Veröffentlichte Kirchenpolitik: Kirche im publizistischen Streit zur Zeit der Religionsgespräche (1538-1541) 9783666551772, 3525551770, 9783525551776


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Veröffentlichte Kirchenpolitik: Kirche im publizistischen Streit zur Zeit der Religionsgespräche (1538-1541)
 9783666551772, 3525551770, 9783525551776

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V&R

Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte

Herausgegeben von Adolf Martin Ritter

Band 69

Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht · 1998

Veröffentlichte Kirchenpolitik Kirche im publizistischen Streit zur Zeit der Religionsgespräche (1538-1541)

von

Georg Kuhaupt

Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht · 1998

Mit 8 Abbildungen

Die Deutsche Bibliothek -

CIP-Einheitsaufiiahme

Kuhaupt, Georg: Veröffentlichte Kirchenpolitik: Kirche im publizistischen Streit zur Zeit der Religionsgespräche (1538-1541) / von Georg Kuhaupt. • Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1998 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte; Bd. 69) ISBN 3-525-55177-0

© 1998 Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Satzspiegel, Bovenden Druck- und Bindearbeiten: Hubert & Co., Göttingen

Vorwort Viele Menschen haben die Entstehungsgeschichte dieser Veröffentlichung fördernd und kritisch begleitet. Nur einige möchte ich stellvertretend nennen. An erster Stelle danke ich Herrn Prof. Dr. Reinhard Schwarz, durch dessen kirchengeschichtliches Seminar diese Arbeit angeregt worden ist. Mit Umsicht hat er ihr Entstehen begleitet. Dabei hat er nicht nur mein historisches Verständnis für die protestantische Publizistik immer wieder vertieft, sondern auch in manchen Germeringer Gesprächen auf ihren theologischen Ort hingewiesen. Im Wintersemester 1995/96 ist meine Untersuchung als Dissertation von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen worden. Für den Druck wurde sie leicht überarbeitet. Diese Arbeit entstand vorwiegend in der Hessischen Stipendiatenanstalt zu Marburg, deren Repetent ich während meiner Hilfspfarrzeit war. Ihre Verwaltungskommission und die seinerzeitige Hausgemeinschaft haben mich - oft unbewußt - zum Studium motiviert. Danken möchte ich femer der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, namentlich Herrn Oberlandeskirchenrat Dr. Werner Hassiepen, für mancherlei Rat und Tat. Auch die Landeskirche hat einen Druckkostenzuschuß gewährt, nachdem der Herausgeber der Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, Herr Prof. Dr. Adolf Martin Ritter, die Aufnahme der Arbeit in diese Reihe befürwortet hatte. Leider hat mein Vater, dem ich das Buch gem gewidmet hätte, seine Drucklegung nicht mehr erlebt. Er hat aber zu seiner Entstehung mehr beigetragen, als Worte je darüber gewechselt worden sind. Kassel-Harleshausen im September 1997

Georg Kuhaupt

Inhalt Abkürzungen und Hinweise zur Textgestaltung

13

I.

Einleitung

15

II.

Die kirchenpolitischen Publikationen von November 1538 bis April 1541 in ihrem Kontext

25

1. Kapitel: Die Publikationen von November 1538 bis Juni 1539 1.1.

1.1.1. 1.1.2. 1.1.3. 1.1.4. 1.1.5. 1.1.6. 1.1.7. 1.2. 1.2.1. 1.2.2. 1.2.3. 1.2.4. 1.3. 1.3.1. 1.3.2. 1.3.3. 1.3.4.

Der Konflikt der protestantischen Reichsstände mit dem Reichskammergericht und ihr „Ausschreiben an alle Stände" vom 13.11.1538 25 Der reichs-, rechts- und kirchenpolitische Hintergrund nach 1530 25 Der Plan zu einer Publikation gegen das Reichskammergericht 1534 bis 1538 28 Adressaten, Verbreitungswege und Drucke 37 Gliederung des „Ausschreiben an alle Stände" und enthaltene Dokumente 39 Die implizite Ekklesiologie des „Ausschreiben an alle Stände" 41 Das aktuelle kirchenpolitische Ziel des „Ausschreiben" im Herbst 1538 . . 43 Politische und literarische Wirkungen 44 Appelle zur Verteidigung der „Kirche" im Umfeld der Fankfurter Verhandlungen von Februar bis April 1539 Das Problem des Widerstandsrechtes als Hintergrund Melanchthon als Publizist in Frankfurt Luthers akademische Thesen zum Widerstandsrecht Corvinus'öffentlicher Appell an den niedersächsischen Adel Kirchliche Ordnungen und ekklesiologisches Selbstverständnis in der Diskussion von Januar bis Sommer 1539 Vorgeschichte und Thema des Leipziger Religionsgespräches im Januar 1539 Martin Luther: „Von den Konziliis und Kirchen" vom März 1539 Georg Witzel: „Dialogoram libri tres" vom April (?) 1539 Philipp Melanchthon: „De ecclesiae autoritate" vom 24.6.1539

47 47 49 52 55 58 58 61 69 77

8

Inhalt

1.4.

Bucers Kommentar zur Kirchenpolitik durch „Etliche Gespräche vom Nürnbergischen Friedstand" vom 3.6.1539 1.4.1. Hintergründe 1.4.2. Form und Inhalt 1.4.3. Literarische Nachwirkungen

87 87 90 94

2. Kapitel: Die Publikationen von Juli 1539 bis Februar 1540 2.1.

2.1.1. 2.1.2. 2.1.3. 2.1.4. 2.1.5. 2.1.6. 2.2.

Der Konflikt des hessischen Landgrafen und des sächsischen Kurfürsten mit Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel 1538/39 Der Anfang der publizistischen Kontroverse Der diplomatische Konflikt von Dezember 1538 bis Januar 1539 Der diplomatische Konflikt von Februar bis April 1539 Der Übergang zum Druck der „Antworten" im September 1539 Das kursächsische „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" Der hessische „Wahrhaftige und gründliche Bericht"

96 96 101 104 105 108 III

Die Veröffentlichung des Rechtsstreites der Stadt Goslar mit Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel vor dem Reichskammergericht nach dem 23.7.1539

113

2.3.

Die Fürstenpflicht zur Gottesdienstreform in Melanchthons Publikationen 1539/40 2.3.1. „De officio principum" vom Oktober 1539 2.3.2. „Epistel an den Landgrafen zu Hessen" vom 1.1.1540 2.4. Konrad Brauns „Gespräch eines Hofrats" 1539 2.4.1. Der Plan zu einer offiziellen Publikation des Reichskammergerichtes ab Ende 1538 2.4.2. Anonymität des Autors und literarische Form 2.4.3. Die Kritik am schmalkaldischen „Ausschreiben" und an Bucer 2.4.4. Rezeption und publizistische Reaktionen Erste Publikationen Herzog Heinrichs von BraunschweigWolfenbüttel gegen den Kurfürsten und den Landgrafen zu Jahresbeginn 1540 2.5.1. Hintergründe 2.5.2. „Erste Antwort auf ein nichtig Schreiben" vom 31.3.1539 2.5.3. „Andere Antwort auf das falsche Libell" vom 24.11.1539

117 117 128 131 131 133 137 141

2.5.

144 144 145 147

Inhalt

9

3. Kapitel: Die Publikationen im Zusammenhang des Bundestages in Schmalkalden und des Hagenauer Religionsgespräches von Februar bis September 1540 3.1. 3.1.1. 3.1.2. 3.1.3. 3.1.4. 3.1.5. 3.1.6. 3.1.7. 3.1.8.

Kirchengüterfrage und Stiftsreform in Bucers Schrift „Von Kirchengütem" vom 3.2.1540 154 Die Vielschichtigkeit der Kirchengüterfrage 154 Entstehungshintergründe für Bucers Schrift 158 Literarische Gestaltung und kirchenpolitische Funktion 160 Die Auseinandersetzung mit Brauns „Gespräch eines Hofrats" 162 Die Zurückweisung des Vorwurfs des Kirchenraubs 163 Vorschläge zur Neuordnung des Kirchengutes und zu einer Stiftsreform . 164 Die Beanspruchung des Kanonischen Rechtes 167 Pläne zur Verbreitung und Fortsetzung der Schrift „Von Kirchengütern" und ihre Nachwirkungen 169

3.2.

Die publizistische Reaktion der schmalkaldischen Stände auf die kaiserliche Gesprächsinitiative im April/Mai 1540 3.2.1. Die diplomatischen Hintergründe 3.2.2. Zwei Antworten auf die Werbung des Grafen von Neuenahr 3.2.3. Die hinhaltende Antwort auf die Einladung nach Speyer-Hagenau . . . .

171 171 175 184

3.3.

Die hessische und die sächsische Reaktion auf die braunschweigischwolfenbüttelschePublizistikim April/Mai 1540 190 3.3.1. Philipps von Hessen „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung undBeweisung" vom 12.4.1540 190 3.3.2. Johann Friedrichs von Sachsen „Anderer Abdruck der wahrhaftigen, beständigen und ergründeten Verantwortungen" vom 19.5.1540 205 3.4.

Martin Bucer als anonymer Förderer des Hagenauer Religionsgespräches 3.4.1. „An conducat, admitiere synodum nationalem"? 3.4.2. Die lateinischen Ausgaben und ihre Verbreitung 3.4.3. „Vom Tag zu Hagenau. Zwei verdeutschte Sendbriefe"

209 209 214 216

4. Kapitel: Die Publikationen nach dem Hagenauer und für das Wormser Religionsgespräch von September 1540 bis zur Jahreswende 1540/41 4.0.

Die anhaltende Bedeutung der Publizistik

219

4.1. Protestantische Publikationen im Umfeld des Wormser Gespräches 221 4.1.1. Bucers Rückbück auf den Tag von Hagenau 221 4.1.2. Melanchthons sog. Confessio Augustana variata 229

10

Inhalt

4.2. 4.2.1. 4.2.2. 4.2.3.

Die politisch-publizistische Episode um das „Brüsseler Edikt" . . . Die protestantische Sicht des Edikts Karls V. für die Niederlande . . . . Deutsche Drucke und deren Verbreitung Kirchenpolitische Wirkungen und Luthers Plan einer Gegenschrift . . . .

234 234 238 239

4.3. 4.3.1. 4.3.2. 4.3.3. 4.3.4.

Altgläubige Publikationen im Umfeld des Wormser Gespräches . . 241 Johannes Cochläus'publizistische Bemühungen 242 Georg Witzel: „TVpus ecclesiae prioris" 248 Publikationen Ecks zum Wormser Gespräch 253 Friedrich Nausea: „Hortatio ad ineundam in Christiana Religione Concordiam" 255 4.3.5. Konrad Brauns „Etliche Gespräche" 257 5. Kapitel: Die publizistische Situation zu Beginn des Regensburger Reichstages von Februar bis April 1541 5.0.

Die Vorbereitung zum Reichstag

262

5.1. 5.1.1. 5.1.2. 5.1.3. 5.1.4. 5.1.5. 5.1.6.

Wolfenbütteler Publikationen gegen die Schmalkaldener Hintergründe und erste Rezeption der amtlichen Publikationen Heinrichs „Dritte Antwort aufdes Landgrafen Lästerschrift" vom 22.7.1540 . . . . „Ergründete Duplicae wider des Kurfürsten Abdruck" vom 3.11.1540 . . Zur Funktion beider Schriften in Regensburg Literarische Reaktionen Die „Evangelische Unterrichtung" und weitere Publikationen

264 265 266 268 269 271 272

5.2.

Hessische Publikationen gegen Heinrich von BraunschweigWolfenbüttel „Dritte wahrhaftige Verantwortung gegen Heinrich von Braunschweig" vom 4.3.1541 Die Verbreitungswege der Drucke „Tertia adversus Ducis Henrici scriptum responsio" „Expostulation und Strafschrift Satanae" vom März (?) 1541

5.2.1. 5.2.2. 5.2.3. 5.2.4.

Sächsische Publikationen gegen Heinrich von BraunschweigWolfenbüttel 5.3.1. Das Spektrum der Reaktionen 5.3.2. „Wahrhaftige Verantwortung wider Barrabas von Braunschweig" vom 4.4.1541 5.3.3. „Ein Getichte, wie fromm Herzog Heinrich und wie böse die Lutherischen sein"

274 274 277 278 281

5.3.

5.4. Schriften zum Kirchenverständnis für den Regensburger Reichstag 5.4.1. Cochläus'Publikationen 5.4.2. Luthers „Wider Hans Worst"

283 283 285 288 290 290 294

Inhalt III.

Zusammenfassung der Ergebnisse

1. Publizisten, Übersetzungen, Drucker, Druckorte 2. Klassifizierung und Gattungsbestimmung nach kirchenpolitischer Zielsetzung 3. Der literarische Zusammenhang zwischen den Publikationen 4. Die kirchenpolitische Öffentlichkeit als gemeinsamer Adressat der Publikationen 5. Der Streit um die sichtbare Kirche als Thema der kirchenpolitischen Publizistik 6. Die Bedeutung der kirchenpolitischen Publizistik

11 303 303 307 309 310 313 318

Abbildungen

321

Quellen- und Literaturverzeichnis

330

1. Kirchenpolitische Publikationen I (nach Erstdrucken) 2. Kirchenpolitische Publikationen II (in neueren Ausgaben) 3. Weitere Publikationen und gedruckte Quellen 4. Archivalien 5. Bibliographien, Hilfsmittel 6. Darstellungen

330 347 349 352 352 354

Namensregister

361

Ortsregister

367

Abkürzungen und Hinweise zur Textgestaltung 1. Die Abkürzungen in meiner Untersuchung erfolgen grundsätzlich nach: Theologische Realenzyklopädie (TRE), Abkürzungsverzeichnis, zusammengestellt von Siegfried M. Schwertner, 2. Auflage Berlin-New York 1994. Alle über die TRE hinausgehenden Abkürzungen werden im Quellen- und Literaturverzeichnis definiert. Nur die darstellende Literatur wird beim ersten Hinweis bibliographisch vollständig wiedergegeben. Bei wiederholten Hinweisen wird sie auch mit Hilfe des definierten Kurztitels zitiert. 2. Für die kirchenpolitischen Publikationen der Jahre 1538 bis 1541, die nicht in neueren Editionen vorliegen, wurden ebenso Kurztitel gebildet. Der ermittelte Erst- oder Leitdruck erfahrt im Quellen- und Literaturverzeichnis zusätzlich eine detaillierte Titelaufnahme. Die mit * bezeichneten Drucke wurden eingesehen. Auf weitere, davon abweichende Drucke wird ggf. bibliographisch hingewiesen. Bei Zitaten erfolgt die Blattzählung nach dem Bogenalphabet des ermittelten Erstdrucks, wobei Vorder- und Rückseite mit ,a' bzw. ,b' wiedergegeben werden. (Bl. A la, A l b , . . . usw.). Folgt die Foliierung anderen Zählzeichen, wird (unter ausdrücklichem Hinweis) ihnen gefolgt (Bl. la, lb, 2a, . . . oder Bl. la, Ib, . . . usw.) 3. Die Textgestalt der berücksichtigten Erstdrucke wurde vorsichtig normalisiert: Vokale bleiben grundsätzlich erhalten. Der vokalische oder konsonantische Gebrauch von i und j sowie von u und ν wurde unserem Sprachgebrauch angeglichen. Doppelschreibungen von Konsonanten am Wortanfang oder nach Konsonanten wurden getilgt und Doppelschreibungen am Wortschluß beseitigt, wo es heutiger Schreibweise entspricht, z.B. ,inn' zu ,in'. Die ursprüngliche Groß- und Kleinschreibung wurde beibehalten. Übergesetzte Bögen bleiben erhalten, z.B. bei Titelaufnahmen ein ñ. Übergesetzte Vokale werden wiedergegeben, z.B. à, ó, û. Ebenso wird mit diakritischen Zeichen über Vokalen verfahren, z. B. das bei Straßburger Drakken häufig wiederkehrende û. 4. Bei handschriftlichen Quellen werden die Vorder- und die Rückseite mit ,r' bzw. ,v' wiedergegeben. Seitenangaben werden überall mit ,S.' gekennzeichnet. (Das empfiehlt sich wegen der häufig auftretenden Blattangaben.) Spalten- und Zeilenangaben werden dagegen, wo sie üblich sind (z. B. CR, WA), nur mit der Zahl wiedergegeben. Bei den bibliographischen Hinweisen wird die laufende Nummer der entsprechenden Bibliographie zitiert (z. B. „Richter Nr. 49,1" oder „VD 16: A 2363").

14

Abkürzungen

5. Eckige Klammern markieren immer vorgenommene Zusätze. Sie sollen auch einer „flüssigeren" Lektüre dienen. Der Charakter der zeitgenössischen Quellen soll dadurch exemplarisch hervorgehoben, „Sprachbarrieren" hingegen vermieden werden. Diese Zusätze betreffen z.B. die Auflösung von Abkürzungen (z.B. „dns" zu „d[omi]n[u]s"), den Bestand an Buchstaben oder fehlende Interpunktion in den Fällen, wo die Textgestaltung nicht den skizzierten Grundsätzen für die Publikationen folgt. 6. Die wichtigen Bay SB Mü HAB Wf UB Mr StAM

Fundorte der kirchenpolitischen Publikationen sind: = Bayerische Staatsbibliothek München. = Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. = Universitätsbibliothek Marburg/Lahn. = Hessisches Staatsarchiv Marburg/Lahn.

I. EINLEITUNG

Die vorliegende Untersuchung gilt der kirchenpolitischen Publizistik der Ära der Religionsgespräche (1538 bis 1541).^ An den Publikationen, die zu dieser thematischen Gruppe gehören, sollen explizite oder implizite Aspekte ihres Kirchenverständnisses herausgearbeitet werden. Der historisch-theologische Bezugspunkt stellt die Frage nach der äußeren Gestalt der kirchlichen Lebensvollzüge dar, mit anderen Worten die institutionell verfaßte, sichtbare und weiterhin als die eine geglaubte Kirche.^ Die Untersuchung verfolgt ein dreifaches Ziel: Sie will einerseits die Bedingungen aufzeigen, unter denen sich das neue evangelische Kirchenverständnis in dieser Phase der Reformation ausgeformt und öffentlich artikuliert hat. Andererseits will sie diesen Artikulationsprozeß in die allgemeine Reichsgeschichte in den Jahren zwischen 1538 und 1541 einordnen. Diese Geschichte, speziell mit ihren kirchenpolitischen Verwicklungen, wird dadurch unter dem spezifischen Blickwinkel der in ihr wirksamen kirchenpolitischen Publizistik betrachtet. Schließlich soll der historische, literarische und theologische Zusammenhang zwischen den - zunächst je für sich zu betrachtenden - Publikationen verdeutlicht werden. Die Bedeutung von Publikationen als Quelle für die Geschichte des 16. Jahrhunderts ist heute völlig unbestritten.^ Die Publizistik der Reformationszeit,

' Die zusammenfassende Bezeichnung dieser Jahre als „Ära der Religionsgespräche" geht m. W. auf Franz Lau/Emst Bizer, Reformationsgeschichte Deutschlands bis 1555 (KIG Bd. 3, Lfg. K), 1. Aufl. Göttingen 1964, S. 109, zurück. Dir folgt in den neueren Gesamtdarstellungen z.B. Horst Rabe, Reich und Glaubensspaltung. Deutschland 1500-1600, München 1989, S.247. Der Frankfurter Anstand und seine unmittelbare Vorgeschichte, die diplomatisch den Gedanken des Religionsgesprächs vorbereiten, werden sachgemäß von mir schon zu dieser ,Лга" hinzugerechnet. Darin folge ich einem Vorschlag von Coraelis Augustijn, Die Religionsgespräche der vierziger Jahre, in: Gerhard Müller (Hrsg.), Die Religionsgespräche der Reformationszeit (SVRG 191), Gütersloh 1980, S. 43-53, hier S.44. 2 Der eminente Sinn der institutionell verfaßten, äußerlich-sichtbaren Kirche für die verborgene Kirche oder Gemeinschaft der Glaubenden ist vorausgesetzt. Vgl. dazu vor allem Wilfried Härle, Artikel „Kirche VII. Dogmatisch", in: TRE Bd. 18, Berlin-New York 1989, S. 277-317, hier bes. S. 286-293, zuletzt auch ders., Dogmatik, Berlin-New York 1995, S. 570-576. 3 Schon 1864 hatte Johann Gustav Droysen auf die große Bedeutung des gedruckten Schrifttums als historischer Quelle für das gesamte Reformationsjahrhundert hingewiesen: „Seit die Reformation der jungen Presse eine rasch wachsende und bald überwuchernde Bedeutung gegeben hat, i s t . . . in der flüchtigen Literatur der Zeitungen, Flugschriften, Pamphlete, mehr oder weniger officiellen Publicationen u. s. w., in dem, was mit Recht und mit Unrecht Publicistik genannt wird, ein historisches Material von so großer Ausdehnung und so eigenthümlicher Art entstanden, daß es den seit derselben Zeit eben so massenhaft wachsenden Schätzen der Archive in mancher

16

Einleitung

deren Erforschung seit einer Generation sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt wird, leidet aber vor allem unter drei Desideraten, die dazu geführt haben, daß die kirchenpolitische Publizistik der Jahre 1538 bis 1541 bisher noch in keiner zusammenhängenden Darstellung gewürdigt worden ist: a) Die bibliographische Erfassung des umfangreichen Materials schreitet voran, ist aber noch nicht in einem wünschenswerten Maße erreicht."* b) Die Forschung konzentriert sich bisher weiterhin immer noch sehr stark auf die Anfangsphase der Reformation bis 1525.^ Ein Grund dafür dürfte sein, daß sich in der Geschichtsschreibung eine Gesamtdeutung der reformatorischen Bewegung als einer (eben auch eminent]) literarisch-publizistischen Bewegung durchgesetzt hat.*^ Quantitative Erwägungen über das Stocken der publizistischen Produktion nach 1525 mögen dabei für eine gewisse „Blindheit" gegenüber der späteren Publizistik des Reformationsjahrhunderts eine Rolle spielen, wenn man davon ausgeht, daß nach dem Höhepunkt der Produktion in den Jahren 1524 und 1525 allenfalls eine „gewisse Wiederbelebung der Produktion und der Nachfrage . . . sich noch einmal nach 1530 sowie insbesondere in den Krisenjahren 1547-1555 beobachten . . . " läßt."' c) Die Gefahr droht, daß eine methodische Bündelung zu „kirchenpolitschen Publikationen" zumindest tendenziell weitschweifig und konturenlos wird. Die daran beteiligten Publizisten werden in der Forschung keineswegs immer als „Nachbarn" angesehen. Und das für das 16. Jahrhunderts so selbstverständliche Thema „Kirchenpolitik" ist in sich überaus komplex. Schließlich

Hinsicht ebenbürtig zur Seite steht." Laut J. G. Droysen, Zur Quellencritik der deutschen Geschichte des siebzehnten Jahrhunderts, in: Forschungen zur deutschen Geschichte, Bd. 4, Göttingen 1864, S. 13-55, hier S. 15. 4 Die Probleme um die Bibliographie des gedruckten Schrifttums des 16. Jahrhunderts skizziert überblicksartig unter Hinweis auf die ältere bibliographische Forschung Bernd Moeller in seiner Buchbesprechung zu Hans-Joachim Köhler, Bibliographie der Flugschriften des 16. Jahrhunderts. Teil I: Das frühe 16. Jahrhundert (1501-1530). Band 1: Druckbeschreibungen A-G, Tübingen 1991, in: ARG 83 (1992), S. 315-319. 5 Bis 1980 beschränkten sich drei Viertel aller Untersuchungen zur reformatorischen Publizistik auf den Zeitraum der ersten Jahre der Reformation und des Bauernkrieges bis 1525, während die Schriften für die Jahre nach 1525 von der Forschung allenfalls punktuell beschrieben und untersucht worden sind; vgl. Hans-Joachim Köhler, Fragestellungen und Methoden zur Interpretation frühneuzeitlicher Flugschriften, in: ders. (Hrsg.), Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit (SMANF Bd. 13), Stuttgart 1981, S. 1. Auch für die Zeit nach 1980 überwiegen die Untersuchungen, die sich innerhalb dieser chronologischen Grenzen bewegen. 6 Horst Rabe, Reich und Glaubensspaltung. Deutschland 1500-1600 (Neue deutsche Geschichte, hg. von R Moraw, V. Press und W. Schieder, Bd. 4), München 1989, S. 177-190, hier S. 179; ähnlich Heinz Schilling, Aufbruch und Krise. Deutschland 1517-1648 (Siedler Deutsche Geschichte Bd. 5), Beriin 1988; S. 121-130. Zur Bedeutung der Flugschriften zwischen 1521 und 1525 vgl. vor allem auch Bernd Moeller, Deutschland im Zeitalter der Reformation (Deutsche Geschichte, hg. von J. Leuschner, Bd. 4), Göttingen 3. Aufl. 1988, S. 87-90. 7 Bernd Moeller, Art. „Flugschriften der Reformationszeit", in: TRE Bd. 11, Beriin-New York 1983, S. 240-246, hier S. 241.

Einleitung

17

sind die entwickelten Fragestellungen und Methoden zur Inteφretation frühneuzeitlicher Publikationen („Flugschriften" und „Flugblätter") unter den verschiedenen historischen und theologischen, sprach- und kommunikationswissenschaftlichen Gesichtspunkten heute sehr differenziert, daß der Verdacht sich einstellen mag, die von der Sache her gebotene Tiefenschärfe gehe hier leicht verloren. Fünf Eingrenzungen sind daher angesichts der gewählten Themenstellung und ihres Umfangs unerläßlich: 1. Unter kirchenpolitischen Publikationen verstehe ich Schriften, die sich thematisch auf die kirchenpolitisch relevanten Fragen ihrer Zeit beziehen und denen intentional durch den verantwortlichen Publizisten oder von ihrer öffentlichen Wirkung her eine kirchenpolitische Funktion zuzuschreiben ist. Dazu ist zu fragen nach den unmittelbaren zeitgeschichtlichen oder persönlichen Entstehungshintergründen für ein Werk. Dieses drängt hin zur Frage nach der aktuellen Intention des Publizisten. Sie kann - wie gesagt - ursprünglich selbst als eine kirchenpolitische Absicht bestimmt worden sein, aber gerade auch Publikationen, die mit anderen Primärabsichten verfaßt worden sind (z.B. Belehrung, Legitimation, Ermunterung und Trost, Kritik, Spott und Verunglimpfung, usw.), sind auf ihre kirchenpolitische Funktion hin zu übeφrüfen. Dem Plan, eine Schrift im Druck einer Öffentlichkeit bekannt zu machen, geht meist eine gezielte Absicht voraus, konkrete Adressaten zu erreichen. Läßt sich ermitteln, welche Adressaten jeweils im Blick waren? Wer ist erreicht worden? Und welche Wirkung rief die jeweilige Publikation bei denen hervor, die sie erreichte? Gibt es zeitgenössische Nach- oder Neudrucke? Welche Rolle spielen Übersetzungen in eine andere Sprache? Methodisch sollen dabei wiederum die „öffentlich" meßbaren Wirkungen im Vordergrund stehen: Ist etwa das beabsichtigte kirchenpolitische Ziel - gemessen an der Intention des Publizisten - mit seiner Publikation behindert, gefördert oder sogar erreicht worden? Sahen sich andere dadurch herausgefordert, ihrerseits auch mit publizistischen Mitteln zu reagieren, beispielsweise durch eine Beipflichtung oder Ablehnung? Oder verhallte die Publikation so gut wie wirkungslos? Die Ergebnisse der Analyse können zu einer vorsichtigen Beurteilung der kirchenpolitischen Relevanz einer Schrift führen. 2. Untersucht wird hier die kirchenpolitische Publizistik der Ära der Religionsgespräche. Der Beginn dieser Ära wird im Allgemeinen durch die 1538 erfolgte diplomatische Anregung des Kurfürsten Joachim II. von Brandenburg markiert. Zuerst folgte ihr König Ferdinand und dann auch der Kaiser mit einer überraschenden Wende der habsburgischen Religionspolitik für das Reich.^ Sie wird 8 Zur Gesamtdeutung der Religionspolitik Karls V. in der Forschung vgl. Heinrich Lutz, Reformation und Gegenreformation (Oldenbourg Grundriß der Geschichte Bd. 10), München-Wien 1979, S. 146-149.

18

Einleitong

ab dem Jahresende 1538 von einer eigenen Publizistik begleitet. Aus mehreren Gründen bietet es sich an, die kirchenpolitischen Publikationen dieser Phase zu untersuchen: a) Charakteristisch ist für diese Zeit eine Fülle verschiedener, sowohl öffentlich als auch (nur) geheim konkurrierender und mit den Mitteln von Theologie, Publizistik und Recht geistig und politisch miteinander ringender Konzeptionen von territorialer und nationaler Kirchenpolitik. Es standen sich nämlich jetzt innerhalb des Reiches nicht nur die Anhänger des Augsburgischen Bekenntnisses, die sich im Schmalkaldischen Bund zusammengeschlossen hatten, und die unmißverständlich altgläubigen Reichsstände, die sich 1538 in Nürnberg militärisch verbündet hatten, statisch gegenüber, sondern bedeutende Persönlichkeiten bemühten sich um 1539 herum auf nationaler Ebene um eine Vermittlung zwischen den allmählich sich auch „konfessionell" verfestigenden Religionsparteien.^ Vermittlungspolitik ging auch mit einer zwischen den Kontrahenten vermittelnden Auffassung über die Praxisgestalt des kirchlich-christlichen Lebens einher. Die Komplexität der im Reich virulenten kirchenpolitischen Konzeptionen wird aber nicht nur durch das Vorhandensein der Vermittler von zwei auf insgesamt drei erhöht, sondern auch innerhalb dieser Gruppierungen ist das Bild uneinheitlich: Es gab evangelische Stände, die nicht dem Schmalkaldischen Bund angehörten, und Bischöfe, die sich aus reichsständischem Interesse von keiner Seite gängeln lassen wollten und offen zeigten für vom Papst unabhängige, weitgehende Reformen des Kirchenwesens. Das Maß der Öffoung für die reformatorische Lehre bei den Vermittlern ist sehr verschieden, wie etwa die kirchenpolitisch-konzeptionelle Differenz zwischen Kurbrandenburg und Jülich-Kleve zeigt. Bei den Protestanten gab es bei allen kirchenpolitischen Gemeinsamkeiten (durch den Schmalkaldischen Bund) im Grunde genommen recht unterschiedliche Theologien und mindestens zwei verschiedene Reformationskonzepte („Wittenberg" und „Straßburg"). Schließlich ist zu bedenken, daß die Gewichte im Reich durch den Übergang des albertinischen Sachsen zur Reformation 1539 und Kurbrandenburgs zu 9 A. P. Luttenberger hat übergreifend die Konzeptionen und Wege .Jconfessionsneutraler" Politik für die Jahre 1530-1552 am Beispiel von Kurbrandenburg, Κϋφίβΐζ und Jülich-Kleve beschrieben; vgl. ders., Glaubenseinheit und Reichsfriede. Konzeptionen und Wege konfessionsneutraler Reichspolitik 1530-1552 (Kurpfalz, Jülich, Kurbrandenburg) (SHKBA Bd. 20), Göttingen 1982. Zur kurbrandenburgischen Initiative 1538 bis zum Frankfurter Anstand 1539 vgl. Luttenberger, S. 185-199. 10 So Georg Kretschmar, Der Reichstag von Regensburg 1541 und seine Folgen im protestantischen Lager. Veφaßte Gelegenheit oder Stunde der Wahrheit?, in: Hans-Martin Barth u.a. (Hgg.), Das Regensburger Religionsgespräch im Jahr 1541, Regensburg 1992, S. 47-91, hier S. 57. Auf ein anderes in diesen Jahren virulentes Konzept einer „Reformation", die weder „lutherisch" noch „obderdeutsch" ist, macht Wilhelm Neuser aufmerksam, nämlich „Bucers Programm einer .guten leidlichen Reformation' (1539-1541)", in: Horizons Européens de la Réforme en Alsace. Das Eisass und die Reformation im Europa des XVL Jahrhunderts, Mélanges offerts à Jean Rott, publiés par Marijn de Kroon et Marc Lienhard, Strasbourg 1980, S. 227-239, hier bes. S. 234.

Einleitung

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einer liturgisch konservativen Kirchenordnung 1539/40 sich innerhalb des zu betrachtenden Zeitraumes zusehends zu Ungunsten der altgläubigen Seite verschoben. Es ist zu fragen, ob sich diese Gesamtkonstellation auf die Funktion, Produktion und Rezeption der kirchenpolitischen Publikationen in irgendeiner Weise auswirkte. b) Das theologisch geleitete Interesse an der Erforschung dieser Jahre wird traditionell dominiert von der Konzentration auf die dogmatisch zwischen den Evangelischen und den Altgläubigen strittigen Themen wie Rechtfertigungslehre und Sakramentenlehre. Das Buch Robert Stupperichs von 1936 hatte erstmals das theologische Anliegen und die kirchenpolitische Rolle der erasmisch gesinnten Vermittlungstheologen hervorgehoben." Seine Sicht wurde theologisch weiter ausgelegt auf das Sakraments- und Kirchenverständnis durch Cornells Augustijn in seiner Studie „De godsdienstgesprekken tussen rooms-katholieken en Protestanten van 1538 tot 1541"'^, während Pierre Fraenkel die theologisch-praktische Bedeutung des Urbildes der Alten Kirche in den Einigungsbestrebungen der Jahre zwischen 1539 und 1541 herausarbeite.'^ Leicht übersehen wurde die enge Verbindung des Politischen und des Theologischen in dieser Zeit sowie die Betonung „on rites and church polity and not on doctrines". Ob die von K. H. zur Mühlen betreute Edition der Quellen der Religionsgespräche von Hagenau und Worms die historische Würdigung und Wertung an diesem Punkt grundlegend verändern wird, bleibt abzuwarten.'^ In neuerer Zeit hat sich hingegen eine über die Konfessionsgrenzen hinausschreitende Sicht in der Forschung etabliert, die im unterschiedlichen Verständ-

11 Stupperichs wegweisende Untersuchung „Der Humanismus und die Wiedervereinigung der Konfessionen", Leipzig 1936 (SVRG 160), hat den Blick für das theologische Anliegen dieser Vermittlungspolitiker und -theologen in der Tradition eines erasmischen Krchenverständnisses in dieser Phase der Reformation nachhaltig geschärft, ohne aber die kirchenpraktischen Seiten dieser Konzeption zu beschreiben. 12 Erschienen Haarlem 1967, vgl. dazu erläuternd auch Augustijn, Religionsgespräche, S.51. 13 Pierre Fraenkel, Einigungsbestrebungen in der Reformationszeit (Institut für europäische Geschichte Mainz, Vorträge Nr.41), Wiesbaden 1965. Augustijn, Religionsgespräche, hier S. 44-45. Dazu zählt, nur um ein Beispiel zu nennen, die sowohl kirchenpraktisch-theologisch als auch kirchenrechtlich-politisch komplexe sog. Kirchengüterfrage. Sie gehörte immer wieder zu den Agenda der Zusammenkünfte der Schmalkaldischen Bundesmitglieder und des Hagenauer Verständigungsversuches mit den Altgläubigen. Vgl. dazu vor allem 1.1. und 3.1. Das Zitat steht Comelis Augustijn, The question of Reformatio: The Diet of Regensburg as a Tuming-Point, in: Hans R. Guggisberg, Gottfried Krodel (Hgg.), Die Reformation in Deutschland und Europa: Interpretationen und Debatten (Beiträge zur gemeinsamen Konferenz der Society for Reformation Research und des Vereins für Reformationsgeschichte 25.-30. September 1990), ARG Sonderband, Gütersloh 1993, S. 64-65. 15 Überblicksartig informiert über das Projekt Karl-Heinz zur Mühlen, Die Edition der Akten und Berichte der Religionsgespräche von Hagenau und Worms 1540/41, in: Standfester Glaube, Festgaben zum 65. Geburtstag von Johann Friedrich Goeters, Köln 1991, S. 47-62.

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nis der Kirche den wirklich trennenden Graben sieht, weshalb das schließlich in Regensburg erfolgte Gespräch zwangsläufig scheitern mußte. Comelis Augustijn sieht das Problem im Gegensatz gegeben zwischen einem (altgläubig-katholischen) Verständnis von einer Kirche, die primär die von Papst und Bischöfen garantierte communio sacramentorum ist und einer (evangelisch verstandenen) Kirche als communio sanctorum im Sinne einer communio fidelium.'® Karl Hausberger hält fest, „daß auch das Regensburger Religionsgespräch, wie schon zuvor die Augsburger Unionsverhandlungen vom August 1530 oder das Leipziger Kolloquium vom Januar 1539, letztendlich am Kirchenbegriff gescheitert ist. Ohne die Lehrunterschiede bezüglich der Erbsünde und der Rechtfertigung herunterzuspielen oder gar bagatellisieren zu wollen, tat sich jedesmal an der Auffassung vom sakramentalen Wesen (Opfercharakter der Messe, Transsubstantiation, Siebenzahl der Sakramente) und von der rechtlichen Struktur (hierarchischer Aufbau, päpstlicher Jurisdiktionsprimat) der Kirche der die Religionsparteien eigentlich trennende Graben auf, ,den kein guter Wille und kein politischer Nutzen zu überbrücken vermochte'."'^ Im Anschluß an diese Erkenntnis über die Zentralfunktion der Ekklesiologie ist zu fragen, ob die speziell dem Regensburger Religionsgespräch von 1541 vorangegangene kirchenpolitische Publizistik zu dieser Gewichtung eines vornehmlich im Kirchenverständnis angenomenenen Dissenses der Religionsparteien vertiefend oder korrigierend beiträgt. 3. Angesichts der Fülle des Materials ist eine „vollständige" bibliographische Erfassung sämtlicher Schriften gemäß obiger Definition kirchenpolitischer Publizistik weder im Rahmen dieser Untersuchung beabsichtigt noch mit den zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln gegenwärtig durchführbar. Für die bibliographische Erfassung im deutschsprachigen Raum bietet sich z. Zt. als Ausgangspunkt das „Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des XVL Jahrhunderts", Stuttgart 1983 ff. (= VD 16) an, von dem mittlerweile schon mehr als 20 Bände vorliegen.'^ Im benachbarten Ausland vorgenommene Drucke spielen in dieser Untersuchung eine untergeordnete Rolle. Methodisch vernachlässigt werden von mir jene Publikationen, die wohl auf Zeiterereignisse abheben, aber keine explizit kirchenpolitischen Positionen ent16 Augustijn, Religionsgespräche, S. 51-52. 17 Karl Hausberger, „Ein kampff besteen dy zwo parthei, rath, welcher teil got nähner sey". Verlauf und Scheitern des Regensburger Religionsgespräches vom Frühjahr 1541, in: Hans-Martin Barth u.a. (Hgg.), Das Regensburger Religionsgespräch im Jahr 1541, Regensburg 1992, S. 31-46, hier S. 41-^2. 18 Hinzu treten in dieser Untersuchung einige (noch) nicht in VD 16 verzeichnete Publikationen. Vorhandene Personalbibliographien einzelner - auch ,4circhenpolitischer" - Publizisten, Bibliographien zu bestimmten Druckorten und sonstige bibliographische Hilfsmittel wurden ergänzend herangezogen.

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halten (z.B. alle „Neuen Zeitungen"). Ebenso bleiben neu publizierte Kirchenordnungen, Agenden und Katechismen unberücksichtigt, obwohl sie sich auf die Lebensvollzüge der sichtbaren Kirche richteten. Diese Drucke beziehen sich aber nur in einem sehr eingeschränkten Maße auf die aktuellen kirchenpolitischen Verwicklungen der Jahre von 1538 bis 1541. Neue oder alte Kommentare zu biblischen Büchern, gedruckte Predigten und Ausgaben von Kirchenvätertexten werden in dieser Untersuchung nur dann erwähnt, wenn in ihnen oder durch sie unmittelbar auf die kirchenpolitischen Zeitereignisse Bezug genommen wird. Der Gegenstand dieser Untersuchung ist der Hauptstrom der in den Grenzen des Reiches auf der Ebene der Kirchenpolitik relevanten Publizistik. 4. Da es sich bei diesem Hauptstrom m.E. ausnahmslos um Publikationen handelt, die immer auch im unmittelbaren Kontext eines für diese Ära typischen, gleichermaßen reichs- und religionspolitisch bedeutsamen Treffens (Gesprächstage, Bundestage, Konvente) stehen, erfolgt ihre methodische Ausbreitung in den fünf Kapiteln des Hauptteiles dieser Arbeit dergestalt, daß im Regelfall das erste Erscheinen einer Schrift bezogen wird auf eine solche Tagung. So stellen erstens der Frankfurter Bundestag des Schmalkaldischen Bundes von Februar bis April 1539 mit seinen Verhandlungen mit dem kaiserlichen Orator, zweitens der wichtige Schmalkaldische Bundestag in Schmalkalden von Februar/März bis April 1540, drittens das Hagenauer Gespräch im Mai/Juni bis Juli 1540 in Anwesenheit König Ferdinands, viertens das Wormser Gespräch im Oktober/November 1540 bis Januar 1541 unter dem Vorsitz Granvelles und fünftens die Situation des beginnenden Regenburger Reichstag in Anwesenheit des Kaisers ab Februar 1541 auch die großen Gliederungsgesichtspunkte dieser Untersuchung dar. Die untersuchte Publizistik beginnt mit dem „Ausschreiben an alle Stände" vom 13.11.1538. Diese Publikation stellt in historischer und publizistischer Hinsicht ein Novum dar, da sie nach langer Vorbereitungszeit sowohl von Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen als auch von Landgraf Philipp von Hessen gemeinschaftlich im Namen aller Bundesangehörigen des Schmalkaldischen Bundes „verantwortet" worden ist. Sie richtete sich gegen die Prozeßpraxis des Reichskammergerichtes. Sie markiert auch die Wende des seit Jahren zwischen den Religionsparteien geführten „rechtlichen Krieges"'' zur Öffentlichkeit. Das „Ausschreiben" fällt im Grunde genommen chronologisch mit dem Anheben der reichsständischen und kaiserlichen Religionsgesprächsdiplomatie im Herbst des Jahres 1538 zusammen. 19 Vgl. dazu 1.1.1. und 1.1.2. Den Terminus ,jechtlicher Krieg" für die Auseinandersetzungen um die Religionsprozesse prägte Rudolf Smend, Das Reichskammergericht. Geschichte und Verfassung, Weimar 1911, S. 144, auch S. 149.

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Die vorliegende Untersuchung findet ihren terminus ad quem in der publizistischen Situation zu Beginn des Regensburger Reichstages. Der Regensburger Reichstag stellt in verschiedener Hinsicht einen Wendepunkt in der Reichs- und Religionspolitik dar, der diesen Einschnitt gerechtfertigt sein läßt.^" Ausdrücklich vernachlässigt werden alle diejenigen Publikationen, die in Regensburg noch von Relevanz waren, aber erst nach der Eröffnung des Religionsgespräches am 29.4.1541 erschienen sind, es sei denn, es handelt sich etwa um eine Teilausgabe oder Übersetzung eines schon zu Beginn des Reichstages kursierenden Werkes. Ob nicht das Ende des Reichstages mit dem Abschied vom 29.7.1541 eine deutlichere Zäsur für die Geschichte der „Meinungspublizistik" bildet als das von mir gewählte Datum der Eröffnung des Religionsgespräches, kann erwogen werden.^' Speziell für die kirchenpolitische Publizistik ist der gewählte terminus ad quem aber sinnvoller. 5. Zwei grundlegende terminologische Hinweise sind einleitend noch zu geben: Auf den populären Begriff „Flugschriften" soll im Rahmen dieser Untersuchung vor allem aus zwei Gründen ganz verzichtet werden: Einerseits hat H.-J. Köhler ausdrücklich auf die Mehrdeutigkeit des Begriffs im wissenschaftlichen Sprachgebrauch hingewiesen.^^ Andererseits sind die in der Kategorie der kirchenpolitischen Publikationen zu erfassenden Schriften teilweise so umfangreich, daß sie sinnvollerweise kaum noch als F/w^schriften bezeichnet werden können. Köhlers eigener Definitionsversuch schließlich, die „Flugschrift" zu verstehen als „eine aus mehr als einem Blatt bestehende, selbständige, nichtperiodische und nicht gebundene Druckschrift, die sich mit dem Ziel der Agitation (d. h. der Beeinflussung des Handelns) und/oder der Propaganda (d. h. der Beeinflussung der Überzeugung) an die gesamte [hervorgehoben durch mich.

20 Man denke nur an den immer wieder verschleppten oder verzögerten Beginn des Religionsgespräches im engeren Wortsinne, die faktische Unterwerfung des hessischen Landgrafen unter den Kaiser nach dem Bekanntwerden seiner Bigamie, aber auch den Reichsabschied, der die rechtliche Grundlage für eine Reihe neuer Reformationsvorhaben in einzelnen Territorien bildete. Vgl. dazu Martin Heckel, Die Religionsprozesse des Reichskammergerichtes im konfessionell gespaltenen Reichskirchenrecht, ZSRG.K 77, Bd. 108 (1991), S. 283-350, hier S. 295-296. Den Einschnitt des Regensburger Reichstages im Blick auf das Verständnis der Reformation der einen Kirche hebt auch C. Augustijn, The question of Reformatio, S. 64-80, hervor, vgl. hier vor allem seine Zusammenfassung S . 7 9 f 21 So etwa Günter Kieslich, Das „Historische Volkslied" als publizistische Erscheinung. Untersuchungen zur Wesensbestimmung und Typologie der gereimten Publizistik zur Zeit des Regensburger Reichstages und des Krieges der Schmalkaldener gegen Herzog Heinrich den Jüngeren von Braunschweig 1540-1542, Münster 1958, S.55-57, hierbes. S.55. „Die Flugschriftenflut... hörte fast schlagartig auf." Kieslich macht zur Begründung dafür auch den im Abschied erneuerten Zensurparagraphen geltend. 22 Hans-Joachim Köhler, Die Flugschriften. Versuch einer Präzisierung eines geläufigen Begriffs, in: Festgabe für Ernst Walter Zeeden, RGST.S Bd. 2, hg. von H. Rabe, H. Molitor und H.-G. Rublack, Münster 1976, S. 36-61, hier S . 3 8 ^ 8 .

Einleitong

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G. К.] Öffentlichkeit wendet"^^, bleibt außerdem für die kirchenpolitischen Publikationen im Blick auf ihre doch spezifische Adressatenschaft zu vage. Denn die kirchenpolitische Publizistik zeigt sich - neben ihrer thematischen und literarischen Verbindung - auch deshalb als eine zusammenhängende historischen Größe, weil sie sich einheitlich an ein spezifisches Adressatenspektrum innerhalb der Gesamtöffentlichkeit ihrer Zeit wandte. (Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang daran, daß der durch die Publizistik der frühen 20er Jahren sich konstituierende Kommunikationszusammenhang auch nach 1525, wenngleich auf quantitativ niedrigerem Niveau, vorhanden geblieben ist.^'*) Ich schlage deshalb vor, für die Ära der Religionsgespräche die Adressaten der kirchenpolitischen Publikationen als eine kirchenpolitische Öffentlichkeit zu beschreiben.^^ Welche Personenkreise zu ihr zu zählen sind und welche spezifischen Verbreitungsverfahren den kirchenpolitischen Publikationen entsprechen, ist an den einzelnen Schriften zu entfalten.

23 Köhler, Flugschriften, S.50. 24 Hans-Joachim Köhler, Erste Schritte zu einem Meinungsprofil der frühen Reformationszeit, in: Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.), Stadtbürgertum und Adel in der Reformationszeit (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London Bd. 5), Stuttgart 1979, S. 244-281, hier S.252. 25 Diese Begriffsprägung ist angelehnt an den Begriff ,/eformatorische Öffentlichkeit". Vgl. zum Begriff und zu seiner Bedeutung vor allem Rainer Wohlfeil, Einführung in die Geschichte der deutschen Reformation, München 1982, S. 123-133, hier bes. S. 130-131. Konstitutiv für die Annahme der „reformatorischen" Öffentlichkeit ist die Verbreitung des reformatorischen Gedankengutes durch die explodierende Produktion von preisgünstigen ,flugschriften" und - mit Rainer Wohlfeil - ihre Rezeption durch den „Gemeinen Mann". Andere Verbreitungsmittel, insbesondere die Predigt (Moeller), aber auch die öffentliche Lektüre, etwa der in Dialogform publizierten Schriften, schlossen sich daran an.

П . D I E KIRCHENPOLITISCHEN PUBLIKATIONEN VON NOVEMBER 1 5 3 8 BIS APRIL 1 5 4 1 IN IHREM KONTEXT

1 . KAPITEL

Die Publikationen von November 1538 bis Juni 1539 1.1. Der Konflikt der protestantischen Reichsstände mit dem Reichskammergericht und ihr „Ausschreiben an alle Stände" vom 13.11.1538

1.1.1. Der reichs-, rechts- und kirchenpolitische Hintergrund nach 1530 Das Wormser Edikt von 1521, das mit den Mitteln des mittelalterlichen Ketzerrechtes der lutherischen „Häresie" zu begegnen trachtete, war mit dem Augsburger Reichsabschied vom 19. November 1530 ohne Abstriche bestätigt worden.' Während für den Kaiser und die altgläubige Mehrheit der Stände die Beschlüsse des Augsburger Reichstages die Klarstellung eines seit dem Speyerer Reichstag von 1526 eigentümlich unklaren Rechtszustandes darstellten, bedeuteten sie für die reformwilligen Stände geradezu die Nichtigerklärung des Freiraumes, den sie seit 1526 zur Durchführung der Reformation beanspruchten. Der religiös-kirchliche Konflikt des Kaisers und der altgläubigen Reichsstände mit den Protestanten wurde jetzt noch deutlicher als zuvor als ein Konflikt angesehen, den es grundsätzlich auch mit den zur Verfügung stehenden Mitteln des Reichsrechtes auszufechten galt^, bis das erhoffte Generalkonzil oder eine Versammlung auf Reichsebene die strittigen Fragen des Glaubens und die daraus resultierenden Veränderungen des gesamten kirchlichen Lebens, die in den 1 Das Referat des Augsbuger Reichsabschiedes findet sich in allen Handbüchern und Darstellungen, zuletzt auch gut zusammengefaßt bei Rosemarie Aulinger (Bearb.), Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V., Bd. 10/1: Der Reichstag in Regensburg und die Verhandlungen über einen Friedstand mit den Protestanten in Schweinfurt und Nürnberg 1532, DRTA.JR 10/1, Göttingen 1992, S. 87-100; vgl. ferner auch Luttenberger, S. 26-31. 2 Smend, S. 138-139, auch 141-144; vgl. UARP 1, S. 12-13.

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Die Publikationen von November 1538 bis Juni 1539

evangelisch gewordenen Territorien und Städten vorgenommen worden waren, geklärt haben würde. So haben ab 1530 die altgläubigen Stände die Gottesdienstreform und den Einzug von Kirchen- und Klostergut in den Gebieten der Reformation kategorisch als Bruch der Reichsfriedensordnung angesehen und der Anklage des Reichsfiskals und im Entscheidungsfall der Achtvollsteckung durch die altgläubigen Stände überlassen. Sie taten es auch ohne Rücksicht darauf, ob diese Neuerungen die gewöhnlichen Voraussetzungen des Landfriedensbruchs erfüllten oder etwa ohne den Widerspruch der davon Betroffenen vollzogen wurden. Es kam ab 1530 zu einer „Springflut" (M. Heckel) von Landfriedensprozessen gegen evangelische Stände vor dem Reichskammergericht (sog. „Religionsprozesse").^ Die rechtlich-politische Situation im Reich schien sich weiter zuzuspitzen. Dennoch war das Wormser Edikt sowohl vor als auch nach 1530 - sieht man von einigen Versuchen ab - auf der Ebene des Reiches nicht durchsetzbar. Der Grund dafür liegt vor allem im Zusammenschluß vieler evangelischer Territorien und Reichsstädte in einem Defensivbündnis, dem im Februar 1531 geschlossenen Schmalkaldischen Bund unter kursächsischer und hessischer Führung, „in den folgenden anderthalb Jahrzehnten die stärkste Potenz und ein Zentrum für die Stabilisierung und Ausstrahlung des Protestantismus.'"' Ferner waren die Hände der Habsburger in den Konflikten mit den Türken und den Franzosen gebunden und ließen ein „entschiedeneres" Vorgehen gegen die Protestanten nicht zu. Auf Drängen seines zum römischen König gewählten Bruders Ferdinand sah sich Kaiser Karl V. jetzt gezwungen, in der Religionsfrage einzulenken. Während des 1532 in Regensburg tagenden Reichstages gewährte er mit Hilfe der vermittelnden Kurfürsten Ludwig V. („der Friedfertige") von der Pfalz (1478-1544) und Erzbischof Albrecht von Mainz (1490-1545) einen am 23.7.1532 in Nürnberg geschlossenen „Anstand", der seinerseits nun - anders als der Reichsabschied vom November 1530 - den Protestanten den vorläufigen Schutz des Landfriedens bis zur Entscheidung des kirchlich-theologischen Zwiespaltes in einem Konzil bot. Ferner enthielt der „Anstand" zugleich das Versprechen des Kaisers - gegeben in einem Mandat vom 2.8.1532 - die bereits angelaufenen Prozesse des Reichskammergerichtes gegen die Protestanten zu suspendieren.^ Damit war eine Religionspolitik gegenüber den Lutheranern

3 Vgl. Heckel, Religionsprozesse, S. 290. Einen Überblick über die wiederkehrenden Rechtsprobleme gibt auch Gero Dolezalek, Die juristische Argumentation der Assessoren am Reichskammergericht zu den Reformationsprozessen 1532-1538, in: Bernhard Diestelkamp (Hrsg.), Das Reichskammergericht in der deutschen Geschichte. Stand der Forschung, Forschungsperspektiven, Köln-Wien 1990, S. 25-58, hier S. 26-32. Vgl. ferner die allgemeinen Akten dazu bei Fabian, UARP 1, passim. 4 Bernd Moeller, Deutschland im Zeitalter der Reformation, 3. Aufl. Göttingen 1988, S. 132. 5 Vgl. zum Regensburger Reichstag und den religionspolitischen Vermittungsversuchen Rosemarie Aulinger, DRTA.JR 10/1, Göttingen 1992, S. 129-146. 175-176.

Das ,Ли88сЬге1Ьеп an alle Stände" (13.11.1538)

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eingeschlagen, die den durch päpstlichen Bann und die Reichsacht gegen Luther festgelegten Weg zu verlassen schien. Der Anstand war rechtlich gesehen aber nur ein Zugeständnis des Kaisers, nicht aber der altgläubigen Reichsstände. Damit entstand zugleich ein akutes Problem der Rechtsinterpretation: In welchem Verhältnis stand nun das religionspolitische Zugeständnis des Kaisers zu den in eine andere Richtung weisenden Beschlüssen des Reichsabschiedes von Augsburg? Im Interpretationsstreit um Inhalt und Rechtskraft dieser Zusage, die der Kaiser nicht durch den Reichstag verabschieden ließ, sondern eben nur in seinem nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Mandat den Protestanten gewährte, wurde in den Jahren 1532-1537 zwischen dem Reichskammergericht und den Protestanten ausgetragen. Denn obwohl die prinzipielle Entscheidung über die strittige Glaubensfrage an die für die Protestanten theologisch problematische Instanz des Konzils® verwiesen war, drohte jetzt mit dem Reichskammergericht ein Entscheidungsorgan stark hervorzutreten, wo Prozesse auch die „causa religionis" betrafen. Diese vielfältigen Probleme wurde zu einem der wichtigsten und problematischsten Gegenstände auf den schmalkaldischen Bundestagen der nächsten Jahre^, da auch das Verständnis der „Religionssache" bei einzelnen Prozeßgegenständen innerhalb der Schmalkaldener nicht immer zweifelsfrei gegeben war. Mehrere Fallgruppen von Vermischungen zwischen kirchlich-theologischen und „weltlichen" Streitpunkten mußten dabei differenziert werden.^ Grundsätzlich erschienen aber die Streitgegenstände, um derentwillen gegen sie geklagt wurde, den Evangelischen so unbedeutend, daß sie in ihnen nur einen Vorwand sahen, weshalb die altgläubigen Reichsstände gegebenenfalls auf der Rechtsbasis einer Entscheidung des Kammergerichtes und der Erklärung der Reichsacht doch einen Religionskrieg würden eröffnen können. Die Befürchtung der Protestanten, daß wegen der Verschleppung des Konzils durch die Kurie der Kaiser im Verein mit der altgläubigen Mehrheit der Stände die Religionsfrage einer gewaltsamen Lösung zuführen würden, wuchs schließlich schubartig im Jahre 1538/39. Am 10.6.1538 hatten führende altgläubige Stände (Haus Habsburg, die Herzöge Wilhelm IV. und Ludwig von Bayern, Erzbischof Albrecht von Mainz - auch für Magedeburg und Halberstadt - , Herzog Georg von Sachsen, die Herzöge Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel und Erich von Braunschweig-Calenberg) mit dem „Nürnberger Bund" ein politisch-militärisches Gegenüber zum Schmalkaldischen Bund konstitu6 Die Position Luthers gibt Reinhard Schwarz, Luther, KIG Bd.3, Lfg. I, Göttingen 1986, S. 203-207, wieder. Vgl. auch Eike Wolgast, Das Konzil in den Erörterungen der kursächsischen Theologen und Politiker 1533-1537, ARG 73 (1982), S. 122-152. 7 Z. B. Fabian, Bundesabschiede 1533-1536, S. 53-55 (Beilage zum Nürnberger Abschied vom 26.5.1534). Vgl. dazu 1.1.2. 8 Dommasch, S. 16-24. Gabriele Schlütter-Schindler, Der Schmalkaldische Bund und das Problem der causa religionis, Frankfurt/M. 1986, bescheibt die Abgrenzungsfragen der „causa religionis" aus der Perspektive der Schmalkaldener.

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Die Publikationen von November 1538 bis Juni 1539

iert.' Sollte der bis dahin geführte „rechtliche Krieg" nun doch zu einer militärischen Auseinandersetzung führen? Nicht zuletzt aus dieser Bedrohung heraus entstand spätestens ab 1538 eine komplexe politisch-kirchliche Aufgabe für die Gruppe der zwischen den verfeindeten Parteien vermittelnden Stände unter Führung und Initiative Kurbrandenburgs, die „Konzeptionen einer konfessionsneutralen Reichsfriedenspolitik" (Luttenberger) v e r t r a t e n . D i e s e Gruppe war vor allem bemüht, eine völlige Paralysierung des Reichsgefüges (mit seinen Rechtsordnungen) zu verhindern sowie die drohende militärische Konfrontation zwischen „Schmalkaldenem" und „Nümbergern" zu vermeiden, falls ein evangelischer Reichsstand infolge eines Kammergerichtsprozesses in die Reichsacht erklärt würde.

1.1.2. Der Plan zu einer Publikation gegen das Reichskammergericht 1534 bis 1538 Der Plan von Mitgliedern des Schmalkaldischen Bundes, durch eine Publikation die als rechtswidrig erlebte Gerichtspraxis des Reichskammergerichtes offenzulegen, ist spätestens seit der mißlungenen Rekusation des Gerichtes von Anfang Januar 1534 nachweisbar. Die Rekusationsschrift vom 30.1.1534, die beim Bundestag des Schmalkaldischen Bundes in Speyer beschlossen und verabschiedet wurde und dem Reichskammergericht dort übergeben werden sollt e k o n n t e noch nicht einmal in einer öffentlichen Audienz vorgetragen werden.^^ Der hessische Landgraf Philipp (1504-1567), der in der Ablehnung der Schrift einen evidenten Rechtsbruch sah, soll deshalb mit der Veröffentlichung dieser Schrift auch als amtlichem Druck gedroht h a b e n . D e r Abschied der schmalkaldischen Gesandten nach der mißlungenen Übergabe des „umfangreichen Notariatsinstrumentes", das den Kammerrichter Graf Adam von Beichlingen (gest. 1538) und die Mehrheit der Beisitzer als argwöhnisch und parteiisch ablehnte, hielt fest, daß solch „libell recusationis" an König Ferdinand ge9 Zum politisch-religiösen Selbstverständnis der „Nürnberger" vgl. Luttenberger, S. 41-53. 10 Luttenberger, S. 93-96. 11 Der Text der Rekusation wird wiedergegeben in UARP 1, S. 253-273, Nr. 99. 12 Vgl. zu den Problemen der Audienz den Abschied der Gesandten der protestierenden Stände am Reichskammergericht UARP 1, S. 277-285, Nr. 100, hier S. 279-281. Otto Winckelmann als Hrsg. der Polit. Corr. sieht darin [Hervorhebung durch mich, G. K.] den Grund gegeben für den Beschluß der Schmalkaldener, die nicht übergebene Rekusationsschrift drucken zu lassen. Polit. Corr. 2, Nr. 212, S. 204-206, hier S.206. 13 Dolezalek, S. 25-58, hier S. 31 Anm. 16. Es bleibt unklar, worauf sich Dolezaleks Behauptung stützt. Der ganz offensichtlich sehr früh die Wirkung kirchenpolitischer Publizistik recht hoch einstufende hessische Landgraf hatte bereits 1531 im Zusammenhang seines unabgeschlossenen Rechtsstreites um die Erbschaft der Grafschaft Katzenelnbogen eine ,Деси5ас1оп schrifft" auch als Druck veröffentlicht, die sich gegen einzelne Richter am Reichskammergericht richtete (bibliographischer Hinweis: VD 16: H 2884, ν. Dommer Nr. 40a). Vgl. zur Sache vor allem Fabian, UARP 1, S.43 Anm.4 und S.225 Anm. 9.

Das „Ausschreiben an alle Stände" (13.11.1538)

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schickt werde und daß „aller ergangener Handel, sovil zu der recusation dienstlich und den ergangnen acten concordiern, . . . e[h]e der frankfurter meß im truck ußge[h]en solt."*'' Eine solche kirchenpolitische Publikation kam aber ganz offensichtlich vor der nächsten Frankfurter Herbstmesse, die einer der wichtigsten Umschlagplätze für Nachrichten und neue Druckerzeugnisse im Reich war, (noch) nicht zustande. Zwei Überlegungen im Blick auf die Funktion kirchenpolitischer Publikationen, die sich auch in den späteren Jahren immer wieder finden, werden schon hier für die Sichtweise der Protestanten deutlich: 1. Die Protestanten sind der Auffassung, daß das Gericht die Kenntnisnahme einer gedruckten Publikation nicht verweigern könnte, wie bei der ungedruckten Rekusationsschrift vom 30.1.1534 geschehen. Die politische Stoßkraft einer auch gedruckten Protest- oder Rekusationsschrift, die eine ihr entsprechende Verbreitung erfahrt, wird von ihnen als stärker angesehen als die einer ungedruckten Protestation oder eines anderen Rechtsmittels. 2. Die kirchenpolitische Öffentlichkeit, die durch eine solche Veröffentlichung, die sich gegen die unrechtmäßige Praxis des Reichskammergerichtes wendet, umfassende Kenntnisse gewinnen würde, wird selber als eine kompetente politische Größe angesehen, vor der sich der publizistisch angegriffene Gegner (in diesem Fall das Kammergericht) zu fürchten habe. Diese beiden Motive für eine Publikation bleiben bis zur Verwirklichung des Druckes im Jahr 1538 erhalten. Auch in den folgenden Jahren ist der Plan zu einer politischen Publikation, die sich gegen die Prozeßpraxis des Gerichtes richten soll, bei den Schmalkaldenern immer wieder aufgetaucht, ohne daß er tatsächlich verwirklicht worden wäre. Beispielsweise wurde bei dem Bundesabschied von Nürnberg vom 26.5.1534 beschlossen, daß Kursachsen und Hessen im Namen des Bundes „ein öffentlich ausschreiben im truck . . . an alle stendt des heiligen reichs und umligende potentaten" aussenden sollen, wo „rechtliche wege nit helfen" und falls ein Bundesmitglied in die Reichsacht erklärt wird.*' Auch der Abschied des Schmalkaldischen Bundestages zu Schmalkalden vom 24.12.1535, der auf die Wiener Verabredung zwischen dem sächsischen Kurfürsten Johann Friedrich (1503-1554) und König Ferdinand zurückblickte, formulierte wiederum den politischen Willensentschluß der protestantischen Stände, im Falle der Fortsetzung der Prozesse durch das Reichskammergericht mit einem öffentlichen „Ausschreiben" das rechtswidrige und Unruhe stiftende Verfahren des Gerichtes zu brandmarken.'® Über den Charakter sowie den angemessenen Zeitpunkt einer solchen Publikation und ihre politische Reichweite herrschte jedoch ganz offensichtlich kein 14 UARP 1, S. 277-285, Nr. 100, hier S.281. 15 Fabian, Bundesabschiede 1533-1536, S. 37-45, Nr. II. B. 1., hier S. 43-44. 16 Fabian, Bundesabschiede 1533-1536, Nr. III. В.1., hier S.72; Polit. Corr. 2, Beilage zu Nr. 330, S. 321-333, hier S.322; zitiert auch bei Smend, S. 153.

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Die Publikationen von November 1538 bis Juni 1539

Einverständnis zwischen den Mitgliedern des Bundes: Sollte diese zu drukkende Schrift eine erneute formelle Rekusationsschrift an das Gericht sein oder als eine kirchenpolitische Publikation an die reichsständische und internationale Öffentlichkeit gerichtet werden? Die .flucht in die Öffentlichkeit"" kam auch 1535/1536 für den Bund nicht zur Durchführung. Einzig und allein der hessische Landgraf Philipp veröffentlichte im Jahre 1537 in Marburg als amtliche Druckschrift eine „Spezialrekusation" des Reichskammergerichtes. Sie stand im Zusammenhang eines von der Äbtissin des Klosters Kaufungen dort gegen ihn geführten Prozesses.'^ Bei dem Bundestag im Gründungsort Schmalkalden 1537 ist die Möglichkeit einer solchen bundesamtlichen Veröffentlichung - so erinnerte sich 1538 der Straßburger Gesandte Michael Han'' - erneut erörtert worden. Der Abschied des Tages verfügte jetzt, eine neue Rekusationsschrift gegen das Gericht zu entwerfen. Damit wurden - anders als in Nürnberg 1534 - die oberdeutschen Mitglieder Württemberg, Straßburg und Augsburg beauftragt.^" Akuter wurde diese Frage schließlich auf und nach dem ersten der beiden Schmalkaldischen Bundestagen des Jahres 1538 erörtert, der vom 26.3.6.4.1538 in Braunschweig tagte. Mit dieser Braunschweiger Zusammenkunft, die durch die Geleitsverweigerung Herzog Heinrichs von Braunschweig-Wolfenbüttel (1489-1568) für den sächsischen Kurfürsten unter einem politisch ungünstigen Stern für die Schmalkaldener stand^', traten die Vorarbeiten für das beabsichtigte „Ausschreiben" nun endgültig in ein konkreteres Stadium ein. Das diffizile Unternehmen, einen gemeinsamen Text herzustellen, der von allen Ständen des Bundes in gleicher Weise politisch verantwortet werden konnte, läßt sich durch die Hinweise und Aktenstücke erahnen. Die Textgeschichte im Einzelnen nachzuzeichnen, würde den Rahmen dieser Arbeit weit übersteigen. Deshalb beschränke ich mich auf einige Hinweise: Das Konzept für einen in Braunschweig beschlossenen Sendbrief, den nur

π Dommasch, S.74. 18 Es handelte sich um die bei Kassel gelegene ehemalige reichsunmittelbare Abtei, die 1527 durch den Landgrafen aufgehoben worden war. Der Druck trägt den Titel: „Recusation widder das Cham II mergericht / betreffen das II Closter Kauffungen II" (2 Zierarabesken als Schmukkelemente), darunter ein Titelholzschnitt mit geharnischtem Ritter mit wappenverziertem Schild, darunter „Hessen" und ein Hinweiszeichen, Schlußvermerk auf BI. D 4b „Gescheen vnnd geben ZÛ Caßell am Sambstagk nach Pfingst / den Sechsundzwentzigsten Maii / Vnd Christi vnusers lieben Herren vnnd Seligmachers gebûrt / Im Fünffzehenhundert vnnd Siebenvnddreissigstenn Jare.", 16 Bl., 4°. Erschlossener Drucker: Eucharius Cervicomus, Marburg. Bibliographischer Hinweis: v. Dommer Nr. 80; kein Nachweis in V D 16. »Exemplar: UB Mr VIIIВ 442#. Vgl. auch StAM, PA469. 19 Polit. Corr. 2, S . 4 7 6 - 4 8 0 , Nr.496, hier S.479. Vgl. Polit. Corr. 2, Nr.439, S . 4 1 4 - t 2 9 , hier bes. S.427 Anm.2. 20 Mentz 2, S. 123. 21 Vgl. dazu 2.1.1. Diese Braunschweiger Geleitsverweigerung wurde selbst Gegenstand der kirchenpolitisch-publizistischen Auseinandersetzung. Vgl. z. B. JFvS/PhvH, „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben", Bl. A 4 a - D la.

Das „Ausschreiben an alle Stände" (13.11.1538)

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der sächsische Kurfürst Johann Friedrich im Namen aller Bundesmitglieder unterzeichnete, ist überliefert.^^ Seine Veröffentlichung wurde beim Bundestag beschlossen, „Jm fall do die Recusation ans Chammergericht kein Stadt haben wolle".23 Dem Auftrag zum Entwurf einer neuen Rekusationsschrifi war der Straßburger Rat mit Hilfe seiner Juristen bis Mai 1538 noch nicht nachgekommen, was am 15.5.1538 seitens der Repräsentanten dieser Stadt gegenüber den anderen Ständen zu einer Entschuldigung führte.^'^ Auf die Aufforderung des Abschiedes des Braunschweiger Bundestages, Ratschläge für das weitere Verfahren gegen die Religionsprozesse des Reichskammergerichtes für den nächsten Bundestag herzustellen, schlugen die politisch behutsamen Brüder Emst III. („der Bekenner") und Franz von BraunschweigLüneburg vor, das Gericht nicht grundsätzlich in allen Prozeßsachen zu rekusieren, sondern ihm seinen Lauf zu lassen und nur im Fall der Vermutung eines tatsächlich unrechtmäßigen Vorgehens erst einmal international renommierte Universitätsgelehrte zur Begutachtung einzuschalten. Nur wenn in einem solchen Fall Unrecht festgestellt würde, sollte es durch ein offenes Ausschreiben bekannt gemacht werden.^' Neben etlichen anderen Ständen, deren Voten sehr verschieden ausfielen, schickte auch der Straßburger Rat am 24.7.1538 zum Bundestag nach Eisenach auf die gleiche Aufforderung hin sein „Bedenken" und legte den weiterreichenden Vorschlag vor, die Rekusation des Reichskammergerichtes grundsätzlich sowohl in geistlichen wie in weltlichen Angelegenheiten auszusprechen und zwar „durch einen offenen Druck mit einverleibung der fümehmsten Ursachen der Feindschaft des Cammergerichts[-]Personen Daneben solle der Druck einen Vorschlag zur Neubesetzung des Reichskammergerichtes und zugleich eine Bekräftigung gegenüber dem Kaiser enthalten, daß man die in der Reichsverfassung verankerte Jurisdiktionsgewalt des Gerichtes aber grundsätzlich anerkenne. Die spätere altgläubige Interpretation des „Ausschreiben an alle Stände", vorgetragen durch Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel, als einer Publikation, mit der der hessische Landgraf das politische Ziel einer Reform des Reichskammergerichtes nach seinem persönlichem Gutdünken anstrebe, fügt sich gut zu der Absicht des Straßburger Rates, die das „Bedenken" als weiterführendes politisches Ziel formuliert hatte.^^ 22 StAM, PA 490, fol. 2 1 ^ 2 . 23 Laut eines Briefes des Landgrafen an den Kurfürsten vom 12.11.1538, StAM, PA 2576, fol. 113a; vgl. auch den Brief des Kurfürsten an den Landgrafen vom 4.11.1538, StAM, PA 2576, fol. 67b. 24 Polit. Corr. 2, S. 491-493, Nr. 512, hier S.492. 25 Hortleder 1645, 7. Buch, 10. Kap., S. 1448-1452, hier S. 1449. 26 Hortleder 1645, 7. Buch, 15. Kap., S. 1458-1461, hier S. 1461. 27 HvBrW, „Erste Antwort auf ein nichtig Schreiben" Bl. E 4a; zuerst in: JFvS/PhvH, „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" Bl. L 3a-L 3b.

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Die Publikationen von November 1538 bis Juni 1539

Man sieht daran: Zunehmende Einmütigkeit wuchs also im Verlaufe des Jahres 1538 über die Absicht zur Veröffentlichung einer Schrift im Druck, aber über ihren Charakter - ein allgemeiner Sendbrief oder eine formelle Rekusationsschrift - herrschte weiterhin kein Einverständnis zwischen den Mitgliedern des Schmalkaldischen Bundes. Welche Hinweise lassen sich nun über den Weg von der politischen Absichtserklärung zum konkreten Text finden? In Bezug auf das im Jahr zuvor in Auftrag gegebene Schreiben der drei Stände Württemberg, Straßburg und Augsburg gegen das Gericht galt am Tage des Beginns der Verhandlungen des Bundes in Eisenach für die Straßburger: „Das gemein usschreiben" sei vor dem 24.7.1538 in Straßburg noch nicht von dem Juristen Dr. Franz Frosch begutachtet worden.^® M. E. läßt sich daraus schließen, daß sowohl das nach Eisenach geschickte Straßburger „Bedenken" mit seinen Ausführungen über den Inhalt eines solchen Druckes als auch die Bemerkung, Frosch habe selbst noch nichts begutachten können, sowie ferner zumindest eine inhaltliche Skizze des seit 1537 in Auftrag gegebenen Rekusationsschreibens in Straßburg vor Ende Juli 1538 bekannt gewesen sein müssen. Hier stellt sich allerdings jetzt die Frage, wie sich dieser Straßburger Text zum schließlich veröffentlichten Resultat, dem „Ausschreiben an alle Stände" vom 13.11.1538, und zwar sowohl im Blick auf seine Intention als auch auf seinen Aufbau verhält? Gibt es Verbindungen oder handelt es sich hier um zwei völlig unterschiedliche Texte, die lediglich in einem gemeinsamen politischen Kontext stehen? Das Politische Archiv des Landgrafen im Hessischen Staatsarchiv Marburg enthält mehrere deutsche Textfassungen und -fragmente für einen „Sendbrief ' mit etlichen Korrekturen aus der hessischen Kanzlei, die ganz deutlich als Vorläufertexte zum dann auch veröffentlichten „Ausschreiben an alle Stände" vom 13.11.1538 anzusehen sind. Sie bezeichnen entweder den Kurfürsten allein im Namen aller protestierenden Stände als Absender oder führen minutiös alle Mitglieder des Schmalkaldischen Bundes (Fürsten, Grafen, Städte) einzeln als dessen Urheber auf.^' An dieser Stelle wäre zu untersuchen, ob die Textkonzepte aus der landgräflichen Kanzlei die Vermutung stützen, daß in Straßburg der Entstehungsort des „Ausschreiben an alle Stände" auszumachen ist. Ich beschränke mich wieder auf einige Hinweise. Die vorhandenen Textkonzepte lassen keinen Rückschluß auf eine direkte Mitwirkung der Straßburger bei der Entstehung der Endfassung zu. Der enge 28 Polit. Corr. 2, S. 508-510, Nr. 536, hier S.509, bes. Anm.2. 29 StAM, PA 490, fol. 21-42 dokumentiert ein erstes - in Braunschweig verabschiedetes und beschlossenes - Stadium. Fol. 43-66 (fragmentarisch) und fol. 67-116 weisen beide die umfangreiche Absenderliste auf und enthalten schon einige der auch später im Druck integrierten Dokumente der Geschichte des Konfliktes. Fol. 117-146 und 148-175 schließlich zeigen ein späteres Stadium, das dem endgültige Text von diesen Konzepten am nächsten kommt, wenngleich hier nur wieder der Kurfürst allein als Absender genannt wird. Fol. 147 ist ein Zettel, der die konkreten Fälle „Hamburg" und „Minden" kurz schildert.

Das .Ausschreiben an alle Stände" (13.11.1538)

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politische Kontakt in dieser Zeit zwischen dem landgräflichen Hof in Kassel und Martin Bucer (1491-1551), der durch den intensiven Briefwechsel zwischen dem Straßburger Theologen und dem Landgrafen belegt ist^", läßt aber die Vermutung einer über den Landgrafen vermittelten Einflußnahme auf die Gestaltung des „Ausschreiben an alle Stände" von Straßburg aus zumindest recht wahrscheinlich sein. Für den Entstehungsort Straßburg spricht femer - wie gezeigt - der konkrete politische Auftrag. Deshalb ist für eine neue Rekusationsschrift an die Adresse des Kammergerichts eine Mitwirkung durch Straßburger Juristen durchaus anzunehmen, wenngleich bisher nicht überzeugend belegt. Für Straßburg spricht auch die Vermutung der geistigen Urheberschaft des „Ausschreiben an alle Stände" durch Bucer, die der Beisitzer am Reichskammergericht Konrad Braun Ende 1539 äußerte, wenngleich diese Vermutung als ein Element der Polemik auf den ersten Blick nur beweist, daß die kirchenpoUtisch-publizistischen Aktivitäten der Schmalkaldener mit ihrem „Ausschreiben" von der altgläubigen Gegenseite im engsten Zusammenhang mit den publizistischen Aktivitäten Bucers, hier konkret mit seiner Pseudonymen Schrift „Etliche Gespräche vom Nürnbergischen Friedstand"^', zusammengesehen wurden. Als eine historisch zuverlässige Aussage ist die Äußerung Brauns jedoch nicht einzustufen.^^ Dennoch ist aber bemerkenswert, daß Bucer sich um den 13.11.1538 herum, dem Tag der endgültigen Unterzeichnung des „Ausschreiben" durch Kurfürst und Landgraf im Namen aller protestierenden Stände, in Kursachsen aufhielt. Er sondierte im Auftrag des hessischen Landgrafen die Möglichkeiten der kursächsischen Teilnahme an einem durch den herzoglich-sächsischen Hof vorgeschlagenen Religionsgespräch in Leipzig^^ und besprach sich mit den Wittenberger Theologen über die neu eingetretene Situation für die nach der Erklärung der Reichsacht gegen Minden im Blick auf das Recht der Protestanten zum Widerstand gegen den Kaiser.^'* Man gewinnt den Eindruck, daß alle Themen der aktuellen Kirchenpolitik von der Jahreswende 1538 auf 1539, die alsbald ihren Niederschlag auch in der Publizistik finden sollten, sich während des Besuches Bucers in Wittenberg in der Mitte des Monats November 1538 auf der Tagesordnung befanden. 30 Insgesamt dokumentiert in: Max Lenz (Hrsg.), Briefwechsel Landgraf Philipp's des Grossmüthigen von Hessen mit Bucer, 3 Bände, Leipzig 1880-1891. Die Intensität des Austauschs ist ab 1538 belegt. Eine direkte Mitwirkung der Straßburger bei der Abfassung einer seiner amtlichen Publikationen erbat der Landgraf erst im Februar 1541 bei der öffentlichen Darstellung seiner zweiten Ehe für die kirchenpolitische Öffentlichkeit des Regensburger Reichstages. Vgl. unten S. 274. 31 Vgl. 1.4. 32 Braun (an), ,3in Gespräch eines Hofrats" Bl. D 4b, spielt lose, aber m. E. deutlich mit „ain ander butz" auf Bucer an. 33 Vgl. S. 59. 34 Vgl. S. 47 f.

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Zum geplanten „Ausschreiben" ist festzuhalten: Der Plan zu einem politischen Druck und die Erstellung des dann letztlich veröffentlichten „Ausschreiben an alle Stände" ist ein komplexes Gemeinschaftswerk des Schmalkaldischen Bundes, das durch viele Stadien gelaufen ist und an dem viele Hände beteiligt gewesen sein müssen, bis die Endredaktion, für die schließlich nur Sachsen und Hessen gemeinsam zeichnen und die auf die Achterklärung gegen die Stadt Minden vom 9.10.1538 abhebt, schließlich nicht vor Mitte Oktober 1538 erfolgte. Das erklärte Ziel der Schmalkaldener, einheitlich vorzugehen, ließ letztlich als konsensfähig nur die Form dieses gedruckten ,Ausschreiben an alle Stände" zu.^^ Die aus politischen Motiven von der Stadt Straßburg gewünschte allgemeine Rekusation des Gerichtes wegen Befangenheit kam erst 1542 zustande^®, weil die meisten der anderen evangelischen Stände im Herbst 1538 genau mit diesem „letzten" Schritt gegen das Gericht (noch) nicht einverstanden waren. ^^ Aufschlüsse über die letzte Redaktion von Hand des Kurfürsten gibt seine Korrespondenz mit dem Landgrafen aus dem Monat November 1538: Mit der Wiederaufnahme der Prozesse durch das Gericht nach längerer Pause sah der Kurfürst am 4.11.1538 nun die Notwendigkeit der Veröffentlichung des Textes gegeben. Er sah sich damit im Einklang mit dem Beschluß zu einer Veröffentlichung, wie er beim Braunschweiger und Eisenacher Bundestag gefaßt worden sei.^® Er wolle nun den Drucker in Wittenberg dazu beauftragen und Philipp solle ein gleiches tun. Philipp erklärte sich am 12.11.1538 mit der geltenden Textfassung einverstanden, die offensichtlich noch eine - hier nicht näher zu bestimmende^^ - Redaktion des Kurfürsten einschloß. Fest steht, daß diese

35 Smend urteilte: „Der Bund beschränkte sich . . . " auf diesen Druck, hier Smend S. 155. 36 Maria Barbara Rößner, Konrad Braun (ca. 1495-1563) - ein katholischer Jurist, Politiker, Kontroverstheologe und Kirchenreformer im konfessionellen Zeitalter (RGST 130), Münster 1991, hier S.56, bezeichnet das ,^usschreiben an alle Stände" als „erneute Rekusationsschrift". Das ist formal nicht ganz genau. Die Rekusation des gesamten Gerichtes durch Sachsen und Hessen als „befangen" erfolgte erst vier Jahre später, nämlich am 4.12.1542. Vgl. dazu vor allem Smend, S. 158-159. Diese endgültig die Prozeßpraxis sprengende Rekusation wurde 1542/43 von den schmalkaldischen Bundeshauptleuten genau wie das .Ausschreiben an alle Stände" in deutscher und lateinischer Sprache als kirchenpolitische Publikation im Druck verbreitet, wobei die Titelblätter der insgesamt vier Drucke leicht differieren. Bibliographische Hinweise: 1. VD 16: H 2886 = VD 16: S 1035, ν. Dommer Nr. 180 - 2. VD 16: Η 2888 = VD 16: S 1037, ν. Dommer Nr. 1 8 1 - 3 . VD 16: Η 2887 = VD 16: S 1036 - 4. VD 16: H 2885 = VD 16: S 1034. Mentz 2, S. 168f. konstatiert für die Eisenacher Tagung eine mangelnde Stimmung für die Ausdehnung der Rekusation. 38 StAM, PA 2576 fol. 67b. Regest bei Mentz 3, S . 4 0 8 - t l 3 . Vgl. auch Mentz 2, S. 172, bes. Anm. 1 und dazu Meinardus, S. 622. Er erwähnt einen Brief des sächsischen Kurfürsten Johann Friedrich an den Landgrafen vom 4.11.1538, wonach die Schrift „vor Martini" 1538 in Druck gehen sollte, da man für diesen Termin die Veröffentlichung des Nürnberger Bundesvertrages der altgläubigen Stände erwartete. Diese Notiz zum Termin war im StAM nicht zu verifizieren. 39 Die Verwicklungen, die sich offensichtlich bei den letzten Redaktionsarbeiten ergeben haben, sind aus der Korrespondenz ermittelbar, wurden aber von mir nicht rekonstruiert. Sie beziehen sich vor allem auf die Integration des kaiserlichen Briefes aus Savigliano vom 7.7.1536 (entspricht

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Redaktion deutlicher den theologischen Ursprang des Konfliktes mit dem Reichskammergericht hervorhob.'"' Der Landgraf seinerseits wies den Kurfürsten auf für ihn wichtige „äußere" Gestaltungsmomente der beabsichtigten Publikation hin, nämlich den Sinn und Reichweite einer Übersetzung ins Lateinische sowie ihre deutliche Kenntlichmachung als einer amtlichen Publikation. So empfahl Philipp, „das solch ausschreiben Euer lieb bedencken nach In ein Sauberlich rein latein pracht Lateinisch gedrackt und In auswertige Nationen geschickt werde." Und: „Das auch umb mehrer ansehens und glaubens willen beide ewer Lieben und unsere Wappen fom aufs exemplar desselbigen ausschreibens sollen gedruckt werden [,] dessen sint wir mit Ewer Lieb einig . . . Noch ein weiteres interessantes Detail zur äußeren Gestaltung des Dracks teilte am 15.11.1538 der Kurfürst dem Landgrafen mit. Er habe beschlossen, daß auf dem Titelblatt des Druckes neben den Wappen das Motiv vom Durchzug der Kinder Israel durch das Rote Meer abzudracken sei samt dem Motto „Verbum domini manet In Etemum".'^^ So ist es auch ausgeführt worden. Der Titel der unter dem Datum des 13.11.1538 bei Georg Rhau in Wittenberg erschienenen deutschen Ausgabe lautete schließlich: „Ausschreiben / an alle Stende des II Reichs / jnn der Christlichen Religion aynungs II vorwandten nahmen, etc. Die beschwerung des II Kayserlichen Cammergerichts / belangende. II 1538 ll".''^ Unter dem Titel befindet sich der von Johann Friedrich gewünschte eingefaßte Holzschnitt mit dem biblischen Motiv aus Ex 14: Mose teilt das Meer und die Ägypter versinken, während die Israeliten durchziehen. Darunter befindet sich ein kursächsischer und ein hessischer Wappenschild, zwischen denen das protestantische Motto eingerahmt zu lesen ist: „VERBUM II DOMINI II MANET IN = II AETERNUM. II". Der Schlußvermerk auf Bl. H За lautet: „Gedruckt zu Wittemberg durch Georgen Rhaw. M.D.XXXVIII." schließlich JFvS/PhvH, .Ausschreiben an alle Stände" Bl. F l a - F 2a. hier als integriertes Stück Nr. 4.) und die Verdeutlichung der aktuellen Anspielungen auf die Prozesse gegen die Städte Hamburg und Minden. Dem Kurfürsten war entsprechend seiner politischen Vorsicht daran gelegen, die für ihn nicht abschließend geklärten Prozeßbestände - ob es sich tatsächlich hier um Prozesse in ..causa religionis" handelte oder nicht - nicht allzu deutlich zu benennen. 40 StAM. PA 2576. fol. 113a. 41 StAM. PA 2576. fol. 113b. 42 StAM. PA 2576. fol. 166; vgl. auch fol. 190a-191a. Gebildet nach Jes 40.8; Ps 119.89; I Petr 1. 25. Das spätestens mit dem Speyerer Reichstag von 1526 populäre Erkennungszeichen der Lutheraner nach außen war seit einigen Jahren geradezu ..inflationär" im Gebrauch. 43 Bibliographischer Hinweis: VD 16: H 2802 = VD 16: S 986. Vgl. Abbildung 1. S. 322.

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Diese Seite zeigt darüber wiederum die zwei Wappen der schmalkaldischen Bundeshauptmänner. Der Druck hat 8 Bögen bzw. 31 bedruckte Blatt im Quartformat. Am 26.11.1538 sandte der Kurfürst Exemplare des fertiggestellten Drucks an den Landgrafen mit der ausdrücklichen Bitte, daß die noch zu druckende hessische Ausgabe des „Ausschreiben an alle Stände" im Wortlaut und im Erscheinungsbild genau der erstellten Wittenberger Ausgabe zu entsprechen habe, um nicht bei den Lesern den Eindruck einer Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen aufkommen zu lassen. Eine Übersetzung ins Lateinische sei in Kursachsen bereits in Arbeit.''^ Die kurz danach - im Dezember - fertiggestellte lateinischsprachige Wittenberger Ausgabe bei Rhau trägt den Titel: „DE INIUSTIS PROCESSI = II BUS lUDICIl CAMERAE IMPERIALIS, II protestatio & petitio Principum & coeterorum confoedera = II torum in causa verae religionis & purae doctrinae Christi. II 1538. II".'^^ Ihr Titelholzschnitt, das biblische Motto und die Rahmungen entsprechen genau der deutschen Ausgabe Rhaus. Der Schlußvermerk auf Bl. G 4a lautet: „Impressum Vitebergae per Georgium Rhau. Anno M.D.XXXVIII. Mense Decembri." Darüber befinden sich die Wappen wie beim deutschen „Ausschreiben", das Rhau hergestellt hatte. Nur der äußere Umfang dieses Drucks ist verkürzt. Er beträgt jetzt im selben 4°-Format lediglich 28 Blatt. Schon der Titel dieser lateinischen Ausgabe macht noch einmal deutlich, daß es sich bei dieser Schrift nicht um eine juristisch-verfahrenstechnische Rekusation des Gerichts im „Vollsinne" des Wortes (wie in den Jahren 1534 und 1542) handelt, sondern allenfalls um eine öffentliche „protestatio et petitio". Daß es sich beim Inhalt dieser Publikation um eine religiös-kirchliche Angelegenheit von höchster Bedeutung handelt, kommt ebenfalls in dem lateinischen Titel schon stärker als in der deutschen Ausgabe zum Ausdruck: Der Grund für den öffentlichen Protest der Schmalkaldener liege „in causa verae religionis et purae doctrinae Christi". Der theologisch-ekklesiologische Anspruch, die „wahre Religion" und die „reine Lehre" rechtmäßig zu repräsentieren, wird darin öffentlich von den „Einungsverwandten" festgeschrieben und dem (altgläubig besetzten und falsch urteilenden) Reichskammergericht abgesprochen.

-»4 StAM, PA 2577, fol. la, lb, 2, За. Wer die Übersetzung ins Lateinische herstellt, wird darin nicht mitgeteilt. 45 Bibliographischer Hinweis: VD 16: H 2806 = VD 16: S 990.

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1.1.3. Adressaten, Verbreitungswege und Drucke Adressaten dieses „Ausschreibens" sind neben der Öffentlichkeit, die diesen „Sendbrief zur Lektüre erhält, die politischen Vertretungen der Stände des deutschen Reiches, wie z.B. die Kurfürsten, Fürsten, Grafen, Herren, „Freie" und „Communen", was auch gleich zu Beginn des gedruckten Textes festgehalten wird.'·® Auch am Ende der Schrift wird noch einmal - allerdings recht unbestimmt - an die „Fürsten" appelliert''^, wobei allerdings zu fragen ist, welche Fürsten speziell von den beiden verantwortlichen Politikern, die hier als Publizisten fungieren, gemeint waren. G. Hölscher dachte dabei innerhalb der Gruppe aller Reichsfürsten speziell an diejenigen altgläubigen Reichsstände, die mit der gegebenenfalls zu erwartenden Exekution der Reichsacht gegen die Stadt Minden beauftragt werden würden: Hermann von Wied und Christoph von Braunschweig als Erzbischöfe von Köln und Bremen, Franz von Waldeck, der Bischof von Münster, Minden und Osnabrück, Königin Maria, die Schwester des Kaisers und seine Statthalterin in den Niederlanden, Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel und die zwei Grafen von Holstein."*^ Unabhängig von deren angenommenen politisch-militärischen Engagement gegen die Schmalkaldener im Falle des Befehls der Acht, dürften damit aber die Adressaten speziell eines gedrucken „Ausschreibens" noch nicht hinreichend erfaßt worden sein. Um eine solche, eher kleine Gruppe von Adressaten zu erreichen, ist eine gedruckte Fassung des „Auschreibens" in zwei Sprachen in Wittenberg und in Marburg nicht notwendig. Ein gedrucktes „Ausschreiben" zielte aber von vornherein über den primären politischen Adressaten hinaus an die breite Öffentlichkeit, eben, wie auch der deutsche Titel sagt, an alle Stände. Auf welchen Wegen erreichte das „Ausschreiben an alle Stände" oder seine lateinische Version „De iniustis processibus protestatio" die Adressaten, für die es bestimmt war? Es ist zu vermuten, daß sich die Verbreitung von Druckexemplaren auf mindestens zwei verschiedenen Wegen vollzogen hat: 1. (Kostenlose) Versendung durch Boten: Ein exemplarischer Beleg findet sich im Protokollbuch des Domkapitels des Erzbistums Mainz. Am 4.2.1539 ist im Kapitel ein Schreiben des hessischen Landgrafen zusammen mit einem (vermutlich im Januar 1539 in Marburg gedruckten) Exemplar des „Ausschreiben an alle Stände" verlesen worden. Das Kapitel beschloß, beide Schreiben seinem Erzbischof Albrecht vorzulegen. Am 6.2.1539 erging eine Antwort des Kapitels.''^ 46 JFvS/PhvH, „Ausschreiben an alle Stände" Bl. A 2a. 47 JFvS/PhvH, „Ausschreiben an alle Stände" Bl. G 4b-H 2b. 48 G. Hölscher, Die Geschichte der Mindener Reichsacht 1538 bis 1541, in: ZGNKG 9 (1904), S. 192-202, hier S. 195. 49 Die Protokolle des Mainzer Domkapitels Bd. 3, 2 (1537-1547), Paderborn 1932, S. 784-785.

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Weitere Belege darüber, daß durch Boten gezielt Fürstenhöfe und niederer Adel, städtische Magistrate und Einzelpersonen mit Exemplaren des „Ausschreiben an alle Stände" oder „De iniustis processibus protestatio" hessischeroder kursächsischerseits beschickt worden sind, konnten noch nicht ermittelt werden. Da ein solches, hoch differenziertes Verteilverfahren durch Boten aber für andere amtlich-kirchenpolitische Publikationen dieses Typs in dieser Zeit sehr gut belegt ist^°, ist es m. E. entsprechend auch für dieses „Ausschreiben" anzunehmen. Dem Reichskammergericht, gegen das sich das „Ausschreiben an alle Stände" vom 13.11.1538 richtet, ohne an es adressiert zu sein, wurde laut M. B. Rößner ein solches „Ausschreiben" etwa einen Monat später - also Mitte Dezember 1538 - überbracht und verlesen.^' 2. (Öffentlicher) Verkauf: Exemplare des bei Georg Rhau in Wittenberg hergestellten Drucks „Ausschreiben an alle Stände" kamen darüberhinaus gleichzeitig auch zum freien Verkauf: Schon am 7.12.1538 sandte Christoph Schramm von Wittenberg aus „1 Anschreiben" zum Preis von 8 Heller an den Stadtschreiber und Buchverleger Stephan Roth in Zwickau, den Schwager des Druckers Georg Rhau.'^ Dabei kann es sich m. E. nur um ein bei Rhau in diesen Tagen hergestelltes Exemplar des „Ausschreiben an alle Stände" gehandelt haben. Zusammenfassend läßt sich festhalten: Als Adressat eines solchen gedruckten „Ausschreibens" muß neben den in die aktuelle Reichs- und Kirchenpolititik involvierten Reichsständen und -Institutionen auch die an der allgemeinen kirchenpolitischen Entwicklung interessierte Öffentlichkeit angenommen werden. Am - hier erstmaligen - Beispiel Stephan Roths läßt sich ein Interesse für die publizistischen Produkte im Kontext der aktuellen Kirchenpolitik nachweisen. Dieser durch die beiden Publizisten ebenfalls intendierten „Öffentlichkeit" entspricht auch im Text des „Ausscheibens" der ausdrückliche Appell an das Erkenntnisvermögen eines „Biderman".'^ Über die von Hölscher genannten Repräsentanten der altgläubigen Seite hinaus ist von einer Verbreitung des Drucks in den evangelischen Städten und Territorien, in deren Namen ja Johann Friedrich und Philipp ebenso sprachen, ohnehin auszugehen, wie auch die auffallend hohe Zahl von Ausgaben des „Ausschreibens" belegt. Sie dokumentieren im Grunde genommen beides, ohne das die Motive sauber von einander geschieden werden könnten: das Interesse

Die in Marburg bei Egenolff hergestellten Drucke sind bibliographisch nachgewiesen: 1. VD 16: H 2803 = VD 16: S 987, ν. Dommer Nr. 109 - 2. VD 16: Η 2804 = VD 16: S 988, ν. Dommer Nr. 1 1 0 - 3 . VD 16: Η 2807 = VD 16: S 991, ν. Dommer Nr. I l l - 4. VD 16: Η 2808 = VD 16: S 992, V. Dommer Nr. 112. 50 Vgl. unten S. 150 f., 198 ff., 277, 287. 51 Rößner, S.56. 52 Buchwald, S. 185, Nr. 575. 53 JFvS/PhvH, „Ausschreiben an alle Stände" Bl. D 4a, E la, E 2b.

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sowohl an der Verbreitung seitens der offiziellen Urheber als auch an der Lektüre dieses „Ausschreibens" durch die kirchenpolitische Öffentlichkeit. Nur die beiden Drucke aus den Werkstätten Georg Rhaus in Wittenberg und die vier Drucke von Christian Egenolff^'* in Marburg sind durch die jeweiligen Landesherm veranlaßte, „offizielle" Drucke. Zwei weitere, entweder noch aus dem Jahre 1538 stammend oder zu Beginn des Jahres 1539 hergestellt, sind ohne Angabe des Druckers und des Druckortes erschienen.^^ Beide stammen ganz offensichtlich auch aus dem protestantischen Bereich. Waren sie zur weiteren Verbreitung etwa im Zusammenhang der Frankfurter Verhandlungen ab Februar 1539 gedacht? Schließlich ist ein weiteres deutsches „Ausschreiben" 1539 auch durch Johann Prüss d. J. in Straßburg verlegt worden.^® Die nur in Wittenberg und Marburg hergestellten Exemplare von „De iniustis processibus protestatio" dürften nicht nur für die vorwiegend lateinisch lesenden Kleriker und humanistisch Gebildeten, sondern auch als Exemplare für Adressaten außerhalb des deutschen Sprachraums gedacht gewesen sein.

1.1.4. Gliederung des „Ausschreiben an alle Stände" und enthaltene Dokumente Zweck dieses „Ausschreibens" der Protestanten ist es, „die unbedechtigen argwo[e]nigen handelungen des Keyserlichen Camergerichts / so es gegen etlichen / aus unsern / ein zeit her / fur[= vorjgenomen hat / anzuzeigen Γ Ρ Diese Absicht, die Rechtmäßigkeit des eigenen Verhaltens und damit zugleich die Rechtswidrigkeit und die politisch-theologische Parteilichkeit des Gerichtes darzulegen, wird erreicht durch summarische Referate und wörtliche Zitate der aus protestantischer Perspektive wichtigen Schriftstücke, die zwischen dem Kaiser, seinem Bruder oder den kaiserlichen Unterhändlern einerseits und den Evangelischen andererseits gewechselt worden sind. Sie stammen aus der Reichsgeschichte der Jahre zwischen 1526 und 1537 und betreffen speziell die Religionsprozesse. Ihre Auswahl ist gemäß der hinter dem „Ausschreiben" stehenden politisch-publizistischen Intention eine „protestantenfreundliche" Auswahl. Ihr Schweφunkt liegt bei entsprechenden Dokumenten Der in Frankfurt ansässige Buchdrucker und Großverleger Christian Egenolff hatte soeben wohl im letzten Quartal des Jahres 1538 - eine Filiale seines Unternehmens auf Veranlassung des hessischen Landgrafen Philipp in Marburg eröffnet. Er wird in dieser Untersuchung als der Marburger Drucker angesehen. Vgl. von Dommer, S. 18. 55 Bibliographische Hinweise: VD 16: Η 2800 = VD 16: S 984 (Drucker? Druckort?), hier Abbildung 2, S. 323, ferner VD 16: H 2801 = VD 16: S 985 (ein offensichtlich mit dem Straßburger Druck bei Johann Prüss d. J. verwandter Druck). 56 Bibliographischer Hinweis: VD 16: H 2805 = VD 16: S 989. 57 JFvS/PhvH, „Ausschreiben an alle Stände" Bl. A 2b.

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Die Publikationen von November 1538 bis Juni 1539

aus den Jahren 1532 (Nürnberger Religionsfriede, kaiserliches Mandat) und 1536 (ein Briefwechsel mit Karl V.). In einer allgemein gehaltenen Einleitung bezeugen die Publizisten ihre Loyalität zum Kaiser.^^ Die friedlichen Absichten der Schmalkaldener werden unterstrichen. In diesem Zusammenhang erfolgt auch eine im engeren Sinne „theologische" Rechtfertigung der von ihnen vorgenommenen Veränderungen in dem Kirchenwesen ihrer Territorien. Hingewiesen wird auf die Anfängen evangelischer Predigt und die Gewährung des (von ihnen behaupteten) reichsrechtlichen Schutzes der reformatorischen „Neuerungen" auf seit dem Ersten Speyerer Reichstag von 1526. Ausführlichen Raum nimmt die Schilderung des Konfliktes zwischen den Protestanten und dem Kammergericht ein, wie er mit der beginnenden Reformation sich ergab und nach den Nürnberger Verhandlungen von 1532 noch einmal verschärft ergeben hat. Dieser große mittlere Teil^® des „Ausschreiben an alle Stände" läßt sich einschließlich der darin enthaltenen Dokumente gliedern: 1.) Bl. В la-B Ib: Hinweis auf die Appelle vom Augsburger Reichstag (1530) und Schmalkaldischen Bundestag (1531) an den Kaiser. 2.) Bl. В 2a-C 2b (= 1. Dokument®"^): Abrede zwischen Erzbischof Kardinal Albrecht von Mainz und Pfalzgraf Ludwig bei Rhein als den kaiserlichen Unterhändlern mit Kurfürst Johann von Sachsen, seinem Sohn Johann Friedrich und weiteren schmalkaldischen Bundesmitgliedern (ohne Hessen) vom 23.7.1532. 3.) Bl. С 3a-C 4b (= 2. Dokument^'): Kaiseriiches Mandat zum Nürnberger Verhandlungsergebnis vom 2.8.1532, eingeleitet auf Bl. С 2b. 4.) Bl. D la-E la: Referat zur weiteren Entwicklung des rechtlichen Konfliktes aus protestantischer Perspektive in den Jahren 1532-1534: Die kaiserlichen Kammerrichter [z.B. Graf Adam von Beichlingen] haben „unangesehen solchs fridlichen anstands / und Kei. Ma. darauff gefolgten inhibition / in sachen die Religion belangend / gegen etlichen / aus uns / und die unsern / procedirt und furtgefaren / . . . " . Auf die Einrede der Protestanten habe das Gericht nicht reagiert, obwohl es für den erfolgten Anstand doch (auch gegenüber Gott!) hätte dankbar sein können. Statt den Frieden zu bewahren, habe das Kammergericht sich an den Kaiser gewandt und um eine nähere Erläuterung gebeten, welche Streitgegenstände denn Religionssachen seien und welche nicht. Die Kompetenz, das zu entscheiden, habe das Gericht unrechtmäßigerweise an sich gezo-

58 JFvS/PhvH, „Ausschreiben an alle Stände" Bl. A 2a-A 3a. 59 JFvS/PhvH, „Ausschreiben an alle Stände" Bl. A 3a-G Ib. 60 Vgl. den Text jetzt auch in: DRTA.JR 10/3 (1992) Nr.549, S.(1511) 1512, 1-1517, 145. 61 Das ist der sog. Nürnberger Anstand. Vgl. den Text auch in: DRTA.JR 10/3 (1992) Nr. 557, S.(1519) 1520, 1-1522, 64.

Das .Ausschreiben an alle Stände" (13.11.1538)

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gen und ferner auch für bestimmte Prozeßgegenstände seine Erstinstanzlichkeit beansprucht. 5.) Bl. E Ib-E 2a (= 3. Dokument): Nach einer Einleitung auf Bl. E la-E Ib folgt ein Ausschnitt aus dem Kadener Vertrag zwischen Kurfürst Johann Friedrich und König Ferdinand vom 28.6.1534, der den Nürnberger Religionsfrieden bekräftigte und Mißverständisse bei seiner Auslegung durch die Kammerrichter zugestand.®^ 6.) Bl. E 2a-E 4a: Hinweis auf die Rekusation des Reichskammergerichtes für Prozesse in „causa religionis" vom 30.1.1534, Begründung der Rechtmäßigkeit der Rekusation und Darstellung ihrer Wirkungslosigkeit.® 7.) Referat der weiteren Entwicklung aus den Jahren 1535/36 mit einem Bericht über die schmalkaldische Gesandschaft an den in Italien weilenden Kaiser, eingeleitet Bl. E 4b-F la; schließlich Bl. F la-F 2a (= 4. Dokument) der Brief Karls V. an die schmalkaldischen Bundeshauptleute vom 7.7.1536 aus Savigliano/Turin; femer Bl. F 2b-G la (= 5. Dokument) der Antwortbrief der Schmalkaldener an den Kaiser vom 9.9.1536. 8.) Bl. G la-G Ib: Die Erklärung gegenüber dem kaiserlichen Vizekanzler Matthias Held in Schmalkalden 1537. Der sich danach noch anschließende Teil des „Ausschreibens" bringt den aktuellen Zweck zum Ausdruck. Er endet mit der Darlegung des „ekklesiologischen" Kerns der rechtlich-diplomatischen Verwicklungen der letzten Jahre, zeigt mögliche und unmögliche Wege für eine „Lösung" an.^ Er wird im folgenden noch näher entfaltet. Ganz zum Schluß steht ein Appell an die altgläubigen Reichsstände, die durch die Achterklärung gegen die Stadt Minden entstandene Kriegsgefahr für das Reich nicht zu unterschätzen.®^

1.1.5. Die implizite Ekklesiologie des „Ausschreiben an alle Stände" Nach ihrem ausführlichen historischen Referat benennen der Kurfürst und der Landgraf gegen Ende ihres „Ausschreibens" für die Protestanten den Kern des Konfliktes mit dem Reichskammergericht: Die Religionsprozessen verstehen sie als „Religion sachen", weil sie aus „des glaubens sachen" entspringen. Sie können nur dann in der ihnen gebührenden Form und auf rechtliche Weise erörtert oder ausgeführt werden, wenn „die zweispeltige sache des glaubens / als Qu[a]estio pr[a]eiudicialis / zuvor durch ein gemein / frey Christenlich Concilium" entschieden ist.®® 62 Vgl. Doramasch, S. 35-38. 63 Vgl. UARP 1, S. 253-285, Nr. 99, Nr. 100. 64 JFvS/PhvH, „Ausschreiben an alle Stände" Bl. G Ib-G 4a. 65 JFvS/PhvH, „Ausschreiben an alle Stände" B. G 4b-H 2b. Vgl. S. 43 f. 66 JFvS/PhvH, „Ausschreiben an alle Stände" Bl. G Ib.

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Die Publikationen von November 1538 bis Juni 1539

Im Blick auf zwei Schwerpunkte der vorgenommenen Veränderungen, die das kirchliche Leben äußerlich sichtbar und damit auch die Kirche in ihrer Rechtsgestalt betroffen haben, wird diese durch ein Konzil zu erörternde Kernfrage exemplifiziert, nämlich auf die Gottesdienstreform und die jetzige Verwendung des Kirchengutes, speziell des Klosterbesitzes: 1. Gottesdienstreform: Die von den Evangelischen vorgenommene Abstellung der „Mess und Ceremonien", die als solche nicht im Wort Gottes begründet seien, sei eine unter die Aufschubsklausel des Nürnberger Anstandes fallende „Religion sach". Darüber kann oder mag durch das Kammergericht, selbst wenn es nicht parteiisch wäre, rechtmäßig nicht entschieden werden. Bedingung für die Entscheidung ist die theologische Klärung der Frage, „ob die Papistische Messe und Ceremonien / ChristUch und Gottlich seien oder nicht".^^ Die Kompetenz des Reichskammergerichtes in Frage des äußeren kirchlichen Lebens kann also solange nicht akzeptiert werden, wie die Frage nach dem rechtmäßigen Gottesdienst nicht einer endgültigen theologischen Klärung zugeführt worden ist. Ein bedeutendes theologisch-rechtliches Axiom wird in diesem Zusammenhang von den Protestanten ins Feld geführt: Zwei einander widersprechende Gottesdienstformen können in einem evangelischen Territorium nicht geduldet werden. Es wird wirksam an der Frage des Kirchengutes. 2. Kirchengut/Klosterbesitz: Das Problem der Nutzung des Klosterbesitzes stelle sich einerseits da, wo in einem Kloster die „Closters personen / durch das wort Gottes erleuchtet / solch Closterleben / als vor Gott unverdienstlich" erkennen und ihr Kloster verlassen, oder aber „Closters personen / so halsstarrig / das sie sich nicht allein / nicht wollen bessern oder berichten lassen / sondern in iren misbreuchen verharren", die Einkünfte des Klosters eigenmächtig behalten.®^ Eine Restitution des eingezogenen Klostergutes an die altgläubige Seite ist nicht möglich „o[h]ne Verletzung unserer gewissen [!]". Diese Vermögen sind verknüpft sind mit dem „recht geschaffenen Gottesdienst". Nur wenn ein „freies christliches" Konzil erweisen würde, daß die Religion der evangelischen Reichsstände gegen Gottes Wort sei, könne man den Besitz zurückgeben.®' Wenn die schmalkaldischen Stände jetzt aber aus äußerem Zwang heraus die Jurisdiktion des Kammergerichtes akzeptierten, begäben sie sich (nach ihrem Selbstverständnis) wissentlich aus einem Zustand des Friedens [ihres Gewissens] in den Unfrieden [einer „äußeren" Reichsfriedensordnung]. Sie würden damit die christliche Lehre und die kirchlichen Ordnungen, m. a. W. die (sichtbare) Kirche selbst, denen überlassen, die sie „aus Frevel" verfolgen.^" Das theologisch-ekklesiologische Wahrheitsbewußtsein der protestierenden Stände und ihr daraus resultierendes Rechtsbewußtsein würden also da Schaden 67 JFvS/PhvH, 68 JFvS/PhvH, 69 JFvS/PhvH, 70 JFvS/PhvH,

„Ausschreiben „Ausschreiben „Ausschreiben „Ausschreiben

an an an an

alle alle alle alle

Stände" Bl. Stände" Bl. Stände" Bl. Stände" Bl.

G G G G

2a. 2a-G 2b. 2b-G 3a. 4a.

Das „Ausschreiben an alle Stände" (13.11.1538)

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nehmen und auch ihre öffentliche Reputation verletzt, wenn sie sich den Urteilen des Reichskammergerichtes beugten. Dessen Praxis tritt ihnen als eine Praxis gegenüber, die ihrerseits dem (aus guten theologischen Gründen heraus zu verwerfenden) herkömmlichen kanonischen Recht und den alten kirchlichen Autoritäten (Papst und Bischöfe) veφflichtet ist.

1.1.6. Das aktuelle kirchenpolitisches Ziel des „Ausschreiben" im Herbst 1538 Die bisherigen Ausführungen des „Ausschreiben an alle Stände" enthalten bis zu diesem Punkt keine Aspekte, die den Adressaten angesichts der religionspolitischen Diskussion, wie sie seit dem Augsburger Reichstag von 1530 und dem Nürnberger Anstand von 1532 geführt worden war, vollkommen neu waren. Auf den letzten Seiten des Druckes jedoch wird eine Erklärung von Kurfürst Johann Friedrich und Landgraf Philipp in Bezug auf die neue reichspolitische S ituation abgegeben, die durch die am 9.10.153 8 erfolgte Erklärung der Reichsacht durch das Kammergericht in dem Prozeß der beiden Mindener Kollegiatkirchen St. Martini und St. Johannis und dem Abt des Konventes St. Simeonis gegen Bürgermeister, Rat und die ganze Gemeinde der Stadt Minden entstanden war.^" Sie richtet sich direkt an die Fürsten und Politiker altgläubigen Reichsstände: Wenn das Gericht, um das Urteil gegen Minden zu vollziehen, sie zur Exekution der Acht auffordern würde, sie - die Protestanten - aber aus den angezeigten Gewissensgründen nicht von ihrer Position weichen werden, sondern die ganze Angelegenheit Gott anbefehlen werden, und es darüber im Reich zu Krieg und Empörung käme, so wollten sie mit dem „Ausschreiben" vor Gott und aller Welt „protestirt" haben und bekennen, daß sie „den fried / Christliche und billige einigkeit / hertzlich / treulich gesucht und bege[h]rt" hätten.^^ Einen zu erwartenden Befehl zur Exekution der Acht sollten die altgläubigen Stände nicht annehmen, sondern samt ihren Anhängern die Sache Gott als dem obersten Richter und wahren Gericht, nämlich dem Gericht seines göttlichen Wortes in einem gemeinen, freien, christlichen und unparteiischen Konzil anbefehlen und Wege suchen, die dem Reich zu Frieden und Einigkeit dienen.^^ Sollte aber von den Altgläubigen eine unrechtmäßige Exekution ausgehen, sind die Mitglieder des Schmalkaldischen Bundes bereit, mit Gottes Hilfe und unter Zulassung göttlicher und natürlicher Rechte „und gegenwer" dies zu verhindern.^^ 71 Vgl. dazu G. Hölscher, Die Geschichte der Mindener Reichsacht 1538 bis 1541, in: ZGNKG 9 (1904), S. 192-202, hier S. 193-194. 72 JFvS/PhvH, „Ausschreiben an alle Stände" Bl. H la. 73 JFvS/PhvH, „Ausschreiben an alle Stände" Bl. H Ib. JFvS/PhvH, „Ausschreiben an alle Stände" Bl. H 2a.

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Die Publikationen von November 1538 bis Juni 1539

Dieser durch das „Ausschreiben" angestrebte Aufschub der Exekution der Acht gegen die evangelischen Mindener wurde rückblickend bei den sich im Februar 1539 anschließenden Verhandlungen der Schmalkaldener in Frankfurt als vordringlicher politischer Zweck der Publikation „Ausschreiben an alle Stände" benannt. Am 14.2.1539 wurde in einem Bericht über die Vorkommnisse seit dem letzten Bundestag referiert, daß das schon häufig bei den letzten Bundestagen besprochene Druckwerk nun (tatsächlich!) ausgegangen sei. Als nachträgliche Angabe des Zweckes dieser Schrift wurde noch einmal an die Verhinderung der Exekution der Mindener Acht erinnert.^^

1.1.7. Politische und literarische Wirkungen Die zeitlich früheste Reaktion auf das Erscheinen vom „Ausschreiben an alle Stände" ist in den Nuntiaturberichten des päpstlichen Legaten Hieronymus Aleander enthalten: Am 6.1.1539 meldete Aleander aus Wien die Veröffentlichung einer Publikation gegen das Kammergericht, die er am 14.2.1539 nach Rom weitersandte: „Hanno similmente dato fuori un libro contra la Camera Imperiale . . . Die durch das „Ausschreiben an alle Stände" schriftlich ausgesprochene Ankündigung der „Gegenwehr" konnte von den Gegnern der Protestanten als eine Bereitschaft zur militärischen Notwehr und damit zum Krieg interpretiert werden. M. B. Rößner beruft sich auf Smends „Geschichte des Reichskammergerichts", in der dieser gemeint habe, das „Ausschreiben an alle Stände" zeige ganz deutlich die militärische Bereitschaft der Schmalkaldischen Bundes zur defensiven Verteidigung.^^ Die Palette der möglichen Wirkungen des „Ausschreibens" ist breit: Wollte diese Veröffentlichung der Befriedung dienen? (Intention) Hat sie dem Erhalt des Friedens gedient? (faktische Wirkung) Wollte sie den Krieg treiben und hat sie gegebenenfalls sogar gegen ihre ursprüngliche Intention dem Frieden gedient? Diese Bewertungsfrage stellte sich schon bei der unmittelbar nach seiner Veröffentlichung einsetzenden reichs- und kirchenpolitischen Wirkung des „Ausschreibens" als ein heikler Punkt heraus: Herzog Georg von Sachsen riet am 16.1.1539 seinem Schwiegersohn Philipp von Hessen, seine friedlichen 75 Otto Meinardus, Die Verhandlungen des schmalkaldischen Bundes vom 14.-18. Febr. 1539, in: Foschungen zur deutschen Geschichte Bd. 22 (1882), S. 636-654, hier S.637. 76 NBD 1. Abt. (1533-1559), Bd.3/1, Nr. 106, S.332-334, hier S.333, 11-22. Man vgl. dort bes. S.333 Anm.2, wo die Reaktion Morones auf das ,Ausschreiben an alle Stände" gezeigt ist; vgl. auch femer den Bericht Aleanders und Mignanellis aus Wien vom 16.1.1539, NBD 1. Abt. (1533-1559), Band 3/1, Nr. 113, S. 350-352, hier S.351, 3-9. Vgl. auch den Bericht Aleanders aus Wien vom 14.2.1539, NBD 1. Abt. (1533-1559), Band 3/1, Nr. 143, S. 4 3 8 ^ 4 1 , hier S.441, 14-24. 77 Rößner, S.58 Anm.205.

Das .Ausschreiben an alle Stände" (13.11.1538)

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Absichten - und eben gerade diese! - durch eine Druckschrift gegenüber der Öffentlichkeit zu beweisen.^® Dabei hatte er als Modell ohne Zweifel diese gerade erschienene Publikation samt der von ihr ausgegangenen unmittelbaren politische Wirkung vor Augen. Philipp aber lehnte den Vorschlag seines Schwiegervaters kategorisch ab, sah er doch gerade seine friedlichen Absichten im „Ausschreiben an alle Stände" dokumentiert und wünschte sich am 23.1.1539 eine ähnliche, ebenso den Reichsfrieden fördernde Druckschrift der Gegenseite.^' Die Wirkung auf die Gegenseite und das artikulierte Selbstverständnis differierten also beträchtlich. Deshalb erscheint m. E. eine eindeutige Bewertung der politischen Funktion des publizierten „Ausschreibens an alle Stände" kaum möglich zu sein.^° Festzuhalten bleibt aber, daß das gedruckte „Ausschreiben an alle Stände" überhaupt eine durch vergleichbare spätere Publikationen nicht mehr eingeholte politisch-öffentliche Breitenwirkung erzielte. Die Neuartigkeit des Mediums eine öffentliche Schrift im schwelenden Konflikt der Religionsparteien - wurde von den Zeitgenossen sehr aufmerksam registriert bzw. kritisiert. Diese Wirkung belegen die vielen Hinweise in kirchenpolitischen Publikationen, die das „Ausschreiben an alle Stände" bei ihren Lesern als bekannt voraussetzen und auf es anspielen: 1. Herzog Heinrichs von Braunschweig-Wolfenbüttel „Erste Antwort auf ein nichtig Schreiben", die aus der Zeit vor Ostern 1539 stammt, setzt das ergangene „Ausschreiben an alle Stände" als bekannt voraus. Es wird - darin stark verkürzend - von Heinrich eingeschätzt als eine persönliche Meinungsäußerung des Landgrafen, der das Kammergericht am liebsten komplett nach seinem politisch-persönlichen Gutdünken reformieren möchte.®' 2. Der Theologe und Publizist Georg Witzel spielt m. E. deutlich auf den Titelholzschnitt und das Motto des „Ausschreiben an alle Stände" an, wenn er zu Beginn des zweiten Dialogs in seinem Werk „Dialogorum libri tres" vom April (?) 1539 den „Evangelischen bu[e]rger" Teuto zum „Evangelischen prediger" Core sagen läßt: „Tröste mich doch unsers reims / Gottes wort bleibt ewig. Allein wenn der keiser in Spanien bleiben wolt / und das Camergericht würde löcherig. Wiewol was künden sie thun / wenn Got mit uns ist / und unser sachen zufeit im Hymel hoch dort oben? Sie sollen untergehen / wie Pharao mit seinem Egyptischen heer / Las nur sehen / wer am sterckisten ist / Gott / oder keiser."®^

78 HvBrW, ,^rste Antwort auf ein nichtig Schreiben" Bl. A За. 79 JFvS/PhvH, „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" Bl С 4b-D la. 80 Maria Barbara Rößners These (S.58, hier bes. Anm.205) ist, daß die Frankfurter Verhandlungen vom Frühjahr 1539 selbst ein direktes Resultat dieses [sie!] publizistischen Angriffes seien. Damit dürfte aber die politische Wirkung des .Ausschreiben" tendenziell überschätzt sein. 81 Vgl. 2.5.2. Das Zitat steht in: JFvS/PhvH. ..Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" Bl. L 3a-L 3b. ferner auch HvBrW, ..Erste Antwort auf ein nichtig Schreiben" Bl. E 4a. 82 Witzel. ..Dialogorum libri tres" Bl. H lb.

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Die Publikationen von November 1538 bis Juni 1539

Der Holzschnitt mit dem Motiv der untergehenden Ägypter am Schilfmeer, der sich auf der Titelseite fast aller Drucke des „Ausschreiben" finden ließ, erweckte ja gewisse militärische Assoziationen und parallelisierte in der Selbstwahmehmung der Protestanten ihre Sache mit der Sache Gottes, der sein Volk von der unrechtmäßigen Unterdrückung durch den Pharao befreit hat. 3. Martin Bucer erwähnt in seinem Pseudonymen Werk „Etliche Gespräche vom Nümbergischen Friedstand" vom 3.6.1539 zweimal explizit das „Ausschreiben": a) „Unsere Fürsten und Stend haben sich des [die unrechtmäßige Anmaßung des Reichskammergerichtes, Religionsprozesse entgegen dem Nürnberger Anstand zu führen] von inen in eynem offen außschreiben beclaget und werdens noch weiter clagen ... " P b) „Ich hab in meiner bulgen [= Büchertasche] unser Fürsten und Stend außschreiben, darin sie sich der beschwárung vom Cammergericht beclagen, dabei ist dasselbig Kaiserlich außschreiben [= das Mandat vom 2.8.1532] eingeleibet."«'^ Ferner bezieht sich Bucer inhaltlich mehrfach zustimmend auf das „Ausschreiben". Die enge Berührung zwischen dem „Ausschreiben an alle Stände" und Bucers „Etlichen Gesprächen" wird auch daran deutlich, daß zwei von den im „Ausschreiben" enthaltenen Stücken sich ebenfalls als Dokumente in Bucers Publikation wiederfinden.^' 4. Johann Friedrich von Sachsen und Philipp von Hessen sahen sich in ihrer nächsten gemeinschaftlichen kirchenpolitischen Publikation knapp ein Jahr nach dem „Ausschreiben", in ihrem „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" vom 14.9.1539, noch einmal nachträglich zur Erläuterung ihrer Motive zum „Ausschreiben" als einer Schrift gegen das Reichskammergericht genötigt. Sie begründeten ihren Schritt an die Öffentlichkeit vom Jahresende 1538 mit einer fundamentalen reichspolitischen Notwendigkeit, deren religiöser Kern deutlich hervorgehoben wird: Ihr Ausschreiben sei „nicht allein aus unser / sonder gemeiner Deudscher Nation notturrft geschehen / . . . Und welcher gesunds erbarn Verstands das lieset [,] der befindet daraus das wir nichts anders suchen / dann zu fo[e]rdem die ehr des allmechtigen Gottes / und seins lieben Sons Jhesu Christi unsers Heilands ausbreitunge / und liebung seins heiligen worts / darnach die ehr Key. [serlicher] Ma.[jestät] wolfart und friede Deudscher / und aller anderen Nation /... 5. Der Jurist am Reichskammergericht Konrad Braun veröffentlichte eine 83 MBDS 7, S.410, 11-12. Zu diesem Werk Bucers vgl. 1.4. 84 MBDS 7, S.453, 15-17. 85 Diese beiden bedeutenden Dokumente sind: 1. Kaiserliches Mandat zum Nürnberger Verhandlungsergebnis vom 2.8.1532, in: MBDS 7, S. 455, 5-28.; 2. Kaiserlicher Brief aus Savigliano vom 7.7.1536, in: MBDS 7, S.464, 3 ^ 6 5 , 5. 86 Vgl. dazu das Teilkapitel 2.1. in dieser Arbeit. Das Zitat steht in: JFvS/PhvH, „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" Bl. К 3b, dasselbe Zitat in JFvS/PhvH, „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" Bl. X 2b.

Appelle zur Verteidigung der „Kirche" (Februar bis April 1539)

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anonyme Schrift unter dem Titel „Ein Gespräcii eines Hofrats" gegen Ende des Jahres 1539. Sie ist von altgläubiger Seite aus die publizistisch überaus wirkungsvolle Entgegnung auf das amtliche „Ausschreiben an alle Stände".®' Mit ihr wird die jetzt entfachte literarische Diskussion um die Rechtssprechung des Kammergerichtes in der „causa religionis" öffentlich weitergeführt.

1.2. Appelle zur Verteidigung der „Kirche" im Umfeld der Frankfurter Verhandlungen von Februar bis April 1539

1.2.1. Das Problem des Widerstandsrechtes als Hintergrund Als schon vor der Erklärung der Reichsacht über die Stadt Minden am 9.10.1538 und der Fertigstellung des „Ausschreiben an alle Stände" am 13.11.1538 die Gefahr eines Krieges zwischen den Konfliktparteien sich verstärkte, versuchten der sächsische Kurfürst und der hessische Landgraf, sich im September 1538 über gemeinsame politische Maßnahmen zu verständigen. Johann Friedrich skizzierte die Alternative, vor der die Politik der Schmalkaldener zu stehen schien: „Stille zu sitzen und des backenstraichs oder der widdertail fursprungs zu gewarten, wil schwer sein nach gelegenheit irer macht, so die zusammenkommen solt, aber demselbigen zuvorzukommen, wil auch nit geringe bedencken haben". ^^ Die Frage nach der theologisch und juristisch geprüften Berechtigung zum Widerstandsrecht der Schmalkaldener im Verteidigungsfall, die vor und nach dem Augsburger Reichstag 1530 schon intensiv von Politikern und Theologen diskutiert worden war®^, mußte nun im Blick auf die Möglichkeit zu einem Präventivkrieg, d.h. der zuvorkommenden Verteidigung gegen einen möglichen Übergriff durch Mitglieder des Nürnberger Bundes im Fall einer Achtsexekution im Auftrag des Kammergerichts erneut erwogen werden.®® Der Kurfürst erbat für sich ein Gutachten der Wittenberger Theologen, die am 13./14.11.1538 - also genau am Tag der Fertigstellung und Unterzeichnung des „Ausschreiben an alle Stände" - gemeinsam von den Wittenberger Theologen Luther, Jonas und Melanchthon zusammen mit dem Straßburger Martin 87 Vgl. unten S. 137 f. 88 Vgl. das Schreiben Johann Friedrichs von Sachsen an Philipp von Hessen vom 13.9.1538 laut Eike Wolgast, Die Wittenberger Theologie und die Politik der evangelischen Stände (QFRG Bd.47), Gütersloh 1977, hier S.239; vgl. Mentz 3, S.399. 89 Wolgast, S. 125-200. 90 Das Problem des Präventivkrieges spielte schon vor der Gründung des Schmalkaldischen Bundes eine Rolle, etwa im Zusammenhang der ,J>ackschen Händel" des hessischen Landgrafen Philipp 1528. Vgl. dazu den Überblick bei Wolgast, S. 114-125. Die Differenz zwischen der Haltung des Landgrafen von 1528 zu der von 1538/39 skizziert Wolgast, S.240.

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Die Publikationen von November 1538 bis Juni 1539

Bucer unterzeichnet wurde.'' Philipp Melanchthon kann aufgrund stilistischer Eigenheiten und wegen der im Text zitierten Beispiele aus der römischen Kirchengeschichte als der Hauptverfasser dieses Gutachtens gelten.'^ Überdies bezeugen zwei seiner brieflichen Äußerungen aus dem Monat November 1538 seine Beschäftigung mit der Legitimation eines „evangelischen Widerstandsrechtes". Die darin festzustellende Tendenz entspricht genau den Argumentationsfiguren des Gutachtens vom 13./14.11.1538.'^ E. Wolgast hat hervorgehoben, daß dieses Gutachten inhaltlich nicht wesentlich über frühere gutachtliche Äußerungen der Wittenberger Theologen zu diesem speziellem Problem der schmalkaldischen Religionspolitik hinausgeht und den Politikern „nicht die erhoffte Entscheidungshilfe" in der gegenwärtigen Situation vor dem Frankfurter Bundestag bot, wo die Frage der Gegenwehr thematisiert werden würde.''^ Nachdem sich Kurfürst und Landgraf Ende Januar 1539 auch zu dieser Frage in Weimar beraten hatten'^, trafen beide am 13.2.1539 zur Eröffnung des Bundestages in Frankfurt ein. Diese Tagung war von den Mitgliedern gut beschickt worden. Zur Förderung der Effektivität der Beratungen wurde ein Ausschuß gebildet, der sich am 16./17.2.1539 mit der Frage des Widerstandsrechtes, seiner Berechtigung und den zu erwartenden Problemen durch einen Präventivkrieg beschäftigte, falls die Verhandlungen mit dem vom Kaiser bevollmächtigten Johann von Weeze, dem Erzbischof von Lund (deshalb häufig „Lund" genannt), nicht zum Ziele führen sollten.'^ Einzelheiten der geführten Diskussion sind uns durch einen braunschweigisch-lüneburgischen Bericht überliefert worden. Sie zeigen im wesentlichen den Meinungsunterschied zwischen dem Landgrafen und dem Kurfürsten einerseits und den Vertretern kleinerer Stände des Bundes (Herzog Franz von Braunschweig-Lüneburg, oberdeutsche Städte Ulm und Straßburg) andererseits. Erstere traten für ein offensives Verhalten ein, d. h. sie schlossen auch eine militärische Aktion nicht aus, letztere lehnten ein offensives Vorgehen ab, sei es, weil es der öffentlichen Reputation der Protestanten schaden würde (so Jakob Sturm für Straßburg), sei es, daß „man auch in disen sachen nit zu vil menschliche Vorsehung thun, Gott auch etwas getrauen und allein uff ihne

91 Text bei Enders Bd. XII, S. 78-81, Nr. 2678. Zur Datierung vgl. den Hrsg. in WA.B 13, S . 2 6 8 und auch Wolgast, S . 2 4 0 Anm. 10. Dem folgt MBW 2, Nr.2121. Bemerkenswert ist gerade die Mitunterzeichnung durch Bucer, der sich vom 11.11. bis 20.11.1538 in Wittenberg aufhielt. 92 Enders Bd. XII, S. 80 Anm. 1. 93 Brief Melanchthons an Heinrich von Lindenau von vor dem 12.1.1539, CR 3, 630-632, Nr. 1767; vgl. MBW 2, Nr. 2140. Scheible ordnet auch - wogegen kein Einwand geltend zumachen ist - eine am 23.11.1538 an Veit Dietrich in Nürnberg zugesandte „Disputation" diesem Themenbereich zu, CR 3, 609-610, Nr. 1753; vgl. MBW 2, Nr. 2123. 94 Wolgast, S. 241-242. 95 Wolgast, S. 242 Anm. 22 und Enders Bd. XII, S. 81. 96 Paul Fuchtel, Der Frankfurter Anstand vom Jahre 1539, in: ARG 28 (1931), hier S. 162. Vgl. Polit. Corr. 2, Nr. 569, S. 546-547, hier 547.

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sehen" solle.'^ Herzog Franz von Lüneburg erhob grundsätzliche Bedenken gegen die durch die Gutachter vorgetragene Position, daß ein Präventivschlag im Grunde genommen ein Verteidigungsfall sei.'® Die durch das Gutachten der Theologen mitbestimmte Position von Kurfürst und Landgraf, der sich Pommern, Württemberg, Augsburg und Goslar annäherten, fand entsprechend keine allgemeine Zustimmung bei den Bundesmitgliedern, so daß beschlossen wurde, „auf die Gewährung eines beständigen Friedens oder eines sicheren Anstandes zu dringen, die Entscheidung über die Frage des Präventivkrieges aber bis zum Schlüsse der Friedensverhandlungen zu vertagen."''

1.2.2. Melanchthon als Publizist in Frankfurt Melanchthon - der Hauptverfasser des Wittenberger Gutachtens vom 13./14.11.1538, das bei den Frankfurter Verhandlungen der Schmalkaldischen Bundesstände die Grundlage der Gewissensberatung des Kurfürsten darstellte'"^ - hielt sich im Gefolge des Kurfürsten in Frankfurt auf, wo er sich während der Beratungen mit dem kaiserlichen Orator auch publizistisch mit den gegenwärtigen kirchenpolitischen Problemen auseinandersetzte. Seine auch von Frankfurt aus geführte umfangreiche Korrespondenz'"' gibt einige Hinweise darüber: Wahrscheinlich auf Befehl seines Landesherm war er seit Mitte Februar mit der Abfassung dreier Reden, die der Legitimierung einer vermutlich präventiven militärischen Aktion der Schmalkaldener dienen sollten, beschäftigt, wie aus dem Brief vom 24.2.1539 an Joachim Camerarius hervorgeht: „Hic iussus scripsi sylvulam trium orationum . . . Der genaue Wortlaut dieser Reden ist verloren gegangen.'"^ Ihre Themen lassen sich aber aus einer Zusammenfasung Melanchthons von Mitte März ermitteln.Bemerkenswert ist nun, daß es sich hier bei dieser Auftragsarbeit um 97 Meinardus, S.626; vgl. Fuchtel, S. 162-165 und Meinardus, S. 624-626. 98 Er formulierte: „Obwohl etliche gelerten ihr bedenken gestalt, das man den vorstreich als ein defensión nemen möge, so ist doch dasselbig allein uff das gewiß gestalt, so man weiß, das der ander teil schlagen wolle", zitiert nach Wolgast, S. 243. 99 Fuchtel, S. 164-165. 100 Meinardus, S.653, vgl. Fuchtel, S. 164 und Wolgast, S.242. 101 Die Briefregesten in MBW 2, Nr. 2149 (datiert vom 22.2.1539) bis MBW 2, Nr. 2190 (datiert vom 20.4.1539) geben darüber einen instruktiven Überblick. 102 CR 3, 638-640, Nr. 1755, hier 639; vgl. MBW 2, Nr. 2150; vgl. auch Otto Clemen, Studien zu Melanchthons Reden und Gedichten, Leipzig 1913, hier S.71. 103 Clemen, S.71, Wolgast, S.243 Anm.43, zuletzt auch Scheible, MBW 2, Nr.2150. 104 Themen der Reden: 1. Rede: Es entspricht göttlichem und natürlichem Recht, sich zu wehren. (Darin liegt die deutliche Parallele zum Kerngedanken des Gutachtens der Wittenberger vom 13./14.11.1538) - 2. Rede: Es ist nicht gerechtfertigt, daß gut gesinnte Leute Waffen gegen uns führen, die durch unsere Feinde [sc. der Papst] dazu angestiftet werden. - 3. Rede: Es ist folglich göttlichem und natürlichem Recht gemäß, daß die Frommen uns unterstützen. Quelle: Ein Brief

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drei Reden in deutscher Sprache gehandelt haben muß, was für Melanchthons literarisches Schaffen zur Zeit der Religionsgespräche ungewöhnlich ist.'"^' M. E. ist daraus abzuleiten, daß diese Reden schon bei ihrer Konzeption für eine erweiterte Öffentlichkeit bestimmt gewesen sein müssen und somit auch für die Drucklegung für den Fall des Scheitems der Frankfurter Friedensverhandlungen mit dem kaiserlichen Orator, was bereits das zitierte Schreiben an Camerarius belegt: ,Jiam si non erit [nämlich der Friede, G. K.], eo argumento publice quaedam edenda sunt." Da aber die Verhandlungen mit dem kaiserlichen Orator schließlich am 19.4.1539 zur Verabredung des Frankfurter Anstandes"'^ führten und die unmittelbare Kriegsgefahr durch Übergriffe der einen oder anderen Partei überwunden schien, ist es nicht zum Druck dieser von Melanchthon vorbereiteten Reden gekommen. Die eingetretene Veränderung der politischen Lage machte den öffentlichen Erweis des rechtmäßigen Vorgehens der Protestanten bei der Eröffnung des Krieges durch einen Präventivschlag ganz offensichtlich überflüssig. Während seines Aufenthaltes in Frankfurt am Main hat Melanchthon aber in der Zeit der sich mühsam und schleppend gestaltenden Verhandlungen zwischen dem Orator und den Schmalkaldenem offensichtlich ausreichend Zeit gefunden, bei dem dort ansässigen Buchdrucker und Verleger Christian Egenolff zwei andere Schriften von sich zur Veröffentlichung in Auftrag zu geben. Beide Schriften dürften erst während der Frankfurter Verhandlungen fertiggestellt worden sein. Es sind die nicht genau datierbaren „Sententiae, quae docent promovere Evangelium" und ein offener gedruckter Brief an den Grafen Johann IV. zu Wied vom 23.3.1539. Im Rahmen der kirchenpolitischen Publizistik des untersuchten Zeitraumes ist die erste dieser beiden Druckschriften ein interessantes Einzelstück. Otto Clemen hat überzeugend dargelegt, daß die Vorarbeiten zu den im Februar in Auftrag gegebenen drei Reden Melanchthons in seine kleine, nur 8 Bl. im Oktavformat (= 1 Bogen) umfassende Schrift „Sententiae, quae docent promovere Evangelium"'''^ eingegangen sind. Ein Teil des dafür gesammelten Materials ist also separat durch Melanchthon selbst veröffentlicht worden.'"^ Melanchthons vom 13.3.1539 an Johannes Brenz, CR 3, 646-647, Nr. 1781; vgl. MBW 2, Nr. 2159. 105 „Oratiunculas germanicas tres", so im Brief Melanchthons vom 13.3.1539 an Johannes Brenz: CR 3, 646-Ы7, Nr. 1781, hier 647; vgl. MBW 2, Nr. 2159; vgl. Clemen, Studien, S.71. Vgl. auch Wolgast, S.243 Anm.28. 106 Den Text des Anstandes bietet Neuser, Religionsgespräche, S. 75-85. Er findet sich auch als ein Anhang zu Bucers pseudonymer Publikation „Per quos steterit initum Haganoae colloquium", vgl. S. 224. Zu den Beschlüssen des Anstandes vgl. auch Rainer Wohlfeil, Art. „Frankfurter Anstand", in: TRE Bd. 11, Berlin-New York 1983, S. 342-346. 107 Bibliographischer Hinweis: VD 16: M 4214. 108 Clemen, Studien S.71; Wolgast, S.243 Anm.28 nimmt diese Überlegung auf.

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Zweck dieser materialreichen Sammlung von Bibelstellen aus AT^''^ und ist laut Melanchthons eigener Vorrede die Bekräftigung und Ermutigung zum Bekenntnis für die reine Lehre des Evangeliums. „... collegi sententias, et ad confirmandos eos, qui confitentur, et ad erudiendos et excitandos segniores, ut sciunt Deum praecipue flagitare hunc cultum, ut confiteamur, ut conferamus consilium, et Studium ad illustrandam, ad propagandam puram Evangelii doctrinam." Von dieser Pflicht dürften sich die Gläubigen durch keinerlei Umstände abhalten lassen: ,Jiec ab hoc officio deterreri nos ullis periculis publicis aut privatis sinamus."^'' Neben dieser lateinischen Ausgabe erschien vermutlich gleichzeitig noch eine deutsche Ausgabe unter dem Titel „Etliche Sprüche zu Fürderung des heiligen Evangelii", ebenfalls bei Christian Egenolff in Frankfurt gedruckt. Beide Ausgaben dürften primär zum Vertrieb in der Stadt Frankfurt noch während der Verhandlungen gedacht gewesen sein. Wie die dort versammelte kirchenpolitische Öffentlichkeit darauf reagierte, ist nicht bekannt. Das Vorhandensein von einem Exemplar ist aber schon für die Zeit vor dem 20. April 1539 nachgewiesen, denn sehr wahrscheinlich handelt es sich um diese „Sententiae" oder ihre deutsche Übersetzung, auf die der Brief des Joseph Levin Metzsch, Herr auf Mylau, vom 20.4.1539 an Stephan Roth in Zwickau anspielt: „... an euch ist mein pith [= Bitte,] so das buchlein [, das] phil. Melanch. zu franckfurth gemacht [,] bey euch zcubekomen were, wolleth mir solches hiemit schicken ... Auch Georg Rhau in Wittenberg und Johann Petreius in N ü r n b e r g d r u c k t e n im gleichen Jahr 1539 deutsche Ausgaben von Melanchthons „Etlichen Sprüchen". Der Wittenberger Druck''^ weist auffällige Abweichungen gegenüber den Frankfurter Ausgaben der „Sententiae" und der „Etlichen Sprüche" auf, die hier erwähnenswert sind: 1. Vorwort und Nachwort dieser Ausgabe sind ausführlicher. - 2. Ein Zusatz weist auf die Pflicht zum Widerstand gegen die Obrigkeit auf, die befiehlt, Unrechten Gottesdienst zu halten, gegen Gottes Wort zu streiten und diejenigen zu verfolgen, die der rechten Lehre anhängen. Auf zusätzliche biblische Belegstellen wird verwiesen."^ - 3. Als Titelholzschnitt weist der Wittenberger Druck der „Etlichen Sprüche" ein kurfürstliches Wap109 Ex 20, 2. 7; 13, 14. 16; Dtn 6, 21a. 24-25; I Reg 2 (fraglich! welcher Vers?); Ps 2, 10-11; 8, 3; 22, 23; 24, 7; 35, 18; 47, 7. 10; 51, 17; 84, 2-3a; 100, 4; 102, 22-23; 116, 10. 17; 118, 19-20; 122, 1; Jes 61, 3; Hos 14, 3; Ps 148, 11-12; 145; ll-12a. 21. 110 Mt 6, 33; 10, 32-33; Joh 8, 47; 10, 27; Mk 10, 13-14; Lk 11, 23. 28; Rom 10, 10; Mt 18, 5-6; Eph 6, 4; Kol 3, 16; Hebr 13, 15. 111 CR 23, 755. 112 Bibliographischer Hinweis: VD 16: M 4217. Das dort angezeigte Exemplar im Catalogue of British Museum in London habe ich nicht persönlich eingesehen. 113 Buchwald, S. 188, Nr. 588. 114 Bibliographischer Hinweis: VD 16: M 4218. 115 Bibliographischer Hinweis: VD 16: M 4219. Die Druckbeschreibung folgt Clemens Beobachtungen. Ein Exemplar dieses Drucks war mir nicht zugänglich. 116 Vgl. dazu Clemen, Studien S.72.

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pen aus. Weder die lateinische Ausgabe in Frankfurt noch die beiden deutschen Ausgaben sind derart ausgeschmückt und auch sonst ist keine der Schriften Melanchthons aus diesem Zeitraum mit diesem Wappen versehen worden. Ob diese Ausschmückung auf eine kurfürstliche Anordnung"^ oder eine Eigenmächtigkeit des Druckers Rhau (in Rücksprache mit Melanchthon oder dem kurfüstlichen Hof) zurückgeht, ist unklar. Für den Käufer oder Leser dieses Wittenberger Druckes jedenfalls wird dadurch der „offiziöse" Charakter der Sammlung dieser Bibelsprüche unterstrichen. Kirchenpolitisch im Rahmen dieser Untersuchung weniger interessant ist die zweite offensichtlich auch in Frankfurt erstmals verlegte kleine Schrift Melanchthons „Ad comitem Johannem a Weda Epistola". Der Adressat dieses offenen Briefes ist der junge regierende Graf Johann IV. zu Wied, ein Neffe des Kölner Erzbischofs Hermann von Wied, der über den Unterschied zwischen den Ständen mit Hilfe der Parabel von den ungleichen Kindern Evas und über die Pflichten des Adels belehrt wird. Zu diesen gehöre es, vor allem für die Organisation von Bildung zu sorgen, die seine eigene einschließt, und als gebildeter Fürst als Hüter beider Tafeln des Gesetzes zu fungieren, die auch die Sorge um die rechte Religion umfaßt."^ Von dieser Schrift erschienen zwei lateinische Ausgaben im Jahre 1539 bei Christian Egenolff in Frankfurt"' bzw. bei Josef Klug in Wittenberg.'^" Über Ausgaben in deutscher Sprache ist nichts bekannt.

1.2.3. Luthers akademische Thesen zum Widerstandsrecht Wie Melanchthon war auch Luther auf vielfältige Weise in die kirchenpolitischen Auseinandersetzungen der Jahre 1538/39 verwickelt. Seine Haltung zur Frage der Berechtigung des Widerstandsrechtes nach der Erklärung der Reichsacht gegen Minden am 9.10.1538 fand genau wie die Position Melanchthons Eingang in das Gutachten vom 13./14.11.1538. Die Mitarbeit an Gutachten, die von den Schmalkaldenern erwartet wurden, und der umfassende Briefwechsel zeigen seine Tätigkeit als politischer Ratgeber, vor allem seines Landesherm, des Kurfürsten Johann Friedrich. Auch während der Frankfurter Verhandlungen stand er, der er selbst nicht teilnehmen konnte, in einem umfassenden brieflichem Kontakt mit den dorthin gereisten Theologen und Juristen der kursächsischen Gesandtschaft.'^' Von 117 Georg Rhau ist der übliche Drucker bei amtlichen Publikationen des sächsischen Kurfürsten, während Privatarbeiten Melanchthons in dieser Zeit immer zuerst bei Josef Klug gedruckt worden sind. War der Druck vielleicht schon vorbereitet worden für den Fall der Eröffnung eines Krieges? 118 CR 3, 653-666, Nr. 1785, vgl. MBW 2, Nr.2165. 119 Bibliographischer Hinweis: V D 16: M 2395. 120 Bibliographischer Hinweis: V D 16: M 2396. Wiederabdruck in CR 3, 653-666, Nr. 1785; vgl. MBW 2, Nr.2165. 121 Vorhanden sind Briefe Luthers an Melanchthon: WA.B 8, S. 3 7 8 - 3 8 1 , Nr. 3305 (vom 2.3.1539); vgl. MBW 2, Nr.2153; WA.B 8, S.397-398, Nr.33I4 (vom 26.3.1539); vgl. M B W 2,

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ihnen wurde er ausführlich über den Gang der Verhandlungen informiert'^^ und interpretierte ihren Gang.'^^ Ein zweiter zeitgenössischer Anstoß zur Beschäftigung mit der Frage nach der theologischen Legitimität eines Präventivkrieges bestand in der an ihn gerichteten Anfrage des kurbrandenburgischen Pfarrers Ludicke, ob die evangelischen Fürsten sich verteidigen dürften, wenn der Kaiser sie um des Evangeliums willen bekriegen würde. Er beantwortete diese Anfrage brieflich am 8.2.1539.'^'' Auf diesen Brief und Melanchthons Brief aus Frankfurt vom 3.3.1539 bezieht der Herausgeber von WA 39 II die Arbeit an Thesen^2^ zu denen Luther durch sein akademisches Lehramt turnusgemäß verpflichtet war. Luther legte 70 Thesen „De tribus hierarchiis" (ecclesiastica, politica, oeconomica) vor, die auch die reichspolitisch hochbrisante Frage eines Widerstandsrechtes gegen den Kaiser berührten. Demnach steht der Kaiser bei der Entfesselung des Religionskrieges im Dienst des in der päpstlichen Macht уегкофегten Antichristen. „Die Antichrist-Vorstellung gibt der Argumentation Luthers eine eschatologische Dimension."'^^ Die Thesenreihe gipfelt hinsichtlich ihres aktuellen kirchenpolitischen Bezuges in den Thesen 66 und 70: Eine Pflicht zum Widerstand („resistendum est"), wenn der Papst einen Krieg entfesseln würde, bestehe genauso wie für jede andere Gemeinschaft, wenn ein gemeinschädliches Wesen sie bedrohe.'^® Die Berechtigung eines militärischen Widerstandes ist aufs engste verknüpft mit der Beantwortung der Frage, wo die rechte Kirche überhaupt zu finden sei. Die Reihe endet mit einer These, die den von Luther postulierten Zusammenhang zwischen der Widerstandspflicht und der Ekklesiologie deutlich hervorhebt: Für Kaiser, Könige und Fürsten reiche Nr. 2168; ein Brief an Melanchthon zusammen mit Myconius und Bucer: WA.B 8, S. 391-392, Nr. 3310 (vom 14.3.1539); vgl. MBW 2, Nr.2162; ein Brief an Franz Burkhard, den sächsischen Vizekanzler: WA.B 8, S. 382-383, Nr. 3306 (vom 2.3.1539?). 122 Luther selbst erhielt Briefe aus Frankfurt von Melanchthon: WA.B 8, S. 383-386, Nr. 3307 (vom 3.3.1539); vgl. M B W 2 , Nr.2154; WAB 8, S . 4 0 0 ^ 0 2 , Nr.3317 (vom 4.4.1539); vgl. MBW 2, Nr.2180; von Bucer: WA.B 8, S . 3 8 9 - 3 9 0 , Nr.3309 (vom 3.3.1539); WA.B 8, S . 4 1 3 ^ 1 7 , Nr. 3324 (vom 19.4.1539); einen Brief von diesen beiden gemeinsam: WA.B 8, S. 392-394, Nr. 3311 (vom 14.3.1539); vgl. MBW 2, Nr. 2160; schließlich einen Brief von Myconius: WA.B 8, S. 386-389, Nr. 3308 (vom 3.3.1539). 123 Referat bei Martin Brecht. Martin Luther, Stuttgart 1981-1987, hier Bd. III, S. 203-204. 124 WA.B 8, S. 364-368, Nr. 3297. Johannes Ludicke, Pfarrer in Frankfurt/Oder (Lebensdaten unbekannt) war ein kirchenpolitischer Vertrauter des brandenburgischen Kurfürsten Joachim. 125 WA 39 П, S.34. 126 Im April 1539 war nach der Gründungsurkunde der Universität Wittenberg von 1536 eine öffentliche Vierteljahrsdisputation zwischen Professoren und Studenten fällig. Luther war der Vorsitzende dieser ,^irkulardisputation" und mehrere Studenten die Respondenten. Er hatte die Absicht, den Termin fristgerecht einzuhalten. 127 Schwarz, S.185. 128 WA 39 II, S.42, 33-34, These 66. Die Literatur zur Frage der theologisch-politischen Legitimität eines Widerstandsrechtes in der reformatorischen Theologie ist sehr umfangreich. Auf eine kritische Sichtung soll an dieser Stelle verzichtet werden.

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es nicht aus, sich unspezifisch als Verteidiger der herkömmlichen durch Papst und Bischöfe repräsentierten Kirche zu verstehen, sondern sie müßten wissen, was die Kirche (ihrem Wesen nach) ist: „Nec salvat reges, principes, sed пес Caesares, quod iactantur Ecclesiae defensores, cum scire teneantur, quid sit Ecclesia."^^^ Eine nähere Erläuterung dieser für die praktische Politik notwendig zu wissenden „theologische" Lehre, w o diese, die „wahre" Kirche repräsentiert sei, läßt Luther in dieser Thesenreihe nicht mehr folgen. Sie erfolgt aber unmittelbar an diese Frage anknüpfend in seiner nahezu zeitgleichen Schrift „Von den Konziliis und Kirchen". Im Rahmen dieser Untersuchung der kirchenpolitischen Publikationen der Jahre 1538 bis 1541 finden die akademischen Thesen Luthers auch deshalb Beachtung, weil sie wegen ihres aktuellen Inhalts offensichtlich sofort in Nürnberg gedruckt worden sind. Der typographisch erschlossene Drucker ist Johann Petreius. Der Titel des Nürnberger Drucks hebt überdies gerade die papstkritische Tendenz der Thesenreihe Luthers hervor. „SEPTUAGIN = II TA PROPOSITIONES DISPVTANDAE, D E TRIBVS HIERAR = II chijs. Ecclesiastica, Politica, Oeconomi = II ca & quod Papa sub nulla istarum sit, II sed omnium publicus hostis. II". Die auf dem Titelblatt auftretende chronologische Angabe „Men. April." kann das Datum der geplanten Disputation, aber auch den Monat des Drucks bezeichnen. Vielleicht sollte diese Publikation noch auf die in Frankfurt schwebenden Verhandlungen einwirken. Diese Verhandlungen fanden am 19.4.1539 mit dem „Anstand" ihren Abschluß. Über die Thesenreihe Luthers ist im April 1539 in Wittenberg nicht mehr disputiert worden. Es ist nicht erhebbar, ob dafür eher lokale universitätsinterne Gründe oder eher die Entschärfung der kirchenpolitischen Gesamtsituation durch den Abschluß des Frankfurter Anstandes ausschlaggebend gewesen sind. Zum Verlust der Aktualität der Thesen meint der Herausgeber von WA 39 II, daß durch den Abschluß der Frankfurter Verhandlungen mit dem bewilligten Anstand vom 19.4.1539 sich die politische Situation „gänzlich" verändert habe, so daß aus den „hochaktuellen" Thesen, die ihre Entstehung den universitären Gepflogenheiten verdankten, wiederum plötzlich eine akademische Angelegenheit'^' geworden sei. Zusammenfassend läßt sich festhalten: Die beiden „großen" Wittenberger Theologen Luther und Melanchthon haben sich nach der Erstellung des vom 129 WA 39 II, S.43, 1-2, These 70. 130 Vgl. 1.3.2. 131 Die in Wittenberg geforderte Disputation fand am 9.5.1539 statt. Eine veränderte, deutlich vermehrte Ausgabe mit 91 Thesen, die den „neutralen" Titel „Disputationes circulatim expediendae" trägt, ist sehr wahrscheinlich im Zusammenhang der erfolgten Disputation (zum Gebrauch vorher oder nachher) im Mai 1539 durch den Drucker Josef Klug in Wittenberg gedruckt worden.

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Kurfürsten geforderten Gutachtens am 13./14.11.1538 nicht mit explizit thematischen Publikationen über das seit Jahren gegenwärtige Problem des Widerstandsrechtes gegen den Kaiser oder die altgläubigen Reichsstände an die Öffentlichkeit gewandt, wenngleich die Kriegsgefahr nach der Erklärung der Reichsacht gegen die schmalkaldische Stadt Minden sich verschärft hatte. Die Verhandlungen des Bundes mit dem kaiserlichen Orator im Februar bis April 1539 schufen nämlich eine neue, wenngleich für die Lutheraner wiederum nur unbefriedigende und interimistische reichspolitische Situation: Der Frankfurter Anstand sicherte den Anhängern der Confessio Augustana ab dem 1.5.1539 für mindestens ein halbes Jahr nur die Suspendierung (nicht die Annullierung!) der Prozesse des Reichskammergerichtes zu und bekräftigte die Nichtangriffsbereitschaft der Altgläubigen. Wolgast faßt den neuen Sachverhalt für die Schmalkaldener so zusammen: „Die wegen des Widerstands der Bundes verwandten verschobene Entscheidung über eine Politik des ,Vorstreichs' erübrigte sich dann durch den positiven Ausgang der Verhandlungen über den Frankfurter Anstand."'32 Mit Melanchthons kleiner Frankfurter Schrift „Sententiae, quae docent promovere Evangelium" in lateinischer und deutscher Sprache und Luthers Nürnberger Ausgabe seiner „Septuginta propositiones disputandae" sind aber im Frühjahr 1539 zwei auf je ihre Weise aktuelle Appelle, die „Kirche" zu verteidigen, an die kirchenpolitische Öffentlichkeit gelangt. Inwieweit sie zu dieser Zeit auch rezipiert worden sind, läßt sich nicht ausmachen."'

1.2.4. Corvinus' öffentlicher Appell an den niedersächsischen Adel Eine dritte kleine Schrift, nämlich die des hessischen Theologen Antonius Corvinus (1501-1553), gehört m.E. ebenfalls chronologisch und sachlich in die Vorgeschichte bzw. das Umfeld der Frankfurter Verhandlungen. Es ist sein 132 Wolgast, S.243. 133 Zahlreich und bekannt sind dagegen die selbständigen Nachdrucke der „Septuaginta propositiones disputandae" aus der Zeit des Schmalkaldischen Krieges 1546/47. (Lateinische Ausgaben von 1546 bei Hermann Gülferich in Frankfurt/Main, bibliographischer Hinweis: WA 39 II. S. 35, Benzing, Lutherbibliographie Nr. 3311, V D 16: L 5959; bei Johann Balhorn in Lübeck, bibliographischer Hinweis: WA 39 II, S.36, Benzing, Lutherbibliographie Nr. 3312, V D 16: L 5960; bei einem unbekannten Drucker in Basel, bibliographischer Hinweis: WA 39 II, S.36, Benzing, Lutherbibliographie Nr. 3313, VD 16: L 5958. Ferner erschienen deutsche Übersetzungen 1546 bei Georg Rhau in Wittenberg, bibliographischer Hinweis: WA 39 II, S. 36, Benzing, Lutherbibliographie Nr. 3314, V D 16: L 5962; bei Georg Wächter in Nürnberg, bibliographischer Hinweis: W A 3 9 II, S.36, Benzing, Lutherbibliographie Nr.3315, V D 16: L 5961. Zu den Sonderausgaben der Thesen 5 1 - 7 0 1546 bei Georg Rhau in Wittenberg, bibliographischer Hinweis: Benzing, Lutherbibliographie Nr. 3317, 3317[a] und 3317[b].) Vgl. zum Ganzen der Publizistik dieser späteren Krisenzeit des Protestantismus Oskar Waldeck, Die Publizistik des Schmalkaldischen Krieges I, in: ARG 7 (1909/10), S. 1-55; besonders S.37 und S . 4 1 ^ 9 und ARG 8 (1910/11), S. 44-133.

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Die Publikationen von November 1538 bis Juni 1539

„Bericht, wie sich ein Edelmann gegen Gott, gegen seine Obrigkeit, sonderlich in den jetzigen Kriegsläuften gegen seine Eltern, Weib, Kinder, Hausgesinde und seine Untersassen halten soll."'^'' Diese Schrift ist sicherlich auf eine Anregung des hessischen Landgrafen Philipp zurückzuführen. Philipp hat auch ihre Drucklegung in Erfurt mit vier Gulden unterstützt, die der Schultheiß Michel Bertholdt in Witzenhausen, der nordhessischen Stadt, in der Corvinus seit 1537 als Pfarrer amtierte, an Corvinus am 17.2.1539 ausgezahlt hat."^ Zumindest in ihrem Hauptteil muß die Schrift schon am 15.1.1539 fertiggestellt gewesen sein. Denn unter diesem Datum schrieb Corvinus dem ehemaligen Augustinerprior und damaligen Senior der Erfurter Pfarrer, Johann Lang (um 1487-1548) von seiner Beschäftigung mit der Schrift an den Adel: Viele gute Männer, die er kenne und die ihrem Fürsten (gemeint ist Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel) in seiner Sache folgen sollen, wolle er erreichen. Das ungestüme Drängen des Landgrafen („Vehementer landgravio nostro urgente... ") sei der Grund für die Eile mit dem „Bericht". Der angeschriebene Johann Lang möge in Erfurt für die Korrektur der Schrift sorgen. „Opus enim est, ut quam celerrime et bene correctus prodeat.""® Bei dem dortigen Drucker Melchior Sachse d. Ä. wurde die Schrift auch wohl kurz nach Mitte Februar 1539 gedruckt. Die Anspielung auf die Situation der „itzigen krieges leuffte" auf dem Titelblatt des Drucks kann nicht als tatsächliche kriegerische Auseinandersetzung interpretiert werden, sondern spielt auf die allgemeine Kriegsgefahr nach der Erklärung der Acht gegen Minden und vor dem Abschluß des Frankfurter Auslandes am 19.4.1539 an. Die kirchenpolitische Intention dieser Publikation bestand darin, vor allem den Adel in der westfälischen Mark und in Niedersachsen aufzufordern, sich kirchenpolitisch (und ggf. auch militärisch) nicht der Position Heinrichs von Braunschweig-Wolfenbüttel und des Nürnberger Bundes anzuschließen. Dieser Absicht dienen die zwei Kernabschnitte von Corvinus' Schrift, nämlich wie sich der Adlige gegenüber Gott^^^ und gegenüber seiner Obrigkeit (also Kaiser und Landesfürst)"^ verhalten soll. Der Name Heinrichs fällt jedoch an keiner Stelle. Der Adlige ist durch zwei Eide gebunden. Die Taufe bindet ihn an Christus und sein Reich. Sein Stand als Edelmann bindet ihn an seinen Landesherm. Im Reich Christi gibt es kein Ansehen der Person, auch wenn es der Kaiser selbst wäre. Wenn der Kaiser oder der Landesherr Christus mit ihrem Tun verfolgen, steht der Edelmann vor der Alternative, Gottes Wort verfolgen zu helfen, um

134 Bibliographischer Hinweis: V D 16: С 5329 und V D 16: С 5330. 135 Albert Huyskens, Des Antonius Corvinus Schrift an den sächsischen Adel, in: ZVHG N. F. Bd. 29 (1905), S. 259-261, hier S.260. 136 Corvinus-BW, S. 50-52, Nr. 60, hier S. 51. 137 Corvinus, „Bericht, wie sich ein Edelmann halten soll" Bl. А 4 a - D 2b. 138 Corvinus, „Bericht, wie sich ein Edelmann halten soll" Bl. D 2b-G 2a.

Appelle zur Verteidigung der „Kirche" (Februar bis April 1539)

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dem (gottlosen) Landesherm zu gefallen, d. h. gegen die (wahren) Christen das Schwert zu ziehen oder - seinem Taufeid folgend - das Evangelium zu fördern, Unrechte Gottesdienste nicht zu bewilligen, die Christen nicht zu verfolgen und zum Frieden zu raten. Die (vordergründigen) Einwände, die gegen die Befolgung des Taufeides vorgebracht werden können, z. B. die Sorge um die Familie, werden von Corvinus aufgenommen und diskutiert. Er kommt zu dem Ergebnis, daß die christliche Taufe im Vergleich zur Gehorsamspflicht gegenüber dem Landesherm der höhere Eid ist.^^^ Die weiteren Standespflichten des Adels im Blick auf seine Familienangehörigen, seine Hausgenossen und seine Untertanen schließen sich an diese Erörterungen an. In einem der Schrift beigefügten persönlichen Brief an Jost von Hardenberg werden diese allgemeinen Pflichten noch einmal auf eine Corvinus vertraute Person hin konkretisiert. Während der Brief an Hardenberg vom 17.2.1539 datiert ist, ist die Widmungsrede der Schrift, die sich an eine größere Zahl Adliger wendet, vom 6.1.1539 d a t i e r t . G e g e n Ende der Schrift werden noch einmal persönliche Grüße an weitere Personen aus Adelskreisen übermittelt.'·*^ Die Adressaten dieses Appells des Corvinus sind damit genau umrissen. Daß diese Schrift als eine gedruckte Aufforderung auch Adressaten über diesen klar begrenzten Rahmen hinaus erreichen wollte, ist anzunehmen. Der Autor war selber Teilnehmer der Frankfurter Verhandlungen.Vielleicht ist auch diese Neuerscheinung bei der Frankfurter Frühjahrsmesse*'*^ verbreitet worden. Hat ggf. Corvinus sich dort auch persönlich für die öffentliche Verbreitung seiner Schrift eingesetzt? Belege über ihre Rezeption sind aus den zu Rate gezogenen Quellen nicht überliefert. Die Schrift Corvins weist schon hin auf die zu Jahresbeginn 1539 schwelenden Auseinandersetzungen zwischen Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel und dem hessischen Landgrafen Philipp, die sich auch bald mit Mitteln der Publizistik entladen sollten. Dieser Streit findet an späterer Stelle in dieser Untersuchung eine ausführliche Darstellung. 139 Corvinus, „Bericht, wie sich ein Edelmann halten soll" Bl. E 4a-E 4b. 1'Ю Corvinus, ,3ericht, wie sich ein Edelmann halten soll" Bl. M 2b-N 2b; vgl. Corvinus-BW, S. 50 Nr. 59. 1"·' Corvinus, „Bericht, wie sich ein Edelmann halten soll" Bl. A 2a-A 4a; vgl. Corvinus-BW, S. 49-50, Nr. 58 mit der Liste der Adressaten der Widmungsrede. 142 Corvinus, „Bericht, wie sich ein Edelmann halten soll" Bl. N 3a. 143 Paul Tschackert, Antonius Corvinus. Leben und Schriften, Hannover 1900, S. 58 Anm. 2. 144 Vgl. dazu beispielsweise den Brief Melanchthons aus Frankfurt vom 4.3.1539 an Jakob Milichius in Wittenberg, CR 3, 645, Nr. 1779; vgl. MBW 2, Nr. 2156. 145 Vgl. 2.1., bes. 2.1.2. Gegen A. Huyskens, Des Antonius Corvinus Schrift an den sächsischen Adel, in: ZVHG N. F. Bd. 29 (1905), S.260 ist aber festzuhalten, daß die Schrift des Corvinus ihrerseits nocht nicht „ein Glied in der Kette der zwischen Herzog Heinrich von Braunschweig und seinen Gegnern, Landgraf Philipp und Kurfürst Johann Friedrich gewechselten Streit- und Schmähschriften" ist.

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Die Publikationen von November 1538 bis Juni 1539

1.3. Kirchliche Ordnungen und ekklesiologisches Selbstverständnis in der Diskussion von Januar bis Sommer 1539 1.3.1. Vorgeschichte und Thema des Leipziger Religionsgespräches im Januar 1539 Die skizzierte Verschärfung der politischen Situation im Reich im Jahre 1538 führte Ende Oktober oder Anfang November 1538 bei einer Zusammenkunft zwischen dem sächsisch-albertinischen Rat Georg von Karlowitz (um 1480-1550) und dem hessischen Landgrafen Philipp u.a. zur Wiederbelebung des Plans eines Religionsgespräches ohne Beteiligung der Kurie. Ein erster Versuch dazu in Leipzig war 1534 in den Anfängen stecken geblieben. Der unerwartete Tod des künftigen Erben der sächsische Albertiner, Herzog Johann, am 11.1.1537 war ebenfalls von besonderer kirchenpolitischer Bedeutung. Der alte Herzog Georg (1471-1539)>'*^ wollte unter allen Umständen auch für die Zeit nach seinem Tod eine Umgestaltung des Kirchenwesens in seinem Herzogtum im Sinne der Wittenberger Reformation verhindern. War das aber aufzuhalten? Von Karlowitz und eine erasmisch gesinnte Reformgruppe am Dresdener Hof beabsichtigten behutsame Reformen in Kirchenordnung und Kultus unter Hintanstellung des theologischen Dissenses in der Hoffnung, daß man bei beiderseitigem Nachgeben auch eine gegenseitige Duldung der theologisch kontroversen Positionen erreichen könne. Die von vielen gefürchtete Einführung der Reformation nach kursächsischem Vorbild würde so für das Herzogtum verhindert. Im Februar 1537 hat Georg von Karlowitz zwei Denkschriften an den Landgrafen gerichtet, deren zweite seine kirchenpolitischen Pläne enthielt. Demnach sollten neben der traditionellen Messe die communio sub utraque und die Priesterehe ohne Belastung des Kirchengutes gestattet sein. Die Feiertage waren zu reduzieren, das Fasten sollte von der Obrigkeit angeordnet werden und die noch bestehenden Klöster waren zu schützen, während die Besitzungen der bereits verlassenen Klöster für kirchliche und schulische Zwecke verwandt werden sollten.Landespolitische Gesichtspunkte auch angesichts der Unsicherheit 146 Zur Frage nach den Туреп von Religionsgesprächen im 16. Jahrhundert vgl. zuletzt die Untersuchung von Marion Hollerbach, Das Religionsgespräch als Mittel der konfessionellen und politischen Auseinandersetzung im Deutschland des 16. Jahrhunderts, EHS.G Bd. 165, Frankfurt/Main-Bem-New York 1982. 147 Günther Wartenberg, Die Leipziger Religionsgespräche von 1534 und 1539. Ihre Bedeutung für die sächsisch-albertinische Innenpolitik und für das Wirken Georgs von Karlowitz, in: Gerhard Müller (Hrsg.), Die Religionsgespräche der Reformationszeit (SVRG 191), Gütersloh 1980, S. 3 5 ^ 1 , hier S. 35-36. 148 Helmar Junghans, Art. „Georg von Sachsen", in: TRE Bd. 12, Berlin-New York 1984, S. 385-389. 149 Wartenberg, S.37.

Kirchliche Ordnungen und Selbstverständnis (Januar-Sommer 1539)

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der Erbfolge nach Georgs Tod spielten bei dem höchst einflußreichen Karlowitz eine nicht zu unterschätzende Rolle. Überdies befürchtete er, daß der Kaiser und die geistlichen Reichsstände nach der erwarteten Ankunft des Kaisers in Deutschland die strittigen Dinge dann recht schnell in ihrem, d. h. in einem altgläubigen Sinne regeln würden. Im Jahr 1538 erhielten die Reformer am albertinischen Hof durch Georg Witzel (1501-1573) neue Impulse. Dieser erasmisch beeinflußte altgläubige Theologe hatte sich seit einigen Jahren von der Reformation abgewandt und hielt sich ab Sommer 1538 am Hof Herzog Georgs auf. Von ihm angeregt, sondierte man erneut die Möglichkeit zu einer Zusammenkunft „ezlicher gelehrter Leut, sich in Religionssachen mit einander freundlich zu unterreden".'''' Martin Bucer, der sich Ende Oktober 1538 in Marburg zum Verhör hessischer Täufer aufhielt, wurde vom Landgrafen am 6. und 12.11.1538 dazu aufgefordert, bei seinem geplanten Besuch in Wittenberg Luther und Melanchthon und - über diese vermittelt - den Kurfürsten für den Vorschlag von Karlowitz zu gewinnen. Nachdem am 13./14.11.1538 die Wittenberger und Bucer sich über die Widerstandsfrage verständigt hatten'^', besprach sich Luther am 15./16.11.1538 in Lochau mit dem Kurfürsten über den Vorschlag Karlowitz', daß das Religionsgespräch am 1.1.1539 in Leipzig stattfinden solle. Die politische Konstellation ließ wegen der bleibenden Unklarheiten in der Erbfolgefrage und dazu im Moment trotz oder gerade auch angesichts der erwarteten Achtvollstreckung gegen Minden ein solches Gespräch sehr günstig erscheinen. Die praktischen Vorbereitungen schritten entsprechend rasch voran: Bucer, auf dessen Teilnahme an der Leipziger Unterredung der Landgraf bestand, hielt sich nach seiner Abreise aus Wittenberg um den 20./21.11.1538 in Hessen auf, obwohl er schon in Straßburg zurückerwartet wurde. Am 31.12.1538 traf er zusammen mit dem hessischen Kanzler Johann Feige in Leipzig ein.''^ Auf ernestinischer Seite waren als Vertreter Philipp Melanchthon und der Kanzler Gregor Brück anwesend. Die Vertreter der Albertiner waren neben Georg von Karlowitz noch Witzel und Ludwig Fachs. In der umfangreichen Korrespondenz Melanchthons wird das Leipziger Gespräch mit keiner Silbe erwähnt. Das könnte m. E. ein Reflex sein auf das hohe Maß an Geheimhaltung, das diese Unterredung bei den Beteiligten erforderlich machte. 150 Vgl. den Brief Landgraf Philipps an Bucer vom 6.11.1538, Lenz I, S. 52, Nr. 19. 151 Vgl. S. 47 f. 152 Lenz I, S. 63-68, Nr. 23, hier S. 63. 153 Melanchthons Brief an Justus Jonas vom 2.2.1539 berichtet von einem (wann?) durch Melanchthon geführten Nachgespräch über das Leipziger Kolloquium mit dem Landgrafen. Gerüchte darüber - womit das Religionsgespräch vom Jahresbeginn gemeint sein dürfte - will Melanchthon in Leipzig wegen der gerade stattfindenden Messe nicht bei den Kaufleuten entstehen lassen: „Sed nolo rem dissipari ramoribus: scis, quales, quam ineptos sermones initio sparserint mercatores." CR 3. 637-638, Nr. 1773, hier 637; vgl. MBW 2, Nr.2145. Vgl. auch JJBW 1, S.309, Nr.407.

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Berichte über den Verlauf des Leipziger Religionsgespräches liegen aus der Feder Brücks an den Kurfürsten^^'^ und aus der Feder Bucers an den Landgrafen'^^ vor. Danach war das theologische Problem, an dessen Erörterung das Leipziger Gespräch rasch scheiterte, die nicht näher glückende Bestimmung der Normativität des kirchlichen Lebens zur Zeit der Alten Kirche als Grundlage für gegenwärtige Reformen im Kirchenwesen. Das Urbild der Kirche in Kirchenverfassung und Liturgie sollte auch als Vorbild für das gegenwärtig zu gestaltende kirchliche Leben der sichtbaren Kirche gelten. Das „Richtscheit der apostolischen Kirche" wurde aber theologisch sehr verschieden bestimmt. Während Karlowitz und Witzel anfänglich seine zeitliche Begrenzung im 8. oder 9. Jahrhundert annahmen, konnten Melanchthon und Bucer auch die Kirchengeschichte bis zu Papst Gregor L (590-604) oder etwa bis zu Augustin (354-430) nicht als normativ für die durchzuführenden Reformen akzeptieren, wo einst geübte (und jetzt von den Vermittlern geforderte) kirchliche Bräuche deutlich dem Wort Gottes widersprächen. Ferner sei angesichts offensichtlicher Widersprüchlichkeiten innerhalb der Konzilsbeschlüsse der altkirchlichen Konzile untereinander und auch zwischen den Meinungen der als Autoritäten geltenden Kirchenväter eine sachlich unzweideutige Norm aus der Zeit der Ahen Kirche sowieso nicht abzuleiten. So war auch der zweite Leipziger Gesprächsversuch faktisch zum Scheitern bestimmt. Melanchthon und Brück reisten bald ab. Die Nachgespräche Bucers mit Witzel erbrachten in den nächsten Tagen noch den erst viele Jahre später auch im Druck publizierten „Leipziger Reunionsentwurf'.'^^ Da aber der Frankfurter Anstand am 19.4.1539 seinerseits eine Möglichkeit einer Zusammenkunft „gelehrter Leute" für den 1.8.1539 in Nürnberg vorsah, war das komplexe theologisch-kirchenrechtliche und -politische Problem eines Religionsgespräches als Mittel der Verständigung der Parteien in der ersten Hälfte des Jahres 1539 wiederum aufgeworfen: Sollte ein solches Gespräch (auf Reichsebene) nun sogar den Charakter eines „Nationalkonzils" bekommen? Wenn ja, wie war dieser zu denken und kirchenrechtlich zu bewerten? Und auf welcher Basis sollte man verhandeln? Wer war legitimerweise daran zu beteiligen? (auch die Kurie?, sogar Laien?) Obgleich die Details der Leipziger Bemühungen Witzeis und Bucers und die ablehnende Position Melanchthons im Januar 1539 der Öffentlichkeit gegenüber noch geheim gehalten wurden, fand die theologisch-kirchenpolitische Thematik von Leipzig, nämlich die Frage nach der Möglichkeit eines Ver-

154 CR 3, 621-622, Nr. 1762 vom 1.1.1539; CR 3, 623-624, Nr. 1763 vom 2.1.1539; CR 3, 624-629, Nr. 1764 vom 3.1.1539. 155 Lenz I, S. 63-68, Nr. 23. 156 Vgl. dazu ausführlich Magnus Ditsche, Das „Richtscheit der apostolischen Kiche" beim Leipziger Religionsgespräch von 1539, in: E. Iserloh/K. Repgen (Hgg.), Reformata Reformanda (Festgabe Hubert Jedin), RGST.S Bd. 1, Münster 1965, S.466-475, hier bes. S . 4 6 9 ^ 7 4 . 157 Vgl. S . 69.

Kirchliche Ordnungen und Selbstverständnis (Januar-Sommer 1539)

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gleichs der beiden Parteien auf der Grundlage einer (wie auch immer im Einzelnen zu bestimmenden) Normativität der Alten Kirche, weiterhin Beachtung und ihren Niederschlag in einer Reihe von Publikationen der unmittelbar (bzw. im Fall Luthers mittelbar) am Gespräch beteiligten Theologen. Allein schon aus chronologischen Erwägungen heraus bedürfen diese Werke als Beiträge zur kirchenpolitischen Publizistik des Jahres 1539 hier einer Erörterung. Ihr erstmaliges Erscheinen erfolgte genau in dem Zeitraum zwischen dem gescheiterten Leipziger Versuch vom Januar 1539 und dem für den 1.8.1539 vorgesehenen Nürnberger Gesprächstag. Es sind letztlich drei kirchenpolitische Publizisten, die die komplexe „Leipziger" Frage nach der Maßgeblichkeit der Alten Kirche und ihrer Ordnungen mehr oder weniger ausführlich behandelten: Luther, Melanchthon und Witzel. Bei Luther und Melanchthon führt sie jeweils zu einer umfassenden theologischen Besinnung auf die reformatorische Ekklesiologie. Nur von daher sind für sie auch Erwägungen über den Sinn, Nutzen und Zweck von Gestaltungsfragen des äußeren kirchlichen Lebens oder auch das Religionsgespräch sinnvoll. Witzeis „Dialogi" über die Kirchenbräuche gehören sachlich unauflöslich zu seinem „Typus ecclesiae prioris", wenngleich dieser in der Geschichte der kirchenpolitischen Publizistik einen anderen Ort gefunden hat.'^® Von Bucer erschien ein pseudonymer Kommentar zur aktuellen Kirchenpolitik. Da dieser aber sich nicht explizit der Frage nach dem kirchlichen Selbstverständnis stellt, wird er hier gesondert von den Werken Luthers, Witzeis und Melanchthons betrachtet.

1.3.2. Martin Luther: „Von den Konziliis und Kirchen" vom März 1539 1.3.2.1.

Hintergründe

Luther befaßte sich - zeitgleich mit Melanchthon - um die Jahreswende 1538/39 mit dem reformatorischen Kirchenverständnis. Seine Beschäftigung mit der Ekklesiologie ist sowohl in Fortsetzung seiner früheren Auseinandersetzungen mit dem römischen Kirchenverständnis als auch im Kontext der aktuellen kirchenpolitischen Diskussion zu interpretieren. Luther war, wenngleich auf vielfältige Weise in die kirchenpolitischen Auseinandersetzungen der Jahre 1538/39 verwickelt, persönlich kein Teilnehmer des Religionsgespräches in Leipzig oder der Frankfurter Verhandlungen.

158 Vgl. 4.3.2. 159 Er findet seinen Ort hier unter 1.4., während in chronologischer Reihenfolge unter 1.3.2. Luther, 1.3.3. Witzel und 1.3.4. Melanchthon als Publizisten des ersten Halbjahres 1539 erörtert werden.

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Er hob bereits in einem Brief an Melanchthon vom 28.12.1538 seine Zustimmung zu dessen ekklesiologischen Überlegungen hervor: „Sed serio, mihi res placet." Einig sind sich die beiden Wittenberger darin, daß sie es ablehnen, daß die (sichtbare) Kirche zu irgend einem Zeitpunkt der Kirchengeschichte das Ideal für alle anderen Epochen bilden könne. Die sichtbare Kirche unterliegt dem Wandel der Zeiten. Die eine, geglaubte Kirche hat dem gegenüber Bestand durch die Zeiten hindurch und bleibt darin mit sich selbst identisch: „Ecclesia vero intra artículos fidei est una simplex peφetua idea per omnia s[a]ecula s[a]eculorum . . . columna veritatis semper simillima."'®" Ihre Unveränderlichkeit garantiert Christus als Haupt der Kirche durch sein Wort, das ewig bleibt. Wegen der Veränderungen im Verlauf der Kirchengeschichte ist es nicht möglich, einen Maßstab am Leben oder an den Worten der Heiligen zu finden, sondern gemäß ihres Glaubens, das ist gemäß des Wortes Gottes, ist zu urteilen: „Quare non secundum vitam vel dicta sanctorum, sed secundum fidem sanctorum omnia sunt iudicanda, id est, secundum verbum D e i . . . Luther faßte noch während der in Frankfurt bis zum 19.4.1539 tagenden Verhandlungen seine eigenen ekklesiologischen Überlegungen in der Schrift „Von den Konziliis und Kirchen" zusammen und entschloß sich zu ihrer Veröffentlichung. Seine Schrift gliedert er in drei Teile, wobei der erste und der dritte Teil annähernd gleich umfangreich ist, während der zweite Teil, das Kernstück seiner Arbeit über die Konzile, den Umfang der beiden andern Teile zusammengenommen noch übertrifft. Sie enthält in ihren beiden ersten Teilen eine ausführliche historische und theologische Auseinandersetzung Luthers mit der seit der Mitte des Jahrzehnts neu virulenten Konzilsproblematik'®^, während der dritte Teil mit den Ausführungen zur Ekklesiologie sich daran eher lose anschließt. Der Herausgeber von Bd. 50 der Weimarer Ausgabe führt aus, daß Luther 1538 an die Ausarbeitung dieser Schrift ging.^®^ Nachdem der Papst im März 1538 das angekündigte Konzil nach Vicenza verlegte, hatte Luther offensichtlich in den mittleren Monaten des Jahres 1538 den Anfang der Schrift entworfen, da seine Äußerungen sehr wahrscheinlich die vierte Verschiebung des Konzils noch nicht voraussetzen, von der er unter dem 15.9. Nachricht erhielt. Die publizistische Notwendigkeit einer schriftlichen Äußerung Luthers beschreibt der Herausgeber der WA folgendermaßen: „Ein aufklärendes Wort war nötig, zu zeigen, weshalb die Beschickung dieses Konzils nicht den Frieden hätte schützen können. Luther mußte, was er lange erwogen und vorbereitet hatte, nun hinaussenden."'^ 160 WA.B 8, S. 343-345 Nr. 3325, hier S. 345, 18-20. 161 WA.B 8, S. 343-345, Nr. 3325, hier S.345, 30-32. 162 Vgl. dazu im Überblick vor allem Schwarz, S. 203-209. 163 WA 50, S.(488) 509-653, hier S.500f. 164 WA 50, S. 501. Diese Position nehmen auch die Hgg. der Studienausgabe ein, LStA 5, S. 450.

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Diese ΙηίεφΓ6ΐ3ίίοη bestätigt nicht nur das Vorhandensein eines reichs- und kirchenpolitischen „Ortes" der Schrift, sondern nennt mit den Stichworten „Aufklärung" und „Belehrung" auch die sehr wahrscheinlichen Primärmotive zur Veröffentlichung der vorbereiteten Schrift. Einige Schritte zur Arbeit Luthers an der Schrift während des Jahres 1539 sind belegt.'®^ Das neueste, im September 1538 in Köln gedruckte Werk zur Konziliengeschichte von Petrus Crabbe wurde mitberücksichtigt.'®® Anfang März 1539 ist die Schrift fast vollendet. Am 14.3.1539 schrieb Luther an den schon zu den Verhandlungen in Frankfurt sich aufhaltenden Melanchthon von der Vollendung der Schrift: „Ego meum scriptum de Ecclesia absolvi ... Die Schrift wurde zuerst bei Hans Lufft in Wittenberg gedruckt. 1.3.2.2. Verbreitung und Rezeption Hinweise über die rasche Verbreitung von Luthers Werk liegen aus den Monaten März und April 1539 vor: Justus Jonas (1493-1555) teilte dem anhaltinischen Rat Georg Forchheim am 20.3.1539 über die begonnene Auslieferung von Exemplaren mit: „D. Martinus librum de ecclesia et conciliis ... iam absolvit usque ad finem et multi sunt iam excusi."'®' Wenn für den 20.3.1539 galt, daß schon viele Exemplare ausgegangen sind, ist davon auszugehen, daß Luthers frisch gedruckte Schrift noch in Frankfurt von den Teilnehmern der Verhandlungen gelesen worden sein kann. Nachrichten, die das bestätigen, liegen mir aber nicht vor. Am 1.4.1539 sandte Justus Jonas seinerseits die ersten Bögen des noch nicht ganz fertig gedruckten Werkes von Wittenberg aus an den Fürsten Joachim von Anhalt, der diese Bögen am 3.4. wieder zurücksandte. Der dazugehörige Begleitbrief des Fürsten belegt, daß mit dem Werk Luthers gezielt die Gegner (die Altgläubigen?) oder die in der kirchenpolitischen Diskussion noch Unentschiedenen (die kirchenpolitischen und theologischen Vermittler?) angesprochen werden sollten. Das Werk nützt nach der Meinung des Fürsten auch als Apolo-

165 LStA5, S.450; S.480, 6f.; S.597 Anm. 1783. 166 „Concilia omnia tarn generalia quam particularia", zwei Bände, Drucker: Peter Quentel, Köln 1538, bibliographischer Hinweis: VD 16: С 5643; vgl. WA 50, S.514, 24-515, 6 und LStA 5, S.462, bes, Anm. 76. Zur Rezeption dieses Werkes bei Bucer vgl. S. 210 Anm. 322. 167 WA.B 8, S.391, 23-24 Nr. 3310. Vgl. MBW 2, Nr. 2153. 168 Bibliographischer Hinweis: WA 50, S. 506 Druck A; Benzing, Lutherbibliographie Nr. 3332; VD 16: L 7158. Ein zweiter Druck erschien ebenfalls bei Lufft (bibliographischer Hinweis: WA 50, S.507 Druck B; Benzing, Lutherbibliographie Nr. 3334; VD 16: L 7159). Unter Umständen hat der Druck des noch nicht ganz abgeschlossenen umfangreichen Werkes in Wittenberg schon vor der Fertigstellung der gesamten Schrift begonnen, was aufgrund der brieflichen Notiz des Wittenbergers Christoph Schramm an Stephan Roth in Zwickau vom 2.3.1539 zu vermuten ist: „nun weis ich vorwar itzundt nix neues das ausgangen were . . . das Dixit dominus wirt gedruckt und de Eclesia luteri ... ", Buchwald, S. 187, Nr. 584. 169 JJBW 1, S. 311-313, Nr.414, hier S.312f.

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gie der kirchenpolitischen Praxis der Lutheraner. Es dient dem „wolstant" und der „einigkeit" der Kirche.'™ Einen anderen, m. E. interessanten Hinweis über die Verbreitung der Schrift „Von den Konziliis und Kirchen" über Nürnberg und Ulm bis hinab in die Schweiz aus der zweiten Maihälfte 1539 haben die bisherigen Herausgeber (WA, LStA) nicht berücksichtigt. Mit ihm verknüpft sich eine etwas anders gelagerte Gesamtdeutung der Schrift. Der Ulmer Pfarrer Martin Frecht (1494-1556) schrieb am 3.6.1539 an den Humanisten, Stadtarzt und Ratsherrn von St. Gallen, Joachim von Watt (Vadian) über den Erhalt eines Exemplars von Luthers „Von den Konziliis und Kirchen" durch einen Boten aus Nürnberg „... hoc temporis articulo iste vester tabellio, ex Norinbergae hunc rediens, a sorore mea istic agente litteras et Lutheri de conciliis et ecclesie auctoritate ... attulit... Multi boni et docti viri commendant Lutheri de conciliis librum, quem heri fato oblatum ab alio legi, dignum posteritate.""' Demnach sahen „gute und gelehrte" Zeitgenossen in Luthers Werk doch eher eine grundsätzliche Äußerung, „der Nachwelt würdig", als einen Beitrag zur laufenden kirchenpolitischen Diskussion, wie der Fürst von Anhalt sie sah, oder auch im Vergleich mit anderen Publikationen, wie etwa dem schmalkaldischen „Ausschreiben an alle Stände" voml3.11.1538 oder einer von Luthers späteren Publikationen im kirchenpolitischen Konflikt mit Herzog Heinrich von Braunschweig· Wolfenbüttel. Ein weiterer Hinweis auf die Verbreitung der Schrift „Von den Konziliis und Kirchen" gibt ein Brief vom 31.8.1539. An diesem Tag schrieb der kursächsische Kanzleischreiber Nicolaus Gunther an Stephan Roth in Zwickau, er möge ein Exemplar der Schrift Luthers „dem pfarrer zu kirchpergk" weitersenden. Vermutlich erkannte man bald nach dem Erscheinen des ersten deutschen Druckes in Luthers Umfeld deutlich den Mangel an einer lateinischen Ausgabe dieses großen Werkes. Man entschloß sich zur Herstellung einer Übersetzung. Möglicherweise sollte sie für Adressaten im Ausland bestimmt sein. Der als Übersetzer in Frage kommende Justus Jonas teilte am 20.3.1539 über Luthers

170 „Den anfangk des buchs de ecclesia hab ich vberlessen, gefeilet mir als einem eynfedtigen gantz wol, dan es meines bedunckens des ortes gesucht, do es ein sitzet, Vnd wirdt ir hertze genunksamlich, so nit blintheit do were, getroffen, auch das auf Vnserem teil nichtes anders dan Gottes ehere, selligkeit der seien vnd rechter wolstant der christlichen kirchen gesucht, klar an tag gegeben, als ich dan achte noch weiter schicklich gesche[h]en wirdt. Der almechtige vorleihe, das solchs zur besserung vnser aller, einigkeit der kirchen vnd Gottes lob und ehr zuforderst gereichen mo[e]ge.", JJBW 1, S. 316-317, Nr. 419. Π1 Die Vadianische Briefsammlung der Stadtbibliothek von St. Gallen, Bd. V/2, St. Gallen 1903, S.560, Nr. 1060. Vielleicht bezieht sich auch der Brief des Johannes Zwick aus Konstanz an Joachim von Watt vom 2.7.1539 auf Luthers „Von den Konziliis und Kirchen", wie der Hrsg. der Briefsammlung vermutet hat, S.565, Nr. 1065. Π2 Vgl. 5.4.2., auch Brecht III, S. 315-318. Π3 Buchwald, S. 189, Nr. 591.

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Schrift dem anhaltinischen Rat Georg Forchheim mit: „Ego reddo latine, brevi illuss. princeps huius aliquot quatemiones videbit germánicos."''^ Jonas arbeitete noch um den 7.5.1539 an einer lateinischen Übersetzung, wie er brieflich an Wenzeslaus Linck mitteilt: „lam latine reddo librum de ecclesia et conciliis.""^ Ein zeitgenössischer Druck einer solchen Übersetzung durch Jonas kam aber nicht zustande. Neben den insgesamt zwei Wittenberger Ausgaben bei Lufft erschien noch im selben Jahr 1539 ein Nachdruck bei dem früheren Melanchthon-Schüler und jetzt in Straßburg ansässigen Drucker Kraft Müller.'" 1.3.2.3. Konzilstheorie und Kirchengüterfrage Luthers Schrift „Von den Konziliis und Kirchen" appelliert zum einen an die Herren, Kaiser, Könige und Fürsten''^, zum anderen redet sie die „armen schwachen Christen" an, die aus der Sicht der Altgläubigen „Ketzer" sind.''' Im ersten Teil seiner Schrift weist Luther auf die inneren Widersprüche der römischen Konzilstheorie hin: Altkirchliche Konzile und Kirchenväter stimmen nicht harmonisch mit einander überein, sondern die Aussagen von Vätern und Konzilien widersprechen einander.'®" Deshalb können Väter und Konzile nicht als unantastbare formale Autoritäten per se Geltung beanspruchen. Mit einer rhetorischen Frage, wodurch denn die (wahre) Kirche in der Zeit vor den altkirchlichen Konzilien und Vätern Bestand gehabt habe, schließt der erste Teil der Schrift.181 Mit den Ausführungen des ersten Teiles wandte Luther sich implizit auch gegen die kirchenpolitischen Kräfte, die einen Vergleichsweg auf der Basis der Konzilsentscheidungen suchte: „und sind nu (meins achtens) drunter etliche gute frome hertzen, die da gern wollen die Kirche Reformirt sehen nach derselben Concillen oder Veter weise und masse, als die dennoch auch bewegt, das der j[e]tzige stand der Kirchen im Bapstum sich gar schendlich reimet (wie offenbar ist) mit der Concillen und Veter weise."'®^ Im umfangreichen zweiten Teil seiner Schrift geht Luther zu der Frage weiter, welche Bedeutung überhaupt ein theologisch recht verstandenes Konzil beanspruchen darf? Nach Erörterungen der historischen und theologischen Pro174 JJBW 1, S. 311-313, Nr. 414, hier S.313. 175 JJBW 1, S. 318-319, Nr. 423, hier S.318. 176 Jonas' Übersetzung erschien erst 18 Jahre später bei dem Drucker Johannes Operinus in Basel. Bibliographischer Hinweis: VD 16: L 7160; WA 50, S. 507, Druck 2a. 177 Bibliographischer Hinweis: WA 50, S.507 Druck C; Benzing, Lutherbibliographie Nr. 3335; VD 16: L 7157. 178 WA 50, S.510, 23-511, 9. 179 WA 50, S.511, 11-26. 180 WA 50, S.520, 11-21; 543, 13-28. 181 WA 50, S.547, 5-8. 182 WA 50, S.514, 29-515, 3.

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bleme des Apostelkonzils (Gal 2; Act 15) und der vier altkirchlichen Konzile'^^ faßt Luther den Kern des 1. und 2. Teiles von „Von den Konziliis und Kirchen" in 5 Doppelthesen zusammen: „la. Das Konzil kann keine neuen Glaubensartikel aufstellen. Ib. Es muß neue Glaubensartikel abwehren. 2a. Es kann keine neuen guten Werke einsetzen. 2b. Es muß schlechte, böse Werke abwehren. 3a. Es kann keine neuen Zeremonien als heilsnotwendig befehlen. 3b. Es muß neue Zeremonien verurteilen. 4a. Es darf nicht in das weltliche Regiment eingreifen. 4b. Es muß Übergriffe ins weltliche Regiment verurteilen und damit abwehren. 5a. Es darf keine neuen Beschlüsse (Dekrete) fassen, durch die nur die Macht der Hierarchie vermehrt werden würde. 5b. Es kann Zeremonien, die um der Ordnung willen nötig sind, durchaus festsetzen, z.B. Ort und Zeit der Gottesdienste."^^ Ein Brief Luthers an Melanchthon in Frankfurt vom 14.3.1539 gibt einen interessanten selbstkritischen Kommentar Luthers über seine eigene Schrift wider, der m. E. in besonderer Weise auf diesen umfangreichen, an Worten und Beispielen reichen zweiten Teil seiner Schrift anspielt: „... sed mire me piget eius scripti, quod iam tenue et verbosum sit. Verum singulare tractare et testimoniis exemplisque solidare non fuisset omnino ultra vires meas, sed tempus et labor fuit ultra vires meas."'^^ Es gibt nur zwei im engeren Wortsinne aktuelle kirchenpolitische Bezüge zur Situation des Frühjahres 1539, die Luther innerhalb der beiden ersten Teile seiner Schrift herstellte: a) „Chancen eines deutschen Provinzialkonzils": Im Grunde genommen sind für Luther die christlichen Gemeinden und Schulen die eigentlichen, weil nützlichen und ewigen Konzile, da die Pfarrer und Schulmeister die Kirche erhalten.'86 Von der Art der ersten Konzile der Alten Kirche ist keines mehr zu erwarten. Aber ein deutsches Provinzialkonzil, das von Kaiser und Fürsten einberufen wäre und recht urteilen würde, hätte eine geistliche Wirkung auf das Leben der Kirche weit über das deutsche Reich hinaus. Die Gefahr eines Schismas, das daraus entstehen könnte, sieht Luther nicht. Er hofft eher darauf, daß ein rechtes Provinzialkonzil andere auswärtige Monarchen positiv beeinflussen könnte. 183 Zum Apostelkonzil: WA 50. S.560, 4-568, 28; zu Nicäa (325): WA 50, S.547, 24-560, 4; S.568, 28-575, 9; zu Konstantinopel (381): WA 50, S.575, 10-581, 14; zu Ephesus (431): WA 50, S.581, 15-592, 15; zu Chalkedon (451): WA 50, S.592, 16-604, 9. 18·» WA 50. S. 606. 34-608.4; S. 613.19-614.17. Diese Zusammenfassung orientiert sich an der der Hgg. in der LStA 5. hier S.453. 185 WA.B 8, S. 391-392, Nr. 3310. hier S.391. 24-27; vgl. MBW2, Nr. 2162. 186 WA 50. S.617. 21-24, vgl. auch WA 50, S.623, 28-30.

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Ein solches Konzil gleiche einem Prediger, der eine starke unüberhörbare Stimme habe.'^^ b) „Verwendung der Kirchengüter zum Bau von Schulen und der Förderung des Studiums": Über die strittige Verwendung des Klosterbesitzes hebt Luther hervor, daß die Stifter bei ihren Stiftungen pädagogische Absichten verfolgten. Die alten Bezeichnungen Probst, Dechant, Scholasticus, Kantor, Kanonicus, Vicarius, Kustos etc. weisen auf den ursprünglichen schulischen Kontext hin. Wenn man das wieder einrichten würde, gewönne man gelehrte Pfarrer und Bischöfe, die ihrerseits dann die Kirche besser regieren könnten.'^* Gegen Ende des dritten Teiles seiner Schrift wiederholt Luther diese aktuelle Aufforderung. Fürsten und Herren sollten nach dem Vorbild der vorigen Kaiser, Könige und Fürsten, die Юöster und Stifte errichtet haben, jetzt den Klosterbesitz für Schul- und Studienzwecke verwenden. 1.3.2.4. Zur Ekklesiologie

Luthers

1539

Im dritten Teil seiner Schrift „Von den Konziliis und Kirchen" geht Luther von dem Satz des Apostolikums aus: „Ich glaube eine heilige christliche Kirche, Gemeinschaft der Heiligen." Der mehrdeutige Begriff „Kirche" ist für Luther ein „blindes" Wort. Der „gemeine man" assoziiert das Kirchengebäude, wenn er das Wort Kirche hört. Die Gegner identifizieren die Kirche mit der hierarchischen Ordnung von Papst und Bischöfen. Für Luther hingegen ist die Kirche ein „hauffe oder samlung solcher Leute, die Christen und heilig sind".'®' Die Christen sind ein Volk, das an Christus glaubt und den heiligen Geist besitzt, der sie täglich heiligt. Die Heiligkeit der Christen besteht in den Früchten des Wirkens des heiligen Geistes; er, der heilige Geist wirkt den Glauben (1. Tafel des Gesetzes) und (in antinomistischer Tendenz) das Leben nach der zweiten Tafel des Dekalogs. Dieses christliche Volk besteht seit der Zeit der Apostel bis zur Gegenwart. Es wird auch bis ans Ende der Welt Bestand haben. Es gibt sieben „Haubtstücke" oder „Heiltümer", für die Luther nur wegen der Verwechslungsgefahr den Namen „Sakramente" vermeiden will. Sie sind die äußeren Zeichen, die aufweisen, wo die heilige, christliche Kirche ist: 1. Die Predigt des äußerlichen, mündlichen Wortes Gottes.'®^ 2. Der Vollzug der Taufe nach Christi Ordnung. 187 WA 50, S.623, 17-26. 188 WA 50, S.617, 25-34. I89WA50, S.651,32-33. 190 WA50, S.624, 10-11. 191 WA50, S.624, 17-18. 192 WA 50, S.628, 29-630, 20. Die Vorrangstellung dieses Kriteriums kam schon in dem Brief Luthers an Melanchthon vom 28.12.1538 zum Ausdruck; vgl. WA.B 8, S. 343-345, Nr. 3285, hier S. 345, 26-33. 193 WA50, S.630, 21-631,5.

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Die Publikationen von November 1538 bis Juni 1539

3. Das Sakrament des Altars. 4. Das Amt der Schlüssel („öffentlich" und „ s o n d e r l i c h " ) . 5. Die Berufung von Kirchendienern und das Vorhandensein von Ämtern. 6. Gebet, Gotteslob und öffentlicher Dank.'" 7. Das .Jieilthum des heiligen Creutzes": Ein Leben unter dem Zeichen des Kreuzes, d.h. die Verfolgung um Christi willen. Daneben nennt Luther noch einige weitere „notae extemae" aus dem Bereich der zweiten Tafel, die er nicht durchnumeriert. Sie können ihrerseits auch das Leben der Heiden kennzeichnen und haben darum, für sich gesehen, nicht Kriteriencharakter für die rechte Kirche. Die von ihm entworfene „Kirche" kontrastiert Luther scharf zur viel größeren „Kapelle des Teufels", die er mit der Papstkirche identifiziert. Eine explizite Gegenschrift von altgläubiger Seite ist zu Luthers „Von den Konziliis und Kirchen" in den nachfolgenden Monaten m. W. nicht erschienen. Lediglich in Konrad Brauns zweiter kirchenpolitischer Schrift, den „Etlichen Gesprächen" aus der Zeit des Wormser Religionsgespräches 1540/41, wird kurz auf diese Lutherschrift angespielt und ihre Grundlegung der Ekklesiologie abgelehnt, 1.3.2.5. Teilausgaben des ekklesiologischen

Teiles 1540

Die Frage nach der „Kirche" war 1539/40 ganz offensichtlich von solcher öffentlichen Relevanz, so daß auch Teilausgaben von Luthers Schrift „Von den Konziliis und Kirchen" hergesteUt wurden, in denen nur ihr dritter, im engeren Sinne „ekklesiologischer" Teil gedruckt wurde: Johann Petreius in Nürnberg, der 1539 schon Luthers „Septuaginta propositiones disputandae" gedruckt hatte^"", edierte eine solche Teilausgabe unter dem Titel: „Von der Kirchen, was, wer, und wo sie sei, und wobei man sie erkennen soll." Dieser deutsche Auszug enthält bei Änderungen und Auslassungen den ekklesiologischen Teil der Schrift „Von den Konziliis und Kirchen".^"' J.L. Metzsch, Herr auf Mylau, schrieb am 6.4.1541 an Stephan Roth: „Ich höre sagen [,] das D. Luthers buchlein wider den h.[= Herzog Heinrich] v. braunschweigk vnder tittel von der rechten vnd falschen kirchen soll ausgangen 194 WA 50, S. 631,6-35. 195 WA 50, S.631, 36-632, 34. 196 WA 50, S.632, 35-641, 19. 197 WA 50, S. 641, 20-34. 198 WA 50, S.641, 35-643, 5. 199 Braun (an), .Etliche Gespräche", 2. Gespräch, Bl. J 2b, vgl. S. 260. 200 Vgl. S. 54. 201 Es handelt sich bei orthographischen und geringfügigen Veränderungen um die Auslassung biblischer Zitate und der ins Detail gehenden Erörterung der zweimaligen Heirat („Digamie") des Pfarrers. Der neu herausgebrachte Textabschnitt aus „Von den Konziliis und Kirchen" entspricht WA 50. S.624, 14-634, 31 und WA 50, S.641, 16-653, 15.

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sein, woher dem also, pith [,] wolleth mir eines erlangenn... Der Zeitpunkt dieses Schreibens - nicht aber der Titel! - weist hin auf Luthers „Wider Hans Worst".^°^ Es ist m.E. aber auch durchaus denkbar, daß Metzsch zu diesem Zeitpunkt - im April 1541 - vom Titel der Nürnberger Teilausgabe von „Von den Konziliis und Kirchen" gehört hatte. Diese Teilausgabe aus Luthers großer Kirchenschrift dokumentiert das in der kirchenpolitischen Situation um das Jahr 1540 nachweisbare Interesse der Publizisten, die Öffentlichkeit konzentriert mit der Position Luthers über die Kirche zu konfrontieren, ohne die umfangreichen Passagen zur Konzilsfrage erneut mitabzudrucken. Die Frage nach dem Generalkonzil gehört in der Zeit der kaiserlichen Religionsgesprächsdiplomatie auch nicht mehr zu den primären Agenda der Politik, was sich in der entsprechenden kirchenpolitischen Publizistik hier exemplarisch spiegelt. Eine tschechische Übersetzung des ekklesiologischen Teiles aus „Von den Konziliis und Kirchen" erschien zusammen mit der Schlußpassage aus Luthers Schrift „Von den Schlüsseln"^''^ 1540 (?) bei Alexander Aujezdsky in Litomysl. Ihre Vorlage ist sehr wahrscheinlich der Nürnberger Druck „Von der Kirchen, was, wer und wo sie sei".^®^ Wie schon angedeutet, nahm Luther ziemlich genau zwei Jahre später das Thema Kirche unter leicht veränderten Vorzeichen wieder auf, nämlich im Rahmen einer neuen Schrift unter dem Titel „Wider Hans Worst". Die Liste der „notae extemae", die er 1539 publiziert hatte, modifizierte er 1541, da sich dort die kirchenpolitische Ausgangssituation deutlich verändert hatte.

1.3.3. Georg Witzel: „Dialogorum libri tres" vom April (?) 1539 1.3.3.1.

Hintergründe

Die Gesprächsgrundlage, die bei den Leipziger Verhandlungen zwischen Martin Bucer und Georg Witzel nach der Abreise Melanchthons und Brücks Anfang Januar 1539 für weitere Vergleichsverhandlungen erstellt wurde, bildet den seit L. Cardauns sogenannten ,J^eipziger Reunionsentwurf

202 Buchwald, S.203, Nr. 645. 203 Vgl. S. 299 f. 204 WA 30 II, S. (428) 435-507; hier der Ausschnitt S. 497-507. 205 Dieser Druck enthält eine Vorrede und einen Anhang des anonymen Herausgebers. Der Textabschnitt aus „Von den Konziliis und Kirchen" entspricht WA 50, S.624, 13-634, 14. 641, 16-644,4. Bibliographischer Hinweis: H. Claus/Michael A. Pegg, Ergänzungen zur Bibliographie der zeitgenössischen Lutherdrucke. Veröffentlichungen der Forschungsbibliothek Gotha 20, Gotha 1982, S. 142, Nr. 3336. 206 Er wurde unter Berücksichtigung der Abschriftenüberlieferung gerade kürzlich herausgegegeben in: MBDS 9, 1, Gütersloh 1995, S.(13) 23-51. (Lit.!)

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Die Publikationen von November 1538 bis Juni 1539

Als seine Autoren dürfen gleichermaßen Bucer und Witzel gelten. Ihr Entwurf war nicht für eine Öffentlichkeit über den Herzog Georg oder den Landgrafen Philipp hinaus bestimmt^"^, als deren theologische Wortführer sie jeweils fungierten. Dennoch sind zahlreiche Hinweise über seine Verbreitung - in ungedruckter Form! - während der Frankfurter Verhandlungen^"^ gegen den ausdrücklichen Wunsch Bucers in altgläubigen Kreisen, am kaiserlichen Hof und nach Rom bekannt.^''^ Um die Jahreswende 1539/40 spielte „des Bucers und Witzeis Handelung, so hievor zu Leipzig ergangen", eine nicht unwesentliche Rolle bei der wieder erneut virulenten Suche nach einer geeigneten Gesprächsgrundlage der Religionsparteien bei einem abzuhaltenden Religionsgespräch, weshalb der sächsische Kurfürst am 29.12.1539 die Wittenberger Theologen um ein Gutachten dazu bat^'", welches diese am 7.1.1540 erstellten.^" Martin Bucer veröffentlichte den Text seiner Unterredung mit Witzel erst 1545 in Straßburg im Druck.^'^ Georg Witzel ließ erst 1562 seinen eigenen „Wahren Bericht" über die Ereignisse des Januars 1539 im Druck veröffentlichen.2'3

Öffentlichkeitswirksam wurden 1539/40 hingegen andere Publikationen von Bucer^'"* und Witzel, wobei der Öffentlichkeit m. E. in dem aus zwei Druckschriften bestehenden „Doppelwerk" Witzeis ein gegenüber Luthers „Von den Konziliis und Kirchen" und Melanchthons „De ecclesiae autoritate" kirchenpolitisch und publizistisch konkurrierender ekklesiologischer Entwurf vorgelegt wurde, der sich aber nach Form und Inhalt deutlich von den zeitgleichen Schriften der beiden Wittenberger Theologen zur Kirchenfrage unterschied. Witzeis erste Schrift, ,X)ialogorum libri tres", gehört chronologisch in den unmittelbaren kirchenpolitischen Zusammenhang des Leipziger Geheimgesprächs vom Januar 1539 und des für den 1.8.1539 nach Nürnberg versprochenen Gesprächstages. Seine zweite Schrift „Typus ecclesiae prioris" sollte nach

207 WA.B 8, S.651. 208 Ludwig Cardauns, Die Geschichte der kirchlichen Unions- und Reformbestrebungen von 1538-1542, hier S. 14-15; auch S.85 Anm. 1 (mit Stellenangabe bei Bucer!); vgl. Stupperich, Humanismus, S. 50 Anm. 2; auch Winfried Trusen, Um die Reform und Einheit der Kirche. Zum Leben und Werk Georg Witzeis (KLK 14), hier S. 19 und Luttenberger, S. 205. 209 Zuletzt hat sie C. Augusüjn zusammengefaßt, MBDS 9, 1, S. 38-39. 210 WA.B 8, S. 647-654, Nr. 3425, hier S. 649, 53-55; vgl. auch den Hrsg. dort S. 651. 211 WA.B 9, S.8-11, Nr. 3431, bes. S. 11 Anm. 1. 212 Es liegen insgesamt drei Ausgaben vor, wovon die dritte erst 1562, mehr als ein Jahrzehnt nach Bucers Tod in Cambridge 1551, erschien. Bibliographische Hinweise: VD 16: В 8855; VD 16: В 8856 und VD 16: В 8857. Vgl. zum Problem des Verhältnisses zwischen den überiieferten Abschriften und den beiden Drucken von 1545 jetzt den Hrsg. in MBDS 9, 1, S. 20-21. 213 „Warer Bericht von II den Acten der Leipsischen vnd Spei = II rischen Collucution zwischen II Mar. Bucern vnd Georg. II Wicelien / II An den Erbam Herren Georgen Jlsung / II R6m. II Keis. maiest. besondern Rhat / vnd Land = II uogt in Schwaben etc. II Zu Côln Anno M.D.LXIL II", 6 BL, 4°. (bibliographischer Hinweis: Richter Nr. 136). Neu hg. in ARCEG Bd. 6, S. (17) 18-20. 214 Bucer veröffentlichte in diesem Zeitraum seine Schriften unter Pseudonym oder anonym. Vgl. 1.4.; З.1.; 3.4. und 4.1.1.

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Witzeis ursprünglicher Vorstellung zeitgleich zu den „Dialogi" die kirchenpolitische Öffentlichkeit erreichen, erschien dann aber in erster Ausgabe erst im Zusammenhang der Wormser Verhandlungen etwa gegen Jahresende 1540.^'^ Ihr Text war freilich von Witzel schon 1538 in Grundzügen fertiggestellt.^'® Beide sind typische Produkte von Witzeis sehr umfangreichem theologischpublizistischem Schaffen dieser Jahre, das ganz um die Themen „Antiquitas", „Reformatio" und „Concordia" kreist.^'' Sein intensives kirchenpolitisches Bemühen um die Versöhnung der eingetretenen Spaltung der Kirche steht deutlich in erasmischer Tradition, wobei Trusen noch differenziert: „Erasmus ist in erster Linie ein biblischer, Witzel dagegen als patristischer Ireniker anzusehen. Jener will Gelehrte der Gegenwart, dieser die Kirchenväter zu Richtern im Streite m a c h e n . S o enthalten bereits zwei seiner Schriften, die beide 1537 erschienen Waren, schon in Grundzügen seine theologische Position, wie sie sich dann auch im Leipziger Gespräch 1539 und den sich anschließenden Publikationen „Dialogrum libri tres" und „Typus ecclesiae prioris" entfaltet findet: „Methodus concordiae ecclesiae"^'' und „Epistolarum libri quattuor".^^" Georg Witzeis theologisch-publizistisches Wirken ist - worin es dem des Johannes Cochläus durchaus vergleichbar ist - eng mit der Möglichkeit, in Leipzig seine Bücher verlegen zu können, verknüpft gewesen. Er hatte schon in den Jahren, bevor er 1538 ins Herzogtum Sachsen übersiedelte, mehrere seiner Schriften bei den Leipziger Druckern Nickel Schmidt 1533^^', Melchior Lotter 1534/35^22 und Valten Schumann 1534^23 herausgebracht. Ab 1537 er-

215 Aufgrund dieser „späten" Veröffentlichung soll Witzeis Schrift „TVpus ecclesiae prioris" erst unten in dieser Arbeit unter 4.3.2. behandelt werden. Der enge sachliche Zusammenhang zu den „Dialogi" ist aber dennoch zu berücksichtigen. 216 Er gilt seit Witzeis eigener Äußerung allgemein als Vorlage seitens Witzeis bzw. Karlowitz' bei dem Leipziger Gespräch mit den Repräsentanten Kursachsens Anfang Januar 1539, vgl. Witzel, „TVpus ecclesiae prioris" Bl. A 2a-A 2b. Von dort ist er in die Literatur eingegangen, z. B. bei Trusen, S. 19. 2Π Trusen, S.40. 218 Trusen, S. 78. 219 .JvlETHO = II DVS CONCORDIAE ECCLE = II siasticae, post omnium sen = II tentias, a minimo fra = II tre monstrata. Il non praescri = Il pta. Il IOAN. ΧΙΠ. Il Pacem relinquo uobis, pacem Il meam do uobis. Il LIPSIAE, Il NICOLAVS WOLRAB. Il M.D.XXXVIL II Cum GRATIA et Priui = Il legio. Il", 87 Bl., 8°, bibliographischer Hinweis: Richter Nr. 35. Diese Schrift ist schon 1532 in Vacha geschrieben worden; ihr Vorwort schließt im April 1533 ab. Vgl. dazu Wartenberg, S. 38. 220 „EPISTOLA = II RVM, QVAE INTER ALIQVOT II Centurias uidebantur partim profuturae II Theologicaram literarum studiosis, II partim innocentis famam ad = II uersus Sycophantiam de II fensurae, LIBRI II Quatuor. II GEORGIIVVICELII. II [Signet.] II LIPSIAE, II Excudebat Nicolaus Vuolrab. II AN. M.D.XXXVIL II Cum GRATIA & Priuilegio Maiestatis Reg. II", 259 Bl., 4° (bibliographischer Hinweis: Richter Nr. 37, vgl. Cardauns, S. 7, bes. Anm. 3). Es handelt sich dabei um Briefe Witzeis aus den Jahren 1529-36. Zum Problem des Werkes und der Erschließung der Adressaten vgl. Richter, S. 183-186. 221 Vgl. die bibliographischen Hinweise bei Richter Nr. 16, 1. 222 Vgl. die bibliographischen Hinweise bei Richter Nr. 10, 1; 22, 1. 223 Vgl. die bibUographischen Hinweise bei Richter Nr. 16, 1.

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Die Publikationen von November 1538 bis Juni 1539

schienen seine Schriften^^'* vor allem bei dem seit diesem Jahre in Leipzig arbeitenden Drucker Nicolaus Wolrab.^^^ Dieser wurde von dem Onkel seiner Ehefrau, dem für die altgläubige Seite publizistisch sehr rührigen Dresdener Hofkaplan und Meißener Domherrn Cochläus, finanziell stark protegiert. In den unmittelbaren publizistischen Kontext vor „Dialogoram libri tres" von 1539 gehört die Schrift Witzeis gegen die Schmalkaldischen Artikel Martin Luthers vom Herbst 1538.^" Von dieser Schrift ist immerhin überliefert, daß sie beispielsweise in den geistlichen Fürstentümern Fulda und Hersfeld, der Landschaft um Witzeis Heimatort Vacha/Werra, rezipiert worden ist. Auf sie erfolgte dann 1539 eine in Erfurt gedruckte literarische Entgegnung durch den hessischen Theologen und Hersfelder Pfarrer Balthasar Raida (um 1495-1565), der sich bereits 1533 mit Luthers Hilfe publizistisch gegen seinen Landsmann Witzel ausgesprochen hatte.^^® Zahlreiche Äußerungen über Witzel belegen, daß Luther es persönlich nicht für wert erachtete, 1539 selbst auf die „wortreichen" Publikationen Witzeis öffentlich zu reagieren. Eine explizite literarische Entgegnung sucht man an dieser Stelle also vergeblich. Die einzige publizistische Äußemng Luthers über Georg Witzel und gegen die „Witzelianer" aus dem ersten Halbjahr 1539 stellt deshalb seine gegenüber 1533 leicht gekürzte „Vorrede D. Martini Luthers auff den Witzel" in eben der zweiten Schrift Raidas auf Witzel dar.^^^

224 Insgesamt sind mindestens 22 Leipziger Drucke von Büchern Witzeis bei Wolrab in weniger als drei Jahren belegt: 8 aus dem Jahre 1537: Bibliographischer Hinweis: Claus, Leipziger Druckschaffen, S. 186, Nr. 15-22; 10 aus dem Jahre 1538: Bibliographischer Hinweis: Claus, Leipziger Druckschaffen, S. 187, Nr.26; S. 188/89, Nr.46-54; 4 aus dem Jahre 1539: Bibliographischer Hinweis: Claus, Leipziger Drackschaffen, S. 190, Nr. 69-72. 225 Zum Werdegang Wolrabs vgl. WA.B 8, S. 488^90, Einleitung zu Nr. 3356; vgl. auch Benzing, Buchdrucker, S. 279. 226 Vgl. zu seinen Aktivitäten der Jahre 1539/40 S. 242-248. 227 ,^ntwort auf Martin II Luthers letzt bekennete Artickel / II vnsere gantze Religion vnd II das Concili be = II langend II Georgij Wicelij. II S.PAVLUS TIT. PRIMO. II VT POTENS sit etiam exhortan per doctri = II nam sanam & contradicentes arguere. II ANNO M.D.XXXVIII. II XXX. AVGVSTI. II", 48 BL, 4°. Bibliographischer Hinweis: Richter Nr. 48. Leicht zugänglich ist sie in: CCath 18, Münster 1932, S.65-115. 228 Das ist die Schrift von Raida, „Concordia und Vergleichung", die ihrerseits gerichtet worden ist an die zwei Äbte zu Fulda und Hersfeld (bibliographischer Hinweis: VD 16: R 124). Die erste Schrift Raidas gegen Witzel stammt aus dem Jahre 1533 (bibliographischer Hinweis: VD 16: R 125). Vgl. zu ihr WA 38, S. 81-84. Die zweite Schrift Raidas beweist durch ihre beiden Vorreden die Verbreitung von Witzeis Buch gegen die Schmalkaldischen Artikel. Raida war aber persönlich nicht in der Lage gewesen, in Hersfeld ein Exemplar dieser Witzelschrift von 1538 zu bekommen, bis der Abt des Stiftes Hersfeld ihm sein persönliches Exemplar „diese fastnachts tage" zugesandt habe. Vgl. dazu B. Raidas Widmungsrede an Johann von Henneberg, Abt zu Fulda, vom 2.3.1539, in: „Concordia und Vergleichung" Bl. A 3b und die Widmungsrede an Crafft Myhle, Abt des Stiftes zu Hersfeld, vom 24.2.1539, in: „Concordia und Vergleichung" Bl. В la. 229 Raida, „Concordia und Vergleichung" Bl. A 2b-A 3a entspricht WA 38, S. 84,2-10 und S. 85, 3-8. 25-35; vgl. zum Ganzen den Herausgeber von WA 38, S. 81-84.

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1.3.3.2. „Dialogorum libri tres" Witzeis Schrift „Dialogorum libri tres" erschien vermutlich im April 1539 beim Leipziger Drucker Nicolaus Wolrab. Am 15.5.1539 wußte man in Wittenberg, daß eine Dialogschrift Georg Witzeis zu Leipzig erschienen sei.^^" Der Dialog, der sich als Gattung auch in den kirchenpolitischen Publikationen Bucers findet, war seiner Form nach Witzel vertraut. Hier darf er auch als ein unmittelbarer Reflex auf das Leipziger Gespräch vom Januar 1539 angesehen werden. In seinen „Dialogi" läßt Georg Witzel fünf Personen in drei Gesprächsgängen die theologisch-kirchlichen Probleme in der Weise, wie sie nach Witzeis eigenen kirchenpolitischen Vorstellungen einer Lösung zuzuführen sind, mit einander besprechen. Da „Dialogorum libri tres" sich an den „gemeinen Laien" richtet, erklärt Witzel ihm die Rollen der fünf Gesprächsteilnehmer im redaktionellen Nachwort zu seiner Schrift: „TEUTO / ist ein Evangelischer bu[e]rger / wie sie es nennen. - CORE / ist ein Evangelischer prediger ... - AVSONIVS / ist ein verte[i]diger der Römischen kyrchen. - ORTHODOXVS / ist einer der gleich herdurch redt / und die zwo parte [ie] η gem eins mechte. - PALEMON / ist fast wie ein Richter / und der da bestetiget / was orthodoxe / das ist / rechtsinnig geredt ist."^^' Es bedarf keiner Erläuterung, daß Witzel sich selbst als ein „Orthodoxus" versteht, dem die Bestätigung des höheren Richters noch nicht zuteil geworden ist. Die Randmarginalien im Druck Wolrabs zeigen in einer sehr übersichtlichen Weise die theologisch-kirchenpraktischen Themen an, über die die Gesprächspartner sich unterhalten: Im ersten Buch sind es die Themenbereiche der Anthropologie, die Sündenlehre, Rechtfertigung, Glaube und Werke, Buße, Predigtamt und Heiligenlegenden. Im zweiten und dritten Buch werden die Sakramente behandelt. Dabei wird im zweiten Buch nach der Taufe und der Firmung ausführlich vom Altarsakrament - ohne Zweifel eines der Kernstücke bei den Kontroversen der Reformationszeit - gehandelt, im dritten Buch schließen sich die Themen Ehestand, Priesterweihe, Letzte Ölung und Begräbnis an. Zum Schluß hebt Witzel kurz die vordringliche Bedeutung der Besserung des christlichen Lebens („Mores") gegenüber allen liturgischen Fragen („Ritus") hervor, die aber in dieser Schrift nicht mehr weiter besprochen wird. Auch durch diese Betonung der ethischen Pflichten des Christen zeigt sich die erasmische Tradition, in der Witzel steht, sehr deutlich. Seinen drei Dialogen ist eine „Vorrede von der Einigkeit" vorangestellt.^'^ Diese verweist den interessierten Leser oder Käufer der Schrift im Mai 1539 auf die andere Schrift Witzeis, die die Autorität der Entscheidungen der Alten Kirche verficht, wie sie dem Leipziger Religionsgespräch zugrunde lag: „Wil 230 WA.TR 4, S.400, Nr.4605. 231 Witzel, ,X)ialogorum libri tres" Bl. R 3b. 232 Witzel, ,J)ialogorum libri tres" Bl. A 2а-В За.

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am letzten niemand bergen / das sich dis gesprech referirt auff das bûchlin Typus Ecclesiae genant / in welchem augenscheinlich angezeigt wirt / fast allerley / wie man es vorzeiten in der ersten oder Apostolischen Kirchen Christlich gehalten. On das selbig buch kan dis keinem leser gnug thun."^^^ Das ekklesiologische Programm, das den „Dialogi" zugrunde liegt, und im „Typus" noch ausführlicher ausgebeitet wird, erhebt unter Vernachlässigung vorhandener historischer Unterschiede die Kirchenbräuche der Alten Kirche in den Rang von Normen für das gegenwärtige kirchliche Leben. Die für die Gegenwart von Witzel als notwendig anerkannten Reformen sollen sich am Urbild der Frühzeit (bis ca. hin zu Papst Gregor d. Großen zu Beginn des T.Jahrhunderts) messen lassen. 1.3.3.3. Witzel, Wolrab und das Ende der altgläubigen Publizistik in Leipzig Als Witzel die Vorrede zu den „Dialogi" schrieb, war Herzog Georg wohl noch nicht gestorben. Das Nicht-Erscheinen des „Typus ecclesiae prioris" macht schon auf die Komplikationen aufmerksam, die sich mit dem Tode Herzog Georgs am 19.4.1539 - dem Tag des Anstandes in Frankfurt - plötzlich für Witzel einstellen sollten. Es wurde nun erheblich schwieriger für ihn, seine Schriften bei Wolrab drucken zu lassen und von Leipzig aus zu verbreiten. Doch nicht nur für das persönliche Geschick des Publizisten Witzel, sondern für die gesamte Geschichte der kirchenpolitischen Publizistik auf altgläubiger Seite bildete die Einführung der Reformation im Herzogtum Sachsen eine nicht zu unterschätzende Zäsur, da die altgläubige Presse einen ihrer wichtigsten Stützpunkte verlor: , ^ г о т 1525 to 1539, when Ducal saxony turns Protestant, the two eastern cities [= Leipzig und Dresden] account for 53 % of all Catholic controversial literature and 48 % of catholic controversial literature in German."234 Was bedeutete der Übergang des Herzotums Sachsen konkret für Witzel? Herzog Heinrich (1473-1541), der der Reformation gegenüber offene Bruder und Erbe Georgs, ließ bereits am 5.5.1539 auf Veranlassung seines kirchenpolitischen Beraters und Vetters in Wittenberg, des Kurfürsten Johann Friedrich, einen Befehl an den Rat der Stadt Leipzig ausgehen, den „Druck der gotteslästerlichen und fast [= sehr] ärgerlichen Schriften Witzeis" zu verbieten.^^^ Witzel floh am 22.5.1539 aus Sachsen.^^^ Seine Flucht führte ihn von Leipzig über Meißen nach Stolpen zu Bischof Johann VII. von Maltitz, wo er die Überrei233 Witzel, ,4Dialogorum libri tres" Bl. В 2b-B За. 234 Mark и . Edwards jr.. Catholic Controversial Literature, 1518-1555: Some Statistics, in: ARG 79 (1988), S. 189-205, hier S. 196. 235 Vgl. dazu den Hrsg. von WA.B 8, S. 4 8 9 ^ 9 0 zu Nr. 3356; ferner Paul Vetter: Witzel's Hucht aus dem albertinischen Sachsen, in: ZKG 13 (1892) S. 282-304, hier S. 290-292. 236 Vetter, Hucht, in: ZKG 13 (1892) S. 282-304, hier S.295.

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chung des ,J^iber Misnicus" an Herzog Heinrich am 9./10.6.1539 erlebt haben dürfte^^', und schließlich nach Berlin, wo er kurzzeitig als kirchenpolitischer Berater des den altkirchlichen Bräuchen sehr zuneigenden Kurfürsten Joachim II. wirkte. Dort übersetzte er eine dem Johannes Chrysostomos zugeschriebenen Meßliturgie^^^, die er später den Drucken von „Typus ecclesiae prioris" beigab. Diese Arbeit datiert Witzel in Beriin auf den 24.9.1539. Nicht nur Luther, sondern auch Melanchthon und Urbanus Rhegius äußerten sich Joachim Π. gegenüber so negativ über Witzel, so daß dieser sich auch in Brandenburg nicht mehr aufhalten konnte. Er kam schließlich im Frühsommer 1540 über den Fuldaer Abt Johann von Henneberg nach Würzburg. Der politische und kirchliche Umsturz in Leipzig betraf auch den Drucker Nikolaus Wolrab, der nun seine wirtschafthche Existenz gefährdet sah. Er bat deshalb ganz persönlich den neuen Landeshern, mit seiner Arbeit fortfahren zu dürfen.^^^ Besonders an Wolrabs geplanter Herausgeberschaft von Luthers Bibelübersetzung als auch seinem Druck von Witzeis „Postille"^ entzündete sich im Sommer 1539 in Leipzig ein Streit. Am 8.7.1539 bat Luther den Kurfürsten, daß er über Herzog Heinrich bzw. den Leipziger Rat veranlasse, Wolrab den Druck seiner Bibelübersetzung zu verbieten.^'*^ Mit der Arbeit an der,postille" fuhr Wolrab aber offensichtlich fort. Kaspar Cruciger teilte dieses aus Leipzig mit. „Vielleicht auf Luthers Veranlassung bat daraufhin Kurfürst Johann Friedrich am 3. August Herzog Heinrich zum Einschreiten. Auf einem dem Briefe beigegebenen Zettel empfahl er, falls man bereits fertige Exemplare der Postille oder anderer Witzelscher Schriften vorfände, diese wegzunehmen und zu vemichten."^"*^ Der Herzog erließ nun einen Befehl an den Leipziger Rat, der am 7.8.1539 die Beschlagnahmung von Exemplaren der „Postille" meldete.^'*' Alle Buchdrucker und -führer wolle er in

237 Hierbei handelte es sich um eine populäre reformkatholische Darstellung der „Christlichen Lehre", die die herkömmlichen Kirchenbräuche untermauern wollte. Ihr Druck konnte aufgrund des Umsturzes im Leipziger Druckgewerbe erst 1541 in Mainz bei Franz Behem erfolgen (bibliographischer Hinweis: VD 16: M 406). Vgl. über die theologisch-kirchenpolitische Interpretation dieses Katechismus vor allem Schwarz, S.210, auch Brecht III, S.284. 238 Vgl. dazu unter S. 251 f. 239 Vetter, Flucht, in: ZKG 13 (1892) S. 282-304, hier S. 293-294. 240 Diese ,J'ostille" war noch auf Befehl des verstorbenen Herzogs Georg im Vergleich zu anderen Publikationen der Reformationszeit in der sehr hohen Auflagenhöhe von 30(Ю Exemplaren, m.a.W. für jede Pfarrei im Herzogtum geplant. Nach Wolrabs eigener Auskunft waren am 6./7.8.1539 bereits 1500 Exemplare fertiggestellt worden. Sie umfaBt im ganzen drei Bände, bibliographischer Hinweis: Richter Nr. 39, 1. 241 WA.B 8, S. 488-492, Nr. 3356, hier S.491. Bibelausgaben nach der Übersetzung Luthers erschienen dann doch in späteren Jahren bei Nikolaus Wolrab in Leipzig: 1. 1541/42: Bibliographischer Hinweis: VD 16: В 2711.-2. 1543: Bibliographischer Hinweis: VD 16: В 2714. 242 WA.B 8, S. 488-492, Einleitung zu Nr. 3356, hier S.489. 243 Vetter, Flucht, in: ZKG 13 (1892) S. 282-304, hier S. 290-302; Luther an Justus Jonas am 31.7.1539 WA.B 8 S.512-514, Nr.3368, hier S.514 Anm.9; Justus Jonas an Kurfürst Johann Friedrich am 7.8.1539, JJBW 1, S.339-342, Nr.444, hier S.341.

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Zukunft visitieren, um dem Verbot des Drucks und der Verbreitung Witzelscher Schriften den nötigen Nachdruck zu verleihen. Mit der Beschlagnahme der „Postille" durch den Rat ging auch die Konfiszierung von bei der Flucht liegengebliebenen Manuskripten Witzeis (etwa auch von der späteren Publikation „Typus ecclesiae prioris"?) und von vorhandenen Druckexemplaren der „Dialogorum libri tres" einher.^''^ Auch Exemplare eines umfangreichen Werkes von Friedrich Nausea, das zum ersten Mal 1539 in Leipzig bei Wolrab verlegt wurde^"*^, gerieten, einer späteren Notiz des Cochläus zufolge, wie die Werke Witzeis in den Strudel der Zensur und wurden in die Pleiße geworfen („acervatim in flumen").^"*® Es sollte eine geraume Zeit vergehen, bis die altgläubige Publizistik sich vom Verlust des Druck- und Verlagsortes Leipzig erholte.^'^^ So gelang auch Georg Witzel erst 1540 in Mainz - mehr als ein Jahr später als vorgesehen - die Herausgabe seines Werkes „Typus ecclesiae prioris", auf das er sich schon 1539 in seinen „Dialogi" berufen hatte. Die geschilderten Umstände werfen ein bezeichnendes Licht auf die Einflußmöglichkeiten vor allem Luthers auf den Markt kirchenpolitischer Publikationen, die sich gegen die Wittenberger Position richteten.^"*^ Von einem Verbot des Verkaufs der Schriften Witzeis berichtete am 31.1.1540 auch Hans Mauser in Leipzig gegenüber Stephan Roth in Zwickau. Er weist darauf hin, ein Exemplar der „Dialogi" Witzeis geschickt zu haben.^'*^ Ganz offensichtlich bildete die kirchenpolitische Tendenz des Werkes von Witzel keinen Grund für Stephan Roth, das Werk als publizistische Neuerscheinung etwa nicht zur Kenntnis zu nehmen (und vielleicht auch an einen interessierten Abnehmer weiterzuleiten). Eine Gegenschrift gegen die „Dialogi" durch einen der Wittenberger war nicht zu erwarten. Über die Wirkungen dieser Schrift, besonders bei den Laien, an die sie sich richtete, läßt sich nichts Konkretes ausmachen.

244 Vetter, Flucht, in: ZKG 13 (1892) S. 282-304, hier S.301. 245 „Catholicarum . . . de Sanctis II Euangelia Postillarum & Homiliarum II Epitome, siue Com = II pendium. II M.D.XXXIX. II", bibliographischer Hinweis: VD 16: N 201. Eine zweite Auflage war im September 1540 in Köln bei Peter Quentel möglich (bibliographischer Hinweis: VD 16: N 202). 246 Cochläus an R. Vauchop am 20.11. 1540, in: ZKG 18 (1898), 4 3 5 ^ 3 7 , Nr. 67, hier 436. 247 Vgl. 4.3.1. und 4.3.2. 248 Luther bewertete die Ausstrahlungskraft des Verlagsortes Leipzig im Gegensatz zu Wittenberg am 8.7.1539 in seinem Brief an den Kurfürsten folgendermaßen: .ДЭепп es gut zu rechen, weil die Merckte alle zu Leiptzig, das sie ehe tausent exemplar vertreiben können, dann die vnsern hundert." WA.B 8, S.(488-) 491 (492), Nr. 3556, hier 491, 23-24. 249 Buchwald, S. 194, Nr. 610.

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1.3.4. Philipp Melanchthon: „De ecclesiae autoritate" vom 24.6.1539 1.3.4.1.

Hintergründe

Melanchthons Beschäftigung mit der Frage nach dem Kirchenverständnis hatte ihn schon Ende des Jahres 1538 zu einem Textentwurf geführt, den er Ende Dezember 1538, d.h. wohl unmittelbar vor seiner Abreise zum Leipziger Gespräch, Luther zur Lektüre in Wittenberg zurückgelassen hatte. Luther las den Entwurf Melanchthons und antwortete am 28.12.1538 an den nach Torgau abgereisten Freund.^^® Mehrere Indizien sprechen dafür, daß der im Dezember Luther übergebene Text eine frühe Vorstufe zur späteren Schrift „De ecclesiae autoritate" gewesen sein muß. Melanchthons Schrift „De ecclesiae autoritate" ist in der ersten Jahreshälfte 1539 von ihm abgeschlossen und gleich darauf im Frühsommer 1539 publiziert worden. Die Arbeit an ihr kollidierte mit anderen Arbeiten und Verpflichtungen Melanchthons, was seiner Meinung nach bei diesem Buch zu einer unsachgemäßen Kürze und Oberflächlichkeit führen mußte, wie er am 9.9.1539 nachträglich in einem Brief gegenüber Friedrich Myconius zugab.^^' Andererseits sah er aber in dieser Arbeit theologisch und kirchenpolitisch-publizistisch eine aktuell so wichtige Aufgabe, daß er andere Arbeiten dafür unterbrach und beiseite legte. Den Aufriß des Buches schrieb er von Frankfurt aus am 1.4.1539 nach Canterbury, wobei er zwei Absichten seines ekklesiologischen Konzeptes nannte: - Hervorhebung der Übereinstimmung der Evangelischen mit der Alten Kirche. - Abgrenzung von denen, die den Vergleichsweg gehen wollen unter Verzicht auf die Wahrheitsfrage. Dabei merkte er auch an, daß er eine diesbezügliche Vorlesung zu einem Buch für Studenten ausarbeite.^^^ Am 24.6.1539 befand sich Melanchthons Schrift in der Druckerei von Josef Klug in Wittenberg im Druck. Das Widmungsschreiben an Herzog Albrecht von Preußen (1490-1568) ist vom demselben Tag.^^^ In einem Begleitbrief zu diesem Widmungsbrief schrieb Melanchthon: „... hab auch jetzundt ein Tractat im druck, de Ecclesia, welchen ich E.F.G. zugeschrieben, allein zu Erzeigung meiner Unterthäni[g]keit."^^'' An eine spezifische, damals aktuelle kirchenpolitische Funktion des Herzogs wird von Melanchthon in seiner Widmung nicht 250 WA.B 8, S. 343-345, Nr. 3225; vgl. MBW 2, Nr. 2132. Bemerkenswert ist die von dem Hrsg. von WA.B 8 rekonstruierte Geschichte der Überlieferung dieses Briefes: Offensichtlich schenkte ihn Melanchthon - in Leipzig Anfang Januar 1539? - Bucer. Bucer nahm ihn dann später mit nach England. Denn wie sollte der Brief sonst nach Cambridge gekommen sein? 251 CR 3, 772-773, Nr. 1848; vgl. MBW 2, Nr. 2270. 252 CR 3, 679-681, Nr. 1791, hier 679f.; vgl. MBW 2, Nr.2174. 253 CR 3, 722-724, Nr. 1822, und 721-722, Nr. 1821; vgl. MBW 2, Nr. 2227, 2228. 254 CR 3, 721-722, Nr. 1821, hier 721; vgl. MBW 2, Nr. 2228.

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appelliert. Albrecht bedankte sich für die Widmung von „De ecclesiae autoritate" und lobte dessen Inhalt, den er nebst dem Inhalt des Buches über die Fürstenpflicht"^ schon seit Jahren gem bei denen verbreitet gesehen hätte, die von Amts wegen daraus hätten vieles lernen können.^^® Eine in der Forschung häufiger diskutierte Frage lautet: Richtet sich Melanchthons ,JDe ecclesiae autoritate" gegen einen bestimmten zeitgenössischen Autor der altgläubigen Seite? Die Schrift besitzt selbst eine komplexe Fülle von theologischen Themen, die sich an die Ekklesiologie im engeren Wortsinne angelagert haben sowie diverse Anspielungen, die zu verschiedenen Deutungen Anlaß geboten haben. 1. G. Kawerau meinte, daß Melanchthon mit seinem Werk die publizistische Antwort auf die geheime diplomatische Initiative des Humanisten und Bischofs von Carpentras/Südfrankreich, Jacopo Sadoleto (1477-1547), gebe, der sich in vermittelnder Absicht 1537 mit einem Brief an Melanchthon gewandt hatte, um ihn „zur katholischen Kirche zurückzuführen", ohne je darauf eine direkte Antwort bekommen zu haben.^'^ Die Hinweise, die Kawerau gab, reichen m. E. aber nicht aus, um eine Gesamtdeutung von ,J)e ecclesiae autoritate" auf sie zu stützen. 2. Auch die Auffassung P. Fraenkels, die sich auf einen Brief des Cochläus an den Kardinal Contarini stützt, bei „De ecclesiae autoritate" handele es sich um jenen „libellum iracundiae plenum in Wicelium" im Nachklang zum Leipziger Gespräch vom Januar 1539, welches am 20.2.1539 durch die Intervention anderer noch nicht ausgegangen sei, trifft die Absicht Melanchthons nicht.^'^ Der Name Witzel fällt in den von Melanchthon selbst autorisierten lateinischen Ausgaben seiner Kirchen-Schrift an keiner Stelle. Ebenfalls ist sein Werk auch nicht „zornerfüllt". 3. In einer brieflichen Äußerung Melanchthons an J. Camerarius vom 31.8.1539 bezeichnete Melanchthon als Zweck seines Werkes, die von altgläubiger Seite aus vorgenommene inteφretierende Verteidigung von den im herkömmlichen kirchlichen Leben fest verankerten Bräuchen öffentlich zurückzuweisen, wie z.B. die verdienstliche Praxis der Heiligenanrufung im Gebet. Solche Bräuche etwa, die er für „superstitiones" hält, würden neuerdings kunstvoll wieder vor Augen gemalt. H. Scheible hat daraus gefolgert, daß Melanchthon bei der Abfassung von , J)e ecclesiae autoritate" vor allem den im Juni 255 Vgl. dazu 2.3.1. 256 Vollständiger Text nicht in CR 3, erwähnt in CR 3, 923, Anm. ** mit Datum des 24.8.1539, vgl. MBW 2, Nr. 2257. 257 Gustav Kawerau, Die Versuche, Melanchthon zur katholischen Kirche zurückzuführen. (SVRG 73), Halle 1902, hier S.50. Er sieht in ,J)e ecclesiae autoritate" die unmißverständliche Antwort auf Sadoletos Initiative. Vgl. zu dieser Initiative insgesamt Richard M. Douglas, Jacopo Sadoleto 1477-1547. Humanist and Reformer, Cambridge/Mass. 1959, S. 117-120. 258 Faenkel, Einigungsbestrebungen, S. 12-13 stützt sich auf den Brief des Cochläus am 20.2.1539 aus Meißen an Contarini, in: Fr. Dittrich (Hrsg.), Regesten und Briefe des Cardinais Gasparo Contarini (1483-1542), Braunsberg 1881, S. 374-375, Nr. 5, hier S.374.

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1539 durch den Meißener Bischof Johann von Maltitz an den neuen sächsischen Herzog Heinrich übergebenen reformkatholischen Katechismus im Blick hatte, dessen vermuteter Hauptverfasser Julius Pflug war. Gegen diese Deutung spricht jedoch vor allem die innere Chronologie des Jahres 1539.^^® 4. R. Stupperich als Herausgeber der Melanchthon-Studienausgabe sah in besonderer Weise in Melanchthons Werk die theologische Reaktion auf das „Enchiridion" Johannes Groppers (1503-1559).^®' Tatsächlich wird von Melanchthon lose auf ein 1538 in Köln erschienenes Buch „titulo Reformationis" angespielt.^®' Gegen die nach Ansicht Melanchthons gefährliche Neudeutung der herkömmlichen kirchlichen Bräuche in der „Reformatio Coloniensis" schrieb er im April 1539 an englische Freunde.^®^ Überdies ist Melanchthons Kritik an Groppers Werk gegenüber dem Kölner Erzbischof Hermann von Wied durch einen Brief vom 17.3.1539 belegt.^®^ Folgt man der Vermutung Stupperichs, so wäre „De ecclesiae autoritate" immerhin auch die zeitlich erste Reaktion von protestantischer Seite auf Groppers „Enchiridion".^^ Es kann m.E. zusammenfassend festgehalten werden: Der Gegner, gegen den „De ecclesiae autoritate" antritt, ist die ganz verschiedene Köpfe zählende 259 Der Brief an Camerarius steht CR 3, 764-765, Nr. 1842, hier 765. Scheibles Interpretation dazu findet sich in MBW 2, S. 458, zu Nr. 2263. Die Übergabe des ,4-iber Misnicus" durch Herzog Heinrich an seinen kurfürstlichen Vetter in Wittenberg erfolgte aber erst am 22. Juni 1539, also zu einem Zeitpunkt, da ,J)e ecclesiae autoritate" schon im Druck war. WA.B 8, S. 458-462. Vgl. ferner WA.B 8, S.46(M62 Nr. 3348 und S. 4 6 9 ^ 8 1 Nr. 3352. Deshalb ist die Annahme einer speziellen Gegnerschaft Melanchthons bei der Abfassung von ,ДЭе ecclesiae autoritate" zu Pflug, der als Autor des ,J.iber Misnicus" von den Wittenbergem ja auch nur vermutet werden kann, wohl von Melanchthon selbst erst Ende August 1539 (d.h. also sekundär) als einer der Entstehungshintergründe zu ,J5e ecclesiae autoritate" eingetragen worden. Der Druck dieser populären reformkatholischen „Christlichen Lehre" konnte aufgrund des Umsturzes im Leipziger Druckgewerbe - s. oben unter S. 74-76 - erst im Jahre 1541 in Mainz in der Druckerei Franz Behems erfolgen, (bibliographischer Hinweis: VD 16: M 406). Zu ihrer Theologie vgl. Schwarz, S.210. 260 Mel-StA 1, S. 380 Anm. zu Zeile 4. 261 Mel-StA 1, 379, 36-380, 4. Gemeint ist das Doppelwerk, bestehend aus den „Cánones" des Kölner Provinzialkonzils und Groppers .Enchiridion". Eine bibliographisch getreue Titelaufnahme der laut Pfeilschifter, ARCEG Bd. 2, S. 192 Anm. 78, Ende Februar 1538 bei Peter Quentel in Köln erschienenen Erstausgabe ebda. S.3I5. Bibliographischer Hinweis: VD 16: G 3402 = VD 16: К 1721. 262 Melanchthon an Thomas Cranmer, Erzbischof von Canterbury, am 30.3.1539, CR 3,676-679, Nr. 1791, hier 678; vgl. MBW 2, Nr. 2174; an Th. Cromwell in London ca. Anfang April 1539, MBW 2, Nr. 2176; auch an Heinrich VIIL am 1.4.1539, CR 3, 681-685, Nr. 1792, hier 682; vgl. MBW 2, Nr. 2175. 263 CR 3, 650-653, Nr. 1784, hier 652; vgl. MBW 2, Nr. 2163. 264 Besaß vielleicht Melanchthon davon ein Drackexemplar der Erstausgabe? Luthers Besitz von Petrus Crabbes Konziliengeschichte, die erst im September 1538 ebenfalls bei P. Quentel gedruckt worden war, zur Zeit seiner Abfassung von „Von den Konziiis und Kirchen", nämlich im Februar 1539, belegt, wie rasch die Wittenberger in Köln erschienene Bücher besessen haben. Vgl. dazu unter oben S. 63. Die Untersuchung von Johannes Meier: Das ,3nchiridion christianane institutionis" (1538) von Johannes Gropper. Geschichte seiner Entstehung, Verbreitang und Nachwirkung, ZKG 86 (1975), S. 289-328, besäße aber dann an der Stelle, wo es um die „Verbreitung" des „Enchiridions" geht, eine deutliche Lücke.

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Die Publikationen von November 1538 bis Juni 1539

theologisch-kirchenpolitische Gruppe, die um 1539 herum im Rückgriff auf die Autorität der Alten Kirche nicht nur die Grundannahmen reformatorischer Theologie, sondern vor allem deren Konsequenzen für das kirchliche Leben ablehnte. Summarisch werden von Melanchthon die kirchenpolitischen und literarischen Gegner als diejenigen bezeichnet, die „concordia" und „pax" fordern, deren Bücher aber „Sycophantici libelli" sind.^®^ In einem Brief an Johannes Brenz faßte Melanchthon am 8.1.1540 im Rückblick noch einmal die Zielrichtung seiner Schrift „De ecclesiae autoritate" zusammen: Er habe es wegen all jener veröffentlicht, die den Vergleichsweg vorschlugen, auf welchem wir versprechen (müssen), daß wir uns den Sätzen der Kirchenväter unterordnen.^®® Namentlich wird dagegen im Textteil des Buches nur der Assessor am Reichskammergericht Jakob Omphalius^®^ als publizistischer und der Kardinal Gasparo Contarini^®® als kirchenpolitischer Widersacher von Melanchthon selbst genannt. 1.3.4.2. Der Ansatz der Ekklesiologie

Melanchthons

Die Schrift Melanchthons wendet sich scharf gegen jede unkritische Form der Verehrung der „Antiquitas" in der gegenwärtigen Kirche.^®® Da nicht alles, was alt ist, über einen Leisten zu schlagen ist, unternimmt Melanchthon in dem umfangreichsten Teil seiner Schrift eine kritische Durchsicht der Konzile und der Kirchenväter.^™ Dennoch verwahrt sich Melanchthon davor, daß die reformatorische Theologie einen kategorischen Anti-Traditionalismus auf biblischer Grundlage betreibe. Explizit wird beispielsweise an zwei Stellen gegen Michael Servets Ablehnung der altkirchlichen Trinitätslehre in seinem Werk „De trinitate erroribus" (erschienen Basel 1531) Stellung bezogen.^^'

265 In dem Abschnitt ab Mel-StA 1, S.377, 3 behandelt Melanchthon aktuelle Gegebenheiten. 266 CR 3, 924-925, Nr. 1915, hier 924; vgl. MBW 3, Nr. 2348. 267 Mel-StA 1, S. 377, 21-379, 13. Jakob Omphalius (um 1500-1567) war kölnischer Beisitzer am Reichskammergericht, also ein Kollege des anonymen Publizisten Konrad Braun. Er hatte 1538 ein Erzbischof Hermann von Wied gewidmetes Buch in Köln veröffentlicht, das offensichtlich Melanchthons Kritik zugrunde lag: „De suscipienda christianane reip. propugnatione et eorum, qui urbium gubernacula tenent, officiis" (bibliographischer Hinweis: VD 16: О 761). 268 Mel-StA 1, S. 380, 4-17. 269 Manche achten das Alter als solches hoch: „... admirantur antiquitatem", Mel-StA 1, S. 339, 34. Hier ist deutlich auf Witzel, Georg von Karlowitz und den erasmischen Kreis am Hof in Dresden angespieh. 270 Mel-StA 1, S.340, 3-345, 4 behandelt die Konzilien; ebda. S.345, 4-369, 24 behandelt die Kirchenlehrer; Mel-StA 1, S. 369, 31-377, 2 diverse Mißbräuche, die vor allem durch den Verfall des kirchlichen Lebens seit der Zeit Gregors d. Großen eingerissen sind. 271 Melanchthons Buch ,J)e ecclesiae autoritate" ist weit mehr als eine Abweisung Servets, wie man gelegentlich meinte. Vgl. dazu vor allem Bakhuizen van den Brink, S.91.

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Melanchthons Ziel ist es, die bei den Gegnern unbedingt anerkannte Autorität der altkirchlichen Synoden und Theologen auf ihre sachgemäße Bedeutung zu beschränken. Sie berufen sich auf das augustinische Dictum: „Evangelio non crederem, nisi me Ecclesiae Catholicae commoveret au[c]toritas.""^ Kritischer Maßstab für Melanchthon ist aber die Autorität des Wortes Gottes. Die Päpste haben im Namen der Autorität der Kirche „gottlose" Lehre und „gottlosen" Gottesdienst gegen das Wort Gottes bestätigt. Um dem zu wehren, will Melanchthon nun seinerseits beschreiben, was die Aufgabe der (rechten) Kirche angesichts der zahlreichen und einander auch widersprechenden Äußerungen der Konzile und kirchlichen Schriftsteller sei.^^^ Die Gliederung seiner Schrift, die er selbst anzeigt, entspricht einem Zweischritt: 1. Was ist die Kirche? Was ist (in ihr) zu hören? 2. Inwieweit sind die bewährten Zeugnisse der Kirchenlehrer zu gebrauchen, wenn die Lehre ihren Maßstab am Wort Gottes findet? Für Melanchthon ist die Kirche der „coetus vere credentium, qui habent Evangelium et Sacramenta et sanctificantur Spiritu sancto ... Unter Kirche versteht Melanchthon nicht die vordergründig sichtbare, hierarchische Ordnung mit Papst, Bischöfen und Verfechtern ihrer Lehre. Von der „vera ecclesia" gilt, daß sie, obwohl sie der Verheißung gemäß dauerhaften Bestand hat, oft zahlenmäßig nur ein geringfügiges Häuflein dargestellt hat. Repräsentanten dieser wahren Kirche sind alttestamentìiche Fromme wie Noah und seine Familie, Melchisedek, Abraham, Elia und Elisa, zur Zeit der Geburt Christi die Familien von Josef, Zacharias, Simeon und Hanna, die Hirten von Bethlehem und wenige andere.^^^ Repräsentanten des anfechtbaren „regimen ecclesiasticum" zur Zeit Christi sind die Pharisäer und Sadduzäer. Die Gestalt der wahren Kirche besteht für Melanchthon nicht in der Analogie zu einer weltlichen „politia" („mundana politia") und ihr Garant ist nicht die Sukzession der Bischöfe, sondern die „vera doctrina Evangelii"^^^, wofür Gott bzw. Christus und der Heilige Geist sorgen.^'^ Die mißbräuchliche Praxis der Messe wird von Melanchthon identifiziert mit den durch Christus vorausgesagten Greueln und Verwüstungen der Endzeit. Für die (wahre) Kirche gilt nun, daß sie ihrerseits die Lehre nur in schwankender Reinheit besitzt, so wie sie auch viele unsichere Glieder an ihrem Leib hat. Die Erkenntnis Christi war in der Geschichte der Kirche auch nie vollkom-

272 Nach Augustine Schrift „Contra epistulam, quam vocant fundamenti", hier zitiert nach MelStA 1, S.326, 34-35; 339, 11-12. Vgl. CSEL 25 (1891), S. 197, 23-24. 273Mel-StAl, S.327, 11-15. 274 Mel-StAl,S.328, 12-14. 275 Mel-StA 1, S. 328, 22-329, 3. 276 Mel-StAl, S.329, 15. 277 Mel-StA 1,S. 330, 23-24.

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men. „Sed haec ipsa vera Ecclesia habet doctrinam alias magis, alias minus puram et perspicuam."^'® In der wahren Kirche wird es immer wieder Verunreinigungen und Irrtümer geben. Zu den Gliedern der wahren Kirche gehören aber diejenigen nicht, die vom göttlichen Licht überhaupt nicht erleuchtet sind. Während die meisten kirchlichen Lehrer wie Basilius und Cyprian der reinen Lehre etwas hinzugefügt haben, gilt für Melanchthon der Kirchenvater Ambrosius als ein Angehöriger der wahren Kirche. Auch Augustin wird sehr gelobt, aber wegen seiner unkritischen Haltung manchen Mißbräuchen seiner Zeit gegenüber wird er auch getadelt. Bei wiederum anderen sogenannten Kirchenlehrern kann Melanchthon nicht verstehen, inwiefern sie überhaupt je vom Heiligen Geist erleuchtet worden sind: Origenes, Tertullian oder zu alttestamentlicher Zeit Gideon (Jdc 8, 27). In der Versammlung, die Kirche genannt wird, ist häufig eine große Menge Ungläubiger, denen aber nicht selten eine kirchliche Autorität zugebilligt worden ist. In alttestamentlicher Zeit sind die Priester zur Zeit Jeremias Beispiele für Autoritäten, die unter dem Namen der Kirche regieren. Herausragendes Beispiel für den gegenwärtigen Mißbrauch kirchlicher Autorität ist die Etablierung der Meßapplikation für Tote und Lebende sowie die religiöse Überbewertung der Gelübde und der Heiligen.^^^ Die äußere Autorität oder der Hinweis auf quantitative Überlegenheit ist keine Gewähr dafür, daß die Kirche bei der wahren Lehre bleibt: „Ecclesia universa, quae est multitudo dominantium in Ecclesia, potest errare ... Gegenüber Servet und anderen Gegnern „zur Linken" hebt Melanchthon hervor, inwieweit die Autorität der „wahren" Kirche Geltung beanspruchen darf (z.B. bei der Trinitätslehre). Sie ist als lehrende und ermahnende Kirche zu hören, aber nicht um ihrer eigenen Autorität willen ist ihr zu glauben. Sie entwickelt keine Artikel des Glaubens, sondern lehrt sie und ermahnt auf dem Grund des Wortes Gottes. Sie empfängt ihre Autorität von der Autorität des Wortes Gottes. Das Wort Gottes soll als kritischer Maßstab über allen literarischen Äußerungen der Vergangenheit und der Gegenwart stehen.^^' Melanchthon fordert, daß man die altkirchlichen Schriftsteller so wie die gegenwärtigen Prediger hören soll. Auch gibt es Beispiele für die inhaltliche Kongruenz zwischen Kirchenvätern, Konzilsbeschlüssen und dem Wort Gottes (Augustin, Petrus von Alexandria). Das eingangs zitierte berühmte Augustinwort von der Autorität der Kirche ist nach Melanchthons Ansicht so zu verstehen, daß die Kirche nur insoweit als Mahnende und Lehrende zu hören ist, wie sie das Wort Gottes bezeugt.

278 Mel-StA 279 Mel-StA 280 Mel-8tA 28) Mel-8tA

1,8.331,2-3. 1,8.335, 1-3. 1, 8.335, 25-27. 1,8.337, 29-34.

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Der umfangreiche mittlere Teil seiner Schrift „De ecclesiae autoritate" ist Melanchthons theologischer Kritik der Kirchenväter gewidmet, wobei er das von ihnen als richtig erkannte, bewahrenswerte Gedankengut und ihre offensichtlichen Irrtümer nebeneinander stellt. Er unterzieht folgende Autoren einer detaillierteren Durchsicht: Origenes (gest. 254), Ps.-Dionysius (6. Jh.), Tertullian (gest. nach 220), Cyprian (gest. 258), Basilius (gest. 379), Gregor v. Nazianz (gest. 389/390), Johannes Chrysostomos (gest. 407) und die vier als Heilige verehrten lateinischen Kirchenväter Ambrosius (gest. 397), Hieronymus (gest. 420), Augustin und Papst Gregor der Große. Der letzte Teil seines Werkes mündet ein in eine Gesamtdeutung der Kirchengeschichte bis zur Gegenwart und schließt mit Appellen an die Verantwortlichen, sich die Sorge um die reine Lehre in der Kirche angelegen sein zu lassen. 1.3.4.3. Erste Verbreitung, Übersetzung und Nachdrucke

1540

Die Verbreitung der bei Josef Юug hergestellten ersten Ausgabe von „De ecclesiae autoritate" geschah vor allem im September 1539. Am 31.8.1539 ließ Melanchthon ein fertiggestelltes Druckexemplar an Joachim Camerarius in Tübingen schicken: „lussi tibi libellum de Ecclesia mitti Am 2.9.1539 schickte Melanchthon ein Exemplar seines Buches an seinen Freund Veit Dietrich in Nürnberg.^®^ Georg Busch aus Wittenberg schrieb am 12.9.1539 an Stephan Roth in Zwickau: „der herr [seil, der Drucker Georg Rhau, Stephan Roths Schwager] Schicket euch hiemit Philippi Buchlin de Ecclesia . . . , die sind noch gar new ... Spätestens zur Michaelismesse des Jahres 1539 war das Buch also zum Vertrieb fertiggestellt.^^^ Mehrere Wittenberger Drucke der ersten Ausgabe des Jahres 1539 - alle bei Josef Klug hergestellt - sind bekannt. Sie unterscheiden sich im Titelblatt durch Druckfehler bzw. durch das Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein einer Corrigenda-Liste am Ende.^^® Läßt sich durch das Vorhandensein dieser Ausgaben auf eine relativ große aktuelle Nachfrage nach Exemplaren von Melanchthons „De ecclesiae autoritate" schließen, denen Klug nachkam? Zahlreiche Hinweise auf die Verbreitung von Melanchthons Schrift stützen diese Vermutung: Am 16.10.1539 sandte Johann von Maltitz, der Bischof von Meißen, zwei Exemplare von „De ecclesiae autoritate" an Johannes Fabri (1478-1541), den Bischof von Wien: eines für den päpstlichen Legaten, das andere für Fabris

282 CR 3, 764-765, Nr. 1842, hier 765; vgl. MBW 2, Nr.2263. 283 CR 3, 771, Nr. 1845; vgl. MBW 2, Nr. 2268. 284 Buchwald, S. 190, Nr. 594. 285 So der Hrsg. in WA.B 9, S. 139 Anm.6. 286 Bibliographischer Hinweis: VD 16: M 3081 (mit Erratum-Vermerk auf Bl. I 7a) oder VD 16: M 3080 (ohne einen Erratum-Vermerk). Eine im Titelblatt gegenüber VD 16: M 3081 leicht abweichende Ausgabe ohne bibliographischen Nachweis in VD 16 ist als Exemplar in der Bay SB Mü unter der Sign. H. ref. 97/2 einsehbar.

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Koadjutor Friedrich N a u s e a . Ü b e r den Nuntius Morene gelangte schließlich ein Exemplar nach Rom.^^^ Christoph Schramm schickte am 22.10.1539 ein Exemplar der Schrift zum Preis von 9 Heller an Stephan Roth in Zwickau.^*® Sorgte Melanchthon etwa im Oktober 1539 anläßlich seines Besuches beim brandenburgischen Kurfürsten Joachim II. auch persönlich dafür, daß dieser ein Exemplar seiner neuen Schrift erhielt? Man kann das vermuten. Walter Delius schätzt aber die faktische Wirkung dieser Schrift auf das liturgisch konservative Konzept der kurbrandenburgischen Reformation, die mit dem 1.11.1539 anhebt, eher gering Bald nach ihrem Erscheinen wurde Melanchthons Schrift durch Justus Jonas ins Deutsche übersetzt. Am 5.12.1539 berichtete er über seine Übersetzertätigkeit an Georg Spalatin und kündigt an, daß er diese Übersetzung vielleicht dem der Reformation im albertinischen Sachsen zum Durchbruch verhelfenden Nachfolger Georgs in Dresden, Herzog Heinrich, widmen wolle.^^' Dieser Druck^'^ erschien mit einem Titelholzschnitt^'^ ebenfalls bei Josef Klug in Wittenberg. Sein Titel lautet: „Von der II Kirchen / vnd al = II ten Kirchen = II lerem. II Philippus Melanthon. II Verdeudtschet durch II Justum Jonam. II". Justus Jonas stellte dieser Ausgabe von 1540 eine eigene Vorrede vom 1.3.1540 voran. Sie ist jedoch nicht mehr dem alternden Dresdener Herzog Heinrich, sondern schon seinem 19jährigen Sohn und Nachfolger Moritz gewidmet. Der Tonfall dieser Vorrede ist recht kämpferisch.^''^ Prinz Moritz wird in ihr aufgefordert, sich durch die Macht der weltlichen und geistlichen Potentaten, die gegen das Evangelium fechten, nicht irritieren zu lassen.^'^ Ihr Ausgangspunkt ist die Aufforderung aus Ps 2,11 : „Osculamini 287 NBD 1. Abt. (1533-1559) Bd. 6, S. 233-234, Nr. 1Я., hier 234, 1-3. Vgl. den Brief vom Meißener Bischof Johann von Maltitz an Fabri vom 10.12.1539, in: NBD 1. Abt. (1533-1559) Bd. 6, S. 237-239, Nr. 1ЛУ., hier 237, 26-30. 288 Unwahrscheinlich ist es, daß schon dem Brief Morones vom 22.8.1539 an Farnese ein Exemplar der Schrift Melanchthons beilag, wie Franz Dittrich vermutet hat, in: ders. (Bearb.), Nuntiaturberichte Giovannis Morones vom deutschen Königshof 1539/1540 (QFG Bd. 1, Teil 1), Paderborn 1892, S. 17 Anm. 1. Erst Ende des Monats August waren die ersten Exemplare wirklich fertiggestellt. Sicherlich ging ein Exemplar von „De ecclesiae autoritate" an Farnese mit dem Brief Morones aus Wien vom 23. (24.) 10. 1539, ebda. S. 36-40, Nr.21, hier S.40. 289 Buchwald, S. 190-191, Nr. 598. 290 Walter Delius, Die Kirchenpolitik des Kurfürsten Joachim II. von Brandenburg in den Jahren 1535-1541, in: JBBKG 40 (1965), S. 86-123, hier S. 108. 291 JJBW 1, S. 377-378, Nr. 470, hier S.378. 292 Bibliopaphischer Hinweis: VD 16: M 3078, auch VD 16: M 3086. 293 Hier eine symbolische Darstellung der vier Evangelisten, der Apostel Petrus und Paulus und der vier Kirchenlehrer der Alten Kirche: Augustinus, Ambrosius, Hieronymus und Gregor d. Große. 294 Melanchthon-Jonas, „Von der Kirchen und alten Kirchenlehrern" Bl. A Ib-A 4b. 295 Melanchthon-Jonas, „Von der Kirchen und alten Kirchenlehrern" Bl. A 4a.

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filium!" Daran hielten sich weder Papst, Bischöfe und ihr Anhang noch Könige und Fürsten. Sie ließen keine Lehre aufkommen, die eine evangelisch zu verstehende Autorität der Kirche (wie Melanchthon sie entfaltet) fördere. Jonas betätigte sich auch insofern als ein interpretierender und aktualisierender Übersetzer, in dem er die zwei publizistisch aktivsten Kontrahenten Melanchthons auf altgläubiger Seite, Johannes Cochläus und Georg Witzel, anders als Melanchthon in der Vorlage „De ecclesiae autoritate", bei seiner Übertragung namentlich nennt: „Von den andern suppenschreibern und heuchlem / Coeleo / Witzel und der gleichen / wil ich hie nicht reden / die da ire bûchlin umb der partecken willen schreiben / und sind gleich / wie die Heuchler waren".^®® Auch zwei in Oberdeutschland im Jahre 1540 veranlaßte Drucke in lateinischer Sprache belegen das anhaltende verlegerische Interesse an Melanchthons ekklesiologischer Schrift: Eine Augsburger Ausgabe erschien 1540 bei Heinrich Steiner, der auch „Etliche Gespräche vom Nümbergischen Friedstand" und „Vom Tag zu Hagenau. Zwei verdeutschte Sendbriefe" von Martin Bucer gedruckt hatte.297 Eine Straßburger Ausgabe wurde - auffälligerweise anders als bei seinem Römerbriefkommentar im März 1540 und seiner „Philosophiae moralis epitome" - nicht von seinem ehemaligen Schüler Kraft Müller hergestellt.^'^ Der Drucker dieser Ausgabe von „De ecclesiae autoritate" 1540 in Straßburg ist Wendelin Rihel, bei dem sonst vor allem zu dieser Zeit die Erstdrucke von Bucers Schriften erschienen sind.^^' Vielleicht hat Bucer diesen Nachdruck von „De ecclesiae autoritate" veranlaßt. 1.3.4.4. Altgäubige

Entgegnungen

Bei den kirchenpolitischen und literarischen Gegnern Melanchthons wurde die Schrift „De ecclesiae autoritate" wegen der in ihr enthaltenen ekklesiologischen Positionen im Jahre 1540 heftig kritisiert. Sowohl im In- wie im Ausland (sie!)

296 Melanchthon-Jonas, „Von der Kirchen und alten Kirchenlehrern" Bl. Τ 2b. Die Textstelle entspricht Mel-StA 1, S.379, 31-32. .J'arteken" sind im ursprünglichen Wortsinn Almosen an fahrende Schüler. Jonas spielt auf die Pfründe an, die den katholischen Publizisten für ihr Bemühen winkten. 297 Bibliographischer Hinweis: VD 16: M 3082. Vgl. S. 94 und S. 216 (dort bibliographische Hinweise: VD 16: В 8884; VD 16: В 8841 und VD 16: В 8842). 298 Mit der (mangelnden!) Sorgfalt des Druckers Müller hatte Melanchthon mit seinem Römerbriefkommentar 1540 gewisse Schwierigkeiten, vgl. S. 128 Anm. 167. 299 Bibliographischer Hinweis: VD 16: M 3083. In der Liste der Drucke von Bucers Pseudonymen Werken tritt Wendelin Rihel außer bei dem Erstdruck von ,3tlichen Gesprächen vom Nümbergischen Friedstand" (bibliographischer Hinweis: VD 16: В 8885, neu hg. MBDS Bd. 7, S. (395), 402-502) vor allem auch bei Bucers Rückblick auf den Hagenauer Tag ,J'er quos steterit Haganoae initum colloquium" als Drucker auf (bibliographischer Hinweis: VD 16: В 8938, neu hg. MBDS Bd. 9, 1, S.(149) 165-321). Zu Kraft Müller als Straßburger Drucker von Melanchthon-Werken des Jahres 1540 vgl. S. 123 u. S. 128.

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erschienen publizistische Erwiderungen. Der enorme Wirkungsradius dieser Publikation läßt sich m. E. an folgenden Punkten ablesen: 1. Kardinal Gregorio Cortese, Generalvisitator der Benediktiner-Kongregation von Santa Giustina in Padua, schrieb am 27.3.1540 an den von Melanchthon in seiner Schrift namentlich angegriffenen Kardinal Contarini einiges über dieses Buch, das ihm in die Hände gefallen war: In ihm tadele und korrigiere Melanchthon namentlich die griechischen und lateinischen Kirchenväter, die nach den Aposteln kommen, geißele sie in solchen Dingen, in denen sie mehr als in anderen verdienen gelobt zu werden.^"" 2. Im Mai 1540 stellte Johannes Fabri, der Bischof von Wien, im Vorfeld des Hagenauer Gespräches eine Liste mit gedruckten und ungedruckten Werken altgläubiger und protestantischer Herkunft zusammen, die seiner Auffassung nach für die Erörterung des theologischen Dissenses nützlich seien. Darunter befindet sich neben den Schmalkaldischen Artikeln Luthers und der 1539 erlassenen Kirchenordnung Herzog Heinrichs von Sachsen auch „Item Philippi Melanchtonis articuli nuper calumniosa contra ecclesiam Dei editi.", wobei es sich m. E. nur um „De ecclesiae autoritate" handeln kann.^°^ Kenntnis von „De ecclesiae autoritate" hatte, wie erwähnt, Fabri schon 1539 durch den Bischof von Meißen erhaben. 3. Johannes Cochläus faßte seine Kritik an Melanchthons Buch 1540 zusammen in seiner expliziten Gegenschrift: „Philippica quinta in tres libellos Philippi Melanchthonis", deren erster Teil sich der Widerlegung von „De ecclesiae autoritate" widmet. Sie erschien gegen Jahresende 1540 im Umkreis der Wormser Verhandlungen.^"^ 4. Eine weitere explizite Gegenschrift auf Melanchthons Werk erschien beim Drucker Jan Helicz in Krakau im selben Jahre 1540. Sie trägt den Titel: „TVMULTUA = II RIA RESPONSIO IN LI = II BELLVM PHILIPI ME = II LANCTONIS II Nuperrime de Ecclesiae autoritate & II veterum scriptis impie aeditum, II Autore M. Andrea Bochneñ. II Mathei VIII. II Domine salua nos Périmas. Geschrieben wurde sie in „Leopolia. Russia" = Lemberg. Ihr Autor ist Andrzej Lubelczyk, ein Geistlicher aus Tarnow in der Diözese Lemberg. 300 .. ma ho compreso, che sono finti per un opera del Melantone, che novamente m' 'e capitata alle mani, nella quale reprende, corregge, castiga nominatamente tutti gli dottori et Greci et latini, che sono stati dopo gli apostoli, e al giudicio mio spesse volte in quelle cose, nelle quali più che nell'altre meritano d'essere commendati." Dittrich, Regesten und Briefe, S. 123; vgl. Fraenkel, Einigungsbestrebungen, S. 27 Anm. 39. 301 Laut Cardauns, S. 139, Titel 14. Cardauns, S. 139 Anm. 6 meinte irrtümlicherweise, es sei Melanchthons Werk ,Д)е officio principum". 302 Vgl. 4.3.1. 303 10 Bl., 8°, bibliographischer Hinweis: Katalog Strych Druków Biblioteki Zakladu Narodowego Im. Ossolinskich. Polonica Wieku XVI, Wroclaw-Warszawa-Kraków 1965, S. 409, Nr. 1493. »Exemplar: Bay SB Mü Einbands. Polem. 1689.

.Etliche Gespräche vom Nümbei^ischen Friedstand" (3.6.1539)

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5. Daß die Schrift Melanchthons auch in Westflandern gelesen worden ist, belegt eine Notiz des Pfarrers Levinus Crucius aus Boeschepe (bei Cassel/Nordfrankreich) an den Löwener Theologen und früheren literarischen Luthergegner Jacobus Latomus (um 1475-1544), der letzteren damit auf Melanchthons Kirchenschrift aufmerksam machte.^"^ Latomus ließ schließlich daraufhin 1544 zwei Briefe in Antwerpen publizieren, von denen einer sich gegen Melanchthons in „De ecclesiae autoritate" geäußerte These richtete, daß die Kirche irren könne.^"^ 6. Auf Melanchthons „De ecclesiae autoritate" wurde auch kurz und kritisch durch Konrad Braun in seiner zweiten anonymen Schrift „Etliche Gespräche" vom Jahresende 1540 (oder Januar 1541) angespieU.^"®

1.4. Bucers Kommentar zur Kirchenpolitik durch „EÜiche Gespräche vom Nürnbergischen Friedstand" vom 3.6.1539 1.4.1. Hintergründe Martin Bucer war als aktiver Teilnehmer der Kirchenpolitik 1538/39 nach dem Leipziger Religionsgespräch mit Witzel und Melanchthon auch Teilnehmer der Verhandlungen zwischen dem kaiserlichen Bevollmächtigten Johann von Weeze und den Vertretern des Schmalkaldischen Bundes in Frankfurt. Er war dies auf ausdrücklichen Wunsch des hessischen Landgrafen. Am 9.2.1539 war er in der Straßburger Gesandtschaft unter Jakob Sturm nach Frankfurt gereist. Seine Gutachtertätigkeit vom März/April 1539 zeigt seine Bewertung der einzelnen Forderungen der Vermittler.^"® den riet Bucer den Protestanten von einer Unterzeichnung des Anstandes, den der Orator am 19.4.1539 bewilligte, ab. Ein Brief von ihm direkt an Luther nach dem Abschluß der Frankfurter Verhandlungen, den Melanchthon bei seiner Rückreise aus Frankfurt mit nach Wittenberg nahm, macht Bucers Haltung zum Anstand deutlich^"': Das Ergeb304 Bakhuizen van den Brink, S. 102. 305 „lacobi Lathomi II Theologiae Prof - II fessoris apud Lora - II nienses, duae Epistolae: una in Ii - II bellum de Ecclesia, Philippe II Melanchthoni inscriptum: II altera contra orationem II factiosorum in Co - II mitiis Ratibo - II nenae habi - II tarn. II... II Veneunt Antverpiae II Gregorio Bontio, sub scutto Bariliensi II super pontem camerae. II 1544. II", ohne Blattangabe, 8°. Bibliographische Angabe laut Bakhuizen van den Brink, S. 102 Anm. 61. Referiert wird der Inhalt des Werkes von Latomus durch Bakhuizen van den Brink, S. 103-105. Zur Person Latomus' vgl. Jos E. Vercruysse: Jacobus Latomus (ca. 1475-1544), in: E. Iserloh (Hrsg.), Katholische Theologen der Reformationszeit Bd. 2 (KLK 45), Münster 1985, S.7-26, hier S. 12. 306 Vgl. S. 260. 307 Anm. des Hrsgs. in: MBDS 7, S.399. 308 MBDS 9, 1,8.(53) 55-69. 309 WA.B 8 Nr. 3324, S. 413-416. Vgl. auch Bucers Briefe an den hessischen Landgrafen, in:

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nis der Verhandlungen war für ihn angesichts seiner in die Verhandlungen gesetzten Erwartungen sehr mager. Er beklagt, daß die Protestanten dem kaiserlichen Orator, den er einen „fidelis pseudoecclesiasticorum procurator"^'" nennt, zuviel haben nachgeben müssen. Er thematisiert in diesem Brief ausführlich die unzureichenden Festlegungen des Frankfurter Anstandes über die Verwendung der Kirchengüter, kritisiert die unklaren Aussagen über die Friedenssicherung, die die für Bucer theologisch nicht vertretbare Nichtaufnahme neuer Mitglieder in den Schmalkaldischen Bund einschloß, und mißbilligte die von den Protestanten gemachte Zusage der Türkenhilfe. Mit seiner Bewertung des Frankfurter Ergebnisses befand er sich im Einklang mit der politischen Bewertung des Anstandes durch die Politiker seiner Heimatstadt Straßburg.^" Bemerkenswert ist aber, daß der einzige effektive Fortschritt der Frankfurter Verhandlungen, den Bucer in der Ankündigung eines Gesprächstages zur Beilegung des religiös-kirchlichen Konfliktes zum 1.8.1539 mit Nürnberg als Tagungsort sah und der von ihm in der Folgezeit publizistisch sehr hervorgehoben wurde, in dem Brief vom 19.4.1539 an Luther mit keiner Silbe Erwähnung findet. Im Unterschied zu den beiden großen Wittenberger Theologen hat sich Bucer in einer Schrift mit den Ergebnissen des Frankfurter Anstandes auseinandergesetzt. Seiner brieflichen Aufforderung aus Frankfurt an Luther, sich publizistisch zur theologisch-rechtlich komplexen Frage der Kirchengüter (und der damit verbundenen Prozesse) zu äußern, ist dieser nicht nachgekommen.^'^ Bucers eigene Publikation trägt den Titel „Etliche Gespräche vom Nümbergischen Friedstand". Sie ist datiert vom 3.6.1539 und (wie alle seine nachfolgenden kirchenpolitischen Schriften aus dem folgenden Jahr 1540) unter einem Pseudonym erschienen. Die Veröffentlichung unter einem Pseudonym ist für die kirchenpolitisch relevante Publizistik des Zeitraumes dieser Untersuchung untypisch, nicht aber für Bucers publizistisches Verhalten.^'^ Etwa sechs Jahre später äußerte sich Bucer öffentlich zum Problem der Pseudonymität seiner Schriften der Jahre 1539/40 und den damit einhergegangenen Vorwürfen von altgläubiger Seite: Er bekennt sich zu diesen Werken und ihren Inhalten, habe niemanden damit geschmäht, sondern nur allseits bekannte Mißbräuche und Mängel des kirchlich-politischen Lebens artikuliert. Die Veröffentlichung unter einem PseudLenz I, S. 70-80, Nr. 24 und S. 90-92, Nr. 27; schließlich seinen Brief aus Straßburg an Ambrosius Blarer vom 30.3.1539, in: Blarer-BW Bd.2, S.23-24, Nr.840; vgl. zuletzt dazu den Hrsg. des „Theologisch bedencken", MBDS 9, 1, S. 53-54. 310 WA.B 8, S. 413-^16, Nr. 3324, hier S.414, 31. 311 Mentz 2, S. 187 - in: Polit. Corr. 2, S.594, Nr. 603, auch S. 596-59, Nr. 606. 312 WA.B 8, S . 4 1 3 ^ 1 6 , Nr.3324, hier S.416, 99-101: „Itaque sumes stilum, optime pater, et ostende mundo, wehme man das seine nehme. Quid ecclesiarum, quid sit istorum hostium Christi, hominum, quibus nihil in orbe extitit exicialius et immanius". Zu Luthers publizistischen Aktivitäten im ersten Halbjahr 1539 vgl. 1.2.3. und 1.3.2. 313 Vgl. dazu den Hrsg. in MBDS 7, S.399. Die Beispiele für Bucers Veröffentlichungen unter einem Pseudonym 1539/40 finden sich hier unter 3.1. und 4.1.1.

„Etliche Gespräche vom Nümbergischen Friedstand" (3.6.1539)

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onym sei ein legitimes Mittel, um die Bücher gefahrenlos für einen weiten Rezipientenkreis zu verbreiten.^'"* Bucer wählte in seinen ,ältlichen Gesprächen" und in der Anschlußschrift „Von Kirchengütem"^'' als Pseudonym den Namen .Conrad Treu von Fridesleben'. An Bucers Verfasserschaft der „Gespräche" bestand schon 1539/40 für seine kirchenpolitischen Gegenspieler kein Zweifel.^'® Die Namenswahl ist m.E. eine überaus programmatische Wahl.^'^ Die Bestandteile „Treue" und .friede" sind aus dem gewählten Pseudonym herauszuhören. Mit der „Treue" zur Tradition der Alten Kirche ist das implizite ekklesiologische Selbstverständnis Bucers zu einem Kennwort zusammengefaßt, mit „Friede" sein politisches Programm für das Reich. Bucers kirchenpolitisches Engagement um 1540 findet darin ihre zwei gleichwertigen und gleich zu gewichtenden Brennpunkte. Im Blick auf seine Schrift hoffte Bucer, durch sie möge „christlicher fride und wolfart Deutscher nation" gefördert werden.^'^ Die Enstehungszeit der Gesprächsschrift läßt sich ziemlich genau festlegen: Sie setzt das Ergebnis des Frankfurter Anstandes vom 19.4.1539 voraus und ihre Vorrede ist datiert mit dem 3.6.1539. In der Zwischenzeit dürfte Bucer diese Schrift, wenn vielleicht auch nicht ganz ausgearbeitet, so doch abgeschlossen haben. Das betrifft jedenfalls das erste der „Gespräche", das sich auf die Verhandlungen in Frankfurt bezieht.^'® Die erste Ausgabe der Schrift dürfte zwi314 Martin Bucer, ,J>ER CXX. PSALM ... Christliche vnd warhafte Antwort, vff das Schandgedicht, wider christliche Reformation", Straßburg 1546. In: MBDS 17, S. (17) 24-80. Zitiert sei der Passus, der sich auf die Pseudonyma bezieht, ebda. S.59-60: „NUn wil ich auch antworten auff das lesteren... Und erstlich der bûcher halben, die von mir under frembden namen im druck ausgegeben sein sollen ... under dem namen Chûnrad Trew von Fridesleben meine zwei bûcher und Dialogen, in deren einen ich fürbracht hab, was der Nûrmbergisch fridstand vermöge; Item waz uff dem tag zû Franckfort Anno XXXIX. gehandelt ist. Und was handlung desselbigen jars solté zû Nûrmberg umb vergleichung der religion fiirgenomen sein. Im anderen aus gôtlichem und den waren kirchenrechten dargethon, wes die kirchengûter eigen sind, wer sie raube und wie sie widerumb zû Christlichem gebrauch kônden gebracht werden. Dergleichen hab ich auch zû Latin ein bûchlein vom tag zû Hagenaw und wie man kónde zû christlicher einigkeit der kirchen komen, ausgehn lassen under dem namen Waremund Leuthold. Diser Namen und bûcher gestände ich, will auch mit Gottes hilff, was ich darin geschriben, gegen meniglich wol vertedigen; hab darinn niemand geschmehet, sonder gemeine und bekäme misbreuch und mangel angezeiget zur besserung one schmehliche meidung besonderer personen. Und das ich frembde namen zû disen bûchem gebrauchet, hab ich allein darumb gethon, das solche bûcher desto weiter komen und one gefahr gûter leuten möchten gelesen werden, welches mir die recht auch austrucklich zügeben." 315 Vgl. S. 160. 316 Braun (an),„Ein Gespräch eines Hofrats" Bl. L la „außgeputzt". Zur Vermutung Brauns, Bucer sei der Verfasser des „Ausschreiben an alle Stände"gewesen, vgl. Braun (an), „Ein Gespräch eines Hofrats" Bl. D 4b. 317 Vgl. Martin Greschat, Martin Bucer. Ein Reformator und seine Zeit, München 1990, S. 181. 318 MBDS 7, S . 4 0 3 ^ m . 319 Das erste der „Gespräche" bezieht sich anfänglich auf die Ursachen und Bestimmungen des Nürnberger Anstandes von 1532, MBDS 7, S.406, 3 ^ 1 1 , 14. Die Frankfurter Verhandlungen, ihre Ursachen und ihr Ergebnis sind das Thema im Abschnitt MBDS 7, 411, 15-427, 14.

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sehen dem 3.6. dem 7.7. in Bucers primärer Wirkungsstätte Straßburg gedruckt worden sein^^®, denn schon am 7.7.1539 schickte Bucer ein Exemplar seines „buchlin" dem hessischen Landgrafen zur Lektüre.'^' Die Vorrede von Bucers Schrift richtet sich aber nicht an ihn, sondern an den Grafen Ruprecht zu Manderscheid und Blankenheim, einen Berater des Kölner Erzbischofs und Kurfürsten Hermann von Wied.^^^ 1.4.2. Form und Inhalt Bucer schrieb seine Publikation in Dialogform, worin eine Parallele zu Georg Witzeis „Dialogi" aus demselben Jahr besteht.^^^ In der Hochschätzung „freundlicher Gespräche" zur Beseitigung des kirchlichen Zwiespaltes glichen sich die beiden, wie ihr Zusammentreffen in Leipzig im Januar 1539 unter Beweis gestellt hatte, während die Wittenberger in diesem Punkt eher Skeptiker waren. Es ist deshalb wohl auch kein Zufall, daß sich Bucer, wie schon häufig geschehen^^'^, auch angesichts der kirchenpolitischen Situation des Jahres 1539 wieder des Dialogs als literarischer Form bediente. Die im Vergleich etwa zu Witzeis „Dialogi" bei Bucer literarisch ausgeschmücktere Rahmenhandlung bildet ein dreitägiges Treffen von drei Gesprächsteilnehmern in Speyer. Der erste Tag ist dem Kennenlernen und allgemeinen Vorgesprächen vorbehalten und schließt mit der Verabredung auf ein systematisches Gespräch für den zweiten Tag, das am dritten Tag fortgesetzt wird. Die literarischen Figuren sind ein katholischer Probst, „der ein pr[a]elat der kirchen sein solte"^^^, ein fürstlicher Sekretär, der gerade von den Frankfurter Verhandlungen kommt und den protestantischen Standpunkt vertritt, und ein Edelmann, der sich zunächst angesichts des Sachverstandes der beiden anderen auf die Rolle des Zuhörers beschränken will.^^® Das Ziel der Gesprächsteilnehmer ist wie das der Vorrede an Ruprecht von Manderscheid, ohne Zank [d. h. ohne Rechtsstreit] „friden und besserung der kirchen" zu fördern. Wenn auch in der Form Verwandtschaft festzustellen ist, ist eine inhaltliche Übereinstimmung zwischen Bucer und Witzel in der Sache nicht feststellbar: Bucer ist ohne Zweifel ein Protestant, der auf die Überzeugungskraft des ge320 Bibliographischer Hinweis: VD 16: В 8885. 321 Lenz I, S. 90-94, Nr. 27, hier S.93. 322 MBDS 7, S. 402-404. Zur Biographie Manderscheids vgl. die Hinweise des Hrsgs. in MBDS 7, S.402 Anm. 1. Zu Hermann von Wieds Rolle in der Kirchenpolitik vgl. S. 154-156. 323 Vgl. S. 73. 324 Als Beispiele mögen gelten: 1. „Vergleichung D. Luthers und seins gegentheyls vom Abentmal Christi. Dialogus", 1528, bibliographischer Hinweis: VD 16: В 8932, 8933, jetzt in: MBDS 2, S. (295) 305-383. - 2. „Dialogi oder Gesprech", 1535, bibliographischer Hinweis: VD. 16: 8867, jetzt in: MBDS 6, 2, S. (39) 48-188. - 3. „Furbereytung zum Concilio", 1533, bibliographischer Hinweis: VD 16: В 8945, jetzt in: MBDS 5, S. (259) 270-360. 325 MBDS 7, S.404. 326 MBDS 7, S.405; auch S.459.

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sprochenen und geschriebenen Wortes setzt, welches sich bei ihm mit einer großen politischen Begabung verbindet. (Nur an einer Stelle in den .Etlichen Gespräche" wird ausdrücklich Witzeis Vorschlag erwähnt, bei einem Religionsgespräch wenigstens die für die Protestanten besonders anstößige Frage des Fegefeuers auszuklammem.^^^ Dies fällt deshalb besonders auf, weil Publikationen anderer altgläubiger Theologen in „Etliche Gespräche vom Nümbergischen Friedstand" keine Rolle spielen.) Deutlich hervortretend ist in den „Etlichen Gesprächen" die inhaltliche Kongruenz Bucers mit dem „Ausschreiben an alle Stände" des sächsischen Kurfürsten und hessischen Landgrafen vom 13.11.1538.^^® Bucers Schrift bezieht sich an drei Stellen explizit auf das gedruckte „Ausschreiben".^^^ Die gegen Minden ergangene Achtserklärung, die gerade für die kleineren protestantischen Reichsstände - und evtl. auch für eine Stadt wie Bucers Wirkungsstätte Straßburg sehr bedrohlich wirken mußte, wird vielfach erwähnt.^^·^ Die spezifische Schuld des Reichskammergerichtes an der gegenwärtigen religionspolitischen Lage wird hier wie dort ausdrückhch behauptet.^^' Bucers Wahl des fiktiven Ortes Speyer für seine „Gespräche" hängt sicher damit zusammenen, daß in Speyer sich der ständige Sitz des Kammergerichtes befand. Die Kritik des fürstlichen Sekretärs in den „Gesprächen" richtet sich wie die des ,Ausschreibens an alle Stände" gegen die andauernde Prozeßpraxis des Gerichtes nach der Bewilligung des Nürnberger Anstandes von 1532: „Nun disen Artickel, die anstellung der rechtfertigung belangend, hat uns das Cammergericht nie halten wôllen, sonder sind mit iren vermeynten rechtfertigungen wider die unseren immer fürgefaren... Die Kammerrichter „haben... sich doch selb für und für zû richteren in den religionsachen, deren sie doch überal keinen verstand haben, erkennet und gehalten, Haben auch der hendel von kirchengûttem, das doch je und je religionsachen bei meniglich gewesen, nit wóllen lassen Religionsachen sein."^^^ Insoweit identifiziert sich der Sekretär

327 MBDS 7, S. 437,29. In Witzeis Buch ,J)ialogoram libri tres" von 1539 spielt dieser Vorschlag keine Rolle. 328 Hatte er an dessen Entstehung selber mitgewirkt? Vgl. oben S. 33. 329 MBDS 7, S.410, 12; 453, 15f.; 500, 29. Der Herausgeber von MBDS 7 weist diese Stellen nicht aus. Zwei der schon in das .Ausschreiben an alle Stände" integrierten kirchenpolitischen Dokumente des Kaisers finden sich erneut in Bucers Schrift: Erstens das kaiserliche Mandat vom 2.8.1532: MBDS 7, 454, 22-31. 455, 5-18 entspricht JFvS/PhvH, ,Ausschreiben an alle Stände" Bl. С 3a-C 4b (mit Lücken) und zweitens der kaiserliche Brief aus Savigliano vom 7.7.1536: MBDS 7, 464, 3 ^ 6 5 , 5 entspricht JFvS/PhvH, .Ausschreiben an alle Stände" Bl. F la-F 2a. 330 MBDS 7, S. 411,25 bes. dort auch Anm.23; 412.19; 425.1; 453.3-4; 454. 8-10; 483,21-24. 331 Vgl. dazu den zweiten Teil des zweiten ..Gespräches". MBDS 7. S.467. 8 ^ 8 4 . 4. 332 Die Einstellung der anhängigen Religionsprozesse (in Bucers Terminologie ..Rechtfertigungen". vgl. die Erläuterungen des Hrsgs. in MBDS 7. S.403 Anm.4 und 5). vor denen sich die Protestanten durch das kaiserliche Mandat sicher fühlten, wurde nach 1532 vom Reichskammergericht nicht - wie erwartet - vollzogen. Zum Problem der 1п1ефге1а11оп des Nürnberger Ergebnisses vgl. oben S. 26-27. Das Zitat steht MBDS 7. S.409. 333 Auch hierfür ist die Unklarheit der kaiserlichen Ausführungen gegenüber dem Kammerge-

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inhaltlich im ganzen mit den politisch-juristischen Klagegründen des Schmalkaldischen Bundes im Ständeausschreiben, ohne sich selbst als ein persönlich veφflichteter Sekretär eines namentlich zu identifizierenden evangelischen Fürsten (wie etwa Landgraf Philipp) erkennen zu geben. Im folgenden referiert er rückblickend die reichspolitischen Hintergründe für das Zustandekommen der Frankfurter Verhandlungen und seine Ergebnisse: Die neue Frankfurter Verabredung führt er auf die drohende Kriegsgefahr aufgrund der erwarteten Exekution der Kammergerichtsprozeßurteile, speziell nach der Achterklärung gegen die evangelische Stadt Minden am 9 . 1 0 . 1 5 3 8 , zurück. Hinzu kommt die Formierung des Nürnberger Bundes. Daraufhin habe der Kaiser einen Orator^^'*, Gesandte von König Ferdinand und die beiden Vermittler auf Drängen Kurbrandenburgs eingesetzt. Die protestantischerseits erhobenen Vorwürfe gegen das Gericht seien vor allem drei: 1. Die Suspension der Prozesse werde nicht allen Anhängern der Confessio Augustana zugestanden. 2. Die Kirchengütersachen werden von den Kammerrichtem nicht als Religionssachen im Sinne des Nürnberger Friedens angesehen. 3. Die für solche Konfliktsfälle in der Rechtssprechung gedachten Rechtsmittel (wie Rekusation und Protestation) werden aber den Protestanten nicht zugestanden. Im dritten Teil des ersten „Gespräches", dem Kernstück der auf die aktuelle kirchenpolitische Situation des Sommers 1539 zielenden Publikation Bucers, diskutiert er in vier Punkten die Artikel des Frankfurter Verhandlungsergebnisses v o m 19.4.1539:

1. Wichtigstes Ergebnis ist für ihn die Verabredung eines Gesprächstages nach Nürnberg für Anfang August des Jahres 1539.^^^ Die altgläubige Geistlichkeit möchte nicht, „das man die fromen leyen, bevorab die in der oberkeit sein", an ihm teilnehmen lasse.^^® Der Edelmann befürchtet, daß die Gesandten der geistlichen Reichsstände nicht - wie gefordert - fromme, richtige, verständige, gottesfürchtige, fried- und ehrliebende, sondern eigensinnige, zänkische oder hartnäckige Menschen sein werden. Bucer nennt die aus seiner Perspektive unverzichtbaren Themen des Gesprächstages: die Neuregelung des Kirchendienstes (z.B. für die Amtsträger strikte Trennung von weltlichen und geistlichen Aufgaben), das strittige Verständnis von Rechtfertigung („Wie man sich der Justification vergleichet") und in dessen Konsequenz die Regelung des Gottesdienstes, der Kirchenordnung und Kirchenbräuche.

rieht verantwortlich zu machen. Zum Problem vgl. vor allem Konrad Braun, hier unter 2.4. Das Zitat steht bei MBDS 7, S.410, 4-8; vgl. zur Sache ebda, auch Anm.22. 334 Als in die Publikation Bucers integriertes politisches Dokument wird hier das am 25.11.1538 in Toledo ausgestellte Beglaubigungsschreiben des Kaisers für den Orator zitiert: MBDS 7, S. 415, 22-418, 2. 335 Zu den Verhandlungen dariiber vgl. MBDS 7, S. 4 2 0 , 2 9 ^ 2 2 , 2 2 ; das Ergebnis wird diskutiert MBDS 7, S.427, 1 7 ^ 0 , 20. 336 MBDS 7, S.428, 18-19.

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2. Der Orator hat den Verzicht auf Neuaufnahmen in den Schmalkaldischen Bund festgeschrieben.^^^ Bucers Sekretär hält dem gegenüber fest, daß Neuaufnahmen ein Werk christlicher Liebe sind, „auch bisher gedienet hat und noch dienet zû erweiterung des reichs Christi".^^* Dem Sekretär ist unverständlich, warum der Orator diese Klausel gefordert hat. Aber man habe protestantischerseits nicht auf diesem Punkt insistieren wollen wegen der Aussicht auf den versprochenen Gesprächstag. 3. Kirchengüterfrage und Religionsprozeßsuspendierang: Der Frankfurter Anstand hat zu Recht den von dem Reichskammergericht und Vertretern des katholischen Episkopats bestrittenenen Nürnberger Anstand bestätigt. 4. Die von den Protestanten erwartete Türkenhilfe muß in Verbindung mit den notwendigen kirchlichen Reformen gesehen werden.^'^" Im Vordergrund des dritten „Gespräches" steht die Kirchengüterfrage.^'*' Da ihre Komplexität den von Bucer anvisierten Umfang seiner Publikation, die ja noch vor Beginn des für den 1.8.1539 angesetzten Gesprächstages in Nürnberg verbreitet werden sollte, bei weitem überstiegen hätte, brach Bucer die Erörterung der Kirchengüterfrage ab, um sie bei einem anderen „Gespräch" fortzusetzen. Vergleicht man die Schrift Bucers mit den zeitgleich entstandenen Schriften Luthers „Von den Konziliis und Kirchen" und Melanchthons „De ecclesiae autoritate", so fällt auf, daß hier eine selbständige theologische Erörterung der reformatorischen Ekklesiologie nicht stattfindet, sondern schweφunktmäßig die Lebensvollzüge der Kirche unter den gegenwärtigen politischen Konstellationen Bucers Aufmerksamkeit erregen. In einer die Themen lose miteinander verbindenen Weise werden kommentarartig nahezu alle seit 1532 kirchenpolitisch relevanten Themen in den „Gesprächen" erörtert. Kompositorisch wirkt die Schrift aufgrund der vorgenommenen Aneinanderreihungen nicht besonders gelungen.

337 Zu den Verhandlungen darüber vgl. MBDS 7, S.422, 23-32; das Ergebnis wird diskutiert MBDS 7, S . 4 4 0 , 2 1 ^ 1 , 3 0 . 338 MBDS 7, S.440, 30-32. Die Frage der ,Дestrictio" war in Bucers Gutachten, „Theologisch bedencken", vom 27.3.1539 schon in dieser Weise theologisch interpretiert worden, MBDS 9, 1, S.61, 1-14. Das Verhältnis zwischen der Kirche und dem Reich Christi in der Ekklesiologie Bucers ist erläutert worden durch Gottfried Hammann, Martin Bucer 1491-1551. Zwischen Volkskirche und Bekenntnisgemeinschaft, VIEG 139, Speyer-Kassel-Frankfurt/M.-Stuttgart 1989, S. 95-102. 339 Zu den Verhandlungen darüber vgl. MBDS 7, S.423, 1-16; das Ergebnis wird diskutiert MBDS 7, S.441, 31-M2, 16. Vgl. ebda, auch S.406, 3 ^ 1 1 , 14. 340 Zu den Verhandlungen darüber vgl. MBDS 7, S.423, 17-22; das Ergebnis wird diskutiert MBDS 7, S.442, 17-442, 30. Vgl. zur Sache auch S.423 Anm.50. 341 MBDS 7, S.484, 4-502, 10.

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Die Publikationen von November 1538 bis Juni 1539

1.4.3. Literarische Nachwirkungen Die pseudonyme Schrift „Etliche Gespräche vom Nürnbergischen Friedstand" wollte vor allem vor einer über die Fürsten hinausgehenden kirchenpolitischen Öffentlichkeit für den zum 1.8.1539 nach Nürnberg versprochenen Gesprächstag werben, von dem Martin Bucer sich sehr viel versprach.^'*^ Er kam aber bekanntlich nicht zustande. Bucers - an ihrer kirchenpolitischen Absicht gemessen - „erfolglose" Schrift dürfte nach dem Verstreichen dieses Termins schnell an Aktualität verloren haben. Durchaus denkbar ist es, daß es ein gedrucktes Exemplar gerade dieser „Gespräche" war, auf das der sächsische Kurfürst in einem Schreiben vom 10.12.1539 angespielt hat. Johann Friedrich schrieb an diesem Tag an die Wittenberger Theologen, daß „uns auch ain gedruckt Buchlein vor wenigen tag zukomen, welchs wir euch zuvorlesen himit ubersenden, und nachdeme es Im oberlandt gedruckt, so ist solchs Buchlein In diesen Landen dieser zeit keins [vom Kurfürsten durchgestrichen, statt dessen ,nit wol" geschrieben] zubekomen." Da der Kurfürst seine Verbreitung wünscht, falls die Wittenberger Theologen zustimmten, sollten sie das Stück einem (vermutlich Wittenberger) Drukker übergeben, denn es werde sich wohl gut verkaufen.''*^ Die Herkunft von Bucers pseudonymer Publikation „Etliche Gespräche" aus dem „Oberland", chronologische Erwägungen im Zusammenhang der Wiederaufnahme der kaiserlichen Diplomatie^''^, der Verzicht auf die Nennung von Namen (sowohl des Namens des Autors wie auch des Titels), aber v. a. die Zustimmung zu seinem Inhalt sprechen m. E. für diese Zuordnung. Neben dem Erstdruck ist aber nur eine zweite Ausgabe der Bucerschen „Gespräche" bibliographisch nachweisbar, die, nicht aus einer Wittenberger stammend, vielleicht im Sommer oder Herbst 1539 von Heinrich Steiner in Augsburg gedruckt worden ist.^'*' Zustimmende Bezugnahmen auf „Etliche Gespräche vom Nürnbergischen Friedstand" in protestantischen Publikationen aus den Jahren 1539 bis 1541

342 MBDS 7, S.470, 4-480, 15. Auch viele andere Stellen belegen diese Hoffnung Bucers. Vgl. dazu auch seine nächsten Veröffentlichungen unter 3.1. und 3.4. 343 WA.B 8, S. 562-566, Nr. 3392, das Zitat steht S.565. Zu einer Wittenberger Ausgabe von „Etliche Gespräche vom Nürnbergischen Friedstand" ist es aber nicht gekommen. Die Vermutung des Hrsgs. von WA.B 8, es handele sich hierbei um Bucers pseudonyme Schrift „Von Kirchengütem", kann allein schon aus chronologischen Gesichtspunkten heraus nicht stimmen. Sie erschien erst im nächsten Jahr nach dem 3.2.1540. Oder sollte etwa auf eine andere Schrift aus dem „Oberland" angespieh sein? 344 Am 8.12.1539 meldete sich Johann von Weeze, der Frankfurter Orator des Kaisers, erneut beim sächsischen Kurfürsten und danach auch beim Landgrafen, womit eine Wiederaufnahme der kaiserlichen Vergleichspolitik angezeigt war. Vgl. Lenz I, S. 128 Anm. 10; Polit. Corr. 3, Nr. 1, S.1-3, hierS.2 Anm. 1. 345 Bibliographischer Hinweis: VD 16: В 8884.

„Etliche Gespräche vom Nümbergischen Friedstand" (3.6.1539)

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sind mir nicht bekannt, was als ein Indiz für die relative Wirkungslosigkeit dieser Pseudonymen Publikation gewertet werden kann.^'^® In der Publizistik der Gegner von altgläubiger Seite wird auf „Etliche Gespräche vom Nümbergischen Friedstand" zwar nur in Konrad Brauns anonymer Publikation „Ein Gespräch eines Hofrats" von Ende 1539 abgehoben, dort aber einer sehr detaillierten Kritik unterzogen.^'^^ In Brauns späterer Schrift „Etliche Gespräche" werden die „Etlichen Gespräche" Bucers nochmals kurz gestreift.^"*® Wie gezeigt, beschäftigte sich Bucer schon während der Herstellung dieser ersten Gesprächsschrift mit dem Plan ihrer Fortsetzung, da die Frage der rechten Verwendung bzw. Neuordnung der Kirchengüter den zumutbaren Umfang dieses - seiner Meinung nach ohnehin schon recht ausführlichen - Werkes völlig gesprengt h ä t t e . E r kündigte sein Vorhaben auch dem hessischen Landgrafen in dem oben erwähnten Schreiben vom 7.7.1539 an. Die Fortsetzung erschien im Jahre 1540 unter dem gleichen Pseudonym ,Conrad Treu zu Friedesleben' und trug den Titel „Von Kirchengütern".^^°

346 Erst Philipp von Hessens „Vierte wahrhaftige Verantwortung" aus dem Jahre 1542 erwähnt auf Bl. H 4b, I Ib, 13b einen ,i)ialog" des .Conrad Treu zu Fridesleben'. Vielleicht ist damit aber auch Bucers Schrift „Von Kirchengütem" von 1540 gemeint. Diese Kritik hat ausführlichen Raum bei Braun (an), ,^in Gespräch eines Hofrats" BI. K 4 b - Q 2 b . Vgl. S. 138-141. 348 Braun (an), „Etliche Gespräche", 1. Gespräch Bl. F (= G) За. 349 Vgl. MBDS 7, S.404-405, 487, 492, 493f., 501. 350 Vgl. v.a. S. 159 f.

2 . KAPITEL

Die Publikationen von Juli 1539 bis Februar 1540

2.1. Der Konflikt des hessischen Landgrafen und des sächsischen Kurfürsten mit Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel 1538/39 2.1.1. Der Anfang der publizistischen Kontroverse Seit dem Augsburger Reichstag von 1530 schwelte ein territorialpolitischer Konflikt zwischen Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen und Landgraf Philipp von Hessen als den Bundeshauptleuten des Schmalkaldischen Bundes auf der einen Seite und dem norddeutschen Führer des Nürnberger Bundes, Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel (1490-1568), auf der anderen Seite.' Die Auseinandersetzung war im Verlaufe des Jahres 1538 durch verschiedene politische und diplomatische Maßnahmen der Parteien neu geschürt worden. Der Streit verschärfte sich noch einmal seit der Jahreswende 1538/39. Der äußere Anlaß dazu bildete die Gefangennahme des herzoglichen Sekretärs Stephan Schmidt durch den hessischen Landgrafen.^ Seit dem Spätherbst 1539 wurde dieser Konflikt schließlich neben anderem auch mit den zur Verfügung stehenden Mitteln der Publizistik ausgetragen: „It was the Protestants who first took to the printing press in this quarrel, but only after several preliminaries."^ Die Frage des Beginns soll im folgenden mitsamt ihrer Vorgeschichte näher betrachtet werden. Zu Beginn der publizistischen Kontroverse stehen zwei Publikationen, die Johann Friedrich von Sachsen und Philipp von Hessen gemeinsam „verantwortet" haben und die nahezu gleichzeitig erschienen sind, während das selbständige publizistische Schaffen Herzog Heinrichs in Wolfenbüttel erst mit dem Jahresbeginn 1540 anfängt.'^ 1 Vgl. dazu vor allem auch die ersten Dokumente aus dem Jahr 1530, die in der späteren hessischen Publikation „Wahrhaftige Verantwortung, Erklärung und Beweisung" vom 12.4.1540 der weiteren Öffentlichkeit gegenüber bekannt gemacht worden sind. Vgl. S. 193. 2 Vgl. S. 101 ff. 3 Edwards, S. 145. Edwards, S. 143-162, referiert die Ursprünge des Konfliktes zur Skizzierung des Hinteigrundes für Luthers spätere Schrift „Wider Hans Worst". Vgl. zu ihr das Teilkapitel 5.4.2. 4 Vgl. 2.5.1.

Konflikte mit Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel (1538/39)

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Es handelt sich bei den Publikationen der Schmalkaldener a) um das „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" vom 14.9.1539, gedruckt zuerst in Wittenberg bei Georg Rhau vor dem 24.11.1539^ und b) um die Schrift „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" vom 14.9.1539, gedruckt nur in Marburg bei Christian Egenolff nach dem 14.9.1539.® Der Text des „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" ist in „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" als dessen letztes Stück integriert. So enden beide Publikationen mit derselben theologischen Deutung des Konfliktes der Parteien, die ihn deutlich als einen über die territorialen Konflikte dreier Landesfürsten hinausgehenden kirchenpolitischen Konflikt mit prinzipiellem Charakter kennzeichnen. Der ganze Zank zwischen ihnen resultiere ausschließlich aus der durch Herzog Heinrich betriebenen „hinderung des worts gottes".^ Mit welcher der beiden Publikationen (a oder b) begann aber nun die „öffentliche" Phase dieses Konfliktes der verfeindeten Parteien? Sind sie wirklich genau gleichzeitig erschienen, wie die identischen Datenangaben vermuten lassen? Prima facie erscheint keine Entscheidung möglich zu sein, da das „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" ausschließlich den Text des letzten Teiles von der erheblich umfangreicheren Publikation „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" enthält und beide mit dem 14.9.1539 abschließen. Für beide ist wohl ohne Zweifel der Druck zwischen dem 14.9. und dem 31.12.1539 anzunehmen, da auch das Impressum beider Drucke auf 1539 verweist. Weil aber für das „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" keine Herstellung in einer hessischen Druckerei 1539/40 nachweisbar ist® und, gegen A. von Dommer®, für die Publikation „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" kein

5 Bibliographischer Hinweis: VD 16: H 2961 = VD 16: S 1093; vgl. 2.1.5. 6 Bibliographischer Hinweis: VD 16: В 7308 = VD 16: H 2941 = VD 16: S 1091, ν. Dommer Nr. 116; vgl. 2.1.6. 1 Bemerkenswert ist, daß eine derartige „geschichtstheologische" Deutung des Konfliktes in den Äußerungen der Konfliktpartner aus der „voröffentlichen" Phase des Konfliktes noch fehlte. Die „Theologisierung" des Gegensatzes der verfeindeten Parteien ist auch nicht, wie gelegentlich geäußert wird, erst auf Luthers späteren Beitrag „Wider Hans Worst" (vgl. 5.4.2.) zurückzuführen. Das Zitat steht in: JFvS/PhvH, „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" Bl. R 3b; femer auch JFvS/PhvH, „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" Bl. с 2b. 8 Das ist ein bemerkenswerter Unterschied zur im Jahr zuvor erfolgten Publikation des .Ausschreiben an alle Stände", vgl. 1.1. Die Liste der drei nachgewiesenen Drucke kennt einen gegenüber dem Erstdruck bei Georg Rhau (bibliographischer Hinweis: VD 16: Η 2961 = VD 16: S 1093) späteren Druck ohne Drucker- und Druckortangabe aus dem Jahre 1540 (bibliographischer Hinweis: VD 16: H 2963 = VD 16: S 1095). Daß es sich dabei um einen hessischen Druck handelt, ist nicht zu belegen. Jedoch ist seine protestantische Herkunft sehr wahrscheinlich, vergleicht man ihn etwa mit dem wappenlosen Wolfenbütteler Druck des Widerschreibens (bibliographischer Hinweis: VD 16: H 2962 = VD 16: S 1094). 9 V. Dommer, S.66 meinte, daß davon ein Exemplar ,Auch Witteb. bei Geo. Rhaw 1539" erschienen sei. Ein solches Exemplar ist weder durch VD 16 noch m. W. an anderer Stelle bibliographisch nachgewiesen.

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Die Publikationen von Juli 1539 bis Febraar 1540

Druck in Wittenberg, „verteilen" sich beide Drucke ihrem Entstehungsort nach auf die beiden wichtigen Druckorte der beteiligten Teritorien, so daß man von einer kurfürstlich-kursächsischen und einer landgräflich-hessischen Publikation sprechen kann, obwohl beide Publikationen die Wappen beider Territorien tragen. In der Literatur wird einheitlich die landgräflich-hessische Publikation „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" als der Ausgangspunkt'" der sich bis zur Besetzung Braunschweig-Wolfenbüttels im Jahre 1542 hinziehenden publizistischen Kontroverse angenommen." Gegen diese Annahme sprechen m.E. sechs schwerwiegende Gründe: 1. Der erste Eigentümer des Exemplares des hessischen „Wahrhaftigen und gründlichen Berichtes", das sich jetzt in der UB Marburg befindet, brachte viele orthographische und stilistische Verbesserungen an. Der Druck erweckt den Eindruck, sehr schnell fertiggestellt worden zu sein. Daß der „Druck auch in eil gemacht [worden ist] / und an etzlichen orten mangelhafftig" wurde, gestand der Landgraf auch 1540 zu.*^ Hat diese Eile bei der Herstellung der hessischen Publikation Druckfehler verursacht? Der Eindruck einer zumindest drucktechnisch recht schnellen Maßnahme paßt m. E. nicht zur Mutmaßung, die doch recht wahrscheinlich ist, daß nämlich die publizistische Kontroverse mit einiger drucktechnischer Sorgfalt eröffnet worden ist. Dazu paßt eher der „sorgfältige" Eindruck des in Wittenberg hergestellten „Widerschreibens auf Heinrichs Schreiben". 2. Das Vorwort des „Wahrhaftigen und gründlichen Berichtes" gibt an, daß es sich bei dieser Publikation um eine nötig gewordene Textsammlung handelt, die den Konflikt zwischen den Schmalkaldenern, speziell dem hessischen Landgrafen, und Herzog Heinrich vermittelst der zwischen ihnen gewechselten Briefe und Dokumente einer breiten Leserschaft (erstmals?) zugänglich machen will.^^ War von einer so umfangreichen Publikation (103 Bl., 4°-Format) aber ein wirksamer publizistischer „Fanfarenstoß" zu erwarten? Setzt nicht der Hinweis auf die sorgfältige Dokumentation der voröffentlichen Stadien des Kon10 Der Hrsg. von Luthers „Wider Hans Worst" behauptet WA 51, S.461, die zeitliche Priorität der hessischen Publikation „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" vor anderen Veröffentlichungen. Dem schließt sich Edwards, S. 145, an. Ausführlichere Bemerkungen zur Chronologie des Konfliktes lassen sich bei Kieslich, S. 16, finden. Dieser berücksichtigt - darin methodisch unzureichend - bei seiner Rekonstruktion nicht die Differenz zwischen den Daten der Fertigstellung der jeweiligen .Antwort", wie sie die Publizisten vermerken, dem erfolgten Druck (Impressum) und der beginnenden Verbreitung (Rekognitionen) des jeweiligen Werkes. 11 Da die voriiegende Untersuchung sich nur auf Publikationen bis zum Beginn des Regensburger Reichstages im April 1541 erstreckt, wird hier auf die letzte Etappe dieser literarischen Kontroverse aus den Monaten danach nicht mehr eingegangen. 12 PhvH, „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" Bl. LXXXIIIa. Theoretisch gesehen könnte sich dieses Zugeständnis auch auf das mit Sachsen gemeinsam verantwortete „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" beziehen. Aber warum sollte sich Philipp für einen mangelhaften durch Rhau hergestellten Druck öffentlich entschuldigen? 13 JFvS/PhvH, „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" Bl. A 2a.

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fliktes eine gewisse Kenntnis über die tatsächlichen Ursachen des Konfliktes bei der kirchenpolitischen Öffentlichkeit schon voraus? 3. Die Akten des „Politischen Archivs" des Landgrafen Philipp im Hessischen Staatsarchiv in Marburg enthalten deutliche Hinweise darüber, daß ein durch seinen Titel nicht identiñzierbarer Druck, der sich politisch gegen Herzog Heinrich richtete, zusammen mit einem landgräflichen Begleitschreiben vom 24.11.1539 von Kassel aus an verschiedene Reichsstände verschickt worden ist. Sollten Exemplare eines zuvor in Wittenberg hergestellten Druckes durch die hessische Kanzlei verbreitet worden sein? Alle Indizien sprechen dafür, daß der Landgraf den in Marburg hergestellten Druck „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" - wie bereits zu Anfang des Jahres 1539 die hessischen Exemplare des „Ausschreibens an alle Stände"''* - am 24.11.1539 verschickt haben muß. Von den erhaltenen Rekognitionen auf das landgräfliche Begleitschreiben sind besonders zwei für die Klärung der aufgeworfenen Fragen hilfreich: - Der bayerische Herzog Wilhelm bezeichnete am 10.12.1539 den durch Philipp erhaltenen Druck als „ettwas lang".'^ Gemeint ist sicherlich der im Vergleich zu anderen zeitgenössischen Publikationen eher umfangreiche hessische „Bericht". - Graf Wilhelm zu Henneberg bestätigte am 30.11.1539 den Empfang von zwei Druckexemplaren einer Schrift aus Kassel. Er führte in seinem Schreiben auch aus, daß ihm bisher keine Mitteilungen über die bestehenden Konflikte durch Herzog Heinrich zugegangen seien. Erst „vor kurtzen tagen" habe er einen anderen Druck „kaufsweise" erworben, durch den er überhaupt erst auf den schwelenden Konflikt der Parteien aufmerksam gemacht worden sei. Zur erklärten Unkenntnis des Henneberger Grafen über den diplomatischen Konflikt der Parteien in der voröffentlichen Phase des Konfliktes paßt die im Vorwort der Marburger Publikation durch den Landgrafen geäußerte Intention, alle zur Beurteilung des Streites relevanten Dokumente auch denjenigen im Reich bekannt zu machen, die nicht durch „Copeien" oder fürstliche Boten schon im ersten Quartal 1539 davon Kenntnis bekommen hatten. Zu dieser Gruppe von Adressaten ist auch der dem Schmalkaldischen Bund angehörende Henneberger Graf zu rechnen. War also das durch den Henneberger gekaufte Exemplar ein kursächsisches „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben", das schon kurz vor der ofñziellen, vom Landgraf autorisierten Publikation des „Wahrhaftigen und gründlichen Berichts" käuflich im Umlauf gewesen ist? Die Nähe des Druckortes Wittenberg zur Grafschaft Henneberg (zwischen Thüringer Wald und Rhön) spricht dafür, daß dem Grafen ein solcher kursächsischer Druck zügig nach seiner

и Vgl. oben S.37f. 15 StAM, PA 523, 4, fol. 259. 16 StAM, PA 523, 4, fol. 267.

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Fertigstellung von einem mit der Wittenberger Druckerei Georg Rhaus in Verbindung stehenden Buchführer angeboten wurde. 4. Für die Möglichkeit des Kaufs einer Publikation gegen Herzog Heinrich sprechen auch Hinweise in der Korrespondenz an Stephan Roth in Zwickau: Am 20.10.1539 schrieb Joseph Levin Metzsch aus Mylau an Roth, daß ein gedrucktes Ausschreiben vom Kurfürsten gegen den Herzog ergangen sei, von dem er ein Exemplar zu sehen wünscht. Falls keines zu kaufen sei, möge Roth ihm eines leihen. Am 31.10. erinnerte Metzsch Stephan Roth an seine Bitte um „das Churfurstliche ausschreiben" vom 20.10.1539." M. E. lassen diese Hinweise den Schluß zu, daß neben dem offiziellen Versand seines Drucks durch den Landgrafen auch - ab Oktober, sicherlich aber spätestens im November 1539 - von Kursachsen aus Handel mit einem diesen Konflikt betreffenden Druck getrieben sein muß, womit nur die kursächsische Publikation „Widerschreiben" gemeint gewesen sein kann. 5. Zuletzt spricht die Kenntnis eines gegnerischen Drucks in Wolfenbüttel, der allein die Ansicht des Streites aus der Perspektive Philipps und Johann Friedrichs enthalte und nicht auch die Sicht Herzog Heinrichs'®, eher für das zeitliche „prae" des kursächsischen „Widerschreibens". Da Herzog Heinrichs bald erfolgte Gegenschrift, seine „Andere Antwort auf das falsche Libell", am 24.11.1539 verfaßt sein soll'^, also erst an dem Tag, an dem die hessischen Begleitschreiben zum Versand von „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" aus Kassel datiert sind, spricht auch dieser chronologische Aspekt für das frühere Vorhandensein eines Druckes des kursächsischen „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" in Wolfenbüttel, eben noch vor dem 24.11.1539. 6.1541 wurde in der Rückschau der in Marburg hergestellte landgräflich-hessische „Bericht" als politischer Ausgangspunkt des publizistischen Konfliktes mit Heinrich angesehen.^" Diese Erinnerung entwertet die bisher gemachten Überlegungen, daß er nämlich wohl kurz nach der kursächsischen Publikation die Öffentlichkeit erreichte, nicht. Es läßt sich abschließend festhalten: Die zeitliche Differenz zwischen dem Erscheinen beider Drucke dürfte sowieso nur sehr gering gewesen sein (einige Tage?) und vermutlich hat sogar eine Koordination zwischen den Kanzleien (und den Druckern?) stattgefunden.^'

17 Buchwald, S. 190, Nr. 596 und S. 191, Nr. 599. 18 HvBrW, ,Andere Antwort auf das falsche Libell" El. A 2b. 19 HvBrW, „Andere Antwort auf das falsche Libell" Bl. A 2b. Zur Problematik des Datums „24.11.1539" vgl. unten S. 148 f. 20 JFvS, „Dritte wahrhaftige Verantwortung gegen Heinrich von Braunschweig" Bl. О l a - O 2a. 21 Weitere Ausführungen über das Verhältnis beider Schriften schließen sich auf der Seite 105 f. an.

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2.1.2. Der diplomatische Konflikt von Dezember 1538 bis Januar 1539 Die unmittelbar „voröffentliche" Phase des Streites als eines Konfliktes, der sich letztlich an der Gefangennahme des braunschweigisch-wolfenbüttelschen Sekretärs Stephan Schmidt in Hessen zwischen Dezember 1538 und April 1539 nur vollends entzündete, läßt sich ihrerseits in zwei Teilphasen gliedern. An sie muß in den folgenden Teilkapiteln erinnert werden, damit die dann permanent wiederkehrenden Themen in den Publikationen von beiden Seiten verständlich werden. Am Montag, dem 30.12.1538^^, traf der Landgraf bei einer Wolfsjagd in der Nähe seiner Residenzstadt Kassel auf zwei Reiter, die durch ihr Verhalten und ihre Aussagen den Verdacht erregten, nicht etwa, wie sie angaben, im Dienst des brandenburgischen Kurfürsten Joachim П., sondern im Dienst des Herzogs von Braunschweig-Wolfenbüttel zu stehen. Die zwei wurden nach Kassel abgeführt und verhört. Dabei schürten sie den Verdacht gegen sich erneut, als sie vier Schriftstücke, die sie mit sich führten, in einem unbeobachteten Moment verbrennen wollten. Der Landgraf ließ diese Schriftstücke - zwei unverschlossene Memorialzettel, die der Sekretär in Gegenwart des Herzogs Heinrich geschrieben hatte, und zwei versiegelte Kredenzbriefe, von denen einer für den Erzbischof von Mainz, Kardinal Albrecht, und einer für den Reichsvizekanzler Dr. Matthias Held bestimmt waren - öffnen. Die zwei Kredenzbriefe enthielten allgemeine Neujahrsgrüße und -wünsche. Sie waren politisch für den Landgrafen unanstößig. Höchst problematisch für den Landgrafen stellten sich dagegen die Memorialzettel dar, die Schmidt auf Befehl des Herzogs erstellt hatte, welcher sie in Kenntnis ihrer Inhalte für gut geheißen hatte.^^ Der Inhalt dieser Zettel wurde von Philipp als Verleumdung und Hetze gegen ihn als Person interpretiert. Der Kern des Vorwurfs Herzog Heinrichs bildete, daß Philipp den Krieg im Reich treibe und zwar primär gegen Braunschweig-Wolfenbüttel und gegen Mainz. Das anschließende Verhör in Kassel ergab die Identität seines Sekretärs Stephan Schmidt und seines Begleiters als eines in den Diensten des Mainzers stehenden Sekretärs mit Namen Jörge Fronhofer. Beide wurden verhaftet und nach Kronberg gebracht, wo ein Schuldbekenntnis Stephan Schmidts am 16.3.1539 von ihm unterzeichnet worden ist. 22 So das Bekenntnis des Sekretärs Stephan Schmidt, in: JFvS/PhvH, „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" Bl. В 4a, beginnend mit „uff montage nach dem Christtage ... "; vgl. auch JFvS/PhvH, „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" Bl. A 2a, dort mit „gestern montags zu morgen ... ". Über den Vorfall der Gefangennahme des Sekretärs berichtete auch Antonius Corvinus ausführlich in seinem Brief vom 15.1.1539 aus Witzenhausen an Johann Lang in Erfurt, in dem er diesen auch von seiner Schrift „Bericht, wie sich ein Edelmann halten soll" in Kenntnis setzte, Corvinus-BW, S.50-52, Nr.60, hier S.51; vgl. zu deren kirchenpolitischem Zweck in Bezug auf Heinrich oben unter 1.2.4. 23 JFvS/PhvH, „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" Bl. В 4b.

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Landgraf Philipp entschloß sich, um der von ihm erwarteten „parteiischen" Berichterstattung über diesen Vorfall aus Herzog Heinrichs Feder bzw. aus dessen Kanzlei zuvorzukommen, eine (ungedruckte) Schilderung des Vorfalls herzustellen und diese inklusive der bei Schmidt gefundenen Dokumente anderen Reichsständen zuzusenden. Als Adresssaten sind belegt: sein Schwiegervater Herzog Georg von Sachsen^'^, der königliche Hof, die Statthalterin der Niederlande, Königin Maria, der Reichsvizekanzler Held, die Kurfürsten Joachim II. von Brandenburg und Ludwig V. von der Pfalz, die bayerischen Herzöge, namentlich der regierende Herzog Wilhelm^', ferner Erzbischof Albrecht von Mainz, der Dechant und das Domkapitel zu Mainz^®, der Trierer Erzbischof Johann III. von Metzenhausen, Konrad von Thüngen, der Bischof von Würzburg, der sächsisch-albertinische Rat und Initiator des Leipziger Religionsgespräches Georg von Karlowitz, der bayerische Kanzler Dr. Leonhard von Eck und Freiherr Hans Hofmann, der Burgvogt zu Enns, Rat und religionspolitische Mittelsmann König Ferdinands.^^ Philipps Initiative wurde von Wilhelm von Bayern am 15.1.1539 und von seinem Schwiegervater Georg am 16.1.1539 beantwortet. Diese Antworten sind ihrer Tendenz nach sehr verschieden: Wilhelms Antwort hob auf das Gerücht ab, daß Philipp sich in Kriegsvorbereitungen befinde.^® Er hoffe, daß Philipp sich für den Erhalt des Friedens im Reich einsetze und sich nicht zur Kriegsführung bewegen lasse. Das Nürnberger Bündnis der Altgläubigen diene allein der Gegenwehr. Er, Philipp, solle auch wissen, daß er im Kriegsfall mehr Nach- als Vorteile zu erwarten habe. Georgs Antwort ist moderater und rät zu diplomatischen Lösungen: Er hatte von dem Wolfenbütteler noch nichts über den Vorfall mit dem Sekretär gehört. Georgs Kritik an Philipp entzündete sich vor allem am Aufbrechen von verschlossenen Fürstenbriefen. Die beim Sekretär gefundenen „offenen" Verzeichnisse hätten genügt, seine Rolle zu erkennen. Für sein Bekenntnis, sich nicht in Rüstungen zu befinden, lobt Georg seinen Schwiegersohn. Dennoch sei das Gerücht darüber sehr weit im Reich verbreitet. 24 JFvS/PhvH, „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" Bl. A 2a-B 4a. 25 JFvS/PhvH, „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" Bl. С 4a. 26 Die hessischen Gesandten Helw. v. Laurbach und Hans Keudel erschienen am 11.1.1539 vor dem Mainzer Domkapitel und überreichten mit der Bitte um Rückgabe ihre hessische Kredenz und Instruktion sowie die Kopien, Kredenzen und Memorialzettel, die Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel seinem Sekretär Stephan Schmidt an den Mainzer Erzbischof und Dr. Held mitgegeben hatte. Eine schriftliche Antwort wurde ihnen am 13.1.1539 vom Domkapitel übergeben, nachdem man sich mit den Vertretern des Erzbischofs beraten hatte. Vgl. Die Protokolle des Mainzer Domkapitels Bd.3, 2, Paderborn 1932, S. 780-781. 27 StAM, PA 514 und auch PA 2090. Zu Hofmanns Aktivitäten 1540 vgl. ARCEG Bd.3, Nr. 5 6 - 5 8 , 8 . 9 1 - 9 3 . 28 Matthias Held hatte im Dezember 1538 den bayerischen Herzögen geschrieben, daß er davon Kunde habe, daß der hessische Landgraf im kommenden Frühjahr 1539 die im Nürnberger Bund zusammengeschlossenen Stände angreifen werde. Vgl. dazu MBDS 7, S.413 Anm.26.

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Geeignetes Mittel für den alten sächsischen Herzog Georg, Philipps Bekenntnis zum Frieden gegenüber der Öffentlichkeit zu bezeugen, ist die Veröffentlichung einer Druckschrift}^ Ein solcher Druck, ohne „irgent eins Verkleinerung", könne dem Gerücht entgegenwirken, wenn er als Entschuldigung formuliert sei. Herzog Georg spielt damit ganz offensichtlich auf das kurz zuvor in Wittenberg im Dezember 1538 und in Marburg im Januar 1539 gedruckte „Ausschreiben an alle Stände" vom 13.11.1538 an, das ja nach seiner Meinung gerade die kriegstreiberische Tendenz von Landgraf und Kurfürst vor der Öffentlichkeit gezeigt hatte.^° Diese jetzt zu entkräften sei für den Landgrafen durch eine gedruckte öffentliche Entschuldigung möglich. So wie Georg Philipp, schlug auch Georg von Karlowitz im Januar 1539 in Halle den Kanzlern Brück für Kursachsen und Feige für Hessen den Druck eines Ausschreibens vor, um die friedliche Absicht des Schmalkaldischen Bundes offen zu bezeugen.^' Am 23.1.1539 antwortete Philipp seinem Schwiegervater auf dessen Schreiben: Laut Philipp müßte eine solche von der anderen Seite gewünschte politische Veröffentlichung der Protestanten, wie sie Georg angeregt hatte, noch ganz andere Themen berücksichtigen (z. B. den Konflikt Mainz-Zerbst, den Konflikt Württemberg-Bayern, das Büchsengießen), woran deutlich wird, daß der Landgraf zu diesem Zeitpunkt in einer ihm vordiktierten Weise (noch) nicht vor die umfassende kirchenpolitische Öffentlichkeit treten mochte. Mit seinem Schreiben vom 23.1.1539 beginnt Philipp Ereignisse, die in der Vergangenheit passiert sind, zu Ungunsten des politischen Gegners, hier konkret seines Wolfenbütteler Gegenspielers, neu zu inteφretieren. Diese Tendenz läßt sich mit rasch zunehmender Tendenz bei beiden schmalkaldischen Fürsten beobachten. Die beiderseits empfundene Rechtsverletzung zog noch weiter zurückliegende Erfahrungen der Konfliktparteien an, die an einander als mißgünstig oder als rechtsverletzend erlebt worden waren (z.B. den Konflikt um einen Brief Philipps an Herzog Ernst von Braunschweig-Lüneburg, die Geleitsverweigerung in Zusammenhang des schmalkaldischen Bundestages im Frühjahr 1538 in Braunschweig, das Aufbrechen eines Konvoluts von Briefen des Kurfürsten, das Schießen von Lebenburg u. a. m.). Und Philipp schlug seinerseits jetzt vor, die altgläubige Gegenseite möge ihrerseits ihre „friedliebende" Absicht durch einen Druck der Öffentlichkeit mitteilen.^^ Es kam aber zu diesem Zeitpunkt (Ende Januar/Februar 1539) zu 29 WA 51, S.461 hebt darauf ab. Die dort vom Hrsg. vorgenommene Behauptung, Landgraf Philipp habe dem Anraten seines Schwiegervaters entsprochen und daraufhin eine „Entschuldigung" auch im Druck veröffentlicht, kann nicht stimmen. Denn bei der ersten Publikation der Schmalkaldener, also auf jeden Fall nach dem 14.9.1539, ist der sächsische Herzog Georg schon fast fünf Monate tot. (Er starb am 19.4.1539.) 30 Vgl. oben S.44f. 31 StAM, PA 2578. 32 JFvS/PhvH, „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" Bl. С 4b-D la.

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keiner Publikation durch eine der beiden Seiten, was auch auf dem Hintergrund der derzeitigen Frankfurter Friedensverhandlungen der Schmalkaldener untereinander und mit dem kaiserlichen Bevollmächtigten Johann von Weeze zu sehen ist.^^

2.1.3. Der diplomatische Konflikt von Februar bis April 1539 Die zweite Phase des voröffentlichen Konfliktes ist politisch gekennzeichnet durch die Vermittlertätigkeit des Kurfürsten Joachim II. von Brandenburg. Hier dominiert die indirekte Kommunikation zwischen den verfeindeten Parteien. Herzog Heinrich hatte auf eine (mir unbekannte, möglicherweise durch den Mainzer Erzbischof vermittelte?) Weise Kenntnis von der Informationspolitik Philipps gegenüber den mit ihm verbündeten Ständen im Januar bekommen. Er sandte seinen „Gegenbericht", datiert mit dem 9.2.1539, an Joachim. In diesem Bericht sind in chronologischer Reihenfolge die Zusammenstöße mit dem sächsischen Kurfürsten und dem hessischen Landgrafen seit dem Sommer 1538 aufgelistet. Diesen „Gegenbericht" vermittelte Joachim seinerseits weiter an die in Frankfurt verhandelnden Schmalkaldener. Diese begrüßten es, daß Heinrich sich jetzt „ins offen begibt".^'* Ihre gemeinsameAntwort darauf, die im Februar oder März 1539 (ohne Datum) in Frankfurt abgefaßt worden ist^', behandelt getrennt in einem ersten Hauptteil die Vorwürfe Heinrichs gegen den sächsischen Kurfürsten^®, im zweiten Teil die gegen den hessischen Landgrafen.^"' Diese Antwort ist ihrerseits (wie schon der vorangegangene Bericht Heinrichs) an Kurfürst Joachim adressiert, spricht aber auch die in Frankfurt verhandelnden kaiserlichen Kommissare, den pfälzischen Kurfürsten und den kaiserlichen Orator Johann von Weeze an.^* Joachim hat nun am 27.3.1539 seinerseits eine Abschrift dieser Antwort an Herzog Heinrich weitergeleitet. Heinrich bat ihn daraufhin am 9.4.1539, seinen erneuten Gegenbericht, der - nur vier(!) Tage nach dem Empfang der „Gegenschrift" der Schmalkaldener - vom 31.3.1539 datiert ist, in Abschrift den Schmalkaldenem mitzuteilen. Heinrichs Schreiben endete mit der (letztlich unzutreffenden) Ankündigung, keine weiteren Schriften mehr mit dem sächsischen Kurfürsten oder dem hessischen Landgrafen wechseln zu wollen.^^ 33 Vgl. dazu 1.2.1., 1.2.2. und 1.4. 34 JFvS/PhvH, „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" Bl. E 2a. 35 StAM, PA 523, Nr. 2 enthält das Konzept aus der Hand des hessischen Kanzlers Johann Feige. Es enthält eine Einleitung und nur den Teil, der die Verteidigung des Landgrafen betrifft. 36 JFvS/PhvH, „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" Bl. E 2b-F Ib. 37 JFvS/PhvH, „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" Bl. F I b - H 3a. 38 JFvS/PhvH, „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" Bl. H 3a-H 3b (Schluß). 39 JFvS/PhvH, „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" Bl. О 3b; vgl. auch HvBrW, „Erste Antwort auf ein nichtig Schreiben" Bl. I 4a.

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2.1.4. Der Übergang zum Druck der „Antworten" im September 1539 Nach einem deutlichen Zeitraum der Beruhigung von ca. SVi Monaten - es ist fast genau die Zeit des in Frankfurt durch den kaiseriichen Orator gewährten Anstandes nach dem 19.4.1539 - reagierten im September 1539 die beiden schmalkaldischen Bundeshauptleute auf Herzog Heinrichs Schrift vom 31.3.1539 mit einer ausführlichen Gegendarstellung. Zwei Fassungen eines Konzeptes für dieses schließlich unter dem Titel „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" gedruckte Schreiben aus der Hand des hessischen Kanzlers Johann Feige (1482-1543) sind erhalten.'"' Die zahlreichen redaktionellen Überarbeitungen in beiden Konzepten betreffen nicht nur die Verteidigung des Landgrafen, sondern auch die des Kurfürsten. Läßt sich daraus schließen, daß Feige auch für die Erstellung des Konzeptes, das die Verteidigung des Kurfürsten betrifft, verantwortlich zu machen ist? Das ist nicht auszuschließen, erscheint mir aber eher unwahrscheinlich, denn bei dem undatierten Schreiben der Schmalkaldener aus Frankfurt (vom Februar/März 1539) bezog sich das erhaltene Feigesche Konzept nur auf den zweiten Teil, der der Verteidigung des Landgrafen diente. Außerdem erfolgten in der zweiten Phase des öffentlichen Konfliktes von Jahresbeginn 1540 an, also nach dem „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben", alle Verteidigungen der beiden Schmalkaldener nicht mehr in einer Schrift.'" Aus den vorliegenden Konzeptfassungen Feiges läßt sich m. E. weniger auf seine Verfasserschaft des gesamten „Widerschreibens" schließen, sondern eher auf eine umfangreiche Redaktionsarbeit in den Kanzleien, um einen Text herzustellen, der von beiden Fürsten gleichermaßen in allen Passagen „verantwortet" werden konnte. Da aber die vorliegende Untersuchung nicht der komplexen Textgeschichte des entstehenden „Widerschreibens" nachgehen will, sondern sich auf die der Öffentlichkeit schließlich bekannt gemachten Texte bezieht, läßt das Vorhandensein dieser Textkonzepte nur den Schluß zu, daß eine gemeinschaftliche Herstellung von „Verantwortungen" ganz offensichtlich sehr schwierig gewesen ist und unter Umständen zeitlich zu langwierig geworden wäre, um rasch wieder vor der kirchenpolitischen Öffentlichkeit mit entsprechenden „Antworten" auf den Weifenherzog präsent sein zu können. Wie wurde nun der Übergang von der Darstellung über die Vorfälle um den Sekretär ausschließlich gegenüber einzelnen (wichtigen) Reichsständen, wie zu Jahresbeginn 1539 von Philipp durchgeführt'*^, zur Darstellung gegenüber einer größeren kirchenpolitischen Öffentlichkeit durch die Publikationen vom Herbst 1539 von den Beteiligten selbst beurteilt? Der Landgraf sah rückblickend in der Drucklegung nicht eine bewußte qualitative Überbietung eines bisher nur auf der Ebene der politisch-diplomatischen 40 StAM, PA 523, Nr. 3a, 3b. 41 Vgl. 3.3.1. und 3.3.2. 42 Vgl. S. 102.

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Korrespondenz stattfindenden Kampfes, sondern allenfalls einen graduellen Unterschied zur „Pressepolitik" Herzog Heinrichs. Auch er habe mit Hilfe von „Copeien" seine Meinung wirkungsvoll verbreitet, was in seiner Funktion einem gedruckten „Ausschreiben" gleichkomme.'^^ Herzog Heinrich freilich beurteilte den schmalkaldischen Übergang zu einem „öffentlichen abtruck" als ein neues politisches Mittel, „welchs [bisher! G. K.] im reich deutscher nation / unter Fürsten nicht viel gehört..." worden sei.'·'' M. E. ist dieser Übergang zur kirchenpolitischen Publizistik im Falle dieses anfangs territorialpolitischen Konfliktes ein Ausdruck des geistigen Ringens zwischen den im Reich vorhandenen poUtischen und kirchlich-religiösen Gegensätzen durch ihre politischen Wortführer. Zugleich bedeutet er für Kursachsen und Hessen, wenngleich sie jetzt nicht mehr im Auftrag und Namen aller Mitglieder des Bundes handelten, die konsequente Fortsetzung des mit dem „Ausschreiben an alle Stände" begonnenen Verfahrens, die kirchenpolitische Öffentlichkeit in einem noch stärkeren Maße als bisher als schiedsrichterliche Instanz in ihrer „Sache" miteinzubeziehen.'*^ Nach der in ihren Augen aussichtslos gewordenen Bemühung um die primären Adressaten - beim „Ausschreiben an alle Stände" war es das Reichskammergericht, hier die in Frankfurt vermittelnden Kurfürsten von Brandenburg und von der Pfalz - bezogen sie jetzt die kirchenpolitische Öffentlichkeit in den Konflikt mit ein, deren Urteil zu Gunsten der Wahrheit man erwartete. Offensichtlich gab es wie schon beim „Ausschreiben an alle Stände" mehrere „Kanäle", über die solch „amtliches" Schrifttum an seine Empfänger gelangte: Die Möglichkeit der Verbreitung durch Verkauf an die breite Öffentlichkeit, wie offensichtlich von Wittenberg aus geschehen, verschwieg der Landgraf. Der öffentliche Verkauf steht in einer gewissen Konkurrenz zum direkten Zustellen von ungedruckten Abschriften durch Boten, wodurch in der voröffentlichen Phase des Konflikts nur einzelne, mit Sorgfalt ausgewählte Adressaten Kenntnisse von dem genauen Sachverhalt des Konfliktes erhalten hatten. Das Hessische Staatsarchiv bewahrt eine Reihe von Rekognitionen aus der Zeit zwischen dem 30.11.1539 und dem 29.1.1540 an die landgräfliche Kanzlei auf, die den Empfang des Drucks bestätigen, der mit einem landgräflichen Begleitschreiben vom 24.11.1539 - also unmittelbar im Anschluß an die Herstellung - durch Boten verbreitet worden ist."^® Sie geben auch einen Einblick •»3 JFvS/PhvH, „Wahrhaftiger gründlicher Bericht" Bl. A 2a: „das Hertzog Heinrich seine schrift ZÛ seinem vortheyle außgepreytet / und sich berûmpt haben sol / wie ere seine sach wol verantwort hab / . . . " , vgl. femer JFvS, „Anderer Abdruck der wahrhaftigen, beständigen und ergründeten Verantwortungen" Bl. b la: „Es ist auch gleich soviel / das er seine schandtschrifften und derselben Copeien inn alle winckel über uns ausgeworffen / als bette er es durch einen druck oder sonst durch ein öffentlich ausschreiben gethan / . . . " . -M HvBrW, .ändere Antwort auf das falsche Libell" Bl. A 2a. 45 Vgl. zum „Ausschreiben" unter 1.1., vor allem die Abschnitte 1.1.3. und 1.1.6. 46 StAM, PA 523, 4.

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in den Kreis der direkten Empfänger des in Marburg bei Christian Egenolff hergestellten „Wahrhaftigen und gründlichen Berichts". Die daraus ermittelten Empfänger der Publikation waren die Erzbischöfe Albrecht von Mainz und Johannes III. von Trier, die Bischöfe Wiegand von Bamberg und Philipp von Speyer, die Kanzlei des Bischofs von Eichstätt, Herzog Ulrich von Württemberg, der albertinische Herzog Heinrich als Erbe des im April verstorbenen Herzogs Georg, die Pfalzgrafen bei Rhein und bayerisch-pfälzischen Wittelsbacher Wilhelm, Friedrich, Ruprecht und Ottheinrich, der mehrfach genannte Graf Wilhelm von Henneberg, schließlich aus dem Schmalkaldischen Bund Vertreter der Städte Magdeburg, Straßburg, Ulm und Goslar und Graf Johann Konrad von Tecklenburg. Ob damit die Liste der direkten Empfänger vollständig ist, bleibt zu bezweifeln. Weitere Rekognitionen an den Kasseler Hof sind allerdings nicht erhalten. Zu den durch Boten versorgten politischen Adressaten dürfte der Konfliktpartner, Herzog Heinrich, selbst nicht gehört haben. Wie verhält sich nun das Vorhandensein eines derart erweiterten Empfängerkreises dazu, daß in beiden Publikationen des Herbstes 1539 wiederum primär nur an die beiden Kurfürsten von Brandenburg und der Pfalz appelliert worden ist?'*^ Das Schreiben der Schmalkaldener noch während der Frankfurter Tagung vom März (?) 1539"*® und Heinrichs „Gegenbericht" vom 31.3.1539 wiesen diese beiden erstmals als „übeφarteiliche" Appellationsinstanz im Konflikt der Schmalkaldener mit Heinrich aus.'*' Als Repräsentant einer ,4confessionsneutralen" Reichsfriedensspolitik hatte Ludwig V. von der Pfalz sich bisher stets für die Verhinderung einer militärischen Konfrontation zwischen den Vetretem der Altgläubigen und den Protestanten eingesetzt, ohne selbst eine profilierte Kirchenreformpolitik in seinem Territorium zu betreiben.^® Und weil Joachim II. von Brandenburg derjenige war, der im Sommer 1538 die Vermittlungsinitiative eingeleitet hatte, die schließlich zu den Beratungen der Schmalkaldener mit dem kaiserlichen Orator ab Februar 1539 in Frankfurt geführt hatte, ist es verständlich, daß Herzog Heinrich gerade an ihn seinen Brief adressierte, um ihn wegen der eingetretenen Verwicklungen nach der Gefangennahme Stephan Schmidts bei den Schmalkaldenem intervenieren zu lassen.^' Durch ihre Publikationen „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" und „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" ab Ende 1539 schließen sich die Schmalkaldener an diese Gewohnheit an. Mit einer unmittelbaren reichspoliti-

•»7 JFvS/PhvH, „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" Bl. R 3b. 48 JFvS/PhvH, „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" Bl. E 2a-H 3b. 49 JFvS/PhvH, „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" Bl. H 4 a - 0 4a. Der Text wurde später auch in Wolfenbüttel 1540 veröffenthcht unter dem Titel „Erste Antwort auf ein nichtig Schreiben", vgl. 2.5.2. 50 Luttenberger, S. 129-139, hier S. 130. 51 JFvS/PhvH, „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" Bl. D 2a-E 2a.

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sehen Zielsetzung wie zum Zeitpunkt der Frankfurter Tagung im Frühjahr 1539 konnte aber der jetzige Appell der Schmalkaldener an die Vermittler nicht mehr verknüpft sein. Ihrem Beispiel folgte aber auch später wieder Herzog Heinrich." Es läßt sich festhalten: Der Appell an Joachim II. trifft gegen Jahresende 1539 einen Territorialherren, der am 1.11.1539 eine neue Kirchenordnung erlassen hatte, die, wenngleich liturgisch konservativ, kirchlich den Übergang eines weiteren Kurfürstentums zur Reformation anzeigte.^^ Auch Ludwig V. war kirchenpolitisch nicht eindeutig .Römisch" gesinnt. Er ließ nämlich im November 1539 die Abendmahlsfeier sub utraque zu.^·* Wenn Joachim II. und Ludwig V. weiterhin als primäre Adressaten aller Schriften im Konflikt der Schmalkaldener mit Heinrich genannt werden, ist das eine Reminiszenz auf ihre in Frankfurt innegehabte Vermittlungsfunktion. Tatsächlich wurde aber spätestens mit dem 14. September 1539 die erweiterte Öffentlichkeit an ihrer Stelle das Forum für den Austrag des Konfliktes zwischen den Parteien. Lateinischsprachige Ausgaben der Schriften „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" und „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht", die auch im Ausland hätten gelesen werden können, sind nicht bekannt. Das unterscheidet sie vom gesamtschmalkaldischen „Ausschreiben an alle Stände" und den nachfolgenden, ohne die Mitwirkung des sächsischen Kurfürsten „verantworteten" hessischen Schriften gegen Herzog Heinrich der Jahre 1540 und 1541.^^

2.1.5. Das kursächsische „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" Der Zweck des kursächsischen „Widerschreibens" ist die Widerlegung des durch den Braunschweiger erhobenen Vorwurfs des Landfriedensbruchs. Seine Veröffentlichung soll die Wahrheit öffentlich ans Licht bringen.^^ Den beiden Publizisten ist bewußt, daß sie mit ihrer „Antwort" die Vorgabe Heinrichs quantitativ um ein Mehrfaches überbieten würden. Denn obwohl schon Herzog Heinrichs Schrift sehr lang sei, könne man nicht umhin, die notwendige Entgegnung recht ausführlich abzufassen.^^

52 Vgl. im folgenden unter 2.5.; auch 3.3.1. und 3.3.2.; schließlich 5.1.; 5.2. und 5.3. 53 Luttenberger, S. 125-126. 54 Luttenberger, S. 138. 55 Vgl. S. 36-38, 193-195, 278-281. 56 Sie soll die „uberwindende warheit klar an tag zu thun / und also mit warheit und gerechtigkeit zu uberwinden / Darnach ein jeden unparteischen / unter friedebruch und friede / Rechten und Unrechtem / warheit und falsch / urteilen zu lassen . . . " laut JFvS/PhvH, „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" Bl. A 2b. 57 „Nach dem dann / Hertzog Heinrichs schrifft / fast [= sehr] lang ist / haben wie auch nicht mögen füglich umbgehen / die unsern in die lenge zu strecken..." laut JFvS/PhvH, „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" Bl. A 4a.

Konflikte mit Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel (1538/39)

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Methodisch bezieht sich das „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" Punkt für Punkt auf die Schrift Heinrichs vom 31.3.1539. Um dem Leser der Publikation eine Orientierungshilfe geben zu können, werden die „Capita" der Absätze von Heinrichs Schrift hier zitiert.^® Diese Lesehilfe ist erfolgt im Bewußtsein der Länge und einer tendenziell drohenden Unübersichtlichkeit der Schrift für die Rezipienten. Die kursächsische Schrift hat zwei Hauptthemen, um die herum weitere, kleinere Themenkomplexe gruppieren: Den ersten Hauptkomplex der Schrift bildet die Auseinandersetzung des Kurfürsten mit dem Herzog.'^ Dabei tritt das Thema der Geleitsverweigerung beim Ritt der Schmalkaldener durch braunschweigisch-wolfenbüttelsches Gebiet auf dem Weg zu ihrem Bundestag in Braunschweig im Frühjahr 1538 in den Vordergrund.^^ Das vom Herzog unterlassene Geleit für den Kurfürsten war ein Akt, der dem gebotenen Landfrieden widerspreche.®' Der Vorwurf des Landfriedensbruchs treffe in einem solchen Fall den Herzog schwerer als den Landgrafen im Fall der Gefangennahme Schmidts.®^ Der zweite große Komplex ist der Auseinandersetzung des Landgrafen mit dem Herzog gewidmet.®^ Die Vorkommnisse nach der Gefangennahme des Sekretärs Schmidts dominieren hier.^ Das politische Vorgehen des Landgrafen wird von den Unterzeichnern als rechtens und billig verteidigt: „Darumb sich auch von Rechtswegen gebûrt / einen unbekandten man zu fragen / darzu geben es die Reichsordnungen der gleichen."®^ Sehr ausführlich wird das Problem der Rechtmäßigkeit des Öffnens von Briefen erörtert, wofür Beispiele und Parallelen aus der römischen Antike und dem Alten Testament herangezogen werden.^® Parallelisiert werden die Vorkonmmisse mit der alttestamentlichen Geschichte, wonach der kranke König Ahasja von Israel Boten zu Baal-Sebub, dem Gott von Ekron, sandte, um seine persönliche Zukunft zu erfragen, die durch das Eingreifen des Propheten Elia aufgehalten wurden. Die zufällige Begegnung des Landgrafen mit dem Sekretär bei der Wolfsjagd in der Nähe Kassels wird als ein Akt göttlicher Vorsehung gedeutet.®^ 58 JFvS/PhvH, „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" Bl. A 4a. 59 JFvS/PhvH, „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" Bl. A 4a-D 2b. 60 JFvS/PhvH, „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" Bl. A 4a-Dla. 61 JFvS/PhvH, „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" Bl. A 4b, С la. 62 ,J)arauff zeigen wir E. L. an / das grösser ist / begert gleidt one ursach zu versagen / denn aus Ursachen seine Passe und gleidte zu versehen . . . " laut JFvS/PhvH, „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" Bl. С 4b. 63 JFvS/PhvH, „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" Bl. D 2b-R 4a. 64 JFvS/PhvH, „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" Bl. E la-K 2a. 65 JFvS/PhvH, „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" Bl. E la. 66 JFvS/PhvH, „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" Bl. F 4a: Es wäre für Uria (II Sam 11, 14ff.) und Naboth (I Reg 21, 8ff.) überlebensnotwendig gewesen, die gegen ihre Person gerichteten Briefe rechtzeitig aufzumachen. 67 JFvS/PhvH, „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" Bl. E 3b-E 4a. Zum Vergleich mit der alttestamentlichen Geschichte vgl. II Reg 1, 1-18.

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Die Publikationen von Juli 1539 bis Febraar 1540

Welches Interesse die zeitgenössische Öffentlichkeit an dem kurfürstlichen „Widerschreiben" gefunden hat, ist durch mehrere Hinweise zu erkennen: 1. Das starke Interesse Joseph Levin Metzschs aus Mylau im Oktober 1539 am Erwerb dieses Drucks belegt sein Interesse an dem Konflikt zwischen den Schmalkaldenem und Herzog Heinrich.®* 2. Wahrscheinlich war es ein Exemplar des „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben", das Luther am 13.10.1539 an den Herzog Albrecht von Preußen schickte.®^ 3. Für zwei Exemplare des neuen Drucks, die Christoph Schramm am 22.10.1539 nach Zwickau zu Stephan Roth schickte, ist ein Nachweis ihres Preises überliefert: 2 Groschen 10 Heller.™ 4. Das kursächsische „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" muß - wie oben gezeigt - als Druck vor dem 24.11.1539, dem Datum der Unterzeichnung von „Andere Antwort auf das falsche Libell" durch Herzog Heinrich, in Wolfenbüttel bekannt gewesen sein, denn nur auf sie trifft zu, was Heinrich als Beschwerde äußert, daß nämlich seine „vorige bestendige antwort / in den truck neben der iren zu geben unterlassen . . . " wurde.'' 5. Zwei Nachdrucke des „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" belegen ein offensichtliches Interesse einer breiteren Leserschicht an dem Text: Der attackierte politische Gegner Heinrich sah sich durch die kursächsische Publikation nicht ins Unrecht gesetzt. Vermutlich ließ er 1539 oder 1540 einen Nachdruck der kursächsischen Publikation durch seinen Drucker Henning Rüdem in Wolfenbüttel veranlassen. Er versah freilich diese Publikation nicht mit einem Wappen oder einem anderen Herrschaftszeichen der Schmalkaldener.'^ Offensichtlich protestantischer Provenienz ist ein weiterer Druck des „Widerschreibens" ohne Ortsangabe aus dem Jahr 1540.'^

2.1.6. Der hessische „Wahrhaftige und gründliche Bericht" Das Vorwort dieser Publikation hält fest, daß es sich bei diesem Druck um eine nötig gewordenen Textsammlung handele, die den seit der Jahreswende 1538/39 währenden diplomatischen Konflikt zwischen den Schmalkaldenern und Herzog Heinrich einer breiten Leserschaft vortragen möchte.^'' Deshalb würden die miteinander gewechselten Briefe, die einzelnen Reichsständen 68 Vgl. oben S. 100. 69 Das ist m. E. gegen den Hrsg. von WA.B 8, S. 566-567, Nr. 3393, hier S. 567 Anm. 2 vertretbar. Vgl. dazu auch unten S. 115. 70 Buchwald, S. 191, Nr. 598. 71 HvBrW, .Andere Antwort auf das falsche Libell" Bl. A 2b. 72 Bibliographischer Hinweis: VD 16: H 2962 = VD 16: S 1094. 73 Bibliographischer Hinweis: VD 16: H 2963 = VD 16: S 1095. 74 JFvS/PhvH, „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" Bl. A 2a.

Konflikte mit Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel ( 1538/39)

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durch ihre diplomatische Involvierung in den Konflikt schon bekannt gewesen sind, jetzt der allgemeinen Öffentlichkeit vorgelegt. Das Beispiel des offensichtlich uninformierten Grafen Wilhelm von Henneberg belegt auch die von der Sache her gebotene Notwendigkeit einer solchen Dokumentation des Gesamtkonfliktes. Wie steht es um die behauptete „Objektivität" dieser Textsammlung? Die am 24.11.1539 geäußerte Kritik Herzog Heinrichs wegen der Unterlassung eines Abdrucks seiner Schrift vom 31.3.1539 kann zwar das kursächsische „Widerschreiben", prima facie aber nicht die hessische Publikation „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" treffen, da sie hier integriert ist (vgl. unten Nr. 8b.). Der Landgraf verteidigte sich folgerichtig 1540 gegenüber einem solchen Vorwurf und wies auf seine Vorgehensweise hin, das „Widerschreiben", die Schrift Heinrichs gegen sie vom 31.3.1539 gleichberechtigt neben die Schrift der Schmalkaldener gegen Heinrich vom 14.9.1539 gestellt zu haben.^^ Da aber im „Wahrhaftigen und gründlichen Bericht" als letztes Dokument das „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" der beiden Schmalkaldener vom 14.9.1539 erscheint, wird freilich damit bei den Adressaten zielgerichtet der Eindruck erweckt, Heinrichs Schrift vom Frühjahr sei eben durch sie „widerlegt" und das „Widerschreiben" der Protestanten sei das definitiv letzte Wort in dieser Sache. Die Dokumentation „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" ihrerseits setzt sich aus neun zentralen Dokumenten zusammen, die zum Teil mit Stücken, die in ihren historischen Kontext gehören, zusammen dargeboten werden. 1.) Bl. A 2a: Vorrede. 2.) Bl. A 2b-B la: Landgraf Philipps Schreiben an Herzog Georg von Sachsen, datiert Kassel, 1.1.1539, mit beigelegtem Zettel auf Bl. В la-B Ib. [3.) Dokumente, die von den Hessen bei Stephan Schmidt gefunden worden sind:] 3a.) Bl. В lb: „Credentz an Cardinal und Ertzbischoff zü Mentz.", datiert Wolfenbüttel „uffs S.Steffans tag / Anno etc. XXXIX.", unterzeichnet von Herzog Heinrich.^® 3b.) Bl. В Ib-B 2a: „Credentz an Doctor Hildten.", datiert Wolfenbüttel „am tag Stephani Prothomartyris. An. etc. XXXIX." 3c.) Bl. В 2a-B 2b: „Werbung an Cardinal Ertzbischoff zü Mentz." 3d.) Bl. В 3a-B 4a: „Copei der instruction und memorial zetteil an doctor Hildten." 4.) Bl. В 4a-C la: Das Schuldbekenntnis des Sekretärs Stephan Schmidt, datiert 16.3.1539 „zü Cronberg" mit einem eigenhändigen Anhang zum Schuldbekenntnis des Stephan Schmidt auf Bl. С Ib-C 2a.

75 PhvH, „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" Bl. LXXXVIIb. 76 Auch im StAM, PA 502, dort datiert auf den 26.12.1538.

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Die Publikationen von Juli 1539 bis Febraar 1540

5.) Bl. С 2a-D Ib: Landgraf Philipps Schreiben an Herzog Georg von Sachsen, datiert (Hessisch-)Lichtenau, 23.1.1539, mit beigelegtem Zettel auf Bl. D Ib-D 2a. 6.) Bl. D 2a-E 2a: Herzog Heinrichs „erst schrifft" an Joachim von Brandenburg, datiert Pilsen, 9.2.1539. 7.) Bl. E 2a-H 3b: Das Frankfurter Schreiben der beiden schmalkaldischen Bundeshauptleute an den Kurfürsten Joachim von Brandenburg, ohne Datum." 8a.) Bl. H 3b-H 4a: Begleitschreiben Heinrichs an die Kurfürsten von der Pfalz und Brandenburg zum nachfolgenden Dokument (Nr. 8b.), datiert 9.4.1539. 8b.) Bl. H 4 a - 0 4a: Herzog Heinrichs „Widerschrift" an die Kurfürsten von der Pfalz und Brandenburg, datiert Wolfenbüttel, 31.3.1539. 9.) Bl. О 4a-Z 4b.a la-c 3b: „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben"''« des sächsischen Kurfürsten und hessischen Landgrafen an die Kurfürsten von der Pfalz und Brandenburg, datiert 14.9.1539. Nicht nur der Versand durch Boten, sondern auch ein Käuferinteresse ist für die hessische Publikation „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" belegt. Der Stadtschreiber Franz Pehem in Altenburg bat am 25.12.1539 Stephan Roth um Zusendung dieser Schrift: Der Landgraf habe ein Buch gegen Herzog Heinrich drucken lassen, dessen Umfang 25 Bogen betrage, worin die Briefe enthalten seien, die bei der Gefangennahme des braunschweigisch-wolfenbüttelschen Sekretärs gefunden worden seien.^^ Offensichtlich bat Roth Christoph Schramm in Wittenberg, er möge das gewünschte Buch besorgen. Schramm hat wohl bis zum 23.1.1540 noch kein Exemplar dieser Schrift zu Gesicht bekommen, das er an Stephan Roth nach Zwickau hätte weiterschicken können.®" Die publizistische Reaktion des durch das kursächsische „Widerschreiben" und den „Wahrhaftigen und gründlichen Bericht" aus der hessischen Kanzlei geradezu doppelt herausgeforderten Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel sollte, wie sich zeigen wird, in einigen Monaten erfolgen.«'

η Die Ortsangabe .Frankfurt" (hier: JFvS/PhvH, „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" Bl. Η 3b) weist auf die Entstehungszeit während der Frankfurter Verhandlungen hin, also die Monate Februar oder März des Jahres 1539. Das entspricht dem Wortlaut von JFvS/PhvH, „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben", vgl. 2.1.5. Orthographische Differenzen bleiben hier allerdings unberücksichtigt. Der Eigentümer des »Exemplars UB Mr VIII В 443 m hat diese Zäsur auf Bl. О 4a handschriftlich in seinem Exemplar vermerkt. Sie ist im Druckbild nicht sehr deutlich wahrzunehmen. 79 Buchwald, S. 192f., Nr. 605. 80 Buchwald, S. 193, Nr. 608. 81 Vgl. unten unter 2.5.

Veröffentlichung des Goslarer Rechtsstreites (nach dem 23.7.1539)

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2.2. Die Veröffentlichung des Rechtsstreites der Stadt Goslar mit Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel vor dem Reichskammergericht nach dem 23.7.1539 In sachlich sehr enger Verbindung zu den beschriebenen ersten Publikationen der beiden schmalkaldischen Bundeshauptleute gegen Herzog Heinrich steht der folgende, durch die schmalkaldische Stadt Goslar der Öffentlichkeit vorgebrachte Druck ,Citation und Vorbescheid wider Heinrich von Braunschweig". Die freie Reichsstadt Goslar, die inmitten des Herzogtums BraunschweigWolfenbüttel lag, befand sich - anders als der ursprünglich mit Herzog Heinrich verbündete hessische Landgraf Philipp - auf geradezu natürliche Weise in stetigem Streit mit dem Wolfenbütteler Herzog. Gegenstand des Streites bildeten Rechte und Besitzungen am Bergbau am Rammeisberg und an den Harzforsten im Süden der Stadt. Nach dem Übergang der Stadt zur Reformation 1528 verschärften sich die Konflikte mit dem konsequent altgläubigen Herzog. ^^ Schon 1531 trat die schutzbedürftige Stadt Goslar dem protestantischen Bund bei. Ein besonderer Anstoß für den Konflikt war der „Fall" des vermißten ehemaligen Syndikus der Stadt Dr. Konrad Dellinghausen. Er war unter kaiserlichem Geleitschutz vom Augsburger Reichstag 1530 in Richtung Goslar geritten. Bei (heute: Bad) Homburg v.d. Höhe (Hessen) wurde er von Unbekannten gefangen genommen und wurde danach nie mehr gesehen. Über das Verschwinden Dellinghausens war allerlei Gerede entstanden und auch in der späteren Publizistik der Schmalkaldener finden sich explizit Verdachtshinweise auf Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel, daß er Dellinghausen in sein Territorium habe entführen lassen, wo er dann in der Haft vergiftet worden sei.®^ Um die Jahreswende 1538/39 mehrten sich erneut die Übergriffe Heinrichs gegen Goslarer Bürger. Die Klagen der Goslarer, die gegen Heinrich vor dem Reichskammergericht erhoben wurden, schienen erfolglos zu bleiben, bis schließlich doch am 23.7.1539 der kaiserliche Pronotarius am Kammergericht, Caspar Hamerstetter, Herzog Heinrich und etliche seiner Untertanen vor das Gericht lud, um den Mordverdacht im Fall Dellinghausen zu entkräften. Als Gerichtstermin wurde der 19.11.1539 anberaumt. Die Stadt Goslar entschied sich, diese für ihre Prozeßsachen günstige Ladung als Druck zu veröffentlichen. Formal ein rein gerichtlich-administratives Dokument, stellt seine Veröffentlichung als Druckschrift doch einen beachtenswerten Beitrag zur kirchenpolitischen Publizistik des Jahres 1539 dar. 82 Gundmar Blume, Goslar und der Schmalkaldische Bund 1527/31-1547, Goslar 1969, S. 10-46. 83 Ohne Namensnennung wird kurz darauf angespielt im JFvS/PhvH, „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" Bl. В 4b; ausführlicher dort Bl. К Ib-K 4a.

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Die Publikationen von Juli 1539 bis Februar 1540

Diese (deshalb sogenannte) Goslarer Publikation ist die dritte Publikation eines Mitgliedes des Schmalkaldischen Bundes aus dem Spätherbst 1539, die sich gegen Herzog Heinrich richtete, neben dem kursächsischen „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" und dem hessischen „Wahrhaftigen und gründlichen Bericht"*^. Alle vorhandenen Belege sprechen dafür, daß die Goslarer die Herstellung dieser Publikation und damit ihren Eintritt in die jetzt vor der kirchenpolitischen Öffentlichkeit ausgetragenen Auseinandersetzung gegen Herzog Heinrich nur in Absprache mit den beiden Bundeshauptleuten des Bundes leisten konnten. Die Absicht, die hinter der Veröffentlichung stand, war, entweder auf Heinrich einen solchen politischen Druck auszuüben, daß er sich der erfolgten Ladung (Zitation) in keiner mehr irgendwie glaubwürdigen Weise würde entziehen können oder (bei Nichteinhalten des Termins) öffentlich machen zu können, daß der Herzog den Termin nicht wahrgenommen habe. Dieses mußte in seiner Wirkung faktisch einem öffentlichen Schuldeingeständnis seinerseits gleichkommen. Koldewey hebt verkürzt nur das persönliche Motiv in der Veröffentlichung des Drucks hervor, wenn er in ihm nur einen Akt der Rache der geschädigten Goslarer Bürger an Herzog Heinrich sieht.®^ Bemerkenswert ist femer, daß es sich hier um eine Publikation einer Stadt aus dem Schmalkaldischen Bund handelt, die nicht wie das kurfürstlich-landgräfliche „Ausschreiben an alle Stände" vom 13.11.1538®^ sich politisch-öffentlich gegen das Reichskammergericht richtet. Anders als beim „Ausschreiben" bedient man sich hier vielmehr gerade der (hier anerkannten) Autorität des Gerichtes, um Herzog Heinrichs rechtswidrige „Praktiken" aufzuzeigen. Die ursprüngliche Ladung an Heinrich ist auf direktem Wege vom Reichskammergericht aus erfolgt und nicht auf indirektem Weg in der gedruckten Form geschehen. Mit ihr muß der Weife im Herbst 1539 konfrontiert worden sein. Da eine Druckerei in Goslar zu diesem Zeitpunkt nicht vorhanden war®^, fungierte wie schon bei den Erstausgaben der schmalkaldischen Publikationen „Ausschreiben an alle Stände" im Dezember 1538 und „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" im Oktober 1539 als Drucker Georg Rhau aus Wittenberg. Der Druck trägt den Titel: „Citation vnd vor = II beschied des Key = II serlichen Camerge II richts zu Speyer / Widder Hertzog Heinrichen II von Braunschwig / vnd etliche II seine vnterthanen. II Durch die Stad Gosslar aus = II gebracht. II 1539 II".®® 84 Vgl. 2.1.5. und 2.1.6. 85 Koldewey, S. 11. 86 Vgl. 1.1.2. 87 Die erste Druckerei eröffnete dort im Jahre 1604 laut Benzing, Buchdrucker, S. 160f. 88 Bibliographischer Hinweis: VD 16: D 1184.

Veröffentlichung des Goslarer Rechtsstreites (nach dem 23.7.1539)

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Die Schrift enthält außer dem Schreiben des Reichskammergerichtes vom 23.7.1539 an Herzog Heinrich^' noch eine viermal so umfangreiche Aufzählung der Punkte, mit denen Goslar seine Klage gegen Heinrich beim Reichskammergericht begründet hatte, die sogenannten „Goslarischen Purgation Artikel".^" Für die politische Bewertung des Goslarer Drucks muß geklärt werden, wann der Druck der Goslarer an die kirchenpolitische Öffentlichkeit gelangt ist. Als Alternative stellt sich die Frage: Wurde sie vor oder nach dem 19.11.1539, dem Termin für das Erscheinen Heinrichs von Wolfenbüttel vor dem Gericht, publiziert? Die Herausgeber von WA.B 8 vermuteten, daß Luther bereits am 13.10.1539 ein Exemplar des Goslarer Drucks an Herzog Albrecht von Preußen geschickt habe.^' Wenn dies stimmen sollte, hätte die Publikation tatsächlich den Zweck gehabt, die gerichtliche Ladung so rechtzeitig öffenüich bekannt zu machen, daß Heinrich - nicht zuletzt durch den entstehenden Druck durch die öffentliche Meinung - den Verhandlungstermin auf jeden Fall wahrnehmen mußte. M. E. handelte es sich in der Beilage zu Luthers Brief an Albrecht aber um ein Exemplar des kursächsischen „Widerschreibens auf Heinrichs Schreiben", das eine unmittelbare „Anti-Heinrich-Publikation" darstellt und am 13. Oktober in Wittenberg gerade fertiggestellt gewesen sein dürfte. Denn es ist nicht außer Acht zu lassen, daß Georg Busch in Wittenberg erst sechs Wochen später, am 29.11.1539, Bücher im Auftrag Georg Rhaus an Stephan Roth schickte, worunter auch ein Druck der „Zitation und Vorbescheid wider Heinrich von Braunschweig" gewesen sein muß: „Hirmit uberschickt euch mein herr Georg Rhaw . . . und 1 Citación [,] welchs er euch schenckt als was newes, denn wir haben die Zitacion noch nicht lassen ausgehen aus fürstlichem befehl, denn es sol noch ein weil heimlich sein... Deutlich geht daraus hervor, daß ohne die Zustimmung des sächsischen Kurfürsten nicht nur allgemein die Erlaubnis zum Druck dieser Schrift erfolgte, sondern er selbst den terminus a quo der Verteilung des schon fertiggestellten Drucks bestimmt hat. Die technische Vorbereitung muß demnach vor dem 29.11.1539 geschehen sein, während die Verbreitung des Drucks in der kirchenpolitischen Öffentlichkeit aus kurfürstlicher Perspektive offenbar erst ihren Sinn machte, als der gerichtliche Ladungstermin an Herzog Heinrich am 19.11.1539 verstrichen war (oder andere Konstellationen eingetreten waren, die die Veröffentlichung terminlich mitbestimmten). Weshalb sollten die fertigen Exemplare bei Rhau sonst zurückgehalten werden? Erst in den letzten Novembertagen lag dem Ausgehen des Drucks als „was newes" nichts mehr im Wege, zumal niemand der Geladenen in Speyer bei Gericht erschienen war.^^ 89 ,Citation und Vorbescheid wider Heinrich von Braunschweig" Bl. A 2a-A 4b. 90 .Citation und Vorbescheid wider Heinrich von Braunschweig" Bl. В la-D 4a. 91 WA.B 8, S. 566-567, Nr. 3393, hier S. 567 Anm. 2. Vgl. S.llO. 92 Buchwald, S. 192, Nr. 602. 93 Gundmar Blume, Goslar und der Schmalkaldische Bund 1527/31-1547, Goslar 1969, S.62.

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Die Publikationen von Juli 1539 bis Februar 1540

Der Goslarer Druck „Zitation und Vorbescheid wider Heinrich von Braunschweig" steht nicht nur wegen des gemeinsamen publizistischen Angriffs auf den Wolfenbütteler, des gemeinsamen Druckers Georg Rhau und des in etwa gleichzeitigen Erscheinungsdatums (Oktober bis November 1539) in enger sachlicher Verbindung zum kursächsischen „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben". Als weiteres Indiz für das enge sachliche und zeitliche Verhältnis zwischen den Publikationen ,Citation und Vorbescheid wider Heinrich von Braunschweig" und „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" sei darauf hingewiesen, daß das Exemplar der „Zitation" in der Bayerischen Staatsbibliothek München an ein Exemplar des „Widerschreibens" angebunden wurde und zwar sehr wahrscheinlich schon von einem zeitgenössischen Binder. Einige Hinweise geben darüber Aufschlüsse, wie der Goslarer Druck der „Zitation" verbreitet worden ist. 1. Im Dezember 1539 sind gedruckte Exemplare von „Zitation und Vorbescheid wider Heinrich von Braunschweig" von Wittenberg aus verkauft worden.^'* 2. Albrecht von Mainz erhielt ein Exemplar einer reichskammergerichtlichen Ladung - es ist nicht auszuschließen, daß es ein Exemplar der Goslarer Publikation war - zusammen mit einem landgräflichen Anschreiben und dem hessischen Druck „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" durch den Landgrafen nach dem 24.11.1539 zugesandt, was er der landgräflichen Kanzlei am 4.12.1539 bestätigte.®^ 3. Wenn Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel mit seiner Schrift „Andere Antwort auf das falsche Libell" vom 24.11.1539 in seiner Kritik nicht nur auf die auf direktem Wege erfolgte gerichtliche Ladung reagierte, sondern auf die mittlerweile erfolgte kirchenpolitische Publikation der Goslarer gegen ihn anspielt, hätte die gedruckte Fassung der ,JZitation" schon vor dem 24.11.1539 in Wolfenbüttel vorgelegen.^® Mangels weiterer Hinweise ist das aber nicht zu entscheiden. 4. Bemerkenswert ist die Tatsache, daß der hessische Landgraf Philipp in seiner nächsten Schrift „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" in einem Anhang die schon in „Zitation und Vorbescheid wider Heinrich von Braunschweig" gedruckten Klagegründe der Stadt Goslar erneut veröffentlicht hat, ohne dabei schon die danach erhobenen Vorwürfe Heinrichs in der Goslarer Angelegenheit aus dessen Schrift „Andere Antwort auf das falsche Libell" zu entkräften.®^ Offensichtlich wollte Philipp, der politisch eng mit dem Goslarer Bürgermeister Christian Balder zusammenarbeitete, noch

9't Buchwald, S. 192, Nr.604, wonach Christoph Schranun an Roth am 23.12.1539 „2 Citación" übersandte. 95 StAM, PA 523, 4, fol. 269. 96 HvBrW, „Andere Antwort auf das falsche Libell" Bl. P3a; vgl. femer unten unter 2.5.3. PhvH, „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" Bl. CXXVIaCXXXVa.; vgl. dazu 3.3.1.

Fürstenpflicht und Gottesdienstreform bei Melanchthon

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einmal darauf aufmerksam machen, daß diese Klagegründe nach wie vor ihre Aktualität nicht eingebüßt hatten, auch wenn der an Heinrich ergangene Termin für den aus protestantischer Perspektive heiß erwarteten Prozeß am 19.11.1539 ohne Ergebnis verstrichen war. In der parallelen Übersetzung, der „Apologia, latinitate donata", erschienen die Goslarer Klagegründe auch in lateinischer Sprache. 5. Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel bezog sich explizit auf den in Wittenberg hergestellten Druck der Goslarer in seiner Schrift „Dritte Antwort auf des Landgrafen Lästerschrift" vom 22.7.1540.^®

2.3. Die Fürstenpflicht zur Gottesdienstreform in Melanchthons Publikationen 1539/40 2.3.1. „De officio principum" vom Oktober 1539

2.3.1.1. Kirchenpolitische Hintergründe Die dritte kirchenpolitische Publikation Philipp Melanchthons aus dem Jahre 1539, nämlich „De officio principum", schließt inhaltlich sowohl an die „Sententiae, quae docent promovere Evangelium" vom April 1539'^ als auch an „De ecclesiae autoritate" vom 24.6.1539'''® an. „De officio principum" ist eine im Blick auf die Fürsten ausgearbeitete Fassung der in der Vorrede zu den „Sententiae" vertretenen Aufforderung, daß es die der Heiligen Schrift gemäße und jedem Christen obliegende Pflicht sei, das Evangelium zu f ö r d e r n . D i e daraus abgeleitete konkrete Aufgabe, für den rechten, „evangeliumsgemäßen" öffentlichen Gottesdienst zu sorgen, kommt laut „De officio principum" im Falle des Versagens der zuständigen Bischöfe den fürstlichen Obrigkeiten und den städtischen Magistraten zu. Melanchthons Publikation ist der Grundriß eines „reformatorischen Fürstenspiegels""^^, zugespitzt auf die Einschärfung der Pflicht zur „cura religionis". 98 HvBrW, „Dritte Antwort auf des Landgrafen Lästerschrift" Bl. D 3a-D 3b. 99 Vgl. 1.2.2. 100 Vgl. 1.3.4. 101 „In quocunque vitae genere versaris, effice, ut luceat confessio, ut aliquid consilii et operae conféras ad provehendum Evangelium. Si geris magistratum, si gubemas aliorum Consilia, si civis es, memineris totam hanc vitae societatem principaliter ad hunc finem divinitus institutam esse, ut Deus innotescat, ut alii alios de vera religione doceant.", zitiert nach CR 23, 755. 102 Zum ,4-eformatorischen Fürstenspiegel" vgl. vor allem Bruno Singer, Der Fürstenspiegel in Deutschland im Zeitalter des Humanismus und der Reformation, München 1981, passim, hier bes. S. 38-44. Es ist eine bemerkenswerte Lücke, daß gerade Melanchthons Werk „De officio principum" in Singers Bibliographie der Fürstenspiegel von 1400 bis 1600 nicht aufgenommen worden ist.

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Die Publikationen von Juli 1539 bis Februar 1540

Seine Veröffentlichung bezieht sich auf die kirchenpolitische Situation des Jahres 1539, besitzt aber in der gedruckten lateinischen Erstausgabe keine Vorrede an einen speziellen Adressaten, woraus spezifische Hintergründe ihrer Entstehung oder des ihr vom Autor beigelegten Zweckes entnehmbar wären. Laut Robert Stupperich sind die kirchenpolitischen Hintergründe für diese Schrift ganz allgemein der Übergang des Herzogtums Sachsen nach dem Tode Herzog Georgs im April 1539 an seinen für die Reformation votierenden Bruder Heinrich mit den damit verknüpften Veränderungen im albertinischen Sachsen'°^ sowie die Vorbereitungen zur Umgestaltung des Kirchenwesens in Kurbrandenburg unter dem Kurfürsten Joachim II. 1539/40, an welchen sich neben Georg Witzel eben auch Melanchthon aktiv beteiligte. In einem Brief an Johannes Brenz vom 8.1.1540 nannte Melanchthon rückblickend ein Gespräch mit Johannes Gogreff (Gogreve), dem Kanzler des Herzogs von Jülich, als weiteren Hintergrund seiner Beschäftigung mit dem Problem und der Reichweite der Fürstenpflicht in Bezug auf die Behebung der kirchlichen Mißstände: „De officio Principum scripsi propter luliacensem Cancellarium, cum quo eadem ad verbum disputavi."'"^ Die Herzöge von Jülich-Kleve, Johann III. (gest. 7.2.1539) und Wilhelm V. (seit 1538 schon Herr über Geldern, Regent 1539-1592'°^), vertraten ein kirchenpolitisches Reformprogramm, das stark von der Theologie des Erasmus von Rotterdam beeinflußt war, aber auch Kontakte mit den Repräsentanten der Wittenberger Theologie einschloß. Es berührt sich zum Teil mit dem kirchenpolitischen Programm Kurbrandenburgs. Das Bemühen der Herzöge von Jülich war besonders dahin gerichtet, Fragen der geistlichen Jurisdiktion, der Pfründenvergabe und der kirchlichen Reformen unter Hintansetzung der Rechte des Episkopats in ihrem Territorium durch Visitationen und Edikte selbständig zu regeln, ohne einen expliziten Bruch mit der altgläubigen Seite zu riskieren.

103 Vgl. dazu Günther Wartenberg, Die Entstehung der sächsischen Landeskirche von 1539 bis 1559, in: Helmar Junghans (Hrsg.). Das Jahrhundert der Reformation in Sachsen, Berlin 1989, S. 67-90. 104 So Stupperich als der Hrsg. der Mel-StA I, S.387. Der Zusammenhang zwischen Melanchthons Schrift und den neuen Kirchenordnungen in diesen Territorien wurde von Johannes Cochläus in seiner Schrift „Philippica quinta in tres libellos Philippi Melanchthonis" Bl. L 3a hervorgehoben. 105 CR 3, 924-925, Nr. 1915, hier 924; vgl. MBW 3, Nr. 2348. 106 Der junge, 1516 geborene Herzog Wilhelm V. von Jülich-Kleve-Geldern wurde dann auch der Adressat der Widmungsrede, die der Wittenberger Übersetzer von „De officio principum", Georg Maior, mit Melanchthons Einwilligung vorgenommen hat. Vgl. unten S. 125. 107 Heribert Smolinsky, Art. ,Jülich-Kleve-Berg", in: Die Territorien des Reiches im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung 3 - Der Nordwesten, hg. von A. Schindling und W. Ziegler, KLK 51, Münster 1991, S. 87-106, bes. S. 93. Die Kirchengeschichtsschreibung schwankt in ihrer Bewertung: Entweder habe Wilhelm die Reformation einführen wollen, sei aber gescheitert, oder er habe prinzipiell einen reformkatholischen Mittelweg verfolgt. Vgl. zur Jülich-Kleveschen Kirchenpolitik auch Luttenberger, S. 117-118, 122.

Fürstenpflicht und Gottesdienstreform bei Melanchthon

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Das Buch „De officio principum" war von seinem Autor ursprünglich als eine Beigabe zu seiner vorangegangenen Schrift „De ecclesiae autoritate" vorgesehen.'"® Diese Publikation hatte ihrerseits mit dem Appell an die in besonderer Weise Verantwortlichen geschlossen, sich der Bewahrung der Kirche im Sinne der von Melanchthon skizzierten ekklesiologischen Grundsätze anzunehmen. Das unterstreicht die von Melanchthon beabsichtigte Verwandtschaft der Themen von „De ecclesiae autoritate" und „De officio principum". „De officio principum" wurde aber im August/September 1539 nicht mehr rechtzeitig zusammen mit „De ecclesiae autoritate" fertig, um noch an die zur Michaelismesse verkaufsfertige Kirchen-Schrift angefügt werden zu können. Dazu kam es auch bei späteren Ausgaben nicht mehr. Hingegen wurde „De officio principum" später in Melanchthons „Philosophiae moralis epitome" integriert. Für die Fertigstellung der ersten Druckexemplare von „De officio principum" ist ca. die erste Oktoberhälfte des Jahres 1539 anzunehmen, denn in einem Brief Melanchthons an Veit Dietrich vom 26.10.1539 geht Melanchthon davon aus, daß Dietrich diese neue Publikation schon gelesen habe.''' Der Drucker der lateinischen Erstausgabe in Wittenberg ist wie schon bei der vorhergegangenen Schrift Melanchthons „De ecclesiae autoritate" Josef Klug. Als Adressaten kommen neben der kirchenpolitischen Öffentlichkeit (im allgemeinen) speziell die reformwilligen Fürsten, ihre Räte und die städtischen Magistrate in Betracht. Eine vorangestellte Widmungsrede an einen einzelnen Fürsten wie noch bei „De ecclesiae autoritate" an Albrecht von Preußen, bei vielen zeitgenössischen Fürstenspiegeln und auch zwei der drei deutschen Ausgaben von Melanchthons Fürstenschrift fehlt bei der lateinischen Ausgabe von „De officio principum". Vielleicht sind persönliche Widmungsschreiben dem Druck beigegeben worden, wenn er durch Melanchthon selber oder aus seinem Umfeld aus Wittenberg verschickt worden ist. Nicht eindeutig zu beantworten ist die Frage, ob Melanchthon eines der ersten Exemplare seiner Schrift „De officio principum" bei seinem Besuch im Oktober 1539 auch dem brandenburgischen Kurfürsten Joachim II. überreicht hat."2

t 0 8 M e l - S t A l , S . 3 2 3 , 387. •09 So Melanchthon in einem Brief an Friedrich Myconius in Leipzig vom 9.9.1539, vgl. CR 3, 772-773; auch Nr. 1848, hier 773; vgl. MBW 2, Nr.2270. 110 Vgl. unten S. 123. 111 „Legisse te arbitrer brevem disputationem a me editam, de officio principum . . . ", in: CR 3, 800-803, Nr. 1866, hier 803, vgl. MBW 2, Nr. 2294. Es muß einer der Wittenberger Erstdrucke bei Josef Klug gewesen sein. Bibliographischer Hinweis: VD 16: M 3986. 112 Walter Delius, Die Kirchenpolitik des Kurfürsten Joachim II. von Brandenburg in den Jahren 1535-1541, in: JBBKG 40 (1965), S. 86-123, hier S. 108. Zur Kirchenpolitik einer „via media" des Brandenburgers vgl. auch Manfred Rudersdorf/Anton Schindling, Art. „Kurbrandenburg", in: Die Territorien des Reiches im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung 2 - Der Nordosten, hg. von A. Schindling und W. Ziegler, KLK 50, Münster 1990, S. 34-66, bes. S. 40-43.

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Die Publikationen von Juli 1539 bis Februar 1540

2.3.1.2. Die Pflicht zur „cura

ecclesiae"

Die Frage, deren Beantwortung sich der Autor mit seiner Schrift stellt, lautet: Ob die Fürsten verpflichtet sind, Unrechte Kirchenbräuche zu ändern, wenn die Bischöfe oder höhere Obrigkeiten bei ihnen nicht nachgeben oder sie verhindern? Die Gegner (auf altgläubiger Seite) bestreiten nämlich laut Melanchthon die reformatorische Auffassung, daß auch Nichtkleriker für die „cura ecclesiae" Verantwortung tragen: So behaupten viele, daß die Sorge um die Ordnung der Kirche nicht den Laien zukomme, sondern erstrecke sich nur auf die Bischöfe. Niemand dürfe für sich eine fremde Berufung (zu einer solchen „cura") hinzufügen. Andere behaupten, daß der Autorität einer höheren Obrigkeit Gehorsam geleistet werden muß, da eine höhere Obrigkeit gegenüber einer niedrigeren Obrigkeit das größere Recht in der Sache habe. Demgegenüber setzt Melanchthon seine These: „Principes et magistratus debere impios cultus tollere et efficere, ut in Ecclesiis [Plural! D.h. hier mit „Gemeinden" zu übersetzen] vera doctrina tradatur et pii cultus proponatur."''^ Für diese von altgläubiger Seite bestrittene These hat er acht Begründungen: Aus dem Charakter des Bekenntnisses folgt erstens eine einfache Mitteilungspflicht über die wahre Lehre. Sie gilt zweitens besonders für die Obrigkeiten.·'^ Drittens ist es auch die Pflicht der Obrigkeit, weil sie Wächter über die erste und zweite Tafel des Gesetzes ist"^, gemäß des 1. und 2. Gebotes Götzendienst und Gotteslästerungen zu verhindern.'" Der vierte Grund ist genommen von der Beispielspflicht der Eltern, die analog für die Obrigkeit besteht."^ Fünftens sollen bei Versagen der Bischöfe die „praecipua membra Ecclesiae" einschreiten. Das sind die Fürsten der Territorien und die Magistrate der Städte. Sechstens darf man mit den Verfolgern der wahren Kirche keine Gemeinschaft haben.'^" Die siebente Ursache liegt im Naturgesetz, welchem zufolge menschliches Leben daraufhin ausgerichtet ist, „ut Deus innotescat".'^' Achtens und letztens sollen alle Menschen anderen keine Ärgernisse bereiten. Von den Gegnern werden vier Einsprüche geltend gemacht. Diese Einsprüche lauten:

113 Mel-StA 1, S.388, 1-3.6-12.15-17.18-20. i i t M e l - S t A l , S.389, 20-21. 115 Mel-StA 1 , 8 . 3 8 9 , 3 1 - 3 2 . 116 Mel-StA 1,8.390, 14-15. H7Mel-8tAl, S.390, 18-19. i i 8 M e l - 8 t A l , S.392, 20-32. 119 Mel-StA 1, S.392, 33-393, 2. 120 Mel-StA 1, S. 393, 37-394, 4. 121 Mel-StA 1,8.394, 31-32. 122 Mel-StA 1, 8.397, 15-398, 20.

Fürstenpflicht und Gottesdienstreform bei Melanchthon

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1. Das Amt der Obrigkeit erstreckt sich nicht auf die Seele, sondern nur auf den К0фег.'23 2. Niemand soll sich in ein fremdes „officium" hineinmischen. Das Kirchenregiment geht (ausschließlich) Bischöfe, nicht (weltliche) Obrigkeiten etwas an. 124 3. Vor dem Beschluß einer Synode sollen keine Veränderungen vorgenommen werden. 4. Die niedrigeren Obrigkeiten müssen die Befehle empfangen und ausführen, die die höheren Obrigkeiten ihnen geben. Melanchthon weist diese Einsprüche zurück, indem er ihre Position auf die vorhergehenden Thesen bezieht. Seine Schrift schließt mit der eindringlichen Bitte an die Fürsten, alles der Kirche und Schule Förderliche zu tun. Nur wo Kirche und Schule in entsprechender Weise gefördert werden, sei die „wahre" Kirche zu finden. 2.3.1.3. Kirchenpolitische

Anspielungen

Wie gezeigt, liegt der Ausgangspunkt von Melanchthons Beschäftigung mit der Frage der Fürstenpñicht für den rechten Gottesdienst in besonderer Weise in der aktuellen kirchenpolitischen Lage begründet, wie sie sich 1539 darstellte. An drei Stellen konkretisiert sich die Kritik Melanchthons an aktuellen kirchenpolitischen Verhältnissen: 1. Im Zusammenhang mit der Frage nach der rechten Verwendung der Kirchengüter wendet er sich deutlich gegen die religiös-ethische Praxis in den Stiften. Es gebe viele hoch begüterte Stifte für Kanoniker und Mönche, in denen entweder keine „literati" sind, oder, wenn es sie dort gibt, diese ihre Bildung gerade zum Abschneiden der Wahrheit und zur Gefährdung der Kirche Christi gebrauchen. Unterdessen wird dort vielfältig Götzendienst durch die Entheiligung der Messe („prophanatio missarum") und die Anrufung der Heiligen geübt. Die meisten Kanoniker dort leben schuldbefleckt ihren Begierden. 2. Scharf wendet sich Melanchthon gegen jeden Anspruch päpstlicher Superiorität. Er vergewissert sich in seiner Ablehnung theologisch-exegetisch durch den Hinweis auf die Auseinandersetzung zwischen Petrus und Paulus in Antiochia (Gal 1, 17ff.).i28

123 Mel-StA 1 , 8 . 3 9 9 , 3 1 - 3 3 . 124 Mel-StA 1,8.401, 4-7. 125 Mel-StA 1, 8.402, 14-16. Über die Option für ein Generalkonzil oder eine Zusammenkunft auf nationaler Ebene ist durch die Verwendung der Bezeichnung „Synode" nichts entschieden. Der Terminus wird von Melanchthon hier nicht spezifisch verwendet. Vgl. Mel-StA 1, S.404, 6. 126 Mel-StA 1,S.405, 18-21. 127 Mel-StA 1, 8.401, 37-402, 5. 128 Mel-8tA 1, 8.403 passim.

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Die Publikationen von Juli 1539 bis Februar 1540

3. Die einzige kirchenpolitische Person aus dem Kreis der Altgläubigen, die Melanchthon in „De officio principum" konkret benennt und kritisiert, ist der Kardinallegat Hieronymus Aleander (1480-1542): Als der Kardinal Aleander nach Österreich gekommen sei, sei dort ein Wüten wieder entstanden, und, allein um dem päpstliche Legaten zu gefallen, sind viele Fromme („pii") aufs Grausamste umgebracht w o r d e n . D a b e i sei doch Aleander Mitglied jenes Kardinalsausschusses^^" gewesen, der gerade erst Hoffnung auf „moderatio" geweckt hatte. 2.3.1.4. Erfolgte Neu- und Nachdrucke und die Frage nach einer Übersetzung Das Werk „De officio principum" erschien auch lateinisch in separaten Ausgaben bzw. zusammengedruckt mit anderen Schriften anderer Autoren mehrfach 1540/1541: Ein lateinischer Neudruck des Wittenberger Erstdrucks von 1539 erschien bei Josef Klug 1540.'^' Ebenfalls aus dem Jahr 1540 stammt eine lateinische Ausgabe bei dem Augsburger Drucker Philipp Ulhart.'^^

129 Mel-StA 1, S.404, 1-3. 5-7. Aus den Berichten Aleanders an die Kurie und seinen Tagebuchaufzeichnungen geht nicht hervor, auf welche Vorfalle in Österreich Melanchthon hier anspielt. In Aleanders Aufzeichnungen überwiegt der Ton der Klage über den Rückgang des katholischen Lebens in den Diözesen Bozen, Brixen, Passau und Innsbruck. Die Situation in den habsburgischen Erblanden sind Gegenstand des Berichtes der Legaten bei Ankunft in Österreich. Vgl. dazu den Bericht Aleanders am 7.9.1538 aus Linz an Farnese, NBD (1. Abt. 1533-1559) Bd.3, S. 147-151, Nr.25; femer den Bericht Mignanellis an Farnese am 6.10.1538, S. 190-192, Nr. 44. Ein gewaltsames Vorgehen gegen lutherische Prediger ist belegt NBD (1. Abt. 1533-1559) Bd.3, S. 193-195, Nr.46. Dabei handelte es sich aber nur um eine Gefangensetzung zweier lutherischer Prediger durch König Ferdinand, nicht um Fälle von Ermordung. Sollte Melanchthon aktuelle Vorfälle überzeichnet haben oder stehen frühere Vorkommnisse im Hintergrund? 130 Das bezieht sich auf jenen Ausschuß, der 1537 die Reformdenkschrift „Consilium de emendanda ecclesiae" erstellt hatte. Durch Indiskretion war das Ergebnis 1538 vorzeitig öffentlich geworden. Laut H. Jedin, Geschichte des Konzils von Trient Bd. 1: Der Kampf um das Konzil, Freiburg 1949, S. 346 erfuhr das „Consilium de emendanda ecclesiae" insgesamt 13 Drucke und 3 Übersetzungen. Von protestantischer Seite wurde es sowohl durch Luther als auch Johannes Sturm aus Straßburg kommentiert. Zwei in Deutschland hergestellte lateinische Ausgaben des „Consilium" sind bibliographisch nachgewiesen in VD 16: С 4922 und VD 16: С 4923; die deutschen Ausgaben sind verzeichnet in VD 16: С 4928, VD 16: С 4929 und VD 16: С 4930. Zu Luthers Ausgabe vgl. WA 50, S.(284) 288-308. Sturms Ausgabe von 1538 ist bibliographisch nachgewiesen in VD 16: С 4924 = VD 16: S 9926 bzw. VD 16: С 4925 = VD 16: S 9927. Der sich für Sturm anschließende Briefwechsel mit dem Kardinal Jacopo Sadoleto ist kommentiert und neu zugänglich gemacht durch Walter Friedensburg, Das Consilium de emendanda ecclesiae, Kardinal Sadolet und Johannes Sturm von Straßburg, in: ARG 33 (1936), S. 1-67. Vgl. VD 16: О 754 = VD 16: S 1252 = VD 16: S 9933. 131 Bibliographischer Hinweis: VD 16: M 3971. 132 Bibliographischer Hinweis: VD 16: M 3969.

Fürstenpflicht und Gottesdienstreform bei Melanchthon

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Zusammengedruckt mit kleineren anderen Werken Melanchthons erschien „De officio principum" 1540 „Mense Augusto" in Basel bei Balthasar Lasius"^ und zusammengebunden (oder nur zusammengeliefert) mit Werken des schlesischen Reformators Ambrosius Moibanus beim Breslauer Drucker Andreas Winkler 1541. Melanchthon integrierte seine Schrift „De officio principum" später in seine erstmals 1538 bei Kraft Müller in Straßburg gedruckte „Philosophiae moralis epitome"'^^, die verändert und erweitert, aber noch ohne „De officio principum" 1539 außer bei Kraft Müller'^^ auch bei Michael Blum in Leipzig „Men. Sept."''^ gedruckt worden war. Als Datum der Integration von „De officio principum" in „Philosophiae moralis epitome" nannte der Herausgeber von CR 16 das Jahr 1540.'^^ VD 16 kennt seinerseits aber keine Druckausgabe der „Philosophiae moralis epitome" von 1540. Gesichert ist die Integration von „De officio principum" in „Philosophiae moralis epitome" mit der Druckausgabe von 1546.^з^ Das Werk Melanchthons ist in den Jahren 1539/40 von verschiedenen Übersetzern ins Deutsche übertragen worden. Die Tatsache, daß nicht nur eine autorisierte deutsche Textfassung des Werkes vorhanden ist, sondern insgesamt sogar drei Übersetzungen, unterscheidet Melanchthons Fürstenschrift von allen anderen kirchenpolitischen Publikationen der Ära der Religionsgespräche. Das öffentliche Interesse an „De officio principum" ist folglich als ein sehr ausgeprägtes anzunehmen. Melanchthon, der ein lateinisches Exemplar von „De officio principum" vor dem 26.10.1539 aus Wittenberg nach Nürnberg an Veit Dietrich geschickt hatte, muß von diesem kurze Zeit später eine Nachricht darüber erhalten haben, daß dieser es einer Übersetzung ins Deutsche unterziehen w o l l e . E i n e solche Ankündigung konnte insofern beunruhigen, da in Wittenberg bereits schon Georg Maior im November an einer Übersetzung von „De officio principum" arbeitete. Am 12.11.1539 teilte Melanchthon diese Übersetzertätigkeit Maiors nach Nürnberg mit, begrüßte aber auch, daß sein Nürnberger Freund und Korrespondenzpartner ebenfalls eine Übersetzung herausgeben wolle.'"*'

133 Bibliographischer Hinweis: VD 16: M 3970. 134 Bibliographischer Hinweis: VD 16: M 3972. 135 Bibliographischer Hinweis: VD 16: M 3961. 136 Bibliographischer Hinweis: VD 16: M 3963. 137 Bibliographischer Hinweis: VD 16: M 3962. 138 CR 16, Prol. S. 19; davon abhängig Hermann Heineck, Die älteste Fassung von Melanchthons Ethik, in: PhM 29 (1893), S. 129-177, hier S. 131; vgl. auch Mel-StA3, S.222 Anm.zu Zeile 31. 139 Bibliographischer Hinweis: VD 16: M 3964 und VD 16: M 3965, neu abgedruckt in: CR 16, 21-163 und in Mel-StA 3, S.(151) 152, 1-301, 22. Darin ist auch der Text des Separatdruckes von „De officio principum" enthalten: CR 16, 85-105 = Mel-StA 3, S.222, 32-243, 2. 140 Ein entsprechender Brief ist jedoch nicht überliefert. 141 CR 3, 823-825, Nr. 1872, hier 824; vgl. MBW 2, Nr. 2304.

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Die Publikationen von Juli 1539 bis Febraar 1540

Wie Melanchthon auf die dritte belegbare Ü b e r s e t z u n g s e i n e s Werkes ins Deutsche reagierte, wissen wir nicht. 2.3.1.4.1. Veit Dietrich: „ Vom Amt der weltlichen Fürsten" Veit Dietrich (1505-1549, seit 1535 Pfarrer in Nürnberg an St. Sebald), der als Publizist zuerst Werke Luthers und dann auch Melanchthons einer weiteren Öffentlichkeit bekannt machte, arbeitete also unmittelbar nach dem Erhalt eines Wittenberger Exemplars von „De officio principum" an einer Übersetzung ins Deutsche (ca. 2. Oktoberhälfte 1539). Dietrich versah sie mit einer eigenen Vorrede.'"*^ Sie ist datiert „Sontag nach Simonis und Jude / Anno 1539"'''^ und wurde laut ihres Impressums noch im selben Jahr bei dem für Dietrich ortsansässigen Nürnberger Drucker Johann Petreius gedruckt.''*^ Als Grund für die Übersetzung hielt Dietrich fest: „Solche schrifft haben etlich an mich begert / das ichs deutschen weit / auff das es weyter unter die leut kommen / und auch bey den / so der lateinischen sprach unbericht / frucht schaffen mócht."'''® Den besonderen Zweck dieser Schrift sah Dietrich in ihrer Fokussierung auf die Frage, was die weltliche Obrigkeit nicht nur allgemein, sondern „in Kirchen sachen" für Aufgaben habe. Veit Dietrich richtete die dem Werk beigegebene Vorrede an den früheren markgräflich brandenburgisch-ansbachischen Kanzler Georg Vogler^'^^: Andere mögen wie er an der Seite der weltlichen Obrigkeit sich für Gottes Wort und den rechten Gottesdienst einsetzen und „nit entweder wider das wort und die reyne lehr ire herschaften reytzeten / oder den gottlosen Bischofen in die hend sehen... Die Vorrede gibt auch Auskunft über einen kirchenpolitischen Kontext, in den Dietrich sich gestellt sah: „Sonderlich aber weil sichs yetz in unser nachbarschafft hat zutragen / Das durch der Papisten getribd / ettliche fromme Prediger wider abgeschaffet sind / und derhalben die / so zu solcher enderung der Kirchen gerathen und geholffen haben / hoch bekümmert sind / hab ich in sonderheyt denselben auch mit diser arbeyt dienen wóllen . . . 1« Vgl. S. 126. из Melanchthon-Dietrich, „Vom Amt der weltlichen Fürsten" Bl. А Ib-A 2a. И4 1.11.1539. 145 Bibliographischer Hinweis: VD 16: M 3973. 146 Melanchthon-Dietrich, „Vom Amt der weltlichen Fürsten" Bl. A Ib. 147 Georg Vogler (Lebensdaten?) war 1524 markgräflich-brandenburgischer Sekretär. Er besaß engen Kontakte zum Nürnberger Ratsschreiber Lazarus Spengler und bereitete den Übergang des Territoriums seines Landesherm zur Reformation mit vor. Als späterer Kanzler Herzog Georgs d. Frommen wurde er im Jahre 1532 gestürzt. Offensichtlich lebte er danach in Nürnberg. Veit Dietrich redet ihn an als jemanden, der „mer dann an einem Fürsten hofe kundtschaft" habe. 148 Melanchthon-Dietrich, „Vom Amt der weltlichen Fürsten" Bl. A 2b. 149 Melanchthon-Dietrich, „Vom Amt der weltlichen Fürsten" Bl. A Ib. Nicht geklärt werden konnte, auf welche Umstände Dietrich hier anspielt. Auf Vorgänge in der Markgrafschaft, aus deren Diensten Vogler ja bereits ausgeschieden war, kann sich Veit Dietrich wohl nicht beziehen. Spielt er etwa auf lokale Vorgänge in Gebieten der fränkischen Ritterschaft an, die sich politisch-

Fürstenpflicht und Gottesdienstreform bei Melanchthon

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Spezielle Hinweise auf die Verbreitung oder Rezeption dieser Übersetzung sind mir nicht bekannt. 2.3.1.4.2. Georg Maior: „Daß die Fürsten aus Gottes Befehl" Maior (1502-1574, seit 1537 Prediger an der Wittenberger Schloßkirche) ist als zeitgenössischer Übersetzer von verschiedenen Werken Melanchthons ins Deutsche bekannt. So übertrug er u. a. auch „De officio principum" ins Deutsche - sicherlich schon von November 1539 an - schrieb dazu eine Vorrede und widmete diese Arbeit wohl zu Jahresbeginn 1540 dem 23jährigen Herzog Wilhelm V von Geldern, Jülich-Kleve und Berg.'^" Der Charakter von „De officio principum" als eines Fürstenspiegels, der sich gewöhnlich an einen jungen Herrscher richtet, tritt dadurch noch deutlicher als bei der von Melanchthon veranlaßten Originalausgabe hervor. Maior ließ seine Übersetzung 1540 bei Josef Klug in Wittenberg drucken.'^' Vergleicht man den Titel mit dem der Übersetzung Dietrichs, so wird bei Maior hervorgehoben, daß die Fürsten nicht nur zur Abstellung der Mißbräuche verpflichtet sind, sondern auch zur Fürsorge für ,^echte Gottesdinst und rechte Christliche lehr". Maiors Vorrede nimmt keinen Bezug auf Umstände oder Veranlassung der Übersetzung. Sie nimmt ihren Ausgangspunkt bei der alttestamentlichen Erzählung von der Treue Jonathans gegenüber David, als Saul ihn umbringen lassen wollte (I Sam 19-22) und seiner Bewahrung und der seiner ganzen Familie (I Chr 8, 34 ff.). Jonathan ist das Beispiel für einen frommen Fürsten, in dieser Geschichte „dise[r] itzige[n] zeit furgemalet".'^^ Der Verweis auf die alttestamentlichen Vorbilder ist ein geläufiger Topos des reformatorischen Fürstenspiegels. Maiors Zuschrift an den Herzog von Jülich nimmt Bezug auf die (auch an Fürstenhöfen vertretene) Meinung, den Fürsten stehe keine Kompetenz zu, „die Kirchen recht zu bestellen und abgótterey abzuthun." Maior hofft, daß Christus den Herzog erwecke wie einst Jonathan zum Bekenntnis und zur Ausbreitung des Evangeliums sowie zum Schutze Davids.''^ Damit dürfte wohl auf die erhoffte politische Unterstützung des Herzogs für die Protestanten angespielt sein.

kirchlich in einer Abhängigkeit der geistlichen Herrschaften Würzburg oder Fulda befanden? Veit Dietrich war selbst Helfer bei der Einführung der Reformation 1542 in den oberpfälzischen Gebieten Heideck, Hilpoltstein und Allersberg, 1542/43 in der Reichsstadt Regensburg, 1544 in Rothenburg o.d. Tauber, 1545 in Donauwörth, 1546 in Ravensberg. Vgl. über ihn und sein Werk umfassend Bernhard Klaus, Veit Dietrich. Leben und Werk, Nürnberg 1958. Zwei weitere Widmungen von Schriften Veit Dietrichs an denselben Georg Vogler erfolgten - laut Bernhard Klaus - 1542 und am 15.12.1547: „Der XX. Psalm Davids", Nürnberg 1542 (bibliographischer Hinweis: VD 16: D 1689) und „Wie die Christen zur Zeit der Verfolgung sich trösten sollen", Nürnberg 1548 (bibliographischer Hinweis: VD 16: D 1674, auch VD 16: D 1675). 150 Melanchthon-Maior, „Daß die Fürsten aus Gottes Befehl": Vorrede auf Bl. A Ib-A 4b. 151 Bibliographischer Hinweis: VD 16: M 3975. 152 Melanchthon-Maior, „Daß die Fürsten aus Gottes Befehl" Bl. A За. 153 Melanchthon-Maior, „Daß die Fürsten aus Gottes Befehl" Bl. А 3a-A 3b.

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Die Publikationen von Juli 1539 bis Februar 1540

Die kirchenpolitische Einschätzung der Zeit durch Maior ist geprägt von einem ausgeprägten apokalyptischen Bewußtsein. Die Chancen zu einer Reform der Kirche durch den Papst werden als äußerst gering eingestuft. Über Reaktionen auf diese Übersetzung ist nichts bekannt. 2 3.1.4.3. Anonymus: „ Vom Amt der Fürsten" Von einem unbekannten Übersetzer stammt eine dritte deutsche Fassung von „De officio principum" neben denen Dietrichs und Maiors, die 1540 beim Straßburger Drucker Sigmund Bund gedruckt wurde. Ihr Titel lautet: „VOnn dem Ampt II der Fürsten / vnd welcher ge = II stalt Jnen das auß Gottes befelch aufflegen II thûe die abstellung der Mißbräuch II in den Kirchen. II Durch Philippum Melanchton II Newlich im Latein außgangen / vnd II jetzt verteütscht. II M. D. XL. I I " . ' " Diese Ausgabe enthält keine Widmung oder Vorrede, die Hinweise auf den möglichen Übersetzer enthalten könnte oder die anvisierten Adressaten von „Vom Amt der Fürsten" über die allgemeine kirchenpolitische Öffentlichkeit hinaus. Wahrscheinlich ist, daß diese Übersetzung wohl hergestellt worden ist, ohne daß Melanchthon davon Kenntnis hatte. Vielleicht ist hier (wegen der Herkunft des Druckers) ein oberdeutscher oder Straßburger Theologe am Werk gewesen. Eine vergleichbare Situation, Übersetzung ins Deutsche ohne Einwilligung des Autors, ist im selben Jahr auch für eine - wenngleich anonyme - kirchenpolitische Publikation Bucers nachgewiesen.'^® Spezifische Hinweise über eine Rezeption dieser Übersetzung gibt es m. W. nicht. 2.3.1.5. Reaktionen auf „De officio

principum"

1. Einer Nachricht in Luthers Tischreden zufolge soll der Erzbischof Albrecht von Mainz vor Wut über das Erscheinen von Melanchthons Buch „De officio magistratus" Krämpfe bekommen haben. 2. Eine besondere Gegnerschaft erwuchs „De officio principum" durch den Meißener Domherren Johannes Cochläus. Zuerst erwähnt Cochläus „De officio principum", von der er anfänglich nur eine deutsche Ausgabe kannte, in seiner Korrespondenz des Monats März 1540. Der Brief an den Kardinal Contarini, der aus Breslau am 9.3.1540 abgesandt wurde, setzt voraus, daß zu diesem 154 Melanchthon-Maior, „Daß die Fürsten aus Gottes Befehl" Bl. A 4a-A 4b passim. Auch das ist typisch für den reformatorischen Fürstenspiegel. 155 Bibliographischer Hinweis: VD 16: M 3974. 156 Vgl. unten S. 216. 157 WA.TR 4, Nr. 5067, datiert vom 11.6.1540. Vgl. auch WA.TR 4, Nr. 4909, datiert vom 16.5.1540. ,>lagistratus" sind die „Obrigkeiten".

Fürstenpflicht und Gottesdienstreform bei Melanchthon

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Zeitpunkt schon eine deutsche Übersetzung von „De officio principum" (aber welche der drei?) im Umlauf gewesen sein muß. Aus ihr übertrug Cochläus einen Ausschnitt zurück ins Lateinische und sandte ihn dem Kardinal Contarini. Er stand unter der Überschrift: „Ex libro teuthonico, cui titulus est [für Cochläus!]: principes et magistratus teneantur idolatriam et impium cultum abolere."'58

Gegenüber Contarini faßte Cochläus Melanchthons Absicht so zusammen: Er wolle, daß die Fürsten die zeitlichen Güter von den Kanonikern und Mönchen nehmen gleichwie von Götzendienern und sie den evangelischen Pastoren und Lehrern zum Studium geben. Melanchthon beweise aber keineswegs überzeugend, daß wir Götzendiener seien und die [herkömmliche] Religion und unser Gottesdienst [= die Messe] Götzendienst s e i e n . C o c h l ä u s faßte schließlich seine Kritik an Melanchthons Buch zusammen im dritten Teil seiner Gegenschrift „Philippica quinta in tres libellos Philippi Melanchthonis", die gegen Jahresende 1540 erschien.'®® 3. Konrad Brauns „Etliche Gespräche", die wohl vom Jahresende 1540 (oder Januar 1541) stammen, rekurrieren auf Positionen Melanchthons, die er in „De officio principum" geäußert hatte. 4. In Publikationen von Politikern des Schmalkaldischen Bundes wird 1540/41 zustimmend auf die „Theologen unserer Religion" Bezug genommen, die kürzlich die theologische Legitimation der reformatorischen Neuerungen durch die reichsständischen Obrigkeiten gegenüber der Öffentlichkeit in hervorragender Weise „gesichert" hätten. Dabei dürfte man m. E. wohl primär das eben auch durch Nach- und Neudrucke sowie Übersetzungen weit verbreitete Werk Melanchthons „De officio principum" vor Augen gehabt haben. Implizit 158 ZKG 18 (1898), S . 4 2 3 ^ 2 8 , Nr. 62, hier S. 426 f. A n n . 3. Der Abschnitt entspricht anfanglich „De officio principum", Mel-StA 1, S.404, 1-7, mit der Kritik des Kardinals Aleander und dem Hinweis, auf Aleanders Teilnahme an der Versammlung der Kardinäle unter Paul III. 1S37, die ein Reformprogramm beschloß. Er hat aber bei Cochläus eine charakteristische Erweiterung erfahren, die sich in der lateinischen Erstausgabe von ,J)e officio principum" nicht findet. Derzufolge addiert Cochläus zu den kirchenpolitischen Gegnern Melanchthons neben Aleander noch andere Teilnehmer der mit Kardinälen besetzten Reformkommission des Jahres 1536/37 hinzu, die Kardinäle Gasparo Contarini (1483-1542) und Jacopo Sadoleto (1477-1547). Ob Cochläus damit seinen Korrespondenzpartner Contarini gegen Melanchthons kirchenpolitische Haltung vereinnahmen wollte, indem er vorgibt, Melanchthon habe auch ihn, Contarini, in „De officio principum" direkt angegriffen, ist ungewiß. Auch die deutschen Ausgaben Melanchthon-Dietrich „Vom Amt der weltlichen Fürsten", Melanchthon-Maior ,J)aß die Fürsten aus Gottes Befehl" und Melanchthon-N. N. „Vom Amt der Fürsten" benennen Sadoleto oder Contarini nicht. 159 ZKG 18 (1898), S.423-428, Nr.62, hier S.427 Anm. 3. Auch in einem Brief des Cochläus an Kardinal Simoneta vom 17.3.1540 in: ZKG 18 (1898), S . 4 2 8 ^ 3 0 , Nr.63, hier S.429, spieU er auf Melanchthons „De officio principum" an. 160 Vgl. S.243. 161 Diese ausführliche Diskussion von Melanchthons Ansatz findet sich bei Braun (an), „Etliche Gespräche", hier 3. Gespräch, Bl. f l a - h 3b. Kurz erwähnt wird Melanchthons Fürstenschrift auch in „Etliche Gespräche", 2. Gespräch, Bl. L Ib-L 3b zusammen mit Melanchthons „De ecclesiae autoritate". Vgl. zum zweiten Werk Brauns unter 4.3.5. in dieser Arbeit.

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Die Publikationen von Juli 1539 bis Februar 1540

oder summarisch wird es in (mindestens) drei Schriften erwähnt, die in späteren Kapiteln dieser Arbeit behandelt werden.

2.3.2. „Epistel an den Landgrafen zu Hessen" vom 1.1.1540 2.3.2.1. Der ursprüngliche

Kontext

Melanchthon hat nicht nur einmal während seiner Laufbahn als akademischer Lehrer einen Kommentar zum Römerbrief des Apostels publiziert. Sein Römerbriefkommentar, der 1532 bei Josef Klug in Wittenberg gedruckt wurde'®^, besaß eine Widmungsvorrede vom August 1532 an den Kardinal-Erzbischof Albrecht von Mainz'^, auf dessen Tätigkeit als Vermittler beim Abschluß des kurz zuvor erfolgten Nürnberger Anstandes Melanchthon auch in seiner Widmumgsrede anspielte. Dieser Kommentar wurde 1533 in Marburg, in Hagenau/Elsaß 1533 und 1535 neu herausgebracht.'^^ Die Begründung für die neue Bearbeitung und Edition seines Römerbriefkommentares wenige Jahre später lag für Melanchthon vor allem im Wert der paulinischen Theologie selbst, nämlich die Hauptstücke reformatorischer Theologie gut darzustellen. Melanchthons zweiter Römerbriefkommentar, der in lateinischer Sprache in Straßburg bei dem Drucker Kraft Müller zuerst im März 1540'^®, in zweiter leicht korrigierter Auflage im September 1540'®^ erschien, enthielt nun einen Widmungsbrief an den hessischen Landgrafen, der vom 1.1.1540 datiert ist. Dieser Kommentar wurde auch 1541 in Wittenberg'^® und 1544 in Straßburg'®^ einschließlich dieses Widmungsbriefes an Philipp gedruckt. 162 In der Reihenfolge ihres Erscheinens sind das: PhvH, „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" Bl. L II a, vgl. 3.3.1.; JFvS, „Anderer Abdruck der wahrhaftigen, beständigen und ergründeten Verantwortungen" Bl. Z4b, vgl. 3.3.2. und zuletzt PhvH, „Dritte wahrhaftige Verantwortung gegen Heinrich von Braunschweig" Bl. I 2b-I 4a, vgl. 5.2.1. 163 Bibliographischer Nachweis: VD 16: M 2471. Neu gedruckt in Mel-StA 5, S.(15) 25-371. 164 Mel-StA 5. S.25, 5 - 2 9 , 22. 165 Vgl. dazu den Hg. der Mel-StA 5, S. 17. Bibliographischer Hinweis für die Ausgabe bei Franz Rhode in Marburg 1533: VD 16: M 2740; ν. Dommer Nr.49. Bibliographischer Hinweis für die Ausgabe bei Peter Braubach in Hagenau 1535: VD 16: M 2742. 166 Bibliographischer Hinweis: VD 16: M 2743 = VD 16: M 3997. Der Text der Widmungsrede, auf den das Titelblatt des Druckes aufmerksam macht, befindet sich dort auf Bl. A 2 a - A 7b. Nachdruck in: CR 3, 896-901, Nr. 1905. 167 Bibliographischer Hinweis: VD 16: M 2744 = V D 16: M 3998. Der Text der Widmungsrede an Philipp befindet sich hier auf Bl. A 2a-Bl. В 2a. Zum Problem einer notwendig gewordenen Neuausgabe, weil durch die Schuld des Druckers Kraft Müller die Rechtfertigungslehre im März 1540 falsch dargestellt worden ist, vgl. den Brief Melanchthons an Joachim Camerarius vom 5.4.1540, CR 3, 987-989, Nr. 1947, hier 988. Vgl. M B W 3, Nr. 2407. 168 Bibliographischer Hinweis für die leicht im Titelblatt von einander differierenden Ausgaben bei Josef Klug, Wittenberg 1541: V D 16: M 2745 und VD 16: M 2746. Das Titelblatt weist hier die Widmungsvorrede an Philipp nicht aus. 169 Bibliographischer Hinweis für die Ausgabe bei Kraft Müller, Straßburg 1544: V D 16: M 2747. Das Titelblatt weist auch hier den Widmungsbrief an Philipp nicht mehr aus.

Fürstenpflicht und Gottesdienstreform bei Melanchthon

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Der Adressat des Widmungsbriefes vom Neujahrstag 1540 war auf vielfältige Weise seit seiner Zuwendung zur reformatorischen Lehre im Jahre 1524 mit Melanchthon verbunden. Wilhelm Maurer schreibt dazu: „In der Widmung zur zweiten Auflage seines Römerbriefkommentares hat Melanchthon den Fürsten auch als Förderer evangelischer Theologie und Verbreiter des Evangeliums gewürdigt. Er уегк0феп nicht nur das humanistische Herrscherideal der virtutes togatae et bellicae, der gravitas in gubernatione, magnitudo concilii et fortitudo - kurz alle die Tugenden, die spätere Geschichtsschreibung in dem Begriff der magnanimitas zusammengefaßt hat. Dem Fürsten eignet auch die Fähigkeit, theologische Fragen zu beurteilen und zu entscheiden. Und dafür liegt der Grund in seiner pietas; das ist nicht mehr wie bei Erasmus die Fähigkeit, antike und christliche Sittlichkeit harmonisch zu vereinen; pietas wandelt sich vielmehr zum Bekennermut, der für die evangelische Wahrheit eintritt.""® Den Grund für die Widmung seines Kommentares an Philipp besteht für Melanchthon in der nötigen Ehrerbietung und dem Dank, die beide grundsätzlich dem Fürsten gebühren, der die Verbreitung der wahren Lehre fördere.'^' Luther äußerte sich später kurz über die Widmungsschreiben Melanchthons in einer Tischrede Mitte Juni 1540 kritisch: „Es ist dem Philippo nicht woll geraten mitt dem bischoff, Anglo, Hesso.""^ 2.3.2.2. Jonas'separate

deutsche Ausgabe

Justus Jonas arbeitete kurz vor oder kurz nach dem Neujahrstag 1540 an der Übersetzung dieser Vorrede ins Deutsche. Diese ließ man als selbständige Publikation unabhängig vom großen lateinischen Römerbriefkommentar 1540 in Wittenberg herausgeben. Robert Stupperich begründete die deutsche Separatedition der Vorrede durch Jonas mit dem Hinweis auf die „Grundsätzlichkeit

170 Wilhelm Maurer, Philipp Melanchthon und die Reformation in Hessen, in: ders., Kirche und Geschichte Band 1, Göttingen 1970, S. 267-291, hier S.289. 171 Melanchthon, „Commentarii in Epistolam Pauli ad Romanos" (Erstausgabe März 1540, VD 16: M 2743 = VD 16: M 3997) Bl. A 5a; hier zitiert nach CR 3, 899-900; vgl. MBW 3, Nr. 2336. 172 WA.TR 4, S.640 Nr. 5067. Die Anspielung auf den „bischoff bezieht sich auf die Vorrede zum ersten Römerbriefkommentar Melanchthons von 1532, die Bezeichnung , ^ n g l o " auf die Widmungsvorrede an König Heinrich VIII. von England, mit der Melanchthon im März 1535 seine ,Д.ос1" herausbrachte, in: CR 2, 920-931, Nr. 1311; vgl. MBW 2, Nr. 1555. Melanchthons Vorreden an den Erzbischof von Mainz, den englischen König und den hessischen Landgrafen waren für Luther insofern im Rückblick problematisch, weil weder der einstige Appell an den zeitweise durchaus zu Reformen bereiten Albrecht von Mainz noch die Kontakte der Wittenberger und des Schmalkaldischen Bundes zu Heinrich VIII. in der Mitte der 30er Jahre diese beiden der Reformation zugeführt hatten. Die Widmung Melanchthons an den hessischen Landgrafen war Mitte Juni 1540 wohl deshalb obsolet geworden, da das Gerücht über seine Bigamie jetzt in aller Munde war. Vgl. dazu vor allem Rockwell, S. 49-60. Luthers persönliche Konsequenz in seiner Tischrede ist deshalb sein enttäuschter Entschluß: „Ich will keinem kein buch me[h]r zu schreiben."

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Die Publikationen von Juli 1539 bis Febraar 1540

und Eindeutigkeit", mit der Philipp Melanchthon sich in dieser Vorrede an den Landgrafen ausgesprochen habe. Deshalb wollte Jonas, daß die deutsche „Epistel an den Landgrafen zu Hessen" - sicherlich ergänzend gedacht zur Lektüre des melanchthonischen Römerbriefkommentares durch die Gebildeten - „breiten Schichten des lesenden Volkes in die Hand" gegeben werde"^. Überdies sei sie für die kirchenpolitische Öffentlichkeit zur Lektüre „vor Beginn des Konventes von Schmalkalden oder zum mindesten vor Beginn der Religionsgespräche" bestimmt gewesen.'^'* Die kirchenpolitische Intention der Melanchthon-Jonas' Edition „Epistel an den Landgrafen zu Hessen" ist so ersichtlich. Sie stellt eine Konkretion der Ziele der vorausgegangenen Fürstenschrift „De officio principum" ad personam des hessischen Landgrafen Philipp dar: Für ihn, wie generell für alle christlichen Obrigkeiten, gilt laut dieser „Epistel", daß sie vor allem darauf achten sollen, daß sie im gegenwärtigen Zwiespalt der theologisch-kirchlichen Lehre und in diesen „hochwichtigsten Religion hendeln" Gottes Wort trauen und höchsten Fleiß darauf darauf verwenden, „die rechte / Apostolische / eheste / reine lere / in der Kirchen wider auffbringen und erhalten."''^ Da die Bischöfe nicht ihres Amtes gewaltet haben, sei es jetzt die Aufgabe der Fürsten, den „wahren Gottesdienst" durchzusetzen."® Dem dient in besonderer Weise auch eine Auslegung des Römerbriefes, die in erster Hinsicht für den schulischen und universitären Gebrauch gedacht ist.'^^ Wäre in der Geschichte der Kirche die Epistel an die Römer nicht so unterdrückt worden, wären die Mißstände in der Kirche nicht in dem Maße [wie geschehen!] eingerissen. Wie bei anderen Melanchthonschriften dieses Zeitraumes ist die „Epistel an den Landgrafen zu Hessen" durch den Wittenberger Drucker Josef Klug hergestellt worden. Auch Johann Petreius (evtl. aber auch Georg Rottmaier) in Nürnberg sorgte für eine deutsche Ausgabe.'^" Belege über eine Rezeption dieser vom Kommentar unabhängigen Edition .^ipistel an den Landgrafen zu Hessen" sind nicht überliefert.

173 Robert Stupperich, Der unbekannte Melanchthon, Stuttgart 1961, S. 170. 174 Denkt man im strengen Sinne von dieser Zweckbestimmung her, gehört diese Publikation erst in das 3. Kapitel dieser Untersuchung, wo die kirchenpolitische Publizistik im Zusammenhang des Bundestages in Schmalkalden und des Hagenauer Religionsgespräches ihren Platz hat. Die enge Verwandtschaft zur Thematik von ,JDe officio principum" rechtfertigt aber m.E. ihre Einordnung auch an dieser Stelle. 175 Melanchthon-Jonas, „Epistel an den Landgrafen zu Hessen" Bl. A 3b-A 4a. 176 Melanchthon-Jonas, „Epistel an den Landgrafen zu Hessen" Bl. В 3b, С За. 177 Melanchthon-Jonas, „Epistel an den Landgrafen zu Hessen" Bl. В 2a. 178 Melanchthon-Jonas, „Epistel an den Landgrafen zu Hessen" Bl. В 2b. 179 Bibliographischer Hinweis: VD 16: M 4000. 180 Bibliographischer Hinweis: VD 16: M 3999; Benz. Rott. Nr. 29.

Konrad Brauns „Gespräch eines Hofrats" 1539

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2.4. Konrad Brauns „Gespräch eines Hofrats" 1539 2.4.1. Der Plan zu einer offiziellen Publikation des Reichskammergerichtes ab Ende 1538 Das protestantische „Ausschreiben an alle Stände" vom 13.11.1538, das die Prozeßpraxis des Gerichtes scharf angriff, wurde „einen Monat später dem Reichskammergericht überbracht und verlesen."'^' Wie sollte man dort auf diesen publizistischen Vorstoß des Schmalkaldischen Bundes reagieren? Der Vorschlag zur Übermittlung einer Gegendarstellung an den Kaiser ging von Dr. Matthias Held (Vizekanzler 1531-1540, gest. 1563) aus und erreichte das Gericht durch die Übermittlung seines Beisitzers Konrad Braun (um 1491-1563), dem Assessor für den Oberrheinischen Kreis^®^, zu dem Held Kontakt pflegte. Die Ausarbeitung eines Konzeptes für eine Gegenschrift begann sofort in einem Ausschuß des Gerichtes: „Am 21. Januar referierte Braun das Konzept, das die Argumente des gegnerischen Ausschreibens aufgriff und mit vier Gegendarstellungen beantwortete: 1. eine Entschuldigung gegenüber dem Kaiser und eine Rechtfertigung des Gerichts, 2. eine Bekräftigung der Beschränkung auf Prozesse schlichter Spolienklagen gemäß dem Augsburger Reichsabschied, 3. die Abweisung der Rekusation wegen Befangenheit und 4. eine Verwahrung gegen weiteres derartiges Unterfangen. In den nächsten Tagen wurde der Entwurf beraten."'^^ Das Ergebnis der sofort einsetzenden Beratungen, die sich bis Anfang Februar 1539 hinzogen, war hingegen, daß es nicht zu einer Veröffentlichung kam.'^'^ Es ist eine deutliche Tendenz vieler Kollegiumsmitglieder im Gericht feststellbar, im Gegensatz zum Vizekanzler Held die politische Nähe zur kaiserlichen Friedstandspolitik zu suchen, wie sie sich eben auch gerade ganz praktisch in Karls Entsendung seines Orators nach Frankfurt manifestierte. Den Plan für den Druck einer Gegenschrift gegen das „Ausschreiben an alle Stände" durch das Reichskammergericht zusammen mit den gerichtlichen Bedenken gegen die in Frankfurt beratenen Prozeßeinstellungen eröffneten die beiden Assessoren Braun und Hirnheim dem kaiserlichen Orator bei einer Unterredung, die während der Frankfurter Verhandlungen stattfand.Letzterem war aber daran gelegen, eine solche gedruckte Äußerung zu diesem Zeitpunkt auf jeden Fall zu verhindern, um die Frankfurter Friedens verhandlungen nicht zu gefährden.

181 Rößner, S.56. Zum „Ausschreiben an alle Stände" vgl. oben insgesamt den Abschnitt 1.1. 182 Zur Biographie und zum Werk Brauns vgl. die Monographie von M. B. Rößner passim. 183 Rößner, S.56. 184 Rößner, S. 57. 185 Rößner, S.57f.

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Die Publikationen von Juli 1539 bis Februar 1540

Die Vertreter des Schmalkaldischen Bundes rechneten ihrerseits schon seit November 1538 mit einer offiziellen Publikation durch das Reichskammergericht, die sich gegen ihr „Ausschreiben an alle Stände" vom 13.11.1538 richten würde.'^^ Femer schlug Landgraf Philipp am 23.1.1539 vor, daß die altgläubigen politischen Gegner der Schmalkaldener, die sich zum Nürnberger Bund zusammmengeschlossen hatten, ihre friedlichen Absichten durch eine gedruckte Publikation in Analogie zum protestantischen „Ausschreiben" der kirchenpolitischen Öffentlichkeit gegenüber vergewissern sollten.'®' Zu einer solchen gemeinschaftlichen Publikation der im Nürnberger Bund zusammengeschlossenen Fürsten kam es im Jahre 1539 ebenfalls nicht, wenngleich man auf protestantischer Seite sogar mit einer solchen Schrift rechnete. Das Ergebnis des Frankfurter Anstands am 19.4.1539 stellte das Reichskammergericht aus der Perspektive seines Assessors Braun vor die Alternative, entweder aus Gründen politischer Opportunität dem kaiserlichen Versprechen, dessen Rechtscharakter wie schon bei dem Mandat des Jahres 1532 dem Gericht unklar blieb, Folge zu leisten und die Prozesse in causa religionis zu suspendieren oder sich ggf. gegen den politischen Willen des Kaisers gemäß der seit 1530 unverändert geltenden Rechtsbasis zu verhalten und mit den Prozessen gegen evangelische Obrigkeiten fortzufahren. Kurz darauf - am 27.7.1539 - versuchte Konrad Braun noch einmal, das gesamte Gericht für eine öffentliche Antwort auf das protestantische „Ausschreiben" zu gewinnen - erfolglos!'^' Eine solche Publikation war zu diesem Zeitpunkt laut Rößner längst „durch die Ereignissse überholt." Der Jurist Braun wollte sich aber seinerseits der Mehrheitsmeinung im Gericht nicht anschließen. Als Gegner des Frankfurter Ergebnisses trat er schließlich im Alleingang"" mit einer Publikation vor die kirchenpolitische Öffentlichkeit. Er verknüpfte sein Vorgehen mit der literarischen Erwiderung auf die mittlerweile pseudonym erschienene Bucer-Schrift „Etliche Gespräche vom Nümbergischen Friedstand".''' Das Bemerkenswerte an der Vorgeschichte seiner Schrift „Ein Gespräch eines Hofrats" läßt sich so zusammenfassen: 1. Sie zeigt an, wie eine offizielle Publikation eines Reichsorganes, hier des Kammergerichtes, aufgrund der aktuellen politischen Umstände scheiterte, ihr Hauptbefürworter aber infolge mangelnder Unterstützung durch das Gerichtskollegium schließlich literarisch als Einzelautor an die Öffentlichkeit trat. 186 Der sächsische Kurfürst Johann Friedrich brieflich am 26.11.1538 an Landgraf Philipp laut StAM,PA2577,fol. Ib, 3a. 187 JFvS/PhvH, „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" Bl. С 4b-D la. 188 Bucer beispielsweise befürchtete noch im Juni 1539, daß Achterklärungen von den zur Achtsexekution ermächtigten Ständen veröffentlicht werden könnten. Damit wäre wohl der Religionskrieg entfacht worden. Vgl. MBDS 7, S.412, 9-13. 189 Rößner. S.58. 190 Vgl. dazu Rößner, S.61. 191 Vgl. oben 1.4. v.a. S.95.

Konrad Brauns „Gespräch eines Hofrats" 1539

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2. Die beiden deutlich von einander abzusetzenden Teile des „Gespräches eines Hofrats", die genau von einander zu trennende literarische Anknüpfungspunkte besitzen, stellen sowohl eine „Antwort" auf das „Ausschreiben", die offizielle politische Publikation der Schmalkaldener, als auch die Entgegnung auf die an sie anknüpfende pseudonyme Schrift Bucers dar. Damit bewegt sich das „Gespräch" Brauns thematisch also genau in der Mitte zwischen einer „offiziellen" und einer „literarischen" kirchenpolitischen Publikation. Aber der Autor dieser Publikation gibt sich nicht zu erkennen. Das anonyme Werk trägt im Druck den Titel: „Ain Gesprech aines Hoff II raths mit zwaien Gelerten / ainem Theo = II logen vñ ainem Juristen / vnd dañ ainem Schrei II ber / so zu letzt auch von ongeschicht dartzu kum = II men / von dem Nurnbergischen Fridstandt / II Regenspurgischen Kayserlichen Man = II dat / der Protestiernden Stendt II ausschreiben wider das Kai II serlich Camergericht / vñ II dem Abschide jüngst II zu Franckenfurt II bethaidingt. II".'^^ Auch der Drucker, der Ort des Drucks und das Druckjahr dieses Werkes wurden den ersten Rezipienten vorenthalten. Im 4°-Format hat das Werk einen Umfang von 62 Blatt, für eine kirchenpolitische Publikation also eine „mittlere" Größe.

2.4.2. Anonymität des Autors und literarische Form Mehrere Gründe dürften für eine anonyme Veröffentlichung des „Gesprächs eines Hofrats" gesprochen haben. Braun wollte vermutlich seiner Gesprächsschrift damit ein höheres Maß an Autorität verleihen, als er bei einer namentlichen Zeichnung hätte erreichen können, da ja - wie gezeigt - die Mehrheit im Reichskammergericht die Auffassung seines Assessors nicht teilte. Furcht vor persönlichen Nachstellungen mögen ebenso bei Braun eine Rolle gespielt haben bei seiner Entscheidung für eine anonyme Veröffentlichung seiner juristischtheologischen Gedanken angesichts der gegenwärtigen Situation im Reich. Einer anonymen Publikation würde man auch mit einem geringeren Maß an Vorurteilen begegnen. An der Verfasserschaft Konrad Brauns besteht kein Zweifel, wie allein durch einen persönlichen Vermerk in einem Exemplar seiner eigenen Bibliothek ausreichend bewiesen ist: „Anno 1539. Durch Conradum Braun D., derselben zyt bysitzer am Kays[erlichen] Camergericht."'^^ Erkannten die Träger der zeitgenössischen kirchenpolitischen Publizistik, vor allem die duch Braun publizistisch angegriffenen Protestanten, wer für die 192 Bibliographischer Hinweis: VD 16: В 7201. iWRößner, S.62Anm.240.

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Die Publikationen von Juli 1539 bis Febniar 1540

Veröffentlichung „Ein Gespräch eines Hofrats" verantwortlich zu machen war? Verschiedene Gründe sprechen sowohl dagegen als auch dafür: 1. Der Straßburger Rat sah irrtümlicherweise am 7.2.1540 in der Publikation Brauns ein Gemeinschaftswerk des gesamten Gerichtes. 2. Martin Bucer bezeichnete aber bereits in seinem Brief an den hessischen Landgrafen vom 14.1.1540 deutlich namentlich Konrad Braun als den Urheber des anonymen Werkes.''' Er vermied aber vorerst, wie etwa in seiner nächsten Pseudonymen Schrift „Von Kirchengütern" vom 3.2.1540 möglich gewesen wäre, die explizite Identifikation des Anonymus. Durch diese ganze Schrift zieht sich freilich eine Auseinandersetzung mit den durch Braun gegen ihn erhobenen Vorwürfen. Bucer nennt ihn dort zuerst mit ironischem Unterton lediglich den „lieb Doctor und dichter dises Dialogi".'®® Erst am Ende des letzten Gesprächsganges löst er chiffriert das Rätsel des Anonymus: „Er ist freilich vom gesind der Rysen / Gaden knechten / und Schornstein leuten."^^' Bucer spielte auch in seiner späteren Schrift aus dem Jahre 1540 „Per quos steterit Haganoae initum colloquium" mehr oder weniger deutlich auf die Person und das Werk Brauns an.'^^ 3. In den gegen die führenden Köpfe des Schmalkaldischen Bundes gerichteten Publikationen Herzog Heinrichs von Braunschweig-Wolfenbüttel von 1540 und 1541 wurde Braun nicht als Autor des Werkes „Ein Gespräch eines Hofrats" namentlich identifiziert, sondern stets als „Auctor dialogi" bezeichnet. Dadurch blieb die von ihm selbst gewählte Anonymität gewahrt. 4. Anonymes literarisches Schaffen im Bereich der kirchenpolitischen Publizistik wurde im April 1540 vom hessischen Landgrafen grundsätzlich scharf kritisiert.^"" Daß Philipp die Herkunft des anonymen Werkes „Ein Gespräch eines Hofrats" aufgrund seines Inhaltes vom Reichskammergericht bzw. aus dem Kreis seiner Angehörigen zu Recht vermutete, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Aber erst 1542 spielte er deutlich auf den Namen des Autors an, als er das publizistische Werk Brauns ein „brunlauter erdichtet ding" nannte.^"' Als Druck enthält „Ein Gespräch eines Hofrats" auch keinerlei äußere Angaben über den Zeitpunkt seines Abschlusses oder seines Erscheinens. Im pri-

194 Polit. Coir. 3, S . l S A n m . l . 195 Lenz I, S. 125-130, Nr.43, hier S. 126.128f. 196 Bucer (ps), „Von Kirchengütern" Bl. 2a. 197 Bucer (ps), „Von Kirchengütem" Bl. 88b. Laut Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch Bd. IV, L Abt. 1, Leipzig 1878, Sp. 1134 ist „Gadengericht" ein zeitgenössisch belegter anderer Ausdruck für Kammergericht. Mit „Schornstein leuten" spielt Bucer wohl an auf die Farben Schwarz oder ,3raun". 198 Vgl. unten S. 224. 199 Kritisiert wird, daß die „Andere Antwort auf das falsche Libell" Bl. R 4b nur den Titel des Werkes von Braun erwähnt. Zur Reaktion auf diesen Vorwurf vgl. HvBrW, „Dritte Antwort auf des Landgrafen Lästerschrift" Bl. О 4b, Mm 3b, Mm 4a. 200 PhvH, „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" Bl. V l a - V 2a. 201 PhvH, „Vierte wahrhaftige Verantwortung" Bl. S 4a.

Konrad Brauns „Gespräch eines Hofrats" 1539

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vaten Handexemplar des Autors findet sich die Jahresangabe „1539" (vgl. oben). Läßt sich der Zeitraum der Abschlusses des „Gespräches" durch Braun und der Herstellung des Drucks im Verlauf des Jahres 1539 noch näher bestimmen? Im ersten Teil der Schrift ist der Abschluß des Frankfurter Anstandes vom 19.4.1539 vorausgesetzt. Der Autor sieht nicht nur die Möglichkeit der Einberufung eines Tages nach Nürnberg zur Klärung des religiösen Zwiespalts für den 1.8.1539^"^, sondern auch den vereinbarten Tag in Worms zur Frage der Türkenhilfe für den 18.5.1539 noch vor sich.^''^ Der zweite Teil der Schrift setzt die Kenntnis eines gedruckten Exemplars von Bucers „Etlichen Gesprächen" voraus, einer Schrift, die frühestens Mitte oder Ende Juni, noch wahrscheinlicher aber erst im Juli 1539, erhältlich gewesen sein dürfte. Vor dem Sommer ist also die Schrift nicht abgeschlossen worden und vor September 1539 dürfte das „Gespräch eines Hofrats" nicht im Druck vorgelegen haben, da die ersten gegen Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel gerichteten Publikationen der schmalkaldischen Bundeshauptleute vom 14.9.1539^'^ ohne Zweifel auf eine solche die protestantischen Gemüter erregende Schrift Bezug genommen hätten. Sollte schließlich Herzog Heinrichs Schrift „Andere Antwort auf das falsche Libell" tatsächlich am 24.11.1539 fertiggestellt worden lag das „Gespräch eines Hofrats" zu diesem Zeitpunkt in Wolfenbüttel schon vor. Die Indizien sprechen also für einen recht frühen Beginn der Bearbeitungszeit des Themas durch Braun nach Mitte April 1539 und für seine Andauer noch im Sommer des Jahres. Für die Veröffentlichung sind frühestens die Wochen kurz vor Ende November anzunehmen. Sehr wahrscheinlich ist von einer raschen Verbreitung des „Gesprächs" in den Monaten November/Dezember 1539 auszugehen, denn eine erste Notiz über diesen anonymen Druck auf evangelischer Seite findet sich in einem Brief Bucers an den hessischen Landgrafen vom 14.1.1540. Der Anonymität des Autors entsprechend wird aus dem Druck auch nicht ersichtlich, welcher Drucker wo und zu welchem Zeitpunkt „Ein Gespräch eines Hofrats" hergestellt hat. Wo gab es zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch Möglichkeiten dazu? In Leipzig war der Druck altgläubiger Bücher in der zweiten Jahreshälfte 1539 nicht mehr ohne Probleme möglich.^"® Die nahezu parallele Einrichtung der für die altgläubige Publizistik später bedeutenden Druckereien Alexander Weißenhorns in Ingolstadt, Franz Behems in Mainz und Henning Rüdems in WolfenbütteP"^ war in der zweiten Jahreshälfte 1539 noch 202 Braun (an), , ^ ϊ η Gespräch eines Hofrats" Bl. G 2a-G 3a. 203 Braun (an), „Ein Gespräch eines Hofrats" Bl. J 4a. 204 Vgl. 2.1.1.; 2.1.5. und 2.1.6. 205 Vgl. unten S. 148. 206 Vgl. S. 74-76, 242-243. 207 Zu ihren Anfängen vgl. 2.5.1. Im Jahre 1542 tauchte in der „Vierten wahrhaftigen Verantwortung" des hessischen Landgrafen Bl. S 4 a - S 4b die (ja sachlich unzutreffende!) Vermutung auf, der Druck des „Dialogs" stamme aus der Druckerei von Henning Rüdem in Wolfenbüttel und sei

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nicht abgeschlossen. Die Type des Dracks des „Gesprächs eines Hofrats" läßt mit einiger Sicherheit Ivo Schöffer in Mainz als Drucker vermuten.^®® Die Verbindung Konrad Brauns zum Hof des Mainzer Erzbischofs unterstützt diese Vermutung noch. Mit einiger Wahrscheinlichkeit ist von einer Verbreitung des „Gesprächs" seit den Monaten November/Dezember 1539 auszugehen. Die anonyme Schrift „Gespräch eines Hofrats" erschien - genau wie die 1539 schon erschienenen Schriften .^itliche Gespräche vom Nürnbergischen Friedstand" von Martin Bucer^''^ und „Dialogorum libri tres" von Georg Wit- in der Form eines Gespräches zwischen mehreren Personen. Eine Dialogschrift ist im späteren publizistischen Werk Brauns noch einmal durch seine ebenfalls anonymen „Etlichen Gespräche" vom Jahresende 1540 (oder Januar 1541) bekannt.^" Vermutlich wollte Braun mit Hilfe dieser Form den Eindruck erwecken, als wolle er mit .Conrad Treu zu Fridesleben' sachlich in ein echtes Gespräch treten. Wie bei Bucer sind es auch bei Braun drei Gesprächspartner, die sich unterhalten: Ein „Hoffrath" oder Aulicus, und zwei Gelehrte, der „Theologus" und der „lurista", hinter dessen Position die Position Brauns zu vermuten ist. Während aber bei Bucer und Witzel die Gesprächspartner Kontrahenten sind, die deutlich von einander verschiedene Positionen verteten, sind die drei Gesprächspartner bei Braun Repräsentanten der verschiedenen Dimensionen (Politik, Recht, Theologie) einer ihnen letztlich doch gemeinsamen Sicht der Dinge. Sie ist kirchen- und reichsrechtlich sowie theologisch als eine entschieden altgläubige Position zu charakterisieren, die die kirchenpolitischen und ekklesiologischen Vorstellungen der Protestanten ganz und gar zurückweist. Braun hegte - anders als Witzel oder Bucer - auch nicht die Hoffnung, daß ein Religionsgespräch auf nationaler Ebene eine Befriedung des religiös-kirchlichen Dissenses herbeiführen könne. Gemeinsam ist aber allen drei Schriften, daß die jeweiligen Gesprächsführer in ihren Schriften gleichermaßen „Typen" sind, die durch ihre berufliche Position, ihr „Amt", gekennzeichnet sind. Niemals sind es Individuen, die einen (etwa auch fiktiven) bürgerlichen Namen tragen. Die Braunschen Gesprächspartner spielen sich die Themen, die sie miteinander verhandeln, durch Stichworte zu.

auf den Befehl Heinrichs von Braunschweig hin veröffentlicht worden. Diese Behauptung läßt sich typographisch nicht belegen. Sie ist aber ein Hinweis auf die zeitgenössische Zuordnung der Publikation „Ein Gespräch eines Hofrats" zur Kirchen- und Pressepolitik Herzog Heinrichs. 208 Zu dem Mainzer Drucker Ivo Schöffer (1531-1555) bemerkt Benzing, Buchdrucker, S. 316: „Er war . . . auch Reichsdrucker, Drucker des Mainzer Domkapitels und kurfürstlichen Hofes, auch Drucker der Universität, ohne aber dazu ernannt zu sein." Die Datierung „um 1550" laut VD 16; В 7201 ist falsch. Zur gleichzeitigen Tätigkeit Schöffers als Drucker von Witzeis „Typus ecclesiae prioris" vgl. 4.3.2., bei Brauns .Etlichen Gesprächen" vgl. 4.3.5. 209 Vgl. oben S.90. 210 Vgl. oben S. 73. 211 Vgl. unten S. 257-261.

Konrad Brauns „Gespräch eines Hofrats" 1539

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Nach einer Vorbemerkung dem Leser." und einer allgemeinen Einleitung^'^ wird anfänglich der Rechtszustand erörtert, der durch die Reichsabschiede von Speyer (1529) und Augsburg (1530) geltendes Recht ist und durch die Nürnberger Verhandlungen und das kaiserliche Mandat aus Regensburg (1532) präzisiert worden ist.^'^ Danach werden in größerer Ausführlichkeit die einzelnen Bestimmungen des Frankfurter Anstandes vom April 1539 erörtert.^''^ Das Gespräch der drei Personen im „Gespräch eines Hofrats" scheint kurz vor seinem Abschluß zu stehen, als pötzlich ,Cuntz Frech', der Schreiber ,des Probst auff Sanct Wimmersberg', in das Gespräch mit neuen Nachrichten eintritt. Er verbindet als literarische Figur Braun mit Bucers Speyerer Gespräch zwischen fürstlichem Sekretär, Edelmann und Probst.^'^ ,Frech' hat zwei Aufgaben: Er referiert die Ansichten des reformatorisch gesinnten fürstlichen Sekretärs, durch den Bucer seine eigene Position gezeichnet hatte, und zitiert ferner Dokumente, die auch in Bucers „Etliche Gespräche vom Nürnbergischen Friedstand" integriert waren, wie etwa das Beglaubigungsschreiben Karls V. für seinen Orator aus Toledo vom 25.11.1538.^'^ Im Munde von ,Frech' - durch Braun vorgetragen - erhalten die Ansichten des Bucerschen Sekretärs einen spürbaren Zug zum Frechen und Tölpelhaften.

2.4.3. Die Kritik am schmalkaldischen „Ausscheiben" und an Bucer Konrad Braun setzte sich, wie schon angedeutet, im Verlauf seines Werks besonders mit zwei Publikationen aus dem evangelischen Lager auseinander, die während des vergangenen Jahres erschienen waren: 1. Das schmalkaldische „Ausschreiben an alle Stände"^'^ vom 13.11.1538: Die lange im Kollegium des Reichskammergerichtes erörterte Frage nach einer Gegenschrift findet in Brauns anonymen Werk ihren Nachhall durch eine recht häufige explizite Erwähnung des „Ausschreiben" im ersten Teil^'^, während im zweiten Teil seiner Schrift das Ständeausschreiben insgesamt nur ein212 Braun (an), „Ein Gespräch eines Hofrats" Bl. A 2a-A 4b. 213 Braun (an), ,3in Gespräch eines Hofrats" Bl. A 4b-E la. 214 Braun (an), „Ein Gespräch eines Hofrats" Bl. E la-K 4b. 215 Braun (an), „Ein Gespräch eines Hofrats" Bl. К 4b-Q 2b. 216MBDS 7, S.415, 2 2 ^ 1 8 , 2 entspricht Braun (an), „Ein Gespräch eines Hofrats" Bl. L Ib-L 3a. 217 Vgl. dazu 1.1. In der Bibliothek Brauns befand sich laut Rößner, S.358, ein Exemplar des 1539 bei Johann Prüss in Straßburg hergestellten Druckes in deutscher Sprache (bibliographischer Hinweis: VD 16: H 2805 = VD 16: S 989) und ein Wittenberger Druck der lateinischen Ausgabe „De iniustis processibus protestatio" (bibliographischer Hinweis: VD 16: H 2806 = VD 16: S 990). Rößner, S.4(Ю, verzeichnet von den kirchenpolitischen Publikationen des Jahres 1539 in der Bibliothek Brauns noch ein Exemplar eines bei Josef Klug in Wittenberg hergestellten Druckes von Melanchthons „De ecclesiae autoritate"; vgl. 1.3.4. Dieses Werk spielt aber in Brauns „Gespräch eines Hofrats" keine Rolle. 218 Braun (an), „Ein Gespräch eines Hofrats" Bl. A la; В 2a, В 2b, В За, D За, E la, J За.

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mal erwähnt wird.^'^ Den Inhalt des „Ausschreiben an alle Stände" charakterisierte Braun als „Schänden und Schmähen", speziell gegen das Ansehen des Kammergerichts, aber darüberhinaus gegen die (innere und äußere) Autorität aller anderen Institutionen, die für ihn die herkömmliche Rechtsordnung stützen oder abbilden. Mit dem Druck des „Ausschreibens" wollten die Protestanten lediglich die Exekution der Acht gegen Minden verhindern und die Autorität des Reichskammergerichtes „auch bei dem gemainen unverstendigen mann" unterdrücken, „und das allain darum / das des Kay. [serliche] Camergerichts urtheyl wider sie dest[o]weniger volnzogen werde."^^® Ja, noch viel mehr, stellte die Veröffentlichung des Ständeausschreibens für Braun selbst einen Akt von Landfriedensbruch dar.^^' 2. Bucers pseudonyme Schrift „Etliche Gespräche vom Nürnbergischen Friedstand"222 vom 3.6.1539: Die komplexe Fülle der kirchenpolitischen und -rechtlichen Themen, die Bucer mit seinen „Gesprächen" gestreift hatte, wird auch durch Braun einer Erörterung unterzogen. An einigen Stellen werden die Vorgaben Bucers mit großer Sorgfalt erwidert. Manchmal werden allgemeine polemische Äußerungen gegen die Protestanten eingeflochten. Beispielsweise wirft Braun ihnen auch vor, daß sie sich bei der Betonung der Autorität der Heiligen Schrift in Unklarheiten und Widersprüche verwickelten.^^^ Gemeinsam ist allen Erwiderungen Brauns, daß er das nach ihrer Selbstdarstellung im Wort Gottes und in ihrer Gewissensentscheidung gegründete politische Verhalten der Protestanten lediglich durch Willkür und Eigennutz motiviert sieht: „... ain jeder thut[,] was sein hertz gelüstet / und hüpsch ist in seinen äugen / und sucht auß der hayligen Schrifft ain Deckmantel / darunther er sich vermainlich auff das wort Gottes und sein gewissen entschuldigt."^^'* So nimmt Braun an, daß die theologische Kritik an der Messe als der herkömmlichen Gottesdienstform ihren Grund im beabsichtigten Zugriff der Protestanten auf die Kapitalien in den Stiftungen hat, die mit dieser Form des Gottesdienstes verknüpft sind.^^^ Die Lutheraner werden im ganzen Werk 219 Braun (an), „Ein Gespräch eines Hofrats" Bl. L i a . 220 Braun (an), , 3 i n Gespräch eines Hofrats" Bl. D 4b; vgl. Braun (an), , 3 i n Gespräch eines Hofrats" Bl. F l a ; J 2a. Brauns „vertrucken" meint „austrocknen", m . a . W . die Autorität des Gerichtes aushöhlen. 221 Braun (an), „Ein Gespräch eines Hofrats" Bl. L la. 222 Auch von dieser Schrift ist ein Exemplar in Brauns Bibliothek nachgewiesen laut Rößner, S. 358 Nr. 24b. 223 Die Protestanten berufen sich einerseits formal auf die Autorität der Heiligen Schrift, andererseits verwerfen sie „auch gantze bûcher in der Bibel / als nämlich Sanct Jacobs Epistel / als ob die nit apostolisch geschrieben / sonder ain strowe Epistel sein solt" laut Braun (an), „Ein Gespräch eines Hofrats" Bl. N 3b. Hiermit spielt er auf Luthers Äußerung über den Jakobusbrief in seiner Vorrede zum Septembertestament 1522 an, WA.DB 6, S. 10, 3 3 - 3 4 und WA.DB 7, S. 384, Iff. 224 Braun (an), „Ein Gespräch eines Hofrats" Bl. M 3b. 225 Braun (an), „Ein Gespräch eines Hofrats" Bl. О I b - O 2a.

Konrad Brauns „Gespräch eines Hofrats" 1539

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Brauns immer wieder mit den aufrührerischen Bauern, den Widertäufern oder den Schismatikern früherer Zeiten der Kirchengeschichte verglichen. Neben dieser Bewertung der in den beiden oben genannten protestantischen Publikationen vorgetragenen Auffassung führt Braun femer eine systematische Kritik des Nürnberger Anstandes vom 23.7.1532 aus juristisch-kammergerichtlicher Perspektive durch. Der Anstand ist im direkten Zusammenhang mit dem Kaiserlichen Mandat aus Regensburg vom 2.8.1532 zu verstehen, das sich erklärend auf die Verabredung der ftotestanten mit den Vermittlern bezieht. Braun gewichtet unter beiden Dokumenten besonders stark das Mandat als eine Äußerung des Kaisers, weil in ihm nämlich klar verboten werde, daß ein Reichsstand den anderen des Glaubens halber vergewaltigen soll: Der Nürnberger Anstand, zu dem der Kaiser gegen seinen Willen 1532 politisch nur wegen der seinerzeitige Bedrohung durch die Türken nötig gewesen war, besage klar, daß am Reichskammergericht und anderen Gerichten mit Prozessen in „causa religionis" stillgestanden werden soll. Daraus müsse folgen, daß die Dinge, in denen vor dem Reichskammergericht danach gegen die Protestanten prozessiert worden sei und man noch jetzt prozessiere, überhaupt keine Glaubensangelegenheiten im Sinne des Nürnberger Anstandes sein könnten. Es handele sich dabei vielmehr um Prozeßgegenstände, die allein das Landfriedensgebot verletzten, z. B. im Fall von Plünderungen von Kirchen oder dem unrechtmäßigen Einzug von Kirchengütem usw. Für Braun ist es völlig unverständlich, daß gemäß der protestantischen Forderung im „Ausschreiben" dem Reichskammergericht die Jurisdiktion entzogen werden solle für solche Fälle, die dem Ausscheiben selbst als Fälle „lauterer Glaubenssachen" gelten. Natürlich kann für diese ein Gericht nicht kompetent urteilen. (Sondern nur die traditionellen kirchlichen Autoritäten wie Kirchenrecht, Konzil und Papst!). Das Kammergericht habe sich auch keine diesbezügliche theologisch-rechtliche Autorität erschlichen, wie die Protestanten es öffentlich behaupteten. Braun fragt weiter: Wenn das so gilt, welchen Sinn aber würden dann die Worte „den Glauben belangend" im Nürnberger Anstand überhaupt machen? Braun urteilt: Obwohl der größere Teil der von den Protestanten als Religionsprozeßsachverhalte betrachteten Fälle Fälle seien, wo die Protestanten entgegen dem Landfriedensgebot etwa in Kirchen eingefallen seien und mit Gewalt kirchlichen Besitz entwendet hätten, so seien doch solche Streitfälle nicht Religionssachen im „Nürnberger" Wortsinne. Sondern solche Übergriffe seien als „Temporalsachen" einzustufen, die wie z.B. ein Sakrilegraub eben durch die dafür zuständige weltliche Gerichtsbarkeit zu strafen sind. Auf welche Streitgegenstände ist aber nun das Nürnberger Wort „den Glauben belangend" anzuwenden? Für Braun sind das (nur) solche Dinge, die den Glauben „ohn mittel" betreffen, wie z. B. die Predigt sola fide, das Verständnis der Messe und der Sakramente usw., zu denen das Wormser Edikt und die Reichstage von Speyer 1529 und Augsburg 1530 umfassend und ausreichend alles gesagt haben.

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Die Abschiede dieser beiden Reichstage haben aber Angelegenheiten „belangend . . . den Glauben nicht an i[h]m selbs[t]", wie z.B. die Gewalt gegenüber Kirchenpersonen und an Kirchengüterngütern, in einer ganz unmißverständlichen Weise geregelt. Die darunter zu subsumierenden Fälle sind als offene Rechtsbrüche gerichtlich zu verfolgen, und etwa entwendete Kirchengüter nach erfolgten Urteilen an die bisherigen Eigentümer zu restituieren.^^® Als die Regelung dieser „unmittelbaren" Glaubensangelegenheiten betrifft, so hofft der „Aulicus" Brauns auf ein bald tagendes GerneralkonziP^^, während sein „lurista" in der Hoffnung auf das Konzil nur ein dilatorisches, politisches Motiv der Protestanten erblicken kann. Alle (theologisch von den Protestanten bestrittenen) Fragen der Religion und des Kirchenwesens seien doch schon durch göttliches Gesetz, fixiert in den „Cánones" und im Naturgesetz, und zwar ein für alle Mal geregelt. Seine Bewertung des Frankfiirter Anstandes vollzieht Braun in im einzelnen an vier Punkten. Grundsätzlich sind die Ergebnisse der Frankfurter Verhandlungen vom 19.4.1539 (und der Nürnberger Anstand von 1532) reichspolitisch nur auf dem Hintergrund der aktuellen außenpolitischen Bedrohung des Reiches zu verstehen. Zusammenfassend steht für ihn politisch die absolute Unzulänglichkeit sowie in rechtlicher Hinsicht die völlige Nichtigkeit des Frankfurter Anstandes fest. - Frieden und Stillstand: Der im Verhandlungsergebnis gebotene Friede für beide Parteien ist im Blick auf die Altgäubigen sinnlos, da von ihnen keine Gefahr ausgehe. Die in Frankfurt erhobene protestantische Forderung nach einer umfassenden reichsrechtlichen und politischen Anerkennung des kaiserlichen Mandates von 1532 durch die altgläubigen Stände hätte für Braun faktisch die Legitimierung eines Sakrilegs zur Konsequenz. Neu gegenüber dem Anstand von 1532 ist 1539 die Anordnung der Suspension der Prozesse des Reickskammergerichtes, die bisher so nicht geboten worden war. Das führt den Juristen in Brauns „Gespräch" zu der Frage, ob nicht hier der Kaiser grundsätzlich seine (durch die Reichsverfassung ihm gegebene) Kompetenz überschreite. Ist denn eine solche umfassende Suspendierung der Prozesse ohne Bewilligung der Prozeßparteien (vor allem der hier auf Restiution klagenden Geistlichen!) überhaupt möglich? So formuliert der Jurist erhebliche Zweifel an der Rechtskraft des Frankfurter Anstandes. Er befürwortet entsprechend die Fortsetzung der Reichskammergerichtsprozesse gegen die Protestanten. - Nürnberger Gesprächs-Tag: Der Charakter, den das durch den Anstand für den 1.8.1539 nach Nürnberg anberaumte Gespräch haben soll, ist Braun völlig mysteriös. Sollte es sich hier um ein Nationalkonzil oder um einen Reichstag handeln? Laien ihrerseits, sollten sie dazu geladen werden, seien kirchenrecht-

226 Braun (an), „Ein Gespräch eines Hofrats" Bl. С 2b. 227 Braun (an), „Ein Gespräch eines Hofrats" Bl. D 2b-D 2a.

Konrad Brauns „Gespräch eines Hofrats" 1539

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lieh nicht berechtigt, an einem (National-)Konzil mitzuwirken. Könnte andererseits aber ein Reichstag überhaupt über (theologisch-rechtliche) Glaubensangelegenheiten beraten? Wäre nicht überhaupt bei der Behandlung kirchlicher Angelegenheiten die Anwesenheit eines päpstlichen Legaten aus Gründen des Kirchenrechtes erforderlich, was aber die Protestanten so vehement ablehnen? - Türkenhilfe: Für den Braunschen Juristen ist unklar, warum mit den protestierenden Ständen in dieser einen Angelegenheit eine gesonderte Vereinbarung getroffen werden mußte, die politisch mit den „gehorsamen" Ständen nicht notwendig zu vereinbaren gewesen war. - Bündniserweitenmg/Ratifizierung des Anstandes durch den Kaiser: Zuletzt werden Probleme der Geltung des Frankfurter Ergebnisses erörtert. Politisch geht Braun nicht davon aus, daß die Protestanten sich dem geforderten „Stillestehen" unterwerfen, da dieses auch den Verzicht auf die Bündniserweiterung einschließe. Ebenso erwartet er vom Kaiser nicht die nötige Ratifizierung des vom Orator zugesagten Anstandes, die dem Ergebnis über die bewilligten sechs Monate hinaus Geltung verschaffen würde.

2.4.4. Rezeption und publizistische Reaktionen Belege für die rasche Verbreitung der anonym publizierten Schrift „Ein Gespräch eines Hofrats" um die Jahreswende 1539/40 sind vorhanden. Auffallend ist aber, daß z.B. in der Korrespondenz, die Stephan Roth in Zwickau über aktuelle Neuerscheinungen und Erwerbsmöglichkeiten kirchenpolitischer Publikationen führte, kein Exemplar des „Gesprächs eines Hofrats" erwähnt wird. Auch in Luthers und Melanchthons Briefwechseln findet sich kein Hinweis auf die Schrift Brauns. An anderen Orten als Zwickau oder Wittenberg war sie aber offensichtlich rasch bekannt: 1. In Wolfenbüttel muß das „Gespräch eines Hofrats" vor dem 24.11.1539 bekannt gewesen sein, wenn die Datierung der „Anderen Antwort" Herzog Heinrichs nicht anzuzweifeln ist. Denn in der braunschweigisch-wolfenbüttelschen Publikation „Andere Antwort auf das falsche Libell" vom 24.11.1539 führt Herzog Heinrich aus, daß das „Ausschreiben an alle Stände" nicht etwa, wie der Landgraf meine, öffentlich unbeantwortet geblieben sei, weil es unwiderlegbar sei, sondern „wiewol darauff kein sonderliche antwort ausgangen / . . . ", sei es doch durch die anonyme Gesprächschrift Brauns „mehr als doppelt zu gutem grund gentzlich / und gar verantwortet / und abgeleinet worden".^^^ Die Wolfenbütteler „Dritte Antwort auf des Landgrafen Lästerschrift" vom 22.7.1540 zitiert sehr häufig den durch den Weifen auch jetzt nicht namentlich identifizierten Autor des „Gesprächs" in zustimmender Weise.^^^ Auch seine 228 Vgl. 2.5.3., das Zitat steht HvBrW, „Andere Antwort auf das falsche Libell" Bl. R 4b. 229 HvBrW, .JDritte Antwort auf des Landgrafen Lästerschrift", z.B. dort Bl. О 2b-P la. Mm 2a-Mm 4a.

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Schrift „Ergründete Duplicae wider des Kurfürsten Abdruck" vom 3.11.1540 spielt auf das „Gespräch eines Hofrats" Diese lange Reihe zustimmender Bezugnahmen zum „Gespräch eines Hofrats" in Publikationen Heinrichs von Wolfenbüttel belegt, wie sehr der norddeutsche Führer des Nürnberger Bundes sich rechtlich und religionspolitisch mit der Position der anonymen Schrift Brauns identifìzieren konnte. 2. Martin Bucer kannte das gedruckte „Gespräch eines Hofrats" vor dem 14.1.1540, wie aus seinem Brief an den hessischen Landgafen von diesem Tag h e r v o r g e h t . D e r Autor Konrad Braun steht für ihn unzweifelhaft von Anfang an fest. Eine öffentliche Kritik des „Gesprächs eines Hofrats" vollzog er rasch unter seinem Pseudonym ,Conrad Treu zu Fridesleben' in seiner bald darauf publizierten Schrift „Von Kirchengütem".^^^ Ebenso wird Braun noch im selben Jahr unter dem Pseudonym ,Waremund Luithold' von Bucer in seinem literarischem Rückblick auf den Tag zu Hagenau vom 1.9.1540 scharf kritisiert.^^^ 3. Der Straßburger Rat schrieb am 7.2.1540 dem hessischen Landgrafen seine Auffassung über die Intention und die erwartete publizistische Wirkung des Werkes Brauns: Das „gesprächbüchlin", das die Gegner „im truck usgöhn haben lassen", bezeugt nach Meinung des Rates, daß die Protestanten für Leute gehalten werden, denen man grundsätzlich kein Recht zugestehen wolle und mit denen deshalb der Kaiser auch nach seinem Gutdünken verfahren könne. „Ein Gespräch eines Hofrats" sei wohl publiziert worden, um diese Auffassung öffentlich zu verbreiten, damit im Falle eines mutwilligen (und evtl. auch kriegerischen?) Vorgehens der altgläubigen Seite gegen die Protestanten „es ... bei dem gemeinen man desdo unbeschwerlicher geachtet werde".^^'^ M. a. W. wird die Schrift Brauns interpretiert als eine öffentliche Apologie des Reichskammergerichtes, die sich auch auf den „Gemeinen Mann" als Adressaten bezieht, wenn es denn zum Religionskrieg komme. 4. Der kaiserliche Orator bei den Frankfurter Verhandlungen, Johann von Weeze, unterhielt sich in Köln am 5./6.3.1540 mit dem hessischen Gesandten Heinrich Lersener u. a. auch über Brauns Publikation. Aus dem eigenhändigen Bericht Lerseners über dieses Gespräch geht hervor, wie der Orator über die Entstehung des „Dialogus" dachte: Das Reichskammergericht sei für die Publikation verantwortlich. Der Vizekanzler Held (einer der politischer Gegner des Vermittlers Weeze im Umkreis des Kaisers) habe den Verfassern dabei mit Informationen zur Verfügung gestanden. Lersener führte in seinem Bericht ferner aus, daß Weeze „als ein unparteiisch man" es für geboten halte, daß auch eine Erwiderung auf den „Dialog" im Druck erscheine. Er selbst wolle einen Auszug der Schrift dem Kaiser vorlegen und über Heids Verbindung zum „Ge230 HvBrW, „Ergründete Duplicae wider des Kurfürsten Abdruck" Bl. X la-Y 2a. 231 Lenz I, S. 125-130, Nr. 43, hier S. 126, 128 f. 232 Vgl. 3.1.4. 233 Vgl. 4.1.1. 234 Polit. Corr. 3, S. 17-18, Nr. 14, hier S. 18.

Konrad Brauns „Gespräch eines Hofrats" 1539

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spräch eines Hofrats" Karl V. Bericht erstatten.^^' Eine solche vom kaiserlichen Gesandten angesprochene kirchenpolitisch-publizistischen Entgegnung zum „Dialog" ist aber 1540 m. W. weder aus seiner Feder noch aus der Feder eines anderen Autors öffentlich erschienen. 5. Auf hessischer Seite replizierte der Landgraf auf „Ein Gespräch eines Hofrats" sehr ausführlich in seiner nächsten Schrift gegen den Wolfenbütteler Herzog. Es handelt sich dabei um seine „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" vom 12.4.1540.^^® Dadurch wird eine Verknüpfung der literarischen Stränge der aktuellen kirchenpolitischen Publizistik hergestellt, indem die Publikationen der Schmalkaldener gegen den Weifen mit der literarischen Reaktion auf deren „Ausschreiben an alle Stände" und den schwelenden Konflikt mit dem Reichskammergericht bzw. seinem Assessor Braun verbunden werden. 6. Schließlich befaßte sich Nikolaus von Amsdorffs anonyme Publikation zu Beginn des Regensburger Reichstages „Ein Getichte, wie fromm Herzog Heinrich und wie böse die Lutherischen sein" noch einmal ausführlich mit der Publikation „Ein Gespräch eines Hofrats" und identifizierte (nicht bloß versteckt wie in den chronologisch vorangegangenen Pseudonymen Publikationen Bucers) mit Konrad Braun auch explizit namentlich ihren Autor.^^^ Die Fülle der überlieferten Reaktionen zeigt, wie sehr die anonyme Publikation Brauns mit ihren unversöhnlichen Äußerungen gegenüber den „häretischen" Lutheranern, gegen die mit den herkömmlichen Rechtsmitteln kompromißlos vorzugehen sei, zu ihrer Zeit bei den Evangelischen „einschlug". Auffallend ist, daß ihr Erscheinen offensichtlich bei den Wittenbergern keinen uns überlieferten Nachhall gefunden hat. Direkte literarische Bezugnahmen auf sie, etwa auch aus dem Kreis der altgläubigen Theologen Witzel, Nausea, Cochläus oder Eck sind ebenfalls nicht bekannt.^^* Braun setzte sich mit der an seine Adresse gerichteten öffentlichen Kritik wieder auseinander und ließ ziemlich genau ein Jahr nach dem „Gespräch eines Hofrats" mit seinen „Etlichen Gesprächen" erneut eine - im Vergleich zu seiner ersten - erheblich umfangreichere Schrift folgen.^^'

235 Lenz I, Beilage III. Documente Nr. 19, S . 4 7 5 ^ 8 9 , hier S.480-481. 236 Vgl. 3.3.1. 237 Vgl. 5.3.3. 238 Vgl. 4.3.1., 4.3.2., 4.3.3. und 4.3.4. 239 Vgl. 4.3.5.

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Die Publikationen von Juli 1539 bis Febraar 1540

2.5. Erste Publikationen Herzog Heinrichs von Braunschweig-Wolfenbüttel gegen den Kurfürsten und den Landgrafen zu Jahresbeginn 1540

2.5.1. Hintergründe Nachdem sich die beiden schmalkaldischen Bundeshauptleute nach dem 14.9.1539 mit dem kursächsischen „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" und mit dem hessischen „Wahrhaftigen und gründlichen Bericht" publizistisch gegen den Wolfenbütteler Herzog gewandt hatten^'^", sah sich dieser nun genötigt, auch selbst mit gedruckten Schriften an die kirchenpolitische Öffentlichkeit zu treten. Seine ersten Publikationen zeigen in Gemeinschaft mit dem wohl nur kurz zuvor veröffentlichten anonymen „Gespräch eines Hofrats"^"*' die neue Praxis der durch die protestantische Publizistik angegriffenen Altgläubigen, ihrerseits jetzt auch mit den Mitteln der kirchenpolitischen Publizistik die politische, theologisch-kirchliche und rechtliche Kontroverse zu führen. Ob bei dem Weifen schon viel früher eine „Neigung zu Publizistik und Propaganda" nachzuweisen ist, braucht an dieser Stelle nicht berücksichtigt zu werden.^'*^ Bemerkenswert ist aber, daß die ersten Anfänge des Druckwesens in seinem Herzogtum mit dem Beginn seiner Kontroverse mit den Schmalkaldenern historisch in einem engen Zusammenhang zu stehen scheinen, denn bis zum Jahr 1540 läßt sich noch gar keine Druckerei in Heinrichs Residenzstadt Wolfenbüttel nachweisen. Von einer ersten Publikation Herzog Heinrichs gegen die Schmalkaldener muß Stephan Roth schon vor dem 23.1.1540 gewußt und Christoph Schramm in Wittenberg um ihre Zusendung gebeten haben. Denn Schramm konnte auf Roths Anfrage nur sehr vage antworten: „... was aber des von Braunschwig ... Verantwortung ist, hab ich vorwar noch kein nicht zusehn mögen bekommen [,] ich höre aber sagen [,] der von Braunswig habe einen drucker [sie!] angenommen ... Der erste Wolfenbütteler Drucker, Henning Rüdem (auch Rüden, Rudenius), hat ganz offensichtlich entweder noch kurz vor dem Jahresende 1539 oder im Januar 1540 seine Arbeit dort aufgenommen. Zu seinen ersten Aufträgen gehörte die Herstellung von offiziellen Drucken seines Herzogs, und zwar die 240 Vgl. 2.1. 241 V g l . 2.4. 242 Franz Petri, Herzog Heinrich der Jüngere von Braunschweig-Wolfenbüttel. Ein niederdeutscher Territorialfürst im Zeitalter Luthers und Karis V, in: ARG 72 (1981), S. 122-158, hier S. 128. 243 Buchwald, S. 193 f., Nr. 608. Handelt es sich dabei um Heinrichs ,3rste Antwort" oder schon um die „Andere Antwort"?

Gegen sächsischen Kurfürsten und hessischen Landgrafen (Anfang 1540)

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Schriften „Erste Antwort auf ein nichtig Schreiben" und „Andere Antwort auf das falsche Libell".244

2.5.2. „Erste Antwort auf ein nichtig Schreiben" vom 31.3.1539 Diese „Erste Antwort" Heinrichs ist, obwohl sie bereits zur Zeit der Frankfurter Verhandlungen in den Monaten März und April 1539 „aktuell" war, erst etwa neun Monate danach in Wolfenbüttel als „offizielles" Dokument gedruckt worden. Ihr Wortlaut bezog sich seinerzeit auf die von den beiden schmalkaldischen Bundeshauptleuten wohl im März 1539 in Frankfurt abgefaßte, an den Kurfürsten Joachim II. von Brandenburg adressierte und hier im Druck jetzt als das „nichtig Schreiben" bezeichnete Schrift, auf die sich einst Heinrichs „Gegenbericht" bezog.^'·^ Über die Gründe für diesen vergleichsweise doch sehr „späten" Druck lassen sich nur Vermutungen anstellen. Vielleicht entdeckte Heinrich den politischen Sinn einer gedruckten Rechtfertigungsschrift erst, nachdem die Schmalkaldener ihrerseits die Auseinandersetzung mit publizistischen Mitteln im Spätherbst 1539 begonnen hatten. (Der separate Druck in Wolfenbüttel erfolgte schließlich erst, als der Text dieser „Antwort" bereits in dem Marburger Druck „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" etwa ab Ende November 1539 vorlag.^"*®) Oder wollte Heinrich mit seiner Publikation zum Ausdruck bringen, daß er den Schmalkaldenem schon vor dem Beginn der öffentlichen Phase des Konfliktes hinreichend und abschließend geantwortet hatte? Wie immer man an dieser Stelle urteilen mag: Der dann in Wolfenbüttel erfolgte Druck der Schrift „Erste Antwort auf ein nichtig Schreiben" belegt auf jeden Fall die Bereitschaft Heinrichs, seine schon im Jahr zuvor wahrgenommene Verteidigung seines Verhaltens eigenverantwortlich vor einer größeren Öffentlichkeit darzulegen. Heinrich bezeichnete seinen Druck ausdrücklich auf dem Titelblatt als seine „Erste... Antwort". Sie ist die erste gedruckte Antwort innerhalb der Auseinandersetzungen seit der Jahreswende 1538/39 um den festgehaltenen Sekretär Stephan Schmidt, wenngleich bereits seine zweite schriftliche Äußerung an den brandenburgischen Kurfürsten. Die im chronologisch244 Neben den beiden ersten Publilcationen Heinrichs gegen die Schmalkaldener ist auch darauf hinzuweisen, daß einer der ersten Drucke in Wolfenbüttel der Nachdruck des zuerst in Wittenberg erschienenen protestantischen „Widerschreibens" vom 14.9.1539 gewesen ist, ohne daß dieser Druck Rüdems, der kein Impressum trägt, genau datiert werden kann. Wahrscheinlich stammt er auch vom Jahresende 1539 oder Jahresbeginn 1540 (bibliographischer Hinweis: VD 16: H 2962 = VD 16: S 1094, kein Nachweis bei Brandes). 245 JFvS/PhvH, „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" Bl. E 2a-H 3b. 246 JFvS/PhvH, „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" Bl. H 4 a - 0 4a entspricht mit geringfügigen orthographischen Differenzen der wolfenbüttelschen „Ersten Antwort auf ein nichtig Schreiben" Bl. В l a - I 4a. Vgl. oben S. 105-113.

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Die Publikationen von Juli 1539 bis Febraar 1540

sachlichen Sinne erste Antwort Heinrichs stammte vom 9.2.1539 aus Pilsen.^'*' Sie mußte mittlerweile als überhoh gelten. Ferner kann man noch annehmen, daß die Antwort vom März 1539 auch deshalb als „Erste Antwort auf ein nichtig Schreiben" bezeichnet wird, weil Text und Titel der nächsten Schrift, der „Anderen ... Antwort", die ihrerseits das Datum vom 24.11.1539 trägt, z.Zt. der erfolgten Drucklegung der „Ersten Antwort" für die Veröffentlichung durch Rüdems Offizin schon bereit lag. Neue Dokumente für die kirchenpolitische Öffentlichkeit im Vergleich mit der von den Schmalkaldenem autorisierten Schrift „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" sind in Heinrichs „Erster Antwort auf ein nichtig Schreiben"^'*® lediglich zwei kleine Stücke: Ein Schreiben des mittlerweile gestorbenen Herzogs Georg von Sachsen an seinen hessischen Schwiegersohn vom 16.1.1539^'^^ und ein Brief des bayerischen Herzogs Wilhelm an den Landgrafen vom 15.1.1539.^^" Beide bezogen sich auf die durch Philipp selbst gegenüber ihnen vollzogene Unterrichtung über die Gefangennahme des Sekretärs Schmidt. Man kann fragen, ob die Adressaten des Wolfenbütteler Druckes von Heinrichs „Erster Antwort" Anfang 1540 jene Teile der Öffentlichkeit waren, die nicht durch den hessischen Druck „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" informiert worden waren. Vielleicht wollte Heinrich auch Persönlichkeiten im norddeutschen Raum, Beamte oder Adlige aus seinem Territorium oder irgendwelche altgläubige Kreise speziell erreichen. Aber darüber läßt sich aus den für diese Untersuchung berücksichtigten Quellen nichts Konkretes ausmachen. Kirchenpolitisch und publizistisch weitaus aktueller war aber die zu Jahresbeginn 1540 ebenfalls in Wolfenbüttel erscheinende zweite der antischmalkaldischen Publikationen Heinrichs. Alle mir bekannten Reaktionen auf den Beginn der kirchenpolitischen Publizistik aus Wolfenbüttel in den Monaten Februar und März 1540 beziehen sich auf diese in der Konstellation des Jahres 1540 neue und umfangreichere literarische Erwiderung auf das „Widerschreiben" der 247 Der Text steht auch bei JFvS/PhvH, „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" Bl. D 2 a - E 2a. Diese im strengen Wortsinn erste Antwort erfolgte aber noch nicht an den pfälzischen Kurfürsten als Mitadressaten. 248 Zur Gliederung des Hauptteiles des Drucks: 1. Bl. В I b - B 2b: Einleitung, die beide schmalkaldischen Fürsten in gleicher Weise betrifft. - 2. Bl. В 2 b - D la: „Und ob wol war / das wir dem Churfûrsten . . . " . - 3. Bl. D l a - I 3a: ,J)Ann anlangend den Landgrafen / . . . " . - 4. Bl. I 3a-I 4a: Zusammenfassung, wiederum beide betreffend. 249 HvBrW, „Erste Antwort auf ein nichtig Schreiben" Bl. A 2 a - A 3a. In „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" Bl. A 2 b - B l a war das vorangegangene Schreiben Philipps an Georg vom 1.1.1539, das nachfolgende Schreiben Philipps an Georg vom 23.1.1539 auf Bl. С 2 b - D Ib derselben Publikation der kirchenpolitischen Öffentlichkeit bekannt gemacht worden. Mit dem Druck des dazwischenliegenden Briefes von Georg an Philipp in der Wolfenbütteler Publikation wird gewissermaßen eine Infoimationslücke geschlossen. 250 HvBrW, „Erste Antwort auf ein nichtig Schreiben" Bl. А 3 b - B la. 251 Vgl. S. 101 f.

Gegen sächsischen Kurfürsten und hessischen Landgrafen (Anfang 1540)

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Schmalkaldener vom 14.9.1539, nämlich Heinrichs „Andere Antwort auf das falsche Libell" vom 24.11.1539.

2.5.3. „Andere Antwort auf das falsche Libell" vom 24.11.1539 2.5.3.1.

Charakteristik

Diese Schrift ist die publizistische Erwiderung auf das von beiden schmalkaldischen Fürsten autorisierte, zunächst in Wittenberg gedruckte (und dann auch durch Rüdem in Wolfenbüttel nachgedruckte) „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" vom 14.9.1539. Sie setzt die Kenntnis der hessischen Publikation „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht", die ab dem 24.11.1539 zur Versendung kam, nicht voraus.^^^ Heinrichs Rechtfertigungsschrift hält sich in der Behandlung ihrer Themen genau an die vorgegebene Reihenfolge der Themen im kursächsischen „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben". Neue Themen oder interessante weiterführende Verknüpfungen lassen sich in seiner „Anderen Antwort" nicht finden. Die persönliche Polemik und die theologische Inteφretation des in gleicher Weise politischen und kirchenpolitischen Konfliktes der verfeindeten Parteien scheinen allerdings deutlich gesteigert: Heinrich charakterisierte das kurfürstliche „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" als lasterhaft und ehrenrührig, als gehässig und neidisch, kurzum als ein „famos Libell", das wiederum eine öffentliche „Antwort" von seiner Seite erforderlich mache.^^^ Der äußere Umfang der „Anderen Antwort" ist, wie erwähnt, erheblich erweitert worden: Während das „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" bei ca. 30 Zeilen pro Seite 58 Blatt im 4°-Format Umfang hatte, ist die „Andere Antwort auf das falsche Libell" mit 115 im 4°-Format bedruckten Blatt ziemlich genau doppelt so wortreich geworden. Die Herstellung der Druckexemplare in der Offizin Rüdems erfolgte wohl zu Jahresbeginn 1540, wahrscheinlich zuerst (und d.h. nicht unbedingt ausschließlich nur) in den Monaten Januar oder Februar. Es gibt von diesem Druck laut VD 16 mehrere Varianten, von denen einige einen defekten Eindruck machen.254 252 Als Veranlassung zu dem Druck von „Andere Antwort auf das falsche Libell" wird auf Bl. A 2b festgehalten, daß die schmalkaldische Publikation, auf die Herzog Heinrich sich bezieht, ihrerseits die letzte Schrift Heinrichs - das ist seine jetzt 1540 auch in Wolfenbüttel separat gedruckte ,^rste Antwort auf ein nichtig Schreiben" vom 31.3.1539 - nicht mitabgedruckt habe. Dieser Vorwurf trifft aber sachlich nicht den hessischen „Wahrhaftigen und gründlichen Bericht", vgl. 2.1.6. Vgl. dazu auch 2.1.1. und 2.1.4. über das chronologische Verhältnis der ersten kursächsischen zu der ersten hessischen Publikation im Blick auf ihre Entstehung und ihre Verbreitung. 253 HvBrW, „Andere Antwort auf das falsche Libell" Bl. A 2b-A 3a, A 4b, G 4a. An anderen Stellen finden sich vergleichbare Titulierungen. 254 Bibliographischer Hinweis: VD 16: В 7278; VD 16: В 7279; VD 16: В 7280; VD 16: В 7281; ein weiteres davon zu unterscheidendes *Exemplar befindet sich in der UB Mr VIII В 445 [b].

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Die Publikationen von Juli 1539 bis Febraar 1540

Der Druck dieser zweiten „Antwort" erschien als autorisierter Druck des Wolfenbütteler Herzogs. Die Frage nach seinem geistig-literarischen Urheber bewegte schon die Zeitgenossen sehr, da man protestantischerseits weder Herzog Heinrich persönlich noch seiner Kanzlei die Erstellung des Textes zutraute: „Man will sagen, das Dr. Held zu dem losten [= letzten] ausschreiben ful [= viel] sol geholffen haben: etlich vermuetens aus seinem stilo."^^^ Auch die Datierung der Schrift durch Herzog Heinrich auf den 24.11.1539 verwarf Johann Friedrich v. Sachsen kaum ein halbes Jahr nach Erscheinen der Schrift.^'® Er war der Auffassung, die Behauptung Heinrichs, seine „Andere Antwort auf das falsche Libell" stamme vom 24.11.1539, sei falsch, da sie am 24.11.1539 noch gar nicht fertiggestellt gewesen sein konnte. Dieses Datum sei durch Heinrich bewußt zurückgesetzt worden. Es ist zu fragen: Handelt es sich dabei um ein historisch zutreffendes Urteil des Kurfürsten? Oder soll lediglich angedeutet werden, daß in seiner Perspektive es als ganz und gar unwahrscheinlich galt, daß der Weife schon am 24.11.1539 seine Widerlegung auf das kursächsische „Widerschreiben" abschloß? Welches Interesse verfolgte Heinrich selbst, wenn er tatsächlich unzutreffenderweise zurückdatiert hat? M. E. ist es durchaus vorstellbar, daß Heinrich ein Exemplar des Wittenberger „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" kurze Zeit vor dem 24.11.1539 in den Händen hielt und das Beispiel seiner sehr raschen Reaktion auf die Übermittlung des protestantischen Schreibens durch Kurfürst Joachim im März 1539 (insgesamt nur vier Tage) belegt die Geschwindigkeit seiner Arbeit an einer hochaktuellen Sache. Andererseits muß festgehalten werden: Da die ersten Belege über die Rezeption der gedruckten „Anderen Antwort" sowieso allesamt erst aus der 2. Februarhälfte des Jahres 1540 stammen und Rüdem laut Impressum ja auch nicht mehr im Dezember 1539, sondern erst im neuen Jahr 1540 druckte, stellt sich das Datum des 24.11.1539 als Datum für die Abfassung der Schrift nicht als

an: VIII В 444 m. Die Aufführung der m. E. marginalen Differenzen, die als einfache Druckfehler einzuschätzen sind, bleibt einer Edition vorbehalten. Vgl. Abbildung 5, S. 326. 255 Dr. Gereon Sailer aus Augsburg am 28.5.1540 an den Landgrafen, Lenz I, Beilage III. Documente, Nr. 15, S. 465-469, hier S.469. Daß Heinrich samt seiner Kanzlei zu einer solchen „Antwort" unfähig gewesen sein soll, scheint mir eher ein Aspekt der Polemik der Protestanten zu sein als ein historisch zutreffendes Urteil. Die Mitwirkung speziell Heids bei der Formierung der altgläubigen Publizistik gegen die Protestanten um die Jahreswende 1539/40 wurde auch angesichts der Entstehung von Brauns „Gespräch eines Hofrats" von dem kaiserlichen Orator Anfang März 1540 gegenüber dem hessischen Gesandten Lersener gemutmaßt, vgl. oben S. 142. Die politischen Verbindung zwischen Held und Heinrich beschreibt auch Franz Petri, Herzog Heinrich der Jüngere von Braunschweig-Wolfenbüttel. Ein niederdeutscher Territorialfürst im Zeitalter Luthers und Karls V, in: ARG 72 (1981), S. 122-158, hier S. 141. 256 Die Datierung erfolgte im Schlußvermerk von HvBrW, . ä n d e r e Antwort auf das falsche Libell" Bl. Ff 2b auf den 24. November 1539; die Problematisierung bei JFvS, „Anderer Abdruck der wahrhaftigen, beständigen und ergründeten Verantwortungen" Bl. A 2a.

Gegen sächsischen Kurfürsten und hessischen Landgrafen (Anfang 1540)

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ein primäres Problem für die Rezeption der Schrift in der Öffentlichkeit^^^ dar und kann im Rahmen dieser Untersuchung methodisch vernachlässigt werden. Neben dem protestantischen „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben", gegen das sich der Wolfenbütteler Druck „Andere Antwort auf das falsche Libell" richtete, gibt es weitere literarische Verweise in dieser Publikation: Die Schrift knüpft natürlich an die vorausgegangene „Erste Antwort auf ein nichtig Schreiben" an.^'® Lose angespielt wird auf den anonymen Dialog „Ein Gespräch eines Hofrats" als einer Schrift, durch die des Landgrafen „Ausschreiben an alle Stände" vom 13.11.1538 öffentlich berichtigt worden sei.^'^ Am Rande angedeutet wird ferner die von der Stadt Goslar (für Heinrich fälschlicherweise!) publizierte „Zitation" des Reichskammergerichtes gegen ihn, die an vielen Orten „angeschlagen" worden sei. Wird damit schon auf den Druck „Zitation und Vorbescheid wider Heinrich von Braunschweig" angespielt? Der Goslarer Druck der „Zitation" war ja auf kurfürstlichen Befehl nicht vor Ende November 1539 an die Öffentlichkeit gelangt.^^® Neben den erneut genannten traditionellen Adressaten des Schreibens vom 24.11.1539, den Kurfürsten Ludwig V. von der Pfalz und Joachim II. von Brandenburg, ist als Adressat der „Anderen Antwort" im Jahre 1540 die gesamte kirchenpolitische Öffentlichkeit anzunehmen. Die Vermittlungstätigkeit der beiden speziell angeschriebenen Kurfürsten ist zu diesem Zeitpunkt keine „politische" mehr wie noch während der Frankfurter Verhandlungen.^®^ Sie haben aber ganz offensichtlich ein Exemplar des Drucks an den Landgrafen mit einem Begleitschreiben „weitervermittelt", wofür der Hesse sich bei ihnen bedankt hat?^^ Der Text gliedert sich wie Heinrichs „Erste Antwort" in von einander abgesetzte Widerlegungen, zuerst des Kurfürsten, dann des Landgrafen.^®^ Eine den Konflikt betreffende Vorrede^·^ und eine Schlußbemerkung^®^ bewerten den Konflikt insgesamt. Auffallend ist, daß der Vorrede gleich drei biblische Mottos vorangestellt sind.^^® Auch zwischen der Corrigenda-Liste und dem Druckervermerk findet sich ein weiterer biblischer Leitspruch^®^: 257 Vgl. 2.5.3.2. 258 HvBrW, „Andere Antwort auf das falsche Libell" Bl. Dd 4b. 259 HvBrW, „Andere Antwort auf das falsche Libell" Bl. R 4b; vgl. auch Bl. Cc 2a. Vgl. 2.4.3. 260 HvBrW, „Andere Antwort auf das falsche Libell" Bl. Ρ За. Vgl. oben S. 115. 261 Vgl. S . 4 7 ^ 9 , 104. 262 Die Adressatenangabe findet sich am Ende der Publikation: HvBrW, .Andere Antwort auf das falsche Libell" Bl. Ff 2b. Ihre Funktion als Vermittler der Publikation an den Landgrafen wird durch Philipp selbst festgehalten in seiner Schrift „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" Bl. IIa. 263 1. Teil: Bl. В Ib-G 3b: .Erstlich soviel den Churfûrsten zu Sachsen anlangt / . . . " . - 2. Teil: Bl. G 4a-Ff la: „Und nhun further wollen wir dem Landgrafen auch antworten / . . . " . 264 Bl. A 2a-B la: Vorrede: „Unser freuntlich dienst / . . . " . 265 Bl. Ff la-Ff 2b: Schlußbemerkung: „Hiemit wollen wir diese sache dem gerechten Gott... 266 HvBrW, „Andere Antwort auf das falsche Libell" Bl. A Ib. 267 HvBrW, „Andere Antwort auf das falsche Libell" Bl. F f3a.

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Die Publikationen von Juli 1539 bis Febraar 1540

1. „Ir mund ist gletter dann butter und haben doch krieg im sinn / Ir wort sind gelinder denn óle / Und sind doch blose Schwerter." (Ps 55, 22) 2. „Sie halten zu hauff und lauren / Und haben acht auff meine fersen / wie sie meine seele erhäschen." (Ps 56, 7) 3. „Gib inen HERR einen meister / Das sie erkennen / das sie menschen sein." (Ps 9, 21) 4. „Wor wir gehen so umbgeben sie uns / ire äugen richten sie dahin / das sie uns zur erden stûrtzen." (Ps 17, 11) Bemerkenswerterweise entsprechen alle Zitate bis auf marginale Differenzen der Bibelübersetzung Martin Luthers.^®® Lediglich bei Ps 9, 21 wird nicht von den „Heiden" gesprochen, sondern durch „sie" ersetzt. Heinrich stellt so die Identifikation der Protestanten mit den Heiden und Feinden durch den Psalmbeter heraus. Der inneren Logik des Psalms folgend, identifiziert sich Heinrich durch diese „Technik" mit dem zu Unrecht bedrängten Frommen, der vorbildlich auf Gott vertraut. Das rechtliche Bewußtsein, das Herzog Heinrich in seiner Schrift artikuliert und mit dem er kirchenpolitisch seine Gegner angreift, besteht im Vorwurf, die Protestanten würden den Begriff „Religionssache" illegitim ausweiten. Sie würden die ordentliche Gerichtsbarkeit des Reichskammergerichtes nicht dulden und die politisch-religiöse Autorität des Kaisers nicht anerkennen.^®^ Stark verkürzt entspricht die Position des Herzogs in dieser Frage genau der der anonymen Publikation „Gespräch eines Hofrats".^''' 2.5.3.2. Verbreitung und Reaktionen Offensichtlich hatte Herzog Heinrich mehrere Verbreitungswege für seine Schrift gefunden, wie allein schon die Rezeption seiner Schrift in der Stadt Augsburg belegt: 1. Versendung durch Boten: Eine Notiz Dr. Gereon Sailers vom 9.3.1540 an den hessischen Landgrafen dokumentiert die direkte Zusendung der Schrift Heinrichs „durch ein aignen potten" an den Augsburger Rat. Sailer wußte noch darüber hinaus: „er, hertzog Hainrich, hat das sein [= seine Publikation „Andere Antwort auf das falsche Libell"] an all hoff und st[a]e[d]t[e] geschi[c]kht."2^· Dieses Verfahren entspricht dem der Verbreitung von Publikationen, wie sie zur

268 Sie war offenbar auch im altgläubigen wolfenbüttelschen Raum die gebräuchliche Übersetzung. Vgl. zu Ps 55, 22 WA.DB 10/1 S.278f.; zu Ps 56, 7 dort S.280f.; zu Ps 9, 21 dort S. 129; zu Ps 17,11 dort S. 145. Zur Problematisierung des Gebrauchs der Bibelübersetzung Luthers durch Herzog Heinrich in den Augen des sächsischen Kurfürsten in seiner nächsten Anti-HeinrichSchrift „Anderer Abdruck", vgl. unten S.207. 269 HvBrW, „Andere Antwort auf das falsche Libell" Bl. A 4a-A 4b. 270 Vgl. 2.4.3. 271 Lenz I, Beilage III. Documente, Nr. 11, S. 4 5 7 ^ 6 0 , hier S.460.

Gegen sächsischen Kurfürsten und hessischen Landgrafen (Anfang 1540)

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selben Zeit auch Landgraf Philipp mit seinen amtlichen Publikationen betrieb.2^2 2. Kostenlose Verteilung und Verkauf: Der Verkauf bzw. das Verschenken von einigen Exemplaren der Schrift „Andere Antwort auf das falsche Libell" in Augsburg über den Rat hinaus an die Bürgerschaft der Stadt ist gleichermaßen durch Notizen Sailers und Johann von Weezes belegt. „... Niklas Miller hat der braunschweigischen piechlach [= Büchlein] . . . her gepracht, die verschenkht und verkaufft, wie ers hat mo[e]gen in die leut pringen."^^^ Auch Johann von Weeze hatte den Druck „Andere Antwort auf das falsche Libell" bereits vor dem 5.3.1540 in Augsburg zur Kenntnis genommen. Er lehnte aber den „Pressekrieg" der verfeindeten Fürsten nicht zuletzt aus Standesgründen ab: „... es ist nit fein, das sich fursten also schelten, das die bauern beim wein lesen und iren spot dormit treiben sollen; mach nit guten willen bei den bauern."^^'' Diese Notiz ist der Beweis dafür, daß man mit einer Verbreitung der Schrift Heinrichs bis hin zum „Gemeinen Mann" rechnete. Gedruckte Exemplare von „Andere Antwort auf das falsche Libell" waren in den sächsischen Territorien auf dem Markt der kirchenpolitischen Publikationen ganz offensichtlich schwer oder gar nicht auf den üblichen Wegen zu bekommen. Am 20.3.1540 forderte Joseph Levin Metzsch bei Stephan Roth in Zwickau das „puchlein" des Herzogs an, das „ausgangen wider des churfursten vnd landtgraffen negst [= letztes] ausgegangen buchlein [also das „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben"]".^^^ Roth wandte sich daraufhin nach Leipzig, wo er am 5.5.1540 durch Hans Mauser mitgeteilt bekam: „... aber die Büchlein wider den Churfürsten vnd Landtgrauen weyß ich nicht zubekommen . . . Am 18.5. wiederholte Metzsch seine Bitte an Roth: „Herzog H. v. braunschweigs buch dorfft Jr mir nicht zcu wege brengen . . . Den gleichen Mangel an dieser sehr begehrten Publikation beweist das Schreiben Nicolaus Gunthers aus Weimar an Stephan Roth am 14.6.1540: „hertzog heinrichs von Braunschweig [„Andere Antwort auf das falsche Libell"] hab ich selbst nit gesehen, auch zu Erfurtt nicht bekommen mögen . . . Mehrere sehr frühe Reaktionen belegen die rasche Verbreitung der Schrift „Andere Antwort auf das falsche Libell" bei den Protestanten:

272 Vgl. S.37f., 198 ff., 277 f. 273 Lenz I, Beilage III. Documente, Nr. 13, S. 461-464, hier S.463. Im folgenden schildert Sailer dem Landgrafen, wie er sich auf diese Aktion an den Rat der Stadt gewandt hat, um das Verbot der Verbreitung der Schrift Heinrichs, die ja öffentlich die Reputation des Landgrafen in der Stadt gefährdete, durch Miller zu erreichen. 274 Lenz I, Beilage III. Documente, Nr. 19, S. 4 7 5 ^ 8 9 , hier S.485. 275 Buchwald, S. 196, Nr. 617. 276 Buchwald, S.196, Nr.619. 277 Buchwald, S. 197, Nr. 622. 278 Buchwald, S. 197f., Nr. 624.

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Die Publikationen von Juli 1539 bis Februar 1540

1. Am 25.2.1540 schrieb Joachim von Maltzan, der Rat und spätere Gesandte des brandenburgischen Kurfürsten zum Hagenauer Religionsgespräch^^^von Pentzelin aus an den hessischen Landgrafen „eilent mit eygner handt", daß er gerade Herzog Heinrichs Druck „Andere Antwort auf das falsche Libell" erhalten habe.^®° (Maltzan war ähnlich wie Stephan Schmidt durch den Landgrafen früher einmal durch den Wolfenbütteler Herzog aufgehalten worden. 2. Die „Andere Antwort auf das falsche Libell" muß schon vor dem 26.2.1540 in Hessen bekannt gewesen sein, denn ihr Inhalt spielte schon am 26.2.1540 für die Instruktion des hessischen Gesandten Heinrich Lersener an Johann von Weeze nach Köln eine gewisse Rolle. Des Landgrafen - durch Lersener zu übermittelnde - Bitte an Lund geht dahin, daß dieser den gegen ihn gerichteten Aussagen in Heinrichs Schrift, „dorin er uns hart schm[a]e[h]e und l[a]ester[e] mit unwarheit und lugen, wie ain ehrloser bube", keinen Glauben schenken möge.^®^ Daß Weeze, der Erzbischof von Lund, über das Buch Heinrichs, das er in Augsburg schon kennengelemt hatte, nicht erfreut war, belegt seine wiederum durch Lersener überlieferte Reaktion.^®^ 3. Über die Lektüre von Heinrichs „Anderer Antwort" berichtete Luther am 3.3.1540 an Anton Lauterbach in Pirna: „Hic nihil novarum, nisi liber Mezentii in nostros Principes furiosus."^*'* Über den Gesamteindruck von dieser Schrift - daß die Beweisgründe von Kurfürst und Landgraf nicht widerlegt seien schrieb er am 5.3.1540 an Melanchthon in Schmalkalden, von dem er annimmt, er habe den „Uber Mezentii" schon gelesen.^®' Die nun jetzt wieder notwendig gewordene und allgemein erwartete publizistische Reaktion der beiden angegriffenen evangelischen Fürsten, Landgraf Phi-

279 Vgl. ZU dessen Rolle im Zusammenhang des nach Speyer/Hagenau ausgeschrieben Religionsgespräches den Hrsg. von ARCEG Bd. 3, S. 94-95, zu Nr. 59, hier bes. S. 94 Anm. 143. 280 Dieses Schreiben wurde abgedruckt in der hessischen Reaktion auf Heinrichs „Andere Antwort": PhvH, „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" Bl. XLVa-XLVIb. 281 JFvS/PhvH, „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" Bl. F 4b; HvBrW, , i r s t e Antwort auf ein nichtig Schreiben" Bl. E 3b; JFvS/PhvH, „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" Bl. F l a - F 3a. 282 Lenz I, Beilage III. Documente, Nr. 18, S. 471-475, hier S.474. 283 Lenz I, Beilage III. Documente, Nr. 19, S.475-489, hier S.482. 284 WA.B 9, S. 68-69, Nr. 3450, hier S.68, 8-9. .Jvlezentius" wird Heinrich von BraunschweigWolfenbüttel im brieflichen Verkehr bei Luther schon seit dem 2.3.1539 genannt, WA.B 8, S. 378-381, Nr. 3305 (Brief an Melanchthon in Frankfurt), hier S. 379, 26.32 und S. 380 Anm. 18. Mezentius war laut Vergils „Äneis" ein Etruskerherrscher, der wegen seiner Grausamkeit aus seinem Reich vertrieben wurde. Bei Melanchthon findet sich diese Bezeichnung für den Weifen schon am 29.1.1539 in seinem Brief an Andreas Oslander. Er steht in CR 4,1052-1053, Nr. 1770c; vgl. MBW 2, Nr. 2142 und wurde neu kommentiert herausgegeben in: Andreas Oslander d.Ä., Gesamtausgabe, hg. von Gerhard Müller Bd. 7, Gütersloh 1988, S. 53-55, Nr. 248. Diese polemische Bezeichnung der Wittenberger für Heinrich findet sich in der folgenden Zeit gehäuft. 285 WA.B 9, S.69-72, Nr.3451, hier 69, 6-70, 9. Vgl. MBW 3, Nr.2388.

Gegen sächsischen Kurfürsten und hessischen Landgrafen (Anfang 1540)

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lipp und Kurfürst Johann Friedrich, erfolgte auf Heinrichs Drucke nicht mehr gemeinsam, sondern getrennt. - Philipps von Hessen „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" vom 12.4.1540 ist die sich anschließende Gegenschrift auf hessischer Seite.^^® - Johann Friedrichs von Sachsen „Anderer Abdruck der wahrhaftigen, beständigen und ergründeten Verantwortungen" vom 19.5.1540 ist das kursächsische Pendant zur hessischen Gegenschrift auf Heinrichs „Andere Antwort".287

Hinzu traten noch zwei weitere Schriften von ebenfalls durch Heinrichs Schrift herausgeforderten Personen, so daß sich die Zahl der unmittelbar durch sie provozierten Veröffentlichungen auf vier erhöht: - Der hessische Amtmann Hans Koch in Trendelburg bei Hofgeismar, der früher in den Diensten des Weifenherzogs gestanden hatte, und von Heinrich namentlich in seiner Schrift angegriffen worden war, ließ vermutlich auf Veranlassung des Landgrafen eine persönliche Apologie auch als Druck herstellen. Die Schrift gibt sich selbst als abgefaßt in Kochs Amtssitz Trendelburg am 23.4.1540, ihr (erschlossener) Drucker ist der für die hessischen Schriften gegen Herzog Heinrich übliche Drucker, nämlich Christian Egenolff in Marburg.^®^ - Zur Abwehr der gegen ihn unter anderem^^^ in der „Anderen Antwort" erhobenen Vorwürfe publizierte als einer der norddeutschen Mitglieder des Schmalkaldischen Bundes Herzog Emst III. von Braunschweig-Lüneburg (1497-1546) wohl noch im Jahr 1540 eine „Verantwortung" im Druck, die sehr wahrscheinlich bei Georg Rhau in Wittenberg hergestellt worden

286 Vgl. 3.3.1. 287 Vgl. 3.3.2. 288 Bibliographischer Hinweis: VD 16: К 1503, kein Nachweis bei v. Donimer. 289 Herzog Heinrich hatte im späteren Verlaufe des Jahres 1540 noch eine weitere Publikation folgen lassen, die sich ebenfalls gegen das schmalkaldische „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" vom 14.9.1539 bezog. Sie betraf die Rechte des Herzogs an der evangelischen Stadt Braunschweig. Sie eröffnete neben dem den im Rahmen dieser Untersuchung weiter verfolgten „Hauptstrom" der publizistischen Kontroverse zwischen den Kontrahenten noch einen, auf die speziellen niedersächsisch-braunschweigischen Pobleme bezogenen, „Nebenschauplatz" des publizistisch-literarischen Gefechtes. Bibliographischer Hinweis: VD 16: В 7264 = VD 16: В 7288. 290 Bibliographischer Hinweis: VD 16: В 7265. Zu diesem Zeitpunkt gab es in dem kleinen weifischen Territorium, das Ernst anfänglich gemeinschaftlich mit seinen Brüdern regierte, noch keinen Drucker in den Städten Celle oder Lüneburg, die als mögliche Drackorte in Frage kämen. Daß ein kleinerer evangelischer Reichsstand, wenn er sich an der kirchenpolitischen Auseinandersetzung mit einer von ihm verantworteten Publikation beteiligen wollte, sich eines Wittenberger Druckers bediente, zeigte schon das Beispiel der Goslarer ,^itation" vom November 1539, die ebenfalls von Georg Rhau hergestellt worden war. Auf einen zweiten Druck der „Verantwortung" Herzogs Emst wird bibliographisch hingewiesen unter VD 16: В 7266.

3 . KAPITEL

Die Publikationen im Zusammenhang des Bundestages in Schmalkalden und des Hagenauer Religionsgespräches von Februar bis September 1540

3.1. Kirchengüterfrage und Stiftsreform in Bucers Schrift „Von Kirchengütem" vom 3.2.1540

3.1.1. Die Vielschichtigkeit der Kirchengüterfrage Melanchthons „De officio principum" hatte sich wegen der „cura ecclesiae" an die weltlichen Fürsten und reichsstädtischen Magistrate gewandt', da er die Bischöfe und die andere Geistlichkeit als zu Reformen unfähig und unwillig einstufte. Die Frage nach den Grundlagen und Chancen von Reformen des traditionellen kirchlichen Lebens in den geistlichen Territorien des Reiches war aber mit einem solchen Urteil nicht kategorisch abzutun. Sie erlangte ab Mitte der 30er Jahre des 16. Jahrhunderts mit den Aussichten auf ein Generalkonzil und dem Erstarken einer auch stark kirchenpolitisch denkenden und in theologischen Fragen erasmisch gesinnten Mittelpartei eine neue Belebung. Die Edition der „Acta Reformationis Catholicae" dokumentiert die Bemühungen des deutschen Episkopats, auf der Grundlage der altgläubigen Theologie und des etablierten Kirchenrechtes Reformen durchzuführen.^ Die Kölner Provinzialsynode unter dem tatkräftigen Erzbischof Hermann von Wied (1477-1552, Erzbischof 1515-1547), die vom 6.-10.3.1536 tagte, besitzt darin Beispielcharakter, gerade auch angesichts ihrer faktischen Wirkungslosigkeit.^

1 Vgl. oben S. 119. 2 ARCEG Bde. 1-6, Regensburg 1959-1974. 3 Vgl. Georg Pfeilschifter als Hrsg., ARCEG Bd. 2, S. 118-121, hier S. 120. Ihre Wirkungslosigkeit beschreibt auch M. Köhn, Martin Bucers Entwurf einer Reformation des Erzstiftes Köln, UKG 2, Witten 1966, S.27. Bei Hubert Jedin, Geschichte des Konzils von Trient, Bd. 1: Der Kampf um das Konzil, Freiburg 1949, findet die Kölner Provinzialsynode nicht mit einem Wort Erwähnung, obwohl sie aufgrund ihres theologisch-kirchenrechtlichen Gehaltes als die bedeutendste vortridentinische Reformsynode in Deutschland angesehen werden kann.

Bucers Schrift „Von Kirchengütem" (3.2.1540)

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Ihre „Cánones", die theologisch vor allem von Johannes Gropper betreut worden waren, waren 1538 zusammen mit Groppers „Enchiridion" in Köln im Druck erschienen.'^ Der amtliche Druck wurde an die Bischöfe der Kölner Kirchenprovinz (Cornelius van Berghen in Lüttich, Georg von Egmont in Utrecht, Franz von Waldeck für Münster, Minden und Osnabrück), Herzog Johann von Jülich-Юeve-Berg und Landgraf Philipp von Hessen verschickt.^ Diese „Reformatio Coloniensis" fand vor allem in England Zustimmung^, konnte aber die Wittenberger Reformatoren nicht überzeugen. Die Kölner Reformkonstitutionen wurden besonders von Melanchthon 1539 scharf kritisiert, da durch sie den abzuschaffenden alten Kirchenbräuchen eine neue, die Menschen blendende Deutung verliehen werde.^ Auch die Reformstatuten des Hildesheimer Bischofs Valentin von Tetleben (Teutleben) (1538-1551) waren im September 1539 im Druck erschienen.® Aber auch für sie gilt wie für andere diesbezügliche Versuche: „Den zeitbedingten Reformbedürfnissen sind sie ... nur beschränkt gerecht geworden."^

4 Vgl. zum Ganzen der Synode M. Köhn, Martin Bucers Entwurf einer Reformation des Erzstiftes Köln, UKG 2, Witten 1966, S. 24-33 und Johannes Meier, Das „Enchiridion christianae institutionis" (1538) von Johannes Gropper. Geschichte seiner Entstehung, Verbreitung und Nachwirkung, in: ZKG 86 (1975), S. 289-328. Eine bibliographisch getreue Titelaufnahme der laut Pfeilschifter, ARCEG Bd. 2, S. 192 Anm.78, Ende Februar 1538 bei Peter Quentel in Köln erschienenen Erstausgabe der „Cánones" zusammen mit dem umfangreichen „Enchiridion", ebda. S. 315 (bibliographischer Hinweis: VD 16: G 3402 = VD 16: К 1721). Die „Cánones" sind unter Berücksichtigung der Handschriftenüberiieferung hg. in ARCEG Bd. 2, S.(192) 194-305, Nr. 72. 5 Den Versand belegt eine spätere Erinnerung Groppers aus dem Jahre 1546 laut ARCEG Bd. 2, S. 185, 18-30. 6 Melanchthons Brief an Thomas Cranmer, Erzbischof von Canterbury, vom 30.3.1539 geht von einer solchen zustimmenden Rezeption in England aus, CR 3, 676-679, hier 678; vgl. MBW 2, Nr. 2190. Vgl. femer auch die Briefe Melanchthons an Heinrich VIII. vom 1.4.1539, CR 3, 681-685, hier 682, Nr. 1792; vgl. MBW 2, Nr. 2175 und den Brief Melanchthons an Thomas Cromwell von Anfang April 1539, MBW 2, Nr. 2146. 7 Die Kritik findet sich in den Briefen nach England um den 1. April 1539 herum, auch in einem undatierten Gutachten für Kurfürst Johann Friedrich aus dieser Zeit. Vgl. MBW 2, Nr. 2142. Bemerkenswert ist aber, daß Melanchthon in seinem Brief an Hermann von Wied vom 17.3.1539 lediglich das den „Cánones" angehängte Werk Groppers kritisiert, daß es keinen Beitrag zur „concordia" darstelle. Die von Hermann v. Wied verantworteten „Cánones" bleiben in der Kritik ausgespart laut CR 3,650-653, hier 652; vgl. MBW 2, Nr. 2163. Bei den von Meier verzeichneten ersten Reaktionen auf das Erscheinen von Groppers .Enchiridion" findet sich die kritische Stimme Melanchthons aber nicht. 8 ,ДEFOR = II MATIO CLERI II GERMANIAE AD CORRE = / ctionem ET II STATUTA SYNODALIA II Reuerendi in Christo patris & domini, II D. Valentini Episcopi Hilde = II semensis. II NECNON Formula vi = II v e n d i . . . ", 4 + 42 Bl., T , Dnicker: Peter Quentel, Köln. Bibliographischer Hinweis: VD 16: С 620 = VD 16: H 3653. Einen Nachdruck bietet ARCEG Bd. 2, S. 570-608, Nr. 137. 9 So selbst ihr Herausgeber G. Pfeilschifter laut ARCEG Bd. 2, S.568.

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Die Publikationen von Februar bis September 1540

Hätte man aber die allgemein als notwendig angesehenen Reformen in den geistlichen Territorien des Reiches auf reformatorischer Grundlage durchführen wollen, wäre damit aus altgläubiger Perspektive nicht nur die „Gefahr" einer weiteren Ausbreitung der Reformation (Übermacht des Schmalkaldischen Bundes) gegeben, sondern die Verfassungsstruktur des Reiches im Ganzen wäre bedroht gewesen: Denn während sich weltliche Landesherren von dem Übergang zur Reformation auch einen politischen Machtzuwachs versprechen konnten und die Städte ohnehin seit dem Spätmittelalter die Rechte ihrer Bischöfe zurückdrängten, waren die dem hohen Adel entstammenden Bischöfe, Äbte, Dompröpste, Domherren usw. bei einem Übergang zur Reformation in ihrer persönlichen und politischen Existenz gefährdet. Eine solche Reformation in einem geistlichen Territorium auf reformatorischer Grundlage - etwa z.B. im Fall einer großen Diözese mit einem dem Kurfürstenkollegium angehörenden Oberhaupt - hätte einen tiefgreifenden Einschnitt in die gesamte Verfassungsstruktur des Reiches bedeutet, da zu befürchten war, daß es dann nicht beim Einzelfall bleiben würde. Zugleich wäre - neben dem Kirchenwesen - auch die innere Verfassung einer geistlichen Herrschaft davon zutiefst berührt worden, da die ständischen Interessen des Adels und die Befugnisse der Domkapitel eventuell zu beschneiden gewesen wären. Der bisher einzige „erfolgreiche" Fall war im ersten Jahrzehnt der Reformation der Übertritt des Deutschordensmeisters Albrecht 1525 zum preußischen Herzog unter polnischer Lehnshoheit gewesen. Er hatte zeitweise enge Kontakte mit den Wittenberger Reformatoren und hatte selbst theologische Interessen. An ihn hatte sich 1539 die Vorrede von Melanchthons Schrift „De ecclesiae autoritate" 1539 gerichtet.'" Persönliche Erwägungen einzelner Bischöfe, den geistlichen Stand unter gleichzeitiger Beibehaltung ihrer Machtbefugnisse zu verlassen und das kirchliche Leben ihrer Diözese zu reformieren, hat es gelegentlich gegeben. Berühmtestes Beispiel der folgenden 40er Jahre ist der Reformationsversuch des Kölner Erzbischofs Hermann von Wied mit Hilfe Bucers und Melanchthons, der auch besonders viele kirchenpolitische Publikationen in den Jahren 1542 bis 1547 nach sich zog." Begehrlichkeiten fürstlicher und adliger Familien, nachgeborene Söhne mit ertragreichen Pfründen zu versorgen oder ihr Territorium auf Kosten geistlicher Gebiete zu arrondieren, waren indessen auf altgläubiger und evangelischer Seite zu finden. Ein auch in der kirchenpolitischen Publizistik um 1540 vielzitiertes Beispiel ist der zeitgenössische Fall des kaiserlichen Rechtsspruches nach der Hildesheimer Stiftsfehde (1519-1523), der in der deutschen Geschich-

10 Vgl. W. Hubatsch, Art. „Albrecht von Preußen", in: TRE 2, Berlin-New York 1978, S. 188-193; oben S. 77. 11 Theodor Schlüter, Die Publizistik um den Reformationsversuch des Kölner Erzbischofs Hermann von Wied 1542-1547. Ein Beitrag zur rheinischen Reformationsgeschichte und -Bibliographie, Diss, masch. Bonn 1957.

Bucers Schrift „Von Kirchengütem" (3.2.1540)

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te erstmals (!) umfassend Kirchengut in weltliche Hand - hier große Teile des Stiftes Hildesheim in die Hände der Weifen - brachte.'^ Schließlich war bei manchen Reichsständen die Furcht, daß Karl V. zur Erweiterung seiner Hausmacht unter dem Vorwand, als Schutzherr der Kirche zu fungieren, auf geistliche Territorien ausgreifen würde, ausgesprochen virulent (vgl. den Fall des Bistums Utrecht 1528). Dieses Motiv hatte neben anderen schon zu dem von Georg v. Karlowitz initiierten Leipziger Religionsgespräch im Januar 1539 geführt. Summa summarum stellte sich das Problem einer Reform des kirchUchen Lebens in den geistlichen Territorien um 1540 für Altgläubige wie für Protestanten als ein vielschichtiges Problem von Kirchenrecht, Kirchenpolitik und Besitzstandswahrung dar. Es ist femer verknüpft mit der Frage nach dem Religionsgespräch oder Nationalkonzil, da die Restitution des Kirchengutes ja von altgläubiger Seite mit allen zur Verfügung stehenden Rechtsmitteln verfochten wurde, wogegen das „Ausschreiben an alle Stände" offiziell und Bucer pseudonym protestiert hatten." In theologischer Perspektive konnte die Beschäftigung mit der Kirchengüteφroblematik auf evangelischer Seite auf eine lange zurückreichende Vorgeschichte zurückblicken''·, wobei die Zwecksetzung „beneficium propter officium" grundsätzlich nie strittig war. Die rechtlich-institutionellen Folgen eines grundlegend veränderten Verständnisses des „officium", zumal angesichts der anhaltenden Prozeßpraxis des Reichskammergerichtes ließen die sogenannte „Kirchengüterfrage" eben darum auch politisch nicht zur Ruhe kommen. Die Bundestage des Schmalkaldischen Bundes beschäftigten sich wiederholt mit dem Problem, seit auf dem Bundestag in Schmalkalden 1537 durch Matthias Held der Vorwurf explizit in die politische Auseinandersetzung eingeführt worden war, die protestierenden Stände würden sich Kirchengüter aus eigennützigen Interessen aneignen und damit bewußt und willentlich die gültigen Rechtsordnungen verletzen. Der Bundestag in Braunschweig (26.3.-6.4.1538) vertagte die Behandlung dieser Angelegenheit, beschloß aber die Einholung entsprechender Gutachten durch Juristen und Theologen.'^ Dem Bundestag in Eisenach am 24.7.1538 lag dann erstmals aus Bucers Feder ein umfangreiches

12 Vgl. z. B. bei Bucer (ps), „Von Kirchengütem" Bl. 69a. Die Begehrlichkeiten des Wolfenbütteler Herzogs Heinrich an den Hildesheimer Gütern waren ein beliebter Vorwurf der hessischen Publikationen gegen den Weifen 1540/41, vgl. 3.3.1. und 5.2.1. Der neue Bischof Valentin von Tetleben (Teutleben) hatte sich 1538 mit einem gedruckten .Ausschreiben" in dieser Angelegenheit an die Öffentlichkeit gewandt. Bibliographischer Hinweis: VD 16: H 3654. 13 Vgl. 1.1. und 1.4. 14 Auf der Ebene der Gemeinde war richtungsweisend Luthers „Leisniger Kastenordnung" von 1522/23 gewesen, vgl. WA 12, S . ( l ) 11-30. 15 Die eingeholten Gutachten finden sich bei Hortleder 1645,7. Buch, Kap. 9-16, S. 1446-1464.

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Die Publikationen von Febraar bis September 1540

vierteiliges Gutachten zur Kirchengüterfrage vor.'® Es wurde in den nächsten Monaten in protestantischen Kreisen verbreitet." 3.1.2. Entstehungshintergründe für Bucers Schrift 1540 wurde die Kirchengüterfrage selbst Gegenstand der kirchenpolitischen Publizistik. Neben mindestens zwei, nicht vollzogenen Plänen zu einer diesbezüglichen kirchenpolitischen Publikation (a und b), ist es Bucers pseudonyme Schrift „Von Kirchengütem", die es verdient, näher untersucht zu werden. a) Auf seine eigene Gutachtertätigkeit wies Bucer den Landgraf Philipp am 3.11.1538 hin.'^ Während seines Aufenthaltes in Wittenberg im November 1538 versuchte er, auch Luther und Melanchthon zu entsprechenden Gutachten in der Kirchengüterfrage zu bewegen.Melanchthon ist dieser Aufforderung nachgekommen So appellierte Bucer auch am 19.4.1539 an Luther, er möge die Kirchengüter in einer selbständigen Publikation behandeln.^' Luther verhielt sich diesem Ansinnen gegenüber spröde und wurde vielleicht im Zusammenhang des Aufenthalts des Straßburger Druckers Kraft Müller im Oktober 1539 in Wittenberg noch einmal um eine in Straßburg herauszugebende Äußerung zur Kirchengüterfrage gebeten. Die Quellenlage ist hier sehr schmal: Ein schwer zu deutender Brief Luthers an Bucer oder an die Straßburger Theologen im allgemeinen vom 14.10.1539 enthält nämlich den Hinweis auf ein Gutachten (?) Luthers an den sächsischen Kurfürsten („instititutum suum"), welches dieser mangels Qualität („nec dignum puto" - so Luther) nicht unter seinem Namen als politische Druckschrift verbreitet wissen wollte. Luther überließ die Entscheidung über einen solchen Druck den Straßburgern. Ein Teil der Auflage sollte aber von Straßburg nach 16 F. Roth, ARG 1 (1903/04), S. 302-312 weist zutreffend nach, daß es sich hier um die Vorstufe zur späteren Schrift „Von Kirchengütern" handelt. Vgl. auch Lenz I, S.47-50, Nr. 17, hier S.48 Anm. 1. Ein Gutachten aus dem Jahr 1538 oder 1539 findet sich bei Hortleder 1645, 5. Buch, 8. Kap., S. 2002-2014. Den Zusammenhang des Gutachten von 1538 sah auch Hortleder, der auf das „ausführlich Bedenken" Bucers seine Schrift „Von Kirchengütem" folgen läßt. Eine umfassende Beschreibung der Vorarbeiten Bucers zur Kirchengüterfrage bis hin zu seiner Publikation von 1540 wird die angekündigte Edition dieser Publikation in Martin Bucers Deutschen Schriften erbringen. 17 Bucer sandte beispielsweise am 8.10.1538 aus Straßburg ein „libellum de iure ecclesiarum in sua bona" an Ambrosius Blarer. Dieser „libellus" muß nicht unbedingt ein gedrucktes Buch meinen, Blarer-BW Bd. 2, S.5-7, Nr. 821, hier S.6. 18 Lenz l, S.47-50, Nr. 17, hier bes. S.48. 19 WA.B 8, S. 320-324, Überleitung zu Nr. 3274 und 3275. Der Hrsg. schildert die Hintergründe des Aufenthaltes Bucers in Wittenberg. 20 Dieses Gutachten, das Melanchthon am 20.11.1538 an den Straßburger Rat schickte, hatte Simon Bing, der Schreiber, bei Bucer am 1.12.1538 angefordert. Vgl. dazu das Gutachten in CR 3, 608-609, Nr. 1752 und Bucers Brief in: Lenz I, S. 54-55, Nr. 21. 21 Vgl. dazu oben S.87f.

Bucers Schrift „Von Kirchengütem" (3.2.1540)

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Wittenberg geschickt und von dort aus verbreitet werden.^^ Offensichtlich sah man in Straßburg den Bedarf an einer politisch-theologischen Publikation zur Kirchengüterfrage als notwendiger an als in Wittenberg. Ein solcher Druck, der die Veränderungen in der Nutzung des Kirchengutes durch Luther selbst legitimiert hätte, kam aber m. W nicht zustande. b) Vermutlich unabhängig davon schlug der Straßburger Jurist Dr. Franz Frosch gegenüber Gereon Sailer in Augsburg vor dem November 1539 vor, die Reform der Stifte (welche konkret?) durch ein öffentliches ,Ausschreiben' einzuleiten.^^ Zu diesem Schritt kam es aber nicht. Dabei sollte es sich - laut Max Lenz - um eine Schrift handeln, die inhaltlich speziell Elemente von Bucers Reformvorschlägen zur Stiftsreform aufnahm. Schließlich ist zur Kirchengüterfrage aber nur Bucers Schrift „Von Kirchengütern" vom 3.2.1540 erschienen. Sie ist von ihm als Fortsetzung der Dialogschrift „Etliche Gespräche vom Nürnbergischen Friedstand" vom 3.6.1539^'' konzipiert worden. Schon in dieser Schrift war der letzte der drei Dialoge der Frage gewidmet, ob die Kirchengüterangelegenheiten auch Religionssachen im Sinne des Nürnberger Religionsfriedens und des ihn bestätigenden Frankfurter Anstandes seien.^^ Darin waren schon mehrere grundsätzliche Äußerungen zur kirchenrechtlichen und politischen Problematik der Kirchengüter eingegangen. Bucer scheint sich aber darüber hinausgehend in der zweiten Jahreshälfte 1539 noch einmal intensiv mit dem Thema beschäftigt zu haben. Erst durch seine Publikation „Von Kirchengütem" fand seine theologischkirchenrechtliche Beschäftigung mit der Kirchengüterfrage ihre endgültige Form. Sie gewinnt ihre Bedeutung von ihrer fast monographisch zu nennenden Behandlung der Frage der Kirchengüter in theologisch-kirchenrechtlicher und politischer Hinsicht. Ob sie auch den 1539 in Straßburg erwogenen politischen Zwecken einer appellativen Schrift zur Kirchengüterfrage entsprach, kann nicht beurteilt werden. Zugleich ist die Schrift die notwendige Erwiderung Bucers auf Brauns „Gespräch eines Hofrat", das sich ja gegen ,Conrad Treu von Fridesleben' gewandt hatte.^^ ,JEin vorgesprech / von einem newen Dialogo", das der Entgegnung der

22 WA.B 8 S. 570-572, Nr. 3395, hier S.571. 23 Lenz I, S. 404 referiert das ohne nähere Hinweise Uber den Fundort. In der Politischen Korrespondenz der Stadt Straßburg sind Hinweise darüber nicht zu finden. Handelt es sich hier um Froschs Privatmeinung? Froschs Neigung, Drucke herauszugeben, belegt Polit. Corr. 3, S. 31 Anm. 1. Sicherlich sollte ein solches Verfahren mit den Stiften einer Säkularisation durch den Kaiser oder einzelne Fürsten zuvorkommen. Es entsprach überhaupt nicht der sonstigen Pohtik des Schmalkaldischen Bundes, ist aber ein Element der Einigungsversuche zwischen den Ständen, wie sie Lenz für den Winter 1539 auf 1540 referiert. (Beilage III zu Lenz I, vgl. dort S. 392-489). Vgl. ferner zuletzt den Hrsg. des „Consilium Bucerj" in: MBDS 9, 1, hier S. 72-73. 24 Vgl. oben S.95. 25 MBDS 7, S.484, 4-502, 10. 26 Vgl. oben S. 142.

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Die Publikationen von Februar bis September 1540

Braunschen Vorwürfe gewidmet ist, ist dem Hauptteil der Schrift vorangestellt."

3.1.3. Literarische Gestaltung und kirchenpolitische Funktion Durch sein auch hier verwendetes Pseudonym .Conrad Treu von Fridesleben' identifiziert sich der Verfasser mit dem der Schrift „Etliche Gespräche vom Nümbergischen Friedstand" vom Jahr zuvor. Sich erinnernd an ihre Zusage, das in Speyer begonnene Gespräch fortzusetzen, versammeln sich die gleichen drei Gesprächsteilnehmer (fürstlicher Sekretär, altgläubiger Probst, Edelmann), jetzt Ende Januar 1540 in Aschaffenburg. Nach Widmungsvorrede, einer Situationsangabe sowie dem „Vorgespräch" folgen wiederum drei Dialoge, wobei der erste Dialog von einem „Nebengespräch" unterbrochen wird und zwischen dem zweiten und dritten Dialog ein Zwischenstück eingeschaltet ist. Der Hauptteil der Schrift gliedert sich folgendermaßen: 1. Erstes Gespräch, erster Teil: „... Wes der Kirchen gùter seind / wer das eigenthum / besitz / verwaltigung / ausspendung und niessung derselbigen haben solle."^» 2. Nebengespräch: „... welche ware oder falsche Cánones Seind / wie die auch ZÛ underscheiden / und zû erkennen seind."^^ 3. Erstes Gespräch, zweiter Teil: „... Wie jede Kirch und Gotteshaus / seine eygen und abgeteylten gûter / haben und besitzen solle. 4. Zweites Gespräch: „... Wer die geistlichen gûtter raube / oder recht anlege / wol oder ubel gebrauche."^' 5. „Verantwortung der Protestierenden / auff die klag des Sacrilegii / das [sie] an den Kirchen Christi / deren Diener und gûter / begangen haben sollen."^^ 6. Drittes Gespräch: „... Wie man die Kirchen und Klöster gûtter wider zû recht christlichem besitz / anläge / und gebrauch / füglich bringen môge."^^ Die Wahl von Aschaffenburg als fiktivem Ort des Gespräches ist m. E. vor dem Hintergrund zu sehen, daß es sich hier um die Residenzstadt Albrechts von Brandenburg, des Erzbischofs von Mainz und Magdeburg, handelt. Aber wie ist dieser Zusammenhang näher zu begründen? Hat Bucer mit seinen Reformvorschläge zur Stiftsreform den Kardinal selbst oder eher die Mitglieder eines seiner Domkapitel als Adressaten im Blick gehabt? 27 Bucer 28 Bucer 29 Bucer 30 Bucer 31 Bucer 32 Bucer 33 Bucer

(ps), (ps), (ps), (ps), (ps), (ps), (ps),

„Von „Von „Von „Von „Von „Von „Von

Kirchengütern" Bl. la-3b. Kirchengütern", Bl. 3b-40a. Kirchengütern", Bl. 7a-21a. Kirchengütern", Bl. 21a-40a. Kirchengütern", Bl. 40a-60b. Kirchengütem", Bl. 60b-76a. Kirchengütem", Bl. 76a-90a.

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Wenngleich Albrecht direkt keine Rolle in Bucers Buch „Von Kirchengütern" zukommt, ist er nach 1530 neben Kurfürst Ludwig V. von der Pfalz als einer der Vertreter einer gemäßigten Friedenspolitik gegenüber den Protestanten anzusehen.^'* Aber Bucers starke Betonung der Versorgungsansprüche der adligen Familien mit kirchlichen Pfründen in „Von Kirchengütem" läßt es eher wahrscheinlich sein, daß Bucer bei der Abfassung seiner Kirchengüterschrift nicht primär an den um 1539/40 kirchenpolitisch deutlich auf der Seite der Altgläubigen stehenden Albrecht als dessen versteckten Adressaten dachte. Vielleicht ist die Wahl der Residenzstadt Aschaffenburg als Ort des Gesprächs aber auch vor dem Hintergrund zu sehen, daß Bucers literarischer Gegner Konrad Braun seine Tätigkeit als Assessor im Reichskammergericht dem Vorschlag des Mainzer Erzbischofs verdankte.^^ Ohne konkretere Ausschmückung der fiktiven historischen Situation, die weitere Rückschlüsse zuließe, beginnen die drei Gesprächsteilnehmer mit ihren Erörterungen. Innerhalb des Textes wird verschiedentlich an die vorangegangene Situation des „Gespräches in Speyer" angeknüpft.^® Die literarische Ausschmückung der Gesprächsszenen ist hier im ganzen weniger ausgeprägt als bei den „Etlichen Gesprächen". Sie hat keinen konstitutiven Charakter im Blick auf den Inhalt. „Cuntz Frech" tritt überhaupt nicht mehr wie in den „Etlichen Gesprächen" auf. Referierende Anteile der Gesprächsteilnehmer überwiegen, ohne daß wechselseitige Zustimmung oder Ablehnung so ausführlich wie in „Etliche Gespräche vom Nümbergischen Friedstand" den Duktus der Schrift bestimmen und führen würde. Länge und Ausführlichkeit der Erörterung dieser „Sache" haben den Autor offensichtlich auch dazu bewogen, ein Sachregister dem Textteil dieser Schrift anzuhängen.^^ Sehr deutlich ist auch der positiv zustimmende Bezug des fürstlichen Sekretärs auf „unser ausschreiben". Gemeint ist das „Ausschreiben an alle Stände" der beiden schmalkaldischen Bundeshauptleute vom 13.11.1538.^® Bucers Widmungsrede richtete sich an Georg Schenk von Tautenberg, der seit 1528 Statthalter Karls V. in Friesland war.^' Der hessische Landgraf bezeichnete implizit die Fürsten, m. a. W. den weltlichen und geistlichen Hochadel, als Adressaten dieser Schrift Bucers."*"

34 Zu Albrecht vgl. G. A. Benrath, Art. „Albrecht von Mainz", in: TRE Bd. 2, Berlin-New York 1978, S. 184-187. Einst war er von Luther aufgefordert worden, nach dem Vorbild seines gleichnamigen preußischen Vetters den geistlichen Stand zu verlassen und als weltlicher Herr seine Territorien zu regieren. „An ... Albrecht ... Ein Sendbrief und christliche Ermahnung" vom 2.6.1525, in: WA 18, S.(402) 408-411. 35 Vgl. oben S. 131 f. 36 Z.B. Bucer (ps), „Von Kirchengütem" Bl. 3a, auch Bl. 61b. 37 Bucer (ps), „Von Kirchengütem" Bl. a 3a-b 3b. 38 Bucer (ps), „Von Kirchengütem" Bl. Ib, auch Bl. 3a; vgl. 1.1. 39 Bucer (ps), „Von Kirchengütem" Bl. A 2a-B Ib. 40 Lenz I, S. 143-144, Nr. 52, hier S. 143 Anm.2.

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An zwei Beispielen wird die kirchenpolitische Funktion dieser Bucerschen Schrift deutlich, wie sie der Hesse, aber vermutlich auch andere ihr beimaßen. Philipp setzte sich sehr für die Verbreitung der in ihr enthaltenen kirchenpolitischen Reformpläne ein und schickte am 16.4.1540 ein Exemplar des Drucks an Johann von Weeze, der ihm am 8.5.1540 nach Kassel antwortete, die Schrift gefalle ihm „nit ubel".'*' Noch gegen Jahresende 1540 vermutete der Landgraf bei dem dann neuen religionspolitischen Mittelsmann des Kaisers gegenüber den Protestanten Nicolaus de Perrenot, Herr von Granvelle, eine positive Haltung gegenüber den Zielen zur Stiftsreform, wie sie Bucer formuliert hatte. Bucers Modell gestatte es nämlich, daß die geistlichen Güter in den Händen des Adels bleiben. Persönliche Motive seien dabei für den selbst kinderreichen Granvelle nicht unwichtig.'^^

3.1.4. Die Auseinandersetzung mit Brauns „Gespräch eines Hofrats" Die Entgegnung auf die anonyme Schrift „Ein Gespräch eines Hofrats" und ihren Autor Konrad Braun durchzieht die gesamte Schrift, nicht nur das „Vorgespräch". In anderen Passagen ist diese Auseinandersetzung ein stärker hervortretendes Thema, in manchen spielt sie nur eine untergeordnete Rolle. Es finden sich sowohl die pauschale Kritik der theologisch-rechtlichen Grandsätze des „Dialogs" als auch Entgegnungen auf Einzelfragen. Der „Dialog" Brauns wird schon in der Widmungsrede angenommen als ausgegangen von Papst und Geistlichkeit.'^^ Er greife sowohl das protestantische „Ausschreiben an alle Stände" vom 13.11.1538 als auch die Schrift „Etliche Gespräche vom Nürnbergischen Friedstand" scharf an.''^ Die Ziele des „Dialogs" werden von Bucer im „Vorgespräch" so bestimmt: Er appelliere, mit den herkömmlichen Mitteln des mittelalterlichen Ketzerrechtes"*^ sich gegen die Protestanten zu wenden."*^ Sie gelten ihm als ärgste Ketzer, Kirchenräuber und Aufrühren'*^ Braun klage Karl V. und den Frankfurter Orator des Kaisers an, schmähe und verunglimpfe diese beiden wegen des Frankfurter Anstandes, der nach altgläubiger Meinung politisch unnötig und sogar widerrechtlich sei. Johann von Weeze habe als Erzbischof von Lund darüber hinaus sogar mit seinem politischen Engagement für den Kaiser seinen Eid, den er dem 41 Lenz I, S. 172-173, Nr. 65, hier S. 172 Anm.2. 42 Lenz I, S. 279-285, Nr. 103, hier S.281 Anm.3. 43 Bucer (ps), „Von Kirchengütem" Bl. A 3b, A 4b. 44 Bucer (ps), „Von Kirchengütern" Bl. 3a; vgl. ebda. Bl. 59a auch den Bezug auf Bucers „Etliche Gespräche vom Nürnbergischen Friedstand". 45 Bucer (ps), „Von Kirchengütem" Bl. 2a, 57a, 70a. 46 Bucer (ps), „Von Kirchengütem" Bl. Bla. 47 Bucer (ps), „Von Kirchengütem" Bl. la.

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Papst schwören mußte, verraten.'·® Der Dialogschreiber wolle überhaupt mit seiner Publikation nur den (altgläubigen) Geistlichen, dessen „Gesellen", dienen.^^ Folgende theologisch-rechtlichen Grundsätze des „Dialogs" werden von Bucer hervorgehoben und zugleich inhaltlich zurückgewiesen: 1. Der Dialogschreiber meine, man werde die ehrbaren, recht gottesfürchtigen, verständigen, unzänkischen Menschen nicht finden, die für den seit April 1539 in Frankfurt versprochenen Gesprächstag notwendig seien.^" 2. Er stelle alle Entscheidungsgewalt, auch die zur Konzilseinberufung, in die Hand des Papstes.^' 3. Er beachte die zeitlich späteren „Cánones" vor den früheren (was ein sehr schwerwiegender hermeneutischer Fehler ist).^^ 4. Er wolle die Väter „umkehren und vertilgen" und stütze sich nur auf eine Auswahl.^^ 5. Er stütze sich selektiv auf die kirchlichen Dekretalen, und zwar besonders auf die, die gegen den Kaiser gerichtet seien. 6. Der Papst befehle den geistlichen Obrigkeiten und Gerichten, auf weltliche Belange einzuwirken, was ihm nicht geziemt.^^

3.1.5. Die Zurückweisung des Vorwurfs des Kirchenraubs Bucers fürstlicher Sekretär will gegen Brauns „Dialog" nicht diejenigen verteidigen, die tatsächlich Kichengüter geraubt hätten. Aber es bleibt das Ziel seiner Ausführungen, den erhobenen Pauschalvorwurf der Zweckentfremdung des Kirchengutes durch die Protestanten zurückzuweisen. In dem Zwischenstück „Verantwortung der Protestierenden / auff die klag des Sacrilegii" zwischen dem zweiten und dritten der Dialoge seiner Schrift knüpft Bucer wiederum an die vorangegangenen „Etlichen Gespräche" in Speyer an und bespricht noch einmal Einwände des „Dialogs" gegen seine frühere Schrift. Bucer stellt sich hier auch ausdrücklich der Frage des altgläubigen Probstes, in welchem Fall es rechtmäßig sei, Kirchengüter zu „alienieren" und fürstliche Güter aus ihnen zu machen.^^ Er bestätigt, daß es Fälle gibt, wo es die „policey" und der gemeine Friede erforderlich machen, Kirchengüter zu entfremden. 48 Bucer 49 Bucer 50 Bucer 51 Bucer 52 Bucer 53 Bucer 54 Bucer 55 Bucer 56 Bucer

(ps), (psX (ps), (ps), (ps), (psX (ps), (ps), (ps),

„Von „Von „Von „Von „Von „Von „Von „Von „Von

Kirchengütem" Kirchengütem" Kirchengütem" Kirchengütem" Kirchengütem" Kirchengütem" Kirchengütem" Kirchengütem" Kirchengütem"

Bl. Bl. Bl. Bl. Bl. Bl. Bl. Bl. Bl.

87b. 88a. 8b. 9a, 58a. 12a. 17a. 53b, 55a. 39a. 65b.

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damit denen geholfen werde, denen sonst nicht geholfen werden kann. Der Hinweis etwa auf die Friedenssicherung gilt nicht nur gegenüber heidnischen Feinden (z.B. bei der Türkengefahr, dem Maurenkrieg in Spanien usw.), sondern auch die Kosten zur Friedenssicherung, die die Mitglieder des Schmalkaldischen Bundes für sich haben vornehmen müssen, rechtfertigen die Verwendung eines kleineren Teils der Kirchengüter für solche Zwecke.^"' Die Gefahren und Kosten ertrügen die protestantischen Fürsten allein wegen ihres Bekenntnisses zu Christus. Der Einwand Brauns, daß die altgläubigen Fürsten diese Ausgaben nicht tätigen müssen, wenn sie die geistliche Jurisdiktion der Bischöfe und des Papstes weiterhin anerkennen und sich gemäß der ergangenen Reichsabschiede verhalten würden, wird von Bucers Sekretär zurückgewiesen. Die Vorstellung einer dauerhaften Inkorporation des Kirchenguts in die fürstlichen Güter wird aber ebenfalls vom Sekretär zurückgewiesen. Alle Erwägungen drängen hin zur Frage nach einer sachgemäßen Verwendung des Kirchengutes.

3.1.6. Vorschläge zur Neuordnung des Kirchengutes und zu einer Stiftsreform Die Regelung dieses umstrittenen Komplexes ist für den Sekretär von der Sache her eine Angelegenheit von sekundärem Rang. Zuerst müsse man sich auf dem vom Kaiser seit dem Frankfurter Anstand versprochenen Nationalkonzil in den Hauptstücken der Religion (für Bucer sind das die Lehre, die Sakramente und die Kirchenzucht) miteinander vergleichen. Erst danach könne man von Rechts wegen und mit gutem Gewissen über die Kirchengüter verhandeln und darin eine friedliche Einigung erzielen.^^ Dabei ergeben sich insgesamt drei Themenkomplexe von „Kirchengütem", die Bucer hier behandelt: 1. Der Unterhalt der

Seelsorger:

Wenn sich die Parteien darüber geeinigt haben werden, worin der wahre Kirchendienst bestehe, so ist zu klären, was zum Unterhah der Kirchendiener nötig ist. Sie sollen mit der Sorge um die Handhabung der Güter nicht zu sehr beschwert sein. Denn diese Pflicht hindere den von seinem Wesen her primär als Seelsorger zu verstehenden Kirchendiener zu sehr an der Ausübung seines eigentlichen Dienstes. Der bisherige Mißbrauch der Kirchengüter rühre aus der herkömmlichen Verwicklung der Geistlichen in weltliche Geschäfte her.

57 Bucer (ps), „Von Kirchengütem" Bl. 66b. 58 Bucer (psi „Von Kirchengütem" Bl. 76b, auch Bl. 77a: , 3 s heißt / Qu[a]erite primum regnum dei." (Mt 6, 33).

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Für die reformatorischen Seelsorger reiche die Sicherstellung ihres Lebensunterhaltes.^^ Wenn das so geregelt sei, werde der Kirchendienst für die Untauglichen und die, die ihn um der Pfründe willen anstrebten, nicht mehr attraktiv sein.®® 2. Die Regierung der geistlichen Herrschaften/Territorien: Kernstück des Reformprogramms des Sekretärs, hinter dem deutlich die kirchenpolitischen Auffassungen Bucers stehen, ist eine Reform der Verwaltung der geistlichen Herrschaften im Reich, deren Verfassungsstruktur sich bei allen lokalen Unterschieden auch wiederum in Grundzügen ähnlich war. Während die Publikation „Von Kirchengütem" selbst keine Herrschaft und keinen Reichsstand namentlich aufführt, nennt das Gutachten der in Schmalkalden versammelten Theologen vom 9.3.1540, das auch von Bucer mitunterzeichnet wurde, ausdrücklich verschiedene Domstifte in evangelisch gewordenen Städten, an deren Reform der Schmalkaldische Bund dachte: Die Stifte in den Reichsstädten Straßburg, Memmingen, Konstanz, Augsburg, Bremen und Magdeburg unterstanden dabei nicht der Hoheit der Magistrate, was ihrerseits für die Stifte in Frankfurt, Eßlingen, Hamburg und Braunschweig galt.®' Um des Erhalts des Friedens willen wird man bei der abgestrebten Reform Bucers gewaltlos vorgehen. Die Fürsten, Grafen, Herren und Adlige sollen die Regierung der Stifte auch weiterhin innehaben.®^ Geburt, Erziehung und Tüchtigkeit disponieren sie dazu, wenn sie wahre Christen sind. Der Auftrag zur Seelsorge solle aber nun - getrennt davon - nicht mehr in ihren Händen liegen. Zwei „Collegia" sind einzurichten. In dem ersten Kollegium sollen jüngere Adlige gemeinschaftlich erzogen werden. Es soll Schulcharakter besitzen. Die berufliche Zukunft der Zöglinge ist damit aber noch nicht festgelegt. In dem anderen Kollegium, der Nachfolgeeinrichtung der bisherigen Stiftskapitel, sollen die Adligen wohnen und dauerhaft leben. Man benötige diese zur Regierung der Stiftsländereien.®^ Ferner sollen sie die Schüler des ersten Kollegiums beaufsichtigen. Großes Gewicht kommt in der Diskussion zwischen Sekretär und Probst der Frage der Benennung dieser bisherigen Stiftskapitelmitglieder zu. Die Sachfrage rangiere sehr häufig hinter der nach den Titeln.®^ Der Sekretär schlägt vor „Domherren" oder „regulierte Kanoniker". Auf die Einwände des Probstes, daß das Verwirrung hervorrufen könne, präzisiert der Sekretär: Die Ehe ist diesen gemeinschaftlich lebenden „Canonici" gestattet, aber die Besitzungen sollen 5' Bucer (ps), „Von Kirchengütem" Bl. 78b. Der Hinweis auf „futer und deck", die ausreichen sollen, erinnert an das Ethos der urchristlichen Wandercharismatiker, wie es sich etwa bei den Synpotikem findet, z.B. Mt 10, 9f.. 60 Bucer (ps), „Von Kirchengütem" Bl. 79a. 61 Vgl. MBDS 9, 1, S.86, 25-87, 7. 62 Bucer (ps), „Von Kirchengütem" Bl. 79a. 63 Bucer (ps), „Von Kirchengütem" Bl. 79b. 64 Bucer (ps), „Von Kirchengütem" Bl. 81a.

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Die Publikationen von Februar bis September 1540

auf jeden Fall ungeteilt und erblich der Kirche zugehörig sein.®' Bucer vergleicht sie mit dem Ideal der bisherigen Ritterorden mit dem Unterschied, daß jetzt die Ehelosigkeit nicht mehr gefordert ist. Er sieht das nicht als unmöglich an. Wo sich unter ihnen wahre Christen finden, werden sie sich der Reform der Kirche widmen.®® Als Grundsatz bleibt bestehen: Den Angehörigen der Adelsfamilien soll wie bisher in einer privilegierten Weise Kirchengut neben dem für Seelsorge und Armenfürsorge zweckbestimmten Kirchengut eingeräumt werden. Sie sind die leiblichen Nachkommen der ursprünglichen Stifter. Die Inhaber der fürstíichen Regierung sollten nach Ansicht des Sekretärs „Fürst" oder „Erzfürst" heißen. Auf den Bischofstitel sollte seiner Meinung nach lieber verzichtet werden, selbst wenn die „Episcopi" (nach der Etymologie und der Geschichte) immer weltliche Aufsichtsaufgaben wahrgenommen haben. Um der Verwechslungsgefahr mit der geistlichen Aufsicht durch die „Bischöfe" vorzubeugen, sollte aber bei diesen Domherren und Domfürsten lieber auf die Bezeichnung „Bischof verzichtet werden. Ihre Aufgabe sei ausschließlich und allein die weltliche Regierung ihres Fürstentums. Eine geistliche Aufsichtsfunktion hat dieser Fürst nur da, wo es bei der Wahl und Einsetzung von Kirchendienern zu Problemen komme.®' Zwischen äußerer Regierung und Seelsorge ist - so Bucers Prinzip auch hier - strikt zu trennen. Nur andeutungsweise skizziert der Sekretär, wie ein solcher Stiftsfürst, der von dem Adelskollegium in der Verwaltung des Landes gestützt wird, zu wählen sei.®® Bucer ist fest davon überzeugt: Eine solche Reform würde dem ganzem Reich von Nutzen sein. Die Verpflichtungen als Reichsstand werden für ein solches Fürstentum durch die „innere" Stiftsreform nicht geschmälert. Die bisherige Zahl der Territorien des Reiches soll erhalten bleiben. Es sei auch für den Kaiser von Vorteil, wenn die Verantwortung für die Herrschaft im Reich nach aristokratischen Prinzipien gestaltet und auf mehrere Schultern gelegt ist.®' 3. Verwendung der Meßstifiungskapitalien und des Klostervermögens: Das bei Durchführung dieser Reformen anfallende Vermögen kann auf fünf Felder verteilt werden. 1. Errichtung von Schulen. 2. Errichtung von Kollegien zur Ausbildung von späteren Kirchendienern. 3. Häuser zur Ausbildung von Jungen und Mädchen zu christlichem Leben und nützlichem Dienst, (sog. „Curotrophea") 4. Allgemeine Fürsorge für Verarmte und Arbeitslose. 65 Bucer 66 Bucer 67 Bucer 68 Bucer 69 Bucer

(ps), (ps), (ps), (ps), (ps),

„Von „Von „Von „Von „Von

Kirchengütern" Bl. Kirchengütern" Bl. Kirchengütem" Bl. Kirchengütem" Bl. Kirchengütem" Bl.

80a. 81b. 85a-85b. 84b. 83b.

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5. Spitäler und Siechenhäuser. Der Nutzen durch diese Reformen für den Kaiser und das Reich besteht in dreierlei Hinsicht: 1. Die Reformation der Kirche ist für das Reich ein Schatz an sich. 2. Die zu erwartende Verbesserung der allgemeinen Sitte wird die bisher veranschlagten Kosten für Herren und Könige vermindern. 3. Aus den Kirchengütem könne man ein treuhänderisch geführtes Verwahr bilden, daß bei „Reichsnöten" zu gebrauchen sei.^" Der altgläubige Probst kann sich am Ende des Gespräches über die Reformen den Einsichten des Sekretärs in den Nutzen dieser Vorschläge nicht mehr verschließen. Sein letzter Einwand bezieht sich auf den Eid, den Bischöfe und Prälaten (wie er) dem Papst geschworen haben. Dieser Eid wird vom Sekretär nicht als wirkliches Hindernis gegen seine Vorschläge angesehen. Der päpstliche Eid sei nicht rechtswirksam und bindend. Sein positiver Sinn sei lediglich, daß dem Bischof von Rom ein Ehrenprimat zuzugestehen sei.'' Der Probst beschließt das Gespräch mit dem Zitat einer längeren Partie aus einer Predigt des Johannes Chrysostomos.'^ Sie hat den Charakter eines Bußrufes an die Bischöfe, sich mehr der Seelsorge als der Sorge um „zeitliche" Geschäfte zu widmen.

3.1.7. Die Beanspruchung des Kanonischen Rechtes In dem „Nebengespräch" innerhalb des ersten Dialoges führt Bucer eine theologisch recht bedeutsame Differenzierung durch. Er unterscheidet zwischen den wahren und den falschen „Cánones".

70 Bucer (ps), „Von Kirchengütem" Bl. 86a. 71 Bucer (ps), „Von Kirchengütem" Bl. 87b. 72 Bucer (ps), „Von Kirchengütem" Bl. 88b-90a. Das Zitat ist der ins Deutsche übersetzte Schluß der Horailia LXXXV. al. LXXXVI. über Mt 26, 67 f., in: PG 58, Sp. 757-764, hier Sp. 761-764. Eine deutsche Chrysostomos-Ausgabe der Predigten über die Evangelien war gerade kurz zuvor im Jahre 1540 in Straßburg beim Drucker Balthasar Beck erschienen:, Johannis Chryso II stomi des Heyligen Ertzbi = II schoffs zû Constantinopel / Außlegung üb = II er die Euangelia Sancti Matthei / vnnd Sancti Johannis / Zur auff bauwung II der kirchen Gottes / in Teütschem II landt / Durch Doctor Caspar Hedio verteütscht. II . . . II M.D.XL. II", 2 Bände: 16 + 325 + 25 + 220 + 6 Bl., 2°. Bibliographischer Hinweis: VD 16: J 430, auch VD 16: J 431. Die Vorrede Hedios trägt das Datum 27.1.1540, so daß Bucer das Werk beim Abschluß seiner Vorrede am 3.2.1540 gerade bekannt gewesen sein dürfte. In diesem voluminösen Band findet sich auf Bl. OO 5a-PP 2a (= Bl. CCCLIIIla-CCCLVIa) die 86. Predigt des Chrysostomos über die letzten Verse aus Mt 26. An deren Ende auf Bl. PP Ib befindet sich eine Randmarginalie, die eine direkte kirchenpolitische Anspielung bietet: „Der geystlich stand zur Zeit Chrisos. Ach wie ists yetzund M.D.XXXIX." Auf diesen Hinweis dürfte sich Bucers Schlußappell in „Von Kirchengütern" bezogen haben.

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Die Publikationen von Febraar bis September 1540

Die Beschäftigung mit dem Kanonischen Recht durchzieht das ganze theologische Werk Bucers.^^ Seine detaillierten Kenntnisse gehen wohl auf sein Studium in Heidelberg zurück. In „Von Kirchengütem" kommt seine Auseinandersetzung und selektive Aneignung des herkömmlichen Kirchenrechts zu einem Höhepunkt. Die wahren „Cánones" sind identisch mit den zeitlich älteren. Sie entsprechen den Grundsätzen eines Naturrechts. Sie sind „eherlich / gerecht / der natur / gewonheyt... stat und zeidt gemäß / notwendig und nutz ... Sie sind zu unterschieden von den neueren, päpstlichen „Cánones", in denen sich lügenhafte Zusätze durch die Päpste finden.^^ Sehr scharf wendet sich Bucer gegen die historisch und sachlich sekundären „Decretal Epistolen" und die Fälschungen im Codex Justiniani, die vor allem seit der Zeit Papst Gregors des Großen geschehen seien.^® Brauns „Dialog" halte sich grundsätzlich nur an diese zweite Gruppe. Diese „Cánones" verhindern die Möglichkeit einer Nationalsynode, die gemäß der „alten Cánones" nicht nur kirchenrechtlich möglich, sondern jetzt auch politisch geboten sei. Mit den gottesfürchtigen und unzänkischen Leuten, die der Frankfurter Anstand für ein Gespräch vorsieht, ist es nach Bucers Auffassung möglich, sich über den Sinn der „alten" Cánones zu verständigen, ohne einen theologischen Gegensatz zwischen diesen Cánones und der Heiligen Schrift, wie man bei den Protestanten befürchten könnte, feststellen zu müssen.^^ Mit den alten und bewährten Cánones solle man vor allem gegenüber den „Canonici" argumentieren.'^ Auf den von dem Edelmann gemachten Einwand, daß man vom einfältigen und reinen Wort Gottes als Kriterium weggeführt werden könne, wenn man die Cánones zu hoch achte, läßt aber Bucer durch den fürstlichen Sekretär, unmißverständlich erklären: „Derhalben ... wir darauff steiff stöhn / das wir das wort Gottes / die h. [eilige] schrifft mer lassen den Canonem Canonum sein / die Regel aller regulen / und das einige richtscheit und einige probierstein / bede [, ]der lere und haushaltung aller h. [eiligen] vâtter und alten Kirchen".™ Bucer läßt damit für sich keinen Zweifel am entschiedenen Festhalten am reformatorischen Schriftprinzip aufkommen, wie er es schon gegenüber den Vertretern des „Richtscheits der Apostolischen Kirche" in Leipzig im Januar 1539 formuliert hatte.®®

73 Vgl. dazu den kurzen Überblick von Robert Stupperich, Martin Bucers Gebrauch des Kanonischen Rechts, in: Horizons Européens de la Réforme en Alsace, Mélanges offerts à Jean Rott, publiés par Marijn de Kroon et Marc Lienhard, Strasbourg 1980, S. 241-252. 74 Bucer (ps), „Von Kirchengütem" Bl. 7b. 75 Bucer (psX „Von Kirchengütem" Bl. 8b. 76 Bucer (ps), „Von Kirchengütem" Bl. 12b-14b. 77 Bucer (ps), „Von Kirchengütem" Bl. 9b. 78 Bucer (ps), „Von Kirchengütem" Bl. 14b. 79 Bucer (ps), „Von Kirchengütem" Bl. 15b. 80 Vgl. S. 60.

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Wenn aber das Kanonische Recht sich mit der Heiligen Schrift und mit seiner eigenen Auffassung von der Verwendung des Kirchengutes deckt, so gebraucht Bucer es hier vor allem im Blick auf die altgläubigen Adressaten seiner Schriften als eine zusätzliche Autorität in der Hoffnung, daß sie - dieser Autorität folgend seinen Vorschläge zur Handhabung des kirchlichen Besitzes zustimmen können. 3.1.8. Pläne zur Verbreitung und Fortsetzung der Schrift „Von Kirchengütem" und ihre Nachwirkungen 1. Im Jahre 1540 ist in der Druckerei von Johann Prüss d. J. in Straßburg die pseudonyme deutsche Schrift „Von Kirchengütern" hergestellt worden.®^ Bucer bemühte sich auch intensiv um die Erstellung einer lateinischen Fassung seines Werkes. Am 17.3.1540 bat er den Landgrafen, seine Schrift möge durch den Hessen Antonius Corvinus übersetzt werden. Dieser Brief®^ liefert interessante Details über publizistische Umstände der Verbreitung der Werke Bucers: Corvinus sollte nicht erfahren, daß die Anregung zur Übersetzung von Bucer persönlich ausgegangen sei. Der Landgraf solle sich danach für einen Druck der Übersetzung in Marburg oder Erfurt®^ einsetzen. Bucer möchte femer, daß eine lateinische Fassung an Granvelle gelange. Der Landgraf solle sie aber nicht direkt an den kaiserlichen Staatsrat senden, weil dieser sonst die Absicht auch bei Philipp erkenne, die notwendige Reform der Stifte nach Bucerschen Grundsätzen durchzuführen. Wenn ihm aber das Werk durch jemand anderes übermittelt würde, werde Granvelle nicht abgeschreckt.Einige Exemplare der Schrift „Von Kirchengütern" seien offensichtlich jetzt von Straßburg aus in Frankfurt/Main angekommen, von wo ein hessischer Bote sie holen möge. Am 22.3.1540 schrieb der Landgraf zurück, daß Corvinus die Übersetzung vornehmen solle und ein entsprechender Druck beabsichtigt sei.®^ Bucer schickte ihm daraufhin am 25.3. von Schmalkalden aus ein Exemplar seiner Schrift „Von Kirchengütem" mit der Bitte, sie an Corvinus gelangen zu lassen.®^ Aus nicht erkennbaren Ursachen®^ zerschlug sich aber dieser Plan, wovon Bucer wiederum Kenntnis erlangte. Am 19.4.1540 teilte er dem Landgrafen mit, daß. 81 Bibliographischer Hinweis: VD 16: В 8943 und VD 16: В 8943. 82 Lenz I, S. 151-159, Nr. 57, hier S. 154-155. 83 Zu Corvinus' Verbindungen zum Erfurter Drucker Melchior Sachse d. Ä. im Jahre 1539 vgl. oben S. 56. 84 Das Motiv zur Anonymität, das Bucer bei der Herausgabe seiner Schriften 1539/40 leitete, um ihnen eine weitest mögliche Verbreitung und vorurteilsfreie Wirkung zu sichern, wird hier sogar auf den Überbringer der Veröffentlichung ausgeweitet. 85 Lenz I, S. 161, Nr. 60. 86 Lenz I, S. 162-165, Nr. 61, hier S. 164. 87 Corvinus war ganz offensichtlich zu dieser Zeit mit der Übersetzung zweier Verteidigungsschriften des Landgrafen gegen Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel beschäfigt, wie er am 30.5.1540 an Justus Jonas schrieb. War er damit so beschäftigt, daß für die Übertragung von Bucers pseudonymer Schrift keine Zeit mehr blieb? Vgl. unten S. 195.

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Die Publikationen von Februar bis September 1540

wenn Corvinus die Übersetzung nicht machen solle, die Schrift bald zurückgesandt werden möge, damit ein anderer die Übersetzung vornehmen könne.^^ Vermutlich ist die von Bucer so sehr gewünschte Übersetzung seiner Kirchengüterschrift ins Lateinische nicht hergestellt worden. Bei der Suche nach Gründen dafür fehlen uns Hinweise aus den Quellen. Sicher ist nur, daß eine lateinische Ausgabe des Werkes „Von Kirchengütern" auf dem Markt der kirchenpolitischen Publikationen nicht erschienen ist. 2. Die literarischen Gesprächsteilnehmer stoßen mehrfach an die Frage nach den theologischen und kirchenrechtlichen Implikationen der (angestrebten) Einberufung eines (National-)Konzils. Sie wird von ihnen „Von Kirchengütern" als so umfangreich eingeschätzt, daß sie den vorgebenen Rahmen sprengen würde. Die Notwendigkeit eines eigenen „Gesprächs" darüber wird übereinstimmend festgestellt.®^ Das ist m. E. zu interpretieren als Projekt einer Fortsetzung der begonnenen Schriftenreihe der Pseudonymen Gespräche des .Conrad Treu zu Fridesleben'. Auch gegenüber dem Landgrafen äußerte Bucer am 17.3.1540 den Plan zur Fortsetzung seiner Schrift. „Mir will es uberlegen sein, auch hab ich dialogus vor mir von den concillen, wie die zu halten, und durch wen sie zu beruffen und zu besetzen sind, daran ich die übrig antwort hencken wolte uff den camergerichtischen bösen dialogum." Eine solche Schrift hätte sicherlich programmatisch die öffentliche Meinung für die seit 1539 in Aussicht gestellte, aber noch immer nicht einberufene Tagung (d. h. das „Konzil" auf Reichsebene ohne päpstliche Beteiligung, in Bucers Terminologie das „freundliche Gespräch etlicher Gelehrter" zur Religionsfrage, ,JSiationalkonzil", „Nationalversammlung" o. ä.^) positiv beeinflussen sollen. Darin ist sie durchaus mit den offiziellen schmalkaldischen Publikationen vom Frühling/Sommer 1540 vergleichbar.^' Zu einer Ausführung von Bucers Plan kam es nicht. Ein drittes Mal ist ,Conrad Treu zu Fridesleben' nicht mehr mit „Gesprächen" zwischen Sekretär, Probst und Edelmann an die Öffentlichkeit getreten. Die öffentliche Werbetrommel für das Nationalgespräch rührt aber auch die spätere anonyme und pseudonyme kirchenpolitischen Publizistik Bucers aus dem Jahre 1540.^^

88 Lenz I, S. 165-168, Nr. 62, hier S. 166. 89 Bucer (ps), „Von Kirchengütem" verweist darauf an mehreren Stellen seines Werkes. Der erste Hinweis steht Bl. 8b (der Hrsg. von MBDS 9, 1 folgt - anders als ich - grundsätzlich der alphabethischen Bogenzählung des Werkes „Von Kirchengütern", das Zitat ebda. S. 150 findet sich aber nicht auf Bl. D 2b, sondern Bl. D Ib); vgl. ferner Bl. 52a, und ganz zum Schluß Bl. 90a. 90 Eine diesbezügliche exakte terminologische Differenzierung findet m. W. bei Bucer nicht statt. Bucer liegt mehr an der Sache eines „echten" Gespräches, seine kirchen- oder reichsverfassungsrechtliche Qualität ist dem gegenüber sekundär. 91 Vgl. 3.2. 92 Vgl. 3.4. und 4.1.1. Die Konzilsthematik, die ja ncht nur wegen der Ankündigung einer Nationalversammlung kirchenpolitisch akut war, hatte in historischer und theologischer Perspektive Luther 1539 bereits in seiner Schrift „Von den Konziliis und Kirchen" behandelt.

Publizistische Reaktion der schmalkaldischen Stände (April/Mai 1540)

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3. Bucer wollte mit seinem Druck die gesamte kirchenpolitische Öffentlichkeit für sein Programm gewinnen. Sein kirchenpolitisches Bemühen dieser Jahre ging dahin, eine Reformation „auf mittlerer Linie" zu ermöglichen. Territorien, die sich diesem Konzept anschließen würden, hätten die Anerkennung der Protestanten verdient. Den gemäßigten Katholiken, die diese „leidliche" (tolerable) Reformation durchsetzten, würde zugleich eine Erneuerung ihres kirchlichen Lebens erleichtert.'^ Eine Reform der großen geistlichen Territorien des Reiches nach den Vorschlägen Bucers erfolgte freilich weder im Jahre 1540 noch später.®'* Eine öffentliche Kritik wurde „Von Kirchengütern" dann Ende 1540 durch Bucers literarischen Gegner Konrad Braun in seinen „Etlichen Gesprächen" zuteil.'^

3.2. Die publizistische Reaktion der schmalkaldischen Stände auf die kaiserliche Gesprächsinitiative im April/Mai 1540 3.2.1. Die diplomatischen Hintergründe Der Frankfurter Anstand hatte den Anhängern der Confessio Augustana ab dem 1.5.1539 einen Stillstand für sechs Monate gewährt. In dieser Zeit sollte kein evangelisch gewordener Reichsstand mit Gewalt überzogen werden, die Prozesse beim Reichskammergericht und die Acht gegen Minden waren ausgesetzt. Die Schmalkaldener verzichteten ihrerseits auf die Erweiterung des Bundes und die praktische Neuordnung der Kirchengüter für diesen Zeitraum. Da aber weder die kaiserliche Ratifikation'^ erfolgte, die den Anstand auf 15 Monate erstrecken sollte, noch das für den 1.8.1539 in Nürnberg gedachte

93 Vgl. dazu Wilhelm H. Neuser, Bucers Programm einer „guten, leidlichen Reformation" (1539-1541), in: Horizons Européens de la Réforme en Alsace, Mélanges offerts à Jean Rott, publiés par Marijn de Kroon et Marc Lienhard, Strasbourg 1980, S. 227-239. w Unberücksichtigt bleiben muß an dieser Stelle, in welcher Hinsicht Bucers Reformvorschlag für den Versuch Hermann von Wieds Impulse geliefert hat, mit Hilfe Bucers und Melanchthons 1543 sein Erzbistum zu reformieren. Vgl. dazu Mechthild Köhn, Martin Bucers Entwurf einer Reformation des Erzstiftes Köln, UKG 2, Witten 1966, S. 156-157. Die von Melanchthon und Bucer gemeinsam verfaßte, unter Hermanns Namen zuerst 1543 in Köln deutsch gedruckte Programmschrift „Einfaltigs Bedenken" wurde von Köhn analysiert. Bibliographischer Hinweis zur Kölner Erstausgabe von 1543: VD 16: К 1734. - Köhn erwähnt ebda. S. 157 Anm. 1 einen Zusammenhang von Bucers Vorschlägen mit der Reform des St. Thomassüftes in Straßburg 1542/43. Auch dieser Spur kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht nachgegangen werden. 95 Braun (an), ,3Üiche Gespräche", dort passim das gesamte 1. Gespräch, explizit Bl. F (= G) За; auch im 3. Gespräch Bl. plb. Vgl. S.260f. 96 Am 11.11.1539 teilte Philipp Bucer mit, daß der Kaiser noch nichts über die Verlängerung des Anstandes habe verlautbaren lassen. Vgl. Lenz I, S. 115-116, Nr. 36.

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Die Publikationen von Februar bis September 1540

Religionsgespräch stattfand^', mußte es ab dem Spätherbst 1539 zwangsläufig wiederum zu diplomatischen Maßnahmen kommen, die die kirchen- und reichspolitische Situation um die Jahreswende 1539/40 bestimmen sollten.'^ Dazu gehörte auch die vermittelnde Initiative des Trierer Erzbischofs Johann III. von Metzenhausen (1531-1540) für einen Fürstentag, die sein Kanzler am 7.11.1539 dem hessischen Landgrafen Philipp unterbreitete.^^ Doch am 8.12.1539 wandte sich erneut Johann von Weeze, der Orator des Kaisers bei den Frankfurter Verhandlungen, zuerst an den sächsischen Kurfürsten und danach auch an den Landgrafen, womit eine Wiederaufnahme der kaiserlichen Vergleichspolitik angezeigt war.''® Der Kurfürst verständigte sich darüber am 28.12.1539 mit dem Landgrafen und bat am 29.12.1539 die Wittenberger Theologen um die Anfertigung eines theologischen Gutachtens, das klarstellen sollte, inwieweit beim Zustandekommen eines Religionsgespräches mit den altgläubigen Ständen die Confessio Augustana und ihre Apologie zu verteidigen und in welchen Artikeln nachzugeben sei.'®' Dieses Gutachten solle sich theologisch mit dem Leipziger Reunionsentwurf (15 Artikel von BucerAVitzel)'"^ vom Januar 1539 auseinandersetzen. Der für den 1.3.1540 nach Schmalkalden zu berufende Bundestag der Stände des Bundes solle die theologischen und politischen Fragen innerhalb des evangelischen Lagers im Blick auf die neue kaiserliche Religionsgesprächsdiplomatie endgültig klären. Am 7.1.1540 schickten die Wittenberger das geforderte Gutachten an den Kurfürsten.'"^ Die Differenz bezüglich der Einschätzung der Chancen einer Verhandlung mit den Altgläubigen zwischen dem Kurfürsten und den Wittenbergern (vor allem deren Wortführer Melanchthon) einerseits und Landgraf Philipp im Verein mit Bucer andererseits vom Jahresbeginn 1539 trat jetzt wieder deutlich hervor, wie die Korrespondenz zwischen Bucer und dem Landgrafen im Februar 1540 belegt.'®^ Die politische Notwendigkeit einer VerstänZu dem geführten Briefwechseln zwischen Landgraf Philipp mit Bucer, dem Kurfürsten und dem König Ferdinand vgl. Lenz I, S. 94-99, Nr. 28, hier S.95 Anm.2. 98 Lenz I, S. 392-430 referiert die diplomatischen Initiativen und kirchenpolitischen Verwicklungen unter besonderer Berücksichtigung der Rolle des Landgrafen. 99 Lenz L Beilage III. Documente 1, S.431; vgl. dazu Lenz l, S.401. 100 Lenz L S. 128 Anm. 10; Polit. Corr. 3, S. 1-3, Nr. 1, hier S.2 Anm. 1. 101 WA.B 8, S. 647-650, Nr. 3425. 102 Vgl. zum Leipziger Gespräch, seinem vor der weiteren Öffentlichkeit jetzt noch geheimen Resultat und den Publikationen in seinem Umfeld oben unter 1.3. Die „Artikel belangende dy religion, Anno 1539" waren im Verlaufe des Jahres 1539 auf diplomatischem Wege an viele Adressaten verschickt worden. Ihre Wirkungsgeschichte schildert der Hrsg. in MBDS 9,1, S. 1719. Dir Text dort S. 23-51. Vgl. ausführiich dazu Cardauns, S. 14-18, auch Luttenberger, S.205. 103 WA.B 9, S.8-11, Nr.3431. Der Text des Gutachtens findet sich WA.B 9, S. 19-35, Nr.3436. Zur Verbreitung dieses Wittenberger Gutachtens vgl. dort S. 8-9. Bucer hatte ein „bedencken der Synoden halben" am 25.12.1539 an den Landgrafen geschickt, Lenz I, S. 120-122, Nr.42, hier S. 121. Dabei dürfte es sich m.E. um das jetzt erstmals edierte „Consilium Bucerj", MBDS 9, 1, S. (71) 73-78 gehandelt haben, wofür sachliche und chronologische Gesichtspunkte sprechen. 104 Bucer an den Landgrafen am 7.2.1540 laut Lenz I, S. 135-137, Nr. 47. Der Landgraf antwortete an Bucer am 16.2.1540, daß der sächsische Kurfürst nicht wolle, daß bei der Zusammenkunft

Publizistische Reaktion der schmalkaldischen Stände (April/Mai 1540)

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digung Über ein gemeinsames Vorgehen der Protestanten in dieser zentralen Frage wurde aber dennoch gesehen und auf den bevorstehenden Bundestag vertagt. Zu ihm wurden wie schon im Jahr zuvor in Frankfurt in besonderer Weise auch die führenden sächsischen, hessischen und oberdeutschen Theologen hinzugebeten. Indessen war eine Gesandtschaft des Bundes an Karl V. abgegangen, der von Spanien aus in die Niederlande gereist war. Sie sollte die friedliche Gesinnung der Schmalkaldener bekunden und die wahren religionspolitischen Absichten des Kaisers in Erfahrung bringen. Seine baldige Ankunft auch im Reich wurde allgemein erwartet. Diese Gesandtschaft traf Ende Februar beim Kaiser in Brüssel ein, während der Bundestag sich ab dem 29.2.1540 in Schmalkalden versammelte.'"^ Da aber die Gesandten in den nächsten Tagen keine zulängliche Antwort des Kaisers erhielten'"®, äußerte Philipp Melanchthon am 11.3.1540 in Schmalkalden in einem Brief an Johannes Brenz deutlich seine Skepsis sowohl am Erfolg der schmalkaldischen Gesandtschaft als auch über die Aussichten auf das im Frankfurter Anstand 1539 zugesagte Gespräch.'"^ Am 24.3.1540 traf schließlich in Schmalkalden eine - vorerst hinhaltende Antwort des Kaisers auf die Werbung der schmalkaldischen Gesandtschaft ein, die das Datum des 14.3.1540 trug. Über diese Antwort des Kaisers berichtete wiederum Melanchthon am 24.3. in einem Brief an Herzog Albrecht von Preußen'ö» und am 28.3.1540 nach Wittenberg.''» Die Beratungen der Bundesvertreter ergaben, daß man vor weiteren Entscheidungen die persönliche Ankunft von Kurfürst und Landgraf in Schmalkalden abwarten wolle. Sie trafen dort am 29.3. ein."" Nun erwartete man gemeinschaftlich eine endgültige und klare Antwort des Kaisers"' und erörterte nochmals den Verlauf der Gesandtschaft an ihn."^ mit den Altgläubigen zuerst der Religionsvergleich das Thema sei, bevor nicht über den Frieden im Reich verhandelt worden sei, Lenz I, S. 139-140, Nr. 49. 105 Die einzelnen Beratungen des Bundestages sind hier nicht zu referieren. Zwei neu erschienene Publikationen vom Jahresbeginn 1540 wurden aber ganz offensichtlich besonders in Schmalkalden von den dort Versammelten rezipiert: Melanchthons .Epistel an den Landgrafen zu Hessen" und Bucers pseudonymes Werk „Von Kirchengütern". 106 Vgl. dazu die Berichte des Straßburger Gesandten Peter Sturm an seinen Rat vom 28.2.1540 Polit. Corr. 3, S.20-23, Nr. 18; vom 13.3.1540, S.24, Nr.21; vom 21.3.1540, S.25-26, Nr.23. 107 ,ДЭе Con ven tu nescio quid scribam, omnia adhuc sunt incerta. Nostri miserunt nuncios ad Саю-lum, Studium pads exposituros et rogaturos, ne bellum nobis inferat. His nondum responsum est. Extrahitur res insidiose. De collucutione, quam anno superiore Londensis promisit, nihil spei habeo.", in: CR 3,977, Nr. 1939, vgl. MBW 3, Nr. 2393; vgl. den Brief Melanchthons vom selben Tag mit ähnlicher Tendenz an Joachim Camerarius, in: CR 3, 977-978, Nr. 1940; vgl. MBW 3, Nr. 2394. 108 CR 3, 978-981, Nr. 1941; vgl. MBW 3, Nr. 2400. 109 CR 3, 981-982, Nr. 1943; vgl. MBW 3, Nr. 2402. HO Polit. Corr. 3, S . 2 7 ^ 3 , Nr. 25, hier S.40. Anders WA.B 9, S.85, Anm. 1 zu Nr. 3459: ,J)er Landgraf wohnte dem Konvent zu Schmalkalden vom 1. bis zum 14. April b e i . . . ". 111 Polit. Corr. 3, S . 2 7 ^ 3 , Nr.25, hier S.41. 112 Polit. Corr. 3, S . 2 7 ^ 3 , Nr.25, hier S.29-30.

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Am 5.4.1540 schrieb Melanchthon darüber an Luther"^ und Camerarius, wobei er zusätzlich erstmals die Möglichkeit erwähnte, der Kaiser werde ein nichtöjfentliches Gespräch suchen: ,Jiun werden zwei Grafen erwartet, die vom Kaiser mit Mandaten kommen, von denen gesagt wird, der Kaiser bitte, daß wir mit ihm geheim über die Religionssache (.privatim de religione') verhandeln sollen. Aber sicher wissen wir erst, was sie herzutragen, wenn sie gekommen sein werden.""'· Dieser unerwarteten Wende der kaiserlichen Diplomatie widmete Melanchthon auch in seiner abschließenden Darstellung des schmalkaldischen Bundestages in Schmalkalden vom 16.4.1540 einen breiten Raum."^ In ihr sah er den religionspolitischen Fortschritt gegenüber den Monaten des Hinhaltens. Vermutlich zwischen dem 11. und dem 13. April erschien dann schließlich in Schmalkalden Graf Wilhelm von Neuenahr, der erklärte, daß er und der sich wegen Krankheit entschuldigende Graf Dietrich IV. von Manderscheid nicht vom Kaiser geschickt seien, „sed tamen consilium suum Imperatori piacere.""^ Der genaue diplomatische Status dieser Gesandschaft der beiden Grafen blieb den Schmalkaldenern verborgen. Auch die Rolle des kaiserlichen Staatsrates Nicolaus de Perrenot, Herr von Granvelle, als ihres Urhebers (?) war für sie nicht eindeutig zu bestimmen. Die Straßburger Gesandten beschrieben ihre Ratlosigkeit darüber an ihren Rat daheim. Sie dürfte symtomatisch für alle in Schmalkalden Versammelten sein: Danach „hat [Graf Wilhelm von Neuenahr] aber kein bevelch, credenz oder instruction von der kai. [serlichen] m[ajestä]t. gehabt, sondern ist, wie er anzaigt, für sich selbs ... komen ... und [hat] angezaigt, was sich der herr von granvella hab hören lassen und wie freundlich er sich erboten, allen vleiss bei der kai. mt. fürzuwenden, damit frid und ruwe im hailigen reich erhalten werd, was er deshalben mit der kai. mt. geredt... Mehrere Vorwürfe gegen die Protestanten wurden durch Neuenahr artikuliert. Diese Liste der Vorwürfe bewegt sich im Rahmen der bekannten Anschuldigungen: Die Protestanten verschleppten den Vergleich, da es ihnen damit nicht ernst sei. Sie suchten nicht die Besserung der Kirche, sondern ihren eigenen Vorteil, weshalb sie so rasch von den Kirchengütern Besitz ergriffen. Sie pflegten Umgang mit den Feinden des Kaisers. Wenn es aber für sie mit dem Vergleich ernst sei, sollten sie ohne Umschweife umfassend erklären, worauf sie bestünden. Sie sollten einen Verhandlungsführer bestimmen. Erst wenn der Kaiser bei ihnen ein solches Vorgehen erkennen könne, wolle er einen

113 Dieser Brief ist verloren gegangen. Erhalten ist Luthers Antwort an Melanchthon vom 8.4.1540, der ebenfalls wie Melanchthon über diese Wendung der kaiserlichen Diplomatie erstaunt ist, WA.B 9, S. 88-90, Nr. 3461. lit CR 3, 987-989, Nr. 1947, hier 989; vgl. MBW 3, Nr.2407. 115 CR 3, 1003-1005, Nr. 1949; vgl. MBW 3, Nr. 1949. 116 CR 3, 1004, Nr. 1949. 117 Polit. Corr. 3. S . 4 3 ^ , Nr. 27.

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(Öffentlichen) Reichstag oder eine Versammlung deutscher Nation halten und zu einer vollkommenen Vergleichung (des vorhandenen kirchlichen Zwiespalts) verhandeln l a s s e n . D e r momentane Verfahrensvorschlag des Kaisers"' für das weitere Bearbeiten der umstrittenen Probleme sei die Anberaumung eines nichtöffentlichen Gespräches zur Klärung der Religionsfrage. 3.2.2. Zwei Antworten auf die Werbung des Grafen von Neuenahr Wie sollten sich nun die in Schmalkalden versammelten Ständevertreter gegenüber diesem neuartigen Vorschlag des Kaisers verhalten? Sie sprachen sich einmütig mit einer „Responsio" gegen die erhobenen Vorwürfe und den durch Neuenahr übermittelten Vorschlag eines Geheimgespräches aus. Die lateinische Druckfassung „Responsio in causa Religionis ad instructionem Domini Theoderici de Manderschit" und ihre deutsche Version „Antwort auf dem Versammlungstag zu Schmalkalden an Graf Dietrich von Manderscheid" erreichte 1540 auch die kirchenpolitische Öffentlichkeit. „Dieses Schreiben ... ist im Rahmen der Religionsgespräche ein erstrangiges Dokument."i2i

Die beiden Bundeshauptleute des Bundes übergaben die „Responsio" in lateinischer Sprache dem Grafen Wilhelm von Neuenahr mit der Bitte, sie an Granvelle (und damit an den Kaiser) weiterzuleiten. Ihre Datierung auf den 11. April stützt sich auf den zeitgenössischen Historiker Johannes Sleidan.'^^ Auf jeden Fall erfolgte sie spätestens am 14. April, wo sich der Bundestag nach der Abreise von Kurfürst und Landgraf rasch auflöste. 3.2.2.1. Urheberschaft der „Responsio" und erste Verbreitung Im folgenden soll besprochen werden, wer im engeren Sinne der Autor der durch die Bundeshauptleute an Neuenahr übergebenen „Responsio" ist, ob die Arbeit durch mehrere Hände ging und wer an Redaktionen beteiligt war, bis sie zum „offiziellen" politischen Dokument des Bundes wurde. Diese Frage stellte sich schon im 17. Jahrhundert, wo man in Philipp Melanchthon ihren alleinigen Autor vermutete.Oder war er - in abgeschwächter Weise - nur der „Federila Polit. Corr. 3, S. 43-44, Nr. 27, hier S. 44. 11^ Es kann im Zusammenhang dieser Untersuchung hier unberücksichtigt bleiben, inwieweit die Herkunft dieses Vorschlag eher Granvelle oder eher dem Kaiser persönlich zuzuschreiben ist. 120 Vgl. dazu kritisch Melanchthon laut CR 3, 1004, Nr. 1949. 121 So Comelis Augustijn, in: MBDS 9, 1, S.80. 122 Darauf weist Scheible hin. Vgl. dazu MBW 3, Nr. 2411, hier S. 49. 123 Schon Friedrich Hortleder meinte: „Hoc responsum à Melanchtone conscriptum esse, inscriptione ejus monemur . . . " laut Hortleder 1645, S. 1286. Johann Georg Walch ging davon aus, daß die Schrift ursprünglich in deutscher Sprache (aber von wem? G. K.) verfaßt worden sei und dann von Melanchthon ins Lateinische übersetzt wurde, um den kaiserlichen Gesandten übergeben werden zu können, vgl. W Bd. 17, 338.

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führer"?'^"* Hat eventuell auch Bucer an ihrer Entstehung mitgearbeitet? Verwandten beide einen schon im Auftrag des hessischen Landgrafen hergestellten Text'^^ oder entstand die „Responsio" erst ganz unmittelbar nach der Ankunft des Grafen? Wie hoch genau Melanchthons persönlicher Anteil an der „Responsio" zu bewerten ist, kann aus den zu Rate gezogenen Quellen nicht abschließend beurteilt werden. Alle bekannten „äußeren" Hinweise, wie etwa Melanchthons Bemühen um die Verbreitung der „Responsio" und seine Vermutungen über das öffentliche Urteil zu dieser Schrift'^®, weisen darauf hin, daß Melanchthon geistig mit dieser „Responsio" eng vertraut war und deshalb wohl auch an ihrer Entstehung entscheidenden Anteil hatte. Allerdings bezeichnet sich er, der sich in Schmalkalden bis Mitte März und in der ersten Aprilhälfte 1540 aufhielt, nirgendwo selbst als Autor dieser Schrift. Sogar in seinem Privatbericht über den Bundestag an Camerarius^^^, von dem er auch nicht wollte, daß er öffentlich bekannt

124 C. Augustijn bezeichnet ihn vorsichtig „eher als Federführer denn als Autor", MBDS 9, 1, S.81. 125 H. Scheible sieht - m.E. irrtümlicherweise - in der übergebenen ,Де8роп51о" das Resultat der Forderung nach einem, Jcurzen Begriff unser Religion", die der hessische Landgraf am 8. oder 9.3.1540 von Rotenburg/Fulda aus an Bucer und Melanchthon gerichtet hatte, die sich bereits am Tagungsort Schmalkalden aufhielten. Darin wünschte Philipp von ihnen die Erstellung einer lateinischen Schrift, die enthalte, „was unser Gemüth der geistlichen Guter halben wäre, sonderlich daß wir, dieser Religion, die Bisthumber nit, sondern allein wahre, christliche Reformation begehrten, desgleichen den grundt der paffen und closter=ehen und der meß, das die an komunicanten bei den alten nit herkommen, und was ihr sonstet in demselbigen Begriff zu inseriren vor nothwendig ansehet, denselbigen Summarien=Bericht sampt angeregter bit umb ein national gesprech oder vorsamlung uns zuschicktet; so wollten wir ihnen furter mit eilender Botschaft an Grandvella fertigen, ob Gott Gnad verleihen wollt, daß der Granvella was guts dadurch bei der Kais. Maj. erlangen und ausrichten könnt.", zitiert nach Lenz I, S. 143-144, Nr. 52, hier S. 144, vgl. MBW 3, Nr. 2390. Wilhelm Maurer, Confessio Augustana Variata, in: ders.: Krche und Geschichte, Band 1, Göttingen 1970, S. 213-266, interpretiert ebda. S. 223 den Wunsch des Landgrafen: „Wir besitzen kein Zeugnis darüber, wie Melanchthon auf dieses Verlangen reagiert hat ... Eine neue Bekenntnisschrift durfte er nicht verfassen, an der CA kam er nicht vorbei . . . " Scheible zufolge soll Melanchthon der Aufforderung des Landgrafen nachgekommen sein. Er gilt für ihn als ,>Iitvf." der ,Дesponsio", MBW 3, S.48. Ich halte diesen Zusammenhang für nicht zwingend, wie der sorgfältige Nachweis von C. Augustijn überzeugend zeigt, demzufolge die „Responsio" vom April 1540 überhaupt nicht das Resultat dieser eher privat einzustufenden Aufforderung des Landgrafen sein kann, vgl. MBDS 9, 1, S.9-10, bes. Anm.9. Eine Mitautorenschaft Bucers für die ,Дesponsio" schließt Augustijn aus: ,JDie Vermutung liegt nahe, Melanchthon habe bestimmte Sachen mit Bucer durchdiskutiert, vielleicht sogar bei der Formulierung bestimmter Teile Bucer um Rat gefragt." 126 Vgl. wiederum den Bericht an Camerarius CR 3,1003-1005, Nr. 1949, hier 1005; vgl. MBW 3, Nr. 2145. 127 ,Jios [also ein Plural! G. K.] verecunde et vere respondimus de nostra volúntate erga Rempub. et studio pacis; purgavimus obiecta crimina, et ingenue non velie nos conciliationem intellegi confirmationem veterum erroram, et proiectionem piae doctrinae. Ostendimus clare, quos artículos non posse abiici censeamus, et petivimus, ut res non privatim, sed in publica conventu ageretur, ut anno superiori promisit Imperatoris legatus Francofordiae. Ostendimus etiam, nos nequaquam de praediis Ecclesianim pugnare.", CR 3, 1003-1005, Nr. 1949, hier 1004-1005. Der Hrsg. von

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werde'^®, findet sich kein deutlicher Hinweis auf seine Autorenschaft der „Responsio". Die rasche Verbreitung der „Responsio" ist jedoch in auffallender Weise mit seinem Namen und seiner Person verknüpft, noch bevor sie als „Responsio in causa Religionis ad instructionem Domini Theoderici de Manderschit" in gedruckter Form erscheinen konnte: In seinem in Erfurt abgefaßten Bericht über den Bundestag in Schmalkalden vom 16.4.1540 erwähnte Melanchthon eher beiläufig: „Exempla responsionis habent Principum et civitatum legati."'^^ Dabei kann es sich nur um Exemplare der kürzlich an Neuenahr übergebenen „Responsio" handeln. Melanchthon ging am 18.4.1540 davon aus, daß „Copien" von der Werbung der beiden Grafen und die dazugehörige protestantische „Antwort" durch seinen Landesherm, den Kurfürsten, an Herzog Albrecht von Preußen weitergeschickt w ü r d e n . A m 22.4. schrieb er in gleicher Angelegenheit an Georg Spalatin in Altenburg: „Exempla responsionum habet aula.""' Auch einer der städtischen Gesandten Oberdeutschlands, Martin Frecht aus Ulm, verfügte über ein Exemplar der „Responsio", das er - so Melanchthon - bei seiner Heimreise über Nürnberg auch dort Melanchthons Freund Veit Dietrich zeigen sollte.'^^ Bei den bis dahin erwähnten Hinweisen auf die „Responsio" ist (noch) nicht davon auszugehen, daß es sich hier um gedruckte Exemplare handelte. Wahrscheinlich wurden die politischen Repräsentanten der evangelischen Seite, wie aus den verschiedenen Hinweisen sich ablesen läßt, sehr schnell durch Kopien und d. h. Abschriften vom Wortlaut dieser bundesamtlichen Äußerung auf den kaiserlichen Vorstoß informiert. Die Notwendigkeit, nicht nur innerhalb die evangelischen Reichsstände oder ihre theologischen Wortführer über die aktuellen kirchenpolitischen Grundsätze des Bundes zu informieren, ließ aber ganz offensichtlich bald auch die Herstellung einer gedruckten „Responsio" für die weitere kirchenpolitische Öffentlichkeit sinnvoll erscheinen. 3.2.2.2. Der lateinische Druck und seine Verbreitung Das Vorhandensein verschiedener gedruckter Ausgaben der in Schmalkalden gegebenen „Responsio" gibt es vor, sie je für sich zu betrachten. Von ihrem Textbestand her entsprechen sich der lateinische Druck von 1540 und ein 1541 WA.B 9 hat mit guten Gründen nachgewiesen, daß der Bericht Melanchthons für Luther nicht bestimmt war, WA.B 9, S. 90-91. Dem schließt sich Scheible, MBW 3, Nr. 2145, an. 128 „... historiam Conventus, quam tarnen spargi in populum nolo." Brief Melanchthons vom 16.4.1540 an Veit Dietrich, CR 3, 1017-1018, Nr. 1953, hier 1017; vgl. MBW 3, Nr.2416. 129 CR 3, 1003-1005, Nr. 1949, hier 1005. 130 CR 3, 1018-1020, Nr. 1955; vgl. MBW 3, Nr.2417. 131 CR 3, 1020-1021, Nr. 1956, hier 1021; vgl. MBW 3, Nr. 1420. 132 So im Brief Melanchthons an Veit Dietrich in Nürnberg vom 16.4.1540, CR 3, 1017-1018, Nr. 1953, hier 1017; vgl. MBW 3, Nr. 2416.

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hergestellter französischer Druck. Der deutsche Druck von 1540 hat dem gegenüber einige charakteristische Abweichungen.'^'* Die Entscheidung für die Herstellung einer gedruckten Fassung der „Responsio" für die kirchenpolitische Öffentlichkeit muß in der zweiten Aprilhälfte oder ersten Maihälfte (in Wittenberg oder am Torgauer Hof) gefallen sein. Die kirchenpolitische Intention dabei war vor allen anderen Absichten, das Festhalten an den Modalitäten des in Frankfurt im Voijahr versprochenen Gespräches öffentlich zu unterstreichen. Die öffentliche Forderung nach einem Gespräch gemäß des Frankfurter Anstandes war ja bisher nur in den Pseudonymen Schriften Bucers erhoben worden.'^' Gedruckte Exemplare der „Responsio in causa Religionis ad instructionem Domini Theoderici de Manderschit" lagen Melanchthon spätestens am 11.5.1540 in Wittenberg vor. Er leitetet Exemplare nach Nürnberg weiter: „... Exempla responsionis nostrae nunc excuduntur. Mittam igitur excusa."'^® Ohne Zweifel handelte es sich hier um die originale Fassung der „Responsio", die tatsächlich im April in Schmalkalden vorgetragen worden ist.'^^ Nach einer Vorrede'^® gliedert sich der Text der „Responsio in causa Religionis ad instructionem Domini Theoderici de Manderschit" in drei deutlich von einander abgesetzte Argumentationen, die gebündelt auf die Vorwürfe Neuenahrs Bezug nehmen: 1. Widerlegung des 1. Vorwurfs: Man will glaubhaft machen, wir suchten nicht die Ehre Gottes, die Verbesserung der Kirchen, das Heil der Seelen, sondern suchten entweder die Kirchen- oder andere (weltliche) Güter. 2. Widerlegung des 2. Vorwurfs, der uns noch schmerzhafter (als der erste) trifft: Man meint, da, wo wir uns zur wahren und gewissenhaften Unterredung mit den anderen zur Verfügung stellen, heuchelten wir den Eifer zu einer „con-

133 Vgl. S. 184-185. 134 Vgl. S. 182-184. 135 Vgl. 1.4. und 3.1. 136 Melanchthon in einem Brief an Veit Dietrich in Nürnberg, CR 3, 1027-1028, Nr. 196, hier 1028; vgl. MBW3, Nr. 2428. 137 Es ist doch überaus wahrscheinlich anzunehmen, daß Melanchthon es für erwähnenswert gehalten hätte, wenn die Druckfassung der „Responsio in causa Religionis ad instructionem Domini Theoderici de Manderschit" ihrem Wortlaut nach nicht mit der faktisch übergebenen Antwort übereingestimmt hätte. Scheible irrt an dieser Stelle, wenn er schließt, es habe sich hierbei um die deutsche (von mir hervorgehoben, G.K.) Fassung gehandelt, die sich bei W Bd. 17, 338-353, Nr. 1299, findet; vgl. MBW 3, Nr. 2428. Gegen Scheible spricht nicht nur der typographische Befund, der allenfalls einen lateinischen Druck in Wittenberg lokalisiert, sondern auch die Tatsache, daß gerade die durch Walch edierte Fassung gar nicht 1540 im separaten Druck veröffenüicht wurde. 138 JFvS/PhvH, „Responsio in causa Religionis ad instructionem Domini Theoderici de Manderschit" Bl. A 2a-A 2b. 139 JFvS/PhvH, „Responsio in causa Religionis ad instructionem Domini Theoderici de Manderschit" Bl. A 2b-B Ib.

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cordia", zögerten die Angelegenheit hinaus, suchten in der Sache selbst Ausflüchte und wichen der rechten Entscheidung aus.*'"' 3. Zuletzt bitten wir den Kaiser, er möge der finstere Nachrede keinen Glauben schenken, daß einige von uns seine Feinde unterstützten. Am Ende der Schrift werden noch einmal die traditionellen Appelle an den Kaiser erneuert, er möge dem Kammergericht sein Vorgehen gegen die Protestanten verbieten. Die Nichtigkeit der Verfolgung dieser vermeintlichen Religionsangelegenheit stehe doch fest, da es im Prozeß gegen die evangelische Stadt Minden doch nur um einen Betrag von ca. 60 Gulden gehe, der zuvor der dortigen Kirche gehört habe.^'*^ Für Wittenberg als Druckort der „Responsio in causa Religionis ad instructionem Domini Theoderici de Manderschit" spricht der aufgrund des typographischen Befundes erschlossene Drucker Georg Rhau. Die Differenzen zwischen den beiden bibliographisch nachweisbaren lateinischen Ausgaben sind marginal. Dennoch erhebt sich die Frage, warum Rhau sich nicht selbst in einem Drucker- oder Schlußvermerk (Impressum) nennt, wie es sonst bei amtlichen Publikationen kursächsischer oder kursächsisch-hessischer Provenienz des untersuchten Zeitraumes der Fall ist. Es fehlen dieser „Responsio" bemerkenswerterweise auch Wappen oder andere Indizien, die sie uns, prima facie, wie etwa das schmalkaldische „Ausschreiben an alle Stände" vom 13.11.1538'"*^ oder die Publikationen der schmalkaldischen Bundeshauptleute gegen Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel''^^, als einen offiziellen Druck der protestantischen Stände präsentieren würde. Verschiedene Überlegungen lassen sich in diesem Zusammenhang anstellen: Wenn ein allgemeines Käuferinteresse vorlag, druckte Georg Rhau vielleicht mit dem stillen Einverständnis, aber ohne direkte Beauftragung durch den Torgauer Hof. Dies geschah gegebenenfalls mit einer Unbedarftheit, die aus der Perspektive späterer protestantischer Diplomatie bald danach Anstoß erregen mußte.^"*® 140 JFvS/PhvH, „Responsio in causa Religionis ad instractionem Domini Theoderici de Manderschit" Bl. В Ib-C la. 141 JFvS/PhvH, „Responsio in causa Religionis ad instractionem Domini Theoderici de Manderschit" Bl. С la-C 2b. 142 JFvS/PhvH, „Responsio in causa Religionis ad instractionem Domini Theoderici de Manderschit" Bl. С Ib. Zum Problem des Prozesses gegen die Stadt Minden seit dem Oktober 1538 als dem äußeren Anlaß zur Veröffentlichung des .Ausschreiben an alle Stände" vom 13.11.1538, vgl. S. 43. Die Vollstreckung der Reichsacht gegen Minden durch die altgläubigen Stände war im April 1540 noch immer zu befürchten. 143 Bibliographischer Hinweis: VD 16: H 2792 = VD 16: S 973. Auf dem »Exemplar HAB Wf 251. 17 Theol (2) befindet sich als handschriftlicher Vermerk „15. Augusti.". Der lediglich durch Zeilenumbrüche des Titelblattes und die Verwendung andere Schmuckinitialen abweichende Drack ist nachgewiesen durch VD 16: H 2791 = VD 16: S 972. 144 Vgl. 1.1. 145 Vgl. 2.1., vgl. 3.3.; 5.2.; 5.3. 146 Vgl. unten S. 182-184.

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Ihre größte Aktualität besaß die gedruckte „Responsio" wohl in der Zeit der zweiten Hälfte Mai bis Juni/Juli 1540, bevor sie durch die neuen Entwicklungen der kaiserlichen Diplomatie an unmittelbarer Aktualität verlor. Deshalb dürfte sie vor allem in diesem Zeitraum verbreitet worden sein. Es scheint m. E. eher unwahrscheinlich, daß die „Responsio in causa Religionis ad instructionem Domini Theoderici de Manderschit" wie andere politische Publikationen der Schmalkaldener im fürstlichen Auftrag auch durch Boten im Reich verbreitet worden ist. Mit Boten dürften bereits die Kopien nach Mitte April ausgetragen worden sein. Die Frage kann aber vorerst mangels entsprechender Gegenbelege nicht abschließend entschieden werden. Die vorhandenen Belege über die Verbreitung der gedruckten „Responsio" sprechen aber m. E. gegen einen solche Verbreitungsmodus. 1. Nicht eindeutig zu entscheiden ist, ob es Druckausgaben der „Responsio" waren, auf die sich der Brief des Johannes Zwick in Konstanz vom 30.5.1540 an Joachim von Watt (Vadian) in St. Gallen bezieht: „Sed nunc ad te responsiones [Plural!] Schmalkaldiae natas, quae faustum aliquid pollicentur."^'*'' 2. Der kursächsische Kanzleischreiber Nicolaus Gunther schrieb am 24.6.1540 aus Weimar an Stephan Roth in Zwickau: „wen der pfarrer von kirchberg zu euch kompt, So wollet yn die latinisch antwort zu Schmalkalden auch sehen und lesen lassen... Es ist also davon auszugehen, daß Gunther einen solchen Druck vor dem 24.6. nach Zwickau geschickt hatte. Dabei dürfte es sich um ein ebenfalls in Wittenberg bei Rhau hergestelltes Exemplar gehandelt haben. Mehrere Hinweise belegen den normativen Charakter, den die in Schmalkalden verabschiedete gemeinsame „Antwort" in den nächsten Monaten des Jahres bis zur Eröffnung des Hagenauer Gespräches Ende Juli 1540 erhielt: Im Mai 1540 verfaßte ein Straßburger Ratsausschuß ein Gutachten über das vom Kaiser nach Speyer anberaumte Religionsgespräch. Für dieses Gespräch sollte gelten, daß unter anderem die an Neuenahr gegebene Antwort als Richtschnur bei den Beratungen gelten solle. Die nächste kursächsische Publikation im Zusammenhang des Streites der Schmalkaldener mit Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel, Johann Friedrichs „Anderer Abdruck der wahrhaftigen, beständigen und ergründeten Verantwortungen" vom 19.5.1540 verweist, wenn auch nur kurz und eher beiläufig, auf die in Schmalkalden gegebene Antwort. Auffällig ist hier, daß dabei der Name Granvelles nicht unterdrückt wird.'^® Luther schrieb an seinen Kurfürsten am 10.6.1540, daß die kursächsischen Gesandten zum Religionsgespräch nach Hagenau bei den Beschlüssen bleiben 147 Die Vadianische Briefsammlung der Stadtbibliothek St. Gallen, Bd. V/2, St. Gallen 1903, S.623, Nr. 116. Vgl. ebda, den Brief Zwicks an Vadian vom 19.5.1540, S.706, Nr. 36. 148 Buchwald, S. 197 f., Nr. 624. 149 Polit. Corr. 3, S . 4 8 ^ 9 , Nr. 33, hier S.49. 150 JFvS, „Anderer Abdruck der wahrhaftigen, beständigen und ergründeten Verantwortungen" Bl. V 3b. Vgl. 3.3.2.

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sollten, die zuletzt in Schmalkalden verabschiedet worden s e i e n . D a z u zählt sinngemäß auch die dem Grafen von Neuenahr gegebene „Responsio". Schließlich erhielt der kaiserliche Rat Granvelle, an den die Gesandtschaft Neuenahrs zurückgegangen war, selbst Kenntnis vom erschienenen Druck der „Responsio in causa Religionis ad instructionem Domini Theoderici de Manderschit". Eine Bemerkung des Johann von Naves, Granvelles Sekretär, vom 22.11.1540 - dem Tag der Eröffnung des Wormser Gespräches durch Granvelle - hat der hessische Kanzler Johann Feige an den Landgrafen weitergegeben. Sie zeigt, daß die noch zu referierenden Befürchtungen des Straßburger Juristen Dr. Kopp im Blick auf Granvelle - aus dieser politischen Publikation entstünde viel Unrat und eine Schwächung der protestantischen Position im Religionsgespräch - nicht unbegründet waren, wenngleich jedoch zu pessimistisch eingeschätzt wurden. Sie unterstreicht genau die Wirkung des Originaldrucks der „Responsio in causa Religionis ad instructionem Domini Theoderici de Manderschit" auf Granvelle: „... das [, ] wiewol der Granvel in dem [sehr ungehalten war], das des von Newenar [und?] an sein stat des doctors [Siebert von Löwenburg] handlung zu Schmalkalden gehabt im druck ausgangen und der von Granvil darin vermeldet worden sei, yedoch so mochte er noch leiden, des sich Newenar und Manderschidt in die handlung nachmals Hessen."''^ 3.2.2.3. Die „Antwort zu Schmalkalden an Graf Dietrich von Manderscheid" Mindestens ein weiteres gedrucktes Exemplar der „Responsio in causa Religionis ad instructionem Domini Theoderici de Manderschit" muß vor dem 24.8.1540 bis nach Antwerpen gelangt sein, denn der Straßburger Kopp, der durch die Übersetzung der in Schmalkalden an den Grafen von Neuenahr übergebenen „Responsio" ins Französische persönlich mit dem ursprünglichen Wortlaut befaßt gewesen war'^^, schrieb über einen solchen Druck aus Antwerpen nach Straßburg: „Ich will auch hiemit e. g. nit bergen, das ich die schmalkaldische latinische antwort nach dem original [hervorgehoben durch mich, G. K.] und nit wie sie von dem von der Plawnitz geendert worden, hie zu Antorf im druck gesehen, ist zu besorgen, das, so es dem von Granvella, so do in gemelt wirt, vorkumpt, es werde viel unrats da us endston; wirt sich auch unser sachen nicht jeman[d] bald mer anemen".'''* Es kursierten also unterschiedliche Textfassungen. Öffentlich wirksam wurde neben der lateinischen „Responsio in causa Religionis ad instructionem Domini Theoderici de Manderschit" auch die ebenfalls im Druck veröffentlichte deutsche Variante „Antwort zu Schmalkalden an Graf Dietrich von Mandera i WA.B 9, S. 129-130, Nr. 3492, Ыег S. 130, 9-13. 152 StAM, PA 556, fol. 16, hier zitiert nach: ARCEG Bd. 3, S. 150 Anm. 217. 153 Vgl. S. 184. 154 Polit. Corr. 3, S. 88-89, Nr. 85, hier S. 89.

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scheid". Schon ein oberflächlicher Textvergleich bestätigt die Entdeckung, die u. U. schon Kopp an einem deutschen Druckexemplar gemacht haben kann: Während die Anrede an den Kaiser und die an die beiden Grafen identisch ist bei beiden Fassungen, fehlt der Name Granvelle'^^ ganz in der (sekundär redigierten) „Antwort zu Schmalkalden an Graf Dietrich von Manderscheid". Die vorgenommene Redaktion ist auch durch Auslassungen in der einleitenden Vorrede'^® und gegen Ende der Widerlegung des dritten Vorwurfs^^^ an die Protestanten spürbar. Nach Meinung Kopps hatte Georg von der Planitz, der seit kurzem bestellte Sollicitator der protestantischen Stände am kaiserlichen Hof'^®, den Text der ja mittlerweile öffentlich bekannten „Responsio" verändert. Oder war der Redaktor evtl. Georg Spalatin gewesen?'^^ Wichtiger als die Zuweisung zu einer bestimmten Person am kursächsischen Hof scheint mir im Zusammenhang dieser Untersuchung die Frage zu sein, worin die Gründe für solche Veränderungen liegen. Handelte man etwa am kursächsischen Hof auf Granvelles Veranlassung? Oder etwa auf einen Befehl des sächsischen Kurfürsten und/oder des hessischen Landgrafen? Liegen die Gründe für die Zurückhaltung einer amtlichen Veröffentlichung des ursprünglichen Wortlautes der schmalkaldischen „Responsio" in den sich bald nach Schmalkalden abzeichnenden diplomatischen Verwicklungen des Frühsommers 1540? Melchior Sachse d. Ä. aus Erfurt, der sonst für den Druck kirchenpolitischer Publikationen in der Ära der Religionsgespräche nur an einer entfernteren Stelle eine Rolle gespielt hat, besorgte den Druck.'®'' Der erschlossene Drucker dieser „Antwort zu Schmalkalden" ist also bemerkenswerterweise kein Wittenberger oder Marburger. Der Titel des deutschen Druckes lautet: 155 O. Winckelmann als Hrsg. der Politischen Correspondenz der Stadt Straßburg urteilte: Sie bestanden „in der Fortlassung der Stellen, die sich auf die Person Granvellas bezogen.". Polit. Corr. 3, S. 88-90, Nr. 85, hier S. 89 f. Anm. 2. 156 JFvS/PhvH, „Responsio in causa Religionis ad instructionem Domini Theoderici de Manderschit" Bl. A 2a-A 2b. Der Abschnitt „In primis autem agimus gratiam Illustri domino de Granvall ... Quae gloria magno viro magis expetenda est, quam ut civiles dissensiones sine civili sanguine componat." hat kein Gegenstück in der „Antwort zu Schmalkalden an Graf Dietrich von Manderscheid". 157 JFvS/PhvH, „Responsio in causa Religionis ad instructionem Domini Theoderici de Manderschit" Bl. Clb: Der Abschnitt „Hanc nostram responsionem ... admittere." besitzt kein Gegenstück in der „Antwort zu Schmalkalden an Graf Dietrich von Manderscheid". 158 Vgl. dazu Polit. Corr. 3, S.27-43, Nr.25, hier S.40, vgl. dort auch Anm. 1. 159 Peter, S. 128 Anm. 5 ohne Angabe der Quelle. Die Frage nach den Hintergründen der Redaktion hat die Herausgeber der Texte immer wieder beschäftigt: So urteilte schon Bretschneider über den deutschen Druck .Antwort zu Schmalkalden an Graf Dietrich von Manderscheid" im Anschluß an Seckendorf: „... propterea quod Granvellanus petierat, ut expungerentur omnia, in quibus ipsius mentio facta aut oratio ad caesarem directa fuerat, passim mutata ... prodiit.", vgl. CR 3, 989-1003, Nr. 1948, hier 989, zitiert in: ARCEG Bd. 3, S. 150 Anm. 217. 160 Nämlich im Februar 1539 als Drucker des Werkes von Corvinus, „Bericht, wie sich ein Edelmann halten soll", wo er sich aber - anders als hier - mit Namensangabe identifiziert, vgl. S.56, 334.

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„Des Churfurstenn zu II Sachssen / vnnd Landtgrauen zu II Hessen antwort. So sie von jhrer selbst / vnd jhrer mit / II uerwanten wegen / auff negstem versamblungs II tag zu Schmalkalden / Graff Ditterichen zu II Manderscheid vnd Graff Wilhelmen von II Newnar auff ihr antragen / der Relli / II gion halben gegeben. II Anno domini. II M.D.XXXX. II".'«· Der deutsche Druck ist nun seinerseits - darin liegt ein weiterer Unterschied zu den bekannten lateinischen Ausgaben - auch durch ein kursächsisches und ein hessisches Wappen geschmückt. Dieses muß auf den ersten Blick beim Käufer oder Leser dieser kirchenpolitischen Publikation den irrtümlichen Eindruck erweckt haben, es handele sich hierbei in Gestalt einer „amtlichen Publikation" um die orginalgetreue „Responsio", die im April an den Grafen von Neuenahr übergeben wurde. Der Herstellung dieser deutschen Ausgabe der „Responsio" unter Verzicht auf die Namensnennung Granvelles liegt eine diplomatische Absicht zugrunde, die gerade von der Ursprungssituation des Schmalkaldischen Bundestages ablenkt. Ihr einziger Sinn für die Protestanten bestand m. E. darin, mit der Schlüsselfigur Granvelle einen Förderer der Gesprächspolitik nicht im Vorfeld des erwarteten Gespräches (in Hagenau bzw. Worms) durch unbedachte, in der „Responsio in causa Religionis ad instructionem Domini Theoderici de Manderschit" öffentlich gewordene Appelle, politisch für die Ziele der Protestanten zu veφrellen. 3.2.2.4. Die französische

Übersetzung und

Druckausgabe

Bereits am 15.4.1540 sandte Jakob Sturm von (heute: Bad) Salzungen aus die gegebene „Antwort" in einer „copei" eilends an Johannes Sturm und Jean Calvin nach Straßburg zur Übersetzung ins Französische. Zweck dieser Übertragung war, daß Georg von der Planitz die Schrift in dieser französischen Übersetzung an den kaiserlichen Hof befördern solle, weil Karl V. nur Französisch las. Unabhängig von der Übergabe der lateinischen „Responsio" an Granvelle sollte der Kaiser also auch direkt mit einer französischen Fassung der am 11.4.1540 übergebenen Antwort an Neuenahr konfontiert werden.'®^ Für die Verständigung am Hof war überdies der gut Französische sprechende Straßburger Kopp zur Unterstützung von der Planitz' ab Mitte Mai 1540 mit der Sache befaßt worden.'" Ein Brief Calvins an W. Farei vom 13.5.1540 ist für Rodolphe Peter der eindeutige Beweis, daß allein Calvin für die Übersetzung dieses ursprünglichen von Melanchthon stammenden, von seiner Funktion her aber bundesamtlichen 161 Bibliographischer Hinweis: VD 16: H 2790 = VD 16: S 971. In einem historisch korrekten Sinne ist der Titel „Antwort zu Schmalkalden an Graf Dietrich von Manderscheid" natürlich falsch, handelt es sich hierbei doch - wie gezeigt - um eine erst Wochen nach der Übergabe hergestellte Redaktion der Schrift. 162 Peter, S. 129 Anm. 16, zitiert die entsprechenden Stellen aus Weimarer Archivalien. 163 Polit. Corr. 3, S . 4 3 ^ , Nr. 27, hier S.44 Anm.3.

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Die Publikationen von Febraar bis September 1540

Textes in Frage k o m m e . D i e Calvin zugeschriebene Übersetzung erschien im folgenden Jahr auch in Genf im Druck: „LA RES II PONCE DONNEE II PAR LES PRINCES D'AL II lemaigne & autres conioinctz a- Il uec eux, en matiere de la Religion II Chrestienne: sur l'aduertissement II a eux enuoyé a Smalcalt. Il Translaté de latin en Francoys. Il IMPRIME II a Geneue par Michel du Bois. Il M. D. XLI. II".*^^ Die Herstellung dieser Schrift belegt das anhaltende Interesse an der Position der Schmalkaldener zum kaiserlichen Angebot des Religionsgespräches weit über den deutschsprachigen Raum hinaus. Vermutlich sollten die französischen Protestanten und König Franz I. durch diese Publikation für die Angelegenheit interessiert werden. Unklar ist, ob dieser Druck - aus dem Jahr 1541! - noch vor dem Regensburger Reichstag entstanden und rezipiert worden ist.'^®

3.2.3. Die hinhaltende Antwort auf die Einladung nach Speyer-Hagenau 3.2.3.1. Die erneute Wende in der kaiserlichen

Diplomatie

Der Vorschlag des nichtöffentlichen Gespräches, das die schmalkaldische „Responsio" vom April 1540 abgelehnt hatte, sollte sich alsbald als eine diplomatische Episode herausstellen. Noch bevor die dem Grafen Wilhelm von Neuenahr übergebene „Responsio" den kaiserlichen Hof erreichen konnte, verließ der Kaiser den soeben eingeschlagenen Pfad, mit Hilfe eines nichtöffentlichen Gespräches den kirchlich-theologischen Zwiespalt im Reich beizulegen, wieder. Er schrieb nun am 18.4.1540 aus seiner Geburtsstadt Gent eine Einladung zu einem öffentlichen Gespräch an die protestantischen Stände aus. Dieses solle den religiösen Konflikt nun endgültig beseitigen. Am 6. Juni 1540 solle es in Speyer beginnen, und falls es dort nicht stattfinden könne, werde es an einen anderen Ort verlegt, aber auf keinen Fall aufgeschoben. König Ferdinand werde auch teilnehmen. Die persönliche Teilnahme der angeschriebenen schmalkaldischen Fürsten wurde vom Kaiser mit aller Dringlichkeit angemahnt. Karl V. stellte aber bei seiner Genter Einladung keinen Bezug her auf die Zusage jenes Gespräches, wie es durch den Orator erstmals im April 1539 in Frankfurt angekündigt worden war. Er erklärte in gewohnter Weise ganz allge-

164 Peter, S. 120 Anm. 17. Teile des Textes sind wiedergegeben bei Peter, S. 124-128. 165 16 Bl., 8°. Bibliographischer Hinweis: R. Peter, S. 121-123; die durch ihn nachgewiesenen Exemplare befinden sich in der Bibliotheque Publique et Universitaire de Genève. 166 Eine Zuordnung dieser französischen Ausgabe zu den Publikationen, die im 5. Kapitel dieser Untersuchung Berücksichtigung finden, wäre dann die chronologisch .gichtige" Zuordnung.

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mein die Notwendigkeit zu schleuniger, friedlicher Beilegung und Vergleichung der Religionssachen. ^^^ Der Mißerfolg bisheriger Verhandlungen habe ihn dazu bewogen, allein „aus angeborner Gütigkeit" die Schmalkaldener noch einmal „in unser und des Reichs Stadt Speyer" für den 6.6.1540 einzuladen.'®^ Das kaiserliche Schreiben aus Gent vom 18.4.1540 dürfte an einem der letzten Tage desselben Monats an den Kasseler und den Torgauer Hof gekommen sein. 3.2.3.2. Pläne zu einer „Antwort und Entschuldigung" Wie sollte man jetzt reagieren? Die Straßburger Akten überliefern mehrere Hinweise zur Vorbereitung einer erneuten „Antwort" an den Kaiser: 1. Der Landgraf konzipierte sofort nach dem Erhalt der Einladung nach Speyer eine Antwort an den Kaiser, die er dem Kaiser vorbehaltlich der Zustimmung des Kurfürsten zu geben beabsichtigte. Dieser Antwortentwurf wurde von ihm am 1.5.1540 an den Rat nach Straßburg zur Begutachtung geschickt.'®® 2. In Straßburg wurde über den am 1.5. zugesandten Antwortentwurf des Landgrafen beraten. Einzelheiten dieser Beratungen sind überliefert."" Diese Ergebnisse konnten aber schon allein aus terminlichen Gründen nicht mehr in die am 9.5. fertiggestellte „Antwort und Entschuldigung" an den Kaiser aufgenommen werden, da sie zu spät beim Landgrafen eintrafen, um noch Berücksichtigung finden zu können."' 3. Martin Bucer war in die Beratungen des Straßburger Rates miteinbezogen gewesen und erklärte sich am 11.5.1540 gegenüber dem Landgrafen mit dem Konzept Philipps einverstanden."^ Bucer äußerte dieselbe Zuversicht auf den Nutzen eines Gespräches wie in seinen zeitgenössischen Publikationen."^ Seit dem Augsburger Reichstag von 1530 habe es keine bessere Gelegenheit zu Verhandlungen gegeben. Wichtig für Bucer war weiter, daß der Landgraf nicht von den in Frankfurt 1539 versprochenen Bedingungen für eine solche Tagung abweiche. Der sächsische Kurfürst und der hessische Landgraf als die vornehmsten politischen Repräsentanten der Evangelischen müßten auch beide zum Religionsgespräch in Speyer persönlich erscheinen, damit nicht der Vorwurf entstehe, sie entzögen sich dem Gespräch. Die jetzt dem Kaiser zu gebende

167 Karl V./JFvS/PhvH, .Ausschreiben des Kaisers auf den Tag von Hagenau" Bl. A 2a. 168 Karl V./JFvS/PhvH, .Ausschreiben des Kaisers auf den Tag von Hagenau" Bl. A 2b. Neuser, Religionsgespräche, S. 86-96, bietet den Text der Einladung des Kaisers sowie der „Antwort und Entschuldigung" nach einer Abschrift aus dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien. 169 Polit. Con·. 3, S. 45, Nr. 30. по Sie fanden am 10.5.1540 statt. Polit. Corr. 3, S . 4 8 ^ 9 , Nr. 33; vgl. auch Lenz I, S. 168-170, Nr. 63, hier S.168f. Anm.2. 171 Der Landgraf an den Straßburger Rat am 17.5.1540, Polit. Corr. 3, S. 52-53, Nr. 39. 172 Lenz I, S. 168-170, Nr. 63, hier S. 169. 173 Vgl. 1.4.; З.1.; 3.4., besonders S.209-214.

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Die Publikationen von Februar bis September 1540

Antwort müsse bezüglich seiner Einladung zum Gespräch auf jeden Fall opportun sein. 4. In der Zwischenzeit war Melanchthon am 5.5.1540 vom Kurfürsten in der gleichen Angelegenheit aufgefordert worden, an den Torgauer Hof zu kommen, worüber er am 11.5.1540 an Veit Dietrich berichtete: „Erant enim allatae subito [sie!] praeter omnium opinionem atque exspectationem [hervorgehoben durch mich, G. K.] literae Caroli Imp.[eratoris] de Conventu Spirensi, in quo vult agi de conciliandis Ecclesiis ... Diese Äußerung Melanchthons, der ja detailliert mit den kirchenpolitischen Verwicklungen befaßt worden war, zeigt an, welche Verwirrung diese neue Initiative des Kaisers bei den Protestanten stiftete. Melanchthon verfaßte daraufhin in Torgau am 6./7.5.1540 im Auftrag des Kurfürsten einen Entwurf für eine Antwort an den Kaiser."^ 5. Dieser Entwurf bildet aber ganz offensichtlich nicht, wie man aufgrund der Textgeschichte der im April ergangenen „Responsio" vermuten könnte, die Grundlage der dann mit dem Datum des 9.5.1540 unterzeichneten gemeinsamen diplomatischen Reaktion von Kurfürst und Landgraf."^ Maßgeblich scheint m. E. der von Ende April stammende hessische Entwurf zur „Antwort und Entschuldigung" gewesen zu sein. Über letzteren berichtete der Landgraf rückblickend am 13.5.1540 nach Straßburg, daß sein Entwurf ja nur in einzelnen Punkten vom sächsischen Kurfürsten geändert worden sei, bevor die gemeinsame Antwort an den Kaiser am 9.5. abgeschickt wurde. Worin im Einzelnen die Änderungen vorgenommen worden seien, gehe aus beigefügten Kopien hervor. In ihrer an den Kaiser abgegangenen „Antwort und Entschuldigung" bekräftigen Kurfürst und Landgraf grundsätzlich ihre Bereitschaft, zur Vergleichung auf der Grundlage der Heiligen Schrift und „bestendiger / Christlicher Apostolischer le[h]re"."^ Dem Vorschlag des Kaisers setzen die Protestanten aber entgegen, daß der vorhandene Zwiespalt „in einem freyen / gemeinen / Christlichem Concilio oder versamlung in Teutsche[r] Nation ... durch vil und mancherley Disputation und erforschung der Schrifft und bewerter Apostolisch le[h]r[e] / hingelegt werden mag.""' Sie berufen sich auf die in Frankfurt 1539 gemachte Zusage zu einem „freundlichen christlichen Gespräch". Die Komplexität und der Stellenwert der Sache mache aber seitens der Protestanten eine längere Vorbereitungszeit erforderlich. Der vom Kaiser festgesetzte Termin 6.6.1540 sei dafür zu kurzfristig. 174 CR 3, 1027-1028, Nr. 1961, hier 1027; vgl. MBW 3, Nr. 2428. 175 CR 3, 1022-1026, Nr. 1959; vgl. MBW 3, Nr. 2425. 176 Scheible meint aufgrund einer Aktennotiz, daß der von Melanchthon angefertigte Entwurf dem offiziellen Schreiben von Kurfürst und Landgraf allenfalls beigelegt worden sei. Vgl. dazu MBW 3 , S . 56 zu Nr. 2425. 177 Polit. Corr. 3, S. 50-51, Nr. 35, hier S.50; vgl. bes. ebda. Anm.3. 178 Karl V./JFvS/PhvH, „Ausschreiben des Kaisers auf den Tag von Hagenau" Bl. A 4b. 179 Karl V./JFvS/PhvH, ,Ausschreiben des Kaisers auf den Tag von Hagenau" Bl. В la.

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Die beiden führenden Schmalkaldener unterstrichen mit ihrer „Antwort und Entschuldigung" vom 9.5.1540, was sie bereits mit ihrer „Responsio" vom April an den Grafen von Neuenahr, den Kaiser und durch ihre Publikationen auch der kirchenpolitischen Öffentlichkeit mitgeteilt hatten: die Erwartung eines öffentlichen Gespräches, bei dem nicht nur die politischen Vertreter der evangelisch gewordenen Reichsstände, sondern auch „Göttliche geschrifft / verstendige / schidliche Lerer und Theologen von nóten [sind] / und one die selben von der Religion vergleichung / fruchtbars nichts gehandelt werden [könne]". So beziehen sich folgerichtig die schmalkaldischen Fürsten auch im Text ihrer „Antwort und Entschuldigung" auf ihre bereits im April gegebene „Responsio". Die „Antwort und Entschuldigung" unterstreicht dem Kaiser gegenüber noch einmal direkt und öffentlich, was ursprünglich gegenüber dem Grafen von Neuenahr ausgesprochen worden war. Die Absender fügen für den Fall, daß der Kaiser ihre Schrift noch nicht zur Kenntnis genommen habe, vorsichtshalber noch ein Exemplar ihrer „Responsio" bei.'®' 3.2.3.3. Drucke und Verbreitung Ganz offensichtlich bestand Interesse, das nach Speyer einladende „Ausschreiben" des Kaisers und die „Antwort und Entschuldigung" der beiden Schmalkaldener zusammen in einer Publikation der kirchenpolitischen Öffentlichkeit vorzulegen. Damit konnte nicht nur verdeutlicht werden, daß die Schmalkaldener an dem in Frankfurt 1539 eingeschlagenen und in Schmalkalden bekräftigten Weg zu einem Religionsgespräch nach wie vor festhielten, sondern auch, daß der Kaiser diesen Weg - allen Verwicklungen und geheimen Missionen entgegen - auch weiterhin verfolge. Dieses öffentliche Interesse dürfte im unmittelbaren Zusammenhang mit dem nach Speyer einberufenen, schließlich am 12.6.1540 in der Reichsstadt Hagenau im Elsaß eröffneten Religionsgespräches stehen. Alle bekannten Drucke der entsprechenden Publikation setzen voraus, daß für nach Speyer ausgeschriebene Tag in die kleine, aber geistig als rege geltende Stadt nördlich von Straßburg verlegt worden ist. (Diese Verlegung wurde wegen einer ausgebrochenen Pest angeordnet. Dem Rat von Hagenau dürfte diese Verlegung am 13.5.1540 oder nur unwesentlich früher mitgeteilt worden sein, denn er teilte diese Verlegung „in eil" am 13.5.1540 ins benachbarte Straßburg mit.'®^) Der 13.5.1540 ist der terminus a quo der Drucklegung für alle Drucke dieser Schrift, die gemäß ihres Titels den eingetretenen Umstand dieses Ortswechsels als bekannt voraussetzt. Vier verschiedene Drucke dieser kleinen Schrift sind bekannt. Alle vier Drucker und die Herkunftsorte der Drucke konnten (nur) aufgrund des typographischen Befundes erschlossen werden. In der zweiten 180 Karl V./JFvS/PhvH, .Ausschreiben des Kaisers auf den Tag von Hagenau" Bl. В За. 181 Karl V./JFvS/PhvH, .Ausschreiben des Kaisers auf den Tag von Hagenau" Bl. В Ib. 182 Polit. Corr. 3, S.51, Nr. 36.

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Die Publikationen von Febraar bis September 1540

Maihälfte, spätestens aber im Juni 1540 dürften die drei (oder vier) Drucker mit ihrer Arbeit befaßt gewesen sein. Es ist hier nicht auszumachen, bei welchem es sich um den Erstdruck handelt. Es ist auch möglich, daß keine direkten Abhängigkeiten zwischen den Drucken vorliegen. Die Gestaltung der Drucke unterscheidet sich vor allem durch die beigefügten bzw. fehlenden Holzschnitte auf dem Titelblatt und durch eine (nicht) vorhandene Zäsur zwischen dem kaiserlichen Ausschreiben und der schmalkaldischen Antwort. 1. Der wahrscheinlich beim kaiserlichen Hofdrucker Ivo Schöffer in Mainz hergestellte Drack'®^ zeigt als Titelholzschnitt lediglich als Symbol der kaiserlichen Macht den kaiserlichen Doppeladler und das seit seiner Wahl 1519 etablierte und an die Heraklestradition anknüpfende politisch-persönliche Motto „PLVS VLTRE". 2. Ein offensichtlich in einer Nürnberger Werkstatt hergestellte Druck entspricht diesem ersten fast vollständig. 3. Vom Typ her von den beiden abzusetzen ist ein vermutlich in einer Wittenberger Druckerei hergestellter Druck'^^, der auf dem Titelblatt drei optisch gleichberechtigte Größen zeigt: den kaiserlichen Doppeladler mit Krone und darunter je ein kursächsisches und ein hessisches Wappen (wie bei anderen amtlichen und „offiziösen" Publikationen des untersuchten Zeitraumes). 4. Ein wahrscheinlich in Magdeburg hergestellter Druck bietet auf seinem Titelblatt eine „neutrale" Gestaltung. Sieht man von einem Zierstück auf dem Titelblatt ab, ist kein weiterer Schmuck, Herrschaftszeichen oder anderes Signal für den Käufer oder Leser gegeben, daß es sich hier um eine amtliche politische Publikation handele. Melanchthons Brief vom 25.5.1540 an Veit Dietrich dürfte sich m.E. auf die gegebene offizielle „Antwort und Entschuldigung" beziehen. Es ist durchaus denkbar, daß er dabei schon ein (gerade in Wittenberg?) gedrucktes Exemplar vorliegen hatte: „Legisti nostram responsionem, quae cum sit ingenua et simplex, tarnen aequas conditiones [d.h. wie in der ,Responsio' aus Schmalkalden formulierte, G. K.] proponit... 183 Bibliographischer Hinweis: VD 16: D 868 = VD 16: H 2798 = VD 16: S 978. Vgl. Abbildung 3, S.324. 184 Bibliographischer Hinweis: VD 16: D 869 = VD 16: H 2799 = VD 16: S 979; Benz, Rott. Nr. 32. 185 Bibliographischer Hinweis: VD 16: D 866 = VD 16: H 2796 = VD 16: S 976. Vgl. Abbildung 4, S.325. 186 Bibliographischer Hinweis: VD 16: D 867 = VD 16: H 2797 = VD 16: S 977. 187 CR 3, 1032-1034, Nr. 1969, hier 1034; vgl. MBW 3, Nr.2439. M.E. ist H. Scheible, ebda. 5, 61, irrtümlicherweise der Auffassung, es handele sich bei der „nostra responsio" um die ,Деsponsio in causa Religionis ad instructionem Domini Theoderici de Manderschit" vom April 1540. Diese schickte aber Melanchthon bereits am 11.5.1540 an Veit Dietrich, vgl. CR 3, 1027-1028, Nr. 1961; vgl. MBW 3, Nr. 2428.

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Das Vorhandensein von gedruckten Exemplaren vom „Ausschreiben des Kaisers auf den Tag von Hagenau" belegt der Brief Simon Wildes in Wittenberg am 26.6.1540 an Stephan Roth in Zwickau. Es handelt sich dabei sehr w^ahrscheinlich um Exemplare des in einer Wittenberger Druckerei hergestellten Druckes. Bemerkenswerterweise ist es für Wilde selbstverständlich, daß hiermit die „Antwort und Entschuldigung" seines Landesherrn („eius") gemeint ist. Die Nachfrage nach Drucken scheint die in Wittenberg vorhandene Anzahl von Exemplaren deutlich überschritten zu haben, was auch der nächste Brief Wildes an Stephan Roth vom 19.7.1540, zu einem Zeitpunkt, als in Hagenau noch über die Verfahrensfragen für das Religionsgespräch vorverhandelt wurde, dokumentiert. Obwohl mit dem Ende des Konventes am 28.7.1540 das primäre kirchenpolitische und auch öffentliche Interesse an solchen Drucken für die Hagenauer Situation im engeren Sinne „erledigt" war, spielte noch am 30.9.1540 ein Exemplar vom „Ausschreiben des Kaisers auf den Tag von Hagenau" eine gewisse Rolle: Der stetig an neuen kirchenpolitischen Publikationen sehr interessierte Joseph Levin Metzsch, Herr auf Mylau, hatte ein Exemplar (oder auch mehrere?) von Stephan Roth zugeschickt bekommen. Nun fragte er bei Roth nach, was er dafür zu bezahlen habe.'^" 3.2.3.4.

Nachwirkungen

Karl V. sah seinerseits freilich (zu Recht!) in der schmalkaldischen „Antwort und Entschuldigung" kein deutliches Signal, daß die Fürsten persönlich bei dem angekündigten Tag erscheinen würden. Sein unmittelbar nach ihrem Erhalt an seinen Bruder abgegangener Brief vom 22.5.1540 bestätigt das.^'^ Die beiden Bundeshauptleute des Schmalkaldischen Bundes als vornehmste Repräsentanten der evangelischen Seite erschienen trotz des Drängens des Kaisers, wie sie gerade in seiner Genter Einladung zum Ausdruck gebracht war, nicht in Hagenau. Die Fortsetzung der sich unmittelbar anschließenden Korrespondenz zwischen ihnen und dem Kaiser in der gleichen Angelegenheit, beginnend mit einem Schreiben des Kaisers vom 22.5.1540, in dem er noch einmal auf der persönlichen Teilnahme der Führer der Protestanten insistierte, wurde aber nicht (mehr) in gedruckter Form der breiten Öffentlichkeit mitgeteilt.

188 „Caesaris scriptum ad Principem ac eius responsum impressum quidam hic est, sed modo tot exemplaria quot principi opus fuerant nec amplius habetur." So mit Buchwald, S. 198, Nr. 626. 189 Buchwald, S. 198, Nr. 627. 190 Buchwald, S. 199, Nr. 630. 191 ARCEG Bd.3, S. 119-121, Nr.71. 192 Lenz I, S. 168-170, Nr. 63, hier S. 169 Anm. 2. Der Brief Karls V. an seinen Bruder Ferdinand vom 22.5.1540 aus Antwerpen bewertet die Antwort vom 9.5.1540. Er wurde von G. Pfeilschifter aufgenommen in ARCEG Bd.3, S. 119-121, Nr.71.

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Die Publikationen von Febraar bis September 1540

3.3. Die hessische und die sächsische Reaktion auf die braunschweigisch-wolfenbüttelsche Publizistik im April/Mai 1540 Genau zur gleichen Zeit, als die beiden offiziellen „Antworten" der beiden Schmalkaldener auf die Gesprächsinitiative des Kaisers im April/Mai 1540 erfolgten, trat der Konflikt zwischen ihnen und Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel in eine neue Phase ein. Im Jahr 1539 hatten Kurfürst und Landgraf noch gemeinschaftlich auf Herzog Heinrichs Angriffe geantwortet, zuletzt auch mit gemeinsam verantworteten Druckschriften, was bereits die Wappen der Titelblätter anzeigten. ^^^ Aber jetzt traten ihre Repliken - zumindest drucktechnisch und auch sub specie recipientis - auseinander. Die zeitlich frühere und bedeutendere der beiden Schriften ist die in mehreren Ausgaben erschienene landgräfliche „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" vom 12.4.1540. In seinem Werk nimmt der Landgraf Bezug auf das noch nicht erschienene parallele Werk des Kurfürsten, das unter dem Titel „Anderer Abdruck der wahrhaftigen, beständigen und ergründeten Verantwortungen" - datiert am 19.5.1540 - auch bald gedruckt sein wird.'^'* Auch umgekehrt wurde der Bezug auf Philipps, jetziges Ausschreiben" hergestellt. Die separate Herausgabe ihrer beiden Anti-Heinrich-Schriften begründete Landgraf Philipp mit ihrem gestiegenen Umfang. Er allein mache diese Trennung erforderlich, damit dem Leser die Lektüre einer zu umfangreichen Schrift nicht zu verdrießlich würde.Vielleicht steht hinter dem Ergebnis jetzt getrennt erscheinender Schriften auch die schmerzvolle Erfahrung, wie mühevoll das Anfertigen einer gemeinsamen „Antwort" der beiden Fürsten sein konnt e . U m rasch auf Heinrichs publizistischen Angriff reagieren könen, war die je für sich erfolgende „Antwort" im Blick auf die Öffentlichkeit sicherlich auch der flexiblere Weg.

3.3.1. Philipps von Hessen „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" vom 12.4.1540 Diese Schrift versteht sich als explizite Gegenschrift auf Heinrichs „Andere Antwort auf das falsche Libell" vom 24.11.1539, die Anfang 1540 in Wolfen193 Vgl. 2.1., bes. 2.1.5. und 2.1.6. i«-· PhvH, „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" Bl. LXXIIIb. 195 JFvS, „Anderer Abdruck der wahrhaftigen, beständigen und ergründeten Verantwortungen" Bl. К Ib. 196 PhvH, „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" Bl. Illa (Vorrede). 197 Vgl. 1.1.2.; 2.1.1. und 2.1.4.

Hessische und sächsische Reaktionen (April/Mai 1540)

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büttel im Druck erschienen war.'®® Die Arbeit an ihr dürfte wohl bald nach dem Bekanntwerden der „Anderen Antwort auf das falsche Libell" am Hof in Kassel, was vor dem 26.2.1540 zu datieren ist, begonnen haben. Im Verlaufe des Monats März dürfte die Ausarbeitung des Textes erfolgt sein, der nach eigener Auskunft am 12.4.1540 unter dem Titel „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" fertig vorlag. Die Erstellung einer Gegenschrift des Landgrafen gegen den publizistischen Angriff Heinrichs ist offensichtlich von den politischen Gefolgsleuten und Vertrauten des Landgrafen schon erwartet worden. Das Beispiel des Augsburger Arztes Dr. Gereon Sailer, eines engen Vertrauten des Landgrafen, belegt diese Erwartung.^"" Seine Schrift „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" versteht der Landgraf als „Sendbrief'. Da ein literarisches Merkmal des „Sendbriefs" seine Kürze sei, entschuldigt er sich für die den Leser vielleicht doch nicht völlig zufriedenstellende Knappheit seiner Darlegungen.^"' Dennoch ist der Umfang des Drucks der „Wahrhaftigen Verantwortung" mit 135 Blatt im 4°-Format gegenüber dem - noch die Verteidigung von Kurfürst und Landgraf gemeinsam enthaltenden - „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" vom 14.9.1539 (mit 58 Blatt im selben Format) mehr als doppelt so groß. Die Schrift ist im Druck sogar noch etwas umfangreicher als Heinrichs „Andere Antwort auf das falsche Libell" (115 Bl., 4°-Format). In dieser Publikation wird in der Regel mit „Anfahend . . . " auf eine Passage der vorausgegangenen Schrift Heinrichs Bezug genommen. Die Reihenfolge ihrer Themen entspricht weitestgehend der Reihenfolge der Themen der Vorlage. Lediglich an zwei Stellen wird dieses Gliederungsprinzip durch längere Ausführungen unterbrochen, die nicht durch Heinrichs Schrift vorgegeben waren. Ein längerer Einschub dient einer Erwiderung auf das anonyme „Gespräch eines Hofrats" von Konrad Braun.^®^ Der andere Einschub widmet sich den einige Jahre zurückliegenden Verwicklungen Heinrichs mit Philipp im Zusammenhang der Restitution Herzog Ulrichs von Württemberg in sein Land (1534). An einer Stelle diskutiert Philipp das Problem einer korrekten Wiedergabe eines Zitats aus Heinrichs Schrift. Der Weife hatte wohl aus der hessischen Publikation „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" sinnentstellend zitiert, was in diesem Fall nicht auf einen Druckfehler zurückgeführt werden könne. „Entweder die Copey ist unrecht / oder der Hertzog legts feischlich aus ... 198 Vgl. 2.5.3. 199 Der Schlußvermerk von PhvH, „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" enthält auf Bl. CXXVa die Angabe: ,X)atum Cassel / Montags nach Misericordias Domini." Das ist der 12.4.1540. 200 Vgl. unten in der Liste der Adressaten S.201. 201 PhvH, „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" Bl. XXXIXa. 202 PhvH, „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" Bl. La-LVIIb. Vgl. dazu 2.4. 203 PhvH, „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" Bl. LXXXIIIa.

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Die Publikationen von Febraar bis September 1540

Als biblisches Motto für die hessische Schrift ist Ps 109, 1-8 gewählt worden, wo der bedrängte Fromme um die Vernichtung seiner gottlosen Feinde bittet.^''^ Nach einer einleitenden Vorrede^®', die die Notwendigkeit dieser gedruckten Replik herausstellt, folgt der Kerntext der „Wahrhaftigen VerantworIn ihn sind drei Dokumente integriert: 1. Ein Brief von Joachim von Maltzan an Landgraf Philipp, „Datum Donnerstag nach Matthie Apostoli zû Pentzelin. 1540."^°'' 2. Die „erste Verschreibung" Heinrichs gegenüber Philipp vom 3.4.1530, wo er verspricht, mit Philipp gemeinsam König Ferdinand das Herzogtum Württemberg „abzudringen".^"^ 3. Die „zweite Verschreibung" Heinrichs vom 28.7.1530, wo er verspricht, Philipp militärisch bei der Restitution des Herzogtum Württemberg zu unterstützen.^®^ Als Anhang der Schrift Philipps erscheinen „Die Goslarischen Purgation Articul Widder Hertzoge Heinrichen."^'® Dadurch wird die literarisch-politische Brücke geschlagen zur Schrift ,2itation und Vorbescheid wider Heinrich von Braunschweig", die die Stadt Goslar etwa ein halbes Jahr zuvor Ende 1539 bei Georg Rhau im Druck veröffentlicht hatte. Offensichtlich wurde der zweite Teil^" der Goslarer Publikation im April 1540 im Vorfeld des Hagenauer Konventes noch als so aktuell angesehen, daß er es in Philipps Augen wert war, nochmals gedruckt zu werden. Dem Anliegen Goslars, daß nämlich Heinrich als Rechtsbrecher überführt werde, sollte damit noch einmal öffentlich Nachdruck verliehen werden. Zugleich war beabsichtigt, die Reputation Heinrichs von Braunschweig-Wolfenbüttel über die hessischen Angelegenheiten hinaus 204 PhvH, „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" Bl. Ib. Der hessische Landgraf zitiert die Psalmverse bewerkenswerterweise nicht nach der Übersetzung Luthers, sondern die bei dem Züricher Drucker Christoffel Froschauer 1531 erschienene Bibelübersetzung. Dieses Motto findet sich auch in beiden nächsten Schriften Philipps gegen Herzog Heinrich aus den Jahren 1541 und 1542, „Dritte wahrhaftige Verantwortung gegen Heinrich von Braunschweig" und „Vierte wahrhaftige Verantwortung". Vgl. S. 276. 205 PhvH, „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" Bl. Ila-IIIb. 206 PhvH, „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" Bl. Illb-CXXVb. 207 PhvH, „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" Bl. XLVa-XLVIb. Laut Grotefend ist das der 25.2.1540. Der zweite mögliche Matthiastag - der 21.9. - kommt nicht in Frage, da Maltzan, ein Vertrauter und Gesandter Joachims IL von Brandenburg, den gerade empfangenen Druck von Heinrichs .Anderer Antwort" dem Landgrafen mitteilen will. Vgl. oben S. 152. 208 PhvH, „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" Bl. XCIIIb-XCVIIIa. 209 PhvH, „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" Bl. Ca-CIb. 210 PhvH, „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" Bl. CXXVIaCXXXXVa. 211 Es entsprechen sich „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" Bl. CXXVIa - vermehrt um eine Überschrift - bis Bl. CXXXVa und .Citation und Vorbescheid wider Heinrich von Braunschweig" Bl. В l a - D 4b.

Hessische und sächsische Reaktionen (April/Mai 1540)

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in einem umfassenden Sinne vor der kirchenpolitischen Öffentlichkeit zu demontieren. 3.3.1.1. Deutsche und lateinische Ausgaben in Marburg Zwei von den insgesamt drei bibliographisch nachweisbaren deutschsprachigen Drucken von „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" sind „im Meyen" 1540 in der Werkstatt von Christian Egenolff in Marburg hergestellt worden. Dabei handelt es sich um den Erstdruck mit einer Corrigenda-Liste am Ende^'^ und einen zweiten Druck, wo die gefundenen Fehler im Text korrigiert sind.^'^ Separat von ihnen ist ein Wittenberger Druck zu betrachten.^·'' Ebenfalls in Marburg hergestellt wurde die lateinische Ausgabe „Apologia, latinitate donata".^'' Bemerkenswert ist die Tatsache der Herstellung einer gedruckten lateinischen Schrift des Landgrafen schon deshalb, weil die bisherigen Schriften des ursprünglich territorial bedingten Konfliktes der Schmalkaldener mit Herzog Heinrich nicht in lateinischer Sprache publiziert wurden. Es zeigt sich durch die vorgenommene Übersetzung und ihren Druck ein zunehmendes Interesse der hessischen Politik an einer möglichst weite Kreise erreichenden Verteidigung des Landgrafen in dieser Angelegenheit. Die Liste derer, die die Schrift durch Boten bekommen sollten, bestätigt dieses Interesse ausdrücklich. Der innere Grund für die damit verbundenen Bemühungen ist die Hoffnung, der Wahrheit über Herzog Heinrich überall ans Licht zu verhelfen. Wer aber übersetzte die „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" ins Lateinische? Die vorhandenen Hinweise sprechen dafür, daß Antonius Corvinus daran Anteil hatte. 1. Der hessische Kanzler Feige hatte am 18.3.1540 aus Kassel an den Landgrafen geschrieben, daß er für die Übersetzung einer nicht näher bezeichneten Schrift vor anderen möglichen Übersetzern den Witzenhäuser Pfarrer Corvinus empfehle.^·® Es ist dabei durchaus denkbar, daß es sich dabei um Bucers „Von Kirchengütern" gehandelt hat. Um deren Übersetzung hatte Bucer am 17.3. (also am Tag zuvor!^") den Landgrafen brieflich von Schmalkalden aus gebeten. Diese Übersetzung kam aber nicht zustande.^'^ Andererseits besteht aber 212 Bibliographischer Hinweis: VD 16: H 2906; ν. Dommer Nr. 124. Nach diesem Druck, bei dem es sich offensichtlich um den Erstdruck handelt, wird hier in dieser Untersuchung zitiert. Die Corrigenda befinden sich auf Bl. CXXXV b. Vgl. Abbildung 6, S. 327. 213 Bibliographischer Hinweis: VD 16: Η 2907; ν. Dommer Nr. 125. 214 Vgl. S.203f. 215 Bibliographischer Hinweis: VD 16: Η 2909; ν. Dommer Nr. 126. 216 StAM, PA 532, fol. 13r. 217 Daß Feige am 18.3. die pseudonyme Bucerschrift gemeint hat, ist aber dann wiederum sehr unwahrscheinlich, wenn man annimmt, Bucer habe eine solche Übersetzung erstmals am 17.3. in Schmalkalden erwogen. Sollte der Bote binnen eines Tages in Kassel gewesen sein? 218 Vgl. S.169f.

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Die Publikationen von Februar bis September 1540

auch die Möglichkeit, daß Feige an die erste hessische Publikation „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" dachte, die er für wert halten konnte, daß sie etwa weil sie die Dokumente vollständig enthielt, die die Streitursache beschrieben - nun auch in lateinischer Sprache bekannt gemacht werde, nachdem Heinrichs „Andere Antwort" den Konflikt im Februar 1540 weiter angeheizt hatte. Drittens ist es ebenso möglich, daß es sich schon um den Plan handelte, die jetzt neue landgräfliche Verteidigungsschrift zeitgleich zu ihrer deutschen Version auch sofort in lateinischer Sprache zu veröffentlichen, wobei ein möglicher Übersetzer rechtzeitig zur Arbeit verpflichtet werden mußte. 2. Am 3 0 . 5 . 1 5 4 0 schrieb Corvinus aus Marburg an Justus Jonas in Wittenberg über seine Übersetzertätigkeit: „Principis nostri adversus Mezentium Brunsvigianum Apologiam a me utramque versam brevi videbis, faxit Deus, ut ubique triumphet Veritas."^'' Corvinus' Auftragsarbeit umfaßte demnach zwei Apologien des Landgrafen, die er Ende Mai Jonas noch nicht zeigen konnte. Dabei dürfte es mit großer Wahrscheinlichkeit um die dann in Marburg unter dem Titel „Apologia, latinitate donata" erschienene Übersetzung der deutschen „Wahrhaftigen Verantwortung" vom 1 2 . 4 . 1 5 4 0 gehandelt haben. Sie dürfte demzufolge frühestens im Juni 1540 in Marburg gedruckt worden sein. Welches aber war daneben die zweite Apologie, die Corvinus übersetzte? Ich halte es für durchaus möglich, daß Corvinus an der Übersetzung der ersten Apologie Philipps gegen Heinrich arbeitete, d. h. an dem in deutscher Sprache als „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" vom 14.9.1539^^° bekannten Marburger Druck. Ein solcher lateinischer „Bericht" ist aber bibliographisch an keiner Stelle nachgewiesen. Mangels weiterer Belege muß die Frage, auf welche Schrift sich Corvinus' zweite Übersetzertätigkeit bezog, hier auf sich beruhen.221 Die im Druck veröffentlichte „Apologia, latinitate donata" des hessichen Landgrafen weist einige wenige Erweiterungen bzw. Veränderungen gegenüber der deutschen Ausgabe auf.^^^ Bei den Mottos finden sich zusätzlich das Spruchband „VERBUM DOMINI MANET IN AETERNUM." und das Zitat aus Prv 26,5: „Responde stulto secundum stultitiam suam, ne videatur sibi

219 JJBW 1, S. 392, Nr.496; auch Corvinus-BW, S. 80, Nr. 100. 220 Vgl. 2.1.6. 221 Tschackert, Corvinus, S.204 Anm.3, irrte, als er in der zweiten Apologie die Übersetzung der „Dritten wahrhaftigen Verantwortung" des Landgrafen vom 12.3.1541 sah. Einerseits sprechen chronologische Erwägungen dagegegen: Es sollte noch ein dreiviertel Jahr vergehen bis zur Notwendigkeit einer Übersetzung einer neuen Apologie Philipps gegen Heinrich. Andererseits ist für die „Tertia adversus Ducis Henrici scriptum responsio" ein anderer Übersetzer anzuehmen, vgl. S.278f. 222 Verzichtet wird auf einen ausführlichen Vergleich der Texte. Er erweist sich wie beim Vergleich zwischen dem „Ausschreiben an alle Stände" und seiner lateinischen Fassung ,Д)е iniustibus processibus protestatio" - vgl. 1.1. - für den Gesamtzusammenhang dieser Untersuchung als sachlich unergiebig. Anders ist der Befund bei den verschiedenen Versionen der nahezu zeitgleichen schmalkaldischen ,Дesρonsio" vom April 1540, vgl. 3.2.2.

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sapiens." (Antworte dem Toren gemäß seiner Torheit, damit er sich nicht weise dünke.).223

3.3.1.2. Die Kritik an Brauns „Gespräch

eines Hof rats"

Ein zweiter inhaltlicher Schweφunkt neben der Zurückweisung der von Herzog Heinrich in seiner „Anderen Antwort auf das falsche Libell" erhobenen Vorwürfe ist Philipps Entgegnung auf den „Dialog", die anonyme Gesprächsschrift „Ein Gespräch eines Hofrats" des Juristen am Reichskammergericht Konrad Braun. M.B. Rößner nennt die „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" Philipps deshalb „geradezu eine Gegenschrift" gegen die anonyme Schrift Brauns.^^'* Diesem Urteil kann ich nur bedingt zustimmen. Die offizielle hessische Publikation „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" verstand sich selber nicht als eine Entgegnung auf einen Unbekannten, sondern erwartete noch eine weitere „Antwort" auf den „Dialog" aus anderer Feder.^^^ Philipps hier an Braun geäußerte Kritik richtet sich zum einen gegen gewisse inhaltliche Positionen des „Dialogs" wie auch gegen dessen unkritische Rezeption in Heinrichs „Anderer Antwort". Philipp fordert Heinrich auf, ihm den Autor (oder die Autoren) des „Gesprächs eines Hofrats" zu nennen.^^® Die Urheberschaft des „Dialogs" wird aufgrund der bewiesenen Sachkenntnis von Philipp zu Recht in Kreisen des Kammergerichtes vermutet.^^' Der „Dialog" wird aber nicht dem ganzen Gericht zugeschrieben, welches als Institution des gesamten Reiches hoffentlich dem „Gespräch eines Hofrats" keinerlei Beifall zollen werde.^^®

223 PhvH, .Apologia, latinitate donata" Bl. A la. Alle Egenolff-Dracke des ,Ausschreibens an alle Stände" sowie der erste hessische Druck gegen Heinrich, „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht", besitzen entweder in lateinischer oder in deutscher Sprache das populäre biblisch-politische Motto der Protestanten. Prv 26, 5 ist auch ein Motto bei der parallelen kursächsischen Schrift JFvS, .Anderer Abdruck der wahrhaftigen, beständigen und ergründeten Verantwortungen" Bl. A Ib. 224 Rößner, S. 65 Anm. 14. 225 PhvH, „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" Bl. LXXVII b. Wenngleich dem Landgrafen Mitte März 1540 Bucers Schrift „Von Kirchengütem" mit ihrem ausführlichen „Vorgespräch" gegen Braun zugegangen war, erfolgte doch in dieser landgräflichen „Verantwortung" kein expliziter literarischer Bezug auf die Gesprächsschriften des ,Conrad Treu zu Fridesleben'. Erst in seiner Schrift „Vierte wahrhaftige Verantwortung" gegen den Weifenherzog aus dem Jahre 1542 hob Philipp auf Bucers pseudonymes Werk „Von Kirchengütem" ab. 226 PhvH, „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" Bl. CXIIIIa. 227 Zum Brief Bucers an den Landgrafen vom 14.1.1540 vgl. Lenz I, S. 125-130, hier S. 126 und S. 128 f. Bucer hatte Braun als Autor schon entschlüsselt. Landgraf Philipp machte dagegen in seiner Publikation von dieser Kenntnis keinen Gebrauch. 228 PhvH, „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" Bl. LITI a; Bl. LXXVIIb; vgl. femer Bl. XXXIXa.

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Die inhaltliche Kritik am Werk Brauns bezieht sich vor allem auf zwei Punkte, nämlich die Inteφretation des Nürnberger Anstandes und den Prozeß des Reichskammergerichtes gegen die evangelische Stadt Minden. Beide Themen seien von dem Anonymus in ihrer theologisch-kirchlichen Dimension nicht richtig eingeschätzt worden. 1. Der Nürnberger Frieden betreffe „unser aller Seelen heyl". Braun habe nicht bedacht, daß die protestantische Seite sich des göttlichen Wortes, der Reinheit und Wahrheit des Evangeliums erfreue, öffentlich rühme und zu antworten sich erbiete. Er habe auch nicht bedacht, daß in der christlich-kirchlichen Praxis viele Mißbräuche eingerissen seien und daß die (dem Wort Gottes zu entnehmende) apostolische Lehre mit der Lehre der Kirchenväter nicht gleichförmig sei, wie für alle Welt offenbar ist.^^' Als Grundsatz wird durch Philipp von den Protestanten geltend gemacht: Wo die kirchliche Lehre zweifelhaft sei, solle alles nach dem Richtscheit des Wortes Gottes beurteilt werDie Evangelischen handelten für sich in dem Bewußtsein, daß die Lehre ihrer Religion wahr und rechtens sei. Deswegen sei es für sie weder aus Gewissensgründen noch aufgrund der eindeutigen Lehre Christi möglich, die von den Altgläubigen geforderte Rückkehr zum herkömmlichen Meßgottesdienst und zu den traditionellen Äußerungen kirchlichen Lebens zu vollziehen. Brauns Inteφretation des Nürnberger Anstandes sei „subtil". Es sei nicht leicht verständlich, wo er Widersprüche zwischem dem Nürnberger Ergebnis, dem darauf folgenden Regensburger Mandat des Kaisers und anderen Reichsabschieden aufzuweisen versucht habe. Der Landgraf entdeckt für sich keinerlei Widersprüche zwischen den verschiedenen kaiserlichen Abschieden. Die Protestanten hingegen berufen sich ihrerseits auf vom Kaiser gemachte Zusicherungen, femer auf den Ersten Speyerer Reichstag von 1526. Seit dieser Zeit beanspruchten sie das Recht zu Reformen des Kirchenwesens für sich. Gegen spätere und etwa anders lautende Beschlüsse (Speyer 1529, Augsburg 1530) hätten sie folglich ja auch deutlich protestiert. 2. Der Vorwurf, die Stadt Minden habe aus purer Gewinnsucht die Kirchengüter geraubt, könne schon wegen der Geringfügigkeit des Streitgegenstandes nicht stimmen. Er sei schlicht erlogen.^^' Wenn dagegen ein armer Priester oder ein Belehnter sich zu den Evangelischen wende, werde er von der Gegenseite sofort als Abtrünniger angesehen. Unter Berufung auf den Kirchenvater Augustin, der mit den Donatisten über die Kirchengüterfrage gestritten habe, sind

229 PhvH, „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" Bl. Llllb. 230 PhvH, „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" Bl. Llllla. Zum theologisch-kirchenrechtlichen Problem des ,Дichtscheits" vgl. die Auseinandersetzung um das Leipziger Gespräch vom Januar 1539. Vgl. 1.3.1. Zu Melanchthons Lösung dieses Problems in „De ecclesiae autoritate" vgl. 1.З.4.; zu Bucers Beurteilung vgl. 3.1.7. 231 PhvH, „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" Bl. LVIIb. Zum Umfang des Streitgegenstandes von 60 Gulden vgl. auch JFvS/PhvH„Дesponsio in causa Religionis ad instructionem Domini Theoderici de Manderschit" Bl. С Ib.

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die Protestanten der Meinung, daß die Güter zum „ministerium" nur den rechten „ministri" gehören sollen.^^^ In der „gegenteyl Religion" sei jedoch vieles dem Worte Gottes „nit gemeß". Weil aber dort die geistliche Gerichtsbarkeit der Bischöfe nicht ordnungsgemäß funktioniere, sei jetzt die Mitwirkungsmöglichkeiten auch der Laien in Bezug auf die Regelung von kirchlichen Mißständen, auf die Isidor v. Sevilla (gest. 633) in seinen Werken schon hingewiesen habe, notwendig und legitim. Davon würden die (reformatorischen) Theologen in ihren Publikationen ausführlich öffentlich berichten.^^^ Der Autor des „Dialogs" habe an diesem Punkt außerdem die „alten Cánones" nicht auf seiner Seite.^^'* Der angesprochene Herzog Heinrich und seine Anhänger wollten, statt sich für die Reformation zu öffnen, mit ihrem Kirchenwesen „im alten suddel pleiben."^^^ Die zustimmende Bezugnahme des Weifen auf den anonymen Schreiber Braun^^® wird von Philipp sehr scharf kritisiert: Heinrich wisse genau, daß auch er ein solches „Libell" zu unterdrücken oder zu verbrennen schuldig sei, und kenne die Strafe, die ihm drohe, wenn er das nicht tue.^'^ Dieser „Dialog" sei erdichtet, schändlich, sein Autor und alle, die ihn gebrauchen, unehrlich und „des Kopffs schuldig", wie die Rechtsordnungen des Reiches es belegen würden.238

3.3.1.3. Die Verbreitung der Schrift durch hessische Boten Das Hessische Staatsarchiv Marburg verfügt im Bestand „Politisches Archiv des Landgrafen Philipp" über eine Reihe von Unterlagen aus der landgräflichen Kanzlei, die uns bezüglich dieser politischen Publikation ein sehr genaues Bild ihrer Verbreitung bieten. Sie erwecken den Eindruck einer bis ins Detail durchstrukturierten politisch-publizistischen Aktion der hessischen Regierung. Auf welche der durch Christian Egenolffs Offizin hergestellten Marburger Ausgaben^^^ sich der sorgfältig dokumentierte Vertrieb durch Boten bezieht, ist nicht zu ermitteln. Daß gerade unter den Exemplaren für ausländische Herr232 Vgl. dazu den gleichlautenden Hinweis auf Augustine Position in dem von Melanchthon am 9.3.1540 verfaßten Gutachten zur Kirchengüterfrage, in: MBDS 9 , 1 , S . 8 5 , 1 9 - 2 0 . Zum Nachweis im Werk Augustins vgl. den Hrsg. dort S. 85 Anm. 8. 233 phvH, „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" El. Lila. Damit dürfte primär angespielt sein auf Melanchthons „De officio principum" von 1539, vgl. unter 2.3.1. 234 Zur theologischen Differenzierung zwischen den bewahrenswerten, „alten (= wahren) Cánones" und den späteren „lügenhaften Cánones" vgl. vor allem Martin Bucer in seinem Werk „Von Kirchengütern". Vgl. 3.1.7. 235 PhvH, „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" Bl. Lilla. 236 PhvH, „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" Bl. XIa, Bl. LXXVIIb, Bl. CXIIIa und andere Stellen mehr. 237 PhvH, „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" Bl. CXIII a. 238 PhvH, „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" Bl. CXIIIa. 239 Bibliographische Hinweise: VD 16: H 2906; ν. Dommer Nr. 124 oder VD 16: Η 2907; ν. Dommer Nr. 125.

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Die Publikationen von Febraar bis September 1540

scher Exemplare der lateinischen Ausgabe „Apologia, latinitate donata" Verwendung gewesen sein dürften, ist sehr wahrscheinlich. Die dokumentierte Verschickung durch Boten bezieht sich auf insgesamt (mindestens) 831 Exemplare der Schrift.2^ 3.3.1.3.1. Die Liste der

Adressaten

Durch die Publikation selbst wurden als „offizielle" Adressaten wiederum nur die Kurfürsten von Pfalz und Brandenburg ins Blickfeld geriickt.^'^' Nach meinem Versuch einer Rekonstruktion lassen sich insgesamt 12 Kategorien oder Gruppen bei den primären kirchenpolitischen Adressaten unterscheiden. Das Spektrum, welche Adresaten bei der Abfassung dieser Schrift durch den Landgrafen im Blick war, läßt sich bei keiner anderen Publikation in dieser Untersuchung so deutlich markieren: 1. Könige im europäischen Ausland: Franz I. von Frankreich, Heinrich VIII. von England, Sigismund von Polen, Johann Zápolya von Ungarn (gest. 22.7.1540),2'^2 und Christian III. von Dänemark.^^^ 2. Der Kaiser und das Haus Habsburg: Kaiser Karl V, die kaiserliche Familie, der Hof, Königin Maria als Schwester des Kaisers und Statthalterin der Niederlande, für den österreichischen Teil das „Regiment zu Inspurck" (= Innsbruck) und die „Landtafel zu B[o]ehmen".^''^ 3. Das Kurfürstenkollegium des Reiches: Die Erzbischöfe von Mainz, Köln und Trier, ihre Kanzler und die Domkapitel^'*^, Ludwig V. von der Pfalz, Joachim II. von Brandenburg und der sächsische Kurfürst als engster Verbündeter.246 4. Bischöfe und Domkapitel im Reich: Salzburg, Trient, Brixen (im Text durchgestrichen), Augsburg, Regensburg (durchgestrichen), Würzburg, Freising, Passau, Eichstätt, Bamberg, Worms, Speyer, Straßburg, Hildesheim, Paderborn, Münster, Minden, Osnabrück und Bremen.^'*^ 5. Weitere geistliche Fürsten und Herren: Hochstift und Kapitel von Fulda, die beiden in enger geographisch-rechtlicher Verbindung zur Landgrafschaft

240 Zum Vergleich: Eine durchschnittliche Auflagenhöhe von 1000 Exemplaren ist für die Flugschriften der Reformationszeit anzunehmen, laut Bernd Moeller, Art. „Flugschriften der Reformationszeit", in: TRE Bd. 11, Berlin-New York 1983, S. 240-246, hier S.242. 241 PhvH, „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" Bl. IIa, Bl. CXXVb. 242 Es ist für sie kein Nachweis über eine Botenabfertigung vorhanden, aber das lateinische Konzept des Begleitschreibens nennt sie als Adressaten. 243 stAM, PA 525, fol. 38г. 244 StAM, PA 525, fol. 38r. 245 StAM, PA 525, fol. 38v. 246 StAM, PA 525, fol. 39r. Unabhängig davon, daß der Druck sie als spezielle Adressaten nennt, werden dem Pfälzer und dem Brandenburger wie allen anderen auch Exemplare des Drucks per Boten zugesandt. 247 StAM, PA 525, fol. 39r, 39v, 40r.

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Hessen stehenden Reichsabteien Hersfeld und Corvey, das inmitten hessischen Gebietes liegende mainzische Fritzlar und der Abt zu Weingarten.^'*® 6. Fürsten und Herzöge: Herzog Wilhelm V. von Jülich-Юeve und Geldem^'*^, die Pfalzgrafen Wolfgang von Pfalz-Zweibrücken und seine Ehefrau, Johann II. von Pfalz-Simmern, der Bruder des Kurfürsten, Pfalzgraf Friedrich II., und deren Neffe Pfalzgraf Ottheinrich, Regent in der Oberpfalz. Von den Wittelsbachern die bayerischen Herzöge Wilhelm IV. und Ludwig Im Südwesten die Herzöge Philipp von Baden und Ulrich von Württemberg. Ferner als fränkischer Hohenzoller Markgraf Georg von Brandenburg-Ansbach.^'* Schließlich die norddeutschen evangelischen Fürsten Ernst III. von Braunschweig-Lüneburg und sein Bruder Franz, Wilhelm und Philipp von Braunschweig-Grubenhagen, Heinrich V. und Albrecht VII. von Mecklenburg, der Herzog von Sachsen-Lauenburg^^^ sowie die Herzöge Barnim und Philipp von Pommern.^^^ Im Osten des Reiches der preußische Herzog Albrecht und der Markgraf Hans von Küstrin, ein Bruder des brandenburgischen Kurfürsten; von den albertinischen Wettinern Herzog Heinrich d. Fromme, sein Sohn Moritz^^'* und Herzog Friedrich II. von Schlesien in Liegnitz.^'^ 7. Diverse Grafen. 8. Städtische Magistrate: a) Im Süden und Südwesten gelegene evangelische (Reichs)städte: Straßburg, Augsburg, Nürnberg, Frankfurt, Ulm, Konstanz, Memmingen, Reutlingen, Eßlingen, Lindau, Biberach, Schwäbisch-Hall, Heilbronn.^^® b) Im Norden und Nordwesten gelegene evangelische (Reichs)städte: Braunschweig, Goslar, Hildesheim, Hannover, Göttingen, Einbeck, Soest, Höxter, Minden, Magdeburg, Hamburg, Bremen, Lübeck. c) Als geistige Zentren der altgläubigen Seite weitere Städte mit großer Bedeutung Köln (die größte altgläubige Stadt des Reiches)^'®, die Universitätsstadt Ingolstadt (Landesuniversität in Bayern, Sitz von Johannes Eck)^'' und das ehemalige Zentrum des deutschsprachigen altgläubigen Buchdrucks Leip-

248 StAM, 249 StAM, 250 StAM, 251 StAM, 252 StAM, 253 StAM, 254 StAM, 255 StAM, 256 StAM, 257 StAM, 258 StAM, 259 StAM. 260 StAM,

PA 525, PA 525, PA 525, PA 525, PA 525, PA 525, PA 525, PA 525, PA 525, PA 525, PA 525, PA 525, PA 525,

fol. fol. fol. fol. fol. fol. fol. fol. fol. fol. fol. fol. fol.

40r. 41r. 38v. 39r. 4Ir. 40v. 39г. 41v. 43r. 43v. 38v. 48r. 39r.

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Die Publikationen von Febraar bis September 1540

d) Landstädte in der hessischen Landgrafschaft, Städte in Schlesien, Geldern sowie in Österreich.^®' e) Die Städte in der Schweiz sollten von Straßburg aus mit Exemplaren versorgt werden.^®^ Diese Vermittlung ist ihrerseits wieder belegt: Der Straßburger Rat schickte am 15.6.1540 eine Anzahl von Exemplaren an den Rat von Basel und bittet um deren weitere Verteilung an die Eidgenossen.^®^ 9. Hessischer Adel und Beamte. 10. Universitäten: Köln, Ingolstadt und Leipzig.^®^ 11. In die Kirchenpolitik verwickelte Einzelpersonen der evangelischen Seite: a) Dr. Gereon Sailer aus Augsburg forderte am 1.5.1540 die erwartete Antwort Philipps auf Heinrichs „Andere Antwort auf das falsche Libell" an. Er wolle etliche Exemplare nach Neuburg und München verteilen.^®^ Am 28.5.1540 waren die angeforderten Exemplare noch nicht eingetroffen.^®® Sailer erhielt insgesamt 20 Stück.^®^ b) Vater und Sohn Besserer in Ulm wurden zusammen 9 Exemplare des hessischen Drucks zugeschickt.^®^ c) Jakob Sturm und Martin Bucer in Straßburg wurden mit je 5 Exemplaren bedacht.^®' 12. Fürsten und „R[a]ethe, so nach Hagenau ziehen": Markgraf Ernst von Baden, Herzog Erich d. Ältere von Braunschweig-Calenberg (gest. in Hagenau am 26.7.1540) und seine Frau Elisabeth u.a. An der letzten Gruppe der Adressaten zeigt sich, daß die neue landgräfliche Schrift ihre Wirkung auch unmittelbar auf dem Hagenauer Religionsgespräch entfalten sollte, zu dem der Landgraf persönlich nicht erschien. Weil die Gespräche der Ständevertreter in Speyer am 6.6.1540 beginnen sollten - faktisch begann das Gespräch in Hagenau schleppend erst am 12.6.1540 - erschien es offensichtlich politisch nützlich, daß Philipps „Wahrhaftige Verantwortung, As261 StAM, PA 525, fol. 44v. 262 StAM, PA 525, fol. 45r. 263 Polit. Согг. 3, S. 64-65, Nr. 57. 264 StAM, PA 525, fol. 38v, 48r und 39r. Es sind dies im Fall von Köln und Ingolstadt die beiden deutschen Universitäten, wo die altgläubige Theologie zu diesem Zeitpunkt noch den uneingeschränkt dominierte. In Leipzig hatte sich der Wandel ab dem Frühsommer 1539 vollzogen, vgl. S. 74-76. 265 U n z I, Beilage III. Documente Nr. 13, S.461^64, hier S.463. 266 Lenz I, Beilage III. Documente Nr. 15, S.465^69, hier S.469. 267 StAM, PA 525, fol. 39v. 268 StAM, PA 525, fol. 50v. 269 StAM, PA 525, fol. 43r. Vgl. dazu Polit. Corr. 3, S.65 Anmerkung 1 des Hrsgs.: „Die Uebersendung der Drucke an Strassburg war am 6. Juni erfolgt; Sturm erhielt ausserdem ein [notabene! Denn laut hessischer Botenabfertigung sollten es immerhin sogar 5 ! Stück sein] besonderes Exemplar." 270 StAM, PA 525, fol. 49v.

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sertion, Erklärung und Beweisung" dort zu Beginn der Gespräche schon bekannt sei. 3.3.1.3.2. Der Druck von Begleitschreiben Das Hessische Staatsarchiv Marburg verwahrt neben dem handschriftlichen Konzept eines aus dem Deutschen ins Lateinische übertragenen Begleitschreibens^'^, das dem deutschen oder lateinischen Druck von „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" als Anlage diente, sieben unterschiedlich gedruckte Formblätter mit Philipp als Absender, die je nach Würde oder Stand des Empfängers sich ein wenig von einander in der Anrede unterscheiden. Alle haben eine Lücke für das noch handschriftlich einzutragende Datum.2^2

Diese Schreiben erläutern noch einmal die Gründe für die Fortsetzung der landgräflichen Publizistik. Herzog Heinrich habe ein „hefftigs / aber doch im gründe erdichtes und in vil dingen erlogenes / Famoß oder schm[a]eh büchlein / in öffentlichem druck . . . verschiener weil ! ... außgehen lassen." Zu ihrer Verteidigung hätten sich der Kurfürst und der Landgraf entschlossen: „Unser yeder / in sonderheyt Damit dem Leser den bericht zulesen / der lenge halben nit verdrüßlich würde / seinen Warhafftige / Gegrünte / bestendige / und imfall der notturft beweißlich / Apologi / Verantwortung / und ableynung / auff . . . zûstellen: Und im Truck außgehn zulassen."^^^ Deshalb schicke er, Philipp, seine Publikation den Empfängern mit der Bitte zu, sie selber zu lesen und auch öffentlich verlesen zu lassen.^^'^ Der Druck solcher kurzer Begleitschreiben bei der Versendung kirchenpolitisch relevanter Publikationen ist auch anderen Orts belegt: Ein vergleichbarer Einblattdruck^^^ wurde beispielsweise vom Ulmer Rat 1531 dem „Gemein außschreiben"^^® beigelegt, das als von Bucer verfaßte Apologie zur neuen Kirchenordnung^^' der Reichsstadt an viele Adressaten übermittelt wurde. Auch

271 StAM, PA 525, fol. 72-73, deutsch fol. 70-71. 272 Formblatt 1 ist gerichtet an „Hochgebomer Fürst" (StAM, PA525, fol. 3-12. Ein ausgefülltes, vielleicht verschriebenes Blatt an den Herzog Heinrich von Mecldenburg ebda. fol. 68.), Formblatt 2 redet den Adressaten mit ,JDu" (StAM, PA 525, fol. 13-19.) an. Formblatt 3 ist adressiert an die .JErsamenn und Weisen - yr", „Ersamen und Weisen" (StAM, PA 525, fol. 20-25.). Formblatt 4 an einen „Erbarr Lieber Besonder ... yhr" (StAM, PA 525, fol. 26-30.), Formblatt 5 schlicht an „Yhr" (StAM, PA 525, fol. 31.), Formblatt 6 an „Wolgebomer Lieber... yr" (StAM PA, 525, fol. 32-36.) und schließlich Formblatt 7 an die .Rieben Getrewen" (StAM, PA 525, fol. 37.). 273 StAM, PA 525, foL 3. 274 Die Bitte um Verlesung vor anderen findet sich nur in drei von sieben Formblättern: StAM, PA 525, fol. 3-12, 20-25, 32-36. Vgl. im Text von „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" El. IIb. 275 Vgl. hierzu MBDS 4, S.305, Anlage 2. 276 Bibliographischer Hinweis: VD 16: U 55, neu hg. in: MBDS 4, S. 273-304. Zur Erläuterung vgl. Kohls (Bearb.) ebda. S.203-205. 277 Bibliographischer Hinweis: VD 16: U 58, neu hg. in: MBDS 4, S.(183) 212-272.

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Die Publikationen von Febraar bis September 1540

Erzbischof Hermann von Wied legte, als er am 11.3.1538 die „Cánones" der Kölner Provinzialsynode verschickte, ein gedrucktes Begleitschreiben bei.^^® 3.3.1.3.3. Die Botenabfertigung und die Rekognitionen Während für die überwiegende Mehrzahl der zu verschickenden Drukkexemplare der „Wahrhaftigen Verantwortung" die Boten zwischen dem 4. und dem 10.6.1540 abgefertigt wurden^^', fand die Abfertigung für die „Rethe, so nach Hagenau ziehen", bereits am 30.5.1540 statt.^®" Insgesamt ist die Abfertigung von 34 Boten, die von Kassel aus in die verschiedenen Himmelsrichtungen geschickt wurden, einschließlich des ihnen zustehenden Lohnes säuberlich durch die Kanzlei dokumentiert. Ebenso bewahrt das Hessische Staatsarchiv Rekognitionen auf den Empfang von Druckexemplaren dieser landgräflichen Schrift auf. Die Mehrzahl der ca. 100 Rekognitionen der Adressaten stammen aus dem Monat Juni, eine kleinere Zahl aus dem Monat Juli 1540.^*' Damit läßt sich der Zeitraum der Verbreitung dieser Schrift genau datieren. 3.3.1.4. Die Wittenberger Ausgabe und ihr Verkauf Offensichtlich war das Interesse an einem Erwerb der Schrift „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" über den durch die hessischen Boten erreichten Adressatenkreis hinaus in den Sommermonaten des Jahres 1540 in der kirchenpolitischen Öffentlichkeit sehr groß, wie der Brief Nicolaus Gunthers aus Weimar an Stephan Roth vom 24.6.1540 belegt: „des lantgraffen zu hessen [Buch] ... werden vielleicht die Buchdrucker auch feyl haben, aber alhie ist noch keins zu kauffen gewest... Simon Wilde antwortete aus Wittenberg am 26.6.1540 auf eine Anfrage Roths aus Zwickau, daß die „Antwort" des hessischen Landgrafen gegen Heinrich von Braunschweig nicht hier (d. h. in Wittenberg), sondern in Marburg gedruckt worden sei, weshalb er (noch) kein Exemplar besitze.^®^ Dieser Mangel führte offensichtlich zum Entschluß eines Nachdrucks der hessischen Schrift in Wittenberg. Nach dem 26.6.1540 dürfte dann dieser Nachdruck durch Georg Rhau in Wittenberg hergestellt worden sein, um die an dieser umfangreichen Rechtfertigungsschrift des Landgrafen interessierte kirchenpolitische Öffentlichkeit zufriedenstellen zu können.^^'^ Vielleicht gehört auch der

278 Wiederabgedruckt in: ARCEG Bd. 2, S. 190-192, Nr. 71. Pfeilschifter bezieht sich auf eine Fund in der Pariser Nationalbibliothek. Diese Angabe konnte nicht überprüft werden. 279 StAM, PA 525, fol. 47r-52r. 280 StAM, PA 525, fol. 49v. 281 StAM, PA 525, fol. 70-185. 282 Buchwald, S. 197 f.. Nr. 624. 283 Buchwald, S. 198, Nr. 626. 284 Bibliographischer Hinweis: VD 16: H 2908.

Hessische und sächsische Reaktionen (April/Mai 1540)

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zweite Marburger Druck (ohne Corrigenda-Liste) chronologisch und sachlich in diesen Zusammenhang.^^^ Einige Hinweise aus der Korrespondenz Stephan Roths belegen das in den Sommermonaten des Jahres 1540 anhaltende Interesse der Öffentlichkeit an dieser Schrift: 1. Simon Wilde in Wittenberg schrieb am 19.7.1540 an Roth, daß Christoph Schramm ihm ein deutsches und ein lateinisches (= „Apologia, latinitate donata", nur in Marburg hergestellt!) Exemplar des hessischen „libellus" schicke.^*^ Diesen Auftrag führte Schramm schon am 20.7.1540 aus: Der Preis für beide Drucke betrage zusammen 6 Groschen.^®^ War das deutsche Exemplar ein Wittenberger oder ein Marburger Druck? Beides scheint m. E. möglich zu sein. Wenn an einen Marburger Druck zu denken ist, sind Exemplare davon zumindest zu diesem Zeitpunkt, also einige Wochen nach der Verbreitung der Schrift durch die hessischen Boten, schon in den freien Verkauf gekommen. 2. Joseph Levin Metzsch aus Mylau schrieb an Roth: Dem Buchführer „phillip Riczschenn" zu Zwickau seien am 2.8.1540 „etliche Exemplar" der landgräflichen Schrift zugegangen. Hier dürfte es sich sehr wahrscheinlich um in Wittenberg bei Rhau hergestellte Exemplare gehandelt haben. Metzsch bat Stephan Roth daraufhin per Boten um Zuschickung einer dieser Schriften: „Dan ich habe noch keins bekommen mugenn ... Festhalten läßt sich: Erst nachdem der primäre Empfängerkreis versorgt worden war, wurden die Wittenberger Publikation „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" und wohl auch die Marburger „Apologia, latinitate donata" durch den Handel verbreitet. Während die Schrift für den primären Empfängerkreis - besorgt durch die hessische Kanzlei - gratis war, mußten an kirchenpolitischer Publizistik interessierte Zeitgenossen sie käuflich erwerben. Verdienstmöglichkeiten für Buchführer bestanden also auch in solchen Fällen. 3.3.1.5. Politische

und literarische

Wirkungen

Die Publikation des Landgrafen ist von ihm selbst und von ihren Rezipienten als folgerichtige und konsequente Fortsetzung des seit dem Spätherbst 1539 durch die Schmalkaldener eingeschlagenen Weges verstanden worden, den Konflikt mit Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel mit den Mitteln politischer Publizistik auszutragen. Die erneute Wiederholung der spätestens durch die Schrift „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" von 1539 bekannten Streitpunkte stellte im Frühsommer 1540 für die Öffentlichkeit kein spektaku285 Bibliographischer Hinweis: VD 16: H 2907; ν. Dommer Nr. 125. 286 Buchwald, S. 198, Nr. 627. 287 Buchwald, S. 199, Nr. 628. 288 Buchwald, S. 199, Nr. 629.

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Die Publikationen von Febraar bis September 1540

läres Novum mehr dar, zumindest für den Teil, der schon in irgendeiner Weise von einer der vorhergegangenen Schriften der Kontrahenten berührt worden war. Unmittelbare Reaktionen auf das Erscheinen der Schrift „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" bei ihren Lesern, etwa während des Hagenauer Gespräches, sind nicht bekannt. Möglicherweise wird die bisher sehr unzureichende Edition der Akten und Berichte vom Hagenauer Religionsgespräch einige Reaktionen von Teilnehmern auf die Schrift Philipps ans Tageslicht fördem.^^^ Als bisher bekannte Reaktionen auf die hessische Schrift sind zu referieren: 1. Als explizite Gegenschrift auf „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" erschien wiederum eine Antwort Heinrichs, die „Dritte Antwort auf des Landgrafen Lästerschrift". Sie wurde in Wolfenbüttel gedruckt, datiert aber aus der Stadt Hagenau am 22.7. 2. Die zweite Schrift Wolfenbüttelscher Herkunft, die sich direkt auf die in der „Wahrhaftigen Verantwortung" erhobenen Vorwürfe bezieht, erschien erst im Jahre 1541. Es ist dies die „Verantwortung" der durch den Landgrafen angegriffenen Beamten des Wolfenbütteler Herzogs Balthasar von Stechau, Balthasar von Hunau, Johann von Hamstett und des ehemals inhaftierten Sekretärs Stephan Schmidt.^^' Das Phänomen, daß die Auseinandersetzung der Konfliktparteien ergänzend auch noch mit gedruckten „Verantwortungen" der jeweiligen Beamten geführt wird, begegnete erstmals schon 1540 mit der „Verantwortung" des hessischen Amtmann Hans Koch auf Herzog Heinrichs „Andere Antwort auf das falsche Libell".292

3. Eine Notiz zwischen Straßburger Politikern hob ab auf die in dieser hessischen Publikation integrierten Ausführungen und Dokumenten, nach denen sich Herzog Heinrich einst dem Landgrafen zur Unterstützung der Restitution Ulrichs von Württemberg verschrieben hatte: Dr. Caspar Hedio schrieb am 289 Zu dem von der DFG geförderten Projekt, das Karl-Heinz zur Mühlen verantwortlich leitet, vgl. seine Skizze „Die Edition der Akten und Berichte der Religionsgespräche von Hagenau und Worms 1540/41", in: Standfester Glaube. Festgaben zum 65. Geburtstag von Johann Friedrich Goeters, Köln 1991, S. 47-62. 290 Vgl. 5.1.2. 291 „Warhafftige bestendige II Verantwortung vnd bericht / der Erbam II Vesten vnd Emhafften Balthasers II von Stechaw / grossen Vogts zu Wulffenbûttels / Bal = II thasar von Hûnaw / Johan Hamstets vñ Steffan Schmids II Secretarien / auff die vnerfmdlichen erdichten aufflage vnd be II zichtigungen / damit sie von dem Landgrafen zu Hessen jnn II seinem letzsten / wider Hertzogen Heinrichen zu Braunschweig II vnd Lüneburg etc. ausgegossenem / ehmhûrigem Abdruck / wider die warheit aus dürftigem hitzigem freuelem gemût II beschwert / ausgebreitet / vnd vermehret worden sein / II an hochgedachten Hertzogen Heinrichen etc. II ausgangen. II", Titelholzschnitt: braunschweigisches Wappen (wie bei den amtlichen Publikationen Heinrichs), 23 Bl., 4°, Schlußvermerk auf Bl. F 3b: „Gedruckt zu Wulffenbût = II tel durch Henningk II Rüdem. II M. D. XLI. II", *Exemplar: HAB Wf Gn Sammelbd. 10 (3); bibliographischer Hinweis: Brandes, S. 112. 292 Bibliographischer Hinweis: VD 16: К 1503; vgl. S. 153.

Hessische und sächsische Reaktionen (April/Mai 1540)

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9.11.1540 aus Straßburg an Jakob Sturm und Mathis Pfarrer in Worms, die Schrift „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" stelle deshalb einen guten Beleg für die frühere Untreue Herzog Heinrichs gegenüber dem Kaiser dar.^^^ 4. Ohne explizite Nennung, sicherlich aber auf „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" abhebend, ist eine Bemerkung bei Konrad Braun zu inteφretieren. In seinen „Etlichen Gesprächen" von Ende 1540 wendet er sich summarisch gegen die neuen Schriften, die gegen seine frühere Publikation „Ein Gespräch eines Hofrats", ausgegangen seien.^^"* Dazu zählt neben den Pseudonymen Schriften Bucers^^^ sachlich auch Landgraf Philipps „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" vom 12.4.1540.

3.3.2. Johann Friedrichs von Sachsen „Anderer Abdruck der wahrhaftigen, beständigen und ergründeten Verantwortungen" vom 19.5.1540 Auch der sächsische Kurfürst sah sich wie der hessische Landgraf genötigt, auf die Vorwürfe, die Herzog Heinrich in seiner „Anderen Antwort" vom 24.11.1539 gegen ihn erhoben hatte, mit einer separaten Publikation zu reagieren.2^6 Alle Themen, die durch den Streit vorgegeben waren, der Vorwurf des Landfriedensbruchs, das Verbot der Durchreise durch das Herzogtum auf dem Wege zum Braunschweiger Bundestag des Schmalkaldischen Bundes 1538, der Streit um den kursächsischen Anspruch auf das Burggrafenamt in Halle, die Sequestration der Kirchengüter durch beide Seiten usw. werden durch des Kurfürsten Veröffentlichung „Anderer Abdruck der wahrhaftigen, beständigen und ergründeten Verantwortungen" einer erneuten Erörterung unterzogen. Alle Themen, die durch den Streit vorgegeben waren, der Vorwurf des Landfriedensbruchs, das Verbot der Durchreise durch das Herzogtum auf dem Wege zum Braunschweiger Bundestag des Schmalkaldischen Bundes 1538, der Streit um den kursächsischen Anspruch auf das Burggrafenamt in Halle, die Sequestration der Kirchengüter durch beide Seiten usw. werden durch des Kurfürsten Veröffentlichung „Anderer Abdruck der wahrhaftigen, beständigen und ergründeten Verantwortungen" einer erneuten Erörterung unterzogen.

293 Polit. CoiT. 3, S. 117-120, Nr. 127, hier S. 118, vgl. bes. Anm.2. 294 Braun (an), .Etliche Gespräche", 1. Gespräch Bl. A 2a. 295 „Von Krchengütem"; .Д'ег quos steterit Haganoae initum colloquium" 296 Vgl. S. 153.

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Die Publikationen von Februar bis September 1540

Neue Gesichtspunkte über das vorangegangene „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben"^'' werden der Öffentlichkeit durch den neuen kurfürstlichen Vorstoß aber nicht bekannt gemacht. Die Schrift ist außerdem als Wiederholung des schon in der Diskussion hinreichend geschilderten Sachverhaltes zu verstehen. Anders als die hessische Schrift „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" ist diese kirchenpolitische Publikation aber keine Punkt-für-Punkt-Widerlegung. Der Hauptvorwurf des Kurfürsten gegen Heinrich ist der, daß er ein Narr (im biblischen Sinne!) sei, die Unwahrheit sage und sich mit den ausschweifenden Ausführungen seiner Schrift „Andere Antwort auf das falsche Libell" selbst in Widersprüche verwickelt habe, wo es doch einem Christen gezieme. Ja, ja, nein, nein" zu sagen.^^^ Die kurfürstliche Schrift knüpft dafür an eine ganze Reihe biblischer Mottos aus der Weisheitsliteratur an, die sich vor, nach und im Haupttext des „Anderen Abdrucks" fmden.^'^ 1. „Antworte dem narren nach seiner narrheit / das er sich nicht weise dùncken lasse." (Prv 26, 5) 2. „Wie einem krûpel das tantzen / also stehets narren an von Weisheit reden." (Prv 26, 7.300) 3. „Ein narr dûncket sich weiser sein denn sieben die von tugent leren." (nicht verifizierbar als Bibelzitat) 4. „Drey stück sind den ich feind bin / und ir we 1 [ein Druckfehler?] sen verdreust mich ubel.l Wenn ein armer hoffertig ist. 2 Ein reicher gerne leuget. 3 Ein alter narr ein Ehebrecher ist." (Jes Sir 25, 3-5.^0') 5. „Ihr rächen ist ein offens grab / mit iren zungen heucheln sie / schuldige sie Gott / stosse sie aus / umb irer grossen ubertrettung willen / denn sie sind dir widderspenstig." (Ps 5, lOb-11) 6. „Der gerechte wirdet sein jhe [= ja] geniessen / es ist noch Gott Richter auff erden." (Ps 58, 12b) 7. „Mach dich auff / Gott / und füre aus deine sache / gedencke an deine Schmach / die dir teglich von den Thoren widderfert." (Ps 74, Der Kurfürst entfaltet mehrfach, daß er und die Seinen ihren (den allgemeinen!) christlichen Glauben in der Confessio Augustana öffentlich vorgelegt hätten, während für Herzog Heinrich gelte, daß er eben einer der Ungläubigen sei. Er achte nämlich Gottes Wort und sein Evangelium nur für lautere Menschenträu297 Vgl. S. 108-110. 298 JFvS, „Anderer Abdruck der wahrhaftigen, beständigen und ergründeten Verantwortungen" Bl. Jla-J Ib; vgl. Mt 5, 37. 299 JFvS, „Anderer Abdruck der wahrhaftigen, beständigen und ergründeten Verantwortungen" Bl. A lb ( 1 . ^ . ) und Bl. dd 6a (5.-7.), im Haupttext Bl. H 4a, Bl. К За. Bl. Q 2b, Bl. S la, und an anderen Stellen mehr. 300 Vgl. WA.DB 10/2, S.84f.; 86f. 301 Vgl. WA.DB 12, S . 2 1 4 f 302 Vgl. WA.DB 10/1, S. 117, 286 f., 343 mit geringen orthographischen Abweichungen.

Hessische und sächsische Reaktionen (April/Mai 1S40)

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Kritisiert wird femer, daß Herzog Heinrich ganz offensichtlich gerade Martin Luthers (!) Bibelübersetzung für seine Publikationen gegen die Protestanten benutze und damit doch eigentlich auch folgerichtig die dahinter stehende Theologie anerkennen müsse, was er aber verweigere.^·^ Hervorzuheben sind die in dieser Schrift erfolgten grundsätzlichen Äußerungen des sächsischen Kurfürsten über den Beginn und die Ursachen des Streites der verfeindeten Kontrahenten: Er - Johann Friedrich - habe sich ursprünglich (d. h. um die Jahreswende 1538/39) noch nicht gezwungen gesehen, sich mit einer Druckschrift gegen Heinrich an die gesamte Öffentlichkeit zu wenden. Ursprünglich habe er „geheimbte widerschriffte[n]" Herzog Heinrich zugeschickt; seines Teils hätte man es dabei beruhen lassen können.^"^ Er - Johann Friedrich - habe sich dann aber doch für diesen Weg in die Öffentlichkeit entscheiden müssen, weil Heinrich in Frankfurt im Jahre 1539 „feischlich und böslich über uns geschrieben / und derselben schmähe und schandschrifften hin und widder Copeien ausgesprengt..." habe.^"^ Dann habe Heinrich „zum drittenmal mit lesterschreiben und famos Libellen" ihn derart genötigt, daß dem Weifen eine entsprechende Antwort - auch als veröffentlichte Schrift! - nicht hätte verweigert werden können.^"' Da Heinrich sich aber schon in der voröffentUchen Phase des Konfliktes im Jahre 1539 nicht auf die primären Adressaten Pfalz und Brandenburg beschränkt habe, sondern seine übliche Praxis, „Copeien auszuwerfen", einem „öffentlich ausschreiben" qualitativ gleichgekonmien sei, sei im Grunde genommen der Wolfenbütteler Herzog der Anfänger des jetzt auch derart öffentlich geführten Streites. Der in Heinrichs „Anderer Antwort" artikulierte Vorwurf, daß dessen Antwort vom 31.3.1539 im kursächsischen „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" vom 14.9.1539 nicht mitabgedruckt worden sei, wird von Johann Friedrich zurückgewiesen. Er - der Kurfürst - habe sich doch mit einem solchen Abdruck von Heinrichs Antwort nicht durch die Instanzen des Reichs den Vorwurf ma303 JFvS, „Anderer Abdruck der wahrhaftigen, beständigen und ergründeten Verantwortungen" Bl. J la. 304 Etwa die verwendeten Zitate aus Ps 9, Ps 17, Ps 55 und Ps 56 als Mottos in HvBrW, .Andere Antwort auf das falsche Libell". Johann Friedrichs greift das auf in .Anderer Abdruck der wahrhaftigen. beständigen und ergründeten Verantwortungen" Bl. O l b - O 2a. 305 JFvS, ..Anderer Abdruck der wahrhaftigen, beständigen und ergründeten Verantwortungen" Bl. A За. 306 JFvS. .Anderer Abdruck der wahrhaftigen, beständigen und ergründeten Verantwortungen" Bl. А 3b. vgl. oben S. 105-108. 307 Die erste Schrift Heinrichs in der Berechnung des Kurfürsten ist der Brief Heinrichs an Joachim II. aus Pilsen vom 9.2.1539. der in der hessischen Publikation ..Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" Bl. D 2a-E 2a der Öffentlichkeit bekannt gemacht worden war. Die zweite Schrift Heinrichs ist die dann ebenfalls in dieser hessischen Publikation integrierte Schrift Heinrichs vom 31.3.1539 an die zwei vermittelnden Kurfürsten, die in Wolfenbüttel bei Henning Rüdem als ..Erste Antwort auf ein nichtig Schreiben" als selbständige Publikation Anfang 1540 gedruckt worden war, vgl. 2.5.2. Mit dem ..famosen Libell" ist - an dritter Stelle - dann ganz offensichtlich der Druck .Andere Antwort auf das falsche Libell" vom 24.11.1539 gemeint, vgl. 2.5.3.

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Die Publikationen von Februar bis September 1540

chen lassen wollen, er selbst habe etwa Schändliches gedrackt und verbreitet.^"® Schelten und Schmähen mit Schriften, ein Vorwurf, der gerade Heinrichs Werken zu machen ist, unterliege unmißverständlich allgemeiner Strafandrohung. In diesen Zusammenhang gehört auch der Vorwurf gegen Herzog Heinrich, das Datum seiner Schrift „Andere Antwort auf das falsche Libell" - der 24.11.1539 - sei von ihm bewußt zurückgesetzt worden.^'® In die neue kursächsische Publikation wurden auch drei Stücke integriert, von denen zwei sich auf den Problemzusammenhang der Geleitsverweigerung für den Kurfürsten durch Heinrich während der Braunschweiger Tagung des Schmalkaldischen Bundes 1538 beziehen^'", das dritte Stück soll die erbliche Legitimation des wettinischen Hauses, an der Heinrich Zweifel geäußert hatte, dokumentieren.^"Ferner werden vereinzelt literarische Bezüge zu anderen Werken zeitgenössischer kirchenpolitischer Publizistik hergestellt.^^^ Als Adressaten dieser kursächsischen Publikation werden wiederum, wie bei allen vorausgegangenen Schriften dieses Streites, die beiden Kurfürsten Joachim II. von Brandenburg und Ludwig V. der Pfalz angesprochen.^'^ Es wird mit der Möglichkeit gerechnet, der Kaiser werde diese Schrift zu Gesicht bekommen.^Als ein Abdruck bisheriger „Verantwortungen" wandte sich diese

308 JFvS, „Anderer Abdruck der wahrhaftigen, beständigen und ergründeten Verantwortungen" Bl. В ib. 309 JFvS, .Anderer Abdruck der wahrhaftigen, beständigen und ergründeten Verantwortungen" Bl. А 2a. Vgl. dazu vor allem oben S. 148. 310 1. Stück: Brief Johann Friedrichs an Herzog Heinrich aus Torgau vom 11.3.1538, hier Bl. G 3b-G 4a. 2. Stück: Die Hofräte zu Wolfenbüttel an Kurfürst Johann Friedrich vom 15.3.1538, hier: Bl. H la-H Ib. 311 Begnadungs- und Lehnbrief von König Sigismund an Friedrich v. Thüringen und Meißen vom 1.8.1420, hier Bl. S 3b-S 4b. Im Jahre 1541 nahm Georg Spalatin die Vorwürfe des Weifen, die Familie der Wettiner seien unebenbürtiger Herkunft, auf und beantwortete sie mit einer genealogischen „Chronica" (bibliographischer Hinweis: VD 16: S 7401, auch VD 16: S 7402). Vgl. unten S.284. 312 Erwähnt wird bei JFvS, .Anderer Abdruck der wahrhaftigen, beständigen und ergründeten Verantwortungen" Bl. К lb ein „voriges Ausschreiben" des hessischen Landgrafen. Damit ist sicherlich die hessische Publikation „Wahrhaftiger und gründlicher Bericht" gemeint; vgl. 2.1.6. Ferner wird dessen .jetziges Ausschreiben", das ist die „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" erwähnt; vgl. 3.3.1. Nicht klar zu entscheiden ist. ob an derselben Stelle eine Anspielung auf die Publikation .Citation und Vorbescheid wider Heinrich von Braunschweig" oder nur die Tatsache der ausgesprochenen Zitation vorliegt; vgl. 2.2. Femer wird im ..Anderen Abdruck" Bl. V 3b kurz auf die durch Johann Friedrich und Philipp gemeinsam verantwortete unredigierte .Де8роп51о" von Schmalkalden Bezug genommen; vgl. 3.2.2. Schließlich wird in der kurfürstlichen Schrift Bl. Ζ 4b-aa la auf Melanchthons „De officio principum" angespielt als einer Schrift, die das Verhalten des sächsischen Kurfürsten, in seinem Territorium für den rechten Gottesdienst zu sorgen, theologisch unzweideutig legitimiere. Vgl. zur Publikation Melanchthons 2.3.1. 313 JFvS, „Anderer Abdruck der wahrhaftigen, beständigen und ergründeten Verantwortungen" Bl. A 2a. 314 JFvS, „Anderer Abdruck der wahrhaftigen, beständigen und ergründeten Verantwortungen" Bl. I 3a.

Martin Bucer als anonymer Förderer des Hagenauer Religionsgespräches

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Schrift also wieder an die gesamte Öffentlichkeit, die von den Streitereien schon hinlänglich Kenntnis hatte. Bibliographisch nachgewiesen ist lediglich ein bei Georg Rhau hergestellter Druck dieser Schrift.^'^ Inwieweit diese kursächsische Publikation wie die parallel erschienene hessische Schrift auch durch Boten versandt worden ist oder etwa (nur?) durch den Handel verlegt wurde, ist nicht nachgewiesen. Das Handexemplar, das an den hessischen Kanzler Feige ging, ist vorhanden.^'® Belege über die Verbreitung dieser Publikation sind mir weder aus der Korrespondenz mit Stephan Roth, der Reformatoren noch aus anderen Quellen bekannt. Es kann aber davon ausgegangen werden, daß diese Schrift einige Wochen nach ihrer Fertigstellung am 19.5.1540 auch gedruckt vorlag. Ist sie auch schon im Juni/Juli 1540 während der Gespräche in Hagenau, zu denen der Kurfürst persönlich nicht erschien, bekannt gewesen? Der angegriffene Wolfenbütteler Herzog reagierte auf die Publikation des Kurfürsten mit seiner Schrift „Ergründete Duplicae wider des Kurfürsten Abdruck" vom 3.11.1540.^" Wenn dieses Datum nicht fingiert ist, darf angenommen werden, daß der kurfürstliche „Andere Abdruck" spätestens im Oktober 1540 Heinrich bekannt gewesen muß. Das ist der sichere terminus ad quem, bis zu dem die Verbreitung der Schrift allgemein erfolgt sein dürfte.

3.4. Martin Bucer als anonymer Förderer des Hagenauer Religionsgespräches 3.4.1. „An conducat, admitiere synodum nationalem"? Bucer hatte im Frühjahr 1540 sowohl öffentlich durch seine pseudonyme Schrift „Von Kirchengütern" als auch brieflich gegenüber dem hessischen Landgrafen seine Absicht geäußert, seine Gesprächsschriften ,^tliche Gespräche vom Nümbergischen Friedstand" vom 3.6.1539 und „Von Kirchengütern" vom 3.2.1540 durch eine neue Gesprächsschrift über die Konzilsthematik fortzusetzen.^'® Seine als nächste erschienene Schrift „An conducat, admittere synodum nationalem" widmete sich zwar der Frage nach einer nationalen Synode, ist aber weder unter dem von ihm vorher gebrauchten Pseudonym ,Conrad Treu zu Fridesleben' noch in Dialogform erschienen. Die Schrift „An conducat, admittere synodum nationalem" ist deshalb m. E. nicht als die angekündigte Fortset315 Bibliographischer Hinweis: VD 16: S 957. 316 »Exemplar in StAM, PA 524, Sign. IX В 4074. Es trägt auf dem Titelblatt den handschriftlichen Vermerk: ,J)em Cantzler Johan Feigens". 317 Vgl. 5.1.3. 318 Vgl. oben S. 170.

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Die Publikationen von Februar bis September 1540

zung der begonnenen Schriftenreihe zu 1п1ефге11егеп. Ein weiterer Unterschied zu seinen beiden Gesprächsschriften vom Sommer 1539 und Frühling 1540 liegt darin, daß Bucer sich bei „An conducat, admittere synodum nationalem" der lateinischen Sprache bedient. Daraus läßt sich folgern, daß er jetzt vor allem die vorwiegend lateinisch lesenden und schreibenden Geistlichen der altgläubigen Seite als Adressaten im Blick hatte. Sie sind für Bucer in der gegenwärtigen kirchenpolitischen Situation primär diejenigen, die vom Nutzen und von der Rechtmäßigkeit einer nationalen Synode zu überzeugen sind. Vielleicht haben ihn auch die gescheiterten Bemühungen um eine lateinische Druckfassung des letzten Werkes „Von Kirchengütem" und/oder Überlegungen zur Wahrung seiner Anonymität jetzt zur lateinischen Sprache greifen lassen. Als die Hoffnung auf das im Frankfurter Anstand angekündigte Nationalgespräch im April 1540 durch die Äußerungen des Kaiser und seines Staatsrates Granvelle, verbunden mit der diplomatische Sendung des Grafen von Neuenahr zum Schmalkaldischen Bundestag nach Schmalkalden, neue Nahrung erhielt^'', beschwor Bucer in mehreren Briefen den hessischen Landgrafen, von den in Frankfurt versprochenen Modalitäten eines solchen Gespräches nicht zu weichen.^^" Bucer setzte sehr große Hoffnungen in den Erfolg einer Zusammenkunft der Protestanten mit den Altgläubigen, was er bereits wiederholt zum Ausdruck gebracht hatte, etwa durch verschiedene Publikationen der Jahre bis 1540 und seine Teilnahme an dem Leipziger Gespräch im Januar 1539.^^^ Er entschied sich aber, keine umfangreiche theologisch-kirchenrechtliche Abhandlung zur Konzilsfrage, wie sie etwa seine Schrift „Von Kirchengütern" oder auch Luthers kirchengeschichtlich fundiertes Werk „Von den Konziliis und Kirchen"^^^ darstellten, zu publizieren. Die gegenwärtigen Zeitumstände angesichts der erfolgten Einladung des Kaisers nach Speyer/Hagenau^^^ ließen für ihn nur eine kurze Schrift mit aktuellen Bezügen sinnvoll erscheinen. Ihr Herausgeber in Martin Bucers Deutschen Schriften bezeichnet „An conducat, admittere synodum nationalem" als „kurze Flugschrift", „eine gute, flüssig geschriebene Propagandaschrift, ihrer Art nach eine Eintagsfliege".^^'^ Von Bucer gibt es aus dem September 1540 eine Äußerung, die entgegen M. Lenz' Deutung zweifellos auf die Entstehung dieser Schrift bezogen werden

319 Vgl. oben S. 171-175. 320 Es handelt sich um drei Briefe: Der Brief vom 11.3.1540, Lenz I, S. 145-147, Nr. 54, bes. S. 145; zweitens der Brief vom 17.3.1540, ebda. S. 151-159, Nr.57, bes. S. 151-154; schließlich der Brief vom 25.3.1540, ebda. S. 162-165, Nr.61, bes. S. 163-164. 321 Vgl. 1.З.1., 1.4. und 3.1. 322 Der anonyme Kanoniker erinnert in seinem Brief an den Dechanten diesen an die gemeinsame Lektüre des umfangreichen Werkes „Concilia omnia tam generalia quam particularia" von Petras Crabbe „im letzten Winter", MBDS 9, 1, S.131, 1. Dieses 1538 in Köln gedruckte Werk zumindest sein Tomus 1 - wurde im Frühjahr 1539 auch von Luther für „Von den Konziliis und Kirchen" benutzt. Vgl. oben S. 63. 323 Vgl. oben S. 185-186. 324 So C. Augustijn, in: MBDS 9, 1, S.93, 94.

Martin Bucer als anonymer Förderer des Hagenauer Religionsgespräches

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muß: Bucer schickte am 16.9.1540 an den Landgrafen hie zwei buchlin, das deutsch E. f. g. zu lesen, [über das erste „buchlin" fährt er fort:] Ich hats im latein uff den tag zu Hagenaw im anfang [durch mich hervorgehoben, G. K.] gemacht; ist hemach verdeutschet worden zu Nurenberg oder in Oestreich, dann da ist es unß zukomen."^^^ Der kirchengeschichtliche Ort der anonymen Schrift „An conducat, admittere synodum nationalem" wäre demzufolge die Zeit der nur sehr schleppend beginnenden Vorgespräche der altgläubigen Stände in Hagenau zu Verfahrensfragen des Religionsgespräches im engeren Sinne des Wortes unter der Leitung von König Ferdinand. Bucer dürfte sich in diesen Wochen in Straßburg, nur wenige Kilometer von Hagenau entfernt, aufgehalten haben.^^® Da es eine politische Korrespondenz zwischen dem Rat von Straßburg und dem Rat von Hagenau gab^^^, ist es sehr wahrscheinlich, daß Bucer genaueste Kenntnisse von den Vorgängen in Hagenau hatte, ohne dort von Anfang an persönlich anwesend gewesen zu sein. Seine persönliche Anwesenheit in Hagenau ist erst ab dem 22.6.1540 nachgewiesen, nachdem er sich noch am 15.6. im hessischen Darmstadt aufgehalten hatte.^^^ Die Schrift Bucers stellt sich uns in der Gestalt einer fiktiven Korrespondenz zwischen einem Dechanten und einem Kanoniker dar. Der erste Brief datiert vom 29.5.1540^^', der zweite vom 5.6.1540.^^° Der „Decanus" wird vorgestellt als Teilnehmer der Hagenauer Tagung.^^' Der Sitz des antwortenden „Canonicus", „tuus collega et amicus verus", ist die ursprünglich als Tagungsort für das Religionsgespräch vorgesehene Reichs- und Bischofsstadt Speyer, in der auch das Reichskammergericht seinen Sitz hatte. Beide fiktiven Korrespondenzpartner tragen keinen Namen und werden von Bucer wie auch die Gesprächsteilnehmer früherer Schriften als Typen gestaltet. Als Titel der Gesamtschrift „An conducat, admittere synodum nationalem" begegnet die rhetorische Frage an die „Ecclesiastici", ob es ihrer Stellung und zu ihrer Würde mehr beitrage, eine nationale, ehrbare („pia") und freie Synode zu beschicken, als den Religionskrieg zu beschließen.

325 Lenz I, S.210-214, Nr.82, hier S.212. Lenz I, S.213 Anm.9 meinte irrtümlicherweise, es sei hier Bucers „Per quos steterit Haganoae initum colloquium". Diese Schrift war aber zu Beginn der Hagenauer Verhandlungen noch nicht fertig, sondern setzt gerade ihr für Bucer enttäuschendes Ergebnis voraus. Vgl. unten S.221. 326 Vgl. dazu auch die Hinweise des Hrsgs. in: MBDS 9, 1, S.93 327 Vgl. Polit. Согг. 3, S. 51, Nr. 36. Dort ist ein Schreiben von Hagenau nach Straßburg vom 13.5.1540 erwähnt. Natürlich wird es auch andere Wege der Kommunikation gegeben haben, aus denen Bucer in diesen Tagen geschöpft haben dürfte. 328 Vgl. Lenz I, 173-174, Nr. 66. 329 Der Brief des „Decanus" ist datiert „iii post festum corporis Christi, anno 1540.", MBDS 9, 1,S.107, 12. 330 Der Brief des „Canonicus" ist datiert „die Bonifacii, anno 1540.", MBDS 9, 1, S. 145, 24. 331 MBDS 9, 1, S. 145, 20-22. Dort werden „unser Sekretär" und zwei Mitgesandte („contubernales") erwähnt, die aus der Leseφerspektive wohl zusammen mit dem Dechanten die Delegation eines altgläubigen Reichsstandes - etwa die des Bischofs von Speyer? - bilden.

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Die Publikationen von Februar bis September 1540

Der Inhalt des ersten Briefes bezieht sich genau auf die Zeit der beginnenden Verhandlungen in Hagenau, die am Sonntag Trinitatis, dem 23. Mai 1540, mit der Vorversammlung Ferdinands mit den vier rheinischen Kurfürsten (Mainz, Pfalz, Trier, Köln), den Herzögen von Bayern und Braunschweig, den Bischöfen von Würzburg, Bamberg, Straßburg, Augsburg, Eichstätt und Speyer und anderen „principes ob[o]edientes", beginnen sollte.^^^ Aber - so berichtet der Dechant am 29.5. weiter - weil außer Herzog Erich d.Ä. von BraunschweigCalenberg und Christoph von Stadion, dem Bischof von Augsburg (15 Π Ι 543), niemand in Hagenau anwesend gewesen sei, sei auch der schon angereiste Bischof von Speyer, Philipp von Flersheim (1530-1552), unter Hinweis auf die ihm durch seine Anwesenheit entstehenden Kosten wieder nach Hause abgereist. Danach seien König Ferdinand, zusammen mit Johann Fabri, dem Bischof von Wien, dem Bischof von Trient und dem päpstlichen Legaten Giovanni Morone angekommen. Bucers Dechant vertritt einen konsequent altgläubigen Standpunkt. Die Lutheraner sind für ihn „haeretici", denen man dank des Beistandes der Jungfrau Maria seitens des Kaisers und des Königs keine öffentliche Disputation zugestanden habe. Die Kirchengesetze lassen keine Konzile in Abwesenheit des Papstes oder seiner Gesandten zu. Das Generalkonzil zu Metz, das der Papst ausschreiben wolle, werde sicherlich durch die Weisheit des „Consistorium" in Rom verhindert.^'^ Für konziliaristische Vorstellungen ist der „Decanus" nicht offen: „Papa supra Concilium est et potest decreta Concilii annihilate. Deshalb müßten die dem Papst treuen Bischöfe politisch befürworten, daß den Lutheranern weder ein National- oder ein Generalkonzil noch irgendeine öffentliche Verhandlung ihres Anliegens zugestanden werde.^^' Ein Konzil würde auch die Position der „Ecclesiastici" beschädigen. Die einzigen ihnen gegenüber möglichen Zugeständnisse seien die „communio sub utraque specie" und die „dispensatio de uxoribus, quas illorum sacerdotes nunc habent".^^® Im Blick auf den drohenden möglichen Religionskrieg meint der Dechant: Wenn die Lutheraner solche Zugeständnisse nicht als Gnade annehmen wollten, sind Kaiser, König und die katholischen Fürsten verpflichtet, sie mit dem Schwert zu erniedrigen und ihnen Gehorsam mit dem eisernen Szepter zu lehren."'' Bucers eigene Sicht versteckt sich in der weitaus ausführlicher dargelegten Position des Kanonikers. Vorsichtig entschuldigt dieser das Ausbleiben der protestantischen Fürsten in Hagenau mit dem Kostenargument. Der Kanoniker 332 MBDS 9, 1,S. 101, 8-12. 333 Zum Gerücht über eine Tagung in Metz (Sollte hier etwa eine internationale Bischofsversammlung stattfinden?) vgl. MBDS 9, 1, S. 105 Anm.22. 334 MBDS 9, 1,8.105, 11. 335 MBDS 9, 1, S. 105, 15-18. 336 Zu diesen Vorschlägen, für die auch Friedrich Nausea eintrat, vgl. den Hrsg. in MBDS 9, 1, S. 105 Anm.22. 337 MBDS 9, 1, S. 107, 3-6; vgl. Ps 2, 9.

Martin Bucer als anonymer Förderer des Hagenauer Religionsgespräches

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schildert das aber ausdrücklich nicht als seine Auffassung - die ja auch nicht derjenigen Bucers entspricht - sondern Bucer läßt den Kanoniker an dieser Stelle - sich selbst subtil davon distanzierend - die Erwägungen von „duo ... viri ex ea aula" sprechen.^^^ Als Begründung für das Fernbleiben wird auch geltend gemacht, daß der Hagenauer „conventus" nicht den bei dem Frankfurter Anstand 1539 versprochenen Bedingungen für den für 1.8.1539 angekündigten Nürnberger Gesprächstag entspreche.^^^ Auch in der Frage des Nationalkonzils weist der Kanoniker die Argumente des Dechanten zurück. Er ist von dessen Nutzen für den politischen und religiösen Frieden überzeugt. Ein Generalkonzil hält er wie dieser für derzeit nicht in Sicht. In der Bewertung der reichs- und konfessionspolitische Lage führt der Kanoniker aus, welche Fürstenhäuser den Lutheranern unmittelbar zugetan sind oder ihnen zumindest nicht sehr feindlich gesinnt sind: Ganz Sachsen ist lutherisch. Einen Krieg gegen sie würde nur ein Teil der bayerischen Wittelsbacher befürworten. Joachim II. von Brandenburg, obwohl kein Mitglied des Schmalkaldischen Bundes, ist ihnen in Lehre und Kirchenordnung verbunden. Von den Weifen ist nur Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel ihr erklärter Feind. Wilhelm von Jülich-Kleve-Berg werde seinen Schwager, den sächsischen Kurfürsten, nicht bekriegen. Die Herzöge von Pommern und Württemberg, der Landgraf von Hessen und der dänische König sind ebenfalls keine kleinen Reichsstände. Politisch könne man sich nicht gegen diese im Verein durchsetzen. Das Glück sei den Lutheranern günstig, da sie in kurzer Zeit von Brandenburg, den Herzogtümern Sachsen und Pommern Besitz ergreifen konnten, wo die ehemaligen Regenten Gegner des Luthertums waren.^''® Der Kaiser und sein Bruder seien, wenn auch bei weitem keine Lutheraner, mehr an der Erhaltung des Friedens im Reich interessiert als an einem Krieg gegen die Lutheraner. Auch wegen der Gefahr durch die Türken sei es gegenwärtig politisch nicht ratsam, daß diejenigen, die das Reich zu verteidigen haben, jetzt die Lutheraner bekriegen. Im weiteren Verlauf des Schreibens werden nahezu alle zwischen den Religionsparteien strittigen theologischen Themen kurz angeschnitten. Sie werden wie bei Melanchthon unter der Perspektive der grundsätzUchen Übereinstimmung der Lutheraner mit der Alten Kirche dargestellt. Die gegenwärtige altgläubige kirchliche Praxis stimme dagegen mit der Alten Kirche lediglich partiell überein. Deshalb sei für die Altgläubigen auch die Lektüre der Kirchenväter Cyprian, Euseb, Ambrosius, Augustin, Leo I. und Gregor d. Große weitaus empfehlenswerter als die Lektüre der Schriften der zeitgenössischen altgläubigen Theologen Witzel, Johannes Eck und Ambrosius Pelargus.^'^' Der Kanoni338 MBDS 9, 1 , 8 . 1 0 9 , 2 - 1 6 . 339 MBDS 9, 1,8.109, 17-32. 340 MBDS 9, 1, 8.113, 19-117, 11. 341 MBDS 9, 1, 8.129, 14-18. Zu Büchern von Witzel vgl. 1.3.2. und 4.3.2.; zu Cochläus vgl. 4.3.1. Der Dominikaner Ambrosius Pelargus (1493/94-1561), seit 1533 Lehrer an der Universität

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Die Publikationen von Febraar bis September 1540

ker beruft sich auf die durch Papst Hadrian VI. (1522-1523) auf dem Nürnberger Reichstag am 3.1.1523 öffentlich zugestandenen Mißstände am Leib der Kirche „vom Scheitel bis zur Sohle" (sog. „Schuldbekenntnis" Hadrians). In Form von rhetorischen Fragen weist er schließlich auf die dem kirchlichen Leben nützenden und wünschenswerten Reformmaßnahmen hin, die Veränderungen in der Lehre, die Meßreform und die päpstliche Autorität betreffen würden. Ziel allen kirchenpolitischen Handelns muß die Erreichung eines Friedenszustandes mit den Lutheranern sein. Sekundär gegenüber diesem Ziel sind die Mittel und Wege, dieses Ziel zu erreichen, sei es mit Hilfe eines Nationalkonzils oder eines Reichstages. Ein Nationalkonzil, für das die ganze Schrift „An conducat, admittere synodum nationalem" wirbt, sei ein durch das Kirchenrecht nicht untersagtes Mittel, die gewünschten Reformen herbeizuführen.

3.4.2. Die lateinischen Ausgaben und ihre Verbreitung Für den Erstdruck von „An conducat, admittere synodum nationalem", hergestellt nach dem 5.6.1540, wurde der Straßburger Drucker Johann Knobloch d. J. erschlossen.^''^ Der zweite, leicht korrigierte lateinische Druck ist wie dieser ohne Orts- und Druckerangabe erschienen. Auch für ihn wird die Herstellung in Knoblochs Offizin angenommen.^'*^ Sein Titelblatt enthält folgenden Hinweis: „AEditae primum hoc lunio M.D.XL. II de negotio Religionis quod II nunc agitur. II". Dieser Druck müßte dann wohl nach dem Juni 1540 entstanden sein, vielleicht sogar nach dem Hagenauer Abschied vom 28.7.1540 oder sogar erst nach Bucers Wissen um die Existenz von durch ihn nicht autorisierten deutschen Ausgaben im September 1540.^'*^ Wahrscheinlich ist, daß Exemplare des Erstdrucks von „An conducat, admittere synodum nationalem" von Straßburg aus binnen weniger Stunden nach Hagenau transportiert worden sind, um dort bei den Gesprächsteilnehmern und ihrem Gefolge verkauft oder an sie verteilt werden zu können. Die ursprüngliTrier, fungierte dort auch als theologischer Berater des Erzbischofs. Er wird von Bucer gegenüber dem Landgrafen als ausgesprochen zänkisch bezeichnet. Vgl. Lenz I, Nr. 73, S. 188-191, hier S. 189; auch Lenz I, Nr. 85, S. 217-220, hier S.218. Durch besondere kirchenpolitische Publikationen in der Ära der Religionsgespräche ist er m. W. nicht hervorgetreten. 342 MBDS 9, 1, S. 137, 16-18. 343 Bibliographischer Hinweis: VD 16: В 8839 = MBDS 9, 1, S. 96 Druck A. 344 Bibliographischer Hinweis: VD 16: В 8838 = MBDS 9, 1, S.96 Druck B. Vgl. dazu die sorgfältigen textvergleichenden Erwägungen des Hrsgs. in MBDS 9,1, S. 94 Anm. 9. Der Hinweis freilich darauf, daß VD 16 ihn als Erstdruck anbietet, ist mir nicht verständlich. VD 16 ordnet nicht nach Abhängigkeit. 345 Vgl. unten S.216.

Martin Bucer als anonymer Förderer des Hagenauer Religionsgespräches

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che Absicht dieser anonymen kirchenpolitischen Publikation müßte dann darin gesehen werden, das Gesprächsklima in Hagenau im Sinne des Dechanten günstig zu bestimmen. Aber wie steht es aber um die faktischen Wirkungen der Schrift „An conducat, admittere synodum nationalem"? Ein Beleg für die Rezeption dieser Schrift in Hagenau seitens eines Teilnehmers der Hagenauer Tagung ist bisher nicht bekannt. Gefragt nach ihren Wirkungen, führt C. Augustijn aus: „Die Wirkung einer Flugschrift ist naturgemäß nicht meßbar. Bucer hatte sie für den Hagenauer Konvent geschrieben. Es bestehen mehrere Hinweise, daß außerhalb der offiziellen dortigen Verhandlungen die Idee einer Nationalversammlung unter den in Hagenau Anwesenden Anklang fand. Inwieweit diese Schrift dazu beigetragen hat, ist nicht greifbar."^'*® Dieser vorsichtigen Bewertung ist zuzustimmen, denn die von Bucer erhoffte grundsätzliche Bedeutung des Hagenauer Konventes stellte sich in den offiziellen Verhandlungen auch durch den Appell in der Schrift „An conducat, admittere synodum nationalem" nicht in dem gewünschten Maße ein. Vergleicht man seine Sicht mit der Sicht Philipp Melanchthons in Hagenau, so hegte Melanchthon viel deutlicher als Bucer Zweifel am Erfolg des Gespräches angesichts der Persönlichkeiten, die gerade hier die altgläubigen Reichsstände zu vertreten hatten.^'*^ Diese lehnten etwa gerade die Möglichkeit, die Melanchthon vor kurzem publizistisch mit „De officio principum" untermauert hatte, nämlich „weltliche" Obrigkeiten mit den Fragen des Gottesdienstes zu befassen, geschlossen ab.^'*® Die altgläubigen Reichsstände zerfallen aber für Melanchthon kirchenpolitisch in die Lager der auch zu Verhandlungen neigenden Fürsten (Ludwig V. v. d. Pfalz, der Kölner Erzbischof Hermann von Wied u.a.) und der grundsätzlich zum Krieg bereiten Stände Bayern und Braunschweig-Wolfenbüttel. So endete auch das Gespräch in Hagenau als Mißerfolg. Sein Abschied stammt vom 28.7.1540. Demzufolge sollte am 28.10.1540 das Gespräch in Worms fortgesetzt werden. ^^^ Zwei Hinweise über die Verbreitung von „An conducat, admittere synodum nationalem" sind mir über Augustijn hinaus bekannt. Ihnen zufolge kann man davon ausgehen, daß eine Verbreitung von Exemplaren dieser Schrift noch lange nach der Beendigung des Hagenauer Gespräches stattfand: 1. Ein Hinweis hebt ab auf den Verkauf eines lateinischen Exemplars von „An conducat, admittere synodum nationalem", das vermutlich auf dem üblichen Handelsweg über die Frankfurter Herbstmesse Sachsen erreicht hat. Ste346 So der Hrsg. in MBDS 9, 1, S.95, auch S. 151-152. 347 Melanchthon am 14.6.1540 aus Weimar an Paul Eber, vgl. MBW 3, Nr. 2450. Vom selben Tage stammt ein Brief an Luther, WA.B 9, S. 137-138, Nr. 3496; vgl. MBW 3, Nr. 2451. 348 Melanchthon am 8.7.1540 aus Eisenach an Paul Eber; vgl. MBW 3, Nr. 2460. Vgl. dazu auch die Reaktionen von altgläubiger Seite auf Melanchthons ,J)e officio principum". 349 Melanchthon an Milichius aus Eisenach am 18.7.1540, CR 3, 1061, Nr. 1981; vgl. MBW 3, Nr. 2463. 350 Vgl. den Text des Abschiedes bei Neuser, Religionsgespräche, S. 96-107, hier bes. S. 105.

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Die Publikationen von Februar bis September 1540

phan Roth aus Zwickau hatte es wohl kurz vor dem 30.9.1540 an Joseph Levin Metzsch geschickt. Er hatte nicht angegeben, was der Käufer dafür zu zahlen hatte, weshalb dieser nachfragte, was denn „das keiserlich ausschreibenn auff den tagk gein Hagenaw und ii latinische episteln vom selbigen tage [kosten würden] ".351 2. Am 19.11.1540 wurde von Worms aus, wo man sich schon auf die Eröffnung des Gespräches durch Granvelle vorbereitete, ein Exemplar von „An conducat, admittere synodum nationalem" durch Bernardo Sanzio, Bischof von Aquila, an den Kardinal Cervini gesandt.^^^ Unabhängig davon geschah eine handschriftliche Übermittlung des Wortlautes dieser anonymen Schrift Bucers an die Kurie.^^^

3.4.3. „Vom Tag zu Hagenau. Zwei verdeutschte Sendbriefe" Ohne konkrete Beauftragung durch einen protestantischen Fürsten (wie sonst im Zusammenhang der Bucerschen Gesprächsschriften von 1539/40 üblich) und vermutlich ohne Bucers Einverständnis - vielleicht sogar ohne seine Kenntnis - hat ein unbekannter Übersetzer „An conducat, admittere synodum nationalem" ins Deutsche übertragen. Bucer schrieb darüber in seinem Brief vom 16.9.1540 an den Landgrafen: „ ... ist hernach verdeutschet worden zu Nuremberg oder in Oestreich, dann da ist es unß zukomen."^^'^ Die Verbreitung von Bucers „Sendbriefen" in deutscher Sprache ist m. E. frühestens für die Zeit nach dem Hagenauer Abschied am 28.7.1540 anzunehmen. Bucer lernte einen solchen deutschen Druck Mitte September kennen, konkret vor dem 16.9. (terminus ad quem), wie er dem hessischen Landgrafen eben an diesem Tag ja mitteilte. Heute sind davon sechs verschiedene Ausgaben bekannt^^', die aber alle auf der Tätigkeit eines Übersetzers beruhen. Ausnahmslos sind es hier oberdeutsche Drucker gewesen, die „Vom Tag zu Hagenau. Zwei verdeutschte Sendbriefe" gedruckt haben. Typographisch erschlossen werden konnten Valentin Otmar in Augsburg^^®, sein ebenfalls in Augsburg ansässiger Kollege Heinrich Steiner^^^, und Johann Petreius in Nürnberg.^^^ Vielleicht ist Bucers Hinweis auf den 351 Buchwald, S. 199, Nr. 630. 352 NBD (1. Abt. 1533-1559) Bd.6, Nr.249, S.30-33, hier S.32; vgl. ebda. S.33 Anm. 1. 353 MBDS 9, 1, S.95, besonders Anm. 13. 354 Lenz I, Nr. 82, S. 210-214, hier S.212. 355 Ausführlich dazu Augustijn, MBDS 9, 1, S. 96-99. Der Hinweis ebda. S.98 auf „Druck E" geht über VD 16 hinaus. 356 Bibliographischer Hinweis: VD 16: В 8840 = MBDS 9, 1, S.96 Druck A. 357 Bibliographische Hinweise: VD 16: В 8841 = MBDS 9, 1, S.97 Druck В 1; VD 16: В 8842 = MBDS 9, 1, S.97 Druck В 2. 358 Bibliographische Hinweise: VD 16: В 8844 = MBDS 9, 1, S.97 Druck C; VD 16: В 8843 = MBDS 9, 1, S.97 Druck D; MBDS 9, 1, S.97 Druck E (ohne Nachweis in VD 16).

Martin Bucer als anonymer Förderer des Hagenauer Religionsgespräches

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möglichen Übersetzungsort Nürnberg ein Indiz dafür, daß auch eine der drei Petreius-Ausgaben der Augsburger Ausgabe von Valentin Otmar, der im übrigen als Drucker kirchenpolitischer Publikationen nicht an die Bedeutung Johann Petreius' heranreicht, zeitlich vorangegangen ist.^'^ Während der lateinische Titel des Drucks einen grundsätzlichen Hinweis gibt auf die Thematik der Schrift, umschreibt der deutsche Titel „Zwei verdeutschte Sendbriefe" vordergründiger seine beiden Komponenten, nennt aber - anders als die lateinische Erstausgabe - mit der Ortsbezeichnung „Hagenau" die (wahrscheinlich schon nicht mehr aktuelle) kirchenpolitische Bezugsgröße der Schrift. M. E. könnte die publizistische Absicht der deutschen Fassung in einer nachträglichen Demonstration der Unversöhnlichkeit der beiden Parteien bestehen, personifiziert in den Gestalten des intransigenten Domdechanten und des weiterhin vom Sinn eines Nationalgespräches überzeugten „weysen, bescheidnen" und den Protestanten gutwillig geneigten Domherrn. Die deutschen Drucke „Vom Tag zu Hagenau. Zwei verdeutschte Sendbriefe" gehören dann - und darin sind sie von Bucers Zweckbestimmung des Erstdrucks von „An conducat, admittere synodum nationalem" verschieden - von ihrer kirchenpolitischen Intention her genau in die Zeit zwischen dem Hagenauer Abschied und dem Beginn der Gespräche in Worms am 22.11.1540.3®® Die textlichen Varianten zwischen den deutschen Drucken sind unwesentlich, sieht man von einer bemerkenswerten Glossierung ab, die sich in den Petreius-Drucken, nicht aber bei den in Augsburg hergestellten Drucken findet: Neben dem Abschnitt „Und ficht mich hie nett an ... darauff gehetzet hetten" werden die „groben nerrischen unverschempten Esel" mit gegenwärtigen altgläubigen Theologen identifiziert: Die Randmarginalie lautet: „Cochleus, Eccius. Faber, Nausea, Witzel·'.^®' Auf jedwede Polemik gegenüber Bucers literarischem Hauptgegner des Jahres 1540, Konrad Braun, wird hier aber bemerkenswerterweise verzichtet. Offensichtlich fühlte sich aber Braun durch die deutsche Publikation „Vom Tag zu Hagenau. Zwei verdeutschte Sendbriefe" angegriffen. Eine kurze Erwähnung fand deshalb Bucers anonyme Schrift auch in seiner nächsten Publikation

359 Augustijn legt seiner Edition den Druck von Valentin Otmar zugrunde, „da dieser Druck der lateinischen Vorlage im allgemeinen am nächsten steht." Der Verfasser tendiert eher dazu, den Nürnberger Petreius-Druck für ursprünglicher zu halten. Eine definitive Entscheidung über die Priorität fällt schwer. 360 Diese Schrift könnte deshalb auch im 4. Kapitel dieser Untersuchung ihren Platz finden. 361 MBDS 9,1, S. 122, 9-14. Alle bis auf Fabri treten auch im Jahre 1540 als Publizisten im Zusammenhang des Wormser Religionsgespräches in Erscheinung. Vgl. zu Cochläus unter 4.3.1.; zu Eck 4.3.3.; zu Nausea 4.3.4., zu Witzeis „TVpus ecclesiae prions" vgl. 4.3.2. Vgl. zum Ganzen der Polemik gegen diese Publizisten auch MBDS 9, 1, S. 128, 13-19 und S. 129, 14-18. Eine ähnliche Präzisierung durch Aufzählung der altgläubigen Publizisten finet sich 1540 auch bei Jonas' Übersetzung von Melanchthons „De ecclesiae autoritate", vgl. oben S. 85.

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Die Publikationen von Februar bis September 1540

„Etliche Gespräche" vom Jahresende 1540. Er ist sich dessen sicher, daß Martin Bucer unter seinem Pseudonym .Conrad Treu zu Fridesleben' diese Schrift verfaßt hat.3®2

362 Braun (an), „Etliche Gespräche" 1. Gespräch, Bl. F (= G) За; femer 3. Gespräch, Bl. о 4a (dort: „verbutzt" = von Bucer); vgl. unten S. 260-261.

4 . KAPITEL

Die Publikationen nach dem Hagenauer und für das Wormser Religionsgespräch von September 1540 bis zur Jahreswende 1540/41

4.0. Die anhaltende Bedeutung der Publizistik In der Zeit zwischen dem Hagenauer Abschied am 28.7.1540 und der Eröffnung des Wormser Gespräches (geplant laut Hagenauer Abschied für den 28.10., stattgefunden am 22.11.1540 mit der Eröffnungsrede Granvelles) stand die Produktion und der Vertrieb von Veröffentlichungen, die die Kirchenpolitik mitbestimmen sollten, nicht still. Die zuletzt gegebenen Hinweise auf die Rezeption von Bucers Schriften „An conducat, admittere synodum nationalem" und „Vom Tag zu Hagenau. Zwei verdeutschte Sendbriefe"^ belegen dies ausdrücklich. Die Publikationen der beiden schmalkaldischen Bundeshauptleute auf der einen Seite^ und die Herzog Heinrichs von Braunschweig-WolfenbütteP sowie Konrad Brauns „Gespräch eines Hofrats"^ auf der anderen Seite hatten schon Monate zuvor für Aufsehen gesorgt. Ferner ist hierbei auch besonders an die Verbreitung der vielfach aufgelegten und übersetzten Publikationen Melanchthons, „De ecclesiae autoritate"' und „De officio principum"®, zu denken. Schließlich wird die anhaltende Bedeutung der kirchenpolitischen Publizistik durch den Bericht bestätigt, den Granvelles Sekretär Johann von Naves am 16.12.1540 den Präsidenten der Wormser Kommission vorlegte. Aus altgläubiger Perspektive war Naves angezeigt worden, daß nach dem Hagenauer Abschied (recessus) und der Einberufung dieses Wormser Gespräches (colloquium) schmähsüchtige, ärgerliche und aufrührerische Bücher in den Städten (civitates) der Protestanten ausgegangen seien . . . daran sei zu sehen, daß die protestantischen Beteuerungen, „concordia" und „pacificatio Germaniae" zu 1 Vgl. 2 Vgl. 3 Vgl. 4 Vgl. 5 Vgl. 6 Vgl.

3.4. 3.2.; 3.3. 2.5. 2.4. 1.3.4. 2.3.1.

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Die Publikationen von September 1540 bis zur Jahreswende 1540/41

suchen, nicht stark seien.' Die Юage der katholischen Reichsstände über die jüngsten protestantischen Streitschriften wurde tags drauf von den Gesprächsführern des Mainzer Erzbischofs, unter besonderer Hervorhebung des öffentlichen Verkaufs dieser Schriften in Hagenau bestätigt: „De contumeliosis libellis et concitatoris scriptis certum est in ipso conventu Haganoiensi quosdam factos esse et publice etiam venditos ... Dazu dürfte sicherlich auch die hessische „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" vom 12.4.1540 gezähh worden sein.' Als eine Publikation von protestantischer Seite, die die Gesprächsatmosphäre ungünstig beeinflußt hatte, empfand man im Umkreis Granvelles die unredigierte „Responsio in causa Religionis ad instructionem Domini Theoderici de Manderschif'.'o Die Vertreter der Stadt Straßburg wiesen schließlich am 17.12.1540 in Worms daraufhin, daß man die „gedruckten schmachbucher", die es seit zwanzig Jahren gebe, jetzt nicht aufhalten könne." M. E. ist das ein deutliches Indiz dafür, daß die Straßburger Gesandten im Druck und in der Verbreitung kirchenpolitischer Schriften ein probates Mittel protestantischer Politik sahen, auf das - trotz der Mahnung der vermittelnden Kräfte zur kirchlich-politischen „concordia" - auch im Umfeld des Wormser Gespräches nicht verzichtet werden sollte. Diese Praxis ist ein Ausdruck ihres evangelischen Wahrheitsbewußtseins. Darüberhinaus ist eine solche Äußerung auch angesichts der Bedeutung des Straßburger Druckwesens nachvollziehbar. Hinter der Verbreitung der Werke, etwa auch der Bücher Bucers und Melanchthons, standen auch handfeste wirtschaftliche Interessen der Druckereien. Die Vertreter der bayerischen Herzöge gestanden gegenüber Granvelle sogar zu, daß im Vorfeld des Wormser Gespräches nicht nur Drucke protestantischer Herkunft als „schmachbucher" im Sinne des kaiserlichen Verhandlungsführers erschienen seien, „sonder auch von dem andern theil uff diesem tag schmachbucher ausgangen, als Eckii bucher wider Hosiander etc.".'^ In den folgenden Abschnitten 4.1. bis 4.3. wird ausgeführt, wie die verschiedenen kirchenpolitischen Interessengruppen mit Hilfe von Publikationen die Situation des anhebenden Religionsgespräches in Worms zu ihren Gunsten beeinflussen wollten.

^ Mainzer Präsidialprotokoll des Wormser Gespräches, ARCEG Bd. 3, S. 196-291, Nr. 99, hier S.237, 13-19. 8 ARCEG Bd.3, S. 196-291, Nr. 99, hier S.238, 34-35. 9 Vgl. 3.3.1. 10 Vgl. oben S. 178-182. 11 ARCEG Bd.3, S. 196-291, Nr.99, hier S.239, 33-35. 12 ARCEG Bd.3, S. 196-291, Nr.99, hier S.240, 9-11. Vgl. zur Bedeutung Ecks und seiner Publikationen unten S. 253-255, bes. S.255 Anm. 168.

Protestantische Publikationen im Umfeld des Wormser Gespräches

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4.1. Protestantische Publikationen im Umfeld des Wormser Gespräches

4.1.1. Bucers Rückblick auf den Tag zu Hagenau 4.1.1.1. „Per quos s teter it Haganoae initum colloquium" Bei Martin Bucers hohen Erwartungen an das Hagenauer Gespräch, die er auch anonym mit seiner Schrift „An conducat, admittere synodum nationalem" artikuliert hatte, und angesichts des für ihn so überaus enttäuschenden Ausganges der Hagenauer Verhandlungen ist es erklärlich, daß er seine Enttäuschung darüber nicht nur in seiner Korrespondenz notierte, sondern ihr auch literarisch Ausdruck verlieh. Das Resultat ist seine umfangreiche Schrift „Per quos steterit Haganoae initum colloquium". Der Aufenthalt Bucers in Hagenau zwischen etwa dem 22./23.6. und dem 29.7.1540 läßt sich rekonstruieren." Unmittelbar nach dem Gespräch - also im August 1540 - dürfte er an die schriftliche Ausarbeitung seiner späteren Schrift „Per quos steterit Haganoae initum colloquium" gegangen sein. Nachdem drei Viertel der Schrift geschrieben waren, bemerkt der Autor, daß der im Hagenauer Abschied zugesagte „conventus" nach Worms vom Kaiser noch nicht ausgeschrieben sei, obwohl schon der Anfang des Monats September bevorstehe. Kurz vor Abschluß der Schrift heißt es noch einmal: „Sunt enim hodie calendae Septembres, necdum ab imperatore indicitur ... Bucers Schrift ist mit dem I.September des Jahres 1540 abgeschlossen worden.'® Sie hat die Gestalt eines fingierten Briefes. Sein Absender ,Waremund Luithold' schreibt aus ,Aventicum' an ,Walter Ulmann', Archidiakon ,Sancti Tryphonii'. Eine Parallele zu Bucers letzter Schrift „An conducat, admittere synodum nationalem" besteht darin, daß hier wiederum in lateinischer Sprache an einen Geistlichen geschrieben wird. Sein Bezugspunkt bildet aber nicht etwa, wie man vermuten könnte, ein mitabgedruckter vorangegangener Brief 13 Er hielt sich am 15.6.1540 noch in Darmstadt auf, Lenz I, S. 173-174, Nr. 66, und Polit. Corr. 3,8.61 Anm. 3. Am 22.6.1540 schrieb Bucer - nach Straßburg zurückgekehrt - an den Landgrafen, Lenz I, S. 175, Nr.68. Die Delegation des Straßburger Rates begab sich am 21.6.1540 früh nach Hagenau, wo sie mittags eintraf, Polit. Corr. 3, S. 66 Anm. 3. Noch am gleichen Tag richtete sie eine Bitte an den Rat um das sofortige Nachkommen Bucers, Polit. Corr. 3, S.66f., Nr.60. Am 29.6. predigte Bucer in Hagenau, Polit. Corr. 3, S. 77-82, Nr. 77, hier S.78. Viele Briefe Bucers an den Landgrafen, die aus Hagenau abgeschickt worden sind, gab Lenz für die Zeit zwischen dem 3. und 28.7.1540 heraus, Lenz I, S. 175-206. Am 29.7.1540 kehrte die Straßburger Delegation nach Straßburg zurück. Polit. Corr. 3, S. 77-82, Nr. 77, hier S. 82 Anm. 3. Unter ihr dürfte sich auch Martin Bucer befunden haben. 14 MBDS 9, 1, S.285, 25-287, 1. 15MBDS 9, 1,S.317, 13-13. 16 MBDS 9, 1, S.321, 16; vgl. ebda. Anm.410.

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,Ulmanns', sondern die drei Punkte der Anklage der altgläubigen Seite, weshalb die Lutheraner eine „concordia ecclesiarum" in Hagenau verhindert hätten: 1.Die Protestantanten weigern sich, in Anknüpfung an die Gespräche vom Augsburger Reichstag von 1530 das damals Beglichene zu bekräftigen und das Unverglichene zu klären. 2. Sie weigern sich, eine Restituierung oder Sequestrierung der Kirchengüter vor der Klärung der Religionsfrage in einem Gespräch („collocutio de controversiis religionis") vorzunehmen. 3. Sie weigern sich, die von manchen (evangelisch gewordenen) Ständen begehrte Neuaufnahme in ihren Schmalkaldischen Bund (als Zeichen friedlicher Absicht!) auszusetzen." In Bezug auf diese Vorwürfe will dieser Brief herausarbeiten, -wer tatsächlich den für in Hagenau erhofften Anfang des Religionsgespräches verhindert habe. Das nur für diese Publikation gewählte Pseudonym ,Waremund Luithold' erklärt Bucer selbst in einem Brief: „os verum et amans homines".'® ,Aventicum' (,Wibelspurg') ist Avenches (Wifflisburg) im Kanton Waad/Schweiz.'^ Die durch C. Augustijn^" vollzogene Identifikation des fiktiven Adressaten mit dem anonymen Publizisten Konrad Braun überzeugt nicht.^' Mit dem Pseudo-

17 MBDS 9, 1, S. 165, 5-14. 18 Das ist ein Zitat aus einem Brief, mit dem ein Druck von .J'er quos steterit Haganoae initum colloquium" durch Bucer persönlich verschickt wurde. Vgl. dazu den Hinweis des Hrsgs. in MBDS 9, 1, S. 153, auch ebda. Anm.30. 19 MBDS 9, 1, S. 321, 16, auch ebda. Anm. 409. Eine besondere ,Jdrchenpolitische" Bedeutung dieser Ortsangabe kann ich nicht erkennen. Das war anders bei anderen Pseudonymen Schriften Bucers der Jahre 1539/40. Zum Ort „Speyer" vgl. S. 91 und 211, zu „Aschaffenburg" vgl. S. 160. Auffallend ist aber die sehr frühe Versendung von gedruckten Exemplaren dieser Schrift durch Bucer an Freunde in Schweizer Städten, setzt man sie beispielsweise mit der Zusendung an den hessischen Landgrafen erst Mitte September in Beziehung. War die Schrift ,Д'ег quos steterit Haganoae initum colloquium" vielleicht in besonderer Weise zur überblicksartigen Erläuterung der kirchenpolitischen Situation in Deutschland an Adressaten in der Schweiz gedacht gewesen? 20 MBDS 9, 1, S. 153. 21 Vor allem sprechen drei Gründe dagegen: 1. Bucer sieht in ,Ulmann' eine Person, die versprochen hat, ihr Urteil erst zu fällen, wenn sie die Darstellung Waremund Luitholds zur Kenntnis genommen haben wird, MBDS 9, 1, S. 163, 29-165, 4. Brauns Standpunkt im „Gespräch eines Hofrats", präzisiert in seinen „Etlichen Gesprächen", ist derart festgefügt und positionell antiprotestantisch, so daß für deren Argumentationen oder Verteidigungen überhaupt kein Raum bei ihm vorhanden ist. - 2. Die literarische Figur ,Ulmann' ist keineswegs Jurist, wie Augustijn in MBDS 9, 1, S. 153 Anm. 32 meint, sondern Geistlicher. An spezielle juristische Kenntnisse, über die er verfügt, wird ja auch nicht appelliert. Vielmehr ist er abhängig vom juristischen Urteil Brauns, der als „vester patronus", MBDS 9, 1, S.205, 12; 219, 25 und 281, 25, zugleich aber auch als „autor maledici illius dialogi" bezeichnet wird, MBDS 9,1, S. 201,13.-3. Die Stelle, wo Augustijn erstmals auf den Text der Braunschen Publikation ,3in Gespräch eines Hofrats" verweist ,ΛΙ scribis . . . promissam" = MBDS 9, 1, S. 183, 11-15, bezieht sich wohl auf Kritik gegenüber den Punkten des Frankfurter Anstandes, ist aber kein Indiz für eine versteckte Identifizierung Ulmanns mit Braun. „At scribis . . . " hat seinen Bezugspunkt in den als schriftlich formuliert zu denkenden Vorwürfen ,Ulmanns' gegenüber Waremund Luithold, auf die er mit der Schrift .J'er quos steterit Hagnaoae initum colloquium" insgesamt reagiert, MBDS 9, 1, S. 163, 29 und S.201, 9.

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nym Walter Ulmann wird m. E. auf keine historische Person angespielt. ,Ulmann' ist vielmehr der Typ des auf altgläubigen Geistlichen, der durch ,Waremund Luithold' von der Sinnhaftigkeit eines Religionsgespräches noch überzeugt werden kann. Als Adressaten der Schrift „Per quos steterit Haganoae initum colloquium" sind innerhalb des Spektrums der kirchenpolitischen Öffentlichkeit deshalb wiederum primär die vorwiegend lateinisch lesenden Geistlichen und Juristen der altgläubigen Seite anzunehmen wie schon bei „An conducat, admittere synodum nationalem". Dies wird m. E. auch belegt durch den direkten Versand eines der erste Exemplare des Werkes, das spätestens unmittelbar nach dem I.September 1540 bei dem Drucker Wendelin Rihel in Straßburg hergestellt worden ist.^^ Es ging mit einem Begleitschreiben vom 4.9.1540 an einen hohen Beamten des Erzbischofs von Trier.^^ War der Adressat vielleicht der zu Zugeständnissen gegenüber den Protestanten bereite Trierer Kanzler Johann von Enschringen? In Bucers Perspektive war der Kanzler jemand, „der nit so weit vom reich Gottes" entfernt war.^"* Eine weitere Beobachtung verdient es, stärker beachtet zu werden: Bucers Pseudonym ist nicht mehr wie bei den vorangegangenen Gesprächsschriften von 1539/40 ,Conrad Treu zu Fridesleben', sondern er ist jetzt zu ,Waremund Luithold' übergewechselt, einem Namen, den Bucer nur für diese Schrift verwendet hat. Sein Wechsel des Pseudonyms fügt sich sehr gut zur von Bucer selbst beschriebenen grundsätzlichen Funktion der Verwendung von Pseudonyma: „Und das ich frembde namen zü disen bûchern gebrauchet, hab ich allein darumb gethon, das solche bûcher desto weiter kommen und one gefahr gûter leuten möchten gelesen werden, welches mir die recht auch austrucklich zûgeben."25

22 Die beiden bibliographisch nachgewiesenen Drucke unterscheiden sich voneinander vor allem dadurch, daß Druck A = VD 16: В 8938 einen Anhang mit dem Text des Frankfurter Anstandes vom 19.4.1539 enthält, der bei Druck A' = VD 16: В 8939 fehlt. Vgl. dazu MBDS 9, 1, S.159-160. 23 Vgl. MBDS 9, 1, S. 148,153 Anm.30. Das Erzstift Trier galt neben Köln seit dem Oberweseler Fürstentag der rheinischen Kurfürsten 1538 - anders als Mainz - in den Jahren 1539/40 als einer der wenigen geistlichen Reichsstände, der grundsätzlich Vermittlungsinitiativen zwischen Altgläubigen und Lutheranern unterstützte, zuletzt auch beim Gespräch in Hagenau. Der Trierer Erzbischof war auch vorgesehen als einer der Präsidenten des Wormser Gespräches, vgl. Luttenberger, S. 218. Nach dem Tode Johanns III. von Metzenhausen am 22.7.1540 amtierte als Erzbischof ab dem 12.10.1540 Johannes Ludwig von Hagen. Theologischer Berater in Trier war der Dominikaner Ambrosius Pelargus. Er wurde von seinem ehemaligen Ordensbruder Bucer als einer deijenigen unter den Altgläubigen angesehen, dessen theologische Werke besonders abzulehnen seien, vgl. MBDS 9, 1, S. 129, 17. Der Brief Bucers an den hohen Beamten stammt aus der Zeit der Sedisvakanz. 24 Lenz I, Nr. 73, S. 188-191, hier S. 189; vgl. Mk 12, 34. 25 Bucers nachträgliche Erklärung zur Pseudonymität seiner kirchenpolitischen Schriften 1539/40 im Rückblick des Jahres 1545, MBDS 17, S.59, 20-60, 3.

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Anders als Augustijn^® sehe ich in „Per quos steterit Haganaoe initum colloquium" nicht die von Bucer im Februar/März 1540 angekündigte Fortsetzung seiner Gespräche des .Conrad Treu von Fridesleben' zur Konzilsfrage. Dagegen sprechen nicht nur die äußeren Gründe, wie Wechsel des Pseudonyms, der Sprache und der Verzicht auf die Dialogform, sondern vor allem zwei innere Gründe: Die - wenn auch dem Landgrafen angekündigte - Fortsetzung von Bucers Auseinandersetzung mit Brauns „Gespräch eines Hofrats" ist kein eigenwertiger Gegenstand des Briefes des ,Waremund Luithold', verglichen etwa mit dem Stellenwert, den sie bei „Von Kirchengütern" besessen hatte. Sie geschieht im Mittelteil dieser neuen Schrift Bucers eher beiläufig und vor allem in Gestalt von Polemik gegen die Person Konrad Braun.^^ Schließlich wird auch eine literarische Anknüpfung an ,^tliche Gespräche vom Nümbergischen Friedstand" oder „Von Kirchengütern" nicht durchgeführt. Der Frankfurter Anstand in seinen einzelnen Bestimmungen ist, gerade so als ob die „Etlichen Gespräche vom Nürnbergischen Friedstand" nie statt gefunden hätten, erneut das Thema Martin Bucers.^® Auch die summarischen Ausführungen zur Kirchengüterfrage^^ wiederholen Teile seiner Programmschrift „Von Kirchengütem". M.E. enthält diese auf die Hagenauer Verhandlungen zurückschauende Schrift keine grundlegend weiterführenden Aspekte gegenüber dem 1539 und 1540 vorangegangenen Pseudonymen und anonymen Schrifttum Bucers. „Per quos steterit Haganoae initum colloquium" verarbeitet vielmehr, wenngleich partiell nicht so detailliert wie die anderen Schriften, weitschweifig alle aktuellen kirchenpolitischen Themen der Jahre 1539/40, ohne eine besondere Schweφunktsetzung vorzunehmen. Seinen von ihm selbst unterbreiteten Gliederungsvorschlag für seinen Brief an ,Walter Ulmann' hält Bucer nicht durch: die Neuaufnahmen in den Schmalkaldischen Bund beispielsweise thematisiert er entgegen seiner Ankündigung überhaupt nicht.^° Als ,Waremund Luithold' auf den zweiten angekündigten Punkt kommt, die Kirchengüterfrage, erkennt er anscheinend, daß der dem Leser zumutbare Umfang der Schrift bereits erreicht ist. Er will dem Mangel 26MBDS 9, 1 , S . 1 5 0 . 27 MBDS 9, 1, S.201, 13: „autor maledici illius dialogi", ebda. S.201, 28: „Niger ille vel Fuscus"; ebda S.215, 25-26: .Ruscus non est homo pius, ergo non est homo"; ebda. S.283, 6: „vel Fuscus vel Ater quisquam". 28 MBDS 9, 1, 183, 10-201, 6; 235, 26-239, 13. Der Text des Anstandes ist mit neuen Zählzeichen (Bl. * l - * 7 ) als Anhang dem Druck A = VD 16: В 8938 von .J'er quos steterit Haganoae initum colloquium" beigegeben. Er wurde in MBDS 9, 1 - da es sich ja nicht um eine private Arbeit des Theologen Bucer handelt - nicht berücksichtigt. Der kirchenpoZifwcAe Charakter von „Per quos steterit Haganoae initum colloquium" wird durch diese Auslassung des Dokumentes durch die Herausgeber m.E. gemindert. Eine Veröffentlichung des Wortlautes des Frankfurter Anstandes ist m.W. in keiner der sonstigen kirchenpolitischen Publikationen des untersuchten Zeitraumes auszumachen. 29 MBDS 9, 1, 305, 8-321, 16. 30 MBDS 9, 1, 165, 12-14; 305, 12-14; 319, 7.

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abhelfen, indem er seinem Partner eine Schrift an einen gewissen ,Richard Volebius' ankündigt, die die Lücken seiner jetzigen Schrift ausfüllen soll.^' Sie ist wie die in „Per quos steterit Haganoae initum colloquium" ebenfalls angekündigte Schrift des Autors an einen ,Filbrechtus' oder ,Vandalus' über die apostolische Sukzession und das Verhältnis zwischen Bischöfen und Klerus m. W. nie erschienen.^^ Es läßt sich festhalten: Unter neuem Pseudonym hat Bucer mit dieser Schrift die kirchenpolitische Öffentlichkeit noch ein weiteres Mal mit seiner Sicht der Dinge bekannt gemacht. Es geschieht das in Stimmung persönlicher Enttäuschung über den Verlauf des Hagenauer Treffens. Dabei handelt es sich hier weniger - wie noch bei „An conducat, admittere synodum nationalem" - um eine fundierte Werbeschrift für ein deutsches Nationalkonzil, sondern eher um eine nachträgliche Apologie protestantischer Kirchenpolitik des gesamten letzten Jahrzehnts. Die zentrale Stellung der Behandlung der Konzilsfrage, die Augustijn durch seinen Gliederungsversuch herauszuarbeiten versucht hat^^, überzeugt angesichts der Fülle anderer Themen bei,Waremund Luithold' nicht. Sie ist nur ein thematischer Schwerpunkt neben vielen anderen. 4.1.1.2. „ Vom Tag zu Hagenau und wer das Gespräch verhindert hat" Bei seiner anonymen Schrift „An conducat, admittere synodum nationalem" hatte Bucer erlebt, daß ein ihm unbekannter Übersetzer für die Verbreitung der Bucerschen Vorlage in deutscher Sprache gesorgt hatte.^'^ Vermutlich weil er eine Wiederholung dessen verhindern wollte, empfahl er Landgraf Philipp für die Übersetzung seines Buches „Per quos steterit Haganoae initum colloquium" ins Deutsche am 16.9.1540 die hessischen Theologen Johannes Kymeus'^ oder Antonius Corvinus.^^ „[Ich] ... wolt, es were wol 31 MBDS 9, 1, 305, 15-17. 32 MBDS 9 , 1 , 2 9 3 , 6 - 7 . Ebensowenig war eine dritte Schrift des .Conrad Treu zu Fridesleben' erschienen. Vgl. oben S. 170. Dasselbe Phänomen, der Ankündigung keine Fortsetzung folgen zu lassen, begegnet später auch bei Konrad Braun. Vgl. unten S.261. 33 Die inhaltliche Mitte der Schrift Bucers erblickt Augustijn in zwei Passagen: MBDS 9, 1, S.201, 7-205, 31 (bildet für Augustijn den .Auftakt" zu ,3ucers Hauptproblem, der Konzilienfrage") und MBDS 9,1, S. 207,1-221,6 (behandeU Fragen wie Einberufung, Arten von Konzilien, Kompetenzen von Kaiser und Fürsten, Stellung von Laien usw. in historischer Perspektive). Wie Luther in seiner Schrift „Von den Konziliis und Kirchen" stützte sich Bucer dafür besonders auf die gerade in Köln erschienene Konziliengeschichte des Petrus Crabbe, vgl. WA 50, S.514, 2 4 515, 6. 34 Vgl. oben S. 216. 35 Johannes Kymeus (1498-1552) war 1538 Visitator des Bezirks Kassel, ab 1540 Pfarrer in Kassel-Altstadt. Er war selbst als Publizist im Zusammenhang der Konzilsfrage in Erscheinung getreten. Seine Schrift „Ein alt christlich Konzilium . . . zu Gangra . . . gehalten", gedruckt bei Josef Klug in Wittenberg 1537, hatte eine Vorrede Luthers erhalten, vgl. WA 50, S.(45) 46-47. Bibliographischer Hinweis: VD 16: К 2866. 36 Antonius Corvinus tritt außer als Autor (vgl. 1.2.4.) in diesen Jahren auch mehrfach als Übersetzer für kirchenpolitisches Schrifttum in Erscheinung. Er ist der Übersetzer der landgräf-

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verdeutschet, hat aber hie nit geschehen mögen: das woh ich E. f. g. cantzler [= J. Feige] zu lesen gegeben werden. Und were nit böß, daß es auch wol verdeutschet were, daß Corvinus oder Kymeus wol köndten."^^(Hier wiederholt sich unter verändertem Vorzeichen genau dieselbe Bitte um die Herstellung einer Ausgabe in Übersetzung mit Hilfe des hessischen Landgrafen bzw. seiner theologischen Mitarbeiter. Wenige Monate zuvor, im März 1540, hatte Bucer anläßlich seiner deutschen Schrift „Von Kirchengütern" ebenfalls um Corvinus, seinerzeit aber als Übersetzer vom Deutschen ins Lateinische, gebeten.^®) Es gibt aber m. E. keinerlei Hinweise aus den Quellen, daß einer der hessischen Theologen die erbetene Übertragung vorgenommen hat. Es entstand vielmehr die eigenständige deutsche Publikation „Vom Tag zu Hagenau und wer das Gespräch verhindert hat", für die C. Augustijn ausführlich dargelegt hat, an welchen Stellen sie von ihrer lateinischen Vorlage abweicht.^' Die Bearbeitung zeigt eine durchaus profilierte theologische Redaktion, die vor allem das gleichberechtigte Gewicht der Laien in der Kirche neben den Klerikern herausarbeitet und die hervorgehobene Stellung der Heiligen Schrift im kirchlichen Leben der Evangelischen betont. Täglich werde aus ihr in der Gemeinde vorgelesen, sie werde in der Schule gelehrt, eine gute Übersetzung und Auslegungen ihrer Bücher in deutscher Sprache seien vorhanden. Augustijn charakterisiert die Tätigkeit des Bearbeiters zusammenfassend: „Er nahm ... allerlei kleinere und größere Änderungen vor, arbeitete Teile der Schrift um, strich, fügte hinzu und versuchte, sie auf diese Weise einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Er war ein gebildeter Mann mit Beziehungen zu Straßburg, ein talentierter Schriftsteller und begabter Theologe, interessiert an Patristik und Kirchengeschichte."'"' Für ihn folgt aus allen Beobachtungen, daß nur Martin Bucer selbst die deutsche Bearbeitung seiner ursprünglich lateinischen Schrift hergestellt haben kann, allenfalls die Schlußredaktion einem anderen überlassen hat, der für einige kleine Fehler verantwortlich zu machen ist. Eine Vermutung aber, welche Umstände Bucer zu welchem Zeitpunkt zur Schrift „Vom Tag zu Hagenau und wer das Gespräch verhindert hat" bewogen haben könnten, bleibt Augustijn schuldig. liehen Schrift „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Be Weisung" vom 12.4.1540 (vgl. 3.3.1.) und publizierte den ekklesiologischen Kem von Luthers „Wider Hans Worst" 1541 unter dem Titel .Antithesis verae et falsae ecclesiae" (vgl. unten S.301 f.). Tschackert als Hrsg. des Corvinus-BW irrt ebda. S. 82, Anm. zu Nr. 106, wo er Corvinus die Übersetzung von Bucers Schrift ,Λη conducat, admittere synodum nationalem" zuschreibt. Sie ist durch einen Bucer unbekannten Übersetzer ins Deutsche übertragen und verbreitet worden. 37 Lenz I, S. 210-214, Nr. 82, hier S.213. 38 Vgl. S. 169-170. 39 Ausführlich dargestellt in MBDS 9, 1, S. 157-158. Die Übersetzung ist frei. Zahkeiche Eingriffe in die Textvorlage sind vorhanden. Ergänzungen betreffen zusätzliche Hinweise auf Konrad Brauns Werk, den Text des Frankfurter Anstands, die Wormser Landfriedensordnung, Passagen aus Gerson oder Theodoret. Auslassungen betreffen etwa die angekündigten Schriften an ,Richard Volebius' oder .Filbrechtus' bzw. .Vandalus' und eine Polemik gegen Johannes Eck. 40 MBDS 9, 1. S. 159.

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M. E. ist sein Ergebnis dahingehend zu modifizieren, daß es sich bei dem Bearbeiter, wenn es kein Hesse war, durchaus auch um einen anderen Straßburger Theologen gehandeU haben könnte. Einige Elemente der theologischen Redaktion könnten für eine solche Bearbeitung, beispielsweise durch Wolfgang Capito (1478-1541)"*^, sprechen. Da aber äußere Hinweise auf die Herstellung dieser Bearbeitung durch Bucer selbst oder einen anderen Theologen fehlen, muß diese Frage vorerst unbeantwortet bleiben. Weiterhin ist zu fragen: Wurde mit der Übertragung ins Deutsche vielleicht auch eine andere Adressatengruppe im Vergleich zur lateinischen Ausgabe in den Blick genommen? Augustijns These ist zumindest erwägenswert: „Der Bearbeiter zeigt sich mehr an den Dorfpfarrern ... als an den hohen Prälaten interessiert.'"*^ Die deutsche Ausgabe von „Per quos steterit Haganoae initum colloquium" erschien vermutlich im Oktober/November 1540, was sich aus den überlieferten Reaktionen auf sie erschließen läßt. Wie ihre lateinische Vorlage ist sie ebenfalls nur in Straßburg gedruckt worden. Der (erschlossene) Drucker ist aber nicht Wendel Rihel d.Ä., sondern dieses Mal Johann Prüss d.J., der im Jahre 1539 schon das schmalkaldischen „Ausschreiben an alle Stände" und wohl auch Bucers „Von Kirchengütern" gedruckt hatte. 4.1.1.3. Die Verbreitung und Rezeption beider

Schriften

Die Hinweise auf die Verbreitung der Schriften „Per quos steterit Haganoae initum colloquium" und „Vom Tag zu Hagenau und wer das Gespräch verhindert hat" sind spärlich."*^

Capito ist nicht als Übersetzer von Werken Bucers nachgewiesen, übertrug aber z.B. 1533 Erasmus' Werk „De sarcienda Ecclesiae concordia" ins Deutsche (bibliographischer Hinweis: VD 16: С 843). Er war an dem Religionsgespräch in seiner Geburtsstadt Hagenau beteiligt gewesen und besaß kirchenpolitische Kenntnisse aus erster Hand. Aspekte seiner Theologie, die Marc Lienhard, Art. „Capito, Wolfgang", in: TRE Bd. 7, Berlin-New York 1981, S. 636-640 zusammengestellt hat, entsprechen der theologischen Tendenz des Bearbeiters von Bucers lateinischer Schrift ,J'er quos steterit Haganoae initum colloquium": Der Hinweis auf das Hören des einfachen Schriftzeugnis, die Einschärfung der Pflicht zur „cura religionis" für die weltlichen Obrigkeiten nach alttestamentlichem Vorbild und Capitos eigenständiges Bemühen um die Kommentierung der biblischen Bücher gehören dazu. Versteckt sich vielleicht der Bearbeiter hinter der Marginalie des deutschen Drucks, MBDS 9, 1, S. 238 Anm. 133? Ihr zufolge haben Handwerker, die Konrad Braun als Laien für die Regelung kirchlicher Angelegenheiten a limine ablehnt, Kinder, die Doktoren und große Kanzler werden. Bucer und Capito sind nämlich Söhne von Handwerkern gewesen. Capito war überdies 1520-1523 Berater des Erzbischofs Albrecht von Mainz. 42 MBDS 9, 1, S. 158. Für diese Annahme spricht neben der vorgenommenen theologischen Redaktion auch der Wechsel in der Sprache zum Deutschen hin. Leider fehlen Belege darüber, ob die „Dorfpfarrer", wenn sie als Adressaten intendiert waren, diese Schrift Bucers auch rezipiert haben. 43 Vgl. dazu MBDS 9, 1, S. 159.

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In der Korrespondenz des Stephan Roth in Zwickau oder auch der Wittenberger Reformatoren werden diese Werke nirgendwo erwähnt. Die bekannten Belege für die Verbreitung sind folgende fünf: 1. Der Autor sandte, wie schon gezeigt, am 4.9.1540 ein frisch gedrucktes Exemplar von „Per quos steterit Haganoae initum colloquium" an einen namentlich nicht bekannten Beamten des Erzbischofs von Trier. Von Straßburg aus gingen am 7.9.1540 Exemplare zur weiteren Verbreitung an die Stadtgeistlichen Oswald Myconius in Basel sowie Peter Kunz und Sebastian Meyer in Bern.''^ Am 16.9. schickte Bucer ein Exemplar an den hessischen Landgrafen. 2. Zugleich hatte er dem hessischen Landgrafen auch über den Zeitpunkt der Veröffentlichung folgendes mitgeteilt. „Das latinisch [Buch: "Per quos steterit Haganoae initum colloquium,,] hab ich uff die meß zugericht... Der Hinweis „uff die meß zugericht" ist zu verstehen als „rechtzeitig für die Frankfurter Herbstmesse", die Ende September begann, „zum Vertrieb fertiggestellt". Von einer buchhändlerischen Verbreitung der in Straßburg hergestellten lateinischen Ausgabe über diese Messe ist demzufolge auszugehen. Denkbar ist, daß die Schrift auf diesem Weg auch die schon in Worms sich versammelnden Theologen und Räte erreicht hat. 3. Überliefert ist die Notiz des Bernardo Sanzio, die sich m. E. auf diese neueste pseudonyme Schrift von Bucer bezieht: Am 19.11.1540 schickte er aus Worms an den Kardinal Cervini eine - von jenen zu uns (den Altgläubigen) im Widerspruch Stehenden - kürzlich herausgegebene Schrift („ab istis dissidentibus libellus"), aus der deutlich wird, wie alle Dinge miteinander verknüpft sind, die in den vorangegangenen Zusammenkünften und Gesprächen geschehen sind. Sie werde ihm eine nutzbringende Lektüre sein, denn sehr leicht ist aus ihr gründlich zu erwägen, in welchem Stand sich die Sache gegenwärtig befindet.'^^ 4. Eine kurze Erwähnung findet die deutsche Fassung „Vom Tag zu Hagenau und wer das Gespräch verhindert hat" in der nächsten Publikation des angegriffenen Konrad Braun, seinen „Etlichen Gesprächen". Sie setzt die Bekanntschaft eines Exemplars vor dem Jahresende 1540 voraus. Brauns Privatbibliothek enthält allerdings nur eine Druckausgabe von „Per quos steterit Haganoae initum colloquium".'*^ 5. Cochläus' Werk „Philippica quinta in tres libellos Philippi Melanchthonis" vom Jahresende 1540 kritisiert ein deutsches Buch („libello teuthonico") von „Martinus Bucer, sacrilegus Apostata", in welchem dieser die „potestas" des Kaisers herabsetze.'*^ Seit der Zeit des Frankenkönigs Chlodwigs L (481-511) dürfe sie in Deutschland nur eine eingeschränkte Geltung für sich beanspru44 Vgl. dazu MBDS 9, 1, S. 149. 45 Lenz I, S. 210-214, Nr. 82, hier S.212. 46 NBD (1. Abt. 1533-1559) Bd. 6, S. 30-33, Nr. 249, hier S.32, 23-33, 1. 47 Braun (an)„,Etliche Gespräche", Erstes Gespräch, Bl. F (= G) За. Vgl. 4.3.5. 48 Cochläus, ,J'hilippica quinta in tres libellos Philippi Melanchthonis" Bl. N 2b. Vgl. 4.3.1.

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chen. M. E. ist denkbar, daß damit auf jene Stelle in „Vom Tag zu Hagenau und wer das Gespräch verhindert hat" angespielt ist, wo Bucer ausführt, daß das von Chlodwig 489 für das Reich aufgerichtete fränkische Recht auch gerade den Fürsten, Grafen und Städten (Eigen-)Rechte zur Ordnung des Kirchenwesens zugebilligt habe."*' Wenn dies zutrifft, lag ein Exemplar von „Vom Tag zu Hagenau und wer das Gespräch verhindert hat" auch Cochläus spätestens im November/Dezember 1540 vor.

4.1.2. Melanchthons sog. Confessio Augustana variata 4.1.2.1.

Hintergründe

Eine weitere auch kirchenpolitisch wirksame Publikation des Spätherbstes 1540 ist das Augsburger Bekenntnis (= CA) der evangelischen Reichsstände von in der stark überarbeiteten Form, die sog. Confessio Augustana variata. Sie wurde von Philipp Melanchthon in lateinischer Sprache rechtzeitig für die anstehenden Wormser Verhandlungen textlich abgeschlossen und in Wittenberg gedruckt. Die Confessio Augustana variata (= CAvar) ist aber weit mehr als eine Privatarbeit Melanchthons, wie sie z. B. seine aktuellen kirchenpolitischen Schriften „De ecclesiae autoritate", „De officio principum" oder seine von Jonas ins Deutsche übersetzte „Epistel" an den hessischen Landgrafen darstellen.^" „Vielmehr muß die Confessio Augustana variata als offizielle Neuausgabe der Confessio Augustana gelten, die angesichts der veränderten Situation sowohl im innerevangelischen Bereich als auch im Blick auf die Bemühungen um Religionsgespräche ... verfaßt wurde."^' Die Entstehungshintergründe sind summarisch ins Gedächtnis zu rufen, denn die textlichen Vorformen der CAvar sollen demnächst im Rahmen der Edition der Akten und Berichte der Religionsgespräche von Hagenau und Worms neu^^ ediert werden: Angesichts der notwendigen theologischen Vorbereitung auf die kaiserliche Ankündigung eines Religionsgespräches markiert die Aufforderung des Kurfürsten an die Wittenberger Theologen vom 29.12.1539 den Beginn der sozusagen „bundesamdichen Übeφrüfung" des nun fast ein Jahrzehnt alten Augsburger Bekenntnisses und seiner Apologie als geltender Bekenntnisgrundlage der Protestanten und Ausdruck ihres Glaubens mit und in der allgemeinen Kiche Jesu Christi.^^ Das daraufhin in Wittenberg erarbeitete Gutachten vom 49 MBDS 9, 1, S.310, 14-22. 50 Vgl. 1.З.4.; 2.3.1. und 2.3.2. 51 So Berhard Lohse, Art. „Augsburger Bekenntnis, Confutatio und Apologie, I. Augsburger Bekenntnis", in: TRE Bd. 4, Berlin-New York 1979, S. 616-628, hier S.625. 52 Zur Mühlen, S.56. 53 Maurer, S. 215-217.

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18.1.1540^'* wurde durch den Schmalkaldischen Bundestag in Schmalkalden im März/April 1540 beraten und erhielt in Melanchthons Augen den Rang einer Fortschreibung der CA. Dieses Gutachten unterschied zwischen Lehrstücken, äußerlich nötigen Stücken und Adiaphora, über die zwischen den Parteien (auch) verhandelt werden könne. W. Maurer hat nachgewiesen, daß die durch Melanchthon vorgenommene textliche „Amalgamierung" des Gutachtens vom 18.1.1540 mit der CA die CAvar zum Ergebnis hatte. Dieses Verfahren kann von Melanchthon seinerseits aufgrund persönlicher Umstände (schwere Krankheit usw.) - so W. Maurer nicht vor Mitte August 1540 begonnen worden sein.'^ 4.1.2.2. Kirchenpolitische

Ziele

Die CAvar richtet sich an Karl V., wobei ihr kirchenpolitisches Ziel methodisch am besten in Abgrenzung von den Zielen der CA von 1530 zu bestimmen ist: Melanchthon versteht die CAvar programmatisch als Grundlage zur Führung des vom Kaiser vorgeschlagenen Religionsgespräches und zur Beurteilung des theologisch-kirchlichen Streites. Sie zeigt aber auch auf, wie weit sich im Spätherbst 1540 die Kompromißbereitschaft der Schmalkaldener erstreckt und wo die nach wie vor zwischen den Parteien problematischen status controversiae liegen. Die CAvar bezieht sich in ihrer (im Vergleich zu 1530 nur leicht veränderten) Vorrede des kursächsischen Kanzlers Brück allgemein auf die jüngst ausgesprochene Einladung („próxima citatio") des Kaisers, zwischen den Parteien vermitteln zu wollen.^® Damit wird der Bezug zu der Gesprächsinitiative des Kaisers vom Frühling 1540 hergestellt, nicht aber ein Bezug zum Abschied von Hagenau. Der Kaiser wird in der Vorrede von den Schmalkaldenern nachdrücklich aufgefordert, die Einberufung einer Versammlung selbst in die Hand zu nehmen. Er wird dabei an die Vorbilder der frommen Kaiser zur Zeit der Alten Kirche erinnert. „Von ihm [sc. dem Kaiser] wird erwartet, daß er sich von der Wahrheit der evangelischen Lehre überführen läßt."^^ Die Veränderungen der CAvar gegenüber der ursprünglichen CA in ihren Lehrartikeln (Erbsünde, Rechtfertigungslehre, Abendmahl) brauchen im Rahmen dieser Untersuchung nicht berücksichtigt zu werden, da sie 1540/1541 nicht einen unmittelbaren Gegenstand des öffentlichen Streites um die Kirche bildeten.58 54 WA.B 9, S.(19) 21-34 (35), Nr. 3436. 55 Maurer, S.253. 56 „Confessio Augustana Variata", Vorrede Bl. A 4b (= El. 4b); vgl. Maurer, S. 236. 57 Maurer, S.237. 58 Die Veränderungen betreffen vor allem CA Art. IV, V, VI, XV, XX. Deren kirchenpolitische „Funktion" wurde erst viel später in einem umfassenden Sinn „entdeckt", als es nämlich innerhalb des Luthertums zu den Auseinandersetzungen um die Abendmahlsfrage zwischen Gnesiolutheranern und Philippisten kam. Vgl. R. Keller, Art. „Gnesiolutheraner", in: TRE Bd. 13, Berlin-New

Protestantische Publikationen im Umfeld des Wormser Gespräches

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Zur Erhebung der kirchenpolitischen Funktion der CAvar sind vor allem auf die Veränderungen des zweiten Teiles der CA hinzuweisen (Artikel 22-28), der teilweise textlich eine völlige Umgestaltung bis in die Reihenfolge der Artikel hinein erfahren hat. Sie heißen jetzt die „Articuli de abusibus, qui in extemis ritibus mutati sunt". Erhebliche Erweiterungen gegenüber der CA weisen die Ausführungen zur Messe und zu beiderlei Gestalt des Sakraments auf, die in Veränderung zu 1530 außerdem jetzt an die Spitze gerückt sind. Sehr deutlich wird die altgläubige Meßopferlehre und die sich darauf stützende kirchliche Praxis zurückgewiesen. Zeremonienfragen wie diese müssen sich am Zentrum reformatorischer Rechtfertigungslehre messen lassen, ohne daß auf die in der Zeit um 1540 so heftig umstrittene Kirchengüterfrage über den Konnex „Meßstiftungskapitalien" eingegangen würde. Bezüglich der kirchlichen Bräuche führen einige Artikel die durch das Wittenberger Gutachten vom 18.1.1540 vorgegebene Differenzierung zwischen den nötigen Stücken und den Adiaphora durch. Die Befolgung menschlichkirchlicher Ordnungen in der Kirche darf demnach keinesfalls als heilsverbindlich behauptet werden. „Neu ist dabei das Bemühen, solche Ordnungen, auch wo sie in das kirchlich-kultische Gebiet eingreifen, auf die Autorität der weltlichen Obrigkeit zu begründen . . . Im Blick auf die kirchenpolitischen Ziele der CAvar gegenüber dem Kaiser ist der Artikel „De coniugio sacerdotum" von zentraler Bedeutung. Hier wird der Kaiser mit einer „adhortatio" direkt angeredet. Maurer meint, daß an dieser Stelle aus einer in den Anfangsjahren der Reformation auch seelsorgerlich begründeten Maßnahme ein kirchenpolitisches Programm geworden sei, das auf eine grundsätzliche Änderung der Reichsrechtsordnung ziele.®' Denn es sei ein neues Gesetz, das nun von den Gegnern verteidigt wird, das sowohl den Priestern die Ehe untersage als auch bei Pastoren bestehende Eheverträge auseinanderreiße. Es widerstreite dem natürlichen und dem göttlichen Gesetz, dem Evangelium und auch den Bestimmungen der alten Synoden und den Beispielen aus der Zeit der Alten Kirche.^' Deutlicher als sonst an irgendeiner Stelle der CAvar wird der Kaiser an seine Pflichten zur Sorge für die Frommen, besonders auch der frommen Amtsträger, erinnert. Es ist die höchste Ehre der Könige, wenn der Prophet Jesaja sie verpflichtet, die Ammen der Kirche zu sein (Jes 49, 23).^2

York 1984, S.512-519, hier S.516. Die tendenziöse Bezeichnung der CAvar als Variata bezieht sich auf diese Veränderung gegenüber der „Invariata" von 1530. Maurer, S.230. Das entspricht genau der Zielsetzung von ,J)e officio principum", vgl. 2.3.1. 60 Maurer, S. 234. 61 Mel-StA 6, 59, 25-30. 62 Mel-StA 6, 63, 3-5.

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Diese Bitte geht nicht nur von den das Dokument 1530 unterzeichnenden lutherischen Fürsten und Magistraten aus, sondern bei Melanchthon richtet sich hier die ganze Kirche bittend an den Kaiser. Der Artikel „De coniugio sacerdotum" berührt sachlich sehr eng das theologische Gutachten „Defensio coniugii sacerdotum, missa ad Regem angliae", das Melanchthon noch während der Wormser Verhandlungen im Dezember 1540 in Straßburg bei Kraft Müller zusammen mit anderen Werken im Druck veröffentlichen ließ.^^ 4.1.2.3.

Übergabe,

Verbreitung und

Reaktionen

Deutlich ist, daß Melanchthon bei seiner Abreise nach Worms vor dem 17.10.1540 Exemplare der gedruckten CAvar mitgenommen haben muß, die von Georg Rhau in Wittenberg hergestellt worden waren. Sie enthielten die CAvar zusammen mit der gegenüber 1531 unveränderten Apologie der CA. Am 11.11.1540 kündigte man in Worms die Übergabe der Artikel an, auf deren Basis die Protestanten stünden und auch forthin zu stehen beabsichtigten. Aber erst am 30.11.1540 erfolgte die Übergabe im Namen der Bundesverwandten, nachdem die Verhandlungen in Gang gekommen waren: „so hat man den Presidenten zwo confessionen mit der apologie ubergeben, ein lateinisch die ander teutsch."®^ Es kann sich m. E. bei dem lateinischen Exemplar um ein gedrucktes Exemplar gehandelt haben. Ein gedrucktes Exemplar der CAvar in deutscher Sprache ist 1540 (und auch in der Folgezeit) nicht nachgewiesen.^^ Neben dieser offiziellen Übergabe gab es einen weiteren Verbreitungsweg in Worms, nämlich die persönliche Verbreitung durch den Autor Melanchthon. Er hatte in einem Brief aus Worms an Paul Eber in Wittenberg am 15.11.1540 Bibliographischer Hinweis: VD 16: M 2915. Eine deutsche Übersetzung dieses Gutachtens liegt auch in separater Ausgabe vor: „Eine Schrifft Phi = II lip. Melanth. new = II lieh latinisch gestellet / Wid = II der den vnreinen Bapsts II Célibat / vnd verbot der Priester = II ehe. Verdeudtschet durch II Justum Jonam. II Wittemberg. II Anno M. D. XLI. II", 36 Bl., 4°, Drucker: Josef Klug, Wittenberg (bibliographischer Hinweis: VD 16: M 2920). Ein Brief des Hieronymus Weller aus Freiberg vom 3.1.1541 an Justus Jonas forderte ein solches deutsches Exemplar an, JJBW 1, S. 412- 414, Nr. 528, hier S. 413. Es ist davon auszugehen, daß diese kleine (wiederum!) von Jonas übertragene Melanchthonschrift auch zur Zeit des Wormser Kolloquiums dort verbreitet worden ist. Brief des Gesandten Jakob Sturm an die Dreizehn in Straßburg, in: Polit. Corr. 3, S. 134, Nr. 145. Cruciger bestätigte in einem Brief am 30.11.1540 aus Worms an Justus Jonas diesen Vorgang: „Hodie illi offerunt exemplum confessionis et apologiae, quod si dum ille perlegerit expectandum est.", CR 3, 1183-1185, Nr.2068, hier 1184. Vgl. Maurer S.259 Anm. 134. 65 Daraufhat Georg Kretschmar aufmerksam gemacht. Die CA von 1530 war ihrerseits deutsch und lateinisch erarbeitet worden. Vgl. Georg Kretschmar, Der Reichstag von Regensburg 1541 und seine Folgen im protestantischen Lager. Verpaßte Gelegenheit oder Stunde der Wahrheit, in: Hans Martin Barth u.a. (Hgg.), Das Regensburger Religionsgespräch im Jahr 1541, Regensburg 1992, S.47-91, hier S.62. Zur Verbreitung der CAvar bis 1561 vgl. Wilhelm H. Neuser, Bibliographie der Confessio Augustana und Apologie 1530-1580, Nieuwkoop 1987 (BHref Vol. 37), S.18.

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geschrieben: Gestern, nachdem das Bündel mit Briefen versiegelt war, erzählte mir Dölzig, daß hier nach Exemplaren unserer „confessio" und der Apologie verlangt werde, auch wenn wir hier eine gewisse Zahl hergebrachter Exemplare verteilt haben. Darum miete sofort, wenn du diesen Brief erhältst, einen Boten, dem hier sein Honorar ausbezahlt werden wird, und befiehl ihm, ungefähr fünfzehn Exemplare der lateinischen „confessio" herbeizubringen. Und sende nicht mehr als zwanzig Exemplare, noch bepacke den Boten mit einem großen Bündel allzu sehr und bezeichne den Lohn.®® Dieser Bote brachte daraufhin die angeforderten Exemplare der Druckschrift vermutlich Mitte Dezember 1540 nach Regensburg.®^ Ein Exemplar dessen schickte Melanchthon ca. am 17.12.1540 zusammen mit einem Begleitschreiben an Pietro Paolo Vergerio d. J. (1497/98-1565), Bischof von Capodistria/Istrien, der sich im Auftrag des Herzogs von Ferrara in Worms aufhielt. Melanchthons Begleitschreiben hebt den Zweck der Sendung hervor: Selbst wenn auch gewisse andere Schriften von uns vielleicht als Erkennungszeichen genauer sind, werde dennoch durch diesen „libellus" bezeugt, daß wir nicht „a vero consensu Catholicae Ecclesiae Christi" gewichen seien.®* Diese Notiz belegt das ekklesiologische Selbstverständnis der Protestanten, wie es sich in vielen zeitgenössischen kirchenpolitischen Publikationen findet, eben auch noch einmal explizit für die CAvar.®^ Weitere Hinweise auf die Verbreitung von gedruckten Exemplaren durch den Verfasser Melanchthon liegen m. W. nicht vor.

Am Tag zuvor, dem 14.11.1540, hatte Melanchthon um die Übermittlung von Briefen gebeten, ZKG 4 (1881) S.289-290, vgl. MBW 3, Nr.2544. Daß er am 15.11.1540 erneut schreibt, unterstreicht die Dringlichkeit seiner Bitte um Exemplare der CAvar, ZKG 4 (1881) S. 290-291; vgl. MBW 3, Nr. 2549. Zur Bestätigung, daß der namenlose Bote die Exemplare der gedruckten „Confessio Augustana variata" richtig überbracht hat, vgl. Melanchthons Brief an Eber vom 17.12.1540, CR 3, 1233-1234, Nr. 2094; vgl. MBW 3, Nr. 2584. Der Bote, „wilcher etlich vili exemplar Confession und Apologia von hir außgetragen", war am 3.1.1541 noch nicht nach Wittenberg zurückgekehrt, meldete Justus Jonas an diesem Tage den Fürsten von Anhalt, vgl. JJBW 1, S . 4 1 1 ^ 1 2 , Nr.527, hier S.411. Er dürfte entsprechend jeweils etwas mehr als 14 Tage unterwegs gewesen sein zwischen Regensburg und Wittenberg. 68 CR 4, 22, Nr. 2123, vgl. MBW 3, Nr. 2589. H. Scheible begründet m.E. in MBW 3, S. 125, überzeugend diese (Früh-)Datierung: „Es ist anzunehmen, daß M. die CA alsbald verteilt hat, und daß alle zuvor vorhandenen Exemplare offiziellen Zwecken vorbehalten waren." Maurer, S. 266 Anm. 151, folgte der Datierung Januar (?) 1541, die Bretschneider bei CR 4 vorgenommen hatte. 69 Vgl. explizit unter 1.3.4. in Melanchthons ,J)e ecclesiae autoritate", bei Luther unter 1.3.2. „Von den Konziliis und Kirchen" und 5.4.2.„Wider Hans Worst", bei Bucer am deutlichsten in der Rede des Kanonikers/Domherrn in , Λ η conducat, admittere synodum nationalem" (vgl. 3.4.3.). Der Ansprach ist auch auch implizit in den politischen Publikationen der Schmalkaldener, dem „Ausschreiben an alle Stände" (vgl. 1.1.5.), der ,Дesponsio in causa Religionis ad instructionem Domini Theoderici de Manderschit" (vgl. 3.2.2.) und den anderen Veröffentlichungen der Schmalkaldener passim enthalten.

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Über erste Reaktionen auf den Text der CAvar in der Situation des Wormser Gespräches schrieben die brandenburgischen Gesandten Alexander Alesius und Johannes Ludicke an ihren Kurfürsten Joachim II. am 6.12.1540: Vor kurzem haben sie [sc. die Altgläubigen] unser Augsburgisches Bekenntnis in die Hände empfangen, und da ja die letzte Ausgabe erheblich wortreicher und klarer die Sache entfaltet als jene erste, die im 30. Jahr herausgekommen ist, fragen sie, ob das Bekenntnis verändert worden sei und stellen fest, daß einzelne Wörter in der letzten Ausgabe ergänzt worden sind. Sie werden herausgezogen ... und durch diese Künste schleppen sie die Sache hin.™ Granvelle hat die ihm am 30.11.1540 übergebene CAvar unmittelbar an den päpstlichen Nuntius Morone weitergeleitet. Dieser schrieb daraufhin einen scharf blickenden Bericht über das Dokument am 5.12.1540 nach Rom, aus dem hervorgeht, welche kirchenpolitische Funktion die CAvar nach seiner Vermutung für die Protestanten gegenüber den Altgläubigen haben solle.^' Über einige Reaktionen der CAvar auf altgläubigen und „konfessionsneutrale" Reichsstände schrieb auch Jakob Sturm am 19.12.1540 an den Straßburger Rat.^^ Über die erregten Äußerungen Johannes Ecks nach der Entdeckung der theologischen Differenzen zwischen CA und CAvar berichtete schließlich Justus Jonas den Fürsten zu Anhalt am 5.2.1541.^^

4.2. Die politisch-publizistische Episode um das „Brüsseler Edikt" 4.2.1. Die protestantische Sicht des Edikts Karls V. für die Niederlande Die Situation in Worms war sowohl vor der Eröffnung des Gespräches durch Granvelle am 22.11.1540 als auch während der Vorverhandlungen über seine Modalitäten überaus anfällig für Störungen. Ein Beispiel ist die Episode um das sog. Brüsseler Edikt des Kaisers, d. h. ein für Karls Erblande gedachtes Edikt, 70 ARCEG Bd.3, S.298-299, Nr. 101, hier S.299, 27-32; vgl. auch ARG 8 (1910/11) S.408. „ . . . neque conveniens est, cum tractetur de confessione et apologia Augustae exhibita, hos qui tunc non consenserunt illi confessioni et apologiae, interesse eius excussioni. si autem contendant neminem adesse eorum, qui adiuncti sunt post exhibitam confessionem, nisi sub nomine alieno et tanquam asseclas eorum, qui dederunt ipsam Augustanam confessionem, quod fieri licet per recessum Haganoensem: respondetur, quod cum in recessu Haganoensi exprimatur, illi, qui interesse debent nomine utriusque partis, nullus debeat admitti, nisi qui habeat mandatum aut a Catholicis aut a Protestantibus, qui vere sunt Protestantes, et hoc modo excluduntur tum ii, qui non sunt Protestantes, tum ii, quos ex alienis asciscant Protestantes, si non expressi fuerint in mandatis eorum." NBD (1. Abt. 1533-1559) Bd. 6, S. 55-57, Nr. 257, hier S. 56, 24-34. 72 Polit. Corr. 3, S. 146-148, Nr. 157, hier S. 147. 73 JJBW 1, S. 422-^24, Nr. 539, hier S. 424.

Die politisch-publizistische Episode um das .írüsseler Edikt"

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das dann auch als Publikation „Ordnung, Statuten und Edikt von Brüssel" die deutschen Protestanten erregte. An seinem Beispiel wird wiederum deutlich, wie sehr die Publizistik während der Wormser Tagung selbst ein Mittel der unmittelbaren tagespolitischen Auseinandersetzung um den rechten oder falschen Gottesdienst war und den von vielen erhofften Fortschritt im Blick auf eine „pacificatio" der Parteien gefährden konnte. C. Augustijn will schon in Bucers pseudonymer Schrift „Per quos steterit Haganoae initum colloquium" vom 1.9.1540 eine Anspielung auf Verfolgungen der Evangelischen in den Niederlanden ausmachen.^'' Tatsächlich hat aber Karl V. erst am 20.9.1540 in Brüssel erneut ein gegen die Protestanten gerichtetes religionspolitisches Edikt erlassen, das unmißverständlich alle Bücher, die nach der „schwärmerischen Lehre schmecken", indizierte.^^ Die Autoren der verbotenen Bücher werden darin namentlich genannt. Buchdrucker und -Verkäufer sollten ihretwegen visitiert werden. Bei Verharren in der Ketzerei sollten die vom Edikt Betroffenen verbrannt werden.^® Mit Spannung wurden in Worms alle Nachrichten über die neuesten religionspolitischen Absichten des Kaisers, dessen Ankunft man wegen des angekündigten Reichstages in Deutschland erwartete, verbreitet. Dazu zählten auch alle umlaufenden Inteφretationen des „Brüsseler Ediktes": 1. Der Schotte Alexander Alesius, seit 1540 Professor in Frankfurt/Oder und Mitglied der Gesandtschaft des brandenburgischen Kurfürsten, berichtete in einem Schreiben vom 7.11.1540 an Joachim II. von Gerüchten, daß der Kaiser, der sich noch in den Niederlanden aufhielt, „atrocia decreta contra Evangelium" erneuert habe.^^ 2. Bucer schrieb über den Eindruck und die Wirkung des Ediktes am 22.11.1540 aus Worms an den hessischen Landgrafen Philipp: „Nun stöhn leider die sachen, wie E. f. g. auß den brabandtischen edicten zu lesen haben, und ist ein soliche inquisition angerichtet: wa einer nur fur ein bild goht und das haupt nit blößet, so wirdt acht uff in gehabt und er furgenomen, alß der sich argwönig gemacht. Damit die leut zu onseglicher abgötterei getriben werden, machen [sie] zu Brüssel all altar in ire heuser, entlehen bûcher, die sie nicht haben, richten newe salve regina und allerlei abgötterei an, uff das allergrawlichest, und wie es die verzweivleten monch selb begeren, alles auß vorcht der inquisition."^® Erinnerungen an das Martyrium der zwei Augustinermönche aus Antwerpen, die in Brüssel 1523 der staatlichen Inquisition zum Opfer gefallen und verbrannt worden waren, mögen bei den Evangelischen eine Rolle gespielt haben.

74 MBDS 9, 1, S.295, 2-3; vgl. ebda. S. 156 Anm.54. 75 Karl V., „Ordnung, Statuten und Edikt von Brüssel" El. С la. 76 Karl v., „Ordnung, Statuten und Edikt von Brüssel" El. С 3b. 77 ARG 8 (1910/11), S.403-408, hier S.404. 78 Lenz I, S. 235-240, Nr. 89, hier S. 236-237.

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als sie von einem neuen Edikt hörten. Es hatte seinerzeit auch publizistische Wellen ausgelöst.^' Jetzt - in der angespannten Situation der noch nicht durch Granvelle eröffneten Wormser Tagung - traten konkrete Ängste vor einem abrupten Ende der kaiserlichen Gesprächsbereitschaft auf. Unabhängig davon, ob Bucers Befürchtungen berechtigt waren oder nicht, erheben sich darüberhinaus folgende Fragen: Wie ist das neue Edikt vor dem 22.11.1540 nach Worms gekommen? War es als ein Affront gedacht? Offenbarte es die „wahren" Absichten Karls V.? Und waren damit die früheren kaiserlichen Gesprächseinladungen an die Evangelischen und seine Friedensabsichten jetzt noch glaubwürdig? Das Edikt kann m. E. als offizielle Äußerung des Kaisers auf den üblichen Pfaden der Diplomatie die Fürstenhöfe und Kanzleien auch in Deutschland erreicht haben. Andererseits ist das nach seinem Entstehungsort Brüssel benannte Edikt als Druck schon im Jahre 1540 in mehreren Ausgaben in Antwerpen®" hergestellt worden. So ist es auch denkbar, daß es zuerst - etwa durch Kaufleute rheinaufwärts - als eine niederländische Publikation die in Worms versammelten Räte und Theologen erreicht hat. Im Blick auf seine politische Wirkung ist die Antwort auf diese Frage aber bloß von sekundärer Bedeutung.®' Mit einiger Gewißheit läßt sich nur sagen, daß es in den letzten Tagen des November oder am 1./2.12.1540 in Worms bei den Protestanten bekannt geworden und sehr rasch in aller Munde gewesen ist. Es sorgte für beträchtliche Erregung, obwohl seine eigentlichen Adressaten - entgegen der sofort in Worms einsetzenden kirchenpolitischen Inteφretation durch die Protestanten! - die Bürger der niederländischen Provinzen des habsburgischen Imperiums waren. Aus insgesamt fünf Briefen, die alle am 2.12. 1540 aus Worms abgeschickt worden sind, spricht der Wirbel um das Edikt. Der interessanteste unter ihnen ist ein Brief des Alexander Alesius. Er konnte nun die drei Wochen zuvor gegenüber seinen Landesherrn Joachim II. geäußerten Vermutungen bestätigen: „Von einem eurer Diener ist das in Brüssel ausgegangene kaiserliche Dekret gegen unsere Lehre nach hierher zugetragen worden. Aber er ist bloß einen Tag lang hier geblieben und wollte den Druck („libellum") niemandem mitteilen („communicare"); aber ich hoffe, daß euch in Kürze das Edikt des Kaisers geschickt werde."®^ Vgl. Hildegard Hebenstreit-Wilfert: Märtyrerflugschriften der Reformationszeit, in: HansJoachim Köhler (Hrsg.), Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit, SMANF Bd. 13, Stuttgart 1981, S. 3 9 7 ^ 6 , hier bes. S. 3 9 7 ^ 0 6 . Luthers Schrift „Ein Brief an die Christen im Niederland" ist hg. in WA 12, S.(73) 77-80. 80 Zu den niederländischen Ausgaben vgl. die bibliographischen Hinweise im Quellen- und Literaturverzeichnis zu dieser Arbeit unter: Deutschland, Kaiser Karl V. unten S. 335. 81 Es ist nicht anzunehmen, daß das Edikt um den 22.11.1540 schon in einer gedruckten Form in deutscher Sprache in Worms vorgelegen hat. Bucer hätte das vermutlich in seinem Schreiben von diesem Tag dem Landgrafen gegenüber für erwähnenswert gehalten. 82 ARG 8 (1910/11), S. 4 0 3 ^ 0 8 , hier S.407.

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Unklar ist freilich, woher der „libellus" stammte, der diesem brandenburgischen Diener am Ende des Monats November oder am 1./2.12.1540 zur Verfügung gestanden hatte (vgl. oben). Drei weitere Briefe aus Melanchthons Feder vom 2.12.1540 zeigen ebenfalls die von ihm empfundene als brennend empfundene kirchenpolitische Aktualtät des Ediktes an. Er schrieb darüber an Luther®^, Justus Jonas^ und Friedrich Myconius®^ in Gotha. Der fünfte Brief dieses Tages von Kaspar Cruciger an Jonas handelt von derselben Angelegenheit.^® Drucke des Edikts, wie sie der brandenburgische Diener besaß, waren aber ganz offensichtlich am 2.12.1540 in Worms noch Mangelware, denn Melanchthon konnte noch kein Exemplar zusammen mit seinem Brief an Luther nach Wittenberg schicken. Letzterer erhielt den Text des Ediktes in Form eines in Antweφen gedruckten Exemplares oder einer Abschrift vor dem 9. oder 10.12. 1540 durch den kursächsischen Kanzler Brück zugeschickt.®^ Entsprach nun der Inhalt des Brüsseler Ediktes wirklich der gegenwärtigen religionspolitischen Absicht des Kaisers, der doch zum Gespräch geladen hatte, im Blick auf Deutschland? Diese Frage bewegte besonders Luther. Seine diesbezüglichen Einschätzungen im Verlaufe des Monats Dezember 1540 schwanken aber. In einem Schreiben vom 10. (oder 9.) 12.1540 an Justus Jonas bezweifelt er die Herkunft des Brüsseler Ediktes direkt vom Kaiser, da es sich ja hier um ein dem aktuellen religionspolitischen Kurs des Kaisers geradezu kontradiktorisch widersprechendes Dokument handele. Luther meint, der auch publizistisch so überaus aktive Protestantengegner Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel habe es drucken lassen, zumal um das Gesprächsklima in Worms negativ zu beeinflußen oder gar die Verhandlungen zu verhindern: „... ut certum mihi sit pene per Heintze von Wolfenbott. in arce eadem excusum ad disturbandas cogitationes hominum, praesertim in Wormatia."^^ Jonas gab noch am gleichen Tag diesen Hinweis an die Fürsten Joachim und Johann von Anhalt weiter, an welche er auch einen Auszug dieses letztgenannten Briefes Luthers schickte.®' Und in einem Brief vom gleichen Tage an Joh. Ripsch wiederholte Jonas die gleiche Vermutung der Herkunft der in Worms kursierenden Exemplare des Brüsseler Ediktes aus Wolfenbüttel.^ Die Ortsangabe „Wolfenbüttel" ist hier sowohl als kirchenpolitischer Ursprungsort des Ediktes ganz allgemein als auch konkret als Druckort interpretierbar. Von den bibliographisch ermittelten niederländischen und deutschen 83 WA.B 9, S.281-285 Nr.3559; CR 3, 1187f., Nr.2070; vgl. MBW 3, Nr.2572. 84 JJBW 1, S.406f., Nr. 519; vgl. MBW 3, Nr. 2571. 85 CR 3, 1188, Nr.2071; vgl. MBW 3, Nr.2573. 86 CR 3, 1189, Nr. 2072; vgl. JJBW 1, S.406, Nr. 518. 87 WA.B 9, S. 290-291, Nr. 3562, hier 291, 2: „D. Bruck misit tanquam veracem". 88 WA.B 9, S. 290-291, Nr. 3562, hier 291, 4-6. 89JJBWl,S.408,Nr.521. 90 JJBW 1, S. 4 0 8 ^ 0 9 , Nr. 522.

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Drucken von „Ordnung, Statuten und Edikt von Brüssel" ist aber keiner dem Hofdrucker Herzog Heinrichs in Wolfenbüttel, Henning Rüdem, zuzuschreiben. Luthers Vermutung ist m. E. ein beredter Indikator dafür, wie sehr er alle gegen die Protestanten gerichteten kirchenpolitischen Äußerungen grundsätzlich dem publizistisch aktiven Weifen zuordnete. Auch den in Worms anwesenden altgläubigen Theologen blieb das Brüsseler Edikt nicht verborgen. An seiner Echtheit wurden aber durch sie keine Zweifel angemeldet. Johannes Cochläus bemerkte am 14.12.1540 in einem Schreiben an den Kardinal Cervini über das Edikt, daß der Kaiser es verdeutschen ließ.®'

4.2.2. Deutsche Drucke und deren Verbreitung Offensichtlich hat Luther selbst um den 7.12.1540 herum die Herausgabe des kaiserlichen Ediktes im Druck erwogen, womit er es aller Welt bekannt machen wollte, Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel als Urheber voraussetzend.'^ Ein Informationsdefizit über den konkreten Wortlaut des Ediktes ist bei der interessierten kirchenpolitischen Öffentlichkeit vorhanden gewesen. In Mitteldeutschland zeigen dies Mitte Dezember 1540 die wiederholten Bitten des J. L. Metzsch in Mylau und des Franz Pehem in Altenburg an Stephan Roth in Zwickau, man möge ihnen doch Drucke des kaiserlichen Ediktes zusenden.®^ Auch Leonhard Beck schrieb am 19.12.1540 aus Augsburg an Joachim von Watt (Vadian): „Ich het euch auch das kayserlich edict mitgesanndt, dieweil es euch auch fürnemblich betrifft ... [es folgt eine Aufzählung von indizierten Büchern], dessen ich sonnderlich lachen müessen, das dem kayser solchs eingebilldt worden. Dadurch wird auch deutlich, daß man die im Edikt fixierte Absicht des Kaisers, z.B. Bücher bestimmter Autoren (wie etwa die des Humanisten Eobanus Hessus) zu verbieten, gerade auch in humanistischen Kreisen nicht als wirklich ernsthafte Willensäußerung Karls verstehen mochte. Das aktuelle Interesse führte zu vier verschiedenen deutschen Ausgaben des Brüsseler Ediktes: Wohl auf Veranlassung Luthers scheint einer der Wittenberger Drucker (Georg Rhau? Hans Lufft? Josef Klug? Ein anderer?) sich zur Anfertigung einer deutschen Druckausgabe des Ediktes entschlossen zu haben. Fest steht die Zuweisung des von ihm gewählten Titelholzschnittes mit einem Phantasiebild des Kaisers zur Wittenberger Werkstatt Lukas Cranachs d. Älteren.95 91 ZKG 18/1898, S. 440-443, Nr. 69, hier S.442. 92 So in einem Brief an Melanchthon in Worms, WA.B 9, S. 287-290, Nr. 3561, hier S. 288,17 f. 93 Buchwald, S.201f., Nr.637-639 (Schreiben vom 11., 15. und 16.12.1540); vgl. WA.B 9, S.289Anm.7. 94 Die Vadianische Briefesammlung der Stadtbibliothek St. Gallen, Bd. V/2, St. Gallen 1903, S. 654-655, Nr. 1143, hier S.655. 95 Vgl. im Quellen- und Literaturverzeichnis unter: Deutschland, Kaiser Karl V. Dort in der Liste der Drucke Druck 3. Vgl. Abbildung 7, S. 328.

Die politisch-publizistische Episode um das ,3riisseler Edikt"

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Ein Exemplar dieser vor dem 3.1.1541, vermutlich in der zweiten Dezemberhälfte 1540 hergestellten Ausgabe sandte Justus Jonas am 3.1.1541 mit einem Begleitschreiben an die Fürsten Johann und Joachim von Anhalt. Er wies ausdrücklich auf die unveränderte Wiedergabe des Originaltextes hin: „Auch vberschicke [ich] e. f. g. das keyserlich edict[,] alhir [= in Wittenberg] gedruckt [,] mit der rechten mai[e]st[a]et kleidung und wapen, und ist nichts darzu gethan."'^ Einen ebenfalls noch im Jahre 1540, aber in Nürnberg hergestellter, Druck von „Ordnung, Statuten und Edikt von Brüssel", der durch Veit Dietrich an Justus Jonas offensichtlich im Dezember 1540 auch mit einem Begleitschreiben geschickt worden ist, sandte Jonas samt diesem ebenfalls am 3.1.1541 an die Fürsten von Anhalt weiter: „Ich vberschicke e. f. g. das kayserlich edict, wilchs mir von Norimbergk zugeschikht, domeben m[a]g[ist]gri Viti Theodori brief und dor inne Zeitung wilich ich bitt vntertanigklich [,] mir wider zu schicken. Dabei dürfte es sich um ein Exemplar gehandelt haben, das entweder aus der Werkstatt des Nürnberger Druckers Georg Rottmaier oder der seines Kollegen Johann Petreius stammte.'^ Ein weiterer Druck von „Ordnung, Statuten und Edikt von Brüssel", der aber erst aus dem Jahre 1541 stammt, ist Alexander Weißenhorn in Ingolstadt zuzuschreiben, der vorwiegend im Auftrag der altgläubigen Seite arbeitete.^^ Man kann erwägen, ob Weißenhom hier aufgrund des allgemeinen Interesses, im Auftrag des Kaisers, Herzog Heinrichs von Braunschweig-Wolfenbüttel, der bayerischen Herzöge oder etwa gar Johannes Ecks druckte. Wenn sein „Edikt" ein Auftragswerk intransigenter Kräfte war, liegt es auf derselben Ebene wie die neuen F4iblikationen Ecks. Auch sie sollten im Kontext des Wormser Gespräches das politische Ю1та für die Protestanten ungünstig stimmen.

4.2.3. Kirchenpolitische Wirkungen und Luthers Plan einer Gegenschrift Die Inteφretation des Ediktes war für die Protestanten eindeutig: Wie gezeigt, war Luther anfänglich der Auffassung, daß es die Gesprächsbemühungen in Worms, deren praktische Erfolgschancen er sehr gering einschätzte, behindern sollte. Diejenigen politischen Kreise, die daran ein gezieltes Interesse haben 96 JJBW 1, S. 4 1 1 ^ 1 2 , Nr. 527, hier S.412. 97 JJBW 1, S . 4 1 1 ^ 1 2 , Nr.527, hier S.412. 98 Wie Anm. 95, in der Liste der Drucke Druck 1 oder 2. 99 Wie Anm. 95, in der Liste der Drucke Druck 4. 100 Wenn diese Vermutung zutrifft, dann lag dem Druck eine etwas andere Intention zugrunde als etwa Luthers Bemühen, die wahre Intention der Protestantengegner möglichst überall bekannt zu machen. Vgl. zu Eck auch unter 4.3.3.

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könnten, seien für seinen Inhalt und Veröffentlichung unter dem Namen des Kaisers verantwortlich zu machen. Auch andere Wittenberger Theologen äußerten sich in vergleichbarer Weis e . Ü b e r die nachhaltige Wirkung des Ediktes bei den Protestanten, das Veit Dietrich als Druck aus Nürnberg zugeschickt hatte, schrieb Justus Jonas am 9.1.1541 an den kursächsischen Rat Kaspar von Teutleben: „Edictum imperatoris plane ethnicum et Neronianum miserunt mihi d[omi]n[u]s Vitus Theodorus . . . Sed buantum [lies: quantum] hoc tyrannicum edictum ánimos multorum repente alienaverit a Caesare, nemo quisdam facile cogitare aut eloqui potest."">2 Bei den protestantischen Politikern kam es zu analogen Einschätzungen des Ediktes: Der Straßburger Gesandte Heinrich Kopp etwa schrieb aus Antwerpen am 19.12.1540 an den Rat in Straßburg seine Theorie, woher der anzunehmende Gesinnungswandel des Kaisers herrühren könnte: Der Kaiser sei zu „guter christlicher ainigung" sehr geneigt gewesen, sei aber aufgrund päpstlicher Anstiftung, besonders durch seinen Beichtvater und durch die Löwener Theologen, umgestimmt worden. Auf „höchster" Ebene kam es noch gegen Jahresende 1540 in Worms zu einem Gedankenaustausch des hessischen Kanzlers Johann Feige mit dem kaiserlichen Verhandlungsführer Granvelle über die Veröffentlichung von „Ordnung, Statuten und Edikt von Brüssel", worüber am 30.12.1540 Feige an den Landgrafen Bericht erstattete. Granvelle, der, solange der Kaiser selbst noch nicht in Deutschland war, gegenwärtig den Protestanten als berufener Ausleger des kaiserlichen Religionspolitik galt, hat demzufolge die politische Bedeutung des Brüsseler Ediktes für den deutschen Kontext gemindert, ohne seine Herkunft vom Kaiser zu bestreiten.'"^ 101 Als Beispiel mag gelten: „Spalatin bemerkt, daß es [sc. das Edikt] bei vielen treuherzigen Leuten, sonderlich den Anhängern der Augsburg. Konfession und der Apologie viel Bedenken gemacht, daß solch schwind Mandat in Gegenwart des Kaisers und seiner Schwester fast umb die Zeit publiciert und folgend auch im Druck ausgegangen sei, da der Kaiser das Wormser Religionsgespräch ausgeschrieben habe.", WA.B 9, S.283 Anm.5. 102 JJBW 2, S.370-371, (Nachträge) Nr.530a, hier S.371. Die lose Anspielung auf die Ausschreitungen gegen die römischen Christen zur Zeit des Kaisers Nero im Zusammenhang des Brandes der Stadt Rom im Jahre 64 (überliefert bei Tertullian) hebt in Jonas' Perspektive das Maß der Bedrohung hervor, das durch das Edikt eines neuen Kaisers den Lutheranern gegenwärtig drohe. 103 Polit. Corr. 3, S. 145-146, Nr. 156, hier S. 145. War darunter vielleicht Jacobus Latomus? 104 Der Bericht Feiges über dieses Gespräch sei hier zitiert: „Hab ich weither gesagt: aber die edicta, so in Flandern ausgangen sein, di erschregken di unsem über di masse und geben der . . . meinung [i. e. daß der Kaiser in kirchenpolitischen Dingen dem Papst Untertan sei] mer stergkung und crafft, und werden villeicht dl leut daruff vervolget. Daruff anthwortete er [seil. Granvelle] Widder: die edicta sein vor zehn jaren ausgangen und itzt widder emewert. Im Niderland, sonderlich in Flandern, hat sich noch nymands erfunden, der euwem glauben angenomen hette, dan alleine landtleuffer und arme leuth, und sobald sie solichen glauben angenomen haben, so geratten sie in di widderthauff und zur a u f f r u r . . . Dweil nu diem alte religion in denen landen ist, hat man die neu nicht einsprechen lassen wollen, auffrur und soliche dinge zu vorkomen, bissolang ein

Altgläubige Publikationen im Umfeld des Wormser Gespräches

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Interessant ist, daß Luther sich offensichtlich höchstpersönlich mit dem Gedanken zu einer literarischen Reaktion auf das publizierte Brüsseler Edikt trug. Er muß entweder im Dezember 1540 oder im Januar 1541 den Plan dazu geäußert h a b e n . D a r a u f bezieht sich ein Briefwechsel zwischen ihm und dem brandenburgischen Kurfürsten. Letzterer wollte auch jetzt - gemäß seiner auf Vermittlung bedachten Kirchenpolitik - wieder eine Eskalation zwischen altgläubiger und protestantischer Seite vermeiden. Joachim II. teilte Luther am 4.2.1541 mit, daß er im Edikt nicht die eigentliche religionspolitische Absicht des Kaisers dokumentiert sehe („solch Edikt villeicht on Kay. Mjt. wissen oder ye uf ungestumes anhalten und Unrechten bericht"), seine Veröffentlichung „unruhigen" Leuten zuzuschreiben sei, und er von Luthers Plan, „dasselbig mandat zu glosiren oder darwider zu schreiben", gehört habe. Sollte diese Absicht des Reformators noch vorhanden sein, bitte er, der brandenburgische Kurfürst, ihn inständig, ein solches Vorhaben zur Zeit unterbleiben zu lassen oder ganz zurückzustellen.'"® Luther antwortete daraufhin am 13.2.1541 an Joachim IL, daß er diesen Plan nicht [im Sinne von: nicht mehr? G. K.] verfolge. Er halte das Edikt für „vil zu unfletig". Allerdings beabsichtige er, eine Schrift gegen Herzog Heinrich zu schreiben.

4.3. Altgläubige Publikationen im Umfeld des Wormser Gespräches Nicht nur die Protestanten waren im Zusammenhang der Wormser Verhandlungen publizistisch aktiv. Auch einige der altgläubigen Theologen veröffentlichten im Kontext des Wormser Gespräches Schriften, die kirchenpolitisch primär zur Beeinflussung der Teilnehmer dort bestimmt waren. Reaktionen auf das Erscheinen einzelner altgläubiger Werke liegen aus den Korrespondenzen der evangelischen Theologen kaum vor. Lediglich ein summarischer Hinweis findet sich in Melanchthons am 22.12.1540 in Worms Granvelle gegenüber vorgetragener Kritik: Die täglich von ihm gelesenen, kürzlich ausgegangenen Bücher der altgläubigen Gegenseite offenbarten deren wahre Haltung zu den laufenden Vergleichsbemühungen, nämlich keinerlei Tendenz zu Zugeständnissen bei den kirchlichen Bräuchen: „Lego quotidie libros, qui recens eduntur, qui adeo nihil nobis concedunt, ut abusus manifestos ante haec gemeine vergleichung gemacht wurd. Aber wo sein dijhenen, die soliche mandata exequiren, oder wilcher ist darumb geköpft worden?", Lenz I, S. 523-525, Beilagen IV. Documente Nr. 12, hier S.524. 105 Weder aus WA.B noch aus WA.TR ist das direkt als Absichtsäußerung Luthers zu belegen. 106 WA.B 9, S. 322-327, Nr. 3573, hier S.325. 107 WA.B 9, S. 329-330, Nr. 3576, hier S. 330. Damit wird schon hingewiesen auf „Wider Hans Worst", vgl. 5.4.2. Auf ein kaiserliches Edikt - aber welches? - wird von Luther darin hingewiesen, WA 51, S. 554,14. Ist das „Brüsseler" von 1540 oder das „Wormser" Edikt von 1521 gemeint?

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s[a]ecula ab omnibus sanis taxatos adprobent, ut superstitiones Monachorum. Cum talibus quid prodest de concordia pacisci?"^°* Dabei dürfte er vor allem auch die mittlerweile in Mainz erfolgte Ausgabe von Georg Witzeis „Typus ecclesiae prions" samt der beigedruckten deutschen Chrysostomos-Liturgie wie auch die neuesten Bücher von Johannes Cochläus und Johannes Eck"® vor Augen gehabt haben. In Worms wurde beispielsweise auch nach der von Beatus Rhenanus besorgten Ausgabe der Chrysostomos-Liturgie gefragt. Für die Publizistik auf altgläubiger Seite war der Umsturz des Leipziger Druckwesens infolge des Übergangs des Herzogtums Sachsen zur Reformation im Sommer 1539 ein tiefgreifender Einschnitt. Er hatte nämlich nicht nur die publizistischen Bemühungen Witzeis einschneidend getroffen'", sondern auch die bisherigen Möglichkeiten des Cochläus, bestimmte Werke gegen die Evangelischen herauszugeben, vernichtet. Wenngleich nicht in diesem Ausmaß war als Publizist auch Friedrich Nausea von der Einführung der Reformation im Herzogtum Sachsen betroffen gewesen. Lediglich die publizistischen Tätigkeiten Ecks, der seine Werke vor allem in Ingolstadt verlegen ließ, und Konrad Brauns blieben von den Ereignissen in Sachsen unberührt.

4.3.1. Johannes Cochläus' publizistische Bemühungen Nach den Veränderungen im Herzogtum Sachsen und im Bistum Meißen verließ Johannes Cochläus (1479-1552) Sachsen und folgte im September 1539 einem Ruf als Kanoniker nach Breslau. Das letzte durch ihn angeregte, von ihm um einen eigenen Beitrag ergänzte und in Leipzig bei Wolrab 1539 verlegte Werk war die kleine Schrift „Epistola R. D. Cardinalis Jacobi Sadoleti, Episcopi Carpentoractensis etc. ad Joannem Sturmium."."^ Seine Korrespondenz aus dieser Zeit ist voll von Юagen über den eingetretenen Verlust von Möglichkeiten der altgläubiger Seite, die kirchenpolitische 108 Melanchthon an Granvelle am 22.12.1540, CR 3,1242-1246, Nr. 2101, hier 1245; vgl. MBW 3, 2596. 109 Zur Lektüre von Schriften Ecks vgl. auch Melanchthons Bemerkung in seinem Brief an L. Fuchs in Tübingen vom 25.12.1540, CR 3, 2146, Nr. 2102; vgl. MBW 3, Nr. 2598. HO Vgl. den Brief des Konrad Harzbach aus Worms an Beatus Rhenanus vom 5.12.1540, in: Adalbert Horawitz/Karl Hartfelder (Hgg.), Briefwechsel des Beatus Rhenanus, Ndr. Nieuwkoop 1966, Nr. 345, S.471. 111 Vgl. dazu S.74-76. 112 Bibliographischer Hinweis: VD 16: S 1251; Spahn Nr. 135; Claus, Leipziger Druckschaffen, S. 190, Nr. 67. Dieser gedruckte Brief vom Juli 1538 enthäh als Beigabe auf Bl. 7a-Bl. 8a auch einen Brief des Cochläus an den Würzburger Dompropst Moritz von Hutten - ab dem 7.7.1540 Bischof von Eichstätt - datiert am 25.1.1539. Die Verbreitung dieser Publikation ist ebenfalls durch die Korrespondenz des Stephan Roth belegt: Am 26.2.1539 schickte Hans Mauser aus Leipzig an Roth nach Zwickau u. a. auch ein Exemplar von „epistolam Sadoleti ad Sturmium", Buchwald, S. 187, Nr. 582.

Altgläubige Publikationen im Umfeld des Wonmser Gespräches

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Öffentlichkeit mit den Mitteln der Publizistik von der Wahrheit ihres kirchlichen Selbstverständnisses und der geübten Bräuche zu überzeugen. Sein langjähriger Leipziger Drucker Nicolaus Wolrab, der Ehemann seiner Nichte, konnte nicht mehr für ihn tätig sein. Cochläus' rastloser publizistischer Aktivismus wurde insofern zwischen Sommer 1539 und Sommer 1540 spürbar „gebremst", da er in diesem Zeitraum wohl schreiben, seine geschriebenen Werke an geeigneter Stelle aber nicht mehr drucken lassen konnte. Die Briefe zeigen schließlich seine Bemühungen, mit Franz Behem aus Dresden, dem Ehemann einer zweiten Nichte, einen neuen Drucker für Schriften gegen die reformatorischen Theologen auch wirtschaftlich zu etablieren. Dies gelang schließlich 1540 außerhalb von Mainz im St. Viktorstift. In diese Situation des Umbruchs hinein gehören eine Ingolstädter und eine Mainzer Publikation des Cochläus, die beide mit den Verhandlungen in Worms im Zusammenhang stehen. Für deren erste, seine „Philippica quinta in tres libellos Philippi Melanchthonis", ist dieser Kontext vor allem historischer, für das „Colloquium Cochlaei cum Luthero, Wormatiae olim habitum" darüberhinaus auch mittelbar sachlicher Natur. 4.3.1.1.

„Philippica

quinta in tres libellos Philippi

Melanchthonis"

Die Arbeit an einer publizistischen Reaktion des Cochläus auf die im Jahre 1539 publizierten Schriften Melanchthons ist schon für den Monat März 1540 belegt. Zu dessen Schriften, die er widerlegen will, zählt für ihn an erster Stelle „De ecclesiae autoritate" vom 24.6.1539''^, dann dessen kleine katechetische Schrift „Die fürnemsten Unterscheid zwischen reiner christlichen Lehre des Evangelii und der abgöttischen papistischen Lehre""® und schließlich „De officio principum" vom Oktober 1539."^

113 Cochläus an Bischof Giberti von Verona am 31.1.1540, in: ZKG 18 (1898) S.420-423, hier S.421; Cochläus an Centanni am 9.3.1540, ebda. S.423-428, hier S.425; Cochläus an Contarini am 18.6.1540, ebda. S.430-432, hier S . 4 3 1 ^ 3 2 ; Cochläus an R. Vauchop am 20.11.1540, ebda. S. 435-437. Vgl. dazu auch Benzing, Buchdrucker, S. 316-317. iH Cochläus an Contarini am 9.3.1540, in: ZKG 18 (1898) S. 4 2 3 ^ 2 8 , Nr. 62, hier 424 „ . . . dum quintam scriberem Philippicam . . . ". 115 Vgl. 1.3.4. 116 „Die fûmemisten Vn = II terscheid / zwischen reiner II Christlicher Lere des Euangelij / II Vnd der Abgöttischen / II Papistischen Lere. II Psal. CXIIL II Lucerna pedibus meis uerbum tuum. II Philip. Melan. II M.D.XXXIX. II", 8 Bl., 4°, Drucker: Leonhart Milchtaler, Nürnberg (bibliographischer Hinweis: VD 16: M 4377). Das Werk ist ein kleines Kompendium der nach Auffassung Melanchthons wichtigsten Unterschiede zwischen altgläubiger (sog. abgöttischer, papistischer) und reformatorischer (sog. reiner christlicher) Lehre des Evangeliums. Die katechetische Gegenüberstellung erfolgt in 16 Artikeln, wobei die konkurrierenden theologischen Auffassungen in der Erstausgabe bei Milchtaler auch drucktechnisch nebeneinander gestellt worden sind. Nach 1539 wurde das Werk sehr häufig wieder gedruckt. Man vgl. allein die Separatdrucke aus 1540/41 gemäß VD 16: M 4378-M 4382, auch in in dänischer Sprache VD 16: M 4406. 117 Vgl. 2.3.1.

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Die Publikationen von September 1540 bis zur Jahreswende 1540/41

Melanchthon ist für Cochläus zu diesem Zeitpunkt der wirkungsvollste und ohne jeden Zweifel auch entschiedenste Publizist der evangelischen Seite, „quem hactenus Luthero longe mansuetiorem et modestiorem iudicaverunt". Offensichtlich war aber im März 1540 kein Drucker in Aussicht, der Cochläus' Widerlegung gegen Melanchthons Werke verlegen wollte: „sed quid scripsisse iuvat, si non possis edere pro aliis [,] quid scripseris?" Wann aber gelang es Cochläus, im Verlaufe des Jahres, seine Schrift „Philippica quinta in tres libellos Philippi Melanchthonis" an die kirchenpolitische Öffentlichkeit zu bringen? Der Herausgeber von WA.B 9, Otto Clemen, nahm irrtümlicherweise an, daß diese Publikation des Cochläus schon vor dem 15. Juni 1540 gedruckt worden sei: Ein Brief Martin Luthers von diesem Tage an Anton Lauterbach in Pirna spiele demnach mit einiger Wahrscheinlichkeit auf dieses Werk des Cochläus an.'*^ Dann wäre die „Philippica quinta" zur Verbreitung wohl unter anderem schon während der Hagenauer Verhandlungen im Juni/Juli 1540 bestimmt gewesen. M. E. sprechen aber alle Hinweise, die Cochläus selbst gibt, dafür, daß die erste Ausgabe seiner „Philippica quinta" erst gegen Jahresende 1540 im Zusammenhang des Wormser Treffens verbreitet und dort rezipiert worden ist. Sie wurde allerdings noch nicht bei Cochläus' Verwandtem Behem hergestellt, dessen neue Druckerei Mitte Dezember 1540 noch nicht voll funktionsfähig gewesen sein dürfte."^ Ein Brief des Cochläus an Cervini vom 14.12.1540 gibt genauere Auskünfte über Probleme des bei Alexander Weißenhom in Ingolstadt erfolgten Drucks der „Philippica quinta" und die für den Publizisten Cochläus damit verbundenen Kosten: „nam caeteri typographi nobis ñeque fideliter ñeque libenter serviunt, etiamsi aere nostro conducantur, quemadmodum ego nuper expertus sum, quando excusa est mihi Philippica quinta, liber non magnus, pro exigit a me impressor florenos Rhenen. 25, licet neque correcte impresserit neque suum aut loci nomen expresserit in fronte aut calce libri « 120 (Vermutlich mußte Alexander Weißenhorn, der ab 1539 in Ingolstadt ansässig war und Werke Ecks druckte, die 25 Rheinischen Gulden verlangen, weil das verlegerische Risiko bei einer Publikation des Cochläus sehr hoch war. Was aus der Perspektive des Cochläus Empörung hervorruft, kann als Hinweis dafür gelten, daß mit den Werken des Cochläus kein Geschäft zu machen war, weil sich kaum jemand für ihren Inhalt interessierte.) 118 WA.B 9, S. 138-139, Nr. 3497, hier 138,14-19: „Vale et ora pro nobis . . . et pro M. Philippo, qui istuc missus est in medium inimicoram, quos libelli novissimi de Ecclesia et officio principum vehementer offendunt, ut angelis suis mandet de ipso Deus pater Domini nostri Ihesu Christi, qui eum custodiant in omnibus viis suis . . . ". Über die heftigen Anfeindungen gegenüber Melanchthon in Hagenau vgl. Luthers Brief an ihn vom 18.6.1540, WA.B 9, S. 144-146, Nr.3501; vgl. MBW 3, Nr. 2454. 119 Cochläus an Cervini am 14.12.1540, in: ZKG 18 (1898) S.440-443, Nr.69, hier S.441: „officina enim eius nondum est piene instructa; non habet adhuc satis scripturarum typographicarum." 120 Cochläus an Cervini am 14.12.1540, in: ZKG 18 (1898) S.440-443, Nr.69, hier S.441.

Altgläubige Publikationen im Umfeld des Wormser Gespräches

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Im ersten und umfangreichsten Teil seiner „Philippica quinta" bespricht Cochläus Melanchthons „De ecclesiae autoritate", um danach die beiden anderen kleineren Schriften Melanchthons zu widerlegen. Die Schrift ist gerahmt mit einer Vorrede und einem Epilog an Kaiser Karl V.'^' Cochläus, wohl ein eher mäßig begabter Theologe, wiederholte in seinem Buch die traditionellen Argumente der altgläubigen Seite im Blick auf die Theologie der Wittenberger, wie sie bei Cochläus auch an anderer Stelle und bei anderen Gegnern der Reformation regelmäßig in ihren Publikationen zu finden waren.Besonders scharf wendet Cochläus sich im dritten Teil seiner Schrift gegen die Person Philipp Melanchthons, der durch seine kirchenpolitischen und publizistischen Aktivitäten in diesen Jahren ja sehr stark hervorgetreten war. Er nennt ihn einen Befehlsempfänger der evangelischen Fürsten: „Hic est insuper, speciosus ille principum Lutheranorum secretarias, dicam an cancellarius?"'23 Schließlich macht er ihn dafür verantwortlich, daß Fürsten und Magistrate durch die Verdeutschung seiner Schrift „De officio principum" erst dazu aufgefordert würden, sich das Kirchen- und Klostergut unrechtmäßigerweise anzueignen.*^'* 4.3.1.2. „Colloquium Cochlaei cum Luthero, Wormatiae olim habitum " Cochläus war persönlich seit ca. dem I.November in Worms, wo sich allmählich schon die Theologen und Räte versammelten und man Granvelles Ankunft erwartete.Dort muß er sich auch an sein Gespräch mit Luther vor mehr als 19 Jahren am selben Ort erinnert haben. Anläßlich dessen Vorladung zum Wormser Reichstag von 1521 hatte er mit diesem am 24.4.1521 im Zusammenhang der Verhandlungen der „causa Lutheri", die vor der reichsständischen Kommission geführt worden waren, gesprochen.'^® Seinen am 12.6.1521 darüber erstellten Bericht wollte er nun der wie einst in Worms versammelten Reichsöffentlichkeit („ hoc colloquio") bekannt 121 Gliederung der Ausgabe der „Philippica quinta" von 1540 (bibliographischer Hinweis: VD 16: С 4356): 1. Bl. А la: Titelblatt. - 2. Bl. A 2a-A 3a: Vorrede an Kaiser Karl V.-3. Bl. A 3a-G Ib: ,J)e ECCLESIAE IN PRIMVM Philippi libellum autoritate et de veterum scriptis." - 4. Bl. G Ib-K 3a: „IN SECUNDVM PHILIPPI Libellum, de Praecipua differentia inter Christianam Euangelii & Idolatriam Papistarum doctrinam." - 5. Bl. К 3 a - 0 la: „IN LIBELLVM TERTIVM PHILIPPI, De officio principum, contra abusus Ecclesiasticos." - 6. Bl. О l a - 0 2a: Epilog an Kaiser Karl V. 122 Bakhuizen van den Brink, S. 99-101. 123 Cochläus, ,4'hilippica quinta in tres libellos Philippi Melanchthtonis" Bl. L 3a. 124 Cochläus, „Philippica quinta in tres libellos Philippi Melanchthtonis" Bl. L 3a-L 3b. Vgl. 2.3.1., v . a . S . 123-126. 125 Spahn, S. 284. 126 Zur Sache der Vorladung vgl. Schwarz, S. 102-107; zur Ständeverhandlung vgl. Brecht I, S. 442-447, zur Rolle des Cochläus ebda. S. 444-445.

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machen und entschloß sich zur Herausgabe seiner kleinen Druckschrift „Colloquium Cochlaei cum Luthero, Wormatiae olim habitum". Der Zweck dieser kleinen Broschüre des Cochläus ist m. E. nicht primär der historisch-distanzierte Bericht über ein lange Jahre zurückliegendes Ereignis. Am Beispiel seiner einstigen Unterredung mit Luther stellte er die Aussichtslosigkeit jedes „Gespräches" mit Luther oder den Lutheranern, hier konkret für die Situation des Jahresendes 1540 in Worms, heraus.^^^ Am 12.11.1540 schrieb Cochläus zu seinem alten Bericht eine in Worms angefertigte Vorrede. Er gab seinem „Colloquium" die Form eines Berichtes an einen Freund. Es ist nicht zu klären, ob es Druckexemplare dieser oder einer anderen Publikation gewesen sind, die Cochläus in Worms am 20.11.1540 an Robert Vauchop und am 25.11.1540 an Kardinal Cervini schickte.^^^ Es handehe sich bei dem „Colloquium Cochlaei cum Luthero, Wormatiae olim habitum" ohne Zweifel um eines der ersten Produkte aus Franz Behems neuer Druckerei neben Friedrich Nauseas Appell „Hortatio ad ineundam in Christiana Religione Concordiam".'^® Überliefert ist auch, daß „neue" Publikationen des Cochläus vor dem 1.12.1540 auch in Wien vorhanden waren."" War vielleicht neben der „Philippica quinta" auch schon sein „Colloquium" darunter? Eine hohe Wahrscheinlichkeit spricht dafür. 4.3.1.3. Die Verbreitung der Schriften durch ihren

Publizisten

Bei seinem Aufenthalt in Worms sorgte Cochläus offensichtlich persönlich für die Verbreitung seiner Schriften. Dabei lag ihm wohl besonders die „Philippica quinta in tres libellos Philippi Melanchthonis" am Herzen, deren Druck ihn doch so viel Geld gekostet hatte. Drei Hinweise über ihre Verbreitung sind überliefert: 1. Am 14.12.1540 überreichte er dort ein Exemplar an Robert Vauchop, Erzbischof von Armagh/Irland, „qui promisit se missurum esse illud ad urb e m . " " ' Offensichtlich waren die vorhandenen Drackexemplare eher knapp. 127 Die Herausgabe dieses Werkes durch Joseph Greving im Jahre 1910 in der Reihe von Otto Clemen (Hrsg.), „Flugschriften aus den ersten Jahren der Reformation", hier 4. Band, 3.Heft, erweckt vordergründig den Eindruck, es handele sich hier tatsächlich um eine sehr frühe Publikation des Cochläus gegen Luther, die in den öffentlichen Streit um die „causa Lutheri" gehören würde. Die Einordnung des „Colloquium", wie sie hier durchgeführt wird, zeigt den tatsächlichen historischen Entstehungszusammenhang als einer Publikation in kirchenpolitischer Absicht aus der Ära der Religionsgespräche. 128 Cochläus an R. Vauchop am 20.11.1540, in: ZKG 18 (1898) S.435-437, Nr.67, hier S.436, dort bes. Anm.l und Cochläus an Cervini am 24./25.11.1540, in: ZKG 18 (1898) S . 4 3 7 ^ 0 , Nr. 68, hier S. 4 3 8 ^ 3 9 . 129 Vgl. 4.3.4. 130 NBD (1. Abt. 1533-1559) Ed 6, S.215 Anm. 1. 131 Cochläus in einem Brief vom 14.12.1540 an Cervini, in: ZKG 18 (1898) S.440-443, hier S. 442. Ist damit die Stadt Rom gemeint, also eine Übermittlung an die Kurie anzunehmen?

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Denn an den Kardinal Cervini selbst konnte kein Exemplar mit demselben Brief mehr mitgeschickt werden. 2. Einer, wenn auch fünf Jahre später erfolgten, so doch glaubwürdigen Notiz zufolge ließ der Autor seine gerade in Ingolstadt gedruckte Schrift („recens tum aedita Ingolstadii") „Philippica quinta" (ganz offensichtlich in der Situation des Wormser Gespräches) zusammen mit einem Exemplar seiner Schrift „Colloquium Cochlaei cum Luthero, Wormatiae olim habitum" durch den Ulmer Pfarrer Martin Frecht persönlich an den von ihm angegriffenen Philipp Melanchthon überreichen.'^^ Ebenso erinnerte sich Cochläus, daß Melanchthon ihm daraufhin eine Antwort auf seine „Philippica quinta" zugesagt habe.'^^ Eine solche ist m. W. - zumindest in gedruckter Form - nicht ausgeführt worden. 3. Ein anderer, ebenso nicht mehr zeitgenössischer Hinweis auf die Umstände der Verbreitung der „Philippica quinta" ist problematisch: 1544 bekräftigte Cochläus öffentlich mit Hinweis auf einen zuverlässigen Zeugen, daß er die Verbreitung seiner polemischen Schrift „Philippica quinta" entsprechend seiner Hoffnung auf die Eintracht zwischen den Parteien in Worms (etwa nur anfänglich?) unterdrückt habe.'^'^ Aber welche Umstände sollten dann Cochläus ganz offensichtlich am 14.12.1540 bewogen haben, ein Exemplar seiner Schrift an Vauchop zu senden und ein anderes auch an Melanchthon überbringen zu lassen? Etwa die geschwundene Hoffnung auf einen kirchlich-theologischen Konsens der Parteien, da Melanchthon sich gar nicht als so konziliant erwies, wie man ihn früher im Vergleich zu Luther eingeschätzt hatte? Diese späten Hinweise auf die Wormser Situation dienen m. E. vor allem der Rechtfertigung des Publizisten Cochläus, der seinen (faktisch wohl recht gering einzustufenden) Einfluß auf die Kirchenpolitik aus der Distanz größer zeichnet, als er tatsächlich gewesen ist. Daß der so bedeutende Publizist Melanchthon ihn mit einer gedruckten Widerlegung „würdigen" würde, ist ein (durchaus nachvollziehbarer) Wunsch des Cochläus, verkennt aber die Praxis Melan-

132 Cochläus, „In XVIII. Articulos . . . Buceri Responsio" Bl. 4b. An der Nachricht von der Übermittlung eines Exemplares von .philippica quinta in tres libellos Philippi Melanchthonis" über Frecht an Melanchthon ist wohl kein Zweifel anzumelden - wann genau das geschehen sein mag, ist aber aus den zahlreichen Wormser Aufzeichnungen Melanchthons nicht zu ermitteln. Offen bleibt allerdings, warum durch Frecht und nicht etwa in Worms direkt. 133 .philippica quinta", erweiterte zweite Ausgabe bei A. Weißenhom in Ingolstadt 1543, bibliographischer Hinweis: V D 16: С 4357, hier in der Vorrede Bl. А 3b; vgl. auch Greving, S. 188-189. Die erwartete Antwort Melanchthons an Cochläus erfolgte m. W. aber nicht. 134 Cochläus, „Quadruplex concordiae ratio et consideratio" Bl. F 2a: „Neque ignorât ipse Philippus, si verum vult fateri, me propter spem concordiae procurasse, ut ea Philippica neque tunc Vuormaciae neque paulo post Ratisponae venalis extiterit, ne viderer per eam ulla concordiae media aut Consilia turbare." Für die historische Zuverlässigkeit dieser Behauptung mag sprechen, daß Cochläus' Werke nicht wie beispielsweise Ecks Buch gegen Oslander von den bayerischen Gesandten Mitte Dezember ausdrücklich als für die Gesprächsatmosphäre hinderlich bezeichnet worden sind.

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chthons, durch seine kirchenpolitischen Schriften dieser Zeit nicht einzelnen Gegnern zu antworten.'^'

4.3.2. Georg Witzel: „Typus ecclesiae prioris" Sein Schicksal als Flüchtling hatte Georg Witzel schließlich zu Johann von Henneberg, dem Fuldaer Abt, geführt. Jetzt konnte er sich erneut dem Plan widmen, sein schon längere Zeit fertiggestelltes Werk „Typus ecclesiae prioris" der kirchenpolitischen Öffentlichkeit auch als Druckschrift bekannt zu machen.'^® Am 7.6.1540 schloß Witzel seine Vorrede dazu in Würzburg ab. Sie nimmt noch einmal Bezug auf die skizzierten persönlichen und publizistischen Umstände, die einen früheren Druck von „Typus ecclesiae prioris" nach dem Tode des alten Herzogs Georg verhindert hatten: Da alle Verhältnisse sich veränderten, wurde dieses Werk, das schon unter der Buchpresse lag, mit anderen verhindert und vertilgt, worüber er, Witzel, persönlich habe (einiges) Leid ertragen müssen. Witzel, der sich Anfang Dezember 1540 gerade in Mainz aufhielt, erwähnt nun in einem Schreiben an den päpstlichen Nuntius Morone am 5. (oder 1.) 12.1540 ein Buch, das er auf Befehl des Mainzer Erzbischofs verfaßt habe und vom dem jetzt der Halberstädter Weihbischof und Wormser Gesprächsteilnehmer Johannes Mensing ein Exemplar besäße.'^® Spielt er mit dem „Buch" auf den jetzt gedruckten „Typus ecclesiae prioris" an? Wenn ja, so wäre die Herausgabe des Werkes „Typus ecclesiae prioris" in der zweiten Jahreshälfte des Jahres 1540 auch (mit-?)veranlaßt worden durch die Initiative Albrechts von Mainz. M. E. läßt sich aber diese Frage mangels weiterer Beweise nicht klar beantworten. Unbezweifelbar scheint mir hingegen zu sein, daß es ein Mainzer Drucker war, der erstmals Witzeis „Typus" im Zusammenhang des Wormser Religionsgespräches auf den Markt brachte.^^' 135 Vgl. S. 79-80. 136 Vgl. 1.З.З., v.a. S. 73-76. 137 Witzel, „Typus ecclesiae prioris" Bl. A 2b; vgl. Richter, S. 51-52. 138 Vor allem sprechen chronologische Erwägungen dafür, daß es sich um den jetzt in Mainz gedruckten „TVpus" gehandelt haben könnte. Diese These verficht der Hrsg. des Briefes in NBD (1. Abt. 1533-1559) Bd. 6, 279-281 Nr. 16, hier 279, 21-280, 2. Daran Schloß sich P. Fraenkel, Neue Studien, S. 593 Anm. 52 an. W. Friedensburg als früherer Hrsg. desselben Briefes von Witzel an Morone, in: ders.. Fünf Briefe Witzeis (1538-1557), in: ARG 6 (1908/09) S. 234-242, hier S. 238 Anm. 4, nahm hingegen diese Zuordnung noch nicht vor. Die Entstehungsgeschichte des „Typus", wie sie von mir skizziert wurde, spricht im Grunde genommen gerade gegen eine schriftstellerische Tätigkeit Witzeis auf Befehl oder Wunsch des Mainzer Erzbischofs. Oder wollte Witzel mit seiner - bewußt verfälschenden? - Bemerkung sein Werk „Typus ecclesiae prioris" dem Nuntius als ein Auftragswerk des Erzbischofs und damit sich selbst als einen kompetenten Theologen für das Religionsgespräch (oder auch sonst?) empfehlen? 139 Anderer Ansicht ist Günther Wartenberg, Landesherrschaft und Reformation (QFRG 55), Gütersloh 1988. Er meint ebda. S.69 Anm. 248, der „TVpus" sei 1540 in Würzburg gedruckt

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Zu fragen ist, seit wann genau im Herbst des Jahres 1540 der „Typus" auch als kirchenpolitische Publikation öffentlich kursierte. Ein Brief an Beatus Rhenanus vom 22.10.1540 läßt daran keinen Zweifel, daß zu diesem Zeitpunkt die Übersetzung der Chrysostomos-Liturgie von Georg Witzel auch als Druck bekannt war. Da sie m. W. nur als Beidruck zu Exemplaren seines „Typus ecclesiae prioris" bekannt ist, dürfte auch das Hauptwerk „Typus ecclesiae prioris" sicherlich am 22.10.1540 der Öffentlichkeit schon vorgelegen haben. Der verantwortliche Drucker nennt sich an keiner Stelle des Werkes namentlich. Fraenkel schließt auf Franz Behem''*®, der, aus Dresden stammend, seine neue Druckerei der finanziellen Protektion seines Verwandten Cochläus verdankte. Dagegen spricht aber erstens, daß Behem nirgendwo bei seinen ersten Mainzer Arbeiten auf die Kennzeichnung der von ihm hergestellten Werke mit seinem Namen verzichtet hat. Zweitens ist seine Druckerei auf Cochläus' Betreiben und mit dessen tatkräftiger Unterstützung wirklich erst in den allerletzten Monaten des Jahres 1540 eröffnet w o r d e n . S o l l t e sich Franz Behem an den wirtschaftlich für ihn vielleicht risikoreichen Druck des „Typus" schon im Herbst oder spätestens gegen Jahresende 1540 gewagt haben? Das Problem eines verlegerischen Risikos beim Druck Witzelscher Schriften spricht sehr deutlich aus dem am 20.11.1540 geschriebenen Brief des Cochläus an Robert Vauchop: Witzel habe ein „Hagiologium" unter Benützung der Fuldaer Bibliothek geschrieben, ein seiner Meinung nach zweifellos vorzügliches und gut verkäufliches Werk, für das sich aber aus Kostengründen kein Drucker finde. Behem, sein Verwandter, könne das auch nur mit einem finanziellem Zuschuß leisten, um den Cochläus bei seinem Korrespondenzpartner nachsucht. Ein Vergleich der verwendeten Typen des Drucks von Witzeis „Typus ecclesiae prioris" von 1540 mit Konrad Brauns anonymer Dialogschrift „Ein Gespräch eines Hofrats" von Ende 1539"''^ läßt den Schluß zu, daß beide Drucke aus ein- und derselben Werkstatt stammen. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit handelt es sich in beiden Fällen um Arbeiten aus der Werkstatt Ivo Schöffers in Mainz. Schöffer wird von den Herausgebern des VD 16 auch als Drucker der Chrysostomos-Liturgie in der Übersetzung Witzeis a n g e n o m m e n . A b e r warum identifiziert er sich nicht in einem Impressum? Wollte dieser renommierte Drucker sich in beiden Fällen nicht durch einen Vermerk gegenüber den Käu-

worden. Als einziger Würzburger Drucker in dieser Zeit ist bei Benzing, Buchdrucker, S . 5 1 3 f . , Balthasar Müller nachgewiesen, dessen um die Jahreswende 1540/1541 verwendete ТУре aber einen vollkommen anderen Charakter hat, wie z. B. die „Neue Zeitung über den Einritt Kaiser Karls V." am 16.2.1541 in Nürnberg belegt, bibliographischer Hinweis: VD 16: V 2726. 140 Fraenkel, Neue Studien, S.592 Anm.49. Bibliographischer Hinweis: Richter Nr. 52, 1. 141 Vgl. 4.3.1. 142 ZKG 18 (1898), S . 4 5 5 ^ 3 7 , Nr.67, hier S.437. Franz Behem druckte schließlich 1541 das sehr umfangreiche „Hagiologium" von Georg Witzel. Bibliographischer Hinweis: Richter Nr. 53, 1. (Druckbeschreibung Richter, S. 56-58.) 143 Vgl. 2.4. 144 Bibliographischer Hinweis und Erschließung des Druckers: V D 16: J 480.

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fern preisgeben? Und sollte tatsächlich eine (wie auch immer geartete) Mitwirkung Erzbischof Albrechts von Mainz bei der Herausgabe von Witzeis „Typus" stattgefunden haben, wäre doch durchaus verständlich, daß dieser den üblichen Drucker des Hofes und der Universität, nämlich Schöffer, mit dieser Aufgabe betraut hat, die unter den geschilderten Umständen Franz Behem zu diesem Zeitpunkt noch überfordert hätte. Witzeis „Typus ecclesiae prioris" besitzt in der Ausgabe von 1540 einen Umfang von insgesamt 50 Blatt im 4°-Format. Nach einer Vorrede an Johann von Henneberg, den Abt von Fulda, datiert am 7.6.1540, schließt sich der Hauptteil an.''*^ Den Schluß bildet ein „Catalogus" der insgesamt 76 zitierten Kirchenväter und kirchlichen Schriftsteller mit den ungefähren Angaben ihrer jeweiligen Wirkensszeit. Die Palette reicht von Clemens I. (gest. 101) bis Alger von Lüttich (gest. 1131/32). Im Hauptteil der Schrift werden durch Witzel „mit unparteiischem Gemüt" in harmonisierender Absicht Zitate dieser Autoren zu den herkömmlichen kirchlichen Bräuchen zusammengestellt, wobei immer theologische, kirchenhistorische und praktisch-liturgische Gesichtspunkte miteinander verknüpft sind. Das Themenspektrum entspricht dem von Witzeis „Dialogi" von 1539, wenngleich der „Typus ecclesiae prioris" sich durch die Fülle der Belege stärker als ein fundiertes theologisches Werk darstellt als die „Dialogi" des Jahres zuvor, die Witzel ja in erster Linie für Laien geschrieben hatte. Die Themen im „Typus" sind zuerst die Sakramente Taufe, Konfirmation/Firmung, das Altarsakrament, Buße, Ehe, Weihe und Ölung. Mehr als die Hälfte des Textteiles des „Typus" bezieht sich auf die Sakramentenlehre. Daran schließen sich Ausführungen zu verschiedenen Bräuchen an: Zu Festen und Feiertagen, zu Fasten, Beten und Almosen sowie über das exemplarische Leben der vormaligen Christen, den Wandel, die Wunderwerke und die Verfolgungen zur Zeit der Alten Kirche. Zuletzt werden die Konzile, monastisches Leben, Probleme der Häresie und die traditionelle christliche Begräbnispraxis durch Witzel dargestellt. Wie beurteilt Witzel nun selbst den Zweck seiner Publikation, deren theologisches Anliegen er ja im Januar 1539 in Leipzig erfolglos vertreten hatte? Er wollte mit ihr „alhie klârlich und kûrtzlich / den form / gestalt oder bildnis unserer liebsten mütter / der Apostolischen / alten und waren Kyrchen / allen recht gläubigen fromen Christen für die äugen malen". Das kirchenpolitische Ziel ist, daß die geistliche und die weltliche Obrigkeit mit Hilfe der Vorstellungen des „Typus" die gewünschte christliche Reformation d u r c h f ü h r e . D e r Kerngedanke Witzeis ist, daß gegen die als autoritativ und vorbildlich einzustufende Praxis der Alten Kirche schließlich niemand anderslautende Reformvorstellungen über das kirchlich-christliche Leben vertreten könne. Its Witzel, „Typus ecclesiae prioris" Bl. A 4b-N la, wobei eine Seitenpaginierung bei Bl. В la = Bl. I beginnt, die bei Bl. N la = Bl. LXXXIX endet. И6 Witzel, „Typus ecclesiae prioris" Bl. Bl. В la-B Ib.

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Witzel geht davon aus, daß der Leser des Buches „Typus ecclesiae prions" daraus einen geistlichen Gewinn ziehen werde: „... dann das buch bringt sein nutzung mit sich / Und wer es liset / wirdt dardurch entweder im alten glauben gesterckt / oder im newen geschw[a]echt... Alle Gregor Richter 1913 bekannt gewesenen, sehr seltenen Exemplare des Erstdrucks des „Typus ecclesiae prioris" aus dem Jahre 1540 (einschließlich des von mir eingesehene Exemplares in der Bayerischen Staatsbibliothek München) lassen als Beidruck^'^^ Georg Witzeis Übersetzung einer dem Johannes Chrysostomos zugeschriebenen Meßliturgie folgen. Er trägt die neue Titelseite: „Der heiligen messen II brauch / wie er in der alten Kyr = II chen vor tausent jaren 11 gewesen. II Aus S.Joan. Chrysostomo II verdeutscht. II I. Corint. XI. II Probet autem se ipsum homo & с. Dieser Beidruck verfügt eigens über eine von Georg Witzel in Berlin am 24.9.1539 verfaßte Vorrede. Er hebt sich mit einem neuem Alphabet der BO-

u t Witzel, „Typus ecclesiae prioris" Bl. Bl. A 3b-A 4a. 148 Fraenkel, Neue Studien, S. 594 Anm. 62, geht davon aus, daß eine umfassendere neue Bibliographie der Werke Witzeis Hinweise liefern wird, daß es auch selbständige, ohne an das Hauptwerk „Typus ecclesiae prioris" angedruckte oder zumindest angebundene Exemplare der Witzeischen Chrysostomos-Liturgie geben wird. Der Beweis steht noch aus. 149 Witzeis Vorlage ist ganz offensichtlich die Version der Liturgie, die Erasmus von Rotterdam als dem bedeutendsten Herausgeber und Übersetzer von Chysostomos-Werken in den Jahren der Reformation vorgelegen hatte. Denn Witzel benützte für seine Übersetzung, die er während seines Aufenthaltes in Kurbrandenburg am 24.9.1539 in Berlin abgeschlossen haben will, m. E. ganz offensichtlich diejenige Baseler Chrysostomos-Ausgabe von 1539, die Wolfgang Musculus nach Erasmus' Tod 1536 herausgeben hatte (bibliographischer Hinweis: VD 16: J 400). Sie enthält in Tomus V. eine „Missa . . . ab Erasmo Roterodamo ... versa". Ihr Text unterscheidet sich beträchtlich von einer im Abendland im 12. Jahrhundert übersetzten Textfassung, welche in einer alten Handschrift in der Colmarer Klosterbibliothek vom Prior der dortigen Augustiner-Eremiten, Johannes Hoffmeister (1509/10-1547), entdeckt worden war. Die Gegenüberstellung dieser beiden lateinischsprachigen Versionen und ihre Bewertung leistet eine ebenfalls im Jahre 1540 herausgegebene Ausgabe dieser Liturgie durch den Humanisten Beatus Rhenanus (1485-1547) mit einer Vorrede vom 9.2.1540. Ihr Drucker ist Bartholomäus Grüninger in Colmar (bibliographischer Hinweis: VD 16: J 478). Die Differenzen zwischen den verschiedenen beim Religionsgespräch in Worms kursierenden Textfassungen wurden auch ein Gegenstand der Korrespondenz, die man mit Beatus Rhenanus im Herbst 1540 von Worms aus führte. Vgl. Adalbert Horawitz/Karl Hartfelder (Hgg.), Briefwechsel des Beatus Rhenanus, Ndr. Nieuwkoop 1966, S. 466-467, Nr. 340, S . 4 6 9 ^ 7 0 , Nr.343, S.471, Nr.345, auch S.459, Nr.330 und S . 4 7 3 ^ 7 4 , Nr.347. Zur Funktion der Chrysostomos-Liturgie für den Legaten Contarini während des Regensburger Reichstages, nämlich um die Transsubstantiationslehre in das Regensburger Buch einzuschieben, vgl. Fraenkel, Neue Studien, S.594. Schließlich gab 1541 auch Ambrosius Pelargus, der Dominikaner und Trierer Theologe auf den Konventen in Worms und Regensburg, beim Drucker Sebastian Wagner in Worms ebenfalls eine Chrysostomos-Liturgie mit Kommentar heraus:,JDivina ac sacra Liturgia S. Joannis Chrysostomi. Interprete Ambrosio Pelargo Niddano" (bibliographischer Hinweis: VD 16: J 479). 150 Bibliographischer Hinweis: VD 16: J 480.

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genkustoden sowie einer neuen Seitenpaginierung vom Hauptwerk, dem „Typus" im engeren Sinne, ab.'^' Diese durch seine Übersetzung erstmals für die Öffentlichkeit in deutscher Sprache im Druck erschienene Liturgie dient für Witzel dem Nachweis, daß bereits eine so alte und verbreitete Gottesdienstform den durch die reformatorische Theologie bestrittenen Opfercharakter der Messe wie selbstverständlich voraussetzt.'^^ Vermutlich in den ersten Monaten des Jahres 1541 erschien schon eine zweite Ausgabe von Witzeis „ T y p u s " . D i e Ausgabe von 1541 ist gegenüber der Ausgabe von 1540 noch erweitert worden („Reichlich gemehret / vnd II von newem ge = II drückt. II Cum gratia et Priuilegio Caesaro. II M.D.XLI. II"). Sie wurde aber nicht mehr von Ivo Schöffer, sondern jetzt tatsächlich von Franz Behem in Mainz hergestellt. Seine Tätigkeit als Drucker ist hier durch den Schlußvermerk und sein Druckerzeichen gesichert. Auch diese Ausgabe enthält wieder die Chrysostomos-Liturgie. Es folgt aber noch ein zweiter - vermutlich noch im Dezember 1540'^'* von Witzel textlich fertiggestellter - Beidruck mit wiederum (!) neuer Foliierung: „RITVS BAPTI = II ZANDI. II Wie man vor etlichen hundert jaren / der II Christenleute kinder / auff gewônliche zeit II der heiligen ostem / in Christi catholica Kyrch II getaufft hat / Newlich in einem alten II geschriebene buch der Fuldischen II Liberey latinisch funden / II vnd zur âdification der II Christenheit / II Durch GEORG. VVICELIVM II verdeudschet. II ANNO M.D.XLI. II S. PAVLVS. II Omnia decenter & secundum ordinem fiant. II". Exemplare dieser erweiterten Ausgabe des „Typus ecclesiae prioris" konnte man zu Beginn des Regensburger Reichstages im April 1541 kaufen. Ein Schweizer Ritter und Freund Bullingers vermerkte in seinem Exemplar, das sich zusammengebunden mit des Johannes Cochläus ebenfalls bei Behem 1541 in Mainz gedruckten Werkes über den Meß- und Ordinationsritus'^^ in Luzem befindet: „Dises buoch hat hans von hunwiel vff dem reichstag zuo Regensburg vff den 26. Aprellen im 1541 iar vmb. 16 Kreutzer kouft".'^^

151 Witzel, „Typus ecclesiae prioris" Bl. a За (= Bl. V) - Bl. e 4a (= Bl. XXXIX). 152 Aus der Vorrede zur Übersetzung, hier Bl. a 2a. 153 Bibliographischer Hinweis: VD 16: J 481; Richter Nr.52, 2. 154 Vgl. dazu die Textstelle aus einem Brief Witzeis an Morone, in: NBD (1. Abt. 1533-1559) Bd. 6, S. 279-281, Nr. 16, hier S.280, 10-12, die sich auf diesen „Ritus baptizandi" beziehen dürfte: „Praeterea velim removerei ritus atque observationes, quibus est usa tot iam saeculis sanctorum ubique congregatis." 155 Bibliographischer Hinweis: VD 16: С 4352; Spahn Nr. 137. 156 Diesen interessanten Hinweis gibt Fraenkel, Neue Studien, S.593 Anm.57. Zum Verhältnis des „Typus ecclesiae prioris" Witzeis zu der theologischen Position Johannes Ecks in der Frage der Berechtigung der Privatmesse vgl. Fraenkel, Neue Studien, S. 592-595.

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4.3.3. Publikationen Ecks zum Wormser Gespräch Johannes Eck (1486-1543) war seit seiner Leipziger Disputation mit Luther im Jahre 1519 aufs engste mit den theologischen und kirchenpolitischen Auseinandersetzungen um die reformatorische Theologie befaßt gewesen. Eng verbunden war Eck mit dem bayerischen Herzog Wilhelm IV. und dessen Bruder Ludwig. Anläßlich des Augsburger Reichstages von 1530 hatte er 404 Artikel zum Reichstag als Auswahl aus 3000 „häretischen" Sätzen der Reformatoren vorgelegt. Diese erschienen Ende April 1530 im D r u c k . S e i n e Mitarbeit an der Confutatio gegen die CA im Jahre 1530 sowie ein umfangreiches publizistisches Schaffen in den folgenden Jahren sind Ausdruck seines stetigen Bemühens um die Verteidigung der altgläubigen Lehre gegen die Reformatoren. Seit 1510 Professor der Theologie in Ingolstadt war er die beherrschende Figur der bayerischen Landesuniversität. Er ließ die meisten seiner Werke (zuerst) durch Ingolstädter Drucker verlegen. Seit Sommer 1539 hatte sich dort der aus Nürnberg stammende Drucker Alexander Weißenhom niedergelassen.'^® An den Vorbereitungen zum Hagenauer Gespräch war Eck maßgeblich beteiligt gewesen. Er hatte am 6. Juli 1540 dazu ein Gutachten, den „Auszug, wo Chur- und Fürsten [zu Augsburg 1530] eins oder uneins seind mit christlicher Kirchen", v e r f a s s t . E c k war - wie Luther - von Anfang an nicht von den positiven Möglichkeiten eines Vergleichs zwischen den Lutheranern und der altgläubigen Seite überzeugt. Für seine Erneuerung der in Augsburg 1530 festgestellten Gegensätze war Eck im September 1540 publizistisch durch ,Waremund Luithold' (= Bucer) angegriffen worden in der Schrift „Per quos steterit Haganoae initum colloquium".'^" Am Wormser Gespräch nahm der alte theologisch-kirchenpolitische Gegner Luthers wiederum persönlich auf bayerischer Seite teil.'^' Im Vorfeld des Wormser Gespräches verfaßte Eck seinen kleinen offenen Brief an Johannes Fischer, Abt der Zisterzienser-Reichsabtei Salem unter der Fragestellung: „An speranda sit Wormaciae concordia". Er stammt vom 10.10.1540 und sehr wahrscheinlich ließ Eck ihn bei Alexander Weißenhom auch kurz danach drucken, um ihn als offenen Brief einer größeren Öffentlichkeit bekanntzumachen. Die im Titel gestellte Frage hebt deutlich auf die kirchenpolitische Situation des Oktober/November 1540 ab. "57 Bibliographischer Hinweis: VD 16: E 270. 158 Benzing, Buchdrucker, S.214. 159 Die Schrift findet sich CR 3, 1054-1059, Nr. 1978. Den Hinweis daraufgibt auch Bucer in seiner Schrift „Per quos steterit Haganoae initum colloquium", MBDS 9, 1, S. 173, 1-7. 160 MBDS 9, 1, S. 171, 13-179, 14, auch S.259, 18-23; Bucer hatte zuvor schon anonym die Bücher Ecks summarisch kritisiert in „An conducat, admittere synodum nationalem", MBDS 9, 1,S.129, 17. 161 Ein ausführlicher Bericht Ecks über die Wormser Verhandlungen an Herzog Wilheln IV. vom 17.12.1540 ist abgedruckt in: ARCEG Bd.3, Nr. lOlB, S.300-303.

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Nach einer allgemeinen Einleitung über seine Auseinandersetzungen mit den Reformatoren seit seinem Leipziger Kolloquium mit Luther 1519 und seinen in Augsburg vorgelegten 404 Artikeln kommt Eck schließlich auf das in Hagenau zugesagte, jetzt unmittelbar bevorstehende und in Worms zu eröffnende Religionsgespräch, zu sprechen. Von diesem Gespräch erwarteten weder er noch die bayerischen Herzöge einen Fortschritt zur Überwindung des kirchlichen Zwiespalts. Eck führt in einer Liste noch einmal auf, was die Protestanten in ihren Gemeinden alles gegenüber der Tradition verändert haben (Sakramentsverständnis, Glaubensverständnis), wobei die abgelehnten monastischen Übungen (Stundengebete, Fasten, Kasteiung des Fleisches) neben Veränderungen im Verständnis der Hl. Schrift besonders von ihm hervorgehoben w e r d e n . E c k s Vorwürfe bewegen sich in den Bahnen des traditionellen Häresievorwurfes gegenüber den Lutheranern. Als kirchenpolitischer und auch publizistischer Kopf auf der Seite der Reformatoren wird (wie bei Cochläus) sehr deutlich vor allen anderen Melanchthon attackiert, an dessen vorgetragener Konzilianz zu zweifeln ist.'^ Melanchthon wolle als theologischer Abgesandter Kursachsens zum gegenwärtigen Gespräch in Worms auch überhaupt den Altgläubigen keinerlei Zugeständnisse machen. ^^^ Zur Begründung seiner Auffasung führt Eck aus, daß Melanchthon einen Brief verfaßt habe, der bei den Protestanten kursiere und der die eigentliche Absicht der „Luderani" bei den bevorstehenden Wormser Verhandlungen offenbare. Es handeh sich bei dieser „epistola" um das Eck bekannte Gutachten der Wittenberger Theologen vom 18.1.1540, das auf dem Bundestag im März/April 1540 vom sächsischen Kurfürsten den schmalkaldischen Bundesmitgliedern vorgelegt und als Leitlinie künftiger Einigungsgespräche vom Bund gutgeheißen worden war. Es diente Melanchthon als Vorlage bei der der Erstellung der CAvar.'^'' Eck hatte richtig erkannt, daß die theologisch-kirchenpolitische Tendenz Melanchthons in diesem Gutachten, die dann auch in die

162 Eck, ,Λη sit Wormaciae concordia in fide" Bl. A 4a-A 4b. 163 Eck, ,Λη sit Wormaciae concordia in fide" Bl. A 7a. Eck, , Λ η sit Wormaciae concordia in fide" Bl. A 7a. („sparsis libellis") 165 Eck, „An sit Wormaciae concordia in fide" Bl. A 6a. 166 Eck, ,Λη sit Wormaciae concordia in fide" Bl. A 5a-A 5b. 167 WA.B 9, S.(19) 21-34 (35), Nr. 3436. Über seine Funktion als Grundlage der CAvar vgl. oben S. 229 f. und ausführlich den Aufsatz von Wilhelm Maurer, Confessio Augustana Variata, in: ders, Kirche und Geschichte, hg. von E.-W. Kohls und G. Müller, Göttingen 1970, Bd. 1, S. 213-266, hier S. 217-220. Der Hrsg. von WA.B 9 wundert sich ebda. S. 19 darüber, daß dieses Wittenberger Gutachten in altgläubigen Kreisen bekannt geworden ist. (Johannes Cochläus bezog sich nämlich in einer Publikation im Januar 1545 auf dieses Gutachten der Wittenberger.) Die Schrift „An speranda sit Wormaciae concordia" zeigt, daß es sogar schon vor dem 10.10.1540 zumindest seinen Grundzügen nach Eck bekannt gewesen muß.

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gedruckte CAvar eingegangen ist, die protestantische Perspektive auf das Wormser Gespräch bildete. Es ist kein Beleg darüber vorhanden, ob und durch wen Ecks kleiner Brief „An speranda sit Wormaciae concordia" als Druckschrift in Worms rezipiert worden ist. Gesichert ist allerdings durch das Zugeständnis der Gesandtschaft der bayerischen Herzöge, daß ein anderes Werk Johannes Ecks, das wohl auch bei Alexander Weißenhorn in Ingolstadt gedruckt wurde, in Worms kursierte. Dabei handelte es sich um Ecks an den Bürgermeister und Rat der Stadt Nürnberg adressierte „Schutzred kindlicher Unschuld wider den Catechisten Andre Hosander". Sie wurde in Worms als eine Schrift angesehen, die als „schmachbuch" das Gesprächsklima von altgläubiger Seite aus zum Negativen hin beeinträchtige. Es darf davon ausgegangen werden, daß Ecks kleine Schrift „An speranda sit Wormaciae concordia" neben seiner umfangreicheren Schrift gegen Oslander in Worms vermutlich in den Monaten November/Dezember 1540 auf altgläubiger und evangelischer Seite gelesen worden ist. Neben den Schriften aus Cochläus' Feder dürften die Publikationen Ecks auch zu den Schriften gehört haben, die von den in Worms auf Ausgleich bedachten Kräften nicht begrüßt worden sind.

4.3.4. Friedrich Nausea: „Hortatio ad ineundam in Christiana Religione Concordiam" Vom Geist des Erasmus von Rotterdam geprägt ist die gedruckte „adhortatio" des Koadjutors des Johannes Fabri und designierten Bischofs von Wien, Friedrich Nausea (1496-1552).'^^ Er war Teilnehmer der Hagenauer und Wormser Gespräche, wo auch Melanchthon mit ihm korrespondierte.'^" Seine kirchenpolitischen Vorstellungen entwarf er im Jahre 1540 in einer umfangreichen Gutachtertätigkeit für die Reli-

168 Bibliographischer Hinweis: VD 16: E 419. Die Abfassung des Buches wird vom Autor auf Eichstätt, den 18.12.1539, festgesetzt, seine Vorrede auf Eichstätt, den 19.12.1539. Andreas Oslanders Nürnberger Katechismuspredigten waren seit Jahren ein Gegenstand des Konfliktes mit Eck. Vgl. Andreas Oslander d. Α., Gesamtausgabe, Bd. 7, Gütersloh 1988, S. 76-175, Nr. 253, hier bes. S. 81. Über die negative Wirkung von Ecks Buch in Worms berichten die bayerischen Gesandten am 17.12.1540, vgl. ARCEG Bd.3, S. 196-291, Nr.99, hier S.240, 11. 169 Vgl. über ihn Gerhard Philipp Wolf, Friedrich Nausea (1496-1552) Prediger, Kontroverstheologe und Bischof, in: ZBKG 61 (1992), S. 59-101. 170 Überliefert sind zwei Briefe Melanchthons an Nausea, deren erster ca. auf den 18./19.12.1540 zu datieren ist, CR 3, 1263, Nr.2111; vgl. MBW 3, Nr.2590. Der zweite stammt etwa vom 20.12.1540, vgl. CR 3, 1264, Nr. 2113. Ein Regest der Unterredung zwischen Melanchthon und Nausea vom 19.12.1540 bietet Scheible in MBW 3, Nr.2591.

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gionsgespräche'^^ sowie mit seiner Publikation „Hortatio ad ineundam in Christiana Religione Concordiam". L. Cardauns beschrieb die Persönlichkeit Nauseas als „eine schmiegsame und versatile Natur" und meinte, die kirchenpolitischen Positionen Nauseas stünden in einer spürbaren Spannung zwischen „äusserste[r] Zurückhaltung" und „schneidender Offenheit"."^ Für H. Jedin steht Nausea theologiegeschichtlich „schon auf der Scheide zwischen der reinen Kontroverstheologie und der katholischen Reform". Er ist für Jedin „mehr Prediger als Theologe, mehr Humanist als Scholastiker.""^ Inwieweit Nauseas Haltung 1540 in seinen nichtöffentlichen Gutachten von der seiner Publikation abweicht, bedarf hier keiner weiteren Untersuchung. Seine gedruckte Schrift „Hortatio ad ineundam in Christiana Religione Concordiam" richtet sich in Form einer Rede „ad universos in colloquio Wormatiensi congregatos theologos et oratores". Sie wurde von ihrem Autor nicht datiert und enthält auch keinerlei Hinweise auf die gerade aktuellen Umstände des Spätherbstes oder Winters 1540. Nauseas kirchenpolitischer Appell richtet sich an die Gesamtheit der in Worms versammelten Theologen und Räte.""* Es ist (bisher) kein Beleg darüber vorhanden, ob Nausea diese Rede genau so auch während des Wormser Gespräches mündlich vorgetragen hat oder hat vortragen lassen. Von der äußeren Gestalt der Publikation Behems aus betrachtet, ist m. E. eher nicht anzunehmen, daß die gedruckte Fassung einem mündlichen Vortrag etwa aus dokumentarischen Zwecken „folgte". In einem anderen Fall ist allerdings sehr wohl belegt, daß die tatsächlich in Worms gehaltene Rede später gedruckt wurde. Es ist die am 1.1.1541 von dem Italiener P.P. Vergerio gehaltenen Rede „De unitate et pace ecclesiae", die später in Venedig gedruckt wurde. Nausea zeigt in seiner Schrift an Beispielen aus der Geschichte die verheerenden Folgen mangelnder „concordia", zu der uns unsere Natur, die Ordnung 171 Texte der Gutachten bei Cardauns, S. 150-200, Bewertung durch Cardauns, S. 39-52. 172 Cardauns, S. 39-40. 173 Hubert Jedin, Geschichte des Konzis von Trient, Band 1 : Der Kampf um das Konzil, Freiburg 1949,8.319. 174 Nausea, „Hortatio ad ineundam in Christiana Religione Concordiam" Bl. В 4b-C la. 175 Vergerio hielt sich in Worms auf, wo ihn auch durch Melanchthon ein gedrucktes Exemplar der CAvar erreichte, vgl. oben S. 233. In seiner Rede trat er sehr für den Gedanken eines Universalkonzils ein, da ein deutscher Sonderweg mit einem Nationalkonzil der Kirche nur Schaden zufügen würde. Vgl. dazu Friedrich Hubert, Vergerios publizistische Thätigkeit, Göttingen 1892, S.7-11. Auf Drängen des Cochläus, der sich am 13.3.1541 aus Regensburg in einem Brief an Vergerio wandte, sollte diese Rede noch schnell gedruckt werden. Vgl. ZKG 18 (1898) S. 444-446, Nr. 71 und Nr. 72, hier S. 445. Die Rede wurde aber erst im November 1542 in Venedig gedruckt: ,J'ETRVS PAVLUS VER = II GERIVS EPISCOPVS II IVSTINOPOLI = II TANVS. II Ad oratores Principum Germaniae II Qui Vormatiae conuerunt. II DE VNITATE, ET PACE ECCLESIAE. II Labora sicut bonus miles Christi II lesu. Paul, ad Thim. II", 16 Bl., 8°. Bibliographischer Hinweis: Hubert ebda. S.262 Nr. 9, »Exemplar: HAB Wf 152. 2 Quod. (6). Eine deutsche Übersetzung findet sich in der Walchschen Luther-Ausgabe Bd. 17, S. 588-606, Nr. 1347.

Altgläubige Publikationen im Umfeld des Wormser Gespräches

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der Welt, der Geist des Christentums und die Zugehörigkeit zur deutschen Nation aufforden."® Leichtere Mißstände können seiner Auffassung nach akzeptiert werden und brauchen nicht gewaltsam entfernt zu werden. Nausea steht in erasmischer Tradition, wenn er behauptet, daß der gewachsenen kirchlichen Tradition bei Fragen nach den geforderten Reformen ein durchaus bestimmendes Gewicht zusteht. So ist auch die einzige zeitgenössische Autorität, die Nausea ausdrücklich nennt, eben „ille magnus Erasmus Roterodamus".^^^ Kontoverse theologisch-kirchenpolitische Standpunkte der beiden Parteien (z. B. Ekklesiologie, Messe, Kirchengüter usw.) werden von Nausea nicht ausdrücklich thematisiert. Darin unterscheidet sich diese Publikation von denen des Johannes Eck, Johannes Cochläus oder Konrad Braun. Die Schrift „Hortatio ad ineundam in Christiana Religione Concordiam" dürfte noch im Jahre 1540 (im November oder Dezember?) in Mainz beim Drucker Franz Behem in dessen neu eröffneter Druckerei „ad divum Victorem" erschienen sein. Sicherlich ist Nauseas Schrift neben Cochläus' „Colloquium Cochlaei cum Luthero, Wormatiae olim habitum"^^® einer der ersten Drucke, die Behem überhaupt dort herstellte. Inwieweit die Schrift „Hortatio ad ineundam in Christiana Religione Concordiam" tatsächlich in Worms von den Theologen und Räten, an die sie sich richtete, gelesen worden ist, bleibt ungewiß. Belege über ihre Rezeption sind wie für Ecks offenen Brief „An speranda sit Wormaciae concordia" nicht bekannt. Über eventuell erfolgte Nachwirkungen läßt sich ebenso nichts ausmachen.

4.3.5. Konrad Brauns „Etliche Gespräche" Konrad Braun meldete sich ziemlich genau ein Jahr nach dem Erscheinen seiner ersten kirchenpolitischen Schrift ,JEin Gespräch eines Hofrats""® erneut mit drei Dialogen, seinen „Etlichen Gesprächen" zu Wort. Auf die Frage nach den Enstehungshintergründen für seine zweite Schrift gibt M. B. Rößner allgemein die Zeit nach dem am 28.7.1540 beendeten Hagenauer Gespräch an.'®" Diese Angabe läßt sich m. E. aus zwei Gründen noch ein wenig präzisieren:

176 Nausea, „Hortatio ad ineundam in Christiana Religione Concordiam" Bl. В Ib-B 2b. ®' 5. Das Glaubensbekenntnis der Apostel wird ohne Zusätze geglaubt, gesungen und bekannt (wie z.Zt. der Alten Kirche). 6. Das Vaterunser und die Psalmen werden gebetet (wie z. Zt. der Alten Kirche).2oi 7. Die weltliche Obrigkeit wird in der rechten alten Kirche geehrt und für sie wird gebetet (Rom 13, 1-7; I Petr 2,

191 CR 4, 1071-1072, Nr. 2151b, hier 1072; vgl. MBW 3, Nr. 2632. 192 CR 4, 138-140, Nr.2169, hier 140; vgl. MBW 3, Nr.2646. 193 Bibliographischer Hinweis: Benzing, Lutherbibliographie Nr. 3369; WA 51, S. 465, Druck A; VD 16: L 7520. 194 WA 5 1 , 8 . 4 7 6 , 3 1 ^ 7 7 , 18. 195 WA 51, S.485, 25-487, 23; vgl. auch die Zusammenfassung WA 51, S.512, 18-20. 196 WA 5 1 , 8 . 4 7 9 , 2 0 - 3 4 . 197 WA 51, 8.480, 19-30. 198WA51,8.480, 31-481, 23. 199 WA51, 8.481, 24-34. 200 WA 51, 8.482, 17-23. 201 WA 51, 8.482, 24-31. 202 WA 51, 8.482, 32-483, 25.

Schriften zum Kirchenverständnis für den Regensburger Reichstag

297

8. Der Ehestand wird geachtet.^"^ 9. Das Erleiden von Verfolgungen (I Petr 5, 10. Friedfertiges Verhalten der Christen.^®^ Wie bereits angedeutet, weicht Luthers Liste der „notae extemae" in „Wider Hans Worst" in einigen Punkten von der analogen Liste in „Von den Konziiis und Kirchen" von 1539 ab.^"^ Das betrifft nicht nur die Reihenfolge der „notae". Sie ist auch leicht erweitert worden. Neu gegenüber der Schrift von 1539 hat Luther nicht nur Würdigung des Ehestandes^®^ und den Hinweis auf das mit der Alten Kirche gemeinsame Glaubensbekenntnis hinzugenommen, sondern vor allem die Erkennungsmerkmale der „rechten, alten" Kirche hinsichtlich ihrer Stellung im gesellschaftlich-politischen Leben. Sie sei nicht aufrührerisch, selbst wenn sie Verfolgungen ausgesetzt sei, die weltliche Obrigkeit werde in ihr anerkannt und der Ehestand geachtet. Die Hinzufügung dieser letzten Merkmale durch Luther könnte mitveranlaßt worden sein durch die allgemeine politische Situation des Jahres 1541 und die wiederholten Vorwürfe der altgläubigen Seite, die Protestanten würden die Reichsfriedensordnung und Organe der Reichsverfassung, konkret das Reichskammergericht, mißachten und nach Aufruhr im Reich trachten.^"^ Den Verdacht, daß die Protestanten den kaiserlichen Edikten gegenüber nicht gehorchen würden, will Luther überdies in den polemischen Passagen von „Wider Hans Worst" entkräften.^f» In einer zweiten Liste zeigt Luther fernerhin noch, daß die „Papisten" die „neue, falsche" Kirche repräsentieren, da sie Neuerungen eingeführt haben, die unsachgemäß und von daher abzulehnen sind: 1. Die Erfindung einer neuen Taufe (d. h. die Ordensgelübde).^"' 2. Die Einführung des Ablasses.^" 3. Die Funktion von geweihtem Wasser und Salz bei der Taufe.^'^ 4. Wallfahrten als verdienstliche Werke.^"

2Ü3 WÄ51;S.483. 26-35. 204 WA 51, S. 484, 17^85, 17. 205 WA 51,S. 485, 18-24. 206 Vgl. oben S. 67-68. 207 Vgl. zum Thema „Ehe" speziell im Blick auf die Pfarrer vor allem Melanchthons parallele Ausführungen des Jahres 1540 in seiner „Defensio coniugii sacerdotum" (bibliographischer Hinweis: VD 16: M 2915) und auch die CAvar in ihrer aktuellen kirchenpolitischen Zielsetzung. Vgl. 8.230-232. 208 Vgl. dazu auch WA 51, S.532 Anm. 1. 209 WA 51, S. 533, 19-536, 4; vgl. auch zum Vorwurf des Kirchengüterraubs auch kurz WA 51, S. 549, 14-26. Die wahre alte Kirche beansprucht die Kirchengüter legitimerweise! 210 WA 51, S.487, 24-488, 30. 211 WA 51, S.488, 3 1 ^ 8 9 , 18. 212 WA 51, S.489, 19-24. 213 WA51,S.489, 25-30.

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Die Publikationen von Februar bis April 1541

5. Das Bruderschaftswesen.^''· 6. Der Opfercharakter des Altarsakraments.^'^ 7. Die Belastung der Gewissen durch neue Gesetze.^'® 8. Falsche Predigt.^'"' 9. Das Papsttum.218 10. Heiligenfeste und -verehrung.^^' 11. Verachtung des Ehestandes.^^" 12. Der Gebrauch des weltlichen Schwertes durch die Kirche.^^' 5.4.2.3. Polemik gegen Herzog Heinrich und altgläubige

Publizisten

Herzog Heinrich wird so dargestellt, als ob der die wahre Kirche verfolgende Teufel in ihm wirke.^^^ Aufgrund der ihm in Norddeutschland zugeschriebenen Brandstiftungen („Mordbrennereien"), die mittlerweile auch ein Gegenstand der Publizistik geworden waren^^^, wird er mit dem Brandstifter (und Christenverfolger!) Nero verglichen.^^'* Hingewiesen wird auf die Verurteilung Heinrichs durch das Reichskammergericht in der Goslarer Angelegenheit.^^^ Edwards hat sich um eine Würdigung der polemischen Leistungen Luthers im Kontext der seit zwei Jahren schwelenden publizistischen Kontroverse der Schmalkaldener mit Herzog Heinrich bemüht, nachdem besonders von der liberalen Lutherforschung des 19. und der katholischen Lutherforschung des frühen 20. Jahrhunderts Luthers Polemik in „Wider Hans Worst" sehr stark kritisiert worden war. „... it becomes difficult to escape the impression that Against Hanswurst represented an escalation in the coarseness and abusiveness of the controversy. The range of insults has been enlarged and the rhetoric intensified. In part this must be attributed to Luther's vastly superior rhetoric skills. The treatises by Elector Johann Friedrich, Landgrave Philipp, and Duke Heinrich are wooden and plodding in comparison. In part this must also be 214 WA51, S.489, 3 1 ^ 9 0 , 23. 215 WA 5 1 , 8 . 4 9 0 , 2 4 - 4 9 2 , 30. 216 WA 51,8.492, 3 1 ^ 9 3 , 26. 217 WA 51, 8.493, 26-494, 23. 218 WA 51, 8.494, 24-495, 32. 219 WA 51, 8.495, 33-496, 30. 220 WA 51, 8.496, 3 1 ^ 9 7 , 24. 221 WA 51, 8.497, 25-33. 222 WA 51, 8.470, 4-5; 8.472, 15f., S.472, 24-29. 223 WA51, 8.551, 13-17 hebt ab auf den Fall der abgebrannten 8tadt Einbeck, der Schlagzeilen gemacht hatte. Z. B. erschien wohl noch im Jahre 1540 in zwei Ausgaben die anonyme, Ambrosius Trota zugeschriebene Schrift „Der Mordbrenner Zeichen und Losungen", bibliograpischer Hinweis: VD 16: Τ 2089, auch VD 16: Τ 2090. Vgl. zum ganzen Sachverhalt und seiner publizistischen Darbietung 1540 und 1541 Otto Clemen, Eine zensierte Wittenberger Flugschrift vom Jahre 1541, in: ders., Kleine Schriften zur Reformationsgeschichte Bd. 5 (1922-1932), hg. von Emst Koch, Leipzig 1984, S. 114-118, hier bes. 8.114 Anm.2. 224 WA 51, 8.552, 4 f. 225 WA 51, S.567, 28-568, 25.

Schriften zum Kirchenverständnis für den Regensburger Reichstag

299

attributed to Luther's intense conviction that he was engaged in the climatic battle between the true and false church ... Edwards' abschließendem Urteil kann m. E. beigepflichtet werden: „Within this larger context, the coarseness of Against Hanswurst still seems notable but not unique."^^^ Neben Herzog Heinrich werden auch die altgläubigen Publizisten durch Luther namentlich kritisiert: „Wo sind dieser zeit lesterer. Emser [Hieronymus Emser war 1527 gestorben], Ecke [Johannes Eck], Rotzleffel [= Johannes Cochläus], Wetzel [Georg Witzel] ? ir Bücher sind da hin, und zu nicht worden [vgl. den Umsturz des Leiziger Druckgewerbes^^®], Gottes Wort aber bleibt ewig."229

5.4.2.4. Ausgaben, Verbreitung und Rezeption Abgesehen von den zwei Drucken dieser Schrift, die bei Hans Lufft in Wittenberg hergestellt wurden, sind 1541 weitere Druckausgaben von „Wider Hans Worst" bei den Druckern Michael Lotter in Magdeburg^^® und Christian Egenolff in Marburg^^' erschienen. Luthers Schrift „Wider Hans Worst" wurde seit den ersten Apriltagen 1541 durch den Buchhandel vertrieben. Simon Wilde ließ am 11.4.1541 Exemplare von „Wider Hans Worst" aus der Werkstatt Luffts in Wittenberg an Stephan Roth schicken.^^2 J. L. Metzsch, Herr auf Mylau, schrieb bereits am 6.4.1541 an Stephan Roth: „Ich höre sagen[,] das D. Luthers buchlein wider den h. v. braunschweigk vnder tittel von der rechten vnd falschen kirchen soll ausgangen sein, woher dem also, pith wolleth mir eines erlangenn ... Der Zeitpunkt des Schreibens sowie seine Themenangabe (nicht aber der Titel!) weisen auf „Wider Hans Worst" hin. Möglich ist aber auch, daß hier ein Hinweis vor auf den (im engeren Wortsinne „ekklesiologischen") Auszug aus „Von den Konziliis und Kirchen", der 1540 unter dem Titel „Von der Kirchen, was, wer und wo sie sei" bei Johann Petreius in Nürnberg gedruckt worden ist^^'*, vorliegt. Sicheriich ist die Schrift „Wider Hans Worst" - wie auch Cochläus' Schrift „De vera ecclesia" und Amsdorffs anonymes „Getichte" - in Regensburg auch 226 Edwards, S. 154. 227 Edwards, S. 157-158. 228 Vgl. oben S. 74-76. 229 WA51, S.473, 8-9; vgl. WA51, S.474, 15-18. 230 Bibliographische Hinweise: 1. Benzing, Lutherbibliographie Nr. 3370; WA 51, S. 465, Druck B; VD 16: L 7517. - 2. Benzing, Lutherbibliographie Nr. 3371; WA 51, S.465, Druck C; VD 16: 231 Bibliographischer Hinweis: Benzing, Lutherbibliographie Nr. 3372; WA 51, S.465, Druck D; VD 16: L 7519; v. Dommer Nr. 139. Diese Marburger Ausgabe von „Wider Hans Worst" ist der einzige Marburger Druck einer Lutherschrift zwischen 1531 und 1566. 232 Buchwald, S.203, Nr. 647. 233 Buchwald, S.203, Nr.645. 234 Vgl. oben S.69.

300

Die Publikationen von Febraar bis April 1541

kostenlos verteilt worden.^^^ Aus den selben Tagen, nämlich Anfang April 1541, stammen die ersten Reaktionen auf das Erscheinen von Luthers Schrift vor der Reichstagsöffentlichkeit: 1. Melanchthon berichtete am 4.4.1541 von Regensburg nach Wittenberg an Luther über die sehr begierige Lektüre des Werkes in Regensburg: „Scriptum tuum contra Mezentium hic avidissime legitur ... Luther antwortete Melanchthon auf dessen Brief vom 4.4.1541 aus Regensburg am 12.4.1541 unter Hervorhebung seines doch noch sehr moderaten Stiles: „Relegi meum librum contra istum Diabolum Mezentium, et miror, quid mihi acciderit, ut tam moderatus fuerim."^^^ 2. Die Augsburger Reichstagsgesandten schickten aus Regensburg am 6.4.1541 Exemplare von „Wider Hans Worst" neben Johannes Lenings anonymer „Expostulation und Strafschrift Satanae" an den Augsburger Rat. Sie schrieben an die Kriegsräte in Augsburg über die Schrift Luthers, sie gebe „diser zeit bei etlichen, so sagen, es sei zu vil schmach von ainem hauptlerer [sie!] unsers heiligen evangelions dorin [ein]verleibt, nit deine ergemus und wirt geacht, daß die religion mit Hertzog Hainrichs sachen nichts zu thun haben oder darein getzogen sein solten."^^® Dieser Bericht der Augsburger zeigt das mangelnde Verständnis der Zeitgenossen für die von Luther vorgenommene Verknüpfung der ekklesiologischen Fragestellung mit der lediglich als politisch empfundenen Auseinandersetzung der Schmalkaldener mit Herzog Heinrich. Es wird von ihnen nicht erkannt, daß es sich hierbei auch um eine Kirchengutsfrage und damit um eine eminente causa religionis handelte. Auf evangelischer Seite erfuhr „Wider Hans Worst" im Ganzen eher wenig Echo. Melanchthon lobte das Werk. Der Straßburger Theologe und Historiker Sleidan hob hervor, daß es sich bei „Wider Hans Worst" um einen „Uber admodum vehemens" handele.^^' Heinrich Bullinger in Zürich kritisierte in einem Brief gegenüber Martin Bucer den heftigen Stil Luthers.^'"' Der publizistisch bemühte altgläubige Vermittlungstheologe Georg Witzel sah in der Veröffentlichung von Luthers Schrift „Wider Hans Worst" ein deutliches Hindernis auf dem Weg zu einer kirchlichen Einigung und den Frieden in Deutschland, wie er am 18.4.1541 an Johann Dantiscus, den Bischof von Ermland, schrieb.^''' Die „Vierte beständige Antwort" Heinrichs von Braunschweig-Wolfenbüttel vom 4.4.1541 geht auffälligerweise auf Luthers Angriff gegen den Herzog 235 Mit Koldewey, S. 33, dem Belege dafür vorgelegen haben. 236 WA.B 9, S. 359-360, Nr. 3593, hier S.360, 11; vgl. CR 4, 148-149, Nr. 2176 und MBW 3, Nr. 2655. 237 WA.B 9, S. 365-367, Nr. 3597, hier S.366, 19-20; vgl. MBW 3, Nr. 2663. 238 a r g 3 (1905/06), S. 20-21, Nr. 33, hier S. 20. 239 Koldewey, S.76 Anm.45 und WA 51, S.464 Anm. 1. 240 Vgl. Edwards, S. 154-155, bes. Anm. 69. 241 WA 51, S.464 Anm.2; vgl. Richter, S. 177, bes. Anm. 1.

Schriften zum Kirchenverständnis für den Regensburger Reichstag

301

durch seine jüngste Schrift nicht ein.^'*^ Explizite Gegenschriften auf Luthers Werk hat es m. W. nicht gegeben. 5.4.2.5. „Antithesis

verae etfalsae

ecclesiae"

Die lateinische Teilausgabe von Luthers „Wider Hans Worst" gehört nicht mehr in die Situation des Anfangs des Reichstages, ist aber offensichtlich noch für die (nichtdeutsche) Öffentlichkeit auf dem Reichstag hergestellt worden. Zu den Theologen der hessischen Gesandtschaft in Regensburg zählte neben Johannes Lening auch Antonius Corvinus, der 1539 als selbständiger Publizist^'*^ und zuletzt als Übersetzer der landgräflichen Schrift gegen Herzog Heinrich vom 12.4.1540^'*^ hervorgetreten war. Er übertrug in Regensburg wohl im Monat Mai^'*^ den mittleren, ekklesiologischen Teil von „Wider Hans Worst" mit der durch Luther vollzogenen Gegenüberstellung der rechten und der falschen „notae externae" der Kirche ins Lateinische.^'^® Die polemischen Passagen Luthers gegen den Weifen einer Übersetzung ins Lateinische zu unterziehen, hielt man offensichtlich in Regensburg evangelischerseits nicht für notwendig oder hilfreich. Damit vollzog sich, was schon nach der Veröffentlichung von „Von Konziliis und Kirchen" 1539 mit der Nürnberger Publikation „Von der Kirchen, was, wer und wo sie sei" sich 1540 ereignet hatte. Luthers explizite Aussagen über die Kirche wurden, herausgelöst aus seinen umfangreicheren und zeitbezogenen kirchenpolitischen Publikationen, für die interessierte Öffentlichkeit noch einmal separat dargeboten.^'^' Der Titel des lateinischen Auszugs lautet: „ANTI- II THESIS VERAE II ET FALSAE ECCLESIAE, II autore D. M. Luthero, II per Antonium Cor = II uinum latini = II tate do = II nata. II M. D. XLI. II Soli Deo gloria. II".^''» Corvinus versah sein Buch „Antithesis verae et falsae ecclesiae" mit einer eigenen Vorrede, die vom 26.5.1541 s t a m m t . S i e enthält auch einen informativen Bericht über die aktuellen Ereignisse aus der Stadt des tagenden Reichstages, der aber die im Rahmen dieser Untersuchung interessierende publizistische Situation nicht berührt. Gewidmet ist die Veröffentlichung nicht, wie man 242 Bibliographischer Hinweis: VD 16: В 7283. 243 Vgl. 1.2.4. 244 Vgl. S. 194-195. Zu den speziellen hessischen Publikationen für Regensburg vgl. 5.2. 245 Corvinus-BW, S. 89-93, Nr. 121, hier S. 91-92; in Luther-Corvinus, .Antithesis verae et falsae ecclesiae" Bl. A 3b-A 4a. 246 Der Abschnitt entspricht WA 51, S.476, 34-531, 34. 247 Vgl. oben S. 68-69. 248 Bibliographischer Hinweis: VD 16: L 7537; Benzing, Lutherbibliographie Nr. 3373. 249 Luther-Corvinus,, Antithesis verae et falsae ecclesiae" Bl. A 2a-A 4a. Dieser Text ist auch zugänglich durch Corvinus-BW, S. 89-93, Nr. 121; vgl. auch Tschackert, Corvinus, S. 64-66.

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Die Publikationen von Febraar bis April 1541

vermuten könnte, einer Persönlichkeit, die über direkte Einflußmöglichkeiten auf die gegenwärtigen kirchenpolitischen Verwicklungen in Regensburg verfügte, sondern dem mit Corvinus befreundeten Pfarrer Severinus Kangießer aus (heute: Hessisch-)Lichtenau.^^° Belege über eine spezifische Rezeption von „Antithesis verae et falsae ecclesiae" während des Reichstages oder nach seinem Ende am 29.7.1541 sind mir nicht bekannt. Als ihr Drucker wird Heinrich Steiner in Augsburg angenommen.^^'

250 Severinus Kangießer (Kannengießer), Pfarrer in Lichtenau ca. 1537-41, dann in Mühlhausen, schließlich in (heute Bad) Sooden 1550-54, begraben in Sooden 6.3.1555. Vgl. Oskar Hütteroth, Die althessischen Pfarrer der Reformationszeit, 1. Hälfte, Marburg 1953, S. 165 f. 251 Steiner druckte vielleicht auch um diese Zeit die hessische „Tertia adversus Ducis Henrici scriptum responsio", vgl. S.281 Anm. 114. Er war 1540 auch als Drucker von Melanchthons „De ecclesiae autoritate" hervorgetreten sowie 1539 und 1540 von Bucerschriften, vgl. oben S. 85, 94 und 216.

I I I . ZUSAMMENFASSUNG DER ERGEBNISSE

1. Publizisten, Übersetzungen, Drucker, Druckorte Der öffentliche Streit um die sichtbare Kirche in der Ära der Religionsgespräche wurde durch protestantische Publizisten initiiert und dominiert. Als Autoren treten auf evangelischer Seite die führenden politischen und theologischen Köpfe der Zeit hervor. Dies sind die Bundeshauptleute des Schmalkaldischen Bundes, Johann Friedrich von Sachsen und Philipp von Hessen, und die räumlich und sachlich mit ihnen verbundenen Theologen. Die aktivsten Publizisten unter ihnen sind als Politiker der hessische Landgraf Philipp sowie als Theologen Philipp Melanchthon und (ohne Nennung seines Namens) Martin Bucer. Luthers Bedeutung als kirchenpolitischer Publizist tritt in der Ära der Religionsgespräche hinter die von Melanchthon und Bucer zurück. Auch nahmen diese beiden - darin liegt ein weiterer Unterschied zu Luther - an einigen der zeitgenössischen Zusammenkünfte des Schmalkaldischen Bundes und den Treffen mit den Repräsentanten der altgläubigen Seite teil. Melanchthon wurde von altgläubiger Seite um das Jahr 1540 als der wichtigste an der gegenwärtigen Kirchenpolitik und ihrer Publizistik anteilhabende reformatorische Theologe eingeschätzt. Dieser Beurteilung ist sicher richtig, gerade auch wenn man sein Mitwirken bei der Entstehung der bundesamtlichen Publikationen des Schmalkaldischen Bundes betrachtet. Zu den kirchenpolitischen Publizisten „zweiter Ordnung" zählen auf protestantischer Seite zählen in der Ära der Religionsgespräche aus dem Umfeld des hessischen Landgrafen Antonius Corvinus, ferner Justus Jonas in Wittenberg und Veit Dietrich in Nürnberg. Der publizistischen Absicht, die neuen Schriften einer möglichst großen Öffentlichkeit bekannt zu machen, entspricht auch eine rege Tätigkeit von Übersetzern. An der Herstellung von Übersetzungen der bundesamtlichen Publikationen waren vermutlich die zuständigen Kanzleien der evangelischen Stände beteiligt. Als auftragsgebundene Übersetzer vom Lateinischen ins Deutsche für Werke Melanchthons sind Justus Jonas für „De ecclesiae autoritate" und die „Epistel an den Landgrafen zu Hessen", Georg Maior für „De officio principum" in Erscheinung getreten. Großes Interesse an der Verbreitung einer kirchenpolitischen Publikation führte aber auch zu nicht auftragsgebundenen Übersetzungen, wie z.B. durch Veit Dietrich und einen Anonymus bei „De officio principum". Martin Bucers ausdrückliches Bemühen, über den Landgrafen Philipp einen Übersetzer für eines seiner Werke zu finden, blieb dagegen

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Zusammenfassung der Ergebnisse

ergebnislos. Antonius Corvinus fungierte als Übersetzer vom Deutschen ins Lateinische für einen Auszug aus Luthers „Wider Hans Worst" und für mindestens eine der Rechtfertigungsschriften des hessischen Landgrafen Philipp gegen Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel. Übersetzungen ins Französische waren in erster Linie für Kaiser Karl V. bestimmt. Einer der Übersetzer ins Französische war sogar der junge, 1509 geborene Calvin. Über den Kaiser hinaus dürften auch weitere Französisch sprechende Kreise im Blick der Übersetzer gewesen sein. War etwa auch an König Franz L von Frankreich gedacht, mit dem der Schmalkaldische Bund diplomatische Beziehungen unterhielt? Nur bei Bucers lateinischen Publikationen aus dem Jahre 1540 lassen sich die (oder der) Übersetzer ins Deutsche nicht bestimmen. Die altgläubige Seite verhielt sich publizistisch eher reaktiv im Vergleich zu den publizistisch initianten Protestanten. Sie wurde politisch und publizistisch vertreten durch Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel, publizistisch auch durch den Juristen am Reichskammergericht Konrad Braun, die beide erst auf vorangegangene protestantische Publikationen mit ihren Veröffentlichungen reagierten. Altgläubige Theologen wie Johannes Eck oder Johannes Cochläus spielten im Vergleich dazu eine noch geringere Rolle, erwägt und gewichtet man die Wirkungen, die ihre Werke bei den Protestanten hervorriefen. Doch gehören ihre in dieser Untersuchung ebenfalls betrachteten Schriften wie auch das skizzierte publizistische Doppelwerk Georg Witzeis chronologisch und sachlich in den Zusammenhang der kirchenpolitischen Publizistik im Zeitalter der Religionsgespräche. Die altgläubigen eher „theologischen" Schriften beziehen sich jedoch nicht - anders als die Publikationen Konrad Brauns oder des Weifen - in einer differenzierten Weise auf die aktuellen Veröffentlichungen der Protestanten. Der Öffentlichkeit wurden auch jene politisch-staatlichen Dokumente dargeboten, die für die kirchenpolitischen Verwicklungen selbst von Einfluß waren oder auf die laufenden Auseinandersetzungen Einfluß ausüben sollten. Als selbständige Publikation erschien etwa eine Zitation des Reichskammergerichtes, die sich in der Goslarischen Angelegenheit gegen Heinrich von BraunschweigWolfenbüttel richtete. Das dem Kaiser zugeschriebene religionspolitische „Brüsseler Edikt", das sich gegen die kirchlich-christliche Praxis der Protestanten richtete, wurde gerade auch von ihnen weiterverbreitet. Weitere auf den Kaiser zurückgehende Dokumente finden sich in mehreren Publikationen beider Religionsparteien integriert. Die jeweilig verantwortlichen Publizisten wollten dadurch die kaiserliche oder kammergerichtliche Autorität ausschließlich für ihre kirchenpolitische Position zur Geltung bringen. Unter den Publikationen dieser Ära sind Werke, die entweder nur in deutscher oder lateinischer Sprache an die Öffentlichkeit gelangten und solche, von denen sowohl deutsche als auch lateinische Ausgaben erhältlich waren.

Zusammenfassung der Ergebnisse

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Die deutsche Sprache hat bei den gemeinschaftlichen Publikationen des Schmalkaldischen Bundes oder auch denen seiner beiden Bundeshauptleute Kursachsen und Hessen eindeutig das Übergewicht. Von vemachlässigenswerten Ausnahmen abgesehen schrieb Melanchthon in lateinischer, Luther in deutscher Sprache. Bucer veröffentlichte seine Schriften anfänglich in deutscher, ab dem Sommer 1540 hingegen in lateinischer Sprache. Bei den intransigent altgläubigen Theologen überwiegen die Publikationen, die - wie bisher - in lateinischer Sprache erschienen sind (so für Werke von Cochläus und Eck, aber auch Nausea). Sie bedienen sich damit auch der Sprache der herkömmlichen Kirche. Einziger deutschsprachiger Autor ist der erasmisch beeinflußte Vermittler Georg Witzel. Übersetzungen einzelner ursprünglich lateinischer Werke ins Deutsche wurden gelegentlich angestrengt (vor allem durch Cochläus). Konrad Braun und Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel bedienten sich hingegen nur der deutschen Sprache, mit der sie, wie beabsichtigt, eine breite kirchenpolitische Öffentlichkeit ereichen konnten. Kirchenpolitische Publikationen ließen sich für die Zeitgenossen in den meisten Fällen durch die Angabe des Autors und auch des Druckers leicht identifizieren. Durchweg alle Wittenberger Autoren kennzeichneten die Herkunft ihrer Werke namentlich. Anonym publizierten in beiden zu berücksichtigenden Fällen Konrad Braun und in einem Fall Martin Bucer. Weitere Publikationen Bucers erschienen sonst in den Jahren 1539/40 unter verschiedenen Pseudonymen. Dieser Zustand veränderte sich mit Beginn des Regensburger Reichstages 1541: Der Streit zwischen Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel und den schmalkaldischen Bundeshauptleuten ließ jetzt die Zahl anonymer und pseudonymer Publikationen sprungartig ansteigen, ohne daß die Zahl sowohl der amtlichen als auch der individuell namentlich gekennzeichneten Publikationen zurückgegangen wäre. Mit dem Erstdruck einer amtlichen Publikation wurde von den Fürsten der jeweilige „Hofdrucker" beauftragt. Die Erstdrucke des sächsischen Kurfürsten, ob gemeinschaftlich mit Philipp von Hessen oder auch nicht, erschienen immer bei Georg Rhau in Wittenberg. Wo der hessische Landgraf in Gemeinschaft mit dem sächsischen Kurfürsten oder auch nur in seinem Namen publizierte und da, wo er Publikationen in Auftrag gab, erschienen diese in der Regel bei der neu eingerichteten Filiale des Frankfurter Druckers Christian Egenolff in Marburg. In einem Fall wurde auch ein Nachdruck einer amtlichen Publikation Philipps von Hessen in Wittenberg hergestellt. Auch nicht so bedeutende schmalkaldische Stände wie die Stadt Goslar oder Herzog Emst von BraunschweigLüneburg bedienten sich der funktionstüchtigen Presse Rhaus in Wittenberg. Mindestens ein Nachdruck für das „Ausschreiben an alle Stände" stammt ferner aus einer Straßburger Druckerei. Andere Druckorte wie etwa Erfurt oder Mag-

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deburg sind für die amtliche Publizistik der evangelischen Seite nur in Einzelfällen von Bedeutung. Die Wittenberger Theologen publizierten immer zuerst bei Wittenberger Druckern, wobei Josef Klug einen Schweφunkt bei den Werken Melanchthons (und auch deren Übersetzungen) hatte und Luther primär durch Hans Lufft drucken ließ. Rasche Nachdrucke sind bei diesen Werken der Regelfall, da ganz offensichtlich eine entsprechende Nachfrage vorhanden war. Sie erfolgten für Werke Luthers 1539 in Straßburg, 1541 in Magdeburg und im Fall der Schrift „Wider Hans Worst" einmal in Marburg, für kleinere Schriften und Teilausgaben auch in Nürnberg. Werke Melanchthons wurden außerdem durch Drucker in Straßburg, Augsburg und Nürnberg verlegt. Bucers Werke erschienen primär in Straßburg, gelegentlich auch in Augsburg oder Nürnberg, nie aber in Wittenberg und bemerkenswerterweise trotz der engen Verbindungen nach Hessen nie in Marburg. Die wichtigsten Drucker und Druckorte für die altgläubigen Theologen waren bis 1539 Nikolaus Wolrab in Leipzig (für Werke hier vor allem von Georg Witzel, aber auch für Nausea und Cochläus), ab 1539/40 Alexander Weißenhom in Ingolstadt (für Eck und Cochläus), Franz Behem in Mainz ab Ende 1540 (für Cochläus, Nausea und Witzel), und der anonym bleibende Ivo Schöffer in Mainz für die Werke Konrad Brauns. In der Regel erfuhren diese Werke nur eine einzige Ausgabe. Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel ließ ausschließlich durch seinen neu angestellten Hofdrucker Henning Rüdem publizieren. Hervorzuheben ist, daß die Jahre 1539 und 1540 durchweg für alle diese Drucker der altgläubigen Seite (bis auf Ivo Schöffer) einen deutlichen Einschnitt in ihrer beruflichen Tätigkeit markierten, sei es durch den Verlust bisheriger Verlagsmöglichkeiten, sei es durch die Neueinrichtung einer Offizin. Dieser Umstand erklärt unabhängig von den anderen, allgemein bekannten Faktoren zusätzlich noch die ganz offenbare Schwäche der altgläubigen Publizistik speziell in der Ära der Religionsgespräche. Gelegentlich finden sich auf den amtlichen Drucken auch Titelholzschnitte wie bei dem „Ausschreiben an alle Stände" oder bei dem Wittenberger Druck des „Brüsseler Ediktes", wenngleich die Unterstützung der Absicht des Publizisten durch Bildschmuck bei der grundsätzlich stark text- und argumentationsorientierten kirchenpolitischen Publizistik im Vergleich zu anderen Gattungen reformatorischer Publizistik eher in den Hintergrund tritt. Wo Titelholzschnitte den Druck schmücken, entspricht seine, z. B. biblische Motivik der kirchenpolitischen Tendenz der jeweiligen Schrift. Bei den amtlichen Publikationen zeigen die Titelblätter der Drucke immer die Wappen der jeweils beteiligten Reichsstände wie Kursachsen, Hessen und Braunschweig-Wolfenbüttel oder den kaiserliche Doppeladler. Publikationen, die einen „offiziellen" Eindruck bei den Rezipienten hervorrufen sollten, wurden ebenso von den Druckern geschmückt. Der Nachdruck eines Wappens war

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genauso wenig wie die Schriften selbst im Sinne eines modernen Urheberrechtes geschützt. Biblische Mottos' spielen vor allem auf den Titelblättern kirchenpolitischer Publikationen eine herausgehobene Rolle. Im Fall der Kontroverse zwischen dem sächsischen Kurfürsten und dem Weifen sind sie ein Baustein der sich Steigemden Polemik. Die Publikationen Philipps gegen Heinrich zeigen in ständiger Wiederkehr das flehentliche Gebet um die Vernichtung des gottlosen Feindes aus Ps 109, 1-8. Bei Werken theologischer Autoren bündelt ein biblisches Motto oft die Kernabsicht der Schrift, wie z. B. bei Martin Bucers Abhandlung „Von Kirchengütem" das lukanische Ideal christlicher Besitzverteilung aus Act 4, 35b. Zu den kirchenpolitischen Publikationen sind Drucke zu zählen, deren Umfang zwischen einem Bogen im Oktav- und deutlich über 30 Bögen im Quartformat liegt. Allein schon deshalb lassen sie sich zusammenfassend nicht zu den „Flugschriften" rechnen, wie überhaupt die Frage des Umfangs einer Publikation kein Kriterium bei der Auswahl dieser Untersuchung darstellte. Die Verwendung des Quartformats überwiegt bei den deutschen Publikationen. Im Oktavformat wurden viele lateinische Drucke hergestellt.

2. Юа881пг1егап§ und Gattungsbestimmung nach kirchenpolitischer Zielsetzung Die nach Formen und Gattungen vielgestaltigen kirchenpolitischen Drucke der Ära der Religionsgespräche, die näher betrachtet wurden, lassen sich m.E. überblicksartig in folgender Weise klassifizieren: a) Kirchenpolitische Appelle der schmalkaldischen Bundesmitglieder an die Reichsstände und den Kaiser Dazu zähle ich das die gesamte Publizistik dieser Ära einleitende „Ausschreiben an alle Stände" und seine Übersetzung „De iniustis processibus protestatio", die „Responsio in causa religionis ad instructionem Domini Theoderici de Manderschit" und ihre deutsche Fassung „Antwort auf dem Versammlungstag zu Schmalkalden an Graf Dietrich von Manderscheid", die sich anschließende „Antwort und Entschuldigung" der Schmalkaldener an den Kaiser vom 9.5.1540 und schließlich die für die Wormser Situation von Melanchthon hergestellte Confessio Augustana variata. b) Rechtfertigungsschriften für zurückliegendes (kirchen-)politisches Verhalten Dazu gehören die im Rahmen dieser Untersuchung berücksichtigten amtlichen 1 Es ist ein bedauerlicher Mangel, daß die Titelaufnahme der Drucke im VD 16 gerade auf die biblischen Mottos völlig verzichtet hat.

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Schriften des sächsischen Kurfürsten, des hessischen Landgrafen und des Herzogs von Braunschweig-Wolfenbüttel in dem sie betreffenden Konflikt. c) Rechtstexte „Zitation und Vorbescheid wider Heinrich von Braunschweig", „Ordnung, Statuten und Edikt von Brüssel". d) Appellschriften einzelner Theologen an (potentielle) Kirchenpolitiker Diese Schriften sind wohl auf die Themen der zeitgenössischen Kirchenpolitik bezogen, nicht aber ausdrücklich auf eine vorhergegangene Publikation, was ihrem initiativen Charakter entspricht. Dazu zähle ich Corvinus' „Bericht, wie sich ein Edelmann halten soll", Melanchthons „De officio principum", die drei Übersetzungen dieser Schrift (samt den Widmungsreden) und die „Epistel an den Landgrafen zu Hessen", für die Wormser Situation Nauseas „Hortatio ad ineundam in Christiana religione Concordiam" und für den Regensburger Reichstag Cochläus' „De vera Christi ecclesia" an den Kaiser. Ferner gehören in einem weiteren Sinne dazu auch die kleinen appellativen Schriften Luthers und Melanchthons im Umfeld der Frankfurter Verhandlungen im Frühjahr 1539, aus dem Zusammenhang des Hagenauer Gesprächs Bucers rhetorische Frage an die altgläubige Geistlichkeit „An conducat, admittere synodum nationalem", deutsch veröffentlicht als „Vom Tag zu Hagenau. Zwei verdeutschte Sendbriefe" und für die Wormser Situation Ecks offener Brief „An speranda sit Wormaciae concordia". e) Schriften einzelner Theologen zur Widerlegung des kirchenpolitisch und zugleich auch publizistischen Gegners Gegen Melanchthon war gerichtet Cochläus' „Philippica quinta in tres libellos Philippi Melanchthonis", gegen Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel Luthers „Wider Hans Worst" und Lenings „Expostulation und Strafschrift Satanae", gegen den hessischen Landgrafen wandte sich die „Evangelische Unterrichtung in einem Sendbrief dem Landgrafen" des wolfenbüttelschen „Justinus Warsager". Bemerkenswerterweise stammen alle im Rahmen der Untersuchung besprochenen Schriften dieser Kategorie vom Jahresende 1540 und Jahresbeginn 1541. Sie sind ihrerseits immer Bestandteil der schon ausgebrochenen literarisch-publizistischen Kontroverse und streben Einfluß auf den Kaiser und seinen Hof an. f ) Umfangreiche theologische, kirchenrechtliche und kirchenpraktische Abhandlungen, die selber einem kirchenpolitischen Zweck dienen Dazu müssen m.E. Luthers „Von den Konziliis und Kirchen" und Melanchthons „De ecclesiae autoritate", Witzeis „Dialogorum libri tres" und „Typus ecclesiae prioris" gezählt werden, von Bucer primär seine umfangreiche Schrift „Von Kirchengütern" sowie auf jeden Fall Brauns „Etliche Gespräche" von altgläubiger Seite.

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g) Nichtautorisierte Kommentare zu Themen zeitgenössischer Kirchenpolitik Dazu gehören Bucers Schrift .Etliche Gespräche vom Nürnbergischen Friedstand", Brauns „Gespräch eines Hofrats", ferner Bucers „Per quos steterit Haganoae initum colloquium" und in gereimter Form Nikolaus v. Amsdorffs „Ein Getichte, wie fromm Herzog Heinrich und wie böse die Lutherischen sein".

3. Der literarische Zusammenhang zwischen den Publikationen Charakteristisch für die kirchenpolitische Publizistik der Jahre 1538 bis 1541 ist nicht nur ein thematischer, sondern auch ein - wenngleich hochdifferenzierter - literarischer Zusammenhang zwischen den einzelnen Publikationen, die zu dieser Gruppe gehören. Das gedruckte „Ausschreiben an alle Stände" wurde schon von den Zeitgenossen aufgrund seiner Form kategorial als Novum empfunden, wenngleich es innerhalb des Schmalkaldischen Bundes schon lange vorbereitet worden war. Es markiert den Ausgangspunkt für einen beachtlichen literarisch-publizistischen Diskussionsprozeß, den es so in den Jahren zuvor nicht gegeben hatte. Dieses „Ausschreiben" erfuhr aber keine amtìiche Entgegnungsschrift durch das Reichskammergericht (oder einen altgläubigen Reichsstand), sondern rief die literarische Kontroverse zwischen den Antipoden Martin Bucer und Konrad Braun hervor. Die amtlichen Publikationen der schmalkaldischen Bundeshauptleute, wo sie nicht durch den Konflikt mit Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel hervorgerufen wurden, beziehen sich immer ihrerseits auf neueste Entwicklungen in Kirchenpolitik, Diplomatie oder Rechtssprechung und in keinem einzigen Fall auf vorhergegangene Publikationen der altgläubigen Seite. Die literarisch-publizistische Kontroverse zwischen Hessen, Sachsen und Braunschweig-Wolfenbüttel allerdings, in die ja auch andere norddeutsche evangelische Stände miteinbezogen wurden, erfolgte dagegen nach einem anderen Schema, nämlich in einer sich stetig verbreiternden Abfolge von Schriften, Gegenschriften, Gegen-Gegenschriften usw. Ziemlich genau um die Jahreswende 1540/41 weitete sich diese Kontroverse beträchtlich über den ursprünglichen, ausschließlich „amtlichen" Rahmen durch mehrere in Auftrag gegebene Anonyma und Pseudonyma aus. Einige der theologischen Autoren erklärten den sachlichen Zusammenhang zwischen ihren aufeinander folgenden Publikationen damit, daß die Stoffülle und die mangelnde Zeit ihrerseits noch eine zweite, weiterführende Veröffentlichung erforderlich mache. Durch beispielsweise eine entsprechende Ankündigung im ersten Werk wurde die kirchenpolitische Öffentlichkeit damit schon auf diese Fortsetzung hingewiesen und für sie interessiert. Der Zusammenhang zwischen einer vorausgehenden und einer ihr nachfolgenden kirchenpolitischen Publikation konnte aber auch so beschaffen sein, daß die zweite Publikation

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eine Konkretion ad personam der ersten, eher „grundsätzlicheren" Publikation bildete. Die beiden ursprünglich unabhängigen Stränge, die auf der einen Seite ab November 1538 von dem „Ausschreiben", anderseits von den Publikationen der Schmalkaldener nach der Gefangensetzung Stephan Schmidts gegen den Weifen ausgegangen waren, verknüpften sich ab dem Frühjahr 1540, beginnend mit der hessischen Publikation „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" vom 12.4.1540. Dieser kommt deshalb - in der Situation des beginnenden Hagenauer Gespräches - eine besonders zentrale Stellung zu. Später kommt die sachliche Verbindung der beiden Stränge auf der literarischen Ebene besonders auch in Amsdorffs anonymen „Getichte" im Vorfeld des Regensburger Reichstages zum Ausdruck. Die Komposition der Lutherschrift „Wider Hans Worst" von 1541 stellt darüber hinaus den besten Beleg für die publizistische Verknüpfung des Konfliktes des Schmalkaldischen Bundes mit Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel und der theologisch und kirchenpolitisch spätestens seit dem Leipziger Religionsgespräch vom Januar 1539 äußerst virulenten Frage nach den sichtbaren Erkennungszeichen der „wahren" Kirche Christi dar. Das Zusammenlaufen der anfänglich noch deutlich zu unterscheidenden Stränge der kirchenpolitischen Publizistik in der Ära der Religionsgespräche wird mit dem beginnenden Regensburger Reichstag vollends erreicht. Die Publikationen von Witzel oder Nausea, die bestehende Konflikte tendenziell eher entschärfen wollten, erfuhren bei den Protestanten nicht in dem Maße Aufmerksamkeit wie alle jene Publikationen, die als konfliktverschärfend angesehen wurden, wie besonders das anonyme „Gespräch eines Hofrats", die ersten Veröffentlichungen Heinrichs von Braunschweig-Wolfenbüttel oder auch das „Brüsseler Edikt" des Kaisers. Witzeis und Nauseas Stimme hatten auch für die Protestanten kein besonderes kirchenpolitisches Gewicht. Das zeigt auch der Blick auf geschmiedete Pläne für „Antworten" auf die altgläubigen Schriften bzw. die tatsächlich erfolgten Gegenschriften auf diese Publikationen. Im Blick auf die Theologen galt, daß Luther es ja schließlich überhaupt nicht für wert erachtete, auf Witzel oder das „Brüsseler Edikt" zu reagieren, und Melanchthon auch nicht auf den gegen ihn erfolgten Angriff durch Cochläus replizierte.

4. Die kirchenpolitische Öffentlichkeit als gemeinsamer Adressat der Publikationen Im Regelfall wollten kirchenpolitische Publikationen primär die Meinungen und das politische Verhalten derjenigen beeinflussen, die aktiv an den kirchenpolitischen Verwicklungen dieser Jahre teilnahmen bzw. aufgrund ihrer kirch-

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liehen, administrativen oder politischen Funktion als potentielle Entscheidungsträger im politisch-kirchlichen Leben angesprochen werden konnten: der Kaiser, Fürsten, deren juristische und politische Räte, (reichs-)städtische Magistrate, höherer und niederer Adel, Mitglieder der Domkapitel und Stiftsherren, Universitätslehrer, kirchenpolitisch wichtige Einzelpersonen und einzelne Herrscher im europäischen Ausland, mit denen der Schmalkaldische Bund diplomatische Beziehungen pflegte. Diesem Adressatenkreis entspricht für die amtlichen Publikationen ein gezieltes Verbreitungsverfahren durch Boten, wie es für die hessische „Wahrhaftige Verantwortung, Assertion, Erklärung und Beweisung" vom 12.4.1540 sorgfältig dokumentiert ist, aber auch für andere kirchenpolitische Appelle und Rechtfertigungsschriften der Schmalkaldener grundsätzlich analog belegt ist oder vermutet werden darf. Auch die Verbreitung der Schriften des Wolfenbütteler Herzogs folgte diesem Verfahren, was etwa für seine „Andere Antwort auf das falsche Libell" gilt. An die Stelle dieses Verfahrens oder ergänzend dazu konnte die direkte Verteilung solcher Schriften an Einzelpersonen oder die Gesandten der Stände während einer der zahlreichen politisch-theologischen Zusammenkünfte dieser Zeit treten. Alle Fürsten setzten sich aber auch für die Verbreitung nicht namentlich ausgewiesener Publikationen ein, deren kirchenpolitische Tendenz sich mit der eigenen deckte. Offizielle kirchenpolitische Publikationen der evangelischen Stände wurden daneben von einzelnen Theologen verbreitet, was etwa im Falle Melanchthons belegt ist für diejenigen Schriften, als deren Autor oder geistiger Federführer er auszumachen ist. Martin Luther sandte im Oktober 1539 wahrscheinlich ein „Widerschreiben auf Heinrichs Schreiben" (oder einen Druck von „Zitation und Vorbescheid wider Heinrich von Braunschweig") an Herzog Albrecht von Preußen. Martin Bucer wies durch seine „Etlichen Gespräche" mehrfach auf das gedruckte „Ausschreiben an alle Stände" hin. Davon abzuheben ist noch einmal die direkte Übersendung einer Publikation an eine Persönlichkeit, deren kirchenpolitische Einflußmöglichkeiten der Publizist als bedeutend einstufte. Ein typischer Repräsentant hierfür ist Bucer, der sofort nach erfolgter Drucklegung alle seine Pseudonymen Werke an den hessischen Landgrafen und „Per quos steterit Haganoae initum colloquium" auch an einen hohen Beamten des Trierer Erzbischofs sandte. Von dem publizistisch sehr eifrigen Cochläus ist überliefert, daß er während des Regensburger Reichstages sich für die Verbreitung von „De vera Christi ecclesia" einsetzte, wie er auch sonst durch persönliche Übermittlungen und Widmungen seinen Werken einen Einfluß auf die kirchenpolitisch-theologischen Diskussionen erkämpfen wollte. Neue, zu Verärgerung Anlaß gebende Schriften der Protestanten wurden durch Cochläus' Mittelsmänner im Reich auch an den päpstlichen Hof nach Rom geschickt. Ein Einzelfallbeispiel im Rahmen dieser Untersuchung stellt das Bemühen der evangelischen Theologen Luther, Justus Jonas und Veit Dietrich dar, das

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protestantenfeindliche „Brüsseler Edikt" zu verbreiten, in dem man im HerbstAVinter 1540 entgegen aller gegenwärtigen Vermittlungsdiplomatie doch die wahren religionspolitischen Absichten des Kaisers gegenüber den Protestanten zum Ausdruck gebracht sah. Erst in einem zweiten Schritt waren die kirchenpolitischen Publikationen für die erweiterte lesefähige Öffentlichkeit, d. h. also über ihren primären Adressatenkreis hinaus, bestimmt. Waren die (potentiellen) Mitgestalter des kirchenpolitischen Kräftespiels in ihren Auffassungen im Sinne der Intention des Publizisten beeinflußt, wollte man auch z. B. die Pfarrerschaft, das Bürgertum in den Städten, interessierte Laien usw. von der Wahrheit und Rechtmäßigkeit der jeweiligen Auffassung von der „wahren" Kirche überzeugen, ihre Einstellungen und Verhaltensweisen formen. Diese breitere Öffentlichkeit konnte über den Modus des freien Verkaufs des neuen kirchenpolitischen Schrifttums erreicht werden. Ein gegebenfalls vorhandenes aktuelles Interesse am Zeitgeschehen, als dessen integraler Bestandteil die kirchenpolitischen Verwicklungen gelten dürfen, wurde durch Nachund Neudrucke, sei es bei dem Erstdrucker, sei es an anderen Orten sowie ggf. Übersetzungen ins Deutsche offensichtlich möglichst rasch befriedigt. Wirtschaftliche Interessen von Druckern und Buchführern dürften die Interessen der Publizisten ergänzt haben. Unwirtschaftlich war aber, wie das Beispiel der Schriften des Cochläus zeigt, die Herstellung von Publikationen, an denen offensichtlich die Öffentlichkeit wenig oder überhaupt nicht interessiert war. Der Verkauf vieler Schriften aus dem protestantischen Bereich ist durch die Korrespondenz des Stadtscheibers und Buchverlegers Stephan Roth in Zwickau belegt. Der Verkauf von Heinrichs von Braunschweig-Wolfenbüttel „Anderer Antwort auf das falsche Libell" in der Stadt Augsburg und von Georg Witzeis „Typus ecclesiae prioris" in der Behem-Ausgabe von 1541 während des Regensburger Reichstages belegt eine solche Praxis auch für Drucke altgläubiger Provenienz. Was für das Beispiel der Reichsstadt Augsburg und für Roth in Zwickau galt, ist auch in anderen Städten anzunehmen. Vermutlich erfolgte über Multiplikatoren, wie das Beispiel Roths (oder auch Gereon Sailers für die hessischen Schriften im süddeutschen Bereich) zeigt, die Verbreitung entsprechender Publikationen an interessierte Einzelpersönlichkeiten. Dadurch konnten auch ländliche Gebiete erreicht werden, in denen der Prozentsatz der lesefähigen Bevölkerung geringer war als in den Städten. Ein spezifisches Phänomen der Stadt (wie man für bestimmte Flugschriftencoφora der frühen 20er Jahre des 16. Jahrhunderts annimmt) ist die kirchenpolitische Publizistik in der Ära der Religionsgespräche meinem Eindruck nach nicht gewesen, sondern um 1540 zeigt sich in der Publizistik gerade das politische Gewicht der fürstlichen Höfe. Durch einfaches Verschenken von Exemplaren gedruckter Schriften konnte kirchenpolitisches Gedankengut noch über diese von sich aus interessierte Öf-

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fentlichkeit hinaus weitergegeben werden. Belegt ist diese Praxis aber nur für die „Andere Antwort auf das falsche Libell" Heinrichs von Braunschweig-Wolfenbüttel in Augsburg. Die politische Bewertung dieses Verfahrens durch Johann von Weeze zeigt, daß aus Rücksicht auf Standesgründe Schriften dieser Art, die ja einen Fürsten angriffen, im Grunde genommen für den Adressatenbereich „Gemeiner Mann" nicht gedacht waren. Zu fragen ist, ob auch ein des Lesens unkundiger Rezipient durch die kirchenpolitische Publizistik der Religionsgesprächsära angesprochen werden konnte, etwa sogar intentional von den verantwortlichen Publizisten beachtet worden ist. M. E. ist diese Frage zu verneinen. Der zum Teil doch beträchtliche äußere Umfang dieser Drucke und der Mangel an Illustrationen erschwerten vermutlich von vornherein jede Weise eines „schnellen" Zugangs. Ferner setzt die Komplexität der behandelten Materien im Grunde genommen eine aktive Teilhabe an den spezifischen kirchenrechtlichen und kirchenpraktischen Gestaltungsfragen dieser Jahre bei den Rezipenten voraus. Daß deshalb auch die Form der „Gesprächsschrift" (bei Bucer, Witzel und Braun) etwa einen mündlichen Vortrag dieser Schriften in Gesprächsform in interessierten Zirkeln nach sich gezogen hat, wie man ihn für die „Dialogflugschriften" der frühen Reformationszeit annimmt, ist unwahrscheinlich. Zu erwägen ist lediglich, ob die amtlichen Publikationen in den Sitzungen der Gremien laut verlesen wurden, an die sie adressiert und überbracht worden waren (z.B. in Sitzungen der städtischen Magistrate oder Domkapitel). Das publizistische Interesse zielte naturgemäß auf eine mündliche Weitergabe der geäußerten Positionen an weitere Kreise (zumindest aus dem Bereich der spezifischen kirchenpolitischen Sphäre). Das städtische Verbot der Verbreitung von Wolfenbütteler „Schmähschriften" in der Stadt Augsburg zeigt, daß die Zensur weiterhin als ein Mittel angesehen wurde, den Einfluß des gedruckten Wortes zu mindern. Die relative Wirkungslosigkeit der Zensur im Bereich der gesamten reformatorischen Publizistik darf wohl auch auf die kirchenpolitische Publizistik der Religionsgesprächsära übertragen werden.

5. Die Streit um die sichtbare Kirche als T h e m a der kirchenpolitischen Publizistik Ungebrochen wirkte in der Ära der Religionsgespräche bei Politikern und Theologen die theologische Gewißheit fort, daß es nur die eine wahre Kirche Jesu Christi geben könne. Der Identitätsanspruch mit der wahren Kirche, und d. h. auch mit ihrer Lehre, ihrem Recht und ihren liturgischen Ordnungen wurde sowohl von den Altgläubigen als auch von den Protestanten erhoben. Unterschiedlich ist aber die Weise der Identifikation. Die Protestanten differenzierten

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gerade zwischen der Kirche Jesu Christi als geglaubter Gemeinschaft und der leiblich verfaßten Kirche, während diese Differenzierung von den Altgläubigen nicht nachvollzogen wurde. Die Untersuchung zeigt nun sehr deutlich, daß nicht jede denkbare Konzeption von territorialer oder nationaler Kirchenpolitik in gleicher Weise mit Hilfe von Publikationen die jeweils vertretene Position auch öffentlich darlegte. Die Notwendigkeit, ihr kirchenpolitisches Verhalten vor der kirchenpolitischen Öffentlichkeit zu legitimieren, entstand vor allem für die Mitglieder des Schmalkaldischen Bundes und die ihnen zuzurechnenden Theologen. Die Repräsentanten der herkömmlichen kirchlichen Ordnung waren eher darauf bedacht, deren Legitimität vor anderen Foren als dem der öffentlichen Meinung („päpstliches" oder „Generalkonzil", traditionelles Kirchen- und Ketzerrecht, Reichskammergericht oder andere Gerichte) zu verteidigen. Für sie war die Frage nach der legitimen kirchlichen Autorität nicht strittig, sondern ein für alle Mal entschieden (Konrad Braun). Ein hohes Interesse an der Beibehaltung der herkömmlichen Kirchenbräuche und der überkommenen Rechtsverhältnisse zeigten die erasmisch beeinflußten Theologen und Politiker, wie etwa Georg von Karlowitz. Ihr Wille zu Reformen in der sichtbaren, institutionell verfaßten Kirche ging nicht selten einher mit einer theologischen Unbedarftheit gegenüber der Frage, was und wo die „wahre" Kirche ihrem Wesen nach sei und wer sie repräsentiere. So findet sich bei ihrem publizistischen und theologischen Repräsentanten Georg Witzel in seinem Doppelwerk von 1539/40 charakteristischerweise (auch programmatisch?) keine klar konturierte Ekklesiologie. Die intransigente Gruppe bei den Altgläubigen erkannte allerdings, daß der theologische Dissens mit den Protestanten wesentlich auch ein Dissens im Kirchenverständnis war. Die auf die evangelischen Vorgaben reagierende altgläubige kirchenpolitische Publizistik (vor allem Konrad Braun und Cochläus' „De vera Christi ecclesia") zeigt das völlige Unverständnis gegenüber dem als neu und entsprechend „häretisch" empfundenen ekklesiologischen Wahrheitsbewußtsein der Protestanten. Treibendes Motiv der kirchenpolitischen Publizistik der Protestanten ist ihr Ringen um die öffentliche Anerkennung ihres Kirchenverständnisses in theologischer Theorie und kirchlich-rechtlicher Praxis. Die Öffentlichkeit war von dieser Wahrheit erstmals zu überzeugen oder in der einmal erkannten Wahrheit über die Kirche zu vergewissern. Als „praecipua membra ecclesiae" wurden die Fürsten oder städtischen Magistrate an ihre Verantwortung für die Praxisgestalt des kirchlich-christlichen Lebens in ihrem Territorium oder ihrer Stadt erinnert. Dabei galt es in gleicher Weise, nicht nur vereinzelt aggressiv vorgetragene Rechtspositionen (Reichsvizekanzler Held, Konrad Braun) öffentlich abzulehnen, sondern auch kirchenpolitisch bedeutende Vermittungsangebote (Georg von Karlowitz, Witzel, Joachim II. von Brandenburg) auf ihre theologische Sachgemäßheit (z. B. durch die Leipziger Frage nach dem „Richtscheit") hin zu prüfen (Melanchthon, Luther).

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Der öffentlich geführte Streit um die sichtbare Kirche in der Ära der Religionsgespräche war nicht (wie bestimmte Diskussionen aus den Anfängen der Reformation) vor allem ein akademischer Streit unter Theologen, sondern ist eingebettet in die diplomatischen Verwicklungen der politischen Kräfte dieser Zeit. Erst von daher gewinnt er seinen Gegenwartsbezug, seine Themen sowie seine auf den Regensburger Reichstag als dem Höhepunkt dieser Jahre zustrebende und sich beschleunigende Dynamik. Bei allen kirchenpolitischen Publikationen ist eine Verknüpfung zwischen theologisch-ekklesiologischen Grundannahmen (über das Wesen der „wahren" Kirche) und deren kirchenpraktischen Konsequenzen in der sichtbaren, als Rechtskörper zu gestaltenden Kirche deutlich zu erkennen. Dabei ist die jeweilige theologisch-ekklesiologische Grundlegung nur gelegentlich explizit entfaltet worden, während die Frage nach den zu übenden kirchlichen Bräuchen in nahezu keiner dieser Publikationen fehlt. Alle kirchenpolitischen Schriften besitzen zumindest eine implizte Ekklesiologie. Auch der anfangs lediglich nur persönlich oder territorialpolitisch anmutende Konflikt der Schmalkaldener mit Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel wurde in zunehmender Weise auf beiden Seiten (von allen an der Publizistik Beteiligten) theologisch interpretiert mit dem Anspruch, jeweils die „eine" und „wahre" Kirche mit ihren legitimen Rechtsordnungen zu repräsentieren. Ekklesiologisches Selbstverständnis und kirchenpraktische Folgerungen (z. B. der Streit um angeeignetes Kirchengut) nahmen in dieser publizistischen Kontroverse einen ständig breiter werdenden Raum ein und rechtfertigen die Zuordnung zumindest des „Hauptstroms" dieser politisch-publizistischen Kontroverse bis zum Beginn des Regensburger Reichstages als einem integralen Bestandteil der zeitgenössischen kirchenpolitischen Publizistik. Ausgeführte theologische Grundsätze über die Kirche finden sich 1539 im dritten Teil von Luthers „Von den Konziliis und Kirchen" sowie 1541im Mittelteil von „Wider Hans Worst", wobei diese im engeren Sinne ekklesiologischen Passagen in beiden Fällen ja sogar noch einmal separat publiziert worden sind, ferner in Melanchthons ausführlicher Abhandlung „De ecclesiae autoritate". Die altgläubige Erwiderung dazu findet sich implizit in Brauns „Etlichen Gesprächen" passim und explizit in Cochläus' „De vera Christi ecclesia". In Bucers Publikationen findet sich eine explizite Thematisierung seiner Ekklesiologie nicht. Will man zusammenfassend systematisieren, läßt sich festhalten: Besonders an vier Themenkomplexen orientiert, die sich folgerichtig aus dem Grundanliegen der reformatorischen Theologie herleiteten und Grund und Anlaß für die kirchenpolitische Publizistik boten, wurde der öffentliche Streit um die sichtbare Kirche zwischen November 1538 und April 1541 geführt. I. Erstmals wurde jetzt mit Mitteln der Publizistik grundsätzlich die Rechtssprechung des Reichskammergerichtes für Prozesse in „causa religionis" abgelehnt. Bisher war nur der Regelungsanspruch des herkömmlichen bischöflich-päpst-

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liehen Kirchenwesens, der in der kirchlichen Rechtssprechung gipfelte, öffentlich zurückgewiesen worden, wo er das kirchlich-christliche Selbstverständnis und die mittlerweile sich in den evangelisch gewordenen Territorien und Städten verfestigenden kirchlichen Bräuche der „Lutheraner" berührt hatte. Jetzt als Folge des Reichstagsabschiedes von 1530 - drohte auch die geltende Rechts- und Friedensordnung des Reiches, die auf eher impliziten ekklesiologisch-theologischen Grundlagen ruhte, durch den kirchlich-theologischen Zwiespalt gesprengt zu werden. Die Publikationen, die diesem Ziel dienen, sind das schmalkaldische „Ausschreiben an alle Stände" und alle darauf zustimmend bezugnehmenden Schriften, wie vor allem Bucers „Etliche Gespräche vom Nürnbergischen Friedstand" und seine Kirchengüterschrift und die schmalkaldische Antwort an die kaiserlichen Gesandten vom April 1540 in Schmalkalden. Die theologischen Begründungen dafür lieferten (auch) Luthers „Septuaginta propositiones disputandae" und Melanchthons „De officio principum". Brauns „Gespräch eines Hofrats" verteidigte dagegen die herkömmlichen Rechtsordnungen von Reich und Kirche. II. Eine völlige Umformung erfuhr das gesamte kirchliche Leben und die Kirchenverfassung infolge der reformatorisch motivierten Reduktion der Sakramente, der Bestreitung des sakramentalen Charakters des Priesterstandes und des sakralen Charakters des herkömmlichen Kirchenrechtes bei den Protestanten. Dazu bedurfte es nach wie vor - über die in diesen Fragen unzulängliche CA hinaus - einer theologisch fundierten und überzeugenden öffentlichen Begründung. Das wird ausdrücklich thematisiert in Melanchthons „De ecclesiae autoritate" und „De officio principum" sowie Bucers Pseudonymen Gesprächen „Von Kirchengütern", welche den evangelischen Sinn altkirchlicher (Rechts-)Ordnungen herausarbeiten wollten, die speziell Bucer (anders als Luther oder Melanchthon) betonte. Witzeis „Dialogi" und „Typus ecclesiae prioris" versuchten demgegenüber vergeblich, den herkömmlichen Bräuchen des kirchlichen Lebens durch ihre Herleitung aus der Zeit der Alten Kirche (Chrysostomos-Liturgie!) eine für die beiden großen Religionsparteien auch annehmbare Dignität und Autorität zu verleihen. Nicht nur die Vermittlungstheologen schenkten in der Ära der Religionsgespräche ein auffallend starkes Interesse den altkirchlichen und patristischen Stoffen. Kirchenpolitisch sollte auch „das patristische Argument" ins Gewicht fallen. III. Die evangelischen Territorien und Städten beanspruchten im vierten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts noch deutlicher als zuvor (angesichts der immer weiter schwindenden Hoffnungen auf Reformen durch ein Konzil) ein (nicht mehr nur vorläufiges) Eigenrecht der weltlichen Obrigkeit zur Neuordnung des Kirchengutes. Sollten weitere - auch geistliche? - Reichsstände für diesbezügliche Reformen geworben werden, bedurfte es dazu entsprechender öffentlicher Appelle.

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Kirchenpolitisch und theologisch war in der Ära der Religionsgespräche dazu Melanchthons vielfach verbreiteter Taktat über die Fürstenpflicht eine geeignete Grundlage. Dazu gehört femer das schmalkaldische „Ausschreiben an alle Stände", das diesen Anspruch praktisch gegen das Reichskammergericht verfocht. Von den Pseudonymen Bucer-Schriften war vor allem „Von Kirchengütern" auf eine entsprechende politische Wirkung bei der altgläubigen hohen Geistlichkeit und dem Adel (Domherren!) hin angelegt. Von altgläubiger Seite aus reagierte scharf ablehnend Konrad Braun vor allem mit seiner ersten Schrift „Ein Gespräch eines Hofrats", aber auch präzisierend durch seine „Etlichen Gespräche". Konkrete Kirchengüterangelegenheiten („Fälle") spielten vor allem in den Kontroversen zwischen Hessen und Goslar einerseits und Braunschweig-Wolfenbüttel andererseits eine gewisse Rolle. IV. Die Ablehnung eines päpstlich-kurialen Konzils durch die Protestanten sowie das Schwinden der Hoffnung auf die tatsächliche Einberufung eines allgemeinen Konzils durch den Papst führte selbst bei eher zur Vermittlung neigenden Kreisen geradezu zwangsläufig zu einem fortgesetzten Appell an eine Nationalversammlung oder ein öffentliches Religionsgespräch zur Beseitigung des kirchlich-theologischen Zwiespaltes, der nicht nur gegenwärtig den Reichsfrieden bedrohte, sondern ja auch grundsätzlich die Verfassungsstruktur des Reiches berührte. Durch die Vermittlungsinitiative des Kaisers und der vermittelnden Reichsstände ab 1538/39, vor allem aber durch die Zusage eines solchen „Tages" seit dem Frankfurter Anstand vom 19.4.1539, ist diese Perspektive einer Lösung des Religionsproblemes auch der kirchenpolitischen Öffentlichkeit angezeigt worden. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, daß alle Schriften des Konfliktes zwischen Hessen, Kursachsen und Braunschweig-Wolfenbüttel zumindest noch formal sich an die beiden in Frankfurt vermittelnden Kurfürsten richteten. Als publizistische Beiträge aus theologischer Feder gehören dazu vor allem Luthers umfangreiche Abhandlung „Von den Konziliis und Kirchen" in den beiden Teilen über die Konzile, hoffend und werbend Bucers „Etliche Gespräche vom Nürnbergischen Friedstand", den positiven Sinn eines Gesprächs bekräftigend alle Publikationen rund um die kaiserliche Gesprächsinitiative vom April/Mai 1540, werbend wiederum Bucers anonyme Schrift für den Hagenauer Tag und Nauseas „Hortatio"; enttäuscht vom Stocken der Hagenauer Verhandlungen schließlich Bucers „Per quos steterit Haganoae initum colloquium" sowie als amtliche Publikation die „Confessio Augustana variata", um die geltende Verhandlungsgrundlage seitens der Protestanten zu formulieren und - von altgläubiger Seite - schließlich die kleinen Schriften von Cochläus und Eck und Brauns „Etliche Gespräche" vom Jahreswechsel 1540/41. Die Untersuchung zeigt auch, daß der öffentlich vertretene Wahrheitsanspruch der Protestanten seine theologisch-ekklesiologischen Dimension verliert, wo er lediglich als ein Akt politischer Notwehr bezeichnet wird oder als sublimer.

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religiös eingefärbter Ausdruck eines partikularen, reichsständischen Interesses gedeutet wird, das die herkömmliche Reichsrechtsordnung mit der Ablehnung der kammergerichtlichen Jurisdiktion angreift und das Angebot des Kaisers zu einem nichtöffentlichen Vergleich in der Religionsfrage - wie es in Schmalkalden im April 1540 versucht wurde - deutlich zurückweist.

6. Die Bedeutung der kirchenpolitischen Publizistik Die kirchenpolitische Publizistik bildete in den gut zwei Jahren nach der Erklärung der Reichsacht gegen die Stadt Minden im Oktober 1538 - also zu einem Zeitpunkt, als das Leipziger Religionsgespräch nicht zu dem beabsichtigten Ergebnis geführt hatte und das von der kaiserlichen Diplomatie angestrebte Religionsgespräch auf nationaler Ebene noch an Verfahrensfragen stockte (Hagenau, Worms) - das primäre Mittel der gleichermaßen geistigen und politischen Auseinandersetzung zwischen den in die später in die Konfessionen auseinanderdriftenden kirchenpolitischen Parteien im Reich. Die zwischen ihnen theologisch und politisch vermittelnden Größen hatten an der I4iblizistik ebenfalls, wenngleich nicht in einem so bestimmenden Maße, ihren Anteil. Daß der sie trennende Dissens im Kem ein Streit um die „Kirche" ist, wird zwischen 1538 und 1541 durch die entsprechende Publizistik bereits für die kirchenpolitische Öffentlichkeit sichtbar, längst bevor das dann auch stattfindende, „offizielle" Religionsgespräch von Worms-Regensburg mit anderen Themen (Rechtfertigungslehre, Erbsünde) als dem „locus de ecclesia" einsetzt und dort (zumindest anfänglich) aufgrund der im „Wormser/Regensburger Buch" geleisteten Vorarbeit auch durchaus bemerkenswerte Ergebnisse erzielt. Was für den nachgeborenen Historiker evident ist, nämlich ein entfaltetes Bewußtsein für die Wechselwirkungen zwischen politisch-juristischer und kirchlich-theologischer Sphäre und das vergebliche Bemühen um die sichtbare Einheit der einen Kirche, konnte sich m.E. zwischen 1538 und 1541 für die Teilhaber an diesem geistigliterarischen Streit um die Kirche bereits deutlich erschließen. Der von den Protestanten beschrittene Weg an die Appellationsinstanz kirchenpolitische Öffentlichkeit in der Ära der Religionsgespräche war fernerhin nicht nur eine Begleiterscheinung einer eher zufälligen Neigung zur seinerzeit „modernen" Herstellung kleinformatiger, preisgünstiger Druckschriften. Er entsprang vielmehr der dem Glauben zugänglichen Einsicht, daß die Wahrheit des christlichen Heilsbotschaft ihrerseits unverzichtbare Konsequenzen für die Gestalt der sichtbaren, institutionell verfaßten Kirche hat. Das zwei Jahrzehnte vorher begonnene, auch in der Ära der Religionsgespräche ungebrochene Engagement der Protestanten für die Publizistik ist schließlich nur verstehbar, weil die Öffentlichkeit letztlich als eine Größe wahrgenommen wurde, die einen umfassenden Bildungsanspruch besitzt, der über einen vordergründigen Informationsbedarf weit hinausreicht. Diese „reformatori-

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sehe" Bildung umfaßt für den einzelnen Menschen Kenntnisse über den Grund des Heils (in Christus) sowie für die Christen insgesamt die wahre Wahrheit über die Kirche. Zu dieser Bildung konnten auch die kirchenpolitischen Publikationen einen wichtigen Beitrag leisten. Aus der Sicht der protestantischen Publizisten bestand dieser Anspruch der Öffentlichkeit vor allem darin, sich vergewissern zu können, wer im Streit der Meinungen die Kontinuität mit der einen und wahren Kirche Jesu Christi theologisch legitim behauptet und diese Kontinuität von daher politisch und rechtlich, und das heißt auch öffentlich und sichtbar, zu vertreten hat. Sie, die Verketzerten, beanspruchten für sich diese Kontinuität.

Abbildungen

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Abbildung 1. Johann Friedrich von Sachsen/Philipp von Hessen, „Ausschreiben an alle Stände" vom 13.11.1538. Drack von Georg Rhau, Wittenberg, 1538. Bibliographischer Hinweis: VD 16: H 2802 = VD 16: S 986, Fundort: UB Mr XIX d В 1217 p. Vgl. Seite 35, Druckbeschreibung S. 342 f..

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Abbildung 2. Johann Friedrich von Sachsen/Philipp von Hessen, „Ausschreiben an alle Stände" vom 13.11.1538. Drucker?, Ort?, vermutlich Jahresbeginn 1539. Bibliographischer Hinweis: VD 16: H 2800 = VD 16: S 984, Fundort: Bay SB Mü 4° Ded. 257/6. Vgl. Seite 39.

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Abbildung 7. Karl V., „Ordnung, Statuten und Edikt von Brüssel", Vermutlich ein Wittenberger Druck, Dezember 1540?, Fundort: HAB Wf К 284 Heimst. 4° (10). Vgl. Seite 238 f; Drackbeschreibung S. 336.

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