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German Pages 284 [290] Year 2017
Jann Müller
Die Wiederbegründung der Industrieund Handelskammern in Ostdeutschland im Prozess der Wiedervereinigung
Geschichte Franz Steiner Verlag
VSWG – Beiheft 239
Jann Müller Die Wiederbegründung der Industrie- und Handelskammern in Ostdeutschland im Prozess der Wiedervereinigung
vierteljahrschrift für sozialund wirtschaftsgeschichte – beihefte Herausgegeben von Günther Schulz, Jörg Baten, Markus A. Denzel und Gerhard Fouquet
band 239
Jann Müller
Die Wiederbegründung der Industrie- und Handelskammern in Ostdeutschland im Prozess der Wiedervereinigung
Franz Steiner Verlag
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Otto Wolff Stiftung, Köln
Umschlagabbildung: (vordere Reihe): Hauptgeschäftsführerin Elvira Horn (IHK Dresden), DIHT-Vizepräsident Wolfgang Fell (IHK Halle-Dessau) und DIHT-Hauptgeschäftsführer Dr. Franz Schoser am 26. Oktober 1992 auf dem DIHT-Kongress in Dresden. Quelle: RWWA 181-F1021 © Kurt Lauber, Wehrheim Verwendung mit freundlicher Genehmigung von Frau Irmgard Lauber Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2017 Zugl. Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, 2016 Satz: DTP + TEXT Eva Burri, Stuttgart Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11565-0 (Print) ISBN 978-3-515-11566-7 (E-Book)
VORWORT Bei dieser Arbeit handelt es sich um eine korrigierte Fassung meiner Dissertation, die im Dezember 2016 von der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn angenommen wurde. Die Drucklegung gibt mir Anlass und Gelegenheit, all denen zu danken, die meinen Weg begleitet und mich auf unterschiedlichste Weise gefördert und unterstützt haben. An erster Stelle möchte ich meinem Doktorvater Professor Dr. Günther Schulz danken. Er lenkte mein Interesse auf die jüngere Geschichte der ostdeutschen Handelskammern, war mir ein akademischer Lehrer und hat mich in der zurückliegenden Zeit stets ermutigt sowie, wenn nötig, auch angespornt. Herrn Professor Dr. Pål Thonstad Sandvik lernte ich 2014 während seines Gastaufenthalts am Bonner Institut für Geschichtswissenschaft kennen. Er vermittelte mir Freude an Diskussion und gegenseitigem Austausch. Da auch das entfernteste Gebiet sich seinem Interesse auf Dauer nicht entziehen kann, war er gerne bereit, mein Zweitgutachter zu werden. Hierfür danke ich ihm sehr. Mein besonderer Dank gilt Herrn Dr. Franz Schoser, der das Entstehen der Arbeit wohlwollend begleitet hat. Vor allem nahm er sich Zeit für Gedankenaustausch, gab mir hilfreiche Ratschläge und vermittelte mir Gesprächspartner. Sein Interesse galt allein der Sache und ließ in den Höhen und Tiefen der langen Entstehungszeit nie nach. Einen Förderer wie ihn kann man einem jungen Doktoranden nur wünschen, denn ohne seinen verlässlichen Anteil wäre diese Arbeit womöglich nicht erschienen. Freunde und Familie waren mir beim Anfertigen der Arbeit eine ebenfalls unentbehrliche Stütze. Meine Freundin Anja musste länger und zu größeren Teilen für unser beider Auskommen sorgen als uns lieb war. Ihre Liebe sowie ihre Bereitschaft, diesen Weg mit mir zu gehen, verschafften mir die Freiheit, das Projekt zu einem guten Ende zu bringen. Dies werde ich ihr nie vergessen. Unter meinen Freunden war Christoph Bartmann derjenige, der mir am ehesten den Eindruck vermittelte, er könne die Gedankengänge meiner Arbeit auch um vier Uhr morgens noch rekapitulieren. Ich danke ihm für seine geistige Gegenwart sowie für Gelegenheiten zur Zerstreuung, zum Lachen und zum Feiern. Dies gilt nicht weniger für: Helge Baumann, Christian Becker, Verena Jäger, Inga und Ocko Wilken sowie Eva Hanenberg und Dave Zils. Unter ihnen fehlt Kristian Fernholz, der während der Arbeiten verstarb. Nicht nur jetzt erinnere ich mich an ihn als einen meiner besten Freunde. In diese Danksagung möchte ich Herrn PD Dr. Boris Gehlen einschließen, der meinen akademischen Werdegang von Beginn an gefördert und begleitet hat. Dies gilt in gleicher Weise für Frau Dr. Regine Jägers. Sie und Herr Michael Lennackers haben diese Arbeit zudem vorzüglich lektoriert. Zu deren Gelingen haben nicht zuletzt auch diejenigen beigetragen, die die Überlieferung der Vergangenheit ge-
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Vorwort
währleisten und historisches Arbeiten überhaupt erst möglich machen. Mein herzlicher Dank gilt daher Herrn Dr. Ulrich Soénius und Herrn Dr. Jürgen Weise vom RWWA sowie der Mitarbeiter, die mir stets zuvorkommend und konstruktiv zur Seite standen. Hierbei möchte ich auch Frau Veronique Töpel vom SWA Leipzig sowie Frau Tamara Hawich vom Thüringer Wirtschaftsarchiv in Erfurt nicht vergessen, die mir wertvolle Recherchehinweise gaben. Mein Dank gebührt ferner allen Interviewpartnern, die bereit waren, sich meinen Fragen zu stellen, und die mir ihre Zeit geschenkt haben. Abschließend danke ich den Herausgebern der VSWG-Beihefte für die Aufnahme in die Reihe sowie der Otto Wolff Stiftung, die mir ein großzügiges Promotionsstipendium sowie einen Druckkostenzuschuss gewährte. Alfter, im Dezember 2016 Jann Müller
INHALTSVERZEICHNIS 1. 1.1 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.3 1.4 2. 2.1 2.2 2.3 3. 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.1.6 3.1.7 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4
Einleitung ........................................................................................ Thematische Einführung .................................................................. Forschungsstand ............................................................................... Institutionenbildung und Wiedervereinigung in sozialwissenschaftlicher Perspektive.................................................................... Erklärungsansätze zur Entstehung der Industrie- und Handelskammern in der DDR ....................................................................... Kritik und eigene Konzeption .......................................................... Erkenntnisinteresse und Gang der Arbeit ......................................... Quellen .............................................................................................
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Unternehmer und Kammern in SBZ und DDR .......................... Bewältigung der Kriegsfolgen und „Aufbau des Sozialismus“......................................................... Von der Auflösung der „IHK der DDR“ zur Verstaatlichung der mittelständischen Industrie......................... Gewerbepolitik in der Ära Honecker ...............................................
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Die Wiederherstellung der wirtschaftlichen Selbstverwaltung vor der Wiedervereinigung ............................................................ Von Handels- und Gewerbe- zu Industrie- und Handelskammern ... Am Vorabend der Friedlichen Revolution: Eine „Wende“ in der Gewerbepolitik? ............................................. Die Gewerbetreibenden sprechen für sich selbst ............................. Die Absetzung der Direktoren und erste Schritte zur Neuorganisation ...................................................................................... Aus Entfremdeten werden Verbündete: Deutsch-deutsche Begegnung im Kammerwesen ......................................................... Erste IHK-Gründungen in Dresden, Ost-Berlin und Rostock .......... Die deutsch-deutsche Wirtschaftskommission als Meilenstein auf dem Weg zu Industrie- und Handelskammern ........................... Weitere Kammergründungen im Wettlauf mit den Wirtschaftsräten der Bezirke ....................................................................................... Die Vereinigung vor der Einheit: Ein gesamtdeutsches Kammerwesen entsteht .................................................................... Der deutsch-deutsche Marktplatz ..................................................... Die rechtliche Anerkennung der Industrie- und Handelskammern in der DDR ....................................................................................... Die Einrichtung der Kammerpatenschaften ..................................... Die Dachverbandsfrage: Kein „IHT der DDR“ ...............................
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28 32 37 43 43 43 47 50 55 61 65 72 77 77 82 86 90
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3.2.5 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.4 4. 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3
Inhaltsverzeichnis
Der Beitritt der Industrie- und Handelskammern der DDR zum DIHT ........................................................................................ Die Integration der gewerblichen Wirtschaft in die neue Selbstverwaltung ........................................................................................ Wahlen zur Vollversammlung und Konstituierung .......................... Die Bestellung der Hauptgeschäftsführer ........................................ Das Erbe der SED-Diktatur als Integrationshindernis ..................... Ausbau und Finanzierung der hauptamtlichen Stäbe ....................... Die Rolle der westdeutschen Aufbauhelfer ...................................... Die Reorganisation der Wirtschaft als Herausforderung an die Industrie- und Handelskammern ...................................... Industrie- und Handelskammern als Träger staatlicher Aufgaben: Transformation der beruflichen Bildung .......................................... Die Erlangung der Zuständigkeit für die berufliche Bildung ........... Strukturelle Ausgangsbedingungen der Berufsausbildung in Ostdeutschland ............................................................................. Lehrstellenkampagnen und Ausbildungsringe: Industrie- und Handelskammern als Wegweiser und Nothelfer .............................. Standortpolitik und gewerbliches Gesamtinteresse.......................... Staatliche Planung und standortpolitisches Wirken nach der Wiedervereinigung ........................................................................... Stadtentwicklung zwischen Plan und Chaos: Die Suburbanisierung des Handels als Herausforderung an eine gesamtgewerbliche Standortpolitik...................................... Die Entwicklung von städtischem Handel und Gewerbe auf Grundlage des freien Wettbewerbs............................................. Der Konflikt um den Bau der „Südharzautobahn“: Standortpolitik im Wettbewerb der Interessen .......................................................... Aufbau und Förderung des industriellen Mittelstands in den neuen Bundesländern .................................................................................. Reprivatisierungen bis zum 3. Oktober 1990: Strukturpolitik oder Wiedergutmachung? ......................................................................... Die Treuhandanstalt als Akteur beim Aufbau des industriellen Mittelstands ...................................................................................... Das Verhältnis von Industrie- und Handelskammern und Treuhandanstalt ................................................................................ Mittelstandspolitische Forderungen von DIHT und Industrie- und Handelskammern.............................................................................. Industrie- und Handelskammern als Dienstleister der Wirtschaft .... Managementtransfer ......................................................................... Runde Tische zur Unternehmenssicherung ...................................... Außenwirtschaftsberatung................................................................
96 98 98 102 107 116 121 128 128 128 135 140 151 151 154 163 169 172 172 180 188 193 202 202 207 212
Inhaltsverzeichnis
5. 5.1 5.2 5.3 5.3.1 5.3.2 5.4 6.
Strukturelle Merkmale und Entwicklungen der ostdeutschen Industrie- und Handelskammern ................................................. Der Zuschnitt der Kammerbezirke und die Vertretung in der Fläche ..................................................................................... Überregionale Zusammenarbeit ....................................................... Rückkehr ins Zentrum: Rückgabe und Neubau von Kammergebäuden........................................................................................... Der Kampf um die Restitution enteigneter Gebäude ....................... Neubau von Kammergebäuden ........................................................ Industrie- und Handelskammern als Träger kultureller Einrichtungen ...................................................................................
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216 216 225 228 228 236 237
Zwischen politischer Partizipation und Hilfe zur Selbsthilfe: Die wirtschaftliche Selbstverwaltung als Organisation des Unternehmertums in den neuen Bundesländern......................... 249
Anhang ............................................................................................................. Abkürzungsverzeichnis .................................................................... Quellenverzeichnis ........................................................................... Archive ............................................................................................. Akteneditionen ................................................................................. Interviews ......................................................................................... Presse................................................................................................ Parlamentarische Drucksachen ........................................................ Gesetz- und Verordnungsblätter ....................................................... Literaturverzeichnis..........................................................................
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Register ............................................................................................................ Personen ........................................................................................... Sachen .............................................................................................. Länder und Orte ...............................................................................
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1. EINLEITUNG 1.1 THEMATISCHE EINFÜHRUNG Industrie- und Handelskammern (IHKn) sind sowohl Interessenvertretungen der gewerblichen Wirtschaft als auch staatliche Aufgabenträger. Diese Simultanfunktion wurde bereits im 19. Jahrhundert zu ihrem wichtigsten Kennzeichen.1 In das darauffolgende Jahrhundert fielen indes Ereignisse, die die IHKn nicht nur auf eine lange, sondern auch auf eine wechselvolle Vergangenheit zurückblicken lassen: In der Spätphase des Zweiten Weltkriegs hatten die Nationalsozialisten die Selbstverwaltungsorgane der Wirtschaft aufgelöst; sie implementierten Kommandostrukturen, die dazu dienten, die Kriegswirtschaft zu lenken. Aus diesem Grund waren 1942 „Gauwirtschaftskammern“ an Stelle der IHKn und der Handwerkskammern errichtet worden. Der Krieg endete mit der Teilung Deutschlands in zwei Staaten, die je antagonistischen Machtblöcken angehörten und gegensätzliche politische Systeme ausbildeten. In unmittelbarer Nachkriegszeit war es noch zu spontanen Wiederbelebungen von IHKn gekommen – in allen Besatzungszonen. Sie entstanden ohne äußeren Anstoß und dienten erneut als wirtschaftliche Selbst- sowie als Notverwaltung.2 Die fortschreitende Teilung von Ost und West machte sich allerdings bald auch im Kammerwesen bemerkbar. Mit dem „Gesetz zur vorläufigen Regelung des Rechts der Industrie- und Handelskammern“ (IHKG) von 1956 knüpfte man in der Bundesrepublik an das Kammerrecht der Weimarer Zeit an.3 In einer jeden IHK war die demokratisch gewählte Vollversammlung das höchste Beschlussorgan. Diese bestimmte einen ehrenamtlichen Präsidenten sowie einen 1
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Mancherorts hatte es ständische Korporationen gegeben, die schon früher die Eigenbezeichnung „Handelskammer“ geführt hatten. Erst im 19. Jahrhundert entstanden allerdings Kammern, die sowohl Träger hoheitlicher Aufgaben als auch gewerbliche Gesamtinteressenvertretungen waren und deren Simultanfunktion das deutsche Kammerwesen in nachfolgender Zeit zunehmend prägen sollte. Kammern dieses Typs traten erstmals in den westlichen Provinzen Preußens in Erscheinung. Sie entstanden in Gebieten, die 1815 zur Hohenzollernmonarchie gekommen waren und in denen sich das Rechtswesen unter französischem Einfluss entwickelt hatte. Gegen Ende des Jahrhunderts breiteten sich die Handelskammern innerhalb Preußens gen Osten aus; auch in anderen Ländern des sich einenden Deutschlands wirkte die Kammer „preußischen Typs“ vorbildhaft. In die Zeit der Weimarer Republik fiel die letzte von mehreren Entwicklungsphasen bei der Herausbildung der heute bestehenden IHKn. Ihre offizielle Bezeichnung lautete nunmehr Industrie- und Handelskammer – eine späte Anerkennung der im Zuge der Industrialisierung geschaffenen Fakten. Zu den Zielen des Weimarer Kammergesetzes zählte u. a. eine Verbesserung der Leistungsfähigkeit. Vergrößerung und Professionalisierung steigerten die Bedeutung hauptamtlicher Kammerfunktionäre; der Hauptgeschäftsführer einer IHK vertrat diese von nun an gleichberechtigt mit dem Präsidenten nach außen. Vgl. Jäkel/Junge: Industrie- und Handelskammern, S. 9 ff. Vgl. Weise, Kammern, S. 65. Vgl. Will, Selbstverwaltung, S. 368 ff.
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1. Einleitung
Hauptgeschäftsführer, die die Kammer gemeinsam nach Außen vertraten. Die IHKn waren öffentlich-rechtlich verfasst und nahmen ausschließlich unternehmerische Interessen wahr.4 In der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) war der aus freien Stücken begonnene Wiederaufbau von IHKn geduldetet worden.5 Mithin entwickelte sich das nachmalige Kammerwesen der DDR aus den gleichen Ursprüngen wie jenes in der Bundesrepublik. Es war allerdings mehrfachen tiefgreifenden Umgestaltungen unterworfen. Um kriegsbedingte Versorgungsprobleme zu lösen, ließ die sowjetische Besatzungsmacht frühere lokale Eliten in Entscheidungspositionen zurückkehren, sofern sie keine Repräsentanten des NS-Staates gewesen waren. Nach einer Übergangsphase mussten die Honoratioren dem Herrschaftsanspruch der SED allerdings zunehmend weichen.6 Vorhandene Institutionen wurden im Zuge der Errichtung einer neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung stark verändert und ihrem ursprünglichen Zweck nicht selten entfremdet. Dies galt auch für die Kammern, die ihre hergebrachte Bezeichnung bis 1983 führten und seither offiziell „Handels- und Gewerbekammern“ (HGKn) hießen. Mit den bundesdeutschen IHKn teilten sie nur noch wenige Gemeinsamkeiten. Der Direktor einer HGK wurde vom Rat des Bezirks, der mittleren Verwaltungsbehörde in der DDR, berufen. Den Gewerbekammern gehörten ausschließlich private Handels- und Gewerbebetriebe an. Deren Tätigkeit waren in der DDR enge Grenzen gesteckt. Aus diesem Grund waren auch die Kammern nur für einen kleinen Teil der Wirtschaft zuständig und traten öffentlich kaum in Erscheinung. Ihre Aufgabe bestand weniger darin, die Interessen der selbstständigen Kleingewerbetreibenden zu vertreten, als diese unter die Kuratel des Staates zu stellen. Der Fall des Eisernen Vorhangs beendete auch die Zweiförmigkeit des Kammerwesens in Deutschland. Die DDR übernahm im März 1990 per Verordnung zahlreiche Bestimmungen des IHKG.7 Die neu gebildeten IHKn traten wenige Wochen darauf dem bundesdeutschen IHK-Spitzenverband bei. Dieser Zusammenschluss unter dem Dach des Deutschen Industrie- und Handelstages (DIHT) erfolgte bereits in Erwartung der staatlichen Vereinigung Deutschlands, der er zeitlich vorauslief. Der DIHT übernahm eine Koordinierungsfunktion beim Aufbau der ostdeutschen IHKn, welche ferner von umfangreichen materiellen und personellen Unterstützungsleistungen westdeutscher Kammern profitierten.
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Der Verabschiedung des IHGK ging eine Auseinandersetzung zwischen Gewerkschaften und Unternehmern voraus. Der Zusatz „vorläufig“ im Titel des Gesetzes dokumentierte, dass hinsichtlich einer von der Arbeitnehmerseite geforderten paritätischen Mitsprache keine Einigung erzielt worden war. Vgl. Groser/Sack/Schroeder, Industrie- und Handelskammern, S. 71. Vgl. Großbölting, SED-Diktatur, S 299. Vgl. Großbölting, Rückgrat. Vgl. Frentzel/Jäkel, Industrie- und Handelskammergesetz, S. 4.
1.2 Forschungsstand
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1.2 FORSCHUNGSSTAND 1.2.1 Institutionenbildung und Wiedervereinigung in sozialwissenschaftlicher Perspektive Die Zusammenarbeit mit westdeutschen Kammern hatte den IHKn in Ostdeutschland Startvorteile verschafft: Sie „haben mit am schnellsten funktioniert“8, wie schon zeitnah beobachtet worden ist. In der Forschung zum institutionellen Wandel in den vormals kommunistisch beherrschten Staaten Ost- und Mitteleuropas wurde der Zusammenfall von institutionellem Neuaufbau und deutscher Wiedervereinigung nichtsdestoweniger kritisch beurteilt. In Anbetracht der Übernahme der institutionellen Strukturen Westdeutschlands durch die DDR folgte das Gros der deutschen Sozialwissenschaftler einem Forschungsparadigma, das maßgeblich zur Erklärung nicht-intendierter Nebeneffekte von Systemtransformationen diente.9 International dominierte ein „transition to democracy“-Ansatz, der das Handeln starker Akteure bei der Überwindung autoritärer Regime betonte.10 Die deutsche Forschung wandte sich demgegenüber der Angemessenheit der neu geschaffenen Strukturen zu. Ihr Interesse galt sowohl potentiellen, in der ostdeutschen Gesellschaft verankerten Transformationshindernissen als auch nicht intendierten Effekten des Imports der westdeutschen Institutionenstruktur. Unvorhergesehene Resultate galten als Preis dafür, dass sich die Akteure frühzeitig auf ein spezifisches – originär westdeutsches – Demokratiemodell festgelegt hatten. Bei der Untersuchung des ostdeutschen Transformationsfalls schien es daher vergleichsweise uninteressant zu sein, welche Rolle den Akteuren im Einzelnen zukam und welche Zielvorstellungen sie im Hinblick auf die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft einbrachten. Für das Endergebnis schien dies keine Relevanz zu haben. Es wurde gemeinhin erwartet, dass die DDR sich in sozialer, gesellschaftlicher und politischer Hinsicht an die Verhältnisse der Bundesrepublik anpassen würde. In der sozialwissenschaftlichen Diskussion herrschte die Auffassung vor, dass Ostdeutschland Ziel eines „Institutionentransfers“ geworden sei.11 Die Urheberschaft dieses Begriffs beanspruchte Lehmbruch; er verstand ihn indessen nicht als Inbegriff für die ostdeutsche Institutionenbildung schlechthin. Ursprünglich hatte er ihn verwendet, um die Übernahme „administrativer“ und „ökonomischer“ Institutionen der Bundesrepublik durch die DDR zu beschreiben.12 In der Literatur zur Wiedervereinigung wurde der Terminus binnen kurzer Zeit vielfach rezipiert. Lehmbruch befand, dass seine wissenschaftlichen Intentionen im Zuge dessen zu 8 9
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Haag, Bedeutung, S. 10. Die Ansätze und Erträge der sozialwissenschaftlichen Transformationsforschung sind zwischenzeitig selbst vermehrt Gegenstand kritischer Reflektion geworden. Die deutsche Forschung widmete sich vorwiegend dem ostdeutschen Transformationsfall. Dabei gab es durchaus Hoffnungen, eine „allgemeine Theorie der Transformation“ entwerfen zu können. Vgl. Weingarz, Laboratorium, S. 55. Vgl. Segert, Transformationen, S. 151. Vgl. Weingarz, Laboratorium, S. 83 f. Lehmbruch verwendete den Begriff erstmals 1991 in einem Vortrag, der später in gedruckter Fassung erschien: Lehmbruch, Institutionentransfer, S. 42 f.
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1. Einleitung
wenig gewürdigt worden seien. Dies veranlasste ihn, seinen Standpunkt zu konkretisieren: Institutionentransfer sei als „Übertragung der westdeutschen Wirtschaftsund Sozialordnung durch den ersten Staatsvertrag und […] weitgehende Übertragung der spezifischen sektoralen Institutionen im zweiten Staatsvertrag“13 zu verstehen, die „durch die Übertragung des westdeutschen Verwaltungsverfahrens“ flankiert worden sei. Nach Lehmbruch lag dem eine strategische Entscheidung zugrunde, die einen für Ostdeutschland spezifischen Pfad des Übergangs zu Demokratie und Marktwirtschaft begründet habe. Die Entscheidungsträger – die „führenden Akteure des Vereinigungsprozesses“14 – wählten eine Logik der Vereinfachung, da sie mit einer überkomplexen Entscheidungssituation konfrontiert gewesen seien; der Zusammenbruch der DDR habe zu einer „hochgradig krisenhaften Situation“ geführt. Der Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland nach Art. 23 GG habe es erleichtert, Probleme zu bearbeiten. Die Vielzahl der Gestaltungsoptionen sei so dezimiert und Entscheidungsprozesse seien zentralisiert worden. Beim Institutionentransfer handelte es sich um eine strategische Option, über die Akteure in anderen Transformationsstaaten Mittel- und Osteuropas nicht verfügen konnten.15 Der ostdeutsche Transformationspfad bot Lehmbruchs Überzeugung nach kurzfristige Vorteile, die mit langfristigen Nachteilen erkauft wurden: Entscheidungsvorbereitende Abklärungs- und Anpassungsprozesse seien unterblieben – nicht zuletzt einem Mangel an Zeit geschuldet. Bei Fragen zur künftigen wirtschaftlichen und sozialen Ordnung habe es daher ein Konsensdefizit gegeben, namentlich zwischen den neuen Eliten der DDR sowie den westdeutschen Eliten.16 Weiterhin rechnete Lehmbruch mit nicht intendierten Folgen, da die Zentralisierung von Entscheidungen zu Informations- und Koordinationsdefiziten geführt habe. Gleichwohl wandte er sich dezidiert gegen frühere DDR-Bürgerrechtler, die den Institutionentransfer vereinigungskritisch auslegten, z. T. gar eine „Kolonialisierung“ des neuen Ostens beklagten. Ebenfalls grenzte Lehmbruch die Logik des Transfers gegen Positionen in der Wissenschaft ab, die, wie etwa Reißig, von einer „weitgehenden Überstülpung des westdeutschen Modells“17 ausgingen: Die Errichtung parlamentarisch-demokratischer Basisinstitutionen sei auf eine „autonome Entscheidung der neuen ostdeutschen politischen Eliten“18 hin erfolgt, welche „im wesentlichen ohne westdeutsche Intervention“ zustande gekommen sei.
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Lehmbruch, Transformation, S. 65. Ebd. S. 66. Nicht wenige Autoren sahen im „Institutionentransfer“ die Ursache für spätere „Anpassungs-“ und „Orientierungsschwierigkeiten“ der „neuen“ ostdeutschen Bundesbürger. In erster Linie wird dies auf eine fehlende Milieubindung politischer Parteien sowie auf Schwächen der Bürgergesellschaft bezogen. Hierbei handelt es sich freilich um Erscheinungen, die sich auch in anderen mittel- und osteuropäischen „Transformationsstaaten“ beobachten und auch hier als Begleiterscheinungen der Institutionenbildung deuten ließen. Auch in diesen Staaten hatte es Anleihen bei westlichen Vorbildern gegeben – mithin in einigen Bereichen einen Transfer organisatorischer Grundmuster. Lehmbruch, Transformation, S. 67. Reißig, Umbruch, S. 41. Lehmbruch, Transformation, S. 65.
1.2 Forschungsstand
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Lehmbruch wollte den Institutionentransfer als Strategie definiert wissen, deren Reichweite sich auf die in den Staatsverträgen genannten Institutionen erstreckte. Deshalb hob er hervor, dass es persistente Elemente der eigenständigen Systemüberwindung gebe. So müsse man etwa die Wiederherstellung der Kommunalautonomie „der endogenen Transformation“19 zurechnen. Der institutionelle Wandel Ostdeutschlands erschien somit als Prozess, der sich insgesamt auf die souveräne Selbstbestimmung der Bürger der DDR zurückführen ließ. Die Logik des Institutionentransfers war dabei nur partiell wirksam. Dies immunisierte sie freilich nicht gegen Kritik. Aus Lehmbruchs Sicht war es den Nachteilen dieser Strategie geschuldet, dass der Aufbau staatlicher Strukturen in Ostdeutschland im Hinblick auf Konsens, Information und Steuerung z. T. gravierende Mängel aufwies. Dabei handelte es sich um sekundäre Defizite, die sich gleichwohl als problematisch erweisen konnten – nicht zuletzt für die Legitimation der neuen Institutionen.20 Die Klarstellungen des Urhebers taten der Beliebtheit „seines“ Begriffs keinen Abbruch. In der Forschung zum politischen und sozialen Wandel in den neuen Bundesländern wurde intensiv diskutiert, welche Folgen der Transfer für die ostdeutsche Gesellschaft haben würde. Die Institutionenübertragung, so die mehrheitliche Meinung, hatte Ostdeutschland zu einem besonderen Transformationsfall gemacht.21 Diese Besonderheit schien darin zu bestehen, dass quasi über Nacht ein neuer normativer Rahmen geschaffen worden war, in dem sich gesellschaftliches Handeln abspielte. Allerdings würde sich später erst herausstellen, ob Sozialisationsprozesse in Gang gekommen waren, deren Verlauf zeigen sollte, ob das neue Institutionengefüge stabil war. Über die Frage der Angemessenheit konnte daher erst in langfristiger Perspektive geurteilt werden. Ob es sich bei dieser Problematik tatsächlich um ein Alleinstellungsmerkmal der ostdeutschen Transformation handelte – ob sie also ein Spezifikum des Institutionentransfers war –, kann gleichwohl bezweifelt werden. Eisen jedenfalls stufte sowohl den Institutionentransfer als auch die „Institutionenbildung im Transformationsprozeß“22 – mithin die Entwicklung in den Staaten Mittel- und Osteuropas – als „Sonderfälle institutionellen Wandels“ ein. Tatsachenwidrig behauptete er, Institutionentransfer sei vom Begriffsurheber als „Übertragung von Basismustern des politisch-administrativen Systems der Bundesrepublik Deutschland nach Ostdeutschland“23 definiert worden.24 Er plädierte dafür, die Institutionenbildung in Ostdeutschland aus institutionalistischer Sicht zu 19 20
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Ebd. S. 75. Lehmbruchs Argumentation zielte vorrangig auf die Rationalität der politischen Strategie, die der Beitrittslösung zugrunde gelegen hatte. Er vertrat die Auffassung, dass diese auf demokratischem Wege zustande gekommen war. Sekundäre Defizite bedeuteten gleichwohl, dass die ursprüngliche Intention sowie das Ergebnis der gewählten Strategie auseinandergingen. Da demokratische Legitimation auf dem Prinzip beruht, dass Erstere und Letzteres übereinstimmen, ergibt sich ein – zumindest nachträgliches – Defizit. Vgl. Weingarz, Laboratorium, S. 84. Eisen, Institutionenbildung, S. 33. Ebd. Lehmbruch hatte verallgemeinernd von einem Transfer „ökonomischer“ und „administrativer“ Institutionen gesprochen, wollte dabei aber auf konkrete, in den deutsch-deutschen Staatsverträgen präzisierte Behörden hinaus. Die Errichtung der „Basisinstitutionen der parlamentari-
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1. Einleitung
betrachten. Es müsse eine „Zusammenschau struktureller und kultureller Dimensionen politischer und administrativer Institutionen“25 angestrebt werden. Eisen interpretierte das Konzept des Institutionentransfers in einer Art und Weise, die es für neo-institutionalistische Forschungsansätze fruchtbar machte. Dies führte zu einer Erweiterung, die die analytische Eindeutigkeit erheblich einschränkte. Im Zuge der Wiedervereinigung war es nicht nur zu einer Übertragung administrativer Institutionen gekommen; im Bereich nichtstaatlicher Organisationen wurde das Beitrittsgebiet ebenfalls in bestehende, originär westdeutsche Strukturen integriert. Auch hierbei entstanden Unterorganisationen nach westdeutschem Vorbild. Aus neo-institutionalistischer Perspektive ließen sich auch Parteien und Verbände – sogar korporatistische Verhandlungssysteme – als politische Institutionen begreifen. Institutionentransfer erschien so kaum noch als distinkte Strategie, die im Rahmen der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion sowie dem Einigungsvertrag zum Zuge gekommen war. Infolgedessen ließ sich nicht nur der Logik, sondern auch den Defiziten des Transfers eine größere Reichweite unterstellen: Eisen bezeichnete die Genese des „politisch-administrativen Institutionensystems“ in Ostdeutschland als „strukturelle Transplantation“26, die unter Inkaufnahme sozio-kultureller „Abstoßungsrisiken“27 erfolgt sei. Obwohl es gerade für die letzte Behauptung an sichtbaren Indizien fehlte, ging er auch nach 1994 noch von „gravierenden politischen Legitimationsdefiziten“28 aus sowie von der Möglichkeit eines „relativen Scheiterns der institutionellen Transformation“ in Ostdeutschland. Die Hypothese eines Misslingens des institutionellen Wandels rekurrierte auf einen Topos, der in der Literatur zur Wiedervereinigung weit verbreitet war: Die politisch-kulturelle Prägung der ostdeutschen Bevölkerung war demzufolge eine ernstzunehmende Transformationsbarriere.29 Mentale Vorprägungen dienten zu Beginn der 1990er Jahre als Argument, um pessimistische Prognosen zur Entwicklung mittel- und osteuropäischer Staaten zu begründen. Das Argument erwies sich als persistent und musste auch Jahre später noch „als Erklärung für ‚Kalamitäten‘ aller Art“30 sowie „als Grund für diffuse Zweifel an der ‚endgültigen‘ Konsolidierung von Marktwirtschaft und Demokratie“ herhalten – und dies „selbst in den fortge-
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schen Demokratie“ (Lehmbruch, Transformation, S. 65) deutete er ausdrücklich nicht als „Institutionentransfer“. Eisen, Institutionenbildung, S. 35. Ebd. S. 40. Die Analogie von Institutionenbildung und Transplantationsmedizin war in der sozialwissenschaftlichen Forschung zum sozialen Wandel in Ostdeutschland weit verbreitet. Als Ideengeber können Giesen und Leggewie gelten, die 1991 postulierten, dass die Wiedervereinigung Deutschland zu einem „der größten sozialen Laboratorien der jüngsten Geschichte“ machen werde (Giesen/Leggewie, Experiment, S. 7). Offe griff dieses Bild auf und ging hypothetisch davon aus, dass „Abstoßungsreaktionen“ infolge der Institutionenübertragung von West nach Ost möglich seien. Offe, Tunnel, S. 47. Bei einer „zwar noch fragilen, aber dennoch eindeutigen generellen Legitimität“ der politischen Institutionen, welche „kaum mehr grundsätzlich in Frage gestellt“ würden. Eisen, Institutionenbildung, S. 39. Bönker/Wielgohs, Kultur, S. 223. Ebd.
1.2 Forschungsstand
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schrittenen Transformationsländern“, wie Bönker und Wielgohs kritisieren. Diese Sichtweise, die sie als „kulturalistisch-pessimistisch“ charakterisieren, wies Schwächen auf; sie unterstellte etwa, dass der Staatssozialismus ein kohärentes kulturelles Erbe hinterließ.31 Hergebrachte Orientierungen in der ostdeutschen Bevölkerung werden inzwischen differenzierter betrachtet. Aktuellere Arbeiten zur gesellschaftlichen Entwicklung in Ostdeutschland zeichnen ein mehrschichtiges Bild: „Manches aus diesem ‚Erbgut‘ erwies sich als bereichernd für den Aufbau Ost“32, wie etwa im Rahmen des 2012 abgeschlossenen Sonderforschungsbereichs 580 der Universitäten Jena und Halle festgestellt werden konnte. 1.2.2 Erklärungsansätze zur Entstehung der Industrie- und Handelskammern in der DDR Die IHKn stechen aus der Institutionenbildung in Ostdeutschland heraus: Im Vergleich mit anderen Institutionen traten sie schon früh in Erscheinung. Ihre Gründung war zudem von regionalen Unterschieden gekennzeichnet. Dies erschwert es, die Entstehung der Kammern innerhalb etablierter Konzepte zu deuten. Jene stellen zwei Momente heraus, die bei der Bildung neuer Institutionen in Ostdeutschland richtungweisend waren: die politische Logik der Wiedervereinigung sowie, in Anhängigkeit davon, die Zentralisierung von Entscheidungsprozessen. Schmidt-Trenz machte demgegenüber darauf aufmerksam, dass der Kammerverordnung freie Gründungen von Kammern vorausgegangen waren, deren Protagonisten für eine Anerkennung als öffentlich-rechtliche Körperschaft eintraten. Die Idee, die alten HGKn durch „vom Staat unabhängige, demokratisch legitimierte Industrie- und Handelskammern mit gesetzlicher Mitgliedschaft“33 zu ersetzen, so Schmidt-Trenz, habe sich „unmittelbar“ durchgesetzt. Eine spätere, umfassende Studie zu den IHKn in den neuen Bundesländern stammt von Diederich, Haag und Cadel. Sie definierten IHKn als intermediäre Institutionen, die sowohl intrasektorale Regulations- als auch gesamtgesellschaftliche Vermittlungsfunktionen übernehmen.34 In Anlehnung an Pirker sahen die Soziologen im Fehlen intermediärer Institutionen die Hauptursache einer institutionellen Insuffizienz, die für die kommunistischen Herrschaftssysteme in Osteuropa kennzeichnend gewesen sei. Dies habe letztendlich zu deren Zusammenbruch geführt.35 Auch die SED hatte demzufolge intermediäre Institutionen verdrängt, als sie ihre Prärogative durchsetzte. Nach dem Kollaps des Regimes waren die handelnden Akteure mit dem Erfordernis konfrontiert, regulative und interessenvermittelnde Institutionen wiederaufzubauen, da sich moderne Gesellschaften in Anbetracht wachsender Komplexität andernfalls nicht würden regieren lassen. Die Übertragung der westdeutschen IHKn auf die DDR habe letztlich diesem Ziel gedient. Die Analyse von Diederich, Haag und Cadel fußte auf institutionentheoretischen 31 32 33 34 35
Vgl. ebd. S. 232. Best/Holtmann, Wege, S. 15. Schmidt-Trenz, Systemwandel, S. 159. Vgl. Diederich/Haag/Cadel, Industrie- und Handelskammern, S. 28. Vgl. Pirker, Restauration.
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1. Einleitung
Grundannahmen. Diese wurden anhand von fünf Fallbeispielen überprüft, die exemplarisch für jeweilige regionale Strukturtypen waren.36 Die Gründung der IHKn deuteten die Autoren als „Rückgriff auf bereits vorhandene Handlungsmuster, welche in Form erprobter Organisationskonzepte“37 von westdeutschen Kammern angeboten worden seien. Zu dieser Entscheidung habe beigetragen, dass die Akteure unter großer Handlungsunsicherheit und hohem Entscheidungsdruck gestanden hätten. Die Autoren traten der von Schmidt-Trenz verfochtenen Auffassung entgegen, es habe im Hinblick auf die Ausgestaltung der Wirtschaftsvertretung frühzeitig Einhelligkeit geherrscht. Parallel zur Erosion der Institutionen des SED-Staates sei es zu „ersten Ansätzen einer Selbstorganisation von Wirtschaftsakteuren“38 gekommen. Dabei habe es sich um einen offenen Prozess der Interessenformulierung gehandelt. Unter Beteiligung „höchst heterogener Akteursgruppen“ sei schlussendlich entschieden worden, einen „Transfer der ‚Selbstorganisation der Wirtschaft‘ durch Industrie- und Handelskammern nach bundesdeutschem Muster“39 vorzunehmen. Diederich, Haag und Cadel schrieben der Übertragungsentscheidung ähnliche Merkmale zu, wie Lehmbruch sie beim Institutionentransfer für charakteristisch erachtet hatte: Hauptmotiv des Transfers war der Wunsch der Akteure nach einer Vereinfachung von Komplexität, welcher sekundäre Rationalitäts- und Legitimationsdefizite nach sich zog: Für die Gründungsakteure aus dem Kreis der Selbstständigen der DDR habe etwa die sogenannte Pflichtmitgliedschaft eine „so nicht gewollte Einschränkung der Handlungsspielräume“40 bedeutet. Die hier anklingende These eines Legitimationsdefizits beruhte auf einer pessimistischen Bewertung der kulturellen Voraussetzungen der Gründungsunternehmer.41 Die von Staatssozialismus geprägten Unternehmer verfügten demnach über kein Erfahrungswissen, durch das sie mit den westdeutschen Experten ebenbürtig an der Gründung der Kammern hätten mitwirken können. Diese zumindest angedeutete Skepsis kann aus heutiger Sicht zurückgewiesen werden: Speziell in Bezug auf Repräsentanten der Wirtschaft erwies sich die Theorie kultureller Voraussetzungsdefizite als unzutreffend. Das Bild, wonach Leiter der sozialistischen Wirtschaft vorrangig Befehlsempfänger der zentralen Planungsbürokratie gewesen seien, ist inzwischen revidiert worden.42 In begrenztem Maße hatte ein ideologiefreies ökonomisches Expertentum in der DDR auch deshalb fortbestehen können, da industriewirtschaftliche und technologische 36 37 38 39 40 41 42
Den Strukturtypen „dominantes Zentrum“, „altindustrieller Standort“, „strukturschwache Region“, „traditionell mittelständische Region“ sowie „ländliche Region“ entsprachen die Fallbeispiele Leipzig, Halle-Dessau, Frankfurt (Oder), Suhl sowie Neubrandenburg. Diederich/Haag/Cadel, Industrie- und Handelskammern, S. 49. Ebd. S. 57. Ebd. S. 58. Ebd. In Anbetracht der 40-jährigen Herrschaft der SED würden die „neu gebildeten Institutionen zunächst in relativer Abkopplung von der individuellen Lebenserfahrung und biographischen Identitätsformung der vormaligen DDR-Bürger“ bestehen. Ebd. S. 33. Sozialistische Betriebsleiter verfügten über Spielräume, um die Gestaltung von Planvorgaben zu beeinflussen. Mithin waren auch sie in der Lage, auf Anreize zu reagieren. Vgl. Pohlmann/ Meinerz/Gergs, Manager, S. 48.
1.2 Forschungsstand
19
Prozesse ein Eigengewicht behielten.43 Das Szenario des „Kapitalismus ohne Kapitalisten“ hatte jedenfalls keine Relevanz für die neuen Länder.44 1.2.3 Kritik und eigene Konzeption Der sozialwissenschaftliche Erklärungsansatz weist „blinde Flecken“ auf. Vor allem die These vom Institutionentransfer mit sekundären Rationalitätsdefiziten kann die Entstehung der IHKn in der DDR nur unzureichend erklären. Zum einen, da es sich beim behaupteten Mangel an „kulturellen Voraussetzungen“ um ein pauschales Vorurteil handelt, das als empirisch widerlegt gelten kann; zum anderen führt eine derartige Perspektive dazu, dass die inneren Dynamiken in der untergehenden DDR analytisch vernachlässigt werden. Dies wird bereits mit Blick auf den Kontext deutlich, in dem die Einführung der IHKn stand: Während beim Beitritt zur Bundesrepublik nach Art. 23 GG ein Ziel darin lag, den Vereinigungsprozess zu beschleunigen sowie die Wirtschaft der DDR zu konsolidieren, lehnte die reformsozialistische Modrow-Regierung, die die Kammerverordnung erlassen hatte, eine Angleichung der DDR an die wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse der Bundesrepublik ab. Es bleibt somit weitgehend im Unklaren, welche politischen Absichten es gegeben haben könnte, um deren Willen „Handlungskomplexität“ hätte reduziert werden sollen.45 Das vorrangige Ziel bei der Einrichtung der Kammern lag nicht per se darin, institutionelle Strukturen an westliche Muster anzugleichen. Vielmehr reagierte die Modrow-Regierung auf Druck, der von diversen regionalen Gründungsinitiativen ausging. In Dresden, Berlin und Rostock hatten sich Mitte Januar 1990 in enger Aufeinanderfolge IHKn nach westdeutschem Vorbild gegründet. Die beteiligten Akteure traten mit dem Ziel an, das gesamte Kammerwesen der DDR zu verändern. Ihrem Beispiel folgte alsbald die flächendeckende Gründung von IHKn, noch vor Einführung der Kammerverordnung. Diese lokalen Initiativen zeigen, dass die Forderung, Kammern nach bundesdeutschem Vorbild zu errichten, politisch von elementarer Tragweite war. Das Geschehen sollte daher – stärker als bislang – im Kontext der inneren Entwicklung der DDR seit dem Herbst 1989 betrachtet werden. In der Gründung der IHKn spiegelte sich der Anspruch der Bevölkerung auf gesellschaftliche Selbstbestimmung. Die SED hatte den Staat als „Hauptinstrument“ zur Verwirklichung des Sozialismus angesehen. Zu diesem Zweck hatte sie ein einheitliches staatliches Befehlsund Subordinationsgefüge geschaffen. Kammern sind in erster Linie Träger hoheitlicher Aufgaben; in gewisser Hinsicht traten sie daher die Nachfolge des alten poli43
44 45
Großbölting, Unternehmer, S. 168. Oder anders formuliert: Im Zuge der Sozialisierungen war ein Ingenieur bzw. ein naturwissenschaftlich ausgebildeter Fabrikant aus Sicht der SED weit schwieriger zu ersetzen als ein Hotelier bzw. Bauer. Owzar vergleicht naturwissenschaftlichtechnische Experten daher mit der Ärzteschaft, die dem Herrschaftsanspruch der SED aufgrund ihres spezifischen Wissens ebenfalls nicht völlig ausgeliefert war. Owzar, Verlustgeschichte, S. 180 f. Vgl. Martens/Lungwitz, Leiter, S. 104 f. Abgesehen vom teleologischen Ziel, intermediäre Institutionen wiederaufbauen zu müssen.
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1. Einleitung
tisch-administrativen Systems an. Dieses war nicht nur kollabiert, sondern im Zuge seines Zusammenbruchs auch umfassend de-legitimiert worden. Beim Übergang zu einer neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zählte es zu den ersten Schritten, legislative, exekutive und judikative Gewalt zu teilen und die zentralisierte Macht der Verwaltung zu spalten.46 Letzteres geschah zuerst durch die Wiederherstellung der Kommunalautonomie. Forderungen nach einer Rückkehr zum Föderalismus waren darüber hinaus bereits Ende 1989 vernehmbar.47 In diese erste Phase der Neugestaltung der Verwaltungsorganisation fiel auch die Gründung der Kammern, die als Selbstverwaltungskörperschaften nicht an Weisungen gebunden waren. Auch sie durchbrachen die strikte Einheit der Staatsgewalt, die für den SEDStaat kennzeichnend gewesen war. Mithin war ihre Errichtung mehr als nur eine Reaktion auf eine „Umbruchsituation“48 – sie war selbst ein Element dieses Umbruchs. Die Gründung der IHKn weist allerdings über die Forderung nach souveräner Selbstbestimmung des Volkes hinaus. Die funktionale Selbstverwaltung – etwa in IHKn – weist kategorische Unterschiede zur gebietskörperschaftlichen Selbstverwaltung auf: Letztere ergibt sich unmittelbar aus dem Prinzip der Volkssouveränität; das Grundgesetz z. B. definiert den Souverän als Trias – als Staatsvolk sowie als „Teilvölker“ in Ländern und Kommunen. Mitglieder von Trägern der funktionalen Selbstverwaltung genießen keine vergleichbare verfassungsrechtliche Anerkennung; seit den 1990er Jahren wurde in Anbetracht dessen intensiv diskutiert, ob und wie die funktionale Selbstverwaltung mit dem föderal-dezentralen Demokratiekonzept des Grundgesetzes vereinbar ist.49 Nach Kluth ähnelt die Errichtung eines Trägers der funktionalen Selbstverwaltung der Bestellung eines Amtswalters durch Vertreter des Staatsvolks: In beiden Fällen kommt es zu einer Übertragung von Entscheidungsfreiräumen, für die eine personelle Vermittlung von Legitimation erforderlich ist.50 Bei Selbstverwaltungs46 47 48 49
50
Vgl. König, Transformation, S. 37. Parteien und Verbände gründeten Landesverbände, ehe es die entsprechenden Länder gab. Sie orientierten sich dabei am territorialen Zuschnitt von 1952. Vgl. Rödder, Deutschland, S. 334. Diederich/Haag/Cadel, Industrie- und Handelskammern, S. 58. Die Ursprünge dieser Diskussion reichen in die 1920er Jahre zurück. Heuss thematisierte damals in seiner Schrift „Demokratie und Selbstverwaltung“ die zunehmende Zentralisation des Staates als Folge des Ersten Weltkrieges. Vor diesem Hintergrund wies er auf das Problem der Vereinbarkeit von Volkssouveränität und Selbstverwaltungsrechten einzelner Teile des Staatsvolks hin (Heuss, Demokratie). In den 1990er Jahren setzte eine Diskussion über die verfassungsrechtliche Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung ein. Für die neu entstehenden Kammern in der DDR galt grundsätzlich eine ähnliche Legitimationsproblematik, da die DDR sich im Übergang zu einer föderal-dezentralen Demokratie befand: Modrow hatte bei seiner Wahl zum Ministerpräsidenten im November 1989 eine Rückkehr zur kommunalen Selbstverwaltung versprochen. Eine von ihm eingesetzte Kommission beriet zudem über die Bildung föderaler Strukturen. Der Amtswalter verfügt über Entscheidungsfreiräume, die ihm im Zuge der Vermittlung von Legitimation persönlich übertragen worden sind. Auch Mitglieder der funktionalen Selbstverwaltung erhalten – so Kluth – Entscheidungsfreiräume in Form des Rechts, Staatsaufgaben in eigener Verantwortung zu erfüllen. Entscheidungsfreiräume bedürften stets der personellen Vermittlung von Legitimation. Kluth, Selbstverwaltung, S. 367.
1.2 Forschungsstand
21
trägern wird Legitimation allerdings nicht an einen Amtsträger, sondern an einen bestimmten Personenkreis – die Mitglieder – vermittelt. Sie verfügen daher nach Kluth über kollektive personelle demokratische Legitimation.51 Mitglieder von IHKn sind diesem Erklärungsansatz nach dazu berechtigt, Staatsaufgaben in eigener Verantwortung zu erfüllen, weil der Vertreter des Souveräns sie aufgrund persönlicher Merkmale hierzu herangezogen hat. Mit Blick auf die Errichtung der IHKn in der DDR lassen sich hieraus zwei Thesen ableiten: Erstens entstanden Kammern in Ostdeutschland auch deshalb vor anderen Verwaltungsträgern, weil ihre Errichtung auf eine Übertragung von Entscheidungsfreiräumen gerichtet war. Sie hatte somit, zumindest in erster Linie, nicht dazu gedient, Entscheidungsprozesse zu zentralisieren, zu verkürzen bzw. konkrete Zielvorgaben festzulegen. Zweitens hat der Selbstverwaltungsgedanke die Kammern von Beginn an gestützt: Die Dezentralisierung der Staatsgewalt erfolgte in Frontstellung gegen das zentralistische SED-Regime. Entscheidungsfreiräume sind Ausweis einer besonderen Befähigung, die an persönliche Merkmale gebunden ist. Die Ostdeutschen sollten aus diesem Grund als Subjekte ihrer eigenen Geschichte betrachtet werden – dies gilt auch für die Mitglieder der wirtschaftlichen Selbstverwaltung.52 Diese Überlegung ist analytischer Ausgangs- und Angelpunkt dieser Untersuchung. Die Entstehung der IHKn in der DDR war ein komplexer Prozess, bei dem endogene und exogene Kräfte und Dynamiken ineinander wirkten. Sie war entscheidend bestimmt von äußeren Einflüssen und Akteuren aus der Bundesrepublik, wäre ohne den Selbstbehauptungswillen der ostdeutschen Unternehmer letztlich aber kaum möglich gewesen. Diese Arbeit möchte die Konturen dieses Gründungsprozesses im Rahmen einer historischen Analyse differenziert beleuchten. Die Entstehung der Kammern war mit der Einführung der Kammerverordnung keineswegs abgeschlossen. Ihre institutionelle Konsolidierung vollzog sich in den 51 52
Ebd. S. 378 ff. Das Bild der Ostdeutschen als eines Körpers, in den die Institutionen der Bundesrepublik transplantiert wurden, beruhte auf einer spezifischen Wahrnehmung der Geschichte der DDR. Meuschel kam 1992 zum Ergebnis, dass das SED-Regime die Gesellschaft „gleichsam stillgelegt“ habe (Meuschel, Gesellschaft, S. 6). Mit Blick auf die Ereignisse von 1989 vertrat sie die Auffassung, dass es erst spät zu Versuchen gekommen sei, die gesellschaftliche Autonomie „von unten“ wiederherzustellen. Der Systemwechsel sei abrupt zustande gekommen. Insbesondere Transformationsforscher, die den „kulturellen Pessimisten“ zuzurechnen sind, argumentierten im Sinne dieser Position. In der Geschichtswissenschaft mehren sich hingegen Einsprüche. Jarausch betont z. B., dass es eine „schrittweise Entwicklung von kritischen Minderheiten in der DDR“ gegeben habe, die in die späten 1970er Jahren zurückreichte (Jarausch, Aufbruch, S. 31). Die „Betonung von Frieden, das Bestehen auf Menschenrechten, der Wille zur mündigen Einmischung, der Versuch der Bildung von Öffentlichkeit“ (Ebd. S. 35) hätten erheblich zur eigenständigen „Reaktivierung“ der Gesellschaft beigetragen; die Mehrheitsbevölkerung habe sich im Herbst 1989 hinter diesen Kernforderungen versammelt und sich mit dem gewaltlosen Protest solidarisiert. In der Wirtschaft gab es keine kritischen Minderheiten im Sinne einer Systemopposition; dies schließt indes nicht aus, dass die Gründungsunternehmer der Kammern denjenigen zuzurechnen waren, die ihre Mündigkeit im Zuge der Überwindung des SED-Regimes zurückgewannen.
22
1. Einleitung
ersten Jahren nach der Wiedervereinigung, als gewaltige Anpassungsleistungen zu erbringen waren, um die Wirtschaft der DDR nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen umzustrukturieren. Der Institutionalisierungsvorgang war nicht auf den Import bewährter Arrangements beschränkt; die Integration komplexer endogener und exogener Dynamiken stellte die IHKn vor eine erhebliche Herausforderung; ökonomische Erfordernisse waren mit den Ansprüchen der Altmitglieder sowie mit westdeutschen Interessen zusammenzuführen. 1.3 ERKENNTNISINTERESSE UND GANG DER ARBEIT Die Einführung der Verordnung, die große Teile des bundesdeutschen Kammerrechts auf die DDR übertrug, wurde von unterschiedlichen Akteuren mit je eigenen Motiven betrieben. Vor Ort wirkten Berater aus westdeutschen Kammern, potentielle hauptamtliche Kammermitarbeiter sowie Unternehmer aus dem Kreis der Selbstständigen in der DDR an der Gründung von IHKn mit. Diederich, Haag und Cadel schreiben Letzteren eine Rolle zu, die sich vor allem auf den Part der Betroffenen erstreckte, etwa einer Pflichtmitgliedschaft, der man sich angeblich erst im Nachhinein gewahr wurde. Den westdeutschen Beratern attestierten sie demgegenüber einen Informationsvorsprung sowie Eigeninteressen, die sich mitunter in der Neigung geäußert hätten, den Ostdeutschen das eigene Organisationsmodell „überstülpen“53 zu wollen. Schon kurz nach ihrer Gründung wurden die Kammern von der Zentralregierung der DDR legitimiert. Die Motive der Modrow-Regierung sind bisher kaum ergründet worden. Wie oben herausgestellt, lässt sich schwerlich unterstellen, dass es bei der Übertragung des westdeutschen Kammerrechts auf die DDR darum ging, Entscheidungsprozesse zu vereinfachen und zu zentralisieren. Auch überzeugt das Argument nur wenig, es habe eine große Nachfrage nach „Leistungen einer Institution vom Typ ‚Kammer‘“54 gegeben – obwohl die Zahl der Existenzgründungen zu Beginn des Jahres 1990 stark zunahm. Die Errichtung von Kammern war nämlich in erster Linie eine Übertragung von Selbstverwaltungsrechten auf die Gründungsunternehmer. Mit Blick auf das Erfordernis, konkrete Leistungen anzubieten – etwa Existenzgründerberatungen –, waren auch andere Lösungen denkbar, z. B. die Schaffung von Organisationen mit staatlich berufenen Vorständen. Auf politischer Ebene wirkte der DIHT an der Entstehung der IHKn in der DDR mit. Der Dachverband der bundesdeutschen IHKn war seinen Mitgliedern gegenüber nicht weisungsberechtigt.55 Er fungierte allerdings als deren politische 53 54 55
Diederich/Haag/Cadel, Industrie- und Handelskammern, S. 33. Ebd. S. 58. Die IHKn waren somit nicht automatisch Mitglied im privatrechtlich organisierten DIHT; nichtsdestoweniger gehörten sie dem Dachverband sämtlich an. Das wechselseitige Verhältnis war durch das Gegenstromprinzip gekennzeichnet, der Abwägung und gegenseitigen Beeinflussung von regionalen und überregionalen Wirtschaftsinteressen. Dem DIHT war es unterdessen nicht möglich, den Interessen seiner Mitglieder zuwiderzuhandeln. 2001 benannte sich der Verband in DIHK um; im Rahmen der Schaffung einer gemeinsamen Corporate Identity
1.3 Erkenntnisinteresse und Gang der Arbeit
23
Spitzenorganisation, die im Vorfeld zum Erlass der Kammerverordnung auch die Modrow-Regierung beriet. Die Rolle des DIHT weist über den Gründungsvorgang hinaus. In der Literatur zur Wiedervereinigung ist das Wirken der politischen Spitzenverbände überwiegend kritisch beurteilt worden.56 Die Verbände handelten sich schon zeitnah den Vorwurf ein, vorrangig die Interessen ihrer westdeutschen Kernklientel zu vertreten.57 Durch den Beitritt zu bestehenden Organisationen seien eigene Ansätze, eine funktionstüchtige Zivilgesellschaft zu bilden, überlagert worden, wie sogar Autoren bemängelten, die die Überwindung des SED-Regimes als eigenständige Leistung der ostdeutschen Bevölkerung gewürdigt hatten.58 Die Ostdeutschen hätten sich hierdurch in eine dauerhafte Minderheitenposition begeben, die es ihnen erschwert habe, eigene Interessen durchzusetzen. In der Konsequenz sei es zu Entmutigung gekommen, die zu einem „Partizipationsdefizit“ in Ostdeutschland geführt habe. In Anbetracht dieser Kritik kann nicht ausgeschlossen werden, dass die frühzeitige Vereinigung des Kammerwesens sich aus ostdeutscher Sicht ambivalent auswirkte; dass sie einerseits den organisatorischen Aufbau der Selbstverwaltungen beschleunigte und es andererseits erschwerte, sich innerhalb der neuen Strukturen Gehör zu verschaffen. In Anbetracht der „Überlagerungsthese“ lässt sich davon ausgehen, dass die Konsolidierung der ostdeutschen IHKn unter erschwerten Bedingungen erfolgte. Übergreifende, „ostdeutsche“ Interessen ließen sich in der gesamtdeutschen Kammerorganisation womöglich nicht effektiv vertreten. Auch auf regionaler Ebene gab es Hindernisse. Nach der deutschen Wiedervereinigung traten gravierende wirtschaftliche Anpassungsschwierigkeiten zutage. Sie waren eine weitere Nagelprobe für die wirtschaftliche Selbstverwaltung. Diese musste aus Sicht ihrer Mitglieder effektive Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume gewährleisten.59 Mithin bedeutete dies, Lösungen für konkrete Probleme zu finden. Gelang dies nicht, lag es nahe, dass die Kammern unter Rechtfertigungsdruck geraten würden. Die vorliegende Arbeit führt zunächst in die Entwicklung ein, die das Kammerwesen in Ostdeutschland sowie das private Unternehmertum 1945 bis 1989 durchliefen. Da die IHKn aus den bestehenden Gewerbekammern hervorgingen – bzw. aus Initiativen der Mitglieder dieser Kammern –, gilt das Interesse dabei den endogenen Potentialen, die es für die Herausbildung wirtschaftlicher Selbstverwaltungen in der DDR gab. Einem knappen historischen Aufriss folgt im dritten Kapitel die Darstellung der Entstehung der IHKn im Jahr 1990. Die jeweilige Rolle der Akteure im politischen Zentrum der DDR, der regional handelnden Akteure sowie der westdeutschen Kammern und ihres Dachverbands sollen dabei im Einzelnen
56 57 58 59
diente dies dazu, die enge Verbindung mit den IHKn herauszustellen. Vgl. Groser/Sack/Schroeder, Industrie- und Handelskammern, S. 73 f. Vor dem Hintergrund der „Vereinigungskrise“ kam es zu einer Übertragung eingeübter Krisenstrategien auf die neuen Bundesländer, die Spitzenverbände und Regierung auf Bundesebene vereinbarten. Vgl. Lehmbruch, Rolle, S. 133 ff. So z. B. Hans-Werner und Gerlinde Sinn in ihrer volkswirtschaftlichen Analyse der deutschen Wiedervereinigung, die 1991 erstmals erschien: Sinn/Sinn, Kaltstart, S. 193 ff. Vgl. Jarausch, Aufbruch, S. 42. Vgl. Kluth, Legitimation, S. 37 f.
24
1. Einleitung
untersucht werden. Im Unterschied zur systematisch-vergleichenden Betrachtung einzelner Gründungsverläufe bei Diederich, Haag und Cadel fokussiert sich die Darstellung auf Motive, Triebkräfte und Wechselbeziehungen. Dies gilt speziell für das Verhältnis ostdeutscher Gründungsakteure und westdeutscher Berater, nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer von Kritikern perzipierten „Kolonialisierung“60 der neuen Bundesländer. Kapitel vier folgt der Fragestellung, ob die Errichtung der IHKn eine wirksame Selbstverwaltung im Bereich der Wirtschaft ermöglicht hat. Dies geschieht im Rahmen eines thematischen Zugriffs, anhand von Problemlagen, die sich speziell vor dem Hintergrund des Systemwechsels sowie der Wiedervereinigung ergaben. Dazu zählte u. a. die große Knappheit an Lehrstellen. Sie war ein bedeutendes Hindernis für die Einführung der dualen Berufsausbildung, deren Pflege den IHKn oblag. Das westdeutsche System der Berufsausbildung wurde erst im unmittelbaren Kontext der Beitrittsverhandlungen auf Ostdeutschland übertragen. Nicht zuletzt da Berufsausbildungsabteilungen einen erheblichen Teil der Ressourcen einer IHK beanspruchen, wirft die Entwicklung des Ausbildungssektors auch ein Licht auf die langfristige Konsolidierung der Kammern. Ein weiteres Aufgabengebiet, auf dem die IHKn unter beträchtlichem Leistungsdruck standen, war die Standortpolitik: Nach der Wiedervereinigung musste die wirtschaftliche Infrastruktur in Ostdeutschland an marktwirtschaftliche Anforderungen angepasst werden. Die Ausweisung neuer Gewerbeflächen führte im Handel zu beträchtlichen brancheninternen Interessenkonflikten. Die IHKn standen vor der Aufgabe, zwischen alten und neuen Mitgliedern zu vermitteln. Die rasche Suburbanisierung des Einzelhandels, die sich in der ersten Hälfte der 1990er Jahre in den neuen Bundesländern vollzog, ließ eine ausgleichende und abwägende Vermittlung gewerblicher Partikularinteressen kaum noch zu. Bei der Privatisierung der früheren Staatswirtschaft der DDR kamen, so das vorherrschende Bild, vorrangig westliche Käufer zum Zuge.61 Kritikern zufolge wurden dadurch endogene Potentiale vernachlässigt; Pessimisten befürchteten, dass es in Anbetracht von „halbherzigen Wiederbelebungsversuchen“62 nicht gelungen sei, vorhandene Ansätze zu entwickeln und eine mittelständische Industrie aufzubauen. Auch unter ostdeutschen Unternehmern wurde die Privatisierungspolitik überaus kritisch gesehen – sogar von jenen, die einen Betrieb aus der Erbmasse der Treuhandanstalt hatten übernehmen können.63 Dies hatte nicht zuletzt den Grund, dass die wirtschaftliche Lage mittelständischer Industriebetriebe zur Mitte der 1990er Jahre äußerst angespannt war. Insbesondere galt dies für Unternehmen in ostdeutschem Eigentum. Die IHKn standen daher auch hier vor einer Bewährungsprobe: War die wirtschaftliche Selbstverwaltung in der Lage, der Krise politisch zu begegnen und Lösungen zu finden? Ausgehend von den mittelstandspolitischen Leitideen der Modrow-Regierung sowie den vermögensrechtlichen Vereinbarungen im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung nimmt die vorliegende 60 61 62 63
Vgl. Weingarz, Laboratorium, S. 77 f. Vgl. Rödder, Deutschland, S. 313. Ebbinghaus, Ausnutzung, S. 342. Berlitz u. a., Aufbau, S. 182.
1.4 Quellen
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Arbeit die Rolle der IHKn beim Aufbau des industriellen Mittelstands in den neuen Bundesländern in den Blick. Standardannahmen zu Institutionenbildungsprozessen in Ostdeutschland, die von der früheren Forschung formuliert worden waren, konnten empirisch meist nicht verifiziert werden.64 Dies gilt insbesondere für die These einer Assimilation der Ostdeutschen durch übertragene Institutionen. Kapitel fünf wendet sich daher den institutionellen Strukturen zu, die die ostdeutschen Kammern in Reaktion auf die an sie gestellten Anforderungen ausbildeten. 1.4 QUELLEN Für die vorliegende Arbeit werden Quellen aus dem Bestand des DIHT (seit 2001: DIHK) im Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsarchiv zu Köln genutzt. Aus ihnen erschließt sich die Rolle, die der IHK-Dachverband auf politischer Ebene bei der Errichtung der IHKn in der DDR übernahm. Im Hinblick auf die Entwicklungen in der DDR pflegte der DIHT darüber hinaus einen regen Informationsaustausch mit den Mitgliedskammern, die vom Dachverband unabhängig agierten; die Koordinierung der gemeinsamen Aktivitäten ging mit Fortschreiten der Ereignisse gleichwohl zunehmend auf den Letzteren über. Im Zuge dessen entstanden sogenannte Patenschaften: Westdeutsche Kammern stimmten ihre Aufbauhilfe ab und konzentrierten sich auf einen der jeweiligen Bezirke der DDR. Dies erfolgte auch in Erwartung der DDR-Kammerverordnung. In den meisten Bezirken waren mehr als eine Paten-IHK aktiv; je eine der Patenkammern sollte daher federführend wirken sowie den DIHT über die Fortschritte beim Aufbau unterrichten. Das Zusammenspiel der Paten gestaltete sich in den meisten Fällen geräuschlos, bisweilen allerdings auch disharmonisch. Bei mehreren Meinungsverschiedenheiten wurde der Dachverband einbezogen, um zu vermitteln. Die Quellen umfassen sowohl Korrespondenz als auch Sitzungsprotokolle und Aktenvermerke. Vor dem Hintergrund der Ereignisse in der DDR vereinbarten die Hauptgeschäftsführer westdeutscher IHKn Ende 1989, in einer regelmäßigen Beratungsrunde mit dem Hauptgeschäftsführer des DIHT zusammenzutreten.65 Diese Sitzungen endeten im September 1990. Schon zu Beginn jenes Jahres war es zu regelmäßigen Konsultationen des westdeutschen IHK-Dachverbands mit den DDR-Kammern gekommen. Im Zuge der Bildung eines gesamtdeutschen Kammerwesens sowie mit der Herstellung der deutschen Einheit wurden die Treffen in Form monatlicher Beratungs- und Koordinationssitzungen fortgesetzt; dort kamen auf Ebene der Hauptgeschäftsführer gemeinsame Probleme und anstehende Aufgaben zur Sprache.66 Zeitweise fanden die Beratungen unter Beteiligung der Präsi64 65 66
Vgl. Reulen, Institutionenbildung, S. 245. Protokolle dieser Sitzungen sowie Dokumente aus diesem Zusammenhang finden sich v. a. in: RWWA 181-1929-2; RWWA 181-1806-1; RWWA 181-1815-2. Ergebnisvermerke des DIHT zu den gemeinsamen Konsultationen, die bis Herbst 1990 stattfanden, sind gemeinsam mit weiteren Vermerken sowie Schriftverkehr zu den Kammern in der DDR enthalten in: RWWA 181-2478-2. Für die darauffolgende Zeit finden sich Protokolle ge-
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1. Einleitung
denten der ostdeutschen Kammern sowie des DIHT statt.67 Die Sitzungen der „Hauptgeschäftsführerrunde neue Bundesländer“ sind bis 1998 dokumentiert. In der bisherigen Forschung ist die Institutionenbildung in Ostdeutschland vor allem unter den Gesichtspunkten der Adäquanz von Strukturen sowie der Legitimität diskutiert worden. Diese wurden – explizit oder implizit – insbesondere vor dem Hintergrund der dominanten Rolle problematisiert, die westdeutsche Akteure im Vereinigungsgeschehen spielten. Da dieser Komplex auch in der vorliegenden Arbeit reflektiert werden soll, kann die große Bedeutung, die dem Archivbestand des westdeutschen IHK-Dachverbands zukommt, als Einschränkung verstanden werden. Eine umfassende Einbeziehung von archivalischen Quellen der ostdeutschen Kammern war unterdessen nicht möglich, da entsprechende Bestände noch nicht erschlossen bzw. Sperrfristen einzuhalten waren.68 Darüber hinaus sprechen methodische Gründe gegen eine eingehende Exploration sämtlicher IHKn in den neuen Bundesländern. Dies wäre schlechterdings unmöglich; so waren bereits Diederich, Haag und Cadel gezwungen, sich auch „unter forschungsökonomischen Gesichtspunkten“69 auf exemplarische Zusammenhänge zu konzentrieren. Ihre Studie stützte sich auf fünf jeweils regionaltypische IHKn. Eine komplementäre Auswahl müsste ähnlich begründet werden; unterdessen ist es zweifelhaft, dass dies eine neue Perspektive ermöglichen würde. In der vorliegenden Arbeit sollen vor allem gemeinsame Problemstellungen der ostdeutschen IHKn thematisiert werden, insbesondere mit Bezug auf die Überlagerung von Institutionenbildung und Wiedervereinigung. Die Analyse regionaler Strukturtypen, die von Diederich, Haag und Cadel geleistet worden ist, wird daher um eine Betrachtung der politischen Dimension ergänzt. In diesem Zusammenhang lässt sich von „den Industrie- und Handelskammern in Ostdeutschland“ überhaupt nur dort sprechen, wo gemeinsame Problem- und Interessenlagen erkennbar werden. Dies war in erster Linie in den Beratungen der Hauptgeschäftsführer der Fall, die unter der Leitung des DIHT stattfanden. Deshalb ist es für den Ansatz dieser Arbeit letztlich unumgänglich, das Thema über die Akten des IHK-Dachverbands zu erschließen. Die „westdeutschen“ Quellen, die für die Darstellung insgesamt von großer Bedeutung sind, können punktuell um Gegenüberlieferungen ergänzt werden. Dies gilt zum einen im Hinblick auf die Rolle, die die Modrow-Regierung bei der Errichtung der IHKn in der DDR spielte. Hierzu befinden sich Unterlagen im Bundesarchiv zu Berlin-Lichterfelde.70 Ebendort sind auch die Sitzungsprotokolle des Präsi-
67 68 69 70
meinsamer Sitzungen in: RWWA 181-1886-3 sowie RWWA 181, Zwischenarchiv Iron Mountain, Nr. 6089. Die Beratungen unter Einbeziehung der Präsidenten fanden von Januar 1993 bis März 1994 statt. Protokolle dieser Sitzungen befinden sich in: RWWA 181, Zwischenarchiv Iron Mountain, Nr. 6090. Die fehlende Erschließung von Archivbeständen erschwerte es insbesondere, archivalische Quellen zu den HGKn zu recherchieren. Diederich/Haag/Cadel, Industrie- und Handelskammern, S. 238. Einen Einblick liefern etwa die Unterlagen der DDR-Regierung zur Vorbereitung der „deutschdeutschen Wirtschaftskommission“, die im Januar 1990 stattfand. Dort kündigte die Regierung der DDR erstmals an, „Industrie- und Handelskammern“ einzuführen. Siehe: BArch DE 10/7.
1.4 Quellen
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diums der Kammer für Außenhandel (KfA) zugänglich, welches Anfang 1990 Ambitionen hegte, größeren Einfluss auf die Gestaltung des Kammerwesens in der DDR zu nehmen.71 Nach der Wiedervereinigung lässt sich anhand gedruckter Quellen nachzeichnen, welche Positionen von staatlichen Stellen vertreten wurden. Auch was die Kammern im Einzelnen angeht, vervollständigen gedruckte Quellen, z. B. Geschäftsberichte, das Bild, das sich aus dem Aktenmaterial des DIHT ergibt. Eine weitere Quellengattung, die in der vorliegenden Arbeit verwendet wird, sind Interviews mit ehren- sowie hauptamtlichen IHK-Repräsentanten, mehrheitlich aus den neuen Bundesländern.72 Die Auswahl der Gesprächspartner erfolgte nicht zuletzt aufgrund ihrer jeweiligen institutionell-organisatorischen Handlungsbedingungen; die Befragungen orientierten sich daher an der Methodik von Experteninterviews.73 Dabei kamen nicht-standarisierte Fragenkataloge vorbereitend zum Einsatz. Auf diesem Wege ließen sich nutzbare Fakten generieren; in der neueren Oral History-Forschung werden Interviews insbesondere als nützlich erachtet, um Handlungsspielräume in Entscheidungssituationen zu ermitteln.74 Im Hinblick auf die Problematik, dass sich die folgende Darstellung zum Großteil auf „westdeutsches“ Archivmaterial stützt, lassen sich gedächtnisbasierte Quellen gleichwohl nur bedingt als „Gegengewicht“ aktivieren. Neurologische Erkenntnisse zur Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses schränken den Quellenwert von Oral History grundsätzlich ein.75 Erinnerungen sind demnach keine unabänderlichen Eindrücke, die durch Erfragen abgerufen werden können. Die Interviews wurden im Folgenden daher nur soweit berücksichtigt, als Fakten – im Sinne von Daten – auch durch Archivalien belegt waren, da die Letzteren diesbezüglich als verlässlichere Quelle zu bewerten sind.
71 72
73 74 75
Siehe: BArch DE 10/483. Interviews wurden geführt mit: Frau Brigitte Reinhardt, Geschäftsführerin der Abteilung Handel und Dienstleistungen in der IHK Chemnitz 1990–2003 (ab 1993: IHK Südwestsachsen); Frau Ingrid Weidhaas, Geschäftsführerin der Abteilung Aus- und Weiterbildung in der IHK Ostthüringen 1990–2010; Frau Petra Hintze, Hauptgeschäftsführerin der IHK zu Neubrandenburg 1990–2012; Herrn Dr. Klaus-Christian Fischer, Staatssekretär im Ministerrat der DDR 1989–1990, Leiter der Verbindungsstelle des DIHT in Berlin 1990–1998; Herrn Dr. Wolfgang Lindstaedt, Hauptgeschäftsführer der IHK Frankfurt am Main 1993–2004; Herrn Dr. Wolfram Hoschke, Hauptgeschäftsführer der IHK Chemnitz 1990–2005 (ab 1993: IHK Südwestsachsen); Herrn Gundolf Schülke, Hauptgeschäftsführer der IHK Frankfurt an der Oder seit 1993 (ab 2008: IHK Ostbrandenburg); Herrn Niels Lund Chrestensen, Präsident der IHK Erfurt 1990–2010; Herrn Prof. Dr. Peter Heimann, Hauptgeschäftsführer der IHK Halle-Dessau 1990–2010; Herrn Udo Pape, Präsident der IHK Berlin (Ost) 1990; Herrn Wolfgang Fell, Präsident der IHK Halle-Dessau 1990–2000. Meuser/Nagel, Experteninterview, S. 56. Obertreis/Stephan, Erinnerung, S. 28. Ebd. S. 10 ff.
2. UNTERNEHMER UND KAMMERN IN SBZ UND DDR 2.1 BEWÄLTIGUNG DER KRIEGSFOLGEN UND „AUFBAU DES SOZIALISMUS“ Der Zweite Weltkrieg und das Ende der nationalsozialistischen Diktatur hinterließen allgemeines Chaos, funktionsuntüchtige Verwaltungen und eine darniederliegende Wirtschaft. Das öffentliche Leben konnte notdürftig aufrechterhalten werden, da Honoratioren und kommunalpolitisch erfahrene Verwaltungsfachleute, die nach 1933 aus ihren Ämtern scheiden mussten, in frühere Entscheidungspositionen zurückkehren konnten. Die ersten Maßnahmen zur Entnazifizierung betrafen sie in der Regel nicht. Im Zuge lokaler Wiederaufbauinitiativen formierten sich auch IHKn neu. Mittelfristig passte dies nicht in das Kalkül der sowjetischen Besatzungsmacht. Die politische und wirtschaftliche Entwicklung in der SBZ sollte nach 1945 durch die marxistisch-leninistische Ideologie bestimmt werden. Selbstverwaltungen leisteten als „pragmatische Notstandsverwaltungen“1 allerdings dringende Aufgaben für Kommunen und Wirtschaft. Die Besatzer akzeptierten sie angesichts eines außerordentlichen Problemdrucks. Der Gedanke der wirtschaftlichen Selbstverwaltung erwies sich als lebendig; die Wiederaufbaubemühungen orientierten sich am Zustand des Kammerwesens bis 1933 und griffen damit hinter die Anordnungen des NS-Regimes zurück.2 Einige frühere Mitarbeiter konnten wieder rekrutiert werden – sachkundiges Personal war auch in den Gauwirtschaftskammern benötigt worden. Unternehmernetzwerke konnten z. T. ebenfalls reaktiviert werden. Die Kammern nahmen ihre Doppelfunktion als Interessenvertretung und Wirtschaftsverwaltung auch in der SBZ wieder auf.3 Die lange Tradition der IHKn war den Wiederaufbauinitiativen prinzipiell nützlich.4 Traditionsbestände waren aber nur eingeschränkt mit den Plänen der sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) vereinbar. Diese sah für jedes der fünf Länder nur eine IHK vor – die Zahl der Kammern dezimierte sich damit gegenüber der Weimarer Zeit drastisch.5 Allerdings bildeten sich, der formalen Vorgabe zum Trotz, auch an tradierten Standorten Kammern, meist auf Initiative von Unternehmern und ehemaligem Personal. Diese Wiedergründungen erlangten allerdings nur den Status von Niederlassungen, denen die Hauptkammer am Sitz der jeweiligen Landeshauptstadt vorgesetzt war. In der Praxis machte sich dies zunächst nur wenig bemerkbar. So agierten die Bezirkskammern in Dessau und Magdeburg etwa relativ eigenständig. Sie ließen sich weder ihre Personalpolitik 1 2 3 4 5
Großbölting, SED-Diktatur, S. 58. Weise, Kammern, S. 65. Vgl. Großbölting, SED-Diktatur, S. 324. Z. B. in Dessau, Görlitz, Halle und Leipzig. Vgl. Hardach, Industrie- und Handelskammertag, S. 102. Vgl. Will, Selbstverwaltung, S. 364.
2.1 Bewältigung der Kriegsfolgen und „Aufbau des Sozialismus“
29
noch ihre wirtschaftspolitischen Stellungnahmen von der Landeskammer in Halle – bis 1952 die Landeshauptstadt Sachsen-Anhalts – vorschreiben.6 Die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der SMAD waren keineswegs darauf gerichtet, private Unternehmertätigkeit vollständig zu unterbinden. Zunächst waren lediglich Kreditgewerbe und Schwerindustrie von Verstaatlichungen betroffen.7 Erst allmählich sollte die gesamte Wirtschaft der zentralen Planung unterworfen werden. Spielräume zu weiteren Verstaatlichungen ergaben sich in dem Maße, in dem sich – z. B. – die Versorgungslage stabilisierte. Die SED band die Kammern stärker an ihre Parteilinie und schaltete sie als politische Vertretung nach und nach aus. Dies geschah nicht zuletzt, indem Gremien drittel-paritätisch mit Vertretern der Verwaltung, des FDGB und der Unternehmer besetzt wurden.8 Der Präsident der Kammer wurde direkt von der jeweiligen Landesregierung bestellt. In den Jahren 1947/48 wuchsen bei vielen Unternehmern Zweifel daran, ob sie in der SBZ eine Zukunft haben würden.9 Dabei war es zweifellos auch von Bedeutung, dass die Möglichkeiten schwanden, wirtschaftliche Interessen politisch zu vertreten. Nicht wenige, wenn auch eine zahlenmäßige Minderheit der Unternehmer, übersiedelten deshalb in eine der anderen Besatzungszonen.10 Die, die blieben, konzentrierten sich auch nach Gründung der DDR darauf, ihr Unternehmen durch die sich abzeichnenden Schwierigkeiten hindurch zu führen.11 Die IHKn waren die einzige Vertretung privatwirtschaftlicher Interessen, die die SED duldete. Ihre Rolle bestand nach dem Willen der politischen Führung darin, den noch immer umfassenden Privatsektor in die zentrale Planung einzubeziehen. Die Zuständigkeit der Kammern war daher auf private Unternehmen beschränkt. Die fortschreitende Verstaatlichung der Wirtschaft bedeutete somit, dass sich der Kompetenzbereich der Kammern peu à peu verringerte. Der städtische Mittelstand – Groß- und Einzelhändler, Gastwirte und Spediteure – waren vom zentralen Planungssystem zu Beginn der 1950er Jahre noch nicht erfasst worden. Zusammen mit den mittelständischen Konsumgüterfabrikanten bildeten sie die Kernklientel der IHKn. Das Ende der privaten Industrie zeichnete sich allerdings allmählich ab, u. a. auch, weil die Kammern als Vertretungsorgane weiter geschwächt wurden. 1952 verkündete die SED den „planmäßigen Aufbau des Sozialismus“; die Gesellschaft sollte nach sowjetischem Vorbild umgestaltet werden.12 Im Zuge einer Verwaltungsreform wurden die fünf Länder aufgelöst; 14 Bezirke traten als mittlere Verwaltungsebene an ihre Stelle. Als Einrichtungen der Länder verschwanden damit auch die IHKn. Dies wurde vom Ministerrat, faktisch ein Zustimmungsorgan für Vorlagen des Zentralkomitees (ZK) der SED, bestätigt: Am 5. März 1953 beschloss die Regierung der DDR, dass die Arbeit der 6 7 8 9 10 11 12
Großbölting, SED-Diktatur, S. 328. Vgl. Weber, DDR, S. 13 f. Vgl. Großbölting, SED-Diktatur, S. 369 ff. Von 1948 an häuften sich Enteignungen im Maschinenbau. Vgl. Hefele, Verlagerung, S. 86 f. Hefele geht davon aus, dass ca. 60 bis 70 % der Unternehmer in der SBZ/DDR blieben. Hefele, Verlagerung, S. 60. Vgl. Tatzkow, Privatindustrielle, S. 205–210. Vgl. Weber, Die DDR, S. 36.
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2. Unternehmer und Kammern in SBZ und DDR
Kammern beendet war.13 Die Betroffenen waren nicht angehört worden. Der offiziellen Begründung nach waren Privatunternehmer bereits so eng an den Staat angeschlossen, dass der Bedarf an Vertretungsorganen obsolet geworden sei.14 Es war offensichtlich, dass dies nicht der Realität entsprach. Staatsbetriebe wurden vom Planungssystem einseitig bevorzugt. Praktisch bedeutete dies, dass die Schwerindustrie einen Großteil der im Wirtschaftsplan eingestellten Ressourcen erhielt. In der überwiegend privat organisierten Konsumgüterindustrie mangelte es demgegenüber an Investitionsmitteln sowie an Materialzuteilungen. Der Justizapparat setzte dem unerwünschten Unternehmertum ebenfalls zu. Steuer- und Wirtschaftsgesetze dienten nicht selten der politisch motivierten Verfolgung.15 Ein sprunghafter Anstieg der Verhaftungszahlen belegt, dass die Auflösung der Kammern nur das Vorspiel für die Verdrängung der Unternehmer gewesen war. Das DDR-Regime orientierte sich an der stalinistischen Sowjetunion, wurde dann aber von unerwarteter Seite kritisiert: Der sowjetische Machthaber starb im März 1953 und die neue Führung verurteilte den übermäßigen Einsatz repressiver Mittel. Das Politbüro der SED nahm dies zum Anlass, die Strategie zu ändern.16 Am 9. Juni wurde der „Neue Kurs“ verkündet. Die Parole fasste Maßnahmen zusammen, die die Situation der Konsumgüterindustrie verbessern sollten. Das Steuerrecht sollte nicht länger instrumentalisiert werden, um Privatunternehmer zu enteignen oder zu inhaftieren. Unternehmer, die bereits Opfer politischer Verfolgung geworden waren, wurden amnestiert. Auch der Ausbau der Schwerindustrie sollte verlangsamt werden, um der privaten Wirtschaft die Möglichkeit zu geben, ihre Produktionsleistung zu steigern. Im Vorfeld der Kursänderung hatte sich die Stimmung in der Bevölkerung zunehmend gegen das Regime gerichtet. Die einseitig ausgerichtete Wirtschaftspolitik hatte den Lebensstandard auf einem niedrigen Niveau verharren lassen. Die Verdrängungspolitik gegenüber privaten Unternehmern blieb für das SED-Regime daher nicht ohne Folgen: Am 17. Juni 1953 kam es zum Arbeiteraufstand. Er führte der SED vor Augen, dass sie an dem Ast gesägt hatte, auf dem sie saß. Ulbricht sprach später davon, dass derjenige „einen Abschnitt der historischen Entwicklung überspringen“17 wolle, der private Wirtschaftstätigkeit mit einem Schlag zu beseitigen versuche. Das Unterfangen, das Produktionseigentum in kurzer Zeit zu kollektivieren, war gescheitert. Die SED erkannte, dass sie einstweilen auf eine funktionstüchtige Privatwirtschaft angewiesen war, um ihre Macht zu erhalten. Der neue Kurs gab u. a. das Ziel vor, private Produktionskapazitäten voll auszuschöpfen. Einem wirtschaftlichen Erstarken der Unternehmer suchte die SED auf ideologischem Felde zu begegnen. „Bündnispolitik“ gegenüber den „bürgerlichen 13 14 15 16
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Vgl. Rehberg-Credé, Industrie- und Handelskammer, S. 158. Vgl. Will, Selbstverwaltung, S. 364. Vgl. Werkentin, Recht, S. 23 ff. Vgl. Weber, DDR, S. 42. Die Geschichtsschreibung der DDR führte die Kursänderung darauf zurück, dass die SED der Folgen der forcierten Sozialisierungen gewahr geworden war und bereits vor dem 17. Juni 1953 Maßnahmen zur Verbesserung der Versorgungslage eingeleitet hatte. Tatzkow, Entwicklung, S. 2. Ulbricht, Lage, S. 62.
2.1 Bewältigung der Kriegsfolgen und „Aufbau des Sozialismus“
31
Schichten“ lautete die offizielle Bezeichnung der von nun an verfolgten Vereinnahmungsstrategie.18 Diesem Sinne entsprach auch die Schaffung einer neuen Kammer: Im August 1953 verabschiedete der Ministerrat die „Verordnung über die Errichtung der Industrie- und Handelskammer der Deutschen Demokratischen Republik“.19 Es handelte sich um eine Zentralkammer mit Sitz in Berlin. Die IHK der DDR unterhielt 14 Geschäftsstellen in den Bezirken, die ihrerseits Geschäftsstellen in den Kreisen einrichten konnten.20 Für Unternehmer waren 15 von insgesamt 45 Posten im Vorstand vorgesehen. Die weiteren Mitglieder wurden drittelparitätisch von staatlichen Stellen besetzt bzw. vom FDGB und von Arbeitnehmern aus privaten Wirtschaftsunternehmen. Die IHK sollte die private Wirtschaft21 fördern und deren Produktionspotential in den Dienst der volkswirtschaftlichen Entwicklung stellen. Ihr leitender Gedanke war die „weitere Verbesserung der Lebenslage der Gesamtbevölkerung“22, nicht die Gesamtinteressenvertretung. Gleichwohl steckte auch noch ein Rest der alten IHKn in der neuen Zentralkammer: Dieser oblag es, Staatsorgane und Mitgliedsbetriebe zu beraten; sie sollte in Fragen der Berufsausbildung mitwirken und konnte Sachverständige in Wirtschaftsfragen benennen. Die IHK der DDR versachlichte das Verhältnis zwischen privater Wirtschaft und Staat und flankierte die konsumpolitisch abgestützte Herrschaftssicherung der SED.23 Die Zentralkammer reanimierte einige frühere Kammeraufgaben; ihr Hauptauftrag bestand aber darin, die private Wirtschaft stärkerer staatlicher Kontrolle zu unterwerfen.24 Nominell verfügte die IHK der DDR über ein Selbstverwaltungsrecht; faktisch stand dem entgegen, dass der Vorstand nur zu einem Drittel aus Unternehmern bestand. Weder Leitgedanke noch die zentralistische Ausrichtung der Kammer waren der Idee der Selbstverwaltung verpflichtet. Die Kontinuität zur früheren Kammerorganisation wurde zusätzlich geschwächt, indem das Personal nun stärker nach politischen als nach fachlichen Kriterien rekrutiert wurde. Die SED betrachtete die IHK der DDR gleichwohl als Konzession an die Unternehmer und suchte weiterhin nach Methoden, um ihren Steuerungsanspruch auch in Bezug auf privatwirtschaftliche Betriebe umfassend durchzusetzen. Im Hinblick auf den Neuen Kurs stellte Ulbricht 1955 fest, es habe „niemals die Absicht“25 bestanden, 18 19 20 21 22 23 24 25
Vgl. Tatzkow, Entwicklung, S. II. Vgl. Will, Selbstverwaltung, S. 364 f. Für Ostberlin wurde aufgrund der rechtlichen Sonderstellung eine eigenständige „IHK GroßBerlin“ errichtet. Die eigens hierfür erlassene Verordnung lehnte sich dem Wortlaut der VO der IHK der DDR weitgehend an. Vgl. ebd. S. 364. Der IHK der DDR gehörten gewerblich tätige Betriebe aller Rechtsformen an, sofern sie nicht der Handwerkskammer zugehörig waren. Da es keine eigenen Berufsvereinigungen für Wirtschaftsprüfer, Steuerberater u. a. gab, gehörten auch diese Berufstätigen der IHK an. Verordnung über die Industrie- und Handelskammer der DDR. Zit. nach: Will, Selbstverwaltung, S. 365. Vgl. Ebbinghaus, Ausnutzung, S. 39 f. Großbölting vertritt die These, dass die Errichtung der IHK der DDR der entscheidende Schritt „der gesellschaftlich-ökonomischen Entdifferenzierung in Richtung auf eine sozialistische Wirtschaft“ war. Großbölting, SED-Diktatur, S. 351. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, DDR-Handbuch, S. 944.
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2. Unternehmer und Kammern in SBZ und DDR
„einen solchen falschen Kurs einzuschlagen“. Kurz darauf begann ein neuer Anlauf, um die unerwünschten privatkapitalistischen Erwerbs- und Eigentumsverhältnisse zu überwinden. Dieses Mal sollten Unternehmer enger an den Staat angebunden werden, ohne die volkswirtschaftliche Stabilität aufs Spiel zu setzen. Enteignungsabsichten wurden daher einstweilen zugunsten eines pragmatischen Vorgehens zurückgestellt. 2.2 VON DER AUFLÖSUNG DER „IHK DER DDR“ ZUR VERSTAATLICHUNG DER MITTELSTÄNDISCHEN INDUSTRIE Das neue Mittelstandskonzept der SED erklärte den Unternehmer zum schaffenden Werktätigen. Ökonomische Anreize sollten ihn dazu bringen, sich in die sozialistische Gesellschaft zu integrieren. Kaufleute erhielten die Möglichkeit, Kommissionsverträge mit der staatlichen Handelsorganisation (HO) zu schließen.26 Kommissionäre blieben private Unternehmer, deren Provisionssätze vertraglich fixiert wurden. Dafür verpflichteten sie sich, ihre Verkaufspreise an diejenigen des volkseigenen Handels anzupassen. Private Industriebetriebe – um sie ging es vorrangig – sollten nach dem Willen der SED in Betriebe mit staatlicher Beteiligung (BSB) umgewandelt werden. Deren Eigentümer wurden in diesem Falle zu Komplementären, persönlich haftenden Anteilseignern einer Kommanditgesellschaft.27 Die staatliche Deutsche Investitionsbank (DIB) stellte zu diesem Zweck von Februar 1956 an Kapitalbeteiligungen in Aussicht.28 Auch größeren nicht-industriellen Betrieben eröffnete dies einen Weg, um an neues Kapital zu kommen, mit dem sich Verbindlichkeiten abbauen und Investitionen tätigen ließen. Die staatlichen Stellen nahmen einige Mühe in Kauf, um der Furcht vor Enteignung entgegenzutreten.29 Das Freiwilligkeitsprinzip, das aus diesem Grunde angewandt werden sollte, verfing gleichwohl nicht in dem Maße, wie es sich die SED gewünscht hatte. Viele Unternehmer scheuten sich, eine staatliche Beteiligung aufzunehmen. Im ersten
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29
Vgl. Hoffmann, Kommissionshandel, S. 49. BSB wurden alltagssprachlich auch als „halbstaatliche Betriebe“ bezeichnet. Der staatliche Anteil lag gleichwohl nicht selten über 50 %; mithin handelte es sich um teilstaatliche Betriebe. Die DIB trat als Kommanditistin auf; ihre Haftung war somit auf die Höhe ihrer Einlage beschränkt. In der Gesellschafterversammlung einer Kommanditgesellschaft waren nur einstimmige Beschlüsse möglich. Komplementäre konnten daher, unabhängig von der Höhe ihrer Einlage, nicht überstimmt werden. Steiner, Re-Kapitalisierung, S. 194. In späteren Jahren versuchte die SED-Spitze, auch „volkseigene Betriebe“ (VEB) dazu zu verpflichten, die Rolle des Kommanditisten zu übernehmen. Die Staatsbetriebe sollten sicherstellen, dass in den halbstaatlichen Betrieben moderne Produktionsmethoden zur Anwendung kamen. Die VEB waren oft nicht bereit, diese zusätzliche Aufgabe zu übernehmen. Daher wurde dieses Beteiligungsmodell nur bei einem Teil der BSB praktiziert. Ebd. S. 199. Ein interner Vermerk in der Bezirksgeschäftsstelle der IHK Schwerin von Ende 1956 lautete: „Mit den Firmen ist über die staatliche Beteiligung nur dann zu sprechen, wenn diese von sich aus dieses Thema erörtern. Es soll dadurch der Eindruck vermieden werden, als wolle man Druck ausüben.“ Zit. nach: Rehberg-Credé, Betreuung, S. 166.
2.2 Von der Auflösung der „IHK der DDR“ zur Verstaatlichung der Industrie
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Jahr blieben die Ergebnisse des Plans daher hinter den Erwartungen zurück.30 Ulbricht verschärfte deshalb seine Rhetorik und legte den Unternehmern nahe, ihre Zukunft im Sozialismus zu sehen.31 Dieser gewissermaßen zweite Startschuss der Kampagne ließ die Zahl der Vertragsabschlüsse von 1957 an steigen. Von der direkten Beteiligung des Staates erhoffte sich die SED nicht zuletzt, die mittelständisch strukturierte Industrie besser als bisher in die zentrale Wirtschaftsplanung einbeziehen zu können. Kommissionsverträge und Kapitalbeteiligungen dienten als neue Einflusskanäle. Die wirtschaftlich-organisatorische Rolle der IHK wurde infolgedessen weniger wichtig. Ab Februar 1958 begann ein grundlegender Umbau der Wirtschaftsverwaltung, dessen Zweck auch darin bestand, anhaltende Steuerungsprobleme zu beseitigen.32 Das alte System der Planung galt als „überzentralisiert“ und u. a. deshalb als gescheitert. Das „Herzstück“ der Reform bestand in der Schaffung der Wirtschaftsräte der Bezirke.33 Sie übernahmen nicht nur die Steuerung kleinerer Einheiten der staatlichen Wirtschaft sondern auch die wirtschaftlich-organisatorischen Kompetenzen der IHK der DDR, die für die private Wirtschaft zuständig gewesen war. Die Kammer erhielt eine neue Hauptaufgabe: Die „politisch-ideologische Einflussnahme auf die Betriebsinhaber der privatkapitalistischen Wirtschaft“, welche „im Interesse der verstärkten Einbeziehung in den sozialistischen Aufbau“ zu erfolgen hatte.34 Die Berliner Zentrale wurde aufgelöst und ihre Geschäftsstellen der „Anleitung und Kontrolle“ durch die Wirtschaftsräte der Bezirke unterstellt. Letztere beriefen von nun an die Direktoren. Der Name „IHK“ blieb, erhielt so aber den Beiklang eines Erziehungsinstruments. Das Recht auf Selbstverwaltung wurde abgeschafft. Es hatte ohnehin nur formal bestanden; gleichwohl verschwand mit ihm das letzte Rudiment, das an die ursprüngliche Bestimmung der Kammern erinnert hatte.35 Eine neue Verordnung vollzog im September 1958 die juristische Verselbstständigung der ehemaligen Bezirksgeschäftsstellen und konkretisierte deren Aufgaben. Die „Erläuterung“ staatlicher Gesetze und Maßnahmen rückte dabei an die erste Stelle. Den „Industrie-und-HandelsKammern der Bezirke“36 oblag es ferner, Tarifverträge abzuschließen. 30 31 32 33 34 35 36
Insgesamt gab es nur 840 Anträge auf staatliche Beteiligung, von denen erst die Hälfte positiv beschieden worden war. Ebbinghaus, Ausnutzung, S. 64. Vgl. ebd. S. 74. Die Reform wurde eingeleitet mit dem Gesetz über die Vervollkommnung und Vereinfachung der Arbeit des Staatsapparates der DDR vom 11. Februar 1958. In: GBl. der DDR I, 1958, S. 117–120. Die Bezirksräte waren Exekutivorgane; im Zuge der Reform der Wirtschaftsverwaltung wurde ihnen die Steuerung eines Teils der staatlichen Wirtschaft übertragen. Große Kombinate wurden weiterhin von Ost-Berlin aus gesteuert. Verordnung über die Bildung von Wirtschaftsräten bei den Räten der Bezirke und über die Aufgaben und Struktur der Plankommission bei den Räten der Kreise vom 13. Februar 1958. In: GBl. der DDR I, 1958, S. 138–143. Vgl. Clemens, Bezirksdirektion, S. 253. Später kehrte man im Schriftverkehr wieder zur herkömmlichen Schreibweise „Industrie- und Handelskammern“ zurück. Rechtsgrundlage der Kammern war die Verordnung über die Industrie-und-Handels-Kammern der Bezirke vom 22. September 1958. In: GBl. der DDR I, 1958, S. 688 ff.
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2. Unternehmer und Kammern in SBZ und DDR
Die staatlichen Stellen gingen mit Unternehmern in der darauffolgenden Zeit differenziert um. Ihre Strategie umfasste neben Anreizen weiterhin auch Repressalien. Willfährige Unternehmer, zumeist im Dienste einer Blockpartei, sollten für staatliche Beteiligungen und Kommissionsverträge werben.37 Ein wachsender Teil der Mittelständler konnte auf diese Weise erreicht werden. Andere verbaten sich jede staatliche Einmischung.38 „Aussprachen“ waren ein gebräuchliches Agitationsmittel, mit dem Funktionäre Skeptiker in die Mangel nahmen. Gespräche dieser Art waren nur vordergründig unverbindlich. Ihnen folgten weitere Maßnahmen, wenn sie nicht das Ergebnis lieferten, dass man sich von staatlicher Seite gewünscht hatte.39 Bei privaten Industriebetrieben dienten außerdem Lohnversprechen an die Arbeitnehmer dazu, innerbetrieblichen Druck zur Aufnahme staatlicher Beteiligungen zu erzeugen. Auch Nachforderungen der Finanzverwaltung waren eine gezielt angewandte Methode, um renitenten Privatindustriellen den Sinn einer steuerlich vorteilhaften Teilverstaatlichung nahezubringen.40 Unternehmern, die für das Mittelstandskonzept der SED unempfänglich waren, setzte ein weiteres Problem zu: Gegen Ende der 1950er Jahre hatte fast ein Drittel der privaten Einzelhändler das Rentenalter erreicht. Wer das Geschäft in nächster Generation fortführen konnte, war oft nicht klar.41 Gleichwohl erwies sich ein Teil der Unternehmerschaft, wirtschaftlicher und persönlicher Nachteile zum Trotz, als beharrlich. Dies vertiefte die durchaus beabsichtigte Spaltung der privaten Wirtschaft. Eine numerisch schwindende Fraktion, die auch ökonomisch an Bedeutung verlor, lehnte staatlichen Einfluss in jeder Form ab. Eine zweite Gruppe hatte sich mit den Verhältnissen arrangiert. Vom Gesamtumsatz des DDR-Einzelhandels setzten Kommissionäre zur Mitte der 1960er Jahre einen Anteil von 8,9 Prozent um, während Kaufleute ohne Kommissionsvertrag noch 12,7 Prozent erwirtschafteten.42 Das wirtschaftliche Kräfteverhältnis wird von diesen Zahlen aber nicht hinreichend beschrieben: Die „Freien“ betrieben ein gutes Drittel der 200.560 Verkaufsstellen, die Kommissionäre lediglich 11,4 Prozent. Im Durchschnitt erwirtschaftete ein Händler ohne Kommissionshandelsvertrag folglich nicht halb so viel wie ein Kommissionär. Auch in der mittelständischen Industrie war der Einfluss des Staates gestiegen. Mitte der 1960er Jahre überstieg die Zahl der halbstaatlichen erstmals die der privaten Betriebe. 1956 hatte es erst 144 BSB und noch 12.278 Privatbetriebe gegeben. Bis 1971 gaben 3.788 Mittelständler auf, 2.976 arbeiteten
37 38
39 40 41 42
Vgl. Hoffmann, Kommissionshandel, S. 67. Bis 1962 war die Zahl der BSB rasch auf 5.277 gestiegen; in den darauffolgenden Jahren nahm sie demgegenüber nur noch langsam zu. In der SED-Zentrale vermutete man, dass die verbliebenen Unternehmen (1962: 5.072) entweder wirtschaftlich stark und daher „noch nicht bereit“ seien, eine Beteiligung aufzunehmen, oder volkswirtschaftlich zu unbedeutend seien, weshalb kein staatliches Interesse an einer Beteiligung bestehe. Steiner, Re-Kapitalisierung, S. 242 f. Ebbinghaus, Ausnutzung, S. 110. Ebd. S. 111. Vgl. Hoffmann, Kommissionshandel, S. 76. Inhaber von privaten Industriebetrieben ohne staatliche Beteiligung standen ebenfalls vor dem Problem, dass sie häufig keinen Nachfolger fanden. Steiner, Re-Kapitalisierung, S. 244. Diese Angaben beziehen sich auf das Jahr 1966. Hoffmann, Kommissionshandel, S. 92.
2.2 Von der Auflösung der „IHK der DDR“ zur Verstaatlichung der Industrie
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trotz Restriktionen ohne Staatsanteil weiter, während 5.658 Unternehmer eine staatliche Beteiligung aufgenommen hatten.43 Kooperationswillige Mittelständler konnten in den 1960er Jahren davon ausgehen, dass sie in der DDR mittelfristig eine Existenzgrundlage haben würden. Studiengänge in marxistisch-leninistischer Ökonomie richteten sich speziell an Komplementäre halbstaatlicher Betriebe.44 Unabhängig von der Frage, ob die Studieninhalte für die Betriebsführung nützlich waren, wies ein Studienabschluss den Absolventen als sozialistische Führungskraft aus. BSB waren bei ihrer Einführung als „Übergangsform zum sozialistischen Betrieb“ definiert worden.45 Ulbricht persönlich dehnte diesen Zeithorizont aus, indem er Sozialismus nicht als „Übergangsphase“, sondern als „relativ selbstständige sozialökonomische Formation in der historischen Epoche des Übergangs vom Kapitalismus“46 verstanden haben wollte. Halbstaatlichen Betrieben hatte er eine Bestandsperspektive bis 1990 in Aussicht gestellt.47 Dass es bereits 1972 zur Verstaatlichung der noch gut 8.500 privaten und halbstaatlichen Betriebe kam, hatten viele der Betroffenen daher vorhergesehen. Speziell in den Betrieben mit staatlicher Beteiligung hatten sich Produktivität und Rentabilität positiv entwickelt.48 Sowohl fiskalisch als auch gesamtwirtschaftlich zahlten sich die Beteiligungen für den Staat somit aus. Die Gewinne der BSB stiegen insbesondere ab 1967 stark. Dies hatte unterdessen andere Ursachen, als sich unter marktwirtschaftlichen Bedingungen unterstellen ließ: In der DDR-Planwirtschaft waren 1964 neue Lenkungsmechanismen implementiert worden. Hinter den Kürzeln „NÖSPL“49 bzw. „ÖSS“50 verbarg sich eine groß angelegte Reform. Die Wirtschaft sollte nicht mehr nur durch Plankennziffern, sondern auch durch materielle Anreize – Preise, Prämien usw. – gelenkt werden. Es entsprach daher durchaus der Absicht, den Betriebsgewinn zum zentralen Indikator des wirtschaftlichen Erfolgs werden zu lassen. Nichtsdestoweniger hielt die SED auch beim NÖSPL bzw. ÖSS an ihrem allumfassenden Steuerungsanspruch fest. Leistungsergebnisse wurden daher, wie zuvor, in jedem Einzelfall im Vorhinein festgelegt. Die Gewinne der privaten und halbstaatlichen Betriebe hatten gemäß Modellrechnungen einer 1967 eingeführten Industriepreisreform leicht sinken sollen.51 Der statt43 44 45 46 47 48
49 50 51
Hoffmann, Betriebe, S. 104. Hoffmann, Kommissionshandel, S. 84. Verordnung über die Bildung halbstaatlicher Betriebe vom 26. September 1959. In: GBl. der DDR I, 1959, S. 253–256. Ulbricht, Bedeutung, S. 38. Steiner, Re-Kapitalisierung, S. 253. Private Industriebetriebe waren zu Beginn der 1960er Jahre weniger produktiv als volkseigene Betriebe. Halbstaatliche Betriebe konnten diesen Rückstand im Laufe des Jahrzehnts verkleinern, während Industrieunternehmen ohne staatliche Beteiligung weiter zurückfielen. Ebd. S. 196 u. 242 ff. Das „Neue Ökonomische System der Planung und Leitung“ war der Titel der ersten Reformphase, die 1963 beschlossen und ab 1964 umgesetzt wurde. Das „Ökonomische System des Sozialismus“ berücksichtigte von 1967 an die Erfahrungen, die die Planer mit dem NÖSPL gesammelt hatten. Es verfolgte die Idee der Steuerung durch indirekte Anreize weiter. Steiner, Re-Kapitalisierung, S. 217.
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2. Unternehmer und Kammern in SBZ und DDR
dessen eingetretene Anstieg zeigte, dass die Planungsbürokratie nach wie vor außer Stande war, wirtschaftliche Prozesse präzise vorherzubestimmen. Kritikern der Reform spielte dies in die Hände. Wie schon bei der zuvor praktizierten Planung, ergaben sich aus der indirekten Lenkung ebenfalls nicht-intendierte Folgen. Dies betraf sowohl halbstaatliche als auch staatliche Betriebe.52 Beide wiesen die Neigung auf, knappe Güter und Produktionsfaktoren zu horten und Planvorgaben zu ihren Gunsten zu interpretieren. Vor allem die stark gestiegenen Gewinne der BSB ließen sich politisch ausschlachten. Honecker, der von Beginn an zu den Kritikern des NÖSPL gezählt hatte, agitierte gegen eine „Rekapitalisierung“ der DDR.53 Eine sachliche Grundlage gab es dafür nicht: Die Gesellschafterverträge der BSB ließen es nicht zu, dass die privaten Anteilseigner Gewinne im Unternehmen beließen, um ihre Anteile aufzustocken. Ausschüttungen mussten, von einer bestimmten Schwelle an, zu 95 Prozent an das Finanzamt abgeführt werden. Im Durchschnitt betrug das Nettoeinkommen eines Komplementärs daher etwa das 3,5-Fache dessen, was Arbeiter und Angestellte verdienten.54 Dieses Einkommen umfasste sowohl das Gehalt als Betriebsleiter als auch Freibeträge für mithelfende Familienangehörige. Für die abrupt losgetretene Verstaatlichungskampagne war die behauptete Re-Kapitalisierung daher nur ein Vorwand; Honecker nutzte diesen außerdem, um Ulbricht von der Macht zu verdrängen. Der neue „erste Mann im Staat“ plante eine Abkehr vom ÖSS. Im Rahmen der von ihm propagierten „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ sollten die Konsumausgaben erhöht werden. Die Enteignungen erschlossen dabei eine willkommene Finanzierungsquelle.55 Das Zentralkomitee (ZK) der SED beschloss am 8. Februar 1972, die verbliebenen etwa 8.500 privaten und halbstaatlichen Industriebetriebe zu verstaatlichen.56 Es bestimmte zudem, dass frühere BSB mit „volkseigenen Betrieben“ (VEB) fusionieren mussten. Mittelständische Unternehmenseinheiten, die für einzelne Industriezweige charakteristisch geblieben waren, wurden so sukzessive aufgelöst. Der ZK-Beschluss zielte noch auf einer weiteren Ebene auf eine Löschung von Traditionen: Firmen durften den Namen ihrer ehemaligen Besitzer nicht weiterführen. Der Großteil der Unternehmer wurde in den fusionierten VEB gleichwohl wiedereingestellt und setzte seine Arbeit als Betriebsleiter fort.57 Dies war nur auf den ersten Blick widersprüchlich: Die SED hatte seit langem den Plan verfolgt, die Unternehmer schrittweise zu sozialistischen Leitern zu machen; die Wende in der Mittelstandspolitik änderte zumindest daran nichts.
52 53 54 55 56 57
Ebd. S. 266. Vgl. Ebbinghaus, Ausnutzung, S. 193. Steiner, Re-Kapitalisierung, S. 264. Ebd. S. 263. Beschluss des Politbüros der ZK der SED vom 8. Februar 1972. Zit. nach Hoffmann, Die Betriebe, S. 132–134. Der Beschluss betraf außerdem größere Handwerksbetriebe. Insgesamt wurden auf seiner Grundlage daher 11.000 Betriebe verstaatlicht. Dies traf auf etwa 85 Prozent der Komplementäre zu. Hoffmann, Betriebe, S. 167.
2.3 Gewerbepolitik in der Ära Honecker
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2.3 GEWERBEPOLITIK IN DER ÄRA HONECKER Die Verstaatlichungen von 1972 waren eine Zäsur im Verhältnis zwischen Staat und Selbstständigen. Blockpartein waren Transmissionswerkzeuge der SED, um dem Kommunismus fernstehende Bevölkerungsgruppen zu organisieren.58 Als die Duldung des privaten Produktionseigentums in der Industrie widerrufen wurde, war es ihre Aufgabe, die Kursänderung umzusetzen. Sie mussten die Sozialisierungskampagne als Avantgarde anführen, was ihren Funktionären die Gelegenheit verschaffte, sich bei der SED-Führung durch vorauseilenden Gehorsam auszuzeichnen. Einfache Parteimitglieder konnten dies mitunter nicht nachvollziehen.59 Die gesamte Verstaatlichungsaktion konnte in nur fünf Monaten abgeschlossen werden. Nach außen hin verkauften Komplementäre ihre Anteile meist freiwillig. Tatsächlich übten offizielle Stellen großen Druck aus, um entsprechende Einwilligungserklärungen zu erhalten. Die Kaufpreise entsprachen in der Regel einer geringen Entschädigung.60 Die Verstaatlichungskampagne hatte sich unkontrolliert radikalisiert. Infolgedessen wurden auch Unternehmer erfasst, die nicht im Fokus hatten stehen sollen. Ein Beispiel dafür lieferte das Vorgehen der NDPD in Schwerin. Die Partei hatte viele selbstständige Händler unter ihren Mitgliedern. Im Zuge der Verstaatlichungsaktion übergab sie der Schweriner IHK eine Liste mit Mitgliederadressen privater Verkehrs- und Fuhrbetriebe. Die Kammer sollte eine „Aussprache […] zwecks evtl. Überführung in das Volkseigentum“61 führen. Auch in anderen Bezirken gab es Funktionäre, die willkürlich vorgingen und z. B. Handelsbetriebe mit staatlicher Beteiligung oder Betriebe mit weniger als zehn Mitarbeitern enteigneten. Derartige Maßnahmen wurden später auf Geheiß der SED-Führung zurückgenommen.62 Sie hinterließen allerdings Spuren. Dies zeigte sich an der weiteren Entwicklung der privaten Wirtschaft. Kommissionsverträge büßten ab 1972 merklich an Attraktivität ein.63 Die Zahl bestehender Verträge stagnierte nicht, sie ging von nun an sogar zurück. Die zuvor praktizierte Politik der Anreize und Diskriminierungen wirkte nicht mehr. Da Händler ohne Kommissionsvertrag ihr Geschäft schon seit längerem vermehrt aufgaben, verlor der private Handel insgesamt an Boden. Eine Verordnung, die es den Behörden von 1972 an ermöglichte, neue Gewerbelizenzen zu vergeben, änderte hieran zunächst nichts.64 Die staatlichen Stellen machten von ihr kaum Gebrauch. 58
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Vgl. Weber, DDR, S. 188. Das Motiv, sich einer Blockpartei anzuschließen, bestand in der Praxis oft darin, der Aufforderung auszuweichen, in die SED einzutreten. Unternehmer gehörten häufig der – jeweils nominell – liberaldemokratischen, nationaldemokratischen bzw. christdemokratischen LDPD, NDPD bzw. CDU an. Vgl. Hahn/Geiseler, Einhundert, S. 123. Vgl. Steiner, Re-Kapitalisierung, S. 264. Zit. nach: Rehberg-Credé, Betreuung, S. 179. Vgl. Ebbinghaus, Ausnutzung, S. 181 ff. 1971 erreichte die Bedeutung der Kommissionäre einen Höchststand. Ihr Anteil am Umsatz im Einzelhandel betrug 9,2 %. Vgl. Hoffmann, Kommissionshandel, S. 100. Verordnung über die Förderung des Handwerks bei Dienst- und Reparaturleistungen und die Regelung der privaten Gewerbetätigkeit vom 12. Juli 1972. In: GBl. der DDR II, 1972, S. 541–
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2. Unternehmer und Kammern in SBZ und DDR
Die private Wirtschaft drohte in der DDR somit fast vollständig zu verschwinden. Mit der Verordnung von 1972 sollten Versorgungsengpässe abgewendet werden. Dabei wurde in erster Linie die Rolle der Räte der Bezirke und der Kreise betont. Die „Industrie- und Handelskammern“ spielten für die Wirtschaftsförderung demgegenüber kaum eine Rolle. Mit dem Verlust der privaten Industriebetriebe hatten sich die Kompetenzen der Kammern ohnehin stark verringert. Dies kam nicht nur in einer verkleinerten Mitarbeiterzahl zum Ausdruck. Oft verloren sie nun auch das Recht, ihre historischen Gebäude zu nutzen.65 Die IHKn zogen daher in Hinterhöfe oder teilten sich Gebäude mit den Handwerkskammern bzw. mit anderen Behörden – in Cottbus etwa mit der Staatsanwaltschaft.66 Diejenigen, die nach 1972 an einer selbstständigen Existenz festhielten, taten dies – so kann jedenfalls vermutet werden – aufgrund ideologischer Distanz zum SED-Staat.67 Materiell trug den Selbstständigen ihre Arbeit nur wenig ein. Vor allem wegen des erschwerten Generationenwechsels war eine Zukunftsperspektive oftmals nicht gegeben. Mit der Rhetorik der Bündnispolitik stieß die SED bei Gewerbetreibenden auf kein Gehör mehr. Dies erwies sich aber als wachsendes Problem: Durch den kontinuierlichen Schwund an privaten Gastronomie- und Einzelhandelsbetrieben sowie an handwerklichen Reparaturbetrieben verschlechterte sich die Versorgungslage zusehends. Die Führung der DDR war dadurch gezwungen, zu handeln. Ein Förderbeschluss des Ministerrats hielt die Räte der Bezirke im Februar 1976 an, die „Anzahl der Kommissionshändler, privaten Händler und Gastwirte konstant zu halten und die Leistungsfähigkeit dieser Einrichtungen zu erhöhen“.68 Der Politikwechsel wurde durch eine Artikelserie im Neuen Deutschland (ND) flankiert. Im Rahmen dessen wurde der Beschluss zur Fortsetzung der wirkungslos gebliebenen 72er-Verordnung erklärt: Schon damals habe die Intention bestanden, die Selbstständigen zu fördern. Unzureichende Aufklärungsarbeit sowie sektiererische Räte hätten dies auf lokaler Ebene behindert.69 Sogar im Parteiprogramm der SED wurde ein Passus aufgenommen, der ein neues Verhältnis der Gewerbetreibenden zur sozialistischen Gesellschaft beschwor.70 „Gewerbetreibende“ war von nun an die offizielle Bezeichnung für jene selbstständigen Existenzen, die es in der DDR noch gab.
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545. So u. a. in Halle a. d. Saale und Schwerin. Dalchow, Industrie- und Handelskammer HalleDessau, S. 286; Rehberg-Credé, Betreuung, S. 180. Schreiben des Hauptgeschäftsführers der IHK Saarbrücken an den DIHT zum Entwicklungsstand der IHK Cottbus vom 16. März 1990. RWWA 181-1929-2. Åslund, Private Enterprise, S. 218. So der Wortlaut im Argumentations- und Arbeitsmaterial zu den Vergünstigungen für das private Handwerk, die PGH sowie die Handels- und anderen Gewerbetreibenden. Zit. nach: Rehberg-Credé, Betreuung, S. 181. Vgl. Åslund, Private Enterprise, S. 199. „Die sozialistische Gesellschaft bietet den Handwerkern und Gewerbetreibenden günstige Möglichkeiten, ihre Kräfte und Fähigkeiten im Interesse der Gesellschaft anzuwenden, am Aufbau der neuen Gesellschaft aktiv mitzuwirken und eine entsprechende Vergütung für ihre Arbeit zu erhalten.“ Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (vom 22. Mai 1976). In: Fricke, Programm, S. 73.
2.3 Gewerbepolitik in der Ära Honecker
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Die ideologische Neuausrichtung der SED gegenüber Kleingewerbetreibenden war von materiellen, vor allem steuerrechtlichen Verbesserungen flankiert. Die Zahl der Selbstständigen stabilisierte sich daraufhin tatsächlich, was auch daran lag, dass Gewerbegenehmigungen nun leichter auf einen Nachfolger überschrieben werden konnten. Solche Anträge waren zuvor oft abschlägig beschieden worden. Übernehmende Kaufleute erhielten nun für ein Jahr Steuerfreiheit, wenn ihre Jahressteuer den Betrag von 10.000 Mark nicht überschritt.71 Für Rationalisierungsinvestitionen erhielten sie Kredite und zusätzliche Steuererleichterungen. Das Ziel, den Bestand an Gewerbebetrieben konstant zu halten, machte es nötig, neue Gewerbegenehmigungen zu erteilten. Die Bezirksräte gaben daher, erstmals seit 1954, wieder in größerem Umfang Lizenzen aus. Die Bereitschaft, sich beruflich zu verselbstständigen, war in der Bevölkerung durchaus vorhanden: In Ost-Berlin gab es 1981 circa 2.800 gewerbliche Selbstständige. Dem standen 2.000 Anträge auf eine neue Gewerbelizenz gegenüber.72 Für Antragsteller bedeutete dies, dass die Räte enge Auswahlkriterien anlegen und – gerüchteweise – Schmiergeld verlangen konnten. Das Kleingewerbe entwickelte sich positiv; gleichwohl orientierten sich die Behörden strikt an der Zielvorgabe, die Zahl der Betriebe konstant zu halten. Im Hinblick auf den Anteil, den der private Sektor (Kleingewerbe und Handwerk) am Bruttoinlandsprodukt hatte, wies die offizielle Statistik während der 1980er Jahre kontinuierlich einen Anteil von etwa vier Prozent aus. Der Beitrag der Privatwirtschaft war zum Ende der Dekade sogar – erstmals in der Geschichte der DDR – minimal gestiegen.73 Den Bezirksräten war die Hauptverantwortung dafür zugeschoben worden, dass der Rückgang an privaten Gewerben zu Versorgungsproblemen geführt hatte. Die Kritik im ND galt vor allem ihrer mangelhaften ideologischen Vermittlungsleistung – weshalb die Neuausrichtung der Gewerbepolitik die Relevanz der Kammern wieder steigen ließ. Ihre Aufgabe war es, Gewerbetreibende ideologisch einzubinden – unter der Anleitung und Kontrolle der Bezirksräte. Die Sicherung der „Versorgung der Bevölkerung“ rückte von nun an in den Mittelpunkt der Arbeit der IHKn. Nach 1976 wurde jedwede Fördermaßnahme zugunsten des privaten Gewerbes mit diesem Argument gerechtfertigt. Die Kammern sorgten von nun an auch wieder stärker für die Abstimmung zwischen Kommissionären und den staatlichen Handelsorganisationen.74 Gewerbeförderung war nicht zuletzt zu einer dringlichen politischen Angelegenheit geworden, weil die Volkswirtschaft der DDR stark angeschlagen war. Honecker war mit der Parole „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ an die Spitze des Staates gelangt. Er hatte die Konsumausgaben binnen weniger Jahre massiv erhöht. Die eingeplanten Produktivitätssteigerungen, mit denen diese Ausgaben hätten finanziert werden sollen, blieben allerdings aus. Die Aus71 72 73
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Hoffmann, Kommissionshandel, S. 101 f. Åslund, Private Enterprise, S. 202. Der privatwirtschaftliche Anteil am Nettoprodukt der DDR betrug 1950 = 44,7 %; 1960 = 16,8 %; 1970 = 15,0 %; 1980 = 4,0 %; 1989 = 4,3 %. Höhere Anteile wiesen 1989 die Bauwirtschaft (8,9 %) und der Binnenhandel (8,2 %) auf. Zentralverwaltung für Statistik der DDR, Statistisches Jahrbuch 1990, S. 105. So z. B. die IHK Schwerin. Rehberg-Credé, Betreuung, S. 182.
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2. Unternehmer und Kammern in SBZ und DDR
landsverschuldung stieg infolgedessen stark an und erreichte ein kaum noch zu tragendes Maß. Das Regime steckte in einem Dilemma: Der Bevölkerung war ein steigender Lebensstandard versprochen worden. Zugleich stieg der Druck, ökonomische Sanierungsmaßnahmen einzuleiten. Importkürzungen und Exportsteigerungen ließen sich daher nicht nach Belieben durchsetzen. Eine Verbesserung der ökonomischen Effizienz bot unter diesen Umständen einen Ausweg. Hochrangige Vertreter des Regimes gaben bisweilen zu erkennen, dass sie erkannt hatten, wie das zu bewerkstelligen war: Durch einen größeren Spielraum für die private Wirtschaft.75 Der Ministerrat erhöhte 1984 den Betrag, von dem an Kommissionshändler hohe Steuerzuschläge auf ihren Jahresgewinn zahlen mussten.76 Faktisch war dies eine Steuersenkung. Kommissionäre konnten nun 30.000 statt 24.000 Mark im Jahr zum regulären Tarif versteuern. Auch die dann anfallenden Zuschläge wurden leicht gesenkt. Viele Kommissionäre traten kürzer, sobald die Schwelle erreicht war; ihnen sollte ein Anreiz zur Mehrarbeit geboten werden.77 Bei einer Geschäftsübernahme konnte nun außerdem für zwei statt für ein Jahr Steuererleichterungen gewährt werden.78 Die Kammern erhielten 1983 ein neues Statut.79 Im Zuge dessen änderte sich ihre Bezeichnung in „Handels- und Gewerbekammern“ (HGKn). Das Statut reihte sich in weitere gewerbepolitische Maßnahmen ein: Diese führten zu oberflächlichen Veränderungen, zielten im Grunde genommen aber auf einen Erhalt des Status quo. So trug man mit der Umbenennung der Kammern der Tatsache Rechnung, dass die letzten privaten Industriebetriebe zehn Jahre zuvor verstaatlicht worden waren.80 Bedeutung kam dem Statut aus einem anderen Grund zu: Es demonstrierte, dass der politische Stellenwert privater Gewerbetätigkeit gestiegen war, da sich der Ministerrat den marginalisierten Kammern zuwandte. Das HGK-Statut definierte die Kammern nicht länger als Werkzeuge des Klassenkampfs. An die Stelle von „Erläuterung der Gesetze und Maßnahmen der Arbeiter- und Bauernmacht“ trat nun eine neutrale Formulierung. Die Kammern sollten die „Vermittlung von Rechtskenntnissen“ im Rahmen der „fachlichen und politischen Qualifizierung“ der Mitglieder leisten. Das Statut legte ein besonderes Augenmerk darauf, Mitglieder anzuleiten und „in die Lösung der volkswirtschaftlichen Aufgaben des Territoriums“ einzubeziehen. Die Zielvorgabe lautete dabei, eine effizienz- und ressour75 76 77
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Egon Krenz nannte 1984 im ND die Versorgung der Bevölkerung als „erstrangige politische Aufgabe“. In diesem Zusammenhang sprach er sich für die Förderung „kleiner Gaststätten und Geschäfte“ aus. Zit. nach: Weber, DDR, S. 98. Dritte Verordnung über die Besteuerung der Kommissionshändler. In: GBl. der DDR I, 1984, S. 115. Bei einem Jahresgewinn von über 30.000 Mark mussten nur noch 30 statt 50 % zusätzlich abgeführt werden. Erst ab 35.000 Mark Jahresgewinn stieg der Zuschlag auf 50 %. Attraktiv war weder der alte noch der neue Tarif. Stieg der Jahresgewinn über 35.000 Mark, musste eine „Strafzahlung“ von 1.500 Mark an den Staat abgeführt werden. Das Nettoeinkommen entsprach dann einer Höhe, die auch bei einem Jahresbrutto von etwa 30.000 Mark erreicht wurde. Vgl. Hoffmann, Kommissionshandel, S. 101 f. Statut der Handels- und Gewerbekammern der Bezirke – Beschluß des Ministerrates vom 2. Februar 1983. In: GBl. der DDR I, 1983, S. 62 ff. Vgl. Hardach, Industrie- und Handelskammertag, S. 158.
2.3 Gewerbepolitik in der Ära Honecker
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cenorientierte Leistungsentwicklung zu gewährleisten. Neu war weiterhin, dass Rechte und Pflichten der Mitglieder fixiert wurden. Bisher war den Kammern ein Beirat zur Seite gestellt worden, der drittel-paritätisch mit Unternehmern, Gewerkschafts- und Verwaltungsvertretern besetzt war. Dieser wurde abgeschafft. Mitglieder wurden im neuen Statut aufgerufen, sich unmittelbar mit Verbesserungsvorschlägen einzubringen und in „Kommissionen“ und „Beratungsaktivs“ mitzuarbeiten. Ein Selbstverwaltungsrecht gestand die SED den HGKn gleichwohl nicht zu. Der Direktor sollte weiterhin durch den Rat des Bezirks bestellt werden, und auch über ihre Finanzen konnten die HGKn nicht selbst entscheiden. Im Rückblick beschrieben manche Mitglieder den persönlichen Kontakt zur HGK als angenehm, obgleich diese keine wirksame Interessenvertretung gewesen sei.81 In den späten 1980er Jahren gab es weitere Anzeichen für Veränderungen in der Gewerbepolitik. Kandidaten der Blockparteien wurden häufiger zum Direktor einer HGK berufen. Die Blockparteien organisierten mehr HGK-Mitglieder als die SED und waren daher eher dazu geeignet, diese in das System einzubinden. Aus Sicht der Selbstständigen kam es auch zu handfesten Verbesserungen: Im März 1988 fasste der Ministerrat einen weiteren Förderbeschluss zugunsten privater Einzelhändler und Gastwirte.82 Er hielt die örtlichen Räte dazu an, private Versorgungseinrichtungen wie Kioske und Imbisse forciert in Neubaugebieten anzusiedeln. Erstmals kamen finanzielle Erleichterungen auch Händlern ohne Kommissionsvertrag zugute. Der Beschluss räumte sogar Möglichkeiten zur Privatisierung kleiner Verkaufsstellen ein: Die sozialistischen Einzelhandelsbetriebe können […] den örtlichen Räten Vorschläge unterbreiten, wonach die Versorgungstätigkeit vorwiegend kleiner Verkaufsstellen und Gaststätten im Sinne von Familienbetrieben von privaten Gewerbetreibenden mit dem Ziel übernommen wird, durch Nutzung privater Initiativen eine Erhöhung des Versorgungs- und Dienstleistungsniveaus im jeweiligen Territorium zu erreichen.83
Zu umfassenden Privatisierungen kam es einstweilen nicht. Die Bezirksräte reagierten zögerlich auf diese Möglichkeit, was mindestens so erstaunlich war wie die Neuregelung selbst: Von 1984 bis 1987 waren Umsatz und Gesamtbestand der privaten Gaststätten und Handelsbetriebe moderat gewachsen, wie aus einer Analyse des Ministeriums für Handel und Gewerbe hervorging, die dem Ministerrat vorgelegen hatte. Diese belegte minutiös, dass die früheren Förderbeschlüsse sich auch fiskalisch positiv ausgewirkt hatten. Unrentable volkseigene Verkaufsstellen waren demgegenüber eine fiskalische Belastung. Eine Privatisierung hätte, so schätzte man regierungsintern, Abhilfe geboten:
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Daneben gab es auch Stimmen, die das Auftreten der HGKn als gängelnd empfanden, wie eine rückblickende Befragung von Mitgliedern der IHK zu Rostock zeigte. Sasnowski/Sawitzki/ Schmidt, Industrie- und Handelskammer des Bezirks Rostock, S. 229 ff. Maßnahmen zur weiteren Steigerung des Leistungsvermögens privater Einzelhändler und Gastwirte und zur Erhöhung ihrer Versorgungsleistungen für die Bevölkerung. BArch DC 20I/3/2626. Ebd. S. 157.
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2. Unternehmer und Kammern in SBZ und DDR Damit sind gleichzeitig für eine Reihe kleiner Objekte, die gegenwärtig mit ökonomischen Verlusten arbeiten bzw. mit einem hohen Arbeitskräfteaufwand betrieben werden, Effektivitätsreserven zu erschließen.84
Effizienzsteigerungen herbeizuführen hätte gleichwohl bedeutet, ökonomische Freiheiten gewähren zu müssen. Die Zurückhaltung auf Seiten der Behörden zeigte, dass die Funktionäre der SED sich mit diesem Gedanken nur schwer anfreunden konnten. DIHT-Präsident Hans Peter Stihl reiste im Sommer 1989 zu Wirtschaftsgesprächen in die DDR. Bei seinen Gesprächspartnern registrierte er ein ausgeprägtes Interesse an der Entwicklung kleiner und mittlerer Gewerbe.85 Auf ostdeutscher Seite wünschte man einen weiteren Erfahrungsaustausch, zu dem es aufgrund der darauffolgenden politischen Ereignisse nicht mehr kam. In der Gesamtbilanz der DDR-Gewerbepolitik der 1980er Jahre gab es daher nur wenig Zählbares. Gewerbeförderung war in erster Linie erfolgt, um Versorgungslücken zu schließen, die zu Unruhe in der Bevölkerung hätten führen können. Die HGKn hatten den Auftrag, die grundsätzliche Unvereinbarkeit zu vertuschen, in der private Gewerbe zum herrschenden System standen. Eine politische Mitsprache der Gewerbetreibenden war nicht vorgesehen.
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Ebd. Schäfer, Dienen, S. 55.
3. DIE WIEDERHERSTELLUNG DER WIRTSCHAFTLICHEN SELBSTVERWALTUNG VOR DER WIEDERVEREINIGUNG 3.1 VON HANDELS- UND GEWERBE- ZU INDUSTRIEUND HANDELSKAMMERN 3.1.1 Am Vorabend der Friedlichen Revolution: Eine „Wende“ in der Gewerbepolitik? Die Gewerbepolitik war eines mehrerer Felder, auf denen das SED-Regime unter Honecker einschneidende Veränderungen scheute. Die DDR der 1980er Jahre wirkte daher, von außen betrachtet, wie erstarrt und galt – auf eine als rätselhaft empfundene Art und Weise – als stabil.1 Dieser Eindruck kontrastierte seit Mitte jenes Jahrzehnts zunehmend mit den Entwicklungen in der Sowjetunion, wo der neue Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, tiefgreifende Reformen anstrebte, um die Krise zu lösen, die die sowjetische Wirtschaft lähmte. Noch im Frühjahr 1989 erteilte Honecker jedweder Hoffnung auf analoge Veränderungen in der DDR eine Absage.2 Die Entscheidung hierüber sollte ihm bald darauf abgenommen werden. Im Mai jenes Jahres kam es zu Kommunalwahlen, die das SEDRegime wie schon zu früheren Gelegenheiten zu seinen Gunsten manipulierte. Erstmals rief dies Proteste von Wählern hervor, die der Repressionsapparat nicht gänzlich unterdrücken konnte. Auch dies ermutigte Dissidentenzirkel dazu, neue politische Gruppierungen zu gründen und Mitsprache einzufordern. Die akute Flüchtlingskrise jenes Sommers rückte die DDR in den Fokus der internationalen Öffentlichkeit. Die Oppositionsbewegung erhielt dadurch zusätzliche Möglichkeiten, um ihre Botschaften mittels westlicher Medien in die Bevölkerung zu senden. Das „Neue Forum“ war der wohl bedeutendste Zusammenschluss von Dissidenten. Es verstand sich als Plattform, um Störungen in der „Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft“3 zu beheben. Im Herbst wuchsen die Proteste zu einer Massenbewegung an. Am 9. Oktober kam es in Leipzig zu einer Großdemonstration, der die alarmierten Kräfte des staatlichen Sicherheitsapparats nichts entgegenzusetzen hatten. Das Ereignis erwies sich als Vorspiel zur innerparteilichen Entmachtung Honeckers, der als Anhänger einer „chinesischen Lösung“4 galt. Eine gewaltsame Niederschlagung der Proteste verbot sich indessen, da die SED für diesen Fall Wirtschaftssanktionen fürchten muss1 2 3 4
Vgl. Port, Stabilität, S. 16 f. Vgl. Rödder, Deutschland, S. 65. Zit. nach: Ebd. S. 67. Im Juni 1989 hatte die Chinesische Staats- und Parteiführung Studentenproteste auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“ in Peking blutig niedergeschlagen. Die Führung der DDR hatte das Vorgehen der chinesischen Regierung unterstützt.
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3. Die Wiederherstellung der wirtschaftlichen Selbstverwaltung
te.5 Eine politische Isolation der DDR hätte die Aussichten auf eine Beruhigung der Situation in weite Ferne gerückt. Der neue Mann an der Spitze des Staates, Egon Krenz, rief eine „Wende“ aus, um die SED aus der Defensive zu führen. Dies bedeutete, den Dialog einzugehen, den u. a. das Neue Forum gefordert hatte.6 Die Glaubwürdigkeit des neuen Staatsratsvorsitzenden war von Beginn an mit Zweifeln behaftet, da Krenz die Wahlfälschungen des Frühjahrs persönlich verantworten musste. Dem Vorwurf, die Krise von Staat und Wirtschaft ebenfalls zu beschönigen, wollte er sich daher wohl nicht aussetzen. Im Unterschied zu seinem Vorgänger ließ Krenz es zu, dass im ZK offen über wirtschaftliche Missstände gesprochen wurde. Gerhard Schürer, Chef der Staatlichen Planungskommission, erhielt den Auftrag, einen Lagebericht auszuarbeiten. Dieser sollte als Diskussionsgrundlage dienen.7 Krenz trat am 24. Oktober vor die Volkskammer, um seine Ziele zu erläutern. Er bemühte eine Rhetorik des Neuanfangs und stritt Fehlentwicklungen nicht ab. Zugleich machte er deutlich, dass das Staats- und Gesellschaftssystem keinesfalls in Frage gestellt werde.8 Folgerichtig vermied er es, die Krise systemisch zu analysieren und würdigte das Erreichte mit großer Entschiedenheit. Ein bemerkenswertes Problembewusstsein offenbarte Krenz, als er forderte, „die Entscheidungsund Willensbildungsprozesse in der Gesellschaft“9 müssten „als erlebbare Akte der Souveränität des Volkes“ gestaltet werden. Grundsatzkritik an der „sozialistischen Demokratie“ übte der Staatsratsvorsitzende hier allerdings nicht. Er präzisierte seinen Aufruf nämlich, indem er anmahnte, dies müsse „fortan besser“ geleistet „und überall auch so verstanden“ werden. Dementsprechend mussten sich die Parteien und Massenorganisationen der DDR angesprochen fühlen. Ihnen war in der Vergangenheit die Aufgabe zugekommen, zentral gefasste Entscheidungen zu vermitteln und so dem Willen der herrschenden Partei zur Geltung zu verhelfen. Dies forderte Krenz nun ein, als er um Vorschläge bat, wie die politische Krise zu überwinden sei. Er machte deutlich, dass diese grundsätzlichen Ausführungen auch
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Schäfer, DDR, S. 169. Vgl. Rödder, Deutschland, S. 89 ff. Gemeinsam mit weiteren Spitzenfunktionären der DDR-Wirtschaft verfasste Schürer eine drastische Schilderung der wirtschaftlichen Lage der DDR. Das Papier trug den Titel „Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlußfolgerungen“. Eine häufig zitierte Passage stellte fest: „Allein ein Stoppen der Verschuldung würde im Jahre 1990 eine Senkung des Lebensstandards um 25–30 % erfordern und die DDR unregierbar machen“ (zit. nach: Rödder, Deutschland, S. 97). Die Autoren kamen insgesamt zum Ergebnis, dass eine engere wirtschaftliche Kooperation mit der Bundesrepublik sowie mit dem westeuropäischen Ausland nötig sei; die Idee der Schaffung einer Konföderation mit der Bundesrepublik bzw. gar eine Wiedervereinigung wiesen sie ausdrücklich zurück. „Die Erneuerung unserer Gesellschaft, die wir erstreben, braucht das feste sozialistische Fundament, das wir gemeinsam gelegt haben. Darin sind wir uns alle einig – wir alle im demokratischen Bündnis: Erneuerung braucht die Solidität und Identität, die im Geschichtlichen wurzelt, ohne daß wir über Fehler und deformierende Einseitigkeiten hinweggehen, die den Bau unserer neuen Ordnung in den vergangenen Jahrzehnten auch begleitet haben.“ Das Wohl des Volkes ist unser elementarer Leitsatz. Erklärung von Egon Krenz vor der Volkskammer der DDR. In: Neues Deutschland, 25. Oktober 1989. Ebd.
3.1 Von Handels- und Gewerbe- zu Industrie- und Handelskammern
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auf die „weitere Förderung und Leistungsentwicklung von Handwerk und Gewerbe“ zu beziehen seien. Ein Artikel im ND thematisierte wenige Tage später die Ergebnisse einer Untersuchung der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED.10 Einleitend stellten die Autoren fest, dass die „tagtäglich spürbaren Mängel und Defizite bei Dienstleistungen, in der Versorgung und bei Reparaturen“ sich negativ auf das „Wohlbefinden der Menschen“ ausgewirkt hätten. Dies habe auch die politische Stabilität in Mitleidenschaft gezogen. Bei der Frage nach der Verantwortung lenkte das ND den Blick auf die Räte der Bezirke sowie der Kreise: Dort sei „die Sorge nicht zu übersehen, Handwerker und Gewerbetreibende könnten zu viel verdienen“. Dies habe die Auswertung von ca. 40 Zuschriften ergeben, die Handwerker und Gewerbetreibende an die Akademie gerichtet hätten. Auf lokaler Ebene habe man Gewerbelizenzen zu zögerlich ausgegeben und so die „Reproduktion der sozialen Schichten“ behindert. Speziell in Neubaugebieten herrschte oft eine schlechte Versorgung mit Dienstleistungen. Die Autoren listeten weitere konkrete Probleme auf: Privatbetriebe hätten unter einem Mangel an Ersatzteilen zu leiden. Aufgrund ihrer oft überalterten Fahrzeuge drohe in Kürze ein Leistungsabfall. Die steuerliche Belastung steige bei einem Bruttojahresgewinn von 60.000 Mark auf 75 Prozent, und ab 100.000 Mark seien sogar 95 Prozent an den Fiskus zu entrichten. Dies kritisierte das ND als kontraproduktiv, da es dazu führe, dass „kürzer getreten“ werde und die Versorgungslücken größer würden. Die Kenntnis dieser Zusammenhänge war keineswegs neu; gleichwohl war die SED zu einer Förderung von Handwerkern und Gewerbetreibenden in der Vergangenheit bestenfalls bereit gewesen, wenn bereits im Vorhinein beziffert werden konnte, wie hoch die Mehreinnahmen im Staatshaushalt ausfallen würden.11 Eine organisatorische Reform, so argumentierten die Autoren, koste demgegenüber nur wenig. Sie schlugen eine „zentrale Vertretung der Handwerker und Gewerbetreibenden“ vor, die die Interessen der ihr angeschlossenen Mitglieder „im Rahmen der sozialistischen Demokratie“ effektiver vertreten könne. Die „Ost-CDU“ war die erste der Organisationen des „demokratischen Blocks“, dem Zusammenschluss der Parteien und Massenorganisationen, die Krenz’ Aufruf nachkam und gewerbepolitische Vorschläge unterbreitete. Am 4. November nahm der Hauptvorstand der Blockpartei im Parteiorgan „Neue Zeit“ (NZ) Stellung.12 Seine Mitglieder brandmarkten Sozialneid gegen Handwerker und Gewerbeleute. Diese, die harten Leistungsprinzipien unterlägen, seien oft als „bereicherungssüchtige Kapitalisten“ verunglimpft worden. Dass sie die DDR während der 1950er und 1960er Jahre nicht ausnahmslos verlassen hätten, sei nicht zuletzt das Verdienst der Ost-CDU gewesen. Nach wie vor stecke „manchem Staatsfunktionär“ die Ableh10 11 12
Zur Diskussion gestellt: So wenig wie möglich verdienen? Oder: Soviel wie möglich leisten? Überlegungen zur Entwicklung von Handwerk und Gewerbe. In: Neues Deutschland, 28. Oktober 1989. So etwa beim Gewerbeförderbeschluss des Ministerrats vom März 1988, dem eine detaillierte Analyse der zu erwartenden fiskalischen Nettoeffekte vorausgegangen war. Des Geistes Kraft und der Hände Geschick. Gedenken zur Leistungsentwicklung von Handwerk und Gewerbe. In: Neue Zeit, 4. November 1989.
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3. Die Wiederherstellung der wirtschaftlichen Selbstverwaltung
nung von Handwerkern und Gewerbetreibenden „in allen Gliedern“. Die Blockpartei drosch auf denselben Sündenbock ein, der bereits im ND für die Versorgungsproblematik verantwortlich gemacht worden war: anonyme, ausführende Vertreter des Staatswesens. Der offiziellen Gewerbepolitik stellte der CDU-Hauptvorstand demgegenüber ein gutes Zeugnis aus: Ihr habe man viele neue und leistungsfähige Betriebe zu verdanken. Die Politik der Gewerbeförderung müsse daher fortgesetzt werden. Die Produktivität von Verkaufsstellen und Gaststätten, die vom volkseigenen bzw. genossenschaftlichen Handel in private Verantwortung überführt worden seien, steige um das Anderthalb- bis Zweifache, wie eine Untersuchung in jüngster Zeit gezeigt habe.13 In der Parteispitze, so hieß es weiter in der Stellungnahme, sei lange gerungen worden, ehe man sich darauf geeinigt habe, die Schaffung einer Zentralkammer jeweils für Handwerk sowie Handel und Gewerbe vorzuschlagen. Deren Organisation sollte nach Vorstellung der Blockpartei bis auf Kreisebene untergliedert werden. Das Konzept erinnerte daher an die IHK der DDR, die nach 1953 vorübergehend dazu gedient hatte, die Herrschaft der SED zu stabilisieren. Die Situation des Jahres 1989 wies dazu einen nicht unerheblichen Unterschied auf: Die Zentralkammer der 1950er Jahre war geschaffen worden, um die Produktionsleistung der privaten Industrie zu konsolidieren. In politischer Hinsicht hatte die IHK der DDR dazu gedient, Kontrolle zu verstärken, wie ein Vergleich mit früheren Kammerorganisationen zeigte.14 Die private Industrie war gut drei Jahrzehnte später verschwunden; vor diesem Hintergrund war unklar, welche wirtschaftlich-organisatorischen Aufgaben eine neue Zentralkammer erfüllen konnte. Der Hauptvorstand der CDU betonte, die von ihr vorgeschlagene Kammer dürfe nicht nur Staatsinteressen übermitteln, sondern müsse auch Mitgliederinteressen gegenüber dem Staat vertreten. Den Begriff der Selbstverwaltung enthielt die Stellungnahme nicht. Stattdessen war davon die Rede, eine „staatliche Leitung“ der privaten Betriebe zu schaffen, der Handwerker und Gewerbetreibende „zu unterstellen“ seien. Insgesamt zielte der Vorschlag auf eine Verstärkung der zentralstaatlichen Ausrichtung des Kammerwesens. Worauf es der Blockpartei in erster Linie ankam, wurde zum Ende der Stellungnahme denn auch deutlich: Alles in allem: Im Mittelpunkt aller unserer Überlegungen und der weiterführenden Gedanken muß der Mensch stehen. Ihn viel besser als bisher mit Reparaturen, Dienst- und Versorgungsleistungen zufriedenzustellen – darum geht es einzig und allein.15
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Das Ministerium für Handel und Versorgung hatte dem ZK der SED im April 1989 eine Ausarbeitung übergeben, die die Leistungsfähigkeit privater Verkaufsstellen positiv einschätzte und dafür warb, defizitäre bzw. wegen Arbeitskräftemangel geschlossene HO- und Konsumfilialen an private Unternehmer zu überführen. Vgl. Hoffmann, Kommissionshandel, S. 127. Vgl. Großbölting, SED-Diktatur, S. 351. Des Geistes Kraft und der Hände Geschick. Gedenken zur Leistungsentwicklung von Handwerk und Gewerbe. In: Neue Zeit, 4. November 1989.
3.1 Von Handels- und Gewerbe- zu Industrie- und Handelskammern
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3.1.2 Die Gewerbetreibenden sprechen für sich selbst Sämtliche Parteien und Massenorganisationen in der DDR mühten sich an der von Krenz beschworenen Wende ab. Dies galt auch für die Ost-CDU; auf Ebene der Bezirke suchten Mitglieder des Hauptvorstandes den Kontakt zu einfachen Parteimitgliedern. Zu den dort besprochenen Themen zählte auch die Gewerbepolitik. Kurz bevor der Vorschlag, das Kammersystem der DDR zu zentralisieren, veröffentlicht worden war, hatte die Blockpartei eine derartige Diskussionsrunde z. B. in Suhl abgehalten. Die NZ berichtete von der Veranstaltung, die vom Präsidiumsmitglied und Sekretär des Hauptvorstandes der Partei Dietmar Czok geleitet wurde:16 Ein Handwerksmeister habe geäußert, sein Berufsstand müsse die eigenen politischen Anliegen „stärker in der Öffentlichkeit artikulieren“. Die Kammer, der er angehöre, müsse ihre Rolle „als lediglich beitragsfordernde Institution“ überwinden. Der „junge Meister“ stellte auch die „überholten Organisationsstrukturen“ der eigenen Partei an den Pranger und erhielt dafür, wie das Parteiblatt festhielt, großen Beifall. Es ließ ihn nochmals mit der Aussage „Ich möchte lernen, was Demokratie ist“ zu Wort kommen, um weiter auszuführen, dass das Gespräch mit dem Parteivorstand für die Suhler Handwerker und Gewerbetreibenden bereits eine „erste, wesentliche Unterrichtsstunde in echter Demokratie“ gewesen sei. Die Berichterstattung der NZ zeigte, dass es sich bei der Gewerbepolitik um ein Thema handelte, dass viele ihrer Leser beschäftigte. Das Blatt veröffentlichte z. B. die Reaktion eines parteilosen Fuhrunternehmers aus Sülsdorf. Es ließ ihn die bisherige Gewerbeförderung eingehend würdigen, ehe dieser den Vorwurf formulierte, Privatinitiative werde nur dort gefördert, „wo die Versorgung absolut nicht mehr gewährleistet“17 sei. Meinungsäußerungen wie diesen stellte das Parteiorgan Wortmeldungen eigener Funktionäre gegenüber. Bereits auf der Veranstaltung in Suhl war auch der Direktor der dortigen HGK zu Wort gekommen. Die stellvertretende Direktorin der HGK Halle, ebenfalls Mitglied der Blockpartei, antwortete dem Fuhrunternehmer aus Sülsdorf.18 Sie bekräftigte die Kritik daran, dass private Gewerbetreibende gegenüber dem volkseigenen Sektor benachteiligt seien. Vor diesem Hintergrund sprach sie sich für das Konzept der Zentralkammer aus. Auch HGK-Direktoren anderer Parteien suchten sich durch kritische Äußerungen zu profilieren.19 Dies geschah immer häufiger unter der Parole, die Kammer dürfe nicht länger „Erfüllungsgehilfe“ des Staates sein, sondern solle eine unabhängige Berufsorganisation der Privatunternehmer werden. Beim Führungspersonal der HGKn handelte es sich um sozialistische Kader, deren Aufgabe darin bestand, Mitglieder ideologisch anzuleiten. In der Diskussion über die Zukunft der Kammerorganisation sahen sie ihre Rolle darin, den Prozess 16 17 18 19
Leistungskraft bitte nicht länger verschenken. Unionsfreund Dr. Dietmar Czok sprach mit Suhler Handwerkern und Gewerbetreibenden. In: Neue Zeit, 1. November 1989. Leistungskraft bitte nicht länger verschenken. Beitrag eines Fuhrunternehmers zum Dialog. In: Neue Zeit, 8. November 1989. Private Gewerbetreibende leisten unverzichtbaren Versorgungsbeitrag. In: Neue Zeit, 23. November 1989. Die Direktorin der HGK Gera suchte sich ebenfalls mit großer Entschiedenheit als Reformerin zu profilieren. Seela, Industrie- und Handelskammer, S. 244.
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der Neuordnung zu moderieren und dabei das Leitbild der sozialistischen Gesellschaft zu verteidigen. Durch das frühzeitige Postulat, die Kammer müsse eine wirksame Interessenvertretung werden, drohten sie allerdings bald von der Realität eingeholt zu werden. Unter den Mitgliedern der Kammern herrschte ein großer Wille nach Veränderung. Dieser erschwerte es dem Leitungspersonal zunehmend, den eigenen Führungsanspruch zu wahren. Dies zeigte u. a. eine Episode in der Eberswalder Geschäftsstelle der HGK Frankfurt an der Oder:20 Eine als Schulungsveranstaltung geplante Versammlung von Taxi- und Fuhrunternehmern mündete unwillkürlich in eine grundlegende Auseinandersetzung über politische Rahmenbedingungen. Die Unternehmer verfassten einen Forderungskatalog, der die Probleme ihres Gewerbes benannte und der noch am Abend an die Regierung in Berlin gesandt wurde. In Ost-Berlin traten Mitglieder der HGK Ende Oktober erstmals zusammen, ohne dass dies offiziell anberaumt worden war. Das Beratungsaktiv der Kammer traf sich zu einer Sondersitzung. Den Anlass bildeten die anhaltende Wirtschaftskrise der DDR sowie die sich daraus ergebenden Fragen zur Handels- und Gewerbepolitik.21 Ein „Ehrenamt“ in einer HGK zu bekleiden war – nach offizieller Lesart – Ausweis einer besonderen Verbundenheit mit der sozialistischen Gesellschaft. Zu den Kernaufgaben einer HGK zählte es, Gewerbetreibende ideologisch zu führen; dies geschah z. B., indem Kammern Losungen zum 1. Mai ausgaben, die das Bündnis mit der Arbeiterklasse bekräftigten. Der Direktor einer HGK veröffentlichte alljährlich in der Kammerzeitschrift, wie viel die Mitglieder für „internationale Solidarität“ gespendet hatten; der antiimperialistische Charakter dieser Beiträge wurde besonders hervorgehoben. Regelmäßig wurden an gleicher Stelle auch „verdienstvolle Mitgliedsbetriebe“ ausgezeichnet und als „gutes Beispiel“ präsentiert. Faktisch hatte die freiwillige Mitarbeit in den HGKn oft einen anderen Charakter. Ideologisches stand nur nach außen hin im Vordergrund.22 Über den Kontakt zur Kammer gelangte man an Informationen und erhielt Gelegenheit, sich mit Branchenkollegen auszutauschen. In den Räumen der HGKn fanden z. B. auch Gespräche von Kommissionshändlern und staatlichen Vertragspartnern statt, „die man nicht auf offener Straße“23 führte. Öffentliches Reden und Denken waren jahrzehntelang von der SED gesteuert worden; zu den bestimmenden Elementen dieser Herrschaft hatten sprachliche Normen gezählt. Ein wachsender Teil der Bevölkerung hielt sich im Herbst 1989 nicht länger an bisherige Formulierungsvorgaben; der herrschenden Partei entglitt dadurch die Kontrolle über den Diskurs.24 Auf der Sondersitzung der Ost-Berliner HGK-Mitglieder nahm die Suche nach einer Sprache, die die zu diskutierenden Probleme angemessen beschrieb, breiten Raum ein.25 Als privat Wirtschaftende 20 21 22 23 24 25
Flemming/Ulrich, Wirtschaft, S. 8. Interview Pape. Hahn/Geiseler, Einhundert, S. 124 – eine Feststellung, die sicher nicht nur auf das Beispiel der Potsdamer HGK zutraf. Interview Fell. Rödder, Deutschland, S. 99. Interview Pape.
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kannten die teilnehmenden Wirte, Schausteller, Taxifahrer, Krämer, Kohlen- und Sekundärrohstoffhändler die Versorgungsdefizite der DDR-Wirtschaft aus eigener tagtäglicher Anschauung. Es gab allerdings auch Gesichtspunkte, die in der offiziellen Berichterstattung weiterhin nicht vorkamen. Dazu zählte die Bezahlung mithelfender Familienangehöriger. Arbeitsverhältnisse zwischen Ehegatten wurden steuerlich nicht anerkannt.26 Ehepartner waren daher sozial nur indirekt abgesichert und materiell in der Regel nicht gleichberechtigt. Die soziale Realität stand vor diesem Hintergrund in krassem Gegensatz zur Ideologie des SED-Staates, welche die Gleichstellung der Frau propagierte: In vielen Fällen betraf die Diskriminierung mithelfende Ehefrauen. Die Diskussion in der HGK Ost-Berlin zeichnete ein umfassendes Bild der Missstände, die die DDR-Wirtschaft lähmten. Die Teilnehmenden beschlossen, ihre Ergebnisse zusammenzufassen und an die Öffentlichkeit zu bringen. Udo Pape, einer der Sprecher des Beratungsaktivs, arbeitete diese in Heimarbeit zu einem Forderungskatalog aus. Die darauffolgende Ausgabe der Kammerzeitschrift für OstBerlin, die „HGK-Mitteilungen“, erschien als Sonderausgabe. Die vorherige Ausgabe war dem 40-jährigen Staatsjubiläum der DDR gewidmet gewesen. Unter der Titelzeile des Blattes befand sich nun der „Aufruf der Abgeordneten des Beratungsaktivs der HGK Berlin“, der auf den 8. November 1989 datiert war.27 Ein Zusatz der Redaktion erklärte, man habe dem Wunsch von Mitgliedern entsprochen, die den Text „allen Gewerbetreibenden unmittelbar in die Hand“ geben wollten. Aus Platzgründen habe deren gesamter Forderungskatalog nicht wiedergegeben werden können. Diesen hätten seine Verfasser an die Regierung der DDR sowie den FDGB übergeben; der Aufruf gab den Inhalt des Katalogs thesenartig wider. Fünf Abgeordnete des Beratungsaktivs verantworteten dies namentlich; aufgrund ihrer freiwilligen Mitarbeit waren sie in früheren Ausgaben der Kammerzeitschrift portraitiert worden und daher, zumindest regelmäßigen Lesern, nicht unbekannt. Der Aufruf verlangte eine sofortige Änderung der Handels- und Gewerbepolitik in der DDR. Im Namen von 3.200 Selbstständigen und rund 10.000 Beschäftigten der privaten Wirtschaft in Ost-Berlin wandten sich seine Unterzeichner direkt an die Regierung, an die sie drei Kernforderungen stellten: Erstens die sofortige Gleichstellung der Entlohnung der Beschäftigten privater Betriebe mit denen des staatlichen Sektors. Die bestehenden Regeln verhinderten dies und verschafften volkseigenen Betrieben einen Vorteil beim Zugang zu knappen Arbeitskräften – bzw. diskriminierten Mitarbeiter privater Betriebe. Zweitens die Abschaffung von Steuersätzen, die sich leistungsmindernd auswirkten. Drittens eine zentrale und unabhängige Handels- und Gewerbekammer, die die Interessen ihrer Mitglieder gegenüber den „zentralen Staatsorganen“ sowie dem FDGB vertreten sollte. Diese Forderungen waren inhaltlich durchaus mit dem vereinbar, was von SED sowie Block-CDU vorgeschlagen worden war. Die Tonlage des Aufrufs unterschied sich jedoch deutlich von den Beiträgen in den Parteizeitungen: Die Regierung erhielt 26 27
Vgl. Hoffmann, Kommissionshandel, S. 116. Für mithelfende Ehegatten war im Steuerrecht der DDR ein Freibetrag i. H. v. 2.000 Mark vorgesehen. Aufruf der Abgeordneten des Beratungsaktivs der HGK Berlin vom 8. November 1989. In: HGK-Mitteilungen. Handels- und Gewerbekammer von Berlin, Sonderausgabe/1989, S. 1.
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kein Lob für ihre bisherige Gewerbepolitik. Diese wurde, im Gegenteil, dafür verantwortlich gemacht, dass „unsere Töchter, unsere Söhne, unsere Bekannten und Freunde dieses Land verlassen“ und die infolgedessen entstandenen Lücken auch durch „härteste Arbeit“ nicht geschlossen werden könnten. Die Unterzeichner insistierten ferner darauf, dass das Präsidium einer neuen Zentralkammer in demokratischer Wahl bestimmt werden müsse – in den bisherigen Vorschlägen war dies nicht enthalten gewesen. Weitere Forderungen der Ost-Berliner Selbstständigen gingen deutlicher über das hinaus, was zuvor von regierungsnahen Stellen in Umlauf gebracht worden war. Dies betraf etwa die Wiederzulassung privater Industriebetriebe, vor allem in der Konsumgütererzeugung. Die HGK-Mitglieder prangerten eine „ungerechtfertigte Monopolstellung“ von Kombinaten und staatlichen Betrieben an und drängten auf weitere Privatisierungen, etwa im Bereich der Autobahnraststätten. Es ließ sich nicht von der Hand weisen, dass die Urheber des Aufrufs von den realsozialistischen Verhältnissen geprägt waren. Der Zentralstaat stand nicht zur Debatte, wie das Ansinnen verdeutlichte, eine Zentralkammer zu schaffen. Der Text endete mit der Bekräftigung, alle geforderten Maßnahmen würden einer Verbesserung der Versorgung der Bevölkerung dienen. Dies erweckte den Eindruck, sich rechtfertigen zu müssen. Es erinnerte daran, dass Maßnahmen zur Gewerbeförderung offiziell stets so begründet worden waren. Nichtsdestoweniger war der Aufruf eine Konfrontation – und dies nicht, weil sein Inhalt noch vor wenigen Monaten undenkbar gewesen wäre: Die gesellschaftlichen Kräfte in der DDR waren von der SED darauf konditioniert worden, gewissermaßen auf Zuruf Vorschläge zu unterbreiten. Die Selbstständigen brachen mit dieser Praxis. Sie stellten Forderungen. 3.1.3 Die Absetzung der Direktoren und erste Schritte zur Neuorganisation Die Berliner Mauer fiel am 9. November. Das Ereignis setzte auch der Zeit von Egon Krenz an der Spitze des Staates ein frühes Ende, denn es offenbarte, dass die vom Staatsratsvorsitzenden ausgegebene Marschrichtung gescheitert war. Die Herrschaft der SED ließ sich im Rahmen der alten institutionellen Ordnung nicht mehr konsolidieren. Unweit der Geschehnisse an der Mauer hatte das ZK der SED am Werderschen Markt getagt. Das Politbüro trat in Anbetracht der Öffnung der Grenze sowie einer dramatischen Schilderung der Lage der Wirtschaft geschlossen zurück.28 Die Regierungsgeschäfte übernahm Hans Modrow, der am 13. November zum neuen Vorsitzenden des Ministerrates gewählt wurde. In den Bezirken kam es infolge des Mauerfalls ebenfalls zu einem Führungswechsel. Die Ersten Sekretäre aller 15 SED-Bezirksleitungen traten bis zum 20. November zurück bzw. wurden abgesetzt.29 Gleiches galt für die große Mehrzahl ihrer Stellvertreter. Modrow gab am 17. November eine Erklärung als Regierungsoberhaupt ab. Vor der Volkskammer betonte er, dass sich die DDR ihres sozialistischen Erbes
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Rödder, Deutschland, S. 106. Ebd. S. 111.
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nicht restlos entledigen werde.30 Zugleich signalisierte er, auf Forderungen der Opposition eingehen zu wollen. Durch entschiedene Reformschritte – so schien das Kalkül zu sein – würde die SED sich auch in einer veränderten politischen Landschaft als führende Kraft etablieren können. Viele Alternativen zur „Flucht nach vorn“ hatte die neue Regierung freilich nicht, da die SED nach der Maueröffnung einen rapiden Autoritätsverlust erlitt. Repräsentanten der Partei mussten sich allerorten heftiger Kritik aussetzen.31 In Bezug auf die wirtschaftliche Lage der DDR führte Modrow aus, seine Regierung erkenne die Notwendigkeit an, „die Eigenverantwortlichkeit der wirtschaftenden Einheiten zu erhöhen“ und „die staatliche Leitung und Verwaltung zu demokratisieren“. Auch auf die Rolle der privaten Wirtschaft ging der neue Vorsitzende des Ministerrates ein: Seit langem gibt es Hinweise von Handwerkern und Gewerbetreibenden auf Hemmnisse, die ihren Initiativen entgegenstehen. […] Entscheidungen werden nicht lange auf sich warten lassen.32
Modrow bezog sich womöglich auf jene Eingaben, über deren Auswertung durch die Akademie für Gesellschaftswissenschaften das ND berichtet hatte. Hinsichtlich einer Zulassung privater Unternehmen im Bereich der Konsumgüterindustrie ließ er vorsichtige Zustimmung erkennen. Er halte dies „für möglich“, stellte das Ausmaß etwaiger Privatisierungen aber unter Diskussionsvorbehalt. Konkret sprach er in diesem Zusammenhang von „Kleinbetrieben“.33 In einigen, wenn auch bei weitem nicht allen HGKn hatte es schon vor dem 9. November erste Signale der Veränderungen gegeben. Die Direktorin der HGK Gera beschloss z. B. Ende Oktober, Leitungstätigkeiten in der Kammer künftig von Partei- und Gewerkschaftsämtern zu trennen.34 Kurz darauf versandte sie eine Erklärung an die Mitglieder. Darin zeigte sie sich erfreut, dass die Kammer „nun als selbstständige Berufsorganisation mit weitgesteckten Aufgaben“35 profiliert werden könne. In gewisser Weise nahm sie damit die Streichung der „führenden Rolle“ der SED aus der Verfassung der DDR vorweg. Die Volkskammer sollte dies wenige Wochen später beschließen. Die Direktorin antizipierte den Zusammenbruch des politischen Systems und leitete erste Maßnahmen der Veränderung selbst ein. Letztlich wurde der Weg dazu frei, weil jene Partei entmachtet wurde, der sie selbst seit mehr als 30 Jahren angehörte. Gleichwohl ließ sie keinen Zweifel daran erkennen, dass sie beabsichtigte, der Kammer auch künftig vorzustehen. 30 31 32 33
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Regierungserklärung des Vorsitzenden des DDR-Ministerrates Hans Modrow. In: Neues Deutschland, 1,8./19. November 1989. Vgl. Rödder, Deutschland, S. 111 f. Regierungserklärung des Vorsitzenden des DDR-Ministerrates Hans Modrow. In: Neues Deutschland, 18./19. November 1989. In der oben zitierten Stellungnahme zur Leistungsentwicklung von Handwerk und Gewerbe hatte die Block-CDU bereits am 4. November vorgeschlagen, „PGH“ (Produktionsgenossenschaften des Handwerks) die Produktion von Konsumgütern zu genehmigen. Es war denkbar, dass Modrow sich auf diese Variante bezog, zunächst also nicht an eine Rückgabe von 1972 verstaatlichten Betrieben dachte. Seela, Industrie- und Handelskammer, S. 244. Zit. nach ebd.
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Der Fall der Mauer führte allen HGK-Direktoren vor Augen, dass die Organisation, der sie vorstanden, in ihrer bestehenden Form keine Zukunft mehr hatte. Einige der Leiter unternahmen nichts und zeigten sich außer Stande, auf die politischen Veränderungen zu reagieren. Andere ergriffen die Initiative und demonstrierten ihre Entschlossenheit, sich nicht durch die Geschehnisse einholen zu lassen. Die Leiterin der HGK Karl-Marx-Stadt wandte sich an die Mitglieder und unterbreitete Vorschläge, um auf dieser Grundlage „eine umfassende Aussprache der Gewerbetreibenden aller Branchen“36 herbeizuführen. In anderen Bezirken waren derartige Gespräche zwischen dem Direktorium und Mitgliedern der HGK bereits terminiert worden. In Gera und Dresden kam es Ende November bzw. Anfang Dezember zu Aussprachen.37 Die Bildung einer Zentralkammer stand nunmehr nicht länger zur Debatte. Die Kammerleitungen schlugen stattdessen vor, die freiwillige Mitarbeit auszuweiten und Berufsgruppenvertretungen einzurichten. Welche konkreten Aufgaben diese übernehmen sollten, blieb vage. Die Geraer Direktorin präsentierte wenig später die Idee, dem Direktorium der Kammer einen unternehmerischen „Beirat“ zur Seite zu stellen.38 Die Bezeichnung legte nahe, dass ein beratendes Gremium ohne Entscheidungsbefugnisse geplant war. In Dresden konnten der Direktor und die Mitglieder in nur wenigen Punkten eine Übereinstimmung erzielen. Organisatorische Fragen schienen – was durchaus erstaunlich war – noch am wenigsten umstritten zu sein. Die vom Direktor ausgegebene Parole, die Kammer solle vom „Erfüllungsgehilfen einer Staatsdoktrin“39 zu einer Interessenvertretung der Mitglieder werden, erhielt allgemein Zuspruch. Die Selbstständigen sahen das Gespräch darüber hinaus als Gelegenheit, alltägliche Sachverhalte zu thematisieren, die sich für ihre jeweiligen Unternehmungen als hinderlich erwiesen. Sie forderten, dass die Probleme, die im Rahmen dessen zur Sprache kamen, an die Regierung übermittelt werden sollten. Beim Direktor, dessen Ausführungen eher von allgemeinem volkswirtschaftlichem Charakter gewesen waren, insistierten sie ferner darauf, dafür Sorge zu tragen, sofort Umsetzbares möglichst bald in Angriff zu nehmen.40 Wenige Tage zuvor war in Ost-Berlin der Ministerrat zusammengetreten. Wie Modrow in seiner Antrittserklärung angekündigt hatte, brachte die Regierung erste Maßnahmen zur Verbesserung der Situation von Handwerk und privatem Gewerbe auf den Weg.41 Per Beschluss vom 4. Dezember wurden mehrere restriktive Rechtsvorschriften aufgehoben. Dazu zählte insbesondere das Verbot, in privaten 36 37 38 39 40 41
Vorschläge der Handels- und Gewerbekammer des Bezirkes Karl-Marx-Stadt. In: HGK Information, II/1989, S. 1 f. Das Geschehen in Dresden ist durch eine Dokumentation überliefert, in deren Besitz der DIHT später gelangte. Seela, Industrie- und Handelskammer, S. 245. Protokoll zur Beratung am 6. Dezember 1989 in der HGK Dresden (Dossier zur Gründung der IHK Dresden). RWWA 181-2478-2. Ebd. Maßnahmen zur weiteren Förderung der Leistungs- und Effektivitätsentwicklung im genossenschaftlichen und privaten Handwerk sowie für private Gewerbetreibende im Interesse der weiteren Verbesserung der Versorgung der Bevölkerung – Beschluß des Ministerrates vom 4. Dezember 1989. BArch DC 20-I/3/2877.
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Betrieben mehr als zehn Mitarbeiter zu beschäftigten. Insgesamt wirkten die Bestimmungen wie ein eilig zusammengestelltes Bündel an Sofortmaßnahmen. Deutlich wurde dies u. a. mit Blick auf folgende Regelung: Händler ohne Kommissionsvertrag konnten bei weniger als 20.000 Mark Jahresgewinn nun einen Steuerfreibetrag in Höhe von 5.000 Mark geltend machen. Zur Begründung war in der Vorlage eine „kontinuierliche Bündnispolitik“ angeführt worden. Der Begriff der Bündnispolitik war nach 1953 in das politische Vokabular der DDR gelangt. Er hatte dazu gedient, den Fortbestand privatkapitalistischer Eigentumsverhältnisse zu legitimieren und suggerierte, „bürgerliche Schichten“42 hätten sich mit der SED verbündet, um den Sozialismus zu verwirklichen. Die führende Rolle der SED gehörte derweil der Vergangenheit an.43 Dies machte es nicht unwahrscheinlich, dass der Begründungstext älteren Datums war und aus der Zeit vor dem 9. November stammte. Möglicherweise war auch die Maßnahme selbst schon früher erwogen, damals aber nicht umgesetzt worden. Als progressiv konnte sie zwischenzeitlich nicht mehr gelten: Steuerlich waren Kaufleute ohne denen mit Kommissionsvertrag nach wie vor nicht gleichgestellt. Kommissionsverträge diskriminierten daher weiterhin diejenigen, die bislang Distanz zum SED-Staat gewahrt hatten. Der unfertige Charakter des Maßnahmenpakets kam noch in einer weiteren Bestimmung zum Ausdruck. Der Ministerrat beauftragte die jeweiligen Fachministerien, neue Statuten für die HGKn sowie die Handwerkskammern zu erarbeiten. Diese würden, so kündigte der Beschluss an, im ersten Quartal 1990 in den Bezirken zur Diskussion gestellt. Mit sofortiger Wirkung trat indessen die Vorschrift außer Kraft, die die Berufung der Direktoren und Stellvertreter der HGKn geregelt hatte. Dabei habe man den „Wunsch vieler […] Gewerbetreibender sowie […] der Handels- und Gewerbekammern der Bezirke nach einer eigenständigen Berufsorganisation“44 berücksichtigt. In der Begründung hieß es weiter: Von den […] Gewerbetreibenden wird zum Ausdruck gebracht, daß aufgrund dieser bisherigen Regelung zu den berufenen […] Direktoren nicht das erforderliche Vertrauensverhältnis besteht.45
Auf welche Äußerungen sich diese Begründung bezog, lässt sich nicht eindeutig zuordnen.46 Praktische Konsequenzen hatte die Demission der Direktoren zunächst jedenfalls nicht. Dies lag u. a. daran, dass diese Information erst allmählich von der „Hauptstadt der DDR“ in die Bezirke gelangte: Erst zwei Wochen später leitete das Ministerium für Handel und Gewerbe den Beschluss an die Räte der Bezirke weiter. In einem Informationsschreiben, das an den Rat des Bezirks Karl-Marx-Stadt gerichtet war, empfahl der Stellvertreter des Ministers zudem, Direktor und Stellver42 43 44 45 46
Tatzkow, Entwicklung, S. 2. Diese wurde am 1. Dezember 1989 aus der Verfassung der DDR gestrichen. Vgl. Rödder, Deutschland, S. 112. Beschluß des Ministerrates vom 4. Dezember 1989. BArch DC 20-I/3/2877. Analog galten dieser Beschluss und seine Begründung für die Handwerkskammern. Ebd. Allgemein lässt sich feststellen, dass die Ministerien der DDR von November an ein stark erhöhtes Aufkommen an Eingaben registrierten. Analyse des Eingabegeschehens im Ministerium für Leichtindustrie 1989 und erste Entwicklungstendenzen 1990. BArch DE 10/270.
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treter der HGK vorerst nicht abzuberufen.47 Bis zur Wahl neuer Vorstände solle die Arbeitsfähigkeit der Kammer gewährleistet bleiben. Der Rat des Bezirks Karl-Marx-Stadt berief die Leiterin der HGK, Brigitte Reinhardt, entgegen der Empfehlung des Ministeriums, zu Beginn des neuen Jahres ab.48 Viele andere Bezirksräte handelten offenbar im Sinne des Ministeriums, da die meisten HGK-Direktoren über den Jahreswechsel hinaus im Amt blieben. Des ungeachtet verloren sie zunehmend die Kontrolle über die Entwicklung in den Kammern. In Dresden hatten sich Direktor und Mitglieder Anfang Dezember lediglich auf allgemeine Vorsätze geeinigt: Erstens sollte die Kammer aus der Vormundschaft des Staates treten und zweitens sollte sie dringende Forderungen der Gewerbetreibenden umgehend an die Regierung weiterleiten. Elf Mitglieder nahmen dies zum Anlass, sich zwei Tage nach der Beratung erneut, ohne Beteiligung des Direktors, zu treffen.49 Der Runde gehörten u. a. ein Lebensmittel-Großhändler, ein Möbelhändler sowie Inhaber von Buch- und Schreibwarengeschäften an; ergänzt wurde sie um zwei Mitarbeiter der Dresdner Kreisgeschäftsstelle der HGK. Die Selbstständigen erarbeiteten einen Forderungskatalog, der drängende Probleme benannte und die Regierung aufrief, Abhilfe zu schaffen. So sollte die Progression der Einkommensteuer noch für das Jahr 1989 auf 55 Prozent begrenzt werden.50 Das Papier entstand am 8. Dezember und enthielt eine Vielzahl von Einzelforderungen; dazu zählte u. a., in Privatbetrieben künftig mehr als zehn Mitarbeiter beschäftigen zu dürfen – was deutlich machte, dass die Dresdner Gewerbetreibenden keine Kenntnis des gerade erst gefassten Ministerratsbeschlusses hatten. Speziell diese Forderung hatte sich inzwischen nämlich erübrigt. Die Unternehmer erörterten indessen nicht nur wirtschaftspolitische Sachfragen. Sie kamen ebenfalls überein, alle 6.000 Mitglieder der Dresdner HGK aufzurufen, sich aktiv in die Kammergesetzgebung einzumischen und in den Gremien einer neu entstehenden Berufsvertretung mitzuarbeiten. Die Diskussion zur Umgestaltung der Kammer ging damit auf die Mitglieder über. Dies zeichnete sich nicht nur in Dresden und Berlin ab, wo die Sprecher des Beratungsaktivs zunehmend selbstbewusst auftraten. Auch in Rostock schloss sich Ende 1989 ein Kreis engagierter Unternehmer zusammen, der die Bildung einer neuen Berufsvertretung anstrebte.51 Die Grup-
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Über die IHK Bayreuth, die in Kontakt zur HGK Karl-Marx-Stadt trat, gelangte dieses Schreiben einige Wochen darauf auch in den Besitz des DIHT. Vermerk zur künftigen Entwicklung der Handels- und Gewerbekammern vom 9. Januar 1990. (Anlage: Schreiben des Stellvertreters des Ministers für Handel und Versorgung an den Stellvertreter des Rates des Bezirkes KarlMarx-Stadt für Handel und Versorgung vom 21. Dezember 1989). RWWA 181-1856-3. Ungeachtet ihrer Demission kehrte Reinhardt am 2. Januar 1990 an ihren Arbeitsplatz zurück. Als Mitglied der Blockpartei NDPD war sie erst kurz zuvor zur Direktorin der HGK berufen worden. Bis in die 1980er Jahre war diese Funktion in der Regel von Kadern der SED ausgeübt worden. Im Zuge des Aufbaus der IHK erhielt Reinhardt vom ehrenamtlichen Vorstand einen neuen Arbeitskontrakt. Unter den HGK-Direktoren blieb sie damit eine seltene Ausnahme. Interview Reinhardt. Protokoll zur Beratung am 8. Dezember 1989 in der HGK Dresden. RWWA 181-2478-2. Dies erwies sich gleichwohl als zu ambitioniert. Sasnowski/Sawitzki/Schmidt, IHK Rostock, S. 313.
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pierung bildete sich im Umfeld der Rostocker Geschäftsstelle der HGK.52 Sie entstand in Opposition zur HGK des Bezirks; inoffiziell wurde der Bezirk Rostock auch „Ostseebezirk“ genannt, da er die gesamte Ostseeküste der DDR verwaltete. Die Schaffung einer zentralistischen Administrationsstruktur hatte in seinem Fall ein längliches Verwaltungsgebiet hervorgebracht, das die Orte an der Küste, nicht aber ihr jeweiliges Hinterland umfasste. Die Rostocker Unternehmer traten nun für eine Organisation ein, die die Interessen der privaten Wirtschaft der Stadt Rostock sowie ihres Umlandes wahrnahm. 3.1.4 Aus Entfremdeten werden Verbündete: Deutsch-deutsche Begegnung im Kammerwesen Die Öffnung des Eisernen Vorhangs war ein Ereignis, auf das die bundesdeutsche Öffentlichkeit nicht vorbereitet war. Dies galt auch für die IHKn in der Bundesrepublik. Nichtsdestoweniger wandten sich die Kammern umgehend der Frage zu, welche Folgen die deutsche Wirtschaft aufgrund der politischen Veränderungen in Europa zu erwarten hatte. Am 21. November versammelten sich die hauptamtlichen Leiter der IHKn in Bonn, am Sitz des DIHT, zur Hauptgeschäftsführer-Konferenz.53 Treffen in dieser Konstellation fanden im halbjährlichen Turnus statt. Es gab insgesamt 69 IHKn, sodass gemeinsame Konferenzen einigen Vorlauf erforderten, etwa um die Tagesordnung bekannt zu machen und abzustimmen. Dieses erste Hauptgeschäftsführer-Treffen nach dem Fall der Berliner Mauer widmete sich daher zunächst einem Thema, das die Kammern seit längerem beschäftigte: Die Bestimmung der Kammerbeiträge. Dies sollte neu geregelt werden, wozu sich aus Sicht der IHKn mit dem geplanten dritten Rechtsbereinigungsgesetz eine günstige Gelegenheit bot. Im Anschluss an die Beitragsthematik kamen Wirtschaftsbeziehungen zur DDR, Polen und Ungarn zur Sprache. Der Hauptgeschäftsführer des DIHT, Franz Schoser, ging insbesondere auf die Geschehnisse an der innerdeutschen Grenze ein. Sie würfen zwei Fragen auf: Erstens, unter welchen Umständen sei die Bundesregierung zu Hilfen für die DDR bereit, sowie zweitens, welche Bedingungen westdeutsche Unternehmen an eine Zusammenarbeit stellen würden? Auf Regierungsebene werde bereits über Kooperationen verhandelt. Dies betreffe die Bereiche Infrastruktur, Verkehr und Umweltschutz. Die Wirtschaft habe ebenfalls Interesse an einer Zusammenarbeit, zugleich bestehe aber ein großes Informationsbedürfnis.54 52 53 54
Bericht der Handelskammer Bremen über die Entwicklung der IHK Rostock vom 7. März 1990. RWWA 181-1929-2. Protokoll der Hauptgeschäftsführer-Konferenz vom 21. November 1989 in Bonn. RWWA 1811885-2. Informationen über geschäftliche Möglichkeiten in der DDR waren schwer erhältlich. Die IHK für Mittelfranken in Nürnberg hatte eine Broschüre mit dem Titel „Mehr Kontakte mit der DDR“ herausgegeben. Sie bot grundlegende Informationen zu Geographie, Verwaltungsgliederung und Bevölkerung. Nach dem Fall der Mauer war sie binnen kurzer Zeit vergriffen und musste mehrfach nachgedruckt werden. Die IHK Nürnberg stellte sie dem DIHT zur Verfügung und autorisierte alle Kammern im Bundesgebiet zum Nachdruck.
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An einer engeren Kooperation mit der bundesdeutschen Wirtschaft sei letzten Endes auch der DDR gelegen. Die Kammerorganisation solle daher an die neue Regierung herantreten und sich als Mittler von Informationen anbieten. Das Hauptgeschäftsführer-Kollegium teilte die Erwartung, dass sich im Zuge dessen Verhandlungsspielräume ergeben würden. Die HGKn wurden nicht thematisiert, als im DIHT über Kontakte in die DDR sowie die allseits erwarteten Wirtschaftsreformen im sozialistischen Deutschland gesprochen wurde. Dafür gab es mehrere Gründe: In den 1960er Jahren hatte der seinerzeitige Präsident des DIHT, Alwin Münchmeyer, gegen die Ost-Kammern polemisiert: Diese trügen die Bezeichnung „Industrie- und Handelskammer“ zu Unrecht, wie Münchmeyer damals erklärte.55 Die IHKn in der DDR besaßen zu jener Zeit nur noch wenige Gemeinsamkeiten mit den Kammern in der Bundesrepublik. Ihr Name erinnerte allerdings noch an die Tradition wirtschaftlicher Selbstverwaltung in Deutschland. Dies war irreführend, da die SED die IHKn zu Instrumenten der ideologischen Anleitung und Kontrolle gemacht hatte. Die westdeutschen Kammern waren deswegen auf Distanz zu ihren Pendants im Osten gegangen. Sie wollten ihnen keine Gelegenheit bieten, sich als „Schwesterorganisationen“ zu präsentieren.56 In späteren Jahren hatte man auf westdeutscher Seite selten Anlass, sich mit den Ost-Kammern zu befassen. Daran besaß auch die neue bundesdeutsche Ostpolitik ihren Anteil, deren Ziel es war, das Verhältnis der beiden deutschen Staaten pragmatisch zu gestalten.57 Verlautbarungen der IHKn in der DDR, deren Auftrag ausschließlich ideologisch war, vernahm man daraufhin im Westen kaum noch. Auf wirtschaftlicher Ebene war es im Laufe der Zeit zu einer Verstetigung der Beziehungen zwischen Ost und West gekommen. Der „innerdeutsche Handel“ wuchs in den 1980er Jahren kräftig.58 Im Zuge dessen arbeiteten Wirtschaftsvertreter aus der Bundesrepublik mit der Kammer für Außenhandel (KfA) zusammen, die auf Seite der DDR dafür zuständig war, Exportgeschäfte anzubahnen und vertraglich auszugestalten. Auch Wirtschaftsräte der Bezirke unterhielten, in begrenztem Maße, Kontakte zu Repräsentanten der bundesdeutschen Wirtschaft. Dies war 55 56
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Hardach, Industrie- und Handelskammertag, S. 158. Ein Mitgliedsunternehmen der IHK Frankfurt am Main wandte sich in den frühen 1960er Jahren an die Kammer, nachdem es Post von der IHK Frankfurt an der Oder erhalten hatte. Die DDR-Kammer hatte dieses und weitere Unternehmen in Hessen zur Leipziger Frühjahrsmesse eingeladen sowie zu einem Gespräch „über interessierende Fragen“ [sic], das in diesem Rahmen stattfinden sollte. Die IHK Frankfurt am Main, die das Schreiben an den DIHT weiterleitete, nahm den Vorgang zum Anlass, den Dachverband „erneut auf die Aktivität der IHK Frankfurt (Oder) aufmerksam zu machen, die sich ja, wie aus früheren Vorgängen bekannt ist, als ‚Partnerschaftskammer‘ für unseren Bezirk fühlt“. Schreiben der IHK Frankfurt am Main an den DIHT vom 24. Januar 1962. RWWA 181-1869-1. Rödder, Deutschland, S. 47 f. Die Führung der DDR suchte nach Möglichkeiten, um dringend benötigte Devisen zu erwirtschaften. Aus diesem Grund steigerte sie den Export von Konsumgütern ins westliche Ausland. Für westdeutsche Unternehmen war der innerdeutsche Handel ebenfalls attraktiv, da die Einkaufspreise in der DDR unter dem Niveau des Weltmarkts lagen. Vgl. DDR-Handel. Naher Osten. In: Der Spiegel, 37/1984.
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z. B. in Leipzig der Fall, wo der Bezirkswirtschaftsrat die internationale Industriemesse organisierte. Die HGKn wurden im Westen demgegenüber kaum noch wahrgenommen. Ihnen gehörten Unternehmen an, die weniger als zehn Mitarbeiter hatten und überwiegend im Dienstleistungssektor operierten. 1989, unter dem unmittelbaren Eindruck des Falls der Berliner Mauer, stellte im HauptgeschäftsführerKollegium daher niemand die Frage nach der Zukunft der ostdeutschen Gewerbekammern. Es fiel den Anwesenden offenbar nicht leicht, die Veränderungen in der DDR einzuordnen. Ein Teilnehmer schlug vor, eine der nächsten Hauptgeschäftsführer-Konferenzen auf ostdeutschem Boden abzuhalten. Das Ansinnen fand keine Mehrheit. Man wollte sich unter keinen Umständen in den Verdacht der „Missionierung“59 bringen. Weitere Wortbeiträge waren der Situation an der innerdeutschen Grenze gewidmet. Die Schilderungen machten deutlich, vor welche Herausforderungen die Kammern in der Bundesrepublik durch die Umwälzungen in der DDR gestellt waren. Der Hauptgeschäftsführer der IHK Braunschweig, Vehling, berichtete, dass die Behörden in seinem Kammerbezirk große Anstrengungen unternähmen, um sich auf den Besucherandrang aus der angrenzenden Region um Magdeburg einzustellen. Die IHK übernehme wesentliche Koordinierungsfunktionen, indem sie Parkplätze organisiere, Informationen über Geschäfte bereitstelle und Einzelberatungen durchführe. Der Hauptgeschäftsführer der IHK Berlin (West), Braun, hatte den Fall der Mauer aus nächster Nähe erlebt. Er kam auf die historisch-politische Dimension zu sprechen, die mit diesem Ereignis verbunden war. Die Bundesrepublik dürfe ihre Hilfsbereitschaft keineswegs an Forderungen knüpfen, z. B. einen sofortigen Übergang der DDR zur sozialen Marktwirtschaft.60 Braun warnte vor einer Destabilisierung des Ostens. Eine drastische Preisreform könne zu einem Inflationsschub führen, dessen Folgen er für schwer zu kontrollieren hielt. Der Repräsentant der Westberliner Wirtschaft sprach sich für moderate Reformen in der DDR aus. Durch eine Aufhebung des Außenhandelsmonopols würde die bundesdeutsche Wirtschaft z. B. direkt mit den Kombinaten verhandeln können. Es sei davon auszugehen, dass die Modrow-Regierung die Kombinate entflechten und einzelne Betriebe verselbständigen werde. Auf Brauns Anregung hin bildete sich ein Arbeitskreis, der die Entwicklungen in der DDR beobachten und über das eigene Vorgehen beraten sollte. Ihm schlossen sich zunächst vor allem Hauptgeschäftsführer von grenznahen IHKn an. Auch der Hauptgeschäftsführer des DIHT nahm an den Sitzungen teil. Noch vor dem ersten Treffen kam es allerdings zu einem weiteren Ereignis von geschichtlicher Bedeutung: Am 28. November 1989 nutzte Bundeskanzler Kohl eine Haushaltsdebatte im Deutschen Bundestag, um sein deutschlandpolitisches „Zehn-Punkte-Programm“ zu präsentieren. Vor allem seine Aussage, dass er die Gelegenheit sehe, die Teilung Deutschlands und Europas zu überwinden, überraschte die deutsche sowie interna59 60
Protokoll der Hauptgeschäftsführer-Konferenz vom 21. November 1989 in Bonn. RWWA 1811885-2. Anlage 2 zum Protokoll der Hauptgeschäftsführer-Konferenz vom 21. November 1989 in Bonn. RWWA 181-1885-2.
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tionale Öffentlichkeit.61 Nach nicht offiziellen Angaben ging Kohl davon aus, dass die Voraussetzungen für eine Vereinigung innerhalb von fünf bis zehn Jahren zu erreichen seien.62 In seiner Rede unterstrich er, dass die Bundesregierung umfänglich Wirtschaftshilfe an die DDR leisten werde – allerdings nur, wenn Ost-Berlin umfassende Reformen in Gang setze. Der Bundeskanzler formulierte konkrete Erwartungen. Vor allem verlangte er, zum inzwischen wiederholen Mal, die SED müsse auf ihre per Verfassung garantierte Führungsrolle verzichten. Die Wiedervereinigung war eine programmatische Forderung, an der die CDU in den 1980er Jahren festgehalten hatte, obwohl die deutsche Teilung gemeinhin als Tatsache akzeptiert worden war.63 Vor dem 9. November erschien es daher kaum denkbar, Hilfsangebote an derartige politische Forderungen zu knüpfen. Dies wäre als Einmischung in innere Angelegenheiten der DDR verstanden worden. Die Kammerorganisation hielt in den Wochen nach der Bekanntmachung des Zehn-Punkte-Programms an der Devise fest, in der DDR zurückhaltend aufzutreten. Im neu gegründeten DDR-Arbeitskreis vereinbarten die Hauptgeschäftsführer diesbezüglich, man solle sich an der Reformdiskussion in der DDR „beteiligen, ohne sich einzumischen“.64 In erster Linie wollte man sich bei politisch unverfänglichen Sachfragen als Ratgeber anbieten. Die Bundesregierung zeigte ebenfalls Interesse an Vorschlägen, die inhaltlich als Grundlage für Verhandlungen mit der Regierung der DDR dienen konnten. Sie bat den DIHT um Kooperationsangebote, welche sie der Ostberliner Regierung im Namen der deutschen Wirtschaft zu unterbreiten beabsichtigte. Hauptgeschäftsführer Schoser beauftragte daraufhin alle Abteilungen seines Hauses, Konzepte zusammenzustellen.65 Das Ergebnis zeigte, über welche Stärken das bundesdeutsche Kammerwesen verfügte: Die Vorschläge umfassten Projekte zur Kontakt- und Kooperationsvermittlung, Exportberatung und Existenzförderung.66 Ferner bot der DIHT Hilfe bei der Entwicklung des Tourismus, Umweltschutzberatungen und einen Transfer von Erfahrungswissen im Bereich der beruflichen Bildung an. Eine frühe Version des Projektvorschlags zur beruflichen Bildung war vom Verfasser mit dem Hinweis versehen worden, dass es an einer Stelle fehle, mit der eine Kooperation realisiert werden könne.67 In Anbetracht der Frage, wie in der DDR Aufgaben organisiert waren, die in der Bundesrepublik von der Kammerorganisation wahrgenommen wurden, unterbreitete der DIHT eine weitere Offerte. Diese rückte an die erste Stelle der Zusammenfassung, die der Dachverband der 61 62 63 64 65 66 67
Rödder, Deutschland, S. 147. Ebd. S. 142. Ebd. S. 128 ff. Protokoll zum Gespräch des Hgf-Kreises DDR am 18. Dezember 1989 in Berlin. RWWA 1811929-2. Vermerk des DIHT-Hauptgeschäftsführers zur AL vom 11. Dezember 1989. RWWA 181-31781. Vorschläge der Kammerorganisation der Bundesrepublik Deutschland zur Zusammenarbeit mit Unternehmen, Unternehmensorganisationen und staatlichen Stellen in der DDR. RWWA 181-1929-2. Handlungskatalog für die Zusammenarbeit zwischen DIHT und DDR-Institutionen in der beruflichen Weiterbildung vom 1. Dezember 1989. RWWA 181-2478-2.
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Bundesregierung zuleitete: Man werde mit den „Organen der künftigen wirtschaftlichen Selbstverwaltung“68 in der DDR zusammenarbeiten. Wie aus dem Zusammenhang deutlich wurde, richtete sich dieses Angebot an die HGKn sowie die Wirtschaftsräte der Bezirke – unter dem Vorbehalt, dass sich diese Organisationen grundlegend verändern würden. Die Begrifflichkeit der wirtschaftlichen Selbstverwaltung diente somit zur Umschreibung einer noch zu schaffenden Organisation, die mit dem westdeutschen Kammerwesen aufgabengleich sein würde. Über die Frage, wie sich der organisatorische Rahmen der DDR-Wirtschaft entwickelte, war im Dezember 1989 keineswegs entschieden worden. Die Öffnung der innerdeutschen Grenze ermöglichte zuvor nicht vorstellbare direkte Kontakte zwischen Ost- und Westdeutschen. Im neu gebildeten DDR-Arbeitskreis berichteten mehrere Hauptgeschäftsführer von Begegnungen mit Vertretern bzw. Mitgliedern von HGKn.69 Weitere Kollegen hatten Verbindungen zu Bezirkswirtschaftsräten aufgenommen. Einerseits waren diese Brückenschläge eine Quelle begehrter Informationen. Andererseits bargen sie ein Risiko: Auf der ersten Sitzung des DDR-Arbeitskreises hatte DIHT-Hauptgeschäftsführer Schoser davor gewarnt, die HGKn unbeabsichtigt politisch aufzuwerten. Er erkannte, dass der Dachverband der Kammern gefordert war, um Informationen durchzustellen und das gemeinsame Auftreten zu koordinieren. Schoser beschloss, sich einen persönlichen Eindruck der DDR-Kammern zu verschaffen. Den Anlass dafür bot ein für den 9. Januar geplantes Treffen in der IHK Berlin (West). In der Westberliner Kammer hatte man die Entwicklungen jenseits der Grenze aus nächster Nähe verfolgt und war nun ein weiteres Mal vorangeschritten. Gleichwohl war die Entscheidung, auf die HGKn zuzugehen, von Skepsis begleitet. In einer Rückschau auf das Treffen hoben Schoser und sein West-Berliner Kollege Braun nochmals hervor, dass sie die Ost-Kammern als Organisationen von Kleingewerbetreibenden sowie als „verlängerte Arme des Staates“70 wahrgenommen hatten. Im Vorfeld habe es daher Zweifel gegeben, ob die HGKn das Potenzial hätten, „eine leistungsfähige unternehmerische Interessenvertretung und wirtschaftliche Selbstverwaltung“ zu werden. In Anbetracht dessen hätten er sowie sein Hauptgeschäftsführer-Kollege Braun von der IHK Berlin (West) das Gespräch als „große Überraschung“ empfunden. Auf westdeutscher Seite hatte man bisher kaum Kenntnis davon genommen, dass in der DDR vielerorts über die Zukunft der Gewerbekammern diskutiert wurde. Das Treffen mit den HGK-Repräsentanten verlief unvorhergesehen, weil nicht nur die Direktoren, sondern auch Vertreter der Mitglieder der Einladung der Westberliner IHK gefolgt waren. Die HGK Ost-Berlin war beispielsweise durch sechs Gewerbetreibende vertreten. Das Gespräch begann mit einem gegenseitigen Kennenlernen, bei dem die Unterschiede der Kammern in der Bundesrepublik und 68 69 70
Vorschläge der Kammerorganisation der Bundesrepublik Deutschland zur Zusammenarbeit mit Unternehmen, Unternehmensorganisationen und staatlichen Stellen in der DDR. RWWA 181-1929-2. Protokoll zum Gespräch des Hgf-Kreises DDR am 18. Dezember 1989 in Berlin. RWWA 1811929-2. Notiz über das Gespräch mit den Vertretern der HGKn in der IHK Berlin (West) am 9. Januar 1990. RWWA 181-1856-3.
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in der DDR erörtert wurden. Die Ostdeutschen zeigten großes Interesse an organisatorischen Aspekten. Dies galt insbesondere im Hinblick auf IHK-Wahlen und inwiefern aus ihnen eine repräsentative und staatsunabhängige Unternehmervertretung hervorging. Schoser und Braun zeigten sich beeindruckt: Es sei „erstaunlich kompetent, streckenweise auch direkt unternehmerisch argumentiert“71 worden. Es sei gezielt nach bundesdeutschem Gewerberecht gefragt worden. Dies habe gezeigt, dass es den Willen gebe, zu „einem wirklich selbstständigen Unternehmertum“ zu kommen. Ein Einzelhändler aus Karl-Marx-Stadt hatte in eigenen Worten formuliert: „Wir müssen wieder Kaufleute werden.“72 Zu den Erkenntnissen des Treffens in der Westberliner IHK zählte, dass es unter den Vertretern der HGKn unterschiedliche Positionen gab. Mit Blick auf die Direktoren berichteten Schoser und Braun, dass ihrer Meinung nach nicht wenige als „Betonkopf“ bzw. „Wendehals“ gelten konnten.73 Doch attestierten sie einigen Kadern, „erstaunlich aufgeschlossen“ gewesen zu sein. Die Aussprache jedenfalls veranlasste den DIHT, die bisher gepflegte Abgrenzung von den HGKn zu überdenken. Das Gespräch, so stand frühzeitig fest, sollte im Februar fortgesetzt werden. Die Sicht auf die DDR-Kammern änderte sich zweifellos auch, weil der IHK-Dachverband Kenntnis über den Ministerratsbeschluss des 4. Dezember erlangt hatte. Durch diesen waren die Direktoren abberufen sowie die Erarbeitung neuer Kammerstatuten angekündigt worden. Über den Kontakt zur Leitung der HKG KarlMarx-Stadt war der Hauptgeschäftsführer der IHK Bayreuth, Jungbauer, in den Besitz entsprechender Dokumente gelangt. Als er diese an den DIHT weiterleitete, verband er dies mit dem Plädoyer, sich „mit Nachdruck“74 für die Entwicklung der Ost-Kammern „in Richtung gewählte Selbstverwaltung“ einzusetzen. Der DIHT war nunmehr bereit, mit den HGKn zusammenzuarbeiten, ohne dass Veränderungen eine Vorbedingung waren. Eine Pressemitteilung der IHK Berlin (West) zur Begegnung mit den DDR-Kammern verschleierte gleichwohl nicht, dass die Kammervertreter aus der Bundesrepublik das Gespräch mit besonderem Interesse daran geführt hatten, ob die HGKn „Keimzelle eines künftigen Industrie- und Handelskammer-Systems“75 sein könnten. Die Fortsetzung der Gespräche brachte insofern relativ eindeutig zum Ausdruck, dass diese Erwartung genährt worden war. Sich in der Zusammenarbeit zunächst auf Sachfragen zu stützen, war eine Herangehensweise, mit der es einigen IHKn bereits gelungen war, Arbeitskontakte mit DDR-Kammern zu etablieren. Die mittelfränkische IHK Nürnberg hatte z. B. Verbindungen zur HGK Gera aufgenommen.76 Dort hatte die bisherige Direktorin der 71 72 73 74 75 76
Ebd. Vermerk über das Gespräch am 9. Januar 1990 in der IHK Berlin (West). RWWA 181-1815-2. Notiz über das Gespräch mit den Vertretern der HGKn in der IHK Berlin (West) am 9. Januar 1990. RWWA 181-1856-3. Vermerk zur künftigen Entwicklung der Handels- und Gewerbekammern in der DDR vom 9. Januar 1990. RWWA 181-1856-3. Industrie- und Handelskammer zu Berlin: Erstes Gespräch mit Handels- und Gewerbekammern aus der DDR. Pressemitteilung vom 9. Januar 1990. RWWA 181-1856-3. Vermerk zur Mitteilung der IHK Nürnberg über die Kontaktaufnahme mit der HGK Gera vom 19. Dezember 1989. RWWA 181-1815-2.
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Kammer Projekte mit der IHK Nürnberg vereinbart. Die Franken sagten zu, ein Existenzgründungsseminar in der DDR zu finanzieren sowie Referenten zu stellen. Auch der DIHT griff das Thema „Existenzgründungen“ auf, da hier auf ostdeutscher Seite eine große Nachfrage nach Informationen herrschte. Darüber hinaus bot der westdeutsche IHK-Dachverband an, bei der Förderung des Tourismus sowie bei der Vermittlung von Unternehmenskooperationen zu helfen. Während sich der DIHT auf Sachthemen konzentrierte, ging die Initiative zu organisatorischen Veränderungen von den Mitgliedervertretern der HGK aus. Sie nutzten die engere Zusammenarbeit zwischen DIHT und HGKn, um sich über westdeutsche Strukturen zu informieren. Gewerbetreibende aus Neubrandenburg z. B. knüpften im Zuge des Treffens in der IHK Berlin (West) Kontakte zur IHK Münster. Der Münsteraner Hauptgeschäftsführer Altekamp teilte dem DIHT in der darauffolgenden Woche mit, die Neubrandenburger Unternehmer hätten die Absicht gefasst, eine IHK zu gründen. Seine Kammer werde sie dabei unterstützen.77 3.1.5 Erste IHK-Gründungen in Dresden, Ost-Berlin und Rostock Vorreiter bei der Umgestaltung der ostdeutschen Kammern waren die Gewerbetreibenden aus Dresden. Die Unternehmer hatten sich Anfang Dezember in einer Geschäftsstelle der HGK versammelt und wirtschaftspolitische Forderung zusammengetragen. Anschließende Treffen waren in die Gaststätte „Zum Rankeschlößchen“ verlegt worden. Zum einen hatte sich die Zahl der Teilnehmer vergrößert, zum anderen hatten die Versammlungen einen neuen thematischen Schwerpunkt: Am 5. Januar trafen sich nunmehr 17 Mitglieder der HGK und verfassten einen Aufruf an die Gewerbetreibenden des Bezirks. Die Urheber erklärten, die Kammer solle zu einer „unabhängigen Interessenvertretung aller Selbstständigen“78 werden. Wie aus ihrem Text hervorging, war nach einem „Studium bewährter Strukturen“ der Wille gereift, die HGK nach dem Vorbild einer bundesdeutschen IHK zu reorganisieren. Die Mitglieder wurden aufgerufen, an der Erarbeitung einer neuen Satzung mitzuwirken und sich an einer für den März geplanten Wahl zu beteiligen. Auf diesem Wege sollte eine Vollversammlung ermittelt werden, um einen Präsidenten zu wählen sowie einen Hauptgeschäftsführer zu bestellen. Im Rahmen der Beratungen zwischen dem DIHT und den HGKn vom 9. Januar trafen Dresdner Unternehmervertreter auf einen Mitarbeiter der Westberliner IHK. Sie luden ihn zur Gründungsversammlung der IHK Dresden ein, die in der darauffolgenden Woche angesetzt war.79 Die Umgestaltung der Dresdner Kammer war folglich schon im Gange, ehe es offizielle Gespräche mit der westdeutschen Kammerorganisation gegeben hatte. Die Unternehmer in der Elbestadt waren offenbar über Umwege an Unterlagen gelangt, die nun als Vorbild für ihre Reorganisations77 78 79
Schreiben des Hauptgeschäftsführers der IHK Münster an den DIHT-Hauptgeschäftsführer vom 15. Januar 1990. RWWA 181-1815-2. Protokoll zur Beratung der Dresdner Gewerbetreibenden am 5. Januar 1990 in der Gaststätte „Zum Rankeschlößchen“ (Dossier zur Gründung der IHK Dresden). RWWA 181-2478-2. Vermerk der IHK Berlin (West) über die Gründung der Industrie- und Handelskammer Dresden. RWWA 181-2478-2.
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pläne dienten: Ende November 1989 hatte sich der Direktor der HGK schriftlich an die IHK Stuttgart gewandt.80 Er hatte erklärt, Einfluss auf die Regierung Modrow nehmen zu wollen, um eine Veränderung der Stellung und des Aufgabenprofils der Gewerbekammern zu erreichen. Zu diesem Zweck hatte er um die Übersendung eines „Statuts“ bzw. einer „Arbeitsordnung“ gebeten, nach deren Vorbild sich die HGK neu konstituieren könne. Bis zu dieser Episode hatte es keine Beziehungen zwischen der HGK Dresden und der IHK Stuttgart gegeben. Dies wurde u. a. daran deutlich, dass das Schreiben aus der DDR an die „Industrie- und Handelskammer des Bundeslandes Baden-Württemberg“ adressiert worden war.81 Die Stuttgarter übersandten gleichwohl entsprechende Dokumente – nicht ohne auch den DIHT über den Vorgang in Kenntnis zu setzen. Mitarbeiter der HGK Dresden waren in die Vorbereitungen zur Gründung der IHK eingebunden. Dem Direktor indes nutzte sein Engagement für die Neuausrichtung der Kammer nicht: Die Vertreter der Mitglieder, die sich seit Anfang Januar als „provisorische Vollversammlung“ bezeichneten, suchten die Aussprache mit dem bisherigen Leiter der Kammer. Diese endete in einem Zerwürfnis. Die Unternehmer hielten dem Direktor vor, nach dem 9. November untätig gewesen zu sein und legten ihm nahe, sich seinen politischen Ambitionen zu widmen.82 Letzterer sah seinerseits keine Basis für eine weitere Zusammenarbeit mit den „Revoluzzern“ – was im Grunde nicht mehr von Bedeutung war: Der Ministerrat hatte mit seinem Beschluss vom 4. Dezember sämtliche HGK-Direktoren abberufen, weil sie nicht das Vertrauen der Mitglieder hatten. Es hing somit von jenen ab, ob das Leitungspersonal weiterarbeiten konnte oder nicht.83 Prinzipiell zumindest, denn der Ministerratsbeschluss hatte nur in wenigen Fällen unmittelbar zu Konsequenzen geführt. Das Ministerium für Handel und Gewerbe hatte den Räten der Bezirke nahegelegt, die Leitungen der HGKn nicht abzuberufen. Auch in Ost-Berlin waren es die Mitglieder, die nun der Zusammenarbeit mit dem Leiter der HGK ein Ende setzten. Nachdem sich beide Seiten unterredet hatten, fassten die Sprecher des Beratungsaktivs den Entschluss, den Direktor freizustellen.84 Nach dem Eindruck einer Außenstehenden ging es dabei durchaus robust
80 81
82 83 84
Schreiben des Direktors der HGK Dresden an die „Industrie- und Handelskammer des Bundeslandes Baden-Württemberg“ vom 27. November 1989. RWWA 181-1815-2. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs waren in der SBZ Länderkammern eingerichtet worden. Im Zuge des „Aufbaus des Sozialismus“ wurden sie 1952 aufgelöst. Der Dresdner HGK-Direktor unterstellte – vor diesem Hintergrund nachvollziehbar –, dass IHKn in der Bundesrepublik für jeweils ein Bundesland zuständig seien. So berichtete der Mitarbeiter der Westberliner IHK. Vermerk der IHK Berlin (West) über die Gründung der Industrie- und Handelskammer Dresden. RWWA 181-2478-2. Im Ministerratsbeschluss war die Abberufung mit dem fehlenden Vertrauen der Mitglieder zu den Direktoren begründet worden. Folglich hatten die Ersteren zu entscheiden, ob die Zusammenarbeit fortgesetzt bzw. beendet werden sollte. „Wir haben kurz nach dem Mauerfall versucht, mit dem Direktor der Handels- und Gewerbekammer […] zu einer vernünftigen Zusammenarbeit zu kommen, mussten aber feststellen, dass die gegenseitigen Meinungen und Erwartungen stark entgegengesetzt waren. Nach kurzer Beratung im Sprecherrat sind wir zum Ergebnis gekommen: Ab nach Hause!“. Interview Pape.
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zu.85 In vielen Bezirken zeichnete sich nunmehr ab, dass die bisherigen Leitungen sich nicht an der Spitze der Kammern würden halten können. Die Direktoren bekamen mit zunehmender Schärfe zu spüren, dass die Selbstständigen unter dem SEDRegime jahrzehntelang diskriminiert worden waren.86 Die Parole, die Kammer dürfe nicht länger „Erfüllungsgehilfe einer Staatsdoktrin“ sein, richtete sich nun gegen diejenigen, die die Institution bisher in diesem Geiste geführt hatten. Die Dresdner Gewerbetreibenden bestellten dem Rat der Stadt am 11. Januar schriftlich, dass sich die „IHK Dresden“ in Kürze konstituieren werde.87 Wie ihr West-Berliner Gast berichtete, signalisierte der Rat seine Zustimmung. Mit einer anderslautenden Stellungnahme hätte dieser eine Gründung aber wohl kaum vereitelt. Die Unternehmer argumentierten, es sei wegen des „unvermeidlichen“ Zusammenwachsens der beiden deutschen Staaten geboten, das westdeutsche IHK-Modell zu übernehmen. Sie machten deutlich, dass sie von der Regierung erwarteten, das bewährte westdeutsche Kammergesetz auf die DDR zu übertragen. Ein Satzungsentwurf, den sie an den Rat der Stadt übersandten, war erkennbar an der Satzung der IHK Stuttgart orientiert.88 Darin wurde die Kammer als „Körperschaft des öffentlichen Rechts“ bezeichnet, die das Recht habe, ein Dienstherrensiegel zu führen. Konsequenzen mussten die Mitglieder der provisorischen Vollversammlung für diese Amtsanmaßung kaum fürchten; das politische System der DDR hatte im Allgemeinen an Legitimität verloren. Die Unternehmer beabsichtigten – keineswegs unbescheiden – eine Pilotrolle bei der Umgestaltung des Kammerwesens in der DDR zu übernehmen. Die provisorische Vollversammlung nahm die Satzung auf ihrer darauffolgenden Sitzung an. Die Geburtsstunde der neuen IHK Dresden fiel auf den 15. Januar 1990, zu ihrer Wiege wurde die Gaststätte Zum Rankeschlößchen. Die neue Gesamtinteressenvertretung rekrutierte ihre Mitglieder aus der HGK, an deren Stelle sie trat und deren Einrichtungen sie übernahm. Die Versammlung bestellte die Diplomökonomin Elvira Horn zur provisorischen Hauptgeschäftsführerin. Horn hatte bereits in der 85
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87 88
Am besagten Tag fand eine Besprechung sämtlicher HGK-Direktoren in der Berliner Kammer statt. Das Ministerium für Handel und Gewerbe hatte der HGK Berlin die Federführung bei der Erarbeitung des neuen Musterstatuts übertragen. Wie einige ihrer Amtskollegen auch wurde die Direktorin der HGK Karl-Marx-Stadt Zeugin der Freistellung des Leiters der Berliner Kammer: „Es gab ein Stimmengewirr auf dem Flur und um ein Haar hat man dort den Direktor die Treppe hinuntergeworfen. An dem Tag hat die Unternehmerschaft den Herrn aus seinem Amt entfernt. Es stand über uns allen. Auch die Direktorin in Gera folgte diesem Schicksal sehr schnell.“ Interview Reinhardt. Der Hauptgeschäftsführer der IHK Münster berichtete z. B., dass auch die Mitglieder der Neubrandenburger HGK unter keinen Umständen mit dem Direktor weiterarbeiten wollten. Dieser sei, so die Unternehmer, ein „eingefleischter SED-Genosse“. Schreiben des Hauptgeschäftsführers der IHK Münster an den DIHT-Hauptgeschäftsführer vom 15. Januar 1990. RWWA 181-1815-2. Schreiben der „Provisorischen Vollversammlung“ der „Industrie- und Handelskammer Dresden“ an den Rat der Stadt Dresden vom 11. Januar 1990 (Dossier zur Gründung der IHK Dresden). RWWA 181-2478-2. Satzung der provisorischen Vollversammlung der IHK Stuttgart (Anlage zum Schreiben der „Provisorischen Vollversammlung“ der „Industrie- und Handelskammer Dresden“ an den Rat der Stadt Dresden vom 11. Januar 1990). RWWA 181-2478-2.
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HGK gearbeitet und war in die Vorbereitungen zur Gründung der IHK eingebunden gewesen. In der Kaufmannschaft war sie gut beleumundet. Zum Gründungspräsidenten wählte die Versammlung den Dresdner Drogisten Michael Oefler. Nach Gründung der IHK Dresden entstanden innerhalb von rund 24 Stunden in Rostock und Ost-Berlin weitere IHKn. Die Debatte über die Zukunft der Gewerbekammern hatte auch dort dazu geführt, dass sich Mitgliederinitiativen bildeten, um die Reorganisation vorzubereiten. Präsident der IHK Rostock wurde Wilfried Hontschik, der Kaufmann war und den Betrieb seines Vaters übernommen hatte.89 In Ost-Berlin wählten die Gründer der IHK Udo Pape zum Präsidenten. Pape führte ein Café in Marzahn. Wie auch die obersten Repräsentanten der Kammern in Dresden und Rostock, hatte er sich von Beginn an für die Reorganisation engagiert. Er zählte zu den Unterzeichnern des Aufrufs des Beratungsaktivs vom 8. November. Nach dem Fall der Mauer war man auch in Rostock und Ost-Berlin rasch zum Entschluss gelangt, sich im Hinblick auf die Neuausrichtung der Kammer am westdeutschen Beispiel zu orientieren. Kenntnisse über das bundesdeutsche Kammerwesen hatten sich nicht erst seit den Gesprächen zwischen dem DIHT sowie den HGK-Vertretern verbreitet – obschon das Interesse auf ostdeutscher Seite hierdurch nochmals zunahm. IHKn, deren Bezirke an der innerdeutschen Grenze lagen, berieten seit November zahlreiche Tagesbesucher aus der DDR. Auch jenseits der grenznahen Orte kam es bald zu Begegnungen zwischen Ost- und Westdeutschen. Städtepartnerschaften erfüllten dabei eine Brückenfunktion: Sie bildeten den Rahmen für Besuche westdeutscher Delegationen in der DDR, denen Vertreter von Kommunen und öffentlichen Institutionen angehörten. Hierunter befanden sich auch Repräsentanten von IHKn, die so in ostdeutsche Partnerstädte gelangten. Die Rostocker Unternehmer standen in Verbindung mit der Handelskammer Bremen. Auch dieser Kontakt beruhte auf einer Städtepartnerschaft, die kurz nach dem Fall der Berliner Mauer für eine erste Begegnung gesorgt hatte.90 Die Beziehungen der Bremer konzentrierten sich auf die HGK-Kreisgeschäftsstelle Rostock, die als Unterbau der neuen Kammer dienen sollte. Auf einer Versammlung erklärten am 16. Januar rund 350 Kaufleute aus der Ostseestadt ihren Austritt aus der HGK.91 Das Gros der Anwesenden trat anschließend der IHK Rostock bei, die gemäß eines von den Initiatoren vorgelegten Reorganisationsplans für das Gebiet der Stadt und deren nähere Umgebung zuständig sein sollte. Die HGK, die ihren Hauptsitz ebenfalls in Rostock hatte, existierte zunächst weiter. Die Gründer der neuen Kammer fühlten sich nicht an die behördliche Territorialstruktur gebunden. Der Ostseebezirk umfasste die gesamte Küste der DDR. Dies war der Zentralisierung der Verwaltung im Jahr 1952 geschuldet, die hier zu einem grotesken Verlauf der Bezirksgrenze geführt hatte. Eine demokratische Selbstverwaltung ließ sich unter diesen Umständen nur schlecht realisieren. Wie zuvor in Dresden setzten sich auch die Gründer der IHK Rostock über bestehendes Recht hinweg. Dies demons89 90 91
Sasnowski/Sawitzki/Schmidt, IHK Rostock, S. 313 f. Bericht der Handelskammer Bremen über die Entwicklung der IHK Rostock vom 7. März 1990. RWWA 181-1929-2. Ebd.
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trierte, dass die normative Ordnung des SED-Staates im Allgemeinen nicht mehr für verbindlich gehalten wurde. 3.1.6 Die deutsch-deutsche Wirtschaftskommission als Meilenstein auf dem Weg zu Industrie- und Handelskammern Die Gewerbetreibenden in Dresden, Ost-Berlin und Rostock hatten Fakten geschaffen und erwarteten von der Regierung der DDR eine rechtliche Anerkennung ihrer Kammergründungen. Welchen Kurs die Modrow-Regierung auf dem Gebiet der Gewerbepolitik steuerte, war derweil noch nicht klar. Der neue Ministerpräsident hatte bei seinem Regierungsantritt die Notwendigkeit anerkannt, die Wirtschaft effizienter zu machen, sie ökologisch zu sanieren sowie stärker in die Weltwirtschaft zu integrieren. Diese wirtschaftspolitischen Ziele wurden allgemein mit dem Schlagwort des „Dritten Wegs“ verbunden.92 Über ein schlüssiges Konzept verfügte Modrow nicht. Die Parole des Dritten Wegs diente in erster Linie zur Verdeutlichung, dass Veränderungen in die ausgegebene Richtung auf dem Fundament des Sozialismus unternommen werden sollten. In dieser Frage herrschte Konsens zwischen Modrow sowie großen Teilen der Oppositionsbewegung, mit deren Vertretern der Regierungschef vom 7. Dezember 1989 an am Zentralen Runden Tisch verhandelte.93 Am 8. und 9. sowie am 16. und 17. Dezember veranstaltete die SED einen außerordentlichen Parteitag in Ost-Berlin. Bei dieser Gelegenheit gab sich die Partei den Namenszusatz „PDS“ (Partei des demokratischen Sozialismus). Die stellvertretende Vorsitzende des Ministerrats, Christa Luft, nutzte den Termin, um ihre Vorstellungen zur künftigen Entwicklung der DDR-Wirtschaft zu präzisieren. Luft war von Modrow beauftragt worden, ein wirtschaftspolitisches Reformkonzept auszuarbeiten; vor ihrer Berufung war sie Rektorin der „Hochschule für Ökonomie Berlin“ gewesen. Auf dem Parteitag hielt sie eine Rede, in der sie vor allem mit der gescheiterten Politik der Honecker-Ära ins Gericht ging. In Alternative dazu skizzierte sie eine Wirtschaft, in der es eine Vielzahl unterschiedlicher Eigentumsformen geben sollte. Dazu zählte sie nicht zuletzt halbstaatliches Eigentum, für welches, wie Luft darlegte, es „eine gültige gesetzliche Regelung“94 gebe. Diese Bestimmung, die aus dem Jahre 1959 stammte, müsse „man nur wieder aktivieren und ins Bewußtsein zurückrufen“. Die Stellvertreterin des Ministerpräsidenten machte auch an anderer Stelle deutlich, dass sie sich bei ihrem Reformplan an der Geschichte der DDR zu orientieren gedachte. So äußerte sie gegenüber der westdeutschen Presse, der Überzeugung zu sein, dass „der Markt keine Exklusivität des Kapitalismus“95 sei. Ähnlich zu ihren Ausführungen auf dem Parteitag legte dies nahe, dass die Wirtschaftspolitik in der Ära Ulbricht als Ausgangspunkt für ihre Überlegungen zur Reorganisation der DDR-Wirtschaft diente. Insbesondere – so ließ sich unterstellen – galt dies 92 93 94 95
Rödder, Deutschland, S. 180 f. Ebd. S. 187. Luft, Reform, S. 107. Zit. nach: Wirtschaftsreform in der DDR. Suche nach dem dritten Weg. In: Die Zeit, 51/1989.
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für die Versuche der 1960er Jahre, die zentrale Planwirtschaft um Mechanismen der indirekten Planung und Lenkung zu erweitern. Die seinerzeitigen Programme mit der Kurzbezeichnung NÖSPL96 bzw. ÖSS97 hatten tatsächlich für Effizienzsteigerungen gesorgt.98 Halbstaatliche Industriebetriebe hatten ihre Gewinne in dieser Zeit erheblich gesteigert, wodurch sie sich für den Staat als rentable Investments erwiesen hatten. Die Versuche, Mechanismen der indirekten Steuerung zu implementieren, waren in den 1970er Jahren abgebrochen und die halbstaatlichen Betriebe verstaatlicht worden. Letzteres war, anders als von der SED-Führung dargestellt, nicht nur aus ideologischen Gründen erfolgt – Honecker agitierte damals gegen eine „Re-Kapitalisierung“ der DDR. Die Reformen der vorangegangenen Jahre hatten, von Teilerfolgen abgesehen, wesentliche Ziele verfehlt.99 Die hohen Gewinne der halbstaatlichen Betriebe waren ein Teilaspekt dieses Scheiterns: Sie lagen weit über dem, was die Wirtschaftsplaner vorgesehen hatten und zeigten, dass es auch mittels indirekter Lenkungsmechanismen nicht gelang, ökonomisches Verhalten im gewünschten Maße vorherzubestimmen. Trotz der großen Bedeutung privater und halbstaatlicher Betriebe ließ sich die DDR-Wirtschaft der 1960er Jahre keineswegs als Marktwirtschaft bezeichnen: Erstens, da es keinen offenen Leistungswettbewerb zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Betrieben gegeben hatte.100 Zweitens waren die Wirtschaftsplaner nie vom Anspruch zurückgetreten, die Leistungsergebnisse der Wirtschaft im Vorhinein festzulegen.101 Angesichts der Zwänge, die dieses Planungssystem auch halbstaatlichen Betrieben auferlegte, war das Gros unter ihnen zunehmend einem „Staatsbetrieb mit privatem Anteil“102 gleichgekommen. Zweifel daran, dass nicht auch ihr Reformplan an jenen Widersprüchen scheitern würde, die schon die Reformen der 1960er Jahre hatten misslingen lassen, konnte Luft mit ihren Verlautbarungen nicht ausräumen. So sprach sich die Stellvertreterin des Ministerpräsidenten zwar dafür aus, künftig unterschiedliche Formen des Eigentums zuzulassen. Zugleich aber betonte sie, dass die Präponderanz des Volkseigentums nicht angetastet werde. Derart weitreichende Vorbehalte legten nahe, dass es keinen Wettbewerb zwischen unterschiedlichen Eigentumsformen geben sollte. Dies bedeutete im Umkehrschluss, dass der Staat darüber urteilen würde, welches Produktionsregime in welchem Fall das effizienteste war. Alles in allem war Ende Dezember 1989 noch nicht abzusehen, wie groß die Spielräume für die private Wirtschaft in der DDR sein würden. Die Ankündigung, zu den Eigentumsverhältnissen von vor 1972 zurückzukehren, war politisch indes96 97 98 99
Neues Ökonomisches System der Planung und Lenkung (1963–1967) Ökonomisches System des Sozialismus (1967–1970) Vgl. Steiner, Plan, S. 172. Die Produktivität der DDR-Wirtschaft lag weiterhin unter dem Niveau in der Bundesrepublik – in Relation war sie in den 1960er Jahren sogar noch weiter zurückgefallen. Vgl. ebd. 100 Die SED-Führung hatte in halbstaatlichen Betrieben nie eine Alternative zu „volkseigenen“ Betrieben gesehen. Steiner, Re-Kapitalisierung, S. 201. 101 Vgl. Steiner, DDR-Wirtschaftsreform, S. 351. 102 Wie ein ehemaliger Komplementär zusammenfasste. Zit. nach: Steiner, Re-Kapitalisierung, S. 266.
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sen wohlkalkuliert. Nicht wenige Betriebsleiter, die die damaligen Verstaatlichungen miterlebt hatten, sahen hierin einen der Hauptgründe für den Bankrott der DDR. Der Ministerrat erließ am 21. Dezember vorläufige Regelungen zur Bildung von privaten Klein- und Mittelbetrieben, was vor diesem Hintergrund auf immenses Interesse stieß.103 U. a. kassierte der Ministerrat jenen Beschluss, auf den hin 1972 rund 8.500 private und halbstaatliche Industriebetriebe verstaatlicht worden waren.104 Binnen kurzer Zeit gingen im Ministerium für Leichtindustrie hunderte Eingaben ein mit Bezug auf die Rückübertragung ehemaligen Familieneigentums – und dies, obwohl die Konditionen einer Rückgabe noch nicht feststanden.105 Die juristischen Voraussetzungen waren ebenfalls noch nicht geschaffen worden: Privatpersonen war es in der DDR per Verfassung verboten, sozialistisches Eigentum gewerblich zu nutzen bzw. zu bewirtschaften. Die Rückübertragung von Betriebseigentum musste daher auf einer provisorischen Grundlage erfolgen: In den 1970er Jahren war eine Verordnung zur Gewerbeförderung erlassen worden. Fördermaßnahmen waren demnach an die Voraussetzung gebunden, die „Leistungen zur Versorgung der Bevölkerung“ zu steigern. Dieser Vorbehalt wurde nun gestrichen.106 Bereits in seiner Regierungserklärung hatte Modrow angekündigt, mit der Bundesregierung über Wirtschaftshilfen verhandeln zu wollen. Auch zu diesem Zweck galt es, wirtschaftliche Reformen möglichst umgehend in Gang zu setzen. Modrows Stellvertreterin Luft suchte daher frühzeitig das Gespräch mit Repräsentanten von Politik und Wirtschaft in der Bundesrepublik. Einen ihrer ersten Termine absolvierte sie am 20. Dezember in der IHK Berlin (West), wo sie auf Einladung der Vollversammlung ihren Reformansatz erläuterte.107 Diesen stellte sie als radikale Abkehr vom bisherigen Wirtschaftsregime dar. In der Bundesrepublik wurde die Vision einer effizienten, ökologisch nachhaltigen sowie international vernetzten Wirtschaft skeptisch aufgenommen. Die Maßnahmen der DDR-Regierung wurden in der westdeutschen Öffentlichkeit vor allem daran gemessen, ob sie geeignet waren, die Fluchtbewegung zu verlangsamen. In den Wochen nach dem Fall der Berliner Mauer waren hunderttausende Bürger der DDR in die Bundesrepublik übergesiedelt.108 Luft hatte auch selbst anerkannt, dass die Zahl der Übersiedler ein Maß-
103 Beschluss über Vorläufige Regelungen für die Bildung privater Betriebe sowie von Klein- und Mittelbetrieben auf halbstaatlicher und genossenschaftlicher Grundlage. BArch DC 20I/3/2883. 104 Insgesamt, unter Einschluss produzierender Genossenschaften des Handwerks, waren vom damaligen Beschluss sogar über 11.000 Betriebe betroffen. 105 Analyse des Eingabegeschehens im Ministerium für Leichtindustrie 1989 und erste Entwicklungstendenzen 1990. BArch DE 10/270. 106 Beschluss über Vorläufige Regelungen für die Bildung privater Betriebe sowie von Klein- und Mittelbetrieben auf halbstaatlicher und genossenschaftlicher Grundlage. BArch DC 20I/3/2883. 107 Thesen zum Vortrag vom Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR für Wirtschaft, Frau Prof. Dr. Christa Luft, vor der Vollversammlung der Industrie- und Handelskammer Berlin (West) am 20. Dezember 1989. RWWA 181-2222-4. 108 Zwischen dem 9. November 1989 und Januar 1990 verließen ca. 225.000 Menschen die DDR in Richtung Bundesrepublik. Rödder, Deutschland, S. 189.
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stab für ihre Wirtschaftspolitik war.109 Vor diesem Hintergrund standen Reformankündigungen unter erheblichem kurzfristigem Erfolgsdruck. Auf Interesse stieß die stellvertretende Ministerpräsidentin mit dem Vorschlag, westliche Investoren an Gemeinschaftsunternehmen zu beteiligen. Auf diesem Wege sollten nach dem Willen der DDR-Regierung Joint Ventures entstehen; die Überlegungen sahen vor, bis zu 49 Prozent der Anteile zu verkaufen. Hiermit trat Luft parteiinternen Gegnern entgegen, die einen „Ausverkauf“ der DDR an die Wand gemalt hatten.110 Nach einer Prüfung durch die Steuerabteilung des DIHT erwies sich die Offerte, Joint Ventures zu gründen, allerdings als Fehlschlag: Auf Grundlage des vorgelegten Konzeptes sei es möglich, dass Investoren bis zu 60 Prozent ihrer Erträge an den Fiskus abführen müssten. Dies gelte für Ergebnisse, die sich nach bundesdeutschen Bilanzierungsregeln als Verluste herausstellen könnten.111 Am 16. Januar reiste Luft nach Bonn, um einen Besuch zu erwidern, den Bundeswirtschaftsminister Haussmann einen Monat zuvor der DDR abgestattet hatte. Diese Gelegenheit nutzte die stellvertretende Ministerpräsidentin auch, um Gespräche mit Wirtschaftsvertretern zu führen. Den Rahmen für einen solchen Termin bot u. a. der Jahresempfang der IHK Düsseldorf, zu welchem Luft eingeladen worden war. Dort gab Präsident Rolf Schwarz-Schütte in seiner Eröffnungsansprache zu verstehen, dass die Wirtschaftsorganisationen in der Bundesrepublik den Kurs der DDR-Regierung auf Grundlage der bisherigen Ankündigungen weiterhin skeptisch beurteilten. Seiner Erfahrung als Unternehmer nach habe eine Gesellschaft gewisse Risiken zu akzeptieren, wenn sie die Vorteile einer Marktwirtschaft für sich nutzen wolle. Ein größeres Volkseinkommen und höhere Sozialleistungen könne man nicht erreichen, wenn man individuelle Arbeitsplatzrisiken vollkommen ausschließe und die Einkommens- und Vermögensverteilung zu stark angleiche.112 Schwarz-Schütte riet einen Kurswechsel an. Die Abwanderung aus der DDR müsse durch ermutigende Signale eingedämmt werden. Luft versprach in ihrer Erwiderung, die Entflechtung der Kombinate voranzutreiben. Am darauffolgenden Morgen absolvierte die Stellvertreterin Modrows einen Termin beim DIHT in Bonn. Beim Arbeitsfrühstück mit dem stellvertretenden DIHT-Präsidenten Jörg Mittelsten Scheid kamen unterschiedliche Themen zur Sprache. Mit der Förderung kleiner und mittlerer Privatunternehmen schnitt Mittelsten Scheid eine Frage an, an der die ostdeutsche Delegation besonders interessiert war. Seit Mitte der 1970er Jahre hatte die DDR immer wieder nach Ansätzen für eine effektive Gewerbeförderung gesucht. Insofern war das Thema nicht neu, 109 „Wir sehen die Wirtschaftsreform natürlich nicht als irgendein Ziel, sondern wir sehen sie als ein Mittel zur Gestaltung einer Wirtschaft, mit der wir dieses Land zu einer attraktiven Heimat für 16 Millionen Menschen machen können und vielleicht auch für solche, die uns inzwischen verlassen haben und zurückkommen wollen. Zu einer Heimat also, die so anziehend ist, daß die Menschen freiwillig und gern hierbleiben […].“ Luft, Reform, S. 107. 110 Ebd. S. 108. 111 Für das westdeutsche Kapital ist die DDR noch kein guter Standort. In: Handelsblatt, 12. Januar 1990. 112 Eröffnungsansprache des Präsidenten der IHK Düsseldorf zum Jahresempfang 1990. RWWA 181-1856-3.
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obgleich es angesichts einer steigenden Zahl an Existenzgründungen zweifellos an Relevanz gewann. Zu einem besonderen Stellenwert verhalf ihm indessen ein anderer Umstand: Die Bundesregierung hatte Kredite aus dem ERP-Sondervermögen in Aussicht gestellt, allerdings zur Voraussetzung gemacht, dass auch private Unternehmen Zugang erhielten.113 Auf Seiten der DDR-Regierung fürchtete man, fehlende Kompetenzen bei der Beratung entstehender Unternehmen könnten sich im Werben um Wirtschaftshilfen als Achillesferse erweisen.114 Mittelsten Scheid schlug in diese Kerbe, als er seine Auffassung äußerte, dass eine fachliche Beratung und Betreuung von Existenzgründungen nötig sei. Hauptgeschäftsführer Schoser informierte in diesem Zusammenhang darüber, dass westdeutsche Kammern bereits erste Arbeitskontakte zu HGKn geknüpft hatten. Er verwies auf das Beispiel der IHK Nürnberg, die in Zusammenarbeit mit der HGK Gera Existenzgründungsseminare organisierte. Schoser legte dar, dass der DIHT sich in der Koordinierung der Zusammenarbeit engagieren wolle. Die DDR-Regierung müsse eine rechtliche Grundlage schaffen, die es erlaube, diese Bemühungen zu verstärken. Luft sagte zu, den Aufbau eines Kammersystems zu prüfen.115 Dies galt auch für das Angebot, sich dabei vom DIHT beraten zu lassen. Innenpolitisch geriet die Regierung der DDR indessen zunehmend unter Druck. Am 15. Januar stürmten Demonstranten die Zentrale des Amtes für Nationale Sicherheit, der Stasi-Nachfolgeorganisation.116 Die Regierung geriet dadurch in den Anschein, die öffentliche Ordnung nicht mehr aufrechterhalten zu können. Zugleich beschleunigte sich der wirtschaftliche Niedergang: Die Industrieproduktion brach dramatisch ein, was auch den Staatshaushalt immer weiter ins Defizit stürzte.117 Es wurde offensichtlich, dass es für einen reformsozialistischen Kurs, wie ihn Luft bisher vertreten hatte, kein hinreichendes Fundament gab. Die DDR war inzwischen kein Frontstaat des sozialistischen Lagers mehr: Die kommunistische Partei Polens war im Begriff, sich selbst aufzulösen.118 Es zeichnete sich ab, dass die DDR im Wettbewerb um westliches Kapital mit anderen ehemals realsozialistischen Staaten würde konkurrieren müssen. Modrow und Luft reagierten auf die 113 Beim ERP-Sondervermögen des Bundes handelte es sich um Mittel des sogenannten Marshallplans, bzw. des European Recovery Programs. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die USA im Rahmen dessen den Wiederaufbau der Wirtschaft in Europa gefördert. Auch die westdeutschen Besatzungszonen erhielten 1948 Zuwendungen in Höhe von 6 Mrd. Mark. Zu ihrer Verwaltung entstand das ERP-Sondervermögen, das von der neu gegründeten KfW verwaltet wurde. Diese vergab Kredite, durch deren Rückzahlung dem Fonds neue Gelder zuflossen. Auf diese Weise hatte sich das ERP-Sondervermögen kontinuierlich vergrößert. 114 Beratung mit Vertretern des Bundesministeriums für Wirtschaft und des Bundesministeriums für Finanzen zur Gewährung von Krediten aus ERP-Sondervermögen. BArch DE 10/403. Die Akte enthält eine undatierte Analyse zum Existenzgründungsgeschehen in der DDR. Hierin wird u. a. auf den Mangel an Beratungskapazitäten hingewiesen. 115 Ergebnisvermerk zum Gespräch der Stellvertreterin des Ministerpräsidenten für Wirtschaft mit Vertretern von Politik und Wirtschaft der BRD am 16./17. Januar 1990 in Bonn und Düsseldorf. BArch DC 20/17987. 116 Vgl. Rödder, Deutschland, S 185. 117 Vgl. ebd. S. 188. 118 Vgl. ebd. S. 56.
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veränderte Situation, indem sie öffentlich von „sozialer Marktwirtschaft“ zu sprechen begannen. Deren Einführung wurde auch auf den nach wie vor stattfindenden Demonstrationen immer energischer gefordert. Die rhetorische Kehrtwende der führenden Politiker der DDR wurde von der bundesdeutschen Öffentlichkeit reserviert zur Kenntnis genommen.119 Der Befreiungsschlag drohte zu misslingen und die Autorität der Modrow-Regierung weiter zu untergraben. Einen Lichtblick verhieß die Konsultation der deutsch-deutschen Wirtschaftskommission am 23. Januar in Ost-Berlin. Es handelte sich um ein Treffen, das im Dezember im Rahmen bilateraler Beratungen der beiden deutschen Regierungen vereinbart worden war.120 Sein Zweck bestand darin, Bedingungen zu erörtern, zu denen die Bundesrepublik bereit war, Wirtschaftshilfe zugunsten der DDR zu leisten. Dies sollte in Form eines Kreditprogramms geschehen, das sich an kleine und mittlere Unternehmen richtete und das die Bundesregierung mit bis zu sechs Milliarden Mark auszustatten bereit war. Die Mittel sollten aus dem ERPSondervermögen des Bundes bereitgestellt werden. Bundeskanzler Kohl hatte bereits im Rahmen seiner „Zehn Punkte“ geäußert, dass Wirtschaftshilfen an die DDR nur dann wirksam sein könnten, wenn diese marktwirtschaftliche Reformen einleiten würde.121 Vor diesem Hintergrund erwartete die Bundesregierung, dass die DDR Voraussetzungen schaffen würde, um auch privaten Klein- und Mittelbetrieben Zugang zu ERP-Krediten zu ermöglichen.122 Unter Leitung des Ministers für Außenhandel, Gerhard Beil, bereitete sich die Delegation der DDR intensiv auf die Beratung der Wirtschaftskommission vor. Ziel war es, glaubhafte Fortschritte bei der Umsetzung wirtschaftlicher Reformen zu präsentieren. Im Ministerium für Leichtindustrie befasste man sich mit einem Konzept zur Entflechtung der bezirksgeleiteten Kombinate. Im Zuge der Vorbereitungen auf die Konsultation der Wirtschaftskommission sprach sich das Ministerium dafür aus, den Wirtschaftsräten der Bezirke neue Aufgaben zu übertragen. Die Behörden waren für die bezirksgeleitete Industrie zuständig und drohten, im Falle einer Zergliederung der Kombinate, obsolet zu werden. In Anbetracht dessen schlug das Ministerium für Leichtindustrie vor, die Bezirkswirtschaftsräte zu „Industrieund Handelskammern“ umzufunktionieren. Als solche könnten sie den Prozess der Bildung unabhängiger Klein- und Mittelbetriebe mit „unterstützender, fördernder und interessenvertretender Funktion“123 begleiten. Diese Empfehlung datierte auf den 22. Januar. 119 DIE ZEIT attestierte der DDR-Regierung z. B., einen „Wandel in Worten“ herbeigeführt zu haben. Dieser müsse allerdings an bisher ernüchternden Fakten gemessen werden. Mit Zaudern und Zagen. In: Die Zeit, 4/1990. 120 Der Termin wurde während des Dresdner Aufeinandertreffens beider Regierungen am 19. Dezember beschlossen. Gespräch des Bundesministers Seiters mit dem Staatsratsvorsitzenden Krenz und Ministerpräsident Modrow in Berlin (Ost) vom 20. Dezember 1989. In: DzD Deutsche Einheit 1989/90, Dok. 96, S. 551. 121 Vgl. Rödder, Deutschland, S. 140 f. 122 Vorlage des Ministerialrats Ludewig an den Chef des Bundeskanzleramts Seiters vom 13. Dezember 1989. In: DzD Deutsche Einheit 1989/90, Dok. 122, S. 643. 123 Vorschläge zur weiteren Förderung der Klein- und mittelständischen Industrie im Bereich der Leichtindustrie. BArch DE 10/7.
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Der Regierung der DDR war durchaus schon darauf aufmerksam geworden, dass es erste eigenmächtige IHK-Gründungen gegeben hatte. Diesbezügliche Nachrichten aus Dresden, Ost-Berlin und Rostock waren gerade erst beim Ministerrat eingetroffen. Die Ereignisse sorgten für einige Überraschung, wenngleich man im Ministerrat damit hätte rechnen können, dass die im Dezember beschlossene Abberufung der Direktoren der HGKn zu Veränderungen führen würde. Allerdings hatte das Ministerium für Handel und Gewerbe die zuständigen Bezirksräte ermuntert, die Leitungen der Kammern im Amt zu belassen.124 Wie sich zeigen sollte, suchte auch das Ministerium für Leichtindustrie der Entstehung einer demokratischen Berufsvertretung in der Verantwortung privater Gewerbetreibender entgegenzuwirken. Jedenfalls konnte es als problematisch gelten, die Wirtschaftsräte der Bezirke zu Interessenvertretern jetziger und künftiger Privatunternehmer zu machen: Über Jahrzehnte hatte die SED immer wieder den lokalen Räten die Verantwortung für Mängel der eigenen Politik zugeschoben. Insbesondere im Hinblick auf die angekündigte Rücknahme der 1972er-Verstaatlichungen war es zweifelhaft, dass Betroffene eine Nachfolgeorganisation der Wirtschaftsräte der Bezirke als Interessenvertretung akzeptieren würden. Vertreter des politischen Systems verloren auf allen Ebenen rapide an Ansehen.125 Die deutsch-deutsche Wirtschaftskommission wurde gleichwohl zu einem Meilenstein für die Gründung von IHKn in der DDR. Am Vorabend der ersten Sitzung informierte Außenhandelsminister Beil Staatssekretär Klaus-Christian Fischer persönlich, dass dieser am darauffolgenden Tag den Stand der Reformen in der DDR darstellen sollte.126 Fischer war der stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrats für Wirtschaft, Luft, zugeordnet, welche vor der Wirtschaftskommission nicht sprechen sollte. Auf Nachfrage erklärte Beil, dass keine Rededisposition bestehe. Fischer konnte somit – für Regierungsvertreter in seiner Position bisher unüblich – frei formulieren. Zu Vorbereitungszwecken erhielt der Staatssekretär eine Vorlage. Im Zusammenhang mit wirtschaftlichen Reformen waren demnach insbesondere Fördermaßnahmen zugunsten des privaten Handwerks sowie privater Klein- und Mittelbetriebe darzustellen.127 Bereits unmittelbar nach den Meldungen über freie IHK-Gründungen war Fischer von Luft angewiesen worden, sich mit den Vertretern der neuen Kammern in Verbindung zu setzen.128 In seinem Vortrag vor der Wirtschaftskommission bekräftigte er, dass die DDR die von ihm erläuterten Reformschritte ohne Halbherzigkeiten und Zögern umsetzten werde.129 124 Dem Rat des Bezirks Karl-Marx-Stadt hatte der stellvertretende Minister für Handel und Gewerbe nahegelegt, die Abberufung zu ignorieren. Vermerk zur künftigen Entwicklung der Handels- und Gewerbekammern vom 9. Januar 1990. (Anlage: Schreiben des Stellvertreters des Ministers für Handel und Versorgung an den Stellvertreter des Rates des Bezirkes Karl-MarxStadt für Handel und Versorgung vom 21. Dezember 1989). RWWA 181-1856-3. 125 Vgl. Rödder, Deutschland, S. 111. 126 Interview Fischer. 127 Hinweise zur Vorbereitung der DDR-Seite der gemeinsamen Kommission zur weiteren Vertiefung der wirtschaftlichen Beziehungen DDR-BRD vom 22. Januar 1990. BArch DE 10/7. 128 Interview Fischer. 129 Information an den Minister Halm über die erste Tagung der Gemeinsamen Kommission zur Vertiefung der wirtschaftlichen Beziehungen DDR-BRD am 23. Januar 1990 in Berlin. BArch DE 10/7.
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Die Zukunft des DDR-Kammerwesens stand keineswegs im Zentrum der Verhandlungen über die ERP-Kredite. Eingehender behandelte Fischer z. B. die Beschränkungen für Joint Ventures, wonach Investoren höchstens 49 Prozent der Anteile erwerben konnten. Da dies in Westdeutschland kritisch gesehen wurde, signalisierte der Staatssekretär Entgegenkommen. Mit Blick auf die „bestehenden Handels- und Gewerbekammern“ berichtete er, diese bildeten sich „zu Industrie- und Handelskammern um“.130 Fischer führte weiter aus, dass bereits Entwürfe für ein neues Statut sowie ein Kammergesetz vorlägen. Offenbar war man im Ministerrat diesbezüglich noch zu keinem abschließenden Ergebnis gekommen. In Auswertung der Tagung wurde ein weiterer Bedarf an Beratungen mit „BRD-Experten“ über gesetzgeberische Vorhaben gesehen – dies galt auch für das angekündigte Kammergesetz.131 Insgesamt konnte die Regierung der DDR die deutsch-deutsche Wirtschaftskommission als Erfolg verbuchen: Die bundesdeutsche Seite ließ sich vom Versprechen baldiger und energischer marktwirtschaftlicher Reformen überzeugen.132 Bundesminister Haussmann sagte dementsprechend zu, die ERP-Mittel bereitzustellen. 3.1.7 Weitere Kammergründungen im Wettlauf mit den Wirtschaftsräten der Bezirke Nach dem Treffen der deutsch-deutschen Wirtschaftskommission und in Konsequenz der dort gemachten Ankündigungen trieb die Regierung der DDR die Vorbereitungen für das Kammergesetz voran. Dazu suchte sie auch das Gespräch mit den Vertretern der privaten Gewerbetreibenden aus den HGKn bzw. IHKn. Eine entsprechende Beratung sollte Anfang Februar in den Räumlichkeiten der IHK Berlin (Ost) stattfinden. Den DIHT erreichte eine kurzfristige Anfrage der IHK Dresden, ob ein westdeutscher Experte entsendet werden könne, um die gemeinsame Vorbesprechung der DDR-Kammern zu verstärken.133 Die Gründung der IHK Dresden war beim westdeutschen Dachverband außerordentlich begrüßt worden. Hauptgeschäftsführer Schoser hatte dem Dresdner Präsidenten Oefler zur Wahl gratuliert und ihm in fachlich-beratender, personeller und finanzieller Hinsicht „jede Unterstützung“ zugesagt, die für den Aufbau der wirtschaftlichen Selbstverwaltung nötig sei.134 Vor diesem Hintergrund war es selbstverständlich, dass der DIHT einer weiteren Bitte aus Dresden nachkam und im Vorfeld zu den Verhandlungen mit der 130 Schriftliche Fassung des Berichts des Staatssekretärs Fischer über den Stand der Wirtschaftsreformen in der DDR auf der Deutsch-Deutschen Wirtschaftskommission. BArch DE 10/7. 131 Vorschläge für Festlegungen u. Arbeitsschritte in Auswertung der ersten Tagung der gemeinsamen Wirtschaftskommission DDR-BRD am 23. Januar 1990 in Berlin. BArch DE 10/7. 132 Der Staatssekretär im Wirtschaftsministerium von Würzen empfahl in einer Gesprächsrunde beim Chef des Bundeskanzleramts, sich positiv zum neuen Reformkalender der DDR zu erklären. Deutschlandpolitisches Gespräch beim Chef des Bundeskanzleramts Seiters in Bonn vom 24. Januar 1990. In: DzD Deutsche Einheit 1989/90, Dok. 142, S. 702. 133 Vermerk zur Anfrage der IHK Dresden vom 30. Januar 1990. RWWA 181-2478-2. 134 Schreiben des DIHT-Hauptgeschäftsführers an den Präsidenten der IHK Dresden vom 26. Januar 1990. RWWA 181-1815-2.
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Ost-Berliner Regierung auch öffentlich erklärte, die IHKn in der DDR zu unterstützen.135 Unterdessen schickten sich auch in anderen Bezirken Unternehmer an, eine IHK zu gründen. In Cottbus war dies am 20. Januar sogar schon erfolgt.136 In Halle und Magdeburg waren entsprechende Vorbereitungen in einem fortgeschrittenen Stadium. Kammern aus der Bundesrepublik wirkten hierbei beratend mit. Informationen bezog der DIHT vor allem über den Hauptgeschäftsführer-Arbeitskreis, der sich seit Dezember mit den Entwicklungen in der DDR befasste. In dieser Runde herrschte Einvernehmen darüber, einen Spezialisten zu entsenden, der mit den DDR-Kammern eine Argumentationshilfe für das westdeutsche Kammerrecht erarbeiten sollte.137 Diese Aufgabe übernahm der Justiziar des DIHT Hinz, der zu diesem Zweck nach Ost-Berlin reiste. Auf ostdeutscher Seite herrschte hinsichtlich der im westdeutschen IHKG verankerten „Pflichtmitgliedschaft“ prinzipiell kein Diskussionsbedarf. Eine obligatorische Mitgliedschaft hatte es auch in den HGKn gegeben. Aus Sicht von Alt-Mitgliedern sollte eine Übernahme des westdeutschen Rechts hieran somit nichts ändern. Das Prinzip der Gesamtinteressenvertretung hingegen war dem Kammerwesen der DDR abhandengekommen: 1949 war die Zuständigkeit der Kammern auf private Betriebe beschränkt worden. Die Mitgliedschaft auf alle Eigentumsformen auszuweiten – denn nur dadurch ließ sich Gesamtinteressenvertretung wirksam herstellen – bedeutete, dass auch VEB, mithin der Großteil der Industrie, in die neuen Industrie- und Handelskammern zu integrieren waren. Dies stieß auf Vorbehalte, da die Leitungsebene der Kombinate mit Angehörigen der Nomenklatura besetzt war. Sie galt gemeinhin als von der kommunistischen Ideologie durchdrungen. Vertreter des westdeutschen Kammerwesens hatten frühzeitig bemerkt, dass die privaten Gewerbetreibenden in der DDR auf Funktionäre der staatlichen Wirtschaft nicht gut zu sprechen waren.138 Tatsächlich suchten die Direktoren großer Kombinate nach Wegen zur politischen Einflussnahme: In Berlin hatte sich ein Interessenverband SED-naher Wirtschaftsfunktionäre gegründet.139 Gleichwohl konnte der Justiziar des DIHT die 135 DIHT-Präsident Stihl führte zu diesem Zweck ein Interview mit dem Deutschlandfunk. Abschrift des Interviews von DIHT-Präsident Stihl mit dem Deutschlandfunk vom 30. Januar 1990. RWWA 181-2478-2. 136 Flemming, Historie, S. 132. 137 Ergebnisvermerk über die Sitzung des AK DDR am 29. Januar 1990 in Hannover. RWWA 1811929-2. 138 Im Zusammenhang mit der Städtepartnerschaft Wuppertal-Schwerin war der Hauptgeschäftsführer der IHK Wuppertal-Solingen-Remscheid als Mitglied einer Delegation des nordrheinwestfälischen Landesministers für Wirtschaft in die DDR gereist. Er berichtete an den DIHT, dass es unter privaten Unternehmern einige Verbitterung gegenüber den VEB gebe, da diese politisch lange Zeit bevorzugt worden seien. Er hege daher ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber DDR-Institutionen. Für ihn gelte, „je eleganter das Verwaltungsgebäude, je besser das Briefpapier und je besser die technische Ausstattung, […] umso roter, kommunistischer ist das Gebilde!“ Schreiben des Hauptgeschäftsführers der IHK Wuppertal-Solingen-Remscheid an den Hauptgeschäftsführer des DIHT vom 29. Januar 1990. RWWA 181-2478-2. 139 Richter, Friedliche Revolution, S. 1388.
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Mehrheit der Vertreter der DDR-Kammern davon überzeugen, sich für eine Mitgliedschaft von VEB auszusprechen – unter dem Vorbehalt einer zügigen Entflechtung der Kombinate. Zu einer raschen Einigung kam es letztlich aufgrund äußeren Drucks: Aus mehreren Bezirken berichteten Teilnehmer der Sitzung über Bezirkswirtschaftsräte, die Vorbereitungen träfen, selbst eine IHK zu gründen.140 Vor allem Vertreter aus Halle drängten angesichts dessen darauf, die Staatsbetriebe zu integrieren: Ohne deren Mitgliedschaft könne eine IHK nicht finanziert werden. Die designierte Hallenser Hauptgeschäftsführerin erklärte bei anderer Gelegenheit, seitens der Bezirkswirtschaftsräte werde u. a. gegen eine Kammergründung in Verantwortung der Privatunternehmer damit argumentiert, dass eine IHK nicht von Kleingewerbetreibenden aufgebaut werden könne.141 Dieser Vorbehalt müsse entkräftet werden. Inwiefern die Aktivitäten der Bezirkswirtschaftsräte zentral gelenkt bzw. koordiniert wurden, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Zweifellos wurden sie aus einigen der Ost-Berliner Ministerien unterstützt, beispielsweise dem Ministerium für Leichtindustrie, das im Vorfeld zur deutsch-deutschen Wirtschaftskommission dafür plädiert hatte, die Wirtschaftsräte der Bezirke zu IHKn zu deklarieren. Dahingegen äußerte Ministerpräsident Modrow im Gespräch mit dem Chef des Bundeskanzleramts Seiters, dass die Kräfte am Runden Tisch kaum noch Einfluss auf die politische Entwicklung in der DDR nehmen könnten.142 Wenige Tage darauf warnte er Bundeskanzler Kohl vor einem unkontrollierten „Zerfasern“ lokaler Verwaltungen.143 Diese Eingeständnisse deuteten an, dass die Ereignisse in den Bezirken im hohen Maße örtlichen Dynamiken unterlagen. Gleichwohl suchten die Bezirkswirtschaftsräte in nahezu allen Fällen, Einfluss auf die Entstehung von IHKn zu gewinnen. Insbesondere HGKn, die bis zur Abstimmung über einen gemeinsamen Kammergesetzentwurf wenig zu einer Neuausrichtung unternommen hatten, gerieten so unter Zugzwang. Ihre Vertreter drängten darauf, mit einer „Umgründung“ nicht warten zu können, bis diese von Rechts wegen verfügt werde. Der Justiziar des DIHT schlug vor, den Bezirkswirtschaftsräten zuvorzukommen, indem Vertreter der privaten Wirtschaft schon vor Inkrafttreten des Kammergesetzes IHKn auf vereinsrechtlicher Basis gründeten.144 Es sei darauf zu achten, Organisationsstrukturen so anzulegen, dass diese im Einklang zum erwarteten Gesetz ständen. Der Vorschlag wurde im Februar flächendeckend umgesetzt. Zahlreiche Direktoren, die sich bislang auf ihrem Posten gehalten hatten, verloren im Zuge dessen die Leitungsfunktion. Die Absetzung erfolgte nicht immer einvernehmlich: 140 Vermerk zum Gespräch mit den jur. Vertretern der DDR-Kammern vom 5. Februar 1990. RWWA 181-2478-2. 141 Protokoll der DIHT-Vollversammlung in Berlin (West) am 14. Februar 1990. RWWA 181-4752. 142 Gespräch des Bundesministers Seiters mit Ministerpräsident Modrow in Berlin (Ost) vom 25. Januar 1990. In: DzD Deutsche Einheit 1989/90, Dok. 145, S. 709. 143 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Ministerpräsident Modrow in Davos vom 3. Februar 1990. In: DzD Deutsche Einheit 1989/90, Dok. 158, S. 754. 144 Vermerk zum Gespräch mit den jur. Vertretern der DDR-Kammern vom 5. Februar 1990. RWWA 181-2478-2.
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In Frankfurt an der Oder etwa beharrte der Direktor noch Mitte Februar – erfolglos – darauf, ein Amt zu bekleiden, für das keine Wahl vorgesehen sei.145 Er wurde unter Beteiligung seines Stellvertreters gestürzt, den die Mitglieder der HGK als neuen Leiter akzeptierten und der zur Gründungsversammlung einlud. Doch auch, wenn der Stellvertreter gegenüber dem Direktor loyal blieb, ließ sich der Wandel nicht aufhalten. Die Leitung der HGK Magdeburg z. B. weigerte sich geschlossen, Schritte zur demokratischen Umgestaltung in die Wege zu leiten.146 Eine Gruppe privater Fuhrleute, angeführt vom späteren IHK-Gründungspräsidenten, drohte dem Rat des Bezirks mit Streik, falls dieser den untätigen Direktor und dessen Stellvertreter nicht abberufe.147 Die Drohung wirkte: Der Bezirksrat lenkte ein und machte auch in Magdeburg den Weg für demokratische Veränderungen frei. In einigen Bezirken nahmen Vertreter der Runden Tische Anstoß daran, dass private Gewerbetreibende sich anschickten, eine IHK zu gründen.148 Dabei spielten Überlegungen eine Rolle, in der Landespolitik zu den Strukturen von 1952 zurückzukehren. In Erfurt gab es in diesem Zusammenhang konkrete Pläne, die ehemalige Landes-IHK zu reanimieren.149 Aus ähnlichen Bestrebungen ging in Magdeburg sogar ein „Unabhängiger Arbeitskreis Wirtschaft/IHK Sachsen Anhalt“ hervor.150 Dessen Initiatoren konnten allerdings weder dort noch in Halle verhindern, dass die Mitglieder der HGK zu den Trägern der Reorganisation im Kammerwesen wurden. Auf der IHK-Gründungsversammlung in Halle erklärte ein Gast im Namen des Runden Tisches beim Bezirksrat, die Unternehmer hätten kein Recht, eine IHK zu gründen.151 Sitzungsleiter Wolfgang Fell verwies den Sprecher des Saals, als dieser sich nach Ablauf der gewährten Redezeit weigerte, das Rednerpult zu räumen.152 Nach dem Zwischenfall ging Fell wieder zur Tagesordnung über. 145 Flemming/Ulrich, Wirtschaft, S. 14. 146 Entsprechende Hinweise lagen auch dem DIHT vor. Ein Vertreter der nordrhein-westfälischen IHKn schilderte Anfang Februar seine Eindrücke u. a. aus der HGK Magdeburg: „Die Handelsund Gewerbekammer Magdeburg zeigte sich sehr reserviert. Sie war an offiziellen Gesprächen nicht beteiligt und ich konnte nicht zweifelsfrei feststellen, ob dies aus Termingründen geschehen oder politisch bedingt war. Mir schien eher letzteres der Fall zu sein.“ Schreiben des Federführers der nordrhein-westfälischen Kammervereinigung für den Bereich Innerdeutscher Handel an den Hauptgeschäftsführer des DIHT vom 7. Februar 1990. RWWA 181-2478-2. 147 Beier/Wenzel, Tradition, S. 278 f. 148 In den Bezirken entstanden analog zur zentralstaatlichen Ebene Runde Tische, die den Dialog zwischen den Fraktionen der Bürgerbewegung und den Repräsentanten des Bezirks gestalten sollten. In Zusammensetzung und Arbeitsweise unterschiedenen sie sich stark voneinander. Ihr historisches Verdienst war die Auflösung der Staatssicherheit und die Vorbereitung demokratischer Wahlen in den Bezirken. Weil, Demokratisierung, S. 98. 149 Hawich, Interessenvertretung, S. 72. Die Pläne erübrigten sich, als in Suhl und Gera eigenständige IHKn entstanden. 150 Beier/Wenzel, Tradition, S. 280. 151 Wie in anderen Bezirken auch fand die Gründungsveranstaltung der IHK Halle unter Beteiligung westdeutscher Kammervertreter statt. Der Hauptgeschäftsführer der IHK Duisburg wurde Augenzeuge der Gründungsveranstaltung und berichtete hierüber an DIHT-Hauptgeschäftsführer Schoser. Schreiben des Hauptgeschäftsführers der IHK Duisburg an den Hauptgeschäftsführer des DIHT vom 9. Februar 1990. RWWA 1871–3. 152 Interview Fell.
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Gründungsveranstaltungen fanden bis Anfang März in sämtlichen Bezirken der DDR statt. Westdeutsche IHKn waren nahezu überall beratend in die Organisation involviert. Neben den Unternehmern wirkten hierbei auch Mitarbeiter der HGKn mit. Obschon es in der Regel im Vorhinein Kandidaten für die Ämter des Hauptgeschäftsführers bzw. Präsidenten gab, handelte es sich bei den Versammlungen mitnichten um abgekartete Angelegenheiten: In Halle z. B. hatte die bisherige Stellvertreterin des Direktors die Reorganisation der Kammer vorbereitet, nachdem die Zusammenarbeit mit dem früheren Leiter beendet worden war. In einer Unterredung mit dem Hauptgeschäftsführer der IHK Duisburg, der auf der Gründungsveranstaltung als Gast zugegen war, präsentierte die designierte neue Hauptgeschäftsführerin einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten. Dies kam Sitzungsleiter Fell zu Ohren, der zuvor selbst ins Präsidium der Kammer gewählt worden war. Der Kohlenhändler protestierte und beharrte auf einer Anhörung der Vizepräsidenten. Letztere sprachen sich schlussendlich für Fell als Präsidenten aus.153 Die Beteiligung von Mitarbeitern aus dem Apparat der HGK war keineswegs unabdingbar, um eine neue, demokratische Kammer bilden zu können. Dies zeigten die Neubrandenburger Unternehmer, die mit tatkräftiger Unterstützung aus Münster eine neue IHK gründeten und beim Rat des Bezirks durchsetzten, dass die alte Kammer abgewickelt wurde.154 Welche Folgen das Fehlen engagierter Unternehmer hatte, zeigte sich demgegenüber in Leipzig. Zum Unmut der IHK HannoverHildesheim gewann eine andere Organisation Einfluss auf die Gründung der neuen Kammer: Ein „Initiativkreis“, der sich erst kurz zuvor gebildet hatte, lud für eine auf den 8. März terminierte Gründungsversammlung ein.155 Zwischen Leipzig und der niedersächsischen Landeshauptstadt bestand eine Städtepartnerschaft. Dies hatte die IHK Hannover-Hildesheim dazu veranlasst, Kontakt zur Leipziger Kammer aufzunehmen. Die Hannoveraner berichteten an den DIHT, dass die Informati153 Wolfgang Fell beschreibt seine Wahl zum Präsidenten: „Es dauerte noch eine Weile, als ich mitbekam, wie Frau Ackermann zu Herrn Dr. Pieper [IHK Duisburg] sagte, sie hätte im Vorfeld mit [ ] gesprochen [ ]. Der war schon mal 1947 – er war ein älterer Herr – Mitglied der Vollversammlung gewesen. Der sollte Präsident werden. Das bekam ich mit und da war ich in meinem Basisverständnis verärgert, und in Rage bin ich dann zu Frau Ackermann gegangen, die ich da erst zum zweiten Mal gesehen habe, und sagte: ‚… das können sie knicken, das gibt’s nicht!‘ Wir hatten noch die DDR, Modrow war noch an der Macht. So ein Vorgehen wollte ich mir nicht gefallen lassen. Uns sollte kein Präsident aufoktroyiert werden. Das sollten die Vizepräsidenten machen, die sich dort versammelt hatten. Als ich zu den anderen Vizepräsidenten ging [ ], schauten sich [alle] gegenseitig an – man kannte sich nicht untereinander. Ein Einzelhändler aus Bernburg kannte den Einzelhändler aus Halle nicht, und der Gastwirt aus Halle kannte den Gastwirten aus Wittenberge nicht. Sie wussten nicht, wen sie wählen sollten, und dann kam der Herr [ ] hinzu: ‚Ja, ich möchte mal … ich bin, glaube ich auch, der Älteste …‘ – Der war natürlich sehr getragen in seiner Art zu reden – ‚… ja, denkt man daran, der Herr Fell hat ja auch sehr gut durch die Tagung geführt, denkt man an den Runden Tisch …‘ etc. ‚Ich würde den Herrn Fell als Präsidenten vorschlagen.‘ Da haben die anderen natürlich nicht ‚nein‘ gesagt, die haben zugestimmt. So habe ich die Sache, die ich einen Tag vorher als Tagungsleiter beginnen sollte, abends um viertel nach Acht als Präsident beendet.“ Interview Fell. 154 Behr, Industrie- und Handelskammer, S. 332. 155 Leipzig war damit die letzte „Bezirkshauptstadt“, in der sich eine IHK bildete.
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onspolitik des Initiativkreises von Unternehmern bemängelt worden sei.156 Die geplante Kammergründung werde insgesamt kritisch gesehen, was zu einem Gutteil an der personellen Besetzung liege. Wie aus anderen Quellen hervorging, wurde den Organisatoren der Leipziger Kammergründung eine Nähe zum Bezirkswirtschaftsrat nachgesagt.157 Aus diesem Grund, so die Hannoveraner, gebe es erhebliche Probleme, ehrenamtliches Engagement zu mobilisieren. Vorbehalte artikulierte die IHK Hannover-Hildesheim insbesondere im Hinblick auf den Vorsitzenden des Initiativkreises, dem voraussichtlichen Kandidaten für das Amt des Präsidenten. Dieser habe sich als Unternehmensberater ausgegeben. Über seinen genauen beruflichen Hintergrund bestehe bei den Gewerbetreibenden allerdings keine Klarheit. Die Hannoveraner suchten die Wahl des Bewerbers zu verhindern, indem sie Gespräche mit Unternehmern führten. Auf der Gründungsversammlung erklärte der Hauptgeschäftsführer der IHK Hannover-Hildesheim, nur eine Person mit langjähriger Unternehmererfahrung komme als Präsident einer IHK in Frage.158 Wie sich zeigte, verfügte eine westdeutsche IHK über keine hinreichenden Mittel, um eine starke Gegenbewegung zu mobilisieren: Der Vorsitzende des Initiativkreises setzte sich durch und wurde erster Präsident der Kammer. Da diese nach Vereinsrecht gegründet wurde – die Kammerverordnung war noch nicht in Kraft getreten –, genügte ihm dazu das Votum des Präsidiums, in das er zuvor mit knapper Mehrheit gewählt worden war.159 Die IHK Hannover-Hildesheim erklärte gegenüber dem DIHT, die Gewährung weiterer Unterstützung zurückstellen zu wollen. Mit dem Unternehmerverband, der aus dem Kreis früherer Industrieunternehmer und deren Nachkommen entstand, war eine bedeutende Leipziger Wirtschaftsvereinigung der Gründungsversammlung ferngeblieben. 3.2 DIE VEREINIGUNG VOR DER EINHEIT: EIN GESAMTDEUTSCHES KAMMERWESEN ENTSTEHT 3.2.1 Der deutsch-deutsche Marktplatz Der DIHT hatte zunächst nicht beabsichtigt, sich unmittelbar in die Neugestaltung des Kammerwesens in der DDR einzumischen. Ende 1989 planten die Regierung der DDR sowie der Dachverband der IHKn in der Bundesrepublik, vorrangig bei der Vermittlung geschäftlicher Beziehungen zusammenzuarbeiten. Im November hatte die Hauptgeschäftsführer-Konferenz daher beschlossen, eine Kooperations156 Bericht der IHK Hannover-Hildesheim an den Hauptgeschäftsführer des DIHT zum Stand der Entwicklung in Leipzig vom 6. März 1990. RWWA 181-1929-2. 157 Die „Gruppe Wirtschaft“ des Neuen Forums Leipzig äußerte in einem Schreiben an DIHTPräsident Stihl ihr Unverständnis darüber, dass die Leipziger IHK auf Betreiben des Bezirkswirtschaftsrats gegründet werde. Schreiben der „Gruppe Wirtschaft“ an den Präsidenten des DIHT vom 17. Februar 1990. RWWA 181-475-2. 158 Bericht der IHK Hannover-Hildesheim an den Hauptgeschäftsführer des DIHT zur IHK-Gründung in Leipzig am 8. März 1990. RWWA 181-1929-2. 159 Gemäß Kammerverordnung stand es der Vollversammlung zu, Präsident und Hauptgeschäftsführer zu wählen.
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börse einzurichten. Diese sollte interessierten Unternehmen aus der Bundesrepublik zu Geschäftspartnern jenseits der innerdeutschen Grenze verhelfen. Dem gleichen Anliegen widmeten sich Bundeswirtschaftsminister Haussmann sowie der Außenwirtschaftsminister der DDR Beil, als sie sich am 19. Dezember 1989 in Dresden berieten, im Rahmen einer zweitägigen Regierungskonsultation. Die Minister vereinbarten, ein deutsch-deutsches Wirtschaftsforum auszurichten, um Wirtschaftsfunktionäre und Geschäftsleute zusammenzubringen.160 Als Termin war der 13. Februar 1990 festgelegt worden. Die Organisation übertrug man dem DIHT sowie der Außenhandelsorganisation der DDR, KfA. Die Veranstaltung sollte im West-Berliner Kongresszentrum ICC stattfinden. Die internen Sprachregelungen zum geplanten Ereignis unterschieden sich in Ost und West merklich. Dies sorgte beiderseitig für Missverständnisse. In der DDRAdministration war von einer Begegnung von „Wirtschaftlern, insbesondere der Klein- und mittelständischen Industrie der BRD“161 mit „Wirtschaftlern und wirtschaftsfördernden Organisationen der DDR“ die Rede. In der Information, die DIHT-Hauptgeschäftsführer Schoser den bundesdeutschen IHKn zukommen ließ, hieß es hingegen, es sei eine Veranstaltung „zum Zweck der Kontaktaufnahme west- und ostdeutscher Mittelständler“162 in Planung. Der Leiter der Außenhandelsabteilung der ostwestfälischen IHK in Bielefeld, Thomas Herold, sah sich deswegen veranlasst, den DIHT zu warnen. Herold war in der nordrhein-westfälischen Kammervereinigung Federführer des Bereichs „Innerdeutscher Handel“. In dieser Funktion begleitete er den Wirtschaftsminister des Landes mehrmals auf Reisen in die DDR.163 Aufgrund der Einblicke, die er so gewann, bekräftigte er, dass der so bezeichnete „Mittelstand“ in der DDR – VEB mit bis zu 500 Mitarbeitern – mit dem westdeutschen Mittelstand „wirklich nur die Schreibweise“164 teile. Er kritisierte vor allem die DDR-Reformerin Luft. Aus seiner Sicht hatte sie durch eine entsprechende Wortwahl dazu verleitet, weitreichende Ähnlichkeiten zu unterstellen. Herold war nicht der einzige Kammervertreter, der Missbehagen im Hinblick auf die Ausrichtung des DIHT artikulierte. Der Hauptgeschäftsführer der IHK Wuppertal-Solingen-Remscheid war ebenfalls im Gefolge des nordrhein-westfälischen Wirtschaftsministers mitgereist. Er forderte, dass sich die Kammerorganisation der Bundesrepublik dem „eigentlichen“ Mittelstand in Ostdeutschland verpflichtet fühlen müsse. Es handele sich dabei um Kleingewerbetreibende, die oft nur unzureichend mit Informationen versorgt würden.165 Der Hauptgeschäftsführer 160 Ergebnisvermerk zum Gespräch von Außenhandelsminister Beil mit Bundeswirtschaftsminister Haussmann am 19. Dezember 1989 in Dresden. BArch DE 10/7. 161 Ebd. 162 Schreiben des DIHT-Hauptgeschäftsführers an die Hauptgeschäftsführer der IHKn vom 20. Dezember 1989. RWWA 181-2478-2. 163 Herold, Bitterfeld, S. 122 ff. 164 Schreiben des Federführers der nordrhein-westfälischen Kammervereinigung für den Bereich Innerdeutscher Handel an den DIHT-Hauptgeschäftsführer vom 7. Februar 1990. RWWA 1812478-2. 165 Schreiben des Hauptgeschäftsführers der IHK Wuppertal-Solingen-Remscheid an den DIHTHauptgeschäftsführer vom 29. Januar 1990. RWWA 181-2478-2.
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hob hervor, dass keine Veranlassung bestehe, volkseigene Objekte zu fördern. In diesem Zusammenhang hatte auch Herold zu bedenken gegeben, dass die von der Bundesregierung in Aussicht gestellten ERP-Mittel an der primären Zielgruppe, den privaten Unternehmern, vorbeilaufen könnten: Die VEB seien ihrer Staatsnähe wegen besser über die Vereinbarungen zwischen der Bundesregierung sowie der DDR-Regierung informiert. Der DIHT hatte kurz zuvor erste Gespräche mit Vertretern der KfA geführt. Auf Ministerebene war vereinbart worden, die DDR-Außenhandelskammer in die Planung des Wirtschaftskongresses einzubinden. Bereits im Dezember hatte Hauptgeschäftsführer Schoser gegenüber den bundesdeutschen IHKn angekündigt, die anstehende Vorstandssitzung sowie die Vollversammlung nach Berlin (West) zu verlegen.166 Die Gremien des IHK-Dachverbands sollten im Anschluss an die geplante Veranstaltung im West-Berliner ICC tagen. Letztere erhielt den Titel „Deutschdeutscher Marktplatz“. Der DIHT konzipierte von Beginn an ein umfassendes Tagungsprogramm. Das Treffen war als Rahmen geplant, um die Reformfortschritte in der DDR darzustellen und Hilfsangebote der bundesdeutschen Kammerorganisation zu präsentieren. Hilfen bot man sowohl in Bezug auf eine mögliche Zusammenarbeit mit Wirtschaftsorganisationen der DDR an als auch im Hinblick auf Sachthemen, bei denen DIHT und IHKn über eine spezielle Expertise verfügten: Die Vermittlung von Unternehmenskooperationen, die Beratung von Existenzgründern sowie die Aufbereitung regionalwirtschaftlicher Informationen. Der deutschdeutsche Marktplatz sollte ferner Gelegenheit bieten, um auf breiter Basis über die Vertiefung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit von DDR und Bundesrepublik zu diskutieren. Dazu waren Arbeitsgruppen vorgesehen, mit Schwerpunkten auf Bereichen wie Logistik, Umweltschutz und Tourismus. KfA-Vertreter ließen während der ersten gemeinsamen Vorbesprechung Unmut darüber erkennen, dass der DIHT in großen Dimensionen plante.167 In der DDRAußenhandelsorganisation wurde offenbar befürchtet, bei der Gestaltung der Veranstaltung an Einfluss zu verlieren. Prinzipiell verfügte die KfA über ein diesbezüglich effektives Mittel: Ihr oblag es gemäß der ursprünglichen Abmachung, die Teilnehmer aus der DDR einzuladen. Den Teilnehmerkreis zu vergrößern, drohte dieses Privileg indessen zu schmälern. Tatsächlich ging der DIHT Mitte Januar dazu über, bei den Vorbereitungen „nötigenfalls auch weit mehr“168 als die veranschlagten 1.000 Gäste einzukalkulieren. Vor allem überließ der bundesdeutsche IHK-Dachverband es keineswegs ausschließlich der KfA, in der DDR zum deutsch-deutschen Marktplatz einzuladen. So erhielten z. B. auch die IHKn bzw. HGKn Einlasskarten, um sie an interessierte Unternehmer zu verteilen. Hauptgeschäftsführer Schoser nutzte sämtliche Kontakte, die in der Zwischenzeit entstanden waren, um Repräsentanten der DDR-Wirtschaft einzubeziehen. So schlug er dem Präsidenten des Unternehmerverbands der DDR (UV), Rudolf Sta166 Schreiben des DIHT an die Hauptgeschäftsführer vom 20. Dezember 1989. RWWA 181-2478-2. 167 Vermerk zur Vorbesprechung des deutsch-deutschen Unternehmertreffs mit der KfA vom 8. Januar 1990. RWWA 181-475-2. 168 Vermerk zur zweiten Vorbesprechung des deutsch-deutschen Unternehmertreffs mit der KfA vom 15. Januar 1990. RWWA 181-475-2.
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dermann, vor, den deutsch-deutschen Marktplatz mit einem Grußwort zu eröffnen, gemeinsam mit DIHT-Präsident Stihl sowie den Präsidenten der soeben in Berlin (Ost) und Dresden gegründeten IHKn. Der UV organisierte ehemalige Familienunternehmer sowie deren Rechtsnachfolger, die eine Rückgabe ihres 1972 verstaatlichten Eigentums forderten. Der Verband war darüber hinaus ein Sammelbecken für Existenzgründer, die unternehmerische Ideen im Kleinen verfolgt hatten und auf einen marktwirtschaftlichen Neuanfang hofften.169 Der UV formierte sich unabhängig von den IHKn, die z. T. noch keinen Kontakt zu angehenden Industrieunternehmern in der DDR hatten. Stadermann nahm Schosers Angebot an. Im Gegenzug gewährte der DIHT dem UV Zugang zur Kooperationsbörse der Kammerorganisation. Schon im Vorhinein zeichnete sich ab, dass sich der deutsch-deutsche Marktplatz zu einer Großveranstaltung auswuchs. Am Vorabend lagen dem DIHT über 4.000 Anmeldungen vor. Der Besucheransturm des darauffolgenden Tages übertraf selbst die kühnsten Schätzungen: Etwa 12.000 Besucher aus Ost und West drängten am 13. Februar 1990 ins West-Berliner ICC.170 Der DIHT hatte zuvor 30 Tonnen an Broschüren und anderen Informationsmaterialien herbeigeschafft – bereits am Mittag war alles vergriffen. Etliche Teilnehmer registrierten sich in der elektronischen Kooperationsbörse, besuchten die Fachforen und nahmen an der zentralen Abschlusskundgebung teil. Der deutsch-deutsche Marktplatz ging weit über das hinaus, als was er ursprünglich geplant war. Er wurde zu einer Manifestation der Forderung nach Einführung der sozialen Marktwirtschaft in der DDR. UV-Präsident Stadermann beschwor in seinem Grußwort 100.000 Neu-Unternehmer, die „Gewehr bei Fuß“171 ständen. Die Regierung müsse die erforderlichen Rahmenbedingungen schaffen. DIHT-Präsident Stihl forderte, in der DDR müsse es zu einer „totalen und schnellen Befreiung von allen überkommenen planwirtschaftlichen Mustern“172 kommen. Es waren kaum zwei Monate vergangen, seit in der Hauptgeschäftsführer-Konferenz davor gewarnt worden war, in der DDR missionarisch aufzutreten, bzw. dort auch nur einen solchen Anschein zu erwecken.173 Vor diesem Hintergrund waren die unzweideutigen Appelle im Rahmen des Unternehmerkongresses erklärungsbedürftig. Sie verdeutlichten, wie sehr sich der politische Bezugsrahmen und die allgemeinen Erwartungen in nur wenigen Wochen verändert hatten. Kurz vor den Äußerungen Stihls hatte Staatssekretär Fischer dem DIHT signalisiert, dass die Einführung öffentlich-rechtlich verfasster IHKn nach westdeutschem Vorbild im Ministerrat grundsätzlich gebilligt wurde.174 Das nunmehr energische Eintreten dafür, 169 Wir sind die Trümmerfrauen. In: Der Spiegel, 4/1990. 170 Deutsch-Deutscher Marktplatz: 12.000 kamen aus Ost und West. In: Die Welt, 14. Februar 1990. 171 Stadermann, Gewerbefreiheit, S. 33. 172 Stihl, Weg, S. 9. 173 Protokoll der Hauptgeschäftsführer-Konferenz vom 21. November 1989 in Bonn. RWWA 1811885-2. 174 Vermerk über Mitteilung des Staatssekretärs im Ministerrat Fischer an den DIHT bezgl. IHKn in der DDR vom 9. Februar 1990. RWWA 181-2478-2.
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dass die DDR die gesamte bundesdeutsche Wirtschaftsordnung übernehmen sollte, muss indessen mit einer anderen Entwicklung erklärt werden. Dieser Richtungswechsel ging maßgeblich auf eine Initiative der Bundesregierung zurück. Am 6. Februar hatte Bundeskanzler Kohl angekündigt, mit der DDR Verhandlungen über die sofortige Herstellung einer Währungsunion führen zu wollen. Kohl hatte den Vorstoß außenpolitisch nicht abgestimmt und setzte die Modrow-Regierung massiv unter Druck: Viele Demonstranten forderten bereits, die D-Mark einzuführen. Die Regierung der DDR hatte dies bisher strikt abgelehnt. Nicht zuletzt aufgrund des anhaltenden Stroms an Übersiedlern fasste die Bundesregierung den Plan, die Realeinkommen in der DDR „schnellstmöglich“175 an das westdeutsche Niveau heranzuführen. Die Währungsunion war ein Instrument, um dieses Vorhaben zu realisieren. Darüber hinaus bewirkte sie eine – keineswegs unbeabsichtigte – Beschleunigung des Vereinigungsprozesses. Kohl machte sich das Argument zu Nutze, die DDR müsse wirtschaftlich umgehend stabilisiert werden. Letztlich erlangte er so auch in Moskau Zustimmung zu seinen Wiedervereinigungsplänen.176 Wirtschaftspolitische Institutionen sowie ökonomische Forschungsinstitute bewerteten den Plan des Bundeskanzlers kritisch. Der Vorsitzende des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Hans Karl Schneider, äußerte in einem Schreiben, Verständnis für die politischen Intentionen des Vorschlags zu haben. Energische Reformanstrengungen der DDR-Regierung seien allerdings ein gleichermaßen geeignetes Mittel, um der Massenabwanderung entgegenzuwirken. Reformen müssten, so Schneider, überhaupt erst die Voraussetzungen schaffen, um „in der Währungspolitik mutiger“177 agieren zu können. Er warnte davor, dass vielen Unternehmen in der DDR der Kollaps drohe. Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl positionierte sich sogar öffentlich gegen eine Währungsunion und wies auf die Gefahr eines Anstiegs der Inflation hin, da es in der DDR einen großen Geldüberhang gebe.178 Das Handelsblatt, im dem Pöhls Äußerungen erschienen waren, nahm diese zum Anlass für eine Umfrage in der bundesdeutschen Finanzwirtschaft. Eine skeptische Position herrschte auch dort in weiten Teilen vor.179 In den darauffolgenden Tagen kamen im Handelsblatt weitere Institute und Verbände zu Wort, die überwiegend Kritik an Plan einer Währungsunion zur Sprache brachten. U. a. galt dies für ein Konzept des DIHT. Die Wirtschaftszeitung berichtete von einem „Stufenkonzept“180 – und hob dabei die Einwände gegen eine sofortige Einführung der D-Mark in der DDR hervor. Es zitierte Hauptgeschäfts175 Zit. nach: Rödder, Deutschland, S. 208. 176 Vgl. ebd. S. 199. 177 Schreiben des Vorsitzenden des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Schneider, an Bundeskanzler Kohl vom 9. Februar 1990. In: DzD Deutsche Einheit 1989/90, Dok. 168., S. 780. 178 Bundesbankpräsident Pöhl: Jetzige Einführung der D-Mark „zumindest verfrüht“. In: Handelsblatt, 7. Februar 1990. 179 Währungsunion mit der DDR. Banker so skeptisch wie Bundesbankpräsident Pöhl. In: Handelsblatt, 8. Februar 1990. 180 DIHT – Stufenplan für eine deutsch-deutsche Union. In: Handelsblatt, 9. Februar 1990.
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führer Schoser, dass eine Währungsunion vorbereitet werden müsse. Die DDR solle den Wechselkurs freigeben, um einen realistischen Außenwert ihrer Währung zu ermitteln. Ferner sei eine Expertenkommission einzusetzen, um über die Harmonisierung des Wirtschafts-, Sozial- und Steuerrechts zu beraten. Andere Medien gaben Schoser indessen mit einer anderen Äußerung wieder. Demnach bezeichnete er die Währungsunion als „mutigen, aber riskanten Schritt“.181 In diesem Zusammenhang hatte der Hauptgeschäftsführer des DIHT es erstmals als Voraussetzung für die Währungsunion bezeichnet, dass die Soziale Marktwirtschaft in der DDR „ohne Abstriche“ eingeführt werde. Stufenpläne sowie Verhandlungen zur Harmonisierung zweier unterschiedlicher Wirtschaftssysteme erwiesen sich als nicht durchführbar, da dem Vorstoß zur Errichtung einer Währungsunion außen- und deutschlandpolitische Erwägungen zugrunde lagen. Unter diesen Umständen ließen sich die Wirtschafts-, Sozial- und Steuergesetzgebung beider deutscher Staaten am schnellsten einander angleichen, indem die DDR den entsprechenden Ordnungsrahmen der Bundesrepublik übernahm. Dies war nicht zuletzt ein Mittel, um die Risiken zu minimieren, die eine Währungsunion aus westdeutscher Sicht für die Geldwertstabilität hatte. Die Bundesregierung indes nutzte die Währungspolitik, um ihre Dominanz im Vereinigungsgeschehen zu festigen: Die DDR war in der Folge mehr als zuvor auf Expertise aus der Bundesrepublik angewiesen.182 3.2.2 Die rechtliche Anerkennung der Industrie- und Handelskammern in der DDR Die „Verordnung über die Industrie- und Handelskammern der DDR“ trat am 12. März 1990 in Kraft.183 Der Ministerrat hatte die Forderung anerkannt, das Kammerwesen nach westdeutschem Vorbild umzugestalten. Die Vorlage zur Verordnung ging auch auf den Ministerratsbeschluss vom 4. Dezember 1989 ein, der zur Abberufung der HGK-Direktoren und ihrer Stellvertreter geführt hatte: Dies habe die „Entwicklung der Kammern zu einer eigenständigen Berufsorganisation“ ermöglicht.184 Im Fortgang mit dieser ersten Maßnahme sowie mit einer „Auswertung gesetzlicher Regelungen der BRD und West-Berlin“ bestehe die Notwendigkeit, die rechtlichen Grundlagen neu zu regeln. Die Verordnung übernahm wesentliche Elemente des bundesdeutschen Kammerrechts. Die HGKn, die vorrangig dazu gedient hatten, die Inhaber privater Gaststätten, Einzelhandelsbetriebe und sonstiger kleiner Gewerbe fachlich anzuleiten und ideologisch zu führen, wurden aufgelöst.
181 Zit. nach: Auf dem Weg zur Einheit. Modrow über Bonn verärgert. In: Hamburger Abendblatt, 9. Februar 1990. 182 Vgl. Rödder, Deutschland, S. 209. 183 Verordnung über die Industrie- und Handelskammern der DDR vom 1. März 1990. In: GBl. der DDR I, 1990, S. 112 ff. 184 Vorlage des Ministerrates zur Verordnung über die Industrie- und Handelskammer der DDR. BArch DC20-I/3–2922 (S. 109).
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Im Hinblick auf ihre Aufgaben sowie ihre rechtliche Stellung unterschieden sich die neuen Kammern grundlegend von den alten. Sie bezogen „Unternehmen aller Eigentumsformen“ ein – mit Ausnahme von land- und forstwirtschaftlichen Betrieben sowie Unternehmen, die in den Rollen der Handwerkskammern eingetragen waren. IHKn waren Vertreter des gewerblichen Gesamtinteresses und in ihrer Zuständigkeit nicht länger auf private Unternehmen beschränkt, wie es in der DDR seit 1949 der Fall gewesen war. Zudem gewährleistete ihnen die Kammerverordnung eine weitreichende Staatsunabhängigkeit: Anders als in früheren kammerrechtlichen Bestimmungen in der DDR bestanden hinsichtlich der Aufgaben der IHKn keine inhaltlichen Vorgaben. Vielmehr war es nun das Recht der Kammern, Vorschläge, Gutachten und Einschätzungen bei staatlichen Organen vorzubringen. IHKn waren somit nicht nur Vertreter gewerblicher Interessen, sondern auch Träger öffentlicher Aufgaben. Eine solche Simultanfunktion war einst Wesenskern der wirtschaftlichen Selbstverwaltung in Deutschland gewesen.185 Sie war nun auch im ostdeutschen Kammerwesen wieder gesetzlich verankert. Die Kammerverordnung übertrug zentrale Bestimmungen des westdeutschen IHKG auf die DDR. Dessen Wortlaut übernahm sie allerdings nur z. T. und enthielt dafür einige eigentümliche Formulierungen. Diese waren u. a. auf den staats- sowie verwaltungsrechtlichen Kontext zurückzuführen, der sich in der DDR grundlegend von den Verhältnissen in der Bundesrepublik unterschied.186 In Anbetracht dessen ergaben sich aus ungleichen Formulierungen keineswegs zwingend sachliche Unterschiede. In Bezug auf zugehörige Unternehmen war z. B. von einer „Mitgliedschaft“ die Rede.187 Abwandlungen wie diese dienten nicht zuletzt dazu, Sachverhalte zu konkretisieren, die im Rechtsrahmen der DDR keine Entsprechung besaßen. So wurden IHKn vorweg als „Organisationen der gewerblichen Selbstverwaltung und regionalwirtschaftlichen Interessenvertretung“ definiert. Das westdeutsche Kammerrecht kam demgegenüber ohne den Begriff der Selbstverwaltung aus, da die Schilderung der rechtlichen Stellung sowie der Aufgaben einer IHK für sich sprach. Die DDR-Verordnung beschrieb eine Kammer ferner als „juristische Person“, da es in der DDR keine Analogie zur öffentlich-rechtlichen Körperschaft gab. Abgesehen von Einzelheiten in der Formulierung des Rechtstextes gab es auch faktische Unterschiede zwischen den IHKn in der DDR sowie in der Bundesrepublik. Namentlich im Bereich der Finanzierung gab es Hindernisse. So ließ sich die Leistungsfähigkeit der Betriebe nur annähernd berücksichtigen; es fehlte nämlich an Kriterien, nach denen Betriebsgewinne ermittelt werden konnten. Es gab daher 185 Vgl. Jäkel/Junge: Industrie- und Handelskammern, S. 9 ff. 186 Ein Beispiel, für das dies zweifellos nicht galt, war das im IHKG enthaltene Gebot zur „Wahrung von Anstand und Sitte des ehrbaren Kaufmanns“, das nicht in der Verordnung über die IHKn in der DDR enthalten war. 187 Der Begriff der Mitgliedschaft war in älteren Vorschriften des DDR-Kammerrechts üblich. Im IHKG wurde das Verhältnis zwischen Kammern und Unternehmen indessen unter dem Gesichtspunkt der „Zugehörigkeit“ beschrieben. In Anbetracht der allgemeinen Verbreitung der Bezeichnung „Mitglieder“ für zugehörige Unternehmen, nicht zuletzt in der öffentlichen Kommunikation von IHKn, wird auch in der vorliegenden Arbeit bisweilen verallgemeinernd von „Mitgliedsunternehmen“ die Rede sein.
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auch keine Gewerbesteuer, die in der Bundesrepublik Grundlage der Kammerfinanzierung war. Analog zum IHKG führte die DDR-Verordnung als Finanzierungsquellen einen Grundbeitrag sowie einen Hebesatz ein. Letzterer richtete sich allerdings nicht nach dem Gewinn, sondern nach dem Umsatz eines Betriebes. Auf diese Weise war es immerhin möglich, die Beitragsbelastung nach Größenkriterien auszudifferenzieren. Wie sich zeigen sollte, erwies sich die Anwendung dieser Bestimmung gleichwohl als diffizil. Selbstverwaltung war ein Modell der Verwaltungsorganisation, das es in der DDR zuvor nicht gegeben hatte. Von den sozialistischen Machthabern war ein einheitliches Befehls- und Subordinationsgefüge geschaffen worden.188 Hierin waren gegenläufige Elemente weder erwünscht, noch verfassungsrechtlich vorgesehen worden. Vor allem vor diesem Hintergrund wies die DDR-Kammerverordnung Besonderheiten auf. Der Ministerrat wünsche sich eine Entstehung der Kammern „von unten“, wie Staatssekretär Fischer dem DIHT während der Ausarbeitung der Verordnung ausrichtete.189 Wie aus dieser Nachricht ebenfalls hervorging, war die Regierung der DDR darüber im Bilde, dass auch Bezirkswirtschaftsräte bestrebt waren, sich als IHK zu etablieren. Kammern unterscheiden sich von Verbänden u. a. durch ihre Eigenschaft als Träger hoheitlicher Rechte. Dieser Umstand machte es erforderlich, sie durch einen hoheitlichen Akt zu legitimieren. Es war daher ein keineswegs unerhebliches Problem, dass Teile der vollziehenden Gewalt versuchten, Einfluss auf den Errichtungsakt zu nehmen. Die Kammerverordnung enthielt eine elegante Lösung, um die direkte Einmischung der Bezirksräte zu erschweren. So bestimmte sie etwa, dass die Rechtsaufsicht über die IHKn eine Obliegenheit des „territorial zuständigen Staatsorgans“ sei. Insbesondere im Zusammenhang mit der Errichtung wurde es vermieden, die Bezirke zu thematisieren. IHKn „werden nach regionalwissenschaftlichen Gesichtspunkten gebildet“, wie es in der Verordnung hieß, welche des Weiteren für alle Kammerorgane eine demokratische Wahl vorsah. Zusammengenommen sorgte dies dafür, dass die Gründungsakteure über großen Gestaltungsspielraum verfügten. Anders als im westdeutschen Kammerrecht, wo der zuständige Landesminister den Errichtungsakt vollzog und dabei konstitutive Details festlegte, war nämlich nicht vorgegeben, wer die obigen Bestimmungen umsetzte. Vielmehr oblag es der Vollversammlung, den Sitz der IHK festzulegen.190 Die Kammerverordnung stellte alle in den Wochen zuvor erfolgten IHK-Gründungen auf eine rechtliche Grundlage.191 Dies galt unabhängig davon, ob sie in 188 Vgl. König, Transformation, S. 37. 189 Vermerk über Mitteilung des Staatssekretärs im Ministerrat Fischer an den DIHT bezgl. IHKn in der DDR vom 9. Februar 1990. RWWA 181-2478-2. 190 Hierbei handelte es sich um eine Regelung, die sich als Schlupfloch für unbeabsichtigte Gründungen von IHKn erweisen sollte. Diese Problematik war weder im Ministerrat noch im DIHT erkannt worden. Vermerk der Rechtsabteilung des DIHT zum Entwurf der Verordnung über die Industrie- und Handelskammern der DDR vom 21. Februar 1990. RWWA 181-2478-2. 191 Diese Gründungen waren auf vereinsrechtlicher Grundlage erfolgt und besaßen provisorischen Charakter. Zur Konstituierung im Sinne der Kammerverordnung bedurfte es u. a. einer Wahl zur Vollversammlung. Die dazu notwendigen Vorbereitungen zu treffen, zählte zu den Aufgaben der vereinsrechtlich verfassten Kammern.
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Einvernehmen mit oder in Konflikt zu der alten HGK entstanden waren. Die Rechtsgrundlage der Kammern gab darüber hinaus vor, eine Dachorganisation mit wirtschaftsfördernder Aufgabenstellung zu bilden. Dabei wurde die Möglichkeit eröffnet, Teile der bisherigen Wirtschaftsverwaltung zu übernehmen. Die Schlussbestimmung legte fest, dass die „Kapazitäten“ der KfA sowie der Bezirkswirtschaftsräte in die IHKn sowie dieser Dachorganisation „einzubeziehen“ seien. Dies solle „auf der Grundlage abzuschließender Vereinbarungen“ geschehen, wie es weiter hieß. Diese Ergänzungen ließen sich als Zugeständnis an die Widersacher der privaten Gewerbetreibenden verstehen. Gleichwohl machte die Modrow-Regierung den Selbstbestimmungswillen der Unternehmer aus dem Kreis des kleingewerblichen Mittelstands zum Fundament des neuen Kammerwesens. Dazu orientierte sie sich am Vorbild des westdeutschen Kammerrechts. In den nachfolgenden Monaten, im Zuge der Herstellung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, wurde die Übertragung bundesdeutscher Gesetze auf die DDR zu einer strategischen Lösung, um die Annäherung der beiden deutschen Staaten zu beschleunigen. War die Einführung von IHKn ein Testlauf dieser Politik? Regierungschef Modrow und seine Stellvertreterin für Wirtschaft Luft hatten im Januar erstmals öffentlich von „sozialer Marktwirtschaft“ als Ziel ihrer Reformen gesprochen.192 Dies geschah nicht zuletzt in Reaktion auf eine Krise, die sich in Anbetracht der wachsenden Zahl an Übersiedlern zuspitzte. Die Äußerungen der Regierungsvertreter ließen sich in diesem Kontext durchaus als leiser Abschied vom Projekt des „Dritten Wegs“ sowie von der staatlichen Eigenständigkeit deuten. Die DDR war als wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Gegenentwurf zur Bundesrepublik gegründet worden. Diese Legitimationsgrundlage schien nunmehr in Frage zu stehen. Unterdessen war „soziale Marktwirtschaft“ keine eindeutige Formel. Luft sprach Mitte Januar etwa auch davon, dass die DDR eine Marktwirtschaft anstrebe, die „ökologischen und sozialen Erfordernissen“193 gleichermaßen Rechnung trage. Es war wenig wahrscheinlich, dass die Bundesrepublik dabei als Vorbild schlechthin gemeint war. Die Regierungspartei PDS hatte sich vom Namensbestandteil „SED“ getrennt und positionierte sich im Wahlkampf zur anstehenden Volkskammerwahl als „Klientelpartei“194, die die Interessen der Mitarbeiter der Staatsapparate vertrat und dafür warb, die staatliche Eigenständigkeit zu erhalten. Die Einführung der IHKn lässt sich angesichts dessen schwerlich als „Institutionentransfer“ interpretieren: So hatte Lehmbruch die Strategie bezeichnet, die dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach Art. 23 GG zugrunde lag.195 Er beschrieb sie als Elitenentscheidung mit spezifischen Grundzügen: der Vereinfachung von Komplexität, der Zentralisierung des Entscheidungsprozesses sowie dem Verzicht auf vorbereitende Abklärungs- und Anpassungsprozesse. Der Institutionentransfer sei daher, so Lehmbruch, mit nicht intendierten Folgen einhergegangen. 192 193 194 195
Mit Zaudern und Zagen. In: Die Zeit, 4/1990. Ebd. Florath, SED, S. 104. Lehmbruch, Transformation, S. 65 f.
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Die Entstehung der Kammerverordnung lässt sich schwerlich in dieses Muster zwingen. Die Einführung westdeutschen Kammerrechts diente nicht dazu, die Entscheidung über die Neugestaltung des Kammerwesens zu zentralisieren. Überdies kam es nicht zu einer „eins-zu-eins“-Übertragung. Vielmehr wurden die Bestimmungen des IHKG in der Kammerverordnung der DDR abgewandelt und an die spezifische rechtliche und politische Situation angepasst. Dem gingen sehr wohl Abklärungs- und Aushandlungsprozesse voraus. Die Entwicklung der alten Gewerbekammern zu unabhängigen Berufsvertretungen nahm ihren Ausgang im Herbst 1989. Aus diesen Gründen muss die Einführung der Kammern im selben Licht gesehen werden wie etwa die Wiederherstellung der Kommunalautonomie, welche Lehmbruch als Element der „endogenen Transformation“ bewertete.196 3.2.3 Die Einrichtung der Kammerpatenschaften Die IHKn in der DDR übernahmen meist Räumlichkeiten, Geldvermögen und Mitgliederdaten der alten Gewerbekammern. Dies galt in der Mehrzahl der Fälle auch für das Personal; eine HGK hatte in etwa 20 bis 40 Mitarbeiter. Rund die Hälfte von ihnen arbeitete in der Hauptgeschäftsstelle, während sich die übrigen Beschäftigten auf die Geschäftsstellen in den Kreisen verteilten. Westdeutsche IHKn verfügten über ein Vielfaches an Personal und unterhielten nur wenige Niederlassungen. Im Vergleich damit waren Gewerbekammern in der Fläche stark vertreten. In einem dünn besiedelten Einzugsgebiet unterhielt die HGK des Bezirks Schwerin z. B. sieben Kreisgeschäftsstellen.197 In vielen anderen Bezirken verfügten die Kammern sogar über eine noch größere Zahl an Außenstellen. Als Grundstock für den Aufbau einer IHK war die vorhandene personelle und bürotechnische Ausstattung unzureichend. Die Gewerbekammern hatten vergleichsweise selten Zu- bzw. Abgänge von Mitgliedern verzeichnen müssen. Ihre Beratungstätigkeit folgte den strikten Vorgaben des Kammerstatuts sowie der Weisungen der Räte der Bezirke. In Anbetracht dessen wurden den IHKn von Beginn an große Anstrengungen abverlangt: Im Januar stieg die Zahl der Existenzgründungen stark an.198 Wie u. a. der Besucherandrang beim „deutsch-deutschen Marktplatz“ zeigte, herrschte ein großes Bedürfnis nach grundlegenden Informationen zur Gründung von Unternehmen. Aus Sicht der Kammern war es bei Weitem nicht das einzige Problem, dass sich auch die Mitarbeiter die zu vermittelnden Kenntnisse erst aneignen mussten. Es fehlte an einfachen Arbeitsmitteln. Für Telefonate stand oft nur ein einziger Apparat zur Verfügung. Den Austausch mit der Außenwelt erschwerte dies nicht unerheblich, da das Telefon laufend besetzt war. Unter diesen Umständen war bereits ein immenser Aufwand vonnöten, um die Mitglieder zu erfassen – ihre Zahl war infolge der IHK-Verordnung schlagartig gestiegen. 196 Ebd. S. 75. 197 Eisenach u. a., IHK, S. 292. 198 Zwischen Januar und Mai 1990 verzeichneten die Behörden der DDR rund 60.000 Existenzgründungen, überwiegend im Zuständigkeitsbereich der IHKn. Angaben über Existenzgründungen im Handwerk und Gewerbe seit Jahresbeginn 1990, Stand: Mai 1990. BArch DE 10/62.
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Westdeutsche Kammern waren seit der Jahreswende 1989/90 in der DDR präsent und leisteten Hilfe. Die Spende eines Kopierapparats war nicht selten eine erste, durchaus willkommene Geste des guten Willens. Des Weiteren engagierten sich die bundesdeutschen IHKn bei der Beratung von Existenzgründern. Mit Unterstützung aus Nürnberg konnte die Geraer Kammer z. B. Ende Januar ein dreitägiges Existenzgründerseminar durchführen. Das Seminarangebot stieß auf so große Nachfrage, dass der Kurs fortan im vierwöchigen Rhythmus wiederholt wurde.199 Auch in anderen Bezirken galt die Zusammenarbeit dem Thema der Unternehmensgründung. Insgesamt engagierten sich westdeutsche Kammern mit unterschiedlicher Intensität. Die flächendeckende Gründung von IHKn, die im Februar nach Vereinsrecht vollzogen wurde, gab aus Sicht des DIHT Anlass, die Hilfsleistungen zu koordinieren. Auf der DIHT-Vollversammlung in West-Berlin kündigte Hauptgeschäftsführer Schoser eine diesbezügliche Initiative an.200 Er gab das Ziel vor, die DDR-Kammern „umfassend in die Lage“201 zu versetzen, um in sämtlichen Arbeitsbereichen gemäß „dem bundesdeutschen Kammergedanken“ wirken zu können. Schoser argumentierte, dass eine verbesserte Abstimmung die Hilfe insgesamt effektiver mache, z. B. indem Doppelarbeit unterbunden werde. Darüber hinaus besaßen die westdeutschen Kammern ein Eigeninteresse, die Leistungsfähigkeit der Neugründungen in der DDR zu steigern. Deren Scheitern galt es zu verhindern, da dies auf das bundesdeutsche Kammersystem zurückfallen konnte – u. a. für den Fall der Deutschen Einheit, die zwar noch in einiger Ferne lag, nunmehr aber in den Bereich des Möglichen gerückt war. Dass es tatsächlich Defizite in der Koordination gab, zeigte etwa die Tatsache, dass einige Kammern nach wie vor Kontakte zu Bezirkswirtschaftsräten unterhielten. Von Seiten des DIHT waren solche Verbindungen bis in den Januar hinein nicht grundlegend anders bewertet worden als etwa Beziehungen zu den HGKn, die man politisch keinesfalls aufwerten wollte. Inzwischen hatten sich die Verhältnisse in Bezug auf die DDR geklärt. Aus Sicht des IHK-Dachverbands sollte das Interesse der Kammerorganisation nun vorrangig der Förderung der dortigen IHK-Gründungen gelten. Dementsprechend forderte Schoser, Kontakte zu den Wirtschaftsräten der Bezirke zu reduzieren. Der DIHT lud für den 19. Februar 1990 zu einer Koordinierungssitzung nach Bonn ein. Zu Vorbereitungszwecken war ein Lagebild der Kammeraktivitäten in der DDR erstellt worden. Eine Umfrage unter den 69 bundesdeutschen IHKn ergab, dass 55 in Kontakt mit einer Kammer in der DDR standen.202 Häufig hatte es dabei persönliche Begegnungen gegeben. Elf Kammern gaben an, Personal in die DDR entsandt zu haben; weitere neun teilten dem DIHT mit, ein entsprechendes Angebot 199 Nowak, Patenschaft, S . 3 ff. 200 Protokoll der DIHT-Vollversammlung in Berlin (West) am 14. Februar 1990. RWWA 181-4752. 201 Schreiben zur Übersendung des Protokolls an die Teilnehmer der Sitzung zur Koordinierung der Kammeraktivitäten mit Blick auf die IHKn in der DDR vom 21. Februar 1990. RWWA 1811929-2. 202 Auswertung der Umfrage zu den Aktivitäten der IHKn in der DDR, Stand 19. Februar 1990. RWWA 181-1929-2.
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unterbreitet zu haben. Die Koordinationssitzung nahm in Anbetracht der Vielzahl der Rückmeldungen Züge einer außerplanmäßigen Hauptgeschäftsführer-Konferenz an. Im Zuge der Beratungen meldeten sich „Patenkammern“, die den Aufbau einer – manchmal auch mehrerer – der 15 DDR-Kammern (inklusive Ost-Berlin) unterstützten.203 Die Vergabe der Patenschaften erfolgte auf Anregung des DIHT, der Kooperationen keineswegs vorgab. Die Festlegung von Patenschaften war vielmehr auch ein Mittel, um Kontakte zu erfassen, die bereits entstanden waren. Das Interesse an den IHKn in der DDR war ungleichmäßig verteilt. Für die IHK Dresden meldeten sich 13 Paten, während die IHK Cottbus zunächst lediglich aus Saarbrücken unterstützt wurde. Der DIHT richtete daher Federführungen ein: Je ein Pate sollte den Dachverband über den Sachstand beim Aufbau unterrichten. Der federführenden Kammer wurde ferner zugedacht, für eine effektive Einbindung der weiteren Unterstützer zu sorgen. Kooperationen, Stand: 19. Februar 1990. (Unterstreichungen: Kommunalpartnerschaft mit dem Sitz der Bezirksverwaltung) DDR-Kammer
Federführer, {Weitere Paten}
Berlin (Ost)
Berlin (West)
Karl-Marx-Stadt (Chemnitz)
Bayreuth, {Aachen, Dortmund, Düsseldorf, Krefeld, München, Regensburg, Reutlingen, Siegen}
Cottbus
Saarbrücken
Dresden
Hamburg, {Aachen, Augsburg, Darmstadt, Stuttgart, München, Mannheim, Lindau, Ulm, Heilbronn, Essen, Villingen, Weingarten, Wiesbaden}
Erfurt
Frankfurt am Main, {Arnsberg, Coburg, Kassel, Mainz, Trier}
Frankfurt/Oder
Bochum, {Berlin (West), Heilbronn}
Gera
Nürnberg, {Bayreuth, Bielefeld, Freiburg, München}
Halle
Duisburg, {Aachen, Karlsruhe, Hannover, Köln}
Leipzig
Hannover, {Aachen, Hagen, Köln, München}
Magdeburg
Braunschweig, {Bielefeld, Detmold, Hannover, Lüneburg}
Neubrandenburg
Münster, {Flensburg, Stade}
Potsdam
Berlin (West), {Bonn}
Rostock
Bremen, {Bielefeld, Lübeck, Stade, Kiel}
Schwerin
Kiel, {Hamburg, Lübeck, Lüneburg, Wuppertal}
Suhl
Würzburg, {Coburg, Fulda, Hagen, Reutlingen, Wetzlar}
203 Protokoll der Sitzung zur Koordinierung der Kammeraktivitäten mit Blick auf die DDR-IHK’n vom 19. Februar 1990 in Bonn. RWWA 181-1929-2.
3.2 Die Vereinigung vor der Einheit: Ein gesamtdeutsches Kammerwesen entsteht
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Das Ergebnis der Koordinationssitzung zeigte die große Bedeutung, die Städtepartnerschaften für den Prozess der deutschen Einigung besaßen: Zahlreiche der Kammerpatenschaften gingen auf kommunale Partnerschaften zurück, die Städte in der Bundesrepublik und in der DDR seit 1986 geschlossen hatten. Zu den ersten Kommunen, die derartige Vereinbarungen trafen, zählten Wuppertal und Schwerin, Saarbrücken und Cottbus sowie Hannover und Leipzig.204 Bis zum 9. November 1989 waren 58 Kommunalpartnerschaften geschlossen worden.205 Dabei hatte das Augenmerk vor allem darauf gelegen, übergeordnete Interessen zu wahren: In der DDR mussten sämtliche Schritte, die zum Abschluss eines Vertrages erforderlich waren, von oberster Stelle genehmigt werden.206 Der Gedanke der kollegialen Amtshilfe sowie des Austauschs zivilgesellschaftlicher Akteure, der den Städtepartnerschaften ursprünglich zugrunde lag, war zunächst kaum zur Geltung gekommen. Mit dem Fall der Berliner Mauer änderte sich dies schlagartig. Kommunalpartnerschaften erwiesen sich nunmehr als Netzwerk, das innerdeutsche Kooperationen beförderte. Aus der Sicht westdeutscher IHKn spielten z. T. noch weitere Motive eine Rolle. So engagierten sich die hessischen Kammern überwiegend im benachbarten thüringischen Raum.207 Auch in der Kammervereinigung des Landes NordrheinWestfalen stellte man Überlegungen an, wie sich das Engagement in der DDR koordinieren ließ. An Rhein und Ruhr gab es 16 IHKn. Numerisch stand daher für jede DDR-Kammer mindestens ein nordrhein-westfälischer Pate zur Verfügung.208 Absprachen in dieser Art schwächten den Einfluss von Kommunalpartnerschaften indessen nicht ab. Deren Bedeutung für die Kooperationen im Kammerwesen ging sogar weiter, als auf den ersten Blick deutlich wurde. In Görlitz z. B. gab es eine Kreisgeschäftsstelle der Kammer Dresden. Die Stadt an der Neiße war bis in die Zeit der Weimarer Republik Sitz einer unabhängigen IHK gewesen, deren Anfänge noch hinter diejenigen der sächsischen Kammern zurückreichten.209 Vor diesem Hintergrund bemühten sich auch Görlitzer Unternehmer sowie Mitarbeiter der Außenstelle um den Wiederaufbau ihres Kammerstandorts. Die Leiterin der Geschäftsstelle fuhr im Januar in die fast 600 Kilometer entfernte Partnerstadt Wiesbaden, um in der dortigen IHK um Unterstützung beim Aufbau eines Beratungsangebots zu bitten.210 Die Wiesbadener IHK war daraufhin bereit, personelle Hilfe zu leisten. 204 Den Anfang hatten Saarlouis und Eisenhüttenstadt gemacht. von Weizsäcker, Verschwisterung, S. 365 f. 205 Im weiteren Verlauf der deutschen Einigung schnellte die Zahl der Partnerschaften auf über 800. Die Angaben bis zum Fall der Mauer variieren. Calbretta z. B. gibt eine Zahl von 98 Partnerschaften an. Aufgrund politischer Vorbehalte wurden Partnerschaftsvereinbarungen i. d. R. erst mehrere Monate nach der Paraphierung ratifiziert. Calbretta, Begegnungen. 206 Christmann/Mahnken/Apelt, Partnerschaften, S. 65. 207 Arbeitsgemeinschaft Hessischer Industrie- und Handelskammern, DDR-Aktivitäten, S. 3 f. 208 Herod, Bitterfeld, S. 125. 209 Dies lag daran, dass Görlitz bis zum Zweiten Weltkrieg auf dem Territorium der Provinz Schlesien gelegen hatte, welche zum Königreich Preußen gehörte. Die IHK Görlitz wurde am 11. April 1850 gegründet, rund elf Jahre vor den sächsischen Kammern. Hoche, 160 Jahre, S. 5. 210 Die Geschäftsstellenleiterin hatte sich im Vorfeld nicht mit der Hauptgeschäftsstelle in Dresden abgestimmt. Dort verweigerte man ihr daher die Abrechnung der Reisekosten. Um das Verhält-
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3.2.4 Die Dachverbandsfrage: Kein „IHT der DDR“ Ost-Berlin wurde Anfang 1990 zum Schauplatz etlicher Verbandsgründungen.211 Abgesehen von originär ostdeutschen Interessengruppen entstanden auch zahlreiche Ableger bundesdeutscher Verbände, u. a. mit wirtschaftspolitischer Ausrichtung.212 Daher erschien es nicht zuletzt aus Sicht des DIHT notwendig, die ostdeutschen Kammern möglichst umgehend als politischen Akteur zu profilieren. Dieses Anliegen gewann weiter an Dringlichkeit, als die Volkskammerwahl vom 6. Mai auf den 18. März vorverlegt wurde.213 Den entstehenden IHKn war es gelungen, einen regelmäßigen Austausch mit dem Ministerrat zu etablieren. Wie das Verhältnis zur nachfolgenden Regierung sein würde, war indessen unklar. Im Vorfeld zur Wahl begannen sich die politischen Parteien voneinander abzugrenzen. Für die „Block-Parteien“ wurde die Volkskammer zur Bühne, um sich aus der Rolle zu lösen, die sie in der SED-Diktatur hatten spielen müssen.214 Die IHKn versuchten unterdessen, sich als wirtschaftspolitischer Gesprächspartner zu empfehlen. Eigens zu diesem Zweck entstand die „Leipziger Erklärung“215, eine gemeinsame Stellungnahme der ost- sowie der westdeutschen IHKn. Die Erklärung wurde am 16. März anlässlich der Leipziger Frühjahrsmesse verkündet. Die Ausstellung war früher ein Forum gewesen, um die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen dem realsozialistischen und dem marktwirtschaftlichen Europa zu vertiefen. Die erste Auflage der Ausstellung nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs bereitete das Podium, auf dem das wirtschaftspolitische Renommee der IHKn in der DDR gefestigt werden sollte. Der DIHT hatte aus diesem Anlass einen Entwurf erarbeitet, der als Grundlage für die gemeinsame Stellungnahme diente. In der Leipziger Erklärung traten die Kammern dafür ein, staatliche Eingriffe in sämtlichen wirtschaftsrelevanten Bereichen zurückzuführen. Neben der Entflechtung, Dezentralisierung und Privatisierung der Staatswirtschaft zählte auch die Einführung des dualen Systems der Berufsausbildung zu den Kernforderungen. Die Kammern bekräftigten ihren Wunsch nach einer schnellen Wiedervereinigung. Die gemeinsame Erklärung der Kammern in der DDR und in der Bundesrepublik überdeckte zweitweise, dass es den Ersteren an einem eigenen Sprachrohr
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nis zwischen der Hauptgeschäftsstelle und der Görlitzer Niederlassung war es zu dieser Zeit nicht zum Besten bestellt. Die Görlitzer brachten zu ihrer Rechtfertigung vor, dass die Hauptgeschäftsstelle sich vorrangig um ihre eigene Reorganisation kümmerte, während sie selbst einen Ansturm von Existenzgründern bewältigen mussten. Ebd. S. 79 f. Richter, Friedliche Revolution, S. 1388. So z. B. der „Bund der Selbstständigen“, der vor allem im Südwesten der Bundesrepublik über zahlreiche Mitglieder verfügte. Ein Bund der Selbstständigen in der DDR. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. Januar 1990. Die Vorverlegung war Ende Januar am zentralen Runden Tisch herbeigeführt worden. Dies geschah u. a. auf Betreiben der Sozialdemokraten, die von einer Verbesserung ihrer Chancen auf einen Wahlsieg ausgehen konnten. Auch aus Sicht der Blockparteien sowie der SED-PDS versprach ein früherer Wahltermin Vorteile zu haben. Rödder, Deutschland, S. 192. Kubina, Ahnung, S. 12. Leipziger Erklärung der Industrie- und Handelskammern der DDR und der Bundesrepublik Deutschland zu den Notwendigkeiten der Wirtschaftspolitik in der DDR und zur wirtschaftlichen Einigung Deutschlands. RWWA 181-2116-2.
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fehlte. Als solches hätte z. B. ein Dachverband dienen können, der aufgrund der DDR-Kammerverordnung ohnehin zu bilden war. Schon bevor diese in Kraft trat, hatte sich das Gerücht verbreitet, die Gründung einer entsprechenden Organisation stehe unmittelbar bevor.216 Zu denjenigen, die in dieser Sache involviert waren, zählte der Präsident der Ost-Berliner IHK Pape. Dieser berichtete mehrmals, dass ein „IHT der DDR“ in Gründung sei; so z. B. am 12. Februar, als der DIHT und die Kammern in der DDR sich zur Fortsetzung ihrer ersten Begegnung vom 9. Januar trafen.217 Pape war unterdessen nicht der Einzige, der sich für die Schaffung eines Dachverbands aussprach: Auch der Präsident der IHK Dresden Oefler äußerte, die Errichtung einer solchen Organisation für nötig zu halten.218 Gleichwohl schien die Angelegenheit kurz darauf ins Stocken zu geraten: Der DIHT und die DDR-Kammern trafen sich im Rahmen der Leipziger Frühjahrsmesse zu einem weiteren ihrer von nun an vierwöchentlichen Zusammenkünfte. Bei dieser Gelegenheit kam auch die Dachverbandsfrage zur Sprache, allerdings ohne dass ein Ergebnis erzielt werden konnte. Einer raschen Einigung stand nicht zuletzt im Wege, dass unklar war, wie die KfA in eine gemeinsame Organisation überführt werden sollte. Deren Einbeziehung war in der Kammerverordnung festgelegt worden. Die KfA erweckte indessen zunehmend den Eindruck, Einfluss auf die Entwicklung des Kammerwesens nehmen zu wollen. Dies hatte der DIHT etwa bei den Vorbereitungen des deutschdeutschen Marktplatzes registriert. Die DDR-Außenhandelskammer hatte dem westdeutschen IHK-Dachverband Anfang Februar ein Thesenpapier zukommen lassen und sich als strategischer Partner angeboten.219 Der DIHT war nicht gewillt, hierauf einzugehen. Im Zuge der Großveranstaltung im West-Berliner ICC hatte Hauptgeschäftsführer Schoser vielmehr unterbunden, dass der Präsident der KfA das Podium hatte betreten können. Eine handschriftliche Notiz hielt diesbezüglich fest, man werde mit der Zentrale der Außenhandelskammer „noch rechnen müssen“.220 216 Dies sorgte auf Seiten mehrerer Beteiligter für Verwirrung: Den DIHT erreichte Ende Januar eine Information, wonach am 2. Februar in Ost-Berlin ein „IHT der DDR“ gegründet werden solle. Daraufhin wandte man sich per Fax an die Handelskammer Hamburg, die über Kontakte zur IHK Dresden verfügte, und bat um Aufklärung. Wie sich im Zuge dessen herausstellte, bezog sich die Dresdner Information auf ein Gerücht, das in der DDR in Umlauf war. Demnach sei der DIHT im Begriff, gemeinsam mit dem Unternehmerverband der DDR einen Ost-Berliner IHT der DDR zu gründen. Vermerk des persönlichen Referenten des Hauptgeschäftsführers des DIHT vom 30. Januar 1990. RWWA 181-1815-2. 217 Protokoll zum Gespräch mit den Handels- und Gewerbekammern aus Ost-Berlin und der DDR vom 12. Februar 1990. RWWA 181-2480-3. 218 Die Dresdner Gewerbetreibenden hatten im Zuge der Gründung der IHK Dresden gefordert, durch einen „Industrie- und Handelstag der DDR“ vertreten zu werden. Oefler bekräftigte dies in seinem Redebeitrag auf dem deutsch-deutschen Marktplatz. Oefler, Keim, S. 40. 219 Thesen für eine Vereinbarung über die Zusammenarbeit zwischen dem DIHT/Bundesrepublik Deutschland und der Kammer für Außenhandel der DDR, Stand: 5. Februar 1990. RWWA 181-2476-2. 220 Handschriftliche Notiz vom 15. Februar 1990 (angehängt am Protokoll der KfA zur Vorbereitung der Beratung in der IHK Berlin (West) vom 6. Februar 1990). RWWA 181-475-2.
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Das Präsidium der KfA sah sich von Beginn an bedroht, als sich unabhängige IHKn in der Verantwortung des kleingewerblichen Mittelstands herausbildeten. Auf der Vorstandssitzung vom 31. Januar waren sich die Präsidiumsmitglieder einig, dass es perspektivisch keine „2 Kammersysteme in der DDR“221 mehr geben könne. In Zukunft werde von den Betrieben eine „komplexe Dienstleistung für Inlands- und Auslandsgeschäfte“ nachgefragt. Tatsächlich war man in der Außenhandelskammer daher fest entschlossen, sich in die weitere Gestaltung des Kammerwesens in der DDR einzumischen. Zu diesem Zweck wurde der Beschluss gefasst, die „Verantwortung und Bedeutung der Außenstellen der KfA“ zu erhöhen. Diese sollten zu „anspruchsvollen Beratungszentren“ ausgebaut werden, um Verhandlungen mit den IHKn aus einer Position der Stärke führen zu können.222 Auf der Präsidiumssitzung trat eine Person besonders energisch für diese Strategie ein. Als Vertreterin des Ministeriums für Leichtindustrie hatte sie schon bei früherer Gelegenheit versucht, die Entwicklung des Kammerwesens zu beeinflussen: Es war dieselbe Person, die im Vorfeld zur deutsch-deutschen Wirtschaftskommission vorgeschlagen hatte, die Bezirkswirtschaftsräte zu IHKn umzufunktionieren.223 Was das Ziel anging, einen Verbund mit den IHKn zu bilden, bewertete das Präsidium der DDR-Außenhandelskammer den DIHT als Hauptkonkurrenten und potentiellen Störfaktor. Diese Einschätzung war nicht gänzlich unbegründet, da es im westdeutschen IHK-Dachverband kein Interesse daran gab, einen ostdeutschen „IHT“ entstehen zu lassen.224 Dort hielt man die Vorschläge, die die KfA für eine künftige Zusammenarbeit unterbreitet hatte, überdies für indiskutabel. Gleichwohl wurde eine etwaige Übernahme von Kapazitäten der KfA im DIHT pragmatisch beurteilt. DIHT-Chefjustiziar Hinz erachtete den Sach- und Personalbestand der Außenhandelskammer sogar als „unverzichtbar“225 für die ostdeutschen IHKn. Die KfA organisierte sämtliche am Export beteiligten Betriebe in der DDR. Ihr größter Vorzug waren die Beziehungen, die die Organisation in die Staaten des „Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (RGW) unterhielt. Diese Ressourcen wollte der DIHT erhalten, u. a. mit Blick auf die Entwicklung des internationalen Handels.
221 Protokoll der Sitzung des Vorstandes der KfA vom 31. Januar 1990. BArch DE 10/483. 222 Die KfA ließ zu diesem Zweck ein Konzept zur weiteren Profilierung erarbeiten. Geplant wurden u. a. Seminare für Existenzgründer sowie Klein- und Mittelbetriebe, eine Außenhandelsberatung und sogar eine rechnergestützte Kooperations- und Kontaktbörse. Im zugrundeliegenden Beschluss hieß es weiter: „In Abhängigkeit von der weiteren Entwicklung sind durch den Präsidenten der KfA geeignete Schritte zur aktiven Einflußnahme auf die Gestaltung des zukünftigen Kammersystems zu unternehmen [ ]“. Beschluss des Vorstandes der KfA vom 31. Januar 1990 (3/1990). BArch DE 10/483. 223 Protokoll der Sitzung des Vorstandes der KfA vom 31. Januar 1990. BArch DE 10/483; Vorschläge zur weiteren Förderung der Klein- und mittelständischen Industrie im Bereich der Leichtindustrie. BArch DE 10/7. 224 Dies galt sogar dann, wenn der ostdeutsche Dachverband eine identische politische Zielsetzung verfolgte: Im Falle einer Wiedervereinigung würde nämlich eine Übernahmevereinbarung zu schließen sein. 225 Vermerk des DIHT-Chefjustiziars Hinz für Hauptgeschäftsführer Schoser vom 15. März 1990: Überlegungen im Hinblick auf eine Zusammenarbeit mit der KfA. RWWA 181-2476-2.
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Die Strategie des KfA-Präsidiums beruhte auf gravierenden Fehleinschätzungen. Hierzu zählte u. a. die Erwartung, Verhandlungen mit den IHKn in der DDR zu den eigenen Gunsten wenden zu können, sofern man einer Einmischung des DIHT zuvorkam. Gerade unter den ostdeutschen Kammern wurde eine eventuelle Übereinkunft mit der Zentrale der KfA zunehmend abgelehnt. Letztere hatte zuvor nicht verhindern können, dass sich ihre Bezirksdependancen den entstehenden IHKn anschlossen.226 Im Zuge dessen waren die obstruktiven Absichten der Außenhandelskammer zu Tage getreten. Das Gros der Niederlassungsleiter weigerte sich, Anweisungen zu befolgen, die auf eine Abgrenzung von den IHKn zielten.227 Stattdessen machten sie diese publik. So äußerte der Leiter der Niederlassung in Karl-MarxStadt, seiner Einschätzung nach wolle sich die KfA gegenüber dem DIHT „als vorzuziehende leistungsstärkere Organisation profilieren“.228 Er sei angewiesen worden, Mitgliedsbeiträge vorzeitig an die Zentrale zu überweisen. In Ost-Berlin solle davon vermutlich ein Bürogebäude gekauft und dem DIHT zur Nutzung angeboten werden. Der Niederlassungsleiter warnte davor, ein derartiges Angebot anzunehmen. Des Weiteren ignorierte er die Zahlungsaufforderung; stattdessen rief er die Mitgliedsunternehmen im Bezirk Karl-Marx-Stadt auf, keine Beiträge an die KfA mehr zu entrichten. Die Bildung einer Dachorganisation konnte im März nicht vollzogen werden. Es fehlte an einem Konzept, über welches die Kammern hätten abstimmen können. Darüber hinaus gab es zuwiderlaufende Interessen – nicht nur zwischen dem DIHT und den IHKn in der DDR, sondern auch, wie sich zeigen sollte, unter den Letzteren. Die deshalb beschlossene Vertagung der Entscheidung erwies sich vor allem für die KfA als fatal. Die Wahlen zur Volkskammer vom 18. März ergaben einen überraschenden Sieg der „Allianz für Deutschland“. Das Parteienbündnis war von der Bundes-CDU arrangiert worden und umfasste die ehemalige Block-CDU, die „Deutsche Soziale Union“ sowie den „Demokratischen Aufbruch“.229 Im Wahlkampf war die Allianz für Deutschland für eine schnellstmögliche Wiedervereinigung nach Art. 23 GG eingetreten. Dieses Szenario setzte die KfA unter beträchtlichen Handlungsdruck. Das Präsidium der Außenhandelskammer trat am 28. März 226 Bei den Bezirksdependancen der KfA handelte es sich um vergleichsweise kleine Außenstellen, in denen jeweils nur etwa zwei Mitarbeiter beschäftigt waren. Nach der Verschmelzung mit den IHKn bildeten sie dort oft den Unterbau späterer Außenhandelsabteilungen. 227 Das KfA-Präsidium untersagte den Leitern der Bezirksgeschäftsstellen im Januar z. B., am Jahresempfang des DIHT teilzunehmen. Entgegen der Erwartung der eingeladenen Geschäftsstellenleiter sollte eine darauffolgende Versammlung in der KfA-Zentrale nicht dazu dienen, die Vereinigung der Organisationen auf Bezirksebene vorzubereiten. Stattdessen sollten Richtlinien erarbeitet werden, um den Verkehr zwischen HGKn und den Geschäftsstellen der KfA zu reglementieren. Vermerk zur fernmündlichen Mitteilung des Hauptgeschäftsführers der IHK Fulda über ein Telefonat mit der Leiterin der KfA-Niederlassung in Erfurt vom 19. Januar 1990. RWWA 181-1815-2. 228 Vermerk zum Bericht eines Mitarbeiters der IHK Reutlingen an den DIHT über ein Gespräch mit dem Leiter der KfA-Niederlassung in Karl-Marx-Stadt vom 22. Februar 1990. RWWA 1812478-2. 229 Die Koalitionsregierung, in die auch die SPD eintrat, einigte sich am 12. April vertraglich auf dieses Ziel. Rödder, Deutschland, S. 283.
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zusammen, um über die Konsequenzen der jüngsten Entwicklung zu beraten. Die Anwesenden waren sich einig, dass die staatliche Vereinigung mit der Bundesrepublik den DIHT zum alleinigen Dachverband des Kammerwesens küren werde. Die Kammerverordnung bestimmte, dass die KfA „auf der Grundlage abzuschließender Vereinbarungen“230 in die neue Kammerorganisation einzubeziehen sei. Somit fehlte es an einem Hebel, mit dem das KfA-Präsidium die eigenen Vorstellungen zur Geltung bringen konnte. Die Aussprache vom 28. März kulminierte, des ungeachtet, in der Bekräftigung, dass die Außenhandelskammer „ihr Mitbestimmungsrecht und ihre Forderungen“231 gegenüber den IHKn und ihrem Dachverband „voll durchsetzen“ müsse. Dies habe auch im Interesse der sozialen Absicherung der Mitarbeiter zu geschehen. Der kämpferische Tonfall verhüllte nur unzureichend, dass die Rechtfertigungsgrundlage für ein solches Auftreten dürftig war. Das sprachlich unklare Sitzungsprotokoll hielt fest, der Präsident werde ermächtigt, aus der Kammerverordnung „die Rechtsnachfolge für alle Industrie- und Handelskammern in den Bezirken (Ländern) einschließlich der Dachorganisation […] abzuleiten“ und ferner „auf dieser Grundlage […] die Einbringung der Mitgliedsbetriebe, aller Mitarbeiter, Gebäude, Sachwerte und Finanzen […] sowie die Übernahme aller Rechten und Pflichten der KfA“ zu erwirken. Als Verhandlungspartner der KfA fungierte der Präsident der Ost-Berliner IHK Pape. Gegenüber den anderen Präsidenten und Hauptgeschäftsführern hatte er dies keineswegs verhehlt. Dementsprechend trieb er die Vorbereitungen zur Bildung des Dachverbands im März weiter voran und lud die Vertreter der übrigen Kammern für den 23. April zu einer Sitzung ein. Dem Einladungsschreiben lag die Mustersatzung einer Dachorganisation bei, die Pape zur Diskussion stellte.232 Der Entwurf orientierte sich stark an den Strukturen des DIHT. Das Präsidium der IHK Erfurt reagierte hierauf mit einer verärgerten Stellungnahme:233 Der Idee, einen Zusammenschluss zu gründen, sei grundsätzlich zuzustimmen. Den vorgelegten Satzungsentwurf wiesen der Präsident und der Hauptgeschäftsführer der IHK Erfurt gleichwohl entschieden zurück. Sie warfen Pape vor, nicht mit offenen Karten zu spielen, und verwiesen auf eine „Rahmenvereinbarung über die Zusammenführung der Industrie- und Handelskammern in der DDR und ihrer Dachorganisation“ mit der KfA, welche dem Präsidium der Erfurter Kammer im Entwurf vorlag.234 Darin war eine vollständige Übernahme des KfA-Apparates durch den Dachverband der IHKn vorgesehen.
230 Verordnung über die Industrie- und Handelskammern der DDR vom 1. März 1990. In: GBl. der DDR I, 1990, S. 114. 231 Protokoll zur Sitzung des Vorstandes der KfA vom 28. März 1990. BArch DE 10/483. 232 Satzung des Industrie- und Handelstages der DDR (Entwurf, Stand März 1990). RWWA 1812476-2. 233 Schreiben des Präsidiums der IHK Erfurt an den Präsidenten der IHK Berlin (Ost) vom 19. April 1990. RWWA 181-2476-2. 234 Entwurf einer Rahmenvereinbarung über die Zusammenführung der Industrie- und Handelskammern in der DDR und ihrer Dachorganisation sowie der Kammer für Außenhandel der DDR. BArch DE 10/483.
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Der Entwurf war im März vom Präsidenten der KfA an den Präsidenten der Ost-Berliner IHK versendet worden. In dem Schriftstück war der Letztere als Vertretungsberechtigter der IHKn und deren Dachverbands bezeichnet worden. Es gab indessen keine Indizien, dass Pape beabsichtigte, den Vertrag in dieser Fassung zu schließen. Ebenfalls blieb offen, wie eine Kopie des Dokuments nach Erfurt gelangt war. In den vorangegangenen Wochen waren Interna der KfA-Zentrale des Öfteren über die thüringische Domstadt nach außen gelangt. Dies zeigte, dass die Strategie der Abgrenzung, die die Außenhandelskammer der DDR insbesondere gegenüber dem DIHT betrieb, keine Erfolgsaussichten hatte. Das Bekanntwerden des Vertragsentwurfs sorgte jedenfalls dafür, dass der Argwohn weiter wuchs, den die IHKn einer etwaigen Vereinbarung mit der KfA entgegenbrachten. Präsident Pape verwahrte sich gegen den Vorwurf, er wolle das organisatorische Eigenleben der KfA verlängern. Als es am 23. April zur Fortsetzung der Gespräche über die Bildung einer Dachorganisation kam, wandte er sich dagegen, KfA-Mitarbeiter zu übernehmen, die politische Tätigkeiten ausgeübt hatten.235 Gleichwohl trat Pape weiterhin für das von ihm vorgeschlagene Konzept ein. Er argumentierte, dass es einer gemeinsamen Organisation bedürfe, bis die nunmehr in Aussicht stehende Wirtschafts- und Währungsunion mit der Bundesrepublik hergestellt sei. In der anschließenden Abstimmung setzte sich sein Vorschlag freilich nicht durch. Die Kritiker einer Vereinbarung mit der KfA hatten sich im Vorfeld abgestimmt.236 Sie sprachen sich dezidiert gegen eine Organisation mit Arbeitsstab und Haushaltsplan aus und argumentierten, dass es mit dem DIHT bereits einen Dachverband gebe. Ein eigener Zusammenschluss werde daher in absehbarer Zeit überflüssig. Die Mehrheit der Kammern forderte, eine provisorische Vereinigung zu schaffen, nach dem Vorbild der Arbeitsgemeinschaften in den Bundesländern. Die Aussprache der Kammern fand in der Potsdamer Hochschule für Recht und Verwaltung statt und war Teil eines mehrtägigen Programms. Die Dachverbandsfrage sollte am ersten Sitzungstag, ohne Beteiligung des DIHT, geklärt werden. Für den zweiten Sitzungstag waren Beratungen mit dem westdeutschen IHK-Dachverband sowie den Patenkammern vorgesehen. Gleichwohl wurde die Thematik des Vortags bei dieser Gelegenheit wieder aufgegriffen, da die IHKn der DDR keinen Kompromiss erzielt hatten. Unter der gemeinsamen Leitung von DIHT-Hauptgeschäftsführer Schoser sowie Präsident Pape entspann sich eine erneute Diskussion über den Zweck einer gemeinsamen Organisation sowie deren Ausgestaltung.237 Schlussendlich führte sie zum Beschluss, ein Büro in den Räumlichkeiten der IHK Ost-Berlin einzurichten. Es wurde vereinbart, wenige hauptamtliche Stellen zu schaffen, deren Kosten der DIHT teilweise übernehmen sollte. Präsident Pape erhielt den Auftrag, einen profilierten Wirtschaftspolitiker für die Leitung des Büros zu gewinnen. 235 Protokoll zur Beratung der IHK’n in der DDR in der Hochschule für Recht und Verwaltung Potsdam vom 23. April 1990. RWWA 181-2476-2. 236 Vermerk über die Information einer Mitarbeiterin der IHK Köln zur Haltung der IHK Leipzig hinsichtlich der Gründung eines „IHT der DDR“ vom 25. April 1990. RWWA 181-2476-2. 237 Protokoll der Beratungen der Vertreter der IHK’n der DDR mit den Partnern aus der BRD in der Hochschule für Recht und Verwaltung Potsdam vom 24. April 1990. RWWA 181-2476-2.
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3. Die Wiederherstellung der wirtschaftlichen Selbstverwaltung
Über die Nutzung der Kapazitäten der KfA konnte erneut keine abschließende Einigung erzielt werden. Schoser drängte darauf, dies zu klären, und verwies auf die Bestimmungen in der Kammerverordnung. Er sprach sich dafür aus, sachkundige Mitarbeiter der Außenhandelskammer zu übernehmen. Ferner erinnerte er die IHKn daran, dass sich diese dafür ausgesprochen hatten, eine eigene Auslandsmärkte-Beratung aufzubauen. Ausländische Delegationen, die Interesse an der DDR-Wirtschaft zeigten, würden sich weiterhin zunächst an die KfA wenden. Schoser schlug vor, eine „Stelle für Außenhandel“ zu gründen, deren Leitung bei den Kammern liege. Dieser könne die Aufgabe übertragen werden, die Ressourcen der Außenhandelskammer zu nutzen. 3.2.5 Der Beitritt der Industrie- und Handelskammern der DDR zum DIHT Die IHK Chemnitz war im Zuge der internen Beratungen der IHKn in der DDR mit der Ankündigung vorgeprescht, ein Beitrittsgesuch beim DIHT zu stellen. Spontane Unterstützung hatten die Chemnitzer dafür von der IHK Leipzig erhalten, welche es allen Kammern nahelegte, entsprechende Anträge einzureichen. In einem gemeinsamen Beschluss wurde dies kurz darauf besiegelt.238 Der westdeutsche IHK-Dachverband hatte den Aufbau des Kammerwesens in der DDR seit nunmehr etlichen Wochen begleitet und gefördert. Gleichwohl erklärte Hauptgeschäftsführer Schoser, dass der Aufnahmewunsch rechtlich geprüft werden müsse. Gegenüber dem DIHT-Vorstand signalisierte er, eine Lösung erreichen zu wollen, die die Interessen der IHKn in der DDR berücksichtigte.239 Im Falle einer Erweiterung hatte der DIHT nicht allein satzungsrechtliche Folgen abzuwägen, etwa im Hinblick auf die Zusammensetzung der Verbandsgremien. Das bundesdeutsche Kammergesetz sorgte für eine weitere Hürde: Der DIHT war ein Zusammenschluss öffentlichrechtlicher Körperschaften. Deren Kompetenzen waren regional beschränkt. Auch der IHK-Dachverband konnte seinen Wirkungsbereich daher nicht beliebig erweitern: Aus formaler Sicht war es ihm nicht möglich, Interessen zu vertreten, die außerhalb der Bundesrepublik Deutschland lagen. Die Kammerrechtskommission des DIHT empfahl, die Kammern in der DDR trotz juristischer Einwände aufzunehmen. In der Endabwägung hatte sich der Gedanke „wo kein Kläger, da kein Richter“ durchgesetzt und den Weg für die Vereinigung des deutschen Kammerwesens freigemacht. Das Prüfgremium riet allerdings sicherzustellen, dass es keine Gründe für Beschwerden gab. Die meisten der IHKn in der DDR hatten die Wahlen der Vollversammlung noch nicht abgeschlossen. Sie hatten sich daher noch nicht im Sinne der Kammerverordnung konstituieren können. Als Neumitglieder des DIHT sollten sie auf ihr Stimmrecht verzichten, bis sie die gleichen rechtlichen Voraussetzungen wie die westdeutschen Kammern erfüll-
238 Vermerk zum Gespräch des DIHT-Hauptgeschäftsführers mit den Vertretern der DDR-Kammern in Potsdam vom 10. Mai 1990. RWWA 181-1806-1. 239 Schreiben des DIHT-Hauptgeschäftsführers an den Vorstand des DIHT vom 15. Mai 1990. RWWA 181-1806-1.
3.2 Die Vereinigung vor der Einheit: Ein gesamtdeutsches Kammerwesen entsteht
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ten.240 Es war nunmehr absehbar, dass sowohl die Konstituierung der Kammergremien als auch die Herstellung der deutschen Einheit noch vor Jahresende zustande kommen würden. Die Überarbeitung der Satzung des DIHT wurde bis dahin zurückgestellt. Über die Aufnahme neuer Mitglieder hatte die DIHT-Vollversammlung zu entscheiden. Da diese erst im Oktober planmäßig zusammentrat, beschloss das DIHT-Präsidium, den Entschluss auf postalischem Wege herbeizuführen. Das Ergebnis dieser Abstimmung lag Ende Juli vor: Die große Mehrheit der Mitglieder votierte dafür, die ostdeutschen Kammern aufzunehmen.241 Die Bildung einer Dachorganisation hatte sich für die IHKn in der DDR mit dem Beitritt zum DIHT indessen nicht erübrigt. Hierbei handelte es sich um eine Anforderung der DDR-Kammerverordnung, die einen eigenen Zusammenschluss der ostdeutschen Kammern zur Bedingung machte. Die Gespräche in dieser Angelegenheit wurden am 10. Mai wiederaufgenommen. Abermals diente die Hochschule für Recht und Verwaltung in Potsdam als Tagungsort. Unter dem Eindruck der dort gefassten Entscheidung, dem westdeutschen IHK-Dachverband beizutreten, wurde die „Vereinigung der Industrie- und Handelskammern der DDR im DIHT“242 geschaffen. Die Vereinigung hatte keinen eigenen Apparat und fungierte ausschließlich als wirtschaftspolitisches Sprachrohr. Die Satzung orientierte sich am Vorbild der IHK-Arbeitsgemeinschaft des Landes Nordrhein-Westfalen. Sie enthielt eine Bestimmung zur Selbstauflösung, die mit dem Beitritt der neuen Länder zur Bundesrepublik Deutschland wirksam wurde. Der Sprecher der Vereinigung war berechtigt, konsultatorisch an Vorstands- und Gremiensitzungen des DIHT teilzunehmen. Als Geschäftsstelle des Zusammenschlusses diente ein Büro in Ost-Berlin. Auf dessen Einrichtung hatten sich die Kammern bereits Ende April verständigt. Für den Betrieb des Büros sollte nunmehr aber allein der DIHT sorgen. Infolgedessen firmierte es als „Verbindungsstelle des DIHT“ in Ost-Berlin. Für deren Leitung konnte Klaus-Christian Fischer gewonnen werden.243 Fischer hatte seit 1989 unter drei DDR-Regierungen gedient.244 Dem Stab der stellvertretenden Ministerpräsidentin Luft hatte er im Rang eines Staatssekretärs angehört. Im Anschluss daran war der promovierte Ingenieur Abteilungsleiter im Wirtschaftsministerium geworden. Der ersten frei gewählten Volkskammer gehörte er ferner als Abgeordneter des Bundes Freier Demokraten an, für die er in seiner Heimatstadt Halle ein Direktmandat errungen hatte. Ursprünglich war Fischer in die Blockpartei NDPD eingetreten und hatte den Großteil seiner beruflichen Laufbahn in der Industrie absolviert. Im Vorfeld zum Erlass der Kammerverordnung hatte er im Auftrag Lufts 240 Protokoll der Sitzung der DIHT-Kammerrechtskommission in Bonn vom 25. Mai 1990. RWWA 181-2476-2. 241 Schreiben des DIHT Hauptgeschäftsführers an die Präsidenten und Hauptgeschäftsführer der IHKn vom 30. Juli 1990. RWWA 181-2476-2. 242 Entwurf der Satzung der „Vereinigung der Industrie- und Handelskammern der DDR im DIHT“, Stand Mai 1990. RWWA 181-2476-2. 243 Vermerk zur Sitzung des Hauptgeschäftsführers des DIHT mit den DDR-Kammern in Neubrandenburg vom 11. Juni 1990. RWWA 181-1806-1. 244 Müller-Enbergs, Fischer, S. 325 f.
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3. Die Wiederherstellung der wirtschaftlichen Selbstverwaltung
Kontakt zu den Vertretern der frei gegründeten IHKn hergestellt. Das von ihm geleitete Verbindungsbüro diente u. a. dazu, die Ost-Berliner Regierung in Fragen der Berufsausbildung, der Außenwirtschaft und der allgemeinen Wirtschaftsgesetzgebung zu beraten sowie eine Mittlerfunktion zu den IHKn in der DDR zu übernehmen. Die KfA wurde im August 1990 liquidiert. Ihre Kapazitäten übernahm die „IHK-Gesellschaft zur Förderung der Außenwirtschaft und der Unternehmensführung“.245 Die Verhandlungen mit der Außenhandelskammer waren von Präsident Pape geführt worden, der seine Vorstellungen mit dem DIHT abgestimmt hatte.246 Die neue Außenwirtschaftsstelle übernahm ca. 15 bis 20 Mitarbeiter, ohne aber die Rechtsnachfolge der KfA anzutreten. Der Gesellschaftszweck bestand darin, gewachsene außenwirtschaftliche Beziehungen zu pflegen sowie Schulungen für den Aufbau der Außenhandelsabteilungen in den IHKn anzubieten. Das Grundkapital der GmbH wurde zu je 50 Prozent vom DIHT sowie den IHKn in der DDR gehalten. Die Gesellschaft wurde zeitlich befristet, da die IHKn keine Überschneidung mit ihren Aufgaben entstehen lassen wollten.247 3.3 DIE INTEGRATION DER GEWERBLICHEN WIRTSCHAFT IN DIE NEUE SELBSTVERWALTUNG 3.3.1 Wahlen zur Vollversammlung und Konstituierung Die IHKn waren schon vor Inkrafttreten der Kammerverordnung auf vereinsrechtlicher Grundlage entstanden. Diese „Kammervereine“ waren in erster Linie gegründet worden, um den Anspruch zu dokumentieren, den die privaten Unternehmer der DDR auf die Rolle als Träger der künftigen wirtschaftlichen Selbstverwaltung erhoben. Jenes Vorgehen gewährleistete darüber hinaus, dass der Aufbau des hauptamtlichen Apparates frühzeitig in Angriff genommen werden konnte. So wurde umgehend damit begonnen, Mitglieder zu registrieren, Existenzgründerseminare zu veranstalten und Personal zu schulen. Die vordringlichste Aufgabe der vereinsrechtlich bestellten Vorstände bestand freilich darin, Wahlen zur Vollversammlung zu organisieren. Dieses Gremium war das höchste Beschlussorgan einer IHK und repräsentierte die gewerbliche Wirtschaft des Kammerbezirks (mit Ausnahme des Handwerks). Wahlen waren daher die entscheidende Voraussetzung, um sich als IHK rechtmäßig konstituieren zu können. Im Unterschied zu den alten Gewerbekammern vertraten IHKn das Gesamtinteresse der gewerblichen Wirtschaft. Die Zahl der Kammermitglieder nahm vor diesem Hintergrund stark zu: Der IHK Gera z. B. gehörten bei ihrer vereinsrechtli245 Auflösung der Kammer für Außenhandel der DDR und Bildung der IHK-Gesellschaft zur Förderung der Außenwirtschaft und der Unternehmensführung mbH. BArch DC 20/6271. 246 Vorstellungen der Geschäftsleitung der Industrie- und Handelskammer Berlin zur Weiterführung notwendiger überregionaler Außenwirtschaftsaufgaben, Stand Mai 1990. RWWA 1811806-1. 247 Vermerk zur Sitzung des DIHT Hauptgeschäftsführers mit den DDR-Kammern in Halle a. d. Saale am 12. und 13. Juli 1990. RWWA 181-1806-1.
3.3 Die Integration der gewerblichen Wirtschaft in die neue Selbstverwaltung
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chen Gründung rund 2.100 Gewerbetreibende an. Dabei handelte es sich um die früheren Mitglieder der HGK. Potsdam war qua Bevölkerungsstärke ein mittelgroßer DDR-Bezirk. Die dortige IHK übernahm gut 4.000 HGK-Mitglieder. Im August verfügte die Geraer Kammer über rund 9.000 Mitgliedsunternehmen.248 In der IHK Potsdam lag diese Zahl zur selben Zeit bei etwa 7.500.249 Diese Zunahme ging maßgeblich darauf zurück, dass nun auch Industriebetriebe im Mitgliederverzeichnis erfasst wurden. In Bezirken, die einen dichten Industriebesatz aufwiesen, fiel der Mitgliederzuwachs daher besonders stark aus. Halle zählte zu den bevölkerungsreichsten Bezirken der DDR. Mit rund 3.500 Gewerbetreibenden hatte es dort 1989 indessen nur wenige private Unternehmen gegeben. Die IHK Halle vertrat im Sommer 1990 ca. 15.000 Betriebe und zählte damit, für den Moment, zu den mitgliederstärksten Kammern.250 Die kurzfristige Dynamik ließ eine zuverlässige Prognose über die mittel- und langfristige Entwicklung der Wirtschaft nicht zu. Die Zahl der Mitglieder stieg in allen ostdeutschen Kammern bis etwa 1994 rasch an.251 In diesen „Gründungsboom“ waren Binnenentwicklungen mehrerer Branchen eingespeist. Zunächst wuchs vor allem die Zahl der Industriebetriebe; im Verhältnis zur Bundesrepublik hatte die Industrie in der DDR eine überproportionale Bedeutung für das Bruttoinlandsprodukt.252 Die Treuhandanstalt begann Mitte 1990, Kombinate zu entflechten und deren Teile in Kapitalgesellschaften umzuwandeln. Dabei war es u. a. erforderlich, betriebliche und kommunale Aufgaben zu trennen. Dies hatte zur Folge, dass zahlreiche kommunale Versorgungsbetriebe gegründet wurden. Die ostdeutsche Industrieproduktion war in den frühen 1990er Jahren insgesamt stark rückläufig, was mit zahlreichen Betriebsschließungen einherging. Binnen kurzer Zeit wandelte sich die wirtschaftliche Präponderanz der Industrie in ihr Gegenteil.253 Das Mitgliederwachstum bei den IHKn hielt gleichwohl an. Es speiste sich des Weiteren aus Existenzgründungen, die der Ministerrat im März durch Einführung der vollen Gewerbefreiheit ermöglicht hatte.254 Beim Gang in die Selbstständigkeit zählte oft auch der Verlust des Arbeitsplatzes zu den Motiven. Branchenmäßig konzentrierten sich Unternehmensgründungen auf den Handel sowie sonstige konsumnahe Dienstleistungen. Die Volkskammer beschloss im Spätsommer 1990, die Posten von Geschäftsführern und Vorständen der Treuhand-Unternehmen neu ausschreiben zu lassen.255 248 249 250 251
252 253 254 255
Seela, Industrie- und Handelskammer Ostthüringen, S. 248 f. Hahn/Geiseler, Einhundert, S. 129. Dalchow, Industrie- und Handelskammer Halle-Dessau, S. 300. Zahlenmäßig lagen die Gewerbeanmeldungen zwischen 1991 und 1994 in allen ostdeutschen Kammerbezirken auf einem hohen Niveau, wenngleich mit rückläufiger Tendenz. Dem stand eine Zunahme der Gewerbeabmeldungen gegenüber. Ab 1995 stagnierte die Zahl der Mitgliedsunternehmen in vielen Kammern, da die Gewerbeanmeldungen sowie -abmeldungen nunmehr in etwa gleichauf lagen. DIHT, Wirtschaftsentwicklung, S. 29–58. Vgl. Heske, Wertschöpfung, S. 44 ff. Vgl. Paqué, Bilanz, S. 112 ff. Gewerbegesetz der Deutschen Demokratischen Republik vom 6. März 1990. In: GBl. der DDR I, 1990, S. 138 ff. Gesetz über die Ausschreibung der Stellen der Geschäftsführer bzw. Vorstandsmitglieder in den durch die Treuhand verwalteten Unternehmen vom 13. September 1990. In: GBl. der DDR I,
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3. Die Wiederherstellung der wirtschaftlichen Selbstverwaltung
In vielen Fällen hatten sich ehemals führende Direktoren selbst mit der Leitung neuer Kapitalgesellschaften beauftragt. Die Neuausschreibung diente dazu, Bewerber auf ihre Kompetenz sowie ihre Akzeptanz in der Belegschaft zu überprüfen. Hierfür gab es nachvollziehbare Gründe, allerdings erschwerte es die Wahl repräsentativer Vollversammlungen: Mandate wurden an Personen, nicht an Betriebe vergeben. Daher konnte die Neuberufung von Unternehmensvorständen dazu führen, dass Mandatsträger aus der Industrie ihrer Wahlvoraussetzungen nachträglich verlustig gingen. Einige Kammern verlegten die Wahlen zur Vollversammlung daher in den Herbst.256 In anderen Fällen wurde lediglich die Wahl der Industrievertreter verschoben.257 Wegen des raschen Strukturwandels konnten freilich auch diese Maßnahmen nicht gewährleisten, dass die obersten Beschlussorgane der Kammern mittelfristig beschlussfähig blieben. Die Unwägbarkeiten veranlassten viele IHKn dazu, die Wahlperiode der ersten Vollversammlung auf ein bzw. zwei der sonst üblichen vier Jahre zu verkürzen. Die IHK Leipzig war eine der ersten Kammern, die Wahlen abhielten. In der Messestadt war die IHK zunächst ohne unternehmerische Beteiligung entstanden. Erst am 8. März – und damit später als in allen anderen Bezirken – hatte es eine vereinsrechtliche Konstituierung gegeben. Die Umstände, unter denen dies geschehen war, wurden nicht nur in der IHK Hannover kritisch gesehen.258 Vor allem der sächsische Unternehmerverband (UV Sachsen) hatte sich übergangen gefühlt. Leipzig zählte zu den Hochburgen des Verbands, dem sich insbesondere „Reprivatisierer“ anschlossen, ehemalige Industrieunternehmer, die 1972 enteignet worden waren.259 Schon die Ankündigung der Modrow-Regierung, jene Enteignungen zurückzunehmen, war für viele Betroffene, bzw. deren Nachkommen, ein Ansporn, zurück in die Selbstständigkeit zu gehen. Mit dem Gesetz „über die Gründung und Tätigkeit privater Unternehmen und Unternehmensbeteiligungen“260 vom 7. März wurden die Modalitäten konkretisiert, zu denen enteignete Betriebe zurückgegeben werden sollten. Hans-Dieter Manegold entstammte einer Unternehmerfamilie. Im Zuge des politischen Umbruchs in der DDR schloss auch er sich deshalb dem UV Sachsen an.261 Im Verband hatte die personelle Besetzung der Leipziger IHK, in erster Linie des Präsidiums, für erheblichen Missmut gesorgt. Manegold schlug vor, die kommissarische Leitung der Kammer zu übernehmen und sodann umgehend Wahlen herbeizuführen. Dieser Plan ging auf: Dem Verband gelang es, den Rücktritt der alten Hauptgeschäftsführung zu erwirken. Die alsbald gewählte Vollversammlung 1990, S. 1567. 256 Vgl. Dalchow, Industrie- und Handelskammer Halle-Dessau, S. 300. 257 Vgl. Beier/Wenzel, Tradition, S. 287; Hawich, Interessenvertretung, S. 73. 258 Bericht der IHK Hannover-Hildesheim an den Hauptgeschäftsführer des DIHT zur IHK-Gründung in Leipzig am 8. März 1990. RWWA 181-1929-2. 259 Der Unternehmerverband der DDR (UV) ging im Januar aus einem Zusammenschluss mehrerer kurz zuvor gegründeter „Landesverbände“ hervor, die sich an der Territorialstruktur orientierten, welche bis 1952 gegolten hatte. 260 Gesetz über die Gründung und Tätigkeit privater Unternehmen und Unternehmensbeteiligungen vom 7. März 1990. In: GBl. der DDR I, 1990, S. 141–144. 261 Göschel, Handelshochschule, S. 234.
3.3 Die Integration der gewerblichen Wirtschaft in die neue Selbstverwaltung
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kürte Rudolf Sommerlatt am 15. Mai 1990 zum Präsidenten.262 Wie auch Manegold, der im Amt des Hauptgeschäftsführers bestätigt wurde, stand Sommerlatt dem UV Sachsen nahe. Präsident und Hauptgeschäftsführer prägten in der darauffolgenden Zeit den Aufbau der Leipziger Kammer und repräsentierten die Wirtschaft Nordsachsens für etliche Jahre. In mehreren Bezirken gelangten Reprivatisierer in das höchste Amt der IHK. In Gera z. B. wählte die Vollversammlung Horst Steinmann zum Präsidenten; als Puppenfabrikant vertrat er einen traditionsreichen Gewerbezweig im südthüringischen Raum.263 Analog galt dies für Niels Lund Chrestensen, der als Gärtner und Saatzüchter eine Familientradition wiederbelebte und zum Präsidenten der IHK Erfurt gewählt wurde.264 Die ehrenamtliche Leitung der Kammern spiegelte so auch regionale Eigentümlichkeiten wider: In der Mehrheit der sächsischen und thüringischen IHKn wurden Unternehmer ins Präsidentenamt gewählt, die nach 1972 Leitungsfunktionen in der staatlichen Wirtschaft ausgeübt hatten und nun in die Selbstständigkeit zurückkehrten.265 Demgegenüber standen den Kammern in den nördlicheren Bezirken mehrheitlich Unternehmer vor, die als Mitglied der HGK maßgeblich an der demokratischen Umgestaltung des Kammerwesens mitgewirkt hatten. Sie hatten das Amt des Präsidenten bereits bei der vereinsrechtlichen Gründung der IHKn übernommen und wurden von den gewählten Vollversammlungen im Amt bestätigt. Die Besetzung der ehrenamtlichen Leitung der IHK Cottbus entsprach keiner der hier skizzierten Verallgemeinerungen: Die Cottbuser bestimmten die aus Trier stammende Bankerin Ulrike Staake zur Präsidentin.266 Sie war die einzige Frau, die einzige Westdeutsche und die einzige leitende Angestellte eines Großunternehmens, die 1990 an die Spitze einer ostdeutschen IHK gewählt wurde.267 Beim Gros der Präsidenten handelte es sich um mittelständische Unternehmer, die seit langem im Kammerbezirk lebten. Einige von ihnen hatten die Sozialisierungspolitik der 1950er Jahre im Erwachsenenalter miterlebt. So z. B. der Neubrandenburger Julius Kessow, der nach Ende des Zweiten Weltkriegs ein Fuhrunternehmen aufgebaut hatte.268 Andere waren erst nach 1976 in die Selbstständigkeit gegangen: Der Hallenser Wolfgang Fell etwa übernahm die Kohlenhandlung seiner Schwiegereltern. 262 IHK zu Leipzig, Anfangszeiten, S. 144. 263 Steinmanns Fabrik war in Königsee ansässig. Der Ort grenzte unmittelbar an den Bezirk Suhl, gehörte aber zum Kammerbezirk Gera, der überwiegend den ostthüringischen Raum abdeckte. 264 Hawich, Interessenvertretung, S. 73. 265 Eine Ausnahme machte Christian Bloch, der zum Präsidenten der IHK Chemnitz gewählt wurde. Der Reichenbacher handelte mit Getränken sowie Konserven und war einer der wenigen privaten Großhändler in der DDR, die eine Sozialisierung ihres Betriebes hatten verhindern können. Bloch war Mitglied der HGK gewesen und hatte den ehrenamtlichen Vorsitz schon bei der vereinsrechtlichen Gründung übernommen. IHK Chemnitz, Neugründung, S. 140. 266 Flemming, Historie, S. 138. 267 In Gera trat Präsident Steinmann 1991 aus gesundheitlichen Gründen vom Amt des Präsidenten zurück. Ihm folgte der aus Düsseldorf stammende Florian Hoffmann. Seela, Industrie- und Handelskammer Ostthüringen, S. 259. 268 Behr, Industrie- und Handelskammer, S. 332.
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3. Die Wiederherstellung der wirtschaftlichen Selbstverwaltung
Auch Udo Pape, der der Ost-Berliner IHK vorstand, hatte sich erst zu DDR-Zeiten mit einem Café in Marzahn verselbstständigt. Zuvor hatte keiner der Präsidenten eine Spitzenfunktion ausgeübt. Unter den „Altselbstständigen“ – jenen, die bereits der HGK angehört hatten – gab es neben dem Kohlenhändler Fell und dem Gastwirt Pape mehrere Einzelhändler sowie einen Taxifahrer. Die Reprivatisierer, deren Betriebe in Relation dazu größer waren, hatten Leitungserfahrungen allenfalls auf der mittleren Führungsebene der DDR-Wirtschaft gesammelt.269 Den Nachkommen früherer Komplementäre halbstaatlicher Betriebe waren nicht selten Leitungsaufgaben in „Vaters ehemaligem Betrieb“270 übertragen worden. Den Kammern fiel es während der Gründungsphase insgesamt nicht schwer, ehrenamtliches Engagement zu mobilisieren.271 Das Interesse an der wirtschaftlichen Selbstverwaltung kam auch in einer vergleichsweise hohen Wahlbeteiligung zum Ausdruck.272 Viele der Gründungspräsidenten blieben über die erste Wahlperiode hinaus im Amt. Wilfried Hontschik stand der IHK Rostock von der ersten Stunde des Neubeginns an vor. Die Vollversammlung ernannte ihn bei seinem Abschied zu ihrem Ehrenpräsidenten. Diese Reverenz wurde vielen Gründungspräsidenten erwiesen, u. a. Hansheinrich Liesberg aus Schwerin, Eberhard Pohl aus Magdeburg sowie Hans-Joachim Leue aus Potsdam, die den Aufbau ihrer Kammer maßgeblich mitgestaltet hatten.273 3.3.2 Die Bestellung der Hauptgeschäftsführer Selbst über die Berufung des leitenden Personals entscheiden zu können, war das ausschlaggebende Motiv dafür gewesen, dass die Gewerbetreibenden in der DDR gefordert hatten, das Kammerwesen nach westdeutschem Vorbild umzugestalten. Wie auch der Präsident wurde der Hauptgeschäftsführer einer IHK direkt von der Vollversammlung gewählt. Haupt- und ehrenamtliche Leitung vertraten die Kammer gleichberechtigt nach außen. Bei der Rekrutierung der Hauptgeschäftsführer stellte sich unterdessen die Frage, wie mit der Vergangenheit umzugehen war. In der DDR hatte sich ein Typus von Staatsfunktionären herausgebildet, der für viele realsozialistische Gesellschaften charakteristisch war. Dieser hatte sich neben fach269 Immerhin, wie Salheiser nachwies, kam es aus diesem Grund „nie zum völligen Verschwinden von Personen mit Unternehmerherkunft aus Leitungsfunktionen im sozialistischen Staat“. Salheiser, Elite, S. 88. 270 Das Politbüro hatte 1972 verfügt, dass Unternehmen im Zuge ihrer Verstaatlichung mit VEB zusammenzulegen waren. Ehemals private bzw. halbstaatliche Betriebe wurden daher aufgelöst. Die Komplementäre von Betrieben mit staatlichem Anteil sowie ihre Nachkommen wurden gleichwohl oft in der Branche weiterbeschäftigt, in der sie bisher gearbeitet hatten. Üblicherweise geschah dies sogar im Nachfolgeunternehmen des früheren Familienbetriebs. Pilleul-Arp, „VEB-GmbH“, S. 160 ff. 271 Beier/Wenzel, Tradition, S. 286. 272 In der IHK Suhl beteiligten sich in den Wahlgruppen „Industrie“, „Handel“ sowie „Dienstleistungen“ jeweils 54 %, 33 % bzw. 44 % der Wahlberechtigten. IHK Südthüringen, Chronik, S. 35. 273 Gleiches galt für die ersten Präsidenten der Kammern in Chemnitz, Erfurt, Halle, Leipzig und Neubrandenburg.
3.3 Die Integration der gewerblichen Wirtschaft in die neue Selbstverwaltung
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licher Kompetenz durch seine politische Loyalität zum kommunistischen Regime ausgezeichnet.274 Die Kaderpolitik der SED wirkte damit über das Ende des Sozialismus hinaus; administrative Erfahrungen konnten in erster Linie die bisherigen Führungskräfte vorweisen. Ihnen konnte nicht per se abgesprochen werden, über Sachkenntnis zu verfügen. Letztlich aber hatten sie der Macht- und Funktionselite der DDR angehört, weil sie moralisch und persönlich als untadelig galten – im Sinne der marxistisch-leninistischen Ideologie. Die IHKn standen beim personellen Neuaufbau vor einer ähnlichen Grundproblematik wie die staatlichen Verwaltungen. Prinzipiell gab es zwei Alternativen, um zu verhindern, dass Entscheidungspositionen weiterhin von den „alten Kadern“ besetzt wurden: Zum einen ließen sich neue Kräfte in Ostdeutschland rekrutieren, insbesondere berufliche „Seiteneinsteiger“. Sie galten als persönlich integer, etwa im Hinblick auf Verbindungen zur Staatssicherheit, dafür fehlte es ihnen aber an administrativer Erfahrung. Zum anderen konnte Verwaltungspersonal aus dem alten Bundesgebiet „importiert“ werden. Diese Möglichkeit eröffnete sich vor dem Hintergrund der deutschen Wiedervereinigung und war somit, im Vergleich mit anderen post-sozialistischen Gesellschaften, eine Besonderheit der ostdeutschen Verwaltungstransformation. Der Transfer von Personal spielte beim Aufbau der Ministerialverwaltungen der neuen Länder eine große Rolle: In Brandenburg etwa stammten über 50 Prozent derjenigen, die dem höheren Verwaltungsdienst angehörten, aus Westdeutschland; im Wirtschaftsressort lag ihr Anteil sogar über diesem Durchschnitt.275 Im gehobenen Dienst kam es zu einem weniger umfassenden Personaltransfer; für die einfachen sowie mittleren Dienstränge war das Phänomen dagegen kaum von Bedeutung. Das spezifische Muster bei der Rekrutierung bundesdeutscher Verwaltungsexperten ist in der Transformationsforschung kritisiert worden. Es sei zu einer Dominanz westlicher Eliten gekommen, die „kulturelle Akzeptanzprobleme“ hervorgerufen sowie die „Entwicklung eigenständiger ostdeutscher Repräsentationseliten“276 behindert habe. Ob diese Kritik gerechtfertigt ist, sei dahingestellt. Unter den IHKHauptgeschäftsführern jedenfalls überwogen administrative Seiteneinsteiger. Lediglich zwei der neu berufenen hauptamtlichen Leiter stammten aus dem alten Bundesgebiet.277 Sie waren zuvor als Geschäftsführer in einer der jeweiligen Patenkammern tätig gewesen.278 Dass es zu keiner umfassenderen Berufung westdeutscher Experten kam, lag auch an der maßgeblichen Stellung der Vollversammlungen; das 274 Vgl. Bauerkämper, Sozialgeschichte, S. 40 ff. 275 In den Ressorts Wirtschaft sowie Finanzen lag der Anteil der Westdeutschen im höheren Verwaltungsdienst bei über 60, im Innenressort sogar bei über 70 Prozent. König, Transformation, S. 44. 276 Damskis, Verwaltungselite, S. 120. 277 Die Vollversammlung der IHK Halle bestellte im Juli Peter Heimann zum Hauptgeschäftsführer. Heimann hatte zuvor die Industrieabteilung der IHK Karlsruhe geleitet. Klaus-Michael Rothe übernahm die hauptamtliche Leitung der IHK Schwerin zu Beginn des Jahres 1991; dem war eine längere Suche nach einem geeigneten Kandidaten vorausgegangen. Rothe wechselte aus der IHK Kiel in die Landeshauptstadt Mecklenburg-Vorpommerns. 278 Ähnliches galt für die westdeutschen Verwaltungsexperten in den Ministerialverwaltungen der ostdeutschen Länder: Auch sie stammten zum überwiegenden Teil aus den jeweiligen „Partner-
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3. Die Wiederherstellung der wirtschaftlichen Selbstverwaltung
Rekrutierungsmuster in den Kammern unterschied sich jedenfalls sowohl von den Ministerialverwaltungen der Länder als auch von Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden, deren ostdeutsche Ableger oft von Experten aus den alten Bundesländern aufgebaut wurden.279 Der DIHT drängte überdies nicht darauf, den eigenen Einfluss durch die Berufung westdeutscher Hauptgeschäftsführer zu steigern. Vielmehr war der Dachverband bemüht, endogene Kräfte zu stärken. Vertreter westdeutscher IHKn gaben durchaus zu Bedenken, dass der organisatorische Aufbau der Kammern in der DDR zu langsam vonstattengehen könne. In diesem Zusammenhang wurde Unmut darüber deutlich, erhebliche Unterstützungsleistungen erbringen zu müssen, ohne auf die Verwendung der Mittel „wirklich sinnvoll einwirken zu können“.280 Hauptgeschäftsführer Schoser warb in Reaktion hierauf dafür, die Leiter der ostdeutschen Kammern als Lernende zu akzeptieren.281 Das Kollegium der ostdeutschen Hauptgeschäftsführer wies im Vergleich mit demjenigen der westdeutschen einige Besonderheiten auf. Drei IHKn in der DDR wurden von einer Frau geleitet; in der Bundesrepublik war dies weitgehend unüblich.282 Unterschiede gab es auch in der Qualifikationsstruktur. In den bundesdeutschen Kammern konnte die große Mehrheit der hauptamtlichen Leiter eine rechtsbzw. wirtschaftswissenschaftliche Ausbildung vorweisen. Der überwiegende Teil hatte eine Promotion abgeschlossen.283 Unter den ostdeutschen Kollegen traf dies lediglich auf den Hauptgeschäftsführer der IHK Chemnitz, Wolfram Hoschke, zu.284 Die geringe Zahl abgeschlossener Promotionen war auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Intelligenz in der DDR in wachsendem Maße dazu geneigt hatte, sich aus sich selbst zu rekrutieren. Der Anteil derjenigen, deren Eltern bereits ein Studium abgeschlossen hatten, war unter den DDR-Bürgern mit Promotion infolgedessen kontinuierlich gestiegen.285 Hoschke war Ingenieur, wie im Übrigen mehrere seiner ostdeutschen Hauptgeschäftsführer-Kollegen. In naturwissenschaftlich-technischen Ausbildungen waren politisch-ideologische Bezüge von untergeordneter Bedeutung gewesen; unter den Seiteneinsteigern in den Ministerialverwal-
279 280 281 282 283 284 285
ländern“. Die Verwaltung Brandenburgs z. B. übernahm in erster Linie Personal aus NordrheinWestfalen. Damskis, Verwaltungselite, S. 119 f. Derlien, Elitezirkulation, S. 390. Schreiben des Hauptgeschäftsführers der IHK Karlsruhe an den DIHT-Hauptgeschäftsführer bzgl. der Organisation der Ostkammern vom 14. Mai 1990. RWWA 181-1806-1. Antwort des DIHT-Hauptgeschäftsführers an den Hauptgeschäftsführer der IHK Karlsruhe vom 22. Mai 1990. RWWA 181-1806-1. Erst im Laufe des Jahres 1990 übernahm mit Christa Thoben in der IHK Münster erstmals eine Frau die Hauptgeschäftsführung einer westdeutschen Kammer. Verband der Geschäftsführer deutscher Industrie- und Handelskammern, Geschäftsführerverzeichnis 1990, S. 3 ff. Dies galt mit Ausnahme des aus Westdeutschland stammenden Peter Heimann. Der Hauptgeschäftsführer der IHK Halle war promovierter Wirtschaftswissenschaftler. Die Bildungspolitik der DDR hatte zunächst darauf gezielt, den Anteil der Arbeiterkinder in den Universitäten zu erhöhen. Später setzte allerdings ein Trend zur Vererbung des Bildungsabschlusses ein. Der obige Befund bezieht sich auf den Zeitraum der 1960er bis zu den 1980er Jahren. In der Bundesrepublik war der Trend gegenläufig: Dort stieg der Anteil der Promovierten, deren Eltern keinen Hochschulabschluss hatten. Belitz-Demiriz/Voigt, Sozialstruktur, S. 299.
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tungen der neuen Länder gab es daher zum überwiegenden Teil Chemiker, Ingenieure, Mediziner usw.286 In den IHKn stammten einige der neurekrutierten Führungskräfte aus den HGKn. Häufig waren sie stellvertretende Direktoren gewesen und anschließend, bei der vereinsrechtlichen Gründung, zu kommissarischen Hauptgeschäftsführern bestellt worden. Dies hatte die Gelegenheit geboten, sich zu bewähren – was allerdings nicht immer glückte. Eine Weiterbeschäftigung hing sowohl von fachlichen Kriterien ab als auch von der Zustimmung der Vollversammlung. Eine Ausnahme unter den Führungskräften, die aus den alten Kammern übernommen wurden, bildete der Hauptgeschäftsführer der IHK Cottbus: Er hatte die HGK zuvor sogar geleitet.287 Die Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen in Mecklenburg-Vorpommern sprach mit Blick auf die Kammern pauschalisierend von einer „Grauzone“, in der die „alten Netzwerke“ aktiv geblieben seien.288 Diese Kritik ist in ihrer Allgemeinheit nicht gerechtfertigt. Mit der Kammerverordnung wurde die Position des Hauptgeschäftsführers zu einem Wahlamt, über dessen Besetzung die Vollversammlung entschied. Die IHK zu Neubrandenburg, der diese Kritik z. T. galt, hatte sich überdies von Beginn an von der alten Gewerbekammer abgegrenzt und deren Abwicklung beim Bezirksrat durchgesetzt. Nichtsdestoweniger stand die Kammer in der Kritik, undemokratische Strukturen aufrechtzuerhalten. Dies wurde an der Person der Hauptgeschäftsführerin Hintze festgemacht. Sie hatte im Rat des Bezirks Neubrandenburg gearbeitet und war dort für den Bereich Handel und Versorgung zuständig gewesen. Vor ihrer Berufung zur Hauptgeschäftsführerin hatte sie ein Bewerbungsverfahren durchlaufen und war vom Präsidium der Kammer, das sie für fachlich geeignet befunden hatte, in Dienst genommen worden. Anfang 1991 forderten sechs Unternehmer, die als „Gründungskomitee der IHK Neubrandenburg“ auftraten, die Entlassung Hintzes.289 Sie warfen ihr vor, in Personalentscheidungen ehemals regimeloyale Kader zu begünstigen, was aus Sicht der Ersteren die Benutzung von Begriffen wie „roter Kammer“ bzw. „Marionetten-IHK“ rechtfertigte. Sie richteten einen Aufruf an den Präsidenten des DIHT, die Münsteraner Patenkammer, den Ministerpräsidenten Mecklenburg-Vorpommerns sowie den Landeswirtschaftsminister. Darin unterstellten sie u. a., „der gute Wille des Präsidenten der IHK“ sei durch die Hauptgeschäftsführerin „oft trickreich ausgenutzt“ worden.290 Das Präsidium der IHK zu Neubrandenburg reagierte mit einer Gegenstellungnahme. Darin erklärte Präsident Kessow, es habe „nicht eine einzige eigenmächtige
286 Damskis, Verwaltungselite, S. 123. 287 Die Direktorin der HGK Karl-Marx-Stadt wurde ebenfalls in der IHK weiterbeschäftigt; sie übernahm unterdessen nicht die Hauptgeschäftsführung. 288 So z. B. gegenüber der Rostocker „Ostsee-Zeitung“. Zit. nach: Die IHK-Spitze und der lange Schatten der DDR. In: Ostsee-Zeitung, 29. Juni 2012. 289 Aufruf zur Unterstützung der Forderung nach Abberufung der Hauptgeschäftsführerin der IHK Neubrandenburg vom 27. Februar 1991 (Anlage zum Schreiben des Präsidenten der IHK Neubrandenburg an den Präsidenten des DIHT vom 7. März 1991). RWWA 181-1875-3. 290 Ebd.
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Einstellung“291 durch die Hauptgeschäftsführerin gegeben. Entsprechende Entscheidungen seien stets vom gesamten Präsidium der Kammer getroffen worden. Man habe dabei sichergestellt, eine Konzentration ehemals hochrangiger Parteiund Staatsfunktionäre in Positionen der IHK zu vermeiden. Die Forderung, Hintze zu entlassen, wies Kessow dezidiert zurück. Er hob die erfolgreiche Aufbauarbeit der Hauptgeschäftsführerin hervor; so habe auch die Münsteraner Patenkammer der IHK zu Neubrandenburg eine gute Leistungsfähigkeit attestiert. Die Fakten, auf deren Grundlage nunmehr eine Suspendierung gefordert werde, seien schon bei der Einstellung bekannt gewesen. Dem „Gründungskomitee“ warf er mangelnde Ehrlichkeit vor: Dieses habe das Präsidium zuvor nicht darüber informiert, dass es Missbehagen im Hinblick auf die Besetzung der hauptamtlichen Leitung gebe. Des Weiteren erinnerte der Präsident daran, dass mehrere der Unterzeichner des Aufrufs in die Prüfung der Bewerbung Hintzes involviert gewesen waren. Seinerzeit sei auch von ihnen eine Einstellung empfohlen worden, mit Ausnahme einer Enthaltung. Das Präsidium der IHK zu Neubrandenburg könne dem Aufruf, die Hauptgeschäftsführerin zu entlassen, daher nicht folgen: Dies sei eine „politisch nachträgliche Verurteilung“, mit der man „die Grundsätze der freiheitlichen Demokratie“ verletzen würde. Die Stellungnahme des Kammerpräsidiums machte deutlich, dass die Anschuldigungen eines Fehlverhaltens im Amt keine Grundlage hatten.292 Kritiker warfen Kammern auch in anderen Fällen vor, undemokratische Strukturen zu erhalten. Dies machten sie an ehemaligen Kadern der SED-Nomenklatur, Stasi-Informanten sowie Angehörigen der Sicherheitsorgane fest; die IHKn waren 291 Standpunkt des Präsidiums der IHK Neubrandenburg zum „Aufruf zur Unterstützung der Forderung nach Abberufung der Hauptgeschäftsführerin“ vom 27. Februar 1991 (Anlage zum Schreiben des Präsidenten der IHK Neubrandenburg an den Präsidenten des DIHT vom 7. März 1991). RWWA 181-1875-3. 292 Gleichwohl wurde die Episode zu einem späteren Zeitpunkt nochmals zum Gegenstand einer öffentlichen Kontroverse. Dabei thematisierte die Ostsee-Zeitung Hintzes frühere Tätigkeit in Parteigremien der SED (Die IHK-Spitze und der lange Schatten der DDR. In: Ostsee-Zeitung, 29. Juni 2012). Die Hauptgeschäftsführerin hatte der Revisionskommission der Neubrandenburger SED-Bezirksleitung angehört. Diesen Gremien oblag es, Eingaben aus der Bevölkerung und von Parteimitgliedern quantitativ auszuwerten sowie die Kassenführung der Partei zu überprüfen. Wolf urteilt, dass der Einfluss der Revisionskommissionen „in der Praxis [ ] nicht sehr groß“ war (Wolf, Sprache, S. 193). Der Vorwurf, die Hauptgeschäftsführerin solle bis zum Jahr 2000 im „selben Plattenbau […] wie zu DDR-Zeiten“ gearbeitet haben, erscheint nicht nur deshalb geringfügig: Die Bezirksleitungen der Staatspartei wurden 1990 aufgelöst; auch die IHK Schwerin z. B. zog vorübergehend in Büros, aus diesem Grund frei geworden waren. Durch den Bezug entsprechender Gebäude ließ sich ein – aus Sicht der Kammern – akuter Raumbedarf decken. Für den Aufbau IHK Halle schätzte Hauptgeschäftsführer Heimann es daher als Glücksfall ein, dass auch seine Kammer ein Gebäude übernehmen konnte, das zuvor von der SED genutzt worden war (Interview Heimann). Eine analoge Lösung bot für die IHK zu Neubrandenburg ebenfalls Vorteile, da die Kammer keine Räumlichkeiten von der HGK übernommen hatte und vergleichsweise finanzschwach war. Durch die Berichterstattung über die Person Hintzes sah sich der Ministerpräsident Mecklenburg-Vorpommerns, Sellering, zu einer öffentlichen Stellungnahme veranlasst. In einer Presseerklärung bemängelte er insbesondere, dass keine Tatsachen benannt worden seien, um die erhobenen Vorwürfe zu rechtfertigen. Staatskanzlei Mecklenburg-Vorpommern: Sellering verteidigt scheidende IHK-Hauptgeschäftsführerin Hintze. Pressemitteilung Nr. 153/2012, 29. Juni 2012.
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keineswegs frei von der Problematik, dass Personen aus diesen Gruppen in Ämter gelangten.293 So hatte der erste Hauptgeschäftsführer der IHK Rostock vor der Friedlichen Revolution in der Militärjustiz gedient. In Bezug auf Juristen, soviel stand außer Zweifel, war das Problem der politisch-ideologischen Loyalität zum SED-Regime von besonderer Relevanz.294 Der Fall war allerdings nicht geeignet, um die Kammern als Organisationen zu bezeichnen, die schlechthin mit dem Erbe der SED-Diktatur „belastet“ waren. Juristen bildeten im Kollegium der ostdeutschen Hauptgeschäftsführer eine Ausnahme.295 3.3.3 Das Erbe der SED-Diktatur als Integrationshindernis In der älteren Literatur zur Transformation in den neuen Bundesländern ist in besonderem Maße hervorgehoben worden, dass Institutionen eine strukturelle sowie kulturelle Erstreckung haben.296 Lediglich Erstere erachtete man für „transplantierbar“, sodass „kulturelle Pessimisten“ annahmen, es sei mit einer eingeschränkten Funktionstüchtigkeit der neu gebildeten Institutionen zu rechnen gewesen. Diese Erwartung wurde im Allgemeinen folgendermaßen begründet: Das politisch-administrative System der DDR habe die Ostdeutschen „sozio-kulturell“ geprägt. Der Institutionentransfer habe daher zu einer mangelnden Entsprechung von kulturellen Dispositionen sowie „westdeutschen“ Strukturen geführt. Dies war u. a. ein Argument, um neuen Institutionen ein Defizit an Legitimation zu unterstellen. Konkret ging Eisen davon aus, dass sich das Problem in einer verminderten Integrationsleistung äußern würde.297 Diederich, Haag und Cadel schrieben intermediären Institutionen – z. B. IHKn – sogar eine doppelte Integrationsfunktion zu: Erstens die Einbeziehung sektoraler, d. h. unternehmerischer Logiken in das politisch-administrative System; zweitens die intrasektorale Vermittlung, die ausgleichende und abwägende Integration von wirtschaftlichen Teilinteressen.298 Tatsächlich gab es Anzeichen dafür, dass die Grundfunktionen der IHKn geschwächt waren. Bei vielen der Gründungspräsidenten handelte es sich um „Altselbstständige“ – Unternehmer, die schon der HGK angehört hatten. Aus ihrer Sicht ging die Errichtung von „Industrie- und Handelskammern“ mit einer Erweiterung der Mitgliederbasis derjenigen Organisation einher, für deren Demokratisierung sie gestritten hatten. In Bezug auf die Reprivatisierer erwies sich dies als unkompliziert – jedenfalls im Nachhinein: Es war nämlich nicht vorherzusehen gewesen, ob ehe293 Problematisch war dies mit Blick auf den allgemeinen Befund, dass bürokratische Apparate ein beachtliches Widerstandspotential gegen revolutionäre Umwälzungen bergen – insbesondere gilt dies für Polizei- und Sicherheitsorgane. Revolutionen müssen daher, so Derlien, als „unvollendet“ gelten, wenn es den neuen politischen Eliten nicht gelingt, ihren Kontrollanspruch gegenüber den administrativen Eliten durchzusetzen. Derlien, Elitezirkulation, S. 408. 294 Vgl. ebd. S. 381 f. 295 Lediglich der Schweriner Hauptgeschäftsführer Rothe war ebenfalls Jurist. Rothe allerdings stammte aus Westdeutschland und war daher unverdächtig, Sympathisant des SED-Regimes gewesen zu sein. 296 Vgl. Weingarz, Laboratorium, S. 271 ff. 297 Eisen, Institutionenbildung, S. 36. 298 Diederich/Haag/Cadel, Industrie- und Handelskammern, S. 30 f.
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malige Komplementäre halbstaatlicher Betriebe, bzw. deren Nachkommen, sich für die Gründung unabhängiger Kammern würden gewinnen lassen. Zahlreiche dieser Unternehmer schlossen sich dem UV der DDR an, der zur Jahreswende 1989/90 entstand.299 Einige Beobachter fürchteten, der Verband könne in Konkurrenz zu den IHKn treten.300 Anlass, dies zu vermuten, gab dessen föderale Organisationsstruktur. Ferner wollte sich der UV eine sowohl haupt- als auch ehrenamtliche Leitung geben und branchenübergreifende Interessen vertreten.301 Indessen strebte er keinen öffentlich-rechtlichen Status an und sprach sich für ein System frei gewählter Kammern aus. Zur Verständigung zwischen dem UV und den Kammern trug der DIHT erheblich bei. Im Vorfeld des deutsch-deutschen Marktplatzes in Berlin hatte Hauptgeschäftsführer Schoser Kontakt zu UV-Präsident Stadermann aufgenommen. Gemeinsam vereinbarten sie ein kooperatives Verhältnis ihrer Organisationen. Die Vollversammlung des DIHT beschloss kurz darauf, unabhängige Unternehmerverbände in der DDR „ebenso wie in der Bundesrepublik“ zu fördern.302 Seitens der Altselbstständigen gab es keine Vorbehalte gegen eine Integration der mittelständischen Industrieunternehmer. Schon in den ersten Forderungskatalogen, die die Gewerbetreibenden in Berlin bzw. in Dresden verfasst hatten, war eine Wiederzulassung privater Industriebetriebe gefordert worden.303 Eine umfassende Privatisierung der Wirtschaft, bzw. eine Einbeziehung sämtlicher Unternehmen in die Kammern, war zu jener Zeit schlechterdings noch nicht vorstellbar gewesen. Erst in den Beratungen zum Entwurf der Kammerverordnung kam zur Sprache, dass es gravierende Hürden gab, um eine Gesamtinteressenvertretung zu bilden. Dies wurde u. a. auf der DIHT-Vollversammlung diskutiert, die am 14. Februar 1990 in West-Berlin tagte und zu der auch Vertreter der ersten IHKn in der DDR eingeladen waren. Dort wurde von ostdeutscher Seite darauf hingewiesen, dass die Leitungen der Kombinate durchweg mit Kadern der SED-Nomenklatur besetzt seien. Ehe die VEB in die Kammern integriert werden könnten, müsse die staatliche Wirtschaft daher entflochten werden. Die Dresdner Hauptgeschäftsführerin Horn unterstrich ihre Auffassung, wonach die „alten Strukturen“ intakt seien; gegenüber Vertretern der westdeutschen Kammer äußerte sie, dass diese bei Gesprächen in der
299 Der UV mobilisierte schon bei seiner Gründung zahlreiche Sympathisanten. Die zuvor gebildeten Regionalverbände riefen am 15. Januar 1990 in der Ost-Berliner Kongresshalle einen Dachverband ins Leben. Obwohl die Medien der DDR sich geweigert hatten, die Veranstaltung voranzukündigen, erschienen rund 2.000 Teilnehmer. In Vaters Betrieb zurück. In: Der Spiegel, 4/1990. 300 Diese Frage stellten sich auch westdeutsche Kammervertreter, etwa der Hauptgeschäftsführer der IHK Lübeck, als er dem DIHT über die Gründungsversammlung des mecklenburgischen UV-Landesverbands berichtete. Schreiben des Hauptgeschäftsführers der IHK Lübeck an den Hauptgeschäftsführer des DIHT vom 25. Januar 1990. RWWA 181-1815-2. 301 Portrait des Unternehmerverbandes der DDR, Stand: Januar 1990. RWWA 181-1815-2. 302 Protokoll der DIHT-Vollversammlung in Berlin (West) vom 14. Februar 1990. RWWA 181475-2. 303 Vgl. Aufruf der Abgeordneten des Beratungsaktivs der HGK Berlin vom 8. November 1989. In: HGK-Mitteilungen. Handels- und Gewerbekammer von Berlin, Sonderausgabe/1989, S. 1.
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DDR „oft nicht wissen, mit wem sie zusammenkommen“.304 Im Hinblick auf eine Erweiterung der Kammern um Repräsentanten der staatlichen Wirtschaft positionierte sich der Präsident der Ost-Berliner IHK Pape noch deutlicher: Wer „moralisch Blut an den Fingern“ habe, dürfe nicht eingebunden werden.305 Das Treuhandgesetz vom 17. Juni 1990 beseitigte einen, aus Sicht der Altselbständigen zentralen Einwand gegen die Verwirklichung der Gesamtinteressenvertretung:306 Es wandelte die VEB in privatrechtliche Gesellschaften um. Rechtlich, insbesondere in steuerlicher Hinsicht, waren staatliche Unternehmen gegenüber Privatbetrieben damit nicht länger privilegiert. Ohnehin war in Anbetracht der sich abzeichnenden Wiedervereinigung von den Kombinatsdirektoren nicht mehr zu erwarten, dass sie gegen den Aufbau der Kammern opponierten, bzw. diesen aus taktischen Gründen verschleppen würden. Das Problem der Karrierekontinuität der Altelite schien sich zu zerstreuen; zum einen vor dem Hintergrund des bereits erwähnten Volkskammerbeschlusses, wonach Geschäftsführer- und Vorstandspositionen in Treuhandunternehmen neu auszuschreiben waren.307 Zum anderen bewirkte die Krise der ostdeutschen Industrie, dass aus den früheren sozialistischen Konzernen kaum Großunternehmen hervorgingen. Der Weg, um in die Wirtschaftselite aufzusteigen, war dem leitenden Personal von Nachfolgeunternehmen daher in aller Regel versperrt. Nichtsdestoweniger war auch die Wirtschaft mit der Frage konfrontiert, wie mit qualifizierten, allerdings regimeloyalen Kräften des alten Systems umzugehen war. Stasi-Informanten sowie Personen, die sich durch andere Funktionen im SEDStaat kompromittiert hatten, wurden ab 1991 vermehrt aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Auch für Unternehmen waren Kader der obersten Riege danach oft nicht mehr tragbar, da systemübergreifende Karrieren zunehmend Gegenstand des öffentlichen Interesses wurden.308 Weniger exponierte Angehörige der sogenannten Dienstleistungsklasse der DDR verblieben hingegen oft in der Privatwirtschaft; ein Grund dafür war, dass dort das öffentliche Dienstrecht nicht galt. In mittelständischen Firmen gelangten systemloyale Kader durchaus – in begrenztem Maße – in Führungspositionen. Speziell Unternehmen, die auf Dienstleistungen in den Bereichen Datenverarbeitung und Telekommunikation spezialisiert waren sowie Detekteien und Sicherheitsdienste galten diesbezüglich als „Auffangbecken“.309 Ein scharfer Kritiker der Erweiterung der Kammern war der Präsident der IHK Frankfurt an der Oder, Kaplick. Er lehnte es insbesondere ab, mit dem Leitungspersonal der Treuhandbetriebe zusammenzuarbeiten, über das er als „rote Socken“ her304 Protokoll der DIHT-Vollversammlung in Berlin (West) vom 14. Februar 1990. RWWA 181475-2. 305 Ebd. 306 Gesetz zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens (Treuhandgesetz) vom 17. Juni 1990. In: GBl. der DDR I, 1990, S. 300–303. 307 Gesetz über die Ausschreibung der Stellen der Geschäftsführer bzw. Vorstandsmitglieder in den durch die Treuhand verwalteten Unternehmen vom 13. September 1990. In: GBl. der DDR I, 1990, S. 1567. 308 Vgl. Derlien, Elitezirkulation, S. 391. 309 Ebd. S. 390.
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zog.310 Der Getränkehändler verhinderte die Wahl von Industrievertretern, um Unternehmer von der Mitarbeit in den Gremien der Kammer fernzuhalten, die sich seiner Meinung nach politisch disqualifiziert hatten, z. B. durch eine Mitgliedschaft in der SED. Die Blockadehaltung des Präsidenten erwies sich als wachsendes Problem für den Aufbau der IHK. Diese war nicht nur in der Entwicklung eines umfassenden Funktionsspektrums gehemmt, auch das Verhältnis zur Bochumer Patenkammer wurde in Mitleidenschaft gezogen. 1992 traten mehrere Präsidiumsmitglieder zurück, um Kaplick unter Druck zu setzen und Neuwahlen herbeizuführen.311 Der Getränkehändler legte das Amt des Präsidenten daraufhin nieder. Nicht nur er hatte intern an Rückhalt verloren, sondern auch „sein“ Hauptgeschäftsführer, dem mangelnde Sorgfalt in der Haushaltsführung vorgeworfen wurde. Die Kammer musste sich infolgedessen an der Spitze neu aufstellen. Am 29. September 1992 wählte die Vollversammlung mit Karl-Heinz-Herms einen neuen Präsidenten. Herms war Geschäftsführer der Eisenhüttenstädter Maschinen- und Stahlbau GmbH. Die hauptamtliche Leitung übernahm Gundolf Schülke, der zuvor Geschäftsführer der Industrieabteilung gewesen war. Einerseits zeigte das Beispiel der IHK Frankfurt an der Oder, dass bei neuen Institutionen durchaus Integrationsschwierigkeiten auftraten, die darauf zurückzuführen waren, dass es in der ostdeutschen Bevölkerung Prägungen durch das alte politisch-administrative System gab. Andererseits wurde deutlich, dass die eingangs diskutierte Hypothese, mit der z. B. Eisen argumentierte, auf falschen Prämissen beruhte: Die Funktionsdefizite ließen sich nicht ohne Weiteres als „Abstoßungsreaktionen“ erklären, die durch die Transplantation „westdeutscher“ Institutionen in ein „staatssozialistisch geprägtes Milieu“ hervorgerufen wurden. In einer solchen Deutung wird unterstellt, dass es ein einheitliches kulturelles Erbe der SED-Diktatur gegeben habe.312 Es kann unterdessen keine Rede davon sein, dass es in Bezug auf die IHKn generell an Akzeptanz mangelte. Als gravierendes Integrationshindernis erwies sich vielmehr eine innere Zerrissenheit der ostdeutschen Gesellschaft, speziell im Umgang mit dem Erbe der SED-Diktatur. Die Tatsache, dass die Kammern als „westdeutsche“ bzw. „nicht-sozialistische“ Institutionen wahrgenommen wurden, war für ihre Integrationsfunktion daher eher von Vor- als von Nachteil. Die Aufnahme von Vertretern der Treuhandbetriebe in die Gremien der IHKn warf die Frage auf, inwiefern frühere sozialistische Leiter geeignet waren, den demokratischen Neuanfang mitzugestalten. In diesem Kontext führte es vor allem zu Integrationsproblemen, dass es unter Benachteiligten des alten Regimes bisweilen eine starke Ablehnung von zentralstaatlichen bzw. mit der SED konnotierten Elementen gab. Diese Haltung wurde erstmals in der Friedlichen Revolution sichtbar.313 Der Frankfurter Präsident Kaplick war wohl nicht der einzige Altselbstständige, der die Aufnahme ehemaliger sozialistischer Leiter in die Gremien der Kammer aufgrund der eigenen Erfahrungen im Sozialismus ablehnte. Als der Hauptge310 311 312 313
Flemming/Ulrich, Wirtschaft, S. 39. Vgl. Diederich/Haag/Cadel, Industrie- und Handelskammern, S. 78 f. Bönker/Wielgohs, Kultur, S. 232. Vgl. Rödder, Deutschland, S. 110 ff.
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schäftsführer der IHK Wuppertal-Solingen-Remscheid im Januar 1990 seine Eindrücke aus der DDR schilderte, berichtete er dem DIHT, dass viele der Gewerbetreibenden mit Verbitterung auf die staatliche Wirtschaft schauen würden.314 Die rigorose Zurückweisung von Tatsachen, die sich auf die sozialistische Epoche zurückführen ließen, war dem Aufbau neuer Institutionen mitunter abträglich.315 Eine weitere Art von Integrationsproblem, das sich ebenfalls zum Gutteil aus dem Verhältnis der Kammermitglieder zur Vergangenheit erklären ließ, betraf die räumliche Zuständigkeit der IHKn. Im Rahmen der Demonstrationen, die das Ende der SED-Herrschaft besiegelten, waren u. a. Forderungen nach einer Revision der territorialen Struktur vernehmbar gewesen.316 Hierauf ging letztlich die Wiedereinführung der 1952 abgeschafften Länder zurück. Auch in anderer Beziehung äußerte sich der Wunsch, hinter die von den sozialistischen Machthabern verordnete Umgestaltung von Staat und Gesellschaft zurückzugreifen. Am 22. April 1990 z. B. votierte die große Mehrheit der Bevölkerung von Karl-Marx-Stadt in einem Referendum dafür, die alte Bezeichnung „Chemnitz“ wieder einzuführen. In diesem Kontext standen Versuche, Kammern aus Weimarer Zeit wieder zu begründen. Anfang 1990 waren 15 IHKn entstanden, eine je Bezirk der DDR. Die meisten dieser Kammern besaßen historische Wurzeln, die mindestens ins 19. Jahrhundert zurückreichten. Allerdings hatte es bis in die 1930er Jahre eine größere Zahl an IHKn gegeben, oft ebenfalls mit langer Tradition. Den Aufbauhelfern – dies galt für den DIHT sowie die Mehrheit der westdeutschen IHKn – erschien es prinzipiell vorteilhaft, dass sich die Kammerbezirke in der DDR an der vorherrschenden Verwaltungsstruktur orientierten. Die Bezirke waren qua Bevölkerung und Fläche zwar verschieden groß; bei ihrer Schaffung waren jene Kriterien aber durchaus berücksichtigt worden. Ein Zuschnitt der Kammerbezirke, der mit dieser administrativen Struktur übereinstimmte, gewährleistete somit eine Mindestgröße, die garantierte, dass sich eine leistungsfähige wirtschaftliche Selbstverwaltung entwickeln konnte. Die Zahl der Kammern überschaubar zu halten, bot darüber hinaus den Vorteil, die Aufbauhilfe konzentrieren und besser koordinieren zu können. Die Verwaltungsgliederung der DDR wurde zwar im Allgemeinen nicht mehr vorbehaltlos akzeptiert; über die künftige administrative Struktur sollte aber erst nach der Schaffung der Länder entschieden werden. Auch dies sprach letzten Endes dagegen, weitere Kammern unterhalb der Ebene der Bezirke zu gründen; es war nämlich nicht vorherzusehen, ob dem später eine staatliche administrative Einheit entsprechen würde.
314 Schreiben des Hauptgeschäftsführers der IHK Wuppertal-Solingen-Remscheid an den Hauptgeschäftsführer des DIHT vom 29. Januar 1990. RWWA 181-2478-2. 315 Demgegenüber hebt Segert hervor, dass gewisse kulturelle Phänomene sich auch positiv auf die Transformation postsozialistischer Gesellschaften auswirkten; so war der Nationalismus baltischer Völker für den Aufbau unabhängiger Staaten durchaus förderlich (Segert, Transformationen, S. 164 f.). Mit Blick auf die neuen Bundesländer kann analog gefolgert werden, dass die Forderung nach Revision der sozialistischen Territorialstruktur, die schon in der Friedlichen Revolution vernehmbar war, die Akzeptanz der neuen Landesverwaltungen begünstigt hat. 316 Vgl. Rödder, Deutschland, S. 334 ff.
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Große Mühe bereitete es den westdeutschen Aufbauhelfern, die Einheit der Kammer im Bezirk Rostock zu wahren. In der Hansestadt war die Verwaltung der gesamten Küste der DDR zentralisiert worden; der sogenannte Ostseebezirk wies einen Zuschnitt auf, der in der Bevölkerung nur wenig Akzeptanz besaß. Die Unternehmer um den Gründungspräsidenten Hontschik hatten daher ursprünglich beabsichtigt, eine IHK zu errichten, die lediglich für die Stadt Rostock sowie deren Umland zuständig war.317 Unterdessen war aus der Hauptverwaltung der HGK eine zweite Kammer hervorgegangen: Die IHK zu Rostock, die sich befugt sah, den gesamten Bezirk zu vertreten. Aus der Sicht der Rostocker Patenkammer, der Handelskammer Bremen, war es nötig, beide Rostocker Kammern zu fusionieren.318 Andernfalls wäre nicht nur der Aufbau der IHK verzögert worden; der Kammerbezirk drohte gar zu zersplittern, da es in mehreren Kreisen Versuche gegeben hatte, lokale Kleinkammern zu gründen.319 In anderen Bezirken gab es ebenfalls, zumeist latente, Abspaltungsbestrebungen von Teil-Räumen. Es handelte sich in der Regel um kurzlebige Projekte; durch konstruktives Zusammenwirken der Patenkammern sowie Zugeständnisse der IHK des Bezirks ließen sich lokale Initiativen meist integrieren. In Görlitz sowie in der thüringischen Kleinstadt Sonneberg, jeweils bis zum Zweiten Weltkrieg Sitz einer unabhängigen IHK, entstanden vor diesem Hintergrund Geschäftsstellen der IHK Dresden bzw. der IHK Suhl. Analog galt dies für Dessau, das darüber hinaus durch die Umbenennung der IHK Halle zur IHK Halle-Dessau aufgewertet wurde.320 In einem weiteren Fall waren die Bemühungen, die Einheit des Kammerbezirks zu wahren, indessen nicht erfolgreich. In Zwickau bildete sich im Mai 1990 ein vorläufiger Kammervorstand, der gegenüber der erst kurz zuvor entstandenen IHK Chemnitz erklärte, der Zwickauer Raum sei nunmehr ein eigenständiger Kammerbezirk.321 In Plauen kam es bald darauf zur Errichtung einer dritten Kammer im früheren Bezirk Karl-Marx-Stadt. Der Kammerverordnung der DDR liefen IHK-Gründungen unterhalb der Ebene der Bezirke keineswegs zuwider. In ihr hatte es geheißen, Kammern seien nach „regionalwirtschaftlichen Gesichtspunkten“ zu bilden.322 Diese Formulierung war verwendet worden, um es den Bezirksräten zu erschweren, Einfluss auf die Entstehung der IHKn zu nehmen. Deshalb überließ man es den Vollversammlungen, den Sitz der Kammer zu bestimmen. In dieser Hinsicht fiel die DDR-Verord317 Hontschik fasste seine Motive rückblickend so zusammen: „Die bestehende Kammer musste weg oder sich von Grund auf verändern.“ Zit. nach: Nachruf auf Wilhelm Hontschik. In: Wir. Zeitschrift der Industrie- und Handelskammer zu Rostock. Heft 10/2008, S. 28. 318 Sachstandbericht der HK Bremen zur Entwicklung in der IHK Rostock vom 7. März 1990. RWWA 181-1929-2. 319 Umfrage zur Koordinierung der DDR-Aktivitäten, Stand 19. Februar 1990. RWWA 181-19292. 320 Vgl. Dalchow, Industrie- und Handelskammer Halle-Dessau, S. 300. 321 Schreiben des vorläufigen Vorstandes der IHK Zwickau an die IHK Chemnitz vom 10. Mai 1990 (Anlage zum Schreiben des Hauptgeschäftsführers der IHK Bayreuth an den DIHTHauptgeschäftsführer vom 16. Juli 1990). RWWA 181-2476-2. 322 Verordnung über die Industrie- und Handelskammern der DDR vom 1. März 1990. In: GBl. der DDR I, 1990, S. 112.
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nung hinter den Stand des Kammerrechts der Weimarer Republik zurück, in dem obligatorische Bezirke 1924 verankert worden waren.323 Knapp 70 Jahre später, beim Abfassen der Verordnung über die IHKn in der DDR, war das Fehlen einer analogen Bestimmung – bzw. deren Relevanz – übersehen worden. Unterdessen ließ sich hierdurch allein nicht erklären, warum die Integrationsproblematik im Bezirk Chemnitz so deutlich hervortrat. Mit der Tatsache, dass man sich sowohl in Plauen als auch in Zwickau auf ein historisches Anrecht berief, konnte dies ebenfalls nur unzureichend plausibilisiert werden: Schon vor dem Zweiten Weltkrieg hatte es in Zwickau lediglich die Geschäftsstelle einer IHK gegeben – allerdings nicht der Chemnitzer, sondern der Plauener.324 In seiner „Unabhängigkeitserklärung“ an die IHK Chemnitz wies der Zwickauer Vorstand nichtsdestoweniger auf die Vorkriegsverhältnisse hin und fügte dem hinzu, der gemeinsame Verwaltungsbezirk werde seines Erachtens auf Dauer ohnehin nicht von Bestand sein. Die Sezessionsbemühungen erhielten damit einen moralischen Unterton, in dem der Vorwurf mitschwang, die IHK Chemnitz stehe in der Tradition der SED-Herrschaft.325 Bei dieser Polemisierung spielte es auch eine Rolle, dass der Bezirk ehedem die Bezeichnung „Karl-Marx-Stadt“ getragen hatte, was sich für den demokratischen Neuaufbau als Bürde erwies. Dass der Gebietskonflikt im Bezirk Chemnitz schließlich eskalierte, lag nicht zuletzt an der Uneinigkeit der Patenkammern. Die IHK Dortmund unterstützte die Zwickauer Kammer von Beginn an.326 Entgegen einer ersten Erklärung versuchten die Dortmunder 323 In Preußen, dessen Kammerrecht auch für andere deutsche Staaten eine Vorbildfunktion übernahm, entstanden Kammern im 19. Jahrhundert meist auf Initiative der Wirtschaft. Der Wille der Unternehmer war daher ausschlaggebend für den Sitz sowie das Zuständigkeitsgebiet einer Kammer. Dies führte dazu, dass es in manchen Gegenden an einer Vertretung der Wirtschaft gänzlich fehlte, während andernorts zahlreiche „Kleinkammern“ entstanden. Bereits Handelsminister von Berlepsch (1890–1896) hielt diese für zu wenig leistungsfähig. Erst die Reform von 1924 behob die von ihm benannten Defizite. König, Handelskammern, S. 214. 324 Vgl. Heß, Wetterwinkel, S. 60. 325 Dies galt auch für die Gründung der Plauener Kammer, die im Sommer 1990 durch die Stadtverordneten von Plauen beschlossen wurde: „Meiner Bitte, dies nicht zu tun, die ich am 19. September 1990 dem damaligen Oberbürgermeister Dr. Magerkord übergab, folgte die absurde Aufforderung an mich, dass ich mich vor dem Stadtparlament zu entschuldigen habe für das, was seiner Stadt von den Nazis sowie von den Kommunisten angetan worden sei.“ Interview Hoschke. 326 Gegenüber dem DIHT warb die IHK Dortmund um Verständnis. Ihr Hauptgeschäftsführer führte aus, man habe sich wegen der Städtepartnerschaft mit Zwickau Anfang Februar 1990 bereiterklärt, die dortige Kreisgeschäftsstelle zu unterstützen. Die Niederlassung sei sehr klein gewesen; gleichwohl habe es viele Unternehmer mit einem Wunsch nach einer eigenen Kammer gegeben. Zu Chemnitz gebe es „kein Verhältnis“, die Zwickauer hätten sich darüber hinaus „sehr vernachlässigt“ gefühlt. Der Dortmunder Hauptgeschäftsführer trat dem Eindruck entgegen, man wolle die Zwickauer Geschäftsstelle um jeden Preis verselbstständigen: „Dies ist nicht der Fall, zumal wir wissen, welche erheblichen Probleme im Falle einer solchen Gründung zu lösen sein würden. Wir waren vielmehr immer der Meinung, daß Zwickau lieber als Zweigstelle, aber in deutlich größerer Dimensionierung, bestehen bleiben und durch Entsendung von Mitgliedern in das Präsidium der IHK Chemnitz in gebotener Weise vertreten sein sollte.“ Schreiben des Hauptgeschäftsführers der IHK Dortmund an den DIHT-Hauptgeschäftsführer vom 22. Mai 1990. RWWA 181-1879-3.
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3. Die Wiederherstellung der wirtschaftlichen Selbstverwaltung
nicht, zwischen Chemnitz und Zwickau zu vermitteln, sondern warben, vor allem beim DIHT, um Zustimmung zur Gründung einer weiteren IHK in der DDR.327 Bei der IHK Bayreuth, die den Aufbau der IHK Chemnitz federführend begleitete, sorgte dieses Vorgehen für Verstimmung.328 Der DIHT unternahm kurz vor der Wiedervereinigung einen Vorstoß, um das Versäumnis der Kammerverordnung zu korrigieren. Das DDR-Wirtschaftsministerium erließ daraufhin eine Anordnung, wonach in jedem Bezirk nur eine Kammer an die Stelle einer aufgelösten HGK treten dürfe.329 Insbesondere die Zwickauer ließen sich hiervon nicht entmutigen; daran änderte auch die Entscheidung der sächsischen Landesregierung nichts, die Regierungsbezirke einrichtete, die territorial der vorherrschenden Verwaltungsstruktur entsprachen – mit Chemnitz, Dresden und Leipzig als Sitze der mittleren Landesbehörden.330 Auf kommunaler Ebene wurde das Projekt der Zwickauer Kammer unterstützt; der Rat der Stadt hatte der IHK Arbeitsräume zugewiesen und erklärt, die in der Kammerverordnung geforderte Rechtsaufsicht zu übernehmen. Der Bundestagsabgeordnete des Zwickauer Wahlkreises stand ebenfalls auf der Seite der Befürworter.331 Eine schnelle politische Lösung des Konflikts zeichnete sich nicht ab, da die Landesregierung zunächst handlungsunfähig war. Noch im Dezember 1990 verfügte der zuständige Staatssekretär im Wirtschaftsministerium über kein eigenes Büro.332 Der Hauptgeschäftsführer der IHK Bayreuth, Werner Jungbauer, startete zwischenzeitlich eine Vermittlungsmission. Am 22. November 1990 führte er Gespräche mit den hauptamtlichen Leitern der Kammern in Chemnitz und Plauen. Er kam zum Ergebnis, dass das Vogtland, die Plauener Region, eine lange Tradition der Unabhängigkeit von Chemnitz habe. Den „Teilräumen“ Zwickau und Plauen attestierte er daher ein „Anrecht auf angemessene Berücksichtigung ihrer spezifischen Belange“.333 Die dort ansässige Wirtschaft müsse des Weiteren wegen des dichten Industriebesatzes sowie der großen Wirtschaftskraft ortsnah versorgt werden. Die Aufteilung in drei eigenständige IHKn Chemnitz, Plauen und Zwickau war nach Jungbauers Auffassung gleichwohl kontraproduktiv. Die Handwerkskammer z. B. habe sich nicht aufgeteilt. Eine gemeinsame IHK sei nicht nur wirtschaftlich effizienter, sie könne auch politisch mehr erreichen – sowohl im Regierungsbezirk 327 Kurze Zeit nach der ersten Erklärung des Dortmunder Hauptgeschäftsführers wandte dieser sich erneut an DIHT-Hauptgeschäftsführer Schoser. Im Zuge dessen begrüßte er die Gründung der IHK Zwickau. Schreiben des Hauptgeschäftsführers der IHK Dortmund an den DIHTHauptgeschäftsführer vom 19. Juni 1990. RWWA 181-1879-3. 328 Schreiben des Hauptgeschäftsführers der IHK Bayreuth an den DIHT-Hauptgeschäftsführer vom 16. Juli 1990. RWWA 181-2476-2. 329 Schreiben des Staatssekretärs Halm an DIHT-Präsident Stihl vom 20. September 1990. RWWA 181-2467-1. 330 Vgl. Reulen, Institutionenbildung, S. 47. 331 Schreiben Mitschnick, MdB, an DIHT-Präsident Stihl vom 4. November 1991. RWWA 1811879-3. 332 Hoschke, Erlebnisse, S. 336. 333 Konzept der IHK Bayreuth für einen föderativen Aufbau der IHK Chemnitz vom 26. November 1990 (Anlage zur Stellungnahme der Rechtsabteilung des DIHT vom 30. November 1990). RWWA 181-2467-1.
3.3 Die Integration der gewerblichen Wirtschaft in die neue Selbstverwaltung
115
Chemnitz als auch im deutschen Kammerwesen. Um Regionalinteressen und Effizienzerwägungen miteinander zu vereinbaren, schlug der Bayreuther Hauptgeschäftsführer einen föderativen Aufbau vor. Vorbilder dafür waren die Satzungen der IHKn Stuttgart sowie Würzburg-Schweinfurt.334 Die Stuttgarter IHK unterhielt fünf „Bezirkskammern“, die die benachbarten Landkreise der Landeshauptstadt versorgten. Während ein Teil der administrativen Infrastruktur gemeinsam genutzt wurde, war die lokale Interessenvertretung subsidiarisch organisiert. In der IHK Würzburg-Schweinfurt gab es ein Rotationsprinzip. Beide Teil-Räume wechselten sich demnach bei der Besetzung des Präsidentenamtes ab. In der Vollversammlung wurden außerdem Bezirksausschüsse gebildet, die die spezifischen Würzburger bzw. Schweinfurter Interessen vertraten. Jungbauer trat dafür ein, Elemente beider Satzungen auf den Kammerbezirk Chemnitz zu übertragen. Die IHK solle den Namen „Südwestsachsen/Vogtland, Sitz Chemnitz“ annehmen und Dependancen in Plauen und Zwickau unterhalten. Diese sollten im Unterschied zu den „Geschäftsstellen“ in Annaberg und Freiberg zu „Hauptgeschäftsstellen“ jeweiliger Bezirkskammern werden. Letztere sollten alle Kammeraufgaben wahrnehmen, die bezirkliche Angelegenheiten betrafen. Dazu zählte Jungbauer u. a. die Verkehrsplanung sowie die Ausbildungsberatung. Ferner sprach er sich für separate Unternehmervertretungen für Plauen sowie Zwickau aus, deren Präsidenten dem Präsidium der gemeinsamen IHK Südwestsachsen angehören sollten. Darüber hinaus plädierte der Hauptgeschäftsführer der IHK Bayreuth für selbstverwaltete Haushalte der Bezirkskammern, die genehmigungspflichtige Teile eines Gesamthaushaltsplanes der IHK Südwestsachsen werden sollten. Der DIHT begrüßte das Konzept Jungbauers; Chefjustiziar Hinz bewertete es als „einzig erfolgversprechenden Weg“335, um die Spaltung des Chemnitzer Bezirks zu verhindern. Im IHK-Dachverband hatte man beschlossen, pragmatisch mit der Zwickauer Kammer zu verfahren. Stärker noch als Plauen drängten die Zwickauer nämlich auf eine Anerkennung; im November 1990 z. B. nahm ein Vertreter aus Zwickau an der Hauptgeschäftsführer-Konferenz des DIHT in Bonn teil.336 Der IHK-Dachverband ließ keinen Zweifel daran erkennen, die IHK Zwickau nur dann als Vollmitglied zuzulassen, wenn auch die sächsische Landesregierung diese anerkennen sollte. Nichtsdestoweniger wollte der DIHT Zwickau nicht vom Informationsfluss abschneiden.337 Der Hauptgeschäftsführer der IHK Bayreuth sondierte, ob seine Initiative in Plauen und Zwickau kompromissfähig war. In Plauen nahm man den Vorschlag an. Die Aufwertung der Geschäftsstelle hatte die dortigen Unternehmer mit der gemeinsamen IHK versöhnt. Am 1. Juli 1991 wurde die Gründung der „Bezirkskam334 Die Kammer im mainfränkischen Raum hatte sich nach dem Zweiten Weltkrieg aufgespalten. Mit einer neuen Satzung sowie der Umbenennung in IHK Würzburg-Schweinfurt war es in den 1960er Jahren gelungen, den Gebietskonflikt zu lösen. Brandt, Organ, S. 203 ff. 335 Stellungnahme der Rechtsabteilung des DIHT zum Konzept der IHK Bayreuth für einen föderativen Aufbau der IHK Chemnitz vom 30. November 1990. RWWA 181-2467-1. 336 Protokoll der Hauptgeschäftsführer-Konferenz vom 20. November 1990 in Bonn. RWWA 1811885-3. 337 Vermerk an den DIHT-Hauptgeschäftsführer vom 6. Juli 1990. RWWA 181-1879-3.
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3. Die Wiederherstellung der wirtschaftlichen Selbstverwaltung
mer Plauen“ vollzogen. In Zwickau lehnte man eine Zusammenarbeit mit der IHK Chemnitz hingegen weiter ab.338 Diese Verweigerungshaltung begann erst zu schwinden, als der sächsische Landtag im Herbst 1991 ein Landeskammergesetz verabschiedete. Das Landesministerium für Wirtschaft schaltete sich daraufhin in die Vermittlung ein. Im Mai 1992 beschloss die IHK Chemnitz eine neue Satzung, in der sie sich den Namen „IHK Südwestsachsen Chemnitz-Plauen-Zwickau“ gab.339 Die Kammer wurde im Zuge dessen noch weiter föderalisiert als im Konzept Jungbauers vorgesehen war: Statt Bezirkskammern wurden „Regionalkammern“ gebildet – sowohl in Plauen und Zwickau als auch in Chemnitz. Erst nachdem deren Gründung vollzogen war, konstituierte sich die IHK Südwestsachsen Chemnitz-Plauen-Zwickau – am 27. September 1993, knapp drei Jahre nach der ersten Initiative zur Vermittlung. 3.3.4 Ausbau und Finanzierung der hauptamtlichen Stäbe Zum Zeitpunkt ihrer Gründung zählte es zu den wichtigsten Aufgaben der IHKn, angehende Unternehmer mit Basisinformationen zu versorgen. Dieses Leistungsspektrum musste schon kurz darauf erheblich erweitert werden, da die Kammern für neue Betriebe und Branchen zuständig wurden und zusätzliche Funktionen übernahmen. Dies machte umfassende Investitionen nötig, um qualifiziertes Personal zu gewinnen und die Ausstattung mit Sachmitteln zu verbessern. Infolgedessen wurden Computer angeschafft und Schulungen organisiert. Der DIHT übernahm dabei die Koordination, und Mitarbeiter bundesdeutscher Kammern gaben als Dozenten ihr Wissen weiter.340 Als weitere Qualifizierungsmaßnahme war es möglich, Personal für Praktika in die Bundesrepublik zu entsenden. Oft wurden die Mitarbeiter der Kammern allerdings so stark beansprucht, dass dies nur in begrenztem Maße praktiziert wurde; viele Kammern wollten bzw. konnten längere Abwesenheiten ihres Personals nicht in Kauf nehmen.341 Die wirtschaftlichen Voraussetzungen der IHKn waren sehr verschieden, da die Bezirke strukturell stark differierten. Als mittlere Verwaltungseinheiten waren diese 1952 geschaffen worden, wobei man die Bedürfnisse der Planwirtschaft einkalkuliert hatte.342 Die Produktionsprofile wurden in der Folgezeit zunehmend vereinseitigt; oft dominierten wenige Branchen die Wirtschaft eines Bezirks. Die Kammern waren daher gezwungen, sich an die jeweiligen Gegebenheiten anzupassen. Dies spiegelte sich etwa in den Personalplanungen wider; auch war die Finanzkraft der 338 Bericht des Leiters der DIHT-Verbindungsstelle Berlin an den DIHT-Hauptgeschäftsführer über die Probleme der Kammerarbeit in den neuen Bundesländern vom 14. März 1991. RWWA 181-2468-1. 339 Vgl. IHK Chemnitz, Neugründung, S. 141. 340 Rundschreiben zur Übersendung der Unterlagen zur Hauptgeschäftsführer-Sitzung „Koordinierung der IHK-Aktivitäten mit Blick auf die DDR“ vom 10. März 1990. RWWA 181-1929-2. 341 Bericht des Hauptgeschäftsführers der IHK Mittlerer Niederrhein an den DIHT sowie die IHKn über die organisatorischen Grundprobleme der DDR-Kammern vom 21. August 1990. RWWA 181-2468-1. 342 Vgl. Weber, DDR, S. 39 f.
3.3 Die Integration der gewerblichen Wirtschaft in die neue Selbstverwaltung
117
IHKn ungleich verteilt. Einen standardisierten Organisationsplan für alle Kammern zu entwerfen, war daher weder zweckmäßig noch jemals in Erwägung gezogen worden. Mit Unterstützung ihrer jeweiligen Patenkammern entwickelte jede IHK ihr eigenes Konzept. Entwicklung der Zahl der Mitarbeiter in den IHKn343 Industrie- und Handelskammer
Stand per 18.03.1990
Stand per 01.07.1990
Stand per 01.07.1991
Berlin (Ost)
67
62
-
Chemnitz
20
87
110
Cottbus
33
36
65
Dresden
61
66
140
Erfurt
44
60
97
Frankfurt/O.
11
22
63
Gera
37
40
64
Halle
--
--
96
Leipzig
--
--
140
Magdeburg
--
--
75
Neubrandenburg
15
12
31
Potsdam
44
65
80
Rostock
--
--
58
Schwerin
19
24
46
Suhl
20
37
67
Mitte 1990 bestanden Zweifel daran, ob die Finanzierung der IHKn gelingen würde. Der Hauptgeschäftsführer der IHK Mittlerer Niederrhein, de Weldige-Cremer, besuchte im Laufe jenes Sommers sämtliche Kammern in der DDR. Als Delegierter der Etat-Kommission des DIHT erhielt er dort Einblicke in die Finanzlage sowie die Haushaltsplanungen. Auf dieser Grundlage warnte er vor drohenden Liquiditätsengpässen: Es stehe zu befürchten, dass einige IHKn die Gehälter ihrer Angestellten in absehbarer Zeit nicht mehr fristgerecht würden zahlen können. Von wenigen Ausnahmen abgesehen hielt de Weldige-Cremer die Finanzplanungen der ostdeutschen Kammern auch mittelfristig für riskant.344 Die Bundesregierung unterstützte den Aufbau der wirtschaftlichen Selbstverwaltung in der DDR zwar von Beginn an auch finanzi343 Personalplanungen der DDR-Kammern, Stand: September 1990. RWWA 181-2468-1; Protokoll der Sitzung des DIHT-Hauptgeschäftsführers mit den Hauptgeschäftsführern der IHKn in den neuen Bundesländern in Schwerin vom 4./5. Juli 1991. RWWA 181-1886-3. 344 Bericht des Hauptgeschäftsführers der IHK Mittlerer Niederrhein an den DIHT sowie die IHKn über die organisatorischen Grundprobleme der DDR-Kammern vom 21. August 1990. RWWA 181-2468-1.
118
3. Die Wiederherstellung der wirtschaftlichen Selbstverwaltung
ell.345 Entsprechende Gelder waren allerdings stets für Sonderausgaben bzw. öffentliche Zusatzaufgaben bestimmt. Reguläre Aufwendungen waren aus dem allgemeinen Etat der Kammern zu bestreiten, in dem das Personal eine erhebliche Größe war. Es gab auch andere Quellen, die auf finanzielle Risiken hinwiesen.346 Der DIHT entschloss sich daher, Vorsorge zu treffen. Der Dachverband handelte einen Rahmenkredit für die ostdeutschen IHKn aus und bürgte für die Rückzahlung. Knappe finanzielle Spielräume machten sich u. a. bemerkbar, als die IHK zu Neubrandenburg versuchte, ihre Rechtsabteilung zu besetzen: Es könne nur schwer jemand gefunden werden, da die Gehaltsforderungen qualifizierter Bewerber über den Möglichkeiten der Kammer lägen, wie Präsident Kessow berichtete.347 Das Worst-Case-Szenario trat freilich nicht ein: Die Bürgschaft konnte 1993 aufgehoben werden, ohne je in Anspruch genommen werden zu müssen.348 Es gelang, die Finanzierung der Kammern auf Grundlage der Sonderregelung zu sichern, die in der Kammerverordnung getroffen worden war. Hiernach durften Grundbeiträge sowie umsatzabhängige Umlagen erhoben werden. Für die Altselbstständigen war es nicht neu, dass sich die Beiträge am Umsatz orientierten. In den alten Gewerbekammern war ähnlich verfahren worden; damals waren die Forderungen oft sogar höher gewesen. Demgegenüber waren die Treuhandbetriebe mit Kammerbeiträgen nicht vertraut. Die Planungsbürokratie der DDR war durch Steuern finanziert worden und hatte keine Umlagen erhoben. Die Verwaltung der Mitgliederdaten musste 1990 neu aufgebaut werden. EDVSysteme gingen erst nach und nach in Betrieb; die umfangreichen Datensätze zu erfassen, nahm darüber hinaus weitere Wochen in Anspruch. Beim Beitragseinzug wandten einige Kammern daher unorthodoxe Methoden an. Mitarbeiter der IHK Gera etwa führten Hausbesuche bei neuen Mitgliedern durch.349 Dabei kam es vor, dass Jahresbeiträge prompt in bar ausgezahlt wurden. Auch in anderen Bezirken wurden solche „Sammlungen“ praktiziert, um in Kontakt mit Neumitgliedern zu kommen und diese über ihre Beitragspflicht aufzuklären.350 Insbesondere die Treuhandbetriebe zahlten oft anstandslos – obwohl die ehrenamtlichen Repräsentanten der Kammern im Umgang mit Vertretern ehemaliger VEB nach wie vor oft reserviert waren.351 345 Der DIHT fungierte hierbei als Erstzuwendungsempfänger für Zuschüsse des BMWi. Diese waren u. a. für Schulungszwecke sowie Investitionen in EDV-Anlagen vorgesehen. Rundschreiben des DIHT-Hauptgeschäftsführers an die IHKn vom 6. Juli 1990. RWWA 181-1806-1. 346 Der Hauptgeschäftsführer der IHK Würzburg-Schweinfurt bestätigte, dass es auch seiner Ansicht nach im Herbst bei vielen der IHKn in der DDR zu Liquiditätsschwierigkeiten kommen würde. Schreiben des Hauptgeschäftsführers der IHK Würzburg-Schweinfurt an den DIHTHauptgeschäftsführer vom 20. Juli 1990. RWWA 181-2480-3. 347 Bericht aus den neuen Ländern (Anlage zum Protokoll der DIHT-Vorstandssitzung in Bonn vom 5. Februar 1991). RWWA 181-1813-2. 348 1993 wurde die Regelung aufgehoben, ohne je beansprucht worden zu sein. Protokoll der DIHT-Hauptgeschäftsführer-Konferenz in Bonn vom 11. Mai 1993. RWWA 181-1886-2. 349 Seela, Industrie- und Handelskammer Ostthüringen, S. 252. 350 So z. B. in Ost-Berlin. Interview Pape. 351 Die IHK Leipzig habe „die Treuhandbetriebe damals einfach alle angeschrieben, und sie haben problemlos ihre Beiträge bezahlt“, wie Hauptgeschäftsführer Manegold berichtete. In diesem
3.3 Die Integration der gewerblichen Wirtschaft in die neue Selbstverwaltung
119
Die umsatzabhängige Umlage war als Übergangslösung konzipiert, die nach Inkrafttreten der Gewerbesteuer durch eine ertragsbezogene Abgabe ersetzt werden sollte. De Weldige-Cremer, der die Finanzen der ostdeutschen Kammern geprüft hatte, sprach sich gegen eine zeitgleiche Umstellung von Steuerrecht und Kammerfinanzierung aus. Er befürchtete Turbulenzen, da sich sowohl die Finanzverwaltung als auch die Betriebe erst an die neuen Regelungen würden gewöhnen müssen. Die Übergangsregelung, so empfahl er bereits im Sommer 1990, solle länger als die avisierten zwei Jahre in Kraft bleiben.352 Tatsächlich wurde die Finanzierung der ostdeutschen IHKn erst 1998 an die westdeutschen Regeln angepasst. Da der befürchtete „Zusammenbruch der Kammerfinanzen“353 ausblieb, konnte die Sonderregelung als bewährtes Mittel gelten. Nichtsdestoweniger besaß sie im Vergleich mit der ertragsabhängigen Umlage eine gravierende Schwäche. Über das Beitragswesen zu entscheiden, ist eines der fundamentalen Rechte der Mitglieder von Selbstverwaltungen. Das Beitragsreglement der HGKn war einheitlich vom Ministerium für Handel und Versorgung vorgegeben worden, was nur möglich war, weil es einen Finanzausgleich zwischen armen und reichen Gewerbekammern gegeben hatte. Die IHKn betraten Neuland, als sie erstmals eigene Beitragsordnungen beschlossen; dabei mussten sie mehrere Faktoren berücksichtigen: Zum einen unterschieden sich die Kosten; eine jede Kammer verfolgte ihr eigenes Konzept, plante mit einer bestimmten Zahl an Außenstellen sowie einer individuellen Personalstärke. Zum anderen waren die Bezirke in wirtschaftlicher Hinsicht überaus heterogen. Dies hatte nicht nur Einfluss auf das absolute Beitragsaufkommen einer IHK sowie auf die relative Belastung ihrer Mitglieder. Es zeigte sich bald, dass umsatzabhängige Hebesätze nach Branchen ausdifferenziert werden mussten. Im Verhältnis zum Erlös war die Wertschöpfung im verarbeitenden Gewerbe meist erheblich größer als bei Dienstleistungen. In fast jedem Bezirk wies die Wirtschaft unterdessen einen anderen Branchenmix auf, was es erheblich erschwerte, vergleichbare Beitragsordnungen zu erstellen. Der DIHT hatte eine Musterordnung für das Beitragswesen zur Verfügung gestellt; gleichwohl suchten die Vollversammlungen nach eigenen Wegen, um die Wirtschaftskraft der Mitgliedsbetriebe zu berücksichtigen. Dies führte dazu, dass die umsatzbezogenen Hebesätze, je nach Bezirk und Branche, z. T. deutlich variierten. Vor allem westdeutsche Unternehmen, die in die neuen Bundesländer expandierten, zeigten Unverständnis für die so zustande gekommenen Regelungen: Die IHK Frankfurt am Main wandte sich im Mai 1991 an DIHT-Hauptgeschäftsführer Schoser und machte darauf aufmerksam, dass Banken und Versicherungen mit ho-
Zusammenhang bekannte er: „Also ich schäme mich da ein bißchen vor denen, die wir ja eigentlich ignoriert haben in dieser Euphorie der Wende.“ Manegold, Industrie- und Handelskammern, S. 110. 352 Bericht des Hauptgeschäftsführers der IHK Mittlerer Niederrhein an den DIHT sowie die IHKn über die organisatorischen Grundprobleme der DDR-Kammern vom 21. August 1990. RWWA 181-2468-1. 353 Ebd.
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3. Die Wiederherstellung der wirtschaftlichen Selbstverwaltung
hen Beitragsforderungen konfrontiert waren.354 Kurz zuvor war der Koblenzer Hauptgeschäftsführer vorstellig geworden, da sich ein Versicherungsunternehmen seines Bezirks beschwert hatte.355 In einer Hochrechnung war das Unternehmen zum Ergebnis gekommen, in den fünf neuen Ländern pro Jahr das 15-fache dessen zahlen zu müssen, was es im gesamten alten Bundesgebiet an Kammerbeiträgen leistete. Schoser antwortete, dass die meisten ostdeutschen IHKn sich an die Musterordnung des DIHT gehalten hätten; gleichwohl sei es angesichts fehlender Erfahrung noch nicht gelungen, die Hebesätze angemessen auszugestalten. Dies zu ändern sei Sache der jeweiligen Vollversammlung. Der DIHT wolle sich koordinierend einschalten.356 Das Problem, die Umlagen branchengerecht auszugestalten, wurde frühzeitig erkannt; es ließ sich freilich nicht rasch abstellen. Ende 1991 kam es zu einer Häufung von Einsprüchen gegen Beitragsbescheide ostdeutscher Kammern. Da sich vor allem Unternehmen aus dem alten Bundesgebiet beklagten, beschloss DIHTPräsident Stihl, um Unterstützung für die IHKn in den neuen Ländern zu werben. In einer Briefaktion wandte er sich an Unternehmen des Finanzgewerbes sowie an Handelsgesellschaften, die Filialnetze betrieben.357 Eine Mehrheit der Angeschriebenen signalisierte Wohlwollen, wies aber auf erhebliche Mehrzahlungen hin, denen eigene Verluste gegenüberständen. Große Handelsunternehmen haderten auch in der darauffolgenden Zeit mit den im Verhältnis zum alten Bundesgebiet hohen Beiträgen in Ostdeutschland. Der DIHT bemühte sich weiter um eine Verständigung, wiederholte dabei allerdings seinen Standpunkt, keine „vorgesetzte Behörde“ der ostdeutschen Selbstverwaltungen zu sein; so z. B. gegenüber dem Bundesverband der Filialbetriebe und Selbstbedienungs-Warenhäuser (BFS).358 Dieser drohte Ende 1992, juristisch gegen die aus Sicht seiner Mitglieder zu hohen Kammerbeiträge vorzugehen – auch mit Blick auf die geplante Verlängerung der Übergangsregelung. In einem daraufhin anberaumten Gespräch beider Spitzenverbände erklärte ein Vertreter des BFS, der großflächige Handel sei bereit, in den neuen Bundesländern das Doppelte von dem zu zahlen, was in Westdeutschland üblicherweise an Kammerbeiträgen entrichtet werde. Es sei indessen keine Seltenheit, dass die Beitragsbelastung sich in Ostdeutschland auf mehr als das Zehnfache belaufe.359 Der DIHT versprach den Handelsbetrieben ein Entgegenkommen. Es müsse aber Ver354 Schreiben des Hauptgeschäftsführers der IHK Frankfurt am Main an den DIHT-Hauptgeschäftsführer vom 23. Mai 1991. RWWA 181-2468-1. 355 Schreiben des Hauptgeschäftsführers der IHK Koblenz an den DIHT-Hauptgeschäftsführer vom 17. Mai 1991. RWWA 181-2468-1. 356 Schreiben des DIHT-Hauptgeschäftsführers an den Hauptgeschäftsführer der IHK Koblenz vom 5. Juni 1991. RWWA 181-2468-1. 357 Vermerk zur Briefaktion des DIHT-Präsidenten bzgl. der Kammerbeiträge in den neuen Bundesländern vom 31. Januar 1992. RWWA 181-1808-2. 358 Schriftwechsel des DIHT-Hauptgeschäftsführers mit dem Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Filialbetriebe und Selbstbedienungs-Warenhäuser Nov./Dez. 1992. RWWA 1811808-2. 359 Vermerk zur Besprechung von DIHT und dem Bundesverband der Filialbetriebe und Selbstbedienungs-Warenhäuser bzgl. der Kammerbeiträge in den neuen Ländern vom 25. Januar 1993. RWWA 181-1808-2.
3.4 Die Rolle der westdeutschen Aufbauhelfer
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ständnis dafür geben, dass das Problem an die Vollversammlungen in den neuen Bundesländern zurückverwiesen werde. Der DIHT wolle nichtsdestoweniger auf die Kammern einwirken, ihre Beitragsordnungen zu revidieren. Ziel sei es, die branchenmäßige Ausdifferenzierung der Hebesätze zu verbessern. 3.4 DIE ROLLE DER WESTDEUTSCHEN AUFBAUHELFER Der Begriff der Kolonialisierung diente Zeitgenossen des Aufbaus neuer Institutionen in Ostdeutschland mitunter dazu, die Rolle zu thematisieren, die Experten aus den alten Bundesländern im Transformationsprozess spielten. In den meisten Fällen geschah dies, um Kritik an einer fehlenden Repräsentanz ostdeutscher Interessen zu üben. Das Schlagwort war meist eher moralische als analytische Kategorie; nichtsdestoweniger war seine Verwendung nicht durchgängig negativ.360 In der sozialwissenschaftlichen Debatte entsprach es durchaus der Mehrheitsmeinung, dass es zur Konsolidierung der neuen Institutionen nötig sei, die Werthaltungen in der ostdeutschen Bevölkerung zu verändern – und zwar nach westdeutschem Vorbild. Des Weiteren waren Personaltransfers in der Regel dort von besonderer Bedeutung, wo die alte Ordnung nachhaltig de-legitimiert worden war: In den Ministerialverwaltungen der neuen Länder waren die Innenressorts diejenigen, in denen der Anteil westdeutscher Führungskräfte am höchsten war.361 Mithin relativierte auch dies den etwaigen moralischen Gehalt des Vorwurfs, der umfassende „Import“ von Experten aus dem alten Bundesgebiet habe die Herausbildung einer ostdeutschen Repräsentationselite gehemmt. In Bezug auf die IHKn gingen Diederich, Haag und Cadel davon aus, dass die westdeutschen Aufbauhelfer u. U. versuchen würden, ihren Kompetenzvorsprung zu missbrauchen sowie den neuen Selbstverwaltungen das eigene Organisationsmodell „überzustülpen“.362 Dies habe womöglich Strukturen hervorgebracht, die sich im Lichte des Notwendigen als nicht angemessen erweisen würden. An und für sich erscheint die Vermutung gerechtfertigt, dass die Aufbauhelfer danach streben könnten, die Struktur einer neuen Kammer gemäß den eigenen Vorstellungen zu beeinflussen. Die Rechtfertigung, die die westdeutschen Kammervertreter für ihr Handeln vorbrachten, legte freilich nicht nahe, dass die Problematik eines eventuellen „Überstülpens“ sonderlich groß war. In der Bundesrepublik war man sich erst allmählich bewusst geworden, welche Rolle man für die Entwicklung des Kammerwesens in der DDR spielte. Einen der ersten Berichte aus der sich öffnenden DDR hatte der Hauptgeschäftsführer der IHK Wuppertal-Solingen-Remscheid verfasst. Im Rahmen der Reise einer nordrhein-westfälischen Wirtschaftsdelegation sam360 Baring z. B. sprach 1991 davon, dass Westdeutsche, die in die neuen Bundesländer übersiedelten, vor einer „Kolonisierungsaufgabe“ stünden. Er nutzte den Begriff in diesem Zusammenhang nicht vereinigungskritisch, sondern stellte ihn in ein Verhältnis zur – seines Erachtens, mit Blick auf die Transformation hinderlichen – Prägung der Ostdeutschen durch die SED-Herrschaft. Baring/Rumberg/Siedler, Deutschland, S. 70. 361 Vgl. König, Transformation, S. 44. 362 Diederich/Haag/Cadel: Industrie- und Handelskammern, S. 59.
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3. Die Wiederherstellung der wirtschaftlichen Selbstverwaltung
melte er Eindrücke, die ihn zur Kritik am Auftreten westdeutscher Wirtschaftsvertreter veranlassten: Unternehmen aus der Bundesrepublik seien vorrangig an Geschäften mit großen, leistungsfähigen Industriebetrieben interessiert.363 Bei den privaten Unternehmern in der DDR handele es sich hingegen um Kleinunternehmer, die zugunsten der staatlichen Wirtschaft diskriminiert worden seien. Diese Verhältnisse dürfen unter Zutun der bundesdeutschen Kammerorganisation nicht aufrechterhalten werden. Die Rolle, die westdeutsche Kammervertreter im Gründungsgeschehen der IHKn in der DDR spielten, bestand keineswegs nur darin, „vorhandene Handlungsmuster […] in Form erprobter Organisationskonzepte“364 anzubieten: Allein die Tatsache, dass die westdeutsche Kammerorganisation die neuen IHKn als Partner anerkannte, wertete Letztere politisch auf – im Falle der HGKn hatte der DIHT über Jahrzehnte strikt darauf geachtet, dies nicht geschehen zu lassen. Die Kammern, die auf Initiative von Gewerbetreibenden entstanden, gewannen dadurch an Standfestigkeit, vor allem gegenüber der staatlichen Verwaltung. Auch die Wirtschaftsräte der Bezirke versuchten, Träger eines neuen Kammerwesens zu werden.365 In diesem Wettstreit zwischen „Unternehmer-Kammern“ sowie den alten bürokratischen Apparaten verstanden es die Westdeutschen als ihre Aufgabe, Erstere zu unterstützen. Dies geschah z. B., indem sie in beratender Funktion an den vereinsrechtlichen IHK-Gründungen mitwirkten. Der Hauptgeschäftsführer der IHK Münster, Altekamp, hatte zu diesem Zweck eine vierköpfige Delegation nach Neubrandenburg entsandt. Rückblickend berichtete er dem Präsidenten seiner Kammer, seine Mitarbeiter hätten „hervorragende Arbeit geleistet“: Ohne sie wäre das dort mit Sicherheit schiefgelaufen […]. Inzwischen ist aber eine Situation entstanden, in der die jetzt gewählte Vollversammlung, vor allem auch das jetzt gewählte Präsidium gewillt ist, sich nichts mehr bieten zu lassen.366
Altekamp resümierte, in Neubrandenburg sei die „sauberste Lösung einer Kammergründung“ gelungen: Zum einen werde der gesamte Bezirk von der IHK erfasst, zum anderen sei „von den alten Strukturen total Abstand genommen“ worden. Neben dem Wunsch, den demokratischen Neubeginn mitzugestalten, verband die ostdeutschen Kammergründer und ihre Aufbauhelfer ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Städtepartnerschaften waren von großer Bedeutung für die Entwicklung der deutsch-deutschen Beziehungen. Bisweilen besaßen westdeutsche 363 Schreiben des Hauptgeschäftsführers der IHK Wuppertal-Solingen-Remscheid an den DIHTHauptgeschäftsführer vom 29. Januar 1990. RWWA 181-2478-2. 364 Diederich/Cadel/Haag, Industrie- und Handelskammern, S. 49. 365 In Dresden, wo sich die erste IHK gegründet hatte, versuchte der Bezirkswirtschaftsrat ein „Amt für Wirtschaft“ zu gründen. Die Aufgabenstruktur dieser geplanten Behörde kam derjenigen einer westdeutschen IHK sehr nahe. Die dazugehörige Vorlage, die Anfang März im Rat des Bezirks gelesen werden sollte, lag dem DIHT vor. Konzeption des Wirtschaftsamtes Dresden/Sachsen zur Entwicklung der mittelständischen Industrie in Dresden/Sachsen. RWWA 181-2478-2. 366 Schreiben des Hauptgeschäftsführers an den Präsidenten der IHK Münster vom 9. März 1990 (Anlage zum Bericht der IHK Münster an den DIHT über den Stand des Aufbaus in Neubrandenburg). RWWA 181-1929-2.
3.4 Die Rolle der westdeutschen Aufbauhelfer
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Kammervertreter zudem persönliche Motive, sich für den Aufbau wirtschaftlicher Selbstverwaltungen in Ostdeutschland einzusetzen – dazu zählten etwa familiäre Beziehungen in die SBZ bzw. DDR.367 Gleichwohl konnten Momente der Verbundenheit sowie die prinzipielle Gleichheit der Absichten nicht verhindern, dass es zu Missverständnissen kam – und auf ostdeutscher Seite bisweilen Irritationen hervorgerufen wurden. Dies klang auch auf dem alljährlichen „Kollegentag“ durch, den der Verband der Geschäftsführer deutscher Industrie- und Handelskammern ausrichtete. Im September 1990 nahmen erstmals Vertreter der neuen Kammern am Kongress teil, der sich schwerpunktmäßig mit der Bildung des gesamtdeutschen Kammerwesens befasste. Zu den Rednern auf dem Kollegentag zählte u. a. Wessel de Weldige-Cremer, Hauptgeschäftsführer der IHK Mittlerer Niederrhein. Als Delegierter der Etatkommission des DIHT hatte er kurz zuvor sämtliche IHKn in der DDR besucht und einen Bericht über deren organisatorische Grundprobleme verfasst. Die Frage, ob die Hilfe an die neuen Kammern angemessene Lösungen hervorbringe, war auch aus seiner Sicht zu stellen. Wie er in diesem Zusammenhang äußerte, sei zu hinterfragen, ob man genug über die ostdeutschen IHKn wisse und ob man die Ratschläge, die man erteile, ausreichend prüfe. Er warnte vor der „Gefahr, daß wir zuviel voraussetzen und Kartenhäuser errichten, die dann zum Kummer beider Seiten zusammenbrechen“.368 Die Kommunikation zwischen Ost- und Westdeutschen sei kompliziert und erfordere viel Zeit. De Weldige-Cremer bemerkte, es gebe eine Art „akustische Täuschung“: Es komme vor, dass nicht nur Begriffe, sondern auch die mit ihnen verbundenen Gefühle und Erfahrungen sehr unterschiedlich seien. „Strukturen“ zählte zu den Schlagworten, über die eine Verständigung offenbar schwierig war. Der Hallenser Hauptgeschäftsführer Heimann, selbst Westdeutscher, berichtete, dass die Mehrheit seiner ostdeutschen Kollegen den Begriff verwende, um die Besetzung von Ämtern und Organisationen mit bestimmten Personen – informelle Beziehungen also – zu thematisieren.369 Hingegen verstehe er selbst unter Strukturen üblicherweise „Aufgabenstellungen“. Heimann stellte klar, dass informelle Netzwerke z. T. fortbestünden und Veränderungen zumeist die Aufgabenstellungen beträfen. Im Lichte dessen nahm es nicht wunder, dass u. a. die Lösung, die zur Fortführung von Aufgaben der Außenwirtschaftskammer der DDR gefunden worden war, auf dem Kollegentag zur Sprache kam. Insbesondere der Zweck der Außenwirtschafts-GmbH, die aus diesem Grund geschaffen worden war, stand zur Debatte. DIHT-Hauptgeschäftsführer Schoser erklärte, es habe in der KfA außenhandelsrelevante Daten und Informationen gegeben, „die in den Papierkorb gefallen wären“370, wenn man keinen Weg gefunden hätte, dieses Material zumindest teilweise zu erhalten. In der DDR habe es eine zentralisierte Außenwirtschaftsförderung gegeben, weshalb es in den Kammern noch keine hinreichende Informationsbasis gebe. 367 Interview Heimann; Interview Lindstaedt. 368 Verband der Geschäftsführer deutscher Industrie- und Handelskammern, Kollegentag 1990, S. 52. 369 Ebd. S. 58. 370 Ebd. S. 60.
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3. Die Wiederherstellung der wirtschaftlichen Selbstverwaltung
Kommunikationsdefizite waren freilich nicht die Hauptursache, weshalb das Verhältnis zwischen ost- und westdeutschen Kammern bisweilen angespannt war. De Weldige-Cremer kritisierte, einige Patenkammern erweckten den Anschein, auf bestimmten Gebieten einen „Monopolanspruch“ zu erheben und weitere Ratschläge aus den eigenen Reihen nicht zulassen zu wollen. Es sei uneffektiv und aus Sicht der DDR-Kammern nachteilig, wenn sich die westdeutschen Kammern untereinander nicht abstimmten. Ostdeutsche Kammervertreter forderten Verständnis dafür ein, dass man Entscheidungen selbst treffen wolle bzw. stellten klar, sich „nicht als Zöglinge bestimmter Kammern, sondern als Partner“ all derjenigen zu sehen, die Hilfe leisten wollten.371 Äußerungen wie diese gewannen im Zusammenhang mit der von Diederich, Haag und Cadel dokumentierten Misshelligkeit zwischen der IHK Leipzig sowie der dort federführenden Patenkammer aus Hannover an Bedeutung:372 Die Hannoveraner hatten ein eigenes Büro in Leipzig eröffnet. Es war durchaus üblich, dass westdeutsche Kammern im Rahmen ihrer Aufbauarbeit auch Interessen des eigenen Kammerbezirks in der DDR vertraten, etwa indem sie für Unternehmenskooperationen warben.373 Dies erfolgte in der Regel einvernehmlich, unter dem Dach der ostdeutschen IHKn. Die Hannoveraner indessen betrieben ihr Büro unter eigenem Namen, am Sitz des Bezirksrats. Hierdurch entstand der Eindruck einer „Zweigniederlassung“ in einem fremden Kammerbezirk. Das Verhältnis zur neu gewählten Leitung der IHK Leipzig, die eine Vereinnahmung der Kammer durch den Rat des Bezirks zu verhindern versuchte, wurde durch diese Episode einer schweren Belastungsprobe unterzogen.374 Trotz nicht auszuschließender Differenzen zwischen ost- und westdeutschen Kammern ließ sich aber nicht behaupten, dass die Ersteren den Letzteren ausgeliefert waren. So erklärte der Hauptgeschäftsführer der IHK Leipzig, Manegold, man habe von Beginn an versucht, eigene Wege zu gehen und sich nicht allein an westdeutschen Vorbildern zu orientieren.375 Eine „Monopolstellung“ einzelner Aufbauhelfer ließ sich gegen das Einvernehmen der ostdeutschen Akteure letztlich auch deshalb kaum durchsetzen, weil die Zahl der Helfer tendenziell größer war als die Zahl der Hilfsempfänger.376 Im Konfliktfall waren die ostdeutschen Akteure daher in der Lage, sich eine neue Patenkammer zu suchen. In der Literatur blieb die Bewertung der Aufbauhelfer in moralischen Kategorien verhaftet. Dies änderte sich keineswegs dadurch, dass die Frage der Adäquanz der übertragenen Strukturen hervorgekehrt wurde: Das Urteil darüber, was eine angemessene Struktur war, fiel je nach Blickwinkel unterschiedlich aus. Das Auftreten der IHK Würzburg-Schweinfurt, so Diederich, Haag und Cadel, sei aus Sicht 371 372 373 374 375 376
Ebd. S. 59. Diederich/Haag/Cadel, Industrie- und Handelskammern, S. 68–72. Interview Hoschke. Vgl. Göschel, Handelshochschule, S. 234. Manegold, Industrie- und Handelskammern, S. 106 f. Nach einem halben Jahr meldete lediglich die IHK Saarbrücken, dass es in Cottbus einen Mangel an Helfern gebe. Insgesamt kam der DIHT daher zu einer positiven Bewertung des Patenkonzepts. Schreiben des DIHT-Hauptgeschäftsführers an die Hauptgeschäftsführer der Patenkammern vom 6. September 1990. RWWA 181-1886-3.
3.4 Die Rolle der westdeutschen Aufbauhelfer
125
der Gründungsunternehmer der IHK Suhl (später: IHK Südthüringen) positiv bewertet worden.377 Demgegenüber seien die Aktivitäten anderer West-Kammern nicht erwünscht gewesen, da diese Abspaltungsbestrebungen unterstützt hätten. Die hier erwähnten anderen Kammern übten gleichwohl heftige Kritik an der Federführung der IHK Würzburg-Schweinfurt. So echauffierte sich der Hauptgeschäftsführer der IHK Fulda, Heymel, beim DIHT, dass es unter einigen federführenden WestKammern sowie anderen, „die sich hierzu berufen fühlen“, die Tendenz gebe, den ostdeutschen IHKn ihre Strukturen „überzustülpen“.378 Heymel kritisierte die geplante Schließung von Kreisgeschäftsstellen im Bezirk Suhl, die er im Zusammenhang mit Personaleinstellungen in der Hauptgeschäftsstelle als unangebrachte Konzentration anprangerte. Die HGKn hatten, gemessen an IHKn in der Bundesrepublik, außergewöhnlich viele Geschäftsstellen. Die Warnung, die Vertretung in der Fläche sei gefährdet, wurde nicht nur vor diesem Hintergrund relativiert: Der Suhler Bezirk war der flächenmäßig zweitkleinste in der DDR, nach Ost-Berlin. Der Konflikt zwischen den Patenkammern im südthüringischen Raum hatte daher nur bedingt etwas mit den dortigen Verhältnissen zu tun. Zum Gutteil ließen sich die Auseinandersetzungen auf die strukturellen Unterschiede im bundesdeutschen Kammerwesen zurückführen. Diese waren beträchtlich:379 Es gab Kammern, die über 100.000 Unternehmen vertraten, – die IHK München-Oberbayern sogar über 200.000; in anderen IHKBezirken lag die Zahl der zugehörigen Unternehmen hingegen unter 20.000. Auch flächenmäßig spannte eine gewaltige Kluft zwischen großen und kleinen Kammern. Vor diesem Hintergrund bestand keine einhellige Auffassung darüber, welche Gestalt einer wirtschaftlichen Selbstverwaltung „angemessen“ war. Zu den Anrainern des Bezirks Suhl zählte die IHK Coburg, eine der kleinsten IHKn in der Bundesrepublik. Die Coburger halfen bei Aufbau mehrerer Geschäftsstellen neuer Kammern. So auch im von Coburg knapp 20 Kilometer entfernten Sonneberg. Ende März 1990 berichtete der Coburger Hauptgeschäftsführer an den DIHT, seine Kammer sei einer „Flut täglich […] einströmender schriftlicher Anfragen und persönlicher Vorsprachen“ ausgesetzt.380 Alle Abteilungen seines Hauses seien in die Bearbeitung einbezogen. Er führte weiter aus: Die Wiederbegründung einer staatsunabhängigen Industrie- und Handelskammer SonnebergHildburghausen läuft mit unserer Hilfe auf schnellen Touren.381
In diesem Zusammenhang ergänzte er, dass die „ideellen und sachlichen Investitionen“ der IHK Coburg „nicht verfehlt“ seien, wenn sich im Nachhinein erweisen sollte, dass IHKn in der DDR nur auf bezirklicher Ebene anerkannt würden. In
377 Diederich/Haag/Cadel, Industrie- und Handelskammern, S. 80 f. 378 Schreiben des Hauptgeschäftsführers der IHK Fulda an den DIHT-Hauptgeschäftsführer vom 13. Dezember 1990. RWWA 181-2468-1. 379 Vgl. Groser/Sack/Schroeder, Industrie- und Handelskammern, S. 72. 380 Schreiben des Hauptgeschäftsführers der IHK Coburg an den DIHT-Hauptgeschäftsführer zum Stand der Arbeit in der DDR vom 28. März 1990. RWWA 181-2480-3. 381 Ebd.
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3. Die Wiederherstellung der wirtschaftlichen Selbstverwaltung
diesem Fall sei „eben an der Errichtung einer freien Kreisgeschäftsstelle mitgewirkt worden“. Bei Weitem nicht jede „Kleinkammer“ nahm eine konziliante Haltung ein, wenn die Angemessenheit kleinräumiger Kammerstrukturen zur Debatte stand. In Thüringen hatte es bis in die Weimarer Zeit eine relativ große Zahl an IHKn gegeben.382 Dies galt in ähnlicher Weise für Hessen, wo die kleinräumige Struktur nach 1945 revitalisiert worden war.383 1990 konzentrierten die hessischen IHKn ihre Aufbauhilfe auf den benachbarten thüringischen Raum.384 Es war somit kein Zufall, dass der Konsens, die Kammern in der DDR innerhalb vorhandenen territorialen Strukturen aufzubauen, allem dort brüchig war. Dies zeigte sich u. a. im Rahmen der schriftlichen Beschlussfassung der DIHT-Vollversammlung; das DIHT-Präsidium ließ die Mitglieder im Sommer 1990 über den Beitritt der DDR-Kammern abstimmen. Der entsprechende Beschlussantrag enthielt eine Passage, wonach nur eine IHK je DDR-Bezirk aufgenommen werden könne. Die Vollversammlung stimmte mit großer Mehrheit zu. Ablehnend votierten lediglich zwei Kammern: Die IHK Bayreuth befürchtete, der Antrag des DIHT-Präsidiums sei nicht hinreichend klar formuliert. Abspaltungen – etwa die IHK Zwickau – könnten sich im Falle einer Neugliederung der Verwaltungsstruktur womöglich trotzdem auf den Beschluss berufen, um eine Aufnahme in den DIHT zu erwirken.385 Als zweites Mitglied der DIHT-Vollversammlung stimmte die IHK Wetzlar gegen den vorgelegten Beschlussantrag. Die Kammer war u. a. in Ilmenau aktiv, wo es eine Kreisgeschäftsstelle der IHK Suhl gab. Das Wetzlarer Präsidium begründete seine Ablehnung damit, zahlreiche Gespräche in der DDR geführt zu haben. Im Rahmen dessen hätten Unternehmer großes Unverständnis dafür gezeigt, nicht in die Neuregelung des Kammerwesens einbezogen worden zu sein. Es sei nicht das Anliegen der DDR-Bürger gewesen, eine „autoritäre Institution durch eine andere zu ersetzen“386, als sie im Herbst 1989 politische Veränderungen in die Wege geleitet hätten. Präsident sowie Hauptgeschäftsführer der IHK Wetzlar bezeichneten es überdies als „gravierend“, dass „die neuen Anweisungen autoritär von außerhalb“ erlassen würden. Dem fügten sie hinzu, dass die Identifikation der Unternehmer mit „ihrer Kammer“ wichtig sei. Daher müsse auch berücksichtigt werden, wie der Zuschnitt der Kammerbezirke bis zur Neugliederung in der Zeit des Nationalsozialismus gewesen sei.
382 Neben Erfurt, Gera und Suhl gab es gleich vier Städte, in denen es historische IHKn gegeben hatte: Mühlhausen, Nordhausen, Sonneberg und Weimar. 383 Neben den größeren IHKn in Darmstadt, Frankfurt am Main, Kassel und Wiesbaden gab es in Hessen mehrere kleinere Kammern in Fulda, Wetzlar, Dillenburg, Limburg, Darmstadt, Gießen, Offenbach und Hanau. 384 Arbeitsgemeinschaft Hessischer Industrie- und Handelskammern (Hg.): Die DDR-Aktivitäten der hessischen Industrie- und Handelskammern im ersten Halbjahr 1990. Frankfurt am Main 1990. 385 Schreiben des Hauptgeschäftsführers der IHK Bayreuth an den DIHT-Hauptgeschäftsführer vom 16. Juli 1990. RWWA 181-2476-2. 386 Schreiben des Präsidenten sowie des Hauptgeschäftsführers der IHK Wetzlar an den DIHTHauptgeschäftsführer vom 16. Juli 1990. RWWA 181-2476-2.
3.4 Die Rolle der westdeutschen Aufbauhelfer
127
Es war durchaus möglich, die Frage der Angemessenheit auf sachlicher Grundlage zu diskutieren. Kleine Kammern sind keine „Miniaturen“ großer IHKn. Tendenziell nimmt die wirtschaftliche Heterogenität eines Kammerbezirks mit der Zahl der zugehörigen Unternehmen zu. Es lässt sich somit unterstellen, dass IHKn mit wenigen Mitgliedern ein weniger differenziertes Funktionsspektrum aufweisen. Großen Kammern bietet sich demgegenüber eher die Möglichkeit, freiwillige Zusatzleistungen – etwa Weiterbildungsangebote – anzubieten und diese durch Gebühren zu refinanzieren. Insgesamt lässt sich die Finanzierung der IHK dadurch unabhängiger von Beiträgen gestalten bzw. kann stärker danach ausgerichtet werden, inwieweit Leistungen der Selbstverwaltung in Anspruch genommen werden. Befürworter eines solchen Modells verweisen auf die Kritik an der Beitragspflicht. Dem müssten die Kammern durch eine erhöhte Orientierung am ökonomischen Nutzen der Mitglieder begegnen.387 Gegen dieses Argument, das eher für große IHKn spricht, lässt sich einwenden, dass auch kleine Kammern spezifische, interessenökonomisch bedingte Organisations- und Akzeptanzvorteile haben: Die Integrationsfähigkeit von IHKn wird nicht zuletzt durch die große Heterogenität ihrer Mitglieder beschränkt.388 In Bezirken, deren Wirtschaftsstruktur relativ homogen ist, fällt es daher leichter, das gewerbliche Gesamtinteresse zu bestimmen. Kleine Wirtschaftsräume ermöglichen es Unternehmern daher eher, sich mit „ihrer“ Kammer zu identifizieren. Der Konflikt zwischen kleinen und großen Kammern wurde im September 1990 formell beigelegt. Die Aufbauhelfer einigten sich auf die Formel, Flächenkammern seien so zu organisieren, dass eine Identifikation überall möglich sei.389 Von den Kammern in den neuen Bundesländern gingen in späterer Zeit mehrere Impulse für die Weiterentwicklung der IHKn in den alten Bundesländern aus. Dies galt auch für die Vereinbarung von Effizienz und Identifikation: Die IHK Wetzlar fusionierte 1999 mit der IHK Dillenburg; in Gießen und Friedeberg entstand im selben Jahr ebenfalls eine gemeinsame IHK.
387 Z. B.: Flothow, Zukunft, S. 45. 388 Vgl. Henneberger, Theorien, S. 129 f. 389 Protokoll der Sitzung des DIHT-Hauptgeschäftsführers mit den Hauptgeschäftsführern der Patenkammern in Bonn vom 5. September 1990. RWWA 181-1886-3.
4. DIE REORGANISATION DER WIRTSCHAFT ALS HERAUSFORDERUNG AN DIE INDUSTRIEUND HANDELSKAMMERN 4.1 INDUSTRIE- UND HANDELSKAMMERN ALS TRÄGER STAATLICHER AUFGABEN: TRANSFORMATION DER BERUFLICHEN BILDUNG 4.1.1 Die Erlangung der Zuständigkeit für die berufliche Bildung Die Modrow’sche Verordnung vom März 1990 definierte die IHKn als unternehmerische Interessenvertretungen und hatte ferner bestimmt, dass diese eine demokratische Binnenstruktur aufweisen mussten. Hiermit war die Regierung der DDR den Forderungen privater Unternehmer nachgekommen. Die Entstehung der Kammern ließ sich daher als Teil einer „endogenen Transformation“1 deuten. Lehmbruch unterschied zwei Phasen des Systemwechsels in der DDR: Zunächst habe es eine eigenständige Rezeption demokratischer Basisinstitutionen durch die neuen politischen Eliten Ostdeutschlands gegeben. Erst im Anschluss daran, im Kontext der Vorbereitungen auf den Beitritt zur Bundesrepublik nach Art. 23 GG, sei der „Institutionentransfer“ zum Paradigma des Übergangs zu demokratisch-marktwirtschaftlichen Verhältnissen geworden. Hierbei sei die Intention, komplexe Handlungssituationen zu vereinfachen, von entscheidender Bedeutung gewesen. Der Institutionentransfer habe es ermöglicht, Probleme zu bearbeiten. Konkret geschah dies, indem bundesdeutsches Recht, dazugehörige Verwaltungsverfahren etc., im großen Stil auf die DDR übertragen wurden. Eines der Ordnungsgebiete, dessen Bestimmungen im Zuge der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion bzw. in Vorbereitung der Wiedervereinigung von Westnach Ostdeutschland transferiert wurde, war die Berufsbildung. Hierbei handelte es sich um eine öffentliche Aufgabe, die in der Bundesrepublik im Berufsbildungsgesetz (BBiG) geregelt war. Das BBiG bestimmte die IHKn als „zuständige Stellen“, die die Berufsbildung in nichthandwerklichen Gewerbeberufen durchzuführen hatten. Aus Sicht der Kammern war diese Verantwortlichkeit von großer Bedeutung. Sie kennzeichnete das Kammerwesen der Bundesrepublik nicht nur nach außen, gegenüber Kammertraditionen anderer Länder, sondern festigte auch die Rolle der Kammern als gewerbliche Gesamtinteressenvertretung. Als hoheitliche Aufgabe sorgte die Zuständigkeit für die Berufsbildung ferner für ein gewisses Maß an Homogenität: Die Leistungen der IHKn waren hier noch am ehesten miteinander vergleichbar.2 Wegen der großen Personalstärke, ihrer Bedeutung für die Wirtschaft
1 2
Lehmbruch, Transformation, S. 75. Vgl. Groser/Sack/Schröder, Industrie- und Handelskammern, S. 72 f.
4.1 Industrie- und Handelskammern als Träger staatlicher Aufgaben
129
sowie der Aufmerksamkeit, die ihre Arbeit auch darüber hinaus erzeugte, waren Bildungsabteilungen oftmals das Herzstück einer Kammer. Der DIHT hatte das Ziel ausgegeben, für eine einheitliche Entwicklung des Kammerwesens in West- und Ostdeutschland zu sorgen. Dies geschah bereits kurz nachdem deutlich geworden war, dass es in der DDR zu einer Wiederbelebung freier Kammern kommen würde.3 Auf westdeutscher Seite gab es durchaus ein Eigeninteresse, „Sonderentwicklungen“ in Ostdeutschland entgegenzuwirken. Speziell mit Blick auf die Wiedervereinigung, so befürchtete man, könne es sonstigen Falls zum Wiederaufbrechen alter Konflikte um die Stellung der IHKn kommen.4 Deshalb forderten sowohl die IHKn in der Bundesrepublik als auch in der DDR frühzeitig, auch Letzteren Kompetenzen für die Berufsausbildung zu übertragen. Aus Sicht der neuen Kammern war ein solcher Aufgabenzuwachs ebenfalls wünschenswert; er bot Gelegenheit, die eigene Bedeutung gegenüber der staatlichen Verwaltung herauszustellen und verbesserte die Chancen, sich langfristig zu konsolidieren. Erstmals dachte man im DIHT bereits Ende 1989 darüber nach, wie die berufliche Bildung in der DDR organisiert war und ob eine Zusammenarbeit mit den dort zuständigen Stellen möglich sei. In diesem Kontext entwarf man das Planspiel, entsprechende Kompetenzen an eine entstehende wirtschaftliche Selbstverwaltung zu delegieren.5 Diese Überlegungen waren als Vorschlag an die Modrow-Regierung gedacht. Ihre Realisierung konnte freilich als ungewiss gelten, denn das Bildungswesen in der DDR stand gemeinhin nicht im Ruf, unterentwickelt zu sein; auch in Bezug auf die berufliche Bildung war dies nicht der Fall. Die Opposition in der DDR hatte vor allem die weltanschauliche Ausrichtung des Bildungssystems kritisiert.6 Organisatorische Aspekte spielten dabei nur eine Nebenrolle. Gleichwohl wurde im Zuge der Debatte über die Neuausrichtung von Wirtschaft und Gesellschaft deutlich, dass auch die berufliche Bildung reformbedürftig war. Die Berufsausbildung hatte sich in der DDR aus den gleichen Grundlagen entwickelt, aus denen auch die duale Ausbildung der Bundesrepublik hervorgegangen war. Eine grundlegende Gemeinsamkeit beider Systeme bestand daher darin, dass sie am Berufsprinzip orientiert waren.7 Lernorte waren in vielen Industrieberufen sowohl der Arbeitsplatz im Betrieb als auch die Berufsschule. Theoretischer und berufspraktischer Unterricht waren in der DDR, anders als in der Bundesrepublik, einheitlich organisiert. Sichtbar war dies u. a. am Schulungsmaterial, in dem beide Bereiche gemeinsam behandelt wurden. Die Kombinate nahmen eine besondere Rolle 3 4 5 6 7
Protokoll der Sitzung zur Koordinierung der Kammeraktivitäten mit Blick auf die DDR-IHK’n vom 19. Februar 1990 in Bonn. RWWA 181-1929-2. Schreiben des Hauptgeschäftsführers der IHK Frankfurt am Main an den DIHT-Hauptgeschäftsführer vom 18. April 1990. RWWA 181-1806-1. Übertragung von Aufgaben in der Berufsausbildung auf zu errichtende Industrie- und Handelskammern in der DDR (Konzept, Stand 4. Januar 1990). RWWA 181-1806-1. Zum Überblick: Fuchs/Reuter, Einführung, S. 11 ff. Vom Berufsprinzip lässt sich das Kompetenzprinzip abgrenzen. Das Kompetenzprinzip wird charakterisiert durch individuelle Gestaltungsmöglichkeiten von Qualifikationsprofilen. Berufsfachliche Qualifikationsprofile zielen auf entsprechende betriebsexterne Teilarbeitsmärkte. Vgl. Hellwig, Vereinbarkeit, S. 270.
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4. Die Reorganisation der Wirtschaft als Herausforderung
ein: Sie waren häufig Träger sowohl einer Lehrwerkstatt als auch einer Berufsschule. Planung und Kontrolle der Ausbildung erfolgten staatlicherseits. Aus Sicht der Auszubildenden hatte dieses System mitunter den Nachteil, dass die Freiheit der Berufswahl eingeschränkt war.8 Auf Initiative der Modrow-Regierung war es auf ministerieller Ebene bereits zu einem deutsch-deutschen Austausch über Fragen der beruflichen Bildung gekommen. Erste Treffen folgten im März 1990, unter Beteiligung von Wirtschaftsverbänden, auch dem DIHT, und Gewerkschaften.9 In der DDR gab es ein erhebliches Interesse am Ausbildungswesen der Bundesrepublik, da die Planwirtschaft eine einseitige Wirtschaftsstruktur hervorgebracht hatte, die u. a. mit Defiziten in der Ausbildung verbunden war. Die DDR-Wirtschaft sollte stärker zum Weltmarkt geöffnet werden. Daher bestand Nachholbedarf, u. a. bei Dienstleistungsberufen kaufmännischer Art.10 In Industrieberufen war dies nur z. T. der Fall, da die Ausbildung hier stärker traditionell geprägt war und die Vermittlung technischer Fertigkeiten breiten Raum einnahm. An einem Erfahrungsaustausch war die DDR-Regierung in erster Linie dort interessiert, wo die technologische Entwicklung in der Bundesrepublik weiter fortgeschritten war. Zu einem Austausch über organisatorische Fragen kam es im März 1990 nicht. Die politische Entscheidung darüber, wie die berufliche Bildung in der DDR künftig strukturiert sein würde, war noch nicht gefallen.11 In der IHK-Verordnung gab es zwar einen Passus, der die Kammern anwies, „Maßnahmen zur Förderung und Durchführung der kaufmännischen und gewerblichen Berufsausbildung unter Beachtung der geltenden Rechtsvorschriften“12 zu treffen. Hierbei aber handelte es sich um eine Generalklausel, die aus dem bundesdeutschen IHKG übernommen worden war. Sie war wirkungslos, solange das geltende Recht keine Zuständigkeit der Kammern vorsah. Der DIHT hatte vorgeschlagen, die Kammerverordnung um eine Formulierung zu erweitern, die die Aufgaben der IHKn in der Berufsbildung konkretisierte. Der Ministerrat war dieser Anregung allerdings nicht gefolgt.13 Im Vorfeld der Volkskammerwahl vom 18. März 1990 erschien die Leipziger Erklärung der IHKn der Bundesrepublik und der DDR. Sie war unter Mitwirkung des DIHT zustande gekommen. Hierin empfahlen die Kammern der künftigen Regierung der DDR eine Wirtschaftspolitik, die dem Beispiel der Bundesrepublik folgte. In der Erklärung forderte man unterdessen nicht, das bundesdeutsche BBiG zu übernehmen. Im Papier hieß es eher zurückhaltend, in der Berufsausbildung sollte „ein praxisnahes System“14 gesichert werden. In den darauffolgenden Wo8 9 10 11
12 13 14
Vgl. Biermann, Berufsausbildung, S. 60 ff. Raddatz, Chronologie, S. 8. BMBW, Berufsbildungsbericht 1992, S. 70 ff. Der Runde Tisch befasste sich im März 1990 mit dem Thema. Der dem alten Regime nahestehende FDGB forderte, eine Übernahme des bundesdeutschen Ausbildungssystems ausdrücklich auszuschließen. Antrag des FDGB zur Sicherung der Berufsausbildung. BArch DA 3/96 (S. 42). § 2 der Verordnung über die Industrie- und Handelskammern der DDR. In: GBl. der DDR I, 1990, S. 113. Raddatz, Chronologie, S. 7. Die Leipziger Erklärung, die west- und ostdeutsche IHKn im Rahmen der Leipziger Frühjahrsmesse veröffentlichten, enthielt z. B. die Forderung nach einer Übernahme der dualen Berufs-
4.1 Industrie- und Handelskammern als Träger staatlicher Aufgaben
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chen veränderte sich das politische Klima rasch. Daran zeichneten andere Akteure in erheblichem Maße mitverantwortlich; auch sie stellten sich darauf ein, dass in der DDR grundlegende Weichenstellungen bevorstanden: IG Metall-Vorstand Karlheinz Hiesinger meldete sich Anfang April im Handelsblatt zu Wort und forderte energische Maßnahmen, um die Ausbildungsstrukturen der DDR zu erhalten.15 Er unterstrich dies, indem er vor dem Szenario einer im Herbst stark steigenden Jugendarbeitslosigkeit warnte. Es gab tatsächlich Anzeichen dafür, dass dies nicht untertrieben war: Die Modrow-Regierung hatte die Entscheidungsfreiheit der Kombinatsdirektoren vergrößert. Betriebe gingen in der Folge u. a. dazu über, Lehrverträge wieder aufzulösen, die kurz zuvor für das im September 1990 beginnende Lehrjahr geschlossen worden waren. Zu den ersten Maßnahmen der Regierung de Maizière zählte es daher, die Schließung von betrieblichen Ausbildungskapazitäten zu untersagen bzw. an strenge Voraussetzungen zu binden.16 Hiesinger hatte seinen Vorstoß zweifellos kalkuliert und auch die anstehende Wiedervereinigung nach Art. 23 GG im Blick. Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland wurde eine alte Auseinandersetzung zur beruflichen Bildung auf einen neuen Schauplatz übertragen: Das BBiG war 1969 weniger als Konsens denn als Kompromiss zwischen entgegengesetzten Positionen von Arbeitnehmervertretern und Wirtschaftsverbänden zustande gekommen.17 Es regelte u. a. die Kompetenzen, die IHKn bei der Ausbildung in Industrie und Handel hatten. 20 Jahre nach der Bekanntmachung des Gesetzes sah die IG Metall indes wenig Anlass, die Leistungen des BBiG zu würdigen. Die Gewerkschaft legte im Februar 1990 ein Positionspapier vor; es trug den Titel „Wir brauchen eine bessere berufliche Bildung – Eckpunkte einer Reform des Berufsbildungsgesetzes“. Darin forderte sie u. a. einen Rechtsanspruch auf qualifizierte Ausbildung, eine stärkere Rolle des Staates in der beruflichen Bildung und paritätische Mitbestimmung auf allen Ebenen.18 IG Metall-Funktionär Hiesinger kritisierte die Kammern öffentlich. In Vorträgen hielt er sie dafür verantwortlich, dass viele Berufe wenig zukunftsträchtig seien und dass es häufig zu Fehlausbildungen komme.19 Zu den Forderungen
15 16 17 18 19
ausbildung durch die DDR. Sie war hier eingebettet in einem wirtschaftspolitischen Gesamtprogramm, dessen Sinn und Zweck noch stark in der Profilierung der Kammern als Gesprächspartner der nächsten Regierung bestanden hatte. Gespräch mit dem IG Metall-Bildungsexperten Hiesinger über berufliche Bildung im vereinten Deutschland. In: Handelsblatt, 11. April 1990. Beschluss über den Erhalt von betrieblichen Kindergärten, polytechnischen Zentren und Kapazitäten der Berufsausbildung vom 25. April 1990. BArch DC-I/3/2946 (S. 16–48). Vgl. Herkner, Aufgabe. Vgl. Raddatz, Berufsbildung, S. 330 f. Am 30. Januar 1990 hatte Hiesinger einen Vortrag mit dem Titel: „Die Industrie- und Handelskammern: Öffentlich-rechtliche Einrichtungen oder Unternehmer-Lobbyisten?!“ gehalten, worin er schwere Vorwürfe gegen die IHKn erhob: Diese hätten sich nie auf die Zusammenarbeit mit Arbeitnehmervertretern in den Berufsbildungsausschüssen eingestellt. Auch deshalb forderte er die Abschaffung der Kammern als zuständige Stellen für die Berufsausbildung. Die IHK Osnabrück-Emsland erhielt Kenntnis über den Vortrag und leitete das Manuskript an den DIHT weiter. Präsident Stihl nahm daraufhin Stellung und wies die Vorwürfe dezidiert zurück. Schreiben des DIHT-Präsidenten Stihl an IG Metall-Vorstandsmitglied Hiesinger vom 27. April 1990. RWWA 181-1813-2.
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4. Die Reorganisation der Wirtschaft als Herausforderung
des Gewerkschafters zählte insbesondere, die Kammern als zuständige Stellen im BBiG abzuschaffen. Gegenüber dem Handelsblatt schlug Hiesinger vor, entsprechende Kompetenzen in der DDR auf eine neu aufzubauende Arbeitsverwaltung zu übertragen. Ein duales System nach bundesdeutschem Vorbild lasse sich dort „nicht über Nacht“20 installieren. Die IHKn sowie der DIHT wurden durch die Äußerungen des IG Metall-Vorstands alarmiert. In der Hauptgeschäftsführer-Konferenz vom 4. Mai räumte DIHTHauptgeschäftsführer Schoser ein, dass alle Anwesenden von diesem Interview „aufgeschreckt“21 worden seien. Die Kammerorganisation ging in der Folge dieser Ereignisse dazu über, eine möglichst weitreichende Übernahme des BBiG durch die DDR zu fordern. Schoser rief die Patenkammern auf, die neuen IHKn intensiver beim Aufbau von Berufsbildungsabteilungen zu unterstützen; in der DDR reklamierten die IHKn nun nachdrücklich Kompetenzen in der beruflichen Bildung.22 Die Vereinigungsverhandlungen erreichten Mitte Mai den Stand, dass die DDR den „Ordnungsrahmen“ der Bundesrepublik in der Berufsausbildung übernehmen sollte. Damit waren die bundesdeutsche Berufsstruktur samt den zugehörigen Ausbildungsordnungen sowie einzelne Teile des BBiG gemeint. Im Vertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion verpflichtete sich die DDR, entsprechende Regelungen zu beschließen. Der DIHT konzentrierte sich im Mai darauf, eine über jene Bestimmungen hinausgehende Übernahme möglichst des gesamten bundesdeutschen Berufsbildungsrechts zu erreichen. DIHT-Präsident Stihl strich gegenüber führenden Politikern beider deutscher Staaten heraus, dass Maßnahmen zur Erhaltung der Lehrlingsausbildung gestärkt werden müssten. Dazu sei es nötig, die Kammern zu unterstützen, die bereits in Eigenregie Vorbereitungen getroffen hätten.23 Während der darauffolgenden Wochen deuteten politische Signale darauf hin, dass die Regierung der DDR willens war, die Wünsche der Kammern zu berücksichtigen. Freilich herrschte noch Klärungsbedarf: nicht allein bei der Frage, ob und in welchem Ausmaß die DDR sich das bundesdeutsche Berufsbildungsrecht aneignete, sondern auch bei den Zeithorizonten, in denen dies geschehen sollte. Deutlich wurde dies am 18. Mai, während einer Besprechung der Bundesministerien für Wirtschaft (BMWi) sowie für Bildung und Wissenschaft (BMBW) mit Vertretern der Länder, Gewerkschaften und dem DIHT: Das BMWi vertrat den Standpunkt, dass das neue Berufsbildungsrecht in der DDR unmittelbar, noch vor Beginn des neuen Lehrjahres in Kraft treten solle. Der DIHT argumentierte dagegen an der Seite des BMBW, das eine einjährige Übergangszeit für erforderlich hielt. Während dieser Zeit sollten Ausbildungen noch nach alten Ordnungen aufgenommen und beendet werden können.24 Der Dachverband der Kammern legte dar, dass viele 20 21 22 23 24
Gespräch mit dem IG Metall-Bildungsexperten Hiesinger über berufliche Bildung im vereinten Deutschland. In: Handelsblatt, 11. April 1990. Protokoll der DIHT-Hauptgeschäftsführer-Konferenz in Bonn vom 4. Mai 1990. RWWA 1811885-3. Raddatz, Chronologie, S. 13 f. Ebd. S. 15 f. Ebd. S. 17.
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Verträge für das neue Lehrjahr bereits geschlossen seien. Außerdem müsse man die Voraussetzungen in den Betrieben berücksichtigen. Diese seien noch nicht ausreichend, um westdeutsche Ausbildungsordnungen ohne Ausnahmen in Kraft setzen zu können. Der DIHT plädierte nichtsdestoweniger dafür, laufende Verträge umzustellen, sobald die Voraussetzungen erfüllt seien. Die Planungen der DDR-Regierung bewegten sich auf die vom DIHT vertretene Position zu: Am 4. Juli stellte der Ministerrat in der Volkskammer einen Beschlussantrag, der inhaltlich weit über Festlegungen hinausging, die im Vertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion getroffen worden waren.25 Das BBiG sollte bis auf kleine Ausnahmen – sie betrafen in erster Linie die Eignungsprüfung für Ausbilder – in Kraft gesetzt werden. Der Antrag sah keine Übergangsfrist vor und wollte die bundesdeutschen Ausbildungsordnungen unmittelbar für verbindlich erklären. Für bestehende Verträge war allerdings eine Sonderregelung vorgesehen. In Art. 3, Satz 7 hieß es, Altverträge seien gemäß bestehenden Vorschriften zu erfüllen, „es sei denn, die Parteien des Vertrages vereinbaren eine Fortsetzung der Berufsausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf im Sinne des BBiG oder der HwO“.26 Im Bildungsausschuss der Volkskammer wurde dieser Antrag nicht unwesentlich verändert. Die SPD hatte sich die gewerkschaftliche Kritik am BBiG zu eigen gemacht und bemängelte grundsätzlich fehlende Kontrolle der „Unternehmerkammern“27, zu schwach ausgestaltete staatliche Kompetenz in der beruflichen Bildung und Chancenungleichheit für benachteiligte Gruppen. Einen eigenen Vorschlag legten die Sozialdemokraten nicht vor; dies hätte angesichts der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse keinen Erfolg versprochen. Änderungsvorschläge der SPD zielten nicht auf eine abgeschwächte, sondern auf eine forcierte Implementierung des westdeutschen Rechts. Erfolg hatte sie darin, die grundsätzliche Festlegung zu bestehenden Verträgen umzukehren. Auf Antrag der SPD verschwand die Übergangsregelung, wonach jene nach den alten Ausbildungsordnungen zu Ende geführt werden sollten. Die Volkskammer beschloss am 19. Juli ein Inkraftsetzungsgesetz (IGBBiG), in dem es hieß: Bei Inkrafttreten dieses Gesetzes bestehende Lehrverhältnisse werden nach den neuen Vorschriften zu Ende geführt, es sei denn, daß die Durchführung nach den neuen Vorschriften nicht möglich ist oder der Lehrling eine Fortsetzung nach den bisherigen Vorschriften ausdrücklich wünscht. Sofern die Beendigung des Lehrverhältnisses nach den neuen Ausbildungsordnungen im bisherigen Betrieb nicht möglich ist, ist das zuständige Arbeitsamt und die zuständige Stelle verpflichtet, den Lehrling zu unterstützen, einen neuen Ausbildungsbetrieb zu finden, der die Ausbildung nach den neuen Ausbildungsordnungen fortsetzt.28
Diese Neufassung griff nicht nur in Verträge ein, die zum neuen Lehrjahr geschlossen worden waren, sondern machte schon am Tag ihrer Veröffentlichung die Ände25 26 27 28
Antrag des Ministerrates der DDR über die Inkraftsetzung des Berufsausbildungsgesetzes der BRD in der DDR. Volkskammer-Drucksache 10/121. Ebd. Stellungnahme der Arbeitsgruppe Bildung der SPD-Fraktion in der Volkskammer. BArch DA 1/17567 (S. 102). Gesetz über die Inkraftsetzung des Berufsbildungsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland in der Deutschen Demokratischen Republik (IGBBiG). In: GBl. der DDR I, 1990, S. 907–919.
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rung nahezu sämtlicher Altverträge erforderlich. In allen laufenden Ausbildungen, unabhängig von Beginn oder Ende der Lehrzeit, waren damit Prüfungen nach den Richtlinien des BBiG abzulegen. Die betrieblichen Voraussetzungen ließen sich nunmehr nur noch berücksichtigen, indem die Kammern befristete Ausnahmen von den gesetzlichen Ausbildungsordnungen zulassen konnten, wenn technische Anforderungen noch nicht erfüllt waren. Einen Passus im Antrag der SPD, diese Befristung nur für ein Jahr zuzulassen, übernahm die Volkskammer nicht. Vor dem Hintergrund lauter werdender Forderungen nach einer Reform des BBiG war es überraschend, dass es ausgerechnet auf Betreiben der Sozialdemokraten dazu kam, dass bei der Einführung des Gesetzes von weiteren Ausnahmen abgesehen wurde. In der DDR war mit etwa 130.000 ausbildungsinteressierten Schulabgängern zu rechnen.29 Das Gesetz erschien am 13. August 1990, nur dreieinhalb Wochen vor Beginn des neuen Lehrjahres. Die Gefahr von Turbulenzen infolge von Fehl- oder Falschinformationen war daher groß. Das Ministerium für Bildung und Wissenschaft der DDR bestätigte diese Befürchtung: Es erließ am 31. Juli 1990, zwölf Tage nach dem Volkskammerbeschluss, seine alljährlichen „Anweisungen zur Organisation und zum Ablauf des Lehr- und Ausbildungsjahres 1990/91“ – allerdings in einer überholten Fassung, die im Widerspruch zum IGBBiG stand.30 Das spezifische Muster, das für die ostdeutsche Transformation als charakteristisch galt, war hier durchaus zu erkennen: Auf dem Gebiet der beruflichen Bildung kam es zu einem Normentransfer, der auf eine (parlamentarische) Elitenentscheidung zurückzuführen war. Viele Akteure im betreffenden Handlungsfeld – Berufsschulen, Lehrwerkstätten, Unternehmen und Lehrstellenbewerber – waren infolgedessen schlagartig gezwungen, sich neu zu orientieren. Noch ein weiteres Merkmal ließ sich beobachten, das nach der Theorie des Institutionentransfers typischerweise auftreten musste: Eine – zumindest aus ostdeutscher Sicht – ungewollte Folge des IGBBiG war, dass die nach DDR-Recht mögliche und durchaus wertgeschätzte Berufsausbildung mit Abitur eingestellt werden musste.31 In zahlreichen Studien zur ostdeutschen Transformation wurde die Erwartung gehegt, dass der Transfer „westdeutscher Normen“ über kurz oder lang „westdeutsche Verhältnisse“ hervorbringen würde; widrigenfalls sei der Institutionentransfer als „Transformationsstrategie“ gescheitert.32 In Bezug auf die Entwicklung der beruflichen Bildung teilten auch viele Akteure eine solche Erwartungshaltung. Freilich gab es im Sommer 1990 erhebliche Zweifel, dass die Umstellung des Ausbildungssystems gelingen würde. Das BBiG stand in der alten Bundesrepublik in der 29 30 31 32
Einer Erhebung des Ministeriums für Bildung und Wissenschaft zufolge waren in der DDR für das Jahr 1990 Lehrvertragsabschlüsse für 129.860 Schulabgänger vorgesehen. BMBW, Berufsbildungsbericht 1991, S. 24. Anweisungen zur Organisation und zum Ablauf des Lehr- und Ausbildungsjahres 1990/91. In: Verfügungen und Mitteilungen des Ministeriums für Bildung und Wissenschaft II, 1990, S. 53 f. Das Ministerium für Bildung und Wissenschaft der DDR unternahm einen Vorstoß, der auf eine Erhaltung der Berufsausbildung mit Abitur zielte, scheiterte allerdings daran, dass diese mit dem soeben in Kraft gesetzten BBiG unvereinbar war. Raddatz, Chronologie, S. 32 f. Vgl. Weingarz, Laboratorium, S. 83 ff.
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Kritik, vor allem der Gewerkschaften, und musste seine Leistungsfähigkeit in den neuen Ländern unter erschwerten Voraussetzungen nachweisen. Es schien daher nicht ausgeschlossen, dass sich die Übertragung des BBiG auf die DDR als Fehlschlag erwies. Im Extremfall konnte dies im Gegenteil dessen resultieren, was gemeinhin als Folge des Institutionentransfers galt: Statt einer Anpassung des Ostens an den Westen konnte eine gescheiterte Transformation dazu führen, dass die Grundlagen des Ausbildungssystems sich auch im alten Bundesgebiet änderten – speziell im Hinblick auf die Zuständigkeit der Kammern. Pfadabhängigkeiten zu schaffen, war somit kein Merkmal, das exklusiv für die Transformationsstrategie des Institutionentransfers galt: Auch den Gewerkschaften ging es darum, die Entwicklung des Ausbildungswesens auf einen spezifischen Pfad zu leiten.33 Sie argumentierten indessen, die Eigenständigkeit der DDR-Ausbildung erhalten zu wollen. 4.1.2 Strukturelle Ausgangsbedingungen der Berufsausbildung in Ostdeutschland Die DDR ging schlagartig zum dualen Ausbildungssystem bundesdeutscher Prägung über, was sich entgegen anders lautender Auffassungen nicht als undurchführbar erwies. Die Umstellung der Berufsausbildung traf in formaler Hinsicht sogar auf nur geringe Widerstände. Diesem Prozess kamen die gemeinsamen historischen Grundlagen der beruflichen Bildung in Ost und West in hohem Maße zugute. Dualität war ein Grundprinzip, das eine Aufgabenteilung zwischen Staat und Wirtschaft festlegte. Formal trennte dieses Prinzip zwischen schulisch-theoretischem Unterricht in staatlichen Berufsschulen und beruflich-praktischer Ausbildung durch die Wirtschaft. In der DDR waren beide Teile organisatorisch eng verbunden. Dies galt allerdings nicht für die Durchführung von theoretischem und praktischem Unterricht im engeren Sinne. Die berufliche Bildung war in der DDR zwar nicht im obigen Sinne dual organisiert; gleichwohl hatte es zwei Lernorte – Schule und Betrieb – gegeben. Für die formale Trennung der Verantwortlichkeit, die Staat bzw. Wirtschaft in der beruflichen Bildung jeweils zukam, war es erforderlich, dass die IHKn handlungsfähig wurden, um ihre gesetzlichen Aufgaben zu erfüllen. Die Kammern waren dafür zuständig, die praktische Ausbildung in kaufmännischen und gewerblichtechnischen Berufen durchzuführen und zu überwachen. Dies umfasste mehrere konkrete Pflichten vom Vertragsschluss bis zur Abschlussprüfung:34 Jede IHK hatte ein Verzeichnis, die sogenannte Lehrlingsrolle, anzulegen, das alle bestehenden und neu geschlossenen Ausbildungsverträge erfasste. In sämtlichen Kammerbezirken musste darüber hinaus ein Prüfungswesen aufgebaut werden, das Zwischen- und Abschlussprüfungen organisierte. Den Prüfungsausschüssen gehörten zu je einem Drittel Lehrer berufsbildender Schulen, Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter an. Im gleichen Verhältnis wurden die Mitglieder der Berufsbildungs33
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Hiesinger äußerte gegenüber dem Handelsblatt in Bezug auf seine Forderung nach einer staatlichen Ausbildungsverwaltung: „Schön wäre doch, wenn wir diese Regelung dann später in der Bundesrepublik übernehmen“. Gespräch mit dem IG Metall-Bildungsexperten Hiesinger über berufliche Bildung im vereinten Deutschland. In: Handelsblatt, 11. April 1990. Jäkel/Junge, Industrie- und Handelskammern, S. 47 ff.
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ausschüsse berufen. Dieses Gremium bestand aus insgesamt 18 Personen; es hatte die Aufgabe, ausbildungsrelevante Verwaltungsgrundsätze und Rechtsvorschriften im jeweiligen Kammerbezirk zu beschließen. Lehrer berufsbildender Schulen gehörten den Berufsbildungsausschüssen lediglich mit beratender Stimme an. Zu den gesetzlichen Pflichtaufgaben der Kammern zählte es ferner, Ausbildungsberatung zu leisten: Berater der IHK halfen Betrieben dabei, ausbildungsrelevante Normen umzusetzen. Sie prüften außerdem, ob eine Ausbildungsstätte imstande war, einen ordnungsgemäßen Ablauf der Ausbildung zu gewährleisten. DIHT-Hauptgeschäftsführer Schoser hatte die Kammern in der DDR schon im Mai 1990 dazu aufgerufen, den Übergang zum bundesdeutschen Recht durch eigenverantwortliche Schritte vorzubereiten.35 Die IHKn hatten daher schon frühzeitig Berufsbildungsreferenten berufen und erste Schritte unternommen, um entsprechende Fachabteilungen aufzubauen. Der DIHT hatte weiterhin angeregt, provisorische Ausbildungsordnungen von den Vollversammlungen beschließen zu lassen.36 Die bundesdeutschen Patenkammern leisteten bei diesen Schritten intensive Hilfe. Sie klärten insbesondere darüber auf, wie eine Berufsbildungsabteilung aufgebaut war und wie sie arbeitete.37 Dabei wurde bisweilen deutlich, dass sich im alten Bundesgebiet, je nach IHK, verschiedene interne Routinen entwickelt hatten. Das von den Patenkammern entsandte Personal diente nicht nur dazu, Wissen zu vermitteln. In der Startphase half es den ostdeutschen Kammern auch, das operative Arbeitspensum zu bewältigen, insbesondere in der Ausbildungsberatung.38 Die Kammern waren gezwungen, zu improvisieren, da weder die Zeit bis zum Beginn des Lehrjahres noch die die vorhandenen finanziellen Möglichkeiten üppig waren. Es war kaum möglich, den Ausbau der Berufsbildungsabteilungen zu finanzieren, noch bevor der gesetzliche Auftrag erteilt worden war. Im DIHT plante man daher, ehrenamtliche Ausbildungsberater zu rekrutieren, zusätzlich zur personellen Hilfe der Patenkammern. Sie sollten Aufklärungsarbeit leisten und ostdeutschen Betrieben das bundesdeutsche Berufsbildungsgesetz nahebringen. DIHT-Hauptgeschäftsführer Schoser bat die IHKn in der Bundesrepublik daher, ehemalige Mitarbeiter, Berater oder Ausbildungsleiter aus der Wirtschaft zu benennen, die bereit waren, Beratungsarbeit in der DDR zu leisten. Jeder IHK in der DDR konnte auf diesem Weg ein zusätzlicher erfahrener Berater vermittelt werden.39 Ab September verstärkte der DIHT seine Hilfsmaßnahmen nochmals und finanzierte über einen Nachtragshaushalt je einen weiteren gewerblichen und kaufmännischen Berater pro ostdeutsche Kammer.40 Schließlich kamen den IHKn beim Aufbau der Berufsaus35 36 37 38 39 40
Schreiben des DIHT-Hauptgeschäftsführers an die IHKn in der DDR vom 25. Mai 1990. RWWA 181-1806-1. Raddatz, Chronologie, S. 22 ff. Korb, Neuordnung, S. 273. Bericht des Hauptgeschäftsführers der IHK Mittlerer Niederrhein an den DIHT sowie die IHKn über die organisatorischen Grundprobleme der DDR-Kammern vom 21. August 1990. RWWA 181-2468-1. Schreiben des DIHT-Hauptgeschäftsführers an die IHKn in der DDR vom 23. August 1990. RWWA 181-1806-1. Protokoll der Sitzung des DIHT-Hauptgeschäftsführers mit den Hauptgeschäftsführern der Patenkammern in Bonn vom 5. September 1990. RWWA 181-1886-3.
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bildung auch öffentliche Mittel zugute. Diese Unterstützung griff erst, nachdem die ersten Hilfen innerhalb der Kammerorganisation geleistet worden waren. Das Bundeswirtschaftsministerium stellte 1991 speziell für die Einstellung zusätzlicher Ausbildungsberater 6,5 Millionen DM bereit.41 Auch ABM-Kräfte kamen während der frühen 1990er Jahre zum Einsatz, um zusätzliche Beratungstage bei ostdeutschen Betrieben zu realisieren. Bereits im September 1991 organisierten die Kammern erste Abschlussprüfungen. Zunächst überwog die Zahl der Ausbildungen, die nach alten Rechtsvorschriften beendet wurden. Es gab daher ein Nebeneinander von Prüfungskommissionen (für Berufe nach den alten Ausbildungsordnungen der DDR) und Prüfungsausschüssen (für Berufe gemäß BBiG). Dieser Zustand hielt allerdings nicht lange an. Schon im Einstellungsjahr 1990 waren 80 Prozent aller Ausbildungsverträge gemäß der neuen Berufssystematik geschlossen worden, und auch viele der alten Verträge wurden umgestellt.42 Die schnelle Angleichung der Ausbildungsordnungen wirkte sich vorübergehend negativ auf die Prüfungsergebnisse aus. In den neuen Ländern bestand zunächst ein höherer Anteil der Lehrlinge die Abschlussprüfung nicht. Die Bestehensquote näherte sich allerdings rasch dem Niveau der alten Bundesländer an.43 Ab etwa 1992 war der Ordnungsrahmen des BBiG in den neuen Ländern voll etabliert.44 In diesem Jahr trat auch die Ausbilder-Eignungsverordnung (AEVO) in den neuen Bundesländern in Kraft, allerdings mit einer längeren Übergangsregelung. In der DDR hatte es hauptamtliche Ausbilder gegeben, z. B. Ingenieur- bzw. Ökonompädagogen, deren fachliche Befähigung allgemein anerkannt war. In der Bundesrepublik gab es keine vergleichbare Qualifikation; Ausbilder hatten sich daher einer Eignungsprüfung zu unterziehen. Das Inkrafttreten dieser Vorschrift war in Ostdeutschland ausgesetzt worden, um die Ausbildungsbereitschaft von Betrieben nicht durch formale Hürden zu schwächen. Ausbilder, die bereits pädagogisch tätig gewesen waren, konnten ihre Arbeit fortsetzen. Mit der Einführung der AEVO erhielten sie fünf Jahre Zeit, um sich mit den rechtlichen Gesichtspunkten der Tätigkeit als Ausbilder vertraut zu machen. Die Kammern boten hierzu spezielle Lehrgänge an.45 Die formale Neuordnung der Berufsausbildung konnte insgesamt rasch vollzogen werden. In materieller Hinsicht erwies es sich indessen als schwierig, die Verantwortlichkeiten von Staat und Wirtschaft zu teilen. Das Prinzip der Dualität verlangte nicht nur, zwischen schulischen Rahmenlehrplänen und betrieblichen Ausbildungsordnungen zu trennen. Es beinhaltete den Grundsatz, dass sich Staat und Wirtschaft die Kosten teilten, und zwar je nach Aufgabenbereich. Aus Sicht der Wirtschaft begann die Trennung von öffentlicher und unternehmerischer Verantwortung im Juni 1990: Auf dem Gebiet der beruflichen Bildung waren betriebliche Berufsschulen der in der DDR vorherrschende Schultyp. Die Regierung de Maizi41 42 43 44 45
Übersicht über die Förderprogramme für die IHKn in den neuen Bundesländern (Stand: 14. März 1991). RWWA 181-1886-3. BMBW, Berufsbildungsbericht 1991, S. 2. Korb, Neuordnung, S. 276. Wolfinger, Weg, S. 189. BMBW, Berufsbildungsbericht 1992, S. 85.
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ère löste diese aus der Trägerschaft der Kombinate und ordnete sie den Kommunen zu.46 Dies geschah im Zuge einer Organisationsreform, mit der die Kombinate im Juni zu Kapitalgesellschaften umgewandelt wurden. Zahlreichen Lehrwerkstätten und anderen Kapazitäten der praktischen beruflichen Bildung drohte vor diesem Hintergrund die Schließung. Schon im Frühjahr hatte sich gezeigt, dass einige Betriebe ihre neu gewonnenen Entscheidungsfreiräume dazu nutzen würden, sich ihrer Einrichtungen zur praktischen Berufsausbildung zu entledigen. Die Regierung der DDR versuchte mehrmals, unkontrollierte Stilllegungen zu verhindern, indem sie strenge Vorschriften erließ und weitere gesetzliche Maßnahmen ergriff. Die praktische berufliche Bildung in der DDR hatte eine Struktur, die auf die Bedürfnisse einer stark zentralisierten Wirtschaft zugeschnitten war; sie war selbst in hohem Maße zentralisiert. 1989 entfielen auf eine Ausbildungsstätte im Schnitt ca. 68 Lehrlinge.47 Dies übertraf um Vielfaches den Durchschnittswert in der Bundesrepublik, der zur selben Zeit bei etwa drei Lehrlingen je Ausbildungsbetrieb lag. Die Ausbildung in der DDR war nicht nur zentralisiert, sondern im Vergleich mit der Bundesrepublik darüber hinaus stark konzentriert: Im Westen gab es kleine, mittlere und große Ausbildungsbetriebe, die in etwa ähnliche Anteile aller Auszubildenden aufnahmen.48 Insgesamt bildeten etwa eine halbe Million Betriebe aus. In der DDR gab es 4.500 Stätten zur beruflich-praktischen Bildung; in 25 Prozent dieser Stätten wurden etwa 70 Prozent aller Lehrlinge ausgebildet. Lehrwerkstätten waren häufig Teile großer Kombinate. In ihnen wurde oft nicht nur für den Bedarf des eigenen Betriebsverbunds, sondern auch für Fremdbetriebe ausgebildet. Mit Blick auf den Strukturwandel der Wirtschaft erwies sich eine solche Zentralisierung als problematisch. In der Regel ließen sich Einrichtungen zur Berufsausbildung nicht auf kleinere Nachfolgebetriebe aufteilen. Lehrwerkstätten waren oft schon räumlich nicht teilbar. Es war auch keinesfalls eine Ideallösung, wenn die Einrichtungen nicht abgespalten wurden, sondern in die Trägerschaft eines Nachfolgebetriebs übergingen: In diesen Fällen kam es oft dazu, dass der Träger das Ausbildungsangebot auf die eigenen Bedürfnisse anpasste – und damit in der Regel einschränkte.49 Mithin verringerten sich sowohl die Quantität der Ausbildungsplätze als auch die Bandbreite der angebotenen Berufe. Der Zusammenbruch der ostdeutschen Industrie bedrohte das Ausbildungssystem in seinem Bestand. Schon ein unkontrollierter Ausfall einzelner großer Berufsbildungsstätten konnte dazu führen, dass die Versorgung mit Ausbildungsplätzen in regionalem Ausmaß beeinträchtigt sein würde. Die Regierung der DDR suchte daher dringend nach Lösungen für den Fall, dass sich Trägerbetriebe nicht davon abbringen ließen, Lehrwerkstätten zu schließen. Daher beauftragte sie Kreisverwal46 47 48 49
Verordnung über die Aufrechterhaltung von Leistungen betrieblicher Kindergärten, polytechnischer und berufsbildender Einrichtungen. In: GBl. der DDR I, 1990, S. 297 f. Insgesamt standen etwa 344.000 überwiegend junge Menschen in der DDR in einem Ausbildungsverhältnis. Autsch/Brandes/Walden, Bedingungen, S. 20. Nach Beschäftigtenanzahl verteilten sich in der Bundesrepublik auf Betriebe einer Größenklasse von 1 bis 9 Beschäftigten 27 Prozent aller Auszubildenden; 10 bis 49: 25 Prozent; 50 bis 499: 28 Prozent; über 500: 20 Prozent. Ebd. S. 22. Wolfinger, Weg, S. 183.
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tungen und Kammern, für den Erhalt von Stätten zur beruflich praktischen Ausbildung zu sorgen. Die Regierung propagierte, dass Kammern und Verbände selbst zu Trägern ungesicherter Ausbildungsstätten werden sollten. Im IGBBiG wurden Betriebe ausdrücklich verpflichtet, die von ihnen abgeschlossenen Lehrverträge zu erfüllen und Einrichtungen zur beruflich-praktischen Bildung mindestens bis dahin weiterzuführen. Das Inkrafttretungsgesetz sah weiterhin vor, dass Betriebe in Zusammenarbeit mit den Kammern prüfen sollten, ob sich die eigenen Ausbildungskapazitäten „als überbetriebliche Ausbildungsstätten“ nutzen ließen und ob es möglich sei, diese „als Treuhandvermögen an die […] Kammern“ zu übertragen.50 Mit diesen Bestimmungen zum Erhalt freier Berufsbildungsstätten gab es erste Voraussetzungen, um außerbetriebliche Ausbildungsangebote zu schaffen. Es war deutlich, dass die Einführung eines dualen Ausbildungssystems in Ostdeutschland übergangsweise auf derartige Unterstützungsmaßnahmen angewiesen war. Aus Sicht der Kammerorganisation waren außerbetriebliche Ausbildungsplätze stets eine Art „notwendiges Übel“ gewesen. In Ostdeutschland waren sie unerlässlich, um die praktische Berufsausbildung überhaupt gewährleisten zu können. Indessen widersprachen sie dem Prinzip des dualen Ausbildungssystems, wonach es Aufgabe der Wirtschaft war, die Kosten der praktischen Ausbildung zu tragen. Die Kammern räumten der Schaffung neuer Ausbildungsplätze daher Vorrang ein; vor allem kleine und mittlere Betriebe hatten in der DDR nur selten ausgebildet. Dies zu ändern, war Kärrnerarbeit: Es gab einige Anzeichen dafür, dass das Angebot betrieblicher Ausbildungsplätze nicht unbedingt „elastisch“ reagierte.51 In Anbetracht dessen dienten außerbetriebliche Stellen dazu, Versorgungslücken zu schließen. Je höher ihre Zahl lag, desto größer war der Druck, die Ausbildungsbereitschaft bei kleinen und mittleren Betrieben zu erhöhen – nicht allein weil öffentlich finanzierte Ausbildungsplätze im dualen Ausbildungssystem ein Prinzipienverstoß waren. Außerbetriebliche Ausbildung erwies sich als Einfallstor, durch das wirtschaftsferne Akteure an Einfluss gewannen, z. B. indem sie als Träger betriebsexterner Bildungsmaßnahmen auftraten. Die Kapazitätsprobleme, die kurz- und mittelfristig auftraten, erwiesen sich als erhebliche Hürden für den Start der dualen Ausbildung in Ostdeutschland. Allein das Inkraftsetzen der bundesdeutschen Ausbildungsordnungen steigerte den Bedarf an betrieblichen Ausbildungsplätzen: In vielen Berufen verlängerte sich hiermit die Ausbildungsdauer, sodass weitere Plätze erforderlich waren.52 Gravierender als diese technischen Gründe war freilich der demographische Faktor. Er war die Hauptursache für eine anhaltend steigende Nachfrage nach Ausbildungsplätzen. Ab Mitte der 1990er Jahre nahm die Zahl der Schulabsolventen in den neuen Bundesländern merklich zu und stellte das duale System vor eine weitere Herausforderung.53 50 51
52 53
IGBBiG, Art. 4, Satz 2. In: GBl. der DDR I, 1990, S. 908. Dies zeigte ein Strukturvergleich beim Handwerk: Das eher kleinbetrieblich strukturierte Handwerk bildete in der DDR 1989 einen kleinen einstelligen Prozentsatz der Lehrlinge aus, während in der Bundesrepublik jeder dritte Auszubildende dort eine Stelle fand. Autsch/Brandes/Walden, Bedingungen, S. 25. BMBW, Berufsbildungsbericht 1991, S. 14. Vgl. Grünert, Lehren, S. 6.
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4.1.3 Lehrstellenkampagnen und Ausbildungsringe: Industrie- und Handelskammern als Wegweiser und Nothelfer Es war ein Gemeinplatz, dass die Einführung der Marktwirtschaft die Betriebe in der DDR schlagartig für Kosten, nicht aber für gesellschaftliche Verantwortung sensibilisierte. Die Probleme am Lehrstellenmarkt zogen im Laufe des Jahres 1990 zunehmend Aufmerksamkeit auf sich. Dabei wurden sie gemeinhin auf moralische Ursachen zurückgeführt.54 Die westdeutschen Aufbauhelfer hofften, durch den schnellen Aufbau der Berufsberatung möglichst viele betriebliche Ausbildungsplätze zu erhalten.55 Beratungsarbeit war ein Mittel, um herauszustreichen, dass betriebliche Ausbildung gegenüber außerbetrieblichen Lösungen Vorrang haben sollte. Sie diente nicht nur dazu, unternehmerische Entscheidungsträger mit Informationen zu versorgen, sondern auch dazu, Orientierungshilfen anzubieten. Die Aufbauhilfe zeigte den ostdeutschen Kammern diese doppelte Wirksamkeit der Beratungsarbeit von Beginn an auf.56 Im August 1990 schienen die Pessimisten, die vor einer massiv steigenden Jugendarbeitslosigkeit gewarnt hatten, Recht zu behalten: Die Wochen bis zum Beginn des neuen Lehrjahres verrannen; unterdessen blieb die Zahl unvermittelter Bewerber nicht nur hoch – sie stieg sogar an. Im Ministerium für Bildung und Wissenschaft der DDR schätzte man, dass Lehrstellen für bis zu ein Drittel des Schulabschlussjahrgangs 1990 fehlten.57 Der SPIEGEL berichtete im dramatischen Tonfall, dass Berufsberatern in Anbetracht der schlechten Vermittlungsperspektiven für Schulabgänger bisweilen „die Tränen kommen“.58 Gesetze und Verordnungen hielten insolvenzbedrohte Betriebe selten davon ab, Lehrverträge zu kündigen. Dieses Problem war auch deshalb gravierend, weil es in der Planwirtschaft üblich gewesen war, Lehrverträge meist lange im Voraus zu schließen. Anwärter erfuhren in vielen Fällen erst kurz bevor sie in die Lehre gehen wollten, dass ihr Ausbildungsbetrieb den Vertrag nicht erfüllen konnte bzw. wollte. 1990 waren hiervon 18.500 Schulabgänger betroffen.59 Jugendliche drohten zur Bevölkerungsgruppe zu werden, die der Zusammenbruch der zentralen Planwirtschaft mit der größten Härte traf. 54
55 56 57 58 59
Nahezu alle Presseberichte über die Verhältnisse am ostdeutschen Lehrstellenmarkt hoben diesen Aspekt hervor. Im Spiegel hieß es: „Seit allenthalben genau bilanziert werden muß, sehen viele Unternehmen in der Berufsausbildung nur noch eine Kostenstelle, die sich bequem streichen läßt.“ (Lehrlinge: Da kommen die Tränen. In: Der Spiegel, 38/1990). Mit ähnlicher Tendenz schrieb die WirtschaftsWoche: „Weil die Betriebe pleite oder knapp bei Kasse sind, sparen sie ganz besonders bei der Zukunftsinvestition Ausbildung.“ (DDR-Ausbildung: Lehrstellenmangel droht. Appelle reichen nicht. In: WirtschaftsWoche, 34/1990). Schreiben des DIHT-Hauptgeschäftsführers an die IHKn vom 29. Juni 1990. RWWA 1811806-1. Protokoll zur Sitzung des DIHT-Hauptgeschäftsführers mit den IHKn in der DDR und dem Leiter der DIHT-Verbindungsstelle Berlin in Halle vom 13. Juli 1990. RWWA 181-2116-2. Beschluß des Ministerrats zur Ausbildungsplatzförderung für Schulabgänger und Lehrlinge im Lehrjahr 1990/1991 sowie zur Vermeidung von Jugendarbeitslosigkeit (S. 117 f.). BArch DC 20-I/3/3050. Zit. nach: Lehrlinge: Da kommen die Tränen. In: Der Spiegel, 38/1990. BMBW, Berufsbildungsbericht 1991, S. 25.
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Auf einer Vorstandssitzung des DIHT erklärte Präsident Stihl, es nicht hinnehmen zu wollen, dass vielen jungen Menschen in der DDR beim Übergang zur Marktwirtschaft ein „Fehlstart in Form von Arbeitslosigkeit“60 drohe. Im Rahmen eines Wirtschaftsgesprächs mit Bundeskanzler Kohl und Ministerpräsident de Maizière entstand die Idee einer Lehrstellenaktion mit den IHKn und den Handwerkskammern, für die sich Stihl mit Nachdruck einsetzte. Vorbild war eine Gemeinschaftsaktion von Kammern, Verbänden und Gewerkschaften aus den frühen 1980er Jahren. Sie war in der Bundesrepublik initiiert worden, um einen „Schülerberg“ – mehrere besonders geburtenstarke Jahrgänge – in das duale Ausbildungssystem zu integrieren. Seinerzeit hatte die Bundesregierung die Aktion überaus positiv bewertet, da es gelungen war, das Angebot betrieblicher Ausbildungsplätze binnen weniger Jahre erheblich zu steigern.61 Für die Neuauflage einer solchen Mobilisierungskampagne sprach außerdem, dass sie in den 1980er Jahren trotz ungünstiger konjunktureller Bedingungen erfolgreich gewesen war. Ein konzertiertes Wirken gesellschaftlicher Kräfte sollte auch in der DDR dafür sorgen, die Situation auf dem Lehrstellenmarkt zu entspannen. Die IHKn beteiligten sich an der Kampagne, die den Titel „Ausbildung 90“ trug. Ihr Ziel bestand darin, das Bewusstsein für die Wichtigkeit betrieblicher Ausbildung zu schärfen. Diesem Sinne entsprach das Aktionsmotto „Ausbilden heute, wettbewerbsfähig morgen“. Jedem Jugendlichen in der DDR, der eine Ausbildungsstelle suchte, sollte eine qualifizierte Berufsausbildung ermöglicht werden. Präsident Stihl richtete sich über die kammereigenen Medien an die ostdeutsche Wirtschaft, um die Betriebe einzustimmen. In einem Beitrag für die IHK-Zeitschriften hob er hervor, dass es vielen Jugendlichen in Anbetracht von rund 15.000 fehlenden Ausbildungsplätzen an einer Zukunftsperspektive fehle.62 Dies müsse geändert werden. Stihl rief Unternehmer dazu auf, über den eigenen Bedarf hinaus auszubilden. Qualifiziertes Personal sei ein Wettbewerbsfaktor, der im eigenen Interesse der ostdeutschen Wirtschaft erhalten werden müsse. Der Auftakt der Mobilisierungskampagne wurde durch eine zentrale Kundgebung flankiert. Sie war im Vorfeld auf den 28. August terminiert worden; das Handelsblatt rief am selben Tag, gestützt auf Zahlen der Arbeitsverwaltung, den „Notstand bei Lehrverträgen“ aus.63 In Halle-Osendorf traten DIHT-Präsident Stihl, ZdH-Präsident Späth sowie Bundeskanzler Kohl und Ministerpräsident de Maizière vor rund 6.000 Zuhörer und appellierten an die Unternehmer in der DDR, sich in der Lehrlingsausbildung zu engagieren.64 Die Kundgebung für Lehrstellen leitete eine Trendwende auf dem Lehrstellenmarkt ein. In erster Linie kam diese allerdings zustande, weil umfangreiche staatli60 61 62 63 64
Protokoll der DIHT-Vorstandssitzung vom 25. Juni 1990. RWWA 181-677-2. BMBW, Berufsbildungsbericht 1984, S. 1. Artikeldienst für die IHK-Zeitschriften, Aufruf von Hans-Peter Stihl zur Schaffung von Ausbildungsplätzen: Herausforderung DDR: Ausbildung für Alle. Ausbilden heute – wettbewerbsfähig morgen. RWWA 181-2116-2. DDR: Zentrale Arbeitsverwaltung klagt. Notstand bei Lehrverträgen. In: Handelsblatt, 30. August 1990. Wirtschaft startet in Halle eine Ausbildungsoffensive für die DDR. In: Ebd.
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che Hilfen wirksam wurden. Der Ministerrat der DDR stellte Ende August in einem Sofortprogramm 100 Millionen DM bereit, um Lehrstellen zu fördern und Jugendarbeitslosigkeit zu vermeiden. Das BMBW befand den Umfang dieser Hilfen für zu niedrig und legte im September ein erweitertes, über 300 Millionen DM schweres „Vorsorgeprogramm“ auf, um Ausbildungsplätze und berufsvorbereitende Maßnahmen für bis zu 30.000 Jugendliche zu sichern.65 Dieser Intervention war es zu verdanken, dass der Großteil der ostdeutschen Ausbildungsbewerber im Laufe des Septembers vermittelt werden konnte. Rund 10.000 Schulabgänger niedriger Klassenstufen, die nach der neuen Berufssystematik noch nicht ausreichend für einen Ausbildungsplatz qualifiziert waren, nahmen an berufsvorbereitenden Maßnahmen teil, die an berufsbildenden Schulen bzw. durch die Arbeitsverwaltung organisiert waren. Die Mehrzahl der vorzeitigen Schulabgänger – 1990 gab es außergewöhnlich viele – besaß ohne diese Hilfen wenig Aussicht auf Vermittlung, da Bewerber mit einer besseren Schulbildung bedeutend höhere Chancen auf eine Lehrstelle hatten. Die Lehrstellenbilanz für das Ausbildungsjahr 1990/91 fiel positiv aus: Ein massiver Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit konnte verhindert werden. In den ostdeutschen Kammerbezirken konnten insgesamt nur etwa 3.200 Lehrstellenbewerber nicht vermittelt werden. Gleichwohl war die Lage, je nach Bezirk, sehr unterschiedlich, und der Problemdruck blieb in einigen Regionen weiterhin hoch. Der Effekt, den die Lehrstellenkampagne der IHKn hatte, ließ sich nur schwer beziffern. Als direkte Konsequenz der Aktion meldeten die Kammern aus Halle, Leipzig, Potsdam, Suhl und Schwerin Rücknahmen von Kündigungen.66 Das Problem vorzeitiger Vertragskündigungen konnte allerdings nicht vollständig gelöst werden. Mit ca. 96.000 Stellen konnten reguläre betriebliche Ausbildungsplätze die Nachfrage nur zu etwa zwei Dritteln decken.67 Weitere 11.500 betriebliche Plätze wurden mithilfe von Zahlungen aus dem Programm des Ministerrats geschaffen. Unternehmen, die Lehrlinge übernahmen, deren Lehrvertrag einseitig aufgelöst worden war, erhielten dabei einen Zuschuss über 3.000 DM. Neu gegründete Unternehmen, die Lehrstellen schufen, konnten sogar mit 5.000 DM gefördert werden.68 Direkte Zahlungen an ausbildende Betriebe blieben in den darauffolgenden Jahren ein Bestandteil der staatlichen Ausbildungsförderung. Von 1991 an wurden sie auf Veranlassung des BMBW geleistet. Betriebe mit weniger als 20 Mitarbeitern konnten weiterhin bis zu 5.000 DM je zusätzlichem Ausbildungsplatz erhalten. Das Merkmal der „Zusätzlichkeit“ war indessen unklar definiert.69 Die Regierungen der neu entstandenen Länder erweiterten das BMBW-Programm aus eigenen Mitteln und stiegen auf diesem Wege sukzessive in die Ausbildungsplatzförderung ein. Eine kritische Überprüfung direkter Zahlungen an Betriebe ergab, dass die Steigerung betrieblicher Ausbildungsplätze durch dieses Instrument letztlich insignifikant 65 66 67 68 69
BMBW, Berufsbildungsbericht 1991, S. 25. Protokoll zur Sitzung des DIHT-Hauptgeschäftsführers mit den Hauptgeschäftsführern der IHKn der DDR vom 1. Oktober 1990. RWWA 181-1886-3. BMBW, Berufsbildungsbericht 1991, S. 25. Ebd. S. 154. Vgl. Grünert, Lehren, S. 5.
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war – mithin überwogen Mitnahmeeffekte. Zugleich steckten die Subventionen den Rahmen ab, in dem sich die Erwartungen der Betriebe bildeten. Konkret hieß dies, dass viele Unternehmen während der darauffolgenden Jahre ihr Ausbildungsplatzangebot erst zu einem späten Zeitpunkt konkretisierten, da auch die öffentlichen Geldgeber die Förderkonditionen erst spät bekanntmachten.70 Schon 1990 reichte die Zahl betrieblicher Ausbildungsplätze trotz staatlicher Förderung nicht aus, um allen Bewerbern eine Stelle anbieten zu können. Daher wurde ein erheblicher Teil der öffentlichen Fördermittel verwendet, um außer- bzw. überbetriebliche Plätze zu schaffen. Gemäß § 40 c des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) war es möglich, außerbetriebliche Ausbildungen für benachteiligte Jugendliche durch die Arbeitsverwaltung zu finanzieren. Ursprünglich hatte sich diese Regelung auf lernschwache Schulabgänger bezogen. Im Einigungsvertrag erhielt der Paragraph einen Zusatz, der die Förderkriterien in den neuen Bundesländern erweiterte. Infolgedessen profitierten auch Jugendliche, die keinen regulären Ausbildungsplatz erhalten hatten.71 Dies ermöglichte es, die Ausbildung „marktbenachteiligter“ Bewerber in außerbetrieblichen Stätten zu finanzieren. Die Bundesregierung unterstrich im ersten gesamtdeutschen Berufsbildungsbericht ihre Absicht, das Instrument vorrangig nutzen zu wollen, um bestehende Ausbildungskapazitäten zu erhalten. Die Förderung solle schnell auf ein „ordnungspolitisch vertretbares Maß“ zurückgeführt werden.72 Sie müsse – so die politische Vorgabe – so ausgestaltet werden, dass Unternehmen ihr „Eigeninteresse an einem Angebot qualifizierter Berufsbildung“ erkennen konnten. In anderen Worten ließ sich sagen, dass außerbetrieblichen Ausbildungsplätzen eine Rolle als „Lückenbüßer“ zugedacht war. Ihre Finanzierung wurde daher immer erst kurzfristig vor Beginn eines Lehrjahres zugesagt. In ideeller Hinsicht herrschte kein Dissens zwischen der Kammerorganisation und der Bundesregierung: Beide beabsichtigten, die Eigenverantwortlichkeit der Wirtschaft zu herauszustellen. In Halle hatte Präsident Stihl außerbetriebliche Lehrstellen als „unkonventionelle Lösung“73 bezeichnet und damit deutlich gemacht, dass er diese nur als Mittel zur Krisenbewältigung akzeptierte. Der DIHT wollte außerbetriebliche Angebote zeitlich befristen. Den Kammern empfahl der Dachverband daher, freiwerdende Ausbildungskapazitäten vor allem treuhänderisch zu nutzen.74 Diese Lösung schien den Vorteil zu bieten, keine neuen Trägerstrukturen bilden zu müssen und Lehrwerkstätten zu einem späteren Zeitpunkt wieder in betriebliche Obhut überführen zu können. Nur für den Fall, dass eine Kammer von einem langfristigen Bedarf an überbetrieblichen Ausbildungsplätzen ausging, schlug der DIHT vor, Lehrwerkstätten rechtlich zu verselbstständigen und in der Form einer gemeinnützigen GmbH zu betreiben.
70 71 72 73 74
Ebd. S. 11. Vgl. Wolfinger, Weg, S. 187. BMBW, Berufsbildungsbericht 1991, S. 3. Zit. nach: Wirtschaft startet in Halle eine Ausbildungsoffensive für die DDR. In: Handelsblatt, 30. August 1990. Raddatz, Chronologie, S. 38.
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4. Die Reorganisation der Wirtschaft als Herausforderung
Die Rolle als Orientierungshilfe der Wirtschaft erwies sich in der praktischen Umsetzung als schwierig. Die Kammern waren mit mehreren äußeren Zwängen konfrontiert: Es zeichnete sich immer deutlicher ab, dass die ostdeutsche Industrie nicht nur in eine vorübergehende Rezession geraten war, sondern zahlreiche Betriebe vor dem Konkurs standen. Finanziell angeschlagene Betriebe trennten sich von ihren Ausbildungseinrichtungen – infolgedessen ließ sich die befürchtete „Abstoßungswelle“75 nicht mehr aufhalten. Nur unter großen Anstrengungen glückte es den Kammern, die Trägerschaft über diese Kapazitäten zu erlangen. Dies gelang freilich nicht immer, da viele Betriebe anfangs ohne Kenntnis und Zustimmung der ihnen übergeordneten Treuhandanstalt agierten. Z. T. vermieteten sie ihre Bildungseinrichtungen an Dritte weiter, ohne die IHK einzubeziehen.76 Diese Situation änderte sich erst zugunsten der Kammern, als sich die Treuhandanstalt des Themas annahm. Letztere war durchaus bereit, in Frage kommende Einrichtungen abzugeben. Zu welchen Konditionen derartige Geschäfte zustande kamen, unterlag bis zur ersten Hälfte des Jahres 1991 oft dem Verhandlungsgeschick: Der IHK Schwerin glückte es, eine gewerblich-technische Ausbildungsstätte für bis zu 500 Auszubildende zu übernehmen. Sie konnte die Miete für die Einrichtung deutlich mindern und diese schlussendlich zu einem symbolischen Preis von 1,- DM kaufen. In anderen Bezirken hatte die Treuhandanstalt in ähnlichen Fällen Forderungen in Millionenhöhe gestellt.77 Bei der Übernahme von Bildungseinrichtungen konkurrierten die Kammern mit anderen potentiellen Trägern. Sie waren daher mit der Frage konfrontiert, wie sie sich gegenüber Drittanbietern positionieren wollten. Freie Anbieter hatten sich zunächst auf die berufliche Weiterbildung konzentriert, verlagerten sich im Laufe der Zeit aber zunehmend auf die berufliche Erstausbildung. Letztere war eine verlässlichere Quelle staatlicher Fördermittel.78 In mehreren Bezirken sorgten die wirtschaftlichen Schwierigkeiten für eine dauerhafte Krise des Lehrstellenmarkts. Das Vorhaben, betriebliche gegenüber nicht-betrieblichen Ausbildungsplätzen als vorrangig darzustellen, wurde dadurch immer mehr in Frage gestellt. 1991 berichteten die brandenburgischen Kammern im DIHT-Vorstand, dass in ihrem Land die Hälfte aller Ausbildungsplätze gefährdet sei. Man hoffte daher, dass der Staat erneut in die Berufsausbildung intervenieren würde.79 Besonders groß war die Ausbildungslücke in Ostbrandenburg. Ende 1990 hatte dort ein Halbleiterwerk geschlossen, was mit dem Verlust von 700 Ausbildungsstellen einhergegangen war.80 Anfang 1991 schätzte die IHK in Frankfurt an der Oder, dass der freie Markt nur für 75 76 77 78 79 80
Korb, Neuordnung, S. 275. Protokoll zur Sitzung des DIHT-Hauptgeschäftsführers mit den Hauptgeschäftsführern der IHKn der DDR in Berlin (West) vom 1. Oktober 1990. RWWA 181-1886-3. Protokoll zum Treffen des DIHT-Hauptgeschäftsführers mit den Hauptgeschäftsführern aus den neuen Bundesländern in Schwerin vom 4./5. Juli 1991. RWWA 181-1886-3. Wolfinger, Weg, S. 183. Protokoll der DIHT-Vorstandssitzung vom 5. Februar 1991, Anlage zu TOP 6: Bericht aus den neuen Ländern. RWWA 181-1813-2. Protokoll zur Sitzung des DIHT-Hauptgeschäftsführers mit den Hauptgeschäftsführern der IHKn der DDR in Berlin (West) vom 1. Oktober 1990. RWWA 181-1886-3.
4.1 Industrie- und Handelskammern als Träger staatlicher Aufgaben
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ca. 35 Prozent aller Bewerber Lehrstellen bereitstellen würde. Für weitere 35 Prozent könnten Ausbildungsplätze in über- bzw. außerbetrieblichen Maßnahmen geschaffen werden. Im Angesicht dieser dramatischen Unterversorgung startete die Kammer eine „Solidaritätsaktion“ mit ihrer Heilbronner Patenkammer. 70 Betriebe, die zum Großteil in der Heilbronner Vollversammlung vertreten waren, stellten insgesamt 270 Lehrstellen bereit. Die IHK Heilbronn verfasste daraufhin ein Schreiben an alle Kammern im alten Bundesgebiet. Darin trat sie dafür ein, ostdeutsche Auszubildende in freie westdeutsche Ausbildungsplätze zu vermitteln.81 Für die von der IHK Heilbronn propagierte Lösung sprach, dass Deutschland im ersten Jahr der Einheit ein, aus Sicht von Lehrstellenbewerbern, weiterhin zweigeteiltes Land war:82 Während es im Osten große Schwierigkeiten gab, eine ausreichende Zahl betrieblicher Ausbildungsplätze bereitzustellen, herrschte im Westen vielerorts ein Angebot, das die Zahl der Bewerber deutlich übertraf. Ostdeutsche Jugendliche nahmen aufgrund dessen auch Ausbildungsplätze in den alten Bundesländern an. Dies war insgesamt nicht selten – es kam allerdings vorwiegend in Grenzregionen vor, wo die Möglichkeit bestand, zu pendeln. Bereits 1990 waren etwa 10.000 ausbildungswillige Jugendliche auf diesem Wege versorgt worden, ohne dass es eine öffentliche Werbekampagne gegeben hatte.83 In weiter östlich gelegenen Regionen, wo die Chancen auf eine reguläre betriebliche Ausbildungsstelle ohnehin niedriger waren, besaßen Lehrstellenbewerber diese Option gleichwohl nicht. Den Standpunt des DIHT hatte Präsident Stihl auf der Lehrstellenkundgebung in Halle erklärt: Wir im Westen wollen die jungen Menschen nicht aus ihrer Heimat abwerben. Das zerreißt wichtige Bindungen und würde das wirtschaftliche Potential hier auf Jahre hinaus schwächen. Tatkraft und Optimismus der jungen Menschen werden hier gebraucht.84
Die Initiatoren der Vermittlungskampagne brachten sich daher unter Rechtfertigungsdruck, indem sie diese Linie in Frage stellten. Die Ostbrandenburger IHK erklärte auf der Hauptgeschäftsführer-Konferenz des Frühjahres 1991, mit dem Vorstoß eine „letzte Maßnahme“85 im Sinn zu haben, die greifen solle, falls es nicht gelinge, eine hinreichende Zahl an Ausbildungsplätzen zu schaffen. Sie erhielt für ihre Position sowohl Kritik als auch Verständnis. Nichtsdestoweniger vereinbarten die Hauptgeschäftsführer, dass „Sonderlösungen“ zurückstehen müssten. Es gelte, die Anstrengungen zu verstärken, um die Lehrstellensituation vor Ort zu verbessern. Zur gezielten Vermittlung ostdeutscher Jugendlicher in westdeutsche Ausbil81 82 83 84
85
Protokoll zur DIHT-Hauptgeschäftsführer-Konferenz in Bonn vom 22./23. April 1991. RWWA 181-1886-1. Der Lehrling 1991: Im Westen von der Wirtschaft hofiert, im Osten vom Staat therapiert. In: Handelsblatt, 12. März 1991. BMBW, Berufsbildungsbericht 1991, S. 25. Mit Hinweis auf diese Äußerung des DIHT-Präsidenten hatte Hauptgeschäftsführer Schoser schon früher daran erinnert, dass eine öffentlich geförderte Vermittlung von ostdeutschen Bewerbern in westdeutsche Lehrstellen unterbleiben sollte. Schreiben des DIHT-Hauptgeschäftsführers an die Hauptgeschäftsführer der IHKn vom 6. September 1990. RWWA 181-1886-3. Protokoll zur DIHT-Hauptgeschäftsführer-Konferenz in Bonn vom 22./23. April 1991. RWWA 181-1886-1.
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4. Die Reorganisation der Wirtschaft als Herausforderung
dungsplätze kam es daraufhin nicht. Was auf den ersten Blick als elegante Lösung gewirkt hatte, war ohnedies nicht ohne Haken: Die meisten unbesetzten Lehrstellen in den alten Bundesländern gab es für gewerblich-technische Berufe. Was diesen Bereich betraf, war die Lehrstellenlücke in Ostdeutschland gar nicht so groß und ein keineswegs flächendeckendes Problem.86 Der anhaltende Mangel an betrieblichen Lehrstellen führte beim DIHT in anderer Hinsicht zu einem Umdenken. Im Herbst 1990 hatte der Dachverband den Kammern geraten, Lehrwerkstätten nur vorübergehend zu nutzen und sich darauf einzustellen, diese der Wirtschaft baldmöglichst zurück zu übertragen. Dies indes erwies sich als undurchführbar. Eine Befragung durch das Bundesinstitut für Berufsbildung ergab, dass ein Großteil der Ausbildungsstätten in Ostdeutschland die eigene Zukunft für ungewiss hielt. Das Bundesinstitut prognostizierte daher, dass die „Wiederbelebung alter Ausbildungstraditionen“87 und eine „Neuentwicklung im Bereich kleiner und mittlerer Betriebe“ viele Jahre in Anspruch nehmen werde. Das Vertrauen in eine positive wirtschaftliche Entwicklung sei eine wichtige Voraussetzung, damit sich in Ostdeutschland kleinbetriebliche Ausbildungsstrukturen herausbilden könnten. Die Befragung habe nicht zuletzt ergeben, dass es hieran fehle. Aufgrund der Lage der ostdeutschen Industrie blickte auch DIHT-Hauptgeschäftsführer Schoser besorgt auf den dortigen Lehrstellenmarkt.88 1991 richtete er im DIHT einen Arbeitsstab für die Berufsbildung in den neuen Ländern ein, dessen Leitung er dem Geschäftsführer der Abteilung für Berufsausbildung, Raddatz, übertrug. Der Arbeitsstab war der Hauptgeschäftsführung unmittelbar unterstellt. Raddatz wurde von seinen übrigen Aufgaben freigestellt. Mit Blick auf das Ausbildungsjahr 1991 erwarteten die ostdeutschen Kammern, dass die gemeinsame Kraftanstrengung „mindestens so groß“89 wie im vorangegangenen Jahr ausfallen müsse. Durch Unternehmenskonkurse drohten sich nicht nur die Chancen des laufenden Schulabschlussjahrgangs zu verschlechtern; wenn große Ausbildungsstätten geschlossen wurden, vergrößerte sich auch die Zahl der „Konkurslehrlinge“, die ebenfalls nach einer neuen Lehrstelle suchen würden. Vor diesem Hintergrund entwickelte der DIHT das Konzept der Ausbildungsringe:90 Dieses sah vor, Trägervereine unter Leitung und Beteiligung der Kammern zu grün86
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Weit stärker fragten ostdeutsche Jugendliche Lehrstellen für kaufmännische Berufe nach – einem Bereich, in dem es in den alten Bundesländern kaum an Bewerbern mangelte. Eine Kampagne zur Ost-West-Vermittlung wurde daher auch später – trotz sporadischer Vorstöße einzelner Politiker in diese Richtung – nie ernsthaft in Betracht gezogen. Protokoll zur Beratung von DIHT-Präsident Stihl mit den Präsidenten und Hauptgeschäftsführern der IHKn in den neuen Bundesländern in Leipzig vom 28. April 1993. RWWA 181, Zwischenarchiv Iron Mountain, Nr. 6090. Autsch/Brandes/Walden, Bedingungen, S. 21. Protokoll zur DIHT-Hauptgeschäftsführer-Konferenz in Bonn vom 20. November 1990. RWWA 181-1813-2. Bericht aus den neuen Ländern (Anlage zum Protokoll der DIHT-Vorstandssitzung in Bonn vom 5. Februar 1991). RWWA 181-1813-2. Vermerk Ausbildungsringe zur Sicherung betrieblicher Ausbildungskapazitäten (Anlage zum Rundschreiben des DIHT an die Mitglieder des Geschäftsführer-Arbeitskreises Berufsbildung vom 12. Februar 1991. RWWA 181-1401-1.
4.1 Industrie- und Handelskammern als Träger staatlicher Aufgaben
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den, denen Betriebe ihre nicht mehr genutzten Ausbildungskapazitäten übertragen bzw. vermieten konnten.91 Ausbildungsringe sollten als Vertragspartner in Lehrverträge eintreten, die aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten von Unternehmen bedroht waren. Ziel war es, Ausbildungsplätze sowie benötigtes Personal anzumieten, um Ausbildungen fortzuführen. Die Einrichtungen verblieben dabei im Eigentum der Unternehmen. Zur Finanzierung des Konzepts sollten öffentliche Fördermittel nach § 40 c AFG beantragt werden, der Sonderregelung für Marktbenachteiligte. Ausbildungsringe waren nicht zuletzt ein Mittel, um die Vorrangigkeit betrieblicher Ausbildungsplätze darzustellen. So plante man, Konkurslehrlinge nicht nur „aufzufangen“, sondern auch baldmöglichst in reguläre betriebliche Lehrverhältnisse weiter zu vermitteln. Das Konzept stieß auf positive Resonanz bei den Kammern. Der DIHT stellte daraufhin Anfang 1991 Mustersatzungen sowie weitere Unterlagen zur Gründung von Ausbildungsringen bereit.92 Innerhalb weniger Monate entstanden in Ostdeutschland 45 dieser Vereine. Bereits im ersten Ausbildungsjahr gelang es mit ihrer Hilfe, annähernd 20.000 Ausbildungsverhältnisse zu sichern; unterdessen stieg auch die Zahl der Jugendlichen, die in außerbetriebliche Maßnahmen vermittelt wurden, von ca. 11.500 in 1990 auf 38.000.93 Hiervon entfiel ein erheblicher Anteil auf freie Träger. Die Ausbildungsringe trugen maßgeblich dazu bei, dass eine Vielzahl an Lehrstellen gesichert werden konnte – trotz zunehmender Unternehmenskonkurse. Den IHKn brachte das Engagement allerdings auch heftige Kritik ein: IG Metall-Vorstand Hiesinger verunglimpfte Ausbildungsringe als „Briefkasten firmen“94, deren vorrangiger Zweck es sei, „öffentliche Mittel abzukassieren“, ohne selbst Ausbildungen durchzuführen. Der Gewerkschafter bezeichnete die Gründung der Trägervereine als Einladung an Betriebe, sich von ihren Ausbildungskapazitäten zu trennen, um anschließend nichtsdestoweniger weiter auszubilden – zu niedrigeren Kosten. Hiesinger bekräftigte seine schon früher geäußerte Auffassung, wonach dem Lehrstellenproblem in den neuen Ländern vor allem moralische Ursachen zugrunde lägen. Zugleich erneuerte er seine Forderung, den Arbeitsämtern sämtliche Aufgaben der beruflichen Bildung zu übertragen. Nicht nur die Gewerkschaften kritisierten, dass öffentlich finanzierte Ausbildungsplätze in Konkurrenz mit regulären betrieblichen Plätzen traten. Das Problem, dass staatliche Eingriffe in den Ausbildungsmarkt für Unternehmen ggf. ein Anreiz waren, Ausbildungskapazitäten auszulagern, war nicht gänzlich von der 91
92 93 94
Die Ausbildungsringe sollten eine möglichst breite Unterstützung gewinnen. Neben der IHK sollten deshalb auch Wirtschaftsverbände und Kommunen, ggf. auch die Handwerkskammern einbezogen werden. Darüber hinaus wollte man Unternehmen aufnehmen, um zu zeigen, dass „auch in der schwierigen wirtschaftlichen Situation in den neuen Bundesländern die Nachwuchsausbildung eine Sache der Wirtschaft“ sei. Ebd. Rundschreiben des DIHT an die IHKn in den neuen Bundesländern vom 13. März 1991. RWWA 181-1401-1. BMBW, Berufsbildungsbericht 1992, S. 13. Zit. nach: IG Metall: „Weder gibt es in Ostdeutschland eine ausreichende Zahl von Ausbildungsangeboten, noch ist die Ausbildungsqualität hinreichend“. In: Handelsblatt, 26. Juli 1991.
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4. Die Reorganisation der Wirtschaft als Herausforderung
Hand zu weisen.95 Das Argument, dass Ausbildungsringe ein „Moral Hazard“Problem erzeugten, muss mit Blick auf weitere Tatsachen indessen erheblich relativiert werden: In den neuen Ländern herrschte Anfang 1991 ein Mangel an kleinen und mittleren Betrieben, die Ausbildungsplätze anbieten konnten.96 Sogar dann, wenn Ausbildungsstätten in der Obhut von Betrieben verblieben, löste dies die Probleme nicht, da die Trägerbetriebe in diesem Fall begannen, die Ausbildung nach eigenen Bedürfnissen auszurichten. Sowohl die Zahl der angebotenen Lehrstellen als auch das Spektrum der angebotenen Berufe verkleinerte sich dadurch in der Regel.97 Beide Befunde zeigten, dass es nach Ende der zentralen Planwirtschaft zwei Strukturmomente gab, die nicht recht zueinander passten: Große, spezialisierte Ausbildungsstätten einerseits und kleine, wirtschaftlich schwache Betriebe andererseits. Ausbildungsringe lösten daher ein Problem der Inkongruenz, das für den Lehrstellenmangel in Ostdeutschland mitverantwortlich war: Sie halfen, das Missverhältnis zwischen Betrieben und Ausbildungsstätten im Wege des Verbundprinzips zu überwinden. 1992 ging die Zahl neuer außerbetrieblicher Lehrverträge zurück: Zum einen konsolidierte sich das Lehrstellenangebot, zum anderen gab es weniger „Konkurslehrlinge“.98 Angesichts dieser positiven Entwicklung schien die Angleichung des ostdeutschen Ausbildungssektors an westdeutsche Verhältnisse in greifbare Nähe zu rücken. Die IHKn sowie der DIHT bekräftigten daher ihre Auffassung, dass die Berufsausbildung „nur so lange wie nötig“ durch die Kammern betrieben werden solle.99 Ausbildung sei Sache der Unternehmen; langfristig wollten die IHKn sich auf ergänzende Bildungsangebote beschränken, vor allem um Kleinbetriebe zu unterstützen. Die Zahl der außerbetrieblichen Ausbildungsplätze ging im darauffolgenden Jahr weiter zurück. 1993 wuchs das Angebot an betrieblichen Lehrstellen erstmals kräftig. Nichtsdestoweniger drohte es zu einer erneuten, dramatischen Wende am Lehrstellenmarkt zu kommen. Da in der darauffolgenden Zeit mehrere geburtenstarke Jahrgänge die Schule abschlossen, stieg die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen erheblich: Sie nahm binnen weniger Jahre um 45 Prozent zu.100 Der Zuwachs an betrieblichen Ausbildungsplätzen hielt mit dieser Entwicklung nicht Schritt.101 95 Grünert, Bildungs- und Ausbildungspolitik, S. 157 ff. 96 „Inwieweit diese kleinen und mittleren Betriebe, die in Zukunft ein wesentlicher Träger der betrieblichen Berufsausbildung sein müssen, heute bereits existieren und Ausbildungsplätze anbieten, ist allerdings gegenwärtig noch nicht bekannt.“ Autsch/Brandes/Walden, Bedingungen, S. 21. 97 Ebd. S. 17. 98 BMBW, Berufsbildungsbericht 1993, S. 13. 99 Protokoll zur Beratung des DIHT-Hauptgeschäftsführers mit den Hauptgeschäftsführern der IHKn in den neuen Bundesländern in Bonn vom 4. Mai 1992. RWWA 181, Zwischenarchiv Iron Mountain, Nr. 6089. 100 Wagner, Apprenticeship System, S. 16. 101 1993 wurden insgesamt nur noch 13.000 außerbetriebliche Ausbildungsplätze benötigt. Ihre Gesamtzahl war damit auf fast ein Drittel des Standes von 1991 zurückgegangen. Angesichts der Vielzahl der Lehrstellenbewerber mussten 1994 allerdings knapp 26.000 neue außerbetriebliche Ausbildungsverhältnisse geschaffen werden; auch 1995 konnten rund 20.500 Bewer-
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Die Kammern kamen im Frühjahr 1993 zu einer kritischen Lagebewertung. Man erwartete, dass im darauffolgenden Lehrjahr nur etwa der Hälfte der Bewerber eine betriebliche Lehrstelle angeboten werden könne.102 Vor allen Dingen lief die Sonderregelung zur Förderung marktbenachteiligter Lehrstellenbewerber nach § 40 c AFG aus, ohne dass die Bundesregierung signalisierte, eine Nachfolgeregelung treffen zu wollen. DIHT-Vizepräsident Fell warnte daher, dass die befürchtete „Ausbildungskatastrophe“ in Ostdeutschland schlussendlich doch noch eintreten könne.103 Im Vorstand des IHK-Dachverbands plädierte er für den Erhalt der Ausbildungsringe.104 Mit ihrer Hilfe sei es schon einmal gelungen, alle jungen Menschen mit Lehrstellen zu versorgen. Man habe ferner verhindern können, dass es zu schulischen Ausbildungen gekommen sei. Stattdessen sei im sozialen Umfeld von Betrieben – also dual – ausgebildet worden. Lehrlinge konnten noch während ihrer Lehre in Unternehmen vermittelt werden. Ungeachtet der Kritik der IG Metall hätten sich die Ausbildungsringe daher als richtiger Weg für die jungen Menschen erwiesen. Der DIHT sowie die ostdeutschen IHKn verständigten sich darauf, ihre frühere Doppelstrategie wiederaufzunehmen: Alle Kräfte sollten darauf konzentriert werden, mehr betriebliche Lehrstellen zu schaffen. Die Ausbildungsringe wurden als Auffangoption eingeplant; von der Bundesregierung erwartete man diesbezüglich eine Finanzierungszusage. DIHT-Hauptgeschäftsführer Schoser äußerte auf einer Tagung des Kuratoriums der Deutschen Wirtschaft für Berufsbildung dementsprechend, in früheren Prognosen zu optimistisch gewesen zu sein. In Ostdeutschland könne auch künftig auf außerbetriebliche Plätze nicht verzichtet werden.105 Schoser forderte den Bund auf, marktbenachteiligte Jugendliche weiterhin zu fördern. Dies verband er mit der Ankündigung, die Berufsberatung in den neuen Ländern weiter auszubauen. Jedes Unternehmen, das in Ostdeutschland investiere und in unterdurchschnittlichem Maße ausbilde, werde Besuch erhalten. Die Warnungen der Kammerorganisation stießen auf Gehör: Die Bundesregierung startete 1993 die „Gemeinschaftsinitiative Ost“, an der auch die neuen Länder beteiligt waren.106 Dies ersetzte die entfallene Förderung nach § 40 c AFG. Ein sächsisches Sonderprogramm im Rahmen der Gemeinschaftsinitiative Ost (GISA) unterstrich kurz darauf die besondere Bedeutung, die den Ausbildungsringen für die Berufsausbildung in Ostdeutschland zukam. GISA führte 1995 zu einer grund-
102 103 104 105 106
ber lediglich über solche Zusatzangebote versorgt werden. BMBF, Berufsbildungsbericht 1996, S. 5. Protokoll der Beratung des DIHT-Präsidenten Stihl mit den Präsidenten und Hauptgeschäftsführern der IHKn in den neuen Bundesländern in Leipzig vom 4. Mai 1993. RWWA 181, Zwischenarchiv Iron Mountain, Nr. 6090. Nachdem die ostdeutschen IHKn dem DIHT beigetreten waren, wurde ein zusätzliches Vizepräsidenten-Amt geschaffen. In dieses war der Präsident der IHK Halle-Dessau gewählt worden. Protokoll der DIHT-Vorstandssitzung in Saarbrücken vom 16. Juni 1993. RWWA 181, Zwischenarchiv Iron Mountain, Nr. 1617. DIHT plädiert für außerbetriebliche Ausbildung von Schulabgängern. In: Handelsblatt, 21. April 1993. BMBF, Berufsbildungsbericht 1995, S. 92.
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4. Die Reorganisation der Wirtschaft als Herausforderung
legenden Neuausrichtung der staatlichen Ausbildungsplatzförderung: Die Unterstützung marktbenachteiligter Jugendlicher wurde stärker auf den betrieblichen Kontext ausgerichtet. Das Programm sollte u. a. für einen besseren Übergang der Teilnehmer in ein Arbeitsverhältnis sorgen, die Kosten der Förderung senken und das Ausbildungsangebot stärker an den Bedarfen der Wirtschaft ausrichten.107 GISA machte die Ausbildungsringe in Dresden, Leipzig und Südwestsachsen zu ihren zentralen verwaltungstechnischen Trägern. Auszubildende, die ihre Lehrstelle über einen Ausbildungsring erhalten hatten, sollten möglichst rasch in betriebliche Plätze vermittelt werden. In gewerblichtechnischen Berufen beschränkte GISA die förderfähige Ausbildungsdauer, die in überbetrieblichen Bildungseinrichtungen absolviert wurde, auf maximal 54 Wochen (ab 1996: 40); in den übrigen Berufen auf 28 Wochen (ab 1996: 22). Nach Ende der Förderung sah das Programm betriebliche Praktika vor. Dieses Konzept zielte darauf, einen Übernahmeanreiz zu schaffen und Betriebe beim ersten, kostenintensiven Abschnitt einer Ausbildung zu entlasten: Der Arbeitsertrag eines Auszubildenden überstieg spätestens im dritten Lehrjahr die Kosten einer tariflichen Ausbildungsvergütung.108 Die IHKn hatten nicht nur die Aufgabe, die Ausbildungsringe zu organisieren. Sie waren Teil eines Koordinationsnetzwerks, in dem sie die Ausbildungsbedarfe ihrer Betriebe ermittelten und Praktikumsplätze einwarben. Die Ergebnisse des sächsischen Programms flossen ab 1996 in das neu konzipierte „Bund-Länder-Ausbildungsplatzprogramm Ost“ ein, das an die Stelle der Gemeinschaftsinitiative Ost trat. Die Kooperation wurde mehrmals verlängert. Vorläufiges Ergebnis der Transformation der Berufsausbildung in Ostdeutschland war, dass ein praxisnahes System erhalten blieb. Zu einer vollen Angleichung an alt-bundesdeutsche Verhältnisse kam es freilich nicht. In den neuen Ländern habe sich, so ein Ergebnis der jüngeren Sozialforschung, das duale System nie etabliert – vielmehr habe sich ein „triales System“109 herausgebildet. Letzteres sei durch öffentlich geförderte, überbetriebliche Ausbildungsträger gekennzeichnet, die die herkömmliche Aufgabenteilung zwischen Staat und Wirtschaft als dritte Säule ergänzen. Auf die Förderung marktbenachteiligter Jugendlicher konnte erst gut 20 Jahre nach der Wiedervereinigung verzichtet werden. Sie hatte als spezifisches Element der Berufsausbildung in Ostdeutschland ausgedient, als die Zahl der Schulabgänger infolge des demographischen „Wendeknicks“ stark zurückging. Das letzte „Bund-Länder-Ausbildungsplatzprogramm Ost“ lief 2013 aus.110 Das Programm zeigte nach Einschätzung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) grundsätzlich verallgemeinerbare Innovationspotentiale auf: Insbesondere Ausbildungsringe unter Einbeziehung der Kammern konnten gute Ergebnisse vorweisen, wenn es darum ging, Lehrlinge von geförderten in betriebliche Ausbildungsverhältnisse zu vermitteln. Die Ausbildungsringe hatten sich somit 107 108 109 110
Hild/Mohri/Schnabel, Ausbildungsförderung, S. 24 f. Ebd. S. 86. Grünert u. a., Betriebe, S. 204. Neue Ausbildungsverträge konnten letztmals 2010 gefördert werden. Seither ist der Anteil außerbetrieblicher Ausbildungsverhältnisse in den neuen Bundesländern rückläufig. BMBF, Berufsbildungsbericht 2014, S. 23.
4.2 Standortpolitik und gewerbliches Gesamtinteresse
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auch aus Sicht des Staates als erfolgreiche Maßnahme erwiesen, um Krisen im System der dualen Berufsausbildung zu bewältigen.111 4.2 STANDORTPOLITIK UND GEWERBLICHES GESAMTINTERESSE 4.2.1 Staatliche Planung und standortpolitisches Wirken nach der Wiedervereinigung Standortpolitik umfasst sämtliche Kammertätigkeiten, die darauf gerichtet sind, standortspezifische Grundlagen wirtschaftlichen Handelns zu verbessern. Auf überregionaler Ebene zielt sie auf Rahmenbedingungen, die in den meisten Fällen von Staat gesetzt werden. Auch auf lokaler und regionaler Ebene ist staatliches Handeln standortrelevant, insbesondere bei Bau-, Verkehrs- sowie Infrastrukturvorhaben. Hier sind die IHKn als „Träger öffentlicher Belange“ i. d. R. in die vorbereitenden Verwaltungsabläufe eingebunden.112 Durch formalisierte Mitspracherechte und Stellungnahmen verfügen sie über Möglichkeiten, unmittelbar standortpolitisch zu wirken. Das „Geschäftsfeld Standortpolitik“ lässt die Simultanfunktion der Kammern als Träger staatlicher Aufgaben und als politische Vertretung gewerblicher Gesamtinteressen daher in besonderer Weise hervortreten. Regionale Wirtschaftspolitik ist nicht auf formale Abläufe begrenzt, sondern konkurriert darüber hinaus mit anderen Akteuren und divergenten Positionen um allgemeine Zustimmung sowie begrenzte Ressourcen. Organisatorisch ist die Standortpolitik je nach IHK anders verankert, da dies keiner einheitlichen Norm unterliegt.113 Im Zuge der Wiedervereinigung wurde u. a. das gesamte bundesdeutsche Planungsrecht auf die neuen Länder übertragen. Der standortpolitische Bezugsrahmen änderte sich damit grundlegend. In der Bundesrepublik wurde die ökonomische – oder auch anderweitige – Nutzung geographischer Räume durch administrative Prozesse sowie Beteiligungsverfahren koordiniert. In der DDR hatte es ein derartiges Planungssystem nicht gegeben.114 Das Raumplanungssystem der Bundesrepublik war in seinen Grundzügen in den 1960er Jahren entstanden, als auf mehreren
111 Dolze/Friedrich/Machalowski, Innovationspotenziale, S. 57. 112 Dies geschieht auf Grundlage mehrerer Gesetze auf Bundes- und Länderebene. Kommunen sind bei der Aufstellung von Bauleitplänen z. B. verpflichtet, die IHKn zu unterrichten und anzuhören (gem. § 4 Abs. 1 BauGB). Auch bei Planfeststellungsverfahren zum Ausbau der Verkehrsinfrastruktur geben die IHKn Stellungnahmen ab (gem. § 73 Abs. 2. Verwaltungsverfahrensgesetz sowie auf Grundlage weiterer verkehrsträgerbezogener Gesetze: § 18 Allgemeines Eisenbahngesetz, § 28 Abs. 1a Personenbeförderungsgesetz, § 17 Bundesfernstraßengesetz und §§ 14, 17 Bundeswasserstraßengesetz). 113 Lediglich im Rahmen der gemeinsamen „Corporate Identity“ der IHKn zählt Standortpolitik zu den „Dachmarken“, die die jeweiligen Geschäftsfelder einer Kammer darstellen. Standortpolitik steht hier zumeist an vorderster Stelle. Die Vereinheitlichung der Außendarstellung führte unterdessen nicht zu einer Harmonisierung der Organisationsstrukturen. 114 Ein solches Planungsrecht war in der DDR entbehrlich, weil es an mehreren Grundlagen fehlte: kommunaler Selbstverwaltung, Privateigentum und demokratisch-rechtsstaatlichen Verfahrensgrundsätzen. Vgl. Lorenz/Wegrich/Wollmann, Rechtsanwendung, S. 42.
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4. Die Reorganisation der Wirtschaft als Herausforderung
hoheitlichen Ebenen erste Planungsgesetze in Kraft traten.115 Zu dieser Zeit waren die Erwartungen an staatliche Planung generell hoch. Zum Ausdruck kam diese Planungseuphorie insbesondere in der damals eingeführten „Globalsteuerung“. Die Planungsgesetzgebung hatte das zentrale Anliegen, staatliches Handeln nach den Verfahrensgrundsätzen des demokratischen Rechtsstaats zu ordnen, wissenschaftlich generierte Daten zugrunde zu legen und dabei Einzel- sowie Gruppeninteressen einzubeziehen. Die Raumplanung umfasst sämtliche planerischen Prozesse, mit denen sich die Nutzung geographischer Räume administrativ steuern lässt.116 Welche materiellen Entwicklungsziele dabei verfolgt werden, muss legislativ bestimmt werden; dies ist Gegenstand der Raumordnungspolitik.117 Sie fällt in die Hoheit der Länder, der Bund verfügt bei der Raumordnung nur über Rahmenkompetenz. 1965 kam ein erstes Raumordnungsgesetz (ROG) zustande, das gemeinsame Ziele und allgemeine Grundsätze der Raumordnung festlegte.118 Bedeutsam war vor allem die Maßgabe, im gesamten Bundesgebiet gleichwertige Lebensbedingungen zu schaffen.119 Das ROG machte Landesentwicklungspläne zu wichtigen Instrumenten der Raumordnung. In ihnen fassten die Länder Vorsätze für ihre weitere räumlichstrukturelle Entwicklung. Die Länder schufen außerdem eine zusätzliche überörtliche Planungsebene, sogenannte Planungsregionen. Bund, Länder und Planungsregionen bildeten ein hierarchisches System, aus dem sich raumplanerische Kompetenzen einer jeweiligen Ebene ergaben, da diese die Entwicklungspläne einer übergeordneten Ebene zu beachten hatte. Wegen der faktischen Handlungsunfähigkeit der Länder waren die Kommunen die erste und somit zunächst einzige intakte Verwaltungsebene in den neuen Bundesländern. Städten und Gemeinden, die erst im Zuge der Friedlichen Revolution ihre Selbstverwaltungsrechte zurückerlangt hatten, ergaben sich infolgedessen umfassende Handlungsfreiräume. Dies galt speziell für die Planung der städtebaulichen Entwicklung, für die im Baugesetzbuch (BauGB) die Bauleitplanung als maßgebliches Instrument vorgesehen ist. Die Bauleitplanung ist ein zweistufiges Verfahren, an dem die IHKn als Träger öffentlicher Belange beteiligt sind. Kommunen legen mit Flächennutzungsplänen als vorbereitenden Bauleitplänen die beabsichtigten Nutzungsarten im Gemeindegebiet fest. Während Flächennutzungspläne dem behördeninternen Gebrauch dienen, treffen die auf ihrer Grundlage entstehenden Bebauungspläne detaillierte und allgemeinverbindliche Festlegungen zur Nutzung von Grund und Boden. Als unterste Ebene des mehrstufigen Planungssystems 115 116 117 118 119
Vgl. Leendertz, Ordnung, S. 143 f. Vgl. Turowski, Raumplanung, S. 895. Vgl. Sinz, Raumordnung/Raumordnungspolitik, S. 863 ff. Vgl. Ernst, Bundesraumordnung, S. 18. § 2 des Raumordnungsgesetzes von 1965 schrieb vor, Sorge zu tragen, dass die Lebensbedingungen im gesamten Bundesgebiet „mindestens gleichwertig“ waren. Als „Herstellung von gleichwertigen Lebensverhältnissen“ fasste erstmals das Bundesraumordnungsprogramm von 1975 dieses Ziel (Bundesraumordnungsprogramm 1975. BT-Drs. 7/3584). In das Grundgesetz wurde diese Formulierung mit der Verfassungsreform von 1994 übernommen. In § 72 erhielt der Bund eine Gesetzgebungskompetenz, um für „die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ zu sorgen.
4.2 Standortpolitik und gewerbliches Gesamtinteresse
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mussten Kommunen ihre Bauleitpläne auf übergeordnete Ziele der Raumordnung abstimmen. Insofern war die Autonomie der Städte und Gemeinden prinzipiell begrenzt – durch Landes- und Regionalpläne, die in Länderhoheit entstanden. Dieses bedeutende Glied fehlte allerdings in der Planungskette. Noch während der Beitrittsverhandlungen war nach einer Lösung gesucht worden, um die Nahtstelle im Baurecht zu schließen. Der Einigungsvertrag führte Sonderregelungen ein, aus denen sich ein provisorisches städtebauliches Sonderrecht für die neuen Länder ergab. Es handelte sich dabei freilich um kein geschlossenes Regelwerk, sondern um ein Geflecht von Maßgaben und Querverweisen, das auch Experten bisweilen schwer zugänglich war.120 Grundlage des Sonderrechts war ein Zusatz im BauGB, der Kommunen autorisierte, Bauleitpläne nach den allgemeinen Grundsätzen des Bundesraumordnungsgesetzes aufzustellen, solange die Länder noch keine verbindlichen Zielaussagen zur Landes- und Regionalentwicklung formuliert hatten. Das Informationsbedürfnis der Kommunen zum neuen Bauplanungsrecht war sehr groß. Dies registrierten die IHKn u. a. im Rahmen einer gemeinsamen Veranstaltung der IHK Würzburg-Schweinfurt mit der IHK Suhl im Oktober 1990 in Meiningen. Die Tagung „Gewerbeflächenausweisung in Südthüringen“ stieß auf überwältigende Resonanz. Dies weckte die Idee, einen verständlichen Leitfaden für planende Gemeinden und Genehmigungsbehörden zusammenzustellen, der die planungsrechtlichen Besonderheiten für die neuen Bundesländer berücksichtigte.121 Nach seinem Erscheinen war das Werk binnen wenigen Wochen vergriffen. Kommunen besaßen baurechtlich große Freiheiten, standen wirtschaftspolitisch aber unter großem Druck. Vor dem Hintergrund steigender Arbeitslosigkeit wuchs die Hoffnung, mit einer entschlossenen Ansiedlungspolitik neue Arbeitsplätze zu schaffen. Nicht nur Erwartungen aus der eigenen Bevölkerung sorgten dafür, dass viele Kommunen daran interessiert waren, schnell neue Gewerbeflächen auszuweisen. Dazu trug auch die Konkurrenz benachbarter Städte und Gemeinden bei; Fördergelder, die die Bundesregierung ab Anfang 1991 zu entsprechenden Investitionen beisteuerte, stachelten diesen Wettbewerb weiter an. Die Förderung erfolgte im Rahmen einer groß angelegten Transferoffensive, um die wirtschaftlichen Schwierigkeiten in Ostdeutschland abzufedern. In der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Infrastruktur“ übernahm der Bund bei kommunalen Investitionen in die wirtschaftsnahe Infrastruktur bis zu 90 Prozent der Kosten.122 Die umfangreiche finanzielle Unterstützung nährte in der Öffentlichkeit den Eindruck, die Ostdeutschen müssten „nur die Arme hochkrempeln und in die randvoll gefüllten Fleischtöpfe“123 langen, um ihrer Wirtschaftskrise Herr zu werden. Es herrschte 120 Hiervon zeugte folgender Kommentar: „Die Umsetzung dieses Rechtszustandes bereitet dabei vor allem deshalb besondere Schwierigkeiten, weil der Gesetzgeber [ ] es dem Kombinationsgeschick des Rechtsanwenders überläßt, sich die richtige Lesefassung zusammenzustellen.“ Stüer, Bauplanungsrecht, S. 268. 121 Jahn/Zöller, Gewerbeflächenausweisung, S. 6. 122 Jahresgutachten 1991/92 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. BT-Drs. 12/1618, S. 73. 123 Im Dickicht der Finanzen. In: Die Zeit, 23/1991.
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demgegenüber nur wenig Verständnis für eine „paradox anmutende Gefahr“, wonach formale Hürden dazu führen sollten, dass die Fördermilliarden nicht abgerufen wurden. In der Praxis standen Länder und Kommunen nichtsdestoweniger vor manchen Schwierigkeiten, den Geldstrom in sinnvolle Kanäle zu lenken. Die Erschließung eines Gewerbegebiets war gemäß den Kriterien der Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen Infrastruktur z. B. nur dann förderfähig, wenn das Gebiet zu mindestens 50 Prozent von produzierenden Betrieben genutzt wurde. Kommunen scheiterten freilich nicht nur an Förderbestimmungen wie diesen, sondern oft bereits an den Anforderungen, die eine reguläre Bauleitplanung stellte.124 Wie die IHK Schwerin Ende Mai 1991 bekanntgab, hatte sie Stellungnahmen zu 45 Bebauungsplänen abgegeben und im Zuge dessen eine hohe Fehlerquote feststellen müssen.125 Sie hatte daher viel Verständnis dafür, dass zu diesem Zeitpunkt erst zwei dieser Pläne genehmigt worden waren. Letztlich fehlte es indes auch den Genehmigungsbehörden an Erfahrung mit den neuen planungsrechtlichen Vorgaben. Sie fällten des Öfteren Entscheidungen zugunsten von Bauvorhaben, die im Hinblick auf die weitere städtebauliche Entwicklung als fragwürdig gelten durften.126 4.2.2 Stadtentwicklung zwischen Plan und Chaos: Die Suburbanisierung des Handels als Herausforderung an eine gesamtgewerbliche Standortpolitik Die Wiedervereinigung ging in den neuen Bundesländern mit einer merkwürdigen Überlagerung von Boom und Krise einher. Bemerkbar machte sich dies u. a. am Fernverkehr auf Straßen in Ost-West-Richtung: Voll beladene Lkw mit Gütern aus dem Westen der Republik stauten sich auf dem Weg gen Osten, während in die Gegenrichtung oft leere Wagen zurückkehrten. Zu den politischen Versprechen der Wiedervereinigung zählte es, das Lebensniveau in Ostdeutschland rasch an die westdeutschen Verhältnisse heranzuführen.127 Dies kam in umfangreichen Nettotransfers zum Ausdruck, sowohl über die nunmehr gemeinsame Renten- und Arbeitslosenversicherung als auch durch Finanzzuweisungen öffentlicher Haushalte an die ostdeutschen Länder und Kommunen. Diesen Transfers entsprach ein Handelsdefizit der neuen Länder gegenüber dem alten Bundesgebiet: 1991 stand einer gesamtwirtschaftlichen Nachfrage von 360 Milliarden Mark ein Produktionswert von 209 Milliarden Mark gegenüber.128 Für unabhängige Volkswirtschaften wäre dies ein beispielloses Verhältnis gewesen. Der Nachfrageüberschuss setzte Impulse, die sich ungleichmäßig auf die Wirtschaft auswirkten: Dem Rückgang der industri124 Die Quote der Pläne, die bei erstmaliger Einreichung unbeanstandet blieben (Flächennutzungspläne, genehmigungspflichtige und anzeigepflichtige Bebauungspläne sowie Vorhaben- und Erschließungspläne) lag in Ostdeutschland nur bei ca. einem Drittel des Niveaus in Westdeutschland. Nur rund jeder fünfte erstmals eingereichte Plan war ohne Formfehler. Lorenz/ Wegrich/Wollmann, Rechtsanwendung, S. 204. 125 Im Dickicht der Finanzen. In: Die Zeit, 23/1991. 126 Vgl. Lorenz/Wegrich/Wollmann, Rechtsanwendung, S. 140 f. 127 Vgl. Rödder, Deutschland, S. 208. 128 Paqué, Bilanz, S. 121.
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ellen Warenproduktion setzte der Geldstrom nur wenig entgegen, im Bausektor sowie im Handel sorgte er dagegen für kräftige Zuwächse. Die aus der DDR übernommene Struktur des Einzelhandels war der überwältigenden Nachfrage nach Konsumgütern nicht gewachsen. Die führte u. a. zu einem regen „Einkaufstourismus“ aus ostdeutschen in nahegelegene westdeutsche Gebiete. Für westdeutsche Handelsfilialen boten sich daher aussichtsreiche Marktchancen in den neuen Ländern: Die IHK Südwestsachsen informierte in ihrem Geschäftsbericht 1992, dass Einkaufsfahrten in westdeutsche Gebiete in dem Maße zurückgingen, in dem sich die Versorgungslage im Kammerbezirk besserte.129 Trotzdem stießen Ansiedlungspläne auch auf Hindernisse: Vor allem in den Städten waren Immobilien oder gar Freiflächen in kurzer Zeit nicht zu haben. Eine Alternative boten großflächige Einzelhandelszentren außerhalb von Siedlungen, die in der Bundesrepublik in den 1970er Jahren als neues Handelskonzept aufgekommen waren. In Westdeutschland war die Suburbanisierung allmählich, quasi parallel zur Entwicklung des raumplanerischen Instrumentariums verlaufen, mit dem sich die Folgen großflächiger Standorte für den städtischen Handel beherrschen ließen.130 In den neuen Bundesländern unterschied sich die Ausgangslage demgegenüber fundamental. Vor allem war das Angebot an neu ausgewiesenen Gewerbeflächen groß und der Markt bei weitem nicht gesättigt. Kommunen waren verpflichtet, die zuständige IHK zu beteiligen, wenn sie Bebauungspläne aufstellen wollten. In die Stellungnahmen der Kammern flossen die Erfahrungen der westdeutschen Aufbauhelfer ein. Die Aufbauhelfer sensibilisierten die ostdeutschen Kammern frühzeitig für standortpolitische Fragen.131 Als das Ausmaß zutage trat, in dem viele Kommunen Handelsstandorte ausgewiesen hatten, gehörten die IHKn zu den Ersten, die vor zu umfangreichen Baugenehmigungen speziell an den Stadträndern warnten. Die IHK Leipzig übersandte dem DIHT im September 1991 einen alarmierten Lagebericht: „Durch Fehleinschätzungen oder Unkenntnis seitens der Gremien ist eine weit über den zu erwartenden Bedarf hinausgehende Planung/Einrichtung von Gewerbegebieten festzustellen. Die Errichtung von großflächigen Einzelhandelseinrichtungen ist zum Teil in Dimensionen vorgesehen, die den städtischen Einzelhandel um die Existenz bringen würde. Die IHK versucht mit allen Mitteln, dieser Entwicklung entgegenzuwirken.“132
Die Kammer untertrieb nicht: Vor der Wiedervereinigung gab es in Leipzig rund 160.000 qm Handelsfläche. Wenn man den Großraum Leipzig, d. h. den Regierungsbezirk einbezog, lagen nun Bauanträge vor, um Einzelhandelsstandorte mit insgesamt mehr als zwei Millionen Quadratmetern zu errichten.133 Diese Flächenplanung lief auf eine Pro-Kopf-Versorgung hinaus, die etwa dem Doppelten dessen entsprach, was auf Einwohner in den alten Bundesländern entfiel. Es war mehr als deutlich, dass die Zukunft des innerstädtischen Handels in Frage gestellt war: Nur 129 130 131 132 133
IHK Südwestsachsen Chemnitz-Plauen-Zwickau, Jahresbericht 1992, S. 15. Vgl. Fliege, Einkaufszentren, S. 273 f. Interview Reinhardt. Volkswirtschaftlicher Kurzbericht IHK Leipzig, September 1991. RWWA 181-1886-3. Franz u. a., Suburbanisierung, S. 63.
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etwa zehn Prozent der Bauanträge im Regierungsbezirk bezogen sich auf die Leipziger City. Der ostdeutsche Einzelhandel stand vor einem tiefgreifenden Strukturwandel. Im Vergleich mit Westdeutschland war er zur Zeit der Wiedervereinigung nur wenig konzentriert. 1989 lag die Fläche pro Kopf bei ca. 0,3 qm gegenüber rund 1 qm im Westen – bei einer deutlich größeren Dichte an Verkaufsstellen im Osten.134 Es gab nicht nur (zu) viele verhältnismäßig kleine Läden. Das Handelsnetz der DDR war auch wenig zentralisiert: Die sozialistische Wirtschaftsplanung war dem Leitbild einer möglichst ortsnahen Versorgung gefolgt. In den Stadtzentren gab es deshalb – relativ zum Westen – eher wenige Geschäfte.135 Außerdem befanden sich Läden seltener in belebten Einkaufsstraßen, sondern oft in Nebenstraßen. Innenstädte waren als Handelsstandort insgesamt von geringerer Bedeutung, was sich auch auf andere Weise im Stadtbild zu erkennen war: Alte Gebäude waren nur selten umgebaut, geschweige renoviert worden. In diesem Zusammenhang war ebenfalls augenfällig, dass auch die Bedeutung der Innenstädte als Wohnquartiere zurückgegangen war.136 Historische Bausubstanz befand sich oft in einem schlechten Zustand, viele Altbauten waren verfallen und kaum noch bewohnbar. Der staatliche Wohnungsbau der DDR hatte Erhaltungsmaßnahmen unterlassen und aus Kostengründen den Neubau einseitig bevorzugt. Zahlreiche Großwohnsiedlungen in Plattenbauweise waren infolgedessen außerhalb der historischen Stadtzentren entstanden. Die Zentren größerer Städte dienten vor allem als Verwaltungsstandort, nicht selten für eine Bezirksverwaltung. Hierdurch war ein gewisser Umfang an Arbeitsplätzen in den Innenstädten erhalten geblieben. Gemeinsam mit Halle bildete Leipzig einen bedeutenden Verdichtungsraum in Ostdeutschland. Die Handelsentwicklung dort verdeutlichte in besonders drastischer Form, was im Umkreis aller ostdeutschen Groß- und Mittelstädte geschah: Der Handel kehrte den Städten den Rücken. Stattdessen siedelte er sich an Ausfallstraßen in der direkten Umgebung an. Selbst unter der Voraussetzung einer günstigen Entwicklung der Lebensverhältnisse in Ostdeutschland lag das Ausmaß der beantragten Handelsflächen überall weit über dem prognostizierten Bedarf.137 Die IHKn machten zwar deutlich, dass hieraus ein ernstzunehmendes Entwicklungshandicap für die Innenstädte erwuchs. Sie besaßen aber nur wenige Möglichkeiten, sich Gehör zu verschaffen. Planende Kommunen bezogen die Kammern erst spät ein, was den Nutzen ihrer formalen Befugnisse aus Sicht der IHKn stark einschränkte. Anscheinend war das Interesse an einer gesamtwirtschaftlichen Perspektive nicht immer groß: Beispielsweise stellte die IHK Ostbrandenburg in einem
134 135 136 137
Ebd. S. 52. Vgl. Nutz, Stadtentwicklung, S. 142. Vgl. ebd. S. 145 f. Franz u. a. untersuchten neben Leipzig noch die Beispiele Erfurt, Halle und Rostock (Franz u. a., Suburbanisierung). Aus den volkswirtschaftlichen Kurzberichten, über die sich der DIHT monatlich über die Arbeit der ostdeutschen Kammern informierte, ging ebenfalls hervor, dass die Ausbreitung großflächiger Einzelhandelsstandorte in allen ostdeutschen Kammerbezirken als Problem wahrgenommen wurde.
4.2 Standortpolitik und gewerbliches Gesamtinteresse
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Geschäftsbericht fest, dass „im Abwägungsverfahren die Argumente der Träger öffentlicher Belange nicht immer akzeptiert werden“.138 Es waren nicht die Alleingänge überforderter oder überehrgeiziger Kommunalpolitiker, die großflächigen Einzelhandelsstandorten flächendeckend zum Durchbruch verhalfen. Es gab überhaupt nur wenige Interessenträger, die diese Entwicklung unmittelbar nach der Wiedervereinigung kritisch sahen. Die Stadt Chemnitz z. B. hörte im Zuge der Ansiedlung eines großflächigen Handels 57 Träger öffentlicher Belange. Von ihnen sprachen sich 55 für das beantragte Vorhaben aus. Die IHK, die städtebauliche Bedenken anführte, stimmte gemeinsam mit einer Umweltgruppierung gegen das Projekt.139 Bürgermeister größerer Städte zeigten sich noch am ehesten bereit, den Argumenten einer IHK zu folgen. Der Leipziger Oberbürgermeister etwa räumte 1994 ein, dass in östlicher Lage zur Innenstadt ein Einkaufszentrum entstand, das mit 40.000 qm zu groß war. Für eine geordnete städtebauliche Entwicklung hielt das Stadtoberhaupt eine Handelsfläche von mehr als 20.000 qm für kaum vertretbar. Es folgte damit der Auffassung der IHK – sehr zum Leidwesen der Kammer allerdings erst, als das Zentrum fertiggestellt und an der Genehmigung im ursprünglichen Umfang nicht mehr zu rütteln war.140 Doch auch das Einsehen von der obersten Repräsentanten größerer Städte richtete oft zu wenig aus: Es waren die Bürgermeister kleinerer Umlandgemeinden, die besonders häufig Bauvorhaben verfolgten, die raumordnungspolitisch fragwürdig waren. Vor allem in diesen Fällen erwies sich das Fehlen von Landes- und Regionalplänen als verhängnisvoll. Die entstehenden Landesverwaltungen ergriffen in allen neuen Bundesländern – mehr oder weniger zügig – Maßnahmen, um die Planungslücke zumindest provisorisch zu schließen. Den Anfang machte das Land Sachsen, das am 20. Juni 1991 vorläufige „Grundsätze und Ziele zur Siedlungsentwicklung und Landschaftsordnung“ gesetzlich einführte.141 Im Zuge dessen wurde das „zentralörtliche System“ für allgemein verbindlich erklärt. Es handelte sich hierbei um ein Raumordnungskonzept, das in der bundesdeutschen Landesplanung seit den 1960er Jahren flächendeckend verankert war.142 Ober-, Mittel-, Unter- und Kleinzentren sollten, je IHK Frankfurt an der Oder, Jahresbericht 1994, S. 37. Interview Reinhardt. IHK zu Leipzig, Jahresbericht 1993/94, S. 54. Gesetz über die vorläufigen Grundsätze und Ziele zur Siedlungsentwicklung und Landschaftsordnung im Freistaat Sachsen. In: SN GVBl. 1991, S. 164 ff. Auch in Brandenburg traten schon Ende 1991 ähnliche Bestimmungen in Kraft (Vorschaltgesetz zum Landesplanungsgesetz und Landesentwicklungsprogramm für das Land Brandenburg vom 6. Dezember 1991. In: BB GVBl. I, 1991, S. 616–626). Die Länder Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern folgten 1992 mit ähnlichen Landesgesetzen. Thüringen führte bereits im Sommer 1991 ein vollständiges Planungsgesetz ein (Thüringer Landesplanungsgesetz vom 17. Juli 1991. In: TH GVBl. 1991, S. 210–217). Im Jahr 1992 erließ der Freistaat außerdem eine Richtlinie, die den Bau großflächiger Einzelhandelszentren einschränkte und grundsätzlich nur noch in Ober-, Mittel oder möglichen Mittelzentren zuließ. Richtlinie über die Verfahrensweise bei großflächigen Einzelhandelsvorhaben im Landesplanungs- und Baurecht vom 21.08.1992. In: Thüringer Staatsanzeiger 1992, S. 1401. 142 Vgl. Blotevogel, Zentrale Orte, S. 1311. 138 139 140 141
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nach Rangordnung, verschiedene überörtliche ökonomische, kulturelle und administrative Versorgungsaufgaben wahrnehmen. Die Planung weiterer großflächiger Einkaufszentren wurde dadurch formal erschwert. Erteilte Baugenehmigungen ließen sich so aber nicht mehr rückgängig machen, ebenso wie städtebauliche Probleme, die inzwischen sichtbar geworden waren. Es dauerte außerdem noch einige Zeit, bis die provisorischen Landesentwicklungsziele auch seitens der Genehmigungsbehörden „überall konsequent beachtet“ wurden.143 Formale Fehler der planenden Kommunen ermöglichten es manchmal, Bebauungspläne im Nachhinein zu ändern. Nachbargemeinden konnten bauaufsichtlichen Entscheidungen widersprechen oder im Rahmen der rechtlichen Normenkontrolle klagen, wenn sie von den Auswirkungen eines Bebauungsplans betroffen waren und die planende Gemeinde sie im Vorfeld übergangen hatte.144 Mehrere ostdeutsche Großstädte konnten geplante Einzelhandelsstandorte außerhalb ihres Gebiets so mit juristischen Mitteln verkleinern oder gar verhindern. Im Leipziger Großraum erhielten an Stelle der beantragten zwei Millionen schließlich nur etwa 750.000 qm Handelsfläche eine Baugenehmigung.145 Klagen und Einsprüche halfen gleichwohl nicht immer weiter. Die rechtlichen Vorgaben des BauGB waren in einigen Fällen gänzlich ausgehebelt worden. Einige Landräte hatten noch am 2. Oktober 1990 Teilbaugenehmigungen für größere Einkaufsparks erteilt.146 Gegen Projekte, die vor dem 3. Oktober beantragt und genehmigt worden waren, hatten betroffene Städte und Kommunen keine rechtliche Handhabe. Ein erheblicher Teil der Baugenehmigungen erwies sich daher in Leipzig und auch andernorts als irreversibel. Besonders folgenreich war dieses Schlupfloch für Magdeburg, wo in näherer Umgebung gleich drei Einkaufszentren mit einer Gesamtfläche von 180.000 qm entstanden. Die IHK äußerte sich auf Nachfrage des SPIEGEL resigniert: „Die kriegen wir nicht mehr weg.“147 Als standortpolitisches Leitbild für die Innenstadtentwicklung diente die Idee eines multifunktionellen Zentrums, das Wohn-, Arbeits- und Freizeitbedürfnisse deckte. Zu einem Problem für die Kammern wurde die eingetretene Entwicklung aber nicht, weil sie nicht dem Idealfall entsprach bzw. weil sie zu einem Investitionsboom führte, der in eine Überversorgung resultierte. Die Veränderungen im Handel berührten reale Interessen: Zu den innerstädtischen Händlern zählen sowohl Existenzgründer als auch Altselbstständige. Die Letzteren hatten in mehreren Bezirken am Aufbau der IHK mitgearbeitet, weil sie sich eine Vertretung ihrer berufsständischen Interessen gewünscht hatten. In vielen Vollversammlungen waren sie stark repräsentiert. Der abrupte Übergang zur Marktwirtschaft setzte die Händler, deren Zahl 1989 bei ca. 22.000 gelegen hatte, einem starken Anpassungsdruck aus.148 Ihr Geschäftskonzept bestand oft mehr oder weniger darin, eine Grundversorgung an Lebensmitteln, Drogerieartikeln oder Bekleidung zu sichern. Unstrittig 143 144 145 146 147 148
Lüers, Deutschland, S. 91. Vgl. Lorenz/Wegrich/Wollmann, Rechtsanwendung, S. 142 f. Franz u. a., Suburbanisierung, S. 63. Stadt ohne Plan. In: Die Zeit, 4/1993. Zit. nach: Las Vegas in Leipzig. In: Der Spiegel, 52/1994. Franz, Neustrukturierung, S. 8.
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war, dass diese Einkommensquelle mit dem Vordringen kapitalkräftiger Handelsketten versiegen würde. Nicht nur der preisliche Wettbewerb, sondern auch ein gravierender Nachfragewandel sorgte dafür, dass die Sortimente vieler kleiner Geschäfte binnen kurzer Zeit nicht mehr konkurrenzfähig waren. Für viele Altselbstständige und Existenzgründer schien die Geschäftsaufgabe unabwendbar zu sein. Einige Beobachter erklärten dies auch mit der Sozialisation von Selbstständigen aus der DDR – in einer vom Weltmarkt abgeschotteten Wirtschaft hätten sie zwar unwirtlichen Rahmenbedingungen getrotzt, wären aber jedweder Konkurrenz entwöhnt worden.149 Cadel, Haag und Diederich jedenfalls werteten es als Beleg für „differente Auffassungen über die Inhalte der Kammeraufgaben in den Reihen der Gründungsunternehmer“150, dass ein „Teil der Händler innerhalb des Handelsbereichs“ forderte, die IHK solle „sich für eine Beschränkung des Wettbewerbs einsetzen, z. B. Neuansiedlungen einen Riegel vorschieben“. Forderungen dieser Art demonstrierten weder wettbewerbsfremde Fehlorientierungen noch Missverständnisse über Aufgaben und Arbeitsweise einer IHK: Das freie Spiel der Kräfte hatte sich vielmehr noch nicht richtig eingependelt. Verwerfungen waren die Folge: Ein Gutachten im Auftrag des BMWi untersuchte 1994 die städtebaulichen Perspektiven ostdeutscher Innenstädte. Es empfahl – in Übereinstimmung mit den Forderungen mancher Gründungsunternehmer – einen generellen „Baustopp für Zentren mit mehr als 3000 qm Verkaufsfläche“151. Dort, wo dies nicht durchsetzbar sei, solle eine Genehmigung davon abhängig gemacht werden, ob „die zuständige IHK bestätigt hat, daß das Sortimentsangebot nicht die Ausgewogenheit in der Region beeinträchtigt“. Die Einzelhandelsentwicklung in den neuen Bundesländern ließ sich schwerlich als Ergebnis eines freien Wettbewerbs begreifen – sie zeigte vielmehr, welche Folgen ein dramatisches Ungleichgleichgewicht der Kräfte hatte. Wettbewerb konnte keineswegs an und für sich für die geschäftlichen Schwierigkeiten von Altselbstständigen und Existenzgründern verantwortlich gemacht werden: Kleine, inhabergeführte Geschäfte besaßen mit veränderter Konzeption durchaus Marktchancen – nicht nur bei Kunst- oder Antiquitäten, sondern auch bei Mode, Delikatessen, bzw. Kosmetik. Gravierender als die unmittelbare Konkurrenz durch benachbarte 149 Einen Beleg für geringe Überlebenschancen vieler Geschäftskonzepte sieht Spannagel z. B. darin, dass in den frühen 1990er Jahren ein überproportionaler Teil der Existenzgründungen im Bereich Getränkehandel stattfand. Stichproben bei ostdeutschen Geschäften hätten außerdem Defizite beim unternehmerischen Denken und Handeln ergeben: In einem Fall seien wenige vor einem Geschäft verfügbare Parkplätze für das Personal reserviert worden. Auch bei Rückgabewünschen habe sich das Personal in ostdeutschen Geschäften oft wenig entgegenkommend gezeigt. Spannagel, Entwicklung, S. 199 ff. 150 Cadel/Haag/Diederich, Industrie- und Handelskammern, S. 89. 151 von Einem, Gornig und Diller formulierten mit Blick auf die Genehmigungspraxis des Zeitraums 1990/91 mehrere Handlungsempfehlungen, u. a.: „Weitere großflächige Einrichtungen des Einzelhandels sollten vorerst überhaupt nicht mehr genehmigt werden (genereller Baustopp für Zentren mit mehr als 3000 qm Verkaufsfläche), zumindest jedoch sollten sie – wo dies politisch nicht durchsetzbar ist – nur dann noch genehmigt werden, wenn die zuständige IHK bestätigt hat, daß das Sortimentsangebot nicht die Ausgewogenheit in der Region beeinträchtigt“. von Einem/Gornig/Diller, Revitalisierung, S. 91.
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Handelsketten wirkten sich andere Standortnachteile aus. Sie machten die Chancen mittelständischer Fachhändler in vielen Innenstädten zunichte: Vor allem die Mietkosten liefen vielen Gewerbetreibenden davon. Im direkten Vergleich zwischen Innenstädten und Einkaufszentren konnten die Mietpreise für Gewerbeflächen in den Städten das Zehnfache betragen.152 Die Leipziger Kammer berichtete Mitte 1992, dass gewerbliche Mieten in der Leipziger City zum Niveau von Städten wie Hamburg oder Düsseldorf aufgeschlossen hatten – und dieses je nach Lage sogar übertrafen.153 Durch lukrative Umsätze war ein solch hohes Mietpreisniveau selten gerechtfertigt. Im Gegenteil: In mehreren Innenstädten machte sich Zurückhaltung bemerkbar, wenn es um größere Investitionen im Einzelhandelsbereich ging. Projekte wurden teils trotz gültiger Baugenehmigung nicht realisiert.154 Der Aufschwung in den neuen Bundesländern erreichte die Innenstädte nicht. Neben Großinvestoren verließen auch Existenzgründer die Kernstädte – sie zog es ebenfalls häufig in das Umland.155 Ein sich selbst tragender Wachstumsprozess wurde hierdurch in vielen Städten verhindert. Allein für die Entwicklung der Gewerbemieten schien dies keine Folgen zu haben. Hohe Mieten blieben ein Spiegel der Knappheit an gewerblich nutzbaren Flächen. Mannigfache Investitionshemmnisse sorgten dafür, dass diese Knappheit nur allmählich verschwand.156 Hinderlich waren neben gedämpften Umsatzerwartungen vor allem ungeklärte Eigentumsverhältnisse. Bei innerstädtischen Immobilien reklamierte des Öfteren mehr als ein Antragsteller die Restitution eines Objekts. In ohnehin unerfahrenen Ämtern führte dies zu erheblichen Effizienzverlusten. Nicht nur privatkapitalistische Profitgier trieb die Mieten in die Höhe, obgleich es auch Investoren gab, die den Anschein erweckten, Zerrbilder sozialistischer Kapitalismuskritik firnissen zu wollen.157 In vielen ostdeutschen Innenstädten war der Staat der mit Abstand größte Immobilieneigner. In Berlin stiegen Geschäftsmieten z. B. auch in Gebäuden stark an, die sich im Eigentum des Bundes befanden.158 In Leipzig erregte die kommunale Woh152 Vgl. Hatzfeld, Strategien, S. 74 f. 153 Volkswirtschaftlicher Kurzbericht IHK Leipzig, Juni 1992. RWWA 181-2428-2. 154 Franz u. a. stellten fest, dass 1995 im Leipziger Außenbereich sogar mehr als die tatsächlich genehmigte Handelsfläche realisiert worden war. Im Innenstadtbereich waren zur gleichen Zeit von den genehmigten Flächen nur 28 Prozent in Betrieb genommen worden. Franz u. a., Suburbanisierung, S. 63 f. 155 Eine Analyse der Existenzgründungsförderung aus ERP-Mitteln zeigte, dass entsprechende Kredite zwischen 1990 und 1992 in Kernstädten deutlich seltener in Anspruch genommen wurden als im Umland. Bei der Gründungsneigung und der Investitionsbereitschaft fielen die Innenstädte insgesamt zurück (Franz/Richert/Weilepp, Suburbanisierung, S. 52 f.). Dieser generelle Befund deckte sich mit der Beobachtung, die die IHK Südwestsachsen in ihrem Geschäftsbericht für das Jahr 1991 wiedergab: „Als Bremse für Gründungen erweisen sich insbesondere in den Städten ungeklärte Grundstücksfragen, überhöhte Gewerbemieten bzw. Immobilienpreise. Demzufolge ist festzustellen, daß sich Existenzgründungen verstärkt in die Landkreise verlagern. Die Stadt Chemnitz erscheint, gemessen an ihrer Größe, deutlich unterrepräsentiert.“ IHK Südwestsachsen-Erzgebirge-Voigtland, Jahresbericht 1991, S. 19. 156 Noch 1995 kam die Leipziger Innenstadt nicht über eine Handelsfläche von 66.000 qm hinaus. Franz u. a., Suburbanisierung, S. 59. 157 Vgl. Die Moral hier verroht. In: Der Spiegel, 10/1991. 158 Vgl. Todesstoß vom Staat. In: Die Zeit, 17/1992.
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nungs- und Baugesellschaft den Unmut der IHK.159 Nach Einschätzung der Kammer setzte auch deren Mietpreispolitik die Existenz gewerblicher Altmieter aufs Spiel. Die Kammer erwirkte durch eine Intervention beim Leipziger Stadtrat einen Beschluss, der der Preispolitik der öffentlichen Wohnungs- und Baugesellschaft Einhalt gebot. Auf Drängen mehrerer Kammern berieten die ostdeutschen IHKn gemeinsam über die Entwicklung der Gewerberaummieten. In Anbetracht erfolgloser Einzelgänge bekräftigten die Initiatoren, dass man den Unternehmern helfen müsse.160 Ein gewerblicher Mieter konnte nach geltendem Recht einer Kündigung widersprechen, wenn ihm eine „erhebliche Gefährdung seiner wirtschaftlichen Lebensgrundlage“161 drohte. Gegen die allgemeine Mietpreisentwicklung richtete dieser Passus des Einigungsvertrags gleichwohl nichts aus. Er griff bewusst nicht in die Mechanik der freien Preisbildung ein, da er zugleich das Interesse eines Eigentümers legitimierte, „bei anderweitiger Vermietung eine höhere als die bisherige Miete“ zu erzielen. Ein Mieter musste ggf. in eine „angemessene Mieterhöhung“ einwilligen, um die Kündigung abzuwenden. Die Standpunkte der Kammern zu dieser Rechtslage waren uneinheitlich, wie sich z. B. daran zeigte, dass die Rostocker IHK von ihrer Landesregierung verlangte, Höchstmieten festzulegen.162 Die Forderung fand allerdings keine politische Unterstützung und erhielt auch bei der gemeinsamen Erörterung der IHKn keine mehrheitliche Zustimmung. Grundsätzlich galt: Eine angemessene Mieterhöhung durfte nicht dazu führen, dass das Preisniveau für Objekte vergleichbarer Art und Lage stark überschritten wurde. Auch im Kammerbezirk Dresden waren die Mietpreise drastisch gestiegen. Die IHK schätzte im November 1991, dass wegen zu hoher Mieten 15 bis 20 Prozent der Altgewerbetreibenden und zehn bis 15 Prozent der Existenzgründer in wirtschaftlicher Bedrängnis waren.163 Die Kammer vertrat die Auffassung, dass vielfach gegen gültiges Recht verstoßen worden sei. Es fehlte nämlich gemeinhin an Mietspiegeln, weshalb kaum zu bestimmen war, welche Mieten ortsüblich waren. Die Kammer ging daher davon aus, dass Vermieter meist in Unkenntnis der Rechtslage gehandelt hätten. Sie machte außerdem fehlende landesrechtliche Unterstützung mitverantwortlich: Die Abteilung Gewerberecht im sächsischen Wirtschaftsministerium war Ende 1991 immer noch unbesetzt.164 Verbesserungsvorschläge der Dresdner Kammer kamen in der darauffolgenden gemeinsamen Sitzung der ostdeutschen Kammern zur Diskussion. Eine Mehrheit sprach sich dafür aus, 159 Vgl. Volkswirtschaftlicher Kurzbericht der IHK Leipzig vom Juni 1992. RWWA 181-2428-2. 160 Protokoll der gemeinsamen Sitzung der ostdeutschen IHKn mit dem Leiter der Verbindungsstelle in Bonn vom 16. Oktober 1991. RWWA 181-1886-3. 161 Änderung von Art. 232 § 2 Abs. 5 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche durch das Einigungsvertragsgesetz vom 23. September 1990. In: BGBl. II, 1990, S. 943. 162 Protokoll der gemeinsamen Sitzung der ostdeutschen IHKn mit dem Leiter der Verbindungsstelle in Chemnitz vom 21. November 1991. RWWA 181-1808-2. 163 Einschätzungen der IHK Dresden über den Stand der Anwendung des geltenden Gewerberaum-Mietrechts und über das Ausmaß der sich daraus ergebenden Existenzbedrohung im Kammerbezirk vom 20. November 1991. RWWA 181-1808-2. 164 Ebd.
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4. Die Reorganisation der Wirtschaft als Herausforderung
ungebührlichen Mietsteigerungen durch mehr Transparenz entgegenzuwirken.165 Mietspiegel sollten Altmietern dabei helfen, sich gegen rechtswidrige Mieterhöhungen zu wehren. Im Einigungsvertrag war das Widerspruchsrecht gewerblicher Altmieter gegen Vertragskündigungen bis Ende 1992 befristet worden. Die Kammern beschlossen, für eine Verlängerung dieser Regelung einzutreten. Steigende gewerbliche Mieten sollten grundsätzlich als Resultat marktwirtschaftlicher Preisbildung akzeptiert werden, in der Diskussion kam aber auch zum Ausdruck, dass man Mietwucher entschieden bekämpfen wollte. Ihre Forderung konnten die IHKn gegenüber der Politik erfolgreich vertreten. Der Bundestag verlängerte die Widerspruchsmöglichkeit um zwei Jahre.166 Indessen wuchs der politische Widerstand gegen den Verzicht auf härtere Eingriffe in den Markt: Das Land Berlin startete 1992 eine Bundesratsinitiative, um die Vermietung von Gewerberäumen stärker zu regulieren. Für Gewerbetreibende wollte der Senat einen Mieterschutz einführen, der dem Wohnraummietrecht entlehnt war. Vermieter sollten demnach nur bei einem „berechtigten Interesse“ kündigen dürfen. Höhere Mieten sollten dabei als Grund ausgeschlossen werden. Für Wiedervermietungen wollte der Senat eine Kappungsgrenze einführen, die Obergrenzen für Mietsteigerungen definierte. Der DIHT lehnte den Plan in einer Stellungnahme dezidiert ab.167 Ein sozialrechtlicher Schutzgedanke sei für gewerbliche Mietverträge artfremd. Der Mangel an Gewerbeflächen müsse behoben, nicht bewirtschaftet werden. Der Berliner Initiative war im ersten Anlauf kein Erfolg beschieden. Der Debatte über eine staatliche Mietpreiskontrolle für Gewerberäume bereitete dies gleichwohl kein rasches Ende. Diese erreichte einen neuen Höhepunkt, als sich die Regierung des Landes Brandenburg, die sich anfänglich zurückgehalten hatte, dem Vorstoß Berlins anschloss. Der Bundesrat brachte auf Betreiben beider Länder am 5. November 1993 den Entwurf für ein „Gesetz zum Schutz der Mieter von Geschäftsräumen in Berlin und Brandenburg“ beim Deutschen Bundestag ein.168 Die Vorlage enthielt detaillierte Angaben zur Preisentwicklung gewerblicher Mieten in Berlin und Brandenburg. Die Bundesregierung wies sie dennoch zurück und begründete dies damit, dass der Gewerberaummarkt in Berlin und Brandenburg sich nicht grundlegend von anderen Ballungsräumen unterscheide.169 Lediglich einer Forderung folgte die Bundesregierung: Sie verlängerte die Kündigungsfrist ge-
165 Protokoll der gemeinsamen Sitzung der ostdeutschen IHKn mit dem Leiter der Verbindungsstelle in Chemnitz vom 21. November 1991. RWWA 181-1808-2. 166 Der Bundestag kam damit einem inhaltsgleichen Gesetzesantrag des Freistaats Sachsen im Bundesrat zuvor. Beschluss des Bundesrates zum Gesetz zur Änderung des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche vom 18. Dezember 1992. BR-Drs. 836/92. 167 Stellungnahme des DIHT zu Eingriffen in die Mietpreisbildung bei Gewerberäumen vom Dezember 1991. RWWA 181-1808-2. 168 Entwurf eines Gesetzes zum Schutz der Mieter von Geschäftsräumen in den Ländern Berlin und Brandenburg. BR-Drs. 758/93. 169 Stellungnahme der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zum Schutz der Mieter von Geschäftsräumen in den Ländern Berlin und Brandenburg. BT-Drs. 12/6677, S. 22 f.
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werblicher Mietverträge auf sechs Monate.170 Preisvorgaben lehnte sie, ganz im Sinne des DIHT, ab, da diese eine verzögernde Wirkung auf den Strukturwandel in Handel und Handwerk hätten. 4.2.3 Die Entwicklung von städtischem Handel und Gewerbe auf Grundlage des freien Wettbewerbs Es war wenig umstritten, dass in vielen ostdeutschen Städten – auch außerhalb von Berlin und Brandenburg – während der frühen 1990er Jahre eine Lücke zwischen der Höhe der Gewerbemieten und der Attraktivität der Innenstadtquartiere klaffte. Freier Wettbewerb war keine Universallösung, die die Kammern propagierten, ohne diese Realität anzuerkennen. Das Spiel der Marktkräfte war vielmehr die Voraussetzung dafür, dass die IHKn überhaupt standortpolitisch wirken konnten. Indirekt machte dies auch die Kritik an den Kammern deutlich: Im „Gewerbe-Report“, der Zeitschrift des „Europaverbandes der Selbstständigen“, der sich selbst als Interessenvertretung von Selbstständigen, freien Berufen sowie kleinen und mittleren Unternehmen bezeichnete, erschien eine Anzeige der „Aktion der IHK-Verweigerer“. Diese übte scharfe Kritik an IHKn und DIHT, die die Interessen der mittelständischen Händler in Ostdeutschland preisgegeben hätten. Die Kammern hätten „noch nie ein Verbot der weiteren Expansion großflächiger Einzelhandelsbetriebe“171 gefordert. Bei der Abschaffung des Rabattgesetzes oder einer Änderung des Ladenschlussgesetzes hätten sie überdies die Wettbewerbspolitik des Bundeswirtschaftsministers unterstützt. Die Kammern hätten beim Kartellamt außerdem keinen Einspruch gegen die Fusion großer Handelsbetriebe erhoben. Anders als die Anzeige glauben machen wollte, übten die Kammern sehr wohl und kontinuierlich Kritik an der Entwicklung im Handelssektor.172 So hatten die Brandenburger Kammern schon 1991 ein gemeinsames Positionspapier verfasst, in dem sie auf die Problematik der Ansiedlungen „auf der grünen Wiese“ aufmerksam machten.173 Interessenpolitisch agierten die IHKn keineswegs einseitig: Die IHK Südwestsachsen verbuchte es 1995 als großen Erfolg, dass der mittelständische Groß- und Einzelhandel in Ostdeutschland vom darauffolgenden Jahr an wieder in die Investitionszulage nach dem Fördergebietsgesetz einbezogen wurde.174 Die IHK war gemeinsam mit Verbänden und sächsischen Abgeordneten für die Wiedereinführung dieser Regelung eingetreten. Als die Bundesregierung den Handel ab 1993 von der Investitionsförderung ausschloss, hatte sie die Auffassung vertreten,
170 Gesetz zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs vom 29. Oktober 1993. In: BGBl. I, 1993, S. 1838. 171 Anzeige der „Aktion der IHK-Verweigerer“. In: Gewerbe-Report 11/1996, S. 9. 172 Viele Kammern organisierten bereits in den ersten Jahren der Einheit Gesprächsforen, um Interessenkonflikte zu moderieren. Die Neubrandenburger Kammer führte beispielsweise 1991 und 1992 Fachtagungen zum Thema „Stadtentwicklung und Handel“ durch, um Transparenz zu schaffen und Fehlentwicklungen zu verhindern. Haasch, Innenstadtentwicklung, S. 69. 173 Hahn/Geiseler, Einhundert, S. 130 f. 174 IHK Südwestsachsen Chemnitz-Plauen-Zwickau, Jahresbericht 1995, S. 23.
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der Handelssektor habe sich „günstig entwickelt“.175 Im Ergebnis führte die Kürzung dazu, dass fast nur Investoren auf der „grünen Wiese“ von der Subvention profitiert hätten: Außerhalb der Städte gab es kürzere Projektierungs- und Bauzeiten, sodass viele dieser Projekte bereits innerhalb der ersten Jahre der Einheit abgeschlossen wurden. Die Wiedereinführung der Investitionszulage zugunsten von Handelsbetrieben ließ sich nur durchsetzen, da es gelungen war, sie auf Unternehmen mit höchstens 50 Beschäftigten zu beschränken und Betriebe in Gewerbe-, Industrie- oder Sondergebieten auszuschließen.176 Der Angriff auf die Kammern erfolgte vor dem Hintergrund, dass sie qua gesetzlichem Auftrag verpflichtet waren, bei branchen- und größenbedingten Interessengegensätzen der Wirtschaft zu vermitteln. Anders als der gewerblichen Gesamtinteressenvertretung war es freien Verbänden möglich, Partei zu ergreifen. Die Reichweite von Verbänden war daher prinzipiell aber auch auf definierbare Partikularinteressen begrenzt. Außerdem konnten Verbände ihr Profil auch zu Lasten des Gesamtinteresses schärfen. Partikulare Interessenkonflikte ragten auch in die Mietpreisdebatte hinein: Für steigende Mieten waren Filialhandelsbetriebe, zahlungskräftige Banken und Interessenten anderer gewerblicher Branchen mitverantwortlich, da sie in attraktive Lagen vordrangen. In Berlin waren unbelebte Nebenstraßen mit dem Fall der Mauer plötzlich wieder in das Zentrum der Stadt gerückt, womit sich nicht nur das Kalkül von Vermietern, sondern auch von potentiellen Mietern veränderte. Die genannte Bundesratsinitiative von Berlin und Brandenburg begründete die Notwendigkeit von Mietpreiskontrollen unter anderem damit, zwischen kleinen und mittleren Unternehmen sowie Filialbetrieben differenzieren zu müssen: Für Letztere sei es kein Problem, hohe Mietkosten zu schultern. Mietpreiskontrollen, das macht dies deutlich, sollten den Anreiz verringern, zahlungskräftigere Mieter anzuziehen bzw. durch eine höhere Zahlungsbereitschaft bessere Standorte zu erlangen.177 Die Vorlage zum Gewerbemieterschutzgesetz hatte ferner betont, dass eine Verbindung zwischen Wohnfunktion, Gewerbe, kulturellen Angeboten und sozialen Projekten „im besonderen Maße Urbanität“178 schaffe und es daher „im besonderen öffentlichen Interesse“ liege, eine Funktionsmischung zu erhalten. Dies war eine 175 Schon 1992 war diese Einschätzung lediglich auf den großflächigen Einzelhandel bezogen, der schnell wuchs und keine weiteren Subventionen erhalten sollte. Der Finanzausschuss des Bundestags machte klar, dass eine weitere Einbeziehung kleinerer und mittlerer Handelsunternehmen „durchaus angebracht sein könnte“. Der Ausschuss vertrat allerdings die Ansicht, dass keine befriedigende Abgrenzung zwischen begünstigten und nicht-begünstigten Betrieben gefunden worden war und hielt speziell eine Unterscheidung nach Fläche für ungeeignet. Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses zum Entwurf eines VerbrauchsteuerBinnenmarktgesetzes. BT-Drs. 12/3893, S. 154 f. 176 Jahressteuergesetz 1996. In: BGBl. I, 1995, S. 1391 f. 177 In Berliner Zeitungen warb z. B. ein Einzelhandelskonzern großflächig damit, „attraktive, wertgesicherte Mieten“ zahlen zu wollen und Abstandszahlungen bei Geschäftsaufgaben zu leisten. DIE ZEIT kommentierte dies vorwurfsvoll: Vermietern werde „die Vertreibung des Mittelstandes schmackhaft gemacht“. Todesstoß vom Staat. In: Die Zeit, 17/1992. 178 Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zum Schutz der Mieter von Geschäftsräumen in den Ländern Berlin und Brandenburg. BT-Drs. 12/6677, S. 11.
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merkwürdige Begründung: In ostdeutschen Städten befanden sich um 1995 meist nur etwa 20 bis 30 Prozent aller Einzelhandelsflächen in der City bzw. in Nebenzentren.179 Eine „lebendige Zentrenstruktur“ ließ sich mit restriktiven Mitteln jedenfalls nicht erhalten. In Greifswald, dessen Probleme denen vieler ostdeutscher Städte ähnelten, ergab eine Befragung eingesessener Händler, dass sie die mögliche Ansiedlung eines Filialhandelsbetriebs in der Innenstadt missbilligten.180 Hierbei spielten anscheinend die Ablehnung weiterer Mietsteigerungen sowie Furcht vor direkter Konkurrenz in der unmittelbaren Umgebung eine Rolle. Vor allem zeigte die Befragung aber, dass die Nachteile einer Ansiedlung aus Sicht vieler kleiner Händler die Wirkungen eines zentrumsbildenden Faktors übertrafen – trotz Aussicht auf zusätzliche Kunden und wachsende Umsätze. Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht ließen sich zu hohe Ladenmieten nicht ursächlich dafür verantwortlich machen, wenn „ganze Stadträume“ Gefahr liefen „nicht mehr ausreichend oder gar nicht“ mit verbrauchsnahen Waren und Dienstleistungen versorgt zu werden. Urbanität drohte keineswegs einer Überkommerzialisierung in den Stadtzentren zum Opfer zu fallen: Hierfür sorgte im Gegenteil die fortschreitende Suburbanisierung, nicht nur des Handels mit Gütern des täglichen Bedarfs, sondern immer mehr auch bei konsumnahen Dienstleistungen. Kinos, Restaurants und Fachhändler zog es gleichermaßen vor die Tore der Städte. Obwohl dieser Trend nicht allein in Größenkategorien zum Ausdruck kam, erzeugte er in Ostdeutschland gleichwohl spektakuläre Superlative. Zu zweifelhaftem Ruhm gelangte der „Saale-Park“ unweit von Leipzig. Als zeitweilig größtes Einkaufszentrum Deutschlands geriet es zum Sinnbild einer Zeiterscheinung. Manchen Redakteur veranlasste der Einkaufspark zu Vergleichen mit primitiven Wild-West-Städten.181 Der SPIEGEL erklärte die Attraktivität von Shopping-Zentren mit einem „Nevada-Effekt“:182 Ostdeutsche Einkaufszentren hätten in Analogie zum amerikanischen Wüstenstaat ein Angebot geschaffen, das es andernorts – in den Innenstädten – nicht gebe. Ein Mangel an originären Sehenswürdigkeiten sei auf diese Weise mit Erfolg kompensiert worden. Letztlich, so resümierte der Artikel, könne ohne Kommerz auch urbane Kultur nicht bestehen. Die Innenstädte zu neuem Leben zu erwecken, erschien Mitte der 1990er Jahre als fast aussichtsloses Unterfangen. Zeugnis eines bemerkenswerten Expansionstempos war es, dass sich 1994 bereits fünf der zehn größten Einkaufszentren der Bundesrepublik in den neuen Ländern befanden.183 Doch dies war nur die Spitze 179 In westdeutschen Städten lag der Anteil der City-Flächen gemeinhin bei 70 bis 80 Prozent, während auf großflächige Einzelhandelsformen rund 20 bis 30 Prozent der Flächen entfielen. Im Osten erreichten die Einkaufszentren auf der „grünen Wiese“ 50 bis 60 Prozent. Das Verhältnis von Innenstadt und Peripherie stand im Ost-West-Vergleich nahezu auf dem Kopf. von Einem/Gornig/Diller, Revitalisierung, S. 61. 180 Haasch, Innenstadtentwicklung, S. 70. 181 Vgl. Stadt ohne Plan. In: Die Zeit, 4/1993. 182 Las Vegas in Leipzig. In: Der Spiegel, 52/1994. 183 In den neuen Ländern gab es zu dieser Zeit insgesamt nicht weniger als 57 Einkaufszentren mit einer Fläche von über 10.000 qm – gegenüber 104 solcher Zentren in den alten Bundesländern. Anders als im Westen lag die Mehrzahl der Zentren in Ostdeutschland außerhalb von Verdichtungsräumen. Lüers, Deutschland, S. 91.
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eines Eisbergs; die Fehler der Vergangenheit wirkten weiter nach: Bei Projekten in der Bauphase lag die Hälfte der zehn größten Vorhaben ebenfalls im Osten der Republik, der Bau großflächiger Einzelhandelszentren drohte gar bis zum Jahr 2000 mit unverminderter Geschwindigkeit fortgesetzt zu werden. Die juristischen Möglichkeiten waren ausgeschöpft, da zahlreiche unrealisierte Bauvorhaben genehmigt waren. Das freie Spiel der Kräfte war überfordert, diese Entwicklung aufzuhalten, gar umzukehren und die Innenstädte wieder zu belebten Zentren zu machen. Das BMWi startete in Anbetracht dessen 1993 eine Initiative zur Innenstadtsanierung in Ostdeutschland. Das Ministerium erbat Stellungnahmen von Kommunal-, Fachund Wirtschaftsverbänden. Der DIHT verwies auf die gesamtwirtschaftlichen Notwendigkeiten zur Stärkung der innerstädtischen Wirtschaft.184 Die Auswertung der Stellungnahmen durch das Ministerium führte zur Gründung des Deutschen Seminars für Städtebau und Wirtschaft (DSSW). Das DSSW war als gemeinsame Einrichtung von Staat und Wirtschaft konzipiert.185 Seine inhaltliche Ausrichtung legten Gremien fest, denen jeweils Wirtschaftsvertreter (u. a. DIHT), Bundes- und Länderministerien sowie Kommunalverbände angehörten.186 Das zentrale Anliegen des DSSW war die „Revitalisierung ostdeutscher Innenstädte“, für das das Gründungsstatut drei Arbeitsschwerpunkte definierte: Das DSSW war Begegnungsforum, Träger von Fortbildungsveranstaltungen sowie wissenschaftliches Institut.187 Ein erstes von ihm in Auftrag gegebenes Gutachten schätzte die Startvoraussetzungen für eine breit angelegte Revitalisierungskampagne pessimistisch ein: Wenn es den großflächigen Einzelhandel am Stadtrand nicht gäbe, könnten Kaufhäuser und Mittelstand im Verbund – wie im Westen – wesentliche Träger der innerstädtischen Altbauerneuerung, der Schaffung neuer Arbeitsplätze und des wirtschaftlichen Aufschwungs sein. Aufgrund der Fehlentwicklungen der vergangenen Jahre dürfte diese Chance bereits vertan sein.188
184 Stellungnahme des DIHT zur Revitalisierung der Innenstädte in den neuen Bundesländern vom 26. April 1993. RWWA 181-2378-2. 185 Organisatorisch bildete das DSSW eine Untereinheit des Deutschen Verbandes für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung (DV). Der DV verstand sich als überparteiliche Plattform, die dem Wissens- und Erfahrungsaustausch von Politik, Wirtschaft, Verwaltung, Rechtsprechung und Wissenschaft diente. Der DV entstand 1946, hauptsächlich auf Betreiben von Wohnungsbauexperten aus Kommunal- und Landesverwaltungen, und besaß vor allem einen wohnungswirtschaftlichen Schwerpunkt. Das DSSW wurde wegen seiner besonderen, über den engeren Bereich des DV hinausgehenden Aufgabenstellung als separate Einheit gegründet und weitgehend aus Mitteln des BMWi finanziert. Weiss, Jahre, S. 170. 186 Als Wirtschaftsvertreter gehörten den Gremien des DSSW außerdem der Hauptverband des Deutschen Einzelhandels (HDE) und der Deutsche Sparkassen- und Giroverband (DSGV) an. Den Bund und die Länder vertraten die jeweiligen Ministerien für Wirtschaft sowie Bau und Verkehr. Kommunale Vertretungen waren der Deutsche Städtetag (DST), der Deutsche Landkreistag (DLT) sowie der Deutsche Städte- und Gemeindebund (DStGB). Statut des Deutschen Seminars für Städtebau und Wirtschaft (DSSW) im Deutschen Verband für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung e. V. vom 24. Februar 1994. RWWA 181-2033-2. 187 Vgl. Henckel/Pätzold, Evaluation, S. 15. 188 von Einem/Gornig/Diller, Revitalisierung, S. 60 f.
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Bereits im ersten Jahr seines Bestehens organisierte das DSSW 22 Veranstaltungen. In Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern fanden zwischen 1993 und 1994 zentrale Auftaktveranstaltungen statt. In Thüringen stellte sich das DSSW auf regionalen Konferenzen vor.189 Die Initiative sollte auf diesem Wege vor Ort bekanntgemacht werden. Im Zuge der Schaffung des DSSW hatte der DIHT spontan vorgeschlagen, die Veranstaltungen in den ostdeutschen IHKn abzuhalten. Sowohl bei den Kammern als auch bei den anderen öffentlichen Projektbeteiligten war dies auf Zustimmung gestoßen.190 IHK-Vertreter nahmen daher nicht nur an sämtlichen Auftaktveranstaltungen teil, sondern brachten auch eigene Themenvorschläge ein. Der Hauptgeschäftsführer der IHK Halle-Dessau, Heimann, kritisierte auf der Hallenser DSSW-Konferenz, dass in regelmäßigen Lamenti die „grüne Wiese“ einseitig für den schlechten Zustand der mitteldeutschen Städte verantwortlich gehalten werde. Städte hätten originäre Standortvorteile und müssten den Wettbewerb daher grundsätzlich nicht scheuen. Um die Vorteile zu aktivieren, seien gleichwohl „Visionen und keine Werbekampagnen“ nötig. Einer fruchtbaren Standortentwicklung stünden Stadtverordnete und Stadtplaner oft selbst im Weg. In Halle komme es immer wieder dazu, „daß wichtige Weichenstellungen im Stadtparlament […] getroffen werden und anschließend die davon Betroffenen aus der Zeitung“ von der Sache erführen.191 Die unterentwickelte Gesprächskultur war seines Erachtens auch dafür verantwortlich, dass es wenig Verständnis für wechselseitige Interessen gebe. Vorschriften – sei es im Natur- und Umweltschutz, sei es bei der Denkmalpflege – könnten sich investitionshemmend auswirken. Ob dies tatsächlich der Fall sei, hänge nicht nur von den Normen selbst ab. Heimann kritisierte die behördliche Umsetzung von Vorschriften, die diesbezüglich oft den Ausschlag gebe. Der behördliche Eifer in der Denkmalpflege stehe in keinem Verhältnis zum Bemühen, offene Eigentumsfragen zu klären.192 Der Hauptgeschäftsführer beanstandete überdies falsche Vorstellungen davon, welche Aufgaben vom Staat und welche von der Privatwirtschaft zu lösen seien. Er forderte die staatlichen Akteure auf, ihrer Rahmenkompetenz stärker nachzukommen. Auch andere Stellungnahmen von Kammervertretern ließen wenig Zweifel, dass die Abstimmung zwischen städtischen Planern und Vertretern des gewerblichen Gesamtinteresses verbesserungswürdig war. Vor allem bei einem Thema machte sich dies besonders bemerkbar: Auf sämtlichen Konferenzen kritisierten IHK-Repräsentanten, von den Kommunalverwaltungen bei der Verkehrsplanung 189 Weiss, Jahre, S. 172 f. Die Auftaktveranstaltung in Dresden (Sachsen), Halle (Sachsen-Anhalt), Cottbus (Brandenburg) und Schwerin (Mecklenburg-Vorpommern) dokumentierte das DSSW und veröffentlichte die Ergebnisse anschließend. 190 Vermerk bzgl. der Gründung des Deutschen Seminars für Städtebau und Wirtschaft vom 30. Juni 1993. RWWA 181-2033-2. 191 Heimann, Städtebau, S. 10. 192 Dieser Vorwurf richtete sich speziell an die Stadt Halle, die im Land Sachsen-Anhalt die niedrigste Erledigungsquote bei der Klärung offener Vermögensfragen hatte. Ende 1993 waren weniger als zehn Prozent aller Fälle bearbeitet, womit Halle nicht nur deutlich unter dem Landesdurchschnitt von 40 Prozent lag, sondern auch weit hinter Magdeburg (30 Prozent) und Dessau (22 Prozent). Ebd. S. 14.
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übergangen zu werden. Die IHK zu Neubrandenburg hatte – wie die Kammern in Schwerin und Rostock – bereits 1992 einen Verkehrsarbeitskreis eingerichtet. Ihm gehörten mittelbar und unmittelbar am Verkehr beteiligte Betriebe an: Firmen des produzierenden Gewerbes, Transportunternehmen sowie Handels- und Dienstleistungsbetriebe. Die Vorstellung, man könne Wissen und Erfahrungen der Unternehmen bündeln und verkehrspolitisch nutzbar machen, war bei der Gründung spiritus rector gewesen. Zwei Jahre später beschrieb der zuständige IHK-Geschäftsführer das in den meisten Kommunen gelebte Verfahren so: Diese Praxis sieht derzeit jedoch so aus, daß die Industrie- und Handelskammern trotz ständigen Drängens nur in geringem Umfang in die Erarbeitung bzw. Begutachtung von konzeptionellen Lösungen von Verkehrsfragen einbezogen werden.193
Der Umgang mit dem motorisierten Individualverkehr war besonders umstritten. Was die Verteilung der Verkehrsmittel anging, entsprach die Verkehrsstatistik der DDR im Jahre 1989 in etwa dem, was für die Bundesrepublik der 1950er Jahre gegolten hatte: Öffentliche Verkehrsmittel wurden weit häufiger benutzt als der Pkw.194 Lange Wartezeiten beim Kauf eines Trabant zeigten, dass individuelle Motorisierung in der DDR ein vielfach unerfüllter Wunsch geblieben war. Autos zählten schon kurz nach Einführung der D-Mark zu den besonders oft gekauften „WestProdukten“. Zwischen 1989 und 1992 schnellte der Pkw-Bestand in Ostdeutschland von 228 auf 415 pro 1.000 Einwohner.195 Er war damit nicht mehr weit vom gesamtdeutschen Durchschnitt entfernt. Der Straßenverkehr veränderte sich aufgrund weiterer Faktoren tiefgreifend: Binnen kurzer Zeit wandelten sich die logistischen Bedürfnisse der Wirtschaft und erzeugten zusätzlichen Lkw-Verkehr. Außerdem verschwanden kleine Versorgungsläden aus den Dörfern, was zu einem Wandel der Stadt-Umland-Beziehungen beitrug. Das Verhältnis der ostdeutschen Bevölkerung zur Motorisierung ließ sich durchaus als ambivalent bezeichnen. Einer hohen Nachfrage nach Pkw standen vermehrte Klagen über den Straßenverkehr gegenüber. So lehnten in einer Befragung 78 Prozent der Einwohner Wismars zunehmenden Pkw-Verkehr ab. In Dresden waren es 82 und in Leipzig 84 Prozent.196 Abrupt steigende Unfallzahlen zeigten, dass viele Neuzulassungen auf marode Straßen und eine offenbar nicht immer angepasste Fahrweise trafen. Nicht nur zusätzliche Verkehre, sondern auch Verbesserungen des Straßennetzes und der Bau von Parkhäusern riefen Widerstände hervor. Speziell in den Städten waren Bürgermeister und Stadtverordnete schnell geneigt, den Individual- und Wirtschaftsverkehr einzuschränken.197 Alle Kammern rügten verkehrspolitische Alleingänge der Kommunen. Folgen und Kosten von Verkehrsbeschränkungen schienen die Verkehrsplaner selten zu berücksichtigen. Motorisierte Verkehrsteilnehmer prinzipiell aus den Stadtzentren herauszuhalten, war jedenfalls nur eine 193 194 195 196 197
Berkholz, Stadtverkehr, S. 85. Vgl. Lenssen, Fehler, S. 200. Geißler, Umbruch, S. 17. Lenssen, Fehler, S. 199. Berkholz, Stadtverkehr, S. 86.
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vorgeblich ökologische Verkehrsplanung:198 Großflächige Einzelhandelszentren konnten gerade im Kampf um „Kofferraumkunden“ mit günstigen Verkehrsanbindungen sowie nahezu uneingeschränkten Parkplatzangeboten werben. Innenstädte, die schlecht mit dem Pkw erreichbar waren, besaßen daher nur beschränkte Aussichten auf wirtschaftliche Belebung.199 Die Konferenzen des DSSW zeigten, dass Innenstädte im Wettbewerb mit Einkaufszentren nicht nur aufgrund von Verkehrsbarrieren, hohen Mieten und Eigentumsfragen unterlegen waren. Auch „weiche“ Faktoren fielen zugunsten der „grünen Wiese“ aus: Geschäftliche Mieter einer Shoppingmall profitierten von einem gemeinsamen Management, das die Zusammenstellung der angebotenen Waren und Dienstleistungen steuerte und die Werbeaktivitäten der Mieter abstimmte. Den Innenstädten fehlten vergleichbare eigenständige Angebots- und Erlebnisprofile. Ein bedeutender Impuls des DSSW bestand darin, den Lösungsansatz des City-Marketings bzw. -Managements aufzuzeigen.200 City-Marketing war ein junges Instrument, das in den alten Bundesländern erstmals in den späten 1980er Jahren zur Attraktivitätssteigerung von Innenstädten eingesetzt worden war.201 In mehreren ostdeutschen Städten startete und betreute das DSSW Modellprojekte und gab eine Evaluierung in Auftrag, um die Ergebnisse einem größeren Interessentenkreis zugänglich zu machen.202 Die IHKn klärten mit Hilfe dieser Informationen nicht nur über Marketingstrategien auf, sondern wirkten auch als Multiplikatoren. Ehrenamtliche Mitglieder ihrer Handelsausschüsse waren meist auch in eigenständigen CityMarketing-Vereinen aktiv. Es kam häufiger vor, dass entsprechende Vereine bzw. Werbegemeinschaften sogar erst auf Anregung der Kammer gegründet wurden.203 4.2.4 Der Konflikt um den Bau der „Südharzautobahn“: Standortpolitik im Wettbewerb der Interessen Standortpolitische Aktivitäten der Kammern waren meist in Planungsverfahren eingebunden. Rechtliche Vorgaben und administrative Praxis mussten in einer Anlaufphase erst zueinander finden – für die IHKn bedeutete dies u. a., die Abgabe von Stellungnahmen zu erlernen und belastbare Kontakte zu planenden Behörden zu knüpfen. City-Marketing ergänzte die Planungshierarchie um eine weitere, infor198 Beispielhaft vertritt Lenssen eine solche Position: „Die sächsische Landeshauptstadt Dresden hat ihre Verkehrspolitik unter das Motto einer Sozial-, Umwelt- und Stadtverträglichkeit gestellt und die Aufstellung ihres Verkehrskonzeptes mit einer Reihe von öffentlichen Diskussionen und der umfangreichen Erhebung der Meinung der Bevölkerung begleitet. Auch hier ist das Ergebnis ein Dokument, das dem Umweltverbund große Bedeutung einräumt. Kritisch ist allerdings, daß letztlich doch der Versuch unternommen wird, möglichst alle Verkehrsarten zu fördern. Ohne eine Prioritätensetzung für den Umweltverbund wird sich der drohende Circulus vitiosus des steigenden Kfz-Verkehrs und sinkender ÖPNV-Benutzung aber nicht stoppen lassen.“ Lenssen, Fehler, S. 202. 199 Vgl. Franz, Revitalisierungsprobleme, S. 6 f. 200 Kuron/Bona, City-Management (DSSW-Leitfaden). 201 Kuron, City-Management, S. 28. 202 Bruksch, Erfahrungen, S. 3 ff. 203 Cadel/Haag/Diederich, Industrie- und Handelskammern, S. 120 f.
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melle Ebene. Selten kam es dazu, dass gewerbliche Gesamtinteressen politisch fundamental zurückgewiesen wurden. Beim Bau der „Südharzautobahn“ A 82 (früher A 38) in Sachsen-Anhalt war dies anders.204 Dabei gab es konkrete Pläne für eine Fernstraße, die die Räume Halle/Dessau und Göttingen/Kassel miteinander verbinden sollte, bereits seit den 1930er Jahren.205 1991 wurden sie aktualisiert; mit dem Programm Verkehrsprojekte Deutsche Einheit (VDE) förderte die Bundesregierung den Ausbau von insgesamt 17 Verkehrswegen. Sie sollten auf breiter Front bessere Ost-West-Verbindungen herstellen. Vor dem Hintergrund langer Planungszeiten bei großen Infrastrukturprojekten flankierte die Bundesregierung die VDE u. a. durch ein Gesetz zur Beschleunigung der Verkehrswegeplanung. Das Gesetz machte es zur Ermessensentscheidung der Länder, ein andernfalls verbindliches Raumordnungsverfahren durchzuführen. Zudem verkürzte das Beschleunigungsgesetz das Planungsverfahren, indem es eine Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Prüfung der Umweltverträglichkeit aussparte und diese erst im anschließenden Planfeststellungsverfahren vorsah.206 Das Gesetz war zeitlich befristet und allein in den neuen Bundesländern gültig. Doch trotz der Verfahrensverkürzung hatten viele Projekte im Rahmen der VDE einen mehrjährigen Vorlauf, ehe erste Spatenstiche erfolgten. Die A 82 war mit mehr als 200 km Länge ein bedeutendes Verkehrsprojekt in den neuen Bundesländern. Über die Hälfte der Strecke führte durch Sachsen-Anhalt, das noch 1994 über die wenigsten Autobahnkilometer aller Bundesländer verfügte – die Stadtstaaten ausgenommen.207 Der geplante Streckenverlauf führte durch die östlichen Ausläufer des Harzes sowie das Südharzvorland und somit durch ein Gebiet, für das Naturschützer eine Anerkennung als Biosphärenreservat der UNESCO forderten.208 Autobahnen sind speziell für die Entwicklung ländlicher Gebiete von großer Bedeutung, da ihr Bau – zumindest entlang von Hauptverkehrsachsen – spezifische Standortvorteile erzeugt.209 Besonderen ökologischen Gegebenheiten im Südharzvorland stand noch mehr als ein allgemein hoher Stellenwert von Fernverkehrsstraßen gegenüber: Orte wie Sangerhausen und Eisleben litten mangels Ortsumgehungen unter einer starken Zunahme des überörtlichen Verkehrs auf der bestehenden Fernstraße B 80. Die geplante A 82 sollte mit einem Raffinerie-Neubau in Leuna zudem eines der größten Investitionsprojekte in den neuen Bundesländern verkehrstechnisch erschließen. Die Landesregierung von Sachsen-Anhalt schloss das 204 Die Bezeichnung A 82 führte der Bundesverkehrswegeplan 1992 für den Teilabschnitt Göttingen-Halle-A 14. Später erhielt die Autobahn ihre gegenwärtige Bezeichnung A 38. 205 Jäger, Jahren, S. 6 ff. 206 Die Umweltverträglichkeitsprüfung war als unselbstständiger Teil eines Raumordnungsverfahrens in der Bundesrepublik erst seit Anfang 1990 gesetzlich verankert. Das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz bestimmte, dass eine Öffentlichkeitsbeteiligung erst im Planfeststellungsverfahren, im Anschluss an das Raumordnungsverfahren erfolgen sollte. Gesetz zur Beschleunigung der Planungen für Verkehrswege in den neuen Ländern sowie im Land Berlin (Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz) vom 16. Dezember 1991. In: BGBl. I, 1991, S. 2174 ff. 207 Statistisches Bundesamt, Jahrbuch 1995, S. 318. 208 Vgl. Walsossek, Probleme, S. 84. 209 Vgl. Paqué, Bilanz, S. 174 f.
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Raumordnungsverfahren zum Bau der Autobahn im Mai 1994 ab. Bei den Landtagswahlen im darauffolgenden Monat änderten sich die Mehrheitsverhältnisse. Die SPD bildete unter Führung ihres Spitzenkandidaten Reinhard Höppner die neue Regierung. An der Koalition beteiligten sich Bündnis90/Die Grünen, die erst im Vorjahr aus der Fusion von Teilen der DDR-Bürgerrechtsbewegung mit der westdeutschen Umweltpartei hervorgegangen waren und nun erstmals in ein ostdeutsches Länderparlament einzogen. Als Minderheitsregierung wurde das „Magdeburger Modell“ durch die PDS toleriert. Die rot-grüne Koalitionsvereinbarung bestimmte, dass die neue Regierung den Bau der A 82 nicht mehr weiterverfolgte.210 Das Papier forderte alternativ einen vierspurigen Ausbau der B 80 sowie Umgehungen für Orte, die vom Verkehr stark belastet waren. In Halle traf die Nachricht vom geplanten Baustopp für die Autobahn auf großes Unverständnis. Mehr noch als die Tatsache, dass ein bedeutendes Infrastrukturvorhaben auf Eis gelegt wurde, konnte die IHK die Begründung, mit der dies geschah, schwerlich akzeptieren: Während die tatsächlichen Gründe, so muss unterstellt werden, im Natur- und Umweltschutz lagen, sprachen Vertreter der neuen Regierungskoalition in der Öffentlichkeit von wirtschaftlicher Vernunft, die eine alternative Verkehrspolitik gebot. Konfrontiert mit Sorgen aus betroffenen Landkreisen, die um ihre gewerbliche Entwicklung fürchteten, sprach der Fraktionsvorsitzende der Grünen von „Aberglaube an einen Wirtschaftsaufschwung durch Autobahnen“.211 Die neue Landesregierung brüskierte die Kammer zudem, indem sie den vorhandenen institutionellen Rahmen zu übergehen plante, als sie die weiteren verkehrspolitischen Fragen diskutieren wollte, die sich im Südharzraum aufgrund der Ablehnung der A 82 ergaben. An Stelle einer Öffentlichkeitsbeteiligung gemäß dem Verwaltungsverfahrensgesetz – der Grundlage, für die Beteiligung der Kammern – sah die Landesregierung „runde Tische“ auf Ebene der Landkreise vor.212 Die Bezeichnung „runde Tische“ berief sich auf die Tradition der verhandelten Demokratisierung der DDR, in der sich sowohl das Bündnis 90 als auch der neue Ministerpräsident Höppner sahen.213 Runde Tische waren freilich nicht nur genuin ostdeutsche Erfindungen, die besondere Legitimität aus der Überwindung der SED-Diktatur bezogen: Seinerzeit waren sie in einem vorkonstitutionellen Stadium zum Einsatz gekommen; eine Neuauflage versagte daher dem bestehenden institutionellen Boden – und damit auch der Institutionalisierung wirtschaftlicher Gesamtinteressen durch eine IHK – die Anerkennung. Die IHK Halle-Dessau legte der neuen Landesregierung in Reaktion auf ihre Koalitionsaussagen ein Befragungsergebnis vor, aus dem hervorging, dass etwa die Hälfte aller größeren geplanten Investitionen im Einzugsgebiet der A 82 bedroht war. Eine weitere Umfrage der Kammer ergab, dass knapp 96 Prozent von rund 7.000 teilnehmenden Betrieben für den Bau votierten. Die CDU-Opposition im Magdeburger Landtag nahm dies am 8. September 1994 zum Anlass, die vorberei210 Vgl. Investitionsprojekte bedroht. Magdeburg lehnt Autobahnbau ab. In: Handelsblatt, 2. August 1994. 211 Zit. nach: Ebd. 212 Sachsen-Anhalt will doch über Autobahn reden. In: Handelsblatt, 24. August 1994. 213 Läzer, Nähe, S. 237 f.
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4. Die Reorganisation der Wirtschaft als Herausforderung
tenden Maßnahmen zum Bau der A 82 wiederaufzunehmen, scheiterte aber am Widerstand der Regierungskoalition.214 Der Ton zwischen IHK und Landesregierung verschärfte sich zusehends. Im Landtag warf der verkehrspolitische Sprecher der Grünen IHK-Hauptgeschäftsführer Heimann vor, „das Niveau einer ernsthaften Diskussion“ zu verfehlen.215 Die „plumpe Frage […] ja oder nein zur Autobahn“ habe jeglichen Widerstand brechen und Zweifler mundtot machen wollen. Kurz zuvor hatte der Landesvorstand der Grünen eine Presseerklärung abgegeben, in der er die A 82 ablehnte, weil diese sich auf die „kriegsstrategischen Ziele des Hitlerreichs“ zurückführen lasse.216 Ein Bündnis, bestehend aus der IHK Halle-Dessau, der parlamentarischen Opposition und der Handwerkskammer Halle, startete nach der Abstimmungsniederlage im Landtag eine Volksinitiative, in der die Landesregierung aufgefordert wurde, ihren Widerstand gegen die A 82 aufzugeben und sich für einen zügigen Neubau einzusetzen. Das Quorum von 35.000 Stimmen war binnen wenigen Wochen erreicht. Am 14. Oktober übergaben die Initiatoren dem Landtagspräsidenten 50.595 Unterschriften.217 Besonders die SPD geriet in Folge der Volksinitiative unter Druck, da sich unter den Unterzeichnern auch namhafte Sozialdemokraten befanden – z. B. der Oberbürgermeister der Stadt Magdeburg. Die Basis der SPD schien den Bau der Südharzautobahn ebenfalls zu großen Teilen zu befürworten. Zu den starken äußeren traten zusätzliche innere Widerstände. Sie führten dazu, dass sich die rot-grüne Landesregierung im Oktober 1994 schließlich doch zur A 82 bekannte. Die IHK HalleDessau setzte sich in der Frage des Autobahnbaus auf ganzer Linie durch. 4.3 AUFBAU UND FÖRDERUNG DES INDUSTRIELLEN MITTELSTANDS IN DEN NEUEN BUNDESLÄNDERN 4.3.1 Reprivatisierungen bis zum 3. Oktober 1990: Strukturpolitik oder Wiedergutmachung? Maßgeblich für die Entstehung der IHKn in der DDR war die Forderung nach Demokratisierung der alten Gewerbekammern, die von selbstständigen Gewerbetreibenden während der Friedlichen Revolution vertreten worden war. Die ModrowRegierung kam dem nach, indem sie die Grundlagen des westdeutschen Kammerwesens auf die DDR übertrug.218 Die Idee einer – wenn auch limitierten – Privatisierung der Wirtschaft war hierbei ebenfalls von Bedeutung. In der DDR war die Einsicht, dass eine wirtschaftliche Gesundung nur mit zusätzlichen kleinen und mittleren Betrieben gelingen konnte, über längere Zeit gereift. Im reformsozialisti214 Volksinitiative zum Bau der Südharz-Autobahn A 82 gemäß Artikel 80 der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt. Landtag Sachsen-Anhalt, Drs. 2/279. 215 Zit. nach: Landtag Sachsen-Anhalt, Plenarprotokoll 2/3 vom 8. September 1994, S. 91. 216 Zit. nach: Landtag Sachsen-Anhalt, Plenarprotokoll 2/8 vom 4. November 1994, S. 416. 217 Volksinitiative zum Bau der Südharz-Autobahn A 82 gemäß Artikel 80 der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt. Bekanntmachung der Landtagsverwaltung vom 22. November 1994. In: MBl. LSA 87/1994, S. 2804. 218 Vgl. Kapitel 3.1.
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schen Flügel der SED wollte man unternehmerische Elemente revitalisieren, die es einst innerhalb der Planwirtschaft der DDR gegeben hatte. Dieser Umstand war der Tatsache zu verdanken gewesen, dass die SED an ökonomisch-rationelle Grenzen stieß, als sie den Sozialismus zu verwirklichen versuchte. Einen „Wettbewerb“ unterschiedlicher Eigentums- bzw. Produktionsverhältnisse hatte es allerdings nicht gegeben. Die nichtstaatlichen Betriebe waren aus Sicht der sozialistischen Machthaber ein systemfremdes Element geblieben. Honecker schickte sich somit an, ein ungelöstes Problem zu beseitigen, als er 1972 die letzten rund 11.800 privaten und halbstaatlichen Produktionsbetriebe verstaatlichen ließ. Das brachiale Vorgehen, das dabei zur Anwendung kam, brach zwar mit dem Stil Ulbrichts, nicht aber mit dessen ideologischen Standpunkten.219 Die Wirtschaftspolitik der Modrow-Regierung, die im Herbst 1989 antrat, den Sozialismus zu erneuern, hatte im nichtstaatlichen Sektor der 1960er Jahre einen bedeutenden Bezugspunkt. Die Reformsozialisten wandten sich auf der Suche nach einem „Dritten Weg“ Wirtschaftskonzepten der Ulbricht-Ära zu. Dies setzte freilich voraus, einige historische Zusammenhänge auszublenden. Hierfür bestanden triftige politische Gründe: In der DDR hatte der Gemeinplatz weite Verbreitung, dass erst Honecker eine intakte Symbiose von privatem Unternehmertum und sozialistischer Gesellschaftsordnung widerrufen habe. Daher konnte die Modrow-Regierung darauf hoffen, die Rolle der SED als führender politischer Kraft zu stabilisieren, wenn es gelang, glaubwürdig mit der Politik der Honecker-Ära zu brechen. Es galt nicht nur im engeren Zirkel der Reformsozialisten als Gebot wirtschaftlicher Vernunft, die Verstaatlichungen des Jahres 1972 zurückzunehmen. Reprivatisierungen sollten daher nicht dazu dienen, früheres Unrecht zu revidieren. Sie dienten der ökonomischen Sanierung der DDR-Wirtschaft. Ihr Zweck bestand darin, einen unternehmerisch geführten Sektor herauszubilden mit sowohl Betrieben in privatem Eigentum als auch solchen mit staatlichen Beteiligungen. Christa Luft, die Stellvertreterin Modrows für Wirtschaft, sprach in diesem Zusammenhang nicht von Privatisierung, sondern von einer „Diversifizierung der Eigentumsformen“.220 Die Rhetorik der DDR-Führung veränderte sich zu Beginn des Jahres 1990. Luft sprach öffentlich zunächst von „sozialistischer Marktwirtschaft“, dann sogar von „sozialer Marktwirtschaft“.221 Auf dem deutsch-deutschen Marktplatz, der Großveranstaltung des DIHT, die im Februar 1990 in West-Berlin stattfand, erklärte sie, es sei „unabdingbar, schnell einen leistungsstarken und effektiven Mittelstand zu 219 Als Grund der 1972er-Verstaatlichungen wurde lange Zeit eine ideologische Wende angeführt, die mit der Ablösung Ulbrichts durch Honecker einhergegangen sei (u. a. durch: Hoffmann, Betriebe, S. 173). Neuere Arbeiten sind dieser Sicht entgegengetreten: Bei der ideologischen Bewertung privater und halbstaatlicher Betriebe habe es keinen Dissens zwischen Ulbricht und Honecker gegeben (Ebbinghaus, Ausnutzung, S. 332). Ausschlaggebend für die Verstaatlichungsaktion waren demnach eher die nicht-intendierten Folgen der Mittelstandspolitik Ulbrichts. Sie ermöglichten es Honecker, mit der schlagartigen Verstaatlichung der nichtstaatlichen Betriebe Führungsstärke zu demonstrieren. 220 Frühen Äußerungen Lufts zufolge zielte die von der Modrow-Regierung eingeleitete Wirtschaftsreform auf eine Gleichberechtigung von privatem, gemischtem und volkseigenem Eigentum – bei einer Dominanz des Letzteren. Luft, Reform, S. 107. 221 Unruhe wird zu Zorn. In: Die Zeit, 4/1990.
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4. Die Reorganisation der Wirtschaft als Herausforderung
entwickeln“.222 Bei „sozialer Marktwirtschaft“ sowie „Mittelstand“ handelte es sich um politisch-soziale Schlagworte, die in der Bundesrepublik von herausragender Bedeutung waren: Für die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik war der Mittelstandsbezug essentiell.223 Hiermit war die soziale Marktwirtschaft rhetorisch mit einer bestimmten sozialen Gruppierung verbunden worden. Aus dem Munde der obersten Wirtschaftsreformerin der DDR war die Verwendung dieser Begriffe bemerkenswert: Sie waren unvereinbar mit der Zweiklassentheorie von Besitz und Nichtbesitz. Weder im marxistischen Begriffssystem noch in der politischen Alltagssprache der DDR hatte „Mittelstand“ daher je eine Rolle gespielt.224 Im ausgehenden 19. Jahrhundert war die Begriffssemantik weitgehend auf den gewerblichen Mittelstand festgelegt worden. Seither bezeichnete das Schlagwort eine zumindest sozial eingrenzbare Gruppe; empirisch war diese allerdings oft nur schwer erfassbar. Bereits um 1900 hieß es zynisch, Mittelstand seien „diejenigen Leute, um deren Stimmen man sich bewirbt“.225 Seiner gesellschaftlich-analytischen Unschärfe zum Trotz blieb der Begriff in der politischen Sprache des 20. Jahrhunderts erhalten und avancierte zu einem bedeutenden Schlagwort für die bundesdeutsche – soziale – Marktwirtschaft. Zwar hatte sich der Sprachgebrauch der führenden Politiker in der DDR gewandelt, inhaltlich änderten sich die Ziele der DDR-Wirtschaftsreform gleichwohl nicht: In der Wirtschaft sollte das umfangreiche staatliche Eigentum erhalten bleiben und nur z. T. um flexible, markttaugliche Strukturen ergänzt werden. Von Mittelstand zu sprechen, signalisierte, dass dem Eigentümerunternehmer – ob als Inhaber oder als persönlich haftender Gesellschafter eines Unternehmens mit staatlicher Beteiligung – eine Leitbildfunktion zukam. Der Freiraum privater Initiativen blieb im Konzept des Dritten Wegs allerdings beschränkt. Keinesfalls sollte es im Energiesektor, in der Verkehrswirtschaft bzw. der Schwerindustrie zu Privatisierungen kommen. Die Modrow-Regierung erkannte die neu entstandenen IHKn nicht zuletzt an, weil sie eine Organisation schaffen wollte, die den Aufbau kleiner und mittlerer Betriebe unterstützen würde. Dies sollte nicht nur durch fachliche Beratung, sondern auch im Wege der Interessenvertretung geschehen, insbesondere mit Blick auf den Reprivatisierungsprozess. So hielt das Unternehmensgesetz, das die Grundlage für Reprivatisierungen schuf, z. B. fest, dass die „Interessenvertretungen der Unternehmer“ in die Ausgestaltung des Rückgabeverfahrens einbezogen werden konnten.226 Die Kammer-Verordnung und das Unternehmensgesetz traten von daher nicht per Zufall fast zeitgleich in Kraft.227 222 Luft, Mittelstand, S. 18. 223 So äußerte Wolfgang Frickhöffer auf einer Arbeitstagung der „Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft“: „Soziale Marktwirtschaft und Mittelstand [sind] auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen. Ohne einen gesunden Mittelstand ist Soziale Marktwirtschaft praktisch nicht möglich [ ] und ohne eine auf Leistungskonkurrenz abgestellte Wirtschaft [kann] sich der Mittelstand auf Dauer nicht Gesund erhalten“. Rüstow u. a., Unternehmer, S. 62. 224 Conze, Mittelstand, S. 77. 225 Ebd. S. 86. 226 § 17 (3) Unternehmensgesetz. Gesetz über die Gründung und Tätigkeit privater Unternehmen und über Unternehmensbeteiligungen. In: GBl. der DDR I, 1990, S. 143. 227 Die Verordnung über die Industrie- und Handelskammern in der DDR erschien am 12. März 1990, vier Tage bevor das Unternehmensgesetz veröffentlich wurde.
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Der Tatsache, dass Reprivatisierungen politisch opportun waren, stand nicht entgegen, dass sie auch wirtschaftspolitisch Sinn ergaben. Mit der Rückgabe enteigneter Betriebe ließ sich ein genuin ostdeutsches unternehmerisches Potential aktivieren. Viele ehemalige Unternehmer hatten nach 1972 Leitungstätigkeiten in der volkseigenen Industrie übernommen, was auch für Nachkommen galt, die nicht selten für eine Unternehmensnachfolge ausgebildet worden waren.228 Darüber hinaus kam Reprivatisierungen eine strukturpolitische Bedeutung zu: Sie waren ein Weg, um die ineffizienten Kombinate zu entflechten. Speziell in kapitalintensiven Wirtschaftszweigen bot die Rücknahme von Verstaatlichungen den Vorteil, schnell zu effizienten Betriebseinheiten zu kommen. Die de Maizière-Regierung, die die Regierungsgeschäfte im April 1990 übernahm, ging von einer ähnlichen sachlichen Einschätzung aus. Im Wirtschaftsministerium wurde eine Abteilung Mittelstandspolitik geschaffen, die sich in erster Linie mit Fragen zur Reprivatisierung befasste. Im Juli 1990 registrierte sie knapp 9.000 Anträge auf Unternehmensrückgabe.229 Das Unternehmensgesetz hatte für entsprechende Eingaben eine Frist von sechs Monaten gesetzt. Diese endete am 16. September; 11.262 Anträge wurden bis zu diesem Datum gestellt. Nach internen Schätzungen entsprach dies fast dem gesamten Potential, das man bei einer Reprivatisierung aller von Honecker verstaatlichten Unternehmen ansetzte.230 Es war freilich aus mehreren Gründen zu bezweifeln, dass sich der private und halbstaatliche Sektor der 1960er Jahre mit mehr als 10.000 mittelgroßen Produktionsbetrieben vollständig revitalisieren ließe. Längst war klar, dass sich die Wirtschaft der DDR stärker zum Weltmarkt öffnen würde und dass die ostdeutsche Industrie unter Konkurrenzdruck geraten würde. Einige Branchen erschienen aus diesem Grund wenig zukunftsträchtig.231 Das Unternehmensgesetz eröffnete außerdem, wohl aus guten Gründen, die Möglichkeit, dass Anspruchsberechtigte einen anderen volkseigenen Betrieb bzw. eine alternative Beteiligung kaufen konnten. Viele Unternehmen waren nicht nur juristisch verschwunden, häufig hatte man auf andere Produkte umgestellt und den Betrieb in ein Kombinat integriert. Ehemals selbstständige Unternehmen ließen sich bisweilen kaum noch identifizieren.232 Nichtsdestoweniger konnte die Vielzahl der Rückgabeanträge als positives Signal gewertet werden. Die Mehrzahl der Antragsteller hatte das 50. Lebensjahr überschritten, über 70 war gleichwohl nur eine kleine Minderheit.233 Der Kreis der 228 Salheiser, Elite, S. 88. 229 Information über Anzahl der Antragsteller auf Reprivatisierung und Anzahl der Reprivatisierten Unternehmen, Stand 9. Juli 1990. BArch DE 10/62. 230 Bei etwa 11.800 Betrieben entsprach die Zahl der Reprivatisierungsanträge einer Quote von 95 Prozent. Schmid/Kaufmann, Mittelstand, S. 56. 231 Die DDR verfügte z. B. über eine Textil- sowie über eine optische Industrie. Beide Wirtschaftszweige waren in der Bundesrepublik im Laufe der 1970er und 1980er Jahre weitgehend verschwunden. Das Beispiel der Reprivatisierung der Weberei Curt Bauer GmbH im sächsischen Aue zeigte indessen, dass erfolgreiche unternehmerische Aufbauarbeit auch in diesen Branchen nicht ausgeschlossen war. Rudolph, Curt Bauer, S. 150 f. 232 Zur Reorganisation der DDR-Wirtschaft in den 1980er Jahren: Steiner, Ausgangsbedingungen, S. 151 ff. 233 Schmid/Kaufmann, Mittelstand, S. 70.
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4. Die Reorganisation der Wirtschaft als Herausforderung
Antragsberechtigten war im Unternehmensgesetz außerdem auf frühere Eigentümer und deren Erben beschränkt worden. Das Reprivatisierungsverfahren sah keine Entschädigungen vor, Antragsteller entschieden sich daher für eine unternehmerische Tätigkeit. Formal waren die 72er-Verstaatlichungen per Kaufvertrag erfolgt, denen Alteigentümer nach außen hin freiwillig zugestimmt hatten. Um dieses Geschäft rückgängig zu machen, mussten sie ihr früheres Eigentum zurückkaufen, d. h. der frühere Verkaufserlös war zurückzuerstatten. Die seinerzeit vom Staat gezahlten Kaufpreise bzw. Ablösungsbeträge hatten zwar einer eher zu geringen Entschädigung entsprochen.234 Dennoch barg die Entscheidung zum Rückkauf nicht unbeachtliche Risiken: Die Antragsteller mussten eine bestimmte Summe aufbringen, ohne Klarheit darüber zu haben, ob die dafür erworbenen Werte wirtschaftlich nutzbar waren.235 Insofern zeugte eine hohe Zahl an Anträgen durchaus von Risikobereitschaft. Die Reprivatisierungen waren gerade erst angelaufen, als sich der Kontext, in dem sie standen, fundamental änderte. Die de Maizière-Regierung verfolgte eine Wirtschaftspolitik, die ganz und gar im Zeichen der Wiedervereinigung stand. Statt einer limitierten strebte sie eine umfassende Privatisierung der volkseigenen Wirtschaft an. Dies blieb nicht ohne Folgen, da es das ursprüngliche strukturpolitische Motiv der Reprivatisierungen in einen neuen Zusammenhang stellte. Zudem überlagerten nunmehr eigentumsrechtliche Fragen die wirtschaftspolitischen Aspekte. Die Regierungen der DDR und der Bundesrepublik trafen im Juni 1990 eine Übereinkunft über die sogenannten offenen Vermögensfragen. In Verhandlungen mit der DDR hatte die Bundesregierung bereits in den 1970er Jahren Entschädigungsforderungen enteigneter Bürger und Unternehmen vertreten.236 Im Dialog mit anderen westlichen Regierungen hatte die SED-Regierung schon damals Einigungen erzielt. Mit der Bundesrepublik war dies nicht gelungen.237 Als die Modrow-Regierung Ende 1989 eine Annäherung an die Bundesrepublik suchte, gelangten die offenen Vermögensfragen daher wieder auf die Tagesordnung. DIHT-Präsident Stihl hatte das Unternehmensgesetz unter jenem Gesichtspunkt als unzureichend bemängelt. Eigentumsrechte müssten nicht lediglich bis zum Jahr 1972 wiederhergestellt werden. Stihl forderte, „bis zu den Anfängen der DDR“238 zurückzugehen und sämtliche Enteignungen in der DDR rückgängig zu machen. Er bezog dies nicht nur auf Unternehmen, sondern auch auf Wohnungen sowie Grund und Boden. Stihl plädierte für Entschädigungen, wo eine Rückgabe nicht mehr möglich war. In der Leipziger Erklärung, der gemeinsamen Stellungnahme von ost- und westdeutschen IHKn, forderten die Kammern etwa zur selben Zeit die „vollstän234 Steiner, Re-Kapitalisierung, S. 264. 235 Zu dieser Einschätzung kam ein Zwischenbericht zur Reprivatisierung, Stand Juni 1990. BArch DE 10/62. 236 Der Begriff „offene Vermögensfragen“ wurde durch den deutsch-deutschen Grundlagenvertrag von 1972 geprägt, dessen Protokoll festhielt, dass auf dem Gebiet der Vermögensfragen keine Einigung habe erzielt werden können. Klüsener, Rechtsstaat, S. 87. 237 Ebd. S. 102. 238 DIHT – Forderungen zu einem deutsch-deutschen Zusammenschluss. In: Handelsblatt, 9. März 1990.
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dige und unverzügliche“239 Rückgabe der 72er-Betriebe. Dies sei eine „Startvoraussetzung für die Marktwirtschaft“. Stihl hatte sich also keineswegs gegen Reprivatisierungen gerichtet. Er drängte darauf, Eigentümer, die nicht auf Grundlage des Ministerratsbeschlusses vom 9. Februar 1972 enteignet worden waren, nach den gleichen Grundsätzen zu behandeln. Stihl sprach von „Wiedergutmachungen“ und formulierte damit einen Gedanken, der im Unternehmensgesetz keine Rolle gespielt hatte: Die Modrow-Regierung hatte die Reprivatisierungen in erster Linie verfolgt, um ökonomische Ziele zu erreichen. Mit der Rücknahme speziell dieser Verstaatlichungen gestand man zwar einen wirtschaftspolitischen Fehler ein, die Enteignungen wurden allerdings mitnichten als staatliche Unrechtsakte bewertet. Eine Grundlage für Wiedergutmachungen war daher – nach dem Unternehmensgesetz – nicht gegeben. In juristischer Hinsicht handelte es sich um eine Reorganisation von Eigentumsrechten innerhalb der Rechtsordnung der DDR, die fast ausschließlich Bürger der DDR betraf. Erst die Verhandlungen über die offenen Vermögensfragen lenkten den Blick auf die Wiederherstellung der Eigentumsordnung. Im Zuge dessen wurde die Wiedergutmachung zum leitenden Gedanken.240 Die Regierung de Maizière erkannte an, dass es Teilungsunrecht gab und dass dies wiedergutzumachen war. Gleichwohl wies sie die Forderungen der bundesdeutschen Seite, die Eigentumsordnung der DDR vollständig zu revidieren, entschieden zurück. Für Enteignungen, die unter sowjetischer Besatzung vorgenommen worden waren, erkannte auch die spätere gesamtdeutsche Regierung keine Rückgabeansprüche an.241 Die „Gemeinsame Erklärung zur Regelung offener Vermögensfragen“ vom 15. Juni 1990 fasste das Ergebnis der deutsch-deutschen Verhandlungen zusammen.242 Sie enthielt „Eckwerte“, an denen sich spätere gesetzliche Regelungen im wiedervereinigten Deutschland orientieren sollten. Die Gemeinsame Erklärung bestätigte das Unternehmensgesetz als Grundlage für die Reprivatisierung der 72er-Betriebe, Einzelbestimmungen wurden sogar konkretisiert: Im Unterschied zur ursprünglichen Fassung lag es nun im alleinigen Ermessen des Alteigentümers, ob er weitere staatliche Anteile an „seinem“ ehemals halbstaatlichen Betrieb erwerben wollte. Frühere Komplementäre konnten ihr Unternehmen nun auf eigenen Wunsch hin vollständig zurückkaufen. Trotz der Bekräftigung des Unternehmensgesetzes als Grundlage der Reprivatisierungen, zeichnete sich ab, dass es schon bald neuer Lö239 Leipziger Erklärung der Industrie- und Handelskammern der DDR und der Bundesrepublik Deutschland zu den Notwendigkeiten der Wirtschaftspolitik in der DDR und zur wirtschaftlichen Einigung Deutschlands. RWWA 181-2116-2. 240 Vgl. Fetscher, Reorganisation, S. 93 ff. 241 Die Regierung der Sowjetunion bestärkte diese Position, indem sie gegenüber der Bundesregierung auf Ersuchen der Regierung der DDR den Standpunkt vertrat, dass Besatzungsbeschlüsse zu Boden- und Vermögensfragen keiner Neuüberprüfung oder Neubewertung durch deutsche Gerichte unterworfen werden dürften. Eine conditio sine qua non für die deutsche Wiedervereinigung war dies – entgegen anderer Darstellungen – gleichwohl nicht. Rödder, Deutschland, S. 329. 242 Gemeinsame Erklärung der Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zur Regelung offener Vermögensfragen vom 15. Juni 1990 (Anlage III Einigungsvertrag). In: BGBl. II, 1990, S. 1237 f.
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sungen bedurfte. Mitte Juli verkündete Bundeskanzler Kohl in der Bundespressekonferenz, einen entscheidenden außenpolitischen „Durchbruch“ erzielt zu haben.243 Der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik war in greifbare Nähe gerückt. Durch die Beschleunigung des Vereinigungsprozesses stießen die Reprivatisierungen nach dem Unternehmensgesetz auf ein praktisches Problem: Die Räte der Bezirke waren dafür zuständig, Rückgabeentscheidungen zu fällen. Je näher die staatliche Einheit rückte, desto kürzer wurde die Zeit, die den alten Bezirksverwaltungen zur Erledigung dieser Aufgabe blieb. Die Reprivatisierungen kamen indes – anders als die Wiedervereinigung – nicht schneller voran, obwohl das Unternehmensgesetz strikte Fristen gesetzt hatte: Innerhalb von sechs Monaten konnten Anträge gestellt werden, die nach drei Monaten entschieden werden sollten; am 10. Juni waren allerdings erst 183 Fälle erledigt. Im darauffolgenden Monat stieg diese Zahl auf 1.102, dem standen aber weitere Neuanträge gegenüber.244 Als die Bezirksräte im September 1990 aufgelöst wurden, waren rund 3.000 Fälle entschieden worden. Dies entsprach nur gut einem Viertel aller Anträge.245 Spätestens im August war daher den meisten Beobachtern wohl klar, dass der Reprivatisierungsprozess am 29. September, dem letzten Arbeitstag der Bezirksverwaltungen, in eine Sackgasse laufen würde. Zum 3. Oktober sollten die mittleren Verwaltungsbehörden der DDR aufgelöst werden. Passagen im Unternehmensgesetz, die sie betrafen, wurden damit faktisch unwirksam.246 243 Kohl reiste vom 15. bis 16. Juli 1990 zu Gesprächen mit dem sowjetischen Präsidenten Gorbatschow nach Moskau und in den Kaukasus. Als Durchbruch wertete Kohl die dort erzielten Ergebnisse in der umstrittenen „Bündnisfrage“. Inwiefern der „Durchbruch im Kaukasus“ tatsächlich eine Wende markierte, ist umstritten, da die Bündnisfrage zu diesem Zeitpunkt wohl bereits geklärt war: Erstmals hatte Gorbatschow einem vereinten Deutschland am 31. Mai 1990 in Washington per Kopfnicken das Recht attestiert, seine Bündniszugehörigkeit frei zu wählen. Das Gipfeltreffen im Kaukasus war gleichwohl eine bedeutende Wegmarke. Kohl zeigte sich nach seiner Rückkehr entschlossen, die Einheit schnell herbeizuführen. Rödder, Deutschland, S. 259. 244 Zwischenbericht zur Reprivatisierung, Stand Juli 1990. BArch DE 10/62. 245 Zur Zahl der „Modrow-Reprivatisierungen“ nach dem Unternehmensgesetz sind unterschiedliche Angaben in Umlauf. Schmidt und Kaufmann schätzten ihre Höhe in einer Hochrechnung auf 2.976 (Schmidt/Kaufmann, Mittelstand, S. 97). Zahlen, die sich auf THA-Angaben stützen, variieren zwischen 3.101 (Berlitz u. a., Aufbau, S. 33) und 3.088 (Fetscher, Reorganisation, S. 141). Die Bedeutung dieser Zahlen relativiert sich freilich dadurch, dass eine vollständige Reprivatisierung drei formelle Schritte erforderte: Eine behördliche Rückgabeentscheidung, eine notarielle Beurkundung der Umwandlungserklärung und eine Eintragung der Umwandlung ins Handelsregister. Die Möglichkeit zur behördlichen Entscheidung endete am 29. September 1990. Die nachfolgenden Schritte konnten auch über den 2. Oktober hinaus noch vollzogen werden. Da es sich bei allen Angaben zu den Modrow-Reprivatisierungen um Höchstzahlen handelte, lag in einem Teil der Fälle wohl nur eine behördliche Rückgabeentscheidung vor. 246 Fetscher erweckt den abwegigen Eindruck, das Unternehmensgesetz sei auf Betreiben des BMJ teilweise – in §§ 17–21, die die Reprivatisierung betrafen – außer Kraft gesetzt worden. Daher habe ein erster Entwurf des Vermögensgesetzes im Widerspruch zur Gemeinsamen Erklärung gestanden (Fetscher, Reorganisation, S. 97). Diese Darstellung ist insofern unrichtig, als §§ 17–21 des Unternehmensgesetzes auch ohne formelle Außerkraftsetzung durch den Einigungsvertrag bereits faktisch mit Auflösung der DDR-Behörden unwirksam wurden. Das Un-
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Unterdessen befasste man sich im Bundesministerium der Justiz (BMJ) damit, die Eckwerte der Gemeinsamen Erklärung umzusetzen. In einem Vermögensgesetz sollte die Wiedergutmachung für rechtsstaatswidrige Vermögensenteignungen geregelt werden. In erster Linie ging es hierbei um vermögensrechtliche Repressalien gegen sogenannte Republikflüchtige, die gemäß der DDR-Rechtsprechung illegal ausgereist waren. Hauptzielgruppe des geplanten Gesetzes waren damit deutsche und ausländische Eigentümer außerhalb der DDR, deren Enteignung gegen rechtsstaatliche Grundsätze verstoßen hatte.247 In Übereinstimmung mit den Eckwerten der Gemeinsamen Erklärung sollten Eingriffe in das Privatvermögen, die „nach innerstaatlichem Recht der DDR auf der Grundlage einer sozialistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung“ erfolgt waren, im Vermögensgesetz nicht berücksichtigt werden. In Anbetracht der ungeklärten Zukunft der Reprivatisierungen bot sich das Vermögensgesetz gleichwohl als Lösung an. Unternehmensrückgaben mussten dafür an den Wiedergutmachungsgedanken gebunden werden. Schon im Mai 1990 waren die IHKn in der DDR hierfür eingetreten. Nach der Volkskammerwahl hatten sie die neue Ost-Berliner Regierung aufgefordert, das Unternehmensgesetz „im Lichte der Entwicklung“ zu überprüfen, und eine Stellungnahme verfasst, in der sie Änderungs- und Verbesserungsvorschläge unterbreiteten.248 Die Kammern traten u. a. für Wiedergutmachungsleistungen an die 72er-Unternehmer ein. Die Modalitäten der Währungsunion seien bei den Reprivatisierungen zu berücksichtigen und angekündigte Fördermaßnahmen zugunsten restituierter Unternehmen zu konkretisieren. Wiedergutmachung zu leisten müsse heißen, die Wettbewerbsfähigkeit der 72er-Betriebe wiederherzustellen. Nur unter dieser Voraussetzung sei es angemessen, frühere Entschädigungen zurückzuzahlen und von einer „fairen Privatisierung“ zu sprechen. Die Argumente der Kammern schlugen eine Brücke, über die die 72er-Unternehmer kurzfristig in den Kreis der Anspruchsberechtigten des Vermögensgesetzes gelangen konnten. Das Vermögensgesetz trat infolgedessen als neue Rechtsgrundlage der Reprivatisierungen an die Stelle des Modrow’schen Unternehmensgesetzes.249 Dies stand unterdessen im Widerspruch zu den Eckwerten der Gemeinsamen ternehmensgesetz blieb auch über den 2. Oktober hinaus die gültige Rechtsgrundlage für Reprivatisierungen, sofern eine behördliche Rückgabeentscheidung vor dem 29. September gefällt worden war. Wißmann/Märtens/Bömmel, Umwandlungen, S. 12. 247 Unterrichtung durch die Bundesregierung zu Anlage Il Kapitel Ill Sachgebiet B Abschnitt I Nummern 1 und 2 des Einigungsvertrags (Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen). BTDrs. 11/7831, S. 1. 248 Wiedergutmachung für enteignete DDR-Unternehmer verlangt. DDR-Kammern für schnelle Reprivatisierung. Pressemitteilung der Vereinigung der Industrie- und Handelskammern der DDR vom 14. Mai 1990. BArch DE 10/54. 249 Die Reprivatisierer ins Vermögensgesetz aufzunehmen, war eine kurzfristige Entscheidung. Dies zeigte sich daran, dass sowohl das Vermögensgesetz, als auch die Gemeinsame Erklärung zu offenen Vermögensfragen Teil des Einigungsvertrags wurden. Allerdings führte speziell die Aufnahme der 72er-Unternehmer ins Vermögensgesetz dazu, dass mehrere Grundsätze der Gemeinsamen Erklärung aufgeweicht wurden. Juristisch-normativ war dies schwer nachvollziehbar, u. a. weil der Einigungsvertrag dadurch zwei sich widersprechende gesetzliche Bestimmungen einführte, die gleichzeitig in Kraft traten. Diekmann, System, S. 147.
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Erklärung sowie zur offiziellen Begründung des Gesetzes. Die Verstaatlichungen des Jahres 1972 waren durchaus Vermögenseingriffe, die nach innerstaatlichem Recht der DDR erfolgt waren und die hiernach unberücksichtigt hätten bleiben sollen.250 Nur auf Kosten dieses Grundsatzes war es gelungen, die Rückgabeansprüche der 72er-Unternehmer zu sichern. Die Regierung der DDR trug hieran eine gewisse Mitschuld: Im Rahmen der Verhandlungen der offenen Vermögensfragen hatte sie Positionen vertreten, die im Grunde genommen widersprüchlich waren: Einerseits hatte sich die de Maizière-Regierung gesträubt, Enteignungen „nach innerstaatlichem Recht“ für unrechtmäßig zu erklären, andererseits hatte sie energisch für die Reprivatisierungen gekämpft. Die Modrow-Regierung, unter deren Verantwortung die Rückgabe der 72er-Betriebe begonnen worden war, hatte diese in erster Linie wirtschaftspolitisch gerechtfertigt. Erst später trat das Motiv der Wiedergutmachung in den Vordergrund, was unter prinzipiellen Gesichtspunkten durchaus fragwürdig war: Das Vermögensgesetz räumte Alteigentümern von 72erBetrieben Sonderrechte ein, von denen Unternehmer, die zwischen 1949 und 1972 enteignet worden waren, ausgenommen blieben.251 4.3.2 Die Treuhandanstalt als Akteur beim Aufbau des industriellen Mittelstands Spätestens mit der Wiedervereinigung war die Treuhandanstalt zu einem strukturpolitischen Akteur wider Willen avanciert. Zuvor hatte das Treuhandgesetz vom 17. Juni 1990 den Auftrag und die rechtliche Stellung der Anstalt von Grund auf geändert. Die unter Modrow errichtete „Ur-Treuhandanstalt“ war mit der „Verwaltung des Volkseigentums“252 beauftragt worden. Im neuen Gesetz wurden die „Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens“253 zum leitenden Gedanken der Anstalt. Hierzu erhielt sie eine „technokratische Autonomie“254, die in dieser Form einzigartig war und entfernt an die Stellung der Bundesbank erinnerte. Anders als ihre Vorläuferin war die neue Treuhandanstalt nicht an Beschlüsse der Volkskammer gebunden. An die Stelle einer direkten parlamentarischen Kontrolle trat eine Rechts- und Fachaufsicht durch die Regierung. Während der Frühphase 250 Reprivatisierer waren nicht der einzige Fall, in dem das Vermögensgesetz von diesem Grundsatz abwich. Dies galt auch für Ansprüche auf bebaute Grundstücke und Gebäude, die wegen nicht kostendeckender Mieten enteignet worden waren. Ebd. S. 128 f. 251 Alteigentümer eines 72er-Betriebs waren insofern privilegiert, als sie lediglich nachweisen mussten, dass ihr Betriebsvermögen auf Grundlage des Beschlusses des Präsidiums des Ministerrats vom 9. Februar 1972 enteignet worden war. Für einen Rückgabeanspruch war kein Nachweis erforderlich, dass die Enteignung „rechtsstaatswidrig“ erfolgt war. Um Rückgabeansprüche auf Verstaatlichungen vor 1972 erheben zu können, war ein solcher Nachweis hingegen zu erbringen. Praktisch war dies angesichts der subtilen Druckmittel bzw. indirekter wirtschaftlicher Zwangsmaßnahmen, mit denen eine Betriebsaufgabe erwirkt worden war, oft nicht möglich. 252 Statut der Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums (Treuhandanstalt) vom 15. März 1990. In: GBl. der DDR I, 1990, S. 167 ff. 253 Gesetz zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens (Treuhandgesetz) vom 17. Juni 1990. In: GBl. der DDR I, 1990, S. 300–303. 254 Freese, Privatisierungstätigkeit, S. 58.
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der organisatorischen Entwicklung war die Bedeutung dieser Unabhängigkeit noch nicht in Gänze erkennbar; solange die Treuhandanstalt noch nicht voll arbeitsfähig war, konnte sie auch ihre Handlungsfähigkeit nicht demonstrieren. Aus diesem Grund war die Treuhand-Spitze bemüht, Erwartungen sowie politische Forderungen frühzeitig zurückzuweisen und ihre Deutungshoheit über die interne Aufgabenhierarchie zu verteidigen. Insbesondere Präsident Rohwedder prägte das Selbstverständnis sowie die öffentliche Wahrnehmung der Treuhandanstalt. So gab er zu, dass der Auftrag zur Privatisierung der ostdeutschen Wirtschaft struktur- und industriepolitische Aspekte berührte. Zugleich stellte er klar, dass es sich bei diesen Gesichtspunkten dem Grundsatz nach um Bundes- bzw. Länderaufgaben handelte. Die von ihm geleitete Treuhandanstalt dürfe daher keine eigene strukturpolitische Agenda entwickeln. Das Mandat der Treuhandanstalt müsse auf den Verkauf von Unternehmen begrenzt bleiben.255 In den z. T. harten Auseinandersetzungen um die Funktion und Ausrichtung der Treuhandanstalt ging es auch um die Frage, auf welchem Weg die Wirtschaft transformiert werden sollte. Wie sich rasch herausstellte, erstreckte sich der Privatisierungsauftrag nicht nur darauf, private Eigentümer für vorhandene Betriebe zu finden. Im Laufe der Zeit waren in der Wirtschaft der DDR immer größere Einheiten entstanden, die in ihrer bestehenden Zusammensetzung nicht wettbewerbstauglich waren. Mit der Errichtung der Treuhandanstalt war zwar entschieden worden, dass das volkseigene Vermögen verkauft werden sollte. Eine Strategie allerdings fehlte. Soziale Marktwirtschaft war als Leitbegriff an die Stelle des „Dritten Wegs“ getreten. Die Transformation der ostdeutschen Wirtschaft erhielt damit ein neues Fernziel: Statt eines erneuerten Sozialismus wurde nun eine Angleichung an die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der alten Bundesrepublik angestrebt. Vor diesem Hintergrund war die Treuhandanstalt vor die Frage gestellt, wie sie die Herausbildung eines „Mittelstands“ zu befördern gedachte. Schon in der Frühphase, als die Privatisierungsbehörde noch nicht voll handlungsfähig war, mehrte sich die Kritik an ihrer „Mittelstandspolitik“. Die Treuhandanstalt erweckte nämlich den Eindruck, einen vollständigen Verkauf bestehender Betriebskomplexe gegenüber vorherigen Entflechtungen vorziehen zu wollen.256 Der BDI forderte daher, Kombinate müssten in „mittelständisch verdaubare Portionen tranchiert“ werden.257 Westdeutsche Kammern beanstandeten die Arbeit der Treuhandanstalt in ähnlicher Weise, wenngleich dies nicht öffentlich geschah. Man warf der Anstalt vor, kleinere Interessenten zu wenig zu berücksichtigen und diese des Öfteren vor den 255 Ensser, Bedeutung, S. 48. 256 Einige Autoren sprechen in diesem Zusammenhang von einer „Strategie“, die darin bestanden habe, große Betriebskomplexe möglichst en bloc zu verkaufen. Ähnlich lautete die öffentliche Kritik, die seinerzeit an der Privatisierungspraxis der Treuhandanstalt geübt wurde. Ein strategisches Konzept lag dem Vorgehen der Treuhandanstalt aber wohl nur bedingt zugrunde, vielmehr war die Verkaufspolitik eine Folge der personellen Unterbesetzung. In der Frühphase der Privatisierungen konnte die Treuhandanstalt kaum anders handeln, da die organisatorischen Strukturen, um größere Betriebskomplexe entflechten zu können, erst noch entwickelt werden mussten. 257 Mittelstandspolitik. BDI für rasche Privatisierung. In: Handelsblatt, 3. Dezember 1990.
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Kopf gestoßen zu haben. Die westdeutschen Kammern forderten den DIHT auf, dafür zu sorgen, dass die Treuhandanstalt zu einer „mittelstandsfreundlichen Verhaltensweise“ finde.258 Der DIHT hielt sich mit Forderungen über die Presse zurück und war um ein kooperatives Verhältnis zur Treuhandanstalt bemüht. In diesem Zusammenhang entstand die Idee für einen gemeinsamen Recherchedienst, mit dem Treuhandunternehmen mittels einer Datenbank der Kammern direkt an Interessenten vermittelt werden sollten.259 Der Dachverband der Handwerkskammern war in diese Überlegungen einbezogen. Die Treuhandanstalt präsentierte den Recherchedienst, als sie im April 1991 ihr neues Konzept einer „mittelstandsorientierten Privatisierung“ öffentlichkeitswirksam vorstellte.260 Im Rahmen dessen bekannte die Privatisierungsbehörde sich zu Entflechtungen, die sie als integralen Bestandteil ihrer Geschäftspolitik bezeichnete. Um eine strukturpolitische Neuausrichtung der Treuhandpolitik handelte es sich bei der mittelstandsorientierten Privatisierungsstrategie allerdings nicht:261 Entflechtungen sollten vor allem dazu dienen, den Verkauf zu beschleunigen. Die Prioritäten der Treuhandanstalt – in den Worten Rohwedders: schnell Privatisieren, entschlossen Sanieren, behutsam Stilllegen – blieben somit in ihrer Reihenfolge unverändert. Hierzu war es nötig, die Strukturen der ostdeutschen Wirtschaft stärker an die Anforderungen der Marktwirtschaft anzupassen. In erster Linie ging es darum, den Kreis potentieller Käufer zu vergrößern. Mit dem neuen Verkaufskonzept der Treuhandanstalt wurde der Begriff „Mittelstand“ weitgehend auf die statistische Größeneinheit der kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) reduziert. Hierauf wies Treuhand-Vorstand Klinz hin, als er zum „Mittelstandsbeauftragten“ berufen wurde. Er erklärte, im Rahmen der neuen 258 Die IHK Lüneburg-Wolfsburg legte ihren Standpunkt in einem Schreiben an den DIHT wie folgt dar: „Es vergeht keine Vollversammlung unserer Kammer, keine Ausschußsitzung, in der nicht ein Erfahrungsaustausch zwischen Kammerhaupt- und -ehrenamt über Engagements in den fünf neuen Bundesländern, über Chancen, aber auch über Hemmnisse geführt wird. Eindeutig müssen wir feststellen, daß dabei die Handlungsweise der Treuhandanstalt als hemmend, verzögernd, kurz als schlecht beurteilt wird. Spektakuläre Privatisierungen von Großunternehmen können den negativen Eindruck nicht verwischen, daß die große Zahl investitionsfreudiger und kooperationsbereiter mittelständischer Unternehmen aller Sparten schlecht behandelt wird. Anfragen werden nicht beantwortet, vereinbarte Termine oftmals nicht eingehalten oder nicht von sachkompetenten Mitarbeitern wahrgenommen.“ Schreiben des Präsidenten und des Hauptgeschäftsführers der IHK Lüneburg-Wolfsburg an den Präsidenten und den Hauptgeschäftsführer des DIHT vom 28. Januar 1991. RWWA 181-2034-1. 259 Vermerk zur Unterstützung der Treuhandanstalt bei der Veräußerung der mittelständischen Unternehmen vom 31. Januar 1991. RWWA 181-2034-1. 260 Treuhandanstalt. Firmenkauf per Katalog möglich. In: Handelsblatt, 9. April 1991. 261 Ensser verweist auf die zeitliche Nähe einer an Intensität zunehmenden Treuhand-Kritik und der Kundgabe der „mittelstandsorientierten Privatisierung“. Das BMWi sah sich selbst offenbar in der Rolle des Initiators der neuen Geschäftspolitik (Ensser, Bedeutung, S. 55–63). Die Suche nach den Anlässen, die die Treuhandanstalt zu ihrem „Strategiewechsel“ bewogen, sollte gleichwohl auch im Blick haben, welche inhaltliche Qualität dieser letztlich hatte. Das Ziel einer möglichst schnellen Privatisierung ist jedenfalls in keiner Weise relativiert worden; Entflechtungen trugen vielmehr dazu bei, die Privatisierung der ostdeutschen Wirtschaft nach einer zögerlichen Anlaufphase zu beschleunigen.
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Verkaufspolitik wolle man „auf Vorrat mittelstandsähnliche Strukturen“262 schaffen. Für die Identität von Eigentümer und Geschäftsführer aber, die „einen echten erfolgreichen Mittelständler“263 ausmache, könne die Treuhandanstalt nicht sorgen. Dies stimmte – jedenfalls solange sich der Mittelstandsbeauftragte auf Unternehmensverkäufe im Rahmen des regulären Bieterwettbewerbs bezog. Dies war Klinz’ vorrangige Aufgabe, der als Mittelstandsbeauftragter ausschließlich für Neuprivatisierungen zuständig war. Unterdessen war die Rückgabe enteigneter Unternehmen mit dem 3. Oktober 1990 in eine Sackgasse geraten. Die Treuhandanstalt war nicht über jeden Zweifel erhaben, hieran eine Mitverantwortung zu tragen. Die kurzfristige Neuregelung der Reprivatisierungen durch das Vermögensgesetz hatte u. a. dazu geführt, dass neue Behörden für die Entscheidung der Anträge zuständig wurden. Insbesondere waren dies die Landesämter zur Regelung offener Vermögensfragen. Sie befanden sich, analog zu sämtlichen Landesverwaltungen, noch im Aufbau. Die Abteilungen (bzw. Außenstellen), die sich mit der Unternehmensrückgabe befassten, rekrutierten ihre Mitarbeiter allerdings häufig aus dem Personal, das zuvor in den Räten der Bezirke derselben Aufgabe nachgegangen war.264 Die Treuhandanstalt führte wiederholt administrative Gründe dafür an, dass die Reprivatisierungen stagnierten.265 Die Landesvermögensämter wurden von Rückgabeanträgen regelrecht überflutet. Auf Grundstücke und Gebäude wurde eine Vielzahl von Ansprüchen erhoben – die Ämter zur Regelung offener Vermögensfragen registrierten mehr als zwei Millionen Eingaben.266 Im Verhältnis dazu blieben unternehmensbezogene Anträge vergleichsweise selten. Auf Grundlage des alten Unternehmensgesetzes waren rund 8.000 Anträge gestellt worden, die zum 29. September 1990 nicht entschieden worden waren. Mit Inkrafttreten des Vermögensgesetzes kam es allerdings auch hier zu einer Vervielfachung der Anträge.267 Zwar war der Kreis der Antragsberechtigten, nicht aber die Zahl der rückgabefähigen 262 Klinz, Stand, S. 33. 263 Ebd. S. 35. 264 So der „persönliche Eindruck des Verfassers“ bei Schmidt und Kaufmann (Schmidt/Kaufmann, Mittelstand, S. 76). In einigen Fällen wurde demnach lediglich die Eingangstafel am Behördensitz ausgetauscht. Einerseits setzte dies eine als Makel empfundene Tatsache fort, dass Unternehmensrückgaben in einigen Fällen von denselben Mitarbeitern geprüft werden mussten, die in den 70er Jahren an dessen Verstaatlichung mitgewirkt hatten. Andererseits war ein solches „Täterwissen“ nützlich, da das Personal in diesen Fällen die Materie kannte. Problematisch wirkte eine personelle Kontinuität zwischen Verstaatlichungs- und Rückgabebehörden aber unter dem Vermögensgesetz, da dieses – im Unterschied zum Unternehmensgesetz – auf eine Wiedergutmachung von Unrecht zielte. Sachliche Gründe, d. h. eine nach wie vor besondere Bedeutung der Reprivatisierungen für die Entwicklung der Wirtschaft, müssen daher den Ausschlag für diese Lösung gegeben haben. 265 Antwort des Präsidenten der Treuhandanstalt an den Vizepräsidenten des Unternehmerverbandes Berlin-Brandenburg vom 5. Dezember 1990. In: Treuhandanstalt (Hg.): Dokumentation 1990–1994. Band 10. Berlin 1994, S. 116. 266 Bundesamt zur Regelung offener Vermögensfragen, Statistische Übersicht 1992, S. 3 f. (http:// www.badv.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/OffeneVermoegensfragen/Statistik/statistik1992.html; aufgerufen am 12.07.2014). 267 Die Zahl der Anträge stieg auf knapp 120.000. Viele wurden abgelehnt, da die Enteignung des betreffenden Unternehmens zwischen 1945 und 1949 stattgefunden hatte. Ebd. S. 7.
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Unternehmen vergrößert worden. Viele Eingaben bezogen sich lediglich auf Unternehmensteile, oft Anteile an Kapitalgesellschaften. Es kam daher häufiger vor, dass auf einzelne Betriebe mehrere Rückgabeanträge gestellt wurden.268 Die Mehrzahl der unternehmensbezogenen Anträge wurde schlussendlich ablehnend beschieden. Das Vermögensgesetz begründete Ansprüche in gewaltigem Umfang. Die offenen Vermögensfragen waren daher eine Angelegenheit, die die zuständigen Behörden überforderte. Angesichts der Vielzahl an Anträgen wuchsen die Zweifel am Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung“, der im Vermögensgesetz verankert worden war. Sobald ein Rückgabeanspruch erhoben wurde, trat eine sofortige Verfügungssperre über betroffene Objekte in Kraft. Unmittelbar hatte dies zur Folge, dass in betroffene Gebäude und Unternehmen nicht mehr investiert werden konnte, was sich als ernstliches Hindernis für den Aufschwung in Ostdeutschland erwies. Abgesehen von diesen allgemeinen Mängeln bei der Regelung der offenen Vermögensfragen, hatte der Stillstand bei der Rückgabe der 72er-Betriebe spezielle Ursachen. Grundsätzlich hatte das Vermögensgesetz auch zu Verbesserungen geführt. Es ging z. B. auf mehrere Forderungen ein, die die IHKn schon vor der Wiedervereinigung gestellt hatten: Für Betriebe, deren Wert gemindert worden war, wurden Ausgleichszahlungen vorgesehen; ebenso für solche, die über kein wettbewerbsfähiges Produktionsprofil mehr verfügten. Im Modrow’schen Unternehmensgesetz waren für diese Fälle staatliche Fördermaßnahmen in Aussicht gestellt worden, die aber unspezifisch geblieben waren.269 Das Problem der Wertminderung wäre demnach durch sekundäre Maßnahmen – Markteingriffe, Subventionen o. Ä. – behoben worden. Demgegenüber sollten Bewertungsfragen im Vermögensgesetz auf eigentumsrechtlicher Basis gelöst werden. Die Landesvermögensämter standen hierbei allerdings vor einer kaum zu bewältigenden Aufgabe. Der für die Ausgleichszahlungen maßgebliche Passus sah vor, dass ein Unternehmen bei seiner Rückgabe „mit dem enteigneten Unternehmen im Zeitpunkt der Enteignung vergleichbar“270 sein sollte. Das Vermögensgesetz definierte den Unternehmenswert umfassend und berücksichtigte sowohl die Vermögens- als auch die Ertragslage. In die Prüfung der Vergleichbarkeit sollten sowohl der technische Fortschritt als auch die „allgemeine wirtschaftliche Entwicklung“ einbezogen werden. Diese Vorgabe machte eine Reihe weiterer auslegungsbedürftiger Rechtsbegriffe erforderlich, was die Handhabung des Gesetzes erheblich erschwerte.271 Ob und in welcher Höhe ein Restitutionsberechtigter von Ausgleichsleistungen profitierte, hing von der Vergleichbarkeitsprüfung ab. Sie war ohne Mithilfe der Treu268 Schmidt/Kaufmann, Mittelstand, S. 86. 269 § 19 (3) Unternehmensgesetz. Wertsteigerungen sollten als Kapitaleinlage, Rücklage, Erhöhung der staatlichen Einlage oder Forderung des Staates ausgewiesen werden. 270 § 6 (1) Vermögensgesetz. 271 Selten war ein verstaatlichtes Unternehmen völlig unverändert geblieben. Aber selbst wenn dies der Fall war, blieb der Ermessensspielraum unklar definiert: „Das Unternehmen ist mit dem enteigneten Unternehmen vergleichbar, wenn das Produkt- oder Leistungsangebot des Unternehmens unter Berücksichtigung des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts im Grundsatz unverändert geblieben ist oder frühere Produkte oder Leistungen durch andere ersetzt worden sind.“ Ebd.
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handanstalt nicht zu leisten, da die Vermögensämter keinen Zugriff auf Unternehmensdaten hatten. Demgegenüber war die Treuhandanstalt über das ehemalige volkseigene Vermögen verfügungsberechtigt und besaß Einblick in die wirtschaftlichen Verhältnisse der Betriebe. Daher hatte es schon zu den Aufgaben der „UrTreuhandanstalt“ gezählt, an den Reprivatisierungen mitzuwirken.272 Hieran hatte auch das Treuhandgesetz vom 17. Juni nichts geändert. Im Treuhand-Vorstand wusste man um die Tatsache, „die entscheidende Voraussetzung“273 in Händen zu halten, damit die Behörden die Reprivatisierungen wieder in Gang bringen konnten. Dennoch übte sich die Privatisierungsbehörde in Zurückhaltung. Die Treuhandanstalt vertrat den Standpunkt, die Handlungsunfähigkeit der Landesvermögensämter sei der Grund für den Stillstand der Reprivatisierungen. Darüber hinaus sträubte sich die Treuhand-Spitze, Verantwortung für die Durchführung der Vergleichbarkeitsprüfungen zu übernehmen. Die Privatisierungsbehörde forderte das BMJ auf, mit einer Durchführungsverordnung für Rechtssicherheit zu sorgen.274 Das Ministerium wies dies von sich und erklärte, eine Weiterführung der Rückgaben grundsätzlich auch ohne Verordnung für möglich zu halten. Die Treuhandanstalt war daraufhin nur unter bestimmten Bedingungen bereit, freiwillig am Reprivatisierungsprozess mitzuwirken. Sie verlangte, dass sich Rückgabeberechtigte damit einverstanden erklärten, wie sie betreffende Unternehmen bewertete. Insbesondere verlangte die Privatisierungsbehörde freie Hand bei der Zuordnung von Unternehmenswerten. In Bezug auf die Frage der Ausgleichsleistungen, die Antragstellern im Falle einer veränderten Vermögens- bzw. Ertragslage zustanden (= Ausgleichsleistungen), hielt man sich weiterhin für nicht zuständig. Die Treuhandanstalt vertrat die Auffassung, dass dies Sache der Vermögensämter sei. Diese sollten fragliche Leistungen nachträglich festsetzen, auf Grundlage der geforderten Durchführungsverordnung. Unter diesen Bedingungen waren Rückgabeberechtigte „nur in wenigen Ausnahmefällen“275 bereit, sich auf eine Zusammenarbeit einzulassen. Überraschend war dies kaum, da die vorgeschlagene Verfahrensweise erhebliches Konfliktpotential barg. Im Zuge von Unternehmensrückgaben mussten Betriebskomplexe aufgespalten werden; dies berührte nicht nur Grundbesitz und Anlagevermögen, sondern auch Verbindlichkeiten. Letztlich verlangte die Treuhandanstalt daher, dass Reprivatisierer Altschulden übernahmen, ohne die Höhe eventueller Ausgleichsleistungen zu kennen. Die Kredite der ehemals volkseigenen Wirtschaft stammten zum Großteil aus der Zeit Honeckers und waren Betrieben nach Plankriterien zugewiesen worden. Weder in betriebs- noch in volkswirtschaftlicher Hinsicht war diese Geldaufnahme mit Krediten eines marktwirtschaftlichen Finanzsystems vergleichbar gewesen; sie hatte weder zur Investitionsfinanzierung gedient, noch einer Ersparnisbildung der 272 Vgl. Kloepfer, Vorgaben, S. 49. 273 Vermerk Direktor van Scherpenberg für Frau Breuel – Weiterer Ablauf Reprivatisierungen. In: Treuhandanstalt (Hg.): Dokumentation 1990–1994. Band 10. Berlin 1994, S. 108 ff.; 109. 274 Ebd. S. 108. 275 Vermerk des Referats Reprivatisierung zu den Problemen im Zusammenhang mit der Rückübertragung (Reprivatisierung) von Unternehmen vom 1. März 1991. In: Treuhandanstalt (Hg.): Dokumentation 1990–1994. Band 10. Berlin 1994, S. 119 f.; 120.
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Bevölkerung entsprochen.276 Im Rahmen der Währungsunion verzichtete man auf eine Streichung der Altschulden. Stattdessen war das Treuhandvermögen zu deren Gegenwert erklärt worden.277 Altkredite wurden im Verhältnis 2:1 umgestellt und wurden damit zu realen Krediten. Da das Zinsniveau nach der Wiedervereinigung stark anstieg, waren sie eine erhebliche Belastung der ostdeutschen Betriebe. Gerade im Rahmen von Unternehmensrückgaben konnten übernommene Altschulden zu einer bilanziellen Überschuldung führen – sofern die in Aussicht gestellten Ausgleichsleistungen dies nicht verhinderten. Hauptgläubigerin der DDR-Altschulden war die Deutsche Kreditbank AG, die sich im Besitz der Treuhandanstalt befand.278 Während es im Rahmen von Neuprivatisierungen üblich war, Unternehmen vor einem Verkauf zu entschulden, bestand die Treuhand bei Unternehmensrückgaben darauf, dass die Altschulden übernommen wurden. Die Treuhandanstalt war keineswegs alleinverantwortlich dafür, dass sich der Reprivatisierungsprozess in die Länge zog. Zwar ging man dort im November 1990 davon aus, dass eine Durchführungsverordnung zum Vermögensgesetz erst in „Monaten oder zumindest vielen Wochen“ zustande kommen würde.279 Tatsächlich war aber sogar dies eine optimistische Schätzung: Es dauerte bis Ende Juli 1991, bis entsprechende Richtlinien in Kraft traten.280 Nichtsdestoweniger verfügte die Privatisierungsbehörde über Spielräume und hätte diese nutzen können, um die Rückgabeverfahren zu beschleunigen. Diese Handlungsmöglichkeiten ergriff sie nicht, wofür es politisch-taktische Gründe gab. Im Vorstand der Treuhandanstalt hatte man ein gravierendes Hindernis entdeckt, durch welches viele Reprivatisierungsverfahren zum Erliegen gekommen waren. Intern wurde darüber diskutiert, Bundesjustizminister Kinkel um Unterstützung zu bitten. Dieser, so erwog man, sollte eine Mitteilung an die Landesjustizminister verschicken und darin zum Ausdruck bringen, daß es mit dem Gesetz in Übereinstimmung steht, wenn Notare und Handelsrichter Reprivatisierungen, die vor dem 3. Oktober 1990 entschieden worden sind, nach dem 3. Oktober 1990 […] noch beurkunden und eintragen; dies geschieht nämlich nicht und behindert die Übertragung von Reprivatisierungen, die von den Behörden bereits abschließend entschieden worden sind.281 276 Hankel, DDR-Altschuldenregelung, S. 33. 277 Eine Streichung dieser Schulden war nicht abwegig, da die Staatsbank der DDR im Zuge der Währungsunion aufgelöst wurde. Gegen eine Streichung entschied man sich, weil die Spareinlagen der DDR-Bürger bei Guthaben bis zu 6.000 DDR-Mark im Verhältnis 1:1 umgestellt wurden. Hierdurch wurden die DDR-Banken zu Schuldnern dieser Einlagen. Eine Streichung ihrer Forderungen gegenüber den Betrieben hätte daher zu Bilanzlücken geführt, für die der Bund Ausgleichszahlungen hätte leisten müssen. Dies hätte die erheblichen Kosten der Währungsunion schlagartig offengelegt, woran allerdings kein politisches Interesse bestand. Vgl. Streit/Mummert, Grundprobleme, S. 27 ff. 278 Die Treuhandanstalt war somit indirekt sowohl Gläubigerin als auch Schuldnerin der Altkredite. 279 Vermerk Direktor van Scherpenberg für Frau Breuel – Weiterer Ablauf Reprivatisierungen. In: Treuhandanstalt (Hg.): Dokumentation 1990–1994. Band 10. Berlin 1994, S. 108 ff.; 109. 280 Verordnung zum Vermögensgesetz über die Rückgabe von Unternehmen (Unternehmensrückgabeverordnung – URüV). In: BGBl. I, 1991, S. 1542–1546. 281 Vermerk Direktor van Scherpenberg für Frau Breuel – Weiterer Ablauf Reprivatisierungen. In: Treuhandanstalt (Hg.): Dokumentation 1990–1994. Band 10. Berlin 1994, S. 108 ff.; 109.
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Die Treuhandanstalt sah davon ab, sich in dieser Weise für die Sache der Reprivatisierer zu verwenden. Im Vorstand wurde entschieden, „erst die weitere Diskussion mit den Bundesministerien“ abzuwarten, ehe Niederlassungen entsprechende Anweisungen erhalten sollten. Das BMJ sowie das BMWi stritten zu dieser Zeit öffentlich über das Prinzip der „Rückgabe vor Entschädigung“.282 Bundeswirtschaftsminister Möllemann trat dafür ein, den Grundsatz abzuschaffen, nachdem deutlich geworden war, dass das Vermögensgesetz in der Fassung des Einigungsvertrags gravierende Konstruktionsfehler hatte. Diese Position teilte auch die Treuhandanstalt. Präsident Rohwedder hatte im März 1991 gefordert, Betriebe nur noch in Ausnahmefällen zurückzugeben – und zwar dann, wenn ein Alteigentümer „zumindest annähernd gleiche Vorschläge für Investitionen und die Sicherung von Arbeitsplätzen“283 anbieten konnte wie andere Interessenten. Die Treuhandanstalt besaß zumindest bis Frühjahr 1991 kein gesteigertes Interesse, die Reprivatisierungen weiterzuführen. Die Kritiker des Grundsatzes „Rückgabe vor Entschädigung“ forderten dessen Einschränkung. Ihre Argumente wogen desto stärker, je offenkundiger war, dass die Vermögensproblematik den Aufschwung der ostdeutschen Wirtschaft hemmte. Der Treuhandanstalt fiel es noch aus weiteren Gründen schwer, die Unternehmensrückgaben als Teil ihres Auftrags zu akzeptieren. Bisweilen sah man die Reprivatisierungen als „Verwaltungshindernis“, das vom vorrangigen Auftrag der Neuprivatisierungen ablenkte.284 Das Hemmnisbeseitigungsgesetz vom März 1991 räumte diese Unklarheiten in Bezug auf die Aufgaben der Treuhandanstalt aus. Die Bundesregierung reagierte mit dem Gesetz auf die anhaltenden Schwierigkeiten, die die Vermögensproblematik der ostdeutschen Wirtschaft bereitete. Eine Regelung zum Investitionsvorrang schränkte den umstrittenen Restitutionsprimat unter bestimmten Voraussetzungen ein. Darüber hinaus korrigierte das Hemmnisbeseitigungsgesetz zahlreiche weitere Gesetze, u. a. das Treuhandgesetz: Als Verfügungsberechtigte wurde die Treuhand nun gesetzlich zur Schuldnerin bzw. Gläubigerin von Ausgleichsleistungen erklärt, die aufgrund von „wesentlichen Verschlechterungen“ bzw. „wesentlichen Verbesserungen“ der Vermögens- oder Ertragslage eines zurückzugebenden Unternehmens zu leisten waren.285 Die Konkretisierung der Vergleichbarkeitsprüfung war mit einer politischen Klarstellung verbunden: Das Rückgabeprinzip stand nicht weiter zur Diskussion. Unter den Interessenvertretern zählte der DIHT zu den wenigen Stimmen, die den Ansatz der Bundesregierung positiv bewerteten. In sämtlichen ostdeutschen Kammern war erkannt worden, dass ungeklärte Eigentumsverhältnisse ein großes Problem für die Entwicklung der Wirtschaft waren, z. B. mit Blick auf die Entwicklung der Innenstädte. Freilich zählte auch die Umsetzung der Reprivatisierungen zu den 282 Einigungsvertrag. Kinkel und Möllemann uneins. In: Handelsblatt, 4. März 1991. 283 Anhörung des Rechtsausschusses zu den Kinkel-Entwürfen. Rohwedder, DGB, SPD und Handwerk wollen Entschädigung statt Restitution. In: Handelsblatt, 6. März 1991. 284 Willgerodt, Wiedereinsetzung, S. 245. 285 Begründung der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zur Beseitigung von Hemmnissen bei der Privatisierung von Unternehmen und zur Förderung von Investitionen. BT-Drs. 12/103, S. 26.
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grundlegenden Forderungen der IHKn in den neuen Bundesländern. Eine Kompromissposition war aus Sicht der IHKn daher der einzig gangbare Weg. Dass diese Abwägung auch anders ausfallen konnte, zeigte z. B. die Position der Handwerkskammern: Ihre Betriebe profitierten von Aufträgen im Bausektor, während Reprivatisierungen im Handwerk kaum eine Rolle spielten. Der ZdH plädierte daher – ähnlich wie DGB und Treuhandanstalt – für die Abschaffung des Restitutionsprinzips. Entgegengesetzt positionierte sich die „Arbeitsgemeinschaft Selbstständiger Unternehmer“ (ASU), die die Partikularinteressen ehemaliger Eigentümerunternehmer wahrnahm. Die ASU befand es für „sachlich falsch und verfassungsrechtlich äußerst problematisch“286, die Rechte der Alteigentümer zu relativieren – sie musste diese Position allerdings auch nicht im Hinblick auf das wirtschaftliche Gesamtinteresse hinterfragen. Das Hemmnisbeseitigungsgesetz führte dazu, dass die Treuhandanstalt Reprivatisierungen als prinzipiell gleichrangigen Teil ihres Gesamtauftrags akzeptierte.287 Dies war u. a. daran ersichtlich, dass die Privatisierungsbehörde nun personelle Verantwortlichkeiten festlegte. Sowohl die Niederlassungen als auch die Branchendirektorate erhielten „Reprivatisierungsbeauftragte“. Von Mai 1991 an entstand außerdem eine interne Arbeitsanleitung zur „Rückübertragung […] nach § 6 des Vermögensgesetzes einschließlich aller damit zusammenhängenden Fragen“.288 Hierin wurde u. a. die Prüfung der Vergleichbarkeit eines zurückzugebenden mit dem geschädigten Unternehmen beschrieben und konkretisiert, wie Ausgleichsleistungen festzusetzen waren. 4.3.3 Das Verhältnis von Industrie- und Handelskammern und Treuhandanstalt Mit Inkrafttreten des Einigungsvertrags waren die ostdeutschen IHKn gezwungen, ihre Rolle beim Aufbau mittelständischer Strukturen neu zu definieren. Dies galt insbesondere für den Reprivatisierungsprozess: Im Modrow’schen Unternehmensgesetz waren die Kammern als Interessenvertreter zumindest nominell erwähnt worden. Im Vermögensgesetz war dies nicht der Fall. Die Zuständigkeiten bei der Reprivatisierung waren insgesamt undurchsichtig. Mittelständisches Unternehmertum konnte prinzipiell auch aus Neuprivatisierungen hervorgehen. Die Treuhandanstalt war seit Frühjahr 1991 in der Lage, Betriebe in größerer Zahl zu privatisie286 Ebd. 287 Eine Information zum Stand der Reprivatisierungen vom 14. Juni 1991 fand hierfür diesen Wortlaut: „Die Treuhandanstalt verfolgt das Ziel, durch Beschleunigung der Reprivatisierung den Aufbau mittelständischer, wettbewerbsfähiger Strukturen zu fördern und damit gute Chancen für kleine und mittlere Unternehmen zu schaffen. Dabei geht die Treuhandanstalt davon aus, daß die Reprivatisierung Bestandteil der Privatisierung der ehemaligen volkseigenen Wirtschaft und damit Teil des Auftrages des Treuhandgesetzes ist.“ Information zum Stand der Reprivatisierung von Unternehmen gemäß § 6 des Vermögensgesetzes und Schlussfolgerungen, Stand 14. Juni 1991. In: Treuhandanstalt (Hg.): Dokumentation 1990–1994. Band 10. Berlin 1994, S. 132–135; 133. 288 Arbeitsanleitung für die Reprivatisierung von Unternehmen und die Rückgabe von Vermögenswerten nach § 6 des Gesetzes zur Regelung offener Vermögensfragen (VermG). In: Treuhandanstalt (Hg.): Dokumentation 1990–1994. Band 10. Berlin 1994, S. 139–165; 140.
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ren. Im Oktober 1990 schien sich eine Gelegenheit zu bieten, den Kontakt zur Privatisierungsbehörde zu verbessern: Die Anstalt plante, ihre Niederlassungen neu auszurichten und neues Personal zu rekrutieren. Die Treuhand-Niederlassungen waren innerhalb der Bezirke der DDR entstanden. Ihre jeweilige territoriale Zuständigkeit deckte sich deshalb mit derjenigen der IHKn. Auf regionaler Ebene war ein regelmäßiger Austausch daher, aus Sicht der Kammern jedenfalls, wünschenswert. Die Niederlassungen wurden im Zuge der Neuausrichtung für Unternehmen mit bis zu 1.500 Mitarbeitern zuständig. Insgesamt waren die Dependancen damit für rund zwei Drittel des Unternehmensportfolios der Treuhandanstalt verantwortlich. Sie waren insbesondere im Hinblick auf die Reprivatisierungen von großer Bedeutung: Fast 80 Prozent dieser Fälle wurden von den Niederlassungen bearbeitet.289 Die Treuhand richtete auf regionaler Ebene Beiräte ein, in denen die Kammern stark vertreten waren.290 Vor diesem Hintergrund gab es durchaus Erwartungen, die operative Arbeit der Niederlassungen beeinflussen zu können. Im November 1990 berichtete DIHT-Hauptgeschäftsführer Schoser in der Hauptgeschäftsführer-Konferenz über ein Treffen mit Birgit Breuel, die im Treuhand-Vorstand für die Niederlassungen zuständig war.291 Man habe die teilnehmenden ostdeutschen Hauptgeschäftsführer schließlich überzeugen können, dass es sich bei Beiräten um wichtige lokale bzw. regionale Informationsquellen handle, es aber nicht das Ziel der Kammern sei, dort politischen Einfluss auszuüben. Diederich, Haag und Cadel kamen zum Ergebnis, dass die Gestaltungsaktivitäten der Treuhandanstalt für die ostdeutschen Kammern auf einer „zu hohen politischen Ebene angesiedelt“292 gewesen seien, um Einfluss nehmen zu können. Ob politische Spitzenverbände dahingegen solche Einflussmöglichkeiten besaßen, war freilich nicht deutlich. Die Bundesregierung hatte der Privatisierungsbehörde im Rahmen ihrer Rechts- und Fachaufsicht weite Ermessensspielräume zugebilligt.293 Für das Verhältnis von Wirtschaftsverbänden und Treuhandanstalt galt, dass sie in Bezug auf Privatisierung und Rückführung der Staatstätigkeit gemeinsame Interessen hatten. Nicht zuletzt im Sinne des besseren gegenseitigen Verständnisses bot Schoser Treuhandpräsident Rohwedder an, den organisatorischen Aufbau der Niederlassungen zu unterstützen. Schoser warb dafür, Geschäftsführer westdeutscher IHKn zeitlich befristet in die Treuhand-Niederlassungen zu entsenden.294 Nach Erledigung des organisatorischen Aufbaus sollten sie durch Spezialisten für das Privatisierungsgeschäft abgelöst werden. Rohwedder war dieser Anregung gegenüber aufgeschlossen; da sich potentielle Bewerber allerdings zurückhielten, konnte der Plan 289 Die Niederlassungen erledigten bis Ende 1993 6.500 Reprivatisierungen, die Zentrale schloss bis zu diesem Zeitpunkt 1.476 Fälle ab. Willgerodt, Wiedereinsetzung, S. 253. 290 Insgesamt entfiel rund ein Drittel der Beiratsmandate auf Wirtschaftsvertreter; je nach Region waren Vertreter aus Wirtschaft, Ländern und Kommunen, Gewerkschaften, Kirchen sowie der Bürgerrechtsbewegung unterschiedlich stark vertreten. Czada, Treuhandanstalt, S. 161. 291 Protokoll der Hauptgeschäftsführer-Konferenz in Bonn vom 20. November 1990. RWWA 1811885-3. 292 Cadel/Haag/Diederich, Industrie- und Handelskammern, S. 93. 293 Freese, Privatisierungstätigkeit, S. 61. 294 Interview Lindstaedt.
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nur z. T. umgesetzt werden. Hierfür gab es vielschichtige Gründe; nicht jede IHK konnte über mehrere Monate auf eine Führungskraft verzichten. Der spätere Hauptgeschäftsführer der IHK Frankfurt am Main, Wolfgang Lindstaedt, war einer von insgesamt zwei IHK-Geschäftsführern, die sich für einen Einsatz meldeten.295 Da sich die hessische Kammervereinigung in der Zusammenarbeit mit Ostdeutschland auf Thüringen konzentrierte, wurde Lindstaedt nach Erfurt entsandt. Lindstaedt war in der DDR aufgewachsen und konnte sich vor diesem Hintergrund gut in die ostdeutschen Befindlichkeiten hineinversetzen. Für die Akzeptanz vor Ort erwies sich dies als förderlich; die Vollversammlung der Erfurter IHK ernannte Lindstaedt nach Ende seiner Tätigkeit in der Treuhand-Niederlassung zum Ehrenmitglied. Die IHK Erfurt gründete 1991 den „Beirat Reprivatisierung“, um den Erfahrungsaustausch zwischen Reprivatisierern zu fördern.296 Das Gremium wirkte nicht unmittelbar an der Schnittstelle von IHK und Treuhand-Niederlassung, war von Letzterer aber mit angeregt und seine Gründung von dieser Seite begrüßt worden.297 Die Idee entstand, um symptomatische Probleme zu lösen, die sowohl beim Reprivatisierungsprozess als auch im betrieblichen Alltag auftraten. Dazu zählte z. B. der Produktabsatz, da es den ostdeutschen Herstellern große Mühe bereitete, den Zusammenbruch des Osthandels zu kompensieren. Viele Reprivatisierer waren auf Konsumgüter spezialisiert; ihnen gelang es zunächst kaum, sich auf dem angestammten einheimischen Markt zu behaupten. Die ostdeutsche Bevölkerung kaufte nach der Wiedervereinigung bevorzugt bei westdeutschen Handelsketten, die ostdeutsche Erzeugnisse oft nicht listeten. Spezifische Probleme hatten Reprivatisierer auch mit der Finanzierung; Kredite scheiterten an fehlenden Sicherheiten. Zahlreiche Modrow-Reprivatisierungen waren behördlich zwar abschließend entschieden, aber noch nicht rechtskräftig vollzogen worden, da die notarielle Beurkundung der Umwandlung unterblieben war.298 Die reprivatisierten Betriebe wurden durch diese Mängel schwer belastet und hatten mit bedrohlichen Liquiditätsengpässen zu kämpfen. Es nahm oft mehrere Jahre in Anspruch, ehe sämtliche Eigentumsnachweise erbracht werden konnten. Der Erfurter Kammerpräsident Chrestensen kannte die Probleme reprivatisierter Unternehmen aus eigener Anschauung. Als ostdeutscher Wirtschaftsvertreter war er zudem regelmäßiger Teilnehmer der Kanzlerrunde zum „Aufbau Ost“. Bundeskanzler Kohl berief diesen Gesprächskreis seit 1990 turnusmäßig ein, um mit Vertretern aus Verbänden, Gewerkschaften und Parteien über vereinigungspolitische Themen zu beraten und Maßnahmen abzustimmen. Chrestensen saß dort – der alphabetischen Sitzordnung halber – neben Treuhand-Präsidentin Breuel, die nach der Ermordung Rohwedders im Frühjahr 1991 in dieses Amt gekommen war.299 Auf diesem Wege informierte er die Treuhand-Präsidentin auch persönlich über die Hindernisse bei den Reprivatisierungen. Breuel setzte sich dafür ein, den Fall des Erfurter Unternehmers voranzubringen. Vor allem gelang es ihr, Verständnis zu er295 296 297 298 299
Ebd. IHK Erfurt, Geschichte, S. 9. Interview Lindstaedt. Willgerodt, Wiedereinsetzung, S. 251. Interview Chrestensen.
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zeugen, denn trotz Bemühens der Treuhand-Präsidentin dauerte es auch bei der Firma Chrestensen viele Jahre, ehe diese ihr gesamtes Eigentum nachweisen konnte.300 Dies demonstrierte, wie gravierend die sachlichen Hindernisse waren. Die IHK Erfurt war nicht die einzige Kammer, in der Reprivatisierungen einen großen Stellenwert hatten. In regionaler Hinsicht waren Unternehmensrückgaben in Sachsen und Thüringen von besonderer Bedeutung. Das Ehrenamt der Kammern nahm bei den Themen Reprivatisierung sowie Mittelstandspolitik großen Einfluss auf die Sacharbeit der IHKn. Trotz der Beispiele, in denen eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen Kammern und Treuhandanstalt gelungen war, hatte sich in vielen Vollversammlungen Unmut aufgestaut, nicht zuletzt über die Geschäftspolitik der Privatisierungsbehörde. Sie wurde dafür verantwortlich gemacht, dass viele Unternehmen vor gravierenden Problemen standen. Auch der geringe Einfluss auf Privatisierungsentscheidungen sorgte bisweilen für Verärgerung. Die TreuhandZentrale bekam dies im Juni 1992 zu spüren, als sie in Berlin auf einer Informationsveranstaltung über den Stand ihrer „Mittelstandsarbeit“ berichtete. Das Treffen, an dem IHKn und Handwerkskammern teilnahmen, wurde im Stile einer informativen Ergebnispräsentation abgehalten. Wie bereits zu früheren Gelegenheiten, wurde das Erreichte ausgiebig gewürdigt: Fast 80 Prozent aller Treuhand-Betriebe hätten einen mittelständischen Käufer gefunden.301 Die Treuhandanstalt kündigte an, bei der weiteren Privatisierung verstärkt auf sogenannte MBOs setzen zu wollen, Betriebe also an das Management zu verkaufen, sofern dieses interessiert war. Ein Vermerk der Kammerseite hielt fest, dass der Aufwand des Erscheinens „für die meisten Teilnehmer […] in keinem Verhältnis zum Nutzen“302 der Veranstaltung gestanden habe. Die Kritik entzündete sich vor allem an der geringen Problemtiefe: Das Treffen habe insgesamt zu sehr einer „Selbstdarstellung der Treuhandanstalt“ entsprochen. Einige Kammer-Präsidenten nahmen dies als Aufforderung, den Zustand des ostdeutschen Mittelstands aus ihrer Sicht zu schildern. Sie bezeichneten die Folgen der Währungsunion als ruinös und kritisierten, dass ostdeutsche Interessenten bei der Privatisierung zu selten berücksichtigt worden seien. In diesem Kontext wurde nochmals bemängelt, dass die IHKn zu wenig in die Entscheidungen der Niederlassungen eingebunden seien. Während sich einige Teilneh300 Ebd. 301 Eine Treuhand-Veröffentlichung aus demselben Jahr nannte einen ähnlich hohen Anteil: „Etwa Dreiviertel“ der Betriebe seien an einen Mittelständler verkauft worden – wobei „als mittelständische Käufer“ diejenigen galten, die „im Industriebereich bis zu 500 Mitarbeiter haben, im gewerblichen Bereich bis zu 200 und im handwerklichen Bereich bis zu 50“. Diese Einteilung ließ offen, ob sie verkaufte Unternehmen oder Käufer klassifizierte. Aber auch der zweite Fall gewährleistete nicht, dass sich hinter einem Käufer ein mittelständischer Unternehmer verbarg: Ein Industriebetrieb mit bis zu 500 Mitarbeitern konnte sich z. B. mehrheitlich in Konzernbesitz befinden. Ein solcher Betrieb besaß grundlegend andere Voraussetzungen: In Bezug auf die Kapitalbeschaffung unterlag er keineswegs mittelstandsspezifischen Bedingungen; häufig galt dies auch für die Organisation unternehmerischer Teilaufgaben, etwa Forschung und Entwicklung. Treuhandanstalt, Sanieren, S. 33. 302 Vermerk zur Informationsveranstaltung der Treuhandanstalt mit den Präsidenten und Hauptgeschäftsführern der Industrie- und Handelskammern und der Handwerkskammern in den neuen Bundesländern am 25. Juni 1992 in Berlin. RWWA 181-1808-2.
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mer kritisch-konstruktiv äußerten, verliehen drei Präsidenten ihrer Missbilligung Ausdruck, indem sie die Veranstaltung vorzeitig verließen. Auf kommunikativer Ebene musste sich die Treuhandanstalt den ein oder anderen Vorwurf durchaus gefallen lassen: Unternehmensrückgaben wurden bis Mitte 1992 getrennt von den Angelegenheiten des Mittelstands behandelt. Dies änderte sich kurz nachdem die Berliner Informationsveranstaltung aus dem Ruder gelaufen war: Der TreuhandVorstand ordnete die Zuständigkeiten neu und gab das Ziel vor, „alle mittelstandsrelevanten Themen“303 zu bündeln. Auch die Reprivatisierungen ressortierten von nun an im Geschäftsbereich Mittelstand. Die operative Arbeit der Treuhandanstalt gab ebenfalls Anlass zu Unmut, der allerdings nicht immer gerechtfertigt war. Zwar lief die Privatisierungsbehörde ihren selbstgesteckten Zielen in Sachen Reprivatisierungen Mitte 1992 immer noch hinterher. Das Tempo, in dem die Fälle abgearbeitet wurden, konnte seit der zweiten Hälfte des Jahres 1991 allerdings kontinuierlich gesteigert werden. Nichtsdestoweniger stand zu befürchten, dass das Verfahren noch Jahre dauern würde.304 Als Gegenmaßnahme hatte die Treuhandanstalt die Mitarbeiterzahl in den zuständigen Abteilungen aufgestockt. Ihre Leistung konnte darüber hinaus schwerlich an der Geschwindigkeit gemessen werden, in der bis zur Wiedervereinigung reprivatisiert worden war: Damals war das Tempo u. a. hoch gewesen, weil juristische Mängel in Kauf genommen worden waren – jene Mängel, die es reprivatisierten Betrieben erschwerten, sich zu refinanzieren und so für erhebliche Probleme sorgten. Mit der verstärkten Förderung von Management-Buy-Outs (MBO) trat man der Kritik an einer zu geringen Beteiligung ostdeutscher Interessenten entgegen. Ostdeutsche Unternehmer bewerteten die MBO-Strategie der Treuhandanstalt gleichwohl negativ. Sie sei oft nur als letzte Alternative zu einer Schließung erwogen worden, wenn Betriebe in der ersten Privatisierungsrunde keinen Käufer gefunden hatten. Sogar Unternehmer, die von einer MBO-Entscheidung profitiert hatten, beurteilten die Politik der Privatisierungsbehörde daher überwiegend kritisch.305 Dass ostdeutsche Interessenten bei der Privatisierung der volkseigenen Wirtschaft nachrangig zum Zuge kamen, ließ sich auf die politischen Grundentscheidungen des Jahres 1990 zurückführen.306 Diese konnte die Treuhandanstalt nicht korrigieren und ihre Umsetzung nur zum Teil beeinflussen. Ostdeutsche Unterneh303 Information der Treuhandanstalt an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages aus den neuen Bundesländern vom 1. Juli 1992. In: Treuhandanstalt (Hg.): Dokumentation 1990–1994. Band 10. Berlin 1994, S. 169 f.; 170. 304 Von unter 30 Unternehmensrückgaben pro Monat in der ersten Jahreshälfte 1991 steigerte die Treuhandanstalt die Bearbeitungszahl auf 200 Fälle im Mai 1992 und erklärte ihre Absicht, die Geschwindigkeit weiter zu erhöhen. Fragen, Antworten und Hinweise zur Unternehmensprivatisierung, Stand 18. Juni 1992. In: Treuhandanstalt (Hg.): Dokumentation 1990–1994. Band 10. Berlin 1994, S. 171–180; 173. 305 Eine Umfrage des DIW ergab ein solches Bild, von dem sich die Forscher überrascht zeigten: Bestehende MBOs seien schließlich eine „positive Auslese“, bei der die Privatisierungsentscheidung zugunsten der Befragten ausgefallen war. Berlitz u. a., Aufbau, S. 182. 306 Vor allem der Vertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion wirkte präjudikativ auf die Entwicklung der Geschäftspolitik der Treuhandanstalt, hatte der Staatsvertrag das volkseigene Vermögen doch zu einer Art „Faustpfand“ gemacht, um die fiskalischen Belastungen der Wie-
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mer mussten daher Nachteile in Kauf nehmen. Beispielsweise blieben die Ausgleichsleistungen, die Alteigentümer im Rahmen einer Reprivatisierung erhielten, oft „hinter den Konzessionen an Neuerwerber […] zurück“.307 Des ungeachtet waren ostdeutsche Unternehmer für den industriellen Mittelstand in den neuen Bundesländern von erheblicher Bedeutung. Die Gesamtzahl mittelständischer Industrieunternehmen in Ostdeutschland lag – Schätzungen zufolge – bei 6.000 bis 8.000.308 Etwa jeder zweite Betrieb dürfte aus einer Reprivatisierung bzw. einem MBO hervorgegangen sein.309 Insbesondere in jenem Teil des industriellen Mittelstands, der aus der Erbmasse der Treuhandanstalt hervorging, waren diese Unternehmergruppen stark vertreten.310 Nicht ohne jeden Anlass sahen sich diese Unternehmer als Benachteiligte des Privatisierungsprozesses. Die Mittelstandsförderung avancierte vor diesem Hintergrund zu einem konfliktträchtigen Thema, bei dem gerade „Ostdeutsche“ und „Westdeutsche“ im Wiedervereinigungsprozess keineswegs immer einer Meinung waren. 4.3.4 Mittelstandspolitische Forderungen von DIHT und Industrie- und Handelskammern Mehrere Präsidenten von IHKn in den neuen Bundesländern haderten mit der Entwicklung des ostdeutschen Mittelstands. Wortführer der Unzufriedenen war Heinrich Liesberg, Präsident der IHK Schwerin. Für April 1992 hatte er seine Amtskollegen zu einer Versammlung eingeladen. Liesberg wollte das Treffen nutzen, um ein mittelstandspolitisches Positionspapier im Namen der ostdeutschen Kammerpräsidenten zu verfassen.311 Die Hauptgeschäftsführer hatte er in seiner Einladung nicht berücksichtigt, obwohl auch sie gewählte Repräsentanten ihrer Kammer waren und diese gleichberechtigt mit den Präsidenten nach außen vertraten. In den alten Bundesländern war es deswegen unüblich, dass die Präsidenten, die ehrenamtlich arbeiteten, derart in die Sacharbeit der Kammern eingriffen. Die Stellungnahme, die in
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dervereinigung abzufedern. Er schuf damit das Gebot der Verkaufspreismaximierung, für das die Treuhandanstalt des Öfteren kritisiert wurde. Seibel, Illusionen, S. 100. Dies stellt Willgerodt in einem von der Treuhandanstalt in Auftrag gegebenen Forschungsbericht fest. „Ob und inwieweit diese Differenzierung ökonomisch sinnvoll“ war, habe „der Gesetzgeber offenkundig nicht weiter geprüft“. Willgerodt, Wiedereinsetzung, S. 251. Diese Schätzung des DIW definiert „industriellen Mittelstand“ als selbstständige Betriebe des verarbeitenden Gewerbes mit bis zu 500 Mitarbeitern. Sie stützt sich auf statistische Angaben sowie auf die Ergebnisse eigener Befragungen. Berlitz u. a., Aufbau, S. 185. Berlitz u. a. schätzen, dass es sich bei etwa zwei Drittel aller reprivatisierten Unternehmen um Industriebetriebe handelte (Berlitz u. a., Aufbau, S. 112). Die Zahl der „lebend“ restituierten Industriebetriebe lag demnach bei über 3.100. Weitere 1.377 Industriebetriebe entstanden im Rahmen von MBO. Die sich daraus ergebende Summe von ca. 4.500 mittelständischen Industriebetrieben verringerte sich noch um Marktaustritte. Ein Teil der 6.000 bis 8.000 mittelständischen Industriebetriebe war aus Existenzgründungen hervorgegangen. Sie hatten im Durchschnitt oft weniger Mitarbeiter als privatisierte und reprivatisierte Betriebe. Berlitz u. a., Aufbau, S. 113. Pressemitteilung des Präsidenten der IHK Schwerin „Mittelstandspolitik für die neuen Bundesländer“ vom 15. April 1992 (Anlage zum Protokoll des „HGF-Kreis NBL“ am 4. Mai 1992 in Bonn). RWWA 181, Zwischenarchiv Iron Mountain, Nr. 6089.
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Schwerin zustande kam, benannte die Probleme der ostdeutschen Wirtschaft. Diese wurden auf mehrere Hemmnisse zurückgeführt. U. a. bemängelten die Präsidenten, dass die Regelung zum Investitionsvorrang, die mit dem Hemmnisbeseitigungsgesetz geschaffen worden war, bei ungeklärten Eigentumsfragen zu selten angewendet werde. Dies habe negative Folgen, sowohl bei Neuprivatisierungen als auch bei Reprivatisierungen. Weiterhin sei die Effizienz der Behörden zu niedrig, speziell im Fall der Grundbuchämter sowie der Handelsregister. Kritik äußerte man auch an den ostdeutschen Kommunen, die im Besitz zahlreicher Wohn- und Gewerbeimmobilien seien, diese allerdings nicht energisch genug privatisierten. Der Tenor der Stellungnahme war pessimistisch: Bisher sei der Aufschwung in Ostdeutschland „in weiten Teilen am einheimischen Mittelstand“ vorbeigegangen. Dies war ein markanter Unterschied zu bisherigen Positionspapieren der Kammerorganisation; die Analyse deckte sich weitgehend mit dem, was bisher auch vom DIHT als gemeinsamem Dachverband vertreten worden war. Diesem Sinne entsprach auch ein Teil der Forderungen, die die Präsidenten stellten: Bürokratische Hemmnisse seien abzustellen, das Vermögensgesetz müsse nachgebessert sowie die Privatisierung des kommunalen Immobilieneigentums beschleunigt werden. Mit einem anderen Postulat preschten die Verfasser der Stellungnahme freilich vor: Sie verlangten, „temporäre Kostenstützungsmaßnahmen“ einzuführen, um die Wirtschaftskraft „des einheimischen Unternehmertums“ zu stabilisieren. Die Forderung nach Subventionen wurde damit begründet, dass das verarbeitende Gewerbe unter zu hohen Lohnund Mietkosten zu leiden habe. Die Tatsache, dass sie in einer Runde erhoben wurde, die in dieser Zusammensetzung erstmals zusammentrat, ließ vermuten, dass der Organisator Liesberg es für angebracht hielt, das Thema nicht in gemeinsamen Sitzungen unter dem Dach des DIHT auf die Tagesordnung zu bringen. Kostenstützungsmaßnahmen waren umstritten; das Thema stand im Zentrum einer wirtschaftspolitischen Grundsatzdebatte der Vereinigungspolitik. Die ostdeutsche Wirtschaft, vor allem die Industrie, war nach der Wiedervereinigung in eine schwierige Anpassungsphase geraten. Viele Betriebe waren dem Wettbewerbsdruck nicht gewachsen und führten dies u. a. auf eine zu geringe Kapitalausstattung sowie stark steigende Löhne zurück. Im Rahmen des „Aufbaus Ost“ hatte die Bundesregierung auf steuerliche Investitionsanreize gesetzt, die als Hebel dienen sollten, um privates Kapital nach Ostdeutschland zu lenken.312 Dieses Konzept der Regionalförderung war nicht unumstritten: Alternative Vorschläge sahen vor, die Kosten der Unternehmen zu begünstigen. Ein vergleichbares Modell war in der alten Bundesrepublik schon einmal angewandt worden: Damals war für die in West-Berlin ansässigen Unternehmen eine Ermäßigung der Umsatzsteuer eingeführt worden, die sich an der Wertschöpfung orientiert hatte. Die „Wertschöpfungspräferenz“ war die wichtigste Einzelmaßnahme der „Berlin-Förderung“, die dazu gedient hatte, die bundesdeutsche Enklave zu alimentieren. Es ging in erster Linie darum, Wettbewerbsnachteile auszugleichen, die die West-Berliner Wirtschaft aufgrund ihrer Insellage in Kauf nehmen musste. Die Öffnung des Eisernen Vorhangs beseitigte diese Nachteile. 312 Vgl. Paqué, Bilanz, S. 87 ff.
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Die Abschaffung der Umsatzsteuerpräferenz ließ sich nach der Wiedervereinigung nur gegen den erbitterten Widerstand des Berliner Senats sowie der IHK durchsetzen.313 Und dies, obwohl ein Erhalt dazu geführt hatte, dass die Stadt um ein Vielfaches dessen gefördert worden wäre, was die neuen Länder erhalten sollten.314 Gegen die Übertragung der Wertschöpfungspräferenz auf die Wirtschaft der neuen Bundesländer sprachen ordnungspolitische Gründe. Die Subvention verzerrte die Preise. Ein neuerlicher Eingriff in die freie Preisbildung galt in Bezug auf Ostdeutschland als kontraproduktiv, zumal sich 1990 ein Großteil der ehemals volkseigenen Wirtschaft noch im Besitz der Treuhandanstalt – letztlich also des Staates befand. Schon zwei Jahre nach der Wiedervereinigung hatte sich diese Situation grundlegend geändert: Zahlreiche Betriebe waren privatisiert worden. Vor allem stand die Zukunft der ostdeutschen Industrie nunmehr grundsätzlich in Frage; Hoffnungen, wonach der Handel mit der Sowjetunion für einen Aufschwung sorgen würde, hatten sich zerschlagen. Angeschlagene Industrieunternehmen konnten nur dann auf eine Konsolidierung hoffen, wenn es ihnen gelang, neue Abnehmer auf westeuropäischen Märkten zu finden. Anbieter aus Ostdeutschland standen dabei unter großem Preisdruck. Potentielle Kunden aus den alten Bundesländern verlangten oft erhebliche Nachlässe. Wirtschaftsforscher warnten in diesem Zusammenhang vor der Gefahr nachhaltiger „Deindustrialisierung“ der neuen Länder.315 Forderungen nach einer Neuausrichtung der Wirtschaftsförderung konnten sich einer wachsenden Zustimmung erfreuen. Die Debatte konzentrierte sich dabei immer stärker auf eine Wertschöpfungspräferenz zugunsten der ostdeutschen Wirtschaft. Namentlich wurde dieser Vorschlag von BDI-Präsident Tyll Necker vertreten.316 Dahingegen zählte der DIHT – nicht zuletzt Präsident Stihl – zum Lager der Skeptiker. Was die Wirkung einer solchen Subvention anging, kam der IHK-Dachverband zu einem zurückhaltenden Urteil: Sie würde den ostdeutschen Lieferanten wohl nicht helfen, eine bessere Verhandlungsposition zu erreichen; vielmehr könnte die Präferenz potentielle Abnehmer dazu ermutigen, noch größere Preisnachlässe zu fordern.317 Beim DIHT war man der Ansicht, dass es betriebliche Defizite gab, ostdeutsche Unternehmen z. B. beim Marketing Nachholbedarf hätten. Dies könne durch kostenorientierte Subventionen nicht behoben werden. Hierneben gab es weitere theoretisch fundierte Gegenargumente.318 Das wohl größte Hindernis für 313 Vgl. Hertz, Industrie- und Handelskammer Berlin, S. 293. 314 Analog zur Berlin-Förderung entfielen Begünstigungen des „Zonenrand-Gebiets“. Auch diese Kürzungen riefen Widerstände unter Wirtschaftsvertretern der betroffenen Gebiete hervor. In Anbetracht der Wiedervereinigung und des absehbar höheren Förderbedarfs der neuen Bundesländer waren die Erfolgsaussichten dieser Proteste gering. Die Berliner erreichten lediglich, dass der Ausstieg aus der Förderung bis ins Jahr 1994 gestreckt wurde. 315 U. a.: Institut für Wirtschaftsforschung Halle, Ostdeutschland, S. 9. 316 Wertschöpfungspräferenz für Ostdeutschland. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. Dezember 1992. 317 Vermerk zur DIHT-Abteilungsleiter-Sitzung vom 13. Oktober 1993. RWWA 181, Zwischenarchiv Iron Mountain, Nr. 6090. 318 Necker hatte eine Wertschöpfungspräferenz gefordert, weil der schnelle Lohnanstieg in Ostdeutschland die dortige Industrie wettbewerbsunfähig hatte werden lassen. Auch dem ließ sich entgegenhalten, dass eine Wertschöpfungspräferenz die Mechanismen der Tarifpolitik nicht
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die Einführung einer Wertschöpfungspräferenz war unterdessen, dass sie innerhalb der Kammerorganisation schwerlich zu vermitteln war: Westdeutschen Unternehmern war kaum nahezubringen, dass sie ihre ostdeutschen Wettbewerber würden alimentieren müssen. Der DIHT übernahm daher die Rolle des „Vorfluters“, der in gemeinsamen Sitzungen mit den ostdeutschen IHKn Einzelpositionen in gesamtwirtschaftlich vermittelbare Forderungen übersetzte. Der Interessenausgleich zwischen west- und ostdeutschen Unternehmern führte unterdessen nicht dazu, dass der DIHT die Anliegen der Letzteren ignorierte. Schon bevor die Schweriner Erklärung erschien, hatte Präsident Stihl Gespräche in Chemnitz und Leipzig geführt. Dort waren ihm konkrete Missstände zur Kenntnis gebracht worden.319 So hatte die KfW Förderkredite an ostdeutsche Spediteure vergeben, die an spezielle Konditionen gebunden waren: Die Kreditnehmer mussten an 180 Tagen im Jahr in den neuen Bundesländern fahren, was bei den Betroffenen für erheblichen Unmut sorgte, da sie aus diesem Grund Aufträge aus Westdeutschland hatten ablehnen müssen. Ferner war dem DIHT-Präsidenten berichtet worden, dass das „Reprivatisierungsgesetz schlechter als das zur Modrow-Zeit“320 sei, weil es die Unternehmer verpflichtete, Altschulden zu übernehmen. Fremdinvestoren seien davon bei einer Neuprivatisierung befreit. Stihl wusste aus diesen Gesprächen außerdem, dass die ostdeutschen Unternehmer die bestehende Regelung zum Investitionsvorrang für unzureichend hielten. Er versprach, die Angelegenheiten in politischen Gesprächen in Bonn zu thematisieren. Dem kam der DIHT-Präsident im Rahmen der Bonner Kanzlerrunde nach. Das Kanzleramt setzte kurz darauf eine Arbeitsgruppe ein, die sich speziell mit der Situation des industriellen Mittelstands in den neuen Bundesländern sowie Verbesserungsmöglichkeiten befasste. Stihl bat die ostdeutschen Kammern, weitere Beispiele zu nennen, um der Arbeitsgruppe zuzuliefern. Der DIHT unterstrich, dass dies eine „hervorragende Chance“ sei, um den „Aufschwung in den neuen Ländern nicht ohne die ostdeutschen Unternehmer“321 stattfinden zu lassen. Auf politischer Ebene kam es noch zu weiteren Entscheidungen: Das Bundeskabinett beschloss am 1. Juli 1992 mehrere Maßnahmen, um reprivatisierte Unternehmen zu stützen:322 Die Deutsche Kreditbank A. G., die sich im Besitz der Treuhandanstalt befand und Gläubigerin der sogenannten Altschulden war, wurde per Kabinettsbeschluss angewiesen, Wege zu finden, um drohende Geschäftsaufgaben aufgrund von Überschuldung abzuwenden. Ferner sollten Alteigentümer auch in laufenden Rückgabeverfahren bessergestellt werden. Das Kabinett schuf zusätzliche Möglichkeiten, um DM-Eröffnungsbilanzen zugunsten der Reprivatisierer zu korrigieren. Verbindlichkeiten konnten demnach höher, Anlage- und Umlaufvermögen niedriger bewertet werden. Die Wertansätze der DM-Eröffnungsbilanz waren ein großer Streitpunkt in den Ver-
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außer Kraft setzte. Eine Präferenz barg daher auch die Gefahr, dass künstlich geschaffene Produktivitätsvorteile in höhere Lohnforderungen münden konnten. Schreiben des DIHT-Hauptgeschäftsführers an die Hauptgeschäftsführer der IHKn in den neuen Bundesländern vom 10. März 1992. RWWA 181-3131-2. Ebd. Ebd. Vgl. Schmidt, Reprivatisierungsreport, S. 39.
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handlungen zwischen Reprivatisierern und Treuhandanstalt gewesen. Sofern sich aus den neuen Bewertungsregeln höhere Ausgleichsforderungen ergaben, konnte die Treuhandanstalt diese im Wege der Altschuldenübernahme begleichen. Das zweite Vermögensrechtsänderungsgesetz brachte im Sommer 1992 weitere Verbesserungen bestehender Gesetze; vor allem führte es ein separates und inhaltlich erweitertes Investitionsvorranggesetz ein.323 Die Schweriner Erklärung vom April 1992 war von nur etwa der Hälfte der 14 ostdeutschen IHK-Präsidenten mitgezeichnet worden.324 Der Wunsch, eine vom DIHT eigenständige Position zu vertreten, wurde nämlich keineswegs von allen geteilt. Präsident Liesberg, der das Treffen initiiert hatte, beabsichtigte freilich, das Gespräch der IHK-Präsidenten im Halbjahresrhythmus fortzusetzen. Kollegen, die seiner Einladung nicht gefolgt waren, äußerten hingegen, weitere Gespräche unter Führung des DIHT abhalten zu wollen. Der Präsident der IHK Halle-Dessau Fell, der zugleich Vizepräsident des DIHT war, schlug zur Lösung dieser Differenz vor, Präsident Stihl solle weitere Treffen persönlich leiten.325 Stihl griff den Vorschlag auf. Zunächst kam er der Bitte mehrerer anderer Präsidenten nach, die die Schweriner Erklärung mitgetragen hatten und ein separates Gespräch wünschten. Im Anschluss an diese Vermittlung des DIHT-Präsidenten kam es am 15. September 1992 in Berlin zu einem Treffen mit allen Präsidenten sowie Hauptgeschäftsführen aus den neuen Bundesländern. Dort beriet man über die Lage der Reprivatisierer und des Mittelstands.326 Dies führte dazu, dass mittelstandspolitische Forderungen in den darauffolgenden Wochen größeren Raum einnahmen. Ende Oktober 1992 tagte in Dresden der DIHT-Kongress, der alljährlich im Rahmen der Herbstvollversammlung des IHK-Dachverbands stattfand. Zu diesem Anlass wurde die „Dresdner Erklärung“ verabschiedet, eine Resolution der gesamten deutschen Kammerorganisation zum wirtschaftlichen Aufbau in Ostdeutschland.327 Hierin wurde die Schaffung eines „breiten Mittelstands“ als „zentrale Aufgabe“ der Treuhandanstalt bezeichnet. In diesem Zusammenhang forderten die Kammern die Streichung von Altschulden sowie eine gezielte Förderung von Unternehmensgründungen. Der Kabinettsbeschluss des vorangegangenen Sommers hatte die Altschuldenfrage noch nicht im Sinne der Reprivatisierer gelöst. Es dauerte bis Dezember 1992, ehe das BMJ einen überarbeiteten Leitfaden zur Unternehmensrückgabe vorlegte und bis März 1993, ehe auch die Treuhandanstalt ihre interne Arbeitsanleitung erneuert hatte.328 Die Regelungen waren unverbindlich geblieben und bei vielen Un323 Gesetz zur Änderung des Vermögensgesetzes und anderer Vorschriften (Zweites Vermögensrechtsänderungsgesetz – 2. VermRÄndG) vom 14. Juli 1992. In: BGBl. I, 1992, S. 1257–1286. 324 Vermerk des DIHT-Hauptgeschäftsführers an den Präsidenten vom 22. Mai 1992. RWWA 181, Zwischenarchiv Iron Mountain, Nr. 6090. 325 Ebd. 326 Protokoll des Gesprächs von DIHT-Präsident Stihl mit den Präsidenten und Hauptgeschäftsführern der IHKn in den neuen Bundesländern vom 15. September 1992 in Berlin. RWWA 181, Zwischenarchiv Iron Mountain, Nr. 6090. 327 Aufbau Ost gemeinsam gestalten. Dresdner Erklärung des Deutschen Industrie- und Handelstages. RWWA 181-2361-2. 328 Reprivatisierung. Treuhandanstalt kommt enteigneten Betrieben bei ihrer Entschuldung weitgehend entgegen. In: Handelsblatt, 12. Mai 1993.
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ternehmensrückgaben nicht berücksichtigt worden. Dies lag u. a. daran, dass der Reprivatisierungsprozess – nach langer Verzögerung – im Juni 1992 wieder in Gang kam – bevor der Kabinettsbeschluss zu neuen Richtlinien geführt hatte. Des Weiteren sorgte die Bundespolitik, abgesehen von den entgegenkommenden Maßnahmen, für zusätzliche Beunruhigung: Im Einigungsvertrag war ein Entschädigungsgesetz angekündigt worden, um Eigentumsfragen zu lösen, bei denen eine Rückgabe nicht mehr möglich war. Erst Anfang 1993 lag ein erster Entwurf vor. Das BMJ plante im Rahmen dessen, einen Fonds einzurichten, um die Entschädigungsleistungen zu finanzieren. In diesen Fonds sollten all diejenigen einzahlen, die enteignetes Vermögen zurückerhalten hatten.329 Auf Reprivatisierer, deren Unternehmen ohnehin oft zu geringes Eigenkapital aufwiesen, drohten damit weitere Abgaben zuzukommen. Noch vor der Forderung nach Streichung der Altschulden war in der Dresdner Erklärung betont worden, dass Investitionen weiterhin der „Schlüssel für den Neuaufbau in Ostdeutschland“ seien.330 Eine „Überfrachtung der Treuhandanstalt mit struktur- und industriepolitischen Aufgaben“ war aus diesem Grund zurückgewiesen worden. In Anbetracht der unklaren Signale der Bundespolitik sowie der fortbestehenden Unsicherheiten, mit denen viele ostdeutsche Betriebe konfrontiert waren, vermochte die Erklärung die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Kammerorganisation allerdings nicht zu überbrücken. Bereits im Januar 1993 sprachen die ostdeutschen Kammern und der DIHT darüber, die Dresdner Erklärung fortzuführen. Ein nachfolgendes Papier sollte die drängenden Probleme der Wirtschaft in den neuen Bundesländern hervorheben und auf – aus ostdeutscher Sicht offene – mittelstandspolitische Fragen eingehen.331 Was das Entschädigungsgesetz anging, fand man rasch eine gemeinsame Position: Der DIHT wandte sich entschieden gegen jedwede finanzielle Zusatzbelastung ostdeutscher Mittelständler. Bei anderen Fragen gestalteten sich die Gespräche mühsamer. Der Dachverband sowie die ostdeutschen Kammern vereinbarten, eine Kommission einzusetzen, die eine Diskussionsgrundlage für die geplante gemeinsame Erklärung erarbeiten sollte. Der Entwurf, der auf diesem Wege zustande kam, traf nicht den Geschmack der IHK Schwerin. Die Kammer kritisierte, die neue Erklärung müsse „fassbar bleiben“ und das Anliegen erkennen lassen, einen „echten ortsansässigen einheimischen Mittelstand“ zu begründen.332 Präsident Liesberg und Hauptgeschäftsführer Rothe forderten, Lohnkostenzuschüsse als Alternative zu „bezahlter Arbeitslosigkeit“ zu erwägen. DIHT-Präsident Stihl leitete im April 1993 die weitere Diskussion über den 329 Entschädigungsgesetz. Bedenken der Spitzenverbände gegen Vermögensabgabe. In: Handelsblatt, 4. März 1993. 330 Aufbau Ost gemeinsam gestalten. Dresdner Erklärung des Deutschen Industrie- und Handelstages. RWWA 181-2361-2. 331 Protokoll zur Sitzung der Präsidenten und Hauptgeschäftsführer der IHKn in den neuen Bundesländern in Erfurt vom 28. Januar 1993. RWWA 181, Zwischenarchiv Iron Mountain, Nr. 6090. 332 Stellungnahme des Präsidenten und des Hauptgeschäftsführers der IHK Schwerin zum Entwurf „Aufschwung Ost – aktuelle wirtschaftspolitische Prioritäten“ vom 22. April 1993. RWWA 181, Zwischenarchiv Iron Mountain, Nr. 6090.
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Entwurf. Bei dieser Gelegenheit wurde nochmals deutlich, dass es unterschiedliche Auffassungen gab. Im Ergebnis vereinbarte man, die Vorlage zu überarbeiten, um ein „textlich gestrafftes Thesenpapier mit grundsätzlichen knackigen Formulierungen und Forderungen an die Politik“333 entstehen zu lassen. Zu den Themen, um die der Dachverband sowie die ostdeutschen Kammern besonders rangen, zählte die Förderung des Absatzes von Produkten aus den neuen Ländern. In der Öffentlichkeit hatte die Diskussion über die Wertschöpfungspräferenz in Anbetracht des großen Wettbewerbsdrucks, unter dem ostdeutsche Industriebetriebe standen, weiter an Aufmerksamkeit gewonnen.334 Diesbezüglich hatte sich der Mittelstandsausschuss des DIHT im September 1992 auf eine Position festgelegt, die der Dachverband nach wie vor vertrat: Massive und flächendeckende Hilfen zur Steigerung des Absatzes ostdeutscher Produkte sind in einem marktwirtschaftlichen System nicht vertretbar. Sie verhindern betriebliche Anpassungen und Ausrichtung auf Wettbewerbsmärkte. Die westdeutsche Wirtschaft ist gefordert, ihre Bemühungen zur Absatzförderung ostdeutscher Produkte auf freiwilliger Basis zu intensivieren.335
Zu einer solchen freiwilligen Initiative erklärten sich Vertreter der westdeutschen Wirtschaft Anfang 1993 bereit: Im Rahmen eines turnusmäßigen Treffens der Kanzlerrunde zum Aufbau Ost wurde die „Einkaufsoffensive Ost“ verkündet.336 Unter der Federführung des BDI sollte sie dazu beitragen, das Ungleichgewicht im Handel zwischen alten und neuen Bundesländern abzubauen. Westdeutsche Großunternehmen sagten zu, ihr Einkaufsvolumen in Ostdeutschland innerhalb von zwei Jahren zu verdoppeln. Aus Sicht ostdeutscher Kammervertreter, so ein rückblickendes Urteil, blieb die Einkaufsoffensive ein „schlapper Reklamegag“.337 Die Kampagne konnte jedenfalls nicht verhindern, dass sich das Konfliktpotential zwischen ost- und westdeutschen Unternehmern weiter zurückstaute. Dies machte sich auch in den Gremien des DIHT zunehmend bemerkbar. Zu einer Aussprache kam es auf der DIHT-Vorstandssitzung am 20. Oktober 1993 im Rahmen der Herbstvollversammlung in Rostock. Niels Lund Chrestensen, Präsident der IHK Erfurt, trug dort ausführlich zur Lage der ostdeutschen Wirtschaft vor. Er schilderte die angespannte finanzielle Lage, in der sich viele mittelständische Unternehmen befänden. Für Kredite müssten sie oft ein Mehrfaches der in den alten Bundesländern üblichen Sicherheiten hinterlegen. Chrestensen berichtete aus seinem Kammerbezirk, wo sich erst kurz zuvor mehrere fleisch- und wurstverarbeitende Unternehmen an ihn gewandt hätten. Diese hätten sich längere Zeit bemüht, bei westdeutschen Handelsketten gelistet zu werden. Von ihnen sei ver333 Protokoll der Beratung des DIHT-Präsidenten Stihl mit den Präsidenten und Hauptgeschäftsführern der IHKn in den neuen Bundesländern in Leipzig vom 28. April 1993. RWWA 181, Zwischenarchiv Iron Mountain, Nr. 6090. 334 Unterstützung für den BDI. In: Handelsblatt, 11. März 1993. 335 Mittelstandspolitische Leitlinien des DIHT für die neuen Bundesländer. RWWA 181-3131-2. 336 „Einkaufsoffensive“ der Wirtschaft. West-Firmen wollen mehr bei Ost-Partnern ausgeben. In: Handelsblatt, 17. Februar 1993. 337 Protokoll der Vorbesprechung zur geplanten DIHT Mittelstandskonferenz in Berlin vom 14. Juli 1994. RWWA 181-3123-3.
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langt worden, fünf bis sieben Prozent unter dem Preis westdeutscher Erzeuger zu bleiben, um für eine Listung in Betracht zu kommen. Die Unternehmer seien daher gezwungen gewesen, den Preis zu senken, ohne dass dies an der Produktqualität gelegen habe. Wie der Erfurter Präsident weiter ausführte, hätte eine Befragung von Unternehmen der Metall- und Elektrobranche in Thüringen ergeben, dass 60 Prozent „über ähnlich unfaire Methoden“338 berichten konnten. Oft würden westdeutsche Abnehmer pauschale Preisnachlässe in Höhe von 30 Prozent erwarten. Hierbei handele es sich nach seinem Eindruck um eine „generelle Herangehensweise“, von der alle Unternehmen betroffen seien, „die eine ostdeutsche Adresse angeben“. Chrestensen resümierte, dass die bereits ergriffenen Maßnahmen weder ausreichend seien, um die Probleme des ostdeutschen Mittelstands zu lösen, noch, um den Niedergang der dortigen Industrie aufzuhalten. Der Präsident der IHK Erfurt erwähnte den Vorschlag der Wertschöpfungspräferenz und ging auf Modelle zur Lohnkostenunterstützungen ein, die auch von anderen ostdeutschen Kammern ins Spiel gebracht worden waren. In den Regierungen der neuen Länder würden solche Förderinstrumente ebenfalls in Erwägung gezogen. Der DIHT dürfe einer Diskussion über derartige Maßnahmen nicht ausweichen. Präsident Stihl hatte sich schon früher gegen steuerliche Präferenzen ausgesprochen und sich in dieser Frage auch öffentlich gegen den BDI positioniert.339 In seiner Erwiderung führte er nochmals aus, warum er Lohnkostenzuschüsse ablehnte. Diese hielt er für einen „Irrweg“; sie seien zudem nicht EG-rechtskonform.340 Stihl argumentierte sachlich und um Ausgleich bemüht; einige Wortbeiträge der anderen Sitzungsteilnehmer waren demgegenüber durchaus konfrontativ. Steuerliche Präferenzen zugunsten ostdeutscher Betriebe erschienen aus Sicht westdeutscher Unternehmer auch aus Gerechtigkeitsgründen kaum annehmbar. So äußerte der Präses der Handelskammer Bremen Hattig, dass die Ostbetriebe keinen Anspruch auf zusätzliche Subventionen hätten. Das Hauptproblem liege darin, dass die Produkte nicht marktfähig seien. Der Hautgeschäftsführer der IHK Halle-Dessau Heimann wollte sich die Forderung nach einer Wertschöpfungspräferenz nicht zu eigen machen. Er merkte allerdings an, dass der Erfurter Präsident „sehr moderat“ vorgetragen habe, was sich seines Wissens in allen ostdeutschen Vollversammlungen zutrage. Die ostdeutschen Betriebe bräuchten dringend „frisches Geld“. Zu den vermittelnden Stimmen zählte der Präsident der IHK Frankfurt am Main, Niethammer. Als gebürtiger Sachse hatte er im Zuge der Wiedervereinigung ein früheres Unternehmen seiner Familie zurückerworben, das seinerzeit auf Befehl der sowjetischen Besatzungsmacht verstaatlicht worden war. Niethammer zählte zu den Befürwortern einer Wertschöpfungspräferenz. Mit Blick auf die Position der ostdeutschen Vertreter äußerte er Verständnis und konzedierte, dass von Abneh338 Die Lage in den neuen Bundesländern: konjunkturelle und strukturelle Entwicklung, wirtschaftspolitische Maßnahmen (N. L. Chrestensen). Anlage 1 zum Protokoll der DIHT-Vorstandssitzung am 20. Oktober 1993 in Rostock. RWWA 181, Zwischenarchiv Iron Mountain, Nr. 1617. 339 Der Streit um das Tyll-Necker-Modell. Warum denn nicht? In: Handelsblatt, 13. März 1993. 340 Protokoll der DIHT-Vorstandssitzung am 20. Oktober 1993 in Rostock. RWWA 181, Zwischenarchiv Iron Mountain, Nr. 1617.
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mern oft erheblicher Druck ausgeübt werde. Eindringlich warnte er davor, „daß der DIHT auseinanderdriftet“.341 Im Industrieausschuss, der kurz zuvor in Jena getagt hatte, habe sich eine solche „Spaltung zwischen Ost- und West-IHKn“ bereits angedeutet. Im DIHT hatte man sich im Vorfeld der Vorstandssitzung mit Alternativen zu einer Wertschöpfungspräferenz befasst.342 In den Unterabteilungen waren mehrere Vorschläge entstanden, die schlussendlich Eingang in die Erklärung erhielten, die die DIHT-Vollversammlung im Anschluss an die Vorstandssitzung verabschiedete. Dieses Papier war das Ergebnis einer insgesamt achtmonatigen Abstimmung. Die erste Entwurfsfassung hatte den Titel „Aufschwung Ost – aktuelle wirtschaftspolitische Prioritäten“ getragen. Dies war im Laufe der Zeit zu „Den Unternehmen in den neuen Bundesländern schneller helfen“343 geworden. Die Erklärung benannte konkrete Schritte, wie die Liquidität der Betriebe in Ostdeutschland zu sichern sei. Sie wiederholte die Forderung, Altschulden ganz bzw. teilweise zu streichen, ggf. den Zins zu stunden. An Stelle der bisherigen unverbindlichen Einzelfallregelung trat man nunmehr für einen grundsätzlichen Anspruch auf Entschuldung ein. Darüber hinaus forderten die Kammern sowie der DIHT ein öffentliches Programm zur Liquiditätssicherung: Bund, Länder und KfW sollten Bürgschaften, Zinsvergünstigungen und Konsolidierungskredite bereitstellen, Zulagen und Zuschüsse im Rahmen der Investitionsförderung früher auszahlen sowie Ansprüche auf Mehrwertsteuererstattung schneller prüfen. Öffentliche Auftraggeber müssten ihren Zahlungsverpflichtungen darüber hinaus rascher nachkommen. Die Erklärung der DIHT-Vollversammlung enthielt auch einen Aufruf, der sich an die Adresse der Wirtschaft richtete: Sie sollte dabei helfen, Managementdefizite abzubauen, die es in ostdeutschen Betrieben speziell beim Marketing gebe. Die Kammerorganisation plädierte für Kooperationen auf Grundlage von Freiwilligenprogrammen. Außerdem wurden westdeutsche Abnehmer angehalten, Lieferanten in den neuen Ländern bei der Zahlung „nicht länger als andere“ warten zu lassen. Die Forderung nach einer Wertschöpfungspräferenz war unterdessen nicht in die Erklärung aufgenommen worden. Zu den Hintergründen zählte auch, dass die ostdeutschen Kammern im Vorhinein keine gemeinsame Position gefunden hatten. Das Thema wurde in der darauffolgenden Zeit nicht mehr weiterverfolgt. Dies zeigte zum einen, dass man einen tragfähigen Kompromiss gefunden hatte. Zum anderen gab es auch externe Ursachen dafür, dass die Angelegenheit nunmehr ruhte. So trugen erste Anzeichen der Konsolidierung der ostdeutschen Industrie zweifellos dazu bei, dass weiteres Konfliktpotential vorerst gebannt war. Ferner schied ein namhafter Fürsprecher der Wertschöpfungspräferenz, BDI-Präsident Ne-
341 Ebd. 342 Vermerk zum Arbeitspapier „Politik zur Stärkung der Unternehmen in den neuen Bundesländern“ vom 13. Oktober 1993. RWWA 181, Zwischenarchiv Iron Mountain, Nr. 6090. 343 Den Unternehmen in den neuen Bundesländern schneller helfen. Erklärung der DIHT-Vollversammlung am 21. Oktober 1993 in Rostock. Anlage 3 zum Protokoll der DIHT-Vorstandssitzung am 20. Oktober 1993 in Rostock. RWWA 181, Zwischenarchiv Iron Mountain, Nr. 1617.
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cker, Ende 1994 aus seinem Amt. Sein Nachfolger Hans-Olaf Henkel vertrat in jener Frage eine andere Meinung.344 Für die ostdeutschen IHKn stand das Jahr 1994 im Zeichen der Vorbereitung einer gemeinsamen Mittelstandskonferenz, die im September im Schweriner Schloss stattfand. Die Idee zu einer Veranstaltung, die sich den spezifischen Problemen des ostdeutschen Mittelstands widmete, war vom Präsidium der IHK Schwerin vorgebracht worden. Die anderen Kammern hatten das Anliegen, ebenso wie der DIHT, positiv aufgenommen.345 In Anbetracht knapper werdender öffentlicher Mittel konzentrierte sich die Arbeit der Kammern nun stärker darauf, Effizienzverbesserungen bestehender Förderprogramme anzumahnen. Speziell Maßnahmen zur Stärkung des Eigenkapitals sollten größeres Gewicht erhalten. Die Kammern forderten, in die Konzeption entsprechender Maßnahmen eingebunden zu werden.346 4.4 INDUSTRIE- UND HANDELSKAMMERN ALS DIENSTLEISTER DER WIRTSCHAFT 4.4.1 Managementtransfer Die Sitzung der DIHT-Vollversammlung am 21. Oktober 1993 in Rostock hatte mit einem starken Signal geendet, die ostdeutschen Betriebe unterstützen zu wollen.347 Angesichts geringer Liquiditätsreserven und hoher Marktzutrittsschranken war die wirtschaftliche Situation vieler Unternehmen kritisch; insbesondere galt dies für Industriebetriebe. Ihnen sollte eine intensivierte Selbsthilfe der Wirtschaft zugutekommen – nicht an Stelle von, wohl aber mit Vorrang gegenüber fiskalischen Begünstigungen. Eine der Maßnahmen, die der DIHT ins Auge fasste, waren „Industriepatenschaften“: Ehrenamtliche Unternehmensberater aus Westdeutschland sollten in Schwierigkeiten geratenen Unternehmen in Ostdeutschland helfen. Unzureichende Managementkompetenzen galten als entscheidendes Handicap des ostdeutschen Mittelstands. Zumindest hatte sich im DIHT diese Interpretation gegen eine konkurrierende Problemwahrnehmung durchgesetzt, wonach nur eine Wertschöpfungspräferenz die Nöte der ostdeutschen Wirtschaft hätte beheben können. Überhaupt hatte die Debatte über die Wertschöpfungspräferenz Vertreter „ostdeutscher“ und „westdeutscher“ Interessen stark entzweit, und auch die Arbeit in den DIHTGremien beeinträchtigt. Managementkompetenzen zu vermitteln, war somit keine beliebige oder beiläufige Angelegenheit, sondern ein Unterfangen, bei dem die Kammerorganisation unter Erfolgsdruck stand. Es war nicht nur eine wirtschafts344 Henkel fordert Niedriglohnsektor. Ostdeutsche Industrie effizienter fördern. In: Handelsblatt, 13. Januar 1995. 345 Vermerk zu einer Mittelstandskonferenz in Ostdeutschland vom 7. April 1993. RWWA 181, Zwischenarchiv Iron Mountain, Nr. 6090. 346 Mittelstandspolitik für die Neuen Bundesländer. Erklärung von Schwerin. Positionspapier des DIHT und der Industrie- und Handelskammern. RWWA 181-3123-3. 347 Den Unternehmen in den neuen Bundesländern schneller helfen. Erklärung der DIHT-Vollversammlung am 21. Oktober 1993 in Rostock. RWWA 181, Zwischenarchiv Iron Mountain, Nr. 1617.
4.4 Industrie- und Handelskammern als Dienstleister der Wirtschaft
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politische Aufgabe, sondern auch ein organisationspolitisches Anliegen des DIHT, diesen Konflikt zu lösen. Die Idee für eine ehrenamtliche Unternehmensberatung zu Gunsten ostdeutscher Mittelständler kam indes nicht erst in der Wertschöpfungsdebatte auf. Ein entsprechendes Konzept war erstmals im Frühjahr 1991 im Raum Erfurt erprobt worden; zu dieser Zeit zielte es noch ausschließlich auf Betriebe aus dem Bestand der Treuhandanstalt.348 Diese hatte das Programm unter dem Motto „Patenschaften für den Mittelstand“ ins Leben gerufen. Sie griff damit einen Vorschlag des Präsidenten der IHK Frankfurt am Main auf, dessen Kammer die Koordination des Projekts übernahm. Präsident Niethammer entstammte einer sächsischen Unternehmerfamilie, deren Besitz unter sowjetischer Besatzung enteignet worden war.349 Er war daher im Zuge der deutschen Teilung in das Rhein-Main-Gebiet übergesiedelt. Der promovierte Jurist hatte in seiner neuen Heimat eine berufliche Laufbahn in der Wirtschaft eingeschlagen, die ihn an die Spitze der AGIV AG in Frankfurt am Main geführt hatte. Auf diese Weise erwarb Niethammer nicht nur finanzielle Freiheit, sondern sammelte auch unternehmerische Erfahrung; beides ermöglichte ihm, den ehemaligen Familienbetrieb noch im Jahr der Wiedervereinigung gemeinsam mit weiteren Familienangehörigen zurück zu kaufen und erfolgreich in die Marktwirtschaft zu führen. Seine persönlichen Erfahrungen erlaubten dem Präsidenten der Frankfurter IHK einen unvoreingenommenen Blick auf den ostdeutschen Mittelstand sowie die generellen Probleme, mit denen dieser zu kämpfen hatte. Den entscheidenden Anstoß, der das Projekt einer ehrenamtlichen Hilfe für ostdeutsche Betriebe in konkrete Bahnen lenkte, gab indes der Präsident der Treuhandanstalt Rohwedder, der mit dem ein Jahr älteren Niethammer einige biographische Gemeinsamkeiten hatte.350 Auch Rohwedder stammte aus Mitteldeutschland, war in den frühen 1950er Jahren in das Rhein-Main-Gebiet übergesiedelt und hatte nach einer juristischen Ausbildung Leitungsfunktionen in der Wirtschaft inne. Bevor er das Amt des Treuhand-Präsidenten übernahm, hatte Rohwedder dem Verwaltungsrat der Treuhandanstalt vorgestanden, dem Niethammer ebenfalls angehörte. Bereits im Sommer 1990 besuchte Rohwedder die Vollversammlung der IHK Frankfurt am Main. Dort sprach er nicht nur über allgemeine Hindernisse für die Transformation einer zentral gesteuerten Planwirtschaft in eine privat geführte Marktwirtschaft, sondern bat auch um konkrete Hilfe westdeutscher Unternehmer für die Treuhandanstalt.351 Die Frankfurter IHK kam der Bitte Rohwedders nach und schlug vor, ehrenamtliche Helfer nach Ostdeutschland zu entsenden. Sie wollte vor allem „Veteranen“ dazu motivieren, ihre Erfahrungen an Treuhand-Betriebe weiterzugeben und diese auf eine Privatisierung vorzubereiten. Die Treuhandanstalt griff den Plan be348 Vgl. Ensser, Bedeutung, S. 91. 349 Niethammer, Frank. In: Munzinger Online/Personen. Internationales Biographisches Archiv (http://www.munzinger.de/document/00000015439) abgerufen am 8. Oktober 2014. 350 Rohwedder wurde 1932 in Gotha geboren und legte das Abitur 1953 in Rüsselsheim ab. Rohwedder, Detlev. In: Munzinger Online/Personen. Internationales Biographisches Archiv (http:// www.munzinger.de/document/00000012540) abgerufen am 8. Oktober 2014. 351 BvS, Treuhand Erfurt, S. 23.
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reitwillig auf und übernahm Reise- und Übernachtungskosten sowie sonstige Spesen für ehrenamtliche Helfer. Die Frankfurter Vollversammlung segnete das Projekt im März 1991 ab, das daraufhin versuchsweise im Raum Erfurt startete. Die Frankfurter hatten ihre Aufbauhilfe schon zuvor stark auf den Thüringer Raum konzentriert; die Erfurter Treuhand-Niederlassung wurde außerdem vom Frankfurter IHKGeschäftsführer Lindstaedt geleitet, womit insgesamt günstige Voraussetzungen bestanden, das Projekt voranzubringen und geeignete Unternehmen für einen Einsatz zu finden. Von Frankfurt aus betreute ein „Patenkoordinator“ die Freiwilligen. Im Fokus des Programms standen mittelgroße Industriebetriebe, die als sanierungsfähig galten, für die aber kein finanzkräftiger Investor in Sicht war und die daher für den Verkauf an das alte Management in Frage kamen. Der unentgeltliche Einsatz ehrenamtlicher Helfer löste mehrere Probleme auf einen Schlag: Insbesondere in den Niederlassungen der Treuhandanstalt fiel es schwer, Managementkapazitäten zu aktivieren. Dies lag in der Struktur der Privatisierungsagentur begründet, die in mancher Hinsicht den Leitungsstrukturen der zentralen Planwirtschaft entsprach: Große Betriebe, die zwischenzeitlich zumeist in Aktiengesellschaften umgewandelt worden waren, wurden von der Berliner Zentrale aus verwaltet. Zu Aufsichtsräten bestellte man in der Regel erfahrene westdeutsche Manager, die Kontakte und Know-How in die Unternehmen einbrachten. Deutlich erschwert war demgegenüber der Zugang zu unternehmerischer Expertise für solche Betriebe, die aus ehemals bezirksgeleiteten Kombinaten hervorgegangen waren und in die Zuständigkeit einer Treuhand-Niederlassung fielen. Sie hatten zwar die Möglichkeit, kommerzielle Unternehmensberater zu engagieren, allerdings fehlte es den Unternehmen häufig an der notwendigen Finanzausstattung. Der Ruf, der professionellen Beratern schon kurz nach der Wiedervereinigung vorauseilte, hatte ihrem Gewerbe überdies sehr geschadet. Schuld daran waren unseriöse Anbieter, die in einer Reihe von Fällen versucht hatten, unerfahrenen Betriebsinhabern fragwürdige Beratungsleistungen in Rechnung zu stellen.352 Die mediale Aufmerksamkeit, die diese Begleiterscheinung des marktwirtschaftlichen Umbruchs erhielt, festigte das negative Bild von Unternehmensberatern. Der Erfurter Modellversuch war erfolgreich. Sowohl seitens der ehrenamtlichen Helfer als auch der Unternehmen waren die Rückmeldungen positiv. Noch im ersten Jahr kamen 40 Patenschaften zustande, wobei die Einsätze im Durchschnitt zwischen 25 und 30 Tage dauerten.353 Aufgrund der guten Erfahrungen sprach sich die Treuhandanstalt dafür aus, das Projekt auf die Bezirke Chemnitz, Gera, Leipzig 352 Erfahrungen dieser Art machte beispielsweise auch der Geraer IHK-Präsident Steinmann: Ein Kasseler „Unternehmensberater“ bewarb sich, zunächst schriftlich, als Marketing-Experte um ein Engagement durch den Puppenfabrikanten. Nachdem eine Reaktion seitens Steinmanns ausgeblieben war, folgten ein unangemeldeter Besuch am Firmensitz des Geraer Kammerpräsidenten sowie eine Rechnung, in der der Berater 5.301 Mark u. a. für die An- und Abreise forderte. Nach einer Reihe weiterer Zahlungsaufforderungen verlor Steinmann die Geduld und erstattete Anzeige. Der SPIEGEL berichtete über den Vorfall und ebenso über weitere Fälle, in denen Betriebsleiter weniger vorsichtig im Umgang mit betrügerischen Beratungsangeboten gewesen waren. Die Plünderer sind unterwegs. In: Der Spiegel, 21/1991. 353 BvS, Treuhand Erfurt, S. 24 f.
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und Potsdam auszudehnen. Auf westdeutscher Seite stiegen daraufhin die Kammern Düsseldorf, Nürnberg, Köln und Bonn ein. Sie waren in den jeweiligen ostdeutschen Bezirken engagiert und übernahmen die Anwerbung ehrenamtlicher Experten. Die Koordination der Pateneinsätze leistete weiterhin die IHK Frankfurt am Main. Bis Ende 1992 kamen 120 Industriepaten in 163 Unternehmen zum Einsatz. Auf der Höhe des Erfolgs stieß das Programm allerdings an Grenzen: Ein wachsender Teil der Unternehmen verließ mit ihrer Privatisierung die Obhut der Treuhandanstalt. Letztere sah sich für eine systematische „Nachsorge“, für die sich der Initiator Niethammer sehr einsetzte, nicht zuständig, da sie ihr Mandat nicht dadurch überschreiten wollte, dass sie strukturpolitische Aufgaben übernahm.354 Nachsorge war eine Aufgabe, die nach Auffassung der Treuhandanstalt durch die Kammern zu leisten war. Dabei ging sie offenbar von einer umfangreicheren Betreuung aus, als sie zuvor auf ehrenamtlicher Basis geleistet worden war. Durch die IHK Berlin erfuhr der DIHT im August 1992, dass die Treuhandanstalt bei der Kammer vorstellig geworden war und eine Vereinbarung hatte schließen wollen. Die IHK sollte MBO-Interessenten in sämtlichen finanziellen, betriebswirtschaftlichen und juristischen Fragen beraten.355 Die Kammer lehnte dies ab. Sie wies darauf hin, dass es eine unternehmerische Kernaufgabe sei, Finanzierungs- und Marketingkonzepte zu erarbeiten. Dies könne und wolle sie nicht übernehmen, zumal sie nicht in Konkurrenz zu privaten Beratungsdienstleistern treten wolle. Die IHK Berlin kam mit der Treuhandanstalt überein, eine auf die Bedürfnisse von MBOKandidaten zugeschnittene, umfangreiche Existenzgründerberatung zu leisten und nach vollzogener Privatisierung für einen Erfahrungsaustausch in einem speziell dafür eingerichteten Arbeitskreis zu sorgen. Damit hatte sie ein Selbstverständnis über den eigenen Aufgabenbereich definiert, das so auch der DIHT sowie die Kammern in den neuen Ländern vertraten. Wie in der IHK Berlin vermutet worden war, bemühte sich die Treuhandanstalt darum, weitere IHKn für die Nachsorge von MBO-Privatisierungen zu gewinnen. Die Auffassungen darüber, inwieweit diese Aufgabe im Rahmen der regulären Kammerarbeit geleistet werden konnte, waren freilich unterschiedlich. Die Treuhandanstalt hielt die Intensität der Beratung durch die Kammern in einer ersten Auswertung für nicht ausreichend. Die Kammern wendeten hiergegen ein, dass sie nur in begrenztem Ausmaß beraten könnten: Ihre Aufgabe sei es, „Aufschließungsberatungen“ zu erbringen, nicht aber „Intensivberatungen“ zu leisten.356 Diese Position war zwar einleuchtend, stand aber aufgrund der Beratungslücke, die die noch nicht voll etablierte Marktwirtschaft in Ostdeutschland hinterließ, gehörig unter Druck. Für diesen sorgte nicht allein die Treuhandanstalt: Auch in den Vollversammlungen der Kammern wuchs die Unzufriedenheit über die Ausrichtung der Förderung beim „Aufbau Ost“ sowie über die prekäre Lage, in der sich der ostdeutsche Mittelstand befand. Die Bonner Kanzlerrunde diskutierte im April 1993 aus 354 Ensser, Bedeutung, S. 92 f. 355 Vermerk an den DIHT Hauptgeschäftsführer vom 13. August 1993 – Berliner Modell für Zusammenarbeit zwischen Kammern und Treuhandanstalt bei MBO. RWWA 181-1808-2. 356 Protokoll der Informationsveranstaltung der Treuhandanstalt mit IHKn, Handwerkskammern und Landeswirtschaftsministerien am 25. Januar 1993 in Berlin. RWWA 181-1808-2.
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diesem Anlass intensiv über fehlende Managementkompetenzen in den neuen Bundesländern.357 DIHT-Präsident Stihl versprach bereits bei dieser Gelegenheit, dass die Wirtschaft Selbsthilfe leisten werde. Dabei plädierte er nachdrücklich für eine Patenschaftslösung. Die Treuhandanstalt war zu Beginn des Jahres an den DIHT herangetreten, um das Patenprogramm in die Obhut des Dachverbands der Kammern zu übergeben.358 Die Anstalt rechnete damit, den operativen Teil ihres Auftrags 1993 abzuschließen. Der DIHT war daran interessiert, die Patenschaften fortzusetzen. Diese standen dem Grundsatz des freien Wettbewerbs viel weniger entgegen als eine hauptamtliche Intensivberatung nach den ursprünglichen Vorstellungen der Treuhandanstalt. Sie hätte aus Beiträgen oder Gebühren finanziert werden müssen und somit entweder die Mehrheit der Kammermitglieder belastet oder wäre in Konkurrenz zu privaten Beratungsdiensten getreten. Mittels ehrenamtlicher Betreuung schien sich die Beratungslücke in Ostdeutschland daher noch am ehesten schließen zu lassen. Ihre bisherige Ausrichtung und Organisation mussten dafür nur geringfügig geändert werden. An Stelle der Treuhand-Niederlassungen fiel es den ostdeutschen IHKn zu, nach Unternehmen zu suchen, die für einen Einsatz geeignet waren. Die Zielgruppe bestand nicht mehr vorrangig aus MBOs, sondern umfasste alle Betriebe mit Beratungsbedarf: Reprivatisierer, Existenzgründer, privatisierte Betriebe und Unternehmen, die sich weiterhin im Treuhand-Bestand befanden. Die Beratung wurde als „Hilfe zur Selbsthilfe“ konzipiert. Inhaltlich fokussierte sie sich stärker auf Marketing sowie Controlling und Finanzen. Beide Funktionen waren in der zentralen Planwirtschaft betriebsextern geregelt worden. Die Übergabe des Patenprogramms von der Treuhandanstalt an den DIHT verlief nicht reibungslos, da seine Finanzierung zunächst nicht geklärt war.359 Nur zögernd erklärte sich das BMWi bereit, den Einsatz ehrenamtlicher Experten mit jährlich 2,4 Mio. DM zu fördern. Die Mittel wurden hauptsächlich für Spesen verwendet, die Freiwilligen weiterhin erstattet wurden. Das Programm lief im Juni 1994 wieder an. Wie sich zeigte, war die Nachfrage nach Beratungsleistungen groß: Bis Ende des Jahres kamen 166 Pateneinsätze zustande.360 Im darauffolgenden Jahr wurden 331 Betriebe beraten und auch 1996 wuchs das Interesse nochmals kräftig: In 624 Unternehmen leisteten Paten in diesem Jahr ehrenamtlich Hilfe. Nicht nur die Zahl der Beratungen nahm zu; die mediale Aufmerksamkeit, die dem Programm zugutekam, führte auch zu einem Zulauf von Freiwilligen. Ihre Zahl stieg von 83 im Jahr 1994 auf rund 240 im Jahr 1997.361 Im Schnitt waren die Paten rund 64 Jahre alt. Der regionale Schwerpunkt ihrer Einsätze lag in Sachsen und Thüringen,
357 Informationsschreiben des DIHT-Präsidenten an die Präsidenten aller IHKn über die Kanzlerrunde vom 26. April 1993. RWWA 181, Zwischenarchiv Iron Mountain, Nr. 1617. 358 Protokoll der Informationsveranstaltung der Treuhandanstalt mit IHKn, Handwerkskammern und Landeswirtschaftsministerien am 25. Januar 1993 in Berlin. RWWA 181-1808-2. 359 Bürokraten bremsen Paten-Projekt. In: Handelsblatt, 22. Februar 1994. 360 Übersicht zum DIHT-Patenschaftsmodell, Stand: Ende 1996. RWWA 181, Zwischenarchiv Iron Mountain, Nr. 6089. 361 Ebd.
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auf beide Länder entfielen etwa drei Viertel aller „Beratungsfälle“. Industriebetriebe, die den Rat der Paten suchten, hatten im Schnitt etwa 45 Mitarbeiter. Trotz der positiven Resonanz endete die Finanzierung des Patenprogramms durch das BMWi 1997. Die Lücke schloss die bundeseigene Deutsche Ausgleichsbank, die sich als Partner des DIHT am Projekt beteiligte. Die Förderbank stockte die Mittel des Programms auf vier Mio. DM im Jahr auf.362 Die Zahl der Einsätze erreichte während der darauffolgenden Jahre etwa 700 bis 800, wobei Beratungen sich zunehmend auch auf nichtindustrielle Unternehmen aus Handel, Hotel- und Gaststättengewerbe erstreckten. Möglich war dies nicht zuletzt, weil die Zahl der Freiwilligen weiter stieg und dadurch ein immer breiter gefächertes Expertenwissen zur Verfügung stand. Die Einsatzdauer der Paten sank bis 1999 auf im Schnitt 15 Tage im Jahr. Der DIHT und die Deutsche Ausgleichsbank bezifferten die Erfolgsquote der Einsätze auf 70 Prozent.363 4.4.2 Runde Tische zur Unternehmenssicherung Managementkompetenzen gelten als unverzichtbare Voraussetzung, um unternehmerische Tätigkeiten erfolgreich ausüben zu können. Man zählt sie zu den „hard skills“, nicht aber zu den „hard facts“ – z. B. Cash Flow, Bilanzsumme oder Eigenkapitalquote. Schwache betriebswirtschaftliche Kennzahlen waren ein mindestens ebenso großer Hemmschuh für den ostdeutschen Mittelstand wie mangelnde Fachkompetenzen. Hilfe war auch hier dringend vonnöten. Die Unternehmen litten häufig unter geringem Eigenkapital und niedriger Liquidität. Eine DIW-Studie von 1995, die sich mit dem industriellen Mittelstand in den neuen Bundesländern befasste, ermittelte einen deutlichen Zusammenhang zwischen Unternehmenserfolg und Eigentümern:364 Betriebe in ostdeutscher Hand – worunter vor allem MBO und reprivatisierte Unternehmen fielen – befanden sich in einer ungleich angespannteren geschäftlichen Lage als solche, an denen westliche Partner beteiligt waren. Nach Einschätzung des DIW lag die Ursache hierfür zuvorderst in einer zu dünnen Eigenkapitaldecke – eine Schwäche, die sich „wie ein roter Faden durch alle Problembereiche“365 mittelständischer Industriebetriebe ziehe. Auf der DIHT-Mittelstandskonferenz, die auf eine Initiative der IHK Schwerin zurückging und daher im September 1994 in der Landeshauptstadt MecklenburgVorpommerns stattfand, berieten die ostdeutschen Kammern über Hilfsmaßnahmen. Sämtliche Teilnehmer befanden, dass es zahlreiche Förderprogramme gebe, deren finanzielles Volumen ausreichend sei.366 Diese zurückhaltende Einschätzung hing damit zusammen, dass die öffentlichen Haushalte unter zunehmenden Konsolidierungsdruck geraten waren: Die westdeutsche Wirtschaft befand sich 1993 in einer Rezession, wodurch die Steuereinnahmen auch in den alten Ländern spürbar 362 363 364 365 366
Ausgleichsbank steigt in Patenmodell ein. In: Handelsblatt, 20. Oktober 1997. „Paten“ sichern im Osten 40 000 Arbeitsplätze. In: Handelsblatt, 10. Februar 2000. Berlitz u. a., Aufbau, S. 182. Ebd. S. 185. Mittelstandspolitik für die Neuen Bundesländer. Erklärung von Schwerin. Positionspapier des DIHT und der Industrie- und Handelskammern. RWWA 181-3123-3.
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zurückgingen. Vor diesem Hintergrund hätte sich eine Forderung nach zusätzlichen Fördergeldern schwerlich vertreten lassen. Es gab weitere sachliche Gründe, weshalb die Kammern diesbezüglich zurückhaltend auftraten: Das DIW z. B. urteilte unabhängig von den IHKn, dass weitere Fördermittel „wohl nur zu unerheblich anderen Ergebnissen geführt“ hätten.367 Auch was die Ausrichtung der vorhandenen Hilfen anging, kam das Wirtschaftsforschungsinstitut zu einem ähnlichen Ergebnis wie die Kammern, die sich anstelle einer Erweiterung der Förderprogramme für eine Konzentration auf Eigenkapitalhilfen aussprachen. Die IHKn forderten, in die Konzeption solcher Maßnahmen einbezogen zu werden. Eigenkapitalhilfen waren von Beginn an ein Element des Aufbaus Ost. Die Bundesregierung hatte über die Deutsche Ausgleichsbank zinssubventionierte Darlehen vergeben. In der Anlaufphase waren sie zinsfrei. Die Verzinsung stieg danach stufenweise, im Laufe mehrerer Jahre auf das Niveau des Marktes. Das Darlehen haftete bei Verlusten wie Eigenkapital. Dieses Angebot hatte sich vor allem an MBOs und Existenzgründer gerichtet, um die Übernahme eines Unternehmens zu ermöglichen.368 Ab 1993 erweiterte die bundeseigene Förderbank ihre Leistungen um eine Partnerschaftskapital-Hilfe. Das Eigenkapital-Darlehen wurde hierbei an die Voraussetzung einer Minderheitsbeteiligung durch einen westlichen Investor geknüpft. Diese Variante der Eigenkapitalhilfe wollte zwei Probleme auf einen Schlag lösen, indem sie sowohl die finanzielle Lage der Betriebe stabilisierte als auch Partner vermittelte, die den Zugang zu westlichen Märkten erleichtern konnten. Trotz seines vielversprechenden Ansatzes erwies sich das Partnerschaftskapital-Hilfeprogramm für potentielle Interessenten zunächst als wenig attraktiv. Im ersten Jahr kamen nur 24 Beteiligungen zustande, worauf die Bundesregierung Nachbesserungen versprach.369 Derweil gelangte das DIW zur Einschätzung, dass Fördermaßnahmen das Problem der Eigenkapitalschwäche ostdeutscher Betriebe kaum befriedigend lösen könnten.370 Den Unternehmen fehle es an Gelegenheiten, Eigenkapital zu bilden. Dass der Staat Eigenkapital jenseits bestimmter Quoten schenken würde, sei unwahrscheinlich. Die Kapitalversorgung des ostdeutschen Mittelstands war schon bei den vereinigungspolitischen Entscheidungen des Jahres 1990 zu wenig berücksichtigt worden. Reprivatisierern z. B. war eine finanzielle Zusatzbelastung im Rahmen des Entschädigungsgesetzes gerade noch erspart geblieben.371 Altschulden waren dagegen eine Belastung der Betriebe, die fortbestand. Bei diesen handelte es 367 Berlitz u. a., Aufbau, S. 186. 368 Jahresgutachten 1995/96 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. BT-Drs. 13/3016, S. 93. 369 Kanzler-Konferenz. Eigenkapitalhilfe soll verbessert werden. In: Handelsblatt, 7. Juli 1994. 370 Berlitz u. a., Aufbau, S. 188. 371 Zu Beginn des Jahres 1993 hatten erste Entwürfe für das Entschädigungsgesetz solche Befürchtungen genährt. Demnach hätte ein Entschädigungsfonds gebildet werden sollen, in den restituierte Alteigentümer eine Vermögensabgabe hätten zahlen sollen. Im Raum stand eine Abgabe von 33 Prozent des Eigenkapitals. Reprivatisierer, die ohnehin oft kapitalschwach waren, hätte dies zusätzlich schwer belastet. Die Kammern und der DIHT sprachen sich dezidiert gegen die Pläne aus. Entschädigungsgesetz. Bedenken der Spitzenverbände gegen Vermögensabgabe. In: Handelsblatt, 4. März 1993.
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sich um Verbindlichkeiten ehemaliger Kombinate, die aus der Honecker-Zeit herrührten und de facto Staatsschulden waren. Im Zuge der Währungsunion blieben sie erhalten und wurden zu realen Krediten, für die das Treuhand-Vermögen haftete. Dies war ökonomisch schwer nachvollziehbar, da Schuldenzuweisungen an Betriebe in der DDR nicht nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen erfolgt waren und u. a. nicht zur Investitionsfinanzierung gedient hatten.372 Reprivatisierer mussten anteilig für diese Verbindlichkeiten haften, wenn sie ihr Unternehmen im Zuge eines Rückgabeverfahrens zurückerhielten. Das Bundeskabinett hatte im Sommer 1992 einen Beschluss gefasst, der verhindern sollte, dass Altschulden die Existenz von Reprivatisierern gefährdeten.373 In den meisten Fällen verrechnete die Treuhandanstalt daraufhin Forderungen mit Ausgleichsansprüchen. 798 Mio. DM übernahm sie auf diesem Wege, während ca. 180 Mio. DM bei den reprivatisierten Unternehmen verblieben.374 Bei den übrig gebliebenen Altschulden konnte die Deutsche Kreditbank AG im Falle einer Existenzgefährdung die Tilgung aussetzen, eine Rangrücktrittsvereinbarung treffen oder auf eine Forderung vollständig verzichten. Allerdings waren die noch zu tilgenden Beträge offenbar nur das geringere von zwei Problemen. Unternehmer, die keine Altschulden übernahmen, dafür aber auf Ausgleichsforderungen verzichtet hatten, waren nicht automatisch bessergestellt: Die Ausgleichsforderungen sollten dazu dienen, ein Unternehmen wettbewerbsfähig zu machen. Sie entsprachen einem – mindestens notwendigen – Investitionsbedarf, den die Treuhandanstalt für diesen Zweck veranschlagte. Die Verrechnung von Altschulden mit Ausgleichsforderungen führte dazu, dass reprivatisierte Unternehmen etwa 800 Mio. DM zusätzlich refinanzieren mussten – was in der Regel im Wege weiterer Kredite erfolgt sein durfte. Die Kammern vollzogen ab Mitte der 1990er Jahre eine konsequente Neuausrichtung ihrer Beratungsangebote. Existenzen zu sichern wurde zunehmend wichtig, vor allem im Verhältnis zur Förderung von Neugründungen.375 Dies lag zum einen daran, dass insbesondere den industriellen Mittelstand eine Pleitewelle zu erfassen drohte. Zum anderen ging die Neigung zur Unternehmensgründung in Ostdeutschland zurück.376 Gemessen am alt-bundesdeutschen Niveau waren in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung außergewöhnlich viele neue Betriebe entstanden: 1991 kamen in den neuen Ländern, relativ zur Größe der Bevölkerung, fast dreimal so viele neue Unternehmen hinzu wie in Westdeutschland. Diese starke Neigung zur Unternehmensgründung konnte kaum überraschen, da z. B. die Ent372 Vgl. Hankel, DDR-Altschuldenregelung, S. 33. 373 Schmidt, Reprivatisierungsreport 1992, S. 39. 374 Reprivatisierung am 31. Juli 1994. In: Treuhandanstalt (Hg.): Dokumentation 1990–1994. Band 10. Berlin 1994, S. 216. 375 Hierbei handelte es sich um eine strategische Festlegung. Erste Vorkehrungen, um existenzgefährdeten Unternehmen zu helfen, waren auf regionaler Ebene getroffen worden. Gemeinsam beschlossen die Kammern, diesen Kurs konsequent weiterzuverfolgen. Protokoll zur Beratung des DIHT-Hauptgeschäftsführers mit den Hauptgeschäftsführern der IHKn in den neuen Bundesländern am Flughafen Halle-Leipzig vom 10. Mai 1996. RWWA 181, Zwischenarchiv Iron Mountain, Nr. 6089. 376 Vgl. Röhl, Konvergenz, S. 2.
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flechtung von Kombinaten den Bestand an selbstständigen Betrieben schlagartig vergrößerte. Hinzu kamen neue selbstständige Existenzen; zum Teil war der Gang in die Selbstständigkeit in der DDR zurückgestaut worden, zum Teil resultierten Gründungen aus Entlassungen und der nun sichtbaren Arbeitslosigkeit. Auch Investitionen westdeutscher Unternehmen in Ostdeutschland erhöhten den Unternehmensbestand, etwa indem Handelsketten neue Filialen eröffneten. Die Welle an Gründungen ebbte 1995 spürbar ab; die Gründungsneigung erreichte in diesem Jahr nur noch das 1,5-Fache des westdeutschen Werts. In der zweiten Hälfte der Dekade sank die Bereitschaft zur Unternehmensgründung in den neuen sogar unter das Niveau in den alten Bundesländern.377 Diese Entwicklung weckte angesichts der allgemein erwarteten Konvergenz von Ost- und Westdeutschland Sorgen. Der Anteil der Selbstständigen an der Erwerbsbevölkerung war im Osten noch deutlich kleiner als im Westen. Wegen der schwächer werdenden Gründungsneigung war daher zu befürchten, dass Betriebsauflösungen nur schwer zu kompensieren sein würden. Die Treuhandanstalt hatte einigen Anteil daran, dass sich die IHKn mit der Beratung von Unternehmen zu befassen begannen. Die Privatisierungsbehörde hatte gemeinsam mit den Kammern über die Nachsorge von MBOs beraten. Sie selbst war daran interessiert, sich des Themas zu entledigen.378 Industriepatenschaften, wie die Kammern sie propagierten, wurden in diesem Zusammenhang in größerem Umfang realisiert. Freiwillige waren ein integraler Bestandteil des Konzepts. Gleichwohl gingen vom Patenprogramm auch Impulse für die Entwicklung der hauptamtlich geleisteten Beratungsarbeit der Kammern aus: Die IHKn mussten die Pateneinsätze nicht nur koordinieren, sondern auch Ziele formulieren. Dies war u. a. nötig, um beim DIHT Helfer anfordern zu können, die ein möglichst bedarfsgerechtes Qualifikationsprofil hatten. Den Pateneinsätzen ging daher in der Regel ein intensiver Kontakt zwischen Kammern und Unternehmen voraus. Probleme mussten erkannt werden, ehe Hilfsangebote vermittelt werden konnten. Pateneinsätze dienten nicht selten dazu, das Verhältnis zur Hausbank eines Unternehmens zu verbessern.379 Aus dieser Erfahrung reifte bei den Kammern die Erkenntnis, dass akute Liquiditätsschwierigkeiten häufig auf mehrere Ursachen zurückgingen und dass Programme zur Existenzförderung allein unzureichend waren, um ein ostdeutsches Unternehmertum zu entwickeln. In Leipzig entstand daraufhin die Idee, angeschlagenen Unternehmen im Konsens mit den Gläubigern zu helfen.380 Der „Runde Tisch“ war ein Konzept, um im Falle einer drohenden Firmenpleite unter allen institutionellen Gläubigern nach Möglichkeiten für eine Weiterführung des Betriebs zu suchen. Häufig konnten die Unternehmen nicht nur die Forderungen mehrerer Kreditinstitute – Förderbanken und Geschäftsbanken – nicht bedie377 Bis zum Jahr 2000 sank die Neigung zur Unternehmensgründung in Ostdeutschland auf das 0,87-fache des westdeutschen Wertes. Vgl. ebd. 378 Protokoll der Informationsveranstaltung der Treuhandanstalt mit IHKn, Handwerkskammern und Landeswirtschaftsministerien am 25. Januar 1993 in Berlin. RWWA 181-1808-2. 379 DIHT-Patenschaftmodell – Stand, Perspektiven, Aktivitäten, Stand: September 1994. RWWA 181-3123-3. 380 „Geburtsort“ des Runden Tisches war das Leipziger Lokal „Auerbachs Keller“, wo seine Urheber im November 1994 die Idee entwickelten. Meyer-Koester, Pannenhilfe, S. 13.
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nen, sondern hatten auch Steuerschulden bzw. waren mit Sozialversicherungsbeiträgen in Rückstand geraten. Auch konnte Ärger mit der Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BvS)381 drohen: Gegenüber der Treuhandanstalt hatten Unternehmensgründer häufig pönalisierte Investitions- und Arbeitsplatzzusagen gemacht, die sie später angesichts knapper Liquidität nicht immer einhalten konnten. Unter der Leitung der IHK versammelte der Runde Tisch Schuldner und Gläubiger, ggf. auch Vertreter der Justiz, und stellte Transparenz hinsichtlich der finanziellen Situation eines Unternehmens her. Teil des Angebots war eine Beratung, die auf verbessertes operatives Controlling zielte. Neben verfehlter oder fehlender Kredit- und Steuerberatung hatten Liquiditätsengpässe meist auch betriebsinterne Ursachen, z. B. ein schlechtes Forderungsmanagement. Sowohl Buchhaltungsfehler als auch individuelle Hemmschwellen überschuldeter Unternehmer führten dazu, dass Schieflagen oft erst spät erkannt wurden.382 Der Runde Tisch in Leipzig nahm seine Arbeit im März 1995 auf. Die Projektträgerschaft hatte die IHK inne, beteiligt war ferner die Deutsche Ausgleichsbank. Die Förderbank übernahm den Löwenanteil der Kosten von jährlichen 500.000 DM.383 Sie hatte vielen Existenzgründern ERP-Kredite und Eigenkapitalhilfe-Darlehen gewährt und war für den Mittelstand in den neuen Bundesländern ein bedeutender Finanzier. Die Nachfrage nach dem Beratungsangebot des Runden Tisches war von Beginn an groß: Bereits in den ersten sechs Monaten suchten ihn 90 Unternehmen auf, im ersten Jahr waren es mehr als 400. Die Deutsche Ausgleichsbank erklärte sich aufgrund dieser positiven Ergebnisse bereit, Runde Tische in allen 14 ostdeutschen Kammerbezirken sowie in Berlin zu finanzieren.384 Hierzu trat sie im September 1995 an den DIHT heran, der einen Ideenaustausch zwischen Kammern und Förderbank ermöglichte. Viele ostdeutsche IHKn zeigten großes Interesse.385 Das Programm startete im Jahr 1996 in allen neuen Bundesländern, auch einige Handwerkskammern nahmen teil. Die Runden Tische konnten eine beeindruckende Erfolgsquote nachweisen. In Leipzig wurden innerhalb der ersten drei Jahre rund 1.500 Firmen betreut. Für fast 90 Prozent aller Unternehmen wurde eine Lösung zur Weiterführung gefunden – obwohl in mehr als 20 Prozent der Fälle bereits ein Gesamtvollstreckungsverfahren eröffnet worden war.386 Die Runden Tische boten kurzfristige Hilfe für akute Notlagen an. Hohe Erfolgsquoten bedeuteten, dass eine unmittelbar drohende Geschäftsaufgabe oder Liquidation abgewendet werden konnte. Banken machten hierfür oftmals Zugeständ381 Die Treuhandanstalt wurde 1994 in „Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben“ umbenannt. Dies führte dazu, dass die Treuhandanstalt weitgehend aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwand. Vgl. Seibel, Illusionen, S. 491. 382 Vgl. Meyer-Koester, Pannenhilfe, S. 14. 383 Ebd. S. 13. 384 Intensivstation für ostdeutsche Unternehmen. Erfahrene Praktiker helfen Firmen aus der Schieflage. In: Handelsblatt, 8. September 1995. 385 Schreiben der Hauptgeschäftsführerin der IHK zu Neubrandenburg an den Hauptgeschäftsführer des DIHT zur geplanten gemeinsamen Sitzung mit der Deutschen Ausgleichsbank vom 8. Oktober 1995. RWWA 181, Zwischenarchiv Iron Mountain, Nr. 6089. 386 1500 Firmen sind bereits am Runden Tisch gerettet worden. In: Handelsblatt, 9. Dezember 1997.
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nisse. Nichtsdestoweniger gab es nachhaltige Effekte, wie eine Evaluation der IHK Dresden ergab. In einem Zeitraum von sieben Jahren wurde bei 74 Prozent der Beratungsfälle eine Weiterführung erreicht.387 Von ursprünglich rund 2.000 Betrieben, die den Runden Tisch in Dresden konsultiert hatten, war die Mehrheit auch zwei Jahre nach der Betreuung noch am Markt tätig.388 4.4.3 Außenwirtschaftsberatung Zu Zeiten der DDR waren die außenwirtschaftlichen Beziehungen zentral organisiert. Diese Struktur wurde 1990 mit der Liquidation der KfA aufgelöst. Dies erfolgte auf den dezidierten Wunsch der ostdeutschen IHKn hin, die eigene Außenwirtschaftsabteilungen aufbauen wollten. Der Vorschlag, die Beratungskapazitäten der früheren Außenhandelskammer in reduziertem Umfang weiterzuführen, war daher auf große Skepsis gestoßen. Der DIHT hatte sich für diese Lösung eingesetzt, da der Dachverband sie als gute Ausgangsbasis für die künftigen Wirtschaftsbeziehungen in das RGW-Gebiet bewertete. Die reale Entwicklung nach 1990 enttäuschte Hoffnungen sowohl auf stabile Handelsbeziehungen zu den mittel- und osteuropäischen (MOE) Ländern als auch auf einen zügigen Übergang zu einer neuen, dezentralen Vermarktung von ostdeutschen Waren und Dienstleistungen. Der Außenhandelsumsatz der neuen Bundesländer sank bis 1994 um 63 Prozent.389 In noch stärkerem Maße gingen die Umsätze mit dem MOE-Raum zurück, wofür speziell der rückläufige Handel mit Russland ursächlich war. Der Aufbau der Außenwirtschaftsabteilungen in den neuen Kammern wurde vom DIHT begleitet und unterstützt. Der Dachverband qualifizierte Mitarbeiter und versorgte die entstehenden Abteilungen u. a. mit Amts- und Informationsblättern.390 In dieser Hinsicht war die Arbeitsfähigkeit rasch hergestellt. Die Anforderungen an die Beratungsarbeit waren gleichwohl von Beginn an hoch. Sowohl der Handel mit industriellen Gütern als auch deren Produktion brachen in einem dramatischen Ausmaß ein. Der Umbruch in der Industrie führte dazu, dass Unternehmen auch bei Fragen des Außenhandels zunehmend auf betriebsexterne Beratung angewiesen waren. Der Stellenwert, den die Außenwirtschaftsberatung unter den Kammeraufgaben hatte, war dennoch nicht auf Anhieb ersichtlich.391 Ein praktisches Problem bestand z. B. häufig darin, dass die Außenwirtschaftsabteilungen während der Aufbauphase räumlich von der Hauptgeschäftsstelle getrennt waren – ein Zustand, der sich nicht kurzfristig überwinden ließ.392 Auch nahmen die Vorbereitungen auf den 387 IHK Dresden, Runder Tisch, S. 6 ff. 388 Rund 40 Prozent hatten den Geschäftsbetrieb eingestellt oder waren in anderen Strukturen aufgegangen. Unter dem Strich war dies ein positives Ergebnis. 389 Materialien zur Deutschen Einheit und zum Aufbau in den neuen Bundesländern. BT-Drs. 13/2280, S. 145. 390 Vermerk des Leiters der Abt. Außenwirtschaft an den DIHT-Hauptgeschäftsführer zum Stand des Aufbaus in den neuen Bundesländern vom 29. Juli 1991. RWWA 181-1886-3. 391 Vermerk des Leiters der Abt. Außenwirtschaft an den DIHT-Hauptgeschäftsführer vom 16. Oktober 1991. RWWA 181-1886-3. 392 Die Außenwirtschaftsabteilungen waren i. d. R. aus den Bezirksdependancen der KfA hervorgegangen. Die räumliche Unterbringung der Kammern war während der ersten Jahre des Auf-
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Europäischen Binnenmarkt, der zum 1. Januar 1993 in Kraft trat, breiten Raum ein. Die von der Europäischen Kommission ins Leben gerufenen Euro Info Centers wurden in Deutschland bei den IHKn angesiedelt. Ihr Angebot, das sich speziell an KMU richtete, förderte den europäischen Binnenhandel. Bereits mit der Wiedervereinigung ergriff die Bundesregierung Maßnahmen, um die neuen Länder in die bundesdeutsche Außenwirtschaftsförderung zu integrieren. Dies geschah etwa durch Hermes-Bürgschaften, die eingesetzt wurden, um bestehende Lieferbeziehungen in die (ehemalige) Sowjetunion abzusichern. Bis 1994 wurde Deckung im Volumen von 33,2 Mrd. DM gewährt.393 Beim Aufbau neuer Geschäftsbeziehungen kam den Außenhandelskammern (AHKn) eine besondere Rolle zu. Die AHKn erfüllten im Ausland die öffentliche Aufgabe der Außenwirtschaftsförderung. Sie boten Unternehmen Beratungsleistungen und Informationen zu den jeweiligen Auslandsmärkten an und vermittelten Kontakte. Neben staatlichen Zuwendungen finanzierten sie sich vorrangig aus Beiträgen und Honoraren. Viele AHKn waren ab 1900 durch private Initiativen entstanden und Teil eines Selbsthilfenetzes der deutschen Wirtschaft im Ausland geworden.394 Staatliche Beihilfen erstreckten sich grundsätzlich nur auf Aufgaben, die die Kammern im öffentlichen Auftrag übernahmen. Der DIHT war im Laufe der Nachkriegszeit zum Dachverband der AHKn geworden. In den neuen Bundesländern boten sie in Zusammenarbeit mit den IHKn Außenwirtschaftssprechtage an, um gezielt über Exportmärkte zu informieren. Für ostdeutsche Unternehmen boten die AHKn Sondertarife an; die dadurch entstehenden Einnahmeausfälle kompensierten Fördermittel des BMWi. Für ostdeutsche Industriebetriebe wurde es angesichts zurückgehender Umsätze mit dem ehemaligen RGW-Gebiet immer mehr zur Überlebensfrage, Fuß auf westlichen Märkten zu fassen. Industrielle Fertigung war grundsätzlich auf überregionalen Absatz ausgerichtet und litt übermäßig unter dem Verlust des Exportgeschäfts. Lieferbeziehungen mussten grundlegend neu aufgebaut werden: Schon innerhalb der neuen Bundesländer gelang es ostdeutschen Herstellern kaum, Abnehmer für Konsum- und Investitionsgüter zu finden. Westliche Produkte hatten sie binnen kurzer Zeit verdrängt. Der westdeutsche Markt erwies sich ebenfalls als schwieriges Terrain für Produzenten aus den neuen Bundesländern – insbesondere, als es 1993 in ganz Deutschland zur Rezession kam. Neue Absatzmärkte zu erschließen, war nicht allein eine Frage von Preis und Qualität eines Produkts: Eine Beobachtung, die andernorts wohl in ähnlicher Weise gemachte wurde, schilderte die Handelskammer Deutschland-Schweiz. Der DIHT erkundigte sich regelmäßig baus in vielen Bezirken unbefriedigend, was vor allem auf ungeklärte Eigentumsfragen zurückging, die sowohl früheres Eigentum betrafen als auch aktuelle Kammergebäude, auf die u. U. Dritte einen Anspruch erhoben. Dies verhinderte in mehreren Fällen auch eine frühzeitige räumliche Zusammenlegung der Außenwirtschaftsabteilungen mit den Hauptgeschäftsstellen. Vermerk des Leiters der Abt. Außenwirtschaft an den DIHT-Hauptgeschäftsführer zum Stand des Aufbaus in den neuen Bundesländern vom 7. März 1991. RWWA 181-1886-3. 393 Materialien zur Deutschen Einheit und zum Aufbau in den neuen Bundesländern. BT-Drs. 13/2280, S. 146. 394 Schultes, Außenwirtschaftsförderung, S. 351 f.
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bei den AHKn über deren Leistungen für ostdeutsche Unternehmen. In der DeutschSchweizer Handelskammer sah man in der Entwicklung der Anfragen eine „Wellenbewegung“395: Während aus Westdeutschland ein konstantes Volumen zu verzeichnen sei, hätten Gesuche aus Ostdeutschland 1990/91 einem „wahllosen und undifferenzierten“ Sturm auf die Exportmärkte geglichen. Dem seien Ernüchterung und ein Rückgang der Anfragen gefolgt. Seit 1992 sei das Interesse kontinuierlich gewachsen, allerdings auf niedrigem Niveau. Dabei nehme die Qualität der Anfragen zu und auch das Erscheinungsbild von Briefköpfen und Prospekten habe sich westlichem Standard angenähert – sei „aber weiter verbesserungsbedürftig“ geblieben. Die Erfahrungsberichte von AHKn zeigten, dass ihr Angebot in den neuen Bundesländern erst wenig bekannt war bzw. noch nicht umfassend genutzt wurde: 1992 meldete ein Drittel aller AHKn, wenig oder gar nicht mit IHKn in den neuen Bundesländern zusammenzuarbeiten.396 Kontakte zu ostdeutschen Unternehmen zeigten, dass diese vor allem an Vertriebsmöglichkeiten interessiert waren. Der DIHT trat vor diesem Hintergrund beim BMWi dafür ein, Tätigkeiten zur Markterschließung zu fördern.397 Die Stärkung der Absatzförderung avancierte 1993 zu einer wirtschaftspolitischen Kernforderung des DIHT im Hinblick auf eine Konsolidierung der Industrie in den neuen Bundesländern.398 Bessere Exportförderung war Teil dieser Strategie. Noch im selben Jahr initiierte das BMWi das „Programm über projektbezogene Vermarktungshilfen für ostdeutsche Unternehmen im Ausland“ (VHP).399 Mit vier Mio. DM pro Jahr förderte es Maßnahmen, um den Absatz ostdeutscher Produkte auf ausgewählten westlichen Märkten zu steigern. Zunächst konzentrierte sich das VHP auf Frankreich, Schweiz, Österreich, die nordischen Länder sowie Nordamerika. Ab 1995 bezog es Großbritannien, Niederlande, Italien und Belgien ein. Das VHP richtete sich speziell an mittelständische Hersteller von Investitionsund Konsumgütern in den neuen Bundesländern und dem ehemaligen Ostberlin. Antragsberechtigt waren Betriebe mit bis zu 250 Mitarbeitern, die nicht mehr als 40 Mio. DM Jahresumsatz erwirtschafteten. Zu maximal 25 Prozent durfte ein Unternehmen beteiligt sein, das diesen Kriterien nicht entsprach.400 Träger von Vermarktungshilfeprojekten waren die AHKn, die in den neuen Bundesländern mit einer IHK kooperierten und auf diesem Wege um Programm-Teilnehmer warben. Projekte wurden vorab von DIHT und BMWi geprüft. Ein Markterschließungsprojekt 395 Verwendungsnachweis der Handelskammer Deutschland-Schweiz für das „Alt-Programm“ 1994 – Maßnahmen für Unternehmen in den neuen Bundesländern. RWWA 181, Zwischenarchiv Iron Mountain, Nr. 2282. 396 Auswertung der Erfahrungsberichte 1992: AHK-Maßnahmen für Unternehmen in den neuen Bundesländern. RWWA, Zwischenarchiv Iron Mountain, Nr. 2281. 397 Schreiben des DIHT an das BMWi anlässlich der Auswertung der AHK-Erfahrungsberichte vom 4. September 1992. RWWA, Zwischenarchiv Iron Mountain, Nr. 2281. 398 Regionale und sektorale Strukturpolitik in den neuen Bundesländern. Vortrag des DIHT-Vizepräsidenten auf der Vorstandssitzung in Bonn vom 13. März 1993 (Anlage zum Protokoll). RWWA 181, Zwischenarchiv Iron Mountain, Nr. 1617. 399 Huhn/Kranzusch, Absatzstrategien, S. 194 f. 400 Ebd.
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umfasste eine branchenspezifische Marktanalyse sowie eine Beratung teilnehmender Unternehmen. Eine vorherige Einschätzung der Exportchancen von Waren und Dienstleistungen, die Erarbeitung von Marketingstrategien und Hilfe beim Gestalten vorbereitender Werbeunterlagen zählten dabei ebenso zu den Leistungen wie die Nacharbeit und Erfolgskontrolle sowie Unterstützung beim Aufbau eines Vertriebsnetzes im Ausland. Neben Markterschließungen konnten im VHP auch Vermarktungsaktionen gezielt gefördert werden, etwa die Teilnahme an Einkäufertagen ausländischer Unternehmen bzw. branchenspezifische Produktpräsentationen. Im Jahr 1994 führten die AHKn ca. 40 Projekte im Rahmen des VHP durch, im Schnitt mit etwa 20 Teilnehmern.401 In rund zwei Dritteln aller Fälle veranstaltete man branchenspezifische Produktpräsentationen. Erste Auswertungen beim DIHT zeigten, dass es positive Effekte gab: Die Professionalität ostdeutscher Unternehmen sei im Hinblick auf die Präsentation der eigenen Produkte „deutlich gestiegen“, wenngleich „immer noch ein gewisser Nachholbedarf“402 festgestellt werden müsse. Gestiegene Professionalität zeige sich auch darin, dass von den Unternehmen verstärkt eine individuelle Exportberatung nachfragt werde. Nicht nur die Betriebe lernten hinzu, auch in den IHKn wuchs der Wunsch, Projekte enger auf den regionalen Bedarf abstimmen zu können. Der Außenhandelsumsatz der neuen Bundesländer (inkl. Berlin-Ost) wuchs 1995 nach langer Durststrecke um 15 Prozent. Von großer Bedeutung war, dass westliche Länder mit einem Anteil von rund 51 Prozent zur wichtigsten Gruppe der Handelspartner aufstiegen.403 Das VHP blieb in den darauffolgenden Jahren ein fester Bestandteil der Außenwirtschaftsförderung. Daneben traten zunehmend die ostdeutschen Landesregierungen mit eigenen Förderinitiativen.
401 So eine Prognose im Sachstandsbericht zum Programm über projektbezogene Vermarktungshilfen für ostdeutsche Unternehmen im Ausland vom 11. August 1994. RWWA 181, Zwischenarchiv Iron Mountain, Nr. 2214. 402 Ebd. 403 Statistisches Bundesamt, Jahrbuch 1996, S. 278.
5. STRUKTURELLE MERKMALE UND ENTWICKLUNGEN DER OSTDEUTSCHEN INDUSTRIEUND HANDELSKAMMERN 5.1 DER ZUSCHNITT DER KAMMERBEZIRKE UND DIE VERTRETUNG IN DER FLÄCHE Kammerspezifische Vorschriften zu erlassen, war eine hoheitliche Befugnis, die mit der Wiedervereinigung von der DDR auf die Länder Brandenburg, MecklenburgVorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen überging. Bis 1993 schufen deren Landesregierungen die erforderlichen Rechtsgrundlagen in Form von Ausführungsgesetzen zum IHKG.1 Sie gestatteten es den Wirtschaftsministern, IHKn öffentliche Aufgaben zu übertragen sowie räumliche Zuständigkeiten festzulegen. Speziell das Recht, IHKn zu errichten, aufzulösen, bestehende Kammern zu verschmelzen bzw. Zuständigkeitsbezirke neu festzulegen, ermöglichte es, das Kammerwesen auf Landesebene grundlegend umzugestalten. Die meisten Kammergesetze verwirklichten dieses Recht gleichwohl nicht vollumfänglich.2 Überdies sahen sie bezirkliche Neugliederungen nur vor, wenn dafür ein nachvollziehbarer Grund bestand, etwa um Aufgaben effektiver zu erfüllen oder um Zuständigkeiten an kommunale Verwaltungsgrenzen anzupassen.3 Alle neuen Bundesländer standen 1990 vor einem umfassenden administrativen Um- und Neuaufbau. Die zeitliche Nähe zur staatlichen Vereinigung steigerte die ohnehin hohen Anforderungen an Verwaltungsreformen, denn namentlich zu Zeiten revolutionärer Umbrüche und Verfassungsänderungen hatte sich Verwaltungsrecht als überaus beständig erwiesen.4 In Ostdeutschland mussten Planer demgegenüber neue administrative Strukturen definieren, ohne dass stabile wirtschaftliche Verhältnisse herrschten. Damit fehlte eine Voraussetzung, die der Be1
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Gesetz über die Industrie- und Handelskammern in Sachsen-Anhalt (AGIHKG) vom 10. Juni 1991. In: SA GVBl. 1991, S. 103; Gesetz zur Ergänzung des Rechts der Industrie- und Handelskammern im Land Brandenburg (AGIHKG) vom 13. September 1991. In: BB GVBl. I, 1991, S. 440; Gesetz zur Ausführung und Ergänzung des Rechts der Industrie- und Handelskammern im Freistaat Sachsen (SächsIHKG) vom 18. November 1991. In: SA GVBl. 1991, S. 380; Gesetz über die Industrie- und Handelskammern für das Land Mecklenburg-Vorpommern vom 18. Februar 1992. In: M-V GVBl. 1992, S. 98; Thüringer Ausführungsgesetz zum Gesetz zur vorläufigen Regelung des Rechts der Industrie- und Handelskammern (ThürAGIHKG) vom 7. Dezember 1993. In: TH GVBl. 1993, S. 757. In den neuen Bundesländern realisierten lediglich die Gesetze von Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen ein umfassendes Recht auf Errichtung, Verschmelzung und Auflösung von Kammern sowie eine Änderung ihrer Bezirke. Will, Selbstverwaltung, S. 396. Ebd. S. 401 f. Der Begründer der Verwaltungswissenschaften Otto Mayer fasste dies in die Worte: „Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht“. Im Falle der neuen Bundesländer schienen sie ihre Allgemeingültigkeit einzubüßen. Bernet, Verwaltungs- und Gebietsreform, S. 2.
5.1 Der Zuschnitt der Kammerbezirke und die Vertretung in der Fläche
217
völkerung Anlass bot, von einer positiven Entwicklung ihrer Lebensbedingungen auszugehen. Ein Neuaufbau der Verwaltung war dennoch unumgänglich, da die vorhandenen Strukturen für den sogenannten demokratischen Zentralismus geschaffen worden waren und dem Führungsanspruch einer Kaderpartei gedient hatten. Sowohl innere Abläufe als auch die räumliche Gliederung der Verwaltung mussten von Grund auf neu organisiert werden. Aus westdeutscher Sicht gab es Zweifel, ob die Wiedereinführung der 1952 aufgelösten Länder überhaupt zukunftsweisend war.5 Deren Einwohnerzahl lag zwar durchweg über der des Saarlandes, abgesehen von Sachsen aber unter derjenigen Schleswig-Holsteins, das, gemessen an der Bevölkerung, unter den „Flächenländern“ der alten Bundesrepublik an vorletzter Stelle lag. Ein dreistufiger Verwaltungsaufbau, wie er in den meisten alten Ländern bestand, versprach bei dieser Größe wenig Effizienz. Auf Bezirksregierungen bzw. Regierungspräsidien, die Aufgaben der Landesverwaltung regional bündelten, konnte man ggf. zwar verzichten – in Schleswig-Holstein gab es sie ebenfalls nicht. Ohne Landesmittelbehörden mussten Landesaufgaben allerdings direkt auf die Kommunen übertragen werden. Ostdeutsche Bürgermeister und Landräte hatten bereits zwischen Wiedervereinigung und Länderneubildung ohne effektive Aufsicht gehandelt und sich hohe Akzeptanz in der Bevölkerung erworben.6 Die lokalen Verwaltungen waren gleichwohl nur wenig professionalisiert, nicht zuletzt weil die ostdeutsche Landkreis- und Gemeindestruktur mit 191 Landkreisen und 27 kreisfreien Städten außergewöhnlich engmaschig war: Im alten Bundesgebiet gab es 237 Landkreise und 91 kreisfreie Städte. Die Einwohnerzahl der ostdeutschen Landkreise erreichte nur etwa ein Drittel des westdeutschen Durchschnitts von 180.000.7 Gebietsreformen waren unausweichlich, um leistungsfähigere Kreisverwaltungen zu schaffen. Politisch handelte es sich freilich um ein heikles Anliegen: „Reißbrettlösungen“ konnte es nicht geben, da nicht nur Effizienz, sondern auch die Identifikation der Bevölkerung mit den Gebietsstrukturen obligat war. Ein längerer Vorlauf wurde u. a. benötigt, weil die erste demokratische Wahlperiode regulär enden sollte. Sämtliche neuen Länder führten 1993/94 schließlich Kreisgebietsreformen durch. Zugleich traten neue Kommunalverfassungen, neue Gemeindeordnungen sowie umfassende Funktionalreformen in Kraft.8 Die Zahl der Landkreise sank infolgedessen auf 87. Auf Grundlage dieser neuen Kreisgrenzen kam es zu Neuabgrenzungen von IHK-Bezirken. Räumlich erstreckten diese sich noch weitgehend in den Grenzen der ehemaligen DDR-Bezirke. Letztere waren nach ihrer Auflösung in den Ländern aufgegangen, wobei es einige Arrondierungen gegeben hatte. Einzelne Kammerbezirke hatte dies merklich verkleinert oder vergrößert und in einigen Fällen führte dies zu Diskrepanzen zwischen großen und kleinen Kammern.9 5 6 7 8 9
Vgl. Rödder, Deutschland, S. 335. Vgl. Reulen, Institutionenbildung, S. 47. Wollmann, Transformation, S. 289. Vgl. ebd. S. 284 ff. Die IHK-Bezirke Dresden, Erfurt, Gera und Potsdam waren größer geworden, während die Bezirke Cottbus, Leipzig, Neubrandenburg und Schwerin Gebiete einbüßten. Dresden wuchs infolge des Landeseinführungsgesetzes um die Landkreise Weißwasser und Hoyerswerda (ehe-
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5. Strukturelle Merkmale und Entwicklungen
Als Ausgangspunkt war die vorhandene Einteilung der IHK-Bezirke trotzdem günstig, um langfristig tragfähige Strukturen zu schaffen. Eine effiziente Größeneinteilung hatte der DIHT schon 1990 ins Auge gefasst: Dies war der letztlich ausschlaggebende Grund, weshalb weder der Dachverband noch die Mehrheit der westdeutschen Kammern Bestrebungen unterstützten, weitere IHKn unterhalb der bezirklichen Ebene zu gründen. Der DIHT hatte damals wiederholt erklärt, Kammer- und Verwaltungsbezirke müssten identisch sein. Der Dachverband setzte sich mit diesem Argument durch – die zukünftige administrative Struktur Ostdeutschlands war zu dieser Zeit gleichwohl noch nicht geklärt. Eine Erinnerung an die alten Bezirke blieb lediglich in Sachsen erhalten. Die dortige Landesregierung richtete territorial übereinstimmende Regierungsbezirke in Chemnitz, Dresden und Leipzig ein.10 In Sachsen-Anhalt entstanden ebenfalls Mittelbehörden, allerdings mit provisorischem Charakter und prägnantem Unterschied zur alten Gebietsstruktur.11 Die Regierungen Brandenburgs, Mecklenburg-Vorpommerns und Thüringens entschieden demgegenüber, keine Regierungsbezirke zu installieren. Die IHK-Bezirke in diesen Ländern entsprachen somit keinen staatlichen Verwaltungsdistrikten mehr. Der Gebietszuschnitt der Kammern in Mecklenburg-Vorpommern war in besonderer Weise reformbedürftig. Der Bezirk der IHK Rostock erstreckte sich über die gesamte Ostseeküste. Er maß in der Länge eine Luftlinie von mehr als 200 km, reichte aber kaum 20 bis 30 km ins Hinterland. Einer effektiven Kammerarbeit war dies nicht zuträglich, da lange Anfahrtswege ehrenamtliches Engagement erschwerten. Gleiches galt für eine Beteiligung an der Regionalplanung, bei der ein langgestreckter Kammerbezirk kaum Synergien ermöglichte. Im Dezember 1993 korrigierte eine IHK-Neugliederungsverordnung für das Land Mecklenburg-Vorpommern die Defizite.12 Sowohl die IHK Schwerin als auch die IHK zu Neubrandenburg grenzten nun ebenfalls an die Ostsee. Der Kammerbezirk Neubrandenburg gewann auf Grundlage der neuen Kreisgebietsordnung den Landkreis Ostvorpommern sowie die kreisfreie Universitätsstadt Greifswald hinzu. Die IHK Schwerin wurde für den Landkreis Nordwestmecklenburg sowie die kreisfreie Stadt Wismar
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mals Bezirk Cottbus), die diese dem Land Sachsen zuordnete. Erfurt wurde für den Landkreis Artern (ehemals Bezirk Halle, nun Land Thüringen) zuständig und Gera für die Landkreise Altenburg und Schmölln (ehemals Bezirk Leipzig, nun Land Thüringen). Potsdam gewann die Landkreise Perleberg (ehemals Bezirk Schwerin, nun Land Brandenburg) sowie Prenzlau und Templin (ehemals Bezirk Neubrandenburg) hinzu. Der IHK-Bezirk Halle-Dessau vergrößerte sich um den Landkreis Jessen (ehemals Bezirk Cottbus, nun Land Sachsen-Anhalt), hatte aber den Landkreis Artern an Erfurt abgegeben. Verfassungsgesetz zur Bildung von Ländern in der Deutschen Demokratischen Republik (Ländereinführungsgesetz) vom 22. Juli 1990. In: GBl. der DDR I, 1990, S. 955–959. Vgl. Reulen, Institutionenbildung, S. 47. Die Landesregierung Sachsen-Anhalts schuf drei Regierungsbezirke mit Sitz in Dessau, Halle und Magdeburg. Der Dessauer Regierungsbezirk entsprach geographisch dem östlichen Teil des früheren DDR-Bezirks Halle und entstand u. a., um einer drohenden Polarisierung zwischen den früheren Bezirken Halle und Magdeburg vorzubeugen. Ebd. S. 170. Verordnung zur Neugliederung der Industrie- und Handelskammern in Mecklenburg-Vorpommern (IHK-NeugliederungsVO) vom 2. Dezember 1993. In: M-V GVBl. 1993, S. 1022.
5.1 Der Zuschnitt der Kammerbezirke und die Vertretung in der Fläche
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zuständig. Der Kammerbezirk Rostock erweiterte sich im Gegenzug in südliche Richtung um den neu gebildeten Landkreis Güstrow. Auch in Brandenburg war der Korrekturbedarf groß. Potsdam war unter den ehemaligen DDR-Bezirken der nach Fläche größte. Die IHK Potsdam war im Zuge der Ländereinführung zusätzlich für die Kreise Perleberg, Prenzlau und Templin zuständig geworden, die zu den Bezirken Schwerin und Neubrandenburg gehört hatten.13 Hierdurch kam es zu einem starken Missverhältnis in der Größe der brandenburgischen Kammerbezirke, denn der IHK-Bezirk Cottbus war um drei alte Landkreise verkleinert worden, die nun Teile von Sachsen-Anhalt und Sachsen waren. Der Kammerbezirk Potsdam hatte fast die Ausdehnung des Landes SchleswigHolstein. In seiner Fläche übertraf er die IHKn Cottbus und Frankfurt an der Oder zusammengenommen. Zum 1. Januar 1995 trat eine Reform der Kammerbezirke in Kraft. Sie verringerte die Dominanz der Potsdamer IHK:14 Der Bezirk der IHK Frankfurt an der Oder vergrößerte sich in nordwestliche Richtung um den neu gebildeten Landkreis Uckermark. Die Zuständigkeit der IHK Cottbus erweiterte sich im Wesentlichen um den neuen Landkreis Dahme-Spreewald. Letzteres führte dazu, dass alle Brandenburger Kammerbezirke an Berlin grenzten. In Thüringen bedurfte es einer im Vergleich mit Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern weniger umfangreichen Neuabgrenzung. Die Kreisgebietsreform von 1994 hatte vor allem Auswirkungen auf die in Suhl ansässige IHK Südthüringen: Der im Westen des Kammerbezirks gelegene Landkreis Bad Salzungen ging vollständig im Wartburgkreis auf, der überwiegend zum Erfurter Kammerbezirk zählte. Weitere Gemeinden, früher dem östlichen Teil des Südthüringer Bezirks zugehörig, gelangten unter die Zuständigkeit der IHK Gera. Zu DDR-Zeiten hatte lediglich Berlin-Ost eine kleinere Fläche als der Bezirk Suhl. Die Südthüringer Kammer drohte bei weiteren Gebietsverlusten daher auf eine landespolitisch unbedeutende Größe zu schrumpfen, zumal die Bezirke Gera und Erfurt schon im Zuge der Ländereinführung Landkreise hinzugewonnen hatten.15 Als die Thüringer Kammerbezirke an die neuen Kreisgrenzen angepasst wurden, lag das Hauptaugenmerk darauf, einen angemessenen Zuschnitt für die Südthüringer Kammer zu finden. Dies geschah, indem der neu gebildete Ilm-Kreis in den Kammerbezirk eingegliedert wurde. Er umfasste u. a. den früheren Landkreis Ilmenau sowie Gemeinden der ehemaligen Landkreise Arnstadt, Erfurt und Suhl.16 Im Norden grenzte der Kammerbezirk Südthüringen damit an die Landeshauptstadt Erfurt. Während es in Thüringen zu einer kleineren sowie in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern zu umfassenden IHK-Gebietsreformen kam, veränderte sich 13 14 15 16
Verordnung über die Festlegung der Bezirke der Industrie- und Handelskammern des Landes Brandenburg vom 15. Oktober 1991. In: BB GVBl. 1991, S. 450. Verordnung über die Neugliederung der Bezirke der Industrie- und Handelskammern im Land Brandenburg vom 3. Mai 1994. In: BB GVBl. II, 1994, S. 338. Gera gewann bei der Ländereinführung die Landkreise Altenburg und Schmölln, die vor zum Territorium des Bezirks Leipzig zum Freistaat Thüringen gewechselt waren. Erfurt erhielt den Landkreis Artern, der zuvor Teil des Bezirks Halle gewesen war. Thüringer Verordnung zur Einteilung der Kammerbezirke der Industrie- und Handelskammern vom 30. Juni 1994. In: TH GVBl. 1994, S. 937.
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5. Strukturelle Merkmale und Entwicklungen
der Gebietsstand der Kammern in Sachsen sowie Sachsen-Anhalt kaum. Dies galt mit Ausnahme der Veränderungen, die auf das Ländereinführungsgesetz zurückgingen: In Sachsen hatten sie den Bezirk Dresden um die Landkreise Weißwasser und Hoyerswerda erweitert, den Bezirk Leipzig hingegen um die Landkreise Altenburg und Schmölln verkleinert. Durch die sächsische Kreisreform 1994/96 ergab sich kein Änderungsbedarf.17 Die Beständigkeit der äußeren Grenzen wurde gleichwohl um den Preis innerer Konflikte erkauft: Territoriale Zugehörigkeit war in der Bevölkerung zu Zeiten der DDR selten über die wenig akzeptierten Bezirke definiert worden. Die sächsische Landesregierung vertrat die Einrichtung der Regierungsbezirke Chemnitz, Dresden und Leipzig daher defensiv, u. a. indem sie die parlamentarische Bestätigung dieser Entscheidung über Jahre hinausschob.18 Auf den Gebietszuschnitt der sächsischen Kammern wirkte die Existenz der Regierungsbezirke als normativer Fakt, der im Chemnitzer Bezirk allerdings starke Widerstände hervorrief. Die Gegner vertraten die Auffassung, dass die bestehenden Gebietsgrenzen durch die DDR-Vergangenheit de-legitimiert waren.19 Eine weitgehende Föderalisierung der IHK Südwestsachsen wies 1993 den Weg zur Beilegung des Konflikts. Eine neue Satzung stattete Regionalkammern an den Standorten Chemnitz, Plauen und Zwickau mit weitreichenden Befugnissen aus. Dem war eine langwierige Kompromisssuche vorausgegangen, zu der es mehrerer Vermittlungsinitiativen bedurft hatte. Sie warf ein grelles Licht auf das Problem von notwendiger Identifikation und hinreichender Effizienz, dem sämtliche administrativen Lösungen in den neuen Ländern gerecht werden mussten und das jede ostdeutsche IHK im Rahmen ihrer organisatorischen Entwicklung zu bewältigen hatte. Eine Ausgangssituation, die in Teilen mit Südwestsachsen vergleichbar war, gab es beispielsweise im Bezirk Halle: Dieser umfasste das ehemalige Land Anhalt, in dessen Hauptstadt Dessau es Eigenständigkeitsbestrebungen gab, die denen in Zwickau ähnlich waren.20 Für einen anhaltenden Konflikt innerhalb der IHK Halle-Dessau sorgte dies indes nicht. Dies lag an einer aktiven Integrationsarbeit der Kammer, die eine Geschäftsstelle in Dessau einrichtete und das Gebiet frühzeitig im gemeinsamen Namen hervorhob. Westdeutsche Kammern agierten – anders als in Südwestsachsen – zudem nicht unabgestimmt, was einer Kompromissfindung förderlich war. Einen eigenen Beitrag zur Entspannung leistete die Landespolitik mit der Schaffung eines Dessauer Regierungsbezirks. In SachsenAnhalt erhielten die Regierungsbezirke lediglich vorläufigen Status – 2003 setzte 17
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Die Neuabgrenzungsverordnung vom 6. Mai 1998 passte die Kammergrenzen an die veränderte Kreisstruktur an. Inhaltlich war hiermit kein Neuzuschnitt der IHK-Bezirke verbunden. Verordnung des Sächsischen Staatsministeriums für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr zur Errichtung und Neuabgrenzung der Bezirke der Industrie- und Handelskammern im Freistaat Sachsen vom 6. Mai 1998. In: SA GVBl. 1998, S. 380. Vgl. Reulen, Institutionenbildung, S. 112 f. Vgl. Hoschke, Erlebnisse, S. 336 f. Der historische Hintergrund des Konflikts bestand darin, dass Zwickau vom 19. bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Sitz einer sächsischen Kreisdirektion (ab 1874 Kreishauptmannschaft), also einer Landesmittelbehörde gewesen war. Vgl. Blaschke, Königreich Sachsen, S. 619.
5.1 Der Zuschnitt der Kammerbezirke und die Vertretung in der Fläche
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eine Verwaltungsreform ihrer Existenz bereits wieder ein Ende.21 In den Jahren nach der Wiedervereinigung, inmitten mannigfacher Umbrüche, trugen sie gleichwohl zur Akzeptanz der administrativen Strukturen bei. Wenn sich eine Teilregion auf eigene administrative Tradition berief, kam die Eröffnung einer IHK-Geschäftsstelle als friedensstiftende Maßnahme in Betracht. Görlitz beispielsweise hatte zur ehemaligen preußischen Provinz Schlesien gezählt – eine Erinnerung, die man auch in der dortigen Niederlassung pflegte.22 Ähnliche Gründe sprachen für die Zweigstelle der IHK Rostock in Stralsund, das zum ebenfalls preußischen Pommern gehört hatte, während der Großteil des Kammerbezirks auf Gebiet des einstigen Landes Mecklenburg-Schwerin lag.23 Auch das Südthüringische Sonneberg war ein traditionsreicher Kammersitz, wo die IHK Südthüringen eine Niederlassung eröffnete. Neigungen zu „Sezession“ hatte es an einigen dieser Orte gegeben, Geschäftsstellen entfalteten aber auch dort integrative Wirkung, wo dies nicht der Fall war.24 Das Leistungsspektrum der Zweigstellen variierte. In der Regel erfüllten sie eigenständig Teilfunktionen einer IHK, erarbeiteten etwa Stellungnahmen zu kommunalen Bauleitplänen und führten Beratungen durch. Geschäftsstellen waren nicht zuletzt eine Möglichkeit, die IHK ihrem Leitbild entsprechend regional und dezentral zu verankern. Ostdeutsche IHKn mussten Gesamtinteressenvertretung unter spezifisch anderen Bedingungen organisieren als westdeutsche: Bei meist deutlich größerer Fläche waren ihre Kammerbezirke allgemein dünner besiedelt.25 In Anbetracht dieser geographischen Voraussetzungen konnte sich der Aufbau von Niederlassungen nicht immer an historisch überholten Gebietszugehörigkeiten orientieren, sondern hatte auch wirtschaftliche Erwägungen zu beachten. Als IHK vor Ort präsent zu sein, diente in erster Linie dazu, Beteiligung an wirtschaftsrelevanten Entscheidungen zu ermöglichen und den Zugang zu den angebotenen Leistungen zu verbessern. Die alten Gewerbekammern hatten Geschäftsstellen in zahlreichen Kreisen unterhalten. Personell waren jene Büros aber nur schwach besetzt und selten den sich 21
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Vgl. Reulen, Institutionenbildung, S. 174. Das Beispiel Sachsen-Anhalt wirft durchaus die Frage auf, ob nicht auch in Sachsen ein Zwickauer Regierungsbezirk als Übergangslösung in Betracht gekommen wäre. Sachsen löste die Regierungsbezirke 2012 auf und schuf – ähnlich wie Sachsen-Anhalt – ein Landesverwaltungsamt mit Außenstellen in Chemnitz, Dresden und Leipzig. Die Görlitzer Geschäftsstelle gab anlässlich des 160-jährigen Gründungsjubiläums der „Industrie- und Handelskammer in Görlitz“ 2010 eine eigene Festschrift heraus. Hoche, 160 Jahre. Auch im Rostocker Bezirk hatte es 1990 Versuche gegeben, weitere IHKn zu gründen. Umfrage zur Koordinierung der DDR-Aktivitäten, Stand 19. Februar 1990. RWWA 181-1929-2. Auch in der Geschäftsstelle Weißenfels würdigte ein Rückblick das eigene Wirken. Stößer/ Walther, Weißenfelser Wirtschaftsstammtisch, S. 3 ff. (Herausgegeben von der IHK Halle-Dessau, Geschäftsstelle Weißenfels). In Westdeutschland (ohne Westberlin) gab es vor der Wiedervereinigung 68 IHKn auf einer Gesamtfläche von knapp 249.000 km2. Die Fläche der neuen Länder (ohne Berlin-Ost) entsprach mit knapp 108.000 km2 etwa 30 durchschnittlichen westdeutschen Kammerbezirken. Verfehlt war eine Einteilung in 14 IHK-Bezirke deswegen nicht: Die Einwohnerzahl des Beitrittsgebiets betrug etwa ein Viertel der westdeutschen Bevölkerung. Die ostdeutschen IHKBezirke waren daher, nach Einwohnern gemessen, nur wenig größer als die westdeutschen Kammerbezirke.
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5. Strukturelle Merkmale und Entwicklungen
wandelnden Anforderungen gewachsen. Was allgemein für die lokale Verwaltung der DDR galt, traf speziell auch für das sozialistische Kammersystem zu: Es hatte eine große Breiten-, aber nur eine geringe Tiefenwirkung erreicht. Der einschneidende Wandel der Kammerarbeit führte dazu, dass die räumliche Gliederung verändert und an den regionalen Bedarf angepasst werden musste. Die Kammern entwickelten hierbei unterschiedliche Lösungen.26 Eine geringe Zahl an Geschäftsstellen bedeutete nicht, dass eine angemessene Balance von Effizienz und Präsenz vor Ort automatisch verfehlt wurde. Vor allem in großen, dünn besiedelten Bezirken bedurfte es alternativer Ansätze. Die IHK zu Neubrandenburg etwa war für ein großflächiges Gebiet zuständig, in dem sie eine Zweigstelle in Greifswald unterhielt. Hiervon abgesehen mangelte es an Standorten, um weitere zentrale Anlaufstellen einzurichten. Die IHK kompensierte dies durch eine Strategie der „Kammer auf Rädern“.27 Auch die IHK Rostock, mit einer Geschäftsstelle in Stralsund, sowie die IHK Schwerin konzentrierten sich frühzeitig auf wenige Standorte. Hierin unterschieden sie sich von den brandenburgischen Kammern, die Dependancen stärker dazu einsetzten, Funktionen zu bündeln und Teilräume zu versorgen. Die IHK Frankfurt an der Oder war mit Geschäftsstellen in Eberswalde sowie Fürstenwalde vertreten, die jeweils Betriebe aus den Landkreisen Barnim und Uckermark sowie Märkisch-Oderland und Oder-Spree betreuten. Darüber hinaus hielt die Kammer wöchentliche Sprechtage in Prenzlau und Schwedt ab.28 Die IHK Cottbus eröffnete eine Zweigstelle in Königs-Wusterhausen, die sich Betrieben aus dem Berliner Umland widmete. Eine weitere Niederlassung in Senftenberg kümmerte sich u. a. um Unternehmen in der Lausitz.29 Die IHK Potsdam unterhielt sogar Vertretungen in allen Landkreisen.30 Sie trugen die Bezeichnung „RegionalCenter“ und boten schwerpunktmäßig Fördermittel- und Existenzgründerberatungen an. Insbesondere wenn Kammern eine große Zahl kleiner Nebenstellen betrieben, griffen sie auf alternative Bezeichnungen zurück, die hervorhoben, dass das Funktionsspektrum meist auf Beratungs- und Informationsleistungen reduziert war. Kleinteilige kommunale Strukturen hatten im Prozess der staatlichen Vereinigung positiv zur Orientierung der Bevölkerung beigetragen. Einige Kammern hielten wohl auch aus diesem Grund an einem dichten Netz von Beratungsstellen fest. Die IHK Halle-Dessau hatte Geschäftsstellen in Bitterfeld, Dessau, Eisleben und Weißenfels, die in starkem Maße eigenständig agierten und zusätzliche Bündelungsfunktionen erfüllten.31 Mit zehn regionalen „Service-Centern“ unterhielt die IHK Erfurt eine außergewöhnlich hohe Zahl an kleinen Beratungsstellen.32 In Thürin26 27 28 29 30 31 32
Diederich/Haag/Cadel, Industrie- und Handelskammern, S. 94 f. Ebd. S. 102. Flemming, Wirtschaft, S. 62. Flemming, Historie, S. 317. Service-Center gab es in Brandenburg an der Havel, Luckenwalde, Neuruppin, Oranienburg, Potsdam sowie Pritzwalk. Diederich/Haag/Cadel, Industrie- und Handelskammern, S. 98. Service-Center der IHK Erfurt gab es in Apolda, Artern, Bad Salzungen, Eisenach, Gotha, Heiligenstadt, Mühlhausen, Nordhausen, Sömmerda sowie Weimar.
5.1 Der Zuschnitt der Kammerbezirke und die Vertretung in der Fläche
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gen blieb auch nach der Kreisreform 1994 eine recht kleinteilige Kreisstruktur erhalten.33 In den frühen 1990er Jahren hatten sich in der IHK Erfurt überdies Landkreisvertretungen gebildet, die auf Wunsch der Unternehmer entstanden waren und die Arbeit auf regionaler Ebene um eine ehrenamtliche Dimension ergänzten.34 Dies war eine Besonderheit, die es auch in Südthüringen gab, wo die IHK allerdings nicht überall mit einer Außenstelle vertreten war. Die strukturelle Entwicklung der ostdeutschen IHKn endete keineswegs in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre. Nach umfassenden staatlichen Verwaltungsreformen, dem Neuzuschnitt mehrerer Kammerbezirke und der Herausbildung organisatorischer Grundstrukturen war gleichwohl ein Zwischenstand erreicht, der die Grundzüge des ostdeutschen Kammerwesens bereits erkennen ließ. Nahezu jede IHK wählte einen eigenen Ansatz, um sich in Anbetracht spezifischer Entwicklungsbedingungen regional zu verankern. Vor-Ort-Präsenz genoss hohen Stellenwert – unabhängig von der Zahl der Außen- bzw. Geschäftsstellen. Ein dichtes Netz an Beratungsstellen machte die „Serviceorientierung“ der IHKn allerdings besonders sichtbar. Auch der funktionale Aufbau zeigte, dass die ostdeutschen Kammern dem Kontakt zum Unternehmer hohe Priorität beimaßen: Statt einer nach Branchen gegliederten Struktur neigten sie stärker dazu, aufgabenorientierte Abteilungen zu bilden. Dies eröffnete Möglichkeiten zur Spezialisierung und Effizienzsteigerung im Service-Bereich, schmälerte allerdings – so das Ergebnis von Diederich, Haag und Cadel – das Vermögen zur Politikberatung.35 Dass Dienstleistungen in ostdeutschen Kammern eine hervorgehobene Position einnahmen, hatte spezifisch ostdeutsche Ursachen: Das Informations- und Orientierungsbedürfnis der Bevölkerung war in den 1990er Jahren vor dem Hintergrund des Systemwechsels allgemein erhöht, während von der engmaschigen Verwaltung der DDR eine kulturelle Vorprägung ausging. Viele Dienstleistungen hatten überdies strukturpolitische Bedeutung. Beratungsangebote wurden in den neuen Ländern nicht zuletzt forciert, weil sie innerhalb der Kammerorganisation konsensfähig waren – im Gegensatz zur zeitweise debattierten Wertschöpfungspräferenz. Weiterhin gewannen die Kammern durch engen Kontakt zu den Unternehmern zusätzliche Einblicke in die Problemlagen der Wirtschaft. Umgekehrt trug dies zu einem besseren Verständnis der Aufgaben einer IHK auf Unternehmerseite bei. Eine Standardannahme der Institutionenforschung der 1990er Jahre lautete, dass die Übertragung westdeutscher Institutionen auf die neuen Bundesländer in der dortigen Bevölkerung zu Akkulturationsprozessen führen würde. Auf dieser Grundlage ließe sich vermuten, dass die hohe Serviceorientierung ostdeutscher Kammern eine Übergangserscheinung war:36 Information und Orientierung waren schließlich 33
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Die Thüringischen Landkreise sollten gemäß der Kreisgebietsreform des Jahres 1994 eine Mindestgröße von 80.000 Einwohnern nur im Ausnahmefall unterschreiten. Im Vergleich aller Bundesländer lag diese Kreisgröße an der Untergrenze. Vgl. Stüer/Landgraf, Gebietsreform, S. 215. Hawich, Interessenvertretung, S. 73. Diederich/Haag/Cadel, Industrie- und Handelskammern, S. 94. Diederich, Haag und Cadel heben punktuell hervor, wie die von ihnen untersuchten ostdeutschen Kammern sich vom Grundmuster einer westdeutschen IHK unterscheiden. In Ost-
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5. Strukturelle Merkmale und Entwicklungen
akute, aber vorübergehende Bedürfnisse in einer Transformationsökonomie. Die Bewältigung der Transformation musste demnach die Nachfrage nach Beratung sinken lassen. Doch auch nach einer längeren Übergangszeit machten die ostdeutschen Kammern keine Anstalten, ihr charakteristisches Profil zu ändern. Weder schränkten sie ihr Dienstleistungsangebot ein, etwa um sich verstärkt „Grundsatzangelegenheiten“ bzw. der Politikberatung zuzuwenden, noch verkleinerten sie die Zahl der Außenstellen. Mancherorts bauten die Kammern ihre engmaschige Dienstleistungsinfrastruktur sogar nach der Jahrtausendwende weiter aus. Die IHK Leipzig etwa eröffnete ab 2007 „Regionalbüros“ in den umliegenden Landkreisen, um die wachsende Zahl an Unternehmen im Bezirk besser erreichen zu können.37 Räumliche Nähe zu den Unternehmen herzustellen und deren bestmögliche Versorgung mit Informationen zu leisten, war ein Ziel, dass die ostdeutschen Kammern auch nach der ersten Transformationsphase weiterverfolgten. Assimilationsund Konvergenzhypothesen erwiesen sich als unzureichend, um die institutionelle Entwicklung vorbestimmen zu können. Dass dies erklärungsbedürftig ist, unterstreicht ein Blick auf die staatliche Verwaltung: Sie trat ab 2007 in eine zweite Phase tiefgreifender Veränderungen ein, in der es u. a. zu einer nochmaligen Vergrößerung von Städten, Gemeinden und Landkreisen kam.38 Im Ergebnis wurden die räumlichen Strukturen auf staatlicher Ebene grobmaschiger. In dieser Hinsicht entwickelte sich die ostdeutsche Verwaltung durchaus erwartungsgemäß, da sie im Vergleich mit der westdeutschen immer noch als überbesetzt galt. Dass die ostdeutschen Kammern ein charakteristisches Profil herausbildeten, lässt sich in erster Linie auf exogene Ursachen zurückführen: Zum ersten blieb das Verbändewesen in Ostdeutschland schwach entwickelt. Während Verbände in den alten Bundesländern vermehrt unternehmensbezogene Dienstleistungen anboten, fehlte diese Form der wirtschaftlichen Selbsthilfe in den neuen Bundesländern weitgehend. Für die Kammern ergab sich damit ein größerer Aktionsradius. Zum zweiten zielten Vereinheitlichungsbemühungen im deutschen Kammerwesen um die Jahrtausendwende just auf die Stärkung des Service-Profils der IHKn.39 Ein gemeinsames Corporate Design, die Etablierung von „Dachmarken“ und die Umbenennung des DIHT in „Deutscher Industrie- und Handelskammertag“ (DIHK) waren Schritte zur Standardisierung und zur Effizienzverbesserung im ServiceBereich. In mancher Hinsicht nahmen die ostdeutschen Kammern hierbei sogar eine Vorreiterrolle ein. Beispielsweise boten bald auch IHKn im alten Bundesgebiet
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deutschland sei demzufolge häufiger der Typus einer „Dienstleistungskammer“ anzutreffen. Eine Dienstleistungskammer verstehe sich vorrangig als Service-Agentur, während ihre Funktion als Interessenvertretung schwächer ausgeprägt sei. Die Grundsätzlichkeit dieser Diagnose leidet zwar darunter, dass die Vergleichsbasis oft nur implizit benannt wird. Das westdeutsche Kammerwesen ist nicht Teil der Untersuchung, lediglich einzelne westdeutsche Kammern werden in ihrer Rolle als Aufbauhelfer betrachtet. Nichtsdestoweniger wirft dieser Befund die Frage auf, ob die Eigenheiten des ostdeutschen Kammerwesens auch bei zunehmender gesellschaftlicher Konvergenz fortbestehen. Ab 2007 entstanden in der IHK Leipzig Regionalbüros in Borna, Delitzsch, Grimma, Torgau sowie Oschatz. Vgl. Mehde, Vereinheitlichung, S. 40. Vgl. Sack, Strukturprobleme, S. 65 ff.
5.2 Überregionale Zusammenarbeit
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zur Unternehmenssicherung Runde Tische an, nachdem diese sich in Ostdeutschland bewährt hatten. 5.2 ÜBERREGIONALE ZUSAMMENARBEIT Der Aufbau neuer föderativer Strukturen stellte die ostdeutschen IHKn vor eine weitere Aufgabe: Auch ihre eigene überregionale Organisation musste reorganisiert werden. Im Rahmen der Einigungsverhandlungen hatte die 1990 gegründete „Vereinigung der Industrie- und Handelskammern der DDR im DIHT“ kammerpolitische Fragen bei der Ost-Berliner Regierung vertreten. Diese Aufgabe erübrigte sich mit der Auflösung der DDR. Die Vereinigung löste sich infolgedessen auf, so wie es die Satzung für diesen Fall vorgesehen hatte. Das Berliner DIHT-Büro, das als Geschäftsstelle der Vereinigung gedient hatte, widmete sich bald darauf organisatorischen Aufgaben. Es wirkte in erster Linie als Bindeglied zwischen DIHT und ostdeutschen Kammern. Mit der Wiedervereinigung waren die ostdeutschen Kammern im DIHT voll stimmberechtigt geworden. Die Zahl der Vollmitglieder im Dachverband war infolgedessen von 69 auf 83 gestiegen. Die erste gesamtdeutsche DIHT-Vollversammlung, die im Oktober 1990 in Essen tagte, beschloss daher eine Satzungsänderung. Jedes neue Bundesland konnte dadurch je einen Vertreter in dem DIHT-Vorstand entsenden. Dies hatte im Vorfeld zu Diskussionen geführt, ob das Gremium hierdurch nicht zu groß werden würde, um arbeitsfähig zu bleiben – der Vorstand umfasste, den Zuwachs eingerechnet, 27 bis 31 Mitglieder. Da jede Kammer durch Präsident und Hauptgeschäftsführer vertreten werden konnte, entsprach dies einer Personenzahl von bis zu 50. Zwar sah man die Gefahr, dass die Erörterung und Entscheidung von Problemen sich in Teilgremien verlagern könnte, allerdings gab es keine schlüssigen Alternativvorschläge zum Konzept.40 Zusätzlich zu den Vorstandsmandaten war auf Vorschlag DIHT-Präsident Stihls ein zusätzliches, viertes Vizepräsidenten-Amt geschaffen worden, das einem ostdeutschen Vertreter vorbehalten war. Am 5. Februar 1991 wurde Wolfgang Fell, Präsident der IHK HalleDessau, in dieses Amt gewählt. Nach Schaffung der Länder traten die IHKn in Verhandlungen zur Bildung von Landesarbeitsgemeinschaften (LAG’n). Dabei wurden Themengebiete definiert, in denen sich eine IHK landespolitisch äußerte. Die Arbeitsgemeinschaften unterhielten keine eigenen Stäbe, sondern wurden von der jeweils fachlich federführenden Kammer vertreten. Dieser oblag es insbesondere, in entsprechenden Fragen den Kontakt zur Landesregierung herzustellen. Die Bildung von LAG’n beanspruchte einigen zeitlichen Vorlauf. Dies war zum einen der Tatsache geschuldet, dass der Stand ihrer eigenen Arbeitsfähigkeit es den Kammern noch nicht erlaubte, sich auf Themengebiete zu spezialisieren. Zum anderen durchlief auch die Landespolitik eine konstitutive Phase, in der parlamentarische Ausschüsse ihre Arbeit allmählich aufnahmen. 40
Ergebnisniederschrift der Sitzung der Kammerrechtskommission in Bonn vom 4. Oktober 1990. RWWA 181-1813-2.
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5. Strukturelle Merkmale und Entwicklungen
Kammervertreter konnten dort bei wirtschafts- und bildungspolitischen Fragen als Sachverständige gehört werden. In den meisten neuen Ländern wurden Arbeitsgemeinschaften zwischen 1991 und 1993 ins Leben gerufen.41 Die Verhandlungen konnten sich allerdings schwierig gestalten, wie das Beispiel Sachsen-Anhalt zeigt. Im Unterschied zu Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen und Sachsen gab es dort lediglich zwei IHKn. Ein Streit um den Ort der Hauptstadt hatte schon die Konstituierung des Landes selbst erschwert.42 Der erste Landtag hatte am 28. Oktober 1990 zugunsten von Magdeburg entschieden. Der ehemalige Sitz der preußischen Provinzialverwaltung setzte sich damit gegen Halle durch, das zwischen 1947 und 1952 Landeshauptstadt gewesen war. Gleichwohl konnte keine dieser Städte beanspruchen, alleiniges politisches, wirtschaftliches und kulturelles Zentrum des Landes zu sein. Dies trübte auch die Verhandlungen zur Zusammenarbeit der Kammern, in denen es darum ging, landesintern Federführerschaften festzulegen. Anlass zu Unstimmigkeiten war letztlich eine Absprache, wonach die IHK Magdeburg für die berufliche Bildung zuständig sein sollte.43 Wie sich im Zuge weiterer Verhandlungen herausstellte, interpretierten Hallenser und Magdeburger dies unterschiedlich: In Halle wollte man die Kompetenzen für die Berufsausbildung sowie für die Weiterbildung getrennt voneinander vergeben. Die Magdeburger Seite forderte mit Hinweis auf die Absprache das Recht, beide Bereiche zu bearbeiten. Schon grundsätzlich war Berufsausbildung eine bedeutende Kammeraufgabe, die vor dem Hintergrund der Privatisierung der Wirtschaft und des Mangels an betrieblichen Ausbildungsstellen weiter an politischem Gewicht gewann. Weiterbildung war demgegenüber keineswegs bedeutungslos: Auf dem Arbeitsmarkt vollzog sich eine tiefgreifende Umwälzung. Massenhafte Freisetzung von Arbeitskräften zwang viele Arbeitnehmer zu beruflicher Neuorientierung. Darüber hinaus musste auch die innerbetriebliche Qualifikation organisatorisch auf eine neue Grundlage gestellt werden. Das Engagement einzelner Kammern in der beruflichen Weiterbildung unterschied sich traditionell zwar stärker als bei der Berufsausbildung.44 Für das Land Sachsen-Anhalt, dessen südlicher Teil dicht besiedelt und großindustriell geprägt war, lag es gleichwohl auf der Hand, dass berufliche Weiterbildung besondere Relevanz haben sollte.45 41
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Schon früh kooperierten die Brandenburgischen Kammern auf Landesebene. Die LAG Brandenburg existiert seit 1991 (Hahn/Geiseler, Einhundert, S. 132). In Mecklenburg-Vorpommern, wo auch räumliche Zuständigkeiten zu klären waren, kam es am 31. März 1993 zur Gründung einer LAG. Mitteilung über die Gründung der LAG Mecklenburg-Vorpommern. RWWA 1812361-1. Vgl. Tullner, Geschichte, S. 108. Schriftwechsel der IHK Halle-Dessau und der IHK Magdeburg zur Bildung einer Landesarbeitsgemeinschaft in Sachsen-Anhalt. RWWA 181-1808-2. Weiterbildung war keine Pflichtaufgabe der Kammern, die hier im Wettbewerb zu anderen Trägern standen. Nicht nur für die alten, sondern auch für die neuen Bundesländer galt, dass die IHKn unterschiedliche Wege gingen. Vor allem größere Kammern in den neuen Ländern entschieden sich dazu, Weiterbildungszentren in Form eigener Tochtergesellschaften aufzubauen. Diederich/Haag/Cadel, Industrie- und Handelskammern, S. 109 f. Sachsen-Anhalt besaß zwischen 1991 und 1994 im Durchschnitt die höchste Arbeitslosenquote aller neuen Bundesländer. Im Arbeitsamtsbezirk Halle, der das unmittelbare Stadtgebiet umfas-
5.2 Überregionale Zusammenarbeit
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Sämtliche Kompetenzen für die berufliche Bildung zu bündeln, musste die dann zuständige IHK politisch stark aufwerten. Die Angelegenheit ließ sich dennoch nicht einvernehmlich klären, weshalb eine sachsen-anhaltinische Landesarbeitsgemeinschaft zunächst nicht zustande kam.46 Die Verhandlungen waren von der Frage überlagert worden, welche der beiden Kammern das Land im DIHTVorstand vertreten sollte. Turnusgemäß standen 1993 Wahlen für dieses Gremium an, das 1991 lediglich per Nachwahl erweitert worden war. Der Präsident und die Vizepräsidenten mussten ihre demokratische Legitimation erneuern. Schon im Vorfeld hatte eine Mehrheit der ostdeutschen Präsidenten dem Hallenser Fell ihre Unterstützung für die Wiederwahl als DIHT-Vizepräsidenten zugesichert.47 Für eine nochmalige Kandidatur Fells war es notwendig, dass dieser zugleich dem DIHTVorstand angehörte. Die Satzung des Dachverbands räumte gleichwohl jedem neuen Bundesland nur einen Sitz in diesem Gremium ein. Möglich war eine erneute Wahl Fells, weil die IHK Magdeburg auf ihren Anspruch verzichtete, Sachsen-Anhalt turnusmäßig im DIHT-Vorstand zu vertreten.48 Die Magdeburger mussten sich sogar für längere Zeit enthalten, da die Amtsperiode des Vizepräsidenten vier Jahre umfasste. In den Verhandlungen zur Bildung einer Landesarbeitsgemeinschaft war die Kompromissbereitschaft der IHK Magdeburg zweifellos getrübt worden, weil sich die Vorstandsfrage nicht zu ihren Gunsten lösen ließ. Die Tatsache, dass die IHK Halle-Dessau das Bundesland im DIHT-Vorstand vertrat, machte sie zu einem wichtigen Ansprechpartner der Landesregierung.49 Aus Magdeburger Sicht bildete ein starkes Mitspracherecht bei der beruflichen Bildung offenbar einen Ausgleich dafür, dass die Kammer ansonsten landespolitisch hinter Halle-Dessau würde zurückstehen müssen. Um die Rolle als politisch führende IHK wurde auch in anderen Bundesländern gerungen, wenn auch mit vergleichsweise geringerer Schärfe. In Sachsen z. B. hatte der Präsident der IHK Dresden das DIHT-Vorstandsmandat bis 1993 ausgeübt. Als die Leipziger Kammer einen Vorstoß unternahm, eine Kandidatur ihres Präsidenten für die darauffolgende Vorstandswahl anzumelden, kam aus der Landeshauptstadt nur eine verhaltene Erwiderung. Die Leipziger zeigten sich irritiert, da es auch in
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ste, lag die Arbeitslosigkeit deutlich unter dem Landesdurchschnitt. Der IHK-Bezirk HalleDessau umfasste unterdessen auch Gebiete, in denen die Arbeitslosenquote überdurchschnittlich hoch war. Bundesanstalt für Arbeit, Arbeitsstatistik 1994, S. 249; 251. Korrespondenz zwischen der IHK Halle-Dessau und der IHK Magdeburg. RWWA 181-1808-2. Protokoll der Beratung der Hauptgeschäftsführer und Präsidenten der ostdeutschen IHKn in Erfurt vom 28. Januar 1993. RWWA 181-2476-1. Zwischen Hallensern und Magdeburgern hatte eine Absprache bestanden, wonach eine der beiden Kammern das DIHT-Vorstandsmandat für jeweils zwei Jahre wahrnehmen sollte. Schreiben des Hauptgeschäftsführers der IHK Halle-Dessau an den DIHT-Hauptgeschäftsführer vom 4. Juni 1992. RWWA 181-1871-3. Dies entsprach voll und ganz den Vorstellungen des DIHT: In manchen alten Ländern gab es IHKn, die traditionell ein besonderes Gewicht bei der internen Meinungsbildung hatten. Vertreter sogenannter Vorortkammern sollten gemäß Satzung vorzugsweise in den Gremien des Dachverbands mitarbeiten.
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5. Strukturelle Merkmale und Entwicklungen
Sachsen eine Absprache zur Rotation gab.50 Eine dauerhafte Belastung des Arbeitsverhältnisses der sächsischen Kammern verursachte die Episode allerdings nicht. Der Leipziger Präsident Sommerlatt rückte wie vorgesehen in den DIHT-Vorstand auf.51 Die Bildung einer Landesarbeitsgemeinschaft in Sachsen-Anhalt konnte schließlich 1997 vollzogen werden. In diesem Jahr schied Fell aus dem Amt des DIHT-Vizepräsidenten. Seine Funktion übernahm Präsident Chrestensen aus Erfurt. Der Reprivatisierer konnte Erfahrungen auf politischer Spitzenebene vorweisen, die er u. a. als Teilnehmer der Kanzlerrunde gesammelt hatte. Zur Wahl als Vizepräsidenten verhalf ihm nicht zuletzt, dass er dort überzeugend für ostdeutsche Interessen eingetreten war. 5.3 RÜCKKEHR INS ZENTRUM: RÜCKGABE UND NEUBAU VON KAMMERGEBÄUDEN 5.3.1 Der Kampf um die Restitution enteigneter Gebäude Ungelöste Vermögensfragen galten nach der Wiedervereinigung als neuralgischer Punkt der ostdeutschen Wirtschaft; für die Kammern waren sie daher vor allem ein ordnungspolitisches Thema. Stetig bemängelten Positionspapiere und Erklärungen eine zu geringe Leistungsfähigkeit der Registerbürokratie, forderten eine konsequente Umsetzung von Regeln zum Investitionsvorrang und mahnten Nachbesserungen bestehender Gesetze an. Doch Vermögensfragen waren für die Kammern mehr als eine Grundsatzangelegenheit: Der SED-Staat hatte im Laufe der Vergangenheit nicht nur Unternehmer, sondern auch öffentliche Körperschaften entschädigungslos enteignet. Noch vor dem Ende der DDR hatten sich Kammervertreter an Ministerpräsident de Maizière gewandt und diesen gebeten, sich für eine Rückgabe früheren Eigentums einzusetzen.52 Hoffnungen, zumindest Immobilien schnell zurückzugewinnen, erfüllten sich allerdings nicht – obwohl die IHKn klarmachten, dass ihr Bedarf an Räumlichkeiten wegen erweiterter Zuständigkeiten gewachsen war. Das öffentliche Interesse, diese Aufgaben effektiv zu erfüllen, war erheblich. Eine Sonderregelung mit Bezug auf Kammergebäude ließ sich gleichwohl nicht erwirken. Dies lag nicht zuletzt daran, dass Eigentumsfragen fest in die Verhandlungen zur Deutschen Einheit eingebettet waren. Ein Lagebild, das der DIHT im Mai 1991 erstellte, zeigte, dass es nur wenige Kammern gab, die die Problematik „offene Vermögensfragen“ nicht auch unmittel50 51 52
Schreiben des Hauptgeschäftsführers der IHK Leipzig an den DIHT-Hauptgeschäftsführer vom 19. Januar 1993. RWWA 181-1808-2. Von Ambitionen auf das Amt des DIHT-Vizepräsidenten nahm der Leipziger Reprivatisierer allerdings Abstand, sobald eine erneute Kandidatur Fells feststand. Der Leiter der DIHT-Verbindungsstelle in Berlin-Ost Fischer nahm in einem Brief an den Ministerpräsidenten Bezug auf entsprechende Bittschreiben, mit denen mehrere IHKn bereits bei der Regierung der DDR vorstellig geworden waren. Schreiben des Leiters der DIHT-Verbindungsstelle in Berlin-Ost an den Ministerpräsidenten der DDR vom 23. Juli 1990. RWWA 181-2474-3.
5.3 Rückkehr ins Zentrum: Rückgabe und Neubau von Kammergebäuden
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bar beschäftigte.53 Einigen IHKn war es bereits gelungen, Ergebnisse in Verhandlungen mit den Behörden vor Ort zu erzielen. In Chemnitz sowie in Halle waren ehemalige Kammersitze so frühzeitig wieder in den Besitz der jeweiligen IHK gelangt.54 Andere Kammern hatten sich vergeblich bemüht. Die IHK Frankfurt an der Oder z. B. rang um eine Rückübertragung zweier Liegenschaften, die der ehemaligen IHK des Bezirks gehört hatten.55 Eines der Grundstücke war in eine Gesamtbebauung eingefügt worden, die polizeilich genutzt wurde. Das Innenministerium der DDR hatte im Sommer 1990 erklärt, dass eine Rückgabe wegen einer drohenden Einschränkung polizeilicher Dienste nicht möglich sei.56 Das Ministerium hatte darüber hinaus auf die Zuständigkeit der künftigen Landesregierung verwiesen. Tatsächlich schien sich die Verhandlungsposition der Kammern mit der Wiedervereinigung grundlegend zu bessern; Ansprüche ließen sich nun juristisch fundiert vorbringen: Art. 21 EV bestimmte, dass Vermögen, das spezifischen Verwaltungszwecken gedient hatte, an „denjenigen Träger öffentlicher Verwaltung“ übertragen werden musste, der „nach dem Grundgesetz für die Verwaltungsaufgabe zuständig“57 wurde. Auch Verwaltungsvermögen, das Körperschaften öffentlichen Rechts entzogen worden war, fiel unter diese Regelung. Es sollte „an diese Körperschaft oder ihre Rechtsnachfolgerin“58 zurückübertragen werden. Etwaige Ansprüche waren auch dann nicht ausgeschlossen, wenn eine Immobilie keinem Verwaltungszweck mehr diente. Auf Grundlage des Vermögensgesetzes konnten natürliche und „juristische Personen […] sowie deren Rechtsnachfolger“59 eine Restitution fordern, wenn Eigentum entschädigungslos bzw. gegen eine zu geringe Entschädigung in Volkseigentum überführt worden war. Die Kammern werteten die im Einigungsvertrag sowie im Vermögensgesetz enthaltenen Regelungen als Bestätigung ihrer Versuche, ehemaliges Kammervermögen zurückzuerlangen. Rechtsansprüche durchzusetzen, gestaltete sich gleichwohl komplizierter, als auf den ersten Blick zu vermuten gewesen war. Die Frage, welche Stelle für einen 53 54
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Die IHKn Neubrandenburg und Potsdam machten keine Ansprüche geltend. Aus Suhl und Schwerin lagen dem DIHT keine Angaben vor. Handschriftliche tabellarische Übersicht zu IHK-Rückführungsansprüchen, Stand ca. Juni 1991. RWWA 181-2476-1. Das Hallenser Kammergebäude am Georg-Schumann-Platz hatte bis 1990 die Kreisleitung der SED beherbergt. Als große Teile des SED-Parteiapparats aufgelöst wurden, griff die IHK die Gelegenheit beim Schopf und bewog die Stadt dazu, der Kammer das Gebäude zu überlassen. Das Chemnitzer IHK-Gebäude in der Straße der Nationen war nach seiner Enteignung vom Rat des Bezirks genutzt worden. Noch vor der Wiedervereinigung nahm die IHK ein Angebot zum Kauf der Immobilie wahr. Als erste IHK hatten sich die Frankfurter am 10. Juli 1990 an den Ministerpräsidenten der DDR gewandt. Spätere Schreiben richteten sie an die Frankfurter Stadtverwaltung sowie an die Treuhandanstalt. Schriftverkehr der IHK Frankfurt an der Oder bzgl. der Rückführung ehemaligen Kammereigentums. RWWA 181-2474-3. Schreiben des Leiters der Abteilung Versorgungsdienst im Ministerium des Inneren der DDR an die IHK Frankfurt an der Oder vom 30. August 1990. RWWA 181-2474-3. Art. 21, Abs. 2 EV. In: BGBl. II, 1990, S. 895. Ebd. Art. 21, Abs. 3. § 2 des Gesetzes zur Regelung offener Vermögensfragen (Vermögensgesetz). Fortgeltendes Recht der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik gemäß Anlage II Kapitel III Sachgebiet B Abschnitt I Nr. 5 nach Maßgabe des Art. 9 EV. In: BGBl. II, 1990, S. 885–2141; 1159.
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5. Strukturelle Merkmale und Entwicklungen
Restitutionsantrag zuständig war, konnte z. B. nur im Einzelfall beantwortet werden. Art. 21 EV bezog sich auf Verwaltungsvermögen; Ansprüche auf seiner Grundlage waren im Vermögenszuordnungsgesetz (VZOG) geregelt. Zuständig waren hiernach zumeist die Oberfinanzdirektionen – in Ausnahmefällen allerdings auch die Treuhandanstalt, da Teile des Verwaltungsvermögens der DDR keiner Gebietskörperschaft, sondern der staatlichen Privatisierungsagentur zugeordnet worden waren.60 Anträge nach dem Vermögensgesetz waren an das jeweilige Amt zur Regelung offener Vermögensfragen zu richten. Kammereigentum war in der DDR nicht per Generalerlass, sondern in der Regel nach Beschlüssen lokaler Räte enteignet worden. Es erforderte daher einige Recherchearbeit, um Restitutionsansprüche geltend zu machen. Die Eigentumsgeschichte jeder in Betracht kommenden Immobilie war eingehend zu prüfen. Die IHKn waren freilich auch nach der Wiedervereinigung von politischem Wohlwollen abhängig, wenn sie ihre Ansprüche durchsetzen wollten – und dieses schien ihnen nicht überall gewährt zu werden: In Bezug auf die von ihr beanspruchte Liegenschaft wurde die Frankfurter Kammer im Frühjahr 1991 bei der Landesregierung vorstellig. Das brandenburgische Finanzministerium reagierte hierauf mit einer abschlägigen Stellungnahme. Das Ministerium ging kurz auf die bereits bekannten Sachzwänge ein und legte darüber hinaus dar, man werde bei der Kammer „Verständnis dafür haben, daß die Nutzung landeseigener Liegenschaften vordringlich zur Unterbringung von Einrichtungen des Landes genutzt werden“61 müssten. Weitere Hilfe bei der Klärung der Grundstücksangelegenheit stellte das Ministerium nicht in Aussicht. Auf Wunsch der Frankfurter Kammer schaltete sich DIHT-Hauptgeschäftsführer Schoser persönlich in die Verhandlungen mit dem Land ein.62 Doch auch Schoser konnte im Gespräch mit dem brandenburgischen Ministerpräsidenten Stolpe keine Restitution erwirken. Als Hauptniederlassung erwarb die IHK 1991 ein Gebäude in der Frankfurter Humboldtstraße.63 Eine Restitution auf Grundlage von Art. 21 EV hatte zu diesem Zeitpunkt noch keine IHK in den neuen Ländern durchgesetzt. Die Oberfinanzdirektionen hatten Zuordnungsbescheide lediglich über Gebäude versandt, die bereits von der HGK des Bezirks genutzt worden waren.64 Anträge auf Restitution schienen sich demgegenüber im Behördengang zu verirren. In einem Meinungsaustausch mit den IHKn schlug der DIHT daher vor, einen Musterprozess anzustrengen, um die ins Stocken geratenen Restitutionsver60
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Namentlich betraf dies DDR-Verwaltungsvermögen, das von Parteiorganisationen sowie vom MfS bzw. ihrer kurzlebigen Nachfolgeorganisation „Amt für Nationale Sicherheit“ genutzt worden war. Gesetz über die Feststellung der Zuordnung von ehemals volkseigenem Vermögen (Vermögenszuordnungsgesetz – VZOG). In: BGBl. I, 1991, S. 784 ff. Schreiben des Ministeriums der Finanzen des Landes Brandenburg an die IHK Frankfurt an der Oder vom 3. April 1991. RWWA 181-2474-3. Schreiben der IHK Frankfurt an der Oder an den Leiter der DIHT-Verbindungsstelle Berlin zum Stand der Vermögensrückübertragung vom 30. Mai 1991. RWWA 181-2474-3. Flemming/Ulrich, Wirtschaft, S. 34. Dies geschah u. a. in Cottbus, Gera und Magdeburg. Protokoll der ersten Sitzung des Arbeitskreises „IHK-Rückführungsansprüche“ in der IHK Halle-Dessau vom 18. Dezember 1991. RWWA 181-2476-1.
5.3 Rückkehr ins Zentrum: Rückgabe und Neubau von Kammergebäuden
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fahren wieder in Gang zu bringen.65 Zuvor hatte das BMJ auf Anfrage des Dachverbands wissen lassen, dass es die ostdeutschen IHKn in der Rechtsnachfolge der früheren DDR-Länderkammern sah.66 Auch ein internes Rechtsgutachten des DIHT ging von guten Chancen einer Klage aus. Es stützte einen Anspruch ostdeutscher IHKn auf ehemaliges Kammervermögen zusätzlich zu den Bestimmungen des Einigungsvertrags auf Art. 135 Abs. 2 GG.67 Hiernach stand Verwaltungsvermögen nicht mehr bestehender Länder bzw. Anstalten und Körperschaften öffentlichen Rechts demjenigen Land bzw. derjenigen Anstalt oder Körperschaft zu, die die Aufgabe erfüllte, die der ursprünglichen Zweckbestimmung des Vermögens entsprach. Das Rechtsgutachten des DIHT ging auf ein gravierendes Problem ein: Nach Art. 135 GG war nicht der Übergang von Rechten, sondern der von Funktionen ausschlaggebend, um Ansprüche auf das Vermögen früherer Kammerorganisationen zu begründen. Diese Rechtsauffassung bestand gleichwohl nur in der Theorie, da die Normen mit konkretem Bezug auf die Wiedervereinigung – Art. 21 Abs. 3 EV sowie § 2 des Vermögensgesetzes – Ansprüche vom Begriff der Rechtsnachfolge abhängig machten. Eine Mehrheit der IHKn betrachtete einen Gang vor die Justiz daher mit Skepsis und favorisierte weiterhin Verhandlungen. Falls sich die Position des DIHT vor Gericht nicht bewährte, lag die Beweislast in puncto Rechtsnachfolge bei den Kammern. En détail war sogar ihnen kaum bekannt, in welchen rechtlichen Verhältnissen Vorgängerorganisationen zueinander gestanden hatten. Die ostdeutschen Hauptgeschäftsführer beschlossen daher, einen Arbeitskreis einzurichten, um Wissenslücken in Bezug auf die Rechtsgeschichte zu schließen.68 Der Justiziar der IHK Halle-Dessau leitete eine Arbeitsgruppe, um die Ansprüche der Kammern zu dokumentieren. In weiteren Verhandlungen mit den Behörden sollte sie als Argumentationshilfe zum Einsatz kommen. Ersten Ergebnissen dieses Gremiums nach, war bei Umbrüchen im DDR-Kammerwesen des Öfteren darauf verzichtet worden, Regelungen zur Gesamtnachfolge zu treffen. Der Arbeitskreis Rückführungsansprüche hatte sich soeben konstituiert, als eintrat, was seit längerem in der Luft gelegen hatte: Im Dezember 1991 erhielt erstmals eine IHK in einem Restitutionsverfahren einen abschlägigen Bescheid. Die Oberfinanzdirektion Erfurt versagte der IHK Gera die Zuordnung einer Immobilie in der Geraer Clara-Zetkin-Straße.69 Es handelte sich um eine Fabrikantenvilla, die bis zum Zweiten Weltkrieg Hauptsitz der Kammer gewesen war.70 Der Bescheid ordnete das Gebäude dem Bund zu, der nach Ansicht der Oberfinanzdirek65 66 67 68 69 70
Vermerk zum Meinungsaustausch mit den Kammern in den neuen Ländern vom 28. Juni 1991. RWWA 181-1886-3. Dem Ansinnen, die Position der Kammern durch gesetzgeberische Schritte zu unterstützen, erteilte das Ministerium mit dieser Begründung allerdings eine Absage. Ebd. Internes Rechtsgutachten zur Rückgabe des Verwaltungsvermögens der DDR an die IHKn in den NBL. RWWA 181-2476-1. Protokoll zur Beratung des Leiters der DIHT-Verbindungsstelle Berlin mit den Hauptgeschäftsführern der neuen Bundesländer vom 21. November 1991. RWWA 181-1808-2. Protokoll der dritten Sitzung des Arbeitskreises IHK-Rückführungsansprüche vom 26. März 1992. RWWA 181-2476-1. Seela, Industrie- und Handelskammer, S. 174 f.
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tion rechtmäßiger Eigentümer gemäß VZOG war. In ihrer Begründung verwarf die Behörde einen Restitutionsanspruch nach Art. 21 EV. Grundbuchauszüge, die die Kammer vorgelegt hatte, belegten, dass die Gauwirtschaftskammer Thüringen am 14. Juli 1944 Eigentümer der Immobilie gewesen war. In ihrem Antrag auf Zuordnung hatte die IHK mit ihrer Funktionsnachfolgerschaft im Sinne von Art. 135 GG argumentiert. Die Behörde wies dies als gegenstandslos zurück und bezog sich ihrerseits auf den Begriff der Rechtsnachfolge, der gemäß Art. 21 Abs. 3 EV maßgeblich sei. Eine Rückübertragung habe abgelehnt werden müssen, da die Eigentumsrechte der Gauwirtschaftskammer nicht auf die 1953 errichtete IHK der DDR übergegangen seien. Der Bescheid der Oberfinanzdirektion Erfurt drohte nicht nur in Gera, sondern auch in zahlreichen anderen Städten eine Restitution ehemaliger Kammergebäude zu vereiteln. Schon im November hatte es erste Anzeichen gegeben, dass eine verwaltungsgerichtliche Auseinandersetzung unumgänglich werden würde. Die IHK Leipzig hatte erfahren, dass sich auch das BMF weigerte, eine Rechtsnachfolgerschaft der Kammern anzuerkennen.71 Die Geraer klagten daher in enger Rücksprache mit dem Arbeitskreis Rückführungsansprüche gegen den Zuordnungsbescheid. Der Prozess war durchaus mit Unsicherheiten behaftet, nicht nur, weil einem Urteil exemplarische Bedeutung zukommen konnte. Der Rechtsvertreter der IHK Gera hatte zwar Hinweise dafür entdeckt, wonach die unter sowjetischer Besatzung eingerichtete Thüringer Landes-IHK Eigentümerin von Vermögenswerten der Gauwirtschaftskammer geworden war.72 Vor Gericht wollte sich die Kammer hierauf gleichwohl nicht verlassen und argumentierte weiterhin, dass eine Funktionsnachfolge im Sinne von Art. 135 GG für einen Anspruch nach Art. 21 Abs. 3 EV hinreichend sei. Der Arbeitskreis Rückführungsansprüche unterstützte die IHK und beschloss, externe Expertise einzuholen. Ein Rechtsgutachten sollte die Forderungen ostdeutscher Kammern auf ihre Rechtmäßigkeit hin untersuchen.73 Auch der DIHT beteiligte sich an den Kosten.74 Aus Sicht der IHKn kam die Prüfung zu einem Ergebnis, das mit Abstrichen positiv war: Das Gutachten verwarf Art. 135 Abs. 2 GG als Grundlage für Restitutionsansprüche. Es betonte außerdem, dass eine Rechtsnachfolge der Gauwirtschaftskammern durch die Kammern in der SBZ im Einzelnen nicht nachweisbar war.75 Nichtsdestoweniger hätten die IHKn „in erheblichem Umfang Ansprüche auf Zurückübertragung von Vermögenswerten gemäß Art. 21 Abs. 3 EV bzw. § 3 71 72 73 74 75
Schreiben des Hauptgeschäftsführers der IHK Leipzig an Bundesfinanzminister Waigel vom 19. November 1991. RWWA 181-1808-2. Protokoll der dritten Sitzung des Arbeitskreises IHK-Rückführungsansprüche vom 26. März 1992. RWWA 181-2476-1. Protokoll der vierten Sitzung des Arbeitskreises IHK-Rückführungsansprüche vom 27. Mai 1992. RWWA 181-2476-1. Der Leipziger Ordinarius für öffentliches Recht, Karl Bönninger, erhielt hierzu den Auftrag, ein Gutachten abzufassen. Bönninger, Karl: Gutachten zur Frage der Rechtsnachfolgerschaft ostdeutscher IHKn, o. O. 1992. RWWA 181-2476-1. Auch das bundesdeutsche IHKG von 1956 enthielt keine Bestimmung zur Rechtsnachfolge der Gauwirtschaftskammern. Hierfür hatte man keinen Regelungsbedarf gesehen, da Vermögensfragen schon zuvor im Sinne der Kammern geklärt worden waren. Lediglich das vor dem
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Abs. 1 VermG.“76 Die IHKn waren 1990 noch in der DDR gegründet worden und hatten die Gesamtnachfolge der HGKn angetreten. Hierin sah das Gutachten ein maßgebliches Kriterium für Restitutionsansprüche: Die Kammern könnten Vermögenswerte zurückfordern, die 1958 im Zuge der Auflösung der IHK der DDR in Volkseigentum überführt wurden, aber in der Rechtsträgerschaft der IHKn der Bezirke verblieben. Insbesondere könnten Ansprüche auf Objekte erhoben werden, die nach 1958 im Wege eines Rechtsträgerwechsels auf andere Organisationen übertragen worden waren. Die Ergebnisse des Gutachtens lagen Anfang 1993 vor. Sie waren nicht zuletzt ein Lichtblick, weil das Verfahren zwischen der IHK Gera und der Oberfinanzdirektion Erfurt keine Fortschritte gemacht hatte. Stillstand herrschte in nahezu sämtlichen Verfahren, da das BMF auch andere Oberfinanzdirektionen über den Rechtsstreit in Kenntnis gesetzt hatte. Die IHKn rechneten vor diesem Hintergrund mit keinen Entscheidungen, die der Position des BMF zuwiderliefen.77 Eine staatliche Ebene hatte sich die Auffassung des Finanzministeriums allerdings nicht zu eigen gemacht und interpretierte die herrschende Rechtslage anders. Die IHK Rostock erhob Restitutionsansprüche auf zwei Liegenschaften in der Ernst-BarlachStraße, die zu Beginn der 1950er Jahre enteignet worden waren. Eines der benachbarten Grundstücke war nach seiner Enteignung auf die SED-Organisation „Fundament“ übertragen worden. Nach der Wiedervereinigung war es infolgedessen in den Besitz der Treuhandanstalt übergegangen. Die Treuhandanstalt wies die Immobilie mit Wirkung vom 16. Oktober 1992 der IHK Rostock zu.78 Das zweite Grundstück war nach seiner Enteignung anderweitig genutzt worden und gelangte später in den Besitz des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Die zuständige Oberfinanzdirektion signalisierte frühzeitig, in der Restitutionsfrage an die Rechtsauffassung des BMF gebunden zu sein.79 Demnach erkenne man eine Rechtsnachfolgerschaft der IHKn weder für die ehemalige Landeskammer noch für die IHK der DDR an. Da man der Kammer aber helfen wolle, bot die Behörde das Gebäude zum Kauf bzw. zur Miete an – parallele Verfahren hatten auf Grundlage nahezu identischer Sachverhalte somit unterschiedliche Resultate gezeitigt. Die IHKn beließen es nicht bei der Erstellung eines Gutachtens. Noch bevor die Ergebnisse feststanden, hatte der Arbeitskreis Rückführungsansprüche befunden, dass die Kammern auch politisch Initiative ergreifen mussten. Dass dies nötig war, zeigte sich spätestens im Herbst 1993 – allerdings nicht weil es im Prozess der
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IHKG entstandene schleswig-holsteinische Kammergesetz hatte die Kammern in seinem Geltungsbereich zu Rechtsnachfolgern der Gauwirtschaftskammern erklärt. Bönninger, Gutachten, S. 54. Protokoll der dritten Sitzung des Arbeitskreises IHK-Rückführungsansprüche vom 26. März 1992. RWWA 181-2476-1. Schreiben der IHK Rostock an den Justitiar des DIHT vom 2. Dezember 1992. RWWA 1812476-1. Die Entscheidung der Treuhandanstalt hatte nach Informationen der IHK Rostock im BMF für Missfallen gesorgt; gegenüber dem DIHT äußerte die Kammer aus diesem Grund ihre Vermutung, dass das Ministerium die Treuhandanstalt bald auf eine einheitliche Rechtsauffassung einschwören würde. Ebd.
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IHK Gera gegen die Oberfinanzdirektion Erfurt zu einem Urteil gekommen war.80 Mit dem ersten Entwurf des Registerverfahrensbeschleunigungsgesetzes (RegVBG) schien sich eine völlig neue Situation zu ergeben. Die wirtschaftspolitische Intention des Gesetzes bestand darin, bessere Grundlagen für die Regelung der Eigentumsverhältnisse zu schaffen. Mit ihm sollten das Grundbuchverfahren sowie die Führung weiterer maßgebender Register des Wirtschaftsverkehrs vereinfacht und beschleunigt werden. In diesem Punkt stieß das RegVBG auf die ungeteilte Zustimmung der Kammern, die entsprechende Bestimmungen selbst wiederholt gefordert hatten. Eine Änderung des VZOG, die im Entwurf ebenfalls vorgesehen war, versetzte die Kammern dagegen in hektische Betriebsamkeit. Neben einer Beschleunigung von Registerverfahren beabsichtigte der Entwurf, eine größere Zahl ehemals volkseigener Grundstücke für den Wirtschaftsverkehr freizugeben. U. a. sollte hierfür ein Abschnitt ins VZOG aufgenommen werden, der die Restitutionsansprüche öffentlicher Körperschaften gemäß Art. 21 und 22 EV konkretisierte. Er enthielt eine Reihe von Tatbeständen, unter denen eine Restitution ausgeschlossen werden sollte.81 Der Entwurf des RegVBG drohte die Ansprüche der Kammern mit einem Schlage zunichte zu machen. Auf einer kurzfristig einberufenen Sondersitzung berieten die Kammervertreter daher, wie die geplanten Änderungen abgewendet werden konnten.82 Sie riefen alle betroffenen IHKn auf, sich auf Ebene der Wahlkreise mit den Bundestagsabgeordneten in Verbindung zu setzen und den Parlamentariern die Folgen aufzuzeigen, die den IHKn als regionalen Wirtschaftsvertretungen drohten. Nach einhelliger Ansicht im Arbeitskreis Rückführungsansprüche sollte außerdem der DIHT als politische Speerspitze wirken. Sowohl gegenüber dem federführenden Justizministerium als auch gegenüber dem Rechtsausschuss des Bundestages sollte der Dachverband die Standpunkte der Kammerorganisation darlegen. Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger hatte erst wenige 80 81
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Lediglich die Zahl anhängiger Gerichtsverfahren war gestiegen, da nun auch die IHKn in Berlin, Dresden, Südwestsachsen und Rostock gegen abschlägige Zuordnungsbescheide klagten. Im Einzelnen sollte eine Restitution ausgeschlossen werden, wenn erstens ein Vermögensgegenstand im Moment der Antragstellung bereits für öffentliche Aufgaben verwendet wurde und eine Rückübertragung „nicht ohne erhebliche Beeinträchtigung dieser Aufgabe“ möglich war; zweitens ein Vermögensgegenstand „im komplexen Siedlungs- oder Wohnungsbau“ verwendet wurde bzw. eine solche Verwendung geplant war; drittens ein Vermögensgegenstand einer gewerblichen Nutzung zugeführt worden war bzw. Teil eines Unternehmens war und eine Rückübertragung eine „erhebliche Beeinträchtigung des Unternehmens“ nach sich zog. Viertens sollte eine Restitution ausgeschlossen werden, wenn eine „erlaubte Maßnahme“ vorlag. Hierunter subsumierte das Gesetz Investitionspläne, die bestimmten öffentlichen bzw. privatwirtschaftlichen Zwecken dienten. Konkret reichten diese vom Bau von Infrastruktur über die Schaffung von Arbeitsplätzen bis hin zur Sanierung von Unternehmen. Insgesamt lag damit ein Tatbestandskatalog vor, der an und für sich bereits weit gefasst war. Zahlreiche unbestimmte Rechtsbegriffe ermöglichten überdies erhebliche Auslegungsspielräume – in der Tat kam dies einem politischen Frontalangriff gegen die Rückgabeansprüche der IHKn gleich. Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung und Beschleunigung registerrechtlicher und anderer Verfahren (Registerverfahrenbeschleunigungsgesetz – RegVBG). BT-Drs. 12/5553, S. 40. Protokoll zur sechsten Sitzung des Arbeitskreises IHK-Rückführungsansprüche am 14. Oktober 1993 in Bonn. RWWA 181-2476-1.
5.3 Rückkehr ins Zentrum: Rückgabe und Neubau von Kammergebäuden
235
Tage vor der Krisensitzung für Verblüffung unter den IHKn gesorgt. In einem Schreiben an die sächsischen IHKn, das auch dem DIHT vorlag, nahm sie Stellung zur geplanten Änderung des VZOG. Das Schreiben legte nahe, dass die Ministerin die in Art. 21 und 22 EV gewährten Restitutionsansprüche exklusiv auf Gebietskörperschaften bezog und die Forderungen der Kammern somit grundsätzlich nicht als rechtmäßig anerkannte.83 Der DIHT wandte sich an den Rechtsausschuss des Bundestages und legte eine Stellungnahme zum Entwurf des RegVBG vor. Hierin unterbreitete der Dachverband u. a. den Vorschlag, die Ausschlusstatbestände im VZOG nicht auf die Restitutionsansprüche öffentlich-rechtlicher Körperschaften bzw. Anstalten anzuwenden. Ebenfalls trat der DIHT dafür ein, das Problem der Rechtsnachfolge im Sinne einer Funktionsnachfolge zu lösen.84 Nach Informationen der IHK Leipzig sahen sich ostdeutsche Abgeordnete, die die Vorschläge in der darauffolgenden Beratung aufgriffen, dem Missfallen von Mitgliedern der FDP ausgesetzt.85 Die mutmaßlich ablehnende Haltung der Freien Demokraten lieferte DIHT-Hauptgeschäftsführer Schoser einen weiteren Anlass, sich direkt an Justizministerin LeutheusserSchnarrenberger zu wenden. Er äußerte sich enttäuscht über die Antwort, in der sich die Ministerin zu den Einwänden geäußert hatte, die die sächsischen IHKn in Bezug auf den Entwurf des RegVGB gemacht hatten.86 Schoser deutete an, das BMJ folge dabei einer Linie des BMF, das stets gegen eine Rückübertragung von Verwaltungsvermögen an die IHKn gewesen sei. Fragliche Grundstücke müssten dann nämlich ihren aktuellen Nutzern – in der Regel seien dies Länder und Kommunen – entzogen werden. Das Finanzministerium vertrete die Ansicht, dass hierdurch „eine erhebliche politische Unruhe ausgelöst werde“87. Ein derartiges Bedenken dürfe die Rechtsansprüche der Kammern nicht abwehren. Schoser kündigte an, der DIHT werde Verfassungsbeschwerde einlegen, sollte sich das BMJ einer Restitution früheren Kammereigentums entgegenstellen. Er tat dies auch vor dem Hintergrund eines laufenden Rechtsstreits zwischen dem Land Brandenburg und dem Bund, in dem es um die Zuordnung des sogenannten Preußenvermögens ging.88 In diesem Zusammenhang hatte das Land ein Rechtsgutachten erstellen lassen, das verfassungsrechtliche Zweifel an einer Vermögenszu83 84 85 86 87 88
Interner Vermerk des DIHT zu den Rückübertragungsansprüchen der ostdeutschen Kammern vom 12. Oktober 1993. RWWA 181-2476-1. Stellungnahme des DIHT an die Abgeordneten des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages zum Gesetz zur Vereinfachung und Beschleunigung registerrechtlicher und anderer Verfahren (BT-Drs. 12/5553) vom 25. Oktober 1993. RWWA 181-2476-1. Vermerk über Informationen der IHK Leipzig zur Rückgabe ehemaligen Kammervermögens. RWWA 181-2476-1. Schreiben des DIHT-Hauptgeschäftsführers an die Bundesministerin der Justiz LeutheusserSchnarrenberger vom 8. November 1993. RWWA 181-2476-1. Ebd. Der Einigungsvertrag hatte den Bund zum Eigentümer des Vermögens des früheren Landes Preußen erklärt. Das Land Brandenburg gab sich mit dieser Regelung nicht zufrieden und verwickelte den Bund in einen mehrjährigen Rechtsstreit, der 1999 mit der sogenannten Preußenvereinbarung beigelegt wurde. Der Bund verpflichtete sich darin, den ostdeutschen Ländern das ehemals preußische land- und forstwirtschaftliche Vermögen unentgeltlich zu übertragen.
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5. Strukturelle Merkmale und Entwicklungen
ordnung gemäß Art. 21 und 22 EV aufkommen ließ, sofern diese – u. a. – Art. 135 GG zuwiderlief.89 Die Ministerin reagierte innerhalb von 14 Tagen; sie habe auf die Vorschläge der IHKn Chemnitz, Dresden und Leipzig seinerzeit nicht eingehen können. Mit diesem Ergebnis habe sie sich gleichwohl nicht abgefunden und darauf hingewirkt, dass der Begriff „Körperschaft“ in Art. 21 Abs. 3 EV nicht eingeschränkt worden sei. In das VZOG habe man außerdem eine Regelung aufgenommen, wonach „Rechtsnachfolge“ in der Bestimmung des Einigungsvertrags als „Funktionsnachfolge“ zu lesen sei.90 Dies kam einer Kehrtwende des BMJ gleich. Der Bundestag verabschiedete das RegVBG in revidierter Fassung am 26. November 1993. Die FDP-Bundestagsfraktion verwahrte sich im Nachhinein gegen das Gerücht, sie habe im Rechtsausschuss einen Standpunkt vertreten, der den Restitutionsansprüchen der IHKn zuwidergelaufen sei.91 5.3.2 Neubau von Kammergebäuden Unter dem Strich lohnte sich der Kampf um die Rückübertragung von Kammereigentum. Der IHK Rostock wurde die Liegenschaft Ernst-Barlach-Straße, die ihr zunächst vorenthalten worden war, im März 1994 zugesprochen.92 Die IHK erhielt damit ihren historischen Dienstsitz zurück. Ein bezugsfertiges Gebäude erhielt sie freilich nicht. Wie auch für andere Kammern war eine Rückkehr an die alte Wirkungsstätte eine Angelegenheit von vor allem symbolischer Bedeutung. In vielen ostdeutschen Städten hatten kaufmännische Interessenvertretungen eine lange Tradition, die oft mit einem Quartier in zentraler Lage verbunden war.93 Nicht immer konnten die IHKn ihre Forderungen allerdings durchsetzen. Die Geraer z. B. erhielten ihren Dienstsitz der Weimarer Zeit nicht zurück. Er war unter Umständen abhandengekommen, an denen eine Restitution letztlich scheiterte. Bis 1998 nutzte das Geraer Grundbuchamt die denkmalgeschützte Gründerzeitvilla, die in der darauffolgenden Zeit leer stand und verfiel. Die unübersichtlichen Eigentumsverhältnisse, die die ostdeutschen Städte bis zur Mitte der 1990er Jahre kennzeichneten, hatten viele IHKn gezwungen, nach Übergangslösungen zu suchen, um ihre steigende Zahl an Mitarbeitern unterzubringen. In mehreren Fällen kauften IHKn Gebäude, die ihnen als Zwischendomizil dienten bzw. mieteten zusätzlichen Büroraum an. Nicht selten führte dies dazu, dass einzelne Fachabteilungen separat einquartiert wurden. Umfassende Gebäudesanie89 90 91 92 93
Mußgnug, Rechtsgutachten, S. 15–24. Antwort der Bundesministerin der Justiz Leutheusser-Schnarrenberger an den DIHT-Hauptgeschäftsführer. RWWA 181-2476-1. Schriftwechsel zwischen dem DIHT-Hauptgeschäftsführer und dem FDP-Fraktionsvorsitzenden Hermann Otto Solms vom Dezember 1993. RWWA 181-2476-1. Sasnowski/Sawatzki/Schmidt, IHK Rostock, S. 314. Geschichtsträchtig war beispielsweise der Sitz der Magdeburger IHK am Alter Markt. An gleicher Stelle hatte bereits im Mittelalter die Gewandschneider-Innung die Interessen lokaler Tuchhändler vertreten. Im später errichteten Kammergebäude war zur Zeit des Sozialismus u. a. ein Kinosaal untergebracht. 1990 hielt dies die IHK-Vollversammlung nicht davon ab, sich für eine Eigennutzung auszusprechen und den erforderlichen Umbau des Gebäudes parallel zum organisatorischen Aufbau der Kammer einzuleiten. Beier/Wenzel, Tradition, S. 335 ff.
5.4 Industrie- und Handelskammern als Träger kultureller Einrichtungen
237
rungen und technische Modernisierungen wurden oft zurückgestellt, da eine langfristige Nutzung bei vielen Objekten nicht vorgesehen war. Dies führte auch dazu, dass manche IHK in ihrer Stadt regelrecht umherwanderte: Die IHK Schwerin etwa zog innerhalb weniger Jahre sechs Mal um.94 Eine grundlegende Besserung der Unterbringungssituation zeichnete sich ab, als Restitutionsfragen geklärt waren und sich der ostdeutsche Immobilienmarkt normalisierte. Alle IHKn realisierten in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre umfassende Bauprojekte. Für einige Kammern, die über kein historisches Gebäude mehr verfügten, kam letzten Endes nur ein Neubau in Frage.95 Im Hinblick auf Kosten und Aufwand stand aber auch die grundlegende Sanierung und Erweiterung historischer Gebäude einem Neubau oft in nichts nach. Auch Kammern, die keine Restitutionsansprüche durchsetzen konnten – ob aus rechtlichen Gründen oder weil es an ihrem Sitz keine historische Kammer gegeben hatte –, bauten neue Gebäude, nachdem sie die erste Phase ihres Aufbaus gemeistert hatten. Die Einweihung der neuen Kammersitze war in vielen IHKn Anlass für einen Festakt. In zahlreichen ostdeutschen Städten zählte die IHK nun wieder zu den markanten Punkten des Stadtbildes. Dies unterstrich auch die gesellschaftliche Stellung, die der IHK wieder zukam, nachdem freies Unternehmertum über Jahrzehnte staatlichen Einschränkungen unterworfen gewesen war. 5.4 INDUSTRIE- UND HANDELSKAMMERN ALS TRÄGER KULTURELLER EINRICHTUNGEN Institutionen prägen Leitbilder, etablieren Symbole und festigen soziale Normen, denen Akteure wertemäßig verbunden sind. Dieser universelle Zusammenhang von Institutionen und Werten ermöglicht die Legitimation der einen und die Identifikation der anderen. Auf ihm gründet Eisens Kritik daran, dass westdeutsche Institutionen im Zuge der deutschen Wiedervereinigung auf die DDR bzw. die neuen Bundesländer übertragen wurden.96 Die ostdeutsche Bevölkerung sei „sozio-kulturell“ durch das politisch-administrative System der DDR geprägt worden. Mithin habe man lediglich institutionelle Strukturen übertragen können, die in latenter Spannung zu den kulturellen Prägungen der ostdeutschen Bevölkerung gestanden hätten. U. a. ging er davon aus, dass sich dies bei der Integrationsleistung der neuen Institutionen negativ bemerkbar machen würde.97
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Eisenach u. a., IHK, S. 293. So z. B. die IHK Frankfurt an der Oder, die 1998 ein neues Hauptgebäude bezog. Flemming/ Ulrich, Wirtschaft, S. 61. Eisen, Institutionenbildung, S. 33 ff. Integration beschreibt die Einbeziehung von Teil-Systemen in ein jeweiliges Gesamtsystem. Sie zählt zu den Kernfunktionen intermediärer Institutionen, deren Existenz ein Ausdruck gesellschaftlicher Differenzierung ist. Intermediäre Institutionen integrieren spezifische gesellschaftliche Gruppen in ein politisches System. Dies kann indes nur gelingen, wenn sie von ihren jeweiligen Adressaten als legitim erachtet werden.
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5. Strukturelle Merkmale und Entwicklungen
Diederich, Haag und Cadel argumentieren, bei der Einführung der IHKn habe es einen „institutionellen Vorlauf“ gegeben, d. h., dass stützende Wertvorstellungen sich erst nachträglich herausgebildet hätten.98 Tatsächlich lassen sich Beispiele anführen, wo Orientierungen und Handlungsmuster von Akteuren durch übertragene institutionelle Strukturen geprägt wurden.99 Es nimmt nicht wunder, dass dies vor allem dort zu beobachten war, wo IHKn relativ homogen organisiert sind und über vergleichsweise geringe Ermessensspielräume verfügen. Faktisch ist das deutsche Kammerwesen aber durch große Unterschiede zwischen IHKn gekennzeichnet – trotz einheitlicher formaler Grundlage.100 Das IHKG legte die neuen Kammern nicht auf eine Struktur fest. Es langt nicht hin, nach der Prägekraft ihrer gesetzlichen Grundstruktur zu fragen, um zu ergründen, inwieweit sie der ihnen gestellten Integrationsaufgabe gerecht wurden. Mit Blick auf die Zielgruppe der Kammern kann nicht behauptet werden, dass der Wegfall gewohnter politisch-administrativer Strukturen als Verlust empfunden wurde. Die Legitimität einer neuen IHK wurde in wenigen Fällen bestritten, jeweils von einer überschaubaren Personenzahl bzw. in begrenzten Teilräumen.101 Als Ordnungskonzept, das ihren Mitgliedern wesensfremd sei, wurde eine IHK gleichwohl nie zurückgewiesen: Kritiker konnten sich schlechterdings profilieren, wenn sie eine Kammer bezichtigten, in Kontinuität mit der alten Ordnung zu stehen.102 Der Bruch mit den politisch-administrativen Struk98 Das Legitimationsproblem erscheint infolgedessen in distinguiert anderer Perspektive: Das Konzept des institutionellen Vorlaufs wurde ursprünglich vor dem Hintergrund der politischkulturellen Prägung der westdeutschen Bevölkerung durch die parlamentarisch-demokratischen Institutionen der Bundesrepublik entwickelt. Hierbei traten Legitimationsprobleme als – zunächst – fehlende Verankerung demokratischer Werte in der Bevölkerung auf. Die Legitimität institutioneller Strukturen, bzw. ihrer Einführung, wird beim institutionellen Vorlauf hingegen hervorgehoben, da sie als Strategie zur Überwindung von Diktatur zutage tritt. Diederich/Haag/Cadel, Industrie- und Handelskammern, S. 32 f. 99 Dies ist auf dem Gebiet der Berufsausbildung der Fall. Da es sich um eine gesetzlich übertragene Aufgabe handelt, ist der eigene Ermessensspielraum der IHKn hier vergleichsweise gering. Bei der Einführung der dualen Berufsausbildung verstanden es die ostdeutschen Kammern daher als ihre Aufgabe, den Primat der betrieblichen Ausbildung zu vermitteln. Das Ausbildungswesen sollte nach westdeutschem Vorbild umgewandelt werden. Die Entwicklung des Ausbildungssektors war von Bestimmungen im Einigungsvertrag abhängig, der somit auch die Entstehung der Ausbildungsabteilungen in den IHKn beeinflusste. In diesem Zusammenhang erscheint die Frage berechtigt, inwiefern ein Strukturtransfer zu einer kulturellen Prägung der Akteure führte. Im Ergebnis konnte auch eine starke Vorbildfunktion westdeutscher Organisationsprinzipien keine „Assimilation“ erzwingen. Die Stellung ostdeutscher IHKn in der Berufsausbildung unterschied sich auf lange Sicht von westdeutschen Verhältnissen. Die Ursache dafür war, dass die duale Berufsausbildung in den neuen Ländern nicht nur auf transformationsbedingte Hindernisse stieß. Die Schaffung eines bedarfsdeckenden Angebots an betrieblichen Ausbildungsplätzen wurde von einer besonderen demographischen Entwicklung konterkariert. Auf Initiative der IHKn entstanden Ausbildungsringe, die das Problem des Lehrstellenmangels mit Hilfe staatlicher Fördermaßnahmen lösten. Vgl. Kap. 4.1. 100 Groser/Sack/Schroeder, Industrie- und Handelskammern, S. 72. 101 In die Gründungsphase der IHKn fielen mehrere Versuche, Kleinkammern zu gründen. Zu einer offenen Zurückweisung der bestehenden IHK kam es infolgedessen in Südwestsachsen. 102 Zu nennen sind an dieser Stelle sowohl Kritik an einer vermeintlich systemübergreifenden Kontinuität des Personals als auch am Gebietsstand einer IHK. Letztere richtete sich insbeson-
5.4 Industrie- und Handelskammern als Träger kultureller Einrichtungen
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turen der DDR war daher nicht Beschränkung, sondern Voraussetzung, um integrativ wirken zu können. Konflikte, denen Gebietsfragen zugrunde lagen, ließen sich durch eine Anpassung der räumlich-strukturellen Konzeption der IHK lösen. Dies wirft die Frage auf, inwiefern Wandlungsfähigkeit darüber hinaus genutzt wurde, um regionale Eigenarten zu resorbieren, Identifikation zu fördern und Integrationsprozesse zu katalysieren. Auf Grundlage des IHKG war es den Kammern durchaus möglich, kulturfördernd zu wirken. Das Gesetz fordert freilich, dass Anlagen und Einrichtungen von IHKn der gewerblichen Wirtschaft bzw. einzelnen Gewerbezweigen zugutekommen. Im Allgemeinen ließ sich dies auf dem Gebiet des Bibliotheks-, Archivbzw. Bildungswesens einlösen, auf dem IHKn seit jeher Träger kultureller Einrichtungen waren. Engagements dieser Art zählen zu den freiwilligen Leistungen einer IHK; sie ergeben sich somit nicht zwingend aus einem Transfer normativer Grundlagen. Für das Selbstbild einer IHK als regionaler Interessenvertretung sind sie nachgerade konstitutiv. Die ostdeutschen Kammern können auf eine lange Geschichte zurückblicken. Fast durchweg betrachten sie sich als Wiedergründungen historischer Vorläufer. Die Institutionenforschung blendete dies weitgehend aus und neigte dazu, Begriffe wie „Wiedergründung“ bzw. „Wiedereinrichtung“ zu meiden bzw. achtlos zu verwenden.103 Es ließ sich infolgedessen einfacher behaupten, dass es den IHKn an kulturellen Voraussetzungen mangele.104 Dass dies voreilig war, lässt sich anhand von Beispielen belegen. Die IHK Leipzig etwa fand in ihrer Geschichte mehrfach Vorlagen, die in konkrete Strukturentscheidungen mündeten. Die Kammer bemühte sich nach ihrer Neugründung intensiv um die Rückgabe des „Kramerschatzes“, einer Kunstsammlung, die im späten 19. Jahrhundert in das Eigentum der Leipziger Handelskammer gelangt war. Ihre Funktionsnachfolger hatten sie stets geerbt, allen politischen Umbrüchen zum Trotz.105 Die IHK des Bezirks trat die Sammlung dere gegen die Tatsache, dass die Kammerbezirke der territorialen Ordnung der DDR entsprachen. 103 In allgemeiner Form galt dies auch für den Begriff „Wiedervereinigung“, bei dem eine zurückhaltende Verwendung geboten war, um kritische Distanz zur politischen Meinungsbildung zu wahren. Bei Diederich, Haag und Cadel führt dies dazu, dass gleichberechtigt von einer „Neugründung bzw. Wiedereinrichtung der Industrie- und Handelskammern in Ostdeutschland“ gesprochen wird. Ersteres weist darauf hin, dass die IHK zu Neubrandenburg – im Vergleich mit den weiteren IHKn, die in der Studie betrachtet werden – eine Neugründung war. Demgegenüber bleibt im Unklaren, inwieweit es sich bei den übrigen Kammern um „Wiedergründungen“ handelte, bzw. inwiefern sie sich hierin qualitativ unterschieden. Diederich/Haag/Cadel, Industrie- und Handelskammern, S. 57. 104 Im Hinblick auf die Handlungsorientierungen von Akteuren soll hier nicht bestritten werden, dass es den wirtschaftlichen Selbstverwaltungen in den neuen Bundesländern an Grundlagen fehlte und dass dieser Mangel z. T. mit Vorbildern aus der alten Bundesrepublik kompensiert wurde. Eisen zufolge fehlte es darüber hinaus an „kollektive[n] Sinnwelten: Leitideen, Mythen, Symbole[n] etc.“, denen er als integralen Bestandteilen von Institutionen legitimationsstiftende Bedeutung beimisst. Eisen, Institutionenbildung, S. 35. 105 Die IHK zu Leipzig war im Zweiten Weltkrieg auf Geheiß der nationalsozialistischen Regierung in der Gauwirtschaftskammer Sachsen aufgegangen. In der SBZ entstand die IHK des Landes Sachsen, die eine Geschäftsstelle in Leipzig unterhielt. An ihre Stelle trat 1953 die
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5. Strukturelle Merkmale und Entwicklungen
1967 ohne erkennbaren äußeren Anlass an die Stadt ab.106 Die von den sozialistischen Machthabern installierte Führung der Kammer hatte schon früher bekundet, das kostbare Erbe abstoßen zu wollen. 1953 etwa hatte sich der Leiter Puffe für die Schenkung an die Stadt starkgemacht: Der Kramerschatz habe „keinerlei Bedeutung“107 für die Arbeit der IHK – darüber hinaus besitze sie „für diese auch keinen Wert“. Tatsächlich war der Schatz mehr Verpflichtung denn Reichtum. Sein Wert war, obgleich nicht gering, doch nur hypothetisch.108 Bei der Auflösung der IHK der DDR war er ohnehin in Volkseigentum übergegangen, dessen Rechtsträgerin die Leipziger Bezirks-IHK geworden war. Eine Veräußerung lag somit nicht im Ermessen der Kammer – die Prämien zur Versicherung der Sammlung hatte sie gleichwohl zu bestreiten. Der Großteil des Kramerschatzes war seit langem in Leipziger Museen ausgestellt. Schon die Handelskammer hatte Wert darauf gelegt, sie einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Für das operative Geschäft spielte der Kramerschatz keine Rolle. Dass der Leiter der Bezirks-IHK ihm jedwede Bedeutung absprach, war trotzdem bemerkenswert. Die Erklärung, es habe kein Bewusstsein für den „historischen Wert des Kramerschatzes als Zeugnis der Leipziger Handelsgeschichte“109 mehr gegeben, ist hierfür wohl nicht hinreichend: Nach historisch-materialistischer Zeitrechnung hatte der Machtantritt der SED eine neue Epoche eingeläutet. „Historisches Bewusstsein“ war damit zur politischen Kompetenz geworden, ohne die sich auch eine IHK nicht mehr führen ließ. Mit anderen Worten: Das leitende Personal der Kammern stand unter wachsendem Druck, sich loyal zur marxistisch-leninistischen Weltanschauung bzw. zur „führenden Rolle“ der SED zu erklären. Seinen Namen verdankte der Kramerschatz seiner ursprünglichen Besitzerin, der Leipziger Kramerinnung. Als Vertretung lokaler Händler hatte sie seit dem 15. Jahrhundert bestanden; 1484 war sie vom Rat anerkannt worden. In berufsständischen Vertretungen war es üblich, spezifische Rituale und Bräuche zu pflegen. Durch sie gelangten Innungen, Gilden und Zünfte in den Besitz von Kunstwerken und kunsthandwerklichen Gegenständen. Die Sammlung der Kramerinnung erhielt aufgrund ihres großen Umfangs die Bezeichnung „Kramerschatz“.110 Dieser Name war auch ein Zeichen der herausgehobenen Stellung, die die Innung der Kramer in der Leipziger Wirtschaft innehatte. Die Sammlung umfasste neben gläsernen Pokalen und Münzen 118 Portraits der Kramermeister, wie sich die Vorsteher nannten. Die ältesten Bildnisse stammten aus dem 17. Jahrhundert und waren von meist
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zentral organisierte IHK der DDR mit der Bezirksniederlassung Leipzig. 1958 wurde die Leipziger Niederlassung zur „IHK des Bezirks Leipzig“ verselbstständigt, nachdem die IHK der DDR aufgelöst worden war. Sichel, Geschichte, S. 32 ff. Zit. nach: Ebd. Die IHK zu Leipzig ließ anlässlich der Rückübertragung des Kramerschatzes ein Wertgutachten anfertigen. Allein die 118 Bildnisse der Kamermeister kamen nach Einschätzung eines Kunstsachverständigen im Jahr 1995 auf einen Wert von 1.439.900 DM. IHK zu Leipzig, Jahresbericht 1995/96, S. 122. Sichel, Geschichte, S. 34. Vgl. ebd. S. 11.
5.4 Industrie- und Handelskammern als Träger kultureller Einrichtungen
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unbekannten Malern gefertigt worden. Dies änderte sich nach 1700, als vermehrt namhafte Künstler ein Engagement erhielten. Der Leipziger Elias Gottlob Haußmann portraitierte sieben Meister, elf der Bildnisse stammen von der Hand des Schweizer Malers Anton Graff. Die Kramermeister ließen die Portraits auf eigene Kosten anfertigen und konnten sie nach Ablauf ihrer Amtszeit zurückfordern, was freilich nicht oft geschah. Jeder von ihnen stiftete der Innung außerdem zwei Silberlöffel, auf denen das Jahr ihrer Wahl eingraviert war. Zum Verbleib des Kramerschatzes besaß die IHK 1990 nur spärliche Informationen. Sie hoffte, ihre Ansprüche anhand von Übergabeprotokollen belegen zu können. Nach Auskünften ehemaliger Verantwortlicher der Bezirks-IHK waren entsprechende Listen bei Abtretung der Sammlung erstellt worden.111 Es gab zwar auch ein Inventar, das die Sammlung nach wissenschaftlichen Kriterien beschrieb. Da dies von 1895 stammte, berücksichtigte es spätere Änderungen allerdings nicht.112 Der neu gewählte Hauptgeschäftsführer Manegold gab in Anbetracht dieser Ausgangslage eine Recherche in Auftrag. Begleitend zum Rückgabeantrag sollte der Verbleib der Sammlung aufgeklärt werden. Wie sich herausstellte, befanden sich bedeutende Stücke nach wie vor in Leipziger Museen.113 Einzelstücke waren gleichwohl an andere Orte verbracht, einige sogar veräußert worden. Die Bemühungen um Rückführung des Kramerschatzes stießen bei der Stadtverwaltung auf Vorbehalte. Viele ostdeutsche IHKn stritten zur selben Zeit um früheres Eigentum, vor allem um Immobilien. Die Stadt war vor diesem Hintergrund bemüht, Ansprüche abzuwehren und argumentierte, dass enteignete Vermögensgegenstände nur an Rechtsnachfolger zurückgegeben werden könnten.114 Diese Voraussetzung sah sie im Falle der IHK als nicht gegeben an. Das Museum der bildenden Künste, in dessen Besitz die Bildnisse der Kramermeister gelangt waren, war trotz offener Rechtslage gesprächsbereit.115 Das Museum für Kunsthandwerk zeigte bei einer informellen Voranfrage ebenfalls Interesse an einer Zusammenarbeit mit der IHK. Beide Museen befanden sich in städtischer Trägerschaft. Im Rahmen ihrer Bemühungen um den Kramerschatz strebte die IHK auch die Rückführung der ehemaligen Kammerbibliothek an. Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte sie mit mehr als 100.000 Bänden zu den bedeutendsten Spezialbibliotheken Ostdeutschlands gezählt. Ihr Bestand war durch Kriegseinwirkungen geschrumpft und später durch Eingriffe der Besatzungsmächte weiter dezimiert worden. In den 1950er Jahren verlor sich ihre Spur, nachdem die Bibliothek in Volkseigentum überführt worden war. Die Deutsche Staatsbibliothek erhielt Teile des Restbestands, zahlreiche weitere Bände wurden für den Weiterverkauf an das Leipziger Zent111 Schreiben der IHK zu Leipzig an den Leipziger Oberbürgermeister vom 11. Oktober 1990. RWWA 181-2474-3. 112 Gurlitt, Darstellung, S. 396 ff. 113 Listewnik, Petra: Zwischenbericht zur Dokumentation des Kramerschatzes und der Bibliothek der Industrie- und Handelskammer zu Leipzig vom 23. April 1991. RWWA 181-2474-3. 114 Schreiben des Oberbürgermeisters der Stadt Leipzig an die IHK zu Leipzig vom 21. April 1991. RWWA 181-2474-3. 115 Schreiben des Direktors des Museums der bildenden Künste Leipzig an den Hauptgeschäftsführer der IHK zu Leipzig vom 23. April 1991. RWWA 181-2474-3.
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5. Strukturelle Merkmale und Entwicklungen
ralantiquariat übergeben.116 Da dies 1990/91 eine umfassende Restitution verhinderte, rief die IHK die sächsische Landesregierung sowie den Rat der Stadt Leipzig auf, den Aufbau einer wirtschaftswissenschaftlichen Bibliothek an der Kammer zu unterstützen.117 Zudem forderte die IHK die Einrichtung eines Wirtschaftsarchivs. Ein Archiv war bereits Teil der alten Leipziger Bibliothek gewesen und hatte u. a. Bestände der Kramerinnung beheimatet. Über sie ließ sich lokale Handelsgeschichte bis ins Mittelalter zurückverfolgen. Die IHK begründete ihre Forderung mit einer allgemein unbefriedigenden Bibliothekssituation in Leipzig, der ein großes fachspezifisches Informationsbedürfnis gegenüberstehe. Darüber hinaus seien staatliche Archive wenig sensibilisiert für den Wert bedrohter Unternehmensarchivalien. Ein Strukturvergleich mit westdeutschen Kammern sprach aus Sicht der IHK dafür, ein neues Archiv sowohl als Hausarchiv als auch als regionales Wirtschaftsarchiv aufzubauen.118 Die Bibliothek der IHK zu Leipzig nahm ihre Tätigkeit bereits am 13. Dezember 1991 wieder auf. Der Neuaufbau zielte darauf, verfügbare Altbestände zu erwerben und in eine moderne wirtschaftswissenschaftliche Bibliothek zu integrieren. Obwohl am Eröffnungstag lediglich ein einziger Band aus dem alten Bibliotheksbestand übernommen werden konnte, wertete die IHK den Neustart als großen Erfolg.119 Ein Spendenaufruf war bei Leipziger Bürgern sowie Kammern aus den alten Bundesländern auf Gehör gestoßen und hatte eine solide Erstausstattung ermöglicht. Der Neuaufbau der IHK zu Leipzig zog unterdessen weitere Kreise: Das sächsische Hochschulerneuerungsgesetz vom 25. Juli 1991 verfügte, Hochschuleinrichtungen aufzulösen, für die keine Übernahme durch das Land Sachsen vorgesehen war.120 Dies betraf u. a. die Handelshochschule Leipzig (HHL). Die HHL hatte einst in enger Verbindung mit der IHK gestanden und Leipzig zur Wiege der modernen Betriebswirtschaftslehre gemacht. Ihre Gründung 1898 ging auf eine Initiative der Handelskammer zurück. Ermöglicht hatte diese Verbindung die Schenkung der Kramerinnung: Mit der Annahme hatte sich die Handelskammer 1887 verpflichtet, nicht nur in die Vermögensverhältnisse, sondern auch in die Pflichten der Kramerinnung einzutreten. An vorderster Stelle war in einem Übergabevertrag bestimmt worden, dass die Kammer für Betrieb und Fortbestand der Öffentlichen Handelslehranstalt Leipzig (ÖHLA) zu sorgen hatte.121 Die Kammer verwaltete das 116 Große Teile der früheren Bibliothek der IHK zu Leipzig gelangten auf diesem Weg ins japanische Osaka. IHK zu Leipzig, Jahresbericht 1991/92, S. 120. 117 Petition zur Schaffung von Voraussetzungen zur Gründung einer wirtschaftswissenschaftlichen Bibliothek und eines Wirtschaftsarchivs von überregionaler Bedeutung an der Industrie- und Handelskammer zu Leipzig, gerichtet an die Sächsische Landesregierung und den Rat der Stadt Leipzig (25. Juni 1991). RWWA 181-2474-3. 118 Zu den in Leipzig engagierten IHKn aus der Bundesrepublik zählte die IHK Köln. Vorbildhaft für das sächsische Wirtschaftsarchiv wirkte daher das in Köln ansässige Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsarchiv. 119 IHK zu Leipzig, Jahresbericht 1991/92, S. 120. 120 Vgl. Göschel, Handelshochschule, S. 231. 121 Die ÖHLA war 1831 auf Initiative der Kramerinnung entstanden. Ihre Gründung bedeutete den ersten langfristig erfolgreichen Versuch, die traditionelle Kaufmannsausbildung um theoretische Inhalte zu ergänzen. Die Innung verlor in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ihre gewer-
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ihr übergebene Vermögen daher separat in der eigens für diesen Zweck errichteten Kramerstiftung. Diese war die Keimzelle für die Aktivitäten der Handelskammer auf dem Gebiet der Kunst- und Wissenschaftsförderung.122 Der ÖHLA fiel als Geburtshelferin der HHL der entscheidende Part zu: Ihr Direktor Hermann Raydt war in Personalunion der erste Studiendirektor der Hochschule. Raydt hatte im Auftrag der Handelskammer die Denkschrift verfasst, die zur Blaupause für die Gründung der HHL wurde.123 Für die Gründung der HHL hatten nur bescheidene Mittel zur Verfügung gestanden.124 Trotzdem entwickelte sich die Hochschule zu einer Bildungsstätte mit internationaler Ausstrahlung. Mit Ende des Zweiten Weltkriegs schien es gleichwohl zum ersten Mal, dass die Hochschule keine Zukunft haben würde. 1946 wurde sie in die Universität Leipzig eingegliedert. Und doch überdauerte die HHL die DDR – jedenfalls nominell: Walter Ulbricht ordnete 1969 an, ein Nachfolgeinstitut für die kurzlebige Leipziger „Hochschule für Binnenhandel“ zu errichten.125 Es war ein Ausweis hoher Erwartungen, dass die politische Führung das Projekt mit einer Bezeichnung versah, die an die Tradition Leipzigs in der akademischen Ausbildung angehender Kaufleute erinnerte. Der Name HHL hatte seinen progressiven Klang offenbar auch im Sozialismus nicht verloren. Die Friedliche Revolution von 1989 führte in der Hochschule zur Schließung der marxistisch-leninistischen Sektion. Zu weiteren hochschulpolitischen Entscheidungen kam es auch im darauffolgenden Jahr der Wiedervereinigung nicht. Eine neue Leitung der HHL entwickelte 1991 Pläne für eine Neuausrichtung.126 Den Fortbestand der Hochschule konnte sie auf diesem Wege allerdings nicht erreichen: Das Konzept wies eine zu große
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bepolizeilichen Kompetenzen, womit der Betrieb der Schule zu einer ihrer Hauptaufgaben wurde. Darüber hinaus betätigte sich die Kramerinnung bis zu ihrer Selbstauflösung lediglich noch als Verwalterin ihrer Stiftungen und Unterstützungsfonds. Diese Selbstbeschränkung ging unmittelbar auf die Gründung der Handelskammer zurück, die 1862 durch ein Gesetz der königlich-sächsischen Regierung unter dem Namen „Handels- und Gewerbekammer“ entstand. Die Kramerinnung nahm in der darauffolgenden Zeit nur wenige neue Mitglieder auf, was schließlich Fragen nach der Zukunft der ÖHLA aufkommen ließ. Rätzer, Geschichte, S. 21 ff. Ebd. S. 58. Zum Ende des 19. Jahrhunderts nahmen Forderungen nach einer Verwissenschaftlichung des Kaufmannsberufs zu: Vor dem Hintergrund der Industrialisierung erreichten Unternehmen eine bisher unbekannte Größe und Komplexität. Die Gründung der HHL begegnete der Tatsache, dass es im Hinblick auf die finanzielle Seite der Unternehmensführung an akademischem Wissen fehlte. Vgl. Raydt, Begründung, S. 3 ff. Im Unterschied zur später gegründeten Handelshochschule in Frankfurt am Main musste die HHL zunächst ohne größere Spenden bzw. Stiftungen auskommen. Die Finanzierung der Hochschule war durch eine finanzielle Garantie der Handelskammer sowie Zuschüsse der königlichen Staatsregierung Sachsens und der Stadt Leipzig gesichert. Rätzer, Geschichte, S. 58. Die Hochschule für Binnenhandel hatte zwischen 1953 und 1963 existiert. Zur Wiedereinrichtung einer Spezialhochschule für den Binnenhandel kam es, weil im ZK der SED anhaltender Unmut über die Leistungen der universitären Handelswissenschaftler herrschte. Göschel, Handelshochschule, S. 220. Gespräch mit dem neugewählten Hochschulrektor Gerd Goldammer. In: Handelsblatt, 4. Juli 1991.
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5. Strukturelle Merkmale und Entwicklungen
Nähe zu den Vorstellungen auf, mit denen die Universität Leipzig den Umbau ihrer wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät vorantrieb. Hoffnung auf den Erhalt der HHL keimte erst, als sie mit der IHK – vertreten durch ihren Hauptgeschäftsführer Manegold – einen starken Fürsprecher gewann. Schon 1990 gab es erste Kontakte zwischen Kammer und Hochschule, deren einst enge Verbindung in der DDR vollständig abgerissen war. Eine institutionelle Wiederbelebung erfolgte im September 1991, als sich die „Gesellschaft der Freunde der Handelshochschule Leipzig e. V.“ (GdF) gründete. Es war kein Zufall, dass es zwischen 1922 und 1949 bereits einen Verein dieses Namens gegeben hatte. Den Vorsitz der GdF übernahm IHK-Hauptgeschäftsführer Manegold. Nach Gesprächen, u. a. an der Freien Universität Witten-Herdecke sowie an der Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in St. Gallen, strebte Manegold die Neugründung der HHL in privater Trägerschaft an.127 Mit diesem Plan überzeugte er den sächsischen Ministerpräsidenten Biedenkopf. Das sächsische Hochschulstrukturgesetz vom 10. April 1992 setzte der alten HHL ein Ende, gab aber zugleich den Startschuss für die Wiedergründung in freier Trägerschaft. Das juristische Fundament für den Aufbau schufen die IHK zu Leipzig und die GdF, die am 2. Oktober 1992 die Handelshochschule Leipzig GmbH gründeten.128 Auf Beschluss der IHK-Vollversammlung wurde die Kramerstiftung wiedererrichtet; sie trat im darauffolgenden Jahr als dritter Gesellschafter hinzu.129 Die Wiedergründung der HHL war ein auf mehrere Jahre angelegtes Vorhaben. Neben dem Aufbau einer räumlichen Infrastruktur wurde die Zeit dazu genutzt, Kooperationsnetzwerke zu knüpfen und eine wirtschaftliche Basis für den Hochschulbetrieb zu schaffen. Besonderes Augenmerk legte das Konzept der HHL auf die Zusammenarbeit mit osteuropäischen Hochschulen. Im August 1994 erfolgte die staatliche Akkreditierung. Die Finanzierung der HHL glückte aufgrund zahlreicher Spenden aus der Wirtschaft. In diesem Zusammenhang erwarb sich Ludwig Trippen besondere Verdienste, ein ehemaliger Vorstand der WestLB, den die Gesellschafter zum Gründungsrektor berufen hatten. Trippen war in der westdeutschen Wirtschaft gut vernetzt; Gelder für eine Stiftungsprofessur warb er im Zuge seines Wechsels von der Landesbank u. a. bei seinem alten Arbeitgeber ein.130 Die IHK zu Leipzig hatte 1996 mehrfachen Anlass zur Freude: Die HHL nahm den Lehrbetrieb am 1. Februar wieder auf, und auch die Restitution des Kramerschatzes kam voran: Bereits im Januar hatte die IHK einen Zuordnungsbescheid der Oberfinanzdirektion Chemnitz erhalten über die von ihr beanspruchten „Kunstge127 Göschel, Handelshochschule, S. 234. 128 IHK zu Leipzig, Jahresbericht 1993/94, S. 66. 129 Die alte, aus der Schenkung der Kramerinnung hervorgegangene Kramerstiftung war 1927 aufgelöst worden. Ihrem Zweck, den Betrieb der ÖHLA zu gewährleisten, hatte sie aufgrund rückläufiger Finanzkraft kaum mehr nachkommen können. Die IHK hatte schon im Vorfeld einen wachsenden Teil der Ausgaben für den Unterhalt der Schule bezuschusst. Die neue Kramerstiftung erhielt ihre Satzung am 18. Oktober 1993. Die Stiftung erhielt den alleinigen Zweck, Aufbau und die Entwicklung der HHL zu fördern. Göschel, Handelshochschule, S. 236. 130 Ebd. S. 238.
5.4 Industrie- und Handelskammern als Träger kultureller Einrichtungen
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genstände von Innungen“.131 Kurz darauf folgte die Rückgabe der Archive der Kramerinnung und der Handelsdeputierten. Die 118 Bildnisse der Kramermeister waren schon vorher in das Eigentum der Kammer übergegangen. Zufall war zweifellos mitverantwortlich, dass die Neubegründung der HHL sowie die Rückübertragung des Kramerschatzes zeitlich so nah beieinanderlagen. Dass die IHK sowohl materiell als auch ideell zur Erbin der Kramerinnung wurde, hatte mit Zufälligkeiten gleichwohl nichts zu tun: Die Handelskammer war durch den Kramerschatz zur Förderin von Kunst und Wissenschaft geworden. Hieraus erwuchs ein symbolischer Wert, den die Sammlung für den Wiederaufbau der IHK zu Leipzig besaß. Hauptgeschäftsführer Manegold machte dies deutlich, als er sich zum Aufbau der Kammer sowie zu deren Rolle für die gesellschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland äußerte. Er warnte davor, ausnahmslos das reproduzieren zu wollen, was in Westdeutschland bereits vorhanden sei.132 Der Aufbau neuer Strukturen solle sowohl von historischen Beispielen ausgehen als auch den Vorsatz haben, Neues zu entwickeln: „Wir Ostdeutschen müssen die Kraft finden, mehr zu definieren, als was schon da ist.“133 In keiner ostdeutschen IHK kam der Versuch, an historische Grundlagen anzuknüpfen, klarer zur Geltung als in Leipzig. Hierfür war nicht nur ein – wie Diederich, Haag und Cadel zu Recht hervorheben – „visionärer“134 Hauptgeschäftsführer verantwortlich. Hinzu traten spezifische lokale Bedingungen: Bezüge zur bürgerlichen Vergangenheit Leipzigs waren im allgemeinen Bewusstsein erhalten geblieben. Insbesondere galt dies für die Tradition der Stadt als Handels- und Verkehrszentrum; Leipzig richtete die größte Industriemesse der DDR aus und war überdies Standort spezieller handelswissenschaftlicher Bildungseinrichtungen geblieben. In anderen Städten hatte die SED energischer versucht, lokale Erinnerungen im Sinne des eigenen Herrschaftsanspruchs zu überschreiben.135 Regional angemessene Strukturen ließen sich gleichwohl auch dann bilden, wie eine Gegenüberstellung des Beispiels Leipzig mit dem Beispiel Neubrandenburg zeigt. Als Kammer- bzw. Behördensitz verfügte Neubrandenburg über keine Tradition, die 131 IHK zu Leipzig, Jahresbericht 1995/96, S. 122. 132 „Zwischen Ostdeutschland und Westdeutschland besteht ein besonderes Gefälle, weil in Westdeutschland bewiesen wurde, wie eine Wirtschaft funktioniert und wie ein gesellschaftliches System funktioniert. Wer sich Westdeutschland anschaut, der muß begeistert sein von der Sauberkeit, von der Ordnung, von der Einbindung der Menschen in viele Prozesse. [ ] Wir werden deshalb immer wieder daran erinnert, daß in Westdeutschland eigentlich alles funktioniert. Und ich berichte aus vielfältigen eigenen Erfahrungen, wenn ich feststelle, daß seit der Wende immer wieder Menschen zu uns kommen, um zu sagen, also das braucht ihr nicht anzufangen, das haben wir in Köln, und das braucht ihr auch nicht anzufangen, das haben wir in München, und das braucht ihr auch nicht mehr. [ ] Was dürfen wir überhaupt hier anfangen, ohne daß jemand aus dem funktionierenden Deutschland sagt: Leute, das ist alles schon da!“ Manegold, Industrie- und Handelskammern, S. 103. 133 Ebd. S. 107. 134 Diederich/Haag/Cadel, Industrie- und Handelskammern, S. 72. 135 Reichelt veranschaulicht dies anhand des Beispiels Wittenberg: Unter dem Beinamen „Chemiestadt“ versuchte die SED, ein Geschichtsbild zu etablieren, das in Konkurrenz zur bestehenden Erinnerungskultur in der „Lutherstadt“ treten sollte. Eine nachhaltige Überschreibung des städtischen Selbstbildes gelang gleichwohl nicht. Reichelt, Erlebnisraum, S. 264 ff.
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5. Strukturelle Merkmale und Entwicklungen
vor die Zeit der DDR zurückreichte. Erst mit der Einführung der Bezirke 1952 begann der Ausbau der „Vier-Tore-Stadt“ zum Verwaltungszentrum.136 Durch gezielte Industrieansiedlung und rasches Bevölkerungswachstum sollte Neubrandenburg zur „Hauptstadt“ des gleichnamigen Bezirks werden, den die SED auf eine Funktion als „Agrarbezirk“ hatte festlegen wollen. Sämtliche ostdeutsche IHKn entstanden 1990 innerhalb der Bezirke der DDR. Die IHK zu Neubrandenburg konnte sich infolgedessen nur bedingt in die Tradition früherer Kammern stellen.137 Sie konnte daher keine Ansprüche auf früheres Eigentum erheben. Dies erwies sich nicht in jeder Hinsicht als Nachteil: Der Zuschnitt des Kammerbezirks wurde z. B. nicht in Frage gestellt. Darüber hinaus erleichterte es den Umgang mit Forderungen, wonach sich die IHK gesellschafterisch an regionalpolitischen Projekten beteiligen sollte.138 Die Kammer verfügte über eine vergleichsweise geringe Finanzkraft, weshalb Beteiligungen die Konzentration der Kammeraktivitäten auf die Stadt Neubrandenburg nahezu unweigerlich verstärkt hätten. Angesichts der beschränkten Zentralität der Stadt in einem großen, dünn besiedelten Kammerbezirk sowie dessen schwacher gewerblicher Entwicklung lehnte Hauptgeschäftsführerin Hintze dies ab, um ein „Aufblähen“ der IHK zu verhindern. Es kann vermutet werden, dass Zentralisierungsbestrebungen der Akzeptanz der IHK zuwidergelaufen wären. Nichtsdestoweniger musste sich die Kammer für die Grundsatzentscheidung wiederholt rechtfertigen, da sie mitunter auch einen Verzicht auf Fördergelder bedeutete. Im Unterschied zur Mehrzahl ostdeutscher IHKn errichteten die Neubrandenburger z. B. kein eigenes Bildungszentrum, sondern strebten bei der Weiterbildung von Beginn an Kooperationslösungen mit externen Anbietern an.139 Für die Zielsetzung schlanker Strukturen erwies es sich als günstig, dass es im Hinblick auf etwaige gesellschafterische Beteiligungen der IHK an Präzedenzfällen fehlte. Mithin vergrößerte dieses Fehlen den Spielraum der Hauptgeschäftsführung, eigene gestalterische Ansprüche zu formulieren und diesen zu folgen. Diese Freiheit war mit einer – im direkten Vergleich mit der IHK zu Leipzig – geringeren Ausstattung an symbolischen Identifikationsmöglichkeiten verbunden. Es war nicht ersichtlich, dass die Akzeptanz der IHK dadurch schwächer war. Auch der IHK zu Neubrandenburg gelang es, Bedeutung im Kultursektor zu erlangen. Insbesondere geschah dies auf dem Gebiet der internationalen Zusammenarbeit. Bereits in der Entstehungszeit der IHK äußerten Unternehmer aus der Vollversammlung den Wunsch nach Kooperationsbeziehungen zum angrenzenden Polen.140 Als Wert 136 Vgl. Hajna, Länder, S. 130 f. 137 Im Rahmen einer gemeinsamen Festschrift mit den Kammern zu Rostock sowie Schwerin erinnerte die IHK zu Neubrandenburg an die Geschichte pommerscher Handelskammern in Stralsund und Stettin. Clemens, Kammern in Pommern, S. 97 ff. 138 Konkrete Forderungen gab es z. B. nach einer Beteiligung der IHK am Neubrandenburger Flughafen. Interview Hintze. 139 Der Bau kammereigener Bildungszentren wurde aus Mitteln des Bundesbildungsministeriums bezuschusst. Im Ministerium zeigte man sich irritiert, dass die IHK zu Neubrandenburg keine Zuschüsse beantragte. Ebd. 140 Ebd.
5.4 Industrie- und Handelskammern als Träger kultureller Einrichtungen
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bzw. Zielvorstellung der IHK war internationale Zusammenarbeit somit von Beginn an legitimiert. Die IHK schien mithin weniger vor der Herausforderung zu stehen, grenzüberschreitende Beziehungen kulturell zu vermitteln, als vorhandene Zielvorstellungen institutionell zu unterfüttern. Dies geschah nicht nur durch eine Beteiligung an der deutsch-polnischen Außenhandelskammer, die im September 1994 entstand: Die IHK zu Neubrandenburg setzte darüber hinaus regionale Akzente. Mit der Industrie- und Hafenstadt Stettin befand sich ein wirtschaftliches Zentrum in unmittelbarer Nähe zum Kammerbezirk, das bis Ende des Zweiten Weltkriegs Sitz der alten pommerschen IHK gewesen war. Bereits Ende 1991 unterzeichnete die IHK zu Neubrandenburg einen Kooperationsvertrag mit der Wirtschaftskammer Nord in Stettin.141 Die Kommunalgemeinschaft „Europaregion Pomerania e. V.“, der die IHK als unterstützendes Mitglied beitrat, hatte ebenfalls einen regionalen Schwerpunkt. 1995 schloss sich die Vereinigung von Kommunen aus Mecklenburg-Vorpommern sowie dem nördlichen Brandenburg mit einer Vereinigung polnischer Kommunen zur „Euroregion Pomerania“ zusammen. Die Euroregion hatte u. a. zum Ziel, wirtschaftliche Zusammenarbeit zu fördern. Zu einer Ausweitung des Engagements der IHK kam es Ende der 1990er Jahre. Dies geschah nicht allein, weil sich der EU-Beitritt Polens abzeichnete und die Beziehungen zum Nachbarland somit an Bedeutung gewinnen würden: Mit dem Beschluss, das deutsche Generalkonsulat in Stettin zu schließen, sorgte die Bundesregierung 1999 in ganz Mecklenburg-Vorpommern für großes Unverständnis.142 Aus Sicht der IHK zu Neubrandenburg drohte ein herber Rückschlag bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Der Generalkonsul hatte als Gastgeber einen „Deutsch-Polnischen Wirtschaftskreis“ ins Leben gerufen. Dieses monatliche Gesprächsforum hatte zum Ziel, den Kontakt zwischen deutschen Unternehmen, dem Generalkonsulat sowie polnischen Institutionen zu fördern. Für zahlreiche Unternehmer hatte es sich zu einer Plattform für Geschäftsbeziehungen in der Grenzregion entwickelt. Trotz Protest ließ sich die Auflösung des Generalkonsulats nicht verhindern. Die IHK zu Neubrandenburg versuchte infolgedessen, Nachteile für die Entwicklung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit abzuwenden. Der Kammer gelang es, den Deutsch-Polnischen Wirtschaftskreis vor einer drohenden Einstellung zu bewahren. Die beteiligten Unternehmer hatten zunächst versucht, das Gesprächsforum in Eigenregie fortzuführen. Aufgrund ausbleibenden Erfolgs traten sie an die IHK heran und baten Hauptgeschäftsführerin Hintze, die Organisation zu übernehmen. Hintze setzte sich für eine paritätische Beteiligung von Deutschen und Polen am Wirtschaftskreis ein, auf Ebene sowohl der Referenten als auch der Teilnehmer. Im Geiste dieses Prinzips gewann die Hauptgeschäftsführerin den neuen Honorarkonsul der Bundesrepublik Deutschland in Stettin und früheren Stadtpräsidenten Bartłomiej Sochański als Co-Organisator. Die Bundesregierung berief ihn, nachdem der Plan zur Schließung des Generalkonsulats vehemente Proteste hervorgeru141 Behr, Industrie- und Handelskammer, S. 334. 142 Generalkonsulat in Stettin nicht schließen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. September 1999.
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5. Strukturelle Merkmale und Entwicklungen
fen hatte. Die IHK zu Neubrandenburg eröffnete darüber hinaus ein neues Kooperationsbüro in Stettin. Unter dem Projektnamen „Haus der Wirtschaft“ diente es ab Oktober 2000 dem grenzübergreifenden Austausch in sämtlichen Fragen mit wirtschaftsrelevantem Charakter. Das Projekt, das im Stettiner „Zentrum der Europäischen Integration“ untergebracht war, erhielt im darauffolgenden Sommer große Aufmerksamkeit durch einen Besuch des Bundeskanzlers Gerhard Schröder sowie des polnischen Ministerpräsidenten Jerzy Buzek. Auch das Haus der Wirtschaft war dem Gedanken der Parität verpflichtet. Dies unterstrich die Beteiligung der Wirtschaftskammer Nord als Repräsentant der regionalen Wirtschaft in Polen.143 2003 übernahm der Westpommersche Verein für Wirtschaftsentwicklung die Aufgabe des Projektpartners. Das Haus der Wirtschaft, dessen Laufzeit zunächst befristet worden war, entwickelte sich in den darauffolgenden Jahren zu einer festen Größe in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit im Raum Stettin. Der spezifische Entstehungshintergrund der ostdeutschen IHKn hatte zur Folge, dass sie gemeinsame strukturelle Eigenschaften aufwiesen: Dazu zählten die relativ einheitliche Größe der Kammerbezirke sowie ein engmaschiges Angebot an Dienstleistungen. Dies machte die ostdeutschen IHKn im gesamtdeutschen Kammerwesen wiedererkennbar. Zum Entstehungshintergrund zählte insbesondere Starthilfe aus dem Westen, die durchaus Tendenzen zur Angleichung der Kammern beförderte. Beispielhaft hierfür sind die zahlreichen kammereigenen Bildungszentren, die mithilfe staatlicher Fördermaßnahmen binnen kurzer Zeit entstanden. Sie sind zugleich ein Spiegel der Probleme, mit denen die ostdeutsche Wirtschaft unmittelbar nach der deutschen Wiedervereinigung konfrontiert war. Nichtsdestoweniger greift es zu kurz, die Entstehung der Kammern als autogenen Vorgang zu interpretieren, der darauf angelegt war, eine uniforme Gestalt hervorzubringen: Unterschiede zwischen Kammern wie der IHK zu Leipzig und der IHK zu Neubrandenburg traten auch in Form unterschiedlicher Schwerpunkte im Bereich der Kulturpflege zutage. Die Gründung kultureller Einrichtungen war regionalen Traditionen bzw. spezifischen Bedürfnissen der Wirtschaft geschuldet, die somit ebenfalls Einfluss auf die Gestalt der IHK nahmen. Dies war im Kammergesetz vorgesehen – nicht aber vorgegeben.
143 Die IHK zu Neubrandenburg fungiert als Trägerin des Projekts. Weitere Projektpartner sind: die Arbeitsgemeinschaft Deutsch-Polnische Sparkassenkooperation, die Handwerkskammer Ostmecklenburg-Vorpommern, die IHK zu Rostock, die Ingenieurkammer Mecklenburg-Vorpommern, das Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Tourismus Mecklenburg-Vorpommern, der Unternehmerverband Vorpommern e. V.
6. ZWISCHEN POLITISCHER PARTIZIPATION UND HILFE ZUR SELBSTHILFE: DIE WIRTSCHAFTLICHE SELBSTVERWALTUNG ALS ORGANISATION DES UNTERNEHMERTUMS IN DEN NEUEN BUNDESLÄNDERN Demokratische verfasste Gesellschaften verfügen über Institutionen, die eine Beteiligung der Bürger an politischen Prozessen ermöglichen. Die Verwirklichung demokratischer Beteiligung hängt gleichwohl nicht ausschließlich von institutionellen Strukturen ab. Sie bestimmt sich auch danach, in welcher Intensität verbürgte Partizipationschancen auf Seiten der Bevölkerung genutzt werden. Bürgerschaftliches Engagement in Institutionen kann daher als allgemeines Maß für den inneren Zustand demokratischer Gesellschaften gelten.1 Die Kritik an der ostdeutschen Institutionenbildung setzte bei deren spezifischem Entstehungshintergrund an: Der Institutionentransfer aus der Bundesrepublik habe Ostdeutschland in Bezug auf die Demokratisierung des politischen Systems, die Entwicklung der Gesellschaft und den Übergang zur Marktwirtschaft zu einer „Transformationsgesellschaft besonderen Typs“2 gemacht. Im Unterschied zu anderen post-sozialistischen Staaten habe die Gestalt der institutionellen Ordnung frühzeitig festgestanden. Kritiker führen dies als eine der Ursachen dafür an, dass die Bereitschaft, sich bürgerschaftlich zu engagieren, in Ostdeutschland hinter das westdeutsche Niveau zurückfällt. Roth etwa spricht in diesem Kontext von einem „unvollständigen Transfer westlicher Institutionen“.3 Die kritische Bewertung der ostdeutschen Institutionenbildung stützt sich auf die Theorie des Institutionentransfers. Diese transportierte eine Sicht, wonach die Demokratisierung der DDR strikt zentralistisch verlief: Nachdem die Bevölkerung der DDR in der Friedlichen Revolution freie Wahlen erzwungen hatte, kam der Volkskammer der entscheidende Part beim Aufbau demokratischer Institutionen in der DDR zu. Der Prozess des Aufbaus neuer Institutionen fiel mit der staatlichen Vereinigung der DDR mit der Bundesrepublik zusammen und wurde davon überlagert. Im Ergebnis wurden – unter Zustimmung der DDR-Volkskammer – zahlreiche bundesdeutsche Institutionen auf die neuen Bundesländer übertragen, die außerdem das westdeutsche Staats- und Verwaltungsrecht übernahmen. Lehmbruch interpretiert den Beitritt als parlamentarische Elitenentscheidung, die hinreichend demokratisch legitimiert war. Der Institutionentransfer sei im Vorfeld allerdings von 1
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In jüngeren Beiträgen zur Geschichte bürgerlichen Engagements wird darauf hingewiesen, dass das Vereinigungswesen zur Zeit der Weimarer Republik in Teilen Träger antidemokratischer Gesinnungen war. Daher wird eine stärkere Berücksichtigung qualitativer Aspekte von Engagement gefordert. Dieser Einwand ist hier von nachrangiger Bedeutung, da vor dem Hintergrund sozialistischer Unterdrückung in erster Linie von einem Mangel an bürgerschaftlichem Engagement auszugehen war. Vgl. Gosewinkel, Zivilgesellschaft, S. 37. Roth, Besonderheiten, S. 15. Ebd. S. 16.
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6. Zwischen politischer Partizipation und Hilfe zur Selbsthilfe
„gravierenden Konsens- und Zeitdefiziten“4 gekennzeichnet gewesen, die dann durch „Informations- und Koordinationsdefizite“ weiter verschärft worden seien. Die Legitimation der Strukturen, die der Institutionentransfer hervorbrachte, stand daher zumindest mittelbar infrage.5 Im Rahmen der vorliegenden Arbeit war u. a. die Frage zu beantworten, ob die These des Legitimationsdefizits des institutionellen Umbruchs in den neuen Bundesländern auf die IHKn übertragbar ist. Es konnte gezeigt werden, dass die Errichtung der IHKn eine inhaltlich-sachlich eigenständige Legitimationsgrundlage hatte. Sie sind als Träger funktionaler Selbstverwaltung dezentral organisiert und entstanden zeitlich vor der Entscheidung zur Wiedervereinigung. Die Modrow-Regierung suchte nach Konzepten, wie der Aufbau eines privaten bzw. „halbstaatlichen“ Sektors im Rahmen der geplanten Wirtschaftsreform institutionell flankiert werden konnte. IHKn sollten private Unternehmen beraten und deren Interessen vertreten. Hieran war die reformsozialistische Übergangsregierung insbesondere interessiert, da sie eine Rückabwicklung der Verstaatlichungen von 1972 plante, mit denen Honecker den letzten Schlag gegen unternehmerisch geführte Industriebetriebe in der DDR geführt hatte. Die Einrichtung von IHKn ließ sich darüber hinaus als politisches Signal an die Bundesregierung deuten. Diese hatte ERP-Kredite für die Wirtschaft der DDR in Aussicht gestellt, allerdings die Beteiligung privater Unternehmen zur Auflage gemacht. Politisch-taktische Motive erklären für sich genommen nur unzureichend, warum die Modrow-Regierung IHKn nach bundesdeutschem Vorbild errichtete. In den Bezirken der DDR hatten private Unternehmer für eine Lockerung restriktiver steuer- und wettbewerbsrechtlicher Bestimmungen gekämpft. Dabei hatte die Forderung an Rückhalt gewonnen, die sozialistischen HGKn zu reformieren, um die Interessen der Mitglieder zur Geltung zu bringen. Mitglieder der HGK Dresden hatten ein neues Kammerstatut erarbeitet. Grundlage dafür war die Satzung einer westdeutschen IHK. Die Dresdner forderten eine Neuordnung nicht nur ihrer eigenen Kammer, sondern auch des gesamten Kammerwesens in der DDR nach diesem 4 5
Vgl. Lehmbruch, Transformation, S. 64. Das Legitimationsniveau hoheitlicher Akte bemisst sich danach, inwieweit diese an das Volk als Souverän zurückgebunden sind. Parlamente verfügen als gewählte Repräsentationsorgane demnach über ein hohes Niveau an Legitimation. Im Zuge der Vermittlung dieser Legitimation kann das Legitimationsniveau gleichwohl sinken. Prinzipiell gibt es in der Ministerialverwaltung zwei Kanäle zur Legitimationsvermittlung: sachlich-inhaltliche sowie personell-organisatorische Legitimation. Erstere wird durch Normen und Weisungen vermittelt, Letztere durch die Wahl des Amtswalters bzw. seiner Bestellung durch demokratisch legitimierte Vertreter des Staatsvolkes (vgl. Kluth, Legitimation, S. 28 f.). Institutionentransfer beschreibt eine besonders umfassende Legitimationsvermittlung im Zuge der Herstellung der staatlichen Einheit auf dem Wege der Beitrittslösung. Die Volkskammer errichtete dabei diverse Behörden neu. Der Theorie der unbeabsichtigten Folgen nach schien die sachlich-inhaltliche Legitimation dabei teilweise hinter der Absicht des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik Deutschland zurückzutreten. Nachgeordnete Behörden weisen darüber hinaus, im Vergleich mit dem Parlament, ein geringeres Niveau personell-organisatorischer Legitimation auf: Eine Zunahme der Legitimationsvermittlungsschritte vergrößert den „Abstand“ zwischen Volk und demjenigen, der zum Amtswalter bestellt wird.
6. Zwischen politischer Partizipation und Hilfe zur Selbsthilfe
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Muster. Die Modrow-Regierung übertrug das bundesdeutsche IHKG daraufhin per Verordnung fast vollständig auf die DDR. Damit signalisierte sie, dass sie bereit war, Gewerbetreibende als wirtschaftspolitische Gesprächspartner anzuerkennen. Der Errichtungsakt machte die Unternehmer zu Mitspracheberechtigten in Fragen, die sie selbst betrafen. Er war ein Akt der kollektiven persönlichen Vermittlung von Legitimation an die Mitglieder der neuen Kammern. Ihr Zugewinn an Rechten fußte auf der besonderen Befähigung, die sie als Vertreter der Selbstständigen in der DDR auszeichnete. Hierin lag ein entscheidender Vorsprung gegenüber anderen Kräften, die ebenfalls versucht hatten, Träger neuer IHKn zu werden. Dies galt vor allem für die Bezirkswirtschaftsräte, die als Teil des politisch-administrativen Systems über enge Verbindungen zu politischen Entscheidungsträgern, keineswegs aber über Akzeptanz unter alten sowie neuen Unternehmern verfügten. Die Entstehung der IHKn war eine Synthese aus Partizipationsansprüchen der Betroffenen und kollektiver persönlicher Legitimationsvermittlung des Staates. Die Errichtung der Kammern war daher keineswegs ein parlamentarischer Elitenprozesses. Die These, Kammern hätten – analog zu anderen neuen Institutionen – zunächst „in relativer Abkopplung von der individuellen Lebenserfahrung und vormaligen Identitätsformung“6 ehemaliger DDR-Bürger bestanden, muss daher zurückgewiesen werden. Die ersten IHK-Repräsentanten hatten nachvollziehbare Motive. Nicht individuell-biographische Prägungen, sondern das Staatsrecht der DDR erwies sich als unvereinbar mit der Idee der wirtschaftlichen Selbstverwaltung. Es kannte keine Entsprechung zur bundesdeutschen Körperschaft des öffentlichen Rechts, für die es aus politischen Gründen keinen Bedarf gegeben hatte. In den HGKn waren die Direktoren von den Räten der Bezirke berufen worden. In den IHKn erfolgte die Vermittlung von Legitimation dagegen „von unten nach oben“: Entscheidungsbevollmächtigte wurden per Wahl bestellt. Wie die eigenmächtige Absetzung der HGK-Direktoren durch die Mitglieder zeigte, war dies das ausschlaggebende Moment für die Errichtung der IHKn. Die Forderung nach Selbstverwaltung wurzelte ideengeschichtlich in der Idee der bürgerlichen Gesellschaft. Sie wirkte bei der Entmachtung der SED durch die Bürger der DDR nach.7 Die Entstehung von IHKn war von Beginn an dezentral organisiert. Es handelte sich daher um ein Ereignis, das originär aus der Friedlichen Revolution erwachsen und mit ihr verbunden war. Infolgedessen erscheint es gerechtfertigt, von einer Wiederbegründung wirtschaftlicher Selbstverwaltung zu sprechen. Der aus freien Wahlen hervorgegangenen Volkskammer war es vorbehalten, dieses Ergebnis zu bestätigen. Bauerkämper hebt hervor, dass demokratische Staaten eine „ermöglichende Funktion“8 für bürgerschaftliches Engagement übernehmen müssen. Dies gelte vor allem in Transformationsphasen, die besondere Herausforderung an die „Engagementpolitik“9 stellen. Die grundsätzliche Kritik an der ostdeutschen In6 7 8 9
Diederich/Haag/Cadel, Industrie- und Handelskammern, S. 33. Vgl. Großbölting, DDR, S. 431. Bauerkämper, Engagement, S. 102. Das vergleichsweise junge Konzept der „Engagementpolitik“ ist der Frage gewidmet, inwieweit das Anliegen, bürgerschaftliches Engagement zu fördern, Eingang in politisches Handeln gefunden hat. Vgl. Hartnuß/Klein/Olk, Einleitung, S. 11 f.
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stitutionenbildung, wonach bürgerschaftliches Engagement nicht selten „institutionell eingeschnürt und entmutigt“10 worden sei, ist mit Blick auf die IHKn indes nicht berechtigt. Bereits die Entstehung der Kammern wurzelte im Protest der Bürgergesellschaft. Auch ihre formalen Grundlagen müssen in Ansehung engagementpolitischer Forderungen positiv bewertet werden: Im Vergleich mit anderen Typen der Verwaltungsorganisation bietet die funktionale Selbstverwaltung per se besondere Möglichkeiten zur Mitwirkung, da ihre Adressaten zugleich Mitglieder sind. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Chancen genutzt wurden, war nicht zuletzt hoch, da die Zielgruppe der IHKn per definitionem Personen mit überdurchschnittlich großer Bereitschaft zu ehrenamtlicher Betätigung umfasste.11 Die Voraussetzungen für eine gedeihliche Entwicklung der Kammern waren insgesamt gut; gleichwohl kam es in wenigen Fällen zu Konflikten. „Hinterlassenschaften“ der SED-Diktatur im Sinne individueller Erlebnisse, gruppenspezifischer Sozialisationserfahrungen und kollektiver Prägungen wirkten vereinzelt nach. Sie schwächten das Integrationsvermögen von IHKn. In Südwestsachsen sorgte die Tatsache, dass der Kammerbezirk in den Gebietsgrenzen des ehemaligen DDRBezirks entstanden war, für heftige Auseinandersetzungen. Unternehmer aus Zwickau und Plauen verweigerten sich der Zugehörigkeit zur Chemnitzer Kammer und forderten jeweils eine eigene IHK. Der Konflikt erhielt zusätzliche Schärfe, als das Land Sachsen die Entscheidung traf, die Bezirke der DDR als mittlere Verwaltungsebene zu integrieren. Vor diesem Hintergrund traten auch Repräsentanten der Kommunalverwaltung für eine administrative Eigenständigkeit Zwickaus ein und verliehen der Forderung nach einer eigenständigen IHK weiteren Auftrieb. Eine frühzeitige Befriedung der Situation scheiterte weiterhin daran, dass die westdeutschen Patenkammern ein abgestimmtes Vorgehen vermissen ließen. Der Konflikt konnte nichtsdestoweniger gelöst werden – zum Preis einer Föderalisierung der IHK Chemnitz, die unter neuer Bezeichnung als IHK Südwestsachsen eigenständige Regionalkammern in Zwickau und Plauen errichtete. Zur Lösung hatte beigetragen, dass es auch im alten Bundesgebiet föderal strukturierte IHKn gab – allerdings mit weniger weitreichenden Autonomierechten von Teilregionen. Dies hatte trotzdem einen Weg gewiesen, um innerhalb der Organisationsform der funktionalen Selbstverwaltung auf Bedürfnisse nach regionaler Identifikation sowie auf Forderungen nach Selbstbestimmung einzugehen. Nachwirkungen der SED-Diktatur schwächten die Akzeptanz demokratischer Prinzipien. Da es freilich kaum IHK-Mitglieder gab, die den Wegfall des politischadministrativen Systems der DDR als Verlust empfanden, klang die Vergangenheit hier auch nicht so sehr durch „autoritäre, paternalistische, professionelle und elitäre Orientierungen“12 nach. Vielmehr war das Integrationsvermögen der Kammern aus einem anderen Grund geschwächt: Obwohl die SED erhebliche Anstrengungen unternommen hatte, Selbstständige ideologisch zu vereinnahmen, waren diese zu DDR-Zeiten doch eine diskriminierte Minderheit geblieben. Daher lehnten viele 10 11 12
Roth, Besonderheiten, S. 21. Hinderlich für bürgerschaftliches Engagement ist insbesondere Erwerbslosigkeit in Verbindung mit einer sozial prekären Lebenslage. Vgl. Brandt, Neuerfindung, S. 142. Roth, Besonderheiten, S. 21.
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Altselbstständige später nicht nur institutionelle Strukturen, sondern auch Personen bzw. Personengruppen ab, die in der Vergangenheit Verantwortung getragen hatten. Im Hinblick auf demokratische Prozesse und Organisationsprinzipien war dies mitunter problematisch. Der Gründungspräsident der IHK Frankfurt an der Oder wollte z. B. verhindern, dass Vertreter der ehemals „volkseigenen“ Wirtschaft Sitz und Stimme in der IHK-Vollversammlung erhielten. Dadurch verzögerte er den Aufbau der Kammer und in der Folge entzweiten sich die Kammergremien. Der Amtsverzicht des Präsidenten und „seines“ Hauptgeschäftsführers machte den Weg frei für die Erweiterung der IHK-Vollversammlung um Vertreter von Industriebetrieben. Insgesamt gelang es den IHKn, negative Einflüsse der DDR-Vergangenheit auf ihren organisatorischen Aufbau zu minimieren. Konflikte, in denen eine Kammer um ihre Anerkennung als Gesamtinteressenvertretung ringen musste, blieben auf Einzelfälle beschränkt und fielen in die erste Wahlperiode der Vollversammlungen. Die Überwindung von Konflikten bedeutete allerdings nicht, dass die IHKn bereits auf der Ebene der Sozialisation wirkten. Vielmehr gelang es, auf regionale Identifikationsbedürfnisse einzugehen. Dies geschah u. a. durch Gründung von Geschäftsstellen bzw. durch Wiederbelebung lokaler Handelstraditionen. Auch externe Faktoren trugen dazu bei, dass demokratische Prinzipien an Akzeptanz gewannen. Die Privatisierungstätigkeit der Treuhandanstalt leitete einen Managementwechsel in den Betrieben ein. Personelle und politische Beziehungsgeflechte innerhalb der ehemaligen Staatswirtschaft lösten sich damit allmählich auf. Vor diesem Hintergrund verlor auch die Kritik an der Mitwirkung von Vertretern dieser Betriebe in IHK-Gremien an Relevanz. Dies trug insgesamt dazu bei, dass Integrationsschwierigkeiten nach der ersten Aufbauphase der IHKn langsam abflauten. Der Akzeptanz einer Kammer war es dabei prinzipiell eher zu- als abträglich, wenn sie als Institution wahrgenommen wurde, der es an Verbindung zur sozialistischen Vergangenheit fehlte. Zur langfristigen Konsolidierung der IHKn war es nach Diederich, Haag und Cadel nötig, stützende Werthaltungen unter ihren Mitgliedern zu etablieren.13 Kluth deutet ehrenamtliche Mitarbeit in funktionalen Selbstverwaltungen demgegenüber als Nachfrage nach Gestaltungsmöglichkeiten. Sie reagiere auf ein jeweiliges Angebot.14 Diese Position scheint zu übersehen, dass Handlungsorientierungen wertgebunden sind und die Bereitschaft zu Engagement individuell variiert. Nichtsdestoweniger ist Kluths Hinweis wertvoll, dass Gestaltungsspielräume ein grundlegendes Kriterium sind, um die Wirksamkeit funktionaler Selbstverwaltungen zu bestimmen. Nachhaltige Sozialisationsprozesse konnten die IHKn daher nur in Gang setzen, wenn sie sowohl Gestaltungsfähigkeit bewiesen als auch die Probleme ihrer Mitglieder effektiv lösten.15 Dies erhöhte die Chance, von den Unternehmern als Zugewinn an Freiheit wahrgenommen zu werden. Die vorliegende 13 14 15
Diederich/Haag/Cadel, Industrie- und Handelskammern, S. 33. Kluth, Legitimation, S. 38. Auch Lepsius hatte seiner Theorie des institutionellen Vorlaufs die Beobachtung vorangestellt, dass die parlamentarisch-demokratischen Institutionen der Bundesrepublik Deutschland zunächst vor allem deshalb akzeptiert wurden, weil sie die Probleme der Bevölkerung effektiv lösten. Lepsius, Prägung, S. 63.
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Arbeit ging daher auch der Wirkung der wirtschaftlichen Selbstverwaltung in den neuen Bundesländern nach. Das Interesse orientierte sich dabei vorrangig an Problemlagen von Unternehmern, die die Errichtung der Kammern legitimiert hatten. Dazu zählten die ehemaligen Mitglieder der HGKn mit ihrer beruflichen Existenz im Handel und Kleingewerbe sowie die Reprivatisierer, denen das besondere Augenmerk der letzten beiden DDR-Regierungen gegolten hatte und die zu Beginn des Jahres 1990 in großer Zahl in die Selbstständigkeit strebten. Ihre Motivation, sich in den IHKn zu engagieren, ließ sich in hohem Maße mit negativen Erfahrungen aus der Zeit der SED-Diktatur erklären. In Anbetracht der gravierenden wirtschaftlichen Probleme nach der Wiedervereinigung war zu klären, inwiefern die IHKn ihr Partizipationsversprechen nicht nur formell, sondern auch faktisch einlösten und Gestaltungsspielräume eröffneten. Der Einigungsvertrag diente als normativer Rahmen für die Neustrukturierung von Wirtschaft und Verwaltung in den neuen Bundesländern. Seine Umsetzung stieß auf mannigfache Schwierigkeiten. Die Gestaltungsmöglichkeiten der Kammern waren infolgedessen eingeschränkt. In besonderem Maße galt dies auf dem Gebiet der Raumplanung, wo die IHKn als Träger öffentlicher Belange formelle Mitspracherechte hatten. Es fiel den Kammern schwer, diese durchzusetzen und gestalterisch zu wirken. Die Ursachen dafür lagen nicht selten aufseiten der öffentlichen Verwaltung. Namentlich Kommunen umgingen mitunter gesetzliche Vorgaben, machten gravierende Fehler auf dem Gebiet der Bauleitplanung bzw. ignorierten die Stellungnahmen der Kammern. Dies führte zu dazu, dass Baugenehmigungen in umfangreichem Maße erteilt wurden – insbesondere für großflächige Handelsbetriebe außerhalb der Innenstädte. Auf der Planungsebene war der Suburbanisierungsprozess des Handels infolgedessen kaum zu beeinflussen. Die IHKn formulierten regelmäßig Kritik an kommunalen Verwaltungen und forderten Baustopps für große Einzelhandelsbetriebe. Mithin wirkten die Kammern als Sprachrohr des eingesessenen Handels, allerdings mit nur geringem Effekt auf den Verlauf des Strukturwandels. Die Zukunft ostdeutscher Innenstädte schien zu Beginn der 1990er Jahre düster. Vor diesem Hintergrund kamen auch Forderungen einer staatlichen Kontrolle der Mietpreise für Gewerberäume auf. Einfluss auf die Suburbanisierung des Handels ließ sich letztlich nur auf indirekter Ebene gewinnen. Hierbei nahm das unter der Mitwirkung des DIHT gegründete, aus öffentlichen Mitteln finanzierte DSSW eine zentrale Rolle ein: Mit dem Ziel der Revitalisierung ostdeutscher Innenstädte organisierte es Tagungen, um den wechselseitigen Austausch von wirtschaftlicher Selbstverwaltung, Kommunen und externem Sachverstand zu verbessern. Das DSSW vergab darüber hinaus Forschungsaufträge und organisierte Fortbildungsveranstaltungen, die sich u. a. an IHKn richteten. Insbesondere das City-Marketing rückte dadurch stärker in das Blickfeld der Kammern, die in mehreren Fällen unmittelbar an der Gründung entsprechender Vereinigungen mitwirkten. Hiermit reagierten die Kammern auch auf Rufe nach Mietpreiskontrollen. Letztere waren auf den Erhalt der Struktur der gewerblichen Mieter in den Innenstädten gerichtet. Das City-Marketing zielte demgegenüber auf Stärkung der Innenstädte im Standortwettbewerb. In diesem Sinne setzten sich die IHKn auch für stärkere Berücksichtigung gewerblicher Interessen
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bei der Verkehrsplanung ein. Starker Anstieg des motorisierten Individualverkehrs hatte den Verkehr zu einem bedeutenden Feld innerstädtischer Standortpolitik gemacht – nicht zuletzt in Anbetracht der einfachen Erreichbarkeit großflächiger Einkaufszentren, die an den Ausfallstraßen großer Städte entstanden. Nicht nur der innerstädtische Handel, auch die mittelständische Industrie in den neuen Bundesländern geriet nach der Wiedervereinigung in eine tiefe Krise. Dem lagen nicht ausschließlich konjunkturelle Ursachen zugrunde: Die Lage von Industrieunternehmen, die einen ostdeutschen Eigentümer hatten, war oftmals besonders kritisch. Eigenkapitalschwäche zählte zu den spezifischen Problemen ostdeutscher Industrieunternehmen. Im Falle der Reprivatisierer war dies auch eine Folge veränderter politischer Zielsetzungen. Die unter der Modrow-Regierung begonnene Rückgängigmachung der Verstaatlichungen von 1972 war strukturpolitisch motiviert. Sie galt aus Sicht sowohl reformsozialistischer Politiker als auch in Wirtschaftskreisen der DDR als erfolgversprechender Weg, um unternehmerisch geführte Industriebetriebe zu schaffen. Die nachfolgende Regierung hielt unter Ministerpräsident de Maizière an den Reprivatisierungen fest. Im Zuge der Wiedervereinigung und des völligen Neuaufbaus der staatlichen Verwaltung bedurfte es hierfür gleichwohl einer neuen rechtlichen Grundlage. Bei der Neuregelung kam es zu folgenschweren gesetzlichen Konstruktionsfehlern, die den Rückgabeprozess um Jahre verzögerten. Nach der Wiedervereinigung war unklar, wer für Entschädigungsansprüche von Alteigentümern haftete. Die Treuhandanstalt verfügte über die erforderliche Sachkompetenz, betrachtete die Fortführung der Reprivatisierungen zunächst aber nicht als ihre Kernaufgabe. Sie verwies auf die Ämter für offene Vermögensfragen, deren Arbeitsfähigkeit kurz nach der Wiedervereinigung allerdings noch nicht gewährleistet war. Erst das Hemmnisbeseitigungsgesetz nahm die Treuhandanstalt im März 1991 in die Pflicht. Sowohl Reprivatisierer als auch MBO-Unternehmer, ehemalige Betriebsleiter, die den Gang in die Selbstständigkeit gewagt hatten, sahen die Privatisierungspolitik der Treuhandanstalt oft kritisch. Diese war dem Einfluss der Kammern gleichwohl entzogen. Gemeinsame Projekte von IHKn und der Treuhandanstalt gab es lediglich auf Ebene der Bezirksniederlassungen. Als die Treuhandanstalt ihre operative Tätigkeit einstellte, stieg auch deshalb der Druck auf die IHKn, Verbesserungen für den industriellen Mittelstand zu erreichen. Finanzierung und Absatz sorgten bei vielen ostdeutschen Mittelständlern für geschäftliche Probleme. Mehrere ostdeutsche IHKPräsidenten sympathisierten mit der Idee einer Wertschöpfungspräferenz für die neuen Bundesländer nach dem Vorbild der ehemaligen Berlin-Förderung. BDI-Präsident Tyll Necker war einer ihrer prominenten Fürsprecher. Der DIHT vertrat den Standpunkt, eine Wertschöpfungspräferenz könne die Probleme der ostdeutschen Industrie nicht lösen. Wie sich herausstellte, war eine andere Position auch politisch nur schwer vertretbar, da die Forderung der Wertschöpfungspräferenz in den Gremien des Dachverbands nicht vermittelbar war. Repräsentanten der westdeutschen Industrie sprachen sich mehrheitlich gegen zusätzliche Subventionen an ostdeutsche Betriebe aus. Dabei spielte es auch eine Rolle, dass die Konjunktur in den alten Bundesländern 1993 abflaute und Steuereinnahmen sanken. Die öffentlichen Haushalte gerieten infolgedessen unter Konsolidierungsdruck.
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Die Ausrichtung des „Aufbaus Ost“ war ein Thema, das im DIHT für erhebliche Spannungen sorgte; unter ostdeutschen Kammervertretern wurde die Forderung nach einer Wertschöpfungspräferenz allerdings nicht einhellig vertreten. Mehrere ostdeutsche Präsidenten hatten sich gegen eine inhaltliche Abgrenzung vom DIHT gewandt und für gemeinsame Gespräche plädiert. Auf der DIHT-Vorstandssitzung vom 20. Oktober 1993 in Rostock kamen die unterschiedlichen Positionen zur Sprache. In einer gemeinsamen Abschlusserklärung verständigten sich die Kammern darauf, öffentliche Maßnahmen zu fordern, um die Liquidität des industriellen Mittelstands in den neuen Bundesländern zu sichern. Weiterhin riefen ostdeutsche und westdeutsche IHKn zu größerer Solidarität mit den ostdeutschen Betrieben auf. Der Aufruf richtete sich insbesondere an die westdeutsche Wirtschaft, beim Abbau von Managementdefiziten zu helfen. Der DIHT trat dafür ein, zu diesem Zweck sogenannte Industriepaten, Veteranen der westdeutschen Wirtschaft, für Einsätze als ehrenamtliche Unternehmensberater zu gewinnen. Wie auch bei den Problemen der innerstädtischen Wirtschaft begegneten die IHKn der Krise des industriellen Mittelstands mit Maßnahmen, die auf eine Stärkung von Wettbewerbskompetenzen setzten. Alternative Forderungen nach stärkeren Markteingriffen des Staates hatten sich innerhalb der Kammerorganisation nicht durchgesetzt. In Anbetracht der Kritik, die Jarausch an der Bildung gesamtdeutscher Parteien, Gewerkschaften und Verbände übt, sollte dies nicht unterschlagen werden: Jarausch zufolge gerieten ostdeutsche Mitglieder in gesamtdeutschen Organisationen „strukturell in eine dauerhafte Minderheitsposition“16, die es ihnen „nur selten“ erlaubt habe, eigene Positionen aufzubauen bzw. durchzusetzen. Demgegenüber muss hervorgehoben werden, dass der DIHT eine bemerkenswerte Integrationsfunktion übernahm. Die Vereinigung des Kammerwesens stellte den Dachverband vor die Aufgabe, gegensätzliche Interessen seiner Mitglieder zu einem Ausgleich zu führen. Dies konnte keineswegs bedeuten, kontroversen Minderheitenpositionen – etwa „ostdeutschen“ versus „westdeutschen“ – Vorrang einzuräumen. Mit dem Ausbau von Serviceleistungen vermittelte der DIHT zwischen Positionen, die sich angesichts struktureller Probleme in Ostdeutschland sowie einer abflauenden Konjunktur und schärfer werdenden Verteilungskämpfen in Westdeutschland kaum miteinander vereinbaren ließen. Hieraus bezog die Hilfe des DIHT an die ostdeutschen Kammern ihre integrierende Wirkung. Organisationsintern waren die Hilfsangebote an ostdeutsche Betriebe nicht zuletzt deshalb vermittelbar, weil ihre Ausrichtung sachorientiert war. Bei der Lösungsstrategie, die die Kammern letztlich verfolgten, spielte der DIHT eine tragende Rolle: Die fachliche Beratung des Dachverbands ermöglichte es den IHKn binnen kurzer Zeit, ein engmaschiges Dienstleistungsangebot aufzubauen. Das Leistungsprofil ostdeutscher Kammern unterschied sich bald markant von dem, was im alten Bundesgebiet als Inbegriff der Kammerarbeit galt. In den neuen Bundesländern wurden IHKn für viele Unternehmen, die Hilfe in Zeiten wirtschaftlicher Not suchten, zur ersten Anlaufstelle. Absatzprobleme bedrohten die Existenz vieler ostdeutscher Konsumgüterhersteller. Einsätze ehrenamtlicher 16
Jarausch, Aufbruch, S. 42.
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Industriepaten dienten meist dazu, das Marketing dieser Betriebe zu verbessern und Marktzutrittshürden zu überwinden. In dieser Hinsicht waren sie eine Alternative zu politisch umstrittenen Subventionen, die die Produktionskosten ostdeutscher Unternehmen gesenkt hätten, ohne die tieferen Ursachen der Probleme zu beheben. Der Managementtransfer zielte auf die Ertüchtigung ostdeutscher Unternehmer. Er war von einer Philosophie der „Hilfe zur Selbsthilfe“ geleitet, die die ostdeutschen Kammern rasch verinnerlichten. Deutlich wird dies am Beispiel der Runden Tische zur Unternehmenssicherung. Sie waren eine Leipziger Erfindung und erweiterten das Instrumentarium, das die ostdeutschen IHKn für hilfesuchende Unternehmen bereithielten. Die Runden Tische waren ein Instrument zur kurzfristigen Hilfe bei akuten Liquiditätsschwierigkeiten. Sie setzten auf Verständigung von Gläubigern und Schuldnern, um Möglichkeiten zur Betriebsfortführung zu sondieren. Betriebe, die den Runden Tisch in Anspruch nahmen, erhielten in den meisten Fällen zusätzliche Unterstützung eines Industriepaten, um ihr finanzielles Controlling zu verbessern. Der Ansatz, Wettbewerbskompetenzen zu vermitteln, erwies sich als fruchtbar. Ostdeutsche Innenstädte konnten ihre „natürlichen Standortvorteile“ gegenüber der „Grünen Wiese“ bald immer stärker zur Geltung bringen. Anschaulich wurde dies in Leipzig, das um 1995 Sinnbild gewesen war für die Krise ostdeutscher Städte als multifunktionelle Wohn-, Arbeits- und Freizeitzentren. 15 Jahre später galt die Leipziger Innenstadt unter vielen Investoren wieder als erste Adresse.17 Wie auch in anderen ostdeutschen Großstädten legte dies den Grundstein, um den Anteil der Innenstadt am gesamtstädtischen Umsatz sukzessive zu steigern. Auch die mittelständische Industrie konnte ihre Existenzkrise meistern – mit beachtlichem Erfolg. Eine DIW-Studie des Jahres 1995 hatte ein düsteres Bild gezeichnet. Ein ostdeutscher Eigentümerunternehmer zu sein, hatte demzufolge oft bedeutet, mit einer niedrigen Eigenkapitalquote sowie gravierenden Liquiditätsproblemen kämpfen zu müssen.18 Eine Betriebsbefragung von 2010 zeigte, dass die Eigentumsquote im industriellen Mittelstand unter ostdeutschen Unternehmensleitern weiterhin erheblich war. Sie betrug 51 Prozent und lag damit über dem Prozentsatz der westdeutschen Vergleichsgruppe.19 Bei einem erklecklichen Teil der Eigentümer handelte es sich um Unternehmer der „ersten Stunde“, die ihren Betrieb durch Kauf oder Gründung erworben hatten. Etwa zwei Drittel aller ostdeutschen Unternehmensleiter hatten ihre ersten Führungserfahrungen vor 1989 gesammelt.20 Bei nicht wenigen von ihnen handelte es sich um Reprivatisierer sowie MBO-Unternehmer, die eine Familientradition fortführten und vor der Wiedervereinigung als Betriebsleiter in der volkseigenen Wirtschaft gearbeitet hatten. Mithin besaß die Wirtschaft in den neuen Bundesländern auch 20 Jahre nach der Wiedervereinigung noch eine beträchtliche „ostdeutsche DNA“. Durch den Ausbau freiwilliger Leistungen gewannen die IHKn in den neuen Ländern stark an Profil. Gerade im Vergleich mit dem alten Bundesgebiet waren sie 17 18 19 20
Vgl. Innenstadt schlägt grüne Wiese. In: Handelsblatt, 21. Februar 2010. Berlitz u. a., Aufbau, S. 182. Martens/Lungwitz, Leiter, S. 110 f. Ebd. S. 108.
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nicht selten die Anlaufstelle der Wirtschaft schlechthin. Dieser optische Vorsprung erklärt sich allerdings auch aus der Organisationsschwäche von Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden, die in Ostdeutschland erhebliche Mitgliederverluste erlitten hatten.21 Dienstleistungen entfalteten nach Ansicht von Cadel, Diederich und Haag eine stabilisierende Wirkung für die IHKn:22 Unternehmer, die keine Dienstleistungen in Anspruch nahmen, hätten die IHKn meist kritischer gesehen. Sie hätten die Rolle der Kammer als wirtschaftliche Selbstverwaltung und Interessenvertretung oft nicht wahrgenommen. Das Gesamturteil fällt bei Cadel, Diederich und Haag dennoch ambivalent aus: Eine starke Konzentration auf Dienstleistungen habe dazu geführt, dass die ostdeutschen Kammern ein bestimmtes Organisationsmodell favorisierten: Als „Dienstleistungskammern“ neigten sie dazu, aufgabenorientierte Abteilungen zu bilden. Die Aufgabe der Politikberatung habe dadurch mit geringerer Effektivität geleistet werden können als bei einer „klassischen“ branchenorientierten Organisationsweise.23 Im Lichte der Interessenökonomik wirken Dienstleistungen als „selektive Anreize“, die das Organisationsvermögen von Vereinigungen steigern. Dies gilt umso mehr, je heterogener die zugrundeliegende Mitgliederstruktur ist.24 Bei Verbänden mit freiwilliger Mitgliedschaft ist es denkbar, dass die politische Ausrichtung als Vereinigungsmotiv hinter ökonomische Anreize zurücktritt. Dies wäre gegeben, wenn wirtschaftliche Vorteile bei einer Mehrheit der Mitglieder ausschlaggebend dafür sind, sich an einer Organisation zu beteiligen. Für öffentlich-rechtliche Selbstverwaltungskörperschaften wäre dies hingegen problematisch, da ihre Daseinsberechtigung nicht auf individuellem wirtschaftlichem Nutzen beruht.25 Es wäre daher eine logische, aber zu kurz gedachte Schlussfolgerung, die relative Stabilität ostdeutscher IHKn in erster Linie auf die Attraktivität selektiver Anreize zurückzuführen. Es war freilich nicht ausgeschlossen, dass es einen Zusammenhang zwischen diesem und jenem gab – falls Dienstleistungen eine Brücke schlugen, auf der Unternehmer zur aktiven Mitarbeit in der wirtschaftlichen Selbstverwaltung gelangten. In diesem Fall hatten die ostdeutschen Kammern das Repertoire erweitert, das IHKn zur Verfügung steht, um ihre gesetzliche Aufgabe zu erfüllen: die Ermöglichung von Partizipation. Einerseits stützen Diederich, Haag und Cadel diese Vermutung, andererseits schränken sie sie nicht unerheblich ein: Eine starke Konzentration auf Dienstleistungen habe zu einer Effektivitätsminderung im Bereich der Politikberatung geführt. Demnach war ein ausgeprägtes Serviceprofil der Wirksamkeit wirtschaftlicher Selbstverwaltungen eher abträglich. Die Wirksamkeit ostdeutscher IHKn wird letztlich erst im historischen Kontext sichtbar. Auf dem Weg zu einem neuen ostdeutschen Unternehmertum waren gravierende Hürden zu überwinden. Das Ende der DDR-Planwirtschaft hatte den Weg für zahlreiche Unternehmensgründungen geebnet. Intensiver Gründungstätigkeit folgte aber bald eine lange Phase der Konsolidierung. Diese Dynamik brachte ein 21 22 23 24 25
Silva, Mitgliederentwicklung, S. 169 ff. Diederich/Haag/Cadel, Industrie- und Handelskammern, S. 273. Ebd. S. 76. Vgl. Henneberger, Theorien, S. 128 f. Goltz, Kammerverfassung, S. 96.
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spezifisches generatives Muster hervor, das rund 20 Jahre nach Ende des Sozialismus immer noch Bestand hatte: Eine große Zahl ostdeutscher Unternehmer hatte ihre Tätigkeit in den Jahren 1990/91 aufgenommen. In der darauffolgenden Zeit gab es kaum noch erfolgreiche Unternehmensgründungen. Die Dauer der Betriebszugehörigkeit lag bei ostdeutschen Führungskräften über dem Durchschnitt in der westdeutschen Wirtschaft, da auch der Generationenwechsel in den Betrieben häufig hinausgezögert worden war. Martens und Lungwitz sprechen vor diesem Hintergrund von einem „Gelegenheitsfenster für unternehmerische Aktivitäten“26, das bald nach der Wiedervereinigung einstweilen geschlossen war. Die Privatisierung der volkseigenen Wirtschaft der DDR lässt sich daher zu Recht als „window of opportunity“ deuten: als eine historische Chance, die ostdeutsche Unternehmertradition zu neuem Leben zu erwecken. Diese Chance blieb nicht ungenutzt – auch dank der Hilfestellung der „Industriepaten“ sowie der Runden Tische zur Unternehmenssicherung. Dienstleistungen schlugen tatsächlich eine Brücke zur partizipativen Grundidee der IHKn: Sie zeigten, dass die Probleme der ostdeutschen Wirtschaft im Rahmen der wirtschaftlichen Selbstverwaltung effektiv gelöst werden konnten. Sie trugen zur Sanierung der ostdeutschen Betriebe bei, ohne die kein neues ostdeutsches Unternehmertum hätte entstehen können. Hilfen bei der Bewältigung wirtschaftlicher Schwierigkeiten dienten somit nicht nur dem Erhalt einer „Kultur unternehmerischer Selbstständigkeit“27, sondern machten auch dauerhaftes Engagement in den Organen der wirtschaftlichen Selbstverwaltung erst möglich. Eigenen organisatorischen Strukturen, die ostdeutsche Kammern zu diesem Zweck ausbildeten, haftet deshalb kein Makel an. Auch in den alten Bundesländern griff man bald auf Erfahrungen aus den neuen Bundesländern zurück. Dies galt sowohl bei der Aufwertung von Innenstadtquartieren als auch für Runde Tische zur Unternehmenssicherung, die nunmehr auch in Westdeutschland zum Angebot der IHKn zählen. Beispiele wie diese zeigen, dass die neuen Bundesländer tatsächlich Laboratorium eines gesellschaftlichen Großversuchs waren. Hierbei kamen auch unerwartete Ergebnisse und Neuentdeckungen zustande. Durch sie wirkte die Wiedervereinigung nicht nur von West nach Ost, sondern auch von Ost nach West.
26 27
Vgl. Martens/Lungwitz, Leiter, S. 108. Fritsch u. a., Kultur, S. 240.
ANHANG ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS Abs. AEVO AFG AHK Art. ASU BauGB BBiG BFS BGBl. BMBF BMBW BMF BMJ BMWi BSB BvS CDU DDR DIB DIHT
= Absatz = Ausbilder-Eignungsverordnung = Arbeitsförderungsgesetz = Außenhandelskammer = Artikel = Arbeitsgemeinschaft Selbstständiger Unternehmer = Baugesetzbuch = Berufsbildungsgesetz = Bundesverband der Filialbetriebe und Selbstbedienungs-Warenhäuser = Bundesgesetzblatt = Bundesministerium für Bildung und Forschung (ab 1994) = Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft (bis 1994) = Bundesministerium für Finanzen = Bundesministerium der Justiz = Bundesministerium für Wirtschaft = Betrieb mit staatlicher Beteiligung = Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben = Christlich Demokratische Union Deutschlands = Deutsche Demokratische Republik = Deutsche Investitionsbank = Deutscher Industrie- und Handelstag (seit 2001: DIHK/Deutscher Industrie- und Handelskammertag) = Deutsches Seminar für Städtebau und Wirtschaft = Einigungsvertrag = Gesetzblatt = Gesellschaft der Freunde der Handelshochschule Leipzig e. V.
DSSW EV GBl. GdF Geschäftsführerverband = Verband der Geschäftsführer deutscher Industrie- und Handelskammern GG = Grundgesetz GISA = Gemeinschaftsinitiative Ost/Sonderprogramm Sachsen HGK = Handels- und Gewerbekammer HHL = Handelshochschule Leipzig HO = Handelsorganisation (DDR) IGBBiG = Gesetz über die Inkraftsetzung des BBiG durch die DDR IHK = Industrie- und Handelskammer IHKG = Gesetz zur vorläufigen Regelungen des Rechts der IHKn
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KfA KfW KPdSU LAG Lkw MBO MfS MOE ND NZ ÖHLA Ost-CDU PDS Pkw RegVBG RGW ROG SBZ SED SMAD SPD THA UV UV Sachsen VDE VEB VHP VZOG ZK
Anhang
= Kammer für Außenhandel = Kreditanstalt für Wiederaufbau = Kommunistische Partei der Sowjetunion = Landesarbeitsgemeinschaft = Lastkraftwagen = Management-Buy-Out = Ministerium für Staatssicherheit = Mittel- und Osteuropa = Neues Deutschland (Organ des Zentralkomitees der SED) = Neue Zeit = Öffentliche Handelslehranstalt Leipzig = Christlich-Demokratische Union Deutschlands = Partei des demokratischen Sozialismus = Personenkraftwagen = Registerverfahrensbeschleunigungsgesetz = Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe = Raumordnungsgesetz = Sowjetische Besatzungszone = Sozialistische Einheitspartei Deutschlands = Sowjetische Militäradministration in Deutschland = Sozialdemokratische Partei Deutschlands = Treuhandanstalt = Unternehmerverband der DDR = Unternehmerverband Sachsen = Verkehrsprojekte Deutsche Einheit = volkseigener Betrieb = Programm über projektbezogene Vermarktungshilfen für ostdeutsche Unternehmen im Ausland = Vermögenszuordnungsgesetz = Zentralkomitee (der SED)
Anhang
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QUELLENVERZEICHNIS Archive Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv Köln (RWWA), Abt. 181 DIHK. Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (BArch), Abt. DDR.
Akteneditionen Treuhandanstalt (Hg.): Dokumentation 1990–1994. 15 Bde. Berlin 1994. Antwortschreiben des Präsidenten der Treuhandanstalt an den Vizepräsidenten des Unternehmerverbandes Berlin-Brandenburg vom 5. Dezember 1990. In: Treuhandanstalt (Hg.): Dokumentation 1990–1994. Band 10. Berlin 1994, S. 116. Arbeitsanleitung für die Reprivatisierung von Unternehmen und die Rückgabe von Vermögenswerten nach § 6 des Gesetzes zur Regelung offener Vermögensfragen (VermG). In: Treuhandanstalt (Hg.): Dokumentation 1990–1994. Band 10. Berlin 1994, S. 139–165. Fragen, Antworten und Hinweise zur Unternehmensprivatisierung, Stand 18. Juni 1992. In: Treuhandanstalt (Hg.): Dokumentation 1990–1994. Band 10. Berlin 1994, S. 171–180. Information der Treuhandanstalt an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages aus den neuen Bundesländern vom 1. Juli 1992. In: Treuhandanstalt (Hg.): Dokumentation 1990–1994. Band 10. Berlin 1994, S. 169–170. Information zum Stand der Reprivatisierung von Unternehmen gemäß § 6 des Vermögensgesetzes und Schlussfolgerungen, Stand 14. Juni 1991. In: Treuhandanstalt (Hg.): Dokumentation 1990– 1994. Band 10. Berlin 1994, S. 132–135. Reprivatisierung am 31. Juli 1994. In: Treuhandanstalt (Hg.): Dokumentation 1990–1994. Band 10. Berlin 1994, S. 212–216. Vermerk des Referats Reprivatisierung zu den Problemen im Zusammenhang mit der Rückübertragung (Reprivatisierung) von Unternehmen vom 1. März 1991. In: Treuhandanstalt (Hg.): Dokumentation 1990–1994. Band 10. Berlin 1994, S. 119 f. Vermerk Direktor van Scherpenberg für Frau Breuel – Weiterer Ablauf Reprivatisierungen. In: Treuhandanstalt (Hg.): Dokumentation 1990–1994. Band 10. Berlin 1994, S. 108 ff. Bundesministerium des Innern (Hg.): Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90. Bearbeitet von Hanns Jürgen Küsters und Daniel Hofmann. München 1998. Deutschlandpolitisches Gespräch beim Chef des Bundeskanzleramts Seiters in Bonn vom 24. Januar 1990, Dok. 142., S. 701 f. Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Ministerpräsident Modrow in Davos vom 3. Februar 1990, Dok. 158, S. 753–756. Gespräch des Bundesministers Seiters mit dem Staatsratsvorsitzenden Krenz und Ministerpräsident Modrow in Berlin (Ost) vom 20. Dezember 1989, Dok. 96, S. 550–559. Gespräch des Bundesministers Seiters mit Ministerpräsident Modrow in Berlin (Ost) vom 25. Januar 1990, Dok. 145, S. 707–713. Schreiben des Vorsitzenden des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Schneider, an Bundeskanzler Kohl vom 9. Februar 1990, Dok. 168, S. 778–781. Vorlage des Ministerialrats Ludewig an den Chef des Bundeskanzleramts Seiters. Bonn, 13. Dezember 1989, Dok. 122, S. 643 f.
Interviews Chrestensen, Niels Lund: Präsident der IHK Erfurt 1990–2010. Fell, Wolfgang: Präsident der IHK Halle-Dessau 1990–2000. Fischer, Dr. Klaus-Christian: Staatssekretär im Ministerrat der DDR 1989–1990, Leiter der Verbindungsstelle des DIHT in Berlin 1990–1998.
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Anhang
Heimann, Prof. Dr. Peter: Hauptgeschäftsführer der IHK Halle-Dessau 1990–2010. Hintze, Petra: Hauptgeschäftsführerin der IHK zu Neubrandenburg 1990–2012. Hoschke, Dr. Wolfram: Hauptgeschäftsführer der IHK Chemnitz 1990–2005 (ab 1993: IHK Südwestsachsen). Lindstaedt, Dr. Wolfgang: Leiter der Treuhand-Niederlassung Erfurt 1990–1991; Hauptgeschäftsführer der IHK Frankfurt am Main 1993–2004. Pape, Udo: Präsident der IHK Berlin (Ost) 1990. Reinhardt, Brigitte: Geschäftsführerin der Abteilung Handel und Dienstleistungen in der IHK Chemnitz 1990–2003 (ab 1993: IHK Südwestsachsen). Schülke, Gundolf: Hauptgeschäftsführer der IHK Frankfurt an der Oder seit 1993 (ab 2008: IHK Ostbrandenburg). Weidhaas, Ingrid: Geschäftsführerin der Abteilung Aus- und Weiterbildung in der IHK Ostthüringen 1990–2010.
Presse Tagespresse DDR/HGK-Zeitschriften Aufruf der Abgeordneten des Beratungsaktivs der HGK Berlin vom 8. November 1989. In: HGKMitteilungen. Handels- und Gewerbekammer von Berlin, Sonderausgabe/1989. Das Wohl des Volkes ist unser elementarer Leitsatz. Erklärung von Egon Krenz vor der Volkskammer der DDR. In: Neues Deutschland, 25. Oktober 1989. Des Geistes Kraft und der Hände Geschick. Gedenken zur Leistungsentwicklung von Handwerk und Gewerbe. In: Neue Zeit, 4. November 1989. Leistungskraft bitte nicht länger verschenken. Beitrag eines Fuhrunternehmers zum Dialog. In: Neue Zeit, 8. November 1989. Leistungskraft bitte nicht länger verschenken. Unionsfreund Dr. Dietmar Czok sprach mit Suhler Handwerkern und Gewerbetreibenden. In: Neue Zeit, 1. November 1989. Private Gewerbetreibende leisten unverzichtbaren Versorgungsbeitrag. In: Neue Zeit, 23. November 1989. Regierungserklärung des Vorsitzenden des DDR-Ministerrates Hans Modrow. In: Neues Deutschland, 18./19. November 1989. Vorschläge der Handels- und Gewerbekammer des Bezirkes Karl-Marx-Stadt. In: HGK Information, II/1989. Zur Diskussion gestellt: So wenig wie möglich verdienen? Oder: Soviel wie möglich leisten? Überlegungen zur Entwicklung von Handwerk und Gewerbe. In: Neues Deutschland, 28. Oktober 1989. Der SPIEGEL DDR-Handel. Naher Osten. In: Der Spiegel, 37/1984. In Vaters Betrieb zurück. In: Der Spiegel, 4/1990. Wir sind die Trümmerfrauen. In: Der Spiegel, 4/1990. Die Moral hier verroht. In: Der Spiegel, 10/1991. Lehrlinge: Da kommen die Tränen. In: Der Spiegel, 38/1990. Die Plünderer sind unterwegs. In: Der Spiegel, 21/1991. Las Vegas in Leipzig. In: Der Spiegel, 52/1994. DIE ZEIT Wirtschaftsreform in der DDR. Suche nach dem dritten Weg. In: Die Zeit, 51/1989. Mit Zaudern und Zagen. In: Die Zeit, 4/1990. Unruhe wird zu Zorn. In: Die Zeit, 4/1990. Im Dickicht der Finanzen. In: Die Zeit, 23/1991. Todesstoß vom Staat. In: Die Zeit, 17/1992. Stadt ohne Plan. In: Die Zeit, 4/1993.
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Handelsblatt Für das westdeutsche Kapital ist die DDR noch kein guter Standort. In: Handelsblatt, 12. Januar 1990. Bundesbankpräsident Pöhl: Jetzige Einführung der D-Mark „zumindest verfrüht“. In: Handelsblatt, 7. Februar 1990. Währungsunion mit der DDR. Banker so skeptisch wie Bundesbankpräsident Pöhl. In: Handelsblatt, 8. Februar 1990. DIHT – Stufenplan für eine deutsch-deutsche Union. In: Handelsblatt, 9. Februar 1990. DIHT – Forderungen zu einem deutsch-deutschen Zusammenschluss. In: Handelsblatt, 9. März 1990. Gespräch mit dem IG Metall-Bildungsexperten Hiesinger über berufliche Bildung im vereinten Deutschland. In: Handelsblatt, 11. April 1990. DDR: Zentrale Arbeitsverwaltung klagt. Notstand bei Lehrverträgen. In: Handelsblatt, 30. August 1990. Wirtschaft startet in Halle eine Ausbildungsoffensive für die DDR. In: Handelsblatt, 30. August 1990. Mittelstandspolitik. BDI für rasche Privatisierung. In: Handelsblatt, 3. Dezember 1990. Anhörung des Rechtsausschusses zu den Kinkel-Entwürfen. Rohwedder, DGB, SPD und Handwerk wollen Entschädigung statt Restitution. In: Handelsblatt, 6. März 1991. Der Lehrling 1991: Im Westen von der Wirtschaft hofiert, im Osten vom Staat therapiert. In: Handelsblatt, 12. März 1991. Gespräch mit dem neugewählten Hochschulrektor Gerd Goldammer. In: Handelsblatt, 4. Juli 1991. IG-Metall: „Weder gibt es in Ostdeutschland eine ausreichende Zahl von Ausbildungsangeboten, noch ist die Ausbildungsqualität hinreichend“. In: Handelsblatt, 26. Juli 1991. „Einkaufsoffensive“ der Wirtschaft. West-Firmen wollen mehr bei Ost-Partnern ausgeben. In: Handelsblatt, 17. Februar 1993. Einigungsvertrag. Kinkel und Möllemann uneins. In: Handelsblatt, 4. März 1991. Entschädigungsgesetz. Bedenken der Spitzenverbände gegen Vermögensabgabe. In: Handelsblatt, 4. März 1993. Unterstützung für den BDI. In: Handelsblatt, 11. März 1993. Der Streit um das Tyll-Necker-Modell. Warum denn nicht? In: Handelsblatt, 13. März 1993. DIHT plädiert für außerbetriebliche Ausbildung von Schulabgängern. In: Handelsblatt, 21. April 1993. Reprivatisierung. Treuhandanstalt kommt enteigneten Betrieben bei ihrer Entschuldung weitgehend entgegen. In: Handelsblatt, 12. Mai 1993. Bürokraten bremsen Paten-Projekt. In: Handelsblatt, 22. Februar 1994. Treuhandanstalt. Firmenkauf per Katalog möglich. In: Handelsblatt, 9. April 1991. Kanzler-Konferenz. Eigenkapitalhilfe soll verbessert werden. In: Handelsblatt, 7. Juli 1994. Investitionsprojekte bedroht. Magdeburg lehnt Autobahnbau ab. In: Handelsblatt, 2. August 1994. Sachsen-Anhalt will doch über Autobahn reden. In: Handelsblatt, 24. August 1994. Henkel fordert Niedriglohnsektor. Ostdeutsche Industrie effizienter fördern. In: Handelsblatt, 13. Januar 1995. Intensivstation für ostdeutsche Unternehmen. Erfahrene Praktiker helfen Firmen aus der Schieflage. In: Handelsblatt, 8 September 1995. Ausgleichsbank steigt in Patenmodell ein. In: Handelsblatt, 20. Oktober 1997. 1500 Firmen sind bereits am Runden Tisch gerettet worden. In: Handelsblatt, 9. Dezember 1997. „Paten“ sichern im Osten 40 000 Arbeitsplätze. In: Handelsblatt, 10. Februar 2000. Frankfurter Allgemeine Zeitung Ein Bund der Selbstständigen in der DDR. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. Januar 1990. Wertschöpfungspräferenz für Ostdeutschland. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. Dezember 1992. Generalkonsulat in Stettin nicht schließen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. September 1999.
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Parlamentarische Drucksachen Volkskammer der DDR Antrag des Ministerrates der DDR über die Inkraftsetzung des Berufsausbildungsgesetzes der BRD in der DDR. Volkskammer-Drs. 10/121. Bundesrat Beschluss des Bundesrates zum Gesetz zur Änderung des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche vom 18. Dezember 1992. BR-Drs. 836/92. Entwurf eines Gesetzes zum Schutz der Mieter von Geschäftsräumen in den Ländern Berlin und Brandenburg. BR-Drs. 758/93. Deutscher Bundestag Begründung der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zur Beseitigung von Hemmnissen bei der Privatisierung von Unternehmen und zur Förderung von Investitionen. BT-Drs. 12/103. Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zum Schutz der Mieter von Geschäftsräumen in den Ländern Berlin und Brandenburg. BT-Drs. 12/6677. Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses zum Entwurf eines Verbrauchsteuer-Binnenmarktgesetzes. BT-Drs. 12/3893. Bundesraumordnungsprogramm 1975. BT-Drs. 7/3584. Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung und Beschleunigung registerrechtlicher und anderer Verfahren (Registerverfahrenbeschleunigungsgesetz – RegVBG). BT-Drs. 12/5553. Jahresgutachten 1991/92 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. BT-Drs. 12/1618. Jahresgutachten 1995/96 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. BT-Drs. 13/3016. Materialien zur Deutschen Einheit und zum Aufbau in den neuen Bundesländern. BT-Drs. 13/2280. Stellungnahme der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zum Schutz der Mieter von Geschäftsräumen in den Ländern Berlin und Brandenburg. BT-Drs. 12/6677. Unterrichtung durch die Bundesregierung zu Anlage Il Kapitel Ill Sachgebiet B Abschnitt I Nummern 1 und 2 des Einigungsvertrags (Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen). BT-Drs. 11/7831. Landtag Sachsen-Anhalt Volksinitiative zum Bau der Südharz-Autobahn A 82 gemäß Artikel 80 der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt. Landtag Sachsen-Anhalt, Drs. 2/279. Plenarprotokoll 2/3 vom 8. September 1994. Plenarprotokoll 2/8 vom 4. November 1994.
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Statistisches Bundesamt (Hg.): Statistisches Jahrbuch 1996 für die Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart 1996. Steiner, André: Ausgangsbedingungen für die Transformation der DDR-Wirtschaft: Kombinate als künftige Marktunternehmen? In: ZUG 52 (2009), S. 139–157. Steiner, André: Die DDR-Wirtschaftsreform der sechziger Jahre. Konflikt zwischen Effizienz und Machtkalkül. Berlin 1999. Steiner, André: Re-Kapitalisierung oder Sozialisierung? Die privaten und halbstaatlichen Betriebe in der DDR-Wirtschaftsreform der sechziger Jahre. In: Boyer, Christoph (Hg.): Sozialistische Wirtschaftsreformen. Tschechoslowakei und DDR im Vergleich (Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte 210/Das Europa der Diktatur 11). Frankfurt am Main 2006, S. 191–266. Steiner, André: Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR. Berlin 2007. Stihl, Hans Peter: Der „dritte Weg“ führt in die Dritte Welt. In: DIHT (Hg.): DIHT-Kongress Deutsch-Deutscher Marktplatz. 13. Februar 1990 in Berlin (West). Bonn 1990, S. 7–10. Stößer, Hans-Jürgen/Walther, Matthias: 20 Jahre Weißenfelser Wirtschaftsstammtisch. Jubiläumschronik 2012. Weißenfels 2012. Streit, Manfred E./Mummert, Uwe: Grundprobleme der Systemtransformation aus institutionenökonomischer Perspektive. In: Drobning, Ulrich u. a. (Hg.): Systemtransformation in Mittel- und Osteuropa und ihre Folgen für Banken, Börsen und Kreditsicherheiten (Beiträge zum ausländischen und internationalen Privatrecht 64). Tübingen 1998, S. 3–35. Stüer, Bernhard/Landgraf, Beate: Gebietsreform in den neuen Bundesländern – Bilanz und Ausblick. In: LKV 6/1998, S. 209–216. Stüer, Bernhard: Das Bauplanungsrecht in den neuen Bundesländern. In: DVBl 106 (1991), S. 266– 276. Tatzkow, Monika: Die Entwicklung der Industrie- und Handelskammer der Deutschen Demokratischen Republik und ihre Rolle bei der Einbeziehung bürgerlicher Schichten in den Aufbau der Grundlagen des Sozialismus (1953 bis 1958). Berlin 1985. Dies.: Gehen oder Bleiben. Privatindustrielle nach der Staatsgründung. In: Scherstjanoi, Elke (Hg.): „Provisorium für längstens ein Jahr“. Protokoll des Kolloquiums Die Gründung der DDR. Berlin 1993, S. 205–210. Treuhandanstalt (Hg.): Entschlossen Sanieren. Die Rolle der Treuhandanstalt beim Umstrukturierungsprozeß in den neuen Ländern. Berlin 1992. Tullner, Mathias: Geschichte Sachsen-Anhalts. München 2008. Turowski, Gerd: Raumplanung (Gesamtplanung). In: Akademie für Raumordnung und Landesplanung (Hg.): Handwörterbuch der Raumordnung. 4. Aufl. Hannover 2005, S. 893–898. Ulbricht, Walter: Die Bedeutung des Werkes „Das Kapital“ von Karl Marx für die Schaffung des entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus in der DDR und der Kampf gegen das staatsmonopolistische Herrschaftssystem in Westdeutschland. Berlin 1967. Ulbricht, Walter: Die gegenwärtige Lage und der neue Kurs der Partei. In: Ders./Grotewohl, Otto: Der neue Kurs und die Aufgaben der Partei. 15. Tagung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands vom 24. bis 26. Juli 1953. Berlin 1953. Verband der Geschäftsführer deutscher Industrie- und Handelskammern (Hg.): Kollegentag 1990 Lüneburg. Kammern überwinden Grenzen. Fachtagung des Verbands der Geschäftsführer deutscher Industrie- und Handelskammern vom 27. bis 29. September 1990. Ludwigshafen 1991. Verband der Geschäftsführer deutscher Industrie- und Handelskammern (Hg.): Verzeichnis der Geschäftsführer der deutschen Industrie- und Handelskammern und der deutschen Auslandshandelskammern (Geschäftsführerverzeichnis). Karlsruhe 1990. von Einem, Eberhard/Gornig, Martin/Diller, Christian: Revitalisierung der Innenstädte in Ostdeutschland. Untersuchung im Auftrag des Deutschen Seminars für Städtebau und Wirtschaft Bonn (DSSW-Schriften 19). Bonn 1996. von Weizsäcker, Beatrice: Verschwisterung im Bruderland. Städtepartnerschaften in Deutschland. Bonn 1990. Wagner, Karin: The German Apprenticeship System after Unification (Discussionpapers FSI 98 301). Berlin 1998.
280
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REGISTER Kursiv formatierte Seitenangaben verweisen auf Stellen, wo der entsprechende Eintrag ausschließlich im Anmerkungsapparat zu finden ist. Dies gilt auch für Angaben zu den jeweils folgenden Seiten (z. B. 242 f.). PERSONEN Ackermann, Irmgard 47, 74, 76. Altekamp, Heinrich 61, 63, 122. Beil, Gerhard 70 f., 78. Biedenkopf, Kurt 244. Bloch, Christian 101. Bönninger, Karl 232 f. Braun, Günter 57, 59 f. Breuel, Birgit 185 f., 189 f. Chrestensen, Niels Lund 27, 101, 190 f., 199 f., 228. Czok, Dietmar 47. Fell, Wolfgang 27, 48, 75 f., 101 f., 149, 197, 225, 227 f. Fischer, Klaus-Christian 27, 71 f., 80, 84, 97, 116, 140, 161 f., 228, 230 f. Hattig, Josef 200. Haussmann, Helmut 68, 72, 78. Heimann, Peter 27, 103 f., 106, 123, 167, 172, 200. Henkel, Hans-Olaf 202. Herms, Karl-Heinz 110. Herold, Thomas 78 f. Heymel, Hans 125. Hiesinger, Karl-Heinz 131 f., 135, 147. Hintze, Petra 27, 105 f., 246 f. Hinz, Hans Werner 73 f., 92, 115. Hoffmann, Florian 101. Honecker, Erich 36, 39, 43, 66, 173, 175, 185, 250. Hontschik, Wilfried 64, 102, 112. Horn, Elvira-Maria 63, 108. Hoschke, Wolfram 27, 104, 113 f., 124, 220. Jungbauer, Werner 60, 114 ff. Kaplick, Karl-Heinz 109 f. Kessow, Julius 101, 105 f., 118. Kinkel, Klaus 186. Klinz, Wolf 182 f. Kohl, Helmut 57 f., 70, 74, 81, 141, 178, 190.
Krenz, Egon 40, 44 f., 47, 50, 70. Leue, Hans-Joachim 102. Liesberg, Hansheinrich 102, 193 f., 197 f. Lindstaedt, Wolfgang 27, 123, 190, 204. Luft, Christa 65–69, 71, 78, 85, 97, 173 f. Maizière, Lothar de 141, 228, 255. Manegold, Dieter 100 f., 118 f., 124, 141, 244 f. Mittelsten Scheid, Jörg 68 f. Modrow, Hans 20, 50 ff., 65, 67, 69 f., 74, 76, 85, 180. Möllemann, Jürgen Wilhelm 187. Münchmeyer, Heinrich Alwin 56. Necker, Tyll 195, 201 f., 255. Niethammer, Frank 200, 203, 205. Oefler, Michael 64, 72, 91. Pape, Udo 27, 48 f., 62, 64, 91, 94 f., 98, 102, 109, 118. Pieper, Theodor 75 f. Pohl, Eberhard 102. Pöhl, Karl Otto 81. Puffe, [Vorname unbekannt, J. M.] 240. Raddatz, Rolf 146. Raydt, Hermann 243. Reinhardt, Brigitte 27, 54, 63, 115, 157. Rohwedder, Detlev 181 f., 187, 189 f., 203. Rothe, Klaus-Michael 103, 107, 198. Schoser, Franz 55, 58 ff., 69, 72, 75, 78 ff., 82, 87, 91, 95 f., 104, 108, 114, 119 f., 123, 132, 136, 145 f., 149, 189, 230, 235. Schülke, Gundolf 27, 110. Schürer, Gerhard 44. Schwarz-Schütte, Rolf 68. Sochański, Bartłomiej 247. Sommerlatt, Rudolf 101, 228. Staake, Ulrike 101. Stadermann, Rudolf 80, 108. Steinmann, Horst 101, 204.
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Register
Stihl, Hans Peter 42, 73, 77, 80, 114, 120, 131 f., 141, 143, 145, 176 f., 195–198, 200, 206, 225. Stolpe, Manfred 230. Thoben, Christa 104.
Trippen, Ludwig 244. Ulbricht, Walter 30 f., 33, 35 f., 173, 243. Vehling, Werner 57. Weldige-Cremer, Wessel de 117, 119, 123 f.
SACHEN Industrie- und Handelskammern sind über das Ortsregister recherchierbar. Orte werden nahezu ausschließlich im Zusammenhang mit der Vorgeschichte, Gründung sowie dem Aufbau ansässiger Kammern genannt, sodass auf eine nochmalige Aufführung im Sachregister verzichtet werden konnte. Des Weiteren wurden die Einträge „DIHT“ sowie „SED“ ausgelassen, da eine Aufnahme ins Sachregister in Anbetracht der Vielzahl an Fundstellen nicht sinnvoll erschien. AHK(n) 213 ff., 247. BBiG 128, 130–135, 137. Beratungsaktiv 41, 48 f., 54, 62, 64. Bezirkswirtschaftsrat (bzw. -räte) 33, 56 f., 59, 70–72, 74, 77, 84 f., 87, 92, 122, 251. BMBW (ab 1994: BMBF) 132, 142, 150, 246. BMF 232 f., 235. BMJ 178 f., 185, 187, 197 f., 231, 234 ff. BMWi 72, 118, 132, 159, 166, 182, 187, 206 f., 213 f. BSB 32, 34 ff. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 171 f. Bündnispolitik 30, 38, 53. CDU (Ost) 37, 45 ff., 49, 51, 93. CDU 58, 93, 171. DER SPIEGEL 140, 158, 165, 204. DIE ZEIT 70, 164. DSSW 166 f., 169, 254. Einigungsvertrag 16, 143, 153, 161 f., 178 f., 187 f., 198, 229–232, 234–236, 238, 254. FDP 235 f. Gauwirtschaftskammer(n) 11, 28, 232 f., 239. GdF 244. GISA 149 f. Handelsblatt 81, 131 f., 135, 141. HGK(n) 12, 17, 26, 40–42, 47–57, 59–64, 69, 71–76, 79, 82, 85–87, 93, 99, 101 f., 105–108, 112, 114, 119, 122, 125, 230, 233, 250 f., 254.
HHL 242–245. IGBBiG 133 f., 139. IHK der DDR 31 ff., 46, 232 f., 240. IHKG 11 f., 73, 83 f., 86, 130, 216, 232 f., 238 f., 251. IHT der DDR 91 f. KfA 27, 56, 78 f., 85, 91–96, 98, 123, 212. KfW 69, 196, 201. Kommissionshandel 32–35, 37–41, 48, 53. Kramerschatz 239 ff., 244 f. Kramerstiftung 243 f. MBO 191 ff., 205–208, 210, 255, 257. ND 38 ff.,45 f., 51. NDPD 37, 54, 97. NZ 45, 47. ÖHLA 242 ff. Ostsee-Zeitung 105 f. RGW 92, 212 f. SMAD 28 f. SPD 90, 93, 133 f., 171 f., 187. Treuhandanstalt (bzw. BvS) 24, 99, 109 f., 144, 180–193, 195–198, 203–206, 209–211, 229 f., 233, 253, 255. UV der DDR 79 f., 100, 108. UV Sachsen 100 f. VHP 241 f. Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion 16, 81 f., 85, 95, 128, 132 f., 179, 186, 191 f., 209. WirtschaftsWoche 140.
Länder und Orte
283
LÄNDER UND ORTE Apolda 222. Artern 218 f., 222. Bad Salzungen 219, 222. Bayreuth 54, 60, 88, 114 f., 126. Berlin (Ost) 19, 31, 33, 39, 48 ff., 52, 58 f., 62, 64 f., 70–74, 80, 88, 90 f., 93 ff., 97 f., 102, 108 f., 117 f., 125, 179, 204, 225. Berlin (West) 59 ff., 62 f., 78 ff., 82, 87 f., 91, 108, 173, 194, 255. Berlin (wiedervereinigt) 26, 160, 162 ff., 191 f., 195, 197, 205, 211, 214 f., 219, 222, 225, 234. Bielefeld 78, 88. Bitterfeld 222. Bochum 88, 110. Bonn 55, 68, 87 f., 115, 196, 205. Brandenburg 103 f., 157, 162 ff., 167, 216, 218 f., 222, 226, 230, 235, 247. Brandenburg an der Havel 222. Braunschweig 57, 88. Bremen 64, 88, 112, 200. Chemnitz (von 1953 bis 1990 Karl-MarxStadt) 52 ff., 60, 63, 71, 88, 93, 96, 101 f., 104 f., 111–117, 220, 157, 160, 196, 204, 218, 220 f., 229, 236, 244, 252. Coburg 88, 125. Cottbus 38, 73, 88 f., 101, 105, 117, 124, 167, 217 f., 219, 222, 230. Darmstadt 88, 126. Dessau 28, 112, 167, 170, 218, 220, 222. Dortmund 88, 113 f. Dresden 19, 52, 54, 61–65, 71 f., 78, 80, 88 f., 91, 108, 112, 114, 117, 122, 150, 161, 167 ff., 197, 212, 217 f., 220 f., 227, 234, 236, 250. Düsseldorf 68, 88, 101, 160, 205. Duisburg 75, 76, 88. Eberswalde 48, 222. Eisenach 222. Eisleben 170, 222. Erfurt 75, 88, 94 f., 101 f., 117, 126, 156, 190 f., 199 f., 203 f., 217 f., 219, 222 f., 228, 231–234. Essen 88, 225. Frankfurt (Oder) 18, 48, 56, 75, 88, 109 f., 117, 144, 219, 222, 229 f., 253. Frankfurt am Main 56, 88, 119, 126, 190, 200, 203 ff., 243. Fürstenwalde 222. Fulda 88, 125 f.
Gera 47, 51 f., 60, 63, 69, 75, 87 f., 98 f., 101, 117 f., 126, 204, 217 f., 219, 230, 231–234. Görlitz 28, 89 f., 112, 221. Gotha 203, 222. Göttingen 170. Greifswald 165, 218, 222. Halle (Saale) 17, 29, 47, 73–76, 88, 97, 99, 112, 117, 123, 141 ff., 145, 156, 167, 170, 171 ff., 192, 197, 200, 220, 225 ff., 229, 231. Hamburg 88, 91, 160. Hannover 76 f., 88 f., 100, 124. Heilbronn 88, 145. Heiligenstadt 222. Karlsruhe 88, 103. Kassel 88, 126, 170. Köln 25, 88, 205, 242, 245. Königs-Wusterhausen 222. Krefeld 88, 117, 123. Leipzig 18, 28, 43, 57, 76 f., 88 f., 96, 100 f., 114, 117 f., 124, 142, 150, 155–158, 160 f., 165, 168, 196, 204, 210 f., 218, 220, 224, 227 f., 232, 235 f., 239–245, 248, 257. Luckenwalde 222. Lübeck 88, 108. Lüneburg 88, 182. Magdeburg 28, 57, 73, 75, 88, 102, 117, 158, 167, 171 f., 218, 226 f., 230. Mecklenburg-Vorpommern 103, 105 f., 108, 157, 167, 207, 216, 218 f., 221, 226, 233, 247. Mühlhausen 126, 222. München 88, 125, 245. Münster 61, 63, 76, 88, 104 ff., 122. Neubrandenburg 18, 27, 61, 76, 88, 101, 105 f., 117 f., 122, 163, 168, 218 f., 222, 229, 239, 245–248. Neuruppin 222. Nordhausen 126, 222. Nürnberg 55, 60 f., 69, 87 f., 205. Oranienburg 222. Plauen 112–116, 126, 220, 252. Potsdam 88, 95, 97, 99, 102, 117, 142, 205, 217 f., 219, 222, 229. Pritzwalk 222. Rostock 19, 41, 54 f., 61, 64 f., 71, 88, 102, 107, 112, 117, 156, 161, 168, 199, 202, 218 f., 221 f., 233, 236, 248, 256. Sachsen 100, 157, 162, 167, 201, 206, 216 ff., 220 f., 227 f., 239, 242 f.
284
Register
Sachsen-Anhalt 29, 75, 157, 167, 170, 216, 218 ff., 226 ff. Sangerhausen 170. Schwerin 32, 37, 38 f., 73, 86, 88 f., 102, 103, 106, 117, 142, 144, 154, 167 f., 193 f., 198, 202, 207, 217 ff., 221 f., 229, 237, 246. Sömmerda 222. Sonneberg 112, 125 f., 221. Stettin (Szczecin) 246 ff. Stralsund 221 f., 246. Stuttgart 62 f., 88, 115. Sülsdorf 47.
Suhl 18, 47, 75, 88, 101 f., 112, 117, 125 f., 142, 153, 219, 229. Thüringen 126, 157, 167, 190 f., 200, 206, 216, 218 f., 226, 232. Tier 88, 101. Weimar 126, 222. Weißenfels 221 f. Wetzlar 88, 126 f. Wiesbaden 88 f., 126. Würzburg 88, 115, 118, 124 f., 153. Wuppertal 73, 78, 88 f., 111, 121. Zwickau 112–116, 126, 220 f., 252.
v i e rt e l ja h r s c h r i f t f ü r s o z i a l u n d w i rt s c h a f t s g e s c h i c h t e – b e i h e f t e
Herausgegeben von Günther Schulz, Jörg Baten, Markus A. Denzel und Gerhard Fouquet.
Franz Steiner Verlag
ISSN 0341–0846
178. Hans Pohl Wirtschaft, Unternehmen, Kreditwesen, soziale Probleme Ausgewählte Aufsätze 2005. 1. Band: XII, 1–872 S., 2. Band: VIII, 873–1333 S., geb. ISBN 978-3-515-08583-0 179. Moritz Isenmann Die Verwaltung der päpstlichen Staatsschuld in der Frühen Neuzeit Sekretariat, Computisterie und Depositerie der Monti vom 16. bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert 2005. 182 S., kt. ISBN 978-3-515-08523-6 180. erscheint nicht 181. Henning Trüper Die Vierteljahrschrift für Sozialund Wirtschaftsgeschichte und ihr Herausgeber Hermann Aubin im Nationalsozialismus 2005. 167 S., kt. ISBN 978-3-515-08670-7 182. C. Bettina Schmidt Jugendkriminalität und Gesellschaftskrisen Umbrüche, Denkmodelle und Lösungsstrategien im Frankreich der Dritten Republik (1900–1914) 2005. 589 S., kt. ISBN 978-3-515-08706-3 183. Josef Matzerath Adelsprobe an der Moderne Sächsischer Adel 1763–1866. Entkonkretisierung und nichtrationale Rededefinition einer traditionalen Sozialformation 2006. 611 S., geb. ISBN 978-3-515-08596-0 184. Brigitte Kasten (Hg.) Tätigkeitsfelder und Erfahrungshorizonte des ländlichen Menschen in der frühmittelalterlichen Grundherrschaft (bis ca. 1000) Festschrift für Dieter Hägermann zum 65. Geburtstag
185.
186.
187.
188.
189.
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Die ostdeutsche Institutionenbildung gilt als wissenschaftlich bereits eingehend untersucht. Es stellt sich somit die Frage, ob sich für den gesellschaftlichen Integrationsprozess der 1990er Jahre überhaupt noch neue Perspektiven durch eine archivgestützte Forschung – die erst durch das Auslaufen archivischer Sperrfristen in den Fokus der Zeitgeschichte rücken kann – erschließen lassen. Jann Müller ergänzt die Deutungsangebote der Nachbardisziplinen in seiner Studie um eine zeithistorische Kontextualisierung. Etablierte Sichtweisen lassen sich in diesem Lichte hinterfragen. So muss der Ursprung der ostdeutschen Industrie- und
Handelskammern weniger als bisher aus der Eigenlogik der deutschen Wiedervereinigung als vielmehr aus den Umständen der Friedlichen Revolution der DDR verstanden werden. Die Wiedervereinigung stellte die neue wirtschaftliche Selbstverwaltung vor eine veritable Bewährungsprobe. Bei Entstehung und Bewährung der neuen Kammern spielte nicht zuletzt das Zusammenwirken von Industrie- und Handelskammern, dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) und der Politik eine große Rolle. Eine bislang vernachlässigte Thematik, in die der Autor interessante neue Einblicke geben kann.
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ISBN 978-3-515-11565-0