Verkehrte Welten?: Forschungen zum Motiv der rituellen Inversion 9783486727678, 9783486704839

The essays in this volume on rituals of inversion from ancient times to the early modern period aim to critically examin

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German Pages [339] Year 2013

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Table of contents :
Vorwort 7
Im Schatten der Saturnalien. Zur Theoriegeschichte der „verkehrten Welt“
Inversion, Codeverletzung, Spott. „Karnevaleske Elemente“ im antiken Griechenland
Die Saturnalien. Zu Fragen von Ursprung, Funktion und Bedeutung
Eine verkehrte Ordnung als Ordnungsfundament? Analytische Reflexionen zur mittelalterlichen Gründonnerstagsfußwaschung als Inversionsritual
„Kreative Zerstörung“. Verkehrung und Rekonstruktion von Sinn in den „Quaestiones fabulosae“ des Spätmittelalters
„Episcopus Puerorum, Christum puerum verum et eternum pontificem signans“. Das Kinderbischofsfest im Spiegel englischer Überlieferung
Zwischen Spott und Frömmigkeit. Spätmittelalterliche Festkönige und das Paradigma der Verkehrung
„wu is all dinck so sehr verkehrt“. Rituale und Semantiken der Verkehrung im Münsteraner Täuferreich
„Wie bei denn Heyden ahn den Saturnalibus …“. Ein Reichskammergerichtsprozess um das Hemsbacher Königreich als Beispiel konfessioneller Argumentation und Ritualdeutung im 16. Jahrhundert
Eine widerwärts widerwärtige Welt. Die Konstruktion des Hexenglaubens aus Metaphern und Symboliken der Verkehrung
Purim – Erinnern in Verkehrung
Endzeit als Wendezeit? Zum Einfluss von Naherwartungen auf die rituelle Praxis in jüdischen und christlichen Gemeinschaften in der Frühen Neuzeit
Die Autorinnen und Autoren
Personenregister
Sachregister
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Verkehrte Welten?: Forschungen zum Motiv der rituellen Inversion
 9783486727678, 9783486704839

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Verkehrte Welten?

Historische Zeitschrift // Beihefte (Neue Folge)

beiheft 60 herausgegeben von andreas fahrmeir und lothar gall

oldenbourg DOI 10.1515/9783486727678.fm

Dominik Fugger (Hrsg.)

Verkehrte Welten? Forschungen zum Motiv der rituellen Inversion

Oldenbourg Verlag München 2013

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog recorg for this book has been applied for at the Library of Congress.

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Inhalt

Vorwort // Dominik Fugger

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Im Schatten der Saturnalien. Zur Theoriegeschichte der „verkehrten Welt“ // Dominik Fugger Inversion, Codeverletzung, Spott. „Karnevaleske Elemente“ im antiken Griechenland // Richard Gordon Die Saturnalien. Zu Fragen von Ursprung, Funktion und Bedeutung // Hendrik S. Versnel Eine verkehrte Ordnung als Ordnungsfundament? Analytische Reflexionen zur mittelalterlichen Gründonnerstagsfußwaschung als Inversionsritual // Jörg Sonntag

_____ 102

„Kreative Zerstörung“. Verkehrung und Rekonstruktion von Sinn in den „Quaestiones fabulosae“ des Spätmittelalters // Werner Röcke _____ 128 „Episcopus Puerorum, Christum puerum verum et eternum pontificem signans“. Das Kinderbischofsfest im Spiegel englischer Überlieferung // Tanja Skambraks

_____ 145

Zwischen Spott und Frömmigkeit. Spätmittelalterliche Festkönige und das Paradigma der Verkehrung // Torsten Hiltmann

_____ 171

„wu is all dinck so sehr verkehrt“. Rituale und Semantiken der Verkehrung im Münsteraner Täuferreich // Christina Brauner

_____ 192

„Wie bei denn Heyden ahn den Saturnalibus …“. Ein Reichskammergerichtsprozess um das Hemsbacher Königreich als Beispiel konfessioneller Argumentation und Ritualdeutung im 16. Jahrhundert // Anne Christina May

_____ 218

Eine widerwärts widerwärtige Welt. Die Konstruktion des Hexenglaubens aus Metaphern und Symboliken der Verkehrung // Katrin Moeller Purim – Erinnern in Verkehrung // Julia Carls

_____ 244 _____ 280

Endzeit als Wendezeit? Zum Einfluss von Naherwartungen auf die rituelle Praxis in jüdischen und christlichen Gemeinschaften in der Frühen Neuzeit // Jeannine Kunert

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Die Autorinnen und Autoren

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Personenregister

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Sachregister

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Vorwort

Die „verkehrte Welt“ gehört zu den seit langem eingeführten Interpretationsmustern rituellen Verhaltens. Wie alle Klassiker bedarf auch sie zuweilen der Überprüfung. Diesem Unternehmen ist der vorliegende Band gewidmet. Hervorgegangen ist er aus einem Forschungsschwerpunkt, den sich die im Erfurter Universitären Schwerpunkt Religion angesiedelte Nachwuchsforschergruppe „Religiöse Rituale in historischer Perspektive“ über zwei Jahre hinweg gegeben hat. Eröffnen konnten wir dieses Vorhaben mit einer Tagung im Januar 2010. Eine Reihe der hier versammelten Beiträge wurde dort erstmals vorgetragen und diskutiert. In der Folge ließen sich weitere Fachleute gewinnen, das Gespräch in Erfurt mit eigenen Beiträgen fortzusetzen und zu bereichern. Im Sommer 2012 konnten wir das Projekt einstweilen abschließen. Wir freuen uns, als vorläufiges Ergebnis nun zwölf Aufsätze präsentieren zu können, in denen sich die in dieser Zeit geführten Diskussionen beispielhaft abbilden und die zugleich den ferneren Diskussionsbedarf andeuten. Am Beginn des Bandes steht ein Versuch des Herausgebers, die Theoriegeschichte der „verkehrten Welt“ in den entscheidenden Stationen zu rekonstruieren. Alle weiteren Beiträge sind rituellen Erscheinungen gewidmet, die entweder bislang unter der Verkehrungsperspektive betrachtet wurden oder deren Betrachtung Aufschluss über die Reichweite des theoretischen Modells verspricht. Um die Debatte nicht disparat werden zu lassen, haben wir uns von Anfang an für eine Eingrenzung der Beiträge auf den europäischen Raum entschieden. Denn dieser bietet genügend Material, um die Grundfrage nach dem heuristischen Wert des Verkehrungstopos an immer neuen Gegenständen zu prüfen. Zudem wurde bei der Zusammenstellung der Beispiele Wert darauf gelegt, allfällige Querverbindungen sichtbar zu machen. Eine höhere Beschreibungsdichte durch eine klare geographische Grenzziehung schien angezeigt. Dass hierbei immer noch eine Auswahl zu treffen war, die notwendiger- und bewussterweise die Schwerpunkte gegenwärtiger Forschung in diesem Feld abbildet, versteht sich von selbst.

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Eine wissenschaftliche Kategorie wie die der Verkehrungsrituale beruht auf der Behauptung der Homogenität einer Menge von Erscheinungen unter einem bestimmten Aspekt. Ob man diese Homogenität in dem im Folgenden ausgebreiteten Material findet und, wichtiger noch, ob der Verkehrungsaspekt als heuristisch lohnender Zugriff darauf erscheint, das soll mit diesem Band nicht entschieden, wohl aber als Problem ins Bewusstsein gerückt werden. Die Reihe der Einzeluntersuchungen nimmt ihren Ausgang von der Antike: Richard Gordon diskutiert Verkehrungsphänomene in der antiken griechischen Festkultur und plädiert für ein Verständnis, das Funktion und Symbol nicht als einander ausschließende Perspektiven betrachtet. Für die Berechtigung unterschiedlicher Blickwinkel votiert auch Henk Versnel, der in einem klassisch funktionalistischen Zugriff auf breiter Quellengrundlage die römischen Saturnalien als Verkehrungsfest vorstellt. Der größte Teil der Beispiele ist der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Überlieferung entnommen: Jörg Sonntag erörtert die Gesichtspunkte, unter denen die Fußwaschung am Gründonnerstag in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen als Ritual der Selbstdemütigung in einem klösterlichen Zusammenhang zu betrachten ist. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht beleuchtet Werner Röcke am Beispiel der spätmittelalterlichen Quaestiones fabulosae die kreativen Potentiale der Verkehrung des Vertrauten und verweist dabei auf die Rolle von Sprache und Imagination. Tanja Skambraks untersucht das mittelalterliche Knabenbischofsfest anhand englischer Quellen und stellt dabei den symbolischen Eigenwert der mit diesem Ritual verbundenen Rangverkehrung heraus. Torsten Hiltmann gibt eine Übersicht über verschiedene ephemere Königsgestalten in Mittelalter und Früher Neuzeit und plädiert dafür, eine Sichtweise, welche die vorübergehende Gewalt der „anderen Könige“ in apriorische Opposition zur normativen Ordnung setzt, zugunsten einer differenzierten Betrachtung hinter sich zu lassen. Christina Brauner deutet in Anknüpfung an Norbert Schindler die Verkehrungspraktiken des Münsteraner Täuferreichs als Momente karnevalesker Ambivalenz zwischen Komik und Aufruhr. Anhand eines Reichskammergerichtsprozesses um den „Hemsbacher Pfingstkönig“ untersucht Anne Christina May, wie der Verkehrungstopos in einem konkreten historischen Konfliktfall zum Argument wurde und welche konkurrierenden Perspektiven auf das Ritual sich in den Akten niederschlagen. Katrin Moeller widmet ihren Artikel der Bedeutung des Verkehrungstopos in der Hexereiattribution und den Mechanismen, mittels deren die „verkehrte Welt“ in soziale Wirklichkeit überführt

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BEIHEFT

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wurde. Julia Carls zeigt am Beispiel der rituellen Verkehrungen, die sich mit dem jüdischen Purimfest verbinden, wie sich im Zusammenspiel von symbolischem Verständnis und rituellem Tun ein performatives Gedächtnis ergibt. Jeannine Kunert schließlich geht dem Zusammenhang von Verkehrungspraktiken und Endzeiterwartung am Beispiel millenaristischer Gruppen in der Frühen Neuzeit nach. Sie betont dabei die zweifache Funktion solcher Riten, nämlich die gemeinschaftsbildende und die transzendente. Dass die Autorinnen und Autoren den Erkenntniswert der „verkehrten Welt“ für das Verständnis des jeweils gewählten Phänomens unterschiedlich beurteilen, gehört zum Prinzip dieses Bandes. Es geht ihm aus der Perspektive des Herausgebers nicht darum, mit empirischem Material ein theoretisches Konzept zu unterfüttern. Stattdessen zielt er darauf, das Erklärungsmuster „Verkehrung“ in der theoretischen Formation, die es im Laufe einer langen Theoriegeschichte erhalten hat, anhand bekannter und unbekannter Quellen kritisch zu prüfen, seine Reichweite zu bestimmen, es gar, wenn nötig, am Objekt zu falsifizieren. Dann, so die Hoffnung, können sich neue Perspektiven auf die Phänomene entwickeln und alte Festlegungen aufgebrochen werden. Das Bewusstsein, dass hergebrachte Frontstellungen in der Ritualforschung zu überwinden sind, dass ein neuer Blick auf die Quellen möglich und nötig ist, durchzieht viele der hier versammelten Beiträge und darf daher wohl mit Recht als ein wesentlicher Ertrag des hiermit abgeschlossenen Projekts behauptet werden. Was daraus erwächst, das wird die Zukunft zeigen. Der Dank des Herausgebers gilt allen, die sich in den vergangenen Jahren in unterschiedlicher Weise an diesem Projekt beteiligt haben. In erster Linie sind die Beiträgerinnen und Beiträger zu nennen; ohne sie gäbe es diesen Band nicht. Dank gebührt aber auch all jenen, die in anderer Weise – etwa durch die Übernahme einer Sektionsleitung auf der Tagung – geholfen haben. Stellvertretend für viele weitere seien hier genannt: Gerd Althoff, Benedikt Kranemann, Gert Melville, Wolfgang Reinhard, Jörg Rüpke, Barbara Stollberg-Rilinger. Für organisatorische Unterstützung danke ich Birgit Hosselmann und Manuela Seifert. Für die redaktionelle Bearbeitung im Haus habe ich Stefanie Albert und in besonderer Weise Christian Scherer zu danken, ebenso Henry Heitmann-Gordon, der die Übersetzungen aus dem Englischen besorgte. Nicht vergessen sei die finanzielle Unterstützung, die das Projekt im Laufe der Zeit aus verschiedenen Quellen erhielt: von der Fritz Thyssen Stiftung, der Marga und Kurt Möllgaard-Stiftung, der Fürstlich und Gräflich Fuggerschen Dr. Johannes-Mylius-Stiftung und dem Förderprogramm

VORWORT

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Proexzellenz des Freistaats Thüringen. Last but not least danke ich den Herausgebern der Historischen Zeitschrift für die Aufnahme des Bandes unter die Beihefte der Historischen Zeitschrift und der Frankfurter Redaktion für die gute Zusammenarbeit. Erfurt, im Juli 2013

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Dominik Fugger

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Im Schatten der Saturnalien Zur Theoriegeschichte der „verkehrten Welt“ von Dominik Fugger

Über lange Zeit hinweg konnte es als ausgemacht gelten, dass mit dem Karneval, verstanden als spöttisch-subversive Verkehrung der Verhältnisse, ein anthropologisches Muster gefunden sei, gleichsam eine Grundkategorie menschlichen Handelns in Vergangenheit und Gegenwart. Über die gesellschaftlichen Wirkungen karnevalesken Tuns mochte man unterschiedlicher Auffassung sein, aber dass es möglich sei, nicht nur die Fastnacht selbst, sondern eine Vielzahl von Riten und Verhaltensweisen im Licht der „verkehrten Welt“ zu begreifen, das konnte ernsthaft, so schien es, kaum mehr jemand bestreiten. 1 Neuerdings indessen regen sich Zweifel. Ein zunehmendes Interesse an traditionell fastnächtlich gedeuteten Erscheinungen – angefangen bei ephemeren Königsgestalten 2, über die Knabenbischofs- und Narrenfeste 3, bis hin zu Spottprozessionen der Reformationszeit 4 – hat neue Perspektiven geltend gemacht, und es verbreitet sich der Verdacht, derlei Phänomene könnten in der Vergangenheit „mit dem Label des Karnevalesken eher zum Schweigen als zum Reden gebracht“ 5 worden sein. In dieser Situation mag es hilfreich scheinen, ein wenig Theoriearchäologie zu

1 Vgl. etwa Johannes Grabmayer, Die „verkehrte Welt“, in: Das Königreich der Narren. Fasching im Mittelalter. Klagenfurt o.J. [2009], 7–20. 2 Dazu ausführlich der Aufsatz von Torsten Hiltmann in diesem Band. Vgl. im Weiteren den von Hiltmann herausgegebenen Sammelband: Les „autres“ rois. Études sur la royauté comme notion hiérarchique dans la société au bas Moyen Âge et au début de l’époque moderne. München 2010, hier insbes. Hiltmanns Einführung: Les „autres“ rois, 9–21, und Dominik Fugger, Das Königreich am Dreikönigstag. Eine historischempirische Ritualstudie. Paderborn 2007. 3 Max Harris, Sacred Folly. A New History of the Feast of Fools. Ithaca 2011. 4 Anselm Schubert, Das Lachen der Ketzer. Zur Selbstinszenierung der frühen Reformation, in: Zs. für Theol. und Kirche 108, 2011, 405–430. 5 Ebd.406. Eine Überprüfung der „verkehrten Welt“ als Erklärungsansatz fordert jüngst explizit Gregor Rohmann, Kosmos, Kirche und Mensch in der Bedeutungsgeschichte eines mittelalterlichen Krankheitskonzepts. Göttingen 2013, 261f.

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betreiben. Denn die „verkehrte Welt“ hat ihre Geschichte. Sie beginnt in der Renaissance. Das Wissen über die Antike, das der Humanismus erarbeitete, spannte seit dem 15.Jahrhundert eine Vergleichsebene für die frühneuzeitliche religiöse Praxis auf. Für nahezu jedes Fest ließ sich aufgrund kalendarischer Entsprechung oder phänomenologischer Ähnlichkeiten ein antikes Pendant finden. Die Ergebnisse dieser assoziativen Suche nach Vorläufern fallen im Einzelnen sehr verschieden aus, eine Traditionsbildung setzt erst später ein. Für den Karneval etwa, um gleich das prominenteste Beispiel zu nennen, finden sich die Bacchanalien, Lupercalien, Quinquatrus minores, Megalensia und die Saturnalien nebst anderen; im 17.Jahrhundert tritt noch das jüdische Purimfest hinzu. Für das Narrenfest werden die Januarkalenden und die Parentalia ebenso genannt wie wiederum die Saturnalien, welch Letztere auch für das Weihnachtsfest selbst, das Königreich zu Epiphanie und eine Reihe weiterer Rituale in Anspruch genommen werden. Nicht minder facettenreich ist das Verhältnis, in das die christlichen Feste zu ihren zumeist römischen Pendants gesetzt werden. Die Spanne reicht von der Vorstellung nahezu ungebrochener Kontinuität über die bewusste Einführung nach antikem Vorbild bis hin zu eher funktionalen Parallelen, und längst nicht immer wird vollkommen deutlich, wie die behaupteten Bezüge genau gedacht sind. Historischgenetische und anthropologische Argumentationen stehen so von Anfang an nebeneinander. Schließlich sind die Schlussfolgerungen unterschiedlich, die man in der Zeit aus den wahrgenommenen Parallelen ziehen konnte. Namentlich aus einer streng reformierten Perspektive konnte das christliche Fest als solches diskreditiert erscheinen, jedenfalls aber waren es seine Rituale. Anders lagen die Dinge im Katholizismus. Zwar gewann hier eine Ritualkritik, die mit dem Topos „heidnisch“ operierte, ebenfalls an Boden, doch richtete sie sich in der Regel nicht auf die kirchlichen Feste selbst, sondern nur auf die rituelle Praxis. Daneben hielt sich in katholischen und anglikanischen Kreisen bis ins 17.Jahrhundert hinein eine Haltung, die historische Kontinuitäten annehmen konnte, ohne daraus überhaupt ein Unwerturteil ableiten zu müssen. Das Luthertum beteiligte sich an der Debatte mit einer gewissen Zurückhaltung und ohne klares konfessionelles Profil. Die Rückwirkungen des Konformitätsdiskurses auf die einzelnen Feste und ihre jeweiligen Begehensweisen sind ebenfalls unterschiedlich. So gerät etwa der Knabenbischof schon im 15.Jahrhundert unter Druck und muss in den folgenden Jahr-

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hunderten fast all seine angestammten Sitze in Europa räumen. Konfessionelle Unterschiede zeigen sich bei anderen Ritualen: Der König zu Epiphanie verschwindet bis 1700 aus den reformierten Gegenden, muss aber auch andernorts Terrain abgeben. Und selbst das Weihnachtsfest wird 1659 in Massachusetts in toto als heidnisch verboten 6, was sich indessen nicht lange aufrechterhalten lässt und außerhalb eines reformierten Umfeldes undenkbar bleibt. Die Debatte ist also vielstimmig, Wahrnehmung der Rituale, Aussageinteressen und Wirkungen sind unterschiedlich. Und doch entstand daraus allmählich eine Kategorie „Verkehrungsfeste“. Eine zentrale Rolle kommt dabei der gelehrtenkulturellen Rückführung auf die altrömischen Saturnalien zu, als deren Wesenskern bereits in der Frühen Neuzeit die Verkehrung der Hierarchie begriffen wurde. Dieser Prozess soll im Folgenden in groben Strichen nachgezeichnet werden, und zwar ausgehend von denjenigen Festen, die bis heute die hauptsächlichen Referenzpunkte des Konzepts der „Verkehrten Welt“ bilden. Es sind dies in kalendarischer Reihenfolge zunächst Weihnachten, dann die in der Regel von Klerikern begangenen Knabenbischofs- und Narrenfeste mit ihrer terminlichen Bandbreite in der Weihnachtszeit, sodann Epiphanie und schließlich die Fastnacht. Da der Konformitätsdiskurs bei den Narrenfesten am weitesten zurückreicht, nimmt die folgende Darstellung von ihnen ihren Ausgang.

I. Die Grundlegung der „verkehrten Welt“ in der Renaissance 1. Klerikerfeste (Narrenfest/Knabenbischof) 7 Als erste Erwähnung jener Mehrzahl von Klerikerfesten, die mit der Unschärfe der Überlieferung und im Sprachgebrauch der französischen Liturgiker als „Narren-

6 Das von der Massachusetts Bay Colony verabschiedete Gesetz bedrohte jeden mit Strafe, der „found observing any such day as Christmas or the like, either by forbearing of labor, feasting, or any other way“; Stephen W. Nissenbaum, Christmas in Early New England, 1620–1820. Puritanism, Popular Culture, and the Printed Word. Worcester, Mass. 1996, 98. 7 Zu diesen Festen vgl. den Aufsatz von Tanja Skambraks in diesem Band; außerdem Yann Dahhaoui, Entre ludus et ludibrium. Attitudes de l’Eglise médiévale à l’égard de l’évêque des Innocents (XIIIe–XVe siècle), in: Gherardo Ortalli/Yann Dahhaoui (Eds.), Tempus ludendi. Chiesa e ludicità nella società tardomedioevale (sec. XII–XV.) (Ludica. Annali di storia e civiltà del gioco 13–14, 2007/2008.) Rom 2011, 183–198; ders., Le pape de Saint-Etienne. Fête des Saints-Innocents et imitation du cérémonial pontifical à Besançon,

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/ IM SCHATTEN DER SATURNALIEN

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feste“ zwischen dem Stefanstag und Epiphanie ihren Platz hatten, gilt gemeinhin cap. 72 der zwischen 1160 und 1164 entstandenen „Summa de ecclesiasticis officiis“ des Johannes Beleth. 8 Danach wurde das „festum subdiaconorum, quod vocamus stultorum“ von den einen an Beschneidung Jesu, von anderen an Epiphanie oder in der Oktav von Epiphanie gefeiert. Nach Weihnachten habe es im Übrigen vier „tripudia“ für unterschiedliche Klerikerstände gegeben: für die Leviten, die Priester, die Pueri und eben die Subdiakone. Einen Antikenbezug stellt Beleth für diese Feste nicht her, wohl aber für einen anderen Brauch (cap. 120): So sei an Ostern in Domkapiteln ein besonderes Ballspiel verbreitet gewesen, das Beleth wohl aufgrund der egalitären Spielanlage mit der saturnalischen Hierarchieaufhebung („libertas decembris“) in Verbindung bringt. Obwohl weder der Wortlaut der betreffenden Stelle noch der innere Aufbau des Werkes eine Verbindung zu den Narrenfesten nahelegen, hat die Kapitelüberschrift „Libertas decembris“ offensichtlich so suggestiv gewirkt, dass Beleth in der Folge immer wieder als Berufungsinstanz für eine saturnalische Natur der Klerikerfeste am Jahresende herangezogen wurde. 9 Der Frühscholastiker Wilhelm von Auxerre, der seine Summe „De officiis ecclesiasticis“ zwischen 1198 und 1215 im Rahmen seiner Lehrtätigkeit an der Pariser

in: Bernard Andenmatten/Catherine Chène/Martine Ostorero/Eva Pibiri (Eds.), Mémoires de cours. Etudes offertes à Agostino Paravicini Bagliani. Lausanne 2008, 141–158; ferner Katrin Kröll, Die mittelalterlichen Verkehrungsfeste junger Kleriker im Kontext von Liturgie, Kirchenpolitik und sozialem Wandel, in: Erika Fischer-Lichte/Matthias Warstat (Hrsg.), Staging Festivity. Theater und Fest in Europa. Tübingen/ Basel 2009, 35–56; schließlich die bereits genannte Arbeit von Harris, Sacred Folly (wie Anm.3). Ein Aspekt, der hinter der Diskursgeschichte von Narrenfest und Knabenbischof noch weithin im Verborgenen liegt, ist die Frage, wie das Verhältnis dieser beiden Feste zueinander über die Zeit hinweg zu denken ist. In der Literatur werden die Bezeichnungen sehr häufig synonym verwendet. Es lässt sich allerdings zeigen, dass schon die Zeitgenossen des 16.Jahrhunderts hier nicht immer klare Grenzen zogen – sei es in bestimmter Absicht, sei es aus Unkenntnis; vgl. hierzu die noch unveröffentlichte Dissertation von Yann Dahhaoui, L’évêque des Innocents dans l’Europe médiévale (XIIe–XVe siècle). Diss. Paris/Genf 2012. Da sich der vorliegende Aufsatz an den Diskursen orientiert, sind die Phänomene hier zusammengenommen, ohne dass damit eine ursprüngliche oder sekundäre Identität aus der Perspektive der Feiernden behauptet werden soll. 8 Hier zitiert nach der maßgeblichen Ausgabe Iohannis Beleth, Summa de ecclesiasticis officiis. Ed. Herbert Douteil. Turnhout 1976. 9 Der Autor dieser Zeilen ist dem verbreiteten Trugschluss zunächst selbst erlegen; für die entscheidende Korrektur bin ich Yann Dahhaoui zu großem Dank verpflichtet. Neben inneren Gründen sprechen auch äußere für die Richtigkeit dieser Lesart, denn ein Ballspiel in Kapiteln ist zur Weihnachtszeit – außer bei Durandus von Mende (Rationale divinorum officiorum, VI, 68, 9), der von Beleth abhängt und ihn hier in folgenreicher Weise missversteht – anderweitig kaum belegt, Ballspiele an Ostern hingegen sehr wohl. Für freundliche Hinweise auf die Spielpraxis unter Religiosen danke ich Jörg Sonntag.

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Universität verfasste, findet davon unabhängig zu einer eigenen Antikenherleitung: Danach sei das festum stultorum am Tag der Beschneidung, wie auch das Fest der Leviten am Stefanstag, das der Priester am Johannestag und das Fest der Pueri an Innocentium auf die römischen Parentalia zurückzuführen. Diese habe die Kirche als heidnisch ausrotten wollen, zunächst allerdings ohne Erfolg. „Et ideo ludos, qui sunt contra fidem, permutauit in ludos, qui non sunt contra fidem. Et hoc fecit permittendo.“ 10 Zum Argument wird die heidnische Herkunft erst deutlich später, als nämlich die Pariser Fakultät 1445 die genannten Feste in einem Gutachten verwirft. Streng am Kalender orientiert, sehen die Verfasser die Ursprünge nun allerdings nicht in den Parentalia, sondern in den Januarkalenden. 11 Die scharfe Kritik geht mit zeitlichem Versatz, inhaltlich jedoch nahtlos in die reformierte Polemik über, wobei die Vorstellung, welchem römischen Fest sich die christliche Feier verdanke, über längere Zeit hinweg schwankend bleibt. So erklärt François de Croÿ 1605 seinen katholischen Gegnern unter der Überschrift „Wie der Heyden Fest mit den heutigen im Bapsthumb mögen verglichen werden“ bündig: „Es halten die alten Römer den 18. Hornung das Fest der Narren, Quirinalia genandt, so feyren jhr auch […] das Fest der Vnschuldigen Kindlein.“ 12 Wo sich der Blick auf die Gestalt des Knabenbischofs konzentrierte, konnte er eine naheliegende Parallele in den Riten zum Fest des Saturn finden. So geht der Madrider Rhetorikprofessor und Gräzist Alvar Gómez de Castro (1515–1580) in seinem Traktat „Las Vestales Romanas“ (1562) davon aus, dass die Alte Kirche den Heiden die Annahme des neuen Glaubens habe erleichtern wollen, indem sie sich deren Rituale anverwandelt habe; und so seien etwa das Kyrie eleison oder eben der Knabenbischof in die Liturgie gelangt. 13 Die Vorstellung einer bewussten Transformati-

10 Wilhelm von Auxerre, Summa de officiis ecclesiasticis. Kritisch-digitale Erstausgabe. Ed. Franz Fischer. Diss. Köln, online: http://ti-intern.uni-koeln.de/sdoe/, cap. 12.10, fol.50 rb. 11 Jacques-Paul Migne, Patrologia Latinae. Vol.207. Paris 1855, Sp.1169–1176, hier 1170. Zu den historischen Hintergründen dieses Schreibens ausführlich Harris, Sacred Folly (wie Anm.3), 222–224. 12 Hier nach der deutschen Ausgabe, die Johann Jacob Grasser 1613 in Basel herausbrachte: Heydnisch Bapsthumb / Das ist: Grundtlicher bericht aller Bäpstischen Kirchen geprängen, cap. XLI, fol.Mi. 13 „Cierto pareçe que en muchas cosas que pudieron hazerlo, aquellos primeros padres holgaron de conformarse con las çerimonias de los gentiles, para mas afiçionarlos a las nuestras: […] como […] en esto del fuego, en reçebir el Kirie eleyson en nuestra missa, que era palabra usada dellos en sus sacrifiçios, lo del obispillo, que en todas las Iglesias catedrales se haze, que es rastro manifesto de los Saturnales, que por aquel tiempo los Romanos çelebravan.“ Justo García Sánchez (Ed.), Las vestales romanas, tratado de Alvar Gómez de Castro

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/ IM SCHATTEN DER SATURNALIEN

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on antiker Riten entspricht ganz der Ansicht Wilhelms von Auxerre, und wie dieser leitet Gómez de Castro aus der Kontinuitätsbehauptung kein Unwerturteil ab. Eine solche ruhige Kenntnisnahme vorchristlicher Wurzeln findet sich namentlich unter spanischen Katholiken häufiger und bis ins 17.Jahrhundert hinein, wenn es um den Knabenbischof geht. 14 Allerdings war dies längst nicht die Regel, vielmehr bestimmten harsche Verurteilungen in der Art des genannten Pariser Gutachtens auf mittlere und lange Sicht den Ton in ganz Europa, auch im Katholizismus, und kaum ein kirchliches Ritual zog so viele Verbote auf sich wie der Knabenbischof in der Frühen Neuzeit. Der Verweis auf die saturnalische Hierarchieverkehrung vermehrte dabei das Repertoire der Antikenrekurse, die eine solche Verurteilung begründen konnten 15, ohne die älteren Herleitungen zu verdrängen. Vielmehr werden auch sie in derselben Weise und parallel dazu weitertradiert. 16 2. Weihnachten / Der „Lord of Misrule“ Die Vorstellung, dass das Weihnachtsfest Elemente der Saturnalien in sich aufgenommen habe, konnte die kalendarische Nähe von römischem und christlichem Festtermin für sich in Anspruch nehmen. Die Kontinuitätsthese gewann an Überzeugungskraft, wenn sich ein rituelles Element aufweisen ließ, das mit den Saturnalien, so wie sie in der Zeit verstanden wurden, sinnvoll in Verbindung gebracht werden konnte. Die Zeitgenossen des 16.Jahrhunderts fanden es in der Gestalt des „Lord of Misrule“. In den Augen Polydor Vergils etwa „ist auch das […] auff die nachkommnen her gezogen / das vnsere knächt an den weyhennächt tagen vber die Herrn gwalt haben / vnn einer auß jnen zum künig gmacht wirt / wölchem dz gantz gsind (auch mit kurtzweilende) gehorchet / samp den Herrn, das ist / haußuätern. Dann die haußknecht heten solche freyhayt bey den Alten Rhömern (als imm kurtzen außzug

Año 1562. Oviedo 1993, 231. Für diesen Hinweis und weitere zu den Klerikerfesten gilt mein herzlicher Dank wiederum Yann Dahhaoui, der mir vorab Einsicht in seine demnächst erscheinende Monographie zum Knabenbischof gewährte. 14

Vgl. hierzu die Quellen bei Dahhaoui, L’évêque des Innocents (wie Anm.7), Kap. 1.1.

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So etwa in einem Kölner Synodalbeschluss des Jahres 1651: „ab his enim, cum sapiant Gentilium Sa-

turnalia, eodem mense Decembri celebrata, quibus Domini servorum, & hi vicissim Dominorum suorum locis, muniisque gaudebant exiguo temporis spatio“; Concilia Germaniae. Köln 1771, Tom. IX, 739. 16

Noch 1774 führt etwa Nicolas Meusy die Narrenfeste auf die römischen Januarkalenden zurück:

Catéchisme historique, dogmatique et moral des fêtes principales. Besançon 1774, 68.

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Justini stehet) an den feyrtagen des abgots Saturni. Das herkommen wirt bey den Engelländer fürnämlich gehalten.“ 17 Polydor Vergil hatte den Lord of Misrule während seines langjährigen Aufenthalts in England kennengelernt. Indem ein Herrscher auf Zeit bestimmt wurde, dessen Amtszeit mit dem Fest selbst zusammenfällt, war in der sich daraus ergebenden zeitweiligen Hierarchieverkehrung, die immer als Charakteristikum des römischen Festes galt, eine überzeugende Analogie gewonnen. Freilich leuchtete sie vor allem für englische Verhältnisse ein, da nur hier der Lord of Misrule eine verbreitete Gestalt war. John Selden (1584–1654) übernimmt die Deutung in seine Reflexionen, die postum als „Table Talk“ an die Öffentlichkeit kamen. Dort heißt es unter dem Lemma „Christmas“: „Christmas succeeds the Saturnalia, the same time, the same number of Holy days, then the Master waited upon the Servant like the Lord of Misrule.“ Bemerkenswert ist die Unterscheidung zwischen Lord of Misrule und dem auch in England verbreiteten König zum Epiphaniefest (vgl. unten), wenn es unmittelbar darauf heißt: „Our Meats and our Sports (much of them) have relation to Churchworks. The Coffin of our Christmas Pies in shape long, is in imitation of the Cratch, our Choosing Kings and Queens on Twelfth night, hath reference to the Three Kings.“ 18 John Selden bietet ein Beispiel für die hochkirchliche Gelassenheit, mit der man 17 Hier nach der deutschen Ausgabe: Polydorvs Vergilivs Vrbinas. Uon den erfyndern der dyngen. Wje vnd durch wölche / alle ding / Nämlichen / alle Künsten / Handtwercker / Auch all andere händel / Geystliche vnd Weltliche sachen / Als Polliceyen / Religiones / Orden / Ceremonien / vnnd anders. Augspurg 1537, fol.130 v. Marg. „Weihennecht Künig“. 18 John Selden, Table-Talk: Being the Discourses of John Selden, Esq.; Or His Sence Of Various Matters of Weight and High Consequence Relating Especially to Religion and State. London 1689, 11. Hier zeigt sich, dass der König am Dreikönigstag und der Lord of Misrule, dessen Amtszeit sich über die gesamte Weihnachtszeit erstreckte, den Zeitgenossen auch des 17.Jahrhunderts noch als zwei verschiedene Erscheinungen galten. Für das Spätmittelalter hat dies bereits Sandra Billington in ihrer Studie über die „Mock Kings“ herausgearbeitet: „Occasionally, English Christmas festivities also included an Epiphany king […] but the custom more indigenous to England was the lord overseer for he whole of Christmas, and the most popular title became lord of misrule“ (32). Am schottischen Hof ist schon für das 15.Jahrhundert das Nebeneinander von Lord of Misrule (der verwirrenderweise als „king of bene“ in den Quellen auftaucht) und Epiphaniekönig belegt; vgl. Sandra Billington, Mock Kings in Medieval Society and Renaissance Drama. Oxford 1991, 32 mit Anm.9. Auch Samuel Pepys kennt und begeht das Königreich des Epiphaniekönigs, wie sich aus seinem Tagebuch ergibt (z.B. 1659 und 1669, jeweils am 6.Januar). Die Wahrnehmung, dass der Lord of Misrule eine englische, der Epiphaniekönig hingegen in seinem Ursprung eine französische Tradition sei, findet sich bei dem Antiquar Sir Thomas Urquhart (1611–1660), der ein Zeitgenosse John Seldens war. Urquhart hat einen funktionalistischen Blick auf den Lord of Misrule. Dessen Zweck sei es, „to counte-

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solche Kontinuitäten zur Kenntnis nehmen konnte. Erwartbarerweise anders beurteilten das die Reformierten, hier in der puritanischen Spielart. Zwar mussten sie das Verbot des Weihnachtsfestes in ihrem Musterstaat Massachusetts bereits 1681 – und damit noch vor der Eingliederung in die englischen Kronkolonien – auf Druck des Mutterlandes aufheben, doch der Wegfall der staatlichen Sanktion machte die Befestigung der sozialen desto nötiger. So schärfte Increase Mather (1639–1723) in seinem „Testimony Against several Prophane and Superstitious Customs, Now Practised by some in New-England“ aus dem Jahre 1687 nochmals ein, was kaum einem seiner Leser unbekannt gewesen sein dürfte: „The Gentiles called Saturns time the Golden Age, because in it there was no Servitude, in Commemoration whereof on his Festival, Servants must be Masters. And that amongst Christmas-keepers in some parts of the World, there use to be such Masters of Misrule, is too well known. From these Considerations not only Protestant writers, but some Papists acknowledge that Christmas Holidays succeed the Old Saturnalia of the Heathen. […] To observe the Festivals of the Heathen, is one way of partaking with them in their Superstitions.“ 19 3. Epiphanie / Das Königreich des „Bohnenkönigs“ 20 Später als alle bisher behandelten Rituale sieht sich der König zum Epiphaniefest dem Verdacht heidnischer Herkunft ausgesetzt. Mit Johann Wilhelm Stucki (1521– 1607) tritt in den achtziger Jahren des 16.Jahrhunderts ein reformierter Theologe an, die paganen Wurzeln des Festrituals freizulegen. Der Alttestamentler am Zürcher Collegium Carolinum ließ 1582 drei Bücher „Antiquitates Convivialium“ erscheinen. Den römischen Saturnalien widmet er darin breiten Raum, und sein Interesse ist keineswegs rein antiquarischer Natur. Denn in den Augen des Verfassers finden die „Saturnalia Ethnicorum“ ihre unmittelbare Fortsetzung in den „Saturnalia

nance the Bacchanalian riots and preposterous disorders of the family, where he is installed“; Tracts of the Learned and Celebrated Antiquarian, Sir Thomas Urquhart of Cromarty. Edinburgh 1774, 146. 19

Increase Mather, Testimony Against several Prophane and Superstitious Customs, Now Practised by

some in New-England. London 1687, chap. III.6, S.35. 20

Zu Geschichte, Gestalt und Symbolik dieses Rituals in der Frühen Neuzeit sowie dem darauf bezoge-

nen Diskurs vgl. Fugger, Königreich (wie Anm.2), zur frühen Bildüberlieferung ergänzend ders., Ein „Bohnenkönig“ im Stundenbuch. Zum Verhältnis von später Buch- und früher Genremalerei, in: Oud Holland 124, 2011, 234–238.

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Christianorum“ 21, womit die Zeit zwischen Weihnachten und Epiphanie gemeint ist. Von Polydor Vergil übernimmt Stucki die Darstellung des Lord of Misrule als Verkehrungsgestalt und überträgt diese Etikettierung seinerseits auf den König zu Epiphanie. 22 Seine Herleitung verbindet er mit einer scharfen Ablehnung des Brauches. Stuckis Werk entfaltete einen nicht unerheblichen Einfluss auf den Ritualdiskurs. Bereits zwei Jahre nach dem Druck der „Antiquitates Convivialium“ folgt Guillaume Bouchet (1513–1594) in seinen „Sérées“ den Gedanken, nicht aber der Wertung des Schweizer Reformierten. Ausdrücklich bemerkt er, die unverkennbar christlichen Elemente des Rituals seien entwickelt worden „pour corriger le Paganisme“. 23 Der reformierte Gelehrte Rudolf Hospinianus (1547–1626), wie Stucki Professor am Zürcher Collegium Carolinum, liefert 1593 in seinen „Festa Christianorum“ einen Extrakt aus den Ergebnissen seines Kollegen, soweit sie das Dreikönigsfest betreffen. 24 Auch der vom Katholizismus zum reformierten Protestantismus übergetretene Pfarrer François de Croÿ mag für seinen Analogienkatalog das Werk seines neuen Konfessionsgenossen herangezogen haben, wenn er seine Sicht auf das Fest in die rhetorische Frage kleidet: „Et la feste des trois Rois, n’est-elle pas issue de la feste payenne des Saturnales, qui se solennisoyent en mesme temps, & auec mesmes ceremonies?“ 25 Da die Autoren ihre gedanklichen Entlehnungen bei Zeitgenossen nicht immer ausweisen, lässt sich einstweilen nicht zuverlässig entscheiden, wie weit die anregende Wirkung Stuckis tatsächlich reichte. So fügt sich für den Schotten Thomas Morison der König zu Epiphanie in die Reihe katholischer Entstellungen der Religion, die er für seinen 1594 erscheinenden „Papatus, seu depravatae religionis origo et incrementum“ zusammenträgt. Seinen Rekurs auf die

21 Antiqvitatvm convivialivm libri III. In qvibvs Hebraeorvm, Graecorvm, Romanorvm aliarvmqve nationvm antiqva conviviorvm genera. Zürich 1582, fol.126 v. 22 Ebd.fol.125 r. 23 „[I]l fut dit que cela estoit procedé des festes Saturnalles des Romains […], où les maistres seruoyent leur seruiteurs“. Hier nach der Ausgabe: Sérées de Guillaume Bouchet, iuge et consul des Marchants à Poictiers. Paris 1586, fol.116 r/v. Zur Benutzung von Stucki durch Bouchet vgl. André Janier, Les sérées (1584 – 1597 – 1598) du libraire-imprimeur Guillaume Bouchet (1514–1594). Paris 2006, 421ff. 24 Rudolf Hospinianus, Festa Christianorum. Zürich 1593, fol.29 v. 25 François de Croÿ, Les trois conformités: Assauoir, L’harmonie & conuenance de l’Eglise Romaine auec le Paganisme, Iudaisme & heresies anciennes.O. O. 1605, 57f. In der deutschen Übersetzung von Johann Jacob Grasser ist die Formulierung weniger eindeutig: „Für die Saturnalia haben jhr der drey Königen Fest eyngesetzt […].“ Grasser, Heydnisch Bapsthumb (wie Anm.12), cap. XLI, fol.Mij.

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Saturnalien knüpft er an die Darstellung des antiken Festes bei Alexander ab Alexandro an 26, den freilich auch Stucki schon zitiert. Eine sehr eigenständige und differenzierte Antwort auf die Herkunftsfrage gibt Étienne Pasquier (1529–1615) in seinen „Recherches de la France“ 27: Saturnalisch sei der König zu Epiphanie in Bezug auf die Hierarchieverkehrung auf Zeit; zur Behauptung einer Kontinuität versteht sich der französische Jurist und Jesuitengegner Pasquier aber ausdrücklich nicht. In seiner Neigung, wenn möglich autochthone französische Traditionen anzunehmen, geht er davon aus, dass gebildete Humanisten das Fest nach dem Vorbild der Saturnalien eingeführt hätten, und verwirft das Ritual als gleichsam neopagane Erfindung. 28 Das Luthertum übernimmt im 17.Jahrhundert zum Teil reformierte Positionen. Die Kenntnis Hospinians, möglicherweise auch die Pasquiers und schließlich persönliche Anschauung konturieren das Urteil des orthodox lutherischen Kontroverstheologen und Tübinger Professors Theodor Thumm (1586–1630). In seiner württembergischen Umgebung kannte er das Königreich am Dreikönigstag wohl nur als studentischen Brauch 29, jedenfalls beschreibt er es dezidiert als einen solchen. Von Pasquier mag er die Vorstellung französischer Herkunft übernommen haben, vor allem aber die Idee, das Ritual sei in Nachahmung römischer Sitte entstanden, was sich mit Formulierungen bei Hospinian gut in Einklang bringen ließ. Die deutschen Studenten wiederum, so seine eigene Überlegung, hätten das Ritual ihrerseits von den Franzosen abgeschaut: „Sic Germani Gallos, Gallos vero Gentiles æmulantur. Apud Romanos enim Saturnaliorum dies moris fuit, ut domini famulos suos convivio exciperent, ipsique servorum famulitio fungerentur.“ 30 Unter Katholiken zeigt sich die Ritualpraxis von solchen Stimmen zunächst weitgehend unbeeindruckt, denn die hergebrachte Deutung des Rituals, die es in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der theologischen Idee des Epiphaniefestes stellte, erwies sich als widerstandsfähig und wurde unter dem Einfluss der konfessi-

26

Edinburgh 1594, 143.

27

Das 4. Buch, dessen 9. Kapitel die Abhandlung enthält, erscheint erstmals in der Ausgabe von 1596.

28

Étienne Pasquier, Les recherches de la France. Edition critique établie sous la direction de Marie-Ma-

deleine Fragonard et François Roudaut. Paris 1996, Vol.2, 919–921. 29

Zur Verbreitung des Rituals und der Entstehung räumlich und sozial isolierter Traditionen vgl. Fug-

ger, Königreich (wie Anm.2), 42f., und ders., „Bohnenkönig“ (wie Anm.20), 238 Anm.6. 30

Theodor Thumm, Tractatus Historico-Theologicus de festis Judaeorum et Christianorum. Tübingen

1624, 79.

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onellen Differenz noch weiter befestigt. 31 Dies beginnt sich zu ändern, als im Jahre 1664 der Doyen der Kathedrale von Senlis, Jean Deslyons, den „guerre sainte […] contre les profanateurs, & les profanations inveterées de la Feste des Roys“ ausruft. Seine „Discours ecclesiastiques contre le paganisme des rois de la feve“ sollten die unmittelbare Abstammung des Epiphaniekönigs von den Saturnalien erweisen. 32 Eine umgehend veröffentlichte Gegenschrift 33 – die Deslyons wiederum 1670 beantwortete 34 – konnte nicht mehr verhindern, dass sich die Wahrnehmung „pagan“ allmählich auch im Katholizismus verbreitete, und noch der Abbé Nicolas Meusy bekräftigt in seinem seit 1774 bis in die Mitte des 19.Jahrhunderts vielfach aufgelegten Festkatechismus die direkte Abkunft des Königs an Epiphanie von den Feiern zu Ehren des Saturn. 35 4. Fastnacht Kein Fest hat mannigfaltigere Deutungen hervorgebracht als die Fastnacht. Die Anschauung des Konkreten bestimmte das Urteil der Zeitgenossen, und das, was man konkret erlebte und zur Grundlage seiner Reflexionen machte, unterschied sich von Ort zu Ort. In gewissem Sinne wird man die Rede von „dem“ Karneval oder „der“ Fastnacht als eine gewaltige Konzeptualisierungsleistung zu begreifen haben, die Unterschiedlichstes zusammenspannte und allmählich Konvergenzen auch im Realen erzeugte. Polydor Vergils bereits zitierte „Inventores Rerum“ etwa gehen in der Erstausgabe auf die Fastnacht noch gar nicht ein. Die erweiterte Fassung des Jahres 1521 enthält dann aber eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen, die es mit den Quinquatrus minores (13.Juni) und den Megalensia (3.–10.April) in Verbindung bringt, wobei für Erstere der maskierte Auftritt von Flötenspielern, für Letztgenannte theatralische Darstellungen und Lärmumzüge den Anknüpfungspunkt des Vergleichs bilden. 36 Polydor Vergil nimmt damit Stellung gegen eine Herleitung von den Lupercalien,

31 Dazu Fugger, Königreich (wie Anm.2), 71–105, 115–132, 144–148 und passim. 32 Jean Deslyons, Discovrs ecclesiastiques contre le paganisme des roys de la feve et dv roy-boit. Paris 1664, Instrvction, 3f. 33 Nicolas Barthélemy, Apologie du Banquet sanctifié de la veille des Rois. Paris 1664. 34 Jean Deslyons, Traitez singuliers et nouveaux contre le paganisme du Roy-Boit. Paris 1670. 35 Nicolas Meusy, Catéchisme historique, dogmatique et moral des fêtes principales. Besançon 1774, 82f. 36 Polydori Vergilii Vrbinatis Adagiorvm Liber. Eiusdem de inuentoribus rerum libri octo. Basel 1521, lib. V, cap. 2.

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die Baptista Mantuanus 1516 in seinen „Fasti“ 37 vorgeschlagen hatte und die sich auch bei Johannes Boemus findet. 38 Die Lupercalien – die anderweitig auch gern für Mariä Lichtmess (Darstellung des Herrn, 2.Februar) in Anspruch genommen werden – halten sich dessen ungeachtet lange als Deutungsmuster, obwohl der phänomenologische Anknüpfungspunkt im antiken Ritual (das Auftreten nackter „Luperci“ und das rituelle Schlagen frisch verheirateter Frauen zur Erhöhung der Fruchtbarkeit) nicht jedem und nicht überall plausibel erscheinen musste. 39 Noch beliebter waren denn auch die Bacchanalien 40; nicht umsonst ist „Bacchanalia“ in der Zeit der häufigste lateinische Ausdruck für die Fastnacht schlechthin. Im Vergleich zu den zuvor untersuchten Festen fällt auf, dass eine explizite Hierarchieverkehrung im Karneval kaum in den assoziierenden Blick der Zeitgenossen kommt. Dies gilt bezeichnenderweise selbst dann, wenn die Saturnalien als antiker Bezugspunkt der Fastnacht ausgemacht werden, was zumal im 16.Jahrhundert verhältnismäßig selten der Fall ist. Zur späteren Prominenz der Saturnalienherleitung dürfte nicht zum wenigsten der aus Genf stammende Reformierte Pierre Mussard (1627–1686) beigetragen haben. Ehedem Prediger in Lyon, war er vor den Hugenottenverfolgungen nach London ausgewichen, wo er seither als Minister der Französisch-Reformierten Kirche wirkte. Seine 1667 in Leiden erstmals erschienenen „Conformitéz des cérémonies modernes avec les anciennes“ gehören zu den meistgelesenen Werken dieses Genres; sie wurden binnen kurzem allein zweimal ins Deutsche übersetzt und erlebten bis zur Mitte des 18.Jahrhunderts viele Auflagen, darunter mehrere in englischer Sprache. Die Anknüpfungspunkte, die Mussard für seine Rückführung ausmacht, sind indessen eher diffus, indem er lediglich auf Verklei-

37

Cap. 2,5: „De carnisprivii mala consuetudine“. Zitiert nach der Edition von Hans Trümpy: Die Fasti des

Baptista Mantuanus von 1516 als volkskundliche Quelle. Nieuwkoop 1979, 30–33. 38

Johannes Boemus, Omnivm gentivm mores, leges et ritus. Freiburg im Breisgau 1541, 219: „alij nudi

discurrentes Lupercos agunt, a quibus ego annuum istum delirandi morem ad nos defluxisse existimo“. Johannes Boemus und Baptista Mantuanus scheinen nicht direkt voneinander abzuhängen, sondern ihre Deutung parallel aus Ovids Fasti (2, 267–452) entwickelt zu haben. Vgl. Trümpy (Ed.), Die Fasti des Baptista Mantuanus (wie Anm.37), 80f. 39

„Enimvero ne haec quidem conveniunt cum vigiliis carnisprivii, a quibusdam etiamnum celebratis.

Nullus sane nudus apud hos circumcurrit.“ Christopher Sonntag, Saltus ab extremo ad extremum geminus, sub vigiliam carnisprivii (quae vulgo vocatur Fastnacht) declinandus, disputatione publica. Altdorf 1709, 20. 40

Unter vielen: Thomas Kirchmeyer, Regnum Papisticum. Opus lectu iucundum omnibus ueritatem

amantibus. Basel 1553, lib. IV, 137, 139.

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dung und Ausschweifungen verweist und hilfsweise noch andere antike Feste heranzieht. 41 Der Topos der ihren Sklaven aufwartenden Herren scheint auch für ihn keine direkte Entsprechung in den ihm bekannten Fastnachtsbräuchen gefunden zu haben, denn man wird davon ausgehen dürfen, dass er ihn sonst benannt hätte. Mussard gehört übrigens zu jenen Zeitgenossen, die keine direkte Kontinuität des Festes annehmen, er spricht vielmehr ausdrücklich von einem Wiederaufleben der Tradition. Angesichts der Vielgestaltigkeit des Phänomens Karneval und des sich von Anfang an breit ausdifferenzierenden Bezügepanoramas, verstärkt sich bei vielen Autoren die Neigung, gleich mehrere antike Festeinflüsse auf einmal anzunehmen. Gerade solche Harmonisierungsversuche ließen die Inkonsistenzen der Anknüpfung an die Antike jedoch desto deutlicher hervortreten und boten den Verteidigern der Fastnacht entsprechende Angriffspunkte. So nimmt der orthodoxe Lutheraner und Altdorfer Gräzist Christoph Sonntag (1654–1717) in einem gegen die pietistische Fastnachtsfeindschaft gerichteten Traktat stellvertretend den niederländischen Reformierten Gisbert Voetius (1589–1676) aufs Korn, der sich nicht entscheiden könne, auf welches römische Fest die Fastnacht nun eigentlich zurückzuführen sei: „nescit, quorsum tandem festum hoc referre debeat et […] ita se explicat: Inter Romano-Christianos renata videntur Gentilium Saturnalia, Bacchanalia, Quirinalia, Lupercalia. Alibi etiam Hilaria addit.“ Und er schließt mit der spitzen Bemerkung: „Hoc autem modo verum esset, apud Christianos in vigilia carnisprivii omnia festa Ethnicorum simul celebrari.“ 42 Indessen war mit dem Panorama römischer Feste der zeitgenössische Assoziationsrahmen zum Karneval noch keineswegs ausgeschöpft. Zumal im Luthertum lassen sich Einflüsse der gelehrten Hebraistik erkennen, die einen ganz eigenen Ver-

41 Pierre Mussard, Les Conformitez des ceremonies modernes avec les anciennes. Leiden 1667, 118. Mussard beruft sich auf das 1560 von Wolfgang Lazius edierte „Fragmentvm incerti avtoris de ritibus & ceremonijs Ecclesiæ Romanæ“, in: Fragmenta quædam Caroli Magni Imp. Rom. aliorumq[ue]; incerti nominis de veteris Ecclesiæ ritibus ac ceremonijs. Antwerpen 1560, 132–189, hier 138f. Dabei handelt es sich um ein Bruchstück des pseudo-alkuinischen „Liber de divinis officiis“ (Jacques-Paul Migne, Patrologia Latinae. Vol.101. Paris 1851, 1173–1286); zu diesem vgl. Clavis scriptorum latinorum Medii Aevi. Auctores Galliae 735–987. Vol.2: Alcuinus. Ed. Marie-Hélène Jullien. (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis.) Turnhout 1999, 133f., Nr.Alc 27. Pseudo-Alkuin äußert sich über die Januarkalenden, doch der Herausgeber Lazius fügt eine vom Text nicht gedeckte Marginalie „Saturnalia & Lupercalia“ hinzu, und diese bildet den Anknüpfungspunkt für Mussard. 42 Sonntag, Saltus ab extremo (wie Anm.39), 21 (Hervorhebung im Original).

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ständnishintergrund aufspannt. Wilhelm Schickard tritt 1634 mit einer Abhandlung „Purim, sive Bacchanalia Judaeorum“ 43 hervor, die den christlichen Karneval nicht von altrömischen Vorbildern, sondern vom jüdischen Purimfest herleitet. 44 Für diese Auffassung nimmt er die bessere Übereinstimmung der kalendarischen Gegebenheiten in Anspruch, da der 14./15. Adar als Termin des jüdischen Purimfestes mit dem Monatswechsel von Februar zu März zusammenfällt. Auch sei eine Anregung der Christenheit durch das jahrhundertelange Zusammenleben mit Juden wahrscheinlich. 45 Hierbei mag ein zeitgenössischer Vorgang auf den Tübinger Gelehrten gewirkt haben: Gerade zwei Jahre vor dem Erscheinen von Schickards Abhandlung wurde in Erfurt auf Betreiben der evangelischen Geistlichkeit und der schwedischen Herrschaft ein christliches Purimfest gefeiert – nicht als karnevaleske Veranstaltung, sondern in seinem ursprünglichen Sinne einer Sieges- und Errettungsmemoria. 46 Die Übernahme dieser jüdischen Form (in welcher konkreten Abwandlung auch immer) durch eine christliche Umgebungsgesellschaft mochte damit auch im Hinblick auf vergangene Epochen an Plausibilität gewonnen haben. Allerdings fällt das moralische Urteil über die Fastnacht durch die Vermutung jüdischer Ursprünge nicht günstiger aus; dies gilt für Schickard ebenso wie für den Straßburger Münsterprediger Johann Conrad Dannhauer, der in seiner „Catechismus-Milch“ ein Verdikt über den König an Epiphanie ausspricht, das ebenfalls jüdischen Einfluss unterstellt. 47 Die Herleitungsbemühungen der Zeitgenossen, soviel sollte bisher gezeigt wer-

43

Ursprünglich als akademische Festrede bei einer Tübinger Magisterpromotion im Februar 1634 ge-

halten, erschien sie im selben Jahr ebd. bei Theodor Werlin. Sie fand Aufnahme in die Traktatsammlung „Critici Sacri“ des Engländers John Pearson (erstmals London 1660) und wurde in der Folge mehrfach nachgedruckt. 44

Zu diesem vgl. den Beitrag von Julia Carls in diesem Band.

45

Hier nach dem Wiederabdruck in John Pearson, Tractatuum Biblicorum, Hoc Est Variarum In Diversas

Materias Biblicas Commentationum. Volumen Prius: Sive Criticorum Sacrorum Tomus VI. Frankfurt am Main 1696, 483–498, hier 483. 46

Begangen wurde so der Jahrestag der Schlacht bei Breitenfeld; das Fest wurde für den 6. und

7.September 1632 angeordnet. Eine gedruckte Predigt hat sich erhalten: Valentin Wallenberger, Purim, Oder / Gedechtnisz Sermon / am Lob vnd Danckfest / für den herrlichen Sieg / welchen Gott seiner Kirchen / Anno 1631 den 7. Septembris, bey Breitenfeldt / eine Meilwegs von Leipzig / verliehen. Erfurt 1632. Es wurde zudem eine Talermünze geprägt, die den Tag als „Dies Purim Evangelicor[um]“ feiert. Zu dieser vgl. HansJürgen Ulonska, Der Erfurter Purimtaler von 1632, in: Numismatisches Nachrichtenblatt 47, 1998, 137–139. 47

Johann Conrad Dannhauer, Catechismus-Milch / Oder Der Erklärung deß Christlichen Catechismi

Achter Theil. Straßburg 1666, *822f.

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den, richteten sich vom 15.Jahrhundert bis weit ins 18.Jahrhundert hinein vornehmlich darauf, jedem einzelnen Fest (mindestens) einen antiken und also heidnischen, in Einzelfällen jüdischen Vorläufer nachzuweisen. Die vorgeschlagenen historischen Bezüge hängen von der konkreten, regional zumeist unterschiedlichen Ausgestaltung der Rituale ab, da das assoziative Verfahren vom Augenschein seinen Ausgang nahm. Einfluss auf die Auswahl der antiken Referenz hatte zudem das Gewicht, das man einer wenigstens ungefähren terminlichen Entsprechung zwischen dem zeitgenössischen Fest und seinem mutmaßlichen Vorbild in der Antike beimaß. Die Ansprüche waren in diesem Punkt sehr unterschiedlich. Das entstehende Bild ist dementsprechend vielseitig. Selbst da, wo man Ziele und Methoden des Antikenrekurses grundsätzlich teilte, fielen die Ergebnisse sehr verschieden aus. Einzelne Feste, etwa der Dreikönigstag, werden zwar spät, dann aber fast ausschließlich mit den Saturnalien identifiziert; bei anderen setzt die Assoziation mit antiken Bräuchen sehr viel früher ein und führt zu unterschiedlichen Herleitungstraditionen, die nebeneinander bestehen und zuweilen miteinander kombiniert werden konnten.

II. Die Entwicklung der Kategorie „saturnalisch“ seit dem 18.Jahrhundert Im 18.Jahrhundert verändert sich sehr allmählich der Fokus. Neben die einfache Fortschreibung der Forschungstradition tritt langsam und zunächst nur vereinzelt das Bemühen, auf der Grundlage charakteristischer Merkmale, die sich aus der Überlieferung zu ergeben schienen, Typen von Festen zu isolieren, mithin Beschreibungskategorien zu entwickeln, die sich jenseits des für die früheren Generationen entscheidenden Gegensatzpaars christlich/heidnisch bewegten. Die Saturnalien erlangten dabei paradigmatische Bedeutung. Sie waren in der Vergangenheit, wenn auch mit sehr unterschiedlicher Prominenz und Häufigkeit und zudem ungleichzeitig, so doch für jedes der genannten Feste irgendwann einmal als antiker Bezugspunkt ins Gespräch gebracht worden. Das unterscheidet sie von den Quinquatrus minores, den Bacchanalien und allen anderen römischen Vergleichsobjekten. Aus dem Blick späterer Jahrhunderte, der nicht mehr die Ritualpraxis der Frühen Neuzeit, sondern nur mehr die frühneuzeitlichen Berichte darüber vor Augen hatte, konnten die Saturnalien damit als verbindendes Glied erscheinen, das zum Ausgangspunkt einer Kategorie „saturnalische Feste“ wurde.

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Angelegt ist diese Entwicklung bereits in den „Memoires pour servir à l’histoire de la fête des foux“, die Jean-Bénigne Lucotte du Tilliot 1741 erstmals herausbringt. Er geht zunächst von den Saturnalien aus und stellt über das Moment der Hierarchieverkehrung die Beziehung zum Narrenfest her. Insoweit bringt er nichts Neues. Darüber hinaus geht indessen der zweite Teil seines Werkes, denn hier behandelt er gewissermaßen als jüngere Geschwister der klerikalen Narren noch einzelne andere Erscheinungen wie die Geckengesellschaft zu Kleve (begründet 1381) und insbesondere die Narrenmutter zu Dijon. Tilliots Abhandlung ist vor allem wegen ihrer Quellenfülle vielfach benutzt worden. In ihren Wertungen ist sie noch ganz den Paganismusvorwürfen des 17.Jahrhunderts verpflichtet. Schon wenige Jahre zuvor (1732) hatten Cornelis van Alkemade und Pieter van der Schelling in ihren „Displegtigheden“ zu einer entsprechenden Kategorisierung gefunden, die sie um die anderweitig nicht überlieferten „Jokmaalen“, Scherzmähler, aufbauten. 48 Demzufolge gaben die Herren von Warmond zu einem nicht näher bestimmten Jahrestermin von alters her ein besonderes Fest, während dessen sie, in Umkehrung der Verhältnisse, ihren Dienstboten selbst aufwarteten. Alkemade findet den Ursprung dieses Brauches in den Saturnalien und stellt ihn in eine Reihe mit der Geckengesellschaft zu Kleve, den zu seiner Zeit bereits weithin geschwundenen Narrenfesten und weiteren Erscheinungen. Der für die Antikenrezeption der Weimarer Klassik wichtige Altertumswissenschaftler Karl August Böttiger rahmt seine Untersuchung der römischen Saturnalien 49, indem er auf zweierlei Formen des Fortlebens in der Gegenwart verweist: zu Beginn auf den römischen Karneval, dessen sozial egalisierende Wahrnehmung und Anknüpfung an die Saturnalien er von Goethe übernimmt, am Ende auf den Bohnenkönig, den er vermutlich aus eigener Anschauung kannte. In den ersten Jahrzehnten des 19.Jahrhunderts erreicht der Saturnaliendiskurs eine neue Qualität. An die Stelle mehr oder weniger zufälliger Vergleiche von Festen tritt erkennbar der Versuch, das Wesen des „Saturnalischen“ schärfer zu bestimmen, die Kategorie damit theoretisch zu fassen und zum Verständnis gegenwärtiger und 48

Nederlands Displegtigheden. Vol.1. Rotterdam 1732, 294–303.

49

Sie erschien unter dem modernisierenden Titel: „Der Saturnalienschmaus. Eine Carnevalscene des al-

ten Roms“ erstmals 1797 im Journal des Luxus und der Moden, 53–69 und 101–110. Wiederabgedruckt in: Julius Sillig (Hrsg.), C.A. Böttiger’s Kleine Schriften archäologischen und antiquarischen Inhalts. Bd. 3. Dresden/Leipzig 1838, 196–214, danach hier zitiert. Die Schrift erschien 1801 auch separat in einer französischen Übersetzung.

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vergangener Rituale fruchtbar zu machen. 1817 fügt Isaac Disraeli seiner Essaysammlung „Curiosities of Literature“ einen Aufsatz hinzu, den er unter den programmatischen Titel „Ancient and Modern Saturnalia“ stellt. Dort wird für das Narrenfest, den Lord of Misrule und (im Sinne des Autors) vergleichbare Erscheinungen statuiert: „It is only by tracing them to the Roman Saturnalia, that we can at all account for these grotesque sports – that extraordinary mixture of libertinism and profaneness, so long continued under christianity.“ 50 Das saturnalische Prinzip aber sind die Rangverkehrung und der Spott, „this malicious transformation of persons and things; and the humble orders of society have been privileged by the higher, to please themselves by burlesquing and ridiculing the great, at short seasons, as some consolation for the rest of the year“. 51 Der Spott, die Ventilsitte, der anthropologische Duktus – hier ist beinahe alles bereits vorhanden, was von nun an die Theoriebildung bestimmen wird, auch die eigentümliche Mischung aus historischer Herleitung und anthropologischer Begründung. Disraeli gehört bereits zu jenem Typus von Gelehrten, der seine Kenntnisse rein aus literarischen Beschreibungen schöpft und keine der von ihm genannten Erscheinungen realiter mehr beobachten konnte. Es ist kein Zufall, dass seine Formation der Kategorie gerade die in der Frühen Neuzeit am häufigsten mit den Saturnalien in Verbindung gebrachten Feste umfasst, ohne Zutaten aus eigener Anschauung und ohne den ehedem vergleichsweise selten genannten Karneval. Letzterer freilich bleibt nicht auf Dauer außen vor, beispielhaft zu beobachten in der nur wenig späteren Abhandlung des Historikers und Bibliophilen Jean Michel Constant Leber (1780–1859), die statt „antiker und moderner Saturnalien“ „französische Saturnalien“ zu untersuchen unternimmt und dazu erklärt: „Sous ce titre générique de saturnales françaises, nous comprenons les fêtes joyeuses et les folles pratiques qui s’observent, ou qui se sont observées en France depuis la fin de décembre jusqu’au mois de février inclusivement. De ce nombre sont les réjouissances des fêtes de Noël, le festin des Rois, les Etrennes, et principalement le Carnaval et les divertissemens analogues. On sait, en général, que ces usages nous viennent des anciens […].“ 52

50 Hier zitiert nach der 7., verbesserten Ausgabe London 1823, Vol.5, 96. 51 Ebd.92. 52 Constant Leber, Dissertation sur les Saturnales françaises, in: ders. (Ed.), Collection des meilleurs dissertations, notices, et traités particuliers relatifs à l’histoire de France. Vol.9. Paris 1838, 190–230, hier 190.

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Der Karneval wird nicht nur integriert. Er rückt geradezu ins Zentrum der Kategorie und erscheint als Verkörperung saturnalischen Wesens schlechthin. Die Rituale zu anderen Terminen – genannt werden Weihnachten, der Dreikönigstag, der Neujahrstag und „analoge Vergnügungen“ – wirken aus diesem Blickwinkel wie Ausläufer aus demselben Wurzelstock. Dass das eigentlich Karnevaleske der (erlaubte) Spott sei, findet sich fortan immer wieder ausgedrückt. Anton Fahne folgt im Jahr 1854 demselben Prinzip. Zwar wirkt auf die Darstellung des schon zu Lebzeiten nicht ganz unumstrittenen Genealogen, Geschichtsschreibers und Publizisten die frühneuzeitliche Quellenlage noch in der Weise ein, dass zwar die Narrenfeste, der Epiphaniekönig und Alkemades Jokmaalen von den Saturnalien, der Karneval historisch aber von den Bacchanalien hergeleitet wird, doch durch die allen gemeinsam gegebene Charakterisierung „Spottfeste“ werden die Phänomene im Sinne des von ihm gewählten Buchtitels: „Der Carneval mit Rücksicht auf verwandte Erscheinungen“ auf der anthropologischen Ebene zusammengeführt. 53 Als Vollender dieses Kapitels der Deutungsgeschichte mag James George Frazer (1854–1941) gelten. Von Haus aus klassischer Philologe, stand er gleichsam in der humanistischen Tradition der Beschäftigung mit dem Karneval. Die fachliche Autorität erlaubte es ihm zudem, die Vorsicht bei der Behauptung einer historischen Kontinuität, die sich in den vorangegangenen Jahrhunderten hie und da geltend gemacht hatte, energisch beiseite zu schieben: „The resemblance between the Saturnalia of ancient and the Carnival of modern Italy has been often remarked; but in the light of all the facts that have come before us, we may well ask whether the resemblance does not amount to identity. I have shown that in Italy, Spain, and France, that is, in the countries where the influence of Rome has been deepest and most lasting, a conspicuous feature of the Carnival is a burlesque figure personifying the festive season, which after a short career of glory and dissipation is publicly shot, burnt, or otherwise destroyed, to the feigned grief or genuine delight of the populace. If the view here suggested of the Carnival is correct, this grotesque personage is no other than a direct successor of the old King of the Saturnalia, the master of the revels, the real man who personated Saturn and, when the

53

Anton Fahne, Der Carneval mit Rücksicht auf verwandte Erscheinungen. Ein Beitrag zur Kirchen- und

Sitten-Geschichte. Köln 1854. Der Verweis auf „Jokmaalen“ findet sich ebd.39: „Die unverkennbarsten Reste der Saturnalien fand man in Holland bei einem Feste, das Jokmaalen genannt.“

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revels were over, suffered a real death in his assumed character. The King of the Bean on Twelfth Night and the mediæval Bishop of Fools, Abbot of Unreason, or Lord of Misrule are figures of the same sort and may perhaps have had a similar origin.“ 54

Der Karneval steht nun endgültig im Mittelpunkt, die Saturnalien sind sein nicht nur wesensmäßiger, sondern historischer Vorläufer, der König am Dreikönigstag, der Knabenbischof und der Lord of Misrule seine verblichenen Trabanten. Dass mit dem Karneval gerade diejenige Erscheinung ins Zentrum der Theoriebildung rückt, die von den frühneuzeitlichen Gelehrten nur am Rande mit den Saturnalien in Verbindung gebracht worden war und deren phänomenologische Anbindung an das antike Fest eher lose war, geht hier im Verweis auf noch bestehende Karnevalsbräuche unter. Die veränderte Gewichtung hatte weitreichende Folgen. Mit dem Karneval fokussiert sich der Blick auf ein Fest, das semantisch schwach besetzt war. Das unterscheidet es von Weihnachten, Epiphanie und auch den alten Klerikerfesten mit ihrer engen Bindung an die Liturgie. Es soll damit nicht gesagt sein, dass einzelne Riten, die mit der Zeit in dem Sammelbegriff Karneval aufgingen, nicht einst eine distinkte Bedeutung hatten, dies ist sogar zu vermuten; aber solche Bedeutungen, sollten sie bestanden haben, waren in der Zeit nicht mehr bewusst – und falls doch, waren sie nicht Gegenstand der Forschung. Anders gesagt: Eine Festidee des Karnevals, die sich nicht den jahrhundertealten wissenschaftlichen Bemühungen um denselben verdankte, hatte sich nicht erhalten; für die wissenschaftlich konstruierte Gesamtheit von Einzelphänomenen hat es sie außerhalb des Gelehrtendiskurses vermutlich auch nie gegeben. Die Wahrnehmung der semantischen Unterbesetzung der so verstandenen Fastnacht stellt die Vorbedingung für jenen großen Entwurf des Karnevalesken dar, der sich mit dem Namen Michail Bachtins verbindet.

54 James George Frazer, The Golden Bough. A Study in Magic and Religion. 2.Aufl. London 1900, Vol.3, 143.

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III. Das 20.Jahrhundert 1. Michail Bachtin „Der Karneval ist die umgestülpte Welt.“ 55 Bachtins Literaturtheorie tritt nicht nur mit einem eminent gesellschaftstheoretischen Anspruch auf, in letzter Konsequenz ist sie sozialpsychologisch inspirierte Gesellschaftstheorie. Das Weltbild, das ihr zugrunde liegt, ist ein wesenhaft dichotomes. Die Größen, die es definieren, sind der Ernst und das Lachen, die als unversöhnliches Gegensatzpaar gedacht sind. Der Ernst, das ist Eindeutigkeit, Dogma, Herrschaft. Der Herrschaftsanspruch des Ernstes ist umfassend. Das Lachen ist Gegenwelt, Gegenstaat, Gegenkirche, die sich vor allem in Ritualen verwirklicht. Die Welt zerfällt damit in Original und Parodie. „Das Lachen hält Liturgien ab, bekennt sein Credo, schreibt Grabinschriften, wählt Könige und Bischöfe.“ 56 Das heißt aber auch, dass es nur Könige und Gegenkönige, nur Bischöfe und Gegenbischöfe, nur Liturgie und Liturgieparodie geben kann. „Die hervorstechendste karnevalistische Handlung ist die Wahl und der anschließende Sturz des Karnevalskönigs. Diese Sitte findet sich in dieser oder jener Form in allen Festivitäten von karnevalistischem Typ. In der ausgeprägtesten Form findet sie sich in den Saturnalien, im europäischen Karneval und im Feiertag der Dummköpfe. An letzterem wurden statt eines Königs närrische Priester, Bischöfe oder Päpste gewählt. […] Schwächer ausgeprägt findet sich diese Sitte bei allen anderen Feierlichkeiten dieser Art, bis zum feierlichen Schmaus, wo auch ein König oder eine Königin gewählt wurde.“ 57

Schon diese Aufzählung zeigt, wie sehr Bachtin der gelehrten Deutungsgeschichte dieser Feste verpflichtet ist. Die Hierarchieverkehrung, die damit verbundene wesenhafte Bedeutung, die er den vorübergehenden Herrschergestalten zumisst, schließlich der Rückbezug auf die Saturnalien 58 – all dies zeugt von einer Wahrnehmung der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Festkultur, die in ihren Grundzügen auf der Perspektive der humanistischen Deutungseliten (in der Vermittlung

55

Michail Bachtin, Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Frankfurt am Main 1990,

48. 56

Ebd.32.

57

Ebd.50.

58

Vgl. dazu ebd.56, wo Bachtin auch die Vorstellung einer unmittelbaren historischen Kontinuität

zwischen den Saturnalien als dem „zentrale[n] karnevalsartige[n] Fest“ des Altertums und den genannten Festen des Mittelalters äußert.

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des 19.Jahrhunderts) aufruht. Die Aufzählung dokumentiert zugleich, dass für Bachtin Karneval kein kalendarisch bestimmter Zeitraum oder ein inhaltlich bestimmtes Fest war, sondern die Charakteristik einer bestimmten Verhaltensweise, der die Gesellschaft zwar einen festen Platz im Jahr zuwies, die aber prinzipiell unabhängig davon auftauchen konnte. Das legt den Umkehrschluss nahe: Aus „wo Karneval, da ein König“ konnte rasch „wo ein (Fest-)König, da Karneval“ werden, denn Bachtins dichotome Weltsicht ließ keinen Raum zwischen oben und unten. „Im Brauch der Erniedrigung und Erhöhung des Karnevalskönigs finden wir den Kern des karnevalistischen Weltempfindens: Das Pathos des Wechsels und der Veränderung. […] Der Karneval ist das Fest der allvernichtenden und allerneuernden Zeit.“ 59 Daraus folgt ein rein funktionalistisches Verständnis: „Der Karneval feiert den Wechsel, nicht das, was der Wechsel jeweils bringt. Alles wird in den Stand der Relativität versetzt. […] Der Karneval ist funktionell, nicht substantiell. Er verabsolutiert nichts, er verkündet die fröhliche Relativität eines jeden.“ 60 Dass hierbei eine bestimmte (grundsätzlich berechtigte), nämlich funktionalistische Betrachtungsweise ontologisiert wird – funktionalistisch ist nicht mehr der Blick des heutigen Betrachters, sondern das Lachen vergangener Epochen –, gehört zu den Geburtsfehlern der Bachtin’schen Theorie, die sich damit nicht mehr in einen Fächer verschiedener Blickwinkel einordnen lässt. Für ihn liegt vielmehr das Wesen des Karnevals in der Feier des Wechsels, dem Spiel mit Erhöhung und Erniedrigung, das, mochte es sich rechtfertigen, wie es wollte, doch im letzten um seiner selbst willen gespielt wurde. Indem laut Bachtin jeder Erhöhung die darauf folgende Erniedrigung schon eingeschrieben ist, sind karnevaleske Riten von wesenhafter Ambivalenz. Obwohl der rein funktionell verstandene Karneval im strengen Sinne nicht utopisch sein kann, weil jede Utopie als Gesellschaftsentwurf eines gewissen Maßes an Substanz, also an Werten, Normen und Ideen bedarf, geht Bachtin schließlich davon aus, dass die vorübergehende Auflösung der Hierarchien ein freies, intim-familiäres Miteinander auf Zeit ermögliche und damit als Erfahrungsraum einer besonderen Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen zu verstehen sei. 61 Die Wirkungsgeschichte Bachtins ist in gewissem Sinne selbst paradox: Immer

59 Ebd.50. 60 Ebd.51. 61 Ebd.48.

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wieder als Anreger benannt, haben die wenigsten Historiker tatsächlich auf der Basis seines Modells gearbeitet. So stellt Natalie Zemon Davis ihre Untersuchung frühneuzeitlicher Zusammenschlüsse der unverheirateten männlichen Jugend (in der Sprache der Quellen: „Abteien“) unter die Überschrift „Narrenherrschaft“ 62 und bekennt sich dabei von der Lektüre Bachtins inspiriert, verwendet jedoch einen großen Teil ihrer Darstellung auf den Nachweis, dass jene Abteien keineswegs eine inhaltlich unbestimmte, sich in der schieren Relativierung des Bestehenden erschöpfende Gegenwelt aufmachen. Zemon Davis isoliert typische Situationen, in denen die Abteien gesellschaftlich wirksam werden und einzelne mit ihrem Charivari überziehen: die Heirat Verwitweter, Heiraten deutlich altersverschiedener Partner, Gewalt gegen Ehepartner unter bestimmten Umständen u.a. Sie sanktionieren auf diese Weise bestimmte gesellschaftliche Normen und Wertvorstellungen, die unterhalb der offiziellen Normdurchsetzungsschwelle bestanden. Damit allerdings ist ihr Wirken keinesfalls inhaltlich unbestimmt, sondern an sehr konkreten Leitbildern orientiert, die übrigens nicht nur innerhalb der aus unverheirateten Männern bestehenden „Abtei“ existiert haben, sondern von weiten Teilen der Gesellschaft bejaht worden sein dürften. Somit sind sie im Bachtin’schen Sinne gerade nicht karnevalesker Natur, sie feiern keineswegs fröhlich den Wechsel als Seinsprinzip, sie relativieren nicht das Bestehende, sondern sanktionieren und perpetuieren aktiv und bewusst eine gesellschaftliche Norm – wie übrigens die Abteien selbst ja durchaus stabile Gebilde waren. 63 Dass diese Form der Normdurchsetzung mit der obrigkeitlichen Gewalt unter bestimmten Voraussetzungen konkurrierte, dass sich die Inhaber der ordentlichen Normdurchsetzungsinstanzen gegen das Wirken der Abteien namentlich dann zur Wehr setzten – oder dies jedenfalls versuchten –, wenn ihr eigenes Verhalten in deren Visier geriet, ist wenig überraschend. Für solche Normdurchsetzung jenseits einer Obrigkeit bietet das Bachtin’sche Modell aber keinen Raum, weil er in seiner Welt des apriorischen Gegensatzes von Ernst und Lachen, von oben und unten, dem

62

Natalie Zemon Davis, Humanismus, Narrenherrschaft und die Riten der Gewalt. Gesellschaft und Kul-

tur im frühneuzeitlichen Frankreich. Frankfurt am Main 1987, 106–135. 63

Da die unverheirateten Männer, welche die Abteien ausmachten, im Einzelnen über sehr unterschied-

liche Zeiträume hinweg in diesen verbleiben konnten, erscheint der Rückgriff auf van Genneps Übergangsriten zur Erklärung der Institutionen nicht notwendig. Wie beim Rückgriff auf das Bachtin’sche Karnevalsmodell wird nicht recht deutlich, was die häufig strapazierten rites de passage dem Verständnis der Abteien hinzufügen.

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Unten keine Substanz, keinen Ernst zubilligen kann. Dem Unten bleibt nur die alles unterschiedslos relativierende Parodie. Peter Burke wiederum erkennt Bachtin als Wegbereiter interdisziplinären Arbeitens an, doch dessen Interpretation des Karnevals bleibt ihm ein geistreicher, aber fragwürdiger Versuch. 64 Burke sieht im Karneval zwar ebenfalls wesenhaft eine „verkehrte Welt“ und fasst diese ebenso weit wie Bachtin, integriert also programmatisch Narrenfest und Weihnachten, findet das Karnevaleske selbst in Fronleichnamsriten und dem Johannisfest 65, so dass ihm am Ende „jedes Fest ein Miniaturkarneval“ ist, „da es als Vorwand für Unordnung“ 66 habe dienen können. Zur Erklärung greift er allerdings in Abgrenzung gegen Bachtin auf ein älteres Angebot zurück, das der funktionalistisch orientierte Zweig der Ethnologie und der Religionswissenschaft seit der Wende zum 20.Jahrhundert bereithält und das später auch Eingang in die sozialwissenschaftliche Beschreibungssprache gefunden hat, nämlich die sogenannte Ventilsitte. Die Vorstellung, dass eine strukturelle Bedrückung dem Einzelnen dadurch erleichtert werde, dass er zu bestimmten Gelegenheiten für einen bemessenen Zeitraum von ihr befreit werde, lag schon den Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts mit Blick auf die Hierarchieverkehrung nahe, wie im Falle Isaac Disraelis zu beobachten war. Noch viel früher, nämlich im 15.Jahrhundert, kleideten Verteidiger des Narrenfestes denselben Gedanken in das bekannte Bild von den Weinschläuchen, die zeitweise geöffnet werden müssten, um aufgestauten Druck abzulassen. 67 In die historische Anthropologie vermittelt wurde die Idee der Ventilsitte über den britischen Sozialanthropologen Victor Witter Turner, der ihr eine ganz eigene Ausformung gegeben hatte.

64 Peter Burke, Helden, Schurken und Narren. Europäische Volkskultur der frühen Neuzeit. Stuttgart 1981, 320 Anm.22. 65 Ebd.208. 66 Ebd.213. Schon Bachtin war der Auffassung, dass im Mittelalter „praktisch jeder kirchliche Feiertag seine karnevalistische Komponente“ gehabt habe; vgl. Bachtin, Literatur und Karneval (wie Anm.55), 57. 67 Das Argument wird ablehnend referiert in dem bereits benannten Zirkularschreiben der Pariser Fakultät vom 12.März 1445 (wie Anm.11), Sp.1171. Zur Ventilsitte als anthropologischem Argument vgl. den Aufsatz von Henk Versnel in diesem Band, bes. 87–89.

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2. Victor W. Turner In Anknüpfung an das Konzept der Übergangsriten Arnold van Genneps entwickelte Turner ein komplexes Modell menschlicher Sozialisation, das von einem anthropologisch vorgegebenen Gegensatzpaar Struktur/Antistruktur ausgeht: „Alle menschlichen Gesellschaften beziehen sich implizit oder explizit auf zwei Gesellschaftsmodelle. Das eine ist […] das Modell von Gesellschaft als einer Struktur rechtlicher, politischer und wirtschaftlicher Positionen, Ämter, Status und Rollen, in dem sich das Individuum nur sehr verschwommen hinter dem sozialen Typus abzeichnet. Das andere ist das Modell von Gesellschaft als einer aus konkreten, idiosynkratischen Individuen bestehenden Communitas – Individuen, die obwohl sie sich in ihren körperlichen und geistigen Talenten unterscheiden, dennoch im Hinblick auf ihr gemeinsames Menschsein als gleich betrachtet werden.“

Der Begriff der Antistruktur fällt für Turner also mit dem der Communitas zusammen als einem Zustand, in dem sich „die einzelnen als ganze Menschen gegenüberstehen, nicht in Status und Rollen segmentiert“. 68 Die „Struktur“ neigt nach Turner dazu, sich mit der Zeit mehr und mehr zu verabsolutieren. Dieser Entwicklung wirken die zyklischen Verkehrungsrituale entgegen, die Struktur auf Zeit aufheben, indem sie sie in ihr Gegenteil verkehren. Damit wird Communitas wieder erfahrbar. Zugleich allerdings, und das ergibt sich nicht vollkommen zwangsläufig aus den Überlegungen bis hierher, betont Turner die Stabilisierung der Struktur durch ihre zeitweilige Außerkraftsetzung: „Kognitiv betrachtet, unterstreicht nichts die Ordnung so sehr, wie ihre zeitweilige Außerkraftsetzung. Emotional befriedigt nichts so sehr wie extravagantes oder vorübergehend gestattetes Verhalten. Rituale der Statusumkehr umfassen beide Aspekte. Indem sie die Niedrigen erhöhen und die Hohen erniedrigen, bestätigen sie das hierarchische Prinzip. Indem sie die Niedrigen das Verhalten der Hohen (manchmal bis zur Karikatur) nachahmen lassen und die Initiativen der Stolzen bremsen, unterstreichen sie die Vernünftigkeit des kulturell vorhersehbaren Alltagsverhaltens der verschiedenen Gruppen der Gesellschaft. Aus diesem Grunde ist es zweckdienlich, dass Rituale der Statusumkehr oft entweder zeitlich auf einen bestimmten Punkt im jahreszeitlichen Zyklus fixiert oder an bewegliche, innerhalb einer

68

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Victor Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt am Main 2005, 169.

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begrenzten Zeitperiode variierende Feste geknüpft sind, denn so wird die Strukturordnung in der Zeitordnung reflektiert.“ 69

Zu Ende gedacht bedeutet dies: Die Verkehrung des Bestehenden legitimiert das Bestehende. Sie ist nicht der Ort, an dem Alternativen gedacht werden. Verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, dass Turner Begriffe wie „Ordnung“ stets im Singular verwendet; es geht um die eine konkrete Ordnung, die sich durch ihre zeitweilige Verkehrung vitalisiert. „Den Schwellenzustand der Statusumkehrung kann man vielleicht mit der Komödie vergleichen, da beide mit spöttischer Nachahmung und Inversion, nicht aber mit der Vernichtung der Strukturrollen und ihrer übereifrigen Anhänger einhergehen.“ 70 Der strukturkonservative Zug des Turner’schen Konzepts ist vielfach bemerkt und in seiner geschichtswissenschaftlichen Aneignung zuweilen besonders betont worden, so etwa von Emmanuel Le Roy Ladurie in seiner klassischen Studie „Karneval in Romans“: „Letzten Endes ist die Verkehrte Welt gegenrevolutionär.“ 71 3. Dietz-Rüdiger Moser Innerhalb der Geschichtswissenschaft regte sich von Anfang an auch entschiedener Widerstand gegen Bachtins Verständnis des Karnevalesken. Frontal angegriffen wurde das Konzept von Dietz-Rüdiger Moser, der in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts eine eigene Fastnachtstheorie entwickelt hatte, die ihrerseits breiten, wenn auch kontroversen Widerhall fand. Moser sah den Ursprung der Fastnacht in der patristischen, im Speziellen augustinischen Theologie. 72 Deren bildhafte Gegenüberstellung zweier Welten, der Civitas diaboli und der Civitas dei, fand Moser in der Abfolge von Karneval und Fasten-/Osterzeit gleichsam symbolisch ausagiert. Der Karneval ist damit der jahreszeitliche Ort aller nur möglichen sittlichen Verkehrtheit, den die Kirche selbst um der Kontrastwirkung willen und damit aus didakti69 Ebd.168f. 70 Ebd.191. 71 Emmanuel Le Roy Ladurie, Karneval in Romans. Eine Revolte und ihr blutiges Ende 1579–1580. München 1989, 299. 72 Die ausführlichste Darstellung des Konzepts in Dietz-Rüdiger Moser, Fastnacht – Fasching – Karneval. Das Fest der „verkehrten Welt“. Graz 1986, bes. 11–68. Die Bachtin-Debatte eröffnete Moser mit dem Aufsatz: Lachkultur des Mittelalters? Michael Bachtin und die Folgen seiner Theorie, in: Euphorion 84, 1990, 89–111. Unter den Beiträgen zu der sich anschließenden Diskussion sei hervorgehoben Aaron J. Gurjewitsch, Bachtin und der Karneval. Zu Dietz-Rüdiger Moser: „Lachkultur des Mittelalters? Michael Bachtin und die Folgen seiner Theorie“, in: Euphorion 85, 1991, 423–429.

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schen Gründen der Fastenzeit vorangestellt habe. Liest man Mosers Konzept gegen das Bachtins, so fallen auf den ersten Blick nicht sowohl die Gegensätze als vielmehr weitgehende Schnittmengen ins Auge: Für Moser wie für Bachtin war der Karneval wesenhaft eine „verkehrte Welt“, die ihren prominentesten Ausdruck in den ephemeren Herrschergestalten fand. Moser denkt damit grundsätzlich in denselben Oppositionen wie Bachtin, wonach jeder König nur ein Gegenkönig sein kann und daher Verkörperung der „verkehrten Welt“ sein müsse. Obwohl dem eigenen Anspruch nach näher an den Quellen, übernahm Moser die Kategoriebildung des 19.Jahrhunderts unbesehen und behauptete bedenkenlos eine karnevaleske Natur für Epiphaniekönige wie für Knabenbischöfe und erst recht für den weihnachtlichen Lord of Misrule. Der entscheidende Unterschied zu Bachtin bestand lediglich darin, dass Moser für diese „verkehrte Welt“ eine symbolische Bedeutung annahm, die sich ganz im theologischen Horizont der Zeitgenossen bewegen sollte. Freilich machte sich zunehmend deutlich, dass es an Zeugnissen mangelte, die die von Moser unterstellte Wahrnehmung des Karnevals in der Breite hätten stützen können. Die Konzeptualisierung der Fastnacht als Verkehrungsfest im engeren Sinne findet sich, wie gesehen, in den zeitgenössischen Quellen selbst in polemischer Absicht nicht überwiegend. In affirmativer Weise wird die Verkehrung so selten einmal eingebracht, dass ein entsprechendes didaktisch motiviertes Verständnis der Fastnacht in toto kaum plausibel zu machen war – und noch weniger deren zielgerichtete Einführung. Mosers Theoriebildung ruht mithin vollkommen auf einer Wahrnehmung und Kategoriebildung auf, die im Wesentlichen dem 19.Jahrhundert angehören. Obwohl Mosers Denken von dem Bachtins nicht so weit entfernt war, wie es Ersterem selbst erschien, obwohl sich Parallelen zu Turners Vorstellung von der Notwendigkeit einer zeitweiligen Übertretung der Ordnung finden lassen und obwohl man Mosers Theorie auch als den entschiedenen Versuch hätte lesen können, ein anthropologisches Konzept ins Symbolische zu wenden, entspann sich um die pointiert vorgetragenen Thesen des Münchner Kulturhistorikers zu Beginn der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts eine erbittert geführte Debatte, die nicht arm war an schrillen Tönen auf beiden Seiten. Die Hoffnungen der jungen historischen Anthropologie und ihr Selbstverständnis gipfelten in dem an Moser gerichteten Vorwurf einer „Neuauflage des alten und scheinbar ewig jungen Vorurteils gewisser gebildeter Schichten, dass aller kultureller Segen am Ende doch von oben“ komme. „Und da besitzt dann natürlich jedes Bibelzitat, jede Aussage einer kirchli-

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chen Autorität, ja sogar die Gedankenschrulle eines barocken Polyhistors mehr Überzeugungskraft als ein Blick auf die Brauchpraxis selbst.“ 73 Das Anliegen der Zeit, eine möglichst eigenständige Volkskultur zu profilieren, die sich einer eigenen, teilweise hermetischen Symbolsprache bedienen sollte, deren Handlungen einer ebenso eigenen Logik zu folgen hatten und die dabei unbedingt in Opposition zur obrigkeitlichen Machtausübung zu denken war, verband sich bruchlos mit Bachtins dichotomem Modell der Welt.

IV. Vorläufiger Schluss Mit der neuerlichen, eminent weltanschaulichen Aufladung des Motivs der „verkehrten Welt“ schließt sich ein Kreis. Kehren wir am Ende noch einmal zum Ausgangspunkt der Überlegungen zurück: Die Geschichte der „verkehrten Welt“ ist in ihren Anfängen die des Erfolges einer Rechtfertigungsfigur. In der Frühen Neuzeit trug der Veränderer die Beweislast. Mit Blick auf eine bestehende Ritualpraxis musste er rechtfertigen, warum auf einmal nicht mehr gelten sollte, was seit unvordenklichen Zeiten praktiziert wurde. Entsprechend fiel der publizistische Aufwand aus. Die res publica litteraria vermochte ihrer Deutung Geltung zu verschaffen, schon zu ihrer Zeit und in noch stärkerem Maße in den Augen der Späteren. Das erklärt den Erfolg des Stereotyps, es erklärt nicht seine Entstehung. Die Beschäftigung mit der antiken Religion dürfte zunächst bei einer kleinen Minderheit tatsächlich eine veränderte Wahrnehmung der christlichen Festpraxis erzeugt haben, die ihrerseits (nicht immer, aber häufig) in einer veränderten Bewertung mündete. Es ging den Zeitgenossen, die sich in dieser Weise publizistisch engagierten, jedenfalls nicht darum, die Motivation und das Ritual- bzw. Festverständnis derer abzubilden, die sich an den Feiern mit Selbstverständlichkeit beteiligten, sondern darum, eine neue Perspektive zu etablieren. Was für die spätere Forschung hinter diesen Bemühungen allmählich aus dem Blick geriet, ist die Wahrnehmung derer, die diese Rituale ausführten und zumeist nicht der Auffassung waren, die Quirinalia, Megalensia oder Saturnalia fortzusetzen oder wieder aufleben zu lassen. Sie ist mit den Jahrhunderten hinter dem Etikett karnevalesk nahezu unsichtbar geworden. 73 Norbert Schindler, Karneval, Kirche und die verkehrte Welt. Zur Funktion der Lachkultur im 16. Jahrhundert, in: Jb. für Volkskunde NF.7, 1984, 9–57, hier 11.

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Die Geschichte, die hier zu erzählen war, ist zunächst die eines Gelehrtendiskurses. Die Wurzeln der „verkehrten Welt“ liegen tief in der Renaissance, und der Humanismus ist ihr Nährboden. Die gelehrte Beweisführung traf eine bestimmte Auswahl unter den Erscheinungen, betonte einzelnes, erwähnte anderes nicht, und formte so allmählich das Bild der Vergangenheit. Ihre Brisanz und ihr dauerhafter Erfolg liegen in der paradigmatischen Bedeutung, die man dem Erklärungsangebot „Verkehrung“ aus ganz unterschiedlichen weltanschaulichen Perspektiven über die Jahrhunderte hinweg zusprechen konnte. Die Geschichte, die zu erzählen bleibt, ist die des Ritualwandels, der Aufgabe von Ritualen und ihrer Veränderung unter dem Eindruck eines gelehrten Deutungsangebotes. Zwar bestand ein erwünschter Erfolg der „verkehrten Welt“ darin, dass ehedem weitverbreitete Bräuche allmählich verschwanden. Jedoch ist dies nur die eine Seite der Medaille. Für manche Erscheinungen, die überlebten, dürfte sich eine manifeste Karnevalisierung zeigen lassen, die in einer Zeit einsetzt, als das Verdikt „pagan“ seinen Schrecken verlor. Als nachhaltigste Wirkung und größter, wenn auch paradoxer Erfolg der Rede von der „verkehrten Welt“ könnte sich daher die Karnevalisierung des Karnevals herausstellen.

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Inversion, Codeverletzung, Spott „Karnevaleske Elemente“ im antiken Griechenland von Richard Gordon

Der Begriff des Verkehrungsrituals, ursprünglich von James G. Frazer entwickelt 1, wurde erst in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in der englischen Sozialanthropologie reaktiviert. 2 Nachdem sich das Thema Inversion für die Analyse der frühneuzeitlichen Komödie bewährt hatte 3, entdeckte es die Annales-Schule für die Sozialgeschichte. 4 In diesem Zeitraum erfolgte die (Wieder-)Entdeckung und englische Übersetzung von Bachtins Abhandlung über Rabelais und das Karnevaleske, die dieser Forschungsrichtung vor allem in der allgemeinen Literaturwissenschaft den wichtigsten theoretischen Impuls gegeben hat. 5 Der Begriff ist daher unwiderruflich mit den sozialpolitischen Unruhen und Hoffnungen dieses Jahrzehnts 1 „Period of licence“ als ein Aspekt der rituellen Vertreibung des Bösen und als Prinzip der römischen Saturnalien: James G. Frazer, The Golden Bough. London 1922, Kap. 56–58. Vgl. Salomo Luria, „Die Ersten werden die Letzten sein“. Zur „sozialen Revolution“ im Altertum, in: Klio 22, 1929, 405–431. Zur Theoriegeschichte des Verkehrungsmotivs vgl. ausführlich den Aufsatz von Dominik Fugger in diesem Band. 2 Max Gluckman, Rituals of Rebellion in South-East Africa. (Frazer Lecture, 1952.) Manchester 1954; ders., The Licence in Ritual, in: ders., Custom and Conflict in Africa. Oxford 1965, 109–136; vgl. Edmund R. Leach, Time and False Noses, in: ders., Re-thinking Anthropology. London 1961, 132–136. In Italien hat Vittorio Lanternari Frazers Konzept etwas später weiterverfolgt und politisiert; vgl. Vittorio Lanternari, La Grande Festa. Storia del Capodanno nelle civiltà primitive. Mailand 1959; ders., Movimenti religiosi di libertà e di salvezza dei popoli oppressi. Mailand 1960. 3 Ian Donaldson, The World Upside-down. Comedy from Jonson to Fielding. Oxford 1970, bezieht sich auf Caspar L. Barber, Shakespeare’s Festive Comedy. Princeton 1951. Vgl. Karl Pestalozzi, Materialien zum Verständnis des Textes, in: Ludwig Tieck, Die verkehrte Welt: Ein historisches Schauspiel in fünf Aufzügen. Berlin 1964, 95–147; Helen Grant, The World Upside-down, in: R.O. Jones (Ed.), Studies in Spanish Literature of the Golden Age Presented to Edward M. Wilson. London 1973, 103–135; Jean Lafond/Augustin Redondo (Eds.), L’image du monde renversé et ses représentations littéraires et para-littéraires de la fin du XVIe–au milieu du XVIIe. Paris 1979. 4 Emmanuel Le Roy Ladurie, Le carneval de Romans. De la chandeleur au mercredi des cendres, 1579–1580. Paris 1979. In den USA hat Natalie Zemon Davis das Thema schon vorher entdeckt: The Reasons of Misrule/ The Rites of Violence, in: dies., Society and Culture in Early Modern France. Stanford 1975, 97–123 und 152–187; dies., Women on Top. Symbolic Sexual Inversion and Political Disorder in Early Modern Europe, in: Barbara A. Babcock (Ed.), The Reversible World. Symbolic Inversion in Art and Society. Ithaca, N.Y. 1978, 147–190.

oldenbourg DOI 10.1515/9783486727678.39

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verbunden; überall entdeckte man Karneval 6; das Karnevaleske wurde sogar in Inhalten bürgerlicher Hysterie, so zum Beispiel in Form von Phobien und Faszinationen wiedererkannt. 7 Wenn vierzig Jahre später der Begriff des Verkehrungsrituals als analytisches Werkzeug in der Geschichtsschreibung des Mittelalters und der Frühen Neuzeit problematisch geworden ist 8, so gilt dies zumal im Kontext des antiken Griechenlands, wo die kulturellen Rahmenbedingungen und vor allem der Religionsbegriff weitgehend anders waren. Frühneuzeithistoriker haben unterdessen das verwandte Konzept der „karnevalesken Elemente“ entwickelt, um die theoretischen Schwierigkeiten des Bachtin’schen Konzepts zu umgehen. 9 Die Erfurter Tagung, aus der dieser Beitrag hervorgegangen ist, hat erneut erwiesen, dass erst die Dekonstruktion seines Begriffs dessen punktuelle Anwendung in konkreten historischen Kontexten ermöglicht. In der Ethnographie ist dieses Problem längst anerkannt, da in diesem Bereich Victor Turners Auffassung von „communitas“ viel Anerkennung erfahren hat. In seinem Konzept wird durch rituelle Rebellion die fundamentale Kohärenz einer bestimmten sozialen Ordnung betont; sie besitzt aber gleichzeitig das Potential für ein begrenztes Maß an (gesellschaftlicher) Veränderung. 10 Wie zu zeigen sein wird, stellen Feste oder Rituale mit karnevalesken Elementen in der Antike keine Kritik an der herrschenden sozialen Ordnung

5 Michail Bachtin, Rabelais and His World. Cambridge 1968 [1965]. Die literaturtheoretische Rezeption in Europa (Julia Kristeva, Tzvetan Todorov) erfolgte erst in den frühen 1980er Jahren. 6 Die Welle erreichte auch die Altertumswissenschaft: Siegmar Döpp (Hrsg.), Karnevaleske Phänomene in antiken und nachantiken Kulturen und Literaturen. Trier 1993. 7 „The disjecta membra of the grotesque body of carnival found curious lodgement throughout the whole social order of late nineteenth- and early twentieth-century Europe.“ Peter Stallybrass/Allon White, The Politics and Poetics of Transgression. London 1986, 171–183, hier 180. 8 Vgl. Aron Gurevich, Bakhtin and his Theory of Carnival, in: Jan N. Bremmer/Herman Roodenburg (Eds.), A Cultural History of Humour. Cambridge 1997, 54–60. 9 Edward Muir, Ritual in Early Modern Europe. Cambridge 1997, 86. 10

Victor Turner, Humility and Hierarchy. The Liminality of Status Elevation and Reversal, in: The Ritual

Process. Structure and Anti-Structure. Chicago/London 1969, 155–193; ders., Social Dramas and Ritual Metaphors, in: ders., Dramas, Fields and Metaphors. Symbolic Action in Human Society. Ithaca, N. Y./London 1974, 23–59; vgl. Muir, Ritual (wie Anm.9), 90f., und den Beitrag von Werner Röcke in diesem Band. Kritik gibt es aber auch: „Yet Turner sometimes glosses over intellectual dimensions by suggesting that liminal, emotive, status-confusing rites are ‚anti-structural‘, implying a collapse of structure rather than an additional articulation of structure“: James A. Boon, Other Tribes, Other Scribes. Symbolic Anthropology in the Comparative Study of Cultures, Histories, Religions and Texts. Cambridge 1982, 143.

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dar. Sinnvoller ist es, nach latenten strategischen Funktionen, nach der impliziten Hegemonialisierung bestimmter Gruppen, nach Grenzziehung oder Ausschließung zu fragen. 11 Zwei weitere Merkmale des Bachtin’schen Konzepts, die Symbolik verschiedener Codeverletzungen und die Dualität zwischen „Ober-“ und „Unterkörper“, treten zwar in der Antike mehrfach auf 12, aber gerade weil sie als elementare Bausteine einer Vielzahl von Festen verwendet wurden, verblasste ihre spezifische semantische Aufladung. 13 Ich ziehe es deswegen vor, als interpretatorischen Leitfaden zwei simple Thesen aufzustellen: 1) Wenn statt Funktionalität vielmehr die historische Rezeption im Vordergrund der Analyse steht, wird die Vorstellung der „wahren“ Bedeutung eines Rituals problematisch. 2) Feste bzw. Rituale sind primär nicht durch die Semantik der verwendeten Zeichen zu begreifen, sondern als die komplexe und historisch unterschiedliche Wechselwirkung von Körpern, Praxen, Visualität, politisch-sozialer Ordnung und Macht. 14 Ob es möglich ist, diese Thesen in die Analyse antiker „Verkehrungsrituale“ einzubeziehen und mit welchem Erfolg, wird sich zeigen. Der Titel dieses Beitrags weist auf drei Themen hin: Inversion, Codeverletzung und Spott, die für die Problematik des Verkehrungsrituals in der Antike konstitutiv sind. In diesem Beitrag können nur einige repräsentative Beispiele berücksichtigt werden. Vorher aber sollen drei wichtige Unterschiede kurz erläutert werden zwischen dem Religionsbegriff bzw. der Praxis des christlichen Mittelalters und der frühen Neuzeit einerseits und des klassischen Griechenlands andererseits. Erstens wurde durch die Institutionalisierung eines für jede Polis eigentümlichen, identitätsstiftenden Festkalenders, durch die vorbehaltlose Anerkennung der religiösen Qualifi11 Jan G. Platvoet, Ritual: Religious and Secular, in: Jens Kreinath/Jan Snoek/Michael Stausberg (Eds.), Theorizing Rituals: Issues, Topics, Approaches, Concepts. Leiden 2008, 161–206, hier 197f. 12 David Walsh, Distorted Ideals in Greek Vase-Painting. The World of Mythological Burlesque. Cambridge 2009. 13 „The established order is confirmed by the absurdity of the world turned topsy-turvy […] ‚experimental‘ functions of this type of festival […] cannot be attested before the early modern period“; Hendrik S.Versnel, Inconsistencies in Greek and Roman Religion. Vol.2: Transition and Reversal in Myth and Ritual. (Studies in Greek and Roman Religion, 6.2.) Leiden 1993, 117f. 14 Vgl. Dieter Mersch, Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. München 2001; Christian Wulf, Praxis, in: Kreinath u.a. (Eds.), Rituals (wie Anm.11), 395–411, hier 397–402.

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kation jedes männlichen Mitbürgers und die vielgenutzte Möglichkeit, diffizile kultische Fragen durch Appell an die panhellenische Orakelstätte in Delphi lösen zu lassen, die religiöse Praxis in den verschiedenen Poleis weitgehend entpolitisiert. 15 Im Prinzip oblag das Gemeinschaftsgut „religiöses System“ – das heißt die Verantwortung, die Götter milde zu stimmen – der Versammlung der freien männlichen Bevölkerung der Polis. Die Offenheit bzw. Anpassungsfähigkeit des religiösen Diskurses implizierte zweitens ein relativ unbedeutendes Nischendasein für die ohnehin wenigen religiösen Spezialisten. 16 Einen vergleichbaren Begriff wie „Religion“ oder „das Heilige“ gab es nicht 17; stattdessen wurde die Götterverehrung als eine threskeia (Kultus) dargestellt, deren Legitimität ausschließlich auf lokaler Tradition (nur gelegentlich schriftlich protokolliert) und gefühlter Angemessenheit fußte. 18 Die frühzeitige geographische Expansion der Griechen im gesamten mediterranen Raum, vor allem die wechselseitigen Kontakte mit fremden Hochkulturen wie zum Beispiel Ägypten, Lydien, Persien ermöglichte drittens nicht nur die freie private Übertragung fremder Götter und deren Kulte, sondern auch die Entwicklung eines differenzierten Diskurses über das Fremde (auch in der religiösen Praxis), wobei die Eigentümlichkeiten der hellenischen Kultur gegen unterschiedliche Kontrastfolien artikuliert werden konnten. 19 In Bezug auf die in der Bachtin’schen Analyse hervorgehobenen kulturellen Differenzierungen zwischen den gesellschaftlichen Ständen

15

Jean Rudhardt, Notions fondamentales de la pensée religieuse et actes constitutifs du culte dans la

Grèce classique. 2.Aufl. Paris 1992, 251: „Les dieux grecs sont extrêmement divers; les sacrifices qui leur conviennent, également“. Vgl. Jan N. Bremmer, Götter, Mythen und Heiligtümer im antiken Griechenland. Darmstadt 1996, 12–30. Seit langem beruft man sich daher auf „die griechischen Religionen“: Roland Martin/Henri Metzger, La religion grecque. Paris 1976, 5. 16

Robert Garland, Priests and Power in Classical Athens, in: Mary Beard/John A. North (Eds.), Pagan

Priests. Religion and Power in the Ancient World. London 1990, 73–91. 17

Jan N. Bremmer, „Religion“, „Ritual“ and the Opposition „Sacred“ vs. „Profane“. Notes towards a Termi-

nological Genealogy, in: Fritz Graf (Hrsg.), Ansichten griechischer Rituale. Geburtstags-Symposium für Walter Burkert. Stuttgart 1998, 9–32; vgl. Louise Bruit Zaidman, La commerce des dieux: eusebeia. Essai sur la piété en Grèce ancienne. Paris 2001. 18

Walter Burkert, Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche. Stuttgart 1977, 331–

412; Pauline Schmitt-Pantel/Louise Bruit Zaidman, La religion grecque. 3.Aufl. Paris 1999; Jean Rudhardt, Essai sur la religion grecque, in: ders., Opera inedita. Ed. Philippe Borgeaud et Vinciane Pirenne-Delforge. Lüttich 2008, 49–156; Vinciane Pirenne-Delforge, Retour à la source. Pausanias et la religion grecque. Lüttich 2008, 41–95. 19

Thomas Harrison (Ed.), Greeks and Barbarians. Edinburgh 2002; Paul Cartledge, The Greeks. 2.Aufl. Ox-

ford 2002, 36f., 105–132.

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bzw. Gruppierungen darf man zudem auf die unerheblichen kulturellen Differenzierungen innerhalb der einzelnen Stadtstaaten während der archaischen und klassischen Zeit hinweisen. 20 Eine müßige Leser-Klasse entstand erst im späten Hellenismus. 21 Abgesehen von der Schwierigkeit, die altgriechischen Religionen überhaupt zu konzeptualisieren, muss schließlich auch die ernüchternde Quellenlage betont werden: Ein Großteil dessen, was wir über die Kulte der griechischen Städte wissen oder zu wissen glauben, basiert auf der Arbeit lokaler Geschichtsschreiber, viele von ihnen nachklassisch, die ihrerseits nur in Form von kontextlosen Zitaten in den Kommentaren (viel) später schreibender Gelehrter erhalten sind. Diese Autoren hatten ihre eigenen Erkenntnisinteressen, Argumentationslinien und Vorurteile, die uns fast vollständig entgehen. 22 Details ritueller Praktiken werden, wenn überhaupt, in den Inschriften erwähnt, die ausnahmsweise die formalen Regeln zur Durchführung eines bestimmten Festes bzw. Opfergangs wiedergeben (sogenannte leges sacrae). Über den Beweiswert der bildlichen Darstellungen wird heftig gestritten. In der Forschung werden daher mehr oder weniger plausible Vermutungen und Schlussfolgerungen angestellt. Es gibt für die antike Welt selbstverständlich keine mit den „Cérémonies et coutumes religieuses de tous les peuples du monde“ von J.F. Bernard (1723–1737) vergleichbare Beschreibung der unzähligen Städte- und Landkulte. 23 Vor allem im Kontext der vermeintlichen Verkehrungsrituale macht sich immer wieder ein gewisser Essentialismus in der modernen Analyse bemerkbar, wobei Verkehrung (oder „karnevaleske Elemente“) als sinnstiftender Kernpunkt der

20 Bachtin, Rabelais (wie Anm.5), 109; vgl. Christian Meier, Die politische Kunst der griechischen Tragödie. München 1988, 7–61, 226–239. 21 „Das Buch ist eines der charakteristischen Merkmale der hellenistischen Welt“: Rudolf Pfeiffer, Geschichte der klassischen Philologie. Reinbek bei Hamburg 1970, 132; vgl. Mario Vegetti, La scienza ellenistica. Problemi di epistemologia storica, in: Gabriele Giannantoni/Mario Vegetti (Eds.), La scienza ellenistica. Pavia 1984, 427–470. 22 Burkert, Griechische Religion (wie Anm.18), 27–30. 23 Jean Frédéric Bernard, Cérémonies et coutumes religieuses de tous les peuples du monde représentées par des figures dessinées de la main de Bernard Picart: avec une explication historique, & quelques dissertations curieuses. Amsterdam 1723–1737. Zwei Supplementbände wurden 1743 hinzugefügt; vgl. Paola von Wyss-Giacosa, Religionsbilder der Frühen Aufklärung – Bernard Picarts Tafeln für die Cérémonies et coutumes religieuses de tous les Peuples du Monde. Wabern/Bern 2006; Lynn Hunt/Margaret C. Jacob/Wijnand Mijnhardt, The Book that Changed Europe. Cambridge 2010. Auch in diesem Fall gilt das Prinzip: Je entfernter der Bestimmungsort, desto unzuverlässiger die Information.

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Gesamtsymbolik, nicht bloß als ein relativ untergeordnetes Thema unter anderen betrachtet wird. 24

I. Status- oder Rollenverkehrung in einem rituellen Kontext Einige wenige Feste, bei denen Statusverkehrungen eine Rolle spielten, sind uns namentlich bekannt. 25 Solche Feste werden allgemein in der Forschung als „saturnisch“ bezeichnet; auch in der Antike wurden in diesem Kontext die römischen Saturnalien als maßgebend empfunden 26, gerade weil die griechischen Kronia relativ unbedeutend waren. Auf jeden Fall wurden vergleichbare Feste in Griechenland, mit Ausnahme der Pelôria in Thessalien und der Geraistia in Troizen, insgesamt nicht groß gefeiert. Kronos bezeichnet in der griechischen Mythologie eine Weltordnung, die vor der bestehenden bzw. anders als die bestehende existierte. 27 Diese Urwelt muss man sich als eine systematische Inversion, sowohl positiv als auch negativ, der bestehenden Ordnung vorstellen. Primitivistische Darstellungen in der Antike neigen dazu, entweder die eine oder die andere Option hervorzuheben. 28 Odysseus’ Begegnungen

24

Vgl. die These von Jean Duvignaud, Fêtes et civilisation. Paris 1973, dass „das Fest“ alle sozialen Regeln

auflöse. Vittorio Lanternari (wie Anm.2) hat Verkehrung als Bestandteil aller „richtigen“ Feste ausgemacht; vgl. Paul Hugger, Einleitung. Das Fest – Perspektiven einer Forschungsgeschichte, in: ders. (Hrsg.), Stadt und Fest. Zu Geschichte und Gegenwart europäischer Festkultur. Stuttgart 1987, 9–24. Eine gute Übersicht bietet Natale Spineto, Théories de la fête dans l’histoire des religions, in: André Motte/Charles-Marie Ternes (Eds.), Dieux, fêtes, sacré dans la Grèce et la Rome antiques. Turnhout 2003, 279–300. 25

Martin P. Nilsson, Griechische Feste von religiöser Bedeutung, mit Ausschluß der Attischen. Stuttgart

1906, Ndr. Darmstadt 1957, 35–40, 392–394, listet die antiken Angaben penibel auf. Für einen möglichen Hintergrund im Nahen Osten siehe Walter Burkert, Kronia-Feste und ihr altorientalischer Hintergrund, in: Döpp (Hrsg.), Karnevaleske Phänomene (wie Anm.6), 11–30 (= ders., Kleine Schriften II: Orientalia. Hrsg. v. Laura Gemelli Marciano. Göttingen 2003, 154–171). Berosus von Babylon weist auf ein ähnliches Fest in Babylon hin, die fünftägigen Sakaia, das im Monat Lôios (Juli) gefeiert wurde und in dessen Verlauf „die Herren von ihren Sklaven (oiketai) beherrscht wurden“. Einzigartig ist hier, dass jeder (größere) Sklavenhaushalt einen Sklaven als zoganês auswählte, der in einer königlichen Robe bekleidet fünf Tage lang an der Spitze der Hausgemeinschaft stehen durfte: Athenaeus, Deipnosophistai 14.44, 639c (= Felix Jacoby [Hrsg.], Die Fragmente der griechischen Historiker [FGrH]. 3 Teile in 15 Bden. Berlin/Leiden 1922–1958; Ndr. 1957–1969, Nr.680 F 2 [= Ktesias, Persika: FGrH 688 F 4]); vgl. Strabon, Geogr. 11.8.5, 512C. 26

Athenaeus, Deipn. 14.44, 639b, 639de; Macrobius, Sat. 1.7.14–35. Siehe auch Charles Guittard, Les Satur-

nales à Rome. Du mythe de l’âge d’or au banquet de décembre, in: Pallas 61, 2003, 219–236, und den Beitrag von Hendrik S.Versnel in diesem Band.

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in Odyssee IX–XII mit den kannibalischen Laestrygonen oder den Milch trinkenden, kannibalischen Kyklopen und Herodots „Ethnographien“ von entfernten Völkern stellen dieselben Themen in räumlicher statt zeitlicher Distanz dar. 29 Nach der gängigen Interpretation spiegeln die ritualisierten Abläufe bei den „saturnischen“ Festen in Griechenland diese Ambivalenz in ihrer Gesamtheit wider. 30 Auf der einen Seite finden wir die Thematik Harmonie und Wohlstand, auf der anderen die drohende Anarchie der Rollenverkehrung bzw. die Auslöschung von Unterschieden. In dieser Interpretation werden Materialien von unterschiedlichen Festen zur Ausarbeitung eines ahistorischen Idealtypus „griechische Kronia“ herangezogen. Diese Darstellung ist insofern problematisch, als die göttlichen Patrone dieser Feste in Wahrheit durchaus vielfältig waren: Auf Samos und Kreta wurden die Feste zu Ehren des Hermes, in Thessalien und wahrscheinlich Smyrna zu Ehren des Zeus gefeiert; ein ähnliches Fest im nordwestlichen Peloponnes, die Kissotomoi, stand unter dem Schutz der „Hebe“, ein Beiname der weiblichen Lokalheldin Dia. 31 In Kyrene war der Schutzherr vielleicht Aristaios. 32 Drei andere Feste, in Theben, auf Rhodos

27 Nach Hesiod, Theog. 154–210, 453–819, wurde der Titan Kronos, von seinem Sohn Zeus gebändigt, in die tiefste Unterwelt gesperrt (720–733); eine kurze, in den Text der Opera eingefügte Passage (170–173e West) deutet an, dass er, als Herrscher des Goldenen Zeitalters, in den fernen Westen der Welt, auf die Inseln der Seligen, verbannt wurde; vgl. Martin L. West, Hesiod Works and Days. Oxford 1978, 193–196; JensUwe Schmidt, Die Aufrichtung der Zeusherrschaft als Modell. Überlegungen zur Theogonie des Hesiod, in: Würzburger Jbb. 14, 1988, 39–69, und 15, 1989, 17–31; Versnel, Transition (wie Anm.13), 90–114; Burkert, Kronia-Feste (wie Anm.25), 12–14. 28 Arthur O. Lovejoy/George Boas, A Documentary History of Primitivism and Related Ideas. Vol.1: Primitivism and Related Ideas in Antiquity. Baltimore 1935 (Ndr. New York 1965); Harald Thesleff, Notes on the Paradise Myth in Ancient Greece, in: Temenos 22, 1986, 129–139. 29 Pierre Vidal-Naquet, Valeurs religieuses et mythiques de la terre et du sacrifice dans l’Odyssée, in: Moses I. Finley (Ed.), Problèmes de la terre en Grèce ancienne. Den Haag 1973, 269–292 (= Pierre Vidal-Naquet, Le

chasseur noir. Paris 1981, 39–68). 30 Versnel, Transition (wie Anm.13), 122–128. 31 Samos: Plutarch, Quaest. graec. 55, 303d; Hermaia auf Kreta: Karystios von Pergamon (ca. 150–100 v.Chr.) ap. Athenaeus, Deipn. 14.44, 639b; Thessalien: Baton von Sinope (3.Jh. v.Chr.) ap. Athenaeus, Deipn. 14.45, 639d–640a = FGrH 268 F 4; Eleutheriafest in Smyrna: Dositheus, Lydiaka = FGrH 290 F5 = [Plutarch], Parallela min. 30, 313a; Phleious/Phlious: Pausanias 2.13.3–4, vgl. Strabon, Geogr. 8.6.24, 382C. Der Tempel dieser Göttin stand auf der Akropolis; Kissotomoi bedeutet „(die Tage des) Efeuschneiden(s)“. 32 Macrobius, Sat. 1.7.25 weist auf Saturnus = Kronos; vgl. aber Nilsson, Feste (wie Anm.25), 39. In Tripolitanien/Numidien wäre dies Baal Hammon (= Saturnus), aber Kyrene fällt nicht in diesen Kulturkreis.

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und in Athen, sind dagegen in der Tat Feste des Zeus-Vaters Kronos. 33 Meist wissen wir nicht mehr über deren Ablauf, als dass einige soziale Regeln umgekehrt wurden. Auf Samos war Stehlen beispielsweise während des Festes zu Ehren des Hermes Charidotes erlaubt 34; auf Rhodos wurde ein verurteilter Verbrecher bis zum Fest des Kronos im Gefängnis festgehalten, dann mit Wein abgefüllt und außerhalb der Stadt vor dem Tempel der Artemis Aristoboule, des „hervorragenden Rates“, getötet. 35 Anlässlich des Festes der „Hebe“ in Phlious sind offenbar Verbrecher freigelassen worden, die anschließend ihre Ketten als Votivgaben aufhängten. 36 Derselbe Brauch ist auch für die Pelôria bestätigt, für den Gelehrten Baton von Sinope das „wichtigste Fest“ Thessaliens. 37 Darüber hinaus wurden dort Nichtbürger zum Fest eingeladen; Sklaven (oiketai) durften schmausen und ohne Zurückhaltung den Herren widersprechen (parrhesia); die Herren mussten die Sklaven bedienen. Nach Athenaeus war alles über die Maßen philanthropon, also menschenfreundlich. 38 Nun ist es sicher, dass diese thessalischen „Sklaven“ nicht den in Athen üblichen Eigentumssklaven entsprachen, sondern zu einer in sich differenzierten Schicht halbfreier bodengebundener Personen namens penestai gehörten. 39 Dasselbe trifft 33

Theben: [Plutarch], Vit. Hom. 1.4; Rhodos: vgl. Anm.35; Athen: vgl. Anm.56. Man nimmt an, dass „there

must have been Kronia in all Ionian towns that have a month Kronion“: Jacoby, FGrH, Teil IIIb (Supplement) 2 (Notes, Addenda), 297; vgl. L. Accius, Annales frg. 3 Baehrens = Courtney, ap. Macrobius, Sat. 1.7.37: „maxima pars Graium Saturno et maxime Athenae / conficiunt sacra quae Cronia esse iterantur ab illis, / eumque diem celebrant“ (2. Hälfte des 2.Jh.s v.Chr.). Der Monat Kronion fiel in verschiedenen Städten in unterschiedliche Jahreszeiten: Martin L. West, Hesiod’s Theogony. Oxford 1966, 205; die Kronia waren also nicht unbedingt ein Neujahrsfest. 34

Plutarch, Quaest. graec. 55, 303d; das Epitheton Charidotes, schon im Hom. Hymn. 18.12, assoziiert Her-

mes mit Heiterkeit und Wohlstand. 35

Porphyrios, De abstin. 2.54.2 (Meitageitnion 6 = August). Für Max Pohlenz, s. v. Kronos, in: RE 11, 1922,

1982–2018, hier 1985, der alle antiken Hinweise auf Menschenopfer für Kronos systematisch zurückweist, galt das Opfer nicht Kronos, sondern Artemis. Jan N. Bremmer, Myth and Ritual in Greek Human Sacrifice. Lykaon, Polyxena and the Case of the Rhodian Criminal, in: Paul Christesen (Ed.), Olympic Victor Lists and Ancient Greek History. Cambridge 2007, 66–101, hier 70, meint dagegen, dass „a human sacrifice to Kronos is not improbable“, auch wenn „the precise historical circumstances of the Rhodian sacrifice remain totally obscure“. Ich danke Professor Bremmer für die freundliche Zusendung des Artikels. 36

Pausanias 2.13.3–4. In Smyrna zum Eleutheriafest durften Sklavinnen den Schmuck von Freien tragen

(Dositheus, Lydiaka = FGrH 290 F 5); Jacoby neigt dazu, dieses Detail zu akzeptieren, auch wenn das angebliche Aition frei erfunden sei. 37

Baton ap. Athenaeus, Deipn. 14.45, 639d = FGrH 268 F 4; Ludwig Ziehen, s. v. Peloria, in: RE 19, 1937, 394–

396, betont zu Recht die Dürftigkeit und Ungenauigkeit der Überlieferung.

46

38

Baton ap. Athenaeus, Deipn. 14.45, 640a.

39

Archemachos ap. FGrH 434 F 1; Suda s. v. κλαρόται; vgl. Jean-Nicholas Corvisier, À mi-chemin entre

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auf die klarotai von Kydonia in Nordkreta zu, die anlässlich des Hermesfestes reich bewirtet und von ihren Herren bedient wurden. 40 In diesem Fall erwähnt außerdem eine frühe und meist verlässliche Quelle, dass die Rollenumkehrung tatsächlich noch deutlich weiter ging: dass freie Bürger die Stadt für die Dauer des Festes nicht betreten durften, während die klarotai absolute Kontrolle hatten und unter Umständen sogar freie Bürger auspeitschen durften. 41 Während die Quelle sich hier für den Kontrast zwischen Freien und Sklaven interessiert, sollte für uns weniger der Rechtsstatus der einzelnen Beteiligten als der Charakter der Gesamtgesellschaft im Fokus stehen. 42 Der Kernpunkt ist meines Erachtens der Sonderstatus der penestai, klarotai und vergleichbarer Gruppen, die nicht wie Eigentumssklaven völlig rechtlos waren, sondern, aus welchen historischen Gründen auch immer – durch ökonomische oder juristische Zwänge oder weil ihre Gemeinden mit Gewalt erobert wurden – dazu verpflichtet waren, jedes Jahr einen Gutteil ihrer Ernte an die Besitzer des Landes abzugeben 43, aber ansonsten in die reguläre Gesellschaft eingebunden waren. 44 Die klarotai werden von Aristoteles als perioikoi bezeichnet, jene, „die außerhalb der Stadt beheimatet sind“. Sie waren also auf dem Flachland in Dörfern angesiedelt; vergleichbare Personen hießen im benachbarten Gortyn aphamiôtai, „die, die abseits sitzen“. 45 Nach dem Aition der Pelôria war der Anlass für die ursprüngliche Einrichtung des Festes die infolge des wundersamen Austrocknens des thessali-

l’esclavage et la liberté. Un cas peu connu, les pénestes thessaliens, in: L’information historique 43, 1981, 115–118; Jean Ducat, Les Pénestes de Thessalie, in: Ann. Littéraires de l’Université de Besançon 512, 1994, 107–113. Auch in Attika oder eher auf den abhängigen Ägäischen Inseln gab es solche halbfreien Personen, die pelatai. Das bekannteste Beispiel jedoch sind die lakonischen Heloten: Jean Ducat, Les Hilotes. (Bulletin de Correspondance Héllenique, Suppl. 20.) Paris 1990; es ist aber bemerkenswert, dass keine Hinweise auf Kronia-ähnliche Feste in Sparta oder Messenien erhalten sind. 40 Karystios von Pergamon ap. Athenaeus, Deipn. 14, 639b. 41 Ephoros ap. Athenaeus, Deipn. 6, 263 = FGrH 70 F 29. 42 Ich adaptiere hier Bourdieus These zu Übergangsriten: Pierre Bourdieu, Les rites d’institution, in: ders., Langage et pouvoir symbolique. Paris 2001, 176. 43 Detlef Lotze, Μεταξὺ ἐλευθέρων καὶ δούλων. Studien zur Rechtsstellung unfreier Landbevölkerungen bis zum 4.Jahrhundert v.Chr. Berlin 1959; Moses I. Finley, Between Slavery and Freedom, in: Comparative Studies in Society and History 6, 1964, 233–249 (= ders., Economy and Society in Ancient Greece. Ed. Brent D. Shaw and Richard P. Saller. London 1981, 116–132); Pierre Vidal-Naquet, Réflexions sur l’histoire de l’esclavage, in: ders., Chasseur noir (wie Anm.29), 223–248. 44 Moses I. Finley, The Servile Statuses of Ancient Greece, in: Revue international des droits de l’antiquité (Sér. 3) 7, 1960, 165–189 (= ders., Economy [wie Anm.43], 133–149, hier 135–139: Gortyn auf Kreta). 45 Aristoteles, Pol. 2.10, 1271b40–1272a1; Hesychios s.v. ἀφαμιῶται.

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schen Sumpflands plötzliche Verfügbarkeit unermesslicher neuer Kulturlandschaften – die von den penestai bearbeitet werden mussten. 46 Das Aition weist zudem auf den sozialen Druck hin, den Charakter des Herren durch die Freigebigkeit der Bewirtung öffentlich zu inszenieren. Die Verkehrungen solcher Feste spiegeln also einerseits die reale Bedrohung bestimmter Gruppen wider, die in der Realität den Vollbürgern bzw. Grundbesitzern numerisch überlegen waren, aber ebenso ausgebeutet wurden, wie es bei solchen Pächtern üblicherweise der Fall war. Wie Aristoteles bemerkt: „Und auch von allem anderen abgesehen, so macht doch jedenfalls die Beaufsichtigung der Leibeigenen viel zu schaffen; auf welche Art soll man sie behandeln? Hält man sie in loser Zucht, so werden sie übermütig und wollen ihren Herren gleichstehen; wird ihnen das Leben sauer gemacht, so gehen sie mit bösen Anschlägen um und hegen Hass.“ 47

Die Kehrseite der ausgelassenen Festlichkeiten der Pelôria waren die wiederholten Aufstände der penestai gegen die Großgrundbesitzer. 48 An mindestens zweien solcher Feste jedoch, nämlich in Troizen und in Athen, nahmen anscheinend auch die Eigentumssklaven teil. Aber in keinem der beiden Fälle, und meiner Ansicht nach war dies zu erwarten, stellt sich die rituelle Verkehrung als so weitreichend heraus wie in Kydonia oder in Thessalien. Beim Geraistia-Fest in Troizen durften die Sklaven in der Öffentlichkeit zusammen mit Bürgern (politai) mit Knöchelchen würfeln (astragalizein), und ihre Besitzer (kurioi) spendierten ihnen ein reichhaltiges Mahl. 49 Felix Jacoby, die Koryphäe auf dem Feld der verlorenen griechischen Historiker, zweifelte an der Zuverlässigkeit des Autors, der uns diese Nachrichten überliefert 50, aber wenn wir sie für wahr halten, dann sehen wir uns hier mit zwei weiteren Formen der Verkehrung konfrontiert. Die erste ermöglicht den Sklaven, im Rahmen einer temporären Regelaussetzung im öffentlichen Bereich Vollbürger in einem komplexen Glücksspiel zu besiegen, wodurch sowohl ihre Intelligenz als auch die

46

Baton ap. Athenaeus, Deipn. 14.45, 639ef.

47

Aristoteles, Pol. 2.9, 1269b7–11, transl. J. Bernays.

48

Ebd.1269a36f. Vgl. Aristoteles Frg. 586 Rose (Kallikurioi in Syrakuse).

49

Karystios von Pergamon ap. Athenaeus, Deipn. 14.44, 639bc. Geraistios scheint ein Beiname des Stadt-

gottes Poseidon gewesen zu sein. 50

Felix Jacoby, s. v. Karystios, in: RE 10, 1919, 2254f.: „Die erzählten Tatsachen sind selten brauchbar;

meist Klatsch oder schlecht verbürgte Anekdoten.“

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Zufälligkeit ihres Sklavenschicksals implizit anerkannt werden. 51 Daher ist die Symbolik dieses Aspektes deutlich radikaler als die des zweiten, der nur in der Bereitstellung von mehr und besserem Essen für die Sklaven besteht und im Umkehrschluss ihre übliche Mangelernährung unterstreicht. 52 Außerdem fällt es schwer sich vorzustellen, dass die Elite der Stadt sich darum gerissen hätte, mit den Sklaven Knöchelchen zu spielen: In der Praxis wird die Grenzlinie zwischen Arm und Reich implizit bestätigt. In Analogie dazu ist zum Beispiel von den inschriftlichen Abrechnungen für die Arbeiten am Erechtheion in Athen bekannt, dass Sklaven regelmäßig zusammen mit freien athenischen Handwerkern und metoikoi (freien Fremden) arbeiteten und vordergründig den gleichen Lohn erhielten; das Geld wurde aber den Herren ausgehändigt, während die Freien ihr Geld selbst mit nach Hause nahmen. 53 Selbst das reichhaltige Mahl bestätigt einen für eine Sklavengesellschaft charakteristischen Topos, dass nämlich, während der Sklave vollkommen ausgelassen sein kann, der Herr von strengen verinnerlichten Verhaltensregeln eingeschränkt wird. 54 Das bekannteste Rollenumkehrungsritual in Griechenland sind jedoch die Kronia in Athen. Diese Bekanntheit ist aber nicht der außergewöhnlichen Qualität unserer Information zu verdanken 55, im Gegenteil: Alles, was wir über das Fest mit Sicherheit, das heißt mit Bezug auf klassische Quellen bestätigen können, ist, dass die Familienoberhäupter, also die Herren, und ihre Landsklaven zusammen aßen, nachdem die Getreideernte eingebracht und die Früchte gesammelt worden waren. 56 Man hat ein Fragment von L. Accius, dem belesenen Autor einer didaktischen 51 In der Diskussion nach dem Vortrag versuchte man, das astragalizein spezifisch als Kinderspiel einzuordnen und daher als ein Merkmal der „Vorzeit“ anzuerkennen. Nach meiner Auffassung wurde das Spiel aufgrund seiner Komplexität gewählt; es gab nicht weniger als 35 mögliche Kombinationen, deren Namen uns meistens unbekannt sind: August Mau, s. v. Astragalos, in: RE 2, 1906, 1793–1795; Gerhard Rohlfs, Antikes Knöchelspiel im einstigen Großgriechenland. Eine vergleichende historisch-linguistische Studie. Tübingen 1963. 52 „[Der Prolog zu Plautus’ Poenulus] neatly encapsulates the combination of discipline and license to which the Plautine slave is subjected, and in the slave who raids the cook-shop it gives us the flip-side of Horace’s Davus“; William Fitzgerald, Slavery and the Roman Literary Imagination. Cambridge 2000, 43. 53 Robert H.Randall, The Erechtheion Workmen, in: American Journal of Archaeology 57, 1953, 199–210; John M. Camp, The Archaeology of Athens. New Haven 2001, 98. 54 Fitzgerald, Slavery (wie Anm.52), 32–50. 55 „Die attischen Kronia […] scheinen sehr unbedeutend gewesen zu sein“: Nilsson, Feste (wie Anm.25), 37. 56 Philochoros FGrH 328 F 97 (= Macrobius, Sat. 1.10.22). Demosthenes, Or. 24.26 gibt den Tag als den 12. Hekatombaion an, d.h. Ende Juni/Anfang Juli, praktisch am Anfang des attischen Kalenderjahres (vgl. Aristo-

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Dichtung über die angeblichen griechischen Ursprünge römischer Feste, so interpretiert, dass die Herren die Sklaven bei den Kronia tatsächlich bedienen mussten. 57 Eine solche Interpretation beruht auf der Annahme, dass procurare „physisch bedienen“ bedeuten muss. Diese Schlussfolgerung ist jedoch nicht zwingend, weil die Semantik von procurare auch die Bedeutung „sich um jemanden kümmern“ einschließt. 58 Das gemeinsame Mahl weist meines Erachtens auch hier nicht nur auf die (vorübergehende) Gleichheit bei der Arbeit, sondern auch auf die vorgeschriebene soziale Distanz und die übliche Mangelernährung hin. 59 Zudem waren die Mitfeiernden nicht die Haussklaven, die das Stadthaus mit den Herren teilen mussten, sondern die meist angeketteten Feldsklaven. Wie Christoph Auffarth betont, wurde die Rückkehr zur Normalität schon in den Regeln selbst festgelegt. 60 Die nachweisbaren Kronia und verwandte Feste in Griechenland waren offensichtlich in der spätklassischen und vor allem in der hellenistischen Zeit weitgehend routinisiert. Solche Routinisierung, die anscheinend mit der Normalisierung

phanes, Nub. 397; Hesychios, s. v. Kronia). Dies sind die einzigen klassischen Angaben zum Fest; die Demosthenes-Rede ist in die späten 350er Jahre datierbar; Philochoros verfasste die ersten Bücher seiner Atthis ca. 290–280 v.Chr. Plutarch, Non posse suav. vivi sec. Epicurum 16, 1098b spricht in diesem Zusammenhang gleichfalls von Landarbeitern (therapontes), nicht unbedingt von Sklaven (douloi). Zu seiner Zeit waren die Kronia anscheinend mit einem bayerischen Bierfest vergleichbar; von einem gemeinsamen Schmaus spricht er nicht mehr. 57

Accius frg. 3 Baehrens = Courtney, ap. Macrobius, Sat. 1.7.36 (wie Anm.33): „per agros urbesque fere om-

nes / exercent epulis laeti famulosque procurant / quisque suos; nosterque itidem est mos traditus illinc / iste, ut dum dominis famuli epulentur ibidem“; „Fast alle feiern schön auf dem Land und in den Städten, und jeder kümmert sich um seine eigenen Knechte; unser eigener Brauch ist der gleiche und stammt von dort [Griechenland], nämlich dass die Knechte zusammen mit den Herren feiern“. Nach Jacoby stammt Accius’ Information indirekt von Philochoros: FGrH IIIb (Supplement) 1, 401. Andererseits behauptet Accius, dass das Fest auch in den Städten gefeiert worden sei, während Philochoros auf seinem ländlichen Charakter insistiert; vgl. auch Robert Parker, Polytheism and Society at Athens. Oxford 2005, 202. 58

Vgl. Plautus, Poen. 28–29: „nutrices pueros infantis minutulos / domi ut procurent“; „die Tagesmütter

sollen die Babys im Hause betreuen“. Famulus bedeutet hier anscheinend „Eigentumssklave“; ungefähr zur gleichen Zeit verwendet Cato das Wort familia stets für den Sklavenhaushalt (Agric. 4.2–3; 56; 57), während Knechte (operarii, mercennarii, politores) nur zur Erntezeit angeheuert wurden. Die Wortwahl von Macrobius – „patres familiarum […] cum servis vescerentur“ – spricht ebenfalls gegen Bedienung: FGrH IIIb (Supplement) 1: 402. 59

Ich glaube nicht, dass es uns weiterbringt, auf „kritische Momente“ im agrarischen Jahresverlauf, z.B.

die Erntezeit oder die Öffnung des neuen Weins, hinzuweisen. Solche Theorien berufen sich gerne auf einen vermeintlichen Primitivismus. 60

Christoph Auffarth, Der drohende Untergang. „Schöpfung“ in Mythos und Ritual im Alten Orient und

in Griechenland am Beispiel der Odyssee und des Ezechielbuches. Berlin 1991, 1–37.

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des Status der perioikoi und vergleichbarer Gruppen als Nebeneffekt der Monetarisierung der hellenistischen Wirtschaft einherging 61, ermöglichte sowohl die völlige Ausblendung der Sozialkritik, die potentiell solchen Festen innewohnte, als auch Änderungen bzw. Anpassungen, die ohne Zweifel im Laufe der Zeit stattfanden. Übrig blieb die von Lokalhistorikern, Periegetai und Ethnographen betriebene Verschriftlichung solcher Feste, die als Lokalkolorit präsentiert oder argumentativ im Rahmen einer bestimmten Darstellungsabsicht, zum Beispiel einer Beschönigung des Sklavensystems, rekontextualisiert wurden.

II. Karnevaleske Themen im Dionysoskult Man hat zu Recht darauf hingewiesen, dass sich jede Performance eines komplexen Rituals auf der diachronen Achse in Konkurrenz befindet mit jeder früheren Performance am selben Ort und auf der synchronen Achse mit jeder gleichzeitigen Durchführung. Zudem ist jedes komplexe öffentliche Ritual vielfach mit anderen Ritualen im gleichen System thematisch verbunden. 62 So wurden Inversion, Codeverletzungen und Spott in komplexer, uneinheitlicher Weise als Themen in griechische Rituale integriert. 63 Als Beispiel seien im Folgenden die athenischen Anthesteria vorgestellt, ein eng mit dem Dionysoskult verbundenes Fest. Unter dem Stichwort „Konservatismus des Rituals“ werden üblicherweise die in den verschiedenen Quellen verstreuten Hinweise so integriert, dass eine möglichst kohärente Darstellung des Festes entsteht, die entsprechend ahistorisch und idealisierend ist. 64 Methodisch zentral ist auch die Annahme einer kohärenten „native exegesis“, einer privilegierten einheimischen interpretatorischen Tradition, die von den verschiedenen

61 Eine modellhafte Erklärung dafür liefert Jeffrey Fynn-Paul, Empire, Monotheism and Slavery in the Greater Mediterranean Region from Antiquity to the Early Modern Era, in: Past & Present 205, 2009, 3–40. 62 Burkhard Gladigow, Complexity, in: Kreinath u.a. (Eds.), Rituals (wie Anm.11), 483–494, hier 485f. 63 Catherine Bell hat die Artifizialität des Konzepts „Ritual“ zu Recht beklagt: Ritual. Perspectives and Dimensions. New York 1997, 17; vgl. Platvoet, Ritual (wie Anm.11), 201f.; ich will aber diese Problematik hier nicht weiter erörtern. Bell hat auch die Modeerscheinung der Performativität kritisiert: Ronald L. Grimes, Performance, in: Kreinath u.a. (Eds.), Rituals (wie Anm.11), 379–394, hier 391f. 64 Erika Simon, Festivals of Attica. An Archaeological Commentary. Madison 1983, 92–99, z.B. betrachtet die Anthesteria als Fruchtbarkeitsfeier, die die Vegetationskulte der späten Bronzezeit widerspiegelt. Parker, Polytheism (wie Anm.57), 291 Anm.9, räumt die Schwierigkeiten ein, die ihm solche Unstimmigkeiten beim Versuch bereitet haben, den Ablauf der Anthesteria zu rekonstruieren.

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Lokalhistorikern bzw. Kommentatoren aufgenommen und treu wiedergegeben sein soll. Historische Veränderungen fanden demnach auf einer anderen Ebene statt. Auf dieser Grundlage hat jeder Gelehrte seine eigenen Anthesterien konstruiert. 65 Erst vor kurzem hat man versucht, diesen methodischen Konsens aufzubrechen, indem man die Erkenntnisinteressen der antiken Autoren, die in der fragmentarischen Überlieferung zu findenden unterschiedlichen Betonungen und das auf seine Datierbarkeit geprüfte archäologische Material systematisch mit einbezieht. 66 Die Diskrepanzen zwischen den antiken Testimonien werden dadurch nicht mehr schlichtweg ignoriert bzw. als „Probleme“ betrachtet, sondern als Indizien historischer Uminterpretationen verstanden. Auch wenn die vorgeschlagene Neueinordnung der Testimonien eigene, schwer lösbare Probleme aufwirft, ist der zugrundeliegenden Kritik zuzustimmen. 1. Dionysos als Gott der Alterität Als Gott des Weines, des Thiasos, der (Theater-)Maske 67 und bis zu einem gewissen Grade auch der Toten, die immer wieder in die Welt der Lebenden zurückkehren 68, ist Dionysos der Gott par excellence, der Grenzen und Unterschiede auflöst, Gegensätzliches verbindet und Alltagserfahrungen untergräbt. Als Gott des Weines

65

Vgl. z.B. Jane Ellen Harrison, Prolegomena to the Study of Greek Religion. Cambridge 1903, 32–55

(= Journal of Hellenic Studies 20, 1900, 99–113); Ludwig Deubner, Attische Feste. Berlin 1932, Ndr. Darmstadt 1969, 152–155; Walter Burkert, Homo Necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen. Berlin 1972, 213–247; ders., Griechische Religion (wie Anm.18), 358–364; Simon, Festivals (wie Anm.64), 92–101; Auffarth, Der drohende Untergang (wie Anm.60), 202–276; Noel Robertson, Athens’ Festival of the New Wine, in: Harvard Studies in Classical Philology 95, 1993, 197–250; Richard Seaford, Reciprocity and Ritual. Oxford 1994, 235–280; Parker, Polytheism (wie Anm.57), 290–316. Anthesterienfeste wurden auch in vielen anderen, vor allem ionischen Städten gefeiert. 66

Sally C. Humphreys, The Strangeness of Gods. Historical Perspectives on the Interpretation of Athenian

Religion. Oxford 2004, hat die in der Fachliteratur fest etablierten Annahmen und Prozeduren in diesem Kontext radikal hinterfragt und die Rolle der (antiken) Rezeption in den Vordergrund gestellt. 67

Françoise Frontisi-Ducroux, Le dieu-masque. Une figure du Dionysos à Athènes. Paris 1991; Natale Spi-

neto, Dionysos a teatro. Il contesto festivo del dramma greco. Rom 2005; Agnes Schwarzmaier, Dionysos, der Maskengott. Kultszenen und Theaterbilder, in: Renate Schlesier/Agnes Schwarzmaier (Hrsg.), Dionysos. Verwandlung und Ekstase. Berlin/Regensburg 2008, 81–93. 68

Susan Guettel Cole, Voices from Beyond the Grave. Dionysus and the Dead, in: Thomas H.Carpenter/

Christopher A. Faraone (Eds.), Masks of Dionysus. Ithaca 1993, 276–295. Zu den Wechselwirkungen zwischen bacchischem thiasos und bacchischen Mysterien vgl. Anne-Françoise Jaccottet, Du thiase aux mystères. Dionysos entre le „privé“ et „l’officiel“, in: Véronique Dasen/Marcel Piérart (Eds.), ᾿Ιδίᾳ καὶ δημοσίᾳ. Les cadres „privés“ et „publics“ de la religion grecque ancienne. Lüttich 2005, 191–202.

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Abb.1: Tetradrachme aus Mende, Mazedonien, ca. 460–423 v.Chr. Dionysos kehrt auf dem Rücken eines Maultiers von einem Symposion zurück. Auktionskatalog Nr.51, 5.März 2009, Numismatica Ars Classica NAC AG. Zürich/London, S.196, Nr.592.

verändert er Wahrnehmung und Stimmung, lindert Schwermut, bringt Freude und Euphorie. 69 Ein bezeichnendes Beispiel dafür ist die Darstellung auf einer Tetradrachme der mazedonischen Stadt Mende: Der bärtige, auf dem Rücken eines Maultieres ausgestreckte Gott schwenkt einen Kantharos in der rechten Hand hin und her (Abb.1). 70 Die Hilflosigkeit und der Kontrollverlust des Gottes in dieser Pose, der invertierten Reiterposition, sowie der implizierte Kontrast zwischen göttlicher Con-

69 Das Thema ist ein Topos bei den Tragikern, z.B. Euripides, Bacch. 280f., 381, 421–423, 772. Zur Teilnahme der Gottheit am Fest: André Motte, Fêtes chez les hommes, fêtes chez les dieux. Signification religieuse de la fête dans la Grèce Antique, in: Motte/Ternes (Eds.), Dieux (wie Anm.24), 113–131, hier 122. 70 Syll. Nummorum Graecorum: American Numismatic Society, New York, Nr.350 = S.P. Noe, The Mende (Kaliandra) Hoard, in: American Numismatic Society Notes 27, 1926, Nr.93 (ca. 460–423 v.Chr.; Schatzfund aus Kaliandra). Maultiere (eigentlich Tiere des Hephaistos, oft ithyphallisch gestaltet) sind ständiger Bestandteil des bacchischen Thiasos, üblicherweise werden sie ganz normal von Dionysos oder Satyren rittlings beritten, manchmal auch nach hinten gewandt.

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tenance und seiner trunkenen Heimfahrt – all diese Zeichen vermitteln die Alteritäten, die dem Kontrast zwischen unkontrolliertem Weinkonsum und den Regeln des Symposions innewohnen; Letztere sind in Form des Kantharos symbolisch präsent, der im Gegensatz zum „wilden“ Weinschlauch für zivilisierten Genuss steht. Die Verlockungen tiefgreifender persönlicher Erfahrungen werden hier der drohenden sozialen Blamage unmittelbar gegenübergestellt. 71 Solche Themen sind besonders auf archaischer und klassischer bemalter Keramik stark vertreten. 72 Die Präsenz des Gottes inspiriert die Teilnehmer in seinem Zug, ob Mänaden (Nymphen), Silenen oder Satyrn, zu ekstatischem Tanz (Abb.2). Silenen oder Satyrn (die beiden Begriffe scheinen austauschbar zu sein) mit ihren Eselsohren und -schwänzen und ihren Grimassen schneidenden Gesichtern evozieren die wilde, ungeregelte Welt des Berges, eine Welt der radikalen Freiheit von den Regeln, die allein ein zivilisiertes Leben ermöglichen; manische Nymphen, meist mit dem thyrsos, oft mit Fackeln und ungebundenem Haar, zeigen den antithetischen Bezugspunkt von Verhaltensvorschriften für Frauen in einer Ehrenkultur. 73 Ihre Körper erwidern den Rhythmus wilder, orgiastischer Musik, gespielt auf auloi (Doppelflöten), Becken, Trommeln und Kastagnetten. Die Verbindung zwischen ekstatischer Subjektivität und Regelverletzung wird am lebendigsten in der Darstellung von Bacchantinnen, die Tierbabys verhätscheln oder säugen – Panther- oder Löwenjunge und Rehkitze – oder von Giftschlangen umgeben sind (Abb.3); und natürlich durch die Sparagmos-Szenen, die die manische Zerstückelung lebender Tiere zei-

71

Die Vorlage war wohl ein von Werkstätten in Athen/Attika, aber auch auf der Kykladeninsel Melos

zwischen 500–440 v.Chr. hergestelltes Schema der Heimkehr des trunkenen Gottes vom Symposion: Paul Jacobsthal, Die melischen Reliefs. Berlin 1931, 66, Nr.86, Taf. 47; Florian Stilp, Die Jacobsthal-Reliefs. Konturierte Tonreliefs aus dem Griechenland der Frühklassik. Rom 2006, 168, Kat. 16, Taf. VII. Hier stellt der Gott selbst die Folgen des Weinrausches, als Figuration der Ekstase, dar: Renate Schlesier, Dionysos als Ekstasegott, in: Schlesier/Schwarzmaier (Hrsg.), Dionysos (wie Anm.67), 29–41. 72

Bemalte, für das Mischen und den Konsum von Wein bestimmte Keramik vermehrte sich rasant im

Athen des 6.Jahrhunderts v.Chr.; vgl. Susan Guettel Cole, Finding Dionysus, in: Daniel Ogden (Ed.), A Companion to Greek Religion. Malden/Oxford 2007, 327–341, hier 331. 73

Jean-Louis Durand/Françoise Frontisi-Ducroux/François Lissarague, Wein des Menschen – Wein des Got-

tes, in: Claude Bérard (Hrsg.), Die Bilderwelt der Griechen. Schlüssel zu einer „fremden“ Kultur. Mainz 1984, 175–188; Albert Henrichs, Myth Visualized. Dionysos and his Circle in Sixth-Century Attic Vase-Painting, in: Andrea P. A. Belloli (Ed.), Papers on the Amasis Painter and his World. Malibu 1987, 92–124; Cornelia Isler-Kerényi, Dionysos nella Grecia arcaica. Pisa 2001, auch in englischer Übersetzung Leiden 2007; Angelika Schöne-Denkinger, Dionysos und sein Gefolge in der attischen Vasenmalerei, in: Schlesier/Schwarzmaier (Hrsg.), Dionysos (wie Anm.67), 43–53.

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Abb. 2: Rotfigurige Pelike, aus dem Kreis um den Meidias-Maler, letztes Viertel des 5. Jahrhunderts v. Chr. Mänaden und zwei Satyrn beim Tanz. Ehemals Teil der zweiten Sammlung William Hamiltons. Museum der Schönen Künste, Budapest, Inv.-Nr. 50.352. Foto: Museum.

Abb.3: Fragmentarische schwarzfigurige Amphore von Exekias, ca. 540–530 v.Chr. (Detail). Der bärtige Dionysos mit Kantharos steht im Zentrum eines bacchischen thiasos, einer Mänade mit einer sich windenden Schlange zugewandt. Man beachte die Efeublätter, Symbole außergewöhnlicher natürlicher Vitalität, die aus dem Weinbecher und der rechten Hand des Gottes entspringen. Museum der Schönen Künste, Budapest, Inv.-Nr.50.189. Foto: Museum.

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gen, deren blutige Gliedmaßen durch die Luft geschleudert werden. 74 Von der Mitte der archaischen Zeit (dionysische Thiasos-Szenen lassen sich erstmals ca. 560 v.Chr. fassen) bis zum Ende der Klassik produzierte die griechische imaginaire sociale – größtenteils auf attischer schwarz- bzw. rotfiguriger Keramik für den Weingenuss beim Männersymposion (darunter eine gewaltige Zahl verschiedener Formen wie Kratere, Trinkschalen, Krüge, Kellen und Kühlgefäße) – Bilder von weininspirierter Unterwanderung und Inversion von Normen: Freiheit von den Regeln, sexuelle Aggressivität, Selbstaufgabe, ekstatischer Tanz. Schon allein die Tatsache, dass die Auswahl und Häufigkeit solcher Motive abhängig von Vasentyp, Ära und Werkstatt variieren (ganz zu schweigen von ihrem Inhalt – Silenen/Satyrn, Nymphen/Mänaden), zeigt, dass sie in keiner Weise dokumentarisch zu verstehen sind, als virtuelle Momentaufnahmen des „Alltags“, sondern als Darstellung einer von mythischen Erzählungen durchzogenen Welt, die die ambivalente Rolle des Weines als wichtiges kulturelles Gut thematisieren. 75 In gewisser Hinsicht waren alle öffentlichen Feste (panêgyreis) besondere Zeiträume: Die Leute mussten nicht arbeiten, Schuldner konnten nicht von ihren Gläubigern festgesetzt und, jedenfalls in Athen, ihre Güter nicht gepfändet werden. 76 In einigen Fällen gab es nächtliche Festivitäten (pannychides), die einen gewissen Freiraum für diejenigen, die ihn nutzen wollten, besonders junge Liebespaare, bereithielten; verheiratete Männer wurden deshalb häufig von ihren Frauen des Ehebruchs verdächtigt. 77 Das Tragen von Kleidern des anderen Geschlechts, zum Bei-

74

Zu dieser rituellen Zerstückelung, ohne Bekenntnis zur Theorie der „magischen Befruchtung“, vgl.

Monique Halm-Tisserant, Le sparagmos, rite de magie fécondante, in: Kernos 17, 2004, 119–142, mit anschaulichen Linienzeichnungen von Vasenmalereien. 75

Susanne Frank, Attische Kelchkratere. Eine Untersuchung zum Zusammenspiel von Gefäßform und

Bemalung. Frankfurt am Main 1990; Ursula Kästner, Attische Vasen mit Dionysosdarstellungen. Gefäßformen und Dekoration, in: Schlesier/Schwarzmaier (Hrsg.), Dionysos (wie Anm.67), 55–69. Einige Szenen auf Stamnoi des Villa-Giulia-Malers und seines Kreises stellen ab 450 v.Chr. statt besessener Mänaden korrekt gekleidete Frauen dar, die Wein aus Stamnoi austeilen; vgl. Sarah Pierce, Visual Language and Concepts of Cult on „Lenaia Vases“, in: Classical Antiquity 17, 1998, 59–95. Sie weisen vielleicht auf den Glauben hin, dass es Dionysos war, der den Menschen beigebracht hat, den Wein mit Wasser zu mischen. 76

Nach dem Gesetz von Euegeros, während der Dionysia, Lenaia und anderer Feste: Demosthenes, 21.10;

vgl. Claude Calame, Morfologia e funzione della festa nell’antichità, in: Annali dell’Istituto universitario orientale di Napoli, Sezione di archeologia e storia antica 4/5, 1982/83, 3–23; Spineto, Théories (wie Anm.24), 291f., 295f. 77

Zum Beispiel Menander, Dysk. 855–860; Epitr. 450–457 Sandbach (= 275–281 Körte), 473–480 (297–

304); Phasm. 46; Sam. 46; vgl. dazu Nicole Weill, Adôniazousai ou les femmes sur le toit, in: Bulletin de Cor-

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spiel während der Oschophoria in Athen, ist eine weitere ritualisierte Form der Normverkehrung, die eng mit den gegensätzlichen Geschlechterrollen verbunden ist, welche die Basis der moralischen Ordnung der klassischen Polis bildeten. 78 Ein anderes Ritual aber wird oft in der Forschung als das beste Beispiel für dionysische Verkehrungen vorgestellt: die dreitägigen Anthesterien, ein in Athen Ende Februar oder Anfang März gefeiertes und im 5.Jahrhundert v.Chr. häufig als „die älteren Dionysia“ bezeichnetes Fest. 79 2. Die Anthesteria zu Athen Traditionell hat die Forschung den Ablauf dieses Festes folgendermaßen dargestellt: Gleich am ersten Tag (11. Anthesteriôn) wurden die Vorratsbehälter (pithoi) mit dem neuen Wein des vergangenen Herbstes geöffnet. 80 Dieser Moment wurde von den männlichen Bürgern mit Gesang, Tanz und Anrufungen des Dionysos mit verschiedenen Namen gefeiert: Euanthes (der schönen Blumen bzw. des Frühlings), Dithyrambos (der Musik und des Tanzes), Baccheutes und Bromios – wobei die beiden letzten Epitheta mit dem wilden und inspirierten Aspekt des Gottes konnotiert sind. 81 Die Feierlichkeiten fanden vor den über ganz Attika verstreuten Bildnissen des Gottes oder auch zu Hause statt. Vielleicht am Abend dieses oder des nächsten Tages wurden die Ankunft des Gottes in der Stadt (Umzug möglicherweise mit einem Schiffsmodell) und dessen Begegnung und Eheschließung mit der Frau des König-Archon (archôn basileus) im Boukoleion in Athen zelebriert, das letzte vielleicht

respondance Hellénique 90, 1966, 664–698, hier 691–693; Benedetto Bravo, Pannychis e symposio. Feste private notturne di donne e uomini nei testi letterari e nel culto. Pisa 1997. 78 Oschophoria: Demon von Athen ap. Plutarch, Thes. 23.2–3 = FGrH 327 F 6; Proklos, Chrestom. 88 ap. Photios, Bibl. 239 S.322a (= 2: 56 Severyns); vgl. Deubner, Feste (wie Anm.65), 142–151; Parker, Polytheism (wie Anm.57), 211–217; „Anakreontische Komastai“: Margaret C. Miller, Re-Examining Transvestism in Archaic and Classical Athens, in: American Journal of Archaeology 103, 1999, 223–253 (mit Bezug auf den Zewadski Stamnos im Museum von Tampa); Parker, Polytheism (wie Anm.57), 321–323. 79 Testimonien bei Richard Hamilton, Choes and Anthesteria. Athenian Iconography and Ritual. Ann Arbor 1992, 149–171. Die Anthesteria reihen sich in eine Frühjahrsfestsequenz zu Ehren von Dionysos ein: „Ländliche“ bzw. „Kleine“ Dionysia (Poseideôn = Dezember/Januar), Lenaia (Gameliôn = Januar/Februar), Anthesteria, „Große“ Dionysia (Elaphêboliôn = März/April). 80 Daher der Name Pithoigia, „Öffnung der pithoi“: Plutarch, Quaest. conviv. 3.7.1, 655e; 8.10.3, 735d. Aus komparativen Gründen wird angenommen, dass das Kosten des neuen Weins einen wichtigen Übergangspunkt vom Alten zum Neuen darstellt: Parker, Polytheism (wie Anm.57), 315. 81 Phanodemos ap. Athenaeus, Deipn. 11.13, 465a = FGrH 325 F 12.

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Abb. 4: Rotfiguriger Miniaturchous, der ein kleines Kind zeigt, das auf einen chous zukrabbelt. Museum der Schönen Künste, Budapest, Inv.-Nr. T.745. Foto: Museum.

als performative Darstellung eines mythischen Tauschgeschäfts (Zugang zur Frau gegen Erhalt eines Weinrebstocks). 82

82

Ankunft: Ludwig Deubner, Dionysos und die Anthesterien, in: Jb. des Deutschen Archäologischen Ins-

tituts 42, 1927, 172–192; Schwarzmaier, Maskengott (wie Anm.67), 91 mit Abb.12. Es wird aber oft vermutet, dass der dargestellte Schiffskarren anlässlich der Stadt-Dionysia verwendet wurde, vgl. Humphreys, Strangeness (wie Anm.66), 230 Anm.21. Basilinna: Aristoteles, Ath. Pol. 3.5; Apollodoros ( = [Demosth.]), 59.72– 85; nüchterne Darstellung bei Parker, Polytheism (wie Anm.57), 303–305. Früher hat man diese Verehelichung gerne als „Hieros Gamos“, d.h. primitives Fruchtbarkeitsritual interpretiert: z.B. Deubner, Attische Feste (wie Anm.65), 100–102; Simon, Festivals (wie Anm.64), 93. Das Ritual hat dagegen anscheinend in der Antike gar keine interpretatorischen Interessen erregen können.

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Der Haupttag (12. Anthesteriôn) war derjenige der Umkehrung: Abgesehen vom Dionysos-Tempel „im Sumpfland“ (en limnais), waren sämtliche Tempel geschlossen, anscheinend als Zeichen der vorübergehenden Unterbrechung der Kontakte zu den olympischen Göttern. 83 Man glaubte, dass die Toten sich als Geister aus der Erde erheben würden, weshalb jeder Schwarzdorn kauen und die Türpfosten mit Pech anmalen sollte, um sie fernzuhalten. Laut einem mythischen Aition des Festes war dies der Tag, an dem Orestes, beladen mit der Schuld des Muttermordes, in Athen ankam und seinen Wein ganz allein austrank. 84 Am selben Tag, dessen Name Choes in etwa „Krüge“ bedeutet, fanden auf den Straßen Wettbewerbe unter Männern und Jugendlichen statt, wer eine Weinkanne (chous) am schnellsten austrinken konnte, was ebenfalls auf Orestes’ einsames Trinken zurückgeführt wurde. 85 Der große chous stellte aber zudem eine metonymische Verbindung zum Kleinkinder- und Jugendfest dar, das am selben Tag als öffentliche Betonung einer wichtigen Lebensetappe (das heißt als Ritus der Statusveränderung) gefeiert wurde: Unzählige miniaturisierte chous-Kännchen sind in Attika und (Süd-)Italien (manche aus Kindergrabstätten) ausgegraben worden; viele davon tragen eine Abbildung eines pausbäckigen, mit Schutzamuletten behängten Jungen im Krabbelalter (Abb.4) oder eines etwas älteren, spielenden Knaben. 86 Zudem feierten die Sklaven und Pächter einen arbeitsfreien, sogenannten „weißen“ Tag. 87 Ob eine noch weitergehende soziale Verkehrung stattgefunden hat und sie auch mit ihren Herren feierten, wissen wir nicht. An ir-

83 Phanodemos ap. Athenaeus, Deipn. 10.49, 437cd = FGrH 325 F 11 = Hamilton, Choes (wie Anm.79), 156f. T 18. 84 Euripides, Iph. Taur. 947–960; Apollodoros von Athen. ap. Aristophanes, Acharn. 961 = FGrH 244 F 133. 85 Aristophanes, Acharn. 1000–1234; die Wettbewerbspreise, ein Schlauch Wein und ein Efeukranz, sind typisch „dionysisch“ (Σ Aristophanes, Acharn. 1002). Der Wein war selbstverständlich wie üblich mit Wasser gemischt. Man hat die Aristophanes-Stelle so interpretiert, dass viele kleinere Symposien im Rahmen eines großen öffentlichen Festes gehalten wurden: Babette Pütz, The Symposium and Komos in Aristophanes. 2.Aufl. Oxford 2007, 28f. Einsames Trinken: Apollodoros, ebd. Ein großer chous fasste ca. 3 Liter Wein. 86 Gerard van Hoorn, Choes and Anthesteria. Leiden 1951; Jan Bazant, Iconography of Choes Reconsidered, in: Listy Filologické 98, 1975, 72–78; Hamilton, Choes (wie Anm.79), 83–111; vgl. die Tabellen ebd.175– 208. Die kleinen Kännchen sind zwischen 8 und 13 cm hoch, hatten aber keine rituelle Funktion im eigentlichen Sinne. Die Kinder bekamen zu diesem Anlass Blumenkränze und Geschenke; „Anthesteria“ bedeutet nämlich „Blumenfest“. 87 Σvet Hesiod., Op. 368 Pertusi (oiketai = Haushaltssklaven, und misthôtai = Pächter, werden ausdrücklich genannt) = Hamilton, Choes (wie Anm.79), 150 T 4: Weder die einen noch die anderen durften vom Genießen des neuen Weins ausgeschlossen werden; „weißer Tag“: Kallimachos, Aetia Frg. 178.1–2 Pfeiffer.

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gendeinem der drei Tage des Festes, vielleicht an diesem, stiegen junge Feiernde auf Wagen und beleidigten die vorbeigehenden Passanten. 88 Am letzten Tag (13. Anthesteriôn, Chytroi) wurde in jedem Haushalt eine besondere Suppe oder ein Brei zubereitet, um den Gott des Übergangs in die Unterwelt, Hermes Chthonios 89, milde zu stimmen; nachdem eine Portion dem Gott gegeben worden war, aßen die Leute, mit Ausnahme der Priester, die ihre rituelle Reinheit bewahren mussten, den Rest. 90 An diesem Tag, von dem man glaubte, dass er die Wiederkehr der Überlebenden nach der großen Flut markierte, erhielt kein anderer Gott Opfer 91; die Totengeister sollten wie einst das Urwasser in die Unterwelt zurückgehen. 92 Dionysos’ Einfluss auf die Chytroi besteht nur in Form eines kleinen Bühnenfestes, das an diesem Tag abgehalten wurde. 93 Die Inversionsthemen (Umkehrung der olympischen Ordnung, Wiederkehr der

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Photios, Lex. s. v. τὰ ἐκ τῶν ἁμαξῶν σκώμματα (ähnlich die Suda s. v. ~); vgl. Stephen Halliwell, Greek

Laughter. A Study of Cultural Psychology from Homer to Early Christianity. Oxford 2008, 171, 179f. 89

Dominique Jaillard, Configurations d’Hermès. Une „théogonie hermaïque“. Lüttich 2007, 37f. Die Na-

men der zwei Tage, Choes und Chytroi, waren offensichtlich umtauschbar; vgl. z.B. Aristophanes, Acharn. 1076–77 mit Σ (= Hamilton, Choes [wie Anm.79], 161f. T 40–41a). 90

Theopompos ap. Σ Aristophanes, Acharn. 1076 (= Suda s. v. χύτροι); Batrach. 218 = FGrH 115 F 347a, b;

vgl. Natale Spineto, La „panspermia“ degli „Anthesteria“, in: Diana Segarra Crespo (Ed.), Connotaciones sacrales de la alimentación en el mundo clásico. Madrid 2002, 141–146. 91

Photios, Lex. s. v. ῾Υδροφόριαι; vgl. Pausanias 1.18.7 (τὸ ἔδαφος διέστηκει, „es gibt eine Spalte im Bo-

den“); Auffarth, Untergang (wie Anm.60), 237. Die heißen Quellen zu Thermopylai hießen οἱ Χύτροι (Pausanias 4.35.9; vgl. Ludwig Bürchner, s. v. Chytroi 1, in: RE 3, 1899, 2529f.), ein Wort, das Theophrast für sogenannte „Löcher“ (tiefe Feuchtgebiete) im sumpfigen Kopaïssee verwendet, wo das hohe Staudenrohr besonders gedeihen konnte (Hist. plant. 4.11.8); es diente aber auch als Synonym für χύτρα, „großer Keramikkochtopf“; vgl. Claude Calame, Thésée et l’imaginaire athénien. Légende et culte en Grèce antique. Lausanne 1990, 330. 92

Ein metrisches Schlagwort „Ab mit euch, Karier, es sind nicht mehr die Anthesterien“ (Pausanias, Gr.

θ 20 Erbse = Photios, Lex. s. v. θύραζε Κᾶρες = Hamilton, Choes [wie Anm.79], 167 T 60) ist oft in diesem Zusammenhang herangezogen worden, z.B. bei Auffarth, Untergang (wie Anm.60), 233f.; ders., s. v. Anthesteria, in: Der Neue Pauly 1, 1996, 732. Offensichtlich war der ursprüngliche Kontext verlorengegangen, weshalb man bemüht war, einen anderen Sinn darin zu finden (Kares soll „Keres“ bedeuten, also die Seelen der Toten); vgl. J. Brunel, Cariens ou kêres aux Anthestéries. Le problème philologique, in: Revue philologique 41, 1967, 98–104. Nach einer anderen antiken Erklärung sollten die Kares Sklaven aus Karien gewesen sein und somit in einen Zusammenhang mit dem „weißen Tag“ gestellt werden: Robertson, New Wine (wie Anm.65), 204. Es geht also nicht um eine kultische Formel, sondern um einen multifunktionalen Spruch: Parker, Polytheism (wie Anm.57), 297. 93

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Chytrinoi agones: Hamilton, Choes (wie Anm.79), 38–42.

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Toten, Sklavenfeiertag, ritualisierter Spott 94) werden hier mit Motiven der Erneuerung (Öffnung des neuen Weins, Kinderfest, Rückkehr der Toten in die Unterwelt), der Heiterkeit (Gesang und Tanz, Darbietung von Komödien), des familiären Totenkults (Totenbesuch, panspermia) und kultureller Anamnese (Sintflut, Orestes-Mythos) verbunden. Soweit die traditionelle Sichtweise. Man kann aber im Sinne von Sally Humphreys ein Gegenmodell entwickeln, wobei nicht nur diese vermeintlich „kanonischen Botschaften“ berücksichtigt werden, sondern auch die „indexikalischen“, das heißt Entwicklungen bzw. Interpretationen, die dem historischen Umfeld geschuldet sind. 95 Auf dieser Basis können mindestens sechs Entwicklungsphasen bestimmt werden, die insgesamt von einem kollektiven, wenn auch zweifellos schon komplexeren Ereignis in der archaischen Periode über eine weitgehende Privatisierung in der hellenistischen Zeit zu einem reinen textuellen Konstrukt in der Römerzeit bzw. Spätantike führen. 96 In Bezug auf die erste Phase, also die archaische Periode, lässt sich nichts außer der „Eheschließung“ des Gottes mit der Basilinna berichten – auch dies ist nur auf eine Folgerung des Autors der Politeia Athenaiôn (spätes 4.Jh.) zurückzuführen –, weil sowohl schriftliche als auch bildliche Belege fehlen. Auch wenn anzunehmen ist, dass das Fest in irgendeiner Form sehr alt war (die Eheschließung dagegen ist eine Nebensache), scheint es keinen Eingang in die vorkleisthenische Ordnung der attischen phylai und phratriai gefunden zu haben. Anzunehmen ist aber ein grundlegender Einfluss der Großen Dionysia im späten 6.Jahrhundert auf die Gestaltung des Anthesterienfestes, zum Beispiel die ausgelassene Opferfeier mit viel Wein und der zum Teil maskierte karnevaleske Festumzug (kômos) zum Theater. 97 Im Laufe des 5.Jahrhunderts (ca. 500–390 v.Chr.), das die zweite Phase markiert, trugen zusätzlich die Änderungen zu den Lenaia 98 und die szenischen Darbietungen

94 Lisa Maurizio, Performance, Hysteria and Democratic Identities in the Anthesteria, in: Helios 28, 2001, 29–46, versteht die Anarchie als Turner’sche Liminalität. 95 Für die Termini vgl. Roy A. Rappaport, Ecology, Meaning and Religion. Richmond 1979, 179–182. 96 Humphreys, Strangeness (wie Anm.66), 223–275. Das methodische Hauptproblem bei ihrem Versuch ist der implizite Verlass auf das argumentum e silentio; das Hauptverdienst dagegen ist die vorbildliche Hervorhebung der antiken Rezeptions- und Interpretationsprozesse. 97 Christiane Sourvinou-Inwood, Tragedy and Athenian Religion. Lanham/Oxford 2003, 67–100. 98 Seit Mitte des 5.Jahrhunderts v.Chr. wurden sowohl tragische als auch komische Theaterstücke im Laufe der Lenaia präsentiert, ein altes Dionysos-Fest, über das die schriftlichen Quellen keine zuverlässigen

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in mehreren ländlichen Demen – zum Beispiel Thorikos und Ikarion – diverse neue Vorstellungen vom Dionysoskult innerhalb von Attika bei. Entscheidend für die zweite Phase war aber der zweite Peloponnesische Krieg (431–421, 415–403 v.Chr.), der viele Landbewohner in die Stadt trieb und damit nicht nur Leid, sondern auch Nostalgie für das Landleben auslöste. Der in den Acharnern von Aristophanes (425 v.Chr.) inszenierte Trinkwettbewerb zwischen Dikaiopolis und Lamachos spielt auf das – idealisierte – ländliche Wetttrinken und andere Festivitäten anlässlich der Choes an. 99 In dieser Szene aber ist von einem Sklavenruhetag überhaupt keine Rede. 100 Darüber hinaus scheinen sich in dieser schwierigen Zeit zwei Dinge geändert zu haben. Erstens deutet die Einführung der miniaturisierten choes, die ausschließlich in den Jahren ca. 420 bis 390 hergestellt wurden, auf eine Sentimentalisierung der Familie hin – das Thema Erneuerung wird auf die Nachwuchssorge gelenkt. 101 Zweitens wurde das Thema des schuldbeladenen Muttermörders Orestes als mythische Vorlage bzw. „Erklärung“ für alleiniges Trinken hinzugefügt – das heißt einzelne Aspekte des Anthesterienfestes werden aus dem bacchischen Umfeld auf eine ganz andere Deutungsebene gehoben, nämlich die der gelehrten Mythographie. Diese Entwicklung begann schon in der ersten Hälfte des 5.Jahrhunderts mit den Prosa-Genealogien von Hekataios von Milet (floruit 499–494) und Pherekydes von Athen (floruit ca. 465); ihr wichtigster Vertreter Hellanikos von Lesbos (ca. 480 – nach 407/06) hat die Diskursivierung der griechischen Mythologie tief beeinflusst. 102 Ungefähr zeitgleich mit Hellanikos’ Atthis präsentiert Thukydides 2.15.4 die Antheste-

Informationen liefern: Sourvinou-Inwood, Tragedy (wie Anm.97), 120–123. Heutzutage ist Λῆναι, „Mänaden“, die akzeptierte Etymologie. 99 Aristophanes, Acharn. 1000–1234 (wie Anm.85); Angus Bowie, Aristophanes. Myth, Ritual, and Comedy. Oxford 1993, 35–39, 146–150. Dikaiopolis soll sein eigenes Essen und einen Trinkkrug mitbringen (1085f.). 100 Humphreys, Strangeness (wie Anm.66), 251. 101 Humphreys (ebd.246) weist zu Recht die Vorstellung zurück, dass am zweiten Tag (Choes) ein Ritual der Statusänderung zelebriert wurde. Dagegen z.B. Greta L. Ham, The Choes and Anthesteria Reconsidered. Male Maturation Rites and the Peloponnesian War, in: Mark William Padilla (Ed.), Rites of Passage in Ancient Greece. Literature, Religion, Society. Lewisburg 1999, 201–218. 102 Siehe jetzt die einschlägige Ausgabe von Robert L. Fowler, Early Greek Mythography. Vol.1: Text and Introduction. Oxford 2000, 110–146 (Hekataios), 147–231 (Hellanikos), 272–364 (Pherekydes). Pherekydes hat sich offensichtlich für die Geschichte von Orestes interessiert (Σ Euripides, Orest. 1645 = Frg. 135 Fowler) und war wahrscheinlich eine Inspiration für Aischylos’ Eumenides (459 v.Chr.). Hellanikos wusste in seiner späten Atthis über die Gerichtsbarkeit des Areopagos im mythischen Zeitalter zu referieren (Jacoby, FGrH 323a F 22a = Fowler Frg. 169).

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ria aufgrund der Tatsache, dass das Fest auch unter den Ioniern weit verbreitet war, als das älteste Dionysosfest Athens überhaupt; ihm war ein ländliches Fest des neuen Weins anscheinend unbekannt oder eher unwichtig. Die zwei folgenden Phasen (III: ca. 390–307; IV: 3.Jh.) sind von einer starken Pseudohistorisierung des Festes geprägt: Einzelne Aspekte wurden als „interessant“ eingestuft und durch erinnernden Vortrag der mythologischen Tradition ohne Rücksicht auf den gesamten Ablauf des Festes hervorgehoben. 103 Eine Wechselwirkung zwischen Rezeption und Ausführung ist nicht belegbar, aber wahrscheinlich. Die Mythologisierung des Festes wurde konsequent weitergeführt, indem zum Beispiel die Schließung der Tempel am 12. Anthesteriôn damit begründet wurde, dass Orestes unwillig gewesen sei, sie zu besuchen. 104 Die Idee des neuen Weins wurde mit dem Deukalion-Mythos verbunden: Schon Hekataios hatte ein ganzes Buch der Deukalion-Genealogie gewidmet, wonach Deukalion der Urgroßvater von Oineus gewesen sei, der als ätolischer „Weinmann“ oder „Weinbeschützer“ den Weinanbau erfunden habe. 105 Zu dieser Zeit war es akzeptiert, dass Deukalion bei seinem Besuch in Athen den Zeus-Tempel gegründet und der Göttin Soteira („Überleben“) geopfert habe und später dort gestorben sei. 106 Die Erfindung des Weinanbaus und das Deukalion-Thema erlaubten eine Interpretation des Festes als Erinnerung an wichtige Etappen des Zivilisationsprozesses. 107 Das bestehende Totenbesuchsthema wurde an diese Sintflutgeschichte gekoppelt; das Thema Sintflutopfer wurde sogar durch ein öffentliches Andenken (die Hydrophoria) am Monatsanfang ausgeweitet. 108 Bis 103 „The general impression from reading these testimonia is of the repeated recombination of a few pieces of information, during which the accounts are compressed and details are sometimes altered“; Hamilton, Choes (wie Anm.79), 22. 104 Phanodemos von Athen ap. Athenaeus, Deipn. 10.49, 437c = FGrH 325 F 11 (wie Anm.81). 105 FGrH 1 F13–15 = Fowler Frg. 13–15. Deukalion hatte die Sintflut überlebt und galt als Urgründer der menschlichen Zivilisation. Zur Beziehung zwischen Oineus und Dionysos vgl. Rudolf Hanslik, s. v. Oineus, in: RE 17.2, 1931, 2193–2204, hier 2199. 106 Marmor Parium = FGrH 239 A5; vgl. Pausanias 1.18.8; Grab des Deukalion in Athen: Strabon 9.4.2, 425C. 107 Phanodemos von Athen ap. Athenaeus, Deipn. 11.13, 465a = FGrH 325 F 12 (wie Anm.81) hat schon im 4.Jahrhundert v.Chr. die Anthesteria interpretiert als Gedenken an die Einführung des Gebrauchs, Wein mit Wasser zu mischen. Philochoros von Athen (ca. 360–260 v.Chr.) ging weiter, indem er die Erfindung des Dramas zu Ehren des Dionysos en limnais dem gleichen Anlass zuschrieb: FGrH 328 F 5 mit Kommentar (Teil III b, Supplement 1, 270f.). Nach einer Genealogie war dieser König Amphiktyôn ein Sohn des Deukalion. Viele dieser interpretatorischen Ansätze wurden in den 24 Buchrollen, die Apollodoros von Athen im 2.Jahrhundert v.Chr. dem Dionysos widmete, offensichtlich weiter vorangetrieben. 108 Hydrophoria: Plutarch, Sulla 14.10; vgl. Apollonios von Acharnai (spätes 2.Jh. v.Chr.) = FGrH 365 F 4. In

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zum 3.Jahrhundert wurden die Trinkgelage weitgehend privatisiert 109; zudem war der Sklavenfeiertag am 12. Anthesteriôn vollkommen routinisiert. 110 In der Römerzeit schließlich trat das Thema Totenbesuch in den Vordergrund; vielleicht unter dem Einfluss der dionysischen Mysterien wurden das Motiv Tempelschließung und Orestes’ traurige Ankunft interpretatorisch auf das ganze Fest bezogen. 111 Auch wenn die drei Verkehrungsmotive Inversion, Codeverletzung und Spott bei den Anthesterien tatsächlich repräsentiert sind, ist es meines Erachtens nicht mehr möglich, deren genaue Rolle im rituellen Verlauf festzustellen. Für soziale Erneuerung im Zeichen des Dionysos ließen sich allenfalls Andeutungen finden. 112 Wenn man nun die genannten drei Motive zum Verkehrungsritual stilisieren will, wird somit lediglich ein weiteres Mal festgestellt, dass eine Gesellschaft regelmäßig an die den Ablauf des täglichen Lebens strukturierende Gesamtordnung erinnert werden muss. 113 Eine Erklärung für das spezifische Phänomen wird damit nicht gegeben.

seinem Kommentar (Teil III b, Kommentar, 127 f.) hat Jacoby die Annahme widerlegt, dass die Hydrophoria am 13. Anthesterien (Chytrai) zelebriert wurden; vgl. dagegen Auffarth, Untergang (wie Anm.60), 237. 109 Trinkgelage: Antigonos von Karystos ap. Athenaeus, Deipn. 10.50, 437ef (mit Bezug auf Dionysios von Herakleia in hohem Alter, der ca. 250 verstarb). 110 Schon im späten 4.Jahrhundert v.Chr. erhielten Sklaven im öffentlichen Dienst, zumindest in Eleusis, Geld für ein Opfertier sowie Krüge und Wein (IG II2 1672. 204). Man darf annehmen, dass zu dieser Zeit ein ähnlicher Brauch auch in Privathaushalten üblich war; für die hellenistische Zeit vgl. Kallimachos, Aetia Frg. 178.1–2 Pfeiffer; vgl. auch Anm.86. 111 Photios, Lex. s. v. μιαρὰ ἡμέρα. Die Gegenargumente von Robertson, New Wine (wie Anm.65), sind m.E. überzeugend. Humphreys, Strangeness (wie Anm.66), 268 Anm.116, vermutet zu Recht eine Verwechslung zwischen dem Tag Choes und den Opfern (χοαί), die den Toten erbracht wurden; vgl. Aischylos, Choeph. 15, 87, 149, 156 usw., Pers. 219f. 112 Man darf aber nicht außer Acht lassen, dass „die ‚Akrobatik‘ des Rituals, wie die der Träume, stets reichhaltiger zu sein scheint als deren mögliche verbale Übersetzungen“: Pierre Bourdieu, Ésquisse d’une théorie de la pratique. Paris 2000 [Genf 1972], 241. Für Robin Osborne, Competitive Festivals and the Polis. A Context for Dramatic Festivals at Athens, in: Alan H.Sommerstein u.a. (Eds.), Tragedy, Comedy and the Polis. Bari 1993, 21–37, förderte das Wetttrinken bei den Choes sowohl die Ambitioniertheit des Einzelnen als auch die kontextschaffenden gesellschaftlichen Strukturen. 113 „If anarchy is to be avoided, the individuals who make up a society must from time to time be reminded of the underlying order that is supposed to guide their social activities. Ritual performances have this function for the group as a whole. They momentarily make explicit what is otherwise fiction“; Edmund R. Leach, Political Systems of Highland Burma. A Study of Kachin Social Structure. Boston 1954, 16. Vgl. Roy A. Rappaport, Ritual and Religion in the Making of Humanity. Cambridge 1999, 129. In der Diskussion zum Referat von Hendrik S.Versnel hat Jörg Rüpke zu Recht die Frage aufgeworfen, wie es überhaupt möglich sei, z.B. die Saturnalien komparativ zu untersuchen, und wo hierfür die Ansatzpunkte lägen.

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Zudem kann solchen „Elementen“ keine intrinsische Priorität in der Erhaltung der gesellschaftlichen Ordnung eingeräumt werden. 114 Darüber hinaus werden wichtige Punkte schlichtweg ignoriert, zum Beispiel die fehlende Rolle der Frauen bei den Anthesterien, die in den Quellen überhaupt nicht erwähnt werden. Soll man hier einen Zufall der Quellenlage vermuten, oder stellt sich hier die ansonsten kaum sichtbare Machtfrage? Darf man im mediterranen Kontext überhaupt von einem Verkehrungsritual sprechen, wenn kein Geschlechterrollentausch vorhanden ist? 115 Es kommen zwei zusätzliche, eine überzeugende Gesamtinterpretation erschwerende Probleme dazu: erstens das Phänomen der antiken „Hyperexplikation“, das heißt die polyphonischen Versuche, auf der Basis mythologischer Gelehrsamkeit Gegebenheiten des Rituals zu erklären, ohne explizite Deutungsregeln verfolgen zu müssen; und zweitens die Historizität der Begebenheiten und der darin implizite Bedeutungswandel, die auf der Basis der uns zugänglichen Informationen schwer zu verfolgen sind. In der Verkehrung verbirgt sich keine Historizität – die immer wieder beschworene Unveränderlichkeit des Rituals legitimiert den Primat der vermeintlichen Struktur über Deutungen und Interpretationen, die sowohl in der antiken Performance wie auch in den uns gebliebenen Informationen stets instabil sind.

III. Aischrologia – ritualisierter Spott Wenn man sich schließlich dem Handlungsbereich Spott zuwendet, den ich hier nur als Coda hinzufügen will, stellen sich ähnliche Fragen. Einerseits sind solche Umkehrungen sozialer Sprachregeln auf der ganzen Welt sehr häufig anzutreffende „karnevaleske Elemente“. Ob sie nun als bloße sinnentleerte Ritualhülsen deswegen heruntergespielt werden sollen, darf bezweifelt werden: Gluckman berichtet zum

114 Vgl. Catherine Bell, Ritual Theory, Ritual Practice. New York 1992, 180. 115 „Feminine power is not overt, but, due to their participation in the familial honour (as the repositories of its moral and sacred aspects) women hold in their hands the power not merely to put pressure on their menfolk, but to actually ‚ruin‘ them. The fear of female sexuality which inspires much of Europe’s popular literature and beliefs runs parallel to a much more realistic fear of female sociability“; Julian PittRivers, The Fate of Shechem, or the Politics of Sex. Essays in the Anthropology of the Mediterranean. Cambridge 1977, 80. In Bezug auf die Thesmophorien aber neigt Halliwell, Laughter (wie Anm.88), 205f., dazu, die Bachtin’sche Analyse in abgeschwächter Form zu akzeptieren.

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Beispiel von einem Informanten, der ritualisierte Beleidigungen während des Umzugs eines tsonganischen Dorfes (im Nordosten Südafrikas) folgendermaßen kommentierte: „Das Dorf ist in Stücke zerbrochen, und ebenso die normalen Gesetze. Die Beleidigungen, die verboten sind, sind nun erlaubt.“ 116 In Athen reagiert die literarische Figur der Kurtisane Thaïs ebenfalls empört auf die Beleidigungen zweier ihrer Konkurrentinnen anlässlich der pannychis (ganznächtliches Fest) der Haloa – sie will sich dafür später rächen. 117 In Griechenland ist rituelles Verhalten solcher Art, sogenannte aischrologia, also etwa „hässliche Reden“, oft, aber nicht ausschließlich mit den Kulten der Demeter und des Dionysos verbunden. 118 In manchen Fällen, zum Beispiel bei den athenischen Stenia oder dem Kult der Demeter Mysia nahe Pellene in Achaia, wird dieses Phänomen auch mit ganznächtlichen Ritualen ausschließlich für Frauen assoziiert 119; manchmal, so zum Beispiel bei den Haloa in Eleusis, auch damit, dass Frauen mit Modellen von weiblichen und männlichen Genitalien hantieren 120; manchmal, so wie bei den Lenaia und Anthesteria, wurde es von jungen Männern praktiziert, die auf Wagen standen und die Zuschauer beschimpften 121, oder es wurde mit ithypallischen Prozessionen verbunden 122. Der Ausdruck ek ton hamaxôn, „von den Wagen herab“, und das Wort pompeuein, „an einer Prozession teilnehmen“, gewannen dadurch sogar eine zweite Bedeutung, nämlich „während einer Prozession Leute beleidigen“. 123

116 Gluckman, Licence (wie Anm.2), 117. 117 Alkiphron, Epist. 4.6.3–5. Die Konkurrentinnen sangen ironische Verse über einen ihrer verlorengegangenen Liebhaber und mokierten sich zudem über ihre zu dick aufgetragene Schminke. 118 Wolfgang Rösler, Über Aischrologie im archaischen und klassischen Griechenland, in: Döpp (Hrsg.), Karnevaleske Phänomene (wie Anm.6), 75–97; Nicholas J. Richardson, The Homeric Hymn to Demeter. Oxford 1974, 216f.; Halliwell, Laughter (wie Anm.88), 166f. (Eleusis), 174–176 (Thesmophoria), 178–181 (Große Dionysia). 119 Stenia: Photios, Lex. s. v. Στήνια; auch Hesych. s. v. ~ und στενιῶσαι; vgl. Deubner, Attische Feste (wie Anm.65), 52f.; Parker, Polytheism (wie Anm.57), 480; Halliwell, Laughter (wie Anm.88), 176f.; bei dem Demeterfest am Mysaion im Peloponnes fand die aischrologia erst am nächsten Tag statt, als die Männer (und die Rüden!) zum Austragungsort zurückgekehrt waren: Pausanias 7.27.9f., vgl. Nilsson, Feste (wie Anm.25), 327; Halliwell, Laughter (wie Anm.88), 177. 120 Haloa: Σ Lukian S.280.12–281.1 Rabe; vgl. Parker, Polytheism (wie Anm.57), 166f., 199f.; Halliwell, Laughter (wie Anm.88), 172–174. 121 Parker, Polytheism (wie Anm.57), 297, 317; Halliwell, Laughter (wie Anm.88), 178f. 122 Halliwell, Laughter (wie Anm.88), 181–183. 123 Wagen: Platon, Leg. 637b; vgl. auch Anm.86; πομπεύειν: Hamilton, Choes (wie Anm.79), 26f.; Sourvinou-Inwood, Tragedy (wie Anm.97), 121; Parker, Polytheism (wie Anm.57), 317.

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Eine Anmerkung des Aristoteles in seiner Politik, in der er das Wort tôthasmós, „ungehöriger Spott und Hänselei“ verwendet, macht deutlich, dass in bestimmten rituellen Kontexten solches Verhalten als angemessen galt und sogar gesetzlich explizit erlaubt war. 124 Oft wurde es formalisiert, indem es zwischen zwei Gruppen „inszeniert“ wurde. Aber sowohl die Rolle als auch der Wert der aischrologia sind in einem bestimmten rituellen Kontext immer interpretationsbedürftig. 125 In der homerischen Hymne an Demeter heitert die alte Amme Iambe die Göttin, die um ihre verlorene Tochter Kore trauert und Speise und Trank verweigert, mit Beleidigungen und Witzen auf ihre Kosten auf. 126 In Sparta dagegen war es offenbar üblich, dass Lieder, die während uns nicht näher bekannter Feste von einem Chor junger Frauen gesungen wurden, Witze oder Anspielungen (skômmata) auf Kosten junger Männer beinhalteten, deren Verhalten auf die eine oder andere Weise verwerflich gewesen war. 127 Der erste Fall betont den Aspekt der Regeneration und erinnert uns daran, dass, wie Platon bemerkt, die griechischen Götter gerne einmal lachen 128, während im zweiten Fall öffentliche Beleidigung und Gelächter als soziales Kontrollinstrument verwendet werden. Das Beispiel aus Sparta erinnert daran, dass Spott, auch wenn er religiös kodiert ist, eine wirksame soziale Institution bleiben kann. Der Wettbewerb um soziale Macht wird auch im Fall des „Karnevalesken“ nicht unterbrochen. Für echte Beleidigung sind sowohl Absicht als auch Ehrlichkeit notwendig – eine burleske Figur stellt deswegen keine Beleidigung dar (Abb.5a und 5b). Um das Ansehen bzw. die Ehre der Zielperson zu schmälern oder zu schänden, muss eine Beleidigung im täglichen Leben, öffentlich und ins Gesicht des Beleidigten vorgetragen werden. 129 Nominell garantierte die religiöse Kodierung rituellen Spotts, dass weder die eine noch die andere Voraussetzung gegeben war: In einem festlichen Umzug zu stehen, auf einen Wagen zu klettern, klammerte die ehrverletzende Kraft der Wörter aus. Vor allem die jungen Männer konnten dadurch ihre eigene klassifikatorische „Schamlosigkeit“ in der

124 Aristoteles, Pol. 7.17.10, 1336b16–19. Er fügt hinzu, dass manche Familienväter ihren Frauen und Kindern trotzdem verbieten, Zeuge solcher Handlungen zu werden. 125 Halliwell, Laughter (wie Anm.88), 158. 126 Hom. Hymn. Dem. 195–205 mit Richardson, Hymn (wie Anm.118), 218–223. 127 Plutarch, Lykurg. 14.3; Halliwell, Laughter (wie Anm.88), 189. 128 Platon, Krat. 406c2–3. 129 Pitt-Rivers, Shechem (wie Anm.115), 1–17.

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Abb. 5a und 5b: Zwei burleske Terrakottaköpfe aus Kleinasien, 2. oder 1. Jahrhundert v. Chr.; a) Kopf eines kahlen ‚Zwerges‘; b) Kopf einer höhnenden alten Frau mit Kopftuch. Museum der Schönen Künste, Budapest, Inv.-Nr. T.373 bzw. T.423. Foto: Museum.

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Öffentlichkeit darbieten und somit die antithetische, asymmetrische Konstruktion der verschiedenen Ehrencodizes der Geschlechter performativ untermauern. Aber: Wer konnte sich da sicher fühlen? In den kleinen, in engen Stadtteilen und Dörfern konzentrierten Gesellschaften Griechenlands waren Gerede, Klatsch, Zuträgerei, über Generationen hinweg ausgetragene Animositäten eine zentrale Form der sozialen Kontrolle, Familie gegen Familie, oikos gegen oikos. Als Institution bot der rituelle Spott die Gelegenheit, einiges von diesem bösen Wissen preiszugeben, ohne Gefahr zu laufen, dadurch als Ehrenschänder dazustehen. 130 Andererseits konnten die Beleidigten nie sicher sein, was unter den Beleidigungen „ehrlich“ oder „absichtlich“ sein mag. In diesem Kontext spiegelt sich die Doppelbödigkeit karnevalesker Rituale wider, denn als gesellschaftlich akzeptierte religiöse Feste boten sie sich als Gelegenheiten zur Erneuerung sozialer Integration an. Aber da auch ritueller Spott hier eine Rolle spielte, wurden gleichzeitig die Ängste des täglichen Kampfes um soziales Ansehen aktualisiert.

IV. Fazit Der Begriff des Verkehrungsrituals rückt sowohl die semantische Aufladung wie auch die vermeintliche Funktionalität des Festes in den Vordergrund. Die Frage, ob die Feste deswegen entwickelt wurden, um solche Funktionen zu erfüllen, wird von den Befürwortern des Verkehrungsrituals als interpretatorische Kategorie für unsinnig gehalten. Die Selektivität der Analyse, die nur eine semantische Leitlinie innerhalb einer komplexen rituellen Handlung erkennt, die zum sinnstiftenden Kernpunkt der Gesamtsymbolik stilisiert wird, bleibt von ihnen unreflektiert. Im Grunde wird das Fest als ein geschlossener symbolischer Raum betrachtet, ohne wesentliche Verbindungen zu anderen wichtigen kulturellen Themen. In diesem Beitrag wurde versucht, ein solches Modell in doppelter Hinsicht zu hinterfragen. Auf der einen Seite wird die Annahme einer kohärenten, spezifischen Funktionalität zunehmend problematisch, wenn die Frage nach historischer Rezeption und Appropriation gestellt wird. Auf der anderen Seite verliert die Konstruktion eines substantiellen Kerns an Plausibilität, wenn wir Rituale bzw. Feste, vor allem in der Antike, als 130 In dieser Hinsicht sind auch Frauen angreifbar, obwohl sie keine Ehre im männlichen Sinne besitzen konnten.

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instabile, historisch bedingte Wechselwirkungen zwischen Körpern, Praxen, Visualität, politisch-sozialer Ordnung und Macht beschreiben, wobei Themen, Akzente, Aufladung und Bedeutung stets lokal-spezifisch, das heißt immanent in jeder Performance bleiben. 131 Die altgriechischen Feste, die lose als Kronia-Feste bezeichnet werden, sind typische Phänomene einer bestimmten Form der Sklavenhaltung, das heißt soziopolitischer Ordnungen, wobei halbfreie bodengebundene Pächter einen Großteil der Ernte an die Grundbesitzer abgeben mussten. Die Ordnung solcher Feste differenzierte also zwischen diesem relativ privilegierten Teil der Polisbevölkerung und den rechtlosen Eigentumssklaven, wie auch zwischen guten und schlechten Herren. Wenn wir aber nach den Erkenntnisinteressen der (wenigen) antiken Autoren fragen, die solche Feste thematisierten, stellen wir ein ausgeprägtes Interesse an der Besserung bzw. Humanisierung eines nunmehr undifferenzierten Sklavenregimes fest. Erkenntnisinteressen der antiken Autoren („Quellen“) spielen eine noch wichtigere, wenn nicht ausschlaggebende Rolle bei anderen „karnevalesken“ Festen, zum Beispiel den Anthesterien in Athen, wobei die Quellenlage so kompliziert und verzerrt ist, dass von einem Fest mit klaren Konturen kaum die Rede sein kann – sogar in Athen, wo die Quellenlage bei weitem am besten ist. Insgesamt kann man hier von multiplen, unsystematischen Teilrationalisierungsversuchen sprechen 132, die ganz verschiedene Aspekte eines sehr komplexen rituellen Vorgangs hervorheben und zu erklärungsbedürftigen „Gegebenheiten“ stilisieren. Vordergründig liefert ritualisierter Spott, aischrologia, ein gutes Beispiel des karnevalesken Freiraumes; die Aufhebung der üblichen sprachlichen Umgangsformen garantiert aber keineswegs, dass die Beleidigungen von den Beleidigten auf die leichte Schulter genommen wurden. Zudem werden die örtlichen unabdingbaren Geschlechterrollen sowohl in der Sprecherselektion wie auch in den Beleidigungen selbst performativ reproduziert und unterstrichen.

131 Am besten vergleichbar ist die örtliche, zeitgebundene Perfomativität des Mythos; vgl. Claude Calame, Poétique des mythes dans la Grèce antique. Paris 2000. 132 Vgl. Jörg Rüpke, Transformation von Religion in Wissen im alten Rom, in: Benedikt Kranemann/ Vasilios Makrides/Andrea Schulte (Hrsg.), Religion – Kultur – Bildung. Religiöse Kulturen im Spannungsfeld von Ideen und Prozessen der Bildung. Münster 2008, 13–27, der die Bedeutung der Weber’schen Begriffe hervorhebt.

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Für die Übersetzung aus dem Englischen des ursprünglich mündlichen Vortrags, mit dem diese Version nur teilweise übereinstimmt, bin ich meinem Sohn Henry Heitmann-Gordon dankbar. Dr. Árpád Nagy hat mir großzügig Fotos aus dem Bestand des Museums der Bildenden Künste in Budapest zukommen lassen. Bei der redaktionellen Bearbeitung des Beitrags hat mir Stefanie Albert sehr geholfen.

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Die Saturnalien Zu Fragen von Ursprung, Funktion und Bedeutung von Hendrik S. Versnel

1993 erschien mein Buch über griechische und römische Mythen und Rituale der Verkehrung 1, das sowohl Kapitel zu bestimmten relevanten Phänomenen, darunter Initiation und Erneuerung (Neujahrsfeiern), enthielt, sich aber auch mit den griechischen Kronien und den verwandten römischen Saturnalien und ihrer karnevalesken sozialen Inversion beschäftigte. Im Register des Buches findet man unter „origin“ und „function“ („Ursprung“ und „Funktion“) die zwei folgenden Einträge: (1) Ursprung ist nicht gleich Bedeutung und (2) Funktion ist nicht gleich Bedeutung. Was ich damit meinte, habe ich in mehreren Kapiteln meines Buches explizit deutlich gemacht, nicht jedoch in dem über die Saturnalien, was ich hiermit nachholen möchte.

I. Quellenmaterial und Fragestellungen 1. Der Gott Zuerst seien dem, was wir von den Saturnalien wissen, und dem Gott, dem sie ihren Namen verdanken, einige Worte gewidmet. Wie Kronos in Griechenland besaß auch Saturn in Italien kaum einen wirklichen Kult. 2 Ebenso wie Kronos war auch der römische Gott „une divinité déchue“ 3, oder in anderen Worten, ein deus otiosus. 1 Versnel, Inconsistencies in Greek and Roman Religion. Vol.2: Transition and Reversal in Myth and Ritual. Leiden 1993. 2 Pace Dion. Hal. 1, 34, 5, der behauptet, dass sich in Italien überall Kronosheiligtümer fänden; die Archäologie vermag das jedoch nicht zu bestätigen. Auch die Epigraphik tut dies nicht: Im Anhang „Inscriptions à Saturne hors d’Afrique“, in Marcel Le Glay, Saturne africain. Paris 1966, 340–343, finden sich hierzu nur 33 Einträge. Unter den 27 aus Italien sind nur 7 aus Zentralitalien; der Rest stammt aus Norditalien, wo sich ein keltischer Gott hinter diesem Namen verbirgt. Vgl. Cecil Bennett Pascal, The Cults of Cisalpine Gaul. Brüssel 1964, 176–179; Franco Sartori, Un dedica a Saturno in Val d’Ega, in: Atti VII Ce SDIR, 1975/1976, 583– 600. 3 Le Glay, Saturne africain (wie Anm.2), 450, fügt hinzu: „mais nous devinons son antique grandeur“.

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In Rom war sein Kult auf ein einziges Heiligtum begrenzt, den berühmten Tempel 4 auf den Hängen des Kapitols, von dem acht Säulen heute noch an Ort und Stelle stehen. Dieser einzigartige Saturntempel stellt einen der ältesten Kultplätze in Rom dar, gegründet angeblich im oder um das Jahr 497 v.Chr. 5, am 17.Dezember, dem Tag der Saturnalien. Die Ursprünge des Gottes und seines Namens sind im Nebel der Frühgeschichte verlorengegangen. Etymologien, die eine Verbindung des Namens mit sero/satus postulieren, sind linguistisch unhaltbar. 6 Verbindungen zum etruskischen Satre dagegen sind schon eher plausibel 7, aber selbst wenn etrurischer Einfluss belegt wer4 Heinrich Jordan, Topographie der Stadt Rom. Bd. 1/2. Berlin 1871, 360ff.; Samuel B. Platner/Thomas Ashby, A Topographical Dictionary of Ancient Rome. Oxford/London 1929, 463f.; Giuseppe Lugli, Roma Antica. Il centro monumentale. Rom 1946, 148–151; Ferdinando Castagnoli, Foro Romano. Rom 1957; Filippo Coarelli, Il Foro Romano I. Rom 1983, 199ff.; Patrizio Pensabene, Tempio di Saturno. Architettura e decorazione. Rom 1984. 5 Dion. Hal. 6, 1, 4; Liv. 2, 21, 2, mit Ogilvies Kommentar. Pensabene, Tempio di Saturno (wie Anm.4), 12– 15, beinhaltet alle Belege. Vgl. Einar Gjerstad, The Temple of Saturn in Rome: Its Date of Dedication and the Early History of the Sanctuary, in: Marcel Renard (Ed.), Hommages à A. Grenier. Vol.2. Brüssel 1962, 757– 762. Kurt Latte, Römische Religionsgeschichte. München 1960, 254 Anm.2, nimmt an, dass der Tempel um etwa 400 v.Chr. gegründet wurde, aber das muss für den zweiten Tempel gelten. 6 Fest. 202, 17 (L); 432, 19 (L); Varro, L.L. 5, 64; Macrob., Sat. 1, 10, 20; Arnob. 4, 9; Lact., Div. Inst. 1, 23, 5; Aug., C.D. 7, 13. Die Verbindung mit sero wird von manchen in der modernen Forschung noch verteidigt (vgl. den Überblick in Le Glay, Saturne africain [wie Anm.2], 450 Anm.10), wird aber durch die Länge des a in Saturnus klar widerlegt. Vgl. Saeturnus, in: CIL I2 449; Paul. ex Fest. 323 (L) Saeturnus. Vgl. Franz Bömer, Untersuchungen über die Religion der Sklaven in Griechenland und Rom. Bd. 3. Mainz 1961, 183; Ovid, Die Fasten. Hrsg., übers.u. komm. v. Franz Bömer. Bd. 1. Heidelberg 1957, 234; vgl. auch LEW s. v. – Gerhard Radke, Die Götter Altitaliens. 2.Aufl. Münster 1979, hält an der Derivation von sa- fest und erklärt, man dürfe Saturnus für den Gott halten, „der die Absicht, (sc. den Menschen) die Veranlassung zum Säen zu bringen, sie das Säen zu lehren, ausgeführt hat“ (284). Vgl. ders., Zur Entwicklung der Gottesvorstellung und der Gottesverehrung in Rom. Darmstadt 1987, 84ff. 7 Wilhelm Schulze, Zur Geschichte lateinischer Eigennamen. Berlin 1904, 181; Gustav Herbig, Satre-Saturnus, in: Philologus 74, 1917, 446–459. Zum ae in Saeturnus als Hinweis auf etruskischen Einfluss: Alfred Ernout, Les éléments étrusques du vocabulaire latin, in: Philologica. Vol.1. Paris 1946, 50. Einen etruskischen Ursprung des Namens hatte schon Joseph Scaliger vorgeschlagen in Scaliger, M.Ter. Varronis „De lingua latina“ (1581), 30: „Porro Saturni nomen Tuscum esse omnes mihi concedent.“ Vgl. Charles Guittard, Recherches sur la nature de Saturne des origines à la réforme de 217 avant J.-C., in: Raymond Bloch (Ed.), Recherches sur les religions de l’Italie antique. Genf/Paris 1976, 50. Etruskischer Einfluss wird vielleicht auch dadurch bestätigt, dass Saturn auffälligerweise in den Libri Sibyllini erscheint, die etruskische Einflüsse aufweisen: Raymond Bloch, Origines étrusques des livres Sibyllins, in: Mélanges de philologie, de littérature et d’histoire anciennes. Offerts a Alfred Ernout. Paris 1940, 25f.; Ambros Josef Pfiffig, Religio Etrusca. Graz 1975, 312f. L. Bouke van der Meer, The Bronze Liver of Piacenza. Amsterdam 1987, 126–128, hält das etruskische Satre für eine „Etruskisierung“ des italo-römischen Saturn, was mich jedoch nicht überzeugt. Auch entfern-

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den könnte, scheinen die feste Position des Festes im ältesten römischen Festkalender 8 und die Erwähnung des Namens im sehr frühen carmen Saliare 9 doch auf einen italisch-römischen Ursprung des Gottes hinzuweisen. Schon hier stoßen wir auf die ersten Unstimmigkeiten in der Darstellung des Gottes. Einerseits wurde Saturn als autochthon und der ersten Reihe latinischer Siedler angehörig verstanden, weshalb er oft als erster König Latiums oder sogar Italiens erscheint. 10 Andererseits wird er oft als Einwanderer dargestellt 11, wodurch er sowohl die Konnotationen des Urrömischen als auch des prototypisch Anderen in sich vereint – und dies ist nur das erste von vielen Paradoxa, auf die wir im Laufe dieser Arbeit stoßen werden. 12 Die Fremdheit Saturns scheint sich rituell niederzuschlagen, da Opfer zu seinen Ehren im ritus graecus durchgeführt wurden, also capite aperto, mit entblößtem Haupt. 13 Wissenschaftler wie Brelich, Graf, Versnel, Rüpke und Scheid haben sich

tere Verbindungen zum wichtigen phrygischen Gott Satre sind schon vorgeschlagen worden: Paul Kretschmer, Saturnus, in: Die Sprache 2, 1950, 65–71. Andere Vorschläge: Der Kleine Pauly, s. v. Saturnus, 1570f.; Guittard, Recherches (wie Anm.7), 43f. 8 Vgl. die Belege in Le Glay, Saturne africain (wie Anm.2), 453 Anm.6. Die späte Datierung von Numas Kalender durch Agnes Kirsopp Michels, The Calendar of the Roman Republic. Princeton 1967, 125–127 und 207–220 (so auch schon dies., The Calendar of Numa and the Prejulian Calendar, in: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 80, 1949, 320–346), ist zu Recht angegriffen worden von Atilius Degrassi, Inscriptiones Italiae. Vol.13, Fasc. 2: Fasti anni Numani et Iuliani. Rom 1963, XIX f.; Henri Le Bonniec, Le culte de Cérès à Rome. Paris 1958, 110ff., mit Bibliographie. Coarelli, Foro Romano (wie Anm.4), 206, datiert den Kalender auf etwa 600 v.Chr. 9 Fest. 432, 19 (L). 10

Latium: Verg., Aen. 7, 203: „Saturnia gens“; Sil. Ital. 3, 11; Italien: Ennius, Ann. 25: „Saturnia terra“; Varro,

L.L. 5, 42; Verg., Georg. 2, 173: „Saturnia tellus“; Aen. 8, 329; Iustin. 43, 1, 5: „Itaque Italia regis nomine Saturnia appellata“. Zu Italien als Saturnia terra vgl. Charles Guittard, Saturnia terra: mythe et réalité, in: Caesarodunum 15, 1980, 177–186, der glaubt, dass die Saturnia terra „n’a pu se développer qu’après l’assimilation de Saturne à Kronos et comme une consequence des theories Euhéméristes“ (183); Dominique Briquel, Les Pélasges en Italie. Recherches sur l’histoire de la légende. Rom 1984, Index s. v. Saturn erscheint unter den laurentanischen Königen: RML IV, 433ff., mit Quellen zu seiner Ankunft in Italien. Das hohe Alter des Saturn und seine Ambivalenz werden auch in den versus Saturnii deutlich, die versus antiquissimi sind (Fest. 432 L). 11

Hyginus apud Macrobius, Sat. 1, 7, 21ff. zufolge war beispielsweise Ianus der erste König von Latium,

der Saturn nach seiner Wanderschaft empfing und ihm anbot, sich in seinem Land niederzulassen. 12

Soweit ich weiß, ist Angelo Brelich, Tre variazioni romani sul tema delle origini. Rom 1976, der einzige,

der dieses Paradoxon, zu dem wir später zurückkehren werden, bemerkt und gewürdigt hat. 13

Schon Cato apud Prisc. 8, 377 H (= Malcovati, 35, Nr.77) sagt: „Graeco ritu fiebantur Saturnalia“. Vgl.

Fest. 432, 1 (L): „apud eam [sc. aram Saturni] supplicant apertis capitibus. Nam Italici […] velant capita“;

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für eine Interpretation ausgesprochen, die nicht so sehr griechischen gegen römischen Brauch stellt, sondern allgemeiner von der fremdartigen (verkehrten) Natur seines kultischen Verhaltens spricht. Damit soll nicht gesagt werden, dass Entlehnungen aus der griechischen Kultur in Saturns Bildlichkeit und Kult rar gesät wären. Es ist zweifellos richtig, dass er griechische Charakteristika von seinem Pendant Kronos übernommen hat. Sein Kultbild mit bedecktem Haupt und seine „Waffe“, die Sichel, sind beides Merkmale, die von Kronos entlehnt wurden. 14 So erkannte und nutzte beispielsweise schon Livius Andronicus die Identität der beiden Götter in seinem Werk. 15 Allerdings ist eines der Hauptmerkmale des römischen Saturn gleichzeitig auch einer der größten Unterschiede zwischen den beiden Göttern: Das ganze Jahr hindurch waren die Füße der Statue mit Wollfäden oder Fesseln „festgekettet“, die nur während der „Saturnalien“ gelöst wurden. 16 In Kronos’ Fall gibt es keine verlässlichen Zeugnisse für gefesselte Statuen. 17 Einigen Wissenschaftlern zufolge fand die Hellenisierung Saturns relativ unvermittelt im Jahre 217 v.Chr. statt, als im Rahmen einer Folge von Sühneriten „ein Opfer beim Saturntempel stattfand und befohlen wurde, ein lectisternium abzuhalten und ein öffentliches Mahl zu organisieren (der Ruf „Saturnalien“ schallte Tag und Nacht durch die Stadt) und dass dieser Tag auf ewig ein Festtag für das Volk sein solle“. 18 Livius’ Beschreibung der Ereignisse des Jahres 217 v.Chr. bietet uns

ebd.462, 29 (L); Paul. 106 (L); Macrob., Sat. 3, 6, 17. Serv., Aen. 3, 407 behauptet gar, dass dies nur dem Saturn vorbehalten war: „sacrificantes diis omnibus caput velare consuetos […] excepto tantum Saturno“. Zum ritus graecus vgl. Jean Gagé, Apollon romain. Essai sur le culte d’Apollon et le développement du „ritus graecus“ à Rome des origines à Auguste. Paris 1955; Georg Rohde, Die Kultsatzungen der römischen Pontifices. Berlin 1936, 138ff. 14 Fest. 202, 17 (L); 423, 12 (L); Macrob., Sat. 1, 7, 24; Plut., QR 42; Serv., Georg. 2, 406; Ovid., Fast. 1, 234. Der bedeckte Kopf ist für einen römischen Gott ebenso ungewöhnlich wie für einen griechischen – er muss aus der Bildlichkeit des Kronos entlehnt worden sein. Zu dieser Tradition vgl. Andreas Alföldi, Aion in Mérida und Aphrodisias. Mainz 1979, 20f.; Bernd Harald Krause, Iupiter Optimus Maximus Saturnus. Trier 1983, bes. 5. 15 Fr. 2 Morel: (Iupiter) „Saturni filius“; vgl. fr. 15; Enn., Ann. 456 Vahl. 16 Verrius Flaccus apud Macrob., Sat. 1, 8, 5; Stat., Silv. 1, 6, 4: „compede exsoluta“; Arnob. 4, 24: „numquis parricidii causa vinctum esse Saturnum et ablui diebus statis vinculorum ponderibus et levari?“ Min. Fel. 23, 5. 17 Ich möchte jedoch die Informationen in Erinnerung rufen, die Pausanias 10, 24, 6 uns zum KronosStein zu Delphi bietet: „Jeden Tag gießen sie Öl darüber, und während jedes Festes legen sie Fäden unverarbeiteter Wolle darauf.“ 18 Liv. 22, 1, 19: „Postremo, Decembri iam mense, ad aedem Saturni Romae immolatum est, lectisterni

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einen Großteil der bekannten Merkmale der historisch gesicherten Saturnalienfeste. Viele haben sich hier Wissowas Schlussfolgerung angeschlossen: „die Festfeier des alteinheimischen Gottes Saturnus erfährt eine völlige Umgestaltung nach griechischem Vorbilde“. 19 Der Erfolg dieser Bemerkung ändert nichts daran, dass sie nicht mehr als eine Vermutung ist: Es ist mindestens ebenso wahrscheinlich, dass uralte römische Bräuche einfach offiziell festgehalten und ihre Rituale fixiert wurden 20, möglicherweise nachdem sie mit griechischen Elementen angereichert worden waren. Soviel sei für den Moment zu den kultischen Merkmalen des Saturnus gesagt. Im Mythos, besonders in der frühen Kaiserzeit, wurde Saturnus als großer König gepriesen, der den Ackerbau in Italien eingeführt und somit den entscheidenden Impuls zur Entwicklung der Zivilisation gegeben habe. Der locus classicus 21, Vergil, Aen. 8, 314ff., beschreibt, wie der Mensch in der urtümlichen Ära der Nymphen und Faune ein tierähnliches Leben ohne Gesetze, Ackerbau oder Zivilisation geführt habe. Dann sei Saturnus gekommen, als Verbannter aus dem Olymp, entthront und auf der Flucht (320–325): is genus indocile ac dispersum montibus altis composuit legesque dedit. Latiumque vocari maluit, his quoniam latuisset tutus in oris. aurea quae perhibent illo sub rege fuere saecula. umque imperatum – et eum lectum senatores straverunt – et convivium publicum, ac per urbem Saturnalia diem ac noctem clamata, populusque eum diem festum habere ac servare in perpetuum iussus.“ 19

Georg Wissowa, Religion und Kultus der Römer. München 1912, 61. Vgl. ebd.215: „Der Zeitpunkt der

Umwandlung des latinischen Kultes in einen griechischen ist in diesem Falle bekannt: […] 217 […]“. 20

In diesem Sinne überzeugend: Martin Persson Nilsson, Saturnalia, in: RE II.2.1 (1921), 201–211, hier 206.

Vgl. Latte, Römische Religionsgeschichte (wie Anm.5), 254f.: „Es ist nichts in den Riten, was nicht in dem Bauernkult entstanden sein könnte“. Bömer, Die Religion der Sklaven (wie Anm.6), 423: „[...] die These über den griechischen Ursprung der privaten Gastmähler in 217 [ist] unhaltbar“; und ebd.425: „Wir dürfen getrost annehmen, dass die Römer für die Art, wie sie mit ihren Sklaven feierten, ihren eigenen Stil hatten und dafür nicht auf griechische Importe angewiesen waren.“ Vgl. F. Graf, Nord-Ionische Kulte. Rom 1985, 93. 21

Andere Quellen zu Saturn als Kulturheld: Fest. 202 (L); Macrob., Sat. 1, 7, 21–32; Plut., QR 12 und 42. Vgl.

die Überblicksdarstellungen bei Georg Wissowa, in: RML, 433f.; Bodo Gatz, Weltalter, goldene Zeit und sinnverwandte Vorstellungen. Hildesheim 1967, 125; Brelich, Tre variazioni romani (wie Anm.12), 92. Zur Entwicklung der Idee im Hellenismus: Andreas Alföldi, From the Aion Plutonius of the Ptolemies to the Saeculum Frugiferum of the Roman Emperors, in: Greece and the Eastern Mediterranean in Ancient History and Prehistory. Studies Presented to Fritz Schachermeyr. Berlin/New York 1977, 1–30.

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Hier erscheint Saturn als der König/Gott, der die Veredelung des Getreides und somit auch die Grundvoraussetzungen für soziales Leben, Gesetz und Frieden – kurz gesagt: für Zivilisation geschaffen hat. Allerdings stellt ihn Vergil auch als König der aurea saecula dar, oder auch der Saturnia regna, wie wir ihn zum Beispiel in seiner berühmten vierten Ekloge finden, die typische Merkmale einer utopia d’evasione aufweist 22, die vor dem Einsetzen von Zivilisation existiert. In dem Gedicht wird die Wiederkehr dieser utopischen Welt prophezeit: So wird die Gesellschaft von Krieg und Sünden gereinigt, und auch die Natur gewinnt ihre ursprüngliche Selbständigkeit zurück. Arbeit ist unnötig, da es alles ohne menschliches Zutun im Überfluss gibt. Offenbar alternieren hier zwei Vorstellungen einer ursprünglich-mythischen Welt, wobei die Einführung des Ackerbaus höchstwahrscheinlich römischen Ursprungs ist und möglicherweise von Saturns ursprünglicher Funktion ihren Anfang nahm. Die zweite hingegen stammt mit ihrer durch und durch utopischen Bildlichkeit offensichtlich von der griechischen „Ära des Kronos“ ab. 2. Das Fest Die Saturnalien begannen mit einem öffentlichen Festmahl vor dem Saturntempel 23, wonach der Ruf io Saturnalia erscholl 24, der Startschuss für die privaten Feierlichkeiten. Dies bot allen Römern, sowohl Bürgern als auch Sklaven, Gelegenheit für einen freien Tag: Schulen wurden geschlossen 25, körperliche Arbeit wurde ausgesetzt 26, und auch die Gerichtsbarkeit ruhte 27: mit anderen Worten, es gab ein iusti-

22 Ein hervorragender Beleg für deren utopischen Charakter ist die Aufhebung der Unterscheidung zwischen weißer/einfacher/reiner und purpurner/wunderschöner/dekadenter Kleidung: M. Eleanor Irwin, Colourful Sheep in the Golden Age: Vergil, Eclogues 4, 42–43, in: Échos du monde classique 8, 1989, 23–38. 23 Liv. 22, 1, 19; Macrob., Sat. 1, 10, 18. Liv. 5, 13, 6 gibt eine Anzahl saturnalischer Merkmale als Charakteristika des ersten lectisternium im Jahre 399 v.Chr. an: private Gastmähler, zu denen sogar Feinde eingeladen wurden; die Aussetzung von iurgia und litia; die Befreiung aller irgendwie gebundenen Menschen. Da Dion. Hal. 12, 9 dieselben Informationen liefert, muss die Quelle Piso sein, der wahrscheinlich verschiedene Elemente, die er von diversen Festen und Zeremonien kannte, zusammengefügt hat: Latte, Römische Religionsgeschichte (wie Anm.5), 242 Anm.2; Ogilvie ad Liv. (wie Anm.5). 24 Liv. 22, 1, 19; Macrob., Sat. 1, 10, 18; Dion. Hal. 6, 1, 4; Petron. 58, 2; Mart. 11, 2, 5; Cass. Dio 60, 19, 3. 25 Plin., Ep. 8, 7, 1; Mart. 5, 84; 12, 81. Arbeitsfreiheit für Sklaven und Schulkinder ist in hellenistischen und römischen Dekreten, die Feste betreffen, eine feste Kombination: Louis Robert, in: Bulletin de Correspondance Héllenique 108, 1984, 490 Anm.10. Vgl. Françoise Dunand, Sens et fonction de la fête dans la Grèce hellénistique, in: Dialogues d’histoire ancienne 4, 1978, 201–218. 26 Lucian, Cron. 13. 27 Macrob., Sat. 1, 10, 4 und 23. Vgl. 1, 10, 1: „poenas a nocente exigere piaculare est“.

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tium. 28 Auch die Erklärung eines Krieges war an diesem Tag untersagt. 29 Römische Bürger legten ihre Togen 30 ab und bedeckten ihre sonst unbedeckten Köpfe mit dem pilleus 31, der Filzkappe der Freigelassenen. Es gab ausufernde Schlemmereien 32 und sogar noch exzessivere Trinkgelage. Nüchterne Menschen waren die Ausnahme. 33 Noch nicht einmal der strenge und sparsame Cato konnte seinen Sklaven eine Extraration Wein versagen. 34 Die Anarchie ging so weit, dass Glücks- und Würfelspiele 35 sowohl unter Freien als auch unter Sklaven oder in gemischten Gruppen erlaubt waren, alles Dinge, die im täglichen Leben verboten waren. 36 Gesetzt wurden Münzen und Nüsse. 37 Diese vorübergehende Überflusserfahrung spiegelte sich auch im Austausch von Geschenken wider. Oft von Martial erwähnt, trugen diese häufig satirische oder rätselhafte Auf- und Inschriften. 38 Der Titel von Martials 14. Buch, Apophoreta, bezieht sich auf den Brauch, Geschenke mit nach Hause zu nehmen. 39 Ihr Inhalt konnte 28

Zum Konzept des iustitium: Hendrik S.Versnel, Destruction, Devotio and Despair in a Situation of

Anomy: The Mourning for Germanicus in Triple Perspective, in: Perennitas. Studi in onore di Angelo Brelich. Rom 1980, 541–618, hier 605ff. Bemerkenswerterweise sagt Varro in Macrob., Sat. 1, 16, 16, dass die einzigen anderen Anlässe, zu denen offizielle politische Angelegenheiten ruhen mussten, die Tage waren, an denen mundus patet galt. 29

Macrob., Sat. 1, 10, 1.

30

Mart. 6, 24; 14, 1; Sen., Ep. 18 mit dem Kommentar von Vittorio d’Agostino, L. Anneo Seneca. Pagine di

vita e di cultura romana. 6.Aufl. Turin 1968, 12–14. Dass das Ablegen der Toga und das damit einhergehende Anlegen der synthesis in der Tat demonstrative oder gar rituelle Akte sind, erschließt sich aus Berichten, dass das Tragen der synthesis im Alltag als sehr unschicklich galt (Suet., Nero 51) und sogar bestraft wurde (Lucian, Nigrin. 14). 31

Mart. 14, 1; 11, 6, 4: „pileata Roma“; Sen., Ep. 18. Sueton, Nero 57, 1: „tantumque gaudium publice prae-

buit ut plebs pilleata tota urbe discurreret“. 32

Cato, De agr. 57; Gell. 2, 24, 3; SHA Alex. Sev. 37, 6; Mart. 14, 70, 1: „A Lex Fannia Saturnalibus in singulos

dies centenos aeris insumi concessit.“ In Petron., Cena Trim. 69, 9 sagt Encolpius beim Anblick eines reichhaltigen Gerichts: „vidi Romae Saturnalibus eius modi cenarum effigiem“. 33

Hor., Sat. 2, 3, 5; Mart. 14, 1, 9: „madidi dies“; Lucian, Cron. 13.

34

Cato, De agr. 57.

35

Suet., Aug. 71; Mart. 4, 14, 7; 5, 84; 11, 6; 14, 1; Lucian, Sat. 2.

36

Die Darstellung der Saturnalien im Kalender von Philocalus zeigt einen Mann im Fellmantel mit ei-

ner Fackel, der neben einem Tisch steht, auf dem Würfel liegen. Die Bildunterschrift lautet: „nunc tibi cum domino ludere, verna, licet“. Geflügel symbolisiert ein festliches Mahl. Henri Stern, Le calendrier de 354. Étude sur son texte et sur ses illustrations. Paris 1953. 37

Mart. 5, 84; 7, 91, 2; 13, 1, 7; 14, 1, 12.

38

Suet., Aug. 75: „titulis obscuris et ambiguis“.

39

Suet., Vesp. 19, allerdings wurden sie auch manchmal geschickt, wie wir oft bei Martial finden. Vgl.

d’Agostino, L. Anneo Seneca (wie Anm.30), 183f.

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scherzhafte Überraschungen bereithalten. 40 Das hierbei geltende Reziprozitätsprinzip stellte die weniger wohlhabende Partei vor schwerwiegende finanzielle Probleme. 41 Deshalb war es legitim, ein Ersatzgeschenk zu geben, in Form von Kerzen 42 oder Figürchen aus Wachs oder Ton, den Sigillaria. 43 Es gab sogar einen besonderen Markt 44 für diese saturnalischen Objekte, und Sklaven und ärmere Klienten erhielten von ihren Herren oder Patronen einen Geldbetrag (das sigillaricium 45), mit dem sie solche Geschenke erwerben konnten – ein idealer ökonomischer Kreislauf. Das auffälligste und charakteristische Merkmal der Saturnalien war die temporäre Aussetzung der sozialen Unterschiede zwischen Herr und Diener. „Saturnalibus tota servis licentia permittitur“, so fasst Macrobius Sat. 1, 7, 26 die vorherrschende Freiheit zusammen. Einer der ungewöhnlichsten Aspekte der öffentlichen Festmähler war es, dass Herren und Sklaven zusammen speisten 46 oder dass die Sklaven sogar den Vorzug erhielten 47 oder von ihren Herren bedient wurden 48. Sklaven und

40 Catull. 14; Suet., Aug. 75. Sie konnten beispielsweise aus spielerischen Versen bestehen. Ovid, Trist. 2, 491f.: „talia [carmina] luduntur fumoso mense decembri, quae damno nulli composuisse fuit“. 41 Vgl. Lucian, Kronossolon, der sich des Problems vollkommen bewusst ist. Das Prinzip der Gegenseitigkeit findet sich auch in der strenarum commercium (Suet., Tib. 34, 2) am 1.Januar. Vgl. Gerhard J. Baudy, Adonisgärten. Studien zur antiken Samensymbolik. Frankfurt am Main 1986, der eine interessante Diskussion der sozialen Bedeutung dieses ungleichen Gabenaustausches bietet. 42 Varro, L.L. 5, 64: „cerei superioribus mittuntur“; Paul. ex Fest. 47, 27 (L); AP 6, 249; Macrob., Sat. 1, 7, 32; 1, 11, 49. In Sat. 1, 7, 33 erwähnt Macrobius sogar ein Gesetz, das ein Volkstribun vorgeschlagen habe: „non nisi cerei ditioribus missitarentur“. Ähnliche Ersatzgeschenke für die strena: Dorothea Baudy, Strenarum Commercium. Über Geschenke und Glückwünsche zum römischen Neujahrsfest, in: Rheinisches Museum 130, 1987, 1–28, hier 2. 43 Macrob., Sat. 1, 11, 49; Sen., Ep. 12, 3. 44 Macrob., Sat. 1, 11, 49. 45 Macrob., Sat. 1, 10, 24; 1, 11, 49; Suet., Claud. 5; SHA Hadrian. 17, 3; Carac. 1, 8; Aurelian. 50, 3. 46 Macrob., Sat. 1, 11, 1: „quod servi cum dominis vescerentur“, und dies, wie Iustin. 43, 1, 4 sagt: „exaequato omnium iure“. Sogar am kaiserlichen Hof: SHA Verus 7, 5. 47 Macrob., Sat. 1, 24, 23: „religiosae domus prius famulos instructis tamquam ad usum domini dapibus honorant et ita demum patribus familias mensae apparatus novatur“. 48 Dies berichtet schon Accius (Ann. fr. 3 M. Bae; Fr. Poet. Lat. Morel, 34), aber wir können nicht sicher sein, ob sich die Herren als Bedienstete tatsächlich auf einen römischen Brauch beziehen. Vgl. zum Beispiel Bömer, Die Religion der Sklaven (wie Anm.6), 174. Außerdem: Iustin. 43, 1, 4; Athen. 14, 639B: Kinder römischer Bürger bedienen ihre Sklaven. Auson., De fer. 15: „festaque servorum cum famulantur eri“. Luc., Cron. 18; Cass. Dio 60, 19: ἐπειδῆπερ ἐν τοῖς Κρονίοις οἱ δοῦλοι τὸ τῶν δεσποτῶν σχῆμα μεταλαμβάνοντες ἑορτάζουσι. Meiner Ansicht nach widerlegen diese Zeugnisse die von Baudy, Adonisgärten (wie Anm.41), 223 Anm.80, vorgeschlagene Erklärung, wonach dies kein Beispiel für Rollenverkehrung sei, sondern ein hierarchischer Akt der Essensverteilung durch den Herrn. Obwohl diese Funktion natürlich

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Bediensteten stand es frei, sich im Glücksspiel 49 zu ihren Herren zu gesellen und ihnen die unverblümte Wahrheit zu sagen oder gar Kritik an ihrem Verhalten zu üben. 50 Es ist klar, dass einige Details später hinzugefügt oder verändert worden sein können, aber das Accius-Fragment zum Beispiel beweist ohne Zweifel, dass die Freiheit der Sklaven und ihre Gleichheit mit den Herren zu den ältesten Merkmalen des Festes gehören. Es gibt noch eine weitere interessante, aber nicht unumstrittene Quellenstelle: Seneca, Ep. Luc. 5, 6 (47) 14 scheint auszusagen, dass die Sklaven während der Saturnalien die Funktionen des pater familias im Haushalt übernahmen, die Ausübung von Funktionen der öffentlichen Ämter nachahmten und sogar Recht sprachen, auch über ihre Herren: „instituterunt diem festum, non quo solo cum servis domini vescerentur, sed quo utique; honores illis in domo gerere, ius dicere permiserunt et domum pusillam rem publicam esse iudicaverunt.“ Jedoch muss an dieser Stelle eingeräumt werden, dass sowohl das Manuskript als auch die Interpretation des Textes nicht eindeutig sind und entsprechende Vorsicht angebracht ist. 51

fundamental ist, sollten Riten in ihrem jeweiligen Kontext beurteilt werden. In diesem Fall ist das klar der Komplex der Statusverkehrung, wie auch alle anderen Hinweise belegen. 49

Vgl. den in Anm.35 zitierten Text aus dem Kalender des Philocalus (= AL 395, 48).

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In Hor., Sat. 2, 7 sagt der Sklave Davus seinem Herrn die Wahrheit. Die ganze Satire basiert auf dem

Prinzip der Aussetzung und Verkehrung sozialer Unterschiede: Der Meister wird zum Sklaven (seiner Leidenschaften), während der Sklave einen freien Geist besitzt – eine deutliche Anspielung auf die libertas decembris. 51

Viele haben die Passage folgendermaßen paraphrasiert: „Den Sklaven, die in diesen Tagen von ihren

Herren bewirtet wurden, war es erlaubt, Magistrate und Richter nach zu äffen“ (von Premerstein); „Nachricht bei Seneca, nach der man im Hause nicht nur mit den Sklaven zusammen speiste, sondern ihnen auch die Befehlsgewalt und die Rechtsprechung übertrug: das Haus wurde in eine Art von Miniaturstaat verwandelt“ (Weinstock); „von selbst folgte die Konsequenz, auch andere Ämter nachzuäffen, […]: Lucian., Sat. 2; besonders Seneca, Ep. 47, 14“ (Nilsson); „jegliche Ehre wurde ihnen im Hause erwiesen, das Amt, das sonst im Haus nur der Pater familias und im Staate nur der hohe Beamte ausüben durfte, nämlich das der Rechtsprechung, konnte scherzhaft im privaten Kreis von ihnen demonstriert werden“ (Kenner). Offenbar lesen diese Autoren zwischen utique und honores keinen Punkt. Als ich zu Anfang selbst zu dieser Interpretation tendierte, warnten mich meine Kollegen Omert Schrier und Ruurd Nauta davor, da sie auf einer falschen Textkonstitution basierte. Sie brachten mehrere Argumente dafür, wobei das wichtigste war, dass „non quo solo“ zu „sed quo utique“ im Kontrast stehen muss und nicht „non solum quo“ entsprechen kann. Da utique „auf jeden Fall“ oder „mit Sicherheit“ bedeutet, lautet der erste Teil des Satzes: „ein Fest mit dem Zweck, dass sie – nicht ausschließlich an diesem Tag, aber jedenfalls an diesem Tag – gemeinsam speisen“. Vgl. Ruurd R. Nauta, Seneca’s Apocolocyntosis as Saturnalian Literature, in: Mnemosyne 40, 1987, 69–96, hier 87 Anm.57. Graf erinnerte mich an Varro, R.R. 1, 17, wo Sklaven in einer hierarchischen Struktur organisiert erscheinen. Vgl. auch Plin., Ep. 8, 16, 2: „servis respublica quaedam et quasi civitas domus est“.

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II. Eine kurze Suche nach den Ursprüngen Die Mehrzahl der Gelehrten ist sich einig, dass Saturnus irgendwann eine chthonische Gottheit gewesen sein muss, die in Verbindung zum Ackerbau stand, genauer gesagt mit der Getreideernte. Einigen zufolge brachte seine chthonische Natur auch einige etwas düstere Aspekte mit sich, nämlich Konnotationen mit Tod und Unterwelt. Manchmal wird angenommen, dass dies auf etruskischen Einfluss zurückgeht, ebenso wie seine angeblichen Verbindungen mit den munera der Gladiatoren. Was seine landwirtschaftlichen Qualitäten angeht, so werden diese von zwei Befunden klar bestätigt: erstens von Saturns kalendarischer Position zwischen den Festen der Consualia und Opalia im Dezember, dem „sabinischen“ Monat des Überflusses, und zweitens von seinem Erscheinen in einer Liste sabinischer Gottheiten, die angeblich von Titus Tatius eingeführt wurden und größtenteils der dritten Dumézil’schen Funktion – Landwirtschaft und Fruchtbarkeit – zuzuordnen sind. 52 Nun wollen wir zunächst unsere Aufmerksamkeit auf seine Stellung im Kalender richten. Die Saturnalien nehmen eine Position genau in der Mitte zwischen den Consualien am 15. und den Opalien am 19.Dezember ein. Im August finden wir eine vergleichbare Dreierformation: Consualien am 21., Opiconsivien am 25. und die Volcanalien dazwischen, am 23. Der Grund für die enge Verbindung von Festen zu Ehren des Consus und der Ops gehört zu den wenigen unumstrittenen Fakten römischer Religion und hat schon oft Beachtung gefunden. 53 Am Ende des Augusts wur-

52 Georges Dumézil war es, der den legendären sabinischen Beitrag zur römischen Kultur (einschließlich der Errungenschaften von König Titus Tatius) mit der dritten Funktion des agrarischen Überflusses in Zusammenhang brachte. Vgl. seine Zusammenfassung in: Georges Dumézil, La religion romaine archaique. Paris 1966, Index s. v. Tatius. Ihm folgte Le Glay, Saturne africain (wie Anm.2), 454: „Décembre apparaît donc comme un mois Sabin“. Vgl. Guittard, Recherches sur la nature (wie Anm.7), und – sehr ausführlich – Pierre Pouthier, Ops et la conception de l’abondance dans la religion romaine. Rom 1981, 31–135 und passim. Dominique Briquel, Les Pélasges en Italie. Recherches sur l’histoire de la légende. Rom 1984, hat den Versuch unternommen, Saturn in der Ideologie der ersten Funktion unterzubringen, aufgrund seiner Ähnlichkeiten mit Jupiter. Obwohl sein Artikel einige sachdienliche Einsichten enthält, ist dies nur ein weiteres Beispiel dafür, dass ein treuer Dumézilianer mit Hilfe des triadischen Systems alles beweisen kann, was er möchte, und ich werde ihm in dieser Hinsicht nicht folgen. 53 Am ausführlichsten von Pouthier. Dies war schon früher von P.H.N.G. Stehouwer, Etude sur Ops et Consus. Diss. Utrecht 1956, analysiert worden; Pouthier, Ops et la conception (wie Anm.52), 102–135. Dies ist vielleicht der richtige Ort, um ein für alle Mal festzuhalten, dass Dario Sabbatucci, La religione di Roma antica. Dal calendario festivo all’ordine cosmico. Mailand 1988, für mich unverständlich ist, und wenn man doch einmal Licht sieht, ist der Inhalt inakzeptabel. So war seiner Ansicht nach beispielsweise der

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de das Getreide in Silos oder Scheunen eingelagert (condere = begraben 54). Der Gott, der über diese Tätigkeit wacht, ist Consus. Der Überfluss der eingelagerten Getreideernte stellt den Wohlstand der ländlichen Gesellschaft dar: Ops Consiva (die Beschützerin des so angesammelten getreideförmigen Reichtums). Zwischen der Aktion der Einlagerung und deren dauerhaftem Ergebnis, nämlich den eingelagerten Vorräten, liegt ein Moment der Besinnung auf die Gefahren, durch die die Landwirtschaft und ihre Produkte bedroht sind. Während der Volcanalien wird Vulcanus, der Gott des Feuers, mit einem „Opfer“ günstig gestimmt, das aus lebenden Fischen besteht, die direkt ins Feuer geworfen werden. 55 Selbst in Anbetracht der nutzbringenden Funktionen des Feuers 56 kann man nicht leugnen, dass die gefährlichen und furchteinflößenden Kräfte des Vulcanus die Überhand haben. Deshalb wird die von ihm ausgehende Bedrohung rituell entschärft. Betrachtet man sie zusammen, werden die verschiedenen Funktionen und Wechselbeziehungen der drei Feste im August klar. Aber wie steht es um die Analogien im Monat Dezember? Consus und Ops erscheinen erneut, wenn auch Letztere ohne ihr Epitheton Consiva. Nun stellt sich die Frage nach ihren Funktionen zu dieser Jahreszeit, und glücklicherweise hat Dumézil den Weg für eine überzeugende Interpretation gewiesen. Er verweist auf eine Bemerkung Varros: „fructus nemo condit nisi ut

Kult des Consus in Wahrheit der „culto tombale di Romulo“ (274ff.), und Consus selbst war primär „il signore del consiglio“. „Gageons que ce livre foisonnant d’idées neuves sera très discuté“ ist die eleganteste Zusammenfassung der implizit vernichtenden Kritik von Robert Turcan, in: Revue de l’histoire des religions 206, 1989, 69–73. 54

Es ist vorgeschlagen worden, dass diese Silos nicht immer unterirdisch waren, da Varro, R.R. 1, 57 sich

dezidiert für „granaria sublimia“ ausspricht. Aber erstens reflektiert er über die Verhältnisse seiner Zeit und fügt außerdem hinzu, dass manche Leute unterirdische Höhlen als Kornspeicher verwenden. Zweitens ist die Tatsache, dass Consus seinen Altar unter der Erde hatte und angeblich unterirdisch wohnte, der entscheidende Beweis dafür, dass in der Frühzeit die letztere Verhaltensweise Brauch gewesen sein muss, pace Georges Dumézil, Idées romaines. Paris 1969, 293, und Pouthier, Ops et la conception (wie Anm.52), 105 Anm.5. 55

Fest. 274 (L); Varro, L.L. 6, 20. In diesem Falle ist sich die Forschung in außergewöhnlichem Maße einig.

Vgl. zum Beispiel Dumézil, La religion romaine (wie Anm.52), 316, und die nächste Anmerkung; Pouthier, Ops et la conception (wie Anm.52), 120. 56

Dumézil, La religion romaine (wie Anm.52), 315: „le feu qui, pour le bien ou pour le mal, dévore et dé-

truit“. Pouthier, Ops et la conception (wie Anm.52), 119–123, scheint in Vulcanus eine positive Kraft auszumachen: „pas insensible à la notion d’abondance ceréalière de l’été“; was er genau meint, wird aber nicht deutlich. Georges Dumézil, Les pisciculi des Volcanalia, in: Revue de études latines 36, 1958, 121–130; ders., Fêtes romaines d’été et d’automne. Suivi de dix questions romaines. Paris 1975, 61–77, spricht sich für eine durch und durch negative Bedrohung durch Vulkans Feuer aus.

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promat“ (niemand lagert Getreide, es sei denn um es wieder zum Vorschein zu bringen), auch als „nemo fructus condit nisi ut promat“, und gibt drei Gründe an, weshalb Menschen „promunt condita“: um sie besser zu schützen, um sie zu konsumieren oder um mit ihnen zu handeln. In Kapitel 69 gibt er noch ein weiteres Motiv an, nämlich die Verwendung für die Aussaat („ad sationem“). Hier erscheint auch die Vorstellung, dass jedes dieser Motive einer bestimmten Jahreszeit entspricht. Das wichtigste Motiv, der Konsum, wird mit dem Winter konnotiert: „far quod in spicis condideris per messem et ad usus cibatus expedire velis, promendum hieme, ut in pistrino pinsatur ac torreatur“ (63, vgl. 69). Somit erschließt sich für die Dezemberfeste unmittelbar vor der Wintersonnenwende (solstitium) eine natürliche Erklärung, wenn sie als rituelle Feier anlässlich der Öffnung der Getreidesilos und -speicher angesehen werden, die dazu dient, das zur Ernährung (oder für andere Zwecke) nötige Getreide hervorzubringen (promere). Diese verlockende Interpretation der funktionalen Doppelung der beiden Zyklen – der im August für die Einlagerung (condere) und der im Dezember für das erste Zutagetreten der Vorräte (promere) – kann mit einem Argument gestützt werden, das zwar Dumézil entgangen ist, aber meiner Meinung nach den entscheidenden Beleg für diese These liefert. In der bekannten Reihe der indigitamenta (funktionalen Gottheiten), von denen jede eine bestimmte landwirtschaftliche Funktion 57 repräsentiert, erwähnt Servius, ad Georg. 1, 21 zuerst einige vorbereitende Funktionen; diesen folgen die Funktionen des Säens, Mähens und Sammelns; und als letztes Paar erscheinen conditor und promitor 58, offenbar die indigitamenta, die mit der Lagerung und der Wiederhervorbringung der eingelagerten Getreideernte verbunden sind. Wenn also der Funktion condere eine rituelle Feier entspricht, so kann man davon ausgehen, dass dies auch auf ihr Gegenstück zutrifft. All dies führt zu dem Schluss, dass Saturnus als Gott spezifisch mit der Öffnung der Speicher, der ersten Ansicht und schließlich mit dem Hervorholen des eingelagerten Getreides verbunden war. Dementsprechend hat auch Ops ihr Epitheton

57 Die Liste geht auf Fabius Pictor zurück. Dass darin schon pontifikale Konstruktion durchscheint (vgl. Latte, Römische Religionsgeschichte [wie Anm.5], 207f.) mindert keineswegs den Wert des Gegensatzpaares condere/promere als Handlungen im Bereich der Getreideproduktion. 58 In ähnlicher Weise erwähnt Plautus, Pseudol. 608 die Kombination der Funktionen condus promus im Falle eines Haussklaven: „condus promus sum, procurator peni“. Vgl. Hor., Ep. 1, 1, 12: „condo et compono quae mox depromere possim“, und die Diskussion bei Eduard Fraenkel, Horace. Oxford 1957, 445 und Anm.3.

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Consiva eingebüßt, da das aus den Scheunen hervorgebrachte Korn nun frei ist und für ökonomische Manipulation zur Verfügung steht: Es wird zu „Besitz“ im breiteren ökonomischen Sinne. Es gibt noch viel mehr Material, das diese neue Interpretation stützt. An dieser Stelle sei nur Saturns eigener „Parhedros“ erwähnt, der in der berühmten Serie göttlicher Paare bei Gellius 13, 23 erscheint: „Luam Saturni, Salaciam Neptuni, Horam Quirini, Virites Quirini, Maiam Vulcani, Heriem Iunonis, Moles Martis, Nerienemque Martis“. Die Wissenschaft ist sich darüber einig, dass die jeweils ersten Elemente dieser Kombinationen – allesamt abstrakte Substantive – durchgehend eine bestimmte Qualität oder Modalität der Gottheit angeben, deren Name sich im Genitiv anschließt. Die meisten sind leicht zu entschlüsseln: So kennen wir den „springenden“ Aspekt des Neptun, den „Willen“ (oder „Impuls“) und die „männlichen Kräfte“ des Quirinus und die „maskuline Stärke“ des Mars. In Analogie dazu möchte ich vorschlagen, die „Lua“ des Saturn hier als die Verkörperung einer der ursprünglichsten und wichtigstes Qualitäten des Gottes zu verstehen: die „Befreiung“ oder „Loslösung“ der eingelagerten Vorräte, wodurch sie für den menschlichen Gebrauch zugänglich werden.

III. Die Bedeutung des Verkehrungsfestes Diese Analyse konfrontiert uns mit einem kritischen Moment „dazwischen“. Die Öffnung der Vorratsspeicher markiert ein retardierendes Moment zwischen der Situation der verborgenen Vorräte und der Aktion der Hervorbringung. Dieser Zeitpunkt gewährt uns einen guten Einblick in die Konfiguration von Mythos und Ritual um den Gott Saturnus und führt uns zum Kern der Sache, zur Bedeutung des Gottes und seines Festes. Eine der wichtigsten und allgegenwärtigen unter den großen Krisenzeremonien vormoderner Gesellschaften ist die Öffnung von Wein- und Vorratsspeichern sowie die erste Verkostung der primitiae. 59 Kein anderer Festtyp ist so ambivalent konno-

59

Es genügt hier auf die grundlegende Untersuchung von Vittorio Lanternari, La grande festa. 2.Aufl. Bari

1976, zu verweisen, der das primitiae-Opfer im Hinblick auf die damit verbundene Erfolgserfahrung analysiert, deren negative Auswirkungen die Menschen fürchten. Er ließ sich durch die psychologischen Studien von Georges Gusdorf, L’expérience humaine du sacrifice. Paris 1948, inspirieren, der eine sehr aufschluss-

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tiert: Da sind die frohe Erwartung des Wohlstands, die aber mit Sorgen verschiedenster Art gepaart ist, darunter die ungewisse Qualität des Lagerinhalts, da dieser jetzt zum ersten Mal in Augenschein genommen wird und möglicherweise verdorben ist. 60 Außerdem ist man sich bewusst, dass man mit dieser Aktion einen ersten unumkehrbaren Schritt in Richtung des Zeitpunkts getan hat, an dem die Vorräte aufgebraucht sein werden. Dazu kommt noch die Furcht vor dem Neid der Götter oder Dämonen, die immer dann zuschlagen, wenn sich die menschliche Gesellschaft in einem solchen kritischen Moment an der Grenze zwischen Hoffnung und Furcht, zwischen Überfluss und Hunger befindet. Diese interstitielle Situation des „noch nicht“ voller Anspannung und Ambivalenz produziert eine Bildlichkeit in Mythos und Ritual, die sich – der Leser wird sich an Victor Turner erinnert fühlen – unter der Vorstellung der „Abwesenheit von Ordnung“ zusammenfassen lässt, die sich wiederum in Mythos und Ritual niederschlägt. Beide zeigen eng verbundene Assoziationen. Das Ritual erlaubt einen Blick auf eine Atmosphäre, die vom Mythos auf die präkosmische Ära projiziert wird. Im Mythos kommt es zu einer temporären Hervorrufung einer vorzivilisatorischen Ära, die sich in vielen Kulturen als mehrdeutiges Chaos manifestiert. Der Mythos hat eine positive, utopische Seite, er verweist aber auch im negativen Sinne auf die katastrophalen Aspekte dieser Auslöschung menschlicher Werte. Beide Extreme, Utopie und Dystopie, sind alternative Negativfolien der Unordnung gegenüber dem geordneten, kulturgeprägten Leben in Normalität. Im Ritual entdecken wir in Abwesenheit von Ordnung dieselbe Ambiguität: Auf der einen Seite haben wir Überfluss, auf der anderen die Verkehrung von Rollen. Sowohl Mythos als auch Ritus sagen dasselbe aus: Die Utopie kann nicht, ihre negative Kehrseite darf nicht Realität sein. Im Mythos findet dies seinen Ausdruck in der Projektion dieser Bilder auf die eschatiai (die Außengrenzen von Zeit und Raum), in denen das mythische Territorium urzeitlicher Könige wie Kronos und Saturnus besteht. Im Ritual wird dies dadurch realisiert, dass das Unmögliche nur für ein paar Stunden oder Tage Wirklich-

reiche Untersuchung der Schuldgefühle oder Ängste bietet, die durch Erfolg entstehen können. Ich habe in Hendrik S. Versnel, Polycrates and his Ring: Two Neglected Aspects, in: Studi storico-religiosi 1, 1977, 17– 46, und ders., Self-Sacrifice, Compensation and the Anonymous Gods, in: Le sacrifice dans l’antiquité. Genf 1981, 135–185, einen sehr ähnlichen Ansatz angewandt. Das informativste primitiae-Fest in der Antike sind die athenischen Anthesterien, die auffallende Ähnlichkeiten mit den Saturnalien zeigen. 60 Der Schutz des eingelagerten Korns vor Verfall jeder Art war von essentieller Bedeutung. Aus diesem Grund wurde auch empfohlen, Lorbeerzweige oder Blätter in die Vorratsspeicher zu legen: Geopon. 2, 30, 1.

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keit wird und somit dessen Außergewöhnlichkeit betont wird. Die Entspannung der Regeln und die Verkehrung dienen so dem ordnungsgemäßen Funktionieren der Gesellschaft, aber nur in Gestalt von Abbildern des Unmöglichen oder Unerwünschten, wodurch sie zu klar erkennbaren Ausnahmen werden – „denn Freiheit ist etwas, das womöglich noch schwerer zu ertragen ist als Herrschaft“. 61 Oder in den Worten von Bruce Lincoln zu „interstitiellen“ Situationen allgemein: „What is constant in all instances is the fundamental perception that it is anomalies such as these – places outside space, moments outside time; people and things beyond easy classification – that are most dangerous and most creative as well.“ 62 Die Frage, die nun noch im Raum steht, ist, ob diese Interpretation auch Licht auf einige bemerkenswerte Merkmale des Kultes und seiner Rituale werfen kann. Wir wollen mit den ikonographischen Auffälligkeiten beginnen. Der wahrscheinlich von den Römern entwickelte Gegensatz zwischen dem Normalzustand des gefesselten Gottes und seinem befreiten Ausnahmezustand während der Saturnalien lässt sich leicht als Abbild der „Befreiung“ des „eingesperrten“ Getreides verstehen. Dieser Umstand mag auch die Übernahme der griechischen Kronos-Ikonographie begünstigt haben: Das ikonographische Merkmal des bedeckten Hauptes passt zum „versteckten“ Gott des Getreidevorrates, ebenso wie die mythische Sichel seiner Verbindung zum gemähten Getreide (und nicht mit der Aussaat) entspricht. Was das festliche Ritual angeht, so entspricht die Interpretation der Saturnalien als gesetzlose Aussetzung des normalen Jahreslaufs exakt den Elementen, die wir vorfinden, nämlich iustitium, Rollenverkehrung, Orgien, Zügellosigkeit und besonders das erlaubte Glücksspiel – eine implizite Anspielung auf die vielen Möglichkeiten, die einem in der gesetzlosen Situation offenstehen. Jene fungieren als Signale der ambivalenten Atmosphäre, die während solcher Krisenfeste herrscht. Außerdem ist es

61

Peter Weidkuhn, Fastnacht – Revolte – Revolution, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte

21, 1969, 289–306, hier 302. Vgl. Georges Balandier, Political Anthropology. Harmondsworth 1972, 116. Ich habe die Vieldeutigkeit der Freiheit in der hellenistischen Welt ausführlich diskutiert in Hendrik S.Versnel, Inconsistencies in Greek and Roman Religion. Vol.1. Leiden 1991, Kap. 1. 62

Bruce Lincoln, Places Outside Space, Moments Outside Time, in: JIES Monographs 3, 1982, 69–84. Victor

W. Turner, Comments and Conclusions, in: Barbara A. Babcock (Ed.), The Reversible World. Ithaca/London 1978, 276–296, hier 279, äußert sich in vergleichbarer Weise zu solchen Übergangssituationen: „Liminal symbols tend to be ambiguous, equivocal, neutral, ambisexual rather than classificatory reversals. This is because liminality is conceived of as a season of silent, secret growth, a mediatory movement between what was and what will be where the social process goes inward and underground for a time that is not profane time.“

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möglich, dass die Befreiung der Sklaven – ebenso wie die Loslösung des Gottes von seinen Fesseln – einen Aspekt der „Ur“-Saturnalien widerspiegelt: Wie wir gesehen haben, spiegelt Letzteres die Öffnung der Kornspeicher wider, während Ersteres eine weniger spezifische Begleiterscheinung darstellt, bedingt durch die krisenhafte Natur dieses Festes. Die gemeinsame Aufgabe der beiden Elemente war es, der krisenhaft ambivalenten Atmosphäre von Hoffnung und Furcht symbolisch Ausdruck zu verleihen und ihr somit de facto Bedeutung zu geben, die einen der wichtigsten Momente des landwirtschaftlichen Jahreskreislaufs umgab – die Öffnung der Kornspeicher.

IV. Die Funktion des Verkehrungsfestes Hier möchte ich mich auf zwei Aspekte des saturnalischen Rituals konzentrieren, nämlich zum einen die Rollenverkehrung und zum anderen die erhebenden Gefühle, die durch den gemeinsam erlebten Überfluss von Essen und Trinken ausgelöst werden und in Macrobius, Saturnalia 1, 7, 26 gut zum Ausdruck kommen: „tota servis licentia permittitur“. In der modernen Soziologie seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts ist dieser Typ des Rituals mit verschiedenen Begriffen bezeichnet worden: „periods of licence“ (Frazer), „rituals of rebellion“ (Gluckman), „rituals of conflict“ (Norbeck), „legitimate rebellion“ (Weidkuhn) stehen Seite an Seite mit deutschen Begriffen wie „legale Anarchien“, „Ventilsitten“, „Ausnahmezeiten“ oder „gelegentliche Entgleisung“. 63 Der Schwerpunkt dieser Termini auf der Legitimität dieser Abweichung von der Norm erschließt sich aus der funktionalistischen Natur der Erklärungen, denen sie angehören. Für eine kurze Zeit wird unterdrückten sozialen Gruppen eine Gelegenheit gegeben, ihren aufgestauten Aggressionen in einem Spiel mit verkehrten Rollen freien Lauf zu lassen; dadurch wird das Gefahrenpotential für eine echte Revolution neutralisiert. In der Tat war dies die durchaus ernstzunehmende Interpretation von Nilsson und Bömer, und es ist befriedigend festzustellen, dass dies offenbar mehr ist als eine freie Erfindung der modernen Anthropologie 64, denn diese Funktion des Festes ist als solche schon von manchen Teilnehmern 63 Ich habe Verkehrungsriten in anderem Kontext diskutiert in Versnel, Destruction (wie Anm.28), 582ff. Für weitere Literatur zu den orgia alimentare (zum Schwelgen in opulenten Festmählern und der damit einhergehenden Bildlichkeit vom Land Cockaigne) vgl. Jan N. Bremmer/Nicholas M. Horsfall, Roman Myth and Mythography. London 1987, 80 Anm.17. 64 Keith R. Bradley, Holidays for Slaves, in: Symbolae Osloenses 54, 1979, 111–118 (= Bradley, Slaves and

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selbst realisiert und festgehalten worden. So beschrieb beispielsweise ein ehemaliger Sklave im Jahre 1855 Feste als „safety valves to carry off the explosive elements inseparable from the human mind, when reduced to the condition of slavery“. 65 Auch lateinische Autoren identifizierten diese Funktionen explizit. Columella, R.R. 1, 8, 15–19 stellt allgemein fest, dass eine humane Behandlung Sklaven zu willigeren Arbeitskräften macht: „Als ich erkannte, dass solche Freundlichkeit von Seiten des Herren die Last der ständigen Arbeit leichter machte, scherzte ich oft mit ihnen und gestattete ihnen, freier zu scherzen.“ Solinus 1, 35 und Macrobius, Sat. 1, 12, 7 versichern uns, dass Sklaven am 1.März und an den Saturnalien von ihren Besitzern eine cena erhielten, um für die unmittelbare Zukunft deren obsequium zu fördern. Dion., Hal. 4, 14, 4 (vgl. Cic., De. leg. 2, 19, 29) berichtet, dass die Sklaven anlässlich der Compitalien von ihren Ketten befreit wurden, „so dass die Sklaven, milde gestimmt durch diese humane Episode, die eine gewisse Größe und Erhabenheit besitzt, sich ihren Herren gegenüber angenehmer verhalten und sich der Schwere ihrer Situation weniger bewusst sind“. In letzter Zeit ist den demonstrativen und symbolischen Masters in the Roman Empire. A Study in Social Control. Brüssel 1984, 40–44). Vgl. außerdem Kenneth H. Stampp, The Peculiar Institution. New York 1956, 170, 168, 365: aufgestauter Unzufriedenheit freien Lauf lassen; Robert W. Fogel/ Stanley L. Engerman, Time on the Cross. Boston 1974, Vol. I, 148, 240ff.: „contribution to the paternalistic nature of Southern slave society and engendering a ‚sense of community‘ both among Negro slaves themselves and with their white masters“. Im Austausch von Gaben zeigen die Saturnalien einen weiteren fundamentalen sozialen Ritus, der sowohl Hierarchien als auch soziale Zugehörigkeit bestärkt: Gerhard J. Baudy, Hierarchie oder: Die Verteilung des Fleisches. Eine ethologische Studie über die Tischordnung als Wurzel sozialer Organisation, in: Burkhard Gladigow/Hans G. Kippenberg (Hrsg.), Neue Ansätze in der Religionswissenschaft. München 1983, 131–174, hier bes. 142: der Empfänger bleibt in der Schuld und damit abhängig von seinem Wohltäter. Vgl. auch Burkhard Gladigow, Die Teilung des Opfers. Zur Interpretation von Opfern in vor- und frühgeschichtlichen Epochen, in: Karl Hauck (Hrsg.), Frühmittelalterliche Studien. Berlin 1984, 19–43, bes. 22f.; Baudy, Strenarum Commercium (wie Anm. 42), 7 ff. und 25: „So wie jedes Festmahl, auch das am Neujahrstag, zwar soziale Bindungen, zugleich mit ihnen aber auch eine Hierarchie der Teilnehmer schafft, ist das strenarum commercium durchaus ein Ritual zur Bewältigung sozialer Differenzen und Antagonismen, hebt sie aber nicht auf.“ Auch dies ist ein allgemein gültiges Prinzip: die Geburtstagsfeierlichkeiten der Aristokratie im England des 18. Jahrhunderts „promoted social harmony while reinforcing influence within a deeply hierarchical society“: John H. D’Arms, Control, Companionship and Clientela: Some Social Functions of the Roman Communal Meal, in: EMC 28, 1984, 327–348, bes. 343, der dies auf die öffentlichen Festmähler anwendet, die von den Kaisern ausgerichtet wurden, wenn sie ihre Zugänglichkeit als Gott unter Menschen propagieren wollten. 65 Frederick Douglass, My Bondage and my Freedom. New York 1855, 254, und die Kommentare von Eugene Genovese, Roll, Jordan, Roll. New York 1974, 577ff., beide zitiert in Bremmer/Horsfall, Roman Myth (wie Anm.63), 86 Anm.43. Anton C. Zijderveld, Reality in a Looking-Glass. London 1982, hat dasselbe Bewusstsein in den mittelalterlichen Karnevalsclubs nachgewiesen. Weitere Belege in Natalie Zemon Davis, The Reasons of Misrule: Youth Groups and Charivaries in Sixteenth Century France, in: Past & Present 50, 1971, 41–75, bes. 48 Anm.21.

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Aspekten dieser Ventileffekte mehr Aufmerksamkeit zuteilgeworden: Durch das Ritual wird der Konflikt in einer übergroßen, aber symbolischen Form deutlich, und der echte Konflikt wird dadurch eingefasst. „The supreme ruse of power is to allow itself to be contested ritually in order to consolidate itself more effectively.“ 66 Aus diesem Grund spricht Norbeck von „dramas of conflict“. 67 Allerdings decken diese Erklärungen, bei allem Nutzen, den sie zweifellos haben, nicht das gesamte Spektrum ab. Der Funktion der Legitimation oder Bestätigung des sozialen Status quo muss mindestens ebenso viel Aufmerksamkeit zuteilwerden. 68 Die etablierte Ordnung wird durch die Absurdität der verkehrten Welt bestätigt. Einer der frühen Vertreter dieser These war Gluckman 69, dem zufolge diese Riten „give expression, in a reversed form, to the normal rightness of a particular kind of social order“. Ihre Hauptfunktion sei, „cohesion in the wider society“ zu erreichen. Es ist klar, dass beide hier erwähnten Funktionen sich gegenseitig bestärken können, aber sie bleiben dennoch unterscheidbar: Die Neutralisierung eines Aggressionspotentials ist nicht identisch mit der Bestätigung des sozialen Status quo in Form einer De-

66 Balandier, Political Anthropology (wie Anm.61), 41. Vgl. Ioan M. Lewis, Social Anthropology in Perspective. Harmondsworth 1976, 142, mit interessanten Parallelen zu zeitgenössischen „Narrengelagen“ („feasts of fools“). Ähnliche Ansichten zu chiliastischen Bewegungen: Anthony F.C. Wallace, Religion: An Anthropological View. New York 1966; Wilhelm E. Mühlmann, Chiliasmus und Nativismus. Studien zur Psychologie, Soziologie und historischen Kasuistik der Umsturzbewegungen. Berlin 1961. 67 Edward Norbeck, African Rituals of Conflict, in: American Anthropologist 645, 1963, 1254–1279. 68 Bremmer/Horsfall, Roman Myth (wie Anm.63), 86f., warnt vor der Verwendung des Begriffs „Legitimation“ in diesem Kontext: „We should at least ask: legitimation for whom? Perhaps in the eyes of the masters but hardly for the slaves.“ Aus denselben Gründen argumentiert Robin Lane Fox, Pagans and Christians. London 1986, 81, dass die Umzüge und Feste in hellenistischen Städten die Vorrangstellung der führenden Bürger nicht „legitimiert“ oder „gerechtfertigt“ hätten: es gab schlicht keine echte Alternative mehr. Wenn sich diese Aussage auf den Begriff im engeren Sinne bezieht, mag dies stimmen, aber in der allgemeinen anthropologischen Fachsprache bezieht sich „Legitimation“ auf die Gesamtstruktur der Gesellschaft: Durch den Blick in den Spiegel des Karnevals bekommen alle sozialen Gruppen e contrario das „richtige“ Bild davon, wie die echte Gesellschaft in Wahrheit funktioniert und wo jedermanns Platz sein sollte. Diese implizite Bestätigung des Status quo („strong collective images of concord“, wie Lane Fox, ebd., es ausdrückt) beinhaltet die Legitimation, dass dieser Status quo gut sei und so bleiben sollte, ebenso wie Malinowskis Chartermythen „begründende“, „bestätigende“ und „legitimierende“ Funktionen haben. Vgl. auch die Zitate von Gluckman im Text. 69 Max Gluckman, The Licence in Ritual, in: Custom and Conflict in Africa. Oxford 1955, 109–136, aus dem ich zitiere; ders., Rituals of Rebellion in South-East Africa, in: Order and Rebellion in Tribal Africa. London 1963, 110–136. Seine ersten Untersuchungen in dieser Richtung: An Analysis of the Sociological Theories of B. Malinowski. Oxford 1949, 16. Vgl. auch P.L. van den Berghe, Institutionalized Licence and Normative Stability, in: Cahiers d’études africaines 3, 1963, 413–423.

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monstration des Absurden. Wie Brian Sutton-Smith schon über das Spielen sagte: „We may be disorderly in games either because we have an overdose of order or because we have something to learn through being disorderly.“ 70 Diese beiden Aspekte existieren auch oft in verschiedenen Formen Seite an Seite: Der dissoziative wird im theatralischen Konflikt der Rollenverkehrung ausgespielt, während die integrative und Status-quo-erhaltende Funktion nicht nur im Rollenspiel Präsenz zeigt, sondern auch demonstrativ in der kollektiven und egalitären Erfahrung des Festes als Verkörperung des Überflusses. Während frühere Interpretationen des Karnevals besonders den Sicherheitsventileffekt betonten, zeichnet sich in der neueren Forschung ein Trend ab, dem Fest in seiner Funktion als Quelle von Solidarität und Legitimation mehr Aufmerksamkeit zu widmen. 71 Verkehrungsrituale können in vielen verschiedenen Kontexten funktionieren 72 und sind keineswegs auf den landwirtschaftlichen Bereich (Frazer) oder auf Todessymbolik (Meuli) beschränkt. Auch ihre religiöse Verankerung ist relativ variabel, es gibt nicht notwendigerweise eine Verbindung mit einer bestimmten „Verkehrungsgottheit“. In der Tat ist manchmal gar kein Gott beteiligt. Die eben erwähnten Theorien beschäftigen sich mit Kategorien sozialer und soziopsychologischer Prozesse, die auf einer Ebene ablaufen, auf der Hierarchien legitimiert werden und soziale Schichtungen ihre Solidarität mittels eines allgemeinen Konsenses über die Richtigkeit der etablierten Ordnung bilden. In diesem Feld haben seit Durkheim Generationen von Soziologen operiert, und ihrer Meinung nach

70

Brian Sutton-Smith, Games of Order and Disorder, zitiert von Victor W. Turner in Babcock (Ed.), The Re-

versible World (wie Anm.62), 294. 71

Sicherheitsventil: zum Beispiel in Natalie Zemon Davies, Society and Culture in Early Modern France.

London 1975, 122ff.; Peter Burke, Popular Culture in Early Modern Europe. London 1978, 202ff. Der Legitimationsaspekt: u.a. in Zijderveld, Reality (wie Anm.65), und Herman Pleij, Het gilde van de Blauwe Schuit. Literatuur, volksfeest en burgermoraal in de late middeleeuwen. 2.Aufl. Amsterdam 1983, 63, 87, 241f. Alle aufgeführten Autoren widmen sich auch in angemessener Weise dem sozialkritischen Aspekt, der sich in manch einem Karneval manifestiert. Vgl. auch Bob Scribner, Reformation, Carnival and the World Turned Upside-down, in: Social History 3, 1978, 303–329; Norbert Schindler, Karneval, Kirche und die verkehrte Welt, in: Jb. für Volkskunde NF.7, 1984, 9–57. Für einige spezifische Beispiele vgl. Anthony H.Galt, Carnival on the Island of Pantellaria, in: Ethnology 12, 1973, 325–339; David Gilmore, Carnival in Fuenmayor: Class Conflict and Social Cohesion in an Andalusian Town, in: Journal of Anthropological Research 32, 1975, 331–349; Laura Barletta, Il carnevale del 1764 a Napoli. Protesta e integrazione in uno spazio urbano. Neapel 1981. 72

Dies ist besonders von Norbeck, African Rituals (wie Anm.67), demonstriert worden, mit verhaltener

Kritik an Gluckman. Vgl. Versnel, Destruction (wie Anm.28).

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fällt auch Religion in diese Kategorie. Inzwischen haben allerdings viele von ihnen, darunter auch überzeugte Funktionalisten, diese extreme Perspektive hinter sich gelassen: „the functional explanation of religion does not explain religion, rather it explains a dimension of society“. So haben Melford E. Spiro und auch Peter L. Berger 73 unsere Aufmerksamkeit wieder auf „substantive versus functional definitions of religion“ gelenkt. Berger und Luckmann zufolge sind „all societies […] constructions in the face of chaos. The constant possibility of anomic terror is actualized whenever legitimations obscuring the precariousness are threatened or collapse“ 74, und in solchen Situationen – oder in regelmäßig zeremoniell geschaffenen Krisensituationen – wird eine „tiefgreifende Legitimation“ benötigt, die auf eine mythische Realität außerhalb der unseren verweist, „die andere Realität“, die jenseits der Grenzen von Geschichte und Raum liegt, eine ewige Wahrheit, die vor der Zeit existiert hat und dennoch hinter unserer Zeit und hinter unserer Realität existiert, und sich ab und zu in „Ausnahmeperioden“ mit der unseren vermischt. 75 Legt man diese Perspektive zugrunde, bietet das Verkehrungsritual eine weitere, tiefergehende Bedeutung. Obwohl Verkehrungsrituale nicht mit einem bestimmten Festtyp oder einem bestimmten Abschnitt des sozialen Lebens verbunden sind, tauchen sie, wie ich oben hervorgehoben habe, hauptsächlich in den Zeremonien auf, die einen kritischen Abschnitt des landwirtschaftlichen oder sozialen Jahreslaufes begleiten. Diese Momente der Stagnation und Auflösung, in denen Chaos droht, darunter Initiations- und Totenfeste sowie besonders auch die Öffnung, Verkostung und Feilbietung der ersten geernteten Feldfrüchte oder Weine, können entweder regelmäßig wiederkehrende Einschnitte im Fluss der Zeit sein oder, wie der Antritt eines neuen Herrschers, zufällig auftreten. Ein oder mehrere solche Anlässe können sich zu Neujahrsfestivitäten 76 entwickeln, in denen sich mehrere Elemente zu ei-

73 Peter L. Berger, Some Second Thoughts on Substantive versus Functional Definitions of Religion, in: Journal for the Scientific Study of Religion 13, 1974, 125–133. 74 Peter L. Berger/Thomas Luckmann, The Social Construction of Reality. New York 1971, 121. 75 Diese Konzepte werden verwendet von Peter Weidkuhn, The Quest for Legitimate Rebellion. Towards a Structuralist Theory of Rituals of Reversal, in: Religion 7, 1977, 167–188, der sich von Eliade inspirieren ließ. 76 Zum Phänomen mehrerer Neujahrsfeiern innerhalb eines Jahres: Martin Persson Nilsson, Primitive Time-Reckoning. Lund 1920, 270. Besonders interessant ist die Anhäufung von „Einschnittszeremonien“ als Folge der Vermischung zweier unterschiedlicher kultureller Gruppen innerhalb einer Gemeinschaft. Seit dem Mittelalter hatten die Christen ihre eigenen Freizügigkeitsriten, die mit der Fastenzeit in Verbindung standen und zur Entwicklung des Karnevals beitrugen. Unter anderem waren die Juden ein natürli-

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nem festen Muster verbinden – Eliade und Lanternari 77 haben eine vollständige Taxonomie dieses „grande festa“ erarbeitet. Die Zäsur zwischen Alt und Neu wird im Wesentlichen als Störung des sozialen Lebens erlebt und dramatisiert, als Vakuum, das gefüllt wird durch die temporäre Rückkehr der ursprünglichen, mythischen Ära vor der Schöpfung der Welt oder der Geburt der gegenwärtigen Kultur. 78 Dies äußert sich immer in Figurationen von Chaos, Dissoziation, aufgelöster Ordnung, einer verkehrten Welt, zum Beispiel einer temporären Auflösung von Königtum und Gesetz. Es kommt zu Orgien, sowohl im Sinne von Trinkgelagen, aber auch im sexuellen Sinne; es gibt rituelle Kämpfe zwischen zwei Gruppen, und die Toten kehren wieder und werden willkommen geheißen. Rites de séparation (um die von van Gennep geprägte Terminologie zu verwenden) können dem Ganzen vorausgehen: Reinigung, Austreibung eines pharmakos (Sündenbock), blutige Opfer, Löschung des Feuers; diesen folgen rites d’aggrégation: das Tragen neuer Kleidung, die Entzündung des Feuers, die Erneuerung des Königtums, die „Festlegung des Schicksals“ des kommenden Jahres. Das rituell durchgespielte Chaos wird oft mythisch im ursprünglichen Chaos verankert, so zum Beispiel in Form eines Kampfes zwischen Schöpfergott und Chaosmonster oder von Sintflut und anschließender Neuerschaffung, wie

ches Ziel für Lächerlichkeit und Nachäffung, ebenso wie es im Mittelmeerraum ein verbreiteter Brauch war, Juden in der Woche vor Ostern mit Steinen zu bewerfen. Jedoch wissen wir aus den Archiven der Inquisition von 1571, dass christliche Bäcker in Venedig den Juden im Ghetto am Ende des Pesachfestes Brot brachten. Obwohl sie herzlich willkommen geheißen wurden, wurden die Bäcker gleichzeitig von einem hauptsächlich aus Kindern bestehenden Mob mit Geschossen aller Art bombardiert. Vgl. Cecil Roth, History of the Jews of Venice. Philadelphia 1935; ders., The Eastertide Stoning of the Jews and its Liturgical Echoes, in: Jewish Quarterly Review 35, 1945, 361–371; Brian Pullan, The Jews of Europe and the Inquisition of Venice, 1550–1670. Oxford 1983. Interessanterweise haben wir Belege für ähnliche Rituale am selben Tag in islamischen Kulturen, die mit dem jüdischen Fest Mimuna in Verbindung stehen: Den Juden wurde erlaubt, auf dem Gebiet ihrer islamischen Nachbarn Picknick zu machen; ihnen wurden dazu sogar Brot und Zweige gegeben. Während dieses Festes, das als Erneuerungsfeier betrachtet wurde, fanden Verkehrungsriten statt. Männliche Juden zogen Frauenkleider oder muslimische Tracht an, was normalerweise streng verboten war. Vgl. Harvey E. Goldberg, The Mimuna and the Minority Status of Moroccan Jews, in: Ethnology 17, 1978, 75–87. 77

Mircea Eliade, Le mythe de l’éternel retour. Paris 1949, 83ff.; ders., Traité de l’histoire des religions.

2.Aufl. Paris 1964, 326–343; Lanternari, La grande festa (wie Anm.59). Gluckman, Rituals of Rebellion (wie Anm.69), beschreibt ein besonders interessantes Swazi-Ritual, während dessen der König anlässlich eines Festes für die ersten Früchte des Jahres vorübergehend entthront und entehrt wird. 78

Der Tod eines Königs kann dieselben Assoziationen und Bildlichkeiten hervorrufen. Versnel, Destruc-

tion (wie Anm.28), und besonders für Rom: John Scheid, Contraria facere. Renversements et déplacements dans les rites funéraires, in: Annali dell’Istituto universitario orientale di Napoli (archeol) 6, 1984, 117–139.

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wir es im babylonischen Neujahrsmythos und -ritual vorfinden. Dieses ursprüngliche Chaos manifestiert sich als temporäre Auflösung aller Grenzlinien, als Rückkehr in einen undefinierten Zustand ohne Grenzen und moralische Standards, die sich in der Schaffung von Monstern und Monstrositäten äußert; eine Periode völliger Freiheit, die sich entsprechend in völliger Gesetzlosigkeit und totalem Überfluss manifestiert. 79 Dies verleiht dem Fest eine Atmosphäre absoluter Ambivalenz: Trauer, Unruhe, Hoffnungslosigkeit wegen der Katastrophe der gestörten Ordnung stehen neben Begeisterung, Freude und Hoffnung über die Befreiung von den einschnürenden Fesseln der Ordnung und der angenehmen Erfahrung temporären Überflusses. Somit ist die verkehrte Welt der Krisengesellschaft ein Abbild des kosmischen Chaos mythischer Zeiten, sofern wir die Frage nach deren Rangfolge außer Acht lassen. Diese beiden modernen Interpretationen des Verkehrungsfestes – die funktionalistische mit Sicherheitsventileffekt und Bestätigung des Status quo, und die kosmisch-religiöse Herangehensweise in Bezug auf die „tiefgreifende Legitimität“ – tragen zu einer Interpretation der intrinsischen Widersprüche des saturnalischen Komplexes aus Mythos und Ritual bei.

V. Ausblick In einer niederländischen anthropologischen Zeitschrift 80 analysierte der indische Anthropologe Rajendra Pradhan einen außergewöhnlichen niederländischen Charakterzug: das obsessive Interesse am Wetter. In seinem Versuch, die Ursachen für dieses Phänomen zu finden, unterscheidet er drei Erklärungstypen: a) den physi-

79 Zum Chaos als „l’absolue liberté“ und der Mehrdeutigkeit der resultierenden Gefühle vgl. Eliade, Traité de l’histoire (wie Anm.77), 76 und passim. Interessanterweise verleiht Pausanias 8, 2 seiner Überzeugung Ausdruck, dass die Geschichte von Lycaons Wolfsverwandlung stimme, weil in dieser mythischen Zeit die Götter noch unter Menschen wandelten (eine typische utopische Vorstellung), und dass somit Menschen zu Göttern oder Tieren (oder Schlimmerem) werden konnten. Chaos, im Sinn der Aufhebung von Normalität, kann auch durch die Verkehrung von weniger essentiellen Konventionen hervorgerufen werden: Kleider können verkehrt herum getragen, verbotene Speisen verzehrt, Objekte mit Begriffen benannt werden, die ihre umgekehrte Bedeutung tragen etc. Besonders interessant: Barbara G. Myerhoff, Return to Wirikuta. Ritual Reversal and Symbolic Continuity in the Peyote Hunt of the Huichol Indians, in: Babcock (Ed.), The Reversible World (wie Anm.62), 225–240. 80 Rajendra Pradhan, Mooi weer, meneer. Why do the Dutch Speak so often about the Weather?, in: Etnofoor 2, 1989, 3–14. Mein Dank gilt Marlies Jansen, die mich darauf aufmerksam gemacht hat.

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schen oder klimatischen, b) den sozialen und c) den kulturellen. Die ersten beiden Erklärungen wurden von den von ihm befragten Niederländern selbst vorgeschlagen und lauten wie folgt: a) Wir sprechen über das Wetter, weil wir, im Gegensatz zu den Einwohnern privilegierterer Gebiete, Wetter haben, und zudem noch sehr schlechtes, ewig wechselhaftes und unberechenbares. b) Wir sprechen über das Wetter, weil es ein neutrales Gesprächsthema ist und es sich somit als Gesprächseinstieg mit einem Fremden oder als Lückenfüller eignet, da es unhöflich ist, in der Gesellschaft anderer Menschen schweigsam zu bleiben. 81 Ein Gespräch über das Wetter beinhaltet somit ein krasses Paradoxon: Es fungiert als Instrument zum Erhalt sozialen Zusammenhaltes, indem es nicht wirklich etwas sagt. Diese zwei Erklärungen gehören zur „native exegesis“, um Victor Turners Terminus zu verwenden, und aus genau diesem Grund sind sie in der Anthropologie immer verdächtig. Entsprechend hält Pradhan diese Erklärung für unzulänglich oder zumindest für nicht vollständig, ohne sie jedoch völlig zu verwerfen. Die echte Lösung, argumentiert er, liegt in der dritten Option, der kulturellen Erklärung, die von einer „kollektiven Mentalität“ ausgeht: c) Die Niederländer sind genau deshalb vom Wetter besessen, weil es sich nicht in ihr Weltverständnis einfügen lässt, das auf Ordnung, Regelmäßigkeit und Kontrolle basiert. Pradhan stellt fest, dass die Niederländer es vorziehen, wenn alles regelmäßig, geordnet und kontrolliert ist: Um das zu bestätigen, muss man sich nur die Polder mit ihren geraden Kanälen und ordentlichen Gärten und die rigide Zeiteinteilung im sozialen Leben mit ihren festen Essens-, Besuchs-, Arbeits- und Freizeiten anschauen. Das ewig wechselhafte und unberechenbare Wetter in den Niederlanden ist somit eine Metapher für alles Irreguläre, Ungeordnete und Unkontrollierbare. Deshalb wird es diskutiert, und zwar nicht nur gelegentlich mit Fremden, sondern auch und in noch viel „ritualisierterer“ Form im Privaten mit der Familie, bis dass der Tod uns scheide. Ich erwähne diese Diskussion hier, weil sie hervorragend eine der impliziten (und

81

Geoffrey Leech, Semantics. The Study of Meaning. Harmondsworth 1981, nennt dies die „phatic functi-

on of language“ und definiert sie als „the function of keeping communication lines open, and keeping social relationships in good repair […] it is not what one says, but the fact that one says it at all, that matters“ (41). Zur phatischen Sprache und ihren vertrackten Konsequenzen für die Interpretation von geschriebenem oder gesprochenem Quellenmaterial vgl. Versnel, Inconsistencies I (wie Anm.61), Introduction.

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manchmal expliziten) Grundannahmen veranschaulicht, die meiner bisherigen Argumentation zugrunde gelegen haben, dass es nämlich, wenn es um die Erklärung kultureller Codes und Konventionen geht – in unserem Fall um Mythen und Rituale – in höchstem Maße naiv, unvorteilhaft, unvernünftig und daher unzulässig ist, einen einzelnen Anhaltspunkt monolithisch zu akzeptieren und alle anderen als untergeordnet, kurzsichtig oder einfach dumm abzulehnen oder zu ignorieren. Wenn wir die drei Optionen auf die konzeptuellen Kategorien der bekannten wissenschaftlichen Herangehensweisen an die Interpretation von Religion übertragen, dann wird jeder sofort die drei wichtigsten Schemata erkennen, die mit den Namen Tylor, Durkheim und Geertz (um nur einige Beispiele zu nennen) verbunden sind. Dies sind 1) die substantivistischen oder essentialistischen, 2) die funktionalistischen und 3) die semantischen, symbolischen – möglicherweise auch strukturalistischen und semiotischen – und kulturellen Herangehensweisen an Religion; oder um es noch einmal anders zu formulieren: Religion als Kommunikation mit dem göttlichen Subjekt, als sozialer Zusammenhalt und als Orientierung. 82 „Belief in spiritual beings“ war Tylors „rudimentary [or] minimum definition of religion“. 83 Der Glaube an diese Wesen machte es notwendig, mit ihnen zu kommunizieren. Tylor und seine Zeitgenossen, darunter besonders James George Frazer, betrachteten diese Kommunikation in erster Linie aus der Perspektive des Wunsches nach der unmittelbaren Erfüllung bestimmter Ziele: Fruchtbarkeit der menschlichen Einwohnerschaft, der Rinder und der Felder, und Schutz vor Krankheit und Feinden. Man könnte das Ganze unter dem Schlagwort „Religion als Kommunikati-

82 Es ist natürlich unnötig, sich mit dieser Klassifizierung aufzuhalten, die sich in jeder historischen Untersuchung zur Anthropologie findet, besonders in anthropologischen Herangehensweisen an Religion. Für einen modernen, anregenden und kritischen Überblick verweise ich auf Jan Platvoet, The Definers Defined: Traditions in the Definition of Religion, in: Method and Theory in the Study of Religion 2, 1990, 180– 212, dessen Untersuchungen ich viel zu verdanken habe. 83 Für eine lange Liste von Sympathisanten bis 1966 vgl. Platvoet, The Definers Defined (wie Anm.82), Anm.29. Für eine kurze Diskussion: Burkhard Gladigow, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Bd. 1. Stuttgart 1988, 26–40. Natürlich ist die phänomenologische Schule die auffälligste Erbin, mit Rudolf Otto und, in anderer Ausprägung, Mircea Eliade als wichtigsten Vertretern. Vgl. beispielsweise Ottos Angriff auf die funktionalistische Herangehensweise (Das Heilige. Breslau 1917, 8): „Wer das nicht kann [i.e. sich besinnen] oder wer solche Momente überhaupt nicht hat, ist gebeten nicht weiter zu lesen. Denn wer sich zwar auf seine Pubertätsgefühle, Verdauungsstockungen oder auch Sozial-Gefühle besinnen kann, auf eigentümlich religiöse Gefühle aber nicht, mit dem ist es schwierig Religionspsychologie zu treiben.“

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on“ zusammenfassen 84, wenn auch Kommunikation hier im strengen Sinne als Verständigung mit ansprechbaren Objekten von Religion verstanden wird und im Kontext von meist klar definierten, spezifischen Zielen stattfindet. Obwohl diese Herangehensweise von Vertretern späterer Schulen für ihren „Individualismus“, „Intellektualismus“, „Utilitarismus“, „Evolutionismus“ und ihr Lechzen nach „Ursprüngen“ heftig gegeißelt wurde 85, ist in der neueren Forschung – sogar in der Soziologie 86 – eine Neubewertung der Tylor’schen Position im Gange. 87 „Religion as social cohesion“ ist die bekannte Durkheim’sche Definition. Durkheims Formulierung „la réalité qu’exprime la pensée religieuse est la société“ 88 zeigt einen radikalen Bruch mit der Vorstellung, dass Religion außer ihrer sozialen Funktion als Kohäsionsinstrument noch andere Ziele habe. Auch dieser These haben später andere Spezialisten 89 gnadenlos ihre Fehler aufgezeigt: Es handele sich um eine (absichtlich) reduktionistische 90 Definition, die versucht, Religion vollständig mit Bezug auf eine ihrer nicht-religiösen sozialen Funktionen zu erklären. Es ist richti-

84

So auch Platvoet, The Definers Defined (wie Anm.82).

85

Im Hintergrund steht manchmal die Furcht vor westlich ethnozentristischer Projektion im Tylor-

schen Modell. Im Allgemeinen sind diese Warnungen heilsam. Ich verweise hier zum Beispiel auf Hans G. Kippenberg, Diskursive Religionswissenschaft, in: Gladigow/Kippenberg (Hrsg.), Neue Ansätze in der Religionswissenschaft (wie Anm.64), 9–28; ders., Einführung, in: Hans G. Kippenberg/Brigitte Luchesi (Hrsg.), Magie. Die sozialwissenschaftliche Kontroverse über das Verstehen fremden Denkens. Frankfurt am Main 1978. Allerdings stößt man hier und da auch auf Spuren von Paranoia, besonders in der geradezu panischen Angst vor der Verwendung des Begriffs „Magie“. Ich habe dies diskutiert in Hendrik S.Versnel, Some Reflections on the Relationship Magic–Religion, in: Numen 38, 1991, 177–197. Meiner Meinung nach ist es illusionär zu glauben, dass die substantivistische Herangehensweise ethnozentrischer sei als beispielsweise die semiotische. 86

Eine der beeindruckendsten: Berger, Some Second Thoughts (wie Anm.73), 125–133. Er tadelt die

Funktionalisten für ihr Interesse an „quasiscientific legitimation of the avoidance of transcendence“. 87

Vgl. zum Beispiel Robin Horton, A Definition of Religion and Its Uses, in: Journal of the Royal Anthro-

pological Institute 90, 1960, 201–220; ders., Neo-Tylorianism: Sound Sense or Sinister Prejudice?, in: Man 3, 1968, 625–634; Gillian Ross, Neo-Tylorianism: A Reassessment, in: Man 6, 1971, 105–116. 88

Émile Durkheim, Les formes élémentaires de la vie religieuse. Paris 1912, 616.

89

Hans H. Penner, The Poverty of Functionalism, in: History of Religions 11, 1971, 91–97; ders., Impasse

and Resolution: A Critique of the Study of Religion. New York 1989; Herbert Burhenn, Functionalism and the Explanation of Religion, in: Journal for the Scientific Study of Religion 19, 1980, 350–360. Vgl. Melford E. Spiro, Religion: Problems of Definition and Explanation, in: Michael Banton (Ed.), Anthropological Approaches to the Study of Religion. London 1966, 85–126, gegen die Interpretation von Religion im Bezug auf die nichtreligiösen Aspekte von Religion. 90

Zu Typen der Reduktion vgl. E.H.Pyle, Reduction and the „Religious“ Explanation of Religion, in: Re-

ligion 9, 1979, 197–214.

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gerweise eingewandt worden, dass dies einerseits nicht auf jede Form religiösen Verhaltens zutrifft 91, andererseits aber auch auf viele nicht-religiöse Riten passt. Zudem droht hierbei ständig Gefahr in Form einer petitio principii bei der Analyse und Interpretation (religiöser) Motive; am auffälligsten ist dies in der häufigen Verwechslung von Intention und Wirkung. 92 Jedoch werden nur wenige leugnen, dass die Untersuchung der sozialen Funktionen von Religion ein wichtiger und sehr produktiver Zweig der Religionswissenschaft gewesen ist und auch heute noch ist. 93 „Religion as orientation“ 94 „[which serves] to create a world of meaning in the context of which human life can be significantly lived“ 95 – so lautet die dritte Kerndefinition. Der Unterschied zur vorigen liegt darin, dass nicht primär nach dem Nutzen der Religion für die Gesellschaft gefragt wird, sondern danach, was Religion über die Gesellschaft (und über ihre Kultur) aussagt. Der Fokus liegt auf „Bedeutung“ 96 und nicht auf „Wirkung“; auf „Sinnfindung“ statt auf „Kohäsionsbildung“. Die Ähn91 Besonders irritierend ist die Tatsache, dass der Funktionalismus die revolutionären und manchmal antisozialen Aspekte von Religion nicht erklären kann und daran scheitert, soziale Veränderungen einzubeziehen: Ian C. Jarvie, The Revolution in Anthropology. London 1964. 92 Robert K. Merton, Social Theory and Social Structure, part 1, separat veröffentlicht als: On Theoretical Sociology. New York/London 1967, ist noch immer eine lebendige Einführung in die Vor- und Nachteile der funktionalistischen Herangehensweise. Vgl. auch George W. Stocking Jr. (Ed.), Functionalism Historicized. Madison 1984, bes. 106–130. 93 Vgl. beispielsweise Robert N. McCauley/E. Thomas Lawson, Functionalism Reconsidered, in: History of Religions 23, 1984, 372–381. 94 Am bekanntesten in der Form, in der es von Clifford Geertz, Religion as a Cultural System, in: Banton (Ed.), Anthropological Approaches (wie Anm.89), 1–46 (wiederabgedruckt in: Clifford Geertz, The Interpretation of Cultures. Selected Essays. New York 1973, 87–125), eingeführt wurde, dessen Definition von Religion ich hier zitiere: „a system of symbols which acts to establish powerful, pervasive, and long-lasting moods and motivations in men by formulating conceptions of a general order of existence and clothing these conceptions with such an aura of factuality that the moods and motivations seem uniquely realistic“ (90). Geertz hatte Vorläufer, unter denen ich Mary Douglas hervorheben möchte. Robert A. Segal, The MythRitualist Theory of Religion, in: Journal for the Scientific Study of Religion 19, 1980, 173–185, hier 181, vergleicht sie mit Hooke, Durkheim, Malinowski und Radcliffe-Brown (wobei Hans H.Penner, Myth and Ritual: A Wasteland or a Forest of Symbols?, in: History & Theory, Beih. 8, 1968, 46–57, hier 51, noch Kluckhohn, Spiro und Leach hinzufügt) und lobt sie für ihren Fokus auf der Bedeutung und nicht der Wirkung von Ritualen. 95 Thomas F. O’Dea, The Sociology of Religion. Englewood Cliffs 1966, 5. 96 Geertz akzeptiert die Herausforderung von Susanne Langer, Philosophical Sketches. Baltimore 1962, dass nämlich „the concept of meaning, in all its varieties, is the dominant philosophical concept of our time“, dass „sign, symbol, denotation, signification, communication […] are our [intellectual] stock in trade“. Und mit Max Weber glaubt er prinzipiell daran, dass der Mensch „an animal suspended in webs of significance he himself has spun“ sei; Geertz, The Interpretation of Cultures (wie Anm.94), 5.

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lichkeit zur Durkheim’schen Definition besteht darin, dass beide letztlich „funktionalistisch“ sind: Beide sehen Religion im Dienst der Gesellschaft, entweder als Instrument zum Erhalt ihrer Kohärenz oder als Mittel zur Konstruktion einer Kosmologie, „nach der man leben kann“. 97 Eine weitere Ähnlichkeit ist, dass diese symbolisch-kosmologische Funktion nicht auf Religion beschränkt ist. Somit ist es zulässig, die beiden letzteren Optionen als instrumentale und symbolische funktionalistische 98 Definition zusammenzufassen und diese funktionalistische Kategorie mit der Tylor’schen substantivistisch-kommunikativen Funktion zu kontrastieren. Im Bereich von Mythos und Ritual bietet William Richard Comstock 99 eine gute Erläuterung dessen, was ich meine, da er unter anderem zwischen den folgenden Aspekten der Funktionen von Mythos und Ritual unterscheidet: Sie bieten 1) „Unterstützung bei der symbolischen Artikulation der sozialen Muster und Verhältnisse“, sie dienen 2) „der Validierung der Gesellschaft“, sie beinhalten 3) eine „performatorische Funktion“, haben 4) eine „heuristische, lehrreiche“ Funktion und tragen 5) dazu bei, „soziale und persönliche Zwickmühlen zu lösen“. Ein Blick genügt, um festzustellen, dass in diesem Fall symbolische und instrumentelle Funktionen, wenn diese überhaupt unterscheidbar sind, nicht getrennt werden können, da die eine oft von der anderen abhängig ist. Wenn es darum geht, „substantielle“ und „funktionale“ Herangehensweisen an Religion zu unterscheiden, kann es verlockend erscheinen, den Terminus „Paradigma“ zu verwenden, und ich habe dieser Verlockung manchmal nachgegeben. Wenn

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Geertz, The Interpretation of Cultures (wie Anm.94), 118, sagt selbst in der Diskussion der Wirkungen

eines bestimmten Rituals: „By inducing a set of moods and motivations – an ethos – and defining an image of cosmic order – a world view – by means of a single set of symbols, the performance makes the model for and model of aspects of religious belief mere transpositions of one another.“ 98

Instrumentelle und expressive Symbole werden unterschieden von Mary Douglas, Purity and Danger.

Harmondsworth 1970, 3. Vgl. besonders das Zitat von Geertz in der vorhergehenden Anmerkung. In diesem Sinne schon William J. Goode, Religion among the Primitives. New York 1951, 223: „Religion expresses the unity of society, but it also helps to create that unity.“ Vgl. William G. Doty, Mythography: The Study of Myths and Rituals. Alabama 1986, 44ff. Es findet sich auch ein höheres gemeinsames Vielfaches der zwei „Funktionen“ „etwas tun für“ („doing for“) und „sagen über“ („saying about“) in einer Aussage von Peter L. Berger, Some Second Thoughts (wie Anm.72), 127, getätigt in seiner Diskussion der „Funktionalisten“ Robert Bellah, Clifford Geertz und Thomas Luckmann: „In all three cases, religion is defined in terms of what it does – be it for society, for the individual, or for both. And this, of course, is what the word ‚functional‘ essentially means.“ Vgl. auch Platvoet, The Definers Defined (wie Anm.82), 202 Anm.33. 99

William Richard Comstock, The Study of Religion and Primitive Religions. New York 1972, 38–40. Für

eine Bewertung vgl. Doty, Mythographie (wie Anm.98), 48f.

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ich dies tue, nehme ich konsequent Bezug auf die Unterscheidung zwischen dem „substantiellen“ Paradigma des 19.Jahrhunderts, das auf individuelle und oft auch utilitaristische Motive fokussiert ist, und dem „soziokulturellen“ Paradigma des 20.Jahrhunderts, das kollektive Mentalität und ebensolches Verhalten betont. Ich erwähne den Terminus „Paradigma“ besonders deswegen, weil die gegenwärtige Diskussion um dieses Konzept dabei hilfreich sein mag, eines der Hauptanliegen dieses Artikels zu verdeutlichen, nämlich die Abneigung dagegen, einen einzelnen Hinweis zur einzigartigen, monolithischen und exklusiven Definition aufzublasen und dabei alle anderen vollkommen zurückzuweisen. Thomas S. Kuhn hat beklagt, dass sein Konzept des „Paradigmas“ in der modernen Diskussion in grober Weise missbraucht und missverstanden wird. 100 Obwohl diese Reaktion verständlich ist, scheint sie doch etwas naiv. Der Erfinder eines Konzepts sollte entzückt sein, dass seine Erfindung so weithin akzeptiert worden ist, dass sie in die Alltagssprache Einzug gehalten hat und somit auch eine von dieser benötigte „breite Definition“ erhält. 101 Dasselbe ist mit Begriffen wie „Tabu“ geschehen, auch wenn die Polynesier durch ihren Beitrag zu unserer Sprache nur wenig Ruhm gewonnen haben. Schließlich haben wir alle eine ungefähre Vorstellung davon, was es bedeutet, wenn wir den Terminus „Strukturalismus“ in den Mund nehmen, wie vage auch immer das Konzept sein mag, und wenige brauchen (oder ertragen) Fx(a) : Fy(b) ≃ Fx(b) : Fa–1(y), um ihr Verständnis dessen, was wirklich gemeint war, zu verbessern. Kuhns Unzufriedenheit hatte jedoch noch einen weiteren Grund. Während man-

100 Thomas S.Kuhn, in: Scientific American, May 1991, 14f. 101 Damit soll nicht gesagt werden, dass die Verwendung des Begriffs „Paradigma“ ganz den Vorlieben des jeweiligen Sprechers unterliegen soll. Martin Bernals Träumerei von „a post-Kuhnian age, [in which] paradigm shifts or flip-flops of a fundamental sort are now seen as possible“ (Arethusa, special issue 1989, 17; auf Seite 55 wird er sogar gepriesen, dass er in Black Athena selbst einige Paradigmen vorgeschlagen habe!) grenzt in mehr als nur einer Weise an eine falsche Verwendung dieses Konzepts. Vgl. Marilyn B. Skinner, In Response to Thomas Fleming, „Des dames du temps jadis“, in: The Classical Journal 83, 1987, 69–74, die sich auf die 1973er und 1978er Ausgaben von Arethusa bezieht, durch die sich die vereinzelt arbeitenden Forscher/innen in den gender studies plötzlich eines gemeinsamen Zieles bewusst wurden. Für sie ist das „clearly an example of a Kuhnian ‚paradigm shift‘ in operation“ (71). Dies mag sein, aber man sollte sich vor einer inflationären Verwendung vorsehen. Für eine ähnliche Kritik von Ginzburgs Verwendung des Paradigma-Konzepts vgl. P.H.H.Vries, De historicus als spoorzoeker, in: Theoretische Geschiedenis 15, 1988, 163–183, überarbeitet in ders., Vertellers op drift. Een verhandeling over de nieuwe verhalende geschiedenis. Hilversum 1990, 86–107, bes. 98. Für eine ausgewogene Darstellung von Paradigmen und alter Geschichte vgl. Josiah Ober, Models and Paradigms in Ancient History, in: The Ancient History Bulletin 3, 1989, 134–137.

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che Anwendungen seines Paradigma-Konzepts in den Naturwissenschaften durchaus kritikwürdig sind 102, hat sich das Konzept bei der Analyse von Entwicklungen in den Sozialwissenschaften als hilfreich erwiesen. Allerdings ist darauf hingewiesen worden, dass Paradigmen sich in diesem Bereich nicht unbedingt gegenseitig ausschließen. Diese Toleranz hat der Anthropologie die Bezeichnung „polyparadigmatisch“ 103 eingebracht, und genau diese hatte ich mit der regnerischen Einführung in diese theoretische Diskussion im Sinn. Wenn man durchnässt (und zu spät) zur Arbeit kommt, wird man über den Regen reden, aber nicht notwendigerweise, um Kommunikation zu pflegen. Was man wirklich tut (oder tun möchte), ist, das furchtbare Klima zu verfluchen. Dieses wunderbar substantielle Verhalten kann sogar zur direkten Kommunikation mit dem Regen führen, zum Beispiel indem man ihn den ganzen Weg zum Büro in einem monologue intérieur verflucht. Man kann diese klimatologischen Bemerkungen aber auch in einem Durkheim’schen, funktionalistischen Sinne verwenden, nämlich um eine Lücke zu füllen. Das passiert dauernd und unterliegt den gleichen Beschränkungen wie die Durkheim’sche Interpretation von Religion, da eine Diskussion über Politik oder die Gemüsepreise in der gleichen Weise fungieren können. Schließlich können diese Bemerkungen genauso gut als Ausdruck einer kollektiven Mentalität verstanden werden, im Sinne einer kulturellen oder kosmologischen Interpretation, obgleich dies normalerweise schwieriger festzustellen sein wird. Ähnlich verhält es sich, wenn, wie im griechischen Thesmophorienfest, jemand Schweine in einen Abgrund scheucht und nach einiger Zeit deren verfaulte Überreste auf einen Altar legt, um sie anschließend über die Felder zu verteilen: Dieser Jemand agiert im Wesentlichen in einer substantiellen Art und Weise. Diesen Aspekt zu ignorieren, zu vernachlässigen oder herunterzuspielen, wozu sich manche glühenden Verfechter der sozialen oder kulturellen Interpretation von Religion manchmal hin-

102 Nach „The Structure of Scientific Revolutions“ (Chicago 1970) überarbeitete Kuhn seine Ideen in „The Essential Tension“ (Chicago 1977). Für Kritik vgl. zum Beispiel Imre Lakatos, Falsification and the Methodology of Scientific Research Programmes, in: ders./Alan Musgrave (Eds.), Criticism and the Growth of Knowledge. Cambridge 1970, 91–196; Paul Feyerabend, Against Method. London 1975. 103 Für eine Anwendung des Paradigma-Konzepts auf die Sozialtheorie vgl. Barry Barnes, T.S. Kuhn and Social Science. London 1982. Zur „Toleranz“: Signe Seiler, Wissenschaftstheorie in der Ethnologie. Zur Kritik und Weiterführung der Theorie von Thomas S.Kuhn anhand ethnographischen Materials. Berlin 1980; Peter Kloos, Culturele antropologie als polyparadigmatische wetenschap, in: Arie de Ruijter (Ed.), Beginselen in botsing. Utrecht 1981.

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reißen lassen, muss zwangsläufig in fruchtbar verkümmerten Interpretationen enden. Allerdings bedeutet das weder, dass verschiedene Konnotationen eines Rituals nicht ernsthafter Aufmerksamkeit bedürften, noch, dass die „Fruchtbarkeits“-Interpretation absoluten Vorrang haben sollte. 104 In Wahrheit ist es noch viel weniger empfehlenswert, gegen Durkheim’sche und Turner’sche Erklärungen zur offenen Schlacht zu blasen und stur an der alten Regel von Regenmagie gleich Fruchtbarkeit festzuhalten. 105 Ebenso wenig ist es nötig, instrumentell-funktionalistische Interpretationen vollständig durch semiotische/symbolische auszutauschen. Meiner Meinung nach sollten die drei Erklärungstypen in jedem Einzelfall ausprobiert werden, da sie unterschiedliche Aussagen über Religion, Mythos und Ritual tätigen. Jede einzelne von ihnen kann sich als hilfreich erweisen und Elemente erklären, die den anderen verschlossen bleiben. 106 Dies waren die theoretischen Überlegungen, an denen ich mich auf dem Weg hin zu einer Interpretation der Saturnalien orientiert habe, und ich hoffe, dass sie für zukünftige Untersuchungen anderer Verkehrungsphänomene von Nutzen sein können.

Übersetzt von Henry Heitmann-Gordon.

104 In der Tat ist ein Großteil der Kritik an der monolithischen Fruchtbarkeitsinterpretation vollkommen berechtigt und überzeugend. Vgl. zum Beispiel Hubert Cancik, Fruchtbarkeit, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Bd. 2. Stuttgart 1990, 447–450. 105 Noel Robertson ist hier vielleicht der charakteristischste – und militanteste – Vertreter. Vgl. zum Beispiel: The Riddle of the Arrhephoria at Athens, in: Harvard Studies in Classical Philology 87, 1983, 241–288, bes. 280: „the concept of ‚initiation rites‘ in ancient Greece needs to be contested on the whole broad front where its proponents are entrenched“. Wozu dieser Kreuzzug? 106 Meiner Meinung nach ist dies exemplarisch demonstriert worden von Anthony F.C. Wallace, Religion: An Anthropological View. New York 1966, 168ff., obgleich er sich auf biologische, psychologische und soziologische Funktionen beschränkt. In anderer Weise kommt dies zum Ausdruck in Gerhard J. Baudy, Exkommunikation und Reintegration. Zur Genese und Kulturfunktion frühgriechischer Einstellungen zum Tod. Frankfurt am Main 1980, 574 Anm.137: „Wer […] neue Komponenten zu isolieren versteht, sollte das bereits Entdeckte nicht beiseiteschieben, damit die eigene Leistung in umso hellerem Licht erstrahle, sondern sich um eine Integration bemühen.“ In einem anderen Aufsatz gibt derselbe Autor auch einige wertvolle Hinweise zu den immer zentralen landwirtschaftlichen Aspekten der frühen Religionen: ders., Das alexandrinische Erntefest: Ein Rekonstruktionsversuch, in: Mitteilungen für Anthropologie und Religionsgeschichte 6, 1991, 5–110, bes. 6 mit Anm.1.

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Eine verkehrte Ordnung als Ordnungsfundament? Analytische Reflexionen zur mittelalterlichen Gründonnerstagsfußwaschung als Inversionsritual von Jörg Sonntag

In ihrem 1889 erschienenen Roman „Die Waffen nieder“ lässt Bertha von Suttner ihre Hauptfigur Gräfin Martha Althaus und deren Schwester Rosa einem Schauspiel am Wiener Hof beiwohnen, das sich in den sechziger Jahren des 19.Jahrhunderts ereignet haben soll. Es handelt sich um die in Demut geleistete österliche Fußwaschung des Kaiserpaares an je zwölf Greisen. Die Autorin schreibt von einer exakt festgelegten, der „Kastenabsonderung und -bevorrechtung“ entsprechenden Sitzordnung, von Eintrittskarten für Wohlbetuchte wie überhaupt von einer kaum „irgendwie religiös-weihvoll[en]“ Gesamtstimmung innerhalb dieser „von mittelalterlichem Geist durchwehten Zeremonie“. Die älteste der zwölf Frauen sei 88, der älteste der Männer 85 Jahre alt gewesen. Auf Geheiß des Oberzeremonienmeisters hätten der Kaiser und die Kaiserin zunächst mit Speisen gefüllte, zuvor durch „Truchsessen und Edelknaben“ herbeigebrachte Schüsseln vor den hochbetagten Gästen deponiert. „Kaum aber waren die Gerichte aufgestellt, so wurde die Tafel wieder abgeräumt, eine Arbeit, welche – gleichfalls als Zeichen der Demut – die Erzherzöge verrichteten. Hiernach ward die Tafel hinausgetragen, die eigentliche Effektszene des Stückes […] – die Fußwaschung – begann. Freilich nur eine Scheinwaschung, wie das Mahl nur ein Scheinmahl gewesen. Auf dem Boden kniend, streifte der Kaiser mit einem Tuch über die Füße der Greise hinweg, nachdem der ihm assistierende Priester aus einer Kanne scheinbar Wasser darüber gegossen, und so rutschte er vom ersten bis zum zwölften Pfründner, während die Kaiserin […] in derselben demütigen Stellung […] die gleiche Prozedur an den zwölf Pfründnerinnen vornahm. Die begleitende Musik oder, wenn man will, den erklärenden Chor, bildete das gleichzeitig vom Hofburgpfarrer vorgelesene Evangelium des Tages […]. Die ganze Zeremonie war schnell zu Ende, und gleich darauf leerte sich der Saal. Zuerst zog sich der Hof zurück; hierauf entfernten sich alle anderen Mitbeteiligten […].“ 1

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oldenbourg DOI 10.1515/9783486727678.102

Eingeführt hatte dieses Ritual bereits Kaiser Karl V. (†1558) am spanischen und österreichischen Hof. Schon bald fand eine gründonnerstägliche Fußwaschung in Frankreich statt. 2 Auch bei den bayerischen Wittelsbachern existierte sie seit dem späten 16.Jahrhundert – ins Leben gerufen unter Herzog Wilhelm V. dem Frommen († 1626). In dieser Münchner Zeremonie erhielten allerdings nur die zwölf ältesten Männer des Landes die Füße begossen und getrocknet. Der Thronfolger assistierte durch Handreichungen. Gekleidet waren die Greise in schwarze „Apostelkleider“; auf dem Kopf trugen sie violette „Apostelhüte“. Zum Abschluss hängte der Regent jedem der Zwölf einen Lederbeutel mit 40 Mark um. Zusätzlich erhielt jeder Greis eine Leibrente auf Lebenszeit. 3

I. Vorbemerkungen und theoretische Annäherungen Aus der Sicht des modernen Betrachters gibt ein solches von verkörperten Demutsbekundungen des Ranghöchsten geprägtes Ritual des Gründonnerstags Anlass, analytisch über die Fußwaschung als Inversionsritual nachzudenken. Dass nämlich diese Rituale zumindest konzeptionell die soziale Rangstellung des Herrschers auf Zeit verkehren sollten, um die Tugend der Demut zu visualisieren, belegen die Zeitzeugen jener Hofzeremonie vielfach. Doch sind Demut und Verkehrung wirklich die alleinigen Parameter, an denen sich die Symbolizität und die Wirkkraft dieses Rituals bemessen? Wenn nicht, und das ist anzunehmen, welche weiteren Bezeichnungshorizonte umgeben dieses Ritual, und wie stark sind sie gegenüber den Momenten der Verkehrung? Kann man die

1 Bertha von Suttner, Die Waffen nieder. Eine Lebensgeschichte. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Sigrid und Helmut Bock. Berlin 1990, 84f. 2 Ein zeitgenössischer Bericht zur Wiener Fußwaschung findet sich auch in den Innsbrucker Nachrichten (23. Jahrgang, Nr.88) vom 18.4.1876. Dazu ebenso Klaus Beitl, Die österliche Fußwaschung am Kaiserhofe zu Wien. Öffentlicher Brauch zwischen Hofzeremoniell und Armenfürsorge, in: ders. (Hrsg.), Volkskunde. Fakten und Analysen. Festgabe für Leopold Schmidt zum 60. Geburtstag. Wien 1972, 275–286, oder Ilsebill Barta Friedl/Peter Parenzan (Hrsg.), Ehemalige Hofsilber- und Tafelkammer. Sammelkatalog 1. Wien/ Weimar/Köln 1996, 177. 3 Zwar seien auch zwölf junge Mädchen bei der Zeremonie anwesend gewesen, doch hätten sie ihre Füße nicht gewaschen erhalten, stattdessen aber jeweils 15 Mark aus der Oberstkämmererkasse. Zu diesem Ritual vgl. Johann Hohbauer, Die österliche Fußwaschung am Münchner Hof, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für den Landkreis Ebersberg 6, 2003, 88–93.

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Fußwaschung als Gesamtphänomen folglich überhaupt als Verkehrungsritual benennen oder nur in bestimmten historischen Kontexten mehr oder weniger starke Ansätze hierfür identifizieren? Indes, als institutionelles Phänomen besitzt die Fußwaschung ihren Ursprung in der mittelalterlichen vita religiosa – ein Analysefeld, auf dem bislang über Verkehrungsrituale nicht konsequent nachgedacht wurde. Deshalb soll es im Fokus des vorliegenden Beitrages stehen. In jedem Fall scheinen Rangverkehrungen im Kloster von vornherein in einem besonderen Spannungsfeld zu stehen. Rituelle Verkehrungen dürften tatsächlich „nur in einer Gesellschaft mit funktionierender Ritualordnung von Relevanz“ 4 sein, denn allein „wo die ordnungsstiftende, rangfestigende Verbindlichkeit von Ritualen garantiert ist, erhalten ‚verkehrte Rituale‘ jenes Maß an Wahrnehmbarkeit, das ihr subversives Potential zur Geltung kommen lässt“. 5 Dass nun diese Ritualordnung gerade im Kloster als tendenziell „totaler Institution“ 6 extrem stark ausgeprägt war, dass das Klosterleben im Idealfall sogar ausnahmslos aus festgezurrten Ritualen bestand, ist gemeinhin bekannt. Genau hieraus aber ergibt sich das angedeutete spannende, (vorerst) heuristische Paradox: Entsprechend der allumfassenden symbolischen Ordnung des Klosters müsste nämlich nicht nur die „normale“, alltägliche Norm, sondern eben auch die nicht minder exakt geregelte „unnormale“ rituelle Verkehrung dieser Norm als zu befolgende, richtige Norm betrachtet worden sein, obwohl Letztere doch zugleich einen wahrnehmbaren Normbruch der sonstigen Ordnung beinhaltete. Dieses Paradox löste sich auf, wenn die aus heutiger Sicht rituelle Inversion im zeitgenössischen Kontext gar nicht als Verkehrung verstanden worden wäre. Von einem Inversionsritual könnte man dann allerdings kaum noch sprechen. In diesem Kontext erscheint es zugleich problematisch, dass die Forschung weit entfernt ist, den Begriff „Inversion“ (ähnlich wie den des „Rituals“) interdisziplinär einheitlich fassen und bestimmen zu können. Der vorliegende Beitrag erhebt in seiner heuristischen Definition des Inversionsrituals auch darum keinen generellen Anspruch: Im 4 Christel Meier-Staubach, Verkehrte Rituale. Umkehrung, Parodie, Satire und Kritik, in: Barbara StollbergRilinger/Matthias Puhle u.a. (Hrsg.), Spektakel der Macht. Rituale im Alten Europa 800–1800. Katalog. Darmstadt 2008, 181. 5 Ebd. 6 Zum Begriff der „totalen Institution“ vgl. Erving Goffman, Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt am Main 1973, 13–123.

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Folgenden begreift er „Inversion“ nicht als „Umkehrung“, also komplette Spiegelung einer Ordnung, sondern als eine „Verkehrung“, die – etwa über parodistische Züge, über Paradigmen eines sogenannten Schandrituals, über kultisch-religiös motivierte Verzerrungen oder über eine Vermengung dieser und anderer Typen – als irgendwie falsch wahrgenommen werden kann. Ausgehend von diesem methodischen Gerüst, begibt sich diese Studie zu den mittelalterlichen Wurzeln der Fußwaschung und ihrer Bezeichnungsvarianz. Vor dem Hintergrund aktueller Ritualdiskurse gleicht sie die Objektebene – gemeint sind die Ausführung und Deutung durch die Zeitgenossen – mit der Beobachterebene des modernen Betrachters ab und versucht, das Phänomen „Verkehrung“ theoretisch stärker zu durchleuchten, den Gebrauch dieser Terminologie im Bereich der vormodernen vita religiosa zu diskutieren und der Behebung der genannten Desiderate näherzukommen. Das Analysefenster öffnet sich dabei mit der biblischen Szenerie, der die Fußwaschung entlehnt ist. Zentral beinhaltet es das angesprochene monastische Brauchtum des Mittelalters, dargelegt am Beispiel der prägenden benediktinischen Reformgruppen des 11. bis 13.Jahrhunderts, und es schließt sich – quasi zurückführend zum Ausgangspunkt – mit einigen Reflexionen zur höfischen Welt der frühen Neuzeit.

II. Die Fußwaschung im biblischen Kontext Fußwaschungen verfügen über eine lange Tradition, die sich als scheinbar soziale Konstante durch die Geschichte mehrerer Kulturen zieht. 7 So begegnen sie bereits im Alten Testament: In Gen 18,1–5 etwa lässt Abraham drei Engel bewirten und ihnen die Füße waschen. Nach 1 Sam 25,41 warf sich die zur Frau König Davids erkorene Abigail zu den Füßen seiner Boten nieder, um ihnen (Knechten) zu dienen und die Füße zu waschen. Von zentraler Bedeutung für die Stellung und das Verstehen der Fußwaschung im christlichen Abendland aber ist die Perikope Joh 13,1–20. Hier

7 Fußwaschungen finden sich nicht nur im jüdischen Brauchtum, sondern auch im hellenistisch-römischen. Das bekannteste Beispiel einer solchen Waschung aus Gründen der Gastfreundschaft liefert wohl die Odyssee Homers. Hier (in Od. 19,308–319) weist Penelope, die Gemahlin des heimkehrenden (verkleideten) Odysseus, ihre Diener an, dem Fremdling die Füße zu waschen.

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wird berichtet, Jesus sei vom Abendmahl aufgestanden, er habe sein Obergewand abgelegt, sich umgürtet mit einem Leinentuch und Wasser in eine Schüssel gegossen, um seinen Jüngern der Reihe nach die Füße zu waschen und zu trocknen. Petrus aber habe sich entschieden geweigert, von seinem (hohen) Herrn solch einen niederen Dienst wie die Fußwaschung erwiesen zu bekommen. Jesus jedoch habe ihm versichert, ohne seine Tat hätte Petrus keinerlei Anteil an ihm. Auf die Bitte des Petrus hin, ihm auch gleich Hände und Haupt zu waschen, habe Jesus entgegnet, wer schon gewaschen („lotus“) sei, der bedürfe nur noch der Fußwaschung. Schließlich habe Jesus versichert, zu Recht würden ihn die Jünger mit „Herr und Meister“ („dominus et magister“) ansprechen. Nach seinem Vorbild sollten sie sich forthin auch untereinander die Füße waschen. Bereits ein erster analytischer Blick auf diese Episode verdeutlicht die symbolische Mehrdimensionalität jenes Waschungsakts. Innerhalb des jüdischen Brauchtums konnten allein Sklaven nichtjüdischen Blutes für die Fußwaschung, die als Ausweis der Gastfreundschaft galt, verpflichtet werden. 8 Die anfängliche Weigerung des Petrus, diesen Dienst von seinem Herrn zu erhalten, ist also verständlich. Tatsächlich verkehrte Jesus in Joh 13 die hierarchische Ordnung durch seine Tat dergestalt, dass er als Ranghöchster – erkennbar – die Dienste des Rangniedersten tat. Die komplette Ordnung freilich kehrte auch Jesus nicht um, wusch er doch nicht Sklaven die Füße. Die Verkehrung geschah quasi allein von oben nach unten. Zwar verdemütigte sich der Ranghöchste auf bestimmte Zeit zum Rangniedrigsten, Rangniedere jedoch erfuhren im Gegenzug keinerlei Rangerhöhung. Der Menschensohn, so heißt es in Mk 10,45, sei nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele. Genau diese in der christlichen Theologie zentrale Botschaft ist Wurzel des biblischen Inversionsmoments. Nach Lk 7,38 und 44–48 war es eine Sünderin, in der Parallelstelle Joh 12,3–8 Maria von Betanien, welche die Füße Jesu im Haus eines Pharisäers mit ihren Tränen benetzte, sie mit ihrem Haar trocknete, küsste und schließlich mit wohlriechendem 8 Vgl. etwa Hermann Leberecht Strack/Paul Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch. Bd.2. München 1924, 552; John Christopher Thomas, Footwashing in John 13 and the Johannine Community. (Journal for the Study of the New Testament, Suppl. Series, Vol.61.) Sheffield 1991, 12; Christoph Niemand, Die Fußwaschung des Johannesevangeliums. Untersuchungen zu ihrer Entstehung und Überlieferung im Urchristentum. (Studia Anselmiana, Bd. 114.) Rom 1993, 177–191; oder René Kieffer, L’arrive-fonds juif du lavement des pieds, in: Revue Biblique 105, 1998, 546–555.

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Öl salbte. 9 Aufgrund dieser Liebestat seien ihr von Christus alle ihre Sünden vergeben worden. Die sündige Rangniedere begab sich zu den Füßen des Ranghöchsten. Eine Rangumkehrung oder auch nur eine Tendenz zur Inversion hat es nach diesem Bericht also eindeutig nicht gegeben. Vielmehr sind es jene demütige Reue und Liebe der Sünderin zu Christus, die durch die Handlungsabfolgen in Lk 7 visualisiert werden. Allein, diese Perikope sollte einen weiteren Baustein der späteren christlich-abendländischen Fußwaschungstradition bilden. Schon in der patristischen Literatur wurde die Bedeutung der Fußwaschung, insbesondere in Joh 13, intensiv diskutiert. Bei Cyprian (†258) beispielsweise diente diese Passage dazu, Würdenträgern nahezubringen, demütig und bescheiden zu sein. 10 Die Lehre der vier Schriftsinne aufgreifend, erkannte Hieronymus namentlich im literalen Sinn die Aufforderung zur Demut zwar ebenso an, im mystischen aber pointierte er die Fußwaschung (ähnlich wie Origenes [†254]) als Instrumentarium, die Apostel in ihrer Seele zu reinigen und so für die Verkündigung des Evangeliums auszurüsten. 11 Im 4.Jahrhundert informierte Ambrosius von Mailand (†397) über die gnadenbringende Wirksamkeit der Fußwaschung, für die er Begrifflichkeiten wie „mysterium“ oder „sanctificatio“ nutzte. Weil die Schlange im Paradies ihr Gift über die Füße Adams gespien hätte, habe Christus die Fußwaschung initiiert, um durch ihn und seine Nachfolger (hier den Bischof) dieses Gift, verstanden als seit Adam überlieferte Sünde, abzuwaschen. 12 Wegweisend formulierte Augustinus († 430) einen inneren Zusammenhang aus Lavation und Passion Christi. Entsprechend dem Geschehen in Joh 13, symbolisierten demnach das Aufstehen vom Essen während des Abendmahls am „Gründonnerstag“ und das Ablegen der Kleider die Erniedrigung des Menschensohnes in der Menschwerdung, das Umgürten des Linnens bezeichne die Annahme der Knechtgestalt (und später die Umhüllung des Leichnams Jesu), das Eingießen des Wassers in das Becken meine die Ausgießung seines Blutes auf die Erde zur Reinigung vom durch die Sünde angefallenen

9 Die anderen Parallelstellen zur Salbung in Betanien (Mk 14,3–9 und Mt 26,3–13) sprechen von einer Salbung nicht der Füße, sondern des Haares. 10 Vgl. dazu Georg Richter, Die Fußwaschung im Johannesevangelium. Geschichte ihrer Deutung. (Biblische Untersuchungen, Bd. 1.) Regensburg 1967, 28. 11 Ebd.30f. 12 Gemeint ist explizit nicht die Erbsünde. Vgl. dazu ausführlich Thomas Schäfer, Die Fußwaschung im monastischen Brauchtum und in der lateinischen Liturgie. Beuron 1956, 3–6, und Richter, Fußwaschung (wie Anm.10), 29f.

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Schmutz, dem Abtrocknen der Füße entspreche die Sendung der Apostel zur Verkündigung, das Wiederanlegen der Kleider stehe für die Wiederauferstehung von den Toten. 13 Diese Deutung durchzog das gesamte Mittelalter, und nicht selten fand sie sich wörtlich in den Ausführungen der späteren Exegeten. 14 Weil überhaupt die Reinigung durch Wasser eine Teilhabe an Christus generieren konnte, sahen die meisten Autoren durchaus eine Verbindung zur Taufe gegeben. Vor allem seit dem 11.Jahrhundert wusste man, dass das Waschen der Füße der Reinigung von den Affekten, die Handreinigung der Säuberung von unguten Werken („operum“) und die Waschung des Hauptes derjenigen der Sinne („sensuum“) entsprächen. 15 Frühscholastische Explikationen wiederum sind vermehrt durch eine erneute Akzentuierung des historischen Verständnisses des biblischen Motivs gekennzeichnet. Ein prominenter Zeuge dieser exegetischen Richtung, Bruno von Segni († 1123), Abt von Monte Cassino, wertete die Aufforderung Jesu, es seinem Beispiel nachzutun, als Mahnung zur Liebe und Demut. 16 Honorius Augustodunensis († um 1130), die Pariser Lehrer Petrus Comestor († 1179/80) und Johannes Belethus († um 1195), Ernald von Bonnevaux († nach 1156), der Augustinerchorherr Petrus 13

Siehe die Ausführungen des Augustinus, besonders zu Joh 13,1–15 in: Augustinus, In Joannis Evange-

lium tractatus CXXIV. Ed. Radbodus Willems. (Corpus Christianorum. Series Latina, Vol.36.) Turnhout 1954, 463–475, hier die Traktate 55–58. 14

Zu den Deutungen z.B. des Beda Venerabilis († 735), Alkuin († 804), Smaragdus († 825), Haimo von Au-

xerre († 855) oder des Hrabanus Maurus († 856) – sie alle verstanden „lotus“ als „getauft“ und die Fußwaschung als Reinigung von den unvermeidlichen täglichen Verfehlungen, den Affekten – vgl. Richter, Fußwaschung (wie Anm.10), 64–71, und Jörg Sonntag, Klosterleben im Spiegel des Zeichenhaften. Symbolisches Denken und Handeln hochmittelalterlicher Mönche zwischen Dauer und Wandel, Regel und Gewohnheit. (Vita regularis. Abhandlungen, Bd. 35.) Berlin 2008, 336f. 15

Dazu u.a. Anselmus Cantuariensis [pseud.], Meditatio super Miserere, 9, in: Jacques-Paul Migne, Patro-

logia Latinae. Vol.158. Paris 1863, 826 B–C. Siehe auch Pier Franco Beatrice, La Lavanda dei piedi. Contributo alla storia delle antiche liturgie cristiane. (Bibliotheca „Ephemerides Liturgicae“, Vol.28.) Rom 1983, 147. 16

Bruno Astensis, Commentaria in Ioannem, II, 13, in: Jacques-Paul Migne, Patrologia Latinae. Vol.165.

Paris 1854, 557 B–C: „Quamvis enim hoc ad litteram custodire, plenum sit charitate et humilitate, majus tamen aliquid significare videtur, sicut et caetera, quae Salvator noster similiter egit. Et hoc est fortasse, quod Apostolus ait. Haec est forsitan illa lex, quam nos adimplere praecepit, quando dixit: ‚Alter alterius onera portate, et sic adimplebitis legem Christi‘ (Gal. 6,2), id est mandatum Christi. Unde et Jacobus apostolus ait: ‚Confitemini alterutrum peccata vestra, et orate pro invicem, ut salvemini‘ (Jak. 5,16). Dum enim pro se invicem sancti orant, alter alterius pedes lavat.“ Dazu auch Jörg Sonntag, Die Samstagsfußwaschung bei Cluniazensern und Zisterziensern. Gehorsam und symbolische Demut zwischen monastischer Konkurrenz, Regel und Gewohnheit, in: Sébastien Barret/Gert Melville (Hrsg.), Obœdientia. Formen und Grenzen von Macht und Unterordnung im mittelalterlichen Religiosentum. (Vita regularis, Abhandlungen, Bd. 27.) Münster 2005, 260.

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Cantor († 1197) oder Papst Innozenz III. († 1216) interpretierten gar die gesamte Fußwaschung vorrangig als Beispiel der Demut, durch welche die Reinigung von den täglichen Affektsünden erfolge. 17

III. Die Fußwaschung im mittelalterlichen Brauchtum Schon seit dem 5.Jahrhundert wies die Fußwaschung eine eminent wichtige Stellung im interaktiven Gefüge von Kirche und Kloster auf. 18 Dies mag bereits darum kaum verwundern, weil die in der Fußwaschung verkörperten Kategorien von Reinheit, Demut, Liebe und Gehorsam institutionelle Leitprinzipien in beiden Lebensbereichen darstellten. Vor allem aber die Mönche deuteten ihr Dasein explizit als Aufenthalt in der Arche Noah, im Paradies, als Leben der Engel, unschuldigen Kinder, Soldaten Christi oder der Apostel. Wegen des Befehls Christi an seine Jünger, es seinem Beispiel nachzutun, prägten schon in der Benediktregel eingeforderte Fußwaschungen an Mitbrüdern und Gästen den Alltag des vormodernen Klosterlebens wie kaum ein anderes Ritual. 19 Der mittelalterliche Name der Fußwaschung war Programm: „mandatum“ – Auftrag. 20 Die brüderliche Fußwaschung, das „mandatum fratrum“, fand in traditionell benediktinischen Kreisen 21 an einem jeden Samstagabend statt: Die drei Küchendie-

17 Vgl. Richter, Fußwaschung (wie Anm.10), 86–89. 18 Sehr früh findet sich u.a. schon eine Tauffußwaschung. Als „Eigenritus der Liturgie“ hatte sich diese Tauffußwaschung auf der iberischen Halbinsel, im Norden Italiens, in Gallien, auf den britischen Inseln und partiell in Nordafrika herausgebildet. Während das Ritual aber in Spanien im 4.Jahrhundert verboten worden und mit der Einführung der römischen Liturgie auch im Frankenreich des späten 8.Jahrhunderts weitgehend verschwunden war, hielt es sich in Schottland und Wales doch bis ins frühe 12. und in Mailand gar bis ins 14.Jahrhundert. Dazu Schäfer, Fußwaschung (wie Anm.12), 16. 19 Vgl. am Beispiel der Gastfußwaschung die Regula Benedicti, LIII, 13f., in: Benedicti Regula. Hrsg. von Rudolf Hanslik. (CSEL, Bd. 75.) Wien 1960, 137: „[…] pedes hospitibus omnibus tam abbas quam cuncta congregatio lavet; quibus lotis hunc versum dicant: ‚Suscepimus, Deus, misericordiam tuam in medio templi tui‘.“ – „Der Abt und der gesamte Konvent mögen allen Gästen die Füße waschen. Nach erfolgter Waschung sollen sie den Vers sprechen: ‚Wir haben, oh Gott, Deine Barmherzigkeit aufgenommen, inmitten Deines Tempels‘.“ 20 Die moderne englische Bezeichnung des Gründonnerstags, „Maundy-Thursday“, leitet sich von genau diesem monastischen „mandatum“ ab. 21 Die Terminologie „traditionell-benediktinisch“ folgt der gängigen Forschungspraxis und wird (bezogen auf das 11. und 12.Jahrhundert) zur Unterscheidung von den Zisterziensern gebraucht.

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ner („hebdomadarii“) der aktuellen und die drei der künftigen Woche 22 wuschen und trockneten dem gesamten Konvent (vom Ältesten bis zum Kind) im Kapitelsaal unter Antiphonengesang die Füße. 23 Die tägliche Gastfußwaschung – das „mandatum hospitum“ – wurde im Benediktinertum seit dem 10.Jahrhundert zunehmend auf drei fremde Arme beschränkt, die an jedem Abend von den drei aktuellen Wochendienern im Gästehaus die Fußwaschung erhielten, verbunden mit der Gabe von Wein und Brot. 24 Die anderen Gemeinschaften des 11. bis 13.Jahrhunderts übernahmen früher oder später diese Verfahrensweise in mehr oder weniger starkem Umfang. 25 Die Zisterzienser etwa tadelten die traditionellen Mönchskreise für die Beschränkung auf drei Arme, schlossen sich aber nur wenige Jahrzehnte später vielfach selbst dieser Praxis an. Am Gründonnerstag freilich galten in spiritueller wie logistischer Hinsicht gesonderte Bedingungen und Maßregeln – eingebettet, verwirklicht und präsentiert in einem weit feierlicheren rituellen Rahmen, denn die Fußwaschung und nicht zuletzt jenes sichtbare biblische Verkehrungsmoment der Ordnung waren dereinst an genau diesem Tag per Befehl in Geltung gesetzt worden. Im Folgenden seien die dortigen Handlungssequenzen anhand symptomatischer Beispiele aus den benediktinischen Reformgruppen überblicksartig vorgestellt. 26 In den für die Strukturierung des zönobitischen Lebens wegweisenden Aachener Beschlüssen im frühen 9.Jahrhundert wurde für den Gründonnerstag zunächst al-

22

Der Küchendienst wechselte am Morgen des Sonntags, so dass die Fußwaschungen am Samstagabend

zu den letzten Amtshandlungen der aktuellen Wochendiener zählten. 23

Ausführlich Sonntag, Klosterleben (wie Anm.14), 338–352, und ders., Samstagsfußwaschung (wie

Anm.16), 263–265. Die Zisterzienser hielten das „mandatum fratrum“ im Kreuzgang ab. 24

Sonntag, Klosterleben (wie Anm.14), 580–600.

25

Die Gründe für die Limitation der Teilnehmerzahl sind vielgestaltig. Innerhalb des monastischen „ca-

ritas“-Verständnisses des 10.Jahrhunderts erkannte man Christus u.a. immer stärker in den Armen und Kranken. Vor dem Hintergrund des steigenden Pilgerwesens verband sich mit der Beschränkung zugleich eine „optimierte Planbarkeit des Zeit- und Personenpensums zugunsten des gottesdienstlichen Geschehens“. Dazu Sonntag, Klosterleben (wie Anm.14), 582. 26

Die Ausführungen stützen sich dabei auf die Gewohnheiten („consuetudines“) der Klöster und Ver-

bände. Trotz ihrer vielfach umstrittenen Geltungskraft sind diese Texte die besten Quellen, die dem Historiker zur Erforschung des alltäglichen Geschehens in den Konventen des hohen Mittelalters zur Verfügung stehen. Weil sich gerade die Fußwaschungsrituale in sämtlichen „consuetudines“ übergreifend und vergleichbar präsentieren und weil sich die dortigen zeremoniellen Abläufe darüber hinaus in zahlreichen Chroniken und Viten bestätigt finden, darf ihnen (bezogen auf den Analysegegenstand) ein hohes Maß an Glaubhaftigkeit zugebilligt werden.

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lein der Abt zur Verrichtung der Fußwaschung an allen seinen Mönchen verpflichtet, begleitet von einem Fußkuss und der Vergabe eines Getränks. 27 Seitdem ergibt sich für den Ablauf des monastischen „mandatum“ eine festgefügte Aktionsschablone: Jeder Benediktinermönch reinigte sich zunächst die Füße selbst im Kreuzgang; die Zisterzienser verboten diese „praelavatio“. Anschließend begab man sich ins Refektorium zur „coena“. Von den dortigen Tischen erhoben sich die Mönche (wie Christus in Joh 13), um unter Bußgesängen in den Kapitelsaal zur Waschung und Trocknung der Füße durch den Abt zu ziehen. In einigen Klosterverbänden wuschen die Wochendiener im Kapitel ein zweites Mal die Füße jedes Bruders vor. 28 Der Abt folgte ihnen im eigentlichen Ritual nach. In zahlreichen Großkonventen agierte der Klosterhirte bald zusätzlich gemeinsam mit dem Prior oder weiteren Helfern. 29 Begleitet wurde die Fußwaschung durch den Abt von mönchischen Gesängen, die größtenteils der Perikope um Joh 13 entlehnt oder zumindest thematisch auf selbige bezogen waren. Über exponierte Relevanz verfügten die Antiphonen „Dominus Iesus“ 30, „Deus misereatur“ (Ps 66), zudem der Hymnus „Tellus ac aethra iubilent in magni coena Principis“ 31 des Flavius (†591), Bischofs von Chalon-sur-Saône, und das „Postquam surrexit dominus“ 32. Mit anderen Worten: Man rezitierte das biblische

27 Acta praeliminaria, 13, in: Kassius Hallinger (Ed.), Initia Consuetudinis Benedictinae. Consuetudines saeculi octavi et noni. (Corpus consuetudinum monasticarum, Vol.1.) Siegburg 1963, 435. Vgl. die Decreta Authentica, 21, in: ebd.463; die Collectio capitularis, 17, in: ebd.520; die Collectio capitularis Benedicti levitae monastica, 23, in: ebd.548, oder die Collectio sancti Martialis Lemovicensis, 20, in: ebd.558. 28 Bei diesem Akt allerdings wurden die Füße nicht getrocknet. So blieb die Vorwaschung zumindest symbolisch getrennt von der eigentlichen Waschung und Trocknung durch den Abt.Vgl. z.B. die Consuetudines Udalrici, I, 12, in: Jacques-Paul Migne, Patrologia Latinae. Vol.149. Paris 1863, 660 B, und den Ordo Cluniacensis per Bernardum (= Cons. Bern.), II, 16, in: Vetus disciplina monastica. Ed. Marquard Herrgott. Paris 1726, 313. 29 Siehe dazu u.a. die Entwicklung in Cluny in der Tabelle 1. 30 A: Dominus Iesus; B: postquam cenavit cum discipulis suis, lavit pedes eorum, et ait illis; C: scitis quid fecerim vobis; A: ego dominus et magister?; C: exemplum dedi vobis; B: ut et vos ita faciatis. 31 Die „Monumenta veteris liturgiae Alemannicae“ bezeugen einen Wiener Codex aus dem 10. Jahrhundert, der diese Antiphon mit 18 Verszeilen vorstellt. Sie beinhalten das Lob Christi, der ausgerüstet mit Wasser und einem Leinentuch den Tod besiegt habe. Die Rede ist von der Demut des Herrn der Engel und der Sanftmut des Lammes, das sich vom Wolf (Judas) hatte küssen lassen. Siehe Martin Gerbert (Ed.), Monumenta veteris liturgiae Alemannicae. Vol.2. Hildesheim 1976 [1777], 84f. Siehe dazu auch Dionys Stiefenhofer, Die liturgische Fußwaschung am Gründonnerstag in der abendländischen Kirche, in: Heinrich M. Gietl/Georg Pfeilschifter (Hrsg.), Festgabe Alois Knöpfler zur Vollendung des 70. Lebensjahres. Freiburg im Breisgau 1917, 332, oder Sonntag, Klosterleben (wie Anm.14), 356. 32 „Postquam surrexit Dominus a caena, misit aquam in pelvem, caepit lavare pedes discipulorum, hoc

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Drehbuch. Man erklärte die Situation und transferierte das antike Geschehen hinein in das aktuelle. Immanenz und Transzendenz verschmolzen. 33 Wie im Rahmen des verwandten „mandatum fratrum“ setzte die Wahl des Ortes ein markantes Zeichen: Außerhalb der Kirche gebe es in der gesamten Klosteranlage keinen heiligeren Ort („locus sanctior“), mit Ausnahme derjenigen Plätze, an denen Altäre stünden. Nirgends sonst sei man näher bei Gott. Hier nämlich verliere der Teufel sogar solche, die er bereits gewonnen zu haben glaubte. Hier bringe der Gehorsam Gott zurück, was menschliche Nachlässigkeit und Missachtung von ihm genommen hätten. 34 Diese Ausführungen des Zisterziensers Helinand von Froidmont († 1229) stehen symptomatisch für die tradierte Wertschätzung des Kapitelsaals als Ort der Reinigung, an dem die Mönche im sogenannten morgendlichen Schuldkapitel („capitulum culparum“) täglich ihre sichtbaren Vergehen gegen die klösterliche Ordnung öffentlich zu bekunden hatten. In der im mittelalterlichen Religiosentum viel rezipierten Schrift „De claustro animae“ des Regularkanonikers Hugo von Fouilloy (de Folieto) (†1172) symbolisierte darum der Kapitelsaal das innere Herz des Mönchs, das Refektorium die heilige Meditation und das Gästehaus das mönchische Mitleid. 35 Im Kapitelsaal erwartete man, auch in der Fußwaschung, den von Osten einziehenden „Christus verus Oriens“ als Sonne der Gerechtigkeit („sol salutis“). 36 Alles in allem verliehen die Ostung des Raums, die Versammlung der Brüder, die morgendliche Verlesung des Evangeliums und der Regel sowie die rituell hergestellte Abbildung und Präfiguration des Jüngsten Gerichts in jenem Schuldkapitel diesem Ort eine heilige Aura. Diese wiederum wirkte direkt auf das Fußwaschungsritual zurück. Die Symbolizitäten aus Raum und Ritual koinzidierten.

exemplum reliquid suis.“ Hier aus dem Gründonnerstagszeremoniell der Consuetudines Cluniacensium antiquiorum redactiones principales (= Cons. Cluniacenses ant.), III, 40, in: Kassius Hallinger (Ed.), Consuetudines cluniacensium antiquiores cum redactionibus derivatis. (Corpus consuetudinum monasticarum, Vol.7, 2.) Siegburg 1983, 80 (B1). 33 Siehe z.B. die Cons. Bern. (wie Anm.28), II, 16, 314; die Cons. Udalrici (wie Anm.28), I, 12, 660 D; die Redactio Vallumbrosana, IV, 50, in: Hallinger (Ed.), Consuetudines cluniacensium antiquiores (wie Anm.32), 350; oder die zisterziensischen Ecclesiastica Officia, XXI, 28–32, in: Hermann M. Herzog/ Johannes Müller (Hrsg.), Ecclesiastica Officia. Gebräuchebuch der Zisterzienser aus dem 12.Jahrhundert. Langwaden 2003, 106–108. 34 Helinandus Frigidimontis, Epistola ad Galterum, in: Jacques-Paul Migne, Patrologia Latinae. Vol.212. Paris 1865, 758 B. 35 Vgl. Hugo de Folieto, De claustro animae, III, 5f. und 8, in: Jacques-Paul Migne, Patrologia Latinae. Vol.176. Paris 1854, 1091 D–1092 A, 1093 C–1094 C und 1097 D–1101 C. 36 Dazu und mit Nachweisen Sonntag, Klosterleben (wie Anm.14), 68.

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Mit der Verlesung von Joh 14,31 – „Aber die Welt soll erkennen, dass ich den Vater liebe und tue, wie mir der Vater geboten hat. Erhebt Euch, und lasst uns von hier weggehen“ – endete das Fußwaschungsritual im Kapitelsaal, und der Konvent zog mit Kerzen und Weihrauch zurück ins Refektorium zur Ausgabe der sogenannten „caritas“ – des Umtrunks brüderlicher Liebe. 37 Die folgende Tabelle 1 38 stellt die aus den einschlägigen „consuetudines“ erhobenen empirischen Befunde noch einmal überblicksartig zusammen. Eine erste Zwischenbilanz macht deutlich, dass die Quantität und die Qualität der sichtbaren Verkehrung differierten. Allen Verbänden gemeinsam blieb zwar die Intention des gründonnerstäglichen Rituals, die Honorius Augustodunensis in seiner „Gemma animae“ erneut auf den Punkt brachte: Was an diesem Tag nach dem Beispiel des Herrn vollzogen werde, das täten die Brüder zur Reinigung, um sich vom Schmutz der Sünden zu säubern, um sich zu vergegenwärtigen, dass sie selbst Glieder („membra“) Christi seien und ein Leben in brüderlicher Liebe führen sollten. 39 Der fruttuarische Abt allerdings agierte allein (und ohne Vorwaschung durch die Wochendiener) 40, der cluniazensische mit 15 Helfern 41, der lothringisch geprägte Hirte küsste zweimal, sogar unter dem Fuß 42, der zisterziensische wiederum

37 Vgl. z.B. den Liber Tramitis aevi Odilonis abbatis, I, VII, 55.7. Ed. Peter Dinter. (Corpus consuetudinum monasticarum, Vol.10.) Siegburg 1980, 77f.; die Cons. Bern. (wie Anm.28), II, 16, 314f.; die Redactio Vallumbrosana (wie Anm.33), IV, 51f., 350 f.; die Redactio Wirzeburgensis, 43, in: Hallinger (Ed.), Consuetudines cluniacensium antiquiores (wie Anm.32), 301; die Consuetudines Fructuarienses II, III, 165, in: Luchesius G. Spätling/Peter Dinter (Eds.), Consuetudines Fructuarienses – Sanblasianae. Vol. 1. (Corpus consuetudinum monasticarum, Vol.12, 1.) Siegburg 1985, 168f. (LO); oder die Redactio Fuldensis-Trevirensis, VIII, 45, in: Kassius Hallinger (Ed.), Consuetudinum saeculi X/XI/XII monumenta non-Cluniacensia. (Corpus consuetudinum monasticarum, Vol.7, 3.) Siegburg 1984, 298f. Zur „caritas“ im Allgemeinen siehe auch Sonntag, Klosterleben (wie Anm.14), 327–334, oder jüngst ders., On the Way to Heaven. Rituals of Caritas in High Medieval Monasteries, in: Gert Melville (Ed.), Aspects of Charity. Concern for One’s Neighbour in Medieval vita religiosa. (Vita regularis, Abhandlungen, Bd. 45.) Berlin 2011, 29–53. 38 Die Befunde beruhen auf den folgenden Quellen: Cons. Cluniacenses ant. (wie Anm.32), III, 40, 80–86; Liber Tramitis (wie Anm.37), I, VII, 55.7, 77f.; Cons. Bern. (wie Anm.28), II, 16, 313f.; Decreta Lanfranci monachis Cantuariensibus, 35–38. Ed. David Knowles. (Corpus consuetudinum monasticarum, Vol.3.) Siegburg 1967, 32–34; Consuetudines Beccenses, VI, 87–89. Ed. Marie Pascal Dickson. (Corpus consuetudinum monasticarum, Vol.4.) Siegburg 1967, 46–48; Cons. Fructuarienses II (wie Anm.37), III, 165, 167–169; Statuta seu ordo monasterii sancti Benigni Divionensis (saec. XIII/XIV) (= Cons. Divionenses III), 65, in: Louis Chomton (Ed.), Histoire de l’église de Saint-Bénigne de Dijon. Dijon 1900, 406f.; die Redactio s. Emmerammi (Consuetudines Einsidlenes), XVIII, 54f., in: Hallinger (Ed.), Consuetudinum saeculi X/XI/XII (wie Anm.37), 227–229; Redactio Fuldensis-Trevirensis (wie Anm.37), VIII, 44–45, 297–299; Ecclesiastica Officia (wie Anm.33), XXI, 28–47, 106–110. Vgl. Sonntag, Klosterleben (wie Anm.14), 362f.

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praelavatio

praelavatio

praelavatio

Cluny Bernhard spätes 11. Jh.

— zwei Brüder wuschen dem Abt und dem Prior die Füße im Kapitel, die Diener vor der Tür

— zwei Brüder wuschen dem Abt die Füße an seinem Platz, die Diener vor der Tür

Lesung von Joh 13 f. im Kapitel Abt und Prior reichten Wein mit einem Handkuss

?

Lesung von Joh 13 f. im Kapitel Abt und Prior reichten Wein mit einem Handkuss

ohne Angabe



Abtrocknung Fußkuss durch Abt und Prior

Abtrocknung Fußkuss aller durch den Abt

Handwaschung?

Fußwaschung durch Abt und Prior; jeder übernahm eine Reihe des Kapitels

Fußwaschung aller durch den Abt

der Abt wusch, unterstützt von zwei Konversen, dem Prior an seinem Platz die Füße, anschließend der Prior dem Abt an dessen Platz, wieder unterstützt durch die Konversen Handwaschung aller durch den Abt und den Prior



Fußwaschung durch Abt und Prior; jeder übernahm eine Reihe des Kapitels (je 4 Konversen unterstützten sie) Abtrocknung Fußkuss durch Abt und Prior

praelavatio nach dem prandium —

Bec 11. Jh.

Abt und Prior reichten Wein mit einem Handkuss, jeder seiner Seite

ante et retro durch Abt ante et retro aller Aktiven und Helfer je nach ihrer Handwaschung Lesung von Joh 13 f. Lesung von Joh 13 f. im im Kapitel Kapitel

Handwaschung aller durch den Abt

der Abt wusch, trocknete und küsste dem Prior und den anderen Helfern die Füße außerhalb des Kapitels, schließlich einer von diesen ihm



Abtrocknung Fußkuss durch Abt und Prior

Waschung durch die für diesen Tag hierfür Erwählten Fußwaschung durch Abt und Prior mit gebeugten Knien – Abt auf der rechten, Prior auf der linken Seite

praelavatio

Lanfranc 11. Jh.

der Abt und seine drei der Abt reichte Wein Helfer reichten Wein mit dem Handkuss mit einem Handkuss

Lesung von Joh 13 f. im Kapitel

ante et retro durch Abt und Helfer

Handwaschung

Fußwaschung durch den Abt und mindestens drei weitere Brüder, unterstützt von mindestens 12 Helfern Abtrocknung Fußkuss durch den Abt und seine drei Helfer — zwei Brüder wuschen dem Abt und allen Helfern außerhalb des Kapitels die Füße

Waschung durch Waschung durch Waschung durch die die Wochendiener die Wochendiener Wochendiener

Cluny Liber Tramitis Mitte 11. Jh.

Cluny Antiquiores B 10. Jh.

Tabelle 1: Die Fußwaschung durch den Abt am Gründonnerstag

der Abt wusch im Kapitel die Füße der Helfer; ad ultimum wusch der Priester die Füße des Abts



Fußwaschung durch den Abt am Prior und seiner Seite; der Priester im Wochendienst bediente die juvenes und die übrigen der anderen Seite Abtrocknung ?



?

S. Bénigne in Dijon 13. Jh.

ante et retro durch Abt und Helfer Lesung von Joh 13 f. stehend vernommene im Kapitel Lesung von Joh 13 f. im Kapitel der Abt reichte Abt und Priester reichten Wein mit einem Wein mit einem Handkuss Handkuss (zuerst der Abt dem Prior)

ante et retro durch Abt und Helfer

Fußwaschung, die Helfer brachten allen Trocknung, Kuss Wasser zur Handwaschung und Handwaschung am Abt durch den Prior im Kapitel

Handwaschung aller durch den Abt

Haareinsatz

Abtrocknung Fußkuss durch den Abt

Fußwaschung (bis zu den Kindern) allein durch den Abt, auch an den Helfern



praelavatio

Fruttuaria / St. Blasien 12. Jh.

Lesung von Joh 13 f. im Kapitel der Abt reichte Wein mit einem Handkuss

Handwaschung aller durch den Abt; in ‚Fulda‘ jetzt das mandatum am Abt

die Brüder wuschen den Helfern die Füße; am Ende der Dekan dem Abt in ‚Fulda‘ erst die Handwaschung



Abtrocknung 2 Fußküsse durch den Abt

Fußwaschung (bis zu den Kindern) allein durch den Abt

Waschung durch die Wochendiener

praelavatio

St. Emmeram / ‚Fulda‘ 10. und 11. Jh.

Kompletlesung

Fußwaschung durch den Abt an 12 Brüdern im Kreuzgang; Fußwaschung der übrigen durch andere Brüder Abtrocknung Fußkuss durch den Abt und die anderen Wäscher





Zisterzienser 12. Jh.

wusch ‚nur‘ zwölf Brüdern die Füße, doch kam er in Kontakt mit Schmutz, denn hier fehlten die Vorwaschungen 43. Ausschließlich der fruttuarische Abt nutzte im Zeichen der sündigen Maria sein Haar zur Trocknung der Füße. 44 Die Akzente im Vergleich zur biblischen Geschichte haben sich also um Nuancen verändert. Freilich war einmal mehr allen gemeinsam, dass sich der Ranghöchste innerhalb der sozialen Gruppe zeitlich begrenzt verdemütigte. Weil die brüderliche Fußwaschung aber über eine tiefe Heilsfunktion verfügte, blieb der soziale Stand innerhalb der Gruppe in theologischer Hinsicht zweitrangig. Erstranging war die Verkörperung verschiedener Rollenmodelle: Der Abt etwa agierte selbst als Christus. Mit dem Kuss und noch charaktervoller mit der Nutzung des Haares wurde er gleichzeitig zur sündigen Maria aus Lk 7 und Joh 12; die zu waschenden Mönche wurden zu Christus. Dabei blieb der Thron des Abts während der Handlung keinesfalls leer. Sein Stellvertreter übernahm auf Zeit die äbtliche Rolle wiederum als Christus. 45 Der eigentliche und über diverse präsenzsymbolische Mechanismen als solcher ausgewiesene „Herr“ der Fußwaschung aber war der himmlische Christus selbst. Seine Gegenwart implizierten der gewählte Raum des Geschehens oder die Geste ante et retro. Bei dieser Christus ehrenden Geste drückte der Mönch beide Unterarme überkreuzt gegen die Beine, den rechten Ärmel über dem linken, um sich im Anschluss gleichmäßig mit dem Oberkörper zu verbeugen, bis sich der Rumpf parallel zum Erdboden befand. In dieser verneigten Stellung bewegte er seinen Rumpf im (Halb-)Kreis von Osten nach Westen, dem Lauf der Sonne – Christus – folgend.

39 Honorius Augustodunensis, Gemma animae, III, 84, in: Jacques-Paul Migne, Patrologia Latinae. Vol.172. Paris 1854, 665 B: „Hodie quoque pedes discipulorum lavit, designans quod nos, qui ultima membra sua sumus, a sordibus peccatorum abluit. Quod autem nos exemplo ejus mandatum hodie facimus, nos membra ipsius esse, et in charitate debere vivere, ad memoriam reducimus.“ 40 Cons. Fructuarienses II (wie Anm.37), III, 165, 167 (LO): „Domnus abbas debet abluere pedes omnibus fratribus ex utraque parte etiam et infantibus […]“ 41 Cons. Bern. (wie Anm.28), II, 16, 313f.: „[…] qui cum ex utraque parte laverint octo aut decem Fratribus pedes, praecedit D. Abbas reincipiendo à capite, sequens eos cum tribus vel amplius adjutoribus, qui iterum lavant et tergunt, quorum singuli habent et tres alios adjutores, ut videlicet duo jugiter afferant aquam uni soli lavanti, et tertius pedes teneat.“ 42 Bei dem Kuss unter den Fuß habe sich der Hirte entsprechend zu krümmen, forderte die sogenannte Redactio s. Emmerammi mit energischer Strenge ein. Vgl. die Redactio s. Emmerammi (wie Anm.38), XVIII, 54, 228. 43 Ecclesiastica Officia (wie Anm.33), XXI, 28–33, 106–108. 44 Cons. Fructuarienses II (wie Anm.37), III, 165, 167f. (LO). 45 Dazu u.a. Sonntag, Klosterleben (wie Anm.14), 356 oder 360.

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Dazu hatte sich jeder Bruder so zu stellen, dass die Bewegung stets von rechts nach links ausgeführt werden konnte. 46 Wenn der Abt nun also dem Befehl Christi gehorchte, indem er die Fußwaschung an den Mönchen vollzog, verkehrte er zwar die immanente Ordnung deutlich sichtbar, verblieb aber rituell doch in der transzendenten, von Christus dominierten Ordnung. Das heißt, es fand eigentlich – betrachtet man den Ritus in seiner symbolischen Gesamtheit – zunächst keine Verkehrung statt. Hinzu kommt, dass übers Jahr gesehen alle Mönche an ihren Mitbrüdern die Fußwaschung, nämlich jene des Samstags, verrichteten, niedere und höhere an höheren und niederen. „In Coena Domini“ war – schlicht formuliert – der Abt an der Reihe, es seinen übers Jahr aktiven Mitbrüdern gleichzutun. Weil man allerdings gerade den Gründonnerstag für die Verdemütigung des Abts vorsah, verband sich damit erneut ein Privileg des Ranghöchsten. An späterer Stelle wird noch einmal darauf zurückzukommen sein. Zunächst aber sei der Fokus auf die klösterliche Gastfußwaschung gerichtet. Noch weit vor dem geschilderten „mandatum“ durch den Abt (und gegebenenfalls seine Helfer) fand nämlich am Gründonnerstag eine Armenfußwaschung statt. Mit zumeist durch Diener des Konvents, die „famuli“, vorgereinigten Füßen warteten die Armen („pauperes“) im Kreuzgang des Klosters. 47 Üblicherweise entsprach die Zahl der zugelassenen Gäste derjenigen der Mönche. Doch auch hier gab es Ausnahmen. 48 Mit dem Bußpsalm „Miserere“ auf den Lippen erreichten die Religiosen die sitzenden Bedürftigen. Was nun folgte, war keine „Performance“ des Abts als Ranghöchstem, sondern diejenige des gesamten Konvents. Nach den einschlägigen Verbeugungen der Brüder vor den Armen – das Spektrum reichte von einer Genuflexion bis zur Prostration – wusch und trocknete gemeinhin jeder Mönch „seinem“ Armen die Füße. Die fruttuarischen Gewohnheiten erwähnen wieder einen zusätzlichen Einsatz des Haares zur Trocknung. 49 Außer bei den Zisterziensern folgten 46

Siehe ausführlich die Cons. Fructuarienses III b, XXVIII, 988, in: Luchesius G. Spätling/Peter Dinter

(Eds.), Consuetudines Fructuarienses – Sanblasianae. Vol.2. (Corpus consuetudinum monasticarum, Vol.12, 2.) Siegburg 1987, 261. Zur ähnlichen Wendung „in circuitu“ in lothringischen Kreisen vgl. die Redactio Fuldensis-Trevirensis (wie Anm.37), VI, 21, 283. 47

Auch diese Vorwaschungen entfielen bei den Zisterziensern. Zur Diskussion um die „praelavatio“, na-

mentlich im „Dialogus duorum monachorum“ des zu den Zisterziensern übergelaufenen ehemaligen (hirsauisch geprägten) Benediktiners Idung von Prüfening († nach 1155) siehe Sonntag, Die klösterliche Samstagsfußwaschung (wie Anm.16), 268f.

116

48

Vgl. die Tabelle 2.

49

Cons. Fructuarienses II (wie Anm.37), III, 164, 164f. (LO).

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eine Handreinigung, sodann die Darreichungen von gesegnetem Wein sowie zwei bis drei Denaren. Die fruttuarischen Gewohnheiten wiesen wie diejenigen aus Bec oder die Konstitutionen des Lanfranc (†1089) explizit die sogenannten „scyphi“ als Trinkgefäße aus. Dabei handelte es sich um die gemeinhin für die „caritas“-Zeremonie verwendeten edlen Trinkkrüge der Brüder aus dem Mönchsrefektorium, also um einen deutlichen Ehrerweis für die Fremdlinge. 50 Dies alles geschah im Zeichen der Liebe zu den Armen und zu Christus. Indes, mindestens den Schilderungen der Gewohnheiten aus Fruttuaria/St. Blasien und St. Bénigne in Dijon zufolge fand im direkten Anschluss ebenda noch ein weiteres, nunmehr drittes „mandatum“ statt. Diesmal wurde es den Präbendenempfängern des Konvents gewährt. Diese Gruppe privilegierter Armer lebte ständig am Kloster. Unentgeltlich erhielten sie die Präbende, d.h. die Mahlzeit eines Mönchs. Man stellte ihnen Kleidung, Unterkunft und gewährte ihnen Krankenfürsorge sowie Bestattung und Memoria. Die Zahl der Dauergäste differierte von Kloster zu Kloster. Im ostentativen Zeichen der Apostelgruppe lebten etwa in Anchin, Fruttuaria, St. Blasien oder Hirsau wohl zwölf von ihnen. In Cluny erhöhte Abt Hugo (†1109) ihre Zahl auf achtzehn. Im divionensischen St. Bénigne lebten dreizehn. Der dreizehnte Arme stand gemeinhin symbolisch für Christus selbst, einen Engel, Lazarus oder den Hausvater des Ortes, an dem das letzte Abendmahl stattfand. 51 Beim „mandatum“ an diesen „praebendarii“ agierten gemäß den fruttuarischen Gewohnheiten zumeist nur die „seniores“, also die elf Höchstrangigen (entweder die ältesten Mönche oder vornehmsten Priester) gemeinsam mit dem Abt.Der erhaltene divionensische „Ordo“ nennt neben dem Abt explizit zwölf Priester. Unter den Klängen des obligatorischen Bußpsalms „Miserere“ begab man sich zu den Armen. Die Waschung und die Trocknung, diesmal ohne den Einsatz des Haares und ohne Kuss, wurden begleitet von der Antiphon „Dominus Iesus“. Wieder erhielten die „pauperes“ ein Getränk, außerdem noch Kleidung – Hemden („camisia“), (hohe) Schuhe („calciamenta“) und Sandalen („pedules“). 52

50 Ebd.165 (LO); Cons. Beccenses (wie Anm.38), VI, 85, 45; und Decreta Lanfranci (wie Anm.38), I, 32, 30. Zum „scyphus“ und in Abgrenzung zur „iustitia“, dem gewöhnlichen Trinkbecher, siehe allgemein Gerd Zimmermann, Ordensleben und Lebensstandard. Die „cura corporis“ in den Ordensvorschriften des abendländischen Hochmittelalters. Berlin 1999, 431f. 51 Vgl. die Ausführungen in Sonntag, Klosterleben (wie Anm.14), 571f. 52 Vgl. die Cons. Fructuarienses II (wie Anm.37), III, 165, 166f. (LOS), und für St. Bénigne in Dijon die Cons. Divionenses III (wie Anm.38), 64, 406.

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Die Wahl des Kreuzgangs, des eigentlich streng klausurierten Kernbereichs des Klosters, setzte bei beiden Armenfußwaschungen in ähnlicher Weise Zeichen wie die Nutzung des Kapitelsaals im Rahmen der späteren Fußwaschung durch den Abt an den Brüdern. Hier verband man die praktischen Vorteile des nahegelegenen Brunnens und der Platzkapazität mit der ostentativen Kommunikation spiritueller Grundaussagen. 53 Bekanntermaßen glorifizierten nicht nur monastische Autoren den Kreuzgang als Vorhof („porticus“) des Salomonischen Tempels. Der Garten in seiner Mitte galt als Abbild des Paradieses, die häufig zentrale Pflanze symbolisierte den Baum des Lebens bzw. Christus selbst, jener zentrale Brunnen wiederum die Urquelle, die vier Seiten des Kreuzgangs verwiesen u.a. auf die vier Paradiesflüsse wie auf die durch sie verkörperten Tugenden. 54 Akanthuszierwerke und Abbildungen von Paradiesflüssen oder Fußwaschungszeremonien an den Säulenkapitellen der Kreuzgänge, beispielsweise im cluniazensischen Moissac oder in Aix-en-Provence, transportierten gleich einer „steinernen Galerie von Entscheidungssymbolen“ 55 ein paradiesisch-mönchisches Anliegen, bei dem es um die Gewinnung und Steigerung des seelischen Reinheitsgrades ging. 56 Grabplatten und Apostelplastiken „konstru53

Zur Eigenschaft des Kreuzgangs als Meditations-, Prozessions-, Durchgangs- und Verbindungsraum

sowie als Arbeitsstätte (z.B. der Kerzenherstellung, des Ausschlagens der Kleider, des Ausbesserns der Schuhe oder der Rasur) siehe kompakt Peter K. Klein, Einführung, in: ders. (Hrsg.), Der mittelalterliche Kreuzgang. Architektur, Funktion und Programm. Regensburg 2004, 9, und Anselme Davril, Fonctions des cloîtres dans les monastères au Moyen Âge, in: ebd.22–26. Vgl. auch Rolf Legler, Der Kreuzgang. Ein Bautypus des Mittelalters. Frankfurt am Main/New York/Paris 1989, bes. 211; Peter Hawel, Das Mönchtum im Abendland. Geschichte – Kultur – Lebensform. Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 1993, 147; oder Peter Meyvaert, The Medieval Monastic Claustrum, in: Gesta 12, 1973, 53–59. 54

Zu solchen Bildern siehe Joseph Sauer, Die Symbolik des Kirchengebäudes und seiner Ausstattung in

der Auffassung des Mittelalters. Mit besonderer Berücksichtigung von Honorius Augustodunensis, Sicardus und Durandus. Münster 1964 [1924]; Wayne Dynes, The Medieval Cloister as Portico of Solomon, in: Gesta 12, 1973, bes. 61f.; Reiner Hausherr, „Templum Salomonis“ und „Ecclesia Christi“. Zu einem Bildvergleich der Bible moralisée, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 31, 1968, 101–121; Wilhelm Messerer, Romanische Plastik in Frankreich. Köln 1964, 109; oder Klein, Einführung (wie Anm.53), 13. 55

Heinrich Fichtenau, Lebensordnungen des 10.Jahrhunderts. Studien über die Denkart und Existenz im

einstigen Karolingerreich. 2 Bde. (Monographien zur Geschichte des Mittelalters, Bd. 30, 2.) Stuttgart 1984, 365. 56

Mit Nachweisen, etwa zu Moissac, vgl. Maria Cristina Correia Leandro Pereira, Syntaxe et place des

images dans le cloître de Moissac. L’apport des méthodes graphiques, in: Klein (Hrsg.), Der mittelalterliche Kreuzgang (wie Anm.53), 213. Im Kreuzgang von Gérone ist Abraham bei der Fußwaschung der drei Engel abgebildet. Vgl. Peter K. Klein, Topographie, fonctions et programmes iconographiques des cloîtres. La galerie attenante à l’église, in: ebd.141. Siehe darüber hinaus die Abbildungen der Paradiesflüsse in Ernst Schlee, Die Ikonographie der Paradiesflüsse. Leipzig 1937, 222.

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ierten eine makrosymbolische ‚vita communis‘ zwischen Himmel und Erde, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“. 57 Im Kreuzgang und ähnlich im Kapitelsaal bildete sich ein Großteil des „kollektiven Gedächtnisses“ heraus, das „aus dem sicheren Wissen um das himmlische Ziel kulturelle Identität und politisches Prestige zog“. 58 Eine Öffnung dieses heiligen „Raumes“ für die Fußwaschung an den Armen besaß Festcharakter. Sie kam nur am Gründonnerstag in Frage 59 (siehe dazu die Übersicht in Tabelle 2 60). Eine zweite Zwischenbilanz lässt merkliche Differenzen zur Fußwaschung durch den Abt erkennen. Bei den Armenfußwaschungen handelte es sich nicht um eine Reinigung an (im gesellschaftlichen Kontext) sozial Gleichrangigen, sondern an Rangniederen, an den „outsiders“ der Gesellschaft. Schon im frühen 10.Jahrhundert hatte Odo von Cluny († 942) das Mönchtum an die Spitze der Christenheit gestellt, schließlich sorge es durch das immerwährende Gebet seiner Mitglieder und durch seine zentrale Funktion im Kreislauf der Almosenvergabe für den Erhalt der Ord-

57 Vgl. Günter Bandmann, Mittelalterliche Architektur als Bedeutungsträger. Berlin 1998, 64f. Mit Beispielen aus Aix-en-Provence, Toulouse, Arles und Moissac vgl. Messerer, Romanische Plastik (wie Anm.54), 106–109 und die Abb.49f. Siehe auch Sonntag, Klosterleben (wie Anm.14), 65 (hieraus das Zitat). 58 Zur Relation von kollektivem Gedächtnis und kultureller Identität vgl. Jan Assmann, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: ders./Tonio Hölscher (Hrsg.), Kultur und Gedächtnis. Frankfurt am Main 1988, 9–19. Zur Nutzbarkeit solcher Terminologien bezogen auf das mittelalterliche Religiosentum siehe Stephan Albrecht, Die Inszenierung der Vergangenheit. Die Klöster Glaston und Saint-Denis. (Kunstwissenschaftliche Studien, Bd. 104.) München/Berlin 2003, 183–187. Vgl. in kompakter Form Sonntag, Klosterleben (wie Anm.14), 66 (hieraus das Zitat). 59 In benediktinischen Klöstern war eine Führung durch das Kloster und damit auch durch den Kreuzgang allein hohen Adligen und nur unter strikten Auflagen möglich. Zu dieser besonderen Form des Gastzeremoniells vgl. Jörg Sonntag, Welcoming High Guests to the Paradise of the Monks. Social Interactions and Symbolic Moments of Monastic Self-Representation According to Lanfranc’s Constitutions, in: Anne Müller/Karen Stöber (Eds.), Self-Representation of Medieval Religious Communities. The British Isles in Context. (Vita regularis. Abhandlungen, Bd. 40.) Berlin 2009, 52f. und 62. Die Zisterzienser verboten den Einlass Fremder in die Klausur (außer für den Gründonnerstag) völlig. Die in den Generalkapitelsbeschlüssen festgehaltenen Interdikte gegen einzelne Zisterzen zeugen freilich von zahlreichen Brüchen dieses Vorsatzes. 60 Die Befunde dieser Tabelle speisen sich aus den folgenden Quellen: Cons. Cluniacenses ant. (wie Anm.32), III, 40, 79–83; Liber Tramitis (wie Anm.37), I, 78, 55.5–55.6, 75f.; Cons. Udalrici (wie Anm.28), I, 12, 658 C–660 A; Cons. Bern. (wie Anm.28), II, 15, 311f.; Decreta Lanfranci (wie Anm.38), I, 32, 30f.; Cons. Beccenses (wie Anm.38), VI, 84f., 44f.; Cons. Fructuarienses II (wie Anm.37), III, 162–165, 161–167; Cons. Divionenses III (wie Anm.38), 64, 406; Redactio s. Emmerammi (wie Anm.38), XVIII, 52, 226; Redactio Fuldensis-Trevirensis (wie Anm.37), VIII, 41, 296; und Ecclesiastica Officia (wie Anm.33), XXI, 7–22, 104–106. Vgl. Sonntag, Klosterleben (wie Anm.14), 612f.

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?

Gebete in der Kirche

ohne Angabe

?

Gebete in der Kirche

Vesper









2 Handküsse

gesegnetes Getränk und 2 Denare

Kuss

Trocknung

Fußwaschung

Prostration

Gebete in der Kirche

Ante et retro

ohne Angabe

Gebete in der Kirche

Ante et retro

Inclinatio (Ulrich) Genuflexion Venia super genua auf die Erde und Gebete (Bernhard) und Gebete



keine Verbeugung genannt, Gebete

2 Handküsse

Venia und Gebete



gesegnetes Getränk und 2 Denare

gesegnetes Getränk und 2–3 Denare

Gesegnetes Getränk und 2 Denare



Trocknung



Trocknung

Trocknung

Handwaschung





Trocknung

Fußwaschung

Handkuss nur nach C (12. Jh.)

Handwaschung

Kuss

Kuss

Handwaschung

Trocknung

Trocknung



Fußwaschung

Fußwaschung



Genuflexion auf Venia (Ulrich) Genuflexion auf die Erde (z. T. gen Venia super genua die Erde Osten) (Bernhard)

Arme nach Anzahl der fratres

Prostratio

Arme mind. nach Anzahl der fratres

Arme nach Anzahl der fratres

Lanfranc 11. Jh.

Zahl der Armen nicht definiert

Cluny Bernhard Ulrich 11. / 12. Jh.

Cluny Liber Tramitis 11. Jh.

Cluny (Red. Aven.) B 10. Jh.

Tabelle 2: Die Armenfußwaschung am Gründonnerstag



ohne Angabe

Gebete in der Kirche

Inclinatio

Genuflexion und Gebete

2 Handküsse

gesegnetes Getränk und 3 Denare



Trocknung

Handwaschung

Kuss

Trocknung

Fußwaschung

Genuflexion

Arme nach Anzahl der fratres

Bec 11. / 12. Jh.

ohne Angabe

Gebete in der Kirche

?

keine Verbeugung genannt, Gebete



gesegnetes Getränk und Denare



Trocknung

Handwaschung





Trocknung

Fußwaschung

Genuflexion

Arme nach Anzahl der fratres

‚Siegburg‘ Anfang 12. Jh.

Venia und Ante et retro

Gebete in der Kirche

?

keine Verbeugung genannt, Gebete



gesegnetes Getränk und Denare



Trocknung

Handwaschung

Haareinsatz

Kuss

Trocknung

Fußwaschung

Genuflexion

Arme nach Anzahl der fratres

Fruttuaria / St. Blasien Anfang 12. und Anfang 13. Jh.



Verbeugung super formam

Gebete in der Kirche

Ante et retro

Venia super genua und Gebete



gesegnetes Getränk und 2 Denare



Trocknung

Handwaschung

Kuss

Trocknung

Fußwaschung

Venia super genua

Arme nach Anzahl der fratres

S. Bénigne 13. Jh.

ohne Angabe

Gebete in der Kirche

Adoratio





gesegnetes Getränk, Kleidung und Denare



Trocknung

Handwaschung





Trocknung

Fußwaschung

Adoratio

12 Arme

Lothring. Texte (E und F) 10. und 11. Jh.









im Gästehaus Handwaschung durch den Abt

Venia und einzig das Suscepimus

Handkuss

kniende Reichung eines Geldstücks

Kuss

Trocknung

Fußwaschung

ohne Angabe

Arme nach Anzahl der monachi

Zisterzienser 12. Jh.

ohne Angabe

Gebete in der Kirche

?

keine Verbeugung genannt, Gebete



gesegnetes Getränk und Kleidung



Trocknung

Handwaschung



?

Trocknung

Fußwaschung

Genuflexion

12 praebendarii

Fruttuaria / St. Blasien Anfang 12. und Anfang 13. Jh.

nung Gottes auf Erden. 61 Und auch im ausgehenden Mittelalter war dieses Selbstverständnis des Mönchs als eines (gegenüber seinen dem Meer der Welt verhafteten Zeitgenossen) prädestinierten Gottesmannes keinesfalls vergessen. In dieser Hinsicht scheint die Armenfußwaschung tatsächlich genau jene zeitlich begrenzte verkehrende Dimension aus Joh 13 anzusprechen. Und doch, auch hier gibt es Bedenken: Jenseits der Tatsache, dass die Quellen konkret nie von einer Verkehrung der sonstigen Ordnung sprechen, sondern stets Demut, Liebe, Gehorsam und Sündenvergebung als Intentionen bekunden, stellt sich ein anderes schwer fassbares Phänomen. Seit dem 6.Jahrhundert, spätestens aber seit den einschlägigen Positionsbestimmungen in den Regelkommentaren des 9.Jahrhunderts unterschied das Religiosentum – und dies speziell im Gästedienst – die Art der Verehrung des Ankömmlings. In armen, kranken und religiosen Gästen ehrte man den inneren Menschen, in den sogenannten „potentes“ hingegen mit mehr oder weniger pompösem „occursus“-Zeremoniell den äußeren Menschen. Schon Hildemar von Corbeil-Civate († um 850) hatte angesichts dieser gängigen Unterscheidung den Armen und Pilgern den höchsten Status in geistlicher Würde zugesprochen. 62 Damit jedoch wäre die Verkehrung auf dieser geistigen Ebene zumindest sehr stark abgeschwächt und allein in der immanenten Äußerlichkeit erkennbar, denn die Kleidung schied die Agierenden und die Passiven nach wie vor merklich voneinander. Dieses Phänomen ist aber noch komplexer, denn in den Armen erkannte man (wie die sündige Maria) Christus, und der war alles andere als rangniedrig. Auch in diesem Ritual kombinierte man demnach verschiedene Bezeichnungsabsichten und vielleicht (nicht nur für den modernen Betrachter) verschiedene Interpretationsnuancen. Die Darreichung der Speisen jedenfalls führt zum Rollenmodell des Abraham aus Gen 18,1–5, die Vergabe der Kleidung zu Martin von Tours († 397), der Gebrauch des Haares und der Kuss erneut zur sündigen Maria in Lk 7 und Joh 12. 61 Dazu ausführlich Isabelle Rosé, Construire une société seigneuriale. Itinéraire et ecclésiologie de l’abbé Odon de Cluny (fin IXe–milieu du Xe siècle). Turnhout 2008, bes. 432 und 621. 62 Vgl. Hildemarus Corbeiensis, Expositio Regulae, 53, in: Vita et Regula SS.P. Benedicti una cum Expositione Regulae a Hildemaro tradita. Vol.3: Expositio Regulae ab Hildemaro tradita et nunc primum typis mandata. Ed. Rupert Mittermüller. Regensburg 1880, 502 und 505. Noch im 13.Jahrhundert informierte Bernhard Aygler, Abt von Monte Cassino († 1282), manchen erweise man „honor“, anderen „devotio“, den armen Gästen „caritas“, den vornehmen „ministerium“. Dazu Bernardus Ayglerus, In Regulam expositio, 53, in: Bernardi I. abbatis Casinensis In regulam s. Benedicti expositio. Ed. Anselm Maria Caplet. Monte Cassino 1894, 337 und 340f. Hierzu schon Thomas Schuler, Ungleiche Gastlichkeit. Das karolingische Benediktinerkloster, seine Gäste und die christlich-monastische Norm. Diss. Bielefeld 1979, 379.

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IV. Die Fußwaschungen als Inversionsritual? – Eine Gesamtbilanz Für die vorliegende Studie wurde dasjenige Ritual einer Analyse unterzogen, das bezogen auf den Bereich der regulierten vita religiosa am ehesten im Sinne eines Inversionsrituals in Frage kommt. Die Fokussierung lag dabei einerseits auf der brüderlichen Fußwaschung als Verkehrung der Rangordnung innerhalb der sozialen Gruppe „Konvent“ und andererseits auf der Gastfußwaschung als Verkehrung zwischen den sozialen Gruppen „Konvent“ und „Arme“. Innerhalb der Konzeption dieser Rituale lässt sich konstatieren, dass verschiedene biblische Bausteine miteinander kombiniert, bestimmte biblische Handlungselemente herausgelassen, andere ergänzt wurden. Die rituelle Umsetzung der Rollenmodelle von Christus, Maria, Abraham und Martin von Tours durch die Waschenden und die Zuweisung der Rollenmodelle von Christus, Engeln, Aposteln oder Lazarus auf die Gewaschenen sollten in möglichst hoher Dichte gehorsame Pflichterfüllung, Demut, Buße und Liebe kommunizieren und zugleich die innere Selbstheiligung der Religiosen durch verkörperte Nachahmung befördern. Das war das eigentliche Ziel; auch die jeweiligen Begleitgesänge lassen daran keinen Zweifel. 63 Vergewissert man sich der eingangs skizzierten theologischen Dimension der Fußwaschung, muss selbst die Meinung Bernhards von Clairvaux († 1153) in diesem Punkt nicht verwundern: Wenn er die Fußwaschung als „sacramentum“ und „sacrum signum“ bezeichnete und daran erinnerte, dass allein Christus die Sünden abwaschen könne, zugleich aber betonte, dass die klösterliche Fußwaschung zur Reinigung der Affekte diene 64, heißt dies, dass „das klösterliche Ritual seinen Sinn als Reinigungsritus mit eschatologischer Heilsfunktion verlöre, wenn in der Person des Abts und seiner Delegierten nicht Christus selbst die Füße seiner Jünger wüsche“ 65. Die im gehorsamen Befolgen des biblischen Auftrags, im „Nachspiel“ der bi63 Die Antiphonen riefen stets nur das Heil auf die Mönche, nicht auf die Armen herab. Jutta Maria Berger begriff die Bedürftigen auch darum als reine „Statisten“, derer sich die Mönche, in diesem Fall die Zisterzienser, ohne „menschliche Wärme“ zur Erreichung ihrer „proposita“ bedienten. Vgl. Jutta Maria Berger, Die Geschichte der Gastfreundschaft im hochmittelalterlichen Mönchtum. Die Cistercienser. Berlin 1999, 364f. Dazu und unter Aufgriff der Thesen Klaus Schreiners und Georges Dubys vgl. Sonntag, Klosterleben (wie Anm.14), 598f. 64 Bernardus Claraevallensis, In Cena Domini, 1–5, in: Bernhard von Clairvaux. Sämtliche Werke. Hrsg. von Bernhard Winkler. Bd. 8. Innsbruck 1997, 204–214, bes. 212. 65 Sonntag, Klosterleben (wie Anm.14), 364.

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blischen Handlungssequenzen und in der rituellen Verkörperung ihrer (als richtig erachteten) Bezeichnungsabsichten „gesuchte symbolische Parallelität induzierte damit ‚tatsächlich‘ eine reale Konformität – eine wirkliche Vergegenwärtigung Christi“. 66 Dabei allerdings tritt ein für den Analytiker kaum zu überwindendes mehrdimensionales Spannungsnetz zutage: Bei der Fußwaschung im Mittelalter handelt es sich eigentlich nicht mehr um einen missachteten Sklavendienst, sondern vielmehr um einen heiligen Dienst. Weil man sich jedoch durchaus bewusst war, dass Christus dereinst einen Sklavendienst getan hatte, der Mönch jetzt aber selbst als Verkörperung Christi agierte, blieb dieses Bewusstsein doch unterschwellig lebendig. 67 Wenn nun außerdem Christus in den Mönchen die Füße wusch, wie es nicht nur Bernhard von Clairvaux andeutete, dann blieb sein vergangenes, quasi transzendentes Verkehrungsmoment (neben dem immanenten der Äbte bzw. Mönche selbst) durch ständige Repetition gegenwärtig. Durch die Imitation ergeben sich also zwei synchrone Verkehrungen. Dieses Spannungsfeld erweitert sich um das oben skizzierte: Christus nämlich blieb tatsächlich – vor allem verkörpert in den Armen – zugleich selbst Adressat der Waschung. Er aber war der Ranghöchste innerhalb der symbolischen Ordnung des Klosters. Ist es daher wirklich eine Verkehrung, ihm die Füße zu waschen? Das Gegenteil dürfte der Fall sein, denn die Titulierung „servus Dei“ für einen Religiosen war keine Seltenheit. 68 Wir haben es mit einem theoretischen Zirkelschluss zu tun. Die Mönche freilich sahen diesen so nicht, denn ihnen ging es (übrigens wie bei der Ansammlung verschiedener Reliquien auch) um die zeitgleiche und mehrfache Präsentmachung Christi und des Heiligen zur Anreicherung ihres Raumes und ihrer selbst mit genau dieser Aura des Heiligen. Bezieht man nun wie so häufig im Kontext der Inversionsrituale die Thesen Victor Turners vom liminalen Zustand ein, der „zwischen den vom Gesetz, der Tradition, der Konvention und dem Zeremonial fixierten Positionen“ stehe und von rituell handelnden „Schwellenwesen“ geprägt sei, dann zeigt sich hier tatsächlich eine interes-

66 Ebd. 67 Siehe z.B. Ernaldus Bonaevallis, Tractatus de operibus sex dierum, 7, in: Jacques-Paul Migne, Patrologia Latinae. Vol.189. Paris 1854, 1650 A: „[…] ipse genibus flexis Dominus servo consummatae humilitatis obtulit famulatum“. Vgl. auch die Ausführungen des Rupert von Deutz in Anm.71. 68 So zum Beispiel die Beschreibung Bernhards von Clairvaux, in: Guillelmus s. Theoderici, Sancti Bernardi abbatis Clarae-Vallensis vita et res gestae libris septem comprehensae, I, 4, 19, in: Jacques-Paul Migne, Patrologia Latinae. Vol.185. Paris 1860, 237 C, oder im Allgemeinen den Anonymus, De modo bene vivendi (G), 47, in: Jacques-Paul Migne, Patrologia Latinae. Vol.184. Paris 1862, 1268 C.

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sante Mischung aus „Erniedrigung und Heiligkeit“. Auch könnte man wie Turner von einem „Augenblick in und außerhalb der Zeit“ und in gewisser Weise sogar von einem Moment „in und außerhalb der weltlichen Sozialstruktur“ sprechen. 69 Allein, es ist erneut analytische Vorsicht geboten. Die Phase der zeitweisen Verdemütigung des Abts vor seinen Mitmönchen (bzw. der Mönche vor ihren Gästen) besaß sehr wohl feste, in der Konvention beheimatete Regeln. Eine verkehrte Ordnung war keine Unordnung. Der Ausgang war vorherbestimmt. Ergebnisoffenheit gab es in der symbolischen Ordnung des Klosters nicht. Zu keiner Zeit verfügte die Veranstaltung über ironische Elemente oder gar Merkmale eines Schandrituals, wie das bisweilen bei Verkehrungsritualen mit Schwellencharakter der Fall zu sein scheint. 70 Ein Übergang von einem Zustand in den anderen, in dessen Mitte eine liminale Phase stünde, ist gleichermaßen nicht zu erkennen. Das Vorher und das Hinterher sind identisch, es sei denn man bezieht die seelische Reinigung ein, welche die Fußwaschung mit sich brachte. Diese Reinigung war aber weniger auf das Element der Verkehrung als vielmehr auf jenen quasi-sakramentalen Akt der Imitation zurückzuführen, welche die Verkehrung als nur ein Element unter anderen einschloss und umband. Die Worte in Lk 22,26–28 (und Phil 2,6–11) jedenfalls, welche den Größten als Jüngsten und den Vornehmsten als Diener ansprachen, führten den Mönchen und speziell dem Abt als Stellvertreter Christi die „apostolische“ Dringlichkeit vor Augen, sich wie er und im Gehorsam ihm gegenüber in Demut zu üben. Die Annahme der Knechtgestalt als spirituelles Element in der Fußwaschung wie generell im religiösen Leben wies den Weg wahrer „imitatio“. Der namhafte Benediktinerabt Rupert von Deutz († 1130) betonte dies mit Nachdruck. 71 Im Bereich der reinen Imma-

69

Victor W. Turner, Liminalität und Communitas: in: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hrsg.), Ritual-

theorien. Ein einführendes Handbuch. Opladen/Wiesbaden 1998, 252. 70

Zum bekannten Eselsritt im Kontext einer Papstabsetzung siehe eindrücklich Klaus Schreiner,

Gregor VIII., nackt auf einem Esel. Entehrende Entblößung und schandbares Reiten im Spiegel einer Miniatur der „Sächsischen Weltchronik“, in: Dieter Berg/Hans-Werner Goetz (Hrsg.), Ecclesia et regnum. Beiträge zur Geschichte von Kirche, Recht und Staat im Mittelalter. Festschrift für Franz-Josef Schmale. Bochum 1989, 151–202. 71

Rupertus Tuitiensis, Commentaria in Evangelium sancti Iohannis, XI, 13, 13–15. Ed. Rhabanus Haacke.

(Corpus Christianorum. Continuatio Medievalis, Vol.9.) Turnhout 1969, 609f.: „,Exemplum enim dedi vobis ut quemadmodum ego feci vobis, ita et vos faciatis.‘ Si possent modo portare servi atque discipuli, poterat hic Dominus et magister dicere sic: […] non rapinam arbitratus sum, sicut reges gentium et qui potestatem habent super eos, sed memetipsum exinanivi formam servi accipiens in similitudinem homi-

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nenz, des allein Sichtbaren also, eröffnete der Gründonnerstag die essentielle Bühne für einen solchen Auftritt der gesteigerten Verdemütigung aller Mönche und vor allem des Klosterhirten. Das Ausmaß dieser sichtbaren Verdemütigung aber war, wie oben skizziert, unterschiedlich. Unter der Perspektive der Inversion erscheint in genau dieser Hinsicht ein weiterer empirischer Befund als ausgesprochen interessant: Je höher nämlich die Machtstellung des Abts im jeweiligen Konvent übers Jahr symbolisch zur Anschauung gebracht wurde, desto stärker zeigte sich seine Verdemütigung am Gründonnerstag. Der mit einer immensen hierarchisierenden Etikette sichtbar machtvollste Klosterhirte etwa war der in den fruttuarischen Quellen präsentierte. Es folgten der lothringisch und cluniazensisch geprägte und am Ende der zisterziensische Abt. 72 Die institutionalisierte Qualität und Quantität der gründonnerstäglichen Verdemütigung offenbaren exakt die gleiche Reihenfolge. Auf analytischer Ebene dürfte damit ein weiteres Verkehrungsmoment hinzukommen, eines, das in seinem Ursprung außerhalb des eigentlichen Fußwaschungsrituals liegt, das nun aber (bewusst oder unbewusst) in dieses hineintransferiert wurde. Im Bereich des Immanenten – und das ist erneut zu betonen – hat es offenkundig eine Art Balance in der symbolischen Darstellung von Macht und Un-Macht gegeben. Solche „ausgleichenden“ Verdemütigungen besaßen generell Festcharakter mit Ventilfunktion, institutionalisierte Örtlichkeiten, Zeitpunkte und Teilnehmerkreise. Der Alltag jedenfalls sei, so beglaubigten es schon Arnold Gehlen oder Jan Assmann, auf die Entlastung und Hintergrunderfahrung im Fest angewiesen, da sich hier das im Alltag ausgeblendete „Andere“ ereignen könne. 73 Nun hat diese These im Bereich des Klosters freilich

num factus et habitu inventus ut homo, et humilio me ipsum factus obediens Patri usque ad mortem […] non dominationem, sed summae humilitatis ministerium arbitremini, cuius in hoc perfectio est, ut ponatis animas pro fratribus vestris […]. Haec enim vera exempli eius imitatio est […]“ Dazu Wolfram Lohse, Die Fußwaschung (Joh 13,1–20). Eine Geschichte ihrer Deutung. Diss. Erlangen 1967, 62. 72 Hierzu und zu den Unterschieden in der äbtlichen Herrschaftsrepräsentation siehe Jörg Sonntag, Kniekuss versus Küchendienst. Zeichenhafte Potentiale der Machtstabilisierung am Beispiel fruttuarisch geprägter Äbte, in: Annette Kehnel/Cristina Andenna (Hrsg.), Paradoxien der Legitimation. Kulturhistorische Analysen zur Macht im Mittelalter / I paradossi della legittimazione. Analisi storico-culturali del potere durante il Medioevo / Les paradoxes de la légitimation. Analyses historico-culturelles du pouvoir au Moyen Âge. (Micrologus’ Library, Bd. 35.) Florenz 2010, 158. 73 Unter Bezug auf Arnold Gehlen vgl. Jan Assmann, Der zweidimensionale Mensch. Das Fest als Medium des kollektiven Gedächtnisses, in: ders. (Hrsg.), Religiöse Kontrastpunkte zur Außenwelt. Das Fest und das Heilige. Gütersloh 1991, 14–16.

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Ecken und Kanten 74, doch in ihrem Grundsatz ließe sie sich verifizieren. Bestimmbare Potentiale der Macht bedurften der ebenso bestimmbaren egalisierenden Schwächung um ihrer eigenen Stabilisierung willen. Beide institutionellen Extreme schufen eine Balance zeichenhafter Geltungsbehauptung zwischen Herrschaftsund Demutsrepräsentation. Damit käme einem solchen der Fußwaschung ursprünglich nicht innewohnenden, am Gründonnerstag aber zur Anschauung gebrachten Verkehrungsmoment tatsächlich eine den Alltag ausgleichende Funktion zu. Auch bei diesem „ideell ausbalancierten Paradox der Macht“ handelt es sich jedoch „wiederum paradoxerweise um ein scheinbares Phänomen“, ja in seiner Konsequenz um einen quasi „institutionellen ‚Fake‘“. 75 Institutionalisierte zeichenhafte Ehr- und Verdemütigungspotentiale kommunizierten im benediktinischen Kloster zwar eine ebenso zeichenhafte Balance aus persönlicher Macht und Un-Macht des Abts. Doch weil das oben bereits angedeutete Recht, diese zeichenhafte Balance gerade am Gründonnerstag zu repräsentieren, vor allem „dem Abt oblag, stärkte und verfestigte dieses ‚Vorrecht auf Verkörperung‘ wiederum die hierarchische Position des Abts und in institutioneller Hinsicht sein Amt“. 76 Jenes quasi „profane“ Verkehrungsmoment der Ordnung am Gründonnerstag wurde tatsächlich zum Stabilisator der Ordnung der anderen Tage. Damit ist diese Verkehrung aber wiederum gar nicht verkehrt, sondern – ganz im Sinne des Titels dieses Beitrags – ausgesprochen richtig. Im Bereich des Hofs, wo man im Rahmen der zunehmenden Territorialisierung im 15. und 16.Jahrhundert mit den ehemals karitativen Leistungen der Klöster auch Ausschnitte aus deren symbolischen Handlungen übernahm – und damit schließt sich der Kreis –, scheint die auf der imitatio Christi und der Heiligen beruhende, in Ritualen produzierte selbstheiligende Aura kaum dominant gewesen zu sein. Obwohl nicht wenige Handlungselemente dem Klosterleben entnommen sind (Waschung, Trocknung, Speisung, Geschenke, Begleitmusik, bisweilen die Zahl der Armen), war die entscheidende Kategorie hier der öffentliche Demutsbeleg als Ausweis des zu Recht herrschenden, milden Regenten. Buße oder Gehorsam sind Kate-

74

So kann im klösterlichen Fest keine Rede von einem „Verlust der Selbstbeherrschung“ sein und im

Alltag kein „sinnlicher Mangel“ per se unterstellt werden, da die Aura des Heiligen in sämtlichen Ritualen tagtäglich erlebbar gemacht wurde. Zu dieser Diskussion siehe Sonntag, Klosterleben (wie Anm.14), 645f.

126

75

Ebd.366.

76

Ebd.367, und ders., Kniekuss versus Küchendienst (wie Anm.72), 161.

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gorien, die völlig fehlen. Was bleibt, ist die Grundaussage, dass derjenige, der sich verkehrt, zu Recht verkehrt und aufgrund dieser Tugend zu Recht herrscht. Tatsächlich sind Rituale in ihrer Aussage also hoch spezifisch, und die hier angestellten Reflexionen können im Gewirr der Zirkelschlüsse und scheinbaren oder unscheinbaren Paradoxien nur ein Puzzleteil im problematischen Gesamtbild der modernen Analyse von Inversionsritualen um Kinderbischöfe, Schandrituale und ähnliches sein. Wie kaum ein anderes Ritual bietet die Fußwaschung die Möglichkeit, über ihre symbolischen Dimensionen in historischer Perspektive nachzudenken. Die Verkehrungen des antiken Rituals sind nur bedingt diejenigen des mittelalterlichen, sei es in Klöstern oder (wie hier bewusst ausgelassen) an den Domkapiteln 77, und es sind noch ‚bedingter‘ diejenigen des Hofs. Die mehr oder weniger gegebene visuelle Kongruenz zwischen den verschiedenen Fußwaschungsakten wurde durch einem veränderten Zeitgeist, gewandelten spirituellen Ansprüchen oder machtpolitischen Notwendigkeiten geschuldete neue Sinnzuweisungen ‚überzeichnet‘. Eine Verkehrung setzt ein Verhältnis voraus, das verkehrt erscheinen kann, das also genau als das erscheint, was es eigentlich nicht ist. Aus moderner, vor allem soziologischer Perspektive mag dies für die Verdemütigung im Fußwaschungsritual tendenziell zutreffen. Würde man aber einen mittelalterlichen Mönch gefragt haben, ob er im Fußwaschungsritual die Ordnung verkehre, hätte er wohl – trotz des sozialen Abstands zwischen Abt und Mönchen bzw. Mönchen und Armen – mit Unverständnis reagiert und sich auf die göttliche Ordnung im Kloster, auf Gehorsam und die imitatio Christi berufen. Im Falle des Hofes aber, dem die theologischen Implikate des ursprünglichen Rituals und damit auch ein Großteil der Deutungsprobleme im Bereich der Inversionsanalyse stark entzogen sind, hätte man jene Frage im 19.Jahrhundert wohl schon eher mit Ja beantworten können.

77 An den Domkapiteln fanden Fußwaschungen einzig zu Ostern statt. Diese österlichen Waschungen waren in ihren Abläufen eng an denen der Klöster orientiert. Zur seit dem 7.Jahrhundert bezeugten speziellen Waschung der Füße von zwölf Subdiakonen durch den Papst siehe etwa Antoine Chavasse, À Rome, le jeudi-saint, au VIIe siècle d’après un vieil ordo, in: Revue d’histoire ecclésiastique 50, 1955, 21–35, oder Beatrice, La Lavanda dei piedi (wie Anm.15), 210–217.

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„Kreative Zerstörung“ Verkehrung und Rekonstruktion von Sinn in den „Quaestiones fabulosae“ des Spätmittelalters von Werner Röcke

Es gibt wohl nur wenige kulturelle Inszenierungen, die sich so konsequent und nahezu ausschließlich über Verkehrungen und Verkehrungsrituale definieren wie der Karneval. Dabei gehe ich von der Doppelbedeutung des Begriffs aus, die sich inzwischen in den Literatur- und Kulturwissenschaften durchgesetzt hat: Er bezeichnet einerseits „die Zeit der populären Feste, die im Kirchenjahr vor dem Beginn der Fastenzeit liegt“ und in der – vor allem im Spätmittelalter – in den unterschiedlichsten, meist höchst ritualisierten Formen gegen die gültigen Ordnungen und Normensysteme verstoßen wird oder diese sogar auf den Kopf gestellt werden. 1 Andererseits werden die Begriffe „Karneval“, „karnevalesk“ oder „Karnevalisierung“ metaphorisch für literarische Texte, Redeweisen oder Inszenierungen gebraucht, die – keineswegs nur im Spätmittelalter, sondern in den unterschiedlichsten Epochen und Kulturen – etablierte Ordnungen, Hierarchien und Formgesetze aufheben 2, bislang gültige Wertorientierungen in Frage stellen und damit eine „verkehrte Welt“ entwerfen 3. Was aber heißt „verkehrte Welt“? Was wird hier verkehrt? Auf welche Weise erfolgt diese Verkehrung und welche Absicht ist mit ihr verbunden? Im Verlauf der Literatur- und Wissenschaftsgeschichte sind auf diese Fragen ganz unterschiedliche Antworten gegeben worden. So z.B. hat Hans Folz, der im späten 15.Jahrhundert außerordentlich produktive und populäre Nürnberger Handwerkerdichter 4, die Verkehrungen der Fastnacht als Verkehrungen der Geschlechter-

1 Hans-Jürgen Bachorski, Art.„Karneval“, in: Klaus Weimar (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. 3.Aufl. 3 Bde. Berlin/New York 1997–2003, Bd. 2, 237. 2 Vgl. ebd. 3 Im Anschluss an Norbert Schindler, Karneval, Kirche und verkehrte Welt. Zur Funktion der Lachkultur im 16.Jahrhundert, in: ders. (Hrsg.), Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur in der frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 1992, 121–174. 4 Zu Leben und Werk vgl. Johannes Janota, Art.„Folz, Hans“, in: Kurt Ruh (Hrsg.), Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2.Aufl. 14 Bde. Berlin/New York 1978–2008, Bd. 2, 769–793.

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oldenbourg DOI 10.1515/9783486727678.128

und ständischen Ordnung beschrieben und verurteilt, die oben und unten, vorn und hinten ins Gegenteil verkehren und den Teufel selbst zum Herrn des Festes erheben: „Noch nympt die plag paß überhant. Der man klait sich in weybs gewant, Das weybsbild mannes kleyd anlegt, Der ley in geistlich wodt sich steckt, Der geistlich in kurcz reütrisch röck Und springen und gumpen als die pöck.“ 5

In der neueren Karnevalsforschung war es vor allem Norbert Schindler, der – im Anschluss an Michail Bachtin – dieses Spiel der Verkehrung in den Mittelpunkt seiner Beschreibung von „Karneval, Kirche und verkehrter Welt“ rückte: „Vom Karneval zu reden“, schreibt Schindler, „heißt über die Gesellschaft reden, die sich da einen Augenblick lang kollektiv selbst inszeniert unter der Prämisse, daß alles auch ganz anders sein könnte.“ 6 Doch was ist die Konsequenz dieses Spiels der Verkehrungen? Die besondere Bedeutung von Norbert Schindlers Deutungsansatz sehe ich darin, dass er die Verkehrung weder nur als Negation einer geordneten Welt noch – im Gegenteil – als Negativdidaxe versteht, welche vor der verkehrten Welt nur warnen will und sie trotz ihrer radikalen Verkehrungen in einen theologischen Heilsplan eingebunden sieht 7, sondern dass er die karnevaleske Kultur der Verkehrung gerade von der Alternative von Infragestellung und Affirmation von Ordnung befreit. Denn – so Schindler – „der Karneval ist […] nicht nur die Unordnung, die der Ordnung des gewöhnlichen Lebens gegenübersteht, sondern beide zusammen machen erst die ganze Ordnung aus. Er inszeniert die jeweils andere Seite der Dinge […] und macht so die Gegensatzpaare sichtbar, zwischen deren Polen sich Alltagserfahrung konstituiert: hoch und niedrig, arm und reich, groß und klein, schön und häßlich, jung und alt, aber auch Mann und Frau, […] Himmel und Hölle usw.“ 8

5 Hans Folz, Praktik, in: Hanns Fischer (Hrsg.), Hans Folz. Die Reimpaarsprüche. München 1961, Nr.34, S.289, VV. 69–74. 6 Schindler, Karneval, Kirche und verkehrte Welt (wie Anm.3), 121. 7 So vor allem Dietz-Rüdiger Moser, der diese These in einer ganzen Reihe von Arbeiten je neu variiert hat. Exemplarisch verweise ich nur auf Dietz-Rüdiger Moser, Elf Thesen zur Fastnacht, in: Jahrbuch für Volkskunde NF.6, 1983, 75–77, und ders., Perikopenforschung und Volkskunde, in: Jahrbuch für Volkskunde NF.6, 1983, 7–52. 8 Schindler, Karneval, Kirche und verkehrte Welt (wie Anm.3), 135.

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Wie aber hat man sich diese Verbindung von Ordnung und Unordnung, Verkehrung und Affirmation von Alltagserfahrungen im karnevalesken Fest vorzustellen? Und welche Phänomene karnevalesker Festkultur und karnevalesken Schreibens sind gemeint, wenn wir von Verkehrungen oder sogar Verkehrungsritualen sprechen? Die bislang umfassendste Sammlung derartiger Phänomene in Kultur und Literatur, keineswegs nur des Mittelalters, sondern auch der Antike, der Frühen Neuzeit und der Moderne, hat Michail Bachtin vorgelegt; er war es auch, der das für den Karneval konstitutive Konzept der Verkehrung und Gegenweltlichkeit metaphorisch gebrauchte und zu einer allgemeinen literatur- und kulturwissenschaftlichen Kategorie ausbaute. Der Preis für diese Verallgemeinerung allerdings war hoch: In seinem Dostojewski-, vor allem aber in seinem Rabelais-Buch hat Bachtin die unterschiedlichsten Phänomene einer lachenden Verkehrung und Degradierung „offizieller“ Ordnung, „offiziellen“ Sprechens und Handelns in Literatur und Kunst unterschiedlichster Epochen zusammengestellt und weitgehend einander gleichgesetzt (antike Saturnalien, mittelalterliche Fêtes des fous, verkehrte Krönungsrituale, wie den Bohnenkönig am Dreikönigstag u.a.). 9 Dabei geht er von einem strikten Dualismus von „seriösen“ 10 – kirchlichen und feudal-herrschaftlichen – Kult-, Zeremonialund Redeformen einerseits, ihrer Infragestellung andererseits aus. Charakteristisch für Erstere ist ihre Eindeutigkeit, ihre Geschlossenheit und selbstverständliche Geltung, die sich vor allem in einer sprachlichen Besonderheit ausdrückt: einer „monologischen“ Sprache der Verkündigung, des Bekenntnisses, der herrschaftlichen Anordnung und anderer Formen herrschaftlichen Sprechens. 11 Demgegenüber sieht er eine – wie er schreibt – „jahrtausendealte Volkskultur“, eine „volkstümliche Lachkultur“ 12, die im Gelächter des Volkes die „offiziellen“ Herrschafts- und Sprachgesten unterläuft, der monologen Rede ganz verschiedene

9 Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt am Main 1987, 53. Vgl. auch ders., Probleme der Poetik Dostoevskijs. München 1971. 10

Bachtin, Rabelais und seine Welt (wie Anm.9), 53.

11

Die „Grammatik“ monologischen Sprechens hat Bachtin vor allem in seinen romanpoetologischen

und linguistischen Studien entwickelt. Vgl. dazu insbesondere die Aufsätze „Das Wort im Roman“ und „Die Ästhetik des Wortes“ in: Michail Bachtin, Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt am Main 1979, 154–300 bzw. 91–153. Vgl. dazu auch den einleitenden Aufsatz von Rainer Grübel, Zur Ästhetik des Wortes bei Michail M. Bachtin, ebd.21–88, sowie Edward Kowalski, Michail Bachtins Begriff der Dialoghaftigkeit. Genese und Tradition einer künstlerischen Denkform, in: Michail Bachtin, Untersuchungen zur Poetik und Theorie des Romans. Berlin/Weimar 1986, 509–540. 12

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Bachtin, Rabelais und seine Welt (wie Anm.9), 51.

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Deutungsmöglichkeiten aufnötigt, sie also dialogisiert und ihrer vormals selbstverständlichen Geltung entkleidet. Es liegt auf der Hand, dass ein solch genereller Dualismus die einzelnen literarischen und kulturellen Phänomene weitgehend nivelliert und ihnen damit ihre Besonderheit nimmt. Denn – Nietzsches Aperçu aus den Unzeitgemäßen Betrachtungen markiert den Sachverhalt sehr genau – wo alles gleich gelte, da werde es am Ende auch „gleichgültig“. 13 Ähnliches gilt für die merkwürdig undifferenzierte und unhistorische Kategorie des „Volks“, die Opposition von offizieller Kultur und Volkskultur, die problematische Verbindung von „Leben des Volkes“ und Karneval, der nicht gezeigt oder geschaut, sondern „gelebt“ werde: „Den Karneval schaut man sich nicht an, man lebt ihn, alle leben ihn, denn er ist von der Idee her dem ganzen Volk gemeinsam.“ 14 Natürlich ist das schon aufgrund der verbreiteten Prozessionsformen, des Zeigegestus und der Visualisierungsstrategien vieler karnevalesker Inszenierungen außerordentlich problematisch. 15 Gleichwohl ist gerade Bachtins Analyse der Lachkulturen für meine Frage, wie die Verbindung von Verkehrung und Affirmation, von Ordnung und Unordnung zu deuten wäre, außerordentlich interessant. Dabei sind es vor allem zwei Punkte, die in dieser Hinsicht besonders aufschlussreich sind: 1. Bachtin denkt die Verkehrung von oben und unten, von Herrschaft und Knechtschaft, von – bei ihm besonders wichtig – Heiligem und Profanem nicht nur als Inversion, d.h. als „Aufhebung der hierarchischen Verhältnisse, aller Privilegien, Normen und Tabus“ 16, sondern – wie er formuliert – als „Familiarisierung“ von Menschen, die – obwohl sie im Alltagsleben durch strenge Hierarchie strikt getrennt sind – in einen „familiären Kontakt“ 17 zueinander treten und auf diese Weise einander

13 Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. Unzeitgemäße Betrachtungen, Zweites Stück, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. 15 Bde. Hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München 1980, Bd. 1, 293. 14 Bachtin, Rabelais und seine Welt (wie Anm.9), 55. 15 Zur Form der Prozession in den Fêtes des fous und anderen karnevalesken Inszenierungen des Spätmittelalters vgl. Natalie Zemon Davis, Humanismus, Narrenherrschaft und die Riten der Gewalt. Gesellschaft und Kultur im frühneuzeitlichen Frankreich. Frankfurt am Main 1987, 106–135 („Die Narrenherrschaft“), sowie zur Funktion der Prozession im geistlichen und Fastnachtspiel des 15./16.Jahrhunderts zuletzt Werner Röcke, Realpräsenz des Heiligen und karnevaleske Verkehrung. Annäherungen an das „ganz Andere“ in geistlichen und weltlichen Prozessionsspielen des Mittelalters, in: Katja Gvozdeva/Hans Rudolf Velten (Hrsg.), Medialität der Prozession. Performanz ritueller Bewegung in Texten und Bildern der Vormoderne. Heidelberg 2011, 307–322. 16 Bachtin, Rabelais und seine Welt (wie Anm.9), 58. 17 Ebd.

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gleichrangig werden. Besonders auffällig ist diese Familiarisierung in dem Fall, in dem sie nicht nur von Personen, sondern auch von Grundkategorien religiöser Weltdeutung, wie dem Heiligen und dem Profanen, behauptet oder sogar praktisch vollzogen wird. Bekanntlich ging noch Émile Durkheim von einer prinzipiellen Trennung des Heiligen und des Profanen, d.h. einer „absoluten“ Andersartigkeit des Heiligen gegenüber dem Profanen aus. 18 Zwar wird diese strikte Trennung von Heiligem und Profanem spätestens dann unterlaufen, wenn – wie im Christentum – Gott Mensch wird und gerade in die Niedrigkeit und Alltäglichkeit der Welt hineingeboren wird. Auch in diesem Fall aber gilt, dass Heiligkeit in erster Linie als „Distanzkategorie“ aufzufassen ist: „Sie ist das Unvertraute, Inkommensurable und […] Unverfügbare“ par excellence, das allerdings nur „in Relation zu jenem Vertrauten und Profanen [zu denken ist], von welchem es Abstand nimmt“. 19 Umso bemerkenswerter ist dann allerdings der Umstand, dass in karnevalesken Inszenierungen des Mittelalters ausgerechnet das Heiligste und das Profanste nicht nur aufeinander bezogen, sondern auch miteinander verbunden werden. Die von mir ausgewählten Quaestiones fabulosae bieten zahllose Beispiele einer derartigen Hybridbildung des Heiligen und Profanen. Wir werden zu prüfen haben, welche Konsequenzen sich daraus für unsere Frage nach der Logik der Verkehrung ergeben. 2. Bachtin denkt Verkehrungen und Degradierungen des Hohen, Geistigen und Idealen dynamisch. Zwar werden sie erniedrigt, in gewisser Weise auch – und dies im Wortsinne – beerdigt. Zugleich aber erwachsen aus der Beerdigung des Hohen und Geistigen auch Perspektiven neuen Lebens. Bachtin hat diese Möglichkeit der Degradierung, neue Formen zu schaffen, ausschließlich an grotesken Kunstformen demonstriert: an den grotesken Entgrenzungen, aber auch Deformationen menschlicher Körper, an den Verschlingungen von Körper und umgebender Natur in und durch Nahrungsgenuss und Ausscheidung, Sterben und neuer Geburt. 20 Gleichwohl bleibt diese Verbindung von Degradierung (bzw. Verkehrung) und Emergenz neuer Ausdrucksformen des Menschen nicht auf die Möglichkeit grotesker Kunst

18

Émile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt am Main 1991, 64.

19

Peter Strohschneider, Inzest-Heiligkeit. Krise und Aufhebung der Unterschiede in Hartmanns „Gregori-

us“, in: Christoph Huber/Burghart Wachinger/Hans-Joachim Ziegeler (Hrsg.), Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters. Tübingen 2000, 105. 20

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Im Anschluss an Bachtin, Rabelais und seine Welt (wie Anm.9), 71.

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beschränkt, sondern gilt auch in literarischer, religiös-theologischer oder wissenschaftlicher Hinsicht. Gerade die Kunst der Verkehrung – so lautet meine Ausgangsthese – eröffnet Möglichkeiten neuen Wissens, neuer Zusammenhänge, neuer Entwürfe von Welt, die so bislang nicht gesehen oder gar für möglich gehalten worden sind. Ich verwende für diese Denkfigur – die Verbindung von Verkehrung und neuem Wissen – eine Bezeichnung, die weder aus den Literatur- noch aus den Kulturwissenschaften herrührt: Der Wirtschaftstheoretiker und -historiker Joseph Alois Schumpeter (1883–1950) hat die kreative Kraft kapitalistischer Produktionsweise, alte Strukturen zu zerstören und gerade daraus neue zu schaffen, als „kreative Zerstörung“ bezeichnet. 21 Ich übernehme diesen Begriff, da er auch die Verbindung von Verkehrung und neuem Wissen präzise auf den Punkt bringt, die für karnevaleske Fest- und Inszenierungsformen kennzeichnend ist. Vielleicht erscheint der Begriff „Zerstörung“ auf den ersten Blick etwas überzogen. Da aber jede Verkehrung und jede Degradierung bislang selbstverständliche Geltungsansprüche in Frage stellt, sie zumindest spielerisch aufhebt und genau daraus neue Formen des Wissens erwachsen, ist hier durchaus – so die These – von einer Form „kreativer Zerstörung“ auszugehen. Fraglich ist nur, in welchen Formen karnevalesker Inszenierung und auf welche Weise sie realisiert wird. Im Folgenden möchte ich versuchen, die Verfahrensweisen und die Regeln, gewissermaßen die Grammatik „kreativer Zerstörung“ an einem bestimmten Verkehrungsritual aufzudecken, das im Schnittfeld von Literatur, universitärer Lehre, Wissensorganisation und karnevaleskem Spiel angesiedelt ist: Die Quaestiones fabulosae repräsentieren im Lehrbetrieb der spätmittelalterlichen Universitäten außerordentlich beliebte disputationes de quolibet, d.h. zu beliebigen Themen, die – gerade in ihrer Lust an der Deformation überkommener und der Kombination gänzlich inkompatibler Formen des Wissens – für die Frage nach der Logik von Verkehrungen außerordentlich hilfreich sind.

21 Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. 7.Aufl. Tübingen/Basel 1993, 134ff. (Kap. 7: „Der Prozeß der schöpferischen Zerstörung“).

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I. Verkehrungsritual und gelehrtes Spiel: die Quaestiones fabulosae des 15./16.Jahrhunderts Parodien sind besonders genaue Indikatoren des Parodierten. Zwar entwerfen sie, in Anlehnung an ihre Form, Gegenbilder zu literarischen Gattungen, religiösen Ritualen und Redemustern oder – wie im hier interessierenden Fall – zu akademischen Lehr- und Disputationsformen. Zugleich aber markieren sie in größter Klarheit die besonderen Merkmale und Funktionsregeln der parodierten Redeformen. Das gilt auch für die Disputationstechnik an den Artistenfakultäten des Spätmittelalters. Quaestiones fabulosae bieten parodistische Gegenbilder zu den in Philosophie, Theologie, Rechtswissenschaft seit dem 12.Jahrhundert an den europäischen Universitäten, zuerst in Paris, etablierten Lehr- und Vortragsformen. Dabei folgt die disputatio der „Form der quaestio, in der durch Fragestellung und Fragelösung die Entscheidung über die Wahrheitsgründe eines Widerspruchs gefunden wird“. 22 Bereits im Verlauf des 12.Jahrhunderts werden Aufbau und Durchführung der quaestio, als freie Form der disputatio 23 und im Anschluss an die entsprechenden Regeln der aristotelischen Topik, sehr stark formalisiert, die, wie Johannes von Salisbury in seinem Metalogicus schreibt, kunstvoll und regelgerecht („arte“), nicht „aufs Geratewohl“ („casu“) realisiert werden soll. 24 Das bedeutete in der Regel, dass ein Magister eine theologische, philosophische oder juristische Frage darlegt, ein respondens dazu eine These formuliert, die er gegen Einwände zu verteidigen hat, der Magister schließlich die disputatio zusammenfasst und eine Entscheidung fällt. Von dieser disputatio ordinaria unterschied sich zumindest thematisch die disputatio de quolibet, die – wie der Name sagt – nicht nur philosophischen, theologischen oder juristischen, sondern beliebigen Themen aus ganz unterschiedlichen Wissensgebieten gewidmet war. Es waren wohl diese disputationes de quolibet, die im 15./16.Jahrhundert zu „Scherzdisputationen“ (disputationes fabulosae) verschoben und auf diese Weise parodiert, d.h. verkehrt wurden. Dabei folgen die Scherzdisputationen – gemäß der Logik der Parodie – den Regeln, die für die disputationes ordinariae kennzeichnend sind, zitieren sie, er-

22

Fidel Rädle, Art.„Disputatio“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (wie Anm.1), Bd. 1,

376–379, hier 377. 23

Ebd.

24

John of Salisbury, Metalogicus 3, cap. 10. Ich zitiere und übersetze die Stelle nach Rädle, Art.„Disputatio“

(wie Anm.22), 377.

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proben sie aber an gänzlich inkompatiblen Stoffbereichen. Die beliebtesten Themen der Scherzdisputationen betreffen die Funktionen und Freuden des Leibes, also Essen und Trinken, Fressen und Saufen, erotisches Begehren und sexuelle Lust: eine – wie Günter Hess in seiner gründlichen Untersuchung der Quaestiones fabulosae schreibt – „Sauf-, Freß- und Hurenthematik“ 25, die allerdings sprachlich außerordentlich raffiniert und differenziert vorgetragen wird. Insofern können wir bei der Untersuchung dieser Scherzdisputationen von Anfang an von einem doppelten Befund ausgehen: Einerseits bieten sie parodistische Verkehrungen der an den spätmittelalterlichen Universitäten bestens etablierten Lehr- und Disputationsformen, zitieren und verhöhnen ihren erstarrten Regelmechanismus, der gerade in seinem rituellen, d.h. je neu wiederholten Gebrauch lächerlich gemacht wird. Die Quaestiones fabulosae des 15./16.Jahrhunderts bieten – so meine erste These – Standardfälle von Verkehrungsritualen, die sich andererseits – und das scheint mir besonders interessant – nicht darin erschöpfen, die scholastische Disputations- und Lehrpraxis nur zu unterlaufen und lächerlich zu machen. Vielmehr führt die Art und Weise ihrer Verkehrung zur Eröffnung neuer, bislang so noch nicht gesehener Formen des Wissens und neuer Dimensionen von Sinn, die weit über die bloße Kontrafaktur tradierter Lehr- und Disputationsformen hinausgehen. Diese „Kreativität“ der „Zerstörung“ erwächst – so meine zweite These – aus dem Spielcharakter dieses Verkehrungsrituals: Quaestiones fabulosae sind „gelehrte Spiele“, vielleicht sogar – wie Hess formuliert – „von Amts wegen inszenierte, gelehrte Gesellschaftsspiele“ 26, in denen – anlässlich eines Verkehrungsrituals – unterschiedliche Formen des Wissens, aber auch des wissenschaftlichen Denkens und Sprechens durchgespielt, aufeinander bezogen und auf diese Weise neu figuriert und entworfen werden. Spiele sind insofern widersprüchlich, als sie die Einhaltung bestimmter Regeln voraussetzen, zugleich aber auch je neue Möglichkeiten und Chancen, Konstellationen und Optionen durchspielen: „Das Charakteristische des Spiels ist […] nicht das Eine, sondern die Veränderbarkeit der Hinsichten.“ 27 Insofern sind Spiele Inszenierungen des Übergangs. Sie erproben im Rahmen vorgegebener Regeln je neue Konstellationen der Spielord-

25 Günter Hess, Deutsch-lateinische Narrenzunft. Studien zum Verhältnis von Volkssprache und Latinität in der satirischen Literatur des 16.Jahrhunderts. München 1971, 180. 26 Ebd.179. 27 Gunter Gebauer, Art.„Spiel“, in: Christoph Wulf (Hrsg.), Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Weinheim/Basel 1997, 1038–1047, hier 1038.

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nung oder – in unserem Fall – des Wissens und der Wissensanordnung. Dabei wirken sie in dem Sinne performativ, dass im Vollzug dieses Spiels neue Ordnungen des Wissens und neue Konstruktionen von Sinn sichtbar werden, die bislang so noch nicht zutage getreten waren. Voraussetzungen dafür sind verschiedene Formen der Rede, die in den Scherzdisputationen auf höchst kunstvolle Weise erprobt und in Szene gesetzt werden. Im Folgenden beschränke ich mich auf drei Rede- und Argumentationsformen, die für Quaestiones fabulosae besonders charakteristisch sind: 1. eine – wie Bachtin formuliert 28 – konsequente „Familiarisierung“ des Heiligen und Profanen, von Scherz und Ernst, Oben und Unten, Körper und Geist; 2. eine ausgeprägte „Barbarolexis“ 29, d.h. eine Mischung verschiedener Sprachen, z.B. Deutsch und Latein, bewusste Verstöße gegen idiomatische Korrektheit wie Verballhornungen von Wörtern, falsch flektierte oder anderweitig verstümmelte Wörter, Neuschöpfungen von Wörtern u.ä.; 3. eine wahre Lust nicht nur an der Verwirrung der Sprache, sondern auch an der Verwirrung von Sinn, die aber gleichwohl zu neuen, in sich völlig sinnhaften Entwürfen fiktionaler Welten gelangt. Die sogenannte Unsinns- oder Nonsens-Poesie war gerade in der deutschen und französischen Literatur des 16.Jahrhunderts außerordentlich beliebt. 30 Sie bricht mit den vertrauten Regeln einer sinnvoll geordneten Welt, bildet in sich aber eine – wenn auch nach außen abgeschlossene – sinnhafte Welt. In den Quaestiones fabulosae können wir solche fiktionalen Welten noch in statu nascendi beobachten; in der Romanliteratur des 16.Jahrhunderts werden sie aufgegriffen und fortgeschrieben. 31 28

Bachtin, Rabelais und seine Welt (wie Anm.9), 58.

29

Im Anschluss an Hess, Deutsch-lateinische Narrenzunft (wie Anm.25), Kap. 5 („Barbarolexis“).

30

Vgl. dazu Peter Köhler, Art.„Nonsens“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (wie

Anm.1), Bd. 2, 719f.; Wilhelm Kellermann, Über die altfranzösischen Gedichte des uneingeschränkten Unsinns, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 205, 1968, 216–229, sowie Theo Stemmler/Stefan Horlacher (Hrsg.), Sinn im Unsinn. Über Unsinnsdichtung vom Mittelalter bis zum 20.Jahrhundert. Tübingen 1997. 31

So vor allem in der ebenso knappen wie raffinierten Reiseromanparodie vom „Finckenritter“ („Die

History vn Legend von dem treffenlichen vnd weit erfarnen Ritter / Herrn Policarpen von Kirrlarissa / genant der Fincken Ritter / wie der drithalb hundert jar / ehe vnd er geboren ward / vil land durch wandert / vnd seltzame ding gesehē / vnd zuo letst von seiner Muoter für todt ligen gefunden / auffgehaben / vn erst von newen geboren worden“), Straßburg, um 1560. Vgl. dazu Joachim Knape, Der Finckenritter. Text und Untersuchung, in: Philobiblon 35, 1991, 97–148; Thomas Cramer, Von einem, der auszog, die Welt kaputtzulachen, in: Werner Röcke/Helga Neumann (Hrsg.), Komische Gegenwelten. Lachen und Literatur in Mittelalter und Früher Neuzeit. Paderborn 1999, 289–299; Werner Röcke, Befremdliche Vertrautheit. Inver-

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Zur Erläuterung dieser drei Rede- und Argumentationsformen habe ich zwei Scherzdisputationen ausgewählt, die ich allerdings nicht als solche darstelle, sondern nur als Belegmaterial für die Grammatik dieser Karnevalisierung von Wissen verwende: einerseits eine im Jahr 1494 in Erfurt gehaltene Rede von Johannes Schram aus Dachau, das „Monopolium der Schweinezunft“ 32, andererseits eine im Jahr 1515 ebenfalls in Erfurt gehaltene Rede eines Ungenannten, „De generibus ebriosorum et ebrietate vitanda“ („Über die Arten/Klagen der Trunksüchtigen und wie die Trunkenheit zu vermeiden ist“). 1. Die Familiarisierung des Heiligen und Profanen Johannes Schram beginnt sein „Monopolium der Schweinezunft“ mit einem längeren, allerdings nicht als solches gekennzeichneten Zitat aus der Vorrede des Humanisten und päpstlichen Sekretärs Gian Francesco Poggio Bracciolini zu seinem Liber Facetiarum (1438), in der dieser sich dafür zu rechtfertigen sucht, dass er diese „witzigen Anekdoten, scherzhaften Einfälle und Fabeln“ („facetiae, ioci et fabulae“ 33), obwohl sie sich doch gerade durch eine offensichtliche Dürftigkeit ihres Stils auszeichneten, überhaupt zusammengestellt habe. Schon immer hätten doch gerade die Gebildeten an derlei Erzählungen Vergnügen gefunden, zumal die Philosophen seit jeher davon überzeugt seien, dass „unser von verschiedensten Gedanken und beständigen Sorgen bedrückter Geist [sich] von Zeit zu Zeit Erholung […] gönnen und [man] ihn durch allerlei Scherzhaftes heiter […] stimmen und […] zerstreuen“ 34 sollte. Allerdings könnten manche – schreibt Poggio weiter – vielleicht glauben, es sei Mangel an Geist, der ihn dazu veranlasse, sich auf diese Weise zu entschuldigen. Dem stimme er ausdrücklich zu, doch fordere er diese Kritiker im Gegenzug auf, sich diese „Geschichten selber vorzunehmen und sie auszuschmücken und zu verfei-

sionen des Eigenen und des Fremden in der deutschen Literatur des 16.Jahrhunderts, in: Renate Schlesier/ Ulrike Zellmann (Hrsg.), Reisen über Grenzen. Kontakt und Konfrontation, Maskerade und Mimikry. Münster 2003, 119–131. 32 Johannes Schram, Monopolium der Schweinezunft (Erfurt 1494), abgedruckt in: Friedrich Zarncke, Die deutschen Universitäten im Mittelalter. Leipzig 1857, 103–116. 33 Ich lege die Ausgabe Poggio Bracciolini, Facezie, con un saggio di Eugenio Garin, introduzione, traduzione e note di Marcello Ciccuto, testo latino a fronte. Mailand 1983, zugrunde (hier 108) und zitiere die deutsche Übersetzung von Hanns Floerke, Die Facezien des Florentiners Poggio. Hanau am Main 1967 [München 1920], hier 19. 34 Poggio Bracciolini, Facezie (wie Anm.33), 108; Floerke, Facezien (wie Anm.33), 20.

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nern“. 35 Auf die mediengeschichtlich interessante Pointe dieser Aufforderung, dass in Zeiten des Buchdrucks jeder nachträgliche Eingriff in einen Text schon allein technisch ausgeschlossen ist, gehe ich hier nicht weiter ein. 36 Für die Frage nach einer Familiarisierung des Wissens relevanter scheint mir der Umstand, dass Johannes Schram sein Zitat aus Poggios Vorrede immer wieder unterbricht und seinerseits mit – nun allerdings biblischen – Belegen zu legitimieren sucht. 37 Dabei ist es in den meisten Fällen offensichtlich, dass er falsch zitiert, die angegebenen Bibelstellen nicht oder nur ungefähr stimmen, ihr Belegcharakter also nur mäßig überzeugt. Allerdings war philologische Korrektheit wohl auch nicht Schrams Absicht. Der Skandal seiner Rede liegt nicht in mangelnder Sorgfalt bei der Referenz auf biblische Belege, sondern in dem Umstand, dass Poggios Text überhaupt mit biblischen Referenzen versehen wird. Zwar ist sein Liber facetiarum, obwohl vom Trienter Konzil (1545– 1563) auf den Index gesetzt, kein kirchen- oder gar religionsfeindliches Werk. Gleichwohl ist es in seiner witzigen Infragestellung religiöser Rituale und klerikalen Machtanspruchs mit biblischen Verkündigungstexten gerade aufgrund von deren Eindeutigkeit nicht kompatibel. Werden beide dennoch miteinander verbunden, führt das vor allem für das heilige Wort zu unabsehbaren Konsequenzen. So z.B. begründet Schram Poggios Aufforderung an seine Kritiker, seine Geschichten selbst stilistisch zu erhöhen, mit dem Verweis auf den „wahrhaft im Wort Geborenen“ („verbigena“) oder Wortschöpfer, d.h. Christus, von dem doch schon der Psalmist in Psalm 132 sage: „Es gibt keinen im Wort Geborenen [oder Wortschöpfer] außer Christus, der wahren Weisheit“ („Non est verbigena nisi Christus, vera sophia“). 38 35

Ebd.

36

Ausführlicher dazu Werner Röcke, Fiktionale Literatur und literarischer Markt. Schwankliteratur und

Prosaroman, in: ders./Marina Münkler (Hrsg.), Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. München/Wien 2004, 463–506. 37

„Honestum est enim ac ferme necessarium, quod mentes sapientum, variis cogitationibus ac molestiis

oppressae, recreari pro nunc possint a continuis curis, et aliquo iocundi genere ad hilaritatem remissionemque et gaudium converti, sacra scriptura teste, Ezechielis quarto capitulo: Gaudeo gavisum praebet, vult regula gausum.“ Schram, Monopolium der Schweinezunft (wie Anm.32), 104. Bei Poggio lautet die entsprechende Stelle: „[…] es [ist] doch etwas Gutes, fast möchte ich sagen Notwendiges – es entspricht ja auch den Anschauungen der Philosophen –, unserem von verschiedensten Gedanken und beständigen Sorgen bedrückten Geiste von Zeit zu Zeit Erholung zu gönnen und ihn durch allerlei Scherzhaftes heiter zu stimmen und zu zerstreuen.“ Floerke, Facezien (wie Anm.33), 19. 38

„Existimabunt forte aliqui, hanc meam allegationem ab ingenii industria esse profectam, quibus ego

quoque assentio, modo ipsi eandem ornatius politiusque describant, quod ut faciant cum vera exhortor verbigena, i. Christo, dicente psalmista psalmo CXXXII: Non est verbigena nisi Christus, vera sophia.“ Schram,

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Dabei ist die einfache Beobachtung, dass der Psalm 132 nichts vom Wortschöpfer Christus weiß, ja auch nicht wissen kann, weniger erstaunlich als der Umstand, dass die potentiellen Kritiker und Bearbeiter von Poggios Fazetienbuch mit Jesus Christus, dem wahren Wortschöpfer, der – so der berühmte Prolog des Johannes-Evangeliums – als Gottessohn selbst „das Wort war“ (Joh 1,1ff.), gleichgesetzt und das heißt familiarisiert werden. Welche Folgen hat diese Familiarisierung? Zunächst werden damit die Unterschiede zwischen Göttlichem und Menschlichem, Worttheologie und ironischem Appell an Poggios Kritiker, sich selbst seinem Text zu widmen, eingeebnet. Darüber hinaus steht die Suprematie des Göttlichen selbst auf dem Spiel, das sich gerade über seine Wortmächtigkeit definiert. Allerdings ist Johannes Schram kein Ketzer und seine Scherzrede keine Ketzerrede. Er inszeniert lediglich ein Spiel, indem bislang strikt getrennte Überzeugungen zusammengedacht werden, die damit ihre Trennschärfe und Eindeutigkeit verlieren und auf diese Weise neue Möglichkeiten des Verstehens und Wissens eröffnen. Im ersten Teil seines Poggio-Zitats verfährt Schram ganz ähnlich, nur dass er hier die seit der antiken Rhetorik je neu wiederholte Überzeugung, dass gerade der angestrengte Kopf von Zeit zu Zeit durch heitere Erzählungen entspannt werden sollte, mit einem Zitat aus dem Alten Testament belegt. 39 Dabei liegt der Witz allerdings darin, dass im 4. Kapitel des Propheten Ezechiel, auf das Schram hier verweist, die Rache und das Strafgericht Gottes an seiner sündigen Stadt Jerusalem beschworen werden, nicht Freude oder Heiterkeit. Zwar gestattet sich Schram noch eine ironische Referenz auf die Freude, wenn er Ezechiel im Kapitel 4 eine grammatische Regel unterstellt, wie das Verb „gaudere“ im Partizip Perfekt Passiv gebildet werden soll („Gaudeo gavisum praebet, vult regula gausum“). Auch in diesem Fall sehe ich ein Spiel der Irritationen und Verwirrungen, der bunten Mischung rhetorischer Kunst, alttestamentlicher Prophetie und lateinischer Grammatik, die alle diese Wissensbereiche ganz neu zu lesen lehrt. Zwar wird diese Möglichkeit in Schrams Rede nicht eigens formuliert. In der zweiten Erfurter Rede „De genere ebriosorum“ ist das aber durchaus der Fall.

Monopolium der Schweinezunft (wie Anm.32), 104. Bei Poggio: „[…] ich stimme ihnen sogar bei: nur fordere ich sie auf, dieselben Geschichten selber vorzunehmen und sie auszuschmücken und zu verfeinern.“ Floerke, Facezien (wie Anm.33), 19. 39 Vgl. Anm.37.

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2. Die Scherzdisputatio „De generibus ebriosorum“ oder die Kunst der sprachlichen Hybride Die Hybride ist die zentrale, verschiedenen Phänomenen gemeinsame Kunstform der Quaestiones fabulosae. Sie verbindet heterogene, bislang strikt getrennte Bereiche, bezieht sie aber nicht nur aufeinander, sondern führt zu ihrer tatsächlichen Vermischung. 40 Damit werden – wie wir gesehen haben – die Witzkunst Poggios und die Worttheologie des Johannesevangeliums, der rhetorische Appell zur heiteren Erfrischung des ermüdeten Geistes und die Racheprophetie Ezechiels zu einer Denkfigur, die beide untrennbar ineinander verschlingt. Den sprachlichen Ausdruck dieser Form von Hybridisierung repräsentiert die „Barbarolexis“ 41, d.h. die Vermischung unterschiedlicher Sprachen innerhalb einer Redesequenz oder sogar eines einzigen Wortes. Es war vor allem Michail Bachtin, der in seinen Forschungen zur Polyphonie des Romanworts unterschiedliche Verfahren der Vermischung verschiedener Sprachen wie Latein und Volkssprachen, aber auch sozialer Sprachen, religiöser Sprachen etc. vorgestellt und unter dem Label „Hybridisierung“ zusammengefasst hat. 42 Der Erfurter Anonymus hat in seiner Scherzdisputatio über die verschiedenen Typen von Trunkenbolden („De generibus ebriosorum“) von diesem sprachlichen Mittel reichlich Gebrauch gemacht. 43 Zwar beschränkt er sich auf die Vermischung von Deutsch und Latein, doch wird dabei deutlich, dass sich grundsätzlich unterschiedene Denkweisen oder – wie Bachtin formuliert – „Horizonte von Sinn und Wertung vermischen“. 44 Ein besonders instruktives Beispiel bietet eine Hybride, die der Anonymus aus der Vermischung der Erzählung von der Himmelfahrt Jesu mit der Geschlechtskrankheit Syphilis sowie einer kruden politischen Phantasie gewinnt. So mündet

40

Einen guten Überblick über die jüngere Theoriegeschichte der Hybride sowie über die Formen und

Möglichkeiten der Hybridisierung bieten Kathrin Audehm/Hans Rudolf Velten (Hrsg.), Transgression – Hybridisierung – Differenzierung. Zur Performativität von Grenzen in Sprache, Kultur und Gesellschaft. Freiburg im Breisgau/Berlin/Wien 2007, 30–35. 41

Vgl. Anm.29.

42

So z.B. Bachtin, Das Wort im Roman, in: ders., Die Ästhetik des Wortes (wie Anm.11), 195, und Bachtin,

Aus der Vorgeschichte des Romanwortes, in: ebd.301–337. Zur Hybride im Sprachdenken Michail Bachtins vgl. auch Wolfram Eilenberger, Das Werden des Menschen im Wort. Eine Studie zur Kulturphilosophie Michail M. Bachtins. Zürich 2009, 160ff. 43

De generibus ebriosorum et ebrietate vitanda (1515), in: Zarncke, Die deutschen Universitäten (wie

Anm.32), 116–154. 44

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Bachtin, Das Wort im Roman (wie Anm.42), 195.

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seine Säuferpredigt, die ohnehin schon in haarsträubendem Latein gehalten ist, in einen scheinbaren Galimathias deutscher und lateinischer Sprachbrocken, die dann zwar einen präzisen, aber eben hybriden Sinn ergeben. So werden aus den zunächst angesprochenen „Fratres avarissimi“, den „habgierigsten Brüdern“, aufgrund der Schriftlesung für den heutigen Tag, „Viri Galilaei, ir vngetrewen Frantzosen“, die folgendermaßen angesprochen werden: „quid admiramini, was lat ir euch beduncken, aspicientes in coelum, meynt ir, das ir vns teutsche verjagen wöllet. Alleluia, Got geb euch sant Vrbans plag, ut ambuletis per vias rectas, das ir all mit der nasen in dreck must fallen.“ 45

Doch woher kommen die „viri Galilaei“, die hier in den Himmel starren, als „vngetrewe Frantzosen“ angesprochen werden und „vns teutsche verjagen“ wollen? Offensichtlich bezieht sich der Prediger auf die Erzählung von Jesu Himmelfahrt (Apg 1,9ff.), in der, nachdem Jesus gen Himmel gefahren ist, zwei Männer in weißen Kleidern auftreten und die Jünger Jesu ansprechen: „Ihr Männer von Galiläa [viri Galilaei], was steht ihr da und blickt zum Himmel auf?“ 46 Zugleich aber werden die biblischen „viri Galilaei“ durch die barbarisierende Übersetzung „ir vngetrewen Frantzosen“ auf zwei völlig entgegengesetzte Bedeutungsebenen verschoben: einerseits auf den im 16.Jahrhundert höchst gegenwärtigen morbus Gallicus, die Geschlechtskrankheit Syphilis 47, andererseits auf die französischen Nachbarn, denen unterstellt wird, dass sie „vns teutsche verjagen“ wollen 48. Dabei scheint mir an dieser doppelt „falschen“ Übersetzung besonders interessant, dass sie zwei völlig neue Diskurs- und Sinnebenen generiert, von denen die politische sogar auf Formen politischen Handelns zielt: „Mit der Fiktion des Mißverstehens“ – so Günter Hess – „transponiert die deutsche Paraphrase die Situation der Himmelfahrt Christi zur militanten nationalen Propaganda“ 49, die ihrerseits zum Widerstand gegen die französischen Feinde aufruft. Zwar wird dieser Appell wieder auf die Diskursebene der Säuferpredigt zurückgeführt, doch wird den Feinden immerhin Sankt Urbans „plag“, das Martyrium des heiligen Patrons der Weinbauern, an den Hals gewünscht: eine höchst aggressive Reaktion auf die den Franzosen unterstellte Vertreibungsphantasie. Über ent45 De generibus ebriosorum (wie Anm.43), 152. 46 Apg 1,11. 47 Vgl. dazu den Traktat des Alexander Seitz, Wider die bosen Frantzosen (1509). Ich verdanke den Hinweis auf Seitz’ Traktat Hess, Deutsch-lateinische Narrenzunft (wie Anm.25), 196. 48 De generibus ebriosorum (wie Anm.43), 152. 49 Hess, Deutsch-lateinische Narrenzunft (wie Anm.25), 196.

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sprechende nationalistische Ängste oder Aggressionen im Erfurt des Jahres 1516, als die Säuferpredigt gehalten wurde, ist mir nichts bekannt. Denkbar ist allerdings, dass wir es wiederum nur mit einem Spiel der Assoziationen und Deutungen zu tun haben, denen der Anonymus freien Lauf lässt. Gleichwohl ist daran der dynamische Aspekt dieser Barbarolexis bemerkenswert: Es ist gerade die Mehrdeutigkeit der „viri Galilaei“, welche ganz neue medizinische und vor allem politische Perspektiven eröffnet. Oder anders gesagt: Die Verkehrung der biblischen Erzählung von der Himmelfahrt Christi, die in der Hybride der Anrede „viri Galilaei“ enthalten ist, überführt die heilige Erzählung auf die Diskursebene politischen Handelns und gibt ihr damit einen ganz neuen Sinn. 3. Die Entwürfe neuer Sinnwelten Neben der Familiarisierung des Heiligen und Profanen sowie der barbarisierenden Mischung verschiedener Sprachen und deren Deutungen liebt der Anonymus der Erfurter Säuferpredigt eine dritte Form der Hybridisierung, die er in immer neuen Wort- und Namensketten realisiert: Gerade die Trunkenheit hebt die Grenze zwischen Mensch und Tier auf, macht den Menschen zum Tier, der deshalb im gemeinsamen Saufgelage auch nur noch als Tier agieren kann: „Sauff auß; mir zu als eyner ku; ich wart sein als ein schwein; halb, als ein kalb; ist gut byer, es gylt dir; liebes thier, ein Stubgen oder vier.“ 50 Günter Hess sieht in der Animalisierung des Menschen lediglich ein Zeichen für den heillosen Zustand der sündigen Welt, in der Perversion des Menschen zum Tier ein Indiz für den mundus perversus. 51 Nun kann diese satirische Intention gerade bei der Vermischung von Mensch und Tier durchaus mitschwingen. 52 Wichtiger aber scheint mir ihre ästhetische Dimension, die nicht ohne Not auf die moralische Klage über die Verworfenheit der Welt reduziert werden sollte: Gerade die Vermischung von Mensch und Tier bietet eine der Grundformen grotesker Kunst, häufig auch grotesker Komik, die in diesem Fall sogar noch dadurch erweitert wird, dass sie eine ganz neue Sinnwelt der Verkehrung von Mensch und Tier, Feuer und Wasser, Leben und Tod eröffnet. Denn der gemeinsame Gesang der säuischen Trinker führt in eine neue Welt:

50

De generibus ebriosorum (wie Anm.43), 125.

51

Hess, Deutsch-lateinische Narrenzunft (wie Anm.25), 204.

52

Vgl. dazu vor allem die Tierepik des Mittelalters, insbesondere die Fuchsepen („Roman de Renart“,

„Ysengrimus“, „Van den vos Reynaerde“, „Reynke de vos“ u.a.).

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„[…] linea aequinoctiali, in ultimo gradu zodiaci, non procul a centro terrae, drey mäyl hinder dem pfingstmontag, do die nackten frawen lauffen, vnnd haben newe peltz an vnd sein mit schweynßspißen gegorth, in der mitte bey dem faulloch, 1. narraverunt §. maximas portiones: Do brant die bach, do bullen die pawer, do lieffen die hund mit spißen, do rafften die nackten die bußem vol steyne, do lachten die todten, do sahen die blinden zu, do schrigen die stummen mit lauter stim: were Elß wer, huge Vrsel huge.“ 53

Entworfen wird eine Welt, in der die gewohnten Maßstäbe von Ort und Zeit, von Wahrnehmung und Wissen, nicht nur verkehrt, sondern – und dies im Wortsinn – ver-rückt werden („drey mäyl hinder dem pfingstmontag“), in der Nacktheit als Kleidung gilt, Bäche Feuer fangen, die Blinden sehen und die Toten lachen. Jede Möglichkeit der Orientierung und der Gewissheit über das Erzählte ist hier verlorengegangen. Es ist eine Welt, deren Koordinaten – zumindest im Vergleich mit der äußeren vertrauten Welt – verschoben sind, die in sich aber – ähnlich dem Wahnsystem psychisch Kranker – völlig logisch und sinnvoll erscheint. Diese Welt ist ausschließlich phantastisch. Sie repräsentiert eine weitere Möglichkeit, wie aus der Verkehrung der gesicherten Ordnung der Welt, hier: aus der grotesken Vermischung von Mensch und Tier, neue fiktive Welten und Sinnsysteme erwachsen. Auch dies ist ein Fall „kreativer Zerstörung“ 54, der Verbindung von Unordnung und Ordnung, die – so jedenfalls meine Ausgangsthese – für karnevaleske Verkehrungsrituale konstitutiv ist. „Vom Karneval zu reden“ – formulierte ich eingangs im Anschluss an Norbert Schindler – „heißt über die Gesellschaft reden, die sich […] einen Augenblick lang kollektiv selbst inszeniert unter der Prämisse, daß alles auch ganz anders sein könnte.“ 55 Ich habe versucht deutlich zu machen, welche Chancen und wieviel Kreativität in diesen Akten der Verkehrung, Negation, ja Zerstörung des Vertrauten liegt. Besonders wichtig war mir dabei die These, dass die Chance, neue Sinnsysteme und neues Wissen zu generieren, nicht notwendigerweise schon aus dem Akt der Verkehrung selbst erwächst, sondern hier nur als Möglichkeit angelegt ist, die erst geweckt werden muss. Vielleicht bedarf es dazu vor allem der Sprache und der literarischen Imagination; zumindest die hier vorgestellten Beispiele scheinen darauf

53 De generibus ebriosorum (wie Anm.43), 126. 54 Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (wie Anm.21), 134ff. 55 Schindler, Karneval, Kirche und verkehrte Welt (wie Anm.3), 121.

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hinzuweisen. Vielleicht wird darin aber auch der besondere Beitrag sichtbar, den die Literaturwissenschaft – neben Geschichte, Volkskunde oder Kulturwissenschaft – für die Analyse von Verkehrungsritualen erbringen könnte.

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„Episcopus Puerorum, Christum puerum verum et eternum pontificem signans“ Das Kinderbischofsfest im Spiegel englischer Überlieferung von Tanja Skambraks

„Der Kinderbischof, welcher ein Zeichen für den Jesusknaben als wahren und ewigen Priester ist“: Dieses Zitat aus dem Officium Puerorum im Ordinale des Bischofs John Grandisson von Exeter 1 lässt aufhorchen, da es einen ebenso seltenen wie klaren Verweis auf die Bedeutung der Figur des Kinderbischofs darstellt, der während des sogenannten Kinderbischofsfestes in zahlreichen Kathedralen, Pfarrkirchen, Klöstern und Schulen ganz Europas gewählt wurde. Dieses Klerikerfest gehört zu den sogenannten tripudia um die Weihnachtszeit und fand in der Regel zwischen dem 6. und 28.Dezember statt. 2 Dieses Phänomen wurde in der bisherigen Forschung allzu häufig den sogenannten Umkehr- oder Verkehrungsritualen zugeord-

1 Das Officium puerorum ist abgedruckt in: Ordinale Exoniensis. Ed. John Neale Dalton. 4 Vols. London 1909–1940. Vol.1, 74–77, hier 74. 2 Das Kinderbischofsfest war angebunden an zwei Festtage, zum einen das Fest des Hl. Nikolaus, zum anderen das Fest der Unschuldigen Kinder. Der Überlieferung nach konnte sich die Dauer des Festes sowohl auf nur einen der beiden Tage als auch auf den gesamten Zeitraum bis einschließlich den 28. Dezember als Höhepunkt erstrecken. Der Begriff tripudium (wörtlich: Dreischritt) bezeichnet in antiker Tradition einen religiösen Tanz, im Mittelalter wurde der Begriff als Synonym für besondere Freude verwendet. Vgl. hierzu Wulf Arlt, Ein Festoffizium aus Beauvais in seiner liturgischen und musikalischen Bedeutung. 2 Bde. Köln 1970, hier Bd. 1, 43. Eine ausführliche Studie zum Kinderbischofsfest im mittelalterlichen Westeuropa entstand im Rahmen meines 2012 abgeschlossenen Dissertationsprojektes an der Universität Mannheim. Der Titel der Dissertation lautet: Das Kinderbischofsfest in der Vormoderne. Eine Studie zu Ausdrucksformen christlicher Religiosität und Frömmigkeit (11. bis 16. Jahrhundert). Vgl. auch die immer noch klassische Studie von Edmund K. Chambers, The Medieval Stage. 2 Vols. 6.Aufl. Oxford 1967, hier Vol.1, 336–371. Jüngere Arbeiten zum Kinderbischof lieferten Günther Blaicher, Der Kinderbischof in Eichstätt und anderswo, in: Sammelblatt des Historischen Vereins Eichstätt 90, 1997, 41–56; Richard L. De Molen, Pueri Christi Imitatio. The Festival of the Boy Bishop in Tudor England, in: Moreana 12, 1975, 17–29; Martine Grinberg, L’episcopus puerorum, in: Ottavia Niccoli (Ed.), Infanzie: Funzioni di un gruppo liminale dal mondo classico all’Età moderna. Florenz 1993, 144–158; Sulamith Shahar, The Boy Bishop’s Feast: A Case-Study in Church Attitudes towards Children in the High and Late Middle Ages, in: Studies in Church History 31, 1994, 243– 260.

oldenbourg DOI 10.1515/9783486727678.145

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net und steht somit scheinbar in der Tradition des Bachtin’schen Begriffs einer „karnevalesken Gegenkultur“. 3 Beispielhaft für das Verständnis des Begriffes der Inversion, welcher häufig im Zusammenhang mit dem Karnevalsbegriff genannt wird, sei hier ein Zitat Barbara Babcocks angeführt: „‚Symbolic inversion‘ may be broadly defined as any act of expressive behavior which inverts, contradicts, abrogates, or in some fashion presents an alternative to commonly held cultural codes, values, and norms be they linguistic, literary or artistic, religious, or social and political.“ 4 Verkehrung in diesem Sinne impliziere die Negation bestehender Strukturen und Verhältnisse durch Gelächter, mittels dessen die Beteiligten in einen Zustand der Freiheit und Kreativität überführt werden, welcher Spielräume für neue Rollen und Ideen schaffe. 5 Unter dem Begriff der Verkehrung wurden dabei eine Reihe von Phänomenen wie der Bohnenkönig 6, die Festkönige 7 und eben auch der Kinderbischof unter dem scheinbar attraktiven, jedoch nur sehr schwer greifbaren Begriff des „Karnevalesken“ subsumiert. 8 Ein wesentlicher Grund für die Interpretation des Kinderbischofsfestes als Ver-

3 Zum Begriff des „Karnevalesken“ und der mittelalterlichen „Lachkultur“ siehe Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt am Main 1987; sowie ders., Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. München 1969. 4 Barbara Babcock, Introduction, in: dies. (Ed.), The Reversible World. Symbolic Inversion in Art and Society. Ithaca/London 1978, 13–36, hier 14. 5 Vgl. ebd.25. 6 Eine Neuinterpretation dieses Phänomens lieferte Dominik Fugger, Das Königreich am Dreikönigstag. Eine historisch-empirische Ritualstudie. Paderborn 2007. 7 Vgl. den Beitrag von Torsten Hiltmann in diesem Band. 8 Ein Beispiel für eine solche Einordnung bietet ein Zitat der Historikerin Natalie Zemon Davis: „One of these urban festivals was sponsored by clerics – namely the Feast of Fools at Christmas time, when a choirboy or chaplain would be elected bishop and preside while the minor clergy burlesqued the mass and even confession, and led an ass around the church. By the fifteenth century, this topsy-turvy saturnalia was being slowly banished from the cathedrals, and apart from it, virtually all the popular recreations were initiated by laymen.“ Natalie Zemon Davis, Die Narrenherrschaft, in: dies., Humanismus, Narrenherrschaft und die Riten der Gewalt. Gesellschaft und Kultur im frühneuzeitlichen Frankreich. Frankfurt am Main 1987, 106–130, hier 107. Eine ähnliche Beschreibung lieferte Bob Scribner, Reformation, Karneval und „verkehrte Welt“, in: Richard van Dülmen/Norbert Schindler (Hrsg.), Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltags (16.–20.Jahrhundert). Frankfurt am Main 1984, 117–203, hier 134: „Satire und Parodie waren selbstverständlich konstitutive Elemente mittelalterlicher Feste. Der klassische Typus war das Narrenfest, bei dem nicht nur ein Kinderbischof gewählt wurde, sondern in der Kirche auch eine Parodie der Messe stattfand.“

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kehrungsritual scheint in der unzureichenden Rezeption der Überlieferung zum Kinderbischofsfest zu liegen, zu der neben zahlreichen Verbotsschreiben und Regulierungserlassen auch liturgische Quellen wie die Libri Ordinarii oder pragmatisches Schrifttum wie Abrechnungen und Inventare zählen. Gerade die Analyse der beiden letztgenannten Quellengattungen weist bezüglich der Interpretation des Kinderbischofsfestes in eine andere Richtung. Aus diesen Quellen treten zwei Faktoren deutlich hervor: Zum einen wird die frühe Integration und Einbettung des Kinderbischofsfestes in die Liturgie deutlich, zum anderen belegen die Abrechnungen und Inventare eine kontinuierliche materielle Förderung und Ausstattung des Festes durch klerikale Institutionen. Hier möchte der vorliegende Beitrag anknüpfen und die populäre Einordnung des Kinderbischofsfestes als ein Umkehr- oder Verkehrungsritual anhand ausgewählter Quellenbeispiele des englischen Raumes hinterfragen. Ein Grund für die Auswahl des englischen Quellenkorpus besteht in der besonderen Überlieferungssituation dieses Gebietes, welches sich sowohl quantitativ als auch qualitativ durch eine große Vielfalt auszeichnet.

I. Fragestellung Zunächst möchte ich auf die Einbindung des Kinderbischofsfestes in die Liturgie der genannten Einrichtungen eingehen. Konkret soll gezeigt werden, dass die Wahl des Kinderbischofs aus den Reihen der Chorknaben nicht zufällig geschah, sondern einer Logik folgte, der zum einen auf der tragenden Rolle von Kindern bei der Mitgestaltung der Liturgie basierte. Zum anderen erscheint die ungebrochene Stimme der Knaben, wie auch des Kinderbischofs, als eine wesentliche Voraussetzung für die Konstruktion von Sinn und Bedeutung innerhalb dieser liturgischen Abläufe. Der Frage nach der Bedeutung der ungebrochenen Stimme schließt sich die Frage nach der Relevanz des tatsächlichen Alters eines Kinderbischofs an. Es ist anzunehmen, dass diese Größe, manifest in physischer und akustischer Präsenz, als ein wesentlicher Faktor der Bedeutungskonstruktion des Kinderbischofsfestes gelten kann. Des Weiteren möchte ich eine bisher nur unzureichend betrachtete Bedeutungsdimension der Figur des Kinderbischofs in den Mittelpunkt stellen, nämlich dessen Assoziation mit dem Jesusknaben. Diese scheint sowohl in dem oben zitierten Liber Ordinarius (1337) der Kathedrale von Exeter, im Processionale der Kathedrale von

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Salisbury aus dem 16.Jahrhundert als auch in einer Predigt des Erasmus von Rotterdam von 1511, der Concio de puero Iesu, auf. 9 Zudem sollen Aspekte der materiellen Ausstattung angesprochen werden, welche die Verwendung bischöflicher Insignien und kostbarer liturgischer Gewänder für den Kinderbischof belegen. Das Kinderbischofsfest erfuhr zudem in vielen Einrichtungen neben Regulierung und Kontrolle häufig auch eine langfristige finanzielle Förderung und Unterstützung durch kirchliche Autoritäten sowie durch die communitas, wie die Einträge in den Rechnungsbüchern einer Vielzahl von Institutionen belegen. 10 Der letzte Abschnitt dieses Aufsatzes widmet sich schließlich der Frage nach der Einordnung des Kinderbischofsfestes in den Kontext der Verkehrungsrituale. Hierbei sollen die Grenzen dieses Erklärungsmodells aufgezeigt und nach möglichen Deutungsalternativen gefragt werden. Daran schließt sich die Überlegung an, welche Rolle dieses Ritual für die Klerikergemeinschaften, die es praktizierten, spielte und welche mögliche Bedeutung es für den zum Kinderbischof gewählten jungen Kleriker hatte.

II. Zur Wahl des Kinderbischofs aus den Reihen der Chorknaben In der Forschung viel zu wenig beachtet wurde bis jetzt die Frage, aus welcher Gruppe der Kinderbischof bestimmt wurde. Wir verfügen über eine Vielzahl von Belegen, welche die Wahl des Kinderbischofs aus den Reihen der Chorknaben 11 bzw.

9 Officium puerorum (wie Anm.1); Processionale der Kathedrale von Salisbury, in: Christopher Wordsworth (Ed.), Ceremonies and Processions of the Cathedral Church of Salisbury. Cambridge 1901, 52–57; Erasmus von Rotterdam, Concio de puero Iesu in schola Coletica Londini instituta pronunciandi, in: ders., De ratione studii. Ed. Matthias Schürer. Straßburg 1514. 10

Beispielhaft sei hier angeführt Canon Fowler (Ed.), Extracts from the Account Rolls of the Abbey of

Durham. 3 Vols. Durham 1898–1901, hier Vol.1. Ein Großteil dieser Quellen wurde erfasst in den „Records of Early English Drama“ (REED), einer Reihe von Quelleneditionen zum englischen Theater, welche bisher 26 Bände umfasst. Zu den Einzelangaben unten Anm.77–85. 11

Es ist anzunehmen, dass deren Alter zwischen 7 und 14 Jahren lag. Vgl. Shahar, The Boy Bishop’s Feast

(wie Anm.2), 248f. Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch Nicholas Orme in seiner Studie zum Klerus der Kathedrale von Exeter: Nicholas Orme, Education and Learning at a Medieval English Cathedral: Exeter 1380–1548, in: Journal of Ecclesiastical History 32/3, 1981, 265–283, hier 268.

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aus den Reihen der Schüler eindeutig nachweisen. Nur einige exemplarische Beispiele seien hier genannt: Die Statuten Roger Mortivals für die Kathedrale von Salisbury von 1319 benennen den Gewählten eindeutig als puer chorista 12, ein Regulierungsschreiben der Stadt Exeter für die dortige Kathedrale aus dem späten 15. Jahrhundert nennt einen episcopus choriste 13 und ordnet den Kinderbischof in nahezu allen Bestimmungen der Gruppe fratres choriste zu. In einigen englischen Klöstern wie z.B. Westminster Abbey, Durham Cathedral Priory oder St. Swithin’s Priory entstammte der Kinderbischof der Gruppe der Schüler der Almosenschule und wurde dort deshalb episcopus elemosinarie genannt. 14 Der Chronik des Priorates Christ Church in Canterbury zufolge scheint der episcopus puerorum auch in der städtischen Grammatikschule gewählt worden zu sein. 15 Zu den allgemeinen Anforderungen an einen Kandidaten für das Kinderbischofsamt gibt ein Eintrag des Kapitelregisters der Kathedrale von York von 1367 Auskunft, in dem es heißt: „Ioannes de Quixly confirmatur Episcopus Puerorum, et Capitulum ordinavit, quod electio Episcopi Puerorum in Ecclesia Eboracensi de cetero fieret de eo, qui diutius et magis in dicta ecclesia laboraverit, et magis idoneus repertus fuerit, dum tamen competenter sit corpore formosus, et quod aliter facta electio non valebit.“ 16

12 Consuetudines § 45, in: Fasti ecclesiæ Sarisberiensis, or A Calendar of the Bishops, Deans, Archdeacons, and Members of the Cathedral Body at Salisbury. Ed. William Henry Jones. 2 Vols. Salisbury 1879–1881, hier Vol.2, 295. 13 Vgl. das Regulierungsschreiben „Penes Majorem et communitatem civitas Exonensis“, in: George Oliver, Lives of the Bishops of Exeter and a History of the Cathedral. Exeter 1861, 228f. 14 Vgl. die Angaben in Fowler (Ed.), Extracts (wie Anm.10), Vol.1; The Priory of Finchale. The Charters of Endowment, Inventories and Account Rolls of the Priory of Finchale in the County of Durham. Ed. James Raine. London 1837; Compotus Rolls of the Obedientiaries of St. Swithun’s Priory, Winchester, from the Winchester Cathedral Archives. Ed. George William Kitchin. Winchester 1892. 15 John Stone’s Chronicle of Christ Church Priory (Corpus Christi College, Cambridge: MS.417 f73v) [1464–1465]), in: REED, Kent, Diocese of Canterbury. Ed. James M. Gibson, Toronto/Buffalo/London 2002, 75: „Episcopus de scola Cantuarie: Item hoc anno in festo sancti Nicholai non erat Episcopus in Scola gramaticali in civitate Cantuarie et hoc ex defectu Magistrorum.“ 16 „Johannes von Quixley wurde zum Knabenbischof gewählt, und das Kapitel ordnete an, dass derjenige in der Kathedrale von York zum Kinderbischof gewählt werden solle, welcher über lange Zeit und viel für die genannte Kirche gearbeitet habe und welcher als der Tüchtigste gelte. Zudem solle er von schöner Gestalt sein, ansonsten ist die Wahl ungültig.“ Zit. in: Thomas Warton, The History of the English Poetry, from the Twelfth to the Close of the Sixteenth Century. London 1774. Neu hrsg. v. W. Carew Hazlitt. 4 Vols. London 1871, hier Vol.4, 224 Anm.1.

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Ein Eintrag aus dem Jahr 1390 enthält die Ergänzung, der Knabe solle eine klare Stimme haben: „[…] nisi habuerint claram vocem puerilem“. 17 Die Bedeutung der ungebrochenen Knabenstimme wird an späterer Stelle erläutert, zunächst möchte ich auf die allgemeine Rolle der Chorknaben in der Liturgie eingehen. 1. Zur Rolle der Chorknaben in der Liturgie Ein Grund für die Wahl des Kinderbischofs aus den Reihen der Chorknaben liegt in deren enger Einbindung in die liturgischen Abläufe eines Klosters bzw. einer Kathedrale. In diesen Institutionen spielten sie das ganze Jahr hindurch und besonders an Feiertagen eine wichtige Rolle bei der Gestaltung der Gottesdienste und Messen, vor allem durch ihren Gesang, aber auch durch ihre Funktion als Messdiener. 18 Bei meinen folgenden Ausführungen zur Rolle der Chorknaben beziehe ich mich auf die überzeugenden Forschungsergebnisse von Susan Boynton, die in den 2008 bzw. 2006 erschienenen Sammelbänden „Young Choristers“ und „Musical Childhoods“ Studien zur Rolle und Stellung der Chorknaben vorstellte. 19 In Klöstern ist die Teilhabe von Oblaten an liturgischen Abläufen seit dem 9. Jahrhundert belegt. 20 Die den Klöstern bereits in jungem Alter übergebenen Kinder galten als zukünftige Mönche und waren damit fest in die Klostergemeinschaft integriert. Diese Integration zeigen vor allem ihre Funktionen bei Gottesdiensten und Messen. Über die Details ihrer Aufgaben geben beispielsweise Consuetudines wie der Liber Tramitis der Abtei Farfa aus dem 11.Jahrhundert oder das Dekret des Erzbischofs Lanfranc von Canterbury Auskunft. 21 Neben ein- und mehrstimmigen Gesängen waren sie für das Tragen von Büchern und Kerzen und für das Lesen von Psalmen zuständig. Darüber hinaus sind dramatisierte liturgische Gesänge an hohen

17

Ebd.

18

Nicholas Orme, Children and the Church in Medieval England, in: Journal of Ecclesiastical History 45/

4, 1994, 565–587, insbesondere 578–582. 19

Susan Boynton/Eric Rice (Eds.), Young Choristers 650–1700. (Studies in Medieval and Renaissance Mu-

sic, Vol.7.) Woodbridge 2008; Susan Boynton/Roe-Min Kok (Eds.), Musical Childhoods and the Cultures of Youth. Middletown 2006. 20

Zum Beispiel die Statuten der Abtei Murbach 816, im 10.Jh. für St. Gallen durch Ekkehard IV., Liber

benedictionum; siehe hierzu Susan Boynton, Boy Singers in Medieval Monasteries and Cathedrals, in: Boynton/Rice (Eds.), Young Choristers (wie Anm.19), 37–48. 21

Diese finden sich im Corpus consuetudinum monasticarum. Ed. Kassius Hallinger. Siegburg 1963. Zu

den einzelnen Consuetudines detailliert Susan Boynton, The Liturgical Role of Children in Monastic Customaries from the Central Middle Ages, in: Studia Liturgica 28, 1998, 194–209.

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Feiertagen, etwa am Palmsonntag, belegt. Die Vorbereitungen auf die Mitgestaltung der Liturgie müssen neben dem Erlernen des Lesens und Schreibens als essentielle Tätigkeitsfelder der Ausbildung junger Mönche angesehen werden. 22 Diese Funktionen der Chorknaben können hinsichtlich der Frage nach der Rolle von Kindern in klerikalen Gemeinschaften als Maßnahme der Initiation sowohl innerhalb der institutionellen Hierarchien als auch in Bezug auf die Spiritualia interpretiert werden. 23 Demnach hatten Knaben innerhalb der Klostergemeinschaft eben gerade durch ihre liturgischen Funktionen im Vergleich zu Erwachsenen eine mindestens gleichwertige, wenn nicht sogar wichtigere Rolle. Im Zusammenhang mit der Sonderrolle der Chorknaben bei liturgischen Gesängen wie dem Benedicamus Domino schlussfolgert Boynton: „The performance of these chants by high voices must have created a particular aural aesthetic associating them not only with a certain kind of sound but perhaps also, by extension, with symbolic signification and contrast with the rest of the community.“ 24 Die speziell auf die Liturgie zielende Ausbildung der Chorknaben erscheint besonders einleuchtend, wenn man deren Rolle im liturgischen Drama betrachtet. Ein durch die Abtei Fleury überliefertes Drama für den Tag der Unschuldigen Kinder aus dem 12.Jahrhundert mit dem Titel Interfectio puerorum zeigt die Repräsentation der auf Geheiß von Herodes ermordeten Unschuldigen Kinder durch die teilnehmenden Sängerknaben. 25 Diese enge funktionale Anknüpfung der Chorknaben an die

22 Boynton, Boy Singers (wie Anm.20), 41: „Liturgical performance entailed such extensive preparation and rehearsal that it constituted the very essence of medieval monastic education.“ 23 Hierzu die Studie zu den monastischen Gemeinschaften des 10. bis 12.Jh.s: Boynton, The Liturgical Role of Children (wie Anm.21), 200: „As the primary form of monastic education, liturgical training both initiated children into the ritual itself and taught them the discipline of monastic life, including the hierarchical organization of the community“; sowie Susan Boynton/Isabelle Cochelin, The Sociomusical Role of Child Oblates at the Abbey of Cluny in the Eleventh Century, in: Boynton/Kok (Eds.), Musical Childhoods (wie Anm.19), 3–24. 24 Boynton/Cochelin, The Sociomusical Role (wie Anm.23), 15. 25 Zum Zusammenhang der Innocentes-Liturgie, dem Fest der Unschuldigen Kinder und diesem liturgischen Drama: Susan Boynton, Performative Exegesis in the Fleury Interfectio Puerorum, in: Viator 29, 1998, 39–64. Die Rolle von jungen Klerikern in liturgischen Dramen diskutiert auch Margot Fassler, The Feast of Fools and Danielis Ludus. Popular Tradition in a Medieval Cathedral Play, in: Thomas F. Kelley (Ed.), Plainsong in the Age of Polyphony. Cambridge 1992, 65–99; ebenso Martin R. Dudley, Natalis Innocentium. The Holy Innocents in Liturgy and Drama, in: Diana S.Wood (Ed.), The Church and Childhood. Papers Read at the 1993 Summer Meeting and the 1994 Winter Meeting of the Ecclesiastical History Society. (Studies in Church History, Vol.31.) Oxford 1994, 233–242.

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Innocentes-Liturgie zeigt sich auch in der Bezeichnung des Kinderbischofs als episcopus Innocentium. 26 2. Zur Bedeutung der kindlichen Stimme Die seit dem 12.Jahrhundert zunehmend tragende Rolle der Sängerknaben bei liturgischen Abläufen in Klöstern und Kathedralen 27 lässt sich vor allem auf den Einsatz der kindlichen Stimmen zurückführen, denen eine spezifische symbolträchtige Wirkung zugeschrieben werden kann. Dies belegt auch eine Studie zur Rolle der Chorknaben der Kathedrale im neuzeitlichen Sevilla 28, welche zeigt, dass dort die körperliche und stimmliche Präsenz der Chorknaben während der Prozessionen, Tänze und Aufführungen beim Fronleichnamsfest als ein Symbol für Reinheit und Tugend galt. Hierbei basiert der Reinheitsbegriff vor allem auf der körperlichen Unversehrtheit durch die mangelnde sexuelle Erfahrung der Kinder, die somit für spirituelles Heil prädisponiert erschienen. Durch den Bezug auf diese Eigenschaften und die daraus resultierende Formbarkeit erscheinen die Knaben als „ideal vehicles for the promotion of Catholic dogma“. 29 Nur so erfüllten sie die Voraussetzungen, um in verschiedenen Gestalten (als Frauen, Engel etc.) zu Symbolträgern des Heiligen zu werden. 30 Die ideale Stimme hatte schon Isidor von Sevilla in Kapitel 20 des dritten Buches seiner Etymologiae folgendermaßen beschrieben: „Perfecta autem vox est alta, suavis et clara: alta, ut in sublime sufficiat; clara, ut aures adinpleat; suavis, ut animos

26

Über die Rolle der Chorknaben in den liturgischen Abläufen der Kathedralen informieren die Ordina-

rien einzelner Institutionen wie aus Bayeux, Laon oder Vienne, welche ähnliche Ergebnisse wie in den Klöstern liefern. Hier ist auch seit dem späten 13.Jh. eine Institutionalisierung des Chorknabenamtes durch Versorgungszahlungen belegt. 27

Vgl. hierzu die Studien von Timothy N. Cooper, Children, the Liturgy, and the Reformation. The Evi-

dence of the Lichfield Cathedral Choristers, in: Wood (Ed.), The Church and Childhood (wie Anm.25), 261– 274; Barrie Dobson, The English Monastic Cathedrals in the Fifteenth Century, in: Transactions of the Royal Historical Society, 6th Series, Vol.1, 1991, 151–172; Joan Greatrex, The Almonry School of Norwich Cathedral Priory in the Thirteenth and Fourteenth Centuries, in: Wood (Ed.), The Church and Childhood (wie Anm.25), 169–182. 28

Todd Borgerding, Imagining the Sacred Body. Choirboys, their Voices and Corpus Christi in Early Mod-

ern Seville, in: Boynton/Kok (Eds.), Musical Childhoods (wie Anm.19), 25–48. 29

Ebd.27.

30

Ebd.31: „They were, in fact, ideal material for the construction of sacred symbols, since their under-

lying purity could be molded and directed by costume, context, and text, to communicate specific messages.“

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audientium blandiat. Si ex his aliquid defuerit, vox perfecta non est.“ 31 Die Assoziation der Knabenstimmen mit Engelschören geht aus einer Bemerkung des spanischen Historikers Alonso Morgado aus dem 16.Jahrhundert hervor, der die Stimmen der seises von Sevilla so beschrieb: „Diese sind die Knaben mit den besten Stimmen. In dieser Kirche ist die Zartheit der Musik absolut himmlisch.“ Borgerding schlussfolgert hieraus: „The clarity and naturalness of boys’ voices, then, projected an aural image of purity, so that the voice of choirboys approached the sound of angels.“ 32 Auch Susan Boynton weist auf diese Assoziation kindlicher Stimmen mit der von Engeln hin, die auf der Darstellung von Kindern in patristischen Schriften als unschuldig und formbar basierte: „The belief that boys’ voices were akin to those of angels, which was held throughout the Middle Ages and which increased in some quarters during the Counter-Reformation, stemmed from scriptural and patristic writings that emphasized children’s innocence and malleability.“ 33 Die körperliche und stimmliche Präsenz der Knaben sowie deren Assoziation mit dem christlichen Reinheitsideal schließlich sind es, welche die herausgehobene Stellung der Kinder in der Liturgie bestimmter Feiertage, etwa dem Fest der Unschuldigen Kinder, begründen. 34 Die reine Knabenstimme diente somit eindeutig der Bedeutungskonstruktion im Sinne des christlichen Ideals der Reinheit. Das Fest der Unschuldigen Kinder am 28.Dezember war eben das Fest, in dessen Kontext jene Reinheit symbolisch in den Mittelpunkt gerückt wurde und welches der Kinderbischof und die Chorknaben in Kathedralen und Klöstern aktiv gestalteten. Beispiele hierfür finden sich in den Messoffizien der Kathedralen von Salisbury, Exeter und

31 „Die perfekte Stimme ist hoch, süß und laut: hoch, um der Erhabenheit zu entsprechen, laut, um das Ohr zu erfüllen, süß, um den Geist der Zuhörer zu besänftigen. Wenn eine dieser Eigenschaften fehlt, so ist die Stimme nicht perfekt.“ Buch III: De Musica, Kap. 20: De prima dicisione musica quae harmonica dicitur Hispalensis Episcopi Etymologiarvm sive Originvm libri XX, libros I–X continens. Ed. W. M. Lindsay. (Scriptorvm classicorvm bibliotheca Oxoniensis.) Oxford 1911 (ND 1971). 32 Borgerding, Imagining the Sacred Body (wie Anm.28), 33, dort auch das Zitat von Morgado. 33 Vgl. Susan Boynton/Eric Rice, Introduction. Performance and Premodern Childhood, in: dies. (Eds.), Young Choristers (wie Anm.19), 1–18, hier 13; ebenso Borgerding, Imagining the Sacred Body (wie Anm.28), 25–48. 34 „Their physical and aural presence in church thus represented an idealized Christian purity, and in most places they occupied a prominent place in the ceremonial ritual of high feast days.“ Vgl. Boynton/Rice, Introduction (wie Anm.33), 13.

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York. 35 Diese zeigen eindrücklich die leitende gestalterische Funktion der Chorknaben, angeführt durch den Kinderbischof. Das Messbuch der Kathedrale von York aus dem 15.Jahrhundert beschreibt den Ablauf der Prozession des Kinderbischofs wie folgt: Zunächst sind alle Chorknaben in capis anwesend, während der Präzentor den ersten Gesang anstimmt. 36 Nach dem Psalm „Domine dominus noster: quam admirabile est nomen tuum in universa terra“ und dem Kyrie, das wie üblich die Schar der Chorknaben sang 37, standen alle Chorknaben in der Mitte des Chores und sangen, während der Kinderbischof auf dem Bischofsstuhl saß. 38 Fiel der Feiertag auf einen Sonntag, so sollte der Kinderbischof auf der Cathedra stehend das Gebet „Gloria in excelsis“ sprechen. 39 Im Ablauf folgt das Gebet „Deus, cujus hodierna die“ und eine Lesung aus der Apokalypse des Johannes sowie ein Graduale dreier Chorknaben. In einer Version des Missale ist auch das Vortragen einer Sequenz durch den Präzentor über die Unschuldigen Kinder vorgesehen. Danach liest ein Diakon aus dem Matthäusevangelium, nachdem er den Kinderbischof um das Segenszeichen gebeten hat. 40 Nach der Lesung übergibt der Diakon das Evangelienbuch dem Kinderbischof ad osculandum. 41 Einen ähnlichen Verlauf der liturgischen Feierlichkeiten, welche die aktive Beteiligung und prominente Rolle des Kinderbischofs widerspiegeln, zeigen auch die liturgischen Quellen aus Exeter und Salisbury, auf die im nächsten Abschnitt eingegangen wird. Wenn also den ungebrochenen kindlichen Stimmen und Körpern der Chorknaben durch die Zeitgenossen eine solche symbolische Wirkung zugeschrieben wurde, so erscheinen die oben angeführten Bemerkungen aus York zu den Voraussetzungen eines Kandidaten für das Kinderbischofsamt nachvollziehbar. 42 Diese As-

35

Officium puerorum (wie Anm.1); Processionale der Kathedrale von Salisbury (wie Anm.9); Missale ad

usum insignis Ecclesiæ Eboracensis. Ed. William George Henderson. 2 Vols. Durham 1874, hier Vol.1. 36

„Omnibus pueris in Capis, Praecentor illorum incipiat“; vgl. Henderson (Ed.), Missale ad usum insignis

Ecclesiæ Eboracensis (wie Anm.35). Vol.1, 23. 37

„Kyrie, scilicet Puerorum caterva“; ebd.

38

„Omnibus pueris in medio Chori stantibus, et ibi omnia cantantibus, Episcopo eorum interim in

cathedra sedente [...]“; ebd. 39

„et si Dominica fuerit, dicitur ab Episcopo stante in cathedra Gloria in excelsis Deo: aliter non“;

ebd.23f. 40

„Diaconus lecturus Evangelium in pulpito petat benedictionem ab Episcopo“; ebd.25.

41

„Finito Evangelio Diaconus offerat librum Evangelii Episcopo ad osculandum“; ebd.

42

Gemeint sind hier die Angaben über die physische Schönheit und die klare Stimme des Kinderbi-

schofs.

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pekte machen deutlich, dass der Kinderbischof im Hinblick auf seine leitende Funktion bei der Liturgie des Festes der Unschuldigen Kinder bzw. des Hl. Nikolaus alle wichtigen Eigenschaften eines guten Chorknaben aufweisen musste. In seiner Funktion als Kinderbischof erfuhr der gewählte Knabe zum einen eine Kontinuität seiner liturgischen Funktionen, zum anderen avancierte er durch seine besondere gestalterische Autorität zum vielschichtigen Bedeutungsträger.

III. Der Kinderbischof als Jesusknabe? Anknüpfend an die Bedeutung der genannten Eigenschaften eines Kinderbischofs soll nun eine bisher vernachlässigte Bedeutungsdimension der Rolle des Kinderbischofs in den Mittelpunkt rücken, nämlich seine Assoziation mit dem Jesusknaben. Anhand der folgenden Ausführungen möchte ich zeigen, dass bisherige Interpretationen dieser Figur als „skurriler Ersatz“ 43 sowie die Gleichsetzung mit burlesken Narrenbischöfen ­– beides Muster, die der Tradition der Geschichtsschreibung der Aufklärung 44 entstammen und die bis heute wirksam sind – als Fehldeutungen gelten müssen. Betrachtet man andere Quellen, etwa die bisher in der Forschung meist vernachlässigten Libri Ordinarii, so erscheint die Rolle des Kinderbischofs in einem anderen Licht. Zum einen liefern sie detaillierte Belege für den Ablauf des Kinderbischofsfestes, eingebettet in die Liturgie des 28.Dezember, wie am Beispiel des Messbuches der Kathedrale von York gezeigt wurde. Zum anderen enthalten die Libri Ordinarii der Kathedralen von Exeter und Salisbury eine assoziative Verknüpfung zwischen dem Kinderbischof und dem Jesusknaben. Dieser Sachverhalt sowie der Ablauf der Feierlichkeiten sollen nun genauer beleuchtet werden.

43 Der Begriff „ludicrous substitute“ findet sich bei Karl Young, The Drama of the Medieval Church. 2 Vols. Oxford 1933 (ND 1962), hier Vol.1, 110. 44 Hierzu Jean-Benigne Lucotte Du Tilliot, Mémoires pour servir à l’histoire de la Fête des Foux. Lausanne/ Genève 1751, und Jean Baptiste Thiers, Traité des Jeux et des Divertissements qui peuvent être permis, ou qui doivent être défendus aux Chrêtiens selon les Règles de l’Eglise & le sentiment des Pères. Paris 1686. Eine Auseinandersetzung mit diesen Werken erfolgte schon an anderer Stelle; vgl. Tanja Skambraks, Närrisches Treiben oder liturgisches Ritual? Zur Deutung und Interpretation des mittelalterlichen Kinderbischofsfestes, in: Annette Kehnel/Christina Andenna (Hrsg.), Paradoxien der Legitimation. Ergebnisse einer deutschitalienisch-französischen Villa Vigoni-Konferenz zur Macht im Mittelalter. Florenz 2010, 357–386. Hierzu auch die wertvolle Studie von Arlt, Ein Festoffizium (wie Anm.2).

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1. Das Ordinale Exoniensis Grandissons John Grandisson (1327–1369) war einer der bedeutendsten und einflussreichsten Bischöfe der Stadt Exeter im Mittelalter. Mit dem Ordinale ließ er 1337 eine Aufstellung der täglichen Feiern des Kirchenjahres in der Kathedrale fertigen, welche auch einen detaillierten Ablaufplan zum Fest der Unschuldigen Kinder enthält. 45 Das Ordinale folgt dem Muster anderer Offizien wie dem von Rouen aus dem 14. Jahrhundert oder dem Offizium von Bayeux aus dem 13.Jahrhundert. 46 Dem Ordinale zufolge kam in Exeter dem Kinderbischof während seiner Amtszeit vom Abend des 27.Dezember bis zum Vespergottesdienst des 28.Dezember eine leitende Funktion bei den einzelnen Stundengebeten zu. Die Feier in der Kirche begann mit der Prozession des in seidene Gewänder gekleideten Kinderbischofs und seiner Entourage bis zum Hauptaltar der Kathedrale, wo er allein das Responsorium Centum Quadraginta anstimmte. 47 Der Kinderbischof übte während des Vespergottesdienstes, der Komplet und während der Stundengebete des darauffolgenden Tages liturgische Funktionen aus, zu denen symbolische Handlungen gehörten wie die Beweihräucherung des Kreuzes im Chor 48, das Tragen des Bischofsstabes, das Aufsagen der Gebete 49 sowie die Segnung der Anwesenden 50. Der Vespergottesdienst des 28.Dezember bildete den Schlusspunkt seiner Amtszeit. 51 Der Kinderbischof hatte sich daraufhin mit den anderen Chorknaben ins Dormitorium zu begeben. 52 Im ersten Teil des Ordinariums findet sich nun auch der eindeutige Verweis auf die symbolische Funktion des Kinderbischofs, der den Jesusknaben als wahren und ewigen Priester verkörpere. Ich verweise hier erneut auf die im Titel dieser Studie zitierte Passage: „Tunc conveniant episcopus puerorum, et ceteri pueri secum in capis sericis ad gradum altaris et ibi-

45

Ordinale Exoniensis (wie Anm.1), Bd. 1, 74–77.

46

Rouen: Officium Infantum, in: Johannes Abrincensis archiepiscopi Rhotomagnesis acta vetera, in Pa-

trologiae cursus completus. (Series Latina, Vol.147.) Ed. Jacques Paul Migne. Tournholt 1966, Sp.135–136. Bayeux: Ordinarium ecclesie bajocensis, in: Ordinaire et Coutumier de l’église cathédrale de Bayeux. Ed. Ulysse Chevalier. Paris 1902, 69–72. 47

Ordinale Exoniensis (wie Anm.1), Bd. 1, 74.

48

„[…]thurificet episcopus coram magna cruce ibidem“; ebd.

49

„Deinde episcopus dicat oracionem“; ebd.

50

„Deinde episcopus conversus ad chorum elevet brachium suum et incipiat benediccionem“; ebd.

51

„Et sic compleatur officium puerorum huius die“; ebd.76.

52

„Benedicamus dicatur a tribus de secunda forma propter absenciam forte puerorum tunc in dormito-

rium“; ebd.

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dem solus episcopus Christum puerum verum et eternum pontificem signans, incipiat responsorium Centum quadraginta, et percantetur a choro.“ 53 Hierbei handelt es sich um eine gleichermaßen eindeutige wie seltene Deutung der Rolle des Kinderbischofs. Sie stellt eine wichtige Ergänzung zur gängigen Assoziation mit den Unschuldigen Kindern oder dem Hl. Nikolaus dar und erweitert den Sinngehalt der Figur wie auch des Festes beträchtlich. Durch die klare Formel „signans“ ordnet der Text die Figur des Kinderbischofs eindeutig der höchsten autoritativen Sphäre zu und legitimiert sie somit unwiderruflich als wichtigen Bestandteil des liturgischen Festkalenders seiner Diözese. 2. Das Offizium von Salisbury (1508) Ein weiteres Beispiel für die Integration des Kinderbischofsfestes in den liturgischen Festkalender bietet die Prozessionsordnung der Kathedrale von Salisbury aus dem frühen 16.Jahrhundert. 54 Dieses Werk, das an anderer Stelle bereits beleuchtet wurde 55, beschreibt sehr detailliert den Ablauf der liturgischen Feierlichkeiten vom Vorabend des 28. Dezember bis zu deren Ausklang mit dem Vespergottesdienst des Tages der Unschuldigen Kinder. Die Prozession der mit seidenen Gewändern bekleideten Chorknaben und des Kinderbischofs pontificalibus induto führte innerhalb der Kirche zum Altar der Innocentes, der Heiligen Dreifaltigkeit sowie Allerheiligen. Währenddessen stimmte der Kinderbischof das Responsorium Centum Quadraginta an. Die Ergänzung „executore officii, sive Episcopo presente“ verweist auf eine klare Rollenzuweisung als Leiter der Messe, es sei denn, der Bischof selbst sei anwesend. Diese Stelle lässt sich dahin gehend interpretieren, dass der Kinderbischof in Abwesenheit des echten Bischofs diesen tatsächlich, zumindest was die liturgische Feier betrifft, vertritt. Zudem findet sich auch hier die Beschreibung des Episcopus Innocentium als Jesusknabe in der Formel: „Solus Episcopus Innocentium, si assit, Christum Puerum, verum et eternum, Pontificem designans incipiat […]“ 56 Bemerkenswert erscheint auch das Element der räumlich vollzogenen Statusinversion, welche sich direkt auf das 53 Ebd.74. 54 Officium puerorum (wie Anm.1). 55 Vgl. Tanja Skambraks, Im Spannungsfeld zwischen Spiel und Ernsthaftigkeit, in: Annette Kehnel/ Sabine von Heusinger (Hrsg.), Generations in the Cloister. Youth and Age in Medieval Religious Life / Generationen im Kloster. Jugend und Alter in der mittelalterlichen vita religiosa. (Vita Regularis, Bd. 36.) Münster 2008, 75–99.

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Motiv aus dem Magnificat Deposuit potentes de sede et exaltavit humiles 57 zu beziehen scheint. Der Text eines vorangegangenen Gebetes gibt hier die Ausrichtung der Feier zu Ehren der für Christus gestorbenen Sondermärtyrer wieder. 58 Die Erhöhung der humiles wird hier symbolisch vollzogen in der geänderten Sitzordnung innerhalb des Chores, die während des gesamten Festtages bis zum Ende der Prozession am 28.Dezember so eingehalten werden sollte. 59 Nicht nur die Sitzordnung der Kleriker erfährt hier eine Umkehr, auch die Funktionen der Klerikergruppen ändern sich: „Ad istam processionem pro disposicione puerorum scribuntur canonici, ad ministrandum eisdem, maiores ad thuribulandum, et ad librum deferendum, minores ad candelabra deferenda.“ Der sonst den Knaben zukommende Ministrantendienst wird nun von den Kanonikern vorgenommen, wobei die maiores das Tragen des Weihrauchgefäßes und der liturgischen Bücher, die minores das Tragen der Kerzen übernehmen. 60 Sowohl in der räumlichen als auch in der funktionalen Verkehrung werden wichtige Elemente einer Statusumkehr deutlich, die ein Kennzeichen des Kinderbischofsfestes darstellen. Dennoch erschöpfte sich die Rolle des Kinderbischofs nicht in einer solchen Umkehr, wie oben bereits gezeigt wurde. Ein weiteres Element des Gottesdienstes ist die Segnung der Anwesenden durch den Kinderbischof, während der Cruciferarius, der nun den Stab des Kinderbischofs hielt, ein Antiphon anstimmte. Im Processionale wird deutlich, dass der Kinderbischof bis zum Ende des Vespergottesdienstes am Vorabend des 28.Dezember durch Gesten und Worte nicht nur aktiv an dessen Gestaltung mitwirkte, sondern leitend im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. Die Amtszeit des Kinderbischofs endete am Tage des Märtyrers Thomas (29.Dezember) mit der Übergabe des Bischofsstabes an den Cruciferarius und der erneuten Segnung des Volkes. 61 Aus der Betrachtung dieser beiden liturgischen Regelwerke ergibt sich die tem-

56

Vgl. Wordsworth (Ed.), Ceremonies and Processions (wie Anm.9), 52. Die Passage zum Kinderbischofs-

fest ist auch ediert bei Chambers, The Medieval Stage (wie Anm.2), Vol.2, Appendix M, 282–287. 57

Lk 1,52.

58

„Deus, cuius hodierna die preconium innocentes martires non loquendo sed moriendo confessi sunt:

omnia in nobis uitiorum mala mortifica, vt fidem tuam, quam lingua nostra loquitur, eciam moribus uita fateatur.“ Vgl. Wordsworth (Ed.), Ceremonies and Processions (wie Anm.9), 53. 59

„Et omnes pueri, ex vtraque parte chori, in superiori gradu se recipiant; et ab hac hora vsque post pro-

cessionem diei proximi succedentis nullus clericorum solet gradum superiorem ascendere, cuiuscumque condicionis fuerit“; ebd.

158

60

Ebd.

61

„Ad Vesperas, post memoriam de S.Johanne, accipiat cruciferarius baculum Episcopi Puerorum, et

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poräre Aufwertung der Chorknaben bzw. der Kinder unter Leitung des Kinderbischofs, die aktiv in den liturgischen Ablauf der einzelnen Messen um den Feiertag der Unschuldigen Kinder eingebunden waren. Außerdem findet sich in beiden Quellen die Assoziation des Kinderbischofs mit dem Jesusknaben ausgedrückt in der Formel „signans“ bzw. „designans“, welche zum einen auf den Kontext der Feierlichkeiten um den Tag der Geburt Christi verweist, zum anderen den Kinderbischof als Verkörperung des Jesuskindes darstellt. An diesen Sachverhalt lässt sich eine Predigt des Erasmus von Rotterdam anknüpfen, die nun vorgestellt wird. 3. Erasmus von Rotterdam: Concio de puero Iesu (1511) Neben den liturgischen Quellen und einer Vielzahl an Abrechnungen und Inventareinträgen gehören zum Quellenkorpus des englischen Raumes auch drei Predigten, die entweder explizit zum Vortrag durch einen Kinderbischof bestimmt waren oder bei denen der Vortrag durch ihn nahelag. Dies sind die Predigten für den Kinderbischof der Kathedralen von Gloucester aus dem Jahr 1558 und der St. Paul’s Cathedral, London, von 1498 62 sowie die Predigt über den Jesusknaben des Erasmus von Rotterdam von 1511. Nach seinem Studium an der Sorbonne verbrachte Erasmus einige Jahre in England, wo er den Theologen und Gründer der St. Paul’s School John Colet kennenlernte. Vermutlich in Zusammenarbeit mit diesem 63 verfasste Erasmus um 1510/ 11 eine „Concio de puero Iesu pronuncianda a puero in schola Coletica nuper instituta Londini“, die – wie schon der Titel sagt – durch einen Knaben der Schule von

cantet antiphonam Princeps ecclesie, sicut ad primas uesperas. Similiter Episcopus Puerorum benedicat populum supradicto modo. Et sic compleatur seruicium (officium Puerorum) huius diei.“ Ebd.57. 62 Two Sermons preached by the Boy Bishop at St. Paul’s, Temp. Henry VIII., and at Gloucester, Temp. Mary. Ed. John Gough Nichols, F.S.A., with an introduction giving an account of the Festival of the Boy Bishop in England by Edward F. Rimbault, in: The Camden Miscellany 7, 1875, 1–29. Eine neuere Edition beider Texte liegt vor unter dem Titel: A Sermon for a Boy Bishop by John Alcock, Bishop of Ely (1430–1486–1500). Ed. Anthony Ward, in: Ephemerides Liturgicae 112, 1998, 58–81. Richard Ramsey’s Sermon for a Boy Bishop (1558). Ed. Anthony Ward, in: Ephemerides Liturgicae 111, 1997, 476–505. 63 Vgl. zum Verhältnis zwischen Erasmus und John Colet: Joseph Hirst Lupton, A Life of John Colet, Dean of St. Paul’s, and Founder of St. Paul’s School. London 1887 (ND New York 1974), sowie die Einleitung von Emily Kearns zu Erasmus, Concio de puero Iesu. Ed. Elaine Fantham/Erika Rummel. (Collected Works of Erasmus. 65 Vols.), hier Vol.29: De virtute, Oratio funebris, Encomium medicinae, De puero, Tyrannicida, Ovid, Prudentius, Galen, Lingua. Toronto/Buffalo/London 1989, 52–55.

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St. Paul’s vorgetragen werden sollte. Dass der Kinderbischof an dieser Schule als Prediger auftrat und somit auch als Vortragender dieser Predigt in Betracht kommt, belegt ein Eintrag in den Statuten der Schule aus dem Jahre 1510: „All these children shall every childremas’ daye come to paulle churche and here the childe bisshoppes’ sermon and offer be at highe masse so each of them offer a penny to the childe bishop and with the maisters and surveyours of the scoole.“ 64 Die Predigt wurde schon kurz nach ihrer Entstehung in das Studienprogramm der Schule De copia und zusammen mit fünf Gedichten des Erasmus zu Ehren des Jesusknaben 65 in die darin enthaltene Schrift De ratione studii aufgenommen und erstmals von Robert de Keysere 1511 in Paris gedruckt. 66 Darauf folgten die Editionen Bades 1512 und Matthias Schürers in Straßburg 1514. Im Jahr 1516 wurde das Werk ins Spanische, 1540 ins Englische und 1607 ins Niederländische übersetzt, wovon man auf seine große Popularität schließen kann. Zum Inhalt der Predigt: Schon im Prolog führt Erasmus die Vorbildfigur Jesus ein, lobt die gottgegebene Eloquenz der Kinder und sogar der Säuglinge 67 und ruft die kindlichen Zuhörer zur Nachahmung Jesu auf, die auf drei Motiven gründen solle: der Verehrung Christi, der Liebe zu Christus und der Belohnung in Form des Eingangs in das Himmelreich, die er in den drei Teilen der Predigt näher ausführt. 68 Im ersten Teil erfolgt die Erläuterung der Größe Christi, woraufhin der Autor das besondere Verhältnis Jesu zu den Kindern als „puerorum princeps“ beschreibt und hierbei Bezug nimmt auf Mt 19,13 und Mt 18,2–3. In Mt 19,13 heißt es: „Da wurden Kindlein zu ihm gebracht, dass er die Hände auf sie legte und betete. Die Jünger aber fuhren sie an. Aber Jesus sprach: Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solcher ist das Reich Gottes. Und legte die Hände auf sie und zog von dannen.“

64

BL Additional MS 6274: Statuta paulinae scholae. In einer Abschrift von 1518 auf fol.1v. findet sich der

Vermerk: „Joannes Colet fundator scole manu sua propria“; die zitierte Passage findet sich auf fol.7r. Vgl. auch Lupton, A Life of John Colet (wie Anm.63), App. A, 278. 65

Die „Carmina Scholaria“ waren offensichtlich dazu bestimmt, als Hymnen von den Knaben der

St.Paul’s School gesungen zu werden. Eine Diskussion der Gedichte in Bezug auf das humanistische Bildungsideal des Erasmus bietet James Henry Rieger, Erasmus, Colet and the Schoolboy Jesus, in: Studies in the Renaissance 9, 1962, 187–194.

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66

Zur Rezeptionsgeschichte vgl. Kearns, Collected Works of Erasmus (wie Anm.63), 54f.

67

Vgl. Erasmi Roterdami, Concio de puero Iesu (wie Anm.9), fol.195.

68

Vgl. ebd.fol.196.

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Das 18. Kapitel des Matthäusevangeliums erzählt: „Zu derselben Stunde traten die Jünger zu Jesu und sprachen: Wer ist doch der Größte im Himmelreich? Jesus rief ein Kind zu sich und stellte das mitten unter sie und sprach: Wahrlich ich sage euch: Es sei denn, dass ihr umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. Wer nun sich selbst erniedrigt wie dies Kind, der ist der Größte im Himmelreich. Und wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf.“

An späterer Stelle der Predigt des Erasmus folgt das Identifikationsangebot für die jungen Zuhörer, indem der Autor den Prediger fragen lässt: „Sed fortasse magis convenerit, ut pueri Puerum admiremur.“ 69 Darüber hinaus betont er die vorbildhafte Demut des Jesusknaben, dem sogleich nach seiner Geburt in einem Stall von allen Seiten Bewunderung zuteilwurde. Aus dem Opfer, das Jesus durch seinen Tod brachte, erwächst eine besondere Schuld und Bindung der Kinder ihm gegenüber, da er diesen in besonderer Liebe zugetan war. Als Belege für diese Sonderbeziehung Jesu zu den Kindern führt Erasmus das populäre Motiv der Unschuldigen Kinder an, welche quasi für Christus gestorben seien. Die moralische Zielsetzung der Predigt für die Schüler von St. Paul’s formuliert Erasmus gegen Ende des zweiten Teils folgendermaßen: „Tantum demus operam, ut ejusmodi simus pueri, cujusmodi diliget Iesus. Diliget autem innocentuos pueros, dociles, simplices: atque illud interim meminerimus, hanc Deo gratam pueritiam non in annis esse sitam, sed in animis, non in temporibus, sed in moribus.“ 70 Er schlussfolgert: „Somit ist es eine neuartige Kindheit, welche Gott gefällt: eine Kindheit, welche nicht kindlich ist, eine Art gealterte Kindheit [pueritia senilis], nicht bestehend in Jahren, sondern in Unschuld und Einfachheit des Geistes.“ 71 Der predigende Knabe, der sich hier an seine commilitones wendet, vermittelt an dieser Stelle eindringlich die Vorbildhaftigkeit des Jesusknaben und fordert die Zuhörer auf, diesem Vorbild durch Gehorsam und Lernen gerecht zu werden. 69 „Vielleicht wäre es angebrachter für uns Kinder, einem Kinde zu huldigen.“ 70 „Lasst uns nur danach streben, solche Kinder zu sein, die Jesus liebt: unschuldig, leicht zu lenken und einfach. Und erinnern wir uns daran, dass die gottgefällige Kindheit nicht in Jahren, sondern in der Haltung liegt, nicht am Alter, sondern am Verhalten […]“. Erasmus von Rotterdam, Concio de puero Iesu olim pronunciata a puero in schola Ioannis Coleti Londini instituta (1511). Ed. B. Nichols/S.Bentley. London 1816, 17f. 71 Ebd.18: „Est igitur novum quoddam pueritiae genus quod a Christo probatur, pueritia citra puerilitatem, et omnino senilis quaedam pueritia, quae non annorum numero constat, sed innocentia, sed ingenii simplicitate.“

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Neben der Predigt des Erasmus stellen auch die Predigten für die Kinderbischöfe von Gloucester und St. Paul’s Cathedral die Motive der Reinheit, Demut und Unschuld des Jesusknaben wie auch der Unschuldigen Kinder in den Mittelpunkt. 72 Die drei Predigten lassen zwei Schlussfolgerungen zur Rolle des Kinderbischofs zu. Zum einen kann im performativen Vollzug der Predigt durch einen Knaben bzw. Knabenbischof eine eindeutige Autoritätszuschreibung gesehen werden. Zum anderen kommt dem Kinderbischof vor Kindern wie Erwachsenen die Rolle des Lehrenden und Mahnenden bezüglich der hier angesprochenen christlichen Ideale zu. Zugespitzt ließe sich formulieren: Der Kinderbischof als Prediger avanciert selbst zu einem Exemplum der kindlichen Weisheit, welche er preist. Die aus diesen Beispielen ersichtliche Rolle des Kinderbischofs wird zudem gestützt durch eine Reihe äußerlicher Merkmale und Insignien. Dieser Tatbestand ergibt sich aus der Betrachtung der Inventare, denen sich der folgende Abschnitt widmet.

IV. Die Insignien des Kinderbischofs Die im Liber Ordinarius von Exeter bereits angedeutete materielle Ausstattung des Kinderbischofs mit Amtsinsignien wird bestätigt und verdeutlicht durch mehrere Eintragungen in den Inventaren der Kathedrale. Im Inventar von 1277 werden ein Stab aus Elfenbein, eine mit grünen Perlen und Goldsaum verzierte Mitra, Handschuhe „ad usum episcopi innocentium“ sowie ein mit Vögeln bestickter seidener Umhang erwähnt. 73 Solch ein Umhang, wie er auch im Ordinale von 1337 erwähnt wird, findet sich bereits zehn Jahre zuvor im Inventar der Kathedrale: „Item, una parva tunica pro Episcopo puerorum.“ 74 Ähnliche Einträge, welche die Ausstattung des 72

Hierzu De Molen, Pueri Christi Imitatio (wie Anm.2), sowie Skambraks, Im Spannungsfeld (wie

Anm.55). 73

Dalton (Ed.), Ordinale Exoniensis (wie Anm.1), App. II, 547: „De pallis, capis, casulis, tuniculis, et aliis

ecclesiasticis ornamentis, a regibus Episcopis, Canonicis, et aliis Ecclesie Exoniensi collatis: […] De dono Archidiaconi (Tottonie) Thome le Boteler: Una calcitra rubei et crocei coloris. Una cambuca eburnea, mitra de albra diapra ornata aurifragio, et cirotece ad usum Episcopi Innocencium. Una capa de baudekyn cum quibusdam avibus.“ Ich danke Yann Dahhaoui für den Hinweis bezüglich der Datierung des Inventars sowie weitere wertvolle Anmerkungen zum Thema. 74

Dieses Inventar ist abgedruckt in den Records of Early English Drama (REED), Teilband zur Grafschaft

Devon. Ed. John M. Wasson, Toronto/Buffalo/London 1986, 70.

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Kinderbischofs mit bischöflichem Ornat belegen, finden sich in den Rechnungsbüchern und Inventaren von mindestens 43 weiteren Institutionen Englands und Schottlands. Ein Inventar vom 16. Juli 1505/06 des King’s College in Cambridge verzeichnet beispielsweise diverse kostbare Gewänder (darunter einen purpurnen Umhang, einen mit Fell besetzten Hut, ein Paar Handschuhe, eine Mitra) sowie einige goldene, mit Edelsteinen besetzte Ringe für den Kinderbischof. 75 Dem Haushaltsbuch von Henry Algernon Percy, des fünften Earl of Northumberland, aus dem Jahre 1522 ist ein Inventar beigefügt, demzufolge ein Kinderbischof unbestimmter Herkunft mit wertvollen Gewändern und Insignien ausgestattet wurde. Diese Quelle listet eine ganze Reihe kostbarer Gegenstände für den Kinderbischof auf und beschreibt diese detailliert. Dort finden sich eine mit Perlen und Edelsteinen verzierte Mitra, vier Ringe mit Steinen, ein Pontifikale, eine goldene und silberne Brosche mit vier Steinen und einer Perle in der Mitte, ein Kreuz aus Kupfer und Gold mit dem Bildnis des Hl. Nikolaus. Dazu gehörte auch ein rotes Kleid, welches mit den Bildern von Löwen, mit Silber und Juwelen verziert war. Des Weiteren sind vier Umhänge aus blauer Seide, wahrscheinlich für die den Kinderbischof begleitenden Chorknaben, aufgelistet, darüber hinaus ein purpurner Mantel und zwei Hüte. 76 Die verwendeten Materialien wie Gold, Silber, Perlen, Seide, Edelsteine oder Elfenbein deuten auf den großen Aufwand bei der Herstellung der Insignien des kindlichen Amtsträgers hin. Die gelegentlichen Abbildungen von Heiligen, insbesondere des Hl. Nikolaus, und Schriftzüge wie das „ora pro nobis Sancti Nicholai“ 77 ver-

75 Vgl. REED Cambridge. Ed. Alan H.Nelson. Vol.1: The Records. Toronto/Buffalo/London 1989, 79f. 76 Vgl. Thomas Percy (Ed.), The Regulations and Establishment of the Household of Henry Algernon Percy, the Fifth Earl of Northumberland, at his Castles of Wressill and Lekinfield in Yorkshire, begun anno Domini M.D.XII. 2.Aufl. London 1827, 439 f.: „Contenta de ornamentis epi. puer. (E. Rotulo in pergamen) / Imprimis. i Myter well garnished with Perle and Precious Stones, with Nowches of Silver and Gilt before and behind. / Item. iiij Rynges of Silver and Gilt, with four ridde Precious Stones in them. / Item. i Pontifical with Silver and Gilt, with a blue Stone in hytt. / It. i Owche broken Silver and Gilt, with iiij precious Stones and a Perle in the mydds. / It. A Croose, with a Staff of Coper and Gilt, with the Ymage of St. Nicholas in the mydds. / It. j Vestment redde with Lyons, with Silver, with Brydds of Gold in the Orferes of the same. / Item. i Albe to the same with Starres in the paro. / It. i White Cope, stayned with Tristells and Orferes redde sylke with Does of Gold and whytt Napkins about the Necks. / It. iiij Copes blew Sylk with red Orferes trayled with whitt Braunchis and Flowres. / It. i Steyned Cloth of the Ymage of St. Nicholas. / It. i Tabard of Skarlet and a Hodde thereto, lyned with whitt Sylk. / It. A Hode of Skarlett lyned with blue Sylk.“ 77 Vgl. J. Wickham Legg, On an Inventory of the Vestry in Westminster Abbey, taken in 1388, in: Archaeologia. Or Miscellaneous Tracts Relating to Antiquity 52, 1890, 195–286, hier 221. Daraus: „The vj myter for Seynt Nycholas bysshoppe the grounde therof of whyte sylk garnysshed complete with fflowres gret

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weisen zudem auf den zeremoniellen Nutzungskontext der Insignien in der Liturgie der Heiligenverehrung. Bei diesen symbolisch aufgeladenen Zeremonien wurde die Imitatio der Gesten eines echten Bischofs durch den Kinderbischof mithin ergänzt durch den Gebrauch gleichartiger Insignien.

V. Unterstützung durch die communitas Neben der Ausstattung mit liturgischen Gewändern und Insignien bietet insbesondere die Überlieferung Englands eine Vielzahl an Belegen für die Förderung durch die communitas. Dabei handelt es sich zum einen um Institutionen wie Klöster, Kathedralen und Schulen, zum anderen existieren auch Belege, welche das Interesse der Stadtoberen sowie prominenter Einzelpersonen am Kinderbischofsfest belegen. Ein prägnantes Beispiel gibt die Überlieferung der Rechnungsbücher des Priorats von Durham vom 13. bis ins 16.Jahrhundert. 78 Die Rotuli umfassen Geldgeschenke für das Kinderbischofsfest der einzelnen Amtsträger oder Arbeitsbereiche des Priorats, darunter des Cellerars, des Pförtners (1303–1529), des Kämmerers (1324–1533), des Almosenmeisters, des Magisters des Krankenhauses, des Communiarius, des Sakristans, des Reliquienmeisters des Schreins des Hl. Dunstan (1375–1538) sowie des Schatzmeisters (1278–1371). Die Einträge der Rubrik dona et exennia enthalten die Aufzeichnung von Zahlungen der einzelnen Ämter an den sogenannten episcopus elemosinarie zwischen 20 Pence und 4 Schillingen. 79 Der Grund für die Bezeichnung des Kinderbischofs als episcopus elemosinarie liegt in seiner Herkunft aus der Reihe der 30 Schüler der an das Almosenhaus des Priorates angeschlossenen Schule. Weitere englische Beispiele für die langfristige Unterstützung liegen für die aus der Kathedrale von Hereford nahezu lückenlos überlieferten Mass-Pence-Rolls bzw. Abrechnungen der Bäckerei für den Zeitraum von 1302 bis 1543 vor, wobei der Kinderbi-

and small of sylver and gylte and stones complete in them with the scripture Ora pro nobis Sancte Nicholai embrodered theron in perll the sydes sylver and gylt and the toppys of sylver and gylt and enamelyd with ij labelles of the same and garnysshed in lyk maner and with viij long bells of sylver and gylt weying all together xxiij unces.“ 78

Fowler (Ed.), Extracts (wie Anm.10), Vol.1.

79

Ein Beispiel des Rotulus Celerariorum aus dem Jahr 1443 enthält den Eintrag: „Dona et exennia: It. Ep’o

puerili Elemosinar., 20d.“ Ebd.82.

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schof durchschnittlich vier Pence für die Feier einer Messe erhielt. 80 Für die Pfarrkirche von Romney Marsh in der Diözese Canterbury liegen ähnliche Einträge in den Chamberlains’ Accounts der Stadt Lydd für die Jahre 1428 bis 1484 vor. Die Stadt wurde wohl jährlich vom Kinderbischof der Kirche von Romney besucht, welcher dort Geldgeschenke in Höhe von ca. fünf Schillingen erhielt. 81 Die Cathedral Communars’ Account Rolls sowie die Abrechnungen des Escheators der Kathedrale von Wells verzeichnen feste Ausgaben von 1327 bis 1537 in Höhe von zwei Schillingen und neun Pence für die communa des Kinderbischofs und seiner Kanoniker ebenso wie eine Spende in Höhe von einem Penny auf Geheiß des verstorbenen Subdiakons Nicholas de Pontesbury. 82 Doch nicht nur im klerikalen und städtischen Bereich finden sich die Förderer des Festes. Die Einträge des Account of the Alms Edwards I. für 1283 erwähnen folgende Geldgeschenke für den Kinderbischof anlässlich einer Theateraufführung: „Item clericis ludentibus miracula sancti Nicholai & eorum Episcopo de elemosina Regis Xxvj s. viii d.“ 83 Solche Einträge zeigen deutlich die theatrale Dimension des Kinderbischofsfestes, bei dem eben auch Mirakelspiele, wie z.B. über den Hl. Nikolaus, aufgeführt werden konnten. Sechzehn Jahre später erscheinen erneut Ausgaben für den Kinderbischof im Wardrobe Account. Die Abrechnung zeigt Ausgaben in Höhe von 40 Schillingen, die Edward I. einem Kinderbischof am 7. Dezember 1299 in der Kapelle in Heton bei Newcastle-upon-Tyne auf dem Weg nach Schottland zahlte. 84 Die gleiche Summe erhielt auch John, der Sohn des Bailliffs und Kinderbischof im Jahre 1303, in der kö-

80 REED, Herefordshire, Worcestershire. Ed. David N. Klausner. Toronto/Buffalo/London 1990, 100–113, 119. 81 Ein Beispiel aus dem Rechnungsjahr 1441/1442: „Item solutum pro expensis factis in die Sancti Nicholai episcopi circa episcopum ville de Romene venientem hunc iiij s. iiij d.“ Vgl. REED Kent: Diocese of Canterbury. Vol.2: The Records. Ed. James M. Gibson. Toronto/Buffalo/London 2002, 652. 82 REED, Somerset including Bath. Vol.1: The Records. Ed. Robert J. Alexander. Toronto/Buffalo/London 1996, 240–256. 83 REED, Cumberland, Westmorland, Cloucestershire. Ed. Audrey Douglas/Peter Greenfield. Toronto/ Buffalo/London 1986, 290. 84 „In vi die Decembris, cuidem episcopo puerorum dicenti vesperis de Sancto Nicholao coram Rege in capella sua apud Heton juxta Novum Castrum super Tynam, et quibusdam pueris venientibus et cantantibus cum episcopo predicto de elemosina ipsius Regis per manus Domini Henrici Elemosinar’ participantis inter pueros predictos xls.“ Vgl. Liber Quotidianus Contrarotulatoris Garderobae A.R.R. Edw. I. 28. Ed. Society of Antiquaries. London 1787, 25.

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niglichen Kapelle im schottischen Dunfermline, wie die Abrechnungen der Garderobe zeigen: „Dona: Episcopus Puerorum in Nocte Sancti Michaelis. Johanni filio Johannis le baillyf de Dunfermlyn episcopo puerorum in capella regis apud Dunfermlin in nocte Sancti Michaelis anno presenti de dono ipsius regis per manus proprias apud Dunfermelyn vj die Decembris xl s.“ 85 Edward II. empfing den Kinderbischof der St. Mary’s Church von Nottingham am 28. Dezember des Jahres 1306. Zuvor hatte er schon den Kinderbischof John, den Sohn Alan of Scrobys, am 6. Dezember in seiner Privatkapelle empfangen. 86 Dass auch Edward III. zu den Förderern des Kinderbischofsfestes gehörte, belegen Einträge im Wardrobe Account des Königs von 1339 87 sowie ein Eintrag in den Abrechnungen des Exchequers von 1528–1532, welche jährliche Zahlungen von einem Pfund aufzeichnen. 88 Ein weiteres Beispiel für die materielle und ideelle Unterstützung des Festes gibt der Computus des Kinderbischofs von York aus dem Jahre 1396, der dessen Reise durch die Diözese dokumentiert, während deren er sowohl von geistlichen Herren als auch von weltlicher Seite beschenkt wurde (z.B. erhielt er von dem Ritter Thomas Ugtreht drei Schillinge und vier Pence). Die Gräfin von Northumbrien beschenkte ihn mit 20 Schillingen und einem goldenen Ring. 89 Wie diese Beispiele zeigen, wurde das Kinderbischofsfest oft über Jahrhunderte kontinuierlich und flächendeckend durch alle Teile einer Institution oder Gemeinschaft gefördert. Dies verweist zum einen auf einen hohen Grad an Akzeptanz des Festes (und spricht gegen die Annahme seiner überwiegenden Ablehnung durch kirchliche Autoritäten als unchristlich und burlesk). Zudem belegen die Rechnungsbücher trotz lokaler oder überregionaler Verbotsschreiben durch Konzilien und Synoden die Weiterförderung des Festes durch die communitas. 90

85

Anna Jean Mill, Medieval Plays in Scotland. Edinburgh 1927, App. I. Dunfermline, 175.

86

„To John son of Alan of Scroby, boy-bishop officiating on St. Nicholas’s day, in the King’s chapel there

6s. 8d. To the boy-bishop of St. Mary’s church at Nottingham coming into the King’s presence on the feast of Holy Innocents 10s.“ Vgl. Thomas Stapleton, A Brief Summary of the Wardrobe Accounts of the 10th, 11th, and 14th Years of King Edward II, in: Archaeologia 26, 1836, 318–345, hier 342. 87

„Episcopo puerorum ecclesiae de Andeworp cantanti coram domino rege in camera sua in festo sanc-

torum Innocentium“, zit. in: Warton, History of English Poetry (wie Anm.16), Vol.2, 229. 88

BL MS Add. 33376, fol.29r.

89

Hierzu ausführlich Yann Dahhaoui, Voyages d’un prelat festif. Un évêque des Innocents dans son

évêché, in: Revue historique 639/3, 2006, 677–694. 90

So versuchte man Normüberschreitungen während des Festes auf lokaler Ebene zu unterbinden. Die

Regulierungsbemühungen scheinen beispielsweise in den Statuten Roger Mortivals für die Kathedrale

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VI. Das Kinderbischofsfest als Verkehrungsritual? Der vorliegende Beitrag hatte zum Ziel, die Einordnung des Kinderbischofsfestes in den Kontext der Verkehrungsrituale anhand von Beispielen der Überlieferung des englischen Raumes kritisch zu hinterfragen. Die Analyse der hier vorgestellten Quellen hat ergeben, dass der Bedeutungsgehalt der Einsetzung und Wahl eines Kinderbischofs über eine reine Statusumkehr hinausgeht. Elemente einer Inversion finden sich zwar in der räumlichen Anordnung der Kleriker im Chorgestühl und im Tausch der Funktionen zwischen höheren und niederen Klerikern während des Festes der Unschuldigen Kinder, jedoch verweist die vielfältige Überlieferung – von liturgischen Regelwerken bis zu Abrechnungen und Inventaren – auf eine erweiterte Sinnzuschreibung des Festes. Die Herkunft des Kinderbischofs aus den Reihen der Chorknaben und die damit verbundenen Qualifikationen – eine „reine Stimme“ oder eine „schöne Gestalt“ – verdeutlichen die enge Verbindung zwischen dem Kinderbischof und der Liturgie, deren Zweck es ist, den Gläubigen bestimmte Glaubensinhalte zu veranschaulichen. Es ist wichtig zu erwähnen, dass diese Verbindung in der bisherigen Forschung insofern unbeachtet geblieben ist, als man lediglich den – meist in regulierenden Quellen und Verbotsschreiben erwähnten – parodistischen und subversiven Charakter des Festes betonte, ohne Berücksichtigung der Aussagekraft liturgischer Quellen. Der Bedeutungsgehalt des Kinderbischofsfestes erschließt sich also zum einen in Bezug auf das Alter der beteiligten Chorknaben. Deren kindliche Stimme und Physis dienen im Vollzug der liturgischen Feiern des Kinderbischofsfestes und in Anlehnung an die Unschuldigen Kinder sowie an den Hl. Nikolaus als symbolische Verweise auf die christlichen Tugenden Reinheit, Unschuld und Demut, als deren Personifikation der Kinderbischof hier fungiert.

von Salisbury 1319 auf, ebenso in den Regulierungsschreiben John Grandissons von Exeter von 1333 für die Kathedrale und 1339 für die Kollegiatskirche St. Mary Ottery; vgl. hierzu REED Devon (wie Anm.74), 6f., 8f. Ein weiteres Beispiel bieten die Statuten der Dekane der Kathedrale von Wells, John Godeley von 1331 und Walter de London von 1337–1338; vgl. REED Somerset (wie Anm.82), Vol.1, 236ff. Die Existenz des Festes selbst stand hierbei jedoch nicht in Frage. Ein erstes allgemeines Verbot auf nationaler Ebene wurde durch eine Proklamation Heinrichs VIII. am 22.Juli 1541 erlassen; vgl. REED Herefordshire, Worcestershire (wie Anm.80), App. 2, 537ff.

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Der in den Libri Ordinarii geschilderte Vollzug ritueller Gesten und Handlungen, die dem Kinderbischof eine Leitungsfunktion in der Liturgie zuschreiben, sowie seine Assoziation mit dem Jesusknaben können darüber hinaus als Belege für die symbolische Aufwertung seiner Position gelten. Auch dieser Aspekt weist über eine simple Statusumkehr hinaus. Die inhaltlich hergestellte Autoritätsposition des Kinderbischofs wird drittens formal verstärkt durch den Einsatz kostbarer Insignien. Des Weiteren wurde gezeigt, dass diese durchaus als ernsthaft anzusehende Übertragung von Autorität und Vorbildfunktion sich auch in der Rolle des Kinderbischofs als Prediger manifestierte. Der Aspekt der langfristigen Förderung durch die communitas zeigt zudem den hohen Grad der Akzeptanz dieses Klerikerfestes und spricht wiederum gegen die Annahme seiner überwiegenden Verurteilung durch die Kirche aufgrund seines vermeintlich parodistischen Charakters. Zusammenfassend kann man formulieren, dass es sich beim Kinderbischofsfest wohl eher um ein Ritual der Erhöhung als um eine Verkehrung handelt. Mit diesem Ergebnis lässt sich an jüngste Forschungsergebnisse zu verwandten Phänomenen anknüpfen. 91 Einen fruchtbaren Ansatz für eine Neuinterpretation mittelalterlicher Klerikerfeste bot bereits Hans Rudolf Velten, der die Wahl und Erhebung von Narrenbischöfen- und Narrenkönigen als ein von der Klerikergemeinschaft getragenes Einsetzungsritual interpretiert hat, welches mit einer Statuserhöhung einhergeht. 92 Velten benutzte zudem den auf Pierre Bourdieu 93 zurückgehenden Begriff der „performativen Magie“, die Einsetzungsritualen auch längerfristige Gültigkeit verschaffe. Zugleich schreibt Bourdieu dieser „performativen Magie“ eine wirklichkeitsverändernde Wirkung zu, welche die eingesetzte Person real verwandelt. Dies bezieht sich sowohl auf die Vorstellungen, die andere Personen von der eingesetzten Person haben, als auch auf das Verhalten ihr gegenüber. Zudem, so Bourdieu, verändert die Einsetzung auch die Eigenwahrnehmung der betroffenen Person von sich selbst und demzufolge ihr Verhalten. Versucht man nun diese Gedanken auf das Kinderbischofsfest anzuwenden, so

91

Vgl. hierzu Max Harris, Sacred Folly. A New History of the Feast of Fools. Ithaca/London 2011.

92

Hans Rudolf Velten, Einsetzungsrituale als Rituale der Statusumkehr. Narrenbischöfe und Narrenköni-

ge in den mittelalterlichen Klerikerfesten (1200–1500), in: Marion Steinicke/Stefan Weinfurter (Hrsg.), Investitur- und Krönungsrituale. Herrschaftseinsetzungen im kulturellen Vergleich. Köln/Weimar/Wien 2005, 201–221. 93

Pierre Bourdieu, Einsetzungsriten, in: ders., Was heißt sprechen? Zur Ökonomie des sprachlichen Tau-

sches. 2.Aufl. Wien 2005, 111–121.

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bieten sich interessante Ansatzpunkte für eine Neuinterpretation. Zu fragen wäre, inwieweit sich die Erhebung und Einsetzung eines Kinderbischofs als Einsetzungsritual überhaupt im Sinne Bourdieus fassen lässt. Dazu wäre es zunächst angebracht, nach den Analogien zwischen der Einsetzung eines echten und der eines Kinderbischofs zu suchen. 94 Weiterhin gilt es, nach dem identitätsstiftenden und integrierenden Charakter eines solchen Festes zu fragen. Vermutlich änderte sich die Identität eines einzelnen Chorknaben durch die Wahl zum Kinderbischof nicht dauerhaft wie die eines echten Bischofs 95, dennoch wird der Kinderbischof als Repräsentant einer bestimmten Gruppe, nämlich der Kinder und/oder der Schwachen symbolisch zum Vorbild erhoben und somit die Identität dieser Gruppe gestärkt. Die auf Konsens und Unterstützung der Klerikergemeinschaft basierende Einsetzung lässt somit auch auf eine integrative Wirkung eines solchen Festes schließen. Die gemeinsame Vorbereitung und Feier förderte vermutlich den Zusammenhalt der Gemeinschaft und half womöglich auch latenten Konflikten vorzubeugen. Zudem könnte man dem Fest auch einen bestimmten pädagogischen Impetus zuschreiben, was die Einübung bestimmter Rollen und Handlungsmuster durch einen jungen Kleriker in der Liturgie betrifft, die ihm auch in seiner späteren Laufbahn, etwa als Priester, dienlich sein konnten. Neben dem Aspekt der Einsetzung und symbolischen Erhöhung eines Kinderbischofs gilt es nach dem Sinngehalt des Festes für die Gläubigen (Kleriker und Laien) zu fragen. Diese zentrale Fragestellung kann hier nur angerissen werden. Auf der biblischen Grundlage der Verehrung der Unschuldigen Kinder und des Jesusknaben erscheint die Einsetzung eines Kinderbischofs als ein Exemplum für Demut und Erlösung und damit als Beleg für die Bestätigung christlicher Werte und Normen. Der Knabe im bischöflichen Gewand wird zum symbolischen Träger dieser Werte. Im gemeinsamen rituellen Vollzug dieser Feier und in deren dramatischer Ausgestal94 Dieser Frage gehe ich detailliert in einem Kapitel meiner Dissertation nach. 95 Obgleich einige Befunde auf die Zuerkennung bestimmter langfristiger Privilegien und Vorrechte an den Kinderbischof zeugen. Im Stift St. Florin zu Koblenz beispielsweise wurde der Amtsträger für ein ganzes Jahr vom Chordienst und der Teilnahme an den Kapitelsitzungen befreit, er erhielt zudem eine Pfründe. Die hier genannten Privilegien des symbolischen Amtsträgers, die in den Statuten fixiert wurden, erscheinen frappierend, angesichts des oft unterstellten spielerischen und temporären Charakters des Kinderbischofsfestes. Dieses Beispiel zeigt, dass die symbolische Aufwertung des Gewählten sich auch ganz konkret in materiellen Privilegien manifestieren konnte, wenn das Kapitel dies so bestimmte. Vgl. hierzu Anton Diederich, Das Stift St. Florin zu Koblenz. Göttingen 1967, 141–144. Das Statut von 1264 liegt im Landeshauptarchiv Koblenz unter der Signatur UB des Stiftes St. Florin, U 1124.

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tung muss man von einer kollektiven Aktualisierung und Vergegenwärtigung christlicher Tugenden im Kontext der spätmittelalterlichen Frömmigkeitspraxis ausgehen, welche sich hier höchst bildhaft vollzog. Doch dies wäre Thema einer weiteren Untersuchung. 96

96

Diese Deutungsrichtung ist ein weiterer zentraler Aspekt der von mir verfassten Dissertation sowie

eines im Druck befindlichen Aufsatzes mit dem Titel „Haec ludibria condemnantes veluti pestes animarum. Grenzüberschreitungen während eines mittelalterlichen Klerikerfestes“ auf der Basis eines Vortrages auf der wissenschaftlichen Fachtagung zum Thema „Die Grenzen des Rituals“ des SFB 619 „Ritualdynamik“ an der Universität Heidelberg (27.–29.1.2011).

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Zwischen Spott und Frömmigkeit Spätmittelalterliche Festkönige und das Paradigma der Verkehrung von Torsten Hiltmann

Ziel des folgenden Beitrages ist es zu prüfen, inwieweit sich spätmittelalterliche Festkönige und ihre „Reiche“ und insbesondere die in der Literatur immer wieder genannten Narrenkönige des Karnevals tatsächlich als Institutionen beziehungsweise Rituale der Verkehrung beschreiben lassen. Dazu möchte ich in einem ersten Schritt darlegen, wie sie bisher im Rahmen des Karnevals erläutert und eingeordnet wurden, um in einem zweiten Schritt die so beschriebenen Phänomene anhand einzelner Beispiele näher zu differenzieren und in ihren jeweiligen Kontext und Gebrauch einzuordnen. Abschließend soll danach gefragt werden, ob und, wenn ja, in welcher Weise diese Festkönige zu einem differenzierteren Verständnis von Verkehrungsritualen und zu einer präziseren Kategorienbildung in diesem Zusammenhang beitragen können. Dabei möchte ich mich im Folgenden auf Beispiele der säkularen Festkultur in Frankreich und Deutschland in der Zeit zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert beschränken.

I. Die Festkönige in der „verkehrten Welt“ – Stand der Diskussion Fragt man nach Verkehrungsritualen im Mittelalter und der beginnenden Neuzeit, so fällt der Blick meist zuerst auf die Fastnacht. Der Karneval gilt als Sinnbild von Gegenwelt und Verkehrung schlechthin. Wenn hierbei auch noch mit diversen Titeln der weltlichen wie geistlichen Hierarchie hantiert wird – so wie dies im Falle der sogenannten Narrenkönigreiche der Fall ist –, so sollte dies unser besonderes Interesse wecken. Die wichtigsten Autoren zum Thema scheinen diese Lesart zu bestätigen.

oldenbourg DOI 10.1515/9783486727678.171

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1. Michail Bachtin Michail Bachtins Beschreibungen des Karnevals als Fest der Verkehrung der offiziellen Kultur durch die Volkskultur, als temporäre Befreiung von deren oppressiver Herrschaft, sind weithin bekannt und übten in der Forschung großen Einfluss aus. 1 In der „verkehrten Welt“ des Karnevals bzw. des Karnevalesken spielt für Bachtin das Hierarchische eine wichtige Rolle. So beschreibt er den Karneval als eine temporäre Befreiung von der bestehenden Gesellschaftsordnung, als „zeitweise Aufhebung der hierarchischen Verhältnisse, aller Privilegien, Normen und Tabus“. 2 Für ihn sind im Karneval alle Menschen gleich – ein Umstand, der vor dem Hintergrund der im Alltag herrschenden strengen Hierarchie der feudalen mittelalterlichen Gesellschaftsordnung und ihrer, wie es heißt, „extremen Zuordnung der Bevölkerung zu Ständen und Korporationen“ besonders deutlich wird. 3 Das Motiv der Aufhebung der Hierarchie verbindet Bachtin in seinen Darstellungen mit dem Motiv ihrer Verkehrung. So spricht er an anderer Stelle davon, dass im Karneval die hierarchischen Positionen von Oben und Unten vertauscht werden: So mache man den „Narren zum König“ und wähle am Narrentag einen Narrenabt, Narrenbischof oder Narrenerzbischof, und in den Kirchen, die direkt dem Papst unterstellt waren, angeblich sogar einen Narrenpapst. 4 An vielen Tagen würden Eintagskönige und -königinnen gewählt. Das Einsetzen dieser „roi[s] pour rire“ 5 sei dabei besonders in Frankreich sehr verbreitet gewesen. So hätten hier selbst private Festessen ihren König bzw. ihre Königin gehabt. Vom Linksherum-Tragen der Kleider

1 Michail M. Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. 2.Aufl. Frankfurt am Main 1998. Zu Bachtins Thesen, deren Wirkung insbesondere in der Literaturwissenschaft (aber auch darüber hinaus) sowie der Kritik an seinen Thesen vgl. z.B. die Kontroverse zwischen Dietz-Rüdiger Moser und Elena Nährlich-Slateva sowie Aron Jakovlevic Gurevic in der Zeitschrift Euphorion: Dietz-Rüdiger Moser, Lachkultur des Mittelalters? Michael Bachtin und die Folgen seiner Theorie, in: Euphorion 84, 1990, 89–111; Elena Nährlich-Slateva, Eine Replik zum Aufsatz von Dietz-Rüdiger Moser, „Lachkultur des Mittelalters? Michael Bachtin und die Folgen seiner Theorie“, in: ebd.85, 1991, 409–422; Aron Jakovlevic Gurevic, Bachtin und der Karneval. Zu Dietz-Rüdiger Moser: „Lachkultur des Mittelalters? Michael Bachtin und die Folgen seiner Theorie“, in: ebd.85, 1991, 423–429; und Dietz-Rüdiger Moser, Schimpf oder Ernst? Zur fröhlichen Bataille über Michael Bachtins Theorie einer „Lachkultur des Mittelalters“, in: Angela Bader u.a. (Hrsg.), Sprachspiel und Lachkultur. Beiträge zur Literatur- und Sprachgeschichte. Stuttgart 1994, 261–309, sowie zuletzt auch kritisch Sylvia Sasse, Michail Bachtin zur Einführung. Hamburg 2010, 157–175. 2 Bachtin, Rabelais und seine Welt (wie Anm.1), 58. 3 Ebd.59. 4 Ebd.132. 5 Ebd.53.

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und der Ersetzung des Huts durch die Hosen bis zur Wahl von Narrenköniginnen und -päpsten habe ein und dieselbe topographische Logik geherrscht: das Unterste wurde zuoberst gekehrt. Die Herrschaft des Narrenkönigs war nach Bachtin dabei zeitlich begrenzt. Gemäß der von ihm postulierten Karnevalslogik gehört zur Einsetzung eines Narrenkönigs zugleich auch dessen Sturz. 6 Man wählt einen Narren zum König, um ihn dann, wenn seine Herrschaft abgelaufen ist, wieder zum Narren umzukleiden, ihn auszulachen, zu beschimpfen, zu schlagen. Diese zweite Umkleidung oder Metamorphose zeige uns dann, so Bachtin, „das andere, das wahre Gesicht des Beschimpften“ 7, reiße ihm den Schmuck und die Maske herunter, entthrone den König. Ob Infragestellung der Autoritäten, anarchische Gegenkultur oder von Lachen bestimmte Umkehr der Hierarchien, alles wird als eine temporäre Befreiung von der bestehenden Herrschaft gelesen. 8 Die befreiende Kultur der Verkehrung stehe dabei im harschen Gegensatz zur offiziell-kirchlichen Kultur. Die Hauptträger dieser Volkskultur sieht er somit auch im unteren und mittleren Klerus, in den Studenten und Angehörigen der Unterschicht. 9 2. Dietz-Rüdiger Moser Eine noch prominentere Rolle nehmen die Narrenreiche bei Dietz-Rüdiger Moser ein, für den das Errichten solcher Narrenreiche „ein zentrales Phänomen der Fastnachts- und Karnevalsbräuche“ 10 war. Vor dem Hintergrund seiner Interpretation

6 Ebd.317. 7 Ebd.239. 8 Ebd.28: „Im Gegensatz zum offiziellen Feiertag zelebrierte der Karneval die zeitweise Befreiung von der herrschenden Wahrheit und der bestehenden Gesellschaftsordnung, die zeitweise Aufhebung der hierarchischen Verhältnisse, aller Privilegien, Normen und Tabus.“ 9 Ebd.133. 10 Dietz-Rüdiger Moser, Fastnacht – Fasching – Karneval. Das Fest der „Verkehrten Welt“. Graz 1986, 56. Zum gleichen Themenkomplex vgl. vom selben Autor: Narren – Prinzen – Jesuiten. Das Karnevalskönigreich am Collegium Germanicum in Rom und seine Parallelen. Ein Beitrag zur Geschichte der Fastnachtsbräuche, in: Zeitschrift für Volkskunde 77, 1981, 167–208; ders., Elf Thesen zur Fastnacht, in: Jahrbuch für Volkskunde 5, 1982, 75–77; ders., Ein Babylon der verkehrten Welt. Über Idee, System und Gestaltung der Fastnachtsbräuche, in: Horst Sund (Hrsg.), Fas(t)nacht in Geschichte, Kunst und Literatur. Konstanz 1984, 9–57; ders., Fastnacht und Fronleichnam als Gegenfeste, Festgestaltung und Festbrauch im liturgischen Kontext, in: Detlef Altenburg/Jörg Jarnut/Hans-Hugo Steinhoff (Hrsg.), Feste und Feiern im Mittelalter. Paderborner Symposion des Mediävistenverbandes. Sigmaringen 1991, 359–376. Moser nimmt dabei gegen Bachtin explizit Stellung, vgl. ders., Schimpf oder Ernst? (wie Anm.1).

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der Fastnacht als Inszenierung einer civitas terrena (civitas Diaboli), die es – im Sinne des Zwei-Staaten-Modells des Augustinus – der civitas Dei der Fastenzeit gegenüberzustellen gelte, um die Menschen dieser Alternative zu gemahnen, ist die Einrichtung der Narrenreiche für ihn sogar „zwingend notwendig“. 11 Denn hier gehe es darum, „dem einen und – im übertragenen Sinn – unvergänglichen Reich der Königsherrschaft Christi, das mit der Fastenzeit beginnt, zuvor die vielen zeitlichen und vergänglichen Reiche irdischer Herrlichkeit entgegenzustellen“. 12 Und so fänden alljährlich an Straßenkreuzungen „Tauf- und Inthronisationsfestlichkeiten für diese Narrenfürsten statt, Bankette, Turniere, Reimwettstreite“. 13 Diese Könige ritten dann oft auf einem Esel umher, als Sinnbild der Sünde der Acedia, der geistigen und damit auch religiösen Trägheit. 14 Der Idee der Fastnacht als civitas terrena unterwirft Moser auch die einzelnen Riten dieser Fastnachtsreiche wie Bankette, Rügegerichte und Turniere. Hier gehe es um den Aufweis der Lasterhaftigkeit und des gegenseitigen Sichbefehdens. Und im hemmungslosen Essen und Trinken finde eine Triebhaftigkeit ihren Ausdruck, die für das Irdische als Höchstes gilt. 15 Da es sich hierbei letztlich um didaktische Inszenierungen durch die Kirche selbst handele, sei auch verständlich, warum die Narrenfeste im Mittelalter von Seiten der Kirche keineswegs vollständige Ablehnung erfahren hätten, sondern allein aus dem kirchlichen Bereich verbannt wurden. Denn Menschen, die die Priesterweihe empfangen oder die Ordensprofess abgelegt hatten, vor allem aber die dem Gottesstaat zugerechneten Kirchen, mussten, so Moser, von den zeitweiligen Darstellungen der Gottferne (Narrentum) ausgenommen bleiben. 16 Aus seiner Interpretation des Narrenreiches als Repräsentation der civitas Diaboli ergibt sich dann auch notwendig die Kurzlebigkeit dieser Herrschaft, dieser „verkehrten“ Welt. Die Herrschaft des Narrenabtes oder Narrenkönigs musste mit Beginn der Fastenzeit am Aschermittwoch zu Ende gehen, wenn sich die übliche, „gottgewollte“ Ordnung wieder einstellte. 17

11

174

Moser, Fastnacht – Fasching – Karneval (wie Anm.10), 51.

12

Ebd.51.

13

Moser, Narren – Prinzen – Jesuiten (wie Anm.10), 180.

14

Ebd.181.

15

Ebd.187.

16

Ebd.191.

17

Ebd.190.

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Als Anführer der Menschen, die mit dem Defekt der Gottesferne ausgestattet sind, ist der Narrenkönig eine eindeutig negative Figur. Denn sein Reich beschreibe für eine kurze und begrenzte Zeitspanne letztlich eine „pervertierte Gottesherrschaft“. 18 3. Gemeinsamkeiten in der bisherigen Darstellung Trotz unterschiedlicher Ansätze zur Erklärung des Karnevals – zum einen als Befreiung von den Zwängen der offiziellen Kultur und Verlachung ihrer Herrschaftsträger, zum anderen als didaktisch-theologisch intendierte Repräsentation des Sündenreiches – schreiben Bachtin und Moser dem Narrenkönig doch ganz ähnliche Eigenschaften zu: Für beide ist das Motiv des Narrenkönigs/Narrenherrschers klar im Kontext einer „verkehrten“ Welt einzuordnen; dabei steht es im deutlichen Gegensatz zur obrigkeitlichen, normsetzenden Kultur (der Kirche); letztlich ist für beide sicher, dass die Herrschaft des Narrenkönigs zeitlich begrenzt sei, d.h. am Aschermittwoch mit einer Entthronung und rituellen Absetzung zu Ende gehen muss. Schaut man nun nach den Grundlagen dieser Darstellungen, so erweisen sich diese bei beiden als recht dünn. Michail Bachtin gewinnt seine Einsichten weitgehend aus der Interpretation des Werkes von Rabelais und durch Analogieschlüsse auf angeblich allgemeine karnevaleske Bräuche. Verweise auf Karnevalskönige in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Festkultur beschränken sich weitgehend auf die fête des fous, das Narrenfest, wobei er die Belustigungen des niederen Klerus zu Neujahr und am Dreikönigstag als die zügellosesten ausmacht. 19 Dietz-Rüdiger Moser bietet zwar eine deutlich größere Belegdichte. Doch bleibt auch er in seinen Beispielen äußerst eklektisch. So belegt er beispielsweise seine Aussage, dass es in der „verkehrten Welt“ der Fastnacht zu Ämtertausch gekommen sei, mit Festlichkeiten am Dreikönigstag am Prager Hof und in der Mainzer Kanzlei im 17. und 18.Jahrhundert. 20 Seine Interpretation des Narrenreiches macht er an einem Beispiel aus dem – im Zuge der Gegenreformation neu gegründeten – jesuitischen Collegium Germanicum in Rom aus der zweiten Hälfte des 16.Jahrhunderts

18 Ebd.186. 19 Damit stellt er gerade zwei Bräuche voran, die von jenen zum Karneval deutlich zu unterscheiden sind; vgl. Bachtin, Rabelais und seine Welt (wie Anm.1), 124f. Zur genaueren Differenzierung zwischen diesen verschiedenen Festen und Riten vgl. Anm.29 und 69. 20 Moser, Narren – Prinzen – Jesuiten (wie Anm.10), 189f.

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fest. 21 Für die Gleichsetzung der Narrenreiche mit dem alten Babylon schließlich greift er auf eine Vielzahl von Belegen aus dem beginnenden 16.Jahrhundert aus dem niederländischen Bereich zurück 22, um mit alledem Schlussfolgerungen auch für das Mittelalter zu ziehen 23. Vor allem aber werden die verschiedenen Ausdrucksformen dieser sogenannten „Narrenherrschaften“, ob Könige oder Äbte, Fürsten oder Bischöfe, ein und demselben Konzept subsumiert, und es wird im Jahreslauf kein Unterschied zwischen Neujahr, Dreikönigstag und Karneval gemacht. Darin wird eine Tendenz zur Verallgemeinerung deutlich, die für die bisherige Forschung insgesamt kennzeichnend ist. Auch bei anderen Autoren sind fehlende Differenzierungen zu finden, wenn etwa ganz allgemein von „Narren- und Kinderbischöfen, -päpsten und -königen“ 24 gesprochen oder der Narrenbischof als Äquivalent des Narrenkönigs in einer Bischofsstadt beschrieben wird 25. Auch die fast schon resignierende Feststellung, dass sich der Beginn der Fastnachtszeit bzw. der Narrenreiche nicht genau festlegen lasse, da in vielen Fällen die Wahl des Fastnachtskönigs bereits am Dreikönigstag oder an Mariae Lichtmess (2. Februar) stattfinde, weist in diese Richtung. 26 Grund genug, näher hinzuschauen. 27

21

Ebd.172–176.

22

Ebd.181.

23

Entsprechend bezeichnet er die Karnevalsbräuche als Bräuche, „die im europäischen Mittelalter auf-

gekommen sind und in letztlich nur geringfügig variierten Formen bis zur Gegenwart weitergetragen wurden“; ebd.168. 24

So z.B. bei Hans Rudolf Velten, Einsetzungsrituale als Rituale der Statusumkehr. Narrenbischöfe und

Narrenkönige in den mittelalterlichen Klerikerfesten (1200–1500), in: Marion Steinicke/Stefan Weinfurter (Hrsg.), Investitur- und Krönungsrituale. Herrschaftseinsetzungen im kulturellen Vergleich. Köln/ Weimar/Wien 2005, 201–221, hier 218. Vgl. auch Yves-Marie Bercé, Fête et révolte. Des mentalités populaires du XVIe au XVIIIe siècle. 22.Aufl., Paris 2006, der ebenfalls keinen Unterschied zwischen dem Kinderbischof und Karnevalsbräuchen macht: „En faisant asseoir le clergeon sur le trône de l’évêque, en rendant les honneurs à un ivrogne ou en enfilant leurs habits à rebours, les joueurs du Carnaval accomplissaient un rite d’inversion; ils mettaient le monde à l’envers. Des prédicateurs le jour du mercredi des Cendres représentaient un monde bouleversé par la folie du péché, qui aurait constitué l’exact envers de la vie chrétienne“ (31). 25

Bob Scribner, Reformation, Karneval und die „verkehrte Welt“, in: Richard van Dülmen/Norbert

Schindler (Hrsg.), Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltags (16.–20.Jahrhundert). Frankfurt am Main 1984, 117–152, hier 138: „Bezeichnenderweise wird der Schein-König in Bischofsstädten durch einen Schein-Bischof ersetzt.“

176

26

Moser, Narren – Prinzen – Jesuiten (wie Anm.10), 190.

27

Zu welchen überraschenden Ergebnissen ein näherer Blick auf voreilig dem Narrentum zugewiesene

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II. Könige im Spätmittelalter Tatsächlich lässt sich die Verwendung von politischen und kirchenhierarchischen Titeln in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Festkultur in einer erheblichen Vielfalt und Breite antreffen. Dabei kann man grundsätzlich wohl zwischen zwei gesonderten Gruppen unterscheiden: jenen „Würdenträgern“, die nur innerhalb eines bestimmten Festes, eines bestimmten Rituals auftreten, und jenen, die in ihrer Funktion in einen weiteren, institutionellen Rahmen eingebunden sind. 28 Die Grenze zwischen beiden ist aufgrund der oft nur unzureichend vorhandenen Quellen bisweilen nur sehr schwer zu ziehen. 1. Bohnenkönig Definitiv der ersten Gruppe zuzuordnen ist das Fest des Bohnenkönigs 29 – ein Ritual, das an Epiphanie, am 6. Januar, abgehalten und im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit weit verbreitet war. Alljährlich wurde an diesem Tag in den verschiedensten Festgemeinschaften, ob im Haushalt, auf der Straße oder im Stadtteil, im Hospiz oder auf der Trinkstube, in den verschiedensten Berufsgruppen oder bei Hofe, meist durch Los (bisweilen auch durch eine in einem Kuchen versteckte Bohne) ein König bestimmt, der daraufhin sein Königreich hält. Das heißt nichts anderes, als dass der Erwählte ein mehr oder weniger großes Festgelage auszurichten hatte, zu dem man jede Menge Schabernack und Spaß treiben konnte, zumal dabei viel getrunken wurde: Jedes Mal, wenn der König mit seiner Krone auf dem Haupt seinen Phänomene führen kann, zeigt Wolfgang Seidenspinner, Narrenreich und Mohrenkopf. Zu Perspektiven und Aufgaben der Brauchforschung am Beispiel des Hemsbacher Pfingstritts, in: Jahrbuch für Volkskunde NF.21, 1998, 139–156.

28 Zur Vielseitigkeit der Verwendung des Königsbegriffes im Spätmittelalter und der beginnenden Neuzeit vgl. Torsten Hiltmann (Ed.), Les „autres“ rois. Études sur la royauté comme notion hiérarchique dans la société au bas Moyen Âge et au début de l’époque moderne. München 2010, und hier insbesondere die Einleitung, 9–21. Zu den Berufskönigen siehe alsbald genauer ders., Die Gewalt des Königs. Politische Kultur in alternativen sozialen Ordnungen, in: Martin Kintzinger/Frank Rexroth/Jörg Rogge (Hrsg.), Zwischen Widerstand und Umsturz. Zur Bedeutung von Gewalt für die politische Kultur des späten Mittelalters. Tagung des Arbeitskreises für Mittelalterliche Geschichte, Insel Reichenau, 29.September – 2.Oktober 2009. Sigmaringen 2014 (im Druck). 29 Zum Ritual und dessen Beschreibung durch die Zeitgenossen vgl. grundlegend Dominik Fugger, Das Königreich am Dreikönigstag. Eine historisch-empirische Ritualstudie. Paderborn 2007. Für eine dezidierte Bewertung des Rituals aus den Quellen vgl. zudem ders., Die Botschaft des Bohnenkönigs. Zur Semantik eines Königsrituals in der Frühen Neuzeit, in: Hiltmann (Ed.), Les „autres“ rois (wie Anm.28), 125–130.

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Becher zum Mund führte, rief die versammelte Festgemeinschaft „le roi boit“, der König trinkt! Dominik Fugger konnte zeigen, dass dieses Ritual nicht als Ritual einer Statusumkehr gelesen werden sollte. Denn es war zumeist Fortuna, der Zufall, der innerhalb der Festgemeinschaft diese Würde vergab. 30 Dabei konnte es in einigen Fällen auch Gott selbst oder die Jungfrau Maria treffen, wurden mitunter doch auch auf ihre Namen Lose ausgestellt. Oder das Los fiel bei Hofe auf den König selbst, wie es nachweislich in den Jahren 1316, 1328 und 1429 in Frankreich geschehen ist. 31 Wenn überhaupt, so konnte es – wie Mosers Beispiel von den Höfen deutscher Fürsten des 17. und 18.Jahrhunderts zeigt – zumindest zu einem Ämtertausch führen (ohne dass hier eine Verkehrung im Sinne einer symmetrischen Statusumkehr intendiert war). 32 Schon dieses Ritual, das nur auf einen Tag beschränkt war, kannte eine erhebliche Bandbreite von Variationen, die von einer etwaigen Statusumkehr mitunter sehr weit entfernt waren. So sei an dieser Stelle nur auf den entsprechenden Festbrauch im schweizerischen Romont verwiesen. Spätestens seit dem ausgehenden 16.Jahrhundert ging die Würde des „roi de la ville“ (des Königs der Stadt zum Dreikönigstag) hier nach einem bestimmten Turnus unter den Mitgliedern des städtischen Rates um 33 – eine Aufgabe, die man sicherlich nicht leichtfertig übernahm, musste man als „König“ doch für die Verköstigung des gesamten Festzuges aufkommen, der von Bewaffneten begleitet durch die Stadt zog und recht umfangreich war.

30

Vgl. Fugger, Das Königreich am Dreikönigstag (wie Anm.29), 50, sowie ders., Die Botschaft (wie

Anm.29), 126, mit weiteren Belegen. 31

Was nach dem bisherigen Verständnis des Bohnenkönigrituals zu erheblichen interpretatorischen

Schwierigkeiten führen kann; vgl. Colette Beaune, Rois de France, rois de la fève, in: Anne-Hélène Allirot/ Gilles Lecuppre/Lydwine Scordia (Eds.), Royautés imaginaires (XIIe–XVIe siècles). Actes du colloque organisé par le Centre de recherche d’histoire sociale et culturelle (CHSCO) de l’université de Paris X – Nanterre (26–27 septembre 2003). Turnhout 2005, 75–88, hier 75: „À l’opposé [zum französischen König, der seinen Titel erbt], les rois de la fève sont de pauvres enfants élus par le sort. Leur règne ne dépasse guère la journée et leur pouvoir tient de l’imaginaire. Cette épiphanie est une fête d’inversion qui exclut par principe le roi réel.“ 32

Vgl. hierzu auch die Beispiele bei Fugger, Das Königreich am Dreikönigstag (wie Anm.29), 53–55, so-

wie Claudia Schnitzer, Königreiche – Wirtschaften – Bauernhochzeiten. Zeremonielltragende und -unterwandernde Spielformen höfischer Maskerade, in: Jörg Jochen Berns/Thomas Rahn (Hrsg.), Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Tübingen 1995, 280–331. 33

Yvonne Schärmeli, Königsbrauch und Dreikönigsspiele im welschen Teil des Kantons Freiburg. Frei-

burg im Üechtland 1988, 3–87.

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Daher wurde der König teils schon ein Jahr im Voraus bestimmt, um den sicherlich nicht mittellosen Ratsherren die Möglichkeit zu geben, die Finanzierung ihres Festes abzusichern. Obwohl man also um die hohen Belastungen wusste, beschloss der Rat 1585 dennoch, das Königreich weiterzuführen – und dies, wie es explizit heißt, „zur größeren Ehre Gottes“. 34 Damit sind wir bei der Frage angelangt, was hier eigentlich gefeiert wurde. Denn das Fest, das häufig mit Narrenfest, Kinderbischof oder Fastnacht gleichgesetzt wurde, hat, wie bereits erwähnt, mit der Idee der Statusumkehr nichts gemein. Es steht auch nicht mit der Anbetung durch die Heiligen Drei Könige im Zusammenhang, sondern, wie Fugger schlüssig zeigen konnte, mit der Epiphanie im eigentlichen Sinne – d.h. der Ankunft Jesu Christi als dem Herren der Welt, als dem König der Könige. Der Spruch „le roi boit“, „der König trinkt“, geht demnach auf eine Legende zurück, wonach einer der Heiligen Drei Könige genau diese Worte voller Freude ausgerufen haben soll, als Maria das Jesuskind stillte. 35 Was also überall in Frankreich und darüber hinaus am 6. Januar feucht-fröhlich und exzessiv mit einem Königreich gefeiert wurde, war letztlich der feierliche Einzug Christi als König der Welt. 2. Roi de l’Épinette Wenn es um unverträgliche Kosten für die Ausrichtung eines Festkönigtums geht, so muss man auch vom Roi de l’Épinette in Lille sprechen 36 – ein städtisches Fest, das seit dem 13.Jahrhundert alljährlich zwischen Fastnachtssonntag und dem ersten Sonntag der Fastenzeit gefeiert wurde und dem ebenfalls ein König vorsaß. Dieses Fest bestand vor allem aus zahlreichen kostspieligen Banketten und Turnieren – ein Umstand, der es für Autoren wie Dietz-Rüdiger Moser deutlich ins Reich des Kar-

34 Archiv Romont, Manuale 4, 15.Dezember 1585, fol.15r, zitiert nach Schärmeli, Königsbrauch und Dreikönigsspiele (wie Anm.33), 18. 35 Vgl. Fugger, Das Königreich am Dreikönigstag (wie Anm.29),129–131. 36 Hierzu leider noch immer grundlegend Lucien de Rosny, L’épervier d’or ou description historique des joutes et des tournois qui, sous le titre de nobles rois de l’Épinette se célébrèrent à Lille au Moyen-Âge. Paris/ Lille 1839, und Albertine Clement-Hemery, Histoire des fêtes civiles et religieuses, des usages anciens et modernes du département du Nord. Paris 1834, 23–47. Ein Überblick zum Fest findet sich zudem bei Evelyne van den Neste, Tournois, joutes, pas d’armes dans les villes de Flandre à la fin du Moyen Age (1300–1486). Paris 1996.

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nevals, der „verkehrten Welt“, der Verspottung der offiziellen Kultur rückte. 37 Entsprechend wurde das erste Auftreten des Festes auch als frühester Beleg für ein fastnächtliches Narrenreich gewertet. 38 Anders als meist zu lesen, handelte es sich bei dessen König jedoch nicht um den Gewinner des „Fastnachts“-Turniers oder gar eines Rhetorikwettstreites. Er wurde von den ehemaligen Trägern dieser jährlichen Würde kooptiert. Diese Würde durfte man nicht ablehnen. Wer es dennoch tat, wurde eingekerkert, wenn er nicht rechtzeitig fliehen konnte. Warum aber sollte er fliehen? Weil die Kosten, welche der König als Ausrichter des Festes zu tragen hatte, so hoch waren, dass sie einzelne Familien in den Ruin treiben konnten – und dies trotz der umfangreichen Beteiligung der Stadt und später auch des Burgundischen Herzogs an der Finanzierung des Festes. 39 Worin bestand nun die Rolle des Königs der Épinette? Seine Wahl durch die ehemaligen Könige fand während eines großen Banketts am Fastnachtssonntag statt. Am Faschingsdienstag wurde ihm dann auf städtischem Grund vor der Stadt feierlich vom alten König die Épinette überreicht, woraufhin der neue König unter „Noël“-Rufen in die Stadt einzog und seinerseits in seinem Haus ein großes Bankett ausrichtete. Am Freitag (und damit bereits in der Fastenzeit) zog er mit Gefolge zum Altar des Heiligen Georg in Templemars, um für eine gute Herrschaft zu bitten. Nachdem er am Samstag, begleitet von zahlreichen Belustigungen und Theatervorstellungen, als Syre de joie einen weiteren Umzug durch die Stadt angeführt hatte, begann am Sonntag endlich das Turnier. Der alte und der neue König hatten dabei die Ehre, mit ausgewählten Rittern als erste ihre Lanzen zu brechen. Das Fest der Épinette war das bedeutendste Fest im Norden Frankreichs und machte damit die Stellung der Stadt Lille in der Region deutlich. Zahlreiche Städte schickten Abordnungen zum Fest, nicht selten wohl auch ihre unterschiedlichen Festgesellschaften, die von den jeweiligen „Fürsten“, „Äbten“ usw. angeführt wurden und mit großem Pomp in die Stadt einzogen. Daneben waren auch zahlreiche Adelige zugegen. Der Graf von Flandern diente bisweilen als Turnierrichter, und es konnte sogar vorkommen, dass der König der Épinette gegen den französischen Kö-

37

Vgl. z.B. Moser, Fastnacht – Fasching – Karneval (wie Anm.10), 247, der Turniere im Rahmen der Fast-

nacht als von der Kirche abgelehnte, typische Ausdrucksform der irdischen Welt sah. 38

Ebd.56.

39

Zur Finanzierung des Festes und den damit einhergehenden Problemen vgl. van den Neste, Tournois,

joutes, pas d’armes (wie Anm.36), 178–186.

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nig Ludwig XI. tjostierte (1464) oder der Erzherzog Maximilian zu diesem Anlass in die Schranken stieg (1479). In diesem Fest spiegelte sich aber nicht nur die Stellung der Stadt in der Region wider. Es war auch Abbild der inneren Struktur der Stadt, wurde die Ehre der Königswürde doch nur Mitgliedern der besten Familien angetragen. Es sind zahlreiche Handschriften überliefert, welche die Namen und Wappen der ehemaligen Könige verzeichnen und damit die besondere Stellung ihrer Familien in der Stadt ausweisen (was entsprechend zu späteren Fälschungen führte, um an dem Prestige des Amtes zu partizipieren). 40 Die Tatsache, dass das Fest im Umfeld von Fastnacht abgehalten wurde, setzte es schnell der Vorstellung aus, dass es sich hier um ein „Narrenreich“ handelte. So mochte Nikolaus Grass – in Widerspruch zur Übersetzerin der deutschen Ausgabe von Robert Muchembleds „Culture populaire et culture des élites dans la France moderne (XVe–XVIIIe siècles)“ 41 – den Begriff Épinette lieber mit Mastkäfig übersetzen, was seiner Meinung nach gut zum „fetten“ Dienstag passe. Den Vorschlag der Übersetzerin, den Begriff auf die Dornenkrone zurückzuführen, weist er zurück. Seiner Meinung nach hätte man „ein Fest der Passionsreliquien nicht auf den Faschingsdienstag verlegt“. 42 Doch scheint der Hintergrund dieser Benennung damit möglicherweise korrekt beschrieben zu sein. Der Titel könnte sich tatsächlich von dem Dorn (épine, épinette ist davon das Diminutivum) aus der Dornenkrone Christi ableiten, welche Johanna von Konstantinopel, im 13.Jahrhundert Gräfin von Flandern, dem Liller Dominika-

40 Armorial des rois de l’Épinette de Lille, 1283–1486, d’après le manuscrit conservé à la B.N. sous la cote Fr. 10469. Ed. Michel Popoff. Paris 1984. Zu den Fälschungen innerhalb der späteren Textzeugnisse vgl. François Boniface, Aperçu général sur les armoriaux des fêtes de l’Épinette de Lille (1283–1486). Origine, falsification, essai de chronologie et de filiation, ajouts, in: Louis Holtz/Michel Pastoureau/Hélène Loyau (Eds.), Histoire héraldique, sociale et culturelle des armoriaux médiévaux. Actes du colloque international „Les armoriaux médiévaux“ (IRHT, mars 1994). Paris 1998, 243–258. 41 Robert Muchembled, Kultur des Volks – Kultur der Eliten. Die Geschichte einer erfolgreichen Verdrängung. Aus dem Französischen übersetzt von Ariane Forkel. 2.Aufl. Stuttgart 1984, 99, wobei hier gar nicht von dem Fest in Lille, sondern von einem anderen Fest in Somain (arr. Douai) die Rede ist, welches über einen ganz ähnlichen religiösen Hintergrund verfügt. 42 Nikolaus Grass, Royaumes et Abbayes de la Jeunesse – „Königreiche“ und „Abteien“ der Jugend, in: Louis E. Morzak/Markus Esher (Hrsg.), Festschrift für Louis Carlen zum 60. Geburtstag. Zürich 1989, 411– 459, hier 413.

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nerkonvent angeblich vermacht hatte. 43 Denn hierher, so will es das Reglement, kam der König der Épinette zum Osterfest, um für mehrere Tage Quartier zu nehmen, die Dorne aus der Dornenkrone in Ehren zu halten und die Passionspredigt zu hören. Obgleich er sein Königtum am Faschingsdienstag antrat, war der König der Épinette dennoch kein Narrenkönig. Er war weder ein Vertreter einer elitenfeindlichen Volkskultur, noch konnte man ihn der gottesfernen civitas Diaboli zuordnen. Und der Abtritt des alten Königs, nicht am Aschermittwoch, sondern fast ein Jahr später, nachdem er die Stadt auf anderen Festen der Region vertreten hatte, war ein äußerst würdevoller. 3. Reinages Dem König der Épinette und dem Königreich des Epiphaniefestes recht nahe kommen schließlich auch die reinages, die seit dem ausgehenden 15.Jahrhundert vor allem in Zentralfrankreich nachweisbar sind. 44 Dabei handelt es sich um religiöse Bruderschaften, die zum Fest ihres Patrons manchmal gegen Geld, zumeist aber gegen Wachs, die Königswürde für ebendieses Fest versteigerten. Neben dem Königtum wurden dabei noch weitere Titel wie der der Königin, des Dauphins oder der Dauphine, des Konnetabels usw. ausgelobt, letztlich also ein ganzer Hofstaat. Auch das Recht, das Kreuz oder die Reliquien tragen zu dürfen, konnte auf diese Weise erworben werden. Zum Brauch selbst zählte meist die Krönung innerhalb der Kirche 45, gefolgt von einem Umritt und einem mitunter sehr ausgiebigen Gelage. Die Pfarrer, welche die Versteigerung vornahmen, äußerten sich dabei mitunter 43

Diese Lesart findet sich bei Rosny, L’épervier (wie Anm.36), 17, und ist in der gesamten älteren franzö-

sischen Literatur weit verbreitet. Von einer solchen Reliquie im Dominikanerkonvent von Lille spricht auch Jacques Marseille, Le couvent des Dominicains de Lille de sa fondation au milieu du XVe siècle, in: Archivum Fratrum Praedicatorum 40, 1970, 73–95, hier 79f., ohne jedoch eigene Belege zu bringen. Van den Neste, Tournois, joutes, pas d’armes (wie Anm.36), 56f., hingegen geht davon aus, dass man einen so ehrwürdigen Gegenstand wie ein Dorn aus der Dornenkrone im Mittelalter nicht mit einem Diminutivum bezeichnet hätte, was noch zu prüfen wäre. Im Anschluss an P. Turpin, Le sens du mot Épinette, in: Bulletin de la Commission historique du Nord 35, 1983, 32–34, hält sie es für wahrscheinlicher, dass damit eine Wachskerze gemeint sein könnte – eine Überlegung, die im Hinblick auf den noch zu erwähnenden König von Essen ebenfalls bedenkenswert ist. Tatsächlich ist der Hintergrund dieser Bezeichnung nicht gelöst. 44

Grundlegend: Robert-Henri Bautier, Une institution religieuse du centre de la France. Les Reinages de

confréries, des origines à nos jours. Guéret 1945. Siehe zudem Jean Pierre Gutton, Reinages, abbayes de jeunesse et confréries dans les villages de l’ancienne France, in: Cahiers d’histoire 20, 1975, 443–453. 45

Vgl. Gutton, Reinages, abbayes de jeunesse et confréries (wie Anm.44), 445, der ein Dokument aus der

Gemeinde Saint-Rambert-l’Ile-Barbe aus dem Jahr 1579 anlässlich einer solchen reinage mit den Worten zi-

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auch über die Beweggründe der Prätendenten. Demnach sei dies vorrangig aus Frömmigkeit und aus Verehrung des Heiligen geschehen, dessen Königtum sie erwarben, wobei wohl auch die Vorstellung vorherrschte, dass man sich damit in besonderem Maße unter dessen Schutz stellte. 46 Die reinages konnten, je nach Patron, auch in die Zeit um Karneval fallen, wie dies wohl bei dem von Emmanuel Le Roy Ladurie prominent beschriebenen Karneval von Romans der Fall war. Le Roy Ladurie interpretiert dementsprechend die reinages nach dem Modell der Narrenkönigreiche. 47 4. Wachskönig Essen Eine überraschende Parallele finden die zentralfranzösischen reinages in einem Fastnachtsbrauch der Stadt Essen im 15.Jahrhundert. 48 Hier versammelten sich am Sonntag vor Mariae Lichtmess (2. Februar) Bürgermeister, Rat und Gemeinde, um den „König von Essen“ – und vermutlich auch seine Gefährten, den „Herzog“ und den „Raugrafen“ – zu wählen. Dabei hatte der alte Amtsinhaber das Vorschlagsrecht. Am Morgen von Lichtmess traten die so Erwählten „in pontificalibus“, „in ihrer zirheit“ 49, also in einer der ihnen anvertrauten Würde entsprechenden Kleidung auf, um von den Besuchern der Pfarrkirchen Geldspenden und von den Teilnehmern

tiert: „et eux après ont esté les susnommez couronnez en l’eglise de Saint-Rambert, chantantz ‚Te Deum laudamus‘ et observans les solempnittés en tel cas requis“. 46 So sei in den Pfarrregistern des Öfteren anlässlich dieser reinages zu lesen: „que telle personne a pris le royaueme de tel saint, ‚meu de dévotion‘“ oder „pour leur dévoction“; ebd.445. 47 Das Königreich des Heiligen Blasius wurde zu Sankt Blasius am 3. Februar auch mit der Wahl eines entsprechenden Königs begangen, der in den weiteren Auseinandersetzungen eine wichtige Rolle spielt: Emmanuel Le Roy Ladurie, Le Carnaval de Romans. De la Chandeleur au mercredi des Cendres 1579–1580. Paris 1979, 200. Doch müsste eingehender geprüft werden, ob damit tatsächlich eine reinage im eigentlichen Sinne beschrieben ist. Le Roy Ladurie interpretiert diese aber tatsächlich ganz nach dem Muster eines Narrenreiches, vgl. z.B. ebd.335f.: „La culture catholique d’Ancien Régime a fondu admirablement le sacré et le profane, le religieux et le burlesque; avec le reynage, elle a créé un outil social; il permet aux basses classes de faire entendre leur voix, leurs moqueries et quelquefois leurs revendications. Les tendances politicoplébéiennes sont refoulées dans le temps normal; elles trouvent un moyen d’expression grâce aux sacralités des jours festifs. Le subconscient dangereux du groupe se structure momentanément dans les institutions solennelles et formalisées du reynage.“ 48 Zu diesem Fest vgl. Konrad Ribbeck, Gilde, Lichtmeß und Fastnacht im Stifte Essen, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 114, 1929, 98–110, sowie zuvor schon Franz Arens, Der Liber ordinarius der Essener Stiftskirche und seine Bedeutung für die Liturgie, Geschichte und Topographie des ehemaligen Stifts Essen, in: Beiträge zur Geschichte von Stadt und Stift Essen 21, 1901, 1–156, hier 90f. 49 Ribbeck, Gilde, Lichtmeß und Fastnacht (wie Anm.48), 101f.

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einer Lichterprozession zur Münsterkirche die übriggebliebenen Kerzenstummel einzusammeln. Wachs und Geld verwandten König, Herzog und Raugraf, um mit Freunden, die sie auf ihre Kosten bewirteten, im Rathaus große Kerzen zu fertigen, die sie dann am Fastnachtssonntag in feierlichem Aufzug und mit großem Gefolge in die Münsterkirche trugen, wo für sie ein feierlicher Gottesdienst mit Prozession gefeiert wurde. Im Rahmen der Feier, der auch Adelige aus der Umgebung, bisweilen auch die Fürstäbtissin von Essen selbst beiwohnten, konnten dann wohl ebenfalls Narrheiten stattfinden. Womit sich auch hier so scheinbar Unvereinbares wie Ausschweifungen und Frömmigkeit, Spiel und Ernst miteinander verbunden fand. 5. Jugendabteien, „sociétés joyeuses“ und andere feststehende Einrichtungen Ob hinter dem König von Essen oder dem roi de l’Épinette ebenfalls eine Gilde, Bruderschaft oder sonstige Organisation stand wie bei den reinages, lässt sich nicht sagen. Für zahlreiche andere dieser Würden, ob Könige, Äbte, Fürsten oder „närrische Mütter“ ist dies hingegen der Fall. Auch wenn sich aufgrund der Vielfalt der Erscheinungsformen, der unübersichtlichen Quellenlage und der in großen Teilen noch fehlenden Aufarbeitung die Trennlinie nicht immer klar ziehen lässt, so scheinen diese „Würdenträger“ doch weniger mit einem besonderen Fest oder Festtag verbunden gewesen zu sein, denn mit einer feststehenden Institution, der sie turnusmäßig vorstanden und in deren Rahmen sie über das ganze Jahr hinweg spezifische Aufgaben wahrnahmen. Gemeint sind hier Institutionen wie die Jugendabteien und die eng verwandten sociétés joyeuses, Rhetorikerkammern oder die sogenannten puys marials, die es hinsichtlich ihrer Zusammensetzung und Zielsetzung deutlich zu unterscheiden gilt, die aber alle auch im Umfeld der Fastnacht in Erscheinung treten konnten. Deren obersten Würdenträgern kamen hier nun Funktionen zu, die deutlich über das eigentliche Ritual hinausgingen. Allerdings wurden sie kaum je als Könige bezeichnet, sondern als princes (Fürsten), Äbte oder Herren. Die Vorstellung der fastnächtlichen Narrenherrschaften am nachhaltigsten geprägt haben dabei die Jugendabteien und sociétés joyeuses. 50 Schon allein deren 50

Zu den Jugendabteien und sociétés joyeuses vgl. insbesondere Natalie Zemon Davis, The Reasons of Mis-

rule. Youth Groups and Charivaris in Sixteenth-Century France, in: Past & Present 50, 1971, 41–75; Jacques Rossiaud, Fraternités de jeunesse et niveaux de culture dans les villes du Sud-Est à la fin du Moyen Âge, in: Cahiers d’histoire 21, 1976, 67–102; sowie Katja Gvozdeva, Spiel und Ernst der burlesken Investitur in den „sociétés joyeuses“ des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, in: Steinicke/Weinfurter (Hrsg.), Investitur- und Krönungsrituale (wie Anm.24), 177–199.

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Selbstbezeichnungen und die darauf aufbauenden Titel ihrer Anführer legen die Vorstellung einer „verkehrten Welt“ nahe, nannten sich diese doch: Abbé de Maugouvert (Missregierung), Abbé de Liesse (Fröhlichkeit, Jubel), Prince des Sots (Narren, Idioten), Abbé des connards (Gehörnte) oder Mère folle (närrische Mutter). 51 Doch Obacht ist geboten. Der Titel eines „Prince d’amour“ (Prinz der Liebe) kann auch den Vorsteher eines puys marials und damit einer elitären, der Jungfrau Maria gewidmeten Gilde bezeichnen. 52 Damit verweist er nicht, wie bisweilen angenommen wurde, auf die lasterhafte Liebe, sondern auf die reine Liebe zur Mutter Gottes. Dass auch diese frommen „princes“ in den Fokus der Fastnachtsforschung geraten konnten, mag auch daran liegen, dass sie meist zu Mariae Lichtmess d.h. am 2. Februar und damit im Umfeld der Fastenzeit gewählt wurden. Die Jugendabteien und die – wohl in den Städten aus diesen hervorgegangenen – sociétés joyeuses spielten in den Veranstaltungen der Karnevalszeit zwar eine wichtige Rolle. Sie organisierten einen Teil der Festlichkeiten, hielten Umzüge ab und führten gegebenenfalls auch Theaterstücke auf. Doch war ihr „Reich“ und damit die Regentschaft ihres Anführers nicht auf die Zeit der Fastnacht beschränkt. Als Zusammenschluss der unverheirateten jungen Männer einer Ortschaft (was sich später in den Städten im Rahmen der sociétés joyeuses sozial wie territorial weiter öffnen und ausdifferenzieren konnte 53), kam den Jugendabteien eine wichtige Rolle in der Gemeinschaft zu. So dienten sie etwa der Kontrolle und Disziplinierung der Jugend, gaben dieser eine gewisse Autonomie, aber auch bestimmte Regeln. Für die innere Ordnung der Abteien hatte ihr Anführer, der Jugendabt, „Fürst der Jugend“ o.ä., zu sorgen. 54 Er war es auch, der gegenüber den Obrigkeiten für die Ta-

51 Für eine Aufzählung der verschiedenen Würdenträger mit weiterführenden Verweisen vgl. Davis, Reasons of Misrule (wie Anm.50), 43. 52 Bei den puys marials und Rhetorikerkammern handelt es sich um religiöse Bruderschaften, in denen entweder allgemeine lyrische Wettstreite abgehalten wurden (Rhetorikerkammern) oder – bei den deutlich elitäreren puys marials – der schönste Gesang auf die Jungfrau Maria gekürt wurde. Meist stand diesen ein „prince“ (Fürst) vor, der jährlich unter den angesehensten Mitgliedern der Gesellschaft gewählt wurde, um die lyrischen Wettstreite zu organisieren, zu finanzieren und ihnen vorzusitzen. In den puys marials wurde er an deren höchsten Feiertag, Mariae Lichtmess, und damit ebenfalls im Umfeld des Karnevals gewählt. Zu den puys marials vgl. ausführlich Gérard Gros, Le poète, la Vierge et le prince du Puy. Étude sur les Puys marials de la France du Nord du XIVe siècle à la Renaissance. Paris 1992. 53 Zur Entwicklung vgl. Davis, Reasons of Misrule (wie Anm.50), 58–73. 54 Rossiaud, Fraternités de jeunesse (wie Anm.50), 72–75. Davis, Reasons of Misrule (wie Anm.50), 64, zitiert ein Lyoner Archivdokument aus dem Mai 1517, wonach die Mitglieder der „Missregierung“ genann-

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ten seiner Untertanen Stellung nehmen und auf Mäßigung dringen musste. Von ihm wurde gemäß den Stadtbüchern verlangt, dass er „Skandale beruhigt, Missbrauch eindämmt, die Jugend fröhlich und ehrenvoll regiert, die glückliche Ruhe des Volkes bewahrt, den guten Frieden und die gute Nachbarschaft erhält“. 55 Ihm oblag es also, die Gruppe zu regulieren, zu repräsentieren und für deren möglichst friedfertige Anteilnahme am öffentlichen Leben zu sorgen. Deshalb sollte nicht der „närrischste“ der Jugendlichen zu deren Anführer gewählt werden, sondern einer „von gutem Ruf und Ansehen“, jemand Kluges und Verantwortungsvolles. 56 Und es nimmt kaum Wunder, dass sich die Obrigkeit auch bei dessen Ernennung und Wahl einschaltete, diese beaufsichtigte bzw. teils selbst vornahm. Entsprechend konnte man auch Abkömmlinge der angesehensten Familien diese Ämter bekleiden sehen, die bisweilen wohl als Vorbereitung auf spätere Leitungsfunktionen verstanden wurden. 57 Diese Investitur von oben, wie Katja Gvozdeva den Vorgang bezeichnet, konnte in einer Kirche oder Abtei stattfinden, unter Verwendung der üblichen Insignien, die jedoch durch karnevalesken Schmuck gebrochen wurden. 58 Der Form nach handelt es sich hierbei vielleicht um eine burleske Veranstaltung, die Intention ist aber eine seriöse, nämlich der örtlichen Jugend eine Aufsichts- und Führungsperson zu installieren. Dem Jugendabt beziehungsweise den Jugendabteien kam dabei eine eigene, ganz besondere Gerichtsbarkeit zu 59 – zum einen über ihre Altersgenossen, d.h. über die Jugend der Ortschaft, einschließlich der heiratsfähigen Mädchen, und über Fremde, welche den Mädchen des Ortes den Hof machten, zum anderen über das Eheleben der Älteren, deren normgemäßes Verhalten sie überwachten und Abweichler in

ten Abtei in der „rue Mercière“ ihren Abt und mehrere Beamte wählten, um die Straßen zu regieren und Friede und Freundschaft zwischen den Mitgliedern zu bewahren, was ganz den Grundregeln einer Bruderschaft entspricht. 55 So die Begriffe, wie sie von Rossiaud, Fraternités de jeunesse (wie Anm.50), 71f., verschiedenen Stadtbüchern des 14. bis 16.Jahrhunderts in Erläuterung der Aufgaben des Jugendabtes entnommen wurden. 56

So die Anforderungen, wie sie in den vor 1400 entstandenen Coutumes von Mazan (Südfrankreich) an

den zukünftigen Abt der örtlichen Jugendabtei gestellt wurden; vgl. ebd.73. Eine Parallele hierzu zeigt sich beim Königreich der Hemsbacher Weidebuben, vgl. den Aufsatz von Anne Christina May in diesem Band. 57

Mit Beispielen und Belegen vgl. ebd.72f.; aber auch Gvozdeva, Spiel und Ernst (wie Anm.50), 181f.

58

Vgl. Katja Gvozdeva, Le jeu du sacre dans les contextes ludiques, rituels et polémiques, in: Marie Bou-

haik-Gironès/Jelle Koopmans/Katel Lavéant (Eds.), Théâtre polémique. Rennes 2008, 89–107, hier 92. 59

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Davis, Reasons of Misrule (wie Anm.50), 64.

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öffentlichen Charivari anprangerten. 60 Zu dieser Gruppe zählten Witwen und Witwer, die sich erneut verheirateten, Ehen mit zu großem Altersunterschied, Fremde, die sich in den Ort einheirateten, junge Eheleute, die über das erste Jahr hinaus kinderlos blieben, Männer, die von ihren Frauen geschlagen oder von diesen betrogen wurden, oder auch Männer, die im Monat Mai ihre Frauen schlugen. Diese öffentlichen, ebenfalls burlesk gebrochenen Untersuchungen und Gerichtsverhandlungen sowie die anschließende Charivari fanden ursprünglich wohl über das ganze Jahr verteilt statt, wurden aber von den Obrigkeiten mehr und mehr auf bestimmte Termine, insbesondere den Mai und eben die Zeit um Karneval beschränkt. 61 Dabei konnte es auch zu burlesken Investituren kommen. So konnte ein Mann, der den Anforderungen der Männlichkeit im Eheleben nicht entsprach (der, wie erwähnt, entweder geschlagen oder betrogen wurde), zum „Narrenprinzen“ oder zum „Prinzen der Gehörnten“ ernannt und als solcher öffentlich vorgeführt werden. Auch diese Investitur konnte in Form einer Weihe oder Krönung stattfinden. 62 Nur geschah dies nun unter ganz anderen Vorzeichen. In der Übertragung auf einen tatsächlich Gehörnten verliert der Titel seine parodistische Brechung, seinen Spaßcharakter. Er straft und erniedrigt. Der „Würdenträger“ wird durch die Jugendbzw. Charivarigruppe als des Titels tatsächlich „würdig“ exponiert und der öffentlichen Demütigung und Verlachung ausgesetzt. Dieses Lachen galt also gerade nicht der „alten Ordnung“, der Befreiung von den althergebrachten Normen und Tabus der offiziellen Kultur. Es galt vielmehr deren Durchsetzung und Verstetigung. Es galt, wie bereits Natalie Zemon Davis treffend schrieb, gerade dem Erhalt der traditionellen Ordnung. 63

III. Zusammenfassung Sicherlich lässt sich auch in den vorangehenden Ausführungen die eine oder andere Verkürzung finden, und sicher wurden auch Belege übersehen, die in eine an-

60 Ebd.51f. 61 Rossiaud, Fraternités de jeunesse (wie Anm.50), 86. 62 Vgl. den Abschnitt zur charivaresken Investitur bei Gvozdeva, Le jeu du sacre (wie Anm.58), 94–96, wo sie diesen Vorgang mit weiteren Beispielen beschreibt. 63 Davis, The Reasons of Misrule (wie Anm.50), 65.

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dere Richtung weisen könnten. Doch dürfte deutlich geworden sein, dass zumindest in den hier vorgestellten Beispielen ein Narrenreich, wie Michail Bachtin und vor allem Dietz-Rüdiger Moser es beschrieben haben, nicht zu finden ist. Weder waren die einzelnen Festkönige, -äbte und -prinzen Repräsentanten einer gottesfernen „verkehrten Welt“, noch war ihre Herrschaft auf die Zeit bis Aschermittwoch begrenzt oder endete in Spott und Hohn. Vor allem aber standen sie nicht im Gegensatz zur althergebrachten Ordnung und deren Normen, sei es in Form einer von der mittelalterlichen Kirche geprägten offiziellen Kultur oder des Ideals der civitas Dei. Sie waren vielmehr Teil dieser Ordnung und stützten diese. Im Vordergrund der Feste und Bräuche stand wohl vor allem deren gemeinschaftsstiftende Funktion. Nicht zuletzt stellte das gemeinsame Essen und Trinken fast überall ein konstitutives Merkmal dar. Und letztlich sollte man, wenn es um die Funktion und Motivation dieser Feste und Bräuche geht, wohl auch das schiere Amüsement nicht außer Acht lassen, zu dem auch Satire und Parodie gehören. Es dürfte deutlich geworden sein, dass bisher Phänomene miteinander verbunden und in einen willkürlichen Interpretationszusammenhang gestellt wurden, die tatsächlich in ganz verschiedene Kontexte gehören. Ob der Bohnenkönig zum Epiphaniefest, die reinages am Festtag des jeweiligen Heiligen oder das Auftreten der Würdenträger der verschiedenen Jugendabteien, sociétés joyeuses, Rhetorikerkammern oder puys marials im Rahmen bzw. Umfeld des Karnevals – denen die hier nicht behandelten, ebenfalls voneinander zu unterscheidenden Klerikerfeste des Kinderbischofs und der Narren noch hinzuzufügen wären 64 –, sie alle wurden der Idee eines einheitlichen karnevalesken Narrenreiches subsumiert. Was sie verband war der schlichte Umstand, dass an ihrer Spitze jeweils ein Würdenträger stand, dessen Titel sich an bestehenden weltlichen oder klerikalen Herrschaftstiteln orientierte, der in einigen Fällen auch auf burleske Weise gebraucht, ja scheinbar verspottet wurde. Von der Vorstellung geleitet, dass dies nur in Konfrontation zu den bestehenden herrschaftlichen Strukturen geschehen konnte, wurden all diese Phänomene als Rituale der Verkehrung interpretiert. Dies verstellte den Blick für deren Besonderheiten und Eigenständigkeit und machte sie erst zu dem, wonach man suchte: Belege für eine „verkehrte Welt“ im Karneval, für Verkehrungsrituale, die dazu dienen konnten, ein größeres Theoriegebäude zu stützen. Gesucht wurden damit letztlich

64

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Vgl. hierzu Anm.69.

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Belege für eine postulierte Interpretation, nicht aber adäquate Interpretationen für vorhandene Belege. In der Konsequenz scheint es geboten, Rituale wie die vorgestellten nicht von einem vorgefertigten, theoretischen Erklärungsmodell, sondern von den Quellen her zu betrachten. Es gilt die einzelnen Belege erst einmal nach ihren jeweiligen Ausdrucksformen und Besonderheiten zu ordnen und die so unterschiedenen Phänomene in ihrem Kontext zu beschreiben. Vor allem ist deren ursprüngliche Bedeutung zuerst in den Quellen selbst zu suchen, im Verständnis ihrer Zeitgenossen, auch wenn dies bisweilen unseren gewohnten Betrachtungsweisen entgegenzustehen scheint. Wichtiger als die Suche nach einer unmittelbar eingängigen, jedoch kontext- und zeitlosen Erklärung für diese Rituale ist es meines Erachtens zu verstehen, wie sie in ihrer Zeit wirkten, wie die an ihnen Beteiligten sie verstanden. 65 Wenn sich die beschriebenen Könige, Fürsten und Äbte der Form nach bisweilen auch burlesk, ja als Parodie präsentierten, so muss dies nicht eine Herabsetzung und Verspottung gleichnamiger Autoritäten bedeuten. 66 Ich denke, dass die Verwendung solcher Titel, zumal wenn sie so unspezifisch daherkommen wie der eines „Prinzen/Fürsten“ oder „Abtes“, nicht gleich in einem konkreten Kontext zu verorten ist und die herrschende Ordnung herausfordert. Vielmehr wäre zu fragen, ob sie überhaupt Bezug auf konkrete Verhältnisse nehmen.

65 Ähnlich auch Dominik Fugger, der diesen Ansatz zur Erklärung des Rituals des Königreiches zum Dreikönigstag wählte, vgl. Fugger, Königreich am Dreikönigstag (wie Anm.29), 71–74. Gern nehme ich an dieser Stelle noch einmal dessen Worte am Ende seines Beitrages zur Botschaft des Bohnenkönigs auf, wo er schlussfolgerte: „Wenn der Bohnenkönig den forschenden Blick etwas lehren kann, so vor allem eine Sichtweise zu überwinden, die ein rituelles Königreich nicht anders denn als Reflex einer Herrschaftsstruktur zu begreifen vermag und der daher zu seiner Erklärung nur davon abgeleitete und darauf bezogene Interpretationsmuster wie Affirmation einerseits oder Parodie bzw. Auflehnung andererseits einfallen. Statt dessen muß es darum gehen, das Symbol ‚König‘ oder ‚Königtum‘ als ein unvorhersehbar vieldeutiges verstehen zu lernen, dessen Sinn eine Gegebenheit des zeitgenössischen Bewußtseins ist und daher nur empirisch ermittelt werden kann“; Fugger, Die Botschaft (wie Anm.29), 130. 66 Ähnlich auch schon (ohne jedoch in der weiteren Forschung aufgegriffen worden zu sein) Bercé, Fête et révolte (wie Anm.24), 29: „La substitution de l’autorité réelle par une autorité éphémère inverse, ou plutôt offrant une image ridiculement déformée, est claire dans le cas des évêques des innocents des cathédrales médiévales et dans celui des maires de farce de certaines villes anglaises. En fait, ces exemples d’inversion exacte du modèle ne peuvent être multipliés. Dans les villes des Pays-Bas et de France où au cours du XVIe siècle des fêtes de folie sont pratiquées, elles apparaissent plutôt comme le prétexte au déploiement d’un faste exotique, ou comme une caricature inoffensive dont le comique a valeur pédagogique.“ Vgl. auch Gvozdeva, Le jeu du sacre (wie Anm.58), 92, die hier von einer „gravité burlesque“ spricht.

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Es stellt sich abschließend die Frage, in welcher Weise diese Betrachtungen zu einem besseren Verständnis von Verkehrungsritualen beitragen können. Vor der Folie der hier beschriebenen Festkönigreiche und -herrschaften scheint es mir notwendig, den Begriff weiter zu differenzieren. Tatsächlich sollte man wohl zwischen Form und Inhalt der Rituale unterscheiden, folglich zwischen einer tatsächlichen rituellen Verkehrung und einer scheinbaren Verkehrung der Rituale. Eine Verkehrung der Rituale könnte dabei die Übertragung von bekannten Ritualen (z.B. der Inthronisation) in spielerische oder andere Zusammenhänge meinen, wobei diese durch burleske Elemente gebrochen werden können, möglicherweise, wie bereits Katja Gvozdeva schrieb, um sie vom Original abzuheben. 67 Mit der rituellen Verkehrung hingegen wäre eine tatsächliche Statusumkehr beschrieben, was auf zweierlei Weise geschehen kann: Einmal als symmetrische Verkehrung der Hierarchien innerhalb einer Gruppe, ganz nach dem Modell, welches Victor Turner als Statusumkehr beschrieb. 68 Dabei werden Oben und Unten tatsächlich verkehrt, die Untergebenen nehmen den Rang der Oberen und die Oberen den Rang der Untergebenen ein. Diese Form der Verkehrung scheint sich im Spätmittelalter jedoch nur im klerikalen Bereich zu finden, und zwar beim Kinderbischof. 69 Es ist jedoch auch eine Statusumkehr ohne einen Gegenpart möglich, als asymmetrische, einseitige Verkehrung. Dann nämlich, wenn eine Einzelperson ihren Status verkehrt, der Bürger zum König wird und als solcher auch Anerkennung findet – beispielsweise, wenn er von „seinesgleichen“, das heißt von offiziellen Würdenträgern als gleichrangig anerkannt und behandelt oder mit seinen Anhängern von der städtischen Obrigkeit als Würdenträger aus einem fremden Land empfangen wird.

67

So schon Gvozdeva, Le jeu du sacre (wie Anm.58), ebd.

68

Zu den Ritualen der Statusumkehr bei Turner vgl. Victor Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struk-

tur. Frankfurt am Main 2005, 157–175. 69

Zum Kinderbischof (évêque des innocents) vgl. den Beitrag von Tanja Skambraks in diesem Band sowie

insbesondere die in Entstehung befindliche Dissertation und die zum Thema bereits erschienenen Veröffentlichungen von Yann Dahhaoui (Genf/Paris): Yann Dahhaoui, Enfant-évêque et fête des fous. Un loisir ritualisé pour jeunes clercs?, in: Hans-Jörg Gilomen/Beatrice Schumacher/Laurent Tissot (Hrsg.), Freizeit und Vergnügen vom 14. bis 20.Jahrhundert. Zürich 2005, 33–46; ders., Voyages d’un prélat festif. Un évêque des Innocents dans son évêché, in: Revue historique 130, 2006, 677–694; ders., Le pape de Saint-Etienne. Fête des Saints-Innocents et imitation du cérémonial pontifical à Besançon, in: Bernard Andenmatten/ Catherine Chène/Martine Ostorero (Eds.), Études Agostino Paravicini Bagliani. Lausanne 2008, 141–158.

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Der vorstehende Beitrag ist im Rahmen des DFG-Projektes „Die ‚anderen‘ Könige. Der Königsbegriff als sozialer Ordnungsbegriff in Frankreich und Deutschland am Ende des Mittelalters (13.–16.Jh.)“ entstanden und stellt einen ersten Zugang zu dem dar, was im Vorhergehenden als „Festkönige“ bezeichnet worden ist.

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„wu is all dinck so sehr verkehrt“ Rituale und Semantiken der Verkehrung im Münsteraner Täuferreich von Christina Brauner

Eine Welt, in der Seelenheil für Geld feilgehalten wird, das geistliche Amt zur Einnahmequelle verkommen und der Stellvertreter Christi der Antichrist ist, kurzum: eine verkehrte Welt – so gestaltete sich die Gegenwart des frühen 16.Jahrhunderts, folgt man dem Bild, das in der reformatorischen Polemik dieser Zeit gezeichnet wurde. Verkehrung aller Ordnung, Verkehrtheit, verkehrte Welt – diese Motive, die sich aus verschiedenen älteren Traditionen speisten, wurden verwendet, um eine Welt zu entwerfen, in der alle Zeichen auf das nahe Ende hinwiesen. Die Figur der Verkehrung wurde im Rahmen von topischen Laster-Erklärungen ausgedeutet, in denen sie mit der Ursünde der superbia verknüpft und in einen biblischen, nunmehr apokalyptischen Kontext gestellt wurde. 1 Handgreiflich und anschaulich wird die „Verkehrtheit“ der Papstkirche in Spottmedaillen, die nicht nur Umschriften wie „ECCLESIA PERVERSA TENET FACIEM DIABOLI“ tragen, sondern überdies einen Papstkopf mit

Tiara abbilden, der sich durch Drehung der Münze als Teufelsantlitz entpuppt. 2 1 Vgl.dazu Volker Leppin, Antichrist und Jüngster Tag. Das Profil apokalyptischer Flugschriftenpublizistik im deutschen Luthertum 1548–1618. (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, Bd. 69.) Gütersloh 1999, u.a. 103ff. Als Bibelstellen kamen besonders Mt 24,15 ff., Mk 13,14 ff. und 2 Thess 2 in Frage; dabei wurde der Gedanke, das „Unheilige“ bzw. der Satan würde sich in den Tempel bzw. an die Stätte Gottes setzen, auf den Papst als Antichrist und die römische Kirche bezogen. Vgl. zur Verkehrungsfigur in der Lastertopik u.a. Helmut Hundsbichler, Im Zeichen der „verkehrten Welt“, in: Gertrud Blaschitz (Hrsg.), Symbole des Alltags – Alltag der Symbole. Festschrift für Harry Kühnel zum 65. Geburtstag. Graz 1992, 555–570. Zudem konnte auch Lk 1,46–55 eine gewisse Rolle spielen, diese Stelle wurde nicht zuletzt im Rahmen von Kinderbischofs- und Narrenbischofsfesten als Teil des Magnificat einbezogen; vgl. Hans Rudolf Velten, Einsetzungsrituale als Rituale der Statusumkehr. Narrenbischöfe und Narrenkönige in den mittelalterlichen Klerikerfesten, in: Marion Steinicke/Stefan Weinfurter (Hrsg.), Krönungs- und Investiturrituale. Herrschaftseinsetzungen im kulturellen Vergleich. Köln 2005, 201–221, hier 207; und Peter Burke, Helden, Schurken und Narren. Europäische Volkskultur in der frühen Neuzeit. Stuttgart 1985, 206. 2 Doppelkopfmünze, Mitte 16.Jh., Silber, vergoldet, 3 cm Durchmesser, GNM, Inv.-Nr. Med. 9009; vgl. Kurt Löcher et al. (Red.), Martin Luther und die Reformation in Deutschland. Ausstellung zum 500. Geburtstag Martin Luthers. (Ausstellungskatalog Nürnberg 1983; Kataloge des Germanischen Nationalmuseums.) Frankfurt am Main 1983, Kat.-Nr.635, 456f.; weitere Beispiele bei Francis Pierrepont Barnard, Satirical and Controversial Medals of the Reformation. The Biceps or Double-Headed Series. Oxford 1927; Hugo Schnell,

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oldenbourg DOI 10.1515/9783486727678.192

Allerdings konnte die Figur der Verkehrung jenseits ihres polemischen Gebrauches positive Bedeutung gewinnen, gerade auch in theologischer Deutung. So implizierten beispielsweise das Priestertum aller Gläubigen und die Erhöhung der Schwachen, deren Wurzeln nicht zuletzt in der Christologie liegen, eine Verkehrung der hergebrachten, weltlichen Hierarchien und Autoritäten auf der Grundlage eines christlichen Ideals der Einfachheit, Demut und Gleichheit. 3 Damit kann man in der Reformationszeit eine charakteristische Ambivalenz ausmachen, die die Figur der Verkehrung kennzeichnet, wie sie bereits für die „verkehrte Welt“ und Verkehrungsriten in anderen Kontexten herausgearbeitet wurde. 4 Es verwundert daher nicht, dass angesichts der zentralen Bedeutung des Verkehrungsmotivs im reformationszeitlichen Diskurs sich auch in symbolischen Prakti-

Martin Luther und die Reformation auf Münzen und Medaillen. München 1983, 44–48 bzw. Abb.27–36; und Gerhard Langemeyer u.a. (Hrsg.), Bild als Waffe. Mittel und Motive der Karikatur in fünf Jahrhunderten. (Ausstellungskatalog Hannover 1984/85.) München 1984, u.a. 99 und 159. 3 Vgl. u.a. Bob Scribner, Reformation, Karneval und die „verkehrte Welt“, in: Richard van Dülmen/ Norbert Schindler (Hrsg.), Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltags (16.–20. Jahrhundert). Frankfurt am Main 1984, 117–152, hier 148ff., und Carlos Gilly, Das Sprichwort „Die Gelehrten die Verkehrten“ oder der Verrat der Intellektuellen im Zeitalter der Glaubensspaltung, in: Antonio Rotondò (Ed.), Forme e destinazione del messaggio religioso. Aspetti della propaganda religiosa nel cinquecento. (Studi e testi per la storia religiosa del cinquecento, Vol.2.) Florenz 1991, 229–375. 4 Zur mittelalterlichen Tradition dieser Figur und ihren antiken Bezügen vgl. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 2.Aufl. Bern 1954, 104ff. Die charakteristische Ambivalenz der „verkehrten Welt“ scheint bereits auf in der Zusammenstellung bei Werner Welzig, Ordo und verkehrte Welt bei Grimmelshausen, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 78, 1959, 424–430 und 79, 1960, 133–141; explizit für Festkönige diskutiert dies Marc Jacobs, King for a Day. Games of Inversion, Representation, and Appropriation in Ancient Regime Europe, in: Gita Deneckere/Jeroen Deploige (Eds.), Mystifying the Monarch. Studies on Discourse, Power, and History. Amsterdam 2006, 117–138. – Eine solche Ambivalenz zeichnet im Übrigen auch das Bild des „Narren“ aus, das in der Forschungsdiskussion gelegentlich mit dem der Verkehrung in Bezug gesetzt wird. Der Narr kann in der vormodernen Tradition zum einen in seiner Einfalt eine besondere Gottesnähe genießen, zum anderen durch fehlende Einsichtsfähigkeit in die christliche Lehre in die Nähe des Antichrist rücken. Dabei ist allerdings der Unterschied zwischen „natürlichen“ und „künstlichen“ Narren zu berücksichtigen; siehe dazu Sandra Billington, A Social History of the Fool. New York 1984, bes. 16ff., Erica Gelser, Crucible to Antichrist: Early Medieval Depictions of the Fool in Commentaries on Proverbs, in: Anja Grebe/Nikolaus Staubach (Hrsg.), Komik und Sakralität. Aspekte einer ästhetischen Paradoxie in Mittelalter und früher Neuzeit. (Tradition – Reform – Innovation. Studien zur Modernität des Mittelalters, Bd. 9.) Frankfurt am Main 2005, 32–40, und Danielle Laforge, Wechselbeziehungen zwischen Narrheit und Weisheit. Abgrenzung des Narrenbegriffs und epochale Bewertung, in: Jean Schillinger (Hrsg.), Der Narr in der deutschen Literatur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Kolloquium in Nancy. (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Rh.A, Bd. 96.) Frankfurt am Main 2009, 307– 327.

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ken verschiedener Gruppen der „reformatorischen Bewegung“ 5 (Goertz) Bezugnahmen auf dieses Motiv nachweisen lassen. Hier sind insbesondere die Bilderstürme zu nennen, die Desakralisierung und Verspottung oft sehr gezielt mit Verkehrung von Reinem und Unreinem, Hohem und Niedrigem etc. betrieben und oft mehr umfassten als den „bloßen“ Angriff auf Bilder im engeren Sinne. 6 Weitere Fälle stellen Spottmessen und -prozessionen dar, die bislang wenig systematisch untersucht wurden. 7 Diese Riten weisen Bezüge zu Schandritualen, Ehrenstrafen, karnevalesken und anderen symbolischen Praktiken auf, die oft der sogenannten „Volkskultur“ zugerechnet werden. 8 Da Verkehrungsritualen wie allen symbolischen Akten keineswegs ein bestimmter, essentieller Sinn innewohnt, sondern ihre Bedeutung erst durch einen sozialen

5 Vgl. dazu u.a. Hans-Jürgen Goertz, Aufstand gegen die Priester. Antiklerikalismus und reformatorische Bewegungen, in: Peter Blickle (Hrsg.), Bauer, Reich und Reformation. Festschrift für Günther Franz zum 80. Geburtstag am 23.Mai 1982. Stuttgart 1982, 182–209. 6 Bilderstürme als „rituellen Prozess“ zu begreifen schlägt Bob Scribner bereits 1985 vor, er bringt dies insbesondere mit der „Realpräsenz“ Christi in der spätmittelalterlichen Volksfrömmigkeit zusammen, wie sie Richard Trexler u.a. herausgearbeitet hat; Bob Scribner, Volkskultur und Volksreligion. Zur Rezeption evangelischer Ideen, in: Peter Blickle/Andreas Lindt/Alfred Schindler (Hrsg.), Zwingli und Europa. Referate und Protokoll des Internationalen Kongresses aus Anlaß des 500. Geburtstages von Huldrych Zwingli. Zürich 1985, 151–161, bes. 151f. und 159ff. 7 Hervorragende Ausnahme stellt wiederum der kursorische, aber ausgesprochen profunde Überblick von Scribner, Reformation, Karneval und die „verkehrte Welt“ (wie Anm.3) dar. Zudem ist der Aufsatz von Heinz-Dieter Heimann, „Verkehrung“ in Volks- und Buchkultur als Argumentationspraxis in der reformatorischen Öffentlichkeit, in: Archiv für Reformationsgeschichte 79, 1988, 170–188, zu nennen, der sich allerdings auf eine kleine Auswahl westfälischer, u.a. Münsteraner und Soester Beispiele beschränkt. Der Zusammenhang von Reformation und Fastnachtspielen wird anhand zahlreicher Beispiele näher beleuchtet bei Eckehard Simon, Fastnachtspiele inszenieren die Reformation. Luthers Kampf gegen Rom als populäre Bewegung in Fastnachtspielzeugnissen, 1521–1525, in: Klaus Ridder (Hrsg.), Fastnachtspiele. Weltliches Schauspiel in literarischen und kulturellen Kontexten. Tübingen 2009, 115–138. 8 Der Begriff der „Volkskultur“ war in den letzten Jahren zu Recht heftig umstritten, rekurriert er doch auf ein dichotomisches „Volk“-Elite-Modell und ein hypostasiertes Konzept von „Volk“. Trotz dieser Kritik fehlt es bislang m.E. an weiterführenden Alternativkonzepten, daher verwende ich den Begriff mit aller gebotenen Vorsicht und folge dabei der reflektierten Definition von Martin Dinges, der „Volkskultur“ als „heuristisches Konzept“ versteht; vgl. Martin Dinges, Ehrenhändel als „Kommunikative Gattungen“. Kultureller Wandel und Volkskulturbegriff, in: Archiv für Kulturgeschichte 75, 1993, 359–393, hier 368ff. Vgl. auch Bob Scribner, Ist eine Geschichte der Volkskultur möglich?, in: ders., Religion und Kultur in Deutschland, 1400–1800. Hrsg. v. Lyndal Roper. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 175.) Göttingen 2002, 41–65. Die von Scribner betonte Prozessualität von „Volkskultur“ zeigt sich nicht zuletzt auch in dem vorliegenden Fall, war doch „die Propaganda für die Reformation selbst populäre Kultur […] – in der Tat eine neue Form der Volkskultur …“ (51).

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Aushandlungsprozess zugeschrieben wird, sind die Deutungsmuster oder Semantiken der Verkehrung in den Blick zu nehmen, innerhalb deren die Riten jeweils gedeutet werden. Mit Norbert Schindler lässt sich eine solche Deutungsbedürftigkeit oder auch „Polysemie“ in besonderem Maße für „karnevaleske“ Riten unterstellen, da diese vorrangig durch das „Formprinzip“ der Verkehrung charakterisiert seien und dadurch eine besondere Offenheit und „Adaptionsfreudigkeit“ erhielten. 9 Hier stellt sich die Frage, inwieweit in der Reformationszeit Verkehrungsritualen eine veränderte Bedeutung zugeschrieben wurde und ihnen zudem neue Funktionen zukommen konnten. Da es mir also weniger darum geht, Verkehrungsrituale in ihrer Beziehung zu den „richtigen“ Ritualen zu analysieren 10, sondern sie vielmehr im Kontext von Verkehrungssemantiken zu betrachten, benutze ich einen weiten Begriff von Verkehrungsriten, für den ich die folgende Definition vorschlagen möchte: Ein Verkehrungsritual ist eine Handlung, die auf ein bekanntes Ritual oder auf Elemente eines solchen rekurriert, sie zitiert, in einen anderen Kontext stellt und damit neu „rahmt“. Die „neue Rahmung“ 11 erfolgt dabei so, dass sie mit herkömmlichen Erwartungen an das zitierte Ritual bricht, ja diese mit konträren Phänomenen konfrontiert – die Brechung kann dabei durch verwendete Gegenstände bzw. involvierte Personen (beispielsweise Kot und anderer Unrat anstelle von Weihrauch und Re-

9 Norbert Schindler, Karneval, Kirche und die verkehrte Welt. Zur Funktion der Lachkultur im 16.Jahrhundert, in: Jahrbuch für Volkskunde NF.7, 1984, 9–57, bes. 23f. und 32f. Die Kritik, die Rusterholz an Schindlers Vorgehen äußert, beruht m.E. größtenteils auf Missverständnissen, so sein Vorwurf, Schindler interessiere ausschließlich, was auf der Straße, nicht aber was in den Köpfen der Akteure vorgehe; Peter Rusterholz, Fastnachtsspiel und Reformation. Die Metamorphosen des Fastnachtsspiels im Widerstreit der Disziplinen, in: André Holenstein/Heinrich R. Schmidt/Andreas Würgler (Hrsg.), Gemeinde, Reformation und Widerstand. Festschrift für Peter Blickle. Tübingen 1998, 243–259, hier 246f. 10 So etwa bei Karina Kellermann, Verkehrte Rituale. Subversion, Irritation und Lachen im höfischen Kontext, in: Helga Neumann/Werner Röcke (Hrsg.), Komische Gegenwelten. Lachen und Literatur in Mittelalter und Früher Neuzeit. Paderborn 1999, 29–46, die durch „verkehrte Rituale“ erzeugte Komik in der hochmittelalterlichen Epik auf für das Publikum erkennbare Verstöße gegen „soziale Codes“ zurückführt. 11 Der Begriff der Rahmung hat in der neueren Ritualforschung, vor allem im Anschluss an Erving Goffmans Rahmen-Analyse, vermehrt Verwendung gefunden, um Einordnung und Abgrenzung von Ritualen in der Lebenswelt zu beschreiben; vgl. beispielsweise Burckhard Dücker, Rituale. Formen – Funktionen – Geschichte. Stuttgart 2007, 78–90, und Erika Fischer-Lichte, Art.„Performativität/performativ“, in: dies./Doris Kolesch/Mathias Warstat (Hrsg.), Metzler Lexikon Theatertheorie. Stuttgart/Weimar 2005, 234–242, hier 241.

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liquien oder Pappkrone und Chorknabe anstelle von Edelmetallkrone und Erbprinz) entstehen, aber auch durch vorausgehende und nachfolgende Handlungen. Als problematisch für eine trennscharfe Begriffsbildung erweist sich, dass Rituale in der Vormoderne häufig nach dem Prinzip der „Analogiebildung“ (Althoff) entworfen wurden 12, die Technik des Zitats und „Neurahmens“ somit auch als ein sehr allgemeines Phänomen bei Ritualen jener Zeit gelten kann. Dieses Problem lässt sich nicht vollständig ausklammern, nicht zuletzt da sich diejenigen Rituale, die hier als Verkehrungsrituale bezeichnet werden, kaum auf eine universelle, kontextentbundene Definition festlegen lassen, es offenbar sogar ihre spezifische Eigenschaft ist, sich vereinheitlichenden Interpretationsversuchen immer wieder zu entziehen. 13 Daher ist es meines Erachtens sinnvoll, gerade dieses Fluktuieren, diese Ambivalenz in eine weite Definition einzubauen, wie dies im Folgenden versucht wird. Manche Verkehrungsrituale weisen stärker als andere eine Nähe zum Spiel und zum Theater auf; insofern kann man sie in ein Spannungsfeld zwischen politischer „Rebellion“ und spielerischer Parodie einordnen. Dieses Spannungsfeld ist durch die Pole repetitiv/spielerisch/geringer Entwertungseffekt („nur so tun als ob“) und einmalig/ernst/starker Entwertungseffekt definiert. Durch Verschiebung bestimmter Kontexte können allerdings auch repetitive (regelmäßig aufgeführte) Verkehrungsrituale wie die Erhebung von Fastnachtskönigen für einige der Beteiligten bzw. Beobachter ins Ernste umschlagen und zu einer Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung werden, wie dies der abschließend diskutierte Fall aus Dülmen exemplarisch zeigt. Gerade ein solches „Umschlagen“ von einem Pol zum anderen scheint ein besonderes Charakteristikum von Verkehrungsritualen zu sein, die sich im Anschluss an Jan-Dirk Müller auch als „Kipp-Phänomene“ bezeichnen lassen. Diesen Begriff hat

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Gerd Althoff, Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter. Darmstadt 2003, 190–

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Dies gilt zunächst für ihren historischen Kontext, innerhalb dessen sehr häufig verschiedene, wider-

streitende Deutungen und Deutungsmuster anzutreffen sind; weiterhin gilt es aber auch für die Forschungsdiskussion, die lange Zeit durch verschiedene, jeweils vereinheitlichende Interpretationsmuster dominiert wurde, die man grob in Subversionsthesen nach Bachtin sowie Funktionalismusthesen (Ventilfunktion, Einübung in gesellschaftliche Normen und Praktiken usf.) einteilen kann. Fundierte Kritik an derartigen Tendenzen findet sich beispielsweise bei Schindler, Karneval, Kirche und die verkehrte Welt (wie Anm.9), bes. 10ff. und 32ff.

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Müller in seinen Überlegungen zu „gespielten“ Spottritualen im Geistlichen Spiel entwickelt, um ihr Oszillieren zwischen Verspottung des Parodierten und der Parodie als bewusster Akt der Normverletzung (in den untersuchten Fällen damit letztlich auch: als Einübung von Normen) zu beschreiben. 14 Dementsprechend ist auch die Performativität von Verkehrungsritualen zwischen zwei Polen anzusiedeln: Einerseits kann ein als „ernst“ verstandenes Verkehrungsritual als performativ in dem Sinne gelten, als es auf eine Entwertung des zitierten, in manchen Fällen könnte man auch sagen: parodierten Rituals abzielt, diese Entwertung wird durch die „neue Rahmung“ zugleich dargestellt und vollzogen. Dieser Form von Performativität, die man auch als reflexive bezeichnen könnte, muss andererseits eine Art von Performativität „auf Probe“ gegenübergestellt werden. Wird doch bei der Erhebung von Karnevalskönigen, Narrenäbten und Kinderbischöfen zwar niemand in eine dauerhafte neue soziale Rolle und Identität eingeführt, aber doch eine temporäre Veränderung von sozialen Beziehungen bewirkt, wie sie sich in temporären Privilegien des Erhobenen und (gelegentlich) dem gleichfalls temporären Verzicht der „herkömmlichen“ Amtsinhaber auf ebendiese zeigen. Die wiederholt aufgeführten spielerischen Verkehrungsrituale stellen somit Einsetzungsrituale auf Zeit dar, die man hinsichtlich ihrer Wirkung nur mit Hilfe eines weiten Theater-Begriffs fassen könnte. Innerhalb des skizzierten Begriffes lassen sich heuristisch zwei Typen unterscheiden, erstens symbolische Praktiken, die mit Verkehrungselementen operieren, zweitens Verkehrungsrituale im engeren Sinne. Beim ersten Typ betrifft die Verkehrung nicht den gesamten Handlungszusammenhang, sondern nur einzelne Gegenstände, Gesten, Akteure o.ä. – ein Beispiel wäre die Erniedrigung von Heiligenbildern und Reliquien bei Bilderstürmen. Diesen Praktiken mit partiellem Verkehrungscharakter sind zweitens Verkehrungsrituale im engeren Sinne gegenüberzustellen, bei denen eine ganze Handlungssequenz Gegenstand der Verkehrung

14 Jan-Dirk Müller, Kulturwissenschaft historisch. Zum Verhältnis von Ritual und Theater im Mittelalter, in: Gerhard Neumann/Sigrid Weigel (Hrsg.), Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie. München 2000, 53–77, hier 72. – Ebenfalls auf Ambivalenz als Charakteristikum zielt Veltens Einschätzung der Narrenbischöfe und Narrenkönige zwischen „Umkehrritual“ und „Einübung“ durch Rollentausch („Wissen um die Grenze“). Er betont auch die unterschiedliche Wirkung der Rituale je nach Kontext, innerhalb dessen sie stattfinden; Velten, Einsetzungsrituale (wie Anm.1), 212–219.

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ist. Hierunter fallen beispielsweise Messparodien, die Erhebung von Festkönigen oder Spottprozessionen. 15 Am Beispiel des Münsteraner Täuferreiches werden im Folgenden zwei zentrale Aspekte von Verkehrungsritualen diskutiert, einerseits der Bezug reformatorischer Verkehrungsrituale auf rituelle „Traditionen“, andererseits die Veränderung und Veränderlichkeit von Bedeutungen und Funktionen von Verkehrungsritualen im oben definierten Sinne. 16 Das Täuferreich, das 1534 seinen spektakulären Höhepunkt in der Erhebung Jans van Leiden zum König fand, war sicherlich ein extremer Fall innerhalb der reformatorischen Bewegung, wies aber gerade in seiner Anfangsphase, aus der mehrere der untersuchten Beispiele stammen, Parallelen zu reformatorischen Bewegungen in anderen Städten und Regionen auf. Im Rahmen des vorliegenden Bandes eignet sich das Beispiel des Täuferreiches besonders, da sowohl die Münsteraner Täufer als auch ihre Gegner die Verkehrungsfigur verwendeten. Wie die Täufer Verkehrungsriten einsetzten, aber auch Verkehrtheit in ihre chiliastische Theologie einbanden, soll in einem ersten Schritt analysiert werden. Besonderes Augenmerk gilt dabei dem Verhältnis von Tradition und Veränderung in Bezug auf traditionelle Verkehrungspraktiken. In einem zweiten Schritt wende ich mich den Gegnern der Münsteraner Täufer zu und untersuche den Stellenwert, den das Motiv der verkehrten Ordnung und Verkehrungsrituale in deren Polemik einnehmen. Im Mittelpunkt soll dabei, wie bereits angeklungen ist, insbesondere die Ambivalenz stehen, die Verkehrungsrituale auszeichnet.

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Nach Christel Meier-Staubach wäre bei diesen Verkehrungsritualen im engeren Sinne noch zwischen

parodistischer „Imitation“ und der spiegelverkehrten „Reversion“ zu unterscheiden; unter dem letztgenannten Begriff fasst sie vor allem Devestituren. Da solche Reversionsrituale im vorliegenden Kontext eine geringere Rolle spielen, seien sie hier ausgeklammert; Christel Meier-Staubach, Verkehrte Rituale. Umkehrung, Parodie, Satire und Kritik, in: Gerd Althoff u.a. (Hrsg.), Spektakel der Macht. Rituale im Alten Europa, 800–1800. (Ausstellungskatalog Magdeburg 2008/09.) Darmstadt 2008, 181–198. 16

Zum Täufertum allgemein Hans-Jürgen Goertz, Die Täufer. Geschichte und Deutung. 2.Aufl. München

1988; zu Münster Ralf Klötzer, Die Täuferherrschaft von Münster. Stadtreformation und Welterneuerung. (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, Bd. 131.) Münster 1992, und Ernst Laubach, Reformation und Täuferherrschaft, in: Franz-Josef Jakobi (Hrsg.), Geschichte der Stadt Münster. Bd. 1. Münster 1993, 145–216; neueren Datums: Hubertus Lutterbach, Der Weg in das Täuferreich von Münster. Ein Ringen um die heilige Stadt. (Geschichte des Bistums Münster, Bd. 3.) Münster 2006; Willem de Bakker/Michael Driedger/James Stayer, Bernhard Rothmann and the Reformation in Münster, 1530–35. Kitchener 2009.

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I. Täuferische Praktiken: Verkehrung als Aufdeckung der Verkehrtheit Den Karfreitag des Jahres 1534 begingen die Münsteraner Täufer, die seit der Ratswahl Ende Februar immer stärkeren Einfluss in der Stadt gewannen, mit einem deutlichen Affront gegen die Altgläubigen. Galt jenen, von denen nach der sogenannten Austreibung der „Taufunwilligen“ allerdings nur noch eine Minderheit in der Stadt verblieben sein konnte, der Karfreitag als Tag der Passion Christi, der dementsprechend mit Ernst und Trauer verbunden war, so feierten ihn die Täufer angeblich als einen „laetum diem“. Ob es dabei wahrhaftig um Freude über den Tod Christi ging, wie der antitäuferisch gesinnte Chronist Kerssenbroch andeutet, sei dahingestellt – eindeutig aber erscheint der Verstoß gegen die traditionelle liturgische Praxis 17: Die Täufer läuteten am Karfreitag zunächst alle Glocken der Stadt „ac si dominicae resurrectionis diem deridentes interim catholicorum morem celebrent“. 18 Diese Verspottung „papistischen“ Brauches 19 geschah offensichtlich aus der Ableh-

17 Dass der Karfreitag häufiger und auch in stärker lutherisch orientierten Gruppen Anlass für antikatholische Riten war, belegen die Beispiele bei Scribner, Volkskultur und Volksreligion (wie Anm.6), 153f. Von katholischer Seite konnte hingegen gerade die Karwoche mit ihren Prozessionen und ihrem Höhepunkt in der Ostermesse zur Demonstration obrigkeitlicher Macht genutzt werden – allerdings mit wechselndem Erfolg; dazu am Beispiel Halles Jan Brademann/Gerrit Deutschländer, Ritual und Herrschaft im Zeichen der Reformation. Die Karwoche des Jahres 1531 in Halle, in: Jahrbuch für hallische Stadtgeschichte 4, 2006, 11–42. 18 Hermanni a Kerssenbroch Anabaptistici Furoris Monasterium Inclitam Westphaliae Metropolim Evertentis Historica Narratio. Ed. Hermann Detmer. 2 Bde. (Die Geschichtsquellen des Bisthums Münster, Bd. 5/6.) Münster 1899/1900, 568 (zitiert als Kerssenbroch, Narratio; die Seitenzählung des Editionsteils ist durchgängig in beiden Bänden). – Der Ablauf der Spottprozession ist, wie ein Großteil der Täuferherrschaft insgesamt, lediglich in „antitäuferischen“ Quellen überliefert. In diesem Fall sind die beiden Hauptquellen (Kerssenbroch und Gresbeck) als unabhängig voneinander zu betrachten, ihre Überlieferung stimmt aber in wesentlichen Zügen überein, was sie als recht valide erscheinen lässt. Gresbeck wird oft als verlässlicher bewertet, da er – im Gegensatz zu Kerssenbroch, der überwiegend auf Augenzeugenberichte anderer und heute verlorene Dokumente rekurriert – selbst als erwachsener Mann einen Großteil der Täuferherrschaft miterlebt hat. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass Gresbeck nach seinem Überlaufen zum bischöflichen Lager durchaus unter einigem Rechtfertigungsdruck stand. Zur Quellenlage vgl. auch Ernst Laubach, Habent sua fata libelli. Zu zwei Werken über die Täuferherrschaft in Münster, in: Westfälische Zeitschrift 143, 1993, 31–51. 19 Diesem gemäß unterblieb das Glockenläuten von der Vesper am Gründonnerstag bis zum Hochamt am Ostertag, stattdessen verwendete man Rasseln, um zum Gottesdienst zu rufen. Die Liturgie für den Karfreitag selbst war durch stilles Gebet und Trauerfarben bestimmt und sah u.a. die symbolische Grablegung einer Hostie vor. Zum lokalen liturgischen Brauch in der Karwoche vgl. Wilhelm Kohl (Bearb.), Das Bistum

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nung heraus, die die Täufer kirchlichen Fest- und Feiertagen entgegenbrachten. Sie seien, wie der Täufer-Prädikant Jakob Huffschmidt nach seiner Gefangennahme im Verhör erklärte, vom Papst eingesetzt worden und damit Menschenwerk. 20 Nach dem Läuten wurden Fackeln und Kerzen aus den Kirchen beschafft, um in einer Spottprozession um die Stadt zu ziehen, wobei der Gebrauch von Lichtern besonders auf die liturgische Praxis des Kerzenauslöschens an Karfreitag und der besonderen Lichtinszenierung bei der Osterfeier abzielen könnte. 21 Dies war jedoch nicht die erste öffentliche Prozession mit antiklerikalem oder antikatholischem Charakter in Münster. Beispielsweise wird bereits für die Fastnacht 1532 und damit für die Zeit vor der Täuferherrschaft über ein Spottritual berichtet, das dem bekannten ländlichen Rügebrauch des Pflugziehens ähnelte 22, sich aber gegen Nonnen und Mönche richtete. 23 Gegenüber derartigen Riten, die offenbar einem allgemeineren Unmut gegenüber dem klerikalen Stand entsprangen, zeich-

Münster. Bd. 4: Das Domstift St. Paulus zu Münster. (Germania Sacra, NF., Bd. 17/1.) Berlin/New York 1987, 393ff.; und Alois Schröer, Die Kirche in Westfalen vor der Reformation. Verfassung und geistliche Kultur – Mißstände und Reformen. Bd. 1. Münster 1967, 358f. 20 Verhörprotokoll Jakob Huffschmidt, in: Joseph Niesert (Hrsg.), Münsterische Urkundensammlung. Bd. 1: Urkunden zur Geschichte der Münsterischen Wiedertäufer. Coesfeld 1826, 164. 21

Zur Münsteraner Liturgie Kohl, Das Bistum Münster (wie Anm.19), 394f. Vgl. dazu Richard Stapper, Li-

turgische Ostergebräuche im Dom zu Münster, in: Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Alterthumskunde 82, 1924, 19–51, hier u.a. 25; allgemein auf die Bedeutung der Lichtsymbolik für die Osterfeier weist von Arx hin: Urs von Arx, Die Liturgie der Osternacht, in: Edgar Bierende/Sven Bretfeld/Klaus Oschema (Hrsg.), Riten, Gesten, Zeremonien. Gesellschaftliche Symbolik in Mittelalter und Früher Neuzeit. (Trends in Medieval Philology, Vol.14.) Berlin/New York 2008, 87–117, bes. 98ff. 22

Dieser Rügebrauch bezog sich herkömmlicherweise besonders auf sexuelle Devianz von Frauen, so

die Ehe- und Kinderlosigkeit von Heiratsfähigen oder die Eheschließung zwischen älteren Frauen und jüngeren Männern; vgl. dazu Norbert Schindler, „Heiratsmüdigkeit“ und Ehezwang. Zur populären Rügesitte des Pflug- und Blochziehens, in: ders., Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur in der frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 1992, 175–214, zur Veränderung dieser Bräuche im städtischen Kontext insbes. 198ff. – Möglicherweise hängt der Einsatz des Pflugziehens gegen Mönche und Nonnen mit der Kritik am Zölibat oder auch an den sog. „Pfaffenweibern“ zusammen, wie sie bereits vor der Täuferherrschaft in Münster laut wurde, vgl. Laubach, Reformation und Täuferherrschaft (wie Anm.16), 150. Ein ähnliches Ritual fand 1522 in Stralsund statt, wo man am Fastnachtsdienstag „vier ‚graue Mönche‘“ vor den Pflug spannte; vgl. dazu Simon, Fastnachtspiele inszenieren die Reformation (wie Anm.7), 121f., der zudem auf die literarische Repräsentation derartiger Szenen bei Hans Sachs verweist. 23

Meister Heinrich Gresbeck’s Bericht von der Wiedertaufe in Münster, in: Carl A. Cornelius (Hrsg.), Be-

richte der Augenzeugen über das münsterische Wiedertäuferreich. (Die Geschichtsquellen des Bistums Münster, Bd. 2.) Münster 1983 (Ndr. der Erstausgabe von 1853), 1–214, hier 9 (zitiert als Gresbeck, Bericht). Vgl. dazu Heimann, „Verkehrung“ (wie Anm.7), v.a. 172f.

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nete sich die Spottprozession der Täufer am Karfreitag 1534, wie noch zu zeigen ist, durch den direkten Angriff auf eine bestimmte Person aus, nämlich den Münsteraner Fürstbischof Franz von Waldeck. Auch unterscheiden sich die Hauptakteure in den zwei Fällen voneinander – das Pflugziehen wurde mit den „iungen gesellen“ und Studenten vor allem durch eine soziale Gruppe betrieben, die immer wieder als maßgebliche Initiatorin von Spottritualen und Rügebräuchen in Erscheinung trat, wie bereits Natalie Zemon Davis und Bob Scribner gezeigt haben. 24 1534 hingegen waren offenbar vorrangig die täuferisch gesinnten Bürger aktiv. Ein weiterer Unterschied lässt sich an der zeitlichen Situierung festmachen: Wurde 1532 mit dem „vastelabent“ eindeutig ein Termin der traditionellen karnevalesken Festlichkeiten gewählt, stellte sich die Spottprozession von 1534 mit der Veranstaltung am Karfreitag deutlich außerhalb dieser Tradition. Wie genau sah nun diese Spottprozession am Karfreitag 1534 aus? Im Mittelpunkt stand eine Strohpuppe, die als effigies-Darstellung von Franz von Waldeck ausgestaltet wurde, indem man sie in bischöfliche Gewänder einkleidete. Diese Puppe wurde auf eine „bejahrte Stute“ („annosae equae“) gesetzt, die mit „breven“ behängt und anschließend aus der Stadt gejagt wurde. 25 In Sonderheit wurden dem Pferd Urkunden an den Schweif gebunden, unter denen sich vermutlich Ablassbriefe sowie ein Exemplar des „Dülmener Vertrags“ fanden. 26 Dieser Vertrag war im Jahre 1533 zwischen dem Fürstbischof und der Stadt Münster geschlossen worden und gewährte der Stadt Religionsfreiheit – unter Wahrung des Verbleibs von Domkapitel, Stiften und Kollegien beim alten Glauben. 27 Dass der Bischof in seiner Interpretation des Vertrages dessen Zugeständnisse (wie die selbständige Regelung der Kir-

24 Scribner, Reformation, Karneval und die „verkehrte Welt“ (wie Anm.3), 130f., und Natalie Zemon Davis, The Reasons of Misrule, in: dies., Society and Culture in Early Modern France. Eight Essays. London 1975, 97–123, bes. 104ff. 25 Kerssenbroch, Narratio (wie Anm.18), 568; Gresbeck, Bericht (wie Anm.23), 49f. 26 So Kerssenbroch, Narratio (wie Anm.18), 568, und Dietrich Lilie, Niederdeutsche Bischofschronik bis 1553. Übersetzung und Fortsetzung der lateinischen Chronik Ertwin Ertmans. Hrsg. v. F. Runge. (Osnabrücker Geschichtsquellen, Bd. 2.) Osnabrück 1894, 232. 27 Zum Dülmener Vertrag vgl. u.a. Laubach, Reformation und Täuferherrschaft (wie Anm.16), 148f. und 164f., und die äußerst akribisch recherchierte Studie von Norbert Nagel, Der Vertrag von Münster vom 14.Februar 1533 (sog. Dülmener Vertrag). Überlieferung, Sprache und Benennung eines landesherrlichstädtischen Religionsfriedens aus der Reformationszeit, in: Niederdeutsches Wort. Beiträge zur niederdeutschen Philologie 46, 2006, 59–133, aus der hervorgeht, dass es sich bei dem „verspotteten“ Exemplar wohl um die städtische offizielle Ausfertigung gehandelt habe.

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chenordnung und das Recht zur Besetzung der städtischen Pfarrstellen) ausschließlich auf die lutherischen Gruppen beschränkte und radikalere reformatorische Entwicklungen zu unterbinden suchte, interpretierten die Täufer ihrerseits als Vertragsbruch. Dieser Vorwurf durchzieht wie ein Leitmotiv die gesamte überlieferte Korrespondenz, die die Täufer mit den Belagerern und den Reichsständen führten. 28 Es nimmt daher nicht wunder, dass in der Spottprozession verschiedene Elemente zum Einsatz kamen, die aus Schandritualen und ähnlichen Praktiken zur Bestrafung von Eid- und Vertragsbrüchigen bekannt sind. Gerade die rituelle Beschmutzung und Zerstörung von Urkunden und daran befindlichen Siegeln wurde oft zu diesem Zweck eingesetzt. 29 Auch der Gebrauch von effigies aus Wachs oder Stroh zur stellvertretenden Bestrafung eines Abwesenden oder Verstorbenen ist bekannt. 30 Die Täufer kehrten damit gleichsam das fürstbischöfliche Einsetzungsritual des Einzugs in die Stadt um, indem sie den Bischof in effigie auf schimpfliche Art und Weise aus der Stadt vertrieben. 31

28

So z.B. in dem Brief der Gemeinde Christi an Albrecht von Belzigk und Jorg van Wulframsdorf (20.Mai

1534), in: Cornelius (Hrsg.), Berichte der Augenzeugen (wie Anm.23), 239f., der Antwort der Inhaber der Stadt auf die Aufforderung zur Kapitulation (Mai 1524), in: Robert Stupperich (Hrsg.), Schriften Bernhard Rothmanns. (Die Schriften der Münsteraner Täufer und ihrer Gegner, Bd. 1.) Münster 1970, 411, und der Antwort der Inhaber der Stadt auf des Kreis-Termins Warnungsschreiben (10.Mai 1535), ebd.434–439, hier 436. 29

Vgl. dazu auch an spätmittelalterlichen Beispielen, die sich im Spannungsfeld von Bild und Ritual be-

wegen, Matthias Lentz, Konflikt, Ehre, Ordnung. Untersuchungen zu den Schmähbriefen und Schandbildern des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit (ca. 1350–1600). Mit einem illustrierten Katalog der Überlieferung. Hannover 2004. 30

Vor allem die umfangreiche Studie von Wolfgang Brückner, Bildnis und Brauch. Studien zur Bildfunk-

tion der Effigies. Berlin 1966, liefert zahlreiche Beispiele (so u.a. 298 und 195ff.). – Die Verwendung einer Strohpuppe („geck“) war wohl auch Bestandteil der Fastnacht, wie sie „traditionell“ in Münster gefeiert wurde; so jedenfalls der Bericht über die vor-täuferische Zeit bei Kerssenbroch, Narratio (wie Anm.18), 87. Dazu Karl-Heinz Kirchhoff, Kleine Beiträge zur münsterländischen Volkskunde um 1535, in: Zeitschrift für rheinisch-westfälische Volkskunde 8, 1961, 92–105, bes. 93f.; wenig weiterführend Norbert Humburg, Städtisches Fastnachtsbrauchtum in West- und Ostfalen. Die Entwicklung vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert. (Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland, H.5.) Münster 1976, 17ff. 31

Der Einzug in die Stadt im Rahmen seiner Huldigungsreise 1532 gestaltete sich für Franz von Waldeck

ohnehin äußerst problematisch, erst nach Abschluss des Dülmener Vertrags (s.o.) konnte er am 4.Mai 1533 von Wolbeck in die Stadt eingeholt werden. Siehe Hans-Joachim Behr, Graf Franz von Waldeck (1491–1553), dreimal geistlicher Fürst in Westfalen. (Waldeckische Historische Hefte, Bd. 4.) Bad Arolsen 1999, 7–10; allgemein zu Einholung und Einzug der neu gewählten Fürstbischöfe nach Münster Elisabeth Harding, Zeremoniell im Nebenland. Frühneuzeitliche Bischofseinsetzungen in Münster, in: Westfälische Forschungen 57, 2007, 229–256, hier 237f.

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Dass die Botschaft verstanden wurde, die die Täufer mit der Mähre auch im wörtlichen Sinne ins bischöfliche Lager sandten, zeigen die Reaktionen, die von Seiten der Täufergegner überliefert sind. So berichtete der fürstbischöfliche Gesandte auf dem Koblenzer Kreistag, der über die weitere Finanzierung für die militärische Bekämpfung der Täufer entscheiden sollte, offenbar höchst empört, die Täufer hätten „die versiegelten vertrege, so sie mit meinem g[nädigen] h[errn] uffgericht, zerrissen und zu i[hro] f[ürstlichen] g[naden] vorhonung einen stroern pilt angehengt, dasselbig uff ein pferdt gebunden und uss der stadt gejagt.“ 32 Wenn der Bericht den Bitten des Bischofs besondere Eindrücklichkeit verleihen sollte, scheint er seinen Zweck erfüllt zu haben. Der Beschluss des Kreistages wendete den Vorwurf des Rechts- und Eidbruchs nunmehr gegen die Täufer selbst und deutete so die täuferischen Schandrituale als Beleg für deren eigene Schändlichkeit. 33 Letzteres lässt deutlich werden, dass selbst Rituale der Verkehrung, die ihre Elemente aus einer vertrauten und geregelten Rechtssprache beziehen, einer starken Ambivalenz ausgesetzt sind. Ambivalenz bedeutet hier nicht, dass keine eindeutige Interpretation vorgenommen wird, sondern dass mehrere Interpretationen innerhalb verschiedener Semantiken möglich sind. Auf diese Weise können sich die Verhältnisse zwischen Ankläger und Beklagtem rasch umkehren. Dies ist, so könnte man zuspitzen, verbunden mit einem Transfer von der Semantik des traditionellen Rechts in die des Aufruhrs. Im Weiteren sollen zwei Spottrituale untersucht werden, die explizite Verkehrungen und Parodien von „papistischen“ Ritualen darstellen und die man nach der oben gegebenen Definition zu Verkehrungsritualen im engeren Sinne zählen kann, da eine Neurahmung einer gesamten rituellen Handlungssequenz vorliegt. Auch bei diesen Ritualen sind wiederum Bezugnahmen auf ein bekanntes Formenrepertoire festzustellen. Im Umfeld der Bilderstürme des Februars 1534 wurde ein Wagen durch die Stadt

32 Zitiert nach der Edition von Kerssenbroch, Narratio (wie Anm.18), 568 Anm.3. 33 Abschiedt der vier Churfürsten am Rhein auch 8 Reynischen / Niderlendischen / und Westuelischen kreyß / Stenndt / Botschafften / unnd Rhet / so der Monsterischen widdertauffischen handlung halber auff dem tag Lucie / Anno ec.XXX.IIII. zu Coblentz erschienen sein. O.O. 1534, 7 Bl., fol.1r und 1v. In dem Schreiben des Koblenzer Tages an die Münsteraner ist dann nur noch von Aufruhr und Ungehorsam „unnbedacht Ewrer eher, eeyd unnd pflicht“ die Rede; Schreiben des Koblenzer Tages an die in Münster eingeschlossenen Täufer (23.Dezember 1534), in: Stupperich (Hrsg.), Schriften Bernhard Rothmanns (wie Anm.28), 412ff., hier 412.

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geführt, der anstelle von Pferden von sechs „Mönchen“ gezogen wurde. Damit griffen die Täufer auf eines der bekanntesten Bilder der „verkehrten Welt“ zurück und versahen es zugleich mit einem antiklerikalen Akzent. 34 Der Lenker des Wagens war gar als Bischof verkleidet 35, während hinten ein „Priester“ saß, ausgestattet mit Aspergill und Stola. Dieser las während des Umganges mit Hilfe einer Brille aus einem Buch, gleich einer feierlichen Rezitation aus der Bibel – allerdings las er „multa inepta obscura voce“. 36 Die Verspottung des altkirchlichen Schriftgebrauchs, wie sie auch im zweiten Fall, einer Spottmesse, auftritt, lässt sich in Verbindung mit zahlreichen Äußerungen des Münsteraner Theologen Bernhard Rothmanns lesen, der immer wieder gegen das „verduesteren“ der Schrift wetterte, das aus den „gelehrten“ Auslegungen mit ihrer „verbloeminge der walspreckender vnde lögenafftiger Rethoriken“ entstanden sei. 37

34

Vgl. beispielsweise Roger Chartier/Dominique Julia, Die verkehrte Welt, in: Roger Chartier, Die unvoll-

endete Vergangenheit. Geschichte und die Macht der Weltauslegung. Frankfurt am Main 1992, 88–100, bes. 95f.; David Kunzle, World Upside Down. The Iconography of a European Broadsheet Type, in: Barbara A. Babcock (Ed.), The Reversible World. Symbolic Inversion in Art and Society. Ithaca/London 1978, 39– 94, hier 52ff.; Burke, Helden, Schurken und Narren (wie Anm.1), 202f.; und Christa Grössinger, The World Upside-Down. English Misericords. London 1997, bes. 85ff. 35

Die Verkleidung als Kleriker (wobei im hier vorgestellten Fall sogar zwischen verschiedenen Orden

und Hierarchien differenziert wurde) und deren anschließende Verspottung ist ein Phänomen, das in der Reformation offenbar weite Verbreitung fand. Siehe neben dem oben genannten Aufsatz von Scribner, Reformation, Karneval und die „verkehrte Welt“ (wie Anm.3), auch knapp Hans Moser, Städtische Fasnacht des Mittelalters, in: ders., Volksbräuche im geschichtlichen Wandel. Ergebnisse aus fünfzig Jahren volkskundlicher Quellenforschung. (Forschungshefte, hrsg. vom Bayerischen Nationalmuseum München, Bd. 10.) München 1985, 98–140, hier 116f. Moser stellt fest, dass sich um 1500 „generell gefaßte Erlasse gegen Masken in Mönchs- und Nonnenkleidern und gegen die Verspottung kirchlicher Gebräuche zu häufen“ begannen. 36

Kerssenbroch, Narratio (wie Anm.18), 518. Dieser Fall ist auch aufgenommen in Scribner, Reformation,

Karneval und die „verkehrte Welt“ (wie Anm.3), 122. 37

Bernhard Rothmann, Von Verborgenheit der Schrift (1535), in: Stupperich (Hrsg.), Schriften Bernhard

Rothmanns (wie Anm.28), 299–372, hier 341ff.; ähnlich u.a. auch ders., Restitution rechter und gesunder christlicher Lehre (1534), in: ebd.208–284, hier 221. – Das Detail der Brille könnte sich auf das stereotype Bild eines Gelehrten beziehen, wie es in dieser Zeit kursierte; zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an das bekannte Sprichwort „Die Gelehrten, die Verkehrten“, das auch Eingang in die reformatorische Polemik fand; siehe dazu Heiko A. Oberman, Die Gelehrten, die Verkehrten. Popular Response to Learned Culture in the Renaissance and Reformation, in: Steven Ozment (Ed.), Religion and Culture in Renaissance and Reformation. (Sixteenth Century Essays & Studies, Vol.11.) Kirksville 1989, 43–63; Gilly, Das Sprichwort „Die Gelehrten die Verkehrten“ (wie Anm.3), zu Münster 298ff., und Bob Scribner, Heterodoxie, Literalität und Buchdruck in der frühen Reformation, in: ders., Religion und Kultur in Deutschland (wie Anm.8), 265–289, hier 276ff. Im Kontext des gesamten Repertoires der „Verkehrten Welt“ behandelte dieses „Uralte[n], ge-

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Des Weiteren spannte man Hubert Rüscher, der später wegen seiner Kritik an den täuferischen „Propheten“ umgebracht wurde, sich hier aber offenbar noch aktiv an den täuferischen Aktionen beteiligte, „nigri monachi amictu vestitus“ vor einen Pflug 38 – eine auffallende Parallele zu der Fastnacht 1532 und wiederum eine deutliche Bezugnahme auf die traditionelle Formensprache der „verkehrten Welt“ und Rügebräuche. Im Anschluss an diesen Umzug durch die Stadt wurde die Reliquienverehrung aufs Korn genommen: Man trug einen Mann, der möglicherweise als unehrlich galt, auf einer Bahre um den Hiltruper Friedhof und inszenierte dies ganz wie eine Reliquienprozession, indem Kruzifixe und Fahnen vorangetragen, Hymnen gesungen und Glocken geläutet wurden. 39 Bereits während des Bildersturms im Frühjahr 1534 waren Reliquien entheiligt worden, indem man sie zu den anderen Gebeinen auf den Kirchhof warf. 40 „Entheiligen“ trifft dabei zwar den Vorgang aus Sicht der allgemeinen sozialen Praxis, beschreibt ihn aus täuferisch-theologischer Perspektive allerdings nicht adäquat: Denn die Täufer hielten Reliquien, die Heiligenverehrung allgemein, den Gebrauch von Weihwasser, gar die Messe und die Eucharistie nicht für heilig, sondern im Gegenteil für eine „groue affgoderye“. 41 Die Verkehrung ihres

meyne[n]“ Sprichwort die Kompilation von Johann Fischart, Bewärung und Erklärung des Uralten gemeynen Sprüchworts: Die Gelehrten die Verkehrten. O.O. 1584 (Digitalisat bei der BSB München); zu dessen komplizierter Entstehungsgeschichte vgl. Carlos Gilly, Über zwei Sebastian Franck zugeschriebene Reimdichtungen. Stammen „Die Gelehrten, die Verkehrten“ und „Vom Glaubenszwang“ tatsächlich von Franck?, in: Jan-Dirk Müller (Hrsg.), Sebastian Franck (1499–1542). (Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 56.) Wiesbaden 1993, 223–238. 38 Kerssenbroch, Narratio (wie Anm.18), 518. – Die Kritik und Bestrafung Rüschers berichtet Kerssenbroch ebd.559ff., sie findet sich auch bei Gresbeck, Bericht (wie Anm.23), 28–31, vgl. dazu Klötzer, Täuferherrschaft (wie Anm.16), 73f. und 82. 39 Kerssenbroch, Narratio (wie Anm.18), 518. 40 Verhörprotokoll Dionysius Vinne, in: Cornelius (Hrsg.), Berichte (wie Anm.23), 274. Vgl. dazu auch Verhörprotokoll Klopriß, in: Niesert (Hrsg.), Münsterische Urkundensammlung (wie Anm.20), Bd. 1, 132, und die ausführliche, wiewohl tendenziöse Darstellung in der Flugschrift „Die Ordnung der Widerteuffer zu Münster. / Item was sich daselbs nebenzu verloffen hatt / vonn der zeytt an / alls die Statt belegert ist wordenn. [Heinrich Steiner: Augsburg] 1535, 8 Bl., fol.1v–3r, bes. 1v zu den Reliquien. 41 Diese Ansicht, die vom reformatorischen Mainstream wenig entfernt ist, vertrat Rothmann bereits 1532: Bernhard Rothmann, Korte Anwisunge der Missbruch der Romischen Kerken (1532), in: Stupperich (Hrsg.), Schriften Bernhard Rothmanns (wie Anm.28), 58–63, hier 58f.: „Dat Sacrament, woe se eth nomen, dat in hysekens hyn und dar wert hengesath, umegedregen und angebettet, ys ene groue affgoderye. Want allene godt denn heren […] sal men anbeden. Und dat men in den husekens ummedrecht, anropt und anbedet, ys nicht mer an slecht broith. Mach ock gyn Sacramente syn, na dem allene de Sacramenta inn rechten

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Gebrauchs durch die Täufer war daher aus ihrer Perspektive keineswegs eine Verkehrung der richtigen Ordnung, eine Entheiligung, sondern vielmehr eine Entlarvung, eine Aufdeckung der Verkehrtheit. 42 Dass die „papistische“ Kirche eine verkehrte war, stellte ein wichtiges Element in der Herleitung und Begründung des täuferischen Chiliasmus dar: 43 „[…] dat Gades wort vnde ordnunge by den mensschen vnde mensschen kinderen yn ein affuall vnnde verwüstunghe verkeret sol werden vnde ys gheworden. […] In den suluen worden gifft he [Christus] ock ein tröstlick bericht der weder Restitution, dan vnder ander sprickt he, wanner gy seen recht solde he seggen, wanner gy de gnade hebben, dat gy seen konnen, dat alle dinck vorwöstet ys vnd de gruwel de hillige stedde inne hefft, ßo hevet yp iuwe höuede, dan ysset tydt, want dan ys iuwe vorlösinge nicht wyth.“ 44 Die Verbindung der Riten mit der täuferischen Theologie wird schließlich besonders deutlich am zweiten Fall, einer Spottmesse, die die Täufer im Dom zelebrierten. Die Überlieferungssituation ist hier nicht unproblematisch, da die Episode allein von Gresbeck bezeugt wird. Die Spottmesse fand nach der Königserhebung (im September 1534) statt, vermutlich im Oktober oder November 1534. Die Gemeinde versammelte sich in festlicher Kleidung im Dom, wo drei Laien die „Messe“ zelebrierten. Anfänglich, so kommentiert Gresbeck, taten sie dies „glick als dairtho ge-

gebrucke Sacramenta syn. […] Weywather, kerßen, kruyth, belder, klocken, solt, olie und der gely-cken seggenen, dar mede dat sulue uns tor salycheyt solde deynen mogen, ys heydensch mygeloue unnd vordomlick. […] De vorstoruen hilligen bilde anropen, erhen off umb dragen ys apenbaer und heill affgodderie.“ 42

Leider haben die Münsteraner Täufer keine allgemeineren Aussagen über die (didaktische) Nutzung

von Spott, Ironie und Satire hinterlassen. Die „praktischen“ Beispiele von Spottritualen und verbaler Ironie, wie sie sich in Rothmanns Traktaten finden, lassen aber Grundzüge einer Auffassung erkennen, die erstaunliche Parallelen beispielsweise zum Verständnis konfessioneller Polemik in der Genfer Reformation aufweist. Vgl. dazu jetzt Michael Becker, Den Spötter verspotten. Ironie und inversiver Spott in der „Epistula Magistri Benedicti Passavantii“ Théodore de Bèzes (1553), in: Frühmittelalterliche Studien 44, 2010, 461– 486. 43

Siehe dazu u.a. Günther List, Chiliastische Utopie und radikale Reformation. Die Erneuerung der Idee

vom Tausendjährigen Reich im 16.Jahrhundert. (Humanistische Bibliothek. Abhandlungen und Texte, Rh.1, Bd. 14.) München 1973. 44

Rothmann, Restitution (1534), in: Stupperich (Hrsg.), Schriften Bernhard Rothmanns (wie Anm.28),

208–284, hier 216f. Auf diese Bibelzitate (Mt 24,15, ähnlich auch Mk 13, Lk 21 und 2 Thess 2) bezieht sich Rothmann häufig, teils sogar mehrfach in einem Traktat, so auch ders., Von Verborgenheit der Schrift, in: ebd.355, und ders., Bericht von der wrake (1534), in: ebd.284–297, hier 289.

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hoirt“. 45 Bei der Predigt aber und der anschließenden Opferung kehrte sich alles um. Die Predigt hielt einer der Scheinpriester namens Evert Riemenschneider, mit „unhovischen worten“, geopfert wurden sodann „untidige dingk“, bei deren Beschreibung Gresbeck vermutlich auch seine Phantasie spielen ließ 46: Katzenköpfe zählt er auf sowie Pferdebeine und andere Tiere. Bei der Elevation der Hostie schließlich, einem Schlüsselmoment der katholischen Messe, wurde Riemenschneider gar „dat misgewant up geboirt […], dat se ime in dat hinderste saegen“. Der Moment also, der den Altgläubigen als entscheidender der ganzen Liturgie galt, der Moment, in dem die gesamte Wirkmächtigkeit des Ritus sichtbar wurde 47, wurde durch die Entblößung des Zelebranten nicht nur gestört und zum Spott verkehrt, sondern auch im wahrsten Sinne des Wortes entkräftet. Halbnackt und seiner Würde buchstäblich entkleidet war der „Priester“ ein Mensch wie jeder andere – wie sollte er so in der Lage sein, das Wunder der Wandlung zu vollbringen? „Do wort al dat volck lachen.“ Dieses Lachen wurde jedoch gleich wieder eingehegt – die Deutung der Spottmesse nämlich überließ Rothmann als führender Theologe der Münsteraner Täufer keineswegs dem „volck“, sondern legte das Geschehen selbst in einer anschließenden Predigt aus, wie Gresbeck berichtet: „Als nu die miss iss uth gewest, do heft Stutenbernt [d.i. Bernhard Rothmann] gestain und heft eine predicatie gedain, und heft dem gemeinen volck gesacht, warumb dat die die misse gedain hebben, und heft do gesacht, wat die misse in sick hadde, und alle die missen, die in der werlt geschehn, die weren ouck sodane misse, als die miss, die sie dair gedain hedden, und alle die

45 Vgl. hierzu und zum Folgenden Gresbeck, Bericht (wie Anm.23), 150ff. – Dass der Verfasser zwei der Beteiligten namentlich nennen kann, scheint mir wesentlich zur Glaubwürdigkeit des Berichtes beizutragen, insbesondere da bei sonstigen Anekdoten die handelnden Personen zumeist anonym bleiben und kaum charakterisiert werden. 46 Anderseits sollte man nicht zu schnell auf eine Übertreibung des Chronisten schließen, da bekanntermaßen häufig Fäkalien und andere „unreine“ Dinge in der reformatorischen Bewegung zur Verunglimpfung des konfessionellen Gegners dienten; vgl. u.a. Ulinka Rublack, Die Reformation in Europa. Frankfurt am Main 2003, 65, und Christian von Burg, „Ich schisse in das heilig krüz!“ – Wie Ikonoklasten mit Fäkalien Bilder und Altäre schänden, in: Cécile Dupeux/Peter Jezler/Jean Wirth (Hrsg.), Bildersturm. Wahnsinn oder Gottes Wille? (Ausstellungskatalog Bern 2000.) München 2000, 120. – Was jedoch angesichts der Belagerungssituation und der Hungersnot, die zu dieser Zeit in Münster herrschten, in der Tat als sehr unwahrscheinlich gelten muss, ist das von Gresbeck berichtete Detail, all diese Tiere seien fingerdick mit Zucker bestreut worden. 47 Siehe dazu Edward Muir, Ritual in Early Modern Europe. (New Approaches to European History, Vol.11.) Cambridge 1997, 160ff., und Miri Rubin, Corpus Christi. The Eucharist in Late Medieval Culture. Cambridge 1991, bes. 49–64.

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missen, die in der werlt schegen, dair dreven sie ein schimp und spot mit, glick als wy mit der misse gedain hebben.“ 48 Inwieweit sein Unterfangen der Vereindeutigung tatsächlich von Erfolg gekrönt war, scheint eher zweifelhaft – was es aber sehr deutlich zeigt, ist ein Bewusstsein für die Ambivalenz und mögliche „Ausartung“ von Verkehrungsritualen. Diese waren einerseits ausgesprochen publikumswirksam und boten vielerlei Anknüpfungspunkte an die „volkskulturelle“ Praxis, wie hier in dem Einsatz expressiver Körperlichkeit. Andererseits bargen sie stets die Gefahr einer nicht kontrollierbaren Eigendynamik. Wollte man sie, wie auch andernorts geschehen 49, in einen Kontext des konfessionell-didaktischen „Mehrwerts“ stellen, so war dies meist mit dem Versuch verbunden, im Nachhinein die Deutungshoheit zu monopolisieren. 50

II. „Verkehrte Ordnung“ und Fastnachtskönig: Polemik gegen das Täuferreich Für die Nachwelt ist jedoch nicht die täuferische Deutung ihrer „gottlosen“ Umwelt als „verkehrt“ wirkmächtig geworden, vielmehr gilt das Täuferreich selbst als Bild einer verkehrten Ordnung. An seiner Konstruktion waren „altgläubige“ wie evangelisch-lutherische Autoren beteiligt, allerdings fällt die publizistische Beschäftigung mit dem Münsteraner Täuferreich auf evangelischer Seite quantitativ deutlich höher aus. 51 Der Grund hierfür ist wohl in einem verstärkten Abgrenzungs48

Gresbeck, Bericht (wie Anm.23), 153.

49

In diesem Sinne lässt sich beispielsweise das Vorgehen Luthers nach der Verbrennung der Bann-

androhungsbulle und folgenden studentischen Spottritualen interpretieren. Ähnlich wie Rothmann sucht auch Luther die Deutungshoheit über die Ereignisse zu gewinnen, zunächst indem er sie in seiner Vorlesung am folgenden Tag auslegt, sodann durch die Publikation einer Flugschrift. Vgl. dazu Rublack, Die Reformation (wie Anm.46), 26, und Natalie Krentz, Ritualwandel und Deutungshoheit. Die frühe Reformation in der Residenzstadt Wittenberg. Tübingen (im Druck). 50

Karnevaleske Riten in der reformatorischen Bewegung könnte man mit Schindler im Grenzbereich

der Phase I des Karnevals verorten, die vor allem von der Körperlichkeit betonenden Kultur des Volkes bestimmt sei, wenn auch Monopolisierungsversuche bereits erste Vorzeichen einer stärker herrschaftlich „vermachteten“ Karnevalsform darstellten. Diese fallen in Schindlers Modell vorrangig in die Phase II am Übergang vom 16. zum 17.Jahrhundert; vgl. Schindler, Karneval, Kirche und die verkehrte Welt (wie Anm.9), 29f. 51

Vgl. Bernward Schmidt, Münster und das „Täuferreich“ im Spiegel der Flugschriften 1534–1538. Zu den

Quellen älterer Geschichtsbilder, in: Westfälische Zeitschrift 159, 2009, 33–57. Einen Überblick über die

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bedürfnis der reformatorischen Gruppen um Luther zu suchen, die sich von den Täufern distanzieren und sich ihnen gegenüber als „wahre“ Reformation absetzen wollten. 52 Dagegen versuchten Vertreter der altgläubigen Seite, Luther und allen anderen reformatorischen Gruppen die Verantwortung für den „furor anabaptistorum“ zuzuschieben und sie letztlich mit diesen gleichzusetzen. 53 Einig aber waren sich beide Seiten in der Verdammung des Münsteraner Geschehens als Verstoß gegen göttliche und weltliche Ordnung. Zentral war dabei neben der Entlarvung als „Teufelswerk“ die gleichsam topische Deutung des Täuferreiches als „verkehrte Ordnung“. 54 Diese Deutung manifestierte sich zunächst in der Darstellung des Täuferreiches als Gegenteil jeder „guten“ Ordnung: Unter dem Namen „wedersdoepers eidt“ kursierte beispielsweise eine Zusammenstellung vermeintlicher Glaubensartikel und Verhaltensregeln, die nachweislich einigen gefangenen Täufern zur Verifizierung vorgelegt wurde. 55 Indem der „eidt“ vorgibt, ein „origina-

Flugschriften gibt Günter Vogler, Das Täuferreich zu Münster im Spiegel der Flugschriften, in: Hans-Joachim Köhler (Hrsg.), Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit. Beiträge zum Tübinger Symposion 1980. (Spätmittelalter und Frühe Neuzeit, Bd. 13.) Stuttgart 1981, 309–351; für die weitere Wirkungsgeschichte vgl. Ernst Laubach, Das Täuferreich zu Münster in seiner Wirkung auf die Nachwelt. Zur Entstehung und Tradierung eines Geschichtsbildes, in: Westfälische Zeitschrift 141, 1991, 123–150. 52 Als Belege seien hier exemplarisch nur genannt Martin Luther, Vorrede auf die Newe zeitung von Münster (1535), in: Robert Stupperich (Hrsg.), Schriften von evangelischer Seite gegen die Täufer. (Schriften der Münsterischen Täufer und ihrer Gegner, Bd. 3.) Münster 1983, 53, und ders., Das weltliche Oberkeit den Widerteuffern mit leiblicher straffe zu wehren schuldig sey / Etlicher bedencken zu Witeberg. Joseph Klug: Wittenberg 1536, 8 Bl. 53 So beispielsweise Johannes Cochlaeus, XXi. Artickel der Widderteuffer zu Munster / durch Doctor Johan Cocleu[s] widerlegt / mit anzeigung des ursprungs / daraus sie herfliessen. Wolffgang Stöckel: Dresden 1534, u.a. fol.12v, und später Florimond de Rémond, Historia Vom Urspung / auff- und abnemmen der Ketzereyen / und was sie seyter Anno 1500. […] für wunderbarliche veränderungen / weitläuffigkeiten / jammer / noth und höchste gefarlichheiten verursacht. Nicolaus Henricus: München 1616, 187. Zu Cochlaeus vgl. Christoph Dittrich, Die vortridentinische katholische Kontroverstheologie und die Täufer. Cochläus – Eck – Fabri. Frankfurt am Main 1991, 64–99. 54 Da es mir im Folgenden vorrangig um die Darstellungsstrategie geht, muss das ebenfalls häufig in der Polemik verwendete Verfahren, eine bestimmte Textart zu „verkehren“ bzw. zu parodieren, zunächst außen vor bleiben, auch wenn diese Verfahren mit der Darstellungsstrategie zusammenfallen können. Ein Beispiel aus dem Kontext des Täuferreiches wäre hier das „Epitaphium Bernardi Rotman“ (o.J.), in: Stupperich (Hrsg.), Schriften von evangelischer Seite gegen die Täufer (wie Anm.52), 49ff., hier 50, das ganz im Gewand des herkömmlichen Epitaphs Rothmann als „haereticus verus, impietate pius“ anspricht. Zu ähnlichen Fällen vgl. auch Paul Lehmann, Die Parodie im Mittelalter. München 1922, 41. 55 Ursprüngliche schriftliche Fassung vom Januar 1534 im Staatsarchiv Münster, ediert z.B. bei Heinrich Detmer, Ungedruckte Quellen zur Geschichte der Wiedertäufer in Münster, in: Westfälische Zeitschrift –

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les“ täuferisches Selbstzeugnis zu sein, wächst seinem Inhalt und dem transportierten Täuferbild eine besondere, gleichsam dokumentarische Authentizität zu. Strukturell an eine Gemeindeordnung erinnernd, ist der „eidt“ zugleich deren vollständige Negation: Man soll keine Messe hören, dafür aber offensichtlich „unsinnige“ Gesten zum Gebet ausführen, man soll keiner Obrigkeit untertänig sein. Es kristallisiert sich ein Bild einer Gegenordnung in der klassischen Form einer coniuratio heraus. Ähnlich funktioniert der „warhaffige tittel“ Jans van Leiden, der strukturell dem herkömmlichen Ehrentitel eines Fürsten folgt, dabei aber alle Schandtaten, Verbrechen und Laster des Königs aufzählt. Jan van Leiden sei „ein grave boven [über] alle boven unde horen“, „ein rentemeister to vorsturen klusen unde kercken“ usf. Damit tritt erneut das Prinzip eines antithetischen Entwurfes von Gegenordnung in Erscheinung. 56 Explizit zur Verkehrung zugespitzt wird diese Deutung in dem anonymen KetterBichtbok, das noch zu Zeiten des Täuferreiches (1534) verfasst wurde und eine scharfe Abrechnung wohl aus altgläubiger Perspektive darstellt. Hier werden wiederum bekannte Motive der „verkehrten Welt“ eingesetzt und gegen die Täufer gewendet: „Och, wu is all dinck so sehr verkehrt, / wannehr all man sick mitt unbekante kunst beschwehrt, / wannehr de waege will den ossen teihen, / wannehr enen gelehrden man wilt lehren de leyen, / wan de osse will nich langer plöegen, / wan de hengst sick nich will mitt den sadell genöegen.“ 57 Die ständische Verkehrung, die der Autor im Täuferreich ausmacht, wird gleichsam als Teil der Verkehrung der „Naturordnung“ präsentiert. Motive, die in den antiklerikalen Riten der Täufer kritisches und zumin-

Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde 51, 1893, 90–118, hier 115f. In allen greifbaren fünf Versionen ediert als „Münsterische Artikel“, in: Robert Stupperich (Hrsg.), Schriften von katholischer Seite gegen die Täufer. (Schriften der Münsterischen Täufer und ihrer Gegner, Bd. 2.) Münster 1980, 86–97. Stupperichs Fassung E ist diejenige des altkirchlichen Theologen Johannes Cochlaeus, der sie im März 1534 mit einer Widerlegung als Flugschrift publizierte; siehe Cochlaeus, XXi. Artickel (wie Anm.53). 56

Dieser Titel findet sich (wohl als Inserat, was allerdings nicht näher zu bestimmen ist) in Lilie, Nieder-

deutsche Bischofschronik (wie Anm.26), 238f. 57

Das Ketter-Bichtbok (1534), in: Stupperich (Hrsg.), Schriften von katholischer Seite gegen die Täufer

(wie Anm.55), 133–224, hier 135; zur Verfasserfrage siehe Karl-Heinz Kirchhoff, Kerssenbroch oder Vruchter. Wer schrieb 1534 das Bichtbok, die Kampfschrift gegen Reformation und Täufertum in Münster?, in: Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte 69, 1975, 39–50. Eine auffallende Parallele in der Motivreihung findet sich in Thomas Murners Abrechnung mit Luther im Großen Lutherischen Narren (1522); vgl. Jean Schillinger, Narr und Narrheit in der konfessionellen Polemik: Thomas Murners Großer Lutherischer Narr, in: ders. (Hrsg.), Der Narr in der deutschen Literatur (wie Anm.4), 83–102, hier 93.

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dest reformatorisches Potential erhalten hatten, gewinnen dabei einen ausgesprochen konservativen und ordnungsstabilisierenden Charakter. Mit ihrer Hilfe können im Ketter-Bichtbok vor allem Veränderungen im Verhältnis von Laien und Klerikern bzw. Gelehrten als verkehrt und widernatürlich gebrandmarkt werden. Denn „wu wall steidt in allen stedten, / wannehr ein idder ist mitt siner kunst und ampt tefredden, / wannehr de gelehrden allein sick der schrifft undernimmen, / […] wannehr alleen de verordnete de kerken regeren. / Wannehr alleen geistlicke personen in de kerke predigen und singen, / alßdan mah all dinck de kercke wall gelingen.“ 58 Die Verkehrung der Ständeordnung allein stellte allerdings aus Sicht ihrer Gegner noch nicht das schlimmste Vergehen und die ärgste „Verkehrtheit“ der Münsteraner Täufer dar. So wirft ihnen das Schreiben des Koblenzer Tages vor allen anderen Missetaten vor, dass sie in ihrem „bosen, uppigen unnd verkerten gemut furzufaren behart, einen des schneider hantwercks zu einem vermeinten kunig uffgeworffen“ hätten. 59 Ob man ihn nun als vom Teufel besessen, als blutigen und anmaßenden Tyrann 60 oder als gewissenlosen Volksverführer darstellte, in jedem Fall ließ die gegnerische Publizistik keinen Zweifel an der Illegitimität des Königtums Jans van Leiden. Neben der Dämonisierung und Verdammung seiner Herrschaft und seines Lebenswandels fanden dabei auch verschiedene Angriffe auf den Charakter seines Königtums selbst statt. Populär bis in neueste Zeit sind Bezeichnungen wie „Theaterkönig“, „Schauspielerkönig“ u.a. 61 In eine ähnliche Richtung zielt auch die Polemik des Ur-

58 Ketter-Bichtbok (wie Anm.57), 135. 59 Schreiben des Koblenzer Tages, in: Stupperich (Hrsg.), Schriften Bernhard Rothmanns (wie Anm.28), 413; ebenso die Vermahnung des Wormser Tages an die Belagerten in Münster (18.April 1535), in: ebd.430ff.: „ain leichtfertige person des schneiderhandwerks zu eynem vermeinten konig ufgeworfen […]“ (431). 60 Vgl. u.a. die Vermahnung des Wormser Tages (wie Anm.59), 431. 61 Beispielsweise schon bei Kerssenbroch, Narratio (wie Anm.18), 379, und Lilie, Niederdeutsche Bischofschronik (wie Anm.26), 263. Die Wirkmächtigkeit dieser Vorstellung zeigt sich in einem niederländischen Trauerspiel des 17.Jahrhunderts, das genau dies als Schlüssel zur Erklärung der gesamten Täuferherrschaft aufgreift; [Joan Dullaart,] Jan van Leiden en Barent Knipperdolling; of Oproer binnen Munster. Treurspel. Jacob Lescaille: Amsterdam 1660; vgl. hierzu Christina Brauner, Der Theaterkönig im Trauerspiel. Joan Dullaarts Drama über das Münsteraner Täuferreich zwischen wirkungsgeschichtlicher Tradition und politischer Aktualisierung, in: Angelika Kemper/Christel Meier-Staubach (Hrsg.), Europäische Schauplätze des frühneuzeitlichen Theaters. Normierungskräfte und regionale Diversität. Münster 2011, 69–202. Mit deutlich moderneren, teils auch satirischen Akzenten versehen hat den Stoff Friedrich Dürrenmatt, Die Wiedertäufer. Eine Komödie in zwei Teilen, Urfassung. (Werkausgabe, Bd. 10.) Zürich 1980. Dürrenmatt lässt Jan

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banus Rhegius in seiner Schrift Widderlegung der Munsterischen newen Valentinianer und Donatisten bekentnus an die Christen zu Osnabrugk in Westfalen (1535). Er schreibt: „Die Mönsterischen Donatisten und Circumcellioner soltem solch gros wesen nicht angefangen haben, bis sie iren Fastnacht könig den hinckenden Schneider zuvor inn Hessen oder Sachsen gesend hetten, das er hette lernen reitten. Und iren Niclas-Bischoff Bernharden gen Swollis oder Daventer, das er regulas consequentiarum besser gelernt hette. Sonst wird warlich die gantze welt von den itzgien Mönsterischen so viel halten, als von unsinnigen leuten, denen das hirn verrückt ist.“ 62 Hier wird das „verkehrte“ Ritual der Erhebung eines Fastnachtskönigs eingesetzt 63, um jemanden zu verspotten, der einen Anspruch auf „richtiges“ Königtum und legitime Herrschaft vertrat, ja sich selbst gar als einzigen legitimen, da durch Gott selbst berufenen Herrscher sah. 64 Dieser Legitimitätsanspruch wird durch den Vergleich zum Spott verkehrt und lächerlich gemacht. Bernhard Rothmann hatte zwar nie ein Bischofsamt beansprucht, seine Identifikation mit einem „niclas-bischoff“ 65, einem Knabenbischof, verbunden mit dem Vorwurf, er kenne nicht einvan Leiden gar der Hinrichtung entgehen und stattdessen als Schauspieler in der Truppe des Bischofs enden. – Die Bezeichnung als „Theaterkönig“ ist verknüpft mit der Geschichte, Jan van Leiden selbst sei Schauspieler gewesen, so u.a. in der Flugschrift „Warhafftiger bericht der wunderbarlichen handlung / der Tauffer zu Münster ynn Westvalen,wie sich alle sachen nach eroberung der stadt / und ynn der eroberung zu getragen / auch wie alle handlung yhr entschafft genommen ec.“ O.O. 1535, 8 Bl, fol.6v und 7r. 62

Urbanus Rhegius, Widderlegung der Munsterischen newen Valentinianer und Donatisten bekentnus

an die Christen zu Osnabrugk in Westfalen (1535), in: Stupperich (Hrsg.), Schriften von evangelischer Seite gegen die Täufer (wie Anm.52), 82–137, hier 105f. 63

Hierzu u.a. Velten, Einsetzungsrituale (wie Anm.1); eine kursorische Zusammenstellung verschiede-

ner Fastnachtskönige findet sich bei Dietz-Rüdiger Moser, Narren – Prinzen – Jesuiten. Das Karnevalskönigreich am Collegium Germanicum in Rom und seine Parallelen. Ein Beitrag zur Geschichte der Fastnachtsbräuche, in: Zeitschrift für Volkskunde 77, 1981, 167–208; zur Kritik an dessen kaum haltbarer These, der Karneval sei der Fastenzeit gemäß dem augustinischen Zwei-Staaten-Modell zugeordnet und habe in diesem Modell seinen Ursprungssinn, vgl. die begründeten Einwände von Schindler, Karneval, Kirche und die verkehrte Welt (wie Anm.9), bes. 10–15. 64

Einige Vergleichsfälle, vor allem zu Friedrich V. von der Pfalz, finden sich bei Jacobs, King for a Day

(wie Anm.4), 126ff. Der Rekurs auf „Festkönige“ etc. scheint, soweit man dies angesichts der disparaten Forschungslage feststellen kann, eine verbreitete Technik von Satire und Polemik zu sein, um „richtige“ Herrscher zu tadeln; dies geht auch aus der Studie von Sandra Billington, Mock Kings in Medieval Society and Renaissance Drama. Oxford 1991, u.a. Kapitel 1, 18–23, und Kapitel 4, hervor. Billington verfolgt eine Zusammenschau von literarischen (insbesondere dramatischen) und historischen Quellen, so dass Wechselwirkungen zwischen literarischer Imagination und kultureller Praxis deutlich werden. 65

Zum Kinder- bzw. Niklasbischof selbst vgl. Jacques Heers, Vom Mummenschanz zum Machttheater.

Europäische Festkultur im Mittelalter. Frankfurt am Main 1986, 189–196, und Tanja Skambraks, Im Span-

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mal die Grundsätze scholastischer Logik, ist aber gleichermaßen gegen seine „angemaßte“ theologische Autorität gerichtet. 66 Die Bezeichnung „niclaß-bischof“ verwendete nicht zuletzt Luther in seiner Polemik gegen Bischöfe der Papstkirche. Ob Rhegius hierauf anspielte, muss offen bleiben, ist aber durchaus nicht unwahrscheinlich. 67 Durch derartige Verwendung in der Polemik erhielten Verkehrungsrituale, die zwar nicht notwendigerweise herrschaftskritisch oder gar revolutionär waren, vielfach aber in distanziertem Verhältnis zur weltlichen und geistlichen Obrigkeit standen, gelegentlich auch obrigkeitlich reglementiert werden sollten, wiederum eine stabilisierende Funktion, indem sie argumentativ zum Ausschluss illegitimer Ansprüche eingesetzt wurden. 68 Gleichsam in Antwort auf derartige Angriffe, wobei derjenige Rhegius’ im Januar 1535 in Münster noch nicht bekannt war, betonten die Täufer wiederum die letztlich überlegene Legitimität ihrer Position, die schließlich durch Gott selbst und durch die Heilige Schrift garantiert sei. So begegneten sie in ihrem Sendschreiben an

nungsfeld zwischen Spiel und Ernsthaftigkeit. Einige Bemerkungen zum Kinderbischofsfest in England, in: Sabine von Heusinger/Annette Kehnel (Eds.), Generations in the Cloister. Youth and Age in Medieval Religious Life. (Vita Religiosa, Vol.36.) Münster 2008, 75–99. 66 Eine gleichfalls sehr polemische Abrechnung mit Rhegius nimmt Rothmann in seinem letzten überlieferten Traktat vor: Von weltlicher und geistlicher Gewalt (1535), in: Stupperich (Hrsg.), Schriften Bernhard Rothmanns (wie Anm.28), 372–404, bes. 374f. und 397f. Dort greift er vor allem Rhegius’ Kritik an seiner mangelnden Gelehrsamkeit auf und konfrontiert sie – teils mit beißender Ironie – mit der „slechten wairheit“ (der schlichten, d.h. einfachen Wahrheit), ein durchaus bekanntes reformatorisches Argumentationsmuster, das zuvor insbesondere gegen die altkirchliche Scholastik gerichtet worden war. 67 Martin Luther, Wider den falsch genannten geistlichen Stand des Papstes und der Bischöfe, in: D. Martin Luthers Werke. Bd. 10/2. Weimar 1907, 93–158, hier 110 („[…] denn got kennet das Larven volck und Niclaße bischoffe nit“); dazu Gottfried Krodel, Luther und das Bischofsamt nach seinem Buch „Wider den falsch genannten geistlichen Stand des Papstes und der Bischöfe“, in: Martin Brecht (Hrsg.), Martin Luther und das Bischofsamt. Stuttgart 1990, 27–65. Bereits Erika Kohler macht jedoch darauf aufmerksam, dass der von ihr ausführlich belegte Rekurs, den Luther gerade in seiner antipäpstlichen Polemik auf Fastnachts- und andere karnevaleske Festbräuche nimmt, nicht notwendigerweise ein Zeichen für seine grundsätzliche Ablehnung dieser Praktiken darstellt; vgl. Erika Kohler, Martin Luther und der Festbrauch. (Mitteldeutsche Forschungen, Bd. 17.) Graz/Köln 1959, 92–113, bes. 111f. 68 Im Hinblick auf das Oszillieren zwischen ordnungsstabilisierenden und subversiven Bedeutungen sei noch einmal an die Überlegungen zu Verkehrungsritualen als „Kipp-Phänomene“ erinnert; siehe oben Anm.14. – Als ein ausgesprochen prominentes, wenn auch anders gelagertes Beispiel könnte man hier die Rezeption der Dornenkrönung in der christlichen Tradition anführen, in der die ursprüngliche Verspottung, die parodierte Krönung „ins Kippen“ gerät und nunmehr als Erhöhung des Gepeinigten über seine Verächter verstanden wird, letztlich aber weiterhin ambivalent bleibt; siehe dazu auch knapp Meier-Staubach, Verkehrte Rituale (wie Anm.15), 182.

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den Landgrafen Philipp von Hessen dem Vorwurf, sie hätten von „uns sulvest ein konich upgeworpen“, indem sie „bidden, achtet unß so geck dach nicht ider unverstendich, dat wy sodan vastavents spyl to unsen eigen verderfen bei god und den menschen solden anrichten offt bei uns gedulden“. Vielmehr erweise die Heilige Schrift klar und deutlich, dass sie auch bei der Königserhebung nicht anders gehandelt hätten, als „et von god […] tho verordenet is“ und die „warheit Christi“ auf ihrer Seite wüssten. 69 Auch für die Täufer steht also in diesem Zusammenhang die Dichotomie von „wahrem“ König und Fastnacht(skönig) als eine Dichotomie von Legitimität und Illegitimität fest. Noch in der „späten Neuzeit“ war der Zusammenhang zwischen Täuferreich und Karneval virulent, wie die bis heute in Münster existierende Karnevalsgesellschaft „Die Wiedertäufer am Buddenturm“ sowie verschiedentlich anlässlich der Fastnacht aufgeführte Komödien über „Johann Bockelson“ und sein Reich belegen. Da sich das Wesen des Karnevals gerade im Übergang zum 19.Jahrhundert deutlich verändert hat, sollte man hier mögliche Verbindungen zu zeitgenössischen Deutungen nicht überstrapazieren – insbesondere fehlen bei den genannten neuzeitlichen Phänomenen jegliche politischen, kritischen Aspekte, die ja gerade für den frühneuzeitlichen Diskurs charakteristisch waren. 70

III. Der König von Dülmen: Ein Nachspiel Wie sehr sich in der Auseinandersetzung um das Täuferreich auf beiden Seiten die Wahrnehmung von Verkehrungsritualen verschoben hatte, soll abschließend am Fall des Dülmener Fastnachtskönigs diskutiert werden, der sich ein Jahr nach den untersuchten Spottprozessionen der Täufer ereignete, in der Fastnacht 1535. 71 69

Sendschreiben der Münsterischen Täufer an Landgraf Philipp (10.1.1535), in: Stupperich (Hrsg.),

Schriften Bernhard Rothmanns (wie Anm.28), 414–422, hier 421. 70

Vgl. dazu u.a. Dorothee Linnemann, Der münsterische Karneval im Überlieferungskonflikt von

Sinnstiftung und Reglement (16.–19.Jahrhundert), in: Nikolaus Gussone (Hrsg.), FestGehalten. Feste und ihre Darstellungen in Münster. Münster 2004, 191–221, bes. 209 und 213ff.; das „Fortleben“ des Täuferreiches im heutigen Karneval thematisiert Katja Schupp, Zwischen Faszination und Abscheu: Das Täuferreich von Münster. Zur Rezeption in Geschichtswissenschaft, Literatur, Publizistik und populärer Darstellung vom Ende des 18.Jahrhunderts bis zum Dritten Reich. (Edition Kulturregion Münsterland, Bd. 1.) Münster 2002, 440–452. 71

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Dieser Fall wurde in der Literatur bislang am Rande und kursorisch erwähnt, jedoch nie näher unter-

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In Dülmen, einer Stadt in der Nähe von Münster 72, beging man 1535, wie üblich, die Fastnachtszeit mit verschiedenen Feiern. Dabei wurde auch ein „König“ erhoben und ein Umzug veranstaltet. Jene Geschehnisse wurden dem Fürstbischof zugetragen, wahrscheinlich, wie Kirchhoff vermutet, durch eine Anzeige, die die Königserhebung mit dem Täuferreich in Verbindung brachte, mit dem Franz von Waldeck gerade im heftigen Kampf lag. 73 Daraufhin mussten die Dülmener eine landesherrliche Untersuchung über sich ergehen lassen, was es mit „etlicker Münnerie de vergangen vastelavent mit umbfaringe eynes konnynges, monnik unnd nunnen unnd anderer schampeyrye [Spiel, Spott]“ auf sich habe. 74 Der Droste, als lokaler Amtsträger, beschrieb in seinem Bericht an den Bischof zunächst den Ablauf des Geschehens: „De borgere kinder“ hätten auf einem Pferde einen „geck“ vor das Stadttor geführt und dann auf demselben Pferd einen „Wysem man“ wieder in die Stadt eingeholt. 75 Etwas ausführlicher ist der Brief, den Bürgermeister und Rat Dülmens zu ihrer Rechtfertigung verfassten. 76 Dort heißt es, „eth hefft sich bogeven, den erst vergangen Gudenstag [Mittwoch] […] dat de junge geselschop, eynen geck to perde utgemaket unnd ut der portken gebracht unnd eynen wyßen man (ßo er meynunge gewest) weder up dat perdt, unnd alßo wederumb in de Stadt gevoert unnd dar by gegaen (vastavends wyße) myt beßennens, gapfelen, schavelynen (ec.) wat ße sus in de hande kregen.“ Dieses Spiel sei „ouck nye [neu] Koninyck genompt geworden“. Darüber hinaus hätten sich zwei Knechte die „geistlicke Kledynge“ eines abwesenden Mönches beschafft, diese angezogen und seien so vermummt „in itliger vrunde hues gegangen unnd do ße dat ander spyll [gemeint ist wohl das oben beschriebene Spiel] vernamen syn se der myt by gekomen.“

sucht; vgl. beispielsweise Heimann, „Verkehrung“ (wie Anm.7), 173; Kirchhoff, Kleine Beiträge (wie Anm.30), 94, ders., Die Täufer im Münsterland. Verbreitung und Verfolgung des Täufertums im Stift Münster 1533–1550. Münster 1960, 37f., und Humburg, Fastnachtsbrauchtum (wie Anm.30), 110f. 72 Zu täuferischen Aktivitäten in Dülmen vgl. Kirchhoff, Die Täufer (wie Anm.71), 37f. 73 Kirchhoff, Kleine Beiträge (wie Anm.30), 94. 74 So referiert der Brief von Bürgermeister und Rat der Stadt Dülmen an den Fürstbischof (2.März 1535) die erhobenen Vorwürfe, Landesarchiv NRW, Abteilung Westfalen (Staatsarchiv Münster), Alterthumsverein Münster, Ms 101,4, Nr.12 (Niesertsche Sammlung); vgl. auch Brief des Drosten an den Bischof (2.Februar 1535), ebd., Fürstenthum Münster, Landesarchiv, 518/19, Bd. 5c („Monnerye, de tho dulmen vergangen vastelavent zull geholdenn zyn“). 75 Brief des Dülmener Drosten an den Fürstbischof (11.Mai 1535), Landesarchiv NRW, Abteilung Westfalen (Staatsarchiv Münster), Fürstenthum Münster, Landesarchiv, 518/19, Bd. 6b. 76 Brief von Bürgermeister und Rat der Stadt Dülmen an den Fürstbischof (2.März 1535) (wie Anm.74).

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Gerade die Verkleidung als Mönche sowie die „Königserhebung“, deren genaue Form leider nicht zu ermitteln ist, mögen dem Bischof als verdächtige Parallelen zu den Münsteraner Ereignissen aufgefallen sein, doch sowohl Rat und Bürgermeister als auch der Droste versicherten in ihren Schreiben, es sei „in neyner quader toversicht eder meynunge“ (Rat) bzw. „ock nicht yn Jongen spych edder verhonynge“ (Droste) geschehen. Als weiteres Argument wurde vorgebracht, dass „men alle Jaer datselve in Vastelavendt plege tho speyllen“. 77 Offenbar war aber im bischöflichen Lager diese herkömmliche Bedeutung von fastnächtlicher Königserhebung und Mummenschanz, die man zweifelsohne kannte, überlagert von der aktuellen Assoziation jedweder inoffizieller Königserhebungen mit aufrührerischem Täufertum. „Andere“ Könige 78 wurden so per se als „falsche“ Könige identifiziert, die tatsächlich Herrschaft usurpieren wollten.

IV. Schluss Am Beispiel der Münsteraner Täufer und ihrer Verkehrungsriten wurde gezeigt, dass Rituale, die einen radikalen Bruch mit der „alten Ordnung“ vollziehen sollten, oft auf traditionelle, hergebrachte Elemente rekurrierten, die in neuen Kontexten neue Bedeutungen gewinnen konnten. Maßgeblich für die Verwendung von Verkehrungsmotiven und Ritualparodien war die täuferische Überzeugung, die altgläubigen Frömmigkeitspraktiken, die Papstkirche insgesamt, ja die gesamte „alte Ordnung“ seien verkehrt und verspotteten gleichsam die rechte Ordnung Christi. Verkehrungsrituale waren aus täuferischer Perspektive nicht selbst Verkehrungen, sondern deckten die Verkehrtheit der parodierten Riten auf. Den Gegnern der Münsteraner Täufer boten diese Verkehrungspraktiken einen willkommenen Anlass, ihrerseits das Geschehen in Münster zu verdammen – sie verstanden die „Austreibung“ des Bischofs nicht als Rüge für Eidbruch, die Spottmessen nicht als Aufdeckung der Verkehrtheit von Messe und Papstkirche, sondern als Zeichen des täufe77

Brief des Dülmener Drosten an den Fürstbischof (11.Mai 1535) (wie Anm.75).

78

So der Begriff Torsten Hiltmanns, der diese Wendung benutzt, um den Blick auf die weite Verbreitung

von Königtümern in der Vormoderne als hierarchische Ordnungskonzepte zu lenken; vgl. Torsten Hiltmann, Les „autres“ rois, in: ders. (Ed.), Les „autres“ rois. Études sur la royauté comme notion hiérarchique dans la société au bas Moyen Âge et au début de l’époque moderne. (Ateliers des Deutschen Historischen Instituts Paris, Vol.5.) München 2010, 9–21.

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rischen Aufruhrs, letztlich der „verkehrten“ Ordnung, die in Münster aufgerichtet worden war. Dieser elementare Deutungskonflikt verweist auf die Ambivalenz, die Verkehrungsrituale meines Erachtens auszeichnet. Faszinierenderweise bedienten sich die Autoren der antitäuferischen Polemik ähnlicher Motive wie die Täufer selbst und wandten sie nun gegen das Täuferreich, gegen Veränderungen im Verhältnis von Laien und Geistlichen und gegen die Erhebung Jans van Leiden zum König. Hier ist – auch für weitere Forschungen – das Augenmerk besonders auf die Verwendung von Motiven aus Verkehrungsritualen und Karneval zur Verspottung des Gegenübers zu lenken. Verkehrung und Verkehrtheit im gegnerischen Lager auszumachen war ein zentrales Motiv der Polemik und konfessionell geprägter Weltbilder in der Reformationszeit. Der Einsatz dieses Motives durch verschiedene reformatorische Gruppen (aber auch durch katholische Autoren) sowie die kontroversen Deutungen von Verkehrungspraktiken haben gezeigt, wie sehr Verkehrungsriten und -semantik verzahnt sind, wie sehr deren Interpretation stets durch spezifische Kontexte bestimmt ist. 79 Wie leicht ein harmloses Ritual wie das der Erhebung eines Fastnachtskönigs in den Verdacht subversiver Aktivität geraten konnte, wie sehr sich seine Bedeutung als spielerisches und traditionell verankertes Ritual durch zeitgenössische Ereignisse verschieben konnte, demonstrierte abschließend die Dülmener Fastnachtsbegebenheit.

Für die Lektüre einer ersten Fassung dieses Aufsatzes, der auf der Magisterarbeit der Verfasserin beruht, für konstruktive Kritik und aufschlussreiche Diskussionen danke ich Natalie Krentz, Erlangen.

79 Als ein Plädoyer für eine solche vorsichtige, stets am historischen Kontext orientierte Betrachtung lässt sich auch das Fazit von Heers, Vom Mummenschanz zum Machttheater (wie Anm.65), 335–344, lesen. Eine derartige Betrachtungsweise sollte zwar keinesfalls in das Extrem umschlagen, keinerlei verallgemeinernde Aussagen mehr zu treffen. Angesichts verschiedener theologischer und anthropologischer Ansätze, die noch immer den Anspruch erheben, „den“ Sinn karnevalesker Riten zu finden bzw. gefunden zu haben, scheint eine Mahnung zur stärkeren Differenzierung und Historisierung weiterhin geboten.

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„Wie bei denn Heyden ahn den Saturnalibus …“ Ein Reichskammergerichtsprozess um das Hemsbacher Königreich als Beispiel konfessioneller Argumentation und Ritualdeutung im 16.Jahrhundert von Anne Christina May

Die Epoche der Konfessionalisierung ist durch eine zunehmende Reflexion über die Bedeutung von Ritualen gekennzeichnet. Einerseits stellten die Debatten der Reformation die religiös-rituelle Praxis in ihren symbolischen Sinndimensionen zur Diskussion, andererseits beschränkten konfessionell-obrigkeitliche Disziplinierungstendenzen rituelles Brauchtum. Ein in seiner argumentativen Ausführlichkeit seltenes Zeugnis für den neuen Erklärungsbedarf ritueller Praxis in der zweiten Hälfte des 16.Jahrhunderts findet sich in den Akten eines Reichskammergerichtsprozesses um ein Königreich von Weidbuben aus Hemsbach im Jahre 1588. Die obrigkeitliche Kritik an einer tradierten Ritualpraxis führt im Gerichtsverfahren zu einer intensiven Debatte um Symbolik, Funktion und Genese des Rituals.

I. Fall und Prozess 1588 geriet ein zu Pfingsten von den Hemsbacher Weidbuben abgehaltenes Königreich zum Auslöser jahrzehntelanger gerichtlicher Auseinandersetzungen zwischen dem Wormser Bischof Georg und dem pfälzischen Kuradministrator Johann Casimir. 1 Die Weidbuben aus den Gemeinden Hemsbach, Laudenbach und Sulz-

1 Die Akten dieses Prozesses vor dem Reichskammergericht erstrecken sich über einen Zeitraum von 1588 bis 1619. Sie sind als vollständiges Konvolut im Generallandesarchiv Karlsruhe unter der Signatur GLA 71 Nr.3430 überliefert und zugänglich. Im Folgenden werden Zitate aus diesen Akten zur besseren

Übersichtlichkeit mit einer bei der Transkription angelegten Blattzählung angegeben, da der Originalbestand nicht paginiert ist. Der Fall der Weidbuben ist in der älteren volkskundlichen Literatur in einem kurzen Aufsatz behandelt worden: Engelbert Strobel, Der Hemsbacher Pfingstritt im 16.Jahrhundert, in: Oberdeutsche Zeitschrift für Volkskunde 19, 1936, 146–151, und wird in der heimatkundlichen Literatur bei Julius Friedrich Kastner, Hemsbach an der Bergstraße im Wandel der Zeit. Hemsbach 1980, 485, erwähnt. Aus-

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oldenbourg DOI 10.1515/9783486727678.218

bach hatten trotz eines Verbotes durch den Faut von Heidelberg ihr sogenanntes Königreich abgehalten; sie wählten wie seit vielen Jahren üblich an Pfingsten einen König aus ihrer Mitte und begingen dies mit einem ausschweifenden Fest. Daraufhin zitierte der Faut sie am Samstag nach Heidelberg, wo sie ihre Strafe empfangen sollten. Doch der wormsische Keller von Hemsbach verbot den Buben kurzerhand, in Heidelberg zu erscheinen. Dies konnte wiederum der Faut nicht hinnehmen: Am Sonntag Trinitatis marschierten Heidelberger Amtsknechte und 300 bewaffnete Reiter in Hemsbach ein; sie eskortierten die Weidbuben nach Heidelberg, wo sie die Nacht über in den Turm gesperrt wurden. Erst nach Bezahlung von Atz und Turmgeld kamen sie wieder frei. 2 Doch der Gerechtigkeit war aus der Sicht des Fauts wohl immer noch nicht Genüge getan, einige Tage später wurde auch noch der Keller von Hemsbach gefangengenommen. Man warf ihm vor, sich unrechtmäßig in kurpfälzische Belange eingemischt zu haben. 3 Erst nach einer Strafzahlung von insgesamt 200 Gulden kam er wieder auf freien Fuß. 4 Worms beantragte daraufhin die Constitution der Pfändung. 5 Soweit der Tatbestand, wie er in der von Worms erhobenen

führlich hat Wolfgang Seidenspinner die Thematik aufgegriffen: Narrenreich und Mohrenkopf. Zu Perspektiven und Aufgaben der Brauchforschung am Beispiel des Hemsbacher Pfingstritts, in: Jahrbuch für Volkskunde NF.21, 1998, 139–156; in diesem Forschungszusammenhang wird er auch von Heinz Schilling behandelt: Profil und Perspektiven einer interdisziplinären und komparatistischen Disziplinierungsforschung jenseits einer Dichotomie von Gesellschafts- und Kulturgeschichte, in: ders. (Hrsg.), Institutionen, Instrumente und Akteure sozialer Kontrolle und Disziplinierung im frühneuzeitlichen Europa. (Ius Commune. Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 127.) Frankfurt am Main 1999, 3–336, zum Pfingstritt direkt 32ff. Außerdem ist der Fall der Weidbuben Gegenstand in einem rechtshistorisch orientierten Vortrag von Alexander Brunotte, Alles was Recht ist. Der Reichskammergerichtsbestand im Generallandesarchiv Karlsruhe, gehalten am 11.2.2000 vor der Arbeitsgemeinschaft für geschichtliche Landeskunde am Oberrhein e.V. 2 „darauß eruolgt, daß Vff dein Fauths bescheiden am Sontag trinitatis etlich Amptknecht, Vnd Vff dreihundert gerüster Mann mit wehren, Harnisch, Spießen Vnd büchsen gehen Hemspach gerückt, die weidtbuben geholt, die selbige deren sechs vnnd dreißig gewesen, erstlich gehen Weinheim darnach gehen Heidelberg gefürt, Von dir Fauthen in thurn hin vnnd wider geworffen worden noch man die selbige erledigen wöllen, es hette dann endtweder ein pfundt heller Zu Abtrag, den cost Vnd thurn gelt bezalt Vnnd verbürgt, wie dann auch du Iren der waidtbuben fahnen behalten, in dein stuben gesteckt.“ Blatt 2. 3 „daran du Fauth noch nit ersettiget gewesen, sonder hettest ernannten Keller darüber Sambstags den achten dißam Thor zu Hemspach greiffen, Vnnd gehn Manheim gefengklich setzen.“ Blatt 2. Die Kurpfalz wirft dem wormsischen Keller vor, sich „durch auß, wo ihme muglich geweßen, der Churf[ürstlichen] Pfalz in allweg diesen deroselben Vnzweifferlichen Vnd notorien Recht Vnd gerechtigkheiten Intrag Zuthun, Vnd turbationes ganz Vngescheuett Zuzufüegen“. Blatt 35. 4 Blatt 12. 5 Blatt 2 und Blatt 11.

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Anklageschrift vom 15. Juni 1588 an das Reichskammergericht ging, womit ein kammergerichtliches Mandat an den Pfalzgrafen erwirkt wurde. Dass sich aus diesem Fall der Weidbuben ein jahrelanger Prozess entwickelte, liegt in der komplizierten territorialrechtlichen Situation begründet. Die an der Bergstraße nördlich von Heidelberg gelegenen Dörfer Hemsbach, Laudenbach und Sulzbach befanden sich im Gebiet der Kurpfalz, waren aber schon 1485 durch den Wormser Bischof käuflich erworben worden; über den Umfang der dabei übernommenen obrigkeitlichen Rechte herrschte seitdem Uneinigkeit. Aus Sicht des Wormser Bischofs Georg waren die Dörfer Hemsbach, Laudenbach und Sulzbach mit „aller und jeder oberkeit [...] ausgenommen zoll“ gekauft worden. 6 Doch ein Hemsbacher Weistum von 1525 gestand dem Bischof von Worms lediglich die niedere, dem Pfalzgrafen aber die hohe Gerichtsbarkeit zu und zählte penibel die Fälle auf, die auf die pfalzgräfliche Zent fielen. 7 Zu diesem Zeitpunkt bestritt Worms zunächst nur, dass sich aus diesen Artikeln auch ein Anspruch auf das „jus armorum“, den Heeresdienst der betreffenden Ortschaften, ableiten ließ. 8 Doch ausgehend von diesem Streit um die Bergsträßer „Fähnlein“, zweifelte Worms bald auch die hohe Gerichtsbarkeit der Kurpfalz in besagtem Gebiet an. Denn diese beanspruchte 1588 im hier vorliegenden Prozess die „hohe Landtsfürstliche obrigkeitt Vnd derselbigen anhengige iura“ 9; dazu zählten die Polizeigewalt, der Kirchensatz „Vnd bestellung deß ministerÿ auch wehlung der Senioren Vnd Eltisten in der gemein, vnd in summa daß ganze Völlige exercitium religionis“ 10. Dies bedeutet: Landesherrliche Gewalt wurde als volle jurisdiktionelle Gewalt verstanden, die natürlich auch die zentliche und

6 Zitiert nach Karl Kollnig, Worms und Kurpfalz im Streit um die Dörfer Hemsbach, Laudenbach und Sulzbach, in: Der Wormsgau 37/38, 1943, 37f., hier 37. 7 Genannt werden etwa Mord und Totschlag, Fälle von Ketzertum und Hexerei. Der Passus mit den vier Artikeln ist abgedruckt bei Kollnig, Worms und Kurpfalz (wie Anm.6), 37 (ohne Quellenverweis). 8 Kollnig, Worms und Kurpfalz (wie Anm.6), 37. 9 Blatt 36. 10

„Wahr Vnd notarii bekandt, d[aß] Churf[ürstliche] Pfalz allein in berurtem fleckhen den Kirchen Satz

Vnd bestellung deß ministerÿ auch wehlung der Senioren Vnd Eltisten in der gemein, vnd in summa daß ganze Völlige exercitium religionis noch Vff den heuttigen tag ruiglich Habe, Vnd daß also die Vnderthanen des ortts in spiritualib[us] nit dem Bischoff, sonder Churf[ürstlicher] Pfalz Vnderworffen, Wie auch die Ehehändell so sich des endts Zutragen, für Churf[ürstlicher] Pfalz Ehe=gericht allein gehören, alda angebracht Vnd erörtert werden sollen. Deßgleich[en] vnd nit weniger die bestellung der Polli=ceÿ Vnd gemeinen disciplin betreffent, gehortt ein solches auch allein der Churf[ürstlichen] Pfalz Zue, alda gebott, Vnd

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malefizische Obrigkeit beinhaltete 11, während Worms prinzipiell landesrechtliche Ansprüche der Kurpfalz zwar akzeptierte, darunter aber lediglich die malefizische Obrigkeit gefasst sehen wollte. So akzeptiert Worms etwa, dass die Kurpfalz an der Bergstraße Zoll erhebt, sieht das Gebiet aber nicht unter kurpfälzischer Jurisdiktion stehend: „Vnd da sie den Zoll hat nit Ja, daß die Juris=diction darumb der Churf[ürstlichen] Pfaltz sein sollte“. Worms zählt im Folgenden die für sich beanspruchten Rechte auf, worunter etwa Forst und Jagdrechte, Fron und Musterung fallen 12, darüber hinaus auch Kirchensatz und Polizeiordnung 13. So bleibt also lediglich die Zent und malefizische Gerichtsbarkeit: „Wie dan nit Wehnigers wo die Sach Zentbar, Vnd also Malefitzisch, solche gleichfahls Vermög der Cam[mer]g[erich]ts Ordnung keins wegs hieher gezogen werden möcht, cum Jurisdictio quae non sit prorogari non possit“ 14 – doch „Zent Vnd diß Weidbueben Spil sunt separatae et diuersae species“ 15.

Verbott super moribus et disciplina publica zu Publiciren Vnd Promulgiren, gesetz Zugeben, Vnd daruff Zuhalten.“ Blatt 23. Siehe auch Blatt 32: „Dieweill doch oben ahngezeigtt d[aß] Churf[ürstliche] Pfalz in diesen fleckhen nicht allein die Hohe Landtsfürstliche Vnd Zentliche obrigkeit sondern auch daß KirchenRegiment Vnd exercitium religionis immediaté Vnd vnwidersprechlich Vff den heuttigen tag Habe, daran in Ruwiger Poßeßion seie […].“ 11 Die Kurpfalz pocht auf die „Hohe Zentliche vnd Malefizische obrigkeitt […], Deren der Herr Bischoff selbst nit in abredt sein kann, Derohalben er Keller alle vor gericht forkommende rügen Vnd straff=bare Malefizische fälle, vff die Zent, wie her=kommen, Vnd sich geburt weißen soll, So Vnder=stehet er sich dergleichen Malefizischen Sachenalß ehebruch, hurereÿ, vnd andere Vnzucht, deß=gleichen blutbare Wunden [etc.] fur sich selbsten Zuuergleichen Vnnd Zu entscheiden […].“ Blatt 37. Weiter beschwert man sich, dass verschwiegen worden sei, „waß der Churf[ürstlichen] Pfalz in dieser dreien Zent fleckhen außerhalb der hohen Zentlich[en] Malefizischen obrigkheitt, noch für andere herlich Vnd gerechtigkheiten d[er] Landtsfurstlich[en] Superioritaet anhangendt […]“ zustehen, und fordert, „dem Clagend[en] herrn Bischoff ferner ernstlich Vffzulegen vnd Zugebieten Der Churf[ürstlichen] Pfalz furohin an dem exercitio ihrer Jurisdiction keinen eintrag Zuthun“. Blatt 41f. 12 „So Ist der Wildpan, Forst, Vnd Jagens gerechtig=keit, Fron, Musterung, Wehr besüchtigung Vnd Besetzung, […].“ Blatt 51. 13 Blatt 53. 14 Blatt 55. 15 Ebd.

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II. Das Ritual „Diß Weidbueben Spil“ 16 – das Königreich, das die Weidbuben an Pfingsten abhielten – ist nur durch diesen langwierigen Gerichtsprozess, der eigentlich auf eine hundertjährige territorialrechtliche Streitfrage rekurriert, überliefert. Ihm ist eine Dokumentation und reflektierte Interpretation eines in seiner Zeit gängigen Rituals zu verdanken, die ohne diesen konkreten Anlass wohl nie entwickelt worden wären. Das heißt, das eigentliche Ereignis und die Reaktionen, die es hervorrief, treten uns gefiltert durch das Medium Gerichtsakte entgegen. Nun sind Prozess- und Ereignisebene aber analytisch voneinander zu trennen, Argumentationsstrategien, prozesstaktische Überlegungen wirken hier ein. Es entzündet sich ein Streit um die Deutungshoheit über das Ritual, weil die jeweilige Interpretation über die Legalität der obrigkeitlichen Reaktion entscheidet. Die im Prozessgang wechselseitig dargelegten Vorstellungen über dieses Ritual entwickelten sich im Detail erst in der Auseinandersetzung mit der Argumentation der Gegenseite. Im Prozessverlauf sind die Parteien auf der Diskursebene gezwungen, nicht genehme Sinnzuschreibungen zu entkräften und abzuwerten und gleichzeitig die eigene Stoßrichtung zu begründen und argumentativ zu untermauern. Andererseits existiert doch ein Zusammenhang zwischen der tatsächlichen Wahrnehmung des Rituals und seiner Darstellung im Prozessverlauf. Die, wie zu zeigen sein wird, auffallende Stringenz und Plausibilität der Argumentation auf beiden Seiten spricht gegen die Annahme willkürlicher Setzungen. Inwieweit aus den Ritualdeutungen auf die tatsächliche Gestalt des Rituals zu schließen ist, wird zu diskutieren sein. Aber es zeigen sich Momente, aus denen wir ersehen können, wie die Zeitgenossen das Königreich der Weidbuben wahrnahmen: nämlich völlig unterschiedlich. Eine Beschreibung des Königreichs anhand derjenigen Ritualteile, über die im wesentlichen Konsens herrschte, gestaltet sich entsprechend kurz: Es wurde ein König gewählt, er wurde anschließend ins Wasser geworfen, ein berittener Umzug nach Hemsbach fand statt und im Anschluss ein feuchtfröhliches Gelage. Die Elemente des Rituals sind also Wahl, Wasserwurf, Umzug/Prozession, Mahl. Die Details, sogar der genaue Zeitpunkt, sind bereits umstritten: Während sich die Weid-

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buben laut Wormser Darstellung am Montag nach Pfingsten trafen 17, besteht die Kurpfalz zunächst darauf, das Königreich sei am „Heiligen Pfingstag“ 18, direkt nach der Predigt, zelebriert worden. 1. Der Streit um die Symbolik des Rituals 1.1. Kurpfalz: „alleß zu spott des Heiligen Sacraments der Tauff“? Die kurpfälzische Argumentation gegen das Königreich der Weidbuben hebt entscheidend auf einen behaupteten Symbolgehalt des Rituals ab. Sie macht sich nicht an der Krönung eines Königs fest, sondern an dem, was mit dem Monarchen danach geschah: Das in der Sache auch von Wormser Seite bestätigte Ins-Wasser-Tauchen wird symbolisch als Taufe des Königs gedeutet, und die Pfalz erkennt darin die Verspottung eines Sakraments: „hernacher nach der Predig Vnder ihnen Durch sechs sonderlich darzu deputirte electores einen Konig wöhlen, Denn Zur schwein oder Pferdts weiden führen, Von dem gaull ins waßer hinab werffen, Vnd tauffen durch Zween, Welche sie Patten des Konigs nennen, alleß zu spott des Heiligen Sacraments der Tauff welchs billich bei Christen nit soll gehortt werden“. 19 Gerade die Benennung der „Patten“ ruft in besonderem Maße Empörung hervor und bewirkt ganz wesentlich die Einschätzung der Vorgänge als Taufspott, wenn im weiteren Prozessverlauf noch einmal darauf hingewiesen wird: „Vnd kann nicht verlaugnet wird[en], das in demselben neben anderer üppigkeit vnd leichtferttigkeit auch mit wortten vnd benennung der Patten [etc] des heiligen tauff gespottet werde, welche illusio rerum sacrarum dan durchaus nicht zu leiden ist […].“ 20 Die „Heilige Zeitt Deß Pfingsvests“, die eigentlich zu Gottesdienst und Andacht benutzt werden sollte, wird so „schandtlich mißbraucht“ und mit „dergleichen Faßnachtspiells profaniert“. 21 Andere Ritualelemente werden nicht auf ihren Symbolgehalt hin untersucht. So wird etwa der „Krönungsakt“ durch die sechs electores nicht explizit als eine Verspottung der Wahl des deutschen Königs durch die Kurfürsten des

17 „alß sie am pfingst Montag Ir wesen mit Irem König getrieben“. Blatt 2. 18 Blatt 26. 19 Blatt 26. 20 Blatt 99. 21 „Vnder welchem gottlosen Dollen Weßen Vnd Hauschieren neben dem daß Zuuorderst der heilig[en] Tauff gespottet, Vnnd die Heilige Zeitt Deß Pfingstvests, die Zu dem gottes dienst mit aller ahndacht sollte ahngewendett werden, schandtlich mißbraucht, Vnd mittahnstellung dergleichen Faßnachtspiells profaniert würdtt.“ Blatt 27.

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Reiches gesehen, obwohl eine solche Analogie durchaus naheläge. Ob diese deputierten Wähler des Königs von den Weidbuben jeweils für diesen Anlass gewählt wurden oder ob sie dieses Amt aufgrund ihres generellen Ranges in und außerhalb der Gruppe führten, bleibt unklar und wird nicht näher thematisiert. Der spezifische Modus der Königswahl wird also registriert, aber nicht in seiner Semantik ausgedeutet und wohl auch nicht als maßgeblich wahrgenommen, obwohl es eine Vielzahl von alternativen Wahlmöglichkeiten gab, die für Festkönige gängig und bekannt waren. Es bleibt festzuhalten, dass die Kurpfalz Wesen und Funktion der Symbolik des Rituals über Analogieschlüsse freilegt. Es wird interessant sein zu sehen, ob und wie die Kurpfalz diesen Deutungsansatz im Prozessverlauf weiterentwickelt. 1.2. Worms: Das Königreich ein „frëude spiehl“ der Jugend? Ganz anders geht Worms mit den Vorgängen um. Die einzelnen Ritualelemente werden nicht auf ihren symbolischen Gehalt hin geprüft, und wenn konstatiert wird, „Zu dem Daß bei diesen Weidbueben spil Zu glauben, od[er] nit, Kheines wegs ettwaß furgehet […]“ 22, spricht Worms dem Ritual eine symbolische Dimension sogar ganz ab. Folgerichtig wird der gebrandmarkte Taufvorgang aus diesem Blickwinkel zum Mittel der Proklamation, der Bekanntmachung der Wahl: „Vnd darmit solcher König bekant gemacht Vnd Proclamÿrt, pfleg[en] Sie denselben Ins Wasser Zu werffen Vnd mit Ime Her=umb Zureiten Vnd darmit Ir Kurtzweil Vnd Spil zu Haben“. 23 Dieser so spielerische Vorgang wird mit ähnlichen zeitaktuellen Phänomenen verglichen: „Vnd geschicht bei solchem Actu der Weidbueben dem Heilligen Sacrament der Tauff gar kein Spot, so wehnig Alß Wan Zum Newenschloß der Churf[ürstlichen] Pfaltz Zustendig nit weit von Hemspach gelegen, einer, welcher Niemahls daselbsten Vorhin gewesen, den Kolben Vmb daß Schloß tregt Vnd Im Anhenckhen dessen, derselbig statlich mit Wasser begossen, Vnd mit dem Jhenigen, so Von Newem In ein Collegium Angenohmen, alß der eines theils ortern der Vniversitet Jarsgebrauch, da ein Scholar Deponÿrt Vor=hin mit einem Becher mit Wasser beschuet Vnd ge=taufft wurdt […].“ 24 Hier wird ein Brauch angesprochen, der sich wohl auf das in Weinheim gelegene kurfürstliche Neue Schloss bezieht. Ein Besu-

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cher, der das Schloss zum ersten Mal betrat, musste demnach, bevor ihm Einlass gewährt wurde, zunächst einen Gewehrkolben ums Schloss tragen, und beim Einhängen desselben wurde er dann gründlich mit Wasser übergossen. Genaueres konnte zu diesem Brauch leider nicht in Erfahrung gebracht werden, wohingegen der zweitgenannte studentische Brauch, neueintretende Scholaren mit einem Becher voll Wasser zu besprengen, sehr weit verbreitet war. Diese akademische Deposition wird wissenschaftlich häufig unter dem Aspekt der Gewalt betrachtet. 25 Sie war, wie Marian Füssel deutlich gemacht hat, im 16.Jahrhundert, trotz gelegentlicher Kritik, ein sozial anerkanntes Ritual. Wurde sie im Mittelalter noch an den Bursen vollzogen, übernahmen nach deren Auflösung die Universitäten selbst den Vollzug der Deposition, wodurch sie zum öffentlichen Akt und festen Bestandteil der Aufnahme in die Universität wurde. Mit der Institutionalisierung wurde auch die Gewalt in den meisten Fällen mehr symbolisch als real vollzogen. 26 Andernfalls hätte Worms die Deposition auch kaum in Bezug zu den Hemsbacher „Wasserspielen“ gesetzt, denn es sollte ja gerade die Harmlosigkeit des Vorgangs verdeutlicht werden. Auch die Diversität der von Worms ausgewählten Beispiele verstärkt die Grundannahme einer fast schon nebensächlichen Bedeutung dieses Ritualteils, im Gegensatz zu der von der Kurpfalz so vehement vertretenen symbolischen Aufladung dieses Aktes. So plädiert man dafür, althergebrachte Traditionen zu belassen, wie sie sind. Ob es sich dabei um Aufnahmerituale der höfischen Ebene oder um die Aufnahme in eine ständische Korporation wie die Universität handelt, macht bei der Bewertung des Vorgangs letztlich keinen Unterschied. Die von der Gegenseite als Verspottung der Tau-

25 Zu den akademischen Depositionsriten vgl. Marian Füssel, Riten der Gewalt. Zur Geschichte der akademischen Deposition und des Pennalismus in der frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für historische Forschung 32, 2005, 605–648. So wurde, wie Füssel darlegt, der neueintreffende Student noch im 16. Jahrhundert in Köln, sobald das Stadttor durchschritten war, von den Depositoren in Empfang genommen, die sogleich mit Ruten über ihn herfielen, wo er dann dem sogenannten „examen generale“, einem langwierigen, mehrteiligen Ritual, unterzogen wurde, das nicht weniger gewalttätig ablief. Das Begießen des Kandidaten fand dabei laut Füssel nicht bei seinem Eintritt in die Stadt statt, sondern erst einige Torturen später, wenn er, nachdem er zu „Markte getragen“ worden war, von einem Arzt auf den Boden gelegt, mit einer Decke bedeckt und dann mit Wasser begossen wurde, woraufhin Rutenschläge ihn wieder zum Aufstehen zwingen sollten; ebd.606f. 26 Füssel, Riten der Gewalt (wie Anm.25), 632. Auch in den Statuten der Heidelberger Universität von 1559 und damit auf kurpfälzischem Territorium findet sich ein Passus zum Ort der Durchführung der Deposition; vgl. ebd.632. Selbst neugegründete protestantische Universitäten übernahmen das Ritual, da sie sonst wohl nicht als „richtige“ Universität gegolten hätten; ebd.614f.

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fe klassifizierte Bewässerung des Weidekönigs wird also im Verbund mit diesen Phänomenen gleichberechtigt unter den Riten der Initiation subsumiert. 27 Dies geschieht nicht durch die Ausdeutung der Semantik des Rituals, sondern durch den Vergleich der äußeren Erscheinungsform. Und von dieser wird wiederum auf das Fehlen eines prägnanten Sinnes des Zeichens „Wasser“ im rituellen Kontext geschlossen. 2. Die Funktion des Rituals 2.1 Kurpfalz: Die Verkehrung der Ordnung Für die kurpfälzische Seite enthüllt die Betrachtung der Semantik des Rituals seinen schädlichen, widerständigen und abzulehnenden Charakter, aus dem sich die Notwendigkeit des Verbots ableitet. Denn das Königreich der Weidbuben bewirkt, so die kurpfälzische Sicht, Unordnung: Die bestehende Ordnung wird verkehrt, die christliche Religion und Landesordnung werden verspottet. Die Deutung vollzieht sich zunächst durch Analogiebildung, indem das Königreich in Beziehung zu ähnlichen Festen der Antike gesetzt wird, genauer den Saturnalien und Lupercalienfeiern: „Dann solches kürzlich Zue describiren so will der herr Gegentheill, Daß sich an dem Heiligen Pfingstag alle Weidbuben der dreien Fleckhen zusamen samblen, sich Vor Vnd Vnder der Predig anfenglich Voll Vnd Doll trinckhen, Sackh Pfiffen Vnd andere Spiell vben, Vnd in Summa auff solchen Tag ihnen ein solche Lizenz Zugelassen werde Wie bei denn Heyden ahn den Saturnalibus den leibeigenen gestattet wurdt, alleß waß sie gelustett Vnuerhindert ihrer Herren anzufang[en] Vnd Zutreiben.“ 28 Der Verkehrungstopos wird damit durch den Rückgriff auf antike Feste

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Die Kurpfalz weist einen solchen Vergleich des Königreichs mit den universitären Depositionsbräu-

chen (zu deren Wert oder Unwert man sich an dieser Stelle übrigens nicht äußern möchte, was die kurpfälzische Einschätzung dieser Rituale umso deutlicher macht) als vollends „impertinent“ weit von sich, auch wird der Wormser Seite polemisch beschieden, dass die Vorgänge in diesem kurpfälzischen Schlosse sie überhaupt nicht zu interessieren hätten: „Belangend das Innstreuen, was Zum Neuen=schloß der Churf[ürstlichen] Pfaltz Zustendig, nit weitvon hemspach geleg[en], geschehe, gehört solches Hieher nit, gantz impertinenter vnd allein ad invidium angezogen, da gegentheil sich billich Zuerinnern Hett illius uulgati: in aedibus alienis mutum et caecum esse decet Vnd wurdt doch dasselbe verhoffentlich vom Herrn Gegentheil so lang vnreformirt pleiben, so lang bis er die Jenige Jura vndgerechtsame Zu gedachtem Neuenschloß bekom=met, welche die Churf[ürstliche] Pfaltz Zu Hemspach Sultzbach vnd Laudenbach Hatt vnd gebraucht.“ Blatt 100. 28

Hier die betreffende Passage im Ganzen: „Dann solches kürzlich Zue describiren so will der herr Ge-

gentheill, Daß sich an dem Heiligen Pfingstag alle Weidbuben der dreien Fleckhen zusamen samblen, sich

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als auszeichnendes Interpretationsmoment in das Ritual eingetragen, ganz so wie es die zeitgenössische Gelehrtendeutung auch bei anderen, strukturell ähnlichen Ritualen unternahm. 29 Auch das das Ritual beschließende Gelage, „ein freßen, Sauffen schlemmen Vnd dammen, auch danzen Vnd springen“ 30, verläuft nach Ansicht der Kurpfalz „nit anderst Wie bei den Heÿden in den Bachanalib[us] Vnd Lupercalibus die schandtlose Dolle Luperci Zu thun Pflegen“ 31. Das saturnalische Moment wird demnach in der Aufhebung von Disziplin und Ordnung gegenüber der Obrigkeit, aber vor allem gegenüber der Religion erkannt. Die Predigt, Kernpunkt des protestantischen Gottesdienstes, wird gestört, der Feiertag durch ungebührliches Verhalten profaniert und damit Christus nicht die ihm gebührende Demut und Observanz erbracht. Bestand die antike Verkehrung der Ordnung in der zeitlich begrenzten Umkehr des Verhältnisses von Sklave und Herrn, besteht sie hier in der Missachtung des christlichen Feiertags. Das Verhältnis zwischen Christus und seinen Gläubigen wird verspottet und gleichzeitig verkehrt; es steht damit im Gegensatz zur christlichen Landesordnung. Diese, bezogen auf die Gesellschaft destruktive Wirkung des Rituals wird den Akteuren auch als bewusste Motivation unterstellt. Von einer positiv besetzten Funktionalität desselben kann also nicht die Rede sein. Im Ritual brechen sich niedere Instinkte Bahn, lustbestimmtes Handeln greift um sich, das in diesem Kontext als Ausdruck von Widerständigkeit gegen die christlich verankerte Lebens- und Landesordnung gedeutet wird.

Vor Vnd Vnder der Predig anfenglich Voll Vnd Doll trinckhen, Sackh Pfiffen Vnd andere Spiell vben, Vnd in Summa auff solchen Tag ihnen ein solche Lizenz Zugelassen werde Wie bei denn Heyden ahn den Saturnalibus den leibeigenen gestattet wurdt, alleß waß sie gelustett Vnuerhindert ihrer Herren anzufang[en] Vnd Zutreiben, hernacher nach der Predig Vnder ihnen Durch sechs sonderlich darzu deputirte electores einen Konig wöhlen, Denn Zur schwein oder Pferdts weiden führen, Von dem gaull ins waßer hinab werffen, Vnd tauffen durch Zween, Welche sie Patten des Konigs nennen, alleß zu spott des Heiligen Sacraments der Tauff welchs billich bei Christen nit soll gehortt werden, furters mit fligendem fahnen (daran Bischoff Von Wormbs Vnd Churf[ürstlicher] Pfalz wappen gemahlet) Zu Hembspach mit ettlich Pferden einreiten, eins theils den Konig Zue fueß begleitten, als seine Trabanten Vnd alßdan ein freßen, Sauffen schlemmen Vnd dammen, auch danzen Vnd springen anfahen, nit anderst Wie bei den Heÿden in den Bachanalib[us] Vnd Lupercalibus die schandtlose Dolle Luperci Zu thun Pflegen.“ Blatt 26f. 29 Vgl. dazu ausführlich den Aufsatz von Dominik Fugger in diesem Band. 30 Blatt 26f. 31 Ebd.

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2.2 Worms: Das Königreich als „guet Regiment“ Zu einer gegensätzlichen Interpretation der Funktion des Rituals kommt wiederum die Wormser Seite: Die Wahl des Königs sei, so das Wormser Kernargument, nicht religiös konnotiert, sondern rein funktional fundiert: „So erwehlen die Weidbuben Vnder Inen, weil sie tag Vnd nacht Vffm Veld der Pferdt hüeten mueßen, einen König daß Zucht Erbarkeit bei Vnd Vnder Inen erhalten, welchs sonsten nit beschehen, Alß auch wo einer mit Vngebüer begrieffen, Zil Vnd maß Irer Ordnung vberschritten, wurdt ein solcher Vnder Inen gestrafft, auch die Weid Vnd ge=marcken durch sie für frembde Vnd Heimbsche, Weil sonsten Keine Schützen Vnd Hüeter derentz Vnd Herumb sein, gehandhabt, daß also Auß vnd Vom Hauffen der Bueben, der Jhenig so am tauglichsten gezogen.“ 32 Die Weidbuben selbst wählen also einen König aus ihrer Mitte, weil er „Zucht“ und „Ehrbarkeit“ innerhalb einer Gemeinschaft aufrechterhält, die Tag und Nacht auf dem Felde ist. Die Jungen sind aufeinander angewiesen, müssen als Gruppe funktionieren und sich auch nach außen schützen. So wird der König zum systemstabilisierenden Faktor, der die Erhaltung von „Maß und Ordnung“ gewährleistet. Und da er sich aus der Gruppe rekrutiert und von ausgesuchten Mitgliedern gewählt wird, fällt die Wahl stets auf den Tauglichsten unter ihnen, den für das Amt geeignetsten. Allein der Umstand, dass dieses Königreich so lange schon toleriert, von „beambten, Iren Eltern Vnd Meistern“ gutgeheißen und mitgetragen wurde, entkräftet nach bischöflichem Verständnis das Argument vom heidnischen und gotteslästerlichen Wesen des Rituals. Ganz im Gegenteil leitet nach der Wormser Lesart dieses Königreich zu diszipliniertem und ehrbarem Handeln in Theorie und Praxis an und scheint also im Ganzen, wie man heute sagen würde, eine pädagogisch höchst wertvolle Einrichtung darzustellen: „Vnd müeßen die Jungen etwas Iren König In Achtung nehmen, daß also diß Wesen Vnd Handlung zur disciplin, Erbar=keit Vnd Handhabung deß einen Vnd deß Andern, Nutz=lich, fürstendig, Vnd dienstlich, dan man sonsten solang diesem Konigreich nit Zugesehen, noch so lang gewehrt.“ 33 Das Königreich als „officio Vnd guet Regiment“ 34 ist demnach eine Ordnungsstruktur, eine selbstgegebene Verfassung „mit aigne leges, gesatz Vnd Ordnung“ 35,

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die das Gefüge nach innen strukturiert und nach außen schützt. Ohne diese Selbstverwaltung drohe, so die hier geäußerte Überzeugung, „schaden, Zerrüttung Vnd Confusion […], Daß Jetweder ohne ge=scheücht waß Ime gefählig thun möchte, Solchem allem diesem Vnwesen durch der Weidbueben König gesteurt Vnd begegnet“. 36 Worms negiert eine Semantik des Rituals, da die klare funktionale Ausrichtung wohl weniger einer symbolischen Ausdeutung bedarf. Oder anders gesagt: Die Zuschreibung einer Funktionalität des Rituals scheint seine Affirmation (Ordnungstopos) zu bewirken, während die Setzung und Betonung einer Symbolik der Negation (Verkehrungstopos) dient. 3. Die Tradition des Rituals. Consuetudo oder „ein heidenischer Mißbrauch“? Da der Ursprung des Rituals ganz wesentlich über seine Existenzberechtigung entscheidet, entfaltet sich auch in dieser Frage eine rege Debatte, die sich auf zwei Argumente stützt: Worms zieht sich auf die Gültigkeit des Gewohnheitsrechts zurück und operiert mit dem Rechtsinstitut der consuetudo, wenn festgestellt wird, dass sich das Königreich auf einen Zeitraum von „Zehen, Zwantzig, Dreissig, Viertzig, fünfftzig, sechtzig lenger Vnnd mehr Jaren, dann seit Menschengedencken erstrecken möchte“. 37 Demgegenüber gründet die kurpfälzische Argumentation, wie gesehen, auf dem Nachweis des heidnischen Ursprungs des Rituals. Dieser wurde mittels Analogiebildung erbracht. Das Königreich rührt demnach von heidnischen Fest- und Feierge36 „Weil dan gegentheil selbsten bekent daß der Weid=bueben 36. gewesen, diß ein Zimblich Anzal Jungge sind Vnd ohne daß Muetig, freudig, Vnt Seltzam, darmit sie Vff Jemandts ein Vffsehens Vnd forcht Hetten, Vnd Sie in officio Vnd guet Regiment, Vnder Vnd bei Inen vffm Veld, da niemand sonsten Vmb oder bei Inen Webert Vnd wohnt, Zu tag Vnd nacht were gehalten, Ist nit so Vnzeittig Von langen Jarn es mit diesem König bei den Weidbueben Herkomen, Als welche aigne leges, gesatz Vnd Ordnung, darüb[er] sie Steiff halten et id non illicitum alß da ge=meinlich geschicht in collegÿs Vnd Im schüeßen, Dan sonsten müeste man nichtzit Anderst Zugewahrten Haben, dan großen schaden, Zerrüttung Vnd Confusion Muet Vnd aignen willen, Daß Jetweder ohne ge=scheücht waß Ime gefählig thun möchte, Solchem allem diesem Vnwesen durch der Weidbueben König gesteurt Vnd begegnet. Die Hemspacher Vnd Lauden=bacher Weid, die sich dan gantz weit erstreckt Vor frembd[en] Vieh Vnd Pferden gehandhabt wurdt. Deßwegen dan den Weidbueben Ir Kurtzweil Vnd Spil Ihres Königs nit so Höchlich, so ohne ärgernuß Zugehet Zu exaggerÿren et in ludo inquit Luc. de penn. d. 1. vn. C. de Maium, magis arguit excessus quam defectus, et recitat ibi locum ex Cic. lib. 1. de off. Imaßen Es diß=fahls id genus Jocandi non profusi nec immodesti getrieben, sonsten solchs den Weidbueben, von dem Keller Iren ältern Vnd Weitern nit paßÿrt.“ Blatt 60f. 37 Blatt 2.

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wohnheiten (Saturnalienfeiern, Bacchanalen und Lupercalienfesten) her und besitzt keinerlei christliche Wurzeln. Dieser Nachweis ist von entscheidender Bedeutung, denn Gewohnheitsrecht greift in diesem Falle nicht, da es sich damit um eine mala consuetudo handeln würde. Entsprechend ungehalten reagiert die Kurpfalz auf das Wormser Traditionsargument: „Vnd ist nit gnug d[aß] Vom Herrn Inspectanten furgeben wurdt solch werckh Vonn alters heer Vnd langer dan sich mensch[en] gedenckh[en] erstreckt, hie geübet Vnd getrieben worden Dan solches gesezt doch Vngestanden Wie dan nit gahr Vn=glaublich, d[aß] Von den Vnglaubigen Heÿden solche schone Ceremoniae Vnd spectacula ihren Vrsprung haben, So weiß man doch, quod nec antiquitas nec consue=tudo excusat praeuitatem, et quod turpitudo eo deterior est.“ 38 Aus kurpfälzischer Sicht scheint es also geradezu absurd, die Existenz eines Brauchs mit seiner langen Tradition rechtfertigen zu wollen, da dies ja die Tolerierung heidnischer Traditionen mit einschließen würde. Worms entkräftet diese Ursprungstheorie, indem es die eigene Traditionsargumentation zeitlich einschränkt: „Daß aber Daß Jhenige so die Weid bueben treiben Ein Heidenischer Mißbrauch, vnd Aberglaubische Vppigkeit seie, Khonden wir nit sehen, wie solchs Immer Zuer Zwingen, Daß Diese Ding von heiden, Vnnd also von vil hundert Jarn herrueren, Vndso lang biß an Jetzt, wan Es so gar Vnrecht gewesen, sich hette Continuiren sollen.“ 39 Demnach kann das Königreich also keine heidnischen Wurzeln haben, denn eine kontinuierliche Überlieferung von der Antike bis zur Gegenwart scheint schwer vorstellbar und geradezu ausgeschlossen, wenn es sich dabei auch noch um einen anstößigen, unrechten Brauch handeln sollte. Daraus folgt eine Ablehnung des kurpfälzischen Erneuerungsbedürfnisses und der Verbotsstrategie: „Vnd geschicht vff daß In Veränderung man Vndersteet Vnd getrawet ein ding Zuuerbessern Vnd nichtzit Anderst Auß gericht, dan daß Zu Zeiten ein Ärgers Hernach anstat ervolgt, gepflantzt gebawet Vnd eingefüert würdt.“ 40 An althergebrachten Traditionen ist also besser nicht zu rühren, denn erst das Eingreifen, der Wille zur Veränderung, bringe die eigentliche Unruhe. Die wormsische Argumentation legt damit besonderen Wert auf die Rechtmäßigkeit des Rituals. Deshalb werden noch einmal ausführlich die Rahmenbedingungen des Rituals erläutert; es wird betont, dass die Weidbuben vorab beim Keller von Hemsbach um eine Genehmi-

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gung „diß Spil anzufangen angesucht“ hatten, dieser dann auch die das Ritual kennzeichnende Mitführung von Fahnen abgesegnet habe. Und diese Fahnen hätten die Buben nach dem Spiel ordnungsgemäß wieder bei ihm abgeliefert. 41 Worms weist auch nach, dass die Weidbuben den Termin des Rituals in früheren Jahren mit den lokalen Autoritäten abgesprochen hatten. 42 In diesem Zusammenhang ist wieder die Kennzeichnung des Rituals als „Spil“ von entscheidender Bedeutung, wird doch mit der Behauptung des Spielcharakters die Harmlosigkeit und Friedfertigkeit des Ganzen betont. So ergibt sich für Worms, dass die Pfälzer Seite hier ganz unnötig eine Tragödie heraufbeschwöre. 43 Diese behauptete Rechtmäßigkeit des Rituals aber sieht die kurpfälzische Argumentation mit der Enttarnung des heidnischen Ursprungs als hinfällig an. Und so wird für die kurpfälzische Seite der Umgang der christlichen Herrscher Roms mit derlei heidnischen „Überresten“ zur handlungsleitenden Prämisse. Denn ein Edikt aus einem römischen Rechtskodex liefert die zusätzliche rechtliche Begründung für das Verbot: „Wie dan in gleichem fall die Christliche Keÿser Arcadius et Honorius ein gleichmeßig Spiell, Maiuma genandt, q[uod] mense Maio magna licentia et procatibate usurpabatur teste suida, Darumb genzlich Vffgehoben Vndt abgeschafft haben.“ 44 Das Maiuma-Fest war ein in der Spätantike im Monat Mai vor allem in Kleinasien (Antiochia, Nikäa, Tyre) bezeugtes nächtliches Lichterfest, an dem vor allem theatralische Wasserspiele stattfanden, die rauschhaft-orgiastische Ausmaße annehmen konnten. 45 Unter den christlichen Kaisern in Verruf geraten, wurde das Fest un-

41 Blatt 2. 42 „dan diß Ist erdicht, gestalt der Weidbueben Meinung Ist, nit eben wie Es Auch Inen vrbotten, noch gestattet, Am Sontag diß Ir Spil anzufangen, Zuuerhinderung der predig, sonder Sie haben solchs am Montag, wie gegentheil selbsten sagt, fürgenohmen Auch man sich dahin erklert, da dem Predicanten Zu Hemspach, solchs am Montag entgegen, daß mans am dienstag oder einem Andern tag anstellen wolte, wie dan der Predicant Zu Hemspach selbsten Im Jar dafür, an Keller Vnd Schultheißen sovil gelangen laßen, man solt Allein Am Pfingstag daß raiten der Weidbueben ein stellen, Vnd es darnach am Montag, Dienstag oder Mitwoch treiben.“ Blatt 56f. 43 „Daß sich wolzu befrembden, Warumb man Doch Jetzt so ein Tragodi, Vnnottwendigerweiß hier= außer erwecken Darff“. Blatt 16f. 44 Blatt 27f. 45 Geoffrey Greatrex/John W. Watt, One, Two or Three Feasts? The Brytae, the Maiuma and the May Festival at Edessa, in: Oriens Christianus. Hefte für die Kunde des christlichen Orients 83, 1999, 1–21, hier 17f. Sehr viel Spezifischeres zu Ursprung oder Ablauf scheint nicht belegt zu sein. Nach Greatrex/Watt liegt der Ursprung des Festes möglicherweise in Syrien und ist im Zusammenhang mit Fruchtbarkeitskulten zu sehen, aber auch ein Bezug zu Kulten des Dionysos oder der Aphrodite scheint möglich (ebd.20).

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ter Arcadius und Honorius 399 verboten; dieses Edikt hatte aber wohl nicht sehr lange Bestand, im 5.Jahrhundert fand das Fest schließlich noch in Edessa und Konstantinopel statt. 46 In der Zügellosigkeit und Frechheit aber, mit der dieses Fest begangen worden sei, erkennt die Pfälzer Seite eine Parallele zu den Hemsbacher Vorgängen. Dort wie hier konnte und könne nur ein Verbot die Ehrfurcht vor den frommen Sitten noch erhalten und vor törichten und damit im Sinne moralisch-ethischer Richtlinien „bösen“ Handlungen schützen. Denn, so die Argumentation, der Mensch brauche eine durch seine Vernunft gesetzte Grenze, die ihn vor törichtem Handeln schütze und vor der Sünde der vanitas bewahre. Sonst drohe Ärgernis, Zügellosigkeit und Verderbtheit der Sitten. 47 Dies zu erkennen und nach umfassender Analyse des Wesens und des Ursprungs des Gegenstandes ein angemessenes Urteil zu treffen, liegt also in der Verantwortung des christlichen Landesherrn, der „neben Vortpflanzung d[er] wahren religion auch den wollstandt seiner Landen und guette Vnärgerliche discplin Zu Procuriren“ habe. 48 Ob ein Brauch sich nun allseitiger Beliebtheit und positiver Resonanz erfreue, die consuetudo ihn also bestätige, ist, so die kurpfälzische Überzeugung, für seine Beurteilung daher völlig unmaßgeblich. Deshalb seien die „alten mißbräuchen Vnd Vnordnung[en] so albereit durch Churf[ürstlicher] Pfaltz Publicirte Policeiordnung vnd alerlei ergangene specials beuelch der gebuer abgeschaftt worden“. 49 Andernfalls würde das Land auch „endtlich vf den alten paganis=mus gar wieder gerathe[n]“. 50 Mögliche Vorwürfe von Tyrannis oder obrigkeitlicher Willkürentscheidung sollen also mit dem Verweis auf die christlichen Herrscher Roms ausgeräumt werden 51, die hier als Legitimationsgrundlage fungieren. Während Worms also von der Rechtmäßigkeit des Rituals ausgeht und die Möglichkeit seines heidnischen Ursprungs aus einer gleichsam positivistischen Argumentation heraus ablehnt und damit dem kurpfälzischen Verbot den Boden entziehen möchte, entwickelt die kurpfälzische Seite eine genetische Herleitung des Rituals, die den christlichen Landesherrn, auf dem Boden des römischen Rechts, zu einem Verbot geradezu verpflichtet.

46

Greatrex/Watt, One, Two or Three Feasts? (wie Anm.45), 20.

47

Vgl. Blatt 28f.

48

Blatt 25.

49

Ebd.

50

Blatt 97.

51

„Damit sie dannit Tÿranni (wie gegen Anwaldt ex Saticeto ganz vnbedachtsam furgeben thutt) son-

dern optimi et Christissimi Principes gehaltten vnd genent word[en].“ Blatt 95.

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4. Ordnung und Verkehrung als unterschiedliche Ritualentwürfe Die kurpfälzische Argumentation beruht ganz wesentlich auf der Annahme, dass Rituale eine feststehende Bedeutung haben. Aus ihr ergibt sich die Funktion des Rituals, die sich im Hemsbacher Fall als unerwünscht darstellt. Dieser Befund wird durch die genetische Herleitung noch bekräftigt – der protestantische Landesherr kann hierauf nur mit Verbot reagieren. Der Ordnungstopos der Wormser Seite beinhaltet dagegen eine funktionale Argumentation, die im König eine notwendige Ordnungsinstanz erkennt, der ganz konkrete Aufgaben zukommen; seine Befehlsgewalt schützt die Gruppe, und seine Amtsgewalt beruht auf seiner Ernennung durch die Gruppe. Das jährliche Ritual der Amtseinführung erzeugt also Gemeinschaft, und die Gruppe stellt sich nach außen dar. Eine Semantik des Rituals, etwa die Verbindung mit dem Pfingsttermin, wird dabei nicht in den Blick genommen. Die Frage, warum man sich jeder religiösen Sinnzuschreibung und konfessionellen Argumentation enthielt, ist, gerade im Kontext des kurpfälzischen Verkehrungsparadigmas, sehr berechtigt. Bedeutet denn das Nachspielen eines Sakraments (Wasserwurf-Taufe) immer die Verkehrung desselben? Kann ein solches Tun nur dadurch rehabilitiert werden, dass ihm die religiöse Sinnebene gänzlich entzogen wird? Oder hat man in Hemsbach/Worms aus unmittelbarer Nähe betrachtet einen religiösen Gehalt nicht wahrnehmen können? Dass die Zeitgenossen ihre Festkönige (auch) religiös konnotierten, kann durchaus belegt werden. So weist Dominik Fugger nach, dass die Zeitgenossen im populären Fest des Bohnenkönigs zu Epiphanie das Königtum Christi als heortologischen Bezugspunkt erkannten oder die eschatologische Verheißung auf das kommende Königreich Gottes sahen. 52 Auch im hier vorliegenden Fall wird das „Fest“-Königtum der Weidbuben nie als Verspottung tatsächlicher königlicher Herrschaft interpretiert. Die katholische Seite entwirft hier allerdings ein Modell des Rituals, das auf (konfessionelle) Glaubensinhalte bezogene Symboliken penibel ausklammert. Dem vergleichsweise herangezogenen Depositionsritual kommt aus dieser Perspektive die gleiche Funktion zu wie dem jährlichen Königreich der Weidbuben. Darüber hinaus wird die Möglichkeit, von der Semantik des Rituals mittels Analogien auf seinen Ursprung zu schließen, abgelehnt, genauso wie die Möglichkeit einer bruchlosen Überlieferung von Traditionen über mehrere Jahrhunderte hinweg verneint wird. 52 Dominik Fugger, Das Königreich am Dreikönigstag. Eine historisch-empirische Ritualstudie. Paderborn 2007.

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Entsprechend werden keine Alternativmodelle zu der von der kurpfälzischen Seite behaupteten heidnischen Herkunft des Rituals entwickelt. In der Betrachtung der unterschiedlichen Ritualentwürfe wird die Stringenz der Argumentation auf beiden Seiten deutlich. Die Argumentationsketten scheinen nicht willkürlich, die Vergleichsgrößen, die auf beiden Seiten herangezogen werden, zeugen vielmehr von einer Beschäftigung mit dem Gegenstand und scheinen der Wahrnehmung des Rituals zu entsprechen.

III. Ordnung versus Verkehrung: Ein Abgleich Die Wormser Analyse fügt sich, obwohl sie keine Parallelen zu zeitgenössischen Königsphänomenen zieht, dennoch in Ansätze der neueren Forschung, die verstärkt die Erscheinungsformen und Funktionen verschiedener Festkönige in Mittelalter und Früher Neuzeit untersuchen. 53 Nach der von Torsten Hiltmann aufgestellten Unterscheidung zwischen Festkönigen, deren Würde und Amtsgewalt nur innerhalb eines bestimmten Ritualrahmens zum Tragen kommen, und jenen, deren Funktion darüber hinaus auch institutionell verankert ist (wobei die Grenzen hier fließend sind), wäre aufgrund der Wormser Beschreibung und Argumentation der König der Weidbuben eindeutig in die letzte Kategorie einzuordnen. 54 Die Regentschaft von Festkönigen, wie Dominik Fugger etwa für den Bohnenkönig festgestellt hat, konstituierte sich durch verschiedene Auslesemodi: Den wenigen Fällen einer echten Wahl steht eine große Mehrheit unterschiedlicher Losverfahren gegenüber. Das heißt, der Zufallsentscheid bildete ein ganz wesentliches Ritualelement, wenn das Los den König bestimmte. 55 Im Falle des Hemsbacher Pfingstkönigs scheint der Aspekt der Wahl viel entscheidender, da hier, wie die wormsische Darstellung ausführlich darlegt, die Idoneität, die Eignung des Gewählten, im Mittelpunkt steht. Aus der Fülle möglicher Wahlverfahren wird hier die übertragene Wahl durch sechs deputierte electores angewendet. Gehen wir von der Existenz der deputierten Königswähler aus, so ergibt sich ein Bild vom König als primus inter pares, der sich

53

Torsten Hiltmann (Hrsg.), Les „autres“ rois. Études sur la royauté comme notion hiérachique dans la so-

ciété au bas Moyen Âge et au début de l’époque moderne. Oldenburg 2010.

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54

Vgl. dazu den Beitrag von Torsten Hiltmann in diesem Band.

55

Fugger, Das Königreich am Dreikönigstag (wie Anm.52), 53.

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aus der Gruppe konstituiert und ihr Bestand und Ordnung verleiht. Inwieweit dieses Idealbild auf die konkreten Hemsbacher Verhältnisse zutrifft, kann hier nicht geklärt werden; als interpretatorischer Ansatz innerhalb des Ordnungstopos kann er aber dem kurpfälzischen Entwurf vom Narrenreich und Fastnachtsspiel der Weidbuben entgegengesetzt werden und den Wormser Ordnungstopos verstärken. Fragt man nach der zeitgenössischen Wahrnehmung ähnlich gelagerter Rituale über die Festkönigserscheinungen hinaus und betrachtet vergleichbare historische Fallbeispiele, welche die in der Argumentation des Wormser Bischofs so zentrale Ordnungsfunktion des Königreichs der Weidbuben stützen könnten, stößt man auf auffällige Parallelen zu den sogenannten Jugendabteien, wie sie auch Hiltmann erwähnt und vor allem Natalie Zemon Davis für Frankreich beschrieben hat. 56 Auch hier tritt das Moment des Zusammenschlusses und der Organisation jugendlicher Gemeinschaften, wie sie vor allem in Dörfern, in ländlichen Gebieten verbreitet waren, hervor. Diesen dörflichen Jugendgemeinschaften, die sich vor allem aus der ledigen, männlichen Dorfjugend zusammensetzten, kam partiell eigene Gerichtsbarkeit zu, die sich speziell auf die Aufsicht über die heiratsfähigen Mädchen des Dorfes bezog. Sie verfügten über ein bestimmtes Repertoire an Strafen, zu denen auch das Eintauchen in Wasser gehörte; es sind Strafrituale und -investituren überliefert, die auffälligerweise vor allem im Monat Mai stattfanden. Versucht man auf Basis dieser Erkenntnisse eine noch spezifischere vergleichende phänomenologische Analyse des Hemsbacher Pfingstrituals der Weidbuben, stößt man auf eine unüberschaubare Fülle von augenscheinlich ähnlichen Wahlund Investiturvorgängen, „Wasserspielen“ und Umzügen, die an Pfingsten stattfanden. Schließlich markierte der Feiertag traditionell auch den Beginn der Weidesaison; vielerorts beging die Hirtejugend ihre traditionellen Umritte. Auch findet sich eine Vielzahl von Bräuchen, die im Zusammenhang mit den an diesem Termin stattfindenden Heischeumzügen stehen, in deren Mittelpunkt unterschiedlich benannte „Pfingstl“-Gestalten standen: Eine mit Stroh oder Laub hergerichtete Person wurde hierbei als Naturgestalt von ihrem Gefolge durchs Dorf geführt. 57 Daneben treten Pfingstbraut, Pfingstkönig, Pfingstlümmel, eben unterschiedlich benannte, von der

56 Natalie Zemon Davis, Die Narrenherrschaft, in: dies., Humanismus, Narrenherrschaft und die Riten der Gewalt. Gesellschaft und Kultur im frühneuzeitlichen Frankreich. Frankfurt am Main 1987, 106–135. 57 Marianne Sammer, Zeit des Geistes. Studien zum Motiv der Herabkunft des Heiligen Geistes an Pfingsten in Literatur und Brauchtum. (Studien zur Theologie und Geschichte, Bd. 15.) St. Ottilien 2001, 124.

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Gemeinschaft ausersehene und für diesen Tag in dieser Rolle agierende Personen auf 58, der Pfingstkönig vor allem im süddeutschen Raum, in Bayern und Österreich. Der Wurf ins Wasser fungiert auch in ähnlich gelagerten Pfingst-, aber auch Osteroder Faschingsbräuchen 59 meist als Strafe, in Wettkampfsituationen als Verspottung des Letzten, fast nie als Ehrung des Besten. Hinweise auf einen als Nachahmung des Taufritus zu verstehenden Akt finden sich kaum. 60 Es scheint sich also, obwohl all diese Phänomene gemeinhin unter den Pfingstbräuchen subsumiert werden, um völlig heterogene Bräuche zu handeln, die lediglich den Termin gemeinsam haben. Tatsächlich sprechen auch die Prozessgegner immer nur vom Königreich der Weidbuben, auf beiden Seiten wird zur Beschreibung und Einordnung des Vorgefallenen nie auf ähnliche Pfingstbräuche verwiesen, die doch in dieser Zeit sehr weit verbreitet waren. Das Treiben der Hemsbacher Weidbuben wird also in keiner Weise mit den kalendarisch gängigen Bräuchen in Verbindung gebracht, sondern ganz spezifisch in die Kategorie der Festkönige sortiert. Dementsprechend finden sich die phänomenologisch engsten Parallelen zum Hemsbacher Königreich auch bei einem im Elsässischen begangenen Königreich, das nicht im Zusammenhang mit Pfingsten steht, sondern am 1. Januar, am Tag der Beschneidung des Herrn begangen wurde: Die Colmarer Annalen berichten für das Jahr 1304 vom König der Winzenheimer Bauern, der mit seinen dreizehn Würdenträgern und dem Birnentruchsess im bloßen Hemde „unter der Brücke durch das

58

Für Thüringen ist etwa der sogenannte Laubkönig und die Wahl des Schößmeier überliefert; dabei re-

krutierte sich der Schößmeier in der Regel aus der dörflichen Jugend. So benennt die älteste schriftliche Quelle, ein Visitationsbericht aus Allstedt von 1655, mit dem „Schießmeyer, denjenigen, der das Wettreiten der Knechte am 2. Pfingsttag verliert und als Strafe nur mit Schilf bekleidet ins Wasser geworfen wurde“. Siehe dazu Ingeborg Weber-Kellermann, Laubkönig und Schößmeier. Geschichte und Deutung pfingstlicher Vegetationsbräuche in Thüringen, in: Jahrbuch für Volkskunde 4, 1958, 366–385, hier 377. 59

Schon der Erfurter Zuchtbrief von 1351 verbietet: „149. Das niemant den andern in das Wasser trage.: Vn-

ser hern verbieten auch, das niemant zu Ostern, zu Pfingsten, noch zu keiner andern Zeit den andern in das Wasser tragen oder werffen sal, als dicke sal er x Schillinge geben. Vermag er des geldes nicht, so sal er sein buess leyden in dem stocke.“ Zitiert nach der Edition von Eduard Förstermann (Hrsg.), Neue Mittheilungen aus dem Gebiet historisch-antiquarischer Forschungen. Bd. 7/2. Halle 1844. 60

So berichten etwa die Annalen des Kremser Jesuitenkollegs 1672 von einem „Pfingstkönig“, einem „re-

gis ludi sive des Pfingstkönig“, der mit Zweigen bekleidet und geschmückt auf ein Pferd gesetzt und begleitet von 40 Reitern schließlich unter Gelächter der Zuschauer in eine Wassergrube geworfen wurde. Siehe dazu Nikolaus Grass, Royaumes et Abbayes de la Jeunesse. „Königreiche“ und „Abteien“ der Jugend, in: Louis C. Morsak/Markus Escher (Hrsg.), Festschrift für Louis Carlen zum 60. Geburtstag. Zürich 1989, 411–459, hier 455.

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Wasser ziehen [musste,] um so zu erproben, ob er der königlichen Ehren wert sei“. 61 Der König wird von einem Hofstaat begleitet, der Zug durch das Wasser wird in der Art einer Mutprobe begangen. Nicht eine Strafe wird hier vollzogen, sondern vielmehr die Idoneität des gewählten Königs erwiesen. Von einer Verspottung oder bewussten Taufimitation ist in den Quellen nichts zu vernehmen. Das Hemsbacher Königreich weist mithin auffällige Parallelen zu Festkönigen dieser Zeit auf. Gleichzeitig bieten sich Analogien zu dörflichen Jugendorganisationen, die für die Frühe Neuzeit vermehrt überliefert sind. Letztlich wäre es also möglich, auf Basis der Wormser Beschreibung den Vorgang kategorial hier einzuordnen und die Ereignisse als Ausdruck einer Ordnungsstruktur, der „Selbstverwaltungseinheit Weidbuben“, zu interpretieren. Gleichzeitig finden sich Parallelen zu einzelnen in der Zeit zwischen Weihnachten und Epiphanie begangenen Königreichen. Hingegen kann kein direkter Zusammenhang zu spezifischen Pfingstbräuchen hergestellt werden, und es gibt keinen Hinweis, dass er von den Zeitgenossen gesehen wurde. Ist damit der Spottdeutung der kurpfälzischen Seite schon der Boden entzogen oder lassen sich Argumente für diese „widerständige“ Interpretation und damit für den Verkehrungstopos des Rituals finden? Tatsächlich handelt es sich beim Saturnalientopos zunächst um ein gängiges Deutungsmuster und Interpretationsmodell der protestantischen Landesherrn der Frühen Neuzeit, die verbotsorientiert argumentieren wollen, um religiös-landesherrliche Interessen durchzusetzen. 62 Im Zuge der Konfessionalisierung drangen religiöse Argumente vermehrt in politische Diskussionen. Gleichzeitig ist die Antike gängiges Referenzmodell in der Gelehrtenkultur seit der Renaissance. Es ist zu untersuchen, wo und ab wann sich diese Deutungsmuster durchsetzen. In der Forschung wird darauf verwiesen, dass Vergleiche mit ähnlichen Braucherscheinungen antiken Ursprungs im 15. und 16.Jahrhundert bei den deutschen Humanisten im Sinne polemischer Ablehnung auftauchen, meist werden Begriffe wie „Bacchanalia“ oder „Saturnalia“ verwendet, wenn der deutsche Begriff „Fasnacht“ ins Lateinische übertragen werden soll. 63 So beschrieb Sebastian 61 Fugger, Das Königreich am Dreikönigstag (wie Anm.52), 22. Quelle in MGH SS 17, 229f. 62 Vgl. dazu den Aufsatz von Dominik Fugger in diesem Band. 63 Werner Mezger, Antike Motive und Elemente in der Fasnacht des Spätmittelalters? Zu Kontinuität und Diskontinuität der Traditionen des klassischen Altertums, in: Sigmar Döpp (Hrsg.), Karnevaleske Phänomene in antiken und nachantiken Kulturen. Stätten und Formen der Kommunikation im Altertum I. (Bochumer Altertumswissenschaftliches Colloquium, Bd. 13.) Trier 1993, 239–259, hier 242.

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Franck in seinem Weltbuch von 1534 Fastnacht als einen Brauch „nit seer ungleich den Heydnischen Lupercalischen Festen / welche von der Roemischen jugent etwan dem abgott Lycco Pani zu Rom gehalten worden“. 64 Hermann Wiegand spricht von einer „Indienstnahme von Fastnachtskritik im Horizont der Religionsstreitigkeiten der frühen Neuzeit“ 65, wobei dem „Rekurs auf antike Motive nicht selten eine bestimmte Argumentationsfunktion“ 66 zukomme. Vor allem Analogien der römischen Lupercalien zum Fastnachtsgeschehen scheinen schon fast Wissensstandards der Gelehrtenkultur. Allerdings ist zu beachten, dass sich die kurpfälzische Kritik an den Weidbuben nicht mit dem bloßen summarischen Verweis auf die Fastnachtskritik zufriedengibt. Es werden mit dem Lupercalien- und dem Maiuma-Fest ganz spezifische Vergleichsgrößen herangezogen. Die Lupercalien, ursprünglich ein Fruchtbarkeits- und Reinigungsfest der Hirten, gelten in der heutigen Forschung als Initiationsritus der männlichen Jugend, beinhalten also Momente eines Schwellenrituals. 67 Wenn dies auch heutige Interpretationen sind und daraus nicht auf zeitgenössische Wahrnehmung geschlossen werden kann, ist die Parallele „Hirtenfest“ doch auffällig. Das Königreich der Weidbuben ist ja, wie gesehen, ein spezifisches Ritual der Hirtejugend und wurde auch von kurpfälzischer Seite als solches wahrgenommen. Dies spricht dafür, dass hier nicht bloß ein standardisiertes Verweisrepertoire eingesetzt wurde. Noch deutlicher wird dies mit dem Hinweis auf das Fest der Maiuma. Tatsächlich konnte ein solcher Verweis bislang in keinem anderen Kontext der Kritik christlicher Brauchausschweifungen entdeckt werden. Hier scheint tatsächlich ganz spezifisch nach möglichen phänomenologischen Entsprechungen gesucht worden zu sein, um Anhaltspunkte zu Wesen und Ursprung des Untersuchungsgegenstandes zu erhalten. Es wäre also zu kurz gedacht, von einer generellen Verbotstaktik auszugehen, die unterschiedlichste Fest-Phänomene, denen ein verkehrender Charakter zugeschrieben werden konnte, summarisch unter dem Fastnachtstopos zusammenfasste. Die allgemeine Behauptung Werner Mezgers, dass es bei dem Antikenrückgriff

64

Sebastian Franck, Weltbuch: spiegel vnd bildntiß des gantzen erdbodens […]. Tübingen 1534. Zitiert

nach Mezger, Antike Motive (wie Anm.63), 242. 65

Hermann Wiegand, Bacchanalia Neo-Latina. Zur Rezeption antiker Karnevalsmotive in der neulateini-

schen Literatur, in: Döpp (Hrsg.), Karnevaleske Phänomene (wie Anm.63), 265–286, hier 266. 66

Ebd.

67

Zu den Lupercalia ausführlich Christoph Ulf, Das römische Lupercalienfest. Ein Modellfall für Metho-

denprobleme in der Altertumswissenschaft. Darmstadt 1982.

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keineswegs um die „Konstruktion von Kontinuitäten zwischen der Antike und der damaligen Gegenwart als vielmehr um das Aufzeigen von Analogien“ gegangen sei 68, entspricht nicht der Komplexität der tatsächlichen Verhältnisse. 69 Im vorliegenden Fall stützt die kurpfälzische Argumentation diese Wahrnehmung nicht. Denn die Aufzeigung von Analogien widerspricht hier nicht der Annahme von Kontinuitäten. Wenn das Königreich der Weidbuben als heidnischen Ursprungs bezeichnet wird, dann zeigt dies die Annahme einer Kontinuität der Überlieferung von der Antike in die Gegenwart. Die Handlungsprämisse der Pfalz ist also: „alles daß Jenige waß nit in dem wortt gottes gegründett ist, Vndt entweder Von den Vnglaubig[en] heÿden Oder sonnst von den traditionib[us] hominum herruret, [soll] abgestelt werden“. 70

IV. Ritualdeutung und Ritualkritik im Kontext konfessioneller Auseinandersetzung Wie konnte das pfingstliche Treiben von Hütejungen einen über Jahrzehnte andauernden Prozess in Gang setzen? Warum machen sich die Prozessgegner die Mühe, das Tun der Weidbuben so genau unter die Lupe zu nehmen? Erklärt der oben eingeführte Verweis auf die komplizierte territorialrechtliche Konstruktion den Hergang des Prozesses? Wird hier also Religion diskutiert, aber Territorialpolitik gemeint? Wie oben festgestellt, wirkte die religiöse Motivation auf dem Boden der calvinistisch geprägten Konfessionalisierung als zentrales Element der Konsolidierung der Landesherrschaft und spiegelt das Selbstverständnis des christlichen Landesherrn. 1556 war die Reformation in der Pfalz eingeführt worden; im August 1573, mit der Einführung des Calvinismus in der Kurpfalz, erreichte sie auch Hemsbach,

68 Mezger, Antike Motive (wie Anm.63), 242. Einen ähnlichen Interpretationsweg geht Étienne Pasquier in seinen „Recherches de la France“ von 1560, wenn er das an Epiphanie begangene Königreich nicht nur mit den römischen Saturnalien vergleicht, sondern auch die Verwendung der Bohne im Kuchen als antikes Erbstück ausweist. Allerdings geht er noch einen Schritt weiter und behauptet eine Wiedereinführung des Brauches durch antikebegeisterte Intellektuelle vergangener Jahrhunderte. Ein Befund, der von ihm nachfolgenden Chronisten in Frankreich so nicht bestätigt wird, die im 17.Jahrhundert durchaus von einer Überlieferungskontinuität ausgehen. Vgl. Fugger, Das Königreich am Dreikönigstag (wie Anm.52), 95. 69 Vgl. dazu den Aufsatz von Dominik Fugger in diesem Band. 70 Blatt 32.

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wo sie gewaltsam und gegen den Widerstand des Wormser Bischofs und der Bevölkerung durchgesetzt wurde. 71 Schon im September 1573 erwirkte Worms ein kaiserliches Mandat gegen den Pfalzgrafen, da er das Recht auf den Kirchensatz, das heißt die Besetzung von Pfarrstellen, für sich beanspruchte, die Einführung der Reformation also als rechtswidrigen Akt sah. 72 Vor diesem Hintergrund interpretiert Seidenspinner das Verbot des Pfingstrittes als Akt der Sozialdisziplinierung und der Kirchenzucht innerhalb eines als säkular aufgefassten Disziplinierungsprozesses 73, der sich, wie polizeiliche Ordnungen und ähnliche Bestimmungen vielfach belegen, gegen Fest- und Braucherscheinungen verschiedenster Art richtete. 74 Konfessionalisierung und Sozialdisziplinierung sind wesenhaft miteinander verbunden. Konfessionalisierung ist in ihrem Ergebnis Herrschaftsintensivierung. Liest man die Akte als Zeugnis der Konfessionalisierung des Alltags im 16.Jahrhundert und geht man davon aus, dass Konfessionalisierung vom Zentrum, also der eigentlichen Glaubensausübung ausgehend auf die anderen Lebensbereiche ausgriff und diese durchdrang, ist zu fragen, ob die Einführung der Reformation in Hemsbach ein solches Paradigma bestätigt. Erklärt sich das plötzlich so vehemente Interesse an den Weidbuben also mit den Prinzipien der Konfessionalisierung, die mit einer Herrschaftsintensivierung ein-

71

Tatsächlich erfolgte sie im August 1573 auf Beschluss einer Heidelberger Synode, gegen den Wider-

stand des Wormser Bischofs, der gleich die Kirchenschlüssel verstecken ließ, so dass die Hemsbacher sich zum Gottesdienst in der Kapelle des wormsischen Schlosses versammelten. Am nächsten Tag verschaffte der Faut sich gewaltsam Zutritt zur Kirche, und er ließ Altartafeln und Taufstein abreißen und die Kirche ausräumen. Die neue Religion akzeptierten die Hemsbacher tatsächlich nur widerwillig und unter dem Druck des Fauts. Auch die Einführung des lutherischen Bekenntnisses 1576 unter Ludwig VI. verlief laut Lauer „mit unerbittlicher Strenge“, was dennoch viele Hemsbacher nicht daran hinderte, nun dem Calvinismus treu zu bleiben, der auch 1583 durch Johann Casimir, den Nachfolger Ludwigs, wieder eingeführt wurde. Siehe ausführlich dazu Hermann Lauer, Hemsbach, Laudenbach, Sulzbach. Eine Geschichte ihres kirchlichen Lebens. Donaueschingen 1924, 46f. 72

Die erste Zeugenvernehmung in diesem Prozess fand erst 1582 statt. Noch 1653 mit dem sogenannten

Regensburger Rezess bilden der Eingriff der Kurpfalz in die wormsischen Hoheitsrechte in den Gemeinden Hemsbach, Laudenbach und Sulzbach und insbesondere die Einführung der calvinistischen Religion zentrale Anklagepunkte. Erst 1705 regelte ein Vertrag die Besitzverhältnisse: Worms verzichtete auf die Gemeinden im Austausch für die Kellerei Stein und das Neue Schloss bei Lampertheim. Siehe dazu Kastner, Hemsbach (wie Anm.1), 64f. 73

Seidenspinner, Narrenreich (wie Anm.1), 153f.

74

Siehe die grundlegenden Überlegungen und Quellen dazu bei Heinz Schilling, Kirchenzucht und Sozi-

aldisziplinierung im frühneuzeitlichen Europa. (Zeitschrift für historische Forschung, Beih. 16.) Berlin 1994.

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herging? Warum rücken Hütejungen, die sich nicht anders verhalten als früher, jetzt in den Mittelpunkt des Geschehens? Die Erklärung Schillings, der „Souveränitätsanspruch des Pfälzer Kurfürsten, der keinen König neben sich duldete“, sei hierfür verantwortlich, scheint zu kurz gegriffen. 75 Schilling sieht hier ein Paradebeispiel für die Mechanismen der Konfessionalisierung, die sich gegen die „Selbstdisziplinierungs- und Selbstregulierungsmechanismen der Hütergemeinschaft“ richteten. 76 Demnach zielten Polizeimandate, Landesordnungen und „reformiert-calvinistische Sittenlehre darauf ab, die Mikrokultur zu zerstören und sie den neuen Makrostrukturen staatlicher und kirchlicher Disziplin und Sozialkontrolle zu unterwerfen“. 77 Es wäre also zu fragen, ob die Weidbuben und ihre „Mikrowelt“ als ein der landesherrlichen Gewalt sich entziehender, herrschaftsfreier Raum wahrgenommen wurden. Wenn sie etwa als organisierte Jugendgemeinschaft in die bestehende Ordnung integriert werden sollten, spricht zumindest die Festsetzung des Kellers in Mannheim, der den Buben die Fahnen ausgegeben hatte, für diese Vermutung. Die Kurpfalz pocht hier auf ihre landesherrliche Gewalt, wenn sie den wormsischen Beamten den Kompetenzraum und die Verantwortung entzieht und für sich beansprucht. An den Weidbuben wird damit ein deutliches Exempel statuiert. Dabei ist dann gar nicht von Interesse, wie die Hütejungen sich nun im Einzelnen organisierten; solche Fragen spielen auch im Prozess für die kurpfälzische Argumentation überhaupt keine Rolle, lediglich für die Wormser ist es von Bedeutung und wird als positives Element hervorgehoben. Die Ordnungsstruktur der Hütejungen wird also gar nicht in Frage gestellt. Insofern wurde dieser Zusammenschluss der jugendlichen Hirten doch kaum als widerständiges Element wahrgenommen. Es ist zumindest aus der Akte heraus nicht zu belegen, dass die Selbstregulierungsmechanismen der Gemeinschaft der Weidbuben als problematisch aufgefasst wurden. Lediglich wenn man den kurpfälzischen Einwänden jedwede Wahrhaftigkeit absprechen würde, also annehmen würde, dass der Vorwurf der religionsverspottenden Festbegehung der Weidbuben nur ein Vorwand war, um widerständige Jugendorganisationen im Zuge eines durchgeplanten Herrschaftsdurchdringungskonzeptes aus dem Weg zu räumen, würde sich der Weidbubenfall wieder in ein solches Schema einfügen. Vor dem Hintergrund der Einführung der Reformation, dem Streit um den Kir-

75 Schilling, Profil und Perspektiven (wie Anm.1), 31. 76 Ebd. 77 Ebd.

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chensatz und der religiösen Unzuverlässigkeit der Hemsbacher scheint das Hauptanliegen der kurpfälzischen Partei doch der Versuch zu sein, die malefizische Gewalt unter die Deutungsmacht der konfessionellen Landesgewalt zu stellen. Die rechtlich und religiös unsichere Stellung der landesherrlichen Gewalt in diesem Gebiet verlangt nach konsequenten Maßnahmen, gleichzeitig erfolgt die Beurteilung und Einschätzung des Vorfalls aber aus der landesherrlichen Sorge für das Seelenheil der Untertanen heraus. Sie soll dementsprechend auch nicht mehr an reichsrechtliche Entscheidungen gebunden sein. Rechtsprechung erfolgt diesem Verständnis nach nicht entlang eines Kataloges, der malefizische Fälle auflistet, sondern aus landesherrlicher Macht heraus. Hier trifft ein neuzeitliches Verständnis von Landesherrschaft auf ein mittelalterliches Rechtsverständnis. Der Anspruch ist entwickelt, die Instrumentarien aber noch nicht vorhanden. Dieses Ungleichgewicht spiegelt sich auch in der Argumentation im Prozessverlauf. Die Rechtshülle scheint die aus der landesherrlichen Gewalt resultierende veränderte Gestalt des Rechtskörpers nicht mehr ausfüllen zu können. Inwieweit dies den Agierenden bewusst ist, bleibt fraglich. Die Prozessparteien argumentieren, operieren und lavieren auf beiden Seiten in und mit den hergebrachten rechtlichen Strukturen und Spielräumen. Diese tragen für die Wormser Ansprüche zwar noch, aber den kurpfälzischen Wertungsmaßstäben können sie kein wirkliches Gerüst mehr sein. So verwundert es nicht, dass Worms und Kurpfalz über Jahrzehnte immer wieder prozessierten; auch der hier vorgetragene Fall der Weidbuben konnte so letztlich zu keinem Ende kommen. Denn das grundlegende Dilemma des Prozesses war durch keinen Richterspruch zu lösen.

V. Schluss Das Ritual der Weidbuben ist eingebettet in einen Rechtsdiskurs, der im Kern die Frage der Reichweite des mittelalterlichen Rechtsgebrauchs in einem frühmodernen, konfessionellen, landesherrschaftlichen Machtbereich diskutiert und natürlich auf die dem Ritual zugeschriebenen Deutungen und Wertungen rückwirkt. Diese fügen sich auf beiden Seiten zu komplexen Argumentationen. Dabei ist der auf kurpfälzischer Seite verwendete Verkehrungstopos, wie gezeigt wurde, nicht bloß der Verbotsstrategie geschuldet. Vielmehr wird der Antikenverweis durchaus differenziert verwendet und ist phänomenologisch motiviert. Verkehrung würde

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vor diesem Hintergrund also zu einem Topos, der unter Verweis auf antike Referenzmodelle Verbotsbestrebungen legitimiert. Gleichzeitig wird in diesem Fall die verkehrende, die bestehende Herrschaftsordnung verspottende Eigenschaft des Rituals konkret aus der Betrachtung seiner Phänomenologie und im Besonderen aus der Deutung seiner Semantiken destilliert. Es wären also zur Festigung der hier aufgestellten These weitere ritualkritische Quellenaussagen dieses Zeitraums im Hinblick auf ihre Argumentationsstrukturen zu überprüfen. Gleiches gilt für die mit dem Ordnungstopos operierende Wormser Argumentation, die erstaunliche Parallelen zu aktuellen Forschungsansätzen zeigt. Ist sie originär aus den Notwendigkeiten des Prozesses entstanden, oder gibt es in der Zeit ähnliche Interpretationsansätze, die die positive gesellschaftliche Funktion eines Rituals betonen? Es ist also zu fragen, ob es weitere Beispiele für ein Vorgehen gibt, bei dem religiöse Ritualdimensionen konsequent ausgeklammert und ein Ritual stattdessen aus einer rein funktional argumentierenden Deutung heraus positiv bewertet wurde. So ergeben sich aus den verschiedenen Erklärungs- und Deutungsentwürfen zum Hemsbacher Königreich neue Perspektiven für die Forschung. Und der Fall der Weidbuben zeigt: Wenn wir heute über den Sinn und die Funktion vergangener Rituale nachdenken, sollte die Deutung der Zeitgenossen als maßgebliche Instanz fungieren.

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/ „ WIE BEI DENN HEYDEN AHN DEN SATURNALIBUS …“

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Eine widerwärts widerwärtige Welt Die Konstruktion des Hexenglaubens aus Metaphern und Symboliken der Verkehrung von Katrin Moeller

Der Hexenglaube besitzt zwischen seiner Neudefinition im 15.Jahrhundert und seinem Wiederaufleben in der Gegenwart schier zahllose Anknüpfungspunkte, um Riten und Interpretationsmuster der Verkehrung und Umdeutung als Kulturtechniken einer Neuformulierung von Ideen 1 sichtbar zu machen. Da sich das Phänomen des Hexenglaubens samt der strafrechtlichen Verfolgungen zwischen dem 16. und 18.Jahrhundert inhaltlich relativ gut von anderen magischen und religiösen Deutungen abgrenzen lässt, bietet die Genese des „neuen“ Delikts vielfache Ansatzpunkte zur Erforschung von Verkehrungsmotiven, die bei der Etablierung neuer Interpretationsmuster funktionelle Bedeutung entfalteten. Auf drei wichtige Formen soll im Folgenden eingegangen werden: Erstens geht es um Symboliken und Deutungen, die als Verkehrung jeder gottgewollten Ordnung mit ihren charakteristischen Projektionen des Teufelspaktes, der Teufelsbuhlschaft und des Hexensabbats im Schoß der Ketzerverfolgung die frühneuzeitliche Schöpfung des neuen Hexereidelikts in Unterscheidung zum traditionellen Schadenszauber bestimmten. 2 Zweitens manifestierte sich die Verdachtsgenese und die individuelle Zumessung magischer Handlungen über dezidierte Verkehrungsrituale bzw. vielmehr über einschlägig codierte Sprechakte. In dieser Hinsicht bieten die zahlreichen Quellen der Hexenforschung allerdings eher einen Zugriff auf Letztere. Körpersprache und Symbolik – in der Ritualforschung meist sehr prominent betrachtet – ent-

1 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt am Main 2008, 24. 2 Georg Schwaiger (Hrsg.), Teufelsglaube und Hexenprozesse. München 1987; Kathrin Utz Tremp, Von der Häresie zur Hexerei. „Wirkliche“ und imaginäre Sekten im Spätmittelalter. Hannover 2008; Andreas Blauert (Hrsg.), Ketzer, Zauberer, Hexen. Die Anfänge der europäischen Hexenverfolgung. Frankfurt am Main 1990; Carlo Ginzburg, Hexensabbat. Entzifferung einer nächtlichen Geschichte. Frankfurt am Main 1997.

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oldenbourg DOI 10.1515/9783486727678.244

ziehen sich der historischen Überlieferung häufig. Dieser Fakt ist nicht mit einer fehlenden Körpersymbolik zu verwechseln. Drittens soll auf die magische Deutung der Rauhnächte, die sich vielleicht in frühneuzeitlichen Praktiken, vor allem aber in Narrativen und Erzähltraditionen seit dem späten 16.Jahrhundert finden, eingegangen werden. Sie stehen bislang eher unerforscht in der Überlieferungstradition der vormodernen Fest- und Feierkultur, die vor allem in den Fokus der modernen Inversionsforschung geriet. Ein vom rituellen Handeln zu unterscheidendes, dennoch mit Verkehrungsmotiven hoch angereichertes Spektrum bietet die Historiographie bzw. Rezeptionsgeschichte des Hexenglaubens. 3 Selbst wenn sie im Folgenden nicht im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen wird, weist sie intensiv auf die Scharnierfunktion der Inversion zur Innovation von Motiven und Ideen im wissenschaftlichen und öffentlichen Mainstream hin. Wie die Anfänge des Hexereidelikts speiste sich auch das Ende der Verfolgungen in der zweiten Hälfte des 17.Jahrhunderts aus einer sich rasant wandelnden Projektion, die aus dem katastrophalen Extremfall religiöser Devianz relativ rasch einen gravierenden Emanzipations- und Erziehungsmangel 4 oder eine psychische Krankheit 5 formen konnte. Statt der Hexerei geriet nun – in vollkommener Verkehrung der Täter-Opfer-Perspektive – der Glaube an Hexerei zu einem gesellschaftlich verfemten „Aberglauben“. 6 Mit der aufklärerischen Interpretation unlösbar verknüpft war die Reaktivierung des Topos vom einfältigen Bauern,

3 Wolfgang Behringer, Geschichte der Hexenforschung, in: Sönke Lorenz/Jürgen Michael Schmidt (Hrsg.), Wider alle Hexerei und Teufelswerk. Die europäische Hexenverfolgung und ihre Auswirkungen auf Südwestdeutschland. Ostfildern 2004, 485–668; Jörg Haustein, Von der Instrumentalisierung zur historischen Erkenntnis. Die Auseinandersetzungen um den Hexenwahn im 19.Jahrhundert, in: Katrin Moeller/Burghart Schmidt (Hrsg.), Realität und Mythos. Hexenverfolgung und Rezeptionsgeschichte. Hamburg 2003, 163–177; Jürgen Scheffler, Der „Hexenbürgermeister“ als Trachtenpuppe. Hexenverfolgung und lokale Erinnerungskultur, in: ebd.313–330. 4 Martin Pott, Aufklärung und Aberglaube. Die deutsche Frühaufklärung im Spiegel ihrer Aberglaubenskritik. Tübingen 1992. 5 Rhodri Hayward, Dämonenlehre, Neurologie und Medizin in Großbritannien um 1900, in: Nils Freytag/ Diethard Sawicki (Hrsg.), Wunderwelten. Religiöse Ekstase und Magie in der Moderne. München 2006, 163–179. 6 Owen Davies/Willem de Blécourt (Eds.), Beyond the Witch Trials. Witchcraft and Magic in Enlightenment Europe. Manchester/New York 2004; Nils Freytag, Aberglauben im 19.Jahrhundert. Preußen und seine Rheinprovinz zwischen Tradition und Moderne (1815–1918). Berlin 2003, bes. 69–79; ders./Diethard Sawicki, Verzauberte Moderne. Kulturgeschichtliche Perspektiven auf das 19. und 20.Jahrhundert, in: dies. (Hrsg.), Wunderwelten (wie Anm.5), 7–24.

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der nunmehr den überkommenen religiösen Vorstellungen des Hexen- und Magieglaubens anhing. Hier entstand, an die Etikettierung des dummen, abergläubischen rusticus anknüpfend 7, der bürgerlich-aufklärerisch geprägte Mythos einer persistenten, auf mangelnder Bildung fußenden ländlich-bäuerlichen Prägung des „überlebten“ Hexenglaubens. 8 Dieser beeinflusst noch die Modellbildung der aktuellen Wissenschaft 9, obwohl gerade die Verfolgungsverdichtung der – als soziales Phänomen im späten 16.Jahrhundert neuen und damit quasi modernen – Hexenverfolgungen überproportional häufig von der Infrastruktur und vor allem den Wissenskulturen der urbanen Räume getragen wurde. Ein ähnlich gelagerter Schritt von dieser ständischen Zuordnung zur evolutionären Deutung von „Magie – Religion – Wissenschaft/Rationalität“ als Stufenabfolge menschlicher Zivilisation erfolgte auf solchen Perspektiven aufbauend an der Wende vom 19. zum 20.Jahrhundert: über James George Frazers Magietheorie 10 bis zu Max Webers Rationalisierungsparadigma von der „Entzauberung der Welt“ 11. Die Historiographie der Hexenverfolgung repräsentiert weit über den eigentlich wissenschaftsgeschichtlichen Kontext hinaus geradezu den Prototyp einer wechselvollen Projektion und Konstruktion von Geschichtsmythen. Nicht selten basieren sie auf Verkehrungstechniken, wie etwa die Rezeption der historischen Verfolgungen durch die unterschiedlichen Protagonisten der Aufklärung, der Romantik, des Kulturkampfes, des Nationalsozialismus oder der modernen Frauenbewegung zeigen. Gerade bei einer sukzessive wachsenden negativen Konnotierung – wie etwa im Falle der Ablehnung des Hexenglaubens im 18. und 19.Jahrhundert – eigneten sich Verkehrungsmotive hervorragend, 7 Hermann Bausinger, Dorf und Stadt – ein traditioneller Gegensatz. Erscheinungsformen, Herkunft, sozialökonomischer Hintergrund und Rückwirkungen einer Ideologie (1978). Universitätsbibliothek Tobias-Lib Tübingen 2011, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:21-opus-53184 (25.2.2011); Hans-Werner Goetz, Leben im Mittelalter. München 1986, 137. 8 Freytag, Aberglauben (wie Anm.6), 392–395. 9 Robert Muchembled, Kultur des Volks – Kultur der Eliten. Die Geschichte einer erfolgreichen Verdrängung. Stuttgart 1982, mit einem breit gespannten Vergleich zwischen magischem Denken in Stadt und Land; Johannes Dillinger, Hexen und Magie. Frankfurt am Main 2007, 149f.; Peter Dinzelbacher, Hexen und Heilige. Schicksale auffälliger Frauen in Mittelalter und Frühneuzeit. Zürich 1995, 136. 10

Hans G. Kippenberg, Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und Moderne.

München 1997, 128–142, bes. 134; Monika Neugebauer-Wölk, Wege aus dem Dschungel. Betrachtungen zur Hexenforschung, in: Katrin Moeller (Hrsg.), Hexenforschung/Forschungsdebatten, http://www.historicum.net/no_cache/persistent/artikel/5511/ (10.4.2011). 11

Wolfgang J. Mommsen/Wolfgang Schluchter (Hrsg.), Max Weber. Studienausgabe der Max-Weber-Ge-

samtausgabe. Bd. 17: Wissenschaft als Beruf (1917/1919). Tübingen 1994, 9, 17, 22.

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um traditionelle Konglomerate in ihrer Legitimation erheblich zu erschüttern. Eine genaue Durchleuchtung von rezeptiven Diskursen offenbart daher mehr oder weniger erfolgreiche Formen und Stereotype der Verkehrung. Teilweise soll daher im Folgenden auch auf die Rezeptionsgeschichte der Hexerei eingegangen werden. Mittlerweile hat sich die Hexenforschung im Widerstreit von anthropologischkulturgeschichtlichen 12 bzw. religionsgeschichtlichen 13 Paradigmen aufgemacht, solche Geschichtsbilder selbstreflexiv zu hinterfragen. Dieser Forschungsdiskurs weist nicht nur auf die Verzerrungen hin, welche die verengte Wahrnehmung der frühneuzeitlichen (bzw. vielleicht auch vormodernen) Gesellschaft als herausgehobene magische Gemeinschaft umfasst. Studien zum 18. bis 20.Jahrhundert arbeiteten die breite Existenz magisch-religiöser Deutungsmuster als kontinuierliches Faktum der Moderne heraus. Insgesamt hat sich der Blickwinkel auf das magische bzw. religiöse Denken in eine Richtung verschoben, die auch für die Entzifferung inversiver Projektionen wichtig erscheint. Bis zur „Entdeckung“ des Individuums in der Geschichtswissenschaft ging die Forschung häufig von der prägenden Existenz eines geschlossenen, mehr oder weniger kanonisierten religiösen und/oder magischen Weltbildes aus, das zwar regionale und soziale Differenzierungen erlebte, aber eine prägende Gestalt innerhalb von Alltagswissen und Profession besaß. 14 Neuere Studien haben solche Vorstellungen grundlegend erschüttert. In welchem Sinn magisch oder religiös einzelne Individuen oder Gruppen innerhalb des mit pluralen Deutungsoptionen angefüllten Patchwork-Christentums im Wechselspiel mit anderen konkurrierenden Deutungen oder popularfrömmigen Selfmade-Religionen interagierten, ist letztlich immer nur im Kontext persönlicher Konstellationen ermittelbar. 15 Als ähnlich problematisch erwies sich die Vorstellung, Glaubenssys-

12 Rainer Walz, Hexenglaube und magische Kommunikation im Dorf der frühen Neuzeit. Die Verfolgung in der Grafschaft Lippe. Paderborn 1993; Gerd Schwerhoff, Esoterik statt Ethnologie? Mit Monika Neugebauer-Wölk unterwegs im Dschungel der Hexenforschung, in: Moeller (Hrsg.), Hexenforschung/ Forschungsdebatten (wie Anm.10), http://www.historicum.net/no_cache/persistent/artikel/5505/ (10.4. 2011). 13 Neugebauer-Wölk, Wege (wie Anm.10). 14 Solche Auffassungen bündelnd etwa Dillinger, Hexen (wie Anm.9), bes. 18, 96–113. 15 Thomas Wünsch, Religion und Magie in Ostmitteleuropa: Spätmittelalter und frühe Neuzeit. Ein Tagungsresümee, in: Zeitenblicke 5, 2006, 1, http://www.zeitenblicke.de/2006/1/Wuensch/index_html (10.4.2011); Thomas Kaufmann, Einleitung. Transkonfessionalität, Interkonfessionalität, binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese, in: Kaspar von Greyerz/Manfred Jakubowski-Tiessen/Thomas Kaufmann/Hartmut Lehmann (Hrsg.), Interkonfessionalität – Transkonfessio-

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teme als rational oder logisch aufeinander bezogene Sinnsysteme mit performativer Struktur entziffern zu können. Letztlich besteht das attraktive Integrationspotential des religiösen Denkens gerade darin, aus einem Flickenteppich von synkretistischen Vorstellungen ein lose miteinander verbundenes Deutungsschema zu entwickeln und dabei auch inhaltlich nicht verschränkte Glaubensinhalte zu verknüpfen. 16 Diese religionspsychologischen Erkenntnisse dürften ebenfalls für die Erforschung von Verkehrungsritualen größere Bedeutung entfalten, da die Inversion sich zwar an eine phänomenologisch beschreibbare Gegebenheit anschließt, der zeitliche Bezug und die inhaltliche Verschränkung und die Einbindung in Sinn- und Funktionszusammenhänge aber keineswegs synchron erfolgen mussten. 17 Im Mittelpunkt steht daher zunächst einmal eine Systematisierung phänomenologischer Anknüpfungspunkte von Hexenglauben und Verkehrungsritualen bzw. Verkehrungsmotiven, entlang der eingangs benannten drei Ebenen des frühneuzeitlichen Hexenglaubens. Dieses Vorgehen erscheint – trotz aller Kritik an einem rein phänomenologischen Vergleich 18 – sinnvoll, nicht nur weil Forschungskonzeptionen zum Verkehrungsritual bisher noch wenig systematische Zugriffe bieten, sondern sich der Hexenglaube auch deutlich von bisherigen Forschungskontexten abhebt. Konzentrierte sich die Forschung bisher vornehmlich auf die Fest- und Feierkultur, geraten mit den Verkehrungsmotiven des millenaristischen Judentums 19 und der „Hexe“ nunmehr auch Themenfelder in den Blickpunkt, die zunächst kaum Vergleichsperspektiven zur spielerischen Verkehrung der Ordnung im festum puerorum oder bei der Wahl des Bohnenkönigs bieten. Konzeptionell wird der Begriff des Verkehrungsrituals daher zunächst sehr weit gefasst, um die Frage nach dem zugeschriebenen Sinn bzw. der Funktion von Verkehrungsmotiven besser zu beleuchten, auch wenn längst nicht alle der im Folgenden behandelten Motive unbedingt die Qualität von Ritualen entfalteten. Gewinnbringend bleibt jedoch

nalität – binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese. Gütersloh 2003, 9–15, hier 13ff.; Katrin Moeller, Dass Willkür über Recht ginge. Hexenverfolgung in Mecklenburg im 16. und 17.Jahrhundert. Bielefeld 2007, 473. 16

Wilhelm Schmidt-Biggemann, Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität

in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankfurt am Main 1998, 16ff. 17

Dominik Fugger, Das Königreich am Dreikönigstag. Eine historisch-empirische Ritualstudie. Pader-

born 2007, 202–205.

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18

Ebd.204.

19

Vgl. dazu den Beitrag von Jeannine Kunert in diesem Band.

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der komparative Blick auf andere Formen der Inversion, um markante Unterschiede bzw. Gemeinsamkeiten zwischen Verkehrungsritual und Verkehrungsmotivik zu markieren.

I. Hexenglaube als Verkehrungsritual? Selbst wenn sich Ansätze der Ritualforschung bisher nicht umfänglich in der (insbesondere deutschen) Hexenforschung etabliert haben 20, darf die Projektion der Hexerei als Sektenverbrechen und damit als Inversion von christlichen Glaubensund Liturgieformen als relativ gut erforscht gelten. Für das dämonologische Wissensverständnis wie für spezifische Projektionen dämonischer Beziehungen in – überwiegend von der Folter markierten – Verhörsituationen besitzen wir mittlerweile umfängliche, präzise und regional differenzierende Erkenntnisse. Der Hexenglaube bezieht sich nicht nur auf kirchlich-institutionelle Ordnungsprinzipien, wie dies in Ansätzen bereits der wichtige Vertreter des „rationalistischen Forschungsparadigmas“ Wilhelm Gottlieb Soldan 1843 beschrieb. 21 Vielmehr lässt sich der Hexenglaube als außerordentliches, von vielen sozialen Handlungsebenen überlagertes Deutungsschema sozialer Ordnungen identifizieren, der je nach Blickwinkel spezifische Interpretationen und Inversionen erfährt. Die dämonologische Imagination und Definition des Delikts – der um Teufelspakt, Buhlschaft und Hexensabbat (Sekte) erweiterte Schadenszauber – repräsentierte in Form, Inhalt und Chronologie einen plakativ übersteigerten Antagonismus aller Ordnung, der zugleich klare Begrenzungen und Ordnungen aufwies. Die Demarkationslinien von Verkehrung einerseits und Repräsentation von Ordnung andererseits sollen hier anhand von Teufelsbuhlschaft und Hexensabbat präzisiert werden. Dabei ist die Frage zu klären, ob das Hexereistereotyp eine Fixierung als Inversionsritual überhaupt zulässt. Prinzipiell fasst die Ritualforschung darunter relativ

20 Walz, Hexenglaube (wie Anm.12); Moeller, Willkür (wie Anm.15), 271–352; Barbara Groß, Hexerei in Minden. Zur sozialen Logik von Hexereiverdächtigungen und Hexenprozessen (1584–1684). Münster 2009, 182–283. 21 Wilhelm Gottlieb Soldan, Geschichte der Hexenprocesse. Aus den Quellen dargestellt. Stuttgart/ Tübingen 1843, 138–159.

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eindeutig codierte Situationen, die geltende Ordnungen und Hierarchien oft ironisierend und zeitlich klar limitiert außer Kraft setzen. Der damit geschaffene Zwischen- oder Schwellenzustand generiert eine gesellschaftliche Interaktionssphäre, die zur Festigung der alten Ordnung oder aber zur sozialen Innovation führt. 22 Ihre Entzifferung konzentriert sich momentan bevorzugt auf die regional differenzierte Fest- und Feierkultur. 23 Die zeitliche Limitierung der Verkehrung ist im Hexenglauben allerdings ideell außer Kraft gesetzt bzw. manifestiert sich als zeitlich unbegrenztes Wirken in einer dem Alltag entzogenen Sphäre. Die Hexensekte wirkte einerseits monströs allgegenwärtig und innerhalb eines gewaltigen subversiven terroristischen Netzwerkes. 24 Andererseits blieb sie bis zur öffentlichen Identifizierung und prozessualen Aburteilung der Hexen vollkommen im Verborgenen tätig, was sie erst recht gefährlich machte. Nur über Verdächtigungen, Gerüchte oder übersinnliche Medien blieb zu ergründen, wer in diesem absurden Gaukelwerk eigentlich hinter der Maske steckte und zu den Tätern zählte. Während der zeitliche Umfang und die Zuspitzung als Verbrechen (namentlich im processus extraordinarius) das Verkehrungsritual gleichsam entgrenzen, rekurriert der dämonologische Hexenglaube seit dem Ende des 15.Jahrhunderts kompakt auf inversive Elemente kirchlicher Liturgie und göttlicher Ordnung. Peter Dinzelbacher hat gleichermaßen umfänglich wie prägnant auf die synchron konstruierten religionsphänomenologischen Strukturen von Hexe und Heiliger verwiesen. Explizit gilt dies für die relativ neuen Bestandteile des Hexenglaubens, die auf die qualitativen Beziehungen zwischen Hexe und Teufel anspielen. Während die Heilige die Christus-Erscheinung in lichter Gestalt eines kleinen Kindes, des Menschensohnes, Schmerzensmannes oder Lammes imaginiert 25, tritt der schwarze Teufel der Hexe

22

Victor Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt am Main/New York 2005, 95f.

23

Fugger, Königreich (wie Anm.17); Jacques Heers, Vom Mummenschanz zum Machttheater. Europäi-

sche Festkultur im Mittelalter. Frankfurt am Main 1986, 11; Natalie Zemon Davis, Humanismus, Narrenherrschaft und die Riten der Gewalt. Gesellschaft und Kultur im frühneuzeitlichen Frankreich. Frankfurt am Main 1987, 106–135. Für die Hexenforschung vor allem als Ausdruck dualistischer Denkformen: Stuart Clark, Thinking with Demons. The Idea of Witchcraft in Early Modern Europe. Oxford/New York 1997, 69–79. 24

Der französische Richter Mandrou sprach etwa von 1,8 Millionen Sektenmitgliedern. Rolf Schulte, He-

xenmeister. Die Verfolgung von Männern im Rahmen der Hexenverfolgung von 1530–1730 im Alten Reich. Frankfurt am Main 2011, 272. 25

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Dinzelbacher, Heilige (wie Anm.9), 174.

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als schöner Jüngling, reicher Mann, Bock, Hund, Katze oder Mischwesen entgegen 26. Nicht selten offenbart er allerdings erst sehr spät – für die Hexe zu spät – seine wahre Identität. 27 Eine ähnliche Parallelisierung erweist sich zwischen der geistigen Ehe (connubium spirituale) bzw. der kontemplativen Vereinigung (unio mystica) der Mystikerin 28 und den eheähnlichen Beziehungen zwischen Hexen und Teufel. Hexerei repräsentiert sich danach als Verkehrung des Heiligen. 29 Besessenheit erscheint als Verkehrung spirituellen Enthusiasmus, die Geburt von teuflischen Früchten als Gegenbild der unbefleckt empfangenen Schwangerschaft, das Hexenmal als Verkehrung der göttlichen Stigmata, die Mantik der Prophezeiungen sowie der Schadenszauber als Widerpart des göttlichen Wunders. 30 Auf diese Weise repräsentieren Hexe und Heilige zwei antagonistisch positionierte Archetypen, die über die dualen Referenzsysteme Himmel und Hölle antithetische Beziehungen von Demut versus Streitsucht, Armutsideal versus sozial unverträgliche Reichtumsanhäufung sowie Heil versus Unheil etc. verkörpern. 31 Mit dieser Interpretation überzeugt Dinzelbacher weit mehr als andere Versuche der phänomenologischen Deutung, wie etwa das von Richard van Dülmen entworfene volksmagisch-dämonologische Stufenmodell von Stereotypen mit insgesamt vier verschiedenen Ausprägungstypen zwischen Schadenszauberei und Hexerei. Aus der primären Schadensstifterin generierte sich über verschiedene Zwischenstufen die Adeptin eines regelrechten Teufelskults mit Kannibalismus und sodomitischen Orgien. Die Rangordnung charakterisiert verschiedene Qualitäten des Verhältnisses zwischen der vormals selbständig agierenden Hexe, die – immer mehr entmachtet – vollkommen in die Abhängigkeit des Teufels geriet. Aus dem Wild-

26 Auch wenn der Teufel in zahlreichen Verkleidungen und Farbnuancen auftrat, dominiert doch seine Beschreibung als schwarzes Wesen: Elisabeth Biesel, Die Pfeifer seint alle uff den baumen gesessen. Der Hexensabbat in der Vorstellungswelt einer ländlichen Bevölkerung, in: Gunther Franz/Franz Irsigler (Hrsg.), Methoden und Konzepte der historischen Hexenforschung. Trier 1998, 289–302, hier 291; Moeller, Willkür (wie Anm.15), 318; Christian Roos, Hexenverfolgung und Hexenprozesse im alten Hessen. Marburg 2008, 126; Manfred Wilde, Die Zauberei- und Hexenprozesse in Kursachsen. Köln/Weimar/Wien 2003, 272. 27 Roos, Hexenverfolgung (wie Anm.26), 125. 28 Dinzelbacher, Heilige (wie Anm.9), 178. 29 Barbara Stollberg-Rilinger, „Das Weib nimmt eine Art Gipfel im Guten und Bösen ein“. Die Affinität von Marienverehrung und Hexenentwurf bei dem Kölner Dominikaner Jakob Sprenger, in: Irene Franken/ Christiane Kling-Mathey (Hrsg.), Köln der Frauen. Ein Stadtwanderungs- und Lesebuch. Köln 1992, 87–98. 30 Dinzelbacher, Heilige (wie Anm.9), bes. 159ff., 169ff., 212ff. 31 Ebd.153f.

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wuchs verschiedener Stereotype spross nach van Dülmen sukzessive eine neue Ordnung, mit einer klaren Hierarchie und einer strengen analogen Liturgie der Teufelsverehrung und Sabbatfeier, die – und hier findet van Dülmen Anschluss an die Argumentation von Dinzelbacher – mit der Befestigung dualistischer Glaubenskonzeptionen ihre Durchsetzung feierte. 32 Es darf bezweifelt werden, ob hier wirklich aus Unordnung Ordnung erwuchs. Was van Dülmen allerdings zu Recht betont, ist die durch die Hexenverfolgung in Gang gesetzte Standardisierung eines zuvor kaum wissenschaftlich systematisierten Deutungssystems magischer Rituale. Damit einher gehen zahlreiche Elemente der Deindividualisierung im Hexenbild, die aus einem selbstermächtigten Magier nun einen abhängigen Akteur werden ließen. Nicht nur in dieser Hinsicht bildete der Hexenglaube mit seinen Motiven des Teufelspaktes und Hexensabbats mehr als eine Verkehrung katholischer Kirchlichkeit ab, die gezielt der klassischen Häresieverfolgung und später dem individuellen Glaubensverständnis der Reformation als Argumentationsfolie diente 33, er entfaltete darüber hinaus ein auffälliges Gegenprogramm zur Hermetik. Während die Selbstbestimmung und damit die Steuer- und Beherrschbarkeit übernatürlicher Kräfte ein wesentliches Argument der frühneuzeitlichen Esoteriker zur Legitimation ihres Wirkens blieb, schuf die Inquisition bzw. Dämonologie mit der machtlosen, wenig willensstarken Hexe als Spielball zwischen Himmel und Hölle das zeichenhafte Inversionsmotiv hermetischen Selbstverständnisses. Diese Entgrenzung jeglicher Kontrolle symbolisiert etwa plakativ der Wahlspruch der Hexen beim Aufbruch zum Flug „oben aus und nirgends an“, der das geordnete Wirkungsprinzip der Hermetik „wie oben so unten“ pervertiert. Hier genauer nach dem Werdegang von hermetischen Wissensprinzipien im Widerstreit zum Hexenglauben zu fahnden, bleibt eine wichtige – bisher nur ansatzweise verfolgte – Forschungsaufgabe. Letztlich könnte sich erweisen, dass das Bild von der weißen und schwarzen Magie lediglich mit diesem Wettstreit zwischen Hermetik und Hexenglaube korrespondiert. 34 Man wird festhalten dürfen, dass sich das magische Stereotyp des Hexenglaubens gleich vielen Verkehrungsritualen in einem dualistischen Deutungsmuster bewegte.

32

Richard van Dülmen, Die Dienerin des Bösen. Zum Hexenbild in der frühen Neuzeit, in: ZHF 18, 1991,

385–398, hier 393f.

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33

Utz Tremp, Häresie (wie Anm.2), 384ff.

34

Neugebauer-Wölk, Wege (wie Anm.10).

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So klar sich die Zuschreibungsmuster der gelehrten Dämonologie als verkehrende Semantiken kirchlich-liturgischer Praxis identifizieren lassen, so wenig eindeutig antiklerikal erweisen sich die gleichen Strukturen, wenn man nun die Perspektive wechselt und den Blick auf die Urgichten der Verfolgungspraxis richtet. Was sich eben noch als liturgische Verkehrung verstand, breitet sich nun ebenso eingängig als soziale Verkehrung des „Alltags“ aus. Hier konterkarierte die Liaison mit der Parallelwelt die Sittlichkeit, die patriarchale Ordnung und das ständische Prestigedenken. Interaktionen zwischen Hexe und Teufel orientierten sich überwiegend an einem monogamen Eheverhältnis. 35 Obwohl schnell wechselnde Sexualpartner und Polygamie immer wieder in die Diskussion um die Teufelsbuhlschaft und Verhöre Eingang fanden 36, blieb das Institut der Ehe vorbildgebendes Stereotyp, das auch im Kontext der dämonischen Beziehungen Bestand hatte. 37 Nicht wenige Urgichten schildern beispielsweise regelrechte Hochzeitszeremonien, die – wie etwa im Badischen – vom konfessionellen Glaubensgegner geschlossen und mit „Gaiß Pruntz“ (Tierurin) als Weihwasserimitat 38 gesegnet wurden. Die Ehemänner, durch das metaphysische Techtelmechtel ihrer Frauen völlig ins Abseits gedrängt, bekamen nunmehr die Rolle des ahnungslosen Hahnrei übergestülpt. Sie spielen interessanterweise selbst in den Gerichtsakten häufig keine unmittelbar fassbare Rolle. Das Gericht nahm von ihnen, in völliger Verkehrung ihrer Rolle als Rechtsvorstand ihrer Ehefrauen, häufig weder als Beistand noch als Zeuge Notiz. Dieser Umstand wird üblicherweise als statussicherndes Verhalten der Familie interpretiert, die sich überaus rasch von den Hexen aus ihrer Mitte distanzierte. 39 In der Projektion der Hexereiimagination brach jedoch die patriarchale Dominanz des Hausvaters mit der Bigamie völlig in sich zusammen: Oftmals der männlichen Potenz beraubt, führte der Ehemann ein quälendes Schattendasein oder fiel gar den

35 Johannes Dillinger, „Böse Leute“. Hexenverfolgungen in Schwäbisch-Österreich und Kurtrier im Vergleich. Trier 1999, 121ff.; Biesel, Pfeifer (wie Anm.26), 292f.; Moeller, Willkür (wie Anm.15), 317f. 36 Dülmen charakterisierte solche Vorstellungen der expliziten Teufelsverehrung mit sodomitischen Orgien und Verwerfungen als höher zu bewertende Stufe der Ritualisierung. Dülmen, Dienerin (wie Anm.32), 394. Beispiele für einen schnellen Partnertausch blieben selten: Martin Burkart, Hexen und Hexenprozesse in Baden. Durmersheim 2009, 41. 37 Dillinger, „Böse Leute“ (wie Anm.35), 122; Lyndal Roper, Hexenwahn. Geschichte einer Verfolgung. München 2007, 137f. 38 Burkart, Hexen (wie Anm.36), 29. 39 Walz, Hexenglaube (wie Anm.12), 62f.

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Mordplänen des eifersüchtigen Teufels zum Opfer. 40 Während sich im Hexen- und Teufelsglauben viele relativ konstante Stereotype ausbildeten, lagerten sich darunter auf das Individuum und seine Lebenswelt bezogene Deutungsmuster ab: Die Ausgestaltung des Geschlechter- und Machtverhältnisses zwischen Teufel und Hexe war individuell überaus variabel, was sich eventuell als Repräsentationsform realer Lebens- und Eheverhältnisse deuten lässt. 41 Die strikte normative Ordnung der Geschlechter büßte in den Urgichten jede Suggestionskraft ein. So finden sich einerseits vergnügliche, fast erotische und lustbetonte Inszenierungen 42, andererseits Gewaltverhältnisse unter Zelebrierung von Sexualpraktiken, die den öffentlichen Moralvorstellungen zutiefst entgegenliefen 43. Abbildungen zeigen die beim Geschlechtsakt mit dem Teufel oben liegende Frau, die somit weibliche Sittsamkeit missachtete. 44 Aufmerksamkeit erfuhr ebenso die Rolle der Teufelshure als Prostituierte. Der Teufel entlohnte die Hexe für den Geschlechtsakt, indem er sie mit falschem Geld betrog. 45 Ein anderes Narrativ kennzeichnet den Teufel als unterlegenen Part. Er konnte zum Opfer häuslicher Gewalt und Weiberherrschaft werden, zumal wenn die versprochene materielle Versorgung der Hexe ausblieb. Zahllose andere Geständnisse dagegen thematisierten die Buhlschaft lediglich als „kalt“, unnatürlich oder unangenehm und unterdrückten die detaillierte Schilderung des gesellschaftlich kompromittierenden und entehrenden Themas. 46 Unter der Folter knüpften die Angeklagten so an ihre habitualisierten gesellschaftlichen Rollen an. Zugleich erfolgte die Verkehrung in den Geständnissen nicht so radikal, dass hier

40

Moeller, Willkür (wie Anm.15), 317ff.

41

Dazu vor allem Ingrid Ahrendt-Schulte, Die Zauberschen und ihr Trommelschläger. Geschlechtsspezi-

fische Zuschreibungsmuster in lippischen Hexenprozessen, in: dies./Dieter R. Bauer/Sönke Lorenz/Jürgen Michael Schmidt (Hrsg.), Geschlecht, Magie und Hexenverfolgung. Bielefeld 2002, 133–174. 42

Dinzelbacher, Heilige (wie Anm.9), 182ff.

43

Gustav Henningsen, The Witches’ Advocate. Basque Witchcraft and the Spanish Inquisition (1609–

1614). Reno 1980, 100ff. 44

Im Gegensatz dazu spricht Wolfgang Schild vom vollkommenen Chaos des Hexensabbats, der erst bei

der bildlichen Darstellung geordnet werden musste. Insofern lässt sich hier vom „geordneten“ Hexereistereotyp sprechen. Wolfgang Schild, Hexen-Bilder, in: Franz/Irsigler (Hrsg.), Methoden (wie Anm.26), 329– 413, hier 369f. 45

Burkart, Hexen (wie Anm.36), 27; Roos, Hexenverfolgung (wie Anm.26), 126.

46

Gerhard Schormann, Hexenprozesse in Deutschland. Göttingen 1981, 101; Biesel, Pfeifer (wie Anm.26),

292; Burkart, Hexen (wie Anm.36), 26; Roos, Hexenverfolgung (wie Anm.26), 127; Wilde, Zaubereiprozesse (wie Anm.26), 268; Moeller, Willkür (wie Anm.15), 318; Rolf Schulte, Hexenverfolgung in Schleswig-Holstein 16.–18.Jahrhundert. Heide 2001, 91.

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homoerotische 47 oder echte sodomitische Praktiken umfängliche Einschreibung in die Imaginationen fanden. Dies gilt insbesondere für Darstellungen mit ihren geordneten Abbildern von Sabbat und Buhlschaft. Der Teufel teilte mit Frauen als incubus, mit Männern dagegen als succuba das Lager. 48 Zum Beischlaf verwandelte er sich in der Regel in eine menschliche Gestalt, auch wenn Anklänge der Sodomie immer unterlegt blieben, da einzelne Körperteile die Tiergestalt sichtbar machten. Der sodomitische Verkehr mit dem Teufel als Bock oder Tier blieb jedoch – häufig in Zusammenhang mit anderen kultischen Verehrungen und orgiastischen Ausschweifungen – Ausnahmeerscheinung der gelehrten Dämonologie. Während bei der Homosexualität vielleicht noch argumentiert werden könnte, es handle sich hierbei tatsächlich um ein gesellschaftlich weitgehend unbekanntes oder wenigstens hartnäckig negiertes Phänomen 49, war Sodomie ein offizielles Delikt, das die Homosexualität zudem mitunter integrierte. Hier dürften sich die Bruchlinien zwischen der wissenschaftlichen Zuspitzung eines Diskurses und der individuellen Deutung offenbaren, in der Homosexualität und Sodomie offenkundig wenig Relevanz besaßen. Die Narrative differieren regional und zeitlich erheblich in der Art und Weise der Stereotype der Teufelsbuhlschaft als auch im Ausmaß der Karikierung der göttlichen Ordnung. Die konkreten Verkehrungsmuster hängen von den spezifischen Funktionen der einzelnen Textsorten ab und lassen sich unter anderem daher erklären. Das Torturfabulat im baskischen Inquisitionsprozess enthielt etwa klar auf kirchlich-liturgische Organisationsstrukturen abgestellte orgiastisch-kultische Verkehrungsmotive, während der weltliche Prozess im ländlichen Saarland Ehe- und Geschlechterverhältnisse invertierte, denen solche Aspekte fehlten. 50 In Mitteleuropa lassen sich sehr unterschiedlich konzipierte Vorstellungen von Teufelspakten finden. Zugleich zeigen die Darstellungen die Grenzen der Perversion. Vorwiegend die Torturfabulate repräsentieren über die Ordnung der Geschlechter hinaus zusätzlich Referenzen der sozialen Ordnung. Die Urgichten thematisie-

47 Biesel, Pfeifer (wie Anm.26), 291. 48 Burkart, Hexen (wie Anm.36), 27. 49 Bernd-Ulrich Hergemöller, Einführung in die Historiographie der Homosexualitäten. Tübingen 1999, 44f. 50 Eva Labouvie, „Gott zu Ehr, den Unschuldigen zu Trost und Rettung“. Hexenverfolgung im Saarraum und den angrenzenden Gebieten, in: Gunther Franz/Franz Irsigler (Hrsg.), Hexenglaube und Hexenprozesse im Raum Rhein-Mosel-Saar. Trier 1995, 389–404, hier 399.

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ren mit der Tisch- und Tanzordnung auf dem Hexensabbat Erfahrungen sozialer Distinktion und Hierarchie. Arm und Reich kam zwar ständeübergreifend zum Hexensabbat zusammen, die existierende soziale Ordnung erfuhr allerdings vollständige Bekräftigung. Während die Reichen sozial herausgehoben in goldenen Kutschen vorfuhren und sich zum König bzw. zur Königin des Sabbats küren ließen, denen letztlich allein das Homagium an den Teufel durch den rituellen Afterkuss und Vortanz zukam, trugen die sozial Schwächeren die Mühen der Versorgung und die Arbeitslast, ohne dafür einen gerechten Lohn erwarten zu dürfen. Die Aussagen zur sozialen Ausgestaltung des Hexensabbats verzichten auf eine Kritik an der Übertragung der weltlich-ständischen Hierarchie in die teuflische Gesellschaft. Weder etablierte sich eine an den sittlichen Verwerfungen oder am schädigenden Potential orientierte Rangordnung der dämonischen Gesellschaft, noch fand eine Auflösung oder gar Verkehrung jeder ständischen Ordnung statt. Nicht die an ihren fettbespritzten Tiegeln emsige Agentin des Leidens erfuhr im Hexensabbat soziale Aufmerksamkeit, sondern die sozial etablierten Stände des Diesseits. Auf diese Weise reflektieren die Geständnisse zwar die soziale Lage der Betroffenen, Platz für sozialutopische Entwürfe (etwa einer Leistungsgesellschaft) bot die Hexereiimagination unter der Aufsicht des Gerichts jedoch nicht. Insgesamt entfaltet sich die fiktive Beschreibung der Gesellschaft des Teufels weder als animistische und damit im Diesseits eingelagerte Welt 51 noch als das von Wolfgang Schild diagnostizierte Chaos 52. Sie wird vielmehr als spiegelbildlich konstruierte Gegenwelt des diesseitigen Kosmos verstanden. Die Geisterwelt überlagert nicht das Diesseits und ist so in jedem Moment nur einen Griff weit entfernt, sondern befindet sich im spiegelbildlichen Gegenüber, mit dem sich gezielt über Rituale der Verkehrung Kontakt herstellen lässt. Dies erweist sich in der dualistischen Gesamtkonstruktion des dämonologischen Hexenglaubens mit seiner Vielzahl von invertierenden Elementen. Dies erweist sich aber genauso in den zum Teil äußerst detailgenauen Projektionen einzelner Narrative der Urgichten. So kann der Teufel den Geschlechtsakt lediglich verkehrt herum ausüben, auf dem Hexensabbat tanzen die

51

Plastisch vermittelt bei Bernd Roeck, Die Verzauberung des Fremden. Metaphysik und Außenseiter-

tum in der frühen Neuzeit, in: Hartmut Lehmann/Anne Charlotte Trepp (Hrsg.), Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17.Jahrhunderts. Göttingen 1999, 319–336, hier 326f. und 330–332. 52

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Schild, Hexen-Bilder (wie Anm.44), 369f.

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Trierer Hexen üblicherweise linksherum, in Lothringen Rücken an Rücken. 53 Wer einen Blick auf die Hexengesellschaften erhaschen wollte, war gezwungen, sich zu besonderen Zeiten rückwärts über die Schulter umzublicken. 54 Sündhaftes Fluchen galt als Mittel zur Beschwörung des Teufels. Ein Gebet rückwärts gesprochen konnte schwarze Magie bewirken. 55 In dieser Hinsicht gleicht das dämonologische Hexereiparadigma hermetischen Denkfiguren („wie oben so unten“) in ihrer Form der Analogiebildung. Die Ordnung des Diesseits gleicht der Ordnung der teuflischen Parallelwelt, durch den Spiegel als Kehrbild projiziert. Die Ordnung wird nicht aufgehoben, sie wird überaus systematisch invertiert.

II. Verkehrungsritual und Sozialkritik Die Versuchung ist groß, die beiden Topoi „Geschlecht“ und „soziale Hierarchie“ als zwei Verkehrungsmotive gesellschaftlicher Ordnung zu interpretieren, denen eine unterschiedliche Performanz zukommt: Während das Geschlechterverhältnis ein variables System vielfältiger individueller Interaktionsmuster widerspiegelt und in den Verkehrungsstereotypen umfassende Integration erfuhr, repräsentierte sich die ständische Ordnung als festgefügter, gottgegebener und nicht zu verkehrender Kosmos sozialer Hierarchie. Die Geschlechterordnung, könnte man daher schlussfolgern, ließ eher Formen der Ironisierung und Verkehrung zu als die Ständeordnung. Sie war also auch das sozial in höherem Maße gestaltbare, weniger gesellschaftlich tabuisierte Phänomen. Familiäre Kontexte und Geschlechterbeziehungen der patriarchalen Gesellschaft besaßen hypothetisch also quantitativ und qualitativ mehr Möglichkeiten für Aushandlungs- und Anpassungsprozesse. Angesichts der hohen sozialen Barrieren des 16.Jahrhunderts scheint diese Argumentation mehr als passfähig. Umso überraschender fällt ein kontrollierender Blick auf die direkten Bezüge zur 53 Biesel, Pfeifer (wie Anm.26), 296, 300. Ähnlich auch Burkart, Hexen (wie Anm.36), 41. Die Tänzer erschienen teilweise nackt und wechselten schnell die Partner. 54 Hanns Bächtold-Stäubli (Hrsg.), Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Berlin/New York 1987. Bd. 9, Sp.934. 55 Keith Thomas, Religion and the Decline of Magic. Studies in Popular Beliefs in Sixteenth and Seventeenth Century England. New York 1971, 43.

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Geschlechter- und Sozialkritik im Rahmen von Magieprozessen aus. Bekanntlich war die Zuschreibung der Hexerei ein klar geschlechtsspezifisches Phänomen. Selbst wenn man die konfessionellen Differenzen berücksichtigt, waren häufig mehr als drei Viertel aller Angeklagten weiblich. Gerade in lutherischen Territorien kletterte die misogyne Zuspitzung teilweise über die 90-Prozent-Marke. 56 Alleinstehende Frauen, namentlich Witwen der unteren Schichten, gehörten zu den bevorzugten Opfern der Hexenverfolgung, sowohl was ihre Denunziation als auch was ihre Verurteilungshäufigkeit betraf. 57 Nicht zufällig erblickte die Frauenbewegung im Stereotyp der Teufelsbuhlschaft einen durch Frauen artikulierten Protest, in dem sich die Proklamation sexueller Freiräume als Widerstand gegen die patriarchalische Gesellschaft deuten ließ. 58 Allerdings sucht man über die Verkehrungsmotive sittlicher bzw. geschlechtsspezifischer Ordnung im Hexensabbat und in der Teufelsbuhlschaft hinaus meist vergeblich nach Formen der Kritik an der Geschlechterhierarchie der Vormoderne. In welcher Weise auch immer die intensive Misogynie, Polarität 59 oder die gesellschaftliche Rollenzuweisung auf die geschlechtsspezifischen Zuschreibungsmuster von Hexerei einwirkten 60, sie zeitigten bei den Betroffenen selbst kaum Reaktionen. Die geschlechtsspezifische Zuschreibung des Hexereistereotyps erfuhr kaum Kritik, schon gar nicht in der Projektion von Geschlechtergerechtigkeit oder einer individuellen Abfederung misogyner Interpretationen vor Gericht. Solche Anklänge bieten nicht einmal Verfahren, die als reine Stellvertreterprozesse zu betrachten sind. In diesen Fällen gingen ein Großteil der nachbarschaftlichen Konflikte und/oder magischen Delikte von männlichen Familienmitgliedern aus, vor Gericht fanden sich später jedoch die Frauen wieder. Damit bieten solche Konstellationen Extrembeispiele für die generell familienbezogene Interpre-

56

Schulte, Hexenmeister (wie Anm.24), 80–82.

57

Uschi Bender-Wittmann, Gender in der Hexenforschung. Ansätze und Perspektiven, in: Ahrendt-Schul-

te u.a. (Hrsg.), Geschlecht (wie Anm.41), 13–38, 27. 58

Ines Brenner/Gisela Morgenthal, Sinnlicher Widerstand während der Ketzer- und Hexenverfolgungen.

Materialien und Interpretationen, in: Gabriele Becker /Silvia Bovenschen/Helmut Brackert (Hrsg.), Aus der Zeit der Verzweiflung. Zur Genese und Aktualität des Hexenbildes. Frankfurt am Main 1977, 188–239, hier 227. 59

Stuart Clark, The „Gendering“ of Witchcraft in French Demonology. Misogyny or Polarity?, in: French

History 5, 1991, 426–437. 60

Eva Labouvie, Perspektivenwechsel. Magische Domänen von Frauen und Männern in Volksmagie und

Hexerei aus der Sicht der Geschlechtergeschichte, in: Ahrendt-Schulte u.a. (Hrsg.), Geschlecht (wie Anm.41), 39–56.

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tation von Hexerei, wobei die Fixierung des Verbrechens auf die (älteren) Frauen letztlich gar nicht mehr entscheidend für die Denunzianten bzw. Ankläger war. Sie erfolgte entlang des typischen frühneuzeitlichen Rollen- und Arbeitsteilungsmodells bzw. der Orakelkultur, die Magie geschlechtsspezifisch interpretierte. 61 Der Vernichtungsfeldzug richtete sich im typischen Hexenprozess gegen die vermeintliche Verursachung des Leids und oft nicht gegen einen ausgemachten individuellen Feind, auch wenn die Hexenforschung unter dem Label der Instrumentalisierung hier in den letzten Jahren anders gelagerte Problemfälle intensiv diskutiert. 62 Letztlich imaginierte man die Existenz von Hexenfamilien, die das magische Verbrechen innerfamiliär tradierten und die Keimzelle der Hexensekte bildeten. Prominent stand daher die Wahrnehmung der familiären Ehre im Mittelpunkt, die gegen Hexereibezichtigungen teilweise mit äußerst massiven Methoden und Mitteln verteidigt wurde oder aber zum schnellen Ausschluss der bezichtigten Familienmitglieder führte. Kritik an der geschlechtsspezifischen Ungerechtigkeit hatte in diesem Kontext keinen Raum. Ein geschlechtsspezifisch-kritischer Diskurs existierte außerhalb des Sabbat- bzw. Buhlschaftmotivs im Hexenglauben nicht. Einen umgekehrten Befund ergibt der Topos der sozialen Ungerechtigkeit. Eine Vielzahl von Prozessakten überliefert mehr oder weniger verschlüsselte Aussagen, die massive Kritik an der sozial parteiischen Rechtskultur übten. Die soziale Schieflage im Kriminalverfahren war immens und äußerte sich beispielsweise in einer sehr ungleichen Verteilung der Todesurteile. Konnten sich in mecklenburgischen Hexenprozessen mehr als zwei Drittel aller Angeklagten aus den Oberschichten einem Todesurteil entziehen, gelang dies in den Unterschichten nicht einmal der Hälfte. Die suggestive Gerichtsführung, die Denunziationen und Bezichtigungen sozial filterte bzw. andere Formen der Rechtsbeugung ermöglichte, wurde daher in

61 Ebd.45; sowie Alison Rowlands, Männer in Hexenprozessen. Ein historiographischer Überblick aus anglo-amerikanischer Perspektive, in: @KIH-eSkript. Interdisziplinäre Hexenforschung online 1, 2009, Sp.23–39, in: historicum.net, http://www.historicum.net/no_cache/persistent/artikel/7104/ (10.4.2011). 62 Rita Voltmer, Monopole, Ausschüsse, Formalparteien. Vorbereitung, Finanzierung und Manipulation von Hexenprozessen durch private Klagekonsortien, in: Herbert Eiden/Rita Voltmer (Hrsg.), Hexenprozesse und Gerichtspraxis. Trier 2002, 5–67; dies., Hexenprozesse und Hochgerichte, in: ebd.475–525; dies., Hexenverfolgung und Herrschaftspraxis. Einführung und Ergebnisse, in: Rita Voltmer (Hrsg.), Hexenverfolgung und Herrschaftspraxis. Trier 2005, 1–22; Gerd Schwerhoff, Strafjustiz und Gerechtigkeit in historischer Perspektive – das Beispiel der Hexenprozesse, in: Andrea Griesebner/Martin Scheutz/Herwig Weigl (Hrsg.), Justiz und Gerechtigkeit. Historische Beiträge (16.–19.Jahrhundert). Innsbruck 2002, 33–40, hier 34, 39.

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den Prozessen häufig angeprangert. „Die Armen zu Esch, die Reichen in die Tesch“ lautete eine reichsweit zu findende Sprachformel, mit der Angeklagte auf solche Ungerechtigkeiten im Prozess und unter der Folter hinwiesen. 63 Viele Hexenverfolgungen begannen mit einer Anklage von sozial unterprivilegierten Menschen, erlebten dann allerdings eine rasche soziale Ausweitung bei der Verfolgung der von diesen Ursprungstätern bezichtigten Personen. Eine ähnliche Entspezifizierung lässt sich auch anhand der Geschlechtsspezifik konstatieren. Im 17.Jahrhundert kam es häufiger zur Anklage von Männern und Kindern, sie blieb aber weit hinter der sozialen Entkoppelung zurück. 64 Nicht selten beinhaltete die Bezichtigung von sozial Begünstigten eine Form der retorsiv formulierten sozialen Rache 65: Die Anklagen sprangen von den Armen auf die Elite der Gesellschaft über. Solche Beschuldigungen erfüllten ähnlich wie bei der Geschlechterproblematik mitunter Stellvertreterfunktionen. Da die Richter und Protagonisten vor Gericht meist – wenn auch nicht durchgehend – vor einer prozessualen Vereinnahmung geschützt waren 66, richteten sich die Bezichtigungen auf andere Vertreter der Oberschichten. Der Generaltopos gegen reichere Personen imaginiert überdies oft das sozialunverträgliche bzw. sozialschädliche Verhalten dieser Personen. Gerade gegen soziale Aufsteiger konnte mit Hilfe des Hexenglaubens der Vorwurf des unsolidarischen Handelns formuliert werden. Im Verkehrungsparadigma gesprochen, lässt sich aus diesem Reaktionsmuster – das im Konglomerat der heterogenen Faktoren und Interaktionsstränge der Hexenverfolgung natürlich nur eins von vielen repräsentiert – eine doppelte Inversion des Hexensabbatmotivs filtrieren. Das Verkehrungsmotiv des Hexenglaubens projizierte eine Gegenordnung zur liturgischen und sakralen Welt der Kirche und vermut-

63

Johannes Dillinger, Hexenverfolgungen in Städten, in: Franz/Irsigler (Hrsg.), Methoden (wie Anm.26),

129–165, hier 149. 64

Wolfgang Mährle, „O wehe der armen seelen“. Hexenverfolgungen in der Fürstpropstei Ellwangen

(1588–1694), in: Johannes Dillinger/Thomas Fritz/Wolfgang Mährle (Hrsg.), Zum Feuer verdammt. Die Hexenverfolgungen in der Grafschaft Hohenberg, der Reichsstadt Reutlingen und der Fürstpropstei Ellwangen. Stuttgart 1998, 325–500, hier 399–426. 65

Walz, Hexenglaube (wie Anm.12), 348–352. Ähnliche Belege für andere Deliktformen bei Monika

Mommertz, Von Besen und Bündelchen, Brandmahlen und Befehdungsschreiben. Semantiken der Gewalt und die historiographische Entzifferung von „Fehde“-Praktiken in der ländlichen Gesellschaft, in: Magnus Eriksson/Barbara Krug-Richter (Hrsg.), Streitkulturen. Gewalt, Konflikt und Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft (16.–19.Jahrhundert). Köln/Weimar/Wien 2003, 197–248. 66

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Dillinger, Hexenverfolgungen (wie Anm.63), 152f.

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lich der Hermetik. Es diente damit zur Durchsetzung und Legitimation eines neuen Interpretationsschemas von Häresie, das zunächst im innerkirchlichen Prozedere Akzeptanz finden musste und daher auf religiös-christliche Bezugssysteme rekurrierte. Das zur Durchsetzung der frühen Hexenverfolgung im späten 15. Jahrhundert von Heinrich Kramer zusammengetragene und neu formulierte Paradigma der Hexerei erfuhr fast hundert Jahre später – trotz einer intensiven kritischen Diskussion – oberflächlich betrachtet eine relativ variationslose Übernahme, was die äußere Phänomenologie des Hexereistereotyps betrifft. Allerdings erweist sich in den regionalen Ausdifferenzierungen einerseits und in den individuellen Ausgestaltungen andererseits durchaus eine intensive Transformation solcher Verkehrungsmotive. Aus dieser Perspektive verbietet es sich, von einem reichsweit stabilen Sabbatstereotyp zu sprechen. 67 Die Forschung ist hier noch zu einer sehr viel präziseren Analyse von individuellen, regionalen, religions- und vor allem konfessionsspezifischen Imaginations- und Definitionsleistungen verpflichtet. Auf der Ebene der sozialen Akteure, also im vorgerichtlichen und gerichtlichen Kontext, erweist sich das Verkehrungsmotiv des Hexenglaubens als wenig passfähig. Es entstammt einer anderen Reflexionsebene und spielt für die prozessuale „Alltagswirklichkeit“ eine geringe Rolle. Die Phänomenologie des Hexensabbatmotivs führt bei einer Interpretation abseits des originären Referenzsystems (christlichkirchliche Liturgie) als Verkehrungsmotiv sozialer oder geschlechtsspezifischer Ordnung zu nicht eindeutigen, ja gegensätzlichen Schlüssen. An dieser Stelle zeigt sich eine signifikante Differenz zwischen Verkehrung und Umdeutung bzw. Transformation. Während Erstere tatsächlich ein Gegensatzpaar von gut/böse etabliert, manifestiert sich in der Transformation eine Anpassungsleistung dieses Schemas auf eine andere lebensweltliche Bezugsebene, die keine klare inhaltliche Verknüpfung mehr besitzt, dennoch aber während der Folter hergestellt werden muss. Das Verkehrungsmotiv erfährt damit eine erneute Umdeutung, die letztlich dazu dient, subjektive Erfahrungen mit dem Verkehrungsmotiv in Einklang zu bringen. Von der Phänomenologie lässt sich hier jedoch kaum auf die Sinnzuschreibung schließen.

67 Iris Hille, Der Teufelspakt in frühneuzeitlichen Verhörprotokollen. Standardisierung und Regionalisierung im Frühneuhochdeutschen. Berlin 2009, bes. Kap. 5, zusammenfassend 248–251.

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III. Verkehrung im Kontext agonaler Kommunikation Der Hexenglaube unterscheidet sich vom festlichen Verkehrungsritual, wie es bislang zumeist interpretiert wurde, durch zwei weitere wesentliche Merkmale: Erstens bleibt bisher völlig unklar, in welchen Kontexten der Hexenglaube eine Ironisierung integrieren konnte, die letztlich entscheidende offene Interaktionsmöglichkeiten für die Infragestellung gesellschaftlicher Ordnung eröffnete. Man könnte die Ironisierung aus diesem Blickwinkel als gewaltlose, kommunikative Strategie betrachten, um gesellschaftliche Innovationen anzustoßen. Dies verweist letztlich auf die Frage nach dem Durchsetzungsgrad bzw. der Performanz solcher Strategien etwa im Vergleich mit gewaltsamen Formen des Protests bzw. der sozialen Konfrontation, die mittlerweile als Strukturmerkmale vormoderner Gesellschaften charakterisiert wurden. 68 Was aus der Perspektive des ursprünglichen Anliegens der Inquisition durchaus satirische Anklänge fand – die innerkirchliche Reformation, die Professionalisierung und Moralisierung des geistlichen Standes –, scheint bei der Reklamation von Häresie und der Zuspitzung des Hexenglaubens als Weltverschwörung kaum denkbar gewesen zu sein. Die leicht spöttischen Untertöne der hochmittelalterlichen Superstitionskritik, die den Zauberglauben als Einfältigkeit abtaten, verschwanden zusehends. Der Hexenglaube entwickelte sich an der Oberfläche der Gesellschaft rasch zum tabuisierten Thema, das weder Kritik noch Humor zu integrieren vermochte. Dies hebt den Hexenglauben aus der Reihe von Verkehrungsritualen heraus, deren scherzhafte Inszenierungen geradezu strukturelles Merkmal der eher spielerischen Ritualisierung waren. Es erweist sich, dass scherzhafte Parodie und Verkehrung im Hexenglauben (wie in diesem Band auch für andere Verkehrungsrituale gezeigt) nicht konstitutiv verknüpft sind. Der rigide Umgang mit den Kritikern der Hexenverfolgung in der frühneuzeitlichen Wissenschaftslandschaft erweist dies ebenso wie die Beispiele von lokalen Gegnern der Hexenverfolgung, die sich selbst schnell

68

Magnus Eriksson/Barbara Krug Richter, Streitkulturen – Eine Einführung, in: Eriksson u.a. (Hrsg.),

Streitkulturen (wie Anm.65), 1–16, hier 5; Ralf Pröve, Gewalt und Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Formen und Formenwandel von Gewalt, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 47, 1999, 792–806; Gerd Schwerhoff, Social Control of Violence – Violence as Social Control. The Case of Early Modern Germany, in: Pieter Spierenburg/Herman Roodenburg (Eds.), Social Control in Europe. Vol.1. Ohio 2004, 220–246; Markus Meumann/Dirk Niefanger (Hrsg.), Ein Schauplatz herber Angst. Wahrnehmung und Darstellung von Gewalt im 17.Jahrhundert. Göttingen 1997.

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dem Verdacht der Hexerei ausgesetzt sahen. Es wäre allerdings ein fataler Trugschluss, wollte man von diesem fundamentalistisch-autoritären Umgang mit dem Hexenthema auf eine reibungslose Akzeptanz der Verfolgungen und einen autokratischen Umgang mit dem Thema schließen. Ob und in welchem Umfang Hexenverfolgungen und Hexenglauben im 16. und 17.Jahrhundert zum Gegenstand von Ironie werden konnten, wäre ein interessantes Forschungsprojekt, das den Grad der Tabuisierung aus dieser Perspektive wissenschaftskritisch hinterfragen könnte. Der Topos vom „dummen Teufel“ in der Festkultur des Spätmittelalters und seine Genese im Zeitalter der Hexenverfolgung böten hier zahlreiche Ansatzpunkte. Ähnliches gilt für das Stereotyp des machtlosen Teufels. Der reformierte Zürcher Theologe Ludwig Lavater schilderte in seiner reformationskritischen Auseinandersetzung mit dem Gespensterglauben etwa mehrere Situationen, die noch an der Schwelle zur großen Hexenverfolgung überaus subtil die Lächerlichkeit des „Aberglaubens“ markierten. Aus der Terroristin der Frühen Neuzeit formte er eine alte Vettel, die lediglich als Kinderschreck Potential besaß. Daneben karikierte er junge Gesellen, die in „Teuffelskleidern“ gehüllt schamlos Gelegenheiten zum unzüchtigen Treiben ausnutzten oder sich gar aus Gaukel mit einem Totenbein auf dem Kirchhof tanzend verlustierten. 69 Er deutete das Hexenstereotyp ironisierend als Versatzstück generativer Abgrenzung und charakterisierte es (1569!) als völlig veraltetes Phänomen. Ebenso besaß Johannes Weyers Argumentation eine gewisse verkehrende Ironie, indem er die Sozialtopographie der Dämonologie auf den Kopf stellte. Während er in den gebildeten Esoterikern die eigentlichen Schwarzkünstler erblickte, skizzierte er die Hexen lediglich als kranke alte Weiber. 70 Bereits Carl Binz wertete seine erst 1577 erschienene Schrift „Pseudomonarchia daemonum“ als reine Spottschrift auf die „Mythologie der Hölle“. 71 Mit ganz anderen Funktionen bedienten sich Supplikations- und Verteidigungsschriften mitunter der Komik, um Zeugen unglaubwürdig erscheinen zu lassen oder Ver-

69 Katrin Moeller, Ludwig Lavater, in: Gudrun Gersmann/Katrin Moeller/Jürgen Michael Schmidt (Hrsg.), Lexikon zur Geschichte der Hexenverfolgung, in: historicum.net, http://www.historicum.net/ no_cache/persistent/artikel/5519/ (10.4.2011). 70 H.C. Erik Midelfort, Johann Weyer in medizinischer, theologischer und rechtsgeschichtlicher Hinsicht, in: Hartmut Lehmann/Otto Ulbricht (Hrsg.), Vom Unfug der Hexen-Processe. Gegner der Hexenverfolgung von Johann Weyer bis Friedrich Spee. Wiesbaden 1992, 53–64, hier 54ff. 71 Carl Binz, Doctor Johann Weyer. Ein rheinischer Arzt, der erste Bekämpfer des Hexenwahns. Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung und der Heilkunde. Bonn 1869 (Ndr. Wiesbaden 1969), 130ff.

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dachtsmomente auszuhebeln. Alle Argumentationsmuster nutzen Ironisierungen oder Verkehrungen, um die Dominanz eines vorherrschenden Paradigmas überhaupt angreifbar zu machen und sich die Chance einer Akzeptanz zu sichern. Für eine geschichtswissenschaftliche Wahrnehmung des „ungefährlichen“, in der Gemeinschaft lange tolerierbaren oder gar „ironischen“ frühneuzeitlichen Hexenglaubens erweist es sich als methodisch problematisch, dass jeweils von einer – insbesondere durch die Prozessführung – agonal bestimmten, umfänglichen Fehde zwischen mindestens zwei Kontrahenten bzw. zwischen Angeklagtem und Ankläger, auf den gesellschaftlichen und publizistischen Hexenglauben insgesamt geschlossen wird. Betrachtet man allerdings einen nicht direkt in den Streit, aber in den Prozess eingebundenen Kreis von Akteuren, zeigt sich ein durchaus flexibles Verhaltensrepertoire, das massive Zeugenaussageverweigerung, verschiedene Verteidigungsmöglichkeiten und außergerichtliche Hilfeleistungen einschloss. 72 Schon hier fällt die Reaktion kaum eindeutig oder geradlinig verurteilend aus. Damit soll keineswegs einer neuen romantisierenden Interpretation der Hexenverfolgung der Weg geebnet werden, die nun die Vorbehalte gegen den Hexenglauben zur Rehabilitierung der frühneuzeitlichen Gesellschaft benutzt. Die polarisierten Handlungsweisen deuten letztlich direkt auf die konfliktreichen Aushandlungsprozesse hin, welche die Überführung des allgemeinen Hexenglaubens in den jeweils konkreten, individuell legitimierten und öffentlich geäußerten Verdacht gegen die Nachbarin erforderten. Hier manifestierten sich zahlreiche Spannungen, die aus der Gleichzeitigkeit von mindestens zwei verschiedenen Deutungsoptionen der christlichen Nächstenliebe und der emotionalen Abgrenzung zur Formulierung einer Feindschaft ergaben. Man hat es also mit einem oft dual konzipierten System von Inklusions- und Exklusionsmechanismen zu tun. Hier zeigt sich der zweite große Unterschied zu den bisher untersuchten weitgehend festlichen Verkehrungsriten. Es erfolgt keine spielerische und daher konfliktfrei wieder aufzuhebende Umdeutung der „Wirklichkeit“, die demonstrativ eine zweifellos verkehrte Welt vor Augen führt. Das Verkehrungsritual dient hier zur Proklamierung eines Verdachtes, der letztlich so ungeheure Konsequenzen haben konnte, dass eine direkte Ausdrucksform zwangsläufig zur

72

Groß, Minden (wie Anm.20), 214–236; Moeller, Willkür (wie Anm.15), 340–344; Robin Briggs, Verteidi-

gungsstrategien gegen Hexereibeschuldigungen. Der Fall Lothringen, in: Franz/Irsigler (Hrsg.), Methoden (wie Anm.26), 109–128.

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völligen sozialen Destruktion geführt hätte und daher stattdessen vordergründig unsichtbar eine Wahrnehmungsverschiebung vorgenommen wurde. Techniken der Verkehrung erleichterten auf diese Weise den Transformationsprozess der guten Nachbarin zur Hexe und boten Handlungsoptionen, um Attributionsvorgänge zu verbalisieren und den Verdacht überhaupt mehr oder weniger öffentlich zu kommunizieren. Es ist daher beachtlich, dass die vielleicht einzigen tatsächlich als dezidierte Verkehrungsrituale anzusprechenden Verhaltensweisen im Hexenglauben explizit bei der Etablierung des Hexereiverdachts Anwendung fanden, auch wenn ihre Körpersymbolik nicht immer bekannt wird. Situationen, die Anlass zur Schadenszauberimagination gaben, waren selten eindeutig als magische Interaktionen identifizierbar. Rainer Walz wies in seiner fundamentalen Studie darauf hin, dass sich die Hexen kaum mit einschlägigen Verhaltensweisen des Drohens oder Schimpfens hervortaten. 73 Eine klassische magische Handlung verband sich beispielsweise mit der Beschenkung von oder dem körperlichen Kontakt mit Kindern. Was eigentlich als Akt der christlichen Nächstenliebe galt (bis heute aber elterliche Skepsis provozieren kann), verkehrte sich hier in ein schwerwiegendes Verfluchungsritual. In einem mecklenburgischen Hexenprozess strich beispielsweise eine verdächtige Frau einem Kind über das Haar und fragte nach, ob es wohl die Hand zum Gruß reichen würde. Diese vordergründig wohlmeinende Alltagsgeste interpretierte die Mutter (wenigstens) retrospektiv als Schadenszauberakt. 74 Sehr ähnlich interpretierte man in konkreten Verdachtsszenarien Grußformeln, Segenswünsche, nachbarschaftliche Hilfeleistungen oder nicht eingeforderte Wohltaten. So wie diese Magieakte jedoch kaum eindeutig ausfielen, gab es auch nur verhältnismäßig selten dezidiert aggressive Beschuldigungsstrategien der Ansagung, Beschreiung, Befehdung oder Gewaltanwendung etc. 75 Synchron konstruiert sind die darauf reagierenden Verteidigungsstrategien. Offensiv agonale Verhaltensweisen äußerten sich häufig erst als Konsequenz einer langen Verdachtsgenese und markieren die Eskalationsphase der Konflikte, kurz vor oder nach Eintritt in die gerichtliche

73 Walz, Hexenglaube (wie Anm.12), 40, 42f., 50–55, 515; ähnlich: Groß, Minden (wie Anm.20), 202, 208– 210. In vollständig anderer Interpretation: Keith Thomas, Die Hexen und ihre soziale Umwelt, in: Claudia Honegger (Hrsg.), Die Hexen der Neuzeit. Studien zur Sozialgeschichte eines kulturellen Deutungsmusters. Frankfurt am Main 1978, 256–308, hier 291ff. 74 Landeshauptarchiv Schwerin, Domanialamt Doberan 610, unpaginiert, 15.Februar 1667. 75 Rainer Walz, Agonale Kommunikation im Dorf der Frühen Neuzeit, in: Westfälische Forschungen 42, 1992, 215–251.

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Auseinandersetzung. Viele Bezichtigungsformen konzentrierten sich dagegen auf eher sozial geschmeidige, interpretativ dehnbare und eben nicht eindeutig entzifferbare Verkehrungsmetaphern, die im Face-to-Face-Kontakt der Anwesenheitsgesellschaft überhaupt eine verbale Kommunikation erlaubten. 76 Im Kontext der Verkehrungsrituale scheint dieses Moment als zweites wichtiges Unterscheidungsmerkmal zentral: Der populäre Hexenglaube formte Inversionsmetaphern zur Kommunikation des Hexereiverdachts, gerade weil sie Interpretationsspielräume mit unklaren Bezügen, differierenden Bedeutungszuschreibungen und Möglichkeiten zur individuellen Umwertung erlaubten und weil sie nicht eindeutig fixiert waren. Dies ermöglichte die Interpretation derselben Konfliktsituation in verschieden konnotierten Referenzräumen des Magischen bzw. Nichtmagischen. Da auch die Proklamation des Hexereiverdachts sozial riskant ausfallen konnte, blieb der Verdacht meist solange unpräzise formuliert, nebulös und für die Beschuldigten kaum nachvollziehbar, bis erste niedrigschwellige rechtliche Handlungsweisen zur öffentlichen Proklamierung des Verdachts führten. Allerdings erfolgten die damit angesprochenen Rechtsrituale des Ansagens, der Bezichtigung ins Angesicht oder gar der Beschreiung häufiger erst kurz vor Eröffnung eines Rechtsverfahrens. Erst ab dieser Veröffentlichung setzte jeweils eine dezidiert agonale Verhaltensstrategie ein, die sehr schnell den Charakter einer Fehde annahm bzw. vor Gericht endete. In entsprechender Weise indifferent und damit ineffektiv war andererseits die vorgerichtliche Abwehrstrategie, die kaum zur expliziten Verteidigung gegen die Beschuldigungen taugte. Oft ließen sich damit beide Streitpartner auf eine konfliktvermeidende Eskalationsform ein, die eine fortgesetzte öffentliche Interaktion aufrechterhielt, individuell jedoch den Hexereiverdacht zementierte. Auf diese Weise etablierte sich eine von Rainer Walz so prägnant beschriebene paradoxe Kommunikation, ohne im Regelfall tatsächlich phänomenologisch agonal-gewaltsam bestimmt zu sein. Vielmehr blieben ironisierende, verkehrende Zuschreibungen repräsentative Auseinandersetzungsform des vorgerichtlichen Handelns, die den Akteuren letztlich den Fortbestand ihrer sozialen Interaktionsfähigkeit ermöglichte.

76

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Moeller, Willkür (wie Anm.15), 298–315.

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IV. Rauhnächte Betrachtet man die imaginierten Stereotype von Teufelspakt und Sabbat sowie die Verkehrungsrituale bei der Etablierung des Hexereiverdachts, drängt sich der Schluss auf, der Hexenglaube besitze kaum analoge Merkmale zu den Verkehrungsritualen des Festes. 77 Vor allem mit Blick auf Erzähltraditionen und Narrative lässt sich jedoch noch eine dritte Gruppe von Verkehrungssymboliken identifizieren, die direktere Parallelen aufweist. Ein zwar durch die volkskundliche Forschung des 19. und frühen 20.Jahrhunderts sehr intensiv verfolgtes 78, in seiner Bedeutung wie auch in seiner tatsächlichen rituellen Ausgestaltung angesichts weitgehend fehlender Studien zur Vormoderne bisher kaum fassbares Phänomen sind die sogenannten „Zwölften“ oder Rauhnächte. Sie bezeichnen meist die Zeit zwischen – regional stark variierend – dem Ende des Kirchenjahres (Sonntag vor dem ersten Advent, heute Christkönigsfest) oder Thomasnacht (Wintersonnenwende), meist jedoch Christi Geburt/Weihnachten und Epiphanie. Neben den beiden die Zeitspanne begrenzenden hohen kirchlichen Feiertagen betont vor allem der Jahreswechsel mit vielfältigen mantischen Funktionszuschreibungen den rituellen Charakter dieser Zeit. Die Rauhnächte wurden aufgrund ihrer fehlenden Passfähigkeit zum christlichen Kalenderjahr regelmäßig als vorchristlicher Mythos gedeutet und besonders im 19.Jahrhundert mit dem Hexenglauben enger verknüpft. Das Terrain ist durch die benannten volkskundlichen Forschungen überaus suggestiv vorgeprägt, versuchten sie seit der Romantik doch die „uralten“ heidnisch-germanischen Traditionen als Fruchtbarkeits- und Totenkult zu belegen. Die Arbeiten vermögen daher zwar einen guten Einblick in die Projektionen des 19.Jahrhunderts und die Erzähltraditionen in Gestalt der Sagen zu geben, sie besitzen jedoch wenig Aussagefähigkeit für die Herkunft, Bedeutung und Ausgestaltung des rituellen Handelns in der Vormoderne. Immerhin erweisen diese Forschungen, wie schwer es fällt, die verschiedenen Stereotype und Symboliken aus einem spezifischen historischen Kontext heraus nach ihrer ursprünglichen Herkunft aus antiken, verschiede-

77 Fugger, Königreich (wie Anm.17), 181ff.; Victor Turner, Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels. Frankfurt am Main/New York 2009, 161ff. 78 Die Literatur ist kaum übersehbar, zumal zahlreiche regionale Studien zum „Aberglauben“ Bemerkungen zu den Rauhnächten bzw. zur Wilden Jagd integrierten. Als Überblick mit verschiedenen Einträgen: Hanns Bächtold-Stäubli (Hrsg.), Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Berlin 1927–1942.

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nen heidnischen, jüdischen oder christlichen Traditionen zu differenzieren, zumal sich ähnliche Motive in ganz unterschiedlichen kulturellen Bezügen und historischen Epochen mit überaus differierenden Sinnzuschreibungen finden lassen. Gleichwohl ist die ältere Forschung von Versuchen der Rekonstruktion längsschnittorientierter oder kulturübergreifender Traditionslinien einer persistent gedachten Volkskultur in charakteristischer Weise gekennzeichnet. Statt solchen Ansätzen zu folgen, steht im Folgenden der Versuch im Mittelpunkt, die phänomenologische Wechselwirkung von Hexenglauben und Rauhnächten zu hinterfragen. Wesentliche Thesen zur Thematik stammen aus der in der Hexenforschung wenig reflektierten magiekritischen Volkskunde. Die in diesem Umfeld entstandenen Arbeiten bemühen sich, die Entfaltung von Magieritualen im größeren Umfang und die wachsende Performanz solcher Praktiken als quasi profanierte Gebräuche christlich liturgischer bzw. katechetischer Praxis 79 oder als selbstreferentielles Resultat der Hexenverfolgung festzuschreiben. 80 Erst im 16. bzw. 17.Jahrhundert bildete sich mit dem Hexenglauben als konstitutivem Bezugsrahmen eine explizit magische Ritualpraxis der „Rauhnächte“ heraus. 81 Während diese Ansätze in der Hexenforschung eine vehemente Ablehnung erfahren haben 82, gab es in jüngerer Zeit vor allem durch die Esoterikforschung nachdrückliche Bekräftigung dieser Lesart. Magietraditionen entfalteten sich nach Monika Neugebauer-Wölk seit dem 15.Jahrhundert vornehmlich als Rezeptionsprozess antiker hermetischer Schriften. 83 Der Hexenglaube markiert damit eine Zäsur im christlichen Glauben, die einerseits dualistische Glaubenskonzeptionen verstärkte, andererseits magische 79

Werner Mezger, Sankt Nikolaus zwischen Kult und Klamauk. Zur Entstehung, Entwicklung und Ver-

änderung der Brauchformen um einen populären Heiligen. Stuttgart/Ostfildern 1993. 80

Dieter Harmening, Superstitio. Überlieferungs- und theoriegeschichtliche Untersuchungen zur kirch-

lich-theologischen Aberglaubensliteratur des Mittelalters. Berlin 1979, bes. 318ff.; Stephan Bachter, Anleitung zum Aberglauben. Zauberbücher und die Verbreitung magischen „Wissens“ seit dem 18.Jahrhundert. Hamburg 2005, bes. 29–31; Christoph Daxelmüller, Zauberpraktiken. Eine Ideengeschichte der Magie. Zürich 1993. In kritischer Auseinandersetzung dazu: Eva Labouvie, Wissenschaftliche Theorien – rituelle Praxis. Annäherungen an die populäre Magie der Frühen Neuzeit im Kontext der „Magie- und Aberglaubensforschung“, in: HA 2, 1994, 287–307. 81

Marianne Rumpf, Perchten. Populäre Glaubensgestalten zwischen Mythos und Katechese. Würzburg

1991, 13, 122–142. 82

Eva Labouvie, Verbotene Künste. Volksmagie und ländlicher Aberglaube in den Dorfgemeinden des

Saarraumes (16.–19.Jahrhundert). St. Ingbert 1992, bes. 18ff.; Walz, Hexenglaube (wie Anm.12), 16–39; Ginzburg, Hexensabbat (wie Anm.2), 297–313; Groß, Minden (wie Anm.20), 22–36. 83

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Neugebauer-Wölk, Wege (wie Anm.10).

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Deutungssysteme habitualisierte und so einen Dechristianisierungsprozess einleitete. Verstehen lassen sich diese Positionen als Abkehr von der Beschreibung der Hexenverfolgung als Bestandteil eines linear konzipierten tiefgreifenden Christianisierungsprozesses, wie er von Robert Muchembled 84 und in anderen Zusammenhängen auch von Keith Thomas 85 Festschreibung fand. Unter anderen Vorzeichen wurde ein ähnlicher Zusammenhang auch in der Reformations- und Konfessionalisierungsforschung 86 kontrovers diskutiert: Über einen eher obrigkeitlich initiierten Disziplinierungsprozess sortierte man danach sukzessive magische Rituale und Deutungszusammenhänge als mit der christlichen Gesellschaft inkompatibel aus und sorgte für ihre Stigmatisierung und Kriminalisierung im Rahmen der Hexenverfolgung. Blicken wir zunächst auf die verschiedenen Narrative über die Rauhnächte im Kontext der Schilderungen im späten 17.Jahrhundert. Die Rauhnächte befinden sich inmitten eines stark angereicherten Spektrums von Vorstellungen, die heute aufgrund von Verkehrungssymboliken in den Blickwinkel der Ritualforschung geraten. Letztlich ließe sich die Abfolge von Saturnalien, Rauhnächten, festum puerorum und Epiphanie fast zu einer christlichen Metaerzählung zusammenbinden. Der sittlichen Verwerfung und Verfehlung der Saturnalien, welche die gewohnte Ordnung sündig auf den Kopf stellten, folgte die Apokalypse der „Wilden Jagd“ in den „Zwölften“, die erst durch die Ankunft des Herrn bzw. Sichtbarmachung des Göttlichen und der Errichtung des neuen Königreiches am 6. Januar ihr Ende fand. 87 Alle Imaginationsformen erweisen sich bereits im späten 17.Jahrhundert als stark miteinander verwoben bzw. in ihren Phänomenen parallelisiert. Es wird aber im Folgenden zu zeigen sein, dass der Hexenglaube und die Rauhnächte keine organi-

84 Muchembled, Kultur des Volks (wie Anm.9), bes. 232–276; in kritischer Auseinandersetzung innerhalb der Hexenforschung: Herbert Eiden, Die Unterwerfung der Volkskultur? Robert Muchembled und die Hexenverfolgungen, in: Voltmer (Hrsg.), Hexenverfolgung (wie Anm.62), 23–40. 85 Thomas, Religion and the Decline of Magic (wie Anm.55). 86 Zur Diskussion insgesamt: Heinz Schilling, Die Konfessionalisierung im Reich. Religiöser und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland zwischen 1555–1620, in: HZ 246, 1988, 1–45, hier 4; Wolfgang Reinhard, Zwang zur Konfessionalisierung? Prolegomena zu einer Theorie des konfessionellen Zeitalters, in: Zeitschrift für historische Forschung 10, 1983, 257–277; Ronnie Po-chia Hsia, Social Discipline in the Reformation.

Central Europe, 1550–1750. London 1989; Heinrich Richard Schmidt, Sozialdisziplinierung? Ein Plädoyer für das Ende des Etatismus in der Konfessionalisierungsforschung, in: HZ 265, 1997, 639–682. 87 Zur frühneuzeitlichen Wahrnehmung und Inszenierung des Epiphaniefestes als Königsfest Christi ausführlich Fugger, Königreich (wie Anm.17).

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sche Verbindung besaßen. Sie repräsentieren keine aufeinander bezogenen Deutungen, sondern markieren einen logischen Bruch. Die Zwölften symbolisieren, jahreszeitlich und kalendarisch logisch platziert, den christlichen Topos der nahenden Endzeit, wie ihn die Flugschriftenpublizistik und Visionsliteratur des späten 16.Jahrhunderts so oft auf das Papier bannte. 88 Grundsätzlich wäre allerdings erst einmal zu eruieren, ab wann die Rauhnächte als magische Metapher mit Anklängen an den Hexenglauben überhaupt historisch fassbar sind und welche Formen einer rituellen Praxis es tatsächlich gab. Frühe Belege liegen mit den Weltchroniken von Johann Böhme (1520) und Sebastian Franck (1534) vor, die jedoch vornehmlich die namensgebende katholische Praxis der Weihräucherung des Wohnraums herausstellten. 89 Auch Perchtenumgänge 90 und gesicherte Nachweise zur expliziten Schilderung der „Wilden Jagd“ 91 im Kontext der christlichen Kultur sind bisher weitgehend auf das 15., eher noch auf das 16.Jahrhundert zu datieren. Ihre Chronologie weicht damit durchaus von anderen Verkehrungsritualen ab 92 und zeigt eher Analogien zum Hexenglauben. Aussagen, die über die stark variierende regional und gruppenspezifisch heterogene Ausgestaltung eines „Festes“ getroffen werden können, bieten lediglich ein weitgespanntes Repertoire von Imaginationsformen und -figuren, nicht unbedingt Rituale. Nur einige stereotype Hauptmotive können hier eine thesenhafte Diskussion finden. 93 In diesen Nächten, die mit einem der wichtigsten christlichen Feiertage überhaupt abschließen, öffnen sich symbolisch die Tore zur metaphysischen Welt. Die Gesellschaften der Toten, Lebenden und metaphysischen Wesen berühren sich direkt und sind für kurze Zeit unmittelbar erfahrbar. Auch diese Symbolik markiert, dass die metaphysische Welt im diesseitigen Alltag gewohnheitsmäßig keine direk-

88

Volker Leppin, Antichrist und Jüngster Tag. Das Profil apokalyptischer Flugschriftenpublizistik im

deutschen Luthertum 1548–1618. Heidelberg 1999, 53. 89

Hans Dünninger/Horst Schopf, Bräuche und Feste im fränkischen Jahreslauf. Kulmbach 1971, 24.

90

Rumpf, Perchten (wie Anm.81).

91

Anders als Belege zum „Wütenden Heer“, die bereits im 14., vielleicht auch 13.Jahrhundert nachweis-

bar sind. Ob sich jedoch mit beiden Begrifflichkeiten dieselben Stereotype verbanden, ist umstritten. Otto Höfler, Verwandlungskulte, Volkssagen und Mythen. Wien 1973; Hans Plischke, Die Sage vom wilden Heer im deutschen Volke. Eilenburg 1914; Jan de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte. Berlin 1956. 92

Dies gilt allerdings nur für die Deutung als „Wilde Jagd“, es trifft nicht auf die Begehung von rituellen

Akten in der Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr zu. 93

Weitergehende phänomenologische Beschreibungen etwa bei Herbert Kleist, Volksglaube und Volks-

brauch während der „Zwölften“ im ostdeutschen Lebensraum. Bamberg 1938, 76.

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ten Interaktionsformen besaß. Der in seiner Einflussmöglichkeit durch den spiritualisierten Hexenglauben gestärkte Teufelsglaube der Neuzeit – man denke hier nur an das im 17.Jahrhundert häufige Phänomen der Besessenheit 94 – unterbrach dieses Deutungsmuster in den Konjunkturzeiten der Hexenverfolgung wohl fast seriell. Der Teufel etablierte sich vor allem durch den protestantischen Diskurs 95 zu einer täglich möglichen, körperlichen und sinnlichen Erfahrung. Zunehmend erscheint er im späten 16.Jahrhundert mit physischen Kräften ausgestattet. Der Hexendiskurs transportierte neue Glaubensformen, die bei entsprechender Akzeptanz von einer ungehinderten Kontaktaufnahme mit dem Teufel ausgingen bzw. wenig gesicherte Schutzräume und -maßnahmen vor teuflischen Einflüssen übrig ließen. Die Verkehrungsmetapher der Rauhnächte ergibt sich vor allem aus der Umpolung der Wirkungsmächte und Aushebelung der Naturgesetze, die den Wunderund Sakralcharakter der Heiligen Nacht wirkungsvoll unterstreichen und letztlich notwendige Voraussetzung dafür bieten, um der jeweils neu imaginierten Ankunft Christi die Pforten zu öffnen. Die Sagen berichten von sprechenden Tieren, blühenden Pflanzen, vom Auftauchen versunkener Burgen und Glockengeläut verborgener Kirchen, die für die Sichtbarkeit der „anderen“ Welt Zeugnis ablegen. Man könnte hierin Repräsentationsformen des Wunders erblicken, welche die Geburt Jesu als Sohn Gottes erklärbar macht. Die Aushebelung oder auch Verkehrung der Naturgesetze dienen zur Markierung des Wunders. Gleichzeitig manifestiert sich eine temporäre Machtverlagerung, die das Ringen zwischen Gut und Böse markiert: Während das wütende Heer, manchmal von einem Anführer oder einer Anführerin dominiert, unter großem Gejohle die Wilde Jagd unternimmt, ist die diesseitige Welt zur Erstarrung oder Einkehr verdammt. Die Welten berühren sich zwar – das Diesseits erfährt eine kolossale Bedrohung –, aber sie vermischen sich nicht. Der Wilde Jäger als unheimliche, manchmal kopflose und pferdefüßige Gestalt auf einem unterschiedlich farbigen Ross mit funkensprühenden Nüstern dämonisiert, versammelt eine Schar der Verderbten, vom

94 Hans de Waardt (Hrsg.), Dämonische Besessenheit. Zur Interpretation eines kulturhistorischen Phänomens. Bielefeld 2005; H.C. Erik Midelfort, Exorcism and Enlightenment. Johann Joseph Gassner and the Demons of Eighteenth-Century Germany. New Haven 2005. 95 Zu verweisen ist hier nicht nur auf die Neudefinition des Teufelsglaubens bei Luther, sondern auch auf die davon inspirierte Teufelsliteratur in der zweiten Hälfte des 16.Jahrhunderts. Vgl. etwa die zahlreichen Teufelsbücher bei Sigmund Feyerabend (Hrsg.), Theatrum Diabolorum. Frankfurt am Main 1569; Max Osborn, Die Teufelliteratur des 16.Jahrhunderts, in: Acta Germanica 3/3, 1893, 41–49.

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Krieg grotesk Entstellten um sich. Gemeinsam verwüsten sie das Land (richten dabei aber nur selten Schaden an 96) oder fangen gelegentlich eine verirrte Seele. 97 Es sind die vielleicht nicht vordergründig gesellschaftlich, sondern viel eher kirchlich Verfemten, mithin die prädestinierten Anwärter des Fegefeuers. Während die frühneuzeitlichen Quellen häufig über die genaue Zusammensetzung der Wilden Jagd schweigen und über Stereotype fehlender Körperglieder und heraushängender Gedärme eher Bilder des Krieges heraufbeschwören, sprechen spätere Schilderungen von gleichermaßen selbstsüchtigen wie geizigen Edelleuten, Selbstmördern, Meineidigen, Wiedergängern und von den Seelen ungetaufter Kinder. 98 Der Wilde Jäger selbst steht in sinnbildlichen Bezügen zu den apokalyptischen Reitern bzw. als dualistische Konstruktion zum Teufelsbezwinger Erzengel Michael mit seinen himmlischen Heerscharen. Die Deutungsangebote umfassen allerdings schon 1702 ein breites Themenspektrum. Der Dresdner Pfarrer Paul Christian Hilscher bietet in seiner themenspezifischen Abhandlung sowohl die im 19. Jahrhundert hervorgehobenen Deutungen als Wotan, Diana bzw. Teufel an, daneben spielen Motive des glücklosen Herrschers (vor allem Friedrich II. und Karl V.) oder auch des unbarmherzigen lokalen Adligen eine wichtige Rolle. 99 Letzteren Bezug stellte bereits Cyriacus Spangenberg 100 in seinem reformatorisch inspirierten moralisierenden Sittenspiegel des „Jagd-Teufels“ her. Er verband das Treiben der Wilden Jagd explizit mit einer sittenstrengen Sozialkritik an die Adresse des Adels und stellte die Wilde Jagd als überaus bekannten Topos dar. Hilscher verlegt das Treiben der Wilden Jagd nicht nur explizit in die Fastenzeiten zu Weihnachten und Ostern, er reflektiert sie immer wieder als Heischebräuche der „Vagantes Scholastici“ bzw. als Treiben des „Hellequins“ (Harlekin; hier nach Vinzenz von Beauvais) und ordnet sie damit in das Spektrum der festlichen Verkehrungsrituale ein, die er aber offenbar kaum sinnhaft deuten kann oder will. Zu diesen zum Komplex von Ritualen um den Nikolauskult zugeordneten Praktiken passt phänomenologisch auch, dass in Thüringen der „Treue Eckhart“ mahnend und warnend dem Wilden Heer voranschritt.

96

Paul Hilscher, Curiöse Gedancken von Wütenden Heere. Dresden/Leipzig 1702, 61–63; § 36.

97

Karl August Barack, Froben Christoph von Zimmern. Zimmerische Chronik. Bd. 4. Freiburg im

Breisgau 1882, 122ff. 98

Hilscher, Curiöse Gedancken (wie Anm.96), § 13 und 14.

99

Ebd., bes. § 10 (Wotan), 15–18 (Teufel), 33 (Diana) und 22 (glückloser Herrscher).

100 Cyriacus Spangenberg, Der Jagteüfel. Bestendiger vnd wolgegründter bericht / wie fern die Jagten rechtmessig vnd zugelassen. Gaubisch 1561, bes. Kap. 18.

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Ganz offenbar nimmt die Sagengestalt des „Treuen Eckhart“ mit seinem weißen langen Stab hier selbst die Rolle des Nikolaus ein. 101 Interessanterweise erhalten die Hexen zwar eine Erwähnung in den Nächten der Zwölften, allerdings treten sie nicht dem Heer der Wilden Jagd bei, sondern vergnügen sich abseits des Treibens unbeeindruckt beim Hexensabbat. Ein anderes Narrativ der Zwölfen im Zusammenhang mit den Hexen ist die Hervorhebung einzelner Tage, die eine rückwärtsgewandte Schau auf den Hexensabbat erlauben. Solche Erzählungen knüpfen an Vorstellungen an, dass diese Tage prognostische bzw. wahrsagerische Aussichten auf das kommende Jahr zulassen. Eventuell schlossen sich solche Prognosen an die Sterndeutersage (Mt 2,1–12) an, nach der die drei Heiligen Könige über das Himmelszeichen den Weg nach Bethlehem fanden. Das Wirken der Hexen geht im Gejohle des wütenden Heers allerdings vollkommen unter, der Sabbat bleibt unwichtig. Letztlich deutet auch dieses Detail auf die Verbindung zweier Motive hin, die zu ganz unterschiedlichen Zeiten oder in unterschiedlichen Kontexten entstanden. Der Hexensabbat und das Wilde Heer verschmelzen nicht, obwohl beide Repräsentanten des Bösen stellen. Lediglich einzelne inhaltliche Bezugspunkte verknüpfen beide Imaginationen miteinander. Ein verbindendes Motiv bietet etwa die um die Weihnachtszeit besonders präsente Angst vor dem Wechselbalg, ein Topos, der – mit dem Hexenglauben verbunden – vielleicht zur Projektion des Hexensabbats in den Rauhnächten führte. In dieser Zeit imaginierte man eine größere Gefahr, dass gesunde Kinder der Wöchnerinnen mit Kretins, die aus der körperlichen Vereinigung von Hexe und Teufel hervorgegangen waren, vertauscht würden. Auch hier wäre zu überprüfen, wann diese zeitliche Liaison eigentlich einsetzte. Die frühneuzeitlichen Ausführungen zum Wechselbalg geben sie nicht wieder. 102 Auf den ersten Blick ergibt die jahreszeitliche Festschreibung des Kindstausches wenig Sinn, da Geburten das ganze Jahr erfolgten. Für die Wechselbalglegende gab es jedoch mit der Geburt Christi oder dem festum puerorum bzw. dem Tag der Unschuldigen Kinder am 28. Dezember (Knaben-

101 Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Bd. 2. Leipzig 1796, 1050f. 102 Erasmus Francisci, Der Höllische Proteus, oder Tausendkünstige Versteller. Nürnberg 1690, Kap. 89: Der Kielkropff oder Wechselbalg, 938–980; http://www.zeno.org/nid/2000478524X (10.4.2011); Johannes Praetorius, Anthropodemus plutonicus. Das ist eine neue Welt-beschreibung [...]. Bd. 1–2. Magdeburg 1666/ 67, Kap. 10, http://www.zeno.org/nid/20005493226 (10.4.2011); Walter Bachmann, Das unselige Erbe des Christentums. Die Wechselbälge. Zur Geschichte der Heilpädagogik. Gießen 1985.

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mord in Bethlehem) auf den zweiten Blick durchaus Imaginationsanreize. Vor allem die Legenden rund um den Kinderschutzpatron Nikolaus boten hier spezifische Anknüpfungspunkte, auch weil der Tag der Heiligenverehrung bereits vor der Reformation häufiger auf den 28. Dezember verlagert wurde. Markant verkehrt sich das Abstinenzwunder des Nikolaus, der als Säugling an den beiden Fastentagen der Woche die Muttermilch nur einmal am Tag zu sich nahm 103, beim unstillbaren Wechselbalg zu einer wahren Fressorgie, vor der die hilflosen Eltern kapitulieren mussten und welche die stillenden Mütter in den Tod treiben konnte. Überdies ließ sich der Wechselbalg stets tragen und sprach nicht, da er außer „scheissen, fressen und schreyen“ 104 nichts lernte. Nikolaus dagegen stand beim Wannenwunder – kaum ein paar Tage alt – kerzengerade aufrecht und zeigte sich früh hoch gebildet. 105 Eine ähnliche Verknüpfung lässt sich anhand der prominent positionierten Formen des Gebens und Nehmens ermitteln, die gleichermaßen an die Imaginationsformen des Schadenszaubers wie an Traditionen des Einlegens, Schenkens, Heischens und Einkehrens im Advent erinnern: Mit Tiermasken vermummte Menschen, manchmal mit ganzen Tierfellen bekleidet, ziehen teilweise unter Heischeoder Einkehrbräuchen umher. Es fällt nicht nur auf den ersten Blick schwer zu interpretieren, ob sie die umherziehenden Dämonen der Wilden Jagd repräsentieren 106 oder aber einen Schutzritus gegen die Dämonenwelt verkörpern. Beide Deutungen lassen sich bis heute in der wissenschaftlichen Literatur finden. Nicht zuletzt wird das Gegensatzpaar von „gut“ und „böse“ durch die Umzüge selbst symbolisiert. Bettel- und Heischezüge der Perchten in den Rauhnächten sieht Marianne Rumpf in der Tradition der Umgänge von Siechen und Leprösen oder Armen, die mit Masken oder Umhängen verhüllt körperliche Krankheiten kaschierten und zugleich eine Entehrung bei der Spende umgingen. 107 Die eklatante Dämonisierung des Mas-

103 Mezger, Sankt Nikolaus (wie Anm.79), 77. 104 Praetorius, Anthropodemus (wie Anm.102), 421. 105 Mezger, Sankt Nikolaus (wie Anm.79), 36. 106 Martina Eberspächer, Der Weihnachtsmann. Zur Entstehung einer Bildtradition in Aufklärung und Romantik. Stuttgart 2002, 97. 107 Da prominent die Nase von Krankheiten betroffen war, zogen verwendete Prothesen die Aufmerksamkeit auf sich. Dies führte zur Überbetonung der Nase, die ihren Eingang in die Welt der Masken fand. Rumpf, Perchten (wie Anm.81), 179f.

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kenkults fand nach Rumpf allerdings erst im späten 19.Jahrhundert statt. 108 Jacques Heers dagegen verwies in diesem Kontext auf den impulsgebenden kirchlichen Kontext. Bedürftige Chorknaben deckten ihre Lebensnotdurft über das regelmäßige öffentliche Singen und gaben damit ein Vorbild für karnevaleske Heischezüge. 109 Überaus profund leitet Werner Mezger, ebenfalls den kirchlichen Kontext betonend, typische Phänomene der Fastnacht, der Heische- und Nikolausbräuche aus der traditionellen mittelalterlichen homiletischen Praxis tagesspezifischer Verkündigungstexte (Perikope) ab, auf deren Verlesung sich viele Elemente der Fastnacht zurückführen lassen, deren direkter Bezug sich jedoch schnell verlor. 110 Diese Erklärungsmodelle beleuchten die verschiedenen Facetten, Entstehungskontexte und Anknüpfungspunkte von Heischebräuchen im Umfeld der Zwölften und deuten auf das Ritual als Verschmelzungsprozess, mit sehr verschiedenen Sinnzuschreibungen. Sie dienen hier lediglich zur Illustration eines markanten Umdeutungsvorganges im 16. und 17.Jahrhundert: Der sich ausformende Hexenglaube wirkte offenbar stark dämonisierend auf solche religiösen Rituale ein, die im Ringen der Religionen keine umfassende Legitimierung mehr entfalten konnten. Dass ausgerechnet der Kinderschutzpatron Nikolaus im 17.Jahrhundert vom Kinderfresser Ruprecht begleitet wird, ist ein deutlicher Beleg für die Dämonisierung des profanierten Heiligenkults. Die Hexe zog als Kannibalin und Kindermörderin den gleichen Topos auf sich. Sie repräsentierte schließlich nicht mehr die Antithese des Heiligen, sondern wird ihm mitunter zur Seite gestellt. Das Verkehrungsmotiv wird zwar nicht rückgängig gemacht, es hebt sich dennoch gewissermaßen durch eine neue Inversion auf. Es scheint plausibel zu sein, dass die scharfen religiösen Auseinandersetzungen und Legitimationsansprüche der Konfessionen seit dem 16.Jahrhundert hier ihre Spuren hinterließen. Dies erweist sich umso deutlicher, als sich die einschlägigen dämonischen Gestalten des Hexensabbats im 17.Jahrhundert zu den festen Begleitern des Nikolaus gesellten. In den protestantischen aufklärerischen Schriften tauchten schließlich im Gefolge des einstigen Heiligen allerhand

108 Analogien zu den Hexendarstellungen im 19.Jahrhundert sind frappierend, auch zeitgleiche Darstellungen von Juden übernahmen die stigmatisierende Karikatur der langen Nase. 109 Heers, Mummenschanz (wie Anm.23), 258. 110 Mezger, Sankt Nikolaus (wie Anm.79), 111.

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Gespenster, Alpe, Hexen, Zauberer, feurige Drachen, mithin die gesamte Gesellschaft des Teufels auf, die allesamt der Lächerlichkeit preisgegeben werden. 111 Auch äußerlich veränderten sich die mit dem Nikolausbrauchtum oder festum puerorum verknüpften Rituale der Vermummung und Heische, die aus mittelalterlichen liturgischen bzw. katechetischen Ritualen erwachsen waren und im 15.Jahrhundert eine rasante Umformung erhielten. Teufelsauftritte und -maskierungen entfalteten ab dieser Zeit eine ungeahnte Popularität, zugleich weiteten sich der zeitliche und inhaltliche Rahmen sowie der soziale Rezipientenkreis der weihnachtlichen Fastnacht erheblich aus. 112 Was Mezger als größeren Spielraum jugendlicher Akteure durch die Personifizierung mit einer Negativgestalt wertet, dürfte sich weit eher mit der rasanten Konjunktur des Teufels- und Hexenglaubens erklären lassen, der durch die reformatorische Propaganda im 16.Jahrhundert nachdrückliche Verstärkung fand. Die polemische Gleichsetzung des katholischen Glaubens mit Magie und Teufelswerk führte konsequenterweise zur Dämonisierung katholischer Rituale. 113 Die propagandistische Zuspitzung des Themas durch Reformation und Konfessionalisierung rückte die Begleiter des Nikolaus offenbar in die Nähe der magischen Gesellschaft und verband auf diese Weise Hexenglauben, Rauhnächte und Heischeumgänge. Eine noch rigidere Verunglimpfung von Heischepraktiken der Rauhnächte nahm eine in spärliche Worte gefasste mecklenburgische Verordnung der Regierung Güstrows vor. Sie verknüpfte 1683 das Verkleidungsritual in den Weihnachtsnächten mit der Tierverwandlung, speziell mit dem Werwolfglauben. 114 Verkleidungen dienten nach dieser Interpretation einer Verkörperung der Dämonenwelt und imaginierten eine überaus strafwürdige Beteiligung am dämonischen Treiben der Rauhnächte. 115 Interessanterweise schlug die gleiche Regierung Werwolfpro-

111 Ernst Urban Keller, Das Grab des Aberglaubens. Erste Sammlung. Frankfurt am Main/Leipzig 1777, 181f. 112 Ebd.124f. 113 Ebd.142. Katrin Moeller, Protestantische Magie – protestantische Hexenverfolgungen? Beobachtungen zur konfessionellen Prägung des Hexenglaubens, in: Martine Ostorero/Georg Modestin/Kathrin Utz Tremp (Eds.), Chasses aux sorcières et démonologie. Entre discours et pratiques (XIVe–XVIIe siècles). Florenz 2010, 243–268, hier 251f. 114 Interpretationen ähnlicher Art auch bei Colette Méchin, Sankt Nikolaus. Feste und Brauchtum in Vergangenheit und Gegenwart. Saarbrücken 1982, 76ff. 115 Universitätsbibliothek Rostock, Fürstlich Mecklenburgisches Edict wegen Unterlassung der also genannten zwelfften, Güstrow 1683.

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zesse regelmäßig nieder und klärte die Protagonisten über ihr falsches Deutungssystem auf, indem sie den Werwolfglauben überhaupt negierte. Im gleichen Jahr 1683 verabschiedete sie sich vom kumulativen Hexereikonzept, scheute sich aber nicht, ungewünschte Rituale auf diese Weise weiterhin zu stigmatisieren.

V. Fazit Es fällt überaus schwer, entlang der empirischen Beobachtungen – von mehr darf wohl aufgrund des Forschungsstandes kaum gesprochen werden – eine Synthese zu Imaginationsformen und Ritualen der Verkehrung im Kontext des Hexenglaubens zu entwickeln. Imaginationen und Deutungen in Form von Inversionen markieren den Umgang mit der Hexereithematik zweifellos in vielfältiger Hinsicht, allerdings lässt sich eine rituelle Struktur solcher Interaktionen nur ansatzweise ausmachen. Die Etablierung des Hexenglaubens fußt nicht auf rituellen Handlungen, sondern auf der überaus geordnet-rationalen Inversion katholisch-liturgischer Denkfiguren, die nicht einer animistischen oder transzendenten Interpretation, sondern eher der hermetischen Analogiebildung folgten. Diesseits und Jenseits bilden danach invertierte Entsprechungen voneinander, das Heilige und das Unheilige besitzen eine synchrone Struktur. Über imaginierte Verkehrungstechniken eröffnet sich der Zugang zur spiegelbildlich „verkehrten“ dämonischen Welt, deren Sinn sich nicht im Untergang gesellschaftlicher Ordnung – mithin im Chaos –, sondern in ihrer Pervertierung im Sinne einer „Widerspiegelung“ erfüllt. Es handelt sich bei der klassischen Dämonologiekonzeption des Hexenglaubens somit nicht um eine dem Verkehrungsritual in seinem herkömmlichen Verständnis analoge Deutungsfigur. Weder gibt es ein zeitlich limitiertes experimentelles Spiel mit verschiedenen Optionen, noch lässt sich diese grundsätzliche Form der Verkehrung als Aushandlungsprozess beschreiben. Vielmehr bietet die Verkehrung eine spezifische Exegese der metaphysischen Welt, deren Ordnung sich strikt aus der Ordnung des Heiligen ableitet. Insofern folgt der Hexenglaube hermetischen Grundsätzen und verweist auf den von Monika Neugebauer-Wölk so intensiv herausgestrichenen Zusammenhang von antiker Hermetikrezeption und Hexenglauben. Die Inversionsmetapher gehört damit zum konstitutiven Merkmal des Hexenglaubens. Auf unterschiedlichen Ebenen des Hexenglaubens wird in ganz verschiedenen Kontexten und Sinnzuschreibungen auf diese Verkehrungsmetaphern

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Bezug genommen. Es ist gezeigt worden, wie schwer eine sinnhafte Interpretation dieses Verkehrungsmotivs in der individuellen Deutung fällt, wie wenig die Sinnzuschreibung der Akteure dem äußerlichen Verkehrungsmoment verpflichtet sein musste. Aus dem konstitutiven Element der Verkehrung leiten sich verschiedene neue Formen und Verkehrungstechniken ab, werden immer neue thematische Bezüge und Symboliken entwickelt. Die Verkehrungsmetapher unterliegt hier selbst dem Experiment und kann vor Gericht als legitim oder unglaubwürdig beurteilt werden. Aus der Ordnung entsteht ein synkretistisches Flickwerk individueller bzw. öffentlicher Deutungen, da sich aus den Imaginationen der Angeklagten wiederum soziale Wirklichkeit (etwa Anklage von weiteren Sabbatteilnehmerinnen, Verdächtigungen gegen Nachbarinnen) generierte. Verkehrungsrituale bzw. verkehrende Sprachformeln ermöglichten den ja per se unschuldigen Angeklagten, die durch die spezifischen Formen des Rechtswesens mehrfach zur Bestätigung und Bekräftigung ihres Schuldgeständnisses und zur Denunziation weiterer Personen gezwungen wurden, zweigleisige öffentliche Äußerungen. Diese integrierten verklausuliert sowohl die eigene Unschuld, wie sie im Sinne des Gerichts das Hexenverbrechen rechtskonform zugestanden. Hexerei als frühneuzeitliches Tabuthema markiert das Maximum religiöser Devianz und kriminellen Verbrechens. Möglichkeiten zur öffentlich legitimen Ironisierung von Teufeldienst und Hexereiverbrechen oder zur Kritik an der Hexenverfolgung fielen daher vermutlich gering aus. Auch hierin erweist sich der Hexenglaube nicht als typisches Verkehrungsritual bisheriger Lesart. Dennoch dienten Verkehrungsrituale zur Etablierung und Kommunikation des individuellen und öffentlichen Hexereiverdachts im direkten nachbarschaftlichen Umfeld. In dieser Hinsicht lassen sich dezidierte rituelle Praktiken der Verkehrung ausmachen, deren Erscheinungsbild die Zeitgenossen in Hexereiverdacht bringen konnten, obwohl sie für den unbeteiligten Betrachter äußerlich alltäglichen Handlungsweisen entsprechen. Die Umdeutung in Schadenszauberakte entsprach jedoch der Verkehrungslogik des Hexenglaubens und ermöglichte zugleich die gefahrlosere Platzierung des ungeheuerlichen Verdachts der Hexerei. Nicht zuletzt deshalb entwickelten sich typische, d.h. rituelle Formen der Schadenszauberimagination etwa im Umgang mit Kindern oder in spezifischen Situationen des Leihens oder Schenkens als Verkehrungssituationen gutnachbarlichen oder sittlichen Verhaltens. Damit kommt die weiche, kaum agonale Etablierung des Hexereiverdachts über Semantiken der Verkehrung dem von Turner charakterisierten Verkehrungsritual als experimentellem

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Schwellenritual sehr nahe. Über die Verkehrungsmetapher erfolgt eine sukzessive Synchronisierung verschiedener sozialer Wirklichkeiten. Ähnliches gilt für funktional anders gelagerte Formen der Selbstthematisierung von Hexerei, beispielsweise bei der Retorsion. 116 Auch solche Formen der Verkehrung ermöglichen eine Harmonisierung verschiedener sozialer Wirklichkeiten mit höchst unterschiedlichem Anforderungscharakter (Erwartung des Gerichts, der Beschuldigten, der Hexe etc.). Das variable Experimentieren mit den Verkehrungsmetaphern des Hexenglaubens und völlig neuen Sinnzuschreibungen zeigt das abschließende Beispiel der Rauhnächte. Es führt eine Gleichsetzung katholischer Religiosität mit dämonischen Verkehrungsmetaphern seitens der protestantischen Polemik vor Augen. Der Katholik geriet aus protestantischer Sicht zum Sinnbild religiöser Devianz und damit zum Magier. Die Reformation bediente sich zur Stigmatisierung des katholischen Glaubens daher auch der Verkehrungsmetaphern der Dämonisierung. Über die phänomenologische Ebene ließen sich inhaltlich kaum zueinandergehörige Sachverhalte miteinander verkoppeln. Auf diese Weise erfuhr wahrscheinlich der Nikolauskult in der Hochphase der Reformation eine rasante Dämonisierung und Parallelisierung mit Stereotypen des Hexenglaubens. Inwieweit sich hier Reformation und Gegenreformation zu spezifischen Katalysatoren des Hexenglaubens entwickelten und zur Festigung der Verkehrungssymbolik im Hexenglauben beitrugen, muss jedoch künftigen Forschungen überlassen werden. Schon an dieser Stelle offenbart jedoch die Nutzung magischer Metaphern durch die Reformation, wie wenig geradlinig sich das Verhältnis von Hexenglauben und Christianisierung ausnahm und wie wenig rational sich protestantisches Magiedenken ausgestaltete.

116 Typischerweise eine Fremdbeschuldigung im Analogieverfahren zur Selbstbeschuldigung, etwa: „Dass Grete Meyer so gut zaubern kann wie ich, das ist wohl wahr“.

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Purim – Erinnern in Verkehrung von Julia Carls

Begibt man sich auf die Suche nach typischen Beispielen für Verkehrungsrituale, gerät schnell auch das jüdische Purimfest in den Fokus. Seine heute gerade in orthodoxen Kreisen bisweilen exzessiv zutage tretenden Rituale der Entgrenzung lassen es auf den ersten Blick als idealtypischen Vertreter einer die Gesellschaftsstrukturen temporär verkehrenden Gattung erscheinen. 1 Die bei diesem Fest häufig anzutreffende Maskerade der Beteiligten, die sich gerne auch des crossdressings bedient, rückt es in die Nähe von christlichen Karnevalsritualen, und so kommt mittlerweile kaum eine Publikation, die sich mit diesem Fest beschäftigt, ohne einen solchen Verweis aus. 2 Allerdings bemühen sich nur wenige Autoren um eine Klärung des von ihnen zugrunde gelegten Karnevalsbegriffes; die meisten beschränken sich darauf, eine nicht näher spezifizierte Ähnlichkeit beider Feste festzustellen, deren gemeinsame Elemente entweder nur grob umrissen oder erst gar nicht benannt werden. In bisweilen scharfem Kontrast zu diesem offenbar als allgemeingültig vorausgesetzten Verständnis steht ein Karnevalsbegriff, um den der kulturwissenschaftliche Diskurs in den letzten Jahrzehnten zum Teil kontrovers rang. Anders als sein umgangssprachliches Pendant, das auf vergleichendes Beobachten und Beschreiben der Vorgänge aus ist, haben die kulturwissenschaftlichen Konzepte weiterreichende Implikationen im Blick. Mancher erkannte im Karneval ein universales Phänomen, ja eine Grundkonstante menschlicher Existenz. Diese könne zwar unterschiedliche

1 Eine Untersuchung, welche die gewaltsamen Aspekte des Purimfestes fokussiert, ist Elliott Horowitz, Reckless Rites. Purim and the Legacy of Jewish Violence. Princeton/Oxford 2008. Zu heutigen Erscheinungsformen von Purim sowie seiner Bedeutung insbesondere für verschiedene Gruppen des amerikanischen Judentums siehe Jean R. Freedman, The Masquerade of Ideas. The Purimshpil as Theatre of Conflict, in: Simon J. Bronner (Ed.), Revisioning Ritual. Jewish Traditions in Transition. (The Littmann Library of Jewish Civilization.) Oxford 2011, 94–132. 2 Diese beiläufige Gleichsetzung lässt sich auch in der zionistischen Presse gut beobachten, die für das größte zionistische Straßenfest im Tel Aviv der 1920er und 1930er Jahre die Begriffe „Purim“ und „Karneval“ austauschbar verwendete. Vgl. z.B. Anonym, Purim, in: Palästina 4–5, 1934, 205. In neuerer Zeit vgl. z.B. Dan Cohn-Sherbok, Judaism. History, Belief and Practice. London 2003, 523; Norman Solomon, Judaism. New York 2009, 86.

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oldenbourg DOI 10.1515/9783486727678.280

Phänotypen generieren, die jedoch alle auf dieselben Ursachen hindeuteten. Wohl am radikalsten formulierte dies Michail Bachtin, aus dessen Perspektive „das einheitliche (aber keineswegs einfältige) karnevalistische Weltempfinden“ 3 letztlich alles Bestehende für einen Moment relativiere. 4 Bachtin entwickelt seine Theorie unter der Prämisse eines Dualismus zwischen Hochkultur und Volkskultur, zwischen Amtsträgern und gemeinem Volk. Dieser Grundkonflikt schlage sich in polaren Begriffspaaren wie „heilig“ versus „profan“ oder „ernst“ versus „heiter“ nieder, wobei der Volkskultur das Rohe, Natürliche, Triebgesteuerte eigen gewesen sei. Mit dem Ausbruch dieser sonst unterdrückten Momente an Karneval und ihrer Überwindung qua eines als Befreiung verstandenen Lachens 5 verweise dieses Ritual also auf tiefer liegende soziale Konflikte. Seine vornehmste Funktion sei es, diese zu katalysieren. Karneval ist somit stets ein Indikator für schwelende Konflikte, ein Zeitraum, in welchem die strukturell unterlegene Gruppe die herrschende Ordnung in einem anarchischen Akt überwindet. Auf phänomenologischem Wege macht Bachtin vier Kategorien aus, die für das Karnevalistische kennzeichnend seien: (1) den „freien, intim-familiären zwischenmenschlichen Kontakt“, der die sonst gültige Struktur des Zusammenlebens samt ihrer zugrunde liegenden Mechanismen außer Kraft setzt; (2) die „Exzentrizität“, in der sonst Unterschwelliges sinnlich-konkret wird; (3) die „Mesalliance“, deren zentrales Interesse die Überwindung von sonst künstlich getrennten Kategorien ist und in welcher beispielsweise „das Geheiligte mit dem Profanen“ vermischt wird; sowie (4) die „Profanation“, die sich jener Symbole, die sonst in einem genau geregelten Beziehungsgeflecht stehen, ohne dieses Regelwerk bedienen, wodurch sie zum einen zur Komik gereichen, die vor allem durch die Übertragung fremder Attribute auf sonst damit eben nicht assoziierte Sachverhalte oder Personen hervorgerufen wird. Zum anderen offenbart sich auf diese Weise zugleich die begrenzte Halbwertszeit der so entstehenden Konstellationen, da sie die systemrelevanten Regeln nicht beachten und daher innerhalb kürzester Zeit kollabieren müssen. 6 Inwieweit sich ein solcher Karnevalsbegriff als analytisches Instrument für

3 Siehe Michail M. Bachtin, Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Frankfurt am Main 1990, 47. 4 Vgl. ebd.50, 62. 5 Vgl. ebd.32–38. 6 Vgl. ebd.48–52.

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Purim eignet, soll im Folgenden untersucht werden. Dabei wird zunächst ein Blick auf die mutmaßliche Entwicklung dieses Festes vom Beginn des rabbinischen Judentums bis zum Mittelalter geworfen werden. Vor diesem Hintergrund wird anschließend das Frankfurter Vintz-Purim und mit ihm die Wahrnehmung von Purim in der Frühen Neuzeit untersucht werden. In diesem Zusammenhang wird zum einen danach zu fragen sein, welche Funktionen diesen Festen in der Gemeinschaft zukamen, zum anderen werden die Genese und die (ideo-)logischen Konsequenzen gängiger Sichtweisen auf dieses Ereignis reflektiert werden.

I. Karnevalisierung von Purim? Werfen wir zunächst einen Blick auf das, was wir aus der Frühzeit des rabbinischen Judentums über Purim wissen. In fast vollständiger Ermangelung externer bzw. allgemein deskriptiver Quellen, die den Ablauf des Festes nachvollziehbar machen, muss an dieser Stelle auf Rabbinica, also Material, das im Wesentlichen normativen Charakters ist, zurückgegriffen werden. Hierbei werden jene Momente Beachtung finden, die aufgrund entsprechender Bräuche bis in die Gegenwart als real praktizierte angenommen werden können. Diese nicht unproblematische, hier dennoch nicht zu umgehende Methode wird ferner an die Zeitachse gekoppelt. So wird auf Basis einer diachronen Quellenbetrachtung zum einen ein Ideal-Purim vorgestellt werden, zum anderen werden verschiedene Schichten dieses Festes als wahrscheinliche Stadien rekonstruiert. Purimfeiern waren vermutlich bereits Bestandteil des israelitischen Judentums. Während die Belege für eventuelle Übernahmen von Elementen anderer Feste in dieses jüdische Fest ebenso wie seine Praxis für die Zeit des Jerusalemer Tempelkultes problematisch bleiben 7, ändert sich dies mit dem Übergang zum rabbinischen Judentum allmählich. Im Zentrum des jährlich im Monat Adar gefeierten Purimfestes stand offensichtlich seit frühester Zeit die Lesung des biblischen Estherbuchs, dessen Dramaturgie zunächst kurz umrissen sei. Erzählt wird die Geschichte von

7 Ein Überblick über die Feste, aus welchen von der Forschung Übernahmen vorgeschlagen wurden, bei Jeffrey Rubenstein, Purim, Liminality, and Communitas, in: AJS Review 17, 1992, 247–277, hier 248f.; Nakdimon Shabbethay Doniach, Purim or The Feast of Esther. An Historical Study. Philadelphia 1933, 24–53; Solomon Grayzel, The Story of Purim, in: Philip Goodman (Ed.), The Purim Anthology. Philadelphia 1964, 3–13.

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der Rettung der unter der Herrschaft des persischen Königs Ahasverus lebenden Juden. Als heilsbringend erweist sich das gleichermaßen fromme wie beherzte Verhalten der mit Ahasverus verheirateten Jüdin Esther und ihres Vormunds Mordechai, welchen es gelingt, das drohende Unheil vom jüdischen Volk abzuwenden. Haman, der höchste Regierungsbeamte des Perserkönigs, hatte von Mordechai gefordert, er solle vor ihm zur Begrüßung niederknien, verlangte also, wie ein Gott behandelt zu werden. Als der fromme Mordechai sich diesem Akt der Blasphemie verweigert, wählt Haman per Los 8 einen Tag, an welchem er aus Rache alle Juden umbringen lassen möchte. Indes vereitelt Mordechai diesen Plan, indem er Esther informiert. Ihr gelingt es, unterstützt durch Fasten und Gebete, den König umzustimmen. So wird schließlich Haman und nicht Mordechai getötet, der König erlaubt den Juden, Rache an ihren Feinden zu nehmen. Auch das an diesen für die jüdische Seite glücklichen Ausgang erinnernde Purimfest selbst wird bereits im Buch Esther erwähnt. 9 Für die früheste Phase des rabbinischen Judentums lässt sich bereits die Etablierung Purims als einer der fünf Festtage im Jahreszyklus, für die im Gottesdienst eine eigene megilla (Textrolle) Einzug in die Tradition fand, konstatieren. Der korrekte Zeitpunkt für diese Lesung wird ebenso wie der vorausgehende Fastentag bereits im Mischnatraktat Megilla festgehalten und kann somit ab etwa dem Jahr 200 n.d.Z. als belegt angenommen werden. 10 Die nächste Schicht, nämlich die etwa im 6.Jahrhundert n.d.Z. redigierte Gemara des babylonischen Talmuds, enthält darüber hinaus einige konkrete Anleitungen bezüglich der Rezitation des Estherbuchs, beispielsweise die Anweisung, die Namen der zehn Söhne Hamans in einem Atemzug zu lesen. 11 Diese fast schon als Regieanweisung des synagogalen Gottesdienstes zu verstehende Richtlinie sowie die daraus möglicherweise resultierende unfreiwillige Komik werden von der Forschung meist als Ausgangspunkt für eine spätere theatralische Ausgestaltung und humoris8 Das Wort leitet sich aus dem akkadischen pūrū, „Lose“ ab. Vgl. Louis Jacobs, Art.„Purim“, in: Fred Skolnik (Ed.), Encyclopaedia Judaica. Vol.16. 2.Aufl. Detroit 2007, 740f. 9 Über mögliche historische Vorbilder der im Estherbuch erwähnten Personen im 5. vorchristlichen Jahrhundert wurde seither ebenso viel spekuliert wie über die Genese des daraus resultierenden Festes. Vgl. dazu beispielsweise Jona Schellekens, Accession Days and Holidays. The Origins of the Jewish Festival of Purim, in: Journal of Biblical Literature 128, 2009, 115–134; Johannes van der Klaauw/Jürgen Lebram, Art.„Ester (Buch)“, in: Gerhard Müller u.a. (Hrsg.), Theologische Realenzyklopädie. Bd. 10. Berlin/Boston 1982, 391–395. 10 Vgl. mMeg 1,3–1,5. 11 Vgl. bMeg 16b.

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tische Verwendung des Estherstoffs gedeutet. 12 Wie diese jedoch ausgesehen haben mag, bleibt aufgrund der dürftigen Quellenlage weitgehend im Dunklen. Bekannt sind lediglich vereinzelte Parodien heiliger Texte, die in diesem Zusammenhang angefertigt wurden – etwa ein Text, der sich im Machsor Vitry (etwa 11.Jahrhundert) findet, oder die vermutlich aus dem 14.Jahrhundert stammende Talmudparodie Masechet Purim (Purim-Traktat). 13 Über eine eventuelle Aufführungspraxis ist nichts bekannt. Darüber hinaus sind in dieser Periode Hinweise auf den fröhlichen Charakter des Festes zu finden, beispielsweise das Gebot, sich zu diesem Anlass derart zu betrinken, bis man nicht mehr zwischen „verflucht sei Haman“ und „gesegnet sei Mordechai“ unterscheiden könne, oder Verweise auf ein üppiges Purimmahl und den Austausch von Geschenken. 14 Auffällig ist ferner die explizite Erwähnung bzw. Einbindung von Frauen und Kindern in diesem Kontext, so dass die gesamte jüdische Gemeinschaft an diesem Fest teilhat. 15 Parallel dazu entwickelte sich anscheinend die Tradition, eine Hamanpuppe anzufertigen und durch Verbrennen oder Erhängen zu schänden. 16 Ab dem 15.Jahrhundert verdichten sich Belege für Bräuche, die sich im Umfeld der Estherlesung offenbar bereits etabliert hatten, beispielsweise dass die Zuhörerschaft bei jeder Erwähnung Hamans so viel Lärm erzeugen solle, dass dieser Name nicht hörbar sei, wodurch man seine Person gewissermaßen abermals auslöschte. 17 Die Grenze von Vorlesendem zu Zuhörerschaft hatte sich also deutlich zugunsten einer allgemeinen aktiven Partizipation verschoben. Allerdings wird zugleich be-

12

Vgl. Jean Baumgarten, Le Purim Shpil et la tradition carnevalesque juive, in: Pardès 15, 1992, 37–62, hier

38; Doniach, Purim (wie Anm.7), 128; Andreas Lenhardt, Ein verbotenes Frankfurter Purim-Spiel. Zur jüdischen Theaterkultur im Frankfurt der frühen Neuzeit, in: Robert Seidel/Regina Toepfer (Hrsg.), Frankfurt im Schnittpunkt der Diskurse. Strategien und Institutionen literarischer Kommunikation im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. (Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit, Bd. 14/1–2.) Frankfurt am Main 2010, 162–174, hier 165f. 13

Vgl. Peter J. Haas, Masekhet Purim, in: Leonard J. Greenspoon (Ed.), Jews and Humor. (Studies in Jewish

Civilization, Vol.22.) West Lafayette 2010, 55–65, hier 59f. 14

Vgl. bMeg 7b.

15

Vgl. bMeg 4a, 14a.

16

Das Schänden der Hamanpuppe ist durch eine christliche Quelle für das frühe 5.Jahrhundert belegt.

Der Umgang mit der Puppe und dem Galgen wird anscheinend als Persiflage auf die Kreuzigung Christi verstanden; vgl. Doniach, Purim (wie Anm.7), 171–173. Das Symbol des hängenden Hamans gelangte in aschkenasischen bildlichen Darstellungen ab dem 14.Jahrhundert zu großer Beliebtheit; vgl. Horowitz, Rites (wie Anm.1), 93–97. 17

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Vgl. Schulchan Aruch, Orach Chaim, 680.

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tont, dass es eine mitzva (religiöse Pflicht) sei, jedes Wort der Megilla gehört zu haben, worauf sowohl der Lesende als auch die Gemeinde zu achten hätten 18, ein Gebot, das man auch als indirekte Absicherung gegen überbordende Fröhlichkeit interpretieren könnte. Ebenfalls im 15.Jahrhundert taucht im rabbinischen Diskurs vermehrt die Frage nach der Zulässigkeit von Maskeraden auf und wird erstmals positiv beantwortet, wobei von Anfang an geschlechtervertauschende Kleidung im Zentrum der Kritik steht. 19 Wenngleich die historische Belastbarkeit halachischen Materials nicht unproblematisch ist – rabbinische Texte sind in erster Linie am Ideal interessiert und über weite Strecken spekulativ –, können entsprechende Nennungen in diesem Fall auf existierende Praktiken hindeuten; zum einen da der norditalienische Kontext ihrer Entstehung den Kontakt zum venezianischen Karneval und eine Übernahme seiner Elemente vermuten lässt, zum anderen weil diese Bräuche ab dem 17. Jahrhundert auch durch andere Quellen belegt sind. Ähnlich verhält es sich mit Bräuchen wie etwa der Krönung von Jeschiwa-Schülern zu temporären Purim-Königen 20, welchen es gestattet war, Rabbiner folgenlos und bisweilen rüde zu kritisieren; parallel hierzu findet sich erneut das öffentliche Schänden einer Hamanpuppe wieder. 21 Auch die rabbinische Diskussion, ob an Purim begangene Diebstahlsdelikte straffrei bleiben können, zeugt zumindest von der prinzipiellen Bereitschaft, die sonst geltenden gesellschaftlichen Normen für diesen Zeitraum außer Kraft zu setzen. 22 Etwa in derselben Periode entstanden ferner erste dramatisierte Versionen des Estherbuches, aus welchen schließlich eine eigene literarische Gattung, nämlich das sogenannte Purimspiel hervorging. Wenngleich über die Aufführungspraxis wenig bekannt ist 23 – außer dass diese Theaterstücke im kalendarischen Umfeld des Purim-

18 Vgl. ebd.689,1–6. 19 Vgl. Doniach, Purim (wie Anm.7), 132f.; Moritz Steinschneider, Purim und Parodie, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 46, 1902, 176–187, hier 181. 20 Vgl. Kenneth M. Craig, Reading Esther. A Case for the Literary Carnivalesque. Louisville 1995, 159; Moses Avigdor Shulvass, The Jews in the World of the Renaissance. Leiden 1973, 176; Evi Butzer, Die Anfänge der jiddischen purim shpiln in ihrem literarischen und kulturgeschichtlichen Kontext. (jiddische schtudies – Beiträge zur Geschichte der Sprache und Literatur der aschkenasischen Juden, Bd. 10.) Hamburg 2003, 112. 21 Vgl. Rubenstein, Purim (wie Anm.7), 253f. 22 Vgl. Moses Isserles, Kommentar zum Schulchan Aruch, Orach Chaim, 695,2. 23 Vgl. Lenhardt, Purim-Spiel (wie Anm.12), 169.

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festes, einer Zeit, die in Frankfurt beispielsweise immerhin vier Wochen währte 24, dargeboten wurden –, weist bereits die mit der Zeit deutlich zunehmende Anzahl überlieferter Werke auf deren wachsende Popularität hin. In ihnen überwiegen deutlich derber Humor und komische, ja bisweilen groteske Momente; Geschlechtertausch und Grenzüberschreitungen in unterschiedlicher Form sind die Regel. 25 Fasst man diese Elemente des Purimfestes zusammen und betrachtet sie in ihrem hier skizzierten Verlauf, könnte man zu folgendem Schluss gelangen: Zu einem frühen Zeitpunkt gestalteten die Rabbiner das Fest als Erinnerung an die Überwindung einer erlittenen Bedrohung, nachdem man der Gefährdung glücklicherweise entgangen war. Dabei intendierte man durchaus ein fröhliches Fest, sah sich aber im Laufe der Zeit immer wieder gezwungen, Exzesse überbordender Feierlaune einzudämmen. Scheinbar bemächtigte sich die Volkskultur zusehends dieses Festes, die Elemente sozialer Entgrenzung rückten immer mehr in den Vordergrund, es kam gewissermaßen zu einer fortschreitenden „Karnevalisierung“. Dabei ereigneten sich mehrere Verschmelzungen: Die sonst klar getrennten Geschlechtersphären näherten sich einander an, die gängigen Hierarchien wurden in Frage gestellt, Gewalt und andere Normverletzungen mussten schrittweise von den Rechtsinterpreten in das System integriert und reguliert werden, anderenfalls wäre man der Gefahr ausgesetzt gewesen, seine Machtstellung einzubüßen. Der Einzug dieser volkstümlichen Elemente wurde bis zu einem gewissen Grad seitens des Rabbinats zwar geduldet, mancher Rabbiner sah die ursprünglich kommemorative Bedeutung des Festes durch die volkstümlichen karnevalesken Grenzüberschreitungen jedoch gefährdet. Diese Hypothese lässt sich durch die parallel dazu stattfindende Stratifikation der jüdischen Gesellschaft mit ihrer Ausbildung von Gemeinden, den dazugehörigen Institutionen und Eliten weiter stützen. 26 Schließlich waren die Mittel zur Durch-

24

Vgl. Johann Jacob Schudt, Jüdische Merckwürdigkeiten / Vorstellende Was sich Curieuses und denck-

würdiges in den neuern Zeiten bey einigen Jahrhunderten mit denen in alle IV. Theile der Welt / sonderlich durch Teutschland / zerstreuten Juden zugetragen. Sammt einer vollständigen Franckfurter Juden-Chronick / Darinnen der zu Franckfurt am Mayn wohnenden Juden von einigen Jahrhunderten biß auff unsere Zeiten merckwürdigste Begebenheiten enthalten. 2. Theil. Frankfurt/Leipzig 1714, 314. 25

Zu Purimspielen existieren mittlerweile mehrere maßgebliche Werke, z.B. Butzer, Anfänge (wie

Anm.20); hier findet sich auch ein Überblick über die Entstehungstheorien der Purimspiele, ebd.34–39; Ahuva Belkin, The „Low“ Culture of the Purimshpil, in: Joel Berkovitz (Ed.), Yiddish Theatre. New Approaches. Oxford 2003, 29–43. 26

Der Endpunkt dieser Entwicklungen wird gemeinhin in der Ausbildung der kehilla (Gemeinde) und

des (Berufs-)Rabbinats gesehen, wobei es sich bei beiden um idealisierte, von der rabbinischen Literatur

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setzung der eigenen Position für die Rabbiner durch verschiedene Faktoren begrenzt, und man musste stets auf die Akzeptanz und Durchsetzbarkeit seiner Entscheidungen bedacht sein: Zum einen befand man sich in einem Abhängigkeitsverhältnis zu finanziell gutgestellten Laien, die als Gemeindevorstände fungierten. 27 Zum anderen war für das Rabbinat wie den Vorstand sicherlich handlungsleitend, dass man sich in einer prekären Minoritätssituation befand und mit zu strikten Regelungen die Option einer Konversion zum Christentum noch attraktiver hätte erscheinen lassen. Für eine gewisse Toleranz gegenüber karnevalesken Elementen gab es also gute Gründe. Den Eindruck, dass es sich beim frühneuzeitlichen Purim in erster Linie um ein ausgelassenes Fest voller Grenzüberschreitungen gehandelt haben dürfte, erwecken auch frühe Beschreibungen nicht-jüdischer Autoren. Der zum Christentum konvertierte Anthonius Margaritha beschreibt 1530 Purim folgendermaßen: „Darnach haben sy [die Juden] am 14. tag Hornungs ein fest, des sye Purim haissen die faßnacht / fasten den Tag davor / ist aber kayn volck so vol vnd thol als die juden an disem fest / Spilen / essenn vnd trincken / vnd das alles vberflüssig / verstellen sich auch inn andere klaidung / Sprechen sprüch / und seind vil narreter dann die Christen an irer faßnacht / machen vil süsser vnnd seltzamer speyß / wer diß fests vrsach lesen wöll / der findt es im Hester / jre

wie der jüdischen Historiographie ideologisch überformte extrapolierte Idealmodelle handelt. Vgl. überblicksartig J. Friedrich Battenberg, Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18.Jahrhunderts. (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 60.) München 2001, 21; Michael Toch, Die Juden im mittelalterlichen Reich. (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 44.) 2.Aufl. München 2003, 21 und 24f.; Jeffrey R. Woolf, Qehillah Qedosha. Sacred Community in Medieval Ashkenazic Law and Culture, in: Marcel Poorthuis/ Joshua Schwartz (Eds.), A Holy People. Jewish and Christian Perspectives on Religious Communal Identity. (Jewish and Christian Perspectives Series, Vol.12.) Leiden 2006, 217–235, hier bes. 217–219. Zu den Implikationen dieser Konzepte vgl. Andreas Gotzmann, Jüdische Autonomie in der Frühen Neuzeit. Recht und Gemeinschaft im deutschen Judentum. (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden, Bd. 32.) Göttingen 2008, 479–492. 27 Vgl. Gotzmann, Autonomie (wie Anm.26), 211–231; ders., Im Spannungsfeld externer und interner Machtfaktoren. Jüdische Gerichtsbarkeit im frühneuzeitlichen Frankfurt am Main, in: Anja Amend/ Annette Baumann/Stephan Wendehorst (Hrsg.), Die Reichsstadt Frankfurt als Rechts- und Gerichtslandschaft im Römisch-Deutschen Reich. (Bibliothek Altes Reich, Bd. 3.) München 2008, 185–216; Dean Philip Bell, Jewish Identity in Early Modern Germany. Memory, Power and Community. Aldershot 2007, 40–43; David B. Ruderman, Early Modern Jewry. A New Cultural History. Princeton 2010, 74–81.

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jungen machen hültzen klöpffer vnnd wie wyr vber den Judas am karfreytag tasten / also klopffen sie vber den Amman.“ 28

Und auch der christliche Hebraist Johannes Buxtorf hebt 1603 den fröhlichen Charakter des Festes hervor: „Sie feyren vnd verehren diß Fest mit Wolleben vnd gutem Wein / dieweil die Königin Esther / am köstlichen Maal / alß der König frölich beym Wein war / diese Gnad erlangete / daß die Juden solten beym Leben erhalten werden. Deßhalben sey auch recht vnd billig / daß sie sich frölich beym Wein machen. Thun also nichts anders diese zwen tage / dann Fressen / Sauffen / Spielen / Dantzen / Pfeiffen / Singen / sprechen reymen vnd liebliche Sprüche / verbutzen vnd verkleyden sich die Weiber in Manns / die Männer in Weibskleyder. Vnd ob schon solches außtrucklich im Gesatz verbotten / so schreiben sie doch / es sey allhie kein Sünde / weil mans nur von Simcha vnd Weltlicher frewd vnd kurtzweil wegen thut.“ 29

Betrachtet man Buxtorfs Ausführungen über Purim im Ganzen, fällt auf, dass schon quantitativ der eigentliche Schwerpunkt seiner Darstellung nicht auf den Bräuchen, sondern auf deren theologischem Gehalt liegt. Er zeichnet ein Bild von Purim, das die zeitgenössischen Rituale als rabbinische Interpretation der biblischen Geschichte darstellt und somit den Aspekt der Erinnerung betont. 30 Trotz aller karnevalesken Praktiken, die – wie gezeigt – in dieses Fest eingeflossen waren, scheint das Bewusstsein für seinen Ursprung bzw. seinen theologischen Gehalt nicht verlorengegangen zu sein. Müssen wir also unsere Lektüre von Purim als ein Institut der Verkehrung sozialer Verhältnisse für die frühneuzeitliche Ausgestaltung des Festes revidieren und stattdessen davon ausgehen, dass Purim möglicherweise weiterhin vornehmlich dem Erinnern an die überwundene Bedrohung der jüdischen Gemeinschaft diente? Am Beispiel des frühneuzeitlichen Vintz-Purims und seiner Rezeption wird im Folgenden auf die Gedenkfunktion von Purim und ihre Verknüpfung mit den verkehrenden Elementen eingegangen. Dabei wird sich unter anderem zeigen, dass die Betonung dieses Faktors durch die Forschung eine durch28

Anthonius Margaritha, Der gantz Jüdisch Glaub mit sampt ainer gründtlichen vnd warhafften anzay-

gunge / Aller Satzungen, Ceremonien, Gebetten. Augspurg 1530, o.S. 29

Johannes Buxtorf, Synagoga Judaica. Das ist Juden=schul: Darinnen der gantz Jüdische Glaub und Glau-

bens=übung mit allen Ceremonien. Basel 1643 [1603], 565f.; vgl. Friedrich Wilhelm Bautz, Art.„Buxtorf der Ältere, Johann“, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. 1. Hamm 1990, Sp.834–835. 30

Wobei anzumerken ist, dass dies zu einem gewissen Teil bereits seiner Zielsetzung, nämlich dem

Leser den Ursprung der Bräuche auf Grundlage rabbinischer Schriften zu erklären, geschuldet ist.

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aus voraussetzungsreiche Zugangsweise ist und eine Lektüre, die sich um eine Integration beider Aspekte bemüht, neue Perspektiven eröffnen kann.

II. Purim als Erinnern? Der Zusammenhang von Erinnern und Purim wird im Fach Jüdische Geschichte vor allem im Kontext sogenannter „Extra-Purims“ 31 hervorgehoben. Darunter werden lokale Purimfeste verstanden, die im Anschluss an eine real erfahrene, jedoch überwundene existentielle Gefährdung jährlich von der jeweiligen Gemeinde begangen wurden – das Moment der Verkehrung taucht in diesem Forschungszusammenhang nicht auf. Als prominentes Beispiel hierfür wird meist das Frankfurter Vintz-Purim genannt. Dieses Fest wurde im unmittelbaren Anschluss an den sogenannten Frankfurter Fettmilch-Aufstand in der dortigen jüdischen Gemeinde etabliert. Bemerkenswert ist zunächst die Forschungsgeschichte dieser auch als „Zweites Purim“ bezeichneten Festtage. Zumeist wird hier auf die Position von Yosef Hayim Yerushalmi Bezug genommen, für den Extra-Purims neben Bußgebeten und speziellen Fastentagen die typische Form mittelalterlichen jüdischen Erinnerns darstellen. 32 Dabei bezieht sich Yerushalmi auf Aufstellungen solcher Feste, wie sie beispielsweise in der Encyclopaedia Judaica zu finden sind. 33 Hierbei handelt es sich um Fortsetzungen jener Listen, die im 19.Jahrhundert von Vertretern der „Wissenschaft des Judentums“ erstellt worden waren. 34 Unreflektiert bleibt dabei zumeist, dass diese Verzeichnisse bis in das 17.Jahrhundert hinein ausschließlich Belege aus dem sephardischen Bereich anführen, um das aschkenasische Vintz-Purim dann in diese Tradition einzureihen, und dies trotz der sonst üblichen deutlichen Abgrenzung der beiden Kulturräume voneinander. 35 Dabei wird – offensichtlich auf der Grundlage einer angenommenen Universalität des Judentums – eine Kontinuität dieser Zweiten Purimfeste behauptet, welche nicht nur unreflektiert bleibt, sondern eine Kate-

31 Diesen Begriff verwendet auch Butzer, Anfänge (wie Anm.20), 19. 32 Vgl. Yosef Hayim Yerushalmi, Zachor. Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis. Berlin 1988, 59f. 33 Vgl. Anonym, Art.„Special Purims“, in: Skolnik (Ed.), Encyclopaedia (wie Anm.8), 742–744. 34 Vgl. Horowitz, Rites (wie Anm.1), 293–297. 35 Vgl. Leopold Zunz, Der Ritus des synagogalen Gottesdienstes, geschichtlich entwickelt. Berlin 1859, 124–130.

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gorie schafft, die möglicherweise in sich heterogen ist bzw. im aschkenasischen Raum nahezu inexistent war. Vor diesem Hintergrund soll das Frankfurter Vintz-Purim nicht nur als ein reguläres, der Tradition gewissermaßen natürlicherweise entspringendes Ritual der Erinnerung gelesen werden. Vielmehr muss es zuallererst für sich betrachtet und auf seine spezifische Interpretation des Purimnarrativs hin befragt werden. 36 Wenn man also von einer frühneuzeitlichen Ritualschöpfung ausgeht – die Idee einer Übernahme aus anderen Gemeinden, die nicht zu belegen ist, somit ausblendet –, lässt sich an diesem Beispiel möglicherweise die zeitgenössische Wahrnehmung der Motivgruppe „Purim“ dekonstruieren. Auf diese Weise ließe sich zugleich eine Skizze der Funktionalität des Festes für eine frühneuzeitliche jüdische Gemeinde entwerfen. Es gilt also zu untersuchen, welche Elemente neben die bereits benannten karnevalesken traten, die in der Frankfurter Gemeinde durchaus bekannt und beliebt waren. 37 Ferner wird zu fragen sein, ob und in welcher Form sie sich mit diesen verkehrenden Anteilen verbanden und was diese Verbindung leistete. Zunächst sei jedoch der Fettmilch-Aufstand, dessen zeitgenössische jüdische Lesart das Vintz-Purim darstellt, kurz skizziert. Als unumstritten gilt in der Forschung, dass die Kumulation verschiedener Faktoren den Ausbruch innerstädtischer Konflikte in der Reichsstadt Frankfurt am Main im Jahr 1614 bewirkte. 38 Schon lange

36

Auch Rachel L. Greenblatt weist darauf hin, dass es sich beim Vintz-Purim wohl um das erste Extra-

Purim in Mitteleuropa handelt. Vgl. dies., Jüdisches Gedächtnis und lokale Geschichte. Eine Liturgie der Erinnerung aus dem Prag der Frühen Neuzeit, in: Fritz Backhaus/Gisela Engel/Robert Liberles/Margarete Schlüter (Hrsg.), Die Frankfurter Judengasse. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit. (Schriftenreihe des Jüdischen Museums Frankfurt am Main, Bd. 9.) 2.Aufl. Frankfurt am Main 2006, 277–288, hier 281. 37

Zu den Exzessen frühneuzeitlicher Purim-Feiern in Frankfurt vgl. Gotzmann, Autonomie (wie

Anm.26), 251, 327, 699f. 38

Eine bis heute unverzichtbare Darstellung der Ereignisse findet sich bei Isidor Kracauer, Die Juden

Frankfurts im Fettmilch’schen Aufstand 1612–1618, 1. Teil, in: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland 4, 1890, H.3, 127–169; 2. Teil, in: ebd.4, 1890, H.3, 319–365; 3. Teil, in: ebd.5, 1892, H.1, 1–26; sowie ders., Geschichte der Juden in Frankfurt am Main. 1150–1824. Bd. 1. Frankfurt am Main 1925, 358– 398. Einen stärkeren Fokus auf die Machtkonstellationen hat Christopher R. Friedrichs, Politics or Pogrom? The Fettmilch Uprising in German and Jewish History, in: Central European History 19/2, 1986, 186–228. Eine kurze Zusammenfassung und Einordnung der Vorgänge in die jüdische Geschichte der Frühen Neuzeit liefert Battenberg, Juden (wie Anm.26), 20f. Zur Relevanz der Forschung Kracauers siehe Christhard Hoffmann, Von Heinrich Heine zu Isidor Kracauer. Das Frankfurter Ghetto in der deutsch-jüdischen Geschichtskultur und Historiographie des 19. und frühen 20.Jahrhunderts, in: Backhaus u.a. (Hrsg.), Judengasse (wie Anm.36), 33–51, hier 41–44.

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schwelten zu diesem Zeitpunkt Konflikte zwischen städtischem Patriziat und Bürgertum, die ökonomische Situation vieler Einwohner war zu Beginn des 17.Jahrhunderts überaus schwierig, die Stadtkasse leer, und der im Juni 1612 in Frankfurt zum Kaiser gewählte Erzherzog Matthias hatte mit dem vom Patriziat dominierten Rat wider Erwarten keine neuen Privilegien ausgehandelt, von welchen sich die Bürgerschaft eine Verbesserung der eigenen Situation versprochen hatte. Der hierzu von den Bürgern vorgelegte Maßnahmenkatalog hatte unter anderem die Forderung nach weiteren Beschränkungen für die Frankfurter Judenschaft beinhaltet – sie durfte seit 1462 ausschließlich in der sogenannten Judengasse wohnen. Infolge ergebnisloser Verhandlungen wuchsen die Spannungen zwischen dem Rat und den Zünften, und da Juden in der zeitgenössischen Vorstellung aufgrund ihrer Tätigkeit im Kreditwesen für die fatale Finanzlage verantwortlich gemacht wurden, überrascht es kaum, dass sich die rasch ausbrechende Gewalt schließlich in ihre Richtung entlud. Die Frankfurter Juden, die sich in der Periode zunehmender Bedrohung bereits mit Eingaben an den Kaiser gewandt hatten, erfuhren aufgrund seines vorsichtigen Taktierens zunächst nur wenig Unterstützung. 39 So kam es am 22.August 1614 unter der Führung des Lebkuchenbäckers Vinzenz Fettmilch, der seit 1613 dem erst ein Jahr zuvor gegründeten „Ausschuss“ – einer großen Bürgerbewegung, die seit ihrer Gründung den Rat schrittweise bis zur völligen Ohnmacht einschränkte und sich selbst in Form und Struktur stetig wandelte – vorstand, zur Plünderung der Judengasse. Mit Gewalt und List verschaffte man sich Zugang zur verschlossenen Gasse, plünderte die Häuser und wies die sich dort noch aufhaltenden Juden brutal aus 40, wobei man sie zunächst auf dem Friedhof, wo viele bereits Schutz gesucht hatten, gewaltsam zusammentrieb. 41 Die überbordende Gewalt bewirkte in der Folge ein beherzteres Handeln der Gegner Fettmilchs, allen voran des Kaisers. Der Anführer des Aufstandes wurde samt seiner Gefolgschaft entmachtet und schließlich zusammen mit seinen engsten Anhängern hingerichtet. Die Frankfurter Juden, die sich zwischenzeitlich in Städten im Umland aufgehalten hatten, durften die Gasse etwa ein Jahr nach der Vertreibung wieder beziehen und erhielten im Januar 1617 mit der neuformulierten „Judenstättigkeit“ eine abermals vom Kaiser pri-

39 Vgl. Kracauer, Geschichte (wie Anm.38), 361–364, 378–382. 40 Viele Juden hatten bereits in den Vormonaten die Stadt verlassen müssen, wobei ihnen zudem ein „Abzugsgeld“ abverlangt wurde. Vgl. Kracauer, Juden (wie Anm.38), Teil 2, 328. 41 Vgl. Kracauer, Geschichte (wie Anm.38), 389.

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vilegierte und geschützte rechtliche Position in Frankfurt zugewiesen, die dann bis zum Ende des Alten Reichs bestand. 42 Für ihr jährliches Gedenken an diese Ereignisse wählte die Frankfurter Gemeinde bzw. deren Elite, das heißt Vorstände unter Beteiligung des Rabbinats, die Form des Purims. Der Rabbiner Joseph Hahn beschreibt die Zusammenhänge folgendermaßen: „Der 27. Elul ist von uns zum Fasttage bestimmt, da wir an jenem Tage im Jahr 374 [1614] aus unserer Gemeinde vertrieben wurden durch die Ratschläge unserer Mitbürger, d.h. derer, die dem Aufstande angehörten.“ 43 Den Tag vor der Rückkehr in die Judengasse, „den 19. Adar, [haben wir] für jetzt und alle Zukunft zum Fasttage bestimmt, an welchem besondere Gebete (Selichoth) verrichtet und von jedem Familienhaupte als Sühne Spenden gegeben wurden zur sofortigen Verteilung unter die Armen. Und gepriesen sei der, der sein Volk Israel behütete […]. Den 20. Adar […] haben wir zum frohen Feste bestimmt, dessen Namen PurimVincenz (Fettmilch) bleibe in Israel, ähnlich wie die Tage des Purimfestes eingesetzt wurden nach Tagen des Kampfes und der Wunder. Und Wunder geschahen in der Tat an dem Tage für uns, da die Kommisare des Kurfürsten von Mainz und des Landgrafen von Darmstadt – Gott erhöhe ihren Glanz – uns in unsere Strassen führten und zwar mit Ehren und in der Mitte grosser Scharen, die mit ihren Panieren und Fahnen in Kriegsrüstung gingen, mit Pauken und Trompeten.“ 44

Hier wird bereits ersichtlich, dass die Implikationen, die man mit Purim verband, offensichtlich über die einer inhaltsleeren Verkehrung um ihrer selbst willen hinausgingen, vielmehr wurde das Fest als ein konkretes Ereignis im Kontext einer Heilsdramaturgie interpretiert. Auffällig ist auch die Tatsache, dass die Eliten selbst dessen Etablierung vorantrieben. Haben wir es bei diesem sekundären Purimfest etwa mit einer Version von Purim zu tun, die auf Verkehrungen und die Beschäftigung mit den ihnen zugrunde liegenden Polaritäten verzichtet? Im Gegenteil! Ein Blick in einen zentralen Bestandteil des Festes, die sogenannte Megillat Vintz zeigt vielmehr, wie virtuos Elemente verschiedener Provenienz miteinander kombiniert

42

Vgl. Battenberg, Juden (wie Anm.26), 20.

43

Josef Juspa Ben Pinchas Seligmann Hahn, Josef Omitz. Jerusalem 1965 [Frankfurt am Main 1723], 211f.;

Übersetzung bei Markus Horovitz, Frankfurter Rabbinen. Ein Beitrag zur Geschichte der israelitischen Gemeinde in Frankfurt a.M. Ergänzungen von Rabbiner Dr. Joel Unna. Kefar Haroeh 1969, 50–52. 44

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Hahn, Josef Omitz (wie Anm.43), 242f.; Übersetzung Horovitz, Rabbinen (wie Anm.43), 52.

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wurden bzw. wie sonst idealiter distinkte Sphären miteinander verschmolzen wurden. Bei der Megillat Vintz handelt es sich um einen 1616 von Elhanan ben Abraham Helen verfassten Text, der noch im selben Jahr erstmals gedruckt wurde und bis ins 19.Jahrhundert jährlich in der Frankfurter Gemeindesynagoge verlesen wurde. 45 Wie damals üblich, wurde als Aufführungshinweis eine bekannte Melodie angeführt, nach der das Lied vorzutragen sei. Wenn in diesem Fall das deutsche Lied „Die Schlacht von Pavia“ 46 dafür verwandt wurde – also eine weder dem synagogalen Ritus noch einem ausschließlich jüdischen Umfeld entstammende Weise, sondern musikalisches Allgemeingut –, erscheint das Werk in einem doppelten Spannungsfeld: Zum einen befindet es sich zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Zum anderen wird es an der Schwelle von der jüdischen Gemeinschaft zur nicht-jüdischen Umwelt, die sonst in frühneuzeitlichen jüdischen Quellen üblicherweise weitgehend ausgeblendet wird 47, verortet. Das sogenannte „Trommelkaddisch“, welches dem synagogalen Vortrag des Textes vorangestellt wurde 48, diente einerseits der Erinnerung an den feierlichen Wiedereinzug im Geleit der kaiserlichen Truppen, andererseits handelte es sich um ein dem synagogalen Raum fremdes Element, das eine heitere Atmosphäre erzeugte. Bemerkenswerterweise wird dieser Raum zugleich als „heilig und rein“ 49, sprich dem Alltag enthoben und somit spezifischen Regeln unterworfen charakterisiert. Folglich ist anzunehmen, dass man von der Zuhörerschaft ein angemessenes Verhalten erwartete, wodurch man Exzesse von vornherein begrenzte. 45 Von dem Text wurden zunächst zwei Versionen überliefert, eine hebräische und eine jüdisch-deutsche; zum 300-jährigen Jubiläum ihres Erscheinens ließ die Frankfurter Jüdische Gemeinde 1916 noch eine Übersetzung ins Hochdeutsche anfertigen. Alle Versionen sind gereimt und umfassen 103 Strophen. Die kritische Ausgabe, die den Analysen hier zugrunde liegt, ist zu finden bei Rivka Ulmer, Turmoil, Trauma, and Triumph. The Fettmilch Uprising in Frankfurt am Main (1612–1616) according to Megillas Vintz. A Critical Edition of the Yiddish and Hebrew Text Including an English Translation. Frankfurt am Main 2001, 90–199. Für Anmerkungen zu den verschiedenen Editionen vgl. ebd.50–53, 79; ebenfalls Chava Turniansky, The Events in Frankfurt am Main (1612–1616) in Megillas Vints and in an Unknown Yiddish „Historical“ Song, in: Michael Graetz (Hrsg.), Schöpferische Momente des europäischen Judentums in der frühen Neuzeit. Heidelberg 2000, 121–137, hier 125–127. 46 Ulmer, Turmoil (wie Anm.45), 75–78. 47 Vgl. mit Schwerpunkt auf dem Bereich des Rechts Gotzmann, Autonomie (wie Anm.26), 34–50. 48 Vgl. Fabian Ogutsch, Der Frankfurter Kantor. Sammlung der traditionellen Frankfurter synagogalen Gesänge. Frankfurt am Main 1930, 103; Ulmer, Turmoil (wie Anm.45), 78. 49 Ulmer, Turmoil (wie Anm.45), 152.

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Mit der Wahl des Titels selbst und durch eine entsprechende Erklärung in seiner Vorrede verankert der Autor seine Dichtung fest in der jüdischen Tradition. Er stellt sich in die Nachfolge der Megillat Antiochus, eines spätantiken Werkes, das ebenfalls von einer überstandenen Katastrophe handelt, und natürlich in die der Estherrolle selbst. 50 In die Strophen ist viel Material aus der jüdischen Liturgie eingewebt, namentlich Psalmen, die teilweise wörtlich, teilweise als bekanntes Motiv von hohem soteriologischen Gehalt zitiert werden, so dass davon auszugehen ist, dass dies bei den Zeitgenossen sofort die entsprechenden Assoziationen weckte. Auf der Ebene der Liturgie haben wir es also mit einem jüdisch-deutschen Gesang zu tun, der Anleihen bei den Psalmen und der Purimerzählung nimmt, der aber durch seine musikalische Gestaltung bereits darüber hinausweist. Wenn beispielsweise mittels eines solchen Psalmenzitats die Frankfurter Situation mit dem Babylonischen Exil gleichgesetzt wird, indem eine Analogie zwischen beiden Städten anhand ihrer ähnlichen topographischen Lage an zwei Flüssen hergestellt wird 51, verknüpft man so zwei weitere, auf den ersten Blick nicht miteinander verwandte Themenkomplexe. Entscheidend sind für dieses Purimverständnis also nicht nur Konstellationen, die sich zwischen verschiedenen jüdischen Akteuren ereignen, vielmehr – und dies steht in einem scharfen Gegensatz zu anderen jüdischen Ritualen, die sich gerne als unveränderlich und geschlossen stilisieren sowie dargestellt werden –, wird die nicht-jüdische Umwelt integriert. Verständlich wird dies, wenn man sich vor Augen führt, dass schon das Estherbuch nicht etwa die Machtverhältnisse im Judentum fokussiert, sondern die nicht-jüdische Umwelt und das eigene frevelhafte Verhalten im Zusammenhang mit der Bedrohung. Diese Diasporaerzählung par excellence beschreibt nämlich nicht nur die Exilsituation, sondern nimmt die Überwindung der derzeitigen, gemäß dem göttlichen Heilsversprechen als lediglich vorübergehend ins Gegenteil verkehrt interpretierte Machtverhältnisse in ihrer Handlung vorweg, ein Versprechen, das gleichzeitig an das Befolgen des jüdischen Religionsgesetzes geknüpft bleibt. Damit ist zum einen die Wahrnehmung verbunden, dass die aktuelle Situation eine Umkehr der rechten Machtverhältnisse darstellt. Zum anderen bietet 50

Wobei hier der Feind und nicht wie bei Megillat Esther die Retterin titelgebend ist. Verstärkt wird die-

se Bezugnahme nicht nur durch das explizite Benennen des Vorgangs, sondern darüber hinaus durch die gematrische Gleichsetzung mit der Megillat Antiochus. Vgl. Turniansky, Events (wie Anm.45), 126; Ulmer, Turmoil (wie Anm.45), 61. 51

Vgl. Rivka B. Kern Ulmer, Volksliturgie in der Frankfurter Judengasse des frühen 17.Jahrhunderts. Die

Psalmen im Vinz-Hans-Lied, in: Backhaus u.a. (Hrsg.), Judengasse (wie Anm.36), 251–265, hier 253f.

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dies die Möglichkeit zur binnenjüdischen Kritik, da die Tatsache einer erfahrenen Bedrohung als ein Beleg dafür gehalten wird, dass Teile der jüdischen Gemeinschaft offensichtlich das Religionsgesetz übertreten hatten. 52 Aus diesem Sündenverständnis entwickelt die Megillat Vintz ihre Dramaturgie. Auch hier ist das fromme Handeln, das sich in Beten und Fasten äußert, der entscheidende Faktor. Erst wahrhaft religiöses Handeln sichert die Hilfe Gottes und bewirkt die entscheidende Änderung, lässt das Wunder geschehen, wohingegen das vorausgegangene Elend als Konsequenz sündhaften Verhaltens interpretiert wird. 53 In dieser Hinsicht erscheint das Werk streng der jüdischen Tradition verpflichtet. Durch die Verwendung des Purimnarrativs, also eines etablierten, positiv belegten Schemas, wird der Handlungsverlauf vorweggenommen, so dass traumatisierende Ereignisse ausgesprochen werden können und die Erinnerungen an konkretes Geschehen in die mythologische Vergangenheit eingebettet werden, wobei dem Werk sowohl Erinnerungs- als auch Informationsfunktion zukommt. 54 Über lange Strecken bilden die biblische Vergangenheit und die jüdische Tradition lediglich den Rahmen für die Darstellung der aktuellen Situation. So werden gleich zu Beginn Ort, Jahr und beteiligte Personen namentlich genannt. Im Weiteren werden die Ereignisse des Aufstandes chronikartig geschildert, wobei nicht etwa nur das Jahr der Ausweisung selbst in den Blick genommen wird; die Schilderung setzt vielmehr bereits 1612 ein, also mit dem Jahr, in welchem Vinzenz Fettmilch eine bedeutende Position erlangt. 55 Die vorangegangenen Ereignisse, vor allem die Kaiserkrönung, werden an

52 Dieser Zusammenhang zwischen dem Fehlverhalten einiger Gemeindemitglieder und der daraus resultierenden Bedrohung der Gemeinde wird auch direkt angesprochen; vgl. Ulmer, Turmoil (wie Anm.45), 126. 53 Vgl. ebd.196. Zum frühneuzeitlichen jüdischen Sündenverständnis vgl. Bell, Identity (wie Anm.27), 20–27. 54 „The innovative characteristics of Megillas Vints seem to place this poem on the border between two genres: the traditional Jewish commemorative genre of kinot and selihot designed for the synagoge [sic!], and the contemporary European ‚historical‘ song intended primary for the spreading of information. However, in spite of its novelties and its distinct deviations from the Jewish paradigms and traditional texts, Megillas Vints performed its commemorative ritual function in synagogue and at home for more than two centuries.“ Turniansky, Events (wie Anm.45), 131. 55 Ein zeitlicher Rahmen, den die jüdische Geschichtsschreibung in der Folge häufig reproduzierte, so beispielsweise auch Kracauer, der zwar in seiner Darstellung durchaus die Vorgeschichte in den Blick nimmt, sich bei der Titulierung aber auch für 1612 als Anfangspunkt entscheidet. Bis heute begreift nahezu die gesamte Historiographie 1612 als entscheidende Zäsur in der Geschichte Frankfurts. Vgl. Ulmer, Turmoil (wie Anm.45), 96.

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dieser Stelle ausgeblendet. Allerdings wird der Kaiser keineswegs völlig übergangen, vielmehr tritt er später als Unterstützer der Juden auf, dies aber vor allem nach ihrer Ausweisung. 56 Schon rein quantitativ werden die Zeit im direkten Umfeld der Vertreibung aus der Judengasse sowie der Akt des feierlichen Wiedereinzugs mit der meisten Aufmerksamkeit bedacht. Letzterer wird zu einem regelrechten Triumphzug und als in eine dauerhafte Zukunft weisend stilisiert. Im Gegensatz zu dieser Tendenz, die Zukunft quasi offen erscheinen zu lassen, werden die wiedergewonnenen Orte genau fixiert, genannt wird beispielsweise die Frankfurter Zeil – man begreift sich also durchaus als der ganzen Stadt Frankfurt und nicht nur dem eigenen begrenzten Umfeld der Gasse verbunden. Besonders betont werden ferner das Anbringen des Reichsadlers am Tor der Judengasse und der Erhalt der neuen Stättigkeit, beides Symbole des besonderen kaiserlichen Judenschutzes. 57 Und so schließt der Text damit, dass Frankfurt nicht etwa ein unsicherer Ort sei, den man nur als vorübergehende Wohnstätte begreift, man intendiert vielmehr zu bleiben, bis „der Messias kommt“ 58, also bis an das Ende der vorgestellten historischen Zeit. Judentum und Stadt werden als zwei Entitäten wahrgenommen, welche dauerhaft koexistieren, denn jüdische Zeit findet auch in Zukunft in Frankfurt statt. Durch dieses Überdecken sonst bestehender Grenzen behauptet man sowohl Teilhabe am Geschehen der Stadt als auch eine Gemeinschaft mit der christlichen Mehrheit, man schreibt sich gewissermaßen in die Geschichte der Stadt ein. Diese Tendenz, bestehende Grenzen zu sprengen bzw., treffender formuliert, sie bewusst verwischen zu wollen, findet sich auf semantischer Ebene ebenfalls wieder. Besonders in der jüdisch-deutschen Fassung werden etablierte Begriffe, die sonst klar entweder dem jüdischen oder dem nicht-jüdischen Umfeld zugeordnet sind, für den jeweils anderen Bereich gebraucht. Vor dem Hintergrund der angesprochenen Heilsdramaturgie erscheint es konsequent, die Hinrichtung der Verbrecher damit zu erklären, dass ihnen diese Strafe zukam, weil sie sogar bei ihrer Verurteilung keine kapora, also Reue im religiösen Sinne, zeigten. 59 Auf subtile Weise werden damit die Grenzen zwischen jüdischem und christlichem Umfeld überwunden, indem man gemeinsame Moralvorstellungen behauptet. Wesentlich exponierter begegnet

296

56

Vgl. ebd.156.

57

Vgl. ebd.192.

58

Ebd.194.

59

Vgl. ebd.164.

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uns dieses Phänomen im Zusammenhang mit der Schilderung von politischen Einheiten, die sonst keineswegs auf den jeweils anderen Bereich ausgedehnt werden. Beispielsweise wird kehilla – also jener Terminus, welcher bis heute die jüdische Gemeinde samt ihren Institutionen und Strukturen bezeichnet – auf die gesamte Stadt Frankfurt bezogen. 60 Umgekehrt wird der Kaiser qua Segensformeln beinahe zu einem Teil der jüdischen Gemeinschaft. 61 Vinzenz Fettmilch wird von der Masse zum „König“ 62 erhoben – er wird also schon auf sprachlicher Ebene aus der imaginierten jüdisch-deutschen Frankfurter kehilla, jener fiktiven Gesamtgemeinschaft, ausgeschlossen. Gleichzeitig bezeichnet Fettmilch sich selbst als „Haman“, der nur deshalb reüssieren kann, weil die jüdische Gemeinde nicht fromm genug lebt: „Ich bin euer Homan in diesen Zeiten. Vor Mordechai bin ich unverzagt. Es seyn nit unter euch so frömme Leut.“ 63 Wie ungewöhnlich eine solche Vereinnahmung christlicher Akteure bzw. Zuständigkeitsbereiche war und wie wenig sie außerhalb des Purim-Zusammenhangs von der christlichen Majorität wohl toleriert worden wäre, wird deutlich, wenn man sie mit nicht-jüdischen Darstellungen des Geschehens kontrastiert. Diese überliefern zwar dieselben Daten und Handlungsabläufe wie die Megillat Vintz, im direkten Vergleich wird aber klar, wie weit die Lesarten sich voneinander unterscheiden. Wenngleich sich das Ausmaß der von den Zeitgenossen empfundenen Abweichung nicht exakt bestimmen lässt, kann man vor dem Hintergrund der christlichen Sicht doch erahnen, als wie weitreichend und anmaßend die beschriebenen Grenzüberschreitungen und Verkehrungen der herrschenden Ordnung wahrgenommen werden mussten. So erweckt beispielsweise ein anonymer christlicher Holzschnitt des 17.Jahrhunderts sowie die dazugehörige Bildunterschrift (siehe Abb.1) keineswegs den Eindruck einer triumphalen Rückkehr der Juden in ihre Gasse. Vielmehr stellen die Bürger, begleitet von obrigkeitlichen bzw. kaiserlichen Kräften, die rechte Ordnung wieder her: Die Juden bekommen ihren ursprünglichen Platz zugewiesen, besiegelt durch das Anbringen des kaiserlichen Wappens. 64 Im selben Atemzug wird

60 Zum Beispiel ebd.164. 61 Vgl. ebd.192. 62 Ebd.100. 63 Ebd.58, 134. 64 Die christliche Darstellung zieht die Grenze also klar zwischen Juden und Christen, ohne zu reflektieren, dass der kaiserliche Eingriff einen Affront gegen die städtischen Machthaber darstellte, indem deren Macht begrenzt wurde.

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Abb. 1: Nach dem Fettmilch-Aufstand: Wiedereinführung der Frankfurter Juden in ihre Gasse gemäß kaiserlicher Proklamation am 28. Februar 1616 nach der Hinrichtung Fettmilchs, Frankfurt am Main, 1616, Holzschnitt. Originalgröße: 21,3 × 16 cm. Copyright: Historisches Museum Frankfurt, Foto: Horst Ziegenfusz.

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auch die neue Stättigkeit erwähnt, die somit weniger als gewährtes Recht, sondern als Bestätigung bestehender Machtverhältnisse und als klare Begrenzung der Rechtssphäre erscheint. 65 Eine ähnliche Absicht liegt offensichtlich auch Johann Jacob Schudts Darstellung in seinen 1714 erschienenen Jüdischen Merckwürdigkeiten zugrunde. 66 Der protestantische Theologe, über dessen Motive, sich als erster „Ethnograph der Judengasse“ zu betätigen, viel spekuliert wurde 67, verwendet zwar Material beider Seiten, liefert letztlich aber eine Sicht, die jener der zeitgenössischen Graphik wesentlich nähersteht. 68 Auch bei ihm gibt es keine zukunftsweisende Perspektive und vor allem keine gemeinsame Lebenssphäre, sondern zwei strikt voneinander getrennte Bereiche. Schudt selbst kommt die Rolle zu, seinem Leser das, was jenseits der Grenze liegt, zu übermitteln – gemeinsames Handeln oder gar gemeinsames politisches Entscheiden liegt außerhalb seiner Vorstellung. Es wird beispielsweise betont, dass die Frankfurter Bürgerschaft nach Fettmilchs Hinrichtung eine Schandsäule am Ort des niedergerissenen Fettmilch’schen Wohnhauses errichtet habe und im Anschluss auch die Juden dort eine – wohlgemerkt hebräische – Inschrift angebracht hätten. 69 Im frühneuzeitlichen Verständnis ist dies wohl weniger als Zeichen religiösen Pluralismus zu begreifen, sondern als Hinweis auf die Nicht-Anschlussfähigkeit der jüdischen Mitbewohner. Generell liegt bei Schudt das Gewicht stärker auf den verschiedenen christlichen Akteuren und ihren Ordnung stiftenden Funktionen: Die Ursache der durchaus als unrechtmäßig wahrgenommenen Ausschreitungen sieht er im „ungerechtfertigten Wucher“ der Juden, sie wird also den Opfern zugeschrieben. 70 Schon anhand dieser knappen Hinweise auf die christliche Perspektive wird deutlich, wie weit die Narrative voneinander abweichen, insbesondere hinsichtlich der Bedeutung, die ihnen durch die jeweilige Dramaturgie zuteil wurde. Die klare, in die Zukunft gerichtete Heilserwartung, die von der Frankfurter Judenschaft mit dem 65 Die Zahl der siedlungsberechtigten Juden in Frankfurt wurde in der neuen Stättigkeit zudem deutlich herabgesetzt. Vgl. Ulmer, Turmoil (wie Anm.45), 44f. 66 Vgl. Schudt, Merckwürdigkeiten (wie Anm.24), 53–68. Der letzte Teil der Darstellung, seine Beschreibung der Megillat Vintz, ist schon mit „Eines Juden merckwürdige Beschreibung der Plünderung und Verjagung der Juden“ überschrieben; ebd.64. 67 Vgl. z.B. Yaacov Deutsch, Johann Jacob Schudt – Der erste Ethnograph der jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main, in: Backhaus u.a. (Hrsg.), Judengasse (wie Anm.36), 67–76. 68 Vgl. ebd.74f. 69 Vgl. Schudt, Merckwürdigkeiten (wie Anm.24), 60f. 70 Vgl. ebd.53.

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Ereignis verknüpft wurde, steht im Gegensatz zu der rückwärtsgewandten Wiederherstellung der alten Ordnung durch die Frankfurter Bürgerschaft, wie sie von christlicher Seite betont wird, die damit ihre Vormachtstellung in den Vordergrund rückt und die Trennung der Sphären verfestigt. Das Purimnarrativ in seiner hier vorliegenden Deutung dient also der Harmonisierung verschiedener Herrschaftsebenen, die in seinem Rahmen durchaus in Verkehrung bzw. in einer Art Mesalliance dargestellt werden können. Führt man sich noch einmal vor Augen, dass die Megillat Vintz gewissermaßen ein rabbinischer Beitrag zur Purim-Saison der Gemeinde ist, kann man ihre Leistung auch darin sehen, dass sie das Moment der Verkehrung neu interpretiert und für sich fruchtbar macht: So werden nicht nur die binnenjüdischen Herrschaftsstrukturen in den Blick genommen, vielmehr wird die christliche Umwelt in die eigene Weltsicht integriert. Die Vermutung liegt nahe, dass dieser Schritt erst möglich war, weil man sich im Umfeld von Purim generell in einem Schwebezustand befand, in welchem das übliche Machtgefüge kritisiert werden konnte, da das Maß der Ernsthaftigkeit eventueller Kritik nie vollständig festzustellen war. Doch finden wir neben dieser Form der Verkehrung in der Megillat Vintz auch Spuren des volkstümlichen Karnevals im Sinne Bachtins, also Anhaltspunkte, die ihr den Charakter einer Parodie verleihen würden oder die Vorstellung des Grotesken bedienen? In diese Richtung deutet vielleicht die Benennung des Antihelden Fettmilch als „Vintz Hans“, wenn man sie – anders als Schudt, der in ihr jüdisches Unverständnis der Phonetik von „Vincens“ 71 sieht – als Anspielung auf die Figur des Hanswurst interpretiert. 72 Ferner erinnert seine Krönung – im Purimzusammenhang gelesen – an die Krönung eines temporären Purimkönigs und nimmt – durch die Nähe zur Esthererzählung – den Sturz des Antihelden vorweg. Von Elementen wie einem Infragestellen der Geschlechterrollen fehlt allerdings jede Spur, Männer wie Frauen werden in ihren angestammten Rollen gezeigt. Dem frommen Einhalten der geschlechterspezifischen religiösen Gebote kommt sogar ein besonderer Stellenwert zu, wird dies doch als wesentliche Bedingung für den guten Ausgang genannt. Dabei muss man sich stets vergegenwärtigen, dass es sich bei der Megillat Vintz nicht um eine Beschreibung der Vintz-Purim-Feierlichkeiten handelt, sondern ledig-

71

Vgl. ebd.65.

72

Zur Figur des Hanswurst vgl. Erika Fischer-Lichte, Kurze Geschichte des deutschen Theaters. Tübingen

1993, 73–77.

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lich um ihre textliche Grundlage. Eine darüber hinausgehende Verkehrung ins Lächerliche während ihres Vortrags ist also nicht ausgeschlossen, der fröhliche Charakter der Feierlichkeiten ist vielmehr durch die erwähnte ungewöhnliche musikalische Ausgestaltung konzeptionell bereits angelegt. Zu bedenken ist ferner, dass das Werk in den synagogalen Kontext eingebunden wurde. Dies führt zu einer komplexen Situation, die vielfältige, einander nicht ausschließende Erklärungsansätze zulässt: Zwar bekannte sich die Gemeindeelite mit der Megillat Vintz zu einem Werk, das Verkehrung – und somit Kritik – durchaus zuließ. Gleichzeitig begrenzte man durch die Sakralität des Synagogenraumes und die aus ihr abgeleitete gleichermaßen idealisierte wie als verbindlich angenommene Ordnung der jüdischen Gemeinschaft die Umkehr der Machtstrukturen. Durch dieses indirekte, in Form einer komplementären Ergänzung gehaltene Bekenntnis zu dem in der Gemeinschaft beliebten Purimfest steigerte man auch die eigene Beliebtheit. Da das Vintz-Purim kalendarisch in die Zeit des allgemeinen Purimfestes fällt, also in jene Phase, in der auch Purimspiele zur Aufführung kamen, kann man es auch als Beitrag verstehen, welcher den ursprünglichen soteriologischen Gehalt der Esthergeschichte durch ihre Aktualisierung unterstreicht oder es um diesen Aspekt ergänzt. Somit lieferte die Elite einen Beleg für ihre Deutungshoheit und festigte zudem die eigene Position. Dieser hohe Grad an Komplexität überrascht wenig vor dem Hintergrund der komplizierten Machtverhältnisse, innerhalb deren sich jüdisches Leben im frühneuzeitlichen Frankfurt abspielte. Da man in unterschiedliche Rechts- und Herrschaftssysteme integriert war, sah man sich stets verschiedenen Autoritäten gegenüber. Weil die grundlegende theologische Annahme der Diaspora bedeutete, dass man sich – zumindest vorübergehend – als unterlegene Minorität begriff, war die Sehnsucht nach Verkehrung dieses Zustandes gewissermaßen ein konstitutiver Bestandteil jüdischer Existenz sowie jüdischer Religion und Endzeiterwartung. Eine Lektüre des Vintz-Purims, die weder ausschließlich auf Erinnern noch auf Karneval abzielt, sondern die durch eine integrative Sichtweise beider Paradigmen Vielschichtigkeiten und Uneindeutigkeiten sichtbar macht, harmoniert ferner mit anderen neueren Untersuchungen. Sie zeigen, dass genau diese Komplexität jüdische Handlungsspielräume keineswegs einschränkte, sondern in Gestalt von Interpretationsräumen und mannigfaltigen Interaktionsmöglichkeiten oft erst eröffnete, wodurch sie sogar für eine gewisse Stabilität sorgte. 73 Eine Verkehrung bestehender 73 Vgl. Gotzmann, Autonomie (wie Anm.26), 25–146, 815–823.

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Verhältnisse barg also einerseits die Chance, auf gleichermaßen populäre wie tolerierbare Weise Kritik zu üben, andererseits war sie immer mit dem Risiko verbunden, die aktuelle Situation zu gefährden. So wird auch verständlich, warum es für die frühneuzeitliche Frankfurter Gemeinde kein Widerspruch war, sich in Form eines Zweiten Purims an das Geschehen zu erinnern, sondern dieser rückwärtsgewandte, affirmative Aspekt die allgemeine Purimzeit gewissermaßen komplettierte. Kehren wir abschließend noch einmal zu unserer Ausgangsfrage zurück, inwieweit das Bachtin’sche Karnevalskonzept in der Lage ist, das Phänomen Purim zu erfassen. Es konnte festgestellt werden, dass alle von Bachtin genannten Elemente im Kontext dieses Festes durchaus auftauchen, es also aufnahmefähig für groteske Elemente ist. Vermutlich war es die bloße Tatsache, dass man anlässlich dieses Festes einmal mit Akten der Inversion begonnen hatte sowie seine kalendarische Nähe zum christlichen Karneval, die eine Integration neuer Elemente weiter begünstigte. Auch das Moment der temporären symbolischen Machtverkehrung war im Fest selbst angelegt. Dieses konnte auf vielfältige Art und Weise – binnenjüdisch wie extern – bedient werden, wobei es von Anfang an zu einer Allianz mit der Rechtstradition kam, die somit das Maß der Kritik beeinflussen konnte. In klarer Differenz zu Bachtins Idee von Karneval blieb Purim dabei stets an konkrete Inhalte gebunden. Im Ergebnis handelt es sich bei Purim um eine Motivgruppe, die erinnernde und verkehrende Momente miteinander verband und Raum für Theatralität und Traumaverarbeitung bot. Möglicherweise ist es eben dieser hybride Charakter, der es dem Purimnarrativ gestattete, nicht nur als Katalysator zu wirken, sondern tatsächlich zu einem bedeutsamen Stabilisator des Judentums zu werden, können doch auf diese Weise unterschiedliche Szenarien je nach Bedarf bedient werden: das befreiende Lachen ebenso wie das identitätsstiftende gemeinsame Erinnern. Dabei ist es wohl insbesondere der Aspekt des Erinnerns, der durch das im Purimnarrativ angelegte Versprechen auf eine Wendung zum Guten einerseits zwischen Polaritäten zu vermitteln vermag, andererseits in der Lage ist, sie wirksam zu thematisieren. Insgesamt ist Purim also ein Institut, das verschiedene soziale Machtgefälle und Gegensätze auszugleichen vermag. Dabei thematisiert und überwindet es sowohl Differenzen mit der umgebenden Majorität als auch binnenjüdische auf symbolischer Ebene. Der Ausgleich findet auf der zeitlichen Achse statt, mittels eines Blicks in die Geschichte, der in eine heilsversprechende Zukunft weist, wodurch erinnernde und verkehrende Momente untrennbar miteinander verbunden sind, wenngleich im Einzelfall eines der beiden Elemente eine prominentere Ausprägung er-

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fahren kann. So bemühten sich beispielsweise im 19.Jahrhundert Anhänger des Reformjudentums darum, die erinnernden Aspekte stärker zu betonen. Dabei zielten sie in erster Linie auf eine Interpretation des Purimmotivs ab, die die Überwindung der Gefahr und die daraus resultierenden moralischen Konsequenzen in den Vordergrund rücken sollte, wobei man sich gleichzeitig der als volkstümlich, somit minderwertig und der bürgerlichen Emanzipation im Wege stehend wahrgenommenen Verkehrungselemente entledigen wollte. Hingegen scheint – insbesondere in stärker orthodoxen Kreisen – die Lust an Verkehrung in verschiedenen Ausprägungen ungebrochen.

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Endzeit als Wendezeit? Zum Einfluss von Naherwartungen auf die rituelle Praxis in jüdischen und christlichen Gemeinschaften in der Frühen Neuzeit von Jeannine Kunert

Im alltäglichen Sprachgebrauch bedeutet Verkehrung das Verdrehen von gewohnten Zuständen. „Die Welt wird auf den Kopf gestellt“, nichts ist mehr, wie es normalerweise war, wie es die Norm war. Untertanen regieren ihre Herrscher, Frauen übernehmen die Rollen von Männern: „So werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein“ (Mt 20,16). In der Vorstellung von einer verkehrten Welt verlaufen nicht nur Raum und Zeit nicht weiter in den bekannten Bahnen, auch die gesellschaftliche Ordnung ist auf den Kopf gestellt. Auf den Aspekt der Umkehrung in Ritualen wiesen prominent Victor Turner 1 und Michail Bachtin 2 hin. Beide gehen von einer doppelten Verkehrung aus, wobei meine Ausführungen vornehmlich auf Turners Theorie basieren: Die alltägliche Welt wird in einem ersten Schritt durch rituelle Handlungen 3 symbolisch verkehrt; damit wird eine Art Gegenordnung hergestellt, die man als außeralltäglich bezeichnen kann. Dort herrscht für eine gewisse Zeit und für die an ihr teilhabenden Personen ein Zustand, in dem die herkömmlichen sozialen Normen außer Kraft gesetzt sind und besondere Handlungsschemata gelten – Turner nennt dies Anti-Struktur. In dieser spezifischen Situation entsteht zwischen den Beteiligten eine Gemeinschaft mit festen

1 Vgl. Victor Turner, The Ritual Process. Structure and Antistructure. New York 1969, hier besonders die Kapitel „Liminality and Communitas“ und „Humility and Hierarchy“. 2 Vgl. Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt am Main 1987. 3 Rituelle Handlungen sind symbolische Handlungen, die eine Bedeutung und Funktion haben. Sie sind machtvolle Mechanismen zur Konstruktion des Selbst und der Anderen. Will man rituelle Handlungen verstehen, können Praxis, Idee und Funktion nicht voneinander geschieden werden. Daher werden die folgenden Ausführungen sich intensiv mit den Glaubensinhalten hinter den rituellen Akten sowie deren Bedeutungszuschreibung seitens verschiedener Akteure auseinandersetzen. Wenngleich sich Symbole durch Polysemie auszeichnen, konzentriert sich der vorliegende Beitrag auf den Aspekt der Verkehrung. Vgl. Dietrich Hart/Axel Michaels, Grundlagen des SFB 619 Ritualdynamik. Soziokulturelle Prozesse in historischer und kulturvergleichender Perspektive. Bd. 1. Heidelberg 2003, 16 (http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/ojs/index.php/ritualdynamik/issue/view/143; letzter Zugriff: 23.5.2010).

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oldenbourg DOI 10.1515/9783486727678.304

sozialen Bindungen („communitas“ 4), die sonst bestehende gesellschaftliche Grenzen überbrücken, die starke Zugehörigkeitsgefühle erzeugen und gruppendynamische Abgrenzungsmechanismen befördern. Letztendlich wird die verkehrte Welt der Anti-Struktur, die sogenannte Periode der Liminalität (Turner) oder die Zeit des Schwellenzustandes, erneut durch Rituale in die normale Welt überführt, und die alltäglichen Zustände werden wiederhergestellt. Durch Verkehrungsrituale werden die Übergänge in die einzelnen Phasen (Alltag – Außeralltag – Alltag) mithin symbolisch markiert. Die Funktion der Verkehrung und ihrer anschließenden Aufhebung besteht nach Turner in der Stabilisierung der alltäglichen sozialen Ordnung. Im Kontext von Endzeiterwartungen gibt es durchaus Handlungen, die als rituelle Handlungen beschrieben werden können, die die Verkehrung der alltäglichen sozialen Ordnung kommunizieren, deren primäre Funktion jedoch nicht die Stabilisierung der bestehenden sozialen Strukturen ist, sondern die Aufhebung der alltäglichen und die Etablierung einer außeralltäglichen Ordnung, der Ordnung der Endzeit oder der „neuen Welt“. Das Resultat ist dann nicht mehr eine doppelte Verkehrung (Alltag – Außeralltag – Alltag), sondern der Versuch der Etablierung einer permanenten Verkehrung (Alltag – Außeralltag). In diesem Fall symbolisieren die rituellen Verkehrungshandlungen den radikalen individuellen und kollektiven Bruch mit der religiösen Tradition und den sozialen Verhältnissen. Sie versinnbildlichen die individuelle und kollektive Selbstverortung im Übergang zu einer außeralltäglichen Ordnung, deren Beginn man erwartete oder schon verwirklicht sah. Die Vorstellung der Verkehrung ist Religionen keineswegs fremd. Sekten üben in ihrer Eigenschaft als „counterculture“ 5 fundamentale Kritik an sozialen Zuständen und religiösen Institutionen, von denen es sich abzugrenzen gilt. Wenn von ihnen eine radikale Umkehr jeglicher Zustände angestrebt wird und sie einen entsprechend großen Zuspruch in der Bevölkerung finden können, dann wird ihr inhärentes sozial- und religiös-revolutionäres Potential deutlich. Aufgrund ihres Vermögens zur Entfaltung sozialer Sprengkraft können sie aus der Perspektive der staatli-

4 Vgl. Turner, Ritual Process (wie Anm.1), 96f. „Essentially, communitas is a relationship between concrete, historical, idiosyncratic individuals. These individuals are not segmentalized into roles and statuses but confront one another rather in the manner of Martin Buber’s ‚I and Thou‘. […] Communitas itself soon develops a structure, in which free relationships between individuals become converted into norm-governed relationships between social personae“ (ebd.131f.). 5 Vgl. z.B. J. Milton Yinger, Presidential Address. Counterculture and Social Change, in: American Sociological Review 42/6, 1977, 833–853.

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chen und religiösen Obrigkeiten als eine Gefahr für das etablierte System wahrgenommen werden, was dann in ihre Verfolgung und Unterdrückung münden kann. 6 Verkehrung im eigentlichen Sinne finden wir eindrücklich bei religiösen Endzeitgruppen, die nicht selten unter obrigkeitlichen Unterdrückungsmaßnahmen litten. 7 Die hier ausgewählten Fallbeispiele Sabbatai Zwi (1626–1676), Jakob Josef Frank (1726–1791) und Johann Konrad Beissel (1690–1768) haben alle gemein, dass sie an der Spitze religiöser Gruppen in der Frühen Neuzeit standen, die sich auf ein unmittelbares Hereinbrechen der Zeitenwende vorbereiteten. Alle Gruppen wähnten sich an der Schwelle zu oder bereits in einer anderen, außeralltäglichen Zeit, einer Zeit des Übergangs von der alten zur neuen Ordnung. Ausdruck fand ihre Gewissheit einer baldigen und radikalen Wende der Welt in der antizipierten Verkehrung von Glaubensinhalten und ritueller Praxis. Rituelle Verkehrungshandlungen symbolisieren einerseits den individuellen radikalen Bruch mit der angestammten religiösen Tradition und sozialen Struktur, andererseits die Selbstverortung in einer erwarteten, sich im Übergang befindlichen oder schon angebrochenen neuen, endzeitlichen oder gar paradiesischen Ordnung. Sie strukturieren den Übergang von der einen Welt in die andere oder sollen die neue Ordnung etablieren und festigen. Ihre Funktionen sind dabei immer auch die Abgrenzung von den anderen und der „Welt“ allgemein sowie die eigene Zurechnung zum Kreis der Gläubigen, der Auserwählten oder der „Kinder Gottes“. Die Selbstwahrnehmung des Individuums und die Bewertung des eigenen Handelns sind dabei positiv gestimmt. 8 Durch die Selbstzuschreibung von positiven Eigenschaften und die Abwertung der anderen wird zugleich die endzeitliche soziale Identität gefestigt. 9 Ferner können ganze Gruppen in Erwartung der neuen Zeit und ihrer neuen Zustände mit der Welt sozial brechen, geltende Normen komplett negieren und dieser Abkehr durch räumliche Separation Ausdruck verleihen.

6 Vgl. Barbara Hoffmann, Ordnungen des „Neuen Jerusalem“. Zur politischen Brisanz protestantischer Realutopien um 1700, in: WerkstattGeschichte 24, 1999, 65–82; Hubert Seiwert, The Charisma of the Prophet and the Birth of Religions, in: Giovanni Filoramo (Ed.), Charisma Profetico. Brescia 2003, 291–306. 7 Das Verhältnis von endzeitlichen Gruppen zu Verkehrungshandlungen spricht bereits Victor Turner an; vgl. u.a.: Liminality, Kabbalah, and the Media, in: Religion 15, 1985, 205–217. 8 Vgl. Sebastian Murken, Gottesbeziehung und psychische Gesundheit. Die Entwicklung eines Modells und seine empirische Überprüfung. Münster 1998. 9 Vgl. Klaus Feldmann, Soziologie kompakt. Eine Einführung. 4.Aufl. Wiesbaden 2006, 91; Frank Graziano, The Millennial New World. Oxford 1999, 61ff.

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Die Bewertung dieser Verkehrungshandlungen durch die umgebende gesellschaftliche Mehrheit kann sich allerdings zwischen positiven und negativen Polen bewegen, je nachdem welche Überzeugungskraft das den Handlungen unterlegte endzeitliche Weltbild und Denksystem in der gesellschaftlichen Breite gewinnt. Die endzeitliche Weltdeutung und die endzeitlichen Verkehrungshandlungen werden durchsetzbar und mehrheitsfähig, wenn einflussreiche Personen, Institutionen, Machtzentren oder schlichtweg eine genügend große Zahl von Personen diese annehmen. Bleiben Endzeiterwartungen jedoch gesellschaftlich marginal oder werden von den Herrschenden abgelehnt, dann werden die von endzeitlichen Erwartungen motivierten Verkehrungshandlungen und Normverstöße auch mehrheitlich sanktioniert. 10 In den Normverstößen, die die alltägliche gesellschaftliche Ordnung in Frage stellen 11, sieht das religiöse und politische Establishment womöglich seine eigene Machtposition bedroht und damit das endzeitliche Agieren als außerordentlich problematisch und zugleich gefährlich an 12, weil es das Potential birgt, mehrheitsfähig zu werden. Demnach wird es aus dem Selbsterhaltungswillen seiner Macht heraus endzeitliche Inhalte und endzeitliche Handlungen unterdrücken, den Diskurs um Endzeit zu steuern versuchen und die Vertreter endzeitlicher Gedanken negativ sanktionieren. Diese Art der Sanktionierung kann jedoch einen stabilisierenden Effekt auf die Gemeinschaft beider Gruppen – der Endzeitgruppe und der Gesamtgesellschaft – haben, indem Grenzen der Zugehörigkeit offensichtlich werden und die Konturen des eigenen und des anderen an Deutlichkeit gewinnen 13, aber auch indem die gemeinschaftliche Erfahrung von Ablehnung die Gruppenidentität stärkt. 14 10 Vgl. Hillel Schwartz, Art.„Millenarianism. An Overview“, in: Lindsay Jones u.a. (Eds.), Encyclopedia of Religion. Vol.9. 2.Aufl. Detroit 2005, 6028–6038, hier 6033; Cornelia Bohn, Inklusions- und Exklusionsfiguren, in: Soziologisches Jahrbuch 16, 2002/03, 142–156, hier 145. 11 Vgl. Hoffmann, Ordnungen (wie Anm.6); Seiwert, Charisma (wie Anm.6). 12 Vgl. Schwartz, Art.„Millenarianism“ (wie Anm.10), 6032f.; Graziano, The Millennial New World (wie Anm.9), 8. 13 „Denn Positives erhält erst durch die Existenz und Kenntnis des Negativen Sinn. Der Inhalt der Moral wird häufig durch ihr Gegenteil, nämlich durch das, was nicht erlaubt ist, definiert. Die Stabilität der gesellschaftlichen Ordnung hängt davon ab, dass die Grenzen, die jedem Individuum gezogen sind, damit Gesellschaft überhaupt möglich ist, verdeutlicht werden. Die zentralen Verhaltensregeln müssen immer wieder von neuem aufgrund von Regelverletzungen und der Bestrafung des Normbrechens ins öffentliche Bewusstsein gerufen und bekräftigt werden“; Rüdiger Peuckert, Abweichendes Verhalten und soziale Kontrolle, in: Hermann Korte/Bernhard Schäfers (Hrsg.), Einführung in die Hauptbegriffe der Soziologie. Wiesbaden 2010, 107–127, hier 112. 14 Peuckert, Abweichendes Verhalten (wie Anm.13), 113.

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Endzeit wird hier also als Wendezeit gefasst, deren rituelle Praxis zugleich auf die Abschaffung der bestehenden Sozialstruktur und die Etablierung einer neuen oder Restaurierung einer alten Ordnung einer vergangenen „goldenen Zeit“ verweist. Der Zustand, in dem sich Endzeitgruppen aufgrund ihrer Weltdeutung permanent befinden, kann mit Turners „liminaler Phase“ 15 von Übergangsriten beschrieben werden, mit all den Implikationen der Ausbildung einer „communitas“ während dieses Zeitabschnittes. Ihre rituellen Handlungen wären dann als Übergangsritual anzusehen, das jedoch nicht in die bestehende gesellschaftliche Struktur zurückführt, sondern entweder im Zustand des Übergangs verharrt oder in eine neue, radikal andere Ordnung überleitet, die als bereits existent gedacht wird. Demnach können endzeitliche Gemeinschaften in drei nicht immer klar zu trennende Typen unterschieden werden. Erstens gibt es Gruppen, die die baldige Verkehrung der Welt erwarten und sich auf dieses Ereignis aktiv vorbereiten (Fallbeispiel Beissel und Ephrata). Zweitens gibt es Gruppen, die sich in einem fortwährenden Übergang zur Endzeit und Endzeitgesellschaft wähnen (Fallbeispiel Frankisten). 16 Drittens gibt es Gruppen, deren Mitglieder glauben, dass die neue Zeit begonnen habe und die neue Ordnung bereits in Kraft gesetzt sei (Fallbeispiel Sabbatianer). Alle Typen handeln entsprechend ihrem Zeitempfinden – so sind Rituale der Vorbereitung der Verkehrung, Rituale des Übergangs von einer Zeit zur anderen und Rituale einer schon verkehrten Welt zu beobachten. Im Folgenden werden wir uns der historischen Chronologie folgend den mitunter disparaten Gruppen um die religiösen Führer Sabbatai Zwi, Jakob Josef Frank und Johann Konrad Beissel zuwenden, deren religiöse Lehren unterschiedlich stark ausgeprägt kabbalistische Züge tragen. Wir nehmen zuerst die jüdisch-messianische Bewegung um Sabbatai Zwi in den Blick, deren Anhänger glaubten, dass mit dem Erscheinen ihres Messias die Endzeit begonnen habe. Danach schenken wir unsere Aufmerksamkeit den in der sabbatianischen Tradition stehenden Frankisten, die zeitweilig meinten, sich in der Übergangsphase von der alten Ordnung zur neuen zu befinden. Zum dritten betrachten wir die radikalpietistisch-wiedertäuferische

15

Vgl. Turner, Ritual Process (wie Anm.1), 94ff. In dieser Phase von Übergangsriten sind die etablierten

gesellschaftlichen Strukturen aufgehoben. Die Ritualteilnehmer sind ihren normalen sozialen Rollen enthoben und die rituellen Handlungen können eine Verkehrung des normalen Verhaltens beinhalten. 16

Bereits Turner schenkte endzeitlichen Gruppen in diesem Zusammenhang Aufmerksamkeit. Vgl.

Turner, Ritual Process (wie Anm.1), u.a. 111f.

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Klostergemeinschaft Ephrata, die an das baldige Anbrechen des Königreichs Gottes glaubte und sich auf diese neue Ära in unterschiedlicher Weise vorbereitete. Abschließend diskutieren wir den Aspekt religiöser Verkehrung anhand dieser religionsgeschichtlichen Beispiele.

I. Sabbatai Zwi und das messianische Zeitalter Sabbatai Zwi soll im Jahr 1626 am Tag der Zerstörung des Jerusalemer Tempels in Smyrna geboren worden sein. 17 Dort durchlief er das klassische Studium der Thora und des Talmuds, bis er sich schließlich als junger Mann kabbalistischen Schriften zuwandte. Er fiel bereits damals durch seine starke Frömmigkeit und asketische Lebensweise und zugleich durch seine periodisch ausgeführten „befremdlichen Handlungen“ 18 auf, wie sie seine Anhänger später nennen werden. Darunter ist zum einen ein verstörendes Benehmen Zwis zu verstehen, das soziale Werte missachtet, zum anderen Normverstöße wie die Verletzung des jüdischen Gesetzes, auf die ich weiter unten beispielhaft eingehen werde. Schon damals waren wohl seine sich wiederholenden Verstöße Ausdruck einer Gewissheit, an der Schwelle zu einer neuen messianischen Ära zu stehen, die klar von seiner Zeit unterschieden ist. 19 Ohne dass wir die genauen Ereignisse und den Anlass kennen, wurde Zwi zwischen den Jahren 1651 und 1654 aus Smyrna verbannt. Seine anschließenden Reisen führten ihn u.a. nach Saloniki, Konstantinopel, Kairo und Jerusalem, wo sein Verhalten abermals bei den örtlichen Rabbinen Anstoß nahm, so dass er mehrfach körperlich bestraft und wiederum gebannt wurde. Durch die Sanktionierung nonkonformen Verhaltens verfestigt eine Gruppe, in unserem Fall die jüdischen Gemeinden, ihre eigenen Strukturen, indem sie sich vom anderen abgrenzt und ihre Kriterien der Gruppenzugehörigkeit definiert. Diese be-

17 Zur Vita Sabbatai Zwis vgl. Gershom Scholem, Sabbatai Sevi. The Mystical Messiah. 1626–1676. 4.Aufl. Princeton 1989. Scholem diagnostiziert Zwi als manisch-depressiv, diese Einschätzung muss nicht nur unter wissenschaftshistorischen Gesichtspunkten kritisch betrachtet werden. Eine neutralere Darstellung bietet u.a. Matt Goldish, The Sabbatean Prophets. Cambridge/London 2004. 18 Übersetzung für „ma’assim sarim“. Gershom Scholem, Judaica V. Erlösung durch Sünde. 2.Aufl. Frankfurt am Main 1992, 37. 19 Scholem, Sabbatai Sevi (wie Anm.17), 103–152, hier 143.

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reits angesprochenen typischen Mechanismen der Inklusion und Exklusion haben die Stärkung der Gruppenidentität zur Folge. 20 Im Jahr 1658, damals hielt sich Zwi in Konstantinopel auf, feierte er die drei hohen Feste (Pessah, Shavuot und Sukkoth) gleichzeitig und verkündete, er sei wie einstmals die Könige gesalbt worden und nun einem höheren Gesetz als dem rabbinischen verantwortlich. 21 Dies steht – wenn auch anders gedeutet – in der jüdischen Tradition, wonach mit dem Erscheinen des Messias die Thora, das Gesetz, vollendet werde. 22 Zwis neuer Zungenschlag lag nun darin, dass die Thora nicht vervollkommnet, sondern die alte bereits völlig abgeschafft und durch eine neue ersetzt worden sei. In der Zeit der Erlösung, die Zwi angebrochen glaubte, ist der Bruch des alten Gesetzes durch ihn, den Messias, der symbolische Ausdruck der Ungültigkeit des alten Gesetzes; zugleich ist es ein Verweis auf das neue Gesetz, das in der neuen Zeit und der neuen Welt Bestand hat. Die Handlungen Sabbatai Zwis wurden sanktioniert, indem er aus Konstantinopel gebannt wurde. Fortan reiste er durch das Osmanische Reich. In Kairo lernte er Sara (ca. 1640–1674), seine dritte Ehefrau, kennen. Seine beiden ersten Ehen wurden geschieden 23, weil er sie nicht vollzogen haben soll. 24 Um Sara rankten sich einander widersprechende Gerüchte über ihre Herkunft und ihren Werdegang. 25 Sie berichtete, sie sei in Polen geboren worden und habe einige Jahre ihrer Kindheit und

20

Der Prozess von Inklusion und Exklusion ist dabei immer dialektisch und wird von dem Soziologen

Andreas Pettenkofer als „Dynamik wechselseitiger Abgrenzung“ beschrieben; Andreas Pettenkofer, Radikaler Protest. Zur soziologischen Theorie politischer Bewegungen. Frankfurt am Main 2010, 193. Der andere wird als anderer konstruiert. Man distanziert sich damit von ihm; zugleich findet darüber eine Selbstvergewisserung statt, die die Mitglieder einer Gruppe stärker aneinander bindet. Cornelia Bohn verweist auf das Phänomen der Selbstexklusion und betont ähnlich wie Pettenkofer, dass Exklusion kein Zustand, sondern ein Prozess ist, in dem sich Exklusionen gegenseitig verstärken; vgl. Bohn, Inklusions- und Exklusionsfiguren (wie Anm.10). 21

Vgl. Scholem, Sabbatai Sevi (wie Anm.17), 161ff. „The old law was abrogated, and new rituals were re-

vealed that would bring mystical perfection to all the worlds“ (ebd.162). 22

„Die Aufhebung der Tora ist die wahre Erfüllung der Tora“ (Menachoth 99b), zitiert nach Scholem, Er-

lösung (wie Anm.18), 61. 23

Scholem, Sabbatai Sevi (wie Anm.17), 124.

24

Auch hier gibt es unterschiedliche Interpretationen seines Verhaltens. Eine Auslegung verweist auf

seine asketische Lebensführung, die ihm sexuellen Kontakt verbot. 25

Vgl. Scholem, Sabbatai Sevi (wie Anm.17), 191ff.; Goldish, Sabbatean Prophets (wie Anm.17), 89ff. Zur

Bedeutung von Frauen in der sabbatianischen Bewegung vgl. Ada Rapoport-Albert, Women and the Messianic Heresy of Sabbatai Zevi. 1666–1816. Oxford/Portland 2011.

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Jugend in christlicher Obhut verbracht. Sie selbst soll von sich, noch bevor sie von Sabbatai erfuhr, behauptet haben, dass sie die Braut des Messias werde. Ihr wurde nachgesagt, sie sei in Livorno, einer ihrer zahlreichen Stationen, eine Prostituierte oder zumindest Dame von zweifelhaftem Ruf gewesen. Die Eheschließung fand im März 1664 statt. Zwi heiratete zwar, wie es von frommen Gelehrten erwartet wurde – aber keine Tochter aus ehrbarem Haus. Er verstieß mit seiner Brautwahl gegen die Konventionen und verdeutlichte in dieser symbolischen Vereinigung mit der personifizierten Unreinheit eine Verkehrung der Sitte; die traditionellen moralischen Standards haben in seiner neuen Ordnung nicht länger Bestand. Sara war keineswegs die sich dem Manne unterordnende Ehefrau. In der späteren Bewegung nahm sie die Funktion einer Prophetin ein und stellte die lebendig-irdische Verkörperung einer sonst rein mystisch-sexuellen Metapher der Kabbala dar – die weltliche Personifizierung der weiblichen Seite Gottes. Mit ihrer betonten Körperlichkeit und Weiblichkeit wurde sie innerhalb der Bewegung ein wichtiges Gegenstück zum rein geistigen Mystizismus des einflussreichen sabbatianischen Propheten Nathan Aschkenasi (1643–1680) von Gaza. 26 Zwi traf im Frühjahr 1665 in Gaza auf Nathan Aschkenasi, der ihn öffentlich zum jüdischen Messias proklamierte und für die Verbreitung der sabbatianischen Botschaft in der gesamten jüdischen Diaspora eine wichtige Rolle spielte. Nathan war als gelehrter und frommer Mann bekannt und gab der sabbatianischen Bewegung einen theologischen Unterbau, mit dem er den „Gläubigen“ das Mysterium hinter den „befremdlichen Handlungen“ erklärte. Nathans Lehre war von dem Gedanken einer Wechselwirkung von Mikro- und Makrokosmos durchdrungen, die er bei dem Kabbalisten Isaak Luria (1534–1572) entlehnte. 27 Eine Grundannahme Lurias war die göttliche Ursächlichkeit aller Dinge: Gott unternahm einen ersten Versuch zur Erschaffung der Welt, der jedoch misslang, weil deren erste Strukturen instabil waren und zusammenbrachen. Dabei fielen göttliche Lichtfunken hinab in die Welt des Bösen. Dort werden nun diese Teile Gottes

26 Zum weiblichen und erotischen Symbolismus im jüdisch-mystischen Diskurs vgl. Alexander van der Haven, From Lowly Metaphor to Divine Flesh. Sarah the Ashkenazi, Sabbatai Tsevi’s Messianic Queen and the Sabbatian Movement. Amsterdam 2012, 54ff. „Sarah belonged to the sex that was not only excluded from mystical practices but which was also seen as an inferior reflection of a growing focus on the divine feminine. The acting out of erotic metaphors was therefore Sarah’s only option for participation in a movement based on a mysticism increasingly concerned with otherwordly femininity and Eros“ (ebd.53). 27 Gershom Scholem, Die Jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Frankfurt am Main 1957, 315–355.

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von den sogenannten Schalen gefangen gehalten, weswegen die kosmische Ordnung aus dem Gleichgewicht geriet. Zur Wiederherstellung der ursprünglichen Ordnung wurde Adam Kadmon 28, der erste Mensch, geschaffen, doch verfehlte er sein Ziel. Bereits emporgehobene Funken wurden neuerlich ins Exil unter die Schalen verbannt – nunmehr ist es die Aufgabe aller Menschen, den Tikkun Olam, also die Wiederherstellung der Welt, zu vollbringen. 29 Das Volk Israel verpflichtete sich durch seinen Bund mit Gott in besonderem Maße, diesen Prozess voranzubringen, indem es die Ge- und Verbote der Thora einhält, die wiederum die innere Ordnung Gottes abbildet. Die Befolgung des Gesetzes führt zur Rückführung der göttlichen Funken, doch durch seine Sünden versagte auch Israel. Das Exil Israels wird hier als der sichtbare und deutlichste Ausdruck der Situation, in der sich die Menschheit wie auch Gott selbst befinden, verstanden. Doch hätte Israel immer noch die Möglichkeit, seine Aufgabe zu vollenden, indem es reut und büßt und die Thora befolgt. Ist seine Aufgabe vollbracht, wird der Messias erscheinen und das Volk aus dem Exil nach Hause führen. Dieser Auffassung nach finden die Erlösung Israels und eine völlige Neuordnung der Welt parallel statt: Die Befreiung aus dem Exil ist zugleich die Befreiung aller göttlichen Lichtfunken und die Wiederherstellung der Ordnung. Nathan, der Prophet aus Gaza, verband die apokalyptischen Elemente dieses kabbalistischen Systems mit der Person Sabbatai Zwis. Im Gegensatz zu Lurias Verständnis, nach dem jedes Individuum eine ganz eigene Verantwortung trägt, übernimmt in seiner Lehre teilweise die Figur des mystisch-messianischen Führers diesen Auftrag. Nathan verändert die lurianische Kabbala, indem er den einzelnen Menschen von seinen Aufgaben im Wiederherstellungsprozess entlastet. Die Menschen könnten nicht von selbst den Kern des Bösen besiegen, weswegen ein göttlicher Bote mit übermenschlichen Fähigkeiten notwendig sei. Nathan glaubte, dass Sabbatai diese Aufgabe zugedacht sei. Durch den Glauben an den Messias könne jeder Jude ihm die Kraft spenden, die er im Kampf gegen das Böse brauche. Nach Nathan muss die Seele des Messias in das Reich des Bösen hinabsteigen und

28

Hebräisch für „ursprünglicher Mensch“, der mit Weisheit, Unsterblichkeit und Herrlichkeit ausge-

stattet war und der als Urbild des Menschen gedacht wird. Der Mensch jedoch verlor diese drei Eigenschaften. 29

Vgl. Lawrence Fine, Physician of the Soul, Healer of the Cosmos. Isaac Luria and His Kabbalistic Fel-

lowship. Stanford 2003. Allgemein: Kurt Schubert, Die Kabbala – eine Einführung, in: Kurt Schubert/ Martha Keil (Hrsg.), Die Wehen des Messias – Zeitenwende in der jüdischen Geschichte. Berlin/Wien 2001, 91–103; Joseph Dan, Kabbalah. A Very Short Introduction. New York 2006.

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dort mit ihm ringen. Nach außen drücke sich dies in sonst schwer plausibel zu machenden „befremdlichen Handlungen“ aus. Damit wurden Gesetzesverstöße für die breite Anhängerschaft verständlich gemacht. Zugleich verband er in Sendschreiben und Briefen, die in der ganzen jüdischen Diaspora zirkulierten, seine Vorstellungen vom Heilsplan mit populären jüdischen Endzeitvorstellungen wie der Rückführung der Juden nach Palästina, der Errichtung einer jüdisch-messianischen Monarchie, der Errichtung des Tempels und Wiedereinführung des Tempeldienstes, der Verkehrung der Machtverhältnisse zugunsten des jüdischen Volkes, der Zerschlagung der Feinde. 30 Die „Gläubigen“, wie sich die Anhänger Zwis selbst nannten, lebten in der Gewissheit, dem Beginn einer neuen Zeit beizuwohnen, in der jede Trauer und jedes Leid in Freude gewandelt werde. Zwis Geburtstag beispielsweise, der Tag der Tempelzerstörung und daher eigentlich ein Trauer- und Fastentag, wurde in einen Festtag mit Feiern und Banketten verwandelt. Zur Verdeutlichung der messianischen Zeit wurde ein neuer Kalender eingeführt, der die wichtigsten Ereignisse auf dem Weg des Messias als Festtage enthielt. Den Segen des Morgengebets veränderten die „Gläubigen“ von dem Wortlaut „Gelobt seist Du, Gott, König der Welt, der die Gefangenen befreit“ in „Gelobt seist Du, […] der das Verbotene erlaubt“. 31 Zwi selbst aß öffentlich strengstens verbotene Tierfette von der Niere, brach das rituelle Fasten an Fastentagen, sprach immer wieder den Gottesnamen aus und brachte seine „Gläubigen“ dazu, es ihm gleichzutun. 32 Diese sich wiederholenden Handlungen waren mit Bedeutung beladen. Diejenigen, die zur neuen Ordnung gehörten, verkehrten die Gesetze, die Zeit und die Riten des „alten Judentums“ und kommunizierten über den gemeinsamen Vollzug deutlich die Grenzen zwischen denen, die zur neuen Zeit und neuen Ordnung gehörten und dies durch die Nach-

30 Zur Verbreitung vgl. Jacob Barnai, The Spread of the Sabbatean Movement in the Seventeenth and Eighteenth Centuries, in: ders. (Ed.), Communication in the Jewish Diaspora. Leiden 1996, 313–338. 31 Vgl. Scholem, Erlösung (wie Anm.18), 66. Weiter heißt es dort: „Die Gründe dieser Lehre widersprechen einander in gewisser Weise. Die einen sagen, in der neuen, oberen Welt gebe es überhaupt keine Sünde mehr, daher sei alles erlaubt und heilig. Andere behaupten: Im Gegenteil, der Wert der Beri’a, der Schöpfung, wie man jetzt das alte Leben und seine Ordnung insgesamt nennt, müsse aufgehoben werden; indem wir die alten Werte mit Füßen treten und alle Gesetze und Rechtssätze der Beri’a von uns abstreifen, werden wir zu echter Freiheit gelangen.“ 32 „Sabbatai had raised the standard of rebellion against the hallowed traditions of the Law, and abrogated its prohibitions – including, by implication, those against incest and fornication.“ Scholem, Sabbatai Sevi (wie Anm.17), 243.

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ahmung der Gesetzesverstöße symbolisierten, und denen, die im Alten verharrten. Der gemeinsame Vollzug hatte also eine gemeinschaftsstiftende und -stabilisierende Funktion nach innen wie nach außen, indem auch die Gegner die Reihen in ihrer Opposition zur sabbatianischen Bewegung schlossen und sich ihrer eigenen Glaubensüberzeugungen stetig vergewisserten. In der Gruppe der „Gläubigen“ versammelten sich Arme und Reiche, Gelehrte und Ungebildete, Alte und Junge, Frauen und Männer, wodurch die unter ihnen einst geltenden sozialen Ränge und Hierarchien aufgehoben und alle in den gleichen Status versetzt wurden. Die Bande zwischen den Anhängern stärkten sich durch gemeinsame hochgradig emotionale Erlebnisse. 33 Sie aßen gemeinsam und feierten freudenvoll Gottesdienst. In zeitgenössischen Schilderungen ist die Rede von Massenekstasen und Prophezeiungen von Männern, Frauen und Kindern, die in Trance hebräische Verse rezitierten und immer wieder bestätigten, dass der Messias gekommen und dessen Name Sabbatai sei. 34 In der sabbatianischen Bewegung kamen die sonst im religiösen Ritual marginalisierten Frauen allerdings nicht nur auf diese Weise zu Wort. Zwi rief sie, entgegen der Tradition und Sitte, zu öffentlichen Thora-Lesungen auf, ließ Männer und Frauen bei Festen – sonst unvorstellbar – gemeinsam tanzen und unterhielt sich öffentlich mit verheirateten Frauen. Die radikale Transformation der Ordnung erfasste eben auch das Verhältnis der Geschlechter zueinander. 35 Der Akt Sabbatai Zwis, der aus jüdisch-orthodoxer 36 Sicht am deutlichsten als Verkehrung beschrieben werden kann, ist sein Übertritt zum Islam im September 1666. Nach mehrmonatiger Haft wurde Sabbatai vor den Sultan geführt, befragt und schließlich vor die Wahl zwischen Tod oder Konversion zum Islam gestellt. Zwi entschied sich für Letzteres. Nathan erklärte auch diese „Ungeheuerlichkeit“ als Hinab-

33

Durkheim beschreibt dieses Set von Emotionen mit dem Begriff der Efferveszenz, der in der deutschen

Übersetzung mit Erregung wiedergegeben wird. Vgl. Émile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens. 2.Aufl. Frankfurt am Main 1998, 295–306. Zur strukturbildenden Funktion religiöser Interaktion und Emotion vgl. Pettenkofer, Radikaler Protest (wie Anm.20), 209ff. 34

Scholem, Sabbatai Sevi (wie Anm.17), 254.

35

„A very striking and very revealing sign of the messianic transformation of the old order, and the sub-

stitution of a messianic Judaism for the traditional and imperfect one was Sabbatai’s innovation of calling women to the reading of the Torah. Sabbatai evidently envisaged a change in the status of women.“ Scholem, Sabbatai Sevi (wie Anm.17), 403. 36

Orthodox wird hier als Gegensatz zu heterodox verstanden und nicht mit dem heute sogenannten or-

thodoxen Judentum in Verbindung gebracht.

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steigen des Messias in die „Welt der Schalen“, als Befreiung der göttlichen Funken durch nach außen befremdlich wirkende Taten. Nichts war aus jüdischer Sicht wohl befremdlicher als die Apostasie des Erlösers. Die messianische Bewegung spaltete sich an der Frage, wie mit der Konversion umzugehen sei. 37 Offiziell wurden Zwi und seine Gefolgschaft von rabbinischer Seite gebannt. Viele fielen vom Glauben ab, zeigten sich enttäuscht und kehrten zu ihrem alltäglichen Leben und in die normalen Verhältnisse zurück, denn während der Hochphase der sabbatianischen „Unruhe“ herrschte ein außeralltäglicher Zustand, während dessen die Geschäfte ruhten und die Zeit intensiv mit Gottesdiensten und Bußübungen verbracht wurde. Für die Mehrheit der Juden fand diese liminale Zeit ein jähes Ende. Durch die Verfolgung der Sabbatianer wurden deutliche Grenzen der Gruppenzugehörigkeit – nun von Seiten der orthodoxen Rabbiner durch den rituellen Akt der Exkommunikation und Bannung – gezogen. Die Anhängerschaft Sabbatai Zwis zerfiel in mehrere Lager, wobei sich zwei grobe Tendenzen beobachten lassen. Die einen waren der Meinung, der Messias Zwi agiere nun anstelle ganz Israels. Sie befolgten nach außen weiterhin das jüdische Gesetz und blieben aus Angst vor Verfolgung im Verborgenen Sabbatianer, wo sie weiterhin sabbatianische Texte lasen und sabbatianische Gottesdienste feierten. Eine andere Fraktion folgte öffentlich Zwis späteren Aufrufen, es ihm nachzutun, und konvertierte zum Islam, befolgte aber inoffiziell und heimlich mit sabbatianischen Elementen angereicherte jüdische Riten und Traditionen. Sie sind unter dem Namen der Dönmeh bekannt, die hauptsächlich auf türkischem Gebiet aktiv waren. In der Tat machte Zwi die Einführung in die weiteren Mysterien des Messias von einer Konversion abhängig. Die beiden letztgenannten Gruppen befanden sich aus ihrer Perspektive weiterhin in der Zwischenzeit des Übergangs oder wähnten sich bereits in der neuen Welt, die jedoch noch nicht für alle sichtbar sei. Diese Weltsicht drückten sie in rituellen Handlungen aus, die Verkehrungen der alten Ordnung umfassten und die in ihrer Gesamtheit als Trennungs- und Übergangsritual einer Gruppe kategorisiert werden können.

37 Zu unterschiedlichen Interpretationen auch innerhalb der sabbatianischen Bewegung vgl. Jan Doktór, Erlösung durch Sünde oder – Taufe, in: Judaica 55, 1999, 18–29.

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II. Jakob Frank und die Schwelle zum messianischen Reich Jakob Frank und seine Anhänger stehen in der Tradition der radikalen Sabbatianer. 38 Frank stammte aus der damaligen polnischen Provinz Podolien und wuchs in einfachen jüdischen Verhältnissen auf. Er musste schon früh seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten, weswegen er keine traditionelle religiöse Ausbildung genießen konnte. Seine vermeintliche Einfachheit und fehlende religiöse Ausbildung wird er später als seine herausragenden Eigenschaften herausstellen, indem er von sich selbst das Bild des kräftigen, starken, potenten, ungebildeten und tatenwilligen „Prostak“ 39 zeichnet, mit dem er sich willentlich dem Ideal des jüdischen Gelehrten entgegenstellt und damit gegen die rabbinischen Autoritäten rebelliert. Er wird von sich behaupten, er sei gerade wegen dieser Eigenschaften als Inkarnation der Messiasseele ausgewählt worden; dass er ausgewählt wurde, zeige, dass die alten Lehren allesamt falsch und die Gesetze nicht mehr gültig seien. 40 Frank verdingte sich wohl einige Zeit als kleiner Händler, der auf seinen Routen den Balkan durchreiste und sich längere Zeit in Smyrna und Saloniki aufhielt. Dort machte er Bekanntschaft mit den Dönmeh und machte sich intensiver mit den sabbatianischen Lehren vertraut. In Saloniki bekannte sich Frank, ohne zum Islam zu konvertieren, öffentlich zum Sabbatianismus. Er sah sich, wie Zwi, berufen, „befremdliche Dinge“ zu tun. So setzte er sich beispielsweise während eines Gottesdienstes mit nacktem Hintern auf die Thora-Rolle, um zu demonstrieren, dass die Thora des Exils durch die messianische Thora aufgehoben sei und das Gegenteil der vorgeschriebenen Gesetze gelte. Die totale Verehrung der Thora werde sich in ihre totale Verachtung kehren, weil die Ordnung des Exils nicht mehr bestehe und die kosmischen Strukturen sich bereits verändert hätten. Ein wahrer Gläubiger müsse

38

Eine ausführliche Darstellung seines Lebens in Klaus S.Davidowicz, Zwischen Prophetie und Häresie.

Jakob Franks Leben und Lehren. Wien/Köln/Weimar 2004. 39

Diese Selbststilisierung spiegelt wahrscheinlich auch die soziale Herkunft des Großteils seiner An-

hänger wider, gegenüber denen er die Rolle eines charismatischen Führers einnahm. 40

„Franks Gesetzlosigkeit als Heranwachsender erstreckt sich natürlich auch auf den religiösen Bereich.

Seine spätere radikale Ablehnung der Halacha wird hier mit seiner Kindheit verbunden. Er möchte durch diese, vielleicht frei erfundenen Geschichten eine geradlinige Entwicklung seiner Persönlichkeit herausstellen und die Kontinuität in der Gestalt des antinomistischen ‚Prostaks‘ betonen. Sie sind eine bedingungslose Abrechnung mit der traditionellen ostjüdischen Welt, in der Frank aufwuchs. […] Die jüdische Tradition mit ihrer Welt der Gebote und Verbote wird von Frank nicht hinterfragt, sondern völlig verworfen und abgelehnt.“ Davidowicz, Zwischen Prophetie (wie Anm.38), 23.

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sich folglich diesen unwürdigen Gesetzen widersetzen. Frank musste daraufhin vor den aufgebrachten Juden aus Saloniki fliehen. 41 In einer Vision, in der ihm der Prophet Elija und Jesus erschienen waren, erhielt Frank den Auftrag, nach Polen zu gehen und dort, und nicht mehr in Palästina, das messianische Reich mit realer politischer Herrschaft zu verwirklichen. 42 Im Dezember 1755 kam er in Polen an. Indem er sich im sabbatianischen Netzwerk bewegte, war es ihm möglich, schnell Anhänger zu finden. Im Januar des Folgejahres ereignete sich in Lanckoron ein großer Skandal, ausgelöst durch ein Ritual, das Frank mit etwa zwanzig seiner Adepten ausführte. Dabei soll die symbolische Vereinigung der irdischen und kosmischen Sphäre gefeiert worden sein, indem um eine kaum bekleidete und mit Thora-Ornamenten geschmückte Frau getanzt und gesungen wurde. In Berichten seiner Gegner ist von sexuellen Orgien die Rede, was mit Blick auf seine Lehre durchaus im Bereich des Möglichen liegt. 43 Frank behauptete später, er habe absichtlich die Fenster nach außen geöffnet, um, anders als die Dönmeh oder andere Sabbatianer, aus dem Bereich des Geheimen in die Öffentlichkeit zu treten. Frank verstieß, ähnlich wie Zwi, immer wieder gegen die jüdischen Gesetze – und immer öffentlich. Seine Missachtung gegenüber der jüdischen Tradition demonstrierte er durch die Entheiligung ihrer Feste und Riten, die Verkehrung ihrer zugeschriebenen Bedeutung. Wie Zwi brach auch er Fastengebote, indem er beispielsweise mit seinen Gefährten am Fastentag vor Purim süße Marmelade aß und Wodka trank. Der Vorfall in Lanckoron jedenfalls führte zur Exkommunikation durch die Rabbinerversammlung und den Rat der Vier-Länder-Synode 44, die mit heftiger Verfolgung seiner Frankisten genannten Anhänger durch die jüdische Orthodoxie verbunden war. Daraufhin floh Frank in die Türkei und trat dort zum Islam über. Die Frankisten in Polen ließen sich, obgleich mit einigem Misstrauen von Seiten der katholischen Kirche, unter den Schutz von Mikolaj Dembowski, des Bischofs von

41 Vgl. Davidowicz, Zwischen Prophetie (wie Anm.38), 25ff. 42 Hier handelt es sich zwar nicht um eine Verkehrung jüdischer Glaubensinhalte, aber doch um eine radikale Neuinterpretation, indem dem Heiligen Land die Heiligkeit entzogen und auf Polen übertragen wurde. Zu dieser Verschiebung vgl. Stefan Schreiner, „Der Messias kommt zuerst nach Polen“. Jakob Franks Ideen von Polen als gelobtem Land und ihre Vorgeschichte, in: Judaica 54/4, 2001, 242–268. 43 Vgl. Davidowicz, Zwischen Prophetie (wie Anm.38), 37ff. Der Vorwurf der sexuellen Entgleisung ist freilich ein Topos in religiösen Sektendiskursen und muss daher mit Vorsicht behandelt werden. 44 Sie war die höchste Instanz der jüdischen Selbstverwaltung in Polen und bis 1764 im Amt. Sie vertrat jüdische Interessen gegenüber dem König und nahm legislative Aufgaben war.

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Kamieniec-Podolski (1742–1757), stellen, indem sie ihm eine Annäherung an das Christentum und eine öffentliche Disputation gegen das Judentum und den Talmud in Aussicht stellten. Auf diesem Weg waren sie zunächst dem gewaltsamen Zugriff der Juden entzogen. 45 Der Zwangsdisput zwischen jüdischen Vertretern und den Anhängern Franks, die von katholischer Seite als „Contratalmudisten“ wahrgenommen wurden, wurde von Dembowski zugunsten der Frankisten entschieden. Nachdem die frankistischen Vertreter gegen den Talmud argumentiert hatten, ließ der Bischof öffentlich Talmudexemplare verbrennen. Mit dem Tod des Bischofs am 9.November 1757, also kurz nach diesen Ereignissen, verloren die Frankisten allerdings ihren Schutzbrief und wurden erneut vehement von den Juden verfolgt. Sie baten August III. (1696– 1763), Kurfürst von Sachsen und König von Polen, um seinen Schutz, der ihnen im Juni des Jahres 1758 gewährt wurde. Ein halbes Jahr später, Anfang 1759, kehrte Frank nach Polen zurück. Seinen Anhängern offenbarte er sich nun als die Verkörperung der messianischen Seele 46 und verkündete ihnen eine neue, dem Christentum angenäherte Lehre, nach der die christliche Taufe unabdingbar sei. Auf dem Weg zur Erlösung müsse das Christentum, genau wie das Judentum und in Zwis und Franks Fall auch der Islam durchschritten werden. Dieser Sünde, die als völlige Selbsterniedrigung verstanden wurde, werde die Erhöhung folgen. 47 Die Taufe war für Frank gleichsam ein Mittel zum Machterwerb 48, war es doch Juden überhaupt erst durch die Konversion zum Christentum möglich, in den Adelsstand gehoben zu werden; ein gesellschaftlicher und politischer Aufstieg seiner Anhänger war nur auf diesem Weg denkbar. 49 Frank träumte, wie schon erwähnt, von der Errichtung seines eigenen messianischen Reiches auf polnischem Boden. 50 Die Übernahme der Herrschaft über die Christen durch Unterwanderung des Christentums mit frankis-

45

Gershom Scholem, Art.„Frank, Jacob, and the Frankists“, in: Fred Skolnik/Michael Berenbaum u.a.

(Eds.), Encyclopaedia Judaica. Detroit 2007, 182–192, hier 183f. 46

Doktór, Erlösung (wie Anm.37), 26.

47

Doktór, Erlösung (wie Anm.37).

48

Schreiner, Messias (wie Anm.42), 257–259.

49

Das Litauische Statut von 1588 beinhaltete die Nobilitierung jüdischer Konvertiten und ihrer Nach-

fahren. Nach dem Tod Augusts III. im Jahr 1763 vermochte der polnische Geburtsadel diese Rechte zu beschneiden. Vgl. Davidowicz, Zwischen Prophetie (wie Anm.38), 76f. 50

Frank schickte zur Errichtung einer frankistischen Kolonie Gesuche an den König, freilich ohne die

religiöse Komponente zu benennen. Davidowicz, Zwischen Prophetie (wie Anm.38), 67f.

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tischen Konvertiten war nur ein weiterer Schritt auf diesem Pfad. 51 Doch war die Taufe auch aus ökonomischen Gründen notwendig geworden, denn mit der Exkommunikation aus dem Judentum wurde den bekennenden Frankisten, solange sie keine Christen wurden, jedwede Möglichkeit zum Erwerb des Lebensunterhalts entzogen, da ihnen das Wirtschaften in den jüdischen Gemeinden nicht länger möglich war. 52 Franks Lehre folgend und nach priesterlichen Einweisungen in den Katholizismus wurden zwischen September 1759 und November 1760 die ersten 514 Frankisten (darunter 156 Männer, 119 Frauen und 239 Kinder) in Lemberg getauft. Am 18.November 1759 ließ sich auch Jakob Frank in der Kapelle des Königs in Warschau auf den Namen Josef taufen. Seine Taufpaten waren der König von Polen und die Gräfin Brühl. Jakob Josef Frank inszenierte sich fortan durch Kleidung und Habitus als polnischer Adliger. 53 Die Frankisten drückten durch die Konversion ihre Abkehr vom traditionellen Judentum aus. Für die Rabbinen waren sie dadurch keine Angelegenheit des Judentums mehr. Allerdings dauerte es nicht lange und Frank wurde als Katholik der Häresie überführt, erzählten doch seine Anhänger ihrem katholischen Beichtvater von seinen Lehren, den sexuellen Riten und Gebetssitten, in denen Frank als Messias verehrt wurde – ganz entgegen dem christlichen Messiasverständnis – und von seinem Plan, wenn nötig auch mit Waffengewalt für einen eigenen Staat zu kämpfen. 54 Es kam zum Prozess, und Frank wurde im Jahr 1760 durch das Konsistorialgericht in Warschau zu einer lebenslänglichen Haft im Paulinerkloster Jasna Góra in Tschenstochau verurteilt, der Hochburg der polnischen Marienverehrung. 55 Durch die politischen Wirren und die kriegerischen Auseinandersetzungen in Polen konnte Frank nach 13 Jahren das Kloster verlassen. Schon aus seinem Arrest heraus war es ihm nach einiger Zeit möglich gewesen, wieder Kontakt zu seinen Anhängern aufzunehmen. Diese suchte er nun in Warschau auf, bevor er mitsamt sei-

51 Schreiner, Messias (wie Anm.42). 52 Scholem, Art.„Frank, Jacob, and the Frankists“ (wie Anm.45), 185ff. 53 Davidowicz, Zwischen Prophetie (wie Anm.38), 71. 54 Seine und die Bittgesuche seiner Anhänger um Land an der Grenze zum Osmanischen Reich wurden negativ beschieden. 55 Frank, der zuvor kaum Kenntnisse über den Katholizismus hatte, wurde hier mit seiner Lehre und Praxis näher vertraut. Besonderen Eindruck scheint die dortige Marienverehrung auf ihn gemacht zu haben.

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nem ganzen „Hofstaat“ nach Brünn und später Offenbach ging. 56 Frank stattete sich mit viel Pomp aus und gab sich die Identität eines reichen orientalischen Händlers. Nach außen blieb Frank Katholik, hielt aber im Geheimen an seinen Praktiken fest und entwickelte seine Lehren weiter. Er entfaltete die Vorstellung der Vollendung der Erlösung durch einen weiblichen Messias, die dem weiblichen Prinzip Gottes und der Jungfrau entspräche. 57 Polen blieb für ihn das Land der Erlösung, auch wenn er sich selbst dort nicht mehr aufhielt. Frank starb in Offenbach und wurde prunkvoll im Beisein von ca. 800 Anhängern beigesetzt. Führen wir uns erneut das Motiv der Verkehrung bei den Frankisten vor Augen, dann fällt auch hier auf, dass die Handlungen nur verstanden werden können, wenn die religiösen Ideen, die sie ausdrücken, bekannt sind. Die Vorstellung des Übergangs in eine neue Welt war hier von zentraler Bedeutung, eine Welt, in der die Herrschafts- und Weltverhältnisse auf den Kopf gestellt werden sollten. Einen Ausdruck der Verkehrung finden wir in der sozialen Aufstiegsgeschichte Franks selbst: Der einfache, aus ärmlichen jüdischen Verhältnissen stammende Frank wird zum religiösen Führer und erhält durch seinen äußerlichen Glaubenswechsel zum Katholizismus einen weltlichen Adelstitel, der ihm den sozialen Aufstieg ermöglicht. Daneben steht die Frage nach den Geschlechterverhältnissen: Wie schon bei Zwi erhielt beim späten Frank die Verwandlung der Geschlechterrollen besondere Bedeutung. So entwickelte Frank die Vorstellung eines weiblichen Messias, der im traditionellen Judentum wie Christentum doch vornehmlich in männlicher Gestalt erwartet wird. Zudem führte der Weg der Erlösung in das messianische Reich über die Sünde – eine völlige Verkehrung der jüdischen und auch der christlichen Doktrin. Die Sünde fand ihren Ausdruck u.a. in der symbolischen Verkehrung der Heiligkeit jüdischer Traditionen, der Missachtung von religiösen Gesetzen und der Schändung der Thora, durch die radikale Abkehr von traditionellen Moralvorstellungen, der Abwendung von Palästina als Heiligem Land und nicht zuletzt durch die Konversion Jakob Franks und seiner Anhänger zum Katholizismus. Die zahlreichen rituellen Handlungen, die eine Zeit des Übergangs von der alten zur neuen Ordnung markier56

Vgl. Oskar K. Rabinowicz, Jacob Frank in Brno, in: Jewish Quarterly Review 57, 1967, 429–445; Jörg K.

Hoensch, Der „Polackenfürst von Offenbach“ – Jakób Józef Frank und seine Sekte der Frankisten, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 42, 1990, 229–244. 57

„Eva als Verkörperung der Schechina war allerdings ein Element, das zu Franks Lebzeiten nicht in Er-

scheinung trat. Die Jungfrau war für Frank noch verborgen und seine Aufgabe war die, sie zu befreien.“ Davidowicz, Zwischen Prophetie (wie Anm.38), 111.

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ten, wurden frankistisch durch einen ausgeprägten Rückbezug auf sabbatianische Elemente ausgestaltet. Bei den späteren Sabbatianern (nach der Konversion Zwis) wie auch bei den Frankisten hatte die Sektenstruktur der Gruppe Auswirkungen auf die Ausbildung einer elitären Gruppenidentität. Sie selbst grenzten sich durch ihren Glauben und ihr Handeln radikal vom traditionellen Judentum ab 58, wodurch im traditionellen Judentum Abgrenzungs- wie auch Selbstvergewisserungsmechanismen in Gang gesetzt wurden. Die Verkehrung jüdischer Glaubensinhalte und Riten durch die Sektierer hatte zugleich ihre Fixierung zur Folge.

III. Ephrata in Vorbereitung der neuen Welt Einer weiteren Ausdrucksmöglichkeit von Verkehrung im Kontext endzeitlicher Erwartungen wird sich der folgende Abschnitt widmen. Das Zusammenspiel von religiösen Überzeugungen und symbolischer Ausgestaltung steht hierbei im Mittelpunkt der Betrachtung. Besonderes Augenmerk wird auf zwei Aspekten der Auswirkungen von Endzeitvorstellungen liegen: Zum einen werden an diesem Beispiel die durch eine dualistische Weltsicht geprägte radikale Gegenüberstellung von Gesellschaft und religiöser Gemeinschaft sowie deren praktische Folgen für die Lebensführung deutlich. Zum anderen werden die am Körper vorgenommenen Eingriffe thematisiert, die symbolhaft die Umkehr vom sündhaften Weg hin zu einem Weg der Erlösung verdeutlichen sollen. Ephrata war eine radikalpietistisch-wiedertäuferische Klostergemeinschaft, die sich im Pennsylvania des 18.Jahrhunderts um den aus Eberbach am Neckar stammenden Deutschen Johann Konrad Beissel gruppierte und bis zum Jahrhundertwechsel Bestand hatte. 59 Ab der Mitte der 1720er Jahre begannen sich Beissel und seine Adepten von den Wiedertäufern in Germantown (heute zu Philadelphia gehörend) abzuspalten und siedelten abgeschieden von der „Zivilisation“ nahe des Coca-

58 Frank grenzte sich zudem von den geheim agierenden Sabbatianern ab. 59 Die letzte Priorin und der letzte Prior verstarben im Jahr 1796, ihre Posten wurden nicht wieder besetzt.

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lico Creek. 60 Ein Grund für die Separation waren unterschiedliche Auffassungen vom wöchentlichen Ruhetag. Während Beissel in jüdischer Tradition für den Samstag als Ruhe- und Gottesdiensttag eintrat, behielten die Germantown Brethren den Sonntag bei. Ein weiterer Konfliktpunkt war Beissels Appell zur Einhaltung des Zölibats und seine Abwertung der Ehe, mit denen die Brethren nicht konform gingen. Diese auf die Lebensführung abzielenden Forderungen standen in engem Zusammenhang mit Beissels religiöser Lehre 61, in der die heilige Sophia, die göttliche Weisheit, oder auch die weibliche Seite Gottes einen zentralen Stellenwert einnahm. 62 Der ursprünglich androgyne Gott sei durch die Rebellion Luzifers – nach Beissel der erste Sündenfall – gezwungen worden, seine Männlichkeit zu betonen, um gegen ihn im Kampf bestehen zu können. 63 Seine weibliche Seite habe sich daraufhin in „die einsame Witwe Sophia“ zurückgezogen, wodurch die einstige göttliche Harmonie zerstört und männlich und weiblich getrennt wurden. 64 Gott erschuf den ersten androgynen Adam zur Restaurierung der Ordnung, doch versagte Adam durch sein Begehren nach einem weiblichen Partner und verschlimmerte damit die Situation: Sein männliches Prinzip begehrte also, wie es bereits bei Luzifer geschehen war, auf und beleidigte auf diese Weise seine inhärente Weiblichkeit. Die von Gott geschaffene Frau, die ebenso die Möglichkeit besaß, die kosmische Ordnung wiederherzustellen, ließ sich durch magische Worte der Schlange verführen und verspielte damit ihre Chance. Aus dem von Gott ursprünglich nicht intendierten Dualismus der Schöpfung 60

Für eine ausführliche historische Darstellung vgl. Jeff Bach, Voices of the Turtledoves. The Sacred

World of Ephrata. Göttingen 2003. 61

Die folgenden Ausführungen basieren auf Johann Conrad Beissel, Göttliche Wunderschrift. Darinnen

entdecket wird, wie aus dem ewigen Guten hat können ein Böses urständen. Desgleichen, Wie das Böse wieder in das Gute vergestaltet, und der ewigen Mutter, als die vor den Zeitendes Abfalls das Ruder geführt, in den Schoos geliefert wird. Da dann alle Amtsverwaltungen, die im Abfall durch den Willen des Manns entstanden, wieder aufgehoben werden. Denen Irrthümern des Naturalismi und Atheismi entgegen gesetzt, und zum Heilige Nachsinnen den Kindern der Obern Weisheit. Ephrata 1789. 62

Vgl. u.a. Bach, Voices (wie Anm.60); Jeannine Kunert, (Menschen-)Bildung in Ephrata. Bildungsideale

und deren Verwirklichung in einer radikalpietistisch-wiedertäuferischen Gemeinschaft, in: Religion – Staat – Gesellschaft 1, 2009, 57–79, hier 63–67. 63

Gott vereinte also zunächst männliche Kategorien wie Feuer, Grobheit, Strenge, Kraft und Eigenwille

mit weiblichen wie Licht, Feinheit, Weisheit, Milde und Gehorsam. 64

Wendy Everham, Johann Konrad Beissels Leben und Theologie. Versuch eines Grundverständnisses,

in: Eberbacher Geschichtsblatt 90, 1991, 55–66.

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schlussfolgerte Beissel, dass es die Aufgabe des Menschen sei, wieder nach der Harmonie zu streben, indem der „feurige Mannswille“ besänftigt werde und sich die himmlische Weiblichkeit wieder mit ihm vereine. Während sich die Frauen in Sanftmut üben und sich vor dem „aufsteigenden Mannsfeuer“ hüten sollten, sollten die männlichen Jungfrauen ihrer inneren Weiblichkeit wieder näherkommen. Jesus Christus sei den Weg zur Vereinigung von Männlichkeit und Weiblichkeit vorangeschritten, indem er aus einem Zeugungsakt der Jungfrau Maria mit der himmlischen Weisheit Sophia hervorgegangen sei. Er habe zwar einen männlichen Körper gehabt, sei aber seinem Wesen nach weiblich gewesen, weil er entgegen seiner Männlichkeit Gott bis zum Tod am Kreuz gehorsam und untertänig geblieben sei. Nur aufgrund seiner weiblichen Eigenschaften habe er sich selbst opfern und zudem für seine Feinde bitten können. Die himmlische Sophia habe sich daraufhin am Kreuz mit ihrem Sohn vereinigt, wodurch wiederum das männliche und weibliche Prinzip versöhnt und die einstmalige Einheit wiederhergestellt worden seien. Die Schöpfung sei zwar weiterhin der Zweiteilung unterworfen, doch könnten die wahren Jungfrauen – ein Grund für die Enthaltsamkeit – beiderlei Geschlechts diesen Weg Jesu Christi beschreiten, indem sie Selbstwillen und Begierden besiegten und sich in steter Demut und Selbsterniedrigung übten. 65 Durch diese wahre und ewige Jungfrauenschaft werde dann die Geteiltheit in der Schöpfung wieder aufgelöst und die ursprüngliche göttliche Harmonie wiederhergestellt. Das Prinzip der Verkehrung tritt wie bei Nathan von Gaza bereits in der Lehre Beissels deutlich hervor: Männer sollen weiblich und genauso wie Frauen zu wahren Jungfrauen werden, um die ursprüngliche kosmische Ordnung wiederherzustellen. Dies ist die Verkehrung des Dualismus in eine harmonische Ganzheit. Ihren Versuch zur praktischen Umsetzung bzw. der Vorbereitung der Retablierung des paradiesischen Zustandes fanden diese Gedanken in der bereits erwähnten Klostergemeinschaft, deren Mitglieder größtenteils in deutschen Landen verfolgte Wiedertäufer und Pietisten waren. 66 Der Klosterverband strukturierte sich in einen

65 Die Bauweise der Häuser war nach dem Ideal der Selbsterniedrigung gestaltet – beispielsweise durch besonders niedrige Eingänge, damit man sich bei jedem Eintreten an die eigene Erniedrigung vor Gott erinnern möge –, wie denn auch die ganze Lebensführung der Entsagung und Erniedrigung des Individuums dienen sollte. 66 Über die klösterliche Lebenswelt geben Auskunft: Bruder Lamech/Bruder Agrippa, Chronicon Ephratense. Enthalten den Lebens-Lauf des ehrwürdigen Vaters in Christo Friedsam Gottrecht, Weyland Stiffters und Vorstehers des geistl. Ordens der Einsamen in Ephrata in der Graffschaft Lancaster in Pennsylvania.

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Haushälterstand der Laien sowie die eigenständigen Orden für die zölibatär lebenden Brüder und Schwestern, die ihr Leben der Arbeit und dem Gebet widmeten. Die Schwestern im Kloster waren von gesellschaftlichen Zwängen ihrer Zeit wie Ehe und Mutterschaft befreit und emanzipierten sich von den Männern. Sie führten ihren Orden sowohl in wirtschaftlicher und organisatorischer Hinsicht als auch in religiösen Angelegenheiten selbständig, indem sie – ohne die Beteiligung von Männern – Gottesdienste und Liebesmähler feierten, sich (religiös) bildeten und Autorinnen religiöser Texte wurden. An diesem Beispiel wird abermals die besondere Rolle der Verkehrung der Geschlechterverhältnisse in endzeitlichen Gruppen deutlich, in denen Frauen Tätigkeiten ausübten und Rollen einnahmen, die sonst allein Männern vorbehalten waren. Auch wenn in Ephrata durchaus traditionelle Rollenbilder weitergetragen wurden, so eröffnet die religiöse Lehre Beissels doch auch diese Handlungsspielräume. Die Abkehr der ganzen Gruppe von der als schlecht und verdorben empfundenen Welt und den „verkommenen“ Kirchen drückte sich in der Ablehnung weiterer gängiger sozialer Praktiken aus: der Verzicht auf Fleischkonsum, Ablehnung des Tragens von Waffen, Sonntagsarbeit und Sabbateinhaltung, Kriegsdienstverweigerung und ein Verbot zur Übernahme von öffentlichen Ämtern, um nur einige zu nennen. Ebenso wurde persönlicher Besitz zeitweise gänzlich abgelehnt oder nur eingeschränkt gestattet, so dass alle Güter in Gemeinschaftsbesitz übergingen. Als Ephrata in den 1740er Jahren dennoch wirtschaftlich prosperierte, wirkte Beissel entschieden dagegen, indem Besitz zielgerichtet zerstört wurde, um den eigenen Idealen treu bleiben zu können und nicht den weltlichen Versuchungen anheimzufallen. In Erwartung eines ewigen Sabbat feierten sie nicht am Sonntag Gottesdienst, sondern wie Juden samstags – auch zur Abgrenzung von den Kirchen. Beissel erwartete die baldige Wiederkehr Jesu Christi und die Errichtung des Himmelreiches Gottes noch zu seinen Lebzeiten. Um in sein Reich Zugang zu erlangen, bereitete sich seine Gefolgschaft durch den Versuch der Angleichung an die

Ephrata 1786; O.N., Schwester Chronic. Die Rose oder der angenehmen Blumen zu Saron geistliche Eheverlöbnüs mit ihrem himlischen Bräutigam, welchen sie sich als ihrem König, Haupt, Mann Herrn u: Bräutigam, aufs ewig hin verlobt. Und noch dabey ihrer aller bey-pflichtung im unter-geben an ihre geistliche Führerin, Mutter u. Vorsteherin und dann von ihrer treue und pflicht untereinander und gegen sich selbste. Begeben von ihrem geistlichen Vatter und Urständer, als durch welches Fleiß sich diese gantze geistliche gesellschafft erbauet, wie auch nicht weniger die wehrte gesellschafft in Zion. Ephrata. den 13 : : : des 5: Mon, 1745. (Cassel Collection: Phi 1610, Ac 1924, Historical Society of Pennsylvania, Philadelphia.)

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BEIHEFT

60 / 2013

imaginierten paradiesischen Zustände und an ihr Vorbild Jesus Christus durch Tötung der Selbstbedürfnisse vor, indem sie ein streng asketisches und arbeitsreiches Leben im Kloster führten. Das Leben in dieser Zeit wurde durchaus als leidvoll empfunden, doch lag die Hoffnung auf einer Umkehr der Zustände. 67 Die einstige Welt wurde durch den Sündenfall verkehrt, und ihre erneute Verkehrung sollte nun bald über sie kommen. Um Körper und Geist zu kontrollieren, den Manneswillen zu besiegen und sich in Demut zu üben, fasteten die Klosterbewohner, indem sie nur eine sättigende Mahlzeit am Tag zu sich nahmen. Sie wollten außerdem ihren Körper im Vorgriff auf das kommende Paradies engelsgleich formen und orientierten sich dabei am imaginierten Vorbild des ersten Adam, der keine Bedürfnisse weltlicher Art verspürt habe. Deswegen müssten auch sie ihre Bedürfnisse so weit wie möglich reduzieren. Beissel empfahl eine vegetarische Diät mit Brot, Getreide und Wasser als Hauptnahrungsmitteln und warnte vor Fett, Fleisch, grünem Obst und manchem Gemüse. Durch die Diät – die ihre Spuren an den Körpern hinterließ – sollten darüber hinaus die sexuellen Begierden minimiert und der Körper einer Reinigung unterzogen werden. Der weltliche Körper mit seinen Gelüsten und in seiner Unvollkommenheit sollte in einen paradiesischen gewandelt werden. Da Adam im Schlaf gesündigt habe und der Schlaf somit als sündhaft interpretiert wurde, wurde das tägliche Schlafpensum auf zweimal drei Stunden herabgesetzt. Dementsprechend und als Ausformung der Askese bestand der Schlafplatz lediglich aus einer Holzpritsche mit einem Holzkeil als Kopfkissen. Mitte der 1730er Jahre wurde die Kutte nach mittelalterlichem Vorbild als einheitliche Kleidung des Klosters eingeführt, die die geschlechtlichen Konturen des Körpers so weit wie möglich verschwimmen lassen sollte und die Abkehr von der Gesellschaft und die Ablehnung ihrer Normen noch deutlicher machte. 68 Dieses Erscheinungsbild wurde ab Ende der 1730er Jahre mit dem Rasieren der Tonsur (zeitweise bei beiden Geschlechtern) komplettiert. Die Rasur wurde nach einem öffent-

67 Vgl. O.N., Ein Angenehmer Geruch der Rosen und Lilien Die im Tal der Demuth unter den Dornen hervor gewachsen. Alles aus der Schwesterlichen Gesellschaft in SARON, in: Paradisisches Wunder-Spiel, welches sich In den letzten Zeiten und Tagen in denen Abendländischen Welt-Theilen, als ein Vorspiel der neuen Welt hervorgethan: Bestehend in einer neuen Sammlung andächtiger und zum Lob des großen Gottes eingerichteter geistlicher / und ehedessen zum Theil publicierter Lieder. Ephrata 1766. 68 Nicht allein der klösterliche Habit, sondern auch die an den Katholizismus erinnernde monastische Lebensführung führten zu Verstimmungen im protestantischen Umfeld.

J . KUNERT

/ ENDZEIT ALS WENDEZEIT ?

325

lichen Keuschheitsgelübde, das mit einer Taufe im fließenden Gewässer verbunden war, vorgenommen und sollte den zölibatären Stand nach außen kennzeichnen. Die Taufe wurde in Ephrata nur bei Erwachsenen durchgeführt. Die Kindstaufe wurde abgelehnt, da der Taufe ein bewusster geistiger Prozess bei dem Täufling vorangehen sollte. Sie erfolgte mit dreimaligem vollständigen Untertauchen im Cocalico Creek, was den Bund mit der göttlichen Trinität symbolisierte. Der Akt werde, so Beissel, den Prozess der vollständigen Tötung des Selbst abschließen. Der Täufling könne sich dann mit dem Kreuztod Christi und dessen Auferstehung identifizieren. Wie auch bei Jesus Christus werde es durch den Tod des Selbst zu einer Verlobung mit dem himmlischen Gegenstück, der heiligen Sophia oder Christus, kommen, wodurch ein neuer und sündenfreier Körper aus dem Wasser aufsteige, der das Zeichen der geistigen Wiedergeburt trage. Damit ist die Taufe, die bei Bedarf auch mehrfach erfolgen konnte, ein deutlicher symbolischer Ausdruck einer geistigen Umkehr des Täuflings.

IV. Zusammenfassung In der kabbalistisch geprägten Glaubenswelt des Sabbatai Zwi und des Jakob Frank war das Ziel die Wiederherstellung der kosmischen Harmonie durch Rückführung der beim Schöpfungsprozess verlorengegangenen göttlichen Funken. Diese Wiederherstellung sollte zum einen durch Reue und Bußübungen der Gläubigen und zum anderen durch die bewusste, sich immer wiederholende Verletzung des Gesetzes und die Verkehrung der Bräuche erzielt werden. Durch den Analogieschluss von Mikro- und Makrokosmos würde die Restauration der göttlichen Harmonie des Makrokosmos die Verkehrung der lebensweltlichen Verhältnisse mit sich bringen. Die Aufhebung des Exils der Funken und die Wiederherstellung der göttlichen Ordnung bedeutete die Beendigung der Diaspora durch die Rückführung der Juden nach Palästina oder die Errichtung eines messianischen Reiches in Polen, die Umwandlung der Machtverhältnisse zugunsten der Juden oder Frankisten, die Verkehrung von Armut und Unterdrückung in Reichtum und Herrschaft und die Vernichtung aller Feinde. Auch bei der radikalpietistisch-wiedertäuferischen Gemeinschaft um Konrad Beissel ging es um die Wiederherstellung einer gestörten Ordnung. Sie versuchte, die Umkehrung der Verhältnisse, die erwartete Verkehrung der Welt, bereits vor-

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wegzunehmen, während sie ihr Leben nach ihrer Vorstellung von der endzeitlichen und zugleich urzeitlichen Welt ausrichtete. Die Mitglieder Ephratas lebten nach ihrem imaginierten Vorbild der himmlischen Gemeinschaft kommunitär und zölibatär, versuchten durch Negierung und Androgynisierung des Körpers engelsgleich und durch die stete Ermahnung zu Reue und Buße sowie durch die permanente Erniedrigung des Selbst durch strenge Ordenszucht und harte Arbeit demütig und mild zu werden. Die Vorbereitung auf die neue Welt war zugleich geistiger und körperlicher Natur. Darüber hinaus suchten sie die soziale und räumliche Abkehr von der Gesellschaft und ein ganz anderes als das weltliche Leben. Bei allen drei Gemeinschaften spielte die Verkehrung der etablierten Genderkonstruktionen eine Rolle. Zwi behandelte Frauen und Männer gleich und ließ Frauen öffentlich die Thora lesen. Frank machte aus männlichen Messiasvorstellungen einen weiblichen Messias, dem zudem die Aufgabe der Vollendung zufiel. Und Beissel gab nicht der Frau, sondern dem Männlichen die Schuld für die Ursünde und wollte aus harten Männern weibliche Jungfrauen machen, die die heilige Sophia verehrten. Bei den von mir präsentierten Beispielen kann die erwartete Endzeit als eine Zeit der Wende und eine Zeit der Verkehrung gelesen werden. Die Endzeitvorstellungen waren zwar im Einzelnen verschieden und äußerten sich ganz unterschiedlich, doch wurde immer eine gewendete Welt erwartet, die ganz anders sein würde als die, in der die Anhänger lebten. Die rituellen Handlungen wie das sich wiederholende Gesetzesbrechen, Konversionen, Taufen und Wiedertaufen oder die absolute Verneinung des Körpers durch das sukzessive Abtöten der Sinne und des Selbst verweisen auf die Abschaffung der bestehenden Struktur der alten Welt und die Etablierung einer neuen oder Restaurierung einer alten Ordnung. Nach innen festigten sie freilich die Bande unter den Anhängern, den „wahren Kindern Gottes“, und erleichterten so das Lossagen von der alten Welt. Doch auch bei ihren Gegnern wurden durch die gemeinschaftliche Ablehnung und Sanktionierung des anderen soziale Bande stabilisiert. Durch die spezifische (End-)Zeitwahrnehmung – eine Zeit des Außeralltäglichen – befanden sich die Gruppen entweder in einem anhaltenden Stadium der Vorbereitung, des Übergangs oder wähnten sich bereits einer neuen Welt zugehörig.

J . KUNERT

/ ENDZEIT ALS WENDEZEIT ?

327

Die Autorinnen und Autoren

Christina Brauner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Julia Carls ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Judaistik an der Universität Erfurt. Dominik Fugger leitet die Nachwuchsforschergruppe „Religiöse Rituale in historischer Perspektive“ im Schwerpunkt Religion der Universität Erfurt und ist Junior Fellow am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien. Richard Gordon ist Honorarprofessor für Antike Religionsgeschichte und Fellow am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt. Torsten Hiltmann ist Juniorprofessor für die Geschichte des Hoch- und Spätmittelalters / Historische Hilfswissenschaften an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Jeannine Kunert ist Doktorandin am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt. Anne Christina May ist Doktorandin in der Nachwuchsforschergruppe „Religiöse Rituale in historischer Perspektive“ im Schwerpunkt Religion der Universität Erfurt. Katrin Moeller leitet das Historische Datenzentrum Sachsen-Anhalt am Institut für Geschichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Werner Röcke ist Professor emeritus am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin. Tanja Skambraks ist wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte der Universität Mannheim. Jörg Sonntag ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Hendrik S.Versnel ist Professor emeritus für antike griechische und römische Religion am Department für Alte Geschichte an der Universität Leiden.

328

oldenbourg DOI 10.1515/9783486727678.329

Personenregister

Accius, Lucius 46, 49f., 79f.

Bernard, Jean Frédéric 43

Aischylos 62

Bernardus Ayglerius 121

Alan of Scroby 166

Bernhard von Clairvaux 122f.

Albrecht von Belzigk 202

Berosus von Babylon 44

Alexander ab Alexandro 20

Billington, Sandra 17, 212

Alkuin 108

Binz, Carl 263

Althoff, Gerd 196

Boemus, Johannes 22, 270

Ambrosius von Mailand 107

Bohn, Cornelia 310

Apollodoros von Athen 63

Bömer, Franz 76, 87

Arcadius, röm. Kaiser 231f.

Boon, James A. 40

Aristophanes 59, 62

Borgerding, Todd M. 152f.

Aristoteles 47f., 67

Böttiger, Karl August 26

Arnobius der Ältere 75

Bouchet, Guillaume 19

Assmann, Jan 125

Bourdieu, Pierre 47, 64, 168f.

Athenaios 46

Boynton, Susan 150f., 153

Auffarth, Christoph 50, 60, 64

Brelich, Angelo 74

Augustinus von Hippo 35, 107f., 174, 212

Bremmer, Jan N. 46, 89

Ausonius, Decimius Magnus 79

Briquel, Dominique 81 Brückner, Wolfgang 202

Babcock, Barbara A. 146

Bruno von Segni 108

Bachtin, Michail M. 29–33, 35–37, 39–42, 65,

Brunotte, Alexander 219

129–132, 136, 140, 146, 172f., 175, 188, 196, 281,

Burke, Peter 33, 90

300, 302, 304

Buxtorf, Johannes 288

Badius, Jodocus 160 Balandier, Georges 89

Calpurnius Piso Frugi, Lucius 77

Barthélemy, Nicolas 21

Cassius Dio 79

Baton von Sinope 46

Cato der Ältere 50, 74, 78

Baudy, Gerhard J. 79, 88, 101

Clement-Hemery, Albertine 179

Beda Venerabilis 108

Coarelli, Filippo 74

Beissel, Johann Konrad 306, 308, 321–327

Cochlaeus, Johannes 209f.

Beleth, Johannes 14, 108

Colet, John 159f.

Bell, Catherine M. 51

Columella, Lucius Iunius Moderatus 88

Bellah, Robert N. 98

Comstock, William Richard 98

Bercé, Yves-Marie 176, 189

Croÿ, François de 15, 19

Berger, Jutta Maria 122

Cyprian von Karthago 107

Berger, Peter L. 91, 96, 98 Bernal, Martin 99

oldenbourg DOI 10.1515/9783486727678.329

329

D’Arms, John H.88

Franck, Sebastian 237f., 270

Dahhaoui, Yann 14, 16, 162, 190

Frank, Jakob Josef 306, 308, 316–321, 326f.

Dannhauer, Johann Conrad 24

Frazer, James George 28f., 39, 87, 90, 95, 246

Davidowicz, Klaus S.316, 320

Friedrich August II., Kurfürst von Sachsen 318f.

Degrassi, Attilio 74

Friedrich II., Kaiser 272

Dembowski, Mikolaj, Bischof von Kamieniec-

Friedrich V., Kurfürst von der Pfalz 212 Friedrichs, Christopher R. 290

Podolski 317f. Demosthenes 49f.

Fugger, Dominik 146, 178f., 189, 233f., 236f.

Deslyons, Jean 21

Füssel, Marian 225

Dinges, Martin 194

Fynn-Paul, Jeffrey 51

Dinzelbacher, Peter 250–252 Dionysios von Halikarnassos 72, 77, 88

Gebauer, Gunter 135

Dionysios von Herakleia 64

Geertz, Clifford 95, 97f.

Disraeli, Isaac 27, 33

Gehlen, Arnold 125

Douglas, Mary 97f.

Gellius, Aulus 84

Douglass, Frederick 88

Gennep, Arnold van 32, 34, 92

Duby, Georges 122

Georg von Schönenberg, Bischof von Worms 218, 220

Dülmen, Richard van 251–253 Dumézil, Georges 81–83

Ginzburg, Carlo 99

Durandus von Mende 14

Gluckman, Max 65f., 87, 89f., 92

Durkheim, Émile 90, 95–98, 100f., 132, 314

Godeley, John 167

Dürrenmatt, Friedrich 211f.

Goertz, Hans-Jürgen 194

Duvignaud, Jean 44

Goethe, Johann Wolfgang von 26 Goffman, Erving 104, 195

Edward I., König von England 165

Gómez de Castro, Alvar 15f.

Edward II., König von England 166

Goode, William J. 98

Edward III., König von England 166

Graf, Fritz 74, 80

Ekkehard IV. von St. Gallen 150

Grandisson, John, Bischof von Exeter 145, 156, 167

Elhanan ben Abraham Helen 293

Grass, Nikolaus 181

Eliade, Mircea 91f., 95

Grasser, Johann Jacob 15, 19

Engerman, Stanley L. 88

Greatrex, Geoffrey 231

Erasmus von Rotterdam 148, 159–162

Greenblatt, Rachel L. 290

Ernald von Bonnevaux 108, 123

Gresbeck, Heinrich 199–201, 205–208 Guittard, Charles 74

Fabius Pictor, Quintus 83

Gurevic, Aron Jakovlevic 172

Fahne, Anton 28

Gusdorf, Georges 84

Festus, Sextus Pompeius 74

Gutton, Jean Pierre 182f.

Fettmilch, Vinzenz 291f., 295, 297–300

Gvozdeva, Katja 186, 189f.

Fischart, Johann 205 Fitzgerald, William 49

Hahn, Joseph 292

Flavius, Bischof von Chalon-sur-

Haimo von Auxerre 108 Halliwell, Stephen 65

Saône 111

330

Floerke, Hanns 137

Hamilton, Richard 63

Fogel, Robert W. 88

Hamilton, William D. 55

Folz, Hans 128f.

Harris, Max 11

Forkel, Ariane 181

Heers, Jacques 217, 275

Historische Zeitschrift //

BAND

60 / 2013

Heimann, Heinz-Dieter 194

Kerssenbroch, Hermann von 199, 201–205, 211

Heinrich VIII., König von England 167

Keysere, Robert de 160

Hekataios von Milet 62f.

Kirchhoff, Karl-Heinz 215

Helinand von Froidmont 112

Kirchmeyer, Thomas 22

Hellanikos von Lesbos 62

Kirsopp Michels, Agnes 74

Henry Algernon Percy, Earl of

Kluckhohn, Clyde 97

Northumberland 163 Hesiod 45 Hess, Günter 135f., 141f.

Kohler, Erika 213 Kolowrat-Krakowsky, Maria Anna Franziska Gräfin von 319

Hieronymus 107

Kracauer, Isidor 290, 295

Hildemar von Corbeil-Civate 121

Kramer, Heinrich 261

Hilscher, Paul Christian 272

Kuhn, Thomas S.99f.

Hiltmann, Torsten 11, 216, 234f. Homer 105

Lane Fox, Robin 89

Honorius Augustodunensis 108, 113

Lanfranc von Bec 117, 150

Honorius, Flavius, röm. Kaiser 231f.

Langer, Susanne K. 97

Hooke, Samuel Henry 97

Lanternari, Vittorio 39, 44, 84, 92

Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 49, 80, 83

Latte, Kurt 73, 76

Horovitz, Markus 292

Lavater, Ludwig 263

Horowitz, Elliott S.280

Lazius, Wolfgang 23

Horsfall, Nicholas M. 89

Le Glay, Marcel 72f., 81

Hospinianus, Rudolf 19f.

Le Roy Ladurie, Emmanuel 35, 183

Hrabanus Maurus 108

Leach, Edmund R. 64, 97

Huffschmidt, Jakob 200

Leber, Jean Michel Constant 27f.

Hugo von Cluny 117

Leech, Geoffrey 94

Hugo von Fouilloy 112

Lincoln, Bruce 86

Humphreys, Sally C. 52, 61f., 64

Livius Andronicus, Lucius 75

Hyginus, Gaius Iulius 74

Livius, Titus 75f. Lucian von Samosata 79f.

Idung von Prüfening 116

Luckmann, Thomas 91, 98

Innozenz III., Papst 109

Ludwig VI., Kurfürst von der Pfalz 240

Isidor von Sevilla 152f.

Ludwig XI., König von Frankreich 180f.

Iustinus, Marcus Iunianus 74, 79

Luria, Isaak 311f. Luther, Martin 208–210, 213, 271

Jacobs, Marc 193, 212 Jacoby, Felix 46, 48, 50, 64

Macrobius, Theodosius 45f., 50, 77, 79, 87f.

Jan van Leiden 198, 210–212, 214, 217

Malinowski, Bronisław 89, 97

Jansen, Marlies 93

Mantuanus, Baptista 22

Johann Casimir, Pfalzgraf bei Rhein 218, 240

Margaritha, Anthonius 287f.

Johanna von Konstantinopel, Gräfin von

Marseille, Jacques 182

Flandern 181 Johannes von Salisbury 134

Martial (Marcus Valerius Martialis) 78 Martin von Tours 121f. Mather, Increase 18

Karl V., Kaiser 103, 272

Matthias von Habsburg, Kaiser 291, 296f.

Kellermann, Karina 195

Maurizio, Lisa 61

Kenner, Hedwig 80

Meier-Staubach, Christel 104, 198

PERSONENREGISTER

331

Merton, Robert K. 97

Philipp I., Landgraf von Hessen 214

Meuli, Karl 90

Philocalus, Furius Dionysius 78, 80

Meusy, Nicolas 16, 21

Philochoros von Athen 50, 63

Mezger, Werner 238f., 275f.

Pitt-Rivers, Julian A. 65

Morgado, Alonso 153

Platon 67

Morison, Thomas 19f.

Plautus, Titus Maccius 49f., 83

Moser, Dietz-Rüdiger 35f., 129, 172–176, 178–180,

Pleij, Herman 90

188, 212

Plinius der Jüngere 80

Moser, Hans 204

Plutarch 50

Muchembled, Robert 181, 246, 269

Poggio Bracciolini, Gian Francesco 137–140

Müller, Jan-Dirk 196f.

Pohlenz, Max 46

Murner, Thomas 210

Polydor Vergil 16f., 19, 21

Mussard, Pierre 22f.

Pouthier, Pierre 81f. Pradhan, Rajendra 93f.

Nagel, Norbert 201

Premerstein, Anton von 80

Nährlich-Slateva, Elena 172

Pseudo-Alkuin 23

Nathan von Gaza 311–315, 323 Nauta, Ruurd 80

Rabelais, François 39, 130, 175

Neugebauer-Wölk, Monika 268, 277

Radcliffe-Brown, Alfred 97

Nicholas de Pontesbury 165

Radke, Gerhard 73

Nietzsche, Friedrich 131

Rädle, Fidel 134

Nilsson, Martin P. 44, 49, 80, 87

Rémond, Florimond de 209

Norbeck, Edward 87, 89f.

Rhegius, Urbanus 211–213 Riemenschneider, Evert 207

O’Dea, Thomas F. 97

Robertson, Noel 64, 101

Odo von Cluny 119

Roger de Mortival 149, 166

Origenes 107

Rohmann, Gregor 11

Orme, Nicholas 148

Rosny, Lucien de 179, 182

Osborne, Robin 64

Rossiaud, Jacques 186

Otto, Rudolf 95

Rothmann, Bernhard 204–209, 212f.

Ovid 22, 79

Rudhardt, Jean 42 Rumpf, Marianne 274f.

Parker, Robert 51

Rupert von Deutz 124f.

Pasquier, Étienne 20, 239

Rüpke, Jörg 64, 70, 74

Pausanias 60, 75, 93

Rüscher, Hubert 205

Pearson, John 24

Rusterholz, Peter 195

Penner, Hans H.97

332

Pepys, Samuel 17

Sabbatucci, Dario 81f.

Petronius, Titus 78

Sachs, Hans 200

Petrus Cantor 108f.

Sara (Ehefrau Sabbatei Zwis) 310f.

Petrus Comestor 108

Scaliger, Joseph 73

Pettenkofer, Andreas 310

Scheid, John 74

Peuckert, Rüdiger 307

Schickard, Wilhelm 24

Pfeiffer, Rudolf 43

Schild, Wolfgang 254, 256

Phanodemos von Athen 63

Schilling, Heinz 219, 241

Pherekydes von Athen 62

Schindler, Norbert 36f., 128f., 143, 195f., 208, 212

Historische Zeitschrift //

BAND

60 / 2013

Scholem, Gershom 309f., 313f.

Turniansky, Chava 295

Schram, Johannes 137–139

Tylor, Edward B. 95f., 98

Schreiner, Klaus 122

Ulmer, Rivka 293

Schrier, Omert J. 80

Urquhart of Cromarty, Thomas 17f.

Schubert, Anselm 11 Schudt, Johann Jacob 299f.

Van Alkemade, Cornelius 26, 28

Schumpeter, Joseph Alois 133, 143

Van den Neste, Evelyne 182

Schupp, Katja 214

Van der Haven, Alexander 311

Schürer, Matthias 160

Van der Meer, L. Bouke 73

Scribner, Robert W. 146, 176, 194, 199, 201

Van der Schelling, Pieter 26

Segal, Robert A. 97

Varro, Marcus Terentius 78–80, 82f.

Seidenspinner, Wolfgang 176f., 219, 240

Velten, Hans Rudolf 140, 168, 176, 197

Seitz, Alexander 141

Vergil 76f.

Selden, John 17f.

Versnel, Hendrik S.41, 64, 74

Seneca 80

Vinzenz von Beauvais 272

Servius (Maurus S.Honoratus) 75, 83

Voetius, Gisbert 23

Simon, Eckehard 194, 200 Simon, Erika 51

Waldeck, Franz von 201–203, 215f.

Skinner, Marilyn B. 99

Wallace, Anthony F.C. 101

Smaragdus 108

Wallenberger, Valentin 24

Soldan, Wilhelm Gottlieb 249

Walter de London 167

Solinus, Gaius Julius 88

Walz, Rainer 265f.

Sonntag, Christoph 22f.

Watt, John W. 231

Sonntag, Jörg 14

Weber, Max 70, 97, 246

Spangenberg, Cyriacus 272

Weidkuhn, Peter 86f., 91

Spiro, Melford E. 91, 97

Weinstock, Stefan 80

Statius, Publius Papinius 75

Welzig, Werner 193

Stehouwer, P. H.N. G. 81

Werlin, Theodor 24

Strohschneider, Peter 132

Weyer, Johannes 263

Stucki, Johann Wilhelm 18–20

Wiegand, Hermann 238

Stupperich, Robert 210

Wilhelm V. der Fromme, Herzog von Bayern 103

Sueton 78

Wilhelm von Auxerre 14–16

Suttner, Bertha von 102

Wissowa, Georg 76

Sutton-Smith, Brian 90

Wulframsdorf, Jorg van 202

Theophrastos 60

Yerushalmi, Yosef Hayim 289

Thiers, Jean Baptiste 155

Young, Karl 155

Thomas Ugtreht 166 Thomas, Keith 265, 269

Zemon Davis, Natalie 32, 39, 146, 187, 201, 235

Thukydides 62f.

Ziehen, Ludwig 46

Thumm, Theodor 20

Zijderveld, Anton C. 88, 90

Tilliot, Jean-Bénigne Lucotte du 26, 155

Zwi, Sabbatai 306, 308–318, 320f., 326f.

Trexler, Richard 194 Turcan, Robert 82 Turner, Victor W. 33–36, 40, 61, 85f., 90, 94, 101, 123f., 190, 278, 304–306, 308

PERSONENREGISTER

333

Sachregister

Abbé

Demeter 66f.

– de Liesse 185

Deposition, akademische 225f., 233

– de Maugouvert 185

Deukalion 63

– des Connards 185

Dia („Hebe“) 45

Acedia 174

Dichotomisierung 25, 30–34, 36f., 41, 86, 129–131,

Ambivalenz

173, 175, 194, 214, 250–252, 256, 261, 264, 268,

– A. der Rituale 31, 40, 48–50, 54, 69, 85 f., 193,

272, 274, 281, 311–313, 321–323, 325f.

196–198, 203, 208, 213, 217 – A. der rituell verarbeiteten Situation 45, 56, 74, 82, 84–87, 91–93

(→ Gegenwelt) Dionysia 56–58, 61, 66 Dionysos 51–57, 59–64, 66, 231

Annales-Schule 39

Disputatio 133–137, 140

Anthesteria 51f., 57–66, 70, 85

– Q. de quolibet 133f.

Antikenrezeption 12–30, 37, 226f., 229–232,

– Q. ordinaria 134

237–239, 242f., 268f., 277

Dualismus → Dichotomisierung

Apostasie 315, 318

Dülmener Fastnachtskönig 196, 214–217

Aristaios 45

Dülmener Vertrag 201f.

Artemis 46 Aschermittwoch 174f., 182, 188

Effigie 201f.

Askese 309f., 325–327

Endzeiterwartung 192, 198, 206, 305–310, 312f.,

Bacchanalia 12, 17f., 22–25, 28, 230, 237

Entthronung 30f., 92, 173–175

Beschneidung des Herrn 14f., 236

Ephrata (Klostergemeinschaft) 308f., 321–327

Bohnenkönig → Königreich zu Epiphanie

Epiphanie 12–14, 17–21, 24, 28f., 36, 177, 179, 182,

Chiliasmus → Endzeiterwartung

Esthergeschichte 282–285, 287f., 234, 300f.

315–318, 320f., 324–327

188, 233, 237, 239, 267, 269 Chorknaben 147–159, 163, 167, 169, 196, 275 Christkönig 267

Fastenzeit 36, 91, 128, 174, 179f., 185, 212, 272

Civitas dei / civitas diaboli (civitas terrena) 35f.,

Fastnacht → Karneval

174, 182, 188

Fastnachtsdienstag 180–182

Communitas (Turner) 34, 40, 172, 304f., 308

Fastnachtssonntag 179f., 184

Coniuratio 210

Fest Johannes’ des Evangelisten (27.Dez.) 15

Consualia 81f.

Fest Johannes’ des Täufers (Johannistag) 33

Consus 81f.

Feste

Counterculture 305

– christliche, und liturgische Zeiten → Aschermittwoch, Beschneidung des Herrn, Christ-

334

Dämonologie 252f., 255, 263, 277

könig, Epiphanie, Fastenzeit, Fastnachts-

Dechristianisierung 268f.

dienstag, Fastnachtssonntag, F. Johannes’ des

oldenbourg DOI 10.1515/9783486727678.334

Evangelisten, F. Johannes’ des Täufers, Fron-

Haloa 66

leichnam, Gründonnerstag, Invocabit, Karfrei-

Häresie → Ketzerei

tag, Mariae Lichtmess, Nikolaustag, Ostern,

Hermes 45–47, 60

Palmsonntag, Pfingsten, Stefanstag, Thomastag/

Hermetik 252, 257, 261, 268, 277

-nacht, Unschuldige Kinder, Weihnachten

Hexenglaube

– griechisch-antike F. → Anthesteria, Consualia, Dionysia, Geraistia, Haloa, Kissotomoi, Kronia, Lenaia, Opalia, Opiconsivia, Oschophoria, Pelôria, Stenia, Volcanalia – jüdische F. → Purim – römisch-antike F. → Bacchanalia, Januarkalen-

– H.als Deutungsschema sozialer Ordnungen 249, 253, 255f. – Historiographie / Rezeptionsgeschichte des H.245–247, 258, 267f. Hexensabbat 244, 249, 252, 254–261, 267, 273, 275, 278

den, Lupercalia, Maiuma, Megalensia, Paren-

Hexensekte / Hexenfamilie 249f., 259

talia, Quinquatrus minores, Quirinalia,

Hexerei

Saturnalia

– H.als Ausdruck religiöser Devianz 245, 278

Fettmilch-Aufstand 289–291, 295f., 298f. Folter 249, 254, 260f.

– H.als geschlechtsspezifische Konstruktion 253f., 257–259

Frankisten 308, 316–321, 326

– H.als spiegelbildliche Konstruktion 256f., 277

Fronleichnam 33, 152

– H.als Verkehrung christlicher Glaubens-

Fußwaschung – biblischer / historischer Ursprung der F. 105–109 – Deutung der F. 112f., 115, 117–119, 121f., 124 – F. an Gründonnerstag 110–113, 115–118 – F. bei Hofe 102f., 126 – F. durch den Abt 111, 113, 115–118

und Liturgieformen 244, 249–253, 255, 260f., 269, 277 – Hexerei und Ironisierung / Komik / Parodie / Kritik 256–260, 262–264, 278 – Verkehrung als Mittel zur Formulierung des Hexereiverdachts 244, 264–267, 278

– mandatum an den praebendarii 117 – mandatum fratrum 109f., 112, 122

Imaginaire sociale 56

– mandatum hospitum 110, 116f., 122

Indigitamenta (funktionale Gottheiten) 83 Invocabit (1. Fastensonntag) 179

Geckengesellschaft zu Kleve 26 Gegenwelt (als theoretisches Konzept) 30, 32, 35,

Ironie 66, 124, 139, 206, 213, 250, 257, 262–264, 266, 278

130, 171, 256 (→ Dichotomisierung) – Gegenbischof 30

Januarkalenden 12, 15f., 23

– Gegenkirche 30

Jokmaalen 26, 28

– Gegenkönig 30, 36

Jugendabteien 32, 184–188, 235, 237 (→ Sociétés

– Gegenkultur 146, 173

joyeuses)

– Gegenordnung 210, 260, 304

– Jugendabt 185f.

– Gegenstaat 30

– Rolle der J. innerhalb der Gemeinschaft 185–187

Gelehrtendiskurs 13–31, 36f., 38, 237f., 245–247,

– „Herrscher“-Titel 184f., 188

253, 255, 262f., 270, 272, 275, 277 (→ Antikenrezeption, Mythographie, Verkehrung als Mittel

Kabbala 308f., 311f., 326

der Polemik)

Karfreitag 199–201, 288

Geraistia 44, 48

Karneval (als konkretes Fest) 11–13, 21–24, 26–30,

Geschlechterrollen 54, 57, 65f., 69f.

35, 91, 128, 131, 171, 176, 179–181, 183–185,

Grande festa (Lanternari) 92

187f., 194, 200–202, 205, 214–217, 238, 275f., 280,

Gründonnerstag 103, 107, 109–120, 125f.,199

285, 302 Karneval (als ritualtheoretisches Konzept) 11, 21,

SACHREGISTER

335

27–37, 39–41, 128–132, 143, 146, 171–176, 208,

Kissotomoi 45

212, 280–282, 300, 302

Klerikerfeste 13f., 16, 29, 145, 168, 188

„Karnevaleske“ Feierkultur, Elemente der

(→ Narrenfest [liturgisch], Knabenbischofsfest)

(→ Ironie, Lachen, Maskerade, Parodie, Spott,

– F. der Leviten am Stefanstag 14f.

Theater, Trunkenheit)

– F. der Priester am Johannestag 14f.

– Ausschweifung 23, 184, 219, 238, 255 – Beschimpfung 66, 173, 202, 265 – Cross dressing 56, 129, 280, 285, 287f. (→ Verkleidung)

– F. der Pueri am Tag der Unschuldigen Kinder 14f., 248, 269, 273, 276 – Festum stultorum 14f. Knabenbischof

– Ekstase 54, 56, 314

– Eigenschaften des K. 147, 149f., 152–155, 167

– Fastnachtspiele 131, 194, 223, 235

– K. als Personifizierung 145, 147f., 155–157, 159,

– Gelage 30, 46, 50, 64, 77–79, 87, 89, 92, 135, 142, 174, 177, 182, 188, 222, 227, 274, 287f. – Geschenke 59, 78f., 126, 164–166, 265, 274, 278, 284

167f. – K. als Symbol 152–154, 162, 167, 169 – liturgische Einbindung des K. 147, 154–160, 162, 168

– Glücksspiele 48f., 78, 80, 86

– materielle Ausstattung des K. 148, 156f.,

– Heischebräuche 235, 272, 274–276 – Kritik 40, 51, 80, 90, 210, 214, 257–259, 262, 285, 294, 300–302, 305

162–164, 168 – Unterstützung des K. durch die communitas 147f., 164–166, 168

– Mähler 26, 48–50, 75–77, 79, 87f., 102, 222, 284, 324

– Wahl des K. 147–150, 164, 167 Knabenbischofsfest 12–16, 29, 36, 127, 145–170,

– Mirakelspiele 165

176, 179, 188, 190, 192, 197, 212f., 248

– Musik 54, 57, 293f., 301

Konfessionalisierung 218, 237–242

– Opfer 43, 46, 60f., 63f., 74f., 82, 84, 92, 207

König → Dülmener Fastnachtskönig, Königreich

– Orgien 54, 86f., 92, 231, 251, 253, 255, 274, 317

der Weidbuben zu Hemsbach, Königreich zu

– Prozessionen 11, 66, 118, 131, 152, 154, 156–158,

Epiphanie, Pfingstkönig, Purimkönig, Roi de

184, 194, 198–202, 205, 214, 222 – Reimwettstreite 174

l’Épinette, Roi de la ville, Wachskönig von Essen König als Verkehrungsfigur (theoretisch) 11, 30f.,

– Rügebräuche 174, 200f., 205, 216 – Schändung 67, 69, 284f., 299, 320 (→ Schandritual)

36, 130, 172–176, 188f. Königreich der Weidbuben zu Hemsbach 218–243 – Reichskammergerichtsprozess um das K. 220,

– Sexuelle Freizügigkeit 56, 66, 92, 135, 311, 317, 319, 325

222–234 – territorialrechtlicher Hintergrund des K. 220f.

– Spiel 14, 87, 90, 92, 133–136, 184, 197, 215, 226f., 231, 285f., 288, 301 (→ Fastnachtspiele, Glücksspiele, Mirakelspiele, Wasserspiele)

Königreich zu Epiphanie 12f., 17–21, 24, 26, 28f., 36, 130, 146, 177–179, 182, 188f., 233f., 237, 239, 248 (→ Roi de la ville)

– Tanz 54–57, 61, 145, 152, 256f., 263, 288, 314, 317

Konversion 287, 314f., 317–321, 327

– Turniere 174, 179–181

Kronia 44–47, 49f., 70, 72

– Umzüge 21, 57, 61, 66f., 89, 180, 185, 205, 215,

Kronos 44–46, 72, 74f., 77, 85f.

222, 235, 274 – Verkleidung 56f., 77, 92f., 129, 156f., 163, 172f., 201, 204, 207, 215f., 236, 251, 263, 274, 276, 280, 285–288 (→ Cross dressing)

143, 146, 173, 187, 207, 212, 236, 263, 276, 281, 301f.

– Wasserspiele 225, 231, 235

Lenaia 56f., 61, 66

Ketter-Bichtbok 210f.

Liminalität, Phase der (Turner) 35, 40, 61, 86, 123f.,

Ketzerei 139, 209, 220, 244, 252, 261f., 319

336

Lachen / Lächerlichkeit 27, 30–32, 67, 92, 130f., 135,

Historische Zeitschrift //

BAND

60 / 2013

238, 250, 279, 305, 308, 315

Lord of Misrule 16–19, 27, 29, 36

Pfingstbräuche 219, 235–237, 240

Lupercalia 12, 21–23, 226f., 230, 238

Pfingsten 143, 218f., 222f., 226, 231, 233–237, 239 Pfingstkönig 218f., 222f., 234–236

Maiuma 231f., 238 Mariae Lichtmess 22, 176, 183, 185

Polemik, konfessionelle 15, 19–21, 23, 192, 275f., 279 (→ Verkehrung als Mittel der Polemik)

Maskerade 21, 61, 173, 204, 250, 274, 276, 280, 285

Polisreligion 41–43

Megalensia 12, 21, 37

Prince des Sots 185

Megillat Vintz 292–297, 300f.

Purim (als Fest)

Millenarismus → Endzeiterwartung

– Entwicklung 282–286

Mythographie 62f., 65

– erinnernder (theologischer) versus verkehren-

Narrenabt 172, 174, 176, 180, 184, 189, 197

– Integration „karnevalesker“ Elemente 283–288,

der Charakter 288–290, 294, 301– 303 Narrenbischof / -erzbischof / -papst 30, 155, 168, 172, 176, 197 Narrenfest (liturgisch) 11–16, 26–29, 33, 146, 175, 179, 188

293, 302 – liturgische Ausgestaltung 283–285, 294 – Wahrnehmung des Festes in der Frühen Neuzeit 287f., 297

– Verhältnis zum Knabenbischofsfest 14

Purim (als historische Referenz) 12, 24

Narrenfest (theoretisch) 173–176, 188

Purim, christlich 24

Narrenfürst / -prinz 174, 176, 180, 184, 187, 189

Purim, zweites / Extra-Purim 289f. (→ Vintz-

Narrenkönig / Narrenreich 146, 168, 171–176,

Purim)

180–184, 188f., 196–198, 211f., 214–217,

Purimkönig 285, 300

218–243, 297 (→ König als Verkehrungsfigur)

Purimspiel 285, 301

Narrenmutter (zu Dijon) / Mère folle 26, 184f.

Puys marials 184f., 188

Native exegesis 36f., 51f., 70, 94, 104f., 113, 121, 123, 127, 189

Quaestiones fabulosae 132–144

Neujahr 28, 46, 72, 88, 91–93, 175f., 270

Quinquatrus minores 12, 21, 25

Nikolaus(fest) 145, 155, 157, 163, 165, 167,

Quirinalia 15, 23, 37

272–276, 279 Rahmung (Goffman) 195–197, 203, 216 Opalia 81

Rauhnächte 245, 267–276, 279

Opiconsivia 81f.

Reinages 182–184, 188

Ops 81–84

Rhetorikerkammern 184f., 188

Orestes 59, 61–64

Ritual als Ordnungsmoment 32, 34–36, 40, 64f.,

Oschophoria 57

85–90, 93, 104, 116, 124, 126, 129, 131, 169,

Ostern 14, 35, 92, 102, 127, 182, 199f., 236, 272

185–188, 211, 213, 228f., 233, 235, 237, 241, 243, 249f., 256f., 277, 305, 307, 314, 321

Palmsonntag 151

Ritualdeutung (theoretisch)

Parentalia 12, 15

– anthropologisch 11f., 27f., 33f., 36f., 87, 217, 247

Parodie 30, 33, 105, 134f., 146, 167f., 187–189,

– essentialistisch 26f., 31, 43f., 69f., 194

196–198, 203, 209, 213, 216, 262, 284, 300 Pelôria 44, 46–48

– funktionalistisch 31, 33, 41, 69, 72, 87–89, 91, 93

Perchten 270, 274

– historisch-genetisch 29, 41, 72

Performance (von Ritualen) 51, 64f., 70, 98, 116

– idealtypisierend 45, 51f.

Performative Magie 168

– kosmisch-religiös 91, 93

Performativität 51, 58, 69f., 136, 162, 197, 248, 257,

– semantisch-kulturell (symbolisch) 36, 41,

262, 268

69, 88f.

SACHREGISTER

337

Ritualdeutungen der Zeitgenossen (→ native exegesis)

Sabbatianer 308–317, 321 Saturn 15, 17f., 21, 28, 45f., 72–77, 81, 83–85

– als Spiel 224f., 231

Saturnalia (als antikes Fest) 44, 64, 72–81, 85–88, 93,

– anthropologisch 12, 27f.

101, 130

– funktional 12, 20, 23, 87f., 226–229, 233 – historisch-genetisch 12, 15–18, 21, 23–25, 27f., 226f., 229–233, 238f.

Saturnalia (als historische Referenz) 12f., 16–23, 25–30, 37, 146, 218, 226f., 230, 237, 239, 269 Saturnalisch (als ritualtheoretische Kategorie) 14,

– idealtypisierend 25–29

16, 25–29

– konkurrierende R. 15, 17–23, 25, 223–234, 297–300

Saturnisch (als Charakterisierung antiker Feste) 44f.

– phänomenologisch 12, 17f., 20–23, 25, 224–227, 238, 242f.

Schadenszauber 244, 249, 251, 265, 274, 278 Semantik, rituelle 195, 203, 217

– symbolisch 223–226, 229, 233, 243

Sociétés joyeuses 184f., 188

Rituale, Arten von

Sophia 138, 322f., 326f.

– Initiationsritual 72, 91, 100, 151, 224–226, 238

Sozialdisziplinierung 218, 240f.

– Krisenritual 84–87, 91–93

Spiel 31, 90, 92, 129, 133–136, 139, 142, 169, 190,

– R. der Statusveränderung 31, 34f., 40, 59, 62, 80, 92, 130, 168f., 173, 175, 178, 187, 190, 197, 213, 223, 285, 300

196f., 217, 221–224, 229, 231, 233, 248, 262, 264, 287 Spott / Aischrologia 11, 27f., 35, 41, 51, 61, 64–70, 180,

– Rügebräuche 174, 200f., 205

188f., 192, 194, 197–204, 206–208, 212–217, 223,

– Schandritual 105, 124, 127, 194, 202f. – Spottritual 11, 28, 61, 65–70, 194, 197–204, 206–208, 214, 216

225–227, 233, 236f., 241, 243, 262f. Sprachmischung 136, 140–142 Stefanstag 14f.

– Sühneritual 75

Stenia 66

– Übergangsritual / Rites de passage 32, 34f., 47, 86,

Struktur / Anti-Struktur (Turner) 34f., 124, 146,

124, 238, 250, 279, 305f., 308, 315, 320

304–306, 308, 327

– Ventilsitte 27, 33, 87–90, 93, 125, 196

Strukturalismus 65, 95, 99

Rituale, Mehrdeutigkeit von 106, 123, 195

Superbia 192

Ritualkritik 12f., 15–19, 21, 23f., 37, 218

Symbolische Elemente im Ritual 112, 321

Ritualwandel – Appropriation 69, 195

Täuferreich 198–215

– Formalisierung / Inszenierung 67

Territorialisierung 218, 227, 232f., 237, 239–242

– Graezisierung 75f.

Teufel 112, 129, 192, 209, 211, 250–257, 263,

– Humanisierung 70

271–273, 276, 278

– Hyperexplikation 65

Teufelsbuhlschaft 244, 249, 253, 255, 258

– Karnevalisierung 21, 37f., 282–289

Teufelspakt 244, 249, 252, 255, 267

– Mythologisierung 62f., 65

Theater 21, 52, 61f., 90, 165, 180, 185, 196f., 211f.,

– Privatisierung 63f.

231, 283, 285, 302

– Pseudohistorisierung 63

Thomastag / -nacht 158, 267

– Regulierung 76

Totale Institution (Goffman) 104

– Routinisierung 50f., 64

Tripudia 14, 145

Ritus graecus 74

Trunkenheit 46, 52–54, 56, 59, 61f., 64, 78, 87, 92,

Roi de l’Épinette 179–182, 184

135, 137, 142, 174, 177–179, 188, 284, 287f.

Roi de la ville 178f.

338

Historische Zeitschrift //

BAND

60 / 2013

Unschuldige Kinder 15, 109, 145, 151–157, 159, 161f., 166f., 169, 248, 269, 273, 276 Urgicht 253–256

– V. religiöser Normen 104, 146, 223–227, 241, 306, 309–311, 313f., 316f., 319f., 324, 326f. Verkehrung (im übertragenen Sinne) – der Außeralltäglichkeit 56, 59, 61, 77f., 86, 90,

Vanitas 232

304–307, 315

Verkehrte Welt

– einer Codeverletzung 41, 51, 63

– als theoretisches Konzept 11–13, 33, 35–38,

– von Entlastung / Befreiung 27, 33, 84, 86–88, 93,

128–130, 172–175, 180, 185, 188f., 193, 304f.

125, 172f., 175, 187, 281, 302

– als Zeitdiagnose / Weltdeutung 44f., 192, 198,

– von Exzentrizität (Bachtin) 281

200, 204–206, 208–214, 216, 294f. Verkehrung – als anamnetische Praxis 45, 56, 59–63, 85f., 91–93, 111–113, 115f., 119, 121–124, 286, 288–290, 292–296, 302f. – als didaktisches Mittel 35f., 174f. – als magische Praxis 254, 256f., 277 – als Mittel der Polemik 192–194, 198–206, 212f., 217 – als religiöse Praxis 193, 305f., 308–310, 313f., 316f., 321, 324–327

– des Grotesken, Phantastischen 132f., 142f., 286, 300, 302 – von „kreativer Zerstörung“ (Schumpeter) 133, 135, 143 – Mesalliance / Hybridisierung / Familiarisierung (Bachtin), Neuinterpretation 31, 131f., 136–142, 281, 296f., 300– 302 – von Nonsens 136, 210, 212 – von „Profanation“ (Bachtin) 194–197, 202f., 207, 281 Verkehrung, Funktion der

– als soziale Praxis 305f., 308f., 315, 318–320

– Abgrenzung 306, 309f., 314, 321, 324, 327

Verkehrung (im Sinne von Umkehrung oder

– Ermöglichung sozialer Innovation 40, 146, 250

Egalisierung) – Ämtertausch 80, 157, 167, 175, 178, 197

– Eröffnung von Freiheit und Kreativität 132f., 135, 146, 244f.

– Statusumkehr 34f., 157f., 167f., 178f., 190, 227

– Infragestellung 31, 40, 104, 128–130, 133

– V. der Geschlechterrollen 57, 65, 69f., 128f., 255,

– Neudefinition von Geschlechterrollen 311, 314,

257f., 261, 286, 300, 314, 320, 324, 327 – V. der gesellschaftlichen / gemeinschaftlichen Ordnung 33–36, 40f., 60, 85, 92f., 104–106, 110,

320, 322–324, 326f. Verkehrungsritual (als Kategorie) 34, 39f., 43f., 69, 104f., 130, 171, 188, 190, 195–197

116, 121, 124, 126–131, 143, 158, 167, 172–174,

Verkehrungsrituale als Kipp-Phänomen 196f., 213

187–189, 196, 198, 226f., 229, 243f., 248–250, 253,

Vintz-Purim zu Frankfurt 282, 288–290, 292,

255–258, 261f., 269, 277, 281, 297, 304f., 307, 315 – V. der gesellschaftlichen Rolle 34, 44f., 47, 49, 79, 85–87, 90, 147, 197, 304, 308, 324 – V. der Hierarchie 13f., 16–18, 20, 22f., 26, 30f., 33f., 46f., 50, 59, 79, 87, 106, 125, 128, 131f., 172f.,

300–302 (→ Megillat Vintz) Volcanalia 81f. Volkskultur 36f., 130f., 140, 172f., 175, 180, 182, 187f., 194, 207f., 268, 281, 286, 300, 303 Vulcanus 82, 84

190, 193, 250, 256f., 286, 314 – V. der Macht 125f., 172f., 175, 190, 294, 300–302, 313, 326 – V. des sozialen Ranges / Status 27, 34f., 40, 44, 80, 103f., 106f., 115f., 119, 121–125, 157f., 167f., 172, 178f., 190, 197, 305, 314

Wachskönig von Essen 182–184 Wechselbalg 273f. Weihnachten 13f., 16, 19, 27–29, 33, 237, 267, 270, 272 Wilde Jagd 267, 269–274

– V. gesellschaftlicher / gemeinschaftlicher Normen 35, 46, 48, 54, 56f., 65, 87, 93, 128, 131, 146,

Zeus 45f., 63

172f., 175, 197, 226f., 280f., 285–288, 301–304,

Zölibat 200, 322, 324, 326f.

306f., 309, 311, 320, 325–327

SACHREGISTER

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