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German Pages 101 Year 2001
FRIEDRICH E. SCHNAPP / MARKUS KALTENBORN
Verfassungsrechtliche Fragen der „Friedensgrenze" zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 858
Verfassungsrechtliche Fragen der Friedensgrenze" zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung
Von Friedrich E. Schnapp Markus Kaltenborn
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Schnapp, Friedrich E.: Verfassungsrechtliche Fragen der „Friedensgrenze" zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung / Friedrich E. Schnapp ; Markus Kaltenborn. - Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 858) ISBN 3-428-10510-9
Alle Rechte vorbehalten © 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: psb, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-10510-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ
Vorwort In der sozialpolitischen Diskussion wird immer häufiger die Ansicht geäußert, daß unsere „sozialen Systeme" an den Grenzen ihrer Tragfähigkeit und Belastbarkeit angekommen seien. Das gilt angesichts einer zahlenmäßig schrumpfenden und zugleich alternden Gesellschaft nicht nur für die Rentenversicherung, sondern auch für die gesetzliche Krankenversicherung. Seit Ende der siebziger Jahre hat man versucht, der finanziellen Probleme der gesetzlichen Krankenversicherung Herr zu werden - mit Kostendämpfungs-, Kostendämpfungsergänzungs-, Solidaritätsstärkungsund ähnlichen Gesetzen, mit Budgetierungen, der Einführung von Festbeträgen und Richtgrößen sowie sonstigen Maßnahmen der Leistungsreduzierung, schließlich mit Bedarfsplanungen und Zulassungsbeschränkungen. In den letzten 30 Jahren hat der Gesetzgeber allein die Krankenversicherung durch über 50 Gesetze mit über 7.000 Einzelbestimmungen zu sanieren versucht. Gleichwohl bleibt die Feststellung unverändert gültig, die der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung bereits in seinem Jahresgutachten 1992/93 getroffen hat: „Alle bisherigen Versuche, der defizitären Entwicklung in der Gesetzlichen Krankenversicherung entgegenzuwirken, sind gescheitert." Mit einiger Regelmäßigkeit wird auch erwogen oder vorgeschlagen, die Ausweitung der Sozialversicherungspflicht in Erwägung zu ziehen. Gelegentlich ist gar das politische Postulat nach der Einführung einer Einheitsversicherung zu vernehmen. Zu den verfassungsrechtlichen Aspekten solcher Denkmodelle hat der Erstunterzeichner anläßlich der Hochschullehrertagung des Verbandes der privaten Krankenversicherung im November 1997 ein Referat gehalten. In der Folgezeit ist der Gedanke gereift, die damaligen Überlegungen auf eine breitere Grundlage zu stellen und zu dokumentieren. Schon Ernst Forsthoff hat in seinem Referat auf der Staatsrechts 1 ehrertagung im Jahr 1953 herausgestellt, daß wir in Art. 20 Abs. 1 GG nicht einen losgelösten, „totalen" Sozialstaat vorfinden, sondern eine soziale Demokratie in den Formen des Rechtsstaats. Das heißt: Jegliche staatliche Sozialgestaltung ist eingebunden in die bundesstaatliche Kompetenzverteilung und in die grundrechtlichen sowie objektivrechtsstaatlichen Eingriffsschranken für die öffentliche Gewalt. Ob eine weitere Ausdehnung der Sozialversicherungspflicht diesen Anforderungen standhält, stellen wir hiermit zur Diskussion.
Bochum, im Dezember 2000
Friedrich E. Schnapp Markus Kaltenborn
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
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I. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes auf dem Gebiet der Sozialversicherung 12 1. Der soziale Ausgleich als „Wesensmerkmal" der Sozialversicherung 2. Das Versicherungsprinzip und der Grundsatz der Gruppenhomogenität 3. Die Bipolarität der Versicherungsverfassung
12 16 24
II. Subsidiariät und Systemgerechtigkeit als maßstabbildende Grundsätze für die Sozialgesetzgebung 31 1. Die Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips für die Abgrenzung zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung 31 2. Bindungen des Sozialgesetzgebers aus dem Gedanken der Systemgerechtigkeit.. 37
III. Grundrechtspositionen der Versicherten 1. Die Sozialversicherungspflicht als Beschränkung der Berufsausübung
40 42
a) Mitgliedschaft in der GKV - ein Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit? . . . 42 b) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Friedensgrenze
46
aa) Absicherung „sozial Schutzbedürftiger" als Zielsetzung einer Erhöhung der Friedensgrenze 46 bb) Verhältnismäßigkeit einer Erhöhung der Versicherungspflichtgrenze
51
cc) Begrenzung der Berufsausübungsfreiheit durch kollidierendes Verfassungsrecht 57 2. Der Eigentumsschutz der Versicherten
61
3. Die Erhöhung der Friedensgrenze im Licht der negativen Vereinigungsfreiheit .. 62 4. Die Friedensgrenze als gleichheitsrechtliches Problem
69
8
Inhaltsverzeichnis
IV. Grundrechtspositionen der Versicherungsunternehmen
71
1. Sozialversicherung als objektive Berufswahlbeschränkung zu Lasten privater Versicherungsuntemehmer 71 2. Der Eigentumsschutz der Privatversicherer
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Zusammenfassung der Ergebnisse
80
Literaturverzeichnis
82
Sachwortverzeichnis
99
Einleitung Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes standen im Jahr 1997 ca. 71,7 Mio. Bundesbürger unter dem Schutz der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV); hiervon waren ca. 6,1 Mill. Mitglieder freiwillig versichert und ca. 20,8 Mio. als Familienangehörige mitversichert 1. Insgesamt betrug damit der Anteil der in der GKV Versicherten an der Gesamtbevölkerung 87,3 %. Lediglich 7,065 Mio. Personen hatten 1997 bei einem Unternehmen der privaten Krankenversicherung (PKV) eine Krankheitsvollversicherung abgeschlossen2, die übrigen Bundesbürger waren nicht krankenversichert oder hatten (etwa als Sozialhilfeempfanger) Anspruch auf sonstigen Versicherungsschutz. Angesichts dieses Ungleichgewichts zwischen GKV und PKV gelangen manche Beobachter zu der Einschätzung, daß unser Krankenversicherungssystem sich bereits deutlich „auf dem Wege zur Volks Versicherung" befinde 3. Eine solche Prognose erweist sich als durchaus berechtigt, wenn man die unterschiedlichen „Marktanteile" der GKV in den einzelnen Phasen ihrer mittlerweile 115jährigen Geschichte miteinander vergleicht: Während im Jahr 1895, zwölf Jahre nach Einführung der Krankenversicherungspflicht durch das Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter vom 15.6.18834, erst 14,4 % der Bevölkerung 1
Statistisches Bundesamt, Datenreport 1999. Zahlen und Fakten über die Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2000, S. 203. 2 Verband der privaten Krankenversicherung, Die private Krankenversicherung. Zahlenbericht 1998/99, Köln 1999, S. 12. Die Anzahl der in der PKV Vollversicherten hat sich im Jahr 1998 auf 7,2057 Mio. und im Jahr 1999 auf 7,356 Mio. erhöht (vgl. PKV-Publik 2000, S. 54). 3 So der Titel eines Aufsatzes von Georg Wannagat, in: ders. / Wolfgang Gitter (Hrsg.), Festschrift für Erich Fechner, Tübingen 1973, S. 207 ff.; vgl. darüber hinaus Helge Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, Tübingen 1997, S. 323; Otto Ernst Krasney, Der Streit um eine soziale Pflegeversicherung, BKK 1992, 542 (545 m.w.N.); Maximilian Fuchs, Privatversicherung und Sozialversicherung, VSSR 1991,281 (292). Zur Entwicklung des Verhältnisses zwischen GKV und PKV vgl. auch Maximilian Fuchs, Wettbewerb zwischen privaten und öffentlichen Krankenversicherungen, ZSR 2000, 315 (317 f.); Franz-Josef Oldiges, Sozialversicherung und Privatversicherung nach dem Gesundheits-Reformgesetz aus der Sicht der gesetzlichen Krankenversicherung, ZSR 1990, 354 (357 ff.); Hans Christoph Uleer, Sozialversicherung und Privatversicherung nach dem Gesundheitsreform-Gesetz, ZSR 1990, 363 ff; Helmut Schirmer, Gesetzliche Krankenversicherung und private Krankenversicherung, in: Bertram Schulin (Hrsg.), Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1 Krankenversicherungsrecht, München 1994, § 14, Rdnr. 8 ff. 4 RGBl. S. 73. Vgl. hierzu Johannes Frerich / Martin Frey, Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, Bd. 1, 2. Aufl., München, Wien 1996, S. 97 ff.; Horst Peters, Grundlegende Entwicklungen und Tendenzen im Krankenversicherungsrecht im letzten Jahrhundert, SGb 1981, 378 (379); Friedrich E. Schnapp, Hundert Jahre Deutsche Krankenversicherung, BKK 1981, 345 (347).
10
Einleitung
in der GKV versichert gewesen sind, stieg diese Zahl im Jahr 1955 bereits auf 48 % an5; im Laufe der vergangenen vier Jahrzehnte hat sich der Anteil der in der GKV Versicherten - unter Einbeziehung der mitversicherten Familienangehörigen und der freiwillig Versicherten - auf nahezu 90 % erhöht. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung stellt sich nicht nur die Frage, inwieweit eine weitere Ausdehnung der GKV zu Lasten der PKV ordnungspolitisch und gesundheitsökonomisch sinnvoll erscheint, sondern auch, ob eine solche Veränderung des Verhältnisses zwischen den beiden Versicherungssystemen noch mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben in Einklang zu bringen wäre. Die Abgrenzung zwischen GKV und PKV wird nämlich nicht im freien Wettbewerb bestimmt, sondern erfolgt weitgehend durch einseitige hoheitliche Festlegung: Welche Personengruppen nicht mehr zum Kreis der in der GKV Pflichtversicherten gehören und sich damit grundsätzlich nur bei einem privaten Krankenversicherungsunternehmen versichern können6, richtet sich maßgeblich nach der vom Gesetzgeber gezogenen sog. „Friedensgrenze"7. Nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB V genießen diejenigen Arbeiter und Angestellten Versicherungsfreiheit, deren regelmäßiges Jahresarbeitsentgelt 75 % der Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten (Jahresarbeitsentgeltgrenze) nicht übersteigt. Die Beitragsbemessungsgrenze wird gem. §§ 159 f. SGB V I jährlich entsprechend der Entwicklung der durchschnittlichen Bruttolohn- und -gehaltssumme durch Rechtsverordnung der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates festgelegt. Im Jahr 2000 betrug sie 103.200,- D M (monatlich: 8.600,- DM) in den alten Bundesländern sowie 85.200,- D M (monatlich: 7.100,- DM) in den neuen Bundesländern. Für die Krankenversicherungspflicht ergab sich danach eine Jahresarbeitsentgeltgrenze von 77.400,- D M (monatlich: 6.450- DM) in den alten Bundesländern bzw. 63.900,- D M (monatlich: 5.325,- DM) in den neuen Bundesländern. Soweit in der sozialpolitischen Diskussion die Forderung nach einer Erhöhung der Friedensgrenze erhoben wird 8, ist damit nicht die regelmäßige Anpassung der Beitragsbemessung an die Lohn- und Gehaltsentwicklung gemeint, sondern in erster Linie eine Veränderung der für die Jahres5
Vgl. BVerfGE 11,30 (43). Die Möglichkeiten, der GKV freiwillig beizutreten, sind auf wenige Ausnahmefälle beschränkt, vgl. § 9 SGB V. Zum Wettbewerb zwischen den Personengruppen, die ein Wahlrecht zwischen dem Beitritt zur GKV oder zur PKV haben, siehe Maximilian Fuchs, Wettbewerb zwischen privaten und öffentlichen Krankenversicherungen, ZSR 2000,315 (319 ff.). 7 Zu der 1971 eingeführten Grenzziehung zwischen GKV und PKV siehe Bertram Schulin / Gerhard /gl, Sozialrecht, 6. Aufl., Düsseldorf 1999, Rdnr. 42; Verband der Privaten Krankenversicherung% Standpunkte der PKV zur Struktur des Krankenversicherungssystems, Köln 1997, S. 17 und 28 f. 8 Vgl. hierzu PKV-Publik 2001, S. 14, sowie die Nachweise bei Helge Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, Tübingen 1997, S. 324; Hans-Olaf Wiesemann, Fiskalische Auswirkungen einer Erhöhung der Beitragsbemessungs- und Versicherungspflichtgrenze der Krankenversicherung auf das Niveau der Rentenversicherung, in: Jan Boetius / Hans-Olaf Wiesemann, Die Finanzierungsgrundlagen in der Krankenversicherung - Zur Grenzziehung zwischen GKV und PKV, Köln 1998, S. 45. 6
Einleitung
arbeitsentgeltgrenze gegenwärtig maßgeblichen 75 %-Marke, die allein auf dem Wege einer Gesetzesänderung erfolgen könnte. Will man den verfassungsrechtlichen Rahmen ausloten, der bei einer solchen Verschiebung der Friedensgrenze zu beachten wäre, so wird man zunächst untersuchen müssen, ob sich bereits aus den Kompetenzvorschriften des Grundgesetzes, insbesondere der Vorschrift des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, rechtliche Sperren für den Sozialgesetzgeber ableiten lassen (Teil I.). Weitere Ansatzpunkte für die verfassungsrechtliche Überprüfung des zukünftigen Verhältnisses zwischen GKV und PKV bieten das Subsidiaritätsprinzip und der Gedanke der Systemgerechtigkeit, den das Bundesverfassungsgericht als Maßstab zur Beurteilung gesetzgeberischer Gestaltungsspielräume aus dem Gleichheitssatz des Grundgesetzes entwickelt hat (Teil II.). Schließlich wird zu prüfen sein, inwieweit die Grundrechte der Versicherten (Teil III.) bzw. der Versicherungsunternehmer (Teil IV.) einer Verschiebung der Friedensgrenze entgegenstehen.
I. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes auf dem Gebiet der Sozialversicherung Gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG hat der Bund das Recht der konkurrierenden Gesetzgebung für „die Sozialversicherung einschließlich der Arbeitslosenversicherung". Die Tatsache, daß der Bundesgesetzgeber die Versicherungspflichtgrenze durch Anpassung der einschlägigen Vorschriften des mit der Überschrift „Sozialgesetzbuch (SGB) - Gesetzliche Krankenversicherung - " versehenen SGB V erhöhen könnte und damit eine Gesetzesänderung innerhalb einer genuin sozialversicherungsrechtlichen Materie vornehmen würde, ist allein noch keine ausreichende Grundlage für die Annahme einer entsprechenden Gesetzgebungskompetenz. Eine derartige Gesetzesänderung könnte nämlich dazu führen, daß das Gesetz aufgrund der neu eingefügten bzw. geänderten Regelung nunmehr den Rahmen der „Sozialversicherung" i.S. des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG überschreitet. Soll aber vermieden werden, daß der Bundesgesetzgeber allein durch die Etikettierung beliebiger sozialrechtlicher Regelungen als „Sozialversicherung" in die Lage versetzt wird, eine sozialrechtliche Allkompetenz für sich zu reklamieren und damit die Länder im Bereich der Förderung sozialer Sicherung in toto aus ihren Gesetzgebungskompetenzen zu verdrängen 1, bedarf es einer logisch vorrangigen Klärung der materiellen Grenzen, die der Kompetenztitel des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG dem Gesetzgeber bei der rechtlichen Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Sozialversicherung und privater Versicherungswirtschaft setzt. Er ermöglicht jedenfalls nicht eine „Kompetenzusurpation" durch die bloße Wahl des kodifikatorischen Standortes im SGB V.
1. Der soziale Ausgleich als „Wesensmerkmal" der Sozialversicherung Das Bundesverfassungsgericht versteht „Sozialversicherung" als einen „verfassungsrechtlichen Gattungsbegriff, der alles umfaßt, was sich der Sache nach als Sozialversicherung darstellt" 2. In späteren Entscheidungen des Gerichts ist sogar von einem „weit gefaßten verfassungsrechtlichen Gattungsbegriff' die Rede3. Bis1
Vgl. BVerfGE 62, 354 (366); Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, Tübingen 2001, S. 123. 2 BVerfGE 11, 105(112). 3 BVerfGE 63, 1 (35); 75, 108 (146); 88, 203 (313). Kritisch gegenüber der Verwendung des Begriffs „weit" in diesem Zusammenhang Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozial-
1. Der soziale Ausgleich
13
lang hat es das Bundesverfassungsgericht nicht für erforderlich gehalten, den Begriff der Sozialversicherung materiell erschöpfend zu umschreiben4. Jedoch darf hieraus nicht geschlossen werden, daß jegliche Regelungsmaterie, welche in irgendeiner Form die soziale Sicherheit betrifft, unter die Kompetenznorm des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG fallt; vielmehr muß dieses Ziel „auf dem spezifischen Weg der Sozialversicherung" erreicht werden5. Für eine solche Interpretation spricht nicht nur der Wortlaut, sondern auch die Systematik des Art. 74 GG, dessen Nrn. 7 (öffentliche Fürsorge) und 10 (Kriegsopferversorgung) bei einer durch Nr. 12 begründeten sozialrechtlichen Allkompetenz überflüssig wären6. Neue Lebenssachverhalte können in das Gesamtsystem „Sozialversicherung" einbezogen werden, wenn die neuen Sozialleistungen in ihren wesentlichen Strukturelementen dem Bild entsprechen, das durch die klassische Sozialversicherung geprägt ist. Zum „Wesen" der Sozialversicherung gehört in der Terminologie der Rechtsprechung die „gemeinsame Deckung eines möglichen, in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarfs durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit"7. Als Bedarf im Sinne dieser Begriffsbestimmung sieht das Bundesverfassungsgericht das „soziale Bedürfnis nach Ausgleich besonderer Lasten" an; die organisatorische Bewältigung dieser Aufgabe müsse durch selbständige Anstalten und Körperschaften des öffentlichen Rechts erfolgen, die ihre Mittel durch Beiträge der Versicherten und ihrer Arbeitgeber aufbringen8.
Versicherung, Tübingen 2001, S. 177; Christian Pestalozza, in: Hermann von Mangoldt / Friedrich Klein / Christian Pestalozza: Das Bonner Grundgesetz: Kommentar, Bd. 8,3. Aufl., München 1996, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, Rdnr. 832 (Anm. 1439). 4 Ulrich Becker, Gesetzliche Krankenversicherung zwischen Markt und Regulierung, JZ 1997, 534(535). 5 BVerfGE 11, 105(112). 6 Hans-Jürgen Papier, Der Einfluß des Verfassungsrechts auf das Sozialrecht, in: Bernd Barori von Maydell / Franz Ruland (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, 2. Aufl., Neuwied u.a. 1996, Rdnr. 1 \\ Josef Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, Berlin 1973, S. 44; zur Problematik einer sozialversicherungsrechtlichen Allkompetenz siehe auch bereits Werner Weber, Sozialversicherungsgesetzgebung als Uni versai regel ungskompetenz, in: Reimer Schmidt / Karl Sieg (Hrsg.), Grundprobleme des Versicherungsrechts, Festschrift für Hans Möller, Karlsruhe 1972, S. 499 (509); Friedrich E. Schnapp, Sozialversicherung Begriff ohne Kontur?, VSSR 1995, 101 (114). 7 BSGE 6, 213, 228; BVerfGE 11, 105, 112; Christoph Degenhart, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 2. Aufl., München 1999, Art. 74 Rdnr. 51, bezeichnet Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als einen typischen Fall einer „normativ-rezeptiven Benennung der Kompetenzmaterie". 8 Vgl. BVerfGE II, 105(113); 14, 312 (317 ff.); 62,354 (366); 75, 108 (146 f.); 81, 156 (185 f.); 87, 1 (34); 88, 203 (313 ff.). Der Begriff „sozialer Ausgleich" wird u.a. benutzt in BVerfGE 17, 1 (9); aus neuerer Zeit siehe BVerfGE 70, 101 ( 111 ); 76, 256 (301 f.); BSG JZ 1999, 617 (619). Die Terminologie hinsichtlich des Merkmals „sozialer Ausgleich" ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungs- und Bundessozialgerichts sowie im Schrifttum nicht einheitlich: Teilweise wird (so z. B. in BSGE 52,93 [96] und bei Josef isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, Berlin 1973, S. 16 ff. sowie Wolfgang Riifner, Einfuhrung
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I. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes
In seiner Untersuchung „Sozialversicherung und Privatversicherung" hat Walter Leisner darauf hingewiesen, daß der vom Bundesverfassungsgericht verwandte Begriff des sozialen Ausgleichs rechtlich nicht faßbar und daher als Wesensmerkmal der Sozialversicherung dogmatisch unbrauchbar sei9. Die Bemühungen der sozialrechtlichen Literatur um eine Präzisierung dieses Begriffs - etwa die Formulierung Jan Meydams, daß die Zielfunktion des sozialen Ausgleichs „in sozialgerechter Teilhabe an den Gütern der staatlichen Gemeinschaft" liege10 - hätten gleichfalls keine geeigneten Definitionselemente hervorgebracht. Vielmehr seien sie so allgemein gehalten, daß sie zur Beschreibung jeder staatlichen Maßnahme herangezogen werden könnten. Der Ausgleichsgedanke allein rechtfertige die Expansion der Sozialversicherung nicht; er bezeichne nur allgemein eine Nivellierungstendenz, sage jedoch nichts darüber aus, „zwischen wem, was, mit welchem Ziel und bis zu welcher Grenze auszugleichen ist"11. Leisner erblickt demgegenüber in der „Befriedigung spezieller Schutzbedürftigkeit" ein wesentliches Merkmal der Sozialversicherung: Zwar sei auch dieser Begriff von „nicht unbedenklicher Unbestimmtheit"12, jedoch nicht gänzlich inhaltslos: Danach müßten jedenfalls solche Bevölkerungsgruppen von der Versicherungspflicht ausgenommen bleiben, bei denen ersichtlich kein Bedürfnis nach einer Grundsicherung besteht. Folgt man dieser Auffassung, dann wären Bedenken hinsichtlich der Gesetzgebungskompetenz des Bundes nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG bereits deshalb angebracht, weil die von der Erhöhung der Versicherungspflichtgrenze betroffene Personengruppe möglicherweise nicht mehr dem „sozial schutzbedürftigen" Bevölkerungskreis zuzurechnen ist13.
in das Sozialrecht, 2. Aufl., München 1991, S. 139) auch der Ausdruck „Solidarausgleich" verwandt - ein Begriff, der nicht nur den Umverteilungsvorgang an sich, sondern auch dessen (ethische bzw. verfassungsrechtliche) Rechtfertigung mit in den Blick nimmt; vgl. hierzu Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, Tübingen 2001, S. 221. 9 Walter Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, Berlin 1974, S. 52 ff ; ders., Zur Abgrenzung von gesetzlicher und privater Krankenversicherung, Köln 1974, S. 20 ff. Allgemein zur Bedeutung des Ausgleichsgedankens in der Sozialversicherung vgl. dens.. Die verfassungsrechtliche Belastungsgrenze der Unternehmen, Berlin 1996, S. 90 f. 10 Jan Mevdam, Eigentumsschutz und sozialer Ausgleich in der Sozialversicherung, Bochum 1973, S. 87. 11 Walter Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, Berlin 1974, S. 54; offenbar a.A. ist Detlev Merten, Verfassungsrechtliche Grundlagen, in: Bertram Schulin (Hrsg.), Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1 Krankenversicherungsrecht, München 1994, § 5, Rdnr. 117, der dem Kriterium des sozialen Lastenausgleichs entnimmt, daß der Gesetzgeber schon aus kompetentiellen Gründen gehindert ist, medizinisch nicht indizierte Schönheitsoperationen, Schlankheitskuren oder Badereisen als Krankenversicherungsleistungen anzubieten. 12 Walter Leisner, Zur Abgrenzung von gesetzlicher und privater Krankenversicherung, Köln 1974, S. 21; vgl. auch Josef Isensee, Sozialversicherungsfreiheit bei geringfügiger Beschäftigung, ZRP 1982, 137(139). 13 Vgl. auch Jan Boetius, Einflußfaktoren für die Finanzierung von GKV und PKV, in: ders. / Hans-Olaf Wiesemann, Die Finanzierungsgrundlagen in der Krankenversicherung Zur Grenzziehung zwischen GKV und PKV, Köln 1998, S. 19 (40).
1. Der soziale Ausgleich
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Ob allerdings diese Sichtweise mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Einklang gebracht werden kann, ist fraglich: Das Bundesverfassungsgericht hat bereits in seiner Entscheidung zum Kindergeldgesetz aus dem Jahr I960 14 betont, daß die Beschränkung auf Arbeitnehmer und auf eine soziale Notlage nicht zum Wesen der Sozialversicherung gehört. Später hat das Gericht diese Position nochmals bekräftigt, indem es daraufhingewiesen hat, daß die Sozialversicherung mittlerweile eine Ausgestaltung gefunden habe, die „längst nicht mehr" allein die Abwehr ausgesprochener Notlagen und die Vorsorge für die sozial schwächsten Bevölkerungskreise zum Ziel habe15. Dem Umstand, daß im Laufe der Zeit auch Arbeiter und Angestellte mit höherem Einkommen sowie Selbständige in die Sozialversicherung aufgenommen wurden, hat das Bundesverfassungsgericht somit offenbar entnommen, daß es auf eine besondere soziale Schutzbedürftigkeit der zu Versichernden nicht ankommt16. Abgestellt wird also m.a.W. nicht auf ein Bedürfnis i.S.v. Bedürftigkeit, sondern auf einen deckbaren Bedarf. Zwar mag die Tatsache, daß ein Regelwerk die herkömmlichen sozialversicherungsrechtlichen Bedarfssituationen und als zu versichernde Personengruppe die Arbeitnehmerschaft betrifft, ein wichtiges Indiz für das Vorliegen der Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG darstellen. Einen unzulässigen Schluß von der Faktizität auf die Normativität würde man jedoch ziehen, wenn man dieser Indizwirhing zugleich konstitutiven Charakter beimessen wollte. Im Unterschied zu bestimmten anderen Strukturmerkmalen des Begriffs „Sozialversicherung" - darunter eben auch dem Prinzip des „sozialen Ausgleichs" - besitzt das Kriterium der sozialen Schutzbedürftigkeit keine konstitutive Wirkung 17. Zumindest aus kompetenzrechtlicher Perspektive wäre also ein Außerachtlassen des Schutzbedürftigkeitskriteriums nicht zu beanstanden. Daß eine Verschiebung der Friedensgrenze mit dem stattdessen (in kompetenzrechtlicher Hinsicht) als maßgeblich zu erachtenden Merkmal des „sozialen Ausgleichs" in Konflikt geraten könnte, ist demgegenüber kaum anzunehmen, fuhrt 14
BVerfGE 11, 105(113). BVerfGE 28, 324 (348). 16 Christian Pestalozza, in: Hermann von Mangoldt / Friedrich Klein / Christian Pestalozza: Das Bonner Grundgesetz: Kommentar, Bd. 8, 3. Aufl., München 1996, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, Rdnr. 836; Franz Ruland, Der Sozialversicherungsbeitrag zwischen Versicherungsprinzip und sozialem Ausgleich, SGb 1987, 133 ( 136). Diese Einschätzung gilt zumindest fur die kompetenzrechtliche Qualifikation einer sozialrechtlichen Regelungsmaterie. Hiervon zu unterscheiden ist die Frage, ob das „soziale Schutzbedürfnis" der von der Pflichtversicherung umfaßten Personengruppen eine Legitimationsgrundlage für Eingriffe in die Grundrechte der Versicherten bietet (vgl. hierzu unten Teil III. 1. b). 17 Vgl. Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, Tübingen 2001, S. 302 ff.; siehe auch die Ausführungen ebdt. (S. 180 ff.) zu den übrigen in der Rechtsprechung entwickelten primären (bzw. konstitutiven) Strukturmerkmalen der Sozialversicherung (hierzu zählen neben dem bereits genannten „sozialen Ausgleich" die Merkmale „Versicherung", „Art und Weise der organisatorischen Bewältigung" sowie „Finanzierung durch Sozialversicherungsbeiträge") in Abgrenzung zu den sekundären, lediglich eine Indizwirkung entfaltenden Merkmalen der Sozialversicherung (u. a. die Merkmale „Zwangsversicherungscharakter" und „Beteiligung der Arbeitgeber an der Finanzierung"). 15
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I. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes
doch gerade die Einbeziehung weiterer Personen mit relativ hohem Einkommen in den Kreis der Versicherungspflichtigen zu einem der für die Sozialversicherung typischen interpersonalen Umverteilungseffekte, nämlich der Begünstigung einkommensschwächerer Personen auf Kosten der Bezieher mittlerer und höherer Einkommen18.
2. Das Versicherungsprinzip und der Grundsatz der Gruppenhomogenität Als weiteres (primäres) „Wesensmerkmal" der Sozialversicherung, das bei einer Ausdehnung des Pflichtversichertenkreises verletzt werden könnte, kommt das Versicherungsprinzip in Betracht. Nach Ansicht von Hans E Zacher würde eine allgemeine Volksversicherung, deren Versicherungsgemeinschaft die (ungeschiedene) „Volksgemeinschaft" wäre und deren Beiträge allgemeine Steuern wären, das Versicherungsprinzip in einem Maße negieren, daß es unmöglich erschiene, sie noch als Sozialversicherung zu bezeichnen; der sozialversicherungsrechtliche Bereich werde eindeutig verlassen, wenn das Versicherungselement völlig aufgegeben würde 19. Der Ansicht Zachers sind andere Vertreter des verfassungsrechtlichen Schrifttums gefolgt: Der Gesetzgeber dürfe sich bei der normativen Ausgestaltung der einzelnen Sozialversicherungszweige nicht allzu weit vom Typus der Versicherung entfernen, dieser müsse vielmehr für die Sozialversicherung mitbestimmend bleiben20. Auf-
18 Josef Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, Berlin 1973, S. 17 f.; als weitere Ausprägungen des Solidarausgleichs in der GKV werden von Isensee genannt: der interpersonale Ausgleich zwischen den Partnern des Arbeitsverhältnisses (Arbeitgeberzuschuß) sowie zwischen Gesunden und Morbiden, weiterhin der intertemporäre Ausgleich zwischen den Generationen sowie schließlich der interorganisatorische Ausgleich in Form des Finanzausgleichs oder der Gemeinlast zwischen verschiedenen Versicherungsträgern. Vgl. hierzu auch Ferdinand Kirchhof Das Solidarprinzip im Sozialversicherungsbeitrag, SDSRV 35 (1992), 65 (66 f.); dens., Finanzierung der Sozialversicherung, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IV, Heidelberg 1990, § 93, Rdnr. 21; Norbert Andel, Finanzwissenschaft, 4. Aufl., Tübingen 1998, S. 466 ff.; Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, Tübingen 2001, S. 225 ff. 19 Hans F. Zacher, Sozialpolitik und Verfassung im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1980, S. 55 f. 20 Walter Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, Berlin 1974, S. 74 f. Zum Typuscharakter des Begriffs „Sozialversicherung" in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG siehe auch Josef isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, Berlin 1973, S. 44 f. und Walter Leisner, Die verfassungsrechtliche Belastungsgrenze der Unternehmen, Berlin 1996, S. 83; Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, Tübingen 2001, S. 158 ff. Allgemein zur Bedeutung des Typus in der juristischen Methodenlehre vgl. Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., Berlin, Heidelberg, New York 1991, S. 461 ff; Karl Engisch* Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, 2. Aufl. Heidelberg 1968, S. 237 ff.; Josef Kokett Der Begriff des Typus bei Karl Larenz, Berlin 1995, S. 84 ff., S. 130 ff., S. 226 ff.; Karlheinz Rode, Begriffliche und typologische Gesetzesinterpretation, JR 1968,401 ff.; Friedrich E. Schnapp, in: Ingo von Münch / Philip Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 4. Aufl., München 1992, Art. 20, Rdnr. 3.
2. Das Versicherungsprinzip und der Grundsatz der Gruppenhomogenität
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grund dieser „dem Gesetzgeber von Verfassungs wegen vorgegebenen mindestens gleichgewichtigen4 Berücksichtigung des Versicherungsprinzips" seien der Expansion der Sozialversicherung klare Grenzen gesetzt: je mehr neue Gruppen in die Pflichtversicherung einbezogen würden, desto größer werde in der Regel das Gewicht des sozialen Ausgleichs und damit die Entfernung vom Versicherungsprinzip 21 . Das klassische Bild der Sozialversicherung sei durch den Grundsatz der Beitrags· und Leistungsäquivalenz geprägt. Zwar werde dieses Prinzip aus sozialen Gründen durchbrochen; eine Erhöhung oder gar Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze ohne entsprechende LeistungsVerbesserungen erscheine jedoch im Hinblick auf die Beitragsäquivalenz bedenklich22. Nun stellt sich allerdings die Frage, ob bereits dann, wenn sich Elemente finden lassen, die eindeutig nicht mehr als „Versicherung" qualifiziert werden können, der Kompetenzbereich von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG verlassen ist. Angesichts der zahlreichen Ausnahmen vom Versicherungsprinzip, die die Rechtsprechung bzgl. sozialversicherungsrechtlicher Regelungsmaterien als verfassungsgemäß anerkannt oder toleriert hat - erwähnt seien hier z.B. der Arbeitgeberanteil im Versicherungsbeitrag 23, die Zulässigkeit des Staatszuschusses24, die Ausweitung des Beitragsschuldnerkreises auf nicht in die Versicherung einbezogene Dritte 25 oder aber das Fehlen 21
Walter Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, Berlin 1974, S. 75 f., 84. Detlev Merten, Die Ausweitung der Sozialversicherungspflicht und die Grenzen der Verfassung, NZS 1998, 545 (551). Zur Bedeutung des Versicherungsprinzips in der Sozialversicherung vgl. auch BVerfGE 11, 105 (112); 75, 108 (146); 87, 1 (34); 88, 203 (313); Hermann Bley / Ralf Kreikebohm, Sozialrecht, 7. Aufl., Neuwied u. a. 1993, Rdnr. 276; Wolfgang Gitter / Jochem Schmitt, Sozialrecht, 5. Aufl., München 2001, S. 33 ff.; Bertram Schulin / Gerhard IgL Sozialrecht, 6. Aufl., Düsseldorf 1999, Rdnr. 81; Raimund Waltermann, Sozialrecht, Heidelberg 2000, Rdnr. 97 f.; Wolfgang Rüfner, Einfuhrung in das Sozialrecht, 2. Aufl., München 1991, S. 137 ff.; Eberhard Eichenhofer, Sozialrecht, 3. Aufl., Tübingen 2000, Rdnr. 140; Geoig Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, I. Bd., Tübingen 1965, S. 1 ff; Jiiigen Wasem, Sozialpolitische Grundlagen der gesetzlichen Krankenversicherung, in: Bertram Schul in (Hrsg.), Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1 Krankenversicherungsrecht, München 1994, S 3, Rdnr. 119 ff.; Maximilian Fuchs, Privatversicherung und Sozialversicherung, VSSR 1991, 281 (300 f. m.w.N.); ders., Zivilrecht und Sozialrecht. Recht und Dogmatik materieller Existenzsicherung in der modernen Gesellschaft, München 1992, S. 50 ff., 118 ff.; Michael Kloepfer, Sozialversicherungsbeiträge und Gruppensolidarität. Rechtsfragen zur Reform der studentischen Krankenversicherung, VSSR 1974, 156 (157); Walter Leisner, Die verfassungsrechtliche Belastungsgrenze der Unternehmen, Berlin 1996, S. 88. Ausführlich zur Historiographie des auf Arbeiten von Ulisse Gobbi und Alfred Manes zurückgehenden Versicherungsbegriffs Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, Tübingen 2001, S. 181 ff. 22
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BVerfGE 11, 105(114). BGHZ 44, 166 (169): „Staatliche Zuschüsse ... schließen den Begriff der Versicherung nicht aus, solange es daneben primär Beiträge gibt." 25 Die in § 24 des Gesetzes über die Sozialversicherung der selbständigen Künstler und Publizisten (KSVG) vorgesehene Künstlersozialabgabe der sog. Vermarkter (u.a. Verlage, Theater- und Konzertdirektionen, Galeristen, Kunsthändler) hat das BVerfG (E 75, 108 ff.) unter dem Aspekt der Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes für verfassungskonform 24
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I. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes
des dem Versicherungsbegriff immanenten „Risiko-Elements"26 - , wird man dies verneinen müssen. Das „Typische, das Wesentliche4 der Versicherung, das ihr Wesen im Rechtssinne stempelt"27, ließe sich zwar mittels einer Analyse des geltenden positiv-rechtlichen Sozialversicherungssystems herausarbeiten, indem man aus dessen Regelungen typische gemeinsame Strukturmerkmale des Versicherungsprinzips extrapoliert. Doch bereits die Auswahl dieser Strukturmerkmale birgt die Gefahr subjektiver Beliebigkeit in sich: Grundsätzlich kann kein Merkmal den Versicherungscharakter in Frage stellen, schließlich kann es immer in die Begriffsbestimmung einbezogen werden, sei es als Bestandteil des Typenkerns oder als Ausnahmeerscheinung28. Als problematisch erweist sich überdies bei einem derartigen Extrapolationsverfahren, daß man aus einem vorhandenen kodifikatorischen Komplex keine Maßstäbe fur genau diesen Komplex gewinnen kann, da dies offenkundig einen Zirkelschluß darstellt29. Im Ergebnis läßt sich somit dem Versicherungsbegriff nur wenig an normativer Aussage entnehmen. In der Literatur wird die Auslegung des Begriffs „Sozialversicherung" in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bereits seit geraumer Zeit kritisiert. Nachdrücklich hat Werner Weber vor den Gefahren gewarnt, welche die schon in der erklärt. Vgl. hierzu Ferdinand Kirchhof, Finanzierung der Krankenversicherung. Grundlagen, in: Bertram Schulin (Hrsg.), Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1 Krankenversicherungsrecht, München 1994, § 53, Rdnr. 32; Hans-Jörg von Einem, Die Künstlersozialabgabe - Steuer, Sozialversicherungsbeitrag oder Sonderabgabe?, DVB1. 1988, 12 ff.; Lerke Osterloh, Verfassungsfragen der Künstlersozialabgabe, NJW 1982, 1617 ff.; Helmut Siekmann, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 2. Aufl., München 1999, vor Art. 104 a, Rdnr. 101 ff. 26 Dieser Fall war vom Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf die durch das Kindergeldgesetz eingeführten Familienausgleichskassen zu prüfen gewesen: In die als selbständige Körperschaften des öffentlichen Rechts bei den Berufsgenossenschaften gebildeten Familienausgleichskassen sollten im wesentlichen Beiträge gewerblicher Unternehmer fließen. Begünstigte des Familienausgleichs waren u. a. Arbeitnehmer und Selbständige, die für das dritte und jedes weitere Kind ein steuerfreies Kindergeld erhielten. Obwohl die „Sorge für Kinder4' nicht als Versicherungsrisiko eingestuft werden konnte, hat das Bundesverfassungsgericht (Ε II, 105 [113]) diesen Sozialtatbestand - mit Blick auf die organisatorische Form der Kindergeldkasse und die Mittelaufbringung durch Beiträge - als ausreichend angesehen, um eine Qualifikation als Sozialversicherung anzuerkennen; vgl. Friedrich E. Schnapp, Sozialversicherung-Begriff ohne Kontur?, VSSR 1995, 101 (113). Zu weiteren Durchbrechungen des Versicherungsprinzips in der Sozialversicherung siehe Christian Rolfs, Versicherungsfremde Leistungen in der Sozialversicherung, NZS 1998, 551 (556 f.); Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, Tübingen 2001, S. 61 ff.; Peter Kostorz, Versicherungsfremde Leistungen in der Gesetzlichen Krankenversicherung: eine sozialpolitische Analyse unter besonderer Berücksichtigung der historischen Entwicklung des Leistungskatalogs der GKV, Frankfurt a.M. 1998, S. 118 f. 27 So die Formulierung von Johannes Kmhn, Zur Rechtsnatur der Sozialversicherung - ein Beitrag, in: Hans Möller (Hrsg.), Festgabe für Walter Rohrbeck, Berlin 1955, S. 175 (176). 28 Vgl. Friedrich E. Schnapp, Sozialversicherung - Begriff ohne Kontur?, VSSR 1995, 101 (105 f.). 29 Ebdt, S. 106 f.
2. Das Versicherungsprinzip und der Grundsatz der Gruppenhomogenität
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Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Kindergeldgesetz30 angelegte Tendenz zu einer extensiven Interpretation des Art. 74 Nr. 12 GG (so die damalige Fassung) birgt: Beliebige Regelungen könnten als Sozialversicherung etikettiert und dadurch der Zuständigkeit des Bundesgesetzgebers - gewissermaßen im Wege einer „UniVersalregelungskompetenz" - erschlossen werden 31. Gleichwohl ist das Gericht auch in späteren Urteilen nicht von dem „offenen", vorrangig anhand formaler Kriterien zu bestimmenden Sozialversicherungsbegriff abgerückt. Mit der Entscheidung zur Künstlersozialabgabe32 dürfte spätestens die Grenze überschritten worden sein, jenseits derer dieser Begriff jegliche Kontur zu verlieren droht 33. Waren bis dahin als sozialversicherungsrechtliche Beitragsschuldner nur die Versicherten selbst, ihre Arbeitgeber bzw. die Unternehmer herangezogen worden, so wurde nun durch das Künstlersozialversicherungsgesetz der Kreis der Beteiligten auf Dritte, die sog. Vermarkter, ausgedehnt. Der Bund hatte mit diesem Gesetz die Verlage, Theater- und Konzertdirektionen, Galeristen, Kunsthändler und einige weitere Personengruppen zum Zwecke der sozialen Absicherung ihrer Auftragnehmer, der selbständigen Künstler und Publizisten, in die (Beitrags-)Pflicht genommen und sich dabei auf seine Kompetenz aus Art. 74 Nr. 12 GG gestützt. Diesbezügliche verfassungsrechtliche Bedenken verwarf das Bundesverfassungsgericht mit dem Hinweis auf die zwischen den Künstlern und ihren Vermarktern „feststellbaren integrierten Arbeits- und auch Verantwortlichkeitszusammenhänge", die Jedenfalls einen Anknüpfungspunkt auswiesen), der nicht außerhalb der Vorstellungen liegt, von denen die Sozialversicherung in ihrem sachlichen Gehalt bestimmt wird" 34 . Eine derart diffuse Umschreibung dessen, was der Verfassungsgeber unter „Sozialversicherung" verstanden hat, fordert - wie Christian Pestalozza völlig zu Recht festgestellt hat - geradezu zur Formalisierung heraus: „,Beteiligter4 oder »Betroffener4 ist, wer ,beteiligt4 oder »betroffen 4 w