Vergleich als Herausforderung: Festschrift zum 65. Geburtstag von Günther Heydemann 9783666369698, 9783525369692, 9783647369693


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Vergleich als Herausforderung: Festschrift zum 65. Geburtstag von Günther Heydemann
 9783666369698, 9783525369692, 9783647369693

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© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369692 — ISBN E-Book: 9783647369693

Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung Herausgegeben von Günther Heydemann Band 57

Vandenhoeck & Ruprecht

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Vergleich als Herausforderung Festschrift für Günther Heydemann zum 65. Geburtstag Herausgegeben von Andreas Kötzing, Francesca Weil, Mike Schmeitzner und Jan Erik Schulte

Vandenhoeck & Ruprecht

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-36969-2 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter www.v-r.de. Mit 4 Abbildungen und 2 Grafiken. Umschlagabbildung: In Two Minds. Skulptur von Tony Cragg. Foto: Niels Schabrod © VG Bild-Kunst, Bonn 2014 Grafik S. 8: Ulrich Forchner, Leipzig 2014. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Hannah-Arendt-Institut, Dresden Druck und Bindung: h Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt Jürgen Faulenbach Kapitän und Mannschaftsspieler. Günther Heydemann zum 65. Geburtstag – Essay

9

Horst Möller Der Erste Weltkrieg – „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts

19

Detlev Brunner Vergleich und Transfer – Neuseeland als Sozialstaatsmodell?

31

Detlef Schmiechen-Ackermann Diktaturforschung und Diktaturenvergleich zwischen „Streitgeschichte“ und systematischer Analyse

45

Werner Müller Der doppelte Untergang. Die SPD 1933 im Deutschen Reich und 1946 in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands

59

Oliver Werner Regionale Konstellationen und Mobilisierungsstrategien im „Dritten Reich“ und in der DDR

73

Thomas Schaarschmidt Mobilisierung auf Raten. „Nationalsozialistische Menschenführung“ und die deutsche Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg

87

Gunther Mai Christenkreuz und Hakenkreuz. Die Kirchenbewegung Deutsche Christen in Südthüringen 1933–1937

101

Alfons Kenkmann Leben im Ausnahmezustand. Erosion und Modifikation von Raum- und Zeiterfahrungen im Zweiten Weltkrieg

121

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6

Inhalt

Clemens Vollnhals Ernüchterung, Pragmatismus, Indifferenz. Die deutsche Gesellschaft nach der „Katastrophe“

139

Udo Grashoff Willkür oder Methode? Zur Ahndung kommunistischer Gestapomitarbeit in der SBZ / DDR

159

Stefan Karner Der „französische Spionagering“ in Rostock und die sowjetische Staatssicherheitsakte zu Wilhelm Joachim Gauck

171

Gerald Hacke „… so unpolitisch …“. Der Dresdner Rechtsanwalt Fritz Glaser (1876–1956)

185

Christopher Beckmann Wilhelm Pieck und Konrad Adenauer – zwei deutsche Lebensläufe im 20. Jahrhundert

205

Eckhard Jesse Alltag in der DDR

217

Udo Wengst Das deutsche „Wirtschaftswunder“ im internationalen Vergleich

229

Uwe Backes Extremismus und Totalitarismus im Kalten Krieg. Das östliche und das westliche Deutschland in der Etablierungsphase

239

Michael Lemke Entwicklungstendenzen der ostdeutsch-sowjetischen Beziehungen von 1955 bis1961 und der SED-Plan einer bilateralen Wirtschaftsgemeinschaft

261

Hermann Wentker Gorbatschow in Bonn 1989: Ein historischer Staatsbesuch aus westdeutscher und aus ostdeutscher Sicht

277

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Inhalt

7

Hartmut Zwahr Spiegelungen

301

Heinrich Oberreuter Annus Mirabilis. Mauerfall, Einheit, Europa

317

Everhard Holtmann Teilung statt Einheit. Das „Dismemberment“ als eine Pfadvariante postkommunistischer Staatenbildung in Europa. Vorüberlegungen für ein vergleichendes Forschungsprogramm

329

Autorenverzeichnis

341

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Kapitän und Mannschaftsspieler. Günther Heydemann zum 65. Geburtstag Essay Jürgen Faulenbach

1.

Konsequenter Weg

Auch wenn Günther Heydemann nicht zu den Vielschreibern gehört, die zu allen die Zeitgeschichte betreffenden Fragen Stellung nehmen, ist der Berg, der von ihm geschriebenen oder herausgegebenen Bücher gewaltig. Imaginiert man noch die etlichen hundert Seiten seiner inzwischen auch über einhundert Aufsätze hinzu, so erreicht die Spitze dieses Schriftenberges gleichwohl fast die Sphäre der Unübersichtlichkeit. Aber dennoch ist und bleibt ein thematischer Schwerpunkt seiner Forschungen zu erkennen : „Die DDR - und die vergleichende Diktaturforschung“. Schon in seiner Dissertation beschäftigte er sich mit der SED - Diktatur und ihrer Wissenschafts - und Geschichtspolitik und verglich diese mit der westdeutschen Entwicklung.1 Die von Heydemann bei vielen seiner Arbeiten bevorzugte Methode des historischen Vergleichs, dessen Möglichkeiten und Leistungsfähigkeit er nicht müde wird zu betonen, weitete er in seiner zweiten großen Monographie auf die europäische Ebene aus, indem er nicht nur die deutsche und die italienische Entwicklung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts miteinander verglich, sondern deren Perzeption in Großbritannien und dessen Reaktionen darauf untersuchte. Außerdem hinterfragte er die Auswirkungen der britischen Politik auf die beiden „verspäteten Nationen“,2 Deutschland und Italien, wie auch auf das europäische Staatensystem.3 Neue Forschungsergebnisse zum Vergleich der beiden Diktaturen in Deutschland machte Heydemann zusammen mit einem Team wissenschaftlicher Kolleginnen und Kollegen 2003 einem großen Leserkreis zugänglich. In einem umfas1 2 3

Günther Heydemann, Geschichtswissenschaft in Deutschland. Entwicklungsgeschichte, Organisationsstruktur, Funktionen, Theorie - und Methodenprobleme in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR, Frankfurt a. M. 1980. Helmuth Plessner, Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, Frankfurt a. M. 1974. Günther Heydemann, Konstitution gegen Revolution. Die britische Deutschland - und Italienpolitik 1815–1848, Göttingen 1995.

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Jürgen Faulenbach

senden Sammelband wurden Herrschaft, Strukturen, Institutionen, Erziehung und Bildung unter beiden Diktaturen anhand von Fallbeispielen dargestellt und miteinander verglichen. Auf diese Weise sollen „vertiefte Erkenntnisse über das Wesen und die Funktionsweise von diktatorischen Regimen erzielt werden“.4 Die Herausgeber wollten damit ein analytisches Handwerkszeug erarbeiten, mit dem auch Diktaturen in Gegenwart und Zukunft erkannt und analysiert werden sollen. Noch stärker auf Gegenwart und Zukunft zielen die Untersuchungen zu den Systemtransformationen in der DDR sowie in Mittel - und Osteuropa, die auf einer von Heydemann geleiteten Tagung erörtert und vorgestellt wurden. Durch den Vergleich wurden verschiedene Transformationshindernisse und Transformationspfade herausgearbeitet und die Auswirkungen der unterschiedlichen Diktaturerfahrungen auf das Handeln der Menschen in den einzelnen Staaten und bei der Überwindung der Diktatur beleuchtet. Einfluss auf die Transformationsprozesse hatten dabei auch die sozio - ökonomischen Strukturen in den ehemaligen Ostblockstaaten.5 Drei der hier aufgeführten großen Publikationen von Günther Heydemann – alle auf umfangreichen Forschungsarbeiten basierend – könnten aus dem Aufgabenbereich des Hannah - Arendt - Instituts für Totalitarismusforschung (HAIT) vorweggenommen oder herausgegriffen sein, zu dessen Themenfeldern auch sein umfangreicher Beitrag zur „Geschichte der Universität Leipzig zwischen 1945 und 1961“ gehört – wie auch eine Reihe weiterer Schriften.6 Alle diese Arbeiten haben Günther Heydemann nahezu automatisch – so scheint es – zur Leitung des Hannah - Arendt - Instituts qualifiziert. Kaum ein Historiker seiner Generation hat sich so dem Diktaturvergleich gewidmet wie er. Im Rückblick erscheint es fast so, als sei Heydemanns Karriere geradezu geradlinig auf einen Lehrstuhl für Zeitgeschichte und als Direktor an das HAIT verlaufen. Doch der Eindruck täuscht. Zwar fand Heydemann bei Beginn seines Studiums 1970 in Erlangen mit dem Institut für Gesellschaft und Wissenschaft und seiner umfassenden Bibliothek sehr gute Bedingungen für die Beschäftigung mit der DDR vor, doch gab es auch 15 Jahre später – als er zunächst als wissenschaftlicher Assistent an das Deutsche Historische Institut nach London wechselte – in der Bundesrepublik kaum einen Lehrstuhl für Zeitgeschichte zu besetzen und in der DDR für einen westdeutschen Historiker erst recht nicht. In Heydemanns Fall schaffte jedoch die große Politik durch jähe Wendungen neue Möglichkeiten und Gelegenheiten zur Arbeit. Manchmal verstopfte sie aber auch bis dahin 4 5 6

Günther Heydemann / Heinrich Oberreuter ( Hg.), Diktaturen in Deutschland – Vergleichsaspekte. Strukturen, Institutionen und Verhaltensweisen, Bonn 2003, S. 50. Vgl. Günther Heydemann / Karel Vodička ( Hg.), Vom Ostblock zur EU. Systemtransformation 1990–2012 im Vergleich, Göttingen 2013. Günther Heydemann, Sozialistische Transformation. Die Universität Leipzig vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Mauerbau 1945–1961. In : Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009. Hg. von Ulrich von Hehl, Günther Heydemann, Klaus Fitschen und Fritz König, Band 3 : Das 20. Jahrhundert 1909–2009, Leipzig 2010, S. 335–556.

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Kapitän und Mannschaftsspieler

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bekannte und für sicher gehaltene Wege ( Institute wurden abgewickelt – wie das in Erlangen – neue wurden gegründet, z. B. das HAIT in Dresden ). So kam es trotz intensiven Einsatzes und origineller Beiträge zum wissenschaftlichen Diskurs auch bei Günther Heydemann zu Umwegen und Unterbrechungen – wie etwa zu Arbeitslosigkeit, die schon deshalb als traumatisch empfunden wurde, weil ihr Ende zunächst nicht sichtbar erschien und die Familie wuchs. Langfristiges Planen erwies sich unter solchen Umständen als unmöglich. In gesellschaftswissenschaftlichen, politikrelevanten Fächern wurde und wird vom Personal, insbesondere von Berufsanfängern eher Flexibilität in Bezug auf Arbeitsbedingungen, Arbeitsorte, Arbeitszeit und Arbeitsentgelt als vorausschauende Planung und Entwicklung der eigenen Laufbahn verlangt.

2.

Politische und gesellschaftliche Situation

Günther Heydemann begann seine wissenschaftliche Karriere in einer Zeit zunächst kaum merklicher, dann aber dramatischer Verschlechterung der Ost West - Beziehungen nach einer relativ kurzen, aber scheinbar intensiven Entspannungsphase. Zwar wuchs der Ost - West - Handel zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion deutlich, doch konnte trotz aller Verhandlungen zwischen Ost und West um vertrauenbildende Maßnahmen das Misstrauen zwischen den beiden Blöcken nicht wirklich abgebaut werden, zu sehr war das Denken und Handeln führender Politiker noch vom Kalten Krieg geprägt. Auch die KSZE - Schlussakte von Helsinki konnte keine Rückkehr zur Entspannung bringen, obwohl mit ihr die bestehenden Grenzen in Europa von allen Unterzeichner - Staaten anerkannt wurden, worauf die VR Polen und die DDR seit 30 Jahren gewartet hatten. Doch wurden durch diesen Vertrag oppositionelle und Menschenrechtsgruppen gestärkt, die sich von nun an auf die von ihrer Regierung unterzeichnete KSZE - Akte berufen konnten, wenn sie Freiheitsund Menschenrechte bzw. Ausreisefreiheit forderten. Dies beschleunigte die Destabilisierung der mittel - und osteuropäischen Regime. Gespeist wurde das Misstrauen zwischen Ost und West zusätzlich durch das wachsende militärische Ungleichgewicht in Europa. Bei den konventionellen Streitkräften waren die Truppen des Warschauer Paktes sowohl in Zahl als auch in Bewaffnung klar überlegen. Nachdem man sich in langwierigen Verhandlungen über die Obergrenze von Interkontinentalraketen geeinigt hatte, begannen die Sowjets mit der Dislozierung neuer Mittelstreckenraketen in Europa, deren Zahl sie zügig erhöhten. Im Laufe einer ausführlichen Debatte, die die Gegensätze und Unterschiede zwischen Ost und West betonte und verschärfte, fasste der Westen im Dezember 1979 den sogenannten NATO - Doppelbeschluss, der mit der Stationierung von Mittelstreckenraketen und Marschflugkörpern in den NATO - Staaten Europas drohte, falls die Sowjetunion sich nicht zu Verhandlungen bereitfände, ihre Vorrüstung im Mittelstreckenbereich zu stoppen oder rückgängig zu machen. Mit dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in

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Jürgen Faulenbach

Afghanistan und der Verhängung des Kriegsrechts im um seine Freiheit ringenden Polen im darauffolgenden Jahr, erreichten die Ost - West - Beziehungen Anfang der 1980er Jahre einen nicht mehr für möglich gehaltenen Tiefpunkt. Zumal auch die Raketennachrüstung trotz heftiger Proteste erfolgte. Insbesondere das Ansehen der DDR fiel in der öffentlichen Meinung der Bundesrepublik Deutschland ins Bodenlose.

3.

Maximale Aufgabe

Vor diesem politischen Hintergrund die DDR - Geschichtswissenschaft einer Analyse zu unterziehen und dabei deren Leistungen und das Bemühen um einen gewissen Spielraum gegenüber der SED hervorzuheben, bedurfte schon eines beträchtlichen Mutes, zumal ein solches Vorgehen für eine Wissenschaftskarriere in dieser Zeit nicht sonderlich förderlich erschien. Doch dies war nur ein Teil des Risikos der erwähnten Dissertation über „Geschichtswissenschaft im geteilten Deutschland“. Eine solche Arbeit zur Entwicklung eines wissenschaftlichen Faches, seiner Organisationsstruktur, seiner Theorie - und Methodenprobleme setzt stupende Kenntnisse der Literatur – in diesem Fall auch noch der besonders schwierigen Aufarbeitungsversuche der jüngsten Zeitgeschichte – und einen Überblick über die spezifische, innerfachliche Diskussion voraus. Heydemann wollte die geschichtswissenschaftliche Arbeit in beiden deutschen Staaten miteinander vergleichen und bilanzieren. Eine solch umfassende Aufgaben - und Fragestellung in Zeiten politischer Spannungen und wissenschaftlicher Unsicherheiten einem 26 - jährigen Studenten zu stellen, bzw. zu übernehmen, setzte bei dem Promovierenden ein gehöriges Maß an Selbstbewusstsein voraus und führte beim Doktorvater mit Sicherheit zu Zweifeln und Gewissensbissen. Was die Anfertigung der Arbeit noch zusätzlich erschwerte, war die Krise der gesellschaftlichen Akzeptanz der Geschichtswissenschaften im Vergleich zu den sich sehr schnell bei Politik und Journalisten großer Beliebtheit erfreuenden Sozialwissenschaften, die zum Verständnis von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft scheinbar weit mehr an Zahlen und Erkenntnissen zusammentragen konnten als die Geschichtswissenschaft mit ihren vermeintlich veralteten Fragestellungen und Theorien. In einer Reihe von Bundesländern war der Geschichtsunterricht an Gymnasien damals zugunsten von Gesellschaftskunde eingeschränkt bzw. stark gekürzt worden. Bei ihrer Neuorientierung bedienten sich viele Historiker der Theorien und Methoden der Gesellschaftswissenschaften ( Soziologie, Wirtschaftswissenschaften und Politologie ). Heydemann verortete die westdeutsche Historiographie in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre in „einem Umbruch - und Experimentierstadium, das [...] noch länger andauern wird“.7 7

Heydemann, Geschichtswissenschaft in Deutschland, S. 135.

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Die Bedeutung der Geschichte im Fächerkanon der DDR war in derselben Zeit eher gewachsen. Sie galt – gerade auch bezogen auf die Zeitgeschichte – als Legitimationswissenschaft. Je größer die Erwartungen an ihre Forschungsergebnisse waren, desto enger wurde ihr thematischer und theoretischer Spielraum. Die SED erwartete von den Historikern eine wissenschaftliche Bestätigung, die richtigen Konsequenzen aus der Geschichte gezogen zu haben und auf der richtigen Seite, nämlich der der Sieger der Geschichte zu stehen. Heydemann bezeichnet das Verhältnis von SED und Geschichtswissenschaft als „höchst vielschichtig“,8 was als Zeichen seiner Differenzierungsbereitschaft zu werten ist. Er bescheinigt der SED „eine leistungsfähige Geschichtswissenschaft in der DDR“ installiert zu haben.9 „Die marxistisch - leninistische Geschichtswissenschaft behauptet qua Fachwissen und - kompetenz gegenüber der Partei einen gewissen Eigenwert, an dem die SED [...] nicht einfach vorbeigehen kann.“10 Sie stehe aber „zweifellos unter dem Weisungsdiktat der SED; sie kann jedoch durchaus fachspezifische Interessen und Wünsche vorbringen [...] und somit auf wissenschaftspolitische und innerdisziplinäre Entscheidungen der SED Einfluss nehmen. Dieser Einfluss darf sicher nicht überschätzt [...] werden“.11 Bei der Durchsicht der Arbeit mehr als 30 Jahre nach ihrer Veröffentlichung fällt wiederum auf, dass dieser nahezu tollkühne Versuch, die geschichtswissenschaftliche Entwicklung bzw. für die wissenschaftliche Entwicklung typische Geschichtsdebatten kritisch zu analysieren und miteinander zu vergleichen, übersichtlich und klar gelungen ist. Obwohl Aspekte des Vergleichs nicht nur im dafür vorgesehenen dritten Teil der Arbeit dargestellt werden, sondern das gesamte Buch durchziehen, leidet darunter weder die Übersichtlichkeit noch die Verständlichkeit von Heydemanns Ausführungen. Zudem wird in Heydemanns Darstellung deutlich, dass die Geschichtswissenschaft und die Freiheit der Forschenden und Lehrenden ein Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR ist. Letzte Entscheidungsinstanz für alle Fragen und Probleme war und blieb die SED. Trotz und wegen der Legitimationskrise der Geschichtswissenschaft und der „Unterbewertung des Geschichtsunterrichts in einzelnen Bundesländern zu Beginn der 70er Jahre“12 forderte Günther Heydemann „alle an der Geschichte ,Beteiligten‘ [ auf ], sich als Mitglieder eines Interessenverbandes zu verstehen“,13 weil sich Geschichtswissenschaft anders nicht „in einer demokratisch - pluralistischen Gesellschaft“ behaupten könne.14 In diesem Zusammenhang wurde auch die von ihm ansonsten immer wieder positiv hervorgehobene Vielfalt der 8 9 10 11 12 13 14

Ebd., S. 187. Ebd., S. 171. Ebd., S. 171. Ebd., S. 187. Ebd., S. 41. Ebd., S. 42. Ebd., S. 41.

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Jürgen Faulenbach

Geschichtswissenschaft in der Bundesrepublik auch kritisch gesehen, da ihre Organisation in Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen den Eindruck mache, als ob es ihr an Koordination und Kooperation fehle, was sich im Kampf um die knappen Mittel bei Stellen - und Projektkürzungen niederschlage. Auch wenn in den letzten Jahrzehnten die Geschichtswissenschaft ihre Legitimationskrise deutlich überwunden hat und das historische Interesse in Deutschland sich in immer neuen Besucherrekorden bei historischen Ausstellungen ebenso niederschlägt wie bei historischen Filmen und Fernsehspielen, werden längst nicht alle ins Auge gefassten Projekte gefördert und nicht alle beantragten Stellen genehmigt. Im Gegenteil ! Auch Heydemann konnte längst nicht alle erdachten Projekte realisieren, trotz eigenem Lehrstuhl und Direktorentätigkeit am HAIT. Dazu sprudeln die Ideen zu reichlich und die Mittel zu spärlich ( nicht nur in Sachsen, sondern in der gesamten Bundesrepublik ). Um so wichtiger ist sein fortdauernder Einsatz für Nachwuchshistoriker, Institut und Mittel. So wie er in der frühen Zeit sich notfalls mit seinen Lehrern anlegte, wenn es bei Dissertation und Habilitation um Thema und Methoden ging, so setzt er sich heute mit den Wissenschaftsgewaltigen oder Fördereinrichtungen auseinander. Mit voller Überzeugung konnte er deshalb nach Übernahme der Leitung des Hannah - Arendt - Instituts mit den zu erwartenden Streitigkeiten in einem Interview mit der Wochenzeitung „Die ZEIT“ sagen : „De leeve Jung bin isch nit.“ Zeitgeschichte sei nun einmal Streitgeschichte, darin habe er Übung.15

4.

„I did it my way – myself“

Wie viele Politiker, Wissenschaftler und Künstler entstammt Günther Heydemann einem evangelischen Pfarrhaus, einer pädagogischen Sonderprovinz von kaum zu überschätzender kultureller Wirkung in der deutschen Geschichte seit der Reformation. Zur Bedeutung des evangelischen Pfarrhauses selbst für die DDR wie auch für ihre Überwindung hat Heydemann knapp im Katalog zur Sonderausstellung „Leben nach Luther. Eine Kulturgeschichte des evangelischen Pfarrhauses“ Stellung genommen.16 Pfarrerssohn Friedrich Dürrenmatt hat das evangelische Pfarrhaus einst als „Zuchtstätte für Rebellen“17 bezeichnet mit der Begründung : „Man wird ja sehr schnell mit einer unabweisbaren, nur zu glaubenden Welt konfrontiert.“18 Nun 15 Günther Heydemann, „Mich kann nichts mehr erschüttern“. Interview mit Günther Heydemann. In : Die Zeit vom 28. 11. 2004. 16 Günther Heydemann, Pfarrer, Pfarrfamilien, Pfarrhäuser in der SBZ / DDR. In : Leben nach Luther. Eine Kulturgeschichte des evangelischen Pfarrhauses. Buch zur Ausstellung. Hg. vom Deutschen Historischen Museum Berlin, Bönen 2013, S. 185–190. 17 Zit. nach Peter Rüedi, Dürrenmatt oder die Ahnung vom Ganzen. Biographie, Zürich 2011, S. 68. 18 Ebd.

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Kapitän und Mannschaftsspieler

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ist aus Günther Heydemann sicher kein Rebell geworden, aber eine Tendenz zur Überanpassung kann man ihm auch nicht vorwerfen. Bewirkt wurde dies auch durch den Freiraum, den die Eltern ihrem „Nachzügler“ ( die beiden Schwestern sind acht und neun Jahre älter ) zugestanden haben und der von ihm auch weitlich genutzt wurde. Zumal die Gegend um seinen Geburtsort Burghausen, der Kleinstadt in Bayern mit der größten deutschen Burganlage, viele Möglichkeiten für das phantasievolle Spiel eines angehenden Historikers bot. Er soll ein wildes und wagemutiges Kind gewesen sein, das häufig auch allein unterwegs war und früh auf Laternen, Bäume und Berge stieg, sich immer wieder in Mutproben bewies und der Natur sehr verbunden war. Noch heute wandert er gerne tagelang durch die Alpen, meist ganz allein auf sich gestellt. Typisch dafür ist eine dieser Tage zufällig wieder aufgefundene Ansichtskarte an den Freund, die die Watzmanngruppe (2 713 Meter ) zeigt und ohne Anrede voller Begeisterung beginnt : „I did it my way – myself. Habe am 6. 9. den Watzmann erstiegen – erst bei Regen, dann bei traumhafter Sonne – grandios!“ Ein wenig nach dem Motto : „Allein gegen die Alpen !“ So oder so ähnlich muss man sich wohl auch zumindest sein frühes wissenschaftliches Arbeiten vorstellen. Hier nach dem Motto : „Allein – aber mit neuen Instrumenten ( Methode : Vergleich ) gegen die Aktenberge“. Komplizierte und verschlungene Fragestellungen ins Auge fassen, denen von vornherein ein historischer Vergleich innewohnt, der durch Kontrast und Ähnlichkeit, Parallelisierung und Unterscheidung zur Erklärung der Probleme mehrerer Ereignisse, Vorgänge oder Phänomene dienen sollte, allerdings auch die doppelten Kenntnisse und Forschungsarbeiten voraussetzt; viel wagen, hineinknien in die Akten und immer wieder auch zwischendurch fragen, wie passen die Dinge zusammen, wie kann ich das darstellen, in welche Struktur kann ich das fassen. Das Ganze in nicht zu abstrakter Sprache wiederzugeben, ist dann nicht mehr so problematisch für ihn. Ob er nach endgültiger Fertigstellung eines Textes jeweils auch ein „Grandios !“ ausstößt oder zumindest vor sich hinmurmelt, ist und bleibt ein Geheimnis seiner Manufaktur.

5.

Historischer Vergleich

Die Bedeutung und die Erkenntnismöglichkeiten des Vergleichs für das geschichtswissenschaftliche Arbeiten sind von Günther Heydemann immer wieder hervorgehoben, hinterfragt und erörtert worden : So z. B. – zusammen mit Detlef Schmiechen - Ackermann – in der ausführlichen Einführung „Zur Theorie und Methodologie vergleichender Diktaturforschung“, in dem bereits erwähnten Band, „Diktaturen in Deutschland – Vergleichsaspekte“.19

19 Heydemann / Oberreuter ( Hg.), Diktaturen in Deutschland, Vergleichsaspekte, S. 9–54.

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Jürgen Faulenbach

Dabei gehen beide Autoren paradoxerweise von einer jedem Historiker zunächst einmal einsichtigen Feststellung aus : „Jeder historische Vergleich ist umstritten oder zumindest fragwürdig. In der Tat sind geschichtliche Entwicklungen und Konstellationen letztlich individuell, unwiederholbar und damit einmalig. Zweifellos ist diese im Historismus des 19. Jahrhunderts entstandene Erkenntnis durchaus zutreffend.“20 Sogleich wenden sie sich jedoch gegen diese Auffassung : „Ein so puristisch verstandener historischer Individualitätsbegriff müsste zwangsläufig auch jeden geschichtswissenschaftlichen Vergleich blockieren.“21 Dessen Leistungsfähigkeit und Erkenntnisförderung beschreiben die beiden Autoren dann auf den folgenden 40 Seiten ausführlich anhand des von ihnen weiterentwickelten Diktaturvergleichs. Durch das Ineinandergreifen von ganzheitlichem, integralem Makrovergleich und sektoralem Mikrovergleich einzelner Strukturen und Mechanismen konnten einzelne Segmente und Elemente von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, des Verhaltens von Institutionen oder einzelnen Berufsgruppen sehr genau untersucht und konturiert werden. Im Band arbeitet ein großes Autorenteam Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Hindernisse und Spielräume bei der Herrschaftseroberung und - ausübung von SED und NSDAP heraus. Die Themen der Beiträge und ihre Darstellungen sind konkret und klar, so dass sie sich auch für die politische Bildung hervorragend eignen, deren Debatten um den „Totalitarismus - Begriff“ zu dieser Zeit im Austausch nahezu stereotyper Formeln zu erstarren drohten. Die einzelnen Fallbeispiele können auch von Laien ohne umfassende Vorkenntnisse über die beiden Diktaturen in Deutschland verstanden und nachvollzogen werden. Gemeinsamkeiten und Unterschiede treten dem Lesenden unmittelbar bildhaft vor Augen; zugleich wird deutlich, wie weit sich Charakter und Herrschaft der Diktaturen bis in kleinste Verästelungen der Gesellschaft vorgearbeitet hatten. Diese Art der Vermittlung entspricht Günther Heydemanns Intentionen, der gerne auch mal weit über die Universität hinaus den politisch - historischen Aufklärer gibt. Dies insbesondere dort, wo noch alte Eliten an überkommenen Diktaturbildern und romantischen Verklärungen des Alltagslebens festhalten und sich als Zeitzeugen gegen neuere Forschungsergebnisse zur Wehr setzen. An solchen Veranstaltungen nimmt Günther Heydemann immer wieder teil – absehbare Debatten und Auseinandersetzungen nicht fürchtend – nach dem protestantischen Motto : „Es gilt ein frei Geständnis in dieser unsrer Zeit, ein offenes Bekenntnis bei allem Widerstreit.“22 Wichtiger ist ihm bei solchen Vorträgen und Debatten, diejenigen über Entwicklung und Charakter von Diktaturen zu informieren, die bislang wenig Gelegenheit dazu hatten. Bei Veranstaltungen dieser Art scheint er als „Einzelkämpfer“ weitgehend auf die eigene Kraft, auf die eigene Überzeugungsfähigkeit zu vertrauen.

20 Ebd., S. 9. 21 Ebd. 22 Karl Johann Philipp Spitta : „O komm, du Geist der Wahrheit“, Evangelisches Gesangbuch für Rheinland und Westfalen, Dortmund 1961, S. 84.

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Kapitän und Mannschaftsspieler

6.

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Der Teamplayer

Doch das Bild des „Einzelkämpfers“ als der ein Wissenschaftler erscheint oder sich stilisiert, trifft auf Heydemann sicher heute nicht mehr zu. Er hat die Vorteile gemeinsamen Agierens von Gruppen oder Teams längst erkannt, ohne sich gleich der Ideologie von der Überlegenheit der Schwarmintelligenz zu unterwerfen. Auch die erfolgreichen wissenschaftlichen Projekte zu den Diktaturen in Deutschland und zu den Transformationsprozessen in Mittel - und Osteuropa machen deutlich, dass umfassende historische Vergleiche fast nur noch von Wissenschaftlerteams vorgenommen werden können. Die Leistungs - und Integrationsfähigkeiten von Teams kannte Günther Heydemann selbstverständlich auch schon vorher von einer seiner Leidenschaften, dem Fußballspiel. Heute tritt er dabei wie in der Politik nicht als Praktiker – d. h. als Spieler –, sondern als Zuschauer auf. Er ist aber kein neutraler Beobachter, der mit Netzer’scher Kühle die Spiele analysiert, sondern ein mitfühlender Anhänger, der für „seinen“ Verein Partei ergreift. Wie viele andere kleine Jungen im Fränkischen hängte er sein Herz früh an das Schicksal des bekanntesten Vereins in der nächsten Umgebung : der 1. FC Nürnberg. Der „Club“ bereitet ihm bis heute immer wieder Enttäuschung und Schmerz mit den üblichen Ergebnissen, die dann jeweils verarbeitet werden müssen. Er braucht dann schon mal einen Tag des teilnehmenden Nachvollzuges der letzten Niederlage im Vergleich zur vorletzten, den er kurz unter dem häufig als Entschuldigung verwandten Fußballerslogan zusammenfassen kann : „Erst hatten wir kein Glück, dann kam auch noch Pech dazu.“23 Die großen Erfolge des 1. FC Nürnberg wieder ins Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit zu heben, scheint inzwischen eine Aufgabe der Zeitgeschichte zu sein. Es werden noch einige wenige Zeitzeugen – außer Günther Heydemann – herumlaufen, die sich an die letzte deutsche Meisterschaft des „Clubs“ zu erinnern glauben. Aber die vorletzte ... ? Da bedarf es des Rückgriffs auf schriftliche Quellen. Inzwischen ist Heydemann vollends zum Mannschaftsspieler geworden – allerdings als Kapitän. Häufig tritt er in Mannschaftsstärke an : Sei es privat, wo er schon immer auf die nötige Unterstützung seiner starken Frauen ( Ehefrau plus zwei Töchter ) bauen konnte und ihm die nächste Generation inzwischen einen kleinen Jungen zur Verstärkung der Mannschaft beschafft hat; sei es in der Wissenschaft, wo der Kapitän in Kooperation mit der gesamten Besatzung das schlingernde Institutsschiff auf Kurs gebracht hat und nach neuen Projekten greift. Hierbei musste selbstverständlich – um im Bild zu bleiben – auch die „Reederei“ bzw. der Institutsträger, das Land Sachsen, mitspielen. Um den Kurs

23 Quelle : Vermutlich Volksmund. Bei Wikipedia wird der Bundesligaprofi Jürgen Wegmann als Urheber genannt, der zwischen 1985 und 1992 203 Bundesligaspiele für Dortmund, Schalke und Bayern München absolvierte.

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Jürgen Faulenbach

zu halten und zu sichern, muss Heydemann sich dauerhaft mit der Wissenschaftspolitik beschäftigen und auseinandersetzen.

7.

Zukunftsplanungen ?

Doch Günther Heydemann wird wohl kaum aus diesen Beschäftigungen heraus zukünftig für sich eine aktive Rolle in der Politik sehen; dafür schreibt und liest er allzu gerne – nicht nur historische Fachbücher. Der Germanist und Romanist in ihm beschäftigt sich auch gerne mit schöngeistiger Literatur, vor allem Berichte von Reiseabenteuern liest er mit großer Freude. Und wenn dann noch Zeit bleibt – d. h. wenn „alle“ Instituts - und Forschungsprobleme „gelöst“ oder zumindest bearbeitet worden sind, wenn es der Familie gut geht, wenn im Hause alles repariert und der heimische Gartenpark teilgerodet und beschnitten sowie die Wanderungen durch das Alpenland vorangetrieben sind – was erwartet ihn dann ? Womit wird er zukünftig seine Zeit füllen ? Auf jeden Fall wird er weiter schreiben : die eine oder andere historische Analyse. Der Publikationenberg wird wachsen. Vielleicht gelingt ihm auch ein historischer Roman und damit die Realisierung eines Jugendtraumes. Was reizt ihn, den strengen Historiker, an diesem Vorhaben ? Vielleicht einmal schreiben zu können, ohne auf ein hemmendes Faktenkorsett Rücksicht nehmen zu müssen oder dem Motto freien Lauf zu lassen : „Was wäre wenn ?“ Wohl kaum wird Günther Heydemann von der Frage umgetrieben, die jüngst Adam Krzeminski ( allerdings bezogen auf das polnische Geschichtsbewusstsein ) in der Süddeutschen Zeitung aufwarf und sogleich beantwortete : „Was tun, wenn einem die eigene Geschichte nicht passt? Man dichtet sich eine neue.“24 Umberto Eco wurde 1984 nach dem Welterfolg seines historischen Romans: „Der Name der Rose“ gefragt, warum er seine dem Typus des Kriminalromans entsprechende Geschichte im späten Mittelalter angesiedelt habe. Darauf antwortete der Autor sinngemäß, weil er sich einzig in dieser Zeit wirklich auskenne. Vielleicht werden wir eines Tages diskutieren, für welche Zeit Günther Heydemann welche Geschichte warum erfunden und niedergeschrieben hat. Vielleicht sind es dann auch mehrere Geschichten aus verschiedenen Zeiten, die im Vergleich erzählt werden.

24 Adam Krzeminski, Ein großpolnisches Europa. In : SZ vom 13. 2. 2014.

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Der Erste Weltkrieg – „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts Horst Möller

1.

Ursachen und Verantwortungen

Der Erste Weltkrieg bildet die „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts, wie der amerikanische Historiker und Diplomat George F. Kennan zutreffend bemerkt hat. Die folgenden Jahrzehnte, Krisen und Scheitern der Demokratien, Aufstieg der Diktaturen, schließlich der Zweite Weltkrieg als grauenhaftester aller Kriege sind ohne den Ersten Weltkrieg nicht erklärbar. Insofern ist es tatsächlich eine Schlüsselfrage, wer für diese „Urkatastrophe“, die nach unterschiedlicher Schätzung 10 bis 15 Mio. Menschen das Leben kostete und größte materielle Schäden anrichtete, verantwortlich war. Die Siegermächte von 1918 schienen es genau zu wissen : Als der Große Krieg zu Ende war und die Sieger dem unterlegenen Deutschland 1919 in Versailles einen Friedensvertrag aufzwangen, den Deutschland nur deshalb akzeptierte, weil es keine Alternative hatte, erklärten sie im Artikel 231 des Friedensvertrags die Kriegsschuld Deutschlands und seiner Alliierten. Der Aufschrei in Deutschland war groß, nahm doch die Mehrheit der Bevölkerung an, man habe einen gerechten, einen Verteidigungskrieg geführt. Die Belastung für die eben erst eingeführte Demokratie in Deutschland war enorm, weil zumindest die Nationalisten der neuen demokratischen Republik und nicht dem untergegangenen Kaiserreich die Verantwortung zuschoben. Waren die Deutschen also allein schuldig oder waren sie unschuldig ? Weder noch ! Hätte das Deutsche Reich im Falle eines Sieges die Besiegten besser behandelt ? Keineswegs, hatte es doch – wie die meisten am Krieg beteiligten Großmächte – seit Beginn des Krieges weitgehende, auch territoriale Kriegsziele entwickelt, die nicht harmloser waren als die Bestimmungen der Vertrags von Versailles. Und schließlich : Wollten die Staatsmänner in Versailles den Historikern die Arbeit abnehmen, als sie die Kriegsschuld Deutschlands feststellten, wollten sie als moralische Richter auftreten ? Weder das eine noch das andere ! Tatsächlich ging es vor allem um eine völkerrechtliche Legitimierung von Reparationsforderungen. Dies war verständlich und berechtigt, weil der Krieg außerhalb deutscher Grenzen geführt worden war und insbesondere in Frankreich, aber auch Belgien, schwerste materielle Schäden verursacht hatte.

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Nicht allein die Staaten, die nach 1918 diplomatische Aktensammlungen veröffentlichten, nicht allein die Bevölkerung, die wie die Politiker nach „Revision“ des Vertrags von Versailles rief, sondern auch die Historiker hat die Frage nach der Kriegsschuld 1914 bis heute in Atem gehalten. Seit 1918 haben sich die Interpretationen über die Verantwortung für den Kriegsausbruch 1914 mehrfach verändert. Sahen sich die Deutschen, einschließlich der Historiker, ursprünglich als unschuldig an, tendierten sie seit den 1960er Jahren zunehmend dazu, sich die Hauptschuld am Ersten Weltkrieg zuzuschreiben. Als das Buch des Hamburger Historikers Fritz Fischer „Griff nach der Weltmacht“ 1961 erschien, löste es heftige Kontroversen aus, doch setzte sich seine allein auf die deutsche Politik konzentrierte Betonung der deutschen Verantwortung immer stärker durch. Das grundlegende Werk von George - Henri Soutou „L’or et le sang“ (1985) analysierte hingegen auf breiter internationaler Quellenbasis „les buts de guerre économiques“ der kriegführenden Staaten und erweiterte so die nationale Perspektive. Heute hat unter anderem die angelsächsische Forschung zu einem immer differenzierteren Bild des Ersten Weltkriegs beigetragen. Dabei stellte sich heraus, dass die Ursachen des Ersten Weltkriegs äußerst kompliziert ineinander verschränkt sind und eine eindeutige Antwort nach Schuld und Unschuld – anders als beim Zweiten Weltkrieg, bei dem die deutsche Verantwortung keinem Zweifel unterliegt – problematisch ist. Das Ursachengeflecht des Ersten Weltkriegs hat mehrere entscheidende Dimensionen : erstens die bis ins späte 19. Jahrhundert zurückgehende Vorgeschichte, zu der Imperialismus und Kolonialismus gehörten; zweitens die komplizierten europäischen Bündnissysteme; drittens die Handlungsspielräume der europäischen Mächte, darunter des Deutschen Reiches, in der Julikrise 1914; viertens die Kriegsziele, die 1914 zumindest die Kriegsbereitschaft in einigen Staaten, darunter Deutschland, verstärkten; fünftens die militärische Strategie, die seit Ende Juli 1914 in Russland und Deutschland zu einem Primat des Militärs über die Politik führte; sechstens die wachsende Erwartung in Europa, es werde unweigerlich zum Krieg kommen, die Frage sei nur, wann; siebtens spielte die durch nationalistische Propaganda aufgepeitschte öffentliche Meinung eine wachsende Rolle, die im Gegensatz zur klassischen „Kabinettspolitik“ rationalen Kalküls stand; achtens war die internationale Konstellation bis zum Kriegsbeginn außerordentlich fluid, d. h. für kurzfristige Veränderungen offen, und schließlich neuntens dürfen die Selbsteinschätzungen der eigenen Stellung in der internationalen Szenerie durch die beteiligten Mächte nicht unterschätzt werden, sie gehören wesentlich zu den heute sogenannten „Narrativen“. Um Beispiele zu nennen : Wie entscheidend waren in Österreich - Ungarn die Endzeiterwartung und die als Dekadenz empfundene Atmosphäre eines Vielvölkerstaates, der sich durch den Nationalismus unterschiedlicher Nationalitäten innerhalb der eigenen Grenzen bedroht sah ? War in Frankreich die Demütigung der Niederlage von 1870/71 mit den Reparationen und dem territorialen Verlust des Elsass und Teile Lothringens 1914 noch virulent ? Für jeden Krieg führenden Staat und seine Gesellschaft

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Der Erste Weltkrieg – „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts

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gewannen solche sozialkulturellen Komponenten Bedeutung und gingen in die historiographischen Narrative ein. An den Krisen des europäischen Staatensystems mit ihren außereuropäischen Dimensionen war das Deutsche Reich, eine vergleichsweise kleine Kolonialmacht, die sich zu kurz gekommen fühlte, zwar immer wieder beteiligt, doch kaum mehr als andere europäische Großmächte : Sie alle betrieben mehr oder weniger eine nationalistische und imperialistische Politik. Bei den Balkankriegen 1912/1913, an denen keine der europäischen Großmächte direkt beteiligt war, aber sowohl österreichisch - ungarische als auch russische Interessen tangiert wurden, gelang es sogar deutsch - britischem Krisenmanagement, die Ausweitung zu einem europäischen Krieg zu verhindern bzw. ihn zu beenden. Die vielen Krisen der Vorkriegszeit ließen in einer Reihe von Staaten die Einschätzung entstehen, der Krieg sei unvermeidlich und es komme aus nationalen Interessen darauf an, den richtigen Zeitpunkt zu wählen. Krieg galt damals gemäß einer missverstandenen Sentenz des großen Kriegstheoretikers Carl von Clausewitz grundsätzlich als Mittel der Politik. Die deutsche Politik war schon Jahre vor dem Krieg einerseits durch Angst vor der Einkreisung geleitet, andererseits aber von der Anmaßung einer hegemonialen Stellung. Da Deutschland nur in der österreichisch - ungarischen Doppelmonarchie einen sicheren Verbündeten besaß, ergab sich aus diesem Zweibund eine enge Bindung. Sie war deshalb gefährlich, weil Österreich - Ungarn auf dem Balkan engagiert war und sein dortiger Gegner Serbien auf die russische Schutzmacht setzte. Russland hatte schon 1892 mit Frankreich eine Militärkonvention geschlossen, seit 1904 befand sich Frankreich mit Großbritannien in einer Entente cordiale, die später ausgebaut und durch Hinzutritt Russlands 1907 zu Triple - Allianz wurde. Alle fünf europäischen Großmächte waren also in eine verhängnisvolle Logik der Bündnissysteme eingebunden. Aus der Mittellage Deutschlands zwischen dem potentiell gegnerischen Bündnissystem resultierte die Einkreisungsangst und eine Strategie, die diese durchbrechen wollte, in dem sie im Falle eines Krieges einen Präventivschlag gegen Frankreich in Form des über Belgien geführten „Sichelschnitts“ entwickelte. Alle Ursachen bündelten sich, als es 1914 zur Julikrise kam. Am 28. Juni ermordeten serbische Nationalisten in Sarajewo den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gemahlin. In der anschließenden diplomatischen Verschärfung akzeptierte Serbien zwar weitestgehend ein eigentlich unannehmbares Ultimatum, doch Österreich - Ungarn erklärte am 28. Juli Serbien den Krieg. Dessen Schutzmacht Russland hatte schon am 26. Juli mit der militärischen Mobilmachung begonnen, die sich nicht nur gegen Österreich, sondern auch gegen Deutschland richtete und am 30. Juli zur Generalmobilmachung wurde. Das deutsche Ultimatum zur sofortigen Rückgängigmachung beachtete Russland nicht. Die deutsche Anfrage an Frankreich, ob es im Falle eines russisch - deutschen Krieges neutral bleiben wolle, beantwortete die französische Regierung lakonisch : Frankreich werde das tun, was seine Interessen geböten.

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Hier nun beginnt der Handlungsspielraum der beteiligten Regierungen und damit ihre Verantwortung für den Kriegsausbruch : Deutschland hatte zwar den Krieg nicht unbedingt gewollt, schon gar keinen großen europäischen Krieg, hat ihn aber von Anfang an in Kauf genommen, um eigene Ziele zu erreichen. Die deutsche Regierung hätte auf Österreich - Ungarn Druck ausüben müssen, um die Balkankrise zu entschärfen und die österreichische Kriegserklärung an Serbien zu verhindern. Reichkanzler Bethmann Hollweg wollte durch eine diplomatische Offensive die Einkreisung sprengen und nahm im Falle des Misslingens das Risiko eines Krieges bewusst in Kauf. Hierin liegt die durchaus große deutsche Verantwortung für den Kriegsausbruch. Sie wurde verschärft durch die Verletzung der belgischen Neutralität und den verhängnisvollen Schlieffen - Plan, der den Angriff auf Frankreich als Präventivschlag vorsah, ohne abzuwarten, ob denn ein französischer Angriff tatsächlich erfolgen würde und ohne weiterhin auf eine Lokalisierung des Balkankrieges zu setzen. Nach der russischen und französischen Reaktion begann Deutschland am 1. August die Generalmobilmachung und erklärte zugleich Russland, und am 3. August dessen Bündnispartner Frankreich, den Krieg. Nach dem deutschen Einmarsch ins neutrale Belgien am 4. August erklärte seinerseits Großbritannien den Krieg an Deutschland. Ohne jeden Zweifel haben Österreich - Ungarn und Deutschland eine erhebliche Mitschuld am Kriegsausbruch. Dies gilt ebenso für das zaristische Russland : Eine Generalmobilmachung bedeutet tatsächlich Krieg, sie bringt die Stunde der Militärs anstelle der Diplomaten und Politiker. Aber sowenig das Deutsche Reich auf seinen Bündnispartner Österreich - Ungarn mäßigend eingewirkt hat, sowenig hat dies Frankreich mit Russland getan. Zu diesem Zeitpunkt stand von den fünf europäischen Großmächten zunächst nur Großbritannien abseits. Tatsächlich haben Staatsmänner ihre – allerdings engen – Handlungsspielräume nicht genutzt, weil sie das Risiko eines – wie die meisten 1914 fälschlich annahmen – begrenzten Krieges als politische Option einkalkulierten und damit die militärische Dynamik völlig verkannten. Doch ging es nicht allein um die „Torheit der Regierenden“ ( Barbara Tuchman ), sondern auch die der Regierten, die massenhaft in eine nationalistische Kriegsbegeisterung taumelten. Von dieser Kriegsbegeisterung wurden nicht allein in Deutschland auch Gelehrte, Schriftsteller, Intellektuelle, Künstler ergriffen : Krieg galt als „inneres Erlebnis“, als ethische Bewährung, als „Reinigung“ einer selbstgenügsamen Zivilisation. Wie stets gab es auch damals in den europäischen Gesellschaften und Kulturen Gegenstimmen, doch waren sie weniger zahlreich und weniger lautstark. Die „Ideen von 1914“ dominierten, die hohe Zahl der Kriegsfreiwilligen demonstriert diese zeitgenössische Mentalität. Wie sehr die Großmächte den Krieg schon Jahre vor 1914 als wahrscheinlich ansahen, zeigen die Militärausgaben, die 1913/14 bei allen Großmächten sprunghaft anstiegen, Deutschland begab sich aufgrund des Tirpitz - Plans zu allem Überfluss in eine Flottenrivalität mit Großbritannien, die angesichts der britischen Überlegenheit als Seemacht ohnehin aussichtslos war. Seit der Jahr-

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Der Erste Weltkrieg – „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts

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hundertwende verstärkten die Großmächte bereits ihre Heere, der Einfluss des Militärs auf die Politik stieg gerade auch in Deutschland : Im Ersten Weltkrieg spricht man zutreffend von einer „Diktatur der Obersten Heeresleitung“. Die Welt ist also nicht bloß in den Weltkrieg „geschlittert“, wie der damalige britische Premierminister David Lloyd George meinte; vielmehr entstand der Krieg auf Grundlage langfristiger Entwicklungen durch eine kurzfristige Eskalation fataler politischer und militärischer Entscheidungen, darunter auch wesentlicher deutscher : Die „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts wäre vermeidbar gewesen. Und doch war die Einschätzung von Lloyd George nicht völlig falsch, wie eine der neuesten Darstellungen zu den Ursachen des Weltkriegs zeigt, die sein Autor Christopher Clark unter dem bezeichnenden Titel „Die Schlafwandler“ gestellt hat : Tatsächlich hat keiner der verantwortlichen Staatsmänner und Militärs eine realistische Einschätzung dieses Krieges gehabt. Schon die fatalistische Erwartung, es werde ohnehin zum Krieg kommen, lähmte die durchaus möglichen Friedensbemühungen. Die Fehleinschätzung, es werde nur ein kurzer – ein europäischer – Krieg sein, der kurzfristig Chancen bot, die eigenen nationalen Interessen und Kriegsziele zu erreichen, wirkte ebenfalls verhängnisvoll. Überraschend sind diese Fehleinschätzungen schon deshalb, weil die Nationalisierung der Massen, der Aufwand an Propaganda, die extreme Hochrüstung, die Mobilisierung von Massenheeren bis dahin nicht gekannten Ausmaßes eine Dynamik in Gang setzte, die nach Kriegsbeginn nur durch totale politische Kehrtwendungen hätte abgebremst werden können. Doch was bis Ende Juli 1914 noch möglich war, wurde seit dem 1. August nahezu aussichtslos, zumal es sich um einen völlig neuartigen Krieg und keinen diplomatisch zu beendenden Kabinettskrieg mehr handelte.

2.

Was war das Besondere am Ersten Weltkrieg ?

Dass der Erste Weltkrieg zur „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts werden konnte, lag an seiner spezifischen Modernität, die ihn von allen vorherigen Kriegen unterschied und zugleich eine fatale Ausgangsbasis für den Zweiten Weltkrieg wurde. Es ist nicht möglich, alle Elemente aufzuführen, die den Ersten Weltkrieg charakterisierten. Deshalb werden an dieser Stelle nur einige Stichworte aufgelistet : 1. der Krieg war tatsächlich ein Weltkrieg, das galt auch schon für die Anfangsjahre, weil unter den Krieg führenden Mächten große Kolonialstaaten waren, hinzu kamen 1915 der Kriegseintritt des mit Großbritannien verbündeten Japan – das dem Deutschen Reich schon am 23. August 1914 den Krieg erklärt hatte – und dessen Einmarsch in Schantung, schließlich 1918–1922 das japanische Eingreifen in Sibirien gegen das bolschewistische Sowjetrussland, v. a. aber der Kriegseintritt der USA 1917;

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2. die bis 1914 erfolgende Hochrüstung, die sich nach Kriegsbeginn fortsetzte, ist ohne vorheriges historisches Beispiel : Im Vorkriegsjahr 1913/14 stiegen die Militärbudgets aller europäischen Großmächte beträchtlich, in Großbritannien von 291,8 auf 385, in Frankreich von 243,7 auf 277,2, in Deutschland von 290,5 auf 352,7 Mio. Dollar. Die Steigerungsrate lag also zwischen 13 und 35 Prozent, am höchsten fiel sie in Großbritannien aus. Schon seit der Jahrhundertwende hatten die Großmächte die Einberufung der Rekruten verstärkt : Russland zog jährlich 335 000, Deutschland 280 000, Frankreich 250 000 Rekruten ein – in mehreren Staaten wurden die Dienstzeiten verlängert bzw. alte Regelungen wieder in Kraft gesetzt, in Frankreich etwa der dreijährige Militärdienst. Das Deutsche Reich beschloss 1913, seine Streitkräfte auf 820 000 Mann zu verstärken. In der Konsequenz drohte sich das in Europa seit 1900 ständig wachsende Militärpotential zu verselbstständigen, diese Entwicklung zählte ebenso zu den Kriegsursachen wie sie den späteren Charakter des Krieges prägte : Niemand bewaffnet sich, um sich vor Kälte zu schützen ! ( Aristoteles ) Eine Militarisierung des Soziallebens war nicht allein in Deutschland zu beobachten, die Frage war : Existierte ein Primat der Politik gegenüber dem Militär ? 3. der Erste Weltkrieg war der erste hochtechnisierte und industrialisierte Krieg mit massenhaftem Panzereinsatz und Flugzeugen – der Luftkrieg veränderte Strategie und Taktik; hinzu kamen Minen - und Flammenwerfer. Wenngleich der Luftkrieg bei weitem nicht die Ausmaße erreichte wie im Zweiten Weltkrieg, so war doch schon dieser Beginn massiv : mehr als 16 000 Angehörige von deutschen Fliegerverbänden verloren ihr Leben, zu den deutschen Luftstreitkräften gehörten immerhin 1 338 Flugzeuge. Doch waren sie der schon damals erdrückenden Überlegenheit der alliierten Luftstreitkräfte nicht gewachsen. Schon damals haben Beobachter auf die Folgen hingewiesen. So konstatierte Walter Benjamin : „der imperialistische Krieg ist gerade in seinem Härtesten, seinem Verhängnisvollsten mitbestimmt durch die klaffende Diskrepanz zwischen den riesenhaften Mitteln der Technik auf der einen, ihrer winzigen moralischen Erhellung auf der anderen Seite“. 4. nie zuvor waren solche Massenheere in den Krieg gezogen, beide Blöcke mobilisierten schließlich mehr Soldaten als das Deutsche Reich Einwohner hatte : Am Ende brachten es die Mittelmächte auf 22,8 Mio., die Entente auf insgesamt 41,25 Mio. Soldaten. Schon im August 1914 umfassten die Feldheere der sogenannten Mittelmächte, also des Deutschen Reiches und Österreich - Ungarns insgesamt 3,7 Mio. Soldaten, die Entente - Mächte Frankreich, Russland, Großbritannien und Serbien hatten zu Beginn des Krieges 5,8 Mio. Mann unter Waffen. Insgesamt brachten es die deutschen Streitkräfte während des Weltkrieges auf 13,25 Mio. Soldaten, Russland auf etwa 12 Mio., Großbritannien etwa 9,5 Mio., Frankreich auf 8,2 Mio. ( einschließlich der Soldaten aus den Kolonien ), Italien auf 5,6 Mio. und die USA auf 3,8 Mio. Weltweit kämpften im Ersten Weltkrieg insgesamt mehr als 71 Mio. Soldaten.

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5. die Zahl der Opfer, auch der zivilen Opfer war extrem; trotz der Haager Landkriegsordnung wurde wohl nur im 30 - jährigen Krieg (1618–1648) in vergleichbarem Ausmaß die Zivilbevölkerung zum Opfer. Die höchsten Schätzungen lauten heute : Von den insgesamt bis zu 15 Mio. Kriegsopfern waren fast sechs Mio. Zivilisten – ca. 20 Mio. wurden verwundet und verkrüppelt. ( Zahlenschätzungen dieser Art sind allerdings immer mit einer großen Fehlermarge behaftet, zumal die verheerende spanische Grippe nicht eindeutig zuzuordnen ist. Weltweit forderte sie insgesamt ca. 35 Mio. Tote vor allem seit dem Sommer 1918, im deutschen Heer erkrankten bereits zwischen August 1917 und Juli 1918 über 700 000 Soldaten an dieser Influenza.) 6. die Ermattungsstrategie brachte wenige Quadratkilometer Gewinn und kostete beispielsweise in Verdun in zehn Monaten ungefähr 700 000 deutschen und französischen Soldaten das Leben, in der Schlacht an der Somme vom 1. Juli bis 25. November 1916 waren die Verluste noch höher; die Zahl der toten Briten, Franzosen und Deutschen betrug nahezu 1,1 Mio. Mann: Menschen wurden zu Material. 7. die Kriegskosten stiegen enorm, man schätzt sie für die beteiligten europäischen Großmächte und der USA auf insgesamt 956 Mrd. Goldmark, davon entfiel der größte Anteil auf Großbritannien mit 208 Mrd. Goldmark, auf das Deutsche Reich 194 Mrd., Frankreich 134 Mrd., die USA 129 Mrd., Russland 106 Mrd. Goldmark. 8. die materiellen Schäden waren insbesondere in Frankreich, auf dessen Boden der Krieg wesentlich ausgetragen wurde, riesig : in Frankreich wurden über 480 000 Häuser zerstört, über 2 000 Brücken, 5 500 km Bahnlinien, 62 000 km Straßen und extrem große landwirtschaftliche Flächen. 9. zahlreiche Verletzungen des Kriegsvölkerrechts waren zu beklagen : die Verletzung der Neutralität Belgiens ( Schlieffenplan ); der Einsatz von Chlorgas bei Ypern am 22. April 1915, danach weitere 405 Giftgaseinsätze, u. a. an der Ostfront; der deutsche Luftangriff auf Reims 1917, die Zerstörung der Kathedrale : aus der „ville sacrée“ wurde die „ville martyre“; 1918 waren von 100 000 Einwohnern nur noch 8 000 in der Stadt; der unbeschränkte U- BootKrieg, den das Deutsche Reich seit 1917 führte; Zwangsarbeit, v. a. von 60 000 Belgiern, hinzu kam eine Zahl von 100 000 mehr oder weniger unter Druck „angeworbenen“ Arbeitskräften aus Polen. Auf einer anderen Ebene, aber mittel - und langfristig von verhängnisvoller Wirkung waren mentale Spezifika des Ersten Weltkriegs. Zu ihnen gehörten : die Entgrenzung der Gewalt und Gewöhnung an die Gewalt; die Fanatisierung der Massen durch massiven Einsatz der Propaganda – der Krieg war seit Beginn zugleich ein Propagandakrieg, in dem die gegnerischen Völker verteufelt wurden, was zur weiteren Entfesselung des Nationalismus führte. Wie konnte man all diese psychischen und physischen Verheerungen, all die materiellen Hypotheken nach Kriegsende 1918 abtragen ? Diese größte Herausforderung der Nachkriegszeit wurde massiv erschwert, weil der Krieg den Hass

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unter den Völkern noch verstärkt hatte. Anders als nach 1945 in Westeuropa standen Ausgleich und Verständigung nach 1918/19 nur bei einer Minderheit auf der Tagesordnung. Das deutsch - französische Beispiel ist besonders aussagekräftig : Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Legende von der „Erbfeindschaft“ beider Völker zunächst verschärft, bevor Briand und Stresemann sich um Verständigung bemühten.

3.

Wirkungen des Weltkriegs nach 1918

So mühsam der internationale Ausgleich nationaler Machtinteressen zur Kriegsverhinderung auch war, nach dem Krieg erwies er sich als sehr viel schwieriger. Wenn man den Ersten Weltkrieg die „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts nennt, geht es vor allem um die Konsequenzen, die er für die folgenden Jahrzehnte gewann. Die verhängnisvolle, ja extreme Steigerung der die Massen beherrschenden nationalistischen Emotionen war durch den Krieg nicht beendet worden. Vielmehr hatte der spezifische Charakter dieses Krieges, der durch Beteiligung der Kolonien, Japans und der USA erstmals ein Weltkrieg war, kein einziges Problem gelöst, sondern viele neue geschaffen. Dies lag an der extremen Zahl der Opfer auch unter der Zivilbevölkerung, an der zur längerfristigen Inflation führenden hohen Verschuldung der Staaten aufgrund der Kriegsfinanzierung, den ungeheuren materiellen Schäden in den Ländern, die wie Frankreich in erster Linie Kriegsschauplatz waren, an den Kriegsvölkerrechtverletzungen vor allem durch das Deutsche Reich. Hinzu kamen entscheidende Kriegsfolgelasten, die sich mit logischer Konsequenz aus den genannten Spezifika des Krieges ergaben. Aufgrund der extremen Kriegskosten und Zerstörungen waren auch die wirtschaftlichen Kriegsfolgelasten enorm : „Der Krieg ist der Verwüster der Finanzen. Der hinter uns liegende Krieg ist der Schrittmacher des Weltkonkurses“, sagte der erste Reichsfinanzminister der Weimarer Republik, Matthias Erzberger, als er 1919 seinen Haushaltsentwurf einbrachte. Wollte das Reich die Kriegsschulden begleichen, müsse er die Steuern um über 900 Prozent erhöhen. Um zwei Beispiele zu nennen : Das Deutsche Reich gab 1914–1918 insgesamt 159 Mrd. Mark aus, nahm aber nur 21,8 Mrd. ein, erreichte also ein Defizit von 137,2 Mrd. Mark, also das sechseinhalbfache der Einnahmen. 39,1 Mio. Deutsche hatten während des Krieges Anleihen im Wert von 98,2 Mrd. Mark gezeichnet. Für die anderen Großmächte lautete die Bilanz ähnlich. Tatsächlich hatten alle europäischen Großmächte den Krieg auf Anleihebasis finanziert, mit anderen Worten, seine Bezahlung auf die Nachkriegszeit vertagt: Die Folge waren in Deutschland, Frankreich und Großbritannien die Inflation, am massivsten in Deutschland mit der Hyperinflation 1922/23, die sogenannte „Panik im Mittelstand“ war die Folge. Große Teile der Bevölkerung sahen die Ursachen der Inflation im Versagen der Weimarer Demokratie und suchten Sündenböcke, unter anderem den Finanzkapitalismus, für den sie wiederum die

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Der Erste Weltkrieg – „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts

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Juden verantwortlich machten. Die wahren Gründe der Kriegskosten aber sahen sie nicht, Wirtschaftshistoriker sprechen heute von einer Kriegsinflation, die in Deutschland 1914 begann und erst 1923/24 endete. Aufgrund der zahlreichen Kriegstoten und Verstümmelten stiegen die Versorgungsleistungen enorm, auf der andere Seite erwies sich die Demobilisierung eines demoralisierten Millionenheeres und die gesellschaftliche und berufliche Wiedereingliederung sozial, politisch und mental als außerordentliche Herausforderung. Europa erwies sich zudem aufgrund von Fluchten und Vertreibungen als Kontinent in Bewegung, das galt beispielsweise für die wechselseitigen Vertreibungen und Umsiedlungen bei Griechen und Türken, die insgesamt fast 2,8 Mio. Menschen betraf, die Flucht von Hunderttausenden aus Sowjetrussland nach der bolschewistischen Revolution usw. Der Weltkrieg brachte das Ende dreier großer Reiche : des Osmanischen Reichs, der Österreichisch - Ungarischen Doppelmonarchie sowie des russischen Zarenreichs. Auf ihrem Boden entstanden zahlreiche Neugründungen von Staaten, die aber die Minderheitenprobleme vor allem in Ost - bzw. Ostmitteleuropa, aber auch im Nahen Osten nicht lösten und u. a. in Südosteuropa zu Massenvertreibungen führten. Die neuen Grenzziehungen beantworteten die alten Nationalitätenfragen nur partiell und beschworen zahlreiche neue Probleme herauf. Um nur ein Beispiel zu nennen, wie wenig das Programm des amerikanischen Präsidenten Wilson umgesetzt wurde, anstelle der alten Vielvölkerstaaten nun Nationalstaaten zu setzen : In der Tschechoslowakei existierten neben kleineren drei größere Nationalitäten, die Tschechen, die Deutschen und Slowaken, doch besaß selbst die größte, die tschechische, keine absolute Mehrheit. Allerdings ermöglichten der Erste Weltkrieg und die Niederlage des Zarenreichs auch die Wiederherstellung traditionsreicher nationaler Staaten wie Polen, das ein Jahrhundert lang seit dem Wiener Kongress 1814/15 unter russischer Herrschaft gestanden hatte, wogegen sich seit dem 19. Jahrhundert starke Autonomiebewegungen richteten. Jedenfalls waren die Friedensverträge, die in den Pariser Vororten seit 1919 beschlossen wurden, nicht wirklich friedensstiftend. Der Vertrag in Versailles löste in Deutschland einhellig Empörung von links bis rechts aus und wurde auch in Großbritannien kritisiert. Auch wenn Historiker ihn später abgewogen beurteilten, änderte das nichts an seiner zeitgenössisch fatalen Wirkung, die ihn zum wohlfeilen propagandistischen Instrument für Extremisten bis hin zu Hitler machten. Die Nachkriegszeit erwies sich als Vorkriegszeit, der ehemalige italienische Ministerpräsident Francesco Nitti prognostizierte dies bereits 1921 in seinem Buch „Das friedlose Europa“. In seinem Buch findet sich ein bezeichnendes Kapitel mit der Überschrift : „Die Friedensverträge und die Fortführung des Krieges“. Winston Churchill hielt schon in den frühen 1920er Jahren einen neuen Krieg für unvermeidlich. Europa verlor weltpolitisch an Bedeutung, die USA blieben zeitweise als einzige wirkliche Großmacht übrig, doch zogen die Amerikaner sich aus dem europäischen Staatensystem zurück und traten dem Völkerbund nicht bei. Zwei der

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großen europäischen Mächte – das Deutsche Reich und Sowjetrussland bzw. dann die Sowjetunion – blieben zunächst im europäischen Staatensystem Außenseiter, Deutschland bis zu den Locarno - Verträgen 1925/26, die Sowjetunion bis 1933. Die europäischen Nachkriegsgrenzen waren nicht von allen Mächten anerkannt. Die internationale Instabilität korrespondierte mit der innenpolitischen der meisten neugegründeten Staaten bzw. durch Revolutionen entstandenen Demokratien, die bis auf wenige Ausnahmen schon seit Beginn der 1920er, spätestens aber in den 1930er Jahren scheiterten und zum Spielball faschistischer, nationalsozialistischer oder Militärdiktaturen wurden : Diese Terrorregime standen nicht allein der kommunistischen Diktatur der Sowjetunion, sondern auch gemeinsam mit dieser den verbliebenen rechtsstaatlichen Demokratien feindlich gegenüber. Bevor das Projekt des Sozialismus in einem Lande als Zwischenlösung propagiert wurde, erhob die bolschewistische Revolution in Russland 1917 die Weltrevolution zum Programm und endete für Jahrzehnte in der stalinistischen Diktatur mit imperialem Anspruch. Aber auch kaum eine der neugegründeten Demokratien überlebte : In Italien gelangte 1922 Mussolini an die Macht, seine faschistische Diktatur war die erste, die 1935 mit dem Angriff auf Abessinien einen imperialistisch motivierten Krieg mit rassistischer Komponente eröffnete. In Portugal, Spanien, Griechenland, in allen Balkanstaaten, in allen baltischen Staaten, in Polen, Ungarn und Österreich wurden in den 1920er Jahren und 1933 die rechtsstaatlichen Demokratien durch unterschiedliche diktatorische oder autoritäre Systeme bzw. Militärdiktaturen ersetzt. Die Weimarer Republik war nicht die erste Demokratie, die dem Ansturm einer totalitären Ideologie zum Opfer fiel, aber Deutschland wurde das Land mit der extremsten und mörderischsten Diktatur neben der stalinistischen Sowjetunion. Selbst die alten Demokratien unter den Staaten, die seit 1914 Krieg geführt hatten, erlitten zum Teil existenzbedrohende Krisen. Die einzigen neu gegründeten Demokratien, die nicht von innen, sondern von außen zerstört bzw. annektiert wurden, waren die Tschechoslowakei und Finnland. So kompliziert die Ursachen und Verantwortungen für den Ersten Weltkrieg sind, so zweifelsfrei und klar liegt die Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg zutage : Hitler wollte den Krieg, das nationalsozialistische Deutschland trägt die Hauptverantwortung ( unterstützt von Stalin ) für den Zweiten Weltkrieg, dessen Grauen selbst den Ersten Weltkrieg übersteigt. Seine millionenfachen Massenverbrechen, darunter der Massenmord an sechs Millionen europäischer Juden unterscheidet beide Kriege trotz ihrer Analogien. Trotzdem wurden alle Spezifika des Großen Krieges von 1914/18 Vorbedingungen für den Zweiten Weltkrieg. Erst der Erste Weltkrieg und die hier geschilderten Konsequenzen schufen den Boden für den Nationalsozialismus. Ohne diese Vorgeschichte ist auch der Zweite Weltkrieg und mit ihm der Kalte Krieg nach 1945 nicht denkbar. Es gibt also gute Gründe, die Zeit vom Kriegsausbruch 1914 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs als neuen „Dreißigjährigen Krieg“ zu bezeichnen. Aber erst das Ende des Kalten Krieges 1989/91 mit der

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Der Erste Weltkrieg – „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts

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Wiedervereinigung Deutschlands, dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen in Ostmitteleuropa und der Sowjetunion – wahrlich eine europäische Revolution – bildeten politisch den Abschluss der 1914 beginnenden „Urkatastrophe“. Wenngleich vorschnelle historische Vergleiche hundert Jahre nach Kriegsausbruch verfehlt sind, gibt es doch gute Gründe, aus den Fehlern der Julikrise von 1914 zu lernen : Dem Fatalismus gegenüber krisenhaften Entwicklungen, der gezielten Provokation und Eskalation, der Missachtung anderer Völker und der Menschenwürde muss stets der mühsame Weg von Verhandlungen, Interessenausgleich und Kompromiss vorgezogen werden, wurden doch in den Kriegen des 20. Jahrhunderts am Ende auch die Sieger zu Verlierern. Dies ist die Lehre, die die westlichen Staatsmänner nach 1945 in die Tat umsetzten, indem sie den historisch gewachsenen gemeinsamen politischen und ethischen Wertekanon Europas beschworen und Versöhnung und europäische Integration betrieben. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts, die mit dem Ersten Weltkrieg begann, beweist : Zu diesem Weg des oft mühsamen Interessenausgleichs auf einem Fundament gemeinsamer Werte gibt es keine vernünftige Alternative, auch wenn für die europäische Integration und die Kooperation von Staaten unterschiedliche Konzeptionen möglich sind.

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Vergleich und Transfer – Neuseeland als Sozialstaatsmodell ? Detlev Brunner „There were plenty of ideas about. Labour questions were in full discussion in England, America, Germany and Australia. The air was thick with schemes and suggestions : there were even suggestions in New Zealand. What one had to do was to form a view as to what was wanted and desirable in New Zealand. Then one looked around to see whether there were any schemes or suggestions that would be useful. From these you selected what seemed likely to be service, taking one, rejecting many. What you took you pieced together, modified and endavoured to improve upon. The result was something added to a Bill, sometimes one clause, sometimes several. The work was interesting but extremely laborious. The amount of adapting, revising, adding and taking away was very great; over and over again one changed one’s mind.“1

Mit diesen Worten resümierte der seit 1891 amtierende und 1896 aus dem Amt scheidende neuseeländische Arbeitsminister William Pember Reeves (1857– 1932), wie das „social laboratory“ Neuseeland funktionierte. Es basierte auf einer umfassenden Rezeption unterschiedlicher Systeme und politischer Projekte, die in der sozialstaatlichen Formierungsphase des ausgehenden 19. und des frühen 20. Jahrhunderts vor allem in Europa, aber auch in Nordamerika und Australien diskutiert und umgesetzt wurden. Neuseeland wurde zusammen mit den am 1. Januar 1901 zum „Commonwealth of Australia“ zusammengeschlossenen australischen Staaten seinerseits als Modell wahrgenommen und erwies sich in einigen Maßnahmen – stärker noch als die australischen Staaten – als Pionier auf sozialpolitischem Gebiet. Das neuseeländische System eines Welfare State bestand aus einer Mischung unterschiedlicher Instrumente : Arbeitsschutz und Unfallhaftpflicht, der 1894 eingeführten und damit weltweit ersten korporatistisch - staatlichen Zwangsschlichtung, aus Mindestlöhnen und frühzeitig festgelegtem Achtstundentag sowie einer nach universalistischem Prinzip, auf die gesamte Staatsbürgerschaft zielenden Altersversorgung.2 1 2

Zit. nach Alexander Davidson, Two Models of Welfare. The Origins and Development of the Welfare State in Sweden and New Zealand, 1888–1988, Uppsala 1989, S. 47; vgl. auch Keith Sinclair, William Pember Reeves, Oxford 1965. Zum „Modell“ Neuseeland / Australien vgl. Sinclair, A History of New Zealand, rev. Ed., Auckland 2000 ( Erstauflage 1959), S. 195; Robert Schachner, Die soziale Frage in Australien und Neuseeland, ( Australien in Politik, Wirtschaft und Kultur, Band 2), Jena 1911; Käthe Lux, Arbeiterbewegung und Arbeiterpolitik in Australasien von 1890– 1905. In : Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, N. F. 6/24 (1907), S. 30–63 und 384–423.

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Der folgende Beitrag konzentriert sich trotz vielerlei Ähnlichkeiten des zeitgenössisch als „Australasien“ bezeichneten „fünften Kontinents“ auf Neuseeland. Der sogenannte „state socialism“ unter liberaler Ägide war hier weit deutlicher ausgeprägt als im benachbarten Australien. Gerade Neuseeland galt sozialreformerischen Kräften in Europa und den USA als leuchtendes Vorbild eines Weges, der zu einem friedlichen Ausgleich widerstreitender sozialer Interessen führen könne. Zugleich ist Neuseeland ein Beispiel für jenen Ideentransfer, der als Grundelement der sozialstaatlichen Formierungsphase seit dem späten 19. Jahrhundert erkennbar ist. Seine Sozialstaatsentwicklung widerlegt die Vorstellung, einige wenige Pioniernationen, vor allem das Deutsche Reich, hätten als „Modelle“ den sozialstaatlichen Prozess international geprägt.3

1.

Neuseeland – politische, wirtschaftliche und soziale Strukturen

Neuseeland, seit 1840 offiziell britische Kolonie, bildete in den folgenden Jahrzehnten politische und gesellschaftliche Strukturen aus, ohne die die späteren sozialpolitischen Maßnahmen nicht zu verstehen sind. Die britische Krone gestand der Kolonie frühzeitig ( ab 1852 bis 1856) eine Selbstverwaltung zu, Neuseeland sollte sich möglichst schnell selbst tragen und keine Kosten verursachen. Das parlamentarische System des Landes basierte ab 1879 auf einem allgemeinen Wahlrecht für Männer, 1893 führte Neuseeland als weltweit erstes Land auf nationaler Ebene das Frauenstimmrecht ein. Nur Wyoming, ab 1890 US - Bundesstaat, hatte dies bereits 1869 getan. Auch wenn es wie in anderen Kolonien zu erbitterten kriegerischen Auseinandersetzungen mit der angestammten Bevölkerung, hier den Maoris, kam, verfolgte Neuseeland auf diesem Feld eine vergleichsweise moderate Politik. So erhielten Maoris beispielsweise 1867 ebenfalls das Wahlrecht zum Parlament.4 Die liberale Wahlrechtspolitik gründete nicht nur in einem reformerischen Impuls. Mit dem Frauenstimmrecht suchte die amtierende liberale Regierung ihre Basis zu verbreitern, während die oppositionellen Konservativen ihrerseits auf die Unterstützung der stimmfähigen Frauen hofften.5 Die politischen Strukturen ähnelten jenen des britischen „Mutterlandes“, Liberale standen Konservativen gegenüber, wobei sich die neuseeländischen Liberalen, auch „Radi3

4 5

Ausführlicher dazu Detlev Brunner, „Pioniere“ und „Modelle“. Entstehung und Entwicklung von Sozialstaaten im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In : Peter Brandt (Hg.), „Soziales Europa ?“. Erträge des Symposiums des Instituts für Europäische Verfassungswissenschaften an der FernUniversität Hagen am 20. Oktober 2006, Berlin 2009, S. 35–52, sowie ders., Sozialstaaten in international vergleichender Perspektive. Entstehung und Entwicklung im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In : Comparativ. Zeitschrift für Globalgeschichte und vergleichende Gesellschaftsforschung, (2007) 3, S. 105–122. Vgl. Maori Representation Act 1867 ( http ://www.teara.govt.nz / en / zoomify /33905/ maori - representation - act - 1867; 3. 2. 2014); Sinclair, History, S. 192. Vgl. Davidson, Two Models, S. 36.

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kale“ genannt, weit stärker als die New Liberals in England mit einer staatlichen Sozialpolitik im Sinne eines intervenierenden Staates profilierten. Eine Arbeiterpartei fehlte länger als in England und vor allem als in den australischen Staaten, wo sich ab 1891 eine australische Labour Party formierte. In Neuseeland entstand erst 1916 die noch heute existierende Labour Party, es gab diverse Vorläufer, darunter eine 1913 gegründete Social Democratic Party.6 Die Gesellschaft der jungen Kolonie war weit weniger als die der europäischen, industrialisierten Staaten in soziale Klassen getrennt. Sie war, bei allen bestehenden sozialen Unterschieden, egalitärer. Dies lag an der Struktur der Einwanderung. Es waren nicht vorrangig Angehörige der unteren Schichten, die in den Jahrzehnten zwischen 1840 bis 1860 ins Land kamen, sondern eher Schichten, die sich als Mittelstand einschätzten. Allein die Kosten der Überfahrt in Höhe von 10 £ deuten darauf hin, da 80 Prozent aller britischen Arbeiter damals weniger als 75 £ im Jahr verdienten.7 Die Wirtschaft Neuseelands war agrarisch geprägt. Erst in den 1880/90er Jahren kam es zu einer stärkeren industriellen Expansion vor allem im Bekleidungsgewerbe und in der metallverarbeitenden Industrie.8 Von dem Wert der Gesamtproduktion des Landes 1903 in Höhe von 30 076 000 £ entfielen 24 Prozent ( gut 7,4 Mio.) auf den Sektor „Gewerbe und mechanische Industrie“, 11,7 Prozent (3,5 Mio.) auf den Bergbau und der Rest (64,3 %) auf den Agrarsektor einschließlich Forst - und Fischwirtschaft.9 Eine wichtige Rolle spielte die Schafzucht mit über 3,1 Mio. £ Produktionswert. Die Ausfuhr von gefrorenem und von Büchsenfleisch machte einen wesentlichen Anteil von Neuseelands Export aus.10 1882 wurde die erste Ladung gefrorenen Lammfleischs Richtung England verschifft. Neuseeland war und ist ein kleines Land – 772 719 Einwohner waren bei der Volkszählung von 1901 erfasst worden.11 Angesichts der begrenzten Größe der Volkswirtschaft wirkten sich Störungen direkter aus, zugleich war Neuseeland wegen seiner zunehmend exportorientierten Agrarwirtschaft weltwirtschaftlich verflochten, insbesondere mit Großbritannien und Australien. Die in den 1870er Jahren einsetzende und bis in die 1890er Jahre dauernde Weltwirtschaftskrise drückte auch auf dieses Land, dessen Lebensverhältnisse oft verklärend als paradiesisch beschrieben wurden. Tatsächlich litt Neuseeland im Jahrzehnt von 1880 bis 1890 unter wachsender Verschuldung, die auch auf die Finanzierung öffentlicher Aufgaben wie dem Eisenbahnbau zurückzuführen war. Eine Konsequenz war, dass mehr Siedler auswanderten als neue ins Land

6 7 8 9 10 11

Vgl. Sinclair, History, S. 219 f. Vgl. Davidson, Two Models, S. 36. Vgl. Sinclair, History, S. 209. Vgl. Lux, Arbeiterbewegung, S. 42. Vgl. ebd., S. 43. Vgl. ebd., S. 41.

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kamen. Im benachbarten Australien sprach man schon von einer zum Scheitern verurteilten Kolonie Neuseeland.12 Ein weiteres Ereignis in jenem Jahrzehnt war ausschlaggebend für die künftige staatliche Politik in Neuseeland. Es war der große „Maritime Strike“ des Jahres 1890, der von Australien auf Neuseeland übergriff und der an dem in der Literatur gepflegten Bild einer konsensualen Gesellschaft kratzte. Ausgangspunkt waren die krisenhaften Entwicklungen, die sich auf Lohnhöhe und Arbeitsbedingungen der Seeleute auswirkten. Als die Reeder die Forderungen der Arbeiter ablehnten, kam es in Melbourne zum Streik, der sich rasch in Australien ausdehnte und zahlreiche Solidarisierungsstreiks zur Folge hatte. In Australien führte dies zu einer deutlichen Politisierung der Arbeiterschaft und zur oben erwähnten Formierung der Labour Party.13 In Neuseeland wirkte sich das Streikdesaster anders aus – hier votierten die Arbeiter in den Wahlen vom Dezember 1890 überwiegend für die Liberale Partei, die mit 56,2 Prozent der Stimmen der eindeutige Wahlsieger war. Die wichtigen Wahlthemen waren neben den wirtschaftlichen Problemen eine Landreform, die den Ausverkauf des Landes an einige wenige Kapitalisten unterbinden sollte. Tatsächlich war es bereits zu Fehlentwicklungen gekommen, so dass Siedler angesichts hoher Grundstückspreise Schwierigkeiten hatten, Land zu erwerben. Die staatliche Förderung von Farmerstellen und eine progressive Grundsteuer, die Landbesitz bis zu 500 acres steuerfrei ließ, waren Maßnahmen in diesem Sektor.14

2.

„State Experiments“ – die sozialstaatlichen Maßnahmen

Das Wahlergebnis vom Dezember 1890 war ein deutliches Votum für Reformen, für die die Liberals geworben hatten. Das Ziel war – durchaus vergleichbar mit den diversen Sozialpolitiken in Europa – Befriedung und Integration anstatt Konfrontation und Klassenkampf. Die Voraussetzungen für eine „sozialpartnerschaftliche“ Option waren in Neuseeland zweifellos günstiger als in den europäischen Staaten oder in den USA. Nicht nur die angedeuteten egalitären Strukturen in der Gesellschaft spielten hier eine Rolle, sondern das staatliche Engagement selbst. Die staatliche Erziehungs - und Bildungspolitik etwa trug zu jenem egalitären Grundzug entscheidend bei. 1890 wurde der weit überwiegende Teil („thirteen - fourteens“) der Kinder und Jugendlichen in staatlichen Schulen und Collages unterrichtet, lediglich die katholischen Kinder besuchten kircheneigene Einrichtungen.15 Der Staat war, so William P. Reeves, 1890 „the 12 Vgl. Hugh H. Lusk, Social Welfare in New Zealand. The Result of Twenty Years of Progressive Social Legislation and its Significance for the United States and Other Countries, London 1913, S. 57. 13 Vgl. Ernst Herz, Australien. In : Ludwig Heyde ( Hg.), Internationales Handwörterbuch des Gewerkschaftswesens, Band 1, Berlin 1931/32, S. 148–160, hier 151. 14 Vgl. Lusk, Social Welfare, S. 61–63. 15 William P. Reeves, New Zealand ( The Story of the Empire Series ), London o. J., S. 162.

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largest owner and receiver of rents, and the largest employer of labour“.16 Der neuseeländische Staat war Eigentümer fast des gesamten Eisenbahnnetzes, des Telegraphen - und Telefonnetzes, er kontrollierte das Gesundheits - und das Fürsorgewesen.17 Kurzum, die Voraussetzungen für eine Ausweitung staatlichen Engagements standen auf einem breiten Fundament.18 Jene staatlichen Aktivitäten auf dem Gebiet der Sozialpolitik, die Zeitgenossen mit „progressive social legislation“ oder als Weg in den „state socialism“ beschrieben,19 waren hauptsächlich in den Jahren ab 1891, also der Zeit nach dem erdrutschartigen Sieg der Liberal Party in den Parlamentswahlen von Dezember 1890, erlassen worden. Doch bereits vorher setzten Maßnahmen im Bereich des Arbeitsschutzes ein. Ab 1873 galt in Neuseeland eine „Fabrikgesetzgebung“, die in ihren Bestimmungen über die kurz zuvor im gleichen Jahr vom australischen Staat Victoria erlassene deutlich hinausging. Dieser „Factory Act“ beschränkte die Arbeitszeit von Frauen, Kindern und Jugendlichen auf höchstens 8 Stunden und auf die Zeit zwischen 9.00 und 18.00 Uhr. Als „Fabrik“ wurden dabei bereits Betriebe angesehen, in der nur eine Frau arbeitete. Frauen durften zudem von Samstags 14.00 bis Montags 9.00 Uhr nicht beschäftigt werden, für den Samstagnachmittag wie für weitere vier bestimmte öffentliche Feiertage erhielten Frauen vollen Lohnausgleich.20 In den folgenden Jahrzehnten wurden die Bestimmungen ausgeweitet, nach der Gesetzesnovelle von 1901 waren Betriebe von zwei und mehr Beschäftigten betroffen, eingeschlossen Ladengeschäfte, Bäckereien und Wäschereien. Kinder- und Jugendarbeit für Menschen bis 14 Jahren war weiter eingeschränkt und für „Fabriken“ mit mehr als 3 Beschäftigten gänzlich verboten; bestimmte Arbeiten durften Jugendlichen nur nach besonderer Genehmigung des Fabrikinspektors zugewiesen werden. Ein gewisser Grad an Schulbildung war Voraussetzung, die „vierte Stufe der staatlichen Schulen“ musste absolviert sein. Als Jugendliche galten 14–16 Jährige.21 Die Arbeitszeiten waren für männliche Erwachsene auf 48 Stunden pro Woche, Pausen nicht eingerechnet, festgesetzt, der Arbeitstag sollte 8 Stunden 45 Minuten nicht übersteigen, es sollte nicht länger als fünf Stunden am Stück gearbeitet werden. Für Frauen und Jugendliche galten eine 45 Stundenwoche und entsprechend verkürzte Arbeitstage bzw. Arbeitszeiten ohne Pause.22 Weitere Bestimmungen betrafen die Gesundheitshygiene, die Arbeitssicherheit sowie die Lohnfestsetzung. Geregelt war die Überstundenbezahlung, die mindestens ein Viertel mehr als der gewöhnliche Lohnsatz betragen sollte, zudem wurden Mindestlöhne festgesetzt, die nach dem Stand von 1907 gestaf16 17 18 19 20 21 22

Ebd., S. 160 f. Ebd., S. 161. Vgl. auch Davidson, Two Models, S. 39. Vgl. z. B. Lusk, Social Welfare, S. 69. Vgl. Schachner, Soziale Frage, S. 130. Vgl. Lux, Arbeiterbewegung, S. 398. Vgl. Otto Richter, Arbeiterschutzgesetzgebung in Neu - Seeland. In : Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 1. Band, 3. Auflage Jena 1909, S. 766–772, hier 767; Lux, Arbeiterbewegung, S. 398 f.

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felt von einem Wochenlohn in Höhe von 5 Schilling im ersten Jahr der Beschäftigung, dann um jedes weitere Jahr um 3 Schilling erhöht und bis zum Betrag von 20 Schilling gesteigert wurden.23 Wirft man einen Blick auf die Situation im Deutschen Reich als großer dynamischer Industrienation, dann wird deutlich, wie weitgehend sich Neuseeland auf dem Weg zu einem umfangreich ausgebauten Sozialstaat befand. Im Deutschen Reich war man von vergleichbaren Arbeitszeit - und Lohnregelungen weit entfernt. Erst 1878 hatte man mit der Gewerbeordnungsnovelle überhaupt eine obligatorische Fabrikinspektion für alle deutschen Bundesstaaten eingeführt.24 Aber selbst gegenüber England, das mit seiner Arbeiterschutzgesetzgebung erheblich früher als Deutschland einsetzte, war die kleine Kolonie um Längen voraus.25 In der Tat griff der neuseeländische Staat unter Führung der Liberal Party massiv in Arbeitsbedingungen, Arbeitsmarkt und Ökonomie ein. Das New Zealand Official Year - Book 1905 verzeichnete allein 38 sogenannte „Labour Laws“, zwei Jahre später waren es 40 und nur vier davon waren vor 1891 erlassen worden.26 Neuseeland verfügte seit 1891 über eine staatliche Arbeitsvermittlung, als auch dies für die großen europäischen Staaten noch Zukunftsmusik war. Die Vermittlung von Arbeitslosen (Quote 1901 : 4,02 Prozent, 8 638 Arbeitslose bei 214 519 Lohnarbeitern ) in öffentliche Arbeiten nahm mit 24 512 von insgesamt 38 372 Vermittelten in der Zeit von 1891 bis 1901 einen großen Stellenwert ein.27 Die in der internationalen Diskussion allerdings aufsehenerregendste Maßnahme im Bereich der Arbeitsmarktintervention war der 1894 in Kraft tretende „Industrial Conciliation and Arbitration Act“. Dieses Gesetz begründete ein zu dieser Zeit einmaliges Verfahren staatlicher Zwangsschlichtung, das, von den Arbeitgeberverbänden wie den Gewerkschaften gleichermaßen akzeptiert, die Streitfragen über Lohn - und Arbeitsbedingungen verbindlich regelte. Die entsprechenden Arbitration Courts waren paritätisch besetzt und standen unter Vorsitz eines professionellen Juristen, der wie die jeweils vorgeschlagenen Mitglieder der Gewerkschaften und Arbeitgeber vom Gouverneur ernannt wurde. Die Schiedssprüche hatten prinzipiell eine zeitlich begrenzte Dauer (3 Jahre ), behielten jedoch Geltung bis zum Erlass eines neuen Schiedsspruchs. Sie waren bindend für alle Trade Unions und Arbeitgeber des betreffenden 23 20 Schilling (= 1 Pfund Sterling ) = 20,43 M (1912); vgl. Schachner, Die Soziale Frage, S. 144; Richter, Arbeiterschutzgesetzgebung, S. 768. 24 Vgl. Gerhard A. Ritter / Klaus Tenfelde, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871–1914, Bonn 1992, S. 385. 25 Zur „Factory Legislation“ in England vgl. E. P. Hennock, The Origin of the Welfare State in England and Germany, 1850–1914. Social Policies Compared, Cambridge 2007, S. 73–76, 128–140. 26 Vgl. The New Zealand Official Year - Book 1905. Fourteenth Year of Issue. Prepared under Instructions from the Right Honourable R. J. Seddon, P. C., Prime Minister, by E. J. von Dadelszen, Registrar - General, Wellington, N. Z. 1905, S. 438–442; Richter, Arbeiterschutzgesetzgebung, S. 766. 27 Vgl. Lux, Arbeiterbewegung, S. 410.

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Gewerbes in dem jeweiligen Bezirk. Insgesamt gab es acht Bezirke. Grundsätzlich bestand auch die Möglichkeit, sich im Wege der Einigung im Rahmen von „Boards of Conciliation“ ( Einigungsämter ) zu verständigen und diese „agreements“ dann von den Courts für verbindlich erklären zu lassen.28 Dieses System setzte Mehrfaches voraus : zum einen die Anerkennung einer organisierten Interessenvertretung der Arbeiterschaft durch die Arbeitgeber, zum zweiten die Akzeptanz einer staatlichen Instanz, die sich im Sinne eines Gemeinwohls für einen Interessenausgleich einsetzte und entsprechende Kompetenzen erhielt. Und schließlich : Für die neuseeländische ( wie auch generell die australische ) Gewerkschaftsbewegung bedeutete das Einverständnis zu einem solchen Verfahren auch den Verzicht auf Arbeitskampfmittel, insbesondere den Streik. Denn Streiks waren im Zuge dieses Verfahrens unter Androhung von Ordnungsstrafen untersagt. Es ist kontrovers diskutiert worden, was dieses System denn den Arbeitsmarktparteien eigentlich gebracht habe. Im Hinblick auf die Lohnhöhe wurde die Meinung vertreten, dass sich diese auch ohne das Schlichtungssystem günstig entwickelt hätte; allerdings wurde in der zeitgenössischen Literatur zugleich festgestellt, dass die Schiedsgerichte in den meisten Fällen die Forderungen der Arbeiter bewilligten.29 Generell ist eine positive Lohnentwicklung nach Überwindung der Krise in den 1890er Jahren erkennbar. Eines hatte diese Art von staatlich organisierter Schlichtung zweifelsohne zur Folge – eine deutliche Beruhigung der sozialen Auseinandersetzungen. Tatsächlich blieb Neuseeland nach der Streikwelle von 1890 bis 1906 von Streiks verschont. Der zweite Schwerpunkt des neuseeländischen Sozialstaatsprojekts betraf den Versorgungsaspekt. Es ging um die zeitgenössisch in vielen Ländern diskutierte Frage, wie eine Gesellschaft mit jenen Menschen umgehen sollte, die nicht mehr in der Lage waren, sich um ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Neuseeland setzte im Bereich der Arbeitswelt – ähnlich wie England und andere europäische Staaten, z. B. die Schweiz – stärker auf Prävention, auf Arbeitsschutz und den Arbeitsalltag regulierende Maßnahmen; im Bereich der modernen Existenzrisiken, insbesondere des Alters, schlug das Land einen spezifischen Weg ein, der Schule machen sollte. Zu Beginn der 1880er Jahre, als im Deutschen Reich die Diskussion um die Versicherung gegen Lebensrisiken des abhängig beschäftigten Arbeiters begann, setzten auch in Neuseeland Überlegungen in dieser Frage ein. Harry Atkinson (1831–1892), mehrmaliger parteiloser Premier, hatte aus der vorübergehenden Opposition heraus 1882 ein nationales Versicherungssystem für ältere und arbeitslose Bürger vorgeschlagen, das durch ein Zwangsabgabesystem finanziert werden sollte. Die damals durch die Krise bedingten geringen Einkommensraten und die hohe Arbeitslosigkeit ließen diesem Vorschlag wenige Chancen der Umsetzung. Auch die sozialstaatlich orientierten Liberalen wie der spätere 28 Zum System u. a. Richter, Arbeiterschutzgesetzgebung, S. 770. 29 Vgl. Lux, Arbeiterbewegung, S. 386 f.

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Premier Richard Seddon hatten zu diesem Zeitpunkt gegen diesen Vorschlag opponiert. 16 Jahre später allerdings setzten sie eine Regelung durch, die als staatlich finanzierte Altersversorgung auch in Europa als Vorbild dienen sollte. Dänemark war 1891 mit einer derartigen Regelung vorausgegangen. Wieweit die neuseeländische Regierung vom dänischen Beispiel inspiriert war, lässt sich nicht eindeutig nachvollziehen. Feststeht allerdings, dass die neuseeländische Altersrente als Vorbild für den britischen Old Age Pensions Act von 1908 diente.30 Das neuseeländische Altersrentengesetz gewährte allen Personen ab 65 Jahren eine Rente, sofern sie seit 25 Jahren Einwohner der Kolonie waren, ein jährliches Einkommen von 52 Pfund ( bei Eheleuten 78 Pfund ) nicht überschritten und ein Vermögen von höchstens 270 Pfund besaßen. Die Rentenbezieher mussten ein moralisch einwandfreies Leben führen und durften in den vergangenen 12 Jahren keine Gefängnisstrafe von mehr als 2 Jahren verbüßt haben. Die Sätze wurden in den Folgejahren heraufgesetzt, gleiches galt für die jährliche Rente von zunächst 18 Pfund, die zum Stand von 1905 auf 26 Pfund angehoben wurde.31 Die australischen Staaten Victoria und Neu - Süd - Wales folgten 1901 dem neuseeländischen Vorbild. Ausgeschlossen aus diesen Regelungen blieben Chinesen und andere Asiaten, Ausländer sowie die „aboriginal natives“, sofern sie bereits staatliche Gelder erhielten, die nach dem „Civil List Act“ von 1863 für „native purposes“ vorgesehen waren.32 Vor allem die Bestimmungen zu Chinesen und Asiaten verweisen auf einen Aspekt, der auf die fortschrittlichen Sozialgesetze einen rassistischen Schatten wirft. Die Vorurteile gegen die „rattenfressenden“ Asiaten waren weitverbreitet. Australien und Neuseeland schlossen die Asiaten nicht nur aus der Sozialgesetzgebung aus, sondern steuerten mit einer rigiden Einwanderungspolitik gegen den Zustrom asiatischer Arbeitskräfte, wie er sich seit den 1880er Jahren nicht nur angesichts des damaligen „Goldfiebers“ vor allem in Australien, aber auch in Neuseeland gezeigt hatte. Die alles in allem günstigen Arbeitsmarktbedingungen waren auch Folge der von den Gewerkschaften geforderten und der Regierung durchgeführten Abschottungspolitik gegen eine billige Arbeitskonkurrenz, die sich auch für Arbeitskräfte von den pazifischen Inseln nachteilig auswirkte. Diese Politik zeigte Wirkung : Hatten sich 1881 noch 5 004 Chinesen in Neuseeland aufgehalten, so ging ihre Zahl bis 1906 auf 2 570 zurück.33 Erwies sich Neuseeland im Bereich der staatlichen Altersrente als einer der Pioniere, so folgte es in anderen Bereichen dem britischen Vorbild. Dies galt für den Bereich der Krankenversicherung, in dem sich die Kolonie am britischen 30 Vgl. Gerhard A. Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, 3. Auflage München 2010, S. 91. 31 Vgl. New Zealand Official Year - Book 1905, S. 582–590; Lux, Arbeiterbewegung, S. 414 f. 32 Vgl. New Zealand Official Year - Book 1905, S. 583. 33 Vgl. Schachner, Soziale Frage, S. 17; Schachner griff die rassistischen Vorurteile bereitwillig auf, sachlicher demgegenüber Lux, Arbeiterbewegung, S. 402–404.

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Modell der „friendly societies“ orientierte, also dem Prinzip der freiwilligen Versicherung, die allerdings unter staatlicher Kontrolle stand.34 Ähnlich verhielt es sich für den Unfallschutz, auch hier folgte Neuseeland dem britischen „Workmen’s Compensation Act“ von 1897, den es im Jahre 1900 dem Inhalt nach im Wesentlichen übernahm und der anders als die deutsche Unfallversicherung (1884) eine Unternehmerhaftpflicht bei Unfällen vorsah.35

3.

„Modell Neuseeland“ in der internationalen Diskussion

Der neuseeländische Historiker Keith Sinclair (1922–1993) resümierte in seiner Geschichte des Landes, Neuseeland sei wegen seines „amalgam of democratic and humanitarian legislation“ eine Zeit lang „the most radical state of the world“ gewesen. Europäer und Amerikaner hätten geradezu „pilgrimages to the distant colony“ unternommen, um sich über das dortige Sozialsystem zu informieren.36 In der Tat erfuhr das kleine Land um die Jahrhundertwende und in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg große Aufmerksamkeit.37 Zeitgenossen überboten sich mit positiven Attributen, die sie dem Land zuordneten. Der USamerikanische Sozialreformer Frank Parsons sah in Neuseeland 1904 gar den „birth place of the Twentieth Century“.38 Der deutsche Sozialwissenschaftler Alfred Manes sprach vom „Land der sozialen Wunder“, vom „Paradies der Arbeiter“ und der amerikanische Progressive Henry Demarest Lloyd (1847– 1903) feierte Neuseeland als das Land ohne Streiks.39 Robert Schachner, ein weiterer deutscher Sozialwissenschaftler, der sich zu empirischen Studien längere Zeit in Australien und Neuseeland aufgehalten hatte, kam 1911 zum Schluss, in „Australasien“ seien „heute die sozialpolitischen Verhältnisse die günstigsten auf der ganzen Welt“.40 Es war sicher kein Zufall, dass die sozialstaatliche Entwicklung in Neuseeland und Australien gerade in Kreisen deutscher bürgerlicher Sozialreformer und amerikanischer Progressiver große Aufmerksamkeit erfuhr, schienen doch das stark sozialpartnerschaftlich ausgerichtete System und die relativ weitreichenden staatlichen Versorgungssysteme einen Weg sozialer Politik ohne Ideologie 34 35 36 37

Vgl. Schachner, Soziale Frage, S. 294–301. Ebd., S. 149–154; Hennock, Origin, S. 101–119. Vgl. Sinclair, History, S. 195. Zur Rezeption in Deutschland vgl. Jürgen Tampke, „Pace setter or quiet backwater ?“ German literature on Australia’s labour movement and social policies 1890–1914. In : Labour History, (1979) No. 36, May, S. 3–17. 38 Frank Parsons, The Story of New Zealand, Philadelphia 1904, zit. nach Sinclair, History, S. 179. 39 Alfred Manes, Ins Land der sozialen Wunder. Eine Studienfahrt durch Japan und die Südsee nach Australien und Neuseeland, Berlin 1911 ( in 4. veränderter Auflage unter dem Titel : Der soziale Erdteil. Studienfahrt eines Nationalökonomen durch Australasien, Berlin 1914), S. 249; Henry Demarest Lloyd, A Country Without Strikes, New York 1900. 40 Vgl. Schachner, Soziale Frage, S. 329.

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und Klassenkampf zu gewährleisten. Gerade dies lies das Modell Neuseeland in der zeitgenössischen Wahrnehmung auch für die europäischen Staaten und die USA zum Vorbild werden. Henry D. Lloyd betonte in einer weiteren Veröffentlichung über Neuseeland aus dem Jahre 1903, die Amerikaner täten gut daran, das eine oder andere zu kopieren.41 Die Aufmerksamkeit war zweifellos groß, doch die Frage einer Übertragbarkeit des neuseeländischen Modells auf Europa oder Nordamerika wurde in der internationalen Debatte skeptisch beurteilt. Dies galt insbesondere für die starken staatlichen Eingriffe in die Arbeitsbeziehungen. Der US - amerikanische Ökonom Victor Selden Clark (1868–1946) hielt die Übertragung eines Zwangssystems wie der neuseeländischen „compulsary arbitration“ für unmöglich. „Ein Amerikaner wehrt sich gegen scharfe Maßregeln und eiserne Gesetzesumklammerungen. [...] Ein tätiges Leben ist die Idee der gegenwärtigen Generation in Amerika; der Gedanke, daß der Staat ihrem persönlichen Tätigkeitsbegehren entgegensteht, ist ihm unerträglich. Unsere Gewohnheiten, Gedankengänge und Anlagen sind grundverschieden von denen Neuseelands. Wir sind kein dem Gesetz in gleicher Weise gehorchendes Volk, sondern von einem kraftvollen individuellen Unabhängigkeitsgefühl erfüllt. In Amerika würden bald Löcher in solche Gesetze, wie sie Neuseeland hat, gehöhlt sein.“42 Der britische Liberale Herbert Henry Asquith (1852–1928), ab 1905 Schatzkanzler und von 1908 bis 1916 Premierminister, zollte der neuseeländischen Entwicklung durchaus Respekt. Es würden dort politische und soziale Experimente unternommen, die für die alten Länder Europas informativ und instruktiv seien, aber „it would be impossible for any other communitiy to form a parallel“.43 Auch unter den französischen Autoren, die sich mit Neuseeland befassten, überwog die Skepsis. Albert Métin schätzte zwar die soziale Entwicklung des Landes positiv ein, vor allem staunte er über soviel „socialisme sans doctrines“, aber ähnlich wie andere französische Beobachter hielt er eine Übernahme des „australasiatischen“ Systems in Europa allein schon aus Konkurrenzgründen für unmöglich. Europa sei zu stark in den Weltmarkt eingebunden.44 Robert Schachner hielt gerade dieses Argument für wenig stichhaltig. Erstens gebe es eine Reihe von Gewerben, die rein auf den lokalen bzw. nationalen Markt gerichtet seien, zudem klinge das Argument aus dem Munde von Schutzzolländern wie USA, Frankreich und Deutschland doch etwas seltsam. Die 41

Vgl. Henry D. Lloyd, Notes of a Democratic Traveller in New Zealand with some Australian Comparisons, New York 1903, zit. nach Lux, Arbeiterbewegung, S. 37. 42 Zit. nach Schachner, Soziale Frage, S. 266. Vgl. auch Victor S. Clark, Labor Conditions in New Zealand. Bulletin of the Bureau of Labor, Washington, Nov. 1903, zit. nach Lux, Arbeiterbewegung, S. 38. 43 Zit. nach Sinclair, History, S. 195. 44 Vgl. Albert Métin, Le Socialisme sans doctrines, Paris 1901, siehe auch Louis Vigoureux, L’Évolution sociale en Australasie, Paris 1902; Bertrand Nogaro, L’Arbitrage obligatoire et la propagation du contrat collectif en Australasie, Paris 1906, dazu kritisch Schachner, Soziale Frage, S. 267, zum Inhalt jeweils kurz Lux, Arbeiterbewegung, S. 35 f.

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Vergleich und Transfer

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Schutzzölle erschwerten den internationalen Wettbewerb weit mehr als „jene unerheblichen Lohnbesserungen, selbst wenn diese kein Äquivalent in der Leistung fänden“.45 Schachner plädierte sehr nachhaltig für das neuseeländische Schlichtungs - und Lohnsystem : „Die Bekämpfung der Schwitzindustrie46 und die Erhebung der Verhältnisse des höchstzahlenden Unternehmens zur allgemeinen Norm wäre eine segensreiche Wirkung, die von Lohnregulierungsbehörden und - gerichten überall ohne Schaden für Volkswirtschaft und Wettbewerb ausgehen könnte.“47 Die Ablehnung einer Lohnfestsetzung übersehe, welche ungeheuren Verluste jährlich durch Streiks zu beklagen seien. Noch schlimmer sei der wachsende Hass der Arbeiter gegen den „übermächtigen Kapitalismus“. Schachners Folgerung : „Der Staat kann auf Dauer den Kämpfen zwischen kapitalistischem Unternehmertum und kapitalloser Arbeiterschaft nicht teilnahmslos zuschauen.“48 Der deutsche Sozialreformer argumentierte scharf. Keine „amerikanischen Tiraden über demokratische Gleichheit“ könnten über die „Ungleichheit je nach der kapitalistischen Kraft hinwegtäuschen“. Die Freiheit des Arbeitsvertrages sei eine „papierne Phrase der Unternehmerwillkür“.49 Dagegen seien die „Aufhebung der ungezügelten Freiheit des Arbeitsvertrages und der heutigen Diktatur der Arbeitgeber im Erwerbsleben“ Maßnahmen, worin Australasien als „unabweisbares Vorbild“ voranleuchte; sie allein werde „die Leiden, Verfolgungen und Vergewaltigungen unserer Arbeiterschaft beseitigen“.50 Bei aller Kapitalismuskritik war Schachner kein Sozialist. Hierin ähnelte er den von ihm verehrten Sozialpolitikern Neuseelands. Auch William Pember Reeves, einer der Architekten des neuseeländischen Modells, war kein Sozialist im europäischen Sinne. Er war Mitglied der Liberal Party, nannte sich allerdings selbst „state socialist“ und war von den Ideen der Fabian Society beeinflusst, jener Vereinigung, die einen evolutionären Weg zum Sozialismus anstrebte und denen prominente Intellektuelle wie George Bernard Shaw, H.G. Wells und das Ehepaar Sidney und Beatrice Webb, bekannt für ihre Standardwerke zur britischen Gewerkschaftsbewegung, angehörten. Reeves werden auch Einflüsse von Ferdinand Lassalle nachgesagt – dies korreliert mit der starken Fixierung auf den Staat bei der Lösung sozialer Probleme.51 Ein weiterer Architekt des neuseeländischen Sozialstaats, der Sekretär des Departments of Labour Edward Tregear (1846–1931), war ebenfalls kein „Sozialist“ im parteipolitischen Sinne, er war ein „self - styled ‚socialist‘“, sein Sozialismus „derived not from theory but

45 Vgl. Schachner, Soziale Frage, S. 269. 46 Vom englischen Begriff „sweat industry“, ausbeutungsgeprägte Industrie mit niedrigen Arbeitslöhnen und schlechten Arbeitsbedingungen. 47 Vgl. Schachner, Soziale Frage, S. 269. 48 Ebd., S. 270. 49 Ebd. 50 Ebd. 51 Vgl. Davidson, Two Models, S. 82.

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from his experience“.52 Tregear, zunächst Mitglied der liberalen Partei, schloss sich später der Labour Party an und war zeitweise Präsident der 1913 gegründeten Social Democratic Party.53 Auf wenig Gegenliebe stieß das neuseeländische Modell bei den europäischen Sozialisten, allen voran bei den deutschen Sozialdemokraten und Gewerkschaftern. Die Integration von Gewerkschaften in ein staatlich organisiertes Zwangsschlichtungssystem bei gleichzeitigem Verbot von Streiks schien deutschen Gewerkschaftern, die trotz allem „Reformismus“ marxistischen Klassenkampfprinzipien verbunden waren, wenig erstrebenswert. Zu berücksichtigen waren auch die politischen Verhältnisse im Deutschen Reich, die sich von den korporatistisch - sozialpartnerischen Strukturen unter staatlicher Obhut in Neuseeland sehr stark unterschieden. Am stichhaltigsten war jedoch der Ver weis auf die Dimensionen des Landes. Max Schippel illustrierte dies in der „Neuen Zeit“ mit einem deutlichen Vergleich. Australien habe zusammen mit Tasmanien und Neuseeland soviel Einwohner wie das Königreich Sachsen. Und wenn die Bergleute des ganzen Erdteils streikten, so brauche man nicht an „mehr feiernde Arbeiter zu denken wie etwa sonst bei einem Strike im Zwickauer Kohlenrevier“.54 Und Schippel ließ es sich auch nicht nehmen, auf die eigentlichen Ursachen der sozialen Errungenschaften „Australasiens“ zu verweisen – dies seien die günstige Lage auf dem Arbeitsmarkt und die Aktivitäten der Gewerkschaften.55 Ein weiterer Beitrag in der Neuen Zeit aus der Feder von Max Beer kommentierte den Australasien - Boom mit einiger Süffisanz. Nachdem europäische Politiker sich zunächst nach England und in die Vereinigten Staaten begeben hätten, um sich an den vor dem dunklen Hintergrund des europäischen Kontinents lichtvoll abhebenden angel - sächsischen Institutionen zu erbauen, sei nun Neuseeland an der Reihe, eine wachsende Flut von Literatur darüber sei die Folge. Das Ganze habe eine antimarxistische Stoßrichtung. Man wolle den Leuten weismachen, der Klassenkampf sei überwunden und das Volk habe nur einen Feind : „das Monopol“.56 Sieht man von Großbritannien und Australien ab, so diente Neuseeland bei aller Aufmerksamkeit nicht als Vorbild für die Formung der unterschiedlichen Sozialstaaten im ausgehenden „langen 19. Jahrhundert“. Allerdings war Neuseeland mit seinem spezifischen sozialstaatlichen Modell ein Beispiel für den Paradigmenwechsel, der in dieser Phase zu erkennen ist – die Entstehung eines Staatsgedankens, der mit welchen Methoden und wie weitgehend auch immer 52 Vgl. K. R. Howe, „Tregear, Edward Robert“ from the Dictionary of New Zealand Biography. Te Ara – the Encyclopedia of New Zealand (http ://www.TeAra.govt.nz / en / biographies /2t48/ tregear - edward - robert; 30.10. 2012). 53 Vgl. Sinclair, History, S. 209. 54 Vgl. Max Schippel, Arbeiterzustände in Australien. In : Neue Zeit, 11 (1892/93), Band 1, S. 134–140, 170–175, 221–226, 244–49, 135. 55 Ebd., S. 138. 56 Vgl. Max Beer, Das neuseeländische Ideal. In : Die Neue Zeit, 20 (1901/02, Band 2, S. 325–329, 365–369, 326. Zur Diskussion in der deutschen Arbeiterbewegung vgl. Tampke, Pace Setter.

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Vergleich und Transfer

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die Intervention in soziale und ökonomische Prozesse als erforderlich ansah. Neuseeland war zudem Beispiel für ein Grundelement der sozialstaatlichen Formierungsphase : Für den Austausch und den Transfer von Ideen im Zusammenhang mit den entstehenden unterschiedlichen Sozialstaatssystemen, die sich in seinem Falle mit eigenen Entwürfen verbanden und so attraktiv erschienen, dass die internationale sozialpolitische Debatte sich einige Jahre ausführlich mit Neuseeland und Australien befasste.57

4.

Ausblick

Die Bedeutung Neuseelands in der sozialpolitischen Debatte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist in den Untersuchungen zu Welfare State und Sozialstaat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert aus dem Blickfeld geraten. Dies mag auch mit einer Entwicklung zu tun haben, in der Neuseeland vom einstmaligen Pionier eines breit ausgebauten Sozialstaates zu einem „laggard“ auf diesem Gebiet wurde.58 Anders als Schweden, das bis in die jüngste Vergangenheit als Modell für einen sozialdemokratischen skandinavischen Weg stand, fuhr Neuseeland seinen Wohlfahrtstaat seit den 1970er Jahren im Zeichen einer neoliberalen Wende zurück. Die Blütezeit des unter liberaler Regierung beginnenden neuseeländischen Wohlfahrtsstaates ging bereits nach dem Tod des Premiers Richard Seddon im Jahre 1906 dem Ende entgegen. Der Traum einer weitgehend konfliktfreien Wohlstandspolitik wich einer stärkeren Konfrontationspolitik. „The Liberal dream of a national unity overriding sectional differences, of effective equality, ‚a fair go‘ for all, had not fitted the facts of capitalistic life.“59 Selbst einer der Väter der „compulsary arbitration“, Edward Tregear, wandte sich von diesem System ab und schlug mit der Social Democratic Party unter Einschluss der marxistisch orientierten „Red Federation“ einen klassenkampfbetonteren Kurs ein.60 Als die neuseeländische Labour Party 1935 auf dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise die Regierung übernahm, knüpfte sie allerdings an die sozialliberale Politik der Jahrhundertwende an : „We take up where Seddon left off.“61 Mit dem Social Security Act von 1938 schuf sie einen Wohlfahrtsstaat, der über das liberale Experiment der Jahrhundertwende weit hinaus ging und Neuseeland zu jener Zeit zum „the world’s largest spender on social security“62 werden ließ, eine Position, in der Neuseeland nur von Schweden in den 1960er Jahren überholt werden sollte. 57 Ausführlicher zum Thema Brunner, „Pioniere“ und „Modelle“. 58 Vgl. Deborah Mabbett, Trade, Employment, and Welfare. A Comparative Study of Trade and Labour Market Policies in Sweden and New Zealand, 1880–1980, Oxford 1995, S. 180. 59 Vgl. Sinclair, History, S. 220. 60 Vgl. ebd., S. 218. 61 So Premier Michael Joseph Savage, zit. nach Davidson, Two Models, S. 75. 62 Ebd., S. 1 f.

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Diktaturforschung und Diktaturenvergleich zwischen „Streitgeschichte“ und systematischer Analyse1 Detlef Schmiechen - Ackermann Besonders relevante und brisante Themen der Zeitgeschichte – wie beispielsweise die Fragen nach der Schuld am Ersten Weltkrieg oder der Bedeutung von „1968“ – sind, so wurde vor einigen Jahren in einer Konferenz und der daraus hervorgehenden Buchpublikation2 sehr treffend formuliert, besonders geeignet, den historischen Ereignissen in der „Epoche der Mitlebenden“3 den Charakter einer „Streitgeschichte“ zu verleihen. Dies ist verständlich, denn es geht eben nicht nur um eine möglichst reflektierte Analyse eines gerade erst vergangenen Zeitabschnittes – zur Debatte stehen zugleich auch eigene Lebensentwürfe und politische Überzeugungen und letztlich die Legitimation des eigenen Verhaltens in dieser Zeit. Wenn also die Beschäftigung mit zeithistorischen Themen generell dafür prädestiniert ist, zum Gegenstand öffentlicher Debatten und Auseinandersetzungen über Werte und politische Überzeugungen zu werden, so gilt dies für die Betrachtung von Diktaturen in ganz besonderem Maße. Die prägnantesten Diktaturen des 20. Jahrhunderts waren ganz explizit mit ideologischen Zielvorstellungen oder historischen Interpretationen verbunden wie der einer „Diktatur des Proletariats“ ( in den kommunistischen Regimen ) oder der eines sozialdarwinistischen Kampfes der Rassen ( im Nationalsozialismus ). Die ideologisch geprägten Massenbewegungsregime4 des 20. Jahrhunderts zielten eben 1 2 3

4

Eine erweiterte und modifizierte Version dieses Aufsatzes erscheint in der Online - Enzyklopädie docupedia unter : Detlef Schmiechen - Ackermann, Diktaturenvergleich, Version 1.0. In : Docupedia - Zeitgeschichte, 9. 5. 2014. Vgl. Martin Sabrow / Ralph Jessen / Klaus Große Kracht ( Hg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen nach 1945, München 2003; Klaus Große Kracht, Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945, Göttingen 2005. Diese klassische Definition der Zeitgeschichte wurde geprägt von Hans Rothfels, Zeitgeschichte als Aufgabe. In : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 1 (1953), S. 1–8. Vgl. hierzu auch Andreas Wirsching, „Epoche der Mitlebenden“ – Kritik der Epoche. In : Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Online - Ausgabe, 8 (2011) ( http ://www.zeithistorische - forschungen.de /16126041–Wirsching - 1–2011). Diese Kategorisierung geht zurück auf Robert C. Tucker, Towards a Comparative Politics of Movement Regimes. In : The American Political Science Review, 55 (1961), S. 281–289. In dt. Übersetzung : Auf dem Weg zu einer politikwissenschaftlichen vergleichenden Betrachtung der „Massenbewegungsregime“. In : Bruno Seidel / Siegfried Jenkner ( Hg.), Wege der Totalitarismus - Forschung, Darmstadt 1968, S. 382–404.

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nicht nur darauf, ihre diktatorische Herrschaft durch die Ausübung militärischer und polizeilicher Gewalt aufrecht zu erhalten ohne eine tiefgreifende Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse anzustreben, sie trachteten danach, die Gesellschaft möglichst „total“ zu durchdringen und zu durchherrschen. Das ( Über )Leben unter einer solchen Diktatur mit totalitärem Herrschaftsanspruch ist kaum durch eine völlig distanzierte und passive Hinnahme von Herrschaft zu realisieren. Im Alltagsleben werden kontinuierlich Verhaltensanforderungen gestellt, die auf ein mindestens partielles aktives „Mitmachen“ hinauslaufen. Vom Einzelnen werden immer wieder performative Akte der „Zustimmung“ (z. B. der Hitlergruß im Nationalsozialismus oder die „Selbstkritik“ in kommunistischen Regimen ) eingefordert. Wenn also die ( selbst - )kritische Beobachtung des Sozialpsychologen Peter Brückner zutrifft, dass in solchen Diktaturen selbst der Dissident „bei aller Frechheit und Intelligenz über weite Strecken hilflos“ werde und damit rechnen müsse „über die Technik der ‚kleinsten Schritte‘ [...] Mitglied in einer kriminellen Vereinigung“ zu werden5, dann ist es nur zu verständlich, dass die spätere Auseinandersetzung mit einer solchen untergegangenen Diktatur durch die „Mitlebenden“ nicht aus einer distanzierten Position heraus erfolgen kann. In der postdiktatorischen „Vergangenheitsbewältigung“ wird und muss also „gestritten“ werden, und zwar nicht nur um justiziable Verbrechen und politische Verantwortung, sondern auch um individuelle Lebensentwürfe und das willige bis erzwungene „Mitmachen der Vielen“.6 Vor diesem Hintergrund wird klar, warum vergleichende Betrachtungen von Diktaturen in den öffentlichen Debatten der alten wie auch der neuen Bundesrepublik immer wieder besonders umstritten waren : Das „Vergleichen“ von Diktaturen ist bei Einhaltung der notwendigen methodischen Standards ohne Zweifel ein sinnvolles wissenschaftliches Verfahren – zugleich aber sind vergleichende Betrachtungen des Nationalsozialismus mit kommunistischen Regimen immer wieder auch instrumentalisiert worden, um aktuelle politische Interessen zu verfolgen.

1.

Entstehung und Entwicklung der Diktaturforschung und des Diktaturenvergleichs im 20. Jahrhundert

Diktatorische Regime unterschiedlichen Zuschnitts hat es in der Antike und im Mittelalter ebenso gegeben wie in der frühen Neuzeit. In Frankreich entstanden im Übergang vom 18. zum „langen“7 19. Jahrhundert aus den revolutionären 5 6 7

Peter Brückner, Das Abseits als sicherer Ort. Kindheit und Jugend zwischen 1933 und 1945, Berlin ( West ) 1980, S. 109 f. Vgl. Alf Lüdtke, Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial - anthropologische Studien, Göttingen 1991. Die häufig zitierte Denkfigur des „langen“ 19. Jahrhunderts geht auf den britischen Historiker Eric Hobsbawm zurück. Sie beinhaltet die These, dass das 19. Jahrhundert bereits 1789 mit der Französischen Revolution beginnt und erst 1914 mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges endet. Vgl. hierzu Eric Hobsbawms dreibändige Analyse des

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Diktaturforschung und Diktaturenvergleich

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Umwälzungen kurz nacheinander gleich mehrere als diktatorisch zu qualifizierende Regime : die terroristische Diktatur des Wohlfahrtsausschusses unter Robespierre, das Zwischenspiel der anschließend den „weißen Terror“ ausübenden Thermidorianer und das usurpierte Kaisertum Napoleons I.8 Folgt man der eurozentrisch geprägten Gesamtdarstellung George W. F. Hallgartens, der historisch ältere außereuropäische Spielarten diktatorischer Herrschaft ganz ausblendet, so führte erst das 19. Jahrhundert zu einer Internationalisierung des Phänomens der Diktatur. Zwar haben alle diese Regime in ihrer Zeit auch Kritiker der diktatorischen Verhältnisse auf den Plan gerufen und sind in der Wissenschaft retrospektiv analysiert worden, aber erst die Durchsetzung demokratischer politischer Vorstellungen und Normensysteme hat die theoretischen Voraussetzungen geschaffen, auf denen eine umfassendere systematische Analyse von Diktaturen im 20. Jahrhundert aufbauen konnte. „Diktaturforschung“ in diesem Sinne gibt es also erst, seit es auch „moderne Diktaturen“ gibt. Und es gab und gibt sie in der Regel nicht im Herrschaftsgebiet einer Diktatur, solange diese in der Lage ist, das öffentliche kritische Nachdenken über das aktuelle politische System zu unterbinden. Vor allem die Krisen der Weimarer Republik und der Aufstieg der Nationalsozialisten in Deutschland stimulierten seit Mitte der 1920er Jahre und verstärkt in den 1930er Jahren eine größere Zahl von vergleichenden Diktaturanalysen, die den Fokus auf die zunehmende Etablierung faschistischer Bewegungen in Europa9 oder das Herrschaftsinstrument der Einparteiendiktatur10, besonders intensiv aber auf einen als zeitprägend identifizierten umfassenderen politischen Veränderungsprozess legten : den Niedergang der liberalen Demokratien und die beinahe unaufhaltsam erscheinende Ausbreitung von Diktaturen im Europa der Zwischenkriegszeit.11 Auf die antiken Vorläufer rekurrierend sprach der liberale französische Historiker Élie Halévy (1870–1937) von einer „ère des tyrannies“.12 „langen“ 19. Jahrhunderts : Europäische Revolutionen [1789–1848], Köln 2004 ( ND ); Die Blütezeit des Kapitals. Eine Kulturgeschichte der Jahre 1848–1875, Frankfurt a. M. 1980; Das imperiale Zeitalter 1875–1914, Frankfurt a. M. 2008 ( ND ). 8 Vgl. George W. F. Hallgarten, Dämonen oder Retter ? Eine kurze Geschichte der Diktatur seit 600 v. Chr., München 1966, S. 75–122. 9 Vgl. Hermann Heller, Europa und der Fascismus, Berlin 1929. 10 Vgl. Hans Kelsen, The Party - Dictatorship. In : Politica ( London ), März 1936, S. 19–32. 11 Vgl. Moritz Julius Bonn, Die Krisis der europäischen Demokratie, München 1925 (orig.: The Crisis of European Democracy, New Haven 1925); Henry R. Spencer, European Dictatorships. In : The American Political Science Review, 21 (1927), S. 537–549; Karl Loewenstein, Autocracy versus Democracy in Contemporary Europe. In : The American Political Science Review, 29 ( August 1935), No. 4, S. 571–593 und No. 5 (October 1935), S. 755–784; Guy Stanton Ford ( Hg.), Dictatorship in the Modern World, 2. Auf lage London 1939 ( erstmals : Minneapolis 1935); Eduard Heimann, Communism, Fascism or Democracy ?, New York 1938; Franz Borkenau, The Totalitarian Enemy, London 1940. 12 Élie Halévy, The Era of Tyrannies. In : ders., The Era of Tyrannies, translated by R. K. Webb, Garden City NY 1965, S. 265–285; die Diskussion hierzu S. 287–316 (orig.: L’ère des tyrannies. In : Bulletin des la Société Française des Philosophie, 1936, S. 181–253).

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Einen streng chronologischen Ansatz zur Beschreibung des historischen Auftretens von Diktaturen verfolgte Mitte der 1950er Jahre der aus Deutschland in die USA emigrierte Historiker George W. F. Hallgarten, der auf knapp 300 Seiten eine „kurze Geschichte der Diktatur“ entwarf13, die von den Anfängen in der antiken Welt über die Tyrannen der Renaissance, die Diktatur Oliver Cromwells im frühneuzeitlichen England, die vom Wohlfahrtsausschuss zum usurpierten Kaisertum Napoleons I. führende Französische Revolution und die lateinamerikanischen Diktaturen des 19. Jahrhunderts bis hin zu den modernen Massenbewegungsregimen reicht. Ein ähnlich großer Bogen, der alle Epochen von diktatorischer Herrschaft reflektiert, ist seither nicht mehr geschlagen worden. Jüngere Überblicke zur Diktatur konzentrieren sich auf entweder eingegrenzte Zeitabschnitte14, auf bestimmte Regimeformen wie den kontrovers diskutierten „Typus“ der faschistischen15 oder der kommunistischen Diktatur16 oder auf den Vergleich von Nationalsozialismus und Stalinismus.17

2.

Franz Neumanns unvollendete Überlegungen zu einer „Theorie der Diktatur“

In der Rückschau auf die von den 1940er bis in die 1960er Jahre reichende Konstitutionsphase der theoretisch fundierten und auf systematische Analyse zielenden modernen Diktaturforschung18 gewinnen vor allem die kurz nach 13 Hallgarten, Dämonen. Vgl. als Vorläufer auch : ders., Why Dictators ? The Causes and Forms of Tyrannical Rule. Since 600 B. C., New York 1954. 14 Vgl. Stephen J. Lee, The European Dictatorships 1918–1945, 2. Auflage London 2000; Gerhard Besier, Das Europa der Diktaturen. Eine neue Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2006. 15 Vgl. Wolfgang Schieder ( Hg.), Faschismus als soziale Bewegung. Deutschland und Italien im Vergleich, Göttingen 1983; Wolfgang Wippermann, Europäischer Faschismus im Vergleich 1922–1982, Frankfurt a. M. 1983; Maurizio Bach, Die charismatischen Führerdiktaturen. Drittes Reich und italienischer Faschismus im Vergleich ihrer Herrschaftsstrukturen, Baden - Baden 1990; Richard Bessel ( Hg.), Fascist Italy and Nazi Germany. Comparisons and contrasts, Cambridge 1996; Jerzy W. Borejsza, Schulen des Hasses. Faschistische Systeme in Europa, Frankfurt a. M. 1999; Hans Woller, Rom, 28. Oktober 1922. Die faschistische Herausforderung, München 1999; Stanley G. Payne, Geschichte des Faschismus. Aufstieg und Fall einer europäischen Bewegung, München 2001; Roger Griffin, A Fascist Century, Basingstoke 2008. 16 Vgl. Carl Beck, Comparative Communist Political Leadership, New York 1973; Jerzy Holzer, Der Kommunismus in Europa. Politische Bewegung und Herrschaftssystem, Frankfurt a. M. 1998; François Furet, Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, München 1998. 17 Richtungweisend hier Ian Kershaw / Moshe Lewin ( Hg.), Stalinism and Nazism. Dictatorships in Comparison, Cambridge 1997. Vgl. auch Matthias Vetter ( Hg.), Terroristische Diktaturen im 20. Jahrhundert. Strukturelemente der nationalsozialistischen und stalinistischen Herrschaft, Opladen 1996; Henry Rousso ( Hg.), Stalinisme et nazisme. Histoire et mémoire comparées, Brüssel 1999; Dietrich Beyrau, Schlachtfeld der Diktatoren. Osteuropa im Schatten von Hitler und Stalin, Göttingen 2000. 18 Ein ausführlicherer Abriss zur Forschungsgeschichte in Detlef Schmiechen - Ackermann, Diktaturen im Vergleich, 3. Auflage Darmstadt 2010, S. 22–56.

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Kriegsende von Franz Leopold Neumann vorgelegten „Notizen zur Theorie der Diktatur“19 grundlegende Bedeutung. Neumann definiert eine „Diktatur“ als „eine Herrschaft einer Person oder einer Gruppe, die sich die Macht im Staat aneignet, sie monopolisiert und ohne Einschränkung ausübt“.20 Idealtypisch unterscheidet er drei Varianten von Diktaturen : Die „einfache Diktatur“ stellt eine Tyrannei oder Despotie dar, die sich vor allem auf die Kontrolle der typischen Herrschaftsinstrumente und Zwangsmittel konzentriert und beschränkt, die zur Machterhaltung in autoritären Regimen üblicherweise herangezogen werden : Armee, Polizei und Bürokratie. In der „caesaristischen Diktatur“ wollen Herrscher und Regime nicht nur die Gesellschaft effektiv kontrollieren, sie streben zugleich auch nach öffentlicher Unterstützung, um ihre Macht abzusichern. Die „moderne totalitäre Diktatur“ stellt eine drastische Zuspitzung der „caesaristischen“ Herrschaftsvariante dar. Die Durchdringung der Gesellschaft und ihre Ausrichtung nach den Interessen des Regimes soll in diesem Diktaturtypus alle Lebensbereiche umfassen, ist also auf „Totalität“ ausgerichtet. Dabei stellt Franz Neumann fünf wesentliche Merkmale heraus : die Umwandlung des Rechtsstaates in einen Polizeistaat, die Aufhebung der Gewaltenteilung und föderaler Prinzipien, die Schaffung einer monopolistischen Staatspartei als flexibles Machtinstrument, eine Verschmelzung von Staat und Gesellschaft und schließlich politisch motivierte Gewaltanwendung sowie die Drohung, terroristische Maßnahmen gegen jede Abweichung jederzeit einsetzen zu können, als zentrales Element dieser diktatorischen Herrschaftspraxis.21 Franz Neumann argumentierte nicht allein von einer abstrakt - theoretischen Denkweise aus, er verarbeitete zugleich seine eigene Diktaturerfahrung. Als in Berlin für die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften tätiger, politisch engagierter Jurist war er im April 1933 kurzzeitig inhaftiert worden und emigrierte angesichts der politischen Verfolgungen über eine Zwischenstation in London 1936 in die USA.22

19 Franz Neumann, Notizen zur Theorie der Diktatur. In : ders., Demokratischer und autoritärer Staat. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt a. M. 1986 ( Neudruck ), S. 224–247 ( orig. : Notes on the Theory of Dictatorship. In : ders., The Democratic and the Authoritarian State. Essays in Political and Legal Theory, New York 1957, S. 233– 256). 20 Neumann, Notizen, S. 224. 21 Vgl. ebd., S. 234–247. 22 Franz Neumann starb 1954 bei einem Autounfall. Zu dieser Zeit arbeitete er gerade an seinen „Notizen zur Theorie der Diktatur“, die unvollendetes Fragment blieben. Ausführlich zur Biographie : Gert Schäfer / Franz Neumann. In : Hans - Ulrich Wehler (Hg.), Deutsche Historiker, Band VIII, Göttingen 1982, S. 96–113.

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3.

Sigmund Neumann und Hannah Arendt als Impulsgeber der vergleichenden Diktaturforschung

Ebenfalls durch den persönlichen Erfahrungshintergrund von Verfolgung und Exil grundiert waren die richtungsweisenden Analysen von Sigmund Neumann und Hannah Arendt. Sigmund Neumann hatte sich vor 1933 im Rahmen seiner beruflichen Karriere an der Berliner Deutschen Hochschule für Politik zunächst vor allem der Parteienforschung gewidmet.23 Als überzeugter Verfechter der Weimarer Republik emigrierte Neumann 1933 nach London und fand ein Jahr später ein neues Betätigungsfeld an der Wesleyan University in Connecticut.24 Im einleitenden Kapitel seines 1942 in den USA publizierten Hauptwerkes „Permanent Revolution“ entwickelt Sigmund Neumann seinen konzeptionellen Leitbegriff der „modernen Diktatur“ und verweist darauf, dass diese totalitären Regime als „Revolutionen in Permanenz“25 auf längere Dauer ausgelegt seien als ältere Formen autokratischer Herrschaft. Seine vergleichende Analyse konzentriert sich auf drei Fallbeispiele : die Sowjetunion, das faschistische Italien und das nationalsozialistische Deutschland. Im Gegensatz zu zahlreichen anderen Diktatur - und Totalitarismusforschern und - forscherinnen präsentiert sich Sigmund Neumann als empirisch arbeitender historischer Sozialwissenschaftler: Er benutzt sein Material nicht, um ein a priori bestehendes hypothetisches Theoriegebäude mit anschaulichen Beispielen zu unterlegen – er begibt sich anhand seiner Vergleichsfälle ergebnisoffen auf die Suche nach verallgemeinerbaren Mustern moderner Diktaturen („patterns of dictatorship“).26 Dabei identifiziert er fünf solcher Strukturmerkmale : das Versprechen der Stabilität, das Prinzip der ständigen Aktion statt eines fixierten politischen Programms, eine pseudo -

23 Sein 1932 vorgelegtes Buch „Die deutschen Parteien. Wesen und Wandel nach dem Kriege“ ( als Nachdruck : Goldbach 1995) erlebte unter dem Titel „Die Parteien der Weimarer Republik“ nach 1945 mehrere Auflagen ( zuletzt : 5. Auflage Stuttgart 1986) und gilt bis heute als Standardwerk. Sigmund Neumann entwickelt in dieser Studie eine grundlegende Differenzierung zwischen demokratischen Parteien und „absolutistischen Integrationsparteien“ mit „cäsaristischen Zügen“ wie der KPD und der NSDAP ( bis 1933). 24 Zu Vita und Werk Sigmund Neumanns in knappem Überblick : Alfons Söllner, Sigmund Neumanns „Permanent Revolution“. Ein vergessener Klassiker der vergleichenden Diktaturforschung. In : ders./ Ralf Walkenhaus / Karin Wieland ( Hg.), Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin 1997, S. 53–73. Vgl. auch die einführende biographische Skizze Karl Dietrich Brachers in Neumann, Parteien, S. 7 f. 25 Sigmund Neumann, Permanent Revolution. The Total State in a World at War, New York 1942 (2. Auflage New York 1965, mit verändertem Untertitel ). Obwohl es sich um ein richtungsweisendes Standardwerk der modernen Diktaturforschung handelt, erschien dieses Buch erst 2013 in deutscher Übersetzung : Sigmund Neumann, Permanente Revolution. Totalitarismus im Zeitalter des internationalen Bürgerkriegs. Hg. von Gerhard Besier und Ronald Lambrecht, Münster 2013. 26 Sigmund Neumann, Permanent Revolution (1942), S. 36–43. Vgl. hierzu auch Söllner, Permanent Revolution, S. 54; Schmiechen - Ackermann, Diktaturen im Vergleich, S. 57.

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demokratische massenwirksame Verankerung, eine kriegerische Psychologie sowie das Führerprinzip. Auch Hannah Arendt floh 1933 aus Berlin nach Paris, nachdem sie von der Gestapo verhaftet und eine Woche lang verhört worden war. Im Mai 1940 wurde sie für einige Wochen im südfranzösischen Internierungslager Gurs inhaftiert, konnte aber der ihr drohenden Deportation in die nationalsozialistischen Konzentrations - und Vernichtungslager knapp entkommen.27 Diese existentielle Erfahrung von Ausgrenzung, Terror und Lagerhaft bildet den biographischen Hintergrund für ihre Arbeiten über die Diktatur. Zwischen 1945 und 1949 verfasste Hannah Arendt ihr Opus magnum „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, das bis heute ein Standardwerk der Diktaturforschung geblieben ist. Dabei überzeugt ihre Analyse keineswegs durch empirische Evidenz ( viele ihrer Beispiele und Annahmen sind durch weitere Forschungen heute als widerlegt anzusehen ), sondern durch ihre beeindruckenden impulsgebenden geschichtsphilosophischen und politikwissenschaftlichen Überlegungen28 : Die als kollektiver Akteur in den Blickpunkt gerückten „totalitären Bewegungen“ charakterisiert sie als „Massenorganisationen atomisierter und isolierter Individuen“, die dadurch gekennzeichnet sind, dass ihre Führer von der Gefolgschaft eine „unerhörte Ergebenheit und ‚Treue‘ verlangen und erhalten können.“29 „Erstaunlich und beunruhigend“ ist für sie „die unzweifelhafte Anziehungskraft“, die der Totalitarismus auf Teile der geistigen und künstlerischen Meinungsführer ausübt und die zu einem „zeitweiligen Bündnis zwischen Mob und Elite“ führen kann.30 Einmal an die Macht gelangt, stützten sich diktatorische Regime mit totalitärem ( also : umfassenden und entgrenzten ) Herrschaftsanspruch vor allem auf drei Machtmittel : den Staatsapparat, die Geheimpolizei und das Konzentrationslager. Letzteres markiert Arendt als „die konsequenteste Institution totaler Herrschaft“ und als das „richtunggebende Gesellschaftsideal für die totale Herrschaft überhaupt“. Die Lager seien „Laboratorien“, in denen auf experimentelle Weise überprüft werde, „ob der fundamentale Anspruch der totalitären Systeme, dass Menschen total beherrschbar sind, zutreffend ist.“31 In eine andere, in der Forschungsdebatte immer wieder punktuell aufgenommene, dann aber auch wieder in den Hintergrund tretende Interpretations-

27 Zur Biographie : Elisabeth Young - Bruehl, Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt a. M. 1991; Bernd Neumann, Hannah Arendt und Heinrich Blücher. Ein deutsch jüdisches Gespräch, Berlin 1998. 28 Eine knappe Zusammenfassung hierzu in Schmiechen - Ackermann, Diktaturen, S. 31– 34. 29 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, 14. Auflage München 2011 ( orig. : The Origins of Totalitarianism, New York 1951), S. 697. 30 Ebd., S. 702. 31 Ebd., S. 907 und 912.

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richtung verweisen die von Raymond Aron32, Lucie Varga33 und Eric Voegelin34 angestellten Reflexionen über den ersatzreligiösen Charakter moderner Diktaturen. Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass sie – bei durchaus unterschiedlichen Akzentuierungen – das Auftreten von modernen Massenbewegungsregimen mit einer offensiv vertretenen Ideologie als Ausdrucksform einer Art säkularen Ersatzreligion oder „politischen Religion“ in einen ursächlichen Zusammenhang stellen. So einflussreich diese Denkrichtung insbesondere bei der Erklärung bestimmter Teilphänomene von Diktaturen ( wie z. B. Führermythos, emotionale Mobilisierungsfähigkeit, rituelle und mediale Masseninszenierungen ) geworden ist, so wenig hat sie bisher im Hinblick auf eine möglichst umfassend angelegte und empirisch fundierte Gesamtinterpretation moderner Diktaturen zu überzeugen vermocht.35

4.

Kontroverse Debatten um das Konzept der „totalitären Diktatur“

Hatte Hannah Arendt die Denkfigur der „totalen Herrschaft“ entwickelt, um die dynamische Durchsetzungskraft eines terroristischen „Mobs“ und die Machtausübung eines totalitären Regimes, das auf eine möglichst vollkommene Durchherrschung aller gesellschaftlichen Lebensbereiche zielt, verständlich zu machen, so gewann das durch den deutsch - amerikanischen Politikwissenschaftler Carl Joachim Friedrich36 zugespitzte und popularisierte TotalitarismusKonzept37 in den 1950er Jahren eine neue Dimension. In seinem 1956 publi-

32 Vgl. Raymond Aron, Das Zeitalter der Tyranneien. In : ders., Über Deutschland und den Nationalsozialismus. Frühe politische Schriften 1930–1939. Hg. von Joachim Stark, Opladen 1993, S. 186–208; ders., Demokratie und Totalitarismus, Hamburg 1970 (orig. Démokratie et Totalitarisme, Paris 1965). Vgl. zu Leben und Werk : Joachim Stark, Das unvollendete Abenteuer. Geschichte, Gesellschaft und Politik im Werk Raymond Arons, Würzburg 1986; Brigitte Gess, Liberales Denken und intellektuelles Engagement. Die Grundzüge der philosophisch - politischen Reflexionen Raymond Arons, München 1988. 33 Vgl. Lucie Varga, Zeitenwende. Mentalitätshistorische Studien 1936–1969. Hg. von Peter Schöttler, Frankfurt a. M. 1991. 34 Vgl. Eric Voegelin, Die politischen Religionen, München 1993 ( orig. : Wien 1938). 35 Die Argumente, auf denen diese Einschätzung beruht, sind zusammengestellt bei Schmiechen - Ackermann, Diktatur als Vergleich, S. 55. Dort auch ein breiterer Überblick zur Interpretation von modernen Diktaturen als „Politische Religionen“ und zu weiteren Vertretern dieser Denkrichtung ( ebd., S. 49–55). Vgl. auch Hans Maier ( Hg.), „Totalitarismus“ und „Politische Religionen“. Konzepte des Diktaturenvergleichs, Paderborn 1996; ders./ Michael Schäfer ( Hg.), „Totalitarismus“ und „Politische Religionen“. Konzepte des Diktaturenvergleichs, Band II, Paderborn 1997. 36 Friedrich zählte nicht zur Gruppe der vor Hitler aus Europa geflohenen Emigranten. Zu Leben und Werk Friedrichs vgl. Hans J. Lietzmann, Politikwissenschaft im „Zeitalter der Diktaturen“. Die Entwicklung der Totalitarismustheorie Carl Joachim Friedrichs, Opladen 1999. 37 Als Forschungsüberblick : Eckard Jesse ( Hg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, Bonn 1996.

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zierten Hauptwerk „Totalitarian Dictatorship and Autocracy“38 präsentierte Friedrich ein aus deskriptiver Betrachtung gewonnenes „Modell“ eines totalitären Staates, das auf sechs substantielle Bestandteile abhob : a ) eine Ideologie mit Ausschließlichkeitsanspruch, b ) eine Staatspartei, die von einem in den Machtbefugnissen unbeschränkten Diktator geführt wurde, c ) eine terroristische Geheimpolizei, die nicht nur den aktiven Widerstand, sondern bereits auch potentielle Gegner überwachte und verfolgte, d ) ein Nachrichtenmonopol, das dazu diente, der Gesellschaft verbindliche Sinndeutungen aufzuzwingen, e ) ein Waffenmonopol, mit dessen Hilfe jeglicher Widerstand gegen das Regime gebrochen werden konnte, und f ) eine zentral gelenkte und bürokratisch angeleitete Planwirtschaft. Mit dieser „Blaupause“ zum Funktionieren eines totalitären Regimes meinte Friedrich die Herrschaftsrealität unter faschistischen wie unter kommunistischen Diktaturen gleichermaßen adäquat beschreiben zu können. Der „linke“ wie der „rechte“ Totalitarismus seien nämlich „in ihren Wesenszügen gleich“.39 In den Zeitgeist der 1950er und 1960er Jahre passte sich dieses eben nicht vorrangig durch empirische Analyse, sondern in hohem Maße auch durch normative Setzungen entwickelte Erklärungsmodell hervorragend ein. Die Friedrichsche Variante einer „Totalitarismus - Theorie“ ( die niemals die Qualität gewinnen konnte, ein stimmiges Theoriegebäude zu konstituieren ) eignete sich sehr gut, um im Zeichen des Kalten Krieges zur politischen Delegitimierung des Kommunismus instrumentalisiert zu werden – die weitaus reflektierteren Überlegungen von Hannah Arendt, von Sigmund und Franz Neumann und weiteren Diktaturforschern traten in der öffentlichen Rezeption vorübergehend hinter dem plakativen „Modell“ Friedrichs deutlich zurück. Allerdings weist letzteres erhebliche Defizite auf, die in der bald einsetzenden kritischen Rezeption in der Fachwissenschaft scharf akzentuiert wurden : Man warf der von Friedrich repräsentierten Variante der Totalitarismusforschung vor, sie „verwechsele die Ansprüche der modernen Diktaturen mit ihren tatsächlichen Praktiken, weil sie sich von den Selbstinszenierungen der Macht täuschen lasse; sie vermittele ein statisches Bild der Herrschaft und habe über die Gesellschaft nur mitzuteilen, dass diese ein passives Opfer des totalen Staates sei.“40 Zudem 38 Bei der Erstausgabe ( Cambridge / MA 1956) fungierte Zbigniew Brzeziński als Co Autor, die späteren Ausgaben erschienen nach sichtbar gewordenen Differenzen nur noch unter Friedrichs Namen. So auch die in der Textfolge vom englischsprachigen Original abweichende deutsche Fassung : Carl Joachim Friedrich, Totalitäre Diktatur, Stuttgart 1957. 39 Ebd., S. 17. 40 So die treffende Zusammenfassung wichtiger Kritikpunkte durch Jörg Baberowski, Verwandte Feinde ? Nationalsozialismus, Stalinismus und die Totalitarismustheorie. In: Jürgen Danyel / Jan - Holger Kirsch / Martin Sabrow ( Hg.), 50 Klassiker der Zeitgeschichte, Göttingen 2007, S. 52–56, hier 54. Vgl. zu den skizzierten Argumentationslinien auch Hans Mommsen, Leistungen und Grenzen des Totalitarismus - Theorems : die Anwendung auf die nationalsozialistische Diktatur. In : Hans Maier ( Hg.), „Totalitarismus“ und „Politische Religionen“. Konzepte des Diktaturvergleichs, Paderborn 1996, S. 291–300; Ludolf Herbst, Das nationalsozialistische Herrschaftssystem als Vergleichsgegenstand und der Ansatz der Totalitarismustheorien. In : Klaus - Dietmar Henke ( Hg.),

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habe Friedrich den angekündigten Beweis aus dem „Tatsachenmaterial“, dass „totalitäre Diktaturen“ ein Phänomen sui generis seien, nicht angetreten und im Ergebnis keinen „Realtypus“ herauspräpariert, sondern sich auf die hypothetische Konturierung eines „Idealtypus“ im Weberschen Sinne beschränkt.41 Klaus von Beyme bezeichnete Friedrich gar als „einen eher induktiv gestimmten Empiristen, der seine Begriffe ohne erkenntnistheoretische Hochrüstung gewann“.42 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Konstitutionsphase moderner – und das bedeutet eben auch : systematisch vergleichender und typologisierender – Diktaturforschung eng mit der Ausbreitung von diktatorischen Regimen im Europa der Zwischenkriegszeit verbunden ist. Richtungweisende Impulse für die über eine historisch beschreibende Betrachtung hinaus reichende und daher methodisch zwingende Öffnung der Analyseperspektiven hatten sich von Beginn an aus der politik - und sozialwissenschaftlich informierten Diktaturanalyse ergeben, die in den USA bereits seit den 1920er Jahren betrieben wurde. Aus dem nationalsozialistischen Deutschland geflohene Diktaturforscherinnen und Diktaturforscher, die die Erfahrung „totalitärer“ Übermächtigung am eigenen Leibe erfahren hatten, exportierten in den 1930er Jahren – quasi in ihrem „intellektuellen Reisegepäck“43 – die wirkungsmächtige Denkfigur des „Totalitarismus“ in die USA, die in der Folgezeit unter Federführung von Carl Joachim Friedrich zu einer „Totalitarismustheorie“ mit weitreichendem Geltungsanspruch ausgestaltet, allerdings bald auch sehr kontrovers diskutiert wurde. Die zeitweise dominante Deutungsmacht dieses einen sehr spezifischen diktaturvergleichenden Ansatzes lässt sich – jenseits ihres intellektuellen Gehalts – nur aus den Gegebenheiten des Kalten Krieges erklären. Die mit der politischen Indienstnahme des Totalitarismus - Paradigmas einhergehende Gefahr einer Relativierung der Verbrechen des Nationalsozialismus provozierte im Gegenzug seit den 1960er Jahren eine zunehmend ablehnende wissenschaftliche Haltung gegen einen übergeordneten Gattungsbegriff, der sowohl den Stalinismus als auch den Nationalsozialismus umfasst. In der Rückschau ist festzuhalten, dass die Denkfigur des „Totalitarismus“ eben beides war : ein in seinen zahlreichen Varianten unterschiedlich valides wissenschaftliches Analyseinstrument und zugleich ein

Totalitarismus. Sechs Vorträge über Gehalt und Reichweite eines klassischen Konzepts der Diktaturforschung, Dresden 1999, S. 19–26. 41 Wolfgang Wippermann, Totalitarismustheorien. Die Entwicklung der Diskussion von den Anfängen bis heute, Darmstadt 1997, S. 33–34. 42 Klaus von Beyme, Totalitarismus – zur Renaissance eines Begriffs nach dem Ende der kommunistischen Regime. In : Achim Siegel ( Hg.), Totalitarismustheorien nach dem Ende des Kommunismus, Köln 1998, S. 23–36, hier 24. 43 Zu diesem Sprachbild vgl. Alfons Söllner, Das Totalitarismuskonzept in der Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts. In : ders./ Ralf Walkenhaus / Karin Wieland ( Hg.), Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin 1997, S. 10–21, hier 18, der davon spricht, das neue Paradigma sei im „Reisegepäck der Emigranten“ in die USA gelangt.

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politischer Kampfbegriff in Zeiten des Kalten Krieges.44 Dass die begründete Kritik an dieser zweiten Dimension den grundsätzlichen Wert eines Theorieansatzes nicht in Frage stellen kann, ist von den Verfechtern des „Totalitarismus“ - Begriffes immer wieder zu Recht betont worden.45 Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen erlebte der Totalitarismus - Ansatz, erneut in unterschiedlichen Variationen, vor allem in den nachdiktatorischen Staaten des östlichen Europa eine neue Renaissance.46

5.

Kontroversen um den „Diktaturenvergleich“ im wiedervereinigten Deutschland der 1990er Jahre

Vor diesem internationalen Hintergrund erscheint die in Deutschland nach 1990 zum Teil vehement geführte Debatte über Sinn und Legitimität von diktaturvergleichenden Ansätzen in einem besonderen Licht : Sie erweist sich als eine sehr deutsche Nabelschau, denn stets stand die Frage nach dem Verhältnis von NS - Diktatur und SED - Herrschaft im Mittelpunkt bzw. bildete die Einordnung der untergegangenen DDR als „zweite deutsche Diktatur“ den Fokus der Debatte. In der Rückschau ist deutlich erkennbar, dass der damalige Streit um den Vergleich von Diktaturen in hohem Maße eine gesellschaftspolitisch aufgeladene Auseinandersetzung um Deutungshoheit und nur in zweiter Linie eine konzeptionell motivierte Kontroverse dargestellt hat. Überspitzt formuliert : Auf dem Feld der Geschichts - und Politikwissenschaft wurde noch einmal an die gewohnten Konfliktlinien des Kalten Krieges angeknüpft – das „Jahrhundert der Diktaturen“47 erlebte einen letzten Nachhall. Da die „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED - Diktatur in Deutschland“ aufgrund einer politischen Entscheidung im Rahmen einer Enquete - Kommission des Deutschen Bundestages ( während der 12. Wahlperiode, 1990–1994) vorangetrieben wer-

44 Eine umfassendere Zusammenschau der Debatten um Begriff und Konzept des Totalitarismus bei Schmiechen - Ackermann, Diktaturen im Vergleich, S. 30–49. Vgl. auch Besier, Das Europa der Diktaturen, S. 673–701. Zur Funktion des Paradigmas im Kalten Krieg vgl. auch Abbott Gleason, Totalitarianism : The Inner History of the Cold War, New York 1995. 45 Vgl. hierzu vor allem Karl - Dietrich Bracher, Der umstrittene Totalitarismus. Erfahrung und Aktualität. In : ders., Zeitgeschichtlichen Kontroversen. Um Faschismus, Totalitarismus, Demokratie, 5. Auflage München 1984, S. 33–62; ders., Die totalitäre Erfahrung, München 1987. 46 Vgl. Schmiechen - Ackermann, Diktaturen im Vergleich, S. 45 f.; von Beyme, Totalitarismus, S. 23–36. 47 Peter Steinbach, Das 20. Jahrhundert als Jahrhundert der Diktaturen. In : Helmut Wagner ( Hg.), Europa und Deutschland – Deutschland und Europa. Liber amicorum für Heiner Timmermann zum 65. Geburtstag, Münster 2005, S. 43–63; Günther Heydemann, Das Jahrhundert der Diktaturen in Deutschland. Modelle der Bewältigung. In : Tilman Meyer / Karl - Heinz Paqué / Andreas H. Apelt ( Hg.), Modell Deutschland, Berlin 2013, S. 75–87.

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den sollte, bildeten sich in der auch in diesem Rahmen vehement geführten öffentlichen Debatte folgerichtig ebenso die parteipolitischen Positionen innerhalb der gerade erst wiedervereinigten Bundesrepublik ab.48 In der bisweilen nicht nur konträren, sondern geradezu emotionalen Diskussion der scientific community spielte die seinerzeit durchaus berechtigte und verständliche, tatsächlich aber insgesamt nicht zum Tragen gekommene Befürchtung eine wesentliche Rolle, dass eine zu starke Betonung der in der DDR verübten Unrechts - und Gewaltmaßnahmen in eine Relativierung der NS - Verbrechen hätte münden können.49 Überdies wäre es auch völlig unproduktiv gewesen, aufgrund einer nur oberflächlichen Betrachtung der beiden deutschen Diktaturen, die den „Vergleich“ als „Gleichsetzung“ missverstanden hätte, die DDR a priori als spät - oder posttotalitäre kommunistische Diktatur rein normativ zu definieren50 und damit die notwendige ergebnisoffene empirische Analyse ihrer Geschichte zu unterlaufen. Andererseits liege – so merkte Hans - Ulrich Wehler seinerzeit scharfzüngig an – der „Rückzug auf die historische Position, dass die DDR primär oder sogar ausschließlich aus ihren eigenen Bedingungen heraus verstanden werden müsse“ und somit „ein eigenständiges ‚historisches Individuum‘ im Sinne des Historismus sei“ ganz „offenbar manchen ostdeutschen Wissenschaftlern nahe, da er nicht nur lebensgeschichtlich entlastet, sondern auch die enorme Anstrengung zur kategorialen Bewältigung der Forschungsprobleme fernhält. Wie oft zuvor dient auch diese Variante des Historismus als Schutzmauer gegen drängende Gegenwartsprobleme.“51 Dass eine derart pointierte Einschätzung nicht aus der Luft gegriffen war, belegen beispielsweise die publizistischen Verbalattacken auf den Diktaturenvergleich, die der Obmann der PDS in der zweiten Enquete - Kommission („Überwindung der Folgen der SED - Diktatur im Prozess der deutschen Einheit“ in der 13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages, 1994–1998) immer wieder vortrug. In seinen Augen hatte sich „der totalitarismustheoretisch fundierte ‚Diktaturenvergleich‘“ zu einem „Schlüsselelement entwickelt, mit dem die DDR diskreditiert 48 Exemplarisch kann hierfür die kontroverse Debatte im Rahmen der 75. und 76. Sitzung der Enquete - Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED - Diktatur in Deutschland“ stehen. Vgl. Materialien der Enquete - Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED - Diktatur in Deutschland“. Hg. vom Deutschen Bundestag, Band IX. Formen und Ziele der Auseinandersetzung mit den beiden Diktaturen in Deutschland, Frankfurt a. M. 1995, S. 574–777. 49 Vgl. Hans - Ulrich Thamer, Staatsmacht und Freiheit in beiden Diktaturen. In : Kirchliche Zeitgeschichte, 9 (1996) 1, S. 28–42; Bernd Faulenbach, Probleme des Umgangs mit der Vergangenheit im vereinten Deutschland : Zur Gegenwartsbedeutung der jüngsten Geschichte. In : Werner Weidenfeld ( Hg.), Deutschland. Eine Nation – doppelte Geschichte. Materialien zum deutschen Selbstverständnis, Köln 1993, S. 175–190, speziell 190. 50 Diese Befürchtung akzentuiert besonders drastisch Wolfgang Wippermann, Dämonisierung durch Vergleich. DDR und Drittes Reich, Berlin 2009. 51 Hans - Ulrich Wehler, Diktaturenvergleich, Totalitarismustheorie und DDR - Geschichte. In : Arnd Bauerkämper / Martin Sabrow / Bernd Stöver ( Hg.), Doppelte Zeitgeschichte. Deutsch - deutsche Beziehungen 1945–1990, Bonn 1998, S. 346–352, hier 346.

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und dämonisiert werden soll.“52 Im „Neuen Deutschland“ konstatierte Heinz Neumann apodiktisch : „Ohne Zweifel will die Mehrheit der tonangebenden Komparatisten den Vergleich von ‚brauner und roter Diktatur‘ nutzen, ein Gleichheitszeichen zwischen beiden Regimes zu setzen.“53 Eine ganze Reihe methodisch reflektierter und ihre Befunde sehr differenziert präsentierender Spezialstudien zu ausgewählten Untersuchungsfeldern54 hat nach nunmehr zweieinhalb Jahrzehnten intensiver und immer wieder produktiv auch in vergleichenden Perspektiven betriebener Forschung zur Geschichte der DDR belegt, dass die ins Feld geführten methodologischen wie politischen Befürchtungen in der Regel nicht eingetroffen sind. Das analytische Potential eines sinnvoll und methodisch reflektiert durchgeführten Vergleiches illustriert beispielsweise der aus den Vorträgen einer Sektion des Münchener Historikertages 1996 hervorgegangene Sammelband über „Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit“, in dessen Rahmen für ausgewählte Teilbereiche wie z. B. Öffentliche Fürsorge, Gesundheits - oder Wohnungspolitik drei Varianten und Ausprägungen „deutscher Sozialstaatlichkeit“ miteinander kontrastiert worden sind : das ‚Dritte Reich‘ als „‚völkischer Wohlfahrtsstaat‘ nationalsozialistischer Prägung“, die Bundesrepublik als „Bonner Sozialstaat, der Demokratie und Kapitalismus in Balance brachte“ und die DDR als „planwirtschaftlicher Versorgungsstaat“.55 Ähnlich differenziert arbeitet die Studie von Thomas Großbölting über bürgerliche Vergesellschaftungsformen und Vereinsaktivitäten im Dritten Reich und in der DDR Gemeinsamkeiten und Unterschiede heraus.56 Last but not least haben die von Günther Heydemann inspirierten intensiven regionalgeschichtlichen Studien zu Sachsen eindrucksvoll demonstriert, welches Erklärungspotential umsichtig durchgeführte Vergleichsstudien erschließen können. Im Rahmen des 1998 bis 2002 von der VolkswagenStiftung geförderten Forschungsprojektverbundes „Sachsen unter totalitärer Herrschaft. Diktaturdurchsetzung, Diktaturformen, Diktaturerfahrung 1933–1961“57 entstanden 52 Ludwig Elm, Geschichtsaufarbeitung, Extremismus und Diktaturenvergleich, Jena [1998], S. 5. 53 Heinz Niemann, Die Crux mit dem archimedischen Punkt. Über Sinn und Unsinn des Diktaturenvergleichs. In : Neues Deutschland, 11. /12. 4.1998. 54 Eine Reihe von Beispielen wird in folgendem Sammelband präsentiert : Günther Heydemann / Heinrich Oberreuter ( Hg.), Diktaturen in Deutschland – Vergleichsaspekte. Strukturen, Institutionen und Verhaltensweisen, Bonn 2003. Ausführlichere Literaturangaben zu weiteren exemplarischen Fallstudien finden sich in der digitalen Fassung des docupedia - Artikels „Diktaturenvergleich“ ( vgl. Anm. 1). 55 Hans Günter Hockerts ( Hg.), Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS - Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, München 1998, Einleitung. 56 Thomas Großbölting, Diktatur und Gesellschaft : Bürgertum, Bürgerlichkeit und Entbürgerlichung in der NS - und der SED - Diktatur. In : Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 52 (2001), S. 660–670. 57 Dieses Großprojekt wurde von Günther Heydemann gemeinsam mit Klaus - Dietmar Henke und Ulrich von Hehl geleitet. Vgl. hierzu auch den im Netz verfügbaren Forschungsbericht von Ulrich von Hehl und Michael Parak unter http ://www.ahf - muenchen.de / Forschungsberichte / Jahrbuch2002/ vonHehl.pdf.

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beispielsweise eine Fallstudie von Oliver Werner über einen Leipziger Großbetrieb unter den politischen Rahmenbedingungen des NS - Regimes und der SED - Herrschaft und Thomas Schaarschmidts Analyse über die jeweils systemspezifischen Konflikte und Erscheinungsformen von regionalkulturellen Aktivitäten.58 Wie ertragreich auch in der Folgezeit gerade zu regionalen Fallbeispielen aus Sachsen in diktaturvergleichender Perspektive geforscht worden ist und in welchem Maße solche komparativen Ansätze auch auf die regionalhistorische NS - Forschung ausstrahlen, belegt der 2014 erschienene Aufsatzband „Sachsen und der Nationalsozialismus“.59 Als Generalverdacht gegen jeglichen diachronen Vergleich der beiden aufeinander folgenden Diktaturen in Deutschland sind die oben genannten Einwände somit wissenschaftlich nicht haltbar.60 In methodologischer Hinsicht61 muss man sich allerdings immer wieder vergegenwärtigen, dass ein diachron angelegter Diktaturenvergleich einen durchaus komplizierten Sonderfall gegenüber der üblicheren Konstellation einer synchronen Vergleichsperspektive darstellt. So ist bei einem Vergleich der Diktaturerfahrungen im „Dritten Reich“ und unter der SED - Herrschaft stets zu berücksichtigen, dass die NS - Herrschaft einen folgenreichen Erfahrungshintergrund für die zweite deutsche Diktatur darstellte.

58 Oliver Werner, Ein Betrieb in zwei Diktaturen. Von der Bleichert Transportanlagen GmbH zum VEB VTA Leipzig 1931 bis 1963, Stuttgart 2004; Thomas Schaarschmidt, Regionalkultur und Diktatur. Sächsische Heimatbewegung und Heimat - Propaganda im Dritten Reich und in der SBZ / DDR, Köln 2004. 59 Vgl. Günther Heydemann / Jan Erik Schulte / Francesca Weil ( Hg.), Sachsen und der Nationalsozialismus, Göttingen 2014. 60 Ausführlicher hierzu auch Schmiechen - Ackermann, Diktaturen, S. 83–87; Günther Heydemann / Detlef Schmiechen - Ackermann, Zur Theorie und Methodologie vergleichender Diktaturforschung. In : Heydemann / Oberreuter, Diktaturen in Deutschland, S. 9–54. 61 Frühe methodologische Überlegungen bei Ludger Kühnhardt / Gerd Leutenecker / Martin Rupps ( Hg.), Die doppelte deutsche Diktaturerfahrung. Drittes Reich und DDR – ein historisch - politikwissenschaftlicher Vergleich, 2. Auflage Frankfurt a. M. 1996; Wolfgang Schuller, Deutscher Diktaturenvergleich. In : Heiner Timmermann ( Hg.), Die DDR – Analysen eines aufgegebenen Staates, Berlin 2001, S. 849–857; Günther Heydemann, Integraler und sektoraler Vergleich – Zur Methodologie der empirischen Diktaturforschung. In : ders./ Eckhard Jesse ( Hg.), Diktaturvergleich als Herausforderung. Theorie und Praxis, Berlin 1998, S. 227–233; ders., Zur Theorie und Methodologie des Diktaturenvergleichs. In : Norbert Haase / Bernd Pampel ( Hg.), Doppelte Last – doppelte Herausforderung. Gedenkstättenarbeit und Diktaturenvergleich an Orten mit doppelter Vergangenheit, Frankfurt a. M. 1998, S. 53–59; ders./ Christopher Beckmann, Zwei Diktaturen in Deutschland. Möglichkeiten und Grenzen des historischen Diktaturenvergleichs. In : Deutschland Archiv, 30 (1997), S. 10–40; Detlef Schmiechen - Ackermann, NS - Regime und SED - Herrschaft – Chancen, Grenzen und Probleme des empirischen Diktaturenvergleichs. In : Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 52 (2001), S. 644–659.

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Der doppelte Untergang. Die SPD 1933 im Deutschen Reich und 1946 in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands Werner Müller

1.

Ein zweifaches Ende

Am 21. Juni 1933 versandte Reichsinnenminister Wilhelm Frick einen Runderlass an die Landesregierungen, in welchem ein Betätigungsverbot für die Sozialdemokratie verhängt wurde. Am Folgetag wurde der Text veröffentlicht. Am 23. Juni steigerte der Preußische Innenminister Hermann Göring das noch: „Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ist namentlich nach ihrer Betätigung in den letzten Tagen und Wochen als staats - und volksfeindliche Organisation anzusehen. Ich ordne daher folgendes an : (1) Sämtliche Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, die heute noch den Volksvertretungen und Gemeindevertretungen angehören, sind sofort von der weiteren Ausübung ihrer Mandate auszuschließen, weil ihre Weiterbetätigung eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit darstellt.“1 Dieses Verbot erstreckte sich auf alle haupt - und ehrenamtliche Mandate in Staat und Gemeinden und Gemeindeverbänden. Diäten, Tagegelder, Aufwandsentschädigungen und anderes wurden sofort gesperrt. Es betraf aber auch auf anderen Ebenen Gewählte : Sozialdemokraten in Betriebsvertretungen und wirtschaftlichen Vereinigungen waren nun als „staatsfeindlich“ anzusehen und damit aus diesen Funktionen zu entlassen.2 Das Verbot von Versammlungen der Partei, ob öffentlich oder nichtöffentlich, die Beschlagnahme von Periodika und Druckschriften sowie letztlich der Einzug der Vermögensbestände der SPD und „ihrer Hilfs - und Ersatzorganisationen“3 beseitigte vollends die legalen Wirkungsmöglichkeiten der Partei, die in den Wochen und Monaten seit dem Februar 1933 mehr und mehr eingeschränkt worden waren.4 Das ging über ein „Betätigungsverbot“ weit hinaus. 1 2 3 4

Betätigungsverbot gegen die Sozialdemokratische Partei Deutschlands. In : Ministerialblatt für die Preußische innere Verwaltung, Teil I. Herausgegeben im Preußischen Ministerium des Innern, 94. Jahrgang 1933, Berlin 1933, S. 750. Ebd. Ebd. Aus jüngerer Zeit liegen einige Gesamtdarstellungen zur Geschichte der Sozialdemokratie vor. Vgl. etwa Franz Walter, Die SPD. Biographie einer Partei, Reinbek 2009;

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Erstaunlicherweise war die Sozialdemokratie die einzige größere Partei, die von den Machthabern des „Dritten Reiches“ förmlich verboten wurde. Die Kommunisten wurden brutal verfolgt und unterdrückt, die Partei jedoch nicht offiziell verboten. Die übrigen Parteien „schalteten“ sich „gleich“, lösten sich auf oder empfahlen ihren Mitgliedern den Übertritt in die NSDAP. Freilich bildete das nur den Schlusspunkt einer Reihe von Zwangsmaßnahmen und Willkürakten gegen die Sozialdemokratie. Bereits die Notverordnungen vom 4. Februar 1933 („Verordnung zum Schutz des deutschen Volkes“) und mehr noch die vom 28. Februar 1933 („Zum Schutz von Volk und Staat“), die unmittelbar dem Reichstagsbrand folgte, hatten den Spielraum für legales Handeln beträchtlich eingeengt. Versammlungs - , Meinungs - und Pressefreiheit wurden erheblich beeinträchtigt, damit natürlich auch die Chancen im Wahlkampf für die letzten halbwegs freien Reichstagswahlen am 5. März 1933 gemindert. Fast alle sozialdemokratischen Tageszeitungen wurden für eine oder mehrere Wochen verboten; der „Vorwärts“ als Zentralorgan erschien letztmalig am 28. Februar 1933. Der kommissarische preußische Innenminister ( Göring ) hatte zuvor die Polizei angewiesen, „nationale“ Propaganda zu unterstützen und Aktionen staatsfeindlicher Organisationen zu verhindern. Erlaubt war dabei auch die Anwendung von Gewalt, das schloss explizit den Gebrauch von Schusswaffen ein.5 Länder, die schon vor dem Januar 1933 von der NSDAP dominiert wurden, reihten sich in dieses Bild ein. Im Februar 1933 sandte zum Beispiel der Thüringische Landtag eine servile Ergebenheitsadresse an Hitler, im März verfügte die Landesregierung unter Fritz Sauckel ein Verbot für alle Beamten und Angestellten, der SPD anzugehören.6 In Mecklenburg - Schwerin, seit Juni 1932 nationalsozialistisch regiert, sah die Polizei wiederholt tatenlos zu, wenn SA - Verbände sozialdemokratische Partei- oder Gewerkschaftshäuser verwüsteten.7 Das Rostocker SPD - Blatt, die „Mecklenburgische Volks - Zeitung“, erschien zum letzten Mal am 12. Mai 1933 – mit der Nachricht, nicht weiter zu erscheinen. Wenige Tage später wurden Redaktion und Druckerei von der SA besetzt und die Gebäude enteignet.8 Ein anderes Bild bot Bayern. Die Regierung unter Führung der Bayerischen Volkspartei erschien fast als Stabilitätsfaktor gegen die Führung des „Dritten

5 6 7 8

Peter Brandt / Detlev Lehnert, „Mehr Demokratie wagen“ : Geschichte der Sozialdemokratie 1830–2010, Berlin 2012; Bernd Faulenbach, Geschichte der SPD : Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 2012. Für des Jahr 1933 immer noch grundlegend : Heinrich August Winkler, Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1930 bis 1933, Berlin ( West ) 1987, S. 867–950; Michael Schneider, Unterm Hakenkreuz. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1933 bis 1939, Bonn 1999, S. 31–117. Winkler, Der Weg, S. 877 f. Manfred Overesch, Hermann Brill. Ein Kämpfer gegen Hitler und Ulbricht, Bonn 1992, S. 226 f. Werner Müller / Fred Mrotzek / Johannes Köllner, Die Geschichte der SPD in Mecklenburg und Vorpommern, Bonn 2002, S. 155 ff. Ebd., S. 159.

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Reiches“. Im Februar 1933 suchten einige führende Sozialdemokraten aus Preußen hier Zuflucht; erst die „Gleichschaltung“ nach den Märzwahlen änderte das Bild. Dann setzten Verhaftungen ein, zum Teil „wild“, Gewerkschafts - und Parteihäuser wurden besetzt. Die Partei befand sich zwischen März und Juni in „einem eigentümlichen Schwebezustand instabiler Halblegalität“ :9 unterdrückt, aber noch nicht verboten und parlamentarisch noch präsent. Ähnlich sah es für die Hamburger SPD aus. Ihre Presse war seit März verboten, öffentliche Versammlungen und Kundgebungen seit April unterdrückt, schon am 11. März war das Gewerkschaftshaus von der Polizei durchsucht und Akten beschlagnahmt worden.10 In Sachsen wirkte die SPD nach dem Verbot illegal weiter, freilich war sie in drei Gruppen zerspalten; ihr Verhältnis zum Emigrations - Parteivorstand war gespannt.11 Diese Beispiele zeigen, dass die SPD 1933 von der Staatsmacht systematisch zerstört wurde. Einen auf den ersten Blick völlig anderen Weg nahm die Entwicklung der Sozialdemokratie 1945/46 in der Sowjetischen Besatzungszone bis hin zur Zwangsvereinigung mit den Kommunisten, abgeschlossen mit dem „Vereinigungsparteitag“ am 21. und 22. April 1946 in Berlin.12 Die Konsequenzen jedoch waren identisch : Es gab auf dem Territorium der späteren DDR keine legal existierende Sozialdemokratie mehr, wenn man von der Nischenexistenz der SPD bis 1961 im sowjetischen Sektor von Berlin absieht. Für diesen zweiten Untergang der Sozialdemokratie innerhalb von nur 13 Jahren ( nur wenig länger als die Geltungsdauer von Bismarcks „Sozialistengesetz“) waren naturgemäß Faktoren und Bedingungen völlig anders als im Jahre 1933. 1933 propagierte die KPD eine gewaltsame Revolution und eine „Diktatur des Proletariats“. Sie erstrebte ein „Sowjetdeutschland“. 1945 hatte sich das Bild gewandelt. Der „epochale[ n ] Bedeutung der Demokratie“13 konnten sich weder die Kommunisten noch die sowjetische Besatzungsmacht in Deutschland entziehen. Sie waren also gezwungen, nicht zuletzt auch, um ihre gesamtdeutschen Ziele nicht zu gefährden, den politischen Neuaufbau in ihrer Besatzungszone mit dem Epitaph „demokratisch“ zu versehen. Dass die sowjetische Führung und die Sowjetische Militäradministration in Deutschland ( SMAD ) dabei die Grundprinzipien der pluralistischen Mehrheitsdemokratie respektieren woll9

Hartmut Mehringer, Die bayerische Sozialdemokratie bis zum Ende des NS - Regimes. Vorgeschichte, Verfolgung und Widerstand. In : Martin Broszat / Hartmut Mehringer (Hg.), Bayern in der NS - Zeit V, München 1983, S. 341. 10 Knut Andresen, 2. Mai 1933 – die Besetzung des Hamburger Gewerkschaftshauses und die gewerkschaftliche Anpassungspolitik. In : Zeitgeschichte in Hamburg. Nachrichten aus der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg ( FZH ) 2013, Hamburg 2014, S. 36. 11 Anklageschrift des Generalstaatsanwalts bei dem Oberlandesgericht in Dresden gegen Friedrich Erich Pemmann, 5. 2. 1935 ( BStU, HA IX /11 SV 1/81, 0002–00042). 12 Protokoll des Vereinigungsparteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD ) und der Kommunistischen Partei Deutschlands ( KPD ) am 21. und 22. April 1946 in der Staatsoper „Admiralspalast“ in Berlin, Berlin 1946, S. 172. 13 Karl Dietrich Bracher, Die Krise Europas. Seit 1917, Berlin 1993, S. 12.

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ten, kann als wenig wahrscheinlich gelten.14 Demokratie war für sie naturgemäß auch ein Zustand des „Klassenkampfes“. Im September 1946 erschien im theoretischen Organ der SED, der „Einheit“, ein längerer Beitrag eines anonymen Autors – eine Ausnahme zu dieser Zeit.15 In stalinistischem Duktus wurde hier präzise dargelegt, wie „Schreiber aus dem reaktionären Lager“ zur Demokratie „das Wichtigste und Hauptsächlichste in diesem Begriff mit Zweitrangigem und Nebensächlichem verwechseln, wobei sie das Zweitrangige als das Hauptsächliche ansehen.“16 Als das Sekundäre werden hier alle demokratischen Grundrechte angegeben. Die Weimarer Verfassung habe die Freiheiten, nicht aber die „Herrschaft des Volkes“ als das Wesentliche angesehen und dabei „die Interessen der überwiegenden Mehrheit des Volkes“ ignoriert. Deutlich wurde : Erstens waren die von den Kommunisten unterstellten Interessen des Volkes nicht identisch mit dem empirisch feststellbaren Volkswillen; sie waren nicht durch Wahlmehrheiten festzustellen. Zweitens wurden Mehrheiten sozioökonomisch determiniert : „In den heutigen Ländern bilden die Arbeiter, Bauern und Intelligenz die Mehrheit des Volkes“. Ihnen gegenüber stehen „Ausbeuterklassen, die Kapitalisten und die Großgrundbesitzer“ als „eine nichtige Minderheit der Bevölkerung“. Demokratie bestehe nun darin, dass sich die Macht in den Händen des Volkes befindet, um letztlich die „Rechte der Werktätigen zur Geltung zu bringen“.17 Es bedarf keiner weiteren Begründung, dass eine unabhängige Sozialdemokratie nicht in das Weltbild der sowjetischen Führung und der SMAD passte.18 Konsolidierung der KPD und Einbindung aller politischen Kräfte in die „Blockpolitik“ standen zunächst auf der Tagesordnung. Schon früh war in der SMAD eine Tendenz sichtbar, die SPD zu teilen in einen Flügel, der zur Zusammenarbeit mit der KPD bereit war, und die Gruppe der „alten Funktionäre“. In der Tat : Die Besatzungsmacht bevorzugte in ihrer Zone von Anfang an deutlich die Kommunisten, sie erhielten mehr Ressourcen als ihre politischen Mitbewerber. Als sich im Frühherbst 1945 zeigte, dass in der SBZ nicht die Kommunisten, sondern die Sozialdemokraten zur stärksten Partei wurden, schalteten die SMAD und die KPD - Führung um und förderten nun die Bestrebungen zur Fusion der beiden „linken“ Parteien,19 während derartige Tendenzen bei den Sozialdemokraten schwanden. 14 15 16 17 18 19

Werner Müller, Noch einmal : Stalin und die Demokratie im Nachkriegsdeutschland. In: Jahrbuch für historische Kommunismusforschung 1998, Berlin 1998, S. 203–216. Wolfgang Leonhard gab an, er sei „von höchster Stelle“ gekommen. Wolfgang Leonhard, Die Revolution entlässt ihre Kinder, Neuauflage, Köln 1981, S. 392. Was ist Demokratie ? In : Einheit. Theoretische Monatsschrift für Sozialismus, 1 (1946) Heft 4, S. 216 ff. Ebd. Norman M. Naimark, Die Russen in Deutschland. Die sowjetische Besatzungszone 1945 bis 1949, Berlin 1997, S. 349. Ebd. – Ähnlich : Bericht des Informationsbüros der SMAD „Über die Politische Lage in Deutschland“, 3. 11. 1945. In : Bernd Bonwetsch / Gennadij Bordjukov / Norman M. Naimark ( Hg.), Sowjetische Politik in der SBZ 1945–1949. Dokumente zur Tätigkeit

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Die Entscheidung seitens der Besatzungsmacht – als tatsächlicher Souverän in ihrer Zone – war gefallen : auch nur eine bloße „Randexistenz“ in einer Minderheitenposition war nicht mehr zulässig. Die SMAD griff auch wiederholt in die Personalstruktur der SPD ein; genannt hierfür seien der Landesvorsitzende Hermann Brill in Thüringen und der Landessekretär Hermann Lüdemann in Mecklenburg - Vorpommern, die beide offene Gegner der Vereinigung waren. „Anfang Dezember 1945 verstärkte die SMAD den Druck auf den Zentralausschuss der SPD, um den Vereinigungsprozess zu beschleunigen“, hielt Norman Naimark fest.20 Ein drastisches Beispiel für die Einwirkung der SMAD stellte die „Sechziger - Konferenz“ von je 30 Vertretern von SPD und KPD Ende Dezember 1945 dar. Die Sozialdemokraten, allen voran Otto Grotewohl, beklagten sich anfangs über die Bevorzugung der Kommunisten durch die Besatzungsmacht und einen „undemokratischen Druck“, stimmten aber am Folgetag dem KPD Plan einer Parteienfusion zu. Der Meinungsumschwung resultierte aus einer langen „Besprechung“ ihrer führenden Mitglieder in der Nacht bei der SMAD.21 „Überall wird von den sowjetischen Kommandanten auf sofortige Verschmelzung gedrängt“, schrieb Erich Gniffke Anfang Februar 1946 an den Zentralausschuss der SPD.22 Zuvor hatte Stalin der Parteienfusion zugestimmt.23 Die Hoffnungen der Sowjets, der Alliierte Kontrollrat werde der Zulassung der SED in ganz Deutschland zustimmen, erfüllte sich nicht. Letztlich wurden nur für Berlin die beiden Parteien SPD und SED nebeneinander lizensiert.24 Für das Gebiet der sowjetischen Besatzungszone endete damit die Geschichte der Sozialdemokratie, wiederum im Interesse der real herrschenden Macht. Es gab zwar auf sowjetischer Seite 1947 kurzzeitig Überlegungen,25 in ihrem Besatzungsgebiet die SPD wieder zuzulassen, aber um den Preis der SED - Zulassung in ganz Deutschland.

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22 23 24 25

der Propagandaverwaltung ( Informationsverwaltung ) der SMAD unter Sergej I. Tjul’panov, Bonn 1998, S. 20 ff. Otto Buchwitz, sächsischer SPD - Vorsitzender, sah sich „als Apostel für die Vereinigung“. Brief an Franz Neumann vom 7. 5. 1946 ( AdsD, Ostbüro der SPD, 0301 II ). Eine Notiz von Otto Grotewohl im Dezember 1945 hielt fest, dass die Organe der Besatzungsmacht und der KPD wiederholt in die Personalautonomie der SPD eingriffen ( SAPMO - BArch, NL 4090/279, 173). Naimark, Die Russen, S. 350. Beatrix W. Bouvier / Horst - Peter Schulz ( Hg.), „... die SPD aber aufgehört hat zu existieren“. Sozialdemokraten unter sowjetischer Besatzung, Bonn 1991, S. 210 ( Zeitzeugenbefragung von Stanislaw Trabalski ), sowie : Mitteilung von Stanislaw Trabalski an den Verfasser, 29. 11. 1982. Erich W. Gniffke, Brief an den geschäftsführenden Vorstand der SPD vom 10. 2. 1946 (AdsD, NL Gniffke, 31). Rolf Badstübner / Wilfried Loth ( Hg.), Wilhelm Pieck – Aufzeichnungen zur Deutschlandpolitik 1945–1953, Berlin 1994, S. 63. Gunther Mai, Die Alliierte Kontrollrat in Deutschland 1945–1948. Alliierte Einheit – deutsche Teilung ?, München 1995, S. 134. Erich W. Gniffke, Jahre mit Ulbricht, Köln 1966, S. 228 ff., sowie Aktennotiz von Wilhelm Pieck im Frühjahr 1947 ( SAPMO - BArch, DY 4036/655, 63).

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2.

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Das Dilemma von 1933

Im Folgenden können nur einige Punkte herausgestellt werden, die Kontraste oder auch Parallelen zum Jahr 1945 ausleuchten. Die Sozialdemokratie sah sich am Ende der Weimarer Republik geradezu eingekeilt und zugleich isoliert zwischen den beiden großen totalitären Bewegungen auf der Rechten und der Linken. Die Fronten waren klar : Die Nationalsozialisten ließen spätestens nach Hitlers Legalitätsbeteuerung im Leipziger Reichswehrprozess keinen Zweifel daran, wie sie nach der „Machtergreifung“ mit ihren politischen Gegnern umzugehen gedachten.26 Auch wenn Rudolf Hilferding auf dem letzten SPD - Parteitag Hitlers Legalitätsbeteuerungen anzweifelte,27 blieben seine Analyse der Hitler Bewegung doch eher akademisch und seine Rezepte allgemein. Letztlich konnte er seinen Parteifreunden nur Mut zusprechen : „Manch einem von uns mag manchmal eine Stunde der Mutlosigkeit ankommen. Manch einer mag erschreckt stehen vor der gewaltig anschwellenden Flut des Faschismus in Deutschland. Aber die Sozialdemokratie hat schon Schwereres durchgemacht, sie hat manche Gefahren siegreich überstanden, hat manchen Gegner über wunden.“28 Angesichts des „ultralinken“ Kurses von KPD und Kommunistischer Internationale auf einen bewaffneten Aufstand29 war eine „linke“ Einheitsfront nicht möglich, da die Grundinteressen von Sozialdemokraten und Kommunisten völlig konträr waren und diese zudem die SPD als „letzte Stütze der Kapitalsdiktatur“ bekämpften und deren Mitglieder und Anhänger zum Übertritt in die KPD aufforderten. Optimismus und Resignation lagen in der SPD dicht beieinander. Eine mehrheitsfähige Alternative zum Tolerierungskurs des Kabinetts Brüning oder gar eine Rückkehr zur parlamentarischen Regierungsform sah sie nicht. Die Weltwirtschaftskrise hatte ihren Höhepunkt noch nicht erreicht, das ehrgeizige Ziel, die Mitgliederzahlen deutlich zu erhöhen, war fehlgeschlagen. Aber immer noch hatten mehr als eine Million Menschen ein SPD - Parteibuch. Zum Kapitel „Hoffnung“ war zweifellos auch die Stabilität – trotz mancher Turbulenzen – der Preußischen Regierung zu zählen. Mit dem Jahr 1932 scheiterten viele Hoffnungen der Sozialdemokratie. Der Wahlmarathon erbrachte in Preußen und bei den Reichstagswahlen deutliche Verluste, die Unterstützung Hindenburgs in der Reichspräsidenten - Wahl dürfte einige Wähler und Anhänger enttäuscht haben. Vor allem aber Papens Staatsstreich in Preußen am 20. Juli 1932 und dessen Folgen für Verwaltung und

26 Vgl. für vieles : Ian Kershaw, Hitler 1889–1936, 2. Auflage Stuttgart 1998, S. 426 ff. 27 Sozialdemokratischer Parteitag in Leipzig 1931 vom 31. Mai bis 5. Juni im Volkshaus. Protokoll, Reprint Glashütten im Taunus 1974, S. 100. 28 Ebd., S. 107. 29 Vgl. Hermann Weber, Hauptfeind Sozialdemokratie. Strategie und Taktik der KPD 1929–1933, Düsseldorf 1982.

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Polizei30 machten die Grenzen des Legalitätsdenkens deutlich. Dennoch sah das Parteiblatt „Vorwärts“ zu Jahresende Grund zum Optimismus. Der Rückschlag der NSDAP in den Novemberwahlen und die Abflachung der Wirtschaftskrise ließen die Parteiführung vorsichtig erwartungsvoll in die Zukunft schauen. Die Sozialdemokratie als legalistische und faktisch einzig verbliebene Verfassungspartei von Gewicht befand sich gegenüber dieser Konstellation in einem unauflösbaren Dilemma. Mit Reichsbanner und „Eiserner Front“ verfügte sie nominell über beachtliche Verteidigungspotentiale, immerhin hatte auch der Parteivorstand noch 1932 Waffen beschafft. Legalitätszwang und Kampfbereitschaft eines Teils der Anhänger für den Moment der Kanzlerschaft Hitlers schlossen einander aus; schon damit war die Einheitlichkeit der Sozialdemokratie im Kern an einer empfindlichen Stelle unterminiert. Auch Abspaltungen schwächten die SPD, zuletzt 1931 die der „Sozialistischen Arbeiterpartei“ (SAP).31 Auf die Ernennung Hitlers zum Reichkanzler reagierte die SPD mit Aufrufen zur Geschlossenheit, zur Besonnenheit und Wahrung der Legalität.32 Gleichwohl gab es an wenigen Orten Protestkundgebungen; die größte fand am 7. Februar 1933 im Berliner Lustgarten statt. Nach den Reichstagswahlen vom 5. März 1933 eskalierte der Terror, nicht nur gegen die Kommunisten, sondern auch gegen Sozialdemokraten und Gewerkschafter. Einige Parteiführer waren bereits ins Ausland emigriert. Schon im Wahlkampf hatten führende Sozialdemokraten wegen Gewaltandrohungen Kundgebungen absagen müssen. Mitte März 1933 musste die SPD - Führung ihre historische Niederlage konstatieren. Zeitgleich begannen die Gewerkschaften, sich von der SPD zu lösen. Zugleich verließ eine größere Zahl von Mitgliedern die Partei, vor allem Angehörige des öffentlichen Dienstes.33 Ähnliches galt für die Freien Gewerkschaften. Als die SPD - Führung im Frühjahr 1933 unbeirrt an ihrem Legalitätskurs festhielt, in der Hoffnung, damit wenigstens die Organisation retten zu können, kam es zum Konflikt mit den führenden Vertretern der Berliner Jugendorganisation, die daraufhin aus der Partei ausgeschlossen wurden. Der Kurs der Anpassung, wenn nicht gar der Anbiederung an die Machthaber führte letztlich auch zur Distanzierung von der Sozialistischen Internationale. Eine Reichskonferenz wählte Ende April eine neue Führung, verjüngt und mit Vertretern aller Richtungen. Einige unter den Gewählten gingen noch im Mai ins Exil.34 30 Vgl. Hans - Peter Ehni, Bollwerk Preußen ? Preußen - Regierung, Reich - Länder - Problem und die Sozialdemokratie 1928–1932, Bonn 1975, S. 267 ff. 31 Jörg Bremer, Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands ( SAP ). Untergrund und Exil 1933–1945, Frankfurt a. M. 1978. 32 Vgl. zum Folgenden umfassend Schneider, Unterm Hakenkreuz, S. 34 ff. 33 Vgl. auch die Austritterklärungen vom Februar / März 1933 aus dem SPD - Ortsverein Hannover, wiedergegeben in : Erich Matthias, Die sozialdemokratische Partei Deutschlands. In : Erich Matthias / Rudolf Morsey ( Hg.), Das Ende der Parteien 1933, Düsseldorf 1960, S. 239–241. 34 Die Namen der neuen Vorstandsmitglieder in : Marlis Buchholz / Bernd Rother, Der Parteivorstand der SPD im Exil. Protokolle der Sopade 1933–1940, Bonn 1995, S. XIX f.

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Nach der Zerschlagung der Gewerkschaften am 2. Mai 1933 war die Lage unstreitig haltlos geworden. Die erste Vorstandssitzung nach diesem Datum beschloss, dass die meisten Vorstandsmitglieder ins Ausland gehen sollten, große Teile des Parteivermögen und des Archivs konnten durch Verlagerung gerettet werden. Am 10. Mai 1933 folgte das Verbot sozialdemokratischer Zeitungen; der Erosionsprozess der Partei beschleunigte sich noch. Die politischen Differenzen in der Führung spitzten sich nach der mehrheitlichen Zustimmung der Reichstagsabgeordneten zu Hitlers außenpolitischer Erklärung vom 17. Mai 1933 weiter zu. Eine tiefe Kluft zwischen „Emigranten“ und „Berlinern“ um Paul Löbe hatte sich aufgetan; Befürworter einer illegalen Arbeit und Anpassungsbereite lieferten sich heftige Auseinandersetzungen. Mitte Juni war der Bruch zwischen den Emigranten und den „Berlinern“ vollzogen. Eine Reichskonferenz in Berlin setzte ein sechsköpfiges „Direktorium“ ein.35 Das Verbot traf eine nicht nur rasch zerfallende, sondern auch tief zerstrittene Organisation.

3.

Das Jahr 1945

Der Neuaufbau der SPD in der sowjetischen Besatzungszone zeigte ein völlig anderes Bild. Träger waren Funktionäre aus den Bezirken, die vor 1933 bereits auf der Regionalebene tätig gewesen waren. Aus der Emigrations - Parteiführung kehrte niemand in die sowjetische Zone zurück. Carl Litke war der einzige, der vor 1933 dem Parteivorstand angehört hatte und nun im Berliner Zentralausschuss mitwirkte. Politisch und programmatisch knüpfte die Partei an ihre Politik vor 1933 an, selbstverständlich kritisierte man die Politik gegenüber Hitler. Dabei sahen viele Funktionäre ihre Partei in einer Position der Schwäche, zumal die Bevorzugung der Kommunisten durch die Besatzungsmacht offenkundig war. Das bewog manche im Frühsommer 1945 zu Gedanken an den Übertritt zur KPD oder zum Ziel einer „linken“ Einheitspartei – erleichtert durch das öffentliche Bekenntnis ihres ZK zur Demokratie. Otto Grotewohl, Mit - Vorsitzender der SPD in Berlin und der Sowjetischen Besatzungszone, sah damit noch im August 1945 die Hauptdifferenz zwischen SPD und KPD entfallen, das „Kriegsbeil“ begraben, das „seit der Weimarer Republik offen auf der Straße lag“.36 Zum Spätsommer 1945 hatte sich das Blatt gewendet. Der Anspruch der Kommunisten auf Demokratie wurde durch ihre politische Praxis zusehends obsolet und die SPD hatte sich nicht zu ihrem Juniorpartner gewandelt, sondern im August 1945 war sichtbar, dass die SPD die stärkste Partei in der SBZ geworden war. Vor diesem Hintergrund ging der Zentralausschuss zur politischen Offensive über. Auf einer Massenkundgebung Mitte September 1945 erhob Grotewohl für die SPD nicht nur einen Führungsanspruch beim Neuauf35 Die Namen bei Winkler, Der Weg, S. 945. 36 Rede Grotewohls am 26. August 1945 in Leipzig ( AdsD, Ostbüro der SPD, 0394).

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bau der deutschen Demokratie, sondern kündigte auch einen Kurs der Unabhängigkeit und Selbständigkeit an, da nur die SPD von allen vier Alliierten gleichermaßen als berufene Sprecherin der Interessen des deutschen Volkes angesehen werden könne. Er stellte zugleich die enge Bindung der SPD an die KPD infrage.37 Die „Einheit“ mit der KPD hatte unter diesen Umständen rapide ihre Attraktivität eingebüßt. Auf Grotewohls Rede reagierte der gleichfalls anwesende KPD - Vorsitzende Wilhelm Pieck nicht nur erzürnt, sondern warf die Position seiner Partei radikal um : Er „schloss seine Ausführungen mit der Aufforderung, eine einheitliche Partei zu schaffen“.38 Es dauerte noch einige Wochen, bis die Vereinigungs - Kampagne der KPD voll angelaufen war. Währenddessen hatte Grotewohl in einer Rede zum 9. November noch einmal den „Einheits“ - Bestrebungen der KPD erneut eine Absage erteilt.39 Die Vereinigung, so Grotewohl, könne kein Beschluss von Instanzen, auch „nicht im geringsten, das Ergebnis eines äußeren Drucks oder indirekten Zwanges“ sein. Gegenüber der nun voll entfalteten Vereinigungs Kampagne der KPD bemühte sich der Zentralausschuss der SPD, mit einer Strategie der gesamtdeutschen Rücksichtnahme, Zeit zu gewinnen. Damit war – Mitte November 1945 – der Zeitpunkt der größten Selbständigkeit erreicht. Die SPD geriet aus drei Richtungen unter Druck : der Sowjetischen Militäradministration, der kommunistischen Aktivitäten und Propaganda und nicht zuletzt aus eigenen Reihen. Das rasche Mitgliederwachstum erwuchs zur Bedrohung : Die „Altmitglieder“ gerieten schon im Herbst in die Minderheit, aber die KPD förderte massiv die Einrichtung von Betriebsgruppen, einem für die SPD fremden Organisationselement. Betriebsgruppen, sogar schon gemeinsame von Kommunisten und Sozialdemokraten, wurden zum Hebel, die eigenen Führungen unter Druck zu setzen.40 In der Folgezeit wurde auch bis zum ersten FDGB - Kongress im Februar 1946 die sozialdemokratische Dominanz in den Gewerkschaften gebrochen. Nicht zuletzt auf dem Wege von Wahlfälschungen wurden aus sozialdemokratischen Wähler - kommunistische Delegiertenmehrheiten. Zuvor hatte das ZK - Sekretariat der KPD schon am 2. August 1945 beschlossen, dass in den zu bildenden Bezirksausschüssen der Gewerkschaften „die wichtigsten Funktionen – Vorsitzende oder Sekr. – von Kommunisten besetzt werden“.41 37 Wo stehen wir – Wohin gehen wir ? Der historische Auftrag der SPD, Berlin o. J., S. 43. 38 Ebd., S. 44. Die Rede „war ein Angriff gegen die Kommunisten auf der ganzen Linie“, hielt ein KPD - Beobachter ( und Stenograf, vermutlich Richard Gyptner ) fest. So ein undatierter Bericht im Nachlass Franz Dahlems ( SAPMO - BArch, NL 4072/167, 66). 39 Fechner räumte ein, dass diese Rede „teilweise stürmischen Beifall fand“, so in einem später verfassten Erinnerungs - Manuskript ( SAPMO - BArch, EA 1274, 78). 40 Selten sind zu dieser Zeit Einheits - Resolutionen gemeinsamer Partei - Versammlungen von SPD und KPD. Zudem stammen sie noch zumeist aus der SPD - „Diaspora“. Beispiele in : SAPMO - BArch, DY 28, II 2/10. Es spricht zuletzt für sich, dass sie noch zumeist von den KPD - Gruppen nach Berlin gesandt wurden. 41 Beschluss des Sekretariats der KPD vom 2. August 1945 ( SAPMO - BArch, NY 4036/ 631, 12).

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Die erste „Sechziger - Konferenz“ im Dezember 194542 versuchte mit Streichungen aus der Schlussresolution, die drei wichtigsten Positionen der Sozialdemokratie zu wahren : Einheit nur für ganz Deutschland, nur nach gesamtdeutschen Parteitagen und zuvor Verzicht auf gemeinsame Wahllisten. Bis Mitte Januar 1946 konnte diese Position noch aufrecht erhalten werden. Dann verbot die Militäradministration die Publizierung und ließ schon gedruckte Zeitungen wieder einstampfen. Die Forderung aus der Mitgliedschaft nach einer Urabstimmung über die Vereinigung aus Rostock konnte dank einer „Panne“ der Pressezensur publiziert werden; ein Widerruf folgte umgehend.43 Mitte Januar 1946 hatte die Sozialdemokratie ihren Handlungsspielraum völlig verloren. Wie 1933 lassen sich die Jahre 1945/46 über die direkte Einflussnahme der tatsächlichen politischen Machthaber hinaus einige immanente Faktoren festmachen, die den Untergang einer eigenständigen SPD beschleunigten. So war die fehlende Einigkeit ein wichtiger Moment. Der von Flügelkämpfen und Perspektivlosigkeit 1933 geprägten Partei stand nach dem Krieg in der SBZ eine breite Palette von Handlungsoptionen offen : Anpassung an die neuen Verhältnisse, Mitläufertum, Passivität, Rückzug ins Private, aber auch Opposition, Widerstand, Flucht ins Ausland oder in den Westen Deutschlands. Wichtig erscheint auch, dass in beiden Fällen die engen Beziehungen zwischen SPD und freien Gewerkschaften zerstört werden konnten. Im Unterschied zu 1933 konnten in der SBZ dank des enormen Mitgliederzuwachses Teile der Mitgliedschaft, vor allem in den Betrieben, gegen die Führung mobilisiert werden. Hinzu kam die Bereitschaft des größten Teils der Berliner Führung, mit den Kommunisten den Weg in die Einheitspartei zu gehen, die indes schnell den Charakter einer „Einheits“ - Partei verlor. Noch vor dem Vereinigungsparteitag hatte der KPD - Vorsitzende Pieck keinen Zweifel daran gelassen, dass die SED im Kern eine kommunistische Partei zu sein habe. Er bezeichnete den „konsequenten Marxismus - Leninismus“ als „das granitene Fundament“ der Einheitspartei und forderte den „demokratischen Zentralismus und die eiserne Disziplin ihrer Mitglieder“. Es stand für Pieck außer Frage, dass „die Partei nur dann erfolgreich wird arbeiten können, wenn an der Spitze eine vom Marxismus - Leninismus vollkommen durchdrungene Funktionärkörperschaft steht und die Mitglieder, gestützt auf diese Lehren, die großen Aufgaben erkennen, die die Partei zu lösen hat.“44

42 Die Konferenz - Texte sind zuletzt publiziert in : Einheitsdrang oder Zwangsvereinigung? Die Sechziger - Konferenzen von KPD und SPD. Mit einer Einführung von Hans - Joachim Krusch und Andreas Malycha, Berlin 1990. Wilhelm Pieck räumte tags darauf in einer Sitzung mit den Bezirkssekretären seiner Partei ein, „in dieser Frage haben wir eine Niederlage erlitten“ ( SAPMO - BArch, I 2/5/41, 2). 43 Vgl. Müller / Mrotzek / Köllner, Geschichte, S. 205 f. 44 Wilhelm Pieck, Probleme der Vereinigung von KPD und SPD, Berlin 1946, S. 24 ff.

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4.

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1933 und 1946 – ohne legale Basis

Das Verbot der SPD 1933 und die Zwangsvereinigung 194645 wiesen manche Parallelen auf. Der Exil - Parteivorstand in Saarbrücken und wenig später in Prag konnte 1933 nur versuchen, Informationen aus dem Reich zu erhalten und zu verbreiten, Zeitungen und Druckschriften ins Reichsgebiet zu schmuggeln, gefährdete Parteimitglieder „herauszuschleusen“ sowie die Sozialistische Arbeiter - Internationale ( SAI ) und befreundete Parteien und Regierungen zu informieren. In Prag konnte mit den geretteten Geldmitteln die Parteiarbeit neu begonnen werden; für die Arbeit nach Deutschland hinein wurden eine Reihe von „Grenzsekretariaten“ im Ausland in der Nähe der deutschen Grenze errichtet; die meisten in der Tschechoslowakei.46 Daneben nahm die publizistische Tätigkeit einen breiten Raum ein, der „Neue Vorwärts“ als Parteiorgan, daneben die „Sozialistische Aktion“, die vornehmlich für die illegale Verbreitung in Deutschland gedacht war. Auf diesem Wege hoffte der Parteivorstand, monatlich mehrere Tausend Menschen zu erreichen.47 Der Unterrichtung befreundeter Parteien und Regierungen diente der Informationsdienst „Deutschland - Berichte der Sopade“, von Erich Rinner redigiert, die eine Fülle von Details über die Lebensund Arbeitsverhältnisse im Nazi - Deutschland nach außen trugen.48 Mit Ausnahme der wenigen aktivistischen, zumeist auch kleinen Gruppen im Widerstand, war nach 1933 das am weitesten verbreitete Muster sozialdemokratischen Verhaltens, für den Moment der Befreiung bereit zu stehen.49 Daraus spricht auch die rationale Einsicht in Chancen und Grenzen des eigenen Handelns, ebenso Selbstbehauptungswille und Rücksichtnahme auf die familiäre und soziale Umwelt angesichts des immer perfekter werdenden Unterdrückungsapparats der Gestapo. Die Sozialdemokratie vermied in der Regel symbolträchtige, aber letztlich wenig wirkungsvolle und vor allem opferreiche Aktionen gegen die Diktatur. Naturgemäß sind die Grenzen zum Rückzug ins Unpolitische oder Familiäre fließend. Widerstand blieb unter diesen Vorausset45 Vgl. Werner Müller, Die Gründung der SED 1946 – Alte Kontroversen und neue Positionen um die Zwangsvereinigung 1946. In : Jahrbuch für historische Kommunismusforschung 1996, Berlin 1996, S. 163–180. Nach dem 50. Jahrestag der SED - Gründung ist die Debatte merklich abgeflacht; neue Quellen sind kaum zu verzeichnen. Vgl. u. a. Christoph Kleßmann, Arbeiter im „Arbeiterstaat“ DDR. Deutsche Traditionen, sowjetisches Modell, westdeutsches Magnetfeld (1945 bis 1971), Bonn 2007, S. 92 ff. 46 Buchholz / Rother, Der Parteivorstand, S. 34 ff. 47 Patrik von zur Mühlen, Sozialdemokraten gegen Hitler. In : Richard Löwenthal / Patrik von zur Mühlen ( Hg.), Widerstand und Verweigerung in Deutschland 1933 bis 1945, Berlin ( West ) 1982, S. 57 ff. 48 Peter Maser, Die „Deutschland - Berichte“ der Sopade. Im Gedenken an Erich Rinner. In : Werner Plum ( Hg.), Die „Grünen Berichte“ der Sopade. Gedenkschrift für Erich Rinner, Bonn 1982, S. 123–164. Gedruckt erschienen die Berichte in einer umfangreichen Edition 1980 : Deutschland - Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ( Sopade ) 1934–1940, Salzhausen 1980. 49 Vgl. Schneider, Unterm Hakenkreuz, S. 812 ff., 928 ff.

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zungen das Feld kleiner Eliten und Gruppen, die in unterschiedlicher Weise trotz ihrer „Machtferne“ bemüht waren, auf wirksames oppositionelles Handeln Einfluss zu nehmen. Fallweise war auch eine Zusammenarbeit mit Kommunisten möglich, so in der Gruppe „Deutsche Volksfront“ 1936–1938.50 Zu verweisen wäre in diesem Zusammenhang zuerst auf Wilhelm Leuschner und Julius Leber, die im Krieg unermüdlich die Militärs zum Handeln drängten und Kontakte zu unterschiedlichen Hitler - Gegnern zu knüpfen suchten. Erinnert sei hier nur daran, dass beide bei dem Versuch, mit dem kommunistischen Untergrund in Kontakt zu kommen, der Gestapo in die Hände fielen. Die Arbeit des „Ostbüros“ der SPD ab 1946 zeigt Parallelen zu den Jahren nach 1933. Gegründet wurde es zunächst für die Betreuung von Flüchtlingen und als Kontaktstelle für die Sozialdemokraten in der sowjetischen Besatzungszone, die sich der Fusion mit der KPD widersetzten. Daraus entwickelte sich die Aufgabe, Nachrichten zu sammeln, die gewonnenen Erkenntnisse systematisch auszuwerten und sie der westlichen Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen sowie sie zugleich in die sowjetische Zone zurück zu vermitteln. Betreuung und Hilfeleistung, Information und Orientierungshilfe bildeten also eine Einheit – alles das entsprach auch den Traditionen sozialdemokratischen Widerstandes.51 Die Arbeit des Büros war anfänglich zu wenig konspirativ, 1948 konnten SED und ostdeutsche Sicherheitsbehörden mehrfach Kuriere verhafteten. Der Neuaufbau erfolgte unter starker Abschottung. Immerhin wurde das Ostbüro zum wichtigsten deutschlandpolitischen Berater Kurt Schumachers. Zugleich weitete sich die publizistische Arbeit im Westen Deutschlands aus. Mit der Einrichtung von „Grenzsekretariaten“ wurde nicht allein an sozialdemokratische Widerstandstraditionen angeknüpft, sondern auch die Grundlage gelegt für eine intensive Propagandaarbeit über die Grenze hinweg, deren bekannteste Erscheinungen in der Versendung von Parteimaterialien über Ballons oder kaschiert auf dem Postwege waren. Über den Berliner Sender RIAS konnten regelmäßig Informationen und Kommentare, ja sogar Spitzelmeldungen ausgestrahlt werden. Zum Höhepunkt der Informationskampagne auf der einen und zur publizistischen Auseinandersetzung mit der SED auf der anderen Seite wurde die Phase vor und nach dem Juni - Aufstand 1953 in der DDR. Zu dieser Zeit wurden frühere SPD - Mitglieder offenkundig systematisch überwacht.52 Mit dem Mauerbau 1961 wurde das Konzept des Ostbüros schließlich obsolet.

50 Ebd., ferner im Detail die Ermittlungsakten der Gestapo ( BStU, HA XI /11 SU 8/76, 00033–00034). 51 Wolfgang Buschfort, Das Ostbüro der SPD. Von der Gründung zur Berlin - Krise, München 1991. 52 So in Sachsen : BStU, SfS BV Dresden, HA IX /23717, 0010–0060.

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Die Traditionen und die zweifache Diktatur

Die Konzeption, unter der nationalsozialistischen Diktatur den Zusammenhalt zu wahren, hat fraglos den schnellen Neuaufbau der SPD nicht nur in der sowjetischen Zone begünstigt, aber auch Modernisierung und Neuausrichtung behindert. Dagegen haben die Zwangsvereinigung von 1946 und ihre Folgen – die Herausbildung kommunistischer Dominanz in der Einheitspartei, die Eliminierung sozialdemokratischer Arbeits - und Organisationsformen, die Stalinisierung von 1948 an, die folgenden „Säuberungen“ – diese Traditionen auf Dauer verschüttet, wie der mühsame Prozess des Aufbaus der SDP / SPD in der DDR 1989/90 zeigt. Mit der Niederschlagung des Arbeiter - und Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 durch die sowjetische Besatzungsmacht war auch die Mobilisierungs - und Handlungsfähigkeit der Arbeiterschaft nachhaltig zerstört. Zudem erwies sich die „Attraktivität“ des kommunistischen „Modells“ doch für eine Reihe führender Sozialdemokraten als groß genug, um sich in der SED einzurichten. Das gilt für die meisten Mitglieder aus dem Zentralausschuss von 1945/46, so für Otto Grotewohl, Max Fechner, Erich Gniffke oder Carl Litke. Er und Grotewohl mutierten zu Kommunisten. Gniffke indes wand sich zu Beginn der Stalinisierung von der SED ab,53 Fechner wurde 1953 als Justizminister der DDR verhaftet und unter unwürdigen Verhältnissen verurteilt.54 Mit ihm wurde natürlich auch sein persönlicher Referent entlassen.55 Das MfS versuchte zugleich, Kontakte zum Westen und zu anderen früheren Sozialdemokraten sowie zum Ostbüro der SPD zu ermitteln.56 Otto Buchwitz, 1945 sächsischer Landesvorsitzender und energischer Befürworter der SED, hatte sich offenbar schon in der Haftzeit im „Dritten Reich“ weitgehend den Kommunisten angenähert.57 Beispiele zweifacher Verfolgung von Sozialdemokraten sind ebenfalls nicht selten. Es können hier etwa Gustav Dahrendorf aus Berlin58 oder Hermann Brill59 aus Thüringen genannt werden. Für Mecklenburg - Vorpommern gilt das

53 Erich W. Gniffke, Jahre mit Ulbricht. Mit einem Vorwort von Herbert Wehner, Köln 1966, S. 283 ff. 54 Verfügung über die Einleitung eines Untersuchungsverfahrens, Berlin 15. 7. 1953 ( BStU, AU 307/55, 00007). Eine Überprüfung sämtlicher im Strafverfahren gegen den ehemaligen Minister der Justiz Fechner, Max vorliegender Unterlagen hat folgenden Tatbestand ergeben [...], 29. 10. 1954 ( BStU AU 307/55, 000095–000099). 55 Durchführung von Ermittlungen über Prof. Dr. Scheele, 13. 9. 1961 ( BStU, BV Potsdam, HA XX /17890, 00069–00073). 56 Bemerkungen zur Vereinigung und der Arbeit im ZK nach der Vereinigung, ohne Verfasser, ohne Datum ( BStU, AU 307/55, 00205–00213). 57 Solveig Simowitsch, „... Werden als Wortbrüchige in die Geschichte der SPD eingehen ...“ Sozialdemokratische Konvertiten. Wilhelm Höcker, Carl Moltmann, Otto Buchwitz und Heinrich Hoffmann, Berlin 2006, S. 109 ff. 58 Ralf Dahrendorf ( Hg.), Gustav Dahrendorf : Der Mensch, das Maß aller Dinge, Hamburg 1955. 59 Vgl. Overesch, Brill.

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für Albert Schulz, Willy Jesse und Hermann Lüdemann,60 der später Ministerpräsident in Schleswig - Holstein wurde.61 Aus Sachsen wäre etwa auf Arno Wend,62 Stanislaw Trabalski,63 Heinrich Fleissner oder Erich Schilling zu verweisen.64 Bemerkenswert ist, dass außer Lüdemann und Brill keiner aus diesem Kreis nach dem Wechsel in den Westen Deutschlands herausragende Positionen besetzte. Das zweifache Ende der Sozialdemokratie 1933 in Deutschland und 1946 in der SBZ zeigt die faktische Ausweglosigkeit gegenüber den Spitzen staatlicher und militärischer Macht. Gefördert wurde die Zerstörung der Sozialdemokratie indes in beiden Fällen durch inneren Zwist, Konformitätsdruck und äußeren Zwang zu Unterwerfung und Gleichschaltung.

60 Müller / Mrotzek / Köllner, Die Geschichte, S. 155 ff. 61 Rolf Fischer, Hermann Lüdemann und die deutsche Demokratie, Neumünster 2006, S. 87 ff., 125 ff. 62 Mike Schmeitzner, Doppelt verfolgt. Das widerständige Leben des Arno Wend, Berlin 2009. 63 So die Biografie in : Michael Rudloff / Mike Schmeitzner ( Hg.), „Solche Schädlinge gibt es auch in Leipzig“. Sozialdemokraten und die SED, Frankfurt a. M. 1997, S. 13–68. Ausführlicher : Bericht, Betr. : Trabalski, Stanislaw [...], 24. 4. 1958 ( BStU, BV Leipzig, 24. 4. 1958, HA XX / 17980, 0008–00016). 64 So die Biografien in Rudloff / Schmeitzner, „Solche Schädlinge ...“, S. 69–85 und 186– 201.

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Regionale Konstellationen und Mobilisierungsstrategien im „Dritten Reich“ und in der DDR Oliver Werner Die vergleichende Untersuchung des nationalsozialistischen Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik ( DDR ) hat sich in den vergangenen 20 Jahren als geschichtswissenschaftliche Methode etabliert. Dass dabei der Erkenntnisfortschritt weniger auf der Ermittlung äußerlicher Ähnlichkeiten beider Herrschaftssysteme liegt, sondern vielmehr auf der Herausarbeitung der jeweiligen Herrschaftspraxis, ist bereits früh antizipiert worden.1 Gerade die wechselseitige methodische Anregung, die von einer vergleichenden Analyse ausgehen kann, sowie die Schärfung des wissenschaftlichen Blicks für die Unterschiede bilden den Kern der vergleichenden Methode.2 Zeitgleich veränderte die historische Regionalforschung – zumindest für die deutsche Gesellschaft im Nationalsozialismus – ihren Schwerpunkt. Sie fragte seit den 1980er Jahren zunehmend nach dem Stellenwert regionaler Machtinstanzen und Machteliten für die Funktionsweise und Herrschaftspraxis des Gesamtsystems. So liefen etwa mehrere Forschungsprojekte in den 1990er Jahren in der Publikationsreihe „Nationalsozialismus und Nachkriegszeit in Südwestdeutschland“ zusammen, die gleichermaßen die regionalen Herrschaftsmechanismen des „Dritten Reiches“ wie den gesellschaftlichen Stellenwert der Zäsur des Jahres 1945 in den Blick nahmen.3 Die große Bedeutung der regionalen Ebene für die Stabilität des Gesamtsystems wurde nicht zuletzt daran erkennbar, dass „überhaupt nur die polykratische Konkurrenz der Unterführer des NS - Regimes jene Ressourcen mobilisieren halfen, die es ihm erlaubten, den Zusammenbruch solange hinauszuzögern“.4 1 2 3 4

Günther Heydemann / Christopher Beckmann, Zwei Diktaturen in Deutschland. Möglichkeiten und Grenzen des historischen Diktaturenvergleichs. In : Deutschland Archiv ( DA ), 30 (1997) Heft 1, S. 12–40. Günther Heydemann / Heinrich Oberreuter ( Hg.), Diktaturen in Deutschland – Vergleichsaspekte, Bonn 2003; vgl. grundsätzlich Detlef Schmiechen - Ackermann, Diktaturen im Vergleich, 3. Auflage Darmstadt 2010. Cornelia Rauh - Kühne / Michael Ruck ( Hg.), Regionale Eliten zwischen Diktatur und Demokratie. Baden und Württemberg 1930 bis 1952, München 1993. Michael Ruck, Zentralismus und Regionalgewalten im Herrschaftsgefüge des NS - Staates. In : Horst Möller / Andreas Wirsching / Walter Ziegler ( Hg.), Nationalsozialismus in der Region. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich, München 1996, S. 99–122, hier 122.

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Oliver Werner

Für die Sowjetische Besatzungszone ( SBZ ) und die spätere DDR liegen regionalgeschichtliche Forschungen bisher vor allem als kollektivbiografische Studien vor, die naturgemäß ihren Fokus stärker auf Motive, Stellung und Karriereverläufe regionaler Funktionäre legen.5 Die inspirierenden Arbeiten von Jay Rowell zeigen indes, dass die Bedeutung der regionalen Ebene für die Dynamik und die Stabilität des Gesamtsystems auch für die DDR gewinnbringend untersucht werden kann.6 Die Verantwortung regionaler Instanzen für Mobilisierungsleistungen, die von der zentralen Führung eingefordert wurden und den Zielen des Gesamtsystems dienen sollten, bildet dabei den Schlüssel für eine fruchtbare vergleichende Perspektive beider Herrschafts - und Planungssysteme.7 Im Folgenden werden davon ausgehend die Entwicklung und der Stellenwert regionaler Mittelinstanzen im nationalsozialistischen Deutschland und in der DDR skizziert. Als „Mobilisierung“ sollen dabei die Anstrengungen in beiden Diktaturen verstanden werden, bei Akteuren die Bereitschaft zu erzeugen, relevante Ressourcen den jeweiligen Zielsetzungen der politischen Führung umfassend zur Verfügung zu stellen. Diese Bereitschaft musste auch dann aufrecht erhalten werden, wenn die Zielsetzungen und die Wirksamkeit der Anstrengungen zweifelhaft und die Folgen des Ressourceneinsatzes für die mobilisierten Akteure selbst potenziell schädlich waren.

1.

Gaue

Die „Gleichschaltung“ der Länder im April 1933 ordnete die Länder konsequent den Reichsinteressen unter.8 Die als „Reichsstatthalter“ eingesetzten Gauleiter übernahmen auf der regionalen Ebene unmittelbar Reichsaufgaben. Sie bedienten sich dabei der Landesadministrationen – in Preußen der Provinzialverwaltungen –, die als Relikte der föderalen Struktur bestehen blieben und deren weitere Aufgabenstellung vorerst vage blieb. Die Neubestimmung der regionalen Institutionen und ihrer Beziehungen zum Reich sollte einer „Reichsreform“ vorbehalten bleiben, die trotz mehrerer Anläufe und Hitlers allgemeinen Absichtserklärungen scheiterte.9 Tatsächlich aber wäre eine administrative Konsolidierung mit klar zugeschriebenen, einzufordernden Kompetenzen ein Hindernis für die Vorbereitung des 5 6 7

8 9

Heinz Mestrup, Die SED. Ideologischer Anspruch, Herrschaftspraxis und Konflikte im Bezirk Erfurt 1971–1989, Rudolstadt 2000. Jay Rowell, Le totalitarisme au concret. Les politiques du logement en RDA, Paris 2006. Vgl. Oliver Werner, Die ‚Demokratisierung des Verwaltungsapparates‘ der DDR als Beispiel administrativer Mobilisierung (1949 bis 1961). In : ders. ( Hg.), Mobilisierung im Nationalsozialismus. Institutionen und Regionen in der Kriegswirtschaft und der Verwaltung des ‚Dritten Reiches‘ 1936 bis 1945, Paderborn 2013, S. 303–323. „Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich“ vom 7. 4. 1933. In : Reichsgesetzblatt Teil I ( RGBl. I ) 1933, S. 173. Vgl. Dieter Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg. Verfassungsentwicklung und Verwaltungspolitik 1939–1945, Stuttgart 1989, S. 189–215.

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Krieges gewesen. Die Reichspolitik zielte vielmehr auf eine administrative Offenheit, die von Konkurrenzen sowohl innerhalb der Gaue als auch zwischen verschiedenen Gauen getragen wurde. Dabei waren die regionalen Parteiverwaltungen der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei ( NSDAP ) nur ein Handlungsträger unter mehreren, in ihren Einflussmöglichkeiten immer wieder changierenden Akteuren aus Politik, Wirtschaft und Verwaltung. Neben den weiter bestehenden Landes - und Provinzialverwaltungen – in den preußischen Gauen die Ober - und Regierungspräsidenten – gewannen etwa die in den Wirtschaftskammern organisierten Unternehmer und im Krieg dann regionale Militäradministrationen signifikanten Einfluss auf die praktische Politik in den Gauen.10 Gerade diese wechselnden Konstellationen und nicht allein die Gauleiter bilden den Schlüssel zum Verständnis der „NS - Gaue“ als wandlungs - und integrationsfähige Instrumente für die Mobilisierung von Menschen und Ressourcen im „Dritten Reich“.11 Der im Oktober 1936 verkündete „Vierjahresplan“ bildete für die neuen Mittelinstanzen eine wichtige Bewährungsprobe. Zwar verstanden sich die NSDAP - Gauleitungen als „Motor und überwachende Instanz“, der bei dem Vorhaben, „alle verfügbaren Kräfte für den Vierjahresplan zu mobilisieren“, die „zusammenfassende Führung“ zufiele.12 Bei strukturprägenden Rüstungsprojekten gelang es Vertretern der Industrie und Wirtschaftsfunktionären oft genug, dass zentrale Zeit - und Bauvorgaben gegen die Bedenken regionaler Planer durchgesetzt wurden.13 Die Unklarheit administrativer Kompetenzen auf der regionalen Ebene brachte dabei nicht nur „Sand ins Getriebe der Verwaltungen“,14 sondern schuf auch Raum für produktive Reibungen. So beanspruchte etwa der thüringische Gauleiter Fritz Sauckel sämtliche Vierjahresplankompetenzen für den Regierungsbezirk Erfurt, der verwaltungsmäßig zur preußischen Provinz Sachsen gehörte, erfolgreich für seinen Gau.15 Damit gab er die Richtung vor für eine sukzessive Zurückdrängung der Kompetenzen traditioneller 10 Vgl. Hedwig Schrulle, Verwaltung in Diktatur und Demokratie. Die Bezirksregierungen Münster und Minden / Detmold von 1930 bis 1960, Paderborn 2008; sowie Ralf Stremmel, Kammern der gewerblichen Wirtschaft im „Dritten Reich“. Allgemeine Entwicklungen und das Fallbeispiel Westfalen - Lippe, Münster 2005. 11 Vgl. die Beiträge in Jürgen John / Horst Möller / Thomas Schaarschmidt ( Hg.), Die NS Gaue. Regionale Mittelinstanzen im zentralistischen „Führerstaat“, München 2007. 12 So der amtierende Gauleiter von Magdeburg - Anhalt, Joachim Eggeling, am 22. 12. 1936 auf einer Besprechung über die Durchführung des Vierjahresplans im Gau MagdeburgAnhalt ( Landeshauptarchiv Sachsen - Anhalt [ LHSA ], Abteilung Magdeburg, Bestand Rep. C 20 I, I b [ Oberpräsident, Allgemeine Abteilung ], Nr. 4808, Bl. 13–15, hier 13 f.). 13 Vgl. Oliver Werner, Conceptions, Competences, and Limits of German Regional Planning during the Four Year Plan, 1936 to 1940. In : Chris Szejnmann / Maiken Umbach ( Hg.), Heimat, Region and Empire. Spatial Identities under National Socialism, Basingstoke 2012, S. 166–182. 14 Roland Peter, Rüstungspolitik in Baden. Kriegswirtschaft und Arbeitseinsatz in einer Grenzregion im Zweiten Weltkrieg, München 1995, S. 19. 15 Vgl. die Korrespondenz zwischen thüringischen und Magdeburger Dienststellen aus den Jahren 1936 und 1937 ( LHSA, Abteilung Magdeburg, Bestand Rep. C 20 I, I b [Oberpräsident, Allgemeine Abteilung ], Nr. 4808).

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Behörden zugunsten einer rücksichtslosen Dynamik von Sonderverwaltungen, die zum Charakteristikum nationalsozialistischer Mobilisierung wurde.16 Diese Dynamik wurde von Funktionären wie dem Dessauer Junkers - Direktor Walter Jander vorangetrieben, der in seiner Person beispielhaft die zunehmende Verschmelzung wirtschaftlicher und staatlicher Verantwortung mit Parteifunktionen verkörperte. Neben seiner Direktorentätigkeit war Jander ab Ende 1936 Sonderbeauftragter für den Vierjahresplan für den Gau Magdeburg - Anhalt und ab 1937 auch Gauwirtschaftsberater der NSDAP in Dessau. Die verschiedenen Funktionen ermöglichten es ihm, mit allen maßgeblichen Stellen auf Augenhöhe zu kommunizieren und die betrieblichen Interessen der Junkers - Werke mit den Kriegsvorbereitungen des Regimes in Einklang zu bringen.17 Die wirtschaftliche Kriegsvorbereitung verstärkte die regionale Differenzierung der Gaue. „Innerreich“ - Gaue wie Magdeburg - Anhalt, Mark Brandenburg und ab 1938 auch Sachsen galten als strategisch sicher vor Luftangriffen und bildeten die Hauptausbauzonen der deutschen Kriegswirtschaft. Hier lassen sich indes auch wegen der großen Rüstungsinvestitionen Ressourcenkonflikte nachweisen, die sowohl die Nutzung des Bodens ( für Industrieanlagen, die Gewinnung von Rohstoffen oder für die Landwirtschaft ) als auch die Rekrutierung von Arbeitskräften betrafen. Gaue mit regionalen Investitionsschwerpunkten – etwa Magdeburg - Anhalt mit dem Ausbau der Junkers - Werke in Dessau, oder Halle - Merseburg mit seinen expandierenden Chemiestandorten – waren von starken Wanderungsbewegungen geprägt, die früher als in anderen Gegenden zu einem Mangel an Fachkräften führten. Und ein wesentlich durch Landwirtschaft geprägter Gau wie Mecklenburg wurde infolge des Ausbaus der Heinkel Flugzeugwerke in Rostock mit einer massiven Abwanderung landwirtschaftlicher Arbeitskräfte in die neuen Industrien konfrontiert.18 Mit Beginn des Krieges wurde im Herbst 1939 für jeden Wehrkreis ein Gauleiter zum Reichsverteidigungskommissar bestimmt, der – als Pendant zu den Rüstungsinspekteuren der Wehrmacht – für alle zivilen Aufgaben der Reichsverteidigung zuständig war.19 Diese Funktion bildete den Kristallisationspunkt für den Zuwachs administrativer Kompetenzen in den Folgejahren. Während einige Aufgaben den regionalen Mittelinstanzen von Anfang an zufielen – etwa die Evakuierungen der Grenzregionen und Großstädte oder die Bewältigung der Folgen des Bombenkrieges in „Gaueinsatzstäben“ – erhielten 16 Vgl. die Beiträge in Rüdiger Hachtmann / Winfried Süß ( Hg.), Hitlers Kommissare. Führerbeauftragte und sektorale Sondergewalten in der nationalsozialistischen Diktatur, Göttingen 2006. 17 Vgl. http ://agso.uni - graz.at / sozio / biografien / j / janda_walter.htm; 1. 3. 2014. 18 Vgl. Frank Bajohr, Dynamik und Disparität. Die nationalsozialistische Rüstungsmobilisierung und die „Volksgemeinschaft“. In : ders./ Michael Wildt ( Hg.), Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2009, S. 78–93. 19 Karl Teppe, Der Reichsverteidigungskommissar. Organisation und Praxis in Westfalen. In : Dieter Rebentisch / Karl Teppe ( Hg.), Verwaltung contra Menschenführung im Staat Hitlers. Studien zum politisch-administrativen System, Göttingen 1986, S. 278–301.

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sie andere Funktionen über Sonderverwaltungen wie den Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz, Fritz Sauckel, der im Frühjahr 1942 die Gauleiter zu seinen regional zuständigen Vertretern bestimmte. Diese Sonderverwaltungen vernetzten sich mit den traditionellen Instanzen und Eliten, um die „Heimatfront“ zu stabilisieren und zu mobilisieren. Die regionalen Partei - und Ver waltungseliten spielten auf diese Weise eine konstituierende Rolle bei der Durchsetzung der nationalsozialistischen Herrschaft und der Mobilisierung der Kriegsgesellschaft.20 Ende 1942 wurden die administrativen Grenzen der kriegsrelevanten Behörden und Institutionen auf die Gaugrenzen zugeschnitten.21 Die Wehrkreise entsprachen nun den Gauen, jeder Gauleiter war gleichberechtigter Reichsverteidigungskommissar, und die Zuständigkeiten der Landeswirtschafts - und Landesarbeitsämter, Wirtschaftskammern sowie Rüstungsbehörden wurden entsprechend angepasst. Dadurch bildeten die Gaue ab Mitte des Krieges die dominante territoriale Bezugsgröße, und ihre Vertreter besaßen ein Mitspracherecht in wesentlichen kriegsrelevanten Fragen.22 Um ihr nach und nach wachsendes Mitspracherecht durchsetzen zu können, waren die Stäbe der Reichsverteidigungskommissare auf die Zusammenarbeit mit den regionalen und lokalen Eliten angewiesen. Deren Kooperationsbereitschaft wurde zwar durch den Zuschnitt der Verwaltungen auf die Gaugrenzen begünstigt, sie musste aber zugleich immer wieder neu ausgehandelt oder erpresst werden. Als Gegenleistung für ihre Kooperationsbereitschaft wurde den Unternehmern ein letzter Rest an betrieblicher Entscheidungsautonomie zugestanden. Wenn Gauleiter für sich in Anspruch nahmen, allzu harte Wirtschaftsmaßnahmen der Berliner Regierung für kooperationsbereite Firmen in ihrem Gau abzufedern, so war das gerade kein „Gaupartikularismus“,23 sondern die Motivierung der Wirtschaftsführer, sich im Sinne des Krieges den Reichsvorgaben anzupassen. Die Entwicklung dieser „komplexen Kooperationsstruktur“24 begünstigte zugleich die Durchsetzungsfähigkeit zentraler Instanzen wie dem im Frühjahr 1942 von Albert Speer übernommenen Rüstungsministerium. Der Zugriff der Speer - Bürokratie auf die ökonomischen Ressourcen der Gaue wurde nicht 20 Vgl. Michael Buddrus ( Bearb.), Mecklenburg im Zweiten Weltkrieg. Die Tagungen des Gauleiters Friedrich Hildebrandt mit den NS - Führungsgremien des Gaues Mecklenburg 1939–1945. Eine Edition der Sitzungsprotokolle, Bremen 2009. 21 „Verordnung über die Reichsverteidigungskommissare und die Vereinheitlichung der Wirtschaftsverwaltung“ vom 16. 11. 1942. In : RGBl. I 1942, S. 649–656. 22 Vgl. etwa die umfangreichen Verhandlungen zum Führererlass „über den umfassenden Einsatz von Männern und Frauen für Aufgaben der Reichsverteidigung“ vom 13. 1. 1943 in den Akten der Partei - Kanzlei der NSDAP. Rekonstruktion eines verlorengegangenen Bestandes, Regesten 16437, 16487 und 16519. In : Nationalsozialismus, Holocaust, Widerstand und Exil 1933–1945. Online - Datenbank, De Gruyter; 1. 3. 2014. 23 Joseph Goebbels, Tagebucheintrag vom 6. 8. 1942. In : Nationalsozialismus, Holocaust, Widerstand und Exil 1933–1945. Online - Datenbank, De Gruyter; 1. 3. 2014. 24 Adam Tooze, Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus, München 2007, S. 647.

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zuletzt durch neue „Rüstungskommissionen“ gewährleistet, in denen ab Herbst 1942 die verschiedenen Wehrmachts - , Wirtschafts - , Reichs - und Gauinteressen auf der mittleren Ebene aufeinander abgestimmt wurden. Die tonangebenden Mitglieder der Kommissionen wurden sämtlich vom Rüstungsministerium ernannt, und viele beteiligte Unternehmer hatten ein Interesse daran, die ihnen noch verbliebene betriebliche Entscheidungshoheit gegen Konkurrenten zu verteidigen.25 So leitete der technische Direktor des Magdeburger Krupp - GrusonWerkes, Friedrich Mehner, sowohl die Gauwirtschaftskammer Magdeburg Anhalt als auch die für den Gau zuständige Rüstungskommission. Mehner gewährleistete eine enge Abstimmung betrieblicher, kriegswirtschaftlicher und militärisch - politischer Interessen, während sich die Rüstungskommission unter seiner Führung zum Rückgrat sämtlicher Mobilisierungsanstrengungen im Gau entwickelte.26 Diese mobilisierenden und stabilisierenden Funktionen nahmen die regionalen Mittelinstanzen bis zum Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ wahr und ihre Vertreter wurden durch die Fragmentierung des deutschen Wirtschaftsraumes sogar noch beflügelt. So stellte ein Magdeburger Betriebsdirektor Ende Februar 1945 fest, dass jetzt, wo „die Truppen an allen Fronten nach Waffen schreien“, „der mitteldeutsche Raum sie liefern“ müsse : „Wer soll es denn sonst tun ?“27 Nicht zuletzt die Überdehnung der regionalen Ressourcen durch die rücksichtslose Mobilisierung in der Endphase des „totalen Krieges“ unterminierte die Handlungsfähigkeit der administrativen Mittelinstanzen, was es den Alliierten nach Kriegsende erleichterte, ihre jeweils eigenen Vorstellungen regionaler Herrschaft in ihrem jeweiligen Besatzungsgebiet umzusetzen.

2.

Bezirke

Die Bildung der Bezirke als regionale Mittelinstanzen der DDR im Sommer 1952 baute daher in mehrfacher Hinsicht auf der Entwicklung im Nationalsozialismus auf. Die Zerstörung föderaler Institutionen in der späten Weimarer Republik und im „Dritten Reich“ begünstigte die Zurückdrängung der Länder und die Bildung neuer, vermeintlich effektiverer Mittelinstanzen in der Zeit nach 1949. Zudem begann die sowjetische Besatzungsmacht in ihrer Besatzungszone ein administratives Herrschafts - und Planungssystem einzurichten, das sich vorgeblich gerade in der militärischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozia25 Oliver Werner, Garanten der Mobilisierung. Die Rüstungskommissionen des Speer Ministeriums im ‚totalen Krieg‘. In : ders., Mobilisierung im Nationalsozialismus, S. 217–233. 26 Vgl. die Handakte von Friedrich Mehner ( LHSA, Abteilung Magdeburg, Bestand Rep. I 28 [ Friedrich Krupp Grusonwerk AG Magdeburg ], Nr. 536). 27 Zitiert nach Dietrich Eichholtz, Die deutsche Kriegswirtschaft 1944/45. Eine Bilanz. In: ders. ( Hg.), Krieg und Wirtschaft. Studien zur deutschen Wirtschaftsgeschichte 1939–1945, Berlin 1999, S. 325–347, hier 342.

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lismus bewährt hatte.28 Damit wurden der „demokratische Zentralismus“ als diktatorische Befehlshierarchie und ein sakrosanktes Verständnis von „Wirtschaftsplanung als Erlass verbindlicher Weisungen“29 auch in der DDR zu den unumstößlichen Voraussetzungen des „Aufbaus des Sozialismus“. Die Führung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands ( SED ) erkannte folgerichtig keine vom zentralen Plan unabhängigen regionalen Interessen an. Bruno Leuschner postulierte 1951 als stellvertretender Vorsitzender der Staatlichen Plankommission die besondere Verantwortung der Länder - und Gemeindeverwaltungen, die Wirtschafts - und Versorgungslage in ihren Verantwortungsbereichen auch ohne zentrale Hilfe zu verbessern. In allen nachgeordneten Instanzen sollten dafür „Pläne zur Mobilisierung der örtlichen Reserven aufgestellt“ und die Bevölkerung bei deren Umsetzung in breitem Umfang eingebunden werden.30 Die Hoffnung auf regionale Mobilisierungsgewinne, die die Zentrale entlasten und zusätzliche Ressourcen erschließen sollten, bildete eine ebenso wichtige wie im Kern unspezifische Komponente der Auflösung der Länder und der Einrichtung neuer Bezirke und Kreise im Sommer 1952.31 DDR- Ministerpräsident Otto Grotewohl begründete die Verwaltungsreform gegenüber den neu ernannten Vorsitzenden und Sekretären der Räte der Bezirke nicht zuletzt mit der Erwartung, dass „mit der Lösung der Struktur Kräfte frei werden, die wir zur Entwicklung der Staatsmacht brauchen“.32 Damit waren keineswegs allein personelle Kräfte gemeint, denn der erste Fünfjahrplan von 1951 bis 1955 war durch volkswirtschaftliche Weichenstellungen gekennzeichnet, die mit der Errichtung einer DDR - eigenen Schwerindustrie etwa im Bezirk Frankfurt (Oder) oder dem Ausbau des Energiesektors im Bezirk Cottbus regionale Investitionsschwerpunkte schuf, die regional übergreifend organisiert und anderen Bezirken gegenüber legitimiert werden mussten. Die neuen Verwaltungsinstitutionen stießen dabei rasch an die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit und eine Anpassung der „örtlichen Organe“ an die wirtschaftlichen Erfordernisse wurde vorerst politisch verhindert. Erst mit der „Entstalinisierung“ ab 1956 konnte auch in der DDR die Arbeitsweise der Bezirks - und Kreisverwaltungen evaluiert werden. 1957 entfalteten sich SED - interne Diskussionen über eine Verbesserung der regionalen Verwaltung, die eng an sowjetische Debatten einer höheren ökonomischen 28 David Priestland, Weltgeschichte des Kommunismus. Von der Französischen Revolution bis heute, München 2009, S. 256. 29 Richard Overy, Die Diktatoren. Hitlers Deutschland, Stalins Russland, München 2005, S. 535. 30 Bruno Leuschner, Aufbau und Aufgaben der Organe der örtlichen volkseigenen Industrie. In : Die Verbesserung der Arbeit des Staatsapparates im ersten Jahr des Fünfjahrplans. Konferenz von Staatsfunktionären am 24. und 25. 2. 1951, Forst Zinna 1951, S. 53–65, hier 56. 31 Vgl. Henning Mielke, Die Auflösung der Länder in der SBZ / DDR 1945–1952, Stuttgart 1995, S. 88–105. 32 Konferenz mit leitenden Funktionären der örtlichen Staatsorgane am 15. 8. 1952, stenografische Niederschrift ( BArch, NY 4090, Nachlass Otto Grotewohl, Nr. 401, Bl. 33).

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Selbständigkeit der Unionsrepubliken bzw. der nachgeordneten Verwaltungseinheiten angelehnt waren. Das aus diesen Impulsen hervorgehende Gesetz33 vom 11. Februar 1958 erweiterte die Kompetenzen der Staatlichen Plankommission und schuf Wirtschaftsräte bei den Bezirksverwaltungen. Die Wirtschaftsräte hatten allerdings, so war zuvor intern festgelegt worden, in erster Linie „die einheitliche Leitung der Wirtschaft im Bezirk“ zu garantieren, während die Bezirks - und Kreisräte über die „Produktionsprobleme in den zentral geleiteten Betrieben“ nur „informiert“ werden sollten.34 Damit blieb das grundsätzliche Dilemma der örtlichen DDR - Staatsfunktionäre bestehen : Sie trugen die volle Verantwortung für die Erfüllung der zentralen Pläne, besaßen aber nur ein willkürlich begrenztes Verfügungsrecht über die dafür notwendigen Ressourcen und Informationen. In dieser Konstellation zementierte die Stärkung der Bezirksparteiorganisationen der SED die Nachordnung staatlicher Institutionen. Bezirksparteisekretären wie Paul Fröhlich in Leipzig oder Alois Pisnik in Magdeburg gelang es, regionale Kritik an der weiterhin mangelhaften Ressourcenregulierung in zum Teil harten Machtkämpfen zu unterdrücken. Die Dominanz der SED und die Strategie, wirtschaftliche Schwächen des Planungssystems nicht zu evaluieren, sondern einzelne Funktionäre auf Bezirksebene dafür verantwortlich zu machen, unterminierten mittel - und langfristig die Handlungsspielräume regionaler staatlicher Akteure.35 Propagandistisch wurden die Wirtschaftsräte hingegen als effektive Planungsinstrumente herausgestellt, und mit der zeitgleichen Bildung von Bezirks - , Kreis - und Stadtbauämtern der große Stellenwert der Bauwirtschaft auf regionaler Ebene unterstrichen.36 Auf diesen Bereich konzentrierten sich in den folgenden Jahren dann auch die Erwartungen der DDR Führung an eine Kraftentfaltung regionaler und lokaler Instanzen. Aus Sicht der SED - Führung waren damit die Instrumente gefunden, mit denen nun im Rahmen eines Siebenjahrplans hochgesteckte Wirtschaftsziele erreicht werden konnten. Dabei schuf das verkündete Chemieprogramm neue regionale Disparitäten, die von den Bezirken allein gar nicht bewältigt werden konnten.37 In den folgenden Jahren führte die Gemengelage aus übersteigerten 33 „Gesetz über die Vervollkommnung und Vereinfachung der Arbeit des Staatsapparates“ vom 11. 2. 1958. In : Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik Teil I ( GBl. DDR I ) 1958, S. 117–120. 34 Protokoll der Sitzung der ZK - Kommission zur „Ausarbeitung der Direktiven für die ökonomischen, staatlichen und kulturellen Grundaufgaben des II. Fünfjahrplans“ vom 24. 7. 1957 ( BArch, DY 30, Zentralkomitee der SED, Büro Walter Ulbricht, Nr. 3302, Bl. 5 f.). 35 Vgl. Christian Kurzweg / Oliver Werner, SED und Staatsapparat im Bezirk. Der Konflikt um den Rat des Bezirkes Leipzig 1958/59. In : Michael Richter / Thomas Schaarschmidt / Mike Schmeitzner ( Hg.), Länder, Gaue und Bezirke. Mitteldeutschland im 20. Jahrhundert, Halle ( Saale ) 2007, S. 255–276. 36 „Verordnung über die Organisation des Bauwesens“ vom 13. 2. 1958. In : GBl. DDR I 1958, S. 144–148. 37 Vgl. Albrecht Wiesener, Taktieren und Aushandeln – Erziehen und Ausgrenzen. Zum Verhältnis von Mikropolitik und Produktionskampagnen in den Leuna - Werken 1958–

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ökonomischen Zielsetzungen, inadäquaten Planungsinstrumenten und einer Verschärfung der internationalen Lage in eine dramatische Existenzkrise der DDR.38 Selbst jetzt aber war die politische Führung kaum bereit, eine Reform der Wirtschaftsplanung mit erweiterten Handlungsspielräumen auch für regionale Akteure anzugehen, sondern setzte darauf, die Krise propagandistisch zu kaschieren. Das geschah nicht zuletzt auch unter Beteiligung von Akteuren der Bezirksebene wie dem 1. Sekretär der SED - Bezirksleitung Cottbus, Albert Stief, der auf der 12. ZK - Tagung im März 1961 hervorhob, dass gerade für den Wohnungsbau „die örtlichen Reserven an Material, Transportraum und Arbeitskräften nutzbar gemacht“ würden.39 Erst nach dem Bau der Mauer im August 1961 konnte es die SED wagen, umfassendere Wirtschaftsreformen in Angriff zu nehmen. Zielten die ersten Maßnahmen des ab 1963 verkündeten „Neuen ökonomischen Systems“ auf die Schaffung von Leistungsanreizen innerhalb der Industrieverwaltungen, wurden insbesondere im Jahr 1965 institutionelle und finanzielle Regelungen eingeführt, die den Bezirken mehr Bewegungsfreiheit zu verschaffen schienen. Durch neue Institutionen wie die „Büros für Territorialplanung“, die für die Raum - und Infrastrukturplanung zuständig waren, wuchs auf Bezirksebene eine fachliche Planungskompetenz, ohne dass zugleich die administrativen Handlungsspielräume ausreichend verbindlich definiert wurden.40 Das Zustandekommen dieser regionalen Kompetenzausstattung und die Erwartungen, die an sie geknüpft wurden, zeigen indes, dass immer ein grundsätzliches Mobilisierungsanliegen dominierte, auch wenn es inzwischen – weniger militärisch – unter „Erschließung örtlicher Reserven“ firmierte.41 Das Handeln von Bezirks - und Kreisfunktionären blieb an die Erfüllung zentraler Planvorgaben gebunden und regionale Sonderinteressen, die unabhängig vom Volkswirtschaftsplan waren oder ihm gar zuwiderliefen, wurden weiterhin nicht anerkannt. Bei der rechtlichen Ausgestaltung des zentralen Kontroll - und Gestaltungszugriffs auf die Bezirksebene trat der Staatsrat unter Führung von Walter

1963. In : Hermann - Josef Rupieper / Friederike Sattler / Georg Wagner - Kyora ( Hg.), Die mitteldeutsche Chemieindustrie und ihre Arbeiter im 20. Jahrhundert, Halle ( Saale ) 2005, S. 237–258. 38 Vgl. Ralph Sowart, Planwirtschaft und die „Torheit der Regierenden“. Die „Ökonomische Hauptaufgabe der DDR“ vom Juli 1958. In : Jahrbuch für historische Kommunismusforschung, 7 (1999), S. 157–190. 39 Die Aufgaben zur weiteren ökonomischen Stärkung der DDR und zur Festigung der sozialistischen Demokratie. 12. Tagung des ZK der SED, Berlin ( Ost ) 1961, S. 42. 40 Gerhard Kehrer, Abriss der Entwicklung der Territorialplanung in der DDR – die Raumplanung der DDR zwischen Anspruch und Wirklichkeit – Versuch einer Gesamteinschätzung. In : Quellen der Raumforschung in der ehemaligen DDR. Hg. von der Akademie für Raumforschung und Landesplanung, Hannover 2000, S. 11–29. 41 „Aufgaben und Arbeitsweise der örtlichen Volksvertretungen und ihrer Organe unter den Bedingungen des neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“, Beschluss des Staatsrates vom 2. 7. 1965. In : GBl. DDR I 1965, S. 159– 206, hier 166.

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Ulbricht in den 1960er Jahren in den Vordergrund.42 Bereits im Herbst 1969 bereitete dieses Gremium einen neuen Beschluss vor, der den regionalen Aufgaben - und Kompetenzbereich der Territorialplanung revidierte und einengte.43 Die für die Wirtschafts - und Territorialreformen der DDR entscheidenden Jahre zwischen 1963 und 1969 haben dadurch den Charakter einer „Sattelzeit“, in der allen Reformbestrebungen zum Trotz keine dauerhafte neue Form des Wirtschaftens und der Verwaltung entwickelt werden konnte. Mit dem Machtwechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker im Frühjahr 1971 veränderten sich erneut die Handlungsspielräume der regionalen Funktinäre. Sie erhielten etwa durch neue „Komplexberatungen“ ein formales Mitspracherecht bei der Erstellung der jährlichen Volkswirtschaftspläne.44 In der Praxis wurde diese Mitsprache zwar häufiger durch ebenso willkürliche wie volkswirtschaftlich gut zu begründende Änderungen der Planziele unterminiert, zugleich aber boten die Verhandlungen breitere informelle Spielräume, in denen Bezirksvertreter gegenüber zentralen Instanzen Vorteile für ihren Bezirk aushandeln konnten. Fiel diese Praxis allerdings übergeordneten Instanzen auf, konnte deren Zugriff – wie etwa 1979 im Bezirk Magdeburg – dazu führen, dass die vereinbarten Auflagen für den Bezirk rabiat nach oben korrigiert wurden.45 Im Sommer 1973 hob ein neues Gesetz die bisherigen Bestimmungen des Staatsrates vollständig auf und erweiterte im Hinblick auf das neue „Wohnungsbauprogramm“ der SED auch die Aufgaben der bezirklichen Bauindustrie.46 Dieses Programm, das von Anfang an die Hauptstadt Ost - Berlin bei der Zuteilung von Bauressourcen bevorzugte, avancierte rasch zum demonstrativen Kernstück von Honeckers „Einheit von Wirtschafts - und Sozialpolitik“ und stellte die regionalen Entscheidungs - und Mobilisierungsmechanismen der DDR vor völlig neue Herausforderungen.47 Ein weiterer Politbürobeschluss unterstrich Anfang 1976 noch einmal die besondere Stellung Ost - Berlins, dessen Ausbau „für die Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der DDR 42 Vgl. Peter Joachim Lapp, Der Staatsrat im politischen System der DDR (1960–1971), Opladen 1972, S. 79–85. 43 „Die weitere Gestaltung des Systems der Planung und Leitung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung, der Versorgung und Betreuung der Bevölkerung in den Bezirken, Kreisen, Städten und Gemeinden“, Beschluss des Staatsrates vom 16. 4. 1970. In : GBl. DDR I 1970, S. 39–62. 44 Hans - Heinrich Kinze / Hans Knop / Eberhard Seifert ( Hg.), Sozialistische Volkswirtschaft. Hochschullehrbuch, 2. Auflage Berlin ( Ost ) 1989, S. 334 f. 45 „Bericht der Arbeitsgruppe, die für die Klärung einer Reihe grundsätzlicher Fragen in Durchführung der Beschlüsse des IX. Parteitages der SED und zur Wiederholung der Komplexberatung im Bezirk Magdeburg gebildet wurde“, Anlage zum Protokoll der Politbürositzung vom 30. 1. 1979 ( BArch, DY 30 / J IV 2/2/1763, Bl. 6–97). 46 „Gesetz über die örtlichen Volksvertretungen und ihre Organe in der DDR“ vom 12. 7. 1973. In : GBl. DDR I 1973, S. 313–335. 47 „Entwicklung des komplexen Wohnungsbaus für die Jahre 1976 bis 1980 und Konzeption zur Errichtung des Palastes der Republik in der Hauptstadt der DDR“, Beschluss des Politbüros des ZK der SED vom 27. 3. 1973 ( BArch, DY 30 / J IV 2/2/1440, Bl. 14– 45).

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von besonderer Bedeutung“ sei.48 Angeblich war der Beschluss „unter aktiver Mitwirkung der zentralen und örtlichen staatlichen Organe“ entstanden, was unterstreichen sollte, „dass die Entwicklung der Hauptstadt als sozialistische Metropole Sache der gesamten Republik“ sei und „mit Unterstützung aller Bezirke verwirklicht“ werde.49 Die Handlungsspielräume regionaler Akteure waren in diesem Bauprogramm allerdings schon aus politischen Gründen gering und die bisherige Widersprüchlichkeit bei der Verfügung regionaler Ressourcen durch zentrale Instanzen wurde sogar noch verstärkt. Material - und Arbeitskräfteumlenkungen aus den Bezirken nach Ost - Berlin wurden willkürlich erhöht und wichtige regionale Bauprojekte konnten häufig nur auf informellen Wegen verwirklicht werden.50 Hier bestand die Gefahr, dass übergeordnete Instanzen das Handeln regionaler Stellen als „Schwarzbautätigkeit“ brandmarkten. So errichtete beispielsweise ein Betonwerk aus Eisenhüttenstadt 1972 – mit vollem Wissen des zuständigen Bezirksbauamts – im Ost - Berliner Ortsteil Wartenberg vierzig Wohneinheiten außerhalb des Plans. Als der „Fall“ aufflog, setzte eine umfangreiche Untersuchung ein, an der neben der Arbeiter - und Bauerninspektion auch die SED - Bezirksleitung und der Rat des Bezirkes Frankfurt ( Oder ) beteiligt waren. Nur der fortgeschrittene Stand der Bauarbeiten und die Möglichkeit, die dringend benötigten Wohnungen nachträglich in den regulären Plan einzurechnen und als „Planerfüllung“ zu verbuchen, verhinderte die Bestrafung der verantwortlichen Funktionäre.51 In den 1980er Jahren führten neue Schwerpunktsetzungen in der Wirtschaftspolitik der DDR zu weiteren Disparitäten bei der Investitionsausstattung der Bezirke. Dabei überschnitt sich der Ausbau neuer Technologien wie der Mikroelektronik, von der etwa die Bezirke Erfurt, Gera und Dresden profitierten, mit der Sicherung der Energiebasis durch die heimische Braunkohle im Bezirk Cottbus bzw. einer intensiven Erdölverarbeitung im Bezirk Halle. An der Spitze der Finanzausstattung der Bezirke stand ab 1977 ununterbrochen Ost Berlin, dessen Bevorzugung auf diese Weise doppelt abgesichert war – durch hohe Investitionszuweisungen und durch zusätzliche Leistungen der übrigen Bezirke für den Wohnungsbau der Stadt.52 48 „Aufgaben zur Entwicklung der Hauptstadt der DDR, Berlin, bis 1990“, Beschluss des Politbüros des ZK der SED vom 3. 2. 1976 ( BArch, DY 30 / J IV 2/2/1602, Bl. 20–113, hier 30). 49 Siedlungsstruktur und Urbanisierung. Probleme ihrer planmäßigen, proportionalen Gestaltung in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, Gotha 1981, S. 93. 50 Vgl. Harald Engler, Stadtplanung und Stadtentwicklung in einer kleinen DDR - Mittelstadt in den Sechziger - und Siebzigerjahren. Das Beispiel Prenzlau. In : DA, 42 (2009) Heft 2, S. 276–285. 51 Bericht des Bezirkskomitees Frankfurt ( Oder ) der Arbeiter - und Bauerninspektion der DDR und des Rates des Bezirkes Frankfurt ( Oder ) „über die durchgeführte Untersuchung der Bautätigkeit am Objekt 40 WE – Berlin – Wartenberg – Lindenberg“ vom 23. 7. 1973, nebst Anlagen ( Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Rep. 730, SED Bezirksleitung Frankfurt [ Oder ], Nr. 4328, unpaginiert ). 52 Vgl. Hannsjörg F. Buck, Öffentliche Finanzwirtschaft im SED - Staat und ihre Transformationsprobleme. In : Materialien der Enquetekommission „Überwindung der Folgen

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Die Bereitschaft regionaler Partei - und Staatsfunktionäre, trotz drängender Probleme in den Bezirken und Kreisen die Forderungen zentraler Instanzen weiterhin zu erfüllen, bildete eine wichtige Komponente der Krisenanfälligkeit und Reformunfähigkeit der DDR. Solange sich noch irgendwie „örtliche Reserven“ mobilisieren ließen, konnte die zentrale Wirtschaftsplanung ihre Erwartung kultivieren, dass Planlöcher schon gestopft würden. Auf diese Weise waren die Verantwortlichen auf der Bezirksebene an einer Informationsdiffusion beteiligt, die trotz aller ökonomischen Leistungen die prekäre Lage der DDR - Planwirtschaft in den 1970er und 1980er Jahren weiter unterminierte. Diese Entwicklung, die auf Kosten regionaler Ressourcen und Kapazitäten eine Steigerung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der DDR suggerierte, verschränkte sich mit einer Verleugnung der spätestens seit 1984 stagnierenden oder sogar rückläufigen Wirtschaftsentwicklung.53 Damit überlagerten und verstärkten sich Ende der 1980er Jahre für die regionalen Mittelinstanzen Tendenzen, die die gesamte Geschichte der DDR über virulent geblieben waren, durch informelle Handlungsspielräume nicht kompensiert werden konnten und schließlich in die finale Krise der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ mündeten. Das Privileg der zentralen Partei - und Staatsführung, die verbindlichen Ziele der Wirtschaftspolitik zu definieren und ungehindert auf die Ressourcen nachgeordneter Instanzen zuzugreifen, bildete dabei die Konstante, an der sich Akteure der Bezirksebene orientieren mussten, wenn sie für ihren eigenen Bereich informelle Freiräume gewinnen wollten. Das rückblickende Eingeständnis des DDR - Bauministers Wolfgang Junker, dass „der verstärkte und vor allem viel zu lange anhaltende Berlin - Einsatz bezirklicher Baukapazitäten [...] ein Fehler gewesen“ sei,54 bestätigt daher nur die kontinuierliche Mobilisierungshaltung der zentralen DDR - Führung gegenüber nachgeordneten Instanzen, die zu keinem Zeitpunkt wirklich infrage gestellt wurde.

3.

Perspektiven für einen Vergleich

Bereits der knappe Überblick zeigt, dass es auch angesichts der divergierenden Zielsetzungen beider deutscher Diktaturen methodisch fruchtbar ist, die Herrschaftspraxis und Mobilisierungsdynamik regionaler Mittelinstanzen im Nationalsozialismus und in der DDR vergleichend zu untersuchen. Dabei können – wie im vorliegenden Aufsatz – strukturelle Aspekte im Vordergrund der Betrachtung stehen; aber auch die Rolle personeller Netzwerke und die Anbin-

der SED - Diktatur im Prozess der deutschen Einheit“ (13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages ). Hg. vom Deutschen Bundestag, Baden - Baden 1999, Band III /2, S. 975– 1267, hier 1131 f. 53 André Steiner, Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, München 2004, S. 208–215. 54 Neues Deutschland, 10. 11. 1989, S. 4.

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dung regionaler Funktionäre an die jeweilige zentrale Führung sind ertragreiche Forschungsfelder, die erst im Ansatz erschlossen sind.55 Bereits der ganz verschiedene Stellenwert der Parteiorganisationen bei der Umgestaltung der Mittelinstanzen – die Regionalstruktur der NSDAP bildete den Ausgangspunkt für die NS - Gaue, während die staatliche Verwaltungsreform in der DDR von der SED nachvollzogen wurde – verweist auf die zum Teil fundamentalen Unterschiede zwischen beiden Herrschaftssystemen. Dass diese in der vergleichenden Perspektive stärker konturiert in den Vordergrund treten, ist indes gerade kein Argument gegen den historischen Vergleich als Methode, sondern drückt aus, wie fundamental der Vergleich als historisches Erkenntnisinstrument ist : „Die Aussage, zwei Phänomene unterscheiden sich in wesentlichen Punkten, setzt zwingend voraus, dass sie zuvor verglichen worden sind.“56 Die Unterschiede beginnen bei den Zielsetzungen der Diktaturen und den damit verbundenen Aufgabenzuschreibungen an die Mittelinstanzen, betreffen die Stellung der Parteiorganisationen der NSDAP und der SED gegenüber der staatlichen Verwaltung auf regionaler Ebene und resultieren in der unterschiedlichen Fähigkeit beider Herrschaftssysteme, eine Interessenidentität zwischen den Zielen der politischen Führung und denen der regionalen Eliten zu konstruieren. Die Mobilisierung auf der regionalen Ebene scheint vor diesem Hintergrund im „Dritten Reich“ vor allen eine radikalisierende Wirkung entfaltet zu haben, während bei der „Mobilisierung örtlicher Reserven“ in der DDR immer eine stabilisierende Rolle zur Überwindung ökonomischer Schwierigkeiten und Systemdefekte im Vordergrund stand. Die Wechselwirkungen zwischen Stabilisierung und Radikalisierung in beiden Herrschaftssystemen zeigen, dass die Untersuchung der regionalen Dynamik des „Dritten Reiches“ und der DDR unser Verständnis von den Diktaturen des 20. Jahrhunderts insgesamt vertiefen und differenzieren kann.

55 Tilman Pohlmann, Einführung [ zum Themenschwerpunkt „Akteure der Diktatur. Regionale Fallstudien zur NS - und SED - Herrschaft“]. In : Totalitarismus und Demokratie, 10 (2013) Heft 1, S. 7–10. 56 Heydemann / Beckmann, Zwei Diktaturen in Deutschland, S. 12.

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Mobilisierung auf Raten. „Nationalsozialistische Menschenführung“ und die deutsche Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg Thomas Schaarschmidt „Nachdem unter den blitzschnellen Schlägen unserer Wehrmacht der Feind im Osten restlos vernichtet wurde, stehen unsere Soldaten mit derselben Entschlossenheit zu weiterem Einsatz im Kampf um Deutschlands Freiheit bereit. Dieser Kampf um das Leben und die Zukunft unseres Volkes muss genau so beharrlich und entschlossen wie von der kämpfenden Truppe auch von der opfernden Heimat geführt werden. Auch in der Heimat muss eine stets einsatzbereite unüberwindliche Front errichtet werden, eine Front, an der alle Angriffe des jüdisch - kapitalistischen Gegners zerschellen. In diese Front der Heimat gehören alle Deutschen ohne jeden Unterschied. Es gilt alle Kräfte der Nation für diesen Abwehrkampf zu mobilisieren. Das ganze Volk muss zu einer verschworenen und unzerreißbaren Schicksals - und Kampfgemeinschaft geschmiedet werden. So wie im Kampfe um die Macht setzt sich auch heute wieder die NSDAP. an die Spitze und übernimmt die Führung des deutschen Freiheitskampfes an der Heimatfront. Es ist die vordringlichste Aufgabe der Partei dafür zu sorgen, dass das Millionenheer der Heimat, jederzeit das Ziel und den Weg klar erkennend, genauso bedingungslos dem Führer folgt, wie die kämpfende Truppe.“1

Diese Textpassage stammt aus einem Beitrag des Berliner Gau - Pressedienstes, der zwei Wochen nach dem Ende des Polenfeldzugs am 19. Oktober 1939 unter der Überschrift „Die Partei führt die Heimatfront“ erschien. In knapper Form umriss er die zentralen Ziele der NSDAP für die gesellschaftliche Mobilisierung im Krieg : 1) Von der deutschen Bevölkerung wurde erwartet, dass sie sich analog zur militärischen Mobilmachung zu einer stets einsatzbereiten unüberwindlichen „Heimatfront“ zusammenschloss. 2) Daher waren alle Deutschen „ohne jeden Unterschied“ verpflichtet, sich in diese Front einzureihen. 3) Im Krieg formierte sich die „Volksgemeinschaft“ zur „verschworenen und unzerreißbaren Schicksals - und Kampfgemeinschaft“. 4) Analog zur militärischen Führung der Wehrmacht beanspruchte die NSDAP die Führung der „Heimatfront“. Was hier beschrieben wurde, war das Idealbild einer zu einem Block zusammengeschweißten Volksgemeinschaft, die – geführt von der Partei – bedingungslos alle Befehle der Reichsführung ausführte. Die Analogie von Front und Heimatfront, die von der Kriegspropaganda immer wieder beschworen wurde, verschleierte 1

Die Partei führt die Heimatfront. In : Nationalsozialistische Partei - Korrespondenz. Berliner Dienst (= NSPK ) 231, 19. 10. 1939, Bl. 1.

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jedoch, dass die Zivilbevölkerung auch in der Diktatur nicht wie eine Armee nach den Prinzipien von Befehl und Gehorsam funktionierte. Dass die NSDAP bei Kriegsausbruch die Führung der „Heimatfront“ beanspruchte, hatte weniger mit der „Kampfzeit“ zu tun als vielmehr mit dem Führerauftrag, die deutsche Gesellschaft im Sinne der Parteiziele politisch zu erziehen und in eine nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“ zu transformieren.2 Die Formierung einer konfliktfreien „Volksgemeinschaft“ war kein Selbstzweck, sondern diente der Schaffung einer dynamischen, auf den kommenden Krieg vorbereiteten Leistungsgesellschaft. Nicht aus Spaß, so der Berliner Gaupresseamtsleiter am 9. November 1939, sondern um die Deutschen auf den Krieg vorzubereiten, habe die Partei in den vergangenen sechs Jahren „die Volksgemeinschaft exerziert“.3 Nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs stand für die nationalsozialistische Führung außer Zweifel, dass das Deutsche Reich einen zukünftigen Krieg nur dann gewinnen konnte, wenn es neben seinen materiellen auch alle gesellschaftlichen Ressourcen mobilisierte.4 Dem Postulat einer politisch und rassisch homogenen „Volksgemeinschaft“ lag indes noch ein Subtext zugrunde, der nur punktuell thematisiert wurde, der sich aber auf die gesellschaftliche Mobilisierung während des Zweiten Weltkriegs sehr ambivalent auswirken sollte. In der „Kampfzeit“ hatte die NSDAP gebetsmühlenartig die „Dolchstoß“ - Legende beschworen. Während des Krieges war die Propagierung größter Homogenität und Geschlossenheit immer von der Sorge begleitet, dass es bei einer übermäßigen Belastung der deutschen Zivilbevölkerung zu ähnlichen Unruhen wie in den letzten beiden Jahren des Ersten Weltkriegs kommen könnte. Der folgende Beitrag geht der Frage nach, wie sich der Spagat, der deutschen Bevölkerung einerseits Höchstleistungen abzuverlangen, ohne sie andererseits durch extreme Anforderungen gegen die politische Führung aufzubringen, auf die Mobilisierungskampagnen während des Krieges auswirkte. Ganz ohne Frage wurde Mobilisierung im nationalsozialistischen Deutschland in großem Umfang durch Zwang erreicht. Das galt nicht nur für die ständig wachsende Zahl ausländischer Zwangsarbeiter, sondern auch für die deutschen Arbeiter, denen bei Disziplinarverstößen Strafen bis zur Einweisung in Arbeitserziehungs - und Konzentrationslager oder als letzte Konsequenz die Ausstoßung aus der „Volksgemeinschaft“ angedroht wurde. Obwohl diese Instrumente immer bereit lagen, war die Mobilisierung der deutschen Volksgenossinnen und Volksgenossen im Selbstverständnis nationalsozialistischer „Menschenführung“ von dem Bestreben bestimmt, die Betroffenen von der Notwendigkeit der staatlichen Maßnahmen zu überzeugen, um ihren uneingeschränkten Einsatz für die politisch vorgegebenen Ziele zu errei2 3 4

Peter Hüttenberger, Die Gauleiter. Studie zum Wandel des Machtgefüges in der NSDAP, Stuttgart 1969, S. 119. Max Niebrzydowski, Als Lokalspitze : Opfern – wofür ? In : NSPK 249, 9. 11. 1939, Bl. 1. Jürgen Förster, Geistige Kriegführung in Deutschland 1919–1945. In : Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 9/1, München 2004, S. 491.

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chen. Der Begriff der „Menschenführung“ lehnte sich zwar ebenso wie der des „Führerprinzips“ eng an militärische Organisationsmuster an,5 verlangte von den Politischen Leitern der NSDAP aber einen Führungsstil, der sich sowohl von militärischen Kommandostrukturen als auch von verwaltungsmäßigem Handeln unterschied. Um die deutsche Zivilbevölkerung dazu zu bringen, dass sie ihre Pflichten „freiwillig und aus innerer Überzeugung“ erfüllte, so Martin Bormann in einem Rundschreiben vom August 1942, müsse der Repräsentant der Partei „den ihm anvertrauten Volksgenossen Vorbild“ sein, sie betreuen und sie überzeugen.6 Die Kehrseite dieser intensiven Betreuung war eine allgegenwärtige Kontrolle der Gesellschaft durch die Partei – verbunden mit wirksamen Sanktionsmechanismen bei Dissens, Fehlverhalten, oder mangelndem Engagement.7 Abgesehen davon, dass Anspruch und Wirklichkeit der nationalsozialistischen „Menschenführung“ oft weit auseinanderklafften, war sie nicht nur ein Instrument, um die „Volksgenossinnen“ und „Volksgenossen“ zu Höchstleistungen anzuspornen, sondern immer auch ein Mittel, um einer Krise wie am Ende des Ersten Weltkriegs vorzubeugen. Im Folgenden wird der Beitrag der Frage nachgehen, inwiefern sich die erklärten Ziele der „Menschenführung“ und die latent damit verbundene Sorge der Parteiführung vor einem erneuten „Dolchstoß“ auf die gesellschaftliche Mobilisierung im Zweiten Weltkrieg auswirkten. Dazu werden drei verschiedene Mobilisierungskampagnen aus den Jahren 1941, 1942 und 1943 miteinander verglichen.

I. Bereits seit Ausbruch des Krieges versuchte die Partei, die Hausfrauen dazu zu bewegen, die in die Wehrmacht eingezogenen männlichen Arbeitskräfte zu ersetzen. De facto ließ sich schon der wachsende Arbeitskräftebedarf in der Hochrüstungsphase nur durch die zunehmende Beschäftigung von Frauen decken.8 Nicht nur, dass diese Zwänge im Widerspruch zum offiziell propagierten Rollenbild der Frau standen, sie schufen auch zusätzlichen sozialen Sprengstoff, als die Arbeitsaufnahme für Frauen nach Kriegsbeginn zur nationalen Pflicht erklärt wurde. Während die starken Zuwächse in den Vorkriegsjahren vor allem auf die Berufstätigkeit von Industriearbeiterinnen zurückgin5 6 7 8

Helmuth Trischler, Führerideal und die Formierung faschistischer Bewegungen. Industrielle Vorgesetztenschulung in den USA, Großbritannien, der Schweiz, Deutschland und Österreich im Vergleich. In : HZ, 251 (1990) 1, S. 45–88, hier 69–81. Der Leiter der Partei - Kanzlei Martin Bormann, Rundschreiben Nr. 121/42, Führerhauptquartier, 7. 8. 1942. Betrifft : Trennung in der Führung von Ämtern der Partei und des Staates ( BAB, NS 18/5, Bl. 2–6). Carl - Wilhelm Reibel, Das Fundament der Diktatur. Die NSDAP - Ortsgruppen 1932– 1945, Paderborn 2002, S. 272–274. Rüdiger Hachtmann, Industriearbeiterinnen in der deutschen Kriegswirtschaft 1936 bis 1944/45. In : GG, 19 (1993) 3, S. 332–366, hier 335.

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gen,9 richteten sich die Kampagnen seit 1939 in erster Linie an die Frauen aus der Mittel - und Oberschicht, denen jetzt implizit die Leistungsbereitschaft der Arbeiterinnen als leuchtendes Vorbild vorgehalten wurde.10 Während die Partei den Eindruck zu erwecken versuchte, als ob die Hausfrauen in Scharen in die Werkhallen strömten,11 ging die Zahl der in Industrie und Handwerk beschäftigten Frauen in den ersten Monaten des Krieges sogar leicht zurück. Das hing zum einen mit den verschärften Arbeitsbedingungen, zum anderen aber mit den Unterhaltszahlungen für Soldatenfamilien zusammen, da diese auf das Lohneinkommen der Frauen angerechnet wurden.12 Schnell erkannte die Reichsführung, dass sich die angeblich „in ihrer Großzügigkeit einmalige Leistung“13 kontraproduktiv auswirkte. Nachdem festgelegt worden war, nur noch ein Drittel des Einkommens auf die Familienunterstützung anzurechnen,14 stieg die Zahl der weiblichen Arbeitskräfte 1941 wieder leicht an,15 ohne allerdings den Vorkriegsstand, geschweige denn ein Niveau zu erreichen, das für den Personalbedarf der Wirtschaft nach Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion notwendig gewesen wäre. Zwei Tage vor dem Angriff reagierte die Reichsführung mit einem Erlass Hermann Görings, der am 8. Juli 1941 ausschließlich zu „innerdienstlichen Zwecken“ verbreitet wurde. Dass er nicht veröffentlicht und bei seiner Anwendung nicht „als Begründung für einzelne Maßnahmen“ erwähnt werden durfte,16 zeigt im Grunde schon die ganze Widersprüchlichkeit der Mobilisierungsmaßnahme. Anders als eine Arbeitsdienstpflicht für alle Frauen, für die Goebbels seit dem Frühjahr plädierte,17 richtete sich Görings Erlass nur an jene rund 80 000 Frauen, die seit Kriegsbeginn ihre Arbeit aufgegeben hatten, weil ihnen der staatliche Familienunterhalt ein ausreichendes Einkommen bescherte.18 Obwohl es sich bei dem Erlass um eine administrative Maßnahme handelte, sah er vor, dass „den Frauen [...] die alsbaldige Wiedereingliederung in das Erwerbsleben“ von Mitarbeitern der Familienunterhalts - Dienststellen und der Arbeitsämter „an Hand der gegenwärtigen Lage [...] in freundlicher Weise“ nahe

9 10 11 12 13

Ebd., S. 337. Dörte Winkler, Frauenarbeit im Dritten Reich, Hamburg 1977, S. 95 und 136 f. Helmut Sündermann, Der Einsatz der Partei. In : NSPK 230, 18. 10. 1939, Sonderblatt. Hachtmann, Industriearbeiterinnen, S. 343 und 363. NSDAP Partei - Kanzlei. Reichsverfügungsblatt. Ausgabe A. Bekanntgabe B 23/41. Betr.: Erweiterter Fraueneinsatz, 9. 7. 1941 ( BAB, NS 6/821, Bl. 72 f.). 14 Hachtmann, Industriearbeiterinnen, S. 346. 15 Ebd., S. 363. 16 NSDAP Partei - Kanzlei. Reichsverfügungsblatt. Ausgabe A. Bekanntgabe B 23/41. Betr.: Erweiterter Fraueneinsatz, 9. 7. 1941 ( BAB, NS 6/821, Bl. 72). 17 Tagebucheinträge vom 4. 4., 10. 5. und 13. 5. 1941. In : Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Hg. von Elke Fröhlich, Band I /9, München 1998, S. 226, 304 und 310. 18 Bernhard R. Kroener, Die personellen Ressourcen des Dritten Reiches im Spanungsfeld zwischen Wehrmacht, Bürokratie und Kriegswirtschaft 1939–1942. In : Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 5/1, Stuttgart 1988, S. 693–1001, hier 771 und 773.

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gelegt werden sollte.19 Für den Fall, dass sie sich gutem Zureden verweigerten, bestand die Möglichkeit, ihnen mit der Kürzung des Familienunterhalts zu drohen. Allerdings waren die abschließend genannten Ausnahmebestimmungen so ungenau gefasst, dass dieses Druckmittel weitgehend wirkungslos blieb und der Erlass ins Leere lief. Weit davon entfernt, die angesprochenen Frauen mit Görings Erlass zu einer Wiederaufnahme ihrer Arbeit zu bewegen, ging die Zahl der berufstätigen deutschen Frauen seit 1941 kontinuierlich zurück. Dass die absoluten Zahlen weiblicher Erwerbstätigkeit zur selben Zeit wieder stärker zunahmen, lag ausschließlich an dem rasant zunehmenden Einsatz ausländischer Arbeitskräfte in der deutschen Kriegswirtschaft.20

II. „Auf ausdrücklichen Wunsch des Führers wird ab sofort ein großzügiger Feldzug für die Leistungssteigerung bei der Arbeit der Heimat durchgeführt“,21 verkündete die Reichspropagandaleitung den Gaupropagandaämtern am 3. Februar 1942. „In einer Zeit, in der das deutsche Volk um sein Leben“ kämpfe, „in einem Krieg, in dem das Schicksal unseres Volkes und damit auch das Schicksal jedes Einzelnen und das seiner Kinder und Kindeskinder endgültig entschieden“ werde, dürfe „es keinen Volksgenossen mehr geben, der nicht das größtmögliche Maß seiner Leistung“ gebe.22 Erst einen Monat zuvor war eine überaus erfolgreiche Mobilisierungskampagne zu Ende gegangen, in der die Partei die deutsche Bevölkerung aufgerufen hatte, warme Kleidung für die nur unzureichend auf den russischen Winter vorbereiteten Wehrmachtssoldaten an der Ostfront zu spenden.23 Galten grundsätzlich alle Sammlungen als Demonstration der Kampfentschlossenheit,24 so diente die Wintersachensammlung zusätzlich dazu, allen „sentimentalen Anwandlungen“ anlässlich der dritten Kriegsweihnacht entgegenzuwirken und „das Volk wieder mit kämpferischem Geiste“ zu erfüllen, so eine Parole der Reichspropagandaleitung.25 Bereits in Vorbereitung auf den Kriegswinter 1941/42 hatte das Propagandaministerium vor einer Aufweichung der „Heimatfront“ gewarnt. Nicht „der 19 NSDAP Partei - Kanzlei. Reichsverfügungsblatt. Ausgabe A. Bekanntgabe B 23/41. Betr.: Erweiterter Fraueneinsatz, 9. 7. 1941 ( BAB, NS 6/821, Bl. 72). 20 Hachtmann, Industriearbeiterinnen, S. 363. 21 Reichspropagandaleitung / Hauptamt Propaganda ( F / Ro ). An alle Gaupropagandaleiter. Betrifft : Leistungssteigerung, 3. 2. 1942 ( BAB, NS 18, 1053, Bl. 7). 22 Ebd., Bl. 13 f. 23 Peter Longerich, Goebbels. Biographie, München 2010, S. 501 f. 24 Unser Opfer – eine Sache des Herzens. In : Nationalsozialistischer Gaudienst. Gau Berlin (= NSG ) 235, 9. 10. 1941; Leiter Pro. : Propagandaplan für den Kriegswinter 1941/42, [ undatiert ] ( BAB, R 55, 242, Bl. 19). 25 Propagandaparole Nr. 12. An alle Gauleiter, Leiter der Reichspropagandaämter, Gaupropagandaleiter, „Streng vertraulich !“ [ undatiert ] ( BArchB NS 18, 1040, Bl. 76).

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Arbeiter“, der der Front angeblich 1917/18 in den Rücken gefallen war, sondern „der Intellektuelle, der Konfessionelle und der Besitzbürger“ stellten ein Einfallstor für „Zersetzungsbakterien“ dar, da sich „aus ihren Kreisen [...] die Gerüchteverbreiter, die Querulanten, Unzufriedenen, Schieber und Meckerer“ rekrutierten.26 Um dem entgegenzuwirken, sollte es das Ziel der „Winterpropaganda 1941/42“ sein, „das deutsche Volk krisenfest zu machen, es vor Lethargie, Gutgläubigkeit, Schwachheit und Angstmacherei zu bewahren, es hart zu schmieden, zu fanatisieren und mit einem gläubigen unbändigen Kampfes - und Siegeswillen zu erfüllen, der stärksten Beanspruchungen gewachsen ist.“27 Damit war aber noch nicht gesagt, wie die angestrebte Haltung in Handlung übersetzt werden sollte. Nach dem „Pilotprojekt“28 der Wintersachensammlung stellte die „Leistungssteigerungs“ - Kampagne vom Februar 1942 den ersten großen Versuch zur Mobilisierung der deutschen Zivilbevölkerung dar.29 Die Initiative ging in diesem Fall von Robert Ley und der DAF aus und sollte von Goebbels’ Ministerium propagandistisch begleitet werden.30 Ausgangspunkt war Hitlers Sportpalastrede vom 30. Januar 1942. Wie so oft war bei Goebbels der Wunsch der Vater des Gedankens, als er fünf Tage später in seinem Tagebuch notierte, die Heimat sei nach Hitlers Rede „unter allen Umständen bereit, alles zu tun, was zum Sieg notwendig erscheint.“31 Offiziell richtete sich die Kampagne „an das ganze Volk in allen Schichten und Berufen“. Die Menschen sollten, wo immer sie gingen und standen – und selbst noch in ihrer häuslichen Umgebung „angesprochen und angespornt werden“.32 Aus der Erkenntnis, dass sich eine Leistungssteigerung nicht durch Gesetze und Anordnungen erzwingen ließ, setzte die Kampagne auf eine subtile psychologische Beeinflussung. Einerseits sollte an Moral und Verantwortungsgefühl appelliert werden, andererseits sollte aber auch eine „Diffamierung derjenigen“ zum Einsatz kommen, „die sich diesem Appell zur höchstmöglichen Leistung“ entzogen.33 Von zentraler Bedeutung war das Argument, dass die Frontsoldaten zu Recht von der „Heimatfront“ „das Letzte an Einsatzbereitschaft und Leistung“ verlangen konnten, da sie selbst „tagtäglich ein Höchstmaß an Pflichterfüllung“ brachten.34 Goebbels hatte sogar den Einfall, die Lohntüten

26 Leiter Pro., Propagandaplan für den Kriegswinter 1941/42, [ undatiert ] ( BAB, R 55, 242, Bl. 4). 27 Ebd., Bl. 6. 28 Longerich, Goebbels, S. 503. 29 Reichspropagandaleitung / Hauptamt Propaganda ( F / Ro ). An alle Gaupropagandaleiter. Betrifft : Leistungssteigerung, 3. 2. 1942 ( BAB, NS 18, 1053, Bl. 29). 30 Tagebucheintrag vom 3. 2. 1942. In : Goebbels - Tagebücher, Band II /3, S. 242. 31 Tagebucheintrag vom 5. 2. 1942. In : ebd., S. 254. 32 Reichspropagandaleitung / Hauptamt Propaganda ( F / RO ). An alle Gaupropagandaleiter. Betrifft : Leistungssteigerung, 3. 2. 1942 ( BAB, NS 18, 1053, Bl. 7). 33 Ebd., Bl. 12 f. 34 Ebd., Bl. 14.

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mit dem Aufdruck zu versehen : „Arbeiter denkt daran : Mehr Leisten ! Der Soldat verlangt es von Dir.“35 Das Propaganda - Konzept des Goebbels - Ministeriums sparte das Thema des Arbeitskräftebedarfs nicht aus, hielt sich in diesem Punkt aber zurück. Zwar hieß es, „die Erkenntnis der Notwendigkeit einer bedeutend stärkeren Frauenarbeit“ schreite „ständig fort“, aber an dieser Stelle beließ es die geplante Kampagne bei einem „Appell an das Verantwortungsgefühl“.36 Eher wie ein Appendix wirkte die Kampagne „Mehr Höflichkeit“. Um der infolge der Kriegsumstände zunehmend gereizten Stimmung an der „Heimatfront“ entgegenzuwirken, sollten die Deutschen zu einem höflichen Miteinander aufgerufen werden. Diesem Appell lagen zwei Motive zugrunde, zum einen die Annahme, dass sich unfreundliches Verhalten nachteilig auf die allgemeine Stimmung und damit auch auf die Leistungsbereitschaft auswirkte, und zum zweiten die Überzeugung, dass Sieg und Niederlage in diesem Krieg von der größeren Nervenstärke abhingen. Die „Höflichkeits“ - Kampagne war letztlich die einzige Komponente der Leistungsteigerungsaktion, die realisiert wurde. Das Großunternehmen, in das sich Goebbels Anfang Februar 1942 mit Feuereifer gestürzt hatte, fiel binnen weniger Tage in sich zusammen – und das unabhängig von Todts tödlichem Flugzeugabsturz am 8. Februar 1942. Zur selben Zeit, als die DAF - Vertreter mit flammenden Appellen an die Öffentlichkeit gingen,37 trat das Propagandaministerium bereits den Rückzug an. Während Goebbels noch an einem „Artikel über Leistungssteigerung und Höflichkeit“ schrieb,38 wurde die Kampagne nach einer „Aussprache mit allen beteiligten Stellen“ am 4. Februar abgeblasen.39 Entscheidend für Hitlers Einspruch waren offensichtlich die Einwände des Rüstungsministeriums. Wie Walter Tießler Goebbels berichtete, war für die nächste Zeit die Stilllegung vieler Betriebe geplant, um deren Arbeiter in die Rüstungsproduktion zu überführen. „Die Arbeiter der zu schließenden Betriebe würden es geradezu als Hohn auffassen“, so Tießler, „wenn man sie jetzt zur Leistungssteigerung und zu Verbesserungen in ihren Betrieben auffordert, um wenige Wochen später ihren Betrieb als nicht kriegswichtig zu schließen.“40 Jenseits dieser sachlichen Einwände lag der Entscheidung zur Stornierung der Leistungssteigerungs - Kampagne ein handfester Ressortkonflikt zugrunde. Insbesondere nach Speers Amtsantritt verwahrte sich das Rüstungsministerium

35 Vorlage ( Ti / Ja ), 31. 1. 1942 ( BAB, NS 18, 1053, Bl. 4). 36 Reichspropagandaleitung / Hauptamt Propaganda ( F / RO ). An alle Gaupropagandaleiter. Betrifft : Leistungssteigerung, 3. 2. 1942 ( BAB, NS 18, 1053, Bl. 16 f.). 37 Otto Marrenbach, Großkampf der Fabriken. Totaler Einsatz aller Kräfte zur Erhöhung des deutschen Rüstungspotentials. In : Der Vierjahresplan, 6 (1942) 2, S. 74 f.; Tagebucheintrag vom 7. 2. 1942. In : Goebbels - Tagebücher, Band II /3, S. 267. 38 Tagebucheintrag vom 5. 2. 1942. In : Goebbels - Tagebücher, Band II /3, S. 257. 39 Direktor Pro an den Herrn Minister. Betr., Leistungssteigerung, 4. 2. 1942 ( BAB, NS 18, 1053, Bl. 34). 40 Ebd.

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gegen jede Einmischung der DAF in innerbetriebliche Entscheidungen.41 Goebbels, der sich zunächst der Hoffnung hingegeben hatte, Hitler habe die Kampagne nur abgebremst, um sich selbst an ihre Spitze zu setzen,42 ruderte binnen weniger Tage zurück und tat schließlich so, als hätte es sich lediglich um einen Einfall Leys gehandelt.43 Auch sein Vorschlag, „die Lohntüten für irgendwelche propagandistischen Aufschriften“ zu nutzen, verschwand sang - und klanglos in der Versenkung.44 Was schließlich von der großen Leistungssteigerungsaktion übrig blieb, war die „Höflichkeits“ - Kampagne, die mit dreimonatiger Verzögerung durchgezogen wurde, ohne größeres Aufsehen zu erregen.45

III. Die dritte Mobilisierungskampagne stand in unmittelbarem Zusammenhang mit der Proklamierung des „totalen Krieges“. Bereits zum Zeitpunkt, als die 6. Armee zum Angriff auf Stalingrad ansetzte, war abzusehen, dass dem Deutschen Reich die personellen Reserven ausgingen. Trotz des Speer’schen „Rüstungswunders“ verschoben sich auch bei der Industrieproduktion seit Mitte 1942 die Gewichte zugunsten der Gegner Deutschlands.46 Wenn sich die Reichsführung nicht ausschließlich auf die Ausweitung des Zwangsarbeitereinsatzes verlassen wollte, kam sie in dieser Situation nicht umhin, mit größerem Nachdruck als bisher Hausfrauen und Jugendliche für Kriegshilfsdienste und Rüstungsproduktion zu rekrutieren. Schon im Dezember 1942 wurde allerdings deutlich, dass die Durchsetzung einer allgemeinen Frauenarbeitsdienstpflicht trotz der angespannten Kriegslage nicht einfach werden würde. Als über eine allgemeine Jugenddienstpflicht beraten wurde, mit der alle männlichen Mittel - und Oberschüler ab 15 Jahren und alle weiblichen Jugendlichen ab 17 Jahren als Luftwaffenhelfer beziehungsweise als Nachrichtenhelferinnen verpflichtet werden sollten, drängte der Propagandaminister darauf, dass diese Bestimmungen notwendigerweise eine Arbeitsdienstpflicht für alle Frauen nach sich ziehen müssten. „Wenn man 17 - jährige Mädchen zum Hilfsdienst für die Luftwaffe einziehen“ könne, so Goebbels’ Tagebucheintrag vom 16. Dezember, sei nicht einzusehen, „warum die 22 - bis 30 - jährigen geschont werden“.47 Zusammen mit der Frauenschaft und dem SD 41 42 43 44

Tagebucheintrag vom 15. 2. 1942. In : Goebbels - Tagebücher, Band II /3, S. 317 f. Tagebucheintrag vom 7. 2. 1942. In : ebd., S. 267. Tagebucheintrag vom 12. 2. 1942. In : ebd., S. 293. Ministeramt / Lt. Frowein Fro / Bö an Herrn RAL Tießler. Betr. : Leistungssteigerung, 5. 3. 1942, „Verschluß“ ( ebd., Bl. 60). 45 Tagebucheintrag vom 24. 4. 1942. In : Goebbels - Tagebücher, Band II /4, S. 162; Berliner Höflichkeitswettbewerb. In : NSG, 102, 4. 5. 1952, Bl. 1 f.; vgl. Longerich : Goebbels, S. 510. 46 Adam Tooze, Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus, München 2007, S. 673–675. 47 Tagebucheintrag vom 16.12. 1942. In : Goebbels - Tagebücher, Band II /6, S. 457.

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drängte der Vertreter der Reichspropagandaleitung bei den entscheidenden Beratungen darauf, die Jugenddienstpflicht mit der Frauenarbeitsdienstpflicht zu koppeln.48 Diese Intervention hatte insofern Erfolg, als die „Anordnung über den Kriegshilfseinsatz der deutschen Jugend“ zusammen mit der Verordnung Sauckels „über die Meldung von Männern und Frauen für Aufgaben der Reichsverteidigung“ vom 27. Januar 1943 beschlossen wurde.49 Letztere sah eine umfassende Meldepflicht beim Arbeitsamt für alle Männer vom 16. bis zum 65. Lebensjahr und für alle Frauen von 17 bis 45 vor. Nachdem Hitler schon das Höchstalter der betroffenen Frauen von 50 auf 45 Jahre reduziert hatte,50 enthielt die Verordnung in ihrer letzten Fassung Ausnahmebestimmungen für Mütter, die sie nach Goebbels’ Ansicht zu einem „Gesetz der Ausnahmen“ zu machen drohten.51 Obwohl ihm die Verordnung vom 27. Januar 1943 eigentlich nicht weit genug ging, mahnte er bei der Verkündung der Maßnahmen zu größter Vorsicht. Wesentlich sei, so das Sonderrundschreiben zur Kommentierung des Gesetzes, „dass wir nicht von vornherein durch eine zu scharfe und zurechtweisende Sprache das Volk zurückstoßen.“52 Stattdessen sollten die von den Maßnahmen Betroffenen durch gute Argumente gewonnen werden. Diese ähnelten denen der gescheiterten Leistungssteigerungsaktion vom Februar 1942, nahmen aber zumindest indirekt auf die verschlechterte Kriegslage Bezug. Besonders drastisch gezeichnet wurde der Kontrast zwischen der Situation „in der Heimat“, die – mit Ausnahme der vom Luftkrieg bedrohten Gebiete – „keineswegs den Eindruck“ machte, „dass wir seit 3½ Jahren erbittert Krieg führen“, und dem Entscheidungskampf gegen das sowjetische „System, das die Totalität des Krieges bis zur barbarischen Grausamkeit gesteigert und vollendet hat“.53 „Dem Ansturm des Bolschewismus“ werde man nur dann „überlegen sein“, wenn das Deutsche Reich ebenfalls zur „Totalisierung“ des Krieges übergehe und das eigene Potenzial vollständig ausschöpfe. Ganz besonders sollte bei der Propagierung der Eindruck vermieden werden, „als ob wir jenem Teil des Volkes, der bisher von der Kriegführung noch nicht so stark in Anspruch genommen wurde, das bisher bequemere Leben nicht gönnten.“54 Die Frauen wurden geradezu damit umworben, dass alle nach ihren Wünschen und Fähigkeiten eingesetzt werden sollten. Auf der anderen Seite 48 Dr. Gast an Herrn Dr. Naumann. Betr. : Kriegseinsatz der deutschen Jugend in der Luftwaffe, 19. 12. 1942 ( BAB, NS 18, 1065, Bl. 13). 49 Reichsgesetzblatt, Teil I, 1943/10, 29. 1. 1943, S. 67 f. 50 Longerich, Goebbels, S. 546. 51 Tagebucheinträge vom 27.1. und 15. 2. 1943. In : Goebbels - Tagebücher, Band II /7, S. 206 und 351; vgl. Longerich, Goebbels, S. 547. 52 Leiter Pro / Chef des Propagandastabes ( Wächter ), Sonderrundschreiben zur Kommentierung des Gesetzes für die Kriegsdienstpflicht, Berlin 27. 1. 1943 „Streng vertraulich!“ ( BAB, NS 18, 638, Bl. 12). 53 Ebd. 54 Ebd., Bl. 12 f.

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fehlte es nicht an mahnenden Hinweisen auf die „Millionen Frauen, die sich bereits zum großen Teil freiwillig dem Kriegshilfsdienst zur Verfügung stellten“, und auf die Frontsoldaten, die einen Anspruch darauf hätten, dass „jeder einzelne Volksgenosse – ohne Ausnahme“ an den „Lasten des Krieges seinen Kräften entsprechend vollauf“ mittrage. Im letzten Teil der Propagandarichtlinien wurde der moralische Druck noch erheblich gesteigert, indem argumentiert wurde, es wäre „kaum denkbar, wenn es Volksgenossen geben sollte, die für diese Forderung kein Verständnis aufbrächten oder die mit ihrem Gewissen vor der Front noch bestehen könnten, wenn sie sich dieser elementaren Dankespflicht der Front gegenüber zu entziehen versuchten.“ Daher könne „von Zwangsmaßnahmen im eigentlichen Sinne abgesehen werden.“ Sollte es aber dennoch „bösartige Elemente“ geben, die „sich diesen Argumenten“ verschlössen, so weiter, werde „die Führung zu gegebener Zeit auch nicht davor zurückschrecken, mit rücksichtsloser Härte sie zur Erfüllung ihrer Leistungspflicht zu zwingen.“55 Dieses Schreiben offenbart die ganze Zwiespältigkeit der deutschen Mobilisierungsmaßnahmen im Krieg. Obwohl die politische Führung letztlich auf administrative Zwangsmaßnahmen angewiesen war, um eine allgemeine Arbeitsdienstpflicht durchzusetzen, setzte sie im selben Atemzug auf das Instrument nationalsozialistischer „Menschenführung“, das eine argumentative Überzeugung der Bevölkerung verlangte, um ihren uneingeschränkten Einsatz für die politischen Ziele sicherzustellen. Wie wenig der Propagandaminister gewillt war, sich wie bei früheren Mobilisierungskampagnen auf freiwilliges Engagement zu verlassen, zeigte auch Goebbels’ Hinweis auf „die etwas lasche Formulierung im Frauenarbeitspflichtgesetz“. Man müsse sich darüber klar sein, dass die Mängel in der Verordnung „nur durch eine gewisse terroristische Stellungnahme der Partei ersetzt werden können, die diejenigen erfassen wird, die sich bisher immer noch an der Teilnahme am Krieg auf irgendeine Weise vorbeizudrücken versuchen.“56 Was Goebbels damit meinte, veranschaulichte nicht erst seine Rede am 18. Februar 1943, sondern bereits der ganze Vorlauf im Januar, mit dem die Propaganda versuchte, die Niederlage von Stalingrad in ein öffentliches Bekenntnis zum totalen Krieg umzumünzen.57 Obwohl Goebbels bereits am 30. Januar in seiner Rede zum 10. Jahrestag der nationalsozialistischen Machtübernahme behauptete, „aus den Breiten und Tiefen unserer Nation“ dringe „der Schrei nach totalster Kriegsanstrengung im weitesten Sinne an unsere Ohren“,58 war ihm bewusst, dass die Initiative zur Durchsetzung radikaler Mobilisierungsmaßnahmen auf jeden Fall von der politischen Führung ausge55 56 57 58

Ebd., Bl. 13. Tagebucheintrag vom 9. 2. 1943. In : Goebbels - Tagebücher, Band II /7, S. 307. Longerich, Goebbels, S. 545. 30.1. 43 – Berlin, Sportpalast – Kundgebung zum 10. Jahrestag der Machtübernahme. In : Goebbels - Reden. Hg. von Helmut Heiber, Bindlach 1991, Band 2, S. 158–171, hier 161.

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hen müsse. Die Bevölkerung habe „keine andere Möglichkeit“ als der Regierung zu folgen, und eine schonende Behandlung werde das deutsche Volk der Führung nicht danken, wenn diese ins Unglück führe.59 Goebbels hoffte, mit einer großen Propagandakampagne die letzten Widerstände gegen eine Totalisierung der Kriegsanstrengungen an der „Heimatfront“ beiseite zu fegen. Einen Tag nach der Kundgebung vom 30. Januar erläuterte er sein weiteres Vorgehen bei einer Besprechung im Propagandaministerium. Sobald die ersten Maßnahmen der totalen Kriegführung Wirkung zeigten, werde er die nächste vom Rundfunk übertragene Rede im Sportpalast halten, um „dann auch die anderen mobil zu machen. Wenn erst einmal alle im öffentlichen Leben stehenden Männer, Behördenleiter usw.“ merkten, „dass es populär60 macht, ungemütlich zu sein“, habe er „praktisch erreicht“, was er wollte.61 Anfang Februar steigerte sich Goebbels in die Vorstellung hinein, dass die Bevölkerung viel radikalere Maßnahmen verlangte, als sie die Reichsführung bisher beschlossen hatte.62 Ihren Höhepunkt erreichte die Mobilisierungskampagne mit den zehn Fragen vom 18. Februar 1943, mit denen sich Goebbels zum „Sprecher des Volkes“ stilisierte.63 Umso ernüchternder waren die Resultate. Weder hatte ihn Hitler mit neuen Vollmachten ausgestattet, noch war er Mitglied des neu geschaffenen Dreiergremiums, das die Mobilisierungsmaßnahmen steuern sollte.64 Noch schwerer wog aber, dass die am 27. Januar eingeführte Meldepflicht längst nicht die erhoffte Wirkung zeigte. Während der Einsatz der 16 - jährigen Oberschüler in der Heimatflak seit Februar 1943 im großen Stil anlief, versuchten sich Hunderttausende Frauen auch weiterhin dem Arbeitseinsatz zu entziehen, indem sie die Ausnahmekategorien der Verordnung in Anspruch nahmen.65 Andere versuchten sich dem Druck zu entziehen, indem sie sich in parteinahen Verbänden engagierten, um ihre grundsätzliche Bereitschaft zur Unterstützung der Kriegsanstrengungen zu demonstrieren.66 Das wiederum sorgte für schweren Unmut bei denjenigen, die schon seit Jahren im Arbeitsprozess standen.67

59 Vorlage. Betrifft : Schonende Politik ( Ti / H / Ri ), 29. 1. 1943 ( BAB, NS 18, 1071, Bl. 29 f.). 60 Vorlage für Reichsleiter Bormann. Betrifft : „Der richtige Kurs“ ( Ti / H / Pe.), 1. 2. 1943 ( BAB, NS 18, 1071, Bl. 45). An dieser Stelle steht in Tießlers Schreiben „unpopulär“. Dabei muss es sich um einen Irrtum handeln, da die Formulierung Goebbels’ Ausführungen völlig widerspräche. 61 Ebd. 62 Ebd., Bl. 44; Vorlage. Betrifft : Ausführungen Dr. Goebbels zur totalen Kriegführung (Ti / Ja / Ge ), 5. 2. 1943 ( ebd., Bl. 105). 63 18. 2. 43 – Berlin, Sportpalast – Kundgebung des Gaues Berlin der NSDAP. In : Goebbels- Reden, Band 2, S. 172–208, hier 206. 64 Longerich, Goebbels, S. 551. 65 Deutschland im Zweiten Weltkrieg, Band 3, Berlin ( Ost ) 1979, S. 216. 66 Nicole Krame, : Volksgenossinnen an der Heimatfront. Mobilisierung, Verhalten, Erinnerung, Göttingen 2011, S. 59 f. und 172 f. 67 Hachtmann, Industriearbeiterinnen, S. 357 f.

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Die Meldung selbst verlief schleppend, und die Arbeitsämter waren oft überfordert, die gemeldeten Frauen in den Arbeitsprozess zu vermitteln.68 Von den gut 3 Millionen gemeldeten Frauen konnte schließlich nur 1,26 Millionen eine Arbeitsstelle zugewiesen werden. Dabei handelte es sich mehrheitlich um Halbtagsstellen. Rund 42 Prozent der neu rekrutierten Frauen, gut eine halbe Million, arbeitete in der Rüstungsindustrie.69 Lag die Zahl der weiblichen Arbeitskräfte nach Angaben des Statistischen Reichsamts im Mai 1943 erstmals seit Kriegsbeginn wieder über dem Vorkriegsstand, so ging sie schon im darauffolgenden Jahr erneut zurück.70 Der erhoffte Mobilisierungseffekt wurde auch dadurch abgebremst, dass Speer nur geringe Neigung zeigte, berufserfahrene Rüstungsarbeiter gegen unqualifizierte weibliche Arbeitskräfte einzutauschen.71

IV. Gemeinsam war den drei vorgestellten Mobilisierungskampagnen, dass sie jeweils von einer zugespitzten Kriegslage ausgelöst wurden. Mit dem Göring Erlass vom Juni 1941 erkannte die Reichsführung an, dass auch das Deutsche Reich nicht auf die verstärkte Rekrutierung weiblicher Arbeitskräfte verzichten konnte, schränkte den Kreis der in Frage kommenden Frauen aber von vornherein stark ein und blieb insofern den Denkmustern der „Blitzkriegs“ - Phase verhaftet. Die schließlich nicht zustande gekommene Leistungssteigerungsaktion vom Februar 1942 zog die Konsequenzen aus der Einsicht, dass die Reichsführung die sowjetischen Rüstungskapazitäten völlig unterschätzt hatte,72 während die Mobilisierungskampagne vom ersten Halbjahr 1943 auf die enormen Verluste an der Ostfront und die Niederlage von Stalingrad reagierte. Nachdem sich die Partei bis Mitte 1941 auf Appelle beschränkt hatte, ging die Reichsführung mit dem Göring - Erlass zur administrativen Steuerung über. Von der Meldepflicht - Verordnung vom Januar 1943 unterschied er sich aber nicht nur im Umfang des Adressatenkreises, sondern auch in der expliziten Vorgabe, dass die angesprochenen Hausfrauen von der Pflicht zur Arbeitsaufnahme überzeugt werden sollten. Die „menschenführende“ Aufgabe lag in diesem Fall allerdings in den Händen der Arbeitsverwaltung. Die Partei konnte nicht einmal bei der Propagierung des Erlasses aktiv werden, da dieser weder veröffentlicht noch erwähnt werden durfte. Ganz anders verhielt es sich bei der Verordnung vom Januar 1943, die von einer aufwändigen Propagandakampagne 68 Tagebucheinträge vom 27. 2., 5. 3., 20. 3. und 2. 4. 1943. In : Goebbels - Tagebücher, Band II /7, S. 430 f., 477 und 592; Band II /8, S. 37 f. 69 Deutschland im Zweiten Weltkrieg, Band 3, S. 216 f.; vgl. Hachtmann : Industriearbeiterinnen, S. 359. 70 Kroener, Personelle Ressourcen, S. 771. 71 Winkler, Frauenarbeit, S. 137 f. und 141; Kroener, Menschenbewirtschaftung, S. 853– 855. 72 Tagebucheintrag vom 10. 12. 1941. In : Goebbels - Tagebücher, Band II /2, S. 467.

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Mobilisierung auf Raten

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begleitet wurde. Mit ihr versuchte die Partei, den administrativen Akt argumentativ zu untermauern, um die Betroffenen dafür zu gewinnen, freiwillig das zu tun, was die Reichsführung als notwendig vorgegeben hatte.73 Die geplante Leistungssteigerungsaktion vom Jahresanfang 1942 nutzte ganz ähnliche Argumente wie die Mobilisierungskampagne von 1943, vertraute aber ausschließlich auf die Wirkung der Propaganda. Wie sich schnell herausstellte, ließ sich das Erfolgsrezept der Wintersachensammlung nicht ohne weiteres auf die Leistungssteigerungsaktion übertragen. Diese richtete sich de facto nur an einen Teil der Bevölkerung, der durch die Verschärfung des Leistungsdrucks seit Kriegsbeginn schon über zwei Jahre starken Belastungen ausgesetzt war. Zwar scheiterte die Aktion letztlich an der schlechten Koordination mit den beteiligten Instanzen, aber so schnell, wie Goebbels’ Enthusiasmus nach Hitlers Einspruch zerstob, muss man davon ausgehen, dass er froh war, sich aus der Verantwortung ziehen zu können. Gemeinsam war den nationalsozialistischen Mobilisierungsbestrebungen im Krieg, dass die deutsche Bevölkerung durch Propaganda überzeugt werden sollte, die geforderten Leistungen zu erbringen. Damit stand die gemeinsame Leistung im Mittelpunkt der Kampagnen und nicht die administrative Verfolgung ihrer Verweigerung. Mit dieser Art „Menschenführung“ wurde ein starker sozialer Konformitätsdruck aufgebaut, der einerseits mobilisierend wirkte, andererseits die administrativen Zwangsmittel graduell entschärfte. Nur so lässt sich erklären, dass die Partei den Hausfrauen auch 1944 noch ins Gewissen reden musste, „dass mit einem täglich gewienerten Parkettfußboden kein Krieg zu gewinnen ist.“74

73 Peter Fritzsche, Life and Death in the Third Reich, Cambridge, MA 2008, S. 55. 74 Vom Haushalt in den Kriegsehrendienst. In : NSG, 92, 22. 4. 1944, Bl. 2.

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Christenkreuz und Hakenkreuz. Die Kirchenbewegung Deutsche Christen in Südthüringen 1933–1937 Gunther Mai Die Kirchenbewegung Deutsche Christen in Thüringen ist unauflösbar verbunden mit den Pfarrern Siegfried Leffler und Julius Leutheuser.1 Die beiden, Jahrgang 1900, kamen aus der Jugendbewegung, hatten nicht mehr am Weltkrieg teilgenommen, wohl aber an den Freikorpskämpfen in Oberschlesien. Wegen ihres Eintretens für die NSDAP in Augsburg gerieten sie in Konflikt mit der bayerischen Landeskirche, der sie bewog, nach Thüringen auszuweichen. 1927 trat Leffler seine Stelle in Niederwiera an, 1928 Leutheuser im nahe gelegenen Flemmingen. Der von ihnen im Altenburger Land gegründete nationalsozialistische Pfarrer - und Lehrerkreis soll sich 1929 erstmals „Deutsche Christen“ genannt haben. 1931 beteiligte man sich als „Kirchengruppe Deutsche Christen ( Deutsche Kirchenbewegung )“ an den Kirchengemeindevertreter wahlen in Altenburg und gewann fünf der 16 Mandate. Schließlich nahm die Gruppierung den Namen „Kirchenbewegung Deutsche Christen“ an. Seit 1932 wurden als regelmäßige Publikation die „Briefe an Deutsche Christen“ herausgegeben, die die Gruppierung über die Grenzen ihres ostthüringischen Wieratales hinaus bekannt machten. Dass die NSDAP bei den Landtagswahlen im Juli 1932 mit 42,5 % der Stimmen in Thüringen zur stärksten Partei aufgestiegen war und mit Fritz Sauckel als Innenminister und Vorsitzendem des Staatsministeriums die Landesregierung führte, dürfte zum Erfolg bei den Wahlen zum Landeskirchentag am 22. Januar 1933 beigetragen haben. Die Bewegung konnte in allen sechs Wahlkreisen eigene Kandidaten aufstellen und 30,8 % der Stimmen (80 132) auf sich vereinigen. 1

Kurt Meier, Der Evangelische Kirchenkampf, Band 1, Halle 1976, S. 468–478; ders., Die Deutschen Christen. Das Bild einer Bewegung im Kirchenkampf des Dritten Reiches, Halle 1964, S. 2–10; Erich Stegmann, Der Kirchenkampf in der Thüringer evangelischen Kirche 1933–1945. Ein Kapitel Thüringer Kirchengeschichte, Berlin (Ost) 1984, S. 35–38. Die „Kirchenbewegung Deutsche Christen“ ist nicht zu verwechseln mit der „Glaubensbewegung Deutsche Christen“, die 1932 auf Veranlassung von Wilhelm Kube, dem Fraktionsvorsitzenden der NSDAP im Preußischen Landtag im Hinblick auf die Kirchenwahlen in der Altpreußischen Union im November des Jahres gegründet worden war. Später kam es nach Abspaltungen und Richtungskämpfen zur Entstehung weiterer Gruppierungen, die die Bezeichnung „Deutsche Christen“ in ihrem Namen führten.

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Im Kreis Meiningen standen die Deutschen Christen bei diesen Wahlen wie in Gotha, Weimar und Gera „an der Spitze“. In der Stadt Meiningen erhielten sie 922 Stimmen, der Thüringer Volkskirchenbund 1 071, der Christliche Volksbund 426, der Einigungsbund für reformatorisches Christentum 59, die Religiösen Sozialisten 173; d. h. auf sie entfielen 34,8 % der abgegebenen Stimmen. In der benachbarten Stadt Wasungen schnitten sie mit 173 von 382 Stimmen (45,3 %) deutlich besser ab, ebenso im nahegelegenen Walldorf mit 173 von 303 Stimmen (57,1 %).2 Bei den kurzfristig durch Reichsgesetz angeordneten Neuwahlen am 22. Juli 1933 konnten die Deutschen Christen in Meiningen bei einer Wahlbeteiligung von 41,8 % (3 817 von 9 113 Wahlberechtigten ) einen Dammbruch zu ihren Gunsten erzielen; sie gewannen 3 446 Stimmen gegenüber 286 für den Volksbund und 47 für den Einigungsbund; das waren 90,3 % der abgegebenen Stimmen. Thüringenweit vereinten sie 271 278 Stimmen (46 Mandate ) auf sich gegenüber 20 439 Voten für den Volksbund (3 Mandate) und 14178 für den Einigungsbund (2 Mandate); das waren 88,7 % der abgegebenen Stimmen.3 Damit war den Deutschen Christen ein bedeutender Mobilisierungserfolg gelungen, denn die Wahlbeteiligung hatte bei den früheren Wahlen in den 1920er Jahren 20 bis 25 % betragen.4 Daraus bezogen sie in der Folgezeit ihre Legitimation; darauf gründeten sie ihre Forderung nach Einheit( lichkeit ) und Geschlossenheit der Thüringer Landeskirche gegen alle Angriffe von innen und von außen.

1.

Mitgliedschaft

Die Kirchenbewegung Deutsche Christen war seit ihrer Gründungsphase ein „NS - Pfarrer - und Lehrerkreis“. Ein solcher blieb sie in ihrem Kern auch nach ihrer Ausdehnung über ganz Thüringen, wie die Angaben in den Mitgliederlisten zeigen. Ortsgemeindeleiter in der Kreisgemeinde Eisenach waren 18 Lehrer und acht Pfarrer, neben sieben Angehörigen sonstiger Berufe ( für vier wurden keine Angaben gemacht ). In der Kreisgemeinde Rudolstadt waren es ( mindestens ) 32 Lehrer und 13 Pfarrer neben neun Sonstigen und einigen wenigen ohne Angaben. Die Kreisgemeinde Meiningen meldete 17 Lehrer, sechs Pfarrer und sechs Angehörige anderer Berufe. Eine weitere Liste enthält 22 Lehrer, sieben Pfarrer und 17 Sonstige.5 Eine dritte Liste vom Juli 1934 führt 15 Lehrer, vier Pfarrer und sechs Sonstige auf.6 Überall waren es ausschließlich Männer. Im Juni 1934 wurden in den 18 Thüringer Kreisgemeinden 6 775 Mitglieder gezählt. Eisenach - Land (1 357), Altenburg - Land (910) und Gotha (722) waren die mitgliederstärksten, Camburg (5), Schleiz (19), Zella - Mehlis (45) und Apol2 3 4 5 6

Meininger Tageblatt vom 23. 3. 1933; Stegmann, Kirchenkampf, S. 13. Meininger Tageblatt vom 24. 7. 1933. Stegmann, Kirchenkampf, S. 13, gibt nur eine Wahlbeteiligung von 28,1 % 1933 an. Pfarrarchiv Meiningen (=PM ) 37/13 ( o. D.). PM 37/8 (1. 7. 1934).

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da (45) die Schlusslichter. Meiningen lag mit 520 im vorderen Mittelfeld, während die benachbarten Kreise Sonneberg mit 224 und Hildburghausen mit 147 deutlich dahinter lagen.7 Am 28. Februar 1935 waren 8 507 Mitglieder organisiert : Eisenach - Land (1171), Altenburg - Land (933) waren wieder die mitgliederstärkten Kreisgemeinden, jetzt vor Sondershausen (822). Meiningen lag mit 405 erneut im Mittelfeld. Schlusslichter waren immer noch Schleiz (70), Camburg (81), dazu jetzt Altenburg - Stadt (89). Von den südthüringischen Nachbarkreisen Meiningens lag Sonneberg (459) jetzt etwa gleich auf, während Hildburghausen weiter mit nur 186 Mitgliedern deutlich zurückblieb.8 Am 28. Februar 1936 war der Mitgliederstand noch einmal markant auf 10 371 gestiegen : Eisenach - Land (1 610), Jena und Camburg (1193), Altenburg (1 073) führten die Liste an; Meiningen lag mit 466 im Mittelfeld, während Sonneberg mit 671 einen sehr großen Zuwachs verzeichnete. Hildburghausen hatte 100 Mitglieder dazugewonnen, lag aber mit 250 Mitgliedern auf dem sechstletzten Platz; Schleiz bildete mit 127 Mitgliedern das Schlusslicht.9 Die Kreisgemeinde Meiningen bestand im Januar 1934 aus 34 Ortsgemeinden; nach der Aufstellung der Landeskassenverwaltung in Eisenach vom 31. Juli 1934 waren es sogar 39.10 1937 existierten nur noch 30.11 ( Die Angaben, auch über die Zahl der Mitlieder sind teils stark abweichend, gar widersprüchlich ). Der erste Kreisgemeindeleiter war der Meininger Studienrat Dr. Karl Andernacht, der das Amt am 12. November 1933 niederlegte, da er in Eisenach die Leitung des Ernst - Abbe - Gymnasiums übernahm. Ohne die Landesleitung zu informieren, hatte er das Amt kommissarisch seinem Stellvertreter, Hilfspfarrer Berthold Sweers ( Jg. 1904) in Berkach, übertragen. Pfarrer Justus Holdt in Meiningen war Werbewart.12 Anfang 1934 übernahm Schulrat Emil Stegner ( nach „Bedenkzeit“) die „schwere Aufgabe“, „weil alle Gebiete der Staatsführung nur politisch – in diesem Fall kirchenpolitisch – und nicht zuletzt glaubensmäßig – auf einen Nenner, auf den des Nationalsozialismus gebracht werden müssen“.13 Im September 1935 gaben Stegner und der Kreiskassenwart, Lehrer Max Luther ( Jg. 1896), ihre Ämter wieder ab. Neuer Kreisgemeindeleiter wurde der Pfarrer in Untermaßfeld, Karl Keil ( Jg. 1899).14 Sein Stellvertreter war Lehrer Ernst Vollrath ( Jg. 1905) aus Metzels; Kassierer war der Bürgermeister von Untermaßfeld. 7 8 9 10 11 12

PM 37/22 (31. 7. 1934). PM 37/22 (5. 4. 1935). PM 37/12 (3. 3. 1936). PM 37/4 ( Januar 1934, 31. 7. 1934). PM 37/3 (1937). Es gab 1930 vier Pfarrer in Meiningen : Arthur / Alfred Frank ( Leitung ), Frank( lin ) Löffler ( Ost ), Hans Heyn ( Nord ), Justus Holdt ( West ). Holdt war gleichzeitig Vorsitzender des Gustav - Adolf - Vereins und des Ortsvereins des Evangelischen Bundes. Frank war ( spätestens ) 1938 im Ruhestand. 13 PM 37/13 (17. 2. 1934). 14 PM 37/11 (30. 9. 1935). Für biographische Hinweise zu den Pfarrern Keil, Sweers und Coym danke ich Frau Dr. Hannelore Schneider vom Landeskirchenarchiv Eisenach.

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Im Januar 1934 meldete die Kreisgemeinde Meiningen 323 Vollzahler (25 oder 30 Pfennig ) und 11 Kleinzahler (10 Pfennig, meist Arbeitslose ) in 34 Gemeinden. Die größten Gemeinden waren Meiningen mit 34 Mitgliedern und Wasungen mit 36 Voll - und 7 Kleinzahlern.15 Im April 1934 meldete die Kreisgemeinde Meiningen der Landesleitung 409 Mitglieder : 135 im Unterbezirk Grabfeld, 153 im Unterbezirk Wasungen, 99 im Unterbezirk Meiningen und 13 im ( vorwiegend bayerischen ) Unterbezirk Ostheim v. d. Rhön.16 Während es im Unterbezirk Grabfeld in jeder der 13 Gemeinden mindestens ein Mitglied gab, war das im Unterbezirk Wasungen nur in 23 von 38 Gemeinden der Fall, im Unterbezirk Meiningen in neun der zwölf Gemeinden und im Unterbezirk Ostheim in drei von sieben Gemeinden.17 Nach der Aufstellung der Landeskassenverwaltung in Eisenach vom 31. Juli 1934 hatte die Kreisgemeinde Meiningen über 455 Mitglieder in 39 Orten. Die größten Ortsgemeinden bestanden in Meiningen mit 56 und in Wasungen mit 52 Mitgliedern. In acht Orten gab es nur je ein Mitglied.18 Nach einer Übersicht vom 26. März 1935 wies die Kreisgemeinde einen Mitgliederbestand von 352 Vollzahlern und 48 Kleinzahlern auf, zusammen genau 400. Die größten der (nur noch ) 32 Ortsgemeinden waren Meiningen und Wasungen mit je 38 Mitgliedern; im Wasungen kamen noch vier Kleinzahler dazu. Die Ortsgemeinden Nordheim und Schwickershausen wiesen nur Kleinzahler auf.19 Das heißt, die Mitgliederentwicklung stagnierte in diesen Gemeinden, während das von der Landesleitung angegebene Wachstum offenbar eher im ländlichen Raum stattfand. In Meiningen, dem größten Ort des Kreises, waren 1934 unter den Mitgliedern lediglich neun Frauen, darunter zwei Ehefrauen männlicher Mitglieder. Bei den Männern war nur vereinzelt der Beruf angegeben : zwei Lehrer, Schulrat Stegner, Bürgermeister Friedrich Sorge, Dr. med. Werner Fritze, zwei Dr. phil.20 In einer späteren, undatierten Liste waren jedoch von den 87 Mitglieder allein 43 Frauen, von denen zehn als „Beruf“ Ehefrau angaben; sieben bezeichneten sich als Lehrerin, inkl. einer Gesangslehrerin. Bei den Männern waren es elf Lehrer, dazu vor allem Angestellte und Beamte, aber nur sehr wenige Handwerker und Selbstständige.21 Zum 1. Oktober 1937 meldete Meiningen stolz 78 Mitglieder („Außerdem noch 16 vorläufige Mitglieder !“). Neben zehn Lehrern und einem Pfarrer fanden sich 20 Angestellte und untere Beamte bei Post und Bahn, zehn Selbstständige ( in handwerklichen und akademischen Berufen ), der Bür15 PM 37/4 ( o. D.). Nach einer Übersicht vom 5. 7. 1934 zahlten im Februar und März ebenfalls 323 Personen den vollen Beitrag. Für April wurden nur noch 165, für den Mai 58 und den Juni 47 Personen gemeldet, die den Beitrag bezahlt hatten. 16 PM 37/13 (11. 4. 1934). Diese Angaben ergeben eine Summe von 400 Mitgliedern. Die Differenz erklärt sich durch handschriftliche Ergänzungen bzw. Korrekturen nicht völlig. 17 PM 37/13 (1934). 18 PM 37/4 (31. 7. 1934). 19 PM 37/4 (26. 3. 1935). 20 PM 37/8 ( April 1934, 8. 12. 1934). 21 PM 37/20.

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germeister, ein Rentner sowie ein Arbeiter. Von den 35 Frauen waren 13 Ehefrauen von männlichen Mitgliedern.22 In der Stadt Wasungen dominierten im April 1934 die Männer die sieben Frauen.23 Eine andere ( ältere ) Übersicht nannte nur 20 Mitglieder, darunter zwei Frauen (Lehrerin und Gemeindeschwester ); neben vier Lehrern waren ein Amtsgerichtsrat, der Bürgermeister und sieben Handwerker, darunter vier Meister, als Mitglieder geführt.24 Auf den Dörfern ergab sich naturgemäß eine andere Zusammensetzung. Dominant waren auch hier die Pfarrer und Lehrer. In den Gemeinden Untermaßfeld, Schwallungen, Solz, Mehmels und Rippershausen25 fungierten die Pfarrer als Ortsgemeindeleiter, in den Gemeinden Zillbach, Jüchsen, Hümpfertshausen und Nordheim26 die Lehrer. Als weitere Ortsgemeindeleiter amtierten ein Schneidermeister und ein Reichsbahnobersekretär. Auf dem Land gab es auffallend wenige weibliche Mitglieder, an manchen Orten bestand die Gemeinde nur aus Männern. Die sonstige Mitgliedschaft setzte sich zusammen aus weiteren Lehrern, vielen Handwerkern, von denen etwa ein Drittel ausdrücklich als „Meister“ geführt wurde, dazu „Landwirte“, bei denen man Selbstständigkeit vermuten darf, des Weiteren Unterbeamte bei Staat und Bahn, mehrfach der Förster und der Bürgermeister. Nur in sehr wenigen Fällen wurde ausdrücklich die Bezeichnung „Arbeiter“ genannt, einmal ein „Hilfsschlosser“, während Berufsbezeichnungen wie Knecht oder andere Berufe aus dem landwirtschaftlichen Bereich nicht vorkommen. Soweit ( an den Beitrittsdaten ) erkennbar, wurden die Ortsgemeinden vorwiegend im Sommer und Herbst 1933 gegründet, teils auch zum 1. Januar 1934. Es gab jedoch Einzelmitglieder, z. B. in Nordheim, die bereits 1932 beitraten. In Rentwertshausen hatten acht der Mitglieder auch die Parteimitgliedschaft in der NSDAP, darunter der Pfarrer und die beiden Lehrer.27 Das Durchschnittsalter der Mitgliedschaft lag relativ hoch. Die 70 Meininger Mitglieder, deren Geburtsdatum angegeben wurde, waren 1934 durchschnittlich 45,5 Jahre alt. In Wasungen wiesen die 20 Mitglieder, deren Alter bekannt ist, ein Durchschnittsalter von 47,7 Jahren auf. In Untermaßfeld lag das Durchschnittsalter bei den 19 Mitgliedern 1933 bei 49,5 Jahren, in Zillbach bei den 13 Mitgliedern bei 46,6 Jahren. Die 20 Mitglieder aus Jüchsen waren 1933 durchschnittlich 45,2 Jahre alt. Die 28 ( von 32) Mitglieder in Metzels, deren Geburtsdatum ange-

22 23 24 25

PM 37/3. Bei einem Mitglied war kein Beruf, sondern ein Fragezeichen angegeben. PM 37/8 (31. 5. 1934). PM 37/20. Untermaßfeld : PM 37/8 (3. 6. 1934), 37/20 ( o. D., aber später ); Schwallungen : PM 37/8 (4. 6. 1934); PM 37/12 ( o. D.). Solz / Mehmels / Rippershausen, für die ein Pfarrer zuständig war, der am 1. 7. 1933 beigetreten war : PM 37/8 ( o. D., 12. 6. 1934). 26 Zillbach : PM 37/8 (3. 6. 1934); Jüchsen : PM 37/12 (5. und 27. 10. 1933); Hümpfertshausen : PM 37/20; Nordheim : PM 37/8 ( o. D.). 27 PM 37/3 (23. 9. 1937). Der Pfarrer war vor 1933 eingetreten (1931 oder 1932), die beiden Lehrer 1933.

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geben ist, erreichten einen Durchschnitt von 42,3 Jahren.28 Nur in der bayrischen Vorderrhön lag das Durchschnittsalter der Mitglieder in auffälliger Form ca. zehn Jahre niedriger. Die Mitgliedschaft war in den Städten mittelständisch geprägt. „Arbeiter“ begegnen hier nur in der Ausnahme. Die Beamten – sofern sie nicht als Lehrer oder Studienräte arbeiteten – kamen eher aus dem mittleren Dienst. Die Handwerker waren zu über einem Drittel Meister, also vermutlich selbstständig. Auch auf dem Dorf dürften Schlosser, Schmied oder Wagner zumeist selbstständig gewesen sein. Bei den Landwirten war das Engagement vom Rhythmus des jahreszeitlichen Arbeitsanfalls bestimmt. Als ein Pfarrer im Juni 1934 die „Briefe an Deutsche Christen“ bestellte, wusste er, dass „die Landwirte hier während des Sommers nicht zum Lesen zu bewegen sind“.29 Bis auf wenige Ausnahmen sind Fabrikanten, Ingenieure, Ärzte oder Apotheker kaum vertreten, ebenso Juristen oder Verwaltungsbeamte, obwohl gerade letztere vielfach der NSDAP nahestanden. Die insgesamt sozial gehobenere Stellung der Mitglieder wird auch eine Ursache in dem relativ hohen Durchschnittsalter haben. Ältere über 60 waren selten, traten aber häufiger auf als Jüngere unter 30. Frauen waren fast ausschließlich in den städtischen Gemeinden vertreten. Neben den Ehefrauen von männlichen Mitgliedern ( oder Witwen ) fanden sich bei den berufstätigen Frauen auffällig oft Lehrerinnen; andere Berufe waren kaum zu verzeichnen. Die soziale Zugehörigkeit der hier erfassten Mitglieder aus altem Mittelstand ( eher auf dem Lande ), neuem Mittelstand ( überwiegend in den Städten ) mit starken Beimischungen von Landwirten und geringer Repräsentanz von „Arbeitern“ in Stadt und Land dürfte damit oberhalb der sozialen Zusammensetzung von Mitgliedern und Wählern der NSDAP gelegen haben. Wie noch zu zeigen sein wird, waren offenbar viele Mitglieder im Kirchgemeinderat oder an anderem Ort in der kirchlichen Arbeit tätig. Es ist jedoch unmöglich zu entscheiden, ob ihr Engagement darauf zurückzuführen war, dass sie nationalsozialistische Christen oder christlich geprägte Nationalsozialisten waren.

2.

Programm

In der Verschmelzung von Nationalsozialismus und Christentum mag die Attraktivität der Kirchenbewegung Deutsche Christen bestanden haben : in dem Versprechen einer doppelten Erlösung. Leffler hatte im ersten „Brief an Deutsche Christen“ programmatisch die Losung ausgegeben : „So lautet für die ‚Deutschen Christen‘ die Aufgabe : Deutschland. Ihre Kraft aber heißt Christus.“ Er und Leutheuser übertrugen die Stadien der christlichen Heilsgeschichte auf die 28 PM 37/20 ( o. D., ca. 1936/38). Bei der Liste fällt auf, dass vielfach die gleichen Familiennamen und gleiche oder benachbarte Adressen auftauchen. Unter den Mitgliedern waren 14 Frauen, davon offenkundig die meisten Ehefrauen. 29 PM 37/8 ( o. D., 12. 6. 1934).

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Geschichte des deutschen Volkes. Der Weltkrieg war das „Golgatha“ des Reiches. Erst durch den „Glauben Adolf Hitlers“ konnte der Weltkrieg „zum Auferstehungsweg der deutschen Nation“ werden. Nachdem die Deutschen den Glauben an Deutschlands Sendung verloren hatten, sei durch Hitler mehr „Glaubensgeist“ gekommen als durch die Kirchen, in denen der Theologe den „Glaubenskämpfer“ verdrängt habe. „Millionen deutscher Menschen, die den Zusammenhang mit den Kräften der Ewigkeit trotz der Kirchen verloren hatten, lernten durch Adolf Hitler wieder an Gott und sein Reich glauben.“ Darum war Hitler „der lebendigste Zeuge der Gegenwart für das Walten des ewigen Gottesgeistes in der Geschichte und schließt uns durch sein Leben erst das Verständnis für die Berichte über die Botschaft von Gottes Reich und der Gemeinde des Heiligen Geistes aufs neue auf. Unsere Parole lautet nicht : ‚Adolf Hitler gleich Jesus Christus, sondern durch Adolf Hitler zu Jesus Christus‘.“30 Dementsprechend forderten Leutheuser und Leffler eine „Nationalkirche“ und eine „völkisch - christliche“ Lebensgemeinschaft ohne feste Lehrnormen. 1933, als sie sich vorübergehend in die Glaubensbewegung Deutsche Christen Joachim Hossenfelders eingegliedert hatten, sprachen sie zwar nur von einer evangelischen Nationalkirche, zumal das Reich im Juli 1933 durch das Konkordat mit dem Vatikan der katholischen Kirche eine Bestandsgarantie ausgestellt hatte, sowie angesichts der Kämpfe um die Einsetzung eines Reichsbischofs 1933/34. Aber das war für sie nur ein Zwischenschritt hin zu einer überkonfessionellen Nationalkirche, deren Geist aus dem völkischen Charakter der Deutschen entsprang und die „Heimat der deutschen Seele“ sei. Daraus ergab sich für die beiden im Sommer 1933 die Forderung : „Nur wenn sich in jedem Dorf, in jeder Stadt ein solcher Kreis von Kämpfern zusammenfindet, zusammensingt, zusammenlebt, dann kann die Kirche wieder werden, was sie in Deutschland einstens war : ein Heerbann verwegener und trutziger Kämpfer, der aus der Kraft des Christus lebt und aus dem Glauben heraus bereit ist [...] : das deutsche Gesetz zu leben und zu erfüllen. Dann kann daraus auch entstehen, was wir im letzten bauen wollen : eine deutsche Nationalkirche, die über die Konfessionen hinweg die Deutschen zusammenbindet auf Gedeih und Verderb.“31 Auf dem Beitrittsformular wurden die Grundsätze in zwölf Punkten zusammengefasst : „Wir sind deutsche Christen, da wir durch Gottes Schöpfung hineingestellt sind in die Bluts - und Schicksalsgemeinschaft des deutschen Volkes und als Träger des gegenwärtigen geschichtlichen Augenblicks uns verantwortlich vor Gott fühlen für die künftige Gestaltung des deutschen Schicksals.“ Man sei durchdrungen „von dem Glauben Martin Luthers“ an Jesus Christus, anerkenne die „historische Bedeutung“ des Alten Testaments, strebe aber „eine neue Begegnung mit Christus ohne den Umweg über das Judentum“ an. „Wir wollen, dass unsere Kirche in dem Entscheidungskampf um Sein oder Nichtsein unseres Volkes an der Spitze kämpft.“ Daher lehnte man ein „christliches Welt30 Meier, Deutsche Christen, S. 7 f. 31 Meier, Deutsche Christen, S. 9 f.

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bürgertum“ ab, ebenso eine parlamentarische Kirchenführung. „An ihre Stelle muss eine Führung des Kirchenvolkes treten, die geschlossen auf dem Boden von Christentum und Volkstum steht.“32 Luther galt als Ausgangspunkt der Verschmelzung von Christentum und Deutschtum. Er, so hieß es in Handreichungen für die Jugendarbeit im Oktober 1936, dürfe nicht als „reiner Kirchenmann“ dargestellt werden; „sein urchristliches Glaubenserlebnis und der Durchbruch ewigen deutschen Wesens in ihm“ müssten dem gleichrangig zur Seite gestellt werden.33 Die Handreichung für den Dezember 1936 widmete sich Advent und Weihnachten. Es müsse gezeigt werden, so hieß es in Abgrenzung von den neuheidnischen Deutsch - Gläubigen, „wie in der germanischen Sonnwendfeier ahnungsvoll das Bekenntnis zu dem Gott des ‚Stirb und Werde‘, zum Herrn über Leben und Tod, zum göttlichen Licht in seiner Herrschaft über die finsteren Mächte dieser Erde zum Ausdruck kommt. [...] Das Wesen des Christentums ist allsdann als Antwort auf jenes Ahnen und Suchen der germanischen Seele zu beschreiben. Dabei muss man auf die Tatsache hinweisen, dass das Christentum in seinem Kern völlig eingedeutscht wurde : Es gibt keine orientalisch - jüdischen Weihnachtslieder in Deutschland.“34 Diesem Selbstverständnis entsprach das öffentliche Auftreten. Zur Gemeindearbeit gehörten eine monatliche öffentliche Feierstunde sowie ein in demselben Rhythmus stattfindender geschlossener Kameradschaftsabend. Der „Führerkreis“ ( Gemeindeleiter, Propagandawart, Kassenwart und vier vom Leiter zu bestimmende Mitglieder der Gemeinde ) bereitete die Veranstaltungen wie „sämtliche Aufgaben des Gemeindelebens“ vor.35 Vor allem bei den Kameradschaftsabenden waren „Kampflieder einzuüben“.36 Für diesen Zweck gab es ein „Kampfliederbuch“; von den darin enthaltenen Stücken wurden 18 für Veranstaltungen im Saal als geeignet empfohlen, dazu weitere neun Stücke als Auswahl aus fünf Liedblättern. Den Titeln nach zu urteilen hatten nur zwei ( zumindest vordergründig ) einen engeren religiösen Bezug : „Der Herrgott selbst tat diesen Schwur“; „Es steht ein Kreuz im Walde“. Die Titel der anderen lauteten „Auf bleibet treu“, „Die Trommeln erdröhnen“, „Es leben die Soldaten“, „Kein schönrer Tod“, „Und wird die Faust“, „Auf deutsche Schar“ usw.37 Von Dr. Wilhelm Bauer, einem ehemaligen Studienrat, jetzt Werbe - und Presseleiter der Landesleitung und Direktor der Kirchlichen Nachrichten - und Pressestelle in Eisenach, wurden Handreichungen zur Gestaltung dieser Veranstaltungen bereitgestellt. Im Februar 1934 war die Feierstunde mit dem Lied „Braun sind die Hemden“ aus dem Kampfliederbuch zu eröffnen. Nach der Lesung von Texten, u. a. von Ernst Moritz Arndt, folgte das Kampflied „Und wird die Faust 32 33 34 35 36 37

PM 37/12 ( o. D.). PM 37/19 ( Landesjugendpfarrer, Handreichung, Weimar, 17. 10. 1936). PM 37/19 ( Landesjugendpfarrer, Handreichung, Weimar, 15. 12. 1936). PM 37/22 (18. 9. 1934). PM 37/13 (5. 2. 1934). PM 37/12 ( o. D.).

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uns schwach von Schwielen“, sodann ein Gedicht von Fritz Woike, dem „christlichen Arbeiterdichter“ : „Wir brauchen Männer, die Sturm im Blut / Und im Herzen den Himmel tragen; / Die aus der Zeit stürzender Flut / Wie eherne Pfeile ragen.“ Eine Handreichung für eine Feierstunde am Vorabend des 1. Mai 1936 rief zur Sammlung hinter Hitler und zur Arbeit ( als „Maßstab, der den einzelnen zum vollen Mitglied der deutschen Gemeinschaft macht“) auf. Gesungen wurden aus dem „Liedblatt“ : „Und wieder stürmt durch das deutsche Land“ sowie „Das Alte brach zusammen“. Am Ende gab Bauer detaillierte Hinweise zur Durchführung der Feierstunde, zur Ausgestaltung des Raumes, zur musikalischen Begleitung, zur Sprechweise bei den Lesungen, zur Auswahl der Sprecher usw.38 Dabei sollte Wert darauf gelegt werden, die Mitglieder ( auch die „einfachen“, z. B. Arbeiter ) aktiv zu beteiligen, um deren Interesse zu wecken und sie zur Teilnahme zu ermuntern.39 1935 veröffentlichte Bauer diese Handreichungen in einem Buch, das auch Passionsandachten mit rein religiösem Inhalt enthält. Aber die „schlichte“ Morgenfeier zur Tagung einer Pfarrergemeinde endete nach Texten u. a. von Arndt und Luther mit dem Lied „Auf, bleibet treu und haltet aus“ : „Die Freiheit und das Himmelreich / Gewinnen keine Halben !“. Als Ziel benannte er, „die heute vielfach abgerissene Verbindung des tätigen und täglichen Lebens mit dem Evangelium und dem Leben der Kirche wieder zu knüpfen“. Es gelte „die individualistische Zerrissenheit des Lebens zu überwinden durch eine neue Gemeinschaftsgesinnung“. „Wirkliche Volksgemeinschaft ist erst dort, wo Gemeinde lebt. Wir sehen in der Gemeinde, die sich durchwalten lässt vom Geiste Jesu Christi, [...] die Geburtsstätte und stete Erneuerungsquelle wahrer Volksgemeinschaft.“40

3.

Konflikte

Trotz ihres überwältigenden Sieges bei den Kirchenwahlen im Juli 1933 stießen die Deutschen Christen von Beginn an auf Widerstände in den Gemeinden. Dort, wo sie bei diesen Wahlen nicht die übergroße Mehrheit gewonnen hatten, versuchten sie, andere zum Beitritt zu nötigen. In den Gemeinden Sülzfeld und Henneberg im Kirchenkreis Meiningen nahm der Ortsgemeindeleiter der Deutschen Christen, ein Lehrer, im Oktober 1933 insgesamt 35 Kirchenvorsteher 38 PM, 37/13 und 22 ( Entwurf : M. H. Hoppe, Eisenach, April 1936). 39 PM 37/12 ( Ortsgemeindeleiterversammlung, 19. 10. 1935). 40 Wilhelm Bauer, Feierstunden Deutscher Christen, Weimar 1935, hier S. 33, 37. Neben Bibelzitaten kam auch Adolf Hitler zu Wort. In dem Buch enthalten waren u. a. auch Beiträge von Hermann Ohland. Der Meininger Volksschullehrer ( der in den Mitgliederlisten nicht verzeichnet ist ) galt als der „Dichter der Kirchenbewegung“, der 51 Kirchenlieder schuf. Hermann Ohland, Erde in Gottes Hand. Gedichte, 2. Auflage Weimar 1938. Zu seinen Werken gehörten : „Die Fahne weht im Feld“ (1937), „Kamerad, wer Ehre hat im Blut“ (1933). Matthias Biermann, „Das Wort sie sollen lassen stahn ...“. Das Kirchenlied im „Kirchenkampf“ der evangelischen Kirche 1933–1945, Göttingen 2011, S. 262.

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und Kirchenvertreter auf. Unter Verweis auf ein Schreiben des Kreisgemeindeleiters Dr. Karl Andernacht und seines Stellvertreters, Pfarrer Sweers ( Berkach), verkündete er, dass alle Kirchenvertreter aus den Kirchengemeindekörperschaften austreten müssten, die nicht den Deutschen Christen angehörten. „Unter diesem Druck sahen sich sämtliche Kirchenvorsteher und - vertreter veranlasst, die Mitgliedschaft zu erwerben.“ Nachdem bekannt geworden war, dass diese Verfügung „nicht Rechtens“ war (die auch der Gemeindeleiter für „höchst unfair“ hielt ), weigerten sich die Überrumpelten, ihre Beiträge zu bezahlen; es gab „natürlich viel böses Blut hier und in Henneberg“.41 Unter ähnlichen Umständen traten offenbar im Oktober 1933 in Jüchsen 20 Mitglieder bei. Einer zog seine Unterschrift nachträglich zurück. „Er ist nicht zu überzeugen, trotzdem er der Partei angehört.“ Der Ortsgemeindeleiter fragte an, ob der Betreffende sein Kirchenvertretermandat niederlegen müsse. Im benachbarten Neubrunn wurde zur gleichen Zeit ebenfalls versucht, die gewählten Kirchenvertreter unter Druck zum Beitritt zu veranlassen. Hier waren sechs Kirchenvertreter schon früher Mitglied geworden; jetzt wurden die verbliebenen zehn zum Beitritt aufgefordert. Daraufhin schaltete sich der Pfarrer ein; ein solcher „Zwang“ zur Mitgliedschaft der Kirchenvertreter bestehe nicht, wie selbst der den Deutschen Christen angehörende Oberpfarrer ( Otto Schaumburg ?) meine.42 Der Ausgang solcher Konflikte hing schon frühzeitig vielfach davon ab, ob der Pfarrer den Deutschen Christen angehörte oder nicht. Denen traten in Thüringen etwa 250 bis 300 Pfarrer bei, doch waren die Motive für die Mitgliedschaft sehr unterschiedlich. Die einen schlossen sich, um nicht isoliert zu sein, dem Schritt ihrer benachbarten Kollegen an. Andere glaubten, nur so das Überleben der evangelischen Kirche im Dritten Reich sichern zu können. Der Vereinsgeistliche für Innere Mission tat den Schritt, um die diakonischen Einrichtungen zu erhalten. Wieder andere taten es aus Opportunismus und Berechnung.43 Man wird aber die Aufbruchsstimmung in den ersten Monaten des Dritten Reiches ebenso in Rechnung stellen müssen, die auch an den Pfarrern nicht spurlos vorüber ging. Viele der Pfarrer begannen mit dem Aufkommen der Alternative der Bekennenden Kirche ihre Entscheidung zu überdenken, wie die aufkeimenden Konflikte in den Gemeinden erkennen lassen. In Untermaßfeld bestand Ende 1934 ein seit zwei Jahren anhaltendes tiefes Zerwürfnis zwischen dem Pfarrer und dem Kirchgemeinderat, von dessen 18 Mitgliedern bis auf einen alle den Deutschen Christen angehörten. Selbst direkte Interventionen Lefflers und des Ortsgruppenleiters der NSDAP verschafften keine Abhilfe, so dass das Gemeindeleben zum Erliegen kam und die Deutschen Christen den Abfall ihrer Anhänger befürchteten.44 Wahrscheinlich wurde der Konflikt dadurch gelöst, dass der Pfarrer entfernt wurde, wie die

41 42 43 44

PM 37/8 (16. 7. 1934). PM 37/12 (5. und 27.10. 1933). Stegmann, Kirchenkampf, S. 39 f. PM 37/8 (25. 1. 1935).

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Gemeindevertretung verlangte, und der spätere Kreisgemeindeleiter Keil 1935 als neuer Pfarrer eingesetzt wurde. Allerdings behauptete Leffler noch am 1. März 1936 stolz, dass noch kein Pfarrer auf den Wunsch seiner Gemeinde hin abberufen worden sei, auch wenn „er keine innere Beziehung zum nationalsozialistischen Leben seiner Gemeinde habe und weil er in mehr oder minder deutlicher Form gegen den Staat arbeite“. Die Landeskirche habe nicht das Recht, „Pfarrer, die rechtmäßig in ihrem Amte sind, ohne weiteres zu entfernen. [...] Es gehört zu den besonderen Vorzügen unserer Kirchenregierung, das[s ] sie bisher in keinem Falle auch nur den Versuch dazu gemacht hätte.“45 Das lässt sich jedoch nicht überprüfen; aber das sollte sich bald ändern. In Ritschenhausen bestand im Juni 1934 noch keine Ortsgemeinde. Das einzige Mitglied war der in diesem Ort wohnende Oberpfarrer Schaumburg. Er hatte zwar versucht, im Dorf Schriften und „Briefe“ zu verkaufen; aber : „Gekauft werden sie nicht, wenigstens nur ganz, ganz selten.“ Er hoffte zwar noch auf Werbeerfolge, setzte aber lieber darauf, dass die Kirchgemeinde „bis jetzt fest in der Hand ihres Pfarrers“ war. Es würde dieses Vertrauensverhältnis sofort zerstören, „wenn ich zur Organisation als D. C. zwingen wollte.“ Auch aus anderen Ortsgruppen wisse er, „dass deren Mitglieder alles andere als überzeugte Anhänger sind“. Er zitierte Leffler, „lieber ein Mitglied aus Überzeugung als zehn unter irgend einem Druck“. Für die mangelnden Erfolge sah er die Schuld nicht bei sich, da allgemein eine „rückläufige Bewegung in unseren Reihen“ festzustellen sei. Aus anderen Ortsgruppen wisse er, dass „es heute rein äußere Gründe sind, die den Austritt bei den Leuten bewirken“, so wie sie 1933 aus „rein äußeren Gründen“ beigetreten waren, so dass es schwierig sei, sie in den Gemeinden zu halten.46 Allerdings spezifizierte er nicht, was diese „äußeren Gründe“ waren. Auf einer Ortsgemeindeleitertagung am 19. Oktober 1935 wurde über einzelne Gemeinden Bericht erstattet. In Bauerbach war der Lehrer das einzige Mitglied; der Pfarrer war ausgetreten, blieb aber „loyal“. In Queienfeld hatte der Pfarrer „sehr zerstörend“ gewirkt. „Er hat Stahlhelmer.“47 Er streue Gerüchte, die Deutschen Christen wollten die Bibel und das Gesangbuch abschaffen. In Rentwertshausen gab es zwölf Mitglieder; aktiv waren aber nur fünf. In Wölfershausen war der Gemeindeleiter ebenfalls das einzige Mitglied. Insgesamt kam man zu dem Ergebnis, dass „die Christandachten [...] in deutschem - christlichem Sinn aufgezogen und der Sache dienstbar gemacht werden“ müssten, weil man sich von Gemeindeabenden, erst recht von Werbeveranstaltungen wenig Resonanz versprach.48 Als „besonders schwierig“ galten die Verhältnisse 45 PM 37/3. 46 PM 37/8 (12. 6. 1934). 47 Dass der ehemalige örtliche Stahlhelm - Führer „unter dem Mantel der Bekenntnisfront“ weiterhin seine „Machenschaften“ betreibe, war auch ein Vorwurf in Metzels. Hans W. Goll, Kirchenkampf in Metzels und anderswo (1933–1939). Ein Einblick in die Thüringer Bekennende Kirche in den Jahren des Nationalsozialismus, Jennins 2012, S. 107. 48 PM 37/12 ( Ortsgemeindeleiterversammlung, 19. 10. 1935).

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in Ober - und Unterkatz. Dort werde man keine Feiern abhalten können, sondern müsse „Einbruchsstellen“ von den Nachbargemeinden aus suchen.49 In Berkach verweigerte der Pfarrer, selbst sehr frühzeitig Mitglied der Deutschen Christen, diesen 1937 die Kirche für Veranstaltungen, weil der Reichskirchenminister verboten hatte, „die Gotteshäuser für irgendwelche Kundgebungen einer kirchlichen Richtung freizugeben“. Sollte Pfarrer Keil darauf bestehen, dass er die Kirche zur Verfügung stelle, werde er austreten.50 In zunehmendem Maße geriet die lokale Entwicklung in den Sog des Konfliktes um den Reichskirchenausschuss, der das Jahr 1936 prägen sollte. Der Reichskirchenausschuss war die am 3. Oktober 1935 vom Reichskirchenminister Hanns Kerrl eingesetzte achtköpfige Leitung der Deutschen Evangelischen Kirche, der die konkurrierenden Ansprüche von Bekennender Kirche und Deutschen Christen überwinden sollte. Der Reichskirchenausschuss setzte zu dem Zweck Landesausschüsse ein. Die Thüringer Deutschen Christen waren zuversichtlich, dass das in ihrem Bereich nicht geschehen werde, bis der Reichskirchenausschuss sie im Theologischen Gutachten führender Theologen im Juli 1936 der „Irrlehre“ bezichtigte. Das Gutachten kam zu dem Ergebnis, dass die nationalkirchliche Idee im Widerspruch zur Verfassung der Deutschen Evangelischen Kirche stand, weil sie der Schrift und dem Bekenntnis widersprach. Der falschen Gleichsetzung von Volk und Kirche entspreche die falsche Gleichsetzung von Volks - und Heilsgeschichte. Die Thüringer Deutschen Christen galten inzwischen als „die radikalste Strömung“, da sie, so die Bekennende Kirche, „das Evangelium völlig preisgeben“. „Beibehalten werden nur noch die christlichen Ausdrücke, bekommen aber einen völlig neuen entgegengesetzten Inhalt.“ Vor allem hatte der Reichskirchenausschuss den Thüringer Deutschen Christen bescheinigt, dass sie „ein Recht auf das Kirchenregiment nicht haben“. Damit standen diese außerhalb des Rechtsbodens der Deutschen Evangelischen Kirche, und es war zu erwarten, dass auf der Grundlage des Gutachtens auch für Thüringen ein Landeskirchenausschuss eingesetzt wurde, der die aktuelle Kirchenleitung des Amtes entheben musste.51 Am 24. Juli 1936 informierte Leutheuser die Kreis - und Gemeindeleiter in Thüringen über den Inhalt des Gutachtens und bat darum, die Kirchenvorstände entsprechend zu verständigen.52 Dagegen wies Kreisgemeindeleiter Keil seine Ortsgemeindeleiter an, „wo eine Gemeinde von den Vorgängen der letzten Zeit wirklich noch in keiner Weise berührt ist, mag man von einer Beschlussfassung der Kirchenvertretung absehen“. Keil selbst hatte Tage zuvor einige Mitglieder der Gemeinde Vachdorf persönlich informiert, wie Pfarrer Lorenz, 49 PM 37/12 ( Bezirks - Gemeindeleiter - Konferenz, 3. 11. 1935). 50 PM 37/3 (8. 12. 1937). Gegen den Erlass hatte die Kirchenbewegung in einem Rundschreiben an alle Vertrauensleute protestiert. Informationsdienst 2/1936, Weimar, 1. 3. 1936. 51 Stegmann, Kirchenkampf, S. 50 f.; Meier, Deutsche Christen, S. 110–215, bes. S. 135– 144, 213–215; PM 37/1. 52 PM 37/1.

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selbst früher Mitglied der Deutschen Christen und der NSDAP, monierte. Diese Mitglieder sollten offenbar eine Mitgliederversammlung organisieren, auf der ein von Keil vorformulierter Beschluss gefasst werden sollte „über eine Sache, die den anderen Gemeindemitgliedern unbekannt ist“. Das wäre nur geeignet, die Gemeinde ( und die Volksgemeinschaft ) zu spalten.53 Pfarrer Lorenz aus Vachdorf war im Februar 1936 aus der Kirchenbewegung ausgetreten.54 Diesen Schritt hatte Kreisgemeindeleiter Keil mit der Drohung beantwortet, man werde eventuelle Angriffe auf die Deutschen Christen mit gleicher Münze heimzahlen. Er forderte, der Pfarrer möge seinen Austritt „ausführlich“ begründen, da er gegenüber seinem Kollegen Justus Holdt in Meiningen geäußert hatte, „dass die ‚Deutschen Christen‘ immer unwahrhaftiger würden“. Der Vachdorfer Pfarrer lieferte die geforderte Begründung, die er mit Beispielen aus Schulungen und vertraulichen Äußerungen illustrierte. Demnach dachten und handelten führende Deutsche Christen gegen ihre offiziellen Äußerungen, ob nun grundsätzlich zum Wort Gottes ( Leutheuser : „Wort Gottes ist nur Wort Gottes, wenn es uns anspricht“), zur Bibel, zum Thüringer Gesangbuch oder zum deutschen Pfarrerverein. Die Veranstaltungen würden als Feierabende und Gottesfeiern hingestellt, „sind aber nach Ihrer eigenen Aussage Propagandaveranstaltungen“; „Werbeaktionen konfessioneller Art“ seien aber vom Reichsinnenministerium verboten worden. Ein weiterer Grund lag offenbar in der Person Keils selbst, dessen „inquisitorisches“ Verhalten bei nicht näher bezeichneten Ereignissen „niederschmetternd“ wirkte. Andernachts Haltung habe er noch teilen können, ebenso „anfangs“ die Lefflers; aber „die gewalttätig anmutende Vertretung der D. - C. Idee durch Ihre Person“ habe ihn abgeschreckt, „obwohl ich ein Anhänger der Nationalkirche sein könnte, eben dann wenn sie auf dem Grunde baut, der gelegt ist : Jesus Christus ! Es geht um die Wahrheit !“ Er habe lange die Mitglieder vom Austritt abhalten können; sie „wollten schon lange nicht mehr mit machen“. Er werde keine „Feierabende“ mehr dulden, da sie gegen das Gesetz seien, sondern nur noch Mitgliederversammlungen.55 Keil wiedersprach seinem Kollegen erwartungsgemäß in allen Punkten. „Wir finden uns alle unter der Losung : Unsere Aufgabe ist Deutschland, unsere Kraft ist Christus, wir finden uns aber nicht unter einer bestimmten Christologie, oder einer bestimmten Theologie.“56 Dieses Argument führten die Thüringer Deutschen Christen gegen den Vorwurf der Irrlehre ins Feld. Aber auch nach innen wiesen sie innerhalb ihrer Landeskirche gerne darauf hin, dass die Pfarrer über alle Bekenntnisgrenzen hinweg bisher gut zusammengearbeitet hätten. Das liege 53 PM 37/1 (5. 8. 1936). 54 PM 37/12 (4. 2. 1936). Mit ihm traten drei weitere Mitglieder aus. 55 PM 37/22 ( Kirchenbewegung DC, Informationsdienst 2/1936, Weimar 1. 3. 1936). Der Reichskirchenausschuss hatte versucht, die Feierstunden „einzuschränken und ihre Durchführung abhängig zu machen von der Zustimmung des Ortspfarrers“; das wurde vom Landeskirchenrat „entschieden“ zurückgewiesen. „Das wäre ja schlimmer als katholisch und alles andere als im Sinne des evangelischen Grundsatzes vom allgemeinen Priestertum der Gläubigen !“ 56 PM 37/12 ( Februar 1936).

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nicht zuletzt an der Arbeit der Kirchenleitung, die sich streng an den Paragraphen 3 der Verfassung der Thüringer Kirche halte : „Die Thüringer evangelische Kirche will eine Heimat evangelischer Freiheit und Duldsamkeit sein.“57 Diese Toleranz werde von Angehörigen der „Bekenntnisfront“ aufgekündigt, die von der Kanzel gegen die „Irrlehre“ der Deutschen Christen predigten. Ein schwerer Konflikt, der weite Kreise zog, ereignete sich im April 1936. In der Gemeinde Metzels58 war Hilfspfarrer Wilhelm Wolf, der zur Bekennenden Kirche gehörte, 1935 „wegen Ungehorsams“ entlassen und aus der NSDAP ausgeschlossen worden, nachdem er die „Erfurter Erklärung“ vom 10. Juli 1935 „aus Gewissensgründen“ unterschrieben hatte. In dieser Erklärung hatten sich 88 Pfarrer, Hilfspfarrer und Hilfsprediger „in geistlichen Dingen“ vom Landesbischof distanziert. 12 weitere Pfarrer traten noch im Juli 1935 bei, so dass etwa ein Siebtel aller Thüringer Pfarrer sich zum Bruderrat bekannte.59 Die zunehmende Spaltung übertrug sich auf die Kirchgemeinde. Obwohl die Gemeinde zu rund 80 % hinter Pfarrer Wolf stand, wie eine Unterschriftenaktion zu dessen Gunsten ergab, stand die Kirchenvertretung „fast restlos“ auf Seiten der Deutschen Christen, obwohl es 1934 wie 1935 nur elf Mitglieder der Deutschen Christen gab ! Die Deutschen Christen beklagten sich, dass sie auch die Gottesdienste von Pfarrer Wolf besuchten, während seine Anhänger die von Pfarrern der Deutschen Christen abgehaltenen Gottesdienste boykottierten.60

57 PM 37/7 (6. 4. 1936). Den Brief hatte auch der Meininger Pfarrer Holdt ( ?) als Vertrauensmann der 16 deutsch - christlichen Pfarrer im Pfarrkreis unterzeichnet. 58 Goll, Kirchenkampf, hier bes. S. 77, 102, 105, 110–112, 119–122, 126, 136, 154. Wolf war seit Juli 1933 Hilfspfarrer in Metzels. Die Unterzeichner der „Erfurter Erklärung“ erhielten eine Woche später Rückendeckung durch ein Gutachten der Theologischen Fakultät der Universität Jena vom 17. 7. 1935, nach dem der Bischof keine „Anordnungen in Glaubenssachen“ vornehmen dürfe. Stegmann, Kirchenkampf, S. 44–46, 106– 108. Der Landeskirchenrat reagierte mit einem Verweis an die Pfarrer und einer Ordnungsstrafe von 200 Mark sowie mit der Ankündigung der Entlassung der Hilfspfarrer. Von der Entlassung sah man ab, erklärte aber, die Hilfspfarrer nicht übernehmen zu wollen. Hilfspfarrer Coym in Unterkatz erhielt einen Verweis und musste 100 Mark Ordnungsstrafe zahlen. Ebd., S. 46–48. Ähnlich heftig wie in Metzels waren die Auseinandersetzungen um Hilfspfarrer Wilhelm Müller, Mitglied der SA, in den Dörfern Kaltenwestheim, Mittelsdorf und Frankenheim, die nicht zum Kirchenkreis Meiningen gehörten. Müller sei „nicht um seiner theologischen Haltung und auch nicht seines Glaubens willen“ entlassen worden, hieß es, „sondern lediglich um seiner unmöglichen Auflehnung gegen die kirchliche Ordnung willen“. PM, 37/7 ( o. D.; ca. April 1936). Müller kam in das KZ Bad Sulza, 1938 wurde er polizeilich ausgewiesen, da er nach seiner Entlassung illegal in seinen Gemeinden wieder tätig geworden war. Gabriele Lautenschläger, Kirchenkampf in Thüringen. In : Detlev Heiden / Gunther Mai ( Hg.), Nationalsozialismus in Thüringen, Köln 1995, S. 463–486, hier 472 f. 59 1939 gab es 723 im Amt befindliche Pfarrer, Hilfspfarrer und Hilfsprediger. Stegmann, Kirchenkampf, S. 98. Ca. 160 Pfarrer wurden der „Mitte“ zugerechnet, ebenfalls ca. 160 gehörten zur Bekennenden Kirche. Meier, Kirchenkampf, Band 1, S. 477 f.; Meier, Kirchenkampf, Band 2, S. 345. 60 PM 37/4 (26. 3. 1935). Dass die „Bekenntnisfront“ „volks - und kirchenzerstörend“ wirke, zeige auch der Fall, dass der in Kaltenwestheim entlassene Hilfspfarrer Müller in Röpsen bei Gera Gottesdienst für einen erkrankten Kollegen halten wollte. Es kam

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NSDAP und Deutsche Christen organisierten am 23. August 1935 eine Gegenveranstaltung, auf der der Kreisleiter der NSDAP, Dr. Hermann Köhler, Schulrat Stegner als Kreisgemeindeleiter der Deutschen Christen, Lehrer Vollrath als Ortsgemeindeleiter ( und stellvertretender Kreisgemeindeleiter, aber auch Organist in der Kirche ) und der Stützpunktleiter der NSDAP mit dem anwesenden Pfarrer Wolf ins Gericht gingen : „Sie stiften nur Unfrieden im Dorf. Dagegen werde ich mit schärfsten Mitteln vorgehen“, drohte Kreisleiter Köhler, der Wolf vorwarf, von der Kanzel die Deutschen Christen „als Irrlehrer und minderwertige Menschen“ diffamiert zu haben. Der Gemeinde drohte er : „Wer Unfrieden sät, vergeht sich gegen die Volksgemeinschaft. Und wer sich gegen die Volksgemeinschaft vergeht, ist ein Verräter am deutschen Volk.“61 Am 26. August erhielt Wolf sein Entlassungsschreiben; am Folgetag kündigen die zehn Mitglieder der Deutschen Christen im Kirchgemeindevorstand ( von zwölf) dem Pfarrer die Zusammenarbeit auf. Die vorgesehene Amtsübergabe an seinen Nachfolger, der ein entschiedener Parteigänger der Deutschen Christen war, scheiterte jedoch am 4. September zunächst am Widerstand der Gemeinde, bis Kirchenrat Lehmann aus Eisenach sie unter dem Schutz der Polizei vollzog, die die anwesenden ca. 250 Gemeindemitglieder entfernte.62 Wolf kehrte Ende 1935 nach Metzels zurück und gründete mit Rückendeckung der Lutherischen Bekenntnisgemeinschaft ( Ernst Otto, Eisenach ) eine „Bekenntnisgemeinde“. „Die Gegensätze in dieser Gemeinde gehen bis in die einzelnen Familien hinein.“ Der Konflikt spitzte sich zu, als im August 1936 Pfarrer Gustav Coym ( Jg. 1909) im nahen Unterkatz, der ebenfalls der Bekennenden Kirche angehörte, Wolf zu seinem Urlaubsvertreter bestellte. Die Gemeinden Unterkatz, Oberkatz und Wahns gehörten – anders als Metzels – zu den wenigen, in denen keine Ortsgemeinde der Deutschen Christen bestand. Coym habe die Gemeinde „fanatisiert und irregeleitet“, berichtete die Gestapo. zum offenen Konflikt in der Kirche mit dem von der Kirchenleitung entsandten Leiter des Predigerseminars. Müller und ein Teil der Gemeinde zogen aus der Kirche aus. PM, 37/3 ( Informationsdienst 3/1936, 7. 4. 1936). Zu Müller vgl. Anm. 58. 61 Thüringer Staatszeitung, 27. 8. 1935; zit. nach Goll, Kirchenkampf, S. 111–115. 62 PM 37/3 (6. 4. 1936). Als der Ortgemeindeleiter der Deutschen Christen, Lehrer Vollrath, in der Vakanz nach Wolfs Entlassung einen Lesegottesdienst ansetzte, kamen 20 bis 30 Teilnehmer, während sonst 150 zu verzeichnen waren. Als im Oktober 1935 ein auswärtiger Pfarrer der Bekennenden Kirche als Gast predigte, kamen 350. Auch die Ordination von Wolfs Nachfolger, einem deutsch - christlichen Hilfsprediger, fand nur vor 20–30 Personen statt. Goll, Kirchenkampf, S. 122–137. Illegale Bekenntnisgemeinden, die in privaten oder angemieteten Räumen ihre Gottesdienste und Versammlungen durchführten, bestanden in Thüringen u. a. in Probstzella, Röpsen bei Gera, Neuenhof bei Eisenach, Hörschel, Wartha, Meuselwitz, Neuhaus am Rennweg, Ilmenau, Elgersburg und Jena. Gotha, Arnstadt und Zeulenroda schlossen sich der altlutherischen Freikirche an, um ihren Bekenntnisgemeinden den Schutz einer legalen Kirchenzugehörigkeit zu geben. Lautenschläger, Kirchenkampf, S. 473; Walter Pabst, Die illegalen Gemeinden der Bekennenden Kirche in Thüringen 1933 bis 1945. In : Domine dirige me in verbo tuo [ Herbert von Hintzenstern, Red.]. Festschrift für Moritz Mitzenheim, Berlin ( Ost ) 1961, S. 261–274. Dort S. 264 f. zu Müller in Kaltenwestheim und S. 265 f. zu Wolf in Metzels.

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Bei seinem gezielten Auftreten gegen die Deutschen Christen soll er sich auf eine Veröffentlichung des Reichskirchenrates berufen haben, also vermutlich das Theologische Gutachten vom Juli 1936. Um Wolfs Einsatz zu unterbinden, wurde dieser von der Landeskirchenleitung mit einem Redeverbot belegt; die Gestapo in Meiningen wurde beauftragt, das Verbot durchzusetzen. Kirchenrat Lehmann übernahm persönlich den Gottesdienst. Doch die Gemeinde weigerte sich, daran teilzunehmen, so dass nicht mehr als zehn bis zwölf Personen den Weg in die Kirche fanden. Auch in der Nachbargemeinde Wahns, wo Lehmann anschließend Gottesdienst halten wollte, verweigerte die Gemeinde ihm den Zutritt zur Kirche, allen voran der Bürgermeister. Eine Sitzung der Kirchenvertretung in Unterkatz zwei Tage später wurde verboten „bis zur Klärung der kirchenpolitischen Lage in Thüringen“. Am darauffolgenden Sonntag predigten weder Lehmann noch, wie zunächst angekündigt, Wolf in Unterkatz, sondern Pfarrer Kessler aus Kaltensundheim.63 Die Ereignisse sind insofern bemerkenswert, als sowohl in Metzels wie in Unterkatz die NSDAP bei den Reichstagswahlen 1932 und 1933 mit großer Mehrheit gewählt worden war.64 Die Ereignisse schlugen auf die politische Gemeinde zurück. Der Bürgermeister von Wahns wurde wegen seiner Beteiligung an den Protesten gegen Kirchenrat Lehmann abgesetzt. In Unterkatz gehörte zu den Nachwehen eine „tumultuöse Parteiversammlung“, auf der der Redner der NSDAP sich nur mit Mühe Gehör verschaffen konnte. Nachfolgend kam es zum Ausschluss eines SS - Mannes. „Erst in einer zweiten Versammlung gelang es dann dem Kreisleiter selbst, durch eine Aussprache mit dem dortigen Hilfspfarrer [ Coym ], die Ruhe, wenigstens äußerlich, wieder herzustellen.“65 Die Ereignisse in Metzels, Unterkatz und Wahns wirkten sich auf andere Gemeinden aus, nachdem Pfarrer Coym „in seinen drei Gemeinden in öffentlicher ( zahlreich besuchter ) Kirchenvertretersitzung die Unterstellung seiner Gemeinde unter den Bruderrat hat vollziehen lassen“.66 Die Deutschen Christen reagierten auf diese wachsende Widerständigkeit mit einer Gegenkampagne. Der Landeskirchenrat bezeichnete am 29. Juli, nachträglich unterstützt von Kerrl am 21. August, jeden, der ein anderes Kirchenregiment neben dem Landeskirchenrat anerkenne, als „Rechtsbrecher“.67 Kreisgemeindeleiter Keil forderte die Pfarrer seiner Bewegung auf, eine Kirchen63 Staatsarchiv Meiningen, Kreisamt Meiningen / 1182. 64 Meininger Tageblatt vom 7. 11. 1932 : Unterkatz : NSDAP 110, Landbund 31, KPD 48; Metzels NSDAP 191, Landbund 69 und KPD 5 Stimmen. Meininger Tageblatt vom 8. 3. 1933 : Unterkatz : NSDAP 177, SPD 20, KPD 61; Metzels : NSDAP 248, Kampffront Schwarz - Weiß - Rot 87 Stimmen. ( Es werden nur die stimmenstärksten Parteien aufgeführt ). 65 PM 37/3 (6. 4. 1936). 66 PM 37/1 (29. 7. 1936). 67 Meier, Kirchenkampf, Band 2, S. 345. Im Frühjahr 1936 hatte es bereits eine Unterschriftenbewegung der Deutschen Christen gegen den Reichskirchenausschuss gegeben. Meier, Deutsche Christen, S. 128–132. Sie diente zugleich der Mobilisierung und der Werbung neuer Mitglieder, letzteres insgesamt durchaus mit Erfolg.

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vertretersitzung einzuberufen und die Lage „in aller Klarheit und Schärfe zu schildern und etwa folgenden Beschluss fassen zu lassen“, nämlich dass die Kirchenvertretung weiterhin zum Landeskirchenrat stehe und in diesem „das einzige verfassungsmäßige Kirchenregiment“ sehe. „Unter schärfstem Protest“ solle der Reichskirchenrat für die Konflikte in den Gemeinden verantwortlich gemacht werden. Dieser Beschluss sei von Pfarrern, Kirchenvorstehern und Kirchenvertretern namentlich zu unterzeichnen. Unter ausdrücklichem Bezug auf die Ereignisse in Metzels und Unterkatz fassten in Walldorf Kirchenvorstand und Kirchenvertretung einstimmig den Beschluss, sich zum Landeskirchenrat zu bekennen. „Eine Tätigkeit der Bekenntnisfront [...] ist hier nicht angebracht.“68 Zusätzlich forderte Keil, „dass jeder Pfarrer unserer Bewegung klipp und klar zum Ausdruck bringt, dass er das Vorgehen des Reichskirchenausschusses ablehnt und innerlich wie äußerlich zum Landeskirchenrat steht. Wer das nicht tun kann, gehört nicht in unsere Reihen !“ Bei Nichtbeantwortung drohte er mit Ausschluss.69 Während der Hilfspfarrer in Zillbach und der Pfarrer in Berkach die Erklärung abgaben, verweigerte sie der Pfarrer in Wasungen und wurde ausgeschlossen. An anderen Orten, z. B. in Rentwertshausen, gelang es dem Pfarrer, die Kirchenvertretung von einer Zustimmung abzuhalten.70 Von den Kanzeln entbrannte nun ein Kleinkrieg der Abkündigungen, indem jede Seite der Gegenseite „Putschversuch“ und „Landesverrat“ einerseits, „Irrlehre“ und fehlendes Recht auf das Kirchenregiment andererseits vorwarf. In einer Kanzelabkündigung machte die Bekennende Kirche ( auch außerhalb Thüringens ) das Gutachten bekannt.71 Am 12. Oktober 1936 bildeten die Thüringer Bekenntnisgemeinschaft und die „Mitte“ einen Vertrauensrat, der auf einen Boykott der Landeskirchenleitung in geistlichen Fragen hinauslief.72 Keil protestierte am 2. Februar 1937 bei Kerrl persönlich gegen das Theologische Gutachten; mit diesen „pfäffischen Machenschaften“ und „antiquarischen Zäunen kirchlicher Dogmen“ steuere man „auf das System einer Evangelischen Papstkirche“ zu. Er bat Kerrl, die Tätigkeit des Reichskirchenausschusses zu beenden, der dem „dritten [ sic ] Reich fremd, verständnislos, wenn nicht gar ablehnend gegenübersteht und übergeben Sie die Leitung der Kirche Männern, die mit ganzem Herzen Nationalsozialisten sind, die mit bedingungsloser Treue hinter dem Führer stehen“.73 Am 12. Februar 1937 forderte der Ortsgemeindeleiter von Metzels, Ernst Vollrath, der stellvertretende Kreisgemeindeleiter, vom Reichskirchenminister die Absetzung des Reichskirchenausschusses, da dieser

68 69 70 71 72

PM 37/1 (4. 8. 1936). PM 37/1 (29. 7., 4. 8. und 10. 8. 1936). PM 37/1 (12., 14. und 23. 8. 1936 sowie eine undatierte Abschrift ). PM 37/1 (30. 8. 1936; dazu Aufklärungsmaterial und Erläuterungen ). Meier, Kirchenkampf, Band 2, S. 344–347. Die Mitgliederrundbriefe der Bekennenden Kirche wurden von der Gestapo beschlagnahmt, so dass über Kanzlerabkündigungen Öffentlichkeit hergestellt wurde. 73 PM 37/12 (2. 2. 1937; Hervorhebung im Original ).

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Gunther Mai

versagt habe und da er zunehmend die Positionen der Bekennenden Kirche vertrete.74 Auch hier darf man eine organisierte Protestwelle vermuten. Bereits an diesem 12. Februar 1937 trat der Reichskirchenausschuss zurück, nachdem er in der stark von den Deutschen Christen dominierten ( mit den Thüringern verbundenen ) Lübeckischen Landeskirche gescheitert war und damit auch mit seinem Versuch, wie Kerrl am Folgetag kritisierte, ein „Ketzergericht gegen die Thüringer“ zu halten.75 Jetzt wurde nach monatelangen Querelen – wie parallel in mehreren anderen Fällen in Thüringen – auch das Aufenthaltsverbot für Pfarrer Wolf in Metzels durchgesetzt, da man Rücksicht nicht mehr nehmen musste.76 Der erfolgreiche Widerstand der Thüringer Deutscher Christen – die Rückendeckung bei Gauleiter Fritz Sauckel und der NSDAP fanden – führte diesen jene Kräfte außerhalb Thüringens zu, die mit dem Anpassungskurs der auseinanderfallenden Glaubensbewegung Deutsche Christen (jetzt : Reichsbewegung ) nicht einverstanden waren. Mit den Bremischen Deutschen Christen ( Heinz Weidemann, „Kommende Kirche“) und der 1935 neu gegründeten Kampf - und Glaubensbewegung Deutsche Christen ( Hossenfelder) war bereits am 24. März 1936 ein „Führerring“ gebildet worden. Der wurde erweitert zu einem „Führerkreis“ durch die Assoziierung weiterer regionaler Gruppen im Sommer 1936. Die Thüringer Bewegung hatte damit acht deutschchristliche Gruppen um sich geschart und so fast reichsweite Präsenz gewonnen.77 Gleichzeitig scheint dieser Kampf in Thüringen nicht ohne Folgewirkungen geblieben zu sein. 1937 konnte Wasungen nur noch neun Mitglieder melden : den Berufsschulleiter als Gemeindeleiter, einen Oberlehrer, den Bürgermeister, einen Justizamtmann, den Kirchenmusikdirektor, zwei Handwerksmeister und einen Kaufmann. Sieben waren Mitglied der NSDAP, die anderen waren Anwärter. Die Ortsgemeinde Queienfeld hörte 1937 auf zu bestehen, als nur noch drei Mitglieder vorhanden waren. „Die anderen weigern sich, noch etwas zu bezahlen und waren auch nie Menschen, die sich irgendwie für unsere Sache einsetzten oder auch nur begeisterten.“ Die drei waren der Lehrer als Gemeindeleiter, seine Frau und ein Landwirt.78 Die Ortsgemeinde Neubrunn war bereits 1935

74 PM 37/10. 75 In einer Handreichung für Redner wurde behauptet, die Thüringer Kirchenleitung habe „in aller Güte“ versucht, den Kirchenkampf aus der Landeskirche herauszuhalten, doch die Anhänger der Bekennenden Kirche hätten den Reichskirchenausschuss für ihre Zwecke instrumentalisiert. Kein Pfarrer werde gezwungen, der Bewegung beizutreten, aber das Kirchenvolk müsse gefragt werden dürfen : „Wollt ihr die Volksgemeinschaft auch im Gotteshause oder wollt ihr das Gotteshaus zu seiner Stätte der Zwietracht herabsinken lassen.“ Nach der politischen Einigung des deutschen Volkes müsse jetzt auch die kirchliche folgen. PM 37/12 ( o. D., ca. 1936). 76 Pabst, Die illegalen Gemeinden, S. 262 ( Metzels ), 266 ( Röpsen ), 268 ( Ilmenau ), 272 (Eisenach ). Wolf fiel 1944 als Angehöriger eines Strafbataillons an der Ostfront. Goll, Kirchenkampf, S. 192 f., 270. 77 Meier, Kirchenkampf, Band 2, S. 138. 78 PM 37/3 (22. und 23. 9. 1937).

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„eingeschlafen“.79 Die Stimmung lief gegen die Deutschen Christen, zumal die neo - heidnischen Deutsch - Gläubigen innerhalb der NS - Bewegung vermehrt als Konkurrenz auftraten und die extrem christentums - und kirchenfeindlichen Kräfte um Alfred Rosenberg, Heinrich Himmler und Martin Bormann auch die deutsch - christliche Strömung ablehnten. Je stärker die innerkirchlichen Konflikte in die Öffentlichkeit drangen und je stärker die Organisationskraft der Bekennenden Kirche wurde, desto häufiger scheinen sich die einfachen Mitglieder abgewandt zu haben. Wenn dies ein allgemeiner Trend war, so erstaunt es nicht, dass die durch Führer - Erlass vom 15. Februar 1937 angekündigten Kirchenwahlen nicht mehr stattfanden. Die Ansetzung von Wahlen war damit begründet worden, dass nach dem Rücktritt des Reichskirchenausschusses „nunmehr die Kirche in voller Freiheit nach eigener Bestimmung des Kirchenvolkes sich selbst eine neue Verfassung und damit eine neue Ordnung geben“ solle. Damit war auch die Durchsetzung des „Primats des Staates in der Kirche“ gestoppt, den Kerrl noch am 13. Februar 1937 gefordert hatte, der auf die Auflösung sowohl der Bekennenden Kirche als auch der Deutschen Christen durch die Bildung einer Staatskirchenregierung hinauslaufen sollte.80 Der Thüringer Landesbischof Martin Sasse hatte die Ankündigung der Wahlen kommentiert : Um dem Führer eine Garantie zu bieten, „dass die Kirche kein Störungsherd wird“, müsse die zu wählende Generalsynode entsprechend zusammengesetzt sein. „Diese Synode hat nur einen Beschluss zu fassen : Die Ordnung und Verwaltung der Kirche wird dem Staat zu treuen Händen übergeben. [...] Wir werden selbst dann noch mit dem Führer gehen, wenn der Führer die Kirchentüren vor uns zuschließen sollte.“81 Doch zu solch einer Aktion hatten die Deutschen Christen keine Kraft mehr. Die Wahlen wurden am 24. November 1937 auf unbestimmte Zeit verschoben.

79 PM 37/12 ( Ortsgemeindeleiterversammlung, 19. 10. 1935). 80 Meier, Kirchenkampf, Band 2, S. 147–155. 81 Zit. nach Meier, Kirchenkampf, Band 2, S. 347.

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Leben im Ausnahmezustand. Erosion und Modifikation von Raum - und Zeiterfahrungen im Zweiten Weltkrieg Alfons Kenkmann Nicht nur zu Friedenszeiten, auch in Zeiten gesellschaftlicher Katastrophen gilt Ernst Blochs Diktum : „Nicht alle sind im selben Jetzt da“. Unterschiedliche gelebte Wirklichkeiten, die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ gilt auch für die Zeit des Weltkriegs in Europa. Die „Gleichzeitigkeit von ungleichen Räumen“, wie es Edward Said in seinem Konzept der „imaginären Geographie“1 austrägt, erklärt die Differenzerfahrung am jeweiligen „Zuhause“ und Einsatzort : – Der Bauer in der sächsischen Provinz machte gänzlich andere Erfahrungen mit dem „Luftkrieg“ der Alliierten als der alte Bergmann im rheinisch - westfälischen Industriegebiet oder der Werftarbeiter in Hamburg; – der deutsche Soldat an der Westfront andere als sein „Kamerad“ an der Wolga; – die entrechtete Jüdin im Generalgouvernement andere als ihre Leidensgenossin im militärisch dirigierten Belgien; – der deutsche Ordnungspolizist in Finnland andere als sein „Kamerad“ in Jugoslawien; – der Fiskalbeamte im vorletzten Weltkriegsjahr in Tschenstochau andere als sein Berufskollege in Malmedy. Gleichwohl gab es in den 1940er Jahren spezifische Wahrnehmungen von Raum und Zeit, die in transnationaler und nahezu europäischer Perspektive Gemeinsamkeiten aufweisen. Der vorliegende Beitrag führt mit Karl Schlögel in die „Gewitterzonen der Weltgeschichte“2. Im Folgenden werden die Verwerfungen des Raum - und Zeitverständnisses vor allem auf Basis der Auswertung zeitgenössischer Quellen aus den Jahren 1943 bis ca. 1948 erfolgen. Sie gilt es in vergleichender Perspek-

1 2

Vgl. Doris Bachmann - Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Hamburg 2006, S. 294. Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, Wien 2003, S. 369.

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tive zu vermessen auf die Thematisierung der beiden Zentralkategorien einer jeden lebensweltlichen Wahrnehmung : Raum und Zeit. Die Spezifik lebensweltlicher Raum - und Zeiterfahrungen im sogenannten „Weltenbrand“3 Anfang und Mitte der 1940er Jahre soll anhand von drei inhaltlichen Zugriffen in den Blick genommen werden. Sie mögen uns sensibilisieren für zentrale Änderungen des zeitgenössischen individuellen und kollektiven Raum - und Zeitverständnisses : a) Jüdische Kindheit im besetzten Polen; b) Die Situation großstädtischer Jugend; c) Flucht und Vertreibung im Osten und Südosten Europas.

1.

Jüdische Kindheit im besetzten Polen

Am 1. September 1939 lebten in Polen gegen 1 000 000 jüdischer Kinder, nur 0,5 Prozent überlebten : ca. 5 000. Etwa 700 von ihnen wurden von Angehörigen einer jüdischen historischen Kommission unmittelbar nach ihrer Befreiung bzw. in den unmittelbaren Nachkriegsjahren befragt.4 In den Interviews sind in Ansätzen auch die erfahrenen Raum - und Zeitschichtungen abgebildet. Eine Fülle von Gefühlen, die die Kinder während ihres Kampfes ums Überleben durchmachten, findet sich in den Nachkriegsschilderungen der jungen Holocaustüberlebenden. „Angst, meist Todesangst, und Sehnsucht nach der Familie, besonders nach der Mutter, waren dabei vorherrschend.“5 Dies konnte bedeuten, „lange Zeit in einem Versteck verharren“,6 auch mit der Einsamkeit und der Langeweile infolge der Entgrenzung von Zeit fertig werden zu müssen.7 Wahre Odysseen zu einem angenommenen sicheren Versteck zählten ebenfalls zu den Erfahrungen wie die trügerisch kurze Zeit vermeintlicher Sicherheit.8 Dem überlieferten Gespräch mit der 15 - jährigen Estera Weicher vom September 1947 ist zu entnehmen, wie die subjektive Raumerfahrung im zuvor sowjetisch annektierten Ostpolen nach dem Einmarsch der Deutschen im Juni 1941 dislozierte. Mobilität war im Überlebenskampf von Ostjuden unverzichtbar : 3

4 5

6 7 8

Daniel Schmidt, „Der große Weltenbrand 1939–1945“ – Erfahrungswelt und Alltag eines Polizeibeamten im Nationalsozialismus. In : Alfons Kenkmann / Christoph Spieker ( Hg.), Im Auftrag. Polizei, Verwaltung und Verantwortung. Begleitband zur gleichnamigen Dauerausstellung – Geschichtsort Villa ten Hompel, Essen 2001, S. 249–263. Vgl. Stephan Stach, Geschichtsschreibung und politische Vereinnahmungen : Das Jüdische Historische Institut in Warschau 1947–1968. In : Simon Dubnow Institute Yearbook, 7 (2008), S. 401–431. Alfons Kenkmann / Elisabeth Kohlhaas, Überlebenswege und Identitätsbrüche jüdischer Kinder in Polen im Zweiten Weltkrieg. In : Kinder über den Holocaust. Frühe Zeugnisse 1944–1948. Interviewprotokolle der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission in Polen. Hg. von Feliks Tych, Alfons Kenkmann, Elisabeth Kohlhaas und Andreas Eberhardt, Berlin 2008, S. 15–65, hier 19. Ebd. Vgl. ebd., S. 22. Vgl. ebd., S. 19.

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„Den Winter 42 hindurch waren wir versteckt, und im Frühjahr nahm uns eine Bauersfrau wie ihre eigenen Kinder auf, sodass wir uns frei bewegen und auf dem Feld arbeiten konnten. [...] Wir lebten ruhig bis zum Frühjahr 42 bis zur Auflösung des Ghettos. Aus Sambor kamen 40 Juden durch den Wald, die Unterkunft und Hilfe bei unserem Wirt suchten, der für seine Güte bekannt war. [...] Der Wirt kaufte im Dorf Verpflegung für alle, da begann man sich für ihn zu interessieren, warum er so große Mengen einkaufte. Die Polizei kam, sie fand aber niemanden im Haus, weil wir schon im Wald waren. [...] Zwei Tage lang irrte ich mit meiner Schwester [...] im Wald umher. Unser Wirt konnte uns nun nicht mehr länger bei sich behalten; denn er hatte Angst. Da teilte sich die Gruppe von Juden in kleine Gruppen auf. Keiner wollte uns Kinder mit sich nehmen, sie berieten sich untereinander und ließen uns schließlich zurück. Wir blieben völlig allein im Wald. [...] 2 Monate lang lebten wir unter freiem Himmel [...] Die Juden erbarmten sich schließlich und nahmen uns mit in ihr Versteck. [...] Sie bauten einen Bunker für den Winter und brachten uns nochmal für einen Monat bei unserem Bauern unter. Sie nahmen uns in den Bunker mit, wo 40 Personen waren. [...] Im Januar verriet jemand unseren Unterstand. Wir wichen in einen anderen Wald aus und haben 3 Wochen lang im tiefen Schnee gelebt. In derselben Zeit war ein neuer Bunker gebaut worden, es ging uns besser. Aber wir waren weitab vom Dorf und hungerten; [...] Wiederum im März bezogen wir nachts unseren alten Bunker. Nach zwei Wochen bemerkte unsere Wache, dass sich ein Fremder näherte. Es waren Deutsche. Also flohen wir. [...] Danach irrten wir den ganzen Tag durch den Wald. Meine ältere Schwester war barfuß, ihr waren die Füße erfroren, sie spürte sie nicht mehr und konnte nicht laufen. [...] Wir kamen wieder zu einem Bauern, dort haben wir übernachtet, und danach mussten wir alle auseinandergehen, solch eine Menge Juden wollte keiner aufnehmen.“9

Mit der Fülle an situativen, unberechenbaren Rettungsvorhaben schwand die Orientierung im Raum. Auch die 13 - jährige Karolina Kremer, geboren im Dezember 1932 in Łódź, Częstochowa, machte ähnliche Raum - „Auflösungs“erfahrungen. Auf der Flucht vor dem „Fußvolk der Endlösung“, der uniformierten Deutschen Polizei, der SS und polnischen Kollaborateuren, verlor sie jegliche Orientierung im Raum. Das Protokoll zu ihrem Gespräch vom 12. Juli 1945 hält fest : „Ich ging in den Wald. Hier blieb ich eine Woche allein. 7 - mal sah ich Wildschweine, Hirsche, Füchse – vor ihnen fürchtete ich mich nicht, nur vor den Menschen. Ich schlief im Laub und aß Kartoffeln, irrte [ sic ] umher – kehrte zurück – es stellte sich heraus, dass das immer wieder das Dorf Okrągła war. Ich erreichte den Wald. Dort traf ich Juden, die wie ich herumirrten.“10 „Wir gingen auf Straßen und über die Felder bis zur Weichsel“, erinnert sich die 11 - jährige Miriam Berger. „[...] wir [ gingen ] über Felder und Wege weiter bis zu einem Dorf. Ich weiß nicht, wie dieses Dorf heißt. Damals hat es mir niemand gesagt, und jetzt will es mir auch niemand sagen, weil die Polin, bei der wir versteckt waren, Angst hat, irgendjemand könnte davon erfahren, dass sie Juden versteckt und gerettet hat.“11 Neben dem Verlust der Verortung im Raum geriet unter den vom gewaltsamen Tod bedrohten Kindern die zeitliche Wahrnehmung aus den Fugen. Die Bedingungen des deutschen Besatzungsalltags verhinderten für den Einzelnen 9 Kinder über den Holocaust, S. 259 f. 10 Ebd., S. 170 f. 11 Ebd., S. 76.

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eine zeitliche Perspektivierung des Lebens. Das situative Element und der Zufall machten ein sinnvoll strukturiertes Leben unmöglich. Auch hierzu drei Beispiele: Die fast 13 - jährige Majer Salzmann, zum Zeitpunkt der Befragung am 10. Juni 1945 war sie Schülerin einer Grundschule, verband mit Geschehnissen Jahreszeiten, aber weder einen konkreten Monat noch ein konkretes Jahr. „Gleich nach dem Einmarsch der Deutschen in Dęblin wurden die Juden auf Straßen und in Wohnungen zur Arbeit aufgegriffen. Danach entstand ein Judenrat, der die Menschen zur Zwangsarbeit schickte. Es arbeiteten vor allem die Männer. Zu Beginn ging es recht ruhig zu. Danach wurde das Ghetto eingerichtet. Da begannen verschiedene Schikanen. Deutsche Gendarmen kamen ins Ghetto [...] Sie prügelten und quälten die Juden und nahmen ihnen alles weg. [...] Danach entstand das Lager für diejenigen, die auf dem Flugplatz arbeiteten. Ich erinnere mich nicht mehr, in welchem Jahr, ich weiß nur, dass es Sommer war, als die erste ‚Aussiedlung‘ stattfand.“12

Ein weiterer Junge hatte erhebliche Gedächtnislücken über die Todeszeitpunkte von Familienmitgliedern.13 Die ständige Drangsalierung, die permanente Suche nach Überlebensmöglichkeiten, die kontinuierliche Furcht vor Entdeckung, die das Leben eines Kindes im Untergrund prägten, gingen einher mit dem Verlust zeitlicher Sinnstrukturierung : So konnte sich ein weiteres Mädchen – laut Interviewer – an weniges erinnern; sie hatte nahezu gänzlich ihr Zeitgefühl verloren. Sie sei „eine Woche“ oder „einen Monat“14 im Versteck gewesen. Ein anderes Mädchen, das überlebt hat, erinnerte sich nicht einmal an ihr Geburtsdatum. Der 11 - jährige Edvard Kenigsberg vermag wiederum nur deshalb konkrete Datierungen von existentiellen Erfahrungen vorzunehmen, weil sie an seinem Geburtstag stattfanden. Zu weiteren Datierungen war er nicht in der Lage : „Als die Russen in die Stadt einmarschierten (23. März 1944, das war mein Geburtstag ), flohen die Deutschen, aber sowjetische Infanterie schnitt ihnen den Weg ab. Inzwischen flogen deutsche Flugzeuge an und bombardierten die Stadt [...] etwa 50 m von uns [ schlug ] eine Tonnenbombe ein. Das ganze Haus, in dem wir waren, erbebte, und von der Decke fielen Bretter auf uns herab. Wir flüchteten in den Keller, in dem Papa saß. Die Bomben fielen immer näher am Gebäude. Mama nahm mich und steckte meinen Kopf zwischen ihre Knie. So endete mein Geburtstag.“15 Anders als die zeitlich desorientierten Mädchen und Jungen nahm der 13 - jährige Szajek Nussenbaum nach der Befreiung durch die Rote Armee die Kategorie Zeit als Chance zukünftiger Lebensgestaltung wahr : „Ich hörte“ – so ist es im Protokoll eines Angehörigen der Jüdischen Historikerkommission festgehalten, „dass [...] die Juden nach Kanada ausreisen könnten. Im Stillen dachte 12 Ebd., S. 230. 13 Archiv des Jüdischen Historischen Instituts Warschau, Sammlung der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission, Protokoll Nr. 889. Für diesen und den nachfolgenden Hinweis danke ich Elisabeth Kohlhaas. 14 Vgl. ebd., Protokoll Nr. 2399. 15 Kinder über den Holocaust, S. 158 f.

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ich, dass ich auch dorthin fahren möchte, und ich erzählte niemandem davon. Ich habe dort sogar jemand aus der Familie, ich erinnere mich, wie mein Vater das einmal zu Hause sagte. Ich ließ meine Sachen und mein Geld beim Wirt [gemeint ist der ein Versteck Gewährende, A. K.] und fuhr nach Warschau. Dort wusste ich nicht, wohin ich gehen sollte. Ich saß auf dem Bahnhof und unterhielt mich mit einem. Wir redeten lange und fragten einander alles. Der Typ gestand mir, dass er Jude ist, also gestand ich auch, dass ich Jude bin. Er riet mir, zum Jüd. Komitee zu gehen, und gab mir die Adresse. Ich machte einen guten Eindruck. Sie brachten mich nach Srodborow ins Haus des Kindes. [...] Ich überlege, ob es mir gut gehen wird. Ich lerne etwas. Ich will nicht sagen, wie der Wirt heißt, ich schreibe ihm noch nicht, dass ich nicht zurückkehre, ich warte noch ab, was wird, ich habe Zeit.“16 Die unmittelbar nach der Befreiung getätigten Interviews sensibilisieren für die Sinnverluste, die von der räumlichen Desorientierung und der Erosion des Zeitbewusstseins herrührten.17 Ein sinnvoll strukturierter Lebensentwurf war unter den extremen Bedingungen des Holocaust nicht möglich. Die rassistische Lebensraumplanung – der zeitgenössische ideologische spatial turn – bot keinen Platz mehr für Juden.

2.

Zur Situation der großstädtischen Jugend

Nun schließt sich der zweite Zugriff an, die Skizze über die Befindlichkeit der großstädtischen Jugend. Nicht nur im Vernichtungskrieg im Osten Europas, auch an der „Heimatfront“ gerieten Raum - und Zeiterfahrungen aus dem Lot. Die gesellschaftlich katastrophale Situation in den Großstädten im Westen und Norden des Reiches ab Mitte 1942 – fehlende legale Freizeitmöglichkeiten, Überbelastung am Arbeitsplatz, die schockhafte Erfahrung von Todesnähe – war für Jugendliche in der Zeit voller Ambivalenz. Sie beraubte sie jeder planbaren Handlungs - und Zukunftsperspektive, erschloss ihnen aber unter Zuhilfenahme jugendlichen Eigensinns von den Erwachsenen unkontrollierte Freiräume. In der „katastrophale[ n ] Zeit“ zwischen den alliierten Luftgroßangriffen und der Währungsreform 1948 war der „Lebensrhythmus völlig verändert.“18 Man lebte im „Ausnahmezustand“.19 Im schwerindustriell geprägten Rhein - Ruhr - Gebiet waren die Wechselbeziehungen zwischen zwei basalen Rah-

16 Ebd. S. 212. 17 Vgl. Elisabeth Kohlhaas / Alfons Kenkmann, „Die Hitlerzeit hat die Seele des jüdischen Kindes zutiefst verändert.“ Interviews der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission in Polen mit Kindern nach dem Holocaust. In : Simon Dubnow Institute Yearbook, 7 (2008), S. 385–400, hier 398. 18 Hans Heinrich Muchow, Flegeljahre. Beiträge zur Psychologie und Pädagogik der „Vorpubertät“, Ravensberg 31963, S. 90. 19 Ebd., S. 90.

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Alfons Kenkmann

menkategorien einer jeden lebensweltlichen Wahrnehmung, Raum und Zeit, grundlegend gestört.20 2.1

Veränderte Raumerfahrung

Die räumlichen Handlungsfelder der Jugendlichen unterlagen einer ständigen Veränderung. Besonders der Nordwesten des Reichsgebiets, hier vor allem die Großstädte Köln und Düsseldorf, war von den alliierten Luftangriffen betroffen.21 Hier wurden „mehr Städte zerstört“, so die zeitgenössische amerikanische Sicht, „[...] als in jedem anderen Land Deutschlands.“22 In Gesprächen der Jugendlichen galten ihre Heimatstädte Krefeld, Duisburg, Essen und Köln im Juli 1943 als „völlig zerstört“.23 Damit hatten sie auch die meisten ihrer öffentlichen Treffs verloren.24 Nicht selten wurden zugleich die elterlichen Wohnungen und die Arbeitsplätze teil - oder „total fliegergeschädigt“25, so dass die Jugendlichen ihren Wohnsitz im vertrauten Stadtteil und die Arbeitsstätte wechseln mussten.26 Das hatte den Verlust der Freundesgruppe und die Dienstverpflichtung zu einer neuen Arbeitsstelle zur Folge, verlangte nach Orientierung auf unvertrautem Terrain.27 Ernst Jünger notierte auf der Rückreise nach Paris am 17. Juni 1943 : „Fahrt durch die ausgebrannten Städte Westdeutschlands, die sich in dunkler Kette aneinanderreihen, und da wieder der Gedanke : So sieht es in den Köpfen aus. Der Eindruck wurde durch die Gespräche der Reise20 In Anlehnung an Bernd - A. Rusinek, Desintegration und gesteigerter Zwang. Die Chaotisierung der Lebensverhältnisse in den Großstädten 1944/45 und der Mythos der Ehrenfelder Gruppe. In : Wilfried Breyvogel ( Hg.), Piraten, Swings und Junge Garde. Jugendwiderstand im Nationalsozialismus, Bonn 1991, S. 271–294, hier 277 f. 21 Vgl. Marie - Luise Recker, Wohnen und Bombardierung im Zweiten Weltkrieg. In : Lutz Niethammer ( Hg.), Wohnen im Wandel, Beiträge zur Geschichte des Alltags in der bürgerlichen Gesellschaft, Wuppertal 1979, S. 408–428, hier 408; Olaf Groehler, Bombenkrieg gegen Deutschland, Berlin 1990, S. 7. 22 Janet Flender, Köln, 19. März 1945. In : Hans M. Enzensberger ( Hg.), Europa in Ruinen. Augenzeugenberichte aus den Jahren 1944–1948. Gesammelt von Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt a. M. 1990, S. 79–87, hier 79. 23 Vgl. Aussage eines flämischen Jugendführers über ein Gespräch mit einem jugendlichen Essener, der an einem Kriegsmarinelehrgang in Koblenz teilnahm, ( Landesarchiv Nordrhein - Westfalen [ LAV NW ], Abteilung Rheinland [ R ], Bestand Gestapopersonenakten, RW 58, Band 68471, Bl. 10). 24 Vgl. ebd., Bestand Sondergericht Köln, Rep. 112, Band 18705, Bl. 328. 25 Staatspolizeiliches Vernehmungsprotokoll Cäcilie D., Köln, Mai 1942 ( LAV NW, R, Rep. 112/18704, Bl. 128); Staatspolizeiliches Vernehmungsprotokoll Johann G. und Karl Heinz A., Köln, Dezember 1942, ( ebd., Rep. 112/18705, Bl. 294 und 363); Staatspolizeiliches Vernehmungsprotokoll Albert N., Duisburg, 1942 ( ebd., RW 58/53700, Bl. 44). 26 Zu dem Ausmaß der Luftkriegszerstörungen siehe Innenministerium des Landes Nordrhein - Westfalen ( Hg.), Luftkriegsschäden in Nordrhein - Westfalen 1939–1945, Düsseldorf 1955. 27 Vgl. Paul Seiler, Der Berufsnachwuchs im Luftnotgebiet. In : Das junge Deutschland, 37 (1943) 9, S. 216–220, hier 217.

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gefährten noch verstärkt, in denen der Anblick dieser Schuttwelt nur den Wunsch nach ihrer Vergrößerung erweckte“.28 Von Dresden berichtete Jan Molitor, es existiere nicht mehr. „Man geht hindurch, als liefe man im Traum durch Sodom und Gomorra. Durch den Traum fahren mitunter klingelnde Straßenbahnen. In dieser Steinwüste hat kein Mensch etwas zu suchen, er muss sie höchstens durchqueren. Von einem Ufer des Lebens zum anderen. Vom Nürnberger Platz weit hinter dem Hauptbahnhof bis zum Albertplatz in der Neustadt steht kein Haus mehr. Das ist ein Fußmarsch von etwa vierzig Minuten. Rechtwinklig zu dieser Strecke, parallel zur Elbe, dauert die Wüstenwanderung fast das Doppelte. Fünfzehn Quadratkilometer Stadt sind abgemäht und fortgeweht. Wer den Saumpfad entlangläuft, der früher einmal in der ganzen Welt unter dem Namen ‚Prager Straße‘ berühmt war, erschrickt vor seinen eigenen Schritten. Kilometerweit kann er um sich blicken. Er sieht Hügel und Täler aus Schutt und Steinen.“29

Nach dem Großangriff auf Essen am 5. März 1943 stießen die Angehörigen des Sprengkommandos auf „vollkommen ausgebrannte Häuserviertel“.30 Die Ruhrmetropole galt in der unmittelbaren Nachkriegszeit als die „meist zerstörte Großstadt“ Deutschlands, als europäisches Hiroshima.31 Der Luftkrieg der Alliierten zerstörte die vertrauten räumlichen Strukturen. „Das Rheinland brennt nicht; da gibt es nichts, das noch verbrennen könnte“ dichtete Rudolf Leonard im Jahr 1947.32 Köln war 1945 in den Augen von Zeitzeugen „einer der größten Trümmerhaufen der Welt“33; ein „Paradigma der Zerstörung.“ Die Stadt war mit ihrer „schweren mittelalterlichen Pracht in die Luft gesprengt worden. Im Schutt und in der Einsamkeit völliger physischer Zerstörung lehnt[ e ] Köln, bar jeder Gestalt und schmucklos, an seinem Flußufer.“34 „Sie sind alle nicht mehr, die berühmten Straßen Kölns“, so der Befund von Josef Müller - Marein. „Was von ihnen [ den Straßen, A. K.] übrigblieb, ist einem vertrockneten Flußbett oder einem Saumpfad ähnlich. Wo einst Autos fuhren, steigt man auf einem fußbreiten Steg über Steingeröll und Unkraut hügelauf und hügelab. So sehen die Straßen, auf denen einst die solide Patina von Jahrhunderten ruhte, bisweilen aus, als hätten einsame Wanderer gerade erst einen Pfad getrampelt. [...] Gleichen aber die Straßen ausgebrannten Schluchten oder

28 Ernst Jünger, Strahlungen II. Das zweite Pariser Tagebuch, Köln 1965, S. 76. 29 Jan Molitor, Zerbrochene Stadt – doch ungebrochene Menschen. In : In Deutschland unterwegs. Reportagen, Skizzen, Berichte 1945–1948, Stuttgart 1982, S. 253. 30 Zit. nach Norbert Krüger, Die März - Luftangriffe auf Essen 1943. Vorgeschichte, Verlauf und Folgen. In : Essen unter Bomben. Märztage 1943. Hg. von der Alten Synagoge Essen, Essen 1984, S. 13–37, hier 26. 31 Vgl. Essen die meist zerstörte Großstadt ( Ohne Autor ). In : Rheinische Post vom 23. April 1947; Anton Blei, Kriminalität der Jungbergleute der Ruhr - Metropole Essen nach dem Zusammenbruch (1945–1951), Diss. jur., Bonn 1953, S. 15. 32 Rudolf Leonhard, In zwölf Jahren. In : ders., Deutsche Gedichte, Berlin 1947, S. 44. 33 Gellhorn, Rheinland April 1945. In : Hans M. Enzensberger ( Hg.), Europa in Ruinen, S. 87–97, hier 89. 34 Janet Flender, Köln, 19. März 1945. In : ebd., S. 79–87, hier 79.

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traurigen Pfaden durch Geröll, so gleichen die Plätze aufgeräumten Steinbrüchen.“35 In den Trümmerlandschaften – 1948 waren noch gegen 40 Prozent der Trümmermengen nicht beseitigt36 – war die „subjektive Raumgeographie“ mit ihren Hauptbestandteilen Entfernung und Richtung auf Jahre empfindlich gestört. Die auf der „kognitiven Karte“ des Einzelnen gespeicherten Entfernungs - und Richtungsangaben verloren ihre Gültigkeit und mussten neu erfahren werden.37 Damit entstanden neue Fixpunkte kognitiven Kartierens. Ein eindrucksvolles literarisches Beispiel veränderter Raumkartierungen bietet uns der Literat Dieter Forte. Er schildert das Schicksal des jungen Deutsch - Tschechen und Fußballbegeisterten Varna in den Ruinen Düsseldorfs, der „auf eine übersehene und nicht entschärfte Zeitzünderbombe [ lief ] und [ sich ] verwandelte [...] in Sternenstaub. Das Loch, das er in der Straße hinterließ, füllte sich nach und nach mit Wasser, man ließ es so, wie es war, weil man anderes zu tun hatte, auch eine gewisse Scheu stellte sich ein, genauso wie auf einem Friedhof. Kinder spielten nicht in diesem Loch, die Erwachsenen schauten nachdenklich hinein, es wurde so etwas wie ein heiliges Stück Erde, genannt Varnas Loch, zu einer Wegmarke, an der man sich orientierte, rechts ging es in den Volksgarten, links zum Markt, geradeaus in die Stadt. Das waren die neuen Orientierungspunkte im Quartier, von denen es jetzt viele gab, sie waren nicht nur geographisch exakt, sie erzählten auch das Geschehene, jeder kannte ihre Bedeutung, fand sich danach zurecht, räumlich und zeitlich, jeder kannte die Richtung von Varnas Loch zu Odysseus’ Mauer.“38 Anders als die Erwachsenen, bei den die alten lokalen Kartierungen in den individuellen mental maps fest eingebunden waren, vermochten sich die Jugendlichen sehr schnell in den Ruinenlandschaften zu orientieren und zurechtzufinden. Die vor Ort, in ihren großstädtischen Vierteln verbliebenen Kinder und Jugendlichen waren jedoch in der Minderheit. Durch Kinderlandverschickungen, Evakuierungen, Auslagerungen der kriegswichtigen Industriezweige, Reich35 Josef Müller - Marein, „Deutschland im Jahre 1“. Reportagen aus der Nachkriegszeit (z. T. erstveröffentlicht 1947), Hamburg 1984, München 1986, S. 104. Eindrücke über das zerstörte Köln der Jahre 1943 bis 1948 auch in Böll und Köln. Hg. und mit einem Vorwort versehen von Viktor Böll, Köln 1990, insbesondere S. 53–62. 36 Vgl. Peter Schöller, Die deutschen Städte, 2. Auflage Wiesbaden 1980, S. 77. 37 Vgl. Roger M. Downs / David Stea, Kognitive Karten und Verhalten im Raum. Verfahren und Resultate der kognitiven Kartographie. In : Harro Schweizer ( Hg.), Sprache und Raum. Psychologische und linguistische Aspekte der Aneignung und Verarbeitung von Räumlichkeit. Ein Arbeitsbuch für das Lehren von Forschung, Stuttgart 1985, S. 18– 43, hier 29 f.; Grundsätzlich zum Erwerb des Raumwissens siehe Jürgen Weissenborn, „Ich weiß ja nicht von hier aus, wie weit es von dahinten aus ist“. Makroräume in der kognitiven und sprachlichen Entwicklung des Kindes. In : Harro Schweizer, Sprache und Raum. Psychologische und linguistische Aspekte der Aneignung und Verarbeitung von Räumlichkeit. Ein Arbeitsbuch für das Lehren von Forschung, Stuttgart 1985, S. 209–244, vor allem S. 212–215; Dieter E. Zimmer, Gewußt wohin : Die Karten im Kopf. Wissenschaftsreport : Wie sich Tiere und Menschen orientieren (2. Teil ). In : Zeitmagazin, (1993) 43, S. 48–55, besonders 53 f. 38 Dieter Forte, Das Haus auf meinen Schultern. Romantrilogie, Frankfurt a. M. 1999, S. 497 f.

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arbeitsdienstpflichten, Wehrertüchtigungsübungen, Wehrmachtseinberufungen und Flucht hatten die Großstädte an Rhein und Ruhr einen Großteil ihrer jugendlichen Bevölkerung schon seit Mitte 1942 verloren.39 Die Mehrzahl der großstädtischen Kinder an Rhein und Ruhr war im Februar 1945 in ländlichen Regionen des Altreichs untergebracht.40 Damit waren die Kinder zwar vor den Luftangriffen der Alliierten in Sicherheit, doch dürfen die politischen Funktionen der Kinderlandverschickung, im Volksmund auch als „Kinderlandverschleppung“ bezeichnet, und des verkürzten Schulbesuchs nicht unterschätzt werden. Auf die von ihren Familien getrennten Kinder hatten die Erziehungsinstitutionen der NSDAP einen ungehinderten Zugriff. Die Folge war eine besonders wirkungsvolle ideologische Konditionierung der von der von oben initiierten Raumentgrenzung betroffenen Kinder und Jugendlichen.41 Auch lohnt ein Blick auf die im rheinisch - westfälischen Industriegebiet erfahrene Wohnraumnot. Nach der militärischen Niederlage strömten die Bewohner massenhaft in die städtischen Ruinenlandschaften an Rhein und Ruhr zurück, deren Wohnungen zu 30 bis 60 Prozent zerstört waren. Eine katastrophale Wohnungssituation war die Folge. In Köln waren von 252 000 Wohnungen ca. 111 000, in Krefeld von 56 000 ca. 24 000 und in Essen von ca. 205100 Wohnungen im Mai ca. 97400 völlig zerstört. Insgesamt waren dem Düsseldorfer Regierungsbezirk von 53 Millionen Quadratfläche Wohnraum im Jahre 1939 im Juni 1947 noch 25 Millionen Quadratmeter verblieben. Bei der britischen Besatzungsbehörde wurde 1945 sogar die Evakuierung von 800 000 Rheinländern in die ländlichen Regionen Westfalens erwogen. Um den wenigen verbliebenen Wohnraum stritten nun Daheimgebliebene, Rückkehrer und Flüchtlinge. Das Resultat war eine hoffnungslose Überbelegung. Mit der geringsten Wohnfläche mussten im Juni 1947 die Einwohner von Duisburg, Düsseldorf und Bochum mit 3,7 bzw. 4 m² pro Person auskommen. Die „gespannte Atmosphäre unter den einander fremden Menschen“ und die Überbelegung des Wohnraums wurde dann auch für das „Auftreten physischer und auch psychischer Störungen insbesondere der heranwachsenden Jugendlichen“ verantwortlich gemacht.42 39 Vgl. Peter Hüttenberger, Die Industrie - und Verwaltungsstadt (20. Jahrhundert ), Düsseldorf 1989, S. 638 f. Die „ersten unmittelbar kriegsgeschädigten Kinder“ wurden aus dem Rhein - Ruhr - Gebiet schon 1942 nach Schlesien evakuiert. Vgl. W[ erner ] Villinger, Die Bedeutung der Kriegs - und Nachkriegszeit für die Entwicklung des Kindes. In : Monatsschrift für Kinderheilkunde, 103 (1955), S. 65–72. Bis Ende 1944 wurden 800 000 Kinder und Jugendliche in KLV - Lagern untergebracht. Vgl. Matthias von Hellfeld / Arno Klönne ( Hg.), Die betrogene Generation. Jugend im Faschismus. Quellen und Dokumente, Köln 1985, S. 193. 40 Vgl. Lagebericht des Generalstaatsanwalts Hamm an das Reichsjustizministerium vom 6. 2. 1945 ( Bundesarchiv Koblenz [ BAK ], Bestand Reichsjustizministerium, R 22, Band 3367, Bl. 282). 41 Vgl. Harald Scholtz, Erziehung und Unterricht unterm Hakenkreuz, Göttingen 1985, S. 170–173, 176 f., 188 f. und 193. 42 Zu dem Zitat und den vorhergehenden Ausführungen siehe Hans - Ulrich Sons, Gesundheitspolitik während der Besatzungszeit. Das öffentliche Gesundheitswesen in Nordrhein - Westfalen 1945–1949, Wuppertal 1983, S. 76–93.

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Verwerfungen in der Erfahrung von Zeit

Nach der Wahrnehmung des Raumes nun zur zentralen lebensweltlichen Kategorie ‚Zeit‘. Fehlt dem Individuum die potentielle Vorgabe einer strukturierten Zeiterfahrung, kann es keine perspektivischen Sinnvorstellungen entwickeln. Die Wahrnehmung von Zeit wie ihrer Wirkungsmächtigkeit für die Strukturierung des Alltags erfuhren infolge der Luftangriffe der Alliierten weitreichende Veränderungen. Es waren nicht mehr die Produktions - und Arbeitsrhythmen, die den Tagesablauf des Einzelnen bestimmten. Die Luftangriffe der Alliierten schufen einen neuen Lebensrhythmus mit immer schnelleren Takteinheiten. Eine „Endzeit - Stimmung“43 prägte fortan die alltagsweltlichen Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen in den Großstädten. Bereits im April 1942 gab es in Düsseldorf allein 10 Alarmnächte, am 1. August 1942 den ersten Großangriff, der ungefähr 1 000 Brandherde zur Folge hatte.44 Von Ende September 1942 bis Ende September 1943 wurde in der Provinzial - Arbeitsanstalt Brauweiler bei Köln allein 233 Mal Luftalarm gegeben.45 Duisburg durchlitt seit Sommer 1941 jeden zweiten Tag bzw. jede zweite Nacht einen Luftalarm und jede Woche einen Angriff.46 Während des Zweiten Weltkriegs wurde in Düsseldorf in 1 047 Fällen Luftalarm gegeben, der 1 045 Stunden und 38 Minuten dauerte.47 Die vielen Luftangriffe „bei Tag und Nacht“, so ein Oberlandesgerichtspräsident im November 1944, ließen „die Menschen weder zur Arbeit noch zur Ruhe kommen.“48 Unter „der Dunstglocke im Städtedreieck Essen, Duisburg, Oberhausen wurde der Sirenenton zur Selbstverständlichkeit.“49 Der Luftkrieg führte zu unregelmäßigem Schulbesuch, der Zeitpunkt der Mahlzeiten wechselte ständig, „der [ zeitliche ] Rhythmus des Tages [ wurde ] wieder und wieder 43 Alfons Kenkmann, Kontakthalten in der Katastrophe. Familiale Bindungen und geschlechterspezifische Wahrnehmungen. In : Bernd. A. Rusinek ( Hg.), Kriegsende 1945. Verbrechen, Katastrophen, Befreiung in nationaler und internationaler Perspektive, Göttingen 2004, S. 67–87, hier 75. 44 Vgl. Bericht des Oberlandesgerichtspräsidenten Düsseldorf vom 3. 7. 1942 ( BAK, R 22/3363, Bl. 230); Hüttenberger, Die Industrie - und Verwaltungsstadt, S. 632 und 634. 45 Schreiben des Direktors der Provinzial - Arbeitsanstalt Brauweiler, Bosse, an den Oberpräsidenten der Rheinprovinz ( Verwaltung des Provinzialverbandes ) vom 25. 3. und vom 25. 9. 1943 ( Archiv des Landschaftsverbandes Rheinland [ AVLR ], Bestand Archivalien der Zentralverwaltungsbehörde – Fürsorgeerziehung und öffentliche Ersatzerziehung, Band 13121, Bl. 307 und 337). 46 Vgl. Bericht des Oberlandesgerichtspräsidenten Düsseldorf an das Reichsjustizministerium vom 30. 7. 1943 ( BAK, R 22/3363, Bl. 295). 47 Fünfjahresbericht des Statistischen Amtes der Stadt Düsseldorf, Jg. 37–41 für 1941– 1945, zit. nach Hans Peter Görgen, Dokumentation zur Geschichte der Stadt Düsseldorf, Band 4 : Im „Dritten Reich“ 1935–1945, Quellensammlung. Hg. vom Pädagogischen Institut der Landeshauptstadt Düsseldorf, Düsseldorf 1983, S. 358. 48 Bericht des Düsseldorfer Oberlandesgerichtspräsidenten vom 29. 11. 1944, zit. nach ebd., S. 357. 49 Hans Bertram Bock, Erinnerungsfetzen. In : Hermann Glaser / Axel Silenius ( Hg.), Jugend im Dritten Reich, Frankfurt a. M. 1975, S. 81, 83 und 87.

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unterbrochen“.50 Die Folge der „entgrenzten Zeit“ waren Gereiztheit, Temperamentsausbrüche und Streitigkeiten.51 Dem Wechsel von Schlafen und Wachen waren viele Menschen nicht gewachsen. Der Sicherheitsdienst der SS berichtete von völliger Erschöpfung und Apathie der Bevölkerung nach den Angriffen auf Wuppertal am 30. Mai und auf Düsseldorf am 12. Juni 1943. Manche „Volksgenossen“ hätten die „Nerven verloren“.52 Der Hammer Generalstaatsanwalt konstatierte : „Die fast regelmäßigen, oft sehr intensiven Unterbrechungen einer rationellen Nachtruhe, wie sie durch die Inanspruchnahme der Flakhelfer im Laufe des sich immer noch verstärkenden Terrorbombenkrieges verursacht werden, bedeuten für junge Menschen in Jahren des körperlichen Wachstums ein vorzeitiges Zehren von dem noch sorgsamer Schonung bedürftigen Nervenkapital.“53 Die Quellen geben zudem zahlreiche Hinweise auf einsetzende Nerven - und Herzkrankheiten bei den Erwachsenen.54 Düsseldorfer Eltern mussten ihre „schwer bedrängten und arg nervös gewordenen Kinder“ der Kinderlandverschickung anvertrauen.55 Die Sprecherin der Luftschutzwarnungen im Gebiet der Gaue Düsseldorf und Essen war bei der Durchgabe der Warnmeldungen der anfliegenden alliierten Verbände derart „aufgeregt“, dass sie sich „immer mehr ‚verhaspel( t )e‘“ und zu guter Letzt mit ihrer Aufgeregtheit „die Hörer ansteck( t )e.“56 Bei Jugendlichen, die an fünf Tagen in der Woche Luftschutznachtwachen oder nachts als Melder beim Sicherheits - und Hilfsdienst tätig waren, tagsüber arbeiteten und lediglich noch über eine Stunde Freizeit verfügten, konnte sich kein normales Zeitempfinden mehr einstellen.57 Das unter Jugendlichen beliebte

50 W[ erner ] Villinger, Kriegsgeschädigte Kinder und Jugendliche. In : Monatsschrift für Kinderheilkunde, 103 (1955), S. 65–72, hier 69. 51 Vgl. Hüttenberger, Die Industrie - und Verwaltungsstadt, S. 636. 52 SD - Berichte zu Inlandsfragen vom 17. 6. 1943.In : Meldungen aus dem Reich, Band 14, S. 5354–5357, hier 5356. Siehe auch den Hinweis auf die zunehmende Gereiztheit der Menschen im alltäglichen Umgang miteinander im Bericht des Düsseldorfer Generalstaatsanwalts vom 1. 2. 1945, zit. nach Görgen, Dokumentation zur Geschichte der Stadt Düsseldorf, S. 357. 53 Lagebericht der Generalstaatsanwaltschaft Hamm an das Reichsjustizministerium vom 26. 1. 1944 ( BAK, R 22/3367). 54 Vgl. Zeugenaussage Günter F., Duisburg, Mai 1944 ( LAV NW, R, RW 58/26408, Bl. 56). 55 Schreiben eines Düsseldorfer Oberzahlmeisters an die Reichsjugendführung im Gau Düsseldorf, ABT. KLV - Lager, vom 19. 1. 1945. In : Hans - Peter Görgen / Heinz Hemming, Schule im „Dritten Reich“ dokumentiert am Beispiel des Benrather Jungengymnasiums, Düsseldorf 1988, S. 417. In der Rheinprovinz finanzierte die Landesversicherungsanstalt Rheinland eine kurzfristige dreiwöchige „Erholungsverschickung“ für 40 000 Kinder und Jugendliche. Vgl. VG., Erholungsverschickung im luftgefährdeten Gebiet. In : Das Junge Deutschland, 37 (1943) 9, S. 221–222. 56 SD - Berichte zu Inlandsfragen vom 11. 5. 1944. In : Meldungen aus dem Reich, Band 17, S. 6529. 57 Vgl. LAV NW, R, Bestand Staatsanwaltschaft beim Landgericht Krefeld, Rep. 30, Band 106, Bl. 98; Interview Alfons Kenkmann mit Robert Malone, Jg. 1926, Essen, 29. Juli 1992.

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Lied „Wenn die Sirenen von Bord ertönen“ hatte 1943 gesungen einen ganz anderen Realitätsgehalt als Mitte der 1930er Jahre.58 Der kaufmännische Lehrling Karl - Heinz S. aus Wuppertal, der ins ländliche thüringische Rudolstadt evakuiert worden war, entgegnete seinen HJ - begeisterten thüringischen Alterskollegen : „Wenn Ihr ein Jahr lang jeden Abend in den [ Luftschutz ]Keller müsst[ et ], [ würdet ] [...] Ihr auch anders [ denken ].“59 Die heftigen Luftangriffe der Alliierten wurden sukzessive zum anerkannten zeitlichen Periodisierungskriterium in der Bevölkerung. Vor der Düsseldorfer Gestapo sagte der 14 - jährige Schüler Willy S., er sei „nur einige Monate bis zum 2. Großangriff auf Düsseldorf“ bei den Edelweißpiraten [ oppositionelle Jugendcliquen, A. K.] geblieben.60 Er habe „ungefähr 8 Wochen nach dem Terrorangriff auf W. - Barmen“ Kontakt mit oppositionellen Jugendgruppen bekommen, erklärte der Wuppertaler Dreherlehrling Gert K. im Januar 1944 vor der Gestapo.61 Eine 16 - jährige holländische Packerin aus Düsseldorf gab in einer Vernehmung zu Protokoll, dass eine Freundin sie „nach dem zweiten Fliegerangriff“ um einen Gefallen gebeten hatte.62 In Hamburg datierte eine 16 - jährige die angezeigten Überfälle von jugendlichen Angehörigen der „Jacobsbande“ auf „erst nach der Katastrophe“ [ Juli 1943, A. K.].63 Die Überbetonung der Gegenwart ist die Konsequenz aus dieser Art der „Zeitrechnung“. In einer der Hymnen der Edelweißpiraten, dem Lied „In Junkers Kneipe“, heißt es nun bezeichnend in dem Refrain „was kann das Leben uns denn noch geben, wir wollen Bündische [ D. h. Edelweißpiraten, A. K.] sein.“64 Bei der konkreten Verarbeitung der psychischen Kriegsbelastungen gab die informelle Gruppe dem einzelnen Jugendlichen großen Rückhalt. Ohne Glauben an eine Perspektive des „Tausendjährigen Reichs“, ohne Vorstellungen von einem Zukunftswurf, war es schwierig, die Menschen im sprichwörtlich pulverisierten Raum zur Disziplin am Arbeitsplatz, zu Pünktlichkeit, Ausdauer usw. anzuhalten.

58 Vgl. LAV NW, R, RW 58/65439. 59 Zit. nach einem Gestapobericht aus dem Jahr 1943 ( ebd., RW 58/59239). 60 Staatspolizeiliches Vernehmungsprotokoll Willy S., Düsseldorf, Januar 1943 ( ebd., Bestand Sondergericht Düsseldorf, Rep. 114, Band 8529, Bl. 21). 61 Staatspolizeiliches Vernehmungsprotokoll Gert. K., Wuppertal, Januar 1944 ( ebd., RW 58/61160, Bl. 46). 62 Vgl. Alfons Kenkmann, Wilde Jugend. Lebenswelt großstädtischer Jugendlicher zwischen Weltwirtschaftskrise, Nationalsozialismus und Währungsreform, 2. Auflage Essen 2002, S. 242. 63 Staatspolizeiliches Vernehmungsprotokoll Irmgard S., Hamburg, Juli 1944 ( Freie und Hansestadt Hamburg, Justizbehörde, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Hamburg, Strafakte Rep. 1838/47, Bl. 98). Die Jugendliche bezog sich auf die verheerenden alliierten Luftangriffe auf Hamburg vom Juli 1943. 64 LAV NW R, RW 58/575, unpaginiert.

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Flucht und Vertreibung im Osten und Südosten Europas

Das letzte gewählte Exemplum ist dem Thema „Flucht und Vertreibung“ vorbehalten. Beide historischen Topoi sind auch als Bewegung im Raum zu verstehen. So schufen die „schnellen sowjetischen Vorstöße“ in der zweiten Januarhälfte des Jahres 1945 „eine Fluchtbewegung [...], die lawinenartig anschwoll. Bis Ende Januar 1945, keine drei Wochen nach Beginn der Offensive der Roten Armee, waren 4 bis 5 Millionen Menschen auf der Flucht.“65 Die Ostdeutschen ihrer Zeit – das wissen wir aus Erlebnisberichten und auch der von Theodor Schieder im Auftrag des Bundesvertriebenenministeriums herausgegebenen angelegten Dokumentation zur Vertreibung der Deutschen, die Anfang der 1960er Jahre erschien66 – waren mit der gleichen Situation konfrontiert. Hatte zunächst die Konfrontation mit Flüchtlingen aus frontnahen Abschnitten Unruhe hervorgerufen, so sorgten dann „der fluchtartige Rückzug der Wehrmachtverbände und der näher rückende Geschützdonner für unumstößliche Gewissheit“67 Die Rote Armee stand ante portas. Auch bestätigte die zeitgenössische Wirklichkeit, was die nationalsozialistische Propaganda seit Monaten prophezeit hatte : „Plünderungen, Brandschatzungen und Vergewaltigungen [...] unterschiedslos im gesamten Gebiet zwischen der Ostseeküste und dem schlesischen Bergland.“68 Eine Frau aus Elbing, die von den Truppen der 2. Weißrussischen Front69 überrollt wurde : „Auf dieser Tannenberger Allee marschierten die russischen Nachschubtruppen und wurden in unmittelbarer Nähe der Behelfsheime vorübergehend untergebracht. Wir wurden jetzt noch einmal gemustert und nach Alter sortiert. Ich war damals 39 Jahre alt. Ein Zimmer von diesen Behelfsheimen war für die Vergewaltigungen hergerichtet, die nun erfolgen sollten. Zuerst kamen die jüngeren Frauen dran, ich erst gegen Morgen und wurde gleich von drei russischen Soldaten gebraucht. Diese Vergewaltigungen wiederholten sich täglich zweimal, jedesmal mehrere Soldaten, bis zum 7. Tag. Der 7. Tag war mein schrecklichster Tag, ich wurde abends geholt und morgens entlassen.“70

Stellvertretend für weitere hunderttausende von Einzelschicksalen sei noch die Wiedergabe eines Erlebnisberichtes einer Danzigerin vom gleichen Frontab65 Heinrich Schwendemann, Der deutsche Zusammenbruch im Osten 1944/45. In : Bernd A. Rusinek ( Hg.), Kriegsende 1945. Verbrechen, Katastrophen, Befreiung in nationaler und internationaler Perspektive, Göttingen 2004, S. 125–150, hier 134. 66 Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost - Mitteleuropa, 5 Bände, Bonn 1953–1961. 67 Schwendemann, Der deutsche Zusammenbruch im Osten, S. 134. 68 Vgl. Manfred Zeidler, Die Rote Armee auf deutschem Boden. In : Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 10, Erster Halbband : Der Zusammenbruch des Deutschen Reiches. Hg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, München 2008, S. 681– 775, hier 716. 69 Vgl. ebd. 70 Erlebnisbericht der Frau E. O. aus Elbing in Westpr. Original, 26. 2. 1951. In : Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost - Mitteleuropa. Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder - Neiße, Band 1, München 1984, S. 62 f.

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schnitt gestattet, „die die ungeheuren Seelennöte der vielen zumeist schutzlos in Scheunen, Kellern oder anderen Verstecken zusammengedrängten Frauen zum Ausdruck bringt“ : „Was Stalins Soldateska damals an den deutschen Frauen und Mädchen verbrach, war geradezu ungeheuerlich, da die erlittenen Schäden nicht nur körperlicher Art waren, sondern mehr noch das seelische Gebiet berührten. Diese ständige Angst und Aufregung, in der sich damals ein jedes weibliches Wesen monatelang befand, stellte für das durch den tödlichen Hunger ohnehin geschwächte Nervensystem eine unbeschreibliche Belastung dar. Ich selber weiß es am allerbesten, in welch schrecklicher Angst wir Frauen damals Tag und Nacht hindurch gelebt haben, wie nervenaufreibend diese endlos scheinende Zeit der inneren Aufregungen, des Entsetzens, der dauernden Ungewissheit über das täglich und nächtlich drohende Schicksal war“.71

Die sich herumsprechenden Gräueltaten vor allem der „Soldaten von sowjetischen infanteristischen Schützenverbänden“ gemäß der Armeedevise „Für die erste Staffel die Uhren, für die zweite die Mädchen und für die dritte die Kleider“72 hatten zur Folge, dass die Bevölkerung sich dem sowjetischen Überrollen zu entziehen suchte und in „panischer Angst nach Westen oder in Richtung der Häfen an der Ostsee“73 flüchtete. Die „Rückkehr des Krieges an seinen Ausgangsort“74 löste die bisherigen Raum - und Zeitordnungen auf. Die Massenflucht vor den Armeen der Sowjetunion mündete in einer wahren Katastrophe, die in den Erlebnisberichten vor allem dem Versagen der Partei zugeschrieben wurden. Kollektiv wurde die Erfahrung gemacht, „dass Räumungsbefehle entweder viel zu spät oder überhaupt nicht mehr erteilt wurden“. Ein Stimmungsbericht aus Schlesien gibt die Erfahrung vieler wieder : „Nach Berichten der Flüchtlinge sind die Räumungsbefehle so kurzfristig gegeben worden, dass die Menschen [...] nur um ihr Leben gelaufen sind“.75 Im gesamten Osten zeigte sich, in welchem Ausmaß die Evakuierungsplanung von falschen Voraussetzungen ausgegangen war. Die schnellen Vorstöße der Roten Armee bestimmten die Fluchtrichtung – und nicht die Befehle zur Evakuierung der Gauleitungen. Bewohner ganzer Gutsbezirke, Dörfer oder Kleinstädte wurden schon in den Stunden des Aufbruchs von der Front überrollt. Hunderttausende, die mit Trecks unterwegs waren, von der Roten Armee eingeholt. Tausende gerieten zwischen die Fronten und starben als Opfer militärischer Kampfhandlungen oder durch das brutale Vorgehen von Rotarmisten. Diejenigen Ostdeutschen, die zunächst im Januar 1945 noch der unmittelbaren Gefahrenzone hatten entkommen können, erlebten in den folgenden Wochen die Flucht als ein mit lebensbedrohlichen Gefahren verbundenes Unter71 72 73 74

Zeidler, Die Rote Armee auf deutschem Boden, S. 716. Ebd., S. 718. Schwendemann, Der deutsche Zusammenbruch im Osten, S. 134. Joachim Szodrzynski, Nach Stalingrad. Reaktionen der ‚Heimatfront‘ auf die Rückkehr des Krieges an seinen Ausgangsort. In : Sozialwissenschaftliche Informationen, 22 (1993) 1, S. 23–29. 75 Schreiben der Kreisleitung Liebenwerda an die Gauleitung Halle vom 22. 2. 1945. Zit. nach Schwendemann, Der deutsche Zusammenbruch im Osten, S. 134.

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nehmen in entgrenzten Räumen. Zum einen konnten die Transport - und Witterungsbedingungen Mitte Januar 1945 nicht unwirtlicher sein : Starker Schneefall und eisige Temperaturen bis zu –20 °C forderten zahlreiche Opfer. Da die Fuhrwerke im Schnee steckten, erfroren Tausende, vor allem Säuglinge, Kinder und alte Menschen. Zum anderen hatte die deutsche Führung die Zivilbevölkerung weitgehend im Stich gelassen, wenn nicht gar abgeschrieben. Erst am 6. Mai, zwei Tage vor der Kapitulation, erteilte Hitlers Nachfolger Dönitz unter der Propagandaparole „Deutsche Menschen vor dem Bolschewismus retten“ dem Abtransport von verwundeten Soldaten und Flüchtlingen über die Ostsee erste Priorität. Zuvor war primäres Ziel das „Halten der Front“ gewesen, um angeblich die Bevölkerung zu schützen bzw. die militärischen Kräfte „mit einiger Schlagkraft noch zur Heimat zurückzubringen“.76 Wie stand es um die Wehrmacht ? Deren Verluste waren zwischen Sommer 1944 und der Kapitulation im Mai 1945 so groß wie zwischen September 1939 und Sommer 1944.77 „Lag die statistische Überlebenschance eines Wehrmachtsrekruten im September 1939 noch bei 4 Jahren, so war sie im Frühjahr 1945 auf 4 Wochen abgesunken.“ 1,5 Millionen Wehrmachtssoldaten starben zwischen Dezember 1944 und Mai 1945 beim „Endkampf“ um das Reich, davon über 1 Millionen an der Ostfront.78 Auch die Rekruten der Gegenseite – bei der russischen Infanterie – hatten nach dem 1. Januar 1943 kaum Überlebenschancen : Der „Mannschaftsbestand ganzer Kompanien und Bataillone konnte [ aufgrund der erlittenen Verluste ] innerhalb von Wochen fast komplett wechseln“, mit der Folge, dass sich im Gegensatz zu anderen militärischen Formationen, so gut wie keine über Monate oder Jahre stabilen Kampfgemeinschaften zu entwickeln vermochten, die den Soldaten sowohl psychisch stabilisierten wie auch eine gewisse regulative Wirkung auf den einzelnen ausübten.79 Der Faktor „Zeit“ erhält hier eine existenzielle Bedeutung : Zur falschen Zeit zur falschen militärischen Formation einberufen, ließ kaum die Chance für eine Zukunft. Aber zurück zu den Lebenswelten der Flüchtlinge und Vertriebenen : Die lebensgeschichtlichen Traditionen der Ostdeutschen, aber auch die von der Flucht herrührenden psychischen Folgeschäden, wurden über die Trecks in die schleswig - holsteinischen und niedersächsischen Gebiete hineingetragen, wo sie als Langzeitprojekt das Gesicht der autochthonen Bevölkerung änderten. Millionen von Neubürgern bewirkten „tiefe Umbrüche in der Sozial - , Erwerbs- und Konfessionsstruktur“ im ländlichen Raum, „wo man vom Krieg weitgehend verschont worden war“. Die „Bevölkerung Schleswig - Holsteins stieg um 73 Prozent, die Niedersachsens um die Hälfte. Dadurch gerieten tradierte Autoritäten ins Wanken. Der Trott und Dorfklüngel alteingesessener Milieus kam an sein

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General Hoßbach. Zit. nach ebd., S. 137. Schwendemann, Der deutsche Zusammenbruch im Osten, S. 125. Vgl. ebd., S. 125 und 144. Zeidler, Die Rote Armee auf deutschem Boden, S. 719.

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Ende; die Vertriebenen wurden gegen ihren Ruf ewiger Gestrigkeit zu einem Modernisierungsfaktor ersten Ranges.“80

4.

Resümee

Der Vergleich hat ergeben : Die Angehörigen der drei ausgewählten Sozialgruppen Mitte der 1940er Jahre waren sämtlich mit der Erosion von Sinnstrukturierungen durch Raum - und Zeitentgrenzungen konfrontiert. Die Stummen der Geschichte, die jüdischen Kinder in Polen, die den Holocaust in kaum vorstellbaren Verstecken und bei Partisanen überlebten, mussten nach der Befreiung an eine perspektivische zeitliche Strukturierung des Alltags mühsam herangeführt werden. Die Bevölkerung in den Industrieregionen des Deutschen Reiches hatte sich an einen Alltag ohne ständige Lebensbedrohung durch militärische Luftangriffe erst wieder heranzutasten. Das Erlebnis der Flucht aus den Gebieten Ost - und Südosteuropas verhinderte unter den Betroffenen über Jahre die Vorstellung einer in die Zukunft gerichteten Raum - und Zeitperspektive, nicht zuletzt auch geschichtspolitisch gewollt seitens der Vertriebenenverbände. Es verwundert aber, dass in der Dokumentation „Vertreibung der Deutschen“ des Bundesministeriums in Bezug auf die Kategorie „Zeit“ das Gegenteil konstruiert wird. Als könne man sich trotz der Fülle an traumatischen Erfahrungen bis auf den jeweiligen Tag und das genaue Datum präzise an die Ereignisse erinnern, sind nur solche nachträglich verfassten Erinnerungsberichte in die Dokumentation aufgenommen worden, „bei denen konkrete, sich auf Zeit - und Ortsangaben stützenden Schilderungen der Erlebnisse vorlagen.“81 Ziel der Dokumentation war offenkundig auch eine potentielle, spätere juristische Verwendung. Mit der zeitlichen Entgrenzung ging die räumliche einher; mit der räumlichen Desorganisation auch die soziale. In der europäischen Gesellschaft der 1940er Jahre wurden Menschen „über Tausende von Kilometern fortgeschleudert, weggeschafft, deportiert. Flucht, [ Deportation ], Emigration, [ Kinderlandverschickung ], Vertreibung sind Formen der durch Gewalt beschleunigten Bewegung und Ortsveränderung.“ In die Biografien des 20. Jahrhunderts sind mit Karl Schlögel auch die Brüche dieser Zeit eingeschrieben : In „ruckartigen Fortbewegungen, gewaltigen und gewalttätigen Ortswechseln, lebensgefährlichen Grenzüberschreitungen. [...] Biografien im Zeitalter der Weltkriege [...] führen auf die andere Seite des Lebens, in den Untergrund, in die Wälder der Partisanen und in den Dschungel der [ zerstörten ] großen Städte.“82

80 Wolfgang Schneider, Hilfe, die Pollacken kommen ! Die Einheimischen haben die deutschen Vertriebenen alles andere als willkommen geheißen. Andreas Kossert beschreibt eine missglückte Integration. In : Welt am Sonntag vom 22. 6. 2008, S. 64. 81 Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost - Mitteleuropa, Band 1, S. IV. 82 Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit, S. 369.

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„Eine Fahrt durch Deutschland“ gleiche „einer Reise wie im Dreißigjährigen Krieg“, sagten die Menschen, wenn sie von ihren Reisen zurückkamen. „Mochten die Orte und auch die Länder auf der Karte immer noch ihren unverrückbaren Platz haben, versehen mit den alten Maßangaben, so waren sie jetzt weiter voneinander entfernt als früher China oder Indien oder Amerika. Die Fahrtroute war unbekannt und nicht zu planen.“ Doch ging man „entschlossen los, verließ sich auf seine eigenen Füße, ein Zeitplan existierte nicht, wann und wo man ankam, wusste man nicht, und ob man zurückkehrte, wusste man erst recht nicht. Das Land war neu und unübersichtlich aufgeteilt, die frischgezogenen Grenzen, die sich rasch verändern konnten, unüberwindbar. Städte und Landstriche gehörten plötzlich zu fremden Staaten, deren Regierung weit weg war, [...] Man lebte in einem fremden Land in einer unbekannten Zeit.“83 Auch in der alltäglichen Lebenswelt konstituierten sich die Räume neu, wurden sie zu Fixpunkten in den individuellen wie kollektiven mental maps. Orientierung gaben dabei herausgehobene, einzelne Wegmarken, die Eingang in das kollektive Gedächtnis der Quartiersbewohner gefunden hatten. Dieter Forte setzte ihnen in seiner Trilogie „Das Haus auf meinen Schultern“ ein Denkmal : „Varnas Loch, Odysseus’ Mauer, Quieters Graben, Lefarths Todesstraße, Opa Winters Luftschacht, der Park der erschossenen Frau wurden neben den neuen Verbindungspfaden zu einem Geflecht von Gedenkstätten, Tabuzonen, Vergangenheitsgeschichten, das sich über die alten Straßennamen legte, eine neue Orientierungs - und Erinnerungsebene bildete, neue Geschichten, die an die alten Geschichten anschlossen, eine Welt menschlicher Traditionen, in denen neue Generationen aufwachsen konnten.“84 Solche Erinnerungsmarken in den mental maps „verweisen auf die Komplexität der Raumperspektive, auf die Schnittstellen zwischen Raum und Zeit, aufgrund ihrer Überlagerung der physisch - räumlichen Strukturen durch ( subjektive ) Erinnerungsakte.“85 Im Nachkriegseuropa entstanden „Räume unterschiedlicher Zeiten und Zeitmaße, Räume verschiedener Tempi, Räume verschiedener Dichte und Kohärenz. Während die Beziehungen, die den alten Raum ausgemacht hatten, immer dünner und sporadischer werden, nehmen die anderen zu“86 : – Der Raum des ostjüdischen Schtetls wurde ausgelöscht. – Die von den großstädtischen Jugendlichen in Raum und Zeit unter den Bedingungen einer „Gesellschaft in der Katastrophe“ ( Bernd - A. Rusinek ) gemachten Erfahrungen bereiteten auf die Mobilität der Nachkriegsgesellschaft vor; sie beeinflussten entscheidend den individuellen mentalen Haushalt einer Generation, die später als skeptische Generation in die Historiographie eingehen wird.

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Forte, Das Haus auf meinen Schultern, S. 691. Ebd., S. 513. Bachmann - Medick, Cultural Turns, S. 300. Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit, S. 361.

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– Der Trott und Dorfklüngel alteingesessener Milieus in vor allem ländlichen Räumen kam durch die notwendig gewordene Aufnahme von Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen an sein Ende. Die Neuankömmlinge „wurden gegen ihren Ruf ewiger Gestrigkeit zu einem Modernisierungsfaktor ersten Ranges.“87 Die Trümmerzeit Mitte der 1940er Jahre ist eine transitorische Zeit. Der Zeitgenosse – ob der überlebende junge Jude in Polen, ob das Mitglied einer „Meuten“ - clique in Leipzig oder der ehemalige Knecht aus Masuren – ist in ihr „unterwegs“, zunächst aus Not, dann, weil Mobilität Nutzen bringt. In den Reportagen der Zeit ist das „überfüllte Zugabteil“ der „Ort, wo auf engstem Raum [ sic ] die Lebensläufe und Lebensansichten der Menschen musterhaft wahrgenommen werden.88“ Den Menschen wurde in Zentraleuropa durch das „geschichtliche Schicksal [...] Beweglichkeit“ auferlegt.89 Diese existentielle Erfahrung spezifischer Raumund Zeitaneignungen vergangener Generationen – unserer Eltern - und Großelterngeneration – haben wir als Historiker zu prüfen, so sie sich in Quellen niedergeschlagen haben.90 Dass dabei den wolkigen Meta - Entwürfen der cultural turns durchaus das Veto der Quelle drohen kann, ist eine ernst zu nehmende Option.

87 Schneider, Hilfe, die Pollacken kommen !, S. 64. 88 In Deutschland unterwegs. Reportagen, Skizzen, Berichte 1945–1948, Stuttgart 1982, S. 23. 89 Hermann Glaser, Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Zwischen Kapitulation und Währungsreform 1945–1948, München 1985, S. 45 f. 90 Vgl. Hans - Jürgen Pandel, Zeiterfahrung. In : Wörterbuch Geschichtsdidaktik. Hg. von Ulrich Mayer, Hans - Jürgen Pandel, Gerhard Schneider und Bernd Schönemann, 2. Auf lage Schwalbach / Ts. 2009, S. 199–200.

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Ernüchterung, Pragmatismus, Indifferenz. Die deutsche Gesellschaft nach der „Katastrophe“ Clemens Vollnhals 1. März 1945 „Unsere Sklavenketten rosten langsam. Zwar treibt Hitler und jeder seiner kleinen und großen Führer mit geradezu tödlicher Hast, mit ungestümer Ruchlosigkeit alles und jegliches in der Arbeit vorwärts. Sie alle kennen scheinbar die begrenzte Dauer ihrer unnatürlichen Herrschaft von Lüge, Gewalt und Terror. Aber der Krieg, den sie vom Zaune gebrochen haben, dieser Krieg ist der größte Beschleuniger ihres Verfalls. Jede von Hitlers Kriegsniederlagen, jede Städtezertrümmerung gleicht einer gewaltigen Amputation unseres Reichs - und Volkskörpers, einer Amputation mit hohem Blutverlust – in unseren Augen natürlich einem gewaltigen Heilungseingriff. Das Schlimmste ist nur, dass dabei immer so viele persönliche Existenzen zerbrochen werden.“1 Marianna Bronner, evakuierte Lehrerin aus München

I. Zum Symbol der Kriegswende, die tatsächlich bereits mit dem gescheiterten Vormarsch auf Moskau eingesetzt hatte, wurde im zeitgenössischen Bewusstsein die Schlacht um Stalingrad an der Jahreswende 1942/43. Sie war nicht nur die erste vernichtende Niederlage des Ostheeres, sondern wurde weithin auch als die sinnlose Opferung eines ganzen Armeeverbandes begriffen und führte zu ersten Zweifeln am militärischen Genie des „Führers“, eines Vabanque - Spielers, dessen bisherige Erfolge alle Skeptiker zum Verstummen gebracht hatten. Die enormen Verluste – allein an der Ostfront erlitt die Wehrmacht zwischen Juni und November 1944 ein Drittel sämtlicher Kriegsverluste – untergruben die Kampfmoral. „Absolutes Vertrauen auf den Endsieg“, so die Einschätzung der Zensurstelle der Wehrmacht an der Ostfront, kam im Herbst 1944 nur noch in

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1

Der Beitrag ist die leicht überarbeitete Fassung meines Aufsatzes : Disillusionment, Pragmatism, Indifference : German Society after the ‚Catastrophe‘. In : Lothar Kettenacker / Torsten Riotte ( Hg.), The Legacies of Two World Wars. European Societies in the Twentieth Century, New York 2011, S. 185–203. Tagebucheintrag vom 1. 3. 1945 ( Stadtarchiv München ). Zit. nach Süddeutsche Zeitung vom 1. 3. 2005.

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zwei Prozent aller Feldpostbriefe zum Ausdruck.2 Die erfolgreiche Landung der Westalliierten in Italien und Frankreich verstärkte die Überzeugung, dass gegen die vielfache Überlegenheit des Gegners der Krieg nicht mehr zu gewinnen sei. Gleiches galt in zunehmenden Maße auch für die deutsche Zivilbevölkerung, die seit 1943 massiv unter den verstärkten Luftangriffen zu leiden hatte. Als erste Großstadt ging Ende Juli 1943 Hamburg in einem entsetzlichen Feuersturm mit fast 45 000 Toten unter, doch Mitte 1944 stand der deutschen Zivilbevölkerung das Schlimmste noch bevor. 70 Prozent aller Bomben fielen erst danach auf Deutschland. Der Luftkrieg, der sich vornehmlich auf die westliche Reichshälfte und die Reichshauptstadt konzentrierte, wurde für die Zivilbevölkerung zu der einschneidendsten Kriegserfahrung. Anders als im Ersten Weltkrieg, als man gegen Kriegsende zwar in den ärmlicheren Schichten hungerte, aber doch von unmittelbaren Kriegshandlungen unbehelligt blieb, wurde der „totale Krieg“, den Goebbels im Februar 1943 als Reaktion auf die Niederlage in Stalingrad im Berliner Sportpalast vor tosenden „Volksgenossen“ verkündet hatte, nun zu einer alltäglichen Erfahrung, die in bisher gänzlich unbekanntem Ausmaß auf die deutsche Heimatfront selbst zurückschlug und alle soziale Schichten betraf.3 Der Lebensrhythmus in den Groß - und Mittelstädten richtete sich nach dem Klang der Sirenen und untergrub mit zunehmender Dauer die Siegeszuversicht wie das Vertrauen in Partei und Führung, die die Bevölkerung entgegen allen Versprechungen – manifestiert in dem vielzitierten Ausspruchs Görings, er wolle Meier heißen – nicht wirksam zu schützen vermochten. Liest man die Vielzahl überlieferter privater Tagebucheintragungen und Briefwechsel wie amtlicher Stimmungsberichte, so bestimmten Fatalismus und allgemeine Erschöpfung das Leben im Luftschutzkeller der ausgebombten Städte. Insofern blieb das unterschiedslose Flächenbombardement, das „moral bombing“, wie es vor allem die britische Luftwaffe mit ihren nächtlichen Angriffen praktizierte, nicht ohne Folgen auf die deutsche Kriegsmoral, so zweifelhaft ihre moralische Rechtfertigung nach der erfolgreichen Invasion in Frankreich auch sein mochte. Im Mittelpunkt standen nunmehr auch in der Heimat, noch weit ab der Fronten, die Nöte des alltäglichen Überlebenskampfes und die bange Sorge nach dem Wohlergehen der nächsten Angehörigen, nicht nur an der Front, sondern auch jener, die im Zuge millionenfacher Evakuierung und „Kinderlandverschickung“ aus den Familien herausgerissen worden waren. Aus der hochgradig ideologisierten Volkgemeinschaft mit ihren durchaus rassistischen Überlegenheitsgefüh2 3

Zit. nach Klaus - Dietmar Henke, Die amerikanische Besetzung Deutschlands, München 1995, S. 81. Vgl. auch Klaus Latzel, Deutsche Soldaten – nationalsozialistischer Krieg? Kriegserlebnis – Kriegserfahrung 1939–1945, Paderborn 1998. Vgl. als Überblick Ralf Blank, Kriegsalltag und Luftkrieg an der „Heimatfront“. In : Jörg Echternkamp ( Hg.), Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945. Erster Halbband : Politisierung, Vernichtung, Überleben ( Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 9/1), München 2004, S. 357–461; Dietmar Süß ( Hg.), Deutschland im Luftkrieg. Geschichte und Erinnerung, München 2007.

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len war eine weithin apathische Notgemeinschaft geworden, die nur ein Ziel kannte : den Krieg zu überleben. Mochten auch „beim Erklingen der Stimme des Führers vielen Menschen Tränen in den Augen“ gestanden haben, wie ein interner Bericht des Propagandaministeriums als Reaktion auf den Neujahrsaufruf Hitlers 1945 im Rundfunk zu berichten wusste,4 so nahmen doch allerorten Defätismus und Friedenssehnsucht zu, wurden regimefeindliche Äußerungen in der Öffentlichkeit laut und, wie ein Bericht des Oberlandesgerichtspräsidenten von Baden konsterniert festhielt, vielfach auch nicht mehr zur Anzeige gebracht. Er konstatierte vielmehr am 2. Januar 1945, dass auch in der gutbürgerlichen Beamtenstadt Karlsruhe „die Missstimmung allerbreiteste Kreise erfasst hatte, auch solche, die sonst Ruhe und Zurückhaltung zu bewahren pflegen. Insbesondere auch im Beamtentum sind Stimmungsäußerungen laut geworden, die früher völlig undenkbar waren.“5 Die sich von Woche zu Woche deutlicher abzeichnende militärische Niederlage zehrte den charismatisch aufgeladenen Hitler - Mythos, die wichtigste psychologische Integrationsklammer des Regimes, aus und ließ die Glaubens - und Leidensbereitschaft der Bevölkerung schwinden. Der Stimmungswandel blieb nicht unbemerkt, wie interne Weisungen des Reichspropagandaministeriums belegen. Hier hieß es im Frühjahr 1945 ungeschminkt : „Der breiten Masse des Bürgertums hat sich eine tiefgreifende Lethargie bemächtigt. Wirtschaftsführer, Beamte und Intellektuelle argumentieren, der Krieg sei in drei Monaten verloren und es sei deswegen unnütz, anzupacken und aufzubauen. ‚In einem halben Jahr sind sowieso die Engländer und Amerikaner hier‘. Diese Überlegung lähmt die Aktivität und frisst sich wie ein schleichendes Gift in Kopf und Gemüt. [...] Andere Kreise der Bevölkerung versuchen, sich nicht durch Gleichgültigkeit, sondern durch bewusste Distanzierung vom Schicksal des Volkes auszunehmen. Unter dem Schlagwort ‚Die Partei ist schuld am Krieg‘ bereiten sie ihre Flucht aus dem Krieg vor und leisten der Agitation des Gegners Vorschub, Volk und Führer zu trennen.“6

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Echo zur Führerrede vom 2. 1. 1945. Zit. nach Klaus - Jörg Ruhl ( Hg.), Deutschland 1945. Alltag zwischen Krieg und Frieden in Berichten, Dokumenten und Bildern, Darmstadt 1984, S. 16. OLG - Präsident an Reichsjustizminister vom 2. 1. 1945. Zit. nach Ruhl ( Hg.), Deutschland 1945, S. 18. Vgl. als Fallstudien Hans Siemons, Kriegsalltag in Aachen. Not, Tod und Überleben in der alten Kaiserstadt zwischen 1939 und 1945, Aachen 1998; Wilfried Beer, Kriegsalltag an der Heimatfront. Alliierter Luftkrieg und deutsche Gegenmaßnahmen zur Abwehr und Schadensbegrenzung dargestellt für den Raum Münster, Bremen 1990; Ulrich Borsdorf / Mathilde Jamin, Überleben im Krieg. Kriegserfahrungen in einer Industrieregion 1939–1945, Reinbek 1989; Herfried Münkler, Machtzerfall. Die letzten Tage des Dritten Reiches dargestellt am Beispiel der hessischen Kleinstadt Friedberg, Berlin ( West ) 1985; Rolf - Dieter Müller / Gerd R. Ueberschär / Wolfram Wette, Wer zurückweicht wird erschossen. Kriegsalltag und Kriegsende in Südwestdeutschland 1944/45, Freiburg i. Brsg. 1985; Lutz Niethammer ( Hg.), „Die Jahre weiß man nicht, wo man die heute hinsetzen soll.“ Faschismus - Erfahrungen im Ruhrgebiet, Berlin ( Ost) 1983. Merkpunkte zur Versammlungsaktion Februar / März 1945. Zit. nach Ruhl ( Hg.), Deutschland 1945, S. 54 f.

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Spätestens im Frühjahr 1945 trennten sich „Volk“ und „Führer“ – nicht in einem Akt offener Rebellion wie 1918, als die von oben angeordnete Verlängerung eines sinnlos gewordenen Krieges das Signal zum Aufstand der Kieler Matrosen gegeben hatte –, aber sie trennten sich. „Ernüchterung befiel“, so das Fazit der großen Studie Henkes, „eine einstmals in nationaler Betrunkenheit schwelgende, inzwischen aber zunehmend kriegsmüde Bevölkerung. So begann ein Großteil der Gesellschaft ihren ‚inneren Rückzug‘ aus dem Dritten Reich – nach dem Aufglimmen eines letzten Hoffnungsfunkens zu Beginn der Ardennen - Offensive Mitte Dezember 1944 – lange bevor die Armeen der Anti - Hitler - Koalition das Land besetzten und das Regime des Nationalsozialismus vernichteten.“7 Von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die ideologische Desillusionierung war die schockierende Erkenntnis, dass die NS - Führung selbst keine Rücksicht mehr auf das eigene Volk nahm. Bereits im September 1944 – damals standen die amerikanischen Truppen vor Aachen, die Rote Armee an der Grenze Ostpreußens – hatte Hitler angeordnet, dass die barbarische Politik der verbrannten Erde auch auf dem Reichsgebiet fortzuführen sei : „Es gibt nur noch Halten der Stellung oder Vernichtung.“8 Der berüchtigte „Nero - Befehl“ vom 19. März 19459 bekräftigte diese Strategie der Selbstvernichtung, die von der Bevölkerung nur als absolut verantwortungslose Bedrohung ihrer noch verbliebenen Existenzgrundlagen aufgefasst werden konnte. Hand in Hand damit ging der gesteigerte Terror, der sich während der Endphase des NS - Regimes in einer wahren Mordorgie entlud.10 Neben den Todesmärschen aus den KZ, der massenhaften Ermordung sowjetischer Kriegsgefangener und Zwangsarbeiter wurde die Bevölkerung vielerorts Zeuge eines fanatisierten Durchhalteterrors, des enthemmten Wütens der Standgerichte, die 7

Henke, Besetzung, S. 86 f. Vgl. auch Ian Kershaw, Der Hitler - Mythos. Volksmeinung und Propaganda im Dritten Reich, Stuttgart 1980; Marlis G. Steinert, Hitlers Krieg und die Deutschen. Stimmung und Haltung der deutschen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg, Düsseldorf 1970; Das letzte halbe Jahr. Stimmungsberichte der Wehrmachtspropaganda 1944/45. Hg. von Wolfram Wette, Ricarda Bremer und Detlef Vogel, Essen 2001. 8 Zit. nach Heinrich Schwendemann, Der deutsche Zusammenbruch im Osten 1944/45. In : Bernd - A. Rusinek ( Hg.), Kriegsende 1945. Verbrechen, Katastrophen, Befreiungen in nationaler und internationaler Perspektive, Göttingen 2004, S. 125–150, hier 125. Vgl. auch Henke, Besetzung, S. 421–435. 9 Druck in : Rolf - Dieter Müller / Gerd R. Ueberschär, Kriegsende 1945. Die Zerstörung des Deutschen Reiches, Frankfurt a. M. 1994, S. 164. Vgl. allg. Ian Kershaw, Das Ende. Kampf bis in den Untergang – NS - Deutschland 1944/45, Stuttgart 2011. 10 Vgl. Gerhard Paul, „Diese Erschießungen haben mich innerlich gar nicht mehr berührt“. Die Kriegsendphasenverbrechen der Gestapo 1944/45. In : ders./ Klaus - Michael Mallmann ( Hg.), Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg. „Heimatfront“ und besetztes Europa, Darmstadt 2000, S. 543–568; Kershaw, Das Ende, S. 299–334; John Zimmerman, Pflicht zum Untergang. Die deutsche Kriegsführung im Westen des Reiches 1944/45, Paderborn 2009, S. 121–166; Ulrich Sander, Mörderisches Finale. NS - Verbrechen bei Kriegsende, Köln 2008; Daniel Blatman, Die Todesmärsche 1944/45. Das letzte Kapitel des nationalsozialistischen Massenmordes, Reinbek 2011; Sven Keller, Volksgemeinschaft am Ende. Gesellschaft und Gewalt 1944/45, München 2013.

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in den jeweils letzten Kriegswochen und - tagen noch zahlreiche Soldaten und Zivilisten als „Defätisten“ zum Tode verurteilten, während die Bevölkerung nichts mehr ersehnte als die kampflose Übergabe ihrer Heimatorte. Es war dieser Erfahrungsschock, der den Nationalsozialismus endgültig desavouierte. Die Politik des NS - Regimes wurde jetzt als eine „verbrecherische Katastrophenpolitik“ begriffen, wie eine Berlinerin, schockiert vom Anblick eines aufgehängten Soldaten, treffend in ihr Tagebuch notierte.11 Im Westen wurde deshalb der Einmarsch der Amerikaner und Briten größtenteils mit Erleichterung aufgenommen, ja geradezu herbeigesehnt. Wenngleich sich sicherlich nur eine Minderheit politisch befreit fühlte, so wurde das Kriegsende doch mit dumpfer Erleichterung wahrgenommen. Die vorherrschende Stimmungslage brachte ein Bericht des protestantischen Pfarramts im fränkischen Ickelheim zum Ausdruck : „Nun hat der Feind die Macht im Lande. Aber wir können Gott nur danken, dass er uns in die Macht eines Feindes gegeben hat, der bisher wenigstens nicht rücksichtslos von seiner Gewalt Gebrauch machte.“12 Für die meisten war es eine bittere Kriegsniederlage, doch der „Feind“ blieb freundlich, so dass man sich allerorts zum eigenen Vorteil mit der Besatzungsmacht arrangierte und gemeinsam die Nöte der Umbruchssituation zu meistern suchte.13 Von diesem Kriegsende fundamental verschieden war jenes im Osten. Hier wurde bis zuletzt erbittert gekämpft. Allein von Januar bis Mai 1945 fielen auf deutscher wie sowjetischer Seite jeweils rund eine Million Soldaten.14 Doch anders als es die Nachkriegslegende will, diente die rücksichtslose Durchhaltestrategie vor allem der Kriegsverlängerung und nicht dem Schutz der Zivilbevölkerung; so durften entgegen jeder Vernunft Kurland und Ostpreußen nicht rechtzeitig geräumt werden. Der schnelle Vorstoß der Roten Armee Mitte Januar löste dann für die Zivilbevölkerung schlagartig eine Katastrophe größten Ausmaßes aus. Bis Ende des Monats befanden sich vier bis fünf Millionen Menschen auf der Flucht, weil sie die Rache und Vergeltung der Sieger fürchteten.15 Die völlig ungeordnete Evakuierung wurde, wie aus zahlreichen Erinnerungsberichten hervorgeht, zu Recht dem Versagen der Parteistellen angelastet. Auch dass 11

Ruth Andreas - Friedrich, Eintrag vom 23. 4. 1945. Zit. nach Ruhl ( Hg.), Deutschland 1945, S. 124. 12 Bericht vom 6. 6. 1945. Zit. nach Clemens Vollnhals, Die Evangelische Landeskirche in der Nachkriegspolitik. Die Bewältigung der nationalsozialistischen Vergangenheit. In : Wolfgang Benz ( Hg.), Neuanfang in Bayern 1945–1949. Politik und Gesellschaft in der Nachkriegszeit, München 1988, S. 143–162, hier 144. 13 Dies zeigt eindringlich die herausragende Studie Henkes, Besetzung. Vgl. auch Hans Woller, Gesellschaft und Politik unter der amerikanischer Besatzungszone. Die Region Ansbach und Fürth, München 1986. 14 Richard Overy, Rußlands Krieg 1941–1945, Hamburg 2003, S. 400. Vgl. allg. Rüdiger Overmans, Deutsche militärische Verluste im Zweiten Weltkrieg, München 2000. 15 Schwendemann, Zusammenbruch, S. 134. Vgl. allg. Manfred Zeidler, Kriegsende im Osten. Die Rote Armee und die Besetzung Deutschlands östlich von Oder und Neiße, München 1996.

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Parteifunktionäre sich mit ihren Familien vielfach zuerst absetzten, bewirkte einen enormen Prestigeverlust. Die chaotische Flucht im tiefsten Winter wurde zum Albtraum, der alle Erfahrungen bürgerlicher Existenz sprengte : „Unter wegs sahen wir grauenvolle Szenen. Mütter warfen ihre Kinder im Wahnsinn ins Meer. Menschen hängten sich auf; andere stürzten sich auf verendete Pferde, schnitten Fleisch heraus, brieten die Stücke über offenem Feuer; Frauen wurden im Wagen entbunden. Jeder dachte nur an sich selbst – niemand konnte den Kranken und Schwachen helfen.“16 Dieser ersten großen Fluchtwelle folgte bald die gewaltsame Vertreibung der noch verbliebenen deutschen Bevölkerung aus den Ostgebieten, dem Sudentenland und anderen Siedlungsgebieten in Mittel - und Osteuropa. Mehrere Hunderttausend Zivilisten, darunter zahlreiche Frauen, wurden zudem zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert. Insgesamt betraf die ethnische Säuberung rund 14 Millionen Reichs - und Volksdeutsche, von denen etwa zwei Millionen die erzwungene Aussiedlung nicht überlebten.17 Nicht minder prägend war die traumatische Erfahrung einer beispiellosen Gewaltwelle, die den Vormarsch der Roten Armee, einer weithin entfesselten Soldateska, begleitete. Das Kriegsende im Osten, in Mitteldeutschland und in Berlin war ein schauerliches Finale, ein einziger Gewaltexzess, der am schlimmsten die Frauen traf, die zu Hunderttausenden vergewaltigt wurden.18 Gewiss darf man hierbei nicht den Anfang vergessen : den rassenideologischen Vernichtungskrieg. Doch für die deutsche Bevölkerung blieb die Begegnung mit der Roten Armee traumatisch, sie grub sich tief in das kollektive Gedächtnis ein. Generell war die ostdeutsche Erfahrung in wesentlich stärkerem Maße als im Westen durch Gewaltexzesse, Flucht, Vertreibung, Gefangenschaft und Deportation geprägt. Schon aus diesem Grund konnte die sich bald etablierende SEDDiktatur, der „Partei der Russenfreunde“, keine wirkliche Überzeugungskraft entwickeln, während die westlichen Besatzungsmächte spätestens seit der Berlin- Blockade 1948 als Schutzmächte empfunden wurden. 16 Zit. nach Ruhl ( Hg.), Deutschland 1945, S. 40 f. 17 Statistik in : Müller / Ueberschär, Kriegsende 1945, S. 123. Vgl. auch Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost - Mitteleuropa. Hg. vom Bundesministerium für Vertriebene, 5 Bände mit 3 Beiheften, Bonn 1953–1961; Wolfgang Benz ( Hg.), Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Ursachen, Ereignisse, Folgen, Frankfurt a. M . 1985; Stefan Aust / Stephan Burgsdorff ( Hg.), Die Flucht. Über die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten, Stuttgart 2002. 18 Vgl. Norman M. Naimark, Die Russen in Deutschland. Die sowjetische Besatzungszone 1945 bis 1949, Berlin 1997, S. 91–179; Antony Beevor, Berlin 1945. Das Ende, München 2002, S. 441–456; Christel Panzig / Klaus - Alexander Panzig, „Die Russen kommen !“ Deutsche Erinnerungen mit „Russen“ bei Kriegsende 1945 in Dörfern und Kleinstädten Mitteldeutschlands und Mecklenburg - Vorpommerns. In : Elke Scherstjanoi ( Hg.), Rotarmisten schreiben aus Deutschland. Briefe von der Front (1945) und historische Analysen, München 2004, S. 340–368; Hubertus Knabe, Tag der Befreiung ? Das Kriegsende in Ostdeutschland, Berlin 2005. Als eindringlicher Augenzeugenbericht vgl. Anonyma, Eine Frau in Berlin. Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945, Frankfurt a. M. 2003.

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Die totale Kriegsniederlage, symbolisiert in der bedingungslosen Kapitulation und der Übernahme der vollständigen Gewalt durch die alliierten Siegermächte, entzog jeglicher Dolchstoßlegende den Boden, womit für die zweite Demokratiegründung eine wesentliche psychologische Belastung entfiel. Und anders als nach 1918 prägte die Erinnerung an die Schrecken eines „totalen“ Krieges die gesamte Gesellschaft, die „so etwas“ nie mehr erleiden wollte. Nicht minder folgenreich war die soziale Nivellierung, die bereits im NS Regime eingesetzt hatte und durch die Kriegsfolgen wesentlich beschleunigt wurde. Die Vermögensverluste im Bombenkrieg oder bei der Flucht aus den Ostgebieten trafen naturgemäß die besitzenden Schichten härter, während der soziale Status der Arbeiterschaft davon kaum berührt wurde. Am gravierendsten waren die Folgen für das ostelbische Junkertum, das als soziale Schicht völlig unterging ( und insofern ebenfalls keinen Belastungsfaktor mehr darstellte ). Die Notgemeinschaft einer vielfach entwurzelten, notgedrungen hochmobilen Zusammenbruchsgesellschaft schliff althergebrachte Standesdünkel wie konfessionelle Milieus ab, zumal mit dem Kriegsende für viele die Notzeit keineswegs beendigt war. Millionen von Vertriebenen füllten nun die Barackenlager – 1950 zählte man insgesamt 12,45 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene, davon lebten 7,9 Millionen in der Bundesrepublik und 4,06 Millionen in der DDR19 –, gleichzeitig befanden sich elf Millionen Soldaten in Kriegsgefangenschaft, aus der die letzten erst 1956 aus der Sowjetunion heimkehren sollten. Die jeweils eigene persönliche Katastrophe wurde zum Signum einer lebens - und erfahrungsgeschichtlichen Zäsur, die sich durchaus mit den Stichworten von Stalingrad zur Währungsreform fassen lässt.20

II. Ob sich die Deutschen der ungeheuren NS - Verbrechen und ihrer politischen Mitverantwortung bewusst seien, war eine Frage, die vor allem ausländische Beobachter bewegte. Hier erscheint es sinnvoll, zwischen verschiedenen Ebenen zu differenzieren. So ließen die Äußerungen der neuen demokratischen Gegenelite, die die Besatzungsmächte in den Westzonen etablierten, keinen Zweifel an der politischen und moralischen Verdammung des Nationalsozialismus, der als tragender Grundkonsens alle Parteien verband. Gleiches gilt unter anderen Vorzeichen auch für die sowjetische Besatzungszone. Das Bekenntnis zum radikalen Bruch mit der NS - Vergangenheit bildete das Fundament des politischen Neuanfangs in Ost und West.21 19 Gerhard Reichling, Die deutschen Vertriebenen in Zahlen. Teil 1 : Umsiedler, Verschleppte, Vertriebene, Aussiedler 1940–1985, Bonn 1995, S. 26. 370 000 Flüchtlinge und Vertriebene ließen sich in Österreich nieder. 20 Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland. Hg. von Martin Broszat, Klaus - Dietmar Henke und Hans Woller, München 1988. 21 Vgl. Jeffrey Herf, Zweierlei Erinnerung. Die NS - Vergangenheit im geteilten Deutschland, Berlin 1998.

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So appellierte beispielsweise Konrad Adenauer während seiner kurzen Amtszeit als wiedereingesetzter Kölner Oberbürgermeister im August 1945 an die Bürger : „Die Not, die uns erdrückt, die materielle, geistige und ethische Not ist furchtbar. Wenn wir aus dem Abgrund, in den wir gestürzt sind, wieder emporsteigen wollen, müssen wir erkennen, was uns in ihn hineingestürzt hat. ‚Wer Wind sät, wird Sturm ernten !‘ – ‚Wer das Schwert zieht, kommt durch das Schwert um !‘ Das sind wahre Worte. Wir tragen Schuld an unserem Unglück; wir müssen uns darüber klar werden. Die einen haben gesündigt durch die Tat, die anderen durch ihr teilnahmsloses Zuschauen, sei es, dass sie blind waren oder dass sie nicht sehen wollten. Wieder andere, die die Macht dazu gehabt hätten, haben nicht eingegriffen und dem Bösen, dem Wahnsinn nicht Einhalt geboten, als es noch möglich war.“22

Adenauer war sich der tiefen Verstrickung der deutschen Gesellschaft in den Nationalsozialismus bewusst und benannte die unterschiedlichen Schattierungen von Schuld und Mitverantwortung. Nicht zuletzt deshalb teilte er mit vielen Repräsentanten des „anderen Deutschlands“ eine merkliche Skepsis gegenüber dem eigenen Volk. Die vorherrschende Stimmungslage, die sich deutlich vom Bewusstsein der NS - Verfolgten unterschied, beschrieb hingegen der langjährige Berlin - Korrespondent William L. Shirer nach seiner Rückkehr 1945 mit den Worten : „Sie haben keinerlei Schuldgefühl und bedauern lediglich, dass sie geschlagen worden sind und nun die Konsequenzen tragen müssen. Es tut ihnen nur um sich selbst leid, nicht etwa um alle jene, die sie ermordet und gequält haben, die sie von dieser Erde entfernen wollten.“23 Das Urteil war harsch, in dieser Zuspitzung wohl auch etwas ungerecht, benannte aber die dominierende Tendenz : das nationale Selbstmitleid. Die meisten Deutschen fühlten sich als Opfer eines Krieges und eines Regimes, mit dem sie nichts mehr zu tun haben wollten. Verantwortlich für die Verbrechen waren allein Hitler und eine kleine NS Clique, während man sich selbst der schweigenden Mehrheit der anständig gebliebenen Unpolitischen zurechnete, was gewiss auch viele für sich persönlich in Anspruch nehmen konnten. In dieser Perspektive war aller Jubel und Enthusiasmus vergessen, hatte sich die vielbeschworene Gemeinschaft von „Volk“ und „Führer“, von Regime und Staat längst im privaten Überlebenskampf aufgelöst. Mit dem stillen Austritt aus der „Volksgemeinschaft“ verflüchtigte sich auch die Frage der politischen Mitverantwortung und Mithaftung. Das untergründig schlechte Gewissen wurde wirkungsvoll entlastet, wenn selbst Kirchenführer einer moralisch höchst zweifelhaften Aufrechnungsmentalität frönten. So schrieb der Münchner Kardinal Faulbaber im Juni 1945 empört an den Klerus : 22 Aufruf vom 25. 8. 1945. Zit. nach Karola Fings, Kriegsenden, Kriegslegenden. Bewältigungsstrategien in einer deutschen Großstadt. In : Rusinek ( Hg.), Kriegsende 1945, S. 219–238, hier 226. 23 William L. Shirer, Berliner Tagebuch. Das Ende. 1944–1945, Leipzig 1994, S. 177 f. : Eintrag vom 2. 11. 1945.

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„Man hat wochenlang Vertreter von amerikanischen Zeitungen und amerikanische Soldaten nach Dachau gebracht und die Schreckensbilder von dort in Lichtbildern und Filmen festgehalten, um der ganzen Welt bis zum letzten Negerdorf die Schmach und Schande des deutschen Volkes vor Augen zu stellen. Es wären nicht weniger schreckhafte Bilder, wenn man das furchtbare Elend, das durch die Angriffe britischer und amerikanischer Flieger über München und andere Städte kam, ich meine die Leichen der tausend und tausend, die durch die Fliegerbomben verschüttet und verbrannt oder in Stücke gerissen auf Kellerstiegen und Straßen herumlagen, in einem Lichtbild oder Film hätte festhalten können, wie das in Dachau geschehen ist. Die Menschheit würde sich über dieses Schreckensbild nicht minder entrüsten.“24

Der Verweis auf das eigene Leid und die „Schuld der anderen“ entlastete nicht nur das eigene Gewissen, er war auch Balsam für die Seele eines beleidigten Nationalstolzes. Der Hamburger Bischof Franz Tügel, selbst NSDAP - Mitglied, sprach für viele, als er erklärte, das deutsche Volk sei keineswegs allein am Zweiten Weltkrieg schuld. Das sei „vor Gott und der Geschichte eine Lüge“. Auch sei der Luftkrieg ein „fluchwürdiges Verbrechen“ gewesen, weshalb die „Siegermächte von heute“ die letzten seien, „die uns Buße predigen könnten“.25 Entsprechend entrüstet fiel auch die Reaktion in den evangelischen Gemeinden auf die Stuttgarter Schulderklärung aus, die der Rat der neugegründeten Evangelischen Kirche in Deutschland im Oktober 1945 gegenüber einer ökumenischen Delegation abgegeben hatte. Doch auch dieses Wort, das nach dem ursprünglichen Willen seiner Verfasser nicht veröffentlicht werden sollte, blieb mehr im Vagen und enthielt keinen Verweis auf die Ermordung des europäischen Judentums.26 Der Feststellung – „Jeder Deutsche trägt eine gewisse Schuld für das, was während des ‚Dritten Reiches‘ durch Deutschland geschehen ist“ – stimmten in 24 Pastorale Anweisungen an den Klerus der Erzdiözese München, Mitte Juni 1945. Zit. nach Gabriele Hammermann, Das Kriegsende in Dachau. In : Rusinek ( Hg.), Kriegsende 1945, S. 27–53, hier 32. Vgl. auch Sybille Steinbacher, „... dass ich mit der Totenklage auch die Klage um unsere Stadt verbinde“. Die Verbrechen von Dachau in der Wahrnehmung der frühen Nachkriegszeit. In : Norbert Frei / Sybille Steinbacher (Hg.), Beschweigen und Bekennen. Die deutsche Nachkriegsgesellschaft und der Holocaust, Göttingen 2001, S. 11–33; Ulrike Weckel, Beschämende Bilder. Deutsche Reaktionen auf alliierte Dokumentarfilme über befreite Konzentrationslager, Stuttgart 2012. 25 Tügel an Woermann vom 30. 6. 1945. Zit. nach Ursula Büttner, Orientierungssuche in heilloser Zeit : der Beitrag der evangelischen Kirche. In : Ursula Büttner / Bernd Nellessen ( Hg ), Die zweite Chance. Der Übergang von der Diktatur zur Demokratie in Hamburg 1945–1949, Hamburg 1997, S. 85–107, hier 91 f. 26 Vgl. Martin Greschat ( Hg.), Die Schuld der Kirche. Dokumente und Reflexionen zur Stuttgarter Schulderklärung vom 18./19. Oktober 1945, München 1982; Gerhard Besier / Gerhard Sautter, Wie Christen ihre Schuld bekennen. Die Stuttgarter Schulderklärung 1945, Göttingen 1985; Clemens Vollnhals, Im Schatten der Stuttgarter Schulderklärung. Die Erblast des Nationalprotestantismus. In : Manfred Gailus / Hartmut Lehmann ( Hg.), Nationalprotestantische Mentalitäten in Deutschland (1870– 1970). Konturen, Entwicklungslinien und Umbrüche eines Weltbildes, Göttingen 2005, S. 379–431. Zur Diskussion auf katholischer Seite vgl. Vera Brücker, Die Schulddiskussion im deutschen Katholizismus nach 1945, Bochum 1989; Birgit Weissenbach, Kirche und Konzentrationslager. Katholische Aufklärungspublizistik in der Zeit von 1945 bis 1950, Frankfurt a. M. 2005.

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den drei Westzonen 1951 gerade vier Prozent von 1 200 Befragten zu. Gut ein Fünftel akzeptierte den Satz : „Nicht jeder Deutsche muss sich schuldig fühlen, aber er sollte sich verantwortlich fühlen und soweit wie möglich um Wiedergutmachung bemühen.“ Knapp zwei Drittel jedoch teilten die Auffassung : „Die Deutschen insgesamt haben weder Veranlassung, sich schuldig zu fühlen noch für die Wiedergutmachung verantwortlich zu fühlen. Nur jene, die sich wirklich aktiv beteiligt haben, sind ebenso schuldig wie auch verantwortlich für das, was sie getan haben.“ Von einer kollektiven Mithaftung für die begangenen Verbrechen und einer Pflicht zur Wiedergutmachung wollte die überwiegende Mehrheit also nichts wissen; ein Fünftel der Befragten war gar der Ansicht, die Juden seien an ihrem Schicksal im Nationalsozialismus selbst schuld gewesen.27 Für die Ostzone liegen uns keine derartigen Umfragen vor, doch wird man das in den Westzonen erhobene Stimmungsbild in seiner Tendenz sicherlich übertragen können. Die Ergebnisse dieser und anderer Umfragereihen sind insofern beachtlich, als es an Aufklärung und einer intensiven Debatte während der ersten Nachkriegsjahre ja keineswegs gefehlt hatte. An erster Stelle ist hier der große Prozess vor dem Internationalen Militärgerichtshof gegen die Führungsspitze des „Dritten Reiches“ zu nennen, der bereits am 20. November 1945 in Nürnberg begann und am 1. Oktober 1946 mit differenzierten Urteilssprüchen endete.28 Die tagtägliche Berichterstattung in Presse und Rundfunk stieß über die Monate auf ein großes Interesse. So gaben in der amerikanischen Besatzungszone zwischen 70 und 80 Prozent der Befragten an, dass sie die Berichterstattung verfolgten. Mehr als 80 Prozent von ihnen bekundeten, durch den Prozess Neues über die Konzentrationslager und die Judenvernichtung erfahren zu haben; lediglich 13 Prozent erklärten, von den NS - Verbrechen vorher gar nichts gewusst zu haben. Die Urteile hielten mehr als die Hälfte der Befragten für gerecht und ein weiteres Fünftel eher für zu milde, wobei die weit überwiegende Mehrheit die Prozessführung durch die Alliierten als fair empfand.29 In späte-

27 HICOG - Report, Nr. 113 vom 5. 12. 1951. Zit. nach Peter Reichel, Politische Kultur der Bundesrepublik, Opladen 1981, S. 116 f. Vgl. auch Anna J. Merritt / Richard L. Merritt ( Hg.), Public Opinion in Semisovereign Germany. The HICOG Surveys, 1949–1955, Urbana 1980, S. 146. 28 Vgl. Telford Taylor, Die Nürnberger Prozesse. Hintergründe, Analysen und Erkenntnisse aus heutiger Sicht, München 1994. 29 Anna J. Merritt / Richard L. Merritt ( Hg.), Public Opinion in Occupied Germany. The OMGUS Surveys, 1945–1949, Urbana 1970, S. 34 f. Vgl. Anneke de Rudder, „Warum das ganze Theater ?“ Der Nürnberger Prozess in den Augen der Zeitgenossen. In : Wolfgang Benz ( Hg.), Jahrbuch für Antisemitismusforschung, 6 (1997), S. 218–242; Ansgar Diller / Wolfgang Mühl - Benninghaus ( Hg.), Berichterstattung über den Nürnberger Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher 1945/46. Edition und Dokumentation ausgewählter Rundfunkquellen, Potsdam 1998; Markus Urban, Kollektivschuld durch die Hintertür ? Die Wahrnehmung der NMT in der westdeutschen Öffentlichkeit, 1946– 1951. In : Kim C. Priemel / Alexa Stiller ( Hg.), NMT. Die Nürnberger Militärtribunale zwischen Geschichte, Gerechtigkeit und Rechtschöpfung, Hamburg 2013, S. 684–718.

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ren Jahren ging allerdings das positive Urteil stark zurück, wurden die alliierten NS - Prozesse zunehmend als Siegerjustiz abgelehnt. Auch nach dem Nürnberger Prozess leisteten die Lizenzpresse30 sowie der Rundfunk einen erheblichen Beitrag zur Aufklärung über die Verbrechen des NS - Regimes, die vielen zumindest in vagen Umrissen schon während des Krieges bekannt geworden waren.31 So strahlte allein der Nordwestdeutsche Rundfunk zwischen August 1945 und November 1948 623 Beiträge zum Nationalsozialismus aus, die mit einer durchschnittlichen Sendelänge von 15 Minuten zumeist zur besten Sendezeit platziert waren. Den Höhepunkt der Berichterstattung stellten 1945/46 die NS - Prozesse in Bergen - Belsen, Nürnberg und Kopenhagen dar, während später mit abnehmender Frequenz die Themen „Entnazifizierung und Umerziehung“ sowie „Verantwortung und Schuld“ thematisiert wurden.32 Hinzu kamen ( vor der Währungsreform ) auflagestarke Kulturzeitschriften wie die „Frankfurter Hefte“, „Die Wandlung“, „Anfang und Ende“ oder „Der Ruf“. Auch einige Spielfilme thematisierten explizit dieses Thema; so beispielsweise der erste DEFA - Film „Die Mörder sind unter uns“ ( Wolfgang Staudte, 1946), „In jenen Tagen“ ( Helmut Käutner, 1947) oder „Ehe im Schatten“ ( Kurt Maetzig, 1947), der allein 10,1 Millionen Zuschauer erreichte.33 Bereits 1946 erschien Eugen Kogons Studie „Der SS - Staat“, ein Jahr später dokumentierte Alexander Mitscherlich die verbrecherischen Menschenversuche in den KZ.34 Wie einer Bibliographie zu entnehmen ist, erschienen bis 1948 103 Bücher und Broschüren, die sich mit dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen befassten, und weitere 33 zur Thematik Widerstand und Wiedergutmachung. 1949 ging das Verlagsangebot dann drastisch zurück und erreicht erst 1958 wieder den Stand von 1945.35 Auch die Frage, wie es zu Hitler hatte kommen können, wurde in diesen Jahren intensiv diskutiert. Zu nennen sind beispielsweise der achtbare Versuch Friedrich Meineckes, „die deutsche Katastrophe“ zu erklären, Alexander Abuschs 30 Vgl. Hans Meiser, Der Nationalsozialismus und seine Bewältigung im Spiegel der Lizenzpresse der britischen Besatzungszone von 1946–1949, Diss. phil. Osnabrück 1980. 31 Vgl. David Bankier, Die öffentliche Meinung im Hitler - Staat. Die „Endlösung“ und die Deutschen. Eine Berichtigung, Berlin 1995; Norbert Frei, Auschwitz und die Deutschen. Geschichte, Geheimnis, Gedächtnis. In : ders., 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen, München 2005, S. 156–183. 32 Vgl. Christof Schneider, Nationalsozialismus als Thema im Programm des Nordwestdeutschen Rundfunks (1945–1948), Potsdam 1999, S. 193 ff. 33 Vgl. Wolfgang Becker / Norbert Schöll, In jenen Tagen. Wie der deutsche Nachkriegsfilm die Vergangenheit bewältigte, Opladen 1995; Bettina Greffrath, Gesellschaftsbilder der Nachkriegszeit. Deutsche Spielfilme 1945–1949, Pfaffenweiler 1995, S. 141 ff.; Heiko R. Blum, 30 Jahre danach. Dokumentation zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus im Film 1945–1975, Köln 1975. 34 Alexander Mitscherlich / Fred Mielke, Das Diktat der Menschenverachtung. Der Nürnberger Ärzteprozeß und seine Quellen. Eine Dokumentation, Heidelberg 1947. 35 Joseph Melzer, Deutsch - jüdisches Schicksal in dieser Zeit. Wegweiser durch das Schrifttum der letzten 15 Jahre, Köln 1960.

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Abhandlung zum „Irrweg einer Nation“ oder die Betrachtungen des Nationalökonomen Wilhelm Röpke zur „deutschen Frage“.36 Diese Reflexionen erreichten hohe Auflagen und sprachen vor allem das Bildungsbürgertum an. Ebenfalls bereits 1946 setzte sich der Philosoph Karl Jaspers in einer kleinen Schrift mit der „Schuldfrage“ auseinander, deren analytische Klarheit bis heute aus dem Schrifttum herausragt.37 Auch in den Feuilletons der Lizenzpresse und den neugegründeten Kulturzeitschriften nahm die Erörterung der Schuldfrage breiten Raum ein. Allerdings überwogen hierbei moralphilosophische Traktate und geschichtsphilosophische Spekulationen, die von geistesgeschichtlichen Ahnenreihen über den vermeintlichen Nationalcharakter, die „Vermassung“ und dämonische Verführungskraft Hitlers bis zur Säkularisierung als Erklärungsmodell reichten.38 Konservative Kulturkritik und Schicksalspathos verlagerten die Debatte von der konkreten Analyse ins Allgemeine, so dass sich die drängenden Fragen nach der strukturellen Fehlentwicklung der deutschen Gesellschaft, ihrer konkreten Verantwortung und Komplizenschaft zumeist nicht mehr stellten. Gleichwohl wird man festhalten müssen, dass hier ein ernsthafter und zerknirschter Diskurs stattfand, der bei allen apologetischen Untertönen nichts mit dem aggressiven Nationalismus nach dem Ersten Weltkrieg gemein hatte. Heldenkult und Heroisierung des Krieges, wie sie die Schriften Ernst Jüngers und der Generation des jungen Nationalismus ausgezeichnet hatten, verboten sich nach 1945 von selbst. Die beiden erfolgreichsten Werke der unmittelbaren Nachkriegszeit waren vielmehr Theodor Plieviers „Stalingrad“, eine beklemmende Montage aus Interviews mit deutschen Kriegsgefangenen, Feldpostbriefen und militärischen Lageberichten, die bis 1949 mehr als ein Dutzend Auflagen erfuhr, sowie Wolfgang Borcherts 1947 erstmals aufgeführtes Heimkehrerdrama „Draußen vor der Tür“.39 Auch in den 1950er Jahren, als der 36 Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, Wiesbaden 1946; Alexander Abusch, Der Irrweg einer Nation. Ein Beitrag zum Verständnis deutscher Geschichte, Berlin ( Ost ) 1946; Wilhlem Röpke, Die deutsche Frage, Erlenbach- Zürich 1945. Vgl. auch Hans - Erich Volkmann, Deutsche Historiker im Umgang mit Drittem Reich und Zweiten Weltkrieg 1939–1949. In : ders. ( Hg.), Ende des Dritten Reiches – Ende des Zweiten Weltkrieges. Eine perspektivische Rückschau, München 1995, S. 861–911; Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989. 37 Karl Jasper, Die Schuldfrage, Heidelberg 1946. 38 Vgl. Barbro Eberan, Luther ? Friedrich „der Große“ ? Wagner ? Nietzsche ? Wer war an Hitler schuld ? Die Debatte um die Schuldfrage 1945–1949, München 1985; Ingrid Laurien, Die Verarbeitung von Nationalsozialismus und Krieg in den politisch - kulturellen Zeitschriften der Westzonen 1945–1949. In : GWU, 39 (1988), S. 220–237; Christoph Cobet, Deutschlands Erneuerung 1945–1950. Bio - Bibliographische Dokumentation mit 443 Texten, Frankfurt a. M. 1985. 39 Ulrich Baron / Hans - Harald Müller, Die Weltkriege im Roman der Nachkriegszeiten. In: Gottfried Niedhart / Dieter Riesenberger ( Hg.), Lernen aus dem Krieg ? Deutsche Nachkriegszeiten 1918/1945, München 1992, S. 300–318, hier 314. Ursula Heukenkamp ( Hg.), Unerwünschte Erfahrung. Kriegsliteratur und Zensur in der DDR, Berlin 1990.

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Kriegsroman eine neue Popularität erfuhr, fehlte jegliche Verherrlichung, im Mittelpunkt standen vielmehr die Schrecken des Krieges und das sinnlose Leiden.40 Die deutschen Soldaten seien von der NS - Führung verraten und missbraucht worden, so lautete der Tenor dieses Genres, das bei aller pazifistischen Grundierung zugleich das Bild von der „sauber“ gebliebenen Wehrmacht pflegte. Die nationalistischen Energien waren im Feuer des Zweiten Weltkrieges ausgebrannt. Unter der akademischen Jugend, die nach 1918 die Speerspitze eines unversöhnlichen Revisionismus gebildet hatte, lehnten es 1950 über 90 Prozent ab, ( wieder ) Soldat zu werden, falls die Bundesrepublik eine Armee bekommen sollte. Ein Drittel der befragten Studenten hatte selbst als Soldat am Zweiten Weltkrieg teilgenommen. Aus Soldaten und Hitler - Jungen waren pazifistisch gestimmte Bürger einer pragmatischen „Ohne - mich - Haltung“ geworden, weshalb die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik im Kalten Krieg auch alles andere als populär war und heftige innenpolitische Konflikte auslöste. Diese Verwandlung ist auf den ersten Blick um so erstaunlicher, als mehr als die Hälfte der befragten Studenten zugleich bekundete, der Nationalsozialismus sei eine gute Idee gewesen, die lediglich schlecht ausgeführt worden sei.41 Diese Ansicht teilten 1948 57 Prozent der westdeutschen ( und vermutlich wohl auch ostdeutschen ) Bevölkerung, lediglich 28 Prozent hielten den Nationalsozialismus prinzipiell für eine schlechte Idee. Von den ehemaligen Parteigenossen waren 65 Prozent von der an sich guten Idee überzeugt, von den Nichtmitgliedern immerhin noch 49 Prozent.42 Diese Erhebung des Allensbacher Instituts für Demoskopie, die sich mit amerikanischen Umfragen deckt, wäre allerdings als Beleg für das ungebrochene Fortwirken nationalsozialistischen Ungeistes falsch interpretiert. Denn auf näheres Befragen zeigte sich, dass auch jene, die den Nationalsozialismus für eine gute Idee hielten, „nicht ein einziges Mal eine grundsätzliche, ideologische Verteidigung“ vorbrachten. Was am NS Regime gefiel, war die Sicherheit der Lohntüte, die Ordnung, die soziale Wohlfahrt. Oder wie es Götz Aly pointiert formulierte : die sozialpolitische Bestechung der „Volksgenossen“.43 Vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise bildeten die Friedensjahre des „Dritten Reiches“ für die meisten Deutschen eine persönlich sehr befriedigende Lebenswelt, stellte der Tausch von Wohlstand und Sicherheit gegen den Verlust der politischen Freiheit ein attraktives Angebot dar.

40 Vgl. beispielsweise Peter Bamm, Die unsichtbare Flagge : ein Bericht, München 1952; Willi Heinrich, Das geduldige Fleisch, Stuttgart 1955; Gerd Ledig, Die Stalinorgel, Hamburg 1955; Michael Horbach, Die verratenen Söhne, Hamburg 1957; Heinrich Gerlach, Die verratene Armee, München 1957; Heinz Konsalik, Der Arzt von Stalingrad, München 1956; Fritz Wöss, Hunde, wollt ihr ewig leben, Hamburg 1958, Manfred Gregor, Die Brücke, Wien 1958; Hans Hellmuth Kirst, 08/15. Trilogie, München 1959. 41 Zit. nach Reichel, Kultur, S. 137. 42 Das Dritte Reich. Eine Studie über Nachwirkungen des Nationalsozialismus, Allensbach 1949. 43 Vgl. Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a. M. 2005.

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Hinzu kamen die außenpolitischen Erfolge Hitlers, die den narzisstisch gekränkten Nationalstolz beflügelt hatten. In diesen Kontext fügt sich das Ergebnis einer anderen Umfrage ein. Auf die Frage : „Wann in diesem Jahrhundert ist es nach Ihrem Gefühl Deutschland am besten gegangen ?“ nannten 1951 45 Prozent der Befragten das Kaiserreich und 42 Prozent entschieden sich für den Nationalsozialismus, für die Jahre zwischen 1933 und 1938. Für die schlimmste Zeit hielten dagegen 80 Prozent der Befragten die Jahre 1945 bis 1948, nur acht Prozent nannten die Kriegsjahre 1939 bis 1945. Im Rückblick hatte sich nun die Perspektive verschoben : Nicht mehr die Kriegsjahre dominierten das Bewusstsein, sondern die Notzeit der unmittelbaren Nachkriegsjahre, als mit dem Wegfall der ausgeplünderten Besatzungsgebiete sich die Ernährungs - und Versorgungssituation deutlich verschlechterte und im Hungerwinter 1947 kulminierte. Mit dem einsetzenden Wirtschaftswunder setzte ein erneuter Wandel ein : 1956 nannte erstmals eine Mehrheit der Befragten die Gegenwart, 1959 sahen nur noch 18 Prozent die Vorkriegszeit als die beste Zeit an.44 Zwischen 1947 und 1949 hingegen erklärten in der US - Zone durchgängig 60 Prozent der Befragten, sie seien zum Verzicht auf grundlegende Freiheiten bereit, wenn ihnen dafür die Regierung ökonomische Sicherheit und ein gutes Einkommen gewährleiste. In der Rangfolge der wichtigsten bürgerlichen Freiheiten rangierte 1947 die Gewerbefreiheit (31 %) an erster Stelle, gefolgt von Religionsfreiheit (22 %), dem freien Wahlrecht (19 %) und dem Recht auf freie Rede (14 %).45 Als Resümee lässt sich wohl ziehen, dass im Wertekanon soziale Sicherheit eindeutig vor Freiheit rangierte, wobei die Parallelen zur Situation nach dem Zusammenbruch der SED - Diktatur auf der Hand liegen. Im Bewusstsein weitester Bevölkerungskreise war der Nationalsozialismus keineswegs gleichbedeutend mit Terror, Krieg und Verbrechen. Die oft beklagte politisch - moralische Gleichgültigkeit der deutschen Bevölkerung war das Produkt einer umfassenden Leidens - und Solidargemeinschaft, die unterbewusst sehr wohl um die tiefgreifende Korrumpierung der deutschen Gesellschaft wusste und deshalb ihren Blick lieber nach vorne in eine bessere Zukunft richtete als in die Vergangenheit, an die man nicht mehr erinnert werden wollte. Wie sollte auch ein ganzes Volk plötzlich das verdammen, worauf es noch wenige Jahre zuvor seine ganzen Hoffnungen gerichtet und wofür man im Krieg so große Leiden auf sich genommen hatte ? Einen ähnlich tiefgreifenden Bruch wie auf staatlich - politischer Ebene konnte es in der kollektiven Identität, im Bewusstsein des Durchschnittsbürgers, nicht geben. Die Konfrontation mit dem ganzen Ausmaß der NS - Verbrechen bewirkte deshalb auch keine befreiende Katharsis, sondern führte eher zur Verhärtung überkommener Wertorientierungen und Einstellungen, zur 44 Elisabeth Noelle / Erich Peter Neumann ( Hg.), Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1947–1955, Allensbach 1956, S. 125; dies. ( Hg.), Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1958–1964, Allensbach 1965, S. 231. 45 Merritt / Merritt ( Hg.), Public Opinion in Occupied Germany, S. 41 f. und 294 f.

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Abwehr einer vermeintlichen Kollektivschuldanklage aus trotzigem Nationalstolz oder aus Selbstmitleid.

III. Im Mittelpunkt der ersten Nachkriegsjahre stand die Bewältigung des Alltags. Die traumatische Erfahrung äußerster Existenzgefährdung und existenzieller Not, die Trauer um den Verlust geliebter Angehöriger, der Verlust von Besitz, Beruf und Heimat – kurz : der Zusammenbruch aller bürgerlicher Sekurität, gesellschaftlicher Strukturen und moralischer Normen – bewirkte eine weitgehende Atomisierung der Gesellschaft, den Rückzug auf kleine Solidargemeinschaften. Nach der extremen Politisierung und ideologischen Mobilisierung der NS - Zeit richteten sich die Energien nun auf die private Lebenssphäre, auf die Wiederherstellung eines gewissen Mindestmaßes an bürgerlicher Normalität.46 Die Neubegründung der Demokratie blieb dem Engagement einer Minderheit vorbehalten, während die überwiegende Mehrheit – in den Westzonen, in der Ostzone verbot sich das tunlichst – zwar lautstark ihre Unzufriedenheit mit der alliierten Besatzungspolitik zum Ausdruck brachte,47 sich ansonsten aber politisch eher apathisch verhielt. In der US - Zone erklärten durchgängig zwischen 60 und 70 Prozent der Befragten, dass sie an Politik nicht interessiert seien. Politik galt als ein schmutziges Geschäft, entsprechend befürworteten auch nur knapp über 10 Prozent eine politische Karriere ihres Sohnes.48 An diesem Meinungsbild sollte sich wenig ändern. Zwar sprachen sich bei Umfragen jeweils eine große Mehrheit für die Demokratie aus, doch noch 1950 wagte ein Drittel keine Definition von Demokratie. Zugleich hielten nur 45 Prozent diese Staatsform als die beste für die damals bereits existierende Bundesrepublik.49 Autoritäre Einstellungen waren noch weit verbreitet, so befürworteten 1953 nur die Hälfte der Befragten das Mehrparteiensystem, ein Fünftel sprach sich explizit für ein Einparteiensystem aus, die restlichen besaßen dazu keine Meinung.50 Ob das Experiment der zweiten Demokratiegründung mit einer festen Westbindung gelingen würde, war bei Ende der unmittelbaren Besatzungszeit noch keineswegs eindeutig abzusehen. Für die SBZ respektive die frühe DDR stellte sich diese Frage nicht mehr. Hier war eine neue Diktatur entstanden, die zu keinem Zeitpunkt, wie sich am 17. Juni 1953 zeigen sollte, eine Mehrheit in der 46 Vgl. Lutz Niethammer ( Hg.), „Hinterher merkt man, dass es richtig war, dass es schiefgegangen ist.“ Nachkriegserfahrungen im Ruhrgebiet, Berlin ( Ost ) 1983. 47 Vgl. Joseph Foschepoth, Zur deutschen Reaktion auf Niederlage und Besatzung. In : Ludolf Herbst ( Hg.), Westdeutschland 1945–1955. Unterwerfung, Kontrolle, Integration, München 1986, S. 151–165. 48 Merritt / Merritt ( Hg.), Public Opinion in Occupied Germany, S. 44 f. 49 Merritt / Merritt ( Hg.), Public Opinion in Semisovereign Germany, S. 64. 50 Eine Generation später. Bundesrepublik Deutschland 1953–1979. Hg. vom Institut für Demoskopie Allensbach, Allensbach 1981, Tabelle 80.

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Bevölkerung hinter sich hatte. Doch auch die Entwicklung im Westen wurde insbesondere von amerikanischen Analysestäben mit unverhohlener Skepsis beurteilt. Zweifel erweckte insbesondere die ungenierte Integrationspolitik auch schwerbelasteter Nationalsozialisten, die als Ausdruck einer besorgniserregenden Kontinuität autoritärer, antidemokratischer und nationalistischer Denkweisen gewertet wurde.51 Die Rückflut entlassener NSDAP - Mitglieder hatte bereits 1947/48 eingesetzt und weitgehend die Kontinuität im öffentlichen Dienst wieder hergestellt.52 Mit Gründung der Bundesrepublik brachen dann alle Dämme, triumphierte die in der Bevölkerung seit langem populäre Schlussstrich - Mentalität über alle Bedenken. Mit dem Ausführungsgesetz zu Artikel 131 Grundgesetz, das der Bundestag im April 1951 mit Zustimmung aller Parteien ( auch der KPD ) ohne Gegenstimme verabschiedete, wurden Zehntausende schwerstbelasteter NSDAP - Mitglieder, darunter am Ende sogar die Mehrzahl der Gestapoleute, wieder in ihre alten Beamtenrechte eingesetzt.53 Im Sommer 1954 folgte das zweite Straffreiheitsgesetz, das zur Folge hatte, dass das Gros der sogenannten Endphase - Verbrechen ungesühnt blieb. Gleichzeitig kam die Strafverfolgung von NS - Verbrechen nahezu zum Stillstand. 1954 wurden nur noch 183 Ermittlungsverfahren eingeleitet, während es 1950 noch rund 2 500 gewesen waren. Entsprechend sank in den folgenden Jahren auch die Anzahl rechtskräftiger Verurteilungen wegen NS - und Kriegsverbrechen : von 809 Verurteilungen im Jahr 1950 auf ein Rekordtief von 15 im Jahr 1959.54 Die Schlussstrich - Mentalität spiegelte auf eigentümliche Art das neugewonnene Selbstbewusstsein wider, das sich in einer massiven Kampagne zur Freilassung aller von den Alliierten abgeurteilten NS - Verbrecher manifestierte. Dieser nicht zuletzt von prominenten Kirchenführern unterstützte Gnadenlobbyismus sprengte alle moralischen Grenzen. So setzten sich etwa für die Begnadigung des SS - Führers Martin Sandberger, der als Leiter des Einsatzgrup51

Vgl. Petra Marquardt - Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen über Deutschland 1942–1949, München 1995, S. 257 ff. Vgl. auch Franz Neumann, Military Government and the Revival of Democracy (1948). Deutsche Übersetzung in : Franz Neumann, Wirtschaft, Staat, Demokratie. Aufsätze 1930–1954, Frankfurt a. M. 1978, S. 309–325; Hajo Holborn, Bericht zur deutschen Frage. Beobachtungen und Empfehlungen vom Herbst 1947. Hg. von Erich J. C. Hahn. In : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 35 (1987), S. 135–166. 52 Vgl. als Überblick Clemens Vollnhals, Entnazifizierung. Politische Säuberung und Rehabilitierung in den vier Besatzungszonen 1945–1949, München 1991. 53 Vgl. Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NSVergangenheit, München 1999, S. 79 f. 54 Adalbert Rückerl, Die Strafverfolgung von NS - Verbrechen 1945–1978. Eine Dokumentation, Heidelberg 1979, S. 125. Vgl. jetzt auch Edith Raim, Justiz zwischen Diktatur und Demokratie. Wiederaufbau und Ahndung von NS - Verbrechen in Westdeutschland 1945–1949, München 2013; Andreas Eichmüller, Keine Generalamnestie. Die Strafverfolgung von NS - Verbrechen in der frühen Bundesrepublik, München 2012; Jörg Osterloh / Clemens Vollnhals ( Hg.), NS - Prozesse und deutsche Öffentlichkeit. Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR, Göttingen 2011.

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penkommandos Ia in Estland den Judenmord organisiert hatte, der evangelische Landesbischof von Württemberg Martin Haug, das FDP - Vorstandsmitglied Ernst Mayer, der sozialdemokratische Vizepräsident des Deutschen Bundestages Carlo Schmid und schließlich auch Bundespräsident Theodor Heuss ein.55 Es war ein überparteilicher Konsens zwischen Regierung und Opposition, der in den 1950er Jahren zugunsten auch schwerstbelasteter NS - Täter wirkte. In diesem Klima, als die Freilassung abgeurteilter Massenmörder gleichsam als eine Frage der nationalen Ehre thematisiert wurde, konnte die Einsicht in den fundamentalen Unrechtscharakter des NS - Regimes und seines rassenideologisch motivierten Vernichtungskrieges nicht mehr gedeihen. Das massive Amnestiebedürfnis lässt sich durchaus als „ein – gewissermaßen im Widerspruch bestätigtes – indirektes Eingeständnis der gesamtgesellschaftlichen Verstrickung in den Nationalsozialismus“ interpretieren.56 Dieselbe Entwicklung lässt sich, das sei hier nur am Rande angemerkt, in der DDR feststellen. Auch hier verzichtete die SED hinter der Fassade des antifaschistischen Pathos auf die weitere Strafverfolgung der NS - Verbrechen und ersparte der Bevölkerung jede Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Zentralverbrechen : der Ermordung des europäischen Judentums.57 Die unterschiedslose Integrations - und Rehabilitierungspolitik, mit der binnen weniger Jahre sämtliche alliierten Säuberungsmaßnahmen rückgängig gemacht wurden, ist allerdings mit dem polemischen Begriff der „Renazifizierung“ falsch charakterisiert, auch wenn sich kritische Zeitgenossen von „unaufhaltsamen Wiederkehr der Gestrigen“ zunehmend an die Wand gedrängt fühl-

55 Vgl. Frei, Vergangenheitspolitik, S. 297 ff. Vgl. allg. Thomas Alan Schwartz, Die Begnadigung deutscher Kriegsverbrecher. John McCloy und die Häftlinge von Landsberg. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 38 (1990), S. 375–414; Frank W. Buscher, The U. S. War Crimes Trial Program in Germany, 1946–1955, New York 1989; Ulrich Brochhagen, Nach Nürnberg. Vergangenheitsbewältigung und Westintegration in der Ära Adenauer, Hamburg 1994, S. 32–173; Clemens Vollnhals, Die Hypothek des Nationalprotestantismus. Entnazifizierung und Strafverfolgung von NS - Verbrechen nach 1945. In : Geschichte und Gesellschaft, 18 (1992), S. 51–69; Marc von Miquel, Ahnden oder amnestieren ? Westdeutsche Justiz und Vergangenheitspolitik in den sechziger Jahren, Göttingen 2004. 56 Frei, Vergangenheitspolitik, S. 399. 57 Zur Strafverfolgung vgl. die Statistik bei Günter Wieland, Die Ahndung von NS - Verbrechen in Ostdeutschland 1945–1990. In : DDR - Justiz und NS - Verbrechen. Sammlung ostdeutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen. Verfahrensregister und Dokumentenband. Bearb. im Seminarium voor Strafrecht en Strafrechtspleging „Van Hamel“ der Universität Amsterdam von C. F. Rüter, Amsterdam 2002, S. 11–99, hier 97; Annette Weinke, Die Strafverfolgung von NS - Tätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigungen 1949–1969 oder : Eine deutsch - deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg, Paderborn 2002. Zur Auseinandersetzung mit der NS - Vergangenheit vgl. u. a. Herf, Zweierlei Erinnerung; Joachim Käppner, Erstarrte Geschichte. Faschismus und Holocaust im Spiegel der Geschichtswissenschaft und Geschichtspropaganda der DDR, Hamburg 1999; Anette Leo / Peter Reif - Spirek ( Hg.), Vielstimmiges Schweigen. Neue Studien zum DDR - Antifaschismus, Berlin 2001.

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ten.58 Denn die ehemalige Funktionselite des „Dritten Reiches“, die unterhalb der politischen Führungsspitze in der Bundesrepublik den Wiederaufbau organisierte, entfaltete keine politische Aktivitäten zugunsten neofaschistischer Organisationen, sondern führte ein möglichst unauffälliges, ganz an Karriere und Familie orientiertes Leben.59 Es war eine unerhoffte zweite Chance, die man nach der Erfahrung von Internierung und Entnazifizierung, die 1945/46 für mehrere Hunderttausend mit Lagerhaft und zeitweiliger Entlassung einen tiefen sozialen Einschnitt dargestellt hatte,60 nicht mehr aufs Spiel setzen wollte. Gefragt waren jetzt pragmatische Anpassung, Leistungsbereitschaft und technokratische Effizienz. Der restaurative Geist der 1950er Jahre, verbunden mit einem vehementen Antikommunismus, erleichterte Millionen ehemaliger Nationalsozialisten, geläuterter wie eher verstockten, die allmähliche Identifikation mit dem neuen Staatswesen. Dass die prekäre Verwandlung einer hochgradig nazifizierten Gesellschaft in die Bürgerschaft der Bundesrepublik gelang, ist neben der tiefgreifenden Desillusionierung bei Kriegsende wesentlich der Institutionenordnung zu verdanken, deren normative Verankerung unangetastet blieb und – anders als in der Weimarer Republik – keinem schleichenden Auszehrungsprozess unterlag. Die umfassende Integration basierte weithin auf einer opportunistischen Anpassung im wohl verstandenen eigenen Interesse, was eine politische wie ideologische Mäßigung zur Voraussetzung hatte. Zumal die Grenzen der Tolerierungsbereitschaft nach dem Verbot der neonazistischen Sozialistischen Reichspartei ( SRP), die bei der Landtagswahl 1951 in Niedersachsen 11 Prozent der Stimmen gewonnen hatte, klar abgesteckt waren.61 Ein weiteres Signal setzte im Januar 1953 die britische Besatzungsmacht, als sie auf besatzungsrechtlicher Grundlage den Kreis um Werner Naumann, des früheren Staatssekretärs im Reichspropagandaministerium, verhaftete und damit die Unterwanderung der nordrhein westfälischen FDP stoppte.62 Mit dieser drastischen Aktion wurde der nur halbsouveräne Status der Bundesrepublik nachdrücklich in Erinnerung gerufen. Auch wenn man mit guten Gründen der Ansicht ist, dass die Etablierung und Verankerung der Demokratie nur um den Preis einer großzügigen Integrationspolitik gegenüber dem Millionenheer ehemaliger Parteigenossen möglich gewe58 Eugen Kogon, Beinahe mit dem Rücken zur Wand. In : Frankfurter Hefte, 9 (1954), S. 641–645. Vgl. auch Peter Merz, Und das wurde nicht ihr Staat. Erfahrungen emigrierter Schriftsteller mit Westdeutschland, München 1985. 59 Vgl. Winfried Loth / Bernd - A. Rusinek ( Hg.), Verwandlungspolitik. NS - Eliten in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, Frankfurt a. M. 1998; Norbert Frei ( Hg.), Hitlers Eliten nach 1945, Frankfurt a. M. 2001. 60 In den Westzonen waren rund 182 000 Personen interniert worden, von denen bis zum 1. Januar 1947 jedoch 86 000 bereits wieder entlassen waren. Vgl. Vollnhals, Entnazifizierung, S. 251. Weiterhin wurden über eine halbe Million Parteimitglieder zeitweise entlassen. 61 Vgl. Frei, Vergangenheitspolitik, S. 326–360. 62 Vgl. ebd., S. 360–396; Kristian Buchna, Nationale Sammlung an Rhein und Ruhr. Friedrich Middelhauve und die nordrhein - westfälische FDP 1945–1953, München 2010.

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sen ist, da sich eine freiheitliche Demokratie nicht mit der dauerhaften Ausgrenzung großer Bevölkerungsteile vereinbaren lässt,63 so bestanden doch zweifellos größere Spielräume : Nicht jede skandalöse Personalentscheidung war in dieser Form unumgänglich; am schwersten wog die moralische Indifferenz allerdings bei der juristischen Strafverfolgung der NS - Verbrechen, die in den 1950er Jahren nahezu zum Stillstand kam. Auch lässt sich die oft kleinlich gehandhabte Wiedergutmachungspolitik, die erneut ganze Opfergruppen diskriminierte und ausgrenzte,64 wohl kaum als unvermeidbare Begleiterscheinung einer prinzipiell unumgänglichen Integrationspolitik interpretieren. Unter den Bedingungen des alliierten Interventionsvorbehaltes und der scharfen Blockkonfrontation, die keine Alternative zur Westintegration zuließ, wäre durchaus eine mutigere Politik der demokratischen Eliten – auch gegen die Mehrheitsstimmung bequemen Beschweigens – denkbar gewesen. Die Akzeptanz der Demokratie beruhte zunächst primär auf dem außerordentlichen ökonomischen Erfolg der jungen Bundesrepublik, der in den frühen 1950er Jahren einsetzte; er stellte für eine stark am wirtschaftlichen Erfolg und staatlicher Fürsorge orientierten Gesellschaft die stärkste Legitimation dar. Umgekehrt hatte sich der Nationalsozialismus durch sein Scheitern selbst desavouiert. Die Rückkehr bürgerlicher Normalität und der erreichte Wohlstand verbanden sich mit der wiedergewonnenen Rechtssicherheit und Gewaltenteilung, die einen scharfen Kontrast zur erlebten Parteiwillkür im Nationalsozialismus wie der SED - Diktatur markierten. Nach einem Jahrzehnt des Chaos und tiefgreifender traumatischer Verletzungen schien die Vergangenheit nun „bewältigt“. Es brauchte wohl, wie Klaus Harpprecht 1959 in einem scharfsinnigen Essay schrieb, „eine mühsame Restauration der Gesellschaft, eine zuverlässige Ordnung des Staates, eine wenn auch wenig attraktive und vielleicht nur provisorische Heimat für das allen Fugen entratene Geschichtsbewusstsein, damit die Deutschen überhaupt zu einer Selbstdarstellung fähig wurden“.65 Die Zeit moralischer Indifferenz ging Anfang der 1960er Jahre zu Ende.66 Nun setzte 63 Vgl. Hermann Lübbe, Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewußtsein. In: Historische Zeitschrift, 236 (1983), S. 579–599. 64 Vgl. Hans Günter Hockerts / Christiane Kuller ( Hg.), Nach der Verfolgung. Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in Deutschland ?, Göttingen 2003; Constantin Goschler, Wiedergutmachung. Westdeutschland und die Verfolgten des Nationalsozialismus (1945–1954), München 1992; ders., Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS - Verfolgte seit 1945, Göttingen 2005. 65 Klaus Harpprecht, Im Keller der Gefühle. Gibt es noch einen deutschen Antisemitismus? In : Der Monat, 11 (1959) H. 128, S. 13–20, hier 17. 66 Vgl. u. a. Peter Graf Kielmannsegg, Lange Schatten. Vom Umgang der Deutschen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, Berlin ( West ) 1989; Axel Schildt, Der Umgang mit der NS - Vergangenheit in der Öffentlichkeit der Nachkriegszeit. In : Loth / Rusinek ( Hg.), Verwandlungspolitik, S. 19–54; Hartmut Berghoff, Zwischen Verdrängung und Aufarbeitung. Die bundesdeutsche Gesellschaft und ihre nationalsozialistische Vergangenheit in den Fünfziger Jahren. In : GWU, 49 (1998), S. 96–114; Peter Reichel, Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der

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eine erneute Auseinandersetzung mit der NS - Vergangenheit ein; erst sie führte zusammen mit einem konfliktreichen Generationenwechsel auch zur inneren Demokratiegründung, zur Verankerung einer westlichen Zivilgesellschaft auf breiter Basis. In der DDR hingegen dominierte bis zur friedlichen Revolution 1989 der verordnete Antifaschismus, der mehr Legenden und Mythen bediente als zur Aufklärung beitrug. Gemeinsam war beiden deutschen Staaten jedoch in der ersten Nachkriegszeit die gesellschaftliche Stabilisierung durch Schuldabspaltung und Ausprägung eines kollektiven Opferbewusstseins.

NS - Diktatur von 1945 bis heute, München 2001; Clemens Vollnhals, Zwischen Verdrängung und Aufklärung. Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust in der frühen Bundesrepublik. In : Ursula Büttner ( Hg.), Die Deutschen und die Judenverfolgung im Dritten Reich, Frankfurt a. M. 2003, S. 381–422.

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Willkür oder Methode ? Zur Ahndung kommunistischer Gestapomitarbeit in der SBZ / DDR Udo Grashoff Auf den ersten Blick scheint die SED im Umgang mit Kommunisten, die während der nationalsozialistischen Herrschaft nicht die geforderte heroische Standhaftigkeit gezeigt und in verschiedenem Ausmaß mit der nationalsozialistischen Geheimpolizei zusammengearbeitet hatten, keiner eindeutigen Regel gefolgt zu sein. KPD - Waffenmeister Willy Zimmerlich beispielsweise, der beim Verhör umfangreiche Angaben machte und dessen „Verrat“ den Heidelberger Kommunisten Leo Schmitt veranlasst haben soll, sich das Leben zu nehmen – so jedenfalls begründete Schmitt seine Verzweiflungstat in seinem Abschiedsbrief –,1 wurde weder bestraft noch aus der SED ausgeschlossen; Zimmerlich durfte in der DDR lediglich nicht in leitender Stellung tätig sein.2 Friedrich Schlotterbeck hingegen, der sich nur zum Schein als V - Mann der Gestapo verpflichten ließ, um aus dem KZ entlassen zu werden, aber niemanden verriet, wurde 1951 aus der SED ausgeschlossen und kam zwei Jahre später infolge eines Strafverfahrens, in dem seine vermeintliche Gestapomitarbeit einen von drei Anklagepunkten darstellte, für drei Jahre ins Gefängnis.3 Was führte zu einer derart unterschiedlichen Behandlung von „Verrätern“ durch die KPD / SED ? Richtete sich die Strafpraxis in der SBZ / DDR nach der Schwere der nachweisbaren Vergehen ? War die Verfolgung von „Verrat“ den Konjunkturen der politischen Repression in der Nachkriegszeit und der frühen DDR unterworfen ? Gab es überhaupt Bewertungskriterien oder herrschte reine Willkür ?

1 2 3

Vgl. Information über Zimmerlich, Willy, Berlin, 24. 9. 1963 ( BStU, MfS, HA XX, Nr. 12001, Bl. 201–203). Vgl. Referat SVS, Bericht, Berlin, 18. 8. 1958 ( BStU, MfS, AOP 316/59, Band 1, Bl. 83 f.) Vgl. Beschluss Zentrale Parteikontrollkommission ( ZPKK ) vom 3. 8. 1960 ( SAPMO BArch, DY 30/ IV 2/4/476, Bl. 172 f.).

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1.

Udo Grashoff

Gestapo - Mitarbeit als grundlegendes Problem des illegalen Widerstands der KPD

In der SED - Historiografie zum „antifaschistischen Widerstandskampf“ wurde die Rolle von Verrätern weitgehend marginalisiert, sofern überhaupt von Spitzeln und V - Leuten die Rede war. Demgegenüber haben neuere Forschungen herausgearbeitet, dass es sich keineswegs um ein zu vernachlässigendes Randphänomen des kommunistischen Untergrunds handelte. Eingehender untersucht und diskutiert worden sind z. B. der folgenschwere Verrat von Ernst Rambow, der 1944 als V - Mann in der Saefkow - Gruppe tätig war,4 und die Ermordung des zum Verräter gewordenen Thälmann - Mitarbeiters Alfred Kattner durch einen kommunistischen Attentäter im Jahr 1934.5 Auch Regionalstudien zu kommunistischen „Verrätern“ aus Dessau und Magdeburg,6 über biografische Fälschungen in Halle,7 die grundlegenden biografischen Forschungen zur Geschichte der KPD von Hermann Weber und Andreas Herbst,8 Recherchen der Literaturwissenschaftlerin Simone Barck9 sowie die Darstellung von Siegfried Grundmann über die „Betriebsberichterstattung“ bzw. „BB - Apparat“10 genannte Spionageabteilung der KPD in Berlin fügten dem immer noch sehr lückenhaften Bild wichtige Puzzlesteinchen hinzu. Klaus - Michael Mallmann unternahm in zwei Aufsätzen den Versuch, die Tätigkeit von V - Leuten der Gestapo in kommunistischen Widerstandsorganisationen systematisch zu ordnen,11 während Wilhelm Mensing in einer einzig4

Vgl. Regina Scheer, Rambow – Spuren von Verfolgung und Verrat. In : Dachauer Hefte, 10 (1994) 10, S. 191–213; Markus Mohr, An den Spitzel Ernst Rambow wird noch immer gedacht. In : Markus Mohr / Klaus Viehmann ( Hg.), Spitzel. Eine kleine Sozialgeschichte, Berlin 2004, S. 99–104. 5 Vgl. Ronald Sassning, Die Verhaftung Ernst Thälmanns und der Fall „Kattner“, 2 Teile, Berlin 1998; Wladislaw Hedeler, Rede, Genosse Mauser ! In : Mohr / Viehmann ( Hg.), Spitzel, S. 91–98. 6 Vgl. Alexander Sperk, Die Staatspolizei( leit )stelle Magdeburg, ihre Leiter und die Zerschlagung der KPD. In : Polizei & Geschichte, 1 (2009) 1, S. 4–23; ders., V - Leute der Politischen Polizei zu Beginn des Nationalsozialismus. In : Mitteilungen des Vereins für Anhaltische Landeskunde, 21 (2012), S. 139–158. 7 Vgl. Frank Hirschinger, Fälschung und Instrumentalisierung antifaschistischer Biographien. Das Beispiel Halle, Göttingen 2007. 8 Vgl. Andreas Herbst / Hermann Weber ( Hg.), Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945, Berlin 2004. Vgl. zudem : Andreas Herbst, Heinrich Wiatrek – Kommunist oder „Überläufer“ ? In : Jahrbuch für historische Kommunismusforschung, (2002), S. 336–357. 9 Vgl. Simone Barck, Antifa - Geschichte( n ). Eine literarische Spurensuche in der DDR der 1950er und 1960er Jahre, Köln 2003. 10 Vgl. Siegfried Grundmann, Der Geheimapparat der KPD im Visier der Gestapo. Das BB - Ressort. Funktionäre, Beamte, Spitzel & Spione, Berlin 2008. 11 Vgl. Klaus - Michael Mallmann, Die V - Leute der Gestapo. Umrisse einer kollektiven Biographie. In : Gerhard Paul / ders. ( Hg.), Die Gestapo. Mythos und Realität, Darmstadt 1995, S. 268–287; ders., Brüderlein & Co. Die Gestapo und der kommunistische Widerstand in der Kriegsendphase. In : Gerhard Paul / ders. ( Hg.), Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg. „Heimatfront“ und besetztes Europa, Darmstadt 2000, S. 270–287.

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Willkür oder Methode ?

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artigen Regionalstudie die kommunistischen V - Leute der Gestapo Düsseldorf12 analysierte.13 Für Österreich erforschte Hans Schafranek das Wirken von V Leuten der Gestapo in kommunistischen Widerstandsgruppen in Wien.14 Eine im Auftrag des MfS bereits seit den 1980er Jahren erarbeitete und 1993 publizierte Studie über den Nachrichtendienst der KPD behandelte das Thema vor allem unter dem Blickwinkel der Spitzelabwehr.15 Zudem berücksichtigen auch neuere Darstellungen des Widerstandskampfes gegen den Nationalsozialismus das Thema der Gestapomitarbeit in deutlich stärkerem Maße. So verweist das Buch von Hans - Rainer Sandvoß über den linken Widerstand in Berlin auf zahlreiche Verratsgeschichten, ohne diese detailliert auszuführen.16 Ähnliches gilt für die Monografie von Gerd Kaiser über den kommunistischen Widerstand in Thüringen.17 Nun wäre es sicher überzogen, aus der Fülle an neuen Geschichten in die bloße Gegenthese zur SED - Historiografie zu verfallen und von einer komplett von Spitzeln unterwanderten Widerstandsbewegung auszugehen. Allerdings wären sowohl die großen Verhaftungswellen der Gestapo in den Jahren 1933 bis 1935 als auch die Aufdeckung illegaler kommunistischer Netzwerke in späteren Jahren ohne die Mitwirkung von V - Männern und erpresste Aussagen von Verhafteten kaum möglich gewesen.18 Wie Klaus - Michael Mallmann herausgearbeitet hat, ging die Gestapo bei der „Aufrollung“ der illegalen Netzwerke in zwei Schritten vor. Zunächst wurden V - Leute an die Spitze lanciert bzw. Spitzenfunktionäre „umgedreht“ : „Dem Zugriff auf den Führungskern folgten jeweils brutale Verhöre, bei denen die Namen von weiteren Beteiligten herausgeprügelt wurden.“19 So kamen Verhaftungswellen von oft mehreren hundert Kommunisten zustande. Damit war „Verrat“ eine entscheidende Ursache dafür, dass letztlich alle kommunistischen Widerstandsgruppen, die sich dem NS Regime aktiv entgegengestellten, zerschlagen wurden.

12 Vgl. Wilhelm Mensing, Vertrauensleute kommunistischer Herkunft bei Gestapo und NS- Nachrichtendiensten am Beispiel von Rhein und Ruhr. In : Jahrbuch für historische Kommunismusforschung, (2004), S. 111–130. 13 Vgl. auch Thomas Gebauer, Das KPD - Dezernat der Gestapo Düsseldorf, Düsseldorf 2011, der die Aufsätze von Mensing nicht zu kennen scheint. 14 Vgl. Hans Schafranek, V - Leute und „Verräter“. Die Unterwanderung kommunistischer Widerstandsgruppen durch Konfidenten der Wiener Gestapo. In : IWK, 36 (2000) 3, S. 300–349. 15 Vgl. Bernd Kaufmann / Eckhard Reisener / Dieter Schwips / Henri Walther, Der Nachrichtendienst der KPD 1919–1937, Berlin 1993. 16 Vgl. Hans - Rainer Sandvoß, Die „andere“ Reichshauptstadt. Widerstand aus der Arbeiterbewegung in Berlin von 1933 bis 1945, Berlin 2007. 17 Vgl. Gerd Kaiser, „Auf Leben und Tod“. Stille Helden im antifaschistischen Widerstand 1923 bis 1945, Berlin 2007. 18 Vgl. Mallmann, Die V - Leute der Gestapo, S. 268–287. 19 Mallmann, Brüderlein & Co., S. 272.

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2.

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Sowjetische Militärtribunale

Insofern war es folgerichtig, dass KPD - Funktionäre bereits unmittelbar nach Kriegsende nicht nur untergetauchte Nazis und Kriegsverbrecher aufspürten, sondern auch mutmaßliche Verräter. Als einer der ersten wurde Ende Juli 1945 der ehemalige Funktionär des KPD - Geheimdienstes ( des so genannten „AM Apparates“) Ernst Rambow verhaftet. Dieser hatte als „Sicherungsmann“ der Berliner Jakob - Saefkow - Bästlein - Gruppe eine Schlüsselposition im Berliner Widerstand inne und gab als V - Mann der Gestapo unter anderem das Treffen von Sozialdemokraten und Kommunisten im Juli 1944 preis; die Beteiligten wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet. Zwar ist der Umfang von Rambows Spitzeltätigkeit umstritten – er selbst hat lediglich zugegeben, elf Genossen verraten zu haben, von denen sechs hingerichtet wurden, wohingegen unter überlebenden Kommunisten Anschuldigungen kursierten, er sei für Verhaftungen von reichsweit über 280 Widerstandskämpfern verantwortlich, von denen mehr als 90 hingerichtet wurden. Generell stand und steht sein verhängnisvolles Wirken aber außer Zweifel.20 Ein Sowjetisches Militärtribunal ( SMT ) verurteilte Rambow zum Tode. Das Urteil wurde im November 1945 vollstreckt.21 Auch Herbert Kratzsch, 1934 von Berlin nach Hamburg geschickt und als zweiter Mann der illegalen KPD - Bezirksleitung Wasserkante einer der wichtigsten und vor allem aktivsten kommunistischen Funktionäre, hatte nach seiner am 9. Februar 1935 erfolgten Verhaftung und einem sofortigen umfassenden Geständnis sowohl in Hamburg als auch in Berlin Aufträge der Gestapo erfüllt, die zur Ergreifung weiterer illegal tätiger Kommunisten führten.22 Da bereits im Jahr 1935 schwere Verdachtsmomente gegen Kratzsch kursierten – Flugblätter warnten vor ihm und sogar seine Ermordung wurde diskutiert23 – ordnete das ZK der KPD im Dezember 1945 eine Untersuchung an.24 In deren Folge wurde Kratzsch den sowjetischen Besatzern übergeben. Ein Sowjetisches Militärtribunal stellte im Mai 1946 fest : „Mit Hilfe von K. wurde die Hamburger illegale KPD - Organisation vollständig zertrümmert.“25 Das bei diesem Befund 20 Vgl. Anette Neumann / Bärbel Schindler - Saefkow, Die Saefkow - Jakob - Bästlein - Organisation 1942 bis 1945. In : Hans Coppi / Stefan Heinz ( Hg.), Der vergessene Widerstand der Arbeiter. Gewerkschafter, Kommunisten, Sozialdemokraten, Trotzkisten, Anarchisten und Zwangsarbeiter, Berlin 2011, S. 144–157; MfS - HA IX /11, Nachinformation, 11. 9. 1985 ( BStU, MfS, HA IX /11 SV 3/85, Band 1, Bl. 9 f.). 21 Vgl. u. a. die Prozessakten ( BStU, MfS, HA IX /11, SV 3/83, Band 1), sowie Scheer, Rambow, S. 191–213; Mohr, An den Spitzel, S. 102. 22 Vgl. die Abschriften der Vernehmungsprotokolle der Gestapo Hamburg ( SAPMO BArch, RY 1/ I 2/3/94, Bl. 194–215). 23 Vgl. Walter Muth, Kurzbericht über meine illegale Arbeit, 5. 9. 1950 ( SAPMO - BArch, SgY 30/0665, Bl. 20–30, hier 27); Arno, Bericht über die Juni - Verhaftungen in Hamburg, 24. 8. 1935 ( SAPMO - BArch, RY 1/ I 2/3/101, Bl. 278–281, hier 279). 24 Vgl. Herbert Kratzsch, Lebenslauf vom 15. 10. 1953 ( BStU, MfS, HA IX /11, SV 1/81, Band 303, Bl. 10 f.). 25 Sachstandsbericht. Übersetzung aus dem Russischen, o. D. ( BStU, MfS, AS 138/63, Bl. 66).

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relativ mild anmutende Urteil lautete zehn Jahre Arbeitslager. Ob das Tribunal Kratzsch möglicherweise zugute hielt, dass ihn der Volksgerichtshof 1937 zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt hatte, ob für ihn gesprochen hatte, dass er noch in den letzten Kriegstagen in einem Strafbataillon eingesetzt und zur Roten Armee übergelaufen war und dass er unmittelbar nach Kriegsende als Lehrer einer antifaschistischen Schule gearbeitet hatte – kann nur vermutet werden. Das Militärgericht lastete Kratzsch auch nur den „Verrat“ von etwa sechs Personen an, während die Gestapo im Jahr 1936 resümiert hatte, „dass in Hamburg und Berlin insgesamt etwa 100 illegal arbeitende kommunistische Funktionäre verhaftet werden konnten“.26

3.

Deutsche Schwurgerichte

Während Rambow, Kratzsch und andere vor Sowjetische Militärtribunale kamen, wurden weitere Fälle bald auch vor deutschen Schwurgerichten verhandelt.27 Ein solches Verfahren fand im November 1946 in Leipzig statt. Erich Klöden, technischer Mitarbeiter der KPD - Bezirksleitung Leipzig, hatte 1933 nach seiner Verhaftung der Gestapo geholfen, Decknamen und Klarnamen illegal tätiger KPD - Funktionäre zuzuordnen. Ein verhafteter Kommunist, der bis dahin seine Funktion vertuschen konnte, hatte sich vermutlich in Reaktion auf Klödens Verrat das Leben genommen. Klöden hatte auch den KPD - Spitzenfunktionär Fritz Selbmann schwer belastet, und zudem nach seiner Haftentlassung als „Lockspitzel“ einen Kommunisten im Grenzgebiet zur Tschechoslowakei der Gestapo in die Hände gespielt.28 Durch seine bereitwilligen Aussagen hatte Klöden zunächst im November 1933 seine Haftentlassung erreicht; seine Mitwirkung an weiteren Gestapo - Aktionen brachte ihm 1935 Straffreiheit.29 Das Schwurgericht Leipzig bewertete Klödens Verhalten als „gemeine[ n ] und niedrige[ n ] Vertrauensbruch“ und verurteilte ihn im November 1946 zu lebenslänglichem Zuchthaus.30 Im Gefängnis erkrankte Klöden schwer und verstarb bereits Anfang 1948 im Zuchthaus Hoheneck.31 26 Auszug aus der Urteilsbegründung im Prozess gegen Herbert Kratzsch ( SAPMO - BArch, RY 1/ I 2/3/94, Bl. 214 f.). Vgl. auch Bernd Kaufmann u. a., Der Nachrichtendienst der KPD 1919–1937, Berlin 1993, S. 334. Dort ist sogar von 200 Verhafteten die Rede. 27 Strikt unterschieden werden von solchen regulären Strafprozessen müssen die „Waldheimer Prozesse“. In diesen 1950 fernab rechtsstaatlicher Regeln durchgeführten Verfahren wurden auch einige angebliche Klassenverräter abgeurteilt. ( BStU, MfS, Abt. XII / RF /126). 28 Vgl. Verhandlung vor dem Schwurgericht Leipzig gegen Erich Klöden, 20. 11. 1946 (SächsHStAD, Bestand 13471 [ NS - Archiv des MfS ], ZA VI 2166, Akte 3). 29 Vgl. StA IIIa 120/35, 2. OLG A 61/34, Dresden, 28. Juni 1935 ( SächsStAL, Polizeipräsidium Leipzig, PP - S 2350, Bl. 98). 30 Urteil Schwurgericht 37/46, 14 Ks 24/46, 28. 11. 1946 ( SächsStAL, Landgericht Leipzig, Nr. 7863, Bl. 100–102). 31 Vgl. Strafgefängnis Hoheneck an Staatsanwaltschaft Leipzig, 2. 3. 1948 ( SächsHStAD, Bestand 13471 [ NS - Archiv des MfS ], ZAst 6, Akte 4, n. pag.).

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Etwa zur gleichen Zeit, als Erich Klöden einen leidensvollen Tod starb, befassten sich die Richter des Landgerichts Leipzig mit einer Anklage wegen Denunziation gegen Richard Karbaum. Der einstige Kommunist, der sich inzwischen schon wieder den Mächtigen angedient hatte und als Schuhmacher für die sowjetischen Besatzer tätig war, war in den Augen des Gerichtes – angesichts seines denunziatorischen Verhaltens im Jahr 1933 – „Teil jenes Lumpenproletariats, das zu jedem Gesinnungswechsel dann bereit ist, wenn ihm darauf persönliche Vorteile erwachsen“.32 Karbaum hingegen rechtfertigte sein damaliges Verhalten aus dem prekären Status als Kommunist während der Machtergreifung : Die „Anzeigeerstattungen von mir erfolgten, um mich persönlich zu sichern und meiner Familie den Ernährer zu erhalten, weil ich, wie so viele andere damit rechnen musste, von der SA weiter verfolgt und fortgebracht zu werden.“33 Aus dem Gerichtsurteil wie auch aus Zeugenaussagen geht hervor, dass Karbaum tatsächlich zunächst einem starken psychischen und physischen Druck ausgesetzt war, bevor er sich bei den Nationalsozialisten anbiederte und Genossen denunzierte. So wurde er nach der Machtergreifung „wie so viele andere von SA - Einheiten zum Scheuern der mit Parolen seiner Partei benutzten Hausmauern gezwungen. Weiter zwang man ihn nach seinen Angaben teils durch Schläge, teils durch Drohungen zur Preisgabe von Genossen, die ebenfalls wie er Parolen angebracht hatten.“34 Nachdem Karbaum zunächst nur zwei Namen genannt hatte, entwickelte er sich jedoch nach und nach zu einem eifrigen Denunzianten. Zudem versuchte er krampfhaft, einen Gesinnungswechsel glaubhaft zu machen; er hisste bei allen Anlässen die Naziflagge und galt bei Nachbarn „als ein begeisterter Anhänger des Nazismus“.35 Die Umwandlung von Angst in übertriebene Beflissenheit kam selbst manchem Polizisten auf der Polizeiwache suspekt vor, weshalb einige der Anzeigen des häufig auftauchenden Denunzianten nicht mehr weitergeleitet wurden. Auch Karbaums Antrag auf Aufnahme in die NSDAP hatte keinen Erfolg. Das Leipziger Gericht verurteilte Karbaum schließlich als „Denunziant in mehreren Fällen“ zu fünf Jahren Gefängnis.36 Das im Vergleich zu Klöden relativ milde Urteil könnte daher rühren, dass Klöden aufgrund seines Wissens um 32 1. große Strafkammer beim Landgericht Leipzig, Urteil gegen Richard Karbaum vom 12. 4. 1948 ( SächsHStAD, Bestand 13471 [ NS - Archiv des MfS ], ZA VI 2818, Akte 6, n. pag.). 33 Vernehmung Richard Karbaum, Leipzig, 7. 1. 1948 ( SächsHStAD, Bestand 13471 [NSArchiv des MfS ], ZAst 068, Akte 1, Bl. 20–22, hier 22). 34 1. große Strafkammer beim Landgericht Leipzig, Urteil gegen Richard Karbaum vom 12. 4. 1948 ( SächsHStAD, Bestand 13471 [ NS - Archiv des MfS ], ZA VI 2818, Akte 6, n. pag.). 35 Kriminalamt Leipzig, Untersuchungsorgan, Ermittlungsbericht, 17.12.1947 (SächsHStAD, Bestand 13471 [ NS - Archiv des MfS ], ZAst 068, Akte 1, Bl. 8). 36 1. große Strafkammer beim Landgericht Leipzig, Urteil gegen Richard Karbaum vom 12. 4. 1948 ( SächsHStAD, Bestand 13471 [ NS - Archiv des MfS ], ZA VI 2818, Akte 6, n. pag.).

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die Führungsstrukturen und - personen der KPD - Bezirksleitung wesentlich mehr Schaden anrichten konnte als der nur im Stadtteil organisierte Karbaum. Möglicherweise spielte bei Klöden auch eine Rolle, dass er 1933 Fritz Selbmann schwer belastet hatte, der 1946 als Vizepräsident des Landes Sachsen für Wirtschaft und Arbeit einer der einflussreichsten SED - Funktionäre im Land war.

4.

Parteisäuberungen innerhalb der SED

SED - Mitglieder, die wegen ihres Verhaltens zur NS - Zeit ein schlechtes Gewissen hatten, bemühten sich oft um weitgehende Vertuschung. Lediglich punktuell deuteten überraschende Nachfragen oder ein scheinbar grundloser Karriereknick an, dass die Partei hinter den Kulissen ermittelte. Walter Wolf, der 1946 kurzzeitig Chef der Polizei in Sachsen gewesen war, hatte etwa zu der Zeit, als er in die Wirtschaft versetzt wurde, eine Begegnung mit Hermann Matern, der ihn zynisch fragte : „Na, Walter, Hand aufs Herz, bist Du während der Haftzeit bei der Gestapo nicht vielleicht doch ein Mal schwach geworden?“37 Wolf, der tatsächlich vorübergehend V - Mann der Gestapo war, wurde vor weitergehender Verfolgung vermutlich durch seine verwandtschaftlichen Beziehungen zu hohen Funktionären von Polizei und MfS geschützt. Einen Funktionär aus Staßfurt hingegen – der seinen „Verrat“ zunächst in Form einer eidesstattlichen Erklärung geleugnet und erst zugegeben hatte, als ihm ein denunziatorischer Bericht vorgelegt wurde, den er nach seiner Verhaftung 1933 über die KPD - Ortsgruppe geschrieben und mit dem er erreicht hatte, dass er nach wenigen Tagen aus der Haft entlassen wurde – schloss die SED im Jahr 1950 aus ihren Reihen aus. Trotz Tätigkeit als Vorsitzender der Nationalen Front und parteitreuen Verhaltens am 17. Juni 1953 lehnte die Partei zwei Anträge auf Wiederaufnahme ab. Erst Ende 1956 beschloss die Zentrale Parteikontrollkommission ( ZPKK ), den Reumütigen wieder in die SED aufzunehmen.38 Wie verhängnisvoll demgegenüber ein offener Umgang mit dem Thema Gestapokontakte in der stalinistischen DDR der frühen 1950er Jahre sein konnte, musste der aus Württemberg stammende Kommunist und Schriftsteller Friedrich Schlotterbeck erfahren. Er hatte in seinem autobiografischen Roman „Je dunkler die Nacht ...“ beschrieben, dass er im Juli 1943 nach fast zehn Jahren KZ - Haft entlassen worden war unter der Maßgabe, der Gestapo zu berichten.39 Schlotterbeck hatte geglaubt, die Gestapo täuschen zu können, indem er wertlose Berichte abgab und gleichzeitig eine Widerstandsgruppe aufbaute. Ein 37 Stellungnahme zu der Aussprache bei der Leitung der HA III am 24. 3. 1959 ( BStU, MfS, HA IX /11, SV 1/81, Band 293, Bl. 268–270, hier 270). 38 Vgl. Protokoll der 141. Sitzung der ZPKK am 22. 12. 1956 ( SAPMO - BArch, DY 30/ IV 2/4/261, Bl. 92–219, hier 150 f.). 39 Vgl. Friedrich Schlotterbeck, Je dunkler die Nacht ... Erinnerungen eines deutschen Arbeiters 1933–1945, Stuttgart 1986, S. 208–212.

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deutscher Fallschirmagent des sowjetischen Geheimdienstes, der nach seinem Absprung im Reichsgebiet zum Gestapo - V - Mann geworden war, verriet die Widerstandsaktivitäten; Schlotterbeck gelang es, in letzter Minute sein Leben durch Flucht in die Schweiz zu retten. Dort wurde er wegen seines riskanten Spiels mit der Gestapo vorübergehend aus der KPD ausgeschlossen. Die Gestapo rächte sich unterdessen an Schlotterbecks Familie und einigen Unterstützern, die ermordet wurden.40 Nach Kriegsende wirkte Schlotterbeck in Württemberg als Leiter des Deutschen Roten Kreuzes und Mitglied der KPD - Landesleitung. Da sich der Kommunist im Westen zunehmenden Anfeindungen ausgesetzt sah, übersiedelte er 1948 nach Dresden, wo er als Stadtrat für Kultur wirkte. Seine eigenwillige Art führte rasch zu Konflikten mit lokalen Funktionären, in deren Folge Schlotterbeck als Bergarbeiter ins Erzgebirge ging. Auch dort fiel er durch unkonventionelle Reden auf; 1951 schloss ihn die ZPKK aus der SED aus. Zur Begründung führte die ZPKK neben völlig belanglosen Kontakten zum Hilfskomitee des der Spionage verdächtigten US - Amerikaners Noel Field vor allem Schlotterbecks angebliche Tätigkeit als V - Mann der Gestapo an und warf ihm vor, Familie und Genossen gefährdet zu haben.41 Damit nicht genug : Zwei Jahre später gerieten Schlotterbeck und seine Frau Anna in die Mühlen der politischen Justiz. Im Februar 1953 verhaftete das MfS die beiden. Das ein Jahr später gefällte Urteil lautete für Schlotterbeck zunächst sechs Jahre Haft, wurde dann auf drei Jahre reduziert. Diese Strafe musste er voll verbüßen.42

5.

Strafprozesse

Dass die frühen Jahre der DDR ( bis 1956) durch ein rigides strafrechtliches Vorgehen gegen „Verräter“ geprägt waren, wird auch am Beispiel von Willi Fellenberg deutlich. Er hatte zunächst als SED - Politiker Karriere gemacht, seit August 1952 war er 2. Sekretär der SED - Bezirksleitung Neubrandenburg. Anfang 1954 kam der jähe Absturz. Dem Parteiausschluss am 3. März folgte neun Tage später die Verhaftung. Die sich nun anschließende Untersuchung der Staatssicherheit ergab, dass Fellenberg im Mai 1933 in Hamburg nach Verhaftung und Folter die Namen von zwei Genossen preisgegeben hatte. Auch bei einem weiteren Verhör hatte er der Gestapo Namen genannt – um sich gegen den Vorwurf zu verteidigen, Drahtzieher des „Altonaer Blutsonntags“ gewesen zu sein. Am 3. September 1933 schließlich verriet Fellenberg nach erneuter Folter Namen der illegalen Bezirksleitung, deren Versteck in Kopenhagen sowie 40 Vgl. Friedrich Schlotterbeck, ... Wegen Vorbereitung zum Hochverrat hingerichtet ... 2. Auflage Stuttgart 1946; ders., Einige Bemerkungen zu den 13 Begegnungen mit der Gestapo usw., 10. 4. 1953 ( BStU, MfS, AU 309/54, Band 2, Bl. 100–116). 41 Vgl. Abschrift Beschluss ZPKK, Betr. Friedrich Schlotterbeck, 22. 2. 1951 ( BStU, MfS, AU 309/54, Band 6, Bl. 31). 42 Vgl. Beschluss ZPKK vom 30. 6. 1960 ( SAPMO - BArch, DY 30/ IV 2/4/476, Bl. 172 f.).

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den Kurierweg. Später trat er auch noch im Prozess gegen den Funktionär des Roten Frontkämpferbundes Fiete Schulze, der zum Tode verurteilt wurde, als Belastungszeuge auf. Mit seinen Aussagen erreichte Fellenberg ein Ende der Folter, eine vorübergehende dreimonatige Haftentlassung sowie eine „milde“ Strafe von zwei Jahren Zuchthaus bei Anrechnung der U - Haft. Auch wurde er danach nicht ins KZ überstellt, sondern lebte bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs in Freiheit. Die Untersuchung konnte rasch beendet werden, da Fellenberg geständig war. Bereits am 1. Juni 1954 beantragte DDR - Generalstaatsanwalt Ernst Melsheimer die Strafe, und zwar die Todesstrafe. Hermann Matern hielt das „für weitgehend überspitzt“ und leitete eine Prüfung durch die ZPKK ein.43 Nun entschied das Politbüro, dass Fellenberg zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt werden solle, und entsprechend der damals üblichen Praxis folgte das Bezirksgericht Halle am 29. April 1955 dieser „Empfehlung“.44 Schon ein Jahr später indes wurde Fellenberg amnestiert und kam wieder frei.

6.

Reintegration

Das Jahr 1956 brachte eine Zäsur, geradezu eine Kehrtwendung. Die durch Chruschtschows Geheimrede bewirkte Welle von Amnestien in der DDR bedeutete auch für viele inhaftierte „Verräter“ das Ende der Haft. Andere wurden stillschweigend rehabilitiert. So Friedrich Schlotterbeck, dessen Haft bereits im Februar 1956 geendet hatte. Schlotterbecks Verurteilung wurde als „überspitzt“ bezeichnet und schon 1957 aus dem Strafregister gelöscht. 1960 wurde er ohne Kandidatenzeit wieder SED - Mitglied.45 Neben Wiederaufnahmen in die SED kam es auch zu zahlreichen Verpflichtungen ehemaliger „Verräter“ und Gestapo - V - Männer als Inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit. Friedrich Fellenberg beispielsweise stellte dem MfS in den 1960er Jahren nicht nur seine Wohnung als Kontaktwohnung zur Verfügung, sondern steuerte als Geheimer Hauptinformator ( GHI ) mehrere Inoffizielle Mitarbeiter.46 Herbert Kratzsch wurde bereits im Jahr 1953, noch während der Haft in Bautzen, Geheimer Informator ( GI ) der Staatssicherheit. Er sah diese Tätigkeit als Wiedergutmachung an : „Ich habe eine große Schuld zu begleichen und will deswegen bedingungslos die mir gestellten Arbeiten richtig 43 Vgl. Generalstaatsanwalt Melsheimer an Hohen Kommissar der UdSSR in Deutschland, Abt, Justiz, Oberst Jakupow, 1. 6. 1954 ( BArch DP 1/1141, Bl. 21–23); Abschrift dieses Schreibens mit handschriftlichem Vermerk von Matern ( SAPMO - BArch, DY 30/ IV 2/4/28, Bl. 70–72); ZPKK, Betrifft : Fellenberg ( SAPMO - BArch, DY 30/ IV 2/4/28, Bl. 81–83). 44 Vgl. Urteil des Bezirksgerichts Halle vom 29. 4. 1955. In : Christian F. Rüter ( Hg.), DDRJustiz und NS - Verbrechen, Band III, Amsterdam 2003, S. 661–665. 45 Vgl. Beschluss ZPKK vom 30. 6. 1960 ( SAPMO - BArch, DY 30/ IV 2/4/476, Bl. 172 f.). 46 Vgl. MfS - BV Leipzig, Abt. XVIII /5, Aktennotiz, 23. 2. 1965 ( BStU, MfS, BV Leipzig, AIM 1132/71, Teil I, Bl. 45).

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und gewissenhaft ausführen“, schrieb er in einem Lebenslauf für das MfS.47 Nach der Haftentlassung bespitzelte Kratzsch ein Vorstandsmitglied der bundesdeutschen IG Metall, mit dem er persönlich bekannt war. Das MfS prämierte ihn dafür. Die Partei hingegen hielt Distanz. Obwohl sich Kratzsch, der in einem Betonwerk als Brigadier arbeitete, mehrfach darum bemühte, seinen 1946 erfolgten Parteiausschluss rückgängig zu machen – die SED nahm ihn nicht wieder auf.48

7.

Fazit

Die Zusammenarbeit illegal tätiger Kommunisten mit der Gestapo geschah oft erst in Zwangssituationen, nach Vorhalt echter oder gefälschter Geständnisse anderer Verhafteter, durch Erpressung oder Folter. Teilweise „verrieten“ die Verhafteten andere Kommunisten, um eine mildere Strafe oder auch nur ein Ende der Misshandlungen zu erreichen. Teilweise ging es auch nur noch um die Rettung des eigenen Lebens. Obwohl das heute als menschlich verständliche Reaktion in einer Extremsituation erscheint, zogen viele „Verratsfälle“ nach Kriegsende disziplinarische und teilweise strafrechtliche Sanktionen nach sich. Lassen sich aus den Einzelfällen allgemeine Entwicklungslinien erkennen ? Erstens kann für die unmittelbare Nachkriegszeit durchaus das Bemühen um eine der Schwere der Tat angemessene Strafe konstatiert werden. Allerdings war die Bestrafung, setzt man sie in Relation zu den Strafen für andere NS - Täter, sehr hart. Diese Unerbittlichkeit wurde beispielsweise im Prozess gegen Erich Klöden damit begründet, dass gerade er als Kommunist hätte wissen müssen, dass seine Aussagen „die Verhaftung und Aburteilung der Denunzierten und damit für sie Freiheitsberaubung für lange Zeit, Mißhandlungen und körperliche und seelische Leiden der schlimmsten Art im Gefolge haben würden“.49 Zweitens fällt auf, dass Kommunisten, die als V - Leute der Gestapo wirkten – im Fall von Friedrich Schlotterbeck sogar unabhängig vom Nachweis einer tatsächlichen Schuld – härter bestraft wurden als jene, die nur – wie der eingangs erwähnte Willy Zimmerlich – in Verhören schwach geworden waren. Nicht nur die Gerichtsprozesse, auch die Parteiverfahren scheinen nach diesem Kriterium differenziert zu haben. So wurden nicht alle „Verräter“ aus der Partei ausgeschlossen; manchen SED - Funktionären wurden lediglich leitende Positionen verwehrt. Zentral vorgegebene Kriterien lassen sich jedoch ( bisher ) nicht nachweisen, in der Praxis wurde von Fall zu Fall entschieden, im Einzelfall konnten auch gute Beziehungen vor Bestrafung schützen. 47 Lebenslauf vom 15. 10. 1953 ( BStU, MfS, HA IX /11, SV 1/81, Band 303, Bl. 10 f.). Schreibweise korrigiert. 48 Vgl. Abteilung II, Leiter an HVA, Stellvertreter Genosse Generalmajor Jänicke, 10. 10. 1983 ( BStU, MfS, HA IX /11, SV 1/81, Band 255, Bl. 8). 49 Urteil Schwurgericht 37/46, 14 Ks 24/46 vom 28. 11. 1946 ( SächsStAL, Landgericht Leipzig, Nr. 7863, Bl. 100–102).

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Lässt der Umgang der SED mit „Verrätern“ des kommunistischen Widerstands also zumindest partielle Regelmäßigkeiten erkennen, so wurde er doch zweifellos auch von politischen Konjunkturen beeinflusst. Insbesondere kam es im Zuge der politischen Repression nach der 2. Parteikonferenz der SED 1952 zu verschärften strafrechtlichen Verfolgungen. Diese Phase endete mit dem Signal zur Entstalinisierung, das 1956 aus der Sowjetunion kam : Viele Parteiausschlüsse wurden nun revidiert, Inhaftierte begnadigt und entlassen. Fortan überwog die Reintegration, oft verbunden mit dem „Wiedergutmachen“ der Verfehlung durch inoffizielle Tätigkeit für das MfS.

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Der „französische Spionagering“ in Rostock und die sowjetische Staatssicherheitsakte zu Wilhelm Joachim Gauck Stefan Karner

1.

Einleitung

Von den rund 2,6 Millionen Deutschen, die in sowjetischen Lagern des NKWD ( Narodnyj kommissariat wnutrennych del / Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten ) zwischen 1941 und 1956 registriert wurden, waren rund 2,2 Millionen Kriegsgefangene und rund 400 000 Zivilisten ( nicht verurteilte Internierte sowie verurteilte Zivilisten und Kriegsgefangene ).1 Noch am 20. Januar 1950 hielt die Sowjetunion 52 506 ausländische, praktisch ausschließlich Verurteilte ( deutsche Kriegsgefangene und Zivilisten ) fest. Von ihnen saßen rund 46 000 in Lagern des NKWD und etwa 5 700 in Gefängnissen. Ein Teil von ihnen war wegen angelasteter Kriegsverbrechen, der größere Teil aber wegen vorgeblicher Spionagetätigkeit und „Lagerkriminalität“ zu meist 25 - jährigen Haftstrafen in den NKWD / MWD ( Ministerstwo wnurennych del / Ministerium für Innere Angelegenheiten ) Lagern des Gulag und in Haftanstalten verbracht worden. Bis knapp vor Stalins Tod 1953, fällten sowjetische Gerichte Todesurteile gegen Deutsche und Österreicher.2 1

2

Einen sehr guten Überblick bieten u. a. : Viktor B. Konasow / A. L. Kusminych, Nemezkie oennoplennye w SSSR [ Deutsche Kriegsgefangene in der UdSSR ], Wologda 2002 und die Sammelbände : Problemy woennogo plenna. Istorija i sowremennost [Probleme der Kriegsgefangenschaft. Geschichte und Gegenwart ], 2 Bände, Wologda 1997; Maxim M. Sagorulko, Woennoplennye w SSSR 1939–1956. Dokumenty i materialy [Kriegsgefangene in der UdSSR. Dokumente und Materialien ], 5 Bände, Wolgograd 2000 ff., sowie der Überblicksband : Günter Bischof / Stefan Karner / Barbara Stelzl Marx ( Hg.), Kriegsgefangene des Zweiten Weltkrieges. Gefangennahme – Lagerleben – Rückkehr, Wien 2005. Die erste zusammenfassende Darstellung auf sowjetischer Quellenbasis zur Thematik stammt von Stefan Karner, Im Archipel GUPVI. Kriegsgefangenschaft und Internierung in der Sowjetunion 1941–1956, Wien 1995. Vgl. Arsenij Roginskij / Jörg Rudolph / Frank Drauschke / Anne Kaminsky (Hg.), „Erschossen in Moskau ...“ Die deutschen Opfer des Stalinismus auf dem Moskauer Friedhof Donskoje 1950–1953, Berlin 2005; Stefan Karner / Barbara Stelzl - Marx ( Hg.), Stalins letzte Opfer. Verschleppte und erschossene Österreicher in Moskau 1950–1953, Wien 2009.

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Stefan Karner

Die Verurteilungen erfolgten durch Organe der sowjetischen Nachkriegsjustiz ( Dvojkas, Trojkas, Militärtribunale und Sonderkommissionen ) nach dem Strafgesetzbuch der RSFSR und Sonderbefehlen, wie dem „Ukas 43“ ( vor allem angelastete Kriegsverbrechen ).3 Ein großer Teil der Urteile wurde nach 1991 von russischen Gerichtsorganen ( und der Militärstaatsanwaltschaft ) aufgehoben und die Betroffenen, unabhängig davon ob sie noch lebten oder schon tot waren, rehabilitiert.4 Alle Zahlenangaben weichen freilich hinter den bedrückenden Einzelschicksalen zurück. Allein in der SBZ / DDR wurden zwischen Mai 1945 und März 1950 rund 120 000 Personen aus politischen Gründen in sowjetischen Speziallagern interniert, zum Großteil verurteilt, teilweise auch ohne Urteil jahrelang festgehalten.5 Der folgende, spektakuläre Fall, recherchiert vor allem aus dem sowjetischen Akt Wilhelm Joachim Gauck, soll beispielhaft die Vorgehensweise und Zusammenarbeit der Erhebungs - und Justizorgane der DDR und der Sowjetunion zeigen und die drakonischen Strafen, bis zu Todesurteilen, dokumentieren, die für vergleichsweise geringe Vergehen verhängt wurden.

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Die beste Arbeit zu den sowjetischen Gerichtsverfahren, Gerichtsorganen und Urteilen bietet noch immer die Dissertation von : Viktor B. Konasow, Sudebnoe presledowanie nemezkich woennoplennych w SSSR. Wneschnepolititscheskij aspekt problemy [ Die gerichtliche Verfolgung der deutschen Kriegsgefangenen in der UdSSR. Der außenpolitische Aspekt des Problems ], Moskau 1998. Zur militärgerichtlichen Praxis in der Sowjetunion vgl. Stefan Karner / Wjatscheslaw Selemenew ( Hg.), Österreicher und Sudetendeutsche vor sowjetischen Militär - und Strafgerichten in Weißrussland 1945–1950, Graz 2007. Zur Rehabilitierung in Russland vgl. besonders : Günther Wagenlehner, Die russischen Bemühungen um die Rehabilitierung der 1941–1956 verfolgten deutschen Staatsbürger, Bonn 1999 sowie die Beiträge von Vladimir Korotaev, Manfred Blum, Konstantin Nikischkin, Galina Vesnovskaja und Vladimir Kupec im Sammelband : Klaus - Dieter Müller / Konstantin Nikischkin / Günther Wagenlehner ( Hg.), Die Tragödie der Gefangenschaft in Deutschland und in der Sowjetunion 1941–1956, Köln 1988, S. 395–438. Zur Nachkriegsjustiz in der Sowjetunion und in der DDR sowie zu den Haftanstalten und Lagern vgl. vor allem : Bettina Greiner, Verdrängter Terror. Geschichte und Wahrnehmung sowjetischer Speziallager in Deutschland, Hamburg 2010; Andreas Hilger (Hg.), „Tod den Spionen !“ Todesurteile sowjetischer Gerichte in der SBZ / DDR und in der Sowjetunion bis 1953, Göttingen 2006; Andreas Hilger / Mike Schmeitzner / Ute Schmidt ( Hg.), Sowjetische Militärtribunale, Band 2 : Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945–1955, Köln 2003; Sergej Mironenko / Lutz Niethammer / Alexander von Plato ( Hg.), Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950, Band 1 : Studien und Berichte, Berlin 1998; Sergej Mironenko / Lutz Niethammer / Alexander von Plato ( Hg.), Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950, Band 2 : Sowjetische Dokumente zur Lagerpolitik, Berlin 1998; Peter Reif - Spirek / Bodo Ritscher ( Hg.), Speziallager der SBZ. Gedenkstätten mit „doppelter Vergangenheit“, Berlin 1999.

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Der „französische Spionagering“ in Rostock

Deckblatt der Personalakte zu Wilhelm Joachim Gauck.

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2.

Stefan Karner

Verhaftung und Anklage

Freitag, 29. Juni 1951 : Schwerin / Untersuchungsgefängnis, Operativer Sektor des MGB6 in Mecklenburg. Es ist 23 Uhr nachts, eine Stunde vor Mitternacht. Gauck wird seit drei Stunden von Geheimdienst - Major Iwan Uschakow7 im Büro Nr. 102 hart verhört. Fragen über Fragen sind zu beantworten : Geburtsjahr, Wohnadresse, seine Frau Olga, Mutter Antonia in Wustrow, die Kinder Joachim, Marianne, Eckart und Sabine, seine Gymnasialzeit, die Mitgliedschaft in der NSDAP, politische Einstellung, Militärkarriere, die Arbeit im Rostocker Hafen nach dem Krieg. Und dann nennt Uschakow den Grund für die Verhaftung vom 27. Juni : Spionage für den französischen Geheimdienst. Die aus den Akten konstruierten „Beweise“ sind erdrückend. Das erste Verhör wird beendet, Gauck unter strenger Bewachung zurück in Zelle 76 gebracht. Uschakow hat, was er braucht. Gauck war Mitglied eines „Spionageringes“ gegen die sowjetischen und DDR - Interessen. Er wird vor das sowjetische Militärtribunal gestellt und abgeurteilt werden. Noch in der Nacht unterzeichnen Uschakow und sein Vorgesetzter, Hauptmann Sosnow, den Haftbeschluss – eine reine Formsache, denn schon am Vortag hat der Geheimdienstchef der Sowjetischen Militäradministration des Landes Mecklenburg, Oberst Evgenij P. Gorelow8, ein ausgewiesener „Tschekist“, den Haftbeschluss mit Stempel und Unterschrift bestätigt. Die Sowjets und das Ministerium für Staatssicherheit der DDR ( MfS ) sind sich sicher. Sie kennen die Aussagen der zuvor Verhafteten und haben bei ihnen Material sichergestellt. Die sowjetische Gegenspionage und die Stasi sind seit Monaten einem „Spionagering“ auf der Spur. Eher zufällig hält an diesem Tag die Rostocker Kriminalpolizei den 26 - jährigen Schiffsmaschinenschlosser Adalbert Schimmer wegen „Schwarzfahrens“ mit einem Auto an. Schimmer versucht dabei eilig, Papiere zu verstecken. Es gelingt ihm nicht mehr. Es sind verbotene Aufzeichnungen über den Schiffsverkehr im Rostocker Hafen : Ein interessanter Fund für das DDR - Ministerium für Staatssicherheit und die sowjetische Gegenspionage. Nun beginnt die Wühlarbeit der Geheimdienste. 16 weitere Verhaftungen folgen. Auch der Name Gauck taucht auf. Sofort schlägt die Stasi zu, sucht den 45- jährigen Familienvater unter einem Vorwand zunächst in seiner Wohnung in Rostock. Seine Tochter Marianne erklärt den beiden Stasi - Männern in Zivil, er

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MGB = Ministerstwo gosdarstwennoi besopasnosti ( Ministerium für Staatssicherheit ) der Sowjetunion, Vorläufer des KGB. Ab 4. Mai 1946 war die Organe der militärischen Spionageabwehr, die zuvor in der GUKR „Smersch“ [ Akronym : Tod den Spionen ] zusammengefasst waren, Teil des MGB. Vgl. v. a. A. I. Kokurin / N. V. Petrow, Lubjanka. Sprawotschnik, Moskau 2003, S. 8 und 139. Vgl. Nikita Petrov, Die sowjetischen Geheimdienstmitarbeiter in Deutschland. Der leitende Personalstand der Staatsicherheitsorgane der UdSSR in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands und der DDR von 1945–1954, Berlin 2010, S. 756 f. Vgl. Petrov, Die sowjetischen Geheimdienstmitarbeiter in Deutschland, S. 305 f.

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Der „französische Spionagering“ in Rostock

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sei bei seiner Mutter in Wustrow, um mit ihr den 71. Geburtstag zu feiern. Dort wird Gauck am 27. Juni 1951 abends verhaftet.9 Sein Sohn Joachim, damals 11 Jahre alt, schrieb, die Stasi - Mitarbeiter in Zivil hätten sich mit seinem Vater zunächst in die Gartenlaube zurückgezogen. Kurz habe sein Vater sogar überlegt, wegzulaufen, doch fürchtete er Sanktionen gegen seine Familie. Also sei er mit ihnen in einem blauen Opel fortgefahren.10 Ziel der erzwungenen Fahrt ist das Untersuchungsgefängnis des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR und der sowjetischen Gegenspionage ( MGB ) im Schweriner Justizgebäude am Demmlerplatz11. Hier herrschen katastrophale Haftbedingungen : Die Verhafteten sind auf engstem Raum zusammengepfercht, die Zellen überbelegt, die Verpflegung mangelhaft, eine medizinische Versorgung praktisch nicht vorhanden, Folter in vielfältiger Art. Das Schlimmste jedoch ist die totale Isolation von der Außenwelt. Hier werden Regimegegner und Widerständler zu langjähriger Haft verurteilt, viele zum Tod, wie Arno Esch. Für das MfS und die Sowjets scheint der Fall Gauck in Umrissen klar. Daher übernimmt die sowjetische Gegenspionage den Festgenommenen gleich am nächsten Morgen, es ist Donnerstag, der 28. Juni 1951. Ihren Beschluss zum Haftbefehl fasst sie ausschließlich auf Basis des vorhandenen Aktenmaterials : „Gauck Joachim wird verdächtigt, Verbrechen gemäß Art. 58/6, Z.1 und 58/11 des Strafgesetzbuches der RSFSR begangen zu haben“, also Spionage (58/6) und „konterrevolutionäre Tätigkeit“ (58/11).12 Spionage kann mit der Höchststrafe, der Hinrichtung, geahndet werden. Und weiter : „Zur Überprüfung des 9

Alle nicht näher ausgewiesenen wörtlichen Zitate entstammen dem NKWD - Personalakt Wilhelm Joachim Gauck, im RGWA, Moskau, F. 461p, d. 196812; hier S. 2 : Beschluss über die Verhaftung gem. § 100 UPK RSFSR, 29. 6. 1951. Der Beitrag folgt im Wesentlichen, teilweise auch wortident : Stefan Karner, „Die MGB - Akte Joachim Gauck senior“. In : FAZ vom 12. 3. 2012, S. 7. Vgl. auch Ulrich Schmid, Ein liberalkonservativer Herold der Freiheit. In : NZZ vom 19. 3. 2012. 10 Joachim Gauck, Winter im Sommer – Frühling im Herbst. Erinnerungen, 6. Auflage München 2011, S. 10 ff. 11 Vgl. Anne Kaminsky ( Hg.), Orte des Erinnerns. Gedenkzeichen, Gedenkstätten und Museen zur Diktatur in der SBZ und SSR. 2. Auflage Berlin 2008. Der Grundstein für das Justizgebäude wurde am 25. 3. 1914, noch vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, gelegt. 1916 war der Bau fertig gestellt, inklusive dem angeschlossenen, dreistöckigen Gefängnistrakt. Das Gebäude beherbergte verschiedene Gerichte. In der NS - Zeit war es u. a. Sitz des „Anerben - und Gesundheitsgerichtes“ und ein Sondergericht. Im U Gefängnis waren Hunderte politische Häftlinge inhaftiert. 1945 war das Gebäude kurzfristig von westalliierten Truppen besetzt, ehe der sowjetische NKWD / MWD in das Justizgebäude einzog und bis 1954 blieb. Von da an diente das Gebäude dem MfS der DDR und war eine Untersuchungshaftanstalt der Stasi. Vgl. u. a. Johannes Beleites, Schwerin, Demmlerplatz. Die Untersuchungshaftanstalt des MfS in Schwerin, 2. Auflage Schwerin 2004; Kai Langer, Das Schweriner Justizgebäude zwischen Obrigkeitsstaat und Diktatur 1916–1989, 2. Auflage Schwerin 2004 sowie Anne Drescher / Georg Herbstritt / Jörn Mothes, „Recht muss doch Recht bleiben“, Schwerin 1999. Heute befindet sich am Demmlerplatz ein Dokumentationszentrum „für die Opfer deutscher Diktaturen“, zuvor war es eine Außenstelle der „Gauck - Behörde“. 12 RGWA, F. 461p, d. 196812, S. 6–7ob, Verhafteten - Fragebogen, 10. 6. 1951, S. 7ob.

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Stefan Karner

Erkennungsdienstliche Fotos von Wilhelm Joachim Gauck, aufgenommen während der Verhöre 1951.

Festgenommenen müssen weitere Untersuchungen vorgenommen werden. Daher wird befohlen, Joachim Gauck weiter festzuhalten und zu visitieren“. Noch am selben Tag werden ihm bei einer Leibesvisitation, durchgeführt von zwei Wärtern, Mironow und Aksjonow, seine persönliche Gegenstände abgenommen und in den Lagerbestand des Gefängnisses gegeben : Eine Aktentasche, ein Rasierzeug, ein Kugelschreiber. Gauck unterschreibt, dass die „abgenommenen Gegenstände richtig im Protokoll verzeichnet wurden und dass es von seiner Seite keine Klagen und Beschwerden“ gäbe. Es verbleibt ihm nur noch seine Armbanduhr ( Firma : „Siegerin“) mit 25,2 Gramm Gewicht, wie das Protokoll präzise vermerkt, und ein wenig Bargeld. Beides wird ihm später abgenommen. Gauck ist einer der letzten, die in dieser Aktion verhaftet werden. Er kennt die anderen nicht, bis auf ganz wenige – und da haken die Untersuchungsrichter des MGB ein. Die Gangart der Verhöre wird verschärft. Man will mehr von Gauck hören, als ohnehin aus den erbeuteten Materialien hervorgeht und bereits in den aus Verhören konstruierten Papieren steht : Namen, Verbindungen, Material. Hauptmann Sosnow übernimmt selbst die stundenlangen Verhöre, Uschakow wechselt sich mit anderen im Verhörzimmer ab. Bei Tag, bei Nacht. Dazwischen Leibesvisitationen, Fragebögen, Erkennungsdienst und quälende Ungewissheit. Jedes Verhör wird minutiös im Akt verzeichnet, mit Wachpersonal, Dauer, Ort und Aufsehern. Gauck muss dreimal seine Zellen wechseln : Von Zelle 76 kommt er ab Juli in Zelle 58 und ab September in Zelle 62. Es ist anzunehmen, dass man gegen ihn Spitzel („nasedki“) in die Zellen setzte. Immer wieder wird auch der bürokratische MGB - Akt Gaucks selbst auf seine Vollständigkeit und Richtigkeit intern überprüft. Man geht kein Risiko, keinen Formalfehler ein. Um etwa zu verhindern, dass sich der Untersuchungshäftling weiteren Verhören und dem Gericht, vor allem

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Der „französische Spionagering“ in Rostock

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Erste Seite der MWD - Karteikarte vom 8. 7.1951.

durch Flucht, entzieht, befehlen Gorelow und der Militärstaatsanwalt der Schweriner Garnison, Oberstleutnant d. Justiz Suchanow, am 5./6. Juli, Gauck unter Sonderbewachung zu stellen und die Verfügung von ihm gegenzeichnen zu lassen, was Gauck offenbar nicht mehr macht. Möglicherweise auch gar nicht mehr kann, denn gleichzeitig wird er per Order Nr. 8 für 24 Stunden in das Schweriner Gefängnis, unter Oberleutnant Nikitschenko, geworfen und anschließend in die Zelle 58 verlegt. Die Verhöre und Ermittlungen gehen weiter; der Untersuchungszeitraum wird dazu vom Militärstaatsanwalt des MGB der UdSSR eigens bis zum 26. September verlängert. Nun stehen im Zentrum der Erhebungen weitere strafrelevante Tatbestände sowie eine eventuelle Beteiligung Gaucks an nationalsozialistischen Kriegsverbrechen. Beides würde eine Ausweitung der Anklage nach sich ziehen. Man prüft die Mitgliedschaft Gaucks bei der NSDAP seit 1934 und seine Tätigkeit bei der Marine. Gauck hatte schon 1940, mit 34 Jahren, die Prüfung zum Kapitänspatent als „Kapitän auf großer Fahrt“ für Handelsschiffe ( nicht : Kapitän zur See für Kriegsschiffe ) geschafft und später den Rang eines „Oberleutnants der Reserve“ erhalten. Von 1940 bis zu Kriegsende diente er in der Marine.13 Nach Kriegsende findet Gauck, offenbar aufgrund seiner Ausbildung und seiner Marineerfahrung während des Krieges, Arbeit als Arbeitssicherheitsinspektor in einem Trockendock im Hafen von Rostock in der sowjetischen 13 Vgl. Gauck, Winter im Sommer, S. 10.

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Stefan Karner

Besatzungszone Deutschlands. Ausdrücklich hält die sowjetische Erhebung im Untersuchungsakt Nr. 1104 fest, dass Wilhelm Joachim Gauck „am Krieg gegen Sowjetunion nicht teilgenommen hat“.14 Andernfalls hätte dies eine Anklage als Kriegsverbrecher, vermutlich nach Ukas vom 19. April 1943, bedeutet.

3.

Enttarnung des „Spionagerings“

In einem anderen Punkt werden die Untersuchungsrichter allerdings fündig : Bei der Verhaftung Gaucks am 27. Juni 1951 hatte man bei ihm „Zeitschriften mit Artikeln antisowjetischen, antidemokratischen Inhalts“15 aus Hamburg ( damals britische Besatzungszone ) gefunden, die er nicht nur aufbewahrt, sondern auch verbreitet hatte. Womit ein weiterer Straftatbestand hinzukam : Antisowjetische Propaganda, wie sie im Artikel 58/10 des Strafgesetzbuches der RSFSR definiert war. Parallel zu Gauck werden auch die anderen 16 Verhafteten verhört. Die Ermittlungen fördern, nach sowjetischer und Stasi - Lesart, einen „Spionagering“ zutage, der im Auftrag des „französischen Geheimdienstes“ ( es wird nicht gesagt, um welchen Dienst es sich genau handelte ) und unter der Leitung des angeworbenen, 30 - jährigen Deutschen Willy Karbe16, alias Otto Krüger, verschiedene Informationen über die sowjetische Besatzungszone gesammelt und weitergeleitet haben soll. Karbe, der parteilos war, diente während des Krieges in der Deutschen Luftwaffe und war in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten, aus der er Mitte Dezember 1949 entlassen wurde. Er kehrte zu seinen Eltern im französischen Sektor Berlins zurück und meldete sich als „Heimkehrer“ bei der französischen Kommandantur. Vier Monate später, so die Erhebungen der sowjetischen Spionageabwehr, habe ein Mitglied der Residentur „des französischen Nachrichtendienstes“17, Oberst Opier, alias Lemmer, in Berlin Kontakt zu ihm aufgenommen.18 Zuerst wurde Karbe zu einer Schiffswerft in Leningrad / St. Petersburg befragt, auf der 14

RGWA, Moskau, F. 461p, d. 196812, S. 6–7ob, Verhafteten - Fragebogen, 10. 6. 1951, S. 6ob. 15 Ebd., S. 21. 16 Ergänzende Daten zu Willy Karbe : Geb. 10. 11. 1921 in Kraatz / Brandenburg, Kraftfahrer und Musiker, zuletzt wohnhaft in Berlin - Wedding. 1938 Eintritt in die Firma Arnold & Co in Berlin - Schöneberg als Expedient, bald Geschäftsführer. 1940–1945 Dienst in der Deutschen Luftwaffe als Ausbilder und Beobachter einer Fernaufklärer Staffel. 1945–1949 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. März 1950 Eintritt in den französischen Geheimdienst. 19. 5. 1951 Festnahme durch das MfS in Rostock wegen Tätigkeit für den französischen Geheimdienst und Kontakt zu Lars Larsson - Naucke. Er galt als der Kopf des Spionageringes. Am 24. 11. 1952 zum Tod verurteilt und am 1. 3. 1952 in Moskau hingerichtet. Vgl. Roginskij / Drauschke / Kaminsky ( Hg.), „Erschossen in Moskau ...“, S. 251 f. 17 RGWA, F. 461p, d. 196812, S. 9–25. Urteil des MT des Truppenteils 48240 in Schwerin, 24. 11. 1951, S. 13. 18 Roginskij / Drauschke / Kaminsky ( Hg.), „Erschossen in Moskau ...“, S. 252 f.

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Der „französische Spionagering“ in Rostock

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er während seiner Kriegsgefangenschaft in der UdSSR arbeitete. Karbe erwies sich während dieser Befragungen offenbar als dermaßen sorgfältig, fachkundig und kooperativ, dass er im Juni 1950 von dieser Residentur als „Informant“ angeworben wurde. Er erhielt für seine Tätigkeit einen gefälschten Ausweis für die sowjetische Besatzungszone auf den Namen „Otto Krüger“ und eine Fotokamera. Sein Auftrag bestand fortan darin, in der sowjetischen Besatzungszone geeignete Küstenabschnitte für mögliche Truppenlandungen zu fotografieren, Informationen über Trockenwerften, Häfen und Schiffe zu sammeln und Pläne der Anlagen zu erstellen. Zudem sollte er über wahrgenommene Truppenverlegungen und Flugplätze berichten und weitere, aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrte Deutsche für Befragungen und eine geheimdienstliche Arbeit gewinnen. Als Entschädigung für seine Informationsarbeit erhielt Karbe, alias Krüger, wie ihm die Sowjets vorrechneten, monatlich 500 bis 800 DM in bar ausbezahlt.19 Tatsächlich gehen die 16 weiteren Verhaftungen des von den Sowjets so bezeichneten „Spionageringes“ um Rostock letztlich auf Anwerbungen von Karbe zurück : ehemalige Kriegsgefangene, die sich für eine Befragung seitens des französischen Nachrichtendienstes zu Verfügung stellten oder Personen, die sich als „Informanten“ für sein Netzwerk anwerben ließen.20 Am 19. Mai 1951 wird jedoch auch Karbe durch das MfS verhaftet. Einer der angeworbenen „Informanten“ ist Wilhelm Joachim Gauck, der nach Kriegsende nahe seiner Heimatstadt Rostock in einem Trockendock („Neptun“) in Warnemünde eine Arbeit als Arbeitssicherheitsinspektor bekommen hat. Im Januar 1951 wird er von einem Agenten des Netzwerkes Karbe, dem Oberspielleiter des Volkstheaters Rostock, Lars Larsson - Naucke21, auf konkrete geheimdienstliche Aktivitäten angesprochen. Der Kontakt ist für LarssonNaucke erfolgreich : Gauck wird sein „Informant“. Bis zu seiner Verhaftung soll er zahlreiche Informationen zu den im Bau befindlichen Schiffen der „Neptun“Werft weitergegeben haben.22 Im Herbst 1951 sind die Vorerhebungen der sowjetischen Gegenspionage gegen die vorgeblichen Mitglieder des „Spionageringes“ abgeschlossen, der Geheim - Prozess vor dem Militärtribunal des sowjetischen Truppenteils 48 240 19 RGWA, F. 461p, d. 196812, S. 9–25. Urteil des MT des Truppenteils 48240 in Schwerin, 24. 11. 1951, S. 14 f. 20 Ebd., S. 9–12. 21 Lars Larsson - Naucke, geb. 19. 2. 1893 in Oldesloe / Schleswig - Holstein, war der Sohn eines Theaterdirektors in Hamburg, ab 1913 Kapellmeister in Leipzig, danach im Ersten Weltkrieg. 1919–1921 Engagement als Sänger an der Staatsoper in Dresden, 1933 NSDAP - Mitglied, 1934 bis 1936 in der SA. Parallel dazu, schon ab 1921, Sänger, Spielund Oberspielleiter in Chemnitz, ab 1949 Oberspielleiter in Rostock. Am 24. 6. 1951 wegen Spionage für den französischen Geheimdienst verhaftet, am 24. 11. 1951 zum Tod verurteilt und am 1. 3. 1952 in Moskau hingerichtet. Vgl. Roginskij / Drauschke / Kaminsky ( Hg.), „Erschossen in Moskau ...“, S. 281 f. 22 RGWA, F. 461p, d. 196812, S. 9–25. Urteil des MT des Truppenteils 48240 in Schwerin, 24. 11. 1951, S. 21.

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Stefan Karner

in Schwerin auf vier Tage, vom 20.–24. November 1951 festgelegt. Das Schweriner Militärtribunal zählte zu den großen sowjetischen Militärgerichten in der sowjetisch besetzten Zone bzw. in der DDR. Es tagte bis 1953 meistens im Gerichtsgebäude am Demmlerplatz und verurteilte tausende Menschen zu langjährigen Haftstrafen und hunderte zum Tode.

4.

Urteil

Scheinbar emotionslos legte die Anklageschrift den Sachverhalt aus ihrer Sicht dar : „Von französischen geheimdienstlichen Organen wurde in West - Berlin unter Leitung von Oberst Opier, alias Lemmer, eine Spionage - Residentur mit der Aufgabe gegründet, in den Gebieten der Ostseeküste und in den Hafenstädten der SBZ Deutschlands Informationen militärischen und wirtschaftlichen Charakters zu sammeln. Zu diesem Zweck wurde aus den, der Sowjetunion und der DDR - Regierung feindlich eingestellten Deutschen, eine vielköpfige Agentur aufgebaut, die Angaben über sowjetische Truppeneinheiten und Flugplätze erhob, in die DDR - Häfen einlaufende Schiffe, Schiffsreparatur und Schiffsbauwerften, sowie die Ostseeküste von der polnischen Grenze bis zur Demarkationslinie im Westen, die Absetzräume für den Kriegsfall und den Zustand der Küstenverteidigung und der Artillerieanlagen erkundeten. Chef der Residentur war Deutsche Karbe Willy, ehemaliger Feldwebel der Deutschen Luftwaffe.“

Weiterhin werden alle Angeklagten mit ihren wichtigsten Kenndaten, den Umständen ihrer Anwerbung und der Spionagetätigkeit aufgelistet : Adalbert Schimmer23, Karl Jaskulski, Franz Fechner, Eva Kinikowski und ihr Vater Benno, der jedoch in den Westen flüchten konnte, Otto Tschinkel, Willi Stecker, Georg Sauerbaum, Christl Behrens, Friedrich Jager, Otto - Heinz Rachow24, Karl 23 Adalbert Schimmer, Maschinenschlosser, geb. 20. 8. 1926 in Danzig / Gdansk, stammte aus einer Arbeiterfamilie, diente ab 1943 in der Waffen - SS und wurde 1945 an der Ostfront eingesetzt. Nach dem Krieg arbeitete Schimmer in Österreich als Landarbeiter, seine Eltern flohen nach Rostock. Der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes konnte die Familie schließlich in Hamburg wieder zusammenführen. Später arbeitete Schimmer in Rostock auf der Neptun - Werft, war zeitweise arbeitslos und ging 1951 der Kriminalpolizei in Rostock wegen einer „Schwarzfahrt“ mit dem Auto ins Netz. Dabei versuchte er, Notizen zum Schiffsverkehr im Hafen, die er vermutlich selbst angefertigt hatte, zu vernichten. Sofort wurde er als mutmaßliches Mitglied der Gruppe Karbe dem MGB, der sowjetischen Gegenspionage, übergeben. Tatsächlich hatte Schimmer zuletzt auf einem sowjetischen Zerstörer Reparaturen durchgeführt und hatte darüber Karbe in einem Gasthaus erzählt. Die Geheimdienste der DDR bzw. der Sowjets sahen seine Spionagetätigkeit für den französischen Spionagering als erwiesen an, weil er auch andere Leute angeworben hatte. Am 1. März 1952, ein Jahr vor Stalins Tod, wurde Schimmer in Moskau hingerichtet. Vgl. Roginskij / Drauschke / Kaminsky ( Hg.), „Erschossen in Moskau ...“, S. 381. 24 Otto - Heinz Rachow, geb. 20. 1. 1922 in Rostock, arbeitete nach dem Abschluss einer Schlosserlehre zunächst bei den Arado - Flugzeugwerken, rückte 1944 zur Wehrmacht ein, kam 1945 kurzzeitig in polnische Kriegsgefangenschaft und arbeitete anschließend bei der Neptun - Werft in Rostock. 1951 wurde er wegen geheimdienstlicher Arbeit für den französischen Geheimdienst verhaftet, zum Tod verurteilt und am 1. 3. 1952 in

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Rosenberg25, Irmgard Daimer, Gerda und Ludwig Schwitz. Zu Gauck vermerkt die Anklageschrift : „Joachim Gauck ging über den Agenten und V - Mann Lars Larson - Naucke eine verbrecherische Verbindung mit dem Residenten der französischen Aufklärung, dem Deutschen Lebau, ein und übergab über Auftrag des Letzteren der französischen Aufklärung in zwei schriftlichen Berichten, die er durch Larson - Naucke übermittelte, Spionagemitteilungen über die Schiffswerft ‚Neptun‘, über das Trockendock in Warnemünde und über Bauten in der DDR. Außerdem erhielt der Angeklagte Gauck aus Hamburg Zeitschriften mit Artikeln antisowjetischen und antidemokratischen Inhalts, bewahrte sie auf und gab sie anderen zu lesen.“ Alle 17 Mitglieder des Netzwerkes werden wegen Spionage gegen die Sowjetunion schuldig gesprochen, fünf davon zum Tode verurteilt. Die Gnadengesuche werden abgewiesen. Karbe, Schimmer, Rachow, Rosenberg und Larsson - Naucke werden 1952 in Moskau erschossen, verbrannt und ihre Asche auf dem Friedhof des Donskoi Klosters in einem Massengrab vergraben. Heute erinnert ein Gedenkstein auf dem Friedhof an diese letzten Opfer Stalin’scher Justiz. Die verbleibenden 12 Angeklagten erhalten hohe Gulag - Lagerhaftstrafen zwischen 7 und 25 Jahren. Alle Verurteilten wurden mittlerweile von der Russischen Militärstaatsanwaltschaft rehabilitiert. Gauck wird in vier Punkten schuldig gesprochen : in der Hauptanklage „Spionage“ ( Artikel 58/6, Z. 1), im „Unterhalten von Beziehungen zu einem ausländischen Staat oder zu einzelnen Vertretern desselben in konterrevolutionärer Absicht“ ( Artikel 58/3), für „konterrevolutionäre Propaganda und Agitation“ (Artikel 58/10) sowie in der „Vorbereitung oder Begehung der nach Artikel 58 strafbaren Handlungen“ ( Artikel 58/11). Das gesamte Strafmaß für Gauck beträgt 25 Jahre Haft in einem Besserungsarbeitslager des Gulag ( ITL, Isprawitel’no - trudowoj lager’). Nach der Verurteilung erhält er am 26. und 27. Januar 1952 die ihm im Herbst abgenommenen persönlichen Gegenstände wieder zurück, wird nach einer ärztlichen Untersuchung als transportfähig erklärt und erhält folgende Wäsche für den Bahntransport und die Lagerhaft : 1 Bettlaken, 1 Kissenbezug, 1 Handtuch, 1 Unterhose, 1 Sträflingshemd, 1 Decke. Das Urteil und der Verbleib der Häftlinge werden geheim gehalten. Auch seine Frau Olga und die Familie erfahren nichts. Auf Umwegen wird seiner Ehefrau jedoch mitgeteilt, ihr Mann sei ein Spion und sie solle sich scheiden lassen. Die Frau bleibt standhaft, Moskau hingerichtet. Vgl. Roginskij / Drauschke / Kaminsky ( Hg.), „Erschossen in Moskau ...“, S. 353. 25 Karl Rosenberg, geb. 2. 5. 1923 in Rostock, war der Sohn eines Polizeikommissars, arbeitete als Maschinenbauer auf der Neptun - Werft in Rostock, ehe er 1942 auf den französischen Marinestützpunkt Renn als Geselle kam. 1944 diente er in der deutschen Kriegsmarine, kam in US - Gefangenschaft. 1947 arbeitete er bei der deutsch - sowjetischen Transportgesellschaft „Deruta“ in Rostock. 1951 wurde er wegen Spionage verhaftet, zum Tod verurteilt und am 1. 3. 1952 in Moskau hingerichtet. Vgl. Roginskij / Drauschke / Kaminsky ( Hg.), „Erschossen in Moskau ...“, S. 368.

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Stefan Karner

bietet der SED - Diktatur die Stirn. Auch die vier Kinder erliegen den Versuchungen des Regimes nicht. Über Brest, wo die Eisenbahn auf die russische Breitspur wechselt, wird Gauck in das sibirische Gulag - „Sonderlager des Innenministeriums der UdSSR“ Nr. 37, mit der Bezeichnung „Osjorlag“ in Taischet im Westen des Gebietes von Irkutsk verbracht.26 „Osjorlag“ ist die interne Abkürzung für „Osjornyj Lager“ ( abgeleitet von „osero“, See ) und steht für ein ganzes System von einzelnen Lagern, von denen die ersten 1948 als „Sonderlager Nr. 7“ gegründet wurden. Im Dezember 1948 erhalten sie die Tarnbezeichnung „Osjornyj“. Neben anderen bekannten Sonderlagern des GULAG, wie „Retschlag“, „Kraslag“, „Steplag“ oder „Ustwymlag“, ist das „Osjorlag“ einer jener Sonderlager - Komplexe, in denen das sowjetische Innenministerium ab Juli 1949 verstärkt beginnt, verurteilte „Ausländer“ zu internieren.27 Die Inhaftierten, vor allem die „Politischen“, haben Häftlings - und Zwangsarbeit zu verrichten, die vorgegebenen „Arbeitsnormen“ zu erreichen, wollen sie das Minimum an Verpflegung bekommen, um überhaupt zu überleben, und sie sind von den Schikanen ihrer Bewacher, die selbst meist verurteilte Kriminelle sind, abhängig. Im Januar 1952 befinden sich allein im „Osjorlag“ noch rund 37 000 Häftlinge, die vor allem im Eisenbahnbau an der Linie Taischet - Bratsk und bei Holzarbeiten in den umliegenden Wäldern und Gebieten eingesetzt werden. Gauck ist dem Teillager 2 zugeteilt und arbeitet, trotz körperlicher Schwäche (körperlicher Gesamtzustand 2, von maximal 4 Stufen ) vor allem in der Holzbearbeitung und Holzbringung aus den Wäldern ( Brigaden 17, 29 und 20). Dadurch kann er seine fiktive, gesamte Haftzeit, die bis 26. Juni 1976 festgesetzt war, um neun Monate, bis zum 1. Oktober 1975, verkürzen. Schon Ende Februar 1953, knapp vor Stalins Tod, hat Gauck eine Erklärung zu unterschreiben, wonach er den Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 13. Januar 1953 „Über Maßnahmen zur Verstärkung des Kampfes mit besonders schändlichen Erscheinungen des Banditentums unter den Verhafteten in den ITL - Lagern“ zur Kenntnis nimmt. Gauck unterschreibt bereits in russischer Schrift. Am 5. Oktober 1955, nach dem Besuch Konrad Adenauers, in Moskau und der vorgesehenen Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Bonn und Moskau, erhält Gauck die Mitteilung, dass er gemäß Beschluss des Obersten Sowjets vom 28. September in die DDR repatriiert wird. Ob er noch weitere Bemerkungen habe, wird er gefragt. „Nein“, ist seine knappe Antwort. Dass er 26 RGWA, F. 461p, d. 196812, S. 26. Beschluss über die Verbringung des Verurteilten in ein Sonderlager des MWD der UdSSR, 6. 12. 1951; ebd., S. 27, Ordner Nr. 9/ so - 349/3 über die Verbringung des Häftlings Gauck ins Sonderlager des MWD, 17. 1. 1952. Zu den Gulag - Lagern vgl. u. a. Ralf Stettner, „Archipel Gulag“ : Stalins Zwangslager. Terrorinstrument und Wirtschaftsgigant. Entstehung, Organisation und Funktion des sowjetischen Lagersystems 1928–1956, Paderborn 1996. 27 Vgl. Andreas Hilger, „Haft in entlegenen Gebieten“. Zum Problem der Deportationen verurteilter Deutscher. In : Hilger / Schmeitzner / Schmidt ( Hg.), Sowjetische Militärtribunale, Band 2, S. 663–683, hier 678 f.

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Der „französische Spionagering“ in Rostock

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abgemagert und ausgemergelt ist und nahezu alle Zähne verloren hat, nimmt er hin. Die Freude über die Umsetzung des Wunsches „Skoro domoj“ ( Bald geht’s nach Hause ) ist größer. Ab 19. Oktober 1955 fährt er per Eisenbahn den langen Weg, den er vier Jahre zuvor gen Osten im Güterwaggon transportiert worden war, wieder zurück. Nun jedoch über das Repatriierungslager in Frankfurt / Oder heim nach Rostock.

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„... so unpolitisch ...“. Der Dresdner Rechtsanwalt Fritz Glaser (1876–1956) Gerald Hacke Als im Herbst 2013 die Kunstsammlung Hildebrand Gurlitt ins Blickfeld der Öffentlichkeit rückte, tauchte auch der Name eines der vorherigen jüdischen Besitzer in den Medien auf : Dr. Fritz Glaser. Der Rechtsanwalt gehörte in den 1920er Jahren zu den wichtigsten Dresdner Kunstsammlern, stand zwar in der Öffentlichkeit, zumeist jedoch im Schatten der auch als Stifter aufgetretenen Familien Arnhold und Bienert. Eine von der Bundesrechtsanwaltskammer herausgegebene Publikation zum Schicksal jüdischer Anwälte nach 1933 dokumentiert eine wechselreiche, den Brüchen des 20. Jahrhunderts unterworfene Biografie.1 Sie beschreibt einen der künstlerischen Moderne und der politischen Linken zugewandten Liberalen, der 1933 von den Nationalsozialisten aus seinem Beruf vertrieben wurde. Dies allerdings hatte Glaser mit vielen jüdischen Rechtsanwälten in Deutschland gemein. Allein ein Satz lässt später aufhorchen : „Weil er ehemalige NS - Richter verteidigt hatte, wurde ihm 1947 sein Status als Opfer des Faschismus aberkannt.“ Verfahren gegen deutsche Juristen, die vor deutschen Gerichten stattfinden, sind sicher außergewöhnlich. Ein jüdischer, von den Nationalsozialisten verfolgter Rechtsanwalt, der nach dem Weltkrieg NS - Richter verteidigt, ist es noch viel mehr. Welche Beweggründe hatte ein früherer Anwalt der „Roten Hilfe“ für diese Mandatsübernahme ? Während Glasers Rolle als Sammler als gut dokumentiert gelten kann,2 ist Glaser als Rechtsanwalt weitgehend unbekannt. Dabei konzentrieren sich in Glasers Leben, in seinem Schicksal und dem seiner Familie wie selten sonst die Wendungen der deutschen Zeitgeschichte. Es lohnt sich, seiner Biografie vor 1 2

Vgl. Simone Ladwig - Winters, Anwalt ohne Recht. Schicksale jüdischer Rechtsanwälte in Deutschland nach 1933, Berlin 2007, S. 332–334. Heike Biedermann, Die Sammlung Fritz Glaser – „... alles verbotene expressionistische, ‚entartete Kunst‘ !“. In : Von Monet bis Mondrian. Meisterwerke der Moderne aus Dresdner Privatsammlungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hg. von Heike Biedermann, Ulrich Bischoff und Mathias Wagner, München 2006, S. 111–126; Heike Biedermann, Ernst Bursche und die Dresdner Kunstsammler Fritz Glaser und Friedrich Bienert. In : Ernst Bursche zum 100. Geburtstag. Hg. von der Städtischen Galerie Dresden, Dresden 2007, S. 14–19; Sabine Rudolph, Die Auflösung der Sammlung des Rechtsanwaltes Dr. Fritz Salo Glaser. In : KUR. Kunst und Recht. Journal für Kunstrecht, Urheberrecht und Kulturpolitik, 8 (2006) 6, S. 141–144.

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Gerald Hacke

dem Hintergrund der „Goldenen Zwanziger“, der nationalsozialistischen Judenverfolgung nach 1933, aber auch der fragwürdigen Umstände der Entnazifizierung in der sowjetisch besetzten Zone nach 1945 nachzugehen.

1.

Erste berufliche Schritte

Als Sohn des Kaufmannes Michaelis Glaser und dessen Frau Therese, geb. Wertheim, wurde Salo Glaser am 30. August 1876 in Zittau geboren. Hier war sein Vater Gründer und bis zu seinem Tod auch Erster Vorsitzender der Israelitischen Religionsgemeinschaft. Nach seiner Reifeprüfung am Zittauer Gymnasium 1896 begann Glaser in München, Göttingen und Leipzig Jura und Musikwissenschaften zu studieren. Obwohl in Leipzig Meisterschüler von Hugo Riemann (1849–1919)3 entschied er sich letztlich doch gegen ein Kunststudium und für die Rechtswissenschaft. Er schloss seine Erste Juristische Staatsprüfung 1899 in Leipzig ab und absolvierte seinen Vorbereitungsdienst in seiner Heimatstadt, später in Dresden, wo er 1904 auch seine Zweite Staatsprüfung ablegte. Zugleich promovierte er über die „Rechtliche Natur des Verlöbnisses nach dem BGB“.4 Kurz nach seiner Niederlassung als Rechtsanwalt in Dresden – zuerst in der Wilsdruffer Straße 1, später in der Münchner Straße 34 – stellte er den Antrag, seinem Namen Salo den Rufnamen Fritz hinzufügen zu dürfen. Dies wurde ihm mit Verordnung vom 7. Oktober 1905 durch das Königlich - Sächsische Innenministerium auch gestattet.5 1910 heiratete Fritz Glaser Erna Löffler, eine Absolventin der Dresdner Kunstgewerbeschule. Das Paar bezog eine Wohnung in der Zinzendorfstraße 2b und hatte zwei Kinder : Agathe (1911–1968) und Volkmar (1912–1997). Der frisch gebackene Rechtsanwalt war ehrgeizig. Bereits 1906 begann er, sowohl in juristischen Fachzeitschriften als auch für Wirtschaftsverbände und der Tagespresse publizistisch tätig zu werden.6 Dabei machte er keinen Hehl aus seinen liberalen Überzeugungen und war damit vielen seiner Standesgenossen weit voraus. So setzte er sich 1911 und 1912 in zwei Beiträgen mit den Sittlichkeits - und Religionsdelikten im Vorentwurf für ein deutsches Strafgesetzbuch auseinander. Seiner Ansicht nach stand die „Betätigung des Geschlechtstriebes in oder außerhalb der Ehe“ für das Recht „jenseits von Gut und Böse“.

3 4 5 6

Der Bruder des Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt, Willibald Gurlitt, promovierte 1914 bei Hugo Riemann. Lebenslauf von Dr. Fritz Glaser, o. D. [ nach dem 25. 3. 1950] ( SächsHStAD, 13733 Justizverwaltungsstelle Bezirk Dresden, Nr. 525 [ künftig : Personalakte Glaser ], Bl. IV f.). Beglaubigte Abschrift aus dem Geburtsregister des Standesamts Zittau, Nr. 537, vom 19. 4. 1951 ( SächsHStAD, 11430 Bezirkstag / Rat des Bezirkes Dresden, VdN - Akten, Nr. 1992 [ künftig : VdN - Akte Glaser ], unpaginiert ). Eine Aufstellung Glasers an die Justizverwaltungsstelle Dresden vom 11. 7. 1955 nennt allein für die Zeit bis 1930 100 Veröffentlichungen ( Personalakte Glaser, Bl. 201–203).

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Der Dresdner Rechtsanwalt Fritz Glaser

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Unabhängig von gerade gesellschaftlich akzeptierten Moralvorstellungen wollte Glaser den Rahmen juristischer Regularien eng begrenzt sehen. So verneinte er beispielsweise eine nennenswerte gesellschaftliche Gefährdung durch die „widernatürliche Unzucht“ genannte Homosexualität und damit die Notwendigkeit ihrer Bestrafung.7 Ähnlich argumentierte Glaser bei Straftatbeständen wie Gotteslästerung. Weder „Gott“ noch „die Religion“ oder „das religiöse Gefühl“ könnten – so Glaser – objektiv wie subjektiv durch Lästerung verletzt oder beeinträchtigt werden. Grundsätzlich fand er es nicht wünschenswert, „das Gefühlsleben unter Strafschutz gestellt zu sehen“.8 Einen kleinen Höhepunkt erreichte die schriftstellerische Tätigkeit Glasers kurz vor Kriegsbeginn. Der Verein „Recht und Wirtschaft“ hatte 1913 ein Preisgeld für die beste wissenschaftliche Arbeit zum Thema „Das Verhältnis der Presse zur Justiz“ ausgelobt. Die Jury – besetzt aus Vertretern des Vereins Deutscher Zeitungsverleger, des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler und des Reichsverbandes Deutscher Presse – entschied sich unter den pseudonymen Arbeiten für die von Glaser, die er unter dem Namen „Der Optimist“ eingereicht hatte. Auch hier verteidigte er vehement das Recht auf Information und freie Meinung, verwies aber auch auf die Verantwortung der Presse zur Einhaltung gewisser qualitativer Standards. Während die Justiz einerseits auf die Popularisierung ihrer Entscheidungen in der Öffentlichkeit angewiesen sei, könne die natürliche Kluft zwischen formalem Recht und öffentlicher Meinung andererseits durch falsche oder parteiliche Berichterstattung künstlich vergrößert werden.9 Auch der Beginn des Weltkrieges bremste Glasers publizistische Neigungen nicht. Noch 1914 veröffentlichte er eine Broschüre über die Kriegseinflüsse auf die privatrechtlichen Verhältnisse.10 1915 schließlich wurde Fritz Glaser, der sich freiwillig gemeldet hatte, zum Königlich - Sächsischen Fußartillerieregiment Nr. 19 eingezogen. Er erhielt das Eiserne Kreuz 2. Klasse und die Friedrich August - Medaille. Bis 1918 blieb er im Armeedienst, davon ein Jahr an der Front, zuletzt im Range eines Vizefeldwebels. 1917 erhielt er vom Stellvertretenden 7

Fritz Glaser, Die Sittlichkeitsdelikte nach dem Vorentwurfe zu einem deutschen Strafgesetzbuch. In : Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 31 (1911), S. 379– 401, hier 386 und 394 f. 8 Fritz Glaser, Die Religionsdelikte nach dem Vorentwurfe und nach dem Gegenentwurfe zu einem deutschen Strafgesetzbuch. In : ebd., 33 (1912), S. 825–846, hier 833 und 835. 9 Fritz Glaser, Das Verhältnis der Presse zur Justiz unter besonderer Berücksichtigung der Berichterstattung durch die Presse und ihrer gesetzlichen Verantwortlichkeit, Berlin 1914. 10 Der Einfluß des Krieges auf Privatrechtsverhältnisse. Gemeinverständlich dargestellt von Dr. Fritz Glaser, nebst Anhang : Die privatrechtlichen Kriegsgesetze und Kriegsverordnungen mit Erläuterungen, Dresden 1914. Das Vorwort zeigt, dass sich auch Glaser nicht ganz vom patriotischen Gefühl des August 1914 freihalten konnte. Er hoffte, dass „niemand in dieser schweren Zeit ohne dringende Notwendigkeit sein Recht in harter, mitleidsloser Weise werde durchzusetzen suchen. Zu keiner Zeit fühlten wir ja so stark, daß wir ein einig Volk von Brüdern sind.“ Ebd., S. 4.

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Generalkommando XII sechs Wochen Heimaturlaub, um einen Kommentar zum Besitzsteuerrecht fertig zu stellen.11 Das Kriegsende und der gesellschaftliche Umbruch der Jahre 1918/19 markieren in mehrfacher Hinsicht einen Bruch im Leben des Zurückgekehrten.

2.

Kunstsammler aus Passion

Wohl hatte Glaser bereits zwischen 1905 und 1910 begonnen, Zeichnungen und Gemälde zu sammeln. Doch nach 1918 konzentrierte sich seine Sammeltätigkeit auf die zeitgenössische moderne Kunst und hier vor allem auf Dresdner Künstler wie Otto Dix, Conrad Felixmüller, Pol Cassel, Hans Meyboden und Erich Ockert.12 Die Sammlung war Glaser Leidenschaft. Im Gegensatz zu anderen Dresdner Sammlern13 hatte er kaum größere finanzielle Reserven.14 Daher finden sich in der wohl 1 500 Stücke umfassenden Sammlung vor allem Zeichnungen, Aquarelle und Grafiken. Diese waren preiswert zu erwerben, insbesondere wenn sie von noch wenig bekannten Künstlern stammten. Vor allem nach Bezug der „Villa Olga“ in der Bergstraße im Jahr 1926 entwickelte sich das Glaser’sche Heim zum „gastfreien Haus“ für befreundete Künstler. Es war ein Arrangement zum beiderseitigen Vorteil. Die Feste mit Musik und Tanz dienten nicht nur der Geselligkeit und der Bekanntschaft mit bereits etablierten Künstlern wie dem in Dresden stets bei Glaser logierenden Dichter und Kabarettisten Joachim Ringelnatz. Hier konnte – insbesondere in Krisenzeiten – auch der gröbste Hunger gestillt werden. Der kunstinteressierte Rechtsanwalt seinerseits sparte durch den direkten Kontakt nicht nur die Provision für den Kunsthändler.15 Als verhinderter Musiker stand Glaser dem Lebensgefühl „seiner“ Künstler nahe und konnte so – wenn auch nur zeitweise 11

Das Besitzsteuergesetz vom 3. Juli 1913 in der Fassung von § 39 des Kriegssteuergesetzes vom 21. Juni 1916 nebst den Ausführungsbestimmungen des Bundesrates und den Königlich Sächsischen Vollziehungsvorschriften. Erläutert von Dr. Fritz Glaser, Leipzig 1917. 12 Zur Sammlung vgl. Biedermann, Die Sammlung Fritz Glaser, S. 115–121. 13 Zu anderen modernen Dresdner Kunstmäzenen vgl. Von Monet bis Mondrian; das Themenheft „Sammler und Mäzene in Dresden“, Dresdner Hefte. Beiträge zur Kulturgeschichte, 15 (1997) 1; Heike Biedermann, „Mit Ihnen einmal im Orient zu sein, müßte ein Traum sein.“ Die Sammlerin Ida Bienert und Paul Klee. In : Dresdner Hefte, 31 (2013) 4, S. 42–54 sowie Hans - Peter Lühr, Friedrich Bienert und der Geist von Weimar. Eine biografische Studie. In : ebd., S. 55–64. 14 Er konnte nur über die Einnahmen aus seiner Kanzlei verfügen. Selbst Teile der 1924 erstandenen Villa musste Glaser vermieten. Ein eindrückliches Beispiel für Glasers finanziellen Rahmen liefern die Verhandlungen mit Otto Dix über den Preis eines Gemäldes, das Glaser schließlich für 2 500 RM und in Raten erwerben konnte. Vgl. Biedermann, Die Sammlung Glaser, S. 126 ( FN 38). 15 Glaser unterstützte Künstler auch durch Vorschüsse. Kunstwerke bezahlte er mitunter durch Lebensmittelpakete oder juristische Beratung und Vertretung, vgl. dazu Otto Griebel, Ich war ein Mann der Straße. Lebenserinnerungen eines Dresdner Malers, Halle 1986, S. 162 f.

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Der Dresdner Rechtsanwalt Fritz Glaser

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und als Betrachter – an ihrem Bohème - Leben teilnehmen.16 Auf der anderen Seite war „der Rechtsanwalt“, objektiv über den Dingen schwebend, bindungslos auch gegenüber der Familie. Glaser war in dieser Hinsicht ein zerrissener Mensch. Künstler wie Otto Dix, Glaser durch zahlreiche lautstarke Feste vertraut, erkannten dessen Zwiespalt. Sein Porträt des Freundes aus dem Jahr 1921 offenbart den „hadernden Blick“ und die „zerknitterte Seelenlandschaft“.17 Die Nähe zu „seinen“ fast durchweg linksorientierten Künstlern zeigte sich auch in einer zunehmend radikaleren politischen Einstellung. Während sich Fritz Glaser trotz seiner skeptischen Haltung der Religion gegenüber erst nach dem Tod des Vaters 1922 dazu durchringen konnte, mit der Israelitischen Gemeinde zu brechen, trat er bereits im März 1919 mit einem Vortrag zum Thema „Kommunismus und kultureller Fortschritt“ in der Villa des Dresdner Zigarettenfabrikanten und Handelskammerpräsidenten Friedrich Adolph Collenbusch (1841–1921) an die Öffentlichkeit. Im Mai 1920 kam es zum Eklat während einer Veranstaltung der Dresdner Schopenhauer - Gesellschaft. Glaser beabsichtigte, den Vortrag unter dem Titel „Pessimismus und Sozialismus“ durch ein Ko - Referat über die „Idee des Marxistisch - Leninistischen Sozialismus“ zu widerlegen. Die wie ein Plädoyer vorbereitete Gegenrede wurde allerdings durch Rednerliste und Zeitbegrenzung in ihrer Entfaltung gehindert, was Glaser äußerst empörte. Sein impulsives Temperament – von der Mutter ererbt18 – brach sich regelmäßig Bahn, wenn er sich, seine Mandanten oder Kollegen in den Rechten eingeschränkt sah.19 Denn es waren doch seine Anschauungen, die er hier mit Leidenschaft vorgetragen hatte, nicht die von Parteien. So verwahrte er sich gegenüber dem Dresdner Vorsitzenden der Schopenhauer - Gesellschaft, Dr. Franz Mockrauer (1889–1962), denn auch gegen den Vorwurf, „die übliche sozialistische Propagandarede“ gehalten zu haben, denn er habe sich „noch nie in [...] auch nur im allergeringsten parteipolitisch betätigt“.20 Glasers zahlreiche Mitgliedschaften in linken ( Vorfeld - )Or16 Das – inzwischen leider gegen den Willen der Nachkommen in Einzelblättern verkaufte – Gästebuch der Glasers ist mit seinen Zeichnungen, Karikaturen und Sprüchen ein Who is who der künstlerischen Avantgarde der 1920er Jahre in Dresden und darüber hinaus. Es finden sich Eintragungen von Otto Dix, Otto Griebel, Wilhelm Lachnit, Christoph Voll. Vgl. Biedermann, Die Sammlung Glaser, S. 120 f., 123 f. sowie Esther Weiß, Dresden 1912–1945. Dem Sammler Fritz Glaser zum Gedächtnis. In : Exil. Forschung. Erkenntnisse. Ergebnisse, 8 (1988) 2, S. 98. 17 So die Beschreibung des Gemäldes durch Ulrike Knöfel. In : Der Spiegel 40/1999, 4. 10. 1999, S. 290. 18 So Glaser in einem Schreiben an den Landesausschuss der Rechtsanwälte und Notare im Lande Sachsen vom 15. 11. 1948 ( Personalakte Glaser, Bl. 93 f.). 19 Bis 1930 hatte Glaser vier Verhandlungen vor dem Ehrengericht der sächsischen Anwaltskammer ( SächsHStAD, 19116 Personalakten Sächsischer Behörden, Gerichte und Betriebe bis 1945, Teil : Sächsische Anwaltskammer, G 46.30 [ Dr. Fritz Salo Glaser ]). 20 Vgl. Schreiben von Fritz Glaser an Franz Mockrauer vom 26. 5. 1920 bzw. 5. 6. 1920 (Schopenhauer - Archiv der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main ). Ich danke Dr. Jochen Stollberg für diesen weiterführenden Hinweis.

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Gerald Hacke

ganisationen – er selbst zählte nach 1945 etwa die „Liga für Menschenrechte“, die „Gesellschaft der Freunde der Sowjetunion“, den „Reichbanner“, den „Monisten - Bund“ und die „Esperanto - Gesellschaft“ auf – waren wohl eher Zeichen einer diffusen Solidarisierung mit bestimmten Idealen und führten kaum zu intensiver Mitarbeit.21 Tatkräftiger war Glasers juristische Unterstützung von Angeklagten aus dem linken Lager. Noch bevor die „Rote Hilfe“ 1921 als Unterstützungskomitee bzw. 1924 als Mitgliederorganisation gegründet wurde,22 vertrat Fritz Glaser Teilnehmer der bewaffneten Auseinandersetzungen in Sachsen. 1919 verteidigte er Kriegsversehrte aus Dresdner Lazaretten, die in ihrer Empörung über die Kürzung ihrer Invalidenpensionen den sozialdemokratischen sächsischen Kriegsminister Gustav Neuring erst in die Elbe warfen und dann erschossen.23 1920/21 übernahm Glaser das Mandat für einen Teilnehmer des bewaffneten Aufstandes um Max Hoelz im Vogtland, der wegen bewaffneten Raubes vor dem Landgericht Dresden angeklagt war.24 Nach der Etablierung der „Roten Hilfe“ war Glaser in den Landgerichtsbezirken Dresden, Freiberg und Bautzen für diese als Vertragsanwalt tätig.25 Er gehörte damit zu den nur etwa 340 Rechtsanwälten in Deutschland, die sich im Auftrage der „Roten Hilfe“ für politische Angeklagte einsetzten.26 Natürlich blieb der Fachanwalt für Steuerrecht vor allem auf sein Spezialgebiet konzentriert – auch wenn Glaser nach 1945 die Verteidigung in politischen Strafsachen verständlicherweise hervorhob. Da Vertretungen im Auftrag

21 So auch die Schwiegertochter Ute Glaser in einem Gespräch am 19. 3. 2013. 22 Zur „Roten Hilfe“ vgl. Nikolaus Brauns, Schafft Rote Hilfe ! Geschichte und Aktivitäten der proletarischen Hilfsorganisation für politische Gefangene in Deutschland (1919– 1938), Bonn 2003; Sabine Hering / Kurt Schilde ( Hg.), Die Rote Hilfe. Die Geschichte der internationalen „Wohlfahrtsorganisation“ und ihrer sozialen Aktivitäten in Deutschland (1921–1941), Opladen 2003. 23 So auch von Victor Klemperer wiedergegeben, vgl. Victor Klemperer, Die Tagebücher (1933–1945). Kommentierte Gesamtausgabe. Digitale Bibliothek Band 150, Berlin 2007 ( künftig : Klemperer, Tagebücher 1933–1945), S. 2090 ( Eintrag vom 13. 7. 1942). Vgl. zum „Fall Neuring“ Egon Stein, Als Neuring vom Ministersessel in die Elbe stürzte. In: Erlebte Heimatgeschichte. Hg. vom Rat des Kreises Dresden – Pädagogisches Kabinett, Dresden 1960, S. 49. 24 Verfahren gegen Tillmann Dietz vor dem LG Dresden ( SächsHStAD, 11120 Staatsanwalt beim LG Dresden, Nr. 2299). 25 Hinweise auf Glasers Tätigkeit für die „Rote Hilfe“ finden sich vor allem in dessen Lebensläufen und Schreiben nach 1945, dem Zeugnis des Malers Otto Griebel vom 14. 12. 1965 sowie des Architekten Edmund Schuchardt vom 14. 12. 1965 als Anlagen 2 und 6 des Schreibens von Erna Glaser an den Rat der Stadt Dresden, Betreuungsstelle für Kämpfer gegen den Faschismus, vom 20. 12. 1965 VdN - Akte Glaser, unpaginiert ); auf einer alphabetisch geordneten Adressliste der „Roten Hilfe“ in den Handakten Wilhelm Piecks sowie einem Rechenschaftsbericht der „Roten Hilfe“ von 1925, vgl. Heinz - Jürgen Schneider / Erika Schwartz / Josef Schwarz, Die Rechtsanwälte der Roten Hilfe Deutschlands. Politische Strafverteidiger in der Weimarer Republik – Geschichte und Biographien, Bonn 2002, S. 130 f. 26 Vgl. Brauns, Schafft Rote Hilfe, S. 170.

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Der Dresdner Rechtsanwalt Fritz Glaser

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der „Roten Hilfe“ wenig lukrativ waren,27 außerdem dem Bild eines bürgerlichen Steueranwalts schadeten, stellt sich die Frage, warum Glaser an dieser „Nebentätigkeit“ festhielt. Es waren wahrscheinlich die ideelle Verbundenheit mit den Ansichten seiner Mandanten und der Wunsch, diese vor den nicht immer unparteiischen Gerichten der Weimarer Republik ausreichend verteidigt zu wissen. Die Tätigkeit für die „Rote Hilfe“ endete wohl 1926. Glaser hatte sich stets geweigert, der KPD beizutreten. Nun stand der nur nach außen überparteilichen Hilfsorganisation mit dem Kommunisten Rolf Helm (1896–1979) ein in Dresden niedergelassener Rechtsanwalt zur Verfügung, der die Partei zudem in der Dresdner Stadtversammlung vertrat.28 Glaser fühlte sich zurückgesetzt,29 blieb jedoch der Linken verbunden. 1927 beispielsweise unterschrieb er zusammen mit Dresdner Künstlern und Intellektuellen ein Protesttelegramm an die ungarische Regierung mit der Forderung, die dort eben inhaftierten Kommunisten nicht vor ein Standgericht zu stellen.30 Am 25. Januar 1933 nahmen Erna und Fritz Glaser an einer Veranstaltung des „Kampfbundes gegen den Faschismus“ im Keglerheim in der Dresdner Friedrichstadt teil. Als die Polizei bei der umstrittenen Auflösung in die Menge schoss, wurden zwölf Menschen schwer verletzt, neun kamen ums Leben. Das Ehepaar konnte sich mit knapper Not über den Bühnenausgang retten.31

3.

Das Ende eines Lebensentwurfs

Für den jüdischen Rechtsanwalt, für den Sympathisanten der Linken, den Förderer „entarteter“ Kunst bedeutete das Jahr 1933 in mehrfacher Hinsicht einen Einschnitt. Bereits im ersten Jahr der NS - Herrschaft verlor Fritz Glaser die Berechtigung, als Anwalt tätig zu sein. Die auf den Ausschluss jüdischer Anwälte zielenden Abschnitte des „Gesetzes über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft“ vom 7. April 193332 konnten bei Glaser keine Anwendung finden, da er bereits seit 1904 niedergelassen und zudem Kriegsfreiwilliger war. Einen Ausweg bot

27 Die gezahlten Honorare richteten sich zwar nach der vorgeschriebenen Gebührenordnung, lagen effektiv aber durch Stundungen und Spendenaufrufe weit niedriger. Vgl. Brauns, Schafft Rote Hilfe, S. 175 f. 28 Zu Rolf Helm vgl. dessen Autobiografie Anwalt des Volkes, Berlin ( Ost ) 1978. 29 So die Schwiegertochter Ute Glaser in einem Gespräch am 29. 10. 2013. 30 Unterschrieben hatten u. a. die Tänzerin Gret Palucca, der Schauspieler Erich Ponto und der Kunstsammler Friedrich Bienert. Abschrift als Anlage 4 des Schreibens von Erna Glaser an den Rat der Stadt Dresden, Betreuungsstelle für Kämpfer gegen den Faschismus, vom 20. 12. 1965 ( VdN - Akte Glaser, unpaginiert ). 31 Vgl. Zeugnis des Malers Otto Griebel vom 14. 12. 1965 ( ebd.); zum Überfall auf die Versammlung im Keglerheim vgl. Carsten Voigt, Kampfbünde der Arbeiterbwegung. Das Reichsbanner Schwarz - Rot - Gold und der Rote Frontkämpferbund in Sachsen 1924–1933, Köln 2009, S. 396. 32 RGBl. I, S. 188.

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Absatz 3 des Gesetzes, der Personen, die sich im kommunistischen Sinne betätigt hatten, die Zulassung entzog. Interessanterweise wurde im Falle Glasers als Begründung nicht dessen Tätigkeit für die „Rote Hilfe“ herangezogen. Ein Grund dafür könnte sein, dass er in den Jahren der gewalttätigen Konfrontation mit den Nationalsozialisten nicht mehr in politischen Verfahren auftrat. Der bereits erwähnte und 14 Jahre zurückliegende Vortrag in der Villa Collenbusch diente als Vorwand für das Berufsverbot.33 Der ehemalige Fachanwalt für Steuerrecht versuchte eine zeitlang, sich durch eine „Rechts - und Steuerkanzlei“ in seiner Wohnung über Wasser zu halten. Mit dem 1. Juli 1936 wurde ihm auch dies verwehrt. Danach konnte er nur noch für zwei jüdische Firmen in Steuerangelegenheiten tätig sein.34 Nun, da Glaser nicht mehr als Anwalt tätig war, blieb ihm natürlich auch der Ankauf weiterer Kunstwerke verwehrt. Angesichts der Hetzjagd auf „entartete Kunst“ und ihre Urheber war es für einen Juden zudem sehr gefährlich, deren Kunst zu besitzen oder Kontakte zu den Künstlern zu pflegen. Es verdeutlicht Glasers Leidenschaft, dass er dennoch viele Jahre lang versuchte, das Haus für seine Künstlerfreunde offen zuhalten. Der letzte Eintrag im Gästebuch ist datiert vom 28. Mai 1937.35 Danach wurde es einsam um Glaser. Die geliebte Sammlung musste Glaser verstecken. Teile wurden ausgelagert, nur besonders ans Herz gewachsene Stücke im Haus verborgen.36 Alle Unterlagen und Aufzeichnungen über die Sammlung hatte er vernichtet. Diese Vorsicht war nur zu begründet, da die Gestapo in unregelmäßigen Abständen die Wohnung durchsuchte. Einigen dieser von Schlägen begleiteten Durchsuchungen konnte Glaser entgehen, weil er durch einen Polizeibeamten gewarnt worden war.37 Auch am 9. November 1938 erhielt Glaser eine Warnung und verschwand zusammen mit seiner Ehefrau für einige Tage aus Dresden. Zwar wurde er nach 33 Vgl. Schreiben des Sächsischen Ministeriums der Justiz, Dr. Thierack, an Dr. Fritz Salo Glaser vom 29. 9. 1933 ( Personalakte Glaser, Bl. 109). Das sächsische Justizministerium hatte telefonisch die Ehrengerichtsakten Glasers angefordert und diese am 12. 9. 1933 erhalten, dort aber wohl keinen Grund für den Entzug der Zulassung gefunden. (SächsHStAD, 19116 Personalakten Sächsischer Behörden, Gerichte und Betriebe bis 1945, Teil : Sächsische Anwaltskammer, G 46.30 [ Dr. Fritz Salo Glaser ], Band 4). 34 Vgl. Lebenslauf von Fritz Glaser, 1. 3. 1947 ( Personalakte Glaser, Bl. 1d ). 35 Vgl. Biedermann, Ernst Bursche, S. 15. 36 Viktor Klemperer schildert in seinem Tagebucheintrag vom 13. 7. 1942 seine Begegnung mit Teilen der im Hause verbliebenen Sammlung in einer versteckten Kammer. Der der künstlerischen Moderne wenig aufgeschlossene Chronist fand diese aber „magenumdrehend widerwärtig“. Vgl. Klemperer, Tagebücher 1933–1945, S. 2091. 37 Sabine Rudolph nennt ein ehemaliges SPD - Mitglied als warnenden Polizisten. Vgl. Sabine Rudolph, Restitution von Kunstwerken aus jüdischem Besitz. Dingliche Herausgabeansprüche nach deutschem Recht, Berlin 2007, S. 31. Dagegen erinnerte sich die Schwiegertochter Ute Glaser in einem Gespräch am 13. 9. 2013, dass in Familienkreisen ein höherer Gestapobeamter erwähnt wurde, der über Erna Glaser bekannt war und zum Dank Kunstwerke bekam. Auch in den Klemperer - Tagebüchern wird ein Warnanruf an Agathe Glaser aus „gut informiertem natsoc. Kreis“ erwähnt. Vgl. Klemperer, Tagebücher 1933–1945, S. 4639 ( Eintrag vom 23. 1. 1945).

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seiner Rückkehr für drei Wochen im Gefängnis in der Mathildenstraße festgehalten, entkam dadurch jedoch dem Schicksal der 151 verhafteten Dresdner Juden, die unter Schlägen und Folterungen vom Polizeipräsidium Dresden ins Konzentrationslager Buchenwald deportiert wurden.38 Nach dem missglückten Bombenattentat auf Hitler im November 1939 wurde Fritz Glaser wieder verhaftet. Er kam erst nach vier Wochen aus der Haft im Dresdner Polizeipräsidium frei.39 Bis 1938 konnte Glaser seine Kunstsammlung weitgehend zusammenhalten. Erst als die Einnahmen versiegten und auch alle wesentlichen Reserven aufgebraucht waren, musste er sich dazu entschließen, einzelne Kunstwerke zu veräußern. Dazu war er auch gezwungen, weil er mit der „Verordnung über eine Sühneleistung der Juden deutscher Staatsangehörigkeit“ vom 12. November 193840 verpflichtet war, eine Abgabe von 22 500 Reichsmark zu zahlen.41 Gleich nach seiner Haftentlassung aus dem Dresdner Polizeigefängnis im Dezember 1939 ging Glaser nach Berlin. Offiziell diente der Berlinaufenthalt der Vorbereitung auf die Ausreise. Mit Genehmigung der Gestapo wollte sich Fritz Glaser zum Musiker bzw. amerikanischen Buchprüfer ausbilden lassen. Offensichtlich war dies aber auch eine Flucht vor den dauernden Kontrollen und Übergriffen der Gestapo in Dresden. Glaser glaubte sich in der Reichshauptstadt mit seiner immer noch großen jüdischen Gemeinde sicherer als unter den gut kontrollierbaren etwa 1 600 Dresdner Juden.42 Dennoch scheint die Umschulung nicht nur Vorwand gewesen zu sein. In Glasers Unterlagen finden sich englischsprachige Exzerpte von Rezensionen seiner Steuerkommentare, die ihm geeignet schienen, in Bewerbungen Verwendung zu finden.43 Auch in der Familie kursierten Gerüchte, es habe Aussichten auf eine Passage nach Shanghai gegeben. Hier stellt sich die Frage, wie realistisch diese Pläne waren. Angesichts 38 Vgl. Marcus Gryglewski, Zur Geschichte der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Dresden 1933–1945. In : Norbert Haase / Stefi Jersch - Wenzel / Hermann Simon ( Hg.), Die Erinnerung hat ein Gesicht. Fotografien und Dokumente zur nationalsozialistischen Judenverfolgung in Dresden 1933–1945. Bearb. von Marcus Glyglewski, Leipzig 1998, S. 87–150, hier 108. 39 Schreiben von Dr. Linda Ansorg vom 12. 12. 1965 als Anlage 8 des Schreibens von Erna Glaser an den Rat der Stadt Dresden, Betreuungsstelle für Kämpfer gegen den Faschismus, vom 20. 12. 1965 ( VdN - Akte Glaser, unpaginiert ). 40 RGBl. I, S. 1579. 41 Vgl. Lebenslauf von Dr. Fritz Glaser, o. D., nach dem 25. 3. 1950 ( Personalakte Glaser, Bl. IV f.); Fotokopie der Quittung der 5. Rate der Vermögensabgabe vom 1. 2. 1940 als Anlage 9 des Schreibens von Erna Glaser an den Rat der Stadt Dresden, Betreuungsstelle für Kämpfer gegen den Faschismus, vom 20. 12. 1965 ( VdN - Akte Glaser, unpaginiert ). 1941 wurde Fritz Glaser darüber hinaus gezwungen, 20 000 RM aus seiner Lebensversicherung als „Reichsfluchtsteuersicherheit“ dem Finanzamt zu verpfänden. Ebd., Anlage 10 ( VdN - Akte Glaser, unpaginiert ). 42 In Berlin lebten am 17. 5. 1939 noch 82 457 Juden, zur gleichen Zeit umfasste die Dresdner Gemeinde nur 1676 Juden. Vgl. Statistik des Deutschen Reiches, Band 552,4, Berlin 1944. Ich danke Dr. Gunda Ulbricht für diesen Hinweis. 43 Extract from some reviews of books by Dr. Fritz Glaser, Dresden ( Personalakte Glaser, Bl. 4 f.).

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seines fortgeschrittenen Alters, Glaser zählte zu Kriegsbeginn bereits 63 Jahre, und der kompletten wirtschaftlichen Abhängigkeit seiner Frau und seiner Tochter44 war dies wohl unwahrscheinlich. Wichtig war wohl auch die Leidenschaft zu seiner Sammlung : Mit der Emigration hätte Glaser auch seine Sammlung verloren. Nach § 57 des „Gesetzes über die Devisenbewirtschaftung“ vom 12. Dezember 1938 sowie dem Runderlass Nr. 49/39 des Reichswirtschaftsministeriums vom 17. April 1939 unterlag diese einem „unbedingten Mitnahmeverbot“.45 Ende 1941 kehrte Glaser aus Berlin zurück. Mit dem Beginn der Razzien und Deportationen war das Leben in der Reichshaupstadt nun gefährlicher als in Dresden. Fritz Glaser hatte lange Zeit versucht, gegen alle Umstände und Widrigkeiten an seiner Lebensart und seinen Gewohnheiten festzuhalten. Dazu gehörten bis 1937 die Treffen mit Künstlern in seinem Haus, auch die Flucht nach Berlin zeugt von dem Streben, die eigenen Handlungsoptionen aktiv zu erweitern. Der ehemalige Rechtsanwalt blieb auch entgegen aller Verbote Leser in einer privaten Leihbibliothek, die einem verschwiegenen, antifaschistisch eingestellten Kundenkreis noch als jüdisch oder marxistisch verfemte Buchbestände anbot. Die Besuche in den Abendstunden waren umso gefährlicher, als sich die Bibliothek faktisch im Sichtkreis der Gestapoleitzentrale auf der Bismarckstraße befand.46 Während der Kriegszeit hörte Glaser im Hause eines befreundeten Sozialdemokraten zudem „Feindsender“ ab.47 Doch diese Berichte, angefertigt nach 1945 als Beleg für eine „antifaschistische Gesinnung“, zeigen nur eine Seite von Glaser. Wenig ist von Glasers Leben in der Kriegszeit bekannt. Einiges hat sich in Victor Klemperers Tagebüchern erhalten, der Glaser seit 1942 häufiger traf. Nach dessen Schilderungen hatten der Verlauf des Krieges sowie die Entrechtung und beginnende Vernichtung der Dresdner Juden Glasers Widerstandskraft schwer getroffen.48 Während Klemperer aus dem Kriegsverlauf Hoffnungen schöpfte, wurde Glaser immer ängstlicher.49 44 Erna Glaser war nach ihrem Studium an der Dresdner Kunstgewerbeschule nie berufstätig gewesen. Die Tochter Agathe ( Aga ) durfte als Halbjüdin ihre Ausbildung als Modezeichnerin nicht beenden, dem Sohn Volkmar wurde nach erfolgreichem Medizinstudium die Approbation verweigert. Schreiben von Erna Glaser an den Rat der Stadt Dresden, Betreuungsstelle für Kämpfer gegen den Faschismus, vom 20. 12. 1965 ( VdNAkte Glaser, unpaginiert ). 45 Vgl. Sabine Rudolph, Die Entziehung von Kunstwerken aus jüdischen Sammlungen und ihre Restitution. In : Von Monet bis Mondrian, S. 139–147, hier 140. 46 Vgl. Bescheinigung der Pestalozzi - Buchhandlung und Leihbibliothek, Münchner Str. 84, Dresden - A 24 ( früher Lindenaustraße ) für Fritz Glaser ( VdN - Akte Glaser, unpaginiert). 47 Vgl. Bestätigung von Gisela Bachmann für Fritz Glaser, 11. 9. 1946 ( ebd.). 48 Vgl. Eintrag vom 13. 7. 1942 : „die nun erklärliche Angst, der nun begreifliche Pessimismus Glasers. Er glaubt an den dauernden Sieg Hitlers; er hat den Zusammenbruch der Linken aus nächster Nähe gesehen – ‚es ist keine Organisation mehr da‘, wiederholt er immer wieder und zittert vor der Allmacht der Tyrannei“. Klemperer, Tagebücher 1933–1945, S. 2094. 49 Vgl. Eintrag vom 22. 7. 1944 : „Gl[ aser ] war so verstört von Angst, so jämmerlich haltlos – bat mich, ihm nie wieder etwas von ausländischen Berichten zu erzählen –, man könnte durch Folter zu Aussagen gezwungen werden.“ Ebd., S. 3815.

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Nach vielen Deportationen verblieben bis Anfang 1945 nur noch 140 „privilegierte“ Juden in Dresden. Zu diesen gehörte auch Fritz Glaser. Die Ehe mit der „arischen“ Erna Löffler, der zwei nichtjüdisch erzogene Kinder entstammten, hatte Glaser vor dem Umzug ins „Judenhaus“, dem Tragen des „Judensterns“50 und lange Zeit auch vor dem Abtransport nach Theresienstadt bewahrt. Doch zu Beginn des Jahres 1945 entfiel auch dieser Schutz. Am 11. Februar erhielt Fritz Glaser zusammen mit den übriggebliebenen Leidensgenossen seinen Gestellungsbefehl für den Abtransport nach Theresienstadt. Glaser sollte sich am 15. Februar am Zeughausplatz einfinden. Doch was Dresden Tod und Zerstörung brachte, rettete denjenigen Juden das Leben, die das Glück hatten, die Bombenangriffe zu überstehen. Fritz Glaser befand sich in dieser Zeit auf der Bergstraße. Es gelang ihm sogar, eine eingeschlagene Brandbombe zu löschen und damit sein Anwesen und die dort vorhandenen Reste seiner Sammlung vor der Zerstörung zu bewahren. Durch die Bombenangriffe auf Dresden war auch die Infrastruktur der Gestapo nachhaltig zerstört worden. Eine Flucht hatte nun mehr Aussicht auf Erfolg. Glaser machte sich auf den Weg nach Dippoldiswalde, wo bereits Frau und Tochter bei einem Bauern untergekommen waren. Dieser hatte sich jetzt auch bereit erklärt, Fritz Glaser ohne polizeiliche Anmeldung aufzunehmen.51

4.

Ein gescheiterter Neuanfang

Die Zeit der Verfolgung durch die Nationalsozialisten, die Zeit der Angst und des Versteckens, hatte Glaser physisch sehr zugesetzt. Er war inzwischen 68 Jahre alt und ausweislich von Fotografien und Zeugenberichten „sehr klapprig u. senil“.52 Und doch regte sich sein Ehrgeiz wieder. Angesichts des notwendigen Neuaufbaus der Verwaltung brachte er sich im Sommer 1945 als Oberfinanzpräsident bzw. als „verhandlungsleitender Strafkammervorsitzender“ ins Gespräch.53 Diese Ambitionen erfüllten sich nicht, Glaser wurde im Juli 1945 Sachbearbeiter für Straf - und Strafprozessrecht in der sächsischen Landesverwaltung.54 Letzt50 § 3 der Polizeiverordnung über die Kennzeichnung der Juden vom 1. 9. 1941, RGBl. I, S. 547. 51 Vgl. Rudolph, Die Auflösung der Sammlung, S. 143. 52 Vgl. Victor Klemperer, So sitze ich denn zwischen allen Stühlen. Band 1, Tagebücher 1945–1949. Hg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Christian Löser, Berlin 1999 ( künftig : Klemperer, Tagebücher 1945–1949), S. 47 ( Eintrag vom 17. 7. 1945), außerdem Passaufnahme auf vorläufigem VdN - Ausweis ( VdN - Akte Glaser, unpag.). 53 Vgl. Glaser an Direktor Gäbler, Abwicklungsstelle der Sächsischen Landesfinanzverwaltung, Hauptamt des OB zu Dresden, 30. 6. 1945 ( Personalakte Glaser, Bl. 3); sowie Glaser an LV Sachsen, Justiz, Vizepräsident Dr. Reinhard Uhle, 6. 7. 1945 ( ebd., Bl. 6 f.). 54 Zur Situation der Justiz in Sachsen nach 1945 vgl. Andreas Thüsing, Der Wiederaufbau des Justizwesens und die Strafverfolgung von NS - Verbrechen in Sachsen nach 1945. In: Boris Böhm / Gerald Hacke ( Hg.), Fundamentale Gebote der Sittlichkeit. Der „Euthanasie“ - Prozess vor dem Landgericht Dresden 1947, Dresden 2008, S. 48–62.

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lich schien er jedoch froh gewesen zu sein, „einen Posten im Justizministerium erwischt zu haben“.55 Ein erstes Aufgabengebiet fand Glaser in einem Ausschuss, der nach 1933 erlassene oder geänderte Strafgesetze auf ihre zukünftige Gültigkeit prüfte.56 Der ehedem selbständig tätige Rechtsanwalt tat sich allerdings schwer mit der Ministerialbürokratie. Zwar wurde er mit Beschluss der Landesverwaltung Sachsen vom 12. Februar 1946 zum Ministerialrat ernannt, doch wenige Wochen später kam es zum Zusammenstoß zwischen ihm und seinem direkten Vorgesetzten, Dr. Franz Ulich (1884–1962) bzw. dem Generalstaatsanwalt Dr. John - Ulrich Schroeder (1876–1947), die Glasers Aktenordnung und - führung massiv kritisierten. Um arbeitsrechtlichen Konsequenzen zu entgehen, stellte Glaser auf Anraten der beiden am 13. April 1946 einen Antrag auf Wiederzulassung als Rechtsanwalt und als Notar, dem dann auch zum 15. April stattgegeben wurde.57 Daneben war Glaser als „Richter im Ehrenamt“58 sowie als Dozent an der Volksrichterschule in Bad Schandau59 tätig. Nach fast 13 Jahren war er nun wieder Rechtsanwalt. Eines der ersten größeren Verfahren, das er übernahm, war der sogenannte Dresdner Juristenprozess.60 Angeklagte in diesem ersten Verfahren vor einem deutschen Gericht gegen deutsche Juristen waren die ehemals am Dresdner Oberlandesgericht tätigen Senatspräsidenten Dr. Erich Härtel und Hans Fischer, der Oberlandesgerichtsrat Dr. Richard Schulze, der Landgerichtsrat Karl Mueller sowie der dortige Staatsanwalt Dr. Walther Bücking, außerdem der Staatsanwalt am Land-

55 So zumindest Klemperer, Tagebücher 1945–1949, S. 47 ( Eintrag vom 17. 7. 1945). 56 Vgl. Glaser an Amtsgerichtspräsident Dr. Thust, Dresden, 26. 3. 1949 ( Personalakte Glaser, Bl. 102–108, hier 106). 57 Vgl. GStA Schroeder an Vizepräsident Dr. Uhle, 13. 4. 1946 ( ebd., Bl. 38); Wiederzulassung als Anwalt und Notar ( ebd., Bl. 41). Glaser litt wohl auch an den Arbeitsbedingungen. Der fast 70 - Jährige benötigte angesichts der Nachkriegsverkehrsverhältnisse fast zwei Stunden, um vom Sitz der Justizverwaltung in der Fabricestraße nach Hause zu kommen. Vgl. Glaser an Betriebsrat der LV Sachsen, Justiz, 26. 2. 1946 ( ebd., Bl. 26 f.). Klemperer schreibt außerdem, dass Glaser mehrmals in der Dunkelheit überfallen wurde. Vgl. Klemperer, Tagebücher 1945–1949, S. 144 ( Eintrag vom 20. 11. 1945) sowie S. 156 ( Eintrag vom 9. 12. 1945). 58 „Richter im Soforteinsatz“, später im „Ehrendienst“ waren juristisch oder teiljuristisch ausgebildete Personen, die in der SBZ / DDR den Juristenmangel ausgleichen sollten. Oft wurde die Zulassung zum Notariat vom mehrjährigen „freiwilligen“ Einsatz als ehrenamtlicher Richter abhängig gemacht. 59 Zur Geschichte und Funktion der Volksrichterlehrgänge vgl. Julia Pfannkuch, Volksrichterausbildung in Sachsen 1945–1950, Frankfurt a. M. 1993; Andrea Feth, Die Volksrichter. In : Hubert Rottleuthner ( Hg.), Steuerung der Justiz in der DDR. Einflussnahme der Politik auf Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte, Köln 1994, S. 351–377; Hermann Wentker, Volksrichter in der SBZ - DDR 1945 bis 1952. Eine Dokumentation, München 1997. 60 Zum Dresdner Juristenprozess 1947 vgl. Gerald Hacke, Der Dresdner Juristenprozess 1947 im Spannungsfeld der politischen und medialen Auseinandersetzung, In : Jörg Osterloh / Clemens Vollnhals ( Hg.), NS - Prozesse und deutsche Öffentlichkeit. Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR, Göttingen 2011, S. 167–188.

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gericht Leipzig, Dr. Erich Anger. Ihnen wurde von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen, als Richter und Staatsanwälte bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit mitgewirkt zu haben.61 Nun scheint es einigermaßen ungewöhnlich, dass ein gerade eben anerkanntes „Opfer des Faschismus“ die Verteidigung von Personen übernahm, die das NS - Regime mitgetragen hatten. Was waren die Beweggründe für die Mandatsübernahme durch Glaser ? Landgerichtsrat Karl Mueller lernte Glaser im Ausschuss zur Prüfung von nationalsozialistischen Strafgesetzen kennen, dem Mueller einige Zeit vorstand und den er – nach Meinung Glasers – durchaus im antifaschistischen Sinne führte. Die Vertretung des OLG - Rats Richard Schulze, wie auch Mueller kein Parteimitglied, empfahl der spätere Vorsitzende Richter im Juristenprozess Fritz Köst. Auch den weiteren drei Angeklagten, deren Verteidigung Glaser als Pflichtanwalt übernahm, waren zunächst nur wenige Urteile nachzuweisen.62 Ein weiterer Grund für Glasers Engagement könnte seinem Bedürfnis entsprungen sein, auch politischen Parias die Garantien eines Rechtsstaats zu sichern. So wie er, ohne Mitglied der KPD zu sein, in der Weimarer Republik Kommunisten verteidigte, sah er kein Problem darin, nun eben Juristen der NS - Zeit zu verteidigen. Bereits im Frühherbst 1946 versuchte Glaser, Kontakt zu seinen Mandanten zu erhalten. Doch dies wurde ihm bis Februar 1947 auf Anweisung der sowjetischen Besatzungsmacht verwehrt.63 Diese verhinderte zudem die – auch von Polizeiärzten geforderte – Haftentlassung der betagten und teilweise schwerst erkrankten Angeklagten.64 Glaser bereitete sich ausgiebig auf seinen Auftritt vor. Er lehnte den „der deutschen Justiz [...] vollkommen fremden Begriff einer Kollektivschuld“ ab. Für ihn bestand ein fundamentaler Unterschied zwischen „verbrecherischen Kreaturen wie Freisler“ und seinen weitaus geringer belasteten Mandanten.65 Es gelang ihm mit Mühen, die wichtigsten Beiträge der durch Gustav Radbruch in der Süddeutschen Juristenzeitung angestoßenen Diskussion in die sowjetisch besetzte Zone zu bringen. Glaser nahm in seinem Plädoyer wohl die Argumente von Radbruch und Helmut Coing von einem „übergesetzlichen Recht“ auf, das „gesetzlichem Unrecht“ entgegentrete. Vor allem aber verwies er auf die auch von diesen Autoren postulierte weitgehende Straflosig-

61 62

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Vgl. Anklageschrift der OStA am LG Dresden vom 23. 3. 1947 ( SächsHStAD, 11120 StA beim LG Dresden, Nr. 2503, Bl. 229–232). Senatspräsident Hans Fischer war nur einen Monat als Strafrichter im Einsatz, Staatsanwalt Walther Bücking wurde die Beantragung eines Todesurteils zur Last gelegt. Vgl. Lebenslauf von Dr. Fritz Glaser, o. D., nach dem 25. 3. 1950 ( Personalakte Glaser, Bl. IV f.). Vgl. Schriftwechsel von RA Glaser und der LV Sachsen, Abteilung Justiz, 24. 10. 1946 und 30. 10. 1946 ( SächsHStAD, 11120 StA beim LG Dresden, Nr. 2503, Bl. 94 f.). Vgl. beispielsweise Polizeiarzt Dr. Döpinghaus an GStA vom 29. 10. 1946 ( ebd., Bl. 91); Information des Dolmetschers Formann vom 5. 5. 1947 ( ebd., Bl. 206). Lebenslauf von Dr. Fritz Glaser, o. D., nach dem 25. 3. 1950 ( Personalakte Glaser, Bl. V).

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keit richterlichen Handelns.66 Parallelen zur Praxis der Höchststrafen in der Kriegszeit sah Glaser in den von der SED propagierten drakonischen Strafen für Wirtschaftsverbrecher „in Notzeiten“.67 Glaser beantragte Freisprüche für seine Mandanten.68 Obgleich ihnen die Beteiligung an nur wenigen Todesurteilen nachzuweisen waren, forderte Staatsanwalt Heinz Fröbel für sämtliche Angeklagte die Todesstrafe.69 Doch Glasers Verteidigungsrede hinterließ bei Gericht und Beobachtern „einen tiefen Eindruck“.70 Wenn auch das Schwurgericht in der nationalsozialistischen „Blutjustiz“ eine fortgesetzte Kette von Verbrechen gegen die Menschlichkeit sah, an der alle sechs Angeklagten „bewusst als Beihelfer“ mitgewirkt hätten, konnte es sich der Argumentation Glasers nicht völlig entziehen. Obwohl in den Augen des Gerichts die Teilnahme an sich entscheidend war, konstatierte es doch, dass von den damals bekannten 1 285 Hinrichtungen nur ein geringer Teil dem OLG Dresden und ein noch geringerer den Angeklagten angelastet werden könne. Daher schlossen sich Richter und Geschworene der Forderung der Staatsanwaltschaft nicht an und erkannten nur auf eine Teilschuldhaftung. Kriterien bei der Strafzumessung waren Parteimitgliedschaft, Funktion im Justizsystem und Länge der Mitarbeit. Trotz eines Schuldspruches in der Sache, verhängte das Gericht für damalige Verhältnisse geringe Strafen, die von einem Jahr und zwei Monaten Gefängnis bis zu sechs Jahren Zuchthaus reichten.71 Damit wollte sich der Gerichtshof auch von der nationalsozialistischen Strafpraxis absetzen.72 66 Vgl. Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht. In : Süddeutsche Juristenzeitung, 1 (1946) 5, Sp. 105–108; Helmut Coing, Zur Frage der strafrechtlichen Haftung der Richter für die Anwendung naturrechtswidriger Gesetze. In : ebd., 2 (1947) 2, Sp. 61–64. 67 Vgl. Auszug aus dem Verteidigungsschriftsatz von Glaser vom 21. 4. 1947 : „Auch unserem gegenwärtigen Staatswesen sind schwere Strafandrohungen gerade für Wirtschaftssabotage nicht fremd. Dass die Nazi - Gesetzgebung für Hoch - und Landesverrat die im deutschen Gesetzbuch angedrohten Strafen wesentlich erhöht hat, wird ihr unsere Zeit nicht als Unmenschlichkeit anrechnen dürfen, wenn man sieht, dass die SED für Wirtschaftssabotage die Todesstrafe haben will, die jetzige Ernteschutzverordnung auch die Todesstrafe androht.“ ( SächsHStAD, 11120 StA beim LG Dresden, Nr. 2503, Bl. 313). 68 Vgl. Plädoyer Glasers vom 31. 5. 1947 ( SächsHStAD, 11376 LRS, Ministerpräsident, Nr. 1550, Bl. 188–216). 69 Fröbel forderte für alle Angeklagten pauschal die Höchststrafe, insbesondere für Härtel, Bücking und Anger. Für den Fall, dass das Gericht bei Schulze, Mueller und Fischer mildernde Umstände anerkenne, verlangte die StA hier hohe Freiheitsstrafen. Vgl. Plädoyer von StA Heinz Fröbel ( ebd., Bl. 167–180, hier 180) sowie dessen handschriftlichen Notizen mit Strafanträgen und ausgeworfenen Strafen ( SächsHStAD, 11120 StA beim LG Dresden, Nr. 2504, Bl. 35). 70 Strafe für unmenschliche Strafen. In : Die Union vom 4. 6. 1947, S. 1. 71 Härtel erhielt 6 Jahre Zuchthaus, Fischer 2 Jahre Gefängnis, Schulze und Mueller erhielten je 1 Jahr und 2 Monate Gefängnis, Anger sowie Bücking je 3 Jahre Zuchthaus. Bei Schulze und Mueller galt die Haftstrafe mit der Untersuchungshaft verbüßt. Vgl. Urteil des LG Dresden vom 2. 6. 1947 (1 Ks 57/47 [ S ] 35/47), veröffentlicht in : DDR - Justiz und NS - Verbrechen, Band X, S. 542–557 ( Nr. 1592 b ). 72 Vgl. mündliche Urteilsbegründung des Vorsitzenden Richters Fritz Köst ( SächsHStAD, 11376 LRS, Ministerpräsident, Nr. 1550, Bl. 217–232).

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Sah es nach diesem Urteil kurzzeitig so aus, als ob Glaser an seine Erfolge als Strafverteidiger vor 1933 anknüpfen konnte, löste die Kritik der SED - eigenen „Sächsischen Zeitung“73 jäh seinen Absturz aus. Bereits einen Tag nach der Urteilsverkündung wurde ihm die Anerkennung als „Opfer des Faschismus“ und damit die notwendige soziale und moralische Absicherung entzogen.74 Als Grund wurden die beantragten Freisprüche angegeben : Damit habe Glaser „so verteidigt, wie es ein nazistischer Rechtsanwalt nicht hätte besser tun können“.75 Als Beweis galt die Berichterstattung der „Sächsischen Zeitung“. Nachdem die Kampagne gegen Glaser in der kommunistischen Presse immer diffamierender wurde, sprang Erich Leschner, Chefredakteur des liberaldemokratischen „Sächsischen Tageblatts“, Glaser mit einem mehrseitigen Artikel zur Seite. Insbesondere verwies er auf die negativen Folgen der SED - gesteuerten Kritik : Durch die Angriffe, die mit freien Meinungsäußerungen nichts zu tun hätten, bestehe die Gefahr, dass Richter gezwungen würden, gegen Gesetz und Gewissen zu entscheiden.76 Hans Teubner, der Chefredakteur der kommunistischen „Sächsischen Zeitung“, unterstellte dem Tageblatt daraufhin „Verherrlichung des Hitlerregimes“ und „Rechtfertigung der Unmenschlichkeit“.77 Die Kritik an der Maßregelung Glasers zog inzwischen weitere Kreise : Die Verteidiger im Dresdner Ärzteprozess kritisierten die Angriffe und diskutierten eine kollektive Mandatsniederlegung.78 Auch die christdemokratische Zeitung „Die Union“ äußerte sich. Sie distanzierte sich vom „Druck der Straße“ und dem Vorgehen gegen Glaser.79 Glaser musste jedoch erfahren, dass die Solidarisierung an Grenzen stieß. Es ging nicht mehr nur um die Behandlung des Rechtsanwalts Dr. Fritz Glaser, es ging um grundsätzliche Rechtsgarantien, es ging um den Rechtsstaat. Und dieser war unter dem Deckmantel der Entnazifizierung bereits zugunsten einer parteilichen Justiz beiseite geschoben worden. Kritik konnte nur noch für den Kritiker Konsequenzen haben. Hatten die Anwaltskollegen im Juni 1947 noch kollektiven Druck zugunsten Glasers ausüben wollen, nahm der Landesausschuss der Rechtsanwälte und Notare im Lande Sachsen – die frühere Rechtsanwaltskammer ( RAK ) – im September 1947 schon einen viel konzilianteren Standpunkt ein. Einerseits distanzierte er sich gewunden von den Ausführungen Glasers, andererseits vermochte 73 Vgl. Todesstrafe im Dresdner Juristenprozeß beantragt. In : Sächsische Zeitung vom 2. 6. 1947, sowie Menschlichkeit niedrig im Kurs. In : ebd. vom 3. 6. 1947. 74 Vgl. Beschluss der Prüfungskommission des Ortsausschusses OdF Dresden vom 3. 6. 1947 ( VdN - Akte Glaser, unpaginiert ). 75 So VVN - Kreissekretär Herbert Hilse an den Sachbearbeiter der Rasseverfolgten beim Ortsausschuss OdF vom 2. 6. 1947 ( ebd.). 76 Vgl. Das Gesetz der Ethik. Grundsätzliches zum Dresdner Juristenprozess. In : Sächsisches Tageblatt vom 14. 6. 1947. 77 Vgl Für eine Justiz der Menschlichkeit. In : Sächsische Zeitung vom 19. 6. 1947. 78 Vgl. Schreiben der Verteidiger an das Schwurgericht, o. D. ( SächsHStAD, 11120 StA beim LG Dresden, Nr. 2528, Bl. 155). 79 Vgl. Recht und Gesetz. In : Die Union vom 22. 6. 1947.

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er „keinesfalls ein Überschreiten der dem Verteidiger in der pflichtgemäßen Wahrnehmung der Rechte des Angeklagten gezogenen Grenzen“ zu erkennen.80 Die rechtswidrige Forderung nach Ausschluss aus der Kammer, die von der VVN gestellt wurde81 und Anlass für die Anfrage des Justizministeriums war, kritisierte der Landesausschuss nicht. Glaser wandte sich mehrere Male mit der Bitte um Unterstützung an den LDPD - Landeschef und Justizminister Hermann Kastner (1886–1957).82 Dieser war immerhin einer der „Kronzeugen“ in Glasers Argumentation, hatte er doch im September 1945 als kommissarischer Leiter der sächsischen Anwalts - und Notarkammer bestätigt, dass insbesondere Karl Mueller „mit einer weitgehenden Schonung der Angeklagten“ verhandelt habe und von den Rechtsanwälten wiederholt gebeten worden sei, zum Vorteil ihrer ( politischen ) Mandanten auf seinem Posten zu verbleiben.83 Kastner antwortete nicht. Glaser wusste nicht, dass Kastner den Chefredakteur des parteieigenen Tageblatts wegen dessen Solidarisierung mit Glaser im August 1947 vor dem Parteivorstand zum Kotau gezwungen hatte, um ihn dann im November doch von seinem Posten zu entfernen.84 Glasers Insistieren konnte Kastner nur peinlich sein. Als weitaus verstörender empfand Glaser die Reaktionen seiner früheren Gesinnungs - und Leidensgenossen. Der Anwalt hatte in seinem Plädoyer auch den verbrecherischen Charakter der von den Angeklagten angewandten Bestimmungen gegen Hoch - und Landesverrats hinterfragt. Die von der SED - Presse kritisierten Diskrepanzen zwischen Schuldspruch und Strafhöhe waren ja auch Ausdruck des in Ostdeutschland ungeklärten Umgangs mit nationalsozialistischem Justizunrecht : Sollte die „reaktionäre Klassenjustiz“ der Weimarer Republik, die der NS - Diktatur zuletzt blind diente, entlarvt und ausgeschaltet werden oder ging es um die individuelle Tatbeteiligung der Angeklagten ? War die Justiz des „Dritten Reiches“ mit Machtantritt der Nationalsozialisten verbrecherisch oder gab es „Stichtage“, ab denen Juristen den verbrecherischen Charakter erkennen mussten ? Waren nur die massenhaften Todesurteile der Kriegszeit strafbar als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ oder bereits die politischen Verfahren bis 1939 ? Nach Glasers Auffassung konnten die bereits vor 1933 geltenden politischen Paragraphen niemals verbrecherisch im Sinne der alliierten Nürnberger Verfahren sein. Zur Illustration seiner Verteidigungsrede nahm er das Beispiel des ihm gut bekannten kommunistischen Künstlerpaares Eva

80 Landesausschuss der Rechtsanwälte und Notare im Lande Sachsen an das MdJ am 3. 9. 1947 ( Personalakte Glaser, Bl. 72). 81 Vgl. Resolution der VVN - Aktiv 999 vom 18. 6. 1947 ( ebd., Bl. 74). 82 Vgl. Schreiben Glasers an Kastner vom 17. 11. 1947 ( ebd., Bl. 81). 83 Vgl. Schreiben von RA Hermann Kastner vom 2. 10. 1945 ( SächsHStAD, 11120 StA beim LG Dresden, Nr. 2499/1, Bl. 8). 84 Vgl. Protokollnotizen über die Sitzung des Landesvorstands der LDP am 20. August 1947 in Dresden ( Archiv des Deutschen Liberalismus, LDP - Vorstand, L5–266, unpaginiert ); Kastner an Oberstleutnant Mühlstein, SMAS, vom 30. 9. 1947 ( SächsHStAD, 12970 Personalnachlass Prof. Dr. Hermann Kastner, Nr. 54, unpaginiert ).

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Schulze - Knabe und Fritz Schulze auf. Beide waren vom Volksgerichtshof wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ verurteilt worden, Fritz Schulze zum Tode.85 Von dieser „Zeugenschaft“ distanzierte sich Eva Schulze - Knabe in der „Sächsischen Zeitung“. Glaser sei nie Freund des Künstlerpaares gewesen, auch kein Gesinnungsgenosse. Seine Tätigkeit für die „Rote Hilfe“ sei nur „vertragsbedingt“ gewesen.86 Von anderen, früher durch Glaser unterstützten Künstlern ist keine Unterstützung überliefert.87 Glaser, der so gerne dazugehören wollte, blieb allein. Leon Löwenkopf (1892–1966), Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde von Dresden unterstützte den Ausschluss Glasers als „Opfer des Faschismus“. Auch er war der Meinung, dass Glaser schon die Übernahme der Mandate hätte verweigern müssen. Zudem sei es verwerflich von Glaser gewesen, „sein sogenanntes ‚Judesein‘ mit bei der Verteidigung zu verwenden“, sei er doch „vom Judentum 1922 bereits ausgetreten“.88 Dieses Argument gipfelte einige Zeit später in einer Stellungnahme der Dresdner OdF - Prüfungskommission : „Glaser hat sich 1922 durch seinen Austritt offiziell davon losgesagt. Er kann also heute bei uns nicht verlangen, für Nachteile, die ihm trotz seiner Nichtzugehörigkeit zugefügt worden sind, von uns entschädigt zu werden.“89 Auch Victor Klemperer distanzierte sich von Glaser. Obwohl ihm Glaser „erbittert, verzweifelt“ seinen Standpunkt dargelegt hatte, stimmte Klemperer am 9. Juli 1947 auf der Sitzung des VVN - Kreisvorstandes der Aberkennung zu. Es kam zum Bruch zwischen den beiden.90 Da die Auseinandersetzung um den Juristenprozess insbesondere aber um die Behandlung Glasers im lokalen Raum ein beträchtliches Ausmaß angenommen hatte – die christdemokratische „Union“ bezichtigte die SED, als Trägerin der Kampagne, offen des Rückfalls „in den Fehler des Nazisystems“91 –, musste der Fall schnell bereinigt werden. Die angespannte Lage konnte sich nur zu Ungunsten Glasers entwickeln. Nachdem das offizielle Sprachrohr der sowjetischen Besatzungsmacht, die „Tägliche Rundschau“, den Prozessausgang ex cathedra verurteilte, verschwand nicht nur die Kritik an der SED - Kampagne, sondern auch die causa Glaser aus den Medien. Die Einsprüche Glasers gegen die Aberkennung des Opferstatus lehnten sowohl die Kreis - als auch die Landes85 Zu Eva Schulze - Knabe und Fritz Schulze vgl. Birgit Sack / Gerald Hacke, Gezeichnet. Kunst und Widerstand. Das Dresdner Künstlerpaar Eva Schulze - Knabe (1907–1976) und Fritz Schulze (1903–1942), Dresden 2005. Vgl. Plädoyer Glasers vom 31. 5. 1947 (SächsHStAD, 11376 LRS, Ministerpräsident, Nr. 1550, Bl. 188–216, hier 210). 86 Vgl. Eine Antwort an Rechtsanwalt Dr. Glaser. In : Sächsische Zeitung vom 18. 6. 1947. 87 Nur der Maler Otto Griebel setzte sich nach Glasers Tod, wenn auch vergeblich, für dessen Witwe ein ( VdN - Akte Glaser, unpaginiert ). 88 Handschriftliche Stellungnahme Löwenkopfs vom 18. 6. 1947 ( ebd.). 89 Stellungnahme des Mitglieds der Prüfungskommission, Fritz Eichenberg, vom 21.6.1950 ( ebd.). 90 Vgl. Klemperer, Tagebücher 1945–1949, S. 406 ( Eintrag vom 9. 7. 1947); Schreiben Glasers an Victor Klemperer vom 1. 7. 1947 ( VdN - Akte Glaser, unpaginiert ). 91 Recht und Gesetz. In : Die Union vom 22. 6. 1947.

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schiedskommission noch im Herbst 1947 endgültig ab. Ein neuer Antrag, den Glaser 1951 stellte, wurde ebenso abschlägig beschieden.92 Glasers wiederholte Beschwerden, Erklärungen und Protestschreiben verdeutlichen seine Fassungslosigkeit über die Vorwürfe : Er, der früher Kommunisten vor der „Klassenjustiz“ verteidigt hatte, dessen Schwester in Auschwitz verstorben ist, der selbst mit Not die Rasseverfolgung überlebt hatte, wurde nun von Kommunisten des Neo - Faschismus bezichtigt. Rechte, die seine kommunistischen Mandanten vor 1933 selbst gerne in Anspruch genommen hatten, verweigerten sie den Angeklagten nun, da sie an der Macht waren. Protest und Gegenöffentlichkeit, von der KPD in der Weimarer Republik häufig mit Erfolg eingesetzt, wurde nun, als sie selbst die Machtmittel besaß, mundtot gemacht und verboten. Es zeugt von Glasers Berufsethos ( und vielleicht auch von seiner Sturheit ), dass er trotz aller Nachteile, die er durch die Mandatsübernahme erfahren hatte, auch im Revisions - bzw. im Wiederaufnahmeverfahren Anwalt der angeklagten Juristen blieb. Er konnte allerdings nicht verhindern, dass die Strafen vom Landgericht Dresden im Juni 1948 massiv erhöht wurden.93 Glaser hatte in der Folge Probleme, Mandate zu erhalten. Einerseits war er nun vorsichtig in der Übernahme politischer Verfahren,94 andererseits wurde er gemieden. Auch sein ungestümer Charakter stand ihm wieder im Wege. Ein Vorfall im Sommer 1948, der ihm eine „ernste Missbilligung“ einbrachte, zeigt, was sich an Frustration bei Glaser angestaut hatte. Nachdem er die parteiische Behandlung seiner Mandanten im Juristenprozess durch den Vorsitzenden Richter Köst in zwei Verfahren stoisch ertragen hatte, konnte er am 2. Juli nicht an sich halten. Als derselbe Richter in einem anderen Verfahren das Plädoyer eines Verteidigerkollegen wiederholt unterbrach, sprang Glaser hochrot und gestikulierend auf und beschimpfte Köst wegen dessen Eingriffen lautstark. Wieder beruhigt entschuldigte sich Glaser in aller Öffentlichkeit bei Köst.95 Da half es auch nicht, dass selbst Generalstaatsanwalt Rolf Helm dem angegriffenen Köst intern „eine an nazistische Gewohnheiten erinnernde herablassende Art, Angeklagte, Verteidiger und Zeugen zu behandeln“, bescheinigte.96 92 Vgl. Schreiben des Landesprüfungsausschusses im sächsischen Ministerium für Arbeit und Aufbau an Glaser vom 31. 8. 1951 ( VdN - Akte Glaser, unpaginiert ). 93 Hans Fischer erhielt 6 Jahre Zuchthaus, Karl Mueller 3 Jahre Gefängnis, Walter Bücking 10 Jahre Zuchthaus und Erich Anger 12 Jahre Zuchthaus, das Verfahren gegen Schulze war abgetrennt worden. Vgl. Urteil LG Dresden ( Gr. Strafkammer nach Befehl 201) vom 29. 6. 1948 ( StKs 33/48, 1. Gr 17/48). In : DDR - Justiz und NS - Verbrechen, Band X, S. 535–541 ( Nr. 1592a ). 94 Vgl. Schreiben von Dr. Fritz Glaser an Amtsgerichtspräsident Dr. Thust, Dresden vom 26. 3. 1949 ( Personalakte Glaser, Bl. 102–108, hier 107). 95 Vgl. Der „höhere“ Gesichtspunkt des Rechtsanwaltes. In : Sächsische Zeitung vom 18. 7. 1948; Senatspräsident Dr. Fritz Köst an MdJ vom 26. 8. 1948 ( Personalakte Glaser, Bl. 87 f.); Schreiben von Dr. Fritz Glaser an den Landesausschuss der Rechtsanwälte und Notare, 15. 11. 1948 ( ebd., Bl. 93 f.). 96 GStA Land Sachsen an MdJ, Ministerialdirektor Dr. Ulich, betr. Senatspräsident Dr. Köst, Dresden vom 6. 10. 1948 ( SächsHStAD, 11380 LRS, MdJ, Nr. 60, Bl. 16 f.).

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Glasers Anwaltseinkommen schrumpfte immer mehr. Die Gerichte bestellten ihn kaum noch zum Pflichtverteidiger, Armenanwalt oder Vermögensver walter.97 1952 wurden in der DDR Rechtsanwaltskollegien eingerichtet.98 Glaser war von dieser „Kollektivierung“ ausgenommen, versuchte aber dennoch Aufnahme zu finden. Dies hätte ihm eine gewisse ökonomische Sicherheit verschafft. Obwohl Glaser geradezu um Aufnahme bettelte, wurde ihm diese aus Altersgründen verwehrt.99 Im Herbst 1954 forderte Rolf Helm, früherer Kollege bei der „Roten Hilfe“ und inzwischen Abteilungsleiter im DDR - Justizministerium, Glaser ultimativ auf, bis zum Jahresende freiwillig auf eine weitere Tätigkeit als Rechtsanwalt zu verzichten. Glaser erfülle „nicht mehr die Voraussetzungen für eine weitere Tätigkeit als Rechtsanwalt unseres Staates“.100 Glaser war nicht altersrentenversichert. Um überhaupt noch Einnahmen zu haben, versuchte er wenigstens als Gutachter tätig zu sein. Doch ausgerechnet mit Verweis auf das 1935 von den Nationalsozialisten erlassene „Gesetz zur Verhinderung von Missbräuchen auf dem Gebiet der Rechtsberatung“ verweigerte sich die Justizverwaltungsstelle Dresden – entgegen dem Votum von Rolf Helm !101 – diesem Begehren.102 Im September 1955 erhielt Glaser ein endgültiges Betätigungsverbot.103 Reichlich ein Jahr später, am 18. Oktober 1956, verstarb der Achtzigjährige weitgehend unbeachtet.

5.

Fazit

Victor Klemperer traf das Ehepaar Glaser nach dem Bruch der beiden Männer am 4. August 1947 anlässlich einer Ausstellung Dresdner Künstler noch einmal. Glaser gab schweigend die Hand. Über das Gespräch mit Erna Glaser schrieb Klemperer : „Sie gab mir recht – er sei nur ‚so unpolitisch‘.“104 Glaser war unpolitisch, wenn politisch eine aktive Mitgliedschaft in einer Partei, aktive Unterstützung politischer Ziele meint. Auch seine Kritik am Rechtssystem der jungen DDR führte nicht zu aktiver Gegnerschaft. Glaser konnte und wollte 97 Vgl. Schreiben Glasers an die LRS, HA Justiz, vom 6. 5. 1952 und 19. 6. 1952 ( Personalakte Glaser, Bl. 155 f.). 98 Vgl. Thomas Lorenz, Die „Kollektivierung“ der Rechtsanwaltschaft als Methode zur systematischen Abschaffung der freien Advokatur. In : Rottleuthner ( Hg.), Steuerung der Justiz in der DDR, S. 409–428; Felix Busse, Deutsche Anwälte. Geschichte der deutschen Anwaltschaft 1945–2009. Entwicklungen in West und Ost, Berlin 2009, S. 375– 530. 99 Vgl. Schreiben Glasers an das Rechtsanwaltskollegium für den Bezirk Dresden vom 6. 10. 1953 ( Personalakte Glaser, Bl. 162). 100 MdJ, Abt. 2 an Glaser vom 10. 11. 1954 ( ebd., Bl. 184). 101 Vgl. Schreiben MdJ, Abt. 2 an die Justizverwaltungsstelle Dresden vom 24. 8. 1955 (ebd., unpaginiert ). 102 Justizverwaltungsstelle Dresden an MdJ, Abt. 2, 8. 9. 1955 ( ebd., unpaginiert ). 103 Vgl. Schreiben MdJ an Glaser vom 13. 9. 1955 ( ebd., unpaginiert ). 104 Klemperer, Tagebücher 1945–1949, S. 414 f. ( Eintrag vom 4. 8. 1947).

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aber nicht akzeptieren, dass die unter der Fahne des „Antifaschismus“ laufende Abrechnung und Säuberung Vorrang vor rechtsstaatlichen Prinzipien haben solle. Insofern konnte ihm das Urteil, er sei „so unpolitisch“ – von Klemperer als Bestätigung seines ( SED - )Standpunktes gewertet – nur zum Vorteil gereichen : Politik hatte im Recht nichts verloren. Hier blieb er stur bis zur Weltfremdheit. Was blieb am Ende ? Glaser hatte in einem Beschwerdebrief an die sächsische Landesverwaltung 1951 düster seine Zukunftsaussichten beschrieben : „75 Jahre alt, sind meine Restjahre gezählt. Aber mit Bitterkeit sehe ich dem Schicksal meiner späteren Hinterbliebenen entgegen, insbesondere dem meiner Tochter, die als Mischling durch die Judengesetzgebung der Nazis um erhofftes Eheglück betrogen ist, und dem meiner Frau, der ich so gut wie nichts werde hinterlassen können. Erst war sie 12 Jahre lang das verfemte Weib eines antifaschistischen Juden. Jetzt wird sie sein desselben neofaschistischen Juden verfemte Witwe.“105 Diese Befürchtungen sollten sich bewahrheiten. Als Glaser am 18. Oktober 1956 starb, hinterließ er Erna und Agathe Glaser weitgehend unversorgt. Beide waren gezwungen, schrittweise die bescheidenen Reste der Kunstsammlung zu veräußern. Zwei Versuche, Glasers Ausschluss als OdF zu revidieren und damit in den Genuss einer ( geringfügigen ) Hinterbliebenenrente zu gelangen, scheiterten 1962 und 1966. Trotz prominenter Fürsprache – sowohl der Präsident der DDR - Volkskammer, Johannes Dieckmann, als auch die Dozentin an der Humboldt - Universität Berlin, Dr. Linda Ansorg, verwiesen auf die veränderte politische Lage und die neue Sichtweise auf die „sozialistische Rechtsstaatlichkeit“ – lehnte die VdN - Kreiskommission Dresden den Antrag Erna Glasers ab. An der causa Glaser durfte nicht mehr gerührt werden. Täglich betrachten heute Hunderte Besucher der Dresdner Gemäldegalerie Otto Dix’ Gemälde „Familie Rechtsanwalt Dr. Fritz Glaser“. Der größte Teil der Sammlung Glasers ist in alle Welt zerstreut. Der Sammler selbst wird in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Das Unrecht, das an dem streitbaren und sicher unbequemen Rechtsanwalt und seiner Familie nach 1933 und auch nach 1945 in Dresden verübt wurde, scheint neben der Strahlkraft der früheren Kunstsammlung zu verblassen.

105 Schreiben Glasers an den Landesprüfungsausschuss im sächsischen Ministerium für Arbeit und Aufbau vom 29. 9. 1951 ( VdN - Akte Glaser, unpaginiert ).

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Wilhelm Pieck und Konrad Adenauer – zwei deutsche Lebensläufe im 20. Jahrhundert Christopher Beckmann

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Jahrgang 1876

Als 1956 im Rahmen der bombastischen Feierlichkeiten zum 80. Geburtstag des Präsidenten der DDR in Ost - Berlin eine Wilhelm - Pieck - Ausstellung eröffnet wurde, dürfte ein Exponat bei so manchem Besucher Erstaunen ausgelöst haben. Es handelte sich um die 1930 ausgestellte offizielle Bestätigung, dass Pieck Mitglied des Preußischen Staatsrats sei. Unterzeichnet ist das Dokument von dessen Präsidenten, dem damaligen Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer, mittlerweile eines der bevorzugten Feindbilder der SED - Propaganda.1 Der Preußische Staatsrat war der Ort, an dem sich die Lebenswege der beiden 1876 im Abstand von wenigen Tagen geborenen – Pieck kam am 3., Adenauer am 5. Januar zur Welt – Repräsentanten beider deutscher Staaten kreuzten. Angesichts ihrer Gleichaltrigkeit bis fast auf den Tag und ihrer Rolle in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts erscheint es interessant, ihre Lebensläufe einer vergleichenden Betrachtung zu unterziehen. Vergleichende biographische Studien sind keine moderne Erfindung. Schon der im 1. und 2. Jahrhundert n. Chr. lebende griechische Historiker Plutarch hat sich lang anhaltenden Ruhm erworben, indem er in literarisch brillanten Abhandlungen jeweils zwei im Guten oder auch weniger Guten berühmte Gestalten zusammen porträtierte.2 Im 20. Jahrhundert war die Geschichtswissenschaft lange Zeit davon überzeugt, dass derartige Vergleiche keinen nennenswerten Erkenntnisgewinn erbringen könnten, zumal auch die Bedeutung des Faktors Persönlichkeit in der Geschichte eher gering eingeschätzt wurde und man sich stärker auf strukturelle, gewissermaßen überpersönliche Prozesse konzentrierte. In den 1970er Jahren wurde gar in der deutschen Geschichts-

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„Putzfrauen bohnern für Pieck“. In : Der Mittag vom 3. 1. 1956. Eine andere westdeutsche Zeitung schrieb angesichts der Feierlichkeiten von „einem kaum noch zu überbietenden Byzantinismus“ („Vater des Vaterlandes“. In : Frankfurter Rundschau vom 4. 1. 1956). Konrat Ziegler ( Hg.), Plutarch : Große Griechen und Römer. 6 Bände, Zürich 1954– 1965.

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wissenschaft eine regelrechte „Individualitätsprüderie“ konstatiert.3 Dies hat sich wieder geändert, wie eine kaum noch übersehbare Flut an historischen Biographien zeigt.4 Und auch Doppelbiographien finden sich durchaus wieder; das bekannteste Beispiel ist wohl das 1991 von Allan Bullock vorgelegte Buch über Hitler und Stalin, das den Untertitel „Parallele Leben“ trägt.5 Nun verbietet es sich natürlich, Wilhelm Pieck und Konrad Adenauer in einem Atemzug mit Hitler und Stalin zu nennen ( ebenso wie der Verfasser sich übrigens keinesfalls mit Plutarch oder Lord Bullock auf eine Stufe stellen möchte ). Aber abgesehen davon, dass beider Leben in erheblichem Maße von den Taten dieser mörderischen Exponenten des modernen Totalitarismus beeinflusst wurde, ist „parallele Leben“ auch hier eine durchaus zutreffende Beschreibung. Parallelen berühren sich nicht, sie verlaufen aber in dieselbe Richtung und die Abstände zwischen ihnen können groß oder klein sein. Die Leben von Konrad Adenauer und Wilhelm Pieck verliefen in der Tat parallel, zeitlich, aber auch historisch, und hielten in der Regel einen – durchaus variierenden – Abstand. Dieser war bedingt durch die unterschiedlichen Milieus, in denen sie verwurzelt waren, durch das unterschiedliche Schicksal während des „Dritten Reiches“ und schließlich durch die deutsche Teilung, die sie zu Vertretern der antagonistischen Gesellschaftssysteme des Kalten Krieges machte. Im Folgenden sollen zunächst die Lebensläufe der beiden – parallel – skizziert und sodann einige sicherlich noch der Vertiefung bedürfende Vergleichsaspekte knapp angerissen werden. Ein Problem stellt dabei die sehr ungleichgewichtige Forschungslage dar. Mit den Publikationen, die Leben und Wirken Adenauers thematisieren, lassen sich ganze Regalwände füllen.6 Demgegenüber ist die Literatur zu Pieck spärlich gesät. Neben den stark hagiographisch geprägten Darstellungen aus DDR - Zeiten7 liegen keine wissenschaftlichen Publikationen vor. Der Mangel an biographischen Arbeiten zu führenden Politikern ist übrigens ein grundsätzliches Manko der DDR - Forschung,8 was neben der oftmals schwierigen Quellen3 4 5 6

7 8

Wilhelm Berges, Biographie und Autobiographie heute. In : Aus Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft. Festschrift für Hans Herzfeld zum 80. Geburtstag, Berlin (West) 1972, S. 27–48, hier 29. Vgl. u. a. Christopher Beckmann, Nach der „Individualitätsprüderie“ : Die ungebrochene „Faszination des Biographischen“. Zeitgeschichtliche biographische Neuerscheinungen 2012. In: Historische Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft, 26 (2013/14), S. 419–443. Allan Bullock, Hitler und Stalin. Parallele Leben, Berlin 1991. Als Beispiel aus jüngster Zeit siehe etwa Uwe Schultz, Der König und sein Richter. Ludwig XVI. und Robespierre. Eine Doppelbiographie, München 2012. Vgl. die umfangreichen bibliographischen Angaben unter http ://www.konrad - adenauer.de / bibliographie; 28. 4. 2014. In der „Rhöndorfer Ausgabe“ der Briefe und Teegespräche Konrad Adenauers sind seit 1983 insgesamt 18 vorzüglich edierte Bände erschienen, zuletzt : Adenauer und die FDP. Bearb. von Holger Löttel, Paderborn 2013. Die gewissermaßen parteiamtliche Darstellung ist Heinz Voßke / Gerhard Nitzsche, Wilhelm Pieck. Biographischer Abriss, Berlin ( Ost ) 1975. Ferner : Wilhelm Pieck, Gesammelte Reden und Schriften. 6 Bände, Berlin ( Ost ) 1959–1979. Martin Sabrow, Der führende Repräsentant. Erich Honecker in generationsbiographischer Perspektive. In : Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Online - Ausgabe, 10 (2013) 1; 23. 5. 2013.

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lage auch auf „die Farblosigkeit der meisten DDR - Machthaber“ zurückgeführt wurde.9 Aber selbst in den wenigen Sammelbänden, in denen auch die Lebensläufe zumindest einiger DDR - Größen skizziert werden, sucht man Wilhelm Pieck vergeblich.10 Für Aufsehen sorgte 1994 Wilfried Loths kühne, auf der Grundlage handschriftlicher Aufzeichnungen Piecks entwickelte These, Stalin habe weder einen Separatstaat auf dem Boden der sowjetischen Besatzungszone noch überhaupt einen sozialistischen Staat gewollt, sondern eine weltpolitisch neutrale parlamentarische Demokratie für ganz Deutschland, die der Sowjetunion den Zugang zu dessen industriellen Ressourcen eröffnet hätte.11 Hierüber und über die Interpretation von Piecks Notizen12 entwickelte sich eine Kontroverse innerhalb der zeithistorischen Forschung. Die gegenteilige These, wonach Stalin kein demokratisches, sondern ein sowjetisiertes Gesamtdeutschland angestrebt habe, hat Gerhard Wettig unlängst erneut formuliert.13 Wie dem auch sei – auch bei Loth stand Pieck nicht als Person und Akteur, sondern als Quelle für Stalins vermeintliche deutschlandpolitische Absichten im Vordergrund.

2.

Zwei deutsche Lebensläufe

Geboren wurde Wilhelm Pieck am 3. Januar 1876 in Guben als Sohn eines Kutschers und einer Wäscherin. Adenauer kam zwei Tage später in Köln als Sohn eines Gerichtssekretärs zur Welt. Seine Mutter besserte mit Näharbeiten das knappe Familieneinkommen auf. Nach Absolvierung der Volksschule begann Pieck 1890 eine Tischlerlehre und begab sich nach deren Abschluss auf Wanderschaft. Dabei kam der aus streng katholischem Hause stammende junge Mann erstmals in Kontakt mit der Arbeiterbewegung, der er sich bald anschloss. Er sei, so die parteioffizielle retrospektive Deutung, „organisch aus und mit seiner Klasse gewachsen“.14 Auch habe er schon früh gegen die religiöse Praxis in der Familie aufbegehrt und den Besuch der Messe verweigert. 1895 wurde er Mitglied der SPD. Seit 1896 arbeitete er als Tischler in Bremen, wo er 1905 in die Bürgerschaft gewählt wurde, der er bis 1910 angehörte. Seit 1906 war er hauptamtlicher Erster Sekretär der Bremer SPD. 1907/1908 besuchte er die 9

Vgl. Udo Wengst, Deutschland seit 1945. Teil III. In : Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 58 (2007), S. 195–210, hier 210. 10 Vgl. etwa Torsten Oppelland ( Hg.), Deutsche Politiker 1949–1969. 2 Bände, Darmstadt 1999. Enthalten sind Beiträge zu Otto Nuschke, Johannes Dieckmann, Walter Ulbricht, Otto Grotewohl, Hilde Benjamin, Albert Norden, Karl Schirdewan, Bruno Leuschner und Gerald Götting. 11 Wilfried Loth, Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die DDR nicht wollte, Berlin 1994. 12 Wilhelm Pieck, Aufzeichnungen zur Deutschlandpolitik 1945–1953. Hg. von Rolf Badstübner und Wilfried Loth, Berlin 1994. 13 Gerhard Wettig ( Hg.), Der Tjul’panov - Bericht. Sowjetische Besatzungspolitik in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2012. 14 Voßke / Nitzsche, Wilhelm Pieck, S. 9.

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Reichsparteischule der SPD, wo er unter den Einfluss Rosa Luxemburgs kam, die ihn einmal wenig schmeichelhaft als einen ihrer eifrigsten, aber auch dümmsten Schüler bezeichnet haben soll.15 Während Wilhelm Pieck also im sozialistischen Milieu heimisch wurde, blieb Konrad Adenauer Zeit seines Lebens fest im katholischen Milieu verwurzelt16 und ein treuer, wenngleich keineswegs unkritischer Sohn seiner Kirche.17 Nach dem Abitur am Apostelgymnasium ermöglichten ihm ein Stipendium der Stadt Köln und die Opferbereitschaft der stark bildungs - und aufstiegsorientierten Eltern das Studium der Rechtswissenschaften. Durch Fleiß und die Unterstützung führender Kölner Politiker der Zentrumspartei wurde er 1906 Beigeordneter seiner Heimatstadt und 1909 Stellvertreter des Oberbürgermeisters – angesichts seiner sozialen Herkunft ein höchst bemerkenswerter Aufstieg. Während des Ersten Weltkrieges nahm Pieck als Gegner der sozialdemokratischen Burgfriedenspolitik an Konferenzen linker Sozialdemokraten teil. Auch als Soldat agitierte er gegen den Krieg und wurde vor ein Kriegsgericht gestellt, er floh 1917 in den Untergrund nach Berlin und ging im Februar 1918 nach Amsterdam ins Exil. Im Oktober 1918 kehrte er nach Berlin zurück, wurde enger Mitarbeiter Karl Liebknechts und war Gründungsmitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands ( KPD ). Er nahm am Spartakusaufstand (5. bis 12. Januar 1919) teil und war einer derjenigen, die gegen das Votum Rosa Luxemburgs und des aus Moskau angereisten Karl Radek massiv zur revolutionären Aktion drängten.18 Am Abend des 15. Januar wurde er gemeinsam mit Luxemburg und Liebknecht verhaftet, konnte im Gegensatz zu diesen aber entkommen. Später behauptete der Offizier Waldemar Pabst, der wohl mit stillschweigendem Einverständnis der führenden Politiker der Mehrheitssozialdemokraten19 seinen Soldaten den Befehl zur Ermordung von Liebknecht und Luxemburg gegeben hatte, er habe Pieck freigelassen, da der ihn über militäri15 Zit. nach „Kintopp um Wilhelm Pieck“. In : Telegraf vom 3. 1. 1952. 16 Zur Bedeutung sozialer bzw. sozialmoralischer Milieus für die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts siehe die mittlerweile schon „klassischen“ Beiträge von M. Rainer Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur. Zum Problem der Demokratisierung der Deutschen Gesellschaft. In : Gerhard A. Ritter ( Hg.), Die deutschen Parteien vor 1918, Köln 1973, S. 56–80 und Karl Rohe, Wahlen und Wählertradition in Deutschland. Kulturelle Grundlagen deutscher Parteien und Parteisysteme im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1992. 17 Zu den prägenden Kinder - , Jugend - und Studienjahren Adenauers vgl. Hans - Peter Schwarz, Adenauer, Band 1 : Der Aufstieg, Stuttgart 1986, S. 51–101. Ferner Ulrich von Hehl ( Hg.), Adenauer und die Kirchen, Bonn 1999. 18 Vgl. Eric Waldmann, Spartakus. Der Aufstand von 1919 und die Krise der deutschen sozialistischen Bewegung, Boppard 1967, S. 245–248; Ottokar Luban, Demokratische Sozialistin oder „blutige Rosa“ ? Rosa Luxemburg und die KPD - Führung im Berliner Januaraufstand 1919. In : Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 35 (1999), S. 176–207, hier 179, 182 und 190 f. 19 An der Mitverantwortung von Gustav Noske ist nach der auf breitem Quellenstudium basierenden Arbeit von Klaus Gietinger, Der Konterrevolutionär. Waldemar Pabst – eine deutsche Karriere, Hamburg 2009 wohl nicht mehr zu zweifeln, trotz manch fragwürdiger Formulierungen und Schlussfolgerungen.

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sche Pläne sowie Verstecke führender Mitglieder der KPD informiert und so die Niederschlagung des Spartakus - Aufstandes erleichtert hätte.20 Was an diesen Gerüchten stimmt und ob Pieck deshalb möglicherweise erpressbar war und erpresst wurde, ließ sich bisher nicht endgültig aufklären.21 Während Pieck also gegen den Krieg agitierte, trug Konrad Adenauer während des Ersten Weltkrieges als Verantwortlicher für die Lebensmittelversorgung Kölns dazu bei, die Ernährungslage der Stadt bis weit in den Krieg hinein auf einem einigermaßen erträglichen Niveau zu halten. Damit leistete er auch einen Beitrag zur Stabilisierung der „Heimatfront“, zumal die Domstadt ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt für Transporte von Menschen und Material an die Westfront war.22 In der Weimarer Republik übte Adenauer nicht nur weiterhin das 1917 übernommene Amt des Oberbürgermeisters aus und erwies sich dabei als überaus gestaltungsfreudiges, zuweilen auch risikofreudiges Stadtoberhaupt, das die wirtschaftliche Entwicklung energisch vorantrieb.23 Er amtierte auch von 1920 bis 1933 als Präsident des Preußischen Staatsrats24 und spielte in der die Republik maßgeblich mittragenden Zentrumspartei eine wichtige Rolle. Zwei Mal war er während der 1920er Jahre als ernsthafter Kandidat für das Amt des Reichskanzlers im Gespräch. Wilhelm Pieck gelang es in den auch innerparteilich sehr bewegten Jahren der Weimarer Republik, sich durch eine bemerkenswerte Anpassungs - und Wandlungsfähigkeit bis 1933 in Führungspositionen der KPD zu halten, was ihm den Ruf eines Opportunisten eintrug. Clara Zetkin wandte sich im Dezember 1921 strikt dagegen, dass er Generalsekretär der KPD werde, denn ihm mangele „jeder politische Sinn, er ist so fanatisch eingestellt, dass er als Generalsekretär unmöglich ist, wenn wir nicht der KPD den Totenschein schreiben wollen“.25 Unterstützung erhielt Pieck, wie zukünftig noch oft, aus Moskau in Gestalt Radeks, als dessen „ergebene( s ) Werkzeug“ er damals galt. Als Beauftragter der Komintern setzte Radek deren finanzielle Zuschüsse als Druckmittel ein, um die Linken in der KPD zu unterstützen.26 Von 1921 bis 1928 und wie20 „Ich ließ Rosa Luxemburg richten.“ SPIEGEL - Gespräch mit dem Putsch - Hauptmann Waldemar Pabst. In : Der SPIEGEL, Nr. 16/1962, S. 38–44. Erste Gerüchte über Piecks Rolle 1919 gab es bereits in den frühen 1950er Jahren. Vgl. etwa „Verriet Wilhelm Pieck seine Freunde ?“ In : Neuer Vorwärts vom 22. 1. 1954. 21 Gietinger hält es für „denkbar“, dass Pieck in Todesangst Namen genannt hat, die aber für die Niederschlagung des Aufstandes wohl irrelevant gewesen seien. Klaus Gietinger, Eine Leiche im Landwehrkanal. Die Ermordung Rosa Luxemburgs, neu durchges., überarb. Auflage Hamburg 2009, S. 86. 22 Vgl. Schwarz, Adenauer, Band 1, S. 150–153. 23 Vgl. ebd., S. 175–340; Volker Frielingsdorf, Konrad Adenauers Wirtschaftspolitik als Kölner Oberbürgermeister (1917–1933), Basel 2002. 24 Vgl. zu dessen Funktion Horst Möller, Parlamentarismus in Preußen 1919–1932, Düsseldorf 1985, S. 124 f. und 151–166. 25 Zit. nach http ://www.bundesstiftung - aufarbeitung.de / wer - war - wer - in - der - ddr - %2363% 3B - 1424.html ?ID=2653; 30. 6. 2014. 26 Vgl. Wolf - Dietrich Gutjahr, Revolution muss sein. Karl Radek – die Biographie, Köln 2012, S. 455.

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der 1932 war Pieck Abgeordneter des Preußischen Landtags, von 1928 bis 1933 auch des Deutschen Reichstags. Von 1930 bis 1932 gehörte er außerdem dem Preußischen Staatsrat an. Es hat dort zwischen ihm und Adenauer wohl keine Konfrontationen gegeben, ihr politisches Wirken ist aber durchaus symptomatisch für die Entwicklung der Milieus, denen sie entstammten und die nach Gründung des Deutschen Reiches zeitweilig als vermeintliche „Reichsfeinde“ oder „vaterlandslose Gesellen“ staatlicher Repression ausgesetzt gewesen waren.27 Adenauers Präsidentschaft war ein Beleg für das erfolgreiche Hineinwachsen des katholischen Milieus in den Staat. Demgegenüber spaltete sich die deutsche Arbeiterbewegung : Während die Mehrheit der Sozialdemokraten ebenfalls eine tragende Rolle in der Republik von Weimar übernahm, verharrten die Kommunisten in grundsätzlicher Opposition und hielten am Ziel der Systemüberwindung fest. Auch international machte Pieck Karriere. 1921 wählte ihn die KPD ins Exekutiv - Komitee der Kommunistischen Internationale. In dieser Funktion begegnete er Lenin, was seiner Reputation ebenso förderlich war wie die frühere Zusammenarbeit mit Luxemburg und Liebknecht. Von November 1930 bis Mai 1932 vertrat er die KPD bei der Komintern - Führung in Moskau, wo er 1931 ins Präsidium des Exekutiv - Komitees der Kommunistischen Internationale aufrückte. Pieck, stets moskauhörig, war maßgeblich an der Durchsetzung des verheerenden Kurses von Stalin beteiligt, wonach die als „Sozialfaschisten“ diffamierten Sozialdemokraten vorrangig zu bekämpfen seien. Dabei distanzierte er sich von früheren Positionen und der einstigen Weggefährtin Rosa Luxemburg, der er nun eine als „Luxemburgismus“ bezeichnete fehlerhafte Haltung zum Reformismus und zur Spaltung der Sozialdemokratie vorwarf.28 Im Mai 1932 kehrte Pieck nach Berlin zurück und wurde in die oberste Führung der KPD berufen. Ein Blatt der kommunistischen Opposition schrieb damals über ihn : „Die Moskauer haben ihn Teddy [ d. i. Ernst Thälmann ] auf die Nase gesetzt, denn es muss doch wenigstens einer im Sekretariat sein, der bis drei zählen kann. Pieck kann bis drei zählen, wenn er es auch manchmal verbirgt [...]. Der Generalsekretär Pieck von 1932 ist nicht der Revolutionär von 1918 und 1920, sondern ein ausgestopfter Papagei.“29 Der Regierungsantritt Adolf Hitlers am 30. Januar 1933 führte dazu, dass sowohl Pieck als auch Adenauer nun zu gefährdeten Personenkreisen gehörten, wenngleich Intensität und Art dieser Gefährdung durchaus unterschiedlich waren. Angesichts des unmittelbar einsetzenden „Vernichtungsfeldzugs gegen

27 Vgl. Margaret L. Anderson, Windthorst. Zentrumspolitiker und Gegenspieler Bismarcks, Düsseldorf 1988; Heidi Beutin / Wolfgang Beutin / Holger Malterer u. a. ( Hg.), 125 Jahre Sozialistengesetz, Frankfurt a. M. 2004. 28 Vgl. Klaus Kinner, Der deutsche Kommunismus. Selbstverständnis und Realität, Band 1: Die Weimarer Zeit, 2. Auflage Berlin 2012, S. 205–210. 29 Zit. nach http ://www.bundesstiftung - aufarbeitung.de / wer - war - wer - in - der - ddr - %2363% 3B - 1424.html ?ID=2653; 30. 6. 2014.

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die Kommunisten“30 nahm Pieck am 7. Februar 1933 noch als Hauptredner an der illegalen Tagung des Zentralkomitees der KPD im Sporthaus Ziegenhals bei Berlin teil. Im Mai 1933 ging er nach Paris ins Exil, im August stand sein Name auf der ersten Ausbürgerungsliste des Deutschen Reichs. 1935 wurde er auf der sog. Brüsseler Konferenz der KPD31 – die in Wahrheit in der Nähe von Moskau stattfand – zum Parteivorsitzenden für die Dauer der Inhaftierung Thälmanns gewählt und verlegte sein Exil in die Sowjetunion. Er überlebte, untergebracht im berüchtigten „Hotel Lux“,32 den Großen Terror in den 1930er Jahren, dem ein großer Teil der deutschen Exilanten in Moskau zum Opfer fiel.33 Offenbar schätzte Stalin Pieck als seinen willigen Gefolgsmann und dessen „Verständnis von Parteidisziplin als bedingungsloser Unterordnung und Zurücknahme von Individualität“, das zu einer „Verinnerlichung der Mentalität des Funktionierens“ geführt habe.34 Erneut stellte Pieck seine Anpassungsfähigkeit unter Beweis, die ihn jede Veränderung der offiziellen Linie von KPDSU und Komintern nachvollziehen und auf die KPD übertragen ließ. So rühmte er sich im Zusammenhang mit der großen Kampagne gegen „trotzkistische“ Kräfte, die viele Menschen das Leben kostete, der „bolschewistischen Wachsamkeit“ der KPD - Führung. An den Komintern - Vorsitzenden Dimitroff schrieb er, man habe „eine gründliche Arbeit zur Aufdeckung der trotzkistischen Verbindung und zur Säuberung geleistet“ und „alle die Elemente, die verhaftet oder verurteilt wurden, und andere, die mit ihnen in Verbindung standen, aus der Partei ausgeschlossen“.35 1943 gehörte Pieck zu den Initiatoren des Nationalkomitees Freies Deutschland.36 1944/45 war er Vorsitzender einer Kommission, die Pläne für den Wiederaufbau der KPD und die Regierungsübernahme nach dem Sturz Hitlers erarbeiten sollte. Sie legte sich – den Vorgaben der Kommunistischen Internationale folgend – auf die Bildung eines „Blocks der kämpferischen Demokratie“ fest, der alle antifaschistischen und demokratischen Kräfte umfassen sollte und deren Basis eine „Aktionseinheit“ mit den Sozialdemokraten sein müsse.37 Vor einer Vereinigung der beiden Arbeiterparteien müsse die KPD ihre 30 Hans - Ulrich Thamer, Verführung und Gewalt. Deutschland 1933–1945, Sonderausgabe Berlin 1994, S. 283. 31 Vgl. Klaus Mammach ( Hg.), Die Brüsseler Konferenz der KPD, Berlin ( Ost ) 1975. 32 Zur klaustrophobischen Atmosphäre in diesem „Absteigquartier des Hauptquartiers der Weltrevolution“ vgl. den Erinnerungsbericht von Ruth von Mayenburg, Hotel Lux, München 1978, zit. S. 21. 33 Vgl. Jörg Baberowski, Der Rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, München 2003, S. 135–208. Vgl. als Fallbeispiel für die Konstruktion einer „trotzkistischen“ Verschwörung unter den deutschen Politemigranten Reinhard Müller, Menschenfalle Moskau. Exil und stalinistische Verfolgung, Hamburg 2001. 34 Kinner, Kommunismus, S. 82. 35 Pieck an Dimitroff, 7. 10. 1936, zit. nach Müller, Menschenfalle, S. 53. 36 Vgl. Gerd R. Ueberschär ( Hg.), Das Nationalkomitee „Freies Deutschland“ und der Bund Deutscher Offiziere, Frankfurt a. M. 1996. 37 Peter Erler / Horst Laude / Manfred Wilke ( Hg.), Nach Hitler kommen wir, Berlin 1994, S. 93. Der Entwurf eines „Aktionsprogramms des Blocks der kämpferischen Demokratie“ aus der Feder Piecks ebd., S. 240–242.

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soziale Basis erweitern. Pieck ließ aber auch keinen Zweifel daran, dass es „das Ziel unserer Politik“ sei, zur alleinigen Partei in Deutschland zu werden. Dies werde allerdings „nicht am Anfang stehen“.38 Die über die Moskauer Planungen der KPD vorliegenden Informationen beruhen zum großen Teil auf Aufzeichnungen Piecks.39 Auch Adenauer sah sich 1933 Repressalien der NS - Machthaber ausgesetzt : Er verlor sein Amt als Kölner Oberbürgermeister, wurde kurzzeitig inhaftiert und verbrachte ein Jahr im Benediktiner - Kloster Maria Laach.40 Den größten Teil des „Dritten Reiches“ lebte er zurückgezogen in seinem Haus in Rhöndorf bei Bonn. Nach dem Staatsstreich vom 20. Juli 1944 wurde er im Zuge der „Aktion Gitter“ erneut inhaftiert und überstand nur mit viel Glück diese gefährliche Situation.41 Seine Frau Gussie hingegen erlitt nach Verhören durch die Gestapo einen seelischen Zusammenbruch und unternahm einen Selbstmordversuch, an dessen Folgen sie im März 1948 im Alter von 52 Jahren verstarb.42 Im März 1945 wurde Adenauer von den vorrückenden amerikanischen Truppen in sein früheres Amt als Oberbürgermeister von Köln eingesetzt und im Oktober von den britischen Besatzungsbehörden, die inzwischen die Kontrolle im Rheinland übernommen hatten, wieder entlassen. Ab Januar 1946 begann mit der Wahl zum Vorsitzenden in der britischen Zone seine Karriere in der neugegründeten Christlich - Demokratischen Union ( CDU ), die er maßgeblich mitgestaltete.43 Sie führte ihn über das Amt des Präsidenten des Parlamentarischen Rates (1948/49) mit der Wahl zum ersten Bundeskanzler am 15. September 1949 an die Spitze des neuentstandenen westdeutschen Staates. Er übte dieses Amt 14 Jahre lang bis zum 15. Oktober 1963 aus. Vorsitzender der CDU blieb er gar bis März 1966. Adenauer starb am 19. April 1967. Wilhelm Pieck kehrte nach persönlicher Instruierung durch Stalin am 1. Juli 1945 nach Berlin zurück. Im April 1946 wurde er gemeinsam mit Otto Grotewohl ( SPD ) Vorsitzender der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Obwohl noch bei mehreren Verhandlungen der SED mit Stalin zugegen, nahm sein politischer Einfluss ab. Nach Aussage von Wolfgang Leonhard sei er Stalin „zu weich“ gewesen und habe sich auch gelegentlich für in Ungnade gefallene Personen, darunter Leonhards Mutter, bei der Besatzungsmacht eingesetzt. 38 Rededisposition Piecks, abgedruckt ebd., S. 269–289, zit. S. 272. 39 Ebd., S. 19. 40 Ungewöhnliche Einblicke in sein Seelenleben in dieser Zeit geben die Briefe an die Frau seines Freundes Robert Pferdmenges, Freundschaft in schwerer Zeit. Die Briefe Konrad Adenauers an Dora Pferdmenges 1933–1949. Bearb. von Hans Peter Mensing und Ursula Raths, Bonn 2007, S. 45–101. 41 Vgl. Adenauer im Dritten Reich. Bearb. von Hans Peter Mensing, Berlin 1991. 42 Hans Peter Mensing, Emma, Gussie und Konrad Adenauer. Mit den Töchtern Ria Reiners, Lotte Multhaupt und Libet Werhahn. In : Dieter Zimmer ( Hg.), Deutschlands First Ladies. Die Frauen der Bundespräsidenten und Bundeskanzler von 1949 bis heute, Stuttgart 1998, S. 33–62. 43 Vgl. Frank Bösch, Die Adenauer - CDU. Gründung, Aufstieg und Krise einer Erfolgspartei 1945–1969, Stuttgart 2001; Hans - Otto Kleinmann, Geschichte der CDU 1945– 1982, Stuttgart 1993.

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Der sowjetische Diktator habe daher Walter Ulbricht herangezogen, „wenn er etwas Neues mit der KPD - Führung vorhatte“.44 Dennoch habe Pieck, so Leonhard an anderer Stelle, zumindest im Vorfeld der DDR - Gründung eine wichtige Aufgabe erfüllt. Damals sei es darum gegangen, „Menschen zu überzeugen und auf Menschen einzuwirken“. Diese Fähigkeit habe Pieck besessen. Nach Festigung der kommunistischen Diktatur habe Moskau dann aber „einen sachorientierten, gehorsamen Funktionär, wie Ulbricht es war“, gebraucht.45 Am 11. Oktober 1949 von der Provisorischen Volkskammer zum Präsidenten der neugegründeten DDR gewählt, war Pieck nunmehr endgültig auf einen repräsentativen Posten abgeschoben und wurde zu politischen Entscheidungen kaum noch herangezogen. Mit seinem jovialen Auftreten entsprach er aber dem erwünschten Typus eines „Landesvaters“. Wachsende gesundheitliche Probleme führten dazu, dass er in den letzten Jahren seine Amtspflichten kaum noch wahrnehmen konnte. Wilhelm Pieck starb am 7. September 1960. Der „Spiegel“ schrieb damals, Pieck sei als Präsident zum „biedermännischen Repräsentanten des sowjetischsten aller Sowjet - Satelliten“ geworden : „Aus einem der letzten Überlebenden der alten Rot - Front - Garde war ein Museumsstück des arrivierten Proletariats geworden.“46 Eine andere bundesdeutsche Zeitung stellte seine Rolle in der SED - Diktatur in den Vordergrund : „Wilhelm Piecks breites, väterliches Gesicht mit seinem jovialen Lächeln war einzigartig dazu beschaffen, das andere Gesicht des Pankower Regimes zu verbergen : das mit dem struppigen Spitzbart, mit den verkniffenen Lippen, mit den stechenden Augen – das Gesicht des allein mächtigen Walter Ulbricht. Wilhelm Pieck war der verkörperte Sonntagsanzug der Kommunisten.“47

3.

Vergleichsaspekte

Milieuzugehörigkeit: Wilhelm Pieck und Konrad Adenauer stammten beide aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, waren aber nichtsdestotrotz Exponenten unterschiedlicher sozialmoralischer Milieus, die die gesellschaftliche und auch die politische Realität in Deutschland über Jahrzehnte hinweg geprägt haben. Adenauer wurde in das Milieu des rheinischen Katholizismus hinein geboren, dem er Zeit seines Lebens verbunden blieb. Pieck wandte sich vom Katholizismus seiner Eltern ab und schloss sich der organisierten sozialistischen Arbeiterbewegung an. Während Adenauers Karriere als Beleg für das zunehmende Hineinwachsen der Katholiken in den Staat gelten kann, spiegelt Piecks Lebensweg die Spaltung der Arbeiterbewegung in einen reformistisch - parlamentarischen 44 Wolfgang Leonhard, „Die Revolution entlässt ihre Kinder.“ Ein Gespräch über den Kommunismus, die DDR und die Entwicklungen in Russland. In : Die Politische Meinung, Nr. 456 vom Nov. 2007, S. 44–42, hier 48 f. 45 Ders., Meine Geschichte der DDR, Berlin 2007, S. 90. 46 Wilhelm Pieck 3. I. 1876–7. IX. 1960. In : Der Spiegel, Nr. 38/1969, S. 39. 47 Mannheimer Morgen vom 8. September 1960.

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und einen die parlamentarisch - demokratische Ordnung bekämpfenden, am Ziel der Revolution festhaltenden Teil wider. Letzterer orientierte sich zunehmend an der Sowjetunion und wurde, wie Kurt Schumacher mit Blick auf die SED formulierte, zur „russische[ n ] Staatspartei deutscher Zunge“.48 Erscheinungsbild : Schon rein äußerlich bestand ein krasser Gegensatz zwischen dem beleibten, jovialen Pieck und dem hageren, asketischen, trotz seiner rheinischen Herkunft fast preußisch - strengen Adenauer. Prägnant war auch die unterschiedliche Leistungsfähigkeit bis ins hohe Alter : Während Pieck spätestens ab 1957 körperlich und geistig rasch abbaute, erlebte Adenauer just in diesem Jahr mit der absoluten Mehrheit für die CDU / CSU bei der Bundestagswahl den größten Wahlerfolg seiner politischen Laufbahn und blieb noch sechs weitere Jahre im Amt. Auf Willy Brandt, der seinem Kontrahenten Adenauer bis ins hohe Alter eine bemerkenswerte geistige und politische Flexibilität attestierte, wirkte Pieck schon bei einer frühen Begegnung wie ein „kommunistischer Hindenburg“.49 Der Dresdener Romanist Viktor Klemperer vermerkte 1952 in seinem Tagebuch, bei der Verleihung der Nationalpreise habe Pieck „wie ein Automat“ agiert.50 Karrierewege : Gemeinsam war Pieck und Adenauer, dass sie bei Antritt ihrer Nachkriegsämter auf eine lange politische Tätigkeit zurückblicken konnten. Beide hatten ihre ersten Funktionen bereits zu einer Zeit übernommen, als in Deutschland noch der Kaiser regierte. Hier zeigen sich aber wiederum auch Unterschiede : So profitierte Adenauer zwar sicherlich von seiner Mitgliedschaft in der Zentrumspartei, machte seine Laufbahn aber als tüchtiger Verwaltungsbeamter und tatkräftiger, wenngleich nicht unumstrittener Oberbürgermeister seiner Heimatstadt Köln. Demgegenüber war Pieck in erster Linie ein „Parteisoldat“, der seine politische Laufbahn strikter „Parteidisziplin“ und bedingungsloser Unterordnung unter den Führungsanspruch der stalinistischen KPDSU verdankte. Exil vs. innere Emigration : Die Zeit des „Dritten Reiches“ verbrachte Wilhelm Pieck im Exil, Adenauer in Deutschland in der inneren Emigration. Gemeinsam war ihnen in dieser Zeit ein beachtliches Maß an persönlicher Gefährdung, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß : Den stalinistischen Säuberungen in den 1930er Jahren – der Zeit des „Großen Terrors“ – fielen zwei Drittel der in die Sowjetunion emigrierten deutschen Kommunisten zum Opfer. Konrad Adenauer, der nach seiner Entlassung als Oberbürgermeister eine Phase persönlicher und materieller Unsicherheit zu durchleben hatte, verbrachte die meiste Zeit des „Dritten Reiches“ zurückgezogen in seinem Haus in Rhöndorf. Obwohl er Versuche aus Widerstandskreisen, ihn zur Beteiligung zu bewegen, ablehnte, gerieten er und seine Familie in der Endphase des Krieges in große 48 Kurt Schumacher, Deutschlands Forderung : Gleiches Risiko, gleiches Opfer, gleiche Chancen ! Hg. vom Parteivorstand der SPD, Hannover o. J. (1951), S. 20. 49 Willy Brandt, Erinnerungen, 4. Auflage Frankfurt a. M. 1990, S. 145, zu Adenauer 47 f. 50 Viktor Klemperer, So sitze ich denn zwischen allen Stühlen. Tagebücher 1950–1959, Band 2. Hg. von Walter Nojowski, 2. Auflage Berlin 1999, S. 321.

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Gefahr. Während Pieck im Moskauer Exil intensiv an der Planung einer Nachkriegsordnung für Deutschland arbeitete, blieb Adenauer bis zum Einrücken der Amerikaner ins Rheinland politisch inaktiv. Parteiaufbau nach 1945 : Zwischen dem Kriegsende und der Gründung von Bundesrepublik und DDR legten beide den Grundstein für ihre späteren Staatsämter durch die Arbeit innerhalb ihrer jeweiligen Partei. Das ist bei Wilhelm Pieck wenig verwunderlich, da er einer Partei angehörte, die sich als Staatspartei mit umfassendem Herrschaftsanspruch verstand und hiervon allenfalls vorübergehende Abstriche aus taktischen Erwägungen zu machen bereit war. Konrad Adenauer hatte früh erkannt, dass auch im entstehenden westdeutschen Staat die entscheidenden Positionen vor allem auf dem Weg über die Parteien zu erreichen sein würden.51 Nach seiner Entlassung als Kölner Oberbürgermeister konzentrierte er sich daher auf die Arbeit in der CDU. Ferner übten beide einen prägenden Einfluss auf ihre Partei aus. So war es wesentlich Adenauers beharrlichem Wirken zu verdanken, dass die CDU zu einer absoluten Neuerung in der deutschen Parteiengeschichte wurde : einer überkonfessionellen christlichen Volkspartei, die in der Lage war, Wählergruppen weit jenseits der früheren Zentrumspartei zu erschließen. Dies ist neben den zentralen politischen Weichenstellungen seiner Kanzlerschaft sein vielleicht bedeutendstes Erbe. Pieck hat in der Nachkriegszeit ebenfalls wohl am nachhaltigsten durch seine Mitgestaltung der SED gewirkt. Mit seiner verbindlichen Art gegenüber den Führern der anderen Parteien in der sowjetischen Besatzungszone trug er dazu bei, die Kommunisten koalitionsfähig zu machen. Offensiv vertrat Pieck die neue strategische Linie der KPD, in Deutschland ein vermeintlich parlamentarisches, demokratisches Regime aufzubauen („antifaschistisch - demokratische Ordnung“) und die stalinistische Zielsetzung zunächst noch zu verbergen. Wirkungen : Erhebliche Unterschiede bestanden hinsichtlich der staatlichen Funktionen, die beide nach Gründung der deutschen Staaten innehatten. So war Adenauer ein gestaltungsmächtiger, erst zum Ende seiner Amtszeit an Autorität verlierender Chef der Exekutive, der die Bundesrepublik nachhaltig prägte und etwa außenpolitisch auf völlig neue Gleise setzte.52 Demgegenüber war Pieck als Staatspräsident eine Repräsentationsfigur. Auch die Analogien zum ebenfalls auf repräsentative Aufgaben beschränkten ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss sind übrigens eher dürftig : Zwar wurde mit einigem Erfolg versucht, Pieck als Integrationsfigur auch für nichtkommunistische Kräfte in der DDR aufzubauen, er wurde jedoch stets auch mit der SED identifiziert, deren Ko - Vorsitzender er blieb. Dies zeigte sich während des Volksaufstandes um den 17. Juni 1953 : Da wurde auch er Zielscheibe von Rücktrittsforderungen, etwa mit dem berühmten Slogan „Spitzbart, Bauch und Brille sind nicht des Volkes Wille“, der auf das Führungstrio Walter Ulbricht, Wilhelm Pieck und Otto 51 Schwarz, Adenauer, Band 1, S. 545. 52 Kurt Sontheimer, Die Adenauer - Ära. Grundlegung der Bundesrepublik, München 2003.

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Grotewohl gemünzt war.53 Heuss hingegen wirkte nach dem Urteil seines Biographen Peter Merseburger als Integrationsfigur und „Erzieher zur Demokratie“ für die Bundesbürger und genoss partei - und schichtenübergreifend hohes Ansehen.54 Nachwirkungen : Bei Piecks Tod prognostizierte die „Frankfurter Neue Presse“, dass der „Thälmann - Mythos immer mehr von einem neuen Pieck Mythos verdrängt werden“ würde.55 Diese Entwicklung ist nicht eingetreten, Pieck geriet vergleichsweise schnell in Vergessenheit und dürfte heute nur noch einer historisch interessierten Minderheit ein Begriff sein. Demgegenüber ist Adenauer, der als Bundeskanzler mit seinen Entscheidungen oft polarisierte und sich zum Ende seiner Amtszeit auf einem Tiefpunkt seines öffentlichen Ansehens befand, inzwischen „der Parteien Hass und Gunst“ ( Schiller ) weitgehend entrückt. Was immer man von derartigen „Rankings“ und ihrem Zustandekommen halten mag : Bei Umfragen sowohl des ZDF als auch des WDR nach dem „besten“ Deutschen bzw. Nordrhein - Westfalen landete der „Alte von Rhöndorf“ in den letzten Jahren auf dem ersten Platz. Auch in Forschung und Publizistik überwiegt inzwischen eine „insgesamt respektvolle Bewertung“.56 Sein Nimbus als „Gründervater“ der Bundesrepublik Deutschland wirkt über Parteigrenzen hinweg. Ein letzter, aber beileibe nicht der unwichtigste Aspekt : Pieck mag im menschlichen Umgang gewinnend gewesen sein und im Einzelfall auch versucht haben, Repressionen der Besatzungsmacht zu verhindern oder abzumildern. Dennoch war und blieb er Verfechter und Vertreter einer nicht durch demokratische Verfahren legitimierten Diktatur. Demgegenüber trug Adenauer, der sicher die Regeln der Verfassung zuweilen großzügig interpretierte und „oft hart am Rande des Zulässigen“ operierte,57 vielleicht gerade durch seine Durchsetzungsfähigkeit und Autorität nachhaltig zur Etablierung der bundesdeutschen Demokratie bei.

53 Hans P. Löhn, Spitzbart, Bauch und Brille – sind nicht des Volkes Wille ! Der Volksaufstand am 17. Juni 1953 in Halle an der Saale, Bremen 2003. 54 Vgl. Peter Merseburger, Theodor Heuss. Der Bürger als Präsident. Biographie, München 2012; Joachim Radkau, Theodor Heuss, München 2013. 55 Frankfurter Neue Presse vom 8. September 1960. 56 Hans - Peter Schwarz, Anmerkungen zu Adenauer, München 2004, S. 185. 57 Ebd., S. 201.

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Alltag in der DDR Eckhard Jesse

1.

Einführung

„Im täglichen Leben kam es [...] immer wieder zu Situationen, in denen man sich zum Nachsprechen von politisch - ideologischen ( Leer - )Formeln gezwungen sah, da andernfalls kein sozialer Aufstieg, kein Erreichen von einigermaßen befriedigenden Berufspositionen möglich war. Dieser häufig unvermeidlichen Doppelzüngigkeit lag fortwährend die Unterscheidung zwischen propagierter, politisch - ideologischer Fiktion einerseits und der erlebten, täglich erfahrenen Realität andererseits zugrunde.“1 Mit diesen Sätzen beschreibt Günther Heydemann treffend das Alltagsleben vieler Menschen in der DDR, die beruflich vorwärts kommen wollten. Ihnen dies heute vorzuhalten, verbietet sich, da in einer Diktatur alltägliche Kompromisse mit dem „System“ unvermeidlich waren. Wer mannigfache Beispiele aus einem Band über das „Leben in Deutschland 1945 bis 1990“ liest,2 könnte freilich auf den ersten Blick den Eindruck gewinnen, in der DDR habe „Normalität“ geherrscht, doch war es bei näherer Prüfung nur der „Schein der Normalität“.3 Wer den Alltag in einer Diktatur wie der DDR analysiert, muss zweier Dinge gewiss sein : Zum einen war das alltägliche Leben auch in einer totalitären Gesellschaft keineswegs durch die Politik völlig verplant und durch beständige Repression gekennzeichnet; zum anderen ist es eine Legende, dass sich der dortige Alltag von dem in einer Demokratie so gut wie nicht unterschied. Vor Verallgemeinerungen ist ohnehin zu warnen. Kommt es doch wesentlich auf die zeitliche ( in den 1950er und 1960er Jahren war die DDR - Diktatur bedeutend rigider als später,4 was sich beispielsweise 1 2 3 4

Günther Heydemann, Gesellschaft und Alltag in der DDR, unter : http ://bpb.de (4. 2. 2002). Vgl. Christoph Kleßmann / Georg Wagner ( Hg.), Das gespaltene Land. Leben in Deutschland 1945 bis 1990. Texte und Dokumente, München 1993. Vgl. den Band von Clemens Vollnhals / Jürgen Weber ( Hg.), Der Schein der Normalität. Alltag und Normalität in der SED - Diktatur, München 2002. Das ist weitgehender Konsens in der Forschung über die DDR. Allerdings ist damit nicht notwendigerweise die Annahme verbunden, die DDR sei später kein totalitärer Staat mehr gewesen. Am Totalitarismuskonzept hält diejenige Autorin fest, die als erste die „Zersetzungsmaßnahmen“ der Staatssicherheit systematisch nachgewiesen hat. Vgl. Sandra Pingel - Schliemann, Zersetzen. Strategie einer Diktatur, Berlin 2002.

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daran zeigt, dass Anfang der 1960er Jahre „Junge Pioniere“ gehalten waren, die „Westantennen“ abzumontieren [„Antennensturm“], während zwei Jahrzehnte später der Staat den Empfang von Westsendern tolerierte ) wie auf die beruf liche Perspektive an. Es gibt zudem eine regionale Perspektive : In Berlin war das Leben offenkundig angenehmer als in Mecklenburg - Vorpommern, denkt man nur an die großzügigere Belieferung mit Versorgungsgütern, die nicht zu den Grundnahrungsmitteln gehörten. Engpässe traten hier öfter auf als dort. Für die Lebenswirklichkeit spielte es eine beträchtliche Rolle, ob die Möglichkeit bestand, die DDR zu verlassen. „Die offene Grenze von 1961 war eine wichtige Begrenzung der SED - Diktatur auch im Alltag – von den Wohn - und Arbeitsverhältnissen bis hin zur Soldatenwerbung und zur Kollektivierung der Landwirtschaft. Sie verlieh ‚gewöhnlichen Menschen‘ eine Macht, die sie ansonsten nicht gehabt hätten, eine Art ‚Trumpfkarte‘, sollten Ansprüche des Staates zu weit gehen.“5 „Geschichte von unten“, wie Alltagsgeschichte häufig verstanden wird, ist lange umstritten gewesen. Das betrifft nicht nur die Darstellung des Alltags in Diktaturen, sondern auch in demokratischen Verfassungsstaaten. Kritiker wenden ein, damit lasse sich unzureichend die spezifische Situation der Menschen in der jeweiligen Gesellschaft erfassen, blieben die Herrschaftsstrukturen doch weitgehend ausgeblendet. Heute hat sich Alltagsgeschichte ( keineswegs mehr bloß eine Domäne von „Geschichtswerkstätten“) als eine Analyse - Variante unter anderen jedoch weitgehend durchgesetzt, vor allem deshalb, weil anspruchsvolle Studien solche Strukturen mittlerweile einbeziehen und der unfruchtbare Streit zwischen „Alltagshistorikern“ und „Sozialhistorikern“ zurückgegangen ist. Der folgende Beitrag bietet nach einem kurzen Abriss des Forschungsstandes einen Überblick zum Leben der ( wenigen ) politisch Überzeugten, der ( vielen ) Angepassten und der ( wenigen ) offenen Gegner. Danach wird an zwei unterschiedlichen Beispielen gezeigt, wodurch der Alltag geprägt war : zum einen durch den nahezu allgegenwärtigen Antifaschismus, zum anderen durch die Fixierung auf den Westen. Der Schluss präsentiert einige Perspektiven und offene Fragen.

2.

Forschungsstand

Wurde vor der „Wende“ der Alltag in der DDR aus verständlichen Gründen – die DDR war daran nicht sonderlich interessiert, im Westen gab es kaum authentisches Material – nur sporadisch erforscht,6 so hat sich dies seither geän5

6

So Corey Ross, „... sonst sehe ich mich veranlasst, auch nach dem Westen zu ziehen.“ „Republikflucht“, SED - Herrschaft und Bevölkerung vor dem Mauerbau. In : Deutschland Archiv, 34 (2001), S. 626. Siehe auch Eckhard Jesse ( Hg. ), Eine Mauer für den SED - Staat. Berlin 1961 und die Folgen, Berlin 2012. Die folgende Studie beruhte auf empirischen Erhebungen vor der „Wende“ : Lutz Niethammer / Alexander von Plato / Dorothee Wierling, Die volkseigene Erfahrung. Eine

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dert.7 Zwar setzte sich die erste Enquete - Kommission des Deutschen Bundestages zur DDR nicht eigens mit dem Alltag in der zweiten Diktatur auf deutschem Boden auseinander, dafür aber geschah dies in der zweiten – in einem eigenen Band8 – umso ausführlicher. Dabei ging es u. a. um Erfahrungen verschiedener Generationen, um den Betrieb als „sozialen Raum“, um das Freizeitverhalten, um christlich - kulturelle Traditionen, um das Alltagsverhalten von Frauen und um veränderte Alltagserfahrungen nach der „Wende“. Die Frage der Konsumkultur wurde u. a. von Ina Merkel und Annette Kaminsky aufgegriffen.9 Dem Urteil Kaminskys, dass noch immer „eine ausführliche, wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Gesamtdarstellung der Alltags - und Konsumkultur in der SBZ / DDR“10 fehlt, lässt sich auch nach mehr als einem Jahrzehnt schwerlich widersprechen. Vor allem geht es darum, den bis heute zum Teil anhaltenden Nachwirkungen nachzuspüren ( z. B. im Bereich der Mentalitäten). Wenn etwa die Jugendweihe in den neuen Ländern weithin fortbesteht, so ist das nur auf den ersten Blick ein Symptom für ein sozialistisches Relikt. Tatsächlich konnte die Institution der Jugendweihe überdauern, weil sie schon vor der „Wende“ einen Funktionswandel erfahren hatte : mehr Familienfeier als Bekenntnis zum „sozialistischen Staat“. Wer einen anschaulichen Überblick zum Alltag in der DDR gewinnen will, möge die drei Bände von Stefan Wolle heranziehen, die die gesamte Zeit von 1949 bis 1989 einfangen : „Der große Plan“ ( von 1949–1961), „Aufbruch nach Utopia“ (1961–1971), „Die heile Welt der Diktatur“ (1971–1989).11 Wolle, der in der DDR gelebt hat ( er war als einer der wenigen Historiker nicht in „der“ Partei, auch in keiner Blockpartei ), versteht es, u. a. anhand zahlreicher Anekdoten, das Leben in der DDR gut nachzuzeichnen, gleichermaßen ohne DämoArchäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR. 30 biographische Eröffnungen, Berlin 1991. 7 Vgl. zum Forschungsstand Annette Kaminsky, Alltagskultur und Konsumpolitik. In : Rainer Eppelmann / Bernd Faulenbach / Ulrich Mählert ( Hg.), Bilanz und Perspektiven der DDR - Forschung, Paderborn 2003, S. 246–253. Siehe auch Thomas Lindenberger, In den Grenzen der Diktatur. Die DDR als Gegenstand von „Gesellschaftsgeschichte“. In : ebd., S. 239–245. 8 Vgl. Materialien der Enquete - Kommission „Überwindung der Folgen der SED - Diktatur im Prozess der deutschen Einheit“ (13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages ). Hg. vom Deutschen Bundestag, Band V : Alltagsleben in der DDR und in den neuen Bundesländern, Baden - Baden 1999. 9 Vgl. Ina Merkel, Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR, Köln 1999; Annette Kaminsky, Kaufrausch. Die Geschichte der ostdeutschen Versandhäuser, Berlin 1998; dies., Wohlstand, Schönheit, Glück. Kleine Konsumgeschichte der DDR, München 2001. Siehe auch Patrice G. Poutrus, Die Erfindung des Goldbroilers. Über den Zusammenhang zwischen Herrschaftssicherung und Konsumentwicklung in der DDR, Köln 2002. 10 Kaminsky, Alltagskultur und Konsumpolitik, S. 252. 11 Vgl. Stefan Wolle, Der große Plan. Alltag und Herrschaft in der DDR 1949–1961, Berlin 2013; ders., Aufbruch nach Utopia. Alltag und Herrschaft in der DDR 1961–1971, Berlin 2010; ders., Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971– 1989, Berlin 1998.

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nisierung wie ohne Beschönigung, zumal der Alltag stets vor den ihn beengenden Herrschaftsverhältnissen gesehen wird. Gewiss, den Studien fehlt es an Systematik, aber bei diesem Thema fällt dies nicht sonderlich negativ ins Gewicht, da das Alltagsleben höchst unterschiedlich verlief. Der aus der DDR ausgebürgerte Roland Jahn, Nachfolger Joachim Gaucks und Marianne Birthlers im Amt des „Stasibeauftragten“12, hat jüngst in einem bewegenden Buch authentisch den auch von ihm zunächst ertragenen Anpassungsdruck im Alltagsleben der DDR beschrieben.13 Das Werk richtet nicht emotional, es berichtet nüchtern und wirkt dadurch. Auf diese Weise wird etwa die grassierende Zwiesprache gut verdeutlicht. Mary Fulbrook setzt die Akzente anders. Sie wirft der DDR - Forschung vor, die repressiven Seiten der DDR überstark herauszustellen und den dortigen Alltag unterbelichtet zu behandeln. Wer sich innerhalb der von der SED vorgegebenen Grenzen bewegte, vermochte ein „normales Leben“14 zu führen. Gewiss, die Bürger arrangierten sich mit dem System, doch muss dies nicht heißen, sie hätten ein „normales Leben“ geführt, wussten sie doch um die Grenzen ihres Engagements. Das von Fulbrook hervorgehobene „Eingabewesen“ steht dem nicht entgegen. Bei ihrem sozialgeschichtlichen Ansatz, der in der Tat stärker als das von ihr kritisierte Totalitarismusparadigma auf die Wahrnehmung des Alltags durch die Bürger abstellt und dieses damit sinnvoll ergänzt, kommt die Rolle der SED und der ihr untergeordneten Staatssicherheit zu kurz. Sie unterliegt ferner der Gefahr, die diktatorischen Seiten der DDR - Lebenswirklichkeit wenn nicht auszublenden, so doch herunterzuspielen. Wer Auszüge aus den Akten der Staatssicherheit studiert, wundert sich über die Akribie der Staatssicherheit, die überall „Verrat“ witterte. Allerdings ist der Ausspruch Erich Mielkes „Genossen, wir müssen alles wissen !“ mehr Anspruch als Realität gewesen.15 Wie stark der Alltag der DDR im Nachhinein durch Legenden geprägt ist, zeigt etwa der von Thomas Großbölting herausgegebene Sammelband über „Friedensstaat, Leseland, Sportnation ?“ Zahlreiche Bereiche des Alltags kommen zur Sprache ( u. a. über die Gleichstellung der Geschlechter von Gunilla Budde, über Arbeiter im „Arbeiterstaat“ von Christoph Kleßmann, über die Jugend im „Staat der Jugend“ von Marc - Dietrich Ohse ).16 Christoph Links etwa hält die These vom „Leseland DDR“ für richtig, erklärt sie aber zutreffend 12 Auch Jahns Vorgänger haben aufschlussreiche Erkenntnisse zum DDR - Alltag beigesteuert, jenseits von Schwarz - Weiß - Denken. Vgl. Joachim Gauck, Winter im Sommer – Frühling im Herbst. Erinnerungen, München 2009; Marianne Birthler, Halbes Land. Ganzes Land. Ganzes Leben. Erinnerungen, Berlin 2014. 13 Vgl. Roland Jahn, Wir Angepassten. Überleben in der DDR, München 2014. 14 Mary Fulbrook, Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR, Darmstadt 2008, S. 314. 15 Vgl. Gudrun Weber, Genossen, wir müssen alles wissen ! DDR - Alltag im Spiegel der Stasi - Akten, Eine Lesebuch, Berlin 2014. 16 Vgl. Thomas Großbölting ( Hg.), Friedensstaat, Leseland, Sportnation ? DDR - Legenden auf dem Prüfstand, Berlin 2010.

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damit, dass „Literatur für viele Menschen ein Stück Welt - und Erlebnisersatz darstellte, da durch die reglementierten gesellschaftlichen Verhältnisse viele Dinge nicht selbst ausprobiert oder aufgrund von Reisebeschränkungen nicht selbst erlebt werden konnten.“17

3.

Alltag der politisch Überzeugten, der Angepassten, der Aufbegehrenden

Ein hauptamtlicher Parteifunktionär lebte in der Regel angenehmer als ein Arbeiter in einem Großbetrieb. Wer die zeitliche Dimension berücksichtigt, kann zum Ergebnis kommen, dass sich die Arbeiterschaft in den frühen 1950er Jahren bei allen ökonomischen Fährnissen besser behandelt fühlte als die Intelligenz, diese jedoch besser als jene in den späten 1980er Jahren. Wer die Bevölkerung in die Gruppe der wenigen Überzeugten, in die Masse der Angepassten und in die winzige Gruppe der offen Renitenten gliedert, gelangt offenkundig zu unterschiedlichen Einschätzungen des Alltages, wobei die Übergänge mitunter fließend sind. Die politisch Überzeugten besaßen vielfache – nicht bloß materielle – Privilegien, mussten jedoch auch Nachteile hinnehmen und in Parteiversammlungen Rituale über sich ergehen lassen. Sie gelangten weniger leicht an das begehrte Westgeld, da Westkontakte nicht eben wohlgelitten waren. Der Glaube an die alleinseligmachende Ideologie ließ bei ihnen nach anfänglichem Enthusiasmus stark nach. Machterhalt rangierte vor der – entkräfteten – Ideologie. Lehrformeln mutierten zu Leerformeln. Was die Masse der Angepassten betrifft, so entstand zwischen ihnen und dem Staat eine Art unausgesprochenes „Stillhalteabkommen“ heraus. Sie zeigte sich nach außen hin zu politischem Wohlverhalten bereit, nahm das Ritual des „Zettelfaltens“ hin, während die Staatsführung mit einer den Umständen entsprechenden großzügigen Sozialpolitik aufwartete. Die Betriebsleitungen drückten bei nachlässiger Arbeit mitunter ein Auge zu – sinngemäß nach dem Motto: „Wir geben euch allen Arbeit – ihr tastet unser Herrschaftsmonopol nicht an und fügt euch.“ Das Trauma des Aufstandes vom 17. Juni 1953, ausgelöst durch Normenerhöhungen, wirkte nach. Die Zahl der Aufbegehrenden war erstens klein und zweitens –jedenfalls in den 1970er und 1980er Jahren – reformorientiert. Gleichwohl ließen sie sich nicht ( mehr ) in das gesellschaftliche System integrieren. Sie lebten vielfach „alternativ“ und lehnten den verbreiteten „Konsumismus“ ab.18 Im Gegensatz zur „bürgerlichen“ Opposition früherer Jahrzehnte verzichtete der Staat aus 17

Christoph Links, Leseland DDR. Bedingungen, Hintergründe, Herausforderungen. In : ebd., S. 197. 18 Vgl. das Themenheft „Lebenswelt Opposition“ der Zeitschrift Horch und Guck, 18 (2009) Heft 3, S. 4–49.

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innen - , außen - und wirtschaftspolitischen Gründen in der Regel auf offene Repression; an ihre Stelle trat eine Art flächendeckendes Überwachungssystem durch Inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit.19 In einer Diktatur wie der DDR schlugen sich die staatlichen Zumutungen auch im Alltag nieder. Freilich konnte der totalitäre Anspruch oft nicht umgesetzt werden. Zwar löste sich die hergebrachte Familienstruktur auf ( z. B. durch die Bedeutung der Frauenarbeit, des Betriebs, der Kinderkrippe und des Schulhorts ), aber aufgrund mancher Fährnisse von außen wuchs vielfach ein Zusammenhalt innerhalb der Familie : als Schutz gegenüber der Außenwelt, als wichtiges Bindeglied. Auch sonst blieben überlieferte Verhaltensweisen ( der Haushalt oblag überwiegend der Frau ) mitunter erhalten. So war der Stellenwert der Familie widersprüchlich.20 Die hohe Scheidungsquote ging vielfach auf sehr früh geschlossene Ehen zurück. Wer verheiratet war, bekam eher eine „familiengerechte“ Wohnung zugewiesen. Die „Nischengesellschaft“, von der Günter Gaus, der erste Ständige Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in der DDR, gesprochen hat,21 ist in der Tat ein Charakteristikum der ostdeutschen Gesellschaft, wenn sie als Flucht vor mannigfachen Anfechtungen des Staates verstanden, nicht als ein beschaulich - unpolitisches Idyll verklärt wird. „Die Lebenswelt der Menschen war offensichtlich nicht ausschließlich vom SED - System bestimmt, andererseits aber auch keineswegs unabhängig von diesem.“22 Diese behutsam formulierte Aussage Bernd Faulenbachs ist konsensfähig. Freilich stellt sich die Frage, wo und in welchem Ausmaße das SED - System den Alltag der DDR - Bürger bestimmte. Über die Tragweite der „Durchherrschung“ der Gesellschaft23 gehen die Auffassungen weit auseinander. Wer die „Grenzen der Diktatur“24 betont, spielt keineswegs deren Unrechtscharakter herunter, sondern zeigt vielmehr, dass der offizielle Selbstanspruch im alltäglichen Leben nicht zum Nennwert zu nehmen ist. Das Herrschaftsverlangen der SED als Hegemonialpartei scheiterte auf vielen Ebenen am Eigen - Sinn der Menschen,25 beobachtbar etwa bei größeren Teilen der Jugend.26 Die DDR -

19 Vgl. Pingel - Schliemann, Zersetzen. 20 Ein Reihe von noch immer instruktiven Beispielen findet sich bei Gisela Helwig, Jugend und Familie in der DDR. Leitbild und Alltag im Widerspruch, Köln 1984. 21 Vgl. Günter Gaus, Wo Deutschland liegt. Eine Ortsbestimmung, Neuauflage, München 1986. 22 So Bernd Faulenbach, Alltag in der Diktatur. In : Materialien der Enquete - Kommission, Band V, S. 17. 23 Vgl. Jürgen Kocka, Eine durchherrschte Gesellschaft. In : Hartmut Kaelble / Jürgen Kocka / Helmut Zwahr ( Hg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 547–553. 24 Vgl. Richard Bessel / Ralph Jessen ( Hg.), Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR, Göttingen 1996. 25 Vgl. u. a. Thomas Lindenberger ( Hg.), Herrschaft und Eigen - Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR, Köln 1999. 26 Vgl. Marc - Dietrich Ohse, Jugend nach dem Mauerbau. Anpassung, Protest und Eigensinn ( DDR 1961–1974), Berlin 2003.

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Bürger hingen in der Tat nicht „wie Marionetten von morgens bis abends an den Schnüren der SED“.27 Die Gesellschaft der DDR war eine Mangelgesellschaft, wobei diesem Begriff nicht nur eine ökonomische Konnotation innewohnt. Peter Maser, wie Bernd Faulenbach Mitglied der beiden Enquete - Kommissionen, nimmt kein Blatt vor den Mund : „Der Mangel in der DDR hatte unzählige Erscheinungsformen, er bestimmte das alltägliche Leben, entwürdigte Menschen, hielt sie in Unmündigkeit und schränkte sie in ihren Lebenschancen ein. Viele hat es das Leben oder die Gesundheit gekostet. Der Mangel in der DDR wurde zum Selbstläufer. Wo es an so vielem fehlte, musste es an immer neuen Punkten zu weiteren Mangelerscheinungen kommen. Der Mangel in der DDR war systembedingt !“28 Vor diesem Hintergrund erschließt sich der Sinn von Stefan Wolles hintergründiger Aussage : „Die Anzeigenseiten stellten in der DDR den interessantesten Teil der sozialistischen Tagespresse dar.“29 Wenngleich es in der Arbeitswelt30 der DDR mitunter betulich zuging, darf dieses Defizit, das vielfache Stressreaktionen heraufbeschwor, nicht unterschlagen werden. Der Betrieb31 als Kommunikationsraum, der ein Zusammengehörigkeitsgefühl entstehen ließ, konnte längst nicht alle Probleme kompensieren. Wer von „Bückware“ profitieren wollte, musste „Westgeld“ besitzen oder über rare Fähigkeiten verfügen (etwa bei der Reparatur eines wertvollen Geräts). Das „Eingabenwesen“, welches das Mangelsystem widerspiegelt, spielte in der DDR eine große Rolle.32 Gleichwohl : Walter Ulbricht und Erich Honecker gelang es nicht, bei der DDR - Bevölkerung Zutrauen zu gewinnen. Das blieb einigen „sozialistischen Helden“ vorbehalten, etwa dem „Held des Sports“ Gustav („Täve“) Adolf Schur oder dem „Held des Alls“ Sigmund Jähn, weniger für den „Held der Arbeit“ Adolf Hennecke, der als „Normbrecher“ galt. Sie verkörperten für viele Menschen Persönlichkeiten, denen es nachzustreben galt.33 Auf diese Weise konnte 27 Astrid Segert / Irene Zierke, Gesellschaft der DDR : Klassen – Schichten – Kollektive. In: Matthias Judt ( Hg.), DDR - Geschichte in Dokumenten. Beschlüsse, Berichte, interne Materialien und Alltagszeugnisse, Berlin 1997, S. 181. 28 So Peter Maser, Erscheinungsformen des Mangels in der DDR. In : Materialien der Enquete - Kommission, Band V, S. 24. 29 Wolle, Die heile Welt der Diktatur, S. 215. 30 Zahlreiche anschauliche Beiträge aus dem Alltag in der Arbeitswelt finden sich in dem Sammelband von Friedrich Thießen ( Hg.), Zwischen Plan und Pleite. Erlebnisberichte aus der Arbeitswelt der DDR, Köln 2001. 31 Vgl. Sabine Lugert, Art. „Betrieb“. In: Rainer Eppelmann / Horst Möller / Günter Nooke/ Dorothee Wilms ( Hg.), Lexikon des DDR - Sozialismus. Das Staats - und Gesellschaftssystem der Deutschen Demokratischen Republik, Paderborn 1996, S. 108–111. 32 Vgl. etwa Ina Merkel ( Hg.), „Wir sind doch nicht die Meckerecke der Nation“. Brief an das DDR - Fernsehen, Köln 1998; Steffen K. Elsner, Das Eingabewesen als Element des Krisenmanagements in der DDR. In : Zeitschrift des Forschungsverbundes SED - Staat, Heft 8/2002, S. 116–125. 33 Vgl. Silke Satjukow / Rainer Gries, Sozialistische Helden. Figuren der Propaganda und Personen des Vertrauens. In : Deutschland Archiv, 35 (2002), S. 782–292. Siehe auch

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die Staatspartei partiell eine gewisse Identität mit dem Staat, nicht dem „Sozialismus“, herstellen. Es gibt Kontinuitäten, die sich durch die Alltagsgeschichte der meisten DDRBürger gezogen haben – vom Anfang bis zum Ende. Zwei Beispiele sollen herausgegriffen werden : die legitimierende Funktion des Antifaschismus34 und die weitgehende Fixierung auf „den Westen“ im Allgemeinen und die Bundesrepublik Deutschland im Besonderen.35

4.

Rolle des Antifaschismus

Von Anfang bis zum Ende der diktatorischen DDR kam dem Antifaschismus eine beträchtliche Relevanz zu. Nach dem Ende der NS - Diktatur herrschte in allen tonangebenden Kreisen Konsens über die Ablehnung jeder Form des Rechtsextremismus. Der hohe Blutzoll der Kommunisten im „Faschismus“ wurde anerkannt. Bald instrumentalisierte die SED - Führung den als hehr geltenden Antifaschismus - Begriff für sich – im Sinne einer pro - kommunistischen Position. Antifaschistische Parolen, Demonstrationen und Ehrungen bestimmten den Alltag vieler Menschen. Für die politische Führung war Antifaschismus Staatsdoktrin. Mit diesem Begriff ließ sich die Niederschlagung des „faschistischen Putsches“ vom 17. Juni 1953 ebenso rechtfertigen wie der Bau des „antifaschistischen Schutzwalls“ am 13. August 1961. Da die kommunistische Ideologie immer weniger „zog“, bildete der Antifaschismus für die politisch Überzeugten ein tragendes Element. „Der Antifaschismus mit seiner emotionalen Bindekraft wurde zur Legitimation sonst schwer zu rechtfertigender Handlungen und Tatbestände herangezogen.“36 Während der friedlichen Revolution suchte die SED / PDS mit Hilfe antifaschistischer Parolen wieder in die Offensive zu kommen. Nach den Schmierereien am sowjetischen Ehrenmal Ende Dezember, deren Urheberschaft nie aufgeklärt wurde, mobilisierte die Partei die Öffentlichkeit. Auf einer Großdemonstration vor 250 000 Menschen warnte sie vor „Neofaschismus“. Offenkundig diente der Antifaschismus zur eigenen Machterhaltung. dies. ( Hg.), Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR, Berlin 2002. 34 Vgl. Manfred Agethen / Eckhard Jesse / Ehrhart Neubert ( Hg.), Der missbrauchte Antifaschismus. DDR - Staatsdoktrin und Lebenslüge der deutschen Linken, Freiburg / Brsg. 2002; Thomas Abbe, Der DDR - Antifaschismus. Diskurse und Generationen – Kontexte und Identitäten. Ein Rückblick über 60 Jahre, Leipzig 2007. 35 Vgl. etwa die beiden Vorträge von Karl - Heinz Baum und Lothar Fritze zum Thema „Der Westen im DDR - Alltag“. Jeweils in : Materialien der Enquete - Kommission, Band V, S. 93–101 ( Baum ), S. 101–108 ( Fritze ), S. 108–124 ( Diskussion ); Christoph Kleßmann, Verflechtung und Abgrenzung. Aspekte der geteilten und zusammengehörigen deutschen Nachkriegsgeschichte. In : APuZ, B 29–30/93, S. 30–41. 36 Bernd Faulenbach, Einführung. In : Materialien der Enquete - Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED - Diktatur in Deutschland“ (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages ), Band III,1, Frankfurt a. M. 1995, S. 107.

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Die Masse der Bevölkerung widersetzte sich dem Antifaschismus nicht. Sie wollte von der NS - Diktatur nichts mehr wissen. Als „Sieger der Geschichte“ war es keineswegs nötig, die leidvolle Vergangenheit kritisch zu reflektieren. Allerdings wurde durch die antifaschistische Ritualisierung Desinteresse provoziert. So heißt es bei einem Schüler aus der DDR : „Wenn man immer das Gleiche hört, reicht es einem irgendwann. Da schaltet man ab und will gar nichts mehr wissen.“37 Wer Kritik an der DDR übte, musste damit rechnen, als „Faschist“ zu gelten. Der Antifaschismus erwies sich damit als „Loyalitätsfalle“ ( Annette Simon ). Die alternativen Kräfte verstanden sich ebenso als Antifaschisten. Ihnen ging es freilich nicht um einen „verordneten Antifaschismus“ von oben. Ihr dritter Weg schloss eine Akzeptanz des Antifaschismus ein, nicht des Antikommunismus, wohl aber des Antistalinismus. Sie übten heftige Kritik an der aufkommenden Skinhead - Bewegung. Laut Ehrhart Neubert entstand in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre ein „alternativer Antifaschismus“.38 Und nach dem Mauerfall hieß es bei Bürgerrechtlern in dem berühmten „Appell für unser Land“ : „Noch können wir uns besinnnen auf die antifaschistischen und humanistischen Ideale, von denen wir einst ausgegangen waren.“39 Das zeigt die Lebenskraft antifaschistischer Topoi. Dem grassierenden Antifaschismus wohnte eine antiwestliche Komponente inne. Darauf fußen die in den neuen Bundesländern größeren Vorbehalte gegenüber dem Westen, seiner Konfliktbejahung wie seiner Weltoffenheit. Dieser Umstand steht in einem merkwürdigen Spannungsverhältnis zu der nahezu ubiquitären Orientierung von DDR - Bürgern an der Bundesrepublik Deutschland. Die – zurückhaltend formuliert – Reserviertheit gegenüber „dem“ Osten war verbreitet. Damit erklärt sich u. a. die Unwilligkeit bei nicht Wenigen, die russische Sprache zu erlernen.

5.

Fixierung auf den Westen

War die DDR für den Bürger in der Bundesrepublik teilweise ein fremder Nachbar, so orientierten sich viele Menschen in der DDR an der Bundesrepublik. Diese hat „auf die DDR - Bewohner wie eine ‚positive Vergleichsgesellschaft‘“ gewirkt, die DDR „gerade auch im Vergleich zur Bundesrepublik eine außenorientierte und daher ‚fragmentierte Identität‘“40 besessen. Der Grund 37 Zitiert nach Rüdiger Schmidt, Sieger der Geschichte ? Antifaschismus im „anderen Deutschland“. In : Großbölting ( Hg.), Friedensstaat, Leseland, Sportnation ?, S. 223. 38 Ehrhart Neubert, Stichwort „Antifaschismus, alternativer“. In : Hans - Joachim Veen / Peter Eisenfeld / Hans Michael Kloth / Hubertus Knabe / Peter Maser / Erhart Neubert / Manfred Wilke ( Hg.), Lexikon Opposition und Widerstand in der SED - Diktatur, München 2000, S. 49. 39 Für unser Land. Zitiert nach Judt ( Hg.), DDR - Geschichte in Dokumente, S. 544. 40 So Wilhelm Bleek, Die DDR als Teil unseres Selbstverständnisses ? In : Werner Weidenfeld ( Hg.), Politische Kultur und deutsche Frage. Materialien zum Staats - und National-

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liegt nahe : Man wünschte, so wie die Bundesbürger zu leben. Dabei blieben Verzerrungen, z. B. Idealisierungen, nicht aus. „Das Westpaket“, das mit der Aufschrift „Geschenksendung, keine Handelsware“ versehen werden musste, symbolisierte gleichsam die Hinwendung zum staatlicherseits verteufelten „Kapitalismus“.41 Die Werbung im Westfernsehen wirkte verführerisch. Nach der friedlichen Revolution hatten ( gute ) Ostprodukte es zunächst schwer, sich gegenüber westlichen Erzeugnissen zu behaupten. Den „Wettkampf der Systeme“ verlor die DDR nicht nur im politischen, sondern auch im wirtschaftlichen Bereich.42 Wer die harte DM besaß, konnte sich mehr leisten ( z. B. durch den Einkauf in Intershop - Läden ). Gleichwohl kam Honeckers paternalistischer Politik der „Einheit von Wirtschafts - und Sozialpolitik“ jedenfalls zeitweise eine stabilisierende Bedeutung zu.43 Es fiel den Bürgern dadurch leichter, sich mit dem ungeliebten System zu arrangieren, zumal sie kaum Möglichkeiten hatten, „nach drüben“ zu kommen. Die Staatsführung gab sich keinen Illusionen hin, was die West - Orientierung betraf. Insofern war die Strategie aus ihrer Sicht angemessen, den GorbatschowKurs abzulehnen. Abgrenzung vom Westen musste das Ziel sein. „Materialien des MfS zeigen, dass die DDR - Bürger mehrheitlich auf die Bundesrepublik fixiert waren, fasziniert vom politischen System, von der wirtschaftlichen Kraft, vom Lebensstandard und der Technik, von der Lebensweise und der Unterhaltungskultur. Die Ostdeutschen konnten zwar nicht mit einer schnellen Wiedervereinigung rechnen, setzten aber auf die westdeutsche Politik, vor allem auf den jeweiligen Bundeskanzler. Dies kam sinnfällig zum Ausdruck, als Willy Brandt bei seinem Besuch im Rahmen der innerdeutschen Verhandlungen am 19. März in Erfurt von Tausenden Menschen gefeiert wurde.“44 Die „Willy, Willy“ - Rufe gingen in „Willy Brandt“ - Rufe über, da die Menschen zum Ausdruck bringen wollten, dass der Jubel nicht dem Ministerpräsidenten Willi Stoph gelte, der Brandt begleitete. „Und selbst bei den Jugendlichen blieb die Fixierung erhalten. Am 8. Juni 1987 strömten Tausende junger Leute an das Brandenburger Tor, weil auf der West - Berliner Seite der Mauer am Reichstag ein Rockkonzert stattfand. Als die Polizei die Menge zerstreuen wollte, riefen sie ‚Mauer weg‘ und ‚Macht das Tor auf‘.“45

41 42

43 44 45

bewusstsein in der Bundesrepublik Deutschland, Köln 1988, S. 219. Das erste Zitat im Zitat stammt von M. Rainer Lepsius, das zweite von Hermann Rudolph. Vgl. Christian Härtel / Petra Kabus ( Hg.), Das Westpaket. Geschenksendung, keine Handelsware, Berlin 2000. Vgl. den überzeugenden Beitrag von Werner Plumpe, Die alltägliche Selbstzermürbung und der stille Sieg der D - Mark. In : Klaus - Dietmar Henke ( Hg.), Revolution und Vereinigung 1989/90. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überflügelte, München 2009, S. 92–103. Vgl. Christoph Boyer / Peter Skyba, Sozial - und Konsumpolitik als Stabilisierungsstrategie. Zur Genese der „Einheit von Wirtschafts - und Sozialpolitik“ in der DDR. In: Deutschland Archiv, 32 (1999), S. 577–590. Ehrhart Neubert, Unsere Revolution. Die Geschichte der Jahre 1989/90, München 2008, S. 56 f. Ebd., S. 57.

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Alltag in der DDR

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Die positive West - Fixierung war beides : zeitlich und Generationen übergreifend. Allerdings traf sie nicht auf die Gruppe der Überzeugten und weniger auf die der Aufbegehrenden in den 1970er und 1980er Jahren zu. Bei den Überzeugten, auf den „Klassenfeind“ negativ fixiert, dominierte Abgrenzung. Es war, immanent betrachtet, ein schwerer Fehler der Staatsführung, dass sie sich in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre mit Westreisen auch an Personen, die noch nicht im Rentenalter und damit „grenzmündig“ waren, großzügiger zeigte. Was eine Ventilfunktion haben sollte, führte zu größerer Unzufriedenheit mit dem eigenen System. Im Gegensatz zu den „bürgerlichen“ Oppositionellen in den 1950er Jahren wollten die offen Aufbegehrenden der 1970er und 1980er Jahre das kommunistische Systems mehrheitlich reformieren, nicht abschaffen. War die große Mehrheit der Bevölkerung äußerlich angepasst und innerlich auf den Westen ausgerichtet, so traf das auf die politisch alternativen Gruppen nicht zu. Reinhard Weißhuhn, ein bekannter Bürgerrechtler, der keineswegs zum fundamentalistischen Flügel der alternativen Kräfte gehörte, kritisierte 1987 die in der DDR „vorhandene Projizierung von Emanzipationsmöglichkeiten und Bedürfnissen auf die BRD“.46 Dieses keineswegs taktisch - strategisch gemeinte Zitat ist nur ein augenfälliges Beispiel von vielen. Deutlich wird das ebenso daran, dass viele Bürgerrechtler sich mit einem schnell vereinigten Deutschland schwer taten. Hier gibt es paradoxe Parallelen zu den Kräften, die sich in der PDS sammelten, der Nachfolgepartei der SED. Ein Hauptgrund : Viele Bürgerrechtler waren auf die Grünen des Westens fixiert, die seinerzeit wiederum kein einheitliches Deutschland wollten, jedenfalls nicht in der Form, wie sich die Vereinigung 1990 vollzog. In gewisser Weise ist mithin die These vertretbar, dass auch die Alternativbewegung auf die Bundesrepublik positiv Bezug nahm, allerdings weniger auf die staatliche Seite, mehr auf die konsumkritische Alternativbewegung.

6.

Perspektiven

Alltags - und Herrschaftsgeschichte müssen nicht notwendigerweise in einem Gegensatz zueinander stehen. Der totalitäre Anspruch des Staates ließ sich in der Wirklichkeit vielfach nicht durchsetzen. „Trotz aller Homogenisierung von Lebensläufen, trotz der rücksichtslosen Aufhebung von schichtenspezifischen Milieus und trotz aller Zerstörung kultureller Traditionen misslang das gesellschaftliche Erziehungsprojekt, das die Menschen als ‚allseitig gebildete Persönlichkeiten‘ mit einer ‚sozialistischen Lebensweise‘ entwickeln sollte.“47 Allerdings vollzog sich ein vielfältiger Bewusstseinswandel. Das gilt etwa für die Rolle der Frauen, wobei nicht jede „Errungenschaft“ durch das Stichwort „Emanzipa46 Reinhard Weißhuhn, Eine unabhängige Gesellschaft in Osteuropa – Samisdat und die zweite Kultur. In : Ilko - Sascha Kowalczuk ( Hg.), Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985–1989, Berlin 2002, S. 348. 47 So Ehrhart Neubert, Erfahrene DDR - Wirklichkeit. In : Eppelmann / Möller / Nooke / Wilms ( Hg.), Lexikon des DDR - Sozialismus, S. 33.

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Eckhard Jesse

tion“ angemessen umschrieben ist.48 So war die Berufstätigkeit der Frau eine ökonomische Notwendigkeit. Eine Sichtweise ist erwünscht, die den Alltag der DDR mit den Herrschaftsstrukturen verkoppelt. Auf diese Weise lässt sich die Abhängigkeit der Erlebniswelt der Bürger von solchen Strukturen erkennen, wie stark sie immer gewesen war. Das Ergebnis dürfte höchst unterschiedlich ausfallen, je nach den eigenen Erfahrungen der Bürger, ist daher wenig verallgemeinerungsfähig. Ein besonderes Problem besteht darin, dass eine nachträgliche Sichtweise die Erinnerung verzeichnet. Die Verzerrung kann in zwei Richtungen gehen : Zum einen mag eine retrospektive Apologie eintreten ( wegen des Vergessens der Schattenseiten), zum anderen eine retrospektive Dämonisierung ( wegen des Verdrängens positiver Erfahrungen ). Ob die eine oder andere Perspektive überwiegt, dürfte maßgeblich von dem heutigen Standpunkt abhängen ( und seiner Wahrnehmung der hiesigen Gesellschaft ). Wer in der neuen Gesellschaft gut „angekommen“ ist, wird weniger geneigt sein, eine Apologie der Vergangenheit zu betreiben als derjenige, der sich in ihr nicht sonderlich wohl fühlt. Diesen Verzerrungen können selbst diejenigen unterliegen, die nicht in der DDR gelebt haben, sei es, weil sie sich nicht mit dem dortigen Leben zu identifizieren vermögen, sei es, weil sie sich damit überidentifizieren. Ein besonderer Reiz besteht darin, im einzelnen zu prüfen, ob der DDR Alltag noch heute die Menschen prägt oder ob die Unterschiede wesentlich auf die Zeit seit der deutschen Einheit zurückgehen, sei es, weil manche sich fremd im eigenen Land fühl( t )en, sei es, weil sich ( N )Ostalgie breitmacht( e ) – bedingt durch den gewaltigen Umbruch nach 1990, mit dem zum Teil eine Entwertung der eigenen Lebensleistungen korrespondierte. Verdeutlicht an einem Beispiel : Geht die geringere Neigung im Osten, sich in Parteien zu engagieren oder zu wählen, eher auf die Zeit vor 1990 („gebranntes Kind scheut das Feuer“) zurück oder auf aktuelle Vorgängen („Frust über den Verlauf der Einheit“) ? Sozialisations - und Situationsgebundenheit dürften eine Gemengelage bilden. Allerdings war die Prägung durch das im Kern abgelehnte DDR - System wohl nur begrenzt. Um mit einer Aussage Günther Heydemanns zu schließen : „Die angestrebte ‚Durchherrschung‘ der Gesellschaft durch die Partei konnte niemals völlig realisiert werden. Der Alltag, das wirkliche Leben in der DDR, entzog sich häufig dieser Zielsetzung und entsprach keineswegs dem immer wieder propagierten Bild. Nicht zuletzt gelang es der SED selbst auch nicht – und seit den 1980er Jahren zusehends weniger, die Überlegenheit des sozialistischen Herrschafts - , Wirtschafts - und Gesellschaftssystems gegenüber dem ‚Westen‘ unter Beweis zu stellen. Individuelle Situationen und Verhältnisse konnten daher durchaus unterschiedlich sein; denn bewusst oder unbewusst wurden Freiräume gesucht, um den fortwährenden Ansprüchen und Aufforderungen der Partei und der Massenorganisationen zu entgehen.“49 48 Vgl. Heike Trappe, Emanzipation oder Zwang ? Frauen in der DDR zwischen Beruf, Familie und Sozialpolitik, Berlin 1995. 49 Günther Heydemann, Gesellschaft und Alltag in der DDR.

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Das deutsche „Wirtschaftswunder“ im internationalen Vergleich Udo Wengst Günther Heydemann hat wie wenige andere in seinen geschichtswissenschaftlichen Beiträgen den Vergleich als „heuristisches Prinzip“ eingefordert.1 Er selbst hat den Vergleich in erster Linie in seinen Arbeiten über die DDR angewandt und dabei das „Dritte Reich“ in den Blick genommen.2 Heydemann ging und geht es um den Diktaturvergleich,3 der durchaus zu weiterführenden Einsichten geführt hat bzw. immer noch führt. Folgender Beitrag soll zeigen, dass nicht nur der Diktaturvergleich sinnvoll ist, sondern dass die Vergleichsperspektive auch auf anderen Feldern der Geschichtswissenschaft zu neuen Erkenntnissen führen und damit zu einem umfassenderen Verständnis historischer Entwicklungen beitragen kann. Dies soll am Beispiel des „Wirtschaftswunders“ gezeigt werden, dem für die Stabilisierung der westdeutschen Demokratie in den 1950er Jahren eine große Bedeutung beigemessen wird.

1.

Die Entwicklung in der Bundesrepublik

Stellen wir zu Beginn unserer Ausführungen die Frage, was unter dem Begriff „Wirtschaftswunder“ zu verstehen ist. Gemeinhin wird damit der wirtschaftliche Aufschwung in Westdeutschland in den 1950er Jahren verstanden. Vor dem Hintergrund der Besatzungsjahre, die durch wirtschaftliches und damit soziales Elend gekennzeichnet waren, erschien die danach mit Macht einsetzende wirtschaftliche Erholungsphase, die die einschlägigen statistischen Daten der Vorkriegszeit bald übertraf, in der Tat wie ein Wunder. Die Wirtschaftshistoriker haben indessen herausgearbeitet, dass es sich beileibe um kein Wunder gehandelt habe, benutzen aber dennoch bis heute den Begriff, wenn auch mit „Gänsefüßchen“. Damit konzedieren auch sie, dass die damalige wirtschaftliche Entwicklung erstaunlich und es deshalb begreiflich war, dass in der Bevölkerung die „Wunder - Metapher“ gang und gäbe war. 1 2 3

Günther Heydemann / Lothar Kettenacker ( Hg.), Kirchen in der Diktatur. Drittes Reich und SED - Staat, Göttingen 1993, S. 8. Günther Heydemann ( Hg.), Diktaturen in Deutschland – Vergleichsaspekte. Strukturen, Institutionen und Verhaltensweisen, Bonn 2003. Ders. ( Hg.), Diktaturvergleich als Herausforderung. Theorie und Praxis, Berlin 1998.

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Udo Wengst

Einige Zahlen sollen den wirtschaftlichen Aufschwung verdeutlichen. Das Bruttoinlandsprodukt stieg von 1950 bis 1957 um mehr als 80 Prozent. Die jährlichen Steigerungen lagen in vier Jahren über 9 Prozent, im Jahr 1955 sogar über 12 Prozent. Im selben Zeitraum verdoppelte sich das Volkseinkommen pro Einwohner. Seit 1950 sank auch die Arbeitslosigkeit von 11 auf knapp unter 4 Prozent im Jahr 1957. Zu dieser Zeit bestand damit ein Arbeitskräftemangel, trotz der hohen Zahl von Flüchtlingen und Vertriebenen, von DDR - Übersiedlern und der zahlreichen aus der Landwirtschaft abwandernden Arbeitskräfte. Seit Mitte der 1950er Jahre wurden daher die ersten Gastarbeiter angeworben. Die deutschen Bürger und Arbeiter spürten den Aufschwung auch in ihren Geldbeuteln. Sie konnten sich wieder etwas leisten. So kam es zunächst zu einer sogenannten „Fresswelle“, dann zu einer Einrichtungs - und Kleidungswelle. Die Einrichtungswelle war das Ergebnis sehr erfolgreicher Wohnungsbauprogramme, die die gravierenden Wohnungsengpässe der Besatzungsjahre schneller als erwartet beseitigten.4 Nach klassischer Auffassung sind die Gründe für diesen gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung in der Währungsreform von 1948 und der damit verbundenen Einführung der „Sozialen Marktwirtschaft“ zu suchen. Die Währungsreform war notwendig geworden, weil die im „Dritten Reich“ vorgenommene Kriegsfinanzierung die öffentlichen Finanzen zerrüttet hatte. Das zum Kriegsende drastisch geschrumpfte Sozialprodukt und die umlaufende relativ hohe Geldmenge befanden sich nicht mehr im Gleichgewicht. Dies führte angesichts der aufrecht erhaltenen Bewirtschaftungsmaßnahmen und des nach wie vor geltenden Preisstopps zu einer „zurückgestauten Inflation“. Die Ende Juni 1948 durchgeführte Währungsreform, für die insbesondere die Amerikaner verantwortlich waren, schuf neue Grundlagen für das Wirtschaftssystem. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung war jedoch nach Ansicht der überwiegenden Zahl der Historiker, dass mit dem Leitsätzegesetz der Übergang zur „Sozialen Marktwirtschaft“ vollzogen, d. h. für weite Bereiche der Wirtschaft die Planwirtschaft von heute auf morgen aufgegeben wurde. Der Münchner Wirtschaftshistoriker Knut Borchardt hat die Währungsreform als den „quasirevolutionären Gründungsakt“ der Bundesrepublik bezeichnet,5 und sein Schüler Christoph Buchheim hat die These aufgestellt, „dass die Währungs - und Bewirtschaftungsreform eine Schlüsselrolle bei der Initiierung dynamischen Wirtschaftswachstums in Westdeutschland gespielt hat“.6

4

5 6

Vgl. Günther Schulz, Rahmenbedingungen. In : Günther Schulz ( Hg.), 1949–1957. Bundesrepublik Deutschland. Bewältigung der Kriegsfolgen, Rückkehr zur sozialpolitischen Realität, Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, Band 3, Baden - Baden 2005, S. 39–44. Knut Borchardt, Die Bundesrepublik in den säkularen Trends der wirtschaftlichen Entwicklung. In : ders., Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume in der Wirtschaftspolitik, Göttingen 1982, S. 125. Christoph Buchheim, Die Währungsreform 1948 in Westdeutschland. In : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 36 (1988), S. 231.

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Das deutsche „Wirtschaftswunder“

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Als Symbol des „Wirtschaftswunders“ galt schon sehr bald der erste Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard. Er war derjenige, der wie kein anderer das Konzept der „Sozialen Marktwirtschaft“ in der Öffentlichkeit vertrat und es sowohl gegen interne Widerstände in den eigenen Reihen, gegen die Verbände der Arbeitgeber und Arbeitnehmer als auch gegenüber der Opposition durchsetzte. Das unter seinem Namen im Jahr 1955 erschienene Buch „Wohlstand für Alle“ wurde von der Mehrheit der Bevölkerung als realistische Beschreibung der bundesdeutschen Gesellschaft wahrgenommen. Erhard war spätestens seit 1957 beliebter als Bundeskanzler Adenauer und galt als unübertreffliche „Wahllokomotive“ der Unionsparteien. Es war nicht zuletzt die erfolgreiche Wirtschaftspolitik in den 1950er Jahren in der Bundesrepublik, die den bürgerlichen Parteien zur Mehrheit verhalf und schließlich 1959 dazu führte, dass sich die SPD mit dem Godesberger Programm von der Planwirtschaft verabschiedete. Es gibt Historiker, die den schnellen wirtschaftlichen Aufstieg der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg nicht so sehr auf die Währungsreform und den Übergang zur „Sozialen Marktwirtschaft“ zurückführen, sondern andere Faktoren dafür verantwortlich machen. So hat Werner Abelshauser bereits einen schon in den Besatzungsjahren einsetzenden Wirtschaftsaufschwung diagnostiziert, der erst durch Warenspekulationen im Vorfeld der Währungsreform unterbrochen worden sei.7 Die danach einsetzende wirtschaftliche Entwicklung führt er nicht auf die Wirtschaftsordnung der „Sozialen Marktwirtschaft“, sondern auf „systemunabhängige Wachstumsdeterminanten“ zurück.8 Diese sehr unterschiedlichen Diagnosen der Ursachen für den wirtschaftlichen Aufschwung in Westdeutschland in den Nachkriegsjahren legen es nahe, den Blick über die Grenzen der Bundesrepublik zu werfen und die wirtschaftliche Entwicklung in anderen westeuropäischen Ländern zu betrachten.

2.

Auswirkungen des Marshall - Plans

Ausgangspunkt für den wirtschaftlichen Wiederaufbau Westeuropas nach dem Zweiten Weltkrieg war das European Recovery Program, das der amerikanische Außenminister George C. Marshall im Juni 1947 verkündete. Die Grundidee dieses Programms, das als Marshall - Plan in die Geschichte eingegangen ist, bestand darin, die wirtschaftliche und soziale Not in Europa zu beseitigen, indem sich die europäischen Staaten über die dringendsten wirtschaftlichen Maßnahmen einigen, die von den USA finanziell unterstützt werden sollten. Zu dieser finanziellen Unterstützung waren die Amerikaner wohl deshalb bereit, weil sie damit Westeuropa sowohl wirtschaftlich wie politisch stützen konnten.

7 8

Werner Abelshauser, Wirtschaft in Westdeutschland 1945–1948. Rekonstruktion und Wachstumsbedingungen in der amerikanischen und britischen Besatzungszone, Stuttgart 1975, S. 30–50. Ebd., S. 170.

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Udo Wengst

Das hatte nicht nur zur Folge, dass in Westeuropa ein für den amerikanischen Export interessanter Wirtschaftsraum entstand. Darüber hinaus diente der Plan dazu, die Staaten Westeuropas zu Verbündeten in der weltpolitischen Auseinandersetzung mit dem Kommunismus zu machen. Im Zeitraum bis 1952 zahlten die USA annähernd 14 Milliarden Dollar an die europäischen Staaten. Diese Zahlungen waren mit gewissen Auflagen verbunden ( z. B. Aufhebung von Preiskontrollen, Stabilisierung der Wechselkurse, Ausgleich der öffentlichen Haushalte ). Außerdem wurde in Paris mit der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit ( OEEC ) ein übernationales Gremium geschaffen, das die Verteilung der Marshall - Plan - Gelder vornahm und bis heute in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ( OECD ) fortbesteht. Im Zusammenhang hiermit entstand die Europäische Zahlungsunion ( EZU ), deren Bildung als Anfang der europäischen Integration gelten kann. Von den ca. 14 Milliarden Dollar erhielten Großbritannien und Frankreich mit 3,6 bzw. 3,1 Milliarden Dollar die größten Summen. Erst dann folgten mit deutlichem Abstand Italien (1,6 Milliarden Dollar ), Westdeutschland (1,4 Milliarden Dollar ) und die Niederlande ( eine Milliarde Dollar ). Die Zuwendungen an die anderen beteiligten Staaten ( es waren insgesamt 16) lagen alle unter einer Milliarde Dollar. Wenn auch der unmittelbare Beitrag der Marshall - Plan - Hilfe für die wirtschaftliche Erholung Westeuropas nach dem Zweiten Weltkrieg von den meisten Wirtschaftshistorikern als nicht allzu gewichtig gehalten wird, weil der Umfang der Zahlungen im Vergleich zum Bruttosozialprodukt zu gering gewesen sei und die Zahlungen darüber hinaus zu spät eingesetzt hätten, so ist doch die psychologische Wirkung und der mit dieser Hilfe verbundene Anstoß zur westeuropäischen Integration nicht zu unterschätzen.9 Vor einem vergleichenden Überblick über die wirtschaftliche Entwicklung in ausgewählten westeuropäischen Staaten in den 1950er Jahren – betrachtet werden sollen Großbritannien und Frankreich, die – wie bereits erwähnt – die größten Summen aus der Marshall - Plan - Hilfe erhalten haben, sowie Italien, das neben Westdeutschland ebenfalls mit einer hohen Summe bedacht worden war – ist ein Blick auf das jeweilige Wirtschaftssystem zu werfen. In Großbritannien hatten sich die Labour - Regierungen von 1945 bis 1951 verbal zur Planwirtschaft bekannt, ohne diese in der Praxis allzu entschieden umzusetzen. Die Distanzierung der Konservativen vom Planungsdenken fiel nach der Regierungsübernahme im Jahr 1951 nur „vorsichtig“ aus.10 Insgesamt haben die Regierungen einen großen Einfluss auf die Wirtschaftspolitik ausgeübt und sie an klaren Zielsetzungen orientiert, die die „Wettbewerbsposition der Wirtschaft [...] schwächte“.11 9

Vgl. zum Marshall - Plan Udo Wengst, Der Marshall - Plan und der Wiederaufbau Westeuropas. In : Orientierungen zur Wirtschafts - und Gesellschaftspolitik, 112 (2007), S. 33–37. 10 George Peden, Modernisierung in den 50er Jahren : Die britische Erfahrung. In : Axel Schildt / Arnold Sywottek ( Hg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993, S. 53. 11 Hans Kastendiek / Karl Rohe / Angelika Volle ( Hg.), Großbritannien. Geschichte – Politik – Wirtschaft – Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1995, S. 276.

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Das deutsche „Wirtschaftswunder“

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In Frankreich besaß die Planung einen noch höheren Stellenwert als in Großbritannien. Hier war die Wirtschaftspolitik durch einen Etatismus gekennzeichnet, d. h. es gab einen „staatliche[ n ] Lenkungsanspruch gegenüber der Wirtschaft“, der durch eine „staatliche Industrieförderung“, den sogenannten „Colbertismus“, ergänzt wurde, so dass der Staat als „Moderinisierungsagentur“ fungierte.12 In Italien gab es eine ähnliche Konstellation. Obwohl sich die Regierung zur „Liberalisierung des Handels und zur Öffnung des heimischen Marktes für ausländische Produkte“ bekannte, setzte sie diese „hehren Prinzipien“ z. B. in der Automobilindustrie außer Kraft.13 Die Wirtschaft war durch eine „staatliche Förderpolitik“, besonders im industriellen Sektor, geprägt,14 so dass von einer Marktwirtschaft im eigentlichen Sinn wie auch in Frankreich nicht gesprochen werden kann.

3.

Entwicklungen in Großbritannien, Frankreich und Italien

Im Unterschied zu den meisten anderen westeuropäischen Ländern war die britische Wirtschaft in den 1950er Jahren durch eine „Wachstumsschwäche“ gekennzeichnet.15 Obgleich es auch hier zu einem Wachstum kam, fiel dieses jedoch recht bescheiden aus. So lagen die jährlichen Wachstumsraten des Bruttoinlandsproduktes stets nur zwischen 2 und 3 Prozent.16 Dies wirkte sich auch auf die Einkommen der Arbeitnehmer aus, die im Schnitt um ca. 10 Prozent geringer ausfielen als in anderen westeuropäischen Ländern.17 Dagegen hatte Großbritannien nur eine geringe Arbeitslosigkeit von 2 Prozent aufzuweisen.18 Dies ist zum einen auf die Wirtschaftspolitik der Regierung zurückzuführen, deren vorrangiges wirtschaftliches Ziel in der „Aufrechterhaltung der Vollbeschäftigung“ bestand. Unterstützt wurde dieser Kurs durch die Gewerkschaften, die über eine sehr starke Stellung verfügten und deshalb eine „personelle Überbesetzung vieler Belegschaften“ erzwingen konnten. Dies war nach Meinung vieler Kritiker der englischen Entwicklung das „Kernübel“ der „britischen Krankheit“.19 Das hieß, dass die britische Wirtschaft relativ „hohe Lohnkosten“ zu tragen hatte, dass die Produktivitätssteigerungsrate geringer ausfiel als in anderen Ländern, die Lohnstückkosten dagegen überproportional anstiegen.20 So stellt sich die Entwicklung der britischen Wirtschaft in den 12 Henrik Uterwedde, Kapitalismus à la francaise. Die mühsame Erneuerung eines Modells. In : Adolf Kimmel / Henrik Uterwedde ( Hg.), Länderbericht Frankreich. Geschichte – Politik – Wirtschaft – Gesellschaft, Bonn 2005, S. 173 f. 13 Hans Woller, Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 253. 14 Ebd., S. 252, 254 und 258. 15 Kastendiek, Großbritannien, S. 270. 16 Peden, Modernisierung, S. 49. 17 Kastendiek, Großbritannien, S. 271. 18 Peden, Modernisierung, S. 52. 19 Kastendiek, Großbritannien, S. 275 f. 20 Peden, Modernisierung, S. 53.

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Udo Wengst

1950er Jahren als eine Zeit des „wirtschaftlichen Niedergangs“ dar,21 obwohl das gesamtwirtschaftliche Wachstum in dieser Zeit „höher war als in der Zwischenkriegszeit (2,2 Prozent) und in allen vorangegangenen Jahrzehnten seit 1860“.22 Im Verhältnis zur wirtschaftlichen Entwicklung in anderen westeuropäischen Staaten in den 1950er Jahren fiel das Wirtschaftswachstum in Großbritannien in diesen Jahren indessen bescheiden aus. Gänzlich anders war die Lage in Frankreich. Hier wuchs das Bruttoinlandsprodukt in den 1950er Jahren jährlich um ca. 4,5 Prozent. Dieser Zuwachs wurde in den Jahren danach noch einmal gesteigert und erreichte ungefähr 6 Prozent. Die größte Steigerung gab es im industriellen Sektor, der in einem „bislang ungekannten Ausmaß“ wuchs. Hier steigerte sich der Produktionsindex innerhalb von sieben Jahren (1950–1958) „um mehr als die Hälfte mit einer jährlichen Steigerung von etwa 6 %“. Im Unterschied zur Bundesrepublik gab es in Frankreich bereits ab 1946 keine Arbeitslosigkeit. Der wirtschaftliche Aufschwung mit der damit verbundenen Produktivitätssteigerung wurde von einer fast gleichbleibenden Zahl von Beschäftigten bewältigt. Zustrom an neuen Arbeitskräften gab es nur durch die hohe Zahl von Abwanderern aus der Landwirtschaft, die Ende der 1950er Jahre auf über 100 000 pro Jahr angestiegen war. Das aber reichte nicht aus, so dass die Arbeitszeiten in den Industriebetrieben in Frankreich mit bis zu 46 Stunden sehr hoch waren. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung stiegen die Einkommen, die jedoch sehr ungleich verteilt blieben und die sozialen Unterschiede nicht beseitigten. So profitierten „die Inhaber der großen Firmen, die leitenden Angestellten und die Angehörigen der freien Berufe weit überproportional von dem Aufschwung [...], während Angestellte und Angehörige des mittleren Managements ungefähr so viel erhielten, wie bei einer gleichmäßigen Verteilung zu erwarten gewesen wäre“. „Stark benachteiligt“ blieben Arbeiter und Bauern. Die Ungleichheiten blieben damals jedoch „weitgehend im Verborgenen“, da „nahezu alle sozialen Schichten in den Genuss eines wachsenden Konsumgüterangebots kamen, das die Lebensgewohnheiten tendenziell nivellierte und [...] die Gleichheit der Lebenschancen suggerierte“.23 Eine ähnliche Situation wie in Frankreich gab es in Italien. Auch hier war die wirtschaftliche Entwicklung durch ein starkes Anwachsen des Bruttoinlandsproduktes gekennzeichnet. Dieses wuchs von 1950 bis 1958 durchschnittlich um über 5 Prozent pro Jahr, von 1958 bis 1963 gar um mehr als 6,5 Prozent pro Jahr. Dies war in erster Linie auf den Zuwachs in der Industrieproduktion zurückzuführen, während der Beitrag der Landwirtschaft zur Wertschöpfung ständig zurückging. Entsprechend verlief die Arbeitskräfteentwicklung. Die Industrie nahm immer mehr Arbeiter und Angestellte auf, und auch der tertiäre 21 Kastendiek, Großbritannien, S. 272. 22 Peden, Modernisierung, S. 48. 23 Wilfried Loth, Der Durchbruch zur Dynamisierung : Die französische Gesellschaft in den 50er Jahren. In : Schildt / Sywottek, Modernisierung, S. 70–73, hier 70 und 73.

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Das deutsche „Wirtschaftswunder“

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Sektor wies Wachstumsraten auf. Nur in der Landwirtschaft ging die Zahl der Beschäftigten um mehr als ein Viertel zurück.24 Insgesamt herrschte in Italien lange Zeit eine relativ hohe Arbeitslosigkeit. Noch Ende der 1950er Jahre zählte die Statistik 1,7 Millionen Arbeitslose und drei Millionen Kurzarbeiter.25 Dies hatte Auswirkungen auf die in der Industrie gezahlten Löhne – z. B. bei FIAT –, die nicht nur wegen der hohen Arbeitslosigkeit, sondern auch wegen der Schwäche der Gewerkschaften niedrig gehalten werden konnten.26 Ein Armutsbericht der Regierung zu Beginn der 1950er Jahre zeichnete ein düsteres Bild der gesellschaftlichen Lage. Über 12 Prozent aller Familien galten als arm, weitere annähernd 12 Prozent lebten an der Armutsgrenze. Erwartungsgemäß war die Lage im Süden Italiens „besonders dramatisch“, da hier die Hälfte aller Familien einer diesen beiden Gruppen angehörte.27 Etwas mehr als zehn Jahre später hatte sich die Lage jedoch vollständig gewandelt. Die Zahl der Reichen hatte ebenso zugenommen wie die Zahl der Besserverdienenden, während die noch zu Beginn der 1950er Jahre so große Gruppe der Armen beträchtlich geschrumpft war. Entsprechend stiegen die Summen, die für den privaten Konsum ausgegeben wurden. „Viele Familien hatten nun erstmals etwas mehr Geld in der Haushaltskasse und zögerten auch nicht, es auszugeben : für eine bessere Ausbildung für ihre Kinder und kleine Urlaubsreisen, für Kühlschränke und Fernsehgeräte, für Motorroller und Autos.“28 Von diesem Aufschwung profitierten aber nicht Alle. Insbesondere die Einkommen der Land - und Industriearbeiter blieben hinter denen der Angestellten deutlich zurück. Bei einem durchschnittlichen Anstieg der Reallöhne bis 1962 von nur 2 Prozent erhielten Letztere oft gar keinen höheren Lohn oder mussten gar Einbußen hinnehmen. Wie problematisch die gesellschaftliche Lage noch am Ausgang der 1950er Jahre war, ergibt sich daraus, dass auch zu diesem relativ späten Zeitpunkt die amtliche Statistik immer noch zwei Millionen Arbeitslose auswies.29 Wenn auch das starke Wirtschaftswachstum in Italien und Frankreich nicht allen gesellschaftlichen Gruppierungen gleichermaßen zu Gute gekommen ist und es selbst Teile der Gesellschaft gab, die kaum oder überhaupt nicht davon profitierten, sprechen Historiker auch im Hinblick auf den wirtschaftlichen Aufschwung in diesen Ländern von einem „Wirtschaftswunder“ („Miracolo economico“ bzw. „Trente Glorieuses“). Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass im Angesicht der Trümmerwüste, die der Zweite Weltkrieg überall auf dem europäischen Festland hinterlassen hatte, 1945 niemand davon ausgegangen war, dass eine so schnelle wirtschaftliche Erholung möglich sei. Wirtschaftshistoriker haben deshalb theoretische Modelle entwickelt, mit deren Hilfe sie versuchen, diesen Vorgang zu erklären. 24 25 26 27 28 29

Hans Woller, Geschichte Italiens, S. 251 f. Ebd., S. 257. Ebd., S. 255. Ebd., S. 258. Ebd., S. 260. Ebd., S. 264.

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4.

Udo Wengst

Erklärungsansätze und vergleichende Perspektiven

Da ist zunächst der Erklärungsversuch mit Hilfe der „Langen Wellen“ der Konjunkturentwicklung, der auf der Theorie des russischen Ökonomen Nikolai Dimitrejewitsch Kondratieff basiert und mit wirtschaftlichen Aufschwung - und Abschwungwellen arbeitet, die aber empirisch nicht nachzuweisen sind. Insbesondere amerikanische Ökonomen haben die These von einer Aufholjagd, von einem „Catch - up“ - Prozess zur Diskussion gestellt. Danach ist das „Einkommensgefälle zwischen den USA und Europa durch den Import amerikanischer Technologien und Produktionsverfahren im Tempo einer Parforcejagd“ ausgeglichen worden. Hiergegen ist jedoch eingewandt worden, dass dieser Ansatz die jeweiligen endogenen Faktoren zu wenig berücksichtige. Überzeugender erscheint die Rekonstruktionsthese, die die „endogene Kraftmobilisierung“ in den Vordergrund rückt und speziell für den westdeutschen Fall entwickelt wurde. Trotz aller Kriegszerstörungen ist in der Bundesrepublik im Wesentlichen der Kapitalstock erhalten geblieben. Flüchtlinge und Vertriebene sowie die DDR - Übersiedler sorgten in ausreichendem Maße für das notwendige „Humankapital“, das dank „bewährte[ r ] korporatistische[ r ] Organisationsmethoden“ voll ausgeschöpft werden konnte. Am Ende der Aufwärtsentwicklung 1973 war damit ein Stand erreicht, auf den es ohne den Krieg gekommen wäre. Einen letzten Erklärungsansatz versucht schließlich die Strukturbruch These zu entwickeln, die ebenfalls besonders im Hinblick auf Deutschland eine gewisse Plausibilität beanspruchen kann. Sie zielt auf den „abrupten Wandel der ökonomischen Leitideen, der Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik, insbesondere aber des internationalen Umfelds“ ab.30 Der heuristische Wert dieser Modelle auch für den Historiker ist nicht zu bezweifeln, da sie ihm bei der Entschlüsselung der damaligen Vorgänge behilflich sein können. Dabei ist er gut beraten, wenn er sich in seiner Analyse nicht nur auf einen theoretischen Ansatz bezieht, sondern die vorliegenden theoretischen Modelle kombiniert und mit der historischen Realität konfrontiert. Das vergleichsweise geringe Wachstum der britischen Wirtschaft ist unter Zugrundelegung dieser Modelle leicht zu erklären. Die britische Wirtschaft war cum grano salis unbeschädigt aus dem Krieg hervorgegangen, so dass es keine Voraussetzungen für einen „Catch - up“ - Prozess gab und auch keine Notwendigkeit für Rekonstruktionsprozesse bestand. Die britische Wirtschaft verfolgte einen Kurs der Pfadabhängigkeit, der ihr anfangs eine relative Besserstellung gegenüber dem europäischen Festland gewährte, die erst mit dem Ausgang der 1950er Jahre in eine relative Rückständigkeit umschlug. Die Ausgangslage war demgegenüber in Frankreich und Italien gänzlich anders. Hier können die Theorie des „Catch - up“ - Prozesses und die Rekonstruktionsthese durchaus zur Erklärung des schnellen wirtschaftlichen Wachstums beitragen. Endogene Fakto30 Hans - Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Fünfter Band : Bundesrepublik und DDR 1949–1990, München 2008, S. 49–53.

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Das deutsche „Wirtschaftswunder“

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ren spielten in diesen beiden Ländern keine oder aber eine ganz unbedeutende Rolle, da die Liberalisierung der Wirtschaft weitgehend ausblieb und diese mit überkommenen Mustern der Wirtschafslenkung organisiert wurde. Deshalb hat Wilfried Loth auch am Ende eines Beitrags über die französische Nachkriegswirtschaft die Frage gestellt, „ob eine weitgehend staatlich initiierte und moderierte Modernisierung für nachholende Gesellschaften nicht den geeigneten Weg zur Integration in einen entwickelten Markt darstellt“.31 Im Fall von Deutschland besitzt wohl die Strukturbruch - These einen besonderen Erklärungswert, ohne dass deshalb die „Catch - up“ - These und die Rekonstruktionstheorie gänzlich außerhalb der Betrachtung bleiben können. Aber es ist ganz unzweifelhaft, dass die im Nachkriegsdeutschland vorgenommene Liberalisierung mit Hilfe der „Sozialen Marktwirtschaft“ eine besondere Wirkung erzielt hat. Diese im Wesentlichen von Alfred Müller - Armack auf den Begriff gebrachte und von Ludwig Erhard seit Mitte des Jahres 1948 umgesetzte Wirtschaftspolitik strebte eine marktwirtschaftliche Ordnung an, mit der eine bewusste „Eingliederung sozialer Ziele“ verbunden war, was auf eine „Schaffung einer mit den Gesetzlichkeiten des Marktes verträglichen Sozialpolitik“ hinauslief.32 Auf diese Weise ist es in der Bundesrepublik Deutschland in der Tat besser als in den Vergleichsstaaten gelungen, eine Wirtschaftordnung zu etablieren, die den Wachstumsgewinn mit großer Verteilungsgerechtigkeit verband und damit einen wesentlichen Beitrag zur Stabilisierung der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft leistete, die nicht zuletzt aufgrund der wirtschaftlichen Erfolge mit wachsenden Zustimmungsraten auf die zunächst noch skeptisch betrachtete demokratische Ordnung reagierte. Inzwischen gilt die „Soziale Marktwirtschaft“ auch als Leitbild für die Europäische Union ( EU ), die im Art. 3 des EU - Vertrags von 1992 verankert hat, dass die EU „auf eine im hohen Maße wettbewerbsfähige ‚Soziale Marktwirtschaft‘“ hinwirke, „die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt“ abziele. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Bedeutung der „Sozialen Marktwirtschaft“ für die Bundesregierung im Rahmen der Fortentwicklung der EU wiederholt herausgestrichen. So stellte sie z. B. im April 2008 im Deutschen Bundestag fest : „Der Grundgedanke der Sozialen Marktwirtschaft ist der Grundgedanke des geordneten Wettbewerbs. Diesen Gedanken müssen wir auf die Europäische Union übertragen.“ Und im Dezember 2009, als die verheerenden Auswirkungen der weltweiten Bankenkrise bereits unübersehbar waren, wies sie erneut im Deutschen Bundestag auf die „Soziale Marktwirtschaft“ hin, für die „verantwortungsvolles Wirtschaften“ eine „unverzichtbare Grundlage“ sei. Bereits zwei Jahre vorher hatte sie das „europäische Sozialstaatsmodell“ beschworen und auf die Bedeutung der „Sozialen Marktwirtschaft“ im europäischen Zusammenhang hingewiesen. Dies belegt die große Bedeutung der 31 Loth, Durchbruch zur Dynamisierung, S. 79. 32 Alfred Müller - Armack, Diagnose unserer Gegenwart. Zur Bestimmung unseres geistesgeschichtlichen Standorts, Gütersloh 1949, S. 301.

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„Sozialen Marktwirtschaft“ als politisches Leitbild, das zwar vor allem von der Bundesregierung besonders nachdrücklich beschworen wurde und beschworen wird, das aber inzwischen auch im Rahmen der EU an Bedeutung gewonnen hat. Allerdings zeigen das höchst unterschiedliche Ausmaß der wirtschaftlichen Krisenerscheinungen in Europa und die bisher stark voneinander abweichenden Vorstellungen über deren Beseitigung, dass bis zu einer gemeinsamen europäischen Wirtschaftspolitik, die die theoretischen Maxime der „Sozialen Marktwirtschaft“ in die Realität umsetzt, noch ein weiter Weg zurück zu legen ist. Der gemeinsame Wirtschaftsraum Westeuropa, der mit den USA eng verflochten ist, hat seinen Anfang nach dem Zweiten Weltkrieg auf Initiative der Amerikaner genommen. Dabei hat es, wie dieser Beitrag zeigt, bei allen Gemeinsamkeiten von Beginn an gravierende Unterschiede gegeben. Ihre Analyse trägt zum Verständnis der bis heute vorhandenen Differenzen über die notwendigen konkreten wirtschaftspolitischen Maßnahmen zwischen den EU Staaten bei. Das zeigt, dass die vergleichende Betrachtung historischer Zusammenhänge auch zum tieferen Verständnis gegenwärtiger Probleme beiträgt.

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Extremismus und Totalitarismus im Kalten Krieg. Das östliche und das westliche Deutschland in der Etablierungsphase Uwe Backes

1.

Einleitung

„Extremismus“ und „Totalitarismus“ sind nach verbreitetem Verständnis normative Begriffe, die politische Akteure, Bewegungen und Systeme aus der Perspektive des Verfassungsstaates und seiner minimalen Werte und Verfahrensregeln beleuchten und bewerten – als Pejorativa und Inkarnation dessen, was historisch - politisch entschieden abzulehnen ist.1 Die folgende Untersuchung geht von dieser Perspektive aus, wenn sie das Wechselverhältnis des östlichen wie des westlichen Deutschland in der Etablierungsphase der beiden Systeme im Jahrzehnt nach Ausbruch des Kalten Krieges an der Frontlinie des Ost - WestKonflikts in einigen wesentlichen Aspekten zu bestimmen sucht. Dabei soll zugleich das Selbstverständnis der als extremistisch und totalitär Etikettierten angemessen erfasst und auf Konsistenz geprüft sowie auch auf westlicher Seite die Frage der Übereinstimmung von Theorie und Praxis einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen die jeweiligen Systemfeinde und der Umgang mit ihnen. Mag die Unterscheidung von Freund und Feind auch nicht das „eigentlich“ Politische sein, so lassen sich an ihr doch für das Politische grundlegende Haltungen und Verhaltensformen aufzeigen.2 Nicht zuletzt die Mechanismen politischer Exklusion enthüllen neben einigen Gemeinsamkeiten die unüberbrückbare Kluft zwischen den Systemantagonisten. Der Beitrag beginnt mit einer knappen Bestandsaufnahme der Formen und Größenverhältnisse des politischen Extremismus im westlichen Deutschland nach der Bundestagswahl vom August 1949. Danach geht es um die Westarbeit der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands ( SED ), die insbesondere mit der Kommunistischen Partei Deutschlands ( KPD ) und ihren Neben - und Tarnorganisationen den politischen Prozess der Bundesrepublik zu beeinflussen suchte. 1 2

Vgl. Uwe Backes, Politische Extreme. Eine Wort - und Begriffgeschichte von der Antike bis in die Gegenwart, Göttingen 2006, S. 189–250. Vgl. zuspitzend : Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Hamburg 1933, S. 7.

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Dagegen waren die westdeutschen „Brückenköpfe“ – insbesondere die Ost CDU und die Liberal - Demokratische Partei ( LDP ), sofern sie das pluralistische Mehrparteiensystem des Westens verkörperten – bereits weitgehend verloren gegangen, eingepresst in einen von der SED beherrschten Block, der Mehrparteiensystem und Parlamentarismus nur mehr simulierte.3 Knapp wird auf die Feinddefinitionen, Verfolgungs - und Abwehrmaßnahmen der beiden Staaten eingegangen, um abschließend deren Wechselverhältnis mit Blick auf Extremismus und Totalitarismus bilanzierend zu charakterisieren.

2.

Formen und Stärke des politischen Extremismus im westlichen Deutschland

Als der Schweizer Journalist Fritz René Allemann 1956 ein politisches Buch über die Bundesrepublik Deutschland mit der dezidierten Aussage „Bonn ist nicht Weimar“ betitelte, löste diese pointierte Diagnose auch bei wohlmeinenden Beobachtern kein ungeteilt positives Echo aus.4 Die Furcht vor „Weimarer Verhältnissen“ war noch allgegenwärtig. Die Etablierung und Konsolidierung der Demokratie im deutschen Weststaat galt noch in dessen Gründungsjahr als schwer zu bewältigende Herkulesaufgabe. Über zehn Millionen Vertriebene und Flüchtlinge, ca. zwei Millionen nicht wieder eingestellte ehemalige Beamte, NSDAP - Angestellte und Berufssoldaten, 2,5 Millionen Kriegshinterbliebene, 1,5 Millionen Schwerkriegsbeschädigte mit ihren Angehörigen, zwei Millionen Spätheimkehrer, vier bis sechs Millionen Ausgebombte und 1,5 Millionen Arbeitslose (1950)5 bildeten ein potentielles Rekrutierungsreservoir für rechts oder linksextreme Bewegungen. Die politische Kultur war noch stark von autoritären Traditionen geprägt und die NS - Zeit in weiten Bevölkerungskreisen geistig unbewältigt. 57 Prozent der Befragten vertraten im Oktober 1948 beispielsweise die Auffassung, der Nationalsozialismus sei „eine gute Idee, die schlecht ausgeführt wurde“,6 gewesen. Und noch im November 1953 erklärten 13 Prozent der befragten Westdeutschen, sie würden „es begrüßen“, falls eine „neue Nationalsozialistische Partei versucht, an die Macht zu kommen“.7 Allerdings bestand damals so wenig wie heute ein Automatismus, der autoritäre Einstellungspotentiale unmittelbar in extremistisches Wahlverhalten ver3 4 5

6 7

Zum „institutionalisierten Scheinparlamentarismus“ siehe die Forschungsbilanz bei : Günther Heydemann, Die Innenpolitik der DDR, München 2003, Zitat S. 16. Vgl. Fritz René Allemann, Bonn ist nicht Weimar, Köln 1956. Vgl. die Angaben bei : Alfred M. de Zayas, Die Anglo - Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen. Vorgeschichte, Verlauf, Folgen, München 1980, S. 24; Manfred Jenke, Verschwörung von rechts ? Ein Bericht über den Rechtsradikalismus in Deutschland nach 1945, Berlin ( West ) 1961, S. 46 f. Jenke stützte sich auf Untersuchungen des Soziologen Helmut Schelsky. Elisabeth Noelle / Erich Peter Neumann ( Hg.), Jahrbuch der öffentlichen Meinung, 1947–1955, Allensbach am Bodensee 1956, S. 134. Ebd., S. 276.

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wandelt hätte. Zudem hatten die Westalliierten durch eine selektive Lizenzierungspraxis erheblichen Einfluss auf die politische Angebotsstruktur genommen und machten ihren Einfluss auch in den ersten Jahren nach der Staatsgründung ( das Besatzungsstatut endete 1955) insbesondere bei Fragen der inneren Sicherheit geltend. Zugleich gab es jedoch angesichts der Verheerungen der NS - Zeit auch in der breiten Bevölkerung wie unter den sich neu formierenden, teilweise aus der Emigration zurückkehrenden politischen Führungsgruppen eine Rückbesinnung auf die weit in die deutsche Geschichte zurückreichenden rechtsstaatlichen, liberalen und demokratischen Traditionen. So hatten schon die Landtagswahlen der Jahre 1946/47 Anlass für vorsichtigen Optimismus geboten.8 Dennoch wurde das Ergebnis der ersten Wahl zum Deutschen Bundestag vom August 1949 im In - und Ausland mit großer Spannung erwartet. Würden sich die demokratischen Parteien durchsetzen, die Stimmengewinne der Extremismen von links und rechts in Grenzen halten ? Käme eine stabile Regierung zustande ? Der später zum ersten Bundeskanzler gewählte CDU - Vorsitzende Konrad Adenauer konnte, am Tag nach der Wahl von Journalisten nach dem Wahlergebnis und dem Abschneiden verfassungsfeindlicher Kräfte befragt, die Befürchtungen der Pessimisten zerstreuen : Er charakterisierte die Wahl als „eine Wiedergeburt der deutschen Demokratie“,9 da das Gros der Stimmen und Mandate auf die demokratischen Parteien entfallen war. In der Tendenz sollte sich diese Aussage in den folgenden Jahren bewahrheiten.10 Die großen demokratischen Parteien gewannen an Boden und etablierten sich zu festen Größen, während viele der kleineren, teils gemäßigte, teils extreme, von der Bildfläche verschwanden oder an den Rand gedrängt wurden. Im ersten Deutschen Bundestag gab es noch eine Fraktion und eine Gruppe mit offen verfassungsfeindlichem Charakter. Am rechten Flügel war es einem deutsch - nationalen, auch NS - affine Elemente aufweisenden Listenbündnis gelungen, 1,8 Prozent der Stimmen zu erringen. Da in Niedersachsen 8,1 Prozent der Stimmen erzielt worden waren und die Überwindung der Fünfprozenthürde auf Landesebene genügte, zogen fünf Abgeordnete der Deutschen Konservativen Partei - Deutschen Rechtspartei ( DKP - DRP ) in den Bundestag ein.11 Die Gruppe der Nationalen Rechten geriet allerdings schon bald darauf in Bewegung. Der Westfale Fritz Dorls, NSDAP - Mitglied ab 1929, scherte Anfang Oktober 1949 aus der Gruppendisziplin aus, da er maßgeblich an der Gründung einer noch radikaleren, sozialrevolutionäre Ideen kultivierenden rechtsextremen

8

Vgl. die Dokumentation bei : Gerhard A. Ritter / Merith Niehuss, Wahlen in Deutschland 1946–1991. Ein Handbuch, München 1991, S. 143–147. 9 Interview Adenauers mit der United Press. In : Keesing’s Archiv der Gegenwart vom 17. August 1949, S. 2043. 10 Vgl. Christian - Claus Baer / Erwin Faul ( Hg.), Das deutsche Wahlwunder, Frankfurt a. M. 1953. 11 Vgl. Horst W. Schmollinger, Die Deutsche Konservative Partei – Deutsche Rechtspartei. In : Richard Stöss ( Hg.), Parteien - Handbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland 1945–1980, Band 1, Opladen 1983, S. 982–1024.

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Organisation beteiligt war : der „Sozialistischen Reichspartei“ ( SRP ). Da Dorls Mitglied des Bundestages blieb – zunächst als fraktionsloser Abgeordneter –, verfügte die SRP auf diese Weise indirekt über eine parlamentarische Vertretung, ehe sie überhaupt an einer Wahl teilgenommen hatte.12 Im ersten Deutschen Bundestag gab es nationalistische Abgeordnete mit zweifelhafter Systemloyalität darüber hinaus in der Wirtschaftlichen Aufbauvereinigung ( WAV ), die mit dem demagogischen Volksredner Alfred Loritz an der Spitze in ihrem Stammland Bayern 14,4 Prozent der Stimmen erzielt und auf diese Weise zwölf Mandate erhalten hatte.13 Aber auch am rechten Rand der Regierungsparteien, vor allem der kleineren Koalitionspartner, fehlte es nicht an rechtsextremen Tendenzen.14 Das galt neben der Deutschen Partei ( DP ) auch für die FDP / DVP, in deren nordrhein - westfälischem Landesverband die Briten im Januar 1953 hart durchgriffen und einen Unterwanderungsversuch ehemaliger Nationalsozialisten um den ehemaligen Staatssekretär im Goebbels’schen Propagandaministerium, Werner Naumann, stoppten.15 Später wurden unter variierenden Bezeichnungen auftretende Heimatvertriebenenlisten, die in süddeutschen Ländern mit national - neutralistischen Grüppchen wie der Deutschen Gemeinschaft ( DG ) August Haußleiters Wahlverbindungen eingingen, zur zeitweiligen Heimstatt rechtsextremer Bestrebungen.16 Die Einbindung des 1950 gegründeten Bundes der Heimatvertriebenen und Entrechteten ( BHE ) in die Regierung nach der Bundestagswahl von 1953 trug zur Domestizierung dieser Potentiale bei. Das Ergebnis der zweiten Wahl zum Deutschen Bundestag mit einer nun auf Bundesebene geltenden Fünfprozenthürde dokumentierte den fortschreitenden Konzentrationsprozess des Parteiensystems zugunsten der unzweifelhaft systemloyalen Kräfte. Die drei Parteien CDU / CSU, SPD und FDP bauten ihren Mandatsanteil zusammengerechnet von 80,1 auf 90,8 Prozent aus. Rechtsaußen blieb die Deutsche Reichspartei ( DRP ), in Teilen Nachfolgerin der DKP - DRP, mit nur mehr 1,1 Prozent der Zweitstimmen ohne parlamentarische Vertretung. Die von Richtungskämpfen und inneren Querelen um ihren Parteivorsitzenden absorbierte WAV war nicht mehr angetreten und die in der Zwischenzeit bei Landtagswahlen ( Spitzenergebnis Niedersachsen 1951 : 11,0 Prozent ) zeitweise 12 Vgl. Uwe Backes / Eckhard Jesse, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, 4. Auflage Köln 1996, S. 68 f. 13 Vgl. Hans Woller, Die Loritz - Partei. Geschichte, Struktur und Politik der Wirtschaftlichen Aufbau - Vereinigung ( WAV ) 1945–1955, Stuttgart 1982. 14 Horst W. Schmollinger, Die Deutsche Partei. In : Stöss ( Hg.), Parteien - Handbuch, Band 1, S. 1025–1111. 15 Vgl. Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NSVergangenheit, München 1996, S. 361–396. Siehe auch zur Lage in Niedersachsen : Heinz - Georg Marten, Die unterwanderte FDP. Politischer Liberalismus in Niedersachsen. Aufbau und Entwicklung der Freien Demokratischen Partei 1945–1955, Göttingen 1978. 16 Vgl. Richard Stöss, Vom Nationalismus zum Umweltschutz. Die Deutsche Gemeinschaft/ Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher im Parteiensystem der Bundesrepublik, Opladen 1980.

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erfolgreiche SRP nach einem erfolgreichen Parteiverbotsverfahren aufgelöst worden.17 Die rechtsextreme Szene der frühen 1950er Jahre bildete einen vielgestaltigen Mikrokosmos aus Kleinparteien, soldatischen Interessengemeinschaften, Jugend - und Kulturgemeinschaften, Verlagen und Intellektuellenzirkeln, unterlag aber einem zunehmenden Marginalisierungsdruck und war aufgrund der Heterogenität und Zersplitterung kaum in der Lage, ihre politischen Potentiale organisatorisch zu bündeln.18 In dieser Hinsicht war die Situation am entgegengesetzten Ende des politischen Spektrums völlig anders. Hier bestimmte die KPD unangefochten das Feld, auch wenn über ihr bereits das Damoklesschwert des Parteiverbots schwebte. Sie hatte nach Kriegsende bessere Startbedingungen vorgefunden, von der Unterstützung aus der SBZ, vom antifaschistischen Mythos und ihrem opferreichen Widerstand gegen das NS - Regime profitiert,19 bei den Wahlen auf Länderebene in den Jahren 1946/47 häufiger Ergebnisse im kleinen zweistelligen Bereich erzielt ( Spitzenergebnis Nordrhein - Westfalen April 1947 14,0 Prozent ) und den meisten Allparteienregierungen angehört.20 Aber schon im Vorfeld der Bundestagswahl von 1949 war ihr Stern im Sinken, wie u. a. die Mitgliederstatistik ausweist ( kontinuierlicher Rückgang ab 1948).21 Der Versuch, sich als Anwältin der nationalen Einigung zu profilieren, war unglaubwürdig und nicht von Erfolg gekrönt. So erzielte sie bei der Bundestagswahl von 1949 lediglich 5,7 Prozent, wobei sie von ihrer festen sozialen Verankerung in Industrieregionen wie in Hamburg (8,5 Prozent ), Bremen (6,8 Prozent ) und an der Ruhr ( Nordrhein - Westfalen 7,6 Prozent ) zehrte. Die folgenden Landtagswahlen brachten sinkende Stimmenanteile. Und bei der Bundestagswahl von 1953 kam die Partei nur mehr auf 2,2 Prozent. Gewiss war diese Ent17

18

19 20

21

Vgl. Otto Büsch / Peter Furth, Rechtsradikalismus im Nachkriegsdeutschland. Studien über die „Sozialistische Reichspartei“ ( SRP ), Berlin ( West ) 1957; Henning Hansen, Die Sozialistische Reichspartei ( SRP ). Aufstieg und Scheitern einer rechtsextremen Partei, Düsseldorf 2007. Vgl. die materialreiche und zu wenig rezipierte Arbeit von : Kurt P. Tauber, Beyond Eagle and Swastika. German Nationalism since 1945, 2 Bände, Middletown / Conn. 1967. Außerdem vor allem : Peter Dudek / Hans - Gerd Jaschke, Entstehung und Entwicklung des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik. Zur Tradition einer besonderen politischen Kultur, 2 Bände, Opladen 1984. Vgl. Hermann Weber, Kommunistischer Widerstand gegen die Hitler - Diktatur, 1933– 1939, Berlin ( West ) 1988. Vgl. Jens Ulrich Klocksin, Kommunisten im Parlament. die KPD in Regierungen und Parlamenten der westdeutschen Besatzungszonen und der Bundesrepublik Deutschland, 1945–1956, 2. Auflage Bonn 1994; Hans Kluth, Die KPD in der Bundesrepublik. Ihre politische Tätigkeit und Organisation 1945–1956, Köln 1959; Werner Müller, Die KPD und die „Einheit der Arbeiterklasse“, Frankfurt a. M. 1979; Dietrich Staritz, Kommunistische Partei Deutschlands. In : Stöss ( Hg.), Parteien - Handbuch, Band 1, S. 1663– 1809; Frank Thomas Stößel, Positionen und Strömungen in der KPD / SED, 1945– 1954, 2 Bände Köln 1985. Vgl. Till Kössler, KPD und kleinere Parteien des linken Spektrums. Mitgliedschaft und Sozialstruktur. In : Josef Boyer / ders., Handbuch zur Statistik der Parlamente und Parteien in den westlichen Besatzungszonen und in der Bundesrepublik Deutschland, Düsseldorf 2005, S. 735–941, hier 797–799.

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wicklung bereits durch das 1951 eröffnete Verbotsverfahren beeinflusst, aber der Niedergang hatte wesentlich früher eingesetzt.22 Er stand in direktem Zusammenhang zur Entwicklung in der Sowjetischen Besatzungszone und frühen DDR.

3.

Die Westarbeit der SED

Vom offenen Ausbruch des Kalten Krieges 1947/48 an hatte sich – im Unterschied zur Perzeption in den ersten beiden Nachkriegsjahren, als man noch Illusionen über die Wandlungsfähigkeit der aus Gefängnissen und Lagern Zurückgekehrten haben konnte und eine gewisse innere Heterogenität ( als Ergebnis unterschiedlicher Erfahrungen im Widerstand, in Gefängnissen und Konzentrationslagern sowie im Exil ) bestand – das Bild der KPD in den westlichen Zonen als verlängerter Arm der SED und Moskaus verfestigt. In Wirklichkeit war die KPD im Westen von 1945 an keine eigenständig handelnde Partei, sondern unterlag der Steuerung durch die Berliner Zentrale, die ihrerseits wiederum in strikter Abstimmung mit den sowjetischen Behörden und im Rahmen der Moskauer Deutschlandpolitik agierte. Je mehr die ab April 1946 ( durch den teils unter Zwang zustande gekommenen Zusammenschluss aus SPD und KPD) in der Ostzone und Großberlin agierende Sozialistische Einheitspartei Deutschlands im Einvernehmen mit der Sowjetischen Militäradministration ( SMAD ) ihre ideologisch begründete Monopolstellung im östlichen Deutschland durchsetzte und festigte,23 desto intensiver wurde ihr Durchgriff auf die Westorganisation, die sie unter immer größerem personellen und materiellen Einsatz als Brückenkopf im Rahmen ihrer „Westarbeit“ nutzte. Mit Hilfe eines ausgedehnten Kuriersystems wurde Propagandamaterial in großem Umfang in den Westen eingeschleust.24 Die westdeutschen Sicherheitsbehörden schätzten den Umfang der illegal in den Westen transferierten SED - Aufwendungen für die politische Arbeit der KPD auf jährlich zwischen 20 und 25 Millionen DM.25 Dies war nur ein Bruchteil der für die Westarbeit insgesamt verausgabten Beträge.26 Die 1947 gebildete, mehrfach umstrukturierte West - Abteilung bzw. Westkom22 Vgl. Patrick Major, The Death of the KPD. Communism and Anti - Communism in WestGermany, 1945–1956, Oxford 1997. 23 Vgl. Andreas Malycha, Die SED. Geschichte ihrer Stalinisierung, 1946–1953, Paderborn 2000; Klaus Schröder, Der SED - Staat. Geschichte und Strukturen der DDR, München 1998, S. 30–47; Hermann Weber, Die DDR, 1945–1990, 3. überarbeitete und erweiterte Auflage München 2000, S. 15–49. 24 Vgl. Wilhelm Mensing, SED - Hilfe für West - Genossen. Die Arbeit der Abteilung Verkehr beim Zentralkomitee der SED im Spiegel der Überlieferung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (1946–1976). Hg. von der BStU, Berlin 2010, S. 109–111, 214– 283. 25 Vgl. Stefan Creutzberger, Kampf für die Einheit. Das gesamtdeutsche Ministerium und die politische Kultur des Kalten Krieges 1949–1969, Düsseldorf 2008, S. 433. 26 Vgl. Michael Lemke, Einheit oder Sozialismus ? Die Deutschlandpolitik der SED 1949– 1961, Köln 2001, S. 109 f.

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mission beim Parteivorstand / Zentralkomitee / Politbüro der SED ( ihre Organisation wurde immer wieder verändert und dem sich wandelnden institutionellen Rahmen angepasst ) entwickelte sich unter Karl Schirdewan und Franz Dahlem zu einer mächtigen Parteizentrale, die gestützt auf einen personalstarken Apparat „in Verbindung mit den Westabteilungen der großen Massenorganisationen nicht nur die Richtlinien der KPD - Politik entwarf, sondern auch das tagespolitische Handeln der Westkommunisten detailliert plante und zu steuern versuchte.“ Infolge dessen gewann die KPD unter ihrem bedingungslos moskautreuen Vorsitzenden Max Reimann immer mehr den Charakter einer reinen „Kampagnenorganisation“ zur „Mobilisierung der westdeutschen Bevölkerung gegen die politischen Entscheidungsträger im Westen und für die deutschlandpolitischen Initiativen“27 aus Moskau und Ostberlin. Sie bildete mit ihren Nebenorganisationen ( wie der Jugendorganisation Freie Deutsche Jugend [ FDJ ]28 oder der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes [ VVN ], die bis März 1953 auch in der Ostzone bestand29) das logistische Zentrum eines verzweigten organisatorischen Astwerkes im Rahmen der „Westarbeit“ der SED. Während der Westen seine ( allerdings nicht zentral gesteuerten ) „Brückenköpfe“ in Gestalt der Ost - CDU und der LDPD schon vor Gründung der DDR durch die Monopolisierung des Parteiensystems zugunsten der SED weitgehend verloren hatte, bestanden die der SED unter den weit günstigeren Wirkungsbedingungen des pluralistischen Kräftegefüges der Bundesrepublik fort ( in Westberlin war die SED unter diesem Namen präsent30), wenn auch durch Verbote ( wie 1951 gegen die FDJ und 1956 gegen die KPD selbst ) und ein restriktives politisches Strafrecht stark beschränkt. Der politische Erfolg bei Wahlen im Westen galt demgegenüber – zum Leidwesen vieler KPD - Aktivisten „an der Basis“ – als nachrangig. Um den regionalen und lokalen Parteiführungen in diesem Zielkonflikt einen möglichst geringen Handlungsspielraum zu belassen, griff die Westkommission der SED – im Einvernehmen mit den Westabteilungen der Massenorganisationen – auf ein bereits aus der KPD der Weimarer Zeit bekanntes Mittel zurück : den Einsatz von „Instrukteuren“ an der Basis, die in ihrer großen Überzahl ( insgesamt waren es Ende der 1940er / Anfang der 1950er Jahre einige Hundert,31 hinzu 27 Till Kössler, Abschied von der Revolution. Kommunisten und Gesellschaft in Westdeutschland 1945–1968, Düsseldorf 2005, S. 225. Siehe auch ders., Kaderpartei oder Milieupartei ? Die KPD in Westdeutschland 1945 bis 1960. In : Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung, (2004), S. 131–155. 28 Vgl. Michael Herms / Karla Popp, Westarbeit der FDJ, 1946–1989. Eine Dokumentation, Berlin 1997; Michael Herms, Hinter den Linien. Westarbeit der FDJ, 1945– 1956, Berlin 2001. 29 Vgl. Detlef Hansel, Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes ( VVN ). In : Gerd - Rüdiger Stephan u. a. ( Hg.), Die Parteien und Organisationen der DDR. Ein Handbuch, Berlin 2002, S. 593–615. 30 Vgl. Thomas Klein, SEW – Die Westberliner Einheitssozialisten. Eine „ostdeutsche“ Partei als Stachel im Fleische der „Frontstadt“ ?, Berlin 2009. 31 Kössler, Abschied, S. 248.

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traten weitere für die Nebenorganisationen, für die FDJ waren Anfang 1951 allein 300 im – meist drei - bis vierwöchigen – Einsatz32) aus der SBZ / DDR kamen, meist junge, frisch geschulte Nachwuchskräfte, und die Kreisbüros und Mitglieder vor Ort mit den Sichtweisen und Direktiven aus Ostberlin konfrontierten. Sie hatten den Auftrag, „durch unmittelbares Eingreifen die Durchführung der Parteibeschlüsse zu sichern“.33 Wer sich dieser – von nicht wenigen als lästig empfundenen – Gängelung und Einflussnahme entzog oder auch nur in den Verdacht geriet, sich ihr entziehen zu wollen, lief Gefahr, in die Mühlen von Säuberungswellen zu geraten, welche die Parteizentrale ( auf Geheiß und / oder in Abstimmung mit der Kommunistischen Partei der Sowjetunion [KPdSU ]) in periodischen Abständen gegen „Abweichler“ verschiedener Art in Gang setzte. Ende der 1940er Jahre veranlasste der Abfall Jugoslawiens vor dem Hintergrund des sich verschärfenden Kalten Krieges Stalin dazu, in der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten Säuberungskampagnen einzuleiten, die sich gegen angebliche oder tatsächliche Parteifeinde richteten und in einigen Ländern in Schauprozessen wie gegen Laszlo Rajk in Ungarn ( September 1949) und gegen Rudolf Slánský in Prag (1951/52) gipfelten.34 In der im Oktober 1949 gegründeten DDR war eines der ersten prominenten Opfer von Parteisäuberungen der stellvertretende KPD - Vorsitzende in Westdeutschland, Kurt Müller. Obwohl Müller, der schon in der Weimarer Zeit in führenden Funktionen für die KPD tätig gewesen und während des NS - Regimes elf Jahre lang inhaftiert war ( zunächst im Zuchthaus Kassel, später im KZ Sachsenhausen ), an sich als im Großen und Ganzen linientreuer Gefolgsmann gelten konnte, für den der Wunsch des SED - Politbüros stets Befehl war,35 geriet er in den Auseinandersetzungen nach der Bundestagswahlniederlage36 u. a. aufgrund außenpolitischer Meinungsdifferenzen mit dem Parteivorsitzenden Max Reimann bei der SMAD - und SED - Führung in den Verdacht „parteifeindlicher Tätigkeit“. Diese suchte nach Sündenböcken, und er wurde im März 1950 ( als Abgeordneter des ersten Deutschen Bundestages ) von dem soeben aus Pankow zurückgekehrten Max Reimann zu einer Reise nach Ostberlin veranlasst,37 von Richard Stahlmann, im Zentralkomitee ( ZK ) der SED zuständig 32 Vgl. Herms, Hinter den Linien, S. 154; ders., Heinz Lippmann. Porträt eines Stellvertreters, mit einem Vorwort von Hermann Weber, Berlin 1996, S. 106. 33 Zit. nach Lemke, Einheit oder Sozialismus ?, S. 64. 34 Vgl. Wolfgang Maderthaner / Hans Schafranek ( Hg.), „Ich habe den Tod verdient“. Schauprozesse und politische Verfolgung in Mittel - und Osteuropa 1945–1956, Wien 1991. 35 Vgl. Annette Weinke, Der Justizfall Kurt Müller und seine Bedeutung für die kommunistische Parteisäuberungswelle im geteilten Deutschland. In : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 45 (1997), S. 293–310, hier 296 f.; Gerhard Wettig, Die KPD als Instrument der sowjetischen Deutschland - Politik. Festlegungen 1949 und Implementierungen 1952. In : Deutschland Archiv, 8 (1994), S. 816–829. 36 Heftige Kritik an den Fehlern der KPD im Bundestagswahlkampf übte : Karl Schirdewan, Die westdeutschen Wahlen zum Bundestag. In : Einheit, 4 (1949), S. 873–889. 37 Vgl. Kurt Müller (1903–1990) zum Gedenken. Hg. von Dieter Dowe, Forschungsinstitut der Friedrich - Ebert - Stiftung, Bonn 1991, S. 26.

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für technische Abwicklung der SED - Westarbeit und die Verbindungen zur KPD,38 dorthin überstellt und von Mitarbeitern des im Februar neugebildeten Ministeriums für Staatssicherheit ( MfS ) unter Leitung des damaligen MfS Staatssekretärs Erich Mielke verhaftet. Wie er Jahre später in Briefen an den Ministerpräsidenten der DDR, Otto Grotewohl, ausführte, wurde er in der Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit monatelang unter schwersten Bedingungen verhört, wobei Mielke und seine Mitarbeiter nichts unversucht ließen, um Geständnisse zu erpressen, die in einem geplanten Schauprozess nach dem Muster des Rajk - Prozesses verwendet werden sollten. Dazu rollte man alte Händel aus der Weimarer Zeit neu auf, erhob fadenscheinige Anschuldigungen, fälschte Protokolle und brachte falsche Zeugenaussagen bei.39 Nach einer mehrmonatigen Leidenszeit folgten die Überstellung an die sowjetischen Behörden, erneute monatelange Verhöre und im März 1953 schließlich ein – für die damalige Praxis typisches – „Fernurteil“ des sowjetischen Komitees für Staatssicherheit ( KGB ) zu 25 Jahren Haft wegen „Terrors, Spionage, Sabotage, Gruppenbildung und terroristischer Tätigkeit“, die er bis 1955 im sowjetischen Straflager Wladimir verbüßte, von wo er im Rahmen der Adenauer’schen Abmachungen über die Entlassung von deutschen Kriegsgefangenen in die Bundesrepublik zurückkehren konnte.40

4.

Autokratieetablierung in der Sowjetischen Besatzungszone / Deutschen Demokratischen Republik

Am Fall Müller lassen sich exemplarisch Grundzüge des sich etablierenden SEDRegimes herausarbeiten. Müller wurde Opfer einer Säuberungswelle, deren zeithistorischer Hintergrund die Bildung der Kominform, die Stalinisierung der Kommunistischen Parteien des sowjetischen Satellitengürtels und die Hatz gegen tatsächliche oder vermeintliche Abweichler und Agenten bildeten. Allerdings war das Instrument der Säuberung spätestens seit Lenin ( also nicht erst seit Stalin ) fester Bestandteil kommunistischer Praxis. Es diente der Eliminierung all jener schädlichen Elemente, die sich dem großen Transformationsprojekt der Errichtung einer historisch präzedenzlosen egalitären, klassen - und konfliktfreien Gesellschaft widersetzten.41 Sein Sinn erschloss sich aus der 38 Vgl. Matthias Uhl, Richard Stahlmann (1891–1974). Ein Handlanger der Weltrevolution im Geheimauftrag der SED. In : Dieter Krüger / Armin Wagner ( Hg.), Konspiration als Beruf. Deutsche Geheimdienstchefs im Kalten Krieg, Berlin 2003, S. 84–110, hier 100– 102. 39 Kurt Müller, Ein historisches Dokument aus dem Jahre 1956. Brief an den DDR - Ministerpräsidenten Otto Grotewohl. In : Aus Politik und Zeitgeschichte, 40 (1990) 11, S. 16– 29, hier 28. 40 Vgl. „Müller, K.“. In : Helmut Müller - Enbergs / Jan Wielgohs / Dieter Hoffmann ( Hg.), Wer war wer in der DDR ? Ein biographisches Lexikon, Berlin 2000, S. 602 f. 41 Vgl. Dominique Colas, Säubernde und gesäuberte Einheitspartei – Lenin und der Leninismus. In : Uwe Backes / Stéphane Courtois ( Hg.), „Ein Gespenst geht um in Europa“. Das Erbe kommunistischer Ideologien, Köln 2002, S. 147–186.

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Kenntnis der ideologischen Grundlagen der KPen. Nach deren Selbstverständnis waren sie im Besitz einer „wissenschaftlichen Weltanschauung“, die es ihnen erlaubte, die Gesetze der Geschichte zu erkennen, die Probleme der Gegenwart präzise zu analysieren und den Weg in eine Gesellschaft der Zukunft einzuschlagen, die mit der endgültigen Überwindung der Konflikte zwischen den Klassen einen Qualitätssprung im Zusammenleben der Menschen bewirken würde.42 Der besondere Wahrheits - , Deutungs - und Erklärungsanspruch kam in folgender Aussage des „Kurzen Lehrgangs“ zur Geschichte der KPdSU zum Ausdruck, einem der Basistexte politischer Erziehung zu Beginn der 1950er Jahre : „Die Kraft der marxistisch - leninistischen Theorie besteht darin, dass sie der Partei die Möglichkeit gibt, sich in der jeweiligen Situation zu orientieren, den inneren Zusammenhang der rings um sie vor sich gehenden Ereignisse zu verstehen, den Gang der Ereignisse vorauszusehen, und zu erkennen nicht nur, wie und wohin sich die Ereignisse gegenwärtig entwickeln, sondern auch wie und wohin sie sich künftig entwickeln müssen.“43 Dieser Anspruch legitimierte den exklusiven und umfassenden politischen Gestaltungsanspruch der Staatsparteien, die für sich eine besondere historische Mission reklamierten und neben sich keine anderen politischen Anschauungen als gleichrangig anerkannten. Wenn die SED im neuen Parteistatut von 1950 vom „Bündnis der Arbeiterklasse mit den werktätigen Bauern und der fortschrittlichen Intelligenz“44 sprach, war dies nicht im Sinne einer Machtteilung zu verstehen, denn die SED hatte zu dieser Zeit ihren politischen Monopolanspruch mit Unterstützung der sowjetischen Besatzungsmächte bereits weitgehend durchgesetzt. So waren die zunächst selbständig gegründeten Parteien CDU und LDP fest in einen „Block“ eingebunden, der sich in der ersten Volkskammerwahl vom Oktober 1950 in der Form einer Einheitsliste mit starrer, die Hegemonie der SED sichernder Mandatsverteilung präsentierte.45 Insbesondere die Führungen der „Blockparteien“ standen unter permanentem Anpassungsdruck. Wer wie der stellvertretende Vorsitzende der Ost - CDU, Hugo Hickmann, Wahlen mit konkurrierenden Listen forderte, war untragbar und wurde entmachtet. Auf dem 6. Parteitag

42 Vgl. nur als typisches Zeugnis aus diesen Jahren : „Die wichtigsten ideologischen Aufgaben der Partei“ ( Entschließung des Zentralkomitees vom 20. Oktober 1951). In : Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Beschlüsse und Erklärungen des Parteivorstandes, des Zentralkomitees sowie seines Politbüros und seines Sekretariates, Band III, Berlin ( Ost ) 1952, S. 570–588. 43 Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion ( Bolschewiki ) – Kurzer Lehrgang, unter Redaktion einer Kommission des Zentralkomitees der KPdSU ( B ), gebilligt vom Zentralkomitee der KPdSU ( B ) 1938, Berlin ( Ost ) 1955, S. 441. 44 „Statut der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ ( Beschluss des 3. Parteitages vom 20.–24. Juli 1950). In : Dokumente, Band III, S. 162–176, hier 162. 45 Das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen veröffentlichte eine Broschüre mit detaillierten Informationen über Verlauf und Hintergründe der Wahlen : Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen ( Hg.), Der große Wahlbetrug am 15. Oktober 1950 in der sowjetischen Besatzungszone. Dokumente und Tatsachen, Bonn 1951.

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unterwarf sich die CDU 1952 auch offiziell dem Führungsanspruch der SED.46 Zwei Jahre zuvor hatten sich in den Westen geflüchtete Christdemokraten zur Exil - CDU zusammengeschlossen und in Westberlin im September 1950 den ersten Parteitag abgehalten. Das Ostbüro hielt den Kontakt zu denen in der DDR aufrecht, die sich dem Zentralisierungsprozess der SED nicht bedingungslos beugen wollten.47 Einer ähnlichen Entwicklung waren die in der SBZ zugelassenen Massenorganisationen unterworfen, sofern sie nicht ohnehin – wie die FDJ – als kommunistisch dominierte Organisationen gegründet worden waren.48 Die Einheit von Partei und Staat war nicht zuletzt durch die Einführung des sowjetischen Nomenklatursystems und die Besetzung aller Führungspositionen mit bewährten Parteigenossen bewirkt worden.49 Die „Kaderpolitik“ der SED bestimmte auch die Zusammensetzung der Volkskammer nach einem festen Verteilungsschlüssel, welcher der Staatspartei eine breite, durch Wahlen nicht in Frage zu stellende Mehrheit sicherte. Daher fungierte die Volkskammer nicht als Kontrollorgan, sondern hatte neben ihren gesetzgeberischen Funktionen primär die Aufgabe, „die Einheit von Volk, Staat und SED zu symbolisieren“.50 Der Gedanke einer institutionellen Gewaltenkontrolle war der kommunistischen Staatslehre fremd. Alle Gewalt sollte stattdessen in den Händen der Arbeiterklasse und ihrer Avantgarde konzentriert werden.51 Daher war auch keine unabhängige Justiz aufgebaut worden, die bei der Verfolgung und Ahndung politischer Gegner die Einhaltung verbindlicher Regeln hätte erzwingen können. Stattdessen galt, was ein Lehrbuch aus dem Jahr 1954 kurz und bündig wie folg formulierte : „Das sozialistische Recht ist Mittel zur Verwirklichung der Politik der marxistisch - leninistischen Partei, es steht nicht neben oder gar 46 Vgl. Michael Richter, Die Ost - CDU 1948–1952. Zwischen Widerstand und Gleichschaltung, 2. korrigierte Auflage Düsseldorf 1991, S. 203, 222–229. 47 Siehe für die LDPD : Gerhard Papke, Die Liberal - Demokratische Partei Deutschlands in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR 1945–1952. In : Jürgen Fröhlich (Hg.), „Bürgerliche“ Parteien in der SBZ / DDR. Zur Geschichte von CDU, LDP ( D ), DBD und NDPD 1945 bis 1953, Köln 1995, S. 25–43. Siehe auch im Überblick : Karl Wilhelm Fricke, Opposition und Widerstand in der DDR. Ein politischer Report, Köln 1984, S. 47–70; Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR, 1949–1989, Berlin 1997, S. 55–59. 48 Vgl. die entsprechenden Einträge in folgenden Bänden : Rainer Eppelmann / Horst Möller / Günter Nooke / Dorothee Wilms ( Hg.), Lexikon des DDR - Sozialismus. Das Staatsund Gesellschaftssystem der Deutschen Demokratischen Republik, Paderborn 1996; Stephan u. a. ( Hg ), Die Parteien und Organisationen. 49 Vgl. Matthias Wagner, Ab morgen bist du Direktor. Das System der Nomenklaturkader in der DDR, Berlin 1998, S. 28–43. 50 Roland Schirmer, Die Volkskammer – ein ‚stummes‘ Parlament ? Die Volkskammer und ihre Abgeordneten im politischen System der DDR. In : Werner J. Patzelt / ders. ( Hg.), Die Volkskammer der DDR. Sozialistischer Parlamentarismus in Theorie und Praxis, Wiesbaden 2002, S. 94–180, hier 141. 51 Noch in späten Ausgaben des offiziellen Kleinen Politischen Wörterbuchs hieß es unmissverständlich : „Der sozialistische Staat kennt keine G. [ Gewaltenteilung ]. Die Volkssouveränität schließt die Exekutive und Jurisdiktion ein.“ Art. „Gewaltenteilung“. In : Kleines Politisches Wörterbuch, Berlin ( Ost ) 1983, S. 340.

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über der Politik“.52 Die zentrale Steuerung der Wirtschaft und die Zurückdrängung des privaten Sektors sicherten der Partei den Zugriff auf Produktionsmittel, ermöglichten die selektive Verteilung von Gütern und Lebenschancen. In ihrem Inneren war die SED nach dem Vorbild der KPdSU und den Prinzipien des demokratischen Zentralismus umgestaltet, die ursprünglich vereinbarte Parität zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten in den Führungsgremien der Partei beseitigt worden. Im Zusammenspiel mit dem strikten Fraktionsverbot, der Anbindung an Moskau und den periodischen Säuberungswellen wurde so ein Höchstmaß innerer „Einheit und Reinheit“ erreicht. Näherte sich die DDR der frühen 1950er Jahre auf diese Weise dem Modell totalitärer Herrschaft, wie es Carl J. Friedrich und Zbigniew Brzezinski entworfen hatten,53 in beträchtlichem Umfang an, blieben doch „Risse im Monolith“54 sichtbar, ohne welche die Volkserhebung vom 17. Juni 1953 kaum zu erklären wäre. Der SED war es nicht gelungen, für ihre Politik in ausreichendem Maße Legitimität in der Bevölkerung zu erzeugen, zumal die ökonomische Performanz ( Versorgungskrise ) hinter den hohen Erwartungen, die sie mit ihren programmatischen Verheißungen geweckt hatte, weit zurückblieb.55 Das westliche Deutschland, wo der Koreakrieg mit einem Boom der Exportwirtschaft ab der zweiten Jahreshälfte 1951 die wirtschaftliche Dynamik antrieb, so dass ab 1952 jährliche Produktionssteigerungen von rund zehn Prozent erreicht wurden, die Löhne stiegen und die Arbeitslosigkeit zurückging,56 blieb für die meisten Menschen der wichtigste externe Bezugspunkt. Zwar unternahm die SED große Anstrengungen, ihr System gegenüber dem Westen durch einen Ausbau der Grenzbefestigungen abzuriegeln, doch nutzte eine große Zahl von Menschen jährlich die weiterhin bestehenden Möglichkeiten zum legalen wie illegalen 52 Hermann Klenner, Der Marxismus - Leninismus über das Wesen des Rechts, Berlin (Ost) 1954, S. 66. Siehe auch Clemens Vollnhals, Nomenklatur und Kaderpolitik – Staatssicherheit und die „Sicherung“ der DDR - Justiz. In : Jürgen Weber / Michael Piazolo (Hg.), Justiz im Zwielicht. Ihre Rolle in Diktaturen und die Antwort des Rechtsstaates, München 1998, S. 213–240; Hubert Rottleuthner ( Hg.), Steuerung der Justiz in der DDR. Einflussnahme der Politik auf Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte, Köln 1994; Hermann Wentker, Die Neuordnung des Justizwesens in der SBZ / DDR 1945– 1952/53. In : Roger Engelmann / Clemens Vollnhals ( Hg.), Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Rechtspraxis und Staatssicherheit in der DDR, Berlin 1999, S. 93–114; ders. ( Hg.), Volksrichter in der SBZ / DDR 1945 bis 1952. Eine Dokumentation, München 1997. 53 Vgl. Carl J. Friedrich, unter Mitarbeit von Zbigniew Brzezinski, Totalitäre Diktatur, Stuttgart 1957. 54 Vgl. Karl W. Deutsch, Risse im Monolith. Möglichkeiten und Arten der Desintegration in totalitären Systemen (1954). In : Bruno Seidel / Siegfried Jenkner ( Hg.), Wege der Totalitarismus - Forschung, Darmstadt 1968, S. 197–227. 55 Vgl. zu den inneren Entwicklungsbedingungen der Volkserhebung u. a. Karl Wilhelm Fricke, „17. Juni 1953“ – Vorgeschichte und Verlauf. In : Roger Engelmann / Ilko - Sascha Kowalczuk ( Hg.), Volkserhebung gegen den SED - Staat. Eine Bestandsaufnahme zum 17. Juni 1953, Göttingen 2005, S. 45–57; Jürgen Maruhn ( Hg.), 17. Juni 1953. Der Aufstand für die Demokratie, München 2003. 56 Vgl. Werner Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, München 2004, S. 154–174.

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Grenzübertritt. Die Bilanz der „Abstimmung mit den Füßen“ fiel eindeutig aus: In den Jahren 1950 bis 1953 verließen mehr als 1,3 Millionen Menschen das östliche Deutschland gen Westen. Den umgekehrten Weg schlug nur gut ein Zehntel davon ein.57 Die propagandistischen Bemühungen der SED, die Bundesrepublik und die Regierung Adenauers als reaktionäres Ausbeuter - und Unterdrückungsregime im Dienste „aggressiver Kreise des deutschen und amerikanischen Imperialismus“58 zu entlarven, wie sie in den Wochen nach dem 17. Juni einen Höhepunkt erreichten, blieben ohne die erhoffte Wirkung. Es war der SED nicht gelungen, ein Kommunikationsmonopol zu errichten – dazu war die personelle Fluktuation zwischen Ost und West, vor allem in Berlin, die Zahl der in den Osten geschmuggelten Druckerzeugnisse, aber auch die Wirkung westlicher Nachrichtensender zu groß, allen voran des RIAS, der über mehrere Transmitter in Berlin, Hof und München sendete und Anfang der 1950er Jahre nach amerikanischen Schätzungen etwa sechs Millionen deutschsprachige Zuhörer erreichte, allerdings nicht nur in der DDR, sondern auch in Polen, der Tschechoslowakei, Rumänien, Ungarn und Jugoslawien.59

5.

Feindbekämpfung in beiden Staaten

Aufgrund des eklatanten Legitimitätsdefizits und des Widerstandes gegen das soziale Transformationsprojekt gewannen soziale Disziplinierung und Repression im SED - Regime überragende Bedeutung. Wie schon die Etablierung wäre auch die Konsolidierung des Regimes ohne den Rückhalt und die aktive Unterstützung durch die sowjetische Besatzungsmacht nicht zu bewältigen gewesen. Mit Gründung der DDR wurden aber mehr und mehr repressive Aufgaben auf die deutschen Organe verlagert. Zum wichtigsten Herrschaftsinstrument der SED entwickelte sich der Überwachungs - und Repressionsapparat des Ministeriums für Staatssicherheit, das sich in den Jahren 1949/50 im Wesentlichen aus der Informationsabteilung der zentralen deutschen Verwaltungsinstanz der SBZ, der Deutschen Wirtschaftskommission ( DWK ), der zum Parteinachrichtendienst gehörenden Hauptverwaltung zum Schutze des Volkseigentums und der für politische Delikte zuständigen Kriminalpolizeieinheiten K5 rekrutierte. Das MfS bündelte die Aufgaben eines Inlands - und eines Auslandsnachrichtendienstes, vereinte nachrichtendienstliche und polizeiliche Funktionen bei Ermittlungen in politischen Strafsachen. Die Zahl seiner hauptamtlichen Mitarbeiter stieg Anfang der 1950er Jahre rasch – von 2 700 1950 auf 13 000 1954.60 Bei 57 Vgl. Bernd Stöver, Zuflucht DDR. Spione und andere Übersiedler, München 2009, S. 10. 58 Ausschuss für deutsche Einheit, Wer zog die Drähte ? Der Juni - Putsch 1953 und seine Hintergründe, Berlin ( Ost ) 1954, S. 33. 59 Vgl. Bernd Stöver, Die Befreiung vom Kommunismus. Amerikanische Liberation Policy im Kalten Krieg 1947–1991, Köln 2002, S. 426. 60 Vgl. Jens Gieseke, Die DDR - Staatssicherheit. Schild und Schwert der Partei, Bonn 2000, S. 86.

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politischen Verfahren wirkte das MfS eng mit Richtern und Staatsanwälten zusammen, die bereits im April 1950 zu 86 Prozent aus SED - Mitgliedern bestanden. Die politischen Strafverfahren der Zeit entsprachen in keinerlei Hinsicht rechtsstaatlichen Grundsätzen.61 Als die sowjetischen Behörden im Frühjahr 1950 die Speziallager auflösten und rund 3 400 noch nicht Verurteilte und unter dem Verdacht von NS - Vergehen stehende Insassen, unter ihnen viele Sozialdemokraten und auch Kommunisten, an die DDR - Behörden überstellten, wurden diese ohne eigenständige Beweiserhebung in Schnellverfahren ( Waldheimer Prozesse ) zu drastischen Strafen verurteilt. Das Zentralsekretariat der SED hatte die Richter sorgsam ausgewählt und den Urteilsrahmen im Voraus abgesteckt. Insgesamt lag die Zahl der wegen politischer Delikte Verurteilten und Inhaftierten in den Jahren vor 1956 nach Schätzungen bei über 10 000 Personen pro Jahr. 1953 waren es 12 520. Der Anteil der wegen Staatsverbrechen Verurteilten an der Gesamtzahl der Häftlinge lag in der ersten Hälfte der 1950er Jahre bei rund 35 Prozent !62 Ein Teil der Inhaftierungen war das Ergebnis erfolgreicher „Westarbeit“ des MfS, die auch aufgrund des Mangels an qualifiziertem Personal zunächst schleppend begonnen hatte, aber noch vor dem 17. Juni 1953 beachtliche Resultate erzielen konnte. Besonders spektakulär war der Fall des Mitarbeiters der „Organisation Gehlen“ Hans - Joachim Geyer, der bei einem Einsatz in Dresden im Dezember 1952 festgenommen, „umgedreht“ und nach Westberlin zurückgeschickt worden war, von wo er eine Fülle von Ablichtungen hochvertraulicher Originaldokumente lieferte und die Aufdeckung zahlreicher V - Leute der „Organisation Gehlen“ ermöglichte. Die propagandistisch ausgeschlachtete Verhaftungswelle diente nach dem Juni - Aufstand, bei dem das MfS keine gute Figur gemacht hatte, dem Nachweis der eigenen Effizienz und Unentbehrlichkeit.63 In der Bundesrepublik fehlte es ebenfalls nicht an Personen, die wegen politischer Delikte verurteilt und inhaftiert wurden. Waren die Gerichte in den ersten beiden Jahren nach der Staatsgründung noch vergleichsweise zurückhaltend, bot das im Jahr 1951 unter dem Druck der Staatsschutzorgane und vor dem Hintergrund des Korea - Krieges eingeführte neue politische Strafrecht eine Grundlage, um der von Moskau und Ostberlin gesteuerten politischen Infiltration energisch entgegenzuwirken. Es ging darum, „die legal arbeitenden Umsturzparteien im Vorfeld des Hochverrats unschädlich zu machen und gar nicht

61

Vgl. Karl Wilhelm Fricke, Politik und Justiz in der DDR. Zur Geschichte der politischen Verfolgung 1945–1968. Bericht und Dokumentation, Köln 1979, S. 55–239. 62 Vgl. Falco Werkentin, Recht und Justiz im SED - Staat, 2. Auflage Bonn 1998, S. 101. Siehe auch ders., Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, Berlin 1995, S. 405. 63 Vgl. Karl Wilhelm Fricke / Roger Engelmann, „Konzentrierte Schläge“. Staatssicherheitsaktionen und politische Prozesse in der DDR 1953–1956, Berlin 1998, S. 42–47; Roger Engelmann, Zur „Westarbeit“ der Staatssicherheit in den fünfziger Jahren. In : Georg Herbstritt / Helmut Müller - Enbergs ( Hg.), Das Gesicht dem Westen zu ... DDR - Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland, Bremen 2003, S. 143–152, hier 144 f.

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erst zum Konkurrenzkampf um die Schalthebel der Staatsmacht zuzulassen.“64 Das Problem der Infiltration des Westens durch kommunistische Organisationen beschäftigte die Alliierten seit 1947 intensiv.65 Es war bekannt, dass sich die Kommunisten bei der Machtübernahme in den ostmitteleuropäischen Staaten wesentlich auf die Sicherheitsorgane gestützt hatten, die zuvor geschickt unterwandert worden waren. Eine ähnliche Entwicklung wurde nun auch für das westliche Deutschland befürchtet, wo etwa SED - Agenten in der Polizei aufgespürt wurden. Die Situation verschärfte sich enorm durch den Ausbruch des Korea - Krieges, der einer vor Kriegsangst bebenden Öffentlichkeit („Wenn die Russen kommen ...“) ein auch in Deutschland mögliches Szenario vor Augen führte.66 Adenauer „befürchtete ernsthaft eine ähnlich vorgetragene kriegerische Auseinandersetzung über die DDR“,67 wo mit der kasernierten Volkspolizei eine paramilitärische Truppe aufgebaut worden war, der die Bundesrepublik zu diesem Zeitpunkt nichts entgegenzusetzen vermochte. Adenauer forderte von den Alliierten „als Mindestmaßnahme eine gewisse Polizeimacht“,68 um gegen die Infiltration im Westen vorgehen zu können. Im Sommer 1950 nahmen die Spannungen zwischen den beiden deutschen Staaten weiter zu. Auf dem III. Parteitag der SED (20.–24. Juli 1950) rief Wilhelm Pieck – sekundiert vom KPD - Vorsitzenden Reimann – zum unversöhnlichen und aktiven „Kampf gegen die Kriegsbrandstifter“ in Deutschland, die im Dienste der „anglo - amerikanischen Imperialisten“ stehende „Bonner Marionettenregierung“69 auf. Und eine Woche später erklärte er auf einer Großberliner Parteiaktivtagung im Friedrichstadtpalast, wie sich in Korea zeige, würden Marionettenregierungen früher oder später hinweggefegt; daher führe man den Kampf zur Liquidierung der Kriegsprovokateure, wie dies in Südkorea geschehe.70 Der amerikanische Landeskommissar für Hessen, James R. Newman, warnte die KPD davor, die von der SED propagierte Politik des vielfältigen Widerstandes praktisch umzusetzen.71

64 So mit ablehnender Kommentierung : Hans Čopić, Grundgesetz und politisches Strafrecht neuer Art, Tübingen 1967, S. 13. Vgl. auch Alexander von Brünneck, Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland, 1949–1968, Frankfurt a. M. 1978, S. 73–75. 65 Vgl. auch zum Folgenden : Walter Imle, Zwischen Vorbehalt und Erfordernis. Eine historische Studie zur Entstehung des nachrichtendienstlichen Verfassungsschutzes nach 1945, München 1984, S. 175–179. 66 Vgl. Ernst Nolte, Deutschland und der Kalte Krieg, München 1974, S. 287 f. 67 Imle, Zwischen Vorbehalt und Erfordernis, S. 177 mit detaillierten Nachweisen. Siehe zur Lagebeurteilung : Hans - Peter Schwarz, Die Ära Adenauer. Gründerjahre der Republik, 1949–1957, Stuttgart 1981, S. 109. 68 Vgl. Imle, Zwischen Vorbehalt und Erfordernis, S. 177. 69 Protokoll der Verhandlungen des III. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. 20. bis 24. Juli 1950, 1.–3. Verhandlungstag, Berlin ( Ost ) 1951, S. 20– 71, hier 36 f.; Rede Reimanns S. 153–158. 70 Vgl. Nolte, Deutschland und der Kalte Krieg, S. 288. 71 Vgl. Imle, Zwischen Vorbehalt und Erfordernis, S. 178.

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Ein Organisationserlass der Bundesregierung vom 19. September 1950 zielte auf Beamte, Angestellte und Arbeiter des öffentlichen Dienstes, die sich an – rechts - oder linksextremen – Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung beteiligten.72 Sie konnten aus dem öffentlichen Dienst entfernt werden. Weitergehende Maßnahme erlaubte das 1951 eingeführte politische Strafrecht. Für den Nachweis einer in diesem Sinne strafwürdigen Handlung genügte deren hoch - , landes - oder staatsschädigende Intention unabhängig von der konkreten Gefährlichkeit und Gefahrensituation.73 Die Zahl der so zustande gekommenen Verurteilungen war im Jahr 1951 mit 77 noch gering, stieg aber in kurzer Zeit auf die Rekordzahl von 1655 im Jahr 1953, um sich in den Jahren bis 1959 auf einem Niveau zwischen 300 und 500 Verurteilungen pro Jahr einzupendeln.74 Die exorbitant hohe Zahl im Jahr 1953 erklärt sich insbesondere aus dem konzertierten Vorgehen gegen kommunistische Neben - und Tarnorganisationen, vor allem gegen die Aktiven der im Jahr 1951 verbotenen FDJ, die sich im darauf folgenden Jahr aktiv an der Kampagne der KPD gegen die „Remilitarisierung“ vom Herbst 1952 ( Hintergrund : Beratungen des Deutschen Bundestages zum Generalvertrag ) beteiligt hatten.75 Gegen die Partei lief bereits seit 1951 ein Verbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht. Zu den prominentesten Verurteilten gehörte der ehemalige Vorsitzende der West - FDJ, Jupp Angenfort. Er wurde nicht nur zu einer Gefängnisstrafe, sondern zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt – eine damals als besonders entehrend geltende Bestrafungsform, die mit Zwangsarbeit verbunden war. Zwar wurden ihm seine untadelige persönliche Lebensführung und die Tatsache zugute gehalten, dass er als 19 - jähriger Kriegsgefangener in Russland „in das kommunistische System eingespannt“ worden war. Als gewichtiger wertete das Gericht jedoch seine führende Tätigkeit in der FDJ und sein Bemühen, mit „allen Mitteln der Entstellung und Irreführung [...] die deutsche Jugend dahin zu bringen, gegen ihren eigentlichen Willen ein Vorhaben zu fördern, das sie ablehnt. Mit Recht hat er sich noch in der Hauptverhandlung empört darüber gezeigt, dass es der Nationalsozialismus verstanden hat, junge Menschen unter Missbrauch schönklingender Worte für in Wahrheit ganz andere Ziele einzufangen. Nichts anderes jedoch hat A. selbst getan.“76 Nach der Überzeugung des Gerichts hat72 Vgl. Erlass des Bundesministers des Innern vom 19. September 1950, Politische Betätigung der Angehörigen des öffentlichen Dienstes gegen die demokratische Grundordnung. In : Erhard Denninger ( Hg.), Freiheitliche demokratische Grundordnung. Materialien zum Staatsverständnis und zur Verfassungswirklichkeit in der Bundesrepublik, Band 2, Frankfurt a. M. 1977, S. 509 f. 73 Vgl. dazu kritisch : Max Güde, Probleme des politischen Strafrechts. Vortrag, gehalten vor der Gesellschaft Hamburger Juristen am 22. März 1957, Hamburg 1957. 74 Vgl. Brünneck, Politische Justiz, S. 276. 75 Vgl. ebd., S. 275. 76 Verfahren gegen leitende Funktionäre der „Freien Deutschen Jugend“ ( FDJ ). Urteil vom 4. Juni 1955. In : Hochverrat und Staatsgefährdung. Urteile des Bundesgerichtshofes, mit einem Vorwort von Bundesanwalt Dr. Walter Wagner, Karlsruhe 1957, S. 108–186, hier 184. Das Urteil ist auszugsweise auch dokumentiert bei : Denninger ( Hg.), Freiheitliche demokratische Grundordnung, S. 829–841. Siehe aus Sicht des Betroffenen auch:

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ten er und seine Mitangeklagten im Auftrag der SED den Sturz des Adenauer Regimes betrieben. Zu den zahlreichen Beweismitteln zählte eine vom KPD Parteivorstand zur Anleitung ihrer Kader im Zusammenhang mit dem von ihr verkündeten „Programm der nationalen Wiedervereinigung Deutschlands“ (November 1952) herausgegebene Druckschrift in der Publikationsreihe „Der Agitator“. Darin hieß es : „Deshalb kann der Sturz der Adenauer - Regierung nur im unversöhnlichen und revolutionären, außerparlamentarischen Kampf erfolgen. Dazu gehören Protestdemonstrationen und Kundgebungen, Streiks der Arbeiter in den Betrieben gegen Lohnraub und Unterdrückung ihrer gewerkschaftlichen Rechte, gegen die Remilitarisierung, Aktionen der Bauern zur Verhinderung der Vertreibung von ihrem Grund und Boden. Es wird zwar Menschen geben, die dann sagen, das erfordert aber Opfer. Wir sagen, ja, der Sturz der Adenauer - Regierung wird auch Opfer erfordern, aber diese Opfer werden viel geringer sein, als wenn wir zulassen, dass durch das Adenauer Regime ein dritter Weltkrieg über unser Volk kommt“.77 Auch wenn das konkrete Handeln der Verurteilten diesen Umsturzabsichten nicht entsprach, genügte dies, um den Tatbestand des Hochverrats und der Staatsgefährdung zu erfüllen. Die Vorverlagerung der inkriminierten Handlungen in die Sphäre politischer Absichten und Gesinnungen korrespondierte mit der Logik des Konzepts der „streitbaren Demokratie“, das die Staatsgründer im Grundgesetz verankert hatten, auch wenn es nicht zwingend aus ihm abzuleiten war. Die „streitbare Demokratie“ war eine Konsequenz aus dem Untergang der Weimarer Republik, die sich nach verbreiteter Auffassung nicht ausreichend gegen ihre erklärten Feinde zur Wehr gesetzt hatte. Insbesondere sollte eine Legalitätstaktik, wie sie die Nationalsozialisten mit Erfolg praktiziert hatten, in Zukunft verhindert werden.78 Die Wertorientierung des Grundgesetzes mit dem Schutz der Menschenwürde ( Art. 1) und einem Kernbestand an Normen und Verfahrensregeln, die der Abänderung durch den Gesetzgeber entzogen worJupp Angenfort, Die FDJ Westdeutschlands. In : Hans Modrow ( Hg.), Unser Zeichen war die Sonne. Gelebtes und Erlebtes, Berlin 1996, S. 73–88. 77 Verfahren gegen leitende Funktionäre, S. 157. 78 Vgl. zum Konzept Uwe Backes, Schutz des Staates. Von der Autokratie zur streitbaren Demokratie, Opladen 1998; Gregor Paul Boventer, Grenzen politischer Freiheit im demokratischen Staat. Das Konzept der streitbaren Demokratie in einem internationalen Vergleich, Berlin ( West ) 1985; Friedrich Karl Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz. Die verfassungspolitischen Folgerungen des Parlamentarischen Rates aus Weimarer Republik und nationalsozialistischer Diktatur, 3. Auflage Berlin 1999 (1960); Hans - Gerd Jaschke, Streitbare Demokratie und innere Sicherheit. Grundlagen, Praxis und Kritik, Opladen 1991; Eckhard Jesse, Streitbare Demokratie. Theorie, Praxis und Herausforderungen in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin (West ) 1980; Hella Mandt, Grenzen politischer Toleranz in der offenen Gesellschaft. Zum Verfassungsgrundsatz der streitbaren Demokratie. In : Aus Politik und Zeitgeschichte, 29 (1979) 3, S. 3–16; Andreas Sattler, Die rechtliche Bedeutung der Entscheidung für die streitbare Demokratie. Untersucht unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Baden - Baden 1982; Armin Scherb, Präventiver Demokratieschutz als Problem der Verfassungsgebung nach 1945, Frankfurt a. M. 1987.

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den waren ( Art. 20, 79 Abs. 3), korrespondierte mit Abwehrmechanismen, die sich gegen all jene richteten, die „nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden“, wie es in Art. 21 Abs. 2 im Zusammenhang mit der Möglichkeit des Verbots politischer Parteien hieß. Auch das Verbot von Vereinigungen ( Art. 9 Abs. 2; sofern „deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen“ oder sie sich „gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten“) und die Verwirkung von Grundrechten, in erster Linie der Entzug politischer Teilhaberechte (Art 18; konkret Meinungs - , Presse - , Lehr - , Versammlungs - und Vereinigungsfreiheit, aber auch Brief - , Post - und Fernmeldegeheimnis, Eigentums - und Asylrecht ) sollten diesem Ziel dienen. Während der Art. 18 keine praktische Wirksamkeit entfaltete, weil das Bundesverfassungsgericht schon in seiner Entscheidung zum ersten Antragsfall ( Otto Ernst Remer hatte bei der Niederschlagung der Widerstandsaktion vom 20. Juli 1944 im Berliner Bendler - Block mitgewirkt und sich als SRP - Redner mehrfach abfällig über die Widerstandskämpfer geäußert79) hohe Hürden aufrichtete,80 wurde von den Organisationsverboten in den 1950er Jahren häufiger Gebrauch gemacht, besonders vom Vereinigungsverbot, das in den Händen der Innenministerien des Bundes - und der Länder lag, also keiner vorherigen richterlichen Entscheidung bedurfte. Für die Beobachtung verfassungsfeindlicher Bestrebungen zuständig waren neben den Staatsschutzabteilungen der Polizei vor allem die ab 1950 auf Bundes- und Länderebene eingerichteten Ämter für Verfassungsschutz ( bis 1955 teilweise noch in Konkurrenz zur Organisation Gehlen, des späteren Bundesnachrichtendienstes [ BND ], die in diesen Jahren im Auftrag der CIA nicht nur im Ausland, sondern auch im Inland Nachrichten sammelte81). Besonders früh hatte die Düsseldorfer Informationsstelle als erster von den Alliierten unabhängiger Nachrichtendienst die Arbeit aufgenommen ( Ende 1949) – sie ging auf eine bereits 1947 eingerichtete Stelle zur Bekämpfung von Schwarzhandel und Schiebertum zurück.82 Für die Bundesebene hatten die westlichen Militärgouverneure im April 1949 im sogenannten „Polizeibrief“ an den Präsidenten des 79 Vgl. Eckhard Jesse, Biographisches Porträt : Otto Ernst Remer. In : Uwe Backes / ders. (Hg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Band 6, Bonn 1994, S. 207–221. 80 Vgl. BVerfGE 11, 282 f. 81 Vgl. Hendrik van Bergh, Köln 4713. Geschichte und Geschichten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Würzburg 1981, S. 64–67; Zachary Karabell, Die frühen Jahre der CIA in Deutschland. In : Wolfgang Krieger / Jürgen Weber ( Hg.), Spionage für den Frieden ? Nachrichtendienste in Deutschland während des Kalten Krieges, München 1997, S. 71–85; Dieter Krüger, Reinhard Gehlen (1902–1979). Der BND - Chef als Schattenmann der Ära Adenauer. In : Krüger / Wagner ( Hg.), Konspiration als Beruf, S. 207– 236; Armin Wagner / Matthias Uhl, BND contra Sowjetarmee. Westdeutsche Militärspionage in der DDR. Hg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Berlin 2007. 82 Vgl. Wolfgang Buschfort, Geheime Hüter der Verfassung. Von der Düsseldorfer Informationsstelle zum ersten Verfassungsschutz der Bundesrepublik (1947–1961), Paderborn 2004, S. 54.

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Parlamentarischen Rates den Weg für die Gründung eines Inlandsnachrichtendienstes ohne polizeiliche Exekutivbefugnisse frei gemacht.83 Unter maßgeblicher Mitwirkung des nordrhein - westfälischen Innenministers Walter Menzel, einer Schlüsselfigur des nachrichtendienstlichen Demokratieschutzes der Gründungsperiode, war die Institution eines „Verfassungsschutzes“ im Grundgesetz ( heute Art. 73) verankert worden.84 Im Oktober 1950 nahm das Bundesamt für Verfassungsschutz mit anfänglich nur 70 Mitarbeitern und großen Akzeptanzproblemen seine Arbeit auf.85 Die primäre Aufgabe bestand in der „Sammlung und Auswertung von Auskünften, Nachrichten und sonstigen Unterlagen über Bestrebungen, die eine Aufhebung, Änderung oder Störung der verfassungsmäßigen Ordnung im Bund oder in einem Land oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung von Mitgliedern verfassungsmäßiger Organe des Bundes oder eines Landes zum Ziele haben.“86 Der erste Präsident, Otto John, war wie sein Düsseldorfer Kollege Fritz Tejessy,87 ein aktiver Nazi - Gegner gewesen, hatte Jahre im englischen Exil verbracht und genoss das Vertrauen der Briten, auch weil er in seiner liberal - demokratischen Einstellung über jeden Zweifel erhaben und im Übrigen – anders als sein Rivale Gehlen – nicht auf dem rechten Auge blind war. Doch bestanden Zweifel an der persönlichen Eignung Johns, der auch deswegen große Schwierigkeiten hatte, Zugang zum Kanzler zu finden und vielfach beargwöhnt wurde,88 was einen wichtigen Teil der Vorgeschichte der „Affäre John“ ( dem zeitweiligen Verschwinden und Wiederauftauchen in Ostberlin, Juli 1954) bildete.89 Unter John hatte das Amt seine Beobachtungstätigkeit von Anfang an gegen „Rechts - “ und „Linksradikalismus“ gleichermaßen gerichtet, wie es in Anlehnung an den aus Weimarer Zeit stammenden Sprachgebrauch hieß. Der Inhalt dieser Begriffe orientierte sich am Tatbestand der Verletzung der Normen der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“, also an der „Verfassungsfeindlichkeit“ und „Verfassungswidrigkeit“ mit Bezug auf den im Grundgesetz geschützten Kernbestand als unverzichtbar geltender Werte und Verfahrensregeln. 83 Schreiben der Militärgouverneure vom 14. April 1949 an den Parlamentarischen Rat über die Regelung der der Bundesregierung auf dem Gebiet der Polizei zustehenden Befugnisse, abgedruckt bei Hermann von Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, Berlin ( West ) 1953, Anhang Nr. 1, S. 669. Vgl. dazu Peter Badura, Die Legitimation des Verfassungsschutzes. In : Verfassungsschutz. 50 Jahre im Dienst der inneren Sicherheit. Hg. vom Bundesamt für Verfassungsschutz, Köln 2000, S. 28; Helmut Roewer, Geschichtlicher Nachtrag zur Kontroverse um die Trennung von Polizei und Verfassungsschutzbehörden. In : Deutsches Verwaltungsblatt, 103 (1988), S. 666–671. 84 Vgl. zur Rolle Menzels und der nordrhein - westfälischen Regierung : Buschfort, Geheime Hüter der Verfassung, S. 47–52. 85 Vgl. Bergh, Köln 4713, S. 12. 86 Bundesgesetzblatt, Nr. 42/1950, S. 682. 87 Vgl. Wolfgang Buschfort, Fritz Tejessy (1895–1964). Verfassungsschützer aus demokratischer Überzeugung. In : Krüger / Wagner ( Hg.), Konspiration als Beruf, S. 111–131. 88 Vgl. Bergh, Köln 4713, S. 59–143. 89 Eine detaillierte Aufarbeitung der Vorgänge auf neuestem Kenntnisstand leistet : Erik Gieseking, Der Fall Otto John. Entführung oder freiwilliger Übertritt in die DDR ?, Lauf an der Pegnitz 2005.

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Mit dem Ausbruch des Korea - Krieges rückte die Beobachtung und Sanktionierung verfassungsfeindlicher Aktivitäten am linken Flügel ganz in den Vordergrund; ein Großteil der wegen politischer Delikte Verurteilten gehörte der KPD sowie deren Neben - und Tarnorganisationen an. Die Justizpraxis war auch bereits in den frühen Jahren der Bundesrepublik von rechtsstaatlichen Grundsätzen geprägt, so dass keinen der Angeklagten Torturen erwarteten, wie sie Kurt Müller zu erleiden hatte. Dennoch gab es bei der Verfolgen und Ahndung politischer Delikte Härten, die erst im Laufe der folgenden Jahrzehnte abgemildert oder beseitigt wurden. Die Straftatbestände waren nicht so beliebig dehnbar wie die berüchtigte „Boykotthetze“ des DDR - Strafrechts,90 aber nach den Maßstäben strenger Rechtsstaatlichkeit auch noch nicht ausreichend präzise umrissen.91 Das Strafmaß war bei weitem niedriger als in der DDR, aber höher als in späteren Jahren. Und der Strafvollzug kannte zwar keine Wasserzellen wie in Hohenschönhausen, wohl aber Gefängnisse mit schlechten Haftbedingungen. Insbesondere klagten die Häftlinge über zu kalte und zu feuchte Zellen, die ihre Gesundheit beeinträchtigten. Immerhin war die Zahl der Inhaftierten im Vergleich zur DDR verschwindend gering; ein Teil von ihnen wurde zudem in den Jahren 1956 bis 1959 begnadigt.92

6.

Vergleichende Bilanz : Extremismus im Westen, Totalitarismus im Osten

Der Systemantagonismus prägte die innerstaatlichen Feinddefinitionen, Identifikations - , Exklusions - , Verfolgungs - und Ahndungsmethoden der sich etablierenden deutschen Staaten auf beiden Seiten der Hauptfrontlinie des Kalten Krieges. Die Bundesrepublik nahm die deutsche und „westliche“ Verfassungsstaatstradition in modifizierter Form wieder auf,93 baute also in ihrer konstitutionellen Architektur auf den Ideen des Grundrechtsschutzes, des politischen Pluralismus und der institutionellen Gewaltenkontrolle auf. Dazu zählte als wesentlicher Bestandteil das Recht auf Opposition. Allerdings war dieses Recht in spezifischer Weise eingeschränkt worden. Die Einschränkungen betrafen nicht nur gewaltsame Aktivitäten und Umsturzvorbereitungen. Das Prinzip der „streitbaren Demokratie“ delegitimierte darüber hinaus all jene Formen politischer Opposition, die auf die Errichtung einer Autokratie, also auf die Aushebelung 90 Vgl. Friedrich - Christian Schroeder, Das Strafrecht des realen Sozialismus. Eine Einführung am Beispiel der DDR, Opladen 1983, S. 83; Wolfgang Schuller, Geschichte und Struktur des politischen Strafrechts der DDR bis 1968, Ebelsbach a. M. 1980, S. 37– 43; Bettina Weinreich, Strafjustiz und ihre Politisierung in SBZ und DDR bis 1961, Frankfurt a. M. 2005, S. 269–284. 91 Vgl. Dieter Posser, Anwalt im Kalten Krieg. Deutsche Geschichte in politischen Prozessen 1951–1968, Bonn 2000. 92 Vgl. Brünneck, Politische Justiz, S. 284–287. 93 Vgl. Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Band 2 : Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung, München 2010.

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der Grundwerte und Grundmechanismen des Verfassungsstaates zielten. Besondere Schärfe gewannen Delegitimierung, Stigmatisierung, Exklusion und Sanktionierung des politischen Extremismus ( oder „Radikalismus“ in der Terminologie der 1950er Jahre ) in der Praxis der damaligen Zeit durch die Verbindung der Organisationsverbote des Grundgesetzes mit einem politischen Strafrecht, das die Tatbestände des „Hochverrats“, des „Landesverrats“ und der „Staatsgefährdung“ ebenfalls weit vorverlagerte, seine Anwendung mithin keineswegs von konkreten Vorbereitungshandlungen zur Herbeiführung eines politischen Umsturzes abhängig machte. Es genügte die Mitgliedschaft in einer politischen Organisation, deren Programmatik mittel - oder langfristig auf ein derartiges Vorhaben zu zielen schien. Im aufgeheizten Klima der frühen 1950er Jahre führte dies zur verschärften Repression gegen jene, die innerhalb der KPD und ihrer Bündnispartner aus der Sicht der Sicherheits - und Strafverfolgungsbehörden das Geschäft von SED und KPdSU im Westen betrieben. Die innerstaatlichen Feinddefinitionen der SED waren im Vergleich dazu wesentlich weiter und unspezifischer gefasst. Ihr totalitärer Herrschaftsanspruch ließ weder für politischen noch für sozialen oder kulturellen Pluralismus Raum. Ins Visier der Feindverfolgung geriet jeder, der das soziale Transformationsprojekt willentlich oder auch unwillentlich sabotierte und boykottierte. Charakteristischerweise lautete das wichtigste politische Strafdelikt „Boykotthetze“, ein in Art. 6 Abs. 2 der DDR - Verfassung von 1949 verankerter, nahezu uferlos auslegungsfähiger Tatbestand, der die Verfolgung jeglicher Dissidenz erlaubte. Der Säuberungswahn des Spätstalinismus erfasste darüber hinaus jedes kleinste abweichende politische Verhalten bis in die Reihen der Staatspartei hinein. Die Schärfe des Ost - West - Konflikts, die Aktivitäten westlicher Geheimdienste, die innere Labilität der sich etablierenden Regime im Satellitengürtel der Sowjetunion und die Konflikte innerhalb des kommunistischen Lagers trugen zu dem hysterischen Klima bei, das die SED - Führung überall, selbst in den eigenen Reihen, Agenten und Saboteure wittern ließ. Die auf diese Weise Verfolgten konnten auf keinerlei rechtsstaatlichen Schutz hoffen; er war in der Praxis inexistent, auch wenn die DDR - Verfassung von 1949 der liberalen Rechtsstaatstradition Tribut zollte. Die SED bediente sich in dieser Periode auch terroristischer Methoden, um ihre noch ungefestigte Herrschaft zu stabilisieren. Von Terror kann dann gesprochen werden, wenn der bloße Verdacht unerwünschten Verhaltens zu harten Sanktionen führt, unter den nicht bedingungslos Loyalen ein Klima der Angst erzeugt wird, um den sozialen Widerstand zu brechen. Die Methode des Terrors spart Kosten, da sie mit vergleichsweise geringem Aufwand einen großen Abschreckungseffekt erzielt. Angesichts der noch geringen personellen Stärke des Sicherheitsapparates in der ersten Hälfte der 1950er Jahre war dieser Repressionsmodus für ein Regime, dem es eklatant an empirischer wie normativer Legitimität mangelte, wahrscheinlich alternativlos.

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Entwicklungstendenzen der ostdeutsch - sowjetischen Beziehungen von 1955 bis 1961 und der SED - Plan einer bilateralen Wirtschaftsgemeinschaft Michael Lemke Dass die SED von 1958 bis 1963 mit der UdSSR in Konflikte um die Lösung der zweiten Berlinkrise geriet, ist bekannt. Im Folgenden wird gefragt, inwiefern sich seit 1955 beiderseits unterschiedliche Interessen und DDR - Handlungsspielräume entwickelten und der ostdeutsch - sowjetische Dissens um Berlin dafür nur ein besonderer Ausdruck gewesen sein könnte. War schließlich der Plan einer bilateralen Wirtschaftsgemeinschaft mehr als nur ein aktuelles Krisenmanagement ? Nach 1955 vollzog sich in der DDR der Paradigmenwechsel vom Ziel der deutschen Einheit zu ihrer Anerkennung als zweitem deutschen Staat auch offiziell. Die Bundesrepublik war der NATO und die DDR dem Warschauer Pakt beigetreten; im Juli 1955 hatte die UdSSR die „Zwei - Staaten Theorie“ verkündet und im September diplomatische Beziehungen zur Bundesrepublik aufgenommen.

1.

Auswirkungen der „Zwei - Staaten - Theorie“

Die „Zwei - Staaten - Theorie“ unterstrich die für die DDR existentielle sowjetische Bestandsgarantie und schien der SED gleichzeitig eine Möglichkeit zu bieten, sie auch gegenüber der Sowjetunion aufzuwerten. Die Parteiführung war sich darüber im Klaren, dass notwendige Freiräume nur durch eine Veränderung des Charakters der bilateralen Beziehungen gebildet werden könnten : Die bisherige Unterordnung der SED sollte allmählich durch Partnerschaft und Gleichberechtigung ersetzt werden. In dieser Beziehung stellten sich für die SED die Beschlüsse des XX. Parteitags der KPdSU im Frühjahr 1956 in hohem Maße als ambivalent dar. Einerseits war Ulbricht ein entschiedener Gegner einer Entstalinisierung, insofern sie eine aus seiner Sicht destabilisierende Liberalisierung der DDR nach sich zöge. Andererseits verhieß die von Chruschtschow in Aussicht gestellte Relativierung des absoluten Führungsanspruchs der KPdSU sowie eine damit verbundene größere nationale Eigenständigkeit die Perspektive tatsächlicher Mitsprache. Wenn Ulbricht jedoch realistisch sah, dass Moskau seinen Führungsanspruch nicht wirklich in Frage stellte, nutzte der geschickte

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Taktiker sowjetische Absichtserklärungen für die Geltendmachung eigener Interessen, wusste aber, wie weit er dabei gehen konnte.1 Seine Absicht besaß nur Erfolgsaussichten, wenn die prinzipielle Übereinstimmung von ostdeutschen und sowjetischen Zielen nicht in Frage gestellt wurde und die KPdSU Eigeninteressen der DDR und deren Besonderheiten bei der Systemauseinandersetzung mit der Bundesrepublik anerkannte.2 Für die sowjetische Führung ergab sich nun die Konsequenz, die Position der DDR in Europa und im Bündnis zu überdenken. Doch während ihre mögliche Neubestimmung durch die KPdSU noch wenig fundiert gewesen zu sein schien und vieles zunächst dem Selbstlauf überlassen blieb, besaß die SED ein klares Konzept : Es hieß Stabilisierung der Verhältnisse in der DDR als dauerhaften sozialistischen deutschen Staat, was in der Sicht seiner Führung den Verzicht der UdSSR auf deutschlandpolitische Zugeständnisse an den Westen bedeutete und die völkerrechtliche Anerkennung der DDR zum außenpolitischen Hauptziel erhob.3 Daraus ergab sich sowohl die Ablösung des Vorrangs der Deutschlandpolitik zugunsten des Primats von Außenbeziehungen als auch eine Änderung der innerdeutschen Programmatik : Nicht mehr die Beseitigung der Verhältnisse in der Bundesrepublik stand auf der Tagesordnung, sondern die Optimierung ostdeutscher Einflussnahme auf bestimmte Bereiche dort,4 um Positionsvorteile in der Konkurrenz auf deutschem Boden und international zu erringen, speziell bei der Beseitigung von „Bonner“ Alleinvertretungsanspruch und Hallsteindoktrin. Insgesamt erforderte die Stabilisierung des sozialistischen Aufbaus die Ausschaltung des Störfaktors Bundesrepublik, deren „Entmagnetisierung“ und die schrittweise Minimierung ihres Einflusses auf die DDR. Das bedurfte einer offensiven Konzeption gegenüber dem Westen, was den Dissens zwischen der KPdSU und der SED in der Frage der Anwendung des Prinzips der friedlichen Koexistenz in Deutschland erklärt.5 Eine Arbeitsgruppe beim Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten ( MfAA ) formulierte ein ostdeutsches Interventionsrecht. Außenminister Bolz hielt die Auffassung der SED Führung fest, dass es zwischen beiden deutschen Staaten keine Koexistenz und 1

2

3 4 5

So bestätigte er, „dass die KPdSU an der Spitze aller kommunistischen Parteien steht. Das war immer unsere Meinung und anders haben wir uns das nie vorgestellt.“ Ulbricht auf der Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien der sozialistischen Länder, Moskau, 14.–16. 11. 1957 ( SAPMO - BArch, DY 30/ IV 2/20/88, Bl. 299). Vgl. Stellungnahme Grotewohls zum Schreiben des sowjetischen Außenministeriums „für den 6. 1. 1956“ ( offenbar für die erst am 27./28. 1. 1956 stattfindende Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses des Warschauer Vertrages in Prag ) ( SAPMO BArch, NY 4090/301, Bl. 321 f.). Vgl. Michael Lemke, Einheit oder Sozialismus ? Die Deutschlandpolitik der SED 1949– 1961, Berlin 2001, S. 340. Vgl. ebd., S. 356–360. Der Grundsatz wurde von der SED für das innerdeutsche Verhältnis als untauglich erachtet, weil er ihr sowohl die Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Bundesrepublik als auch die Ausdehnung ostdeutscher Hoheitsrechte auf West - Berlin verbot. Vgl. Papier der Rechtsabteilung des MfAA für die Tagung des Wissenschaftlichen Beirates beim MfAA, 21. 11. 1958 ( PA AA / MfAA, LS - A 41, unpaginiert ).

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„keine vollständige Nichteinmischung“ geben könne.6 Die Aufwertung der DDR im östlichen Bündnissystem versprach erweiterte äußere Handlungsmöglichkeiten. Zum einen wurde sie als Bastion gegen die NATO militärstrategisch ausgebaut, zum anderen eröffnete ihre im Vergleich mit anderen sozialistischen Staaten höhere Wirtschaftskraft und ihr zunehmendes Gewicht im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe ( RGW ) die Chance, eigene Interessen besser durchzusetzen. Im Weiteren „mauserte“ sich die SED angesichts des „Versagens“ der kommunistischen Parteien in Polen und Ungarn zu einem ideologischen Musterknaben des Ostblocks,7 und sie schien sich zum europäischen Juniorpartner der Sowjetunion zu entwickeln. Die Moskauer Führung befürwortete den systeminternen Alleinvertretungsanspruch der SED in allen Deutschland und die Anerkennung der DDR betreffenden Angelegenheiten und ließ ein prinzipielles Abgehen von dem Leitsatz ( noch ) nicht zu, dass das sozialistische Lager diplomatisch „in einer einheitlichen Front“ stünde.8 In der Praxis leisteten die Bündnispartner der SED in der internationalen Auseinandersetzung um Anerkennung verschiedene Dienste. Sie wurden mitbestimmt von den Interessen der UdSSR an einer sozialistischen Arbeitsteilung in der Weltpolitik, wobei das sowjetische Außenministerium der DDR - Führung nahelegte, sich auf Staaten zu konzentrieren, die als traditionelle deutsche Einflussgebiete galten bzw. – wie der Nahe Osten – als deutschfreundlich.9

2.

Bilaterale Verträge

Mehr Gleichberechtigung versprach insbesondere der ostdeutsch - sowjetische Vertrag vom 20. September 1955. Formal stellte er das Pendant zum Deutschlandvertrag zwischen der Bundesrepublik und den drei Westmächten dar, der das Besatzungsstatut ablöste. Insofern war er eine Art separater Ersatzfriedensvertrag der DDR mit der östlichen Hauptsiegermacht, die ihre anhaltende protektorale Kontrolle optisch abzuschwächen gedachte. Der Vertrag resultierte auch weniger aus den Spezifika der bilateralen Beziehung als aus dem Umstand, dass die Bundesrepublik mit dem Inkrafttreten der Pariser Verträge (5. Mai 6 7 8

9

Vgl. Protokoll zur Diskussion während der Tagung des Wissenschaftlichen Beirats am 21. November 1958 ( ebd.). Vgl. Florin an Ulbricht, 11. 11. 1956 (SAPMO-BArch, DY 30/IV /2/20/157, unpaginiert). Die SED versuchte, die Beziehungen der sozialistischen europäischen Länder zur Bundesrepublik zu kontrollieren. Immer wieder beschwerten sich SED - Politiker in Moskau über „nationale Alleingänge“, die den solidarischen Kurs zur Anerkennung der DDR beeinträchtigten. Vgl. Aktenvermerk über die Beratung einer gemeinsamen Arbeitsgruppe der deutschen und der sowjetischen Delegation zu den Moskauer Konsultationen am 18. 7. 1963 ( SAPMO - BArch, DY 30/ J IV 2/202/133, unpaginiert ). Vgl. Schreiben des Außenministeriums der UdSSR an die Partei - und Staatsführung der DDR, 6. 1. 1956 ( SAPMO - BArch, NY 4090/301, Bl. 308) sowie Schreiben des Außenministeriums der UdSSR an die Partei - und Staatsführung der DDR, 6. 1. 1956 ( ebd., Bl. 315 f.).

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1955) weitgehend souverän geworden war und mit ihren diplomatischen Beziehungen zu Moskau ( Mitte September ) ein östliches Grundsatzabkommen vor allem aus Prestigegründen überfällig wurde. Für die SED lag dessen eigentlicher Wert in der Schaffung einer formalen Grundlage für konkrete zweiseitige Abkommen. Jetzt konnte die DDR - Führung auf eine kodifizierte Rechtsbasis verweisen und sowjetische Verpflichtungen nach dem Grundsatz pacta sunt servanda zumindest moralisch einfordern. Ihrerseits immer Vertragstreue demonstrierend, behandelte die SED das Abkommen nicht formal, sondern wollte es zur Erhöhung ihrer innenpolitischen Akzeptanz und ihrer internationalen Reputation mit Inhalten füllen. So wurden die Stationierungskosten für die sowjetischen Truppen verringert und ein neues Abkommen über die Uranproduktion vereinbart, das der DDR einige Erleichterungen brachte, aber deren Übervorteilung nicht beendete. Mit der Unterzeichnung eines Protokolls „über die Aufhebung der Kontrolle und Abnahme von Waren“ am 15. Mai 1957 fiel eine kaum bekannte, die DDR diskriminierende sowjetische Bestimmung fort. Die UdSSR hatte jedoch schon durch die zeitliche Reihenfolge der Regelungen mit beiden deutschen Staaten erkennen lassen, dass für sie die Bundesrepublik insbesondere aus wirtschaftlichen und handelspolitischen Gründen gegenüber der DDR einen höheren Stellenwert besaß. Das bedeutete letztendlich eine Unterordnung von SED - Zielen unter die ökonomischen Interessen der Sowjetunion und deutete einen stärkeren Einfluss der Beziehungen zwischen Bonn und Moskau auf die innerdeutsche Auseinandersetzung an.10 Das hatte sich schon im Umfeld der Moskauer Verhandlungen Adenauers im September 1955 gezeigt und setzte sich in der gesamtdeutsch und innenpolitisch brisanten Konkurrenz bei der Repatriierung von in der Sowjetunion lebenden Deutschen zu Ungunsten der DDR fort.11 Gleichwohl erreichte sie vor dem Hintergrund zeitweiliger wirtschaftlicher und einiger politischer Erfolge 1956 die prinzipielle sowjetische Zusage über eine Verbesserung ihrer rechtlichen Situation und über die Regelung wichtiger Einzelfragen. Als Kernstück des Vertragssystems betrachtete die SED das Abkommen über die Stationierung sowjetischer Truppen in der DDR.12 Für die SED im Wesentlichen erfolgreich gestalteten sich ebenfalls die 10 In der Tat entstand zunächst ansatzweise eine Konkurrenz zwischen diesem und dem ostdeutsch - sowjetischen Verhältnis. Vgl. Lemke, Einheit oder Sozialismus ?, S. 350 f., 513. 11 Der SED - Führung wurde dezent beschieden, dass nicht sie von der sowjetintern längst beschlossenen Befreiung der deutschen Kriegsgefangenen politisch profitieren würde, sondern aus taktischen Gründen der Bundeskanzler. Vgl. Michael Lemke, Ein Desaster für die SED ? Wahrnehmungen, Bewertungen und Folgen der Adenauer - Reise nach Moskau. In : Helmut Altrichter ( Hg.), Adenauers Moskaubesuch 1955. Eine Reise im internationalen Kontext, Bonn 2007, S. 254 f. und 257 f. 12 Die UdSSR hatte nach Gründung des Warschauer Paktes ähnliche Übereinkommen mit sozialistischen Staaten geschlossen, auf deren Territorien sowjetische Verbände standen. Moskau hielt einen Stationierungsvertrag mit der DDR für überflüssig, während sich die SED mit Blick auf die innenpolitische Situation sowie auf gleichartige Abkommen der Bundesrepublik mit den Westmächten auf dessen Aushandlung durchsetzte. Vgl. Winzer an Grotewohl, 28. 12. 1956 ( SAPMO - BArch, NY 4090/471, Bl. 292).

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bilateralen Abkommen über konsularische und verwaltungstechnische Fragen sowie Rechtshilfe - , Verkehrs - und Sozialabkommen. Auch ein Vertrag über die gegenseitige Rückgabe von Kulturgütern kam schließlich nach erheblichen Schwierigkeiten auf Drängen der DDR zustande.13 Verschiedene Neuregelugen stellten sich für die SED jedoch als ambivalent dar. Beispielsweise ließ der von der SED initiierte schrittweise Abzug der sowjetischen „Berater“ eine Erweiterung des innenpolitischen Freiraums erwarten, doch äußerte sie dann ihr Befremden über den von der KPdSU beschlossenen abrupten und gänzlichen Rückzug ihrer Kontrolleure,14 weil die übergangslose Regelung Turbulenzen in der nach sowjetischem Vorbild funktionierenden Wirtschaft und im ökonomischen Apparat befürchten ließ. Dennoch sah die SED in den bilateralen Beziehungen nach 1956 insgesamt eine „Anerkennung der Souveränität der DDR durch die UdSSR“,15 und sie fühlte sich in ihrer Politik der Gleichberechtigung bestätigt.16 Wenn diese auch Wunsch blieb, artikulierte die DDR nach 1956 in verschiedenen Fragen nicht nur von der Position der UdSSR abweichende Meinungen, sondern wagte partiell auch Widerspruch. Er wurde im Prinzip dann laut, wenn die SED ihr Ziel der völkerrechtlichen Anerkennung und Gleichberechtigung bzw. der Aufwertung der DDR durch eine „falsche“ sowjetische Politik gefährdet sah.17 Nach 1955 bildete sich ein typisches Legitimationsmuster heraus : Ostdeutsche Wünsche wurden immer wieder mit sozialistischen Bündnis - und Sicherheitsinteressen sowie der exponierten Lage der DDR und deren besonderen Anstrengungen im deutschen Sonderkonflikt an der „Nahtstelle zum Weltimperialismus“ begründet. Das verpflichte das sozialistische Lager zu besonderen Hilfeleistungen für die DDR, die eben nicht nur eigene Interessen, sondern die des ganzen Warschauer Paktes wahrnehme.18 Chruschtschow akzeptierte diese Argumentation nicht nur, er entwickelte seine Konzeption des Ausbaus der DDR zum „Schaufenster“ des gesamten realen Sozialismus, die trotz ihres im 13 Vgl. Lemke, Einheit oder Sozialismus ?, S. 371 f. 14 Vgl. ebd., S. 373 f. 15 Politbüro : Einschätzung der neuen Vertragswerke mit der UdSSR, 12. 10. 1957 (SAPMO- BArch, DY 30/ J IV 2/2J /406, unpaginiert ). 16 Bericht der Botschaft der DDR in der UdSSR, 12. 10. 1957, 31. 12. 1957, gez. Botschafter König ( PA AA / MfAA, A 117, Bl. 20). 17 So wehrte sich die SED geradezu erbittert, als Moskau, im Widerspruch zu bilateralen Absprachen, an die DDR das Ansinnen richtete, englischen Flugzeugen im Linienverkehr nach Moskau die Überfluggenehmigung ohne offizielle Vereinbarung Londons mit der DDR zu genehmigen. Vgl. „Merkzettel“ von Schwab für Grotewohl, 23. 7. 1956 (PA AA / MfAA, A 44, unpaginiert ). Vgl. zur Problematik Lufthoheit auch : Vorlage für die Außenpolitische Kommission : Verbalnote an die UdSSR, undatiert ( SAPMO - BArch, DY 30/ IV 2/20/1, unpaginiert ). 18 Ulbricht entwickelte dabei ein stützendes Argument : Wenn die UdSSR und die anderen Verbündeten nicht genügend Hilfe leisteten, gerate die sozialistische Entwicklung der DDR – letztendlich der Staat selbst – in große Gefahr. Vgl. ZK der SED und Regierung der DDR an Chruschtschow und Bulganin, 19. 5. 1956 ( SAPMO - BArch, DY 30/ J IV 2/202/39, Band 1, unpaginiert ).

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sozialistischem Lager höchsten Lebensstandards – als pars pro toto – für die Überlegenheit des Sozialismus stehe, ergo sei ihre Stärkung auch Sache aller.19 Das hieß auch, die „Kreditfähigkeit“ der DDR anzuerkennen und der Auslastung ihrer Industriekapazitäten durch zusätzliche Rohstofflieferungen besondere Aufmerksamkeit zu widmen. So trugen die „Schaufenster“ - Konzeption und deren Umsetzung bei allen Unzulänglichkeiten zur Erweiterung von Handlungsspielräumen der DDR bei. Dabei wirkte positiv, dass ihre Wirtschaft nach 1955 eine vergleichsweise erfolgreiche Entwicklungsphase und einen Aufschwung wichtiger Industriezweige erlebte und die Republikflucht zeitweilig (1958/59) zurückging. Dies erhöhte auch gegenüber Moskau das Gewicht der SED, die nun eine Beschleunigung der inneren Stabilisierung anstrebte. Diese Aufgabe setzte jedoch eine wesentliche Intensivierung der Integration der DDR - Bevölkerung in den sozialistischen Aufbau voraus, dessen Möglichkeiten die SED grob überschätzte. Ausdruck dafür waren die auf die Bundesrepublik bezogenen sozioökonomischen Überlegenheits - und Überholkonzepte. Zwar erweiterten sich von 1955 bis Anfang 1960 die operativen Handlungsmöglichkeiten der DDR, durch die sie sich in der Lage fühlte, im Berlinkonflikt eine Lösung zu ihren Gunsten anzustreben und sich zeitweilig sowjetischen Vorstellungen zu widersetzen. Sie reduzierten sich jedoch im Verlauf von innerer Systemkrise und internationalem Konflikt insbesondere ab Mitte 1960 so erheblich, dass die SED- Berlinplanung, die ein Höchstmaß an Handlungsfähigkeit vorausgesetzt hätte, mit dem Moment größter innerer Schwäche der DDR – der rasant ansteigenden „Republikflucht“ – zusammenfiel. Drohende Agonie nötigte der UdSSR zwar die Erlaubnis zum Mauerbau ab, schloss aber zugleich ein Handeln der DDR als Subjekt der Politik aus. Das offensive Konzept der SED von 1955 versagte, als sie nur noch über die „Kraft des Schwachen“ Einfluss auf die Berlinpolitik der Sowjetunion zu nehmen vermochte und die innere Krise nicht mehr beherrschbar war. Dennoch wirkte weiterhin ein typisches Interaktionsmuster : Die SED drängte die UdSSR zu politischen Offensiven in Berlin und provozierte zeitweilig gefährlichen Situationen an der Sektorengrenze,20 während die Sowjetunion die ostdeutschen Vorstöße zu mäßigen suchte.21 Es entwickelte sich ein signifikanter Konflikt : Die SED bemühte sich, die östlichen Trümpfe auszuspielen und scheute dabei konfrontative Zuspitzungen im Verhältnis zum Westen nicht, während die Sowjetunion das Risiko eines ernsten Konfliktes vermied, der wesentlich von ihr auszutragen gewesen wäre.

19 Vgl. Information über den Verlauf der Verhandlungen zwischen Regierungsdelegationen der DDR und der UdSSR vom 16. und 17. Juli 1956 ( PA AA / MfAA, A 6096, Bl. 20). 20 Vgl. Rubrik Berlin - Status, Fortgang der Ereignisse. In : Archiv der Gegenwart, 31 (1961), S. 9418. 21 Vgl. Gerhard Wettig, Chruschschows Berlin - Krise 1958 bis 1963. Drohpolitik und Mauerbau, München 2006, S. 95–106.

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3.

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Politik der „Störfreimachung“

Der Mauerbau in Berlin verhinderte zwar die Massenflucht von Bürgern der DDR in den Westen und bannte damit die akute Gefahr eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs, löste aber nicht die prinzipiellen Probleme. Für die SED stand die zügige Stabilisierung der DDR durch die Überwindung der akuten Wirtschaftsrezession auch deshalb im Vordergrund, weil sie sich mit einer Versorgungskrise verband, die dem Verlangen der DDR - Bürger nach einem höheren Lebensstandard fatal entgegenwirkte. Wichtige innere Bedingungen schienen sich weiter zu verschlechtern.22 Nun suchten namhafte SED - Funktionäre fieberhaft nach Auswegen aus der akuten Misere, die ebenfalls in der bisherigen planwirtschaftlichen Praxis gesehen wurde und nicht allein auf der Basis eigener Konzepte, Leistungsmöglichkeiten und Ressourcen zu beheben sei, sondern vielmehr im Rahmen östlicher Kooperation.23 Unklar war jedoch, inwiefern die UdSSR als Garantiemacht, aber auch die anderen Verbündeten, willens und in der Lage seien, zur Überwindung der prekären wirtschaftlichen Situation beizutragen, und welchen Preis die SED dafür zu zahlen hatte bzw. zu zahlen bereit war. Das Versagen der bisherigen Praxis, die Sowjetunion um die Erhöhung der von ihr noch möglichst zu kreditierenden Rohstoff - und Lebensmittellieferungen zu bitten,24 trug zur neuen Dimension bündnis - und stabilitätspolitischen Denkens der SED - Führung bei. Parallel dazu geriet der nie unpolitische innerdeutsche Handel in den Malstrom des Systemkonflikts,25 was bei der SEDFührung den Verdacht erhärtete, dass er von der Bundesrepublik genutzt werde, um auf die DDR politisch Einfluss zu nehmen und sie aufgrund ihrer Abhängigkeit von westlichen Importen politisch zu erpressen. Bislang hatte die SED den Westhandel angesichts der östlichen Produktionsdefizite als ökonomisch notwendig angesehen und ihn politisch zu neutralisieren versucht. Was in „normalen“ Zeiten schwer genug war, erwies sich in der Existenzkrise der DDR für Ulbricht als nicht mehr vertretbar. Für ihn gebot die Stabilisierung seines Staates

22 Im Verlauf der Berlinkrise beantworteten immer mehr DDR - Bürger die Frage nach einer realen Perspektive für den ostdeutschen Sozialismus negativ, und ihre Ablehnung der SED - Politik sowie die Skepsis gegenüber dem sowjetischen Kurs wuchs etwa in dem Maße wie sie westliche Gesellschaftsverhältnisse und die Erfolge der Bundesrepublik im Vergleich mit dem erlebten Realsozialismus als die bessere Alternative bewerteten. Dazu trug das Scheitern der Überlegenheits - und Überholkonzeption der SED bei. 23 Vgl. Andre Steiner, Die DDR - Wirtschaftreform der sechziger Jahre. Konflikt zwischen Effizienz - und Machtkalkül, Berlin 1999, S. 38–48. 24 Vgl. ders., Politische Vorstellungen und ökonomische Probleme im Vorfeld der Berliner Mauer. Briefe Walter Ulbrichts an Nikita Chruschtschow. In : Hartmut Mehringer ( Hg.), Von der SBZ zur DDR. Studien zum Herrschaftssystem in der Sowjetischen Besatzungszone und der Deutschen Demokratischen Republik, München 1995, S. 233–268. 25 Im September 1960 kündigte die Bundesregierung das Berliner Interzonenabkommen. Vgl. Detlef Nakath, Zur Geschichte der deutsch - deutschen Handelsbeziehungen. Die besondere Bedeutung der Krisenjahre 1960/61 für die Entwicklung des innerdeutschen Handels, S. 14 ( Hefte zur DDR - Geschichte, Nr. 4).

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jetzt eine radikale „Störfreimachung“ vom Einfluss des kapitalistischen Nachbarn, dem man sich in der Konkurrenz als stark und handlungsfähig zu zeigen habe. So riskierte die SED - Führung eine noch stärkere Abhängigkeit von der UdSSR, wenn sie den politischen Einfluss der Bundesrepublik durch die Ablösung von Importen aus dem Nachbarstaat durch solche aus dem Osten auszuschalten gedachte. Eine von der DDR provozierte Handlung „Bonns“ löste eine innenpolitische Kampagne zur „Störfreimachung“ der DDR - Wirtschaft von Westimporten sowie zur Mobilisierung menschlicher und industrieller Reserven aus und bot den Anlass, die vor vollendete Tatsachen gestellten Sowjets faktisch zu einem wirtschaftlich größerem Entgegenkommen zu nötigen.26 Das begründete 1960 aber noch nicht die Notwendigkeit einer ostdeutsch - sowjetischen Wirtschaftsgemeinschaft, sondern die legitime Absicht, die durch Dirigismus und Instabilität beeinträchtigten bilateralen Wirtschaftsbeziehungen im Sinne von Kontinuität und zuverlässiger Planbarkeit so zu verändern, dass sie permanent zum Garanten des „sozialistischen Aufbaus“ würden. Der SED war klar, dass dieses Konzept die von ihr nach 1956 errungenen politischen Spielräume gegenüber der UdSSR verringern könnte, sie aber in jedem Fall noch stärker als bisher auf die wirtschaftlichen Bedürfnisse der UdSSR eingehen müsste, was Folgen nicht nur für die gewachsenen Strukturen und Standorte ostdeutscher Wirtschaftsunternehmen haben würde.27 Eine weitere Ausrichtung von industrieller Produktion und Außenhandel der DDR auf den sowjetischen Bedarf vor allem an Investitionsgütern hätte zudem die Handelschancen der DDR auf dem kapitalistischen Weltmarkt verringert. Doch bedeutete ein möglicherweise radikaler Bruch mit dem innerdeutschen Warenverkehr für die SED keineswegs den generellen Verzicht auf den Handel mit kapitalistischen Staaten, über den sie Deviseneinnahmen und einige notwendige Importe realisierte, die im RGW Bereich nicht oder nur in unzulänglicher Qualität geliefert werden konnten. Die sowjetische Führung ging zwar auf den ostdeutschen Kurs der „Störfreimachung“ durch die Vorbereitung eines Sofortprogramms zusätzlicher Warenlieferungen ein, band sie aber an die Frage, inwiefern westdeutsche Importe tatsächlich ausblieben. Gleichzeitig signalisierte sie ihr Interesse am Handel mit der Bundesrepublik, und Chruschtschow gab der SED anlässlich westdeutscher Verhandlungsangebote an die DDR im November 1960 zu verstehen, sie solle zwar keine prinzipiellen politischen Zugeständnisse, aber „gewisse Kompromisse“ machen und „elastische Entscheidungen“ ermöglichen.28 Die UdSSR und die anderen RGW - Länder seien zu Kompensationslieferungen von hochwertigen Rohstoffen und Material an die DDR auf Dauer gar nicht in der Lage. Ulbricht hielt jedoch auch nach dem Wiederinkrafttreten des Berliner Vertrages

26 Vgl. Michael Lemke, Die Berlinkrise 1958 bis 1963, Interessen und Handlungsspielräume der SED im Ost - West - Konflikt, Berlin 1995, S. 58. 27 Vgl. ders., Einheit oder Sozialismus ?, S. 366–375. 28 Vgl. ders., Die Berlinkrise, S. 59.

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mit durchschaubaren Hilfsargumenten an seinem Ziel fest.29 Auch andere sozialistische Staaten müssten damit rechnen, dass „die Bonner Regierung auch gegen sie Maßnahmen treffen kann, die auf eine Störung ihrer Wirtschaft abzielen“.30 Damit wollte die SED ebenfalls Tendenzen in einigen sozialistischen Staaten entgegenwirken, ihre inoffiziellen Beziehungen zur Bundesrepublik zu intensivieren und sich ihr durch handelspolitische „Verlockungen“ deutschlandpolitisch anzunähern. Die Solidarität mit der DDR und ihrer Politik der „Störfreimachung“ wurde vor allem durch die Weigerung der RGW - Partner infrage gestellt, Ostdeutschland durch erweiterte Warenlieferungen zu stabilisieren.31

4.

Fiktion einer „Wirtschaftsgemeinschaft“

Wenngleich die UdSSR ein vehementes Interesse an der Stärkung des verlässlichen Bündnispartners DDR als Bestandteil des europäischen Gleichgewichts und Druckmittel in der Konkurrenz mit der Bundesrepublik besaß, beobachtete die SED den seit 1958 ansteigenden westdeutsch - sowjetischen Handel sowie Moskaus diesbezügliche Argumente mit gespannter Aufmerksamkeit.32 Sie sah in ihm verstärkt die Perspektive einer Wirtschaftskonkurrenz, in der sich die DDR gegenüber westdeutschen Angeboten an die UdSSR behaupten müsse,33 aber auch auf politischem Gebiet eine latente Rivalität, die gelegent29 Noch im März 1963 klagte er : „Wenn es Adenauer gefällt, uns wieder etwas zu drücken, braucht er nur einige Lieferungen von Spezialstählen ein halbes Jahr hinauszuschieben. Sofort werden die Maschinen an die Sowjetunion ein halbes Jahr später geliefert.“ Zit. nach ebd., S. 60. 30 Ministerbüro ( Grunert ) an den Botschafter der DDR in Warschau, R. Gyptner, 24. 4. 1961 ( PA AA / MfAA, LS - A 413, unpaginiert ). 31 Die DDR - Diplomatie berichtete, „dass in einigen sozialistischen Staaten [...] solche Auffassungen aufgetreten sind, dass gegenwärtig die DDR einen höheren Lebensstandard hat als einige andere sozialistische Länder, sodass die Hauptaufgabe nicht darin bestünde, die Deutsche Demokratische Republik jetzt zu festigen, zu stärken, ökonomisch zu unterstützen, sondern dass die Hauptaufgabe darin bestünde, gleichzuziehen, abzuwarten, bis die anderen sozialistischen Länder sich auch der DDR angeglichen haben.“ Besprechungen mit den Leitern der Auslandsvertretungen, 7. 7.1961 ( PA AA / MfAA, A 15491, Bl. 71). 32 Der Ausbau von Beziehungen zu Westdeutschland sei „zugleich eines der wirksamsten Mittel der Förderung jener Kräfte, die gegen den deutschen Militarismus und die Absichten der USA gerichtet sind.“ Politischer Brief 4/48, 28. 5. 1958 ( PA AA / MfAA, A 148, Bl. 93). Vgl. dazu auch die Ausführung des stellvertretenden sowjetischen Außenministers W. Semjonow gegenüber DDR - Botschafter König, dass die Verbesserung der sowjetischen Beziehungen zu Bonn auch für die DDR „positive Seiten“ habe : Das sei doch klar, „sonst hätten wir sie auch nicht herbeigeführt“. Vgl. Schreiben Königs an die Leiterin der HA Sowjetunion im MfAA, Kundermann, 16. 4.1958 ( ebd., Bl. 191). 33 „Die Intensivierung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Westdeutschland bedingt eine noch bessere Arbeit unserer Exportindustrie und der Außenhandelsorgane der DDR in Bezug auf die Verpflichtungen gegenüber der UdSSR. Es darf z. B. unter keinen Umständen geduldet werden, dass vertragliche Lieferungen der DDR an die UdSSR sowohl in Qualität, termingerechter Lieferung u. s. w. hinter

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lich eine dezente Kritik der SED am sowjetischen Partner aus „Eifersucht“ provozierte.34 Das Gefühl der Minderbewertung und Zurücksetzung ostdeutscher Interessen verstärkte sich, als die Sowjetregierung mitten im akuten Berlinkonflikt ihr Interesse an einer Entkrampfung der Beziehungen zur Bundesrepublik bekundete und Moskau als einen „neuen Zug“ seiner Politik diesbezüglich Verhandlungsbereitschaft erkennen ließ.35 Demgegenüber versuchte die SED einer sowjetischen Aufwertung der Bundesrepublik auch mit dem Verweis auf die eigene Treue gegenüber der Sowjetunion zu begegnen, sie an das gemeinsame Feindbild „westdeutscher Imperialismus“ zu binden und diesen Kurs mit einer noch engeren wirtschaftspolitischen Bindung an die UdSSR zu verknüpfen. Das hieß möglicherweise „nationale“ Rechte auch in Hinblick auf die Gestaltung innerdeutscher Beziehungen weiter zu reduzieren und auf ökonomische Eigenständigkeit zu verzichten. Diese Aspekte bildeten einen unlösbaren Zusammenhang. So kann davon ausgegangen werden, dass das mehrdimensionale Spannungs - und Konkurrenzverhältnis Moskau – Ostberlin – Bonn unbedingt zu den Urhebern der Idee einer ostdeutsch - sowjetischen Wirtschaftsgemeinschaft gehörte. Im Umfeld von innerer Krise, Berlinkonflikt und „Störfreimachung“ geboren, blieb sie zunächst unscharf. Offenbar war die SED ursprünglich von einer integralen Wirtschaftsgemeinschaft mit der UdSSR und wichtigen anderen sozialistischen Staaten ausgegangen,36 hatte diese Vorstellung aber, wohl auch unter dem Eindruck der ablehnenden Haltung letzterer, schnell wieder aufgegeben. So schien als vernünftige Alternative nur eine bilaterale Wirtschaftsgemeinschaft formal unter dem Dach des weitgehend ineffektiven und reformunfähigen RGW denkbar. Ende 1960 wurden erste Vorstellungen über die Intensivierung der ostdeutsch - sowjetischen Wirtschaftsbeziehung als Schritte auf dem Weg zur Gemeinschaft diskutiert und konstruktive Fragen gestellt.37 Wenig später übermittelte der Staatssekretär des MfAA dem DDR -

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solchen aus Westdeutschland zurückstehen.“ Politischer Brief 4/48, 28. 5. 1958 ( PA AA / MfAA, A 148, Bl. 102). So bemängelte Botschafter Dölling, dass man in Moskau „zu wenig unterstreicht, dass es neben der Bonner Bundesrepublik auch noch eine Deutsche Demokratische Republik gibt“. Besprechungen mit den Leitern der Auslandsvertretungen, 22. - 27. 2. 1960 ( PA AA / MfAA, A 15486, Bl. 14). Vgl. Jahresbericht 1960 der Botschaft der DDR in Moskau, 1. 12. 1960 ( PA AA / MfAA, A 120, Bl. 41) und sowjetisches Aide memoire vom Februar 1961 ( PA AA / MfAA, A 17091, unpaginiert ). Vgl. sowjetisches Aide memoire vom Februar 1961 ( PA AA / MfAA, A 17091, unpaginiert ). Wo befinden sich die Hauptstandorte der Produktion, wie werden sie mit Rohstoffen und Material versorgt und bieten der DDR Absatzmöglichkeiten ? Welche Entwicklung nimmt die sowjetische Industrie und welche neuen Kapazitäten werden geschaffen, die vom DDR –Export genutzt werden könnten ? Überlegungen, sich den sowjetischen Markt besser zu erschließen, boten durchaus einen Ansatzpunkt für ein engeres Kooperieren beider Volkswirtschaften. So dachte man im MfAA auch an einen bilateralen Warenaustausch mit sowjetischen Binnenhandelsorganen „auf dem Gebiet der Konsumgüter ( insbesondere Textilien ) und nicht zentral geplanten bzw. nicht in der Außenhandelsnomenklatur der SU enthaltener für die DDR interessanter Waren“. Das

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Botschafter in Moskau die Nachricht, dass auf der Basis von Vereinbarungen (zwischen Chruschtschow und Ulbricht ) geplant sei, „das Verwachsen der Wirtschaft der DDR mit der Wirtschaft der Sowjetunion innerhalb zweier Jahre herbeizuführen“.38 Doch wusste das Politbüro, dass man sich diesem Ziel nur zu nähern vermochte, wenn die KPdSU seinen Wünschen nach größeren wirtschaftlichen Zuschüssen, vor allem von Krediten und handelspolitischen Entlastungen, entgegenkam.39 So bedeutete die Wirtschaftsgemeinschaft für die SED zunächst nichts anderes als ein probates Instrument zur Stabilisierung der DDR durch eine vom Westen nicht beeinträchtigte Modernisierung industrieller Strukturen zu einem hohen Preis : Die enge Wirtschaftsgemeinschaft mit der Sowjetunion, deren Entwicklung „die Grundfrage bei der Störfreimachung“ sei, erfordere „eine Neuprofilierung der Volkswirtschaft der DDR“.40 Die Moskauer Regierung sah in diesem Modell eine große Belastung der begrenzten sowjetischen Wirtschaftskraft, konnte sich aber ihren Verpflichtungen und Versprechungen gegenüber der SED nicht so einfach entziehen. Auf dem Treffen hochrangiger Regierungsdelegationen41 am 26. und 27. 2. 1962 in Moskau erklärte Chruschtschow laut Protokoll, „es sei notwendig, die neuen Grundlagen für die ökonomischen Beziehungen zwischen beiden Ländern zu sehen. Es gehe um die Verknüpfung der Wirtschaft beider Länder und um eine Abstimmung der Pläne. Das, was abgestimmt ist, muss von beiden Seiten eingehalten werden. Man müsste die Wirtschaft beider Länder als ein einheitliches Ganzes behandeln [...]. Er stellt sich vor, dass, so wie Plan und Abmachung zum Beispiel mit der Ukraine verbindlich sind, auch die Beziehungen mit der DDR geregelt werden.“42 Somit hatte die sowjetische Führung in den Augen der SED dem Plan einer Wirtschaftsgemeinschaft prinzipiell zugestimmt, und wenn Chruschtschow der DDR einen Kredit in Höhe von 1,3 Mrd. Valutamark in Aussicht stellte, scheinen ihn Ulbrichts Argumente offenbar überzeugt zu haben.43 Doch hätten Ulbricht die Kritik, die Kommentare und die Bedingungen der

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bedeute die Erarbeitung von verlässlichen Analysen der Wirtschafts - und Produktionsstruktur der dafür als besonders geeignet erscheinenden westlichen Gebiete der UdSSR insbesondere der Ostseerepubliken unter wichtigen Gesichtspunkten sowie des tatsächlichen sowjetischen Bedarfs und erfordere die „Konzentration der Wirtschaftspropaganda“ auf diesem Territorium. Vgl. Entwurf. Perspektivplan für die wirtschaftlichen Beziehungen DDR / UdSSR 1960, undatiert ( PA AA / MfAA, A 69, Bl. 22). Telegramm Winzers an Dölling in Moskau, 16. 1. 1961 ( PA AA / MfAA, A 17824, unpaginiert ). Vgl. Steiner, Die DDR - Wirtschaftsreform, S. 46 f. Geheimes Schreiben des Büros ( Grunert ) des DDR - Außenministers an die Leiter der Auslandsvertretungen über die Ausführungen von Mewis, 1961 bis 1963 Vorsitzender der Staatlichen Plankommission der DDR, im Kollegium des MfAA, 6. 12. 1961 ( PA AA / MfAA, LS - A 435, Bl. 23). Für die UdSSR : Chruschtschow, Kossygin, Breshnew, Koslow, Semjonow und Perwuchin; für die DDR : Ulbricht, Leuschner, Winzer und Dölling. Vermerk über ein Gespräch am 27. 2. 1962, Protokoll von Dölling vom 5. 3. 1962. Vermerk : Nur zur persönlichen Verwendung ( PA AA / MfAA, G - A 476, unpaginiert ). Ebd.

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Sowjetregierung zu denken geben müssen, die sich u. a. gegen Kredite für unproduktive DDR - Bereiche wandte, Verwendungswünsche erhob44 und sich mit bevormundenden Ratschlägen nicht zurückhielt, die gleicher Partnerschaft widersprachen.45 Ebenso verlangte Kossygin mit der ihm eigenen Deutlichkeit eine „Aktivierung des Handels mit Bonn im maximalsten Umfang“.46 Im Unterschied zur SED wollte er keineswegs auf den innerdeutschen Warenverkehr verzichten, der vor allem aus modernisierungstechnischen Gründen vorteilhaft war und einen zumindest indirekten Zugriff auf westliches Know - how und Technologien versprach. Im Übrigen hatte die Sowjetunion aktuell kein Interesse an einer deutschlandpolitischen Zuspitzung, die eine Wirtschaftsgemeinschaft mit der DDR hätte bewirken können. Insgesamt zeigte sich, dass Chruschtschow, der für das Präsidium der KPdSU stand, geneigt war, den Vorstellungen und Wünschen der SED aus politischen und ideologischen Gründen entgegenzukommen und ihm verbale Zusagen vergleichsweise leicht zu entlocken waren, während Regierungsvertreter – etwa Kossygin – wirtschaftliche Interessenlagen betonten, wodurch die Aussagen des Parteichefs relativiert oder faktisch ganz zurückgenommen wurden. So stellte die Sowjetunion bereits Mitte Februar 1962 klar, dass sie nicht bereit sei, auf bereits bilanzierte Maschinenbauausrüstungen aus der DDR zugunsten deren Eigenbedarfs zu verzichten sowie den Export von Walzstahl nach Ostdeutschland zu erhöhen.47 Auch schob sie dann eine in der Sache harte Interpretation der in Moskau 44 Der sowjetische Ministerpräsident Kossygin verwies darauf, „dass die DDR mit zu denen gehört, die die höchsten Normen im Wohnraum haben. Bei der Beseitigung der Zerstörungen und Aufbau der Stadtzentren kann man nicht von der wünschenswerten Ausgestaltung der Zentren der Städte ausgehen, sondern in erster Linie muss Geld für Betriebe zur Verfügung gestellt werden. In der DDR gibt es Einrichtungen, Stadtzentren u. s. w., wie sie in der Sowjetunion erst für 1970 geplant sind. Man muss die vorhandenen Geldmittel vernünftig verwerten. Hauptsache ist, die Mittel für die Produktion zu verwenden.“ Chruschtschow zeigte sich beunruhigt darüber, dass in der Landwirtschaft der DDR „wenig investiert werden soll. Besondere Begründungen mit Hinweis auf die große Zahl der Kulaken können wir nicht akzeptieren [...]. Man muss mit allen Mitteln die Produktion fördern, nicht einfach mehr für Arbeitseinheiten in der Landwirtschaft zahlen.“ Ebd. 45 So legte Kossygin nahe, die Investitionen in der DDR mit sechs statt mit sieben Prozent anzusetzen und die Pläne vor allem aus ideologischen Gründen zu erfüllen und überzuerfüllen. Auch müsse „mehr an direkte Lohnerhöhungen“ gedacht werden und weniger Mittel in die gesellschaftlichen Fonds fließen, weil das „von der Bevölkerung kaum in Rechnung gestellt wird“. Chruschtschow forderte eine Einschränkung der nichtproduktiven Ausgaben. Ebd. 46 Ebd. 47 Die UdSSR habe Industriewerke fertiggestellt, die auf die Komplettierung durch DDRMaschinen angewiesen seien. Wenn sie ausblieben, könnten „die an sich sonst vollständigen Ausrüstungen dieser Werke ihre Produktion nicht aufnehmen“, begründete es der Erste Botschaftsrat der sowjetischen Botschaft in Ost - Berlin, Shiljakow. Überdies wüssten die sowjetischen Wirtschaftsorgane nicht, aus welchen Ländern sie die Maschinen beziehen könnten, die die DDR nicht liefere. Vgl. Aktenvermerk Krolikowskis über seine Gespräche mit Shiljakow am 16., 17. und 18. 2. 1962 ( PA AA / MfAA, A 17165, Bl. 191).

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beschlossenen Kreditbewilligung nach.48 Dennoch hielt die SED am Konzept der Wirtschaftsgemeinschaft fest. Sie sah sich durch Äußerungen Chruschtschows und Ulbrichts anlässlich der Moskauer Konsultation „zur Abstimmung und Klärung der Grundfragen der wirtschaftlichen Entwicklung der DDR 1963–1965“ bestätigt : „Der Charakter der Konsultation entsprach, selbstverständlich unter Beachtung der Souveränität der DDR, in vieler Hinsicht den Planabstimmungen der Plankommissionen der einzelnen Republiken, die vor dem erfahrenen Kollektiv vom GOS - Plan bzw. GOS - Ökonom - Sowjet ihre Planvorschläge im einzelnen begründen und verteidigen müssen“.49 In diese Sicht fügt sich auch die Wahrnehmung ein, dass es „keine generellen Unterschiede in der Planmethodik“ mehr gebe, man sich an sowjetischen Vorbildern, neuen Entwicklungen und Lehren orientiere sowie die Planstrukturen und Kaderpolitik der UdSSR „bei der Planung“ zielgerichtet studiere.50 Wie weit die Fiktion einer realen Entwicklung zur Wirtschaftsgemeinschaft bereits zum Gegenstand der internen Diskussion in SED - Parteiapparat und verschiedenen Staatsorganen geworden war, zeigen die Diskurse im MfAA. Hier wurde die Frage, „ob die Wirtschaftsgemeinschaft zwischen der UdSSR und der DDR eine Besonderheit ist“ mit dem Ergebnis geklärt, dass sie keine Besonderheit sei, sondern den „objektiven Gesetzmäßigkeiten in der Entwicklung der Beziehungen zwischen sozialistischen Staaten“ entspreche.51 Dem hatte das sowjetische Außenministerium jedoch bereits einige Wochen zuvor mit plausiblen Begründungen widersprochen und die definitive Ablehnung der bilateralen Wirtschaftsgemeinschaft vor allen innerdeutsch und bündnispolitisch artikuliert.52 Zwar 48 So ließ Shiljakow dem Leiter der 1. Europäischen Abteilung ( UdSSR ) im MfAA Krolikowski wissen, dass man über die Kreditsumme noch „sehr ernsthaft verhandeln“ müsse. Die entscheidende Frage, „die der sowjetischen Seite ernsthaft Sorgen macht, ist, dass in den Darlegungen der DDR nicht gesagt werden kann, zu was z. B. der Kredit für 1962 verwendet werden soll und welche Produktionsstätten mit diesem Kredit geschaffen werden, die dann in zwei, drei oder vier Jahren effektiv zur Abtretung der Kredite beitragen können“. Denn wenn man nicht dazu übergehe, „die Kredite zweckgebunden in der Sphäre der Produktion anzuwenden, kann eine Lage entstehen, dass man über lange Jahre die Kredite benötigt und nicht dazu kommt, die nötigen Kapazitäten zu schaffen, mit denen einmal die Volkswirtschaft auf den notwendigen Stand gebracht wird und zum anderen die Kredite abgedeckt werden können“. Bericht Krolikowskis, 11. 5. 1962 ( PA AA / MfAA, A 17165, Bl. 140). 49 Bericht der DDR - Verhandlungsdelegation über Erfahrungen und Hinweise, die es zur Verbesserung der Planung in der DDR aus den Moskauer Beratungen im Mai / Juni 1962 gibt. Anlage 3 zum Protokoll 42/62, 26. 9. 1962 ( SAPMO - BArch, DY 30/ J IV 2/2/849, Bl. 11). 50 Vgl. ebd., Bl. 24. 51 Man habe „nachgewiesen“, dass die Wirtschaftsgemeinschaft „im gegenwärtigen Stadium notwendig wurde und welche Faktoren dazu führten, dass faktisch die DDR als erster Staat diese engen umfangreichen Beziehungen mit der Sowjetunion einging“. Protokoll über die Dienstbesprechung der 1. Europäischen Abteilung, 10. 4. 1962 ( PA AA / MfAA, A 00068, Bl. 48). 52 Shiljakow wandte sich gegenüber Krolikowski am 23. 2. 1962 in der Berliner Sowjetbotschaft gegen den von der SED gebrauchten Begriff Wirtschaftsgemeinschaft. Für die UdSSR sei „die Zusammenarbeit aller sozialistischen Länder auf der Grundlage des

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bezweifelte auch Moskau die Effektivität des RGW,53 doch hütete sich die Sowjetunion davor, durch einen Sonderbund mit der DDR die anderen Teilnehmerstaaten hintanzusetzen und Missstimmungen im Ostblock zu fördern. Eine Festlegung auf die DDR hätte das künstliche Gleichgewicht im Bündnis gestört und die Handlungsfreiheit der UdSSR reduziert, die es ohnehin schwer genug hatte, ein Ausbrechen verschiedener sozialistischer Staaten aus der deutschlandpolitischen Bündnisdisziplin zu verhindern, die nach 1961 durch nationale Interessen immer wieder in Frage gestellt war. Es mehrten sich die Zeichen dafür, dass einige sozialistische Staaten nunmehr auf die handels - und kreditpolitischen Offerten der Bundesregierung einzugehen bereit waren. Dadurch drohte eine deutschlandpolitische Isolierung Ost - Berlins und Moskaus und somit eine „Entwicklung der Hallstein - Doktrin auf dem Boden des sozialistischen Lagers“.54 Eine bilaterale Wirtschaftsgemeinschaft mit politischer Perspektive hätte der SED zumindest indirekt helfen können, RGW - Staaten von Handelsabkommen mit der Bundesrepublik hinter dem Rücken der DDR abzuhalten und solche, wenn überhaupt, nur als „offizielle Vereinbarungen“ abzuschließen.55 Die internationale Reputation der SED als gewünschter „Juniorpartner“ der UdSSR wäre durch einen „Zweibund“ möglicherweise erhöht RGW“ die entscheidende Frage. Die Formulierung Wirtschaftsgemeinschaft DDR – Sowjetunion führe im sozialistischen Lager, aber auch in der UdSSR, zu einer „falschen Auslegung“ und zu einer „unnötigen Diskussion einmal mit befreundeten Ländern und andererseits aber auch zu völlig falschen Auslegungen in der DDR“. Dort könnte man zu der Schlussfolgerung kommen, „dass Wirtschaftsgemeinschaft heißt Einverleibung der DDR in das Wirtschaftsgebiet der Sowjetunion und man damit sagt, dass die DDR denselben Weg geht wie z. B. die baltischen Republiken. Aber dafür gibt es überhaupt keine Voraussetzungen. Und solche Gedanken gleich unter welchen Voraussetzungen sie gefördert werden oder aber Unterstützung finden, würden zu politischem Schaden gereichen, da sie sich schließlich gegen die nationale Politik der DDR richten würden und andererseits natürlich auch der antisowjetischen Hetze Vorschub leisten [...]. Genosse Shiljakow sagte, dass es natürlich auch bei einer zu starken Überbetonung der bilateralen Beziehungen zu Missverständnissen bei Vertretern anderer sozialistischer Länder kommen kann.“ Aktenvermerk Krolikowskis, 23. 2. 1962, über sein Gespräch mit Shiljakow ( PA AA / MfAA, A 17165, Bl. 193). 53 Als Ulbricht sich einmal über Missstände im RGW beschwerte, meinte Chruschtschow lakonisch : „Ich möchte sagen, Genosse Walter : Der RGW ist gar kein RGW. Das ist dort so, dass jeder Staat seine eigenen Leisten hat und seinen eigenen Stiefel drauf macht [...]. Es gibt keine Zusammenarbeit im RGW, wie sie sein soll. Jeder macht seine Einzelwirtschaft.“ Stenographische Niederschrift der Besprechung mit Nikita Sergejewitsch Chruschtschow und Walter Ulbricht in der Werkleitung des Eisenhüttenkombinats Ost am 19. Januar 1963 ( SAPMO - BArch, DY 30/ J IV 2/202/32, Band 6, Bl. 12). 54 Vgl. Bericht über die Konsultationen in der Ungarischen Volksrepublik, 10. Sitzung des Kollegiums des MfAA, 17. 6. 1963. Mit handschriftlichen Notizen offenbar von Außenminister Bolz ( PA MA / MfAA, LS - A 484, unpaginiert ). 55 Um die Hallstein - Doktrin zu durchbrechen, sollten die RGW - Partner erklären, dass dies Schritte „zur Herstellung der diplomatischen Beziehungen“ mit Bonn seien. „Geheime Übereinkünfte liegen nicht im Interesse der sozialistischen Staaten, sonder begünstigen die westdeutsche Position.“ MfAA - Kollegiumsvorlage : Thesen zu den Bestrebungen der Bundesrepublik, ihre Beziehungen zu den europäischen sozialistischen Staaten zu entwickeln, 19. 6. 1963, ebd.

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Entwicklungstendenzen der ostdeutsch-sowjetischen Beziehungen

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worden. Das Desaster des Projektes legte eine politische Ersatzhandlung nahe: den Abschluss eines ostdeutsch - sowjetischen Freundschaftsvertrages „im Interesse der Erhöhung der Autorität der DDR“, um den Ulbricht im Mai 1964 Chruschtschow bat.56 Letztendlich sollte das Abkommen nicht nur Einheit und Geschlossenheit, sondern auch die besonderen Beziehungen zwischen beiden Seiten demonstrieren.57 Am Ende blieb so ein politischer Impetus der gescheiterten bilateralen Wirtschaftsgemeinschaft erhalten. Doch erfuhr die Strategie der SED, ökonomisches Wachstum und Stabilität wesentlich durch sowjetische Hilfe zu realisieren, zugunsten der bereits vor der Berlinkrise diskutierten Alternative, die Wirtschaft primär aus eigener Kraft zu modernisieren,58 eine nachhaltige Korrektur. Zwar blieb die sowjetische Partnerschaft als Faktor des realsozialistischen Aufbaus unverzichtbar, doch musste sich die SED fürderhin stärker auf die eigenen Möglichkeiten stützen, was wiederum auf die Notwendigkeit größerer wirtschaftlicher Handlungsspielräume und Flexibilität gegenüber der Sowjetunion und einem Mehr an Eigensinn hinauslief. Dabei blieb die gegenseitige, freilich disproportionale Abhängigkeit zwischen den beiden Partnern erhalten. Die bereits erhobene mehr politisch als wirtschaftlich geartete Forderung der SED nach einer „allseitigen Ökonomisierung“ der bilateralen Beziehungen wurde tradiert und bestärkt.59 Werden Idee und Planung der bilateralen Wirtschaftsgemeinschaft auch nur im Kontext des Kalten Krieges und der Konkurrenz zur Bundesrepublik verständlich, so zwang das gescheiterte Projekt die SED in den Folgejahren letztendlich zu einer ( auch entspannungspolitisch relevanten ) Ausnutzung der wirtschaftlichen Potenzen des Westens als eine Überlebensstrategie. Auch insofern war das misslungene Sonderbündnis mehr als nur der Versuch, die Systemkrise der DDR im Kontext des Mauerbaus zu überwinden.

56 Vgl. Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, 6. 5. 1964 ( SAPMO - BArch, DY 30/ J IV 2/202/77, unpaginiert ). 57 Ulbricht begründete : „Der Vertrag würde nichts prinzipielles Neues bringen, aber die zusammenfassende Darstellung der Beziehungen, die sich zwischen der UdSSR und der DDR entwickelt haben, würde eine bedeutende Wirkung haben.“ Ebd. 58 Vgl. Steiner, Die DDR - Wirtschaftsreform, S. 47. 59 Vgl. Material über den Besuch einer Partei - und Regierungsdelegation der DDR in der UdSSR, 10. 9. 1965 ( SAPMO - BArch, DY 30, J IV A 2/20/150).

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Gorbatschow in Bonn 1989 : Ein historischer Staatsbesuch aus westdeutscher und aus ostdeutscher Sicht Hermann Wentker Der Besuch Michail Gorbatschows in der Bundesrepublik im Juni 1989 war kein Staatsbesuch wie jeder andere. Denn mit Gorbatschow kam der Staatsmann, der in der Sowjetunion Reformen von bisher ungeahntem Ausmaß angestoßen hatte. Er wurde damals bereits zu den großen Persönlichkeiten der Weltgeschichte gezählt : Das amerikanische Nachrichtenmagazin „Time“ kürte ihn Ende 1987 zum „Man of the Year“; der „Spiegel“ machte ihn 1988 zum „Mann des Jahres“; in der „Zeit“ reflektierte Robert Leicht über Gorbatschow als einen Staatsmann, der „die Phantasie der Zeitgenossen in Bewegung“ versetze und daher unter Rückgriff auf Jacob Burckhardt zu den „großen Männern“ der Weltgeschichte gezählt werden müsse.1 Der Besuch verdeutlichte überdies, dass sich die westdeutsch - sowjetischen Beziehungen wesentlich verbessert hatten : Denn mit dem Staatsbesuch wurde nicht nur die seit 1983 herrschende Eiszeit zwischen beiden Staaten sichtbar beendet; überdies bekannten sich beide Seiten erstmals zur Weiterentwicklung ihrer Beziehungen auf der Grundlage gemeinsamer, im wesentlichen aus dem Westen stammender Prinzipien. Schließlich ragt der Besuch auch im Hinblick auf die Beteiligung der westdeutschen Öffentlichkeit über andere derartige Ereignisse heraus : Gorbatschow wurde so umjubelt, dass bereits zeitgenössisch eine Parallele zu den Besuchen von John F. Kennedy und Charles de Gaulle im Jahre 1963 gezogen wurde.2 Doch nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in der DDR wurde die Visite intensiv verfolgt : von der Ost - Berliner Führung, weil diese Gorbatschow erheblich misstraute, und von der DDR - Bevölkerung, die in ihm mehrheitlich einen Hoffnungsträger sah. Eine vergleichende Betrachtung der westdeutschen und der ostdeutschen Sichtweise auf diesen Besuch in der Bundesrepublik ist vor dem Hintergrund des gemeinsamen deutschen Kommunikationsraums reizvoll : Inwiefern, so ist 1 2

Man of the Year. In : Time vom 4. 1. 1988 ( Titelbild ); Mann des Jahres – Mann der Stunde. In : Der Spiegel vom 12. 12. 1988 ( Titelbild ); Robert Leicht, Eine Ahnung von historischer Größe. In : Die Zeit vom 23. 12. 1988. Udo Bergdoll, Kursbestimmung bei Kerzenschein. In : Süddeutsche Zeitung ( künftig : SZ ) vom 13. 6. 1989.

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zu fragen, prägten die unterschiedlichen politischen Bedingungen die Reaktionen von Politik und Öffentlichkeit auf den Besuch ? Welche Auswirkungen hatte er in beiden deutschen Staaten ? Und gab es, trotz der unterschiedlichen Voraussetzungen, Gemeinsamkeiten in der Bewertung von West - und Ostdeutschen ? Schließlich wird der Vergleich um die Betrachtung der wechselseitigen Wahrnehmung erweitert, die aufgrund der Fixierung der beiden Seiten auf die jeweils andere gerade in diesem Fall eine wichtige Rolle spielte. Dabei steht die Sicht der westdeutschen Politik und Gesellschaft im Mittelpunkt – nicht nur, weil Gorbatschow die Bundesrepublik besuchte, sondern auch weil sich hier die Reaktionen von Politik, Medien und Öffentlichkeit aufgrund des reichhaltigen Quellenmaterials differenziert rekonstruieren lassen. Da es in der DDR keine unabhängige Medienlandschaft gab, muss die Perzeptionsgeschichte hier knapper ausfallen. Sie konzentriert sich auf die politische Ebene sowie auf die Öffentlichkeit, über deren Haltung vor allem die Akten des Ministeriums für Staatssicherheit Auskunft geben.

1.

Der Ort des Besuchs im Beziehungsdreieck Sowjetunion – Bundesrepublik – DDR

Zu Beginn der Ära Gorbatschow spielte die Bundesrepublik für die Sowjetunion nur eine untergeordnete Rolle. Denn zum einen wollte Moskau diese noch für ihr Verhalten im Jahre 1983, als sie infolge des NATO - Doppelbeschlusses die Stationierung von Pershing - II - Raketen und Cruise Missiles in der Bundesrepublik beschlossen hatte, bestrafen, und zum anderen sah Gorbatschow, dem es vor allem um die Verhinderung eines neuen nuklearen Rüstungswettlaufs und dauerhafte friedliche Koexistenz ging, in der amerikanischen Führung seinen wichtigsten westlichen Ansprechpartner. Die westeuropäischen Staaten erhielten eine Bedeutung nur dadurch, dass sie möglicherweise innerhalb des westlichen Bündnisses für eigene Zwecke mit Blick auf die USA instrumentalisiert werden konnten, etwa indem sie Washington von der „Strategic Defense Initiative“ abbrachten.3 Da sich die Bundesregierung jedoch auch in diesem Zusammenhang als treuer Verbündeter Washingtons zeigte, rangierte sie in der Prioritätenliste Gorbatschows, der überdies in Bonn auf einen Regierungswechsel setzte, ganz hinten. Dennoch erwärmte sich nach 1985 allmählich das Klima in den westdeutsch - sowjetischen Beziehungen; mit dem berüchtigten Interview Helmut Kohls für das Magazin „Newsweek“ im Oktober 1986, in dem dieser Gorbatschow und Goebbels in einem Atemzug nannte, kam es indes zu einem erneuten Temperatursturz. Erst als die Bundestagswahl vom Januar 1987 die christlich - liberale Koalition in Bonn bestätigte, wurde in Moskau klar, dass 3

Vgl. Marie - Pierre Rey, Gorbachev’s New Thinking and Europe, 1985–1989. In : Frédéric Bozo u. a. ( Hg.), Europe and the End of the Cold War. A Reappraisal, London 2008, S. 23–35, hier 24–27.

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an der Regierung Kohl kein Weg vorbei führte. Und die Beziehungen zur wichtigsten westeuropäischen Wirtschaftsmacht konnte die auf wirtschaftliche Hilfe angewiesene Sowjetunion nicht länger vernachlässigen. Vor diesem Hintergrund kam seit Herbst 1987 eine rege westdeutsche Besuchsdiplomatie nach Moskau in Gang : Nachdem zunächst Richard von Weizsäcker, Franz Josef Strauß und Lothar Späth im Kreml empfangen worden waren, besuchte schließlich auch der Bundeskanzler im Oktober 1988 Gorbatschow. Damals brach das Eis zwischen beiden Staatsmännern, eine Intensivierung der Beziehungen wurde beschlossen und Gorbatschow zum Gegenbesuch nach Bonn eingeladen.4 Die Beziehungen Moskau - Ost - Berlin hatten sich zu Beginn der Ära Gorbatschow zwar insofern verbessert, als sich Erich Honecker nun mit seiner Friedenspolitik wieder im Einklang mit der sowjetischen Politik befand; außerdem setzte Gorbatschow zu Beginn seiner Amtszeit im Zusammenhang mit dem Modernisierungskurs in der Wirtschaft auf eine enge Kooperation mit der DDR. Schon bald zeigte sich aber, dass die DDR - Führung Gorbatschows Reformkurs entschieden ablehnte, sich ab 1987 öffentlich davon abgrenzte und 1988 sogar sowjetische Publikationen in ihrem Land verbot, um die Ostdeutschen nicht dem „Reform - Bazillus“ aus dem Osten auszusetzen. In der Deutschlandpolitik hatte Gorbatschow zunächst noch den nach Bonn strebenden Honecker zurückgehalten und erst 1987 dessen Besuch dort gestattet. Ab 1987/88 wurde auch die sowjetische Deutschlandpolitik zu einer Belastung für die ostdeutsch - sowjetischen Beziehungen : zum einen weil Honecker befürchtete, Gorbatschow könne hinter seinem Rücken Absprachen mit der Regierung Kohl treffen, und zum anderen weil Gorbatschow sowjetische Stimmen tolerierte, die sich gegen die deutsche Teilung richteten. Da für die meisten Ostdeutschen jedoch Gorbatschow binnen kurzem zum Hoffnungsträger avancierte, befand sich die DDR Führung 1989 in einer Situation doppelter Isolierung : isoliert von der eigenen Bevölkerung und isoliert im Ostblock, weil nur eine Minderheit der osteuropäischen Staaten den sowjetischen Kurs so dezidiert ablehnte wie sie.5

2.

In Erwartung Gorbatschows

Im Vorfeld des Gorbatschow - Besuches führte das Demoskopie - Institut Emnid im Auftrag des „Spiegel“ eine Umfrage unter den Westdeutschen und den Moskauern durch, um allgemeine Einstellungen zu Gorbatschow und seinen Reformen sowie zur Sowjetunion bzw. zur Bundesrepublik zu ermitteln. Solche parallelen Umfragen, die in der Sowjetunion durch die Perestroika ermöglicht wurden, begannen damals üblich zum werden : So wurde im Anschluss an eine 4 5

Vgl. Rafael Biermann, Zwischen Kreml und Kanzleramt. Wie Moskau mit der deutschen Einheit rang, Paderborn 1997, S. 100–106; Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium 1982–1990, München 2006, S. 544–560. Vgl. Hermann Wentker, Außenpolitik in engen Grenzen. Die DDR im internationalen System, München 2007, S. 486–497.

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Befragung der Bundesbürger durch das SINUS - Institut im Auftrag der Zeitschrift „Stern“ vom August 1988 im Frühjahr 1989 eine ähnliche Befragung in der Sowjetunion durchgeführt.6 Die „Spiegel“ - Umfrage enthielt drei wichtige Botschaften. Erstens zeigte sie, dass die Westdeutschen Gorbatschow sympathischer fanden als jeden anderen deutschen Politiker, ausgenommen von Weizsäcker, und dass sie in ihrer weit überwiegenden Mehrheit (82 Prozent ) von dessen Erfolg überzeugt waren. Zweitens verdeutlichte sie einen „Gorbatschow Effekt, der ohne Beispiel in der Geschichte der Demoskopie“ war : Denn dieser hatte es vermocht, die 1983 registrierte massive Abneigung gegenüber der Sowjetunion in ihr Gegenteil zu verkehren, so dass 1989 73 Prozent der Befragten eine gute oder sehr gute Meinung über die östliche Supermacht hegten. Drittens war Gorbatschow laut dieser Umfrage in Moskau relativ populär – 72 Prozent schätzten ihn am meisten von allen Politikern –, aber ihm folgte sein Rivale Boris Jelzin mit 56 Prozent. Außerdem waren nur 59 Prozent der Moskauer von seinem Erfolg überzeugt, und 76 Prozent bekundeten, dass die Perestroika nicht mehr unterstützt werde, wenn sich die Versorgungslage nicht bessere.7 Den „Spiegel“ - Lesern wurde damit plastisch vor Augen geführt, dass Gorbatschow zwar in der Bundesrepublik ein Star war, nicht aber in seiner Heimat. Unmittelbar vor seinem Bonn - Besuch dominierte eine abgewogene Einschätzung Gorbatschows die Qualitätspresse. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ( FAZ ) bezeichnete Fritz Ullrich Fack ihn als kraftvollen Reformer, der allerdings sowohl mit schweren Unruhen unter den Nationalitäten als auch mit immensen wirtschaftlichen Problemen fertig werden müsse; angesichts der wachsenden Alltagssorgen in der Sowjetunion drohe er die Massen zu verlieren, so dass der Westen „immer darauf gefasst sein [ müsse], dass dieses kühne Experiment eines Tages ebenso jäh enden könnte, wie es begann“.8 Nur der Sowjetunion - Korrespondent der FAZ, Werner Adam, hielt Gorbatschow für gestärkt, da sich dieser aufgrund seiner Wahl zum Präsidenten des Obersten Sowjet durch den Volksdeputiertenkongress „auf eine gewisse demokratische Legitimität stützen“ könne.9 Demgegenüber war sonst die einhellige Meinung, dass Gorbatschow insbesondere aufgrund der heftigen Nationalitätenunruhen in Usbekistan, Armenien und Aserbaidschan als „bedrängter Mann“ nach Bonn komme und deshalb möglicherweise unkonzentriert und kaum vorbereitet sei. Die Moskauer Korrespondentin der „Frankfurter Rundschau“ ( FR ), Elfie Siegl, glaubte, dass Gorbatschows Besuch daher „kaum mehr als eine Höflichkeitsvisite“ sein werde : „Politische Sensationen sind nicht zu erwarten.“10 6

Zu den Ergebnissen siehe Klaus Liedtke ( Hg.), Der neue Flirt. Russen und Deutsche auf dem Weg zu veränderten Beziehungen, Hamburg 1989. 7 CDU / CSU - Wähler : Gorbatschow besser als Kohl. In : Der Spiegel vom 5. 6. 1989. 8 Fritz Ullrich Fack, Geschätzter Gast aus Moskau. In : FAZ vom 12. 6. 1989. 9 Werner Adam, Ein gestärkter Gorbatschow kommt an den Rhein. In : FAZ vom 12. 6. 1989. 10 Vgl. Bernhard Küppers, Gorbatschow : Das Gute wiederaufnehmen. In : SZ vom 12. 6. 1989 ( hier das erste Zitat ); Manfred Schell, Reise überschattet. In : Die Welt vom

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Auch die meisten anderen großen Zeitungen dämpften die Erwartungen. Bekannt war, dass Kohl und Gorbatschow eine „Gemeinsame Erklärung“ über die Grundsätze der westdeutsch - sowjetischen Beziehungen unterzeichnen würden. Die Ausarbeitung einer solchen Erklärung war beim Besuch Kohls in Moskau im Oktober 1988 vereinbart worden. Ausgehandelt hatten sie die Außenministerien beider Staaten in mehreren Verhandlungsrunden zwischen Januar 1988 und Juni 1989; in Konsultationen in Bonn am 12./13. Mai 1989 hatten die Außenminister Hans - Dietrich Genscher und Eduard Schewardnadse den Text im Grundsatz gebilligt.11 Die FAZ fasste dessen Quintessenz treffend wie folgt zusammen : „Die Sowjetunion erhält die Zusage der Bundesrepublik, dass die Ostverträge eingehalten werden; Gorbatschow unterschreibt Grundsätze, die den deutschen Wertvorstellungen entsprechen.“ Damit werde dem von Gorbatschow immer wieder beschworenen Europäischen Haus eine Hausordnung gegeben, die grundsätzlich positiv bewertet wurde.12 Die besondere Bedeutung dieses westdeutsch - sowjetischen Gipfels werde jedoch, so die FR, darin liegen, „die Vertrauensbasis zwischen Bonn und Moskau zu festigen“.13 Die Ursache für die weit verbreitete Warnung vor zu hochgesteckten Erwartungen lag darin, dass bereits im Mai die Presse von der Weigerung des sowjetischen Außenministeriums berichtet hatte, einer generellen Regelung für die Einbeziehung West - Berlins in völkerrechtliche Verträge der Bundesrepublik zuzustimmen. Dies wurde allgemein als Zeichen dafür gewertet, dass sich trotz aller Reformen die sowjetische Position in der Berlin - und Deutschlandfrage nicht grundsätzlich gewandelt habe. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund hielten alle führenden Blätter ein deutschlandpolitisches Angebot Gorbatschows bei seinem Besuch in Bonn für ausgeschlossen. Während die FR jedoch aus der weiterhin bestehenden Blockadehaltung schlussfolgerte, dass man sich daher im Hinblick auf den Status von West - Berlin und die Mauer „weiter gedulden müsse“, beharrte „Die Welt“ auf der Forderung : „Die Mauer muss weg.“ Die Bundesregierung müsse dies weiter vorbringen, ja, die Mauer sei „der Testfall für Gorbatschow“.14 Was die künftige Bedeutung der Bundesrepublik für die Sowjetunion betraf, so stellte die FAZ einen Zusammenhang mit dem soeben beendeten Besuch von Präsident George Bush in Bonn her, womit „die Stellung der Bundesrepublik im Bündnis gefestigt“ sei. Und sie fuhr fort : „Damit wächst vermutlich das Bonner Gewicht im Umgang mit Moskau, weil die Sowjetunion erfahren hat, dass die Ansichten der Bundesregierung in Washington gehört und von der 9. 6. 1989; me., Ein Gast in Unruhe. In : FAZ vom 9. 6. 1989; Elfie Siegl, Er reist mit einem Koffer voll Sorgen. In : FR vom 12. 6. 1989. 11 Vermerk Neuberts vom 9. 6. 1989, Betr. Entstehung Gemeinsamer Erklärung ( PA AA, ZA 147132E ). 12 Claus Gennrich, Gorbatschow mit Lasten in Bonn. In : FAZ vom 9. 6. 1989; ähnlich Udo Bergdoll, Europäisches Haus ohne deutsche Frage. In : SZ vom 9. 6. 1989. 13 Eghard Mörbitz, Neue Offenheit. In : FR vom 10. 6. 1989. 14 Ebd. und Manfred Schell, Ein Gast mit großen Sorgen. In : Die Welt vom 12. 6. 1989.

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NATO beachtet werden.“15 Auch die SZ schloss nicht aus, dass Bonn im Europäischen Haus „eine Hausmeisterstelle angetragen bekommt – so wie es vom amerikanischen Päsidenten zum ‚Partner in einer Führungsrolle‘ [...] befördert worden ist“. Aber aufgrund der Unberechenbarkeit Bonns – die SZ spielte hier auf die Debatte um die nuklearen Kurzstreckenraketen an, die erst kurz zuvor auf einem NATO - Gipfel durch Verschiebung der Entscheidung auf 1992 vorerst beendet worden war – werde Moskau darauf achten, Bonn nicht zu sehr herauszuheben, sondern „dafür sorgen, dass die europäischen Dinge nicht aus dem Ruder laufen : Denn vor seinem Besuch in Bonn war Gorbatschow in London, im Juli schon wird er nach Paris reisen. Kohl ist in die Mitte genommen.“16 Honecker wurde vor dem Gorbatschow - Besuch in Bonn von Schewardnadse am 9. Juni ausführlich unterrichtet. Der sowjetische Außenminister verwies auf den vorangegangenen Besuch Bushs bei Kohl mit den Worten : „Gegenwärtig sei ein Kampf um die BRD im Gange.“ Sowohl die USA als auch die Sowjetunion, so konnte Honecker daraus entnehmen, bemühten sich um die Bundesrepublik als Partner. Im Anschluss daran erläuterte Schewardnadse die Gemeinsame Erklärung, deren Grundsätzen Honecker zustimmte. Aber er regte an, „bei den Prinzipien der Zusammenarbeit noch den Begriff ‚Souveränität‘ zu verankern“ – ein Hinweis darauf, dass er trotz aller Entspannungseuphorie weiterhin die Eigenständigkeit der DDR gewahrt wissen wollte. Wenngleich er volles Einverständnis mit dem Besuch signalisierte, warnte er allgemein vor dem Westen, der „eine starke Kampagne gegen den Sozialismus“ führe, und im Besonderen vor der revisionistischen Politik der Bundesrepublik, die „unverändert die Existenz des ‚Deutschen Reiches‘ in den Grenzen von 1937 propagiert“ und in der „im Ergebnis des Auftretens Reagans und Bushs die rechten Kräfte Auftrieb erhalten“ hätten. Die Regierungsparteien in Bonn strebten weiterhin „die Einverleibung der DDR“ an.17 Honecker war mithin alles andere als begeistert von dem Gorbatschow - Besuch in Bonn : Jetzt wollte er die sowjetische Führung davon abhalten, sich zu eng mit der Regierung Kohl einzulassen. Das „Neue Deutschland“ ( ND ) berichtete zwar über das Gespräch Schewardnadses mit Honecker, der Gorbatschow - Besuch in Bonn wurde jedoch mit keinem Wort erwähnt, um keine Aufmerksamkeit auf dieses Ereignis zu lenken.18

15 Claus Gennrich, Gorbatschow mit Lasten in Bonn. In : FAZ vom 9. 6. 1989. 16 Josef Riedmiller, Hausmeisterstelle für Bonn ? In : SZ vom 10. 6. 1989 ( erstes Zitat ); ders., Welche Rolle wird Bonn künftig spielen ? In : SZ vom 12. 6. 1989 ( zweites Zitat ). 17 Niederschrift über das Gespräch Honeckers mit Schewardnadse. In : Gerd - Rüdiger Stephan ( Hg.), „Vorwärts immer, rückwärts nimmer !“ Interne Dokumente zum Zerfall von SED und DDR 1988/89, Berlin 1994, S. 75–88, die Zitate S. 78, 83, 85 f. Vgl. dazu Biermann, Zwischen Kreml und Kanzleramt, S. 142 f. 18 Freundschaftliches Gespräch zwischen Erich Honecker und Eduard Schewardnadse. In: ND vom 10. 6. 1989.

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Der Gorbatschow - Besuch in westdeutscher Sicht

Der Besuch Gorbatschows in der Bundesrepublik vom 12. bis zum 15. Juni war angefüllt mit Terminen : Politisch am bedeutsamsten waren die vier Vieraugengespräche mit Bundeskanzler Kohl, daneben standen Unterredungen mit Genscher, der sich auch mit Schewardnadse austauschte, mit Bundespräsident von Weizsäcker und der SPD - Führung auf dem Programm. Seine Reise führte ihn nicht nur nach Bonn, sondern auch nach Köln, wo er vor führenden Repräsentanten der Wirtschaft sprach, zur baden - württembergischen Landesregierung nach Stuttgart, zum Stahlwerk Hoesch in Dortmund und zur nordrhein - westfälischen Landesregierung nach Düsseldorf - Benrath. Neben offziellen Terminen gab es immer wieder öffentliche Auftritte, unter anderem vor dem alten Bonner Rathaus am 13. Juni. Als greifbare Ergebnisse erbrachte der Besuch vor allem den Abschluss von neun Abkommen und die Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung am selben Tag. Diese listete zunächst Grundsätze für „neues politisches Denken“ auf, die unter anderem die Menschenrechte, aber auch das „Recht aller Völker und Staaten, ihr Schicksal frei zu bestimmen“, umfassten; in einem zweiten Teil ging es um „den Aufbau eines Europas des Friedens und der Zusammenarbeit“, um so „zur Überwindung der Trennung Europas beizutragen“. Die „Bauelemente“ dieses Europas ähnelten in vielfacher Hinsicht den Grundsätzen des ersten Teils, gingen aber in ihrer Auflistung der zu fördernden Kontakte und Kooperationen darüber hinaus. Auf einen dritten, sicherheits - und abrüstungspolitischen Teil folgten schließlich Ausführungen zur Weiterentwicklung der westdeutsch - sowjetischen Beziehungen, denen „eine neue Qualität zu verleihen“ sei.19 Die westdeutschen Kommentatoren begrüßten fast einhellig die Gemeinsame Erklärung als wegweisendes Grundsatzdokument, mit dem die Sowjetunion „westliche Wertvorstellungen“ übernommen habe; es sei zwar „kein völkerrechtlich bindendes Dokument – aber dennoch eine Berufungsgrundlage“.20 Die FR verwies freilich darauf, dass die sowjetische Führung bei „Selbstbestimmung“ an anderes als die Bundesregierung denke, was zu „organisierten ‚Missverständnissen‘“ führen könne.21 Kritisch angemahnt wurde aus dem konservativen und dem grünen Lager, dass die Grundsätze der Erklärung auch umgesetzt werden müssten, wobei „Die Welt“ das Selbstbestimmungsrecht für die Deutschen einforderte, während der Grünen - Abgeordnete Helmut Lippelt das Überleben der Mensch-

19 Gemeinsame Erklärung. In : Gorbatschow in Bonn. Die Zukunft der deutsch - sowjetischen Beziehungen. Reden und Dokumente vom Staatsbesuch, Köln 1989, S. 32–37. 20 Dieter Schröder, Das deutsche Sonderinteresse. In : SZ vom 14. 6. 1989 ( erstes Zitat ); Udo Bergdoll, Kursbestimmung am Rhein. In : SZ vom 13. 6. 1989 ( zweites Zitat ). Ähnlich auch Claus Gennrich, Was von dem Besuch bleibt. In : FAZ vom 15. 6. 1989; Carl Christian Kaiser, Die zweite Unterschrift. In : Die Zeit vom 16. 6. 1989. 21 Hans - Herbert Gaebel, Europäischer Baumeister. In : FR vom 14. 6. 1989.

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heit, die Rettung der Umwelt und die Überwindung von Hunger und Armut in diesem Zusammenhang nannte.22 Jedoch war der Besuch nicht nur ein politisches, sondern auch ein „Medienereignis ersten Ranges“.23 Darauf eingestimmt wurden die Westdeutschen seit Anfang Juni durch eine entsprechende mediale Vorbereitung : Die Zeitungen enthielten Sonderbeilagen und zahlreiche Interviews mit deutschen und sowjetischen Politikern, das Fernsehen brachte ab dem 11. Juni Sondersendungen. ARD und ZDF informierten überdies so umfassend, dass „fast jeder Schritt [...] direkt übertragen“ wurde; der Tenor der Informationen war durchweg positiv und ließ jegliche Distanz vermissen, was die FAZ als „Fernsehberichterstattung aus dem Blickwinkel eines Fan - Clubs“ kritisierte.24 Bei den Print - Medien nahm die „Bild“ - Zeitung eine Sonderstellung ein, nicht nur wegen der Anzahl der Artikel, die sie anlässlich des Ereignisses brachte, sondern auch wegen ihres Willkommensgrußes an Gorbatschow. Die Deutschen in West und Ost, für die sie zu sprechen beanspruchte, schauten auf den hohen Gast und seien vereint in dem Wunsch nach „Frieden, Freundschaft, Zusammenarbeit“. Sie wünschten sich aber auch von ihm den Abriss der Berliner Mauer, eine Beendigung des Schießens an der deutsch - deutschen Grenze, die Gewährung von „etwas Freiheit und Demokratie“ für die Ostdeutschen und Verständnis für die Sehnsucht der Deutschen nach der Wiedervereinigung.25 Auch die FR brachte einen offenen Brief, der allerdings vom Bundesvorstand und Fraktionsvorstand der Grünen unterzeichnet war. Er war sehr viel länger als die plakative „Begrüßung“ durch „Bild“ und enthielt eine differenzierte Auseinandersetzung mit Gorbatschows Politik aus „grüner“ Perspektive. Dessen Abrüstungspolitik wurde uneingeschränkt begrüßt und die „Politik der Anerkennung des territorialen Status quo in Europa“ unterstützt – einschließlich der Anerkennung der deutschen Teilung unter „Aufgabe von politischen und wirtschaftlichen Hegemonieansprüchen in der BRD“. Kritik übten die Grünen an einzelnen autoritären Erscheinungen und dem gewaltsamen Umgang mit nationalen Protesten im Kaukasus, wenngleich sie „die Ausbrüche von Nationalismus“ mit Sorge betrachteten. Bei der grundsätzlich begrüßten Einleitung von Wirtschaftsreformen wollten sie allerdings „von Anfang an ökologische und soziale Kriterien ins Zentrum rücken“; einige westdeutsch - sowjetische Wirtschaftsverträge stießen 22 Bernt Conrad, Nun müssen Taten folgen. In : Die Welt vom 14. 6. 1989; Vgl. Stenographischer Bericht. Hg. vom Deutschen Bundestag, 11. WP, 16. 6. 1989, S. 11198. 23 So Stella Gavrilova, Die Darstellung der UdSSR und Russlands in der Bild - Zeitung 1985–1999. Eine Untersuchung zu Kontinuität und Wandel deutscher Russlandbilder unter Berücksichtigung der Zeitungen Die Welt, Süddeutsche Zeitung und Frankfurter Rundschau, Frankfurt a. M. 2005, S. 113; vgl. auch Günter Bannas, Ein Pfennig, eine Kopeke und ein Kuß von Gorbatschow. In : FAZ vom 13. 6. 1989. 24 Bernt Conrad u. a., Die Schüler vom Don sorgten für das erste Lächeln. In : Die Welt vom 13. 6. 1989 ( erstes Zitat ); B. S., Aus dem Blickwinkel des Fans. In : FAZ vom 16. 6. 1989. 25 Peter Bartels / Hans - Hermann Tiedje, Willkommen, Herr Gorbatschow. In : Bild vom 12. 6. 1989; vgl. Gavrilova, Darstellung der UdSSR, S. 113, 116.

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auf ihre Kritik, „weil in ihnen kein neues Denken im Verhältnis Ökologie - Ökonomie zu entdecken“ sei.26 Doch trotz aller formalen und inhaltlichen Unterschiede gab es eine Gemeinsamkeit zwischen beiden Texten : Sie enthielten mit ihren Wünschen an Gorbatschow auch implizit eine Kritik an dessen Politik. Auf die mediale Vorbereitung folgte die mediale Inszenierung, an der neben den 2 500 akkreditierten Journalisten aus aller Welt Gorbatschow und seine Frau Raissa maßgeblichen Anteil hatten. Schon die Atmosphäre am ersten Besuchstag war laut SZ „entspannt, fast heiter“.27 Ein aufgeräumter Gorbatschow, der sich die Last der innenpolitischen Probleme nicht anmerken ließ, nutzte den informellen Teil des Empfangs durch den Bundespräsidenten im Garten der Villa Hammerschmidt, um mit einer Schülerin aus einem Dortmunder Gymnasium, das den Austausch mit einer Moskauer Schule pflegte, lachend zu plaudern; auch mit von der Körber - Stiftung betreuten russischen Landsleuten kam es zu einem lockeren Gespräch. Doch er zeigte sich nicht nur als den Menschen zugewandter Politiker, sondern auch als einer, der sich auf den Pressebildern in Szene zu setzen wusste : So „zwängt[ e ] sich Gorbatschow spontan auf dem ihm gegenüberstehenden Sofa zwischen Bundespräsident Richard von Weizsäcker und Bundeskanzler Helmut Kohl“.28 Der mediale Höhepunkt des Besuchs war indes sein Auftritt vor dem historischen Rathaus in Bonn am 13. Juni 1989. Gut viertausend Menschen standen dicht gedrängt auf dem dreieckigen Marktplatz und jubelten „Gorbi“ zu, einige trugen Transparente mit mehr oder weniger politischen Botschaften wie „Make Love no Wall“.29 Doch im Mittelpunkt „stand Menschliches“. Ein kleiner Junge, der sich bis zur Freitreppe vor dem Balkon des Rathauses durchgezwängt hatte, wurde von Raissa Gorbatschowa entdeckt, heraufgeholt, geherzt und ihrem Mann weitergereicht, der ihn auf den Arm nahm. Diese Gesten und „ein paar nette Worte für das kleine Bonn, das ihm gut gefalle“, zeugten von beträchtlichem medialen Geschick der Gorbatschows, die wussten, was „ankam“ und entsprechend handelten.30 Sie verstärkten damit eine bereits bestehende Sympathie und den spontanen Jubel. Die Presseberichterstattung, die dabei auch auf die Umfragen verwies, tat ein Übriges, um den Effekt weiter zu intensivieren : „Der Grad dieser Zuneigung“, so die SZ, „soll alles übersteigen, was in anderen Ländern regis26 „Herr Gorbatschow, wie soll das gemeinsame Haus denn aussehen ?“ In : FR vom 14. 6. 1989. 27 Udo Bergdoll, Kursbestimmung bei Kerzenschein. In : SZ vom 13. 6. 1989. 28 Bernt Conrad u. a., Die Schüler vom Don sorgten für das erste Lachen. In : Die Welt vom 13. 6. 1989; ähnlich Martin Winter, Zeit für gute Worte und Händeschütteln. In : FR vom 13. Juni 1989. 29 Horst Schreiter - Schwarzenfeld, „Gorbi“ hält ganz Bonn in Trab. In : FR vom 14. 6. 1989; Bernhard Küppers, Der Gast auf einer Woge der Zuneigung. In : SZ vom 14. 6. 1989. Während in dem FR - Artikel von 4–5 000 Menschen die Rede ist, waren es laut FAZ nur mehrere Hundert : Günter Bannas, Fensterplätze sind teurer als in Zeiten des Karnevals. In : FAZ vom 14. 6. 1989. 30 Manfred Rowold, Statt Ruski, geh heim, hallte es nur Gorbi, Gorbi, Gorbi. In : Die Welt vom 14. 6. 1989.

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triert worden ist.“31 Die „Gorbimanie“ beruhte daher auf einer Mischung aus medialer Vorbereitung und Inszenierung sowie spontaner Begeisterung. Das Ausmaß der Begeisterung überraschte wiederum die sowjetischen Gäste: Die Aufnahme durch die Bonner beschrieb Gobatschow als „ein kleines Wunder“, und nach dem Auftritt vor der Hoesch - Belegschaft in Dortmund bekundete er, „eine gewaltige Sympathie gespürt [ zu haben ], ‚eine Bewegung der Seele‘“.32 Gegenüber Genscher betonte Außenminister Schewardnadse, dass die Begrüßung durch die Bevölkerung „außerordentlich bewegend [ sei ] : man spüre die Aufrichtigkeit und Herzlichkeit der Menschen, es gebe geradezu eine Seelenbewegtheit.“ Die Aufnahme „sei so überwältigend, als habe es jenen schrecklichen Krieg gar nicht gegeben“, die „Herzlichkeit [...] sei bis zu Tränen rührend“.33 Der emotionale Überschwang wurde von Gorbatschow und seinem Außenminister offensichtlich erwidert; wenngleich medial vorbereitet und inszeniert, schien die Begegnung mit den Westdeutschen eine Beziehung zu stiften, die sich nicht nur auf das Politische beschränkte. Die „Gorbimanie“ der Westdeutschen wurde höchst unterschiedlich gedeutet. Gorbatschow selbst interpretierte sie – seinem Berater Andrei Gratschow zufolge – als Unterstützung für seine Reformpolitik in der Sowjetunion. Sein Begleiter Nikolai Portugalow hatte indes eine andere Erklärung : Die Deutschen erwarteten von Gorbatschow „eine Lösung ihres nationalen Problems“, was diesen wiederum erstaunt haben soll.34 Nur „Die Welt“ war von der „merkwürdige[ n ], durch die nur massenpsychologisch fassbaren innenpolitischen Stimmungsschwankungen beeinflusste[ n ] deutsche[ n ] Begeisterung für einen einzelnen kommunistischen Mann aus dem kommunistischen Osten“ befremdet.35 Die SZ hingegen formulierte sehr viel positiver : „Er ist ein Visionär und verdankt [...] seine Popularität und Glaubwürdigkeit der Sehnsucht der Menschen nach einer besseren, menschenwürdigeren Welt.“36 Dies war auch die Deutung von Politikern aus allen Lagern, die am 16. Juni im Bundestag über eine Erklärung der Bundesregierung zum Gorbatschow - Besuch debattierten. So drückten Volker Rühe ( CDU ) zufolge die Fernsehbilder der herzlichen Aufnahme Gorbatschows „die berechtigten Hoffnungen und Erwartungen der Menschen auf eine bessere Zukunft in Europa aus“. Was an Gorbatschow fasziniere, habe „damit zu tun, dass er sich so grundsätzlich von seinen Vorgängern unterscheidet“ und „Hoffnung auf Änderung des Stalinismus und des sowjeti31 Bernhard Küppers, Der Gast auf einer Woge der Zuneigung. In : SZ vom 14. 6. 1989. 32 Horst Schreiter - Schwarzenfeld, „Gorbi“ hält ganz Bonn in Trab. In : FR vom 14. 6. 1989; Michael Birnbaum, „Wir zwingen die Perestroika niemandem auf“. In : SZ vom 16. 6. 1989. 33 Gespräch Genscher - Schewardnadse am 14. 6. 1989. In : Andreas Hilger ( Hg.), Diplomatie für die deutsche Einheit. Dokumente des Auswärtigen Amts zu den deutsch - sowjetischen Beziehungen 1989/90, München 2011, S. 22. 34 Vgl. Andrei Grachev, Gorbachev’s Gamble. Soviet Foreign Policy and the End of the Cold War, Cambridge 2008, S. 135 f. 35 Joachim Neander, Die deutsche Verantwortung. In : Die Welt vom 14. 6. 1989. 36 Dieter Schröder, Das deutsche Sonderinteresse. In : SZ vom 14. 6. 1989.

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schen Kommunismus“ wecke. Für Genscher war die Spontaneität des Empfangs Ausdruck „des Respekts vor einem mutigen Mann, dem man Vertrauen entgegenbringt; aber sie offenbarte auch die tiefe Friedenssehnsucht unseres Volkes und seinen Wunsch nach Aussöhnung mit den Völkern der Sowjetunion.“ Egon Bahrs ( SPD ) Deutung ging in eine ähnliche Richtung : „In der Sympathie für Gorbatschow vereinen sich Wunsch und Vertrauen auf ein Ende der Bedrohung aus dem Osten.“ Und für Helmut Lippelt ( Grüne ) wurde in der überwältigenden Zustimmung für Gorbatschow „der Wunsch nach einer besseren Zukunft, nach Überwindung der alten Feindbilder, nach Überwindung der Militärblöcke, der gegenseitigen Bedrohung, der Überrüstung, der Abgrenzung und der geschlossenen Grenzen sehr deutlich.“37 Was für Lippelt in besonderem Maße galt, lässt sich also auch für die anderen Redner konstatieren : Sie projizierten ihre Zukunftsvisionen in ihre Interpretation der „Gorbimanie“ hinein, um zu verdeutlichen, dass sie genau dieselben Wünsche hegten, die sie gemeinsam mit dem neuen Helden aus dem Osten umsetzen wollten. Die offene deutsche Frage wurde während des Besuches durchaus angesprochen, allen voran von Bundeskanzler Kohl in seiner Tischrede am 12. Juni : „Das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen in Ost und West ist ungebrochen. Die fortdauernde Teilung empfinden wir wie eine offene Wunde.“ Gorbatschow ging darauf in seiner Entgegnung nicht weiter ein, wünschte dann aber in seinem Toast „dem Volk der Bundesrepublik Wohlergehen und Gedeihen“ – vom deutschen Volk hütete er sich zu sprechen. Damit hatten beide Seiten ihre Auffassungen zu Protokoll gegeben. Die Welt sprach von „notwendige[ n ] Worte[n ]“ Kohls; die SZ hatte jedoch Recht, wenn sie der damit angeschnittenen deutschen Frage „nur eine Nebenrolle“ zuschrieb.38 Kohl und Genscher war zwar klar, dass Gorbatschow kein deutschlandpolitisches Angebot mitbrachte; das verhinderte freilich nicht dass Kohls Gedanken, wie die FAZ schrieb, „auf Deutschland“ zielten. Freilich stelle er dabei „zunächst Menschenrechte und weniger ‚territoriale Fragen‘“ in den Mittelpunkt.39 Ähnlich formulierte es kurz nach dem Besuch Kanzlerberater Horst Teltschik.40 In seinen Erinnerungen schreibt Kohl indes von einem „Schlüsselerlebnis“ mit Gorbatschow am Abend des 14. Juni. Bei einem Spaziergang am Rhein habe er von der Notwendigkeit gesprochen, mit der dieser Fluss zum Meer fließe; genauso zwangsläufig sei die Entwicklung zur deutschen Einheit, deren Zustandekommen Gorbatschow nicht verhindern könne : „Aber so sicher wie der Rhein zum Meer fließt, so sicher wird die deutsche Einheit kommen – und auch die europäische Einheit.“ Gorbatschow habe zwar nichts darauf erwidert, 37 Stenographischer Bericht. Hg. vom Deutschen Bundestag, 11. WP, 16. 6. 1989, S. 11194, 11206, 11202, 11197. 38 Die Zitate von Kohl und Gorbatschow. In : Gorbatschow in Bonn, S. 10, 22; Bernt Conrad, Mahnung an den Gast. In : Die Welt vom 13. 6. 1989; Udo Bergdoll, Kursbestimmung bei Kerzenschein. In : SZ vom 13. 6. 1989. 39 Claus Gennrich, Was von dem Besuch bleibt. In : FAZ vom 15. 6. 1989. 40 Horst Teltschik, Die Reformpolitik Gorbatschows und die Perspektiven der West - Ost Beziehungen. In : Außenpolitik, 40 (1989), S. 211–225, hier 223.

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aber Kohl ging davon aus, dass ab diesem Zeitpunkt „bei Gorbatschow ein Prozess des Umdenkens“ eingesetzt habe.41 Dass dieses Gespräch so stattgefunden hat, ist freilich mehr als zweifelhaft. Denn als Quelle dafür gibt es nur die Memoiren Kohls; überdies hat der dabei anwesende Dolmetscher und enge Berater Gorbatschows, Wadim Sagladin, bestritten, dass die Frage der Wiedervereinigung angesprochen wurde.42 Bemerkenswert war vielmehr eine Äußerung Schewardnadses vom 12. Juni gegenüber Genscher, in der er sich zunächst über den Appell Bushs zum Abriss der Berliner Mauer bei dessen Deutschlandbesuch beschwerte, dann aber von sich aus hinzufügte : „Auch die Berliner Mauer werde fallen, wenn dafür die Zeit reif sei. Dazu bedürfe es aber einer gewissen Atmosphäre des Vertrauens.“43 Das war zwar nur eine unverbindliche Formulierung, aber Genscher zog seinen Memoiren zufolge daraus die Schlussfolgerung, „dass Moskau die Zeichen der Zeit längst erkannt hatte“ und im Hinblick auf die weitere Entwicklung für Europa und Deutschland keine Illusionen hegte. Gorbatschow und Schewardnadse „traten für Demokratisierung ein, und das bedeutete die Überwindung der Teilung“.44 Für die Öffentlichkeit relevant waren neben der Gemeinsamen Erklärung mit ihren Ausführungen zum Selbstbestimmungsrecht jedoch noch zwei Aussagen Gorbatschows bei der abschließenden Pressekonferenz vom 15. Juni. Was das vereinigte Aufgehen der beiden deutschen Staaten „in der europäischen Identität und Gemeinsamkeit“ anging, so verwies Gorbatschow zunächst auf den Status quo in Europa, auf dessen Basis sich jedoch „der Prozess im Zusammenhang mit Helsinki und die anderen Prozesse“ vollzögen. Und er fuhr fort : „Wir hoffen darauf, dass die Zeit selbst verfügen wird über das weitere.“ Auf Nachfrage äußerte er sich zur Berliner Mauer ganz ähnlich wie Schewardnadse gegenüber Genscher : „Die Mauer ist entstanden in einer bestimmten realen Situation. Die DDR hat das beschlossen, indem sie ihre souveränen Rechte genutzt hat, und die Mauer kann auch verschwinden, wenn jene realen Voraussetzungen verschwunden sind, die sie ins Leben gerufen haben. Ich sehe hier eigentlich kein großes Problem.“45 In Kombination mit der Gemeinsamen Erklärung wurden diese Aussagen unterschiedlich gedeutet. Joachim von Arnim, Leiter der politischen Abteilung an der bundesdeutschen Botschaft in Moskau, kam, wie er nachträglich schrieb, 41 Helmut Kohl, Erinnerungen 1982–1990, München 2005, S. 889–891. 42 Vgl. Hans - Dieter Heumann, Genscher. Die Biographie, Paderborn 2012, S. 253; Grachev, Gorbachev’s Gamble, S. 136; Hans - Peter Schwarz, Helmut Kohl. Eine politische Biographie, München 2012, S. 516, erwähnt diese Episode nur implizit, indem er Kohls Annahme, „Gorbatschow sei von ihm in Sachen deutscher Einheit zur Nachdenklichkeit gebracht worden“, als voreilig bezeichnet. 43 Gespräch Genscher - Schewardnadse vom 12. 6. 1989. In : Hilger ( Hg.), Diplomatie, S. 19 f. 44 Hans - Dietrich Genscher, Erinnerungen, Berlin 1995, S. 628, 630. 45 Wir haben die Seiten eines großen Kapitels in unserer Geschichte aufgeblättert. In : Die Welt vom 16. 6. 1989.

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„in diesen Tagen aus dem Staunen nicht heraus“ und interpretierte die Äußerung Gorbatschows „als eine Relativierung der Zukunft der Mauer“.46 Er befand sich damit auf einer ähnlichen Linie wie die „Bild“ - Zeitung, die behauptete : „Die Mauer wackelt ( ein bisschen ).“47 „Die Welt“ fragte plakativ : „Wann fällt die Mauer ?“ Der differenziert argumentierende Artikel unter dieser Überschrift stellte fest, dass „in der sowjetischen Führung wieder über Deutschland, über die deutsche Frage nachgedacht wird“, ohne „dass die Wiedervereinigung akut ist“. Die Debatte über Deutschland sei zwar „wieder in Bewegung gekommen“, in der jetzigen Situation sei Gorbatschow aber „am Status quo in Deutschland gelegen“.48 Ähnlich äußerte sich die SZ, der zufolge die deutsche Frage „gerade jetzt nicht akut“ sei, aber künftig „in einen anderen historischen Rahmen“ gestellt werden könne : „Alles ist im Fluss.“49 Karl Feldmeyer gab sich in der FAZ eher skeptisch : Die deutsche Frage habe bei dem Besuch eine bescheidene Rolle gespielt. Der Passus zum Selbstbestimmungsrecht in der Gemeinsamen Erklärung sei überdies alles andere als eindeutig, da dort neben den Völkern auch den Staaten das Recht zugestanden werde, „das eigene und soziale System frei zu wählen“, was wiederum den Grundsatz, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker uneingeschränkt zu achten sei, relativiere. Auch in der Bewertung zahlreicher Politik - und Ostwissenschaftler dominierte die Skepsis : Gorbatschows Äußerung zur Mauer decke sich „wortwörtlich mit der Honeckers vom Anfang des Jahres 1989“.50 Überdies, so eine weitere Stimme, seien „die sowjetischen Äußerungen zur Zukunft Deutschlands und zur Mauer [...] bewusst undeutlich und zwiespältig“ geblieben, woraus der Schluss gezogen wurde, dass Moskau „den nationalen und vor allem den territorialen Aspekt der deutschen Frage weiterhin nicht aufgeworfen sehen“ wolle.51 Die deutsche Frage bildete letztlich auch den Hintergrund für Nachfragen oder Aussagen hinsichtlich der DDR während des Besuchs von Gorbatschow. Sowohl Kohl als auch Genscher sprachen die Notwendigkeit von Reformen in der DDR gegenüber Gorbatschow bzw. Schewardnadse an. Gorbatschow verwies in seiner Antwort lediglich darauf, dass Moskau sich nicht einmischen werde, da für die sowjetischen Bündnispartner die Regel gelte : „Jeder ist für sich 46 Joachim von Arnim, Zeitnot. Moskau, Deutschland und der weltpolitische Umbruch, Bonn 2012, S. 164, 166. 47 Hans - Peter Bartels / Hans - Hermann Tiedje, Gorbatschow und der 17. Juni. In : Bild vom 16. 6. 1989. 48 Manfred Schell, Wann fällt die Mauer ? In : Die Welt vom 16. 6. 1989. 49 Josef Riedmiller, Gorbatschow braucht jetzt Kapital. In : SZ vom 16. 6. 1989. 50 Fred Oldenburg, Vier Tage im Juni 1989 – Gorbatschow in Bonn. In : Osteuropa, 39 (1989), S. 981–994, hier 985; ähnlich Gerhard Wettig, Die Deutsche Frage in der sowjetischen Politik. In : Außenpolitik, 41 (1990), S. 38–51, hier 45. Honecker hatte am 19. 1. 1989 gesagt, die Mauer werde „so lange bleiben, wie die Bedingungen nicht geändert werden, die zu ihrer Errichtung geführt haben“ und ihr noch eine 50 - oder 100jährige Existenz zugesprochen : Neues Deutschland vom 20. 1. 1989. 51 Magarditsch A. Hatschikjan / Wolfgang Pfeiler, Deutsch - sowjetische Beziehungen in einer Periode der Ost - West - Annäherung. In : Deutschland Archiv, 22 (1989), S. 883– 889, hier 888.

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selbst verantwortlich.“52 Für Kohl wurde dadurch dessen „Distanz zur DDR [...] deutlich“.53 Schewardnadse antwortete ähnlich, sagte aber immerhin, dass die DDR wohl „in der Menschenrechtspolitik etwas beherzter handeln“ könne.54 Hatten Kohl und Genscher gegenüber ihren Gesprächspartnern in diesem Zusammenhang jeden Bezug auf die deutsche Frage vermieden und sogar betont, dass sie nichts tun wollten, was die Lage in der DDR destabilisiere, stellten die Äußerungen im Deutschen Bundestag einen Zusammenhang zwischen den notwendigen Reformen in der DDR, dem Zusammenwachsen Europas und einer Lösung der deutschen Frage her. Bahr hielt freilich an der Zweistaatlichkeit fest, wenn er ausdrücklich hervorhob, dass der von Gorbatschow gezogene Schlussstrich unter die Vergangenheit zwei Staaten vorfinde, die bei der Formulierung gemeinsamer Interessen gute Chancen hätten, „ihre Bündnispartner zu überzeugen“. Sein Parteifreund Karsten Voigt ging weiter, wenn er die Reformfeindlichkeit der DDR - Führung bedauerte und überdies formulierte: „Man kann nicht die Spaltung Europas überwinden und die Spaltung Deutschlands in der bisherigen Form aufrechterhalten.“ Die Überwindung der deutschen Teilung könne jedoch auch in der „Form der Zweistaatlichkeit“ erfolgen, wie er etwas widersprüchlich hinzufügte. Ganz anders Volker Rühe, der zwar auch davon ausging, dass „die Überwindung der Trennung Europas [...] auch zu einer Überwindung der Trennung Deutschlands“ führen werde. Die DDR könne sich „auf Dauer nicht schützen gegen den Ostwind, d. h. die Perestroika Gorbatschows, und gegen den Westwind, d. h. die Faszination der westlichen Demokratie“. Die Deutschen in der DDR würden daher früher oder später „die gleichen Rechte einfordern, wie sie den Polen und Ungarn nunmehr zugestanden werden“.55 Wenngleich die Parteiräson durch Rühes Gedankengänge hindurchschimmerte, waren dies in Anbetracht der Ereignisse, die der DDR 1989/90 bevorstanden, geradezu prophetische Worte. Der Besuch wurde fast durchgehend positiv bewertet. Horst Teltschik traf eine weit verbreitete Stimmung, als er schrieb, dass damit nicht nur, wie geplant, ein „neues Kapitel“ in den deutsch - sowjetischen Beziehungen aufgeschlagen worden sei, sondern dass diese auch eine „neue Qualität“ gewonnen hätten.56 Damit stand in engem Zusammenhang, dass so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Kohl und Bahr vor allem ein neues Vertrauensverhältnis für herge-

52 Gespräch Gorbatschow - Kohl, 12. 6. 1989. In : Aleksandr Galkin / Anatolij Tschernjajew ( Hg.), Michail Gorbatschow und die deutsche Frage. Sowjetische Dokumente 1986– 1991, München 2011, S. 148. 53 Telefongespräch Kohls mit Bush, 15. 6. 1989. In : Dokumente zur Deutschlandpolitik (DzD ). Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, bearb. von Hanns Jürgen Küsters und Daniel Hofmann, München 1998, S. 300. 54 Gespräch Genscher - Schewardnadse, 12. 6. 1989. In : Hilger ( Hg.), Diplomatie, S. 20 f. 55 Stenographischer Bericht. Hg. vom Deutschen Bundestag, 11. WP, 16. 6. 1989, S. 11203, 11211, 11196. 56 Teltschik, Reformpolitik Gorbatschows, S. 221.

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stellt hielten.57 Überdies sei, wie schon vor dem Eintreffen Gorbatschows vorhergesagt, dadurch das Gewicht der Bundesrepublik in den Ost - West Beziehungen deutlich gestiegen.58 Eine Minderheit wollte jedoch in den allgemeinen Jubel über den Besuch nicht einstimmen. Dazu gehörte der ehemalige Botschafter in Moskau, Jörg Kastl, der schon in der Vergangenheit vor einer Überschätzung Gorbatschows und seiner Reformen gewarnt hatte. Die Gemeinsame Erklärung, so Kastl, enthalte zwar „erhabene Grundsätze“, doch sei für Gorbatschow „die deutsche Frage auf unabsehbare Zeit gelöst“. Kastl warnte vor „Vertrauensseligkeit gegenüber dem Moskauer Reformator“, für dessen Reformen die Bundesrepublik einstweilen genug getan habe, und mahnte, dass vor allem das Verhältnis zu den USA als Hauptverbündetem „Vertrauenspflege“ verlange.59 Der Ostwissenschaftler Fred Oldenburg hielt das Ergebnis des Besuchs für dürftig : So seien in Bonn lediglich „interpretationsbedürftige Formelkompromisse gefunden worden“. Außerdem versuche Moskau „mit seinem Konzept vom ‚gesamteuropäischen Haus‘ [...] insbesondere Bonn unter Druck zu setzen“:60 Auch hier schimmerte, ähnlich wie bei Kastl, die Furcht vor einem Abdriften der Bundesrepublik in Richtung Osten durch.

4.

Der Gorbatschow - Besuch in ostdeutscher Sicht

Kohl und Genscher zufolge brachten auch die Ostdeutschen dem GorbatschowBesuch in Bonn großes Interesse entgegen. Kohl war sich bewusst, dass deren übergroße Mehrheit den Besuch über West - Radio und - Fernsehen verfolgte. Den DDR - Bürgern musste, so Kohl in seinen Memoiren, „in diesem Augenblick doch bewusst sein, dass wir sie nicht abgeschrieben hatten, sondern beharrlich daran arbeiteten, ihnen eine Zukunft in Freiheit zu ermöglichen. Auch deshalb war der Gorbatschow - Besuch ein Signal der Hoffnung für unsere Landsleute in der DDR.“61 Genscher, der kurz vor dem Gorbatschow - Besuch bei den HändelFestspielen Gespräche mit Bürgern seiner Heimatstadt Halle geführt hatte, gab sich im Bundestag sicher, dass „sich die Bürger in beiden deutschen Staaten in ihren Wünschen, in ihren Sehnsüchten und in ihrer Verantwortung selten so

57 Vgl. Telefongespräch Kohls mit Bush, 15. 6. 1989. In : DzD, Deutsche Einheit, S. 300; Bahrs Rede im Bundestag. In : Stenographischer Bericht. Hg. vom Deutschen Bundestag, 11. WP, hier S. 11204. 58 Vgl. die entsprechenden Äußerungen Lambsdorffs und Genschers, ebd., S. 11201, 11207; Gennrich, Was von dem Besuch bleibt. In : FAZ vom 15. 6. 1989. 59 Jörg Kastl, Gorbatschow hat außer Charme nichts zu bieten. In : Die Welt vom 20. 6. 1989. 60 Oldenburg, Vier Tage, S. 994 f. 61 Kohl, Erinnerungen, S. 895; Kohl gegenüber Gorbatschow. In : Galkin / Tschernjajew (Hg.), Gorbatschow, S. 149.

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einig waren, wie in diesen Tagen“. Und er fügte hinzu : „Wie gerne hätten auch die Bürger der DDR Gorbatschow zugejubelt !“62 Der Besuch stieß in der DDR tatsächlich auf erhebliches Interesse, sowohl auf Seiten der Bevölkerung als auch auf Seiten der Führung, die darüber umfassend unterrichtet wurde. Am 19. Juni erhielt Honecker vom sowjetischen Botschafter in Ost - Berlin, Wjatscheslaw Kotschemassow, eine entsprechende Information, die am folgenden Tag vom Politbüro zur Kenntnis genommen wurde und die vor allem die DDR - Führung beruhigen sollte. Die Sowjetunion habe mit dem Besuch „die BRD stärker in den gesamteuropäischen Entspannungs - und Abrüstungsprozess“ einbeziehen wollen und Gorbatschow habe „die ‚unbestreitbaren Verdienste‘ der DDR als ‚stabiler und wachsender Faktor des Helsinki - Prozesses‘“ hervorgehoben. Die Gemeinsame Erklärung trage „Kompromisscharakter“, so dass sie auch Aussagen enthalte, „die die BRD im Sinne ihrer Ziele auszunutzen versucht“, etwa zur Achtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker und der Verwirklichung der Menschenrechte. Aber die Bundesrepublik sei nun „fester in den Prozess der Entspannung und gesamteuropäischen Zusammenarbeit einbezogen“ worden; der Besuch wirke sich positiv auf das Ost - West - Verhältnis aus, „der Antisowjetismus wurde zurückgedrängt“, und es sei „der BRD nicht gelungen, Zugeständnisse der UdSSR hinsichtlich der nationalistischen Ziele der BRD zu erlangen“. Die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion seien im Ergebnis des Besuchs zwar normalisiert worden, aber davon würden alle sozialistischen Staaten profitieren : „Die Bestrebungen der BRD, eine Schlüsselrolle in den Beziehungen zu den sozialistischen Staaten zu spielen, wurden gefördert.“63 Weitere Informationen erhielt Honecker von Gorbatschow persönlich, als er am 28. Juni 1989 auf seiner Reise nach Magnitogorsk einen Zwischenstopp in Moskau einlegte. Auch bei dieser Gelegenheit war der KPdSU - Generalsekretär darauf bedacht, seinen ostdeutschen Kollegen zu beruhigen : So habe er hinsichtlich einer möglichen Vereinigung der beiden deutschen Staaten seinen bekannten Standpunkt vertreten und die DDR angesichts westdeutscher Reformforderungen verteidigt. Überhaupt habe es „während des Besuchs in der BRD keinen Kuhhandel und keine Zugeständnisse seitens der Sowjetunion gegeben“. Honecker bedankte sich zwar für „die von Genossen Gorbatschow geäußerten würdigenden Worte über die DDR und ihre Politik“. Dennoch wiederholte er seine bereits gegenüber Schewardnadse ausgesprochenen Warnungen vor einem Rechtsruck in der Bundesrepublik und vor dem westdeutschen Revanchismus, 62 Stenographischer Bericht. Hg. vom Deutschen Bundestag, 11. WP, 16. 6. 1989, S. 11206 f.; Genscher gegenüber Schewardnadse, 12. 6. 1989. In : Hilger ( Hg.), Diplomatie, S. 21. 63 Information für das SED - Politbüro über den BRD - Besuch von Michail Gorbatschow vom Juni 1989. In : Detlef Nakath / Gerd - Rüdiger Stephan ( Hg.), Countdown zur deutschen Einheit. Eine dokumentierte Geschichte der deutsch - deutschen Beziehungen 1987–1990, Berlin 1996, S. 184–188; Protokoll der Sitzung des Politbüros am 20. 6. 1989, TOP 2 ( SAPMO - BArch, DY 30, JIV 2/2/2333).

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der „weiter von der Existenz des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937“ ausgehe.64 Hinter diesen gebetsmühlenhaft wiederholten Beschwörungen Honeckers standen zum Teil seine Bedenken angesichts der permanenten Herausforderung durch die Bundesrepublik, die am Alleinvertretungsanspruch festhielt, zum Teil aber auch seine Sorge vor einem zu engen Schulterschluss zwischen Moskau und Bonn : Gorbatschow sollte von seinem deutschlandpolitischen Kurs, der die DDR in die Isolation zwischen Ost und West zu treiben drohte, abgebracht werden.65 Ein Analyse des Gorbatschow - Besuchs aus der Abteilung Sowjetunion des DDR - Außenministeriums ging in eine ähnliche Richtung. Darin hieß es, dass „das Auftreten der BRD stets unter dem Gesichtspunkt der Einflussnahme auf die DDR erfolgte“. Die „herrschenden Kreise der BRD“ würden daher der Gemeinsamen Erklärung ihre eigene Interpretation zugrundelegen und anstreben, „revanchistische Ambitionen gegenüber der DDR durchzusetzen“. Überdies sei zu erwarten, „dass die Beziehungen UdSSR - BRD weiter an Dynamik gewinnen“, woraus „sich eine Reihe von Rückwirkungen auf die DDR“ ergäben.66 Welcher Art diese Konsequenzen waren, ging aus einem Papier der für Auslandsspionage zuständigen Hauptverwaltung A des MfS hervor, die im August 1989 über eine Analyse der „‚deutschlandspezifischen‘ und europapolitischen Aspekte in der sowjetischen Außenpolitik“ aus dem Bonner Regierungsapparat informierte. Weder in der Berlin - noch in der Deutschlandpolitik habe es beim Gorbatschow - Besuch grundlegende Neuerungen in der sowjetischen Politik gegeben, die weiterhin auf einer Anerkennung des Status quo bestehe – neu sei lediglich, dass das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen nicht mehr prinzipiell geleugnet werde. „Gewichtiger“ sei jedoch „die Verlagerung der sowjetischen Priorität im Hinblick auf die beiden deutschen Staaten“ : Aufgrund der veränderten „sowjetischen Bedürfnisse und Interessenlage könne die UdSSR von der BRD Nützlicheres erwarten als von der DDR“. Dies bedeutet zwar eine Rückstufung der DDR „im Beziehungsdreieck BRD - UdSSR - DDR“, nicht aber deren Preisgabe.67 Eine akute Gefahr, vom „großen Bruder“ aufgegeben zu werden, betand demnach nicht für die DDR; aber sie hatte gegenüber der Bundesrepublik erheblich an Gewicht verloren.

64 Niederschrift des Arbeitstreffens Honecker - Gorbatschow am 28. 6. 1989. In : Daniel Küchenmeister ( Hg.), Honecker - Gorbatschow Vieraugengespräche, Berlin 1993, S. 208–239, hier 219 f., 225, 230. 65 Vgl. Hermann Wentker, Öffnung als Risiko : Bedrohungsvorstellungen der DDR - Führung infolge der Ost - West - Entspannung. In : Torsten Diedrich / Walter Süß ( Hg.), Militär und Staatssicherheit im Sicherheitskonzept der Warschauer - Pakt - Staaten, Berlin 2010, S. 310 f. 66 Information der Hauptabteilung II zu Meinungen in der Abteilung SU im MfAA zum Besuch Gorbatschows in der BRD vom 28. 6. 1989 ( BStU, ZAIG, Nr. 6353, Bl. 2). 67 Information über „deutschlandspezifische“ und europapolitische Aspekte in der Politik der UdSSR aus BRD - Sicht vom 14. 8. 1989 ( BStU, HVA, Nr. 644, Bl. 121–123, die Zitate Bl. 121 und 123).

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Die Berichterstattung über den Gorbatschow - Besuch war sowohl im Fernsehen als auch in der Presse der DDR spärlich; die Meldungen im ND enthielten zwar Spitzen gegen Bundeskanzler Kohl, waren aber alles in allem korrekt. Die Gemeinsame Erklärung wurde genauso abgedruckt wie Gorbatschows Äußerungen zur Möglichkeit einer Wiedervereinigung und zur Berliner Mauer auf der Pressekonferenz vom 15. Juni.68 Das Ost - Berliner Regime deutete den Besuch freilich auf eigene Weise : Der Sprecher des Außenministeriums, Wolfgang Meyer, sah darin zwar einen „bedeutenden Beitrag für die Bewahrung und Stabilisierung des Friedens in Europa“, hielt aber in der Gemeinsamen Erklärung „das Bekenntnis zur Achtung der territorialen Integrität, Souveränität und Sicherheit eines jeden Staates, zum Recht aller Staaten auf die freie Wahl ihres Gesellschaftssystems und zur Achtung der Normen des Völkerrechts“ für besonders bedeutsam.69 Das Wort „Souveränität“ hatte er hinzugefügt, und die „Völker“ als Subjekte der Wahlfreiheit weggelassen. In eine ähnliche Richtung ging der im ND ebenfalls abgedruckte Bericht des Politbüros an die achte Tagung des ZK der SED vom 22. Juni. Darin wurde auch eine „offizielle Feststellung des Politbüros des ZK der KPdSU“ zitiert, die betonte, dass das sowjetisch - westdeutsche Verhältnis auf dem Moskauer Vertrag und „auf Festhalten an der entstandenen Nachkriegsordnung und der Unverletzlichkeit der Grenzen basiert“. Diese Feststellung, so der Bericht, „ist eindeutig und lässt für Spekulationen irgendwelcher Art, sei es auch in Regierungserklärungen Bonns, keinen Raum“.70 Anders als Gorbatschow konnte sich die DDR hier keinerlei Zugeständnisse leisten. Die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ost Berlin folgerte aus dem Politbürobericht, „dass die DDR mit den Ergebnissen des Gorbatschow - Besuchs in der Bundesrepublik auf kurze Sicht gut leben“ könne, fügte aber hinzu : „Unüberhörbar sind indessen [...] Befürchtungen, dass sich der Normalisierungsprozess zwischen der UdSSR und der Bundesrepublik Deutschland letztlich zu Lasten der DDR auswirken könnte.“71 Doch wie bewertete die DDR - Bevölkerung den Besuch Gorbatschows in der Bundesrepublik ? Dazu geben vor allem die Akten der Zentralen Auswertungs und Informationsgruppe ( ZAIG ) sowie andere Akten des MfS Auskunft, in denen über die Stimmung der Bevölkerung berichtet wurde. Insbesondere die ZAIG - Akten sind zwar sowohl von der geheimpolizeilichen Suche nach politisch abweichendem Verhalten als auch vom Bedürfnis der MfS - Berichterstatter geprägt, „ihre besondere ‚Parteiergebenheit‘ und politisch ideologische Festigkeit unter Beweis zu stellen“, bieten jedoch trotz ihrer Unvollständigkeit und Einseitigkeit aufschlussreiche Einblicke in Stimmungen und Einstellungen

68 Gemeinsame Erklärung BRD - UdSSR. In : ND vom 14. 6. 1989; Pressekonferenz Michail Gorbatschows zu seinem Besuch in der BRD. In : ND vom 16. 6. 1989. 69 DDR unterstützt Ergebnisse des Besuchs Michail Gorbatschows in der BRD. In : ebd. 70 Aus dem Bericht des Politbüros an die 8. Tagung des Zentralkomitees der SED, Berichterstatter : Joachim Herrmann. In : ND vom 23. 6. 1989. 71 Fernschreiben aus Ständiger Vertretung an AA, 23. 6. 1989 ( PA AA, ZA 151640E ).

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der ostdeutschen Gesellschaft.72 Dass die Ermittlung der Bevölkerungsstimmung ein zielgerichteter Prozess war, zeigt ein Fragenkatalog der Auswertungsund Kontrollgruppe ( AKG ) vom 5. Juni zum bevorstehenden Gorbatschow Besuch. Neben allgemeinen Fragen zu Umfang und Schwerpunkten der öffentlichen Diskussionen, zu Personenkreisen und Erwartungshaltungen erhielt er die Aufforderung, auf „Meinungen im Zusammenhang mit westlichen Spekulationen über die ‚Beseitigung der Mauer‘ und eine mögliche ‚Wiedervereinigung‘“ besonders zu achten – ein Hinweis auf die aus Sicht des MfS möglicherweise zu erwartenden, besonders problematischen Reaktionen.73 Einem zusammenfassenden, die ganze DDR betreffenden ZAIG - Bericht zufolge übte fast die ganze Bevölkerung Kritik an der mangelhaften medialen ostdeutschen Berichterstattung über den Gorbatschow - Besuch, so dass man „gezwungen gewesen [ sei ], Sendungen westlicher Medien zu verfolgen, um sich genauer zu informieren“. Von gegenüber der DDR loyal eingestellten Personen sei dies als Versuch bewertet worden, „die politische Bedeutung dieses Staatsbesuches abzuschwächen“, vereinzelt aber auch „als Ausdruck eines grundsätzlich zurückhaltenden Standpunktes der SED zur Politik der Umgestaltung insgesamt, insbesondere aber zur Position des Gen. Gorbatschow zur sogenannten innerdeutschen Situation“.74 Die „Gorbimanie“ in der Bundesrepublik kam für die Ostdeutschen offenbar unerwartet – sie wurde mit Überraschung, Erstaunen, Genugtuung, aber auch mit Unbehagen registriert. Die Erklärung dafür gaben einige Ost - Berliner : Man habe mit einer solchen Reaktion der Westdeutschen nicht gerechnet, weil Gorbatschow doch „Generalsekretär einer kommunistischen Partei eines sozialistischen Landes“ sei.75 Viele Ostdeutsche, so lässt sich daraus schließen, hätten Gorbatschow zwar auch zugejubelt, konnten sich aber nicht vorstellen, dass dieser in der Bundesrepublik genauso populär war wie in der DDR. Sie sahen in der Begeisterung zunächst schlicht einen Ausdruck der Sympathie beziehungsweise der persönlichen Wertschätzung für Gorbatschow, darüber hinaus aber auch ein Ergebnis der „konsequenten Friedenspolitik“ und der „weitreichenden Abrüstungsvorschläge“ der Sowjetunion.76 Die leitenden Angestellten der Berliner Bezirksdirektion der Deutschen Post registrierten überdies „mit viel Erstaunen“ die riesige mediale Aufmerksamkeit, die dem Besuch in der Bundesrepublik entgegengebracht wurde; außerdem bemerkten sie, dass Gorbatschow durch seine „sehr viele[ n ] Aktivitäten außerhalb des Protokolls“ danach 72 So Daniela Münkel, Vorwort. In : Die DDR im Blick der Stasi 1988. Die geheimen Berichte an die SED - Führung, bearb. von Frank Joestel, Göttingen 2010. 73 AKG an Leiter der Diensteinheiten, 5. 6. 1989 ( BStU, BV Berlin, AKG, Nr. 4056, Bl. 226 f.). 74 ZAIG - Bericht vom 26. 6. 1989 ( BStU, ZAIG, Nr. 5352, Bl. 135 f.). 75 Information der AKG über Stimmungen und Meinungen unter Bürgern der Hauptstadt der DDR, Berlin vom 19. 6. 1989 ( BStU, BV Berlin, AKG, Nr. 4056, Bl. 114). 76 Ebd.; Information der AKG über Reaktionen unter Bürgern der Hauptstadt der DDR, Berlin, vom 3. 7. 1989 ( BStU, BV Berlin, AKG, Nr. 4056, Bl. 110).

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strebte, sein persönliches Ansehen zu erhöhen – die mediale Inszenierung seiner eigenen Person entging diesen Ost - Berlinern offensichtlich nicht.77 Was Äußerungen Gorbatschows im Hinblick auf die offene deutsche Frage sowie die Berliner Mauer betrifft, so kritisierten laut dem zusammenfassenden ZAIG - Bericht „mehrheitlich progressive Kräfte“, dass dieser Aussagen Kohls und von Weizsäckers zum „Wiedervereinigungsgebot“ kommentarlos hingenommen und keine deutliche Gegenposition bezogen habe; begründet wurde dieses Verhalten von einigen „Angehörigen der Intelligenz“ mit den Kompromissen, die Gorbatschow habe eingehen müssen, um für die Sowjetunion wichtige bilaterale Abkommen nicht zu gefährden.78 Ein anderer Bericht hingegen vermerkt, dass die Berliner Bevölkerung mit „Genugtuung“ die Äußerungen Gorbatschows zu den deutschlandpolitisch relevanten Fragen aufgenommen habe : „Sie wären eine deutliche Absage gegenüber Wunschvorstellungen politischer Kreise in der BRD in Richtung Beseitigung der Grenzsicherungsanlagen der DDR zu Berlin ( West ) und Wiedervereinigung.“79 In einer weiteren Akte heißt es, dass es im Reichsbahnamt Berlin „einige spekulative Erwartungen zu Fragen der Menschenrechte, Beseitigung der Grenzsicherungsanlagen, des Reiseverkehrs und der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten“ gegeben habe – diese Beschäftigten seien jedoch „überwiegend politisch desinteressiert [ und ] orientierten sich nur an westlichen Medien und deren Argumenten“.80 Die Unterschiedlichkeit dieser Aussagen ist letztlich auf die Autoren der Berichte zurückzuführen, die gerade bei diesen sensiblen Fragen bestrebt waren, vor allem „politisch korrekte“ Antworten weiterzugeben; davon abweichende Meinungen wie die aus dem Reichsbahnamt Berlin konnten nur notiert werden, wenn deren Urheber als unzuverlässig hingestellt wurden. Vor diesem Hintergrund lässt sich schwer einschätzen, inwieweit diese Aussagen repräsentativ waren. Im Hinblick auf die Auswirkungen des Gorbatschow - Besuchs auf das Beziehungsdreieck Sowjetunion - Bundesrepublik - DDR ist dessen grundsätzlich positive Bewertung auffällig. Dieser sei bedeutsam für die „weitere Durchsetzung der Politik der friedlichen Koexistenz“; die Gemeinsame Erklärung werde das westdeutsch - sowjetische Verhältnis weiter normalisieren.81 Gleichzeitig erhofften sich viele offensichtlich auch positive Auswirkungen auf das deutsch - deutsche Verhältnis, vor allem eine weitere Verbesserung des Reiseverkehrs von Ost nach West.82 Von den DDR - loyalen Kräften wurde überdies die Auffassung ver77 Bericht der Abt. XIX über die Stimmung und Reaktion der Bevölkerung vom 19. 6. 1989 ( BStU, BV Berlin, Abt. XIX, Nr. 11219, Bl. 117). 78 ZAIG - Bericht vom 26. 6. 1989 ( BStU, ZAIG, Nr. 5352, Bl. 136–138). 79 Information der AKG über Reaktionen unter Bürgern der Hauptstadt der DDR, Berlin vom 3. 7. 1989 ( BStU, BV Berlin, AKG, Nr. 4056, Bl. 110). 80 Bericht der Abt. XIX über die Stimmung und Reaktion der Bevölkerung vom 19. 6. 1989 ( BStU, BV Berlin, Abt. XIX, Nr. 11219, Bl. 118). 81 ZAIG - Bericht vom 26. 6. 1989 ( BStU, ZAIG, Nr. 5352, Bl. 136 f.) 82 Ebd., Bl. 137 f.; Abt. XIX, Reaktion zum Besuch des Gen. Gorbatschow in der BRD vofm 13. 6. 1989 ( BStU, BV Berlin, Abt. XIX, Nr. 11219, Bl. 123); Information der AKG

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treten, die Sowjetunion habe mit der Gemeinsamen Erklärung die DDR „,links‘ überholt und brauche nun nicht mehr argwöhnisch die Entwicklung der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten zu beobachten“. Wichtiger waren indes die Auswirkungen der mit dem Besuch intensivierten westdeutschsowjetischen Wirtschaftsbeziehungen. Die Sowjetunion sei letztlich aus wirtschaftlichen Gründen „gezwungen, sich ‚dem Westen zu öffnen‘, weil kein sozialistisches Land – auch nicht die DDR – in der Lage sei, die erforderliche Unterstützung zu geben“. Dies wiederum könne zu einer „,Abkopplung‘ der DDR führen“ – etwa bei der Belieferung der DDR - Wirtschaft mit Rohstoffen. Überdies wurden auch Befürchtungen registriert, „dass seitens der UdSSR im Interesse der ökonomischen Unterstützung aus dem N[ icht ]S[ ozialistischen ]A[usland ] die Bereitschaft vorhanden sei, auch politische Zugeständnisse, die nicht den Interessen der DDR entsprechen, zu machen.“83 Einige offensichtlich regimetreue Ost - Berliner warfen zudem, auch weil ein Kurzbesuch Gorbatschows in der DDR auf dessen Rückreise nach Moskau ausblieb, folgende besorgte Fragen auf : „Wird uns der große Bruder untreu ?“ „Was versteht Gorbatschow unter Selbstbestimmungsrecht der Völker ?“ „Unterstützt er nicht die Wiedervereinigungsbestrebungen der BRD ?“ „Können wir unsere eigene DDR - Politik weiter fortsetzen ?“84

5.

Fazit

Gorbatschow genoss in beiden deutschen Staaten hohes Ansehen. Im Juni 1989 wurde dies in der Bundesrepublik durch die Ausbrüche von „Gorbimanie“ unübersehbar zum Ausdruck gebracht. Wenige Monate später, am 7. Oktober 1989, wurde dies auch in Ost - Berlin überdeutlich, als 3 000 Menschen bei ihrer Gegendemonstration gegen die Militärparade zum 40. Geburtstag der DDR skandierten : „Gorbi, Gorbi“, „Wir sind das Volk“ und „Gorbi, hilf uns“.85 In der Bundesrepublik beruhte die Euphorie auf einer Mischung aus spontaner Begeisterung und medialer Inszenierung, die zum Teil auf Gorbatschow selbst zurückzuführen war. In der DDR wurde diese mediale Inszenierung zwar wahrgenommen; hier war Gorbatschow jedoch, wie die Parolen vom 7. Oktober zeigen, in sehr viel unmittelbarerem Sinne ein Hoffnungsträger, von dem sich die Menschen eine Änderung der eigenen Lebensumstände versprachen. Die Begeisterung für Gorbatschow in Ost und West wurde zudem höchst unterüber erste Reaktionen von Bürgern der Hauptstadt der DDR, Berlin, auf den Besuch des Generalsekretärs des ZK der KPdSU, Genossen Michail Gorbatschow, in der BRD vom 14. 6. 1989 ( BStU, BV Berlin, AKG, Nr. 4056, Bl. 122 f.). 83 ZAIG - Bericht vom 26. 6. 1989 ( BStU, ZAIG, Nr. 5352, Bl. 137–139). 84 Information der AKG über Reaktionen unter Bürgern der Hauptstadt der DDR, Berlin vom 3. 7. 1989 ( BStU, BV Berlin, AKG, Nr. 4056, Bl. 110). 85 Vgl. Hannes Bahrmann / Christoph Links, Chronik der Wende. Die DDR zwischen 7. Oktober und 18. Dezember 1989, Berlin 1994, S. 8.

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schiedlich gedeutet. Im Westen wurden dabei, wie gezeigt, die verschiedensten Wünsche auf Gorbatschow projiziert. Diese unterschieden sich wiederum von den Projektionen der Ostdeutschen, die sich vor allem Erleichterungen bei Westreisen erhofften. Trotz einer wahrscheinlich ähnlich stark ausgeprägten „Gorbimanie“ in beiden deutschen Staaten waren die Ostdeutschen vom Ausmaß der Begeisterung in der Bundesrepublik überrascht : Trotz eines gemeinsamen Kommunikationsraums konnten sie sich nicht vorstellen, dass ein kommunistischer Führer im Westen auf so viel Zustimmung stoßen konnte. Während für sie der Umstand, dass Gorbatschow die wichigste kommunistische Partei des Ostblocks anführte, von besonderer Relevanz war – er verkörperte dadurch geradezu die Reformfähigkeit des realsozialistischen Systems –, spielte dies für ihre Landsleute in der Bundesrepublik, für die Gorbatschow vor allem als Friedensbringer aus der Sowjetunion firmierte, kaum eine Rolle. Obwohl schon vor dem Besuch deutlich war, dass Gorbatschow keine deutschlandpolitische Offerte nach Bonn mitbringen würde, wurden sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR diesbezügliche Hoffnungen oder Befürchtungen laut. Aufgrund des unauflöslichen Zusammenhangs zwischen der deutschen und der europäischen Teilung musste die durch die Gemeinsame Erklärung anvisierte „Überwindung der Trennung Europas“ auf der Grundlage westlicher Werte in der Bundesrepublik deutschlandpolitische Hoffnungen wecken. Überdies spielte dabei die wahrgenommene Reformbedürftigkeit der DDR eine wichtige Rolle : Wenngleich sich Gorbatschow dazu weder öffentlich noch gegenüber seinen offiziellen Gesprächspartnern äußerte, wurde doch allgemein angenommen, dass sich die DDR den Öffnungstendenzen im Ostblock nicht würde entziehen können. Dann aber musste sich die deutsche Frage neu stellen. Die Äußerungen Gorbatschows auf der abschließenden Pressekonferenz taten ein Übriges, um die deutschlandpolitische Phantasie in der Bundesrepublik anzuregen. Es war daher kein Zufall, dass nun „ein neues Nachdenken über Deutschland in Gang“ kam, das sich etwa in einer kontroversen Debatte in der „Zeit“ zwischen Juni und August 1989 niederschlug.86 Auch die DDR - Führung war auf die deutsche Frage fixiert, wenngleich in negativer Hinsicht : Mit Argusaugen wachte sie darüber, ob Gorbatschow oder die eigene Bevölkerung hier Tabubrüche begehen würden. Für damalige Hoffnungen der Ostdeutschen auf eine Wiedervereinigung gibt es kaum Belege – diese richteten sich im Sommer 1989 wohl eher auf innere Reformen und Reisefreiheit. Unübersehbar war schließlich sowohl westlich als auch östlich der innerdeutschen Grenze, dass der Besuch mit einer vorher undenkbaren Annäherung der Sowjetunion an die Bundesrepublik verbunden war : Die Bundesrepublik werde damit, so bereits einige hellsichtige westdeutsche Beobachter vor dem Besuch, 86 Gunter Hofmann, Eine Deutschstunde nach der anderen. In : Die Zeit vom 23. 6. 1989 ( Zitat ). Zur Debatte vgl. Theo Sommer, Quo vadis, Germania ? (23. 6. 1989), Konrad Weiß, Nachdenken über die deutsche Einheit (30. 6. 1989), Helmut Schmidt, Was ist des Deutschen Vaterland (14. 7. 1989), Heinrich August Winkler, Die Mauer wegdenken (11. 8. 1989).

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zum wichtigsten westeuropäischen Partner der Sowjetunion innerhalb des westlichen Bündnisses avancieren. Dass dies auch einen Bedeutungsverlust der DDR implizierte, wurde nach der Abreise Gorbatschows sowohl von der Bonner als auch von der Ost - Berliner Führung und von regimetreuen Teilen der ostdeutschen Gesellschaft deutlich registriert. Damit zeichnete sich die Isolation der DDR zwischen einer reformorientierten, auf den Ausbau der Beziehungen zur Bundesrepublik angewiesenen Sowjetunion und dem westdeutschen Konkurrenzstaat ab, der sie permanent herausforderte. In dieser Position konnte der ostdeutsche Teilstaat eine Revolution, mit der damals noch niemand rechnete, kaum überstehen.

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Spiegelungen Hartmut Zwahr Mehr als zwanzig Jahre sind vergangen, dass wir Kollegen geworden sind, in Leipzig, Günther Heydemann am Historischen Seminar für die Professur Neuere und Zeitgeschichte, ich bis 2001 für Sozial - und Wirtschaftsgeschichte. Arbeit hat uns verbunden : im Tagesgeschäft von Lehre und Forschung, auf Tagungen, damals in Dresden,1 wissenschaftsorganisatorisch, schließlich bei der Gesamtdarstellung der Geschichte der Universität Leipzig (1409–2009) : er für Band 3 ( Mitautor, 1945–1961), ich für Band 2 ( Mitautor, 1830–1871). Persönliches ist zur Sprache gekommen,2 aber vielleicht war es zu wenig, wenn ich daran denke, was zwischen den Zeilen gestanden hat oder nicht zur Sprache gekommen ist im Verwobensein von Person, Zeit, Raum und ihren Spiegelungen. Ich bin Bautzner und 1942 in die Pestalozzischule eingetreten. „Räder müssen rollen für den Sieg“, mit dem Spruchband auf dem Bahnhof habe ich hier buchstabieren geübt. Die Umsturzzeit ist mir als großes Durcheinander von Zuständen und Menschen in Erinnerung geblieben. Die Stadt zerschossen. Alle Stadtmauertürme ausgebrannt. Vater in Gefangenschaft. Hinter grüngestrichnen Bretterwänden die „Russen“, singend, ja fröhlich, weil sie überlebt hatten. Die fremden Lieder im Ohr, liefen wir mit. In Bautzen war Sorbisches allenthalben zu bemerken, am Burglehn, auf der Predigergasse, der Großen Brüdergasse, der Messergasse, wo ich Kinderjahre verbrachte. Im Haus Messergasse 3, am 18. April 1945, fing Großmutter an, Tagebuch zu schreiben.3 Am Tag drauf ver1 2

3

Alexander Fischer / Günther Heydemann ( Hg.), Die politische „Wende“ 1989/90 in Sachsen, Weimar 1995, darin : Die Revolution in der DDR 1989/90 – eine Zwischenbilanz, S. 205–252. Hartmut Zwahr, Abschied von Leipzig. Ansichten eines Historikers. Festvortrag am 1. Dezember 2000 anlässlich der Verabschiedung der Absolventen der Fakultät für Geschichte, Kunst - und Orientwissenschaften der Universität Leipzig. In : Stadtgeschichte. Mitteilungen des Leipziger Geschichtsvereins e. V., 2/2001, S. 4–17; Figuren und Strukturen. Ehrenkolloquium für Hartmut Zwahr zum 65. Geburtstag. Hg. vom Rektor der Universität Leipzig, Leipzig 2002. Christiane Zwahr (1870–1948), Tagebuch, 18. 4. 1945–8. 5. 1945, Original im Stadtarchiv Bautzen; sorbisch : Christiana Zwahrowa, „... a druhdy chcych dospołnje zadwělować“ ( und manchmal wollte ich vollends verzweifeln ). In : Marka Maćijowa (Hg.), Pod Bohatej wěžu ( Unterm Reichenturm ), Bautzen 2002, S. 77–87; „Tagebuchschreibern bin ich zuerst in der Familie begegnet.“, dazu Hartmut Zwahr, Die erfrorenen Flügel der Schwalbe. DDR und „Prager Frühling“. Tagebuch einer Krise 1968–1970, Bonn 2007, S. 8.

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stellte ein „Russenpanzer“ den Zugang in Richtung Domstift. In der Altstadt war die andere, die zweite Sprache das Sorbische, selbst in der Bücherei redete man, wenns sich ergab, bei vielleicht einem Drittel vom Personal sorbisch. Wer erzählt das alles ? Kürzer wird die Geschichte, wenn ich mitteile, dass ich zur Oberschule nicht zugelassen worden bin. Mutter hatte den Fragebogen richtig ausgefüllt, das war falsch. Nicht „Steuerinspektor“, Angestellter hätte sie hinschreiben sollen. Ich wurde Büchereilehrling. Das andere Gleis. Die verschiedenen Grade von Offenheit und Verschlossenheit begriff man schnell. Unter der Diktatur haben sich die Unterschiede wie von selbst eingeschliffen. Man stellte sich auf „die Partei“ ein. In der Allgemeinen Öffentlichen Bibliothek in Bautzen, in der ich lernte, funktionierte beides. Dr. Jatzwauk, Bibliotheksdirektor, steht mir vor Augen, ich war im zweiten Lehrjahr, als er starb. Den Nazis hatte er sich verweigert. Katholisch war er, „geborener Wende“, Sorbe. Am 13. Februar hatte der Landesbibliothekar mit seiner Frau nicht mehr gerettet als das nackte Leben. Dass jemand ein Buch schreibt, Jatzwauk, erlebte ich dort; ich saß im Vorzimmer an einem schmalen Tisch, für den noch Platz war. Wenn die Tür offen stand und Vergleich gelesen wurde ( er arbeitete an der 2. Auflage seiner Sorbischen Bibliographie4), bekam ich das natürlich mit. In die Welt der Bücher, die uns umgab, bin ich früh eingetaucht, ich weiß, was ich der Lehrstelle auf der Schloßstraße verdanke. Was die Diktatur ausmacht, in die Menschen hineingewachsen sind, einfach so, bis die Maske festsaß, dass sie kaum noch abging, weiß ich auch. Mattheuer hat eine solche Figur geschaffen – als Sinnbild.5 Das „zweite Gesicht“, behaupte ich, war eine Grundlast der DDR. Bei Bedarf wurde es auf - oder abgesetzt. Die Hand, die zur Faust geballt war, blieb am Körper. Das Leben hinter der Maske gehört zu den eher vernachlässigten großen Themen von Gesellschaft damals; die Untersuchungen dazu werden erst geschrieben werden.

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Jacob Jatzwauk, Wjacsławk : Serbska Bibliografija. Sorbische ( Wendische ) Bibliographie, 2. Auflage Berlin 1952; Hartmut Zwahr, Dr. Jacob Jatzwauk zum 100. Geburtstag (15. 2. 1885 Horka–3. 9. 1951 Bautzen ). In : Bautzener Kulturschau, 35 (1985), S. 2–5; dass. sorbisch : Noa w kaščiku ( Noah im Kasten ). In : Serbska protyka, (1985), S. 92–96; ders., Jacob Jatzwauk, Wjacsławk 1885–1951. In : Gerald Wiemers ( Hg.), Sächsische Lebensbilder ( erscheint 2015); erste und für lange einzige Würdigungen durch Martin Reuther, Jakob Jatzwauk zum 65. Geburtstag. In : Zentralblatt für Bibliothekswesen, 64 (1950) H. 5/6, S. 163–167; ders., Jacob Jatzwauk gestorben. Eine Würdigung. In : ebd., 65 (1951) H. 11/12, S. 407–415; Hartmut Zwahr, Der Bibliograph und sein Magaziner. Zum Gedenken an Dr. Jacob Jatzwauk und Max Schneider. In: Neues Lausitzisches Magazin, 136 ( Neue Folge 17), Görlitz 2014, S. 83–102. „Gesichtzeigen“ (1979, aufgestellt 1998), Museum der Bildenden Künste Leipzig, aus Privatbesitz.

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Spiegelungen

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Stalins Tod und die Folgen

An diesen Trauerzug durch Bautzen erinnere ich mich wie heute, von dem ich nie erfahren werde, was in den Menschen wirklich vor sich ging, ob echt war, was ich sah, oder Verstellung, Lüge. Vaters Gesicht Hohn. Wie sich die Leute an den schwarz ausgeschlagenen Holzbuden anstellten, schrecklich, um vor seinem Bilde zu stehen und zu trauern. Die Ulbricht - Zeit habe ich in schlimmer Erinnerung, in schlimmster. An der Bibliothekarschule erlebte ich den 17. Juni, die Panzer, den Ausnahmezustand.6 Den Pavillon der Nationalen Front am Leipziger Markt sah ich ausgebrannt. Aus den Fenstern der FDJ - Bezirksleitung auf der Ritterstraße hingen die Gardinen, als wäre Kapitulation. Papier aus Schreibtischen wie hingeschneit. An die Fachschule, die nach dem 17. Juni nach Erich - Weinert benannt wurde, erinnere ich mich, als wäre es gestern gewesen, an die Universität, an Verletzungen, die nicht verheilten.7 Als Fachschüler sah ich mich zum ersten Mal gedruckt.8 Zu dieser Zeit hatte ich die Sonderreife für das Fach Geschichte in der Tasche. Die Fachschule beendete ich extern. Geschichte. Kein Studienwunsch. Notnagel. Das Abitur fehlte. Germanistik im Zweitfach hörte ich bei Hans Mayer, Hörsaal 40; die lasen alle dort : Korff, Frings, wir staunten ihn an, die Weste mit Perlmuttknöpfen besetzt, er las Sprachwissenschaft, vor allem Sprachgeschichte, Elisabeth ( Elli ) Linke behandelte das Mittelhochdeutsche, Schieb das Althochdeutsche. Geschichte las Markov ( leise, kaum hörbar ) im „Alten Amtsgericht“ auf dem Peterssteinweg. Viel „terreur“ gabs, würde ich rückblickend sagen, ein bisschen zu viel. Markovs große Vorlesung über Afrika. Die Signale der ungarischen Revolution9 weckten Erwartungen. Dann das Blutvergießen. Übers Radio sprach sich alles herum, am schnellsten auf den Korridoren der „Alten Uni“. Die Paulinerkirche stand noch unversehrt. Wer sich Zeit nahm, konnte Köbler an 6

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Am 5. 4. 1953 zur Teilnahme an der bibliothekarischen Vollausbildung ( im Auftrag des Ministeriums für Volksbildung der DDR ) nachträglich zugelassen; Vorkurs seit dem 15. 4. 53 : Mitteilung der Bibliothekarschule Leipzig vom 30. 4. 1953 „an Kollegen Hartmut Zwahr, Bautzen, Schloßstraße 10, Allg. Öffentliche Bibliothek“, gez. Steudel, Schulleiter – Zwahr, Drei Geschichten. In : 17. Juni 1953. Ein Lesebuch, Dresden 2003, S. 77–82. Hartmut Zwahr, Historiker und Kunsthistoriker 1957/58. Über Verletzungen, die nicht verheilten. In : Nadja Horsch / Zita A. Pataki / Thomas Pöpper ( Hg.), Kunst und Architektur in Mitteldeutschland. Thomas Topfstedt zum 65. Geburtstag, Leipzig 2012, S. 219–236. Ders., Sorbische Literatur. Ein kurzer Abriß ihrer Entwicklung. In : Der Bibliothekar, 9 (1955), S. 456–459; ergänzend dazu das Schriftenverzeichnis, 1955–2001. In : Manfred Hettling / Uwe Schirmer / Susanne Schötz ( Hg.), Figuren und Strukturen. Historische Essays für Hartmut Zwahr zum 65. Geburtstag, unter Mitwirkung von Christoph Volkmar, München 2002, S. 819–831. Hartmut Zwahr, Hoffnungen im Herbst 1956 : Ungarn hat über die sowjetischen Truppen und das eigene Terrorregime gesiegt. Niederschrift des Leipziger Studenten Hartmut Zwahr vom 30. Oktober 1956. In: Rüdiger Hohls / Iris Schröder/ Hans Siegrist (Hg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte. Festschrift für Hartmut Kaelble zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2005, S. 342–348.

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der Orgel hören. ( Im Mai ’68 die Sprengung von Kirche und Augusteum ). Im Zejler - Heim bei den Sorben auf der Bachstraße10 die übliche Gruppenbildung. Dem „zweiten Gesicht“,11 notiert nach den Ungarn - Ereignissen, merkt man die Angst an. Protokolle eines Parteilosen12 nenne ich die Niederschriften. Studenten sind in den FDJ - Versammlungen hart angefasst worden, wie dieser Student: „Es ist nicht einfach, sich selber schlechtzumachen, es erweckt immer die benachbarte Vorstellung von Selbstzerfleischung. Dennoch bin ich hier vorn hingetreten [...] Ich bin das Sorgenkind in unserer Gruppe. Warum ? Ich habe individualistische Ambitionen. Ich habe mich bisher als Eigenbrötler verhalten. [...] Mein Vater ist Künstler, aber nicht einer von denen, die die Kunst ins Leben hineinzieht – ein Schriftsteller oder Schauspieler, – mein Vater ist Kunstmaler, der etwas abseits lebt. [...] Die Gruppe hat mit mir gesprochen. [...] Mehrmals. Ohne Erfolg. Es kam dann zur Aussprache vor der FDJ Leitung. Dazu bin ich von der Gruppe eingeladen worden. Ich bin dabei sehr schlecht weggekommen. Wenn ich jetzt sagen würde, ich habe den alten Standpunkt überwunden, so wäre das Quatsch, aber ich weiß, dass ich ihn überwinden muss, um nicht vom Leben überfahren zu werden. Allein ist man verlassen. Freunde, lasst mir ein wenig Zeit [...], dann gehe ich mit Euch im gleichen Schritt, im besten Sinne des Wortes.“13

Bloch las im Hörsaal 40, bis das am 26. Januar 1957 untersagt worden ist.14 Freundschaften entstanden, solche von Dauer,15 andere, die gab es auch. Von allem gab es reichlich. Der 17. Juni, die Erinnerung daran, begleitete uns durchs Studium und die Zeit lange danach, vielleicht übertreibe ich. Aspirant wurde ich am Sorbischen Institut unter Nedo, 1960.16 Heinz Schuster - Šewc, ausgebildet in Warschau, trat ins Institut ein und hat Lehre und Forschung, besonders den slawischen Sprachvergleich, auf große Höhe gebracht.17 In der Zeit der Aspirantur sind die Arbeitsbeziehungen zum Institut 10 Fotos 1956, 1957, 1959 ( Universitätsarchiv Leipzig, Sammlung Zwahr ); Chronika Sorabije ( Chronik der Sorabija ), digital kopiert, 4. 3. 2005. 11 „Vom Nutzen und Frommen des zweiten Gesichts ! Sage nie, es verhält sich so und nicht anders ! / Sage nie, Ihr seid im Unrecht und möchtet uns kleinmachen ! / Sage nie, Ihr müsst abtreten und uns den Platz überlassen ! / Schweig, und du darfst leben. / Sprichst du, sie werden dich fassen / Sie werden dein wahres Gesicht entstellen, Sie werden dich zertreten. / Also schweige ! / Also habe ein zweites Gesicht ! / Gestatte es dir, / Dann bist du nichtig zwar, aber du bist / Bist ein leeres Wort, gesprochen in den Wind. / Weniger als nichts uns, für Sie brauchbar ! 27.11. 56 HZ.“ Sammlung Zwahr, 1956. 12 Das Erschrecken. Texte seit Oktober 1956 ( Sammlung Zwahr ). 13 FDJ - Vollversammlung, 8. 6. 1959; die Versammlung leitete Dieter Broszeit, Sammlung Zwahr ( Mitschrift ). 14 „Heute hat man Prof. Bloch das Vorlesungsrecht entzogen ! H. Z., 26. 1. 1957“, eingetragen in : Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung. Erster Band, Berlin 1954. 15 Hartmut Zwahr, Laudatio anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde an Kito Lorenc in Würdigung seiner besonderen Verdienste um die sorbische Literatur als Brücke zwischen deutscher Kultur und slawischen Kulturen sowie um die sorabistische Sprachwissenschaft, 18. 12. 2008. In : Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Universität Dresden, 58 (2009) H. 1–2, S. 135–141. 16 Annett Bresan, Paul Nedo (1908–1984). In : Gerald Wiemers, Sächsische Lebensbilder, Band 6, Teilband 2 : L–Z, Leipzig 2009, S. 519–540. 17 Heinz Schuster - Šewc, Historisch - etymologisches Wörterbuch der ober - und niedersorbischen Sprache, 5 Bände, Bautzen 1978–1996; ders., Bibliographie der Veröffentlichungen 1947–2013, Red. : Jurij J. Šołta, Bautzen 2014.

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für sorbische Volksforschung in Bautzen entstanden; sie haben sich über ein halbes Jahrhundert fortgesetzt;18 seit dessen Gründung im Beirat des Sorbischen Instituts e. V. ( Serbski institut z. T.) sowie im Redaktionsbeirat des Lětopis, Zeitschrift für sorbische Sprache, Geschichte und Kultur.

2.

Die geschlossene Gesellschaft

Als ich in die Sommerhochschule für Slawisten und Historiker in Prag aufgenommen wurde, war die Stadt noch einigermaßen offen, die Sommerschule europäisch offen. Die Begegnung mit Jan Havránek, Famulus von Prof. Belić,19 hat sich bis in die friedliche, die samtene Revolution fortgesetzt, 198820 und 2001.21 Prag endete für mich mit dem Mauerbau. Auf dem Leipziger Hauptbahnhof stieg ich plötzlich aus in die geschlossene Gesellschaft der DDR. Šewc, Genosse : „Wissen Sie überhaupt, was seitdem los war ! ?“ Vater sagte, der den Anschluss verpasst hatte : „Tröste dich, die Nazis, die ehemaligen, soweit sie leben, gehen inzwischen am Rhein spazieren.“ Er kannte sie aus der Zeit vor dem Krieg „von der Steuer“, vom Finanzamt. Ich springe durch die Zeit. In Liblice bei Prag im Mai 1963 begann mit Goldstückers Referat zu Franz Kafka ein politischer Frühling. Promotion 1963.22 Assistent am Institut für Deutsche Geschichte, Abteilung Deutsche Landesgeschichte, dem vormaligen landesgeschichtlichen Institut. Das „Institut für Deutsche Landes - und Volksgeschichte“ ( so benannt seit Kötzschkes Emeritierung 1936) bestand bis 1951 mit wiederhergestelltem Lehrangebot und der aus geretteten Beständen von den Assistenten Gerhard Heitz und Manfred Unger zusammengetragenen Bibliothek; sie umfasste 1957 mehr als 10 000 Bände.23 Vor dem Umzug der Sektion Geschichte ins „Universitätshochhaus“, 1973, haben Karl Czok und Unger die landesgeschichtliche Bibliothek in das von diesem geleitete Staatsarchiv Leipzig eingliedern können; meine Biblio-

18 Veröffentlichungen zu sorbischen Themen verzeichnet die : Serbska bibliografija ( zuletzt für die Jahrgänge ) 2001–2005. Sorbische Bibliographie, Gesamtredaktion Franc Šěn, Budyšin, Bautzen 2008. 19 Universita Karlova v Praze. Lětni školy slovanských studií : Vysvědčení : z jazyka čěskeho, z dějin ČSSR, 1. srpná do 28. srpná 1961, gez. Belić ( Zeugnis : tschechische Sprache sowie Geschichte der ČSSR, 28. 8. 1961). 20 Vgl. Hartmut Zwahr, Die Universität Leipzig im Revolutionsjahr 1830. In : Bildungsgeschichte, Bevölkerungsgeschichte, Gesellschaftsgeschichte in den böhmischen Ländern und in Europa. Hg. von Hans Lemberg, Karel Litsch, Richard G. Plaschka und György Ránki. Festschrift für Jan Havránek zum 60. Geburtstag, Wien 1988, S. 17–31. 21 Jan Havránek, Die Juden zwischen den Tschechen und Deutschen in Prag. In : Hettling / Schirmer / Schötz ( Hg.), Figuren und Strukturen, S. 413–422. 22 Hartmut Zwahr, Bauernwiderstand und sorbische Volksbewegung in der Oberlausitz 1900–1918, Bautzen 1966. 23 Manfred Unger, Die Historische Kommission des Landes Sachsen 1945–1956. In : Geschichtsforschung in Sachsen, Stuttgart 1996, S. 82 f., 90.

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thek ging seit 1998 darin auf.24 1951 ist das landesgeschichtliche Institut als landesgeschichtliche Abteilung dem Institut für Deutsche Geschichte ( Direktor Ernst Engelberg ) angeschlossen worden, wobei der 1950 für mittlere Geschichte berufene Heinrich Sproemberg als Direktor des Instituts für Allgemeine Geschichte des Mittelalters die Abteilung nach wie vor leitete.25 Im Zuge der III. Hochschulreform ist sie zwar fortgeführt, im Traditionsprofil von Landesgeschichte und Landeskunde, Siedlungs - , Sozial - und Wirtschaftsgeschichte aber zerschlagen worden : Die SED - Parteiorganisation Historische Institute beschloss am 30. März 1958 : „( Landesgeschichte ) Heimatgeschichtliche Forschungen, deren Schwerpunkt im 20. Jahrhundert liegen muss, bei besonderer Beachtung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung“.26 Der Namenkundler Hans Walther wechselte zur Sächsischen Akademie der Wissenschaften; auch Unger ( Frühjahr 1959) und Heitz ( Juni 1959) verließen die Universität.27 Sproembergs Zwangsemeritierung folgte.28 Als die Deutschlandpolitik der SED auf Ulbrichts „nationale Grundkonzeption“ einschwenkte, gelang es, die „Landesgeschichte“ in die Geschichtswissenschaft der DDR zurückzuholen. Die „Arbeitsgemeinschaft Heimat - und Landesgeschichte“ ( gegründet 6. bis 8. Juli 1961, Görlitz ) steht für diesen marxistischen Richtungswechsel durch die Frühe Neuzeit - Historiker Steinmetz ( für Regionalgeschichte ) und Czok ( für Landesgeschichte).29 Czoks Leipziger Karrierestart folgte : Wahrnehmungsdozentur für Landesgeschichte (1962), Habilitation (1963), Dozentur und Abteilungsleitung (1965). Professur für Deutsche Landesgeschichte (1966), danach Umbenennung in Abteilung „Deutsche Regionalgeschichte“.30

24 Schenkungsvertrag (1998), Sächsisches Staatsarchiv Leipzig, gez. Ingrid Grohmann, „Sammlung Zwahr“ : Bibliotheksgut samt Anlagen „mit den Schwerpunkten Sozial - und Wirtschaftsgeschichte, Landes - und Regionalgeschichte, Heimatgeschichte und Landeskunde, Zeitgeschichte einschließlich DDR, Magister - , Staatsexamen und Dissertationen zu den o. g. Themen, Zeitungsauschnitte ( vollständige Zeitungsjahrgänge zu 1989/90), Plakate und Flugblätter.“ 25 Müller nennt sie zutreffend „die Schwundstufe des landesgeschichtlichen Kötzschke Instituts“. Winfried Müller, Landes - und Regionalgeschichte in Sachsen 1945–1989. Ein Beitrag zur Geschichte der Geschichtswissenschaften in der DDR. In : Blätter für deutsche Landesgeschichte, 144 (2008), S. 87–186, hier 104. 26 Zit. nach Zwahr, Historiker und Kunsthistoriker, S. 226, 224–228; Sammlung Zwahr, 2011, aufgefunden, unveröffentlicht. 27 Zwahr, Historiker und Kunsthistoriker, S. 235 f. 28 Unger, Die Historische Kommission, S. 74–102; Veit Diczuneit, Heinrich Sproemberg – ein Außenseiter seines Faches. In : Veit Diczuneit / Matthias Middell / Manfred Unger ( Hg.), Geschichtswissenschaft in Leipzig. Heinrich Sproemberg, Leipzig 1994; Enno Bünz, Zur Institutionalisierung der Landesgeschichte in Sachsen. In : Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde 1997–2007, Dresden 2007, S. 20–37; Müller, Landes- und Regionalgeschichte. 29 Czoks umfangreiche Studie zur deutschen Landesgeschichte lag der „Wissenschaftlichen Zeitschrift der Karl - Marx - Universität“ am 15. 2. 1961 im Manuskript vor, ein Text ohne die Begriffe „Regionalgeschichte“ und „regionale Geschichte“, dazu Zwahr, Historiker und Kunsthistoriker, S. 232. 30 Ebd., S. 231–235; ein Umbenennungsbeschluss ist nicht nachgewiesen.

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In der „Landesgeschichte“, wie die Zimmerflucht auf der Ersten Etage des Alten Amtsgerichts gegenüber dem Neuen Rathaus hieß, konnte man ungestört sitzen und arbeiten, auch kurz mal schlafen, bis der Pförtner die Klingel anstellte. Lamprechts Schreibtisch im Seminarraum stand am Fenster, nichts zum Abschließen, abgenutzt, und wirkte mit der aufgeschraubten Glasplatte, die den Geheimrat erwähnte, trotzdem erhaben. Lamprechts „Deutsche Geschichte“ fesselte; ich entdeckte seine „Kindheitserinnerungen“, in denen Sorbisches vorkam : „Mein Vater konnte geläufig wendisch sprechen“. Die Postkutschenfahrt von Jessen über Dahme auf Luckau zu, die er beschreibt, bleibt mir unvergessen : „durch die Luft aber zog ein unnennbar schöner Duft von schwitzenden Kiefern, und kamen wir aus den Wäldern hinaus in die spärlichen Fluren der Wendendörfer, so schlug uns ein nicht minder berauschender Duft von Buchweizen entgegen, der alle anderen Eindrücke, auch die des Gesichts, bei weitem überflügelte.“31 Carl Brod – aus der Lamprecht - und Kötzschkezeit übrig geblieben – kam stundenweise; er arbeitete über die Kalandbruderschaften und fand nicht ans Ende. Mit dem „Spaziergang nach Syrakus“ hat mir der alte Mann zum Geburtstag eine Freude gemacht; Jahre später entdeckte ich, dass Günther Heydemann die Vorliebe für Seume teilt.32 1964 wurde ich Oberassistent, parteilos, „Kollege“ von Karl Czok. Wiederholte Vorladungen in die Parteigruppe änderten das – zuguterletzt ziemlich rabiat, letztlich drohend,33 was ich zu verantworten habe. Ein grenzüberschreitender Studentenaustausch ist mir in Erinnerung, mit den Tschechen, zu Alice Teichová, der Wirtschaftshistorikerin, den sie und Czok 1966 und 1967 organisierten; der letzte führte uns nach Olomouc, von dort nach Prag; ihre Häftlingsnummer auf dem Handgelenk sah ich zufällig. 1969 emigrierte sie zum zweiten Mal, in Bielefeld sahen wir uns wieder. Auch Goldstücker ist zurückgekehrt, enttäuscht vom Wandel, wie er mir sagte, auf den kein neuer „Prager Frühling“ folgte. Beim Abschied in Prag schenkte sie mir Solženicyns, Ve vyššim zájmu, Nová sovětská knihovna 67, Praha 1964 (Alexander Solschenizyn, Im höheren Interesse. Neue sowjetische Bücherei Band 67). Im März 1968 fing ich an, Tagebuch zu schreiben. Die Warschauer Pakttruppen beendeten den „Prager Frühling“ durch Intervention, Fremdherrschaft. Das Abhören der mobilen tschechischen Sender aus dem Widerstand verdanke ich dem verstehenden Hören seit der Sommerhochschule. Die Niederlage 31

Karl Lamprecht, Kindheitserinnerungen, Gotha 1918, S. 36–39, S. 42 f.; Hartmut Zwahr, Veranstaltungen zum 50. Todestag von Karl Lamprecht. In : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, (1965) H. 7, S. 1230 ff.; ders., „Serbske zynki“ w Karla Lamprechtowych „Dźěćacych dopomnjenkach“ (1914/15) [ „Sorbische Reminiszenzen“ in Karl Lamprechts „Kindheitserinnerungen“]. In : Rozhlad, XV (1965) H. 12, S. 353 ff. 32 Günther Heydemann, „Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft“. Johann Gottfried Seumes „Spaziergang nach Syrakus“ vor 200 Jahren. In : Hettling / Schirmer / Schötz (Hg.), Figuren und Strukturen, S. 321–334; Figuren und Strukturen in der Geschichte, Leipzig 2002, S. 53–66. 33 Czoks Kommentar : „Das war Tells Geschoss“. In : Zwahr, Die erfrorenen Flügel der Schwalbe, S. 13, 13. 3. 1968.

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lähmte. Je länger das dauerte, umso schlimmer die Anpassung. Wer es erlebte, für den war dieser Lebensabschnitt die schwerste Niederlage.

3.

Anpassung

Im Januar 1969 sind die Universitäten der DDR umgebaut worden. Sektionen und weitere Großforschungseinrichtungen entstanden. Die Gründung der Sektion Geschichte unter Walter Markov ist von den Ost - Berliner Parteiinstituten und vor Ort abgebrochen worden. Neuerungen wurden beseitigt, die Regionalgeschichte aufgelöst. Die Reste sind dem Wissenschaftsbereich „Deutsche Arbeiterbewegung von den Anfängen bis 1945“ als Lehrgebiete „Örtliche Arbeiterbewegung“ und „Heimatgeschichte“ zugeordnet worden. Damit war der Parteibeschluss zur „Landesgeschichte“ vom März 1958 auferstanden und übertroffen; die „Abteilung Regionalgeschichte“ hörte zu bestehen auf. Auch das „Jahrbuch für Regionalgeschichte“ wurde nicht fortgesetzt.34 „Örtliche ArbeiterBewegung ist das Floß, auf dem wir treiben.“35 Die Delegierung zum Intensivkurs Russisch in Halle - Dölau für ein Zusatzstudium in die SU ( Sowjetunion ) veränderte manches. Im Juli 1974 bin ich mit anderen über Brest - Litowsk in den Westen des Riesenlandes hineingefahren, Vater hatte Namen aufgeschrieben von Gefangenenlagern bei Leningrad. Wenn sie dich lassen, fahr mal hin ! Viel Wald entlang der Strecke. Schützenlöcher. In der Fläche Lastwagen, hinter denen Staub aufstieg. Ich saß am Fenster. Im Abteil spielten sie Skat. In Leningrad ( über Moskau ) landete ich am Historischen Institut bei dem Agrarhistoriker Schapiro. Ich hatte Glück damit. Sein Schlözer - Seminar zur Nestorchronik ( Nestor. Russ. Annalen in ihrer Slavon. Grundsprache, 5 Teile, 1802–1809) war was Besondres. Auf dem Schreibtisch Lenin, in Zinn, als Büste auf der großen, sonst leeren schwarzen Tischplatte. Ich entdeckte die polnische Sozial - und Wirtschaftsgeschichte ( Witold Kula und seine Schüler und Schülerinnen, den Kreis um Stanisław Kalabinski u. a.36).

34 Die Entscheidung fiel im Institut für Marxismus - Leninismus in Berlin am 18. 12. 1968, dazu ebd., S. 224 f., 21. 12. 1968; dazu die Dokumentation zur Landes - und Regionalgeschichte in : Causa Czok, Texte 1958–1969, Universitätsarchiv Leipzig, Sammlung Zwahr. 35 Zit. nach Zwahr, Die erfrorenen Flügel der Schwalbe, S. 250, 13. 2. 1969. 36 Witold Kula ( Hg.), Społeczenstwo Królestwa Polskiego. Studia ( Die Gesellschaft des Königreichs Polen. Studien ) Bände 1–6, Warschau 1965–1974, maßstabsetzend u. a. Stefania Kowalska, Badania struktury społecznej Warszawy na podstawie akt stanu cywilnego ( Forschungen zur Gesellschaftsstruktur Warschaus auf der Grundlage von Personenstandsakten ). In : Band 1, Warschau 1965, Wanda Lukaszewicz, Korpus górniczy w okręgu zachodnim ( Bergleute. Korpus ). In : Band 2, Warschau 1966, untersucht werden die Personenangaben von über 1400 Bergleuten des „Korpus“; Stanisław Kalabinski, Polska klasa robotnicza. Studia ( Die polnische Arbeiterklasse. Studien ), Bände 1–3, Warschau 1970–1973; Janusz Žarnowski, Arbeiten und Probleme der polnischen Strukturforschung. In : Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1964, Teil 4.

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Gearbeitet wurde in der BAN ( Biblioteka Akademii Nauk ), geredet und geraucht – auf der Toilette – ich rauchte, um zuzuhören, darunter Uniformierte höherer Ränge, ich erinnere mich an Mathematiker – hinter der Tür die Vorrichtung zum sich Hinhocken. Bei Schapiro begegnete ich einem jungen Amerikaner, der im Archiv über Pugatschow arbeitete, die Bauernaufstände, und als er sagte, die Bücher, die er brauche, hätte er zu Hause ( er meinte die USA ) – da staunte ich. Gelegenheit und Freiheit zum Arbeiten gabs genug. Genüsse anderer Art erlebte ich „im Kirow“, der Zarenoper. Kleinere Spiegelsäle, Männer Hand in Hand und Ballett vom Feinsten. Orgelkonzerte. Die Orgel als Konzertinstrument war so richtig in Mode gekommen. Lyrikabende. Bella ( Isabella ) Achmadulina, Tatarin, frei rezitierend, der Georgier Mischa Kwliwidse, andere. Die Gedichte vortrugen vor aberhundert Zuhörern rezitierten alle so. Rudolf Kempe dirigierte die Münchner Symphoniker. Lene Marschner aus Pirna nannte ihn Rudi, als ich davon berichtete : der Gert, ihr Bruder, und Kempe waren junge Kapellmeister, als er auf dem Sofa hier geschlafen hat, da war Deutschland noch nicht geteilt. Kempes Vater hatte den Gasthof in Niederpoyritz, sagte sie, gleich an der Elbe. Auf der Miitninskaja gegenüber vom Winterpalais das Wohnheim, Steinklotz aus der Zarenzeit, soll ein Offizierspuff gewesen sein, der bei „Anna Karenina“ vorkommt. Lange Korridore Tür an Tür, Zimmer durch Schränke unterteilt in Kojen. In der Küche zwei Blechfässer, da flog der Müll rein, früh lief es über. Im Fenster saßen immer Studentinnen, junge Frauen, dort in der Küche wars warm. Die Fenster zugefroren. Teetrinken bis in die Nacht. Das Dreierzimmer, in dem wir eingezwängt waren, hat der Historiker Siegfried Prokop geteilt und ein Russe aus Schitomir, Kunsthistoriker; er legte Patiencen, um den Ausreiseantrag in die DDR zum richtigen Zeitpunkt zu stellen. Gesprächsbedarf gabs immer. Wodka floss. Geredet wurde über alles, am schmerzvollsten zum Krieg. Wenn der „Kommandant“ durch den Flur hinkte, Panzerfahrer, war das zu hören am Holzbein. Wenn er in Stimmung war, an der Pforte, ließ er sich die Ehrenpistole zeigen, ein Geschenk Stalins, angeblich. Dieses Leningrad war die große Welt. Wer es in die Arme schloss, trug die Stadt irgendwie mit sich fort. In einigem Abstand zum Auslandsstudium folgte die Berufung, 1978, die Professur für „Geschichte der Arbeiterbewegung“, die übliche Denomination für Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Gab das Auslandsstudium die Weihe ? Mancher konnte mit Russisch wenig anfangen. Das Herz der Revolution schlagen hören ? Einbildung. Friedhöfe habe ich aufgesucht, solche, auf denen Unpersonen lagen, auch wie Chruschtschow damals eine war, der lachte. Sieh ihn dir an, wie der grinst, sagte der Sibirier. Wassili Schukschin, der Filmemacher, Geschichtenschreiber,37 der am 2. Oktober 1974 in Moskau gestorben war, war einem nahe. Das frische Grab bedeckt von einem Berg Kränzen und Gebinden. Leute gingen die Runde, denen schloss man sich an. Die Russisch-

37 Wassili Schukschin, Gespräche bei hellem Mondschein, 2 Bände, Berlin ( Ost ) 1979.

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lehrerin, Jüdin, hatte mir ans Herz gelegt : „Kalina krasnaja“ (Roter Holunder, 1973) seinen letzten Film, den müssen Sie sehen, gutes, bestes Russisch sei das. Zur Sozialgeschichte der Stadt und der Industrialisierung habe ich in Leipzig gearbeitet, zur Handelsgeschichte, zu dem, was ich die Soziologie in der Geschichte genannt habe, die Patenbeziehungen, diese Netze von Taufpaten, Heiratskreisen, Zuzügen, Generationen. Die Berufsgruppen als Kerne. Das war biografische Grundlagenforschung. Ein anderes Gleis in der Forschung waren die Sorben, Texte über die deutschen Zeitgenossen der Sorben aus drei Jahrhunderten. Literarne myto Domowiny ( Literaturpreis der Domowina ) für „Meine Landsleute. Die Sorben und die Lausitz im Zeugnis deutscher Zeitgenossen“, 1984; auch die zweite Auflage in Bautzen im Domowina Verlag, 1991, betreute Dr. Ruth Thiemann als Lektorin. Seit 1984 bin ich Mitglied der Historischen Kommission der Sächsischen Akademie der Wissenschaften. Begegnungen in der Arbeit und im Umgang. Spiegelungen durch Mitgliedschaft :38 Karlheinz Blaschke und Gerhard Heitz (seit 1958), Manfred Unger (1960), Hans Walther (1961), Werner Coblenz (1963), Rudolf Große (1964), Karl Czok (1966), Ernst Eichler (1967), Helmar Junghans (1975), Rudolf Forberger (1976), Reiner Groß (1978). Geschichte anders schreiben, besser. Geschichte nicht in der Sprache der Sozialwissenschaften schreiben, damit fing es an. Die Idee einer dialektischen Sozialgeschichte : „Herr und Knecht. Figurenpaare in der Geschichte“. Die Sprache neu finden. Fast zehn Jahre hat die Arbeit daran gedauert, bevor das Manuskript in den Druck ging;39 die friedliche Revolution begann. „Was ich über Herr und Knecht, einen Gegenstand dialektischer Sozialgeschichte schrieb, hat immer auch mit der Freiheit des Menschen zu tun. Knecht und Magd können den Herrn zum Rollentausch zwingen, Freiheit und Würde haben sie damit noch nicht errungen.“ ( Dezember 1989).40 Die aufeinander bezogenen Kräfte erkennen, seien es Klassen oder Prinzipien, was auch immer es war, war neu. Arbeitergeschichte neu denken, hieß auch, sie in Wechselwirkung zur Unternehmer - und Unternehmensgeschichte untersuchen, also gleichgewichtig. „Die ‚Anerkennung des Entwicklungszusammenhanges von Bourgeoisie und Proletariat‘ ( Zwahr ) scheint inzwischen unbestritten, zumal die ehemals künstliche und weitaus überzogene, bis dato jedoch empirisch nicht fundierte Separierung geradezu durch empirische Forschungs-

38 Verzeichnis der Mitglieder der Kommission. In : Reiner Groß / Helmar Junghans ( Hg.), Geschichtsforschung in Sachsen. Von der Sächsischen Kommission für Geschichte zur Historischen Kommission bei der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig 1896–1996, Stuttgart 1996, S. 145–164, 160. 39 Urania - Verlag Leipzig 1990; dazu die Rezension von Georg G. Iggers. In : Werkstatt Geschichte, 2 ( Juli 1992), S. 87 f. 40 Manuskriptschluss April 1989, Lektorat Lutz Heydick („Vorbemerkung, Leipzig, April 1989“), ( „Nachbemerkung, Leipzig, Dezember 1989“), S. 7 f., sowie Thomas Berz, Bildredaktion.

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arbeit in die Gegenrichtung bewegt worden ist,“41 resümierte Günther Heydemann; der bisher verwendete „marxistisch - leninistische Bourgeoisiebegriff“ sei inzwischen erledigt, „schon allein dadurch,“ dass der Autor „im sächsischen Bürgertum die Existenz zweier politisch gegensätzlicher und sozial und unternehmerisch unterschiedlicher Gruppen nachwies“, die großbürgerlichen Vereinbarer und die schutzzöllnerischen Freihändler, die einen als „äußerste großbürgerliche Rechte“, die anderen als „eine bourgeoise Linke“.42 Erfolg und Anerkennung in der Forschung haben den Weg grenzüberschreitend geöffnet, in starkem Maße von außen kommend. Die „Konstituierung des Proletariats als Klasse“ ( Berlin - Ost 1978)43 und die Lizenzausgabe für die Bundesrepublik Deutschland bei Beck ( München 1981)44 setzten Wendemarken. Das Direktorat für Internationale Beziehungen der KMU hat manche Einladung für „Westreisen“ verzögert ( auch für Frankreich, Italien, die USA ), hat Ablehnungsgründe gefunden und verschleiert, was zunehmend weniger gelang, seitdem sich Einladungen häuften.45 Der interdisziplinäre Leipziger Sozialgeschichtliche Arbeitskreis tagte von April 1982 bis 2001 zweimal jährlich.46 Die Sozialgeschichte fand Unterstützung, aus welchen Gründen auch immer, als Unterstützer nenne ich Gustav Seeber, Wolfgang Schröder, Wolfgang Küttler, Manfred Kossok, Walter Schmidt. Jürgen Kuczynski und Jan Peters, Helga Schulz, es wirkte die Sozialgeschichte durch Georg G. Iggers ( Buffalo ) bei sich wiederholenden Aufenthalten in Leipzig und deutlicher Schwerpunktverlagerung hin zur Sozialgeschichte.47 Hans - Ulrich Wehler,48 Jürgen Kocka 41

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Günther Heydemann, Die deutsche Revolution von 1848/49 als Forschungsgegenstand der Geschichtswissenschaft in der SBZ / DDR. In : Alexander Fischer / Günther Heydemann ( Hg.), Geschichtswissenschaft in der DDR, Band II, Vor - und Frühgeschichte bis Neueste Geschichte, Berlin 1990, S. 489– 518, hier 512, was den „vielleicht sogar entscheidenden Durchbruch der geschichtswissenschaftlichen Forschung in der DDR“ bedeute. Heydemann, Die deutsche Revolution von 1848/49, S. 509 f. Hartmut Zwahr, Zur Konstituierung des Proletariats als Klasse. Strukturuntersuchung über das Leipziger Proletariat während der industriellen Revolution, Berlin ( Ost ) 1978. Arbeitsbücher : Sozialgeschichte und soziale Bewegung, München 1981. Hg. von Klaus Tenfelde und Heinrich Volkmann. In der Herausgeberschaft Tenfeldes eine erste Studie in „Geschichte und Gesellschaft“ : Hartmut Zwahr, Die deutsche Arbeiterbewegung im Länder - und Territorienvergleich 1875. In : ebd., 13 (1987), S. 448–507. Einladungen : u. a. zum Kolloquium „Aufstieg der sozialistischen Arbeiterorganisationen zur Massenbewegung im Deutschen Kaiserreich“, Institut für Neuere Geschichte, Lehrstuhl Prof. Dr. Gerhard A. Ritter, München, zur Kommission für Geschichte der Geschichtsschreibung des Internationalen Historikerverbands durch Wolfgang J. Mommsen; nach Göttingen zu einem zweimonatigen Forschungsaufenthalt ans Max Planck - Institut für Geschichte durch Rudolf Vierhaus. Tagungsverzeichnis, zusammengestellt von Susanne Schötz, hier dokumentiert bis November 1997, vgl. Susanne Schötz ( Hg.), Sozialgeschichte und Landesgeschichte. Hartmut Zwahr zum 60. Geburtstag, Kleine Festschrift, Beucha 1998, S. 88–96. Von ihm herausgegeben der Band : Ein anderer historischer Blick. Beispiele ostdeutscher Sozialgeschichte, Frankfurt a. M. 1991, mit Texten, die vor 1989 entstanden sind. Mit der Widmung „Hartmut Zwahr – Zug um Zug – herzlich Ihr Ulrich Wehler“, vgl. Hans Ulrich Wehler, Bismark und der Imperialismus, 4. Auflage München 1976.

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(Bielefeld ) sind beobachtend zu nennen, Lutz Niethammer, Wolfgang J. Mommsen, der von Düsseldorf und Leipzig aus die Podiumsdiskussion auf dem Bochumer Historikertag ( September 1990) in die Wege leitete,49 Hans Mommsen (Bochum ), Wolfgang Kaschuba ( Tübingen ), Rudolf Boch und Manfred Hettling ( Bielefeld ). Beteiligte waren Alf Lüdtke und Hans Medick ( Göttingen ), Arno Herzig ( Hamburg ), in anderer Richtung Hans - Jörg Sandkühler ( Bremen ). Kollegen aus Österreich haben beim Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung früh Wege geebnet : Josef Ehmer ( Wien ), Helmut Konrad ( Graz ), Rudolf Ardelt ( Linz ) für bilaterale Symposien von Historikern der DDR und der Republik Österreich. Ernst Hanisch ( Salzburg ), Helmut Rumpler ( Klagenfurt ), John Breuilly, Gerald D. Feldman – und in freundschaftlicher früher Verbindung Rudolf Braun ( Zürich) haben Grenzen durchlässiger gemacht. 1986 überraschte die Delegierung ans Zentrum für interdisziplinäre Forschung ( ZiF ) der Universität Bielefeld. Das Ministerium für Forschung des Landes Nordrhein - Westfalen hatte sie für die Zeit von Februar bis August 1987 mit der Regierung der DDR für die internationale Forschungsgruppe „Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft. Das 19. Jahrhundert im europäischen Vergleich“ ausgehandelt.50 An Wolfgang Jacobeit ( Humboldt - Universität ) erging die gleiche Einladung, wir haben beide vergleichend gearbeitet.51

4.

Perestroika

Eher zufällig kam es im Januar 1987 zum Moskauer Perestroika - Erlebnis; ich verdankte es dem Forschungsaufenthalt der Akademie - Institute der sozialistischen Länder in der Arbeitsgruppe „Soziale Strukturen und Bewegungen in Ost49 Zur Lage in der Geschichtswissenschaft der DDR. Podiumsdiskussion, 27. September 1990. In : Bericht über die 38. Versammlung deutscher Historiker in Bochum, 26.– 29. September 1990, Stuttgart 1991, S. 44–46; Hartmut Zwahr : „Wir müssen unsere Geschichte aufarbeiten ...“. In : Perspektiven. Zeitschrift für Wissenschaft und Praxis, 6 (1990), S. 39–44. 50 Universität Bielefeld. Zentrum für interdisziplinäre Forschung ( ZiF ) : Forschungsgruppe Bürgertum, Leitung Prof. Dr. Kocka. Die Universität teilte am 2. 5. 1986 mit : „Sehr geehrter Herr Professor Zwahr, wie ich über das Ministerium für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein - Westfalen erfahren habe, hat die Regierung der DDR den Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen darüber unterrichtet, dass Sie im Rahmen des Kulturaustausches mit der DDR meine Einladung zu der Forschungsgruppe ‚Bürger, Bürgerlichkeit und bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert‘ für den Zeitraum von Februar bis August 1987 annehmen werden.“ 51 Wolfgang Jacobeit, Dorf und dörfliche Bevölkerung Deutschlands im bürgerlichen 19. Jahrhundert. In : Jürgen Kocka ( Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, II, München 1988, S. 315–339; Hartmut Zwahr, Konstitution der Bourgeoisie im Verhältnis zur Arbeiterklasse. Ein deutsch - polnischer Vergleich. In : ebd., S. 149–186; ders., Verbürgerlichung und Entbürgerlichung beim Übergang zum Industriekapitalismus. Ein Sächsisch - Polnischer Vergleich. In : Neues Archiv für sächsische Geschichte, 64 (1993), S. 97–114; in Zusammenarbeit mit ihnen Wacław Długoborski, Elžbeta Kaczynska, Anna Žarnowska.

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Spiegelungen

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und Ostmitteleuropa“. Federführend war Prof. Tofik Islamow ( Moskau ), beteiligt Bulgarien, die DDR, Polen ( vertreten durch Ryszard Kołodziejczyk ), die Tschechoslowakei, Ungarn. Im Kino „Rossija“ lief „Die Reue“ ( Regie Tengis Abuladse ).52 Am 30. Januar war das. Unter den Besuchern Totenstille. Zögernd „Beifall. Wir ziehen die Mäntel an [...] ‚Eto bomba‘ ( eine Bombe ), sagt meine Nachbarin. Ich zeige mit dem Finger nach oben. Wird die Reinigung kommen? Sie zweifelt. Tam takije ljudi tože ( dort sind solche Leute auch ). Die zweite Generation wird den Toten ausgraben müssen. Draußen sagt ihr Kołodźiejczyk: Der Film lag zwanzig Jahre im Archiv. Sie : Etot film – der sagt alles : die Leute werden ihn sehen, sehen. Und dann wird etwas passieren ! Davon bin ich überzeugt.“ Soweit die Niederschrift. Die Bielefelder Bürgertumsrunde mit Jürgen Kocka, Ute Frevert, Christiane Eisenberg, Katharina Rutschky, Edith Saurer, den anderen, an die ich mich erinnere, Monika Steinhauser, nahm das mit Verblüffung und eher ungläubig auf. Stalins Leiche – den Krähen zum Fraß hingeworfen. Als einzige reagierte Shula Volkov ( Tel Aviv ) wie elektrisiert, die am Tag drauf nach Israel flog. Sie hat „Die Revolution in der DDR“53 ( im Frühsommer 1990 bei Vandenhoeck zum Druck eingereicht ) ins Hebräische übersetzt. Der Beitrag ist als frühe, vielleicht die erste Revolutionsanalyse zum Ereignis wahrgenommen worden. Erste Vorträge dazu haben die Universitäten Rotterdam und Leiden im März 1990 ermöglicht, zu denen Henk van Dijk, Rotterdam, eingeladen hat : „Van zelfvernietiging naar zelfbefrijding“ – „Von Selbstzerstörung zur Selbstbefreiung“. Bei der vermutlich letzten Begegnung mit Islamow in Sofia im Frühjahr ’89 – oder schon früher – stellte Islamow, als sage er das im Scherz, die Frage, wie lange die Mauer in Berlin noch stehen werde ? – Solange die Hand da auf der Mauer liegt, oder sagte ich, Waša ruka, Ihre Hand ? – Man lachte. Am Tag drauf – für alle Fälle – entschuldigte sich Islamow bei Nadja Stulz - Herrnstadt, die im Auftrag von Gustav Seeber das Zentralinstitut für Geschichte vertrat, und mir, der ich Partner für die KMU Leipzig war. Was in Moskau ( im Januar 1987) und in Prag ( am 21. August 1988) geschah, kündigte das Ende der Diktatur an, vielleicht die Revolution,54 und niemand wusste, ob sie friedlich sein würde. Für mich hat sie im Oktober ’89 begonnen, als der Stellvertretende Direktor EAW ( Erziehung, Aus - und Weiterbildung ) anordnete, „in allen Lehrveranstaltungen auf die von antisozialistischen Elementen montags in Leipzig veranstalteten Kundgebungen einzugehen, sich von 52 Perestroika - Karton, Moskau, 26.1. bis 1. 2. 1987 ( Universitätsarchiv Leipzig, Sammlung Zwahr ); Zeitzeugen die Historiker Tofik Islamow ( Moskau ), Ryszard Kołodziejczyk (Warschau ), Hartmut Zwahr. 53 Hartmut Zwahr, Die Revolution in der DDR. In : Manfred Hettling ( Hg.), Revolution in Deutschland ? 1789–1989. Sieben Beiträge, Göttingen 1991, S. 122–143; dazu Manfred Kossok in : Deutsche Literatur Zeitung, 113 (1992) H. 3, 4, Sp. 257 f., „ohne dass inzwischen Erkenntnisse gewonnen worden wären, die das von ihm Formulierte grundsätzlich relativieren.“ 54 Flugblätter, Zeitungen 1989–1990 ( Sächsisches Staatsarchiv Leipzig, Sammlung Zwahr).

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Hartmut Zwahr

diesen zu distanzieren und parteiliche Haltung zu beziehen. Der Sekretär der SED - Grundorganisation ( GO ) ist am 2.10. 89 ab 8.00 Uhr in der 24/10 (24. Etage, Raum 10).“55 Diese Anordnung habe ich nicht befolgt. Später, beim Abschreiben der Tagebücher zum „Prager Frühling“, hielten sie Zwiesprache mit dem Erlebten.56 Die Montagsdemonstrationen umrundeten die innere Stadt. Das System zerbrach. Den 21. August 1988 hatte ich in Prag erlebt. Weil was passieren musste an diesem Tag, bin ich von Karlsbad aus hingefahren. Auf dem Wenzelsplatz passierte es. Die Menschenmenge am Denkmal des Heiligen Wenzel geriet in Bewegung. Junge Leute reckten die Arme überm Kopf, zwischen den Händen Fahnentuch, die nationalen Farben. Damit begann die Demonstration zum Altstädter Markt. In Leipzig geschah Vergleichbares am 2. Oktober ’89. Am Kaufhaus Konsument floss Blut, als die Polizei zuschlug.57 Am 9. Oktober ’89 bewegte sich die Demonstration über den ganzen Leipziger Ring und blieb friedlich. „Am Morgen wurde die Zahl auf 70 000 beziffert, die an der Demo teilgenommen hatten. Es war die größte Demonstration, die es jemals in Leipzig gegeben hat.“58 Es folgte die Zuschrift an Christa Wolf vom 3. November 1989 : „Das haben wir nicht gelernt“ ( Wochenpost, Nr. 47, 24. 10. 1989).59 Iggers brachte den Text aus Leipzig, Winfried Schulze veröffentlichte ihn. „Im administrativen System wirkt der sogenannte demokratische Zentralismus wie eine Saftpresse. Je mehr oben gedreht wird, desto kräftiger läuft es unten erst mal heraus. Dann entstehen Rückstände, und es läuft weniger. An diesem Punkt sind wir angelangt. Wir werden nicht darum herumkommen, das Gerät auseinanderzunehmen. Die Schlussfolgerung : weg mit der Bürokratie ! oder : weniger Bürokratie ! greift zu kurz. Das administrative System muss fallen.“60 55 „29. 9. 89. An alle Sektionsangehörigen, die am 2.10. 89 Lehrveranstaltungen an unserer Sektion durchführen“ ( mit Verteiler ), Sammlung Zwahr, dazu die Dokumentation von Robert Berlin, Mitglied der Lehrredaktion „Campus Online“, von LVZ - Online und dem Studiengang Journalistik der Universität Leipzig, 30. 10. 2009, zum Thema „Wendezeit. Eine Elite verstummt – die Uni Leipzig im Herbst ’89“ mit dem Fazit : „Aus heutiger Sicht wird man wohl feststellen müssen, dass die Universität Leipzig in ihrer 1989er Zusammensetzung, bis auf die bekannten Ausnahmen von Vertretern der damaligen Reformgruppe [...] das bleierne Schweigen zu ihrer Stellung in der Zerfallskrise der DDR bis heute durchgehalten hat.“ 56 Die Originale, Universitätsarchiv Leipzig. 57 Augenzeugenbericht (2. 10. 1989). In : Zwahr, Ende einer Selbstzerstörung, S. 46–50. 58 Zit. ebd., S. 98, Augenzeugenbericht (9. 10. 1989); siehe die Leipziger Erstausgabe des Sax-Verlages Markkleeberg 2014, ergänzt um die Auslassungen der Erstauflage bei Vandenhoeck & Ruprecht; kursiv stehen Ergänzungen im Anmerkungsteil bis zum Erscheinen. 59 Hartmut Zwahr, Zu einer beginnenden Diskussion. Administratives System und Gesellschaft, administratives System und Schule, Geschichtsschreibung usw. usw. In : Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 41 (1990) 11, S. 675–682; Nachdruck in: Rainer Eckert / Wolfgang Küttler / Gustav Feber, Krise – Umbruch – Neubeginn. Eine kritische und sebstkritische Diskussion der DDR-Geschichtswissenschaft 1989/90, Stuttgart 1992, S. 24–32. 60 Ebd., S. 677, am 6. 11. 1989 in der Vorlesung zur Neueren Deutschen Geschichte Lehrerstudenten der Sektion Geschichte vorgetragen.

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Spiegelungen

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An der Sektion Geschichte begann die Zerfallskrise der SED - Parteiorganisation mit der Vollversammlung am 5. Dezember 1989; die Hälfte der Versammlung fehlte.61 Die Wandzeitung forderte zur Diskussion zum Stalinismus auf :62 „Welche Grundaussagen zur Geschichte werden vom Programm verlangt ? Welche Geschichtsdefizite sind zu benennen und zu überwinden ? Wie stehen wir zu Erbe und Tradition im engeren Sinne ( z. B. Stalinismus in der Partei und der Kommunistischen Internationale; Ereignisse 1953, 1956, 1968 usw. ?).“ Protest. Aufregung. Verdächtigungen: „Sabotage, was Du da machst !“ Am 4. Dezember ist die Bezirksbehörde des MfS besetzt worden.63 Die Diktatur zerbrach auf der Straße. „SCHLIESST EUCH AN ! – LOSLAUFEN ! – DIE MAUER MUSS WEG !“64 Mehr war nicht verlangt, und doch zögerten viele. Die Erneuerung des Faches Geschichte in Leipzig erstreckte sich über einen längeren Zeitraum, der im Wesentlichen in die Jahre bis 1993 fällt.65 Aus dem Fachbereich Geschichte ist das Historische Seminar hervorgegangen. Es umfasste zunächst 13 Professuren, darunter fünf Angehörige des bisherigen Lehrkörpers, die zu Professoren „neuen Rechts“ berufen worden sind, und die „NeuLeipziger“. Jeder von ihnen hat die deutsche Teilung auf eigene Weise auf seiner Seite durchlebt, bis die Geschichte sie aufhob.

61 Sammlung Zwahr, Anwesenheitsliste, 5.12. 89. 62 Diskussionsangebot an die Parteigruppen der GO ( Grundorganisation ) Geschichte zur Erneuerung von Partei und Gesellschaft; datiert auf den 28. 11. 1989, die Kopie der Anwesenheitsliste ebd., Universitätsarchiv Leipzig, Sammlung Zwahr, dazu : „Causa Keßler, 1989–2007. Dokumentation“, auch : http ://hsozkult.geschichte.hu - berlin.de / rezensionen; 14. 1. 2008. 63 Zwahr, Ende einer Selbstzerstörung, Bericht vom 4.12.1989, S. 117–135. 64 Ders., Zeitzeugenschaft. Wiederbegegnung mit einem Text vom 6., 7. und 8. November 1989, Erstveröffentlichung in : Ulfried Burz / Michael Derndarsky / Werner Drobesch (Hg.), Brennpunkt Mitteleuropa. Festschrift für Helmut Rumpler zum 65. Geburtstag, Klagenfurt 2000, S. 141–154. 65 Rechtsgrundlage war das Sächsische Hochschulerneuerungsgesetz von 1991 und das Hochschulstrukturgesetz von 1992, dazu : Ulrich von Hehl / Markus Huttner, Geschichte. In : Ulrich von Hehl / Uwe John / Manfred Rudersdorf ( Hg.), Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009, Band 4 : Fakultäten, Institute, Zentrale Einrichtungen, 1. Halbband, Leipzig 2009, S. 157–196, hier 196.

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Annus Mirabilis. Mauerfall, Einheit, Europa Heinrich Oberreuter Wofür steht dieses Thema ? Es steht für das Ende der beiden europäisch geprägten Weltanschauungsdiktaturen. Nach ihrem eigenen Verständnis waren die Rassen - wie die Klassenideologie normativ hoch aufgeladene Denk - und Wertsysteme. Die Forschung erkannte sie schon frühzeitig als „politische Religionen“1, die nicht weniger beanspruchten als die Schaffung eines neuen Menschen und einer eigenen Welt als Gegenmodell zur liberalen, pluralen republikanischen Demokratie. Entsprechende Herrschaftsstrukturen2 ordneten sie sich zu. Dieses Ideologie - und Machtgefüge fand 1989 sein europäisches Ende. Durch den Mauerfall wird diese Implosion symbolisiert, die aber weit über den deutschen Raum hinausreicht : die aus freien Wahlen hervorgegangene, von Solidarność geführte Regierung Polens, die Grenzöffnung Ungarns, die samtene Revolution in Prag, der „baltische Weg“ als 600 Kilometer lange, gegen die Sowjetokkupation gerichtete Menschenkette von Tallinn über Riga nach Vilnius zum 50. Jahrestag des kriegstreiberischen deutsch - sowjetischen Paktes, die Rehabilitation von Imre Nagy in Budapest – all das macht das Annus Mirabilis 1989 aus und zieht die Auflösung der Sowjetunion nach sich. Die deutsche Einheit danach ist ein aktuelles Symbol dafür, dass individuelle Freiheit, Menschenrechte, die Werte und Konstruktionsprinzipien des demokratischen Verfassungsstaats Konsens und Identität zu stiften vermögen : Fundamente einer modernen politischen Kultur – übrigens auch im östlichen Umfeld der Deutschen. Die europäische Einigung steht schließlich für die Wiedergewinnung dieser gemeinsamen politischen Kultur Europas, die sich seit je auf die beiden großen historischen Revolutionen von 1776 und 1789 gestützt hat. Die Chance dazu eröffnete sich just im 200. Jubiläumsjahr der Französischen Revolution.

1

2

Eric Voegelin, Die politischen Religionen, Wien 1939 [3. Auflage München 2007]; Raymond Aron, L’avenir des religions séculières. In : ders., Chroniques de guerre, Paris 1990, S. 925–948 ( urspr. 1944); Hans Maier, Totalitarismus und politische Religionen, Bände 1–3, Paderborn 1996–2003; Hans Otto Seitscheck, Politischer Messianismus, Paderborn 2005. Siehe Uwe Backes / Steffen Kailitz ( Hg.), Ideokratien im Vergleich, Göttingen 2014.

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1.

Heinrich Oberreuter

Geschichtspolitik und Erinnerungskultur

Diese dreifache Symbolik ist in Absetzung von der jüngeren zeitgeschichtlichen Vergangenheit noch immer real, auch wenn der damalige – von Naivität nicht freie – Optimismus verflogen ist und sich ein Vierteljahrhundert danach an der östlichen Peripherie neue Herausforderungen abzeichnen. Vom Ende der Geschichte, weil ein vollkommenes Ziel erreicht sei, redet niemand mehr. Die ursprünglich rein wirtschafts - und innenpolitisch bestimmte Krisenrhetorik nimmt sogar in den etablierten westlichen Demokratien zu, da sich von neuem sicherheitspolitische Fragen stellen. Was ist im Umbruch unterschätzt worden ? Erstens, dass sich die Strahlkraft der Idee mit fortwirkenden Tendenzen der totalitären Sozialisation sowie mit über Jahrzehnte verloren gegangenen demokratischen Erfahrungen zu messen hatte. Zweitens, dass der ökonomische Wandel die Erwartungen keineswegs rasch und perfekt genug zu erfüllen vermochte. Drittens, dass politische und interpretatorische Eliten Einfluss und Macht nennenswert verteidigen könnten. D. h. intensiver Elitenaustausch oder grundlegende Auseinandersetzung mit früheren Verfehlungen war keineswegs der Normalfall. Insofern hat sich die Transformation konfliktgeladen vollzogen. Sie hat auch neue Konflikte provoziert, seien sie politischer, ökonomischer oder ethnischer Natur. Solche Konflikte haben in manchen Ländern Ost( mittel )europas die Herausprägung eines allgemein akzeptierten Grundkonsenses und einer Solidarität mit der demokratischen Verfassungsordnung erheblich erschwert. Wo die Verfassung z. B. Kampf instrument ist, wo mit ihr statt nach ihr gespielt wird, kann sie keinen Konsens stiften. Nicht ohne Grund hat die Venedig - Kommission deswegen die Ukraine kritisiert. Andererseits war die erst weit nach dem Umbruch formulierte neue Verfassung Ungarns weltanschaulich akzentuiert statt konsensuell orientiert.3 Worauf sind diese Tendenzen zurückzuführen ? Im Wesentlichen auf eine Sondersituation : Transformation führt aus der Geschichte heraus. Was überwunden werden soll, ist aber gerade deswegen besonders zu vergegenwärtigen. Diese Vergegenwärtigung geschieht im Wesentlichen in fortwährend neuen Interpretationen. Dadurch eröffnen sich für Geschichtspolitik und Erinnerungskultur – beides Begriffe von junger und aktueller Konjunktur – weite Räume; Räume nicht zuletzt für Subjektivismen und Parteilichkeiten, gerade wenn es um Auseinandersetzungen mit ideologiebestimmten Zeiten und Weltanschauungssystemen geht. Diese hatten ihren Geschichtskult, der durchaus auch über den Kreis der Systemgetreuen hinaus wirken konnte. Vom instrumentalisierten ( und verlogenen ) Antifaschismus in der DDR4 ist dies hinlänglich bekannt, der 3 4

Dazu Heinrich Oberreuter, Verfassung leben – was heißt das ? In : Ellen Bos / Kálmán Pócza ( Hg.), Verfassunggebung in konsolidierten Demokratien, Baden - Baden 2013, S. 15–18. Manfred Wilke, Der instrumentelle Antifaschismus in der SED und die Legitimation der DDR. In : Materialien der Enquete - Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED - Diktatur in Deutschland“, Band III /1, Baden - Baden 1995, S. 120–139;

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Annus Mirabilis

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geradezu zur integrativen Zivilreligion entwickelt wurde, die mit gewissen legitimatorischen Wirkungen auch ins Bewusstsein systemkritischer Bürgergruppen eingesenkt war. Unter Berufung darauf drängte ein Teil von ihnen dazu, „unser Land“ zu erhalten. Grundsätzlich ist angesichts des unzweifelhaften Zusammenhangs von Geschichtsinterpretation und Identität die Neigung zu geschichtspolitischen Verzeichnungen erklärbar. Anfälligkeiten dafür sind gelegentlich nationalistisch, patriotisch oder auch nur volkspädagogisch begründet. Und aktuelle Urteilsbildung wird offensichtlich auch durch frühere ideologische Nähe oder Fehlinterpretationen beeinflusst. Geschichtspolitik und Erinnerungskultur sind in aller Regel intentional. Sie richten sich auf die Deutungshoheit über das jüngst Vergangene, um daraus Schlüsse für die Gegenwart zu ziehen. Überhaupt stellt sich die Frage nach historischer Erinnerung grundsätzlich. „The first step to a sociology of the past is the realization that our social environment affects the way to remember the past“.5 Kollektive Deutungen stoßen von daher in offenen Gesellschaften auf Grenzen. Wie die Gegenwart, gehört die Vergangenheit zur gesellschaftlichen Realität. Sie wird von anderen geteilt. Wenn es kein europäisches Kollektiv gibt, bleibt trotz der gemeinsamen Wertebasis eine gemeinsame Geschichtsinterpretation eine schwerlich zu bestehende Herausforderung. Erinnerungen werden gefiltert und daher notwendigerweise verzerrt. Interpretationen innerhalb spezifischer gesellschaftlicher Umfelder sind unterschiedlich. Unterschiedliche Erinnerungen scheinen daher leichter zu erklären als homogene. Speziell die jüngste Geschichte ist persönlichem, politischem und gesellschaftlichem Interesse ausgesetzt : Recht zu haben, oder zumindest im früheren Denken und Handeln gerechtfertigt zu sein – noch dazu im Kontext eines von seiner historischen Wahrheit und humanitären Mission absolut überzeugten Systems.

5

Bernd Faulenbach, Zur Funktion des Antifaschismus in der SBZ / DDR. In : Deutschland Archiv, 26 (1993), S. 754–760; Günther Heydemann, Die antifaschistische Erinnerung in der DDR. In : Peter März / Hans - Joachim Veen ( Hg.), Woran erinnern ? Der Kommunismus in der deutschen Erinnerungskultur, Köln 2006, S. 71–89; Manfred Agethen / Eckhard Jesse / Erhard Neubert( Hg.), Der missbrauchte Antifaschismus. DDR - Staatsdoktrin und Lebenslüge der deutschen Linken, Freiburg 2002. Eviatar Zerubavel, Social Memories : Steps to a Sociology of the Past. In : Qualitative Sociology, Vol. 19 (1996) 3, S. 283–299. Im Übrigen ist auf die Tradition der sozialwissenschaftlichen Erinnerungsforschung hinzuweisen, für die Emile Durkheim, Maurice Halbwachs und Karl Mannheim stehen. Jüngst : Etienne Francois, Europa als Erinnerungsgemeinschaft ? Anmerkungen zur Frage nach einem europäischen Gedächtnis. In: Volkhard Knigge u. a. ( Hg.), Arbeit am eruopäischen Gedächtnis. Diktaturerfahrung und Demokratieentwicklung, Wien 2011, S. 13–26.

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2.

Heinrich Oberreuter

Erfahrungs - und Deutungswelten

In Deutschland sind uns nach beiden Diktaturen Nostalgie und Fehlinterpretationen samt ihren politischen Folgen nicht unbekannt geblieben.6 Die Transformationsstaaten nach dem Ende des Sowjetblocks haben ähnliche Erfahrungen gemacht. Die verblüffendste ist wohl, dass ihnen ihre eigene historische Erfahrung von westlichen Interpreten, die den Zugang zu dieser Erfahrungswelt weder hatten noch suchten, entwunden werden sollte. In Dresden war dies z. B. bei der ersten Anhörung, die dann zur Gründung des Hannah - Arendt - Instituts führte, zu erleben – gegen den Widerspruch der DDR - Betroffenen, die sich in ihrem Urteil in bester Gesellschaft mit Sacharow, Gorbatschow, Jelzin, Schewardnaze, Jakowlew und den Zeitgenossen unter dem Sowjetsystem befanden.7 Ein Teil der politischen Eliten und Interpreten im Westen erstrebte dagegen schon vor der sich unvorhersehbar dynamisierenden Abenddämmerung des Kommunismus einen pragmatischen modus vivendi mit dem Osten. Manche entwickelten auch ideologische Nähe. Aus beiden Gründen wurde die entscheidende Frage nach der Wertedifferenz der Systeme nicht mehr gestellt8 und der Totalitarismus des real existierenden Sozialismus, schon während er noch bestand, verleugnet. Damit gewann man zu den damaligen Tätern besseren Zugang als zu den Opfern, aber keinen Zugang zur Realität. Realistischer ist man aus unmittelbarer Erfahrung stets in Ostmitteleuropa gewesen, auch in der ostmitteleuropäischen Historiographie. Sie begegnet dem in Russland fortgeschriebenen Paradigma der Befreiung Europas vom NS Totalitarismus durch die Rote Armee mit Reserve und verweist darauf, dass nach 1945 der deutsche Totalitarismus auf ihrem Territorium vom sowjetischen abgelöst worden sei und kann darin keine Befreiung entdecken.9 Typisch für diese Differenz ist die Rede Sandra Kalnietes, damals lettische Außenministerin, zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse 2004 mit der Feststellung, „dass beide totalitären Regime – Nazismus und Kommunismus – gleich kriminell waren“, typisch aber auch die gespaltene Reaktion darauf speziell in Deutschland, das 6

7 8 9

Jenseits des Elitendiskurses ist von Interesse, dass ( nach Allensbach ) drei Jahre nach dem Kollaps der Systeme 57 % der Befragten sie ( im Oktober 1948 im Westen den Nationalsozialismus, im Dezember 1992 im Osten den Sozialismus ) „für eine gute Idee, die schlecht ausgeführt wurde“ hielten. Edgar Piel, Spuren der NS - Ideologie in Nachkriegsdeutschland. In : Heinrich Oberreuter / Jürgen Weber ( Hg.), Freundliche Feinde ? Die Alliierten und die Demokratiegründung in Deutschland, München 1996, S. 145– 167, hier 155. Alexander Jakowlew, Der Bolschewismus, die Gesellschaftskrankheit des 20. Jahrhunderts. In : Stéphane Courtois u. a., Schwarzbuch des Kommunismus, Band 2, München 2004, S. 176–236. Z. B. in den regierungsamtlichen „Berichten zur Lage der Nation“ unter der Leitung von Peter Christian Ludz 1972 ff., die nun eine „systemimmanente Methode“ bevorzugten. Siehe Jan Foitzik, DDR - Forschung und Aufarbeitung der kommunistischen Diktaturen in Ostmitteleuropa und Russland. In : Rainer Eppelmann u. a. ( Hg.), Bilanz und Perspektiven der DDR - Forschung, Paderborn 2003, S. 379; Timothy Snyder, Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München 2011.

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als einziges Land vom „Privileg“ der doppelten Diktaturerfahrung geschlagen ist, wobei man immerhin im Baltikum von doppelter Okkupationserfahrung sprechen kann und muss. Dort ist man sich auch voll bewusst, wie sehr nicht nur das eigene Schicksal, sondern auch die Inszenierung des Zweiten Weltkrieges vom Ribbentrop - Molotow - Pakt (23. 9. 1939) und damit vom Konsens der beiden Diktaturen abhing. In Deutschland ging es aber seit den späten 1960er Jahren weniger um eine Realanalyse. Von den Kritikern des Totalitarismusbegriffs wollte eine Seite die Singularität des Holocaust durch eine moralisch begründete Verweigerung jeden Vergleichs unterstreichen. Die andere Seite wollte in der Entspannungspolitik, politisch begründet, das Sowjetreich kritischen Analysen entziehen. Zugleich gab es traditionell Tendenzen zur Rechtfertigung und Unterdrückung krimineller Fakten aus dem unbedingten Glauben an die kommunistische Utopie, ihren Wahrheitsanspruch und unvermeidlichen Sieg. Jean Paul Sartre z. B. forderte die Unterlassung entsprechender Kritik am Sowjetsystem, weil sie Kapitalismus und Faschismus nütze, während dessen kriminelle Realität Albert Camus zum Austritt aus der Kommunistischen Partei motivierte. Durch moralisch wie politisch begründete Realitätsverweigerung wird einerseits ethisch unzulässig zwischen den Opfern differenziert. Andererseits werden die für eine menschenwürdige politische Ordnung konstitutiven Werte relativiert. Beides ist nicht nur prekär, es ist auch nicht historisch. Beides ist aber bedeutsam für die politische und gesellschaftliche Relevanz der Erinnerung in der Gegenwart. Und es ist von Beginn an eine Belastung des historischen Umbruchs seit 1989 gewesen, in dem die Strahlkraft des Wandels im Alltag Nuancen an Helligkeit verloren hat, nicht jedoch im Grundsätzlichen. Aber dies ist ohnehin das Schicksal großer und visionärer Ideen, sobald sie im Maße ihrer Verwirklichung zwischen die Mühlsteine des Alltags geraten.

3.

In der Wahrheit leben

Jedenfalls hat der Umbruch vom Zwang befreit, in der Lüge zu leben, der vom ideologischen Anspruch des Systems ausgegangen war.10 Darauf spricht der weise Satz Jorge Semprúns an : „Nicht Sprache ist Heimat, sondern das, was gesprochen wird“.11 Auch Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller hat 2009 auf einer Vortragsreise durchs Baltikum aus ihrer ( rumänischen ) Erfahrung verdeutlicht, wie sehr man in seiner Sprache vereinsamen kann, wenn Begriffe und Werte pervertieren. Ehedem ist von Alexander Solschenizyn, Václav Havel und Reiner Kunze der herausfordernde Aufruf ergangen, ohne Lüge in der Wahrheit zu leben, weil sie „Hauptnährboden jeder unabhängigen und alternativen Politik 10 Jakowlew, Der Bolschewismus, die Gesellschaftskrankheit des 20. Jahrhunderts, S. 180. 11 Jorge Semprún, Friedenspreis des deutschen Buchhandels 1994, Frankfurt a. M. 1994, S. 51.

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Heinrich Oberreuter

wird“.12 Dazu erzogen die verflossenen Diktaturen nicht – im Gegenteil. Jetzt bietet ( bei allem Interpretationsstreit ) der seit 1989 offene Umgang mit der Diktaturerfahrung der Suche nach Wahrheit eine Chance, die instrumentelle Geschichtspolitik nicht bot. Freies Fragen rührt an Tabus. Die baltischen Repräsentanten haben das mit ihrer Diskussion über die Moskauer Jubiläumsfeierlichkeiten zum 9. Mai 2005 gezeigt : Dieser Tag im Jahr 1945 bedeute für sie nicht nur Kriegsende und Befreiung, sondern Beginn einer 46 - jährigen Phase sowjetischer Unterdrückung – verbunden mit Deportation, Unfreiheit und Russifizierung. Sie bestanden auf öffentlicher Verdeutlichung ihres Standpunkts und erstrebten, Moskau dazu zu bewegen, die Besetzung des Baltikums, Finnlands und von Teilen Polens als Unrecht anzuerkennen – vergebens. Dass Russland die Geschichte noch auf seine Weise deute und sich dadurch in Moskau und westlich davon zwei Geschichtsinterpretationen diametral entgegenstünden, sei unannehmbar – wie weitsichtig ! Unannehmbar aber nicht nur Interpretationen, sondern auch die Realität, die sich dort damals schon von der Wendezeit wegentwickelt hatte und keineswegs den Maßstäben der Demokratie entsprach. Die Skepsis der Balten ist im Jahr 25 nach 1989 bestätigt worden, da Russland zu einer – nicht kommunistischen, sondern traditionellen – imperialen Großreichsidee zurückgekehrt ist, in der die kommunistischen Zivilisationsbrüche keine Rolle spielen und Erwähnung finden dürfen, weil sie der Grundidee widersprächen. Insoweit stiftet der Große Vaterländische Krieg nun russische und nicht mehr stalinistische Identität und Legitimation, ohne hinterfragt zu werden. Wie geht man mit der Vergangenheit um, wenn man sich nicht ( wie modifiziert in Moskau ) in ihre Kontinuität stellt ? Diese Frage kann – im Postkommunismus bisweilen in Polen oder Tschechien deutlich zu sehen – Gesellschaften spalten, wobei die Idee, einen Schlussstrich zu ziehen, vielleicht am Anfang der neuen Zeit, aber nicht auf lange Sicht, hilfreich war. Ein Schlussstrich exkulpiert nicht nur Unrecht, sondern auch diejenigen, die es nicht sehen wollten, vor allem aber schützte er die Täter auf Kosten der Opfer : Täter und Zuschauer würden sich gleichsam selbst vergeben. Deutschland hat in diesen Dilemmata nach 1945 und 1989 reiche Erfahrungen gesammelt. Grosso modo setzte sich hierzulande der dem Rechtsstaat innewohnende Maßstab durch, individuelles Fehlverhalten nicht durch den generellen Unrechtscharakter des Regimes zu entschuldigen, sondern justiziell zu beurteilen.13 Man kann wohl nicht Brücken in einer Gesellschaft bauen, in denen derartige offene Wunden schwären. Aber Tradition und Talent zur Vergangenheitsbewältigung sind kein europäisches Gemeingut.

12 Vaclav Havel, Versuch, in der Wahrheit zu leben, Reinbek 1989, S. 34. 13 Siehe Werner Wertgen, Vergangenheitsbewältigung : Interpretation und Verantwortung, Paderborn 2001, bes. S. 309–312.

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Annus Mirabilis

4.

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Freiheit und Demokratie

Hinter der Durchsetzung von Freiheit – dieser speziell –14 und Demokratie, symbolisiert durch den Fall von Mauern und Grenzbefestigungen, stehen starke Mehrheiten – in Ostdeutschland wie in Osteuropa. Nur Minderheiten – abgesehen von Russland – sehnen sich nach dem verflossenen System zurück. Die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie rangiert hinter ihrer Wertschätzung als Staatsform – im gesamten Transformationsgebiet.15 Signifikante Unterschiede gibt es in beiden Dimensionen bis heute auch in West - und Ostdeutschland. Sie sind auf die enttäuschten Hoffnungen eines raschen und effizienten Wohlstandswandels auf westliche Höhen zurückzuführen, auf den nur zögerlichen Aufholprozess der „neuen“ Bundesländer in Wirtschaftskraft, Produktivität und Einkommen. Nachhinkende Ökonomien, zudem verbreitete Korruption ( Ukraine, Rumänien, Bulgarien ), erklären auch die noch größere Skepsis in Ost( mittel )europa : Outputorientierung ist ein wesentlicher Faktor für die Wertschätzung eigentlich jedweden politischen Systems. An ihr ist das alte System nicht zuletzt gescheitert, so wie das neue sich an ihr bewähren muss. Vertrauen in Institutionen, Parteien und Politikern leidet unter den gleichen Schwächen wie in den westlichen Demokratien – wie nicht anders zu erwarten. An der Spitze steht praktische überall die Justiz – offensichtlich eine positive Reaktion auf die frühere ideologische Funktion des Rechtssystems. Gänzlich anders verhält sich der Sonderfall Russland. Demokratische, zivilgesellschaftliche Einstellungen sind dort inklusive der Wertschätzung grundrechtlicher Freiheiten unpopulär16 – eine kulturell geprägte generelle Tendenz zu anomischen Einstellungsmustern. Darauf gründet die der großrussischen Reichsidee zuzuordnende autoritäre Herrschaftspraxis, die – ähnlich den verflossenen Diktaturen – nach moralischer Überhöhung strebt. Putin ( und schon Jelzin ) ließen sich von der Kirche segnen, als Ausdruck einer den schwächelnden westlichen Gesellschaften übergeordneten Moral. Wenn im Kontext der Ukraine - Krise Putin mitteilt, in die DNA der Russen sei das Gen des Patriotismus ( und nicht das der Demokratie ) eingeschlossen, das im Wettbewerb mit dem Westen Überlegenheit garantiere, liegt darin eine Bestätigung der empirischen Befunde. Jenseits des russischen Problemfalles herausfordernd für die Transformationsstaaten ist die Entwicklung zivilgesellschaftlicher Strukturen und Verhal14

Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2013. Hg. vom Bundesministerium des Innern, Berlin 2013, S. 72. 15 Gert Pickel / Detlef Pollack / Jörg Jacobs / Olaf Müller, Osteuropas Bevölkerung auf dem Weg in die Demokratie. Repräsentative Untersuchungen in Ostdeutschland und zehn osteuropäischen Transformationsstaaten, Wiesbaden 2006; Thomas Petersen / Dominik Hierlemann / Robert B. Vehrkamp / Christopher Wratil, Gespaltene Demokratie. Politische Partizipation und Demokratiezufriedenheit vor der Bundestagswahl 2013, Gütersloh 2013; Martin Brusis, BTI 2014 – Regionalbericht Ostmittel - und Südosteuropa, Gütersloh 2013. 16 Pickel / Pollack / Jacobs / Müller, Osteuropas Bevölkerung, S. 160.

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Heinrich Oberreuter

tensweisen : Wahlbeteiligung, Parteimitgliedschaft, gesellschaftliches Engagement, das immerhin in Estland in den postkommunistischen Staaten am höchsten ist; gleichwohl engagieren sich 75 Prozent nicht. Auch das ehemalige Gebiet der DDR ist ein Territorium fast ohne bürgerschaftliche Strukturen – Vereine, Organisationen, lokale Parteiverbände – geblieben, mit aufsteigender Tendenz.17 Zieht man Polens Vorreiterrolle im Transformationsprozess in Betracht, bleiben Enttäuschungen über den nach zwei Jahrzehnten erreichten Stand nicht aus. Das Land des partizipatorischen Aufbruchs schien nun eines des Gegensatzes zwischen Beharrung und Bewegung zu sein, gekennzeichnet von einem agonalen, unstrittigen Grundkonsens behindernden Politikverständnis, von Defiziten innerparteilicher Demokratie, autoritären Führungsstrukturen und mangelhafter Attraktivität politischer Partizipation. Der idealistische Impetus ist einer Normalisierung gewichen, die sich der Tendenz nach als Angleichung an die etablierten westlichen Demokratien charakterisieren lässt. Generelles Fazit : Die Demokratie ist im Grundsatz unstrittig – und das ist angesichts der Geschichte und ihrer Belastungen nicht wenig. Ihre reale Umsetzung bleibt defizitär, allerdings in Abstufungen und auch nicht nur in den Transformationsstaaten. Sind unsere Erwartungen an die Demokratie zu idealistisch ?

5.

Konsens und Identität

Die deutsche Einheit ist als Symbol für Konsens - und Identitätsbildung ambivalent. Nach der staatlichen Vereinigung ist mit allzu großen und sogar falschen Erwartungen über die Vollendung der „inneren Einheit“ diskutiert worden. Falsch sind diese Erwartungen gewesen, weil sich schon der deutsche Föderalismus auf unterschiedliche Mentalitäten stützt, weil das Land sehr bewusst in allen Interessen, Einstellungen und Bekenntnissen pluralistisch ist, und weil sich über Jahrzehnte unterschiedliche Lebenserfahrungen, Verhaltensweisen und Erinnerungen ausgeprägt haben. In Deutschland und in Europa erzählt man sich im Grunde zwei Lebensgeschichten, die sich offensichtlich – das war ein deutscher Irrtum – nicht in einer halben Generation angleichen lassen. Auf deutschem Boden gibt es trotz unleugbarer Angleichungsprozesse nach wie vor z. B. zwei politische Kulturen und zwei Parteiensysteme, jeweils nach östlicher und westlicher Lebenserfahrung geprägt. Dazu gehören im Osten auch die enttäuschten wirtschaftlichen Erwartungen, für die nicht dunkle Mächte, sondern das Versagen des Sozialismus verantwortlich gewesen ist. An dieser Wahrheit bestand durchaus kein allgemeines Interesse – ganz im Gegenteil.18 Schon in der

17 Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2013, S. 76 f. 18 Klaus von Dohnany, Ost und West haben sich zu lange belogen. In : Süddeutsche Zeitung vom 27. 7. 2005, S. 2. Siehe auch Gerhard A. Ritter, Der Preis der deutschen Einheit, München 2006.

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Nacht, als die Mauer fiel, las ich am Brandenburger Tor auf einem unscheinbaren, in den Boden gesteckten Transparent die Losung : „Der Westen, der ist schlauer, der baut aus Geld die Mauer.“ Genau das tat er nicht. Die Einheit war und ist teuer. Aber das rasche, zweite Wirtschaftswunder, fast allgemein erwartet, ist ausgeblieben. Inzwischen verliert das kulturelle Erbe der DDR an Erklärungskraft. Dagegen gewinnen ökonomische und sozialstrukturelle Faktoren ( auch die innerdeutsche Migration ) an Bedeutung. Zu jeder Zeit bestimmt der Alltag Lebensgefühl und Weltsicht der Menschen. Insofern ist die Frage töricht, ob die feststellbaren Ost - West - Differenzen situativ ( d. h. nicht zuletzt durch die ökonomische Lage ) geprägt oder sozialisationsbedingt ( also von Erziehung und Erleben – mithin auch von Erinnerung – abhängig ) sind.19 Beides ist der Fall, und den Faktor Sozialisation sollte man auch nach über zwei Jahrzehnten nicht unterschätzen. Es hat auch im Westen einer Generation und des Wirtschaftswunders bedurft, um die Demokratie sich einwurzeln zu lassen. Und auch im Westen sind Wirtschaftskrisen immer von Vertrauenskrisen und Protestphänomenen begleitet gewesen. Die hohen Werte der Demokratie gewinnen immer dann an Prägekraft, wenn die wirtschaftliche und soziale Infrastruktur funktioniert. Bert Brecht hat diese Beobachtung in der „Dreigroschenoper“ in die Verse gegossen : „Was hilft denn Freiheit, ist denn das bequem ? Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm.“ Grenz - und kulturübergreifend ist zu sehen, wie sehr der Zusammenhalt einer Gesellschaft zwar durchaus eine normative Frage ist, wie sehr aber Regierungen ihre Legitimation praktisch auf wirtschaftlichen und sozialen Erfolg gründen. Insofern lässt sich dieser Teil des Erinnerns, der von der Gegenwart Besseres erwartet, von Deutschland cum grano salis auch auf die Transformationsgesellschaften übertragen – und in Deutschland, in Polen und im Baltikum gibt es z. B. erhebliche Erfolge im Vergleich zur Ausgangslage. Für die sozialisationsbedingten Politik - und Weltsichten gilt diese Übertragbarkeit erst recht. Ost - und Westdeutsche haben ziemlich unterschiedliche Einstellungen zu den USA, zur EU und zur NATO. Osteuropäer schätzen dagegen Russland aus Erfahrung und Erinnerung ziemlich anders und realitätsnäher ein als Westdeutsche und Westeuropäer. Sie dürfen sich bestätigt und herausgefordert sehen. Rumsfelds deutliche Bemerkung über das „alte Europa“ ist in der Tat eine seiner weiseren gewesen. Nebenbei fehlt im „alten Europa“ gelegentlich auch das Verständnis für die durch die Diktaturerfahrung belastete innere Integration der postkommunistischen Staaten. Jedoch würden diese ohne die Wiedergewinnung des Rechtsstaats niemals in „Europa“ ankommen. Denn der Bezugspunkt einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft kann eigentlich nur das Recht – und damit auch die rechtliche Bewältigung von Unrecht – sein.

19 Siehe Detlef Pollack, Wie ist es um die innere Einheit Deutschlands bestellt ? In : APuZ, B 30–31/2006, S. 3–7.

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6.

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Nationen in Europa

Eine derart gegründete Erinnerungsgemeinschaft wäre auch die Voraussetzung für eine europäische politische Kultur, für welche die Ereignisse und Prozesse seit 1989 zweifelsohne eine Chance bieten – und zwar über Chamberlains Diktum von 1938 hinausgehend : „Never to go to war with one another again.“ Im Westen war dieser Traum 1989 längst Wirklichkeit.20 Ein sich auch nach Osten erstreckendes Europa ohne Schlagbäume erschien angesichts der Realität von Mauer, Stacheldraht und Minensperren bis zum überraschenden Umbruch 1989/90 allerdings nicht einmal ein Fernziel. Es war eine Illusion. Nun wurden die Türen zur EU weit geöffnet, nicht zuletzt, um die „Wende“ und die Neuen zu stabilisieren. Das hat die EU verändert. In ihre ökonomischen Turbulenzen hat sie aber nicht der Osten, sondern der Süden gebracht. Dieser Aspekt kann hier nicht weiter verfolgt werden, wobei die Krise der EU nicht aus ihrer Idee, sondern aus ihrer aktuellen Performance folgt, die wiederum die Idee untergraben könnte. Untergraben würde sie nicht zuletzt durch ihre emotionale Übersteigerung, nationale Identitäten durch eine europäische überwölben zu lassen. Diesen Weg sind schon die Völker im Westen nicht mitgegangen. Im Osten offenbarte sich nach dem Untergang der sozialistischen Internationale geradezu ein Ausbruch nationaler Emotionen wie in Polen und jüngst Ungarn. Die Balten haben ihre Wende bewusst als Restauration, als Wiederaufnahme der eigenen Tradition von vor 1940, charakterisiert. Es ist arrogant und gemeinschaftsschädlich, solchen Berufungen auf eigene Identitäten mit dem Besitzanspruch auf ein höheres Maß an Aufklärung entgegenzutreten. Dafür gibt es keine Legitimation. Diese Gedaken sind noch nicht einmal europäisch; denn Europa war schon immer gekennzeichnet durch kulturelle Gemeinsamkeiten, die sich national und regional differenziert haben. „Aufklärung“ heißt in Wahrheit Respekt und Toleranz. Auf dieser Basis bedeutet Integration nicht Unifikation, wie ganz zu Recht in Tschechien formuliert worden ist. Die Völker im östlichen Europa, die ihre Identität offensichtlich auch unter dem gegenteiligen Anspruch des Kommunismus bewahrt haben, wollen sie nun nicht nachträglich preisgeben. Dies ist zu respektieren. Denn den ungeahnten Weg, der seit den 1950er Jahren im Westen eingeschlagen worden ist und der seit zweieinhalb Jahrzehnten nun den beigetretenen Ländern offensteht, sollten wir nicht gefährden lassen – weder durch Egozentrik, noch durch ein Übermaß an Integration. So viele Völker Europas waren sich noch nie so einig sowohl in ihren Einstellungen zu den wichtigsten innerstaatlichen Gestaltungsprinzipien wie Menschenrechten, Pluralismus und Demokratie, als auch hinsichtlich ihres grundsätzlichen kooperativen Verhält20 Das russische Großmachts - und Expansionsinteresse fordert 25 Jahre danach diese Friedensdividende von der Peripherie aus heraus – mit undurchsichtigen und unbequemen Konsequenzen.

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nisses. Erinnerung und Erfahrung sind zum Fundament einer civic culture gemäß der Konzeption einer freiheitlichen politischen Ordnung geworden, die das Individuum in ihre Mitte nimmt, den Staat entmythologisiert und Ideologien entmachtet. Wer diese Einstellungen nicht teilt, kann nicht Teil Europas sein.

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Teilung statt Einheit. Das „Dismemberment“ als eine Pfadvariante postkommunistischer Staatenbildung in Europa. Vorüberlegungen für ein vergleichendes Forschungsprogramm Everhard Holtmann

1.

Varianten postkommunistischer Staatenbildung : Sezession, Teilung, Einigung

Die vormals kommunistischen staatlichen Systeme in Mittel - und Osteuropa haben, einschließlich der ihnen zugehörigen Ökonomien und Gesellschaften, im Zuge des Transformationsschubs von 1989/90 einen tiefgreifenden Wandel durchmessen. Geht man bei der Analyse dieses Wandels vom Theorem der Pfadabhängigkeit aus, so gelangt man folgerichtig zu der Erkenntnis, dass die einzelnen Länder des ehemaligen Ostblocks „durchaus unterschiedliche Transformationspfade eingeschlagen haben“.1 Dass der Prozess institutioneller und kultureller Umformung, der innerhalb der einzelnen Transformationsländer in Stufen ablief, seine Dynamik nicht nur rein situativen Bedingtheiten oder ausschließlich kontingenten Faktoren verdankte, sondern auch durch die Schub und Bremskräfte der „Legate“2 fortwirkender historischer Traditionselemente geprägt worden ist, kann ausweislich der vorliegenden Befunde der sozialwissenschaftlichen Transformationsforschung als gesichert gelten.3 Diese Prägekräfte waren sowohl während der den Umbruch einläutenden Phase der Transition als auch in den anschließenden Perioden geordneter Transformation und der dieser wiederum folgenden Posttransformation4 wirksam. 1 2

3 4

Günther Heydemann / Karel Vodička, Einleitung. In : dies. ( Hg.), Vom Ostblock zur EU. Systemtransformationen 1990–2012 im Vergleich, Göttingen 2013, S. 11. Vgl. zu diesem Begriff M. Rainer Lepsius, Das Legat zweier Diktaturen für die demokratische Kultur im vereinigten Deutschland. In : Everhard Holtmann / Heinz Sahner (Hg.), Aufhebung der Bipolarität. Veränderungen im Osten, Rückwirkungen im Westen, Opladen 1995, S. 25–39. Neuestens Heinrich Best / Everhard Holtmann ( Hg.), Aufbruch der entsicherten Gesellschaft. Deutschland nach der Wiedervereinigung, Frankfurt a. M. 2012 sowie Heydemann / Vodička (Hg.), Vom Ostblock zur EU. Ausführlicher zu diesem in heuristischer Absicht vorgestellten Periodisierungsvorschlag vgl. Everhard Holtmann, Transition. Transformation. Posttransformation. Zur Heuristik

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Im gesamten Spektrum der postkommunistischen Systemtransformation stellt die Zergliederung ( dismemberment ) zuvor einheitlicher Staatsgebilde eine besondere Pfadvariante dar. Eine solche Zergliederung von Viel - bzw. Mehr völkerstaaten trat Anfang der 1990er Jahre in zweifacher Ausprägung zutage : einmal als Abspaltung von Staaten ( secession ), die aus dem Zerfall größerer territorialstaatlicher Einheiten wie der Sowjetunion und Jugoslawiens hervorgingen; zum anderen als Teilung ( division ) solcher Länder, die noch den Umbruch und Aufbruch aus kommunistischer Hegemonie als nationalstaatliche Einheiten durchmessen hatten. Sezessionsstaaten des ersten Typus sind etwa die baltischen Staaten oder auch Kroatien und Slowenien. Dem zweiten Typus ist einerseits eine Variante von Separation zuzuordnen, die einseitig erklärt wurde und in gewaltsame interregionale Konflikte mündete; diese Variante dokumentiert exemplarisch der Fall des Kosovo. Ein markanter Teilungsfall, der friedfertig vollzogen wurde, ist andererseits die Auflösung der Tschechoslowakei, aus welcher die Republiken Tschechien und Slowakei hervorgegangen sind. Das vereinigte Deutschland schließlich stellt aufgrund der zeitlichen Koinzidenz von Systemwechsel und Einigung seinerseits einen Sonderfall im Reigen der Transformationsstaaten Europas dar. Zur Dismembration der vormaligen Tschechoslowakei bildet der deutsche Fall gleichsam das polare Gegenstück. Die folgende Übersicht stellt Varianten postkommunistischer staatlicher Neuordnung schematisch dar. Zusammengestellt werden hier typische Formen von Staatenbildung, die aus vormals souveränen größeren staatlichen Einheiten oder aus der Fusion von Teilstaaten entstanden oder dem Austritt aus umfassenderen staatlichen Gebilden gefolgt sind : Varianten postkommunistischer Staatenbildung in Europa Einigung

Sezession

Teilung friedlich:

gewaltsam:

Deutschland

SU/ GUS

Jugoslawien

ČSSR

Serbien

BRD, DDR

Baltische Staaten u. a.

Serbien, Kroatien u. a.

Tschechien Slowakei

Kosovo

des Systemwandels in longitudinaler Perspektive ( SFB 580, Mitteilungen 31), Jena 2009, S. 21–37; ders., Signaturen des Übergangs. In : Aus Politik und Zeitgeschichte, 59 (2009) 28, S. 3–9.

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Dieser Typologie des Dismemberment ist, wie ersichtlich, das geeinte Deutschland als ein abweichender Fall hinzugefügt. Das erscheint auf den ersten Blick widersprüchlich, geschieht jedoch wohlüberlegt in heuristischer Absicht : Gerade weil es sich im Falle Deutschlands um einen singulären transformatorischen Fall handelt, eignet sich dieser „deviant case“ als Kontrastfolie für eine vergleichende Untersuchung. Einigung und Teilung, Unification und Dismemberment stehen, jedenfalls was die Gegenläufigkeit der real abgelaufenen Makroprozesse von Staatswerdung und Nationenbildung angeht, für polar entgegengesetzte Fallbeispiele. Größtmöglich kontrastierende Fälle ( most different cases ) für einen Systemvergleich auszuwählen, ist indes bekanntlich eine in der Vergleichenden Politikforschung erprobte Vorgehensweise.5 Dieser Auswahlentscheidung liegt theoretisch als doppelte Annahme zugrunde, dass, erstens, systemische Ausgangsbedingungen, die sich deutlich voneinander unterscheiden, sehr wohl zu ähnlichen bzw. gleichgerichteten Ergebnissen ( outcomes) führen können. Damit verbunden ist zweitens die Erwartung, dass dennoch begrenzte Abweichungen, also Differenzen in Ausmaß, Intensität, Tempo und Nachhaltigkeit der historischen Resultate auftreten können, verursacht durch einzelne nationalspezifische erklärende Variablen, die wiederum für bestimmte strukturelle Ausstattungsunterschiede der untersuchten Fallbeispiele stehen. Auch diese erklärenden Faktoren, die bei identischer Grundausstattung für gewisse Varianzen im Outcome sorgen, gilt es demgemäß im Wege der Analyse zu identifizieren. Für die Formulierung eines Forschungsprogramms müssten die oben kurz umrissenen Annahmen mittels einer entsprechenden Hypothesenbildung konkretisiert werden. Diesen Ansatz aufnehmend, gehen die nachstehenden Überlegungen dahin, den klassischen Untersuchungsansatz der Transformationsforschung, welcher den „Gesamtkontext der postkommunistischen Systemtransformation“6 in den Blick nimmt, insoweit zu modifizieren, als die beiden Extremfälle Deutschland und Tschechien / Slowakei bewusst in den Fokus komparativer Analysen gerückt werden. Einigung und Teilung verweisen auf gegensätzliche Randbedingungen. Auf gleiche Zielvorgaben hin ausgerichtet ist andererseits in beiden Fällen das, was erklärt werden soll, also die – sei es erfolgreich fortgeschrittene, sei es zurückgebliebene – Verwirklichung des reformpolitischen Großprojekts politischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Modernisierung. In allen drei Ländern der Fallgruppe ČSSR / Tschechien / Slowakei stimmten die im Epochenjahr 1990 institutionalisierten Systemziele in ihren programmatischen Kernforderungen überein. Proklamiert wurden eine liberale, pluralistische, wohlfahrtsstaatlich und rechtsstaatlich abgesicherte Demokratie sowie wirtschaftliche Reformen. Wie weit letztere bei der Neuregelung des Verhältnisses von Markt

5 6

Vgl. Sabine Kropp / Michael Minkenberg ( Hg.), Vergleichen in der Politikwissenschaft, Wiesbaden 2005. Heydemann / Vodička (Hg.), Vom Ostblock zur EU, S. 13.

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und Staat, von privater und vergesellschafteter Verfügungsmacht gehen sollte, war allerdings zwischen Tschechen und Slowaken umstritten.7 Die im Folgenden skizzierte Forschungsidee gliedert sich in zwei gedankliche Schritte. Zunächst werden ausgewählte theoretische Erklärungsansätze, die sich im Kontext der Transformationsforschung bewährt haben, auf ihre Passfähigkeit für den Sonderfall der Teilung der Tschechoslowakei und die daraus hervorgegangenen Nachfolgestaaten hin geprüft. Soweit es sich dabei als notwendig herausstellt, werden Vorschläge zur Anpassung der Erklärungsansätze gemacht. Anschließend werden ein Analyseraster für eine vergleichende Untersuchung der „extremen“ Transformationsfälle Deutschland und ČSSR ( bzw. Tschechien und Slowakei ) und einige darauf bezogene untersuchungsleitende Fragen formuliert.

2.

Institutionen, Akteure, Pfadabhängigkeiten– eine bewährte Heuristik mit eingebauten Fallstricken

Welche theoretischen Zugänge bieten sich für den hier vorgeschlagenen Vergleich an ? – Die Befunde der bisherigen Transformationsforschung bestätigen die besondere Bedeutung der Akteur - Institutionen - Konstellationen, die sich im Zuge der staatlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen herausbilden.8 Institutionenwandel und Akteursallianzen, die sich aus der Machtprobe zwischen Altund Gegeneliten herausbilden, erwiesen sich als beschleunigende Treiber eines jeden Transformationsprozesses. Der Um - und Neubau der Institutionen als solcher reduziert die Unsicherheit und Instabilität, die einem Systemumbruch regelmäßig folgen; das sorgt für Berechenbarkeit und Regelhaftigkeit des Akteurshandelns und stellt insoweit eine notwendige ( nicht automatisch hinreichende ) Bedingung für die Konsolidierung des Systemwandels dar. Es sind die erneuerten Institutionen, die das Handeln der Akteure rahmen, ohne es jedoch strikt zu reglementieren. Akteure haben vielmehr, wie die Untersuchungen des Sonderforschungsbereiches ( SFB ) 580 der Deutschen Forschungsgemeinschaft ( DFG ) für das vereinigte Deutschland bestätigten, „in der Regel genügend

7

8

Rüdiger Kipke zufolge hegten die Sieger der Parlamentswahlen 1992 in beiden Teilrepubliken „sehr unterschiedliche ordnungspolitische Vorstellungen“. Vgl. ders., Slowakische Republik. In : Heydemann / Vodička ( Hg.), Vom Ostblock zur EU, S. 193–214, hier 194. Karel Vodička weist darauf hin, dass die Slowaken, anders als die Tschechen, Privatisierung und marktwirtschaftliche Reformen mehrheitlich ablehnten. Vgl. ders., Das politische System Tschechiens. In : Wolfgang Ismayr ( Hg.), Die politischen Systeme Osteuropas, 2. Auflage Opladen 2004, S. 247–284, hier 274. Vgl. außer Best / Holtmann ( Hg.), Aufbruch, ferner Astrid Lorenz ( Hg.), Ostdeutschland und die Sozialwissenschaften. Bilanz und Perspektiven 20 Jahre nach der Wiedervereinigung, Berlin 2011; Heinrich Best / Katharina Bluhm / Michael Fritsch / Rainer K. Silbereisen ( eds.), Transitions – Transformations : Trajectories of Social, Economic and Political Change after Communism. In: Historical Social Research, 35 (2010) 2.

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Spielraum, um zwischen mehreren möglichen Problemlösungen zu entscheiden“.9 Mit anderen Worten : Weil Akteure – trotz oder gerade wegen institutioneller Reformen – zwischen alternativen Handlungsoptionen wählen können, sind sie strategiefähig. Und eben dieses strategische Vermögen war in den Zeiten des Umbruchs nach 1990 dann besonders gefragt, wenn im Fortgang der Transformation sogenannte „kritische Zeitschwellen“, d. h. die in der Begriffssprache des historischen Institutionalismus so bezeichneten critical junctures auftauchten. „An den historischen Verzweigungspunkten haben Akteure Oberwasser und relativ weite Handlungsspielräume.“10 Im Zuge des individuellen und kollektiven Handelns der Akteure werden Pfadabhängigkeiten neu angebahnt und außerdem auch teilweise alte Dependenzen reaktiviert, die auf historisch weiter zurückreichende kulturelle Traditionsbestände verweisen. Das Pfadtheorem hat zweifellos den Vorzug einer allgemein hohen Plausibilität und auch empirisch nachgewiesener Erklärungskraft. Dennoch hält das Theorem auch einen analytischen Fallstrick bereit : Die Pfadmetapher als solche verleitet dazu, die Vorstellung eines geradlinig in „eingespurten“ Bahnen verlaufenden, linear aufsteigenden Modernisierungsweges zu übernehmen. Diese Annahme kann in die Irre führen. Zu Recht weist Heinrich Best darauf hin, dass es den scheinbaren Automatismus von einerseits sinkenden Kosten der Pfaderkundung und andererseits ansteigenden Opportunitätsgewinnen beim Weitergehen auf einmal eingeschlagenem Pfad so nicht gibt.11 Tatsächlich belegt gerade das Beispiel der Teilung der Tschechoslowakei, dass diese kritische Einlassung begründet ist. Die dem Dismemberment folgende doppelte Staatsgründung lässt sich als zweite Transition begreifen, welche zwar den vorangegangenen Systemwechsel zur Demokratie fortschreibt, zugleich aber aus der institutionellen Kontinuität des Vorläuferstaates heraustritt. Die Werturteilsfrage, ob damit mehr Rückschritte oder mehr Fortschritte verbunden gewesen sind, kann hier nicht weiter erörtert und erst recht nicht abschließend beantwortet werden. Unbeschadet dessen haben sich die politisch herrschenden Eliten Tschechiens und der Slowakei an der „kritischen Zeitschwelle“ von 1992 für eine einschneidende Pfadkorrektur entschieden, und dies relativ kurz nach der Zäsur des Systemwechsels.12 „Linear“ ist diese Choreographie der Pfadfindung folglich keineswegs verlaufen.

9 Best / Holtmann ( Hg.), Aufbruch der entsicherten Gesellschaft, S. 14. 10 Ebd., S. 14 und 19. 11 Möglich sei mitunter „a trade - off between decreasing transaction costs of an established path and increasing opportunity costs of following the same path“. Vgl. Heinrich Best, Transitions, Transformations and the Role of Elites. In : Historical Social Research, 35 (2010) 2, S. 10. 12 Vgl. hierzu Rüdiger Kipke, Slowakische Republik. In : Heydemann / Vodička (Hg.), Vom Ostblock zur EU, S. 194; Karel Vodička, Tschechien. In : ebd., S. 168 f.; ders., Das politische System Tschechiens. In : Ismayr ( Hg.), Die politischen Systeme Osteuropas, S. 263 und 274.

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Der Annahme einer ununterbrochen aufsteigenden Geradlinigkeit des Transformationsgeschehens widerspricht die Beobachtung der Entwicklung in der tschechischen und der slowakischen Republik noch in zwei weiteren Punkten : Die Bevölkerung beider Länder ist dem von den politischen Führungsgruppen eingeschlagenen Weg der Teilung mehrheitlich offensichtlich zunächst nur widerstrebend gefolgt.13 Und : Normalerweise sind neue Positionseliten bemüht, die nach erfolgtem Systemumbruch sich ausbreitende generelle Unsicherheit zu reduzieren und auf diese Weise gesellschaftliche Turbulenzen zu steuern.14 Erst dadurch erlangen sie Entscheidungsfähigkeit und positionelle Autorität. Hier jedoch wurde durch das von oben herbeigeführte Dismemberment zusätzliche Unsicherheit großen Formates bewusst freigesetzt. Sowohl die ( zumindest zeitweise nachweisbare ) Entkopplung von Bevölkerungspräferenzen und Elitenhandeln als auch das kalkulierte Erzeugen zusätzlicher Unsicherheit sprechen, wohlgemerkt, nicht prinzipiell gegen die Erklärungskraft des Pfadtheorems, wohl aber gegen dessen linear - progressistische Verengung.

3.

Exit sticht Voice – Adaption und Abwandlung des Hirschman’schen Erklärungsansatzes

In seiner berühmten Abhandlung hat Albert O. Hirschman Anfang der 1970er Jahre die Handlungsweisen von „Abwanderung“ ( Exit ) und „Widerspruch“ (Voice ) als typische Handlungsmuster kollektiven Protests beschrieben.15 „Abwanderung“ meint demzufolge „die Handlungsweise des einfachen Fortgehens“ als Reaktion auf ein verschlechtertes Angebot von Waren, organisationsinternen Anreizen, Dienstleistungen oder Wohltaten. Wer „abwandert“, praktiziert eine „wesenhaft private und typischerweise stumme Handlungsweise“.16 „Widerspruch“ ist hingegen „typischerweise eine öffentliche Handlungsweise, die Organisation, Abstimmung mit anderen, Delegierung und all die übrigen Kennzeichen kollektiven Handelns nicht unbedingt erfordert, aber durch sie gedeiht“.17 „Widerspruch“ äußert sich als sich Beschweren oder als Organisieren von Kritik und Protest.18 Hirschman selbst hat kurz nach dem 1989/90 erfolgten Systemumbruch in Deutschland seinen theoretischen Erklärungsansatz anhand der Entwicklung während der Spätzeit und der Agoniephase der DDR überprüft. In Ansehung 13 So Vodička, Tschechien, S. 166, und ders., Das politische System Tschechiens, S. 247. 14 Vgl. Best u.a. (eds.), Transistions. In: Historical Social Research, 35 (2010) 2, S. 11. 15 Albert O. Hirschman, Exit, Voice and Loyalty : Responses to Decline in Firms, Organizations and States, Cambridge, MA 1970 ( deutsche Übersetzung : Abwanderung und Widerspruch, Tübingen 1974). Die von Hirschman dortselbst eingeführte dritte Kategorie „Loyalty“ können wir hier einstweilen vernachlässigen. 16 Ders., Abwanderung, Widerspruch und das Schicksal der Deutschen Demokratischen Republik. In : Leviathan, (1992) 3, S. 330–358, hier 351. 17 Ebd. 18 Ebd., S. 333.

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der dortigen Ereignisse nahm er zwei Korrekturen vor : Zum einen stellte er fest, dass offenbar „beide Verhaltensweisen zugleich aktiviert werden“ könnten. Zum anderen kam er zu der Erkenntnis, dass in der DDR das sich Aufbauen von Widerspruch jahrzehntelang „durch die reale oder imaginierte Verfügbarkeit von Abwanderung in den Westen“ indirekt unterminiert worden sei.19 Damit verglichen, seien die Handlungserwartungen in den osteuropäischen Transformationsländern im Großen und Ganzen auf das jeweilige Land beschränkt geblieben. „Die Möglichkeit, das eigene persönliche Los zu verbessern, indem man einfach wegging und in das andere, größere, freiere und dann bald auch wohlhabendere Deutschland umzog, unterscheidet fundamental die ostdeutsche Nachkriegserfahrung von der der Polen, Tschechen und Ungarn.“20 Hirschmans polares Handlungsmuster erscheint meines Erachtens geeignet, auch die besonderen Handlungslogiken freizulegen, welche im Zuge des Dismemberment der ČSSR wirksam wurden. Da indessen die Teilung eines Landes, ebenso wie die Vereinigung, einen transformatorischen Sonderfall abbildet, stellt sich die Frage, ob und inwieweit „Exit“ und „Voice“ in ihrer Anwendung abermals neu justiert werden müssen. Dies erscheint in mehrfacher Hinsicht angebracht. Zunächst einmal steht erstens fest, dass im Ergebnis der Teilung der ČSSR auch Tschechen und Slowaken „einfach weggegangen“ sind. „Dismemberment“ hat „Exit“ im Gefolge. Zum anderen verkehrten sich zweitens, anders als bei Hirschmans Szenario, die Vorzeichen von „Exit“ im Sog der zentrifugalen Fliehkräfte, die damals ČSSR - intern freigesetzt wurden, auf doppelte Weise : Hier äußerte sich „Exit“ nicht als private, sondern als öffentliche, politische Zielsetzungen transportierende Aktion. Zudem waren nicht einfache Bürgerinnen und Bürger, die als Konsumenten oder als Organisationskritiker auftreten, die sozialen Träger von „Exit“, sondern es waren die tschechischen und slowakischen politischen Eliten, die den Austritt zielstrebig vorantrieben. Drittens waren es offenbar eben dieselben Eliten, die auf ausgleichende bzw. vermittelnde, d. h. in diesem Fall konkret der Teilung entgegenwirkende Möglichkeiten von Widerspruch, die lt. Hirschman auch eine Variante von „Voice“ sein können,21 verzichteten. Hält man sich diese Besonderheiten bewusst, so erscheint die Exit - Voice - Heuristik gut geeignet, auch den Prozess des Dismemberment der ČSSR in seinen speziellen Ausprägungen zu untersuchen.

19 Ebd., S. 340. 20 Ebd., S. 335. 21 „Widerspruch“ schließt Hirschman zufolge das Bestreben ein, „die Beziehung [...] durch Kommunikation und Bemühungen zur Versöhnung wiederherzustellen“. Ebd., S. 333.

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4.

Everhard Holtmann

Doppelte Transition, verschobene Transformation ? – Abweichungen im Phasenmodell des Systemwandels unter Bedingungen des Dismemberment

Der Entwicklungsgang, den Staaten während und nach erfolgtem Systemwechsel nehmen, ist typischerweise durch Umbrüche, Sprünge und abrupte Schritte, Unwägbarkeiten und unvorhersehbare Nebenfolgen gekennzeichnet. „Riskantes“ Handeln ist an der Tagesordnung, und Versuche, auftretende Probleme zu lösen, verwandeln sich häufig in Problemlagen der zweiten und dritten Generation, auf welche wiederum reagiert werden muss. In dem Maße aber, wie sich Handlungsroutinen einstellen und bei der Bewältigung von Risiken Wiedererkennungseffekte auftreten, bewegt sich die Umbruchsgesellschaft allmählich in ruhigeren Bahnen. Das Experiment des Systemwechsels tritt damit in seine Konsolidierungsphase ein – wohlgemerkt, mit der Option, dass eine Rückabwicklung bereits erzielter Reformfortschritte und Modernisierungsguthaben nicht prinzipiell ausgeschlossen ist. Den Handelnden selbst bleiben die dieser Entwicklung inhärenten Verlaufslogiken in aller Regel verborgen, stehen sie doch unter einem situationsbezogenen, permanent hohen Erwartungs - und Handlungsdruck. Erst im Rückblick und gleichsam aus der Vogelschau treten „Signaturen des Übergangs“22 deutlicher hervor, die aufeinanderfolgende und voneinander unterscheidbare Phasen der Entwicklung nach dem Umbruch markieren. In derartigen Phasen verändert sich der Aggregatzustand des Umbruchs und gewinnt somit neue Gestalt und Materialität. Um sequentielle Strukturbildungen, Entwicklungsdynamiken und Handlungsorientierungen als phasentypisch zeitlich zuordnen und inhaltlich klassifizieren zu können, wurde im SFB 580 ein Drei - Stufen - Modell erstellt, mit welchem die in der Systemwechselforschung geläufigen Prozessgrößen „Transition“ und „Transformation“23 um eine dritte Größe „Posttransformation“ erweitert worden ist.24 Unter „Transition“ wird, übereinstimmend mit der einschlägigen Literatur, der plötzliche, häufig überstürzt verlaufende Übertritt von der erodierenden alten zur – zunächst noch ungeregelten – neuen Ordnung verstanden. Kennzeichnend für die anschließende Phase der Transformation sind unter anderem die formale Ratifikation des Institutionenwandels sowie ein sich Gewöhnen an den Umgang mit allgegenwärtigen Unsicherheiten. Hinfort bewegen sich die Akteure bereits mehr und mehr in Bahnen des Entscheidungshandelns, deren Wiedererkennungswerte steigen. Weil „die latenten sozialen und ökonomischen Risiken insgesamt vertrauter“ werden, kann, die Entscheider 22 Vgl. Everhard Holtmann, Signaturen des Übergangs. In : APUZ, 59 (2009) 28, S. 3–9. 23 Vgl. pars pro toto Wolfgang Merkel, Systemtransformation, Opladen 1999. 24 Holtmann, Signaturen; ausführlicher ders., Transition, Transformation, Posttransformation – zur Heuristik des Systemwandels in longitudinaler Perspektive ( SFB 580, Mitteilungen 31), Jena 2009, S. 21–36; neuestens ders., Sozialwissenschaftliche Sichtweisen auf Transformationen der Region. In : Silke Satjukow / Patrick Wagner ( Hg.), Jahrbuch für sachsen - anhaltinische Landesgeschichte 2014 ( im Erscheinen ).

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entlastend, in wachsendem Maße „auf ‚musterhafte‘ Lösungen zurückgegriffen werden“.25 Auch in der Phase der Posttransformation bleibt das „management of uncertainty“26 weiterhin handlungsleitend. Doch die Handlungsrisiken verringern sich bzw. werden besser kontrollierbar. Folgende Signaturen kennzeichnen das posttransformatorische Stadium des geeinten Deutschlands : (1) Es existieren leistungsfähige und allgemein akzeptierte staatlich - politische Institutionen; (2) es sind vergleichsweise stabile Handlungsmuster auf der Akteursebene verfügbar; (3) soziale Unterschiede treten stärker in „normalisierter“ Form auf, sie folgen den Selektionskriterien einer modernen Leistungsgesellschaft; (4) prekäre Kontextbedingungen, gespeist z. B. durch globale Wirtschafts - und Finanzkrisen, demografischen Wandel ( Alterung, Migration ) oder die Überschuldung öffentlicher Haushalte, üben wachsenden Druck aus; (5) Machtkämpfe und Interessenkonflikte werden demokratieverträglich ausgetragen, Verfassung und Recht werden als nichtkontroverser Sektor grundsätzlich akzeptiert; (6) die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte schreitet fort; (7) es formt sich eine wachsende Konvergenz der Eliten hinsichtlich der Systemziele ( Verfassungsloyalität, Rechtstreue, repräsentative Demokratie u. a.m.) aus, gleichzeitig nimmt die vertikale politisch - kulturelle Distanz zwischen Eliten und Bevölkerung zu, was sich beispielsweise in unterschiedlichen Niveaus des Institutionenvertrauens, der Einschätzung der Performanz der Regierung oder der gefühlten Rückkopplung der Gewählten an ihre Wähler ( Responsivität ) ausdrückt.27 In den beiden nachstehenden Abbildungen28 wird am Beispiel der deutschen Einigung die Stufenfolge von Transition, Transformation und Posttransformation in den für das jeweilige Entwicklungsstadium phasentypischen Struktur - , Prozess - und Handlungsmerkmalen schematisch dargestellt.

25 Holtmann, Signaturen, S. 6. 26 Peter A. Hall / Rosemary C. R. Taylor, Political Science and the Three New Institutionalisms. In : Political Studies, 44 (1996), S. 936–957, hier 951. 27 Vgl. Heinrich Best / Lars Vogel, Zweimal deutsche Vereinigung : System - und Sozialintegration der politischen Eliten nach 1871 und 1990 im Vergleich. In : Best / Holtmann ( Hg.), Aufbruch der entsicherten Gesellschaft, S. 85–103. 28 In dieser Fassung erstmals veröffentlicht in Holtmann, Sozialwissenschaftliche Sichtweisen.

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Das Zwei - Stufen - Modell des Systemwechsels in Ostdeutschland Transition • Moralische Abwertung der alten Macht • Improvisation, spontane Aktionen, kalkulierte Regelverletzungen • „Schöpferische Zerstörung“ (z. B. Ablösung alter Leistungskader, Auflösung des MfS) • Verlust des Herrschafts- und Ideologiemonopols der alten Staatsmacht und der Einheitspartei SED • Handlungsstarre und Anpassung im alten Staatsapparat • Zerfall des Parteiensystems der „Nationalen Front“ • Virtuelle Identifikation der Ostdeutschen mit dem westdeutschen Parteiensystem • Institutionelle Zwischenlösungen (Bürgerkomitees, Runde Tische)

Transformation • Dauerhafte Einsetzung und Durchsetzung neuer Strukturen, Normen und Regeln (abgesicherter „Institutionentransfer“; sozialer und föderaler Rechtsstaat mit kommunaler Selbstverwaltung; soziale Marktwirtschaft; korporatistisch regulierte Arbeitsbeziehungen, teilweise ohne Tarifbindung) • Entfaltung der neuen Rechtsordnung und z. T. schon „Reparaturgesetzgebung“ • Verrechtlichung neuer politischer Weichenstellungen (z. B. Rückübertragung von Vermögen, Altschuldenhilfen) • „Entwicklungspfade“ der Einigung werden deutlicher sichtbar (u. a. durch vermehrten und wiederholten Einsatz „musterhafter“ Lösungen)

Das Strukturmuster der Posttransformation • Neue Normallage der Institutionenordnung, Konsolidierung „entschleunigte“ Problembearbeitung, u. a. durch Verfahrensroutinen und dichtere Formalisierung von Aufgaben; Minderung von Handlungsunsicherheit dank treffsicherer Folgenabschätzung (abnehmende Problemdimension) • Sekundärer Institutionenwandel (Kommunale Gebiets- und Verwaltungsreformen, Privatisierung und Reregulierung) • Ernüchterungseffekte und kontextuelle „constraints“ (Finanznot der Gebietskörperschaften, Abwanderung, Alterung u. a.), „ doppelte Transformation“ als kritischer Hyperkontext (zunehmende Problemdimension) • Stärker generalisierte Selbstwirksamkeit (Faktor Bildung)

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Das abgebildete Drei - Phasen - Modell wurde, wie oben erwähnt, zu Zwecken der Untersuchungen der deutschen Einigung innerhalb des SFB 580 entwickelt. Gleichwohl verweist der erstellte Merkmalskatalog über den Fall Deutschland hinaus auf verallgemeinerbare Kennzeichen von Transformationsstaaten schlechthin, und zwar selbst dort, wo die Namensgebung von Sachverhalten und Einrichtungen, wie SED, MfS, Nationale Front etc., unverwechselbar deutsch ist. Denn hinter dieser nationalen Etikettierung stecken strukturelle Ausstattungsmerkmale, die 1989/90 transnational übereinstimmen. Deshalb erscheint das Schema meines Erachtens geeignet, als Ausgangspunkt für eine systematisch - analytische wie diachrone vergleichende Untersuchung auch des tschechisch - slowakischen Teilungsfalles zu dienen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass der Gang der Entwicklung im letzteren Fall eine von Deutschland longitudinal abweichende Verlaufskurve genommen hat. Der Initialphase des Zerfalls des kommunistischen Regimes und der anschließenden Demokratisierung ist in der Form der Spaltung des Staatsgebildes eine zweite Transition gefolgt. Zwar hat letztere weder die neuen gesellschaftlichen Leitbilder grundständig revidiert noch die Basisnormen des Systemwechsels ( Demokratie, Rechtsstaat, Marktwirtschaft ) zurückgenommen. Wohl aber kam es zu einem erneuten Umbau der staatlichen Institutionen und parastaatlichen Organisationen, der mit hoher Wahrscheinlichkeit einen zusätzlichen Schub an Unsicherheit mit sich brachte und so die politischen bzw. psychologischen Transaktionskosten des mittels neuer Staatenbildung verdoppelten Systemwandels gesteigert hat. Erwähnt sei hier nur die Auseinanderentwicklung der Parteiensysteme nach der Zäsur des Dismemberment. Inwieweit sich beide konsekutive Akte der Transition in ihren Wirkungen und Nachwirkungen überlagerten und in welcher Weise diese Überschichtung wiederum die folgenden Phasen der Transformation und Posttransformation in den Nachfolgestaaten geprägt respektive verzögert hat, ist für künftige komparative Forschung eine höchst spannende untersuchungsleitende Frage.

5.

Einigung und Teilung : Vorteile oder Lasten ?

Die Schlüsselfrage lautet : Wo werden, im Vergleich der Fälle Deutschland und Tschechien / Slowakei, einigungsbedingte und teilungsspezifische Vorteile und Lasten erkennbar ? – Die nachstehende Vierermatrix setzt diese Forschungsfrage in ein einfaches Analyseraster um :

Einigungslasten

Einigungsvorteile

Teilungslasten

Teilungsvorteile

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Die allgemeine Forschungsfrage könnte wie folgt näher aufgeschlüsselt werden: (1) Wo gibt es in der Entwicklung dieser besonderen Transformationsfälle einen tendenziellen Gleichlauf von einigungs - und teilungsinduzierten Vorteilen, wo einen solchen von identifizierbaren Lasten ? (2) In welchen Sektoren hat sich die Einigung oder die Teilung für die Entwicklung im bisherigen Ergebnis als vorteilhafter erwiesen ? (3) In welchem Maße konnten einerseits Einigungslasten und Einigungsvorteile ausgeglichen und andererseits Teilungslasten und Teilungsvorteile austariert werden ? Diese ( und weitere ) Fragestellungen müssen in vergleichende operationale Untersuchungsschritte übertragen werden. Angewandt werden können sie gleichermaßen auf kulturelle Konfigurationen wie Wertbezüge und Einstellungen, auf strukturelle Formate, wie z. B. die Dissoziierung und neuerliche Bildung von Eliten oder auch die Neuformierung der Parteien und Parteiensysteme. Weitere Anwendungsfelder wären einzelne territoriale Arenen, dort der vertikalen Gewaltenteilung in nationale, regionale und lokale Politik und Administration folgend, sowie verschiedene sektoral eingrenzbare Problemlagen, welche transformationsbedingte gesellschaftliche Herausforderungen spiegelten und / oder die Agenda wichtiger Politikfelder bestimmten. Hierzu gehören beispielsweise die Liberalisierung der Wirtschaft und die Neuordnung des Arbeitsmarktes ebenso wie Wohlfahrtsstaatlichkeit, öffentliche Finanzen, der Agrarsektor, das Bildungswesen und, last but not least, die individuelle Bewältigung entwerteter Lebensentwürfe und unsicherer Zukunftsperspektiven. Fragen stellen sich nicht zuletzt auch im Hinblick auf die besonderen Möglichkeiten und Schwierigkeiten staatlicher Governance : Wie ist der Prozess des zweimaligen Anlaufs, unter demokratischen Vorzeichen Regierbarkeit zu gewinnen und zu gewährleisten, in Tschechien und der Slowakei verlaufen ? – Welche Faktoren haben die Rekonstruktion einer funktionierenden Staatstätigkeit (Gouvernementalität ) in dem der Teilung der ČSSR folgenden verkleinerten nationalstaatlichen Format gehemmt oder gefördert ? – Welche Bedeutung kam der – mit dem EU - Beitritt von 2004 wirksam gewordenen – supranationalen Überformung beider Länder zu, die parallel einen Prozess nationalstaatlicher Findung durchliefen ?

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Autorenverzeichnis Uwe Backes, Dr. phil., stellvertretender Direktor des Hannah-Arendt-Instituts und apl. Prof. für vergleichende Diktaturforschung an der TU Dresden Christopher Beckmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Konrad-Adenauer-Stiftung in St. Augustin Detlev Brunner, PD Dr. phil., Vertretung des Lehrstuhls für Neuere und Zeitgeschichte an der Universität Leipzig Jürgen Faulenbach, bis 2011 Leiter des Fachbereichs „Print“ bei der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) in Bonn Udo Grashoff, Dr. phil., DAAD Francis L. Carsten Lecturer for Modern German History, University College London Gerald Hacke, Dr. phil., Historiker in Dresden Everhard Holtmann, Dr. phil., bis 2012 Prof. für Politikwissenschaft und seit 2012 Forschungsdirektor am Zentrum für Sozialforschung Halle e. V. (ZSH) an der Universität Halle-Wittenberg Eckhard Jesse, Dr. phil., bis 2014 Prof. für Politische Systeme, Politische Institutionen an der TU Chemnitz Stefan Karner, Dr. phil., Prof. an der Universität Graz, Leiter des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung (Graz-Wien) und Vorstand des Instituts für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte der Universität Graz Alfons Kenkmann, Dr. phil., Prof. für Geschichtsdidaktik an der Universität Leipzig Michael Lemke, Dr. phil., bis 2009 Forschungsbereichsleiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam und bis 2013 apl. Prof. an der HumboldtUniversität Berlin Gunther Mai, Dr. phil., bis 2014 Prof. für Neuere und Zeitgeschichte an der Universität Erfurt

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Horst Möller, Dr. Dr. h. c. mult., bis 2011 Direktor des Instituts für Zeitgeschichte und Prof. für Neuere und Neueste Geschichte an der LMU München Werner Müller, Dr. phil., bis 2012 Prof. für Zeitgeschichte an der Universität Rostock Heinrich Oberreuter, Dr. phil., bis 2010 Prof. für Politikwissenschaft an der Universität Passau, bis 2011 Direktor der Akademie für Politische Bildung in Tutzing Thomas Schaarschmidt, PD Dr. phil., Abteilungsleiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam Detlef Schmiechen-Ackermann, Dr. phil., apl. Prof. und seit 2013 Direktor des Instituts für Didaktik der Demokratie an der Leibniz-Universität Hannover Clemens Vollnhals, Dr. phil., stellvertretender Direktor des Hannah-ArendtInstituts und Lehrbeauftragter für Zeitgeschichte an der TU Dresden Udo Wengst, Dr. phil., bis 2012 stellvertretender Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München und apl. Prof. an der Universität Regensburg Hermann Wentker, Dr. phil., Leiter der Abteilung Berlin des Instituts für Zeitgeschichte und apl. Prof. an der Universität Leipzig Oliver Werner, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung in Erkner Hartmut Zwahr, Dr. phil., bis 2001 Prof. für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Leipzig

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