), 153–160, bes. 159. 231 Wirth/Bose (2007b), 181. 232 Wirth/Bose (2007b), 184. 233 Wirth/Bose (2007b), 182f. 234 Wirth/Bose (2007b), 182.
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lungen anzustoßen, die sich mit einiger Wahrscheinlichkeit als langfristig tragfähig erweisen. Schrumpfung ist dann Umbau und nicht einfach Abbau, denn auch der Rückbau bietet die Möglichkeit, vor Ort Positives zu entwickeln. Die Umsteuerung von einem Wachstumsparadigma hin zum Einbezug von Schrumpfungsdynamiken in die Zukunftsplanung der Entwicklung gehört zu den bleibenden großen Herausforderungen: Es hat im zentralen Erzgebirge viele Jahre bis zu der Einsicht gedauert, dass es vielmehr um den schrittweisen Abbau von Entwicklungshemmnissen, die Verlangsamung des Schrumpfungsprozesses und das Finden einer tragfähigen Perspektive geht, dass das Sich-gegen-das-Schicksal-wehren der Kern der Aufgabe ist. 235
4.4.2 Kirchliche Regionalentwicklung in Zeiten der Schrumpfung – ein Ausblick Die kirchliche Regionalentwicklung hat ähnliche Entwicklungspfade beschritten, wie die dargestellten Regionalentwicklungsprozesse in der Gesellschaft. Auch hier zeigt sich ein Weg, der von der Feststellung negativer Trends über eine erste Reaktion mit Wachstumsstrategien verläuft und sich dann allmählich mit Adaptionen an die schrumpfenden Verhältnisse beschäftigt. An erster Stelle ist das Reformpapier Kirche der Freiheit von 2006 zu nennen. Recht prägnant wurde hier die Analyse der Schrumpfung und mit der Forderung nach Wachstum zum Gegensteuern gleich im ersten Paragraphen des Vorworts formuliert: Wenn die heute erkennbaren Trends einfach fortgeschrieben werden müssten, so würde nach manchen Einschätzungen die evangelische Kirche im Jahre 2030 ein Drittel weniger Kirchenmitglieder und nur noch die Hälfte der heutigen Finanzkraft haben. Eine eigenständige Antwort auf solche Prognosen kann nur darin bestehen, gegen den Trend wachsen zu wollen. 236
Die Folgeentwicklungen dieses EKD-Impulspapiers wurden von Schlag skizziert, der sich in diesem Zusammenhang mit dem Wachstumsbegriff kritisch auseinandersetzte – ohne jedoch grundsätzlich an der Notwendigkeit für Wachstum zu zweifeln. 237 Als Publikation ist an dieser Stelle stellvertretend für viele Initiativen und Projekte der Band Wachsen gegen den Trend zu nennen. 238 Hier wurden 235 236 237 238
Wirth/Bose (2007b), 164. Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) (2006), 7. Schlag (2010), 71f. Der volle Titel lautet: Wilfried Härle: Wachsen gegen den Trend. Analysen von Gemeinden, mit denen es aufwärts geht (Härle (2013)).
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einzelne Gemeinden analysiert und im Sinne von Vorbildern (best practice) zur Nachahmung empfohlen. Anfänglich verband sich damit schon die Hoffnung, gegen den Trend zu wachsen. Kritiker wie Schlag prognostizierten jedoch: Die Hoffnung, dass sich ein gleichsam globales Mitgliederwachstum gegen den demographischen Trend und durch kirchliche Anstrengung erreichen ließe, dürfte durchaus trügerisch sein. 239
Bisher gibt es für ein globales Mitgliederwachstum keine Anzeichen. So sehen sich die Kirchen aufgrund unterschiedlicher Entwicklungen zum Rückbau gezwungen und ergreifen mehrheitlich zentralisierende Maßnahmen. Dieser Rückbau und die darin zur Verfügung stehenden Optionen wurden von Hauschildt und Heinemann dargestellt und untersucht. 240 Sie zeigten zwei Möglichkeiten zum Umgang mit weniger werdenden Ressourcen: ‚Ressourcenschonung‘ und ‚Ressourcenveränderung‘ – wobei bei letzterem eher ein veränderter Ressourceneinsatz gemeint ist. 241 Als Ressourcen gelten bei ihnen die räumliche Verteilung von Infrastrukturen und Angeboten, die vorhandene Zeit und die zur Verfügung stehenden Personen. Innerhalb dieser Kategorien wurden dann die benannten Umgangsweisen mit den Ressourcen untersucht. Zunächst ist mit den Forschern nochmals zu betonen, dass Zentralisierung und Regionalisierung als gängige, aber auch umstrittene Muster der Umstrukturierung in den kirchlichen Prozessen hauptsächlich angewandt werden. Die Forscher beobachteten allerdings auch, dass diese Maßnahmen in der Praxis vor Ort aufgrund der negativen Folgewirkungen, so gut es ging, gemieden wurden: Die Wahrnehmung in den Interviews bestätigen so noch einmal, was in der Literatur mit Vorschlägen für Regionalisierung und Zentralisierung gerne unterschätzt wird, in der Praxis dafür aber dann umso deutlicher heraustritt: Es gibt einen erheblichen Anteil von Personen, der bei einer solchen Veränderung zurückbleibt. 242
Allerdings lassen sich Zentralisierungsvorgänge nicht aufhalten. Hauschildt und Heinemann stellten dann auch fest, dass bspw. die Zusammenlegungen von Gremien wie den Kirchenvorständen wenig von der erhofften Effizienz brachte. Hat man nämlich einen Gesamtkirchenvorstand, dann werden Untergremien für die Dörfer benötigt, da diese sich sonst als „verlassen und entmachtet“ 243 vorkommen – also peripherisiert werden. Hinzukomme dann auch noch die Betreuung
239 240 241 242 243
Schlag (2010), 78. Hauschildt/Heinemann (2016), 53f. Hauschildt/Heinemann (2016), 54. Hauschildt/Heinemann (2016), 142, Herv. original. Hauschildt/Heinemann (2016), 144.
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der Untergremien durch die Pfarrerinnen und Pfarrer, so dass man im Endeffekt mehr Gremienarbeit habe. Entwicklungen dieser Art seien zwar möglich, aber um dabei funktionale Gebilde zu erhalten, sei ein langer Zeitraum vonnöten – die Forscher sprachen anhand eines Beispiels über einen Zeitraum von acht Jahren. 244 Interessant ist die Feststellung: „Als schlimmstes Szenario wird empfunden, selbst wieder fusionieren zu müssen.“ 245 In Sachen ‚Raum‘ scheinen damit die Möglichkeiten zur Schonung oder alternativen Nutzung wenig positive Entwicklungen hervorzubringen. Dies gilt nicht für die Ressource ‚Zeit‘. Hauschildt und Heinemann konnten zeigen, dass eine niedrigere Gottesdienstfrequenz mit intensiverem Kontakt durchaus eine Möglichkeit sein könne, um mit dieser Ressource schonend oder innovativ umzugehen. Allerdings muss bei der Verringerung des Aufwands auf die faire Verteilung geachtet werden. Hinsichtlich der Ressource ‚Personen‘ zeigte sich, wie zentral Kirchenvorstände sind. Die Forscher konstatierten: Die Aufgaben, denen sich die Ehrenamtlichen hier stellen, sind genauso komplex wie die Aufgaben im Gemeindepfarramt. Ja sie sind noch komplexer: Effekte des generellen Amtsbonus entfallen [. . . ]. Die Rahmenvorgaben sind noch diffuser als im Pfarramt. Die Burnout-Risiken sind noch größer. [. . . ] Das zeigt noch einmal, wie wichtig in diesen veränderten Verhältnissen die gut organisierte und qualitativ hochstehende pastorale Aufgabe der Begleitung dieser Ehrenamtlichen wird. 246
In diesem Sinne zeigte sich auch eine Veränderung der Pfarramtsrolle. Pfarrpersonen sind nach Hauschildt und Heinemann vor allem Enabler, d.h. Ermöglicher. 247 Hauschildt und Heinemann zeichneten auf diese Weise Möglichkeiten und Optionen in Schrumpfungs- und Rückbauprozessen nach. Sie entdeckten dabei Innovationen im kirchlichen Handeln auf unterschiedlichen Ebenen. Insgesamt überwog der Eindruck, dass diese Innovationen sehr systemnah waren und es sich dabei um möglichst minimale Veränderungen handelte. 248 Es wurde dabei allerdings deutlich, dass die Verschiebung bei den Akteuren für die Kirche besonders herausfordernd war, da diese Prozesse eine sehr lange Zeit brauchten und Wei244 245 246 247 248
Hauschildt/Heinemann (2016), 145. Hauschildt/Heinemann (2016), 145. Hauschildt/Heinemann (2016), 153, Herv. original. Hauschildt/Heinemann (2016), 149. Besonders hervor sticht in diesem Sinne die Beschreibung einer Zentralisierungsmaßnahme mit dem Ziel, ein zentrales Kirchdorf zu etablieren. Die Forscher legten in der Begutachtung des Projekts dar: „Es musste nichts verändert werden, weil es noch nie eine evangelische Kirche in der Region außerhalb des Zentralorts gab – keine eigenen Kirchengebäude und keine alteingesessenen evangelischen Dorfgemeinden“ (Hauschildt/ Heinemann (2016), 142).
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ter- bzw. Fortbildungen der Akteure nötig machten. Hier deckten die Forscher einen erhöhten Handlungsbedarf auf. Insgesamt zeigte sich, dass die Kirchen sich mehr und mehr auf Schrumpfungs- und Rückbauprozesse einstellten und eine Art ‚Schrumpfungsparadigma‘ – zumindest anfänglich – entwickelten. Nun steht die Frage im Raum, ob Wachstum unrealistisch geworden ist und zugunsten einer Adaption von Schrumpfung aufgegeben werden kann. Dass Wachstum gänzlich von der Hand gewiesen wird, zeigt sich im praktisch-theologischen Diskurs nicht. Die stärkste Wachstumskritik wurde von Wagner-Rau vorgetragen. Wagner-Rau unterschied zwischen qualitativem und quantitativem Wachstum. 249 Während sie sich für qualitatives Wachstum stark machte, empfand sie quantitatives Wachstum als unrealistisch und als überforderndes Ziel für alle Beteiligten. Pointiert formulierte sie: 250 Weniger muss nicht schlechter sein. Glaubst du das? Wer in dieser Frage zu einem Ja findet, ist für sein pastorales Handeln in der Gegenwart mit einem großen Geschenk gesegnet. 251
Inwiefern das Anstreben eines quantitativen Wachstums per se eine Überforderung ist, aber der Einsatz von knapper gewordener Zeit und Energie für qualitatives Wachstum nicht, mag einmal dahingestellt sein. Wichtig für diesen Zusammenhang ist, dass Wagner-Rau um eine Akzeptanz von Schrumpfung ringt und qualitatives Wachstum bejaht, um gleichzeitig quantitatives Wachstum als nicht erwartbar und eher unrealistisch zurückzustellen. Hinsichtlich eines quantitativen Wachstums behauptete sie: Es setzt keine produktiven Kräfte frei, sich für Ziele abzumühen, die in der gesellschaftlichen Wirklichkeit keinen Anhalt haben. 252
An dieser Stelle ist nun eine Unterscheidung zu markieren. Es ist eine stichhaltige Analyse, dass die derzeitigen gesellschaftlichen Trends den Kirchen nicht zugutekommen. Global gesehen wird sich bspw. der Mitgliederschwund fortsetzen. Die Gründe dafür wurden in dieser Arbeit bereits ausgeführt und so ist es nachvollziehbar, wenn auch Wagner-Rau und Schlag diesen Punkt betonen. Diesbezüglich herrscht Konsens. Festzuhalten ist jedoch auch, dass in den Studien zum Wachstum einzelne Gemeinden analysiert wurden. Auf dieser Ebene scheint also Wachstum möglich bzw. nachgewiesen. Daraus ist abzuleiten, dass die Frage nach den Indikatoren für Wachstum präzise gestellt werden muss, da sonst Missverständnisse die Kommunikation erschweren. Zudem ist gerade angesichts der darge249 250 251 252
Wagner-Rau (2012), 82. Wagner-Rau (2012), 82. Wagner-Rau (2012), 83. Wagner-Rau (2012), 82f.
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stellten Trends festzuhalten, dass nicht alles in der Kirche schrumpft – auch nicht bei den globalen Werten. Prominent ist an dieser Stelle auf die Kirchsteuereinnahmen zu verweisen. In dem Papier Kirche der Freiheit wurde immerhin ein erheblicher Rückgang prognostiziert. 253 Aufgrund dieser Prognosen wurden Zentralisierungs- und Einsparmaßnahmen umgesetzt. Setzt man jedoch die lange Zeit der Rede über die (kommende) Rückläufigkeit der Finanzen mit der tatsächlichen Entwicklung der Kirchensteuer ins Verhältnis, zeigt sich eine Diskrepanz (vgl. Abb. 24, S. 205): Seit 2004 haben die Kirchensteuereinnahmen der beiden großen Kirchen über weite Stecken kontinuierlichen Zuwachs. Die Evangelische Kirche konnte bei der jährlichen Einnahme eine Steigerung von 3,69 Milliarden Euro (2004) auf 5,67 Milliarden Euro (2017) verbuchen. Angesichts der plausiblen Rede von kommenden rückläufigen Einnahmen, bedarf dieser Sachverhalt einer Erklärung.
Abbildung 24: Einnahmen der Katholischen und Evangelischen Kirche in Deutschland durch die Kirchensteuer von 2004 bis 2017 (in Milliarden Euro) Quelle: https://de.statista.com/statistik/studie/id/7130/dokument/evangelische-kirchein-deutschland-statista-dossier/, aufgesucht am 18. Okt. 2018, 7:51 Uhr. Eigene Darstellung.
Klingholz erläuterte knapp den zeitlichen Verlauf des demographischen Wandels, der diese ökonomische Steigerung unter dem Gesichtspunkt Geburtenentwicklung erläutert. 254 Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass man sich in
253 Vgl. dazu unterschiedliche kirchliche Strategiepapiere wie etwa Kirche der Freiheit: Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) (2006), und Kirche mit Hoffnung: Evangelisch-Lutherisches Landeskirchenamt Sachsens (2016). 254 Vgl. zum Folgenden: Klingholz (2016).
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einem demographischen Übergang von einer Gesellschaft mit vielen Geburten und häufigen frühen Todesursachen und einer vergleichsweise geringen Lebenserwartung zu einer Gesellschaft mit niedrigerer Fertilität und höherer Lebenserwartung befindet. Allerdings ist die Erwartung einer sich stabilisierenden Fertilitätsrate in vielen Ländern nicht eingetreten. Somit befinden sich diese Gesellschaften, zu denen auch die deutsche zählt, auf dem Kurs der Schrumpfung, der derzeit lediglich über Einwanderung abgemildert wird. Dieser Schrumpfungsprozess – ohne die erwartete Stabilisierung der Fertilitätsrate – lässt zwei weitere Phasen erwarten: In der ersten dominieren die letzten geburtenstarken Jahrgänge für etwa 40 Jahre die Gruppe der Erwerbsfähigen und verschaffen der Gesellschaft damit einen demografischen Bonus. Wenn es gelingt, diesen Menschen eine gute Ausbildung mitzugeben und sie mit Arbeitsplätzen zu versorgen, lässt sich der Bonus in eine demografische Dividende verwandeln. Unter diesen Bedingungen wächst die Wirtschaft unter sonst gleichen Bedingungen überproportional, die Einkommen und Staatseinnahmen steigen, während die öffentlichen und privaten Ausgaben für die kleiner werdenden Nachwuchsjahrgänge (Gruppe der Kinder und Jugendlichen) sinken. Gleichzeitig ist die Zahl der älteren Menschen mit Versorgungsansprüchen noch nicht sonderlich hoch. Dies sind die goldenen Jahre der gereiften Volkswirtschaften, von denen Deutschland derzeit gerade die letzten erlebt: Auch hierzulande sind die im Schnitt gut qualifizierten und überwiegend erwerbstätigen Babyboomer der Hauptgrund für die derzeit hohen Einnahmen der Steuer- und Sozialkassen. Die Babyboomer sind die tragenden Säulen der Gesellschaft. 255
Damit ist auch das hohe und sich erhöhende Kirchensteueraufkommen erläutert: Momentan befinden wir uns in einer ‚goldenen Phase der gereiften Volkswirtschaft‘, die sich nach der Finanzkrise um 2011 wieder schnell erholte, wie auch die im Zeitverlauf schwankenden (2009-2010 Abnahme) insgesamt jedoch ansteigenden Kirchensteuereinnahmen zeigten. Demographisch gesehen wird die (kirchen-)steuerreiche Zeit, bzw. die ‚goldene Phase der gereiften Volkswirtschaft‘ ab 2021, dem Jahr, in dem der geburtenstärkste Jahrgang der sogenannten Babyboomer in Rente geht, zu Ende gehen und laut Klingholz spätestens 2030 auslaufen. So zeigt sich, dass es derzeit ein finanzielles Handlungsfenster gibt, um neue Dinge auszuprobieren und zum Wachsen zu bringen. Denn dies muss hier festgehalten werden: Trotz der sinnvollen Aufnahme von absehbaren Schrumpfungen in die Planungs- und Entwicklungsprozesse, kann es nicht sein, dass man sich in dieses Schicksal fügt. Das Ziel der Rückbauprozesse besteht im innovativen Umbau, um zu neuen tragfähigen Konzepten zu kommen. Besonders Schlegel hatte die Notwendigkeiten und Chancen herausgearbeitet, im Rückbau gleichzeitig Neues aufzubauen. 256 255 Klingholz (2016), 7, Herv. BS. 256 Schlegel (2016), 137–154.
Schrumpfung als Leitentwicklungsdynamik in ländlichen Räumen Ostdeutschlands
Mit einem Zitat der ehemaligen Bischöfin Junkermann brachte Schlegel die Sachlage formelhaft auf den Punkt: „Umbau = Neuaufbau im Rückbau“ 257 bzw. mit den Worten der Bischöfin: [D]ass angesichts von Demographie und ‚forcierter Säkularität‘ und allen damit einhergehenden Begleiterscheinungen, v. a. ökonomischer, bald aber auch personeller Art, dass angesichts dieser Entwicklungen ein weiterer Rückbau nicht mehr zu tragen und verkraftbar sein wird. Dass vielmehr ein richtiger Umbau nötig wird. Das nehme ich aus vielen Äußerungen, aus manchen Entwicklungen und aus den (leider wenigen) praktisch-theologischen Diskussionen auf und möchte es in das Gespräch in unserer Kirche hineingeben. 258
Dies ist gerade angesichts der Positionen, die gerne auf quantitatives Wachstum verzichten wollen, noch einmal hervorzuheben: Ein weiterer Rückbau ist nicht mehr zu tragen und wird nicht mehr verkraftbar sein! Der praktisch-theologische Diskurs ist aufgefordert, differenzierte Verhältnisbestimmungen und sensiblere Indikatoren für Wachstum und Schrumpfung zu finden. Hinsichtlich der differenzierten Verhältnisbestimmung von Wachstum und Schrumpfung leistet Schlegel Pionierarbeit, indem er eine ‚dialektische Bestimmung‘ von Aufbau und Rückbau vornahm. So seien zunächst beide Prozesse getrennt voneinander zu denken (Rückbau führe nicht automatisch zu Innovation und Aufbau), in einem zweiten Schritt die Chancen und Verschränkungen der beiden Prozesse wahrzunehmen (im Rückbau entstehe auch Neues), um dann anzuerkennen, dass in der Praxis ein starker Impetus auf das Neue von Nöten sei, aber beide Prozesse nicht getrennt voneinander existieren. 259 In ähnlicher Weise nahm auch Herbst eine differenzierte Verhältnisbestimmung von Wachstum und Schrumpfung vor, als er analysierte, dass global gesehen ein Rückbau stattfinde, die Aufgabe in diesem Rückbau jedoch neu anzufangen sei, um Prozesse eines innovativen Umbaus anzustoßen: Die Schuhe, in denen wir gehen, sind viel zu groß. Wir leisten uns Strukturen, die wir nicht mehr beleben und auch nicht mehr lange finanzieren können. Manches Haus wird geschlossen, manche Stelle gestrichen, manche Kirche umgewidmet werden. Aber es wäre auch fatal, ausschließlich eine Ekklesiologie des geordneten Rückbaus zu betreiben und nicht gezielt neu zu investieren, neue Projekte zu wagen, auf Hoffnung hin wieder aufzubrechen. Ich frage mich, ob sie den Willen dazu aufbringen kann, z. B. neue Gemeindeformen anzuregen, zu unterstützen und zu begleiten. Im Augenblick sehe ich
257 Schlegel (2016), 139. 258 Vgl. https://www . ekmd . de / attachment / aa234c91bdabf36adbf227d333e5305b / 1e48a9aaf9470e08a9a11e4af28d7f4fa56fc78fc78 / bericht _ der _ lb _ junkermann _ 9tagung . pdf, aufgesucht am 13. Aug. 2019, 10:52 Uhr, in Teilen auch zitiert bei: Schlegel (2016), 138. 259 Vgl. Schlegel (2016), 137–154.
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mehr Rhetorik als Entschlossenheit. Das System Kirche reagiert typisch für große, alte Systeme: ein bisschen risikoscheu. Man will lieber mit minimalen Kurskorrekturen – so lange es geht – das Alte erhalten. 260
So ergibt sich jenseits einer Linie, die zwischen einem reinen ‚Schrumpfungsparadigma‘ und einem ‚Wachstumsparadigma‘ verläuft, ein neues Feld, bei dem es darauf ankommt vom Rückbau zum Umbau überzuleiten. Dies ist derzeit noch nicht der Fall, wie auch Grethlein in seiner Kirchentheorie zum Ausdruck brachte. Er sieht die Landeskirchen noch in einer Phase der „Anpassung der bestehenden strukturellen und rechtlichen Verhältnisse angesichts knapper werdender finanzieller Mittel“ 261 und noch nicht in einer Phase „grundlegende[r] Innovationen“ 262. Auf grundlegende Innovationen muss allerdings zugesteuert werden. Ein einfaches Setzen auf Wachstum wird ebenso wenig ausreichen wie die Akzeptanz der Schrumpfung. Mit Wegner, der sich mit Wachstum in ökonomisch-gesellschaftlichen Zusammenhängen auseinandergesetzt hat, ist hier für die kirchliche Organisation sinngleich festzuhalten: Die Forderung nach einer rein pauschalen quantitativen Wachstumsorientierung ist überholt. Wer noch immer damit argumentiert, verdeckt die wirklichen Probleme, vernebelt Entscheidungsschwächen und will Konflikte vermeiden, die im Interesse aller gelöst werden müssten. Es müssen Verständigungen darüber erzielt werden, wie sich Suffizienzziele nachhaltig erreichen lassen. Zentral sind folglich Entscheidungen über Wachstumsprioritäten – was Posterioritäten selbstverständlich impliziert. Entscheidend sind folglich Antworten auf die Fragen: Was soll wachsen? Was soll schrumpfen? 263
In diesem Sinne ist zu hoffen, dass die Kirchen wie auch die Praktische Theologie den Diskurs des ‚Umbaus‘ im Sinne eines Rückbaus bei gleichem innovativen Aufbau aufnimmt, erforscht und begleitet. Es wird vor allem darauf ankommen, sinnvolle Kriterien und Indikatoren für intelligente Schrumpfung und innovativen Aufbau zu bestimmen, um anhand von Prozessen lernen zu können. ‚Rasenmäherprinzip‘, Ziellosigkeit und Zuweisung von Mitteln bzw. Arbeiten ohne die Verständigung über Kriterien zur Güte des kirchlichen Dienstes wird man sich nicht mehr leisten können. Dies wird Konflikte mit sich bringen, die aber – mit Wegner – im Interesse aller gelöst werden müssen. Es liegt auf der Hand, dass dieser Wandel vom Rückbau zum Umbau vor allem durch das kirchliche Personal verantwortet und betrieben werden muss. Wie schon in den Entperipherisierungsprozessen deutlich geworden ist, wird gerade 260 261 262 263
Herbst (2018), 69. Grethlein (2018), 229. Grethlein (2018), 229. Wegner (2013), 17.
Schrumpfung als Leitentwicklungsdynamik in ländlichen Räumen Ostdeutschlands
in diesen Umbrüchen Personalentwicklung zu einem Schlüssel des organisationalen Handelns. Darum soll als Nächstes die Sachlage zum Pfarramt in dem bis hierher skizzierten Kontext dargestellt und durchdacht werden.
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5.
Wandlungsprozesse im ostdeutschen, ländlichen Pfarramt
Im Folgenden werden Daten und Überlegungen dargestellt, die für das ostdeutsche ländliche Gemeindepfarramt besonders relevant sind. Hintergrund und Rückgrat dieser Überlegungen bildet der fachwissenschaftliche Diskurs des Personalwesens bzw. des Personalmanagements. 1 In diesem Diskurs werden bereits seit längerem die Konsequenzen des demographischen Wandels erforscht. Außerdem werden hier spezielle Kontexte wahrgenommen und untersucht – auch der ostdeutsche Kontext. Nach Erarbeitung dieser fachwissenschaftlichen Perspektive wird auf das Pfarramt im ländlich-peripheren Kontext in Ostdeutschland geschaut, um die aus dem fachwissenschaftlichen Diskurs zum Personalwesen bekannten Herausforderungen für das Pfarramt in diesem Kontext zu untersuchen. So entsteht eine aktuelle, personalentwicklerisch reflektierte und kontextsensible Skizze zur Situation und zum erwartbaren Wandel des ostdeutschen Landpfarramts. Durch die Auseinandersetzung mit der Forschung zum Personalwesen wird außerdem ein neues und wichtiges Forschungsfeld der Praktischen Theologie weiter erschlossen. Angesichts des wissenschaftlichen Diskurses zum Personalmanagement muss festgehalten werden, dass der Anschluss an den praktischtheologische Diskurs sowie eine theologische Reflexion desselben noch in den Kinderschuhen stecken. Dies sei anhand eines Überblicks zum Stand der Debatte als Einstieg in das Thema kurz dargelegt. Hermelink arbeitete in einem sehr knappen Beitrag die historische Entwicklung des kirchlichen Personalwesens heraus. 2 Im 20. Jahrhundert legten die Kirchen den Schwerpunkt auf eine akademische Pfarrausbildung – also auf eine umfangreiche Bildung am Anfang einer Berufsbiographie. Nach dieser grundständigen Ausbildung ist der Pfarrberuf eher ausbildungsarm. Hermelink führte dafür 1 Die Begriffe werden synonym verwendet. Vgl. auch die begriffliche Einordnung im Exkurs zum Personalmanagement Kap. 5.1.1, S. 219. 2 Hermelink (2011), 290–292.
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historische Gründe an: Durch die Erfahrungen mit der NS-Diktatur gab es eine besondere Sensibilität dafür, das Pfarramt von obrigkeitlichen und kirchenamtlichen Ansprüchen zu befreien. Spätestens seit 1990 steht dieses „reaktive Leitungsmodell“ 3 zur Debatte und ist „inzwischen allenthalben ‚einer systematischen Begleitung über die gesamte Zeit der aktiven Berufstätigkeit‘ gewichen“ 4. Auch Hauschildt und Pohl-Patalong beobachteten: „Derzeit nimmt das Maß an Steuerung in der Personalpolitik zu.“ 5 Allerdings ist zu fragen, wie umfassend und sinnvoll Steuerung und Reflexion in der Personalpolitik zugenommen haben. Hermelink führte weiterhin aus, worin die kirchliche Personalentwicklung vor allem besteht: Paradigmatisch für das derzeitige Modell kirchlicher Personalführung sind die sog. Mitarbeiter- oder Jahresgespräche, mit denen die ‚Vorgesetzten‘ Arbeitsziele, -erfolge und -zufriedenheit ihrer ‚Untergebenen‘ regelmäßig, methodisch und detailliert begleiten sowie mit den Zielen der Gemeinde bzw. der Einrichtung vermitteln sollen. 6
Hinzu kommen Angebote und Strukturen wie geistliche Begleitung, Supervision, Coaching und Pastoralkollegs zur Weiterbildung und Förderung des kollegialen Austauschs. 7 Im § 55 des Pfarrerdienstgesetzes der EKD von 2010, der von ‚Personalentwicklung und Fortbildung‘ handelt, spiegelt sich dementsprechend genau das von Hermelink ausgeführte Verständnis von Personalentwicklung wider: Fortbildung wird zum Recht und zur Pflicht im Pfarrberuf, Gespräche sind das Mittel der Wahl in der Personalführung und es gibt Weiterbildungsangebote sowie Hilfsstrukturen für den Dienstalltag. Zusätzlich wird noch die Visitation als Aufsichtsinstrument benannt. 8 So kann kirchliche Personalplanung und -entwicklung für das Pfarramt derzeit wie folgt beschrieben werden: Der Schwerpunkt der Ausbildung und Qualifikation liegt nach wie vor am Anfang der Berufsbiographie. Vor allem über die Einführung von Jahresgesprächen hielt die Personalentwicklung Einzug in das Personalwesen der Kirchen. Fortbildung wird gefordert und gefördert. Jenseits dessen gibt es die kirchlichen Personalreferate, die mit den Universitäten in Kontakt stehen und die Ausbildung in der ersten Amtsjahren koordinieren und für die Personalverwaltung zuständig sind. Im Pfarramt sind dann die Pfarrerinnen und Pfarrer gemeinsam mit ihren Superintendenten und in ihren Konventen selbst verantwortlich für ihre Weiterbildung. Angesichts dessen, was derzeit im Perso-
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Hermelink (2011), 291. Hermelink (2011), 291, zitiert: Lindner (2002), 254. Hauschildt/Pohl-Patalong (2013), 382. Hermelink (2011), 291. Hermelink (2011), 291f. Vgl. https://kirchenrecht-ekd.de/document/14992?#s47000203, aufgesucht am 20. April 2020, 7:51 Uhr.
Wandlungsprozesse im ostdeutschen, ländlichen Pfarramt
nalwesen als Herausforderungen diskutiert wird, ist der kirchliche und praktischtheologische Diskurs als eher begrenzt einzuschätzen. Einen ersten Hinweis darauf lieferte Lindner. Er zeichnete ebenfalls die Wandlungen der kirchlichen Personalpolitik nach und begrüßte diese. 9 Er würdigte weiterhin die Einführung von ‚Gesprächen‘ bzw. ‚Jahresgeprächen‘. Allerdings verwies er gleichzeitig auf ein gravierendes Problem: Während im Bereich großer Unternehmen weithin integrierte Systeme der Personalentwicklung anzutreffen sind, sind die Gespräche im Raum der Kirchen weithin noch eine Einzelmaßnahme, die relativ unverbunden in der Kirchenlandschaft steht. Die Fragen nach der Einbettung sind drängend. 10
Lindner beobachtete demnach, dass die Einführung eines Mitarbeiter- oder Jahresgespräches wertschätzend, einfach und relativ unaufwendig war. Jedoch bestand die Frage, wie die Ergebnisse dieser Gespräche auch umgesetzt werden können. So wollten Mitarbeitende wissen: „Wird sich im Umfeld meiner Tätigkeit wirklich etwas ändern, wenn wir gemeinsam Probleme erkannt haben?“ 11 Ebenso fragte Lindner weiter an, ob die Personalabteilungen für die Begleitung und Integration dieser Prozesse ausgerüstet seien, oder ob sie diese Aufgabe aus dem traditionellen Selbstverständnis einer Personalverwaltung mit den Aufgaben der Stellenbemessung und -besetzung gar nicht leisten können. 12 Bis auf Weiteres ist davon auszugehen, dass dieser Wandel noch in vollem Gange ist und eine ausführliche Aufnahme des fachwissenschaftlichen Diskurses der Personalentwicklung nicht nur ein Desiderat in der Praktischen Theologie ist, sondern auch in der kirchlichen Praxis notwendig ist. Dies zeigt die Revue von Schaufelberger, der 2014 immer noch ähnliche Phänomene der Desintegration anführte: In der Praxis scheitern viele sehr gut umgesetzte Konzepte der Personalentwicklung an der Schnittstelle zum Personaleinsatz. Wie könnte dieser Graben überwunden werden? Mit welchen Methoden und theologischen Begründungen könnte ein integriertes Modell funktionieren, das die Passung zwischen Organisation und individueller Vielfalt der Akteure gewährleistet und ermöglicht? Welche ekklesiologischen Entwürfe würden dazu verhelfen, dass Personalentwicklung und Kirchenentwicklung stärker als interdependente Faktoren verstanden werden? 13
Damit zeigt sich, dass der Bedarf an theologischer, kirchentheoretischer und personalentwicklerischer Reflexion in Forschung und Praxis hoch ist.
9 10 11 12 13
Lindner (2002), 254–264. Lindner (2002), 259. Lindner (2002), 260. Lindner (2002), 260. Schaufelberger (2014), 495.
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Während einige Landeskirchen versucht haben, die Personalentwicklung und -steuerung mit unterschiedlichen Prozessen zu Pfarrbildern weiter auszubauen 14, sind im Bereich der praktisch-theologischen Forschung vor allem zwei Versuche zu nennen, die Personal- und Kirchenentwicklung aufeinander beziehen wollen. Zum einen ist hier die Arbeit von Becker zu nennen: Pfarrberufe zwischen Praxis und Theorie: Personalplanung in theologisch-kirchlicher und organisationstheoretischer Sicht 15. Es ist das Anliegen Beckers, keine eigenständige Berufstheorie des Pfarramts zu entwerfen, sondern das Pfarramt konsequent in einer Kirchentheorie zu entfalten. 16 Er führt eine Variante an, wie der Kontext als ‚Betreuungsraum‘ erfasst und mit bestimmten Merkmalen erhoben werden könne, die dann eine Rolle für die Profilierung der Pfarrstelle haben. 17 Dieses Vorgehen ist überzeugend, wenn auch die Auswahl der Indikatoren und die Beachtung raumwirksamer Mittel sowie regionale bzw. überregionale Zusammenhänge diskutiert werden können. Das erstellte Profil der Pfarrstelle gibt dann Anforderungen an Qualifikation und Persönlichkeit eines künftigen Stelleninhabers an. Hier erfolgte bei Becker der Anschluss an Fragestellungen der Personalplanung. Dieses Vorgehen überzeugt ebenso, auch wenn sich zeigt, dass die von Becker vorgeschlagenen Inventare zur Einschätzung der Persönlichkeit von Pfarrpersonen mehrheitlich dem derzeitigen akademischen Standard nicht angemessen sind. 18 Zum anderen ist das ‚Kompetenzstrukturmodell‘ von Schaufelberger anzuführen, welches in der Veröffentlichung Perspektiven für das Pfarramt: Theologische Reflexionen und praktische Impulse zu Veränderungen in Berufsbild und Ausbildung 19 dargestellt wurde. Auf Basis einer Erhebung zahlreicher Faktoren aus dem Umfeld des Pfarramts und in der Auseinandersetzung mit dem Erfahrungswissen von rund 200 Pfarrpersonen wurden Kompetenzstandards erarbeitet, die als Bildungs- und Rahmenplan die Aus-, Fort- und Weiterbildung im Pfarramt voranbringen sollen. 20 Das Ziel dieses Modells ist identisch mit dem Ziel jeglicher Personalentwicklung: „die für den Dienst erforderlichen Gaben zu entdecken, zu fördern und zu entwickeln.“ 21 Schaufelberger sieht zwar verschiedene Einsatz-
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Vgl. dazu bspw. Klessmann (2012), 174–179. Becker (2007b). Becker (2007b), 282. Vgl. Becker (2007b), 292–304. Becker stellte unterschiedliche Modelle vor, wie DISG, Structogramm etc. vor (Becker (2007b), 311). Hinsichtlich dieser Modelle ist anzumerken, dass sie sicherlich im englischsprachigen Raum vermarktet und eingesetzt werden. Gleichzeitig ist festzuhalten, dass die psychologische Forschung diese eher intuitiven Modelle hinter sich gelassen hat und dementsprechend im Personalwesen andere, empirisch validierte Herangehensweisen bevorzugt werden. Vgl. bspw. Rowold, (2015), bes. Kapitel 9: Personeneigenschaften. 19 Schaufelberger/Hartmann (2016). 20 Schaufelberger/Hartmann (2016), 29f. 21 Schaufelberger (2014), 492, zitiert hier: EKD, Pfarrerdienstgesetz § 55.
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möglichkeiten dieses Modells, etwa als Hilfe bei der Besetzung von Pfarrstellen, jedoch ist das Gesamtanliegen eher die Neuausrichtung der Aus-, Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen, um den Ansprüchen, die das Pfarramt heute stellt, gerecht zu werden. Entwickelt wurde das Modell in der Schweiz und ist in diesem Sinne sensitiv für die dortige Situation. Einige Trends sind durchaus vergleichbar mit der Sachlage in Deutschland: Schaufelberger verwies auf die zunehmende Säkularisierung, auf kommende Ruhestandswellen und auf einen Nachwuchsmangel sowie organisationale Umbrüche. Allerdings werden die Trends nur benannt und nicht ausgeführt, so dass ein Vergleich in die Tiefe nicht möglich ist. 22 Ähnlich wie zu Becker kann für dieses Modell festgehalten werden, dass es noch nicht erprobt ist. 23 Die Beschreibungen der Kompetenzen sind zwar an validen psychologischen Inventaren orientiert, jedoch scheint noch nicht ganz klar zu sein, wie Personaleinsatz und die Verbindung des Modells zur Kirche als Gesamtorganisation zu verstehen sind. So verwies Kunz, der das Modell begrüßte, vor allem auf diesen Sachverhalt: Er mahnte die Übersetzungsarbeit des Modells in die Gemeinde hinein an und wies auf eine nicht notwendige Pfarrzentrierung des Modells hin. 24 So zeigen sich – unter anderem – mit diesen beiden Entwürfen konkrete Anleihen aus der Personalentwicklung und gleichzeitig kann festgehalten werden, dass in der Praktischen Theologie eine Auseinandersetzung mit dem fachlichem Diskurs des Personalmangements noch aussteht. Eine Anmerkung und ein Hinweis seien zuvor noch gestattet: Der Wert eines professionellen Personalwesens ist sicher unbestritten, wenn es darum geht, die Bedarfe vor Ort und die Fähigkeiten von Personen zusammenzubringen und zu entwickeln. Es wäre nicht besonders klug, an den Erfahrungen und Leistungen anderer auf diesem Gebiet vorüberzugehen. Dennoch gibt es im Diskurs des Personalwesens auch Anstößiges. Hier sei stellvertretend auf den Begriff ‚human resources‘ hingewiesen, der die theologische Frage nach dem Menschenbild aufwirft. Natürlich wird dieser Begriff nicht von jedem Personaler verwendet und die Debatte darum muss hier nicht geführt werden. Viel wichtiger erscheint die Frage, was eigentlich das Spezifikum einer christlichen Personalentwicklung wäre. Hier ist mit Hermelink auf das Stichwort ‚Berufung‘ hinzuweisen. 25 In der Beachtung der Frage nach der Berufung liegt das Potential, Menschen gerade nicht für organisationale Ziele zu verzwecken oder rücksichtslos dafür zu optimieren. Hermlink führte aus:
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Schaufelberger/Hartmann (2016), 19–23. Kunz (2016), 105. Kunz (2016), 105–119, bes. 116. Hermelink (2011), 292.
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Nachdem die allgemein verbreiteten Maximen und Methoden organisatorischer Personalentwicklung in der Kirche heimisch geworden sind, scheint es angebracht, die spezifisch ‚geistliche‘ Dimension dieser Leitungsform zu unterstreichen: Wird die Mitarbeit in der Kirche, auch die pastorale Mitarbeit als Ausdruck einer spezifischen Berufung verstanden, so hat deren Begleitung seitens der kirchlichen Leitung auf den weltlichgeistlichen Doppelcharakter der Berufung zu achten: Die vocatio externa, die kirchliche Amtseinsetzung und Begleitung, die sich stets in einem Wechselspiel von inhaltlich-theologischer Reflexion und persönlicher Aneignung vollzieht, steht in Korrespondenz, aber auch in Spannung zu der vocatio interna, der Berufung durch Gott in einer Erfahrung der Freiheit des Glaubens. Von daher wird eine evangelische Personalführung sorgfältig zu unterscheiden haben zwischen dem Anspruch auf kirchliche Loyalität der Berufenen und ihrer Gottesbeziehung, in die einzugreifen jeder äußeren, auch jeder kirchlichen Instanz verwehrt ist: Eine totale Identifikation mit dem religiösen Beruf wird die Leitung gerade nicht erwarten dürfen. 26
Unter Beachtung dieses Vorbehalts steht einer kritischen und produktiven Auseinandersetzung mit dem Personalwesen im Grunde nichts im Wege. Deswegen wird nun der Diskurs zum Personalwesen in Bezug auf die Herausforderungen der Kirchen in ländlichen, peripheren Gebieten Ostdeutschlands erschlossen.
5.1 Personalmanagement und demographischer Wandel in Ostdeutschland 5.1.1 Allgemeine Herausforderungen für das Personalwesen durch den demographischen Wandel Der demographische Wandel hat selbstverständlich nicht nur Auswirkungen auf die Kirchenmitgliedschaft und das damit verbundene Kirchensteueraufkommen, sondern auch auf die Mitarbeiterschaft im kirchlichen Dienst. Im Bereich des Personalmanagements werden die Folgen des demographischen Wandels auf Betriebe und öffentliche Einrichtungen schon seit längerem diskutiert. 27 Ausgehend von dieser Diskussion, in der sich pessimistische und optimistische Vertreter gegenüberstehen, suchen Personalverantwortliche nach Wegen und Strategien, wie man mit den Herausforderungen umgehen kann. 28 Insgesamt zeigt sich, dass der demographische Wandel kurz- und mittelfristig zwar nicht zu ändern ist, aber man ist diesen Prozessen auch nicht hilflos ausgelie26 Hermelink (2011), 292, Herv. original. 27 Vgl. Prezewowsky (2007), Sackmann/Jonda/Reinhold (2008), Krisor/Flasche/Antonik (2015) u. Armutat (2018). 28 Vgl. Sackmann/Reinhold/Jonda (2008), 9f.
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fert. 29 Denn einerseits wird die Alterung der Bevölkerung nicht spurlos an den Betrieben, Institutionen und Organisationen vorübergehen und andererseits gibt es keinen direkten Zusammenhang zwischen der Alterung der Bevölkerung und dem Durchschnittsalter der Angestellten einer Organisation. 30 In der Literatur zeigt sich, dass die Herausforderungen und Probleme für den öffentlichen Bereich und die Privatwirtschaft recht ähnlich sind. 31 Um aus den Erkenntnissen dieser Fachbereiche für den kirchlichen Dienst zu lernen, liegt es nahe, die Literatur zum öffentlichen Dienst bevorzugt heranzuziehen, da die pfarramtlichen Verhältnisse diesen Gegebenheiten näher stehen als denen privatwirtschaftlicher Anstellungsverhältnisse. So wie der öffentliche Dienst stark biographiebezogen ist, sind es auch weite Teile des kirchlichen Diensts. 32 Es handelt sich hierbei um Dienstleistungen im Bereich der Anfangsphasen des Lebens (Geburt, Schulbildung) bis hin zu den letzten Phasen des Lebens (Altenpflege). Damit ergibt sich als Konsequenz des demographischen Wandels nicht nur die Alterung der Belegschaften, sondern auch eine Verschiebung bei den Bedarfen der Bevölkerung: Weniger Kinder benötigen – vereinfacht gesagt – weniger pädagogisches Personal und eine alternde Bevölkerung braucht mehr Personal im Pflegebereich. Die Spezialisierungen von Berufsgruppen im öffentlichen Dienst auf bestimmte Biographiephasen wird aufgrund dieser Verschiebungen potentiell problematisch: Der enge Nexus zwischen biographiebezogenem Leistungsbedarf und spezialisierter Leistungskompetenz der Beschäftigten in großen Teilen des öffentlichen Dienstes, der sich im Laufe der Zeit herausgebildet hat und von den meisten Beteiligten und Betroffenen als ganz selbstverständlich unterstellt wird, funktioniert allerdings, wie sich gegenwärtig mit zunehmender Deutlichkeit zeigt, nur dann, wenn die demographische Entwicklung ausreichend stetig ist. 33
Das bedeutet: Das Angebot spezialisierter Leistungen für die Abdeckung biographiebezogener Bedarfe wird ohne ein stetiges demographisches Wachstum dysfunktional. Außerdem ergibt sich ein doppelter Wandel, nämlich die Alterung der 29 Vgl. Sackmann (2008), 66 u. Armutat (2018), 42. 30 „Ein steigendes Durchschnittsalter des Erwerbspersonenpotenzials ist nicht automatisch mit alternden Belegschaften gleichzusetzen. Vielmehr wird das Durchschnittsalter des Personals einer Organisation sowohl von demografischen Alterungsprozessen als auch von arbeitsmarkt- und personalpolitischen Entscheidungen beeinflusst. Internationale Vergleiche zeigen, dass Einsparbemühungen im öffentlichen Sektor häufig zulasten der jüngeren Beschäftigten gehen – beispielsweise durch reduzierte Einstellungen oder befristete Arbeitsverträge ohne anschließende Übernahme in eine unbefristete Beschäftigung. Dadurch altern die Belegschaften des öffentlichen Dienstes stärker als der Durchschnitt der Erwerbstätigen“ (Bartl (2011), 42). 31 Vgl. Lutz (2008, 17–23) u. Armutat (2018), 23–56. 32 Vgl. dazu und für das Folgende: Lutz (2008), 17–23. 33 Lutz (2008), 18.
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Belegschaft mit einem speziellem Feld an Herausforderungen sowie der Wandel des Umsystems und der Bedarfe. Als absehbares Problem zeichnen sich je nach Berufsgruppe personelle Engpässe bei gleichzeitig kostspieligen Überhängen in anderen Bereichen ab, die insgesamt zu einer Unterversorgung der Bevölkerung führen. Aufgrund dieser Sachlage kam Lutz zu dem Schluss: Mit dem Altern der Gesellschaft, mit zunehmender Verknappung von Nachwuchskräften und mit wachsendem Gewicht von Älteren können sich auch gravierende Veränderungen in den personalwirtschaftlichen Rahmenbedingungen des öffentlichen Dienstes vollziehen. 34
Damit sind zentrale Herausforderungen in der Personalplanung und deren Konsequenzen benannt, die vordergründig mit dem demographischen Wandel in Verbindung gebracht werden: Zum einen kann es zu einer Alterung der Belegschaft kommen und zum anderen wandeln sich die Bedarfe für bestimmte Dienstleistungen aufgrund der Altersverschiebungen in der Gesellschaft. Ein einsetzender Nachwuchsmangel wird die Personalplanung bzw. das Personalmanagement grundlegend verändern, da das bisherige Personalwesen darauf ausgelegt ist, viele Bewerber auf wenige Stellen zu verteilen – also auf ein stetiges demographisches Wachstum setzen konnte. Einerseits gab es mehr Bewerber als Stellen und damit auch eine höhere Wahrscheinlichkeit, ausreichend viele spezialisierte Fachkräfte zu finden, und andererseits traten die individuellen Bedarfe der Bewerber aufgrund der knappen Stellensituation bei der Stellenbesetzung eher in den Hintergrund. Mit diesen Zusammenhängen sind die grundlegenden Herausforderungen benannt. Um die Bedeutung dieser Herausforderungen und damit einhergehenden Veränderungen einschätzen zu können, ist es zunächst geboten, die personalwirtschaftlichen Rahmenbedingungen abzustecken. Dies soll in einem Exkurs zum Personalmanagement geschehen, da ein kurzer Überblick zu dieser Disziplin die Wandlungsfelder einordnen und einschätzen hilft.
Exkurs: Personalmanagement Überblickt man einige aktuelle Veröffentlichungen zum Personalmanagement, dann wird schnell das Gemeinsame dieses Handlungsbereichs deutlich: 35 Es geht um den Prozess der Bereitstellung von Personal für die Aufgaben einer Organisation. 36 Bei den Begriffen von ‚Personalwesen‘ bis ‚Human-Ressource-Manage34 Lutz (2008), 20. 35 Als Grundlage für diesen Exkurs wurden neben anderen hauptsächlich folgende Handbücher und Einführungswerke berücksichtigt: Gourmelon/Seidel/Treier (2014), Holtbrügge (2018), Rowold (2015) u. Scherm/Süß (2016). 36 Vgl. Scherm/Süß (2016), 6f.
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ment‘ geht es im Kern um das Gleiche, so dass die Begriffe hier synonym verwendet werden, obwohl die Bezeichnungen Nuancen in sich tragen, die jedoch für diese Arbeit keine wesentliche Rolle spielen. 37 Bei Rowold findet sich eine graphische Aufbereitung des strategischen Personalmanagements, die einen guten Überblick zu unterschiedlichen Themenfeldern des Personalmanagements bietet (vgl. Abb. 25, S. 219).
Abbildung 25: Rahmenmodell des Human Ressource Managements nach Rowold Quelle: Rowold (2015), VIII. Geänderte Darstellung.
Im Kern geht es beim Personalmanagement um den Prozess vom Personalmarketing (Personalbeschaffung) bis zur Personalfreistellung (Personalfreisetzung). 38 Die Grundlage bildet die Personalplanung, in der der Personalbedarf prognostisch ermittelt wird. 39 Nachdem der Bruttopersonalbedarf erhoben ist und die Entwicklung des Personalbestands aufgrund von Alterung und anderen Faktoren geschätzt ist, kann, nachdem auch das Qualifikationsniveau für bestimmte Tätigkeiten festgelegt wurde, die Suche nach geeignetem Personal beginnen. Klassischerweise sind hier Stellenanzeigen, Empfehlungen, Jobbörsen etc. zu 37 Vgl. zur Vielfalt der Begriffe und deren Bedeutungen: Scherm/Süß (2016), 3. 38 Vgl. die Begriffe und deren Alternativen bei Holtbrügge (2018), Rowold (2015) u. Scherm/ Süß (2016). 39 Scherm/Süß (2016), 23–30.
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nennen. 40 Anschließend erfolgt die Phase der Personalauswahl, die bei günstigem Verlauf eine geringe Personalentwicklung nach sich zieht. 41 Personalführung reflektiert das Verhältnis von Führungsverhalten und Motivation in einer Organisation, um gemeinsam und arbeitsteilig die organisationalen Ziele umzusetzen. 42 Ein weiterer wichtiger Aspekt des Personalmanagements ist die Vergütung und die Arbeitszeitgestaltung der Mitarbeiter als zentrales Anreizsystem. Der Prozess wird abgeschlossen durch die Personalfreisetzung, die sich mit der Entlassung bzw. Pensionierung oder Verrentung von Mitarbeitern befasst. „Insgesamt beschreiben diese Themen den kompletten Zyklus eines Mitarbeiters vom ersten Kontakt mit der Organisation bis zum Ausscheiden aus der selbigen [sic] und bilden dadurch das ‚Rückrad‘ [sic] des Human Resource Management-Rahmenmodells [sic]“. 43 Diese Kernaufgaben des Personalmanagements sind natürlich wechselseitig von den Mitarbeitern und der Organisation beeinflusst. Dauernde Aufgaben des Personalmanagements sind mit den Themen ‚Assessment‘, ‚Personalcontrolling‘ und ‚operative Aufgaben‘ benannt. Mit dem Assessment oder der Beurteilung von Mitarbeitern sind Feedbackprozesse und Leistungsbeurteilungsverfahren im Blick, die unter anderem in Zusammenhang mit der Entlohnung und Karriereplanung von Mitarbeitern stehen. 44 Personalcontrolling beschäftigt sich mit den Optimierungsmöglichkeiten von Personalbedarfsplanung und tatsächlichem Personaleinsatz. In diesem Sinne ist es die „Reflexion personalbezogener Entscheidungen“ 45, die dem Ziel dient, personalbezogene Entscheidungen zu verbessern. Hinzu kommen als weiteres Tätigkeitsfeld operative bzw. administrative Aufgaben, wie zum Beispiel das Führen einer Personalakte. 46 Alle genannten Prozesse werden von bestimmten Umweltthemen beeinflusst, wie zum Beispiel dem demographischen Wandel, Aspekten der Digitalisierung
40 Vgl. die umfassende Darstellung von Wegen und Methoden der Personalbeschaffung in: Holtbrügge (2018), 114–124. 41 Personalentwicklung ist heute ein konstantes Feld im Personalmanagement geworden, da die Komplexität der Arbeitswelt zugenommen und die Halbwertszeit von Wissen abgenommen hat (Rowold (2015), VIII). Scherm / Süß wiesen allerdings auf folgenden Sachverhalt hin: „Eine Fehlauswahl zieht in aller Regel erhöhte Kosten nach sich. Diese entstehen durch die suboptimale Besetzung der Stelle und die damit verbundene geringe Produktivität des Mitarbeiters. Wird versucht, den ausgewählten Mitarbeiter durch Personalentwicklung an die Stellenanforderungen anzupassen, verursacht das Kosten. Sind diese Bemühungen erfolglos und das Unternehmen trennt sich von dem Mitarbeiter, zieht die Freisetzung Kosten nach sich; außerdem muss der Beschaffungs- und Auswahlprozess neu initiiert werden, wodurch weitere Kosten entstehen“ (Scherm/Süß (2016), 54). 42 Vgl. Scherm/Süß (2016), 179–206. 43 Rowold (2015), VIII. 44 Vgl. dazu auch Scherm/Süß (2016), 77–107. 45 Scherm/Süß (2016), 250. 46 Rowold (2015), IX.
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sowie der Organisationskultur, zu der auch das Thema ‚Gesundheit in Organisationen‘ gehört. 47 Auf Grundlage dieses Exkurses ist es möglich, die Spezifika und Besonderheiten des Personalmanagements im öffentlichen Dienst und dessen Wandel – sowie später die Besonderheiten des kirchlichen Dienstes – pointiert in den Blick zu nehmen.
5.1.2 Personalentwicklerische Herausforderungen und Reaktionen auf die Kontextbedingungen in Ostdeutschland Die in diesem Kapitel eingangs erwähnten demographischen Entwicklungen zeigten ‚gravierende‘ Umwälzungen im Personalwesen auf. Aufgrund vorheriger Analysen darf man schlussfolgern, dass sie in Ostdeutschland auf verschärfte Weise zutage treten werden. Im Personalmanagement werden bereits beschriebene Wandlungen als Herausforderungen wahrgenommen und reflektiert. Zunächst sollen die allgemeinen Kenntnisse und Zusammenhänge hinsichtlich der Herausforderungen im Personalmanagement durch den demographischen Wandel dargestellt werden. 48 Anschließend werden diese allgemeinen Zusammenhänge und Hinweise für den Osten spezifiziert – dafür wird eine Studie von Bartl rezipiert, die den Sachstand und Strategien des Wandels von ostdeutschen Kommunen erforscht hat. Einige Folgen der demographischen Umwälzungen liegen auf der Hand: die Personalbeschaffung wird aufgrund des fehlenden Nachwuchses schwieriger und die Belegschaften werden älter. Die Instrumente des Personalmanagements werden aufgrund dieser Situation an den demographischen Wandel angepasst, um eine Milderung der befürchteten negativen Auswirkungen zu erreichen. 49 Als erstes und auch empirisch belegtes wirksames Mittel gilt die Erstellung eines strategischen Personalplans. 50 Ein solcher mit empirischen Daten und Routinewissen erstellter Personalplan hilft die Kosten und Bedarfe sowie die strategischen Herausforderungen zu markieren. Aufgrund dieses Personalplans werden dann personalentwicklerische Maßnahmen etabliert. Derzeit werden folgende Erkenntnisse diskutiert: Es erfolgt eine deutliche Anpassung und Erweiterung der Instrumente im Bereich der Personalbeschaffung. Da man davon ausgeht, nicht länger genügend 47 Rowold (2015), IX. 48 Grundlage dafür sind die bereits in diesem Kapitel eingeführten Lehr- und Handbücher (vgl. Anm. 35, S. 218) sowie weitere Fachliteratur zum Thema Personalwesen und demographischer Wandel. 49 Vgl. dazu und zum Folgenden: Armutat (2018), 23–56. 50 Armutat (2018), 26.
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junge und ausreichend qualifizierte Fachkräfte zu finden, werden neue Bewerberzielgruppen anvisiert. Dieser Umschwung wird mit den Stichworten ‚Diversity-Rekrutierung‘ und ‚Diversity-Management‘ beschrieben. 51 Werden allerdings neue Bewerbergruppen ins Auge gefasst, dann sind auch deren spezielle Bedürfnisse und Qualifikationsniveaus zu berücksichtigen, so dass das diskriminierungsfreie Management der Unterschiedlichkeiten eine wichtige und aufzubauende Kompetenz in Unternehmen ist. Wird nach Wegen der Mitarbeiterwerbung gesucht, dann zeigt sich, dass die eigenen Arbeitnehmer die besten Botschafter sind, wenn es darum geht, neue und qualifizierte Fachkräfte zu finden. Unter dem Stichwort ‚Employer-Branding‘ wird dabei auch der Wertewandel beachtet, den die sogenannte Generation Y an Arbeit anlegt. 52 Bei dieser Generation steht beispielsweise nicht mehr die langfristige Bindung an einen Arbeitgeber im Vordergrund. 53 Dies hat wiederum Auswirkungen auf das zentrale Anreizsystem des öffentlichen Dienstes, das Senioritätsprinzip, welches auf eine lange Verweildauer eines Arbeitnehmers setzt. Viel wichtiger ist allerdings, die eigene Attraktivität als Arbeitgeber zu steigern. Dazu trägt die Entwicklung einer arbeitnehmerfreundlichen Kultur bei, die schon bei der Einstellung die Erwartung der Bewerber übertrifft. 54 Für den öffentlichen Dienst ist typisch, dass mit der Rekrutierung neuer junger Arbeitskräfte gleichzeitig der Anschluss an innovatives Wissen sichergestellt wird. Mit dem Nachwuchsmangel ist eine Verknappung des Zustroms von neuem Wissen für die Organisation zu befürchten. Somit zeigt sich für den öffentlichen Dienst eine besondere Schwierigkeit, da diese Art und Weise Innovation in die Organisation zu bringen deutlich erschwert wird. 55 Die Personalentwicklung gewinnt dadurch an Gewicht. Hier müssen Konzepte und Ideen entwickelt werden, wie neues Wissen in die Organisation aufgenommen werden kann. Außerdem nehmen Fortbildungen an Bedeutung zu, damit die von Lutz benannte Fehlpassung von speziell biographisch bezogenen Berufsbildern (Erzieher) und Bedarfen (Altenpfleger) ausgeglichen werden können. So ist aufgrund dieser notwendigen
51 Vgl. Armutat (2018), 38f u. Krisor/Flasche/Antonik (2015), 231–244. 52 Armutat (2018), 35f. Vgl. zum Wertewandel in der Generation Y: Hurrelmann/Albrecht (2014), 45–84, Parment (2009) u. vgl. dazu auch die kritische Gegenlese aus dem Institut für angewandte Arbeitswissenschaft (ifaa): Adenauer (2018). 53 Armutat (2018), 37. 54 Armutat erläuterte, dass es drei verschiedene Kategorien gebe, die hier beachtet werden müssen: die Basiskategorie, in der es um selbstverständliche Anforderungen des Arbeitnehmers gehe, die Leistungskategorie, in der es um Attraktivitätsmerkmale gehe, die eine Organisation aus Sicht des Arbeitnehmers besonders machen, und die Begeisterungskategorie, in der die Arbeitgeber die Erwartungen des Arbeitnehmers übertreffen. Erst in der dritten Kategorie steigere sich das Ansehen einer Organisation in den Augen potentieller Bewerber (Armutat (2018), 37). 55 Lutz (2008), 21.
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Erweiterungen festzuhalten, dass die Personalbeschaffung und -entwicklung insgesamt kostenintensiver wird, da mehr Koordination und Qualifikationsangebote aufgebracht werden müssen. Ein weiterer Aspekt, der die gesteigerte Wichtigkeit der Personalentwicklung zeigt, ist die Sorge um die nötigen Kenntnisse und das Wissen für die Arbeit. Armutat nennt dies das „Know-how-Risiko“ 56. Es geht hierbei um eine Anpassung und Erweiterung des Wissensmanagements, das vor allem dafür sorgt, dass das implizite Wissen von ausscheidenden Mitarbeitern bezüglich wichtiger Prozesse und Fertigkeiten an die bleibende oder neu rekrutierte Belegschaft weitergegeben wird. 57 Dies bringt einerseits eine Wertschätzung der älteren qualifizierten Belegschaft mit sich und trägt gleichzeitig zum Leistungserhalt der Organisation bei. Weiterhin gilt es, die Leistungsfähigkeit der Belegschaft zu erhalten. Eine ganzheitliche Personalentwicklung wird deswegen frühzeitig darauf achten, dass die Mitarbeiter aktiv und positiv auf ihre eigene Gesundheit einwirken. Ein betriebliches Gesundheitsmanagement für Ältere ist angebracht, jedoch erhöht eine frühzeitige Intervention und Prävention in diesem Bereich die Chancen auf gesündere Arbeitnehmer im Alter. Schließlich steigt das Renteneinstiegsalter, so dass Arbeitnehmer und Angestellte länger – und möglichst gesund – arbeiten müssen. In diesem Zusammenhang gilt es auch, altersgerechte Arbeitsstrukturen einzuführen, um den Bedürfnissen und Leistungseigenheiten einer älteren Belegschaft gerecht zu werden. 58 In Sachen Vergütung muss auf einen Vor- und Nachteil des öffentlichen Dienstes hingewiesen werden. Lutz sah die „senioritätsbezogene Verdienststruk-
56 Armutat (2018), 25. 57 Armutat (2018), 33, vgl. auch den Beitrag zum demographischen Wandel und Wissensmanagement in: Rowold (2015), 231–244. 58 „Entsprechend sind Tätigkeitsbündel zu vermeiden, die monotone Belastungen mit hohen statischen Anteilen beinhalten, die in einer ermüdenden einseitigen Arbeitshaltung vollführt werden, bei denen Zeitdruck, ausdauernde Konzentration mit wenigen Pausen, die parallele Verarbeitung einer Vielzahl von Einflussfaktoren sowie die parallele Erledigung einer Vielzahl von Aktivitäten prägend sind. Vielmehr ist darauf zu achten, dass die Mitarbeiter ihr Erfahrungswissen, ihre Stärken in der abgewogenen Entscheidungsfindung zum Einsatz bringen können, wie es in manchen Anleitungsfunktionen (Ausbilder, Coach, Trainer), teilweise in Leitungsfunktionen, in verhandlungsdominierten Tätigkeiten, in organisatorischen, koordinierenden Tätigkeiten der Fall sein kann. Die Arbeitsorganisation muss sich an die veränderten Erholungsbedürfnisse anpassen. Flexible Arbeits- und Pausenzeiten sowie Abwechslung durch Job-Rotation sind Beispiele für eine entsprechende Veränderung. Bei der Arbeitsplatzgestaltung ist zu beachten, dass die Arbeitsmittel nach ergonomischen Prinzipien gebaut sind und körperliche Belastungen reduzieren helfen: Stehhilfen, ergonomische, höhenverstellbare Schreibtische und individuell anpassbare Bürostühle sind Beispiele dafür. Neben einer Verbesserung der Beleuchtung ist auf eine barrierefreie Gestaltung von Symbolen, Bedienelementen und Schriftstücken zu achten, um den veränderten Wahrnehmungsfähigkeiten gerecht zu werden.“ (Armutat (2018), 34).
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tur“ 59 als Hindernis im Personalmanagement in Zeiten des demographischen Wandels. Diese Problematisierung ist zu beachten, denn sie betrifft ein zentrales und tragendes Element des Personalwesens im öffentlichen Dienst. Die Laufbahnstruktur mit zeitlich geregelten Aufstiegen bietet sowohl den Beschäftigten wie auch den Arbeitgebern Vorteile, denn es bringt die Möglichkeit einer langfristig stabilen Planung, Weiterentwicklungen des Personals und eine erhöhte Loyalität des Personals mit sich. Allerdings benannte Lutz die Gefahr, dass bei einer insgesamt älter werdenden Bevölkerung dieses Senioritätsprinzip dysfunktional wird. Zum einen ist die momentan gern genutzte frühe Pensionierung immer weniger zu erwarten. In einigen Bereichen ist dann ein Umlernen notwendig, welches altersbedingt eine Hürde für Arbeitnehmer und Arbeitgeber darstellt. Aufgrund des Senioritätsprinzips kann es zu einem Aufstiegs- und Beförderungsstau kommen, was sich wiederum auf Fragen der Gerechtigkeit und Motivation auswirkt. 60 Zum anderen kommen noch Einsparmaßnahmen aufgrund des sich wandelnden Bedarfs hinzu, die zu Stellenstreichungen führen können, zumindest aber Stellenreduktionen mit sich bringen. 61 Diese Aspekte des Personalmanagements sind unter dem Gesichtspunkt des demographischen Wandels aufschlussreich und bilden die Grundlage für die Beschreibung und Einschätzung der Situation des Pfarramts im ländlichen Ostdeutschland. Zuvor soll allerdings noch die Studie von Bartl aufgerufen werden, um ostdeutsche Besonderheiten im Personalwesen zu bestimmen. Bartl erforschte die personalpolitischen Reaktionen von schrumpfenden Kommunen hinsichtlich des demographischen Wandels in Ost- und Westdeutschland sowie Polen. Er stellte verschiedene Schwierigkeiten im Personalmanagement der ostdeutschen Kommunen fest. Bartl kam zu dem verblüffenden Ergebnis, dass Personalpolitik in demographischen Handlungskonzepten bzw. Handlungsstrategien (bspw. Bertelsmann u.a.) keine Rolle spiele. 62 Dies gilt insbesondere für Personalkosten im öffentlichen Dienst. In kommunalen Gemeinden mit Einwohnerrückgängen kommt es zu verschiedenen Remanenzkosten für Infrastrukturen. Einsparungen sind zwar in verschiedenen Bereichen möglich, allerdings ist es finanzwissenschaftlich unbestritten, dass Personalkosten aufgrund ihres Umfangs und der geringen Flexibilität besonders zu Buche schlagen. 63 Diese Remanzenkosten werden aufgrund der Anstellungen im öffentlichen Dienst noch verschärft, da hier Anstellungen in der Tendenz auf Lebenszeit vorgenommen werden und Senioritätsrechte insti-
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Lutz (2008), 21. Lutz (2008), 21. Lutz (2008), 23. Bartl (2011), 43. Bartl (2011), 39.
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tutionell besser verbürgt sind als in der Privatwirtschaft. 64 Insgesamt ist es verwunderlich, dass Personalkosten kaum in Demographiestrategien vorkommen, da nicht nur die finanzielle Fallhöhe in kommunalen Haushalten, sondern die bereits aufgeführten Themen des Personalmanagements diesen Sachverhalt im Grunde ‚doppelt‘ relevant machen. 65 Für Ostdeutschland konnte Bartl im Vergleich zu Westdeutschland und Polen das höchste Durchschnittsalter bei den Erwerbstätigen und auch den höchsten Anstieg des Durchschnittsalters der Erwerbstätigen ausmachen. 66 Die Vermutung, dass dann eine alternde und ältere Belegschaft Innovationsdefizite aufweise, wurde auch bestätigt. 67 Eine niedrige Motivation und Lernbereitschaft steht allerdings eher im Zusammenhang mit einer nahen Verrentung oder Pensionierung als mit dem biologischen Alter. 68 Es zeigte sich in Bartls Studie, dass es in Ostdeutschland aufgrund der besonderen Situation erwartete und unerwartete Bewältigungsstrategien im Umgang mit dem Personal gab. Da es in Ostdeutschland im Vergleich zu Polen und Westdeutschland ein gut ausgebautes Netz von Kindertagesstätten gab und der Rückgang in dieser Bevölkerungsgruppe sehr schnell erfolgte, kam es zu betriebsbedingten Kündigungen. 69 Insofern Anstellungsverhältnisse im öffentlichen Dienst gerade durch langfristige Sicherheit motivieren und damit werben können, gilt diese Maßnahme als besonders unerwartet und auch drastisch. Der massive Druck der Schrumpfung erklärt die Anwendung von betriebsbedingten Kündigungen, die sonst als Steuerungsinstrument zur Personalfreisetzung im öffentlichen Dienst gemieden wird. Anders als im Bereich der Kindertagesstätten schloss man im Bereich der Kernverwaltung eher betriebliche bzw. kommunale Bündnisse für Beschäftigung und reagierte auf den Kostendruck durch Schrumpfung mit Arbeitszeit- und Lohnsenkungen. Eine positive Konsequenz dieser Art der Reduktion von Arbeitszeiten und Flexibilisierung der Einsatzbereiche der Mitarbeiter war die Vermeidung von Kündigungen sowie die Möglichkeit, Schwankungen im Arbeitsauf-
64 „Aufgrund alternder Belegschaften werden dem Staat als Arbeitgeber zusätzlich steigende Personalkosten durch das geltende Senioritätsprinzip bei der Entlohnung, steigende Lohnnebenkosten für Arbeiter und Angestellte durch demografisch induzierte Beitragssatzsteigerungen der Sozialversicherung sowie erhöhte Kosten durch die speziellen Alterssicherungssysteme im öffentlichen Dienst prognostiziert“ (Bartl (2011), 42). 65 Bartl (2011), 43. 66 „In Ostdeutschland ist das Durchschnittsalter mit knapp 41 Jahren mittlerweile (2008) am höchsten. Es liegt etwa ein Jahr über dem Niveau von Westdeutschland (2008: ca. 40 Jahre) und etwa dreieinhalb Jahren über dem Niveau von Polen (2008: 37,4 Jahre)“ (Bartl (2011), 41). 67 Bartl (2011), 249. 68 Bartl (2011), 250. 69 Vgl. dazu und zum Folgenden Bartl (2011), 238.
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kommen besser ausgleichen zu können, da es in den Belegschaften die Möglichkeiten gab, Stunden wieder aufzustocken. 70 Weiterhin sparte man Personalkosten ein, indem man offene Stellen mit dem Ausscheiden des Mitarbeiters strich oder mit bereits in Dienst stehenden Personen besetzte. Diese Umschichtung half zwar, Personalkosten zu sparen, führte aber auch zu dem befürchteten Auseinanderfallen von Qualifikation und Stellenanforderung. Dies lässt sich häufig in schrumpfenden Kommunen beobachten. 71 Die Folgen dieser Entwicklungen lassen eine Qualitätsminderung der erbrachten Leistungen erwarten. „Es hat sich gezeigt, dass die idealtypisch erwartete Strategie im Umgang [mit, BS] Schrumpfung Beschäftigung zwar mittelfristig stabilisiert, gleichzeitig aber auch finanzielle und personalpolitische Probleme der Kommunen verstärken kann.“ 72 Dies wird plausibel, wenn man bedenkt, dass die Aussetzung von Neueinstellungen zur verstärkten Alterung der Belegschaft beiträgt. Diese Praxis und die damit einhergehende Schließung des Arbeitsmarktes durch Arbeitszeitreduktion und flexiblen Einsatz der Mitarbeiter führten also zu einem blockierten Generationenaustausch und somit zur schnelleren Alterung der Belegschaft. Aufgrund dieser Alterungstendenzen zeigten sich bald Aushandlungsprozesse, um jüngere Fachkräfte anstellen zu können. 73 Da so in schrumpfenden Kommunen Blockaden im Generationenaustausch entstehen, ist damit auch ein Anhaltspunkt gegeben, dass die Kosten aufgrund des Senioritätsprinzips bei einer älteren Belegschaft im Personalbereich besonders hoch sind und zur weiteren Verschuldung beitragen. 74 Aufgrund der Studie von Bartl lässt sich für ostdeutsche Kommunen festhalten, dass das Problem der Überalterung noch keineswegs gelöst ist und dass bisherige Strategien des Personalmanagements nur kurz- bis mittelfristige Lösungen schaffen konnten. Bartl stellte außerdem fest, dass der Fachkräftemangel in seinem Untersuchungszeitraum zwar erwartet wurde, jedoch noch nicht spürbar war. 75 Durch eine Studie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) konnte jedoch bereits für 2015 gezeigt werde, dass 26 % der Betriebe
70 71 72 73 74
Bartl (2011), 260. Bartl (2011), 251. Bartl (2011), 259. Bartl (2011), 43. Bartl (2011), 248. Bartl diskutierte hier, ob damals nicht Kündigungen nach dem Prinzip der Sozialauswahl geholfen hätten, um damit ältere Arbeitnehmer entlassen zu können und jüngere einzustellen. Dies hätte dem blockierten Generationenaustausch entgegengewirkt, neues Wissen in die kommunale Verwaltung gebracht und nicht zu den hohen Personalkosten geführt. Allerdings machte Bartl auch deutlich, dass dieses Instrument schwer mit dem Ethos des öffentlichen Dienstes vereinbar sei. Trotzdem ist die Konsequenz daraus, dass es nun mehrheitlich stark gealterte Belegschaften gibt (Bartl (2011), 260). 75 Vgl. Bartl (2011), 43 u. 254–259.
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inzwischen unter Fachkräftemangel litten. 76 Angesichts des kommenden Ruhestandseintritts der Babyboomer-Generation ist davon auszugehen, dass man hier am Anfang dieser Entwicklung steht, deren Auswirkungen erst in den 2020er Jahren voll entfaltet sein werden.
5.2 Kirchliches Personalwesen und die Herausforderungen des ostdeutschen Kontexts 5.2.1 Die befürchteten Auswirkungen des demographischen Wandels auf Kirche und Pfarramt In der pastoraltheologischen Diskussion sind Beiträge, die sich explizit mit dem demographischen Wandel und den Auswirkungen auf das Pfarramt beschäftigen, spärlich gesät. 77 Vielleicht ist die „Demographisierung“ von Problemen in der Kirche einfach ausgeblieben, jedoch sprechen die Kommentare der Evangelischen Kirche in Deutschland eine andere Sprache. 78 Hier wird hauptsächlich der demographische Wandel für den Mitgliederverlust verantwortlich gemacht. 79 Schaut man auf die Themen, die sonst unter dem Oberbegriff ‚demographischer Wandel‘ verhandelt werden, dann sind diese in der Pastoraltheologie nicht zu übersehen. Auch in den Landeskirchen zeigen sich Reaktionen, die im Zusammenhang mit dem demographischen Wandel stehen. Als Beleg für das Vorhandensein und die Relevanz des Themas ‚demographischer Wandel‘ sei auf die Studie Pastorin und Pastor im Norden verwiesen. 80 In dieser Studie wurden die Probanden gefragt, wovon sie weitreichende Veränderungen im Pfarrberuf erwarten und wie sie diese bewerten. 81 Die Auswertung der Antworten ist in Abb. 26 (S. 228) dargestellt. Schaut man auf die Spitzenwerte in Abb. 26 (S. 228), dann zeigen sich die Konsequenzen des demographischen Wandels sowie Anzeichen einer wachsenden Bedeutung des Personalmanagements. Hinsichtlich des Personalmanagements ist 76 Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (2015), zitiert in: Armutat (2018), 25. 77 Vgl. die Diskussionsbeiträge im Deutschen Pfarrerblatt: Schneider (2014), Drecoll (2015) u. Grethlein (2016). 78 Mit „Demographisierung“ ist die Umdeutung unterschiedlicher Problemlagen gemeint, die dann ursächlich dem demographischen Wandel zugeschrieben werden, wobei jedoch auffällt, dass die Handlungsstrategien zur Behebung der vermeintlich demographischen Probleme anderen Disziplinen als der Bevölkerungsoziologie überlassen werden (vgl. Sackmann (2008), 47). 79 Vgl. Kap. 4.1.2, S. 148. 80 Maagard/Nethöfel (2011). 81 Maagard/Nethöfel (2011), 18.
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Abbildung 26: Erwartungen zu Veränderungen des Pfarrberufs und deren Bewertung Quelle: Maagard/Nethöfel (2011), 18.
ein Ergebnis sehr interessant: Die meisten positiven Veränderungen wurden von ‚professionell durchgeführten Jahresgesprächen‘ erwartet. Demgegenüber waren theologische – und man darf sicher pastoraltheologische Entwürfe hinzufügen – weit abgeschlagen. Bezüglich der theologischen Entwürfe bewegte man sich in einem Feld der Indifferenz, da 65 % dies weder positiv noch negativ bewerteten. 82 Der demographische Wandel bzw. die Themen, die mit diesem hauptsächlich verbunden sind, fanden sich unter den Spitzenwerten bei den negativen Erwartungen: Auf Platz eins stand der Nachwuchsmangel: 76,24 %, gefolgt von Kompetenzverschiebung von Gemeinde zum Kirchenkreis: 71,81 %, Rückgang des kirchlichen Finanzaufkommens: 69,51 %, Mitgliederschwund der Kirche: 66,89 %, gesellschaftliche Marginalisierung der Kirche: 58,56 % und dann explizit der demographische Wandel mit 58,04 %. Alle anderen Themen vereinigten weniger als die Hälfte der Probanden auf sich, so dass man bei den genannten Themen von weit geteilten Auffassungen sprechen kann. Insgesamt wurden hier Themen benannt, die mit dem demographischen Wandel in Zusammenhang gebracht werden können, wobei die Sorge um den Nachwuchs eine unangefochtene Spitzenposition hatte.
82 Nur die Globalisierung scheint noch mehr Gleichgültigkeit hervorzurufen: rund 69 %.
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Der demographische Wandel wurde demnach als Bedrohung gesehen, da der Rückgang der Bevölkerung gleichzeitig einen Rückgang an Kirchenmitgliedern und Nachwuchstheologen bzw. -theologinnen bedeutet. Dies geht mit dem Rückgang des Finanzaufkommens einher. Beides, der Rückgang des Finanzaufkommens sowie die zurückgehenden Bedarfe, bringt einen Rückbau der kirchlichen Organisation mit sich. Die Auswirkungen des demographischen Wandels wecken daher nur verständlicherweise Befürchtungen in Kirche und Pfarrschaft.
5.2.2 Entwicklung des Pfarramts in Ostdeutschland seit 1990 nach statistischen Daten Geht man davon aus, dass das Thema ‚demographischer Wandel‘ in den Kirchen Zukunftssorgen auslöst, ist der nächste Schritt die sachliche Überprüfung der momentanen Verhältnisse. Im Bereich des Personalmanagements handelt es sich hierbei um das Sammeln von relevanten Daten zur Erstellung eines strategischen Personalplans. Basis eines solchen Personalplans sind die Statistiken über die Entwicklung der Theologen und Theologinnen im Gemeindedienst sowie die Entwicklung der Zu- und Abgänge aus dem Pfarramt. Dies wird hier nicht als konkreter Personalplan für eine Landeskirche erstellt, sondern im Sinne einer Metaanaylse für Gemeindepfarrämter in Ostdeutschland, um Trends und Herausforderungen für diesen Bereich allgemein zu beschreiben. Zunächst soll ein Blick auf die Entwicklung der Zahlen zu den Gemeindepfarrer und -pfarrerinnen geworfen werden. Die hier aufgeführten Zahlen konzentrieren sich auf das Forschungsgebiet Ostdeutschland und die Zahlen sind erwartungsgemäß rückläufig (vgl. Abb. 27, S. 230). 83 Vergleicht man oberflächlich den Rückgang der Gemeindepfarrerinnen und -pfarrer in den ostdeutschen Landeskirchen mit den Entwicklungen in der EKD, zeigen sich zunächst parallele Entwicklungen. Ein genauerer Blick fördert jedoch ein anderes Ergebnis zutage: Die ostdeutschen Landeskirchen schrumpften überproportional, denn von dem Rückgang der ca. 2.900 Gemeindepfarrer und -pfar83 Es liegt kein statistisch aufbereitetes Material für diese Landeskirchen vor dem Jahr 1990 vor, so dass eine längere Entwicklung nicht in den Blick genommen werden kann. Zum Zeitpunkt des Abrufens dieses statistischen Materials lag noch keine Auswertung für die Jahre nach 2009 vor. Die Zahlen der ehemaligen Kirchenprovinz Sachsen und der ehemals thüringischen Landeskirche wurden zusammengezogen, da diese Kirchen sich zur Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) fusioniert haben. Gleiches gilt für die Kirche von Berlin Brandenburg und die ehemalige Kirche der schlesischen Oberlausitz, die nun Evangelische Kirchen in Berlin-Brandburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) heißt. Insofern die Nordkirche erst nach 2009 fusioniert wurde, sind hier die eigenständigen ostdeutschen Landeskirchen aufgeführt und auf ein Zusammenziehen der Zahlen in diesem Fall wurde verzichtet.
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Abbildung 27: Theologinnen und Theologen im Gemeindedienst Quelle: Eigene Darstellung auf Basis von Daten der EKD-Statistik.
rerinnen (1991: ca. 16.900; 2014: ca. 14.000) entfielen ca. 1.600 – also mehr als die Hälfte – auf die ostdeutschen Landeskirchen, die einen kleineren Teil der Fläche Deutschlands als die westdeutschen abdecken. In Abb. 27 (S. 230) ist die Entwicklung der Anzahl der Gemeindepfarrstellen dargestellt, nicht die Zahlen der Entwicklung der Vollzeitäquivalente oder Stellenumfänge. Abb. 28 (S. 231) zeigt ein Anwachsen der Teilzeitstellen um minimal das Vierfache der frühen 90er Jahre in den größeren ostdeutschen Landeskirchen. Deswegen muss hier bezüglich des Gemeindedienstes von einem weiteren Rückgang ausgegangen werden, da nicht nur die Anzahl der Theologen und Theologinnen im Gemeindedienst abnahm, sondern auch die der Teilzeitstellen enorm zunahm (vgl. Abb. 28, S. 231). 84 Insgesamt zeigen die Statistiken, dass das Gemeindepfarramt als wohl relevanteste Personalstelle für ländliche Räume in Ostdeutschland stark zurückge84 Zu beachten ist, dass hier der Zeitraum, in dem Daten verfügbar sind, nur bis 2005 geht. Danach erfolgte ein Umstellung auf die Erhebung von Vollzeitäquivalenten, um ein präziseres Bild zu erhalten, da Teilzeitdienstellen nicht immer mit 50 % gleichzusetzen sind.
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Abbildung 28: Theologinnen und Theologen im Gemeindedienst mit Teilzeitstelle Quelle: Eigene Darstellung auf Basis von Daten der EKD-Statistik.
baut wurde. 85 Ein Überblick über die Zu- und Abgänge aus dem Pfarramt wird Anhaltspunkte dafür geben, wie dieser Rückbau seitens der kirchlichen Personalreferate bewerkstelligt wurde. Die Daten (vgl. Abb. 29, S. 232) zeigen in den 90er Jahren eine große Pensionierungswelle bei gleichzeitig geringen Einstellungen. In den ostdeutschen Landeskirchen unterschritt die Zahl der Zugänge seit 1994 die der Abgänge und ab 1995 war das EKD-weit der Fall, wo die Diskrepanz zwischen Ab- und Zugängen vor allem in den 90er Jahren besonders groß war. Vergleicht man die ostdeutsche Situation mit den Zahlen der Gesamtentwicklung in Deutschland (vgl. Abb. 29, S. 232), zeigt sich wiederum das Bild des stärker schrumpfenden Ostens bei sonst parallelen Entwicklungen. 86 Insgesamt lässt sich festhalten, dass der starke Rück-
85 Vgl. dazu auch die Forschungsarbeit von Meyer und Miggelbrink, die den Kirchenkreis Altenburg untersuchten: Kap. 4.3.2, S. 195. 86 Hierfür seien als Stichprobe die Zahlen der absoluten Zu- und Abgänge aus dem Pfarramt für 1998 angeführt: EKD-weit schieden in jenem Jahr 546 Pfarrpersonen mehr aus, als in den Dienst aufgenommen wurden. Von diesen 546 Abgängen entfielen 318 auf die Kirchen in Ostdeutschland. Das heißt, dass 58,24 % des Rückgangs im Jahr 1998 auf den Osten entfielen. Damit lässt sich festhalten, dass im Osten seit 1994 ein im Vergleich zu den Landeskirchen in Westdeutschland stärkerer Rückbau stattfand, der in den späten 90er Jahren einen Höhepunkt hatte.
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bau im Osten vor allem durch Pensionierungen und stark regulierte Neueinstellungen sowie die Vermehrung von Teilzeitverhältnissen bewerkstelligt wurde. Als Gründe für diesen starken Rückbau des Pfarramts in den 90er Jahren werden im praktisch-theologischen Diskurs verschiedene Aspekte genannt. So verwies Winkler auf die Anpassung der Pfarrbesoldung an das westdeutsche Niveau und stellte „verheerende Folgen für die Stellenplanung“ 87 fest. Ratzmann machte auf den ‚Zwang zum Sparen‘ und den ‚enormen Veränderungsdruck‘ in den 90er Jahren aufmerksam, die zu Kürzungen geführt hatten. 88 Ratzmann erwähnte hier auch, dass die Einsparmaßnahmen mit Hilfe von Entlassungen und Vorruhestandsregelungen durchgesetzt worden waren. 89 In Anschluss an Ratzmann verwies Menzel darauf, dass der in den 90er Jahren vorgenommene Abbau in den vorangegangenen Jahren versäumt worden war und das Resultat der Minorisierung der Kirchen sei. 90 So zeigt sich, dass in Ostdeutschland nicht nur der demographische Faktor Auswirkungen auf das Personalwesen hat, sondern auch die durch die DDR-Politik katalytisch verstärkten Säkularisierungsprozesse.
Abbildung 29: Zu- und Abgänge: Vergleich mit EKD gesamt Quelle: Eigene Darstellung auf Basis von Daten der EKD-Statistik.
87 88 89 90
Winkler (1997a), 211. Ratzmann (2000), 30f. Ratzmann (2000), 31. Menzel (2012), 207.
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5.2.3 Überalterung und Unterjüngung als besondere Probleme im ostdeutschen Pfarramt Die Folgen aus den Entwicklungen der 90er Jahre für den Personalbestand werden jenseits von immer wieder anzutreffenden Vermutungen der Überforderung und des Ausbrennens der Pfarrer kaum bedacht. 91 Dies kann jedoch hier durch einen Vergleich der herausgearbeiteten kirchlichen Personalmaßnahmen mit der Untersuchung von Bartl und den Ausführungen zum Personalmanagement für den öffentlichen Dienst geleistet werden. Die Ähnlichkeiten der Maßnahmen sind hier wie da nicht von der Hand zu weisen. 92 Ähnlich wie in ostdeutschen Kommunen konnten kirchlicherseits Entlassungen nicht vermieden werden, wobei hier stark zu vermuten ist, dass sich diese Bemerkung von Ratzmann auf die nicht-beamtenähnlichen Anstellungsverhältnisse bezog. 93 Eine Flexibilisierung und Einsparung durch die gehäufte Schaffung von Teilzeitstellen ist anhand der Daten zumindest in den größeren ostdeutschen Kirchen ebenfalls zu erkennen. Hinzu kamen Maßnahmen wie Streichung der Stellen beim Ausscheiden aus dem Dienst sowie eine stark reduzierte Neueinstellung. Die Kirchen boten sogar Vorruhestandsregelungen an, um Stellenreduktionen durchführen zu können und auch um noch einige junge Theologinnen und Theologen einzustellen. 94 Insofern die Kirche die gleichen Maßnahmen zur Reduktion des Personals angewendet hat, wie sie für den öffentlichen Dienst bereits dargelegt wurden, sind die zu erwartenden Folgen ähnlich. Es ist mit einem erhöhten Durchschnittsalter der Pfarrerinnen und Pfarrer im Osten zu rechnen. Diese Vermutung lässt sich mit Hilfe von Daten aus der Greifswalder Studie Stadt, Land, Frust? belegen. 95 Hier wurden alle Pfarrerinnen und Pfarrer der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) sowie eine ebenso große Stichprobe aus der Hannoverschen Landeskirche (EVLKA) befragt. Diese Daten gaben Aufschluss über die Altersverteilung der Pfarrerinnen und Pfarrer in beiden Landeskirchen (vgl. Abb. 30, S. 234). Der Hauptunterschied in der Altersverteilung war, dass die ostdeutsche Landeskirche (EKM) einen höheren Altersdurchschnitt und eine ungünstigere Altersverteilung aufwies. 53 % der Pfarrpersonen in der EKM waren 51 bis 60 Jahre alt. Da weitere 9 % über 61 Jahre alt waren, ist davon auszugehen, dass die EKM innerhalb der kommenden 10 bis 15 Jahre einen erheblichen Teil ihres Personal91 92 93 94
Vgl. Menzel (2012), 217 u. Ratzmann (2000), 39. Vgl. Kap. 5.1.2, S. 221ff. Vgl. Anm. 88, S. 232. Diesen Hinweis verdanke ich Matthias Bartels, Leiter des Regionalkirchenzentrums kirchlicher Dienste des Pommerschen Evangelischen Kirchenkreises der Nordkirche. 95 Stahl/Hanser/Herbst (2019).
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Abbildung 30: Altersverteilung in der Hannoverschen Landeskirche (EVLKA) und der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) Quelle: Eigene Darstellung auf Datenbasis der Greifswalder Studie: Stadt, Land, Frust? (Stahl/Hanser/Herbst (2019)).
bestandes verlieren wird. Im Vergleich zu Hannover zeichnete sich ab, dass in den jüngeren Alterskohorten auch kein wesentlich stärkerer Nachwuchs nachrücken wird. Die vergleichsweise starke Alterung bzw. Überalterung der Belegschaften ist ein bisher ungelöstes Problem des kirchlichen Personalwesens. Analog zum öffentlichen Dienst kann festgehalten werden, dass die in den 90er-Jahren getroffenen Maßnahmen (Frühpensionierung, Stelleneinsparungen, Schaffung von Teilzeitstellen) sich als mittelfristig stabilisierend herausstellten und drängende Finanzprobleme auf diese Art gelöst wurden. Gleichzeitig wurde durch diese Maßnahmen das Problem der Überalterung langfristig verschärft, da eben diese Maßnahmen zu einer relativ schnelleren Alterung der Belegschaften führten als in Westdeutschland. Hinzu kommen werden nun auch personalbedingte Remanenzkosten in Form von Pensionen, die zudem einen Teil der kirchlichen Finanzen auf längere Zeit binden werden. Vor dem Hintergrund des kommenden Ausscheidens der Babyboomer-Generation aus dem Dienst ab 2021 und eines potentiellen Nachwuchsmangels stehen kirchliche Personalreferate in Ostdeutschland vor immensen Herausforderungen. Durch diese rückblickende Analyse konnte hier das Phänomen der Überalterung der kirchlichen Belegschaften dargestellt werden. Nun soll ein zweites Problemfeld erschlossen werden, das Demographen als Unterjüngung bezeichnen. Im demographischen Sinne ist damit das Fehlen von Nachwuchs und die Abwanderung desselben gemeint. Im Personalwesen geht es hierbei schlicht um die Aussichten zur Nachwuchsgewinnung. Diesbezüglich fielen die Zukunftsbefürchtungen unter den Pfarrerinnen und Pfarrern am größten aus. Nun muss nachgezeichnet werden, inwiefern sich ein Nachwuchsmangel und alterungsbedingter Personalmangel insgesamt abzeichnen und prognostizieren lassen.
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Durch eine Befragung der Personalreferate in den ostdeutschen Landeskirchen konnten die zukünftigen Prognosen der Personalentwicklung erhoben werden. 96 Neubert-Stegemann von der Institutionenberatung der Nordkirche arbeitete heraus, dass der Pastorenmangel ab 2020 ‚ziemlich exakt berechenbar‘ sei: Ganz unabhängig von allen anderen gesellschaftlichen Entwicklungen und allen kirchlichen Wünschen, Bemühungen und Zielen [. . . ] wird der dramatische Rückgang der Anzahl aktiver Pastor/innen um ca. 50% (von derzeit ca. 1600 VBE auf ca. 800 VBE in 2035) für sich genommen schon ‚das Gesicht der Kirche verändern‘ – nicht, weil irgendjemand das aus politischen oder theologischen Gründen so will oder aus finanziellen Gründen dazu gezwungen wäre, sondern sozusagen als Kollateralwirkung allein schon des Faktors Nachwuchsmangel im Pastorenberuf. 97
Auch die Prognosen aus Sachsen und Berlin-Brandenburg deuten einen ähnlichen Trend an. Schaut man auf die Prognosen der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, dann deutet sich auch hier eine nicht abzumildernde Ruhestandseintrittswelle mit einem Hoch in den Jahren 2020 bis 2024 an (vgl. Abb. 31, S. 236). Dargestellt sind hier die gut prognostizierbaren Ruhestandseintritte mit belastbaren Daten der Vikariatsjahrgangsstärke, die ab 2018 allerdings nur noch geschätzt ist. Deutlich wird hieran (in der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens ist das Bild sehr ähnlich), dass ab 2020 ein langfristiger Nachwuchsmangel einsetzen wird. Im Ergebnis wird dies auf einen Pastorenbzw. Pastorinnnenmangel hinauslaufen – das heißt, dass selbst unter konstant schrumpfenden Gemeindepfarrstellen diese aller Voraussicht nach nicht voll besetzt werden können. Schaut man auf die Entwicklung der Theologiestudierendenzahlen, die seitens der EKD-Statistik vorgehalten werden (vgl. Abb. 32, S. 236.), dann zeigen sich im wesentlichen drei Trends: Zum einen ist trotz steigender Studierendenzahlen insgesamt mit einem Rückgang des Anteils der Studierenden der evangelischen Theologie, die auf einer landeskirchlichen Liste stehen, zu rechnen. 98 Als zweiter Trend zeigt sich nicht nur der relative Rückgang der Theologiestudierenden, sondern auch der absolute Rückgang der Anzahl derer, die auf einer 96 Für die Auskünfte und die Zusendung von Daten bin ich den jeweiligen Personalreferenten dankbar. Für die Nordkirche konnte auf eine Workshopdokumentation des Referates P zum Thema „(Pfarr-) Stellenplanung“ vom 5. bis 6. Oktober 2015 zurückgegriffen werden. Während die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland sowie die Evangelische Landeskirche Anhalts keine Auskünfte geben konnten, beziehen sich die hier aufgeführten Prognosen auf die Daten aus der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens sowie der Evangelischen Landeskirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. 97 Vgl. die Workshopdokumentation des Dezernats P der Nordkirche vom 5.–6. Okt. 2015, S. 6. 98 Dieser Trend – der Anstieg der Studierenden insgesamt sowie den Rückgang des Anteils an Theologiestudierenden – zeigt sich seit 1968 bzw. ca. 1980 (vgl. Großbölting/Goldbeck (2015), 184).
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Abbildung 31: Prognostizierte Personalentwicklung im Pfarramt der EKBO Quelle: Eigene Darstellung auf Basis von Daten des Personalreferates der EKBO.
Abbildung 32: Entwicklung der Studierendenzahlen Quelle: EKD-Statistik. Vereinfachte und geänderte Darstellung.
landeskirchlichen Liste stehen. Ihre Zahl ging von 1993 bis 2015 drastisch zurück. Insofern die landeskirchlichen Listen im Grunde genommen ein personalplanerisches Instrument sind, das anzeigt, welcher Nachwuchs für ca. fünf Jahre im Voraus zu erwarten sei, stimmen die Zahlen nicht optimistisch. Waren 1993 noch rund 7.000 Nachwuchspfarrer EKD-weit zu erwarten, ist dieser Anteil seit
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2003 stabil auf 2.500 zurückgegangen. Es konnte bereits dargelegt werden, dass seit den 90er Jahren die Abgänge aus dem Pfarramt stabil über den Zugängen lagen (vgl. Abb. 29, S. 232). Während man für die 90er Jahre einen intentionalen Rückbau der Kirche belegen kann, scheint ab den 2000er Jahren allmählich ein demographisch bedingter Schrumfpungsprozess eingesetzt zu haben, dessen Höhepunkt – wie anhand der Daten aus Nordkirche, EKBO und Sachsen erarbeitet werden konnte – noch aussteht (vgl. Abb. 31, S. 236). Als dritter Trend ist nicht nur eine Verknappung des theologischen Nachwuchses, sondern auch eine relative Vergrößerung des Anteils weiblicher Theologinnen ablesbar. Relativ ist der Frauenanteil stark gewachsen und dies wird sich künftig auf die Geschlechterverteilung im Pfarramt auswirken. 99 Diese Verschiebung wird einen Umbau der traditionellen Pfarramtsstruktur mit sich bringen. Wiedekind hält in ihrer Studie zum Pfarramt aus dem Blickwinkel der Genderperspektive fest: Das Pfarramt weist die professionstypische, auf Männer ausgerichtete Grundstruktur auf, der zu Folge das Amt im Wesentlichen als Vollzeittätigkeit, möglichst ohne Berufsunterbrechung, in der Totalinklusion von Beruf und Person, zu denken ist. Die Struktur baut auf einer traditionellen Familienkonstellation auf, bei der die Ehefrau nicht nur den häuslichen Bereich im Griff hat, sondern als Pfarrfrau zudem in der Gemeinde für Entlastung sorgt. Diese ist von den Frauen, die im Pfarramt überwiegend in Teilzeitstellen arbeiten und in ihren Einsatzmöglichkeiten durch die familiären Verpflichtungen begrenzt sind, nicht lebbar. [. . . ] Inhaltlich bedeutet die Tatsache, dass Frauen Beruf und Familie miteinander vereinbaren wollen, dass die Vorstellung von der Unteilbarkeit des Pfarramts aufgegeben wurde. Was dies für das Professionalitätsverständnis bedeutet, ist noch ungeklärt. 100
Dieser Wertewandel lässt vermuten, dass es auch künftig einen erhöhten Wunsch nach Teilzeitstellen geben und die nachkommende Generation nicht ihre volle Arbeitskraft investieren wollen wird. 101 Das heißt, dass der geringe Bestand an 99 Derzeit liegt die Geschlechterverteilung im Pfarramt bei ein Drittel Frauen und zwei Drittel Männern (vgl. Hanser (2019), 81). 100 Wiedekind (2015), 114f, vgl. auch 240f. 101 Vgl. dazu die Ausführungen zur Generation Y von Hurrelmann/Albrecht (2014), 72–74: „Beide tonangebende Gruppen der Generation Y haben ein Gespür dafür, dass heute weniger Menschen immer mehr Arbeit erledigen müssen und sich alle Abläufe und Anforderungen verdichten – Stress auf der Arbeit wird immer mehr zur Regel. Deshalb wollen sie genau wissen, wie viel Arbeit und Zeit ein Job erfordert. Sie möchten sich nicht vom Beruf verschlingen lassen. Mehr Gestaltungsfreiheit und ausreichend Zeit für das Privatleben sind ihnen wichtig. Die pragmatischen Idealisten sind auch bereit, Abstriche bei der Karriere zu machen, damit sie nicht auf Kosten von Familie und Privatleben geht. Bei ihnen dürfte die Idee einer 32-Stunden-Wochen für junge Eltern von Familienministerin Manuel Schwesig auf viel Zustimmung stoßen. Sie möchten nicht wie ihre Eltern leben, um zu arbeiten, sondern wünschen sich eine Verbindung von beidem: beim Arbeiten leben und beim Leben arbeiten“ (74).
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Nachwuchstheologen und -theologinnen nicht mit einer Arbeitskrafterwartung von 100 % pro Kopf gleichgesetzt werden kann. Dies kann die organisationale Schrumpfung verstärken bzw. weitere Stellenreduktion in Form von Nicht-Besetzung von Pfarrstellen bedeuten. Dies müsste genauer untersucht werden – Veränderungen wird es in jedem Fall mit sich bringen. 102 Im besten Fall ging Wiedekind mit Enzner-Probst davon aus, dass es zu einer Einschränkung der Generalistenrolle kommen wird und die Arbeitszeiten im Pfarramt flexibilisiert werden: „Damit wäre eine Aufteilung der Arbeit unter mehreren Spezialisten auch unter Einbeziehung von Ehrenamtlichen verbunden.“ 103 Insgesamt zeigte Wiedekind mit ihrer Studie einen enormen Wandel der kirchlichen Organisation an, der immense personalentwicklerische Herausforderungen enthält. Der aus diesen unterschiedlichen Trends hervorgehende Befund deutet klar auf einen kommenden Pfarrermangel hin. Insofern weniger Bewerber als Stellen zur Verfügung stehen, werden die weniger attraktiven (Land-)Pfarrstellen schwerlich eine Besetzung finden können. Selbst die Landeskirchen, die Dienstanfänger gerne zunächst auf das Land entsenden, werden die Bedürfnisse und Vorlieben der Bewerber stärker berücksichtigen müssen, um überhaupt Nachwuchs für sich gewinnen zu können. Die Stellen auf dem Landpfarramt werden deswegen schwieriger zu besetzen sein. Als einen Hinweis darauf kann man ein Arbeitspapier der Nordkirche ansehen, welches Bemühungen bündelte, Landpfarramtsstellen attraktiver zu machen. 104 Einen deutlicheren Hinweis auf die erschwerte Besetzung der Landpfarrstellen lieferten die Daten der Greifswalder Studie Stadt, Land, Frust?. Wie Stahl und Neumann feststellen konnten, gibt es eine interne Hierarchie bei den Wechselabsichten: Am häufigsten wollten Pfarrer in eine Funktionspfarrstelle wechseln, danach kommen Stadtpfarrstellen und erst an letzter Position Landpfarrstellen. 105 So kann aufgrund der dargestellten Sachverhalte angenommen werden, dass das Landpfarramt im Zuge des Ausscheidens der Babyboomer-Generation
102 Vgl. dazu auch Menzel (2013), 110f. Menzel stellt hinsichtlich der Entwicklung der Geschlechterrollen im Pfarramt Forschungsbedarf fest, da diese sich weiter im Wandel befinden. Die von Menzel für Ostdeutschland typisch herausgestellte Doppelrolle von Frauen als 100 % Hausfrau und Mutter sowie 100 % Pfarrerin wird man deswegen schwerlich als Trend in die Personalplanung einzeichnen können. Das bedeutet im Endeffekt, dass nicht nur der erhöhte Frauenanteil unter den Theologiestudierenden den Wunsch nach Teilzeitdienstverhältnissen wahrscheinlicher machen könnte, sondern es besteht die Möglichkeit angesichts neuer Rollenmuster, dass die Nachfrage nach Teilzeitstellen insgesamt größer wird. 103 Wiedekind (2015), 115, vgl. dazu auch 242f. 104 Vgl. Institutionsberatung der Nordkirche (2015). 105 Stahl/Neumann (2019), 133.
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durch Vakanzen und Zusammenlegungen einen starken Wandel und Rückbau auch in naher Zukunft durchlaufen wird.
5.2.4 Aktuell beobachtbare Maßnahmen im Bereich der kirchlichen Personalbeschaffung Die unterschiedlichen Personalstrategien der Personaldezernate sind natürlich nicht öffentlich. Allerdings lassen sich für die beschriebenen Entwicklungen Beispiele finden, die eine kirchenleitende Reaktion auf die derzeitigen Herausforderungen darstellen. Diese Reaktionen und deren mögliche Konsequenzen für das Pfarramt sollen in diesem Abschnitt wahrgenommen werden. Insofern ein beachtlicher Nachwuchsmangel in Aussicht steht, ist es nicht verwunderlich, dass die Kirchen ihre Bemühungen zur Nachwuchsgewinnung steigern. Im Personalmanagement ist dies der Bereich des Personalmarketings bzw. der Personalbeschaffung. Geht man vom Ansehen des Pfarrberufs aus, sind neue Werbestrategien höchst sinnvoll, denn die Allensbacher Berufsprestige-Skala bescheinigte dem Ansehen des Pfarrberufs einen erheblichen Rückgang: So hatten Pfarrer bzw. Geistliche in den Jahren 2001 und 2003 noch knapp 40 Prozent der Anerkennung für sich vereinnahmen können, sind jedoch 2011 auf 28 Prozent gesunken und haben 2013 wieder die gleiche Größenordnung (29 Prozent) erreichen können. Lag der Pfarrer bei früheren Untersuchungen meist hinter dem Arzt auf dem zweiten Platz der am meisten geachteten Berufe, ist er bei der letzten Erhebung an vierter Stelle. Statt 39 Prozent (2008) zählen nunmehr lediglich 29 Prozent der Deutschen den Pfarrer zu den Berufen, denen sie besondere Achtung entgegenbringen. Im Osten Deutschlands, wo nur eine Minderheit Mitglied einer Kirche ist, liegt der Anteil mit 22 Prozent dabei niedriger als im Westen (30 Prozent). 106
Auf diesen Prestigerückgang und noch viel mehr aufgrund des befürchteten Nachwuchsmangels reagierten die Landeskirchen gemeinsam mit der EKD mit einer Kampagne zur Gewinnung von Nachwuchs. Auf der Webseite „ https:// www.das-volle-leben.de“ wird für den Pfarrberuf und das Theologiestudium geworben. 107 Hier kommt man den Kommunikationsgewohnheiten der jüngeren Generationen entgegen und bietet ein ansprechendes und vielseitiges Informationsangebot. Neben dieser gemeinsamen Personalmarketingmaßnahme gibt es zudem weitere Anreize seitens einiger Landeskirchen – analog zu den Werbemaßnahmen
106 Vgl. https://fowid.de/meldung/berufsprestige-2013-2016-node3302, eingesehen am 2. Nov. 2018, 11:05 Uhr. 107 Vgl. https://www.das-volle-leben.de, eingesehen am 2. Nov. 2018, 11:10 Uhr.
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und finanziellen Anreizen im Arztberuf für künftige ‚Landärzte‘. 108 So hat die Evangelische Kirche Kurhessen-Waldeck (EKKW) eine eigene Werbekampagne für die kirchlichen Berufe ihrer Landeskirche aufgelegt und vergibt 100 Stipendien an Theologiestudenten, wenn diese Vikariat, Probedienst und die Zeit der Förderdauer im Pfarrdienst innerhalb der EKKW verbringen. 109 Dies ist kein Leistungsstipendium und fördert auch nicht die Gleichstellung. Die einzige Voraussetzung ist, auf der Landesliste der EKKW eingetragen zu sein. 110 Dieses Vorgehen sticht hervor. Andere Landeskirchen verwenden andere Anreizinstrumente, wie zum Beispiel die Zahlung von Büchergeld. 111 Auch an der Stellschraube ‚Entlohnung‘ wird gedreht, um die Attraktivität des Pfarrdienst zu erhöhen. So fordert der Pastorenausschuss der Kirche Hannovers die Durchstufung der Pfarrerinnen und Pfarrer schon ab dem 45. Lebensjahr, um den Pfarrberuf eben ‚attraktiver‘ zu machen. 112 Im Personalmarketing wurde als wichtiges Element bei der Personalgewinnung das ‚Employer-Branding‘ erkannt. Damit ist gemeint, dass zufriedene Mitarbeiter sowohl gut als auch gerne arbeiten und im Erzählen von ihrer Arbeit zu Botschaftern der Organisation werden. Im Personalmarketing gelten zufriedene und begeisterte Mitarbeiter als Schlüssel, da man an ihnen bzw. durch sie am glaubhaftesten vermitteln kann, dass in einer Organisation förderlich miteinander umgegangen wird. 113 Armutat legte dar, dass beim ‚Employer-Branding‘ die „Basis für Bindungs- und Rekrutierungsprozesse“ 114 geschaffen werde und es deswegen als ein zentrales Instrument der Personalbeschaffung angesehen werden müsse. Die Berufszufriedenheit von Pfarrerinnen und Pfarrern wurde seit den 2000er Jahren eingehend untersucht. 115 Insgesamt waren die Zufriedenheitswerte hoch und doch zeigten die Daten zugleich eine deutliche Unzufriedenheit. In der Forschung zur Arbeitszufriedenheit wird eine grundsätzlich hohe Zufriedenheit an108 Vgl. http://www.lass-dich-nieder.de/angebote/foerdermoeglichkeiten/zukuenftige-landaerzte-lass-dich-foerdern.html, aufgesucht am 5. Nov. 2018, 6:17 Uhr. Vgl. die Werbekampagne der Nordkirche auch: http://www.die-nachfolger.de, aufgesucht am 5. Nov. 2018, 9:40 Uhr. 109 Vgl. https://www.stipendienlotse.de/datenbank.php?DS=2072, aufgesucht am 5. Nov. 2018, 6:25 Uhr, u. https://www.macht-sinn.info/pfarrer-in/, aufgesucht am 5. Nov. 2018, 6:25 Uhr. 110 Vgl. https://www.stipendienlotse.de/datenbank.php?DS=2072, aufgesucht am 5. Nov. 2018, 6:25 Uhr. 111 Vgl. https://machdochwasduglaubst.ekhn.de/theologie/stipendien.html, aufgesucht am 5. Nov. 2018, 6:30 Uhr. 112 Vgl. http://pastorenausschuss-hannover.de/?p=142, aufgesucht am 5. Nov. 2018, 6:39 Uhr. 113 Vgl. Armutat (2018), 35–38. 114 Armutat (2018), 27. 115 Vgl. Dautermann/Becker (2001), Dautermann (2005b), Becker (2007b), Böhm/Herbst/ Fleßa (2008), Kronast (2010), Maagard/Nethöfel (2011), Schendel (2014).
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genommen und auf verschiedene Weise erklärt, so dass hohe Zufriedenheitswerte nicht überbewertet werden sollten. 116 So sind vor allem die Hinweise in den Studien zu beachten, die auf Unzufriedenheit hinweisen. Unzufriedenheit zeigt sich vor allem bei den Themen Verwaltung, Kommunikation in der Landeskirche bzw. mit Vorgesetzten, Arbeitszeit und Residenzpflicht. Die angegebene hohe Gesamtzufriedenheit muss aufgrund der Unzufriedenheit in diesen Bereichen kritisch bewertet werden. 117 Bei genauem Blick zeigt sich hier keine positiv gestimmte Mitarbeiterschaft. Eine unzufriedene Belegschaft muss für die Nachwuchsgewinnung als starkes Hindernis betrachtet werden und zeigt somit personalentwicklerischen Handlungsbedarf an. 118 Schon in den frühen Studien zur Berufszufriedenheit konnte Dautermann resümieren: Eine Organisation, die ein solch schlechtes Binnenimage hat, braucht sich über ein schlechtes Außenimage nicht zu wundern. 119
Im Bereich der landeskirchlichen Personalbeschaffung lässt sich noch eine weitere Veränderung beobachten, die im Personalmanagement unter dem Stichwort „Diversity Management“ 120 reflektiert wird: Hier werden alternative Zugänge zum Pfarramt ermöglicht. Eine Praxis zur Erweiterung des Personals besteht bspw. darin, besonders geeignete Diakone oder Gemeindepädagogen in den Pfarrdienst aufzunehmen. 121 Ein weiterer Weg ist die Einführung eines verkürzten Studiums, das sich an berufserfahrene Akademiker richtet, die gerne ihre Arbeit wechseln und in den kirchlichen Dienst treten wollen. Dies wurde im ‚Mar-
116 Böhm/Herbst/Fleßa (2008), 216. 117 „In diesem Zusammenhang zeigt der Indexwert aber zumindest, dass einige Teilaspekte der Arbeit durchaus kritisch beurteilt werden, was noch deutlicher wird, wenn man sich die Indexwerte der einzelnen Pfarrer anschaut. Hier erreichen 50% [sic] der Pfarrerschaft nicht einmal 63% [sic] der möglichen Gesamtpunktzahl. Diese Erkenntnis erscheint besonders bedenklich, wenn man die Schlüsselposition des Pfarrberufes für die Kirche bedenkt“ (Böhm/Herbst/Fleßa (2008), 216). 118 Vgl. Behrens/Zempel (2012), 136–138 u. Dreyer (2013), 64–68. Dreyer zählte die Auswirkungen der Umstrukturierungen seit den 90er Jahren auf das Pfarramt auf und laut seiner Bilanz entstanden den Pfarrerinnen und Pfarrern monetäre Einbußen, Imageschäden und Verluste von ‚amtlichen‘ Freiheiten. Er forderte dann ein, um eine gute Voraussetzung für die Nachwuchsgewinnung zu schaffen, dass das Pfarramt wieder deutlich in Richtung Berufsbeamtentum entwickelt werde. Ohne dass hier auf die inhaltlichen Forderungen differenziert eingegangen wird, ist doch aus der Perspektive des Personalmarketings festzuhalten: Dreyer ist beizupflichten, dass eine Unzufriedenheit unter Pfarrerinnen und Pfarrern für die Nachwuchsgewinnung höchst kontraproduktiv ist und der Artikel zeigt, dass hier seitens der Landeskirchen ein dringender Handlungsbedarf besteht. 119 Dautermann (2005c), 98. 120 Vgl. Armutat (2018), 38f u. Krisor/Flasche/Antonik (2015), 231–244. 121 Daten aus der Greifswalder Studie Stadt, Land, Frust? deuteten auf einen relativ beachtlichen Anteil von Pfarrerinnen und Pfarrern, die den Zugang zum Pfarramt auf diesem alternativen Weg erworben hatten.
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burger Masterprogramm‘ realisiert, das damit eine Innovation in der Personalbeschaffung darstellt, da so ein neuer Pool potentieller Interessenten für das Pfarramt erschlossen worden ist. 122 Die hier dargestellten Strategien der kirchlichen Personalbeschaffung zeigen Reaktionen der Landeskirchen auf das sich verändernde Umfeld. 123 Die Maßnahmen an sich tragen im Kern zu erheblichen Veränderungen des Pfarramtes bei, da neue Zugänge zum Pfarramt wahrscheinlich auch zu Differenzierungen im Pfarramt führen. Angedeutet kann hier nur werden, dass diese personalentwicklerischen Reaktionen der Landeskirchen einen Wandel der Ausbildungslandschaften mit sich bringen könnten. OLKR i.R. Wöller (Landeskirche Hannovers) skizzierte in einem Diskussionsbeitrag auf einer Tagung die Auswirkungen der Zulassung von alternativen Zugängen zum Pfarramt: Sollten die Kirchen dazu übergehen, Kandidaten aus alternativen Studiengängen in den Dienst zu nehmen, dann stehe die teure Ausbildung von Theologen und Theologinnen an den theologischen Fakultäten in Frage. Warum sollte der Staat so viele theologische Fakultäten finanzieren, die ein grundständiges Studium anbieten, wenn für den kirchlichen Dienst auch auf andere und günstigere Weise ausgebildet werden könne? Dieser Diskussionsbeitrag lieferte einen Hinweis auf die Reichweite mancher Entscheidungen. Allgemein kann man daraus ableiten, dass ein Spannungsfeld entsteht, in dem kirchlicher Bedarf sowie Fragen der Qualität der Ausbildung neu miteinander verhandelt werden müssen.
5.2.5 Altern im Pfarrberuf Die beschriebene Alterung des Personalbestandes bringt weitere Herausforderungen in personalentwicklerischer Hinsicht mit sich. Zum einen ist zu klären, inwiefern die Anforderungen im Pfarramt mit dem Älterwerden kompatibel sind und wo sich diesbezüglich Schwierigkeiten ergeben. Zum anderen wird das
122 „Der Studiengang schafft die wissenschaftlichen Voraussetzungen für die Aufnahme in pfarramtliche Berufsfelder bei den kooperierenden Landeskirchen (zurzeit insbesondere die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck sowie die Evangelische Kirchen in Hessen und Nassau). Nähere Informationen sind bei den Personaldezernaten der jeweiligen Landeskirchen zu erfahren.“ Vgl. https://www.uni-marburg.de/de/fb05/studium/studiengaenge/master/perspektiven, aufgesucht am 5. Nov. 2018, 9:15 Uhr. 123 Vgl. dazu auch den angedeuteten Maßnahmenkatalog der Personalplanung und -entwicklung in der Nordkirche, der den künftigen Mangel an 600 Pfarrerinnen und Pfarrern durch Nachwuchsförderungsprogramme, Job-Coaching etc. abmildern soll: https://www. nordkirche.de/nachrichten/nachrichten-detail/nachricht/landessynode-beriet-ueber-personalentwicklung-und-planung/, aufgesucht am 5. Nov. 2018, 9:45 Uhr.
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Thema Altern häufig mit einer Minderung der organisationalen Innovationsfähigkeit in Verbindung gebracht. Angesichts des Wandels sind jedoch organisationale Anpassung – resp. Innovationen – nötig. Darum ist es aus Sicht der Personalentwicklung sinnvoll, eine diesbezügliche Einschätzung vorzunehmen. Obwohl die gesamte Pfarrschaft älter geworden ist, lässt sich ein Altersunterschied zwischen Stadt und Land feststellen. Dies zeigten sowohl die Studie Stadt, Land, Frust? als auch die Forschungsarbeiten von Becker. 124 So sind auf dem Land tendenziell jüngere Pfarrerinnen und Pfarrer anzutreffen. Dies hängt wahrscheinlich mit der gängigen Praxis zusammen, Dienstanfänger zunächst auf das Land zu entsenden. Trotzdem ist die Pfarrschaft im Osten vergleichsweise stark gealtert. Mit Verwunderung ist deswegen festzuhalten, dass es diesbezüglich kaum Studien gibt. Charbonnier und Endewardt trugen die Ergebnisse der wenigen Studien zusammen und legten gleichzeitig die Ergebnisse ihrer eigenen qualitativen Studie dar. 125 Sie referierten eine „kleine[. . . ] Studie zu den Altersbildern der Pfarrer“ 126 vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD, die im Ergebnis festhielt, dass die Altersvorstellungen von Pfarrerinnen und Pfarrern denen von Menschen mit hohem Bildungsgrad und materiellem Wohlstand entsprechen: Man erwarte hier eine aktive Phase nach dem Eintritt in das Pensionsalter. Weiterhin verwiesen sie auf eine im Datenmaterial sehr begrenzte Studie Kretzschmars, die festhielt, dass der Pfarrberuf ein Beruf sei, in dem man mit den Jahren reife und sich verbessere. Daraus wurde dann geschlossen, dass der Pfarrberuf ein Beruf sei, der es ermögliche, „auf eine je individuell profilierte Weise zu altern.“ 127 Charbonnier und Endewardt destillierten zunächst aus den sechs leitfadengestützt geführten Interviews mit insgesamt 42 Personen motivierende und entmotivierende Faktoren im Pfarramt heraus. Die Probanden grenzten sich klar von Tätigkeiten ab, die in den Bereich Organisation und Verwaltung gehörten und bevorzugten ‚theologische Arbeit‘. Zwei Zitate wurden als Beleg angeführt, die diesen Sachverhalt einmal aus einer motivierten und einmal aus einer demotivierten Perspektive beleuchteten: „Motivierend sind die Sachen, wo ich Pastor bin und nicht Organisator oder Verwalter.“ – „Managerspielen hat mich mürbe
124 Vgl. Stahl/Neumann (2019), 125. Becker (2005), 149: „Der [Alters-, BS]Unterschied ist insofern ersichtlich, dass prozentual gesehen eher die jüngeren Pfarrpersonen (30-39 Jahre alt) in ländlichen Gemeinden anzutreffen sind. Die älteren Gemeindepfarrerinnen und -pfarrer (50 Jahre bis zur Pensionierung) versehen mit ca. 30 % [sic] in der Stadt ihre [sic] Gemeindedienst. Die Mittelgruppe (40-49 Jahre) unterscheidet sich in den drei Regionen nur unwesentlich. Die Altersverschiebung wird sichtbar, wenn man die jüngste Gruppe und die beiden ältesten gegenüber stellt.“ 125 Vgl. Charbonnier/Endewardt (2015), 121–122. 126 Charbonnier/Endewardt (2015), 121. 127 Charbonnier/Endewardt (2015), 122; zitieren: Kretzschmar (2009), 285.
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gemacht“. 128 Neben weniger gewichtigen anderen Aspekten wurde mehrfach festgestellt, dass die Arbeitsbelastungen stark angestiegen seien. 129 Dies wurde vor allem auf „Strukturveränderungen, Finanzdruck, hohe[. . . ] Arbeitsdichte und Abgrenzungsprobleme [. . . ]“ 130 zurückgeführt. In einem zweiten Abschnitt wurde dann der Zusammenhang von Altern und Pfarramt untersucht. 131 Aus Sicht der Probanden ist der Pfarrberuf überwiegend ein alterungsfreundlicher Beruf. Bei den Wünschen zur Arbeitsentlastung schlug dann auch das durch, was im Grunde genommen schon im ersten Abschnitt als motivationale Aspekte dargelegt wurde: Verwaltungs- und Gremienarbeit neben der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen sowie Vertretungsdienste würden ältere Pfarrerinnen und Pfarrer gerne abgeben. Sie zeigten an, dass sie mehr Pausen und Ruhetage benötigen. Als Stärken des Alters wurde ein gestiegenes Routinewissen und Achtung durch die Menschen vor Ort registriert. 132 Im darauffolgenden Abschnitt stellten die Autoren die Diskussionsergebnisse zu personalentwicklerischen Maßnahmen dar, die das Älterwerden im Pfarrberuf angemessener machen sollen. Einerseits wurde festgestellt, dass die Gesundheitsprävention, die für die Älteren gedacht war, allen zugute kommen solle, und andererseits blieben die angedachten Maßnahmen seltsam auf die Älteren beschränkt. Hier fielen Ergebnisse und diskutierte Maßnahmen auseinander. Dies ist zu kritisieren: Wenn über die Reduktion von Arbeitsdichte nachgedacht und dann eine ‚60er-Regelung‘ diskutiert wird, die allein Menschen ab 60 Jahren entlastet und dazu noch die unliebsamen Aufgaben an „andere (jüngere) Kollegen übergeben“ 133 will, dann ergeben sich Gerechtigkeitsfragen. Wieso sollte der wenige junge Nachwuchs mehr „Pflicht“ 134 übernehmen, während die Älteren mehr „Kür“ 135 dürfen? Es verwundert nicht, dass die „jüngeren Teilnehmerinnen [. . . ] deutlich stärker auch ‚radikalere‘ Reformen eingefordert [haben]“. 136 Es zeigt sich an dieser Stelle, dass kirchliche Personalplanung – die diese Studie in Auftrag gab – in Sachen Diversity-Management und Gerechtigkeitsfragen sicherlich weiteren Beratungsbedarf hat. Diesbezüglich sei der wirklich interessante Befund benannt, dass die Pfarrerinnen und Pfarrer Organisation und Verwaltung ablehnten. Angesichts des immensen organisationalen Wandels zeichnet sich in diesem Bereich eine latente
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Charbonnier/Endewardt (2015), 125 u. 136. Charbonnier/Endewardt (2015), 126, 127 u. 131.. Charbonnier/Endewardt (2015), 127. Charbonnier/Endewardt (2015), 128–131. Vgl. dazu auch Anm. 58, S. 223. Charbonnier/Endewardt (2015), 133. Charbonnier/Endewardt (2015), 133. Charbonnier/Endewardt (2015), 133. Charbonnier/Endewardt (2015), 132.
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Verweigerung zur Weiterentwicklung ab. Kritisch formuliert, kann man hier fragen, ob eine in die Jahre gekommene Pfarrschaft sich der Organisation von Innovation widersetzt und lieber Altbekanntes machen möchte, bis der Ruhestand kommt. An dieser Stelle ist daran zu erinnern, dass die Lernbereitschaft und Innovationsfähigkeit erst mit der nahen Pensionierung abnahm, nicht mit zunehmendem Alter. 137 Allerdings ist auch auf den Sachverhalt zu verweisen, dass die Kirche sicherlich zum größten Teil behördenähnlich den Anschluss an Innovation durch die Einstellung von gut ausgebildeten Nachwuchs sichergestellt hat. Dies war über längere Zeit nur vermindert möglich gewesen. Außerdem ließen sich ja ebenfalls in den öffentlichen Behörden aufgrund einer gealterten Belegschaft Innovationsdefizite nachweisen. 138 Wenn nun jüngere Kollegen ‚radikalere Reformen‘ einfordern, wie in der Studie formuliert wurde, und die ältere Mehrheit lieber in Richtung Altbekanntes tendiere, dann liefert dies in Bezug auf die Kirchen ebenfalls zumindest einen Hinweis auf altersbedingte Innovationsschwierigkeiten. Ein weiteres Indiz in Bezug auf altersbedingte organisationale – nicht individuelle – Innovationsschwierigkeiten liefert auch die Senioritätsstruktur des beamtenähnlichen Berufs ‚Pfarramt‘. Insofern das Pfarramt kein Karriereberuf ist, der auf Aufstieg hin angelegt ist, wird das Senioritätsprinzip sicherlich nicht im Bereich ‚Blockierungen von Aufstiegsmöglichkeiten‘ zur Hürde. Jedoch wird im praktisch-theologischen Diskurs auf Innovationsschwierigkeiten aufgrund der beamtenähnlichen Struktur des Pfarramts hingewiesen. Klessmann führte aus: [D]ie beamtenrechtliche Struktur des Pfarramts [verhindert] aber auch eine wünschenswerte Weiterentwicklung von einer Pastorenkirche hin zu einer glaubwürdigen Kirche des Priestertums aller Getauften. 139
Mit anderen Worten zeigt sich hier die Trägheit dieser stark abgesicherten Anstellungsverhältnisse in Bezug auf theologisch motivierte Änderungen des Gesamtsystems. 140Ähnlich monierte Grethlein, dass die ‚privilegierten Anstellungs-
137 138 139 140
Vgl. Kap. 5.1.2, S. 225. Bartl (2011), 242 u. 251. Klessmann (2009), 18. In diesem Zusammenhang ist Lindners Kritik an der beamtenähnlichen Anstellung von Pfarrerinnen und Pfarrern zu hören. Diese wirke nach Lindner „leistungsnivellierend“ und „starr“ (Lindner (1994), 308). Deswegen plädierte Lindner für einen schrittweisen Übergang zu anderen Modellen oder Experimenten an verschiedenen Stellen. Allerdings war Lindner hier absolut unentschieden: Einerseits legte er dar, dass die beamtenähnlichen Anstellungsverhältnisse der kirchlichen Lage nicht mehr gerecht werden, und verwies andererseits darauf, dass „[d]as mögliche Gegenbild eines ‚religiösen Unternehmertums‘ [. . . ] ebensoviele Schattenseiten.“ habe (Lindner (2000b), 541). Fest steht, dass Linder trotzdem an Pfarrerinnen und Pfarrer als letztzuständige Generalisten in der kleinsten organisationalen Einheit festhielt. Inwiefern man an dieser Letztzuständigkeit ohne den beamten-
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verhältnisse‘ von Pfarrerinnen und Pfarrern Schwierigkeiten bei der künftig notwendigen Teamarbeit mit sich bringen. 141 Er verwies darauf, dass der Anschluss an wichtige Handlungsfelder für Kirche, die andere Ausbildungswege erfordern, auf die Weise erschwert werde. 142 An dieser Stelle ist auch der Vorteil der beamtenähnlichen Dienstverhältnisse zu benennen: Beschäftigte werden so dauerhaft gebunden und die Personalplanung kann sich auf diese langfristigen Bindungen verlassen. Auch gehaltsmäßig sind diese Stellen sicherlich nicht unattraktiv, auch wenn manche über eine höhere Eingruppierung zur Attraktivitätssteigerung des Pfarrberufs nachdenken. 143 Weiterhin ist auch mitzubedenken, dass bei der nachrückenden Generation der Wert einer langfristigen Bindung nicht mehr ganz so hoch im Kurs steht wie in früheren Generationen. 144 Ebenso müssen auch die Kosten für die beamtenähnlichen Anstellungsverhältnisse in den Blick genommen werden. Es wurde bereits gezeigt, dass es für den öffentlichen Dienst und die Kirchen ebenfalls aus demographischen Gründen zu besonderen Kosten kommt. 145 Zum einen steigen die Personalkosten aufgrund der altersbedingten ‚Stufenaufstiege‘ und zum anderen bringen beamtenähnliche Verhältnisse erhebliche Versorgungsverpflichtungen über die aktive Dienstzeit hinaus mit sich, die sog. Remanenzkosten. 146 Deswegen muss auch diskutiert werden, welche Anstellungsverhältnisse für die Kirchen langfristig tragfähig und günstiger – nicht allein Kosten reduzierender – sind. Insofern der Beamtenstatus nur für ‚klassische Tätigkeiten der Hoheitsverwaltung vorgeschrieben ist‘,
141 142 143 144 145 146
ähnlichen Status festhalten kann, wurde nicht bedacht. Weiterhin blieb offen, wie die Generalisten dann von Beamten zu ‚Kleinunternehmern‘ mit organisatorischer Kompetenz werden können. Zimmermann monierte diesbezüglich, Lindner „versucht zwar, die Pfarrzentrierung zu relativieren, kann aber die Gewichte innerhalb der Gesamtkonzeption nicht wirksam verschieben, faktisch dominieren trotz Modifikationen an der einen oder anderen Stelle pfarramtliche Betreuungsstrukturen“ (Zimmermann (2009), 79). Insgesamt scheint sich hier eine Schwierigkeit abzubilden: Einerseits werden die Nachteile der herkömmlichen beamtenähnlichen Dienstverhältnisse stärker und stärker gewichtet und es werden Wege aus dieser Situation aufgezeigt, andererseits erscheinen diese aber noch nicht als so attraktiv, um sie konsequent zu verfolgen. Als Erkenntnis ist hier festzuhalten, dass das Pfarramt in seiner momentanen organisationalen Verfassung angefragt ist und es keineswegs klar ist, ob man es in der momentanen Organisationsform dauerhaft erhalten kann und soll. Grethlein (2018), 237. Grethlein (2018), 237. Vgl. Kap. 5.2.4, S. 240. Vgl. Kap. 5.1.2, S. 222. Vgl. Kap. 5.1.2, S. 224f. Vgl. zur Einführung und Vergleich von ‚Besoldung für Beamte‘ und ‚Entgelt für Tarifbeschäftigte‘: Gourmelon/Seidel/Treier (2014), 157–165.
Wandlungsprozesse im ostdeutschen, ländlichen Pfarramt
besteht kirchlicherseits nicht in allen Bereichen die Notwendigkeit, beamtenähnliche Dienstverhältnisse zu begründen. 147 Die Diskussion über eine mögliche Abschaffung der beamtenähnlichen Dienstverhältnisse wird gelegentlich geführt. 148 2016 wurde der Synode der Ev. Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) ein Bericht vorgelegt, der die Kosten für ‚Angestellte und Beamte in der EKBO‘ miteinander verglich. 149 Aus diesem Bericht geht hervor, dass beamtenähnliche Dienstverhältnisse langfristig günstiger sind – unter bestimmten Annahmen: Während der aktiven Dienstzeit seien ‚Angestellte‘ für den Arbeitgeber Kirche teurer und ‚Beamte‘ günstiger. Dies geht auf die verschiedenen ‚Arbeitgeberanteile‘ bei den unterschiedlichen Sozialversicherungen zurück. Da jedoch für die ‚Beamten‘ die Altersversorgung hinzukommt, dreht sich das Verhältnis: Für einen ‚Angestellten E 13, Jahrgang 1984, verheiratet, ein Kind‘ fallen im Lauf seiner Dienstzeit 2.608.066 Euro an Personalkosten an, für einen ‚Beamten A 13, Jahrgang 1984, verheiratet, ein Kind‘ insgesamt 3.079.766 Euro. Allerdings ist der Zeitraum der Anstellung zu beachten. Die Kirchen sparen beim Beamten während seiner Dienstzeit und können dieses Geld veranlagen: Wenn ein Zinssatz von 2 % angenommen wird, ergibt sich beim Beispiel des Beamten der Besoldungsgruppe A 13 immerhin noch ein Zinsvorteil – gerechnet auf die gesamte Zeit der Besoldung und Versorgung – von gut 350.000 Euro (bei den Beamten der Besoldungsgruppe A 10 wäre der Vorteil sogar noch größer). Danach würden die Mehrkosten im Hinblick auf den A 13-Beamten gerechnet auf die gesamte Lebenszeit nur noch gut 100.000 Euro betragen, während der A 10-Beamte sogar kostengünstiger wäre als ein vergleichbarer Angestellter. 150
Damit wird deutlich: Die beamtenähnlichen Dienstverhältnisse sind für die Gehaltsklasse A 13 während der aktiven Dienstzeit der Pfarrerinnen und Pfarrer günstiger. Jedoch tragen die über die aktive Dienstzeit hinaus fortlaufenden Kosten dazu bei, dass diese Form der Anstellung teurer ist. Die ‚100.000 Euro Mehrkosten‘ werden derzeit von den Kirchen in Kauf genommen, vor allem um in der 147 Vgl. https://www.diw.de/sixcms/detail.php?id=285503, aufgesucht am 13. August 2020, 16:52 Uhr. 148 Vgl. dazu den Bericht aus der evangelischen Wochenzeitung DER SONNTAG von 2017, Nr. 3: Kirche geht auch schlanker. Gehälter: Pfarrer und andere Kirchenmitarbeiter verdienen gut – doch wenn das Geld knapper wird, gibt es eine Alternative zu weniger Personal: weniger Lohn. Das will keiner., https://www.sonntag-sachsen.de/2017/03/kirche-geht-auchschlanker, aufgesucht am 13. August 2020, 15:33 Uhr. 149 Vgl. dazu und zum Folgenden: https://www.ekbo.de/fileadmin/ekbo/mandant/ekbo.de/ 1._WIR/04._Landessynode/07._2016_Frühjahr/DS10_-_Anlage_1_-_Vergleich_Angestellte_und_Beamte_1.3.pdf, aufgesucht am 13. August 2020, 17:06 Uhr. 150 Vgl. https://www.ekbo.de/fileadmin/ekbo/mandant/ekbo.de/1._WIR/04._Landessynode/ 07._2016_Frühjahr/DS10_-_Anlage_1_-_Vergleich_Angestellte_und_Beamte_1.3.pdf, aufgesucht am 13. August 2020, 17:06 Uhr.
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Situation des Konkurrenzes um Nachwuchs attraktiv zu bleiben. Dieses Argument wird auch am Schluss des Synodenberichts der EKBO als Begründung für den Erhalt der beamtenähnlichen Dienstverhältnisse angebracht. 151 Kritisch anzumerken ist an dieser Stelle, dass bei der Berechnung für diesen Synodenbericht wichtige kostenträchtige Faktoren nicht beachtet wurden. Nachvollzogen werden kann die vorsichtig vorgenommene Einordnung der Pensionslaufzeit auf Grundlage der allgemeinen Lebenserwartung sowie vor allem der Sterbetafeln der Ruhegehaltskassen. Weiterhin wird in dem Bericht oft betont, dass die Kostenschätzung allenfalls als ‚grob‘ anzusehen sei. Deswegen muss an dieser Stelle auf zwei weitere Faktoren hingewiesen werden, die unbedingt zur Kenntnis genommen werden müssen: Zum einen beruht der Bericht auf Annahmen des Bundesrechnungshofes von 1996. 152 Das bedeutet, dass der Zinssatz von 2 %, der für die erhebliche Minderung des Kostennachteils bei ‚Beamten‘ veranschlagt wurde, korrigiert werden muss. Derzeit liegen die Zinssätze deutlich niedriger. Somit muss dieser Zusammenhang erneut überprüft und angepasst werden. Zum anderen wird für das beamtenähnliche Dienstverhältnis pauschal ‚ein Kind‘ angenommen. An dieser Stelle unterscheiden sich jedoch ein beamtenähnliches Dienstverhältnis und ein Angestelltenverhältnis erheblich, denn: „Der familiäre Status des Beschäftigten wirkt sich, anders als bei den Beamten, nicht auf die Höhe des Entgeltes aus.“ 153 Folglich müsste mindestens ein Durchschnittswert für die Ausgaben bezüglich der Ehepartner und Kinder von Pfarrerinnen und Pfarrer veranschlagt werden. Es ist wahrscheinlich, dass somit ein durchaus höherer Wert für die Kosten der beamtenähnlichen Dienstverhältnisse zu veranschlagen ist. Der Sachverhalt wäre deswegen erneut zu prüfen und abzuwägen: Sind die Mehrkosten für die beamtenähnlichen Dienstverhältnisse angesichts des Nachwuchsmangels zu vertreten? Wenn ja, dann müsste überprüft werden, wie stark das Gehalt als motivationaler Faktor bei Bewerberinnen und Bewerbern ins Gewicht fällt. Wenn nein, dann müsste überlegt werden, wie die doppelte Last von Pensionszahlungen und den kurzfristig teureren Angestelltenverhältnissen zu stemmen wäre. Eine kurzfristige Lösung kommt vor dem Hintergrund dieser Alternativen also nicht in Betracht. Eine Möglichkeit bestünde darin, zu überlegen, inwiefern neue pfarramtsähnliche Angestelltenverhältnisse zu schaffen wären und welche Auswirkungen das auf das momentane Pfarramt hätte. Deutlich wird in dieser komplexen Situation, dass Personalentscheidungen äußerst weitreichend sind und umfassend bearbeitet werden müssen. 151 Vgl. https://www.ekbo.de/fileadmin/ekbo/mandant/ekbo.de/1._WIR/04._Landessynode/ 07._2016_Frühjahr/DS10_-_Anlage_1_-_Vergleich_Angestellte_und_Beamte_1.3.pdf, aufgesucht am 13. August 2020, 17:06 Uhr. 152 Vgl. Präsidentin des Bundesrechnungshofes als Bundesbeauftragte für Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung (1996). 153 Gourmelon/Seidel/Treier (2014), 157–165.
Wandlungsprozesse im ostdeutschen, ländlichen Pfarramt
Altern im Pfarramt bringt aus personalentwicklerischer Sicht somit verschiedene Sachverhalte mit sich, die bedacht werden müssen. Zum einen scheint der Pfarrberuf ein alterungsfreundlicher Beruf zu sein. Gleichzeitig ist festzustellen, dass die Alterung der Belegschaft erhebliche Kosten mit sich bringt, da der Pfarrberuf mit beamtenähnlichen Senioritätsrechten versehen ist. Dies bindet gleichzeitig die Mitarbeiter an die Institution und schafft verlässliche Verhältnisse. Zum anderen zeigen sich potentielle organisationale Innovationsschwierigkeiten aufgrund der gealterten Belegschaften, die vor allem in Bezug auf Verwaltung und Organisation – die mit dem derzeitigen Wandel vermehrt gefordert sind – wenig Motivation zeigen. Letzteres kann nun nicht nur ein Hinweis auf Innovationsschwierigkeiten sein, sondern auch ein Indiz für Überforderungen, die zu gesundheitlichen Schwierigkeiten führen. Insofern Gesundheitsprävention an sich immer wichtiger wird, da die Pensionierungsgrenzen nach hinten verschoben werden und eine ältere Belegschaft länger im Dienst bleibt, ist als Nächstes ein Blick auf die derzeitige arbeitsbezogene Gesundheit und Belastungserkrankungen unter Pfarrerinnen und Pfarrern zu werfen.
5.2.6 Gesundheit im (Land-)Pfarramt Angesichts des sich abzeichnenden Personalmangels und den strukturellen Herausforderungen ist die Frage virulent, wie sich die in den Studien zur Alterung im Pfarramt wahrgenommene Arbeitsverdichtung auf die Gesundheit auswirkt. Wagner-Rau formulierte die im Raum stehende Frage präzise: Wo ist der Punkt erreicht, an dem die Belastungen und Ansprüche über das hinausgehen, was zu leisten ist? 154
Um diese Frage zu beantworten, wurden in den 2000er Jahren im protestantischen Bereich unterschiedliche Studien zur Berufszufriedenheit unter Pfarrerinnen und Pfarrern durchgeführt. 155 Außerdem gab es zwei Studien, die nicht Maß an der Berufszufriedenheit der Pfarrerinnen und Pfarrer nahmen, sondern psychische Belastungserkrankungen – namentlich das Burnout-Syndrom – unter Pfarrerinnen und Pfarrern erforschten. 156 Keine dieser Studien legte einen besonderen Fokus auf den jeweiligen Kontext, da meistens eine Landeskirche oder eine Stichprobe innerhalb einer Landeskirche untersucht wurde.
154 Wagner-Rau (2012), 132. 155 Vgl. dazu den Überblick von Schendel in: Schendel (2017), 11–16 156 Vgl. von Heyl (2003) u. Bauer et al. (2009).
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So spielte der Aspekt des Landes hin und wieder eine Rolle, jedoch sind die Indikatoren für das, was als ländlich gilt, sehr unterschiedlich und in ihrer Güte dementsprechend unterschiedlich zu bewerten. 157 Allgemein wurde davon ausgegangen, dass die Situation im Landpfarramt und im Osten der Republik besonders hart sei. 158 Diese Hypothese wurde in der Greifswalder Studie Stadt, Land, Frust? untersucht. Insofern dies bisher die einzige Studie ist, die einen besonderen Fokus auf ländliche Räume legte und einen Vergleich zwischen Ost und West durchführte, werden ihre Ergebnisse hier ausführlicher dargestellt, um das Bild der Lage des Pfarramts im peripheren Kontext Ostdeutschlands zu schärfen. Die Studie wurde unter Pfarrerinnen und Pfarrern im Gemeindedienst durchgeführt. Befragt wurden im Sommer 2016 1.132 Personen, wobei in der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland alle Gemeindepfarrer und -pfarrerinnen befragt wurden und zum Vergleich eine ähnlich große Stichprobe in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers. Aufgrund des hohen Rücklaufs von 61 % sowie der ähnlichen Geschlechterverteilung der Stichprobe mit der deutschen Gesamtpfarrschaft und anderer günstiger Parameter können die Ergebnisse als repräsentativ gelten. Die Studie wurde auf die Vernetzung von drei Sachverhalten angelegt: erstens die Erfassung der Umgebung im Pfarramt, die sich nach Ost / West, Stadt / Land, Anzahl und Predigtstellen etc. aufschlüsseln lässt 159; zweitens die Erfassung des Pfarrberufs mit dem arbeitspsychologischen Modell des Job-Demand-ControlSupport. 160 Dieses Modell wurde für das Pfarramt adaptiert. So konnten Charakteristika des Pfarrberufs in einer bestimmten Umgebung erfasst werden. Drittens wurden diese beiden Faktoren in einen Zusammenhang mit genormten und validierten Messinventaren aus der psychologischen Forschung gebracht, die Burnout und Depression einerseits sowie Engagement und Arbeitsfreude andererseits erfassten.
157 Zwar gab es hier und da die Erfassung von ‚ländlichen Räumen‘, jedoch sind die Indikatoren angesichts der Fachdiskussion fragwürdig (vgl. Stahl (2019), 15–44). Becker nutzte beispielsweise eine subjektive Einschätzung seiner Probanden, ob sie im ländlichen, vorstädtischen oder städtischen Bereich tätig waren (Becker/Dautermann (2005), 321–328). In der Studie Pastor und Pastorin im Norden (Maagard/Nethöfel (2011)) erfolgte eine Abfrage nach Stadt / Land wie folgt: ländlich geprägt (bis 10.000 Ew), städtisch geprägt (bis 100.000 Ew) und mehr als 100.000 Ew (Hamburg bzw. über Regions- oder Stadtgrenzen hinweg). Inwiefern die Einschätzungen der Probanden mit Becker vergleichbar sind und inwiefern die große Rasterung der Nordkirchenstudie mit der Heterogenität der Räume umzugehen vermochte, muss bei diesen Indikatoren offen bleiben. Sie maßen eben, was sie maßen, und das bedeutet, dass die Frage offen bleibt, inwiefern damit Stadt und / oder Land erfasst wurden. 158 Wagner-Rau (2012), 50f. 159 Vgl. dazu Stahl (2019), 15–44. 160 Vgl. dazu Hanser (2019), 45–122.
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Schaut man zunächst auf den Gesundheitszustand der Pfarrerinnen und Pfarrer, dann erscheint die aktuelle Erkrankungsrate mit Hinblick auf psychische Erkrankungen gering. 161 Während des Untersuchungszeitraums gaben 3,1 % der Gesamtstichprobe an, an einer ärztlich diagnostizierten depressiven Erkrankung zu leiden, sowie 2 % an einem ärztlich diagnostizierten Burnout. 162 Vergleicht man die Verteilung der psychisch erkrankten Probanden in Ost und West, dann zeigt sich, dass in der ostdeutschen Landeskirche die Anzahl der Erkrankten leicht höher ist als in der westdeutschen Landeskirche: aktuell ärztlich diagnostizierte depressive Erkrankung: EKM 3,8 %, EVLKA 2,4 %; aktuell ärztlich diagnostiziertes Burnout-Syndrom: EKM 2,2 %, EVLKA 1,7 %. Ob man aus diesen Unterschieden eine Mehrbelastung im ostdeutschen Pfarramt ableiten sollte, ist eine Frage der Einschätzung und Bewertung, da geklärt werden muss, inwiefern diese Verteilung eher zufällig ist oder tatsächlich mit bestimmten Umgebungsfaktoren zusammenhängt. Erklärende Ursachen für eine Mehrbelastung der Pfarrerinnen und Pfarrer in Ostdeutschland konnten in der Studie nicht gefunden werden. Dieses Ergebnis steht gegen die Vermutungen der pastoraltheologischen Literatur. Allerdings muss an dieser Stelle auch eine mediale Berichterstattung über ländliche Räume in Ostdeutschland bedacht werden, die sich eher auf besondere Abbrüche fokussierte und mit dieser Sonderdarstellung ein recht negatives Bild prägt, welches sicherlich latent die Ergebniserwartungen beeinflusst. Die empirischen Überprüfungen in der Studie Stadt, Land, Frust? gaben diesen Erwartungen allerdings keinen Nährboden. Auch die Gegebenheiten im Landpfarramt tragen nicht dazu bei, dass Pfarrerinnen und Pfarrer dort belasteter seien als in der Stadt. Die Kontexte Ost / West sowie Stadt / Land mögen unterschiedliche Profile der pfarramtlichen Arbeit mit sich bringen – einen Einfluss auf Belastungserkrankungen haben sie indes nicht. 163
161 Vgl. dazu und zum Folgenden: Hanser (2019), 83–95, bes. 85. Hier wurden auch andere Arten von Belastungserkrankungen katalogisiert und ausgewertet. Feststellbar war, dass rund 16 % der Pfarrschaft neben den ärztlichen Diagnosen zu depressiven Erkrankungen und dem Burnout-Syndrom zahlreiche weitere Erkrankungen als Folge von Belastungen angaben: Schlaganfälle, Angsterkrankungen, Tinnitus, Migräne, Herz-Kreislauf-Erkrankungen etc. 162 Insofern sich die Begrifflichkeiten überlagern können, ist es nicht sinnvoll möglich, diese Prozentzahlen zu addieren. Gleichzeitig ist um der Genauigkeit willen hinzuzufügen: Burnout als Diagnose gab es zum Zeitpunkt der Befragung nicht. Im ICD-10 (International Code of Diagnostics) ist ‚Burnout‘ nicht aufgenommen. Ab 2022 wird es die Diagnose ‚Burnout‘ geben, da sie im ICD-11 – wenn auch mit kritischen Anfragen – aufgenommen wurde (vgl. https://www.median-kliniken.de/de/newsroom/artikel/news/definition-desburn-out-im-icd-11-ist-unzureichend/, aufgesucht am 14. August 2020, 19:22 Uhr). So gilt für die Greifswalder Studie, dass die Angaben weniger zeigen, was ‚ärztlich diagnostiziert‘ wurde, als was die Patienten verstanden haben. 163 Vgl. Stahl/Neumann (2019), 123–158, bes. 135f. Hier wurde die Überprüfung des Kontexts ‚Land‘ ausführlich dargestellt und erläutert. Auch die katholische Studie Zwischen
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So sind hinsichtlich der Belastungserkrankungen die Ergebnisse der gesamten Stichprobe relevant: Es konnte durch die eingesetzten psychometrischen Inventare festgestellt werden, dass je nach Kriterienstrenge unter Pfarrerinnen und Pfarrern Burnout ein weit verbreitetes Phänomen ist. 164 Legt man ein mildes diagnostisches Kriterium an, dann sind rund 50 % der Pfarrerinnen und Pfarrer vom Burnout-Syndrom betroffen – hier kann man von einer Gruppe mit Auffälligkeiten sprechen. Legt man strenge Kriterien an, dann sind rund ein Drittel der Pfarrerinnen und Pfarrer betroffen. Dies ist eine Gruppe im Risikostadium. In einer dritten Stufe mit strengsten Kriterien zeigen sich rund 13 % vom Burnout-Syndrom betroffen. Dies ist die Hochrisikogruppe, die ärztlich untersucht und diagnostiziert werden müsste. Aller Wahrscheinlichkeit nach sind mindestens diese 13 % dringend behandlungsbedürftig. Insofern nur wenige angaben, in Behandlung bzw. ärztlich diagnostiziert zu sein, trug die Studie Stadt, Land, Frust? dazu bei, die Dunkelziffer hinsichtlich des Burnout-Syndroms unter Pfarrerinnen und Pfarrern aufzuklären. Außerdem konnte aufgrund der Verwendung der Burnout-Screening-Skalen (BOSS) eine weitere Besonderheit des pfarramtlichen Burnout-Syndroms aufgedeckt werden. Häufig wurde zur Erfassung von Burnout – „trotz aller Kritik“ 165 – das Maslach-BurnoutInventar (MBI) genutzt. Die Erfassung des Burnout-Syndroms ist jedoch mit Schwierigkeiten behaftet. Eine grundlegende ist, dass ‚Burnout‘ als Krankheit nicht klar definiert ist. 166 In der Studie Stadt, Land, Frust? wurden deswegen drei verschiedene Inventare eingesetzt: ein Inventar zur Erfassung von Depression (Becksches Depressionsinventar / BDI), eine auf das Pfarramt hin adaptierte Variante des MBI (Francis Burnout Inventory / FBI) und die bereits genannten Burnout-Screening-Skalen (BOSS), die den aktuellen Stand der deutschen Forschung darstellen. Die Verwendung dieser Inventare zeigte einige Vor- und Nachteile der jeweiligen Skalen. Vorteil des MBI ist sicherlich seine breite Verwendung. So konnte bspw. in der katholischen Studie Zwischen Spirit und Stress ein breiter Vergleich ausgeführt werden. Die Autoren kamen zu dem Ergebnis, dass die „Gruppe der Seelsorgenden eher am unteren und damit günstigeren Ende als am oberen Ende des Spektrums der in Europa in der Normalbevölkerung gefundenen Burnout-Häufigkeiten“ 167 liege. Außerdem konnte gezeigt werden, dass die Priester
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Spirit und Stress kam zu dem Ergebnis, dass die Größe einer Diözese bzw. Struktureinheit keinen Einfluss auf die Belastung der Mitarbeitenden habe (Baumann et al. (2017), 192). Vgl. dazu Hanser (2019), 83–95. Baumann et al. (2017), 133. Vgl. Hanser (2019), 57, Grabe (2019), 196 u. Baumann et al. (2017), 133. Baumann et al. (2017), 135.
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ein wenig stärker belastet waren als andere Mitarbeitende im Seelsorgedienst der katholischen Kirchen. 168 Die Burnout-Screening-Skalen haben noch keine so weite Verbreitung wie der MBI erfahren. Jedoch ist auch das BOSS-Inventar an der Normalbevölkerung ausgerichtet, so dass Vergleiche möglich sind. Das BOSS-Inventar ist sensitiver im Vergleich zum MBI. Im MBI werden nur Mittelwerte verglichen, während BOSS unterschiedliche Auswertungen der Daten vorsieht. So wird hier zwischen Gesamt- bzw. Mittelwert, Intensitätswert und Breitenwert unterschieden. 169 Der Gesamtwert gibt den Mittelwert an. Der Intensitätswert misst die Stärke der Ausprägung von Symptomanzeigern und der Breitenwert gibt Auskunft über die Menge an Indikatoren, die auf Symptome des Burnout-Syndroms hinweisen. Für das Pfarramt ergab sich, dass der Gesamtwert und auch der Intensitätswert im Bereich der Normalverteilung lagen. Das zeigte an, dass das Pfarramt hier nichts Besonderes ist und kaum Sonderbelastungen aufweist, die man nicht auch in anderen Berufen finden kann. 170 Einen signifikanten Unterschied zeigte jedoch der Breitenwert. 171 So scheint für den Pfarrberuf nicht die Intensität einzelner Symptome typisch zu sein, sondern vor allem die Menge an unterschiedlichen Symptomen, die die besondere Belastung der Pfarrerinnen und Pfarrer erklären. Die Einschätzung dieser Werte bedarf einiger Umsicht, um weder überzogen noch verharmlosend mit den Ergebnissen umzugehen. In der Studie Zwischen Spirit und Stress (2017) wurde eher betont, dass die Referenzwerte innerhalb der in der Bevölkerung zu erwartenden Normalverteilung lagen. 1 % bis 4 % der katholischen Seelsorger und Seelsorgerinnen hatten sehr hohe Werte im Sinne des MBI, weitere 12 % hatten „eine ‚Burnout-Gefährdung‘ im Sinne der Annäherung an das Burnout-Kriterium“ 172 des MBI. Im Vergleich zu der Stichprobe aus der Studie von von Heyl (2003), lagen die Werte der katholischen Studie jedoch höher: Als Ergebnis seiner Untersuchung hielt von Heyl fest, dass 1,6 % als ‚ausgebrannt‘ gelten können und 7,5 % als ‚bedenklich‘ und eine Gruppe von 49,5 % ‚gefährdet‘ sei. 173 Die Werte wurden allerdings unterschiedlich verrechnet, so dass sich im Detail Schwierigkeiten bei der Vergleichbarkeit der jeweils pu-
168 Baumann et al. (2017), 136. 169 Vgl. Hanser (2019), 75. 170 Man kann BOSS und MBI nicht direkt miteinander vergleichen, aber man kann feststellen, dass die Ergebnisse der unterschiedlichen Inventare zur Erfassung des Burnout-Syndroms sich ähneln, wenn man auf die Studie Zwischen Spirit und Stress schaut. Hier zeigte sich auch eine Arbeitsbelastung, die sich nicht bedeutsam von Vergleichsgruppen unterscheiden lässt. 171 Vgl. Hanser (2019), 94 u. 110. 172 Baumann et al. (2017), 135. 173 von Heyl (2003), 276.
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blizierten MBI-Werte zeigten. 174 Allerdings nahm Grabe als Chefarzt der Klinik Hohe Mark, in der er als Psychiater und Psychotherapeut leitend tätig ist, die Beobachtung auf, dass die Zahlen zu berufsbezogenen Belastungserkrankungen im Pfarramt sich seit einigen Jahren eher verschlechtern. 175 Er bewertete die Zahlen in der Studie Stadt, Land, Frust? als „alarmierend“ 176. Auch eine kirchliche Personalplanung kann eine Dunkelziffer von mehr als 10 % beim Krankenstand (identifizierte High-Risk-Gruppe aus der Greifswalder Studie) nicht auf die leichte Schulter nehmen. Zu beachten ist auch, dass damit nur eine Belastungserkrankung erfasst wurde. 16 % der Pfarrerinnen und Pfarrer gaben weitere belastungsbezogene Beschwerden an, die bisher noch nicht systematisch in Bezug auf den Pfarrdienst untersucht wurden. 177 Personalplanerisch sind diese Zahlen für einen strategischen Personalplan relevant, denn bei einem Krankenstand von 13 % und mehr erhöht sich der Bruttopersonalbedarf um eben diesen Wert. Dies ist angesichts der Verknappung durch Nachwuchsmangel und Pensionierungen ebenfalls zu bedenken. Es kann also nicht davon ausgegangen werden, dass es genügend Pfarrerinnen und Pfarrer geben wird, wenn alle Personalstellen besetzt sein sollen, sondern es ist für den Fall von krankheitsbedingten und anderweitigen Personalausfällen von vornherein Vorsorge zu treffen. 178 Dies ist gerade im Landpfarramt prekär, da Pfarrerinnen und Pfarrer hier deutlich größere Probleme haben, eine Vertretung zu finden, als im Stadtpfarramt. 179 In unterschiedlichen Studien – wie bspw. auch der oben referierten Studie zum Altern im Pfarramt – wurde immer wieder von einer im Laufe der Zeit steigenden Arbeitsverdichtung berichtet. Die Greifswalder Studie zeigte nun auf Grundlage
174 Vgl. Baumann et al. (2017), 134: Hohe Ausprägung bedarf auffälliger Werte auf allen drei MBI-Skalen (emotionale Erschöpfung, Distanzierung, persönliche Leistungsfähigkeit), eine mittlere Ausprägung wird über mittlere Werte auf allen drei Skalen errechnet. von Heyl (2003), 274 u. 276: Die Kategorie ‚ausgebrannt‘ entspricht hohen Werten auf allen drei MBI-Skalen, ‚bedenklich‘ hohen Werten auf zwei von drei MBI-Skalen und ‚gefährdet‘ hohen Werten auf einer von drei MBI-Skalen. 175 Grabe (2019), 195. 176 Grabe (2019), 195. 177 Angegeben wurde bspw.: Adipositas, Angsterkrankungen, Schlaganfälle, Hörstürze / Tinnitus, Rheuma, Migräne, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Erkrankungen des Stütz- und Halteapparates (vgl. Hanser (2019), 85). 178 Vgl. Scherm/Süß (2006), 26: „Die Ermittlung des quantitativen Personalbedarfs, d.h. der Zahl der benötigten Mitarbeiter, erfolgt über Stellenkategorien, die sich aus der Zusammenfassung ähnlicher Stellen ergeben. Der Bruttopersonalbedarf, der zu einem bestimmten Zeitpunkt für die Erreichung der Unternehmensziele notwendig ist, setzt sich zusammen aus dem Einsatzbedarf und dem Reservebedarf. Der Einsatzbedarf entspricht der Zahl der Mitarbeiter, die ständig verfügbar sein müssen, während im Reservebedarf zum Ausdruck kommt, wie viele Mitarbeiter notwendig sind, um die erfahrungsgemäß auftretenden Ausfälle wegen Fehlzeiten (z. B. Urlaub, Arbeitsunfähigkeit, Mutterschutz, Freistellungen) zu kompensieren.“ 179 Vgl. Stahl/Neumann (2019), 147.
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ihrer starken repräsentativen Datenbasis, wie schwer dieser Faktor im Hinblick auf Belastungserkrankungen wie das Burnout-Syndrom wirkt. Stahl und Völz arbeiteten heraus, dass der Faktor ‚Arbeitsdichte‘ im Vergleich zu allen anderen Faktoren ein doppelt bis dreifach höheren kausalen Einfluss auf die arbeitsbezogene Gesundheit habe. 180 Insofern das Konstrukt ‚Dichte‘ nahelegte, dass ein Zuviel an Aufgaben und Arbeit auf eine Pfarrperson entfallen und ein Gleichgewicht zwischen Phasen der Erholung und Beanspruchung im Beruf schwer möglich ist – und in diesem Sinne für eine Dauerbelastung spricht – zeichnete sich hier der Punkt ab, „an dem die Belastungen und Ansprüche über das hinausgehen, was zu leisten ist“ 181. Es sind verschiedene Interpretationen des Sachverhalts möglich, die erklären, warum die Arbeitsdichte so stark mit Belastungserkrankungen im Pfarramt zusammenhängt. Einerseits könnte das schlicht bedeuten, dass zu wenige Pfarrerinnen und Pfarrer im Dienst sind – also schon jetzt Personalmangel herrscht, so dass die im Dienst befindlichen Pfarrerinnen und Pfarrer zu viele Aufgaben und Bereiche abdecken. Auch wenn formal alle Pfarrstellen besetzt sind, kann dies bedeuten, dass die Stellenzuschnitte überbordend sind oder der organisationale Wandel zusätzliches Personal benötigt. Andererseits kann es auch heißen, dass die Aufgabenlage ungeklärt ist und Pfarrerinnen und Pfarrer Tätigkeiten verrichten, die von anderweitig qualifizierten Berufsgruppen besser – evtl. auch in finanzieller Hinsicht effizienter – verrichtet werden könnten. Dieser Gedanke spielt damit auch auf das mögliche Auseinanderfallen von Qualifikation und Bedarf ab, welches im Landpfarramt eher gegeben zu sein scheint, insofern hier seltener weitere Mitarbeitende zu finden sind als im Stadtpfarramt. 182
5.2.7 Aus-, Fort- und Weiterbildung als eine Dimension des kirchlichen Personalwesens mit steigender Bedeutung Da sich die Pfarrschaft in Ostdeutschland als vergleichsweise alt erweist, was ein Erbe der personalstrategischen Entscheidungen der 90er und die Folgeentwicklung in Zeiten knapper werdenden Nachwuchses darstellt, gibt es Bestrebungen, auf alternativen Wegen Personal zu rekrutieren. Dies ist eine notwendige Reak180 Vgl. dazu Völz/Stahl (2019), 159–170, bes. 165. Unter dem Konstrukt ‚Dichte‘ wurden folgende Items in der Studie zusammengefasst: An mich werden überbordende Arbeitsanforderungen gestellt. Ich habe genug Zeit, um meine Arbeit zu erledigen. Ich habe ausreichend Zeit für mein geistliches Leben. Selbst nach Feierabend habe ich keine Privatsphäre. Es fällt mir leicht, das Gleichgewicht zwischen Phasen der Beanspruchung und Zeiten der Erholung zu halten. (vgl. Hanser (2019), 115). 181 Wagner-Rau (2012), 132. 182 Vgl. Stahl/Neumann (2019), 142ff.
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tion und trägt den Bedarf nach Erhöhung und Verbesserung von Aus-, Fort- und Weiterbildung in sich, die in diesem Kapitel näher beschrieben werden sollen. Aus-, Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen können unterschiedliche positive Wirkungen entfalten, sei es im Hinblick auf die Erhaltung der Leistungsfähigkeit einer Organisation oder die Gesunderhaltung der Mitarbeiterschaft. Diese Wirkungen sind allerdings mit entsprechenden Kosten verbunden, die sich kaum vermeiden lassen. 183 Im Folgenden werden deswegen Gründe herausgestellt, die die Bedeutung einer erweiterten und verbesserten Aus-, Fort- und Weiterbildung verdeutlichen. Zunächst ist festzuhalten, dass das Pfarramt bisher als fortbildungsarmer Beruf einzuschätzen ist, wenngleich hier ein Wandel eingesetzt hat. Verglichen mit beispielsweise den Fortbildungsverpflichtungen von Ärzten wird dies überdeutlich. Hinzu kommen noch Anzeichen, die man als latente Ablehnung oder auch als strukturelle Erschwernis zur Teilnahme an Fortbildungen interpretieren kann. Weiterhin ist für das Landpfarramt festzustellen, dass es schwieriger ist eine Vertretung zu finden. 184 Dies steht natürlich einer Teilnahme an Fortbildungen entgegen. Insofern im öffentlichen Dienst Innovationen bzw. zeitgemäße Weiterentwicklungen durch neu rekrutierten und gut ausgebildeten Nachwuchs sichergestellt wurden, ergibt sich aus einer alternden Belegschaft der organisationale Bedarf nach Integration von neuem Wissen und Kompetenzen, um das Fortbestehen der Organisation und die Leistungsfähigkeit der Belegschaft bestmöglich zu gestalten. Da sich die Aufnahme von neuem, relevanten Wissen nicht mehr vermehrt durch Aufnahme junger Fachkräfte sichern lässt, sind verstärkt Fortund Weiterbildungsprogramme notwendig. Insofern das Pfarramt und damit der ‚Schlüsselberuf‘ der Kirche ähnlichen Mechanismen unterliegt, kann dieser Bedarf ebenfalls mit guten Gründen angenommen werden. Dies gilt auch in Hinsicht auf Personen, die aus anderen Hintergründen in das Pfarramt berufen werden. Hier haben Aus-, Fort- und Weiterbildungsprogramme die Aufgabe, etwa bestehende Lücken zwischen Qualifikation und Stellenanforderungen zu schließen. Wenn es nicht genügend Bewerber mit grundständigem Studium gibt, werden die Kirchen wenig andere Möglichkeiten haben, als ähnlich qualifizierte, motivierte und geeignete Kandidatinnen und Kandidaten selbst ausund fortzubilden.
183 Da sich diese Kosten nicht vermeiden lassen, scheint ein reflektierter Einsatz dieser Mittel notwendig. (Vgl. den „Funktionszyklus systematischer Personalentwicklung“ in Gourmelon/Seidel/Treier (2014), 147–155, der von Bedarfsanalyse über Ziele, Maßnahmengestaltung, Maßnahmendurchführung auch Erfolgskontrolle und Transfersicherung beinhaltet und dadurch organisationales Lernen begünstigt). 184 Vgl. Stahl/Neumann (2019), 147.
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Durch das Ausscheiden von Älteren aus dem Dienst, fließt zudem implizites Organisationswissen vermehrt ab. 185 Eine Kooperation von Senior und Junior wäre im Grunde genommen das personalentwicklerische Mittel der Wahl, um diesem ‚Know-how-Risiko‘ zu begegnen. Jedoch wird dieses Weiterbildungsformat von Pfarrerinnen und Pfarrern eher abgelehnt. 186 Gründe dafür kann man nur vermuten: Vielleicht wird eine Einschränkung der individuellen, amtlichen Freiheiten befürchtet, die das Pfarramt mit sich bringt, oder es wird den Senioren schlicht keine Kompetenz zugetraut, entwickelnd zu führen, oder die Junioren werden schlicht als weitere Aufgabenlast empfunden. Was auch immer die Gründe sein mögen, dürfte angesichts des Problemfelds, das mit dem ‚Know-how-Risiko‘ beschrieben wurde, deutlich geworden sein, dass die Kirche als Organisation einige Mühe haben wird, das Erfahrungswissen der Älteren als Ressourcenschatz hervorzuholen. Auch dies legt verstärkte und verbesserte Weiterbildungsmaßnahmen nahe. Zudem ist ein vermehrtes Auseinanderfallen von Spezialisierung bzw. Begabung und Einsatzgebiet beim Personal zu vermuten. 187 Allerdings lässt sich einerseits feststellen, dass die Pfarrschaft verglichen mit den vielen spezialisierten Berufen des öffentlichen Dienstes doch eine eher einheitliche Berufsgruppe darstellt, so dass das Auseinanderfallen von Bedarf und Berufsspezialisierung nicht allzu hoch ins Gewicht fallen sollte. Andererseits wird ein Auseinanderfallen der Bedarfe und Spezialisierungen der Pfarrer immer wieder beklagt 188 und kommt wahrscheinlich aufgrund anderer Entwicklungen zustande. So wies Ahnert-Sun185 Vgl. Kap. 5.1.2, S. 223. 186 Charbonnier/Endewardt (2015), 126 u. 134. 187 „Deutlich wird aber anhand der regional-parochialen Auswertung, dass die Außeneinflüsse durch die Anforderungen, die sich aus den Regionen zwangsläufig ergeben, erheblich mehr Beachtung in dem persönlichen Rollenverständnis der Befragten finden als dies bisher angenommen wurde. Ein parochiales Pfarrbild ohne einen Rekurs auf die konkreten Anforderungen der regionalen und wahrscheinlich auch lokal-individuellen Begebenheiten zu konstruieren, erweist sich somit zukünftig als äußerst schwierig“ (Becker (2005), 149). 188 Die Beispiele dafür in der pastoraltheologischen Literatur sind Legion. Stellvertretend sei hier die Zustandsbeschreibung von Böhlemann / Herbst zitiert: „Ironisch formuliert müsste man sagen, dass es geradezu bedauerlich ist, dass Paulus in diesem Zusammenhang die Gabe der Allgegenwart und der Allmacht vergessen hat. Pfarrerinnen und Pfarrer von heute können Griechisch und Hebräisch, sie sind philosophisch geschult, kennen sich aus in der Ökumene, Diakonie, Gemeindeaufbau und Mission. Sie beherrschen non-direktive Gesprächsführung ebenso wie ein breites Management-Instrumentarium. Sie sind im Kirchen-, Verwaltungs- und Personalrecht ebenso bewandert wie in der Bibel. Sie sind geschulte Pädagogen, Psychologinnen, Coachs und Beraterinnen. Aber vor allem spürt man ihnen ihren Glauben ab, denn sie haben liturgische Präsenz und echte Herzensfrömmigkeit. Und zwischen all den Veränderungsprozessen, Fusionen und Qualitätsmanagement-Prozessen lesen sie Milieu-Studien und befassen sich mit einer Kirche der Freiheit, weil sie durch professionelles Zeitmanagement zur echten Work-Life-Balance gelangt sind“ (Böhlemann/Herbst (2011), 53).
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dermann darauf hin, dass bei Regionalisierungs- und Stellenkürzungsprozessen häufig die Pfarrstelle als einziges übrig bliebe, da Küster- und Verwaltungsdienststellen eingespart werden. Damit rücken Aufgaben in den Verantwortungsbereich des Pfarramts, welche nicht als genuin pastorale Aufgaben empfunden werden. 189 Gerade im ländlichen Bereich ist dieser Grund für das Auseinanderfallen von Qualifikation und Bedarf häufiger gegeben, da im Vergleich zur Stadt gerade hier Mitarbeiter in anderen Bereichen deutlich weniger zu finden sind. 190 Dies führt zu zwei personalentwicklerischen Aufgaben: Erstens ist festzustellen, inwiefern Deckungslücken zwischen Qualifikation und Stellenanforderung vorhanden und auch zu schließen sind. Zweitens ist der Personaleinsatz zu prüfen, um für bestimmte Aufgabenprofile ggf. andere Fachkräfte heranziehen zu können, die im besten Falle effizienter sind. Ein Beispiel für derartige Deckungslücken konnte die Greifswalder Studie Stadt, Land, Frust? aufdecken. Es ist ein Fakt, dass Pfarrerinnen und Pfarrer das Selbstbild ‚Manager‘ in der Mehrheit ablehnten und auch Verwaltungs- und Organisationstätigkeiten, mit denen in der Regel Führungsaufgaben verbunden sind, nicht zu ihren Kerntätigkeiten rechneten. Jedoch konnte in der Studie gezeigt werden, dass im Stadtpfarramt ‚Autorität‘ entlastend ist und Belastungserkrankungen mindert. 191 In der Stadt wirkte außerdem die im Vergleich zum Landpfarramt deutlich mehr vorhandene soziale Unterstützung im Pfarrberuf kurioserweise belastend. Stahl und Neumann erklärten diesen Befund durch die Ablehnung von Organisation- und Leitungsaufgaben. 192 Wegner brachte dies auf den Punkt: „Wer nicht leiden will, muss leiten“ 193. An dieser Stelle ist aus Perspektive der Personalentwicklung eine ‚Deckungslücke‘ auszumachen, insofern die Qualifikation und Motivation der Mitarbeiter nicht mit den organisationalen Bedarfen übereinstimmt. 194 Diese Lücke muss durch Aus-, Fort- und Weiterbildung geschlossen werden. Weiterbildungen im Bereich Kybernetik hätten in diesem Falle das Potential für zwei positive Effekte: Erstens könnten durch entsprechende Weiterbildungen Ressourcen im Pfarramt gestärkt werden, die sich mindernd auf Belastungserkrankungen auswirkten. Zweitens bestünde die Chance, auch die Ressource ‚Soziale Unterstützung‘ freizusetzen. Bedeutet zurzeit in der Stadt jeder zugewandte Mitarbeiter mehr Belastung, wäre durch eine verbesserte Leitung und Organisation immerhin die Möglichkeit gegeben, dass soziale Unterstützung als etwas Wertvolles und Entlastendes empfunden würde. 189 190 191 192 193 194
Ahnert-Sundermann (2019), 243. Vgl. Stahl/Neumann (2019), 142ff. Völz/Stahl (2019), 159–170, bes. 165. Vgl. Stahl/Neumann (2019), 149ff. Wegner (2015), 75. Scherm/Süß (2016), 119.
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Im Landpfarramt sind die Weiterbildungsbedarfe anders. Hier wirken ‚soziale Unterstützung‘ und ‚Entscheidungsspielraum‘ als die Ressourcen, die sie sein sollten. 195 Allerdings zeigt sich der Faktor ‚Fähigkeiteneinsatz‘ hier stärker wirksam, so dass zur Entlastung vor allem dient, wenn Pfarrerinnen und Pfarrer an Weiterbildungen teilnehmen können, um ihre Fähigkeiten zu erweitern, und Hilfestellung bekommen, vor Ort so zu agieren, dass sie ihre Fähigkeiten und Stärken einsetzen können. Deswegen sind im ländlichen Pfarramt kybernetische Weiterbildungsangebote sinnvoll, die in diesem Fall zuerst einen Fokus auf Selbstleitung, Grenzensetzen und Projektdurchführung legen sollten. 196 So wird wiederum deutlich, dass gezielte Weiterbildungen nicht nur Deckungslücken schließen, sondern auch doppelte positive Effekte haben, da sie zur Arbeitsgesundheit beitragen und potentiell auch die Leistungsfähigkeit der Organisation verbessern.
5.2.8 Pfarrbildprozesse – Hilfen im Wandel des Pfarramts? Angesichts der dargestellten Umbrüche, die mit Hilfe der Perspektive des Personalwesens erarbeitet werden konnten, ist deutlich, dass sich das Pfarramt im Wandel befindet. Auf diesen Wandel stellen sich die Landeskirchen ein. Zu beobachten ist, dass dazu nahezu überall sogenannte Pfarrbildprozesse in Gang gesetzt wurden bzw. werden. Diese Pfarrbildprozesse sind im Grunde genommen Teil der Etablierung einer Personalstrategie und Teil der Kommunikation und Diskussion einer Personalstrategie einzelner Landeskirchen. An diesen Prozessen sind meist Kirchenleitungen, Synoden, Pfarrvertretungen, Experten sowie die Pfarrerinnen und Pfarrer selbst beteiligt und entsprechende Prozessdokumentationen geben ein beredtes Zeugnis über unterschiedliche Strömungen und Zukunftsperspektiven. 197 Positiv zu bewerten ist die Kommunikation über gemeinsame Herausforderungen und die damit einhergehende Verabschiedung von Maßnahmen zur Per195 Stahl/Neumann (2019), 136f. 196 Völz/Stahl (2019), 169. 197 Vgl. vor allem die Dokumentationen und Papiere zu Pfarrbildprozessen der ostdeutschen Landeskirchen: Ev.-Luth. Kirche Thüringens: „Bei Dir ist die Quelle des Lebens“ (2008), Ev. Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz: „Pfarrerinnen und Pfarrer als Beruf. Ein Leitbild für die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz mit einer Muster-Dienstvereinbarung für den Pfarrdienst“ (2003), „Evangelische Kirche im ländlichen Brandenburg auf dem Weg zum Jahr 2010. Beobachtungen und notwendige Schritte“ (2004) u. als Ergebnis eines längeren Prozesses mit verschiedenen Dokumentationen: Ev.-Luth. Kirche Sachsens: „Kirche mit Hoffnung in Sachsen. Struktur und Berufsfeld – Grundlagen zur künftigen Struktur- und Stellenplanung und zur Weiterentwicklung der Berufsfelder im Verkündigungsdienst innerhalb der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens“ (2016).
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sonalentwicklung. In diesen Prozessen findet teilweise auch eine (innerkirchliche) theologische Debatte statt, wohin sich das Pfarramt zu entwickeln habe und was als gemeinsame Kernaufgaben des Pfarramts gesehen werde. Für Pfarrerinnen und Pfarrer können diese Prozesse eine Art Rückversicherung für ihren Dienst sein und den Kirchenleitungen können in diesen Prozessen Interventionsbedarfe angezeigt werden. Schaut man jedoch aus personalstrategischer Sicht auf diese Prozesse, dann zeigt sich eine empfindliche Leerstelle. Im Personalmanagement ist die Personalplanung mit der Unternehmensplanung gekoppelt. 198 Es scheint jedoch eine grundlegende Gemeinsamkeit der Pfarrbildprozesse zu sein, dass diese Kopplung ausfällt und man die Personalplanung nur einseitig an die schrumpfenden Gemeinde- und Kirchenentwicklungsprognosen zurückbindet. So bemerkte der Vorsitzende des sächsischen Pfarrvereins in seinem Jahresbericht bezüglich des Pfarrbildprozesses in Sachsen durchaus scharfsichtig: Will man auskömmliche Stellen schaffen bzw. behalten, dann braucht es größere Struktur-einheiten. Doch kann das der Ansatz sein? Sollten wir nicht zuerst darüber nachdenken, was Kirche und Gemeinde in Zukunft sein kann und will. Und müsste dann nicht daraus ein Bild für die Anforderungen an hauptamtlich Mitarbeitende entwickelt werden? 199
Mit andern Worten: In Pfarrbildprozessen besteht die Gefahr, dass Kirchen um die Erhaltung des Pfarramts herum organisiert werden, ohne über Wesen, Auftrag und Aufgaben der Kirche heute nachzudenken. Aber erst daraus ließen sich Aufgabenfelder entwickeln, die dann wiederum Personal mit speziellen Qualifikationsbedarfen hätten. Eine Erhaltung von Personalstellen ohne Kopplung mit den Zielen oder Aufgaben der Gesamtorganisation wäre jedoch eine Überforderung der Personalplanung, da dann Ziele der kirchlichen Organisation mitentschieden würden, ohne dass diese auf ihre Tragfähigkeit und Angemessenheit hin überprüft worden wären. Der zweite Schritt würde ohne den ersten gemacht und so ergäbe sich kaum eine kontextsensible Veränderung der Kirchen als eher ein Festhalten an traditionellen (Pfarramts-)Strukturen unter geschrumpften und schrumpfenden Bedingungen. Das Ergebnis wären im schlechtesten Fall Strukturklone von Gemeindepfarrämtern auf regionaler Ebene, an die sich der Rest der Organisation anpassen müsste – im Falle des ländlichen Raumes besonders durch größere Struktureinheiten. Etwas elaborierter aber im Kern mit dem gleichen Anliegen trug Schramm seine Kritik an derzeitigen Praktiken der Personalorganisation und des Personal198 Scherm/Süß (2016), 23. 199 Vgl. http://www.pfarrervertretung-sachsen.de/resources/Download-Dokumente/SPV_ 2014_Jahrestagung_Bericht_des_Vorsitzenden.pdf, aufgesucht am 5. Nov. 2018, 14:34 Uhr, (Jahresbericht 2014, S. 4).
Wandlungsprozesse im ostdeutschen, ländlichen Pfarramt
einsatzes im Pfarrbilddiskurs der Ev. Kirche von Westfalen vor. 200 Er kritisierte dabei die Kirchenleitung bzw. Kirchensteuerung über Berufsrollen wie das Pfarramt, da diese Form der Steuerung nur in relativ stabilen Situationen funktioniere. Er plädierte für ein Integralmodell, in dem durch Strategie- und Konzeptentwicklung unterschiedliche Berufe (bzw. Berufsrollen) koordiniert werden. 201 In dieser am Sozialraum orientierten Situation wäre dann eine angemessene Dynamik der kirchlichen Strukturen und die Voraussetzung für einen fluiden Personaleinsatz gegeben, der der Heterogenität heutiger Sozialräume entspricht. 202 Es zeigt sich wiederum, dass das Überspringen der Fragen und Sachlagen der Gemeinde- und Kirchenentwicklung in eine statische Situation führt, die unter sich stark wandelnden Rahmenbedingungen potentiell dysfunktional ist. Das Problem aktueller Pfarrbildprozesse ist damit auf den Punkt gebracht: Erfolgt eine Entkopplung von Fragen der Gemeinde- und Kirchenentwicklung, dann erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, eine Berufsrolle und damit eine bestimmte Form der Organisation aufrechtzuerhalten, ohne zu fragen, wofür genau Kirche in bestimmten Räumen da ist und wie sie ihren Auftrag dort sinnvoll erfüllen kann. Das Pfarramt und mit ihm die Amtsinhaber stehen somit in Gefahr, aus strukturellen Gründen unter den vielfältigen und kaum priorisierbaren Ansprüchen zerrieben zu werden, denn das zeigen die Pfarrbildprozesse ganz bestimmt: Auf ‚Kernaufgaben‘ konnte die Pfarramstrolle nirgends sinnvoll reduziert werden. Aus dieser potentiellen Schlagseite von Pfarrbildprozessen wäre nun für die Zukunft zu lernen. In diese Richtung wies auch der in der Greifswalder Studie Stadt, Land, Frust? resümierende Beitrag von Herbst. Die Erhaltung des Pfarramtes um seiner selbst willen, sei die Lösung von gestern, die heute zu Problemen führe (Senge). 203 Nimmt man die Indikatoren des Umbruchs und die momentanen Zahlen zu den Belastungserkrankungen zusammen, erweisen sich – systemisch gesehen – Pfarrerinnen und Pfarrer als ‚Indexpatienten‘. Sie zeigen an, dass das momentane System dysfunktional geworden ist und grundlegende Lösungen braucht, die wiederum schmerzlich sind und ihren Wert erst mit Verzögerungen zeigen wer-
200 Vgl. die Dokumenation zum Pfarrbildprozess: Wissenschaftliches Symposium im Rahmen des synodalen Arbeitsprozesses der Ev. Kirche von Westfalen „Das Pfarramt in der Dienstgemeinschaft unserer Kirche“, hrsg. vom Landeskirchenrat Dieter Beese, 22. Sept. 2016. 201 Vgl. auch Becker, der zu einer ähnlichen Forderung kam: Becker (2007b), 297ff. 202 Vgl. die These von Schramm: „These: nötig ist es, von der Steuerung über Berufsrollen zur Steuerung über Strategie- und Konzeptentwicklung voranzuschreiten. Eine gute Zusammenarbeit der Berufsgruppen wird weniger durch stark abgrenzende Berufsrollenbeschreibungen geleistet als durch die Fähigkeit, konzeptgesteuerte Zusammenarbeit zu organisieren. Es geht mithin also evtl. weniger um Berufsrollen als um Leitung / Selbstgestaltung und einen Identitätssprung der Mitarbeitenden.“ 203 Herbst (2019c), 173.
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Teil I: Pfarramt im Kontext der ostdeutschen, ländlichen Räume
den. 204 Wenn diese Analyse zutrifft – und dafür spricht sehr viel, dann befindet sich das Pfarramt gerade in einer Wandlungsphase, in der das Festhalten am bisherigen volkskirchlichen Modell schmerzhaft und teuer geworden ist, tragfähige Lösungen für die Zukunft aber noch ausstehen. Es ist die Phase, in der die Kirche als Organisation neu lernen muss, wie und für was sie ihr Personal am besten einsetzt. Wie das Pfarramt der Zukunft aussehen wird, ist damit derzeit noch offen und es ist lediglich ratsam, unterschiedliche Modelle zu erproben. 205 Um dabei aber das Kernanliegen des Pfarramts zu bewahren, ist eine Auseinandersetzung mit den theologischen Grundlagen für das Pfarramt notwendig. Zunächst soll aber der momentane Stand des Erarbeiteten mit dem Forschungsstand verglichen werden, um einen Überblick über den momentanen gedanklichen Standort zu bekommen.
204 Herbst (2019c), 180ff. 205 Zurzeit beginnt die Diskussion um multiprofessionelle Teams im Pfarramt. Hier entfaltet sich ein spannender Diskurs mit innovativem Potential. Die Arbeiten von Schendel dazu werden bald veröffentlicht: Gunther Schendel: Relevant im Sozialraum, profiliert im Team? Aktuelle Veränderungen und Perspektiven im Pastoren- und Diakonenberuf (erscheint 2020 im Jahrbuch Sozialer Protestantismus, Bd. 12).
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Zusammenfassung und Standortbestimmung: Pfarramt im Kontext der ländlich-peripheren Räume in Ostdeutschland
Nach den fünf deskriptiven Kapiteln, in denen der Kontext in Bezug auf die gesellschaftlichen und kirchlichen Rahmenbedingungen des Gemeindepfarramts in den ländlichen, peripheren Räumen Ostdeutschlands untersucht wurde, soll ein Zwischenfazit gezogen werden. Dieses Zwischenfazit soll die detailreichen Analysen nicht wiederholen. Im Gegenteil: Es sollen hier nur einige wesentliche Ergebnisse aufgerufen werden, die in den Zusammenhang mit dem bisherigen Forschungsstand gebracht werden, für den vor allem Alex und Menzel relevant sind. So wird deutlich, inwiefern die vorgelegte pastoraltheologische Studie zur Erweiterung und Vertiefung in Bezug auf das Pfarramt in diesem Kontext beigetragen hat. Gleichzeitig wird dadurch die weitere pastoraltheologische Diskussion des Themas vorbereitet. Alex und Menzel haben beide im Kern die gleiche Dynamik ausgemacht: Alex spricht von einer ‚bipolaren Transformationsdynamik‘ und meint damit die strukturellen Umbrüche im Pfarramt, die aufgrund von schrumpfenden Kirchgemeindegliederzahlen zu erweiterten Betreuungsräumen führt. Menzel titelt ihren Hauptbeitrag mit sinngleichen Stichworten: ‚Kleine Zahlen, weiter Raum‘. Obwohl diese Zusammenfassung der Ergebnisse einander ähneln, ist die Bewertung und Einschätzung des ostdeutschen Kontexts durchaus unterschiedlich. Beide betonen, dass die ländlichen Räume heterogen sind und die Unterschiedlichkeit sowie die Urbanisierung charakteristisch sind. Während Alex es bei dieser Feststellung belässt, kommt Menzel zu dem Ergebnis, dass es ein typisches Dorfleben auch in Ostdeutschland wohl noch gibt bzw. sozialer Zusammenhalt ein charakteristisches Merkmal des Dorflebens ist. Diese Thematik wurde eingehend im Kapitel 3. (S. 113ff) in Auseinandersetzung mit Entwürfen untersucht, die genau auf ein typisches Dorfleben setzen und dort besonderes Potential für traditionelles und kirchliches Leben ausmachen. Es wurde gezeigt, dass dies gerade für Dörfer in Ostdeutschland eine schwierige Annahme ist, da die ländlichen Räume während der DDR-Zeit hinsichtlich der Urbanisierung durch staat-
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Teil I: Pfarramt im Kontext der ostdeutschen, ländlichen Räume
liche Maßnahmen vorangetrieben wurden. Als charakteristische Merkmale des Landlebens in der Gegenwart wurden die individualisierte Mobilität, der günstigere Wohnraum sowie eine erhöhte Kirchenmitgliedschaft ausgemacht. Letzteres ist allerdings eher in den ländlichen Räumen Westdeutschlands der Fall. Insgesamt wurde gezeigt, dass aus diesen Merkmalen kein einheitlicher, ländlicher bzw. dorftypischer Lebensstil abzuleiten ist. Im Ergebnis muss festgehalten werden, dass das Bild vom ‚typischen Dorfleben‘ wohl gut in unserem kulturellen Gedächtnis verhaftet ist, sich jedoch bei genauerer Untersuchung auflöst. Weiterhin bewerten beide die mit den kleinen Zahlen und weiten Räumen einhergehende Entwicklungsdynamik unterschiedlich. Alex zeigt, dass es keine stabile Gesamtsituation gibt und verweist besonders auf den drastischen Rückgang der Kirchgemeindeglieder in ländlich-peripheren Räumen. Er legt außerdem nahe, dass in dieser Situation Trauerprozesse bzw. eine ars bene moriendi angemessen sind. Menzel hingegen kann mit ihrer Forschung widersprüchliche Entwicklungen aufdecken. Einerseits stellt sie heraus, wie die momentane Struktur an ihre Grenze gekommen ist, und andererseits kann sie darauf verweisen, dass Kirche auch in den ländlichen Räumen Ostdeutschlands noch breit vertreten ist. Sie setzt diese Erkenntnisse gegen gängige Defizitbilder. Hier zeigt sich die besondere Stärke der Forschung Menzels, die höchst unterschiedliche Landpfarrerinnen und -pfarrer interviewt hat. Dieser Beitrag, der das Bild des Landpfarramtes deutlich differenzierter darstellt als die tatsächlich oft knappen und negativen Bemerkungen in der Forschung, kann im Lichte dessen, was Peripherisierung bedeutet, nicht hoch genug eingeschätzt werden. Schließlich gehört zur Peripherisierung auch der Aspekt der Kommunikation über vermeintlich schwache Gebiete. Wenn hier gängige Annahmen falsifiziert werden können, dient das der Sache sehr. Trotz des ausdifferenzierten Bildes vom Landpfarramt, muss die Dominanz der Schrumpfungsdynamiken festgehalten werden. Das Ergebnis von Menzel hinsichtlich der widersprüchlichen Entwicklungsdynamiken in ländlichen Räumen Ostdeutschlands konnte bestätigt und in verschiedener Hinsicht vertieft werden. 1 Menzel kommt aufgrund ihrer Interviews zu dem Ergebnis, dass manche Pfarrerinnen und Pfarrer durchaus ressourcenorientiert agieren können, so dass bei entsprechendem Gestaltungsspielraum durchaus positive Entwicklungen denkbar wären. 2 Das es durchaus positive Entwicklungen gibt, konnte bestätigt werden. Hier sei an die steigende Gottesdienstbesucherzahl im Kirchenbezirk Marienberg erinnert oder auch die interessanten demographischen Veränderungen in Gemeinden, die im Zusammenhang mit günstiger Verkehrslage oder evangelischen Schulen stehen, sowie die Auswirkung von (Modell-)Projekten. Insofern Menzel auf der Wahrnehmungsebene der Pfarre1 Vgl. dazu Kap. 4., S. 141. 2 Menzel (2019), 484.
Zusammenfassung und Standortbestimmung
rinnen und Pfarrer operiert, verwundert es nicht, dass das Bild auch durchaus positiv ist: Pfarrerinnen und Pfarrer erleben auch gelingende Projekte oder sehen die Wirkungen ihrer Arbeit. Hinzuzufügen ist gleichzeitig, dass die Kontakte und Beziehungen, die Pfarrerinnen und Pfarrer überschauen können in der Zahl wesentlich kleiner sind als die Allokationszahlen der Kirchenmitglieder für eine Pfarrstelle. Diese Zahlen schrumpfen weiter, ohne dass die Pfarrerinnen und Pfarrer einen großen Einfluss darauf haben, wie mit Verweis auf die Austrittsstudien festgehalten werden konnte. An dieser Stelle kommen die Analysen von Alex zu ihrem Recht, der vor allem die Makroebene analysiert hat. Auf der Makroebene wird Schrumpfung mittelfristig die Leitentwicklungsdynamik in den ländlich-peripheren, ostdeutschen Gebieten bleiben. Dies wurde in dieser Studie mit Analysen zu Demographie und Regionalentwicklung weiter und vertiefend untersucht. Die großflächige Schrumpfung bzw. Schrumpfung auf der Makroebene (Kirchenmitglieder, Kirchgemeindefusionen, Personal) ist somit Konsens in der Forschung, wobei die Auswirkungen auf das Pfarramt hier mit Hilfe des Diskurses zum Personalwesen erstmals dargestellt wurden. An dieser Stelle bleibt der Forschungsbedarf weiterhin hoch. Dass die Entwicklungen spannungsreich sind, ist auch noch in anderer Hinsicht herauszustreichen. Es konnte gezeigt werden, dass kirchliche Regionalisierung ein durchaus widersprüchliches Unterfangen ist und darin höchst unterschiedliche Motivationen und Konzepte zusammengeführt sind. Dies führt letztendlich zu der charakteristischen Spannung von gleichzeitigem Rückbau und Aufbau in den schrumpfenden Gebieten. Hier konnte diese Studie ausführen, wie dringend geboten ein solcher Umbau ist, da momentan ablaufende Dynamiken das Potential in sich tragen stark dysfunktionale und peripherisierte Gebilde hervorzubringen. Rückbau in den schrumpfenden Gebieten stellt die Kirche und somit auch die Struktur des Pfarramts vor die Herausforderung der Innovation. Es konnte auch gezeigt werden, dass in dieser Hinsicht qualitatives und quantitatives Wachstum nicht per se als überforderndes Ziel von der Hand gewiesen werden kann. Gerade weil die Kirche schrumpft, ist ein Prozess notwendig, der zu Entwicklungsmaßnahmen führt. Ein einfaches Gegensteuern durch Wachstumsanreize ist nicht nachhaltig. Das bedeutet, dass unter Schrumpfungsbedingungen qualitativ und quantitativ Neues entwickelt werden muss. Dieses Neue wird dann auch wachsen und sich entwickeln müssen. Wichtig sind an dieser Stelle vor allem die Indikatoren für Wachstum und Schrumpfung: Ein globales Wachstum der Kirchenmitgliedschaft erscheint in der Tat nicht realistisch. Qualitatives und quantitatives Wachstum in Projekten oder Gottesdiensten ist vorhanden. So legt sich ein Fokus nahe, der auch Indikatoren auf Ebenen unterhalb der Kirchenmitgliedschaft berücksichtigt, wie etwa Partizipationszahlen oder Rückmeldungen bei unterschiedlichen kirchlichen Arbeitspunkten. Hier ist es ratsam nach weiteren Kriterien und Indikatoren (qualitativ und quantitativ) zu suchen, um die
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Teil I: Pfarramt im Kontext der ostdeutschen, ländlichen Räume
Arbeit vor Ort sowie verschiedene Projekte reflektieren zu können. Es bleibt allerdings die Frage, ob dafür genug Ressourcen zur Verfügung stehen. Es konnte mit Hilfe der Greifswalder Studie zur Arbeitsbelastung belegt werden, dass Überforderung gerade durch eine zu hohe Dichte an Arbeitsaufgaben zustande kommt. Hier wäre mit Menzel gesprochen zunächst ‚Gestaltungsspielraum‘ zu gewinnen, damit aus der Möglichkeit für günstige Entwicklungen nicht eine ungnädige und damit unerfüllbare Forderung wird. Die Situation bleibt ambivalent, insofern struktureller Rückbau als permanente Aufgabe bestehen bleibt. Schon Alex hat gezeigt, dass Schrumpfung vor allem mit demographischen Veränderungen zu tun hat und die Kirche vor allem durch die Überalterung der Mitglieder in der nächsten Zeit sehr herausgefordert ist. Dieser Befund ist unbestritten. In dieser Studie konnte mit Hilfe des Fachwissens aus der Regionalentwicklung allerdings noch gezeigt werden, welche weiteren Faktoren mit den demographischen Veränderungen verbunden sind und es wurde darauf hingewiesen, dass die einfache Betrachtung mit Hilfe von demographischen Daten zur Einschätzung einer regionalen Entwicklung deutlich unterkomplex ist. Als weiterer gewichtiger Faktor für Schrumpfung sind Prozesse der Säkularisierung zu benennen. Alex benannte dies als Faktor, legte aber dazu keine umfassenden Analysen vor. Menzel hingegen zeichnet die Entfremdung der Ostdeutschen von den Kirchen nach und schließt sich auch den Religionssoziologen an, die in Ostdeutschland eine dominante Kultur der Konfessionslosgikeit ausmachen können. Gleichzeitig kann sie „Signale neuer Offenheit für religiöse Themen“ 3 unter denjenigen ausmachen, „die ohne jede religiöse Sozialisation aufgewachsen sind“ 4. Im Kapitel zur religionssoziologischen Analyse Ostdeutschlands wurde ähnlichen Hinweisen nachgegangen, die vor allem aus der Perspektive der Individualisierungstheorie eingebracht werden. 5 Die Befunde dazu wurden kritisch bewertet – unter anderem vor allem deshalb, weil auch unter den Vertretern der Individualisierungsthese Konsens ist, dass die individuelle Religiosität den Kirchen nicht zugute kommt. Eine Dämpfung der Schrumpfungsdynamiken ist von diesen Entwicklungen also nicht zu erwarten. Außerdem wurden die religionssoziologischen Studien zum Thema Jugend und Religion analysiert, um damit künftige Entwicklungen abschätzen zu können. Auch hier konnten Anstiege bei den Markern für bspw. den allgemeinen Gottesglauben verzeichnet werden. Gleichzeitig ist zu beachten, dass die Jugendphase eine Phase des Testens verschiedener Lebenseinstellungen ist. Im Vergleich der Kohorten konnten Religionssoziologen zeigen, dass aus einer erhöhten religionsproduktiven Jugendphase keine langfris3 Menzel (2019), 109. 4 Menzel (2019), 109. 5 Vgl. Kap. 2., S. 83.
Zusammenfassung und Standortbestimmung
tig erhöhte Religiosität hervorgeht. So verweisen auch diese Anzeichen einer Zunahme von Religiosität nicht auf eine kommende Entlastung des strukturellen Drucks, der auf dem Pfarramt lastet. Weiterhin wurde die Thematik der ‚Indifferenz‘ untersucht und schon die Benennung des Phänomens religiöser Gleichgültigkeit im vornehmlich konfessionslosen Feld gab Auskunft über die Komplexität der Thematik. Im Vergleich zu den Verhältnissen der DDR und den religionsfeindlichen Positionen mag Gleichgültigkeit gegenüber Religion intuitiv als Fortschritt oder Besserung gewertet werden. Jedoch mahnen die Religionssoziologen an, dieser Intuition nicht nachzugeben. Indifferenz zeigt eher an, wie unwichtig das Thema Religion geworden ist und dass es sehr viel schwieriger ist, die Relevanz von Glauben ins Gespräch zu bringen. Es wurde schon einleitend darauf hingewiesen, dass Menzels Deutung der kirchlichen Verhältnisse Ostdeutschlands als Volkskirche ein besonderes Merkmal ihrer Position ist. 6 Eines ihrer tragenden Argumente ist, dass die Mehrheit der Kirchenmitglieder sich analog zu den westdeutschen Kirchenmitgliedern ‚selektiv distanziert‘ verhält und dies auf den Erhalt einer Volkskirchlichkeit hindeutet. Menzel arbeitet ebenfalls die Besonderheiten der ostdeutschen Kirchenmitgliedschaft heraus, die gleichzeitig durch sowohl höhere Beteiligung und höhere Bindung im Kern sowie größere Distanziertheit am Rand gekennzeichnet ist. In ihrer Argumentation gibt sie allerdings der Analogie zu den volkskirchlichen Bindungsmustern in Westdeutschland den Vorzug. Nun wurde der Erhalt eines volkskirchlichen Mitgliedschaftsstils in den ostdeutschen Landeskirchen niemals in Frage gestellt. Im Gegenteil: Es wurde zur Kenntnis genommen, dass die These des ‚Gesundschrumpfens‘ sich nicht bewahrheitet hat. Wenn die Kirchen schrumpfen, verlieren sie bedauerlicherweise an Reichweite und Möglichkeit zur Kommunikation des Evangeliums und müssen Wege suchen, unter den gegebenen Umständen Handlungsspielräume zu nutzen. 7 Gleichzeitig wurde jedoch den kirchlichen Verhältnissen in Ostdeutschland ein besonderer Status eingeräumt. Grabner sprach von einem ‚riesigen kulturellen Graben‘, der in dieser Beziehung Ost- und Westdeutschland trennt. So stand auch hier in den Ergebnissen fest, dass gegenüber dem Befund des volkskirchenähnlichen Verhaltens der Kirchen6 Vgl. Kap. 1.5.3, S. 78. 7 In diesem Sinne versteht sich eine Beschreibung der Kirche in Ostdeutschland als ‚nicht-volkskirchlich‘ auch nicht als ‚bessere‘ Kirche, sondern eben als ein Versuch aus der gegebenen Situation neue Handlungsspielräume zu gewinnen. So ist auch Grabner zu verstehen: „Die ‚Chance der kleinen Schar‘ könnte darin bestehen, die Bewegungen, die bei den Kirchenmitgliedern offensichtlich da sind, aufzunehmen und zu verstärken. Nicht weil die ‚Minderheitskirche‘ besser ist als die ‚Mehrheitskirche‘. Sondern weil es auch unter dem gemeinsamen Dach der EKD aufgrund verschiedener gesellschaftlicher Rahmenbedingungen durchaus unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten von Kirche geben kann. Die Beurteilung, inwieweit die eine oder andere davon besser oder zukunftsfähiger sei, kann man getrost kommenden Generationen überlassen“ (Grabner (2009), 321f).
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Teil I: Pfarramt im Kontext der ostdeutschen, ländlichen Räume
mitglieder eher die Polarisierung – in der Terminologie der fünften Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung – in Hochverbundene und Indifferente zur Kenntnis zu nehmen ist. Grabner hielt schon auf der Basis einer eingehenden Analyse der vierten Kirchenmitgliedschaftsstudie fest: Der Befund der Befragungen weist auf die ‚Sonderstellung‘ der Kirchenmitgliedschaft in Ostdeutschland hin. Hier sind die Evangelischen dabei, sich vom Verständnis einer Volkskirche zu verabschieden. Der Weg, auf dem die ostdeutschen Gemeindeglieder sind, führt – innerhalb volkskirchlicher Organisationsformen – in Richtung Beteiligungskirche oder Freiwilligkeitskirche. 8
Diese von Grabner analysierte Tendenz ging auch mit anderen Erwartungen an das Pfarramt einher: Im Osten wird mehr Motivations- und Qualifikationskompetenz für Ehrenamtliche von den Pfarrerinnen und Pfarrer erwartet. Aus deskriptiver Sicht dürfte es nicht sinnvoll sein, gegen diese Erwartungen anzuarbeiten. Ob die Pfarrerinnen und Pfarrer jedoch hinsichtlich dieser erwarteten Kompetenz zu stärken und fördern sind, muss auf programmatischer Ebene entschieden werden. Bei Menzel ist der Begriff ‚Volkskirche‘ sowohl deskriptiv als auch programmatisch zu verstehen. Die programmatische Seite ist interessant und hat Stärken. Allerdings muss hier überlegt werden, inwiefern der Begriff ‚Volkskirche‘ in deskriptiver Hinsicht im Sinne einer angemessenen Kontextbeschreibung verwendet werden kann. Mit Ziemer ist in dieser Hinsicht festzuhalten: Gewiss, was eine Volkskirche ist, darüber entscheiden nicht die Quantitäten ihrer Mitgliederzahlen, aber für ihre soziale Gestalt in der Gesellschaft ist das schon von Bedeutung. Darüber ist viel und heftig gestritten worden. 9
In diesem Sinne ist es angemessen, zunächst über die deskriptive Seite des Begriffes ‚Volkskirche‘ nachzudenken, insofern die ‚Quantitäten‘ für die Sozialgestalt der Kirche durchaus von Bedeutung sind. In dieser Hinsicht zeigte sich, dass der Begriff einer Volkskirche unangemessen ist. Das liegt nicht vordringlich an den nicht gegebenen Mehrheitsverhältnissen im Osten, sondern viel mehr an dem stabilen Traditionsabbruch. Glaube und religiöse Praxis werden nicht selbstverständlich an die nächste Generation weitergegeben – im Gegenteil: Der Traditionsabbruch in den Familien führt zur einer ‚Spirale des Schweigens‘ bei den Themen Glaube und Religion. Dies setzt volkskirchliche Reproduktionsmechanismen außer Kraft. Kindertaufen sind nicht mehr selbstverständlich, Trauungen nehmen ab und selbst die Bestattungsziffer ist rückläufig, so dass deutlich
8 Grabner (2009), 320. 9 Ziemer (2011), 259.
Zusammenfassung und Standortbestimmung
weniger Kirchenmitglieder bestattet werden, als eigentlich versterben. 10 Gerade in Ostdeutschland scheinen, wie mit Domsgen bereits ausgeführt wurde, volkskirchliche Selbstverständlichkeiten mehr und mehr ‚aus den Fugen zu geraten‘. 11 Die Konsequenz der kontextuellen Analysen für das Pfarramt ist sowohl bei Alex als auch bei Menzel ähnlich. Sie attestieren eine strukturelle Überforderung für die Handlungsträger. Beide verweisen dabei auf den herausfordernden Kontext und die Schrumpfungsdynamiken mit den Folgen der notwendingen Umstrukturierungen. Alex zeigt außerdem, inwiefern der Pfarrberuf als Profession unter Entfunktionalisierung und Entdifferenzierung leidet. Menzel hält mit Ratzmann fest, dass außerdem der „offiziell nicht gelöste[. . . ] Konflikt zwischen den Ansprüchen auf eine weiter funktionierende Volkskirche mit ihrem reichen Veranstaltungsangebot, mit ihren vielfältigen öffentlichen Möglichkeiten in Kultur und Bildung, mit ihrer diakonischen Verpflichtung [. . . ] einerseits – und den zusätzlichen Verpflichtungen für eine missionarisch intensive Gemeindearbeit andererseits“ 12 die Herausforderungen zunehmend verschärft. Hier ist an das Diktum von Roosen zu erinnern, der genau das gleiche Spannungsfeld eröffnet hat und konstatierte, dass sich die Landeskirchen schon entschieden haben – und zwar für den Erhalt der Volkskirchlichkeit. 13 Dies lässt Zweifel an Menzels Argument aufkommen. Der ungelöste Konflikt zwischen zwei Paradigmen ist sicherlich nicht ein großer Faktor, wenn es um die strukturellen Umbrüche im Pfarramt sowie die Überlastung der Handlungsträger geht. Angesichts der Größe und Menge der von Menzel aufgemachten volkskirchlichen Aufgabenfelder wird außerdem deutlich, dass die missionarische Gemeindeentwick10 Einer kleineren bis dato unveröffentlichten Studie für die Pfarrkonvente des Pommerschen Evangelischen Kirchenkreises von Kolja Koeniger (IEEG) zufolge ging die Bestattungsziffer als Indikator für die eigentlich stabilste Kasualie zurück und ist somit ein deutlicher Indikator für den Verlust einer volkskirchlichen Selbstverständlichkeit. Koeniger führt aus: „Der Wunsch einer kirchlichen Bestattung ist derjenige Mitgliedschaftsgrund mit dem insgesamt höchsten Zustimmungswert (57,4 %). In der Praxis macht sich indes bemerkbar, dass die sogenannte ‚Bestattungsziffer‘ hinter diesem Anspruch zunehmend zurückfällt: 2003 lag sie EKD-weit bei 86,9 %, 2012 bei 80,7 %. In einigen Regionen ist der Rückgang noch deutlicher: Die letzte Erhebung für die Evangelische Kirche in Pommern 2010 ergab, dass nurmehr 52,9 % ihrer Mitglieder auch evangelisch bestattet wurden (2003: 89,7 %!). Ähnlich niedrige Bestattungsziffern lassen sich für Großstädte ausweisen: In Berlin lag sie 2012 bei 53 % (2003: 63,2 %), in Hamburg bei 51,6 % (2003: 62,8 %). Dieser deutliche Rückgang wird – bis auf Ausnahmen – bisher nicht praktisch-theologisch reflektiert. Er legt jedoch nahe, dass das ‚volkskirchlich-selektive Teilnahmeverhalten‘ rückläufig ist und in seiner Bedeutung für die Bestandserhaltung der Kirche nicht überschätzt werden darf. Auch in diesem Feld religiöser Praxis schwindet die Relevanz der Kirche. Michael Domsgen vermutet: ‚Vielleicht darf man diese Zahlen auch dahingehend interpretieren, dass die eigenen Mitglieder nur noch teilweise hinter der Kirche mit ihrem derzeitigen Profil stehen.‘“ (zitiert: Domsgen, (2014)). 11 Vgl. Kap. 20, S. 161. 12 Menzel (2019), 70, zitiert in Auszügen Ratzmann (2000), 64. 13 So sinngemäß Roosen, vgl. Kap. 1.2.2, S. 24.
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Teil I: Pfarramt im Kontext der ostdeutschen, ländlichen Räume
lung allein nicht der Tropfen ist, der das Fass zum Überlaufen bringt. Es ist vielmehr festzuhalten, dass der ‚Erhalt der Größenordnung‘ (Roosen) und die damit einhergehenden ‚volkskirchlichen‘ Aufgaben unter menschlichen Gesichtspunkten weder absehbar möglich noch erwartbar zu leisten sind. Die diesem Thema inhärenten theologischen Auseinandersetzungen – mit Ratzmann gesprochen – zwischen volkskirchlichem und missionarischem Paradigma gilt es nicht zu dispensieren. Vorerst ist aber in Bezug auf die Veränderungen des Pfarramtes in den ländlichen Räumen Ostdeutschlands festzuhalten, dass viel eher das von Belang ist, was Neubert-Stegemann prognostizierte. Er verwies darauf, dass allein die demographischen Verschiebungen und der damit einhergehende Druck zur Veränderung der Strukturen das Pfarramt stark verändern und die programmatische Ausrichtung an diesem Punkt aufgrund des Veränderungsdrucks hinten anstehen werden. 14 Um die Auswirkungen des demographischen Wandels und die Herausforderungen für das Pfarramt in den ostdeutschen Gebieten zu untersuchen, wurde deswegen in dieser Studie das Personalwesen aufgerufen und in diesen Diskurs eingeführt. Es konnte gezeigt werden, dass die mangelhafte Vernetzung von Personal-, Gemeinde- und Kirchenentwicklung ein wesentliches Problem ist. Herbst sprach in diesem Zusammenhang systemisch vom Pfarramt als ‚Indexpatient‘, an dem man anhand der vielfältigen strukturellen Überforderungen und vorhandenen Überlastungen erkennen kann, dass in Sachen Personalpolitik und Gemeinde- und Kirchenentwicklung Handlungsbedarf besteht. 15 Weiterhin wurde erarbeitet, dass zwischen demographischem Wandel und Alterung einer Belegschaft nur ein mittelbarer Zusammenhang besteht. Für die Kirchen in Ostdeutschland wurde dann überprüft, welche Herausforderungen für sie als öffentlich-rechtliche Institutionen im Hinblick auf das Personal anstehen. Mit Hilfe von Daten zur Entwicklung des Gemeindepfarramts in Ostdeutschland konnte nicht nur der Rückgang an Mitarbeitern festgehalten werden, sondern auch ein zukünftiger Mangel prognostiziert werden. Die Anwerbung bzw. ‚Beschaffung‘ von neuem Personal wurde wahrgenommen und es zeigt sich, dass vor allem eine immer wieder kommunizierte Unzufriedenheit von Pfarrerinnen und Pfarrern ein Haupthindernis für die Attraktivität des Pfarrberufs ist. Es konnte auch gezeigt werden, dass teilweise neue Wege in der Personalbeschaffung gegangen werden, in dem alternative Zugänge zum Pfarramt ermöglicht wurden. Mit einiger Verzögerung werden Fragen des Diversity Managements wichtiger werden, da es Fragen zu Qualifikationsbedingungen, Qualifikation und Entlohnung geben wird. Weiterhin wurde deutlich, dass die Gemeindepfarrschaft im Osten stark gealtert ist und sich Schwierigkeiten für organisationale Innovationen er14 Vgl. Kap. 30, S. 235. 15 Vgl. Kap. 5.2.8, S. 262.
Zusammenfassung und Standortbestimmung
geben. Hinzu kommt das Problem des Verlustes von Erfahrungswissen durch die anstehenden Pensionierungswellen. Auch hier müsste die Personalplanung Konzepte erarbeiten, die solchen Verlusten von Routinen und implizitem Wissen entgegenwirken. Außerdem konnte mit Hilfe von Studien zur Arbeitsgesundheit gezeigt werden, wie es um die gesundheitliche Belastung der Pfarrerinnen und Pfarrer in ländlichen Gebieten Ostdeutschlands steht. Auch dies zeigt einen personalplanerischen Handlungsbedarf an, da eine verhältnismäßig hohe Anzahl an Pfarrerinnen und Pfarrern im Dienst ist, aber eigentlich dringend in Bezug auf physische und psychische Überlastung hin untersucht werden müsste. Als eines der wichtigsten personalentwicklerischen Instrumente für die dargestellten, unterschiedlichen Zusammenhänge wurde die Weiterbildung ausgemacht. Diese wird mit Sicherheit kostenintensiver werden – die Alternative dazu wäre nicht nur ein starker Verlust an Qualität und Leistungsfähigkeit der Organisation Kirche, sondern auch noch die Herabsetzung der Chance auf die Entwicklung eines Potentials zum innovativen Handeln. Zweck dieser Standortbestimmung war, das Bild zum Forschungsstand und die Deskription der ländlich-peripheren Räume Ostdeutschlands zu summieren. Es wurde dabei deutlich, wie groß die momentanen und kommenden Herausforderungen sind. So zeichnet sich gerade im Hinblick auf das Pfarramt ein Umbruch ab – ob das ein Niedergang oder Neuaufbruch wird, kann natürlich nicht vorherbestimmt werden. Derartige Spekulationen lenken nur ab und sind einer möglichst sachlichen und relevanten Beschreibung der Verhältnisse nicht dienlich. Mit Rückblick auf die eingangs dargelegte Methodik ist festzuhalten, dass damit der Teil ‚Kontext‘ in der pastoraltheologischen Raute be- und erarbeitet ist. In dieser Standortbestimmung wurde auch immer wieder deutlich, dass die theologische Seite von Begriffen unbedingt bearbeitet werden muss, da bisher nur auf die deskriptiven Implikate geblickt worden ist – wie bspw. beim Begriff ‚Volkskirche‘. Außerdem wurden bisher noch keine Empfehlungen zu Handlungsfeldern oder Handlungsträgern gegeben. Dies kann erst geschehen, wenn auch die theologische Seite überdacht worden ist. Diesem Unterfangen ist der nächste Teil dieser Studie gewidmet.
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Teil II Theologische Grundlagen für eine Pastoraltheologie im Kontext landlicher Raume Ostdeutschlands In Teil II wurde die momentane organisationale Gestalt des ländlich-peripheren Gemeindepfarramts in Ostdeutschland untersucht. Es entstand eine aktuelle Skizze der spezifischen Herausforderungen und Entwicklungen. Nach der im Eingangskapitel vorgestellten Methodik sind diese Herausforderungen in Bezug auf das Pfarramt nun auch theologisch zu reflektieren. Dazu ist es notwendig, die theologischen Grundlagen für das Pfarramt zu eruieren und mit den erarbeiteten Ergebnissen ins Gespräch zu bringen. Erst dann lassen sich sinnvolle Aussagen über die Felder der pastoraltheologischen Raute ‚Handlungsträger‘ und ‚Handlungsfelder‘ treffen. Andernfalls bestünde die angesprochene Gefahr der Kirchentheorie, dass das Faktische – d.h. das als Deskription erarbeitete – allzu schnell als normativ angesehen wird. Allein aus der Deskription der Verhältnisse heraus ist keine praktisch-theologisch reflektierte Handlungsempfehlung zu generieren. Deswegen wurde im Teil II darauf verzichtet, Konsequenzen zu ziehen. Allerdings wurde auch deutlich gemacht, dass die theologischen Implikate einiger Begriffe noch zu diskutieren seien. Die Frage ist nun, wie man innerhalb einer pastoraltheologischen Studie relevante theologische Felder identifiziert. Bereits ein Durchgang durch die letzten größeren pastoraltheologischen Beiträge zeigt, wie unterschiedlich die theologischen Topoi sind, die als Grundlage in die Diskussion eingebracht werden. Dies lässt sich stichwortartig zeigen: Josuttis verwies auf den Machtbereich des Heiligen, von dem aus er seine Konzeption entwarf; Wagner-Rau bezog sich mit der Rede von der ‚fragmentarischen Existenz‘ vor allem auf eine theologische Anthropologie; Karle legte die Sachthematik ‚Evangelium‘ zugrunde und diskutierte das Verhältnis von Pfarramt und Priestertum aller Gläubigen intensiv; Alex verweist ebenso auf die Lehre vom Priestertum aller Gläubigen; Menzel reflektierte
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Teil II: Theologische Grundlagen für eine Pastoraltheologie
theologisch eher im Zusammenhang mit bestimmten Bildern von Kirche. Dieser beispielhafte Überblick ließe sich beliebig fortsetzen. Eines wird jedoch daran deutlich: Einen Kanon theologischer Grundlagen, der in der Pastoraltheologie als allgemein gültiger Bezugspunkt angesteuert wird, scheint es nicht zu geben. Der Diskurs ist nicht nur äußerst plural, sondern durchaus als fragmentiert zu bezeichnen. Üblicherweise könnte man hier die Lehre vom Amt bzw. eine Ämterlehre erwarten, die auf Ordination und das Priestertum aller Gläubigen eingeht, wie es bspw. Klessmann in seinem Lehrbuch tat. Jedoch zeigt sich, dass es hier entweder einen stillschweigenden Konsens gibt, der eine dogmatische Vergewisserung überflüssig macht, oder eine theologische Reflexion vernachlässigt wird. Beides kann nur als Vermutung geäußert werden. Festzustellen ist lediglich, dass – mit Preul gesprochen – eine intensive Rekonstruktion relevanter Dogmatik selten vorgenommen wird und theologische Sachverhalte eher en passant aufgenommen werden. Es gibt nun unterschiedliche Möglichkeiten der Erarbeitung von theologischen Grundlagen für das Pfarramt, welche dann mit kontextuellen Gegebenheiten ins Gespräch gebracht werden können. Eine Möglichkeit ist, die Lehre vom Amt für die Pastoraltheologie systematisch-theologisch zu rekonstruieren. Diese Möglichkeit würde mit einer durchaus vertretbaren Setzung eines dogmatischen Lehrgehalts arbeiten. Allerdings zeigten die pastoraltheologischen Entwürfe der letzten Zeit eine gewisse Weite bei den theologischen Reflexionsfeldern. Ebenso vielfältig erscheinen die theologischen Sachverhalte, die in der Deskription der momentanen pfarramtlichen Verhältnisse angeklungen sind. Es erscheint daher sinnvoller, sich dem weiten Feld des pastoraltheologischen Diskurses auszusetzen und innerhalb dieses Diskurses nach theologischen Bezugspunkten zu suchen, die für die Reflexion des Pfarramtes im ostdeutschen Kontext herangezogen werden können. Zu hoffen ist dabei, dass dies dem durchaus fragmentierten Diskurs eher dient, als das Einbringen weiterer (gesetzter) Bezugspunkte. Außerdem ist davon auszugehen, dass der Diskurs angemessene theologische Felder für die Reflexion zumindest benennt. Zu bevorzugen sind dabei die Entwürfe, die bereits für die ländlich-peripheren Räume Ostdeutschlands ins Gespräch gebracht wurden. Ausgehend von diesen pastoraltheologischen Beiträgen können dann relevante theologische Sachverhalte identifiziert und für die weitere Diskussion dieses pastoraltheologischen Beitrags aufbereitet werden.
7.
Erarbeitung theologisch relevanter Felder in der Diskussion um das Pfarramt in ländlich-peripheren Räumen in Ostdeutschland
7.1 Ausgangspunkt: Theologische Bestimmungen von Alex und Menzel Im einleitenden Kapitel wurden die pastoraltheologischen Beiträge von Alex und Menzel mit Hilfe der pastoraltheologischen Raute vorgestellt. 1 An dieser Stelle sollen ihre theologischen Ankerpunkte noch einmal aufgerufen werden: Alex identifizierte die theologische Lehre vom Priestertum aller Gläubigen als eine Ressource, die zu einem neuen und wegweisenden Verständnis der Situation im ostdeutschen Landpfarramt führen könnte. Damit einher gingen Überlegungen zum Predigtamt als Amt der Getauften sowie die Notwendigkeit einer ordentlichen Berufung. Es konnte allerdings bereits gezeigt werden, dass diese Ausführungen keineswegs umfassend ausgearbeitet wurden. Menzel hingegen nahm eine theologische Positionierung mit Hilfe des Kirchenbildes ‚Volkskirche‘ vor. Mit der sechsten These der theologischen Erklärung von Barmen verwies sie darauf, dass die Kirche einen „konstitutiv öffentlichen Charakter“ 2 habe. Mit dem Begriff ‚Volkskirche‘ gehe weiterhin einher, dass die Kirche auf das öffentliche Wohl hin ausgerichtet sei und die Leitung als gemeinschaftliche Aufgabe einer demokratischen Grundstruktur folge. 3 Unter Rückgriff auf die Confessio Augustana (CA VIII), wird weiterhin angeführt, dass die Gemeinschaft der Heiligen sich durch Toleranz auszeichne. Nach Menzel werde dieser Sachverhalt durch die Lehre des Priestertums aller Gläubigen verstärkt:
1 Vgl. Kap. 1.5.2, S. 70ff u. Kap. 1.5.3, S. 74. 2 Menzel (2019), 92, Herv. getilgt. 3 Menzel (2019), 92.
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Teil II: Theologische Grundlagen für eine Pastoraltheologie
Wenn jedem Christen und jeder Christin geistliche Urteilsfähigkeit zugetraut wird, muss die Kirche für unterschiedliche theologische Anschauungen und divergierende Meinungen offen sein. 4
Über den Begriff ‚Volkskirche‘ generierte Menzel zudem das Anliegen, über die eigenen Belange hinaus für andere da zu sein. Sie wolle sich an den „an Kirche beteiligten Subjekten“ 5 orientieren, womit sie nicht nur Kirchenmitglieder meine. Sie hielt fest, dass in der Breite der Gesellschaft vor allem „das diakonische und gemeinschaftsstiftende Handeln von Kirche wohlwollend wahrgenommen“ 6 werde. Gemeinwesenorientierung, Diakonie und Bildung 7 werden deswegen zu Handlungsfeldern, die Menzel aufgrund der theologischen Erarbeitung des Begriffes ‚Volkskirche‘ favorisierte. 8 Die Dimension der Gemeinschaft trat bei Menzel zurück. Ihrer Meinung nach wird diese Dimension in der gesellschaftlichen Breite zwar geschätzt, allerdings positionierte sie sich gegen ein Kirchenmodell, das zu sehr auf Gemeinschaft setze: Die ‚Leitidee einer Beteiligungskirche‘, welche mit dem ‚kirchentheoretischen Bild von Kirche als Gemeinschaft‘ einhergeht, ist für sie zu „eindimensional“ 9. Dahinter steht ein Begründungsmuster, welches ‚Milieuverengung‘ und ‚Schließungstendenzen‘ in der ‚Kerngemeinde‘ als Problem identifiziert. Sie warb konsequent darum, die „Vielfalt kirchlicher Bindungen, Teilnahmestile und Milieus wahrzunehmen, sich darauf einzustellen und Schließungstendenzen entgegenzuwirken“ 10. Genau aus diesem Grund heraus kritisierte sie zudem den Begriff der Diaspora, der Rückzugstendenzen verstärke. Pointiert hielt Menzel fest: Nicht das Vereinschristentum kann der normative Maßstab sein, das Ideal ist vielmehr eine ‚offene Volkskirche‘, die die ‚Individualisierungsprozesse in der Kirche und durch die Kirche hindurch‘ aufnimmt, verstärkt und gestaltet. 11
Das Bild einer offenen Volkskirche konturierte Menzel weiter, indem sie sich von ‚Mission‘ abgrenzte. Hier kritisierte sie vor allem die augenscheinlich mit den missionarischen Konzepten einhergehende defizitäre Beschreibung der Lage, die Überforderung durch implizierte Wachstumsansprüche sowie die Wahrnehmung von Christen im Modus eines ‚Defizienzmodells‘. 12
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Menzel (2019), 92, zitiert: Haese/Pohl-Patalong (2010), 10. Menzel (2019), 92, zitiert: Fechtner (2010), 19, Herv. getilgt. Menzel (2019), 104. Menzel (2019), 107. Vgl. auch Menzel (2019), 175. Menzel (2019), 488. Menzel (2019), 110. Menzel (2019), 92, zitiert: Fechtner (2010), 18ff. Vgl. Menzel (2019), 106, zitiert: Tiefensee (2011), 95.
Erarbeitung theologisch relevanter Felder in der Diskussion um das Pfarramt
Betrachtet man diese theologische Diskussion in den Beiträgen von Alex und Menzel, dann ist zunächst Folgendes festzuhalten: Die Arbeiten von Alex stellen sehr wenige Studien zum Thema dar, während Menzel eine umfassende Monographie vorgelegte. Alex vertrat mit dem theologischen Fokus auf das Priestertum aller Gläubigen eher einen Ansatz, der Gemeinschaft favorisiert. Menzel positionierte sich mit ihrem Konzept von Volkskirche dezidiert anders. Die aufgerufenen theologischen Themen und Bezüge könnten arbiträr wirken, jedoch zeigt sich ein sinnvoller Zusammenhang, wenn man die kirchentheoretische Diskussion hinter den beiden pastoraltheologischen Beiträgen mit ins Bild nimmt. Es lässt sich zeigen, dass hier für das Pfarramt in ländlich-peripheren Regionen Ostdeutschlands zwei kirchentheoretische Entwürfe debattiert werden, die Stärken und Schwächen haben.Um zur Erhellung der Situation beizutragen, ist es darum angebracht, diese Entwürfe als Hintergrund offenzulegen und ihre Argumente zu prüfen. Durch den Vergleich und auf Grundlage der theologischen Arbeit an diesen Entwürfen kann ein Fortschritt im Diskurs um das Pfarramt in ländlich-peripheren Regionen Ostdeutschlands erreicht werden. Dadurch wird es möglich, relevante theologischen Felder zu identifizieren und zu diskutieren, um sie in einem nächsten Schritt auf die gegebenen Verhältnisse zu beziehen. Daraus kann eine theologisch geleitete und kontextsensible Skizze zur Bestimmung von wichtigen Handlungsfeldern und dem Einsatz von Handlungsträgern entstehen.
7.2 Hintergrund: Kirchentheoretische Modelle von Herbst und Wagner-Rau In der Rekapitulation der von Alex und Menzel aufgerufenen theologischen Felder wurde behauptet, dass kirchentheoretische Modelle deren pastoraltheologischen Entscheidungen erhellen und als Hintergrundfolie die Entscheidungen in den Konzeptionen von Alex und Menzel nachvollziehbar machen können. Es ist nicht weiter schwierig, die kirchentheoretischen Modelle im Hintergrund von Alex und Menzel zu benennen. Alex folgte in seinen Grundentscheidungen Herbst; Menzel hingegen Wagner-Rau. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass die Positionen jeweils identisch sind – im Gegenteil: Alex und Menzel brachten beide kirchentheoretischen Modelle forschend voran, trotzdem zeigten sich Grundlinien, die auf den Arbeiten der beiden Lehrstuhlinhaber beruhen. Insofern bei Menzel theologische Sachverhalte am Kirchenbild festgemacht wurden, ist es sinnvoll, sich diese kirchentheoretischen Modelle anzuschauen und die Diskussion um theologische Grundentscheidungen auf diese Weise zu vertiefen. Durch die Offenlegung der Hintergründe und Grundlagen besteht zudem die Chance, diese besser diskutieren zu können.
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7.2.1 Kirchentheoretisches Modell von Wagner-Rau Im Hinblick auf die Kirchentheorie ordnet sich Wagner-Rau selbst dem liberalen Paradigma zu. 13 Theologisches Grundelement des liberalen Paradigmas ist die ‚subjektive Beziehung zu Gott‘. 14 Diese „nimmt für jeden individuelle Gestalt an und ist darum offen für Pluralismus.“ 15 Das meint nach Rendtorff: Für das Zusammenleben schließt dieses christliche Selbstverständnis den Imperativ ein, für das so oder anders gestaltete Christsein in der Kirche offen zu sein. 16
So zeigt sich eine theologisch qualifizierte und zu schützende Freiheit: Weil die Christen unmittelbar mit Gott verbunden sind, müssen die Ausdrucksformen ihres Glaubens respektiert werden, weil dies wiederum die eigene Ausdrucksweise des christlichen Glaubens legitimiert. Hinter dieser Unmittelbarkeit Gott gegenüber lässt sich die protestantische Lehre vom Priestertum aller Gläubigen erkennen, die von Wagner-Rau in genau diesem Sinne angeführt wurde, um eine pastoraltheologisch relevante Aussage zu treffen: Der Pfarrberuf ist kein Job, sondern er ist eng an die Person und ihre Haltung gebunden. Zwar ist diese Dimension in den evangelischen Kirchen insofern gemildert, als der Pfarrberuf im Kontext des Priestertums aller Getauften keine Sonderrolle hat. Im Glauben haben der Pfarrer und die Pfarrerin den anderen nichts voraus, sondern sie sind im Gegenteil angewiesen auf die Resonanz, die Korrektur und die geistliche Begleitung durch die Gemeinde. Aber dennoch zwingt der Beruf ständig dazu, sich mit dem eigenen Christsein und dem damit verbundenen Auftrag auseinanderzusetzen. Das theologische Nachdenken hört nicht auf. Ebenso wenig schweigen der Zweifel und die Fragen. 17
Damit brachte Wagner-Rau zum Ausdruck, dass Pfarrerinnen und Pfarrer keinen Sonderstatus in Sachen Glauben innehaben. Der Grund dafür findet sich im allgemeinen Priestertum, weil hier alle gleichgestellt sind und sich gegenseitig in ihrer Verschiedenheit legitimieren. Alle sind aufeinander angewiesen. Außerdem klingt in dem Zitat mit der Wendung ‚Zweifel und Fragen‘ eine weitere theologische Grundlegung von Wagner-Rau an, die ihren Entwurf besonders charakterisiert: die Spannung im christlichen Selbstverständnis in „Gebrochenheit und Begrenztheit der Welt zu Hause zu sein und eben darin über sie hinaus denken und glauben zu können.“ 18 Im Kern geht es dabei um eine Glaubensfrage: „Ist es genug, was wir sind und tun, auch wenn es Grenzen hat?“ 19 Wagner-Rau 13 14 15 16 17 18 19
Vgl. dazu die Selbstverortung: Wagner-Rau (2012), 78. Rendtorff (1995), 32. Rendtorff (1995), 32. Rendtorff (1995), 32. Wagner-Rau (2015), 73, Herv. BS. Wagner-Rau (2012), 74. Wagner-Rau (2012), 76.
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warb mit seelsorgerlicher Einfühlsamkeit für die Bejahung der Frage und verwies dabei an zentralen Stellen auf die Einsichten Henning Luthers zur Fragmentarität des christlichen und menschlichen Lebens. 20 Sie betonte dadurch vor allem dem Aspekt des bleibend Unvollkommenen und des Begrenzten. 21 Dieses seelsorgerliche Charakteristikum ist neben anderen theologischen Bezügen der für Wagner-Rau wichtigste Bezugspunkt in ihren kirchentheoretischen Überlegungen. Ihr pastoraltheologischer Beitrag arbeitete in der Nähe der Kirchentheorie und so nimmt sie auch für sich in Anspruch, dass „theologische Kriterien Wahrnehmung und Deutung der Wirklichkeit leiten [müssen]“ 22. So verwies sie darauf, dass diese theologische Grundlegung ‚Schwierigkeiten mit der Realität‘ mit sich bringe. Es sei für die Kirche einerseits nicht angemessen, sich in vorhandenen Grenzen klaglos zurechtzufinden. Andererseits wäre es genauso fatal, Grenzen nicht anzuerkennen, nicht mit Grenzen leben zu können, weil der Anspruch an sich selbst größer ist, als es die Verhaftung an die Verhältnisse der Welt und des Menschen hergibt. 23
So lässt sich festhalten, dass Wagner-Rau in kirchentheoretischer Manier einer empirischen Wahrnehmung und seelsorgerlich sensiblen Deutung der kirchlichen Verhältnisse verschrieben ist. Neben der seelsorgerlichen Betonung der Begrenztheit und Kontingenz des subjektiven Glaubens, zieht die theologische Grundlegung des liberalen Paradigmas eine ekklesiologische Konsequenz nach sich: Eine Kirche auf der Basis des reformatorischen Glaubens ist notwendig plural und legitimiert deswegen viele Ausdrucksformen des Glaubens. Das ist die Stärke und das Kernanliegen des liberalen Paradigmas. Wegner, Vertreter und Kritiker des liberalen Paradigmas zugleich, skizzierte wichtige Eckpunkte und wesentliche Zusammenhänge des liberalen Paradigmas. 24 Er formulierte, dass diese Grundlinien „wissenschaftlich und praktisch erhebliche Folgen gehabt“ 25 haben. Man kann also annehmen, dass das liberale Paradigma in Deutschland sehr weit verbreitet ist. 26 Seiner Meinung nach ist für 20 Wagner-Rau (2012), 21 u. 135. 21 Hermelink zeigte ebenfalls, dass sich Wagner-Rau mit der theologischen Grundlegung der Fragmentarität christlichen Daseins exakt im Sinne Rendtorffs positionierte: „Wenn Wagner-Rau eine subjektive ‚Glaubensgewissheit, die um ihre Fraglichkeit und Kontingenz weiß‘, in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellt, so wird damit nichts anderes beschrieben als der normative Kern evangelischen Christseins selbst“ (Hermelink (2018), 280, zitiert Wagner-Rau (2018), 220). 22 Wagner-Rau (2012), 61. 23 Wagner-Rau (2012), 73f. 24 Vgl. Wegner (2016), 21f. 25 Wegner (2016), 21. 26 Vgl. dazu auch die Einschätzung von Hauschildt/Schlegel (2016), 36.
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das liberale Paradigma eine ‚Aufmerksamkeitsverschiebung‘ besonders charakteristisch, nämlich die Aufmerksamkeitsverschiebung fort von den religiös Praktizierenden und an der Kirche Partizipierenden hin zu denen, die sich in dieser Hinsicht distanziert und im Grunde genommen konsumtiv verhalten. Ihnen müsse deswegen besondere Zuwendung zukommen, da sie in der herkömmlichen kirchlichen Praxis, weil nicht konform, stigmatisiert werden würden. Würde die Kirche aber ihre Interessen besser organisieren, könnte sie gegebenenfalls der drohenden gesellschaftlichen Marginalisierung entgehen. Die Welt ist in dieser Sichtweise voller Religion – was der Kirche aber nicht zugutekäme, da sie in ihren traditionellen Narrativen und Symboliken verharrend nicht religionsfähig sei. Die von vielen Menschen anerkannte, eigentlich einzige religiöse Einrichtung der Gesellschaft, die Kirche, würde sich so aus der Gesellschaft selbst hinausbefördern. Es ist dieses Denkmuster, das ich als liberales Paradigma bezeichnet habe. 27
Für das liberale Paradigma ist es demnach charakteristisch, besonders auf die ‚Religion‘ derjenigen fokussiert zu sein, die weniger an Kirche partizipieren. Dies geht mit einer Kritik an denen einher, die durch Partizipation und Engagement Normen setzen oder erzeugen. Wenn sich Kirche – also Kirchenleitung oder Pfarrerinnen und Pfarrer – allein auf diese ‚Engagierten‘ konzentrierte, verlöre sie den Anschluss an die religiöse Vielfalt in der Gesellschaft. Wegner bemerkte mit kritischem Unterton: Wenn die Kirche hier den Anschluss verliere und diese Menschen austreten würden, läge das an ihr – und eben ganz und gar nicht an den Interessen oder Dispositionen dieser Menschen. Sie hätten gar nicht die Chance gehabt, ihre Form der Religiosität in der Kirche zu entfalten. 28
So entfaltet die im liberalen Paradigma geforderte Pluralität ein kritisches Potential vor allem gegenüber den Mitgliedern, die gerne unter dem Label ‚Kerngemeinde‘ zusammengefasst werden. Hier mangele es an Offenheit und der Vorwurf der Milieuverengung ist der basso continuo dieser Kritik. 29 Vor dem Hintergrund dieser Eckpunkte und Zusammenhänge, die auch bei Wagner-Rau immer wieder zum Tragen kommen, lassen sich ebenso die Charakteristika der Konzeption von Wagner-Rau entfalten: Wagner-Rau behandelte das Thema Ekklesiologie nicht ausführlich, sondern berief sich an wichtigen Stellen auf dogmatische Grundlagen. Allem voran ist ihr Artikel 7 der Confessio Augustana wichtig. Er ist für sie die Grundlage einer großen Gestaltungsfreiheit in der Organisation der Kirche. Es müsse lediglich gewährleistet werden, „dass Wort und Sakrament in der Gemeinschaft der Glauben27 Wegner (2016), 21f. 28 Wegner (2016), 22. 29 Vgl. Wegner (2016), 22.
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den ausgeteilt und geteilt werden können“ 30. Das sei klassischer Weise Aufgabe des Pfarramtes. Wagner-Rau fokussierte allerdings nicht auf die Verwaltung der Sakramente als Begründung des Pfarramtes, sondern rekurrierte wiederum auf das Priestertum aller Gläubigen. So hielt sie fest, dass „alle Getauften für die Verkündigung des Evangeliums gleichermaßen ausgestattet und geeignet wie auch dazu beauftragt [sind].“ 31 Funktional 32 differenzierend fügte sie hinzu: Wo es um die öffentliche Verkündigung des Wortes geht, wo soziale und kommunikative Bedingungen eine Regelung der Verantwortung und der Rollenstruktur erfordern, hat das vom Amt aller Getauften unterschiedene Pfarramt seine spezifische Aufgabe, für die Menschen durch die Gemeinde eingesetzt werden, die durch persönliche Eignung und eine fundierte theologische Bildung dafür qualifiziert sind. [. . . ] Es ist der Aspekt der Öffentlichkeit, der das Pfarramt vom Amt der Verkündigung der Gemeinde als ganzer unterscheidet. 33
Hier wird deutlich, dass die Öffentlichkeit ein zentraler Aspekt in der Konzeption von Wagner-Rau ist. Das Handlungsfeld ‚Öffentlichkeit‘ ist bei ihr das wesentliche Aufgabenfeld von Pfarrerinnen und Pfarrern. 34 Weiterhin ist für sie die ecclesia invisibilis ein Bezugspunkt, auf welchen sie rekurrierte: Dass mit der Präsenz Christi in der Welt das Heil erschienen ist für alle Menschen und alle Völker, die daran glauben, ist eine wesentliche Glaubensaussage der Christenheit. Potentiell alle Individuen umfassend, weltumspannend und ewig wird entsprechend auch die unsichtbare Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen geglaubt. Die sichtbare Kirche aber ist mit der Aufgabe konfrontiert, sich auf die Realität einzustellen 35.
Dieser Gedankengang ist bei Wagner-Rau der Auftakt für die Beschreibung der momentanen kirchlichen Verhältnisse. 36 Die Formulierungen werfen einige Fragen auf, wie bspw.: Ist das Heil nur für diejenigen erschienen, die daran glauben oder auch für andere? Findet sich die ecclesia invisibilis ‚potentiell‘ außerhalb der sichtbaren Kirche? Wie ist hier das Wort ‚potentiell‘ zu verstehen? Wenn man dem Duktus des liberalen Paradigmas folgt, wird man eher annehmen müssen, dass hier mit einer christlichen Präsenz außerhalb der Kirche in der Welt gerechnet wird – ein in dieser Lesart durchaus großes Potential. Festgehalten werden 30 Wagner-Rau (2012), 56. 31 Wagner-Rau (2012), 120. 32 Hier sei darauf hingewiesen, dass Wagner-Rau einem funktionalen Amtsverständnis folgt, wie es in der protestantischen Pastoraltheologie der jüngsten Vergangenheit üblich ist. Sie beruft sich dabei auf Arbeiten von Härle. Vgl. Wagner-Rau (2014), 40. 33 Wagner-Rau (2012), 120. 34 Wagner-Rau (2013), 140. 35 Wagner-Rau (2013), 76f. 36 Wagner-Rau (2013), 76–87.
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kann zumindest, dass kein großer Wert auf eine Unterscheidung gelegt wird. 37 In diesem Sinne rekurrierte Wagner-Rau auf das Kernanliegen der volkskirchlichen Konzeption, die auf eine Inklusion aller möglichen Mitgliedschaftstypen aus ist: Die Freiheit der institutionellen Gestaltung der Kirche, die aus dem Rechtfertigungsglauben entspringe, erlaube eine Vielfalt und Weite in den Formen, die volkskirchliche Realität widerspiegeln. Dies gelte um so mehr, als die Grenze zwischen Glaube und Unglaube eben nur für Gottes Auge sichtbar werde, nicht aber als institutionelles Unterscheidungsmerkmal für die Entscheidung über Inklusion und Exklusion dienen könne. 38
Weitere theologische Bezüge, die das liberale Paradigma bei Wagner-Rau deutlich werden lassen, entfaltete sie in der Diskussion um den Begriff ‚Volkskirche‘. Mit Preul und Huber führte sie aus, dass Volkskirche eine Kirche für das Volk sei, in der nicht alle Mitglied sein müssen – womit nach Preul jedoch die Einstellung auf die Bedürfnisse der Kirchenmitglieder und eine flächendeckende Präsenz verbunden sind. 39 Implikationen, die mit diesem Begriff der Volkskirche einhergehen, sah sie allerdings aufgrund ihrer Situationsanalyse kritisch. Insofern nicht mehr die große Mehrheit in Ostdeutschland und in den Metropolen der evangelischen Kirche angehören und eine religiöse Ausdifferenzierung der Gesellschaft stattfindet, möchte sie in dieser Hinsicht auf den Begriff Volkskirche verzichten, da er „eben doch die Phantasie einer Inklusion aller auslöst“ 40. Solche Phantasien stehen nach Wagner-Rau einer realitätsgerechten Wahrnehmung eher abträglich gegenüber. Wichtig für sie ist im Gegensatz zu einer ‚entschiedenen Gemeindekirche‘ vor allem die ‚Offenheit und Öffentlichkeit‘, welche die ‚Inklusion einer Vielfalt von Frömmigkeitstypen und theologischen Profilen ermöglicht‘. 41 Dem Inhalt – nicht dem Namen – nach ist für Wagner-Rau das Konzept der Volkskirche nach wie vor ‚tragfähig‘, wenn es sich auf Offenheit, Öffentlichkeit und Pluralität von Frömmigkeitstypen stütze. 42 So zeigt sich das typische Muster des liberalen Paradigmas: Zum einen wird ein Gegensatz zwischen ‚Kerngemeinde‘ und anderen weniger oft partizipierenden Kirchenmitgliedern aufgemacht. Zum anderen geht damit einher, dass die Hochverbundenen eher kritisch bewertet werden und der Schwerpunkt auf der Inklusion möglichst vieler theologischer Profile liegt. Abgrenzungen werden eher nach innen als nach außen vorgenommen. Dies zeigt sich vor allem in der Betonung von Offenheit und Öffentlichkeit. Diese Grundfigur lässt sich durchgehend 37 Wagner-Rau führte an anderer Stelle diesen Gedanken aus, dass man „auf allzu klare Distinktionen zwischen Innen und Außen, Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit“ verzichten solle (Wagner-Rau (2012), 128). 38 Wagner-Rau (2013), 78. 39 Wagner-Rau (2012), 77f. 40 Wagner-Rau (2012), 78. 41 Wagner-Rau (2012), 78. 42 Wagner-Rau (2012), 78.
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bei Wagner-Rau erkennen, wobei es immer wieder charakteristische Differenzierungen gibt. An dieser Stelle ist auf die Schwerpunktsetzung bei den kirchentheoretischen Handlungslogiken zu verweisen. Wagner-Rau referierte die Handlungslogiken ‚Institution‘ und ‚Organisation‘. 43 Ihrer Meinung nach sei Kirche immer beides und es müsse vom Kontext her entschieden werden, welcher Handlungslogik der Vorrang zu geben sei: Im konkreten Handlungsfeld muss also jeweils entschieden werden, ob man eher beharrlich an eingespielten Handlungsabläufen festhalten oder sich innovativ und zielgerichtet neu orientieren muss. 44
Diese Aufgabe sah Wagner-Rau vor allem für die Pfarrerinnen und Pfarrer vor: Was vor Ort zu tun sei, liege in der Entscheidungsgewalt der Pfarrerinnen und Pfarrer: „Die Freiheit des Pfarramts in der Wahl seiner Arbeitsschwerpunkte fördert die Vielfalt kirchlichen Lebens“ 45. Diese Freiheit des Pfarramts sah Wagner-Rau offensichtlich am ehesten durch die Ortsgemeinde eingeschränkt – also den Elementen, die kirchentheoretisch in der Tendenz eher als ‚Bewegung und Gruppe‘ erfasst werden. Obwohl Wagner-Rau Milieustudien für sehr geeignet hält, um eine differenzierte Wahrnehmung zur Grundlage des pastoralen Handelns zu machen, markierte sie vorhandene Probleme in einer dyadischen Figur von ‚innen‘ und ‚außen‘. 46 Es ist interessant, wie sie dem liberalen Paradigma folgend die Lage bewertet: Zum einen ist der ‚innere Bereich‘ mehrheitlich negativ beschrieben: Je kirchennäher und christlich-religiös gestimmter, desto älter, lokaler, traditioneller in den Lebensformen, ängstlicher und krisenbewusster sowie gegenüber neuen Menschen und neuen Themen abgrenzender ist das Mitglied. 47
Gleichzeitig gelte: Die kleine sonntägliche Versammlung der Ortsgemeinde kann mit anderen, oft faszinierend gut gemachten Inszenierungen der öffentlichen Kultur schwer konkurrieren. Sie wirkt provinziell im Vergleich zu solchen Veranstaltungen, die viele Augen auf sich zu
43 Insofern sich Wagner-Raus Entwurf auf frühe Texte und Referate von Hauschildt stützt, erklärt das wahrscheinlich, warum in diesem Zusammenhang die Handlungslogik ‚Gruppe und Bewegung‘ nicht referiert wurde (vgl. Wagner-Rau (2012), 39). Diese Ausformung lässt sich allerdings im Lehrbuch Kirche von Hauschildt und Pohl-Patalong finden, welches nach Wagner-Raus pastoraltheologischem Beitrag veröffentlicht wurde (vgl. Hauschildt/ Pohl-Patalong (2013)). 44 Wagner-Rau (2012), 39. 45 Wagner-Rau (2012), 124. 46 Wagner-Rau (2012), 59. 47 Wagner-Rau (2012), 78, zitiert: Gundlach (2006), 200.
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ziehen vermögen. Zugleich sind die kleinen, manchmal deprimierenden Versammlungen von hoher Bedeutung für die Kirche. Sie sind der Normalfall der Darstellung des Glaubens auf dem das besondere Ereignis und die besonders überzeugende gottesdienstliche Situation aufruhen. Wenn viele Menschen in Krisensituationen die Kirchen aufsuchen, um in ihren Ängsten gehalten zu werden, dann suchen sie damit einen Ort auf, den der Normfall qualifiziert: Kontinuierlich haben Menschen ihre Grenzerfahrungen, ihre Schmerzen und ihre Nöte in die Kirchen getragen und im Gebet vor Gott gebracht. Die unbeirrbare und verlässliche Kontinuität des Gottesdienstes schafft für den besonderen Anlass die Voraussetzung, wie klein und irritiert die Gemeinde auch immer sein mag, die sich regelmäßig versammelt. 48
Der ‚innere‘ Bereich ist nach Wagner-Rau grundlegend für alles andere. So muss diese Ausführung wohl verstanden werden, da die Kasualie ohne die sich sonntäglich versammelnde Gemeinschaft an ‚Glaubwürdigkeit‘ verliert. Sie wird den ‚deprimierenden‘ Versammlungen nachgeordnet. Trotz der überwiegend negativen Beschreibung kommt hier eine gewisse Wertschätzung der Ortsgemeinde zum Ausdruck. Eine qualitative Verbesserung der ortsgemeindlichen Angebote hält Wagner-Rau für erstrebenswert. 49 Die kleine Versammlungen, ‚die in sich stimmig und erfreulich sind‘, können ihrer Meinung nach ‚mehr Ausstrahlungskraft‘ haben als Bemühungen, die eine quantitative Erhöhung der Gottesdienstbesucherzahl im Sinn haben. 50 Eine Mehrung dieser Gruppe hält sie nicht für zukunftsweisend. Denn für Wagner-Rau ist gleichzeitig ausgemacht: Man kann also annehmen, dass die innerste Gruppe der Kirchenmitglieder tendenziell eine Verstärkung von Offenheit und Pluralität nicht favorisiert, sondern überschaubare und geordnete Lebenswelten bevorzugt. Aber kann man dieser Tendenz in der Zukunftsgestaltung der Kirche nachgeben? 51
Es ist im Sinne Wagner-Raus, diese Frage zu verneinen. So zeigt sich, wie auf Basis der aufgezeigten theologischen Grundlagen von Wagner-Rau Einspruch erhoben wird: Ganz im Sinne des liberalen Paradigmas wird die Kerngemeinde in der Tendenz abgewertet und die Zukunft eher in der Anschlussfähigkeit zu denjenigen 48 Wagner-Rau (2012), 86. 49 Hier ist darauf hinzuweisen, dass Wagner-Rau quantitative Wachstumsziele ablehnt, dafür aber qualitatives Wachstum für angemessen hält. Sie findet quantitatives Wachstum zwar ‚wünschenswert‘ aber nicht ‚heilsam und weiterführend‘ (Wagner-Rau (2012), 87). Bei qualitativen Wachstumszielen blieb sie unkritisch: „Ein naheliegender Schritt ist es deshalb, auf die kleinen Zahlen von Menschen so zu reagieren, dass der Gottesdienst für alle Beteiligten nicht nur erträglicher, sondern schön und befriedigend wird“ (Wagner-Rau (2012), 87). Solche Gottesdienste hätten dann nach Wagner-Rau auch die Chance, quantitativ zu wachsen. Oberflächlich betrachtet ist der Unterschied zu Programmen der Steigerung der Gottesdienstbesucherzahl lediglich der Verzicht auf die quantitative Wachstumsdimension. 50 Wagner-Rau (2012), 86. 51 Wagner-Rau (2012), 80.
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außerhalb dieser Klientel gesucht. Darum schlug sie vor, bei der Ortsgemeinde Ressourcen abzuziehen. Unter Verweis auf die Debatte um Ortsgemeinde und Funktionsdienste bezog sie folgende Position: Obwohl die ‚bleibende Bedeutung lokaler Bezüge‘ wahrzunehmen sei, sei die Parochialgestalt gegenüber den Funktionsdiensten im Nachteil: Einerseits erweist sich die Mobilität der Gesellschaft für die parochialen Strukturen zunehmend als schwierig und andererseits dürfe man die Sehnsucht nach Heimat nicht mit dem Konzept der wohnortnahen Kirchenorganisation, sprich, der parochialen Struktur, verwechseln. Deswegen favorisierte sie mit Pohl-Patalong ein Modell der Ergänzung von Parochie und Funktionsdiensten. Das bedeutet, dass das „vereinsähnliche, wohnortnahe kirchliche Leben [. . . ] weitgehend in die Verantwortung von Ehrenamtlichen zu überführen“ 52 sei. Pfarrerinnen und Pfarrer bekommen dann logischerweise mehr Freiheit in die ‚Öffentlichkeit‘ bzw. in die Gesellschaft hineinzuwirken. Insgesamt dominierte bei Wagner-Rau die Handlungslogik ‚Institution‘, die durch Offenheit und Öffentlichkeit gekennzeichnet sei, vor allem auf Kasualien setze und eine theologische Legitimität aller Mitgliedschaftstypen hochhalte. Es dominiert damit zugleich ein ‚weiter so‘, auch wenn sie punktuell darauf hinweisen konnte, dass es „Stellen und Projekte geben [muss], die durch Menschen besetzt werden, die Lust am Verrückten haben, die unkonventionelle Ideen entwickeln und eine experimentelle Praxis in Kontexten initiieren, die sich dafür anbieten.“ 53 Dieses Denken entspricht der Handlungslogik ‚Organisation‘. Bemerkenswert ist einerseits, dass Wagner-Rau damit Laboratorien forderte, die das ‚unzureichend allein konservierende Handeln‘ der Kirche notwendig erweitern, und zugleich sehe sie hier ein aufsteigendes Konfliktpotential, welches im Grunde nur ‚wahrgenommen‘ und diskutiert werden könne. 54 So wird letztendlich die Handlungslogik ‚Organisation‘ unterlaufen, die durchaus Prioritäten und Posterioritäten kennt. Die moderierende, inklusivierende Dimension der Handlungslogik ‚Institution‘ steht deutlich im Vordergrund. Diese Bevorzugung der Handlungslogik ‚Institution‘, die vor allem mit Offenheit und Öffentlichkeit in Verbindung gebracht wird 55, geht mit einer tendenziell positiven Wahrnehmung des ‚Außen‘ bzw. des Kontexts einher. Auch hier ist Wagner-Rau differenziert. Sie reflektierte bspw. die „ökonomischen Verhältnisse in der Spätmoderne“ 56. Kapitalismuskritisch führte sie aus, wie die dem Profit untergeordneten Ziele zu mehr Flexibilisierung und damit Zeitdruck in der Gesellschaft führen. Dies habe zur Folge, dass Loyalitäten und Vertrauen verloren gehen. „Stattdessen wachsen Druck und diffuse Ängste, weil man damit rechnet, 52 53 54 55 56
Wagner-Rau (2012), 56. Wagner-Rau (2012), 70. Wagner-Rau (2012), 70. Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong (2013), 164. Wagner-Rau (2012), 15.
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jederzeit aus dem Arbeitsprozess herauszufallen und in den Zustand der Arbeitsund Nutzlosigkeit geraten zu können.“ 57 Im Hinblick auf die religiöse Situation stellte sie fest, dass es mehr Interesse an Religion gebe und gleichzeitig weniger Kirchlichkeit. 58 Sie redete damit nicht einfach der These einer ‚Wiederkehr der Religion‘ das Wort und ebenso wenig folgte sie Pollacks These der Säkularisierung. 59 Ihr leuchtete die These der Individualisierung ein, die ihrer Meinung nach dazu führe, dass über den Traditionsabbruch hinweg dennoch ein Bewusstsein – oder mindestens eine Ahnung – dafür geblieben ist, dass die christliche Religion ein hilfreiches Lebenswissen repräsentiert und individuelle und soziale Praxisformen anbietet, die es ermöglichen, konstruktiv mit Krisen und Grenzerfahrungen des Lebens umzugehen. 60
In Bezug auf die Kirche ist es für Wagner-Rau „kurzschlüssig anzunehmen, dass mit wachsendem religiösen Interesse [. . . ] sich auch die Situation der Kirchen stabilisiert.“ 61 Den Pfarrerinnen und Pfarrern lege sie deshalb Bescheidenheit nahe, da sich die eigene Bedeutung relativiere, die vorhandenen Ressourcen kleiner werden und man einer neuen Situation des Dialogs und der Konkurrenz ausgesetzt sei. 62 Sie sollen sich dann auch auf die individuell gelebte Religiosität mit Dialogbereitschaft und Sensibilität einstellen. Hier zeigt sich erneut der Gedanke der Fragmentarität – der bescheiden mache – im Hintergrund. Insgesamt müsse sich die Kirche auf Schrumpfung einstellen, da Wagner-Rau der Volkskirche vornehmlich Umbrüche und Abbrüche bescheinigte, wie an den Formulierungen im Perfektum deutlich wird: Die institutionellen Formen der Kirche haben eine Stabilität in den strukturellen Grundlagen gewährt, die Sicherheit und materiell gut gegründete Freiräume gegeben hat. Vieles war selbstverständlich, was heute in Frage steht. Die inhaltliche Pluralität der Volkskirche wurde von einer verbindenden und verbindlichen Struktur gehalten. Diese tragfähige Struktur wird brüchig und verwandelt sich. 63
Wagner-Rau beschrieb nicht den Wandel der Strukturen oder gar neue Aufbrüche, sondern stellte sich vornehmlich auf die Schrumpfung der Kirche ein. Quan57 58 59 60 61
Wagner-Rau (2012), 36. Wagner-Rau (2012), 41–50. Wagner-Rau (2012), 42f. Wagner-Rau (2012), 44. Wagner-Rau (2012), 45. Hier kann auch auf die Feststellung von Wagner-Rau verwiesen werden, die auf andere Weise zeigt, dass der Begriff der Volkskirche schwierig geworden ist: „Spätestens mit der 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, auch wenn ihre Deutung noch diskutiert wird, ist deutlich geworden, dass die religiöse Sozialisation wegbricht oder bereits weggebrochen ist“ (Wagner-Rau (2015), 74). 62 Wagner-Rau (2012), 49. 63 Wagner-Rau (2012), 62.
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titatives Wachstum lehnte sie im Duktus ihrer theologischen Grundlegung als Zielvorstellung tendenziell ab: Insgesamt erscheint es viel versprechender, das Wachstum als Zielsetzung kirchlicher Orientierung nicht über Gebühr zu strapazieren, sondern die Frage zu akzentuieren, wie die Kirche ihre Zuversicht und ihre öffentliche Ausstrahlungskraft nicht verliert, obwohl sie kleiner wird. 64
Sie plädierte allerdings dafür, unter schrumpfenden Bedingungen auf eine Vielgestaltigkeit der Arbeit zuzugehen und vor allem auf die öffentliche Ausstrahlung zu achten, was ihrer Meinung nach ‚situationsadäquat‘ sei. 65 Diese Einschätzungen gewann sie vor allem durch die Auseinandersetzung mit dem Missionsbegriff. Wagner-Rau hält Mission für ein wesentliches Merkmal der kirchlichen Existenz. 66 Sie führte in knapper Form die Grundfigur der missio dei vor, die in der Sendung des Sohnes und Weiterführung dieser Sendung den Grund von Kirche ausmache. 67 Diese theologische Argumentation sei für sie ‚überzeugend‘: Weil Gott seinen Sohn gesandt habe, ist auch das Entstehen der Kirche Teil der göttlichen Mission. Sie kann darum gar nicht anders, als selbst missionarisch zu wirken. Diese theologische Argumentation ist überzeugend: Ohne die Weiterführung des Geschehens, das mit der missio Dei begonnen hat, gäbe es keine Kirche. 68
Sie benannte zudem auch unterschiedliche Problemlagen, wie zum Beispiel die Missionsgeschichte, deren negative Seiten sie recht einseitig herausstellte. Mission stehe in Verbindung mit Kolonialismus und Imperialismus. 69 Erst seit dem Abbruch der Volkskirchlichkeit und vor allem mit der beginnenden Auseinandersetzung mit der ostdeutschen Situation kam das missionarische Denken nach Meinung von Wagner-Rau wieder auf. 70 Sie hielt fest, dass 1999 auf der EKD-Synode in Leipzig zwei Dinge herausgearbeitet wurden: Einerseits sei Mission von Indoktrination und Überwältigung zu unterscheiden und andererseits gehe es um den Anspruch der Kirche zu wachsen. Das quantitative Wachstumsdenken ist für Wagner-Rau dem Missionsparadigma inhärent und diesem Aspekt steht sie besonders kritisch gegenüber. Der
64 65 66 67 68 69
Wagner-Rau (2012), 93. Wagner-Rau (2013), 140. Wagner-Rau (2012), 90. Wagner-Rau (2012), 92. Wagner-Rau (2012), 90. Wagner-Rau (2012), 88. Dieser Zusammenhang wurde in der Missionstheologie bereits 1892 von Georg Warneck aufgearbeitet und ist wohl etwas differenzierter zu betrachten (vgl. Warneck (1892), 319; vgl. dazu auch: Sundermeier (1995), 16). 70 Wagner-Rau (2012), 88f.
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Verdacht, Mission diene primär der Bestandssicherung der Kirchen, schmälere ihrer Meinung nach die Glaubwürdigkeit der christlichen Botschaft. 71 Außerdem berge die Orientierung an Wachstum ein Frustrationspotential in sich, dass Wagner-Rau als „angestrengte, ja überangestrengte Zielsetzung“ 72 bewertete. Hinzu komme, dass die Gefahr bestehe, die Kategorie des Wachstums aus dem Kontext der kapitalistischen Unternehmenslogik zu übernehmen und so die grundlegende Zielsetzung der Kirche misszuverstehen. 73 Weiterhin legte Wagner-Rau dar, dass die protestantischen Kirchen nicht auf schnelles Wachstum hin angelegt seien und deswegen eine Wachstumsorientierung eher hinderlich wirken werde. Die Aneignung des Glaubens erfolge über langjährige Bildungsprozesse und schnell wachsende charismatische Traditionen seien in Westeuropa vergleichsweise selten. Sie resümierte diesbezüglich: Es setzt keine produktiven Kräfte frei, sich für Ziele abzumühen, die in der gesellschaftlichen Wirklichkeit keinen Anhalt haben. 74
Demnach hält Wagner-Rau Mission zwar einerseits für ein wesentliches Merkmal von Kirche, aber sie sieht davon ab, sich deswegen innerhalb des missionarischen Paradigmas zu verorten. Sie nimmt Abstand von missionarischen Konzeptionen, da diese zu eng mit einem Wachstumsdenken verquickt seien. Wichtiger und realistischer erschien ihr, zu akzeptieren, dass die Kirchen kleiner werden. 75 So liegt es in der Konsequenz des Ansatzes von Wagner-Rau, sich vor allem mit dem Schrumpfen abzufinden. Die für sie wichtige ‚öffentliche Ausstrahlungskraft‘ trennt sie vom missionarischem Denken in bestimmter Hinsicht: Wagner-Rau reservierte die Rede von Mission für das werbende Handeln der Kirche. 76 Den performativen und appellativen Charakter der missionarischen Kommunikation hielt sie zwar für bedeutsam, mochte jedoch den als Werbung verstandenen Missionsbegriff nicht „dem gesamte[n] pastorale[n] Handeln“ 77 zugrunde legen. 78 Denn „es gibt auch andere Handlungsformen, die gleichermaßen wichtig sind, und die durchaus auch – 71 72 73 74 75 76 77 78
Wagner-Rau (2012), 90. Wagner-Rau (2012), 93. Wagner-Rau (2012), 75. Wagner-Rau (2012), 83. Wagner-Rau (2012), 82f. Sie folgt dabei Hauschildt, vgl. Wagner-Rau (2012), 91f. Wagner-Rau (2012), 92. Trotzdem bleibe Mission – bzw. zu deutsch: ‚Sendung‘ – grundlegend mit dem pastoralen Handeln verbunden: „Darum ist es mit dem Charakter ihrer Sendung verbunden, dass die Kirche in den öffentlichen Raum hineinwirken will. Aber Öffentlichkeit ist für die Kirchen nicht mehr selbstverständlich gegeben, sondern Kirchen müssen in einer religiös pluralisierten Gesellschaft ihre Rolle neu finden. Der Pfarrer / die Pfarrerin genießt nicht mehr qua Amt öffentliches Ansehen. Der Pfarrberuf hat in den letzten Jahren an gesellschaftlicher Wertschätzung verloren. Öffentlich wirksam bleiben Pfarrer und Pfarrerinnen heute nur,
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allerdings ohne von dieser Absicht geleitet zu sein – den Effekt haben können, Menschen anzusprechen und zu gewinnen.“ 79 Leitend sei deswegen das Motiv des Dialogs bzw. der Gastfreundschaft, welches dezidiert nicht missionarisch-appellativ ist: 80 Während die Mission eine deutliche Bewegungsrichtung hat, nämlich hinauszugehen in die Welt, um hineinzuziehen in die Gemeinschaft der Kirche, schwingen in der Gastfreundschaft die Türen in beide Bewegungsrichtungen: Man kann eintreten und es besteht keine Erwartung, dass man bleibt. Man kann kommen, und man kann gehen. Es mag bei einer punktuellen Begegnung bleiben, aber möglicherweise wachsen auch Vertrautheit, Zugehörigkeit und Nähe. Es ist Zeit für Prozesse langsamer Annäherung, Raum für ein Erkunden von Nähe und Distanz, von Differenz und Übereinstimmung. 81
Inwiefern der Dialog und die Hoffnung, dass ‚möglicherweise Vertrautheit und Nähe‘ entstehen, unmissionarisch sein sollen, ist nicht ganz verständlich. Der vorgenommene Kategorienwechsel beim Missionsverständnis ist mithin nicht überzeugend. Zumindest muss man feststellen, dass es schwierig ist, den grundlegenden und zur Existenz von Kirche gehörenden Missionsbegriff missio dei einerseits zu bejahen und andererseits Mission als werbendes Handeln zu definieren. Beides liegt auf recht unterschiedlichen Ebenen, und ob der Missionsbegriff mit ‚werbendem Handeln‘ hinreichend beschrieben ist, muss bezweifelt werden. 82 Gleichzeitig müsste nach der Logik Wagner-Raus der von ihr in der Tendenz zurückgestellte Begriff ‚Mission‘ deutlich aufgewertet werden, denn in ihrer Konzeption spielt ‚Öffentlichkeit‘ eine zentrale Rolle – und diesbezüglich gilt: „Wer öffentlich ist, kann nicht nicht werben.“ 83 Die Zuordnung von Mission und Werbung ist deswegen sowohl auf theoretischer Ebene als auch in praktischer Hinsicht fragwürdig. Wagner-Rau brachte ihre kirchentheoretisch-pastoraltheologische Konzeption mit der Metapher der ‚Schwelle‘ auf den Punkt. Diese Metapher soll nun betrachtet werden, um vor allem die pastoraltheologischen Implikationen zu erfassen. Das Motiv ‚Schwelle‘ gibt metaphorisch drei Räume vor, die von Wagner-Rau bedacht und in Beziehung gesetzt wurden: der kirchliche Innenbereich, die Grenze dieses Bereichs zwischen Innen und Außen (also: ‚die Schwelle‘) und der nicht-kirchlichen Bereich ‚außen‘ bzw. die ‚Öffentlichkeit‘. Für die Handlungsfelder des Pfarrberufs insgesamt hielt Wagner-Rau einen Konsens fest: Es „besteht heute Einigkeit über die grundlegende Aufgabe des
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wenn sie über die kirchliche Öffentlichkeit im engeren Sinne hinaus handlungsfähig sind“ (Wagner-Rau (2013), 142). Wagner-Rau (2012), 92. Wagner-Rau (2012), 94. Wagner-Rau (2012), 99. Vgl. dazu auch: Herbst (2019a), 219–238, bes. 223. Herbst (2019a), 231, Herv. original.
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Pfarrberufs: Es geht um die Kommunikation des Evangeliums, und zwar wesentlich im Gottesdienst (einschließlich Kasualgottesdienste), in Bildungsarbeit und Seelsorge.“ 84 Was dies im jeweiligen Kontext bedeutet, vermag dann recht unterschiedlich aussehen. Jedoch forderte Wagner-Rau, dass Pfarrerinnen und Pfarrer etwas tun müssen, um öffentlich wirksam sein zu können. Dazu müssen sie immer wieder die ‚Schwelle‘ zwischen kirchlichem Innenbereich und gesellschaftlicher Öffentlichkeit einnehmen. Die Tendenz ist deutlich, dass Pfarrerinnen und Pfarrer sich davor hüten sollen, ganz in dem von Wagner-Rau eher als problematisch angesehenen Innenbereich aufzugehen. Mit Wagner-Rau gesprochen, „sollen [sie] den Platz in der Mitte nicht scheuen, aber sie müssen sich nicht beständig dort aufhalten.“ 85 Da religiöse Kommunikation auf dem Privatbereich beschränkt sei und im öffentlichen Raum dieses Kommunikationsthema selten aufgenommen werde, seien Pfarrerinnen und Pfarrer an dieser Stelle besonders wichtig: Faktisch aber sind die persönlichen religiösen Überzeugungen in der Alltagskommunikation jenseits der kirchlichen Zusammenhänge weitgehend tabuisiert. Man spricht selten darüber, was man glaubt. Religion ist Privatsache. 86
Deswegen hänge die religiöse Kommunikation vor allem an der durch Kirche hergestellten Öffentlichkeit, für die Pfarrerinnen und Pfarrer zuständig seien 87. Sie seien nicht nur für eine Förderung der religiösen Kommunikation in der Gemeinde verantwortlich. Sie werden auch und besonders dafür gebraucht, als theologisch Gebildete den Dialog mit den anderen anzuregen, damit der Beitrag des christlichen Selbst- und Weltverständnisses für die Gegenwart verständlich und öffentlich sichtbar werden kann. 88
Ihnen obliege die „Vermittlungsaufgabe zwischen Innen und Außen“. 89 Wagner-Rau forderte zudem im Bewusstsein, dass man es nicht allen recht machen könne, ein, dass Pfarrerinnen und Pfarrer „Kontakt nach außen aufnehmen“ 90, da Menschen nicht mehr einfach den Weg zur Kirche finden. Kasualpraxis und Schulunterricht sowie der Kontakt zu „wichtige[n] Stimmen des öffentlichen Lebens“ 91 seien Wege aus der „kirchlich geprägten Sozialität hinaus“ 92. Zugleich sei 84 85 86 87 88 89 90 91 92
Wagner-Rau (2013), 140. Wagner-Rau (2012), 133. Wagner-Rau (2012), 95. Wagner-Rau (2012), 95. Wagner-Rau (2012), 122. Wagner-Rau (2012), 95. Wagner-Rau (2012), 110. Wagner-Rau (2012), 111. Wagner-Rau (2012), 111.
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die ‚Schwelle‘, Wagner-Raus favorisierter Ort der Wirksamkeit von Pfarrerinnen und Pfarrer, „nicht für einen Daueraufenthalt geeignet“ 93. In dieser Spannung legen sich neben den genannten Handlungsfeldern weitere nahe. So hielt Wagner-Rau besonders die Kasualien und Gottesdienste zu kirchlichen Festzeiten als Kontakt in die Öffentlichkeit hinein für besonders relevant. 94 Die vereinsähnliche Arbeit in der Ortsgemeinde würde sie lieber in ehrenamtliche Verantwortung überführen, wie bereits ausgeführt wurde. 95 Insgesamt entwickelte sie ein Modell zur Ausdifferenzierung des Pfarrberufs. 96 Ihr Anliegen ist es, den Pfarrberuf in dem jeweiligen Kontext plausibel zu gestalten: Es ist weder möglich noch nötig, in allen Aufgabenbereichen gleichermaßen präsent zu sein. Zwar wird kein Pfarrer oder keine Pfarrerin am Auftrag und an der Verantwortung für Gottesdienste und Predigt vorbeikommen, und meistens werden Seelsorge und Bildungsaufgaben eine wichtige Rolle spielen. Insgesamt aber können und müssen unter Berücksichtigung der lokalen und funktionalen Erfordernisse auf der einen wie der individuellen Begabungen auf der anderen Seite Entscheidungen getroffen werden, auf welche Weise die Kommunikation des Evangeliums an diesem Ort und durch diesen Pfarrer / diese Pfarrerin besonders wirksam angeregt werden kann, ohne dass dabei die Grenzen des Möglichen übersprungen werden. 97
Was dann vor Ort zu tun sei, liege in der Entscheidungsgewalt der Pfarrerinnen und Pfarrer: „Die Freiheit des Pfarramts in der Wahl seiner Arbeitsschwerpunkte fördert die Vielfalt kirchlichen Lebens“ 98. So sei dann nicht jeder im Dienst verpflichtet, alle möglichen Handlungsbereiche zu bespielen und bei sich als Fähigkeit zu entwickeln, insofern andere Pfarrerinnen und Pfarrer ergänzend wirken können. Wagner-Rau stellte also ein Modell des sich ausdifferenzierenden Pfarramts vor, in dem einige Handlungsfelder von unterschiedlichen Personen verantwortet werden. Zum Pfarrer bzw. zur Pfarrerin als Person sind ihrer Konzeption nach zwei Dinge zu entnehmen: Zum einen benötigen sie eine praxis pietatis und werden angeleitet, ihr Leben und ihren Dienst im Sinne Henning Luthers als Fragment zu verstehen. Sie forderte von Pfarrerinnen und Pfarrern eine Vertrautheit mit christlicher Lebenspraxis und auch das Aushalten des Zerbrechens dieser Praxis. 99 Dazu gehöre für sie auch die Feststellung, dass in Zukunft weniger Pfarre93 94 95 96
Wagner-Rau (2012), 119. Wagner-Rau (2012), 127. Wagner-Rau (2012), 56. „Mit der Ausdifferenzierung der kirchlichen Situation geht eine Ausdifferenzierung der strukturellen Bedingungen der pastoralen Existenz einher“ (Wagner-Rau (2012), 58). 97 Wagner-Rau (2012), 124. 98 Wagner-Rau (2012), 124. 99 Wagner-Rau (2012), 134.
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rinnen und Pfarrer zur Verfügung stehen werden, dass die Arbeitsschwerpunkte kontextabhängig begründet und dass diese Notwendigkeit der Kontextualisierung durch die Freiheit des Amtes abgesichert werden wird. 100 Pfarrerinnen und Pfarrer seien begrenzt und deswegen müssen sie nicht alles können. Die Liste der möglichen Tätigkeitsfelder ist lang und Spezialisierung möglich, aber die damit einhergehenden Ansprüche können in der Breite nicht von Einzelnen verlangt werden. 101 Mit dieser Einschätzung zeigte sich bei Wagner-Rau wiederum die Tendenz weg von einem Verständnis der Pfarrpersonen als Generalisten hin zu eher in den Aufgabenkatalogen reduzierten und in bestimmten Bereichen spezialisierten Pfarrerinnen und Pfarrern, das insgesamt mehr dem Bild von Funktionspfarrämtern entspricht. 102 Andererseits kommen situationsbedingt neue Aufgaben hinzu bzw. werden vorhandene herausfordernder, denn es bedarf theologischer Sprachfähigkeit bzw. theologischer und kommunikativer Kompetenz sowie (empirisch gestützte) Wahrnehmungskompetenz angesichts des Rückgangs der Selbstverständlichkeit des Christentums. 103 Ob angesichts der bedeutsamen Zentralstellung des Pfarramts Spezialisierungen möglich sind, kann man bezweifeln. Es ist zu fragen, ob diese Sonderstellung, die für die Ermöglichung religiöser Kommunikation in Gemeinden und Gesellschaft verantwortlich sein soll, eher dazu führen wird, dass Pfarrerinnen und Pfarrer fragmentiert werden und deswegen alles andere als ‚fragmentarisch‘ leben können. 104
7.2.2 Kirchentheoretisches Modell von Herbst Herbsts kirchentheoretisches Modell folgt einem missionarischen Paradigma. Theologisches Grundelement ist eine kreuzestheologische Missionstheologie im Rahmen der missio dei. 105 Prägend für die Ausformung dieser missionarischen Theologie ist das Leben Jesu und sein Kreuzestod. 106 Das Leben Jesu wird als seine Mission gedeutet. Jesus ist der von Gott in die Welt Gesandte. Dies bedeutet für Jesus einen Leidensweg, der in Kreuz und Auferstehung kulminiert. Seine Sendung ist ein Weg zu den Menschen und für die Menschen bzw. in die Welt
100 Wagner-Rau (2012), 124. 101 Wagner-Rau (2012), 124. 102 Eine Möglichkeit für die Reduktion des Aufgabenkataloges sieht Wagner-Rau beispielsweise bei den Verwaltungsaufgaben gegeben (Wagner-Rau (2012), 130f). 103 Vgl. Wagner-Rau (2012), 113, 128 u. 134. 104 Vgl. dazu den Unterschied, wie ihn Wagner-Rau selbst erläuterte: Wagner-Rau (2014) – Fragementierung sieht sie als negative Folge des modernen, kapitalistischen Arbeitslebens. Diese Konsequenz möchte sie von einem fragmentarischen Leben unterschieden wissen. 105 Vgl. Herbst (2013), 3–17: „Die Mission des Gekreuzigten“. 106 Herbst (2013), 5f.
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und für die Welt. So wurde von Herbst mit Moltmann die Botschaft vom Kreuz gedeutet: Das Kreuz ist die ‚Hingabe des Sohnes durch den Vater für die gottlosen und gottverlassenen Menschen‘. 107
Mit anderen Worten: Im Kreuz kommt zum Ausdruck, dass Gott der Vater und Gott der Sohn (man wird hinzufügen dürfen: und Gott der Heilige Geist) hingebungsvoll für Menschen handeln, die nicht in Kontakt mit ihnen sind. Diese Bewegung Gottes auf die Menschen zu, ist die Grundlage der Mission. So konnte Herbst die Mission und das Geschick Jesu wechselseitig ineinander verschränken, wenn er pointiert festhielt: „Seine Mission ist kruziform, sein Kreuz missionarisch“ 108. Unter anderem wird mit dieser Verschränkung eine bestimmte Haltung normiert, die die Mission wie folgt beschreibt: Sie ist „dienstbereit und Lasten tragend, wehrlos und gänzlich unaggressiv, dringlich, aber nie drängerisch, bittend, nie zwingend, voller Respekt und zugleich voller Sehnsucht, der andere möge Jesus kennen lernen.“ 109 Wichtig ist für Herbst, dass diese Mission ein Kennzeichen von Kirche ist. Im Grunde kann Herbst als Konsens des missionstheologischen Diskurses festhalten: Mission ist nicht unter Umständen zeitweise verzichtbar. Mission ist Wesens- und Lebensmerkmal der Kirche, wenn sie Kirche Jesu Christi sein und bleiben will. 110
Im Rahmen der missio dei wurde wiederum festgehalten, dass Mission nicht nur ein Wesensmerkmal der Kirche sei, sondern zuerst ein Wesensmerkmal Gottes selbst. Unter Rückbezug auf ökumenische Impulse aus der anglikanischen Tradition formulierte Herbst: [. . . ] Gott selbst ist ein missionarischer Gott. Verankert ist diese Sicht in der Trinitätslehre: Gottes Sendung gehört zu seinem Wesen. Er zeugt den Sohn und atmet den Geist. Diesen ‚immanenten‘ Aussagen korrespondieren ‚ökonomische‘: Der Vater sendet den Sohn in die Welt, Vater und Sohn senden den Geist. Und endlich kann es heißen: ‚Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch‘ (Joh 20,21b) – nun wird die Jüngerschar einbezogen in die Sendung. Ihre Sendung nimmt Maß an der Sendung Jesu: Sie sei darum demütig und dienstbereit, sie helfe dem Menschen an Leib und Seele, ziele auf den Einzelnen und die Gemeinschaft, bleibe in ihren Mitteln gewaltfrei und geradezu wehrlos, nehme auch das Leiden in Kauf und erlebe dann auch österlich neues Leben. Sie münde am Ende darin, dass Gottes Volk Gott die Ehre gibt und ihn anbetet. Dazu ist die Kirche
107 108 109 110
Herbst (2013), 6, zitiert: Moltmann (1972), 228. Herbst (2013), 7. Herbst (2013), 8. Herbst (2013), 4, beruft sich auf: Richebächer (2003), 143–162.
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da – und alle ihre Strukturen, Ämter, Arbeitsformen und Vergemeinschaftungen dienen dieser Sendung in die Welt. 111
Mit diesem theologischen Ansatz ist der Bezug auf die Welt für die Kirche konstitutiv. Eine gewisse Binnenkirchlichkeit oder das Besetzen von Nischen widerspricht diesem Konzept. Weiterhin wird deutlich, dass das Subjekt der Mission Gott selbst ist. Von ihm beauftragt sind – neutestamentlich gesprochen – die Jüngerinnen und Jünger. Es geht also um ein Kollektiv, das an der Sendung Gottes in die Welt teilnimmt und teilhat. Dieses Kollektiv ist in die Nachfolge berufen und Nachfolge geht einher mit mündigem Christsein. Theologisch grundlegend für dieses Kollektiv ist die Lehre vom Priestertum aller Gläubigen. Diejenigen, die mit ihm im Kontakt sind und mit ihm leben, sind in die Welt gesandt bzw. folgen dem missionarischen Gott dahin nach. Aus diesem Grund wird von Herbst ein ‚lebendig, mündiges Christsein‘ betont. 112 Hinzuzufügen ist auch, dass Herbst das Priestertum aller Gläubigen vom Ehrenamt klar unterscheidet: Das allgemeine Priestertum der Getauften ist nicht mit dem Ehrenamt identisch, sondern überragt dieses in verschiedener Hinsicht: Auch Pfarrpersonen haben die Würde und den Dienst des allgemeinen Priestertums. Und wer als Christenmensch nicht ehrenamtlich in der Kirche tätig ist, ist darum nicht weniger ein allgemeiner Priester. Gleichwohl ist das kirchliche Ehrenamt eine schöne Variante des allgemeinen Priestertums. 113
Mit diesem Bezug auf das Priestertum aller Gläubigen wird klar, dass für Herbst das ehrenamtliche Engagement ein wesentlicher Aspekt seiner kirchentheoretischen Überlegungen ist, der sich in der Zukunft als tragfähig erweisen kann, wenn er gefördert und nicht nur verbal als ‚Lückenbüßer‘ aufgerufen wird. 114 An dieser Stelle lässt sich die Stärke und das Kernanliegen des missionarischen Paradigmas formulieren: Es geht um ein engagiertes Christsein in Gemeinschaft, welches auf die Umwelt hin ausgerichtet ist. Festzuhalten ist dabei allerdings, dass das missionarische Paradigma keine so weitreichende Verbreitung gefunden hat wie das liberale Paradigma. Herbst konstatierte, dass die Kernanliegen des missionarische Paradigmas in der EKD eine Minderheitenposition darstellen. 115 Ebenso wie beim liberalen Paradigma können die Eckpunkte und grundlegenden Zusammenhänge des missionarischen Paradigmas unter Rückgriff auf Weg-
111 112 113 114 115
Herbst (2013), 194. Vgl. Herbst (2018), 198ff. Herbst (2017c), 11. Vgl. Herbst (2017c), 11. Vgl. Herbst (2017a), 433: „Die Zahlen für die gesamte Bewegung sind äußerst unsicher und eigentlich nur zu schätzen. Man kann ca. von 1-1,5 Mio. evangelikalen Christen in Deutschland ausgehen. Bei insgesamt etwa 23 Mio. Protestanten ist das eine Minderheit, aber eine sehr stimmgewaltige und engagierte Minderheit.“
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ner dargestellt werden. Selbst Herbst griff auf Aussagen von ihm zurück, um das missionarische Paradigma zu charakterisieren: Diese Akzente, die Wegner hier setzt, korrespondieren ja mit dem, was missionarische [. . . ] Bewegungen auch sagen: Profil entwickeln, außenorientiert sein, Menschen Verantwortung anvertrauen, [sic] und im Innersten von Christus ergriffen sein. 116
Diese Grundbewegung zeigt sich in den theologische Ausführungen von Herbst immer wieder. Vor diesem Hintergrund lassen sich nun die Charakteristika der Konzeption von Herbst entfalten. Bevor jedoch die für das missionarische Paradigma wichtigen theologischen Felder erarbeitet werden, ist noch auf eine kritische Reflexion hinzuweisen. In Bezug auf das missionarische Paradigma merkte Herbst kritisch an, dass Anspruch und Wirklichkeit durchaus in Spannung zueinander stehen. In Bezug auf Gemeinden, die dem missionarischen Spektrum zuzurechnen sind, führte er aus: Sie möchten zuweilen geradezu verzweifelt missionarisch sein, sind aber kulturell so binnenorientiert, dass es Menschen von außen schwer fällt, sich in solchen Gemeinschaften zu beheimaten. Und sie scheitern nach meiner Überzeugung auch daran, dass unsere Lage als Christenheit in einer atheisierenden Kultur schwierig ist. 117
Es ist jedoch auch nicht von der Hand zu weisen, dass das missionarische Paradigma auch seine positiven Seiten hat. Herbst führte dazu aus: Dennoch sehe ich, dass Gemeinden mit missionarischer Intention in einem kleineren, aber beachtenswerten Ausmaß Menschen erreichen, die sonst keinen Kontakt zu Kirche und Glauben finden. 118
So zeigt sich, dass sowohl liberales als auch missionarisches Paradigma ein Problem in einer Binnenorientierung und Milieuverengtheit ausmachen. Wie mit diesem Problem umzugehen ist, wird je nach Konzeption allerdings sehr verschieden beantwortet. Nach dieser Bemerkung sollen nun beginnend beim Begriff ‚Gemeinde‘ bzw. ‚Kirche‘ die theologischen Felder des missionarischen Paradigmas vertieft erarbeitet und die Charakteristika der Konzeption Herbsts dargestellt werden. Wie es für kirchentheoretisches Arbeiten üblich ist, rekonstruierte Herbst die dogmatischen Grundlagen für den Begriff ‚Gemeinde‘ bzw. ‚Kirche‘. 119 Ausgehend vom Glaubensbekenntnis wird festgehalten, dass die Kirche ein „Glaubensartikel“ 120 sei. Sie werde erkannt an den notae ecclesiae: Einigkeit, Heiligkeit, Ka116 117 118 119 120
Herbst (2017b), 525. Herbst (2017a), 434. Herbst (2017a), 434. Vgl. Herbst (2018), 19–39. Herbst (2018), 19.
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tholizität und Apostolizität. Die Kirche ist wichtig, da es außerhalb ihrer kein Heil gibt, wenn man Cyprian von Karthago folgt. Dies ist für Herbst eine bis heute spannende und spannungsreiche Frage, die er jedoch offen lässt. Weiterhin verwies er auf die Kirche als ein corpus permixtum aus Sündern und Heiligen. Die Kirche entstehe aus dem Wort Gottes, sie sei creatura verbi. Mit der Confessio Augustana wird dargelegt, dass die Kirche ‚die Versammlung aller Gläubigen‘ sei, ‚bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente gemäß dem Evangelium gereicht werden‘. 121 Damit ist die Unterscheidung in eine wahre und falsche Kirche möglich, was sich allein am Evangelium bemessen lässt. Herbst sprach von einer schlanken ‚Ekklesiologie‘, wenn lutherisch gesehen Kirche da erkannt wird, wo das Evangelium in all seinen Formen gepredigt bzw. dargereicht werde. 122 Ekklesiologisch weiterhin relevant ist die Unterscheidung von ‚sichtbarer‘ und ‚unsichtbarer Kirche‘. Diese Unterscheidung hält in Erinnerung, dass die vorfindliche Kirche nicht einfach identisch ist mit einer ‚reinen‘ bzw. ‚idealen‘ Kirche. Zugleich wird damit festgehalten, dass die ‚sichtbare Kirche‘ der Ort ist, an dem die ‚unsichtbare Kirche‘ zu finden bzw. „an dem die ‚verborgene‘ Kirche verborgen ist“. 123 Mit Verweis auf die Barmer Theologische Erklärung zeigte Herbst außerdem, dass die Strukturen der Kirche dem Evangelium angemessen sein müssen und nicht als beliebig gelten können. 124 Mit dieser Zusammenstellung wollte Herbst einen ekklesiologischen Minimalkonsens zum Ausdruck bringen. So konnte er mit Hermelink auf den Punkt bringen, was dieser Minimalkonsens bedeute: Hier geht es um die ‚Eröffnung einer außerordentlichen Freiheit zur kirchlichen Selbstgestaltung‘. Nur die ‚inhaltliche Klarheit und kommunikative Zugänglichkeit‘ von Wort und Sakrament sind wirklich unverzichtbar [. . . ]. 125
Dieser ‚schlanken Ekklesiologie‘ fügte Herbst lediglich noch einen Diskussionspunkt hinzu. Natürlich sei der lutherische Fokus auf die Bedingungen zur Möglichkeit von Kirche ausgerichtet – nicht auf das, was tatsächlich entstehe. ‚Glaube‘ und ‚Gemeinschaft‘ werden lutherisch nicht zu Merkmalen der Kirche erhoben, sondern es wird nur auf deren Entstehungsbedingungen verwiesen. Herbst votierte unter Rückgriff auf die Leuenberger Konkordie von 1973 dafür, einer reformierten Tradition ebenfalls Beachtung zu schenken, die die Wirksamkeit von Wort und Sakrament betone und diese deswegen auch erwarte. Die lutherischen
121 122 123 124 125
Herbst (2018), 20. Herbst (2018), 20. Herbst (2018), 20. Herbst (2018), 21. Herbst (2018), 22, zitiert: Hermelink (2011), 37.
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Vorbehalte einer Werkgerechtigkeit und die reformierte Betonung der Wirksamkeit von Evangelium und Sakrament seien dann nicht als Gegensätze zu betrachten, sondern in Balance zu bringen. 126 Nach dieser ekklesiologischen Rekapitulation erfolgte eine Diskussion des empirisch und phänomenologisch fassbaren Begriffs von Kirche und Gemeinde. Dieser Übergang ist zu markieren, denn die Ekklesiologie ist konstruktiv-kritisch auf die vorhandene Gestalt von Kirche zu beziehen und nicht einfach in sie hineinzulesen. Die Ekklesiologie bleibe so das Gegenüber zur vorfindlichen Gestalt der Kirche bzw. Gemeinde. Als Erstes wurde der Gemeindebegriff im Hinblick auf unterschiedliche Größenordnungen diskutiert: Von der Gemeinde wurde traditionell im Zusammenhang mit einer Parochie gesprochen. Doch die Zusammenlegung von Parochien hinterlasse ‚Gemeinden‘ oberhalb und unterhalb dieser organisationalen Ebene. Außerdem sei eine Ausweitung des Gemeindebegriffs zu sehen: Auch Regionen und die mittlere Ebene seien Gemeinde bzw. Kirche und zu diskutieren sei auch, inwiefern kleinere Gemeinschaften theologisch vollgültig Gemeinde seien. Die schlanke Ekklesiologie spricht in diesem Fall eher für die Ausweitung des Gemeindebegriffs. Herbst hielt in dieser Hinsicht derzeit weiteren ‚Klärungsbedarf‘ fest. 127 Als Zweites wurde der Gemeindebegriff unter dem Aspekt der Zugehörigkeit betrachtet. Hier ergaben sich ebenfalls Aporien: Wenn die Kirche aus allen Getauften besteht, wie sind dann diejenigen einzuordnen, die aus der Kirche ausgetreten sind? Wenn inhaltliche Zustimmung auch ein Kennzeichen von Zugehörigkeit ist, wie ist dann jenes Fünftel der Kirchenmitglieder einzuschätzen, die sich seltenst sehen lassen und einen Austritt in Betracht ziehen? Gehören nicht doch alle Menschen innerhalb der Grenzen einer Parochie zur Kirche? Vor dem Hintergrund der ekklesiologischen Grundlegungen lassen sich diese Fragen nur sehr schwer klären und es besteht nach Herbst die Möglichkeit, dann von zwei Seiten vom Pferd zu fallen: Man könne entweder von der Kirche zu klein denken und sie auf die „Schar der Bekennenden“ 128 reduzieren, was einer Entwertung der Taufe gleichkäme, oder man könne von der Kirche zu groß denken und Menschen vereinnahmen, die sich von ihr abgewandt haben. 129 Herbst schlug an dieser Stelle vor, weniger die äußeren Marker wie Taufe und Mitgliedschaft zu beachten und Kirche eher im Sinne eines centred sets zu denken. 130 Eine Ausrichtung auf die Mitte hin, würde dann zulassen, dass sich „alle die verschiedenen Zugehörigkeiten [. . . ] dann mehr oder weniger dieser Mitte 126 127 128 129 130
Herbst (2018), 23. Herbst (2018), 26. Herbst (2018), 27. Herbst (2018), 27. Herbst (2018), 29.
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zu[ordnen], in Bewegung auf Mitte zu oder von der Mitte weg“ 131. Theologisch gesehen muss dann die Frage der Zugehörigkeit nicht über äußere Merkmale beantwortet werden (dies würde erneut in die dargestellten Aporien führen und wäre einer lutherischen Ekklesiologie, die eher auf die Bedingungen der Möglichkeit von Kirche ausgerichtet ist, fremd), sondern es können die Bewegungsrichtungen der Menschen geachtet werden, für die in diesem Verständnis von Kirche Platz ist: Man kann schneller oder langsamer auf das Zentrum zugehen, steckenbleiben oder sich dekonversiv vom Zentrum entfernen. 132
Die missionstheologisch wichtige Frage bleibt dann, ob der Zugang zu diesem geistlichen Zentrum – in lutherischer Ekklesiologie also: Wort und Sakrament – zugänglich ist bzw. zugänglich gemacht wird. Als Drittes diskutierte Herbst den Kirchenbegriff unter dem Gesichtspunkt der unterschiedlichen Handlungslogiken. Gemeinden bzw. die Kirche existieren als Hybrid aus unterschiedlichen Handlungslogiken: Institution, Organisation sowie Gruppe und Bewegung. In der Darstellung folgte er somit dem Modell von Hauschildt und Pohl-Patalong. Hinsichtlich der Institution merkte er an, dass dies im Ideal die Volkskirche meine, die für Religion schlicht zuständig sei. Als Institution der Freiheit sei sie ‚Kirche bei Gelegenheit‘ und die Distanz zu ihr ein „akzeptabler Normalzustand“ 133. Herbst merkte mit der Aufnahme von Gedanken Hubers an, dass sich die Volkskirche in einer ‚Transformationskrise‘ befindet und als ‚intermediäre Großkirche‘ auf dem Weg zur ‚Missionskirche‘ sei. 134 Die Handlungslogik ‚Organisation‘ werde nach Herbst weiter zunehmen. Damit kommt vor allem zum Ausdruck, dass die Organisation sich um ‚potentielle Kunden‘ mühen müsse und nicht alternativlos zuständig sei. Es ranken sich Debatten um die ökonomischen Aspekte dieser Handlungslogik und als Konsens scheint der Vergleich von Kirche mit Non-Profit-Unternehmen in Sicht, bei denen es nicht um Gewinnmaximierung geht, sondern um gute Haushalterschaft über alle verfügbaren Mittel, die dem Organisationszweck dienen. Herbst hielt auch fest, dass missionarische Ansätze seltener mit dieser Handlungslogik in der Kirche fremdeln. 135 ‚Gruppe und Bewegung‘ ist als dritte Handlungslogik für Herbst die ursprünglichste: Das Christentum startete als Bewegung und die Dimension ‚Gruppe‘ verweise auf den durchgängig vorhandenen Gemeinschaftsaspekt. Die kirchlichen
131 132 133 134 135
Herbst (2018), 29. Herbst (2018), 29. Herbst (2018), 32. Herbst (2018), 32, beruft sich auf: Huber (1996/2003). Herbst (2018), 34.
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Gemeinschaften können sehr bunt sein. Es gehe „oft um intensiv gelebten Glauben, gemeinsames Handeln und gesellige Gemeinschaft“ 136. Im missionarischen Paradigma hat diese Handlungslogik der Kirche Vorrang. Institution und Organisation haben hier für die dritte Handlungslogik eine positive, aber dienende Funktion: Kirchliche Institution und Organisation sind dann intensiv gepflegte, positiv bewertete und hoffnungsvoll belebte Ermöglichungsräume für die ‚communio sanctorum‘, ihr gemeinsames Leben, ihren umfassenden Dienst und ihre Anbetung Gottes. 137
Für Herbst geht es unter der Bejahung aller drei Handlungslogiken auf ein Ziel hin: „die Stärkung des Ursprungsimpulses: Kirche als Gemeinschaft derer, die gemeinsam Christus nachfolgt und Teil seiner Mission [wird, BS]“ 138. Das Argument von Herbst läuft somit darauf hinaus, dass die religiös-kirchlichen Vorgänge der Handlungslogik ‚Gruppe und Bewegung‘ nahe an den ekklesiologischen Kennzeichen sind, die Grund zur Möglichkeit von Kirche sind. Als Viertes gab Herbst zu bedenken, dass der Begriff Gemeinde stark durch den Kontext gefärbt werde. Je nach Kontext bilden sich bestimmte ‚Kirchenkulturen‘ aus, so dass bspw. eine Gemeinde in Franken mit 90 % Kirchenmitgliedschaft sich anders verhalte als eine Gemeinde in Duisburg, wo viele Menschen mit Migrationshintergrund leben – oder man unterscheide zwischen Zuzugsgebieten und Abwanderungsgebieten, Stadt und Land usw. usf. Festzuhalten ist, dass der Kontext die Kultur und das, was Gemeinde sein kann und was sie ist, stark bestimmen kann. 139 Mit dieser Bestimmung der Kirche geht eine nüchterne Beschreibung der Kontexte sowie der Entwicklungsdynamiken der Kirche einher. Herbst nahm vor allem die Ergebnisse der verschiedenen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen wahr und setzte sich mit der Interpretation der Ergebnisse kritisch auseinander. So ergab sich eine Bewertung der volkskirchlichen Verhältnisse, die die stabilen Abbrüche ernst nimmt. Obwohl Studien die Stabilität der Volkskirche betonten, sah Herbst aufgrund der Ergebnisse die „Kirche in der Bundesrepublik [. . . ] nicht anders als Kirche im Prozeß fortschreitender Erosion, als Kirche auf dem Weg in die Diaspora, als Kirche in der Krise“. 140 Herbst überdachte immer wieder die Zahlen zum Kirchenaustritt, den hohen und relativ wachsenden Anteil von Austrittswilligen und fragte nach der Bedeutung des großen Anteils positiv-distan-
136 137 138 139 140
Herbst (2018), 30. Herbst (2018), 35. Herbst (2018), 35. Herbst (2018), 36. Herbst (2010), 149f.
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zierter Mitglieder, der eher abnimmt, sowie Ergebnissen hinsichtlich der kirchennahen und engagierten Mitglieder: 141 Die Mitte schrumpft, die Ränder wachsen. Erfreulich ist natürlich das Wachstum bei den stark Verbundenen. Ihre Zahl ist prozentual und in absoluten Zahlen gewachsen. Ebenso ist die Zahl derer gewachsen, die kaum eine innere Verbindung oder einen äußeren Kontakt mit der Kirche haben. Geschrumpft ist dagegen die Kohorte derer, auf die viele Konzepte der Kirchenentwicklung immer wieder gesetzt und gehofft haben: die stabile, nicht sonderlich aktive, aber kirchentreue Mitte. [. . . ] Für deren Schrumpfen gibt es Gründe – unter anderem diesen: Hier wird kaum etwas an die nächste Generation weitergegeben. Darum ist im Zeitverlauf diese Kohorte zum Schrumpfen verdammt. Es sortiert sich alles an den Rändern. 142
Während die Einschätzung zur religiösen Sprachfähigkeit der hochverbundenen Mitglieder in früheren Studien Anlass zum Nachdenken gab, 143 hielt Herbst mit den neueren Ergebnissen fest, dass gerade die hochverbundenen Mitglieder für die Kirche wichtige Eigenschaften mehrheitlich aufweisen: Sie fühlen sich sehr verbunden, sie beteiligen sich am ortsgemeindlichen Leben, stimmen zentralen Glaubensaussagen eher zu, halten sich mehrheitlich für religiös, engagieren sich häufiger und Gemeinschaft spiele für sie eine wichtige Rolle. 144 Bedenkt man nun das Abschmelzen der Kirchenmitgliedschaft und das momentane säkulare Driften der Gesellschaft sowie das Bedürfnis nach Gemeinschaft bei den Hochverbundenen vor dem Hintergrund, dass Kirche als ‚Gruppe und Bewegung‘ durch Gemeinschaft überhaupt existiert, dann wird der Fokus auf diesen Aspekt in der kirchentheoretischen Konzeption von Herbst äußerst plausibel. Herbst nahm hier vor allem Ergebnisse des empirisch forschenden, katholischen Theologen Zulehner auf: Widerständig [im Sinne von Resilienz, Anm. BS] ist Religion [. . . ] um so eher, je mehr sie [. . . ] in überschaubaren Gemeinschaften gestützt wird. [. . . ] Es wäre [. . . ] gut, gleich-
141 Vgl. dazu Herbst (2018), 89–113 u. Herbst (2010), 138–149. 142 Herbst (2018), 90. 143 Herbst nahm bereits früher Ergebnisse zur religiösen Sprachfähigkeit und Kommunikation der hochverbundenen Mitglieder auf. Unter Rückgriff auf die damaligen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen und der Studie von Köster von 1959, konnte gezeigt werden, dass Gespräche über den Glauben hauptsächlich in der Familie und im engeren kirchlichen Bekanntenkreis stattfinden (Herbst (2010), 142f, beruft sich auf Köster (1959)) ein Ergebnis, welches sich mit den Ergebnissen der damaligen Kirchemitgliedschaftsuntersuchung deckte (Herbst (2010), 141). Köster konnte jedoch noch eine weitere Begründung für diesen Sachverhalt herausarbeiten: Die Befragten gaben an, nicht die richtigen Worte zu finden (Herbst (2010), 141). Herbst erfasste diese Sprachlosigkeit als Problem für die Glaubensweitergabe und leitete daraus die Aufgabe ab, den Gemeinden in der Entwicklung ihrer Sprachfähigkeit mehr Unterstützung zu gewähren (Herbst (2010), 141). 144 Herbst (2018), 91f.
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sam jetzt schon Überlebensvorrat für durchaus mögliche schlechtere Zeiten zu schaffen, nämlich persönliche Glaubensüberzeugung und die Vernetzung von Überzeugten. 145
Hinzuzufügen ist weiterhin, dass nach der Bestimmung dessen, was alles ‚Gemeinde‘ sein kann, hier nicht allein auf das gesellige Vereinsleben der Ortsgemeinde abgezielt wird – im Gegenteil: Es geht um eine bunte Vielfalt sich sehr unterschiedlich formender Vergemeinschaftungen, deren Familienähnlichkeit durch die Kommunikation des Evangeliums entsteht und deren gemeinsamer Nenner die Förderung von lebendigem, mündigem Christsein darstellt. 146
Eine weiteres Ergebnis aus den Kirchenmitgliedschaftsstudien wurde von Herbst kritisch reflektiert: die Wahrnehmung und Bedeutung der Pfarrerinnen und Pfarrer. Ausgehend von den Umfragen Wie stabil ist die Kirche? und Was wird aus der Kirche? wurde die damalige Lage der Kirche beschrieben und das Ergebnis festgehalten: „Die Pastorenorientierung der Evangelischen ist nahezu völlig ungebrochen“ 147 und „Volkskirche [ist] notwendig pfarrzentriert“ 148. Herbst kritisierte, dass in den Studien die normative und deskriptive Ebene an entscheidender Stelle vertauscht worden war: Aus dem deskriptiven Ergebnis, dass die Pfarrer in gewisser Weise als Kirche wahrgenommen wurden, wurden normative Ansprüche an den Pfarrberuf gestellt, die theologisch fragwürdig seien. 149 Drei Kritikpunkte brachte Herbst an: Erstens sei die Pfarrperson in ‚unverantwortlicher Weise überfordert‘, insofern sie weder Christus vertreten noch die ‚Gemeinde der Brüder‘ in Person ersetzen könne. Zweitens werden Pfarrpersonen ‚auch im Hinblick auf [ihre] psychischen und physischen Ressourcen auf Dauer völlig überfordert‘. 150 Sie arbeiteten 73 Stunden pro Woche und können weder Gemeinde noch Volkskirche als „Atlas“ 151 tragen. Drittens sah Herbst zudem eine geistliche Überforderung, da den Pfarrerinnen und Pfarrern alle Aufgaben obliegen und die Kirchenmitglieder in einem Betreuungsverhältnis verharren. 152 Das von Herbst wahrgenommene Problem der Pfarrzentrierung und die damit einhergehenden Überforderungen und Überlastungen wurden auch in neueren Aufsätzen mit neuen Erkenntnissen behandelt. Die Abbau- und Reformprozesse haben nach Herbst die in den 80er Jahren wahrgenommenen Probleme heute ver-
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Herbst (2017c), 7, zitiert Zulehner (1989), 193f. Herbst (2017c), 7. Herbst (2010), 142, zitiert; Hild (1974), 256. Herbst (2010), 143. Herbst (2010), 143. Herbst (2010), 144. Herbst (2010), 144. Herbst (2010), 144f.
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stärkt. 153 Und beim Blick auf die aktuelle Lage in ländlichen Räumen erfolgt eine weitere Verschärfung: Die ländlichen Räume zeigen uns wie im Brennglas die Schäden einer pfarrzentrierten Kirche und der jahrhundertelangen Entmündigung der Christenmenschen. 154
Beispielhaft verdeutlichte Herbst dies an einem früheren Studenten, der als Pfarrer im ländlichen Raum Ostdeutschlands „mit 3 Dörfern und 2 Kirchen [begonnen hatte], aber inzwischen [. . . ] für 18 Dörfer zuständig“ 155 sei, die fast alle eine Kirche haben. Dies bringe auch das volkskirchliche System der flächendeckenden Versorgung an seine Grenzen und damit auch die Pfarrerinnen und Pfarrer. 156 Drei Trends werden genannt, die ‚zahlreiche Probleme‘ mit sich bringen: die „schrumpfende[. . . ], ärmer werdende[. . . ] und alternde[. . . ] Volkskirche“ 157. Aufgrund dieser Analyse hob Herbst zwei Hauptkritikpunkte an derzeitigen Entwürfen der Pastoraltheologie hervor: „Sie sind unterbestimmt, wenn es um das Verhältnis des Pfarrers zur Gemeinde geht.“ 158 „Sie sind überbestimmt, wenn es um Aufgabenkataloge geht.“ 159 Die Greifswalder Studie Stadt, Land, Frust? zur physischen und psychischen Gesundheit von Pfarrerinnen und Pfarrern in ländlichen Räumen zeigte für Herbst, dass die Probleme einer seiner Meinung nach falsch gesetzten Priorität auch am Personal nicht vorübergehen. Die Ergebnisse zeigten, dass die Arbeitsbelastung zu hoch ist und die Pfarrerinnen und Pfarrer auf Dauer ausbrennen. Herbst sprach in diesem Zusammenhang systemisch von „Indexpatienten“ 160, die ein Problem der Gesamtorganisation zum Ausdruck bringen. Der Vorschlag von Herbst, wie mit dem Problem der Pfarrzentrierung umzugehen sei, setzte vor allem auf die Stärkung von Gemeinden. An diesem Punkt kamen seine pastoraltheologischen Überlegungen ins Spiel, die wiederum systematisch-theologisch reflektiert wurden: Herbst traf drei kybernetische Grundentscheidungen und argumentierte für diese: erstens ‚geistliche Erneuerung und kybernetische Ausbildung des Pfarrerstandes‘, zweitens Konzentration auf ‚die Laien‘ und drittens Ausrichtung auf ‚die Fernstehenden‘. 161
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Herbst (2011), 208. Herbst (2014), 204. Herbst (2011), 204 Herv. original. Herbst (2011), 204. Herbst (2014), 190f. Herbst (2011), 210 Herv. original. Herbst (2011), 211 Herv. original. Herbst (2019c), 180. Herbst (2010), 311–392. Hier zeigt sich eine Verwandtschaft zu anderen kybernetischen Ansätzen, die jedoch von kirchlichen Praktikern verfasst wurden und somit weniger im
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Theologisch entscheidend ist für Herbst, dass das „Amt sowohl als Größe innerhalb der Gemeinschaft der Glaubenden [verstanden wird] wie als Größe, welche der Gemeinde auch gegenübersteht und ein Zeichen der unverfügbaren Vorgegebenheit des Heils darstellt“ 162. Damit ging er einen Mittelweg zwischen Stiftungstheorie (‚Gegenüber‘) und Delegationstheorie (‚Miteinander‘) und konnte sich damit auf einen ökumenischen Konsens berufen. 163 Der zweite Aspekt wurde durch die Ordination (CA XIV) verdeutlicht und dies zeige sich nach Herbst auch symbolhaft in der geschichtlichen Entwicklung des Pfarramtes. 164 Mit Barmen IV kann Bestimmung zum Gegenüber keine Herrschaft bedeuten, sondern es gehe um den Dienstcharakter, den alle Charismen in der Gemeinde haben. 165 In diese Richtung weist auch das Neue Testament, das verschiedene Charismen kennt, die im gemeinsamen Dienst stehen, aber kein monopolhaftes Pfarramt. Nun bestehe aber die Gefahr des Pfarramtes gerade darin, dass die Spannung von Gegenüber und Miteinander zugunsten des Gegenübers aufgelöst werde. 166 Aus diesem ‚Gegenüber‘ und ‚Miteinander‘ entwickelte Herbst seine pastoraltheologischen Bestimmungen – es geht ihm um eine Art „Pastoral-Kybernetik“ 167. Zuerst führte er an, dass „der Pfarrer im missionarischen Gemeindeaufbau – eingebunden in den Kreis der Ältesten – am Dienst der Leitung beteiligt“ 168 sei. Dieses Mit-Leiten in dieser Gemeinschaft erfährt aber noch eine theologische Aufwertung: „Leitungsverantwortung gehört zum Hirtenamt der Pfarrer“ 169. Im gemeinsamen Leiten seien die Pfarrpersonen dann offensichtlich immer noch etwas Besonderes. Die „vornehmste Leitungstätigkeit des Pfarrers“ 170 bzw. der Pfarrerin sei die Leitung durch Verkündigung – sine vi, sed verbo. Eine weitere Form der Leitungstätigkeit für Pfarrerinnen und Pfarrer sei die stimulierende und koordinierende Mitwirkung am Gemeindeaufbau. 171 Diese beziehe sich vor allem auf die Entdeckung von Charismen in der Gemeinde. Pfarrerinnen und Pfarrer treten damit ‚ins zweite Glied‘ zurück und werden in der
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akademischen Diskurs auftauchen. Zu nennen sind die Arbeiten von Schwarz (1982) u. Schwarz/Schwarz (1987), Douglass (2001) und Eickhoff (1992), die alle ein ähnliches pastoraltheologisches Modell vertreten, das man knapp beschreiben kann mit: Der Pfarrer bzw. die Pfarrerin für die Mitarbeitenden, die Mitarbeitenden für die Fernstehenden bzw. für den Gemeindeaufbau. Herbst (2010), 333. Herbst (2010), 333. Herbst (2010), 333. Herbst (2010), 333. Herbst (2010), 333. Herbst (2010), 331. Herbst (2010), 334. Herbst (2010), 334. Herbst (2010), 334. Herbst (2010), 335.
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Praxis ‚zum Ausbilder‘. 172 Das Pfarramt solle die Einheit weiterhin gewährleisten, die besonders an die Verwaltung der Sakramente gebunden wird, da diese der Einheit der Kirche dienen. 173 Außerdem seien Pfarrerinnen und Pfarrer die ‚Spirituale der Gemeinde‘, die zu einer alltagstauglichen Spiritualität anleiten, und ‚Zeugen‘ in der Öffentlichkeit. Letzteres meint, dass sie sich als Trainer in der zweiten Reihe einer öffentlichen Zeugnisaufgabe nicht entziehen dürfen. 174 An dieser Stelle zeigt sich eine Schwäche des Ansatzes. Herbst selbst betonte häufiger, dass das Pfarrbild des missionarischen Gemeindeaufbaus kein Entlastungsprogramm sei. 175 Die Pfarrperson müsse die Zentralstellung in der Kirche annehmen und überwinden – und mit ‚überwinden‘ sei gemeint, dass durch die Förderung der Gemeinde und das dann zunehmende Engagement eine Entlastung spürbar werde. 176 Zurecht kritisierte an dieser Stelle Petry: Wenn Herbst von der Überwindung der Pfarrzentrierung spricht, dann meint er damit nicht, die zentrale Stellung von Pfarrer/innen in der Gemeinde zu relativieren. Im Grunde geht es ihm nach meinem Eindruck nicht um die Überwindung der Pfarrerzentrierung, sondern um die Verlebendigung der volkskirchlichen Gemeinde unter Fortschreibung der zentralen Stellung des Pfarrers unter teilweise veränderten Vorzeichen. [. . . ] Insgesamt wird alles lebendiger und auch auf mehr Schultern verteilt. Aber der Pfarrer bleibt dennoch im Leitungszentrum der Gemeinde. 177
In neueren Veröffentlichungen optierte Herbst deswegen auch für ein ‚bescheideneres Leitbild‘. 178 ‚Unvertretbar und in besonderer Verantwortung‘ sieht Herbst die Pfarrerinnen und Pfarrer in der Sorge um die „öffentliche Präsenz des Evangeliums und damit den regelmäßigen Dienst an Wort und Sakrament“ 179. Unter Rückbezug auf die Gottesdienstordnung zur Ordination der Evangelischen Kirche der Union sieht Herbst einen weiteren Schwerpunkt: 180 Die „Mit-Wirkung (!) beim Aufbau der Gemeinde“ 181. Obwohl hier ein bescheideneres Bild vorgebracht werden soll, weitere kirchliche Berufe in den Blick kommen und vor allem auf das Ehrenamt gesetzt wird, bleiben Pfarrerinnen und Pfarrer „regiolokal leitend“ 182 und damit im Zentrum des Geschehens. In der Veröffentlichung Missionarischer Gemeindeaufbau in der 172 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182
Herbst (2010), 336. Herbst (2010), 336. Herbst (2010), 338. Herbst (2010), 332. Herbst (2010), 338. Petry (2001), 203. Herbst (2017c), 8. Herbst (2017c), 9. Herbst (2017c), 9f, beruft sich auf Rat der EKU (1979). Herbst (2017c), 10. Herbst (2017c), 12.
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Volkskirche 183 liegt eine durchaus differenzierte Darstellung vor, inwiefern das Pfarramt an der Leitung beteiligt ist. Dort wurde ausgeführt, dass die Mitwirkung an der Leitung neben Charismenentdeckung vor allem ‚Leitung durch das Wort ist‘. Die organisationale Leitung komme dann jeweils ohne weitere theologische Begründung hinzu. Dieser Sachverhalt führt dazu, dass der Eindruck von Petry in der Konsequenz weiterhin zutreffend ist. In einem anderen Zusammenhang machte Hermelink auf diesen Sachverhalt aufmerksam, den es grundsätzlich zu bedenken gelte, nämlich „dass ein genuin theologisches Selbstverständnis des pastoralen Berufs, dass allenfalls die ‚Leitung durch das Wort‘ kennt, sich zur organisatorischen Gemeindeleitung ausgesprochen sperrig verhält.“ 184 Gerade diese Leitungssituation wird von vielen Pfarrerinnen und Pfarrern als Last empfunden und so erklärt sich, warum das Pfarrbild ‚Seelsorger‘ so beliebt ist. Es ist an dieser Stelle auch nur bedingt überzeugend, dass Herbst in dem Aufsatz Wer bin ich mit dem Aufbau einer Mitarbeiterschaft das Pfarramt entlasten will. Sein Votum lautete: „Trachtet zuerst nach der mündigen Gemeinde, so wird Euch solches alles zufallen, eben auch ein weniger ruinöses pastorales Dasein“ 185. Das Erreichen dieses Ziels sei gerade nicht als Entlastungsprogramm gedacht gewesen, sondern als Herausforderung, die erst langfristig Entlastungen mit sich bringen könne. Weiterhin dachte Herbst an eine Pluralisierung des Pfarrdienstes: Es könne dann „vollbezahlte, teilbezahlte und in großer Zahl auch unbezahlte Pfarrerinnen und Pfarrer“ 186 geben. Er beklagte auch, dass andere kirchliche Berufe „systematisch“ 187 unterschlagen werden. Jedoch zeigt sich neben diesen Randbemerkungen keine ausgearbeitete Verschiebung, die die Zentralstellung der Pfarrerinnen und Pfarrer überwindet und ein kontextuell angemessenes Modell entwirft. Die Leitung der Ordinierten bleibt bei ihm zentral. 188 Andere Aspekte bleiben fraglich, beispielsweise auch wenn als das „Unvertretbare“ die „besondere Verantwortung für die öffentliche Präsenz des Evangeliums und damit den regelmäßigen Dienst an Wort und Sakrament“ 189 dem Pfarramt zugeschrieben wird. An anderer Stelle heißt es, „dass Christen auch ohne den Mann oder die Frau im Talar schöne, bewegende und stärkende Gottesdienste fei183 184 185 186 187 188
Herbst (2010). Hermelink (2011), 253. Herbst (2011), 219, Herv. getilgt. Herbst (2011), 221f. Herbst (2017c), 10. Herbst (2017c), 10. Die Leitungsverantwortung und Leitungsaufgabe betonten auch andere stark, wie beispielsweise Daiber (1997), 291–296, Hermelink (2014a), 9–38 u. Hermelink (2011), 251), wobei Hermelink ebenso wie Herbst ein konstruktiv-kritisches Verhältnis zum Bereich des Managements im Leitungshandeln einnimmt (vgl. Hermelink (1998), 560f). 189 Herbst (2017c), 9.
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ern können“ 190. Die in den neueren Veröffentlichungen fehlende Reflexion zum Predigtamt mag Grund für diese uneindeutigen Zuschreibungen sein. In Bezug auf die Person und Persönlichkeit von Pfarrerinnen und Pfarrern seien zwei Dinge zentral: zum einen der persönliche Glaube – dies verbindet Herbst mit allen Entwürfen der Pastoraltheologie, wie man bei Wagner-Rau sehen konnte – zu nennen wären aber auch Gräb, Drehsen und Lämmermann, bei denen die Darstellung des Glaubens durch die Subjektivität von Pfarrerinnen und Pfarrern ja ein zentrales Moment ist – und zum anderen die Fähigkeit zur Leitung im Sinne einer dienenden Leitung. 191 Die Bedeutung einer geistlichen und dienenden Haltung sowie deren konzeptionelle Ausarbeitung für Leitungsfragen gehört zu den wichtigsten Entwicklungsmomenten in der Konzeption von Herbst. 192
7.2.3 Übereinstimmungen und Unterschiede Mit der Darstellung der kirchentheoretischen Modelle von Wagner-Rau und Herbst wurde deutlich, dass Alex und Menzel jeweils einem dieser Modelle folgten. Bei Alex ist dies an der Betonung des Priestertums aller Gläubigen erkennbar, welches er in die Nähe des Ehrenamts rückte, ohne es komplett damit zu identifizieren. Das Kirchenbild von Menzel weist eine große Nähe zum Modell von Wagner-Rau auf. Allerdings ging Menzel an einigen Punkten weiter als Wagner-Rau: Beim Begriff ‚Volkskirche‘ sind sich Wagner-Rau und Menzel einig, dass das Konzept einer pluralen und offenen Volkskirche sinnvoll sei. Allerdings lehnte Wagner-Rau den Begriff als unpassend ab, weil die ‚Inklusion aller‘, die der Begriff impliziere, nicht mehr gegeben sei. Menzel positionierte sich klar für den Volkskirchenbegriff, auch wenn sie von einer ‚stark geschwächten Volkskirche‘ ausgeht. 193 Sehr viel klarer als Wagner-Rau grenzte sich Menzel von der Handlungslogik ‚Gruppe und Bewegung‘ bzw. einer Betonung der Gemeinschaft sowie von einem Missionsbegriff ab. 194 Sie betonte jedoch ebenso stark wie Wagner-Rau die Notwendigkeit sowie das Potential von Öffentlichkeit und Pluralität. Insgesamt
190 Herbst (2014), 204. 191 Die Förderung der Leitungsfertigkeiten als Fortbildung oder Wissenserweiterung für Pfarrerinnen und Pfarrer könnte man als eigenen Unterzweig pastoraltheologischer (Fortbildungs-)Literatur behandeln. Zu nennen sind hier die Entwürfe von Abromeit et al. (2001), Müller-Weißner (2003), von Boehn (2007), Schneidereit-Mauth (2016), 339–347 oder Detje (2017). 192 Vgl. die Nachzeichnung der Entwicklungslinien und Veränderungen in der missionarischen Konzeption bei Herbst: Herbst (2010), 491–501. 193 Menzel (2019), 91. 194 Vgl. Kap. 7.1, S. 276.
Erarbeitung theologisch relevanter Felder in der Diskussion um das Pfarramt
zeigt sich, wie die theologischen Topoi bei Menzel und Alex sinnvoll zu einem Ganzen im jeweiligen kirchentheoretischen Modell zusammenkommen. Im Hinblick auf das Pfarramt in den ländlich-peripheren Räumen Ostdeutschlands bedeutet das, dass durch Menzel eine Form des liberalen Paradigmas ins Gespräch gebracht wurde, das sich an einigen Stellen klarer vom missionarischen Paradigma, wie Herbst und Alex es vertreten, abgrenzt als Wagner-Rau. Es wurde bereits behauptet, dass die kirchentheoretischen Modelle auf einem Kontinuum liegen. Dies kann und soll nun belegt werden, indem Gemeinsamkeiten und Unterschiede benannt werden. Es wird sich zeigen, dass es eine große Schnittmenge an Gemeinsamkeiten gibt. Anschließend sollen in einem weiteren Kapitel die Unterschiede diskutiert werden, um zu prüfen, ob eine weitere Verschiebung in Richtung eines liberalen Paradigmas theologisch tragfähig und kontextuell angemessen ist oder ob die Stärken des missionarischen Paradigmas stärker berücksichtigt werden sollten. Als Erstes ist festzuhalten, dass die missio dei sowohl bei Wagner-Rau als auch bei Herbst zu den grundlegenden Lehren gehören. Es besteht somit ein Konsens, dass Mission ein Wesensmerkmal der Kirche ist. Kein Konsens besteht darüber, welche Ausdrucksformen dieser Mission angemessen sind. Wagner-Rau limitierte dies auf die Handlungsformen der Werbung im Gegensatz zu Herbst, bei dem Mission im Grunde eine Dimension jeder Handlungsform bzw. das Ziel und die Schnittmenge jeglicher kirchlichen Handlungsformen darstellt. Mit anderen Worten ausgedrückt: Kirchliche Organisation dient bei ihm der Kommunikation des Evangeliums mit allen und durch alle Medien – vornehmlich durch Wort und Sakrament. Weiterhin wird deutlich, dass das Priestertum aller Gläubigen der zentrale theologische Bezugspunkt für die Ausformulierung einer ‚Pastoraltheologie‘ ist. Wagner-Rau und Menzel betonten den damit einhergehenden notwendigen christlichen Pluralismus und die Akzeptanz unterschiedlicher mündiger Glaubensformen. Herbst und Alex betonten eher die aus der Gottesrelation hervorgehenden Seinsweisen der ‚allgemeinen Priester‘. Der gemeinsame Schnittpunkt der beiden Positionen ist der Aspekt der Mündigkeit – wobei dies im Falle des liberalen Paradigmas in der Tendenz vorausgesetzt wird. Im missionarischen Paradigma wird Mündigkeit als ein Sein im Werden aufgefasst. 195 Die im liberalen Paradigma stark gemachte Pluralität ist dem missionarischen Paradigma nicht fremd – genauso wenig wie die damit einhergehende Toleranz und Befürwortung derselben. Im missionarischen Paradigma wird eine tolerante und liebende Haltung gegenüber anderen jedoch zusätzlich kreuzestheologisch qualifiziert. 196
195 Vgl. dazu Herbst/Stahl (2018), 226. 196 Vgl. Kap. 7.2.2, S. 293.
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In der Auseinandersetzung mit dem Pfarramt wird eine weitere Gemeinsamkeit deutlich: Pfarrerinnen und Pfarrer haben keinen ontologisch anderen Status und auch keine grundsätzlich anderen Aufgaben als die ‚allgemeinen Priester‘. Für alle gilt, dass der Auftrag der Verkündigung konstitutiv ist – oder wiederholend in Wagner-Raus Worten: „alle Getauften sind für die Verkündigung des Evangeliums gleichermaßen ausgestattet und geeignet wie auch dazu beauftragt.“ 197 Wie bereits gesagt, wird diese Beauftragung im missionarischen Paradigma stärker betont. Im liberalen Paradigma ist mit Wagner-Rau eher auf die Rede vom Leben als Fragment zu verweisen, wenn es um die Seinsweise der allgemeinen Priester geht. Weiterhin besteht Einigkeit in der Rolle des Pfarramtes: Im Unterschied zu den allgemeinen Priestern geht mit dem Pfarramt eine theologische Qualifikation einher, die erwarten lässt, dass man vor allem für die öffentliche Präsenz des Evangeliums Sorge tragen kann. Dies bedeute vor allem die Verwaltung von Wort und Sakrament, was in beiden Denkrichtungen mit der Confessio Augustana begründet wurde. Hinsichtlich der Bedingungen der Möglichkeit von Kirche besteht ebenfalls Einigkeit: Wort und Sakrament (CA VII) machen gewiss, dass eine Versammlung ‚Kirche‘ ist. Konsens ist ebenfalls, dass diese ‚schlanke Ekklesiologie‘ besonders viel Gestaltungsfreiraum lässt und somit pluralitätsaffin ist. In beiden Paradigmen spielt auch der Gedanke einer ecclesia invisibilis eine Rolle. Allerdings wird dies in zwei unterschiedliche Richtungen ausgelegt: Herbst verdeutlichte, dass die vorhandene Kirche der Ort sei, an dem die unsichtbare Kirche verborgen sei. Wagner-Rau sah eine solche Begrenzung nicht. In beiden Konzepten spielen die kirchentheoretischen Handlungslogiken von ‚Institution‘, ‚Organisation‘ und ‚Gruppe und Bewegung‘ eine besondere Rolle. Sowohl Wagner-Rau als auch Herbst gingen davon aus, dass alle drei Handlungslogiken vorhanden und zu bejahen seien. Trotzdem setzten sie unterschiedliche Schwerpunkte. Der gemeindlichen Versammlung zum Gottesdienst räumten jedoch beide einen hohen Stellenwert ein. Dieser Aspekt ist nahe an der Handlungslogik ‚Gruppe und Bewegung‘, der Herbst eine besondere Relevanz beimaß. Wagner-Rau hingegen spielte die Bedeutung dieser Handlungslogik herunter, da sie durch diese Sozialformen die Arbeit in der Öffentlichkeit eher gefährdet sah. Menzel war hier im Vergleich zu Wagner-Rau noch deutlicher. Wagner-Raus Schwerpunkt lag auf der Handlungslogik ‚Institution‘ und war offen für die Handlungslogik ‚Organisation‘. Herbst wiederum zeigte, dass nach der Handlungslogik ‚Gruppe und Bewegung‘ vor allem die Handlungslogik ‚Organisation‘ im missionarischen Paradigma wertgeschätzt werde. Zu vermerken ist, dass im missionarischen Paradigma vor allem hinsichtlich der Handlungslogik ‚Gruppe
197 Wagner-Rau (2012), 120.
Erarbeitung theologisch relevanter Felder in der Diskussion um das Pfarramt
und Bewegung‘ Pluralität eingefordert wird. In beiden Paradigmen wird der mögliche Binnenbezug von Gruppen kritisiert. Hinzuzufügen ist auch, dass beide kirchentheoretischen Modelle Schrumpfung und Rückgang bei den Kirchenmitgliederzahlen und folglich auch in der Kirche als Organisation erwarten. Dies ist unabhängig von den jeweils favorisierten soziologischen Modellen. Ein Unterschied besteht allerdings darin, wo die kirchentheoretischen Modelle ansetzen, um einen Modus zum Gegensteuern zu finden: Wagner-Rau akzeptierte die Schrumpfung und legte Wert auf Offenheit und Öffentlichkeit, die unabhängig von der Größe nicht verloren gehen solle. Herbst setzte auf die Stärkung und Öffnung der eher verbunden Kirchenmitglieder mit Projekten, die für deren jeweilige Lebenslage angemessen seien. Knapp gesprochen wird Innovation im liberalen Modell in der Tendenz von außerhalb erwartet und im missionarischen Modell von innen. Trotz dieses Unterschiedes ist beiden Paradigmen gemeinsam, dass sie nach außen hin ausgerichtet sind. Im liberalen Paradigma wird dies mit dem Öffentlichkeitsbegriff begründet, der am Predigtamt festgemacht wird. Im missionarischen Paradigma ist der Bezug auf die Welt – vor dem Hintergrund der (trinitarischen) Bewegung Gottes auf diese zu – konstitutiv. Insgesamt zeigt sich eine große Schnittmenge an Übereinstimmungen sowohl in den angeführten theologischen Bezugspunkten als auch in deren Auslegung. Besonders interessant sind natürlich nun die Unterschiede, die sich den Feldern: ‚Missionstheologie‘, ‚Priestertum aller Gläubigen‘ und ‚Gemeinde‘ zuordnen lassen. Diese sollen im folgenden Kapitel untersucht werden. Hinzuzufügen ist, dass jedes dieser Themen in einer Tiefe behandelt werden könnte, die eine weitere eigenständige Monographie rechtfertigen würde. Als Begrenzung bleibt hier allein das Forschungsfeld Pastoraltheologie, d.h. es wird vornehmlich der Stand der pastoraltheologischen Forschung zu den unterschiedlichen Bezugspunkten herangezogen und diskutiert werden.
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8.
Diskussion theologisch relevanter Felder für eine Pastoraltheologie im Kontext der ländlich-peripheren Räume Ostdeutschlands
8.1 Verständnis der Grundlage: missio dei Es wurde gezeigt, dass in den beiden kirchentheoretischen Modellen, die für die ländlichen Räume in Ostdeutschland ins Gespräch gebracht wurden, Mission als missio dei zur Grundlage gehört. Gott selbst ist als trinitarischer Gott Subjekt der ‚Sendung‘, die er in der Sendung des Sohnes sowie des Heiligen Geistes vollzieht. Diese Sendung ist auf die Welt hin ausgerichtet und die Kirche nimmt an dieser Sendung teil und wird so Teil dieser Bewegung in die Welt hinein. Dieser Konsens in Bezug auf die missio dei reicht jedoch kaum weiter als bis zur trinitarischen Begründung der Mission. Missionarisches und liberales Paradigma weisen hinsichtlich des Themas Mission dann deutliche Unterschiede auf. Diese sollen nun diskutiert werden. Im Einzelnen geht es um das Verhältnis von Mission und Wachstum und Überlegungen zum Missionsbegriff, die dessen negative Beiklänge betrachten. Wichtig dabei ist die Frage nach dem Verhältnis von Mission und Dialog. Am Ende dieses Kapitels wird ein Vorschlag von Menzel aufgegriffen, die das missionstheologische Konzept von Sundermeier für weiterführend hielt. Dieser Vorschlag wird im Sinne eines möglichen Konsenses zwischen den beiden Paradigmen ausgelotet.
8.1.1 Mission und Wachstum? Menzel und Wagner-Rau kritisierten unisono, dass die Rede vom quantitativen Wachstum als kapitalistisch missverstanden werden könne. 1 Für beide gehören der Begriff Mission und der Begriff Wachstum auf bestimmte Weise untrennbar 1 Wagner-Rau (2012), 90 u. Menzel (2019), 106.
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zusammen. Insofern Wachstum nach Meinung beider derzeit wenig realistisch ist, wollen sie lieber auf Missionskonzepte verzichten, um Überforderungen und unnötige Enttäuschungen zu umgehen. Schrumpfung und Rückbau werden deswegen akzeptiert und qualitatives Wachstum eingefordert, während quantitatives Wachstum aus besagten Gründen abgelehnt wird. Die Ablehnung und Kritik des quantitativen Wachstums vermag jedoch nicht zu überzeugen. 2 Erstens müsste geklärt werden, inwiefern qualitatives Wachstum im Gegensatz zu quantitativem Wachstum per se nicht überfordernd sein soll. Warum sollte es leichter sein, für qualitatives Wachstum zusätzliche Kräfte freizuspielen? Zeugt nicht die Rede von Wagner-Rau über die gottesdienstlichen Angebote, die mit den „oft faszinierend gut gemachten Inszenierungen der öffentlichen Kultur schwer konkurrieren“ 3 können und ‚provinziell wirken‘ davon, dass qualitatives Wachstum ebenso Kräfte kostet wie quantitatives Wachstum? 4 Die einseitige Bevorzugung des qualitativen Wachstums geht weiterhin mit einer Fehleinschätzung einher. Es wurde behauptet, dass quantitatives Wachstum unwahrscheinlich bzw. realitätsfern sei. Diesbezüglich muss man allerdings unterscheiden: Es ist Konsens, dass die Makrotrends kein Wachstum verheißen. Demographische Entwicklungen, Tendenzen der Säkularisierung sowie weitere Faktoren zeigen, dass die Kirchenmitgliedschaft in Ostdeutschland im Großen und Ganzen weiter abnehmen wird. Von dieser globalen Einschätzung ist jedoch die regionale und lokale Situation zu unterscheiden. 5 Es ist zuzustimmen, dass quantitatives Wachstum als Ziel für die Kirchenmitgliedschaft nach menschlichem Ermessen eine Überforderung darstellt, aber in anderen Belangen ist quantitatives Wachstum weder unrealistisch noch überfordernd. Das Gegenteil ist der Fall 6: Wachstum ist in bestimmter Hinsicht nicht nur möglich, sondern auch notwendig. Eine Akzeptanz von Schrumpfung ohne Umbaumaßnahmen und ein dementsprechendes passives Verhalten im Rückbau würde zu Peripherisierung und steigender Dysfunktionalität der ohnehin schon stark gedehnten kirchlichen Organisation in den ländlichen Räumen Ostdeutschlands führen. Neue nachhaltige Strukturen müssen gefunden und aufgebaut werden. So ist die Ablehnung und Stigmatisierung der Kategorie des Wachstums alles andere als angebracht.
2 Vgl. dazu auch Pickel, der eine generelle Wachstumskritik ebenso für falsch hält und eher eine Diskussion über ein mögliches Wie? anrät: Pickel (2011a), 74, Anm. 30. 3 Wagner-Rau (2012), 86. 4 Wagner-Rau (2012), 86. 5 Dies wurde ausführlich im Kapitel zur kirchlichen Regionalentwicklung dargelegt. Vgl. Kap. 4.4, S. 198ff. 6 Neben den in dieser Arbeit angeführten Belegen, sei auch auf Wegner verwiesen: Wegner (2019), 103.
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Dem liberalen Paradigma wird in einem anderen Zusammenhang nachgesagt, dass es sich wenig um die empirischen Bedingungen zur Möglichkeit von Kirche kümmere: In der Relativierung des Feldes der kirchlich und religiös Verbundenen und Engagierten im Modus der Vielfalt werde eine gefährliche Gleichgültigkeit gegenüber Grunderfordernissen der Reproduktion von Kirche und Religion an den Tag gelegt. 7
Wenn nun auch noch das quantitative Wachstum permanent kritikwürdig ist, kommt vor allem eines zum Ausdruck: Im Bilde gesprochen wird dem Ergehen des Gasthauses wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Angemessener erscheint deswegen eine vertiefende theologische Reflexion der Kategorie ‚Wachstum‘, wie Herbst sie vorgenommen hat. 8 Eine Reflexion zu biblischen Textpassagen und eine Vertiefung durch Gedankengänge von Barth bringen wertvolle Unterscheidungen zum Vorschein: So ist beides, qualitatives wie quantitatives Wachstum, theologisch sinnvoll und angemessen. Herbst fasste zusammen: Es geht nicht um Macht und Größe der Gemeinde. Menschen werden nicht zu Ziffern in der kirchlichen Erfolgsstatistik. Es geht auch nicht um Wachstum um jeden Preis – auch um den Preis, das Evangelium billig anzupreisen. Es geht um Gottes Reich, nicht das der Kirche. [. . . ] Es geht [. . . ] um ein Wachsen, das dem Dienst der Gemeinde in der Welt dient [. . . ]. Es geht um Jesus, der zunimmt, während wir abnehmen. 9
Diese Unterscheidung wendet sich zum einen gegen ein Wachstum, welches der ‚Bestandssicherung‘ 10 dient und zum anderen auch gegen ein Wachstum, welches auf Vergrößerung oder Machtzuwächse der eigenen Gemeinde oder Denomination zielt. 11 Theologisch zielt die Rede vom Wachstum auf das Wirken des Heiligen Geistes, dessen ‚Lebenskraft‘ die Gemeinde zum Wachsen bringen wird. 12 Mit Barth hielt Herbst fest: Als Gemeinschaft der Heiligen lebt die Gemeinde, weil und indem Jesus lebt. Jesus ist die ihr innewohnende, immanente Lebenskraft, die Kraft, in der sie wächst, in der also auch sie lebt. 13
Für Barth ist Wachstum deshalb theologisch intendiert, weil „die Gemeinde zur Erfüllung ihrer Aufgaben in der Welt immer weiterer Heiliger bedürfe“ 14. Gleich7 8 9 10 11 12 13 14
Wegner (2019), 80. Herbst (2018), 61–65. Herbst (2018), 64. Wagner-Rau (2012), 90. Vgl. Herbst (2018), 64. Herbst (2018), 64. Herbst (2018), 63, zitiert: Barth (1955), 737. Herbst (2018), 63, zitiert: Barth (1955), 731.
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zeitig sieht Barth, dass das Wachstum auch in die Tiefe geht, insofern die Gemeinde mit dem ihr ‚anvertrauten und anbefohlenen Heiligen‘ umgeht. 15 Dass es hierbei nicht um Perfektion geht, sondern das Leben jenseits von Eden und diesseits des himmlischen Jerusalem fragmentarisch bleibt, ist in dieser Sichtweise ebenso mitgedacht. 16 So gehört quantitatives und qualitatives Wachstum theologisch gesehen zusammen. Angesichts der derzeitigen Makrotrends gehört diese theologische Reflexion zu den Dingen, die die Kirche daran erinnern, mit den ihr gesetzten Grenzen nicht ‚klaglos‘ umgehen zu können. 17 Das erzeugt durchaus eine Spannung im Glauben, wie sie auch Wagner-Rau beschrieb. 18 Diese Spannung kennt allerdings mehr als nur die Assoziation von Niedergang und Versagen. Sie lädt vielmehr zu einem Perspektivwechsel ein. 19 Zulehner nannte das eine notwendige „Umkehrung der Entwicklungsperspektive“ 20. Er führte dazu aus: Lesen wir kirchliche Statistiken und beobachten diese über Jahre hinweg, so verwenden wir nach wie vor das an die Konstantinische Ära gebundene Wort ‚nur noch‘. Wir denken, dass es eigentlich 100% [sic] sein müssten. Würden wir respektieren, dass die Menschen wählen können und müssen, wäre es angebracht, von 0% [sic] hinaufzuzählen. Dann könnten wir jeden, der das Evangelium als innerste Richtschnur seines Lebens und des Zusammenlebens in der zusammenwachsenden Welt wählt, als ‚Wunder‘ betrachten. Es wäre auch die Zeit der jammervollen Kirchendepression vorbei. Wir könnten uns über jeden Dazugewonnenen freuen. Dieser Perspektivenwechsel setzte freilich voraus, dass wir nicht den schrumpfenden Bestand intelligent verwalten, sondern uns auf eine missionarische Gründerphase einstellten. 21
Somit wird deutlich, dass die Rede vom Wachstum eine Erinnerung und eine Verheißung ist. Bestandssicherung und Machtzuwachs können in diesem Sinne niemals das Ziel von Mission sein. 22 Es ist jedoch kein Widerspruch, wenn gleichzeitig gilt, dass es eine Aufgabe der Kirche ist, qualitatives und quantitatives Wachstum anzustreben. Dieses ist nämlich kein Selbstzweck, sondern dient der Mission Gottes. Der Verzicht auf einen Wachstumsbegriff schränkt Handlungsbegründungen und Handlungsmöglichkeiten unnötig ein und verstärkt möglicherweise gefährliche Dynamiken wie bspw. die der Peripherisierung.
15 16 17 18 19 20 21 22
Herbst (2018), 63, zitiert: Barth (1955), 733f. Vgl. Herbst (2018), 63, verweist auf: Barth (1955), 734f. Vgl. Wagner-Rau (2012), 73f. Vgl. Kap. 7.2.1, S. 278. Vgl. Herbst (2018), 67–72. Zulehner (2015), 14. Zulehner (2015), 14. „Nicht die Kirche betreibt zu ihrer eigenen Vergrößerung oder Erhaltung unter anderem Mission“ (Herbst (2018), 198ff).
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Die Gefahr, einer kapitalistischen Wachstumsideologie aufzusitzen, wird jederzeit möglich bleiben. 23 Wo dies geschieht, ist das von einem theologisch reflektierten Wachstumsbegriff her zu kritisieren. Auf diese Art wird jeder Kirchenund Regionalentwicklung ein permanentes theologisches Arbeiten eingestiftet, welches den Ab-, Auf- und Umbau von Strukturen ständig begleitet und kritisch hinterfragt. Missionstheologisches Arbeiten in diesem Sinne dürfte sich somit als theologisch und praktisch-kirchenentwicklerisch fruchtbar erweisen. Denn es geht nicht um die Erhaltung der Kirche, wie sie ist, sondern um die Gestaltung der Kirche in bestmöglicher Adaption zu der ihr vorauslaufenden Mission Gottes.
8.1.2 Mission – ein Begriff mit unangenehmem Beigeschmack? Der Zusammenhang von Wachstum und Mission ist nicht der einzige Kritikpunkt am Missionsverständnis. Wagner-Rau fürchtete, dass die Schattenseiten des Missionsbegriffs die Rezeption in der Öffentlichkeit beeinflussen. 24 Sie beschrieb zwar, dass dem Missionsbegriff kein „imperialer Gestus“ 25 mehr innewohne und es eine „hohe Sensibilität gegenüber den Schattenseiten der eigenen Geschichte“ 26 gebe. Sie ist jedoch trotzdem der Meinung, dass eine „Verbindung von Mission und Kolonialismus bzw. Imperialismus als problematischer Zusammenhang bestehen [bleibt], der die Rezeption des Missionsbegriffs im öffentlichen Raum mitbestimmt.“ 27 Ob es gerade der Zusammenhang von Mission und Imperalismus ist, der für einen ‚unangenehmen Beigeschmack‘ des Missionsbegriffes verantwortlich ist, lässt sich sicherlich nur schwer belegen. Hinsichtlich des Missionsbegriffs im öffentlichen Diskurs fällt zumindest auf, dass mehr und mehr Firmen ihr Unternehmensleitbild als Mission Statement vorstellen. In diesem Zusammenhang gibt es also zunächst einmal eine wenig problematisierte Verwendung des Begriffes Mission im öffentlichen Raum. Allerdings ist es sowohl schwierig als auch wenig ratsam den Gebrauch eines Begriffes von schnell wechselnden Debatten abhängig zu machen. Sinnvoller ist es, der Begriffsgeschichte nachzugehen und die Vorwürfe zu prüfen. Wagner-Rau 23 Dies gilt allerdings auch für die theologisch starke Rede Wagner-Raus vom ‚Leben als Fragment‘. Diese wurde vor dem Hintergrund derzeitiger kapitalistischer Auswüchse kritisiert. Sie verstärke die Fragmentierung des Lebens, die durch die Herrschaft des Marktes entstehe (vgl. Wagner-Rau (2014). Mit klarer theologischer Unterscheidung widersprach Wagner-Rau diesem Vorwurf (vgl. Wagner-Rau (2014), 39). 24 Wagner-Rau (2012), 88. 25 Wagner-Rau (2012), 90. 26 Wagner-Rau (2012), 90. 27 Wagner-Rau (2012), 88.
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stellte ja schon fest, dass dem heutigen Begriff von Mission ein ‚imperialer Gestus‘ fremd sei. Dies muss insbesondere für den Missionsbegriff gelten, der von der missio dei her entwickelt wurde. Die Ursprünge dieses Missionsbegriffs liegen in der Mitte des 20. Jahrhunderts und die Rede von der missio dei ist „einer der größten Paradigmenwechsel der Missionstheologie im 20. Jahrhundert“ 28. Missio dei führte zu einer „Neubegründung von Mission im 20. Jahrhundert.“ 29 Weiterhin verwies Wagner-Rau darauf, dass eine ‚missionarische Initiative‘ ein Leitungs- und Minderheitenphänomen sei, weswegen „das Missionarische“ 30 in der Kirche nicht zur „zentralen Perspektive der zukünftigen Orientierung“ 31 gemacht werden sollte: Die missionarische Initiative der Gegenwart hingegen geht primär von den kirchenleitenden Gremien und Personen aus. Der Elan der Basis, sich einem missionarischen Selbstverständnis zu verschreiben, ist offenkundig begrenzter – jedenfalls wenn man sich jenseits der Gruppierungen bewegt, für die ein missionarisches Selbstverständnis traditionell unverzichtbar ist. 32
Dieses Argument der Minderheitenposition ist nur dann zutreffend, wenn man die ‚traditionelle Gruppierung‘, zu der Mission als Selbstverständnis dazugehört, auf ‚evangelikale Christinnen und Christen‘ eingrenzt. 33 Schaut man aber besonders auf den ostdeutschen Kontext, dann zeigt sich, dass ein missionarisches Selbstverständnis in der Kirche und der akademischen Theologie breiter rezipiert wurde. Hier muss auf Ratzmann hingewiesen werden, der sieben Merkmale einer ostdeutschen Praktischen Theologie rekonstruierte. 34 Im Hinblick auf eine ostdeutsche Praktische Theologie führte Ratzmann aus: Sie ist missionarisch. Die grundlegenden Texte über die ökumenische Diskussion der ‚missionarischen Struktur der Gemeinde‘ und das Verständnis der Mission als missio dei prägte nicht nur die Praktische Theologie, sondern wurde auch kirchenleitend zur Norm. 35
28 29 30 31 32 33 34
Todjeras (2016), 57. Todjeras (2016), 59. Wagner-Rau (2012), 91. Wagner-Rau (2012), 91. Wagner-Rau (2012), 91. Vgl. dazu Herbst (2017a), 433. Zu diesen sieben Merkmalen gehört neben Religions- u. Kulturkritik, Gemeindenähe, Bibelorientierung, Nähe zur Kunst, Praxisorientierung in der Lehre, politischer Interessiertheit und Engagement eben auch ein missionarisches Selbstverständnis (vgl. Ratzmann (2011), 192). 35 Ratzmann (2011), 192.
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Diese Perspektive einer ostdeutschen Praktischen Theologie soll wieder ins Gespräch gebracht werden. Ratzmann ist davon überzeugt, dass dies für zukünftige Entwicklungen in der Kirche fruchtbar sein könnte: Dennoch habe ich den Eindruck, dass viele Traditionen der ostdeutschen Praktischen Theologie dabei nicht einfach beiseite geschoben, sondern neu ins Gespräch gebracht werden könnten und sollten. Auch wenn sie unter ganz eigenen gesellschaftlich-kirchlichen Bedingungen ausgeprägt wurden, sind sie heute nicht bedeutungslos. 36
So kann gerade für Ostdeutschland festgehalten werden, dass es eine umfassende Debatte zur missio dei gab, die schlussendlich einen guten Teil des Selbstverständnisses der Kirchen als ‚missionarische Gemeinde‘ ausmachte. 37 ‚Mission‘ ist – wie Ratzmann darlegte – in den kirchlichen und akademischen Diskursen in Ostdeutschland kein negativ besetzter Begriff. Erst kürzlich haben Deeg und Junkermann darauf verwiesen, dass die Erkenntnisse aus dem Diskurs um die missio dei im Osten zu den Dingen gehöre, die im Dialog zwischen Ost und West wieder aufgenommen und nachgeholt werden müssen. 38 An einem Beispiel kann die Bedeutung und der Wert des missionarischen Selbstverständnisses sicherlich am besten verdeutlichet werden: Ratzmann würdigte Mendt, einen Vertreter der Theologie der missio dei in der DDR und verdeutlichte dabei, wie das Missionsverständnis in Ostdeutschland seine Wirksamkeit entfaltete. Über Mendt schrieb Ratzmann: Auch der kirchenfeindliche Funktionär bleibt für ihn ein Mensch, um den Gott in seiner Mission keinen Bogen macht. 39
Missionstheologie war in Ostdeutschland der Grund dafür gewesen, sich auf die durchaus nicht wohlgesonnene Umwelt einzulassen und selbst in ihr dem Handeln Gottes nachzugehen. In diesem Sinne kann man nicht von einer Rezeption des Begriffes ausgehen, die diesen in einen missverständlichen Kontext stellt. Im Gegenteil: ‚Mission‘ [ist] weit entfernt von jeder die eigene Position überhöhenden und das Gegenüber als defizitär wahrnehmenden Haltung, sondern grundsätzlich dialogisch und lernbereit. 40
Vor diesem Hintergrund verwundert es doch sehr stark, dass gerade Menzel, die auf diesem Gebiet gearbeitet hat, den Missionsbegriff zurückstellt. Sie behauptete, 36 37 38 39 40
Ratzmann (2011), 293, vgl. a. 294. Deeg/Junkermann (2020), 235. Vgl. Deeg/Junkermann (2020), 243ff. Vgl. Deeg/Junkermann (2020), 245, zitiert: Ratzmann (2008b), 241. Deeg/Junkermann (2020), 245.
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dass mit dem Missionsbegriff eine defizitorientierte Wahrnehmung von Nichtchristen einhergehe. 41 Dies stellt einen weiteren Kritikpunkt am Missionsbegriff dar. So ist zu fragen: Wohnt dem missionarischen Paradigma in der Tendenz eine defizitäre Sicht auf Menschen inne? 42 Menzel bejahte dies und votierte deswegen für den Dialog, in dem – nach Tiefensee – ein ‚Alteritätsmodell‘ anstelle eines ‚Defizienzmodells‘ vorherrsche. 43 Ziel des Alteritätsmodells ist, „den Kontakt zur anderen Seite und das intensive Miteinander auf allen möglichen Ebenen zu suchen, um sich gegenseitig voranzubringen und dabei das jeweils andere Profil zu schärfen“. 44 Ebenso hielt Wagner-Rau einen Dialog vorzugswürdig. Da beim Gegenüber kein Defizit ausgemacht werde, müsse es auch nicht von einer vermeintlich ‚besseren‘ christlichen Position überzeugt werden. Wagner-Rau definierte den ‚missionarischen‘ Dialog deswegen wie folgt: Heute wird ‚Sendung‘ weniger auf Intention der Zustimmung zur eigenen Botschaft gerichtet sein und mehr darauf, den Austausch mit Anderen zu suchen, den Beitrag der eigenen Überzeugungen und religiösen Bindung für das Leben aller kenntlich zu machen und die Möglichkeit zur Kooperation, zur Verständigung und Unterstützung auszuloten. 45
Anhand dieses Zitates wird deutlich, dass Wagner-Rau sämtlicher Übergriffigkeit aus dem Weg gehen möchte. Menschen, die mit Kirche in Kontakt kommen, sollen sich frei fühlen. Erwartungen an den Anderen sollen niedrig bis nicht vorhanden sein – gerade auch gegenüber der ‚eigenen Botschaft‘, die man eben nicht intentional und überzeugend zu Gehör bringen solle. 46 Überblickt man die Beschreibungen des Dialogs bei Wagner-Rau und Menzel, dann zeigt sich vor allem ein wertschätzender und kooperativer Umgang mit dem jeweiligen Gegenüber. Dies gehört zu den Schnittmengen mit dem missionarischen Paradigma, in dem ebenfalls Indoktrination und Überwältigung abgelehnt werden. 47 Allerdings zeigt sich, dass Wagner-Rau und mit ihr auch Menzel auf die Förderung der „freie[n] Zustimmung der Angesprochenen“ 48, die zum missionarischen Paradigma gehört, lieber verzichten. Diese Dimension des missionari41 42 43 44 45 46 47
Menzel (2019), 106. Menzel (2019), 106. Menzel (2019), 106f. Menzel (2019), 106, zitiert: Tiefensee (2002), 213–215. Wagner-Rau (2012), 109. Wagner-Rau (2012), 109. Vgl. dazu die Darstellung des Ergebnisses der EKD-Synode von 1999 in Leipzig zum Thema Mission bei Wagner-Rau: „Mission wird deutlich unterschieden von Indoktrination und Überwältigung. Missionarisches Handeln habe vielmehr dialogischen Charakter, sei geprägt vom Respekt gegenüber den Überzeugungen des Anderen und ziele auf freie Zustimmung der Angesprochenen“ (Wagner-Rau (2012), 89). 48 Wagner-Rau (2012), 89.
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schen Zeugnisses wird von beiden deutlich in den Hintergrund gestellt, um so die Wertschätzung der Position des Anderen zu garantieren. Anders sind die Aussagen wohl kaum zu verstehen, wenn es bspw. heißt, dass ‚jeder in seinem Profil geschärft werden soll‘. 49 Wichtiger als das Element des Zeugnisses ist für Wagner-Rau ein ethisches Kriterium: „in den Kulturen der Gastfreundschaft [ist, BS] der wechselseitige Respekt unverzichtbar“ 50. Schaut man auf die missionarische Haltung, die Ratzmann so pointiert für den Theologen Mendt beschrieb, dann kommt man bei dem von Wagner-Rau und Menzel vorgestellten Konzept ins Fragen. Wie ist denn mit einer Situation umzugehen, in der der wechselseitige Respekt ausfällt? Offensichtlich ist das zu DDR-Zeiten der Fall gewesen. An Mendt wird jedoch deutlich, dass in der missio dei eine Art Feindesliebe leitend ist, die auf ein Wissen über Gott zurückgeht, der durch den Sohn diese Welt versöhnte. Es sind also zuerst die dogmatischen Gehalte des Gottesglaubens, die zur Dialogbereitschaft führen. Dieser Dialog wird gesucht, um Gott in seiner Mission zu folgen. Der wechselseitige Respekt kann sich einstellen – muss aber nicht. Wichtiger ist der Auftrag, sich in der Welt zu engagieren und den missionarischen Gott in Wort und Tat zu bezeugen, so dass seine Liebe für diese Welt kommuniziert wird. Es sollte offensichtlich sein, dass diese Liebe respektvoll und langmütig ist und ebenso ein Ziel hat. Zusammenfassend ist für diesen Abschnitt festzuhalten, dass von Wagner-Rau in der öffentlichen Rezeption des Begriffes Mission ein negativer Beigeschmack ausgemacht wurde. Ebenso trägt der Vorwurf der Defizienzorientierung zu einer Abwertung des Missionsbegriffes bei. Vor dem Hintergrund einer ostdeutschen Praktischen Theologie konnte jedoch der Wert des Missionsbegriffes gezeigt werden: Mission ist die Bewegung des trinitarischen Gottes in die Welt, die Christinnen und Christen auch dann noch zu Zeugnis und Dienst ermutigt, wenn der gegenseitige Respekt ausfällt. Trotzdem bleiben einige Fragen offen, bspw. wie sich Mission und Dialog zueinander verhalten. Dieses Thema kann im Zusammenhang einer pastoraltheologischen Studie nicht umfassend bearbeitet werden. Dennoch wurde von Menzel
49 In diesem Sinne ist wohl auch die Bevorzugung des Alteritätsmodells von Tiefensee gegenüber dem Defizienzmodell bei Menzel zu verstehen: Leitend ist hier die Andersartigkeit des Anderen, die sich in Bezug auf etwas Drittes, nämlich die ‚immer größere Wahrheit‘, eventuell ändert, aber nicht durch die Botschaft oder normativen Implikate seitens der Christen im Dialog (vgl. Menzel (2019), 106). Das Gott als dritte Größe im Dialog anwesend ist und wirkt, ist unbestritten. Ungeklärt erscheint allerdings das Verhältnis des sendenden Gottes zu der von Menzel abstrakt aufgerufenen ‚Wahrheit‘, die zur eigenen und zur Profilschärfung des Gegenübers führt. Es ist bei Menzel und Wagner-Rau unklar, auf welche Art und Weise die eigenen normativen Vorgaben – sprich die Sicht Gottes in den christlichen Kirchen als liebenden, sich selbst hingebenden und versöhnenden Schöpfer – mit einer vermeintlich im Dialog abstrakt anwesenden ‚Wahrheit‘ in Verbindung zu bringen sind. 50 Wagner-Rau (2012), 100.
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in den pastoraltheologischen Diskurs um das Pfarramt in den ländlich-peripheren Räume Ostdeutschlands das Konzept von Sundermeier eingetragen, mit dem Hinweis, dass es für diesen Kontext fruchtbar gemacht werden könnte. Dieser Vorschlag soll als nächstes aufgenommen werden, um zumindest ansatzweise einige Fragen zu klären und Einsichten in das Verhältnis von Mission und Dialog zu gewinnen.
8.1.3 Das Verhältnis von Mission und Dialog nach Sundermeier als Brücke zwischen liberalem und missionarischem Paradigma? In Bezug auf ‚Mission‘ besteht die Frage, wie Dialog und Zeugnis theologisch sinnvoll zusammenkommen und sich die Stärken des liberalen und des missionarischen Paradigmas vereinen lassen. Menzel schlug vor, dass das missionstheologische Modell von Sundermeier inspirierend und erhellend sein könne. 51 Da Sundermeier selbst seine Gedanken für Ostdeutschland ins Gespräch gebracht hat, 52 ist es durchaus sinnvoll, das missionarische Denken und Handeln durch seine Arbeiten bereichern zu lassen. Menzel verwies vor allem auf die von Sundermeier ins Gespräch gebrachte Konvivenz. 53 Insofern Sundermeier in der Konvivenz den Schwerpunkt des missionarischen Paradigmas, das Zeugnis, sowie den Schwerpunkt des liberalen Paradigamas, den Dialog, zusammendenkt, könnte hier der Pfad zu einem Konsens zwischen diesen beiden Paradigmen gefunden werden. Zur Konvivenz – die mit Hilfs-, Lern- und Festgemeinschaft umschrieben wird – kommt bei Sundermeier der Dialog und das Zeugnis hinzu. Bei ihm sind dies „die drei Seiten eines Prismas. Nur wenn sie ein Ganzes bilden, bricht sich leuchtend das Licht und gibt seinen wunderbaren Schein.“ 54 In der Studie Religion, Religiosität und christlicher Glaube wurde die Zusammengehörigkeit der Mission, des Dialogs und der Konvivenz dargestellt. 55 Im Sinne Sundermeiers wurde ausgeführt, wie der Bezug aller drei Elemente zueinander aufzufassen sei. Ausgegangen wurde dabei von zwei unterschiedlichen Leserichtungen der Trinität: ordo essendi 56 einerseits und ordo cognoscendi 57 andererseits. Während die 51 52 53 54 55
Menzel (2019), 108. Sundermeier (1996), 227. Menzel (2019), 108. Sundermeier (1999), 24. Sundermeier selbst verwies immer wieder auf diese Studie, an der er maßgeblich mitgewirkt hatte: Arnoldsheimer Konferenz (AKf) und Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirchen Deutschlands (VELKD) (1991), bes. 117–132. 56 Arnoldsheimer Konferenz (AKf) und Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirchen Deutschlands (VELKD) (1991), 117. 57 Arnoldsheimer Konferenz (AKf) und Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirchen Deutschlands (VELKD) (1991), 117.
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‚Ordnung des Seins‘ (ordo essendi) dem Apostolicum folgt und den Vater ‚an der Spitze‘ sieht, ist die Reihenfolge der Erkenntnis (ordo cognoscendi) umgekehrt: [A]n deren Spizte [steht] der Heilige Geist in seinem Werk, den Glauben zu schaffen. Sein ‚Thema‘ ist Jesu Wort, Werk und Person, die er vergegenwärtigt. Ihm folgt daher die Erkenntnis von Jesu Wort, Werk und Person. Jesu ‚Thema‘ ist die Zuwendung Gottes des Vaters und der Anbruch seines Reiches. Ihm folgt daher die Erkenntnis von Gottes, des Vaters, Welthandeln in Schöpfung und Regierung der Welt. Das gläubige christliche Selbstbewußtsein und damit alle Theologie geschieht in diesem ordo cognoscendi. 58
Die ‚Reihenfolge der Erkenntnis‘ (ordo cognoscendi) gibt die Zuordnung von Mission, Dialog und Konvivenz vor. Mission ist das Wirken des Heiligen Geistes: „Der Geist ist es, der die Kirche in Bewegung setzt, über ihre Grenzen hinauszugehen und das Zeugnis auszubreiten.“ 59 Über die Kirche ist deswegen zu sagen: Wir haben es also in der Geistgemeinschaft der Kirche mit der Jesu Wort, Werk und Person verkündigenden, d. h. mit der missionierenden Kirche zu tun. Nicht eine latente Kirche, die überall und nirgends ist, tritt in der Geistgemeinschaft hervor, sondern die konkrete Kirche als Mission. Das Geschehen, das das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen bestimmt, ist der Einbruch des Geistes Gottes als Zeugenschaft der Kirche. 60
Kirche ist demnach Kirche in der Kraft des Geistes als missionierende Kirche erkennbar, die Jesus Christus verkündigt. Auf dieser Grundlage aufbauend, wird das zweite Element, der Dialog, entfaltet: „Das Thema oder der Inhalt des kontingent einbrechenden Geist-Ereignisses ist das Evangelium, d.h. die Botschaft von Jesu Wort, Werk und Person.“ 61 Dieses ‚Geist-Ereignis‘ wird mit zwei Effekten beschrieben. Zum einen wird festgehalten: „Das Wort, Werk und die Person dieses israelitischen Mannes wird einem Menschen plötzlich d. h. unvorhersehbar und nicht mehr methodisch erreichbar zur Gegenwart seines Gottes.“ 62 Diese Anrede ergeht als „Anrede und Herausforderung zur Nachfolge“ 63. Charakteristisch für diese Anrede ist:
58 Arnoldsheimer Konferenz (AKf) und Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirchen Deutschlands (VELKD) (1991), 117f. 59 Arnoldsheimer Konferenz (AKf) und Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirchen Deutschlands (VELKD) (1991), 120. 60 Arnoldsheimer Konferenz (AKf) und Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirchen Deutschlands (VELKD) (1991), 120, Herv. original. 61 Arnoldsheimer Konferenz (AKf) und Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirchen Deutschlands (VELKD) (1991), bes. 121. 62 Arnoldsheimer Konferenz (AKf) und Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirchen Deutschlands (VELKD) (1991), 121, Herv. B. S. 63 Arnoldsheimer Konferenz (AKf) und Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirchen Deutschlands (VELKD) (1991), 121.
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Diese Anrede zwingt nicht, sondern setzt den anderen frei zur Nachfolge. Die Exousia (‚Vollmacht‘) des Wortes meint nicht eine zauberische Wirkung, sondern die Freisetzung zur Antwort. 64
Dies führt zu einem Verständnis von Dialog, „der zur Freiheit entbindet und keinen Zwang ausübt, weil er von der Liebe Gottes lebt – auch und gerade als Mission.“ 65 Insofern Gott, der Vater und Schöpfer, in der gesamten Welt handelt, wird dafür votiert, dass auch die Religionen zu Gottes ‚Welthandeln‘ gehören und nicht „bloßer Ausdruck dämonischer Mächte“ 66 sind. Das bedeutet einerseits, dass dem Christen im Dialog ‚echte Anfragen‘ begegnen, ob der eigene Glaube auch tief genug verstanden wurde und inwiefern sich beim anderen Fremdes und Bekanntes finden lässt. 67 Es geht bei der Freiheit des christlichen Glaubens gerade nicht darum, die eigene Wahrheit des Glaubens so festzuhalten, dass sie nicht für eine neue, verändernde Gottesbegegnung offen ist: „Nicht in unmittelbarer Behauptung der sog. ‚eigenen‘ Wahrheit, sondern im denkenden Sicheinlassen auf den anderen – gerade kraft ihrer – bewährt sie sich für ihn.“ 68 Dieser Gedanke lebt davon, dass sich der trinitarische Gott den Dialogteilnehmern bekannt macht und sich als ‚ihr‘ Gott erweist. Dass heißt: Den Christen begegnet Gott nicht als der gänzlich Unbekannte und dennoch ist ihr Wissen ‚Stückwerk‘. Den Nicht-Christen begegnet der immer schon anwesende Schöpfer dieser Welt in der durch Jesus Christus geschehenen liebenden Hinwendung zur Welt. Dieses Verhältnis von Evangelium, Kirche und Kultur hat Newbigin in der Tiefe bearbeitet. 69 Herbst fasst das Verhältnis von Evangelium, Kirche und Kultur im Sinne Newbigins wie folgt zusammen: Das Evangelium haben wir immer nur in einer kulturell gebundenen Gestalt. Und zwischen der Kirche und ihrem Verständnis des Evangeliums und dem Evangelium selbst ist darum zu unterscheiden. Das Evangelium bringt sich zu Gehör, indem wir mit denen, denen wir den christlichen Glauben nahebringen, zusammen hören, beten, in Gemeinschaft danach fragen, wer Jesus Christus heute für diesen speziellen kulturellen Kontext 64 Arnoldsheimer Konferenz (AKf) und Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirchen Deutschlands (VELKD) (1991), 121. 65 Arnoldsheimer Konferenz (AKf) und Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirchen Deutschlands (VELKD) (1991), 124f. 66 Arnoldsheimer Konferenz (AKf) und Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirchen Deutschlands (VELKD) (1991), 127. 67 Arnoldsheimer Konferenz (AKf) und Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirchen Deutschlands (VELKD) (1991), 125. 68 Arnoldsheimer Konferenz (AKf) und Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirchen Deutschlands (VELKD) (1991), 124. 69 Vgl. Newbigin (2017) u. als Überblick zum Denken Newbigins mit weiteren Literaturverweisen: Hunsberger (1991), 395.
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ist. Und dabei wird sowohl unsere Kultur als auch die Kultur derer, die neu gewonnen werden, vom Evangelium her beleuchtet, bestätigt, aber auch kritisiert, verändert und gefördert. 70
Darin klingt nun ein weiterer Teil des ‚Prismas‘ an, nämlich die Konvivenz. Das Welthandeln Gottes ist die Basis für die Konvivenz: „Die Konvivenz bezeichnet die Handlungsweise gegenüber der von Gottes Welthandeln umgriffenen oder auch erfüllten Weltwirklichkeit.“ 71 Die Handlungsformen der Konvivenz sind die bereits genannten Vollzüge des Helfens, wechselseitigen Lernens sowie des Feierns. Die Konvivenz betont gleichzeitig die Differenz, die Andersartigkeit des Anderen, die gewahrt wird. Hier kommt die Pluralität zum Zuge, die viele – kulturell bedingte – Ausdrucksformen des Glaubens kennt, denn: [d]ie Botschaft des Glaubens verharrt nicht in der Tradition der Verkündiger, sondern hört auf die Stimme der Hörer. Diese Tatsache charakterisiert die Gegenseitigkeit oder Wechselseitigkeit, um die es hier geht. 72
So ist die Konvivenz die Basis des Modells von Sundermeier, in der Mission und Dialog zu Hause sind: „Die drei Bewegungen – Mission, Dialog und Konvivenz – sind aber tatsächlich ein zusammengehöriges Geschehen. Es gibt keine Mission ohne den Dialog und ohne die Konvivenz, wie der Dialog und die Konvivenz Mission sind.“ 73 Hinzuzufügen ist weiterhin, dass bei Sundermeier die Grundlage für die Konvivenz der Kirche die Konvivenz der Jüngerinnen und Jünger mit Jesus ist. Diese werden durch das Zusammenleben mit ihm zu seinen Zeugen: Die Jünger werden nicht zu Zeugen bestellt, weil sie den wahren Glauben haben, weil sie die Wahrheit erkannt und wie einen Besitz austeilen können, sondern weil sie sich mit Jesus auf den Weg gemacht und ihn begleitet haben. [. . . ] Aus dem konvivialen Umgang mit Jesus wächst das Verstehen, lebt Erkenntnis. Dieser enge Zusammenhang von Zusammenleben und Erkenntnis, von – theologisch gesprochen – Nachfolge und Glaubensbekenntnis, darf nicht aufgelöst werden. Er ist auch das Modell für die Begegnung der Kirche mit den ihr Fremden. 74 70 Herbst (2019a), 231. 71 Arnoldsheimer Konferenz (AKf) und Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirchen Deutschlands (VELKD) (1991), 128. 72 Arnoldsheimer Konferenz (AKf) und Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirchen Deutschlands (VELKD) (1991), 129. 73 Arnoldsheimer Konferenz (AKf) und Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirchen Deutschlands (VELKD) (1991), 129. Präzisierend wird hinzugefügt: „Wo Mission, Dialog und Konvivenz nicht lebendig ausgreifendes Geschehen sind, da ist die Kirche Jesu Christi nicht. Wo ausschließlich die Pflege des corpus Christianum im Blickfeld der Kirche liegt, stirbt die Kirche ab“ (Arnoldsheimer Konferenz (AKf) und Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirchen Deutschlands (VELKD) (1991), 130). 74 Sundermeier (1996), 220.
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Diese Form der Konvivenz wird dann auch mit ‚Fremden‘ angestrebt. Motivation ist die Sendung Gottes in die Welt: „Die Kirche kann nicht anders, als sich dieser Bewegung, die sie in die ganze Welt führt, anzuschließen.“ 75 Den Zielgrund der Konvivenz beschrieb Sundermeier wie folgt: Das Evangelium lädt den Menschen ein, es stellt keine Bedingung, es anerkennt keine Unterschiede, seien sie rassischer, sozialer oder politischer Natur, und schenkt dem, der die Einladung annimmt, einen Lebensraum, in dem er angenommen ist und in eine Gemeinschaft inkorporiert wird, die ihm im Zusammenleben Freiheitserfahrungen gewährt. [. . . ] Das Evangelium spricht dem Menschen, der sich von Gott und dem Mitmenschen entfremdet und mit ihm verfeindet hat, das Lebensrecht zu und gewährt ihm den Lebensraum. Dieser ist Christus selbst, mit dem man in der Taufe verbunden wird und den man im Abendmahl empfängt. 76
Konvivenz in diesem Sinne ist als Leben im Schutzraum Christi aufzufassen, dessen Liebe niemanden exkludiert. Diese Liebe wirkt befreiend – und so hielt dann Sundermeier auch fest: „Die Alterität des anderen aber bleibt gewahrt. Ja, die Kirche wird sich für sie zu ihrem Schutz einsetzen.“ 77 In der Konvivenz werden deswegen die ‚bleibenden Unterschiede respektiert‘ 78. Grund dafür ist nach Sundermeier unmissverständlich die Liebe Christi: „dem Fremden zu begegnen und ihn zu verstehen, laufen letztendlich in dem einen Satz des Paulus zusammen: ‚Die Liebe Christi dringet uns also‘ (2. Kor. 5,14).“ 79 Um diese Gastfreundlichkeit zu leben und um sich für den Fremden so öffnen zu können, verwies Sundermeier mit dem Schlusssatz seines Buches Den Fremden verstehen auf das, was seiner Meinung nach gerade für Ostdeutschland angebracht sei: „Wir müssen [. . . ] deutlicher Kirche vor Ort sein, ‚but it may be even more important to recognize [. . . ] the demand for the church to be more Christian‘.“ 80 In diesem Sinne wäre die Betonung des liberalen Paradigmas, welches die Alterität des Anderen schützt und schätzt, mit dem missionarischen Paradigma, welches sowohl Zeugnis als auch Gemeinschaft des Glaubens als grundlegend erachtet, zusammenzubringen. Die theologische Rückbindung an die missio dei und die liebende Selbsthingabe Gottes ist beiden Paradigmen als theologischer Bezugspunkt ohnehin gemein. Konvivenz der Jüngererinnen und Jünger mit dem Herrn der Kirche als Basis für Zeugnis und Dialog sowie die Konvivenz der Kirche
75 76 77 78 79 80
Sundermeier (1996), 221. Sundermeier (1996), 209f. Sundermeier (1996), 221. Sundermeier (1996), 226. Sundermeier (1996), 222. Sundermeier (1996), 228, Herv. original, zitiert J.V. Taylor, Saints or Heretics? In: Basilea (FS Walter Freytag) Stuttgart 1959, 305–312, 312.
Diskussion theologisch relevanter Felder für eine Pastoraltheologie
mit der Welt als Ziel der Sendung Gottes scheint beide Modelle sinnvoll einen zu können. Dieser Konsens würde – weit gefasst – dem Konsens in ökumenischen Debatten folgen. 81 Hier konnten sich unter der missio dei unterschiedliche Flügel einigen und „[e]s entwickelte sich ein integrativer, ganzheitlicher Missionsbegriff, der ein Miteinander von verbaler Bezeugung des Evangeliums und sozialem Zeugnis für Gottes Gerechtigkeit umfasst.“ 82 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die missio dei als theologische Grundlage konsens- und tragfähig ist. Ihr wird nicht umsonst ein „versöhnliche[r], brückenschlagende[r] Charakter“ 83 bescheinigt. Gleichzeitig werden damit theologische Unterschiede nicht verdeckt, sondern können konstruktiv bearbeitet werden. Weitere Arbeiten, die sich mit dem ostdeutschen Kontext beschäftigen, könnten sicherlich von dieser Grundlegung profitieren sowie das Verständnis der missio dei vertiefen und präzisieren. Pastoraltheologisch ist besonders der Gedanke der Konvivenz der Jüngerinnen und Jünger mit dem Herrn der Kirche interessant, da diese im Sinne der Zusammengehörigkeit von Nachfolge und Glaubensbekenntnis eine grundlegende Struktur für die Gastfreundschaft und Mission der Kirche hat.
8.2 Priestertum aller Gläubigen, Predigtamt und Pfarramt 8.2.1 Das Priestertum aller Gläubigen und das Predigtamt Es konnte bereits gezeigt werden, dass sich sowohl das liberale Paradigma als auch das missionarische Paradigma auf das Priestertum aller Gläubigen beziehen. Die Lehre vom Priestertum aller Gläubigen gehört somit zu den grundlegenden theologischen Bezugspunkten und ist besonders für die Pastoraltheologie relevant. Im Vergleich der beiden Paradigmen und der damit einhergehenden kirchentheoretischen Modelle zeigen sich unterschiedliche Betonungen und Interpretationen des Priestertums aller Gläubigen: Wagner-Rau betonte den Aspekt der Unmittelbarkeit zu Gott. Insofern jeder Gläubige eine individuelle Beziehung zu Gott hat, leitete sie daraus eine notwen-
81 Vgl. bspw. den Beitrag des Department for Mission und Development des Lutherischen Weltbundes: Lutheran World Federation: Deptartment for Mission and Development (2004). Dort wurden die Möglichkeiten und Aufgabenfelder der Kirche in ihrer Mission dargestellt. Pointiert wurde dort festgehalten: „We cannot point to any other way to salvation than Jesus Christ; at the same time we cannot set limits to the saving power of God“ (Lutheran World Federation: Deptartment for Mission and Development (2004), 40). 82 Todjeras (2016), 65. 83 Todjeras (2016), 59.
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dige Vielfalt der Ausdrucksformen von Gottesbeziehungen ab sowie deren prinzipielle Gleichwertigkeit. Wagner-Rau führte weiterhin aus, dass die allgemeinen Priester alle ‚gleichermaßen ausgestattet und geeignet wie auch dazu beauftragt‘ sind, dass Evangelium zu verkündigen. 84 Mündigkeit und Verantwortung für den Glauben geht demnach mit dem Priestertum aller Gläubigen einher. Allerdings sei der Bereich der ‚Öffentlichkeit‘ die Spezialaufgabe des Pfarramtes – dieser Aspekt ist für Wagner-Rau die wesentliche Unterscheidung zwischen Amt des Pfarrers und Amt der Gemeinde. 85 Wichtige Aufgabe des Pfarramtes sei, die religiöse Kommunikation auch und besonders außerhalb der Gemeinde zu fördern. 86 Herbst hob in seiner missionarischen Konzeption vor allem die Zeugnisgemeinschaft hervor. Den allgemeinen Priestern ist die Verkündigung des Evangeliums anvertraut. Dieser Aspekt ist Konsens. Herbst sah allerdings die Mündigkeit der allgemeinen Priester als gegeben und zugleich als zu entwickeln an. Es ist ein Sein im Werden. Zu diesem Sein im Werden gehört die Notwendigkeit, das Predigtamt zu ordnen: Die allgemeinen Priester delegieren bestimmte Aspekte des Predigtamtes an das Pfarramt. Diese Delegation begründe keine Herrschaft, sondern sei als von Gott gestiftet notwendig, um ein Gegenüber des Wortes zur Zurüstung und zum Trost – mithin zur Verkündigung von Gesetz und Evangelium – zu garantieren. Zum Pfarramt gehöre deswegen die Bildung der Gemeinde. Herbst sprach deswegen vom Pfarrer als ‚Trainer‘. Weiterhin verwies Herbst auf die Leitung durch das Wort und leitete daraus im Zusammenhang mit dem Presbyterium eine Leitungsaufgabe des Pfarramtes auch in organisationaler Hinsicht ab. Ebenso wie Wagner-Rau kennt Herbst die Verantwortung für die „öffentliche Präsenz des Evangeliums und damit den regelmäßigen Dienst an Wort und Sakrament“ 87. So nahm auch Herbst das Pfarramt für die öffentliche Präsenz des Evangeliums in die Pflicht. Deutlich ist an dieser Stelle, dass auf der Basis des Priestertums aller Gläubigen sowohl ähnliche wie durchaus unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden. Allgemein ist zu beobachten, dass die Bezüge auf das Priestertum aller Gläubigen in der pastoraltheologischen Literatur oft sehr knapp gehalten sind. Eine Ausnahme bildet Karle, die ausführlich und kenntnisreich zum Priestertum aller Gläubigen innerhalb ihrer pastoraltheologischen Konzeption gearbeitet hat. 88 Ihre Ausführungen können helfen, die aufgezeigten Unterschiede einzuordnen 84 85 86 87 88
Wagner-Rau (2012), 120. Vgl. Kap. 7.2.1, S. 281. Vgl. Kap. 7.2.1, S. 290. Herbst (2017c), 9. Karle kann damit als Referenzpunkt zum Forschungsstand für die theologische Rezeption des Priestertums aller Gläubigen und des Predigtamtes in der pastoraltheologischen Forschung gelten.
Diskussion theologisch relevanter Felder für eine Pastoraltheologie
und zu bewerten. Darum sollen zunächst die Ausführungen von Karle zum Priestertum aller Gläubigen und dem Predigtamt dargestellt werden, um dann die gewonnenen Erkenntnisse in die Diskussion einfließen zu lassen. Zur Hinführung sei angemerkt, dass Karle die „Vermittlung einer Sachthematik“ 89 für Pfarramt und Kirche zentral stellte. Die Sachthematik identifizierte sie mit dem ‚Wort Gottes‘, welches „im Mittelpunkt des pastoralen Dienstes steht“ 90. Karle definierte: Der Begriff der Sachthematik ist bewußt abstrakt gehalten. Er bezieht sich auf die dogmatischen Inhalte und Programme evangelischer Theologie, die unterschiedlich akzentuiert und interpretiert werden können, die sich aber alle auf die Weckung und Erhaltung des Glaubens beziehen und damit auf Jesus Christus als das eine Wort Gottes, ‚das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.‘ 91
Die Sachthematik wurde von Karle mit zentralen Aspekten des christlichen Glaubens gefüllt, die zu kommunizieren seien: Es ist eine große theologische Herausforderung, über Kreuz und Auferstehung Jesu, Sünde und Erlösung, Abendmahl und Taufe und andere Zentralbegriffe des Christentums in einer Weise zu predigen, zu kommunizieren und zu diskutieren, die sowohl dogmatisch substantiell als auch existentiell relevant ist. 92
So wird bei der theologischen Grundlegung von Karle zweierlei deutlich: Zum einen vertritt sie einen Ansatz, der dezidiert auf theologische Grundlagenarbeit hinweist und diese auch einfordert. Sie ist dabei an Schrift und Bekenntnis orientiert. 93 Zum anderen wird innerhalb dieses Rahmens eine gewisse Weite und Pluralität deutlich, insofern Karle mit Schrift und Bekenntnis einen allgemeinen Konsens markiert, aber zunächst darauf verzichten konnte, eine bestimmte Interpretationsrichtung zu favorisieren. Ihr Hauptanliegen war zunächst, schlicht die ‚Sache‘ des Christentums zentral zu setzen. In diesem Sinne nimmt sie Aspekte des missionarischen Paradigmas auf, welches eng mit der Christologie verzahnt ist, und sie kennt ebenfalls die Betonung der Pluralität, die im liberalen Paradigma dominant ist. Pastoraltheologisch relevant ist die Frage, wer mit der Kommunikation der ‚Sachthematik‘ betraut ist. Hierfür setzte sich Karle mit dem ‚Allgemeinen Priestertum‘ auseinander, um ein evangelisches Amtsverständnis zu erarbeiten: 94
89 90 91 92 93 94
Karle (2001), 169. Karle (2001), 169. Karle (2001), 170, Herv. original, zitiert die Theologische Erklärung von Barmen, These 1. Karle (2011), 35. Karle (2001), 174. Vgl. dazu und zum Folgenden: Karle (2001), 140–147.
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Grundlegend für das evangelische Amtsverständnis ist, daß die Verkündigung des Evangeliums allen Christen aufgetragen ist, weil alle Christen Priester sind. 95 [. . . ] Die Allgemeinheit des Priestertums bezieht sich dabei nicht nur auf die priesterlichen [sic] Würde vor Gott, sondern zugleich auch auf die Pflicht, das Evangelium zu verkünden und für andere einzutreten. Das Priesteramt ist damit vor allem anderen Dienst am Wort und zwar am Wort des Evangeliums. Alle Priester sind zu diesem Dienst am Evangelium berufen, alle Getauften sind herausgefordert, ihren Glauben vor der Welt zu bezeugen und die Botschaft des Evangeliums weiterzugeben. Die vielgestaltige Bezeugung des Evangeliums vollzieht sich in der Wortverkündigung, in Taufe und Abendmahl, in der Seelsorge, im geschwisterlichen Gespräch an allen möglichen Orten und zu allen möglichen Zeiten und ist Voraussetzung dafür, daß Gott den Glauben wirkt. Das eine Priesteramt aller Christen ist mithin engstens gekoppelt mit dem einen Predigtamt, durch das Gott die Menschen zur Buße führen und erneuern, stärken und trösten, segnen und aufrichten will. Denn Gott hat die Verkündigung des Evangeliums allen Christen geboten um des Heils der Menschen willen. 96
Diese dichte Zusammenfassung zum Priestertum aller Gläubigen verfasst Karle in kenntnisreicher Auseinandersetzung mit Schriften Luthers sowie wie den Bekenntnisschriften der protestantischen Kirchen. Insofern diese Sachverhalte zentral sind, müssen sie noch einmal nachvollzogen werden: Zunächst sind alle Christen als Getaufte Priester – dies ist auch pastoraltheologischer Konsens. Das Priestertum aller Gläubigen bringt weitere zwei grundsätzliche Zuschreibungen mit sich: zum einen eine Gottesunmittelbarkeit, die die Würde 97 eines jeden Christen ausmache, und zum anderen die Beauftragung zur Verkündigung des Evangeliums, die für jeden Christen Pflicht 98 sei. Vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass die Schwerpunktsetzungen des liberalen Paradigmas (Gottesunmittelbarkeit) und die des missionarischen Paradigmas (Zeugnis und Dienst) beide zur Lehre vom Priestertum aller Gläubigen gehören. Die Herausforderung besteht deswegen darin, beide zusammenzuhalten und nicht gegeneinander auszuspielen. Die von Karle erwähnte ‚vielgestaltige Bezeugung des Evangeliums‘ ist umfassend zu verstehen: Es geht um die Kommunikation des Evangeliums in der 95 Karle (2001), 140. 96 Karle (2001), 142f, Herv. original. 97 Die Würde, die allen Christen gleichermaßen zukommt, ist ein Unterscheidungsmerkmal zum katholischen Amtsverständnis, welches einen speziellen, sakramental hervorgehobenen Priesterstand kennt. Es ist weiterhin Grundlage für ein funktionales Amtsverständnis, denn insofern allen die gleiche Würde zukommt, gibt es keine Spezialvermittlung, die einen besonderen Stand begründen würde. 98 Die Pflicht, die allen Christen gleichermaßen auferlegt ist, verweist auf das eine Amt bzw. den einen Dienst der Kirche – das Predigtamt. Karle legte dar, dass das „eine Predigtamt der vielfältigen Verkündigung des Evangeliums [. . . ] von Gott gestiftet [ist], nicht die konkrete kirchenrechtliche Institution des ordinierten Amtes, die lediglich einen Spezialfall des Predigtamtes darstellt“ (Karle (2001), 143, Herv. original).
Diskussion theologisch relevanter Felder für eine Pastoraltheologie
Breite, vom nachbarschaftlichen Gespräch bis hin zur Taufe. Karle wies explizit daraufhin, dass nach Luther die Einsetzung des Abendmahls, das Taufen, das Beten für andere und insbesondere die Beurteilung der Lehre von allen Christen durchgeführt werden könne. 99 Gerade die Beurteilung der Lehre wird als Pflicht besonders hervorgehoben und verweist auf die Notwendigkeit der Mündigkeit im Glauben: Sehr nachdrücklich weist Luther darauf hin, daß die Gemeinde bei Verlust des Heils (!) auch die Pflicht habe, alle Predigt und Lehre zu beurteilen: ‚Es lehre oder predige einer, was er wolle, so mußt du zusehen bei deinem höchsten Schaden oder Nutzen, was du glaubest.‘ Denn nicht die richtige oder falsche Lehre der verkündigenden Person, sondern persönlich angeeigneter Glaube allein macht selig. 100
So zeigt sich, dass das Priestertum aller Gläubigen und das Predigtamt auf das engste zusammengehören. Als nächstes ist zu fragen, wie das Verhältnis von Pfarramt und Predigtamt im Sinne des Priestertums aller Gläubigen zu bestimmen ist.
8.2.2 Verhältnis von Pfarramt und Predigtamt: Wie sind ‚Öffentlichkeit‘ und ‚Leitung‘ zu begründen? Die Frage ist nun, wie sich vor dem Hintergrund dieser starken Entfaltung des Priestertums aller Gläubigen das Pfarramt begründen lässt. Karle ließ keinen Zweifel daran, dass das Predigtamt für die Kirche konstitutiv ist und nicht mit dem Pfarramt verwechselt werden dürfe. Sie hielt dies mit einem Zitat Bonhoeffers als eine zentrale Unterscheidung fest: Das Predigtamt ist das Amt der Kirche, nicht das Pfarramt. Das Predigtamt ist konstitutiv und bleibt. Das Pfarramt ist ein Sonderfall des Predigtamtes. Es kann uns genommen werden. Seine Gestalt sollte dem Predigtamt angemessen sein. 101
Das Pfarramt wird durch das Predigtamt nicht ausgeschlossen oder überflüssig, sondern ist durch das Predigtamt zu bestimmen. Für Karle ist ein institutionali99 Karle (2001), 144. 100 Karle (2001), 144f, Herv. original, zitiert: Luther (1987). 101 Karle (2001), 146, Herv. original, zitiert Bonhoeffer (1965), 247. – In diesem Sinne führte das auch der Kirchenrechtler Munsonius aus: „Die ‚Kommunikation des Evangeliums‘ impliziert nach reformatorischem Verständnis z. B. die prinzipielle Gleichheit aller Kommunikationsteilnehmer (Priestertum aller Gläubigen), zugleich die Notwendigkeit eines geordneten Predigt- (nicht zwingend: Pfarr-)amtes und das strikt funktionale Amtsverständnis, durch das sich Amtsträger nur dadurch von den übrigen unterscheiden, dass sie im Namen und Auftrag der Gemeinschaft für die Gemeinschaft tätig werden (CA 14)“ (Munsonius (2015), 82).
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siertes (Pfarr-)Amt notwendig. 102 Zwar sei das Pfarramt nicht konstitutiv für die Kirche, aber konsekutiv aus dem Priestertum aller Gläubigen und dem Predigtamt abzuleiten. 103 Das entscheidende Argument an dieser Stelle ist die Würde der allgemeinen Priester, die gewahrt werden müsse. Da sich keiner durch besondere ‚Geistlichkeit‘ hervortun könne, weil allen die gleiche Würde und Pflicht zukommt, muss es um der Ordnung willen eine Delegation geben. 104 Die allgemeinen Priester delegieren bestimmte Tätigkeiten in ihren Versammlungen an das ordinierte Amt: Eine Delegation der Ausübung des priesterlichen Amtes ist demnach immer dann erforderlich, wenn mehrere Christen sich versammeln und dadurch eine Konkurrenzsituation entsteht. Luther unterscheidet mithin die Situation der christlichen Öffentlichkeit, wie sie im Gottesdienst oder anderen christlichen Versammlungen gegeben ist, von der ‚konkurrenzlosen‘ Situation außerhalb der christlichen Versammlung, die eine Absprache erübrigt und die unmittelbare Ausübung der priesterlichen Rechte jederzeit ermöglicht oder gar gebietet. 105
Das ordinierte Amt ist damit ein Amt innerhalb der Kirche, welches nur die Ausübung des Predigtamtes unter gleichberechtigten Predigtamtsinhabern regelt. Man könnte also vom speziellen Predigtamt sprechen. 106 Karle präzisierte: Einer unmittelbaren Wahrnehmung des priesterlichen Auftrags steht in vielen Situationen nichts im Wege wie in der idealtypischen Missionssituation, in Notsituationen wie bei der Nottaufe und nicht zuletzt in Familie, Erziehung und Beruf. ‚Denn ob wir wol nicht alle im offentlichem Ampt und Beruff sind, so sol und mag doch ein jglicher Christ seinen nehesten Leren, unterrichten, vermanen, trösten, straffen durch Gottes wort, wenn und wo jemand das bedarff, Als Vater und Mutter ire Kinder und Gesinde, Ein Bruder, Nachbar, Burger oder Bawer den andern‘. Diese Aufgaben können, vor allem außerhalb der Kirche, wo es keiner Absprache bedarf, durchaus öffentlichen Charakter haben bzw. gewinnen. Die Unterscheidung eines Allgemeinen Priestertums für den privaten und eines ordinierten ‚Priestertums‘ für den öffentlichen Bereich ist von daher unpräzise. Harald Goertz betont darüber hinaus: ‚Eine Aufteilung in zwei verschiedene Aufgabenbereiche [. . . ], daß dem allgemeinen Priestertum nur die Glaubensbezeugung im privaten, nichtöffentlichen Bereich aufgetragen ist, während dem ordinierten Amt 102 Karle (2001), 147. 103 Karle (2001), 143. 104 Denn „[g]erade die Gemeinsamkeit der Vollmacht macht nun aber die Berufung, die vocatio, durch die Gemeinde erforderlich“ (Karle (2001), 151). 105 Karle (2001), 148, Herv. original. 106 Vgl. Karle (2001), 154, Herv. original: „Unterschiedslos alle Gläubigen sind durch die Taufe mit derselben Würde ausgestattet und zur Bezeugung des Evangeliums aufgerufen. Die jeweilige Bezeugung des Evangeliums konkretisiert sich lediglich in unterschiedlicher Form und Gestalt und erfordert im innerkirchlich-öffentlichen Bereich eine funktionale Differenzierung, die dafür sorgt, daß dem gesamtkirchlichen Auftrag möglichst adäquat entsprochen wird.“
Diskussion theologisch relevanter Felder für eine Pastoraltheologie
alle kirchlich-öffentlichen Tätigkeiten wie Predigt und Sakramentsverwaltung vorbehalten bleiben, steht eindeutig im Widerspruch zu der von Luther behaupteten Einheit des Dienstes.‘ 107
Diese Ausführungen schaffen Klarheit über den Öffentlichkeitsbegriff, der sowohl von Herbst als auch von Wagner-Rau nicht präzise reflektiert wurde. Mit Karle ist festzuhalten, dass es sich beim Öffentlichkeitsbegriff des speziellen Predigtamtes um eine christliche Öffentlichkeit handelt. Das spezielle Predigtamt, welches der Wahrung der Würde aller Priesterinnen und Priester dient, ist nicht das Amt, welches die Öffentlichkeit herstellt, die dem Evangelium als öffentlicher Botschaft zukommen muss. Die Herstellung einer Öffentlichkeit nach Außen hin kann vom speziellen Predigtamt vorgenommen werden, es ist aber vom allgemeinen Predigtamt der allgemeinen Priester in dieser Hinsicht weder unterschieden noch diesem vorangestellt. In diesem Sinn ist dem einen Predigtamt die ‚außerkirchliche Öffentlichkeit‘ gemeinsam aufgetragen. Dies steht explizit gegen die Auffassung des Allgemeinen Priestertums bei Menzel, die behauptete, dass „[d]ie Rede vom Priestertum aller Gläubigen [. . . ] zentral auf die individuelle Unmittelbarkeit zu Gott sowie die persönliche und familiäre religiöse Praxis [zielt].“ 108 Missionstheologisch ist zu präzisieren: Während Gott das Subjekt der Mission ist, sind die allgemeinen Priester als Agenten Teil dieser Mission. Dies wehrt der missionarisch-öffentlichen Zentralstellung des Pfarramtes – also einer theologischen Figur, die strukturell Pfarrerinnen und Pfarrer zu Einzelmissionare macht und sie als Solisten mit dieser Aufgabe überfordert. Theologisch muss gerade gegen Wagner-Rau festgehalten werden, dass das spezielle Predigtamt nicht auch noch für die religiöse Kommunikation außerhalb der Kirche ‚besondere‘ Verantwortung trägt. Pfarrerinnen und Pfarrer tragen diese Verantwortung weder allein noch vordergründig, sondern gemeinsam mit allen allgemeinen Priestern, zu denen sie gehören. Es lässt sich gerade nicht aus dem speziellen Predigtamt ein besonderer Öffentlichkeitsauftrag des Pfarramts herleiten, der über die Gemeinde hinausgeht. Für die Kommunikation des Evangeliums in der nicht-kirchlichen Öffentlichkeit sind alle verantwortlich. Das heißt wiederum nicht, dass es nicht organisationale Strukturen geben kann, die speziell begabte und qualifizierte Personen mit diesem Auftrag besonders betraut. Grundsätzlich muss jedoch festgehalten werden, dass es keine Delegation dieser ‚allgemeinen priesterlichen Pflicht‘ gibt. Das spezielle Predigtamt ist somit eine von Gott gestiftete Hörordnung, denn: „Ohne das Hören kann [. . . ] keine Gemeinde leben.“ 109. Um der Ordnung willen 107 Karle (2001), 148f, Anm. 50, zitiert Luther: Predigten des Jahres 1535, WA 41, 1–492, hier: 211 u. Goertz (1997, 184, Herv. IK.). 108 Menzel (2019), 488, Anm. 17. 109 Winkler (1983), 15.
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wird das Recht und die Pflicht, das Evangelium in Wort und Sakrament in der öffentlich-christlichen Versammlung zu verkünden, Einzelnen anvertraut. 110 Denn „[g]erade die Gemeinsamkeit der Vollmacht macht nun aber die Berufung, die vocatio, durch die Gemeinde erforderlich“. 111 Der Grund dafür ist die christlichgeschwisterliche Liebe: „Die Liebe verbietet, daß einzelne sich anmaßen, was der Gemeinde zukommt.“ 112 So kann festgehalten werden: Das eine Amt der Kirche ist zuerst der (umfassende, missionarische) Verkündigungsauftrag der allgemeinen Priester. Winkler nannte diesen Aspekt das „Konstitutivum des Amtes“ 113. Karle formulierte: Dieser Dienst am Evangelium ist nicht in das Belieben eines Christen oder Pfarrers gestellt, ‚sondern um des Heils der Menschen willen ausdrücklich von Gott geboten‘ – darauf zielt das ‚institutum est‘ von CA V ab. 114
In der Versammlung der Christen ist demnach eine funktionale Ausdifferenzierung notwendig 115. Insofern alle gleichen Rechtes und gleichen Standes sind, muss durch Berufung geordnet werden, wer der Gemeinde gegenübertreten darf, um das lebensnotwendige Wort zu verkündigen. Das spezielle Predigtamt beschneidet das Priestertum aller Gläubigen nicht in seinen Rechten und Pflichten, „sondern verwirklicht es und stärkt und fördert die christliche Gemeinschaft“ 116. Das spezielle Predigtamt hat damit zuerst eine innerkirchliche Funktion und dient der Erbauung der allgemeinen Priester. Karle verdeutlichte weiterhin, dass das Predigtamt nicht dazu da sei, um ein Vorrecht oder eine Führerschaft von Einzelnen zu etablieren. 117 Ziel sei es, den Dienst am Evangelium durch Einzelne „geregelt und erwartbar“ 118 sicherzustellen. Diese Einzelnen seien damit gerade nicht ‚Führer‘ – wie bspw. gegen die pastoraltheologische Konzeption von Josuttis festgehalten werden muss –, sondern ‚Diener der Gemeinde‘. 119 110 111 112 113
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Karle (2001), 148. Karle (2001), 151. Winkler (1983), 15. Winkler (1971b), 189. Hinzuzufügen ist, dass Winkler den missionarischen Auftrag umfassend sah: „Christus gab seiner Gemeinde nicht nur den Auftrag, zu predigen, das Herrenmahl zu feiern und zu taufen, sondern auch dem Mitmenschen zu helfen [. . . ]. Die diakonische Dimension des Auftrages darf nicht nur sekundär aus dem Verkündigungsauftrag abgeleitet werden, sondern sie ist ein integrierendes Element der Sendung Christi in die Welt“ (Winkler (1983), 15). Karle (2001), 145. Mit Luther gesprochen: „alle Christen sind priester, Aber nicht alle Pfarrer“ (Karle (2001), 154, zitiert Luther, WA 31/1, 211, Herv. IK.). Karle (2001), 151. Karle (2001), 151. Karle (2001), 151. Karle (2001), 149, Herv. original.
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Diese Feststellung wirft ein kritisches Licht auf die von Herbst angeführte organisationale Leitung durch Pfarrerinnen und Pfarrer. Einer ‚Leitung durch das Wort‘ ist damit nicht widersprochen, die Herbst betonte und die – theologisch abgesichert durch die Barmer Theologische Erklärung – keine Herrschaft begründet. Es sollte jedoch deutlich geworden sein, dass eine organisationale Leitung nicht aus dem speziellen Predigtamt abgeleitet werden kann. Die Leitung – im Sinne der Ordnung bzw. Organisation des Dienstes – geht dem Predigtamt voraus. Mit Hermelink wurde bereits festgehalten, dass sich eine Leitung durch das Wort (Predigtamt) mit der organisationalen Leitung (Pfarramt) nur schwer in Einklang bringen lässt. 120 Dies ist zu präzisieren: Pfarrerinnen und Pfarrer haben eine organisationale Leitungsposition. Das ist und bleibt möglich. Diese Möglichkeit hat jedoch lediglich eine organisationale Legitimation – eine theologische Ableitung aus dem speziellen Predigtamt ist nicht möglich, da einerseits die Leitungstätigkeit der Gemeinde diesem Amt vorausgeht und es ‚ordnet‘ sowie andererseits eine Leitung durch das Wort nicht mit organisationaler Leitung gleichzusetzen ist. Damit ist gesagt, dass organisationale Leitung nicht notwendigerweise mit dem Predigtamt einhergeht. Daraus folgt auch, dass einerseits die Sorge um das allgemeine bzw. konstitutive und andererseits um das spezielle Predigtamt zu den vordringlichsten Pflichten der Gemeinde gehört, da diese Ordnung alles andere als ‚in das Belieben‘ Einzelner gestellt ist, sondern von Gott eingesetzt wurde. Da Karle mit der oben dargestellten Theologie des Priestertums aller Gläubigen weitestgehend gefolgt wurde, steht die Frage im Raum, warum der Konzeption von Karle, die damit ein starkes Pfarramt begründen konnte, nicht mehr Raum gegeben wird. Dafür gibt es Gründe: Das Pfarramt stellt einen ‚Spezialfall des Predigtamtes‘ dar – vielleicht sogar einen Idealfall. 121 Karle führte ja aus, dass „die konkrete kirchenrechtliche Institution des ordinierten Amtes“ 122 nicht von Gott gestiftet sei. Das heißt nun auch, dass es noch andere Varianten geben kann, die eventuell ähnlich wertvoll sind und von einer ‚Berufstheorie des Pfarramts‘ allzu schnell und allzu leicht übersehen werden. Das Pfarramt ist eben nicht die einzige organisationale Ausformung des speziellen Predigtamtes. Diese Erkenntnis ist angesichts der Starrheit 123, mit der am Pfarramt festgehalten wird, alles andere als banal. Dieser Einwand spricht nicht prinzipiell gegen das Pfarramt, sondern fragt prüfend, ob das, was vom Pfarramt zu erwarten ist, organisational – d.h. menschenmöglich – sinnvoll gewährleistet werden kann. Die Antwort fällt in Bezug 120 121 122 123
Vgl. Kap. 7.2.2, S. 305. Karle (2001), 143. Karle (2001), 143. Vgl. Kap. 5.2.8, S. 261, wo dargelegt wird, dass derzeitige Strukturprozesse sich in der Erhaltung traditioneller Pfarramtsstrukturen erschöpfen, anstelle für vorhandene Infrastrukturen innovative Adaptionen zu suchen und zu erproben.
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auf die ländlichen Räume in Ostdeutschland kritisch aus. Deswegen ist zu fragen, inwiefern besondere Stärken der momentanen Situation in andere Organisationsformen überführt werden können. 124 Ein Festhalten am Pfarramt um jeden Preis ist nicht sinnvoll, genauso wenig ist es die gegenteilige Variante, nämlich eine romantisierende Überhöhung von Ehrenamtlichkeit. Der Kontext ‚ländlich-periphere Räume in Ostdeutschland‘ bedarf vielmehr einer realitätsgerechten Entwicklung, die theologisch wichtige Prinzipien in einer Mischung aus bestehenden, weiterhin zu adaptierenden und neuen Strukturen, die aufzubauen sind, berücksichtigt, damit Kirche in allem Wandel ihrem Sinn und Auftrag treu bleibt. Es gibt jedoch weitere Gründe, warum der Konzeption von Karle nicht noch mehr Raum gegeben wurde. Diese sollen in einem Exkurs dargelegt werden. Daran wird vertiefend ein weiterer wichtiger Punkt dieser Studie deutlich, nämlich wie eminent wichtig ein kontextsensibles Vorgehen in der Pastoraltheologie ist.
Exkurs: Das Pfarramt als Profession? Um den Begriff der ‚Profession‘ zu verstehen, der kaum mit dem allgemeinsprachlichen Terminus ‚Profi‘ im Sinne eines berufstätigen spezialisierten Experten erfasst ist, muss man zunächst Karles Betrachtung der Gesellschaft nachvollziehen. Für sie war der Begriff ‚Moderne‘ leitend. Zur Verdeutlichung skizzierte sie den Wechsel von der Ständegesellschaft im Mittelalter hin zur Moderne, die sie mit der Kommunikations- und Gesellschaftstheorie von Luhmann als ‚funktional differenziert‘ beschrieb. 125 ‚Differenziert‘ meint dabei, dass sich die Gesellschaft aus verschiedenen Teilsystemen zusammensetzt. So gibt es den Bereich Medizin, Recht, Wirtschaft etc. ‚Funktional‘ bedeutet, dass die Teilsysteme Leistungen für das Ganze erbringen und für jeden zugänglich machen. Stichweh setzte mit seiner Professionstheorie auf diese Beschreibung der modernen Gesellschaft als funktional differenzierte auf und beschrieb, dass in bestimmten Bereichen Berufe als ‚Professionen‘ ausgebildet wurden. Ein Beruf wird dann als Profession bezeichnet, wenn er bestimmte Merkmale erfüllt: Zum einen müsse der Beruf eine Zentralstellung in einem Teilsystem haben und diese Zentralstellung müsse monopolhaft sein. 126 Weiterhin müsse sich dieser Beruf mit 124 Als Beispiel: Die beamtenähnliche Struktur und die damit einhergehende Besoldung stärkt die Freiheit der Evangeliumsverkündigung: Pfarrerinnen und Pfarrer sind aus diesem Grund arbeitsrechtlich besonders geschützt und finanziell unabhängig. Sollte eine solche Anstellung nicht mehr zu leisten sein, muss die Frage beantwortet werden, wie die freie Verkündigung des Evangeliums durch dafür geeignete Strukturen gewahrt werden kann. 125 Vgl. Karle (2001), 33. 126 Vgl. Karle (2001), 33 u. 37.
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typischen Gefährdungen und der Bewältigung von Schwellen oder Krisen des Lebens befassen. 127 Hinzu komme, dass dies vornehmlich in überschaubarem Rahmen erfolge – vorzugsweise in persönlicher Kommunikation – und dass von diesem Beruf eine ‚kulturell relevante Sachthematik‘ vermittelt werde. 128 Seien diese Bedingungen erfüllt, handele es sich um eine moderne Profession. Diese Merkmale treffen nach Karle vor allem auf den Arztberuf, Lehrerinnen und Lehrer, Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen, Richter und Richterinnen sowie Pfarrerinnen und Pfarrer zu, die für ihren gesellschaftlichen Teilbereich (Medizin, Bildung, Recht und Religion) stehen. Im Ergebnis bedeutet das, dass „die nach Funktionen differenzierte Gesellschaft [. . . ,] die funktionale Spezialisierung auf Sachthemen der Professionen zum dominanten Strukturbildungsprinzip der modernen Gesellschaft [macht]“ 129. Die Professionen haben deswegen auch für die Inklusion in die Gesellschaft – d.h. wie die Gesellschaft ihren Individuen ermöglicht an ihr teilzunehmen – Relevanz. Inklusion findet über unterschiedliche Rollen statt. Entweder befindet sich ein Gesellschaftsmitglied in der Leistungsrolle (Professioneller) oder in der Publikumsrolle – mithin der Rolle des Leistungsempfängers. Für eine Profession gilt, dass sie die Inklusion nur dann leistet, wenn „nahezu jedes Gesellschaftsmitglied in einer der beiden Rollen – Leistungs- oder der funktionsbezogenen Komplementärrolle – am System partizipieren kann. Diese Partizipation muß lebensgeschichtlich auch wahrscheinlich sein“ 130. Diese theoriegeleitete Betrachtung der Gesellschaft als funktional differenziert und mit dem dominanten Strukturmerkmal der Inklusion über Professionen ist die Voraussetzung, um Karles Einschätzungen zur Lage der Kirche sinnvoll einordnen zu können. Sie nahm eine Krise bzw. einen ‚Reformstress‘ wahr, der sich in den evangelischen Kirchen selbst gemacht wird. Sie gab für dieses Krisenempfinden zwei Erläuterungen, bei der besonders viel Gewicht auf der ersten Erläuterung liegt: Karle analysierte zuerst, dass sich die Position der Kirche im Wandel der Gesellschaft verschoben habe. Ihr Platz an der Spitze der hierarchischen Ständegesellschaft gehöre der Vergangenheit an. 131 Aufgrund von Pluralisierungs- und Individualisierungsprozessen wird die Kirche in der funktional differenzierten Gesellschaft „zu einem Sozialsystem neben anderen“ 132. Im Pfarramt erscheine dieser Wandel als krisenhafter Positions- und Bedeutungsverlust. Dem hielt Karle entgegen, dass man nun eine wichtige (Teil-)Funktion in der Gesellschaft aus127 128 129 130 131 132
Vgl. Karle (2001), 40. Vgl. Karle (2001), 41. Vgl. Karle (2001), 35, Herv. original Karle (2001), 43, Herv. original. Vgl. Karle (2001), 12. Karle (2001), 12.
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fülle – nämlich die Teilfunktion ‚Religion‘. Ebenso argumentierte sie, dass diese gesellschaftliche Umorganisation unter bestimmten Gesichtspunkten als Folge der Reformation verstanden werden könne. 133 Mit anderen Worten: Gemessen am Einfluss der Theologie in der mittelalterlichen Ständegesellschaft ist heute die Theologie tatsächlich weniger wichtig geworden. Dies liegt jedoch an der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft. Insofern die Kirche das Thema Religion monopolhaft besetzt und eine Gesellschaft nicht ohne Religion sein kann – Individuen schon (!) – ist an der Stabilität der Verhältnisse im Grunde nicht zu zweifeln. 134 Aufgrund der systemtheoretischen Notwendigkeit von Religion – einem gesellschaftlichen Bereich, der äußerst stark durch die Kirchen besetzt wird – in der funktional-differenzierten Gesellschaft setzte Karle viel Vertrauen in die Stabilität der Verhältnisse und in das Pfarramt als gesellschaftlich relevante Profession. Allerdings musste auch Karle feststellen – und das ist die zweite Erläuterung zur wahrgenommenen Krise –, dass „die Gesamttendenz zuungunsten der Großkirchen [läuft]“ 135. Karle setzte sich mit aktuellen religiösen Trends auseinander und kam zu dem Ergebnis, dass es kein Wiedererstarken der Religion gebe und bewertete Religion, die ins Private verschwinde oder auch das Phänomen der Bastelreligiosität, äußerst kritisch. 136 Ein Großteil der Bevölkerung wird als indifferent gegenüber religiösen Fragen eingeschätzt. Diese Indifferenz hat auch mit den Inklusionsbedingungen in das religiöse System zu tun: Während ein Individuum heute an allen möglichen Funktionssystemen teilnehmen und sich dort als Person laufend entscheiden muss, nutzen viele die Gelegenheit, ihr Verhältnis zu Religion und Kirche ungeklärt und in der Schwebe zu lassen. Selbst als Kirchenmitglieder haben viele keine bewusste Entscheidung für ihre Mitgliedschaft getroffen und schätzen es zugleich, dass dies so ist und sie ausnahmsweise nicht zum Handeln herausgefordert sind, dass sie explizit weder ‚Ja‘ noch ‚Nein‘ sagen müssen. 137
Diese Möglichkeit zur Uneindeutigkeit bzw. Indifferenz in religiösen Fragen und den Rückgang der Kirchen führt unter anderem zu weniger Religiosität mit eindeutigem Transzendenzbezug. Außerdem steht Religion derzeit dem Trend der Individualisierung in einem bestimmten Sinn entgegen: „Der Glaube wächst von außen nach innen, nicht von innen nach außen.“ 138 So benötigt religiöse Bildung
133 Karle (2001), 154f. 134 Karle (2011), 22 u. 60: „Die Kirchen beherrschen noch immer weitgehend das religiöse Feld.“ 135 Karle (2011), 62. 136 Vgl. Karle (2011), 19–72. 137 Karle (2011), 33. 138 Karle (2011), 42.
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zunächst „unpopuläre Fremdreferenzierungen“ 139, die es schwer haben, subjektiv anerkannt zu werden. So zeigt sich mehr und mehr ein Traditionsabbruch, der sich vor allem bei Nicht-Kirchenmitgliedern in der zweiten und dritten Generation rasant beschleunigt. Selbst vielen Kirchenmitgliedern sind viele christliche Vorstellungen fremd geworden. Das liegt nicht nur, aber doch wesentlich an den für Religion gesellschaftlich schwierigen Rahmenbedingungen. 140
Im Hinblick auf Ostdeutschland strich Karle häufiger die besonders schwierigen Bedingungen heraus. 141 Zum einen ging Karle also mit Luhmann davon aus, dass Religion gesellschaftlich notwendig sei, um Kontingenz aushalten und bewältigen zu können. 142 Dies stellt die leitende Kontextbestimmung dar, aufgrund derer anzunehmen sei, dass Kirche als Dienstleisterin im religiösen Teilsystem der Gesellschaft stabil gesetzt sei. Gleichzeitig stellte Karle ein säkulares Driften fest, welches das religiöse Feld insgesamt und damit auch die Kirchen schmälere: „für Optimismus in Sachen Religiosität [besteht] kein Anlass“ 143. Insofern die Grundlegung der Kommunikation einer Sachthematik theologisch gesetzt wurde, ergeben sich aus diesem Zusammenhang logische Konsequenzen, die Karle zog: Die große Herausforderung für die Kirchen besteht darin, in diesem gesellschaftlichen Kontext ihr eigenes religiöses Sprachspiel verständlich und existentiell relevant zu kommunizieren. 144
Das Hauptproblem ist nach Karle also ein kommunikatives. Insofern die Kirche aber dominant das religiöse Feld in der funktional-differenzierten Gesellschaft besetze, stellte sie schlicht fest: Es ist für das Religionssystem im Moment lediglich mühsamer, die Rationalität des Christentums oder anderer Hochreligionen zu kommunizieren. 145
Und so seien auch Reformprogramme nur von begrenztem Nutzen bzw. verursachen lediglich ‚Reformstress‘. 146 139 Karle (2011), 49, Herv. original. 140 Karle (2011), 57. 141 Karle (2011), bspw. 48 u. 63, hier 48: „Vor allem in Ostdeutschland können Schülerinnen und Schüler oftmals keine lebensgeschichtliche Verbindung zum Thema Religion mehr herstellen. Diese Sprachlosigkeit in Sachen Religion führt unter anderem dazu, dass bestimmte religionsaffine Erfahrungen, wie beispielsweise die Erfahrung im Umgang mit dem Tod, kaum mehr kommunikabel sind.“ 142 Karle (2011), 29. 143 Karle (2011), 53. 144 Karle (2011), 57. 145 Karle (2011), 35. 146 Karle (2011), 65.
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Karle wies auf ein Problem ihrer Perspektive hin, denn in der funktional differenzierten Gesellschaft werden nur die Inklusionsbedingungen bedacht, nicht jedoch die Exklusionsbedingungen: „Nutzen Individuen ihre Chancen der Teilhabe nämlich nicht, wird ihnen das individuell zugerechnet.“ 147 Hier besteht ein blinder Fleck in dieser Theorie, der die Nicht-Teilnahme an bestimmten Systemen schlicht nicht reflektiert. Karle bedachte diesen Sachverhalt unter dem Stichwort „Probleme mit der Vollinklusion“ 148. Professionelle Inklusion, wie Karle sie für den Pfarrberuf dachte, beruht auf annähernder Vollinklusion. Nun konnte Karle es einerseits als freiheitliche Stärke des Religionssystems darstellen, dass es keine Teilnahmeverpflichtung mehr gebe, und andererseits vermag sie eine annähernde Vollinklusion nicht mehr festzustellen: Die christlichen Kirchen können als Organisationssysteme des Religionssystems [. . . ] nicht mehr von einer vollständigen Inklusion ausgehen und finden insbesondere in Ostdeutschland eine Situation vor, die die Nichtselbstverständlichkeit christlich-religiöser Kommunikation deutlich vor Augen führt. 149
Spätestens an diesem Punkt muss die kritische Nachfrage zu Karles Konzeption beginnen: Theoriebedingt kann der Pfarrberuf nur dann als professioneller Beruf betrachtet werden, wenn es eine nahezu monopolhafte Vollinklusion gibt: [E]ine Profession [kann] die Inklusion eines Funktionssystems nur dann regeln [. . . ], wenn sichergestellt ist, daß nahezu jedes Gesellschaftsmitglied in einer der beiden Rollen – der Leistungs- oder funktionssystembezogenen Komplementärrolle – am System partizipieren kann. Diese Partizipation muß ‚lebensgeschichtlich auch wahrscheinlich sein‘ [. . . ]. Für das Religionssystem impliziert dies zum einen, daß die Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder im Laufe ihres Lebens in irgendeiner Form an Religion teilnimmt, wie sie auch erwartbar mit dem Gesundheits-, dem Rechts- oder dem Erziehungssystem in Kontakt tritt. Die einzelne Religions- oder Konfessionsgemeinschaft kann dabei ziemlich klein sein, solange es genügend andere Religionsformen und -gemeinschaften gibt, die die Wahrscheinlichkeit religiöser Kommunikation sicherstellen. 150
Vor dem Hintergrund der ländlichen Räume in Ostdeutschland werden diese Grundbedingungen fraglich. Karle reflektierte diese in einem eigenen Kapitel. 151 Eine vollständige Inklusion sei ihrer Ansicht nach nicht notwendig. Den gesamtdeutschen Schnitt bezifferte sie damals mit 71,1 % Kirchenmitgliedschaft. 152 Diese Quote machte für sie die lebensgeschichtliche Teilnahme der Mehrheit
147 148 149 150 151 152
Karle (2001), 34. Vgl. dazu und zum Folgenden: Karle (2001), 55–58. Karle (2001), 58. Karle (2001), 43, Herv. original, zitiert: Stichweh (1988), 269. Karle (2001), 55–58. Karle (2001), 58, Fußnote 104.
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wahrscheinlich und untermauerte so ihre theoretische Basis. Prüft man dieses Argument jedoch an der Situation Ostdeutschlands, dann stellt sich die Lage anders dar: 26,2 % Kirchenmitgliedschaft, von der Karle 2001 ausging, sind im Osten weit von einer Vollinklusion entfernt. 153 Die Bevölkerung ist nicht nur konfessionslos, sondern auch ‚religionslos‘ 154 – die Wahrscheinlichkeit, im Leben an irgendeiner Form von Religiosität teilzunehmen, ist gering einzuschätzen. Durch die von Karle vorgenommene Gewichtung wurden deutlich westdeutsche Verhältnisse favorisiert. Für den Ostteil Deutschlands muss die von Karle gezogene Konsequenz abgelehnt werden. Die theoretischen Grundannahmen, die für eine Profession benötigt werden, sind für den Pfarrberuf in Ostdeutschland nicht gegeben. Ohne diese Grundlage kann das Modell ‚Pfarrberuf als Profession‘ im Osten nicht nach der von Karle dargelegten Logik funktionieren. Es ist deswegen für diesen Kontext ad acta zu legen. Überdenkt man die theoretischen Voraussetzungen eines Professionsberufes weiterhin, dann fällt auf, dass Karle besonders auf die ‚Moderne‘ abzielte. Karle konnte diesbezüglich ein Alleinstellungsmerkmal für sich reklamieren, da im pastoraltheologischen Diskurs eher von Post- oder Spätmoderne gesprochen wird. 155 Dementsprechend bemerkte auch Grethlein in der Auseinandersetzung mit Karles Entwurf, dass hier „ein merkwürdig rückwärtsgewandtes Festschreiben der jüngsten Vergangenheit“ 156 stattfinde. Es ist hier nicht der Ort, um die Debatte um die Interpretation unserer Zeit als ‚Moderne‘ oder ‚Spät- bzw. Postmoderne‘ voranzubringen. Allerdings muss in dieser Hinsicht ein wichtiger Einspruch gegen Karles Konzeption zur Geltung gebracht werden. Stichweh, auf dessen Arbeiten Karles Entwurf aufruhte, äußerte sich hinsichtlich seiner Theorie und deren Leistungsfähigkeit für unsere Zeit sehr zurückhaltend. In einem einschlägigen Lexikonartikel (RGG4 ) hielt er direkt vor dem professionstheoretisch aufgezogenen Eintrag von Karle zum Stichwort „Pfarrberuf“ bezüglich der „Professionalisierung“ fest: Seit den 60er Jahren zerfällt die Synthese aus alteur. Tradition, soziologischer Theorie und Semantik des Aufstiegs neuer Berufe. In der Wiss. sieht sie sich einer neomarxistischen Kritik konfrontiert, die in dem ‚professionellen Projekt‘ nur noch den Versuch der Abschöpfung von Monopolgewinnen durch bes. habgierige Berufsgruppen erkennen kann. Parallel dazu löst sich als Folge der fortschreitenden Innendifferenzierung der Funktionssysteme der modernen Gesellschaft und der Pluralisierung der in ihnen vorkommenden Berufe die faktische Kontrolle der klassischen Professionen über die ganzen 153 Karle (2001), 58, Fußnote 104. 154 Müller/Pickel/Pollack (2005), 34. 155 Vgl. bspw. Grözinger (1998), bes. Kapitel 1: Konturen der Postmoderne, 11–48; und Kapitel 4: Ausblick: Das Amt der Erinnerung – Überlegungen zum künftigen Profil des Berufs der Pfarrerinnen und Pfarrer, 134–141 oder auch Josuttis (1996), 18. 156 Grethlein (2001), 375.
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Funktionssysteme auf. Kritik und Mißtrauen gegenüber allen traditionellen Institutionen werden von den Massenmedien gerade auch auf die Professionen appliziert; Evaluation und Auditing als Modi der Fremdkontrolle werden selbst dort selbstverständlich, wo Berufe lange gegenüber intervenierender Fremdbeobachtung geschützt schienen. Schließlich läßt die Genese der Wissensgesellschaft die Möglichkeit der Zuschreibung wissensbasierter Beruflichkeit an fast jede Berufsgruppe als plausibel erscheinen. Insofern spricht einiges dafür, daß einer der klassischen Modi der gesellschaftlichen Strukturbildung und der Kontinuitätssicherung im Übergang von der ständischen Gesellschaft des alten Europa zur beginnenden Moderne an sein Ende gekommen ist. 157
Nach dieser Einschätzung Stichwehs ist zur Kenntnis zu nehmen, dass die Professionstheorie in ihrem Vermögen, Gesellschaft und Berufe heute zu beschreiben, ‚an ihr Ende gekommen ist‘. Mit ihr kann sicherlich das Pfarramt der Vergangenheit als Professionsberuf erhellt werden – und für die Ausläufer dieser Traditionslinien im Heute sensibilisieren, jedoch sind Überlegungen auf Basis der Professionstheorie für eine Weiterentwicklung des Pfarramts offensichtlich wenig angebracht. Hinzu kommt, dass Karle in ihrem Entwurf das generierte Vertrauen durch Verlässlichkeit besonders wichtig war. Aus diesem Grund plädierte sie für die Ansprechbarkeit und den Dienst in den Gemeinden vor Ort: Es ist deswegen von kaum zu überschätzender Bedeutung, daß die Pfarrerin bzw. der Pfarrer in der Gemeinde vor Ort wohnt und lebt, daß man sich beim Einkaufen, aber auch auf Konzerten und bürgerlichen Festen zufällig und beiläufig treffen kann und im Gottesdienst und bei anderen Veranstaltungen und Versammlungen auf bekannte Gesichter stößt. Die niedrigschwellige, persönliche Bekanntschaft ist die große Stärke der Parochie. 158
Allerdings muss für den Osten festgehalten werden, dass durch Zusammenlegungen von Gemeinden das Bild eines Pfarrers bzw. einer Pfarrerin im selben Ort wohnend der Vergangenheit angehört. In den ländlichen Räumen Ostdeutschlands gibt es zwar die rechtliche Größe ‚Gemeinde‘, die aber aufgrund wiederkehrender Strukturreformen multilokal zu denken ist. Persönliche Bekanntschaft und alltägliche Begegnung auf bürgerlichen Festen gehören der Vergangenheit an. Alex arbeitete dies in der Auseinandersetzung mit Karle pointiert heraus: Karle hebt mehrfach die Wichtigkeit der professionellen Kommunikation im Nahraum hervor und plädiert für eine (informelle) Begegnung von Gemeinde und Pfarrer vor Ort sowie die Aufrechterhaltung des Parochialsystems. Diese sicher nachvollziehbare Forderung verkennt, dass sie in manchen perforierten Gebieten bereits zu einer Utopie geworden ist. 159 157 Stichweh (2003), 1680. 158 Karle (2001), 244. 159 Alex (2013a), 60.
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Überdenkt man somit die theoretischen Voraussetzungen der Professionstheorie und gleicht diese mit dem Kontext der ländlichen Räume in Ostdeutschland ab, dann zeigt sich, dass der Pfarrberuf als Profession nicht sinnvoll in die Zukunft zu entwickeln ist. Ein professionstheoretisch begründetes Pfarramt ist deswegen für Ostdeutschland abzulehnen.
8.3 Überlegungen zur Ekklesiologie: Kirche als plurale Gemeinschaft Missionarisches und liberales Paradigma unterscheiden sich kaum in den theologischen Bezugnahmen – im Zentrum steht immer wieder die Confessio Augustana mit Artikel VII. Allerdings ist der Umgang mit CA VII durchaus unterschiedlich und verrät auf diese Weise divergierende Schwerpunktsetzungen. Darum werden im Folgenden drei Themenblöcke bearbeitet, bei denen sich diskussionswürdige Unterschiede zwischen den beiden Paradigmen ergeben haben und die sich aus verschiedenen Perspektiven mit dem Thema ‚Kirche‘ und ‚Kirchengestalt‘ beschäftigen. So werden zentrale Anliegen beider Zugänge gewürdigt und stehen anschließend – ebenso wie die bereits diskutierten theologischen Unterschiede aus den beiden vorangegangenen Kapiteln – für eine konstruktive Erarbeitung von Entwicklungspfaden des Pfarramts in ländlich-peripheren Regionen in Ostdeutschland bereit.
8.3.1 Christsein – Individualität in Sozialität: aktuelle Adaptionen des liberalen Paradigmas Ein wesentlicher Unterschied zwischen missionarischem und liberalem Paradigma zeigt sich in der unterschiedlichen Bewertung dessen, was mit ‚Gemeinde‘ gemeint ist. Der Begriff ‚Gemeinde‘ kann so unterschiedlich gefüllt werden und wird in so unterschiedlichen Zusammenhängen genutzt, dass es leicht passieren kann, dass bei gleichem Sprachgebrauch unterschiedliche Sachverhalte zum Ausdruck gebracht werden. Herbst hatte unter anderem deswegen eine Klärung des Begriffes vorgenommen, wie sie dem Umfang nach in der pastoraltheologischen Literatur kaum vorkommt. 160 Wagner-Rau bezog sich an wichtiger Stelle lediglich auf die Confessio Augustana (CA VII) und hielt als Konsens fest, dass Gemeinde überall da zu finden sei, wo Wort und Sakrament bestimmungsgemäß gebraucht werden. Es ist ebenso Konsens, dass mit dieser ‚schlanken Ekklesiologie‘ 160 Vgl. dazu die Darstellung derselben: Kap. 7.2.2, S. 297.
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eine große ‚Gestaltungsfreiheit‘ und ‚Pluralität‘ einhergeht. In diesem ekklesiologischen Sinne ist der Begriff ‚Gemeinde‘ im Grunde mit dem Begriff ‚Kirche‘ austauschbar. Ungeklärt bzw. zumindest uneindeutig ist der Begriff ‚Gemeinde‘, wenn er auf die empirisch erfahrbare Kirche angewendet wird. Im liberalen Paradigma spielt der Gemeindebegriff keine wichtige Rolle. ‚Gemeinde‘ im empirischen Sinne wird sehr schnell mit einer vermeintlich millieu-verengten, geselligkeitsaffinen Ortsgemeinde gleichgesetzt. Wagner-Rau weiß zwar um den Wert dieser ‚deprimierenden‘ Versammlungen, schlug jedoch vor, Pfarrerinnen und Pfarrer eher anderen Aufgabengebieten zuzuordnen. Menzel warnte explizit vor einer ‚eindimensionalen‘ Sichtweise, die ‚Gemeinde‘ als Ortsgemeinde hochschätzt. 161 Im missionarischen Paradigma ist die ‚Gemeinde‘ als Gruppe und Bewegung hingegen Leitvorstellung. Es wird vor allem der Aspekt der Gemeinschaft als Glaubensgemeinschaft betont. 162 Dies meint Ortsgemeinden sowie andere Formen christlicher Gemeinschaft gleichermaßen. Zunächst ist also die Frage an das liberale Paradigma zu richten, was an der Stelle von ‚Gemeinde‘ für zentral gehalten wird. Dazu sei noch einmal ein Zitat von Menzel angeführt: Nicht das Vereinschristentum kann der normative Maßstab sein, das Ideal ist vielmehr eine ‚offene Volkskirche‘, die die ‚Individualisierungsprozesse in der Kirche und durch die Kirche hindurch‘ aufnimmt, verstärkt und gestaltet. 163
Der Fokus des liberalen Paradigmas liegt demnach nicht auf ‚Gemeinde‘ als ‚sozialer Gemeinschaft‘, sondern auf dem Individuum. Kirche soll idealerweise Individualisierungsprozesse verstärken. Mit Rückbezug auf das Priestertum aller Gläubigen ist diesem Fokus ein gewisses Recht einzuräumen. Zeindler fasste in seinem Beitrag zum Priestertum aller Gläubigen und dem Dienst in der Kirche diesen Aspekt präzise: Versteht man die Individualität des Glaubens [. . . ] theologisch, wird deutlich, dass Christenmenschen ein grosses [sic] Interesse an einer – richtig verstandenen – Individualität haben dürfen, ja müssen. Dies gilt es festzuhalten gegen eine verbreitete, manchmal etwas vorschnelle Individualismusschelte innerhalb der Kirchen. 164
Der theologische Grund, den Zeindler stark vertritt, ist ein Aspekt des Priestertums aller Gläubigen – nämlich die Unvertretbarkeit und die Unmöglichkeit der Delegation des Glaubens: „Denn meinen Glauben kann ich an niemanden dele161 162 163 164
Vgl. dazu die Darstellung in Kap. 7.1, S. 276. Vgl. dazu die Darstellung in Kap. 7.2.2, S. 299. Menzel (2019), 92, zitiert: Fechtner (2010), 18ff. Zeindler (2018), 24f.
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gieren, Glauben lebe ich selber und verantworte ich selber.“ 165 Dies bringe die Individualität des Einzelnen mit sich und die Individualität seines Glaubens. Mit Zeindler gesprochen: [D]ie Individualität des Glaubens [ist] zuerst geschenkte Individualität: Wir werden zu Einzelnen, weil Gott uns durch seine uns persönlich zugemessenen Gaben zu Einzelnen macht. 166
Ebenso wies Zeindler aber auch auf einen anderen Aspekt hin, der zum Priestertum aller Gläubigen dazugehört und den das liberale Paradigma vermissen lässt: „Kein Priestersein ohne christliche Gemeinschaft“ 167. Unter dem Verweis darauf, dass sämtliche Begründungen für das Priestertum aller Gläubigen ‚kollektiv formuliert‘ sind, ist festzuhalten, dass es „um das gemeinsame Privileg und die gemeinsame Verantwortung des glaubenden Volkes Gottes“ 168 geht. Das zeigt, dass man bei den Individualisierungsprozessen nicht stehen bleiben kann. Kirche als ‚Versammlung‘ oder ‚Gemeinschaft der Glaubenden‘ hat einen durch und durch sozialen und gemeinschaftlichen Charakter. So gehören Sozialität und Individualität in der Kirche zusammen. 169 Das liberale Paradigma ist an dieser Stelle dringend ergänzungsbedürftig. Während im missionarischen Paradigma die Unvertretbarkeit des Glaubens und eine eigene praxis pietatis zum allgemeinen Priestertum dazugehören (wie sie sonst in pastoraltheologischen Entwürfen lediglich für Pfarrerinnen und Pfarrer gefordert wird), 170 ist dieser Aspekt sowie der Aspekt der Gemeinschaft – besonders im Hinblick auf Ortsgemeinden – im liberalen Paradigma zu Unrecht stark negativ besetzt. Hermelink und Wegner belegten mit Hilfe empirischer Daten sogar eine Art Fehleinschätzung im liberalen Paradigma, die genau die Abwertung der Sozialität und eine Überbewertung der autonomen Individualität betraf. Hermelink wies nach, dass das Bild von Kirche, welches auf die institutionell geförderten Indi165 166 167 168 169
Zeindler (2018), 24f. Zeindler (2018), 24. Zeindler (2018), 22. Zeindler (2018), 23, Herv. original. Vgl. dazu den umfassenden Beitrag von Zimmermann (2006) oder auch die Empfehlung von Pollack, der klar davon abrät, Individalisierungsprozesse seitens der Kirche ‚voranzutreiben‘ (Pollack (2017), 124): „Religiöse Vorstellungen gewinnen, wie wir gesehen haben, an Überzeugungskraft, wenn der Einzelne sie mit anderen teilt, wenn er am Gottesdienst teilnimmt und rituelle, institutionelle, gemeinschaftliche und personelle Stützung erfährt. Wenn es richtig sein sollte, dass kirchliche Bindungen und Individualisierung in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen, dann wird Kirche nicht gut beraten sein, Individualisierungsprozesse voranzutreiben. Verweigern kann sie sich ihnen allerdings auch nicht. Für kirchliches Handeln käme es daher darauf an, individuelle Ansprüche und gemeinschaftliche Einbindung miteinander zu verknüpfen.“ 170 Vgl. dazu die Ausführungen von Wagner-Rau (2012), 134f oder auch Karle (2001), 98.
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vidualisierungsprozesse fokussiert ist, wie Menzel sie forderte, empirisch keinen Anhalt habe. Die Überlegungen zum individualisierten, religiösen Pluralismus im liberalen Paradigma sind seiner Meinung nach im „erheblichen Maße revisionsbedürftig.“ 171 Auf der Basis einer Auswertung von Interviews mit offenen Fragen, die erstmals im Rahmen der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU V) erhoben wurden, hielt er fest: Die evangelische Kirche erscheint demnach nicht als Ort individueller Überzeugungen, allerdings auch nicht als Ort institutioneller Tradition, sondern als eine ganz und gar soziale, meist gemeinschaftliche Praxis. [. . . ] Im Allgemeinen wird nicht religiöse Individualität mit der evangelischen Kirche verbunden, sondern eine vielfältige soziale Praxis, in der gemeinsame Glaubenserfahrungen und wechselseitige Fürsorge zentrale Rollen spielen. 172
Ebenso verwies Wegner in differenzierter Weise darauf, dass die Stigmatisierung der Kirchengemeinde sowie die Betonung einer autonomen Individualität an der empirischen Bedeutung der Ortskirchengemeinde, ihrer sozialen Gemeinschaften und ihrer Bedeutung für das Engagement vorübergehen. 173 In Bezug auf die Kirchengemeinden hielt er fest, dass ihr Image in den Kirchenleitungen und in der praktisch-theologischen Literatur höchst zwiespältig [ist]. Da kann es dann sogar so sein, dass die Tatsache, dass sich in ihnen enger verbundene und religiös intensiver praktizierende Menschen finden, nicht als Erfolg und als Ressource für die gesamte Kirche begriffen wird – sondern vor allem als deren Grenze. Das bedeutet dann, dass man Ressourcen aus ihnen abziehen kann (da sich der Aufwand für die Gemeinden nicht lohne), um sie in übergemeindliche Aktivitäten zugunsten von kirchlichen distanzierten und unkirchlichen Menschen zu investieren. Obwohl dies niemals so gesagt werden wird, stellt eine solche Diskussionslinie faktisch eine Art Stigmatisierung der Kirchengemeinden dar, wie es sie seit spätestens den sechziger Jahren in den Diskussionen immer wieder gegeben hat. 174
Dem gegenüber steht bisher im liberalen Paradigma die Orientierung – im Extremfall – am „autonomen protestantischen Akteur, der selbst dann, wenn er der Kirche den Rücken kehrt, kirchliche Anerkennung finden sollte.“ 175 Hinsichtlich
171 Hermelink (2018), 285. 172 Hermelink (2018), 286f, Herv. original. 173 Wegner verwies darauf, dass die Ortskirchengemeinde ohne Zweifel hohe Bedeutung habe, insofern sich der Großteil der Kirchenmitglieder verbunden mit ihr fühlt. Die Ortsgemeinde sei damit nicht alles. Es sei auch noch nichts über die Qualität der Arbeit in der Ortsgemeinde gesagt, aber deren zentrale Bedeutung könne nicht von der Hand gewiesen werden (vgl. Wegner (2019), 252f). 174 Wegner (2019), 384. 175 Wegner (2019), 102, Herv. original.
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derartiger Auffassungen des liberalen Paradigmas merkte Wegner an: „Hier stürzen die Konstruktionen aber doch wohl ins Bodenlose.“ 176 Jenseits dieses Extremfalls hielt Hermelink explizit in der Auseinandersetzung mit Wagner-Rau fest, dass das Verhältnis zwischen religiöser Umwelt und Gemeinde nicht länger als Gegensatz stilisiert werden solle. Außerdem sei eine ‚individuell isolierte‘ Religiosität äußerst unwahrscheinlich und die Religiosität, die durchaus ‚bestimmt-unbestimmt‘ sein könne, befinde sich auch innerhalb der Kirche – dort aber gerade in Gemeinschaften und Gruppen. 177 Gegen die Stigmatisierung von ‚Ortsgemeinde‘ und ‚Vereinschristentum‘ als momentane Haupterscheinungsformen von ‚Gemeinde‘ muss deswegen der Wert dieser Vergemeinschaftungsformen festgehalten werden: In diesen, oft kleinen, Gruppen steckt der große Schatz der evangelischen Kirche, und sie liefern damit einen unersetzbaren Beitrag zur Sozialkapitalentwicklung. Deutlich ist auf jeden Fall, dass sich ehrenamtliche Tätigkeit in den Kirchen und über die Kirche hinaus von den Kirchengemeinden her entwickelt. Schwächt man die Kirchengemeinden, so schwächt man damit, das zeigen viele Erfahrungen, ehrenamtliches Engagement und damit den Kern der protestantischen Kirche. 178
Es kann dann durchaus möglich sein, dass die Ortsgemeinden und ihre sozialen Gruppierungen ein gewisses Milieu ausbilden. Empirisch gesehen gilt allerdings, dass Ortsgemeinden und die sozialen Gruppen in der Kirche äußerst vielfältig sind. 179 Trotzdem: Gesetzt dem Fall, dass das Urteil der Milieuenge zutrifft, ist Wegner in der folgenden Ausführung beizupflichten: [N]un zu meinen, dass man das eigene Milieu vernachlässigen könnte, um in seiner Umwelt mehr Erfolge zeitigen zu können, wäre ein gefährlicher Fehlschluss. Der christliche Glaube ist an spezifische kulturelle Formen gebunden und tritt habituell geprägt auf. Diese Verankerung nicht ernst zu nehmen und stattdessen eine weite Vielfalt zu predigen, irrealisiert die tatsächlichen Verhältnisse. 180
Ohne die Wertschätzung und Betonung des gemeinschaftlichen und gemeindlichen Aspekts von Kirche wären Gemeinden eigentlich „nur fiktionale Sammlungen von Kirchensteuerzahlern“ 181. Dem ist aber nicht so, sondern es zeigt sich 176 Wegner (2019), 102. Hinzuzufügen ist, dass dieser Extremfall von Wagner-Rau und Menzel so nicht erkennbar vertreten wird. Er macht lediglich deutlich, wie stark die Orientierung auf das autonome, religiöse Individuum fokussiert werden kann und wie ‚bodenlos‘ diese Konstruktion ist, da sie sich weder empirisch zeigen lässt, noch den sozialen Aspekten des christlichen Glaubens Rechnung trägt. Vgl. dazu ausführlicher Wegner (2019), 93ff. 177 Hermelink (2018), 276. 178 Wegner (2019), 382. 179 Hermelink (2018), 277 u. 286. 180 Wegner (2019), 406. 181 Wegner (2019), 256, zitiert Pickel (2015c), 298f.
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sogar, dass der Aspekt des Sozialen im Wachsen begriffen ist. 182 Deswegen argumentierten Hermelink und Wegner jeweils für eine Adaption des liberalen Paradigmas, die dem Aspekt der Sozialität größeren Raum gibt. Wegners Vorschlag für die Zukunft des liberalen Paradigmas nahm das Soziale ins Zentrum. Er verschob den Schwerpunkt hin zur „Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen christlich-kirchlicher und allgemeiner gesellschaftlicher Kommunikation“ 183. Die Zukunft des liberalen Paradigmas finde sich seiner Meinung nach „im Bereich des sozialen Engagements bzw. allgemeiner gesagt: in einer gemeinsamen, breit geteilten, sozialen Kommunikation“ 184. Wegner zeigte dabei aber ein Problem an: Zum einen sei deutlich, dass die Ortsgemeinden von hoher Bedeutung seien: [D]ie Kirchengemeinden [‚erwirtschaften‘] sozusagen die primären Ressourcen der Kirche [. . . ]: Bindung, Religiosität, religiöse bzw. allgemein christliche Sozialisation, Engagement für die Kirche und Glauben – alles das, was sich etwas flapsig ausgedrückt als ‚Faith Capital‘ zusammenfassen ließe. Sie sind dafür in der Wahrnehmung der Menschen die primären Akteure. 185
Zugleich konnte Wegner unterscheiden: Trotz dieser hohen Bedeutung ist nicht gesagt, dass die Kirchgemeinden florieren – im Gegenteil. Im Großen und Ganzen dominieren Abbrüche in Kirchenmitgliedschaft und Verbundenheit – oder mit den Worten Wegners: „Kirche steckt mitten in einer Reproduktionskrise.“ 186 Wegner verwies deswegen auf eine weitere Beobachtung: „Während die Bedeutung des sozialen und zivilgesellschaftlichen Engagements wächst, zeigt sich auch, dass religiöse Kommunikation in diesen Gruppen nur einen ‚kleinen Teil ausmacht‘.“ 187 Dies markierte Wegner als Problem, denn: „Befriedigend ist das allerdings kaum.“ 188 So schlug er vor, dass der Frage nachgegangen werde: Was sind wirksame Gelegenheiten zur religiösen Kommunikation? Was bewährt sich? Was ist im Gegenteil vielleicht sogar eher abträglich, weil ‚selbstsäkularisierend‘? Welche tatsächlichen Wege lassen sich erkennen, auf denen Menschen ihren Weg zu Kirche und Glauben, vielleicht sogar zum Engagement finden? 189
Wegner forderte Forschung zur Aufklärung dieser Fragen. Interessanter ist jedoch noch, dass er mit der von ihm wahrgenommenen sozialen Praxis als Grund182 183 184 185 186 187 188 189
Wegner (2019), 103. Wegner (2016), 23. Wegner (2016), 23. Wegner (2019), 289. Wegner (2019), 408. Wegner (2019), 103. Wegner (2019), 103. Wegner (2019), 291.
Diskussion theologisch relevanter Felder für eine Pastoraltheologie
lage für Glaubenstradierung und Engagement in struktureller Hinsicht ernst machen will: Er schlug im Sinne der Erhaltung und Weiterentwicklung des liberalen Paradigmas vor, welches seiner Meinung nach besonders auf soziale Kommunikation setzt, Kirche von der Anstaltskirche hin zu lokalen Genossenschaften oder Vereinen umzuwandeln. 190 Dies lege die Grundbedingungen für eine besser geförderte ‚Eigenaktivität‘ der Mitglieder: 191 Es braucht bessere Strukturen, die die Mitglieder in eine größere Verantwortung für ihre Kirche bringen. Und das geht nur durch die Schaffung tatsächlicher Teilhabe. Also durch Vereine – oder eben durch Genossenschaften. 192
Wegner stellte sich damit genau gegen ein liberales Paradigma, welches die „religiöse Autoproduktivität der Gesellschaft feiert“ 193 und ein ‚Vereinschristentum‘ als milieuverengt ablehnt, sich den Ortsgemeinden in den Weg stellt und ein strukturell stark aufgestelltes Pfarramt benötigt. 194 Was die Folgen für das beamtenähnliche Pfarramt wären und wie sich der Modus der Anstellung in einem genossenschaftlich organisierten Kirchensystem überhaupt ändern würde, ist eine disskusionswürdige Frage. Bei allem, was zu diskutieren ist, kann jedoch festgehalten werden, dass die Stärkung der gemeindlichen Akteure als Ziel und konstruktiver Entwicklungspfad für die Zukunft einleuchtet.
190 Wegner (2019), 420 Auf S. 424 hielt Wegner zusammenfassend fest: „[Die kirchliche Organisation, BS] ist nach wie vor im Kern staatsähnlich verfasst und funktioniert faktisch anstaltlich. Zwar ist in ihr Eigenaktivität der Mitglieder natürlich erwünscht, ja wird in den letzten Jahren sogar gefördert. Aber solche Aktivität hat keine konstitutive, tragende Bedeutung. Letztlich sind es leitende und verwaltende Gremien – weit entfernt von den Interessen der Mitglieder –, die Reproduktion des Ganzen (nicht mehr) sicherstellen. Der Kirche fehlt im Kern eine Verknüpfung mit den Eigeninteressen ihrer Mitglieder. Sie hat in dieser Hinsicht ein deutliches Anreizproblem: Warum soll man sich für die Kirche einsetzen – es gibt sie doch auch ohne mein Engagement. Bis zu der besonders bedenkenswerten Folgerung, dass religiöse Erziehung eigentlich doch die Sache ‚der Kirche‘ sei – die hätte daran doch ein Interesse; warum soll ich mich darum auch noch kümmern? Erziehung ist schon schwer genug. Und gar im Freundeskreis widersprechen, wenn mal wieder über die Kirche hergezogen wird? ‚Würde ich ja gerne tun – aber ich weiß auch nicht so genau, was meine Gemeinde eigentlich unternimmt‘“ (Wegner (2019), 424). 191 Wegner (2019), 424. 192 Wegner (2019), 423. 193 Wegner (2019), 410. 194 Wegner (2019), 410.
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8.3.2 (Neu-)Begründung und Förderung einer kirchlichen Pluralismusfähigkeit – Bildung der Gemeinde als Schlüssel Ebenso wie Wegner schlug Hermelink einen Weg vor, der vom ‚Pluralismus der Individuen zum Pluralismus der Gruppen‘ führt. 195 Es komme in Zukunft darauf an, den Pluralismus des liberalen Paradigmas in der Vielfalt sozialer kirchlicher Gruppen zu verorten und über die Strukturbedingungen nachzudenken, wie dieser Pluralismus moderiert werden könne. Hermelink nahm so die Erkenntnis auf, dass Glauben als soziale Praxis gemeinsame, stark normative Überzeugungen durch Bildungsprozesse hervorbringe und dass die gemeinsamen Überzeugungen einer Gruppe dann auch für die Anerkennung anderer Glaubensformen ‚geöffnet‘ werden müssen. 196 Hermelink bedachte für die institutionelle Moderation der pluralen Gruppen drei Elemente, die diese Funktion bereits ausfüllten, als es noch um die Moderation individueller Religiosität ging. Für ihn sind die kirchlichen Gebäude, die rechtlichen Verfahren in der Kirche und das Pfarramt die relevantesten Strukturen für die genannte Aufgabe. An der bevorzugten Trias des liberalen Paradigmas: Pfarramt, Kirchgebäude, Kasualien ändere sich damit sehr wenig – es komme allerdings ein Aspekt der Bildung hinzu, nämlich die ‚Moderation der Diskurse‘ zwischen den kirchlichen Gruppen. Das ist aufgrund der Einsichten zur sozialen Verfasstheit des Glaubens begrüßenswert. Weiterhin ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die vorgeschlagene Lösung Hermelinks, die Pluralität über die bekannten institutionellen Größen zu moderieren, ein Problem entstehen lässt, das gerade für die Umbruchssituation in den ländlichen Regionen Ostdeutschlands virulent ist: Hermelink unterschied zwischen einem ‚harten‘ und ‚weichen‘ Pluralismus. 197 Der ‚weiche Pluralismus‘ sei an der „Moderation von Vielfalt durch ästhetische und / oder privat-familiäre Praxisformen“ 198 interessiert. Besonders Kasualien, das ‚Gebäudeprogramm‘, die Pfarramtsstruktur und auch das Mitgliedschaftsrecht fördern diesen weichen Pluralismus und seien auf diesen ausgerichtet. 199 Die ‚Prinzipien‘, die den weichen Pluralismus leiten sind drei: Integration, Addition und Asymmetrie. 200 Die Institution versuche in ihrer Praxis möglichst viele Gruppen zu integrieren und gehe den Weg der Addition, weil es die gute Finanzlage bisher konfliktfrei zuließ. 201 Trotzdem bleiben einige Praxisformen 195 196 197 198 199 200 201
Hermelink (2018), 287–290. Hermelink (2018), 290. Hermelink (2018), 282–284. Hermelink (2018), 283. Hermelink (2018), 282f. Hermelink (2018), 277. Hermelink (2018), 277.
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dominant, die als gesetzte und geschützte Strukturen die Einheit in aller Pluralität wahren: Hermelink nannte Pfarramt, Gottesdienst sowie Konfirmandenunterricht. 202 Er verwies nach dieser Analyse darauf, dass ein ‚weicher Pluralismus‘ nach dem Motto ‚anything goes‘ demnach die entscheidende Logik innerhalb der Kirche sei. 203 Demgegenüber stehe ein ‚harter Pluralismus‘, der sich in der Kirche ‚schwerer realisieren‘ lasse. 204 Hier geht es um ‚unbedingte Entschiedenheit‘, die vertreten werden muss, wenn es um die Frage geht, ‚was Einheit letztlich konstitutiert‘. 205 Hermelink fragte: Wie kann angesichts der manifesten Pluralität von Frömmigkeitsformen und theologischen Positionen, die letztverbindliche Geltung beanspruchen, ein kirchlicher Pluralismus gelebt – und begründet – werden? 206
Hermelinks Antwort auf diese Frage ist unbefriedigend: Natürlich ist der Pluralismus aus der Individualität zu begründen, die den Christinnen und Christen zukommt, wie es im Zusammenhang mit dem Priestertum aller Gläubigen bereits ausgeführt wurde. Hermelink verwies auch auf notwendige Bildungsprozesse, die diesen Glauben stützen. 207 Er ergänzte noch die Sozialität des Glaubens, wie ebenso bereits dargestellt wurde. Dieser Argumentationsführung ist nicht zu widersprechen, insofern sie eine nachvollziehbare theologische Begründung hat, die zudem eine Schnittmenge zwischen missionarischem und liberalem Paradigma darstellt. Es geht hier um den nächsten Schritt in der Argumentation, der nicht überzeugend ist: Wie sollen und können die theologischen Erkenntnisse kirchlich strukturell umgesetzt werden? Hermelinks Antwort auf die Frage, wie künftig die pluralen Überzeugungen der vielfältigen und unterschiedlichen Gruppen moderiert werden können, setzte ausschließlich auf die institutionellen Gegebenheiten, die im Modus des ‚weichen Pluralismus‘ stark sind: Gebäude, Rechtsverfahren, Pfarramt. 208 Er selbst wies aber auf die Probleme dieser Elemente hin, die in besonderer Schärfe für die Umbrüche in den ländlichen Räumen Ostdeutschlands gelten: Zum Einen [sic] stößt die Vielfalt kirchlicher Praxisformen genau dort an ihre Grenze, wo es um die Zuteilung von Ressourcen geht, wo also das additive Prinzip nicht mehr greift. So gewinnt die Diskussion um kirchliche Gebäude, um Gemeindeformen oder um Berufsprofile regelmäßig dort an Schärfe, wo deren Finanzierung in Frage steht. [. . . ] 202 203 204 205 206 207 208
Hermelink (2018), 277. Hermelink (2018), 278. Hermelink (2018), 283. Hermelink (2018), 279. Hermelink (2018), 279. Hermelink (2018), 281. Hermelink (2018), 289.
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Zum anderen [sic] scheint die asymmetrische Struktur der kirchlichen Pluralisierung, die selbstverständliche Dominanz des Sonntagsgottesdienstes, des Pfarramts oder der Ortsgemeinde mehr und mehr an Plausibilität zu verlieren. 209
Damit wird vor allem eines deutlich: Die von Hermelink vorgeschlagenen strukturellen Elemente und Prinzipien für die Moderation von Pluralität haben weder innerlich noch äußerlich die Kraft für diese Aufgabe. 210 Zusammenlegungen und Regionalisierungsmaßnahmen geben ein beredtes Bild der Dysfunktionalität sowie der Überforderung. Vielfalt ohne innere Kriterien zu gewährleisten, wie es für den ‚weichen Pluralismus‘ dargestellt wurde, kann keine sinnvolle Strategie sein, wenn die äußeren Kriterien, über die zu einem guten Teil die Einheit in aller Pluralität gesichert werden kann, schmelzen. Es liegt auf der Hand, dass die Strukturen und Prinzipien des ‚weichen Pluralismus‘ kaum noch in der Lage sind, Einheit (strukturell) und Vielfalt (ideell) zu gewährleisten. An dieser Stelle ist auf eine Stärke des missionarischen Paradigmas hinzuweisen: Ebenso wie Hermelink über die Pluralität kirchlicher Gemeinschaften nachdenkt, ist das Interesse im missionarischen Paradigma an einer Vielfalt kirchlicher Sozialformen groß. Die Moderation der angestrebten Vielfalt soll nun nicht im Modus des ‚weichen Pluralismus‘ gewährleistet werden, sondern im Zentrum steht hier die regulative Idee der mixed economy. 211 Diese Idee ist missionstheologisch gefüllt und hat die Förderung von Pluralität und Einheit zum Ziel. Als theologischer Gedanke regelt die mixed economy das Miteinander höchst unterschiedlicher Sozialformen: Meine Gemeinde, sei es Parochie, Hauskirche, Funktionspfarramt, Kathedrale, ‚fresh expression‘, Landeskirchliche Gemeinschaft oder CVJM, darf sich Gemeinde nennen, aber nie ohne die anderen. Wir sind immer ganz Kirche, aber nie die ganze Kirche. Und damit ist klar: ‚mixed economy‘ will deutlich mehr als ein schiedlich-friedliches Nebeneinander. 212
Den Aspekt der Missionstheologie erkennt man vor allem am Kern bzw. an der Ausrichtung der mixed economy: der Etablierung einer „Kultur der gemeinsa-
209 Hermelink (2018), 284. 210 Vgl. dazu auch die besonders ambivalenten Ausführungen hinsichtlich der Bedeutung von Gebäuden und Pfarrpersonen auf dem Land: Hauschildt/Heinemann (2016), 43f. – Gebäude können nicht erhalten werden und Pfarrpersonen werden weniger, gleichzeitig wachsen die Bedürfenisse der Mitglieder nach Identifikation vor Ort. Hauschildt und Heinemann fassten die Entwicklungen zusammen: „Damit entsteht ein Dilemma: Die Institution Kirche auf dem Land kann zwar weniger als früher, gleichzeitig aber haben sich die Erwartungen an die Kirche und das Kränkungspotential bei ihrem Rückbau noch erhöht“ (Hauschildt/Heinemann (2016), 43f, Herv. original.). 211 Herbst (2018), 158–166. 212 Herbst (2018), 159.
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men Verantwortung für die Weitergabe des Glaubens“ 213. Deshalb werden vier Aspekte, die letztendlich der Förderung der Glaubensweitergabe dienen sollen, hervorgehoben. Mixed economy „ist eine Erlaubnis zum Experiment“ 214 – vielfältige Projekte, Sozialformen etc. sind erwünscht, werden gefördert und dürfen auch scheitern. Dies fördert insgesamt die Pluralität der Sozialformen und diese Pluralität dient wiederum der Weitergabe des Glaubens: „In einer ‚mixed economy‘ vermehren sich die Chancen für unsere Zeitgenossen, irgendwo in Kontakt mit dem Evangelium und mit Christen zu kommen“ 215. Durch die ekklesiologische Erkenntnis der weltweiten Verbundenheit der Kirche gibt die mixed economy auch einen theologisch fundierten Leitgedanken zur ‚Bewahrung des innerkirchlichen Friedens‘. 216 Herbst konstatierte in dieser Hinsicht: „Wer ‚mixed economy‘ sagt, organisiert den Zusammenhalt des Auseinanderstrebenden, bietet eine Idee, wie ich ‚ich‘ sagen kann, ohne dem ‚du‘ arrogant, verzagt, wütend, enttäuscht oder hoffnungslos den Rücken zuzukehren.“ 217 Nicht zuletzt ist die Idee der mixed economy eine „Herausforderung zum glaubensstarken Opfer“ 218. Herbst fand so in der Theologie der mixed economy sogar eine Sprache für die oft frustrierenden und enttäuschenden Prozesse des Rückbaus und des Abbruchs. Eine solche Denkweise würde helfen, Gemeinden und Gruppen als eigenständige Akteure zu verstehen und mit ihnen nicht nur den Trauerprozess des Abbruchs zu durchlaufen, sondern auch die Hoffnung auf Neues zu teilen. Für diese regulative Idee wäre im Sinne eines ‚harten Pluralismus‘ einzutreten. Was dann entstehen könnte, wären unter schrumpfenden Bedingungen keine Überforderungen, sondern eine Einladung zum Umbau. Nah am Gedanken der Konvivenz, die als Hilfs-, Lern- und Festgemeinschaft beschrieben wird, formulierte Herbst das Ziel einer Mixed-Economy-Kirche: Das alles wird ein regiolokales, missionales Gebilde sein. Und sie [sc. die kirchlichen Gemeinschaften] werden miteinander zu tun haben: zusammen feiern, Mitarbeiter schulen, sich in Krisen unterstützen, sich gemeinsam öffentlich zu den Fragen der Region äußern. Es wird eine kleinere, unübersichtlichere Kirche sein, öffentliche Minderheits- und Missionskirche, eine regiolokale ‚mixed economy‘. 219
Offensichtlich ist, dass eine solche Mixed-Economy-Kirche nicht von selbst entstehen wird, sondern eine anspruchsvolle Bildungsaufgabe ist. Doch an diesem Punkt zeigen sowohl missionarisches wie auch liberales Paradigma wiederum 213 214 215 216 217 218 219
Herbst (2018), 161. Herbst (2018), 160. Herbst (2018), 160. Herbst (2018), 160. Herbst (2018), 160. Herbst (2018), 160. Herbst (2018), 166.
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hohe Schnittmengen: Hier wie dort ist Bildung zentral, wie bereits gezeigt wurde. Sehr klar formulierte kürzlich Wäffler-Boveland, wie zentral Bildung in der Kirche als ‚Gemeinschaft der Glaubenden‘ ist: Kirche braucht Bildung, weil sie die Deutungshoheit darüber, was christlicher Glaube ist, der Gemeinschaft der Glaubenden zumutet und zutraut. 220
Bildungsprozesse seien dann der bevorzugte Weg, als Individuum in Gemeinschaft Glauben zu finden und zu praktizieren – vor allem sei Bildung dann Praxis des Glaubens. Wäffler-Boveland führte diesbezüglich aus, dass kirchliche Bildung eine Form der ‚Ermöglichungsdidaktik‘ darstelle, die nicht ‚für‘, sondern ‚mit‘ den Teilnehmenden arbeite. 221 Weil sich Gemeinde nun als Teil der Welt verstehe, gelte gleichzeitig, dass ‚Religion nicht bloß Privatsache sein kann‘. 222 Die Bildungsprozesse finden in der ‚Öffentlichkeit der Gemeinde‘ statt, ‚wo Bildung ein gemeinsamer Prozess ist‘. 223 So wird die Gemeinde zur Lernumgebung von Individuen, die gemeinsam mündig und kritisch reflektieren und eine ‚authentische Lebenspraxis‘ finden. 224 Wenn bei all dem klar bleibt, dass Bildung Gottessache ist, „die allein Gott am Menschen tun kann“ 225, dann bedarf es auf Seiten der Menschen wenig: Die Bereitschaft, sich in Glaubensfragen zu bilden, beruht auf Neugier und dem Wunsch nach Bildung. Es spricht nichts dagegen, dass Gottvertrauen durch die entsprechende theologische und spirituelle Übung und Praxis gebildet werden kann. Doch wie die Bildung in Sport, Musik oder Fremdsprachen ein regelmässiges Training, Übung und stetiges Dranbleiben erfordert, so ist es mit dem Gottvertrauen, das auf Übung und christlicher Bildung beruht. Ob diese eher kontemplativer, spiritueller oder exegetischer Art ist, spielt dabei weniger eine Rolle als die Regelmässigkeit der Bildung. Dabei bietet sich die mündige Gemeinde gegenseitig geistliche Begleitung an und übt das Vertrauen auf den gemeinsamen Weg der christlichen Bildung. So bildet sie sich zur ‚mündigen Gemeinde‘. 226
Dazu braucht es wiederum gebildete Theologinnen und Theologen, die derartige Bildungsprozesse begleiten können. Deutlich wird dabei, dass ‚Glaube‘ nicht an das Pfarramt delegiert wird, sondern mit den Theologinnen und Theologen entdeckt wird. Wäffler-Boveland brachte diesen Zusammenhang wie folgt auf den Punkt: 220 221 222 223 224 225 226
Wäffler-Boveland (2018), 135. Wäffler-Boveland (2018), 138 u. 142. Wäffler-Boveland (2018), 144. Wäffler-Boveland (2018), 144. Wäffler-Boveland (2018), 136. Wäffler-Boveland (2018), 136. Wäffler-Boveland (2018), 145.
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Die Stärke der evangelischen Bildung ist eine sich bildende, mündige Gemeinde, die gemeinsam und gegenseitig das Priesteramt Christi pflegt und lebt. Darum braucht sie gebildete und bildende Theologinnen und Theologen mit Kopf, Herz und Hand. Evangelische Bildung hat das Potenzial, zu überraschen und zu begeistern, zu inspirieren und nachdenklich zu stimmen. 227
Die Gedanken zur ‚Bildung‘ von mündigen Gemeinden wurden hier aufgenommen, um drei Dinge zu zeigen: Zum einen ist der Aspekt der Bildung ein Konsens zwischen missionarischem und liberalem Paradigma, auf dem weiter aufgebaut werden kann. Desweiteren lässt sich anhand von Wäffler-Boveland gut nachvollziehen und zeigen, inwiefern kirchliche Bildung sowohl individuell als auch sozial ist. Dieser soziale Aspekt soll noch einmal betont werden bspw. gegenüber einer möglichen Lesart eines ‚lebendigen, mündigen Christseins‘, wie Herbst es formulierte. Lebendiges, mündiges Christsein darf nicht individualistisch missverstanden werden. Mit Wäffler-Boveland wird deutlich, wie sehr die Gemeinschaft der Glaubenden eine notwendige Lernumgebung ist. Zum anderen dürfte wiederum deutlich werden, dass Bildungsprozesse mit den Teilnehmenden nicht übergriffig sind. Bildungsprozesse dieser Art liegen in der oben dargestellten Linie der Missionstheologie Sundermeiers. Hier wurde dargelegt, dass Glaube als Anrede einerseits keinen Zwang ausübe, sondern die Antwort des Anderen ‚freisetzt‘ und andererseits ‚Botschaft des Glaubens nicht in der Tradition der Verkündiger verharre, sondern auf die Stimme der Hörer hört‘, die dann wiederum ihren Glauben verantworten müssen. 228 So ließe sich der Schwerpunkt ‚Gemeinde‘ als Glaubensgemeinschaft verantworten: Plurale und auf Mission hin ausgerichtete Gemeinschaften leben und lernen gemeinsam, so dass sich jeder als Individuum in der Gemeinschaft entfalten kann und die Gemeinschaft als Ganze fördert. Gemeinsam lebt man Konvivenz, Dialog und Zeugnis am Ort und weiß sich in der Region miteinander verbunden. Die Vielfalt der Kontexte macht eine vielfältige Organisation notwendig – Einheit stiftet die gemeinsame Mission im Sinne der Nachfolge des trinitarischen Gottes in die Welt. Insgesamt zeigt sich, dass durch die Adaptionen von Wegner und Hermelink missionarisches und liberales Paradigma einander ähnlicher geworden sind: Der Gedanke Kirche als plurale Sozialformen zu entwickeln, hat sich als gemeinsame Perspektive für die Zukunft erwiesen. Weiterhin ist festzustellen, dass vor allem dem Gedanken der mixed economy aus dem missionarischen Paradigma besondere Bedeutung zukommt, da sie im Sinne eines von Hermelink präferierten ‚har227 Wäffler-Boveland (2018), 146. 228 Arnoldsheimer Konferenz (AKf) und Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirchen Deutschlands (VELKD) (1991), 129, vgl. auch Kap. 8.1.3, S. 323.
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ten Pluralismus‘ die Einheit und Vielfalt der Kirche leiten kann. Abschließend erweist sich Bildung als zentrales Handlungsfeld. Es geht um Gemeindebildung im vielfältigen Sinne: Bildung der Individuen im Glauben in der Lernumgebung ‚Gemeinde‘, Bildung der Gemeinde im Hinblick auf Pluralismusfähigkeit sowie andere Bildungsprozesse, die die Gemeinde in Zeugnis und Dienst und der Konvivenz fördern – die Liste wäre fortzusetzen. Deutlich wird, wie zentral Bildungsprozesse sind.
8.3.3 Überlegungen zu fluideren Grenzziehungen – Mitgliedschaft in Bewegung Es gibt noch einen weiteren wichtigen Unterschied im Themenfeld ‚Gemeinde‘, der eine deutliche Unterscheidung zwischen missionarischem und liberalem Paradigma markiert: Es geht um die Ausdeutung dessen, was mit der ecclesia invisibilis gemeint ist. Der theologische Gedanke der ecclesia invisibilis beeinflusst besonders stark, wie die Inklusions- und Exklusionsbedingungen der Kirche aufgefasst werden. Karle hatte bereits mit ihrem professionstheoretischen Entwurf in Bezug auf die Exklusionsbedingungen einen ‚blinden Fleck‘ ausgemacht. So kann es nur sinnvoll sein, diesem Punkt Aufmerksamkeit zu schenken. Ausgangspunkt ist die unterschiedliche Interpretation dessen, was mit der ecclesia invisibilis gemeint ist. Wie bereits dargestellt, ist die ecclesia invisibilis für Wagner-Rau ‚potentiell‘ überall zu finden. Nach Herbst ist die ecclesia visibilis der Ort, an dem die ecclesia invisibilis verborgen ist. 229 Es ist offensichtlich, dass Wagner-Rau, die wenig Wert auf Exklusionsmarker legt, in der Gefahr steht, Kirche von Nicht-Kirche kaum unterscheiden zu können. Wenn Kirche im verborgenen Zustand potentiell überall zu finden ist, dann kann man positiv eine gewisse Offenheit nach außen als Stärke im Ansatz von Wagner-Rau ausmachen. Gleichzeitig geht das damit einher, dass Kirche nicht deutlich identifiziert werden kann – mehr als eine äußerst fragmentarische Identität kann man so nicht ausbilden. Wenn sich Kirche überall finden lässt, was findet man denn da? Woran macht sich das Kirchesein außerhalb der Kirche fest? Im Gegenzug dazu hielt Herbst einen Minimalkonsens dessen fest, was die ecclesia invisibilis sei und wo sie zu finden sei, nämlich innerhalb der sichtbaren Kirche. Kirche als corpus permixtum ist damit eine ebenso vorsichtige wie einsichtige Definition dessen, was Kirche ist. Gleichzeitig gibt es weniger Schwierigkeiten bei der Identifikation dessen, was Kirche ist und wer dazugehört. Es sind diejenigen, die um Wort und Sakrament versammelt sind. Wie gesagt, wird diese Versamm-
229 Vgl. Kap 7.2.1, S. 281 für Wagner-Rau und Kap. 7.2.2, S. 296 für Herbst.
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lung als corpus permixtum gedacht. Wichtig ist in diesem Zusammenhang lediglich, dass ‚Kirche‘ an Wort und Sakrament erkannt wird. Es gibt sicherlich noch mehr ‚Identitätsmarker‘ von ‚Kirche‘, die man diskutieren könnte. Lutherisch gesehen sind allerdings Wort und Sakrament die wichtigsten. Insofern Wort und Sakrament die Voraussetzungen sind, um Kirche wirklich als Kirche identifizieren zu können, fällt der Gedanke schwer, eine ecclesia invisibilis außerhalb der Kirche zu denken. Es ist wiederum Wegner, der an diesem Punkt das liberale Paradigma verändern möchte. Auch er sah die Probleme eines Begriffes von Kirche bzw. Religion, der keine Unterscheidungen zulässt. 230 Wegner lehnte den ubiquitären Religionsbegriff des liberalen Paradigmas ab: Mir scheint es zwingend zu sein, die Unterstellung der Ubiquität von Religion fallen zu lassen, gerade um der Wirklichkeit der vielen außerhalb der Kirche, insbesondere natürlich der Konfessionslosen, gerecht zu werden: ‚Deren Entscheidung ist zu respektieren und nicht mit einem funktionalen Religionsbegriff umzuinterpretieren.‘ In dieser Hinsicht ist das liberale Paradigma keine hilfreiche Deutung mehr. 231
Die Deutung von Religion als ubiquitär und ‚Kirche‘ als potentiell überall anwesend gehen Hand in Hand. Es zeigt sich damit aber, dass diese theoretische Konstruktion in der Gefahr steht, immun gegen die Wirklichkeit zu werden, wenn sie Selbstaussagen von Menschen übergehen kann. Ein so ausgeweiteter Begriff von ‚Kirche‘ ist potentiell eine äußerst übergriffige theoretische Konstruktion. Ein zu starker Inklusivismus, der dem liberalen Paradigma eigen zu sein scheint, erweist sich demnach sowohl nach außen hin als auch nach innen hin als wenig brauchbar, da er die eigene Identität wie auch die Identität des Anderen unterminiert. Nun ist zu fragen, ob das missionarische Paradigma eine überzeugende Alternative zu bieten hat. Hier ist zuerst an Sundermeier zu erinnern, den Menzel ins Gespräch brachte. Interessant ist ebenfalls, dass Hempelmann an die von Ratschow und Sundermeier maßgeblich erarbeitete Studie nach 20 Jahren erinnerte und auf deren Relevanz hinwies. 232 Seiner Beobachtung nach werden die religionstheologischen Modelle von Exklusivismus, Inklusivismus und Relativismus weiterhin debattiert und müssen auch weiter debattiert werden, jedoch „drängt sich der Eindruck auf, dass es dabei vor allem um den Wettstreit unterschiedlicher inklusivistischer Perspektiven geht“ 233, weswegen er an die Studie erinnerte. 230 Insofern es hier um In- und Exklusionsbedingungen geht, kann man den Begriff von ‚Kirche‘ und ‚Religion‘ parallel denken: Wenn ekklesiologisch keine Unterscheidungen zur Umwelt möglich sind, weil Kirche überall zu finden ist, dann korrespondiert das mit einem Begriff von Religion, bei dem die Kirche auch umfassend zuständig ist. 231 Wegner (2016), 23, zitiert Grethlein (2015b), 487. 232 Hempelmann (2011), 443. 233 Hempelmann (2011), 443.
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In der bereits angeführten Studie stellten sich Sundermeier und Ratschow gegen inklusivistische Denkweisen. 234 Mit diesen gehe häufig eine Form der Selbstrelativierung einher. Allerdings wurde in der Studie deutlich gemacht, „dass Selbstrelativierung keine überzeugende Strategie darstellt, Differenzen auszuhalten und Toleranz einzuüben.“ 235 Es wird demnach ein Wert auf Differenz gelegt – also auch auf Unterscheidungsmerkmale. Die Frage ist dann, wie im missionarischen Paradigma ein positiver und konstruktiver Umweltbezug hergestellt wird, der Menschen außerhalb der Kirche einerseits nicht abwertet und andererseits Differenzen beschreiben lässt. Theologisch wird dies nicht in der Ekklesiologie, sondern mit Hilfe der Gotteslehre verhandelt. Sundermeier und Ratschow ordneten die Umwelt – vor allem die anderen Religionen – Gott, dem Vater zu, der als Schöpfer nicht nur durch Obrigkeit, sondern auch durch Religion die Welt erhält. Hempelmann brachte diesen Aspekt der Studie zusammenfassend auf den Punkt: „Religionen gehören demnach zum Welthandeln Gottes, sie sind als Lebensvollzüge unter dem Gesetz des Schöpfers zu verstehen.“ 236 Außerhalb der Kirche begegne man dann immer noch demselben Gott wie in der Kirche – man folge ihm ja auch in die Welt nach, um von seiner Anwesenheit Zeugnis zu geben. Dies gehe mit Respekt gegenüber den Anderen einher und führe zur Konvivenz. 237 Zugleich ist festzuhalten: „Allerdings bleibt dieses Welthandeln Gottes verborgen und anfechtend, ‚bis es in Jesu Wort, Werk und Person ausgelegt und im Geist Gottes erhellt wird‘.“ 238 Diese theologische Denkfigur ebnet den Weg zu einem Modell von Kirche, welches institutionelle In- und Exklusionsbedingungen freier handhaben kann als bisherige Modelle von Kirche, weil Kirche so zwischen dem verborgenen Welthandeln Gottes und dessen Offenbarung in Christus gedacht wird. Kirche als corpus permixtum ist schlicht ein Teil dieser Welt. 239 Deswegen wird die Bewegung
234 Vgl. dazu die maßgeblich von ihm mitverfasste Studie: Arnoldsheimer Konferenz (AKf) und Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirchen Deutschlands (VELKD) (1991): Beispielsweise hielt er das inklusive Modell von Rahner (‚anonymes Christentum‘) für „unhaltbar“ (Arnoldsheimer Konferenz (AKf) und Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirchen Deutschlands (VELKD) (1991), 123) und in Auseinandersetzung mit Tillich zeigte sich für ihn, dass „die Überlegungen zur Bedeutung der Geistgemeinschaft für das Verhältnis der christlichen Kirchen zu den außerchristlichen Religionen [. . . ] schwerlich als zureichender Grund für die Behauptung einer latenten Kirche angenommen werden können“ (Arnoldsheimer Konferenz (AKf) und Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirchen Deutschlands (VELKD) (1991), 120). 235 Hempelmann (2011), 446. 236 Hempelmann (2011), 447. 237 Hempelmann (2011), 447. 238 Hempelmann (2011), 447, zitiert: Ratschow (1979), 122, Herv. BS. 239 Vgl. dazu Hempelmann (2011), 447.
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auf Christus hin zentral, da sich Kirche in dieser Bewegung, die von Christus ausgeht, als sich selbst erkennt. Organisational und auf diese Theologie aufbauend wäre der Gedanke von Hiebert weiter auszubauen, den Herbst für seine Ausleuchtung von In- und Exklusionsmechanismen der empirischen Kirche aufnahm. 240 Kirche ist demnach ein nach außen hin unbegrenztes, ‚unordentliches‘ Gebilde, welches auf ein theologisch bestimmtes Zentrum hin angelegt ist: Christus in Wort und Sakrament – also den wichtigsten Identitätsmarkern von Kirche. Unterscheidungen zwischen Kirche und Welt werden dann nicht nach institutionellen Markern (Taufe, Kirchenmitgliedschaft) vorgenommen – ein Gedanke, den auch Menzel aufnahm, als sie von den ‚an Kirche beteiligten Subjekten‘ sprach, die durchaus auch Nicht-Kirchenmitglieder darstellen können – sondern nach der Bewegungsrichtung in Abhängigkeit vom Zentrum: „Man kann schneller oder langsamer auf das Zentrum zugehen, steckenbleiben oder sich dekonversiv vom Zentrum entfernen.“ 241 Die theologisch anspruchsvolle Aufgabe ist nun, zum einen festhalten zu können, dass Wort und Sakrament Kirche wirksam hervorbringen, und zum anderen sich darauf einzulassen, Gott als den in der Welt Handelnden noch einmal ganz anders kennenzulernen. Es wäre fatal, wenn letzteres ausfiele, denn der Gott, der im Abendmahl zu sich einlädt, ist auch derjenige, der auf verborgenen Weise ‚draußen‘ ist und seiner Kirche so in die Welt vorangeht, damit sie von ihm Zeugnis gibt. So wird sie ihn immer neu kennenlernen und gleichzeitig darin den erkennen, an dessen Tisch sie schon immer gesessen hat. In diesem Sinne erweist sich der Gedanke aus dem missionarischen Paradigma als eine sinnvolle Alternative zu dem versteckten Inklusivimus des liberalen Paradigmas: Weltbezogenheit, Wertschätzung und Respekt, Offenheit und eine Identität, die sich an und durch Christus vergewissern lässt, können mit Hilfe der Trinitätslehre differenzierter ausgeführt werden als innerhalb der ekklesiologischen Gedanken, wie sie in der Pastoraltheologie diskutiert werden.
240 Herbst (2018), 29. 241 Herbst (2018), 29.
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Teil III Adaptionen bei den Handlungsträgern und Handlungsfeldern – Entwicklungsmöglichkeiten des Pfarramts im ländlichen Ostdeutschland Nachdem die kontextuellen Entwicklungen dargestellt und relevante theologische Grundlagen diskutiert wurden, ist es nun möglich, die gewonnenen Erkenntnisse auf das Pfarramt im ländlich-peripheren Ostdeutschland zu beziehen und Möglichkeiten zur Weiterentwicklung auszuloten. Dieser Aufgabe ist der letzte Teil dieser Arbeit gewidmet. Zunächst soll der Wandel der Kirche und die damit einhergehenden Entwicklungen im Pfarramt rekapitulierend bedacht werden. Dann wird der Fokus auf die Handlungsträger gelegt und verschiedene Entwicklungspfade des Pfarramts diskutiert. Dabei zeichnen sich auch Handlungsfelder ab. Der vierte Teil schließt mit einer kurzen Schlussbetrachtung zur Pastoraltheologie als ‚Berufstheorie des Pfarramts‘.
9.
Kirchliche Entwicklungen im ländlich-peripheren Ostdeutschland: Auf der Suche nach einem Entwicklungspfad für das Pfarramt
Es wurde gezeigt, wie in den ländlich-peripheren Räumen Ostdeutschlands die Kirche als Organisation unter Druck gerät. Die ehemalige Volkskirche hat einen Anteil von unter 20 % an der Gesamtbevölkerung in Ostdeutschland – Tendenz kontinuierlich weiter fallend. Die in der Religionssoziologie erforschten Dynamiken der Säkularisierung und Individualisierung zeigen an, dass die Mehrheit der Bevölkerung in Ostdeutschland ‚konfessions- und religionslos‘ ist. Soziologische Erkenntnisse haben erwiesen, dass diese Mehrheiten das Normalempfinden bestimmen und Minderheiten beeinflussen. Deswegen muss in Ostdeutschland die Herausforderung bedacht werden, dass sich ein religiöses Leben gegen das Normempfinden der Mehrheit entwickeln muss. Trotz mancher Dienste, die gesamtgesellschaftlich an der Kirche geschätzt werden, sind weiterhin konstante Abbrüche in der Kirchenmitgliedschaft durch Austritte zu verzeichnen. Ebenso ließ sich demographisch nachweisen, dass die Kirche langfristig aufgrund von Überalterung weiter schrumpfen wird. Dieser Faktor sowie hinzukommende Umlandwanderungen wirken sich besonders negativ auf die Entwicklungssituation in ländlich-peripheren Räumen aus. Kirchendemographisch wurde nachvollzogen, dass die Reproduktionsmechanismen einer Volkskirche besonders in den ländlich-peripheren Räumen außer Kraft sind: Wie wahrscheinlich ist es, dass sich genügend Paare finden, die mögliche Kinder taufen lassen und jenseits der suburbanen Zonen in dörflichen und kirchlichen Strukturen bleiben? Die Antwort auf diese Frage fiel ernüchternd aus. Genauso ist die Feststellung hinsichtlich der Stabilität der Kasualien desillusionierend: Selbst die stabilste kirchliche Kasualie, die Bestattung, ist rückläufig. Kirchliche Beerdigungen werden seitens der Kirchenmitgliedern immer weniger in Anspruch genommen werden. Stattfindende Rückbau- und Regionalisierungsmaßnahmen fördern innerkirchliche Peripherisierungsprozesse. Die Alterung sowie die Verluste in der Kirchenmitgliedschaft machen diese Maßnahmen notwendig. Gleichzeitig konnte
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gezeigt werden, wie unscharf mit dem Begriff ‚Regionalisierung‘ kommuniziert wurde. Regionalisierung war zunächst als eine Maßnahme gedacht, die in Zeiten mit steigenden Ressourcen Veränderungen bringen sollte. Mit dem Konzept ‚Regionalisierung‘ wurde dann ohne notwendige Adaptionen an Schrumpfungsdynamiken Rückbau betrieben. Die nicht einlösbaren Wachstumsversprechen oder Vorgaben führten zu Frustrationen bei allen Beteiligten. Es mag auch deswegen eine gewisse Müdigkeit geben, wenn es um den strukturellen Umbau in der Kirche geht. In dieser Hinsicht ist auch zu bedenken, dass eine vergleichsweise ältere Pfarrerschaft, wie das für Ostdeutschland der Fall ist, potentiell weniger in der Lage ist – besonders wenn Weiterbildungsmöglichkeiten oder fördernde Strukturen fehlen –, strukturell notwendige Innovationen voranzubringen. Es kann festgehalten werden, dass ‚für ländliche Räume denken‘ heißt: regional denken. Eine traditionelle Dörflichkeit, die evtl. sogar kirchliche Traditionen stützt, ist in Ostdeutschland viel mehr die Ausnahme als die Regel. Die ehemals eigenständigen Gemeinden sind klein geworden. Vergangene Fusionen haben Gemeinden, die aus mehreren Kirchdörfen bestehen, längst zum Normalfall werden lassen. Während nun regionale Fusionsprozesse weitergehen, ist darauf aufmerksam gemacht worden, dass ein präziseres Verhältnis von Wachstum und Schrumpfung notwendig geworden ist: Die derzeitige Herausforderung ist, wie man vom Rückbau zum Umbau unter weiterhin schrumpfenden Bedingungen kommt, um neue nachhaltige Kirchenentwicklung anzustoßen. Ein erster Schritt in diese Richtung ist die Verabschiedung von einigermaßen platten und unpräzisen Vorstellungen von Wachstums- und Katastrophenszenarien gleichermaßen. Entwicklungen sind möglich und konnten an einigen Stellen auch gezeigt werden. Organisational gilt es deswegen, Lernprozesse zu fördern, die Entwicklungsmöglichkeiten ausmachen, ausprobieren und dann auf eine Weise auswerten, die der ganzen Organisation dienen. Mit einiger Ernüchterung konnte dargelegt werden, dass die bisherigen kirchlichen Umstrukturierungen vor allem auf die Ermöglichung des Erhalts von stabilen Anstellungsverhältnissen ausgerichtet waren: Das Pfarramt und die jeweiligen landeskirchlichen Allokationszahlen sind ein Schlüssel zum Verständnis für ablaufende ‚Reformprozesse‘. 1 In der Diskussion der theologischen Grundlagen konnte herausgearbeitet werden, warum eine stabile pfarramtliche Struktur favorisiert wurde und immer noch wird: Im dominanten volkskirchlich-liberalen Paradigma ist das strukturell starke 1 Ebenso stellte dies Zulehner für die katholische Kirche pointiert fest: „Manche von den Organisationsfachleuten vermerken inzwischen, dass eine Art ‚downsizing einer sterbenden Kirchengestalt‘ in Gang gekommen sei. Auf einem niedrigen Niveau an Personal und Aufwand wird der herkömmliche Pastoralbetrieb weitergeführt. Oder [. . . ] man reformiert im Rahmen, aber nicht den Rahmen“ (Zulehner (2017), 51, Herv. original, zitiert MitschkeCollande (2012)).
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Pfarramt einer der Pfeiler zur Moderation des kirchlichen Pluralismus’. Nimmt man die Rede vom Pfarramt als ‚Schlüsselberuf‘ hinzu und die damit einhergehende starke Betonung desselben, dann darf man mit Recht sagen: Das strukturell starke Pfarramt ist der wichtigste Pfeiler des kirchlichen Pluralismus. 2 Allein die Entwicklung der Pfarrstellen in den ländlich-peripheren Regionen Ostdeutschlands zeigt, dass dieser Pfeiler nicht mehr stützt. Hinzu kommt, dass der Rückbau der Stellen aller Voraussicht nach durch einen kommenden Personalmangel überboten werden wird: Für die wenigen Stellen steht zu wenig Nachwuchs zur Verfügung. Hinzu gesellen sich Überlastungserscheinungen im Pfarrberuf, die zu einem beträchtlichen Teil an Personen führen, die dienstbedingt gesundheitlich stark angeschlagen sind. Versuche der Kompensierung des Personalmangels, der durch Nachwuchsmangel und Überlastung entstanden ist, wie bspw. neue Studiengänge, die den Zugang zum Pfarramt ermöglichen, führen zu bis dato noch nicht umfassend bearbeiteten Fragen nach Qualität und Gerechtigkeit bei der Übernahme in den Pfarrdienst und gleichzeitig nach dem Sinn der langen grundständigen Ausbildung. Dies alles wurde ausgeführt und zeigt, wie stark die Kirche im Rückbau und das Pfarramt unter Druck geraten ist. Schrumpfen ist kein linearer Prozess, bei dem unter der Maßgabe eines einigermaßen stabilen Verhältnisses von Pfarramt und Kirchgemeindemitgliedern die Arbeit relativ gleichbleibt. Im Gegenteil: Jeder Schrumpfungs- und Umstrukturierungsprozess ist mit einem hohen organisatorischen Aufwand verbunden. Weiterhin führen im ländlichen Bereich die geringen Zahlen und die wachsenden parochialen Zuständigkeitsbereiche eben genau zu den Kontaktverlusten im Gemeindebereich, die man im Pfarramt für die Moderation individueller Vielfalt eigentlich benötigt. Deutlich brachte die Analyse Hermelinks zum Vorschein, dass der kirchlich bevorzugte modus operandi eines ‚weichen Pluralismus’‘ unter Schrumpfungsbedingungen dysfunktional ist. Einheit konnte aufgrund reichlicher Ressourcen additiv über die Strukturen ‚Pfarramt‘, ‚Gebäude‘ und ‚rechtliche Verfahren‘ hergestellt werden. Wo das additive Prinzip nicht mehr greifen kann und ein Konflikt um Ressourcen notwendigerweise entsteht, wird ein ‚harter Pluralismus‘ benötigt. Ein ‚harter Pluralismus‘ braucht natürlich auch Strukturen, jedoch steht in dessen Zentrum eine Idee bzw. ein Prinzip, nach dem die Strukturen ausgerichtet werden. Das missionstheologische Prinzip mixed economy wurde dafür vorgeschlagen. Vereinfachend ausgedrückt, ist die Idee der mixed economy ein Pluralismusmoderator, der um der Mission willen Vielfältiges zusammenhalten kann. Überblickt man die Entwicklungen, rücken drei Problemfelder in den Fokus: Erstens muss gefragt werden, wann die sinnvolle Zusammenlegung von Gemein2 Festzuhalten ist hier ebenfalls, dass auch dem missionarischen Paradigma eine zentrale Position des Pfarramts innewohnt: vgl. Kap 7.2.2, S. 304ff.
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den um des Erhalts von Personalstellen willen ausgereizt ist. Zweitens ist in den Blick zu nehmen, dass selbst bei konstantem Stellenabbau es sehr wahrscheinlich sein wird, dass nicht genügend Nachwuchs für das Pfarramt zur Verfügung stehen wird. Auf eine in Teilen überlastete Pfarrerschaft kommt dann die Aufgabe zu, nicht nur neue Strukturen für die eigenen, größer gewordenen Zuständigkeitsbereiche zu entwickeln, sondern auch vermehrt Vakanzen abzudecken. Drittens wurde deutlich, dass die volkskirchlichen Reproduktionsmechanismen nicht mehr greifen und deswegen der Fokus – in Übereinstimmung mit dem missionarischen Paradigma und Weiterentwicklungen des liberalen Paradigmas – von der Religiosität der Individuen weg auf Glaube als soziale Praxis von Gruppen zu richten ist. Mit Wegner gesprochen: Christsein reproduziert sich nur durch ein lebendiges Interesse an der organisierten Gemeinschaft der Christen; nur durch aktive Teilhabe. 3
Mit diesen Erkenntnissen vor Augen, gilt es nun zu fragen, wie die kirchliche Organisation und damit auch das Pfarramt ausgerichtet werden können, um unter weiterhin schrumpfenden Bedingungen auf theologisch wichtige und empirisch relevante Erkenntnisse zu setzen, um so neue und möglichst nachhaltige Entwicklungen anzustoßen.
9.1 Die Basis: Entwicklung pluraler kirchlicher Gemeinschaften als Zukunftsaufgabe Im missionarischen und weiterentwickelten liberalen Paradigma ist die Erkenntnis zentral, dass ‚Glaube als soziale Praxis‘ grundlegende Bedeutung hat. Wegner und Hermelink setzen besonders auf den Aspekt der Sozialität im Glauben genauso wie auch das missionarische Paradigma Kirche im Modus ‚Gruppe und Bewegung‘ favorisieren. Beide Paradigmen setzen große Hoffnungen auf die mögliche Vielfalt von kirchlichen Gemeinschaften. Plurale kirchliche Gemeinschaften sind die Schnittmenge, in der sich sowohl im liberalen Pardigama, als auch im missionarischen Paradigma die Hoffnung auf eine zukunftsfähige Entwicklung der Kirche verbinden. 4 Interessanterweise stellte Zulehner als katholischer Theologe die Notwendigkeit der Emphase von Glauben als soziale Praxis im Zusammenhang mit der zukünftigen Entwicklung der katholischen Kirche ebenso pointiert heraus: 3 Wegner (2019), 417. 4 So auch Hauschildt/Pohl-Patalong (2013), 150: „Die Sozialform der (kleinen) Gruppe hat für die Kirche eine große Bedeutung, die eher zu-, jedenfalls alles andere als abnimmt.“
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Es zeigt sich, dass die stattfindenden Strukturreformen die Kirchen in unseren modernen Kulturen (allein) nicht zukunftsfähig machen. Zukunftsfähig kann nur bedeuten: Wie kann das Evangelium in das Leben und Zusammenleben heutiger Menschen eingewoben werden? 5
Um ‚Glauben als soziale Praxis‘ zu fördern, sind ‚Glaubensgemeinschaften‘ grundlegend. Gerade auf Basis dieser Erkenntnis dürfen die von Wagner-Rau und Menzel aufgestellten Thesen, dass ein volkskirchliches Modell im herkömmlichen Sinne als Leitmodell nach wie vor ‚tragfähig‘ und das Prinzip einer Bekenntniskirche, welche mit starken Vergemeinschaftungsformen einhergeht, zu ‚eindimensional‘ sei, nicht unwidersprochen bleiben. 6 Es ist richtig, dass sich im volkskirchlichen Modus unterschiedliche Mitgliedschaftsprofile ausbilden und als Ausdruck der Freiheit eines persönlich verantworteten Glaubenslebens wertgeschätzt werden können. Im Modell einer missionarischen Kirche als centred fuzzy set ist für unterschiedliche Mitgliedschaftsprofile ebenso Raum. Zugleich ist jedoch die Tendenz ausgeschlossen, Menschen kirchlich oder religiös zu vereinnahmen, die dem ausdrücklich widersprochen haben. Ebenso werden die eher diffusen Vorstellungen von Glaube und Christentum nicht als mündige christliche Glaubenspraxis gewertet. Sie sind eher Anlass zum einfühlsamen Dialog und zur Entdeckungsreise in Glaubensdingen. 7 Voraussetzung dafür ist allerdings eine im Glauben lebende Gemeinschaft, die der Grund und Anlass ist, dass Menschen sich zur Kirche aufmachen, wie Wagner-Rau sehr klar feststellte. 8 Hier findet sich das Engagement und die Beweglichkeit, die es für künftige Innovationen braucht. Weiterhin zeigt sich für kirchliche Gemeinschaften die Hoffnung, auch zukünftig tragfähig zu sein, im Gegensatz zu einem Modell, das auf individualisierte Glaubensformen setzt. Darum ist es sinnvoll, kirchliche Gemeinschaften zu fördern. Um dies zu ermöglichen, müssen jedoch beide Modelle (Volkskirche und 5 Zulehner (2017), 68. 6 Vgl. Menzel (2019), 488 u. Wagner-Rau (2012), 78. 7 So auch Karle, der in dieser Hinsicht zuzustimmen ist, auch wenn ihr professionstheoretischer Rahmen abgelehnt wird: „In der Kasualienseelsorge begegnet der Pfarrer mehrheitlich volkskirchlich distanzierten Gemeindegliedern, die oft nur vage und diffus ihre Vorstellungen und Wünsche im Hinblick auf die bevorstehende Taufe, Konfirmation, Trauung oder Beerdigung äußern können. Gerade deshalb ist es unabdingbar, daß die Pfarrerin als professionelle Vertreterin der christlichen Kirche in bezug [sic] auf die bevorstehende Kasualie sachgemäße Deutungs- und Sprachangebote macht und damit eine Distanzüberbrückung zu erreichen versucht“ (Karle (2001), 222). 8 „Wenn viele Menschen in Krisensituationen die Kirchen aufsuchen, um in ihren Ängsten gehalten zu werden, dann suchen sie damit einen Ort auf, den der Normfall qualifiziert: Kontinuierlich haben Menschen ihre Grenzerfahrungen, ihre Schmerzen und ihre Nöte in die Kirchen getragen und im Gebet vor Gott gebracht. Die unbeirrbare und verlässliche Kontinuität des Gottesdienstes schafft für den besonderen Anlass die Voraussetzung, wie klein und irritiert die Gemeinde auch immer sein mag, die sich regelmäßig versammelt“ (Wagner-Rau (2012), 86).
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Bekenntniskirche bzw. die damit verbundenen Paradigmen – liberal und missionarisch) in ihren Stärken weiter vereint werden. Dieser Gedanke der Integration des Konzeptes Volks- und Bekenntniskirche ist in der ostdeutschen Praktischen Theologie nicht neu. Lediglich die Frage nach einem sinnvollen ‚Wie?‘ ist offen. Formuliert wurde der Gedanke der Integration bereits von Ziemer, der sich in der Diskussion um die Zukunft der Kirche eine Abkehr von falschen Alternativen wünschte: Bekenntniskirche oder Volkskirche: Beide Formen der kirchlichen Sozialgestalt sind als exklusive Leitvorstellungen ungeeignet. ‚Volkskirche‘ entspricht weithin nicht mehr der Realität, weil zumindest in Ostdeutschland in vielen Regionen die gegenseitige Bezogenheit von Kirche und Volk aufeinander nicht mehr gegeben ist. ‚Bekenntniskirche‘ trifft für die meisten Kirchengemeinden, auch auf die Zukunft gesehen, nicht zu, weil es nach wie vor volkskirchlich bestimmtes Mitgliedschaftsverhalten gibt und geben wird. Wichtig ist an dem ‚Bekenntniskirche‘-Konzept, dass es ohne Gruppen verbindlichen und engagierten Christseins keine Zukunft der Kirche geben wird. Unverzichtbar an dem ‚Volkskirche‘-Konzept ist, dass die evangelische Kirche einen Auftrag gegenüber der Gesellschaft und in ihr hat. 9
So zeigt sich, dass besonders in Ostdeutschland die unter anderem von Roosen aufgemachte Alternative zwischen Bekenntnis oder Volkskirche, respektive: Erhalt der Größenordnung oder hohe Zustimmung in Glaubensfragen, eine falsche Alternative ist. 10 Ziemer machte unmissverständlich deutlich, dass es eine Zukunft für die Kirche „ohne Gruppen verbindlichen und engagierten Christeins“ 11 nicht geben wird. Zugleich stellte Ziemer heraus, dass gerade die Öffentlichkeit ebenso unverzichtbar ist, weil sie für den missionarischen Auftrag der Kirche unverzichtbar ist. Trotzdem – und das wurde bereits in den kirchentheoretischen Grundlagen für Ostdeutschland deutlich – sind die kirchlichen Gemeinschaften grundlegend. Es ist dann vordringlich, über ihre Offenheit und Öffentlichkeit nachzudenken. Mit Ziemer ist festzuhalten, dass ‚Gemeinschaft‘ nicht missverstanden werden darf, sondern eine christliche Gestaltungsaufgabe ist: Von Anfang an gehört die Koinonia wesentlich zur Gestaltung des Christseins. Gerade minderheitskirchliche Verhältnisse, in denen der missionarische Auftrag nicht erloschen ist, setzen intensive Gemeinschaftserfahrung voraus. Dabei sind mit ‚Gemeinschaft‘ nicht vor allem Erlebnisformen bürgerlicher Gemütlichkeit gemeint. 12 Das muss man sorgfäl9 10 11 12
Ziemer (2000), 180. Vgl. Kap. 1.2.2, S. 24. Ziemer (2000), 180. Insofern die Anmerkung Ziemers an dieser Stelle relevant ist, wird sie hier zitiert: „Mangelnde Unterscheidung in dieser Beziehung kann zur Skepsis gegenüber einer gemeindebezogenen Theologie beitragen, wie ich sie nicht selten bei westdeutschen Kollegen erlebt habe“ (Ziemer (2011), 270f).
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tig unterscheiden. Gemeinde ist in der Regel kein Ersatz für fehlende soziale Alltagskompetenz ihrer Glieder. Gemeinde ist Gemeinschaft, die in etwas Anderem, in der Teilhabe am Evangelium gründet. 13
Es ist interessant, wie Ziemer zum Ausdruck brachte, dass Mission eine intensive Gemeinschaftserfahrung voraussetzt. 14 Die Wendung nach außen, Öffentlichkeit und intensive Gemeinschaft sind demnach keine Gegensätze, sondern sind einander zugeordnet. 15 Im Grunde leuchtet darin die Denkfigur auf, die bereits von Sundermeier in Bezug auf die Konvivenz vorgetragen wurde: Zuerst ist eine Konvivenz der Jüngerinnen und Jünger mit dem Herrn der Kirche nötig, woraus eine Nachfolge bzw. Sendung in die Welt entspringt. Die Sendung und der Öffentlichkeitsbezug kirchlicher Gruppen ist dann eine permanente Aufgabe. Es kann nur gut sein, wenn im liberalen Paradigma immer wieder dieser Aspekt angemahnt wird – gerade in der besonderen religiösen Situation Ostdeutschlands. Im erweiterten liberalen wie auch im missionarischen Paradigma wurden Glaubensgemeinschaften oder kirchliche bzw. christliche Gemeinschaften als zukunftsfähige Basis für die Entwicklung der Kirche ausgemacht. Dies lässt sich zumindest als Ziel für eine tragfähige Entwicklung der Kirche auch in ländlichperipheren Räumen formulieren. Hier gibt es auch vielfältige Glaubensgemeinschaften: Glaube als soziale Praxis findet sich in Familien, Freundschaftsgruppen, Betrieben, an Schulen, Krankenhäusern, in Ortsgemeinden / Gottesdienstgemeinden, diakonischen Gruppen / Selbsthilfegruppen etc. 16 Die Vielfalt und Breite solcher Glaubensgemeinschaften ist schon jetzt gegeben. Zu fragen ist, wie diese Glaubensgemeinschaften zu entwickeln sind, damit sie kirchliche Gemeinschaften werden im Sinne einer sowohl pluralismusfähigen als auch auch offenen, öffentlichen und missionarischen Glaubensgemeinschaft. Wichtig ist zunächst, dass mit diesen Gemeinschaften in der Kirche eine große Pluralität gegeben ist. Das heißt nun nicht, dass alle diese Gemeinschaften bereits pluralismusfähig oder öffentlich und missionarisch sind. Trotzdem ist als Erstes die Vielfalt der unterschiedlichen Milieus dieser bestehenden Gemeinschaften 13 Ziemer (2011), 270f. 14 Etwas zurückhaltender aber in die gleiche Richtung weisend formulierte Zulehner: „Die Gemeinschaft reduziert den kognitiven Druck, der auf Minderheiten lastet. So gilt: Die Kirche und ihre Gemeinschaften erleichtern es in einer pluralistischen Gesellschaft, konsequent Christin, Christ zu sein“ (Zulehner (2017), 85). 15 In diesem Zusammenhang ist an Winkler zu erinnern, der zu bedenken gab: „Die in unserer Zeit der Kirche und Theologie gestellten Fragen lassen sich allein auf der Ebene der Argumentation nicht beantworten. Die überzeugendste Antwort ist eine Gemeinde, in der und durch die das Evangelium in Wort und Tat mitgeteilt wird“ (Winkler (1987), 167). 16 Vgl. dazu den einschlägigen Beitrag zu „Kirche als Bewegung und aktive Gruppe“ von Hauschildt/Pohl-Patalong (2013), 138–157 – Gemeinde und Gemeinschaft bzw. Kirche als Gruppe ist demnach in einem soziologisch weiten Horizont zu verstehen.
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zur Kenntnis zu nehmen und wertzuschätzen. Die Frage ist nun, welche dieser Gruppen in der Kirche sinnvoll (weiter-)entwickelt werden können (den Willen und die Bereitschaft der Gruppenteilnehmer vorausgesetzt) und auf welche Weise das geschehen kann. Dazu soll über die auf dem Land wahrscheinlich ‚dominanteste‘ 17 Form einer Gemeinschaft exemplarisch nachgedacht werden: die ehemalige bzw. fusionierte Ortsgemeinde, in deren Zentrum die Gottesdienstgemeinde stand und meistens auch noch steht. Dazu soll vor allem ihr Verhältnis zu einem sich verändernden Pfarramt reflektiert werden. Was für diese Gemeinschaft gilt, kann unter bestimmten Voraussetzungen dann auch auf andere Gemeinschaftsformen übertragen werden.
9.2 Fokussierung auf das Predigtamt statt Fokussierung auf das Pfarramt Bevor nachgezeichnet wird, welche Auswirkungen die jüngsten Entwicklungen in den ländlichen Räumen auf die Gottesdienstgemeinden haben, muss auf eine Sache hingewiesen werden: Theologisch leitend wird die Lehre vom Priestertum aller Gläubigen sein, jedoch muss dabei eines – mit Karle gesprochen – klar sein: [E]s [ist] ein grundlegendes Mißverständnis [. . . ], wenn die Stärkung des Allgemeinen Priestertums vorrangig als ein Programm zur Mobilisierung der ‚Basis‘ oder als Förderung des ‚Laienengagements‘ verstanden wird, ‚dessen Verwirklichungsmöglichkeit in unausweichlicher Konkurrenz den Kompetenzen des Pfarramtes abgetrotzt werden müssen.‘ 18
Das Priestertum aller Gläubigen und das Pfarramt sind stark aufeinander bezogen, wie in der Diskussion dieses theologischen Feldes deutlich wurde. 19 So muss hier von vornherein klar sein, dass sich die folgenden Überlegungen nicht gegen das Pfarramt richten. Unter dieser Voraussetzung ist nun eine weitere Schnittmenge zwischen missionarischem und liberalem Paradigma in den Blick zu nehmen: Beide Paradigmen setzen auf ein ‚starkes Pfarramt‘. Im missionarischen Paradigma bedeutet ‚starkes Pfarramt‘ eine wichtige geistliche und organisationale Leitungsfunktion, im liberalen Paradigma die strukturelle, öffentliche Schlüsselfunktion zur Repräsentation der Kirche und Moderation von Vielfalt. Es wurde bereits dargelegt, dass dieses ‚starke Pfarramt‘, der Schlüsselberuf der Kirche, so stark unter Druck 17 Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong (2013), 256. 18 Karle (2001), 153, zitiert: Goertz (1997), 274. 19 Vgl. 8.2.1, S. 329ff.
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geraten ist, dass einige dem Pfarramt zugeschriebene Funktionen so nicht mehr zu leisten sind. 20 Insofern im vorangegangenen Kapitel für eine nachhaltige Zukunftsentwicklung vor allem die Bedeutung von ‚Gemeinde‘ herausgearbeitet wurde, folgt nun hier ein Perspektivwechsel: Es wird nicht mehr vom Pfarramt aus gedacht, sondern von den lokalen kirchlichen Gemeinschaften – vorerst in der spezifischen Form von Gottesdienstgemeinden. Das markiert einen Wechsel in der Denkrichtung: Bisher wurden Pfarrerinnen und Pfarrer mit Wort- und Sakramentverwaltung in einer Gemeinde betraut. Damit waren theologisch die Minimalbedingungen gegeben, um mit Gewissheit von einer Gemeinde im theologischen Vollsinn als Kirche zu sprechen. Die tatsächlichen Gemeinden oder Gemeindeteile wurden nach dieser Feststellung kaum noch mit in die Reflexion einbezogen. Bevor auf die Konsequenzen der bisherigen Herangehensweise hingewiesen wird, ist es zunächst nötig, sich das momentane Ideal und dessen Organisationsform vor Augen zu führen: Bisher konnte an einem Ort aus einer bestimmten Anzahl von Kirchenmitgliedern aufgrund der Abgaben der Kirchenmitglieder und anderweitiger Einkommen die Finanzierung von Kirche, Pfarrhaus, Friedhof sowie Verwaltung und Personal (häufig: Pfarrer, Verwaltungsmitarbeiterin, Gemeindepädagogin, Kirchenmusiker, Küster und Friedhofsmitarbeiter) zumindest anteilig generiert werden. Das ist ideal gedacht. Es gibt Dörfer, die dieses parochiale Ideal nie erreicht haben. Der Punkt ist nicht, dass es jemals überall so gewesen ist, sondern dass diese parochiale Ausgestaltung als volkskirchliches Ideal gilt. Selbstverständlich ist diese ‚Inventarliste‘ noch erweiterbar mit Kindergarten, Diakoniesozialstation etc. Nun zeigt sich allerdings, dass Sparmaßnahmen dazu führen, dass alle anderen Stellen oder Stellenanteile gekürzt wird und man so lange wie möglich versucht, das Pfarramt zu erhalten. 21 Konsequenterweise lagern sich dann unterschiedliche Aufgaben, die vorher von anderen abgedeckt wurden, im unterschiedlichen Maße an das Pfarramt an. Ermöglicht werden konnte durch diese Struktur ein Gemeindeleben, welches im Gottesdienst (bzw. unterschiedlichen Gottesdiensten) ein Zentrum hat und bei dem es eine bunte Vielfalt an Partizipanten und Teilnehmern gibt – manche gelegentlich, manche regelmäßig und einige mit Verantwortung für bestimmte Bereiche oder das Ganze. Dieses personale Netzwerk macht eine Ortsgemeinde
20 Herbst sprach bspw. vom Pfarramt als ‚Indexpatient‘ für ein überlastetes System und Wagner-Rau empfahl Spezialisierungen, weil die Aufgabenfülle sonst nicht mehr zu bewältigen sei – die Meinungen gehen inhaltlich auseinander, was und was nicht mehr zu leisten ist. Konsens ist allerdings, dass es eine überhöhte Zuschreibung an Funktionen und Aufgaben an das Pfarramt gibt. 21 Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong (2013), 371.
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in struktureller Hinsicht aus. 22 Teilhabe ist durch Rechte und Pflichten gesichert, die im Grunde die Lehre des Priestertums aller Gläubigen widerspiegeln. Dazu sei als Beispiel aus der Kirchgemeindeordnung (§ 5 KGO) der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens zitiert: (2) Das Kirchgemeindeglied hat Anspruch auf den Dienst der Verkündigung und Seelsorge in Wort und Sakrament und hat Anteil an den kirchlichen Einrichtungen. Es ist dabei an seine Kirchgemeinde und deren Pfarrer gewiesen [. . . ]. (3) Von dem Kirchgemeindeglied wird erwartet, daß es als Christ lebt und sich am kirchlichen Leben beteiligt. Es hat die Aufgaben, seinen Herrn zu bezeugen und seinem Nächsten zu dienen. Es ist verpflichtet, seinen Anteil an den Lasten der Kirchgemeinde und der Landeskirche insbesondere durch Entrichtung von Kirchensteuern zu tragen. 23
Nicht im Detail aber in der Grundstruktur wird die Teilhabe und Teilgabe am Evangelium und der Kirche deutlich: Christinnen und Christen haben demnach einen umfassenden Zeugnisauftrag und sollen am kirchlichen Leben beteiligt sein sowie die Lasten finanziell mittragen. Dies entspricht den Pflichten, die aus dem allgemeinen Priestertum hervorgehen. Im Gegenzug dazu wird sichergestellt, dass Wort und Sakrament sowie eine damit einhergehende Seelsorge gewährleistet werden. Insofern allen die gleiche Würde zukommt (Unmittelbarkeit zu Gott und Verkündigungsauftrag), wird über die Bestimmungen zu Wahlrechten und Ordination von Pfarrerinnen und Pfarrern das Predigtamt für die christliche Öffentlichkeit geordnet. Darum sind die Kirchenmitglieder für die zentralen geistlichen Dienste an ‚ihren Pfarrer‘ verwiesen. So erhält das Pfarramt seine theologische Legitimation aus dem Predigtamt: Pfarrerinnen und Pfarrer werden durch die Gemeinde berufen und ordiniert, in einer Ortsgemeinde den ‚Dienst der Verkündigung und Seelsorge in Wort und Sakrament‘ sicherzustellen. Das ist der theologische Grund dafür, warum an allen anderen Stellen zuerst gekürzt und beim Pfarramt Zurückhaltung geübt wird. Innerhalb der Kirche hat das Pfarramt deswegen die stärkste Position. Auf diesen Aspekt soll nun der Fokus gelegt werden. Zunächst ist festzuhalten, dass es durchaus sinnvoll ist, wenn eine Glaubensgemeinschaft am Ort ihre Mittel zusammenlegt und so das Predigtamt im Pfarramt ordnet. So können gut qualifizierte Personen ins Pfarramt berufen werden. Was passiert nun aber mit diesem Ideal, wenn es Fusionen mehrerer Kirchdörfer gibt? Wie muss man sich das künftig vorstellen? Weil teils überlastete Pfarrerinnen und Pfarrer mit einer hohen Anzahl an Predigtstätten und zusätzlicher Vakanzvertretung für die Nachbargemeinde nicht omnipräsent sein können, kann 22 Vgl. dazu auch die Netzwerkstudie im Rahmen der 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung: Bedford-Strohm/Jung (2015), darin Kap. 6 „Netzwerkerhebung“. 23 Vgl. https://engagiert.evlks.de/Rechtssammlung/PDF/1.3.1_KirchgemeindeO__ab_01.01. 2020_2.pdf, aufgesucht am 15. Juli 2020, 10:43 Uhr.
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es für die ‚deprimierenden Versammlung‘ von vier bis zehn meist älteren Personen in einem Dorf keinen Gottesdienst mehr geben. 24 Darf das prinzipiell so sein? Interessanterweise erinnert das an die Situation, die Winkler vor mehr als dreißig Jahren beschrieben hatte. 25 Während die Anzahl der Gemeindeglieder und das zur Verfügung stehende Personal abnahmen, blieben die Gebäude- und Liegenschaften eher konstant und die Leitungs-, Organisations- und Verwaltungsarbeit nahm zu. Winkler merkte an, was diese Entwicklungen für das Pfarramt damals bedeuteten: Kann er [sc. der Pfarrer] nicht in 8 Dörfern mit insgesamt nur noch 800 Gemeindegliedern all das tun, was er früher in zwei Dörfern mit zusammen 1600 Gemeindegliedern tat? Eine solche Rechnung ist schon für die Stadt problematisch, auf dem Lande führt sie völlig in die Irre. 26
Es ist deutlich, dass das Pfarramt auf diese Weise unter Druck geraten war. Heute ist die Situation sehr ähnlich. Gleichzeitig muss nun aber auch gefragt werden, was das für die Gemeinden bedeutet: Ehemals selbständige und im organisationalen wie theologischen Sinne vollgültige Gemeinden werden in ihren Rechten beschnitten. 27 Ein Pfarrer für drei, vier oder mehr Kirchdörfer kann nicht im gewohnten Umfang für Wort- und Sakramentsgottesdienste zur Verfügung stehen. Für gewöhnlich wird deswegen der Gottesdienstrhythmus heruntergesetzt und in manchen Kirchdörfern findet nur noch 14-täglich bzw. monatlich ein Gottesdienst 28 statt und / oder die Kirchenmitglieder müssen Wege- und Fahrzeiten in Kauf nehmen, womit ein höherer Zeitaufwand und Kosten entstehen. 29 Die ehemals eigenständige Gemeinde ist nun von einem entfernten Pfarramt abhängig 24 Vgl. dazu die Studie zum Kirchenkreis Altenburg, die in Kap. 4.3.2, S. 193ff dargestellt wurde. 25 Vgl. Kap. 1.5.1, S. 65. 26 Winkler (1987), 163. 27 Zulehner beschrieb den Prozess, in dem Parochien zusammengelegt und Pfarrstellen gestrichen werden mit Hense als ‚Deparochialisierung‘: „Die Auflösung bedeutet für die betroffenen Pfarreien eine tief greifende rechtliche Veränderung. Diese wird als ‚Deparochialisierung‘ bezeichnet. In diesem kirchenrechtlichen Prozess werden den historisch gewachsenen Pfarreien drei Rechte genommen: das Recht auf einen eigenen Pfarrer, das Recht auf die sonntägliche Eucharistiefeier, und das Recht auf Finanzhoheit“ (Zulehner (2017), 43f, zitiert: Hense (2010), 57–156). 28 Dies mindert auch das liturgische Angebot des Kirchenjahres, welches dann nur noch in unterbrochenen Teilstücken mitgefeiert werden kann. Problematisch daran ist, dass dies aus strukturellen Gründen prinzipiell geschieht – Kirchenmitglieder haben dann nicht die Wahl über die Partizipation oder Nicht-Partizipation zu entscheiden, sondern müssen sich auf ein eingeschränktes örtliches Angebot einstellen, dessen Angebotsrhythmus von außen oft nicht leicht zu durchschauen ist und somit eine Partizipationsabnahme tendenziell verstärkt. 29 Erfahrungen zeigen, dass nur ein kleiner Teil der Gemeindeglieder bereit ist, den entstanden Nachteil auf eigene Kosten auszugleichen – vgl. dazu: Schlegel (2012), 23, Zulehner (2017), 56 u. Hauschildt/Heinemann (2016), 141f.
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und in diesem Sinne in den grundlegenden geistlichen Vollzügen peripherisiert. Das ist kirchentheoretisch wie pastoraltheologisch das zentrale Problem. Winkler schlug bereits 1971 einen möglichen Ausweg vor. 30 Sein Vorschlag gipfelte darin, das Predigtamt nicht mehr exklusiv an das Pfarramt zu binden: Theologen, kirchliche Amtsträger und aktive Gemeindeglieder stimmen in der Erkenntnis überein, daß das ‚Einmannsystem‘, der kirchliche Amtsmonopolismus, überwunden werden muß, damit die Gemeinde ihren Auftrag in der Welt von heute wahrnehmen kann. 31
Wird das Predigtamt nicht mehr standardmäßig und im Grunde ‚exklusiv‘ 32 an das Pfarramt gebunden, dann sind andere Modelle zur Ordnung des Predigtamtes möglich, die nicht mit einem beamtenähnlichen Status einhergehen müssen. Auf Basis dieser Ausführungen muss das eingangs angeführte Zitat von Karle erneut aufgerufen und neu interpretiert werden: 33 Man kann das Priestertum aller Gläubigen in seiner Teilhabe am Evangelium nicht stärken, wenn man es vom Predigtamt entkoppelt. Karles Zitat verweist wohl auf ältere Versuche, den allgemeinen Priestern mehr Freiheiten einzuräumen und es vom Pfarramt – aber damit eben auch vom Predigtamt – zu trennen. Aufgrund der engen Bezogenheit von allgemeinem Priestertum und Predigtamt kann dies aus theologischen Gründen nur zum Schaden für beide Seiten gereichen, da dann die grundlegende ‚Hörordnung‘, die Kirche zu Kirche macht, außer Kraft gesetzt wäre. Der tiefere Sinn des Zitates von Karle ist demnach: Allgemeines Priestertum und das Predigtamt, welches über das Pfarramt organisiert ist, dürfen nicht voneinander getrennt werden. Aber genau diese Trennung geschieht, wenn Pfarrerinnen und Pfarrer aufgrund organisatorischer Veränderungen das Predigtamt für eine zu große Fläche mit zu vielen kleinen Gemeinschaften vertreten müssen. Das Priestertum aller Gläubigen wird in ländlich-peripheren Regionen geschwächt, wenn das Predigtamt exklusiv an das Pfarramt gebunden wird. Zu erinnern ist hier auch daran, dass das Predigtamt theologisch gesehen nicht zwingend mit dem Pfarramt verbunden sein muss. 34 So ist eine Fokussierung und Stärkung des Predigtamtes nicht prinzipiell gegen das Pfarramt gerichtet, sondern zielt auf die Stärkung von kirchlichen Gemeinschaften ab, denen so in den zentralen geistlichen Vollzügen mehr Eigenverantwortung übergeben und auch zugemutet wird.
30 Vgl. den Aufsatz von Winkler (1971b), 185–204: Probleme des Strukturwandels von Amt und Gemeinde. 31 Winkler (1971b), 185. 32 Vgl. Sautter (2016), 284. 33 Vgl. Kap. 9.2, S. 368. 34 Vgl. Kap. 8.2.2, S. 329.
Kirchliche Entwicklungen im ländlich-peripheren Ostdeutschland
Das Abzielen auf diese Folgewirkungen ist alles andere als belanglos. 35 Vorrangig könnte damit vor allem eines angestoßen werden: das Gegensteuern zu ablaufenden Peripherisierungsprozessen in den für Kirche grundlegenden und wichtigsten geistlichen Vollzügen. Das Ziel der Entwicklung ist dann, die Teilhabe und Verantwortung in der ‚Peripherie‘ so zu entwickeln, dass eine endogene Übernahme derselben nachhaltig möglich wird. Dabei wären nicht nur ökonomische und rechtliche Strukturen zu bedenken, sondern eben und gerade die Strukturen, die die ‚geistlichen Güter‘ betreffen, neu und kontextuell angemessen zu ordnen. Das heißt, dass – wie damals von Winkler – die amtstheologische Gretchenfrage gestellt werden muss: 36 Ist es notwendig, dass ein Pfarrer 20 km fährt, um für zehn Personen das Abendmahl einzusetzen oder sind die Christen vor Ort dazu nicht selbst in der Lage? Winkler präferierte implizit die Antwort: Der Pfarrer muss nicht fahren, die Christen sind dazu selbst in der Lage. Er fragte weiter: Wenn jemand aus der Gruppe sich eignet, wer bestimmt dann seine Einsetzung? Ein entfernter höherer Amtsträger, der 20 km weit entfernte Pfarrer oder die Gruppe vor Ort? 37 Genau an dieser Stelle forderte Winkler die Selbstbestimmung der kleinen Gruppe ein: Unter volkskirchlichen Verhältnissen und in großen Gemeinden ist es nicht möglich, alle oder die meisten Gemeindeglieder so direkt in die Entscheidung einzubeziehen. In unseren stark geschrumpften Landgemeinden ist es nicht nur möglich, sondern notwendig. 38
Eine Einbeziehung der Mitglieder in den klein gewordenen Landgemeinden hielt Winkler für notwendig. Angesichts der neueren Forschung zu Peripherisierung ist diese Einsicht Winklers auch heute besonders wichtig. Nun muss allerdings präzisierend festgehalten werden, dass die Gemeinden mit ihren Mitgliedern durch die bisherigen rechtlichen Verfahren eingebunden sind und Möglichkeiten haben, ihre Rechte und Pflichten wahrzunehmen. Zugleich werden diese Strukturen durch Peripherisierungsprozesse in Mitleidenschaft gezogen. Es ist darum geboten, in dieser Hinsicht nachzubessern und neue Teilhabestrukturen aufzubauen, die für kleinere, pluralere und finanziell nicht mehr so leistungsfähige kirchliche Gemeinschaften funktionieren. 35 Dies gilt besonders vor dem Hintergrund derzeitig ablaufender Zentralisierungsmaßnahmen (Stichwort: ‚Stärkung der mittleren Ebene‘), wie sie Wegner beschrieben hat: „Im Hintergrund dieser Entwicklungen stehen allerdings gewisse Ambivalenzen, sowohl was den Bezug ‚nach unten‘ in Richtung Ortskirchengemeinden anbetrifft, die erkennbar entmachtet werden, ohne dass bisher zu sehen ist, wie ihre wichtigen religiösen und kirchlichen sozialisatorischen Funktionen in Zukunft wahrgenommen werden können“ (Wegner (2019), 403). 36 Vgl. dazu Kap. 1.5.1, S. 67. 37 Winkler (1987), 167. 38 Winkler (1987), 167.
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Diesbezüglich wäre noch einmal an die Zielsetzung von Wegners Vorschlag zu genossenschaftlichen Strukturen zu erinnern: Ihm ging es um die Erhöhung von Teilhabe und Teilgabe. 39 Ob nun strukturell eine Körperschaft öffentlichen Rechts, eine Genossenschaft oder gar die Form eines Vereins diesem Ziel am besten dient, müsste zum Einen diskutiert und erforscht werden und zum Anderen ist außerdem wahrscheinlich, dass in unterschiedlichen Kontexten auch jeweils verschiedene Modelle sinnvoll sein können. Wichtig ist an dieser Stelle nicht die äußere Struktur, sondern das innere Prinzip, welches durch die äußere Struktur abgebildet werden soll. Die zentrale Stelle für die Teilhabe zeigt sich im Priestertum aller Gläubigen. Es ist darum sinnvoll, die Teilhabe an dieser Stelle zu überdenken und nach vermehrter Übernahme von Rechten und Verantwortung zu fragen. Wegner verdeutlichte dies als einen zentralen Organisationszusammenhang der Kirche: Wenn ein jeder jedem anderen gegenüber ein Priester ist, dann ist das organisatorisch gleichbedeutend mit der Regel ‚einer für alle und alle für einen‘. Zumindest, was die Verkündigung und das Spenden der Sakramente anbetrifft – was ja nun einmal das Zentrum von allem ist. Daran haben alle gleichberechtigten Anteil. Es ist also stets immer auch mein Gottesdienst, der da abläuft – nicht der der anderen, oder gar der ‚der Kirche‘. Verkündigung ist ein elementarer Teilhabeprozess: es geht um mich – um uns. Und wenn das nicht deutlich wird, dann läuft etwas falsch, und ich muss die Dinge in die Hand nehmen. Ich muss es tun – für alle anderen –, und all anderen für mich. So korrigiert und organisiert sich Kirche. 40
Eine Stärkung des Predigtamtes würde demnach bedeuten, die Teilhabe der allgemeinen Priester im Sinne der Verantwortung für Wort und Sakrament zu stärken. 41 Schließlich macht genau dies kirchliche Gemeinschaften aus, wie bereits Ziemer ausführte, als er explizit von der ‚Teilhabe der Christen am Evangelium‘ sprach, die eine Gemeinschaft als christlich bzw. kirchlich qualifiziert. 42 Peripherisierten Gottesdienstgemeinden kann dazu verholfen werden, das Predigtamt mit weniger rechtlichem und finanziellem Aufwand zu vergeben als das mit der bisherigen Pfarramtsstruktur der Fall ist. Theologisch gesehen spricht nichts
39 Wegner (2019), 421. 40 Wegner (2019), 415. 41 Auf genau diesen Aspekt wies auch Kunz hin, der in der Studie Aufbau der Gemeinde im Umbau der Kirche darüber nachdachte, wie Gemeinde entsteht und worauf sich dementsprechend Konzepte ausrichten dürfen: „Die Gemeinde ist ein Geschöpf des Wortes Gottes, weil und solange sie seinen Ruf hört und auf ihn antwortet. In der ‚Züricher Schule‘ ist der Gedanke der Teilhabe der Gemeinde so etwas wie ein roter Faden: Es ist nicht nur die Verpflichtung, das Gehörte in die Tat umzusetzen, Täter des Wortes zu werden und den Glauben zu wagen. Es ist auch die Freude an der Mitverantwortung für das Werk der Versöhnung“ (Kunz (2015), 103, Herv. original). 42 Ziemer (2011), 270f.
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dagegen – im Gegenteil 43: Es muss positiv bewertet werden, wenn den ‚allgemeinen Priestern‘ in ihrer Mündigkeit auch die Verantwortung für das Predigtamt übergeben bzw. zugetraut oder zugemutet wird. Denn Gemeinde in diesem Sinne ist „kein frommes nice to have. Sie ist der Grund, warum es Kirche gibt und der Ort, an dem der Auftrag, dem Ordnung und Gestalt zu dienen haben, nachgelebt wird.“ 44 Mit diesem Vorschlag geht zwingend einher, dass dafür gesorgt werden muss, dass die Berufungen ins Predigtamt ordentlich erfolgen. Das bedeutet hauptsächlich, dass Verfahren so gestaltet werden, dass die Würde aller allgemeinen Priester gewahrt bleibt – also keine Selbsternennungen oder Ernennungen aus anderen falschen Gründen, wie etwa der Zuschreibung eines besonderen Glaubens, stattfinden. Die Etablierung des Predigtamtes in einer anderen Organisationsform als das Pfarramt zur Stärkung von lokalen Gemeinschaften ist für die ehemals selbstständigen Ortsgemeinden in ländlich-peripheren Räumen theologisch gesehen mehr als wünschenswert. Es steht im Grunde genommen nichts gegen eine neue organisationale Entwicklung, die das Predigtamt näher an die Verantwortung der allgemeinen Priester und deren lokale kirchliche Gemeinschaft bindet. Entwicklungen dieser Art würden ein Element des Gegensteuerns in momentan ablaufenden Peripherisierungsprozessen sein – ein Element, das theologisch gesehen für die Kirche zentraler nicht sein kann. Der Rechtfertigungsdruck kehrt sich deswegen sogar um: Warum sollte den ehemals vollgültigen Gemeinden dieses Recht verwehrt werden – weil das Pfarramt zu teuer ist und eine andere Organisationsform des Predigtamtes unzulässig wäre? 45
43 Die ‚schlanke protestantische Ekklesiologie‘ steht einem solchen Unterfangen nicht im Weg. Durch die Ermöglichung einer lokalen Ordnung des Predigtamtes, würden die kirchlichen Gemeinschaften bzw. die Gottesdienstgemeinden aufgewertet und man könnte von ihnen im theologischen Sinn als Kirche sprechen, weil mit der Ordnung des Predigtamtes die ekklesiologischen Minimalbedingungen zur Ermöglichung von Kirche gegeben sind. 44 Kunz (2015), 94, Herv. original. 45 Im Grunde wird mit diesem Gedanken so pointiert wie möglich ein reformatorisches Grundanliegen zum Ausdruck gebracht, welches den Zusammenhang von Predigtamt, Priestertum aller Gläubigen und Pfarramt kritisch reflektiert. Ausformuliert wurde das bereits bei Hild (1974), 275, den Grethlein aufgrund der Aktualität des Sachverhalts erneut zitierte: „Der Kirchenbegriff der Reformation sieht Kirche konstitutiv in den Vorgängen der Wortverkündigung, der Sakramentsspendung und von daher der Gemeindeversammlung. Es [sic!] bindet diese Vorgänge im Regelfall an das kirchliche Amt in ordentlicher Berufung. Damit ist der hierarchische Kirchenbegriff der Römisch-Katholischen Kirche zwar theologisch-theoretisch, nicht aber praktisch überwunden. Das in der Taufe begründete ‚Priestertum aller Gläubigen‘ bleibt dem Predigtamt gegenüber wenn nicht theologisch, so doch im praktischen Vollzug von Kirche deutlich sekundär. Die Strukturen der Parochie und des parochialen Pfarramts verschärfen und verfestigen diese innere Unausgeglichenheit des evangelischen (zumindest lutherischen) Kirchenbegriffs“ (Grethlein (2018), 167). – Inwiefern diese Kritik an den Strukturen damals berechtigt war, sei für den Zusammenhang
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Nun muss in einem zweiten Schritt aber auch an die Vielfalt der kirchlichen Gemeinschaften gedacht werden – nicht nur an die ehemals selbstständigen und nun fusionierten Gemeindeteile. Es geht nun um jegliche Gruppe, die sich im Rahmen von Kirche trifft und als Kirche bzw. kirchliche Gruppe in unterschiedlichen Feldern (Bildung, Diakonie, Seelsorge, Evangelisation etc.) handelt. Mit Wegner ist festzuhalten, dass Gemeinschaften in der Kirche wachsen – jedoch die religiöse Kommunikation nicht in gleichem Maß zunimmt. 46 Zu überlegen ist demnach auch, wie die unterschiedlichen kirchlichen Gemeinschaften in der Teilhabe am Evangelium gefördert werden können und sie so ihre unterschiedlichen Gaben und Ausrichtungen als Dienst am Evangelium immer mehr erfassen. Es geht um nichts Geringeres, als den Aufbau von lokalen Gemeinschaften, die ökonomisch und rechtlich wie auch geistlich so selbstständig wie möglich sein sollten. Gerade im Hinblick auf die peripheren, ländlichen Räume in Ostdeutschland sind die endogenen Voraussetzungen dafür als gering einzuschätzen, jedoch muss gleichzeitig organisational (wieder) erlernt werden, dass es für die Etablierung solcher Gemeinschaften keiner übermäßigen Mittel bedarf. Mit Winkler gesprochen: Verstehen wir Gemeinde als offene Gruppe, so erfordert eine lebensfähige Gemeinde nur wenig Mitglieder. Lebensfähig im spirituellen Sinn ist eine Kleingruppe, die sich unter Gottes Wort versammeln kann. Sie ist nicht in dem Sinn lebensfähig, daß sie Parochialstrukturen zu erhalten vermag, eine Kirche instandhält und einen Pfarrer bezahlt. Eine Gruppe von zehn Mitgliedern kann aber eine Gemeinde bilden, in der alles Wesentliche geschieht: Hören auf Gottes Wort, Antworten in Gebet und Lobgesang und nicht zuletzt in diakonischer Tat und im seelsorgerlichen Zuspruch. Theoretisch sind wir im evangelischen Raum frei dazu, daß zehn Laien eine vollständige Gemeinde bilden können. 47
Angesichts der momentanen Entwicklungen zeigt sich, dass diese gut reformatorischen Gedankengänge zugunsten der Erhaltung von Pfarramtsstellen ins Hintertreffen gerieten. Theologisch gesehen sind das also keine neuen Einsichten, jedoch müsste man schon davon ausgehen dürfen, dass nach dem Aufbau von Stellen zu Gemeinde- und Organisationsentwicklung in den Kirchen langsam Kompetenzen aufgebaut wurden, um innovative Prozesse mit dem Ziel, lokale kirchliche Gemeinschaften zu entwickeln und organisational zu vernetzen, möglich sind. 48 Gerade im Hinblick auf Prozesse der Peripherisierung muss die Wichtigkeit hervorgehoben werden, besonders darüber nachzudenken, wie endogene hier dahingestellt. Wichtig ist, dass die Rückstellung des Priestertums aller Gläubigen und die fehlende Reflexion zu den sich versammelnden Gemeinschaften im ländlich-peripheren Bereich in der Tat theologisch gesehen dysfunktionale Strukturen hervorbringt. 46 Wegner (2019), 103. 47 Winkler (1987), 166. 48 Beispielhaft kann an dieser Stelle auf die Arbeit des inzwischen abgewickelten Zentrums für Mission in der Region verwiesen werden, das deutschlandweit regionale Entwicklungs-
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Ressourcen so eingesetzt werden können, dass sie mit entweder verlässlichen (keineswegs zu vielen) oder möglichst wenigen Hilfen von außerhalb rechtlich wie geistlich vollwertige lokale kirchliche Gemeinschaften hervorbringen. Dies erscheint als eine besonders relevante Zukunftsaufgabe für die praktisch-theologische Forschung im Bereich der ländlich-peripheren Räume. Eine ‚Reform das Rahmens‘ (Zulehner) ist in diesem Sinne zumindest für die ländlichen Regionen in Ostdeutschland an der Tagesordnung. Nimmt man so die lokalen kirchlichen Gemeinschaften als gedanklichen Ausgangspunkt, legt sich eine Pluralisierung der Anstellungsverhältnisse nahe. Wenn es möglich und als sinnvoll erachtet wird, kann man einen Pfarrer oder eine Pfarrerin mit einer Besoldung von A13 anstellen. In dieser Hinsicht konnte bis jetzt nur festgestellt werden, dass dieses Anstellungsverhältnis aufgrund seiner Dauerhaftigkeit teurer ist als andere Anstellungsverhältnisse. Das allein kann jedoch nicht als Empfehlung dienen, auf diese Art der Anstellung zu verzichten. 49 Wenn allerdings diese Anstellungsform zur Bedingung der Möglichkeit für rechtlich und geistlich vollwertige lokale kirchliche Gemeinschaften wird, dann müssen Alternativen geschaffen werden. Angesichts des Personalmangels im Pfarrberuf und den Stellen, die dadurch nicht besetzt sind, legt sich der Gedanke nahe, dass trotz eines erwarteten Rückgangs der finanziellen Ressourcen, ein Spielraum für Stellen gegeben ist, die unterhalb der teuren beamtenähnlichen Stellen liegen. Die Finanzierung ist deswegen sicherlich nicht das vordringlichste Problem. Wichtiger als organisatorische Fragen 50 – bei denen durchaus auch andere Varianten denkbar wären – ist zunächst noch eine theologische Überlegung: Es wurde vorgeschlagen, sich auf die Entwicklung von lokalen kirchlichen Gemeinschaften zu konzentrieren, damit sie zu offenen, öffentlichen und missionarischen Gemeinschaften werden. Dabei spielt das Predigtamt eine zentrale Rolle. Wenn nun bspw. eine Gemeinschaft in einer Region ermutigt, gefördert oder gegründet wird und Teilhabe- und Teilnahmestrukturen am Evangelium ausgebildet werden – sprich: das Predigtamt für sich zu ordnen –, dann wird es in dieser Gemeinschaft die Kommunikation des Evangeliums in Wort und Sakrament verbindlich vorhanden sein. Insofern das Evangelium eine öffentliche Botschaft ist, muss die lokale kirchliche Gemeinschaft zwingend öffentlich sein und ist verpflichtet Öffentlichkeit herzustellen. Wird also den lokalen kirchlichen Gemeinschaften um der Mission willen ermöglicht einen höheren Grad an Selbstständigkeit und Verantwortung auszubilden, dann geht dies um des Evangeliums willen unbedingt mit Öffentlichkeit einher. Gleichzeitig ist aus ekklesiologischen Grün-
prozesse begleitete und lokale Gemeinschaften stärkte – vgl. dazu unter anderem: Herbst/ Pompe (2017). 49 Vgl. Kap. 5.2.5, S. 246. 50 Vgl. die relevanten Ideen für eine organisationale Umsetzung: Kap. 9.4.2, S. 404.
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den darauf zu verweisen, dass die Entwicklung zu einer lokalen kirchlichen Gemeinschaft regional eingehegt sein soll. 51 Diese theologisch geleitete Überlegung ließe es zu, Kriterien zur Entwicklung von lokalen kirchlichen Gemeinschaften zu formulieren, die dann in verschiedenen kontextgemäßen Strukturen umgesetzt und entwickelt werden können. Die Ausgestaltung des Predigtamts ist das Zentrum dieser Entwicklungsaufgabe, die das Potential hat, aktuellen Peripherisierungsdynamiken in der Kirche entgegenzuwirken. Deswegen zeigt sich hier eine der wichtigsten Entwicklungsaufgaben für die Kirchen. Darauf ist der Fokus zu richten im Gegensatz zur Erhaltung eines stabilen Pfarramtsverhältnisses in Relation zu den Gemeindegliedern. Die Etablierung des Predigtamtes in lokalen kirchlichen Gemeinschaften könnte einen weiteren wichtigen Sachverhalt anstoßen: Es wird dadurch deutlich, dass jeglicher kirchlicher Dienst von einem Zentrum herkommt: dem Hören auf das Evangelium. Das mit dem Predigtamt geordnete Hören des Wortes Gottes sowie der Zugang bzw. die Teilhabe an den Sakramenten stellt sicher, dass jede kirchliche Gruppe im Vollsinn Kirche ist. Die Gestalt, Organisation und Ausdrucksformen können sehr unterschiedlich sein – hier ist Raum für Pluralität. Durch Wort und Sakrament würden allerdings die unterschiedlichen kirchlichen Gemeinschaften in ihrem Dienst aneinander und an der Welt als Kirche erbaut und geeint. Dies könnte zu einer Neuentdeckung des Abendmahls führen, wie es bspw. in Poitiers geschah: Die Eucharistie wurde so sehr zu einem Element privater Frömmigkeit, dass ihre Aufgabe, die Kirche als Leib Christi zu erbauen, in Vergessenheit geriet. [. . . ] Es war höchste Zeit, die österlichen Sakramente wieder zu Ehren zu bringen, den Ruf zur Nachfolge Christi wieder zu erneuern. 52
Die Feier des Abendmahls, die unter anderem im Predigtamt geordnet wird, wäre dann das dezentrale Element der Einheit der Kirche. Kirche findet im theologischen Sinne da statt, wo sich Menschen um den Tisch des Herrn versammeln und sein Wort hören und tun. Es ist dann möglich, dass unterschiedliche kirchliche Gruppen zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten Abendmahl feiern. Das tut der Einheit keinen Abbruch. Gleichzeitig wird die Freude an der Einheit und Vielfalt da besonders groß und anschaulich, wo mehrere kirchliche Gemeinschaften gemeinsam Abendmahl feiern. Mit Kunz gesprochen: Gleichgültig, wie gross [sic] eine Region ist – sie braucht eine geistliche, sichtbare und symbolische Mitte, damit sie Kirche werden kann. Diese Mitte bildet im Idealfall ein Kirchengebäude – sozusagen die Kathedrale – und auf jeden Fall das Abendmahl. 53 51 Vgl. Kap. 8.3.2, S. 350. 52 Rouet (2012a), 157, zitiert bei: Kunz (2015), 148. 53 Kunz (2015), 148; Herv. BS.
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Dass das Abendmahl ein dezentrales Element der Einheit sein kann, muss weiter ausgeführt und vertieft werden. Ziel der Überlegung ist die Begründung von Einheit und Pluralität. Bisher wurde Einheit ‚asymmetrisch‘ hergestellt. 54 Das bedeutet, dass es eine Dominanz von ‚Kirchgebäude, Pfarramt und Konfirmandenunterricht‘ gab und alles andere daneben gutgeheißen werden konnte. Wenn nun dieses alte Ideal aufgegeben wird bzw. aufgeben werden muss, dann bedarf es einer neuen Begründung der Einheit. Dazu wurde bereits die Lehre der mixed economy angeführt, deren Sinn es ist, kirchliche Gemeinschaften aneinander zu verweisen, um gemeinsam für das Evangelium in einer Region Sorge zu tragen. Jede kirchliche Gemeinschaft ist ganz Kirche, aber eben nicht die ganze Kirche. Wenn nun jede kirchliche Gemeinschaft im theologischen Sinn ganz Kirche sein muss, dann ist das Predigtamt mit der Verwaltung von Wort und Sakrament nötig. Die rechte Predigt und die evangeliumsgemäße Verwaltung der Sakramente stellt dann nach Artikel 7 der Confessio Augustana den inneren Kern der Einheit her: Es wird auch gelehrt, dass allezeit eine heilige, christliche Kirche sein und bleiben muss, welche die Versammlung aller Gläubigen ist, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente gemäß dem Evangelium gereicht werden. Denn das ist genug zu wahrer Einigkeit der christlichen Kirche, dass einträchtig in reinem Verständnis das Evangelium gepredigt und die Sakramente dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden. Und es ist nicht notwendig für die wahre Einheit der christlichen Kirche, dass die von Menschen eingesetzten Ordnungen überall gleichförmig eingehalten werden [. . . ]. 55
Durch die Einheit in und durch Wort und Sakrament ist es dann möglich, vielfältige gemeindliche Ausdrucksformen zu gestalten. Es geht – vor allem im liberalen Paradigma – um die Bejahung und Ermöglichung von Pluralität. Wenn nun eine kirchliche Gemeinschaft das Predigtamt für sich ordnet und einen Weg findet, gemeinsam Abendmahl zu feiern, dann ist das bei Übereinstimmung mit dem ‚reinen Evangelium‘ eine legitime Ausdrucksform von Kirche. Im missionarischen Paradigma kommt dieser Gedanke den sogenannten fresh expressions of church nahe, die ebenso für eine bunte Vielfalt von kirchlichen Gemeinschaften stehen und äußerlich durch den Kontext geformt sind. Diese äußerliche Vielfalt, die sowohl im missionarischen wie im weiter entwickelten liberalen Paradigma erhofft und eingefordert wird, verhindert dann den Rückzug der Kirche in ein bestimmtes Milieu. 56
54 Vgl. Kap. 8.3.2, S. 349. 55 Amt der VELKD (2013), 50. 56 Vgl. dazu die Ausführungen von Herbst zur regiolokalen Kirchenentwicklung und deren Pluralität: Herbst (2019b), 28–32.
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Eine weiterer Sachverhalt kann hier nur angedeutet werden: Sollten in einer Region kirchliche Gemeinschaften für sich das Predigtamt ordnen und Formen für Wort und Sakrament finden, die theologisch legitim und ihrem Kontext angemessen sind, dann müssen damit zwei Folgeentwicklungen einhergehen: Zum Einen – missionstheologisch gesprochen – wäre zu lernen, dass es ein gutes Zeichen ist, wenn diejenigen, die aus Teilhabe Verantwortung für das Evangelium übernehmen, eigenständige Wege gehen. Moynagh beschrieb derartige Entwicklungen im Zusammenhang mit fresh expressions of church: Indeed, critique of those who brought the gospel may be an indication that indigenization is taking place: the Spirit is enabling the new Christians to search Scripture and the tradition of themselves. The bearers of the church, therefore, must not be surprised if their practices are criticized by those who receive the gift. Through the Spirit, the recipients will be searching for practices that best mediate grace in their context. 57
Zum Anderen ergibt sich daraus, dass ‚Pluralismusfähigkeit‘ eingeübt werden muss. In der Begegnung mit Anderen, ist es immer notwendig, lernbereit zu sein. Dazu gehört auch, dass aneinander geschwisterliche Kritik geübt wird. Damit ist deutlich, dass die Erhöhung der Teilhabe und die Etablierung einer Mixed-Economy-Kultur kein Programm für oberflächlichen Frieden ist. Eher das Gegenteil ist der Fall: Es ist ein Übungsfeld für Nächstenliebe, in dem mit Scheitern zu rechnen ist. Allerdings ist die vorausgesetzte und geförderte Mündigkeit der Gemeinden ein so hohes Gut, dass es diesen Preis wert sein muss. Überblickt man nun diesen Vorschlag zur Fokussierung auf das Predigtamt, dann muss klar nach potentiellen Katastrophen gefragt werden: Spaltungen und Uneinigkeit. Davor ist die Kirche niemals gefeit. Dennoch: Nüchtern betrachtet ist nicht davon auszugehen, dass von heute auf morgen lokale kirchliche Gemeinschaften neu entstehen und das Predigtamt für sich ordnen. Somit ist auch nicht davon auszugehen, dass rapide entstehende Gemeinschaften in ihrer Pluralität orchestriert werden müssen. Das Gegenteil ist der Fall. Mit Zulehner gesprochen: „Kein Aufbruch droht!“ 58 Wenn, dann ist dies eher ein längerer Entwicklungsprozess, dessen Kern es ist, darauf zu schauen, wie Kirche immer wieder neu entsteht – nicht, wie man momentane Strukturen erhalten kann. Deswegen ist der Fokus für Entwicklungen dieser Art eine möglichst nachhaltige Entwicklung des Predigtamtes in unterschiedlichen kirchlichen Gemeinschaften. Wenn nun einer kirchlichen Gruppe die Möglichkeit gegeben wird, das Predigtamt für sich zu ordnen, dann muss auch über die Aspekte nachgedacht werden, die diese Möglichkeit rechtfertigen. Es ist sicherlich weniger sinnvoll von 57 Moynagh (2012), 160. 58 Zulehner (2017), 69.
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(Vor-)Bedingungen zu sprechen, da es eher um Entwicklungsprozesse geht, die das Ziel verfolgen, eine reife Ausdrucksform von Kirche zu werden. Dennoch sollten die kirchlichen Gemeinschaften im Ansatz erkennen lassen, sich auf diesen Weg zu begeben. 59 Eine Grundbedingung ist aus der Ekklesiologie und Missionstheologie abzuleiten: Die Botschaft des Evangeliums ist eine öffentliche. Geschlossene Gruppen sind dann aus seelsorgerlichen oder anderen nachvollziehbaren Gründen in der Kirche möglich und vorhanden – allerdings qualifiziert nur eine evangeliumsgemäße Öffentlichkeit die Entwicklung einer kirchlichen Gruppe zu einer im theologischen Sinn legitimen Form von Kirche. Weiterhin sollten die kirchlichen Gemeinschaften im Sinne einer mixed economy die Verbindung mit anderen kirchlichen Gemeinschaften suchen, um die Verantwortung für bestimmte Orte, Milieus oder Aufgaben in einer Region abzustimmen. Diese zwei Eigenschaften, (lokale) Öffentlichkeit und (regionale) Verbundenheit, wären fortwährend anzustreben, damit sich eine Gemeinschaft zu Kirche im theologischen Vollsinn entwickeln kann. 60 Diese Überlegungen führen allerdings tief in die Gemeinde- und Kirchenentwicklung hinein. In dieser pastoraltheologischen Studie soll der Fokus weiterhin auf die Handlungsträger gelegt werden. Bevor nun gefragt wird, was diese Fokussierung auf die Entwicklung des Predigtamtes für das Pfarramt bedeutet, muss noch etwas zur Grenze und Hoffnung dieses Vorschlags gesagt werden. Dies soll mit den Worten von Kunz geschehen, an den in diesem Sachverhalt angeschlossen werden soll: Das Plus, das eine Reorganisation verspricht, verwechseln wir besser nicht mit der Verheissung [sic] von Gottes Gegenwart. Aber es soll den Horizont unseres Handelns bestimmen. Es ist das, was wir uns erhoffen. 61
9.3 Konsequenzen für das Pfarramt und mögliche Entwicklungspfade Bevor die Konsequenzen für das Pfarramt bedacht werden, soll ein kurzer Rückblick über die bisherigen Grundlagen und Entscheidungen der Argumentation in methodischer Hinsicht gegeben werden. Die Studie wurde so angelegt, dass pastoraltheologisches Arbeiten innerhalb der Kirchentheorie stattfindet. Gesellschaftlicher und kirchlicher Kontext des Pfarramtes ergeben die Rahmenbedingungen. Diese wurden in Teil II ausführlich behandelt und diskutiert. Entscheidungen 59 Vgl. Croft (2016), 19. 60 Vgl. dazu die Überlegungen aus dem Diskurs zu den Fresh Expressions of Church: Krebs (2016), 85f. 61 Kunz (2015), 20.
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über mögliche Entwicklungspfade bedürfen dann einer theologischen Reflexion. Mit Hauschildt gesprochen: [D]ie empirische Forschung [nimmt] dem kirchlichen Handeln nicht die Entscheidung darüber ab, (praktisch-)theologisch und pragmatisch begründet das Profil für den pastoralen Beruf der Zukunft herauszuarbeiten – neben dem, was Ehrenamtliche und solche in anderen kirchlichen Berufen besser können als die Pfarrer/innen, und im Mix der unterschiedlichen Arbeitsfelder und Ebenen der Kirche. 62
Sowohl im empirischen Teil als auch in der theologischen Diskussion (Teil III) erwies sich der Fokus auf plurale Formen kirchlicher Gemeinschaft als günstiger Entwicklungspfad. Gleichzeitig zeigte sich, wie – empirisch gesehen – das Pfarramt in der momentanen Entwicklung aus strukturellen Gründen immer weniger in der Lage ist und sein wird, solche pluralen, lokalen kirchlichen Gemeinschaften zu versorgen. Theologisch gesehen wurde herausgearbeitet, dass die Verbindung von Predigtamt und Pfarramt sinnvoll, aber nicht zwingend ist. Aus dieser Zusammenschau wurden zwei Grundlegungen herausgearbeitet: der Ansatz bei den pluralen kirchlichen Gemeinschaften sowie die Frage nach der Möglichkeit zu einer nachhaltigen Entwicklung des Predigtamtes in und für diese pluralen kirchlichen Gemeinschaften. An dieser Stelle zeigt sich die enge Verzahnung von Kirchentheorie und Pastoraltheologie besonders: Man kann erst dann pastoraltheologische Entwicklungspfade bestimmen, wenn zumindest grundlegende kirchentheoretische Klärungen erfolgt sind. Ausführlichere und weiter vertiefende kontextsensible kirchentheoretische Studien könnten an vielen Punkten natürlich die Denkvoraussetzungen für die pastoraltheologische Aufgabe verbessern. In dieser Studie wurde mit der Gegenüberstellung von den in den Diskurs für ländliche Räume Ostdeutschlands eingebrachten Modellen von Wagner-Rau und Herbst gearbeitet. Nun gilt es, die gewonnenen Erkenntnisse zunächst für die ‚Handlungsträger‘ und dann für die ‚Handlungsfelder‘ zu durchdenken. Insgesamt wird so ein Bild entstehen, welches Konsequenzen aus derzeitig ablaufenden Entwicklungen zieht und gleichzeitig versucht, einen Weg zu den theologisch wünschenswerten und – mit Hauschildt gesprochen – gleichzeitig ‚pragmatischen‘ Entwicklungsmöglichkeiten zu zeigen.
62 Hauschildt (2015) 85f.
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9.3.1 ‚Teampfarramt‘ – ein vielversprechender Entwicklungspfad für das Pfarramt in ländlich-peripheren Räumen Ostdeutschlands? Angesichts der dargestellten Entwicklungen gibt es verschiedene Überlegungen, um die Aufgabenlast für Pfarrerinnen und Pfarrer besser zu verteilen und mögliche Neuerungen anzustoßen. Die bereits vorgeschlagene Variante, die auf eine Übertragung des Predigtamtes auf Personen jenseits des Pfarramts zielt, ist keinesfalls zwingend. Dies zeigt sich besonders darin, dass zurzeit vornehmlich die Idee des ‚Teampfarramts‘ diskutiert wird. Vereinfacht gesagt, erhofft man sich durch Teamarbeit unter Pfarrpersonen sowohl eine erhöhte Arbeitsleistung sowie attraktivere Arbeitsverhältnisse und dadurch eine bessere Work-Life-Balance. Insofern mit Teamarbeit das Versprechen einhergeht, dass „[j]edes Team [. . . ] mehr [ist] als die Summe der einzelnen Teammitglieder“ 63, scheinen die Überlegungen zum Teampfarramt eine sowohl sinnvolle als auch pragmatische Lösung zu sein, um den ablaufenden Peripherisierungsprozessen etwas entgegenzusetzen. Einige Landeskirchen haben den Gedanken der Teamarbeit deswegen auch aufgenommen und versuchen, ihn in unterschiedlicher Weise umzusetzen. 64 Zunächst muss der Begriff ‚Teampfarramt‘ oder ‚mehrstelliges Pfarramt‘ geklärt werden: Beim Teampfarramt oder mehrstelligen Pfarramt geht es um gleichberechtigte Teammitglieder, die durch Aufgabenteilung und Spezialisierung zusammen gabenorientiert arbeiten können. 65 Eine hierarchische Ordnung im Team ist nicht Teil des Teampfarramtsgedankens, da „[e]ine hierarchische Binnendifferenzierung der Pfarrstellen [. . . ] ja theoretisch fast die Rede von verschiedenen ‚Einzelpfarrämtern‘ innerhalb des mehrstelligen Pfarramtes [erlaubt]“. 66 Weiterhin ist vom Teampfarramt die die Arbeit in multiprofessionellen Teams zu unterscheiden, wie sie bspw. Schendel untersucht. 67 Hier geht es um die Kombination unterschiedlicher Berufe zu einem Team und nicht notwendigerweise um ein Teampfarramt. Obwohl der Gedanke der Teamarbeit auf den ersten Blick naheliegt, erweist sich bei genauerer Untersuchung lediglich eine scheinbare Praktikabilität – ge63 Singer/Malcherczyk (2005), 17. 64 Vgl. z. Bsp: Klatte/Schurig (2019): „Auf dem Weg ins Team – ein orientierender Impuls“ für die Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens oder auch die Ev. Kirche im Rheinland, die Ev. Kirche in Baden sowie die Ev. Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Zu den drei letztgenannten Kirchen vgl. den freundlicherweise bereits zur Verfügung gestellten Beitrag von Schendel: Relevant im Sozialraum, profiliert im Team? Aktuelle Veränderungen und Perspektiven im Pastoren- und Diakonenberuf, erscheint im Jahrbuch Sozialer Protestantismus 2020, Bd. 12. 65 Nierop (2017), 87. 66 Nierop (2017), 87. 67 Vgl. Schendel: Relevant im Sozialraum, profiliert im Team? Aktuelle Veränderungen und Perspektiven im Pastoren- und Diakonenberuf, erscheint im Jahrbuch Sozialer Protestantismus 2020, Bd. 12.
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rade vor dem Hintergrund der ländlich-peripheren Räume in Ostdeutschland. Nierop, die ‚mehrstellige Pfarrämter‘ praktisch-theologisch untersuchte und vor allem die Studie Pastor und Pastorin im Norden einer Sonderauswertung unterzog, stellte als Erstes fest, dass es so gut wie kein Datenmaterial zu Teampfarrämtern gibt. 68 Besonders hervorzuheben ist, dass aus der Datenbasis, die von Nierop herangezogen wurde, deutlich wird, dass es kaum mehrstellige Pfarrämter in Ostdeutschland gibt. Während im westdeutschen Teil der Nordkirche, der ehemaligen Nordelbischen Ev.-Luth. Kirche, 452 Pfarrerinnen und Pfarrer in mehrstelligen Pfarrämtern zusammenarbeiten, ist der Anteil im Pommerschen Evangelischen Kirchenkreis und im Kirchenkreis Mecklenburg äußerst gering. 69 Im Kirchenkreis Pommern gibt es sieben bis acht mehrstellige Pfarrämter und im Kirchenkreis Mecklenburg vier. 70 Weiterhin zeigt sich, dass mehrstellige Pfarrämter überwiegend ein Phänomen des städtischen Raumes sind: Der größte strukturelle Unterschied zwischen Ep [sc. Einzelpfarrer / Einzelpfarrerin, BS] und Mp [sc. Mehrstellenpfarrer / Mehrstellenpfarrerin, BS] bezieht sich auf die räumliche Umgebung ihrer Pfarrämter. Von den Ep arbeitet 63,1 % in einem eher ländlich geprägten Raum. Das gilt aber nur für 26,9 % der Mp. Sie arbeiten eher in Städten oder zumindest in einem städtisch geprägten Raum. 71
Nierop zählte als weiteren Unterschied auf, dass in Regionen mit mehrheitlich sinkender Bevölkerungszahl deutlich öfter Einzelpfarrämter zu finden sind: 30,3 % Ep und 11,5 % Mp. In Regionen mit wachsender Bevölkerung kehrte sich das Verhältnis um: 15,3 % Mp und lediglich 6,4 % Ep. So muss zunächst festgehalten werden, dass ein mehrstelliges Pfarramt mehrheitlich ein westdeutsch-städtisches Phänomen ist. Dies hat sicher mit der Entstehungsgeschichte des ‚Teampfarramts‘ zu tun. Zum einen gab es in den Städten schon immer häufiger mehrstellige Pfarrämter und zum anderen wurden in den 60er und 70er Jahren mehrstellige Pfarrämter sogar gefördert. 72 Die Idee und Vorlage für das Teampfarramt gab ein pastoraltheologisches Modell aus East Harlem, welches von Lange aufgenommen und adaptiert wurde. 73 Hinzu kommt, dass die mehrstelligen Pfarrämter in der sogenannten ‚dagobertinischen Phase‘ entstanden und somit ein Erzeugnis auf Basis von reichlichen Ressourcen waren. 74
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Vgl. Nierop (2017), 89. Nierop (2017), 95. Nierop (2017), 95. Nierop (2017), 97, Herv. BS. Nierop (2017), 59. Nierop (2017), 69. Nierop (2017), 59.
Kirchliche Entwicklungen im ländlich-peripheren Ostdeutschland
Es verwundert dann nicht, dass das Modell ‚Teampfarramt‘ kaum auf ländliche Räume hin adaptiert wurde. Hier war lediglich Jetter eine Ausnahme, der eine „‚interparochiale Arbeitsgemeinschaft zwischen Nachbargemeinden‘“ 75 auslotete und positiv bewertete. Es wäre eine Untersuchung wert, inwiefern Mehrstellenpfarrämter in jüngster Zeit als Kompensationsversuch für entstandenen Mangel etabliert wurden. Wenn dem so wäre, müsste untersucht werden, ob der Gedanke der Teamarbeit im Sinne eines gleichberechtigten Arbeitens miteinander wirklich zu einer höheren Leistung geführt hat – also ob Teams tatsächlich in der Fläche angemessener sind als Einzelpfarrämter. Aufgrund der bisherigen Forschungsergebnisse von Nierop muss in dieser Hinsicht wohl mit differenzierter Zurückhaltung agiert werden. Hinsichtlich des Teampfarramts ist mit Ernüchterung festzustellen: „In seinem programmatischen Charakter gilt das Teampfarramt heute vielfach als gescheitert.“ 76 Ebenso nähren die Forschungsergebnisse von Nierop dieses Urteil, die ihre Ergebnisse teilweise als „besorgniserregend“ 77 einschätzte. Nierop wies empirisch nach, dass das mehrstellige Pfarramt bei den Pfarrerinnen und Pfarrern einhergeht mit: – einer geringeren Einschätzung der Wichtigkeit des Gemeindepfarramts für die Zukunft der Kirche. – einem geringeren Interesse an Gemeindezahlen. – einem geringeren Interesse an der Vergrößerung der Gemeinde. – einem geringeren Interesse an der öffentlichen Darstellung der Gemeinde sowie der Arbeit der Pfarrperson. – einer geringeren Zustimmung zum Gemeindeaufbau als genuine Aufgabe einer Pfarrperson. – einer größeren Bereitschaft, Arbeitszeit in Konfirmandenarbeit zu investieren. – einer geringeren Bereitschaft, Arbeitszeit in Lebensbegleitung zu investieren. – einem geringeren empathischen Interesse am religiösen Innenleben anderer Menschen. – einer geringeren Bereitschaft, Aufgaben an Ehrenamtliche zu delegieren. – einer geringeren Zustimmung zur kirchlich-sozialen Funktion des Pfarrhauses. – einer Relativierung der Wichtigkeit der Erreichbarkeit. – einer schwächeren Orientierung an den Erwartungen von Gemeindegliedern im beruflichen Alltag. 78
Diese hier ausführlich zitierten Forschungsergebnisse zeigen vor allem eines: die Nachteile überwiegen. Hinzu kommt, dass das mehrstellige Pfarramt „tendenziell mehr Distanz [. . . ] sowohl zur Gemeinde als Ganzheit als auch zu einzelnen 75 76 77 78
Nierop (2017), 70, zitiert: Jetter (1968), 151. Nierop (2017), 85. Nierop (2017), 201. Nierop (2017), 202.
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Gemeindegliedern“ 79 mit sich bringt. Damit replizierte Nierop die Forschungsergebnisse von Spiegel, der in den 70er Jahren zu dem gleichen Ergebnis gekommen war. 80 Weiterhin fand Nierop heraus, dass in mehrstelligen Pfarrämter sich die Beziehung zum Kirchgemeinderat verschlechterte: Pfarrerinnen und Pfarrer in mehrstelligen Pfarrämter sind unzufriedener mit dem Kirchgemeinderat und in ihrer alltäglichen, beruflichen Orientierung nimmt er im Vergleich zum Einzelpfarramt einen niedrigeren Stellenwert ein. 81 Neben diesen Verschlechterungen gibt es allerdings auch positive Seiten: Im mehrstelligen Pfarramt ist der Stress aufgrund von Verwaltungstätigkeiten geringer und die Pfarrpersonen haben mehr Freizeit. 82 Außerdem steigt die Zufriedenheit mit den Kolleginnen und Kollegen und man orientiert sich im beruflichen Alltag mehr an diesen. 83 Obwohl die Zufriedenheit im mehrstelligen Pfarramt höher ist als im Einzelpfarramt, muss ebenso festgehalten werden, dass „relativ mehr Mp als Ep Stress durch Konflikte empfinden“ 84. So muss man differenzierend festhalten, dass ein Teampfarramt durchaus Entlastung für die Pfarrerinnen und Pfarrer bedeutet. Gleichzeitig entsteht dadurch eine kollegiale Binnenorientierung zum Schaden der Gemeinden. Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse ist es schwer nachvollziehbar, dass Nierop in ihrem Schlusssatz schrieb, dass zu den „Vorzügen mehrstelliger Pfarrämter“ 85 gehöre: „für die Gemeinde Gabenreichtum durch gegenseitige Ergänzung der Pfarrpersonen oder für letztere eine bessere Work-Life-Balance durch die Möglichkeit wechselseitiger Vertretung“ 86. Letzteres mag zutreffen, aber angesichts der erhöhten Distanz zur Gemeinde und dem geringeren Interesse an ‚Öffentlichkeit‘ muss stark bezweifelt werden, dass das gabenorientierte Arbeiten der Gemeinde in ihrer Vielfalt zugute kommt. In den ländlich-peripheren Regionen Ostdeutschlands, wo das Modell der Gemeinde als plurale kirchliche Gemeinschaft zu bevorzugen ist, erweist sich deswegen ein ‚Teampfarramt‘ oder ‚mehrstelliges Pfarramt‘ als wenig erstrebenswerter Entwicklungspfad. Nierop verfolgte diesen Ansatz trotzdem – allerdings auf der kirchentheoretischen Grundlage von Wagner-Rau, in dem – zumindest in der Lesart Nierops – die „Gemeinde als Basis der Kirche“ 87 als „Risiko des mehrstelligen Pfarramtes“ 88 (!) gilt. Diese Sichtweise von Gemeinde und Pfarramt wurde in dieser Arbeit 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88
Nierop (2017), 166. Nierop (2017), 166. Nierop (2017), 166. Nierop (2017), 164. Nierop (2017), 165. Nierop (2017), 102. Nierop (2017), 257. Nierop (2017), 257. Nierop (2017), 206. Nierop (2017), 206.
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aus theologischen und empirischen Gründen zurückgewiesen. Für die ländlichen Räume in Ostdeutschland hat die Entwicklung von lokalen kirchlichen Gemeinschaften eine hohe Priorität und eine Strategie, die eine kollegiale Binnenorientierung der Hauptamtlichen statt gemeindlicher und außergemeindlicher Öffentlichkeit fördert, erscheint deswegen alles andere als angeraten. Es muss ein weiteres Argument gegen Teampfarrämter vorgebracht werden. Es wurde bereits erwähnt, dass das Teampfarramt ein mehrheitlich städtisches Phänomen ist, welches besonders in der Phase großer Ressourcen gefördert wurde. Weiterhin hat sich gezeigt, dass vor allem die Hoffnung auf eine verbesserte Arbeit in der Öffentlichkeit und in der Gemeinde nicht bestätigt wurde, sondern dass sich Pfarrerinnen und Pfarrer im Team eher aneinander und weniger nach außen orientieren. Die damit einhergehenden Entlastungen in der Verwaltungstätigkeit sind nicht von der Hand zu weisen – zumindest in Städten. Für ländliche Regionen muss speziell gefragt werden, wie sich die Entlastung für die Verwaltung auswirkt. Hier ist davon auszugehen, dass Kooperationsverhältnisse geschaffen wurden, in denen zum Beispiel Kirchenvorstände und Gemeinden in Teilen selbstständig geblieben sind. Dies geht dann mit regional verteilter Gremien- und Verwaltungsarbeit einher. Ob deswegen die Entlastung von ‚der Verwaltung‘ ebenso hoch ist wie in Städten, wäre eine vertiefende Untersuchung wert. Überblickt man nun die momentanen Entwicklungen und nimmt zur Kenntnis, dass Teampfarrämter nun in Schrumpfungsprozessen Verbesserungen bringen sollen, dann besteht die Gefahr, dass es zu einem ähnlichen Phänomen wie in der Regionalisierungsdebatte kommt. 89 Dort wurde aus der ursprünglich missionarischen Idee, die in einer Zeit mit wachsenden Ressourcen implementiert werden sollte, ein in der Tendenz frustrierender Euphemismus in Zeiten des Rückbaus. Vergleicht man die Erwartungshaltungen an das Teampfarramt und den derzeitigen Forschungsstand, ist die Möglichkeit einer ähnlichen Entwicklung nicht von der Hand zu weisen: Das Versprechen auf eine Besserung durch Teamarbeit, welches schon unter günstigen finanziellen Umständen nicht eingelöst werden konnte, soll unter Schrumpfungsbedingungen Verbesserungen bringen? Es besteht die Gefahr gegen die Intention der Einführung von Teampfarramts (Verbesserung der Arbeit für Gemeinde und Pfarrpersonen) eine weitere Peripherisierung von Gemeinden und Gemeindeteilen einzuleiten. Ein weiterer Aspekt am Teampfarramt wirft bei genauerer Betrachtung ebenfalls Fragen auf: Für Teams gilt, dass Unterschiede bei den Teammitgliedern eine wesentliche Voraussetzung für die Bewältigung von Aufgaben sind:
89 Vgl. Kap. 4.3.1, S. 186.
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[E]ein Team [lebt] bei der Bewältigung seiner Aufgaben aus den unterschiedlichen Fähigkeiten, Kräften und Zuständigkeiten. Die Unterschiede sind der Gewinn im Team, vor allem bei der Aufgabenbewältigung. 90
Wenn nun ein Team aus Pfarrerinnen und Pfarrern für eine Region zusammengestellt wird, dann ist zunächst von der Situation auszugehen, dass zum einen alle die gleiche Ausbildung durchlaufen haben und zum anderen alle mit ähnlichen Aufgaben in verschiedenen Gebieten betraut sind. Es müsste deswegen zunächst erst einmal geklärt werden, ob und welche Aufgaben in der Fläche durch ein Team besser gelöst werden können. 91 In einem zweiten Schritt wäre festzustellen, ob im Team die nötigen Kompetenzen für die gemeinsam zu lösende Aufgabe vorhanden sind, denn: „Die unterschiedlichen Aspekte der Aufgabe sollten durch jeweils kompetente Mitglieder repräsentiert sein, die zudem alle am Gesamtproblem interessiert sind“ 92. Bei einer so komplexen Aufgabe wie der kirchlichen Regionalentwicklung darf man bezweifeln, dass Pfarrerinnen und Pfarrer ohne geeignete Fortbildungen in der Lage sind, notwendige Kompetenzen einzubringen. Gleichzeitig muss an das Diktum von Krusche erinnert werden, welches seit 40 Jahren eher an Aktualität gewonnen denn verloren hat: 93 Die Kirche muss sich überlegen, ob diese Entwicklung zu einem einheitlichen Berufstyp der bestmöglichen Wahrnehmung ihres Auftrags in der Diasporasituation, in die sie hineingeht, entspricht oder ihr entgegen ist. Man könnte einwenden, mit der Rede von einem Einheitstyp werde eine Karikatur gezeichnet; denn die Unterschiedlichkeit der Begabungen, Interessen, Temperamente, Frömmigkeitsprägungen, Lebensstile und Altersstufen wird eine solche Variationsbreite der Gestaltung und Wahrnehmung dieses Berufes gewährleisten [. . . ]. Im Blick auf den [. . . ] Einwand [dass die Rede vom Einheitstyp eine Karikatur sei, BS] wäre zu fragen, ob die durch die dort genannten Faktoren [. . . ] gewährleistete Variabilität ausreichen kann, um den differenzierten Erfordernissen des Auftrags und der Vielfalt der Ansprüche und Erwartungen gerecht werden zu können, ob es hierzu nicht vielmehr besonderer Ausbildungen bedarf. Persönliche Ausprägungen können fachliche Ausbildungen doch heutzutage wohl kaum ersetzen. 94
Diese Ausführungen zeigen, dass ein ‚gabenorientiertes Arbeiten‘ auf der organisationalen Stufe des Pfarramtes sich des Verdachtes schwer erwehren kann, unprofessionell zu sein. Es besteht die Gefahr, eine Tendenz zu fördern, die natürliche Begabungen statt fachlicher Qualifikationen für ausreichend hält. Damit ist 90 Singer/Malcherczyk (2005), 15, Herv. BS. 91 Vgl. Katzenbach/Smith (2001), 1. Die Autoren stellen die relevante Frage: „So how can you get team performance when it counts, without losing the power of single leadership and individual accountability when they count? This is a matter of applying the right discipline at the right time against the right challenge.“ 92 Hug (2013), 333. 93 Darauf wurde bereits im einleitenden Teil Bezug genommen: vgl. Kap. 1.5.1, S. 64f. 94 Krusche (1981), 126–139.
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nicht gesagt, dass ein gabenorientiertes Arbeiten in einem Pfarrteam durchgängig negativ ist. Es ist durchaus einsichtig, dass ein gabenorientiertes Arbeiten Motivation freisetzt. Allerdings ist zugleich anzuerkennen, dass im Vergleich zu einem multiprofessionellen Team die Möglichkeiten begrenzter sind. Nun müsste man für ein Teampfarramt auch fragen, wie die Gaben im Team weiterentwickelt und gefördert werden können. Dies wird Spezialisierungen mit sich bringen und daran schließen viele sachliche und organisationale Fragen an. Als Beispiel seien nur zwei Andeutungen gemacht: Generalistische Kompetenzen werden dadurch abnehmen. Das hat Konsequenzen für den Personaleinsatz: Spezialisierte Berufskarrieren bringen Karriereplanung mit sich und das heißt wiederum für die Organisation, dass man Spezialisten nur in seltenen Fällen an anderen Stellen sinnvoll einsetzen kann. 95 Das könnte den Personalmangel in bestimmten Bereichen verschärfen. Gleichzeitig muss aber auch die Gegenfrage gestellt werden: Sind Pfarrerinnen und Pfarrer mit ihren generalistischen Kompetenzen wirklich so flexibel einsetzbar? Becker hat in dieser Hinsicht herausgearbeitet, dass im Grunde nur noch von ‚Pfarrberufen‘ – also im Plural – zu sprechen ist, da sich der Beruf stark ausdifferenziert hat und nicht mehr unter ein einheitliches Leitbild zu bringen ist. 96 Der letztgenannte Sachverhalt bezüglich der ausdifferenzierten Berufsverhältnisse ist zwar in Bezug auf eine notwendige Teamdiversität nicht außer Acht zu lassen, wiegt aber den Vorteil unterschiedlicher Ausbildungs- und Professionswege nicht auf. Deswegen erscheint es angemessener, die Etablierung von Pfarrteams nicht als zu bevorzugenden Entwicklungspfad für die Umbruchssituation in den peripheren, ländlichen Räumen Ostdeutschlands anzusteuern. Wenn es um die Zusammenstellung von Teams geht, dann erscheint die Etablierung ‚multiprofessioneller Teams‘ besser zu sein. Aber auch für multiprofessionelle Teams ergeben sich einige Herausforderungen. Diese werden im nächsten Kapitel bedacht.
9.3.2 Das Pfarramt im ‚multiprofessionellen Team‘ als Zukunft in den ländlich-peripheren Regionen Ostdeutschlands? Ein weiterer möglicher Entwicklungspfad für das Pfarramt ist der Aufbau von multiprofessionellen Teams. Auch hier muss festgehalten werden, dass es diese Variante bereits gibt. Hinsichtlich dieses Themas gilt analog zum Teampfarr95 Vgl. Kap. 5.1.1, S. 217. 96 Becker (2007b), 19 u. 243f. Becker brachte diese Überlegungen besonders gegen das Leitbild des „Generalisten“ ins Spiel, das bei Pfarrpersonen wenig Zustimmung erhält (vgl. Becker (2007b), 155).
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amt: Es gibt dazu kaum empirische Studien und das Thema ‚multiprofessionelle Teams‘ wird gerade wieder entdeckt. 97 Als Alternative zum Teampfarramt haben multiprofessionelle Teams im Ansatz einen entscheidenden Vorteil: Sie vereinen bzw. können verschiedene Kompetenzen vereinen, die zur Bewältigung unterschiedlicher kirchlicher Arbeitsaufgaben nötig sind. Dies geht über eine sicherlich begrüßenswerte jedoch nicht ausreichende ‚Gabenorientierung‘ hinaus und stärkt die Voraussetzungen dafür, dass Teams aus der Diversität Nutzen ziehen können. Insofern Teams ein gemeinsames Ziel bzw. eine gemeinsame Aufgabe benötigen, könnte die gemeinsame Aufgabe eines multiprofessionellen Teams die Verantwortung für das Predigtamt sein. Es wurde bereits gezeigt, dass das Predigtamt nicht exklusiv an das Pfarramt gebunden werden muss. Die Verantwortung für das Predigtamt zu teilen, ist dann die Voraussetzung dafür, dass die Teams eine gemeinsame zu bearbeitende Aufgabe haben. Es wird wertvoll sein, in dieser Hinsicht unterschiedliche Kompetenzen vereinen zu können. Sinn des speziellen Predigtamtes ist die Verwaltung von Wort und Sakrament, um damit die Voraussetzungen zu schaffen, die Gemeinde und ihre Glieder zu trösten (seelsorgerliche, psychologische, diakonische Kompetenzen), zu bilden (pädagogische Kompetenz) und durch das Wort zu leiten (theologisch-hermeneutische Kompetenz). Ebenso werden kybernetische Kompetenzen benötigt, um das multiprofessionelle Team und die Gemeinde zu organisieren. Es können weitere Aufgabenfelder professionalisiert werden, wenn es die Situation der Gemeinde in ihrer Mission erfordert. Inwieweit Dienste in der außerkirchlichen Öffentlichkeit mit dem Predigtamt betraut werden müssen oder können, ist jeweils zu prüfen. Das Gegenteil einer geteilten Verantwortung für das Predigtamt im multiprofessionellen Team wäre die Kompensation der fehlenden Pfarrerinnen und Pfarrer durch Besetzung von Pfarrstellen mit anderen Berufsgruppen. Kirchlicherseits besteht durchaus die Bereitschaft aufgrund eines kommenden Personalmangels, bspw. Diakoninnen und Diakone in den Aufgabenfeldern des Pfarramts einzusetzen. 98 Es ist Schendel recht zu geben, dass dies ein problematischer Ansatz ist: Den Pfarrermangel durch Diakone zu kompensieren, steht einerseits in der Gefahr, diese Berufsgruppe in die Rolle von Aushilfspfarrerinnen und -pfarrern zu 97 Vgl. Schendel: Relevant im Sozialraum, profiliert im Team? Aktuelle Veränderungen und Perspektiven im Pastoren- und Diakonenberuf, erscheint im Jahrbuch Sozialer Protestantismus 2020, Bd. 12, Schendel: Multiprofessionelle Teams – empirische Daten zum Miteinander der Berufsprofile in der Kirche, bisher unveröffentlicher Vortrag auf der Ev. Akademie Tutzing am 6. Feb. 2020, der freundlicherweise zur Verfügung gestellt wurde. Ähnlich votierten auch Bubmann (2019) u. Kasparick (2019). 98 Schendel: Multiprofessionelle Teams – empirische Daten zum Miteinander der Berufsprofile in der Kirche, bisher unverlöffentlicher Vortrag auf der Ev. Akademie Tutzing am 6. Feb. 2020.
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drängen und so den spezifischen Wert dieser Berufsgruppe zu missachten. Andererseits naht ebenso ein Personalmangel im Diakonenberuf. 99 Diese Lösung ist damit eine Scheinlösung. Es bedarf einer anderen (theologischen) Konstruktion bei der Zuordnung der kirchlichen Berufe. Wird das Predigtamt als das eine Amt der Kirche gesehen, lassen sich alle Berufsgruppen diesem Amt zuordnen. Hier ließe sich an ältere Überlegungen und Reformideen aus dem Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR anknüpfen: In ihrem Kern ging die Reform von vier gleichrangigen Berufen aus: dem Gemeindetheologen, dem Gemeindepädagogen, dem Gemeindemusiker und dem Gemeindediakon. Alle diese Berufe sollten jeweils in einer Doppelfunktion tätig werden: vor Ort in einer Gemeinde als Bezugsperson und in der Region als Spezialist bzw. Spezialistin im Team mit anderen Berufen und den Ehrenamtlichen. 100
Diese Berufe sollten alle an dem einen Amt der Kirche teilhaben. Deswegen sollten diese theologischen Berufe als ‚Mitarbeiter im Verkündigungsdienst‘ auch jeweils pastorale Grundaufgaben vor Ort übernehmen. 101 Dies schloss in den Überlegungen die Ordination aller ein – und damit die Verkündigung sowie die Verwaltung der Sakramente. 102 Ebenso sollte auch eine Gleichstellung in rechtlicher und finanzieller Hinsicht sowie im Hinblick auf den sozialen Status erfolgen. 103 Besonderer Wert wurde in der Reformidee darauf gelegt, dass alle Mitarbeiter im Verkündigungsdienst an der Leitung der Gemeinde beteiligt waren und mit Ehrenamtlichen sowie in Regionenteams zusammenarbeiten. 104 Daneben wurde an weitere kirchliche Berufe gedacht, die aber keine pastoralen Grundfunktionen übernehmen sollten: Gemeindeschwester, Kinderdiakonin sowie Gemeindeverwalter. 105 Die entscheidende Innovation dieser Überlegungen war, dass sich hier nicht an den einzelnen Berufen orientiert wurde, sondern „am kirchlichen Auftrag“ 106. Nach der damaligen Idee sollten „Haupt- und Nebenberufliche mit anderen Gemeindegliedern in verschiedenen, regional ausgerichteten ‚Dienstgruppen‘ zusammenwirken.“ 107 Hinzu kam, dass diese unterschiedlichen Berufe nicht nur dem Namen nach sondern auch im organisationalen Verständnis auf Gemeinde 99 Schendel: Multiprofessionelle Teams – empirische Daten zum Miteinander der Berufsprofile in der Kirche, bisher unverlöffentlicher Vortrag auf der Ev. Akademie Tutzing am 6. Feb. 2020. 100 Kasparick (2019), 133. 101 Kasparick (2019), 135. 102 Kasparick (2019), 135. 103 Kasparick (2019), 135. 104 Kasparick (2019), 135. 105 Kasparick (2019), 135. 106 Kasparick (2019), 134. 107 Kasparick (2019), 134.
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hin ausgerichtet waren und im Zusammenwirken mit der Gemeinde vor Ort und in der Region den jeweiligen berufsspezifischen Beitrag entfalten sollten. Diese Überlegungen zeigen zunächst, dass das Predigtamt in unterschiedlichen Berufsgruppen sinnvoll und verantwortlich ausgestaltet werden kann, wenn ein Gemeindebezug gegeben ist. Mit diesem Gedanken ist der Entwicklungspfad ‚multiprofessionelle Teams‘ um einen entscheidenden Schritt zu erweitern: Es geht nicht nur um fachliche Kompetenzen im Hauptamt, sondern es geht auch um die Zusammenarbeit mit nebenberuflichen Angestellten und mit Ehrenamtlichen. Dieser Aspekt ist für die ländlich-peripheren Räume in Ostdeutschland von großer Bedeutung: Die Kirchen befinden sich im Rückbau. Als kleiner und ärmer werdende Kirche wird es nicht möglich sein, regionale Teams komplett hauptamtlich aufzustellen und zu finanzieren. Deswegen muss der Gedanke der multiprofessionellen Teams erweitert werden: Es geht im Grunde um eine regionale Zeugnis- und Dienstgemeinschaft aus haupt-, neben- und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Verkündigungsdienst. Neben und in dieser Dienstgemeinschaft sind weitere Aufgaben und Positionen möglich und mitzudenken. 108 So zeigt sich ein Modell, welches nicht nur vor mehr als 40 Jahren in der DDR bedacht wurde, sondern auch heute noch in ländlichen Räumen angewendet wird: Lokale gemeindliche Dienstgruppen (teilweise ehrenamtlich, teilweise nebenamtlich oder hauptamtlich organisiert) mit Verkündigungsauftrag und Sakramentsverwaltung bilden durch regionale Vernetzung sowie gegenseitige Unterstützung ein kirchliches Netzwerk an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in ländlichen Räumen. Dieses Modell zeigte sich in Grundzügen auch in der ländlich geprägten Diözese Poitiers in Frankreich. 109 Hier wurden nach einem längeren synodalen Prozess Umstrukturierungen vorgenommen, die katholische Laien in ihrer ‚Mündigkeit‘ ernst nahmen. Warum sollte man aber bei einer kirchlichen Funktionsweise bleiben wollen, die unmöglich aufrechzuerhalten ist? Trotz aller Mahnungen und Notfallmaßnahmen gelangt das Modell Pfarrei an die Grenze seiner Möglichkeiten. Wenn man befürchtet, dass die Laien nicht zum pastoralen Handeln fähig sind, warum firmt man sie dann? Sollten sie Unmündige in der Kirche bleiben? 110
So entstanden sogenannte Basisequipen in den Dörfern. 111 Eine solche Equipe bestand aus fünf Personen, drei davon waren eine Art ‚ehrenamtliche Mitarbeiter 108 Hierzu gehören bspw. Verwaltungstätigkeiten und alle anderen Arbeiten, die in den Gemeinden anfallen, um den Dienst der Verkündigung zu ermöglichen oder die Gemeinde in ihren kontextuellen Mission unterstüzten. 109 Vgl. dazu Alex (2013b), 12–14. 110 Rouet (2012b), 24. 111 Vgl. dazu die graphische Darstellung bei Alex (2013b), 12–14.
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im Verkündigungsdienst‘ und zwei weitere leisteten strukturelle Dienste, wie die Verwaltung der Kasse sowie die Pflege der Verbindung zur Pastoralequipe, die aus Hauptamtlichen bestand und für mehrere Basisequipen zuständig war. Die drei ‚geistlichen Mitarbeiter‘ waren zuständig für „Zeugnis, Gebet und Dienst“ 112 an einem Ort, wobei die letztgenannte Funktion diakonisch aufgefasst wurde und sogar ehrenamtlich geleitete Trauerfeiern umfasste. 113 Rouet stellte den Kern dessen, was sich in seiner Diözese entwickelt hatte als „kopernikanische Wende“ 114 dar. Es ging vorrangig um: [D]en Übergang aus dem Zustand, in dem Laien als fleißige und tüchtige Mitarbeiter um den Priester kreisen, um ‚dem Herrn Pfarrer zu helfen‘, hin zu dem Status wirklicher, verantwortlicher Gemeinden. 115
Als Lernerfahrung beschreibt er in diesem Prozess: „Es sind nicht die Christen, die fehlen, was fehlt ist das Vertrauen, das man ihnen entgegenbringt.“ 116 So ist Poitiers ein Beispiel aus der katholischen Kirche für die geistliche und strukturelle Ermächtigung der Laien, in denen lokal-ehrenamtliche und regional-hauptamliche Dienstgemeinschaften miteinander eine kirchliche Netzwerkstruktur etablierten. Der Begriff ‚Laie‘ ist in diesem Zusammenhang bewusst gewählt, da eine katholische Amtstheologie ausschließt, dass den Getauften die Eucharistie übertragen wird. 117 Deutlich anders liegt dieser Sachverhalt in der Church of England, die als anglikanische Kirche der Theologie der Reformation näher steht. Einerseits könnte man sich hier die Adaption der fresh expression of church für ländliche Räume näher anschauen. 118 Das wäre jedoch eher von kirchentheoretischem Interesse. Andererseits – und pastoraltheologisch vielversprechender – ist, das Modell des Ordained Local Ministry in den Blick zu nehmen. Es ist nicht leicht, eine präzise Definition für das Modell Ordained Local Ministry zu formulieren, da in der Church of England unterschiedliche Bezeichnun112 113 114 115 116 117
Rouet (2012b), 26. Bulteau (2012), 66. Rouet (2012b), 27. Rouet (2012b), 27. Rouet (2012b), 36. Ebenso wie sich die Überlegungen aus dem Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR nicht vollständig durchgesetzt haben, scheinen die Entwicklungen in Poitiers mit dem Wechsel des Bischofs abzuflachen, da dann auf eine weitere Strategie aus dem Personalmanagement zurückgegriffen wurde: ‚Der Import ausländischer Priester‘, wie Zulehner es nannte (Zulehner (2017), 37f). Es ist zu vermuten, dass es dabei im Hintergrund auch um die Stellung der Priester ging und somit um Fragen der Amtstheologie. Die Amtstheologie ist zumindest ein Stolperstein, der die Überlegungen des Kirchenbundes hinsichtlich der Umgestaltung der Gemeindeberufe verhinderte, wie Kasparick festhielt (Kasparick (2019), 138). 118 Einen kurzen Überblick bietet Alex (2013b), 12–14, ausführlicher bei: Gaze (2011).
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gen mit marginalen Differenzen in Verwendung sind. Heywood arbeitete die Ursprünge des Ordained Local Ministry in der englischen Diözese Southwark heraus. 119 Ein aus Tansania zurückgekehrter Pfarrer wollte auch in England einen missionarisch, kulturell lokal orientierten und geistlichen Dienst etablieren. 120 Ziel war, eine Gruppe von Frauen und Männern zusammen auszubilden, so dass sie die Gemeindeleitung übernehmen konnten. 121 Die theologischen Wurzeln des Ordained Local Ministry finden sich in der missio dei. 122 Nach Heywood ist der ordinierte Dienst in der Kirche wichtig, um die Kirche auf die Mission Gottes auszurichten. Zu diesem Dienst gehört: to exercise the oversight the church needs (1 Peter 5.1-2), to equip the church for ministry (Eph. 4.12), to keep it facing in the right direction, ‚in step with the Spirit‘ (Gal. 5.25). 123
Zentral für diesen Dienst ist das Abendmahl, dessen Leitung oder Vorsitz die Ordinierten innehaben, denn es ‚verdeutlicht die Art und Weise der missio dei in der durch Tod und Auferstehung Jesu Christi innerhalb dieser Welt die neue real wird.‘ 124 Die Leitung des Abendmahls ist damit nicht die Ausübung geistlicher Macht oder Ausweis einer professionellen Kompetenz des Amtsinhabers, sondern eine transformierende und hoffnungsvolle Ausrichtung der Gemeinde auf den Anbruch der neuen Welt in ihrem Kontext. 125 Ohne abendmahlstheologisch in die Tiefe zu gehen, ist der Sinn des Abendmahl in diesem Zusammenhang im Großen und Ganzen die geistliche Zurüstung und Förderung der Außenorientierung in Bezug auf einen lokalen Kontext. Einige der ausgebildeten Ordained-Local-Ministers meldeten genau eine solche Orientierung zurück, als sie ihre Aufgabe beschrieben: – [E]nabeling the local church to discover how it is called to make God visible in the community [. . . ] – Local ministry is directed to the community and not just to the church. Hence it needs a form appropriate to this community [. . . ] – [T]o be ‚local missionary theologians’‘, who bring together the wisdom of the church’s past with the hopes and fears of the local community. 126
Ordained Local Ministry hat nach Bowden drei besondere Kennzeichen: Erstens die Berufung der Ordinierten durch die lokale Gemeinde. 127 Zweitens spiegeln 119 120 121 122 123 124 125 126 127
Heywood (2011), 186f. Heywood (2011), 187. Heywood (2011), 187. Heywood (2011), 186f. Heywood (2011), 187f. Heywood (2011), 186. Heywood (2011), 186. Heywood (2011), 189. Bowden (2012), 31.
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bzw. ‚symbolisieren‘ die lokal Ordinierten eine ‚theologische Authentizität der lokalen Gemeinde‘. 128 Drittens sind alle lokal Ordinierten Mitglied eines Teams, zu dem auch Nicht-Ordinierte dazugehören. So wird dargestellt, dass aller Dienst in der Kirche kooperativ ist. 129 Zu dieser Kooperation gehört im weiteren Sinne auch die Verbindung zu den übergeordneten Institutionen der Church of England, die die Bedingungen für den ordinierten Dienst bestimmt. 130 Dieses Kernprinzip eines lokalen ehrenamtlichen und in Teilen ordinierten Teams zeigte sich recht ähnlich in Poitiers. In England sind nur die Voraussetzungen anders, denn hier werden die Ehrenamtlichen tatsächlich ordiniert. Die Bezeichnungen für die Ordinierten variieren. Bischöfliche und damit kirchenleitende Anerkennung und Aufmerksamkeit erfuhr das Modell des Ordained Local Ministry erstmals mit dem Bericht Stranger in the Wings 131. Die Bezeichnung des Modells war dort: Local Non-Stipendiary Ministery (LNSM) und war gedacht als ‚shared ministry‘ mit dem Ortspfarrer (incumbant). 132 Die Bezeichnungen für ehren-, haupt- und nebenamtliche Positionen in der Church of England zeigt ein gewachsenes System und ist dementsprechend wenig übersichtlich. 133 Die damit einhergehende Variabilität in den Anstellungsverhältnissen und die Bereitschaft, die Ordination an Ehrenamtlichen durchzuführen, die auch in der anglikanischen Kirche nicht unangefochten ist, kann insgesamt als günstige Voraussetzung für die Entstehung von lokalen kirchlichen Zeugnis- und Dienstgemeinschaften betrachtet werden. Mit Erstaunen ist nämlich festzustellen, dass in der Zwischenzeit sich die Verhältnisse in der Church of England geändert haben: „The overall result ist that traditional full-time stipendiary clergy are now the exception rather than the rule.“ 134 Mit dieser quantitativen Bedeutsamkeit und den theologischen Überlegungen in der Church of England nimmt das Modell des Ordained Local Ministry an Bedeutung weiterhin zu. Heywood argumentierte sogar dafür, dass Ordained Local Ministry als ‚Norm‘ gesehen werden soll und der nicht-teambasierte Pfarrberuf als Ausnahme. 135 128 129 130 131 132 133
Bowden (2012), 32. Bowden (2012), 32. Vgl. Simon (2012), 17. The Archbishops’ Council (1999). Simon (2012), 16f. Vgl. die kleine Übersicht bei Sautter (2016), 292–294, die eine Einführung bietet. Es wird unterschieden zwischen Stipendiary-ministers und Non-stipenidary-ministers oder Selfsupporting-ministers, wobei erstere kirchlich finanzierte Hauptamtliche sind und letztere zwischen Ehrenamt und anderweitig finanziertem Nebenamt einzuordnen sind (auch als ministers in secular employment bezeichnet). Ordained Local Ministers gehören zum Bereich der Ehrenamtlichen, unterscheiden sich aber aufgrund ihrer Ordination von den ‚Laien‘, die als reader nicht-sakramentale gottesdienstliche Funktionen übernehmen. 134 Sautter (2016), 293, zitiert: Linda Woodhead: Not enough boots on the ground, in Church Times vom 7. Feb. 2014. 135 Heywood (2011), 188.
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Teil III: Adaptionen bei den Handlungsträgern und Handlungsfeldern
Bowden, Jordan und Simon analysierten die steigende Bedeutung des Ordained Local Ministry und sahen eine Möglichkeit der kooperativen Entwicklung mit dem ‚herkömmlichen‘ englischen Pfarramt. 136 Sie hielten fest, dass bei der Einführung des Ordained Local Ministry niemals beabsichtigt gewesen sei, den Pfarrdienst zu verdrängen oder zu ersetzen. Trotzdem nahmen sie wahr und unterstützten es mit ihren theologischen Überlegungen, dass die Dominanz des Pfarrdiensts zurückgeht. 137 Ihrer Meinung nach helfe Ordained Local Ministry dabei, die Priorität der Berufung aller Gemeindeglieder zum Dienst deutlich zu machen. 138 Insgesamt ist das Modell Ordained Local Ministry ein Konzept zur Bildung – Bowden, Jordan und Simon würden sagen: der Emanzipation – der Gemeinden. 139 Diese flächendeckende und dauerhafte Entwicklung in der Church of England zeigt, dass ein Modell mit dem Prinzip: ‚Team mit ordinierten Ehrenamtlichen (oder Neben- oder Hauptamtlichen) vor Ort und regionale Vernetzung und Unterstützung‘ nachhaltig sein können. Es zeigt sich dabei auch, dass dieses Modell der Milieuvielfalt dient, 140 wenn die Zulassung zum kirchlichen Dienst und der Leitung nicht ausschließlich mit höheren Bildungsabschlüssen einhergehen muss. 141 Mit der Etablierung von Teams, die zum Teil aus Ehrenamtlichen bestehen, gehen natürlicherweise viele Befürchtungen einher – besonders die Frage der Qualität und der Kompetenzen muss gestellt werden. In dieser Hinsicht ist ein Ergebnis aus der empirischen Forschung von Francis interessant: Mit Nüchternheit stellte Francis fest, dass mit der Etablierung des Ordained Local Ministry weder exponentielles Wachstum noch beschleunigte Schrumpfung einherging: „for the wider church, the experience is overall neutral, neither hastening nor abating the decline in church membership.“ 142 Für eine Kirche im Rückbau, in der so weiteres
136 Bowden/Jordan/Simon (2012), 160. 137 Hintergrund in der englischen Debatte ist die Auseinandersetzung mit der britischen Version des Professionsmodells, welches von einem deutschen Professionsmodell zu unterscheiden ist. Ähnlichkeiten gibt es dennoch, wenn bspw. eine betreuungskirchliche Mentalität kritisiert wird, die mit dem Professionsmodell einhergeht: „The people of God, supporting their minister end up by transferring responsibilities which are properly theirs onto their public representative, becoming dependent rather than interdependent“ (Bowden/Jordan/Simon (2012), 160). Zur Debatte des professional models vgl. Heywood (2011), 2–9 u. Heywood (2017), 106 oder auch die Philippika von Lewis-Anthony (2009), der sich mit der historisch bedingten Mentalität des Professionsmodells in Großbritannien auseinandersetzte, die mit George Herbert – einem englischen Karl Büchsel – verbunden wird. 138 Bowden/Jordan/Simon (2012), 160. 139 Bowden/Jordan/Simon (2012), 160 u. Heywood (2017), 205–207. 140 Vgl. Sautter (2016), 296: „Das System ist also durchlässig und äußert flexibel.“ 141 Bowden/Jordan/Simon (2012), 160. 142 Francis (2012), 89.
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engagiertes Personal gewonnen wurde, kann dies zunächst als positives Zeichen gewertet werden. Die Frage nach der Ordination und der Bedeutung des Ordained Local Ministry ist auch in England nicht unumstritten. Jedoch muss auf die Kritik eines Befürworters hingewiesen werden. Heywood analysierte ein inhärentes Problem in der Umsetzung des Modells Ordained Local Ministry: The problem with local ministry, at least in the way it operates in the Church of England, is that the local minister is very firmly seen as auxiliary to the ministry of the stipendiary clergy. Full-time professional ministry is ‚real‘ ministry, local ministry a part-time subsidiary ministry, especially useful for those situations where stipendiary ministry is unavailable. 143
Heywood benannte hier etwas als Problem, das mit erstaunlicher Konstanz in höchst unterschiedlichen Kontexten auftaucht: In der Anglikanische Kirche Englands zeigte sich ein Problem mit der Anerkennung der lokal ordinierten Mitarbeiter, weil diese als ‚Hilfsdienste des Pfarramts‘ gesehen werden und so im Status gemindert sind. Rouet beschrieb als zentrale Erkenntnis, die ‚kopernikanische Wende‘: Lokale Mitarbeiter haben einen hohen Wert und sei deswegen ist nicht ihre Aufgabe, ‚um den Priester zu kreisen und seinen Dienst zu untersützen‘. 144 Das Gleiche gilt für die Überlegungen im Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR. Winkler stellte pointiert heraus, dass es das Ziel sein sollte, nicht „den Pfarrern Mitarbeiter zu schaffen oder ‚zudienende Dienste‘ zur Unterstützung des ‚Hirtenamtes‘ zu aktivieren, sondern Mitarbeiter Christi zu suchen und auszurüsten.“ 145 Drei Kontexte, die unterschiedlicher kaum sein können, und in allen wird die gleiche Kritik laut, die man im Grunde wie folgt formulieren könnte: Werden die lokalen ordinierten Mitarbeiter als Aushilfen des Pfarramts eingesetzt und fehlt ihnen der eigenständige Bezug zu einer kirchlichen Gemeinschaft, dann mindert sich ihr innovativer Wert auf die Stützung eines Systems, welches unter Druck geraten ist. Diese Kritik ist auch an den derzeitigen Einsatz von Ehrenamtlichen in den deutschen Landeskirchen zu richten. Auch hier gibt es Prädikantinnen und Prädikanten, deren Bedeutung ebenfalls zunimmt. Trotzdem: Ihr Status ist umstritten und eine Ordination nicht selbstverständlich. 146 Sautter stellte heraus, dass die derzeitigen Regelungen der Vereinigten Evanglisch-Lutherischen Kirche in Deutschland (VELKD) zu den gemeinsamen Überzeugungen der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) in Widerspruch stehen. Sautter führte den Bericht der Vollversammlung der GEKE von 143 144 145 146
Heywood (2011), 188. Vgl. Kap 9.3.2, S. 393. Winkler (1971b), 187. Sautter (2016), 288.
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2013 an. 147 Hier wurde eine Ordinationspraxis abgelehnt, die Bildungsgrad oder Anstellungsverhältnis der jeweiligen Ordinanten berücksichtigen will: „Die entscheidende Frage ist, ob es sich bei ihrem Amt um das Amt der Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung handelt oder nicht.“ 148 Deutlich wurde hervorgehoben, dass „[d]ie Kirchen [. . . ] keine Praktiken einführen [dürfen], die als Abstufungen in dem Amt, das auf die für die Kirchen konstitutiven Elemente bezogen ist, wahrgenommen werden können.“ 149 Dem steht zum einen entgegen, dass in Deutschland Nicht-Ordinierte die Abendmahlsfeier leiten dürfen 150 und zum anderen ist die von der VELKD vorgenommene begriffliche Unterscheidung für ‚Ordination‘ bei Hauptamtlichen und ‚Beauftragung‘ bei Ehrenamtlichen trotz theologischer Gleichstellung nicht statthaft. 151 Es zeigen sich langsame Veränderungen in der Anerkennung des Dienstes, den ordinierte Ehrenamtliche versehen. Trotzdem ist mit Sautter festzuhalten: [W]er sich die Ordnungen anschaut und die Praxis beobachtet, kann nicht übersehen, dass die Zentrierung auf die Pfarrperson in den evangelischen Kirchen der Fixierung auf den Priester in der römischen Kirche mancherorts in nichts nachsteht. Prädikanten kommen zwar zum Einsatz, aber in der Regel nur dann, wenn die ‚richtige‘ Pfarrerin nicht kann. 152
Dieser Aspekt, der mit der Anerkennung (Ordination) und strukturellen Einbindung (verantwortungsvoller Bezug auf die Gemeinde statt Hilfsdienst oder Entlastungsdienst für Pfarrerinnen und Pfarrer) zu tun hat, ist nach derzeitigem Stand wohl über Jahrzehnte und unterschiedliche Kontexte hinweg die größte Herausforderung bei der Etablierung von lokalen kirchlichen Mitarbeitern – bzw. multiprofessionellen Teams, die lokal und regional im Miteinander von Haupt-, Neben- und Ehrenamtlichen gestaltet werden. 153 Interessanterweise rangiert das Problem der Anerkennung in den Kirchenleitungen und unter der Pfarrerschaft damit deutlich vor einer Ablehnung auf der Ebene der Gemeinden, über die selten berichtet wird. 154
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Sautter (2016), 290. Bünker/Friedrich (2013), 66. Bünker/Friedrich (2013), 66. Sautter (2016), 288. Sautter (2016), 291, bearbeitet: Lutherisches Kirchenamt der VELKD (2006). Sautter (2016), 284. Für eine gelungene und nachhaltige Etablierung eines ‚lokal ausgestalteten Predigtamts‘ kann diese Herausforderung der Lackmustest sein: Wie stark werden die lokalen Inhaber des Predigtamts als Hilfe der Pfarrpersonen gesehen oder eben als von der Gemeinde eingesetztes Gegenüber zu ihr? 154 Es gibt nur wenige empirische Studien, die das Verhältnis von bspw. Ordained Local Ministry und ihren Gemeinden untersuchen. Der Überblick und die Zusammenfassungen der Studien bei Francis (2012), 79–85 zeigen eher, dass die lokalen Ordinierten gut von
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Die Überlegungen in diesem Kapitel haben gezeigt, dass ‚multiprofessionelle Teams‘ in den ländlichen Regionen Ostdeutschlands unter bestimmten Bedingungen ein sinnvoller Entwicklungspfad sein können, der auch das Pfarramt verändern wird. Für eine Kirche im Rückbau ist es notwendig, diese Teams strukturell wenig einengend zu denken: Ehrenamtliche können und sollten genauso wie Haupt- oder Nebenamtliche Teil des multiprofessionellen Teams sein – oder besser: der lokalen und regionalen Zeugnis- und Dienstgemeinschaft. Ein wichtiger Punkt ist die Frage der Ordination und Zuordnung zu den bestehenden Gemeinden oder Teilgemeinden. Weiterhin gilt, dass nicht alle in den multiprofessionellen Teams ordiniert sein müssen, sondern dass es durchaus bezahlte oder ehrenamtliche Stellen geben kann, die innere Dienste (bspw. Verwaltung) oder äußere Dienste (bspw. diakonische und evangelistische Aufgaben) versehen, die der Kirchenentwicklung im Sinne der missio dei dienen. Deutlich wurde auch, dass die Bedeutung der nicht-pfarramtlich organisierten geistlichen Dienste in Europa zugenommen hat und aller Voraussicht nach weiter zunehmen wird. Die Etablierung von lokalen Dienstgemeinschaften mit regionaler Vernetzung und Unterstützung ist ein vielseitiges wie auch vielversprechendes Modell für Kirchen, die nicht über große finanzielle Ressourcen verfügen. Die Frage, die als nächstes gestellt werden muss, ist die nach einer möglichen Umsetzung bzw. Umsetzungsmöglichkeiten in den ländlich-peripheren Räumen Ostdeutschlands. Dies geht einher mit der Frage nach der Weiterentwicklung des Pfarramts.
9.4 Die ‚regionale und lokale Zeugnis- und Dienstgemeinschaft‘ und das Pfarramt – ein Gedankenexperiment 9.4.1 Ist Potential für ehrenamtliches Engagement vorhanden? Ausgehend von dem Ergebnis, dass die momentanen Strukturen des Pfarramts unter den derzeit ablaufenden Entwicklungsdynamiken unterschiedliche Peripherisierungsprozesse verstärken – besonders im Hinblick auf die geistlichen Güter – ist die Suche nach alternativen Entwicklungspfaden zum Einzelpfarramt, der dominanten Struktur in ländlichen Räumen, geboten. Geprüft wurden die Überlegungen zur Bildung von Teampfarrämtern. Es hat sich gezeigt, dass Teampfarrämter für die ländlichen Räume in Ostdeutschland kein sinnvoller Entwickden Gemeinden angenommen werden und Probleme eher im Zusammenhang mit den Ortspfarrerinnen und -pfarrern entstehen.
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lungspfad sind. Sie tragen zwar zur Entlastung von Pfarrerinnen und Pfarrern bei, dies geht aber einher mit Verlusten an Gemeindekontakten und der öffentlichen Darstellung der pfarramtlichen Arbeit sowie der Gemeindearbeit. 155 Insofern für die ländlich-peripheren Räume lokale Glaubensgemeinschaften und Öffentlichkeit zukünftig unverzichtbar sind, ist von der Etablierung reiner Teampfarrämter abzuraten. Als sinnvoller erwiesen sich die Überlegungen zu multiprofessionellen Teams, wenn für diese die Integration von ehren- und nebenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ermöglicht wird. Es ist dann abhängig vom Kontext und den Ressourcen unterschiedlicher Gemeinden, wie die lokalen Teams zusammengestellt werden. Unverzichtbar ist ihre regionale Vernetzung schon allein aus Gründen der Solidarität. Es wurde außerdem anhand von den Entwicklungen der ehemaligen Kirchen des Kirchenbundes in der DDR, einer katholischen Diözese in Frankreich und in der Church of England die Erfahrungen mit unterschiedlichen Konstellationen von lokalen Zeugnis- und Dienstgemeinschaften mit regionaler Vernetzung wahrgenommen. Es zeigte sich, dass in den Kirchen, die der Reformation nahestehen, die Ordination von Ehrenamtlichen befürwortet wird, auch wenn dies nicht unumstritten ist. Für England gilt, dass der Ordained Local Ministry zum quantitativen Normalfall geworden ist – dies kann als positive Entwicklung bewertet werden, da diese Entwicklung geistlichen Peripherisierungsprozessen entgegenwirkt und zur Aktivierung bzw. Verantwortungsbereitschaft der Gemeinden beiträgt. Das Verhältnis der ordinierten Ehrenamtlichen zum Pfarramt stellte sich als die wichtigste Frage heraus, die von Befürwortern der Ordination ins Ehrenamt immer wieder als kritisches Moment herausgestellt wurde. Mit Zeddies ist nun festzuhalten, dass es an ‚Anstößen und Anregungen nicht fehlt‘, allerdings zeigt sich als Hauptproblem: 156 Das immer noch unbefriedigende Verhältnis haupt- und ehrenamtlicher Mitarbeit muss ebenso neu bestimmt werden wie das Verhältnis der kirchlichen Berufe zueinander, um das integrale Pfarramt von seinen Überforderungen zu entlasten. 157
Bevor nun eine Verhältnisbestimmung vorgenommen wird, muss sinnvollerweise erst die Frage beantwortet werden, ob die Entwicklungsvoraussetzungen für derartige multiprofessionelle Teams, die zu einem großen Teil auf Ehrenamtlichen aufbauen, überhaupt gegeben sind. Dass die Kirchen viel ehrenamtliches Engagement generieren ist allgemein bekannt – auch in den peripheren, ländlichen Räumen Ostdeutschland, obwohl das 155 Vgl. Kap. 9.3.1, S. 385. 156 Zeddies (2002), 110–112. 157 Zeddies (2002), 110–112.
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Potential dort eher unterschätzt wird. 158 Die Frage hier ist allerdings, inwiefern ein Mittun und eine Übernahme des Predigtamtes denkbar sind. In dieser Hinsicht gibt es sehr wenige Studien. Schendel kann für sich in Anspruch nehmen, mit der Studie Ehrenamtliche im Verkündigungsdienst: Systemrelevant und offen für neue Rollen im Jahr 2020 Pionierarbeit auf diesem Gebiet geleistet zu haben. 159 Aus dieser Studie geht hervor, dass die Ehrenamtlichen im Verkündigungsdienst längst ‚systemrelevant‘ sind. 160 Der Vergleich der Zahlen von Ehrenamtlichen im Verkündigungsdienst mit den Zahlen des Pfarramts gibt ein beeindruckendes Zeugnis ab: 48.000 Ehrenamtliche im Verkündigungsdienst gab es 2018 in den Gliedkirchen der EKD und die Zahlen für Pfarrerinnen und Pfarrer (inklusive Ruheständlern) lag im Jahr 2019 bei 34.000. 161 Es ist interessant, dass sich die Zahlen zu den soziodemographischen Daten der Ehrenamtlichen in England und Deutschland sehr stark ähneln: Die meisten ordinierten Ehrenamtlichen sind in der zweiten Lebenshälfte (nur wenige sind unter 42 Jahre alt). 162 Frauen und Männer sind paritätisch vertreten. 163 Für die Ehrenamtlichen aus der hannoverschen Studie, die Schendel durchgeführt hat, lässt sich weiterhin festhalten, dass sie sich durch eine hohe formale Bildung, eine hohe subjektive Religiosität und eine hohe Verbundenheit mit der Kirche auszeichnen. 164 Weiterhin sind sie nicht nur kirchlich engagiert, sondern nehmen auch ehrenamtliche Tätigkeiten in anderen Einrichtungen wahr und gelten so als „außerkirchlich vielfach vernetzt“ 165. Wichtig erscheint an dieser Stelle die Beobachtung Schendels, dass die starke Vernetzung der Ehrenamtlichen eine öffentliche Funktion hat, die sicherlich Schließungstendenzen entgegenwirkt – aber nicht mit milieuübergreifendem Potential zu verwechseln ist. 166 Dass den Ehrenamtlichen und dem Ehrenamt eine Brückenfunktion zuzusprechen ist, macht Schendel an dem bemerkenswerten Anteil unter den Ehrenamtlichen fest, die ohne religiöse Sozialisation einen Zugang zum Glauben gefunden haben. 167 Gleichzeitig sind die Ehrenamtlichen mehrheitlich in die Mittelschicht einzuordnen 168. So kann man einerseits sagen,
158 Vgl. die Studie von Alex zum ehrenamtlichen Engagement in peripheren, ländlichen Räumen Ostdeutschlands: Alex (2016). 159 Schendel (2020), 2. 160 Schendel (2020), 2. 161 Schendel (2020), 1. 162 England: unter 40 Jahre = 3 % (Sautter (2016), 295), Deutschland: unter 42 Jahre = 8 % (Schendel (2020), 3). 163 Vgl. Sautter (2016), 295 u. Schendel (2020), 3. 164 Schendel (2020), 3. 165 Schendel (2020), 4. 166 Schendel (2020), 4. 167 Schendel (2020), 4. 168 Schendel (2020), 4.
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dass die Ehrenamtlichen in der öffentlichen Kommunikation des Evangeliums von großer Bedeutung sind, und andererseits bedarf es zur Kommunikation des Evangeliums in anderen Milieus offensichtlich andere Wege. Hinsichtlich der motivationalen Faktoren der Ehrenamtlichen sind drei Zusammenhänge zu nennen: Erstens geht die Übernahme des Prädikantendiensts mit einem Eigeninteresse an religiöser Bildung einher. 169 Zweitens kommt der „Wunsch, dass in der eigenen Ortsgemeinde weiterhin regelmäßig Gottesdienste stattfinden“ 170 hinzu. Dieser Wunsch ist mit dem dritten Faktor gekoppelt, nämlich der Suche nach Ehrenamtlichen in der Gemeinde vor Ort. 171 Schendel konstatierte: Vermutlich steckt dahinter das Interesse, Vakanzen und die Folgen der Zentralisierung gottesdienstlicher Angebote durch eigenes Engagement aufzufangen. 172
So gibt es unter den Ehrenamtlichen im Verkündigungsdienst das Bedürfnis, den peripherisierenden Entwicklungen etwas entgegenzusetzen. Dies ist eine positive Nachricht für die ländlichen Räume. 173 Das Verhältnis der ordinierten Ehrenamtlichen zum Pastor kann als ambivalent eingeschätzt werden. Weithin bekannt ist, dass Pfarrerinnen und Pfarrer wichtig sind, um Ehrenamtliche zu gewinnen. Wann die Ehrenamtlichen zum Einsatz kommen, bestimmen ebenfalls die Pfarrerinnen und Pfarrer durch ihre Anfragen, da die Ehrenamtlichen mehrheitlich wenig in die Planungsstrukturen der Kirchgemeinde eingebunden sind. 174 Dies wird von vielen als pragmatische Lösung wahrgenommen. Damit geht aber einher, dass die Prädikantinnen und Prädikanten den Verkündigungsbereich „offenbar immer noch eng an die Pfarrperson gekoppelt [sehen, BS], gleichsam als Domäne, in die die Pfarrperson einlädt, und nicht als gemeinsames Feld, als gemeinsame Aufgabe der Gemeinde.“ 175 Hier offenbart sich das weit verbreitete und zu Recht kritisierte Phänomen, dass die Ehrenamtlichen so eingebunden sind, dass sie – sogar in der Eigenwahrnehmung – als Hilfe für das Pfarramt wahrgenommen werden. Man könnte das 169 170 171 172 173
Schendel (2020), 4. Schendel (2020), 5. Schendel (2020), 5. Schendel (2020), 5. Zu beachten ist, dass diese Studie nicht das Feld der ländlich-peripheren Regionen in Ostdeutschland abdeckt. Allerdings gilt für diese Regionen, dass das Ehrenamt unterschätzt wird (vgl. Alex (2016), 93–115). Interessant ist, dass die Studie von Schendel trotzdem Aussagen über den ländlichen Bereich macht, wenn bspw. festgehalten wird, dass besonders im ländlichen Bereich Ehrenamtliche auch Mehrfachdienste übernehmen (Schendel (2020), 6). Das im ländlich-peripheren Raum Ehrenamtliche zudem für anspruchsvolle Projekte gefunden wurden, zeigte die Studie Landaufwärts: Schlegel et al. (2016). 174 Schendel (2020), 10. 175 Schendel (2020), 6.
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als ‚personales Prinzip‘ der Einbindung bezeichnen, insofern diese über die Pfarrpersonen moderiert wird. Damit geht einher, dass den Ehrenamtlichen kaum Unterstützung seitens der Pfarrerinnen und Pfarrer zukommt: „Ein Drittel der Lektor*innen (34 %) und die Hälfte der Prädikant*innen (47 %) gibt an, bei den Gottesdienstvorbreitungen nie mit den Ortspastor*innen im Gespräch zu sein.“ 176 Einerseits spricht das sicherlich für die Eigenständigkeit der Ehrenamtlichen, andererseits lässt es auch einen mangelnden theologischen Austausch vermuten. Die Pfarrerinnen und Pfarrer nehmen allerdings durch die ordinierten Ehrenamtlichen durchaus Entlastung wahr. 177 Außerdem gehen mit dem ‚personalen Prinzip‘ – also der Anfrage durch die Pfarrperson ohne größere Einbindung in gemeindliche Strukturen – weitere negative Sachverhalte einher: Zum einen melden die Ehrenamtlichen zurück, dass sie sehr viel zufriedener sind, wenn sie von der Gemeinde vielfältig unterstützt und anerkannt werden (Pfarrbüro, Kirchenvorstand, andere Ehrenamtliche). 178 Andererseits ist ebenfalls festzuhalten, dass „Strukturen die Chancen von Partizipation und Verbindlichkeit [erhöhen] und [. . . ] deshalb für die Integration der Lektor*innen und Prädikant*innen von erheblicher Bedeutung [sind].“ 179 In dieser Hinsicht zeigt sich ein starker organisationaler Nachholbedarf, da weit über die Hälfte der ordinierten Ehrenamtlichen nicht zu ‚Konferenzen‘ eingeladen werden und ihnen damit die Plattform für Vernetzung und Informationen fehlt. 180 Diese mangelhafte strukturelle Einbindung verweist auf das Problem, dass die ordinierten Ehrenamtlichen eher zur Hilfe im Pfarramt eingesetzt werden. Es gibt Anzeichen für einen unzureichenden theologischen Austausch und einer vergebenen Chance zur gegenseitigen Weiterbildung, wenn über die Gottesdienstvorbereitungen nicht gesprochen wird. Durch die mehrheitlich über den Pfarrer bzw. die Pfarrerin kanalisierten Kontakte fehlen den Ehrenamtlichen zudem Vernetzungsplattformen. Ein erster Schritt zur Verbesserung dieses Zustandes wäre die Einbeziehung der Ehrenamtlichen in Dienstberatungen, in denen über Planung und Gestaltung des für sie relevanten Aufgabenbereichs beraten wird. Schaut man sich die Ergebnisse an, die die Anerkennung der Ehrenamtlichen betreffen, dann geben diese ebenso Bereiche an, die verbesserungswürdig sind: Den Prädikantinnen und Prädikanten – unerheblich wie sie zur Frage der Ordination stehen – ist die Gleichwertigkeit ihres Verkündigungsdienstes nicht egal. 181 57 % befürworten die im VELKD-Papier von 2007 festgehaltene theolo176 177 178 179 180 181
Schendel (2020), 11. Schendel (2020), 7. Schendel (2020), 9f. Schendel (2020), 11. Schendel (2020), 11. Schendel (2020), 12.
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gische Gleichwertigkeit, jedoch erfahren nur 43 % diese Gleichwertigkeit auch in der Praxis. 182 Wichtiger als die Ordination ist für viele in Bezug auf die Anerkennung jedoch eher die Frage der Aufwandsentschädigung und der Anerkennung der Gemeinde. 183 Dass die strukturell bessere Einbindung, die eine bessere bzw. selbstständigere Übernahme von Verantwortung in einer Gemeinde ermöglicht, zukünftig wichtiger wird, anstatt die Ehrenamtlichen in einer Hilfsposition für die Pfarrerinnen und Pfarrer zu belassen, zeigen auch die Entwicklungswünsche: „Ein eindeutiges Ergebnis ist: Die Ehrenamtlichen im Verkündigungsdienst wollen künftig deutlich weniger als Lückenbüßer agieren“ 184. Trotzdem sehen sie sich als Unterstützung für das Pfarramt und als Gesicht der Kirche vor Ort und nehmen sich mehrheitlich als ‚lebenserfahrene Stimme aus der Gemeinde‘ wahr. 185 In Zukunft wollen die Meisten jedoch viel mehr Menschen auf dem Weg zu und mit Gott begleiten sowie Ansprechperson für Glaubensfragen sein. 186 Darin zeigt sich für die Gemeinden ein erhebliches Potential – ebenso wie für die Entwicklung multiprofessioneller Teams, die gemeinsam das Predigtamt wahrnehmen. Schaut man auf den Bereich der Hauptamtlichen, dann zeigt eine Studie zu möglichen Weiterentwicklungen des Diakonenberufs ebenfalls an, dass Diakoninnen und Diakone verstärkt den Wunsch erkennen lassen, im Verkündigungsbereich tätig zu werden. 187 So zeigt sich auch in dieser Berufsgruppe die Bereitschaft, Verantwortung für das Predigtamt zu übernehmen. Für die Entwicklung multiprofessioneller Teams, die dem einen Amt der Kirche dienen, sind das günstige Voraussetzungen.
9.4.2 Regiolokale Zeugnis- und Dienstgemeinschaften als Idee für ländlich-periphere Räume in Ostdeutschland Die wichtige Frage ist nun, wie lokale und regionale multiprofessionelle Teams organisiert werden können und welche Rolle dabei dem Pfarramt zukommt. Diese Verhältnisbestimmungen sind einigermaßen komplex und sollen deswegen die Form eines Gedankenexperiments annehmen, um die theoretische Möglichkeit einer theologisch angemessenen und gleichzeitig funktionalen Zuordnung zu tes182 183 184 185 186 187
Schendel (2020), 12. Schendel (2020), 10 u. 11. Schendel (2020), 13, Herv. original. Schendel (2020), 13. Schendel (2020), 5. Vgl. Schendel: Relevant im Sozialraum, profiliert im Team? Aktuelle Veränderungen und Perspektiven im Pastoren- und Diakonenberuf, erscheint im Jahrbuch Sozialer Protestantismus 2020, Bd. 12.
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ten. 188 Ziel der Überlegungen ist, eine sinnvolle Organisationsstruktur zu entwerfen, so dass das Predigtamt auch in kleineren lokalen kirchlichen Gemeinschaften verantwortlich etabliert werden kann. 189 Voraussetzung für das Ganze ist, dass jegliche Organisation der Kommunikation des Evangeliums dient. Mit Grethlein gesprochen: In den nächsten Jahren wird zu diskutieren sein, welche der gegenwärtigen praktizierten [sc. Organisations- und Rechts-, BS] Formen dem Anliegen, die Kommunikation des Evangeliums zu fördern und so Menschen in der Nachfolge Jesu zu unterstützen, am besten entsprechen. 190
Basis für die hier angestellten Überlegungen soll eine ‚typisch lutherische Balance zwischen Gemeinde und Amt‘ sein. 191 Dies geht auf die theologische Grundüberzeugung zurück, dass den allgemeinen Priestern die Verkündigung des Evangeliums aufgetragen ist und dass diese notwendigerweise in ihren Versammlungen das Amt ordnen müssen, um die Würde aller zu wahren. So entsteht die grundlegende Hörordnung, die eine Versammlung zur Gemeinde macht, in der Wort und Sakrament vorhanden sind. Insofern der Fokus dieser Arbeit ein pastoraltheologischer ist, wird besonders das Predigtamt bedacht. Zu beginnen ist beim Pfarramt: Das Pfarramt in den Lutherischen Kirchen hat eine sehr starke Position. Mit der Ordination auf Lebenszeit, dem Kanzelrecht und der Verwaltung der Sakramente haben Pfarrerinnen und Pfarrer eine unangefochtene Spitzenposition in geistlicher Hinsicht. Hinzu kommt, dass ihnen häufig – beim Einzelpfarramt auf jeden Fall – die Führung der Verwaltung obliegt. In den meisten Fällen zeigt bereits der Stellenumfang, dass die Pfarrerinnen und Pfarrer vor Ort die wichtigsten Hauptamtlichen sind – womit sie sozusagen einen starken Teil der ‚Exekutive‘ stellen. Je nach landeskirchlichem Recht obliegt ihnen auch die Dienstaufsicht über alle weiteren Mitarbeiter. 192 Da Pfarrerinnen und Pfarrer ‚geborene‘ Mitglieder des Kirchenvorstandes sind und in der Regel den Vorsitz oder mindestens den stellvertretenden Vorsitz im Kirchenvorstand innehaben, ist ihr Einfluss in der Kirchengemeinde, auf Leitungsentscheidungen
188 Gedanklich Maß genommen wird dabei an Ausformungen des Kirchenrechts, wie sie für Lutherische Kirchen typisch sind. Diese Information ist im Sinne der wissenschaftlichen Transparenz offenzulegen und stellt keine unabänderliche Bedingung dar. 189 Als konzeptioneller Unterbau dient gedanklich die Idee der regiolokalen Kirchenentwicklung: Herbst/Pompe (2017). 190 Grethlein (2015a), 115. 191 Grethlein (2015a), 114. 192 Je nach Kirchenrecht liegt die Dienstaufsicht beim Kirchenvorstand, wird aber im Alltag unmittelbar von der Pfarramtsleitung wahrgenommen. Im Falle von weiteren Pfarrkollegeninnen und -kollegen liegt der Fall etwas anders. Vgl. dazu Klatte/Schurig (2019), B9-B12.
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und Ortsgesetze etc. hoch. Somit hat das Pfarramt eine machtvolle Position innerhalb der Kirchen. Es ist hinlänglich deutlich geworden, dass dieses ‚integrale Pfarramt‘ entlastet werden muss: Es ist unmöglich, in den ländlichen Gemeinden auf Dauer in mehreren Kirchenvorständen als ‚geborenes Mitglied‘ mindestens als Stellvertreter anwesend zu sein, genauso wie es unmöglich ist eine Vielzahl von Gottesdienstgemeinden geistlich zu versorgen. Deswegen wurden Zentralisierungsmaßen und Gemeindefusionen in Gang gesetzt, die als Kehrseite Peripherisierung bewirken. Zu den schwindenden Ressourcen kommt ein Personalmangel. Deswegen ist nach Alternativen zu suchen. Die erste und wichtigste Frage ist, inwiefern eine organisationale und theologische Qualität gesichert werden kann. Bisher konnte die Qualität durch eine grundständige Ausbildung und durch ein beamtenähnliches Dienstverhältnis gesichert werden. Solange ein grundständiges Studium in ein durchaus gut bezahltes und kontinuierliches Dienstverhältnis überführt werden kann, ist unter rein personalentwicklerischer Perspektive davon auszugehen, dass sich begabte junge Menschen auf diesen Weg einlassen. Jedoch stellt sich angesichts der zu erwartenden finanziellen Entwicklungen „die Grundsatzfrage, ob der Gesamtrahmen des Dienstrechts in seiner staatsanalogen Struktur auf Dauer aufrechterhalten werden soll und kann.“ 193 Das der Faktor ‚Personalkosten‘ in demographischen Strategien meistens übersehen wird, konnte bereits gezeigt werden, ebenso welche finanziellen Vor- und Nachteile derzeit mit den beamtenähnlichen Dienstverhältnissen verbunden sind. 194 Der Diskussions- und Handlungsbedarf wird deswegen schon länger als dringlich eingeschätzt: Eine Prognose der EKD aus dem Jahr 2006 machte deutlich, dass die beamtenähnlichen Dienstverhältnisse die Finanzen besonders stark beanspruchen werden und so andere kirchliche Anstellungsverhältnisse verhindern: Die Fortschreibung der heutigen Personalentwicklung könnte bedeuten: Nicht ein Drittel der Kirchensteueräquivalenz (so gegenwärtig) werden für den Pfarrdienst benötigt, sondern zwei Drittel (wie bereits durchschnittlich im Osten). [. . . ] Das hätte unter anderem zur Folge, dass die Zahl aller übrigen Mitarbeiterstellen überproportional reduziert werden müsste. 195
193 Grethlein (2015a), 183, Herv. original. 194 Vgl. Kap 5.2.5, S. 246f. Ähnlich votierte auch Klessmann (2009), 18: „Der beamtenrechtlich definierte Status der Pfarrer und Pfarrerinnen wird in allen Reformvorschlägen nicht wirklich bedacht: Auf der einen Seite stellen die Pfarrerinnen und Pfarrer die Gruppe innerhalb der Kirche dar, die in besonderer Weise kreatives und progressives Potential verkörpert; es sind meistens die Vertretungen der Gemeinden, die Presbyterien, die Innovationsversuche bremsen und blockieren. Auf der anderen Seite verhindert die beamtenrechtliche Struktur des Pfarramts aber auch eine wünschenswerte Weiterentwicklung von einer Pastorenkirche hin zu einer glaubwürdigen Kirche des Priestertums aller Getauften.“ 195 Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) (2006), 24f.
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Die beamtenähnliche Anstellung von Pfarrerinnen und Pfarrern erfährt jedoch auch inhaltliche Kritik. Lindner bescheinigte den beamtenähnlichen Anstellungsverhältnissen, dass sie ‚leistungsnivellierend‘ wirken und zu ‚starr‘ seien. 196 Deswegen plädierte er für einen schrittweisen Übergang in andere Modelle oder Experimente an verschiedenen Stellen. Allerdings ist Lindner durchaus unentschieden: Einerseits machte er deutlich, dass das Beamtenrecht der kirchlichen Lage nicht mehr gerecht werde, und andererseits habe „[d]as mögliche Gegenbild eines ‚religiösen Unternehmertums‘ [. . . ] ebensoviele Schattenseiten.“ 197 Ebenso muss auf die Konzeptionen und Überlegungen des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR hingewiesen werden. Es wurde bereits ausgeführt, dass die Idee der inhaltlichen und strukturellen Gleichstellung der Dienste diskutiert wurde. 198 Doch man muss im Sinne von Großbölting auch hier die Frage stellen, was es bedeutet, wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ‚nicht mehr durch ein geistliches Versprechen an die Religionsgemeinschaft gebunden werden, sondern durch Arbeits- und Tarifverträge‘. 199 Die beamtenähnlichen Dienstverhältnisse, die ein Treueverhältnis begründen, sichern ab, dass in der Kirche das Wichtige zentral bleibt: die freie Gewissensbindung des Predigers oder der Prediger an das Evangelium sowie die Verwaltung von Wort und Sakrament als Bedingung zur Möglichkeit von Kirche. Diese feste strukturelle Verankerung kann in ihrem Wert kaum überschätzt werden. Gleichzeitig wird man die Absicherung und Freiheit von Pfarrerinnen und Pfarrer für den Dienst am Evangelium nicht idealisieren dürfen, wie die Diskussion um die Versetzung in den Wartestand zeigt. 200 Hinzuweisen ist auch auf die privatrechtlichen Anstellungsverhältnisse von Pfarrerinnen und Pfarrer, wenn sie zuvor in einem anderen Beruf gearbeitet haben. Ab einen bestimmten Alter ist die Übernahme in ein beamtenähnliches Dienstverhältnis nicht mehr möglich, so dass Pfarrerinnen und Pfarrer, die quereingestiegen sind, im gleichen Umfang ihren Dienst versehen, jedoch finanziell schlechter gestellt sind, besonders dann, wenn man auf die Altersabsiche-
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Lindner (1994), 308. Lindner (2000b), 541. Vgl. Kap. 1.5.1, S. 63, Anm. 242. Vgl. Großbölting (2013), 248. Großbölting beschrieb den Umbruch in den Anstellungsverhältnissen: „Nicht mehr die Hingabe einer treu sorgenden Nonne, einer Diakonisse oder eines Ordensbruders, sondern die spezialisierte Kompetenz einer Ärztin oder eines Pflegers stand und steht für die Leistungsfähigkeit des Sozial- und Gesundheitssystems“ (Großbölting (2013), 248). Die Folge davon sei, dass das „religiöse Proprium der kirchlichen Sozialeinrichtungen [. . . ] immer undeutlicher wird, wie sich allein an der Zusammensetzung der Mitarbeiterschaft zeigen lässt“ (Großbölting (2013), 248). 200 Vgl. Grethlein (2015a), 166f: Mit dem Recht, Pfarrerinnen und Pfarrer in den Wartestand zu versetzen, „sind die Gefahren der Disziplinierung und damit der Einschränkung der pastoralen Selbstständigkeit unübersehbar.“
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rung sieht. Wenn die Tendenz zum Quereinstieg ins Pfarramt aufgrund des Personalmangels eher steigen als sinken wird, muss darauf hingewiesen werden, dass es innerhalb der Pfarrerschaft zwei Klassen von Anstellungsverhältnissen für die gleiche Arbeit gibt. Dies wirft Fragen auf. So zeigt sich, dass die beamtenähnlichen Anstellungsverhältnisse für Pfarrerinnen und Pfarrer durchaus einen Wert haben. Gleichzeitig gibt es an dieses Modell gewichtige Anfragen aus unterschiedlichen Bereichen. Es ist zu vermuten, dass es in Zukunft unwahrscheinlicher wird, dass ein beamtenähnliches Anstellungsverhältnis die Norm ist. Zu fragen ist, wie die positiven Seiten, die beamtenähnliche Anstellungsverhältnisse mit sich bringen – allem voran die Absicherung zur freien Verkündigung des Evangeliums – anderweitig sichergestellt werden können. Hinzu kommt außerdem, dass die Anstellung Anderer gerade im Hinblick auf multiprofessionelle Teams einen besonderen Wert hat. So zeichnet sich mittelfristig ab, dass die beamtenähnlichen Verhältnisse zurückgefahren werden, um die Möglichkeit, in multiprofessionellen Teams zu arbeiten, nicht zu gefährden. Wie könnte nun eine Struktur gestaltet werden, die das Predigtamt für lokale kirchliche Gemeinschaften in verantwortungsvoller Weise möglich macht und gleichzeitig Verbindungen zwischen lokalen und regionalen Teams aufweist? Zunächst ist daran zu erinnern, dass mit dem Predigtamt nicht zwingend die organisationale Leitung einhergeht. Das Predigtamt beinhaltet jedoch die ‚Leitung durch das Wort‘. Insofern der Bezug zu lokalen Gemeinschaften gestärkt werden soll, ist dann als Erstes zu überlegen, wie das Predigtamt in – bspw. einer ‚Gottesdienstgemeinde‘ – etabliert werden kann. Grundlage ist eine geordnete Wahl der Gemeinde und die Berufung einer oder mehrerer Personen, die das Predigtamt übernehmen und sich dadurch bereit erklären, der Gemeinde gegenüber zu treten und so für die Verkündigung und die Verwaltung der Sakramente verantwortlich zeichnen. 201
201 Es sei angemerkt, dass eine solche Wahl Fragen hinsichtlich der Mitgliedschaft aufwirft: Wer darf wählen? Grundsätzlich alle Kirchenmitglieder eines Kirchdorfes – jedoch zeigt sich bei den Wahlen an der Beteiligung, dass dieses Recht eher von den Engagierten wahrgenommen wird. Das kann eine umfassende Einladung zur Wahl nicht ausschließen. Dennoch müsste die Frage tiefer bedacht werden, wenn man zum Beispiel das Prinzip auf sog. Personalgemeinden überträgt. Diese Aufgabe wird jedoch in dieser pastoraltheologischen Studie nicht weiter verfolgt. Trotzdem sei auf einige rechtliche Sachverhalte verwiesen: Die normalen Wahlen zum ‚Kirchenvorstand‘ bzw. ‚Gemeindekirchenrat‘ sind problembehaftet: „[N]ur ein kleiner Teil der Kirchenmitglieder [partizipiert] an den Wahlen zu den Gremien, die für das presbyterial-synodale System grundlegend sind. Deren in den Kirchenordnungen und -verfassungen vorgesehenen Befugnisse haben also eine wenig belastbare Grundlage im tatsächlichen Verhalten der Kirchenmitglieder. Das presbyterial-synodale Modell kommt so an eine Grenze“ (vgl. Grethlein (2015a), 116.)
Kirchliche Entwicklungen im ländlich-peripheren Ostdeutschland
Wenn Personen zur Verwaltung der Sakramente eingesetzt werden, sind sie zu ordinieren. Um die Ehrenamtlichen jedoch nicht zu überlasten, sollte die organisationale Leitung der lokalen kirchlichen Gemeinschaft von einer oder mehreren anderen Personen wahrgenommen werden, die ebenso gewählt werden sollten. Vergleichbar könnte das mit einem Ortsausschuss sein, in dem Ortsvorsteher und Predigtamtsinhaber sich um die Entwicklung der Gemeinde kümmern. So ist sichergestellt, dass auch in der kleinsten kirchlichen Einheit die Leitung durch das Wort sine vi sed verbo platziert ist und organisationale Leitung stattfindet, die bei der ‚Ordnung‘ des Predigtamtes gefragt ist. Je nach Ressourcen der lokalen kirchlichen Gemeinschaft können Anstellungsverhältnisse für den Predigtdienst, die Organisation oder andere (interne oder missionarische) Aufgaben geschaffen werden – oder Kooperationen mit anderen lokalen kirchlichen Gemeinschaften eingegangen werden. Hier sind die kontextgegebenen Möglichkeiten zu beachten. Diese Teilung von ‚geistlichem Amt‘ und ‚organisationalem Amt‘ zeigte sich in ähnlicher Weise auch in Poitiers: Drei von fünf Personen waren für geistliche Dienste zuständig und zwei für Leitungs- und Verwaltungsdienste. Lutherisch gesehen entspricht diese Aufteilung der anzustrebenden Balance zwischen Amt und Gemeinde: Gemeindeleitung und Leitung durch das Wort können so aufeinander bezogen werden, wenn es um die Steuerung und Entwicklung der lokalen kirchlichen Gemeinschaft geht. Strukturelle Gebilde dieser Art werden nicht von allein entstehen oder sich als nachhaltig erweisen, wenn sie nicht gefördert werden. Es ist auch nicht davon auszugehen, dass Gemeinden sich mehrheitlich rein auf der Basis von Ehrenamtlichkeit entwickeln lassen. Ohne hauptamtliches Personal – in welchem Umfang und zu welchen Konditionen dies auch immer möglich ist – wird es sie nicht geben. Hauschildt und Pohl-Patalong warnten davor, einer Art ‚Verdrängungsthese‘ aufzusitzen: Eine Gemeinde mit vielen Hauptamtlichen behindere die Aktivität von Ehrenamtlichen und mache sie überflüssig, und umgekehrt würden viele Ehrenamtliche weitestgehend Hauptamtliche einsparen. Die These beruht jedoch auf der Fehlannahme, es bestehe eine fixe Größe von Arbeit in der Gemeinde, die auf Haupt- und Ehrenamtliche zu verteilen sei. De facto aber trägt häufig eine größere Zahl von gut arbeitenden Hauptamtlichen zu mehr Ehrenamtlichen bei; andererseits binden mehr Ehrenamtliche, wenn sie gut arbeiten sollen, auch Kräfte von Hauptamtlichen und haben ein Anrecht auf professionelle Hauschildt und Pohl-Patalong wiesen auf eine weitere juristische Möglichkeit hin, die in diesem Zusammenhang mit bedacht werden kann – die ‚Gemeindeversammlung‘: „Das evangelische Kirchenrecht sieht auch eine (kleine) Leitungsrolle in der lokalen Kirche für die Gesamtheit der (mündigen) Gemeindeglieder durch die Gemeindeversammlung vor“ (Hauschildt/Pohl-Patalong (2013), 361, Herv. original). Es wäre eine Möglichkeit, darüber nachzudenken, inwiefern diese „unmittelbare Teilhabe an der Leitung“ (Hauschildt/ Pohl-Patalong (2013), 361f) bei der Entwicklung und Etablierung lokaler kirchlicher Gemeinschaften eingesetzt werden könnte.
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Unterstützung. Die Verbreitung jener problematischen These ist ein Indiz dafür, dass die jeweiligen spezifischen Stärken und Schwächen ehrenamtlicher Arbeit (und ebenso hauptamtlicher Arbeit) nicht bewusst sind bzw. ihnen in der Praxis nicht entsprochen wird. 202
Es ist darum als Nächstes geboten, zu bedenken, wie Haupt- und Ehrenamt zusammenwirken können. Tendenziell werden hauptamtliche Stellen durch Gemeindekooperationen ermöglicht und werden deswegen ‚regiolokale‘ Stellen sein. Wie könnte nun eine ‚regiolokale Kooperation‘ von Haupt- und Ehrenamtlichen aussehen, die gleichzeitig die Qualität der Arbeit fördert? Will man aus der Ökumene lernen, dann zeigt sich sowohl in England als auch in Frankreich, dass derartige ‚regiolokale Kooperationen‘ vorhanden sind und funktionieren: Im englischen Modell des Ordained Local Ministry ist verankert, dass die lokal Ordinierten immer von einer Pfarrperson oder einem regionalen Team begleitet werden – Ordained Local Ministry ist – im besten Sinne – supervised ministry. 203 Ähnliches gilt für das Modell in Poitiers, in der die Basisequipen von einer Pastoralequipe unterstützt wurden. Nun ist einerseits wichtig, dass die lokalen Leitungsteams nah an der lokalen kirchlichen Gemeinschaft sind und eng auf diese bezogen sind. Andererseits geht mit der Ordination eine hohe Verantwortung einher: Nicht nur dass die theologische Aufgabe äußerst anspruchsvoll ist, weitere Sachverhalte sind zu bedenken. Als Beispiel sei das Beichtgeheimnis genannt: Wer ordiniert ist, muss das ‚unverbrüchliche‘ Beichtgeheimnis wahren: Ein Bruch des Beichtgeheimnisses ‚stellt kirchenrechtlich einen schweren Verstoß gegen die Amtspflichten der Pfarrer dar‘. Diese besondere Verpflichtung steht bei Pfarrern auch unter staatlichem Schutz. Nach § 53 Abs. Nr. 1 StPO und § 383 Abs. 1 Nr. 4 ZPO haben sie ‚als Geistliche‘ das Recht der Aussageverweigerung. Es sei nur angemerkt, dass dies nicht für Nichtordinierte gilt, obwohl auch sie nach evangelischem Verständnis zu Beichte und Seelsorge befugt sind. 204
Nimmt man diesen Gedankengang ernst, wird man die ordinierten Ehrenamtlichen auch seelsorglich ausbilden müssen – oder über die lokale Aufteilung der Dienste des Predigtamtes nachdenken, so dass eine Person für Lebensbegleitung, Seelsorge und Beichte besonders beauftragt wird und eine andere für Predigt und Sakramentsverwaltung. Grundsätzlich soll dieser Gedanke hier nur zeigen, dass Weiterbildungen absolut notwendig sind.
202 Hauschildt/Pohl-Patalong (2013), 367. 203 Heywood (2011), 193. 204 Grethlein (2015a), 161, zitiert: de Wall/Muckel (2014), 305 – inwiefern ordinierte Ehrenamtliche als ‚Geistliche‘ gelten und unter den Schutz dieses Gesetzes fallen, darf wohl als offen betrachtet werden.
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Das traditionelle Instrument zur Weiterbildung in Seelsorge und Theologie im Pfarramt ist der Konvent. 205 Wenn das Predigtamt im Personenkreis erweitert wird, dann ist es nur folgerichtig, die Konvente ebenfalls zu erweitern. Konvente würden so zur regionalen Dauerfortbildung, von der vor allem Nicht-Theologen profitieren würden. Studierte Theologinnen und Theologen hätten für die Bildung in den Bereichen Hermeneutik, Homiletik und Poimenik sowie anderen aktuellen theologischen Themen eine besondere Verantwortung. Diese notwendige Verantwortung zur Begleitung und Anleitung von Mitarbeitern fehlt leider im Pfarrerdienstgesetz, wie Grethlein unter Bekräftigung von Hermelink, der diesen Punkt vorgebracht hatte, monierte. 206 Auch die ‚Volltheologen‘ werden von den Perspektiven der Anderen profitieren. Durch eine angepasste Konventsordnung wäre demnach eine Möglichkeit gegeben, permanent Weiterbildung und damit qualitative Verbesserung in einer Region zu etablieren. Ehrenamtlich Ordinierte würden auf diese Weise konstant Unterstützung aus der Region erhalten. Eine qualitativ anspruchsvolle ‚Leitung durch das Wort‘ könnte so nachhaltig für lokale geistliche Gemeinschaften aufgebaut werden. Das zieht dann natürlich auch nach sich, dass die Konvente zu einem Zeitpunkt stattfinden, der für Ehren- und Nebenamtliche möglich ist, und sie müssen auch auf Basis der Erwachsenenbildung so gestaltet sein, dass sie einen Mehrwert für alle entfalten. 207 Diese Überlegungen haben Konsequenzen für die Handlungsfelder des Pfarramts: Zum einen werden sich die Handlungsfelder des Pfarramts nur schwer eingrenzen lassen – zumindest sind Versuche aus der jüngsten Zeit selten überzeugend gewesen. Zum anderen kann durchaus ein Handlungsfeld besonders hervorgehoben werden: Aus den bisher dargestellten Überlegungen ergibt sich, dass das Handlungsfeld der Bildung zur Förderung der Kirche als Lerngemeinschaft wichtiger wird. Interessanterweise legte dies auch Winkler in der durchaus vergleichbaren Situation zu DDR-Zeiten nahe. Angesichts der rückläufigen Zahl der ‚volltheologisch gebildeten Mitarbeiter‘ wollte er deren Aufgabenfeld fokussieren: Sie seien zuständig für die Interpretation der apostolischen Überlieferung und kirchlichen Lehre mit dem Ziel, „möglichst viele Mitinterpreten zu ihrem Dienst zuzurüsten“ 208. In diesem Zusammenhang unterschied Winkler außerdem eine theologische Gleichheit der Dienste von einer kirchenrechtlichen Gleichstellung der Personen. Für letztere sprach er sich nicht aus, um die Funktionalität des Dienstes aufrecht205 Vgl. bspw. die Konventsordnung der EVLKS: https://engagiert.evlks.de/Rechtssammlung/ PDF/3.1.2.5_KonventsO.pdf, aufgesucht am 30. Juli 2020, 21:00 Uhr. 206 Grethlein (2015a), 161. 207 Oder es werden zu wichtigen Themen digitalisierte Lernangebote erstellt, die ein flexibles Eigenstudium zulassen und dann bei entsprechend weniger häufigen Treffen intensiv besprochen werden. 208 Winkler (1971b), 191.
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erhalten zu können. Sondern er führte als Beispiel das Verhältnis von Bischof und Pfarrer an, das entsprechend auf andere Konstellationen, die mit dem Predigtamt betraut sind, zu übertragen wäre: Theologisch sind beide gleich, dienstrechtlich nicht, da sie unterschiedliche Funktionen erfüllen. Für den Gedankengang hier bedeutet das, dass mit den umfassenderen Anstellungen auch eine entsprechende regionale Verantwortung einhergehen soll. Jedoch sprechen nicht nur historische Überlegungen für die Favorisierung des Handlungsfeldes ‚Bildung‘, um Kirche als Lerngemeinschaft zu fördern. Auch Hauschildt und Heinemann kamen in ihrer Studie zu Alternativen Formen der kirchlichen Präsenz in peripheren Räumen zu dem Ergebnis: Die Aufgaben, denen sich die Ehrenamtlichen hier stellen, sind genauso komplex wie die Aufgaben im Gemeindepfarramt. [. . . ] Das zeigt noch einmal, wie wichtig in diesen veränderten Verhältnissen die gut organisieret und qualitativ hochwertige pastorale Aufgabe der Begleitung dieser Ehrenamtlichen wird. 209
Die Herausforderungen sind nicht gering und so zeichnet sich ab, dass es gut ausgebildete Theologen und Theologinnen brauchen wird, um die Kommunikation des Evangeliums in und außerhalb der Gemeinden zu fördern. Bevor dieses Kapitel zum Schluss kommt, soll noch ein weiterer Gedanke angestoßen werden: Wenn sich lokale kirchliche Gemeinschaften auf einen Weg zur erhöhten Teilnahme und Teilgabe begeben wollen, dann kann ihnen ermöglicht werden, Menschen ins Ehren- oder Nebenamt zu berufen, die dann in der Region weitergebildet werden sollen. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass derartige Gebilde von allein entstehen. Sie bedürfen der Förderung. Darum muss als Nächstes darüber nachgedacht werden, wie lokale kirchliche Gemeinschaften bzw. die Aspekte, die nicht das Predigtamt betreffen, gefördert werden können. Ausgegangen werden soll von einem Gedanken Winklers: Aus den erwähnten Gründen muß die längst begonnene Relativierung des Parochialsystems zugunsten der Arbeit in größeren Raumschaften wie in kleinen Gruppen weiter fortgeführt werden, ohne daß die Parochie als überschaubare Zwischengröße prinzipiell aufgegeben wird. Unter theologischem Aspekt ist der Ort des geistlichen Dienstes primär weder die Parochie noch der Kirchenkreis oder die Hausgemeinde, sondern die Welt, in die der Herr seine Gemeinde sendet. 210
Die Relativierung des Parochialsystems ist zur Kenntnis zu nehmen: Bereits Herbst verwies darauf, dass sowohl oberhalb als auch unterhalb der Parochie neue gemeindliche Gebilde entstehen. 211 Dies relativiert die Parochie – im Wortsinn 209 Hauschildt/Heinemann (2016), 153. 210 Winkler (1971b), 195. 211 Vgl. Kap. 7.2.2, S. 297.
Kirchliche Entwicklungen im ländlich-peripheren Ostdeutschland
meint das: sie wird in ein neues Beziehungsgeflecht eingesetzt. 212 Die Ermöglichung des Predigtamtes für lokale kirchliche Gemeinschaften zielt unter anderem auf die Aufwertung kleiner und größerer Gruppen. Grundlegend wichtig ist nun die Ausrichtung dieser Gruppen: Ihr geistlicher Dienstort ist die Welt. Eine missionarische Ausrichtung von lokalen kirchlichen Gemeinschaften müsste dementsprechend als eine Voraussetzung für die Etablierung des Predigtamtes geprüft werden. Die lokale kirchliche Gemeinschaft muss dazu bereit sein, für die Öffentlichkeit zu sorgen, die notwendigerweise mit dem Evangelium einhergeht. Die Etablierung des Predigtamtes in einer lokalen kirchlichen Gemeinschaft ist nicht dazu da, eine nach innen gerichtete Verwaltung der ‚Heilsgüter‘ zu protegieren. Eine öffentliche Einladung zu den Gottesdiensten ist darum sicher ein Minimum, das erfüllt sein muss. Diese Überlegung gibt ein wichtiges Kriterium vor, welches bei der Entwicklung derartiger lokaler kirchlicher Gemeinschaften hilft. Weiterhin ist zu bedenken, dass Kirche in der Theorie ein Hybrid aus unterschiedlichen Handlungslogiken darstellt. Kirche als Gruppe und Bewegung ist deswegen nicht zu idealisieren, sondern es braucht auch die anderen Elemente, um die ‚Kirche als Gruppe‘ auf Dauer zu stellen und nachhaltig zu entwickeln. Deswegen wird eine Art ‚Gemeindedienst‘ oder ‚Amt missionarischer Dienste‘ in jeder Region benötigt, welches den lokalen kirchlichen Gemeinschaften Unterstützung, die für die Gemeindeentwicklung nötig und sinnvoll sind, zukommen lässt. Hier geht es um Hilfe bei Aufbau von Organisation und legitimen Leitungsstrukturen sowie Unterstützung bei der Profilierung der lokalen kirchlichen Gemeinschaft, die je nach Gaben vor Ort und Notwendigkeiten des Kontexts höchst unterschiedlich aufgestellt werden können. 213 Die regiolokale Kirchenentwicklung, in der Ortsgemeinden, Gemeindeteile, christliche Vereine, Funktionsdienste, fresh expressions of church etc. unterschiedlichste missionarisch-diakonische Profile entfalten, geben eine Idee für eine künftig plurale Region. 214
212 Winkler nennt dann zwei Prinzipien, die zur Ordnung dieses zugegeben unübersichtlichen Gebildes beitragen können: Jedes Gemeindeglied in einer größeren Raumschaft braucht die Möglichkeit zum persönlichen Kontakt und die Gliederung hat sich vor allem am Sendungsauftrag Christi auszurichten (Winkler (1971b), 195f). 213 Vgl. dazu die regulative Idee der ‚Regiolokalen Kirchenentwicklung‘ bei Herbst/Pompe (2017). 214 Es wäre durchaus denkbar, dass lokale kirchliche Gemeinschaften auch sogenannte pioneers anstellen, um ihren Dienst nach außen zu verstärken oder die Kommunikation des Evangeliums in andere Milieus hinein zu erweitern. Vgl. bspw. die beiden Studien zum Thema aus der Protestantse Kerk in den Niederlanden: Fingers Crossed. Development, lessons learnt and challenges after eight years of pionieering (Jan. 2017): https://www.lerenpionieren.nl/wp-content/uploads/2017/01/Fingers-Crossed-fresh-expressions-in-theNetherlands.pdf, aufgesucht am 30. Juli 2020, 23:17 Uhr, u. Pioneering: State of Affairs. The impact of pioneering on social cohesion and religious development (März 2020): https://lerenpionieren.nl/wp-content/uploads/2020/05/Engels-Tussenstand-pionierenmei-2020.pdf, aufgesucht am 30. Juli 2020, 23:18 Uhr.
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Es wäre noch zu überlegen, wie dann die lokalen Leiter und Leiterinnen – vergleichbar evtl. mit ‚Ortsvorstehern‘ – über Gremien wie Kirchenvorstand oder Regionalsynoden eingebunden werden können. Auch hier ist die regionale Vernetzung wichtig, um die Verantwortung für die Ausrichtung der Gemeinden und deren Mission gemeinsam abzustimmen. 215 Parallel dazu gibt es noch die Dienste der internen Organisation und der Verwaltung. Hier wäre die Vernetzung mit Regionalkirchenämtern zu suchen, um für die Gebäude oder Liegenschaften in der Verantwortung der lokalen kirchlichen Gemeinschaft ebenfalls Unterstützung zu haben. Diese Überlegungen sind natürlich kein vollständiges Modell oder ausgearbeitetes Konzept. Das ist nicht der Anspruch der angestellten Überlegungen. Gezeigt werden sollte im Kern, wie eine Erweiterung des Predigtamtes ermöglicht werden kann, die strukturell nachhaltige Entwicklungen erwarten lässt und die Teilhabe einzelner Gemeindeteile stärkt, die vormals evtl. eigenständig gewesen sind auch neu gegründet werden. Multiprofessionelle Teams können dann aus Ehren-, Neben- und Hauptamtlichen bestehen, lokal in einer Gemeinschaft arbeiten und Unterstützung aus der Region empfangen oder geben. Gleichzeitig wurde darüber nachgedacht, wie die Leitungen der lokalen kirchlichen Gemeinschaften aufgebaut sein müssen, damit organisationale Leitung und ‚Leitung durch das Wort‘ als eine Leitung im Team theologisch verantwortet und ausgeführt werden kann. 216 Deutlich ist, dass das kybernetische Handlungsfeld im Umbau der Kirche neben der Bildung für das Predigtamt besondere Relevanz hat. – Das bedeutet dann: Beide Bereiche benötigen unbedingt hauptamtlich gestützte regionale ‚Entwicklungshilfe‘. Das Pfarramt wird in dieser Konstruktion nicht obsolet – die Gedankenführung hier ist, wie eingangs bereits erwähnt, nicht gegen das Pfarramt gerichtet. Gleichwohl musste ausgelotet werden, inwiefern unter den derzeitigen Entwicklungen Kirche verantwortungsvoll anders strukturiert werden kann. Dazu wurden derzeitige Umweltbedingungen mit theologischen Grundlagen ins Gespräch gebracht. Viele der bedachten Elemente sind durchaus bekannt, dennoch ist es eine Herausforderung multiprofessionelle Teams ‚regiolokal‘ zu denken: „Denn eine Mitarbeitendentheologie hat noch kaum Fuß gefasst“ 217 und ihre regionale Ausgestaltung ist auf Seiten der wissenschaftlichen Begleitung die Zukunftsaufgabe der Pastoraltheologie. 215 Die regionale Einbindung wurde wiederholt betont. Nun ist auch anzumerken, dass die regionale Einbindung strukturell dysfunktional wird, wenn es zu viele ‚übergeordnete‘ Strukturen gibt: Wie viele Ebenen können wahrgenommen werden, wenn man von Ehrenamtlichen aus denkt: Ortsvorstand, Gesamtkirchengemeindevorstand, Regionalkirchenvorstand, Kirchenbezirksvorstand? – Es muss streng geprüft werden, wie viele Ebenen sinnvoll zu Unterstützung der Arbeit vor Ort sind und welche Ebenen darüber verschlankt werden können. 216 Vgl. dazu auch die Überlegungen zu ‚Geistlicher Leitung‘ im Team: Böhlemann/Herbst (2011). 217 Hauschildt/Pohl-Patalong (2013), 381.
10.
Neuausrichtung der Pastoraltheologie
Eingangs wurde erwähnt, dass die Pastoraltheologie als Rahmen in der Untersuchung bedacht wird. 1 Betrachtet man nun den Entwicklungspfad, der für das Pfarramt in ländlich-peripheren Räumen Ostdeutschlands im Zusammenspiel von ‚Theologie‘ und ‚Kontext‘ am zukunftsträchtigsten erscheint, dann erfordert das einen bedeutenden Fokuswechsel in der pastoraltheologischen Forschung: Pfarrerinnen und Pfarrer können nicht mehr exklusiv als ‚Handlungsträger‘ in der Pastoraltheologie betrachtet werden. Insofern diese These die Neuausrichtung eines ganzen Forschungszweiges empfiehlt, soll ihre Grundlage verdichtet rekapituliert werden: Die Analyse und die darauf aufbauende Argumentation ergab, dass in Ostdeutschland kein den Kirchen zuträgliches religiöses Klima vorherrscht. Das Gegenteil ist der Fall: Die mehrheitlich Konfessions- und Religionslosen sind die Norm, an der man sich mehr oder minder bewusst orientiert. In peripheren, ländlichen Räumen kann man nicht mehr von einer Dorfkultur ausgehen, die traditionelle Kirchlichkeit stützt oder begünstigt. Dafür waren unter anderem Prozesse der Urbanisierung des Landlebens maßgeblich, die zu DDR-Zeiten forciert wurden. In den ländlichen Räumen jenseits der Ballungszentren herrschen im Osten Deutschlands mehrheitlich bis ausschließlich Schrumpfungsdynamiken vor: Ökonomisch, infrastrukturell und demographisch befinden sich diese Gebiete unterschiedlich stark im Abwärtstrend. Die Ursachen und Wirkungen unterschiedlicher Dynamiken sind komplex, jedoch wird man eines mit relativer Sicherheit feststellen dürfen: Die abgelegene Lage der ländlichen Räume ist nicht allein für die negativen Trends verantwortlich zu machen. Politische und ökonomische Entscheidungen können langfristig andere Trends bewirken. Mittel- bis kurzfristig deutet sich derzeit allerdings keine Änderung für abgelegene, ländliche Räume an – in suburbanen, ländlichen Zonen eventuell schon. Deswegen erweist sich die Alterung sowie die Abwanderung junger Bevölkerungsanteile für die Kirchen als besondere Herausforderung in peripheren, ländlichen Räumen. Es konnte gezeigt 1 Vgl. Kap 1.1, S. 19.
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werden, dass diese demographischen Faktoren die Kirche in besonderem Maße treffen, da sie zusätzlich aufgrund eines Traditionsabbruches im Schnitt deutlich älter als die Normalbevölkerung ist. Die volkskirchlichen Reproduktionsmechanismen für ländlich-periphere Räume sind außer Kraft gesetzt. Diese Schrumpfungsdynamiken auf der Makroebene sind der Grund für kirchliche Abbau- und Fusionsprozesse. Natürlich gibt es Wachstum und gelingende kirchliche Projekte, jedoch muss dies über andere Indikatoren als die Kirchenmitgliedschaft erfasst werden. Diese ist vom gesellschaftlichen Klima abhängig und offensichtlich ist der Einfluss der kirchlichen Arbeit auf diesen Indikator gering einzuschätzen. Mit dieser Feststellung ist die Frage der Mitarbeitenden in der Kirche zu bedenken. Es wurde die Entwicklung der Gemeindepfarrstellen in Ostdeutschland untersucht. Mit Hilfe der Personalplanung konnte gezeigt werden, welche Konsequenzen die (Personal-) Entscheidungen der Kirchen in den 90ern hatten: Es konnten einerseits Finanzen eingespart werden. Andererseits führten die geringeren Neueinstellungen zu einer vergleichsweise älteren Pfarrschaft in Ostdeutschland. Damit gehen besondere personalentwicklerische Herausforderungen einher, wie bspw. die Fragen nach Gesundheit, Altern im Beruf, Leistungsbereitschaft und Innovation. Besonders stark wird sich der Nachwuchsmangel auswirken, der für die frühen 2020er Jahre prognostiziert werden konnte. Dieser Sachverhalt führt dazu, dass aller Voraussicht nach selbst die rückläufigen Pfarrstellen nicht mit ausreichend Personal versorgt werden können. Deswegen werden alternative Zugänge zu Pfarramt oder ‚Beförderungen‘ anderer kirchlicher Berufsgruppen erwogen, um diese Personalnot abzumildern. Dies bringt ohne Frage einen Wandel des Pfarramts mit sich. Nach theologischen Überlegungen und der Auseinandersetzung mit zwei kirchentheoretischen Modellen, die für die ländlichen Räume Ostdeutschlands in den pastoraltheologischen Diskurs eingebracht wurden, konnten dann die Argumente für unterschiedliche Entwicklungspfade des Pfarramts in ländlichen Räumen Ostdeutschlands getestet werden. Ein erster möglicher Entwicklungspfad wäre die Fokussierung auf das Einzelpfarramt und somit die geringste mögliche Änderung zu den bestehenden Verhältnissen. Dieser Entwicklungspfad ist sowohl nach den Maßstäben des liberalen wie des missionarischen Paradigmas ungünstig. Im liberalen und missionarischen Paradigma wird Wert auf Öffentlichkeit gelegt. Nun zeigt sich aber, dass die ‚Öffentlichkeit‘ bei Gemeindefusionen für die ‚Schlüsselpersonen‘ im Einzelpfarramt rückläufig ist, wie aus einer Studie von Vogelgesang, Kopp, Jacob und Hahn hervorgeht, die Zusammenlegungen von katholischen Pfarreien in einer Region untersuchten: Hier deutet sich eine kommunikative Negativ- und Exklusionsspirale an, die sich wie folgt zusammenfassen lässt: Mit dem Zusammenschluss zur Pfarreiengemeinschaft scheint sich ein Prozess zu beschleunigen, der die Bekanntheit, Kontaktchancen und seel-
Neuausrichtung der Pastoraltheologie
sorgerischen Hilfenachfragen des Pfarrers weiter reduziert. Die Präsenz der Kirche vor Ort wird gleichsam entpersonalisiert und auf ihr rituelles Angebot reduziert. 2
Wichtiger ist jedoch ein theologisches Argument: Wird das Predigtamt nahezu exklusiv ans Pfarramt gebunden und stehen in Zukunft immer weniger Pfarrerinnen und Pfarrer zur Verfügung, dann geht damit eine Peripherisierung von Gemeinden und Gemeindeteilen vor allem in Hinblick auf wichtige theologische Vollzüge einher. Natürlich gibt es interessante und gute Entwicklungen, wenn man auf Prädikantinnen und Prädikanten schaut. Als besondere Herausforderung wurde jedoch aufgrund ökumenischer Erfahrungen und Beobachtungen folgender Zusammenhang ausgemacht: Häufig werden Prädikantinnen und Prädikanten als Pfarrersatz gesehen und nicht als vollwertige Vertreter des Predigtamts. In diesem Zusammenhang ist auffällig, dass Prädikantinnen und Prädikanten strukturell nicht als Gegenüber zu einer Gemeinde eingebunden sind, sondern von Pfarrerinnen und Pfarrern für Vertretungsdienste angefragt werden. Diesbezüglich besteht eine kirchenentwicklerische Herausforderung, wenn man dem theologischen Anspruch des Predigtamtes gerecht werden möchte und Prädikantinnen und Prädikanten nicht im Status eines clerus minor, da diese nur über das Pfarramt vermittelt zum Einsatz kommen, belassen möchte. Als zweiter möglicher Entwicklungspfad wurden die Argumente für und wider Teampfarrämter gegeneinander abgewogen. Auf der einen Seite zeigen sich Entlastungen im Teampfarramt, die für eine Pfarrschaft mit bedenklichen physischen und psychischen Belastungswerten günstig wären. Allerdings wiegen die Gegenargumente schwer, denn mit Teampfarrämter etabliert sich eine Binnenorientierung, die für Gemeindekontakte und andere öffentliche Kontakte abträglich ist. Bis jetzt ist nachgewiesen, dass es keinen Mehrwert für die Gemeinden gibt, wenn Teampfarrämter gebildet werden – das Gegenteil ist der Fall, weswegen diese Variante als ‚gescheitert‘ gilt. Als dritter möglicher Entwicklungspfad wurden die Argumente zu multiprofessionellen Teams untersucht. Dieser Entwicklungspfad erwies sich als potentiell zukunftsträchtig, wenn in dessen Fokus eine möglichst nachhaltige Entwicklung des Predigtamtes genommen wird. Dazu wurden Überlegungen angestellt, wie Teams aus Haupt-, Neben- und Ehrenamtlichen lokal und regional zusammen entwickelt werden können, um vor Ort und in der Region einer vielfältigen Kommunikation des Evangeliums zu dienen. Aus dieser Überlegung ergab sich bezüglich der Handlungsfelder eine zweifache Erkenntnis: Zum einen können die Handlungsfelder bei mehreren ‚Handlungsträgern‘ unterschiedlich verteilt werden. Zum anderen wurde deutlich, dass Pfarrerinnen und Pfarrer zukünftig im Bereich der theologisch-hermeneutischen 2 Vogelgesang et al. (2018), 199.
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Bildung für die ‚Mitinterpreten‘ gebraucht werden. Bildung und Bildungsprozesse werden in Zukunft wichtiger und von entscheidender Bedeutung werden, wenn es um Personalentwicklung geht, die vermehrt der Weiterbildungen bedarf, um Qualifikationen für bestimmte Aufgaben anzubieten. Gleiches gilt auch für Prozesse des organisationalen Lernens – auch hier spielt Bildung im Zusammenspiel mit Leitung eine zunehmend wichtige Rolle. Wenn es Personen gibt, die mit dem speziellen Predigtamt betraut sind, dann muss nach deren Qualifikation und Qualifizierung gefragt werden. Karle trat bspw. vehement für eine akademisch-theologische Bildung ein. 3 So gut und wünschenswert eine akademische Bildung für die Inhaber des Predigtamtes ist, „unerlässlich“ 4 ist sie nicht. Es gibt und es wird vermehrt Predigerinnen und Prediger ohne akademisch-theologische Bildung geben. In Zukunft werden deswegen akademisch gebildete Theologinnen und Theologen Multiplikatoren dieser Bildung für die ebenfalls zum Predigtamt Berufenen sein müssen. So ist an die theologische Grundlage zu erinnern, dass zur Voraussetzung zur Übernahme des Predigtamts weder besondere geistliche Merkmale noch Bildung gehören, sondern der Ruf der Gemeinde. ‚Berufung‘ als vocatio interna und vocatio externa wird deswegen in einer umfassenden kirchlichen Personalentwicklung von besonderer Bedeutung sein. 5 Weil mit der akademische Bildung ‚Qualität‘ für das Pfarramt einhergeht, müssen einige Beobachtungen genannt werden, die die ‚Qualität‘ mit der besonders im liberalen Paradigma wertgeschätzten ‚Öffentlichkeit‘ in Zusammenhang bringen: Es kann als einigermaßen beruhigend gelten, dass in der Church of England der mehrheitliche Einsatz von ehrenamtlich Ordinierten in Teams (Ordained Local Ministry) den Niedergang der Kirche weder verlangsamt noch beschleunigt hat. Gleiches lässt sich auch für deutsche Verhältnisse erwarten, wenn man Austrittsstudien berücksichtigt: Die Qualität der Arbeit von Pfarrerinnen und Pfarrer ist für einen Austritt kaum entscheidend, wie Pollack feststellte. 6 Gleichzeitig zeigt sich, dass sowohl Ehrenamtliche als auch andere Hauptamtliche als Vertreter der Kirche in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden und in diesem Sinne auch Öffentlichkeit der Kirche herstellen. 7 In Zukunft sollte der bisher nur mangelhaft erforschte Sachverhalt der öffentlichen Repräsentation von Kirche durch andere als Pfarrpersonen nicht nur gefördert, sondern auch besser erforscht werden. 8
3 4 5 6 7
Vgl. Karle (2001), 199. Karle (2001), 199. Vgl. Kap. 5., S. 215. Pollack (2017), 100. Vgl. Grubauer/Hauschildt (2015), 83f, Hauschildt/Heinemann (2016), 147–155 u. Hauschildt (2015), 84, Anm. 8. 8 Vgl. dazu die beschränkte Datenlage in der 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung: Grubauer/Hauschildt (2015), 83.
Neuausrichtung der Pastoraltheologie
Ingesamt zeigt sich, dass der Begriff ‚Öffentlichkeit‘ dringend neu bearbeitet werden muss. In theologischer Hinsicht hat sich gezeigt, dass der einfache Übertrag von Predigtamt und Öffentlichkeitsauftrag alles andere als zwingend ist. Auch in empirischer Hinsicht besteht Diskussionsbedarf. 9 Das spezielle Predigtamt ist theologisch notwendig für eine innerkirchliche Öffentlichkeit. Eine nach außen gewandte Öffentlichkeit geht mit dem allgemeinen Predigtamt einher und ist nicht das besondere Handlungsfeld von Pfarrerinnen und Pfarrer. Diese können mit repräsentativen Aufgaben betraut werden, eine theologische Notwendigkeit besteht allerdings nicht. Die Notwendigkeit der Öffentlichkeit geht mit dem Evangelium und dem allgemeinen Priestertum an sich einher und damit dem speziellen Predigtamt voraus. Diese theologische Kritik an der Verwendung des Öffentlichkeitsbegriffes in der Pastoraltheologie zielt besonders auf die ‚Gemeindevergessenheit‘ mancher Entwürfe ab. 10 Es ist gerade in Ostdeutschland nicht sinnvoll für Mission, Dialog und Konvivenz Pfarrerinnen und Pfarrer als alleinige Personen herauszustellen, die einen Öffentlichkeitsauftrag haben. Die Agentin der missio dei ist die Gemeinde, 11 zu der das Predigtamt dazugehört – Pfarrerinnen und Pfarrer allein bzw. ein Pfarrbild, bei der die Gemeinde als ‚Risiko‘ gilt, werden – das wurde nicht nur missionstheologisch plausibel gemacht – auf Dauer überfordert sein. In Anspielung auf die beiden diskutierten kirchentheoretischen Modelle geht es also eher darum, mit der Gemeinde ‚an den Hecken und Zäunen unterwegs zu sein‘ 12, als die Pfarrerinnen und Pfarrer immer wieder ‚auf der Schwelle‘ 13 zu positionieren. Das hat zur Folge, dass die Entwicklung, Förderung und Etablierung lokaler kirchlicher Gemeinschaften die wichtigste Aufgabe der Kirchenentwicklung ist – wenn eine missionarisch-mündige, öffentliche und pluralitätsfähige Kirche erhofft wird. Die Entwicklung solch missionarischer, öffentlicher, pluraler und möglichst ökonomisch, rechtlich und geistlich selbstständiger Gemeinschaften geht mit der dem Kontext angemessenen Etablierung des speziellen Predigtamtes einher. Dies führt dann zur Pluralisierung der Handlungsträger, die eine Neuausrichtung der Pastoraltheologie erforderlich macht. Solange Pastoraltheologie allein die ‚Berufstheorie des Pfarramts‘ ist, wird sie notwendige Innovationen nicht konstruktiv-kritisch begleiten können, sondern in einer Reiteration vergangener
9 Vgl. Grethlein (2015a), 168: „Der traditionelle Bezug auf die ‚Öffentlichkeit‘ hatte in Zeiten einer primär face-to-face kommunizierenden Gesellschaft Bedeutung. In der heutigen Mediengesellschaft muss er neu bestimmt werden und eignet sich nicht mehr zur Distinktion Gemeindeglieder – Pfarrer.“ 10 Vgl. Herbst (2019c), 182. 11 Vgl. Kap. 8.2.2, S. 331. 12 Herbst (2014), 188–207. 13 Wagner-Rau (2012).
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Verhältnisse verbleiben. Es ist deswegen wieder an der Zeit – in guter pastoraltheologischer Tradition 14 – das Ende der Pastoraltheologie auszurufen, um sie neu zu erfinden und den Wert des besonderen Fokus auf die Handlungsträger erneut zu entdecken. Dass diese Weiterentwicklung der Pastoraltheologie nicht ganz aus der Luft gegriffen ist oder gar gänzlich überraschend, lässt sich an den Überlegungen festmachen, die zwei Lehrstuhlinhaber für Praktische Theologie kürzlich öffentlich machten. Sie problematisierten die Zentralstellung des Pfarramtes und damit auch den Begriff von Pastoraltheologie als Berufstheorie des Pfarramts. 15 Es ist bemerkenswert, dass Grethlein in seinem Buch Praktische Theologie die Pastoraltheologie ersetzt. An ihre Stelle tritt die „Theorie der Tätigkeiten, die die Kommunikation des Evangeliums fördern“. 16 Dies hat zur Folge, dass in der Praktischen Theologie von Grethlein das Pfarramt dem Allgemeinen Priestertum konsequent nachgeordnet wird und dessen Schlüsselstellung in die Kritik gerät. 17 Grethlein forderte für den Pfarrberuf ‚vordringlich‘ ein, dass eine theologische Grundlegung erneut in Angriff genommen werde und dass kirchentheoretische Differenzierungen in der Wahrnehmung von Kirche als Institution, Organisation und Bewegung zu beachten seien, damit der Weg vom „‚Schlüsselproblem‘ zum ‚Schlüsselberuf‘ und zurück“ 18 letztendlich konstruktivere Pfade einschlagen könne.
14 Vgl. Rau (1970), dessen Beitrag das Ende der älteren Pastoraltheologie plausibel machte. Weiterhin ist auf die Diskussion um den Namen der Zeitschrift Pastoraltheologie zu verweisen, die ebenfalls das Ende und die Neuerfindung der Pastoraltheologie kennt: Man wollte eine standardmäßige Verengung der Pastoraltheologie auf Pfarrerinnen und Pfarrer vermeiden. Deswegen wurde die Zeitschrift umbenannt in: Zeitschrift für Wissenschaft und Praxis in Kirche und Gesellschaft (vgl. Kap. 1.2.2, S. 22). 1981 kam es jedoch zur Neuerfindung der Pastoraltheologie und zur Namensrestauration. Der alt-neue Titel Pastoraltheologie wurde programmatisch ausgeleuchtet: Im Vorwort von Stolt und Brakelmann hieß es: „Wir begrüßen es [das Wort Pastoraltheologie, BS] also wieder und wissen, daß wir damit eine Kategorie der Praktischen Theologie neu in Gebrauch nehmen, eine Kategorie, die, wie ich meine, die vielen Aspekte praktisch-theologischen Nachdenkens orientiert auf den der Kirche gegebenen Auftrag. Gleichzeitig ist mit diesem Wort auf die Menschen gewiesen, die diesen Auftrag ausführen“ (Stolt/Brakelmann (1981), 2). In einem Überblicksheft der Pastoraltheologie von 1995 präzisierte Stolt die Bedeutung der Wiedereinführung des Begriffs von 1981: „Der Begriff ‚Pastoraltheologie‘ wird nicht nur für die Pfarrerschaft reklamiert. Er wird jetzt in einem weiten Sinn begriffen, der den Dienst aller, die im ‚pastoralen‘ Dienst stehen, umfaßt. [. . . ] Eine Pastoraltheologie soll die Mitarbeitenden der Kirche ‚ihres Auftrages versichern‘“ (Stolt (1995), 231). Offensichtlich hatte sich diese Neuausrichtung nicht in der akademisch-pastoraltheologischen Debatte verfangen können, da diese die Pastoraltheologie als „Berufstheorie des Pfarramtes“ (Wagner-Rau (2017), 106) ausarbeitete. 15 Grethlein (2018), 234–237; Grethlein (2017), 13–19; Grethlein (2016b), 460–507 u. Kunz (2018), 3–22. 16 Grethlein (2016b), 460, Herv. getilgt. 17 Grethlein (2016b), 460f. 18 Grethlein (2017), 13 u. 18.
Neuausrichtung der Pastoraltheologie
In seiner neuesten Veröffentlichung wird die Kritik noch etwas schärfer. Grethlein zeigte, dass die mittelalterliche Dreiständelehre, welche seiner Meinung nach nur schwer mit dem Priestertum aller Glaubenden zu vereinbaren sei, in der heutigen Pfarramtspraxis noch nachwirke. 19 Dies zeige sich vor allem in der Ordination, Berufsbekleidung und beamtenähnlichen Privilegierung dieser Berufsgruppe. 20 Statistisch gesehen hält er die Rede vom ‚Schlüsselberuf‘ für problematisch, da Pfarrerinnen und Pfarrer lediglich 3 % der in Kirche und Diakonie Beschäftigten ausmachen – „hinsichtlich der Ehrenamtlichen sind es nur 1,3 %.“ 21 Außerdem zeigte Grethlein, wie die bisher für das Pfarramt verwendete theologische Denkfigur von Priestertum aller Glaubenden und funktionalen Pfarramt mit akademischer Ausbildung auch auf andere kirchliche Berufe übertragen werden kann. 22 In Würtemberg wurde beispielsweise von einem ‚Diakonat aller Gläubigen‘ gesprochen, mit dem der Diakonenberuf in ein Wechselverhältnis tritt. 23 Diakone, Gemeindepädagogen, Erzieher und andere kirchliche Berufe mit (Fach-)Hochschulabschluss bekommen bei Grethlein eine wertschätzende Aufwertung: „Diese und andere Berufe ermöglichen praxisnahe Anschlüsse von Kirche und Theologie an wichtige gegenwärtige Wissensbestände, die die Möglichkeiten von Pfarrer/innen, die in der Regel nur Theologie studierten, übersteigen.“ 24 Die exklusive pastoraltheologische Betrachtung des Pfarrberufes samt dessen privilegierter Stellung in der Kirche gerät damit stark in die Kritik. 25 Damit wird deutlich: Pastoraltheologie als Berufstheorie des Pfarramts gehört für Grethlein der Vergangenheit an. Kunz schlug ähnliche kritische Töne an: Bleibt der Pfarrer ein Sonderling, droht die Diskussion in immer dieselben Problemschlaufen zu geraten. Solange der Pfarrberuf einmal zum Schlüsselberuf und dann wieder zum Schlüsselproblem der Kirchenentwicklung erklärt wird, kommt auch die Ekklesiologie nicht vom Fleck. Durchbrochen wird die Isolierung und Fixierung der Pastoraltheologie auf den Pfarrberuf mit einer Theologie der Pastoral. 26
19 20 21 22 23 24 25
Grethlein (2018), 235. Grethlein (2018), 235. Grethlein (2018), 236. Grethlein (2018), 235f. Grethlein (2018), 237. Grethlein (2018), 237. Angesichts dieser Kritik, müsste eine Rückfrage an Grethlein gestellt werden: Inwiefern findet die Bedeutung von Wort und Sakrament als notwendige Beauftragung durch die Gemeinde eine angemessene Berücksichtigung, wenn auch vom Diakonat aller Gläubigen gesprochen wird? Nachvollzogen werden kann, dass das Priestertum aller Gläubigen mehr beinhaltet als Wort und Sakrament allein, jedoch sind Wort und Sakrament nicht ohne Grund so zentral. Dies müsste auch bei einer Ausweitung bzw. einen umfassenderen Begriff wie der ‚Kommunikation des Evangeliums‘ Berücksichtigung finden. 26 Kunz (2018), 19, Herv. original.
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Kunz machte unter anderem die ‚dramatische Entkirchlichung‘ dafür verantwortlich, dass im ‚Schnittfeld von Berufs- und Kirchenentwicklung‘ nicht nur das Pfarramt allein bedacht werden kann, sondern die Pastoraltheologie in eine Theologie der Ämter und Dienste zwingend eingebettet werden muss. 27 Kunz dispensierte die auf das Pfarramt bezogene Pastoraltheologie nicht so grundlegend wie Grethlein, weitete aber in der Tendenz deren Gegenstand über das Pfarramt hinaus auf weitere Ämter und Dienste aus – spätestens dann, als er von einer „Theologie der Pastoral“ 28 sprach. Außerdem zeigte Kunz, in welche Aporien man gerät, wenn man die Pastoraltheologie allein auf das Pfarramt ausrichtet. Die Klage der Überlastung im Pfarramt ist nach Kunz „ein basso continuo“ im Diskurs über das Pfarramt. 29 Pastoraltheologie durchschaue das Versagen des Systems, stelle es aber nicht in Frage und daraus resultiere eine additive Logik. 30 Die Litaneien über die Aufgabenfülle im Pfarramt geben darüber eindrücklich Zeugnis. 31 Sie fordern außerdem dazu auf, Kriterien für eine Selektion zu erarbeiten, worum sich dann Pastoraltheologie bemüht. Allerdings sind diese Antworten wiederum so vielfältig, dass sie keinen allgemeinen Orientierungswert haben können – dies gilt in theologisch-grundlegender wie praktischer Hinsicht. Trotz dieser Analyse stellte Kunz ein „markantes theologisches Defizit“ 32 fest, insofern es einerseits nicht sinnvoll ist vor der gegebenen Pluralität zu kapitulieren und andererseits auf der Ebene der Person und Organisation ein kohärentes Konzept notwendig ist. Die Ebenen von theologischer Grundlegung und organisationaler Umsetzung drohen auseinanderzufallen: 33 Die Diskussion der theologischen und beruflichen Kompetenz(en) hat insofern Signalcharakter für die gegenwärtige Berufsdiskussion, als sich an ihr a) die Problematik einer Amtstheologie ablesen lässt, die nur immer auf CA VII rekurrieren kann und b) die Übersetzungsschwierigkeiten zwischen den Sprach- und Denkwelten der Institution, Organisation und Bewegung offenbart. 34
Kunz plädierte deswegen für eine Entwicklung des Pfarrberufs in drei verschiedene Richtungen und damit eine Spezialisierung der Ausbildung, deren Grundanliegen in allen organisationalen Zweigen die ‚vornehmste Aufgabe‘ beinhalte, nämlich die Unterstützung bei Gabenentdeckung und Ausübung der Getauften
27 28 29 30 31 32 33 34
Kunz (2018), 19. Kunz (2018), 19. Kunz (2018), 6. Kunz (2018), 6. Kunz (2018), 6. Kunz (2018), 12. Kunz (2018), 17. Kunz (2018), 17.
Neuausrichtung der Pastoraltheologie
und denen, die auf dem Weg dahin sind. 35 Darüber hinaus stellte Kunz folgende ‚Schlüsselfrage‘ heraus: Gefragt ist eine Synergetik, die das Zusammenspiel der Dienstgemeinschaft kybernetisch und energetisch entfaltet und dafür plädiert, dass die Ausbildung der Pfarrer und aller kirchlichen Berufe vehementer auf die Bildung der Gemeinde ausgerichtet wird. 36
Diese Ausrichtung des Pfarramts auf die Bildung der Gemeinde in einer Dienstgemeinschaft hin wurde in dieser Arbeit für die ländlich-peripheren Räume Ostdeutschlands auf Basis einer eigenständigen Pastoraltheorie innerhalb der Kirchentheorie entfaltet. Durch die Analyse des Kontexts und theologisch relevanter Bezugspunkte ergab sich – mit Müller gesprochen – eine Pastoraltheologie des Empowerments. 37 Angesichts der ablaufenden Peripherisierungsprozesse ist dieses Empowerment zu präzisieren: „Es geht nicht um Delegation, es geht um Rückerstattung.“ 38 Es geht darum, lokale kirchliche Gemeinschaften zu entwicklen und dabei einen Fokus auf das Predigtamt zu legen, von dem nichts Geringes zu sagen ist, als dass es von Gott als Ordnung der Kirche eingesetzt ist. Eine Kirche im Rückbau wird sich auf ihr missionarisches Wesen fokussieren müssen, um im Rückbau relevante Kirche zu bleiben. Darum ist es zentral, das spezielle Predigtamt in der Kirche, welche der Vergewisserung und Zurüstung der Gemeinde dient, innovativ zu entwicklen. Mit den in dieser Studie ausgearbeiteten Kriterien und Thesen kann in theoretischer und praktischer Hinsicht weiter geforscht werden. Dies wird nötig sein, um einerseits Entwicklungen im Kontext weiterhin zu beobachten, um Modelle darauf hin anzupassen, und andererseits auch um der Ergänzung und Korrektur willen, die jede wissenschaftliche Arbeit nötig hat. In kirchlich-praktischer Hinsicht wäre es ratsam, Fähigkeiten zur Personalentwicklung aufzubauen bzw. vorhandene zu adaptieren, um eine nachhaltige Entwicklung des Predigtamtes strukturell zu fördern und zu unterstützen. Es geht hier um eine Personalentwicklung für Hauptamtliche, ihren Einsatz sowie ihre Vernetzung mit den Ehrenamtlichen. So besteht die Frage, wie und wo eine Schnittstelle für ‚Personalentwicklung‘ und ‚Ehrenamtsmanagement‘ sinnvoll strukturell etabliert werden kann, damit regionale und lokale Gemeinden vernetzt werden können. Der Wert, den die Einbeziehung des Personalwesens zur Erhellung unterschiedlicher Sachverhalte beigetragen hat, konnte zumindest für das Pfarramt in Ostdeutschland ausgearbeitet werden. Eine Vertiefung und Verbreiterung dieses Ansatzes ist nicht nur aus kirchlich-praktischer Sicht wünschenswert, sondern auch ein Pfad, der 35 36 37 38
Kunz (2018), 21. Kunz (2018), 21, Herv. original. Müller (2019). Herbst (2014), 204.
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der Pastoraltheologie künftig helfen könnte, unterschiedliche Berufsgruppen für die Kommunikation des Evangeliums kontextgemäß zu reflektieren. So zeigt sich am Ende der hier angestellten Überlegungen, dass der Diskurs zu den ländlichen Räumen weiterhin viele Fragen für die Forschung bereithält. Der Wert der Erforschung eines spezifischen Kontexts ist nicht nur für diesen Kontext relevant, sondern auch darüber hinaus. Vielleicht bestätigt sich ja dann die Beobachtung Schlegels: Durch die präzise Forschung werden wir herausgefordert, unsere Annahmen zu überprüfen, und lernen, dass die kontextspezifischen Herausforderungen anders gelagert sind, als wir dachten: Diese Herausforderungen zeigen sich nicht allein in der ländlichen Ferne, dem peripheren ‚anderswo‘ [sic], sondern liegen erheblich näher und tasten unsere gedankliche kirchenstrukturelle Komfortzone empfindlich an. 39
In diesem Sinne wird im peripheren, ländlichen Raum Ostdeutschlands durchaus wichtige Forschung für die Zukunft geleistet. Deswegen ist es wünschenswert, dass der wissenschaftliche Diskurs weiter wächst und vermehrt empirische Ergebnisse mit theologischer Tiefenschärfe diskutiert werden.
39 Schlegel (2019), 260.
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