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German Pages 306 Year 2015
Schriften zum Gesundheitsrecht Band 39
„Systemwettbewerb“ zwischen Gesetzlicher und Privater Krankenversicherung Rechtliche Voraussetzungen und Grenzen Von Lioba Sternberg
Duncker & Humblot · Berlin
LIOBA STERNBERG
„Systemwettbewerb“ zwischen Gesetzlicher und Privater Krankenversicherung
Schriften zum Gesundheitsrecht Band 39 Herausgegeben von Professor Dr. Helge Sodan, Freie Universität Berlin, Direktor des Deutschen Instituts für Gesundheitsrecht (DIGR) Präsident des Verfassungsgerichtshofes des Landes Berlin a.D.
„Systemwettbewerb“ zwischen Gesetzlicher und Privater Krankenversicherung Rechtliche Voraussetzungen und Grenzen
Von Lioba Sternberg
Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn hat diese Arbeit im Jahr 2014 als Dissertation angenommen.
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Meinen Eltern
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2013/2014 von der Rechtsund Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertation angenommen. Die Literaturzitate wurden für die Veröffentlichung auf den Stand von April 2015 gebracht. Mein erster besonderer Dank gilt Professor Dr. Gregor Thüsing, dem Anreger, Betreuer und Gutachter der Arbeit. Für seine Ratschläge und die fachliche Unterstützung sowie die persönliche Förderung während der Zeit meiner Tätigkeit an seinem Lehrstuhl und darüber hinaus bin ich sehr dankbar. Herzlich danken möchte ich auch Professor Dr. Raimund Waltermann für die Erstellung des Zweitgutachtens und Professor Dr. Helge Sodan für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe Schriften zum Gesundheitsrecht. Das Zustandekommen der Arbeit wurde ermöglicht durch ein Stipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung. Ihr sowie der Studienstiftung des deutschen Volkes und dem Cusanuswerk, die mich während des Studiums gefördert haben, danke ich ebenfalls herzlich. Für die gute Zusammenarbeit und die anregenden Diskussionen danke ich neben meinem Doktorvater dem gesamten Team des Lehrstuhls für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit von Professor Thüsing an der Universität Bonn, mit dem ich von 2008 bis 2013 zusammengearbeitet habe. Durch wertvolle Anregungen wesentlich vorangebracht hat meine Arbeit überdies das von uns ins Leben gerufene Doktorandenkolloquium aus Mitarbeitern verschiedener Lehrstühle der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bonn. Allen einen Dank für die schönen und interessanten Abende und die kritische Auseinandersetzung mit meinen Thesen. Einen besonderen Anteil am Gelingen meiner Arbeit haben schließlich meine Eltern, denen ich herzlich für die große Unterstützung während meiner gesamten Ausbildung danke. Sie haben alle Höhen und Tiefen der Promotionszeit mitgetragen. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Meiner Mutter gilt darüber hinaus ein Dank für das sorgfältige Korrekturlesen und Felix Lange für die wertvolle Unterstützung bei der Vorbereitung der Disputation am 24. April 2014. Münster, im April 2015
Lioba Sternberg
Inhalt Einleitung: „Systemwettbewerb“ als Steuerungsinstrument für das Gesundheitswesen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 1 Die zwei Säulen des Gesundheitswesens der Bundesrepublik Deutschland A. Entstehung und historische Entwicklung eines zweigliedrigen Krankenversicherungssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die gemeinsamen Vorläufer von Gesetzlicher und Privater Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Zunftwesen im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Krankenversicherungswesen nach Beginn der Industrialisierung . . 3. Die Situation der Krankheitsvorsorge vor Entstehung der GKV . . . . . . . II. Die Krankenversicherung der Arbeiter von 1883 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Eckpunkte des Krankenversicherungsgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Charakteristika der GKV als Spiegelbild der vielseitigen Motivationslage bei ihrer Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ein zweigliedriges System entsteht – Entwicklungstendenzen und wechselseitige Einflüsse von GKV und PKV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Charakteristika der zwei Säulen – Gemeinsamkeiten und Unterschiede . . . . . . . I. Gemeinsamer Kern: Versicherung gegen das Risiko der Krankheit . . . . . . . II. Divergenz der Versicherungssysteme im Ausgangszustand . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsgrundlagen: Sozialverwaltungsrecht vs. ziviles Versicherungsvertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsform der Versicherer und Binnenorganisation: Kooperierende Körperschaften vs. konkurrierende private Unternehmen . . . . . . . . . . . . 3. Entstehung des Versicherungsverhältnisses: von Gesetzes wegen vs. durch Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Finanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Beitragsbemessungsgrundlage: Einkommen vs. Risiko . . . . . . . . . . . b) Finanzierungsverfahren: Umlage- vs. Anwartschaftsdeckungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Steuerzuschüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt 5. Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Art der Versicherungsleistung: Naturalleistung vs. Kostenerstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Versicherungsfall: Krankheit vs. Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Leistungsspektrum: gesetzlicher Leistungskatalog vs. privatautonome Tarifgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. „Verschwimmende Grenzen“? – Konvergenz der Versicherungssysteme in der jüngeren Entwicklung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Annäherung der Beitragsbemessungsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Risikoäquivalenz in der GKV durch Wahltarife gem. § 53 Abs. 1 und 2 SGB V . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Solidarausgleich in der PKV durch die Verpflichtung zu Basistarif und Unisex-Tarifen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Basistarif . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Das Verbot geschlechtsspezifischer Tarife . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Keine echte Annäherung an das Kapitaldeckungsverfahren durch Rücklagenbildung in der GKV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Art und Umfang der Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Organisation und Binnenstruktur der Versicherungssysteme . . . . . . . . . . 5. Versicherte Personenkreise – Funktionsangleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Entstehung und Beendigung des Versicherungsverhältnisses . . . . . . . . . .
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Kapitel 2 Status Quo: „Systemwettbewerb“ zwischen GKV und PKV?
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A. Wettbewerb innerhalb der Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Wettbewerb zwischen den Krankenkassen der GKV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Implementierung wettbewerblicher Handlungsspielräume in der GKV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Diskrepanz zwischen wirtschaftlichem und sozialversicherungsrechtlich überformtem Wettbewerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Wettbewerb zwischen den Versicherungsunternehmen der PKV . . . . . . . . . .
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B. Wettbewerb zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung . . . . . . . . . I. Tatsächliche Marktverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verhinderung von Wettbewerb durch Ausschluss der Wahlmöglichkeit Versicherter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der GKV ausschließlich zugewiesene Versicherte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der PKV ausschließlich zugewiesene Versicherte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Freiwillige Versicherung und Befreiung von der Versicherungspflicht als Schnittstelle zwischen den Systemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt 1. 2. 3. 4.
Was heißt Wettbewerb? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der relevante Krankenversicherungsmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahlrecht der Versicherten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterschiedliche rechtliche Rahmenbedingungen und fehlende Handlungsspielräume, um Wettbewerb zu führen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Erweiterung der Handlungsspielräume durch Reformen der Systeme . . a) Erweiterte Gestaltungsspielräume der Krankenkassen hinsichtlich der Parameter Preis und Leistung einerseits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verpflichtung der Privatversicherer zum Angebot eines Basistarifs andererseits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Bewertung: Kein Wettbewerb im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Eingeschränkter Anbieterwettbewerb zwischen Krankenkassen und privaten Versicherungsunternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausnahme: Zusatzversicherungsmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kein wirksamer Systemwettbewerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Versuch einer alternativen Beschreibung des Verhältnisses von GKV und PKV: Komplementarität statt Konkurrenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 3 Rechtliche Ordnung des „Wettbewerbs“ durch das europäische und nationale Kartellrecht? A. Die gesetzlichen Krankenkassen im Bereich der Pflichtversicherung . . . . . . . . . I. Europäisches Kartellrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sachlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Keine Bereichsausnahme für Träger der Systeme sozialer Sicherheit bzw. für das Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Persönlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Rechtsprechung des EuGH zu Sozialversicherungsträgern . . . . aa) Die Rechtsprechung zur Angebotstätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Poucet und Pistre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Mischformen im Grenzbereich zwischen wirtschaftlicher Tätigkeit und Solidarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Fédération française . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Albany, Brentjens, Bokken & Pavlov . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Cisal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Kattner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Rechtsprechung zur Nachfragetätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) AOK-Bundesverband . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) FENIN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Kernaussagen der EuGH-Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt (1) Wirtschaftliche Tätigkeit vs. Umsetzung des Grundsatzes der Solidarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Einordnung des Sozialversicherungssträgers bei Mischsystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Die Klassifizierung der Nachfragetätigkeit richtet sich nach der Angebotstätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Resonanz in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Stellungnahme und Hintergründe der EuGH-Rechtsprechung . . . . . . d) Übertragung der Rechtsprechungsgrundsätze auf die veränderte Rechtslage der GKV infolge der jüngsten Reformen . . . . . . . . . . . . . . aa) Zu untersuchende Reformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Folgen für die Einstufung als Unternehmen aus Sicht von Literatur und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Staatszuschuss (§§ 221, 221a SGB V) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Gesundheitsfonds (§§ 271, 266 SGB V) . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Kassenindividueller Zusatzbeitrag und Sozialausgleich (§§ 242–242b SGB V) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Wahltarife, Zusatzleistungen und Selektivverträge . . . . . . . . (5) Basistarif (§ 12 Abs. 1a, 1c SGB V) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (6) Statusbezogene Neuregelungen (§§ 171a und 171b SGB V) (7) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das nationale Kartellrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Nachfragetätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Entsprechende Anwendung des GWB gem. § 69 Abs. 2 S. 1 SGB V b) Europarechtskonformität der Anordnung der entsprechenden Anwendung des GWB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Angebotstätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die gesetzliche Neuregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Anlass: Das Urteil des LSG Darmstadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das Gesetzgebungsverfahren und die Diskussion in Literatur und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
B. Die gesetzlichen Krankenkassen im Bereich der freiwilligen Versicherung . . . . I. Keine abschließende Klärung durch die EuGH-Rechtsprechung . . . . . . . . . . II. Trennbarkeit von Pflicht- und freiwilliger Versicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Unternehmerische Tätigkeit der Krankenkassen beim Angebot der freiwilligen Versicherung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. Die gesetzlichen Krankenkassen beim Angebot leistungserweiternder Wahltarife und bei der Vermittlung von Zusatzversicherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 D. Die privaten Krankenversicherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
Inhalt
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Kapitel 4 Ausländische Gesundheitssysteme als Vorbilder für ein wettbewerbliches Krankenversicherungssystem?
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A. Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Organisationsstruktur und Reformgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Versicherter Personenkreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Finanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Private Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Wettbewerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Organisationsstruktur und Reformgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Versicherter Personenkreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Finanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Private Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Wettbewerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 5 Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten des Verhältnisses von GKV und PKV
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A. Eckpunkte der bisherigen Untersuchungen und weiteres Prüfungsprogramm . . 168 B. Der Handlungsspielraum des Gesetzgebers in den Grenzen des Verfassungs-, Unions- und Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Mindestanforderungen an die staatliche Verantwortung für die Krankheitsvorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sozialstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das erforderliche Schutzniveau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Organisatorische Vorgaben an die Ausgestaltung der Krankheitsvorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Offenheit der Ausgestaltung der Krankheitsvorsorge . . . . . . . . . . . . . 2. Menschenwürdegarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Staatliche Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Grundsatz der Systemgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Anforderungen aus dem formellen Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . a) Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Art. 87 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
172 172 173 173 174 176 176 177 178 180 180 183 185
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Inhalt 6. Europa- und völkerrechtliche Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) EU-rechtliche Vorgaben als Maßstab für die Ausgestaltung . . . . . . . . b) Völkerrechtliche Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Grenzen staatlicher Regulierung der Krankheitsvorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grenzen aus der Kompetenzordnung: Die Theorie von der bipolaren Versicherungsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Subsidiaritätsprinzip und Primat der Eigenverantwortung in der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundrechte Versicherungspflichtiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Versicherungspflicht und Freiheitsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . (1) Sozialversicherungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Pflicht zum Abschluss eines privaten Krankenversicherungsvertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Versicherungspflicht und Gleichheitssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Sozialversicherungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Pflicht zum Abschluss eines privaten Krankenversicherungsvertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Grundrechte der privaten Versicherungsunternehmen . . . . . . . . . . . . . aa) Sozialversicherungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Pflicht zum Abschluss eines privaten Krankenversicherungsvertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Keine Grundrechtsfähigkeit der Krankenkassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Grenzen aus dem Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Europäisches Wettbewerbsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Dritte Richtlinie Schadensversicherung (Richtlinie 92/49/EWG) 5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
C. Umgestaltungsoptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Option 1: Systemtrennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vertikale Trennung: Schutzbedürftige vs. Nichtschutzbedürftige . . . . . . a) Die Reduzierung des GKV-Versichertenkreises und das Sozialstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Abschaffung der freiwilligen Versicherung und Art. 6 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Ausschluss langjähriger Versicherter aus der GKV und der Eigentums- und Vertrauensschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Horizontale Trennung: Bürger-Grundsicherung vs. Zusatzversicherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kompetenztitel für die „Bürgerversicherung“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
186 186 188 190 190 191 192 198 198 199 199 206 211 211 213 214 214 218 219 219 220 221 223 224 225 226 226 227 228 231 232 233
Inhalt b) Vereinbarkeit des Bürgerversicherungsbeitrags mit der Finanzverfassung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Grundrechte der Versicherungspflichtigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Einbeziehung der Beamten in die Bürgerversicherung und Art. 33 Abs. 5 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die Grundrechte der bisher PKV-Versicherten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Die Grundrechte der Privatversicherer – Wie weit darf die PKV aus dem Aufgabenfeld Gesundheitsschutz zurückgedrängt werden? . . . . g) Die Bürgerversicherung am Maßstab des europäischen Rechts . . . . 3. Fazit zu Option 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Option 2: Systemangleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wahlrecht zwischen GKV und PKV für alle Bürger . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Angleichung der Funktionsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Übertragung von Funktionsbedingungen der GKV auf die PKV . . . aa) Der Basistarif als verfassungskonforme „sozialstaatliche Indienstnahme“ der PKV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Modell einer „solidarischen Bürgerversicherung“ unter Beteiligung der Krankenkassen und der PKV-Unternehmen . . . . . . . . . (1) Einbeziehung der Privatunternehmen gestützt auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Mit Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG vereinbare Gestaltung . . . . . . (3) Private Unternehmen in der „solidarischen Bürgerversicherung“ als Sozialversicherung im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Vereinbarkeit mit den Grundrechten der Versicherungspflichtigen und der PKV-Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Vorgaben des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Beteiligung der PKV am Gesundheitsfonds . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Zahlungen an die PKV aus dem Gesundheitsfonds zur prämienfreien Kindermitversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Zahlungen der PKV an den Gesundheitsfonds zum Vorteils- und Lastenausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Sozialversicherungsbeitrag gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Sonder- bzw. Ausgleichsabgabe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Belastung Privatversicherter mit einer Versicherungssteuer? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Übertragung von Funktionsbedingungen der PKV auf die GKV . . . aa) Wahltarife als privatversicherungsrechtliche Elemente in der GKV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Leistungserweiternde Wahltarife als „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG? . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Konflikt mit den Grundrechten der PKV-Anbieter? . . . . . . .
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238 239 243 245 247 249 250 251 251 253 253 253 256 257 258
259 260 261 262 263 264 264 265 266 267 267 267 269
16
Inhalt bb) Stärkung der Äquivalenz in der GKV über „Kopfpauschalen“ . . (1) Gesundheitsprämiensystem als „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Gesundheitsprämienfinanzierte Krankenkassen als „Unternehmen“ im Sinne des europäischen Kartellrechts? . . . . . cc) Krankenkassen in privater Rechtsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Materielle Vorgaben des Grundgesetzes stehen nicht entgegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Zwingende Organisation der Krankenkassen als „Körperschaft des öffentlichen Rechts“ wegen Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und Art. 87 Abs. 2 GG? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Europarechtliche Folgen privatisierter Krankenkassen . . . . . dd) Privatisierung der GKV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Abhängigkeit der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von der konkreten Ausgestaltung sozialer Vorgaben . . . . . . . . . . . (2) Europarechtlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Fazit zu Option 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
270 271 273 274 275
275 278 279 280 281 282
Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
Einleitung: „Systemwettbewerb“ als Steuerungsinstrument für das Gesundheitswesen? Gesundheitsleistungen qualitativ hochwertig und für jeden Bürger auf Dauer bezahlbar zu gewährleisten, sollte oberstes Ziel jeder Gesundheitspolitik sein. Dies stellt den Gesetzgeber vor eine große Herausforderung, da Gesundheitsleistungen mit der Weiterentwicklung kostenintensiver medizinischer Therapieverfahren teurer werden und die Bevölkerung altert. Dies zwingt, nach neuen Wegen zu suchen: Als die gesetzliche Krankenversicherung 1883 gegründet wurde, versuchte man durch ein solidarisch finanziertes und staatlich organisiertes System den Personen einen Krankheitsschutz zu ermöglichen, die einen solchen auf dem Versicherungsmarkt nicht erhalten hätten. Das Sozialrecht ist im 19. Jahrhundert also „angetreten, dem Wettbewerb seine schädlichen Nebenwirkungen zu nehmen“ 1. Seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts gibt es jedoch eine Kehrtwende in der Gesundheitspolitik: Ziel ist nicht mehr die Eliminierung des schädlichen Wettbewerbs, sondern die Förderung und Stärkung eines effizienz- und qualitätssteigernden Wettbewerbs. Wettbewerb wurde zum neuen Schlagwort in der gesundheitspolitischen und sozialrechtlichen Debatte. Aus jüngster Zeit sei etwa der 69. Deutsche Juristentag 2012 in München genannt, der sich in der Abteilung Sozialrecht mit dem Thema „Wettbewerb im Gesundheitswesen“ befasste. Auch das Sondergutachten des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen 2012 trug den Titel „Wettbewerb an der Schnittstelle zwischen ambulanter und stationärer Gesundheitsversorgung“. Die Grundvoraussetzung für eine Konkurrenz unter den Krankenkassen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) schuf 1996 die Einführung des Kassenwahlrechts. Seither sind zahlreiche Gesetze mit der Stärkung des Wettbewerbs in der GKV begründet worden. Unter diesem Vorzeichen wurden etwa Zusatzbeiträge (§ 242 SGB V), Wahltarife (§ 53 SGB V) und Satzungsleistungen (§ 11 Abs. 6 SGB V) eingeführt sowie die Möglichkeiten der Kassen zum Abschluss selektiver Verträge mit den Leistungserbringern erweitert.
1
Kingreen, MedR 2004, S. 188 (188).
18
Einleitung
Neben dem Krankenkassenwettbewerb wird aber noch eine weitere Wettbewerbsdimension vermehrt diskutiert, die mit „Systemwettbewerb“ betitelt wird. Dabei geht es uneinheitlich einerseits um Anbieterwettbewerb zwischen gesetzlichen Krankenkassen und privaten Versicherungsunternehmen, andererseits um einen allgemeinen Systemvergleich mit der Frage, welches System die Aufgabe der Krankenversicherung effektiver und insgesamt besser erfüllt. Die Möglichkeit eines solchen Systemvergleichs schafft das weltweit einzigartige Nebeneinander eines gesetzlichen und eines substitutiven privaten Vollversicherungssystems in Deutschland. Bei näherem Hinsehen wirft die Interpretation als „Systemwettbewerb“ dennoch Zweifel auf. Wie können zwei Systeme, zwischen denen nur wenige Bürger die Wahl haben und die unterschiedliche Aufgaben wahrnehmen miteinander im Wettbewerb stehen? Welche Vorteile bietet das duale Krankenversicherungssystem tatsächlich und was spricht für eine Überwindung der Segmentierung und die Schaffung eines einheitlichen Krankenversicherungssystems für alle Bürger? In ihrem Gutachten zum 69. Deutschen Juristentag in München 2012 („Wettbewerb im Gesundheitswesen“) schlossen der Gesundheitsrechtler Ulrich Becker und die Wirtschaftsrechtlerin Heike Schweitzer ihre Ausführungen mit den Worten: „Im Verhältnis zwischen GKV und PKV findet derzeit kein wirksamer Systemwettbewerb statt. Jede denkbare Bereinigung der gegenwärtigen Lage wirft jedoch zwangsläufig tiefgreifende verfassungsrechtliche, sozial- und wirtschaftspolitische Fragen auf. Diese reichen über den Gutachtenauftrag hinaus.“ 2 Hieran möchte die vorliegende Arbeit anknüpfen und einen Beitrag zur Diskussion leisten. Zunächst soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit heute innerhalb der Systeme und zwischen den Systemen von GKV und PKV Wettbewerb besteht und ob es sich um echte Märkte im wettbewerbsrechtlichen Sinne handelt. Die Darstellung konzentriert sich sodann auf die verfassungsrechtlichen Vorgaben und europarechtlichen Determinanten, die bei der Umgestaltung des dualen Krankenversicherungssystems zu beachten sind.
2
Becker/Schweitzer, DJT-Gutachten 2012, S. B 152.
Kapitel 1
Die zwei Säulen des Gesundheitswesens der Bundesrepublik Deutschland A. Entstehung und historische Entwicklung eines zweigliedrigen Krankenversicherungssystems Die Auseinandersetzung mit der dualen Krankenversicherungsordnung, ihren verfassungsrechtlichen Grundlagen und möglichen Reformen verlangt zunächst einen kurzen Blick auf ihre Entstehung und Entwicklung. Anders als in der überwiegenden Literatur, die zumeist entweder die Geschichte der GKV oder die der PKV betrachtet1, soll hier insbesondere das Zusammenspiel untersucht werden, welche Auswirkungen die Systeme auf einander hatten und wie sie – aus gemeinsamen Wurzeln im mittelalterlichen Zunftwesen kommend – sich zu zwei verschiedenen Versicherungssystemen entwickelten, „die unter ganz unterschiedlichen Gesichtspunkten Krankheitskosten absichern“ 2. Es wird sich zeigen, dass die Entwicklung von GKV und PKV eng verknüpft ist und sich beide Systeme stets wechselseitig beeinflusst haben.3 So scheint eine isolierte Betrachtung der jeweiligen Entwicklungsgeschichten kaum möglich, da zunächst die Sozialversicherung auf die privaten Zusammenschlüsse zurückgriff und die Entwicklung der PKV sodann eine Geschichte der Anpassung4 an das gesetzliche System wurde. Die historische Betrachtung dient aber nicht nur der allgemeinen Hintergrundkenntnis über Beweggründe des Gesetzgebers und historische Erfahrungen mit den Systemen, die bedeutend ist, wenn man über Veränderungen des Krankenversicherungswesens nachdenkt. Sie ist auch für rechtliche Fragestellungen von Bedeutung, etwa zur Bestimmung des „klassischen Bildes“ der Sozial- bzw. Privatversicherung, das nach der Rechtsprechung des BVerfG5 die Grenzen der Gesetzgebungskompetenzen gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 und Nr. 11 GG absteckt. 1
Auf dieses Desiderat weist Koch hin in ZVersWiss 1980, 199 (199). BVerfG Beschl. v. 4.2.2004 – 1 BvR 1103/03, Rn. 20, VersR 2004, 898 (899). 3 Koch/Uleer, Herausforderungen, S. 20. 4 Koch beschreibt das Zusammenwirken von Sozial- und Individualversicherung zutreffend als durch „Ausdehnungsbestrebungen der Sozialversicherung und [. . .] Anpassungsbemühungen der privaten Versicherungswirtschaft“ gekennzeichnet, in: ZVersWiss 1980, 199 (207). 5 Siehe etwa BVerfG Urt. v. 10.5.1960 – 1 BvR 190/58 u. a., Rn. 20, BVerfGE 11, 105 (112). 2
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Kap. 1: Die zwei Säulen des Gesundheitswesens
I. Die gemeinsamen Vorläufer von Gesetzlicher und Privater Krankenversicherung 1. Das Zunftwesen im Mittelalter Absicherung im Krankheitsfall gab es im Mittelalter zunächst außerhalb der Familie und ähnlichen Fürsorgeverhältnissen nur in Gestalt der Armenfürsorge. Seit der Zeit Konstantins des Großen (306–337) wurde diese vor allem von den Kirchen übernommen.6 Christliche, zuerst im Osten des Römischen Reichs entstandene Hilfseinrichtungen und Spitäler, die durch erste Formen von Stiftungen finanziert wurden, boten Bedürftigen Unterstützung im Krankheitsfall.7 Nachdem zunehmend Stadtgründungen erfolgt waren, stellten auch die Städte seit dem 13. und 14. Jahrhundert Stadtärzte zur Krankenbehandlung zur Verfügung und errichteten Hospitäler.8 Diese Hilfsmaßnahmen hatten jedoch noch nichts mit einer Sozialversicherung gemeinsam. Die Unterstützung erfolgte unabhängig von einem Eigenbeitrag der Bedürftigen allein aufgrund des christlichen Gebotes der Nächstenliebe bzw. der öffentlichen Verantwortung für das gemeine Wohl und der Sorge vor sozialem Unfrieden9. Sie hatte daher eher einen Fürsorgecharakter10 und beschränkte sich auf die Beseitigung dringlichster Missstände11. Erste gemeinschaftliche Zusammenschlüsse zur Selbsthilfe nach dem Prinzip der Versicherung lassen sich bei den berufsständischen Vereinigungen im Mittelalter wie den Zünften, Knappschaften und Gesellenbruderschaften ausmachen.12 Eine bedeutende Aufgabe dieser Zusammenschlüsse war neben der Wahrnehmung gemeinsamer Interessen die Unterstützung in Not geratener Mitglieder.13 Im Krankheitsfall wurden Sachleistungen wie die Unterbringung in einem Spital und medizinische Behandlung sowie finanzielle Unterstützungsleistungen gewährt.14 Die Leistungen wurden aus Beiträgen finanziert, die von den Mitgliedern zunächst freiwillig erbracht, später zwangsweise erhoben wurden15. Hier 6 Peters, Geschichte der sozialen Versicherung, S. 19; Gitter, Sozialrecht (3. Aufl., 1992), S. 8. 7 Siehe T. Sternberg, Orientalium more secutus, insb. S. 30 ff. 8 Peters, Geschichte der sozialen Versicherung, S. 20. 9 Vgl. Gitter, Sozialrecht (3. Aufl. 1992), S. 8. 10 Zum verfassungsrechtlichen Begriff der Fürsorge s. etwa Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 74, Rn. 35 ff. 11 Gitter, Sozialrecht (3. Aufl., 1992), S. 8. 12 Peters, Geschichte der sozialen Versicherung, S. 21 f.; Gitter, Sozialrecht (3. Aufl. 1992), S. 9; Sodan, in: Sodan, Hdb. KVR, § 1, Rn. 3; Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 32 f. 13 Koch/Uleer, Herausforderungen, S. 22. 14 Peters, Geschichte der sozialen Versicherung, S. 22 ff.; Koch/Uleer, Herausforderungen, S. 22. 15 Sodan, in: Sodan, Hdb. KVR, § 1, Rn. 3; Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 33; Koch/Uleer, Herausforderungen, S. 22.
A. Entstehung eines zweigliedrigen Krankenversicherungssystems
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schlossen sich also gleichartig Gefährdete zu einer Gefahrengemeinschaft zusammen, um gegen einen Beitrag Anspruch auf Unterstützung in den Wechselfällen des Lebens wie Krankheit oder Invalidität zu erhalten. Man kann daher bei diesen Vereinigungen bereits von echten Versicherungen sprechen,16 auch wenn die heute übliche Beitragsberechnung nach versicherungsmathematischen Grundsätzen noch nicht entwickelt war.17 Da es sich um privatrechtliche Zusammenschlüsse ohne gesetzliche Grundlage handelte, betrachtet man diese Selbsthilfeeinrichtungen der Zünfte und anderer berufsständischer Vereinigungen als Anfänge der PKV18, ihnen kommt aber darüber hinaus eine ganz wesentliche Bedeutung für die Entwicklung des deutschen Gesundheitswesens insgesamt zu19, sodass sie gleichzeitig als Wurzeln der GKV angesehen werden können. 2. Das Krankenversicherungswesen nach Beginn der Industrialisierung Die gesellschaftlichen Veränderungen seit Ende des 18. Jahrhunderts machten die Absicherung gegen Krankheit zu einem dringenderen Bedürfnis: Die einsetzende Industrialisierung und die neuen rechtlichen Rahmenbedingungen (Gewerbefreiheit, Freizügigkeit und Aufhebung der Erbuntertänigkeit der Bauern) veränderten die wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen massiv. Die Bevölkerung konzentrierte sich zunehmend in den Städten, wo neu entstandene Großbetriebe Arbeitsplätze boten.20 Die Familienbande lockerten sich, Zunftund Gildewesen zerbrachen.21 Auch die Eingliederung des Arbeiters in den Haushalt des Arbeitgebers ging verloren; das Arbeitsverhältnis beschränkte sich nun auf den Austausch der Arbeitsleistung gegen Geld.22 Die Sicherungsfunktion der Familie und der berufsständischen Vereinigungen musste auf andere Weise ersetzt werden. Daher verselbständigten sich teilweise die Vorsorge- und Unterstützungskassen der Zünfte und bestanden als sog. Krankenladen fort.23 Diese beruhten auch weiterhin auf einem berufsständischen Denken, das von Zusammengehörigkeit und gegenseitiger Unterstützung in Notlagen geprägt war. Darüber hinaus bildeten sich aber auch neue Krankenversicherungseinrichtungen auf gesellschaftlicher Initiative: So entstanden Selbsthilfeeinrichtungen bestimmter Arbeitnehmergruppen (sog. freie Hilfskassen) sowie Vorsorgekassen von Betriebsunternehmern für ihre Arbeitnehmer (sog. Betriebskas16 Zum Begriff der „Versicherung“ vgl. etwa Waltermann, Sozialrecht, S. 57; Muckel/Ogorek, Sozialrecht, S. 50. 17 Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 33. 18 Siehe nur Koch/Uleer, Herausforderungen, S. 22. 19 Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 34. 20 Gitter, Sozialrecht (3. Aufl., 1992), S. 10. 21 Gitter, Sozialrecht (3. Aufl., 1992), S. 10. 22 Wannagat, SGb 1981, 373 (373). 23 Koch/Uleer, Herausforderungen, S. 23.
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Kap. 1: Die zwei Säulen des Gesundheitswesens
sen).24 Ihnen lag, wenn auch ohne versicherungsmathematische Berechnungen, das Prinzip der Versicherung zugrunde. Daneben entstanden auch erste gewerbliche Krankenversicherungsunternehmen mit der Absicht der Gewinnerzielung. 1848 wurden etwa die Krankenkasse der Beamten des Berliner Polizeipräsidiums und 1855 die Leipziger Kranken-, Invaliden- und Lebensversicherungsgesellschaft „Gegenseitigkeit“ gegründet.25 Letztere geht auf den Leipziger Mathematiklehrer Karl Friedrich Heym zurück.26 Sie war die erste Krankenkasse, der versicherungsmathematische Berechnungen zugrunde lagen.27 Diese sehr vereinzelten privaten Initiativen reichten jedoch nicht aus, um des sozialen Problems der durch Krankheit verursachten Armut Herr zu werden. Es folgten daher erste gesetzgeberische Reaktionen. Eine Vorreiterfunktion nahm dabei Preußen ein,28 auf dessen Gesetzgebung sich diese Darstellung beschränkt. Ein Anspruch auf Unterstützung gegen den Arbeitgeber wurde einzelnen Arbeitnehmern erstmals im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 eingeräumt.29 Darüber hinaus kannte das Gesetz nur die Armenpflege, die zur gemeindlichen, Aufgabe erklärt und in sehr allgemein gehaltenen Grundsätzen ohne genaue Bestimmungen zu Art und Umfang der Leistungen geregelt wurde.30 Eine wirkliche Vorsorge bot die Armenpflege nicht, da sie dem in Not geratenen keinen Rechtsanspruch gewährte.31 Die Vorschriften des Allgemeinen Landrechts schufen also keine Absicherung weitreichender Bevölkerungsteile, sondern widmeten sich ausschließlich einzelnen kleinen Berufsgruppen sowie den Ärmsten der Armen. Um das größer werdende soziale Problem der Krankheit umfassender in den Griff zu bekommen, setzte man sodann bei den bestehenden Hilfs- und Unterstützungskassen an:32 Die Preußische Gewerbeordnung vom 17. Januar 1845 ermächtigte die Gemeinden, durch Ortsstatut eine Versicherungspflicht für alle im Ort ansässigen Gesellen und Gehilfen in einer der Hilfskassen einzuführen.33 Die 24 Koch/Uleer, Herausforderungen, S. 23; Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 35. 25 Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 35. 26 Koch/Uleer, Herausforderungen, S. 23. 27 Koch/Uleer, Herausforderungen, S. 23. 28 Peters, Geschichte der sozialen Versicherung, S. 40; Waltermann, Sozialrecht, S. 23 ff. 29 So etwa den Dienstboten, sofern keine Verwandten vorhanden waren und die Erkrankung während der Dienstzeit eintrat; s. ausf. Peters, Geschichte der sozialen Versicherung, S. 31. 30 Peters, Geschichte der sozialen Versicherung, S. 29 ff. 31 Peters, Geschichte der sozialen Versicherung, S. 29. 32 Stolleis, Quellen, Erläuterungen S. 31. 33 Peters, Geschichte der sozialen Versicherung, S. 33 f.; Stolleis, Quellen, Erläuterungen S. 31.
A. Entstehung eines zweigliedrigen Krankenversicherungssystems
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bestehenden Hilfs- und Unterstützungskassen konnten zu diesem Zwecke zu Zwangskassen ernannt und neue Zwangskassen konnten gegründet werden.34 Die Ermächtigung wurde durch Verordnung vom 9. Februar 1849 hinsichtlich einer zwangsweisen Versicherung von Fabrikarbeitern und selbständigen Gewerbetreibenden erweitert.35 Erstmals wurde hier auch die Aufteilung der Beiträge zwischen Arbeitnehmern (zu 2/3) und Arbeitgebern (zu 1/3) vorgesehen.36 Seit dem preußischen Gesetz betreffend die gewerblichen Unterstützungskassen vom 3. April 1854 stand das Recht zur Anordnung von Versicherungszwang auch den Bezirksregierungen zu.37 Eine gesetzliche Versicherungspflicht wurde dagegen nur für Bergarbeiter eingeführt.38 Die Bergarbeiterzwangsversicherung in ihrer Gestalt nach der Reform 1865 ist zum Vorbild der späteren Sozialversicherung geworden.39 Sie weist in ihrer Struktur zahlreiche Ähnlichkeit auf: So beruhte sie auf einer gesetzlichen Pflicht, der als Gegenstück die Selbstverwaltung der Knappschaftsvereine entgegenstand, und die Beiträge wurden gemeinschaftlich von Arbeitgebern und Arbeitnehmern aufgebracht.40 Eine erneute Auflockerung des Kassenzwangs brachte die Preußische Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869. Die verpflichtende Versicherung in einer Zwangskasse konnte fortan durch eine Versicherung in einer freien Hilfskasse ersetzt werden.41 Ähnlich der heutigen Befreiung von der Versicherungspflicht (§ 8 SGB V) wurde so ein Wahlrecht zwischen den Zwangs- und freien Hilfskassen ermöglicht. Um die Umgehung des Kassenzwangs zu verhindern bemühte man sich aber alsbald um eine größere Standardisierung des Kassenwesens und mehr Kontrolle: Nach dem „Gesetz über die eingeschriebenen Hülfskassen“ vom 7. April 187642 erhielten alle Kassen (sowohl Zwangs- als auch freie Hilfskassen), die bestimmte Bedingungen hinsichtlich Organisation und Leistungen erfüllten, „die Rechte einer eingeschriebenen Hülfskasse“.43 Zwar blieben sie auch weiterhin privatrechtlich organisiert, im Vergleich zu sonstigen Krankenkassen 34
Stolleis, Quellen, Erläuterungen S. 31. Peters, Geschichte der sozialen Versicherung, S. 34. 36 Peters, Geschichte der sozialen Versicherung, S. 34. 37 Stolleis, Quellen, Erläuterungen S. 31. 38 Gesetz betreffend die Vereinigung der Berg-, Hütten-, Salinen- und AufbereitungsArbeiter in Knappschaften vom 10.4.1854; abgedruckt bei Stolleis, Quellen, S. 112 ff. 39 Stolleis, Quellen, Erläuterungen S. 32. 40 Stolleis, Quellen, Erläuterungen S. 32; Peters, Geschichte der sozialen Versicherung, S. 36; Sodan, in: Sodan, Hdb. KVR, § 1, Rn. 4; Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 36. 41 Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 36 f. 42 Abgedruckt bei Stolleis, Quellen, S. 110 ff. 43 § 1 Gesetz über die eingeschriebenen Hülfskassen, abgedruckt bei Stolleis, Quellen, S. 110 ff. 35
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unterlagen die eingeschriebenen Hilfskassen aber einer größeren staatlichen Kontrolle und genossen im Gegenzug rechtliche und finanzielle Vorteile.44 U. a. war ihre Haftung auf das Kassenvermögen beschränkt.45 Die eingeschriebenen Hilfskassen können aufgrund ihres „halböffentlichen Status“ 46 als unmittelbare Vorläufer der 1883 entstandenen „gesetzlichen Krankenkassen“ angesehen werden.47 3. Die Situation der Krankheitsvorsorge vor Entstehung der GKV Zusammenfassend stellte sich die Situation der Krankheitsvorsorge im ausgehenden 19. Jh. also so dar: Von einem staatlich bereitgestellten und organisierten System der sozialen Sicherheit war man weit entfernt. Zur eigenen Aufgabe machte sich der Staat nur die Armenpflege, deren Inanspruchnahme als diskriminierend empfunden wurde, da sie u. a. den Verlust des Wahlrechts zur Folge hatte.48 Versicherungen gab es nur in privat organisierter Form, die – soweit es sich um eingeschriebene Hilfskassen handelte – vom Staat allenfalls auf bestimmte Standards hin kontrolliert wurden. Ein flächendeckendes Netz der standardisierten eingeschriebenen Hilfskassen gab es aber nicht. Nur wenige Versicherungen erwarben diesen Status. Bis Ende 1880 waren es 559 Kassen mit insgesamt 123.000 Mitgliedern in Preußen und 321 in den übrigen Bundesstaaten.49 Daneben bestand eine – rückläufige50 – Zahl unterschiedlicher Einrichtungen, deren Absicherung zwar grundsätzlich auf dem Gedanken der Gegenseitigkeit beruhte, die aber aufgrund fehlender versicherungsmathematischer Berechnungen und geringer Mitgliederzahlen noch hochgradig risikobehaftet waren und daher keine wirkliche Sicherheit boten. Darüber hinaus war die Mitgliedschaft in den Kassen örtlich begrenzt. Bei einem Ortswechsel des Arbeiters entfiel seine Absicherung in der Regel.51 Einen gesetzlich angeordneten Versicherungszwang für Lohnarbeiter gab es nicht, dieser hing vielmehr von der örtlichen Politik der Gemeinden bzw. später der Bezirksregierungen ab, die ihn nur zurückhaltend einführten. Sie fürchteten Standortnachteile gegenüber Gemeinden ohne Zwangsversicherung, weil Fabrikinhaber durch höhere Kosten aufgrund der zwangsweisen Abführung von Arbeitgeberbeiträgen abgeschreckt werden könnten.52 Bis Ende 44
Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 37. § 5 Gesetz über die eingeschriebenen Hülfskassen, abgedruckt bei Stolleis, Quellen, S. 110 ff. 46 Stolleis, Geschichte, S. 77; ebenfalls zitiert von Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 37. 47 Gitter, Sozialrecht (3. Aufl., 1992), S. 12. 48 Wannagat, SGb 1981, 373 (374); Stolleis, Quellen, Erläuterungen S. 19. 49 Peters, Geschichte der sozialen Versicherung, S. 46. 50 Peters, Geschichte der sozialen Versicherung, S. 46. 51 Gitter, Sozialrecht (3. Aufl., 1992), S. 12. 52 Stolleis, Geschichte, S. 52; Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 38. 45
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des Jahres 1880 waren daher in Preußen nur insgesamt 278 und in den übrigen Bundesstaaten 20 Ortsstatute mit Anordnungen von Kassenzwang erlassen worden.53 Die Gesetzgebung der zweiten Hälfte des 19. Jh. verfolgte keine klare Linie. Ihr ist eine deutliche Unentschiedenheit zwischen einer liberalistischen Politik und einer Politik des auferlegten Zwangs anzumerken.54 So wurde den Gemeinden zunächst die Möglichkeit der Auferlegung eines Beitrittszwangs zu bestimmten Zwangskassen eingeräumt, diese aber sodann wieder gelockert und ein Wettbewerb zwischen Zwangs- und freien Hilfskassen eröffnet. Hintergrund dieser Unentschiedenheit war das Spannungsverhältnis zwischen den sozialen Missständen einerseits und den vorherrschenden liberalistischen Vorstellungen sowie der Abneigung der Arbeiterschaft gegen ein Zwangssystem andererseits. So fürchteten die Lohnarbeiter nach der gerade gewonnenen Freiheit erneute Abhängigkeit, insbesondere dann wenn ein Teil der Beiträge durch den Arbeitgeber aufgebracht würde.55 Auch bestand in der Arbeiterschaft wenig Bereitschaft, freiwillig für eine Absicherung der elementaren Wechselfälle des Lebens zu sorgen.56 Dieser Unmut ist nicht auf Nachlässigkeit, sondern darauf zurückzuführen, dass es den Arbeitern aufgrund der geringen Höhe ihres Lohns kaum möglich war, neben den Ausgaben für das tägliche Leben noch regelmäßige Zahlungen an eine Versicherung abzuführen.57 Einzelne Beamte trafen eine Vorsorge über gewerblich handelnde Versicherungsunternehmen, wie das Beispiel der Berliner Polizeibeamten zeigt. Selbständige, wie Gewerbetreibende und Handwerker waren zum Teil in den aus den berufsständischen Vereinigungen des Mittelalters hervorgegangenen Vorsorgeeinrichtungen versichert. Viele finanzierten ihren Lebensunterhalt im Krankheitsfall aber auch aus eigenen Rücklagen. Oft bildete Grundbesitz die materielle Existenzgrundlage, sodass sich Krankheit nicht in gleicher Weise existenzbedrohend auswirkte wie bei den abhängig Beschäftigten.58 Insgesamt ergibt sich also ein zersplittertes Bild zahlreicher örtlich wirkender Versicherungseinrichtungen, denen kein System zugrunde liegt und die nicht in Kategorien von staatlich und privat unterteilt werden können.59 Die Gründung aller dieser Einrichtungen erfolgte privat. Der Staat griff bei dem Versuch, die Absicherung der abhängig Beschäftigten gegen die Wechselfälle des Lebens gesetzlich zu regeln, lediglich auf das bestehende System privater Zusammen53 54 55 56 57 58 59
Peters, Geschichte der sozialen Versicherung, S. 46. Stolleis, Quellen, Erläuterungen S. 31. Stolleis, Quellen, Erläuterungen S. 31 f.. Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 38. Stolleis, Quellen, Erläuterungen S. 32. Waltermann, Sozialrecht, S. 24. Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 38.
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schlüsse zurück und ermächtigte zur Erteilung von Zwang zur Eigenvorsorge auf regionaler Ebene60, den er kontrollierte. Selbst stellte er aber keine Versicherungseinrichtungen zur Verfügung. Die Vorsorgeeinrichtungen des 19. Jh. der GKV oder der PKV zuzuordnen, erscheint daher nur aus der ex post-Betrachtung denkbar, indem man sie danach beurteilt, ob sie nach 1883 als private Versicherung fortbestanden haben oder in der GKV aufgegangen sind61.
II. Die Krankenversicherung der Arbeiter von 1883 1. Eckpunkte des Krankenversicherungsgesetzes Am 15.6.1883 trat das Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter in Kraft, das den Grundstein für die noch heute bestehende GKV legte.62 Das Krankenversicherungsgesetz war – aufgrund einer Verzögerung bei der zuerst geplanten Errichtung der Unfallversicherung63 – das erste unter den drei fundamentalen Sozialgesetzen, die die Kranken- (1883), die Unfall- (1884) und die Invaliditäts- und Altersversicherung (1889) als dreigliedrige öffentlich-rechtliche Sozialversicherung ins Leben riefen. Die soziale Krankenversicherung war grundsätzlich als Pflichtversicherung ausgestaltet: Es bestand eine gesetzliche Versicherungspflicht für alle Arbeiter und Angestellten, die entweder in Bergbau, Industrie, Eisenbahn sowie Binnendampfschifffahrt (§ 1 Nr. 1), im Handwerk (Nr. 2) oder im Gewerbe (Nr. 3) beschäftigt waren.64 Für Betriebsbeamte bestand die Versicherungspflicht nur bis zu der Entgeltgrenze von sechs zwei Drittel Mark am Tag.65 Durch gemeindliches Ortsstatut konnte der Kreis der Versicherungspflichtigen darüber hinaus auf weitere Personen etwa im Transportwesen oder in der Land- und Forstwirtschaft erstreckt werden.66 Damit waren fast alle gegen Lohn Beschäftigten in einer der schon bestehenden oder neu errichteten Krankenkassen (Orts-, Betriebs-, Bau-, Innungskrankenkassen, Knappschaftskassen, eingeschriebene Hilfskassen oder Gemeine-Krankenversicherungen)67 zwangsweise versichert.68 Beamte waren von der Versicherungspflicht ausdrücklich ausgenommen, ihnen stand jedoch das 60
Stolleis, Quellen, Erläuterungen S. 31; Katz, SozVers 1981, 277 (279). Koch, ZVersWiss 1980, 199 (200); Koch/Uleer, Herausforderungen, S. 20. 62 Sodan, in: Sodan, Hdb. KVR, § 1, Rn. 6. 63 Stolleis, Quellen, Erläuterungen S. 34. 64 § 1 UA 1 Nr. 1–3 KVG 1883, abgedruckt bei Stolleis, Quellen, S. 116 ff., s. auch die Erläuterung auf S. 34. 65 § 1 UA 2 KVG 1883, abgedruckt bei Stolleis, Quellen, S. 116 ff. 66 § 2 KVG. 67 § 4 UA 1 KVG. 68 Stolleis, Quellen, Erläuterungen S. 34. 61
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Recht zur freiwilligen Versicherung zu.69 Auch bestand bereits 1883 die Möglichkeit der Befreiung von der Versicherungspflicht, wenn aufgrund einer Fürsorgepflicht des Arbeitgebers eine anderweitige Absicherung im Krankheitsfall bestand.70 Der Gedanke der Eröffnung eines Wettbewerbs zu privatrechtlichen Versicherern lag den Instituten der Versicherungsberechtigung und der Befreiung von der Versicherungspflicht jedoch nicht zugrunde. Die Möglichkeit der Befreiung trug lediglich dem Umstand Rechnung, dass es einer Absicherung durch eine staatlich bereitgestellte Versicherung dort nicht bedurfte, wo nach wie vor patriarchale Zustände herrschten und der Arbeitnehmer im Krankheitsfall Anspruch auf Fürsorge durch den Arbeitgeber hatte.71 Auch die Berechtigung eines eng begrenzten Kreises zur freiwilligen Versicherung in der GKV wurde nicht im Blick auf eine privatrechtliche Konkurrenz vorgenommen, da es noch keine nennenswerte Zahl privater Versicherungsanbieter gab72, die in ein echtes Konkurrenzverhältnis zur GKV hätten treten können. Die Leistungen der GKV waren standardisiert: Die Krankenunterstützung wurde maximal für 13 Wochen gewährt und beinhaltete ärztliche Behandlung und Heilmittel73 sowie ein Krankengeld als Lohnersatz ab dem dritten Krankheitstag, das in der Höhe die Hälfte eines ortsüblichen Tagelöhnergehalts ausmachte.74 Dabei spielte – anders als heute – der Lohnersatz eine wesentlich bedeutendere Rolle als die Heilbehandlung; er betrug etwa 90% der Leistungen.75 Die Beiträge machten einen bestimmten Prozentsatz des Arbeitseinkommens des Versicherten aus (insgesamt nicht mehr als 6% des Arbeitsverdienstes) und wurden zu 1/3 vom Arbeitgeber und zu 2/3 vom Arbeitnehmer aufgebracht.76 2. Die Charakteristika der GKV als Spiegelbild der vielseitigen Motivationslage bei ihrer Entstehung Die Sozialversicherung brachte vor allem drei wesentliche Neuerungen, die sie von der Armenpflege unterschieden: Statt staatlicher Versorgung wurde eine Versicherung eingeführt, die die Arbeiter klar von den pflegebedürftigen Armen trennte und sie zum Subjekt ihrer eigenen Absicherung machte.77 Die Aufgabe 69
§ 3 UA 1, § 4 UA 2 KVG. § 3 UA 2 KVG. 71 Vgl. die Voraussetzungen des § 3 UA 2 KVG. 72 So war die Gründung der GKV ja gerade eine Reaktion auf die mangelnde Bereitschaft und Fähigkeit zu privater Vorsorge in der Arbeiterschaft. 73 § 6 UA 1 KVG. 74 § 6 UA 1 Nr. 2 KVG. 75 Waltermann, Sozialrecht, S. 26. 76 Katz, SozVers 1981, 277 (282); Waltermann, Sozialrecht, S. 26. 77 Siehe Peters, Geschichte der sozialen Versicherung, S. 53. 70
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Sozialversicherung wurde darüber hinaus zentral vom Reich und nicht auf kommunaler Ebene wahrgenommen. Schließlich bestanden ein Zwang zur Versicherung und spiegelbildlich dazu ein Rechtsanspruch auf bestimmte Versicherungsleistungen, der diese von Almosen unterschied.78 Anders als von Bismarck zunächst intendiert79, entwickelte die Sozialversicherung also nicht nur die staatliche Armenpflege fort, sondern bildete ein völlig neues Vorsorgesystem eigener Art. Dazu kam es, obwohl meist von „Bismarckscher Sozialversicherung“ gesprochen wird, durch die Bestrebungen verschiedener politischer Kräfte. Eine wichtige Rolle im Entstehungsprozess der Sozialversicherung spielten neben Bismarck insbesondere die sozialreformerischen Kräfte der Zentrumspartei80, deren Anliegen der Arbeiterschutz als Weg zur Lösung der „Socialen Frage“ war.81 Die Motive zur Einführung der Arbeiterversicherung waren vielfältig.82 In den Vordergrund stellte Bismarck selbst insbesondere das christliche Sozialethos.83 Zentral war aber zumindest auch ein anderer Gedanke: Es galt, den weiteren Aufstieg der Sozialdemokraten, die zunehmend zu einer ernstzunehmenden politischen Größe wurden,84 zu verhindern.85 Diese Motivation klang bereits in der Kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881 an, in der der Kaiser dem Reichstag die Aufgabe der Errichtung einer Sozialversicherung „ans Herz“ legte.86 Die Rede Kaiser Wilhelms I. zur Eröffnung der fünften Legislaturperiode des Reichstags zeigte die Eckpunkte für die Errichtung der Arbeitersozialversicherung auf 87 und leitete die Sozialgesetzgebung der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts ein. In ihr hieß es:
78 Siehe Peters, Geschichte der sozialen Versicherung, S. 53; ders., SGb 1981, 378 (379). 79 Bismarck favorisierte eine Staatsversorgung, die möglichst wenig Eigenbeteiligung und Mitbestimmung der Arbeitnehmer ermöglichen sollte; s. Stolleis, Quellen, Erläuterungen S. 30, 54 ff. 80 Vgl. Morsey, in: Gabriel/Große Kracht, S. 15 (25 ff.). 81 Vgl. Vogel, Bismarcks Arbeiterversicherung, S. 61 f. 82 Siehe auch Stolleis, Quellen, Erläuterungen S. 33. 83 Bismarck betonte, die Arbeitersozialversicherung sei „praktisches Christentum in gesetzlicher Betätigung“ und er, Bismarck, sei Christ und entschlossen, als solcher zu handeln; s. die Reichstagsrede auf der Sitzung vom 9.1.1982, abgedruckt bei Kohl, Bd. 9, S. 207 f.; s. auch Vogel, Bismarcks Arbeiterversicherung, S. 133 f. 84 Bei den Reichstagswahlen 1877 erhielt die sozialdemokratische Partei rund 500.000 Stimmen, d.h. 12 Mandate, s. Wannagat, SGb 1981, 373 (374). 85 Stolleis, Quellen, Erläuterungen S. 30; Wannagat, SGb 1981, 373 (374). 86 Erste Kaiserliche Botschaft zur sozialen Frage, Verhandlung des Reichstags, 5. Legislaturperiode, I. Session 1881/82, in Teilen abgedruckt bei Stolleis, Quellen, S. 105 f. 87 Peters, Geschichte der sozialen Versicherung, S. 50.
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„Schon im Februar d. J. haben Wir Unsere Überzeugung aussprechen lassen, daß die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sein werde. [. . .]“ 88
Die Sozialversicherung war damit auch ein Ergebnis der Erkenntnis, dass die erfolgreiche Überwindung der Sozialdemokratie positiver Maßnahmen bedürfe, die den Arbeitern materielle Sicherheiten in Aussicht stellten.89 Zahlreiche Versuche, die sozialistische Arbeiterbewegung, die als erhebliche Bedrohung für das Staatsgefüge angesehen wurde,90 im Wege der polizeilichen Unterdrückung und Kriminalisierung zurückzudrängen, waren nämlich bereits gescheitert.91 Durch die Sozialversicherung versprach man sich, die Arbeiterbewegung spalten zu können,92 sie lenkbar zu machen und in der Arbeiterschaft der Anschauung zum Durchbruch zu verhelfen, „daß der Staat nicht bloß eine nothwendige, sondern auch eine wohlthätige Einrichtung sei.“ 93 Damit war die Sozialversicherung nicht zuletzt eine Einrichtung zur Selbsterhaltung des durch die Sozialdemokratie bedrohten Königtums.94 Die Aufgabenverlagerung der Krankenversicherung von der gemeindlichen auf die Reichsebene ist vor diesem Hintergrund zu erklären. Weiterhin stand die Errichtung der Sozialversicherung auch in Zusammenhang mit der vorausgegangenen Wirtschafts- und Finanzpolitik Bismarcks, die die Lebensbedingungen der Arbeiter weiter verschlechterte.95 Die Schutzzollpolitik von 1879, die die Sicherung der innerdeutschen Preise für bestimmte Güter zum Ziel hatte und dem Reich seine Steuerquellen sichern sollte, führte unter anderem Getreidezölle ein, die in der Folge stetig stiegen.96 Da der Lohn nicht proportional zu den Preisen der Erzeugnisse anstieg, hatte dies eine erhebliche Verteuerung der Lebenshaltungskosten von Arbeiterfamilien zur Folge, der man etwas entgegensetzen wollte.97
88 Erste Kaiserliche Botschaft zur sozialen Frage, Verhandlung des Reichstags, 5. Legislaturperiode, I. Session 1881/82, in Teilen abgedruckt bei Stolleis, Quellen, S. 105 f. 89 Wannagat, SGb 1981, 373 (374). 90 Stolleis, Quellen, Erläuterungen S. 30; Wannagat, SGb 1981, 373 (374); Katz, SozVers 1981, 277 (279). 91 Stolleis, Quellen, Erläuterungen S. 30. 92 Wannagat, SGb 1981, 373 (374). 93 Aus der Begründung des ersten Entwurfs des Unfallversicherungsgesetzes vom 8.3.1881, Reichstags-Drs. 4. LP IV. Sess. Nr. 41 Anlage 2, S. 17; auch zitiert bei Saul, ZVersWiss, 1980, 177 (183). 94 Stolleis, Geschichte, Erläuterungen S. 56. 95 Vgl. zum Zusammenhang der Sozialgesetzgebung mit der Schutzzollpolitik ausführlich Ritter, Sozialversicherung in England und Deutschland, S. 36 f. 96 Ritter, Sozialversicherung in England und Deutschland, S. 36 f. 97 Ritter, Sozialversicherung in England und Deutschland, S. 36 f.
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Die Sozialgesetzgebung kann ferner als Reaktion auf die Forderungen aus der Industrie angesehen werden.98 Die Belastung der Großindustrie durch die Sozialversicherungsabgaben war gering im Vergleich zu den Vorteilen, die ein soziales Sicherungssystem mit sich brachte: Qualifizierte Arbeiter sollten abgesichert sein, um mit ihrem Einsatz langfristig planen zu können.99 Dabei war man aber interessiert daran, dass das Krankengeld nicht zu hoch ausfallen und über einen zu langen Zeitraum gewährt werde, damit der Wille des Arbeitnehmers zur möglichst baldigen Wiederaufnahme der Arbeit nicht beeinträchtigt würde.100 Schließlich sah sich Bismarck einem erheblichen Druck aus der Gesellschaft gegenüber: Zunehmend machte sich die politische Überzeugung breit, „der entfesselte Wirtschaftsliberalismus sei systembedrohend“ und provoziere revolutionäre Strömungen von unten.101 Es erschienen zahlreiche Veröffentlichungen aus den Reihen der Kirchen sowie der liberalen Presse und von den Mitgliedern des sog. Vereins für Sozialpolitik, die das Erfordernis (begrenzten) staatlichen Eingreifens in das kapitalistische Wirtschaftssystem sahen.102 Vor diesem Hintergrund wählte man unter Rückgriff auf die bestehenden Hilfskassen die Form der „Versicherung“ mit Eigenbeiträgen der Versicherten.103 Als solche entsprach die Arbeiterversicherung anders als eine Staatsfürsorge dem liberalistischen Geist der Zeit. Gleichzeitig wirkte sie der Angst der Arbeiter entgegen, in neue Abhängigkeiten zu verfallen.
III. Ein zweigliedriges System entsteht – Entwicklungstendenzen und wechselseitige Einflüsse von GKV und PKV Die GKV hatte bei ihrer Errichtung den Zweck, die schutzbedürftigen Arbeiter in einem staatlichen Zwangssystem zu versichern, während man bei dem übrigen Teil der Bevölkerung grundsätzlich von der Fähigkeit zur Eigenvorsorge ausging. Die Etablierung zweier nebeneinander agierender Systeme, die sich ergänzen oder in Konkurrenz zu einander treten, lag außerhalb des Vorstellungsbildes und der Intention des Gesetzgebers der Sozialversicherung. Die PKV hatte in der Anfangsphase der GKV noch keine nennenswerte Bedeutung und konnte auch nicht als „PKV“ im Sinne einer Einheit betrachtet werden. Auch bestand kein rechtlicher Rahmen für die Versicherungstätigkeit; diese war vollständig der Freiheitssphäre der Bürger zuzuordnen. Der Großteil der Personen, die nicht der Versiche98
Saul, ZVersWiss, 1980, 177 (184). Saul, ZVersWiss, 1980, 177 (184). 100 Saul, ZVersWiss, 1980, 177 (184). 101 Vgl. Stolleis, Quellen, Erläuterungen S. 33. 102 Stolleis, Quellen, Erläuterungen S. 33. 103 Zur Bedeutung des Versicherungscharakters für die Akzeptanz der Sozialversicherung, s. Peters, Geschichte der sozialen Versicherung, S. 53. 99
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rungspflicht unterlagen, versorgte sich selbst.104 Vereinzelt bestanden berufsständische Zusammenschlüsse fort und gewerbsmäßig handelnde Versicherungsunternehmen entwickelten sich.105 Die Zahl privater Versicherungen stieg jedoch zunehmend an. Durch die Existenz der GKV wuchs auch bei den nicht in der GKV Versicherten das Bewusstsein für das Erfordernis einer Absicherung im Krankheitsfall.106 1901 wurden die zu einer ernstzunehmenden Größe gewordenen Privatversicherer dem Kaiserlichen Aufsichtsamt für Privatversicherung unterstellt.107 In seinem Geschäftsbericht aus dem Jahre 1903 verwandte das Aufsichtsamt erstmals den Begriff „PKV“ und ermöglichte damit eine eindeutige Identifizierung privater Krankenkassen und Abgrenzung von den reichsgesetzlichen Krankenkassen.108 Dennoch war eine eindeutige Unterscheidung der Krankenkassen der GKV von den privaten zunächst nicht möglich. Zwar waren die als Körperschaften des öffentlichen Rechts organisierten Krankenkassen klar der GKV und die gewerblich handelnden Versicherungsunternehmen der PKV zuzuordnen. Eine Zwischenstellung nahmen jedoch die sog. Ersatzkassen ein: § 75 des Krankenversicherungsgesetzes von 1883 sah vor, dass eine Mitgliedschaft in einer eingeschriebenen Hilfskasse von der Versicherungspflicht in der GKV befreite. Daran hielt die Reichsversicherungsordnung109 vom 19.7.1911, die die einzelnen Gesetze der Sozialversicherung in einem Regelwerk zusammenfasste, fest. Sie integrierte die „Ersatz“-Hilfskassen noch stärker in das System der reichsgesetzlichen Krankenversicherung, indem sie diese in gewissem Umfang als Träger der staatlichen Krankenversicherung anerkannte.110 Die eingeschriebenen Hilfskassen erhielten ein Zertifikat über ihren Status und den Namenszusatz „Ersatzkasse“.111 Dennoch konnten die Ersatzkassen fortan nicht als Teil der GKV angesehen werden, da sie auch Personen versicherten, die nicht der Versicherungspflicht in der GKV unterlagen und nicht zum Kreis der Versicherungsberechtigten gehörten. Für einen privatrechtlichen Charakter der Ersatzkassen sprach überdies, dass sie nach Aufhebung des Gesetzes über die eingeschriebenen Hilfskassen von 1876 im Jahre 1911 dem Gesetz über die privaten Versicherungsunternehmen112, dem 104
Rudolph, in: Bach/Moser, PKV, Teil A. Einleitung, Rn. 122. Rudolph, in: Bach/Moser, PKV, Teil A. Einleitung, Rn. 122; Koch/Uleer, Herausforderungen, S. 21. 106 Koch/Uleer, Herausforderungen, S. 21; Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung S. 46. 107 Rudolph, in: Bach/Moser, PKV, Teil A. Einleitung, Rn. 124; Koch/Uleer, Herausforderungen, S. 21. 108 Rudolph, in: Bach/Moser, PKV, Teil A. Einleitung, Rn. 124. 109 RGBl. 1911, 509, abgedruckt bei Stolleis, Quellen, S. 139 ff. 110 Rudolph, in: Bach/Moser, PKV, Teil A. Einleitung, Rn. 119. 111 Rudolph, in: Bach/Moser, PKV, Teil A. Einleitung, Rn. 120. 112 Vom 12.5.1901; RGBl. S. 139. 105
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Vorgänger des VAG und der Aufsicht für private Versicherungsunternehmen unterstellt wurden.113 Eine eindeutige Zuordnung der Ersatzkassen zur privaten oder öffentlichen Sphäre war somit nicht möglich. Eine deutliche Trennung brachte erst die 12. Verordnung zum Aufbau der Sozialversicherung vom 24.12. 1935, die zum einen ein Ausscheiden aller nicht der GKV zugehörigen Versicherten aus den Ersatzkassen anordnete und zum anderen die Ersatzkassen dem Zuständigkeitsbereich des Reichsaufsichtsamtes für Privatversicherung entzog.114 Es folgte 1937 die Umwandlung der Ersatzkassen in Körperschaften des öffentlichen Rechts.115 Sie wurden so in ihrer Rechtsstellung den gesetzlichen Krankenkassen gleichgestellt und konnten nun eindeutig dem staatlichen Versicherungssystem zugeordnet werden. Heinze116 sieht noch aus einem anderen Grund eine besondere Nähe zwischen Sozial- und Privatversicherung in der Anfangsphase: In dem Zeitraum zwischen Kaiserlicher Botschaft 1881 und Erstem Weltkrieg bestehe ein besonderer „wechselseitiger, korrespondierender Bezug“ zwischen Sozial- und Privatversicherungsgesetzgebung. Dies verdeutlicht er an personellen Überschneidungen: Teilweise seien dieselben Referenten für die Gesetzentwürfe der Sozialversicherungsgesetzgebung als auch für die Ausgestaltung der maßgeblichen Gesetze für das private Versicherungswesen verantwortlich gewesen. Einen boomhaften Aufschwung erlebte die Branche der PKV seit dem Jahr 1924.117 Infolge des Ersten Weltkriegs und der durch ihn hervorgerufenen Verarmung wuchs auch über den Kreis der Arbeiter und Angestellten hinaus das Bedürfnis nach einer Krankenversicherung.118 Nach der Stabilisierung der Währung wurden daher zahlreiche neue Krankenversicherungsunternehmen gegründet. Während 1924 noch nur etwa 500.000–600.000 Personen in der PKV versichert waren, wuchs der Versichertenbestand bis zum Anfang des Jahres 1925 bereits auf 2 Millionen an.119 Auf diese Blütezeit folgte jedoch schon bald die Krise: Aufgrund noch nicht ausgereifter versicherungsmathematischer Berechnung auf statistischer Grundlage überstiegen die Ausgaben bald die Einnahmen; der starke Wettbewerb zwischen den privaten Unternehmen führte dazu, dass sie nur teilweise überlebten, viele gingen in die Insolvenz.120 Diese Entwicklung hatte zwei 113 Koch/Uleer, Herausforderungen, S. 21 f.; Rudolph, in: Bach/Moser, PKV, Teil A. Einleitung, Rn. 121. 114 Rudolph, in: Bach/Moser, PKV, Teil A. Einleitung, Rn. 128. 115 Rudolph, in: Bach/Moser, PKV, Teil A. Einleitung, Rn. 128. 116 Heinze, ZVersWiss 2000, 243 (244). 117 Koch/Uleer, Herausforderungen, S. 26; Rudolph, in: Bach/Moser, PKV, Teil A. Einleitung, Rn. 125. 118 Sodan, in: Sodan, Hdb. KVR, § 1 Rn. 8; Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 48. 119 Rudolph, in: Bach/Moser, PKV, Teil A. Einleitung, Rn. 125; Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 49.
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Folgen: Einerseits rief sie Reaktionen der staatlichen Aufsichtsbehörde hervor, die Vorgaben für die Tarifgestaltung machte und die Gründung von Unternehmen untersagte, die gleichzeitig verschiedene Versicherungsarten anboten.121 Durch eine stärkere Spartentrennung sollten die Versicherungsunternehmen weniger risikoanfällig werden. Andererseits zwang die Krise auch die Versicherungsbranche selbst zu Veränderungen. So kam es zu zahlreichen Fusionen und Kapitalverflechtungen zwischen den PKV-Unternehmen. Außerdem entschloss man sich zu stärkerer Zusammenarbeit in Form von Verbänden, um gemeinsam gegenüber der GKV und der Ärzteschaft auftreten zu können.122 So wurden in dieser Phase zahlreiche Verbände gegründet, die später in einem einheitlichen PKVVerband aufgingen.123 Trotz der Schwierigkeiten der Versicherungsbranche stiegen die Versichertenzahlen zwischen den Weltkriegen kontinuierlich an bis auf ca. 8,1 Millionen 1938.124 1939 gab es in Deutschland 790 Unternehmen der PKV, von denen 46 Versicherer 90% der Versicherten auf sich vereinten.125 Zwischen den Weltkriegen entwickelte sich außerdem die versicherungsmathematische Berechnung in der PKV immer weiter fort.126 Auch bei der GKV gab es Reaktionen auf das wachsende Sicherungsbedürfnis nach dem Ersten Weltkrieg: Es wurden kontinuierlich weitere Personengruppen in die GKV integriert.127 1930 erhielten auch Familienangehörige einen allgemeinen Anspruch auf Pflichtleistungen.128 1930 waren somit bereits knapp ein Drittel der Bevölkerung (ca. 21,1 Millionen) GKV-versichert, 1938 schon 36% (knapp 24 Millionen).129 Durch das sog. „Aufbaugesetz“ 130 vom 5.7.1934 wurden Regelungen für die GKV eingeführt, die der nationalsozialistischen Ideologie entsprachen131 und hier – bis auf die bereits erwähnte vollständige Eingliederung der Ersatzkassen in die GKV – nicht ausgeführt werden sollen, da sie keine Bedeutung für die weitere Entwicklung der GKV hatten. 120
Rudolph, in: Bach/Moser, PKV, Teil A. Einleitung, Rn. 126. Rudolph, in: Bach/Moser, PKV, Teil A. Einleitung, Rn. 127. 122 Koch/Uleer, Herausforderungen, S. 27. 123 Rudolph, in: Bach/Moser, PKV, Teil A. Einleitung, Rn. 127. 124 Vgl. die Tabelle bei Koch/Uleer, Herausforderungen, S. 27. 125 Rudolph, in: Bach/Moser, PKV, Teil A. Einleitung, Rn. 129. 126 Rudolph, in: Bach/Moser, PKV, Teil A. Einleitung, Rn. 129. 127 Durch Gesetz v. 15.7.1927 (RGBl. I, S. 219) Angestellte der Erziehung, des Unterrichts, der Fürsorge sowie der Kranken- und Wohlfahrtspflege; durch Gesetz v. 9.12.1927 (RGBl. I, S. 327) Seeleute in neu gegründeten Seekrankenkassen, s. näher Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 48. 128 Verordnung vom 26.7.1930, s. Wannagat, SGb 1981, 373 (375); Koch/Uleer, Herausforderungen, S. 20. 129 Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 49, 51. 130 RGBl. I, S. 577. 131 Siehe zu näheren Erläuterungen Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 49 f. 121
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Kap. 1: Die zwei Säulen des Gesundheitswesens
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in der Sowjetischen Besatzungszone sowie in Berlin Monopolversicherungsanstalten gegründet und der Markt der PKV daher in diesen Gebieten vollständig vernichtet.132 Bestrebungen zur Errichtung einer solchen Einheitsversicherung gab es auch in den übrigen Teilen Deutschlands teilweise unterstützt durch die Besatzungsmächte.133 Auch wenn es so weit nicht kam, so dehnte sich doch der versicherte Personenkreis der GKV stetig aus und das Leistungsangebot wurde erweitert und optimiert:134 Die Versicherungspflichtgrenze wurde mehrere Male heraufgesetzt und schließlich 1971 orientiert an der Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung dynamisiert.135 Weiterhin wurde der Kreis der Versicherungsberechtigten erweitert. Außerdem wurde die Verwurzelung der GKV im Arbeits- und Beschäftigungsverhältnis nach und nach dadurch gelockert, dass auch bestimmte Gruppen von Selbständigen sowie andere Personengruppen in das staatliche System integriert wurden.136 Diese Entwicklungen führten zu einem „Existenzkampf“ der PKV gegenüber ihrem immer mächtiger werdenden Gegenspieler, der GKV.137 Das Kräfteverhältnis verschob sich mit der Zeit wieder langsam infolge der Veränderungen in der demographischen Struktur der deutschen Bevölkerung: Nicht nur begann die Bevölkerung zu altern, sondern auch die Lebensarbeitszeit und damit die GKV-beitragspflichtige Zeit verkürzten sich durch verlängerte Ausbildungszeiten.138 Für die PKV ebenfalls günstig war die allmähliche Veränderung der familiären Strukturen. Die Alleinverdienerehe wurde seltener. Meist waren beide Ehepartner berufstätig und die Zahl der Alleinlebenden stieg.139 Die kostenlose Mitversicherung eines Ehepartners in der GKV wurde daher seltener, was die Attraktivität eines PKV-Versicherungsschutzes gegenüber der freiwilligen Versicherung in der GKV steigen ließ.140 Der zunehmenden Anerkennung der PKV in der Gesellschaft trug auch der Gesetzgeber Rechnung, indem er die PKV nicht mehr nur „tolerierte“, sondern sie in seiner Gesetzgebung als Teil eines bipolaren Krankenversicherungssystems verstand und ihr indirekt mehr und mehr bestimmte Aufgaben zuwies.141 So wurde das Beihilferecht des Bundes und vieler Länder etwa dahingehend umge132
Rudolph, in: Bach/Moser, PKV, Teil A. Einleitung, Rn. 130. Koch/Uleer, Herausforderungen, S. 45. 134 Sodan, in: Sodan, Hdb. KVR, § 1 Rn. 10. 135 § 165 Abs. 1 Nr. 1 RVO a. F., s. auch Wannagat, SGb 1981, 373 (375); Rudolph, in: Bach/Moser, PKV, Teil A. Einleitung, Rn. 134. 136 Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte (1972), Einbeziehung Behinderter, Studenten und gewisser Praktikanten (1975), Einbeziehung selbständiger Künstler und Publizisten (1981), s. dazu Wannagat, SGb 1981, 373 (375). 137 Rudolph, in: Bach/Moser, PKV, Teil A. Einleitung, Rn. 133. 138 Rudolph, in: Bach/Moser, PKV, Teil A. Einleitung, Rn. 136. 139 Rudolph, in: Bach/Moser, PKV, Teil A. Einleitung, Rn. 139. 140 Rudolph, in: Bach/Moser, PKV, Teil A. Einleitung, Rn. 139. 141 Rudolph, in: Bach/Moser, PKV, Teil A. Einleitung, Rn. 139. 133
A. Entstehung eines zweigliedrigen Krankenversicherungssystems
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staltet, dass für Beamte ein Versicherungsschutz in der GKV ungünstig wurde, da die GKV keine bedarfsgerechten Ergänzungsangebote zu der Beihilfe machen durfte.142 Die Aufgabe der Absicherung Beamter wurde damit indirekt der PKV zugewiesen. Einen weiteren Meilenstein in dieser Entwicklung zeigt das Gesundheitsreformgesetz (GRG)143 auf, das 1989 in Kraft trat und die RVO von 1911 in das SGB V überführte. Das GRG verfolgte in erster Linie das Ziel einer Reduktion der Kosten, die aufgrund des demographischen Wandels und des medizinischen Fortschritts erheblich gestiegen waren.144 Hierzu sollten die Strukturen der GKV reformiert, die Leistungen auf das medizinisch Notwendige begrenzt und Wirtschaftlichkeitsreserven ausgeschöpft werden.145 Außerdem wurde der Versichertenbestand verringert, u. a. durch Einführung einer Versicherungspflichtgrenze auch für Arbeiter, die Einschränkung der Möglichkeit des freiwilligen Beitritts zur GKV und die Erweiterung der Befreiungsmöglichkeiten.146 Diese Tendenz setzte sich in den folgenden Reformgesetzen fort, die die Vorversicherungszeiten weiter ausweiteten und das Erfordernis bestimmter Vorversicherungszeiten auch auf solche Personen erstreckten, die aus der Familienversicherung ausschieden.147 Es bedarf hier keiner detaillierten Darstellung aller weiteren Änderungen der Grenzziehung zwischen GKV und PKV im Einzelnen. In diesem Zusammenhang entscheidend sind nur die Tendenzen: Während sich die GKV anfangs stetig ausdehnte, wurde insbesondere seit 1989 zunehmend auch die PKV als Alternative anerkannt und in das Krankenversicherungssystem mit einem festen Versichertenbestand eingegliedert. Durch die Einführung der allgemeinen Versicherungspflicht für alle Bürger entweder in der GKV oder in der PKV148 hat der Gesetzgeber der PKV einen festen Platz bei der Erfüllung der sozialen Absicherung der Bevölkerung eingeräumt. Seither ist die PKV verpflichtet einen sog. Basistarif anzubieten, der in seinem Leistungsumfang und der maximalen Beitragshöhe dem Versicherungsschutz in der GKV entspricht.149 Seit dem Gesundheitsstrukturgesetz150 von 1992 verfolgt der Gesetzgeber ferner ausdrücklich das Ziel einer stärkeren Wettbewerbsausrichtung des Gesund142
Rudolph, in: Bach/Moser, PKV, Teil A. Einleitung, Rn. 140. Gesetz zur Strukturreform im Gesundheitswesen v. 20.12.1988, BGBl. 1988 I, S. 2477. 144 Vgl. die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 11/2493, S. 1, 3. 145 Vgl. die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 11/2493, S. 1 ff.; dazu auch Rudolph, in: Bach/Moser, PKV, Teil A. Einleitung, Rn. 141. 146 Siehe Rudolph, in: Bach/Moser, PKV, Teil A. Einleitung, Rn. 141. 147 Rudolph, in: Bach/Moser, PKV, Teil A. Einleitung, Rn. 143. 148 Vgl. § 193 Abs. 3 VVG. 149 Vgl. § 12 Abs. 1a VAG. 150 Gesetz zur Sicherung und Strukturverbesserung der gesetzlichen Krankenversicherung v. 21. Dezember 1992, BGBl. I S. 2266. 143
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Kap. 1: Die zwei Säulen des Gesundheitswesens
heitswesens und insbesondere der GKV. Er hat den GKV-Versicherten daher ein Kassenwahlrecht eingeräumt und die Krankenkassen zum internen Risikostrukturausgleich verpflichtet. Die Tendenz hat sich fortgesetzt. Durch die Einführung der Portabilität von Altersrückstellungen wurde 2007 auch die Möglichkeit für einen Wechsel der Versicherten zwischen den Unternehmen der PKV geschaffen. Ferner wird das Nebeneinander von GKV und PKV zunehmend als Wettbewerbsverhältnis interpretiert. So brachte der Gesetzgeber in der Begründung zum GKV-WSG das Ziel zum Ausdruck, „die Wettbewerbsposition der gesetzlichen Krankenkassen gegenüber der privaten Krankenversicherung“ zu stärken.151 Man geht also heute von zwei sich ergänzenden Systemen aus, denen etwa gleich mächtige Positionen im Gesundheitswesen zukommen und die in Wettbewerb zueinander treten.
IV. Resümee Mit Blick auf diese Entwicklung lässt sich sagen, dass beide Systeme im Laufe der Geschichte von einander profitiert haben152: Die GKV hat bei ihrer Entstehung auf die schon bestehenden privaten Hilfskassen, ihre Organisation und Arbeitsweise aufgebaut.153 Sie hat das Versicherungsprinzip und die Selbstverwaltung der frühen privaten Zusammenschlüsse übernommen und zur Grundlage des staatlichen Zwangssystems gemacht. Damit haben die privaten Krankenversicherungen der GKV gleichsam den Start ermöglicht.154 Die GKV hat daraufhin einen Markt für Versicherungen geschaffen, der bis dahin kaum eine Rolle spielte. Durch sie wurden der Versicherungsgedanke populär und die Grundlage für die Entwicklung der PKV geschaffen.155 Die neuen potentiellen Vertragspartner der PKV wurden ihr jedoch im Laufe der Zeit nach und nach durch die Ausweitung der Versicherungspflicht in der GKV teilweise wieder entzogen.156 So ist die Geschichte der PKV von einer Anpassung an den staatlichen Gegenspieler gekennzeichnet157: Die privaten Versicherer können den Versicherungsschutz der GKV durch Zusatzversicherungen ergänzen oder ihn für solche Personen ersetzen, die der Pflichtversicherung nicht unterliegen.158 Die PKV profitiert von der GKV aber auch weiterhin dadurch, dass sie durch ihre starke Nachfragemacht die Entwicklung der Infrastruktur von Ärzten und Krankenhäusern ermöglicht hat und 151
BT-Drs. 16/3100, S. 109. Siehe Koch/Uleer, Herausforderungen, S. 20 f.; Koch, ZVersWiss 1980, 199 ff. 153 Koch/Uleer, Herausforderungen, S. 20; Koch, ZVersWiss 1980, 199 (202). 154 Koch, ZVersWiss 1980,199 (213). 155 Koch/Uleer, Herausforderungen, S. 21. 156 Boetius, in: MüKo VVG, Vor § 192 Einführung in die Krankenversicherung, Rn. 14. 157 Koch, ZVersWiss 1980, 199 (207). 158 Näher Boetius, in: MüKo VVG, Vor § 192 Einführung in die Krankenversicherung, Rn. 14 f. 152
B. Charakteristika der zwei Säulen
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die wissenschaftlichen und technischen Standards in diesem Bereich vorgibt. Seit der Einführung der allgemeinen Versicherungspflicht zum 1.1.2009159 hat die PKV ferner eine feste soziale Aufgabe im System der Gesundheitssicherung erhalten. Es kann mittlerweile von einer Volksversicherung durch zwei Krankenversicherungssysteme – gesetzlich und privat – gesprochen werden.
B. Charakteristika der zwei Säulen – Gemeinsamkeiten und Unterschiede Trotz ihrer gemeinsamen Wurzeln gehen GKV und PKV – wie gezeigt – seit der Einführung der Krankenversicherung der Arbeiter 1883 getrennte Wege. Sie weisen traditionell zahlreiche Unterschiede auf, die sowohl auf die unterschiedlichen Rahmenbedingungen als auch auf die verschiedene Zielsetzung zurückzuführen sind160. Gesprochen wird sogar von einem „systematischen und strukturellen Gegensatz“ 161. In neuerer Zeit ist dagegen wieder eine Annäherung zu beobachten. In der Wissenschaft ist verschiedentlich von „verschwimmenden Grenzen“ zwischen GKV und PKV die Rede.162 Im Folgenden sollen die Merkmale, die die Systeme in ihrer einfachgesetzlichen Ausgestaltung prägen, dargestellt und miteinander verglichen werden. Wo liegen Gemeinsamkeiten und wo Unterschiede? Sind die Systeme auf dem Weg der Konvergenz163 oder hat der Gesetzgeber mit den jüngsten Reformgesetzen seinen Willen zur dauerhaften Abgrenzung von GKV und PKV zum Ausdruck gebracht, wie das BVerfG unterstellt.164 Die Kenntnis der traditionellen Funktionsweisen ist Voraussetzung dafür, Systembrüche von Modifikationen systemtragender Prinzipien unterscheiden zu können.165 159 § 193 Abs. 3 VVG, eingeführt durch das Gesetz zur Reform des Versicherungsvertragsrechts v. 23.11.2007, BGBl. I Nr. 59, S. 2631. 160 Boetius, in: MüKo VVG, Vor § 192 Einf. in die Krankenversicherung, Rn. 24. 161 Mühlenbruch, in: Steuerungsinstrumente, Bd. 1, S. 37 (41); Noftz, in: Hauck/ Noftz, SGB V, § 1, Rn. 34. 162 Axer, MedR 2008, 482 (492); Isensee, NZS 2007, 449 (449). 163 So Axer, MedR 2008, 482 (492); Sodan/Schaks, VSSR 2011, 289 (297 ff.); Seegmüller, VersR 1998, 1469 ff.; Isensee, NZS 2007, 449 (449); Kingreen, ZESAR 2007, 139 (148 f.): spricht von „Assimilation der Wettbewerbsbedingungen“; Mühlenbruch, in: Steuerungsinstrumente, Bd. 1, S. 37 (50 f.): „Annäherung“; Maibach-Nagel, Ärztepost 2011, 5 (5, 8): hält die PKV für „konvergent bis zur Selbstaufgabe“; vgl. ausführlich Kapitel 1, B. III. 164 In seinem Urteil vom 10.6.2009 hob das BVerfG die Intention des Gesetzgebers des GKV-WSG hervor, „die Versicherungssysteme von gesetzlicher und privater Krankenversicherung dauerhaft voneinander abzugrenzen. Der Gesetzgeber [wolle] das duale Krankenversicherungssystem erhalten und stärken; dabei [solle] auch die private Säule zur Vollfunktionalität gelangen und ihre Mitglieder in gleicher Weise wie die öffentlichrechtliche Versicherung, umfassend, rechtssicher und dauerhaft absichern“, BVerfG Urt. v. 10.6.2009 – 1 BvR 706/08 u. a., Rn. 190, VersR 2009, 957 (964). 165 Zu Systembrüchen und -modifikationen vgl. Brand, VersR 2011, 1337–1346.
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Kap. 1: Die zwei Säulen des Gesundheitswesens
Wichtig ist festzuhalten, dass diese Gegenüberstellung nur die tatsächliche Ausgestaltung der Systeme beschreiben kann. Über die Anforderungen, die die Verfassung an eine „Sozialversicherung“ bzw. eine „Privatversicherung“ stellt, ist damit noch keine direkte Aussage getroffen. Wie weit der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers reicht, Systemmerkmale einer Versicherungsart auf die andere zu übertragen, ist Gegenstand des Kapitels 5.
I. Gemeinsamer Kern: Versicherung gegen das Risiko der Krankheit Gemeinsam ist GKV und PKV zunächst, dass sie Akteure im Gesundheitswesen sind.166 Weiterhin einheitlich ist das abzusichernde Risiko, die Krankheit.167 Beide Systeme dienen der Vorsorge für den Krankheitsfall.168 Der gemeinsame Namensbestandteil Krankenversicherung legt darüber hinaus nahe, dass sie auch „Versicherung“ sind. Was diesen gemeinsamen Kern von GKV und PKV ausmacht, ist indessen schwerer zu bestimmen. Das Urbild der Versicherung, das die gängige Vorstellung von diesem Ausdruck prägt, ist die Privatversicherung:169 „Die Privatversicherung wird vom reinen Versicherungsprinzip beherrscht. Danach soll mittels der Versicherung ein Risikoausgleich durch Zusammenfassung einer genügend großen Anzahl von Personen herbeigeführt werden, die alle von einem oder mehreren gleichartigen Risiken bedroht sind, ohne daß sich diese Risiken gleichzeitig, in jedem Fall oder im gleichen Umfang realisieren. Grundgedanke der Versicherung ist somit die gemeinsame Selbsthilfe von gleichartig Gefährdeten durch ihren Zusammenschluß. Der bei Eintritt des Versicherungsfalls bei dem Einzelnen entstandene Bedarf wird von der Gesamtheit der Gefahrengemeinschaft gedeckt.“ 170 Durch eine so verstandene „Versicherung“ kann die GKV aber jedenfalls nicht abschließend charakterisiert werden. Sie ist durch verschiedene Verteilungswirkungen gekennzeichnet, die über die Umverteilung zwischen Gesunden und Kranken hinausgehen. So führt beispielsweise die einkommensabhängige Beitragserhebung zu einer Umverteilung zwischen Einkommensstarken und Einkommensschwachen und das Umlagesystem zu einer Umverteilung zwischen Jungen und Alten. Auch die Übernahme bei Versicherungsbeginn bereits bestehender Krankheiten durch die GKV weicht vom strengen Versicherungsgedanken ab, da nach diesem nur in der Zukunft liegende Risiken abgesichert werden 166
Mühlenbruch, in: Steuerungsinstrumente, Bd. 1: Wettbewerb, S. 37 (41). BVerfG Beschl. v. 4.2.2004 – 1 BvR 1103/03, Rn. 20, VersR 2004, 898 (899); Seegmüller, VersR 1998, 1469 (1470). 168 Mühlenbruch, in: Steuerungsinstrumente, Bd. 1: Wettbewerb, S. 37 (41). 169 Bieback, VSSR, 2003, 1 (7). 170 BVerfG Beschl. v. 30.9.1987 – 2 BvR 933/82, Rn. 94, BVerfGE 76, 265 (300). 167
B. Charakteristika der zwei Säulen
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können.171 Dennoch wird der Versicherungscharakter, der die Sozialversicherung zumindest mitprägt, heute nicht mehr bestritten.172 Gerade die „Polarität“ 173 von Versicherungsprinzip und sozialem Ausgleich kennzeichnen nach heutigem Verständnis die Sozialversicherung. Das BVerfG sieht in der Sozialversicherung eine „echte“ Versicherung, die sich jedoch gegenüber der Privatversicherung unterscheide, da sie „nicht vom Risikobegriff der Privatversicherung [ausgehe]; [sondern] von jeher auch ein Stück staatlicher Fürsorge [enthalte]“.174 Historisch ist der Versicherungsgedanke in der Sozialversicherung – obwohl er in der Anfangsphase häufig bestritten wurde175 – von erheblicher Bedeutung, da er die klare Abkehr von der staatlichen Armenpflege markierte.176 Er trug bei Gründung der GKV erheblich zur Akzeptanz der Sozialversicherung in der Arbeiterschaft bei.177 Durch die Gegenseitigkeit von Beitrag und Leistung und die Organisation der GKV als selbstverwaltete Körperschaft wurde erreicht, „dass der Versicherte ,nicht mehr unter Aufgabe seines Selbstwertgefühls, unter Preisgabe seiner Selbstachtung . . . gleich dem habituellen Bettler und Müßiggänger auf den Weg zum öffentlichen Armenpfleger hingewiesen‘ wurde“.178 171
Vgl. auch Peters, Geschichte der sozialen Versicherung, S. 53. BVerfG Beschl. v. 22.1.1959 – 1 BvR 154/55, Rn. 30, BVerfGE 9, 124 (133); BVerfG Beschl. v. 27.10.1959 – 2 BvL 5/56, Rn. 59, BVerfGE 10, 141 (166); BVerfG Urt. v. 10.5.1960 – 1 BvR 190/58 u. a., Rn. 25, BVerfGE 11, 105 (114); BVerfG Beschl. v. 2.5.1967 – 1 BvR 578/63, Rn. 40, BVerfGE 21, 362 (378); BVerfG Beschl. v. 27.5.1970 – 1 BvL 22/63 und 27/64, Rn. 65, BVerfGE 28, 324 (349); BVerfG Beschl. v. 8.4.1987 – 2 BvR 909/82 u. a., Rn. 95, BVerfGE 75, 108 (146); BVerfG Beschl. v. 30.9.1987 – 2 BvR 933/82, Rn. 93 ff., BVerfGE 76, 256 (300 f.); BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats) Beschl. v. 29.12.1999 – 1 BvR 679/98, Rn. 3, NJW 2000, 2496; im Anschluss an BSG Urt. v. 20.12.1957 – 7 RKg 4/56, Rn. 68, BSGE 6, 213 (228); aus der Lit. vgl. nur Waltermann, Sozialrecht, S. 82 f.; Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 70 ff.; Axer, in: BK zum GG, Art. 74 Nr. 12, Rn. 31–33; Rolfs, Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 559; Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 181–219; Heinze, ZVersWiss 2000, 243; Wannagat, Sozialversicherungsrecht, Bd. 1, S. 16 ff.; Hase, Versicherungsprinzip, S. 25 m.w. N. in Fn. 67; zu dem Theorienstreit zwischen „Versicherungstheorie“ und „Fürsorgetheorie“ in der Anfangsphase der Sozialversicherung vgl. Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 212–217; Hase, Versicherungsprinzip, S. 18–37. 173 Bieback, VSSR 2003, 1 (28). 174 BVerfG Urt. v. 10.5.1960 – 1 BvR 190/58 u. a., Rn. 25, BVerfGE 11, 105 (114); s. auch: BVerfG Beschl. v. 21.7.2010 – 1 BvL 11/06 u. a., Rn. 65, BVerfGE 126, 369 (389); BVerfG Beschl. v. 18.7.2005 – 2 BvF 2/01, Rn. 85, BVerfGE 113, 167 (196). 175 Sog. „Fürsorgetheorie“, die die Sozialversicherung nicht als Versicherung im Rechtssinne, sondern als öffentlich-rechtliche sozialpolitische Fürsorge ansah, begründet durch Rosin, Recht der Arbeiterversicherung, Bd. 1, S. 255 ff.; vgl. ausführlich dazu: Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 212–217; Hase, Versicherungsprinzip, S. 18–37. 176 Peters, Geschichte der sozialen Versicherung, S. 53. 177 Heinze, ZVersWiss 2000, 243 (243 f.); Koch, Geschichte der Versicherungswissenschaft, S. 123. 178 Peters, Geschichte der sozialen Versicherung, S. 53. 172
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Kap. 1: Die zwei Säulen des Gesundheitswesens
Ist die GKV als Teil der Sozialversicherung, somit ebenso wie die PKV unbestritten „Versicherung“, so bleibt doch die Frage, was die Versicherung denn in ihrem Kern ausmacht. Problematisch erscheint eine exakte Definition eines Versicherungsbegriffs, der für beide Systeme in gleicher Weise Geltung beansprucht, d.h. gleichsam „vor die Klammer“ 179 gezogen werden kann.180 Das BVerfG versteht die Sozialversicherung seit jeher als Einrichtung, die „wie die Privatversicherung“ der „gemeinsamen Deckung eines möglichen, in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarfs durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit“ 181 dient. Diese Definition geht auf Alfred Manes zurück, der sie als „einfachen Grundgedanken“ bezeichnete, auf dem die Versicherung beruhe.182 Einen alternativen Versuch der Begriffsbestimmung unternahm zuletzt Hermann Butzer. Er charakterisiert Versicherung als „die gegen Entgelt erfolgende und selbständige Rechtsansprüche vermittelnde planmäßige Deckung eines ungewissen Bedarfs auf der Grundlage eines durch Zusammenfassung herbeigeführten Risikoausgleichs“.183 Einigkeit kann insoweit angenommen werden, als die Versicherung jedenfalls dadurch gekennzeichnet ist, dass sie keine „Almosen“ sondern Leistungen gewährt, auf die ein Rechtsanspruch besteht.184 Entscheidend ist also die Sicherheit der Leistung bei Risikoeintritt.185 Spiegelbildlich dazu muss die Übernahme des Risikos gegen Entgelt erfolgen. Auch auf die Beitragsleistung muss also ein Rechtsanspruch bestehen. Das auszugleichende, wirtschaftlich nachteilige Ereignis muss ein ungewisses sein. Schließlich gehört es nach (wohl noch) h. M.186 zum Wesen der Versicherung, dass sie zum Zwecke der Risikostreuung auf den Abschluss einer Vielzahl von Versicherungsgeschäften, d.h. polypersonal, ausgerichtet ist.187
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Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 213. Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 116 m.w. N. in Fn. 339. 181 BVerfG Beschl. v. 8.4.1987 – 2 BvR 909/82 u. a., Rn. 95, BVerfGE 75, 108 (146); BVerfG Urt. v. 7.7.1992 – 1 BvL 51/86 u. a., Rn. 116, BVerfGE 87, 1 (34). 182 Manes, Grundzüge des Versicherungswesens, S. 3; übernommen vom BSG Urt. v. 20.12.1957 – 7 RKg 4/56, Rn. 68, BSGE 6, 213 (228). Vgl. ausführlich zum Entstehungsprozess der Definition Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 182, 184 ff. 183 Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 212. 184 Peters, Geschichte der sozialen Versicherung, S. 53; Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 130. 185 Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 114 ff., Bieback, VSSR 2003, 1 (8). 186 Nach a. A. ist Polypersonalität nur eine wirtschaftliche, nicht aber eine begriffsnotwendige Voraussetzung für „Versicherung; vgl. dazu im Einzelnen Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 138–143 (139) m.w. N. 187 Vgl. ausführlich zu den einzelnen Merkmalen von „Versicherung“: Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 184–191; Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 123–146. 180
B. Charakteristika der zwei Säulen
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Kontrovers im Rahmen der Definition eines Oberbegriffs „Versicherung“ ist jedoch die Frage nach der Bedeutung des sog. Äquivalenzprinzips. Aus den Entscheidungen des BVerfG geht hervor, dass das Gericht das Äquivalenzprinzip häufig implizit seinem Versicherungsverständnis zugrunde legt.188 Es wird dargelegt, das Äquivalenzprinzip sei in der Sozialversicherung durch den sozialen Ausgleich „modifiziert“ bzw. „überformt“ 189. Ebenso setzt Walter Leisner die Versicherung mit dem Prinzip der Individualäquivalenz gleich, wenn er konstatiert, „die Sozialversicherung [wachse] aus der Versicherung hinaus“, wenn sich die Elemente des sozialen Ausgleichs und die Staatszuschüsse „gegenüber der Individualäquivalenz verstärken“.190 Ein ähnliches Verständnis ist dem überwiegenden Teil der Literatur zu entnehmen191. Hermann Butzer192, Friedhelm Hase193 und Markus Zimmermann194 versuchen indessen darzulegen, dass der Versicherungsgedanke nicht untrennbar mit dem Äquivalenzprinzip verbunden ist. Das Äquivalenzprinzip sei keine Voraussetzung des Versicherungsbegriffs, sondern lediglich eine versicherungsmathematische Berechnungsmethode, die in der Privatwirtschaft in zwei Ausprägungen angewandt werde: Globaläquivalenz bedeute hier, dass die Summe aller Versicherungsbeiträge einen Betrag ergebe, der alle fälligen Versicherungsleistungen sowie andere Unkosten decken kann (und darüber hinaus einen Gewinn abwirft). Individualäquivalenz meine demgegenüber, dass der Versicherungsbeitrag sich in seiner Höhe allein nach dem Grad des versicherten Risikos bemesse195. Letztere ist in der Regel gemeint, wenn allgemein vom Äquivalenzprinzip gesprochen wird. Allenfalls die Global-,196 nicht aber die Individualäquivalenz kennzeichne den Charakter einer Einrichtung als Versicherung. Vielmehr würden andersherum diese Berechnungen meist angewandt durch eine Versicherung.197 In der Sozialversicherung bestünde nicht zwingend ein Bedürfnis zur Anwendung dieser Berechnungsmethoden, da sie nach anderen Gesetzen funktioniere. Auch in der Privatwirtschaft unterliege das angemessene Verhältnis von Leistung und Gegenleistung keiner strengen Kon188 BVerfG Beschl. v. 11.1.1995 – 1 BvR 892/88, Rn. 56 ff., BVerfGE 92, 53 (71 ff.); BVerfG Beschl. v. 23.3.1994 – 1 BvL 8/85, Rn. 55, BVerfGE 90, 226 (240); BVerfG Beschl. v. 9.11.1988 – 1 BvL 22/84 u. a., Rn. 48, BVerfGE 79, 87 (101); einschränkend BVerfG Beschl. v. 30.9.1987 – 2 BvR 933/82, Rn. 94 ff., BVerfGE 76, 256 (300 ff.); vgl. auch Bieback, VSSR 2003, 1 (28 f.). 189 Vgl. Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 107 m.w. N. (insb. Fn. 306). 190 Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 73. 191 Vgl. nur Rolfs, Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 212–214; Heinze, ZVersWiss 2000, 243 (249–251); Kingreen, ZESAR 2007, 139 (140). 192 Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 197–208. 193 Hase, Versicherungsprinzip, S. 71–104. 194 Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 133 ff. 195 Vgl. Kingreen, ZESAR 2007, 139 (140). 196 So Heinze, ZVersWiss 2000, 243 (249–251). 197 Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 133 ff.
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Kap. 1: Die zwei Säulen des Gesundheitswesens
trolle und sei nicht konstitutiv für das Vorliegen einer Versicherung. Das Äquivalenzprinzip müsse vielmehr auf einen viel grundlegenderen Gedanken zurückgeführt werden, der das Wesen einer „Versicherung“ charakterisiere. Dies sei die „Gegenseitigkeit“ von Beitrag und Leistung, ein „do ut des“ 198. Versicherung sei, so Hase, die „Wahrnehmung eigener Belange“. Der Beitrag zu ihr dürfe nicht unmittelbar nur „Gemeinschaftsinteressen“ oder der Absicherung anderer dienen. Das habe zur Folge, dass Beitrag und Leistung auch in der Sozialversicherung in einem gewissen Bezug zueinander stehen müssten. Ginge dieser Bezug verloren, so könne nicht mehr von einer Versicherung gesprochen werden. Die Beiträge würden zu „Instrumenten einer öffentlichen Förderung oder Versorgung“ 199. Diese Argumentation erscheint schlüssig. Maßstab für die Bestimmung eines rechtlichen Begriffs kann nicht die Anwendung bestimmter mathematischer Methoden sein. Vielmehr muss die rechtliche Begriffsdefinition streng von wirtschaftlichen Bewertungen getrennt werden. Aus der tatsächlichen Funktionsweise der Privatversicherung als „Prototyp“ 200 kann nur der allgemeine Gedanke abgeleitet werden, dass Leistung und Gegenleistung in einem Bezug zueinander stehen müssen. Die Beitragszahlung muss Grund für die Versicherungsleistung sein und umgekehrt muss der Beitrag gerade zum eigenen Erhalt einer Versicherungsleistung im Bedarfsfall gezahlt werden. Diese allgemeine Charakteristik führt regelmäßig zu der wirtschaftlichen Gestaltung eines Beitrags bzw. einer Prämie, die in ihrem Wert der Leistung entspricht nicht anders herum. Für diese Erkenntnis spricht auch, dass das Prinzip der Individualäquivalenz selbst in der PKV nicht mehr uneingeschränkt verwirklicht ist. Im Rahmen des Basistarifs entsprechen die Prämien ebenfalls nicht dem Wert des versicherten Risikos. Dennoch würde man aufgrund dieser gesetzlichen Neuregelung noch nicht den Versicherungscharakter der PKV insgesamt in Frage stellen. Vor die Klammer von GKV und PKV gezogen werden kann also nicht die strenge Individualäquivalenz als mathematisches Prinzip wohl aber die Reziprozität von Beitrag und Leistung in einem allgemeinen Sinne. Sie charakterisiert den Begriff der Versicherung als Institution. Berechtigterweise ist gefragt worden, ob von diesem Versicherungscharakter, den das BVerfG als konstitutiv für die Sozialversicherung ansieht, in der GKV überhaupt noch etwas erhalten geblieben ist.201 Die drei ältesten Zweige der Sozialversicherung wurden zunächst stark vom Prinzip der individuellen Äquivalenz und damit von einer unmittelbaren Beziehung des Beitrags zur Leistung 198
Bieback, VSSR 2003, 1 (31). Hase, Versicherungsprinzip, S. 397. 200 Axer, in: BK zum GG, Art. 74 Nr. 12, Rn. 32. 201 Eher ablehnend Peters, SGb 1981, 378; s. auch Rolfs, Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 416. 199
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beherrscht.202 Die Krankenversicherung kannte in ihren Anfängen noch keinen Staatszuschuss. Außerdem spielten Lohnersatzleistungen in Gestalt des Krankengeldes eine sehr viel bedeutendere Rolle als Sachleistungen, wie Heilbehandlungen und Arzneimittel.203 Aufgrund des unmittelbaren Bezugs der Höhe des Krankengeldes zum aufgebrachten Krankenversicherungsbeitrag, zeigt sich in dieser Leistungsart das Versicherungsprinzip in besonderer Weise. Die Bedeutung des Krankengeldes nahm mit dem Ausbau des Entgeltfortzahlungsrechts nach dem zweiten Weltkrieg ab.204 Seither dominieren Sachleistungen, deren Wert von der Höhe des entrichteten Beitrags entkoppelt ist. Eine Zurückdrängung des Versicherungscharakters wird des Weiteren insbesondere in der beitragsfreien Mitversicherung Familienangehöriger gem. § 10 SGB V gesehen.205 Bereits 1981 bemängelte Horst Peters, der Staat übertrage seine Aufgabe der Fürsorge für bestimmte Teile der Bevölkerung an die Versichertengemeinschaft. „Die Staatsbürgerversorgung [sei] komplett, die Tendenz zur totalen Öffnung der Krankenversicherung [sei] nicht zu übersehen.“ Diesen Vorwurf stützt er zum einen auf die beitragsfreie Mitversicherung Familienangehöriger, deren Kosten mehr als 1/3 der Gesamtausgaben der Krankenversicherung ausmachten. Seiner Ansicht nach könne eine Familienhilfe ohne jeden Zusatzbeitrag, die nicht auf einer satzungsmäßigen Entscheidung der Versicherungsgemeinschaft selbst, sondern auf gesetzlicher Anordnung beruhe, nicht mehr als „Versicherung“ angesehen werden.206 Als weitere Begründung für den Verlust der Versicherungseigenschaft wird die Einbeziehung Schwerbehinderter und Sozialleistungsempfänger in die Sozialversicherung angeführt. Zwar bedürften diese Personenkreise der staatlichen Fürsorge, ihre Beiträge seien aber regelmäßig nicht kostendeckend, so dass der Staat die Versichertengemeinschaft in der GKV mit finanziellen Bürden belaste, die eigentlich gesamtstaatliche Aufgabe seien. Rolfs benennt überdies zahlreiche Einzelregelungen, die den Rückgang des Versicherungsgedankens in der GKV markieren. Er kommt zu dem Schluss, der „solidarische Charakter“ der GKV stehe heute „ganz im Vordergrund“ 207, geht aber damit implizit davon aus, dass das Versicherungsprinzip im Hintergrund jedenfalls noch nicht ganz verloren ist. Teilt man den Ansatz, dass „Versicherung“ nicht gleichzusetzten ist mit einer versicherungstechnischen Individualäquivalenz, so ist das Versicherungsprinzip m. E. sehr wohl noch erkennbar in der GKV. Es mag zwar eine Verschiebung in 202
Rolfs, Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 559 f. Waltermann, Sozialrecht, S. 26; Rolfs, Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 27. 204 Vgl. Rolfs, Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 562. 205 Vgl. z. B. Waltermann, Sozialrecht, S. 82 f., 87 f.; Rolfs, Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 562. 206 Pflicht der gesetzlichen Krankenkassen zur Familienhilfe seit 1930, vgl. Peters, SGb 1981, 378 (381). 207 Rolfs, Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 562. 203
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Kap. 1: Die zwei Säulen des Gesundheitswesens
Richtung des anderen „Poles“ des sozialen Ausgleichs stattgefunden haben, dennoch zeigen Elemente wie die Beitragsbemessungsgrenze, dass Beitrag und Leistung in der GKV nach wie vor in einem Gegenseitigkeitsverhältnis zueinander stehen. Die sog. Beitragsbemessungsgrenze gem. § 223 Abs. 3 SGB V markiert eine Obergrenze. Einnahmen, die diesen Betrag übersteigen, bleiben für die Berechnung des Krankenversicherungsbeitrags außer Ansatz. Durch diese Regelung wird gewährleistet, dass der Beitrag nicht eine Höhe erreicht, die jeglichen Bezug zum versicherten Risiko verliert. Insgesamt lässt sich festhalten, dass GKV und PKV über das versicherte Risiko hinaus auch (zumindest noch) die Versicherungseigenschaft gemeinsam ist. In ihrer ursprünglichen Reinform ist diese in keinem der Systeme mehr verwirklicht. Sie ist in beiden mehr oder weniger sozial „überformt“ – in der PKV durch den Basistarif und in der GKV von jeher insbesondere durch verschiedene Umverteilungselemente zur Verwirklichung eines sozialen Ausgleichs unter den Versicherten.
II. Divergenz der Versicherungssysteme im Ausgangszustand Über diese – schwer fassbare und im Einzelnen umstrittene – Gemeinsamkeit der Versicherungseigenschaft hinaus, weisen die Systeme von jeher zahlreiche Gegensätze hinsichtlich ihrer Organisation, der versicherten Personenkreise, der Leistungen und der Finanzierung auf. 1. Rechtsgrundlagen: Sozialverwaltungsrecht vs. ziviles Versicherungsvertragsrecht Zentrale Rechtsquelle und damit gleichsam das „Kernstück“ des Rechts der GKV ist das Sozialgesetzbuch, 5. Buch (SGB V) als Teil des Sozialverwaltungsrechts. Es regelt die wesentlichen Grundprinzipien sowie die Rechtsbeziehungen im öffentlichen Gesundheitswesen zwischen Mitgliedern bzw. Versicherten, Krankenkassen und Leistungserbringern. Darüber hinaus enthält es Regelungen zur Organisation und Finanzierung der Aufgaben der GKV. Ergänzend heranzuziehen ist insbesondere das SGB IV, das den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts darstellt und unter anderem Regelungen zur Organisation der Sozialversicherung und zum Beitragsrecht enthält. Auch die Rechtsaufsicht über die Sozialversicherungsträger ist hier geregelt. Eine wichtige Bedeutung kommt darüber hinaus den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses zu, die der Konkretisierung des im SGB V nur dem Grunde nach normierten Leistungsanspruchs der Versicherten dienen (vgl. § 92 SGB V). Diese untergesetzlichen Normen sind Ausdruck der gemeinsamen Selbstverwaltung der Krankenkassen.208 208
Vgl. Mühlenbruch, in: Steuerungsinstrumente, Bd. 1, S. 37 (44 f.).
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Das Recht der PKV setzt sich zusammen aus Vorschriften des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG), des Versicherungsaufsichtsgesetzes (VAG), des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) und einzelner materiell dem Recht der PKV zuzuordnenden Vorschriften des SGB V. Wichtige vertragliche Rechtsquelle sind überdies die brancheneinheitlichen Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) mit den Musterbedingungen (MB). Grundlage für das Versicherungsverhältnis zwischen dem Versicherten und dem Versicherungsunternehmen ist der Versicherungsvertrag. Die Krankenversicherungsverträge sind dem Besonderen Schuldrecht zuzuordnen, aber nicht im BGB, sondern im 8. Kapitel des VVG (§§ 192–208) als Sondergesetz geregelt.209 Das Allgemeine Schuldrecht gilt dementsprechend ergänzend. Da die PKV ein Massengeschäft ist, schließen die Versicherer keine Individualverträge, sondern legen in der Regel die verbandseinheitlichen AVB – die AGB der Versicherungswirtschaft – zugrunde.210 Sie enthalten die Musterbedingungen (MB/KK und MB/KT), die Tarife, die das konkrete Leistungsversprechen festlegen, die Tarifbedingungen sowie nähere Bestimmungen etwa zum Versicherungsschutz, den Pflichten des Versicherungsnehmers, den Beendigungsgründen oder dem Wechsel in den Basistarif.211 Diese werden nach Maßgabe der §§ 305 ff. BGB Inhalt des Vertrages.212 Zwar können die einzelnen Versicherungsunternehmen von den verbandseinheitlichen AVB abweichen und eigene aufstellen, davon wird aber in der Praxis kaum Gebrauch gemacht. Verbindliche Vorgaben für die substitutive Krankenversicherung, d.h. die Vollversicherung der PKV, die dem Leistungsumfang der GKV entspricht und diesen ersetzt, enthalten darüber hinaus §§ 12, 12 a–g VAG. Schließlich sind die §§ 5 Abs. 9, und 257 Abs. 2 SGB V systematisch richtig dem Recht der PKV zuzuordnen. § 5 Abs. 9 SGB V verpflichtet private Krankenversicherungsunternehmen unter bestimmten Umständen zum Abschluss eines Versicherungsvertrages mit einem Kunden; § 257 Abs. 2 SGB V betrifft den Arbeitgeberzuschuss zu einer PKV des Arbeitnehmers.213 209 Bis im Jahr 1994 aufgrund europarechtlicher Vorgaben (Art. 54 Dritte SchadensRL) die Notwendigkeit bestand, jedenfalls die substitutive Krankenversicherung gesetzlich zu regeln, war der PKV im VVG trotz ihrer erheblichen wirtschaftlichen Bedeutung kein eigener Abschnitt gewidmet. Vertragsgrundlage waren der Allgemeine Teil des VVG und die von der Branche entwickelten AVB, die der Genehmigung der Aufsichtsbehörde unterlagen; vgl. näher: Kalis, in: Sodan, Hdb. KVR, § 42, Rn. 8–14; Rudolph, in: Bach/Moser, PKV, Teil A. Einl., Rn. 1. 210 Rudolph, in: Bach/Moser, PKV, Teil A. Einl., Rn. 16. 211 Vgl. ausführlich zu den AVB: Kalis, in: Sodan, Hdb. KVR, § 42, Rn. 8. 212 Vgl. Rudolph, in: Bach/Moser, PKV, Teil A. Einl., Rn. 1, 15; während von den brancheneinheitlichen AVB, insb. den MB, heute abgewichen werden darf, hatten sie vor der gesonderten gesetzlichen Normierung der PKV im VVG (1994) gesetzesähnliche Bedeutung. Sie waren von der Versicherungsaufsicht zu genehmigen und aufgrund des Drucks der Aufsicht „quasi-obligatorisch“. Aufgrund der Regelung des § 23 Abs. 3 AGBG a. F. wurden die AVB daher auch ohne ausdrückliche Einbeziehung Vertragsinhalt; vgl. ausführlich Rudolph, in: Bach/Moser, PKV, Teil A. Einl., Rn. 1, 15; Kalis, in: Sodan, Hdb. KVR, § 42, Rn. 8–14. 213 Vgl. ausführlich Boetius, in: MüKo/VVG, Vor § 192, Rn. 413–423.
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Als wesentlichen Unterschied in der rechtlichen Regulierung der Systeme lässt sich feststellen, dass mit der GKV ein Versicherungssystem „durch Recht geschaffen“ und mit eigenen Rechtssetzungsbefugnissen ausgestattet wird. Die PKV unterliegt als marktgeleitetes System dagegen lediglich einem rechtlichen „Ordnungsrahmen“.214 2. Rechtsform der Versicherer und Binnenorganisation: Kooperierende Körperschaften vs. konkurrierende private Unternehmen Hinsichtlich der Organisation unterscheiden sich die Versicherungssysteme zunächst darin, dass die Krankenkassen der GKV in öffentlicher und die Versicherer der PKV in privater Rechtsform organisiert sind. Die gesetzlichen Krankenkassen sind Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung (§ 4 Abs. 1 SGB V, § 29 Abs. 1 SGB IV) und damit Teil der mittelbaren Staatsverwaltung. Den körperschaftlichen Status gibt das Grundgesetz – wenn auch in einem weiteren Sinne215 – in Art. 87 Abs. 2 GG vor. Die Einrichtung von Krankenkassen und die Übertragung von Aufgaben an diese erfolgt durch staatlichen Hoheitsakt, d.h. durch oder aufgrund eines Gesetzes. Wesentliches Organisationsprinzip der GKV ist das Prinzip der Selbstverwaltung, welches die Krankenkassen dazu befugt, im Rahmen der Gesetze und des sonstigen für sie maßgeblichen Rechts ihre Aufgaben frei von Weisungen des Staates zu erledigen.216 Die wesentlichen Angelegenheiten der Krankenkassen werden daher durch gewählte Versicherten- und in der Regel auch Arbeitgebervertreter217 ausgeübt. Mit der Einführung des Gesundheitsfonds und der Festlegung eines einheitlichen Beitragssatzes für die Krankenkassen wurde ein wesentlicher finanzwirtschaftlicher Bereich aus der Selbstverwaltung ausgegrenzt.218 Da die Selbstverwaltung nur in den Grenzen des Gesetzes gilt, stehen dem Gesetzgeber derartige Begrenzungen offen. Als notwendiges Korrelat zur Selbstverwaltung unterliegen die Krankenkassen staatlicher Rechtsaufsicht (§§ 87 ff. SGB V). Über die bundesunmittelbaren Krankenkassen wird diese vom Bundesversicherungsamt (§ 90 Abs. 1 AGB IV), über die landesunmittelbaren Kassen von den zuständigen Landesbehörden (§ 90 Abs. 2 SGB IV) ausgeübt.219 Wichtigste Konsequenz aus der Organisation der Krankenkassen als Körperschaften des öffentlichen Rechts ist, dass sie als
214
Mühlenbruch, in: Steuerungsinstrumente, Bd. 1, S. 37 (45). Ebenso Mühlhausen, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 4 Rn. 3; s. ausführlich unten Kapitel 5 B. II. 2. b) bb). 216 Vgl. G. Becker, in: jurisPK-SGB V, § 4 Rn. 15. 217 Eine Ausnahme stellen die meisten Ersatzkassen dar, vgl. Mühlhausen, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 4 Rn. 4. 218 Krit. Noftz, in: Hauck/Noftz, SGB V K § 4 Rn. 17. 219 Vgl. Noftz, in: Hauck/Noftz, SGB V K § 4 Rn. 10. 215
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solche nicht Träger von Grundrechten sind.220 Ein weiteres – verfassungsrechtlich allerdings nicht geschütztes221 – Organisationsprinzip der GKV ist ihre Gliederung in Kassenarten (vgl. § 4 Abs. 2 SGB V), die sich aus dem Entstehungsprozess der sozialen Arbeiterversicherung heraus erklärt.222 Untereinander sind die Krankenkassen zur Kooperation verpflichtet (§ 4 Abs. 3 SGB V). Ausdruck der gemeinsamen Selbstverwaltung ist etwa der Gemeinsame Bundesausschuss.223 Darüber hinaus hat sich der Gesetzgeber in der jüngeren Vergangenheit dazu entschieden, die Krankenkassen untereinander in ein stärker wettbewerbliches Verhältnis zu setzen.224 Sie sind aber durch den Risikostrukturausgleich, der durch den Gesundheitsfonds bewirkt wird, zu einer Solidargemeinschaft verbunden. Hierdurch sollen Unterschiede in der Risikostruktur der Versicherten ausgeglichen werden.225 Die Versicherer der PKV sind dagegen als juristische Personen des Privatrechts organisiert. Sie werden überwiegend in der Rechtsform der Aktiengesellschaft oder des Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit betrieben. Das Gesetz lässt daneben zwar auch zu, dass Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts die Erlaubnis zum Betrieb einer PKV erteilt wird (vgl. § 7 Abs. 1 VAG), davon wurde jedoch kein Gebrauch gemacht. 2007 waren von den 47 zum Betrieb einer Krankenversicherung zugelassenen Versicherungsunternehmen 27 Aktiengesellschaften und 20 Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit. Gemessen an der Zahl der Vollversicherten ist der Marktanteil der Versicherungsvereine jedoch höher als der der Aktiengesellschaften.226 Die Entstehung der privaten Versicherer beruht somit in der Regel auf einem privaten Gründungsakt. Die Aufnahme des Geschäftsbetriebs bedarf aber einer Erlaubnis der Aufsichtsbehörde. Die privaten Krankenversicherer unterliegen der Versicherungsaufsicht, die im Wesentlichen von der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) und daneben bei Unternehmen von geringer wirtschaftlicher Bedeutung von den Aufsichtsbehörden auf Landesebene wahrgenommen wird.227 Über Art. 19 Abs. 3 220 BVerfG Beschl. v. 9.4.1975 – 2 BvR 879/73, Rn. 63 ff., BVerfGE 39, 302 (312 ff.); BVerfG Beschl. v. 18.7.2005 – 2 BvF 2/01, Rn. 157, BVerfGE 113, 167 (227); BVerfG (3. Kammer des 2. Senats) Beschl. v. 9.6.2004 – 2 BvR 1248/03 und 2 BvR 1249/03, NZS 2005, 139 ff. 221 BVerfG Beschl. v. 25.2.1960 – 1 BvR 239/52, BVerfGE 10, 354; BVerfG Beschl. v. 5.3.1974 – 1 BvL 17/72, Rn. 35, BVerfGE 36, 383 (393). 222 Vgl. G. Becker, in: jurisPK-SGB V, § 4, Rn. 18–20. 223 Schmidt-De Caluwe, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 91, Rn. 1, 3. 224 Zu der Frage wie der Kassenwettbewerb mit dem Kooperationsgebot vereinbar ist, s. Thüsing/Sternberg, GWR 2012, 555; dies., ZIP 2012, 1437. 225 Zur Funktionsweise des Morbi-RSA im Gesundheitsfonds vgl. etwa Göpffarth, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 266, Rn. 5 ff., 14. 226 Vgl. zu den Zahlen im Einzelnen Boetius, in: MüKo/VVG, Vor § 192 Einführung in die Krankenversicherung, Rn. 75 f. 227 Vgl. im Einzelnen zur Versicherungsaufsicht Schüffner/Franck, in: Sodan, Hdb. KVR, § 47, Rn. 166 ff.
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GG sind die privaten Krankenversicherungsunternehmen Träger der Grundrechte „soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind“, insbesondere können sie Eingriffe in ihre Berufs- sowie die Eigentumsfreiheit geltend machen.228 3. Entstehung des Versicherungsverhältnisses: von Gesetzes wegen vs. durch Vertrag Die Mitgliedschaft versicherungspflichtiger Personen in der gewählten gesetzlichen Krankenkasse229 beginnt an dem Tag, an dem die gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen, die die Versicherungspflicht begründen, erfüllt sind (vgl. § 186 iVm § 5 SGB V). Das Mitgliedschaftsverhältnis und damit das Versicherungsverhältnis entstehen also ipso iure. Sie sind unabhängig von der Kenntnis und dem Willen des Versicherten. Im Rahmen der freiwilligen Versicherung im Sinne des § 9 SGB V tritt an die Stelle des Vorliegens der gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen in der Regel die Beitrittserklärung (vgl. § 188 Abs. 1 SGB V). Dabei handelt es sich um eine einseitige, empfangsbedürftige, rechtsgestaltende Willenserklärung, die dem öffentlichen Recht zuzuordnen ist und unmittelbar die Mitgliedschaft bei der gewählten Krankenkasse begründet.230 Einer Zustimmung der Kasse bedarf es nicht. Das private Versicherungsverhältnis beruht dagegen auf einem Vertrag und damit auf der Privatautonomie der Parteien. Es entsteht durch zwei übereinstimmende Willenserklärungen, Angebot und Annahme, §§ 145 ff. BGB.231 4. Finanzierung Die GKV finanziert sich überwiegend durch Beiträge der Versicherten, die PKV durch Prämien. Die Finanzierung der GKV ist dem öffentlichen Finanzrecht zuzuordnen und der GKV-Beitrag ist als Sonderlast eine Abgabe eigener Art.232 Demgegenüber ist die Versicherungsprämie eine vertraglich geschuldete Leistung, die sich aus dem Versicherungsvertrag ergibt. a) Beitragsbemessungsgrundlage: Einkommen vs. Risiko In der PKV gilt grundsätzlich uneingeschränkt das versicherungstechnische Äquivalenzprinzip, d.h. die Höhe der Versicherungsprämie orientiert sich allein 228
Sodan, in: Sodan, Hdb. KVR, § 1 Rn. 16. Seit Einführung des Kassenwahlrechts zum 1.1.1996 (§§ 173 ff. SGB V) erfolgt keine Zwangszuweisung zu einer bestimmten Krankenkasse mehr, sondern den Pflichtversicherten und Versicherungsberechtigten steht ein Wahlrecht zu; vgl. Zimmermann, in: Sodan, Hdb. KVR, § 7 Rn. 5. 230 Gerlach, in: Hauck/Noftz, SGB V K § 188 Rn. 8. 231 Schüffner/Franck, in: Sodan, Hdb. KVR, § 43, Rn. 29. 232 Vgl. Rixen, in: Sodan, Hdb. KVR, § 36, Rn. 1–4. 229
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an dem Grad der versicherten Gefahr.233 Die Beitragshöhe bestimmen daher Kriterien, die in der Person des Versicherten liegen, namentlich das Alter und der Gesundheitszustand bei Vertragsschluss.234 Das Geschlecht darf seit dem 21.12. 2012 keine Rolle mehr spielen.235 Darüber hinaus wird der gewählte Leistungsumfang in die Kalkulation einbezogen.236 Dabei bildet im Rahmen der Äquivalenz nicht der einzelne Versicherte den Maßstab. Vielmehr wird das Risiko für eine Risikogruppe bestimmt, die sich aus Versicherten gleichen Geschlechts, gleichen Eintrittsalters und ähnlichen Gesundheitsrisikos zusammensetzt (sog. Kohorte).237 In zeitlicher Hinsicht bezieht sich die Äquivalenz auf die gesamte Dauer des Versicherungsverhältnisses, d.h. maßgeblich ist, wie viele und welche Leistungen die Kohorte voraussichtlich während des Bestehens des Versicherungsverhältnisses in Anspruch nehmen wird.238 Einen weiteren Posten in der Beitragskalkulation machen schließlich die sog. Altersrückstellungen aus. Sie dienen dazu, einen Effekt abzumildern, der aus dem Äquivalenzprinzip resultiert und mit der Risikoerhöhung im Alter zusammenhängt. Da das Krankheitsrisiko mit zunehmendem Alter ansteigt, hätte die konsequente Anwendung des Äquivalenzprinzips ohne die Bildung von Altersrückstellungen zufolge, dass der Versicherungsbeitrag im Alter anstiege. Um dies zu verhindern, unterteilen die privaten Krankenversicherungsunternehmen die Versicherungsprämien in einen Risikoteil, der benötigt wird, um die laufenden veranschlagten Versicherungsleistungen zu decken und einen Sparteil, der für die erhöhten Ausgaben im Alter zurückgelegt und verzinst wird. Spiegelbildlich zum zunehmenden Risiko nimmt der Sparanteil in der Regel jährlich ab. Die Bildung von Altersrückstellungen ist für die substitutive Krankenversicherung vorgeschrieben in § 12 Abs. 1 Nr. 2 VAG iVm § 341 f. Abs. 3 HGB. Weiterhin ordnet § 12 Abs. 4 a VAG in der substitutiven Krankenversicherung einen Zuschlag von 10 Prozent an, der ergänzend zu den Altersrückstellungen ebenfalls der Prämienermäßigung im Alter dient.239 Zwar liegt das versicherungstechnische Äquivalenzprinzip auch der gesetzlichen Krankenkasse zugrunde, hier ist es jedoch überformt durch Umverteilungs-
233
Kingreen, ZESAR 2007, 139 (140). Zur Beitragskalkulation in der PKV vgl.: Kalis, in: Sodan, Hdb. KVR, § 44, Rn. 109 ff. 235 In seinem sog. „Unisex-Urteil“ entschied der EuGH, dass die unterschiedliche Beitragshöhe für Männer und Frauen, welche Art. 5 II der Richtlinie 2004/113/EG den Mitgliedstaaten erlaubt, gegen den primärrechtlichen Gleichheitssatz verstößt; vgl. EuGH v. 1.3.2011 – C-236/09, NJW 2011, 907. Umformulieren! Seit dem 21.12.2012! 236 Kalis, in: Sodan, Hdb. KVR, § 44, Rn. 109. 237 Sodan, in: Sodan, Hdb. KVR, § 1, Rn. 25. 238 Sodan, in: Sodan, Hdb. KVR, § 1, Rn. 25. 239 Vgl. auch Kalis, in: Sodan, Hdb. KVR, § 44, Rn. 110. 234
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elemente zum Zwecke des sozialen Ausgleichs.240 Die Höhe des Beitrags richtet sich in der GKV nicht nach dem Grad des Risikos, sondern nach der individuellen Leistungsfähigkeit des Versicherten. Der Beitrag macht einen bestimmten Prozentsatz des Erwerbseinkommens aus (horizontales Solidarprinzip241). Dieser deckt nicht zwangsläufig das versicherte Risiko ab, denn jeder Versicherte erhält unabhängig von der Höhe des Beitrags die gleichen gesetzlichen Leistungsansprüche. Auch erhalten Personen in der GKV Versicherungsschutz, die selbst gar keine Beiträge leisten (vgl. § 10 SGB V). Leistungsumfang und Beitragshöhe sind also entkoppelt (vertikales Solidarprinzip).242 Soweit die Beitragshöhe dem versicherten Risiko entspricht besteht Äquivalenz, soweit der Beitrag in seiner Höhe das Risiko dagegen nicht decken kann oder über den Grad des Risikos hinausgeht, ist er Ausdruck des Solidarausgleichs in der GKV.243 Es gehört zum Wesen der GKV, „dass sich leistungsstärkere Mitglieder an den Kosten des Krankenversicherungsschutzes von leistungsschwächeren Mitgliedern ihrer größeren Leistungsfähigkeit entsprechend beteiligen“.244 Trotz dieser Modifikation des Prinzips der Individualäquivalenz ist jedenfalls die Globaläquivalenz eine Berechnungsmethode, die auch in der GKV nach wie vor Berücksichtigung findet,245 denn auch in der GKV müssen die Beiträge insgesamt (gemeinsam mit den Steuerzuschüssen) die Leistungsausgaben decken.246 b) Finanzierungsverfahren: Umlage- vs. Anwartschaftsdeckungsverfahren Die PKV arbeitet nach dem Anwartschaftsdeckungsverfahren247. Sie spart Vermögen an, aus dem sie spätere Versicherungsleistungen finanziert. Zur Verhinderung von Prämiensteigerungen im Alter bildet sie Altersrückstellungen, d.h. einen Sparanteil, der nicht für die laufenden Versicherungsleistungen verwandt wird, sondern der Kompensation von im Laufe des Versicherungsverhält240 BVerfG Beschl. v. 30.9.1987 – 2 BvR 933/82, Rn. 95, BVerfGE 76, 265 (300 f.) für die Rentenversicherung. Gilt auch für die GKV; BVerfG Beschl. v. 6.12.1988 – 2 BvL 18/84, Rn. 34, BVerfGE 79, 223 (236 f.). 241 Zu den Begriffen von horizontalem und vertikalem Solidarprinzip vgl. Kingreen, ZESAR 2007, 139 (141). 242 Kingreen, ZESAR 2007, 139 (141). 243 Rolfs, Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 212. 244 BVerfG Beschl. v. 18.7.2005 – 2 BvF 2/01, Rn. 151, BVerfGE 113, 167 (224). 245 Sodan, in: Sodan, Hdb. KVR, § 1, Rn. 27. 246 Vgl. § 241 Abs. 1 SGB V: Beitragssatz wird aufgrund von Schätzungen festgelegt. Die Schätzungen betreffen den allgemeinen Finanzbedarf der GKV; vgl. auch Gerlach, in: Hauck/Noftz, SGB V, § 241 Rn. 28. 247 Auch bezeichnet als „Kapitaldeckungsverfahren“. Der Begriff wird in der Lebensversicherung verwandt, ist jedoch für die Krankenversicherung als Teil der Schadensversicherung ungenau; vgl. Boetius, in: MüKo/VVG, Vor § 192 Einführung in die Krankenversicherung, Rn. 641.
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nisses entstehenden Mehrkosten aufgrund erhöhten Alters des Versicherten dient. Das Anwartschaftsdeckungsverfahren stellt sicher, dass die Verpflichtungen aus dem Versicherungsverhältnis dauerhaft erfüllt werden können.248 Es ist überdies „ein wichtiger gesellschaftspolitischer Beitrag zur nachhaltigen Finanzierung des Gesundheitssystems“ 249. Die Finanzierung der GKV beruht hingegen auf dem Umlageverfahren. Das für die Versicherungsleistungen erforderliche Kapital wird dabei aus den laufenden Einnahmen geschöpft.250 Eine Kapitalansammlung findet nicht statt. Zwar ist das Umlageverfahren im SGB V nicht wie etwa in § 153 Abs. 1 SGB VI für die gesetzliche Rentenversicherung ausdrücklich normiert, es ergibt sich aber aus der Systematik der Finanzierungsvorschriften.251 Rücklagen werden in der GKV nur zur Sicherstellung ihrer Leistungsfähigkeit gebildet (vgl. § 261 Abs. 1 SGB V). Sie dienen nicht der Ansparung von Kapital für künftige Leistungen.252 Das Umlageverfahren wird teilweise auch als „Generationenvertrag“ bezeichnet und zwar deshalb, weil junge, gesunde Versicherte mit ihren Beiträgen die Behandlung aktuell Erkrankter finanzieren.253 Die aktuell jungen, gesunden Versicherten vertrauen im Gegenzug darauf, dass ihre Erkrankungen im Alter durch die Beiträge der nachfolgenden Generationen gedeckt werden. Das Umlageverfahren setzt damit den Fortbestand der Versicherung und das Leistungsvermögen künftiger Generationen voraus.254 Starke Auswirkungen auf diese Finanzierungsart hat daher die demographische Entwicklung. In Zeiten von Bevölkerungswachstum, wie bei Entstehung der Sozialversicherung, hat das Umlageverfahren eine tragfähige Grundlage. Die Finanzmittel der GKV sind dagegen stark bedroht, wenn die Geburtenrate sinkt, die Lebenserwartung steigt und sich die Kosten für medizinische Leistungen aufgrund des medizinisch-technischen Fortschritts gleichzeitig erhöhen, wie es aktuell der Fall ist. Aufgrund der einkommensabhängigen Beiträge zur Sozialversicherung wird das Umlageverfahren darüber hinaus auch von einer steigenden Arbeitslosenrate negativ beeinflusst.255 c) Steuerzuschüsse Die GKV erhält außerdem Zuschüsse des Bundes zur pauschalen Abgeltung der Aufwendungen der Krankenkassen für versicherungsfremde Leistungen, wie 248
Sodan, in: Sodan, Hdb. KVR, § 1, Rn. 24; Kalis, in: Sodan, Hdb. KVR, § 42,
Rn. 7. 249
Kalis, in: Sodan, Hdb. KVR, § 42, Rn. 7. Sodan, in: Sodan, Hdb. KVR, § 1, Rn. 20. 251 Rixen, in: Sodan, Hdb. KVR, § 36, Rn. 22. 252 Zu der Funktion der Rücklage s. Pfohl, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 261, Rn. 1; Sodan, in: Sodan, Hdb. KVR, § 1, Rn. 20. 253 Sodan, in: Sodan, Hdb. KVR, § 1, Rn. 20 f.; Waltermann, Sozialrecht, S. 161. 254 Sodan, in: Sodan, Hdb. KVR, § 1, Rn. 20. 255 Sodan, in: Sodan, Hdb. KVR, § 1, Rn. 21. 250
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die beitragsfreie Mitversicherung von Kindern und Ehegatten (vgl. § 221 SGB V). Diese werden aus Steuergeldern finanziert und an den Gesundheitsfonds geleistet, aus dem die einzelnen Krankenkassen, die erforderlichen finanziellen Mittel erhalten (vgl. § 270 Abs. 1 SGB V). Der PKV stehen derartige Zuschüsse nicht zu. 5. Leistungen Unterschiede bestehen auch hinsichtlich der Versicherungsleistungen von GKV und PKV. So unterscheiden sich der Leistungsgegenstand und das Leistungsspektrum, sowie der den Anspruch auslösende Versicherungsfall. a) Art der Versicherungsleistung: Naturalleistung vs. Kostenerstattung In der GKV gilt grundsätzlich das sog. Sach- oder Naturalleistungsprinzip, d.h. die „Unmittelbarkeit der Bedarfsbefriedigung“ 256. Gegenstand der Leistung der Krankenkasse an den Versicherten ist danach in der Regel eine Sach- oder Dienstleistung (vgl. § 2 Abs. 2 S. 1, § 13 Abs. 1 SGB V). Der Versicherer übernimmt die Verpflichtung, selbst für die Beseitigung der Folgen des Versicherungsfalles zu sorgen, d.h. konkret, dass es Aufgabe der Krankenkasse ist, die ärztliche Heilbehandlung bzw. die Versorgung mit Arzneimitteln bereitzustellen.257 Zur Erfüllung dieser Verpflichtungen aus dem Versicherungsverhältnis bedienen sich die Krankenkassen selbständiger Leistungserbringer.258 Sie schließen Verträge mit diesen, die im Einzelnen im Vierten Kapitel des SGB V geregelt sind (vgl. § 2 Abs. 2 S. 3 SGB V). Das Sachleistungsprinzip ist somit die Ursache für ein detailliertes Regelungsgebilde über die Beziehungen der Krankenkassen zu den Leistungserbringern im Vierten Kapitel des SGB V.259 Es bewirkt überdies, dass zwischen dem gesetzlich versicherten Patienten und seinem behandelnden Arzt zumindest keine solche Rechtsbeziehung besteht, aus der dem Arzt ein Anspruch gegen den behandelten Patienten selbst auf Bezahlung erwächst.260 Aus dem Sachleistungsprinzip folgt ferner eine Einschränkung der Arztwahl durch den Versicherten.261 Da nicht der Versicherte selbst einen Vertrag mit ei256
BSG Urt. v. 28.6.1983 – 8 RK 22/81, Rn. 29, BSGE 55, 188 (193). Waltermann, Sozialrecht, S. 89 f.; Scholz, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 2, Rn. 11. 258 Der Gesetzgeber des GRG 1989 hat die Entscheidung getroffen, dass sich die Krankenkassen grundsätzlich selbständiger Leistungserbringer bedienen müssen. Die Leistungserbringung in Eigeneinrichtungen stellt die Ausnahme dar (vgl. § 2 Abs. 2 S. 3 SGB V); an die Errichtung neuer Eigeneinrichtungen stellt § 140 Abs. 2 SGB V hohe Anforderungen; s. auch Fuchs, in: Fuchs/Preis, Sozialversicherungsrecht, § 16 III 1. 259 Waltermann, Sozialrecht, S. 90, 98 ff.; Sodan, in: Sodan, Hdb. KVR, § 13, Rn. 4. 260 Waltermann, Sozialrecht, S. 89, 101, 103 ff. 261 Sodan, in: Sodan, Hdb. KVR, § 1, Rn. 31; Boecken, in: Sodan, Hdb. KVR, § 17, Rn. 116. 257
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nem Arzt schließt, ist er bei seiner Wahl auf die Leistungserbringer beschränkt, die in einer vertraglichen Beziehung zu der Krankenkasse stehen, d.h. auf die Ärzte mit einer sog. „Kassenzulassung“.262 In Einzelfällen kann aber auch eine Kostenerstattung durch die Krankenkasse geschuldet sein, d.h. der Ausgleich von Kosten, die dem Versicherten für eine Sach- oder Dienstleistung entstanden sind. Diese Fälle bilden jedoch eine Ausnahme. Gem. § 13 Abs. 2 SGB V können Versicherte die Leistungsform der Kostenerstattung wählen, was jedoch wenig in Anspruch genommen wird263. Ferner haben Versicherte Anspruch auf Erstattung ihrer Kosten für eine Behandlung, die sie auf eigene Rechnung haben vornehmen lassen, weil die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat (sog. Systemversagen, § 13 Abs. 3 SGB V). Schließlich werden Kosten auch dann ersetzt, wenn Versicherte im EU-Ausland oder in der Schweiz Leistungen in Anspruch nehmen (§ 13 Abs. 4–6). Der Entscheidung für das Sachleistungsprinzip liegen sowohl gesundheits- als auch sozialpolitische Erwägungen zugrunde.264 Im Interesse der Gesundheit der Versicherten soll es sicherstellen, dass – abgesehen von Zuzahlungen265 – keine Hemmschwelle besteht, Gesundheitsleistungen in Anspruch zu nehmen.266 Aus sozialpolitischen Gründen soll das Sachleistungsprinzip den Versicherten überdies vor finanziellen Notlagen schützen, die dadurch entstehen können, dass er – wenn auch nur vorübergehend – mit den oft hohen Kosten der Gesundheitsleistungen belastet wird.267 Als weiteren Vorteil wird angeführt, dass der Versicherte nicht in die Position versetzt wird, der Krankenkasse intime Details zu seinem Gesundheitszustand und der Heilbehandlung mitzuteilen und mit ihr über die Erstattung zu verhandeln.268 So schütze das Sachleistungsprinzip sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung.269 Für die Versicherten ist das Sachleistungsprinzip aus diesen Gründen und wegen des fehlenden Risikos, eine Leis262
Boecken, in: Sodan, Hdb. KVR, § 17, Rn. 116. Bei einer Befragung von 2912 GKV-Versicherten im Gesundheitsmonitor 2004/ 2005 gaben 3,4% der Befragten an, Kostenerstattung gewählt zu haben, Freytag/Albrecht/Klein/Häussler, Gesundheits- und Sozialpolitik 2007, 46 (51); vgl. Sodan, in: Sodan, Hdb. KVR, § 1, Rn. 30; Hauck, in: Sodan, Hdb. KVR, § 8, Rn. 22; Fuchs, in: Fuchs/Preis, Sozialversicherungsrecht, § 16 III 2. 264 Fuchs, in: Fuchs/Preis, Sozialversicherungsrecht, § 16 III 1. 265 Aufgrund der Kostenentwicklung in der GKV wurden für alle medizinischen Sachleistungen Zuzahlungen eingeführt, die gem. § 43 b SGB V von den Leistungserbringern einzuziehen sind; s. dazu auch Fuchs, in: Fuchs/Preis, Sozialversicherungsrecht, § 16 III 1. 266 BSG Urt. v. 20.7.1976 – 3 RK 18/76, Rn. 12, BSGE 42, 117 (119); Sodan, NZS 1998, 305 (312). 267 Fuchs, in: Fuchs/Preis, Sozialversicherungsrecht, § 16 III 1. 268 Hauck, in: Sodan, Hdb. KVR, § 8, Rn. 18. 269 Hauck, in: Sodan, Hdb. KVR, § 8, Rn. 18. 263
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Kap. 1: Die zwei Säulen des Gesundheitswesens
tung nicht erstattet zu bekommen, die gegenüber einer Kostenerstattung einfachere und bequemere Variante. Aber auch den Leistungserbringern kommt es insofern entgegen, als es ihnen einen solventen Schuldner verschafft.270 Der Staat hat überdies ein Interesse am Sachleistungsprinzip, da die Krankenkassen auf diese Weise auf die Vergütung der Ärzte und anderer Leistungserbringer und so auf die Leistungsausgaben selbst Einfluss nehmen können.271 Gegen das Sachleistungsprinzip wird jedoch auch Kritik geäußert. Insbesondere wird zu Recht die Tatsache bemängelt, dass der Versicherte in der Regel keine Kenntnis davon erhält, welche Kosten die Krankenkasse für seine Heilbehandlung tätigt. Zwar besteht die Möglichkeit, auf Antrag davon zu erfahren (vgl. § 305 SGB V). Informationsrechte der Versicherten können die Nachteile jedoch nicht aufwiegen.272 Es geht nämlich dabei nicht um das Informationsinteresse des Versicherten. Dieser wird in der Regel gar nicht daran interessiert sein, welche Kosten er verursacht hat. Es geht vielmehr darum, ihn zu einer sparsamen Inanspruchnahme der Leistungen zu bewegen und einer „Null-Tarif-Mentalität“ 273 entgegenzuwirken. Aufgrund des Informationsdefizits ist er aber gar nicht dazu in der Lage, sich wirtschaftlich zu verhalten. Auch kann er, da er keine Rechnung erhält, nicht überprüfen, ob die abgerechneten Leistungen tatsächlich erbracht wurden.274 Gegen das Argument, es sei dem Versicherten nicht zumutbar in Vorleistung zu gehen, wird vorgebracht, dies sei in den Anfängen der Sozialversicherung zwar zutreffend gewesen, nun aber nicht mehr zeitgemäß, da sich das Armutsniveau erheblich verändert habe.275 Die wirtschaftliche Existenzgrundlage könne man außerdem ebenso effektiv im Rahmen des Kostenerstattungsprinzips lösen, indem man die Krankenkasse zur Vorleistung verpflichte. Der behandelte Versicherte wäre in diesem Fall erst zur Zahlung gegenüber seinem Arzt verpflichtet, nachdem er den erforderlichen Betrag von der Krankenkasse erhalten hat.276 Das Sachleistungsprinzip wird trotz der geäußerten Kritik als „übernormatives Grundprinzip“, „wesentlicher Grundsatz der GKV“ und „beherrschendes und dominantes Strukturelement“ angesehen, dem „ein hervorragender Rang und eine
270
Hauck, in: Sodan, Hdb. KVR, § 8, Rn. 16. Sodan, in: Sodan, Hdb. KVR, § 1, Rn. 28. 272 So aber Hauck, in: Sodan, Hdb. KVR, § 8, Rn. 18. 273 Jahresgutachten 1992/93 des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, BT-Drs. 12/3774, S. 220 (Nr. 383). 274 Sodan, NZS 1998, 305 (312). 275 Jahresgutachten 1992/93 des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, BT-Drs. 12/3774, S. 226 (Nr. 388); Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer, S. 313 f.; ders., NZS 1998, 305 (312). 276 Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer, S. 313 f.; ders., NZS 1998, 305 (312). 271
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fundamentale Bedeutung“ zukommt.277 „Das System der deutschen sozialen Krankenversicherung [sei] vom Sachleistungsprinzip geprägt oder getragen.“ 278 Das Sachleistungsprinzip ist also, wie diese Zitate zum Ausdruck bringen, eines der Systemmerkmale, die das traditionelle Bild der GKV ausmachen und prägen. Dennoch erscheint es nicht – wie die Finanzierungsgrundsätze – zwingend mit dem System der GKV verbunden, in dem Sinne, dass es nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass das gesamte System in sich zusammenbräche und einer Anpassung bedürfte. Es ist also auch eine gesetzliche soziale Krankenversicherung denkbar, in der das Sachleistungsprinzip durch eine Kostenerstattung ersetzt wird.279 Dies zeigt insbesondere die Wahlmöglichkeit des § 13 Abs. 2 SGB V. In der PKV gilt dagegen das sog. Kostenerstattungsprinzip (vgl. § 192 VVG). Danach ersetzt der Versicherer dem Versicherten die Kosten, die diesem durch den Versicherungsfall entstanden sind, in Geld. Der Versicherte schließt also selbst einen Vertrag mit einem Arzt, einem Krankenhaus oder einer Apotheke und bekommt seine finanziellen Aufwendungen anschließend ersetzt. Er kann dabei frei wählen, durch wen er sich behandeln lässt, eine Begrenzung auf Vertragsärzte wie bei der GKV kann es aufgrund des Kostenerstattungsprinzips nicht geben. Die privaten Krankenversicherer treten anders als die gesetzlichen Krankenkassen mit den Anbietern medizinischer Leistungen in der Regel gar nicht in Kontakt. Daher „fehlt [in der PKV] die Verknüpfung von Versicherungs- und Erfüllungsverhältnis durch das Leistungserbringungsverhältnis“.280 Die Tatsache, dass bei stationären Krankenhausbehandlungen das Krankenhaus seit jeher direkt gegenüber dem Versicherungsunternehmen abrechnet, stellt keine Ausnahme vom Kostenerstattungsprinzip, sondern lediglich eine Modalität der Abwicklung dar. Der Versicherte tritt hier seinen Kostenerstattungsanspruch gegen das Versicherungsunternehmen an das Krankenhaus ab.281 Für welche Leistungen das Versicherungsunternehmen in welchem Umfang Kosten ersetzt, richtet sich nach dem sog. Tarif (d.h. dem gewählten Versicherungspaket) und den Tarifbedingungen. Die Kosten für eine bestimmte ärztliche Leistung werden überdies durch die geltenden staatlichen Gebührenordnungen (GOÄ/GOZ) determiniert. Ebenso wie das Kostenerstattungsprinzip für die GKV denkbar erscheint, wäre auch das Sachleistungsprinzip in der PKV umsetzbar. Sog. Managed Care-Mo277
BSG Urt. v. 7.8.1991 – 1 RR 7/88, Rn. 20, BSGE 69, 170 (173). BSG Urt. v. 7.8.1991 – 1 RR 7/88, Rn. 20, BSGE 69, 170 (173); BSG Urt. v. 20.7.1976 – 3 RK 18/76, Rn. 11, BSGE 42, 117 (119). 279 Boetius, in: MüKo/VVG, Vor § 192 Einführung in die Krankenversicherung, Rn. 23, 26; dafür plädiert Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer, S. 310–319. 280 Becker/Kingreen, Beck-Texte SGB V, Einführung, S. XI. 281 Hess, in: Wenzel, Handbuch des Fachanwalts Medizinrecht, Kap. 2 Rn. 40; Sodan, in: Sodan, Hdb. KVR, § 1, Rn. 31. 278
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delle, wie z. B. die Health Maintenance Organisations (HMO) und Hausarztnetze, die als Steuerungsinstrumente im Gesundheitswesen der Schweiz oder der USA Anwendung finden, wären auch mit dem System der PKV vereinbar. b) Versicherungsfall: Krankheit vs. Behandlung Der Anspruch auf Leistungen der GKV oder PKV setzt neben dem Bestehen eines Versicherungsverhältnisses den Eintritt eines Versicherungsfalles voraus. Der Versicherungsfall bestimmt sich jedoch infolge des unterschiedlichen Leistungsgegenstandes in den beiden Systemen unterschiedlich. In der GKV ist der Versicherungsfall in der Regel das Vorliegen einer „Krankheit“.282 Nach dem sog. juristischen Krankheitsbegriff ist darunter ein „regelwidriger Körper- oder Geisteszustand“ zu verstehen, „der entweder Behandlungsbedürftigkeit oder Arbeitsunfähigkeit oder beides zur Folge hat“ 283. Der Begriff ist in einem funktionalen Sinne zu verstehen. Er dient dem Zweck, den Weg zu den Leistungen (i. d. R. Sach- und Dienstleistungen) der GKV zu eröffnen. Dementsprechend wird nicht nur auf den medizinisch regelwidrigen Zustand, sondern darüber hinaus auch auf die Folgen abgestellt.284. Aufgrund des Kostenerstattungsprinzips ist der Versicherungsfall, der den Anspruch auf Leistungen der Krankenversicherung entstehen lässt, in der PKV ein anderer: Er ergibt sich aus § 1 Abs. 2 MB/KK und ist definiert als „die medizinisch notwendige Heilbehandlung einer versicherten Person wegen Krankheit oder Unfallfolgen.“ Versicherungsfall ist also nicht die Krankheit selbst, sondern nur ihre Behandlung,285 da erst diese erstattungsfähige Kosten hervorruft.286 Nicht jede Behandlung ist jedoch Versicherungsfall, sondern nur die, die aufgrund von Krankheit oder Unfallfolgen in Anspruch genommen wird. Weitere Ursachen sind Schwangerschaft und Entbindung, gezielte Vorsorgeuntersuchungen sowie der Tod, wenn dies entsprechend vereinbart ist (vgl. § 1 Abs. 2 a)–c) MB/KK).287 Weil es aufgrund dieser Bestimmung der versicherten Gefahr in der 282 Die GKV gewährt auch in anderen Fällen Leistungen (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 2, 3), so etwa zur Prävention von Krankheiten, zur Empfängnisverhütung oder zum Schwangerschaftsabbruch. 283 BSG Urt. v. 28.10.1960 – 3 RK 29/59, Rn. 15, BSGE 13, 134 (136); BSG Urt. v. 27.5.1971 – 3 RK 28/68, Rn. 9, BSGE 33, 9 (10); zuletzt BSG Urt. v. 28.9.2010 – B 1 KR 5/10 R, Rn. 11, NJW 2011, 1899 (1900); aus dem Schrifttum vgl. nur Waltermann, Sozialrecht, S. 91; Gitter, Sozialrecht, S. 72. 284 „Zweigliedriger Krankheitsbegriff“, vgl. Waltermann, in: Kreikebohm, Sozialrecht, § 27 SGB V, Rn. 2; kritisch zu dieser Aufspaltung vgl. Krasney, ZSR 1976, 411 (412 f.). 285 Zu weiteren Versicherungsfällen, wie Vorsorgeuntersuchungen etc. vgl. § 1 Abs. 2 MB/KK. 286 Vgl. Boetius, in: MüKo/VVG, Vor § 192 Einführung in die Krankenversicherung, Rn. 86. 287 Vgl. Staudinger, in: Bach/Moser, PKV, Teil A. Einl., Rn. 31.
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Hand des Versicherten selbst liegt, den Versicherungsfall auszulösen, sehen die Versicherer in der Regel bestimmte Wartezeiten nach Abschluss des Versicherungsvertrages vor, in denen der Versicherungsschutz noch nicht gilt. Sonst wäre es den Versicherten möglich, im Voraus einer geplanten Behandlung den passenden Versicherungsvertrag abzuschließen und es käme zu einer negativen Risikoselektion.288 c) Leistungsspektrum: gesetzlicher Leistungskatalog vs. privatautonome Tarifgestaltung Auch das von den Versicherern der beiden Systeme abgedeckte Leistungsspektrum unterscheidet sich. Die Leistungen der GKV sind umfassend im Dritten Kapitel des SGB V geregelt. Hier gilt ein einheitlicher, gesetzlich determinierter Leistungskatalog, d.h. der Umfang des Versicherungsschutzes ist für alle Versicherten der GKV einheitlich.289 Der einheitliche Leistungsumfang hängt untrennbar mit der Pflichtversicherung und dem Kontrahierungszwang in der GKV zusammen. Versicherte und Krankenkassen können nicht zu irgendeiner „Versicherung“ verpflichtet werden, sondern für sie muss klar erkennbar sein, für welche Leistungen die Pflicht besteht.290 Die gesetzlichen Krankenkassen gewähren Leistungen zur Verhütung, Früherkennung und Behandlung von Krankheiten (vgl. die Übersicht über die Leistungsarten in § 11 SGB V). Neben dem Vorliegen eines Versicherungsfalls und der Versicherteneigenschaft sieht das SGB V allgemeine Leistungsvoraussetzungen für den Anspruch auf GKV-Leistungen vor.291 Die Leistungen müssen zunächst dem Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 12 SGB V) genügen. Nach der Grundsatznorm des § 12 I 1 SGB V müssen die Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein. Sie dürfen nicht über das notwendige Maß hinausgehen.292 Die Norm ist Orientierungspunkt für die Lösung des Interessenkonflikts zwischen Versicherten, Leistungserbringern und Krankenkassen in einzelnen Behandlungsfällen.293 Darüber hinaus müssen sie dem Stand der medizinischen Erkenntnis entsprechen (§ 2 Abs. 1 S. 3 SGB V). Näheres regeln die Bestimmungen zu den einzelnen Leistungsarten. Konkretisiert wird der gesetzliche Leistungskatalog darüber hinaus durch die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses, der unter wesentlicher Beteiligung des 288 Vgl. ausführlich Boetius, in: MüKo/VVG, Vor § 192 Einführung in die Krankenversicherung, Rn. 86. 289 BSG Urt. v. 6.11.2008 – B 1 KR 6/08 R, Rn. 17, NZS 2009, 624 (626). 290 Boetius, in: MüKo/VVG, Vor § 192 Einführung in die Krankenversicherung, Rn. 29. 291 Fuchs, in: Fuchs/Preis, Sozialversicherungsrecht, § 20 I. 292 Vgl. zum Wirtschaftlichkeitsgebot etwa Waltermann, Sozialrecht, S. 89; Fuchs, in: Fuchs/Preis, Sozialversicherungsrecht, § 20 I 1; Gitter, Sozialrecht, S. 63; von Langsdorff, in: Sodan, Hdb. KVR, § 9. 293 Vgl. ausführlich zum Spannungsverhältnis zwischen den unterschiedlichen Interessen Fuchs, in: Fuchs/Preis, Sozialversicherungsrecht, § 20 I 1.
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Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen gebildet wird (§ 92 Abs. 1 SGB V).294 Die Richtlinien bestimmen, welche konkreten Leistungen der Versicherte beanspruchen und der Leistungserbringer verordnen bzw. erbringen darf.295 In der PKV richtet sich das von dem Versicherungsschutz umfasste Leistungsspektrum dagegen grundsätzlich nicht nach dem Gesetz, sondern nach dem vertraglich vereinbarten Versicherungsprodukt (sog. Tarif). Der Versicherungsnehmer kann daher in der Regel aus den angebotenen Tarifen einen Leistungsumfang wählen, der optimal auf seine individuellen Wünsche und finanziellen Möglichkeiten abgestimmt ist. Gesetzlich vorgegeben ist seit der Einführung der Pflicht zum Abschluss eines privaten Krankenversicherungsvertrags (§ 193 Abs. 3 S. 1 VVG) nur ein Mindestumfang, der eine Kostenerstattung für ambulante und stationäre Heilbehandlung vorsieht.296 Während das Leistungsspektrum, auf das der Privatversicherte Anspruch hat, wegen des Grundsatzes pacta sunt servanda grundsätzlich für die gesamte Vertragslaufzeit gleich bleibt,297 kann sich der Leistungskatalog in der GKV ändern. Er liegt in der Hand des Gesetzgebers und kann insbesondere auch „von finanzwirtschaftlichen Erwägungen mitbestimmt sein“.298
III. „Verschwimmende Grenzen“? – Konvergenz der Versicherungssysteme in der jüngeren Entwicklung? „Konvergent bis zur Selbstaufgabe“ titelte die Ärztepost299 im Frühjahr 2011 über die Entwicklungen in der PKV. In der rechtswissenschaftlichen Fachliteratur ist ebenfalls von „Konvergenz“ 300 oder von „verschwimmenden Grenzen“ 301 zwischen den Säulen des Gesundheitswesens die Rede. Damit ist jedoch nicht nur die von der Ärztepost beschriebene Annäherung der PKV in Richtung der GKV gemeint, sondern es seien sowohl privatversicherungsrechtliche Elemente 294
Waltermann, Sozialrecht, S. 93; Sodan, in: Sodan, Hdb. KVR, § 1, Rn. 28. Becker/Kingreen, Beck-Texte SGB V, Einführung, S. XI. 296 Vgl. Sodan, in: Sodan, Hdb. KVR, § 1, Rn. 31. 297 Der Versicherer ist nur unter den strengen Voraussetzungen des § 203 Abs. 3 VVG befugt, seine AVB und Tarifbestimmungen anzupassen, wenn sich die Verhältnisse im Gesundheitswesen verändern. 298 BSG Urt. v. 6.11.2008 – B 1 KR 6/08 R, Rn. 18, NZS 2009, 624 (626). 299 Maibach-Nagel, Ärztepost 2011, 5. 300 So Axer, MedR 2008, 482 (492); Sodan/Schaks, VSSR 2011, 289 (insb. 297 ff.); Seegmüller, VersR 1998, 1469 ff.; Isensee, NZS 2007, 449 (449); Kingreen, ZESAR 2007, 139 (148 f.): spricht von „Assimilation der Wettbewerbsbedingungen“; Mühlenbruch, in: Steuerungsinstrumente, Bd. 1, S. 37 (50 f.): „Annäherung“; Pitschas, GesR 2008, 64 (67) spricht von der Gesundheitsreform als „stufenweise angelegtes Entwicklungskonzept der Annäherung von gesetzlichen und privaten Krankenkassen i. S. eines solidarischen Kassenwettbewerbs“. 301 Axer, MedR 2008, 482 (492); Isensee, NZS 2007, 449 (449). 295
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in die GKV als auch sozialversicherungsrechtliche Charakteristika in die PKV eingeführt worden. Dies wird insbesondere an zwei Neuregelungen festgemacht, die mit der Gesundheitsreform 2007302 Einzug in das Recht des Gesundheitswesens gefunden haben: Einerseits den Wahltarifen gem. § 53 SGB V in der GKV und andererseits der Verpflichtung der privaten Krankenversicherer zum Angebot des sog. Basistarifs gem. § 12 Abs. 1a VAG: Wahltarife sind Satzungsrecht der Krankenkassen; § 53 SGB V gibt den Kassen das Recht diese in ihrer Satzung vorzusehen. Nur in bestimmten Fällen ist die Einführung obligatorisch.303 Wie der Begriff „Wahl“-Tarif ausdrückt, handelt es sich um Rechte und Pflichten, die nicht alle Versicherten einer Krankenkasse betreffen, sondern nur die, die ihr dahingehendes Gestaltungsrecht ausgeübt haben.304 Es besteht also grundsätzlich ein doppeltes Wahlrecht: Die Krankenkassen haben zunächst die Wahl, ob sie derartige Tarife anbieten und die Versicherten haben sodann die Wahl, ob sie von den Angeboten Gebrauch machen. Als derart flexible Elemente sind die Wahltarife Mittel zur Beitrags- und Leistungsdifferenzierung. Sie sollen den Krankenkassen die Möglichkeit geben, sich durch spezielle Angebote von anderen Krankenkassen abzugrenzen und so einen Wettbewerb der Kassen untereinander ermöglichen.305 Sie sind im Zusammenhang mit der Einführung der einheitlichen Beitragsfestsetzung durch Rechtsverordnung der Bundesregierung306 zu sehen. Hierdurch wurden Instrumente der Beitragsdifferenzierung erforderlich, um einen Preiswettbewerb unter den Krankenkassen aufrechtzuerhalten, der ansonsten nur noch über die Zusatzbeiträge gem. § 242 SGB V geführt werden könnte.307 Über den Wettbewerb unter den Krankenkassen hinaus sollen die Wahltarife aber auch die Wettbewerbsposition der GKV gegenüber der PKV stärken.308 Sie geben den Krankenkassen die Möglichkeit, ihr Angebot auch für junge und gesunde freiwillig Versicherte attraktiv zu gestalten, die sonst einen privaten Versicherungsschutz vorziehen würden.
302 Mit diesem Ausdruck werden zwei Reformgesetze aus dem Jahr 2007 bezeichnet: Das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-WSG) v. 26.3.2007, BGBl. I, S. 378 und das Gesetz zur Reform des Versicherungsvertragsrechts v. 23.11.2007, BGBl. I, S. 2631. 303 Eine Verpflichtung zur Aufnahme in die Satzung besteht nur hinsichtlich der Wahltarife gem. § 53 Abs. 3 S. 1 und Abs. 6 SGB V; vgl. nur Lang, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 53 Rn. 1; Thüsing, NZS 2008, 449 (449). 304 Vgl. Schlegel, in: Sodan, Hdb. KVR, § 11, Rn. 16 f. 305 Vgl. die Begründung zum GKV-WSG, BT-Drs. 16/3100, S. 108 f. 306 Vgl. § 241 SGB V i. d. F. von Art. 2 des GKV-WSG v. 26.3.2007, BGBl. I, 378; inzwischen ist der Beitragssatz in § 241 SGB V gesetzlich festgesetzt. 307 Schlegel, in: Sodan, Hdb. KVR, § 11, Rn. 11. 308 Dies wird in der Begründung zum GKV-WSG explizit nur für den Wahltarif gem. § 53 Abs. 4 SGB V geäußert (vgl. BT-Drs. 16/3100, S. 108 f., Nr. 33, Abs. 4), gilt aber wohl auch für die Wahltarife insgesamt, vgl. Lang, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 53 Rn. 1.
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Kap. 1: Die zwei Säulen des Gesundheitswesens
Die zweite Regelung ist der sog. Basistarif in der PKV: Er soll zu einer „gleichmäßigeren Lastenverteilung zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung“ führen309 und „dem der privaten Krankenversicherung zugewiesenen Personenkreis einen ausreichenden und bezahlbaren Krankenversicherungsschutz [. . .] gewährleisten.“ 310 § 12 Abs. 1a VAG verpflichtet alle privaten Krankenversicherungsunternehmen mit Sitz in Deutschland, welche die substitutive Krankenversicherung311 betreiben, zum Angebot eines brancheneinheitlichen Basistarifs. Die Leistungen im Basistarif müssen in Art, Umfang und Höhe den Regelleistungen der GKV entsprechen. Leistungsausschlüsse dürfen nicht vereinbart werden (§ 203 Abs. 1 S. 2 VVG). Die Prämien im Basistarif, die hier wie in der GKV als Beiträge bezeichnet werden, werden auf der Basis gemeinsamer Kalkulationsgrundlagen einheitlich für alle beteiligten Krankenversicherungsunternehmen ermittelt (§ 12 Abs. 4 b VAG). Bemessungsgrundlage für den Beitrag im Basistarif sind wie sonst auch in der PKV der Leistungsumfang und das Eintrittsalter312. Die Besonderheit zu den Normaltarifen in der PKV besteht jedoch darin, dass keine Risikoprüfungen vorgenommen und dementsprechend auch keine Risikozuschläge erhoben werden dürfen (§ 203 Abs. 1 S. 2, 3 VVG). Vorerkrankungen finden im Basistarif daher keine Berücksichtigung. Darüber hinaus ist die Beitragshöhe nach oben begrenzt, um die Bezahlbarkeit sicherzustellen313. Der Beitrag darf den durchschnittlichen Höchstbeitrag in der GKV nicht überschreiten (§ 12 Abs. 1c S. 1 VAG). Außerdem sieht § 12 Abs. 1c S. 4 vor, dass sich der Beitrag um die Hälfte verringert, wenn allein durch die Zahlung des Beitrags Hilfsbedürftigkeit im Sinne des SGB II oder des SGB XII entstehen würde. Spiegelbildlich zu der Versicherungspflicht der Bürger in der PKV gem. § 193 Abs. 3 VVG, unterliegen die PKV-Versicherer im Basistarif einem Kontrahierungszwang im Umfang des § 12 Abs. 1 b VAG. Darüber hinaus ist eine Kündigung des Versicherers ausgeschlossen (§ 206 Abs. 1 S. 1 VVG). Neben diesen beiden Kernregelungen können aber noch weitere Veränderungen im Recht des Gesundheitswesens für die Annäherung der Versicherungssysteme verantwortlich gemacht werden, so etwa die Zunahme von Instrumenten zur Preissteuerung im Recht der PKV. Außerdem wirken auch Vorgaben des europäischen Rechts auf das deutsche Gesundheitswesen ein und haben Auswirkungen auf systemtragende Prinzipien. Im Folgenden soll im Detail untersucht werden, in welchen Bereichen sich GKV und PKV auf einander zu bewegen.
309 310 311
BT-Drs. 16/3100, S. 95. BVerfG Urt. v. 10.6.2009 – 1 BvR 706/08 u. a., Rn. 172, BVerfGE 123, 186 (243). Übereinstimmend legaldefiniert in den §§ 12 Abs. 1 VAG und 195 Abs. 1 Satz 1
VVG. 312 Bisher war auch das Geschlecht ein bestimmender Faktor, der aber seit dem 21.12.2012 bei der Tarifierung keine Rolle mehr spielen darf; s. sogleich. 313 BT-Drs. 16/3100, S. 207.
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1. Annäherung der Beitragsbemessungsgrundlagen Angenähert haben sich in erster Linie die Beitragsbemessungsgrundlagen: In der GKV hat das Risiko des Versicherten zunehmenden Einfluss auf den Beitrag und in der Privatversicherung wird das Äquivalenzprinzip durch solidarische Elemente überformt. Dies bewirken einerseits die Einführung einzelner Wahltarife und des Basistarifs, andererseits die europäischen Vorgaben, die auf die Beitragsgestaltung in der Privatversicherung einwirken. a) Risikoäquivalenz in der GKV durch Wahltarife gem. § 53 Abs. 1 und 2 SGB V Die Wahltarife nach § 53 SGB V werden als „privatversicherungsrechtliche Elemente in der GKV“ bezeichnet.314 Über die sehr allgemeine Feststellung, dass Wahltarife als Mittel der differenzierten Tarifgestaltung originär privatversicherungsrechtliche Instrumentarien sind315, hinaus, soll im Einzelnen untersucht werden, in wie fern durch diese das Solidarprinzip in der GKV durchbrochen wird und eine Annäherung an das Äquivalenzprinzip der PKV stattfindet. Hierbei muss zwischen den einzelnen Wahltarifen differenziert werden: Die Wahltarife des § 53 Abs. 4, 5 und 6 SGB V etwa haben in erster Linie eine Leistungserweiterung zum Inhalt. Der Versicherte hat die Möglichkeit ein Mehr an Leistung zu wählen (Kostenerstattung, Übernahme der Kosten für Arzneimittel der besonderen Therapieeinrichtungen oder Krankengeld) und hat dafür eine bestimmte Prämie zu zahlen. Hier orientiert sich die Höhe der zusätzlichen Prämie zwar an der zusätzlichen Versicherungsleistung und insofern am Äquivalenzprinzip, der allgemeine Versicherungsschutz der GKV mit der Beitragsberechnung nach dem Solidarprinzip bleibt jedoch unverändert. Anders ausgedrückt handelt es sich bei diesen Tarifen also nur um Zusatzangebote, die den „Sockel“ unberührt lassen. Auch der Wahltarif nach § 53 Abs. 3 SGB V hat in erster Linie eine Modifikation der Versicherungsleistung zum Inhalt: Versicherte, die an besonderen Versorgungsprogrammen teilnehmen, erhalten eine Belohnung in Form einer Prämie. Faktische Auswirkungen auf das horizontale Solidarprinzip – also den Ausgleich zwischen Einkommensstarken und -schwachen – haben dagegen die Wahltarife nach § 53 Abs. 1 und 2 SGB V.316 Vorläufer dieser Tarife waren der Selbstbehalt und die Beitragsrückerstattung nach §§ 53 f. SGB V a. F., die jedoch nur für freiwillig Versicherte (§ 9 SGB V) und deren nach § 10 SGB V familienversicherte Angehörige galten. Sie verstärken in erheblichem Maße einen Effekt, 314 315 316
Siehe etwa Schnapp, in: Vertragsarztrecht, S. 835 (836 f.). So etwa Henle, in: Kruse/Hänlein, LPK-SGB V, § 53 Rn. 3. Dazu auch Thüsing, NZS 2008, 449 (454).
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Kap. 1: Die zwei Säulen des Gesundheitswesens
den bereits seit langem die Zuzahlungen gem. § 61 SGB V zu einzelnen in Anspruch genommenen Leistungen sowie die Festbeträge (etwa für Arznei- und Hilfsmittel, §§ 35, 36 SGB V) bewirken.317 Sie machen die Gesundheitsausgaben des Versicherten in gewissem Umfang von der Leistungsinanspruchnahme und damit indirekt vom Krankheitsrisiko abhängig. Wählt ein Mitglied den Selbstbehalttarif nach § 53 Abs. 1 SGB V, so verpflichtet es sich, einen Teil der in einem Jahr anfallenden Kosten, die sonst von der Krankenkasse zu tragen und in Form von Sachleistungen zu gewähren wären, selbst zu finanzieren (S. 1). Im Gegenzug erhält er von der Krankenkasse eine Prämie ausgezahlt (S. 2). Schon der Begriff „Selbstbehalt“ ist dem Privatversicherungsrecht entlehnt. Er ist dort mit dem Kostenerstattungsprinzip verbunden und bedeutet, dass ein Teil der durch den Versicherungsfall entstehenden Kosten nicht erstattet, sondern „selbst behalten“ wird.318 Im Rahmen des GKV-WSG hat der Gesetzgeber den Selbstbehalt in der GKV von der Kostenerstattung entkoppelt und ihn auch für vereinbar mit dem Sachleistungsprinzip erklärt.319 Der Versicherte erhält weiterhin Sachleistungen seiner Krankenkasse, verpflichtet sich jedoch dazu, die Kosten hierfür bis zu einem bestimmten Betrag selbst zu übernehmen.320 Durch den Selbstbehalt wird das Krankheitsrisiko teilweise aus dem Versicherungsschutz ausgenommen und auf den Versicherten selbst übertragen.321 Attraktiv ist die Wahl eines solchen Tarifs daher nur für Versicherte mit einer geringen Krankheitswahrscheinlichkeit innerhalb des anstehenden Kalenderjahres und damit in der Regel auch nur für jüngere Versicherte. Für sie reduziert sich durch die Prämie faktisch der Krankenversicherungsbeitrag ohne das (erhebliche) zusätzliche Kosten zu erwarten sind. Für Versicherte mit hohem aktuellem Krankheitsrisiko führt der Selbstbehalt dagegen zu einer finanziellen Mehrbelastung und wird daher von diesen nicht gewählt. Faktisch bewirkt der Wahltarif nach § 53 Abs. 1 SGB V somit, dass sich die sog. „guten Risiken“ in gewissem Umfang dem Solidarausgleich entziehen können: Die Beitragsbelastung sinkt bei geringem Risiko.322 Die rechtssystematische Konstruktion ist zwar eine andere: Bei der Prämie, die das Kassenmitglied für die Wahl des Selbstbehalts erhält, handelt es sich rechtlich gesehen nicht um eine Reduzierung oder Rückerstattung des Krankenversi317 Auf die Durchbrechung des Solidarprinzips durch Zuzahlungen und Festbeträge weist bereits Seegmüller hin, in: VersR 1998, 1469 (1472); ebenso für Zuzahlungen Kingreen, ZESAR 2007, 139 (144). 318 Vgl. Schlegel, in: Sodan, Hdb. KVR, § 11, Rn. 25. 319 Vgl. BT-Drs. 16/3100, S. 108. 320 Vgl. zur Funktionsweise: Henle, in: Kruse/Hänlein, LPK-SGB V, § 53, Rn. 13; Dreher, in: jurisPK-SGB V, § 53, Rn. 32 ff.; Hohnholz, in: Hauck/Noftz, SGB V § 53, Rn. 20 f. 321 Kingreen, ZESAR 2007, 139 (144). 322 Kingreen, ZESAR 2007, 139 (143 f.).
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cherungsbeitrags, sondern um eine Modifikation der Versicherungsleistung. Statt der Sachleistung im Bedarfsfall erhält der Versicherte eine vom Versicherungsfall unabhängige pauschale Zahlung. Dies ändert jedoch nichts daran, dass sie sich faktisch als Beitragsermäßigung auswirkt und so zu einer geringeren finanziellen Belastung „guter Risiken“ führt. Die Belastung der Solidargemeinschaft erhöht sich zusätzlich dadurch, dass der Versicherte im Alter bei steigendem Krankheitsrisiko wieder zurück aus dem Wahltarif raus wechseln kann und dann der Solidargemeinschaft zur Last fällt.323 Der Selbstbehalt schwächt also insbesondere die Umverteilung in der Sozialversicherung zwischen Gesunden und Kranken, sowie Jungen und Alten. In ihrer konkreten Ausgestaltung ist die gesetzliche Regelung zum Selbstbehalt aber auch zur Schwächung einer weiteren Umverteilungskomponente geeignet, nämlich dem sozialen Ausgleich zwischen Besser- und Schlechterverdienenden:324 Das Gesetz macht genaue Vorgaben nämlich nur hinsichtlich der Prämien, nicht hingegen hinsichtlich der Selbstbehalte. Diese sind vielmehr der Satzungsautonomie der Krankenkassen überantwortet. § 53 Abs. 8 S. 4 SGB V bestimmt, dass die Prämienhöhe bis zu einer bestimmten Maximalgrenze (600 bzw. 900 A) von der Beitragshöhe des Versicherten abhängig ist. Sie richtet sich daher nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Versicherten. Hinsichtlich der Höhe des Selbstbehaltsbetrags im Kalenderjahr ist es dagegen den Krankenkassen überlassen, ob sie parallel zur Prämienhöhe eine Staffelung der Selbstbehalte vornehmen oder ob sie diese gar nicht oder nur gering staffeln. In letzterem Fall würde die Wahl des Selbstbehaltstarifes für einkommensschwache Versicherte bedeuten, dass ein verhältnismäßig hoher Selbstbehalt einer niedrigen Prämie gegenüberstünde. Für Besserverdienende wäre der Selbstbehalt dagegen gering und die Prämie hoch, so dass der Wahltarif sich für sie als lohnenswert darstellte. Die Krankenkassen können – je nach Ausgestaltung des Wahltarifs in der Satzung – folglich besondere Anreize für Besserverdienende schaffen und so auch auf die Umverteilung zwischen Leistungsstarken und -schwachen Einfluss nehmen.325 Eine ähnliche Wirkung wie der Selbstbehalt-Tarif hat der Wahltarif nach § 53 Abs. 2 SGB V. Bei der Wahl dieses Tarifs erhalten Mitglieder eine Prämie dafür, dass sie und ihre familienversicherten Angehörigen innerhalb eines Kalenderjahres keine Regelleistungen der Krankenkasse in Anspruch genommen haben.326 Der Gesetzgeber hat sich bewusst gegen die Benennung dieses Wahltarifs als 323 Sodan/Schaks, VSSR 2011, 289 (304); Kingreen, ZESAR 2007, 139 (144); Rolfs, Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 95; Sahmer, NZS 1997, 260 (265 f.). 324 Kingreen, ZESAR 2007, 139 (144). 325 Kingreen, ZESAR 2007, 139 (144). 326 Bestimmte Leistungen bleiben dabei jedoch unberücksichtigt, vgl. § 53 Abs. 2 S. 3 SGB V.
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„Beitragsrückerstattung“ entschieden, da dies rechtlich nicht die korrekte Bezeichnung ist: Da die Krankenkasse nämlich selbst keine Beiträge der Mitglieder erhält, sondern nur Mittelzuweisungen aus dem Gesundheitsfonds, kann sie keine Beiträge zurück erstatten.327 Faktisch hat die Prämie jedoch die gleiche Wirkung wie eine Beitragsrückerstattung und damit eine Reduzierung des Beitrags. Wie bei dem Wahltarif nach § 53 Abs. 1 SGB V haben „gute Risiken“ dadurch faktisch die Möglichkeit, ihren Beitrag trotz gleich bleibenden Erwerbseinkommens zu verringern und sich so dem Solidarausgleich in gewissem Umfang zu entziehen. Als weitere Umverteilungskomponente wird der Ausgleich zwischen Alleinstehenden und Familien geschwächt:328 Dadurch dass die Zahlung der Prämie gem. § 53 Abs. 2 S. 1 SGB V voraussetzt, dass das Mitglied und seine nach § 10 SGB V mitversicherten Familienangehörigen in dem betreffenden Kalenderjahr keine Leistungen der Krankenkasse in Anspruch nehmen, haben Alleinstehende einen Vorteil. Für sie ist es deutlich wahrscheinlicher die Prämie zu erhalten. Bei einer Familie ist die Wahrscheinlichkeit dagegen hoch, dass zumindest einer in dem maßgeblichen Zeitraum erkrankt. Das horizontale Solidarprinzip wird durch die Wahltarife nach § 53 Abs. 1 und 2 SGB V also in vielfältiger Weise geschwächt, während – zwar nicht im rechtlichen Sinne aber doch faktisch – die Individualäquivalenz Einzug in das System der GKV erhält.329 Dies führt zu einer inkonsequenten Vermischung der konträren Beitragsbemessungssysteme in der GKV: Anders als in der PKV gilt die Individualäquivalenz hier nicht stringent über das gesamte Versicherungsverhältnis hinweg, sondern nur im Umfang des Wahltarifs und nur mit ihren für den Versicherten im Wahltarif positiven Wirkungen, d.h. soweit sie den regulären Krankenversicherungsbeitrag verringert. Eine Beitragssteigerung bei zunehmendem Alter und zunehmendem Krankheitsrisiko, die hierzu konsequent wäre, gibt es dagegen nicht. Vielmehr kann der gesetzlich Versicherte in höherem Alter bequem wieder in den „Normaltarif“ wechseln und dann sein erhöhtes Risiko auf die Solidargemeinschaft abwälzen, zu der er in jungen Jahren weniger als erforderlich beigetragen hat.330 Stellt man also auf die verstärkte Bedeutung des Äquivalenzprinzips in der GKV ab, so kann man durchaus von einer „Annäherung an die Finanzierung der PKV“ sprechen. M. E. ruft diese Bezeichnung aber einen falschen Eindruck hervor: Genau genommen bewirken die Wahltarife nämlich keine Annäherung an die Finanzierung der PKV, sondern eine Erosion jeglichen
327
BT-Drs. 16/3100, S. 108. Kingreen, ZESAR 2007, 139 (145). 329 Sodan/Schaks, VSSR 2011, 289 (304). 330 Vgl. auch Sodan/Schaks, VSSR 2011, 289 (304); Kingreen, ZESAR 2007, 139 (144); Rolfs, Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 95; Sahmer, NZS 1997, 260 (265 f.). 328
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Systems. Weder gilt systematisch das Solidar- noch das Äquivalenzprinzip, sondern beide Typen werden unsystematisch miteinander vermischt. b) Solidarausgleich in der PKV durch die Verpflichtung zu Basistarif und Unisex-Tarifen Umgekehrt lassen sich in der PKV in der jüngeren Entwicklung verstärkt Durchbrechungen des Äquivalenzprinzips und Elemente des sozialen Ausgleichs ausmachen, die zu einer „Annäherung“ in umgekehrter Richtung führen. aa) Der Basistarif Durch die gesetzlich vorgegebenen Rahmenbedingungen des Basistarifs werden in vielfältiger Weise die privatversicherungsrechtlichen Grundsätze der Individualäquivalenz durchbrochen: Zunächst beeinträchtigt § 203 Abs. 1 S. 2 VVG das Äquivalenzprinzip, indem er Risikozuschläge und Leistungsausschlüsse verbietet. Das Äquivalenzprinzip bezeichnet das angemessene Verhältnis von Leistung und Gegenleistung.331 Bezogen auf die Versicherung bezeichnet es die Angemessenheit der Prämie im Verhältnis zum versicherten Risiko. Dieses Verhältnis kann aber gar nicht hergestellt werden, wenn schon die Ermittlung des Risikos nicht gestattet ist und ein erhöhtes Risiko keine Erhöhung der Prämie bzw. Reduzierung des Leistungsumfangs zur Folge haben darf. Darüber hinaus ist der Beitrag im Basistarif nach oben hin gekappt. Er darf den durchschnittlichen GKV-Höchstbeitrag nicht überschreiten (§ 12 Abs. 1c S. 1 VAG). Auch dadurch wird eine risikoäquivalente Beitragserhebung verhindert. U. U. anfallende Mehrkosten, die daraus entstehen, dass die Leistungen den Beitragshöchstbetrag übersteigen, müssen auf andere Weise als durch den Beitrag finanziert werden. Verschärft werden diese Durchbrechung des Äquivalenzprinzips und das Bedürfnis einer anderweitigen Finanzierung der Versicherungsleistungen durch die hälftige Reduzierung der Prämie bei Hilfsbedürftigkeit gem. § 12 Abs. 1c S. 4 VAG. Auch auf die Normaltarife hat die Beitragshöchstgrenze im Basistarif Auswirkungen: Der Basistarif ist insbesondere für solche Versicherten attraktiv, die aufgrund von Vorerkrankungen oder hohem Lebensalter ein erhöhtes Risiko aufweisen und daher in den Normaltarifen der PKV nicht oder nur gegen eine sehr hohe Prämie versichert würden.332 Im Basistarif muss ihnen Versicherungsschutz gewährt werden und der Beitrag darf eine Höchstgrenze nicht überschreiten. Die Ansammlung schlechter Risiken im Basistarif verbunden mit der Kappung des Beitrags führt zu Mehrkosten, die im Ergebnis durch die übrigen in der PKV 331 332
Looschelders, in: MüKo VVG, § 1, Rn. 99. Vgl. Brand, VersR 2011, 1337 (1340).
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Vollversicherten getragen werden müssen (vgl. § 8 Abs. 1 Nr. 6 KalV i.V. m. § 12 g S. 3, 2. HS. VAG). Die Prämien der Versicherten in den Normaltarifen erhöhen sich somit um einen risikounabhängigen Zuschlag und sind daher im Verhältnis zum versicherten Risiko nicht angemessen, sondern zu hoch, da sie Fremdkosten mitabdecken.333 Spiegelbildlich geht mit dieser Entfernung vom Äquivalenzprinzip eine Stärkung sozialer Ausgleichselemente in der PKV einher. Die Krankenversicherungsunternehmen sind gem. § 12g VAG verpflichtet, ein Ausgleichssystem zu schaffen und zu unterhalten, um eine gleichmäßige Verteilung der durch den Basistarif entstehenden Belastungen zu gewährleisten. Die Mehrkosten, die durch die Rahmenbedingungen im Basistarif entstehen, werden auf zweifache Weise auf die Versicherten umgelegt: Mehraufwendungen, die im Basistarif aufgrund von Vorerkrankungen entstehen, sind auf alle im Basistarif Versicherten gleichmäßig zu verteilen (§ 12 g Abs. 1 S. 3, 1. HS. VAG). Sie erhöhen den Beitrag zum Basistarif um einen Zuschlag gem. § 8 Abs. 1 Nr. 7 KalV. Mehraufwendungen, die aus der Begrenzung der maximalen Beitragshöhe resultieren, sind dagegen auf alle Vollversicherten in der PKV umzulegen (§ 12 g Abs. 1 S. 3, 2. HS. VAG i.V. m. § 8 Abs. 1 Nr. 6 KalV). Sie finanzieren durch ihren Beitrag so nicht nur ihren eigenen Versicherungsschutz, sondern auch den der Versicherten im Basistarif aller PKV-Versicherer mit. Es wird eine Solidarität unter den Versicherten geschaffen, die über die einer Versicherungsgemeinschaft innewohnenden Solidarität hinaus geht und die originär der Sozialversicherung eigen ist. In der Literatur wird insoweit von einem „systemwidrigen Zwang zur Solidarität“ 334 gesprochen. bb) Das Verbot geschlechtsspezifischer Tarife Einfluss auf die Beitragsbemessung in der PKV nimmt nicht nur der deutsche Gesetzgeber im Rahmen seiner „Gesundheitsreformen“. Auch das europäische Recht macht den privaten Krankenversicherungen Vorgaben für die Tarifgestaltung und trägt so ebenfalls zu dem sich vollziehenden Annäherungsprozess der Versicherungssysteme bei: So hat das Grundsatzurteil des EuGH in der Rechtssache Test Achats335 vom 1.3.2011 eine weitere Schwächung des Äquivalenzprinzips zur Folge. Im Rahmen dieses Vorabentscheidungsverfahrens erklärte der EuGH Art. 5 Abs. 2 der RL 2004/113/EG („Gender-Richtlinie“) für unionsrechtswidrig. Die Bestimmung beinhaltet eine Öffnungsklausel, d.h. sie gibt den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, entgegen dem Verbot geschlechtsspezifischer Tarifierung nach 333
Brand, VersR 2011, 1337 (1341). Brand, VersR 2011, 1337 (1341); ähnlich: Sodan/Schaks, VSSR 2011, 289 (300), die von „Zwangssolidarität“ sprechen. 335 EuGH, Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09, VersR 2011, 377. 334
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Art. 5 Abs. 1 „proportionale Unterschiede zwischen Männern und Frauen bei den Prämien und Leistungen dann zuzulassen, wenn die Berücksichtigung des Geschlechts bei einer auf relevanten und genauen versicherungsmathematischen und statistischen Daten beruhenden Risikobewertung ein bestimmender Faktor ist.“ Nach Auffassung des Gerichts stünde die zeitlich unbegrenzte336 Öffnungsklausel dem Gleichbehandlungsziel der Gender-Richtlinie entgegen und verstoße gegen Art. 21 (Nichtdiskriminierung) und Art. 23 (Gleichheit von Männern und Frauen) der Grundrechte-Charta und somit gegen das europäische Primärrecht337. Mit dem Ende der Übergangszeit von fünf Jahren nach Ablauf der Umsetzungsfrist für die Richtlinie (21.12.2007) ist Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie daher mit Wirkung zum 21.12.2012 ungültig geworden. Mit der Unwirksamkeit des Art. 5 Abs. 2 RL 2004/113/EG sind auch die auf ihm beruhenden deutschen Bestimmungen richtlinienwidrig geworden. Neben § 20 Abs. 2 S. 1 AGG, der die Formulierung des Art. 5 Abs. 2 der RL übernommen und geschlechtsspezifische Tarifierung im Versicherungswesen ermöglicht hat, ist dies speziell für die PKV der § 12 Abs. 1 Nr. 1 VAG, der die Tarifierung nach dem Geschlecht sogar ausdrücklich anordnet. Seit dem 21.12.2012 sind diese Vorschriften jedenfalls unanwendbar. An der Rechtsprechung des EuGH ist im Schrifttum zahlreich Kritik geübt worden.338 Hervorgehoben wird insbesondere, dass der EuGH zu pauschal von einer unzulässigen Ungleichbehandlung ausgehe. Es werde nicht auf eine mögliche Rechtfertigung der Geschlechterdifferenzierung nach Art. 5 Abs. 2 RL 2004/ 113/EG eingegangen,339 obwohl die Art. 21, 23 EuGRC nach der Rechtsprechung des EuGH keine absoluten Verbote darstellten.340 Darüber hinaus wird dem Gericht vorgeworfen, es hätte auf konkurrierende Grundrechte der Versicherer sowie derjenigen Versicherten eingehen müssen, welche nun aufgrund der fehlenden Differenzierung stärker belastet würden.341 Schließlich wird auch kritisch angemerkt, hier werde auf gerichtlichem Wege ein Zustand herbeigeführt, der zuvor auf politischem Wege nicht durchsetzbar war.342 Das Verbot des Art. 5 336 Der EuGH begründet die Europarechtswidrigkeit der Öffnungsklausel in erster Linie mit ihrer zeitlich unbegrenzten Wirkung, die zeitlich unbegrenzte Ausnahmen vom Ziel der Richtlinie zulasse, vgl. dazu eingehend Armbrüster, LMK 2011, 315339. 337 Nach Art. 6 Abs. 1 UA 1 EUV steht die Grundrechte-Charta gleichrangig neben den Verträgen. 338 Siehe nur Thüsing, in: MüKo BGB, § 20 AGG, Rn. 69 ff., insb. 72; Looschelders, VersR 2011, 421 (425 ff.); Lüttringhaus, EuZW 2011, 296 (297 ff.); Mönnich, VersR 2011, 1092 (1094 ff.); Rolfs/Binz, VersR 2011, 714 (715 ff.); vgl. auch die Darstellung zu den Reaktionen auf das Urteil bei Brand, VersR 2011, 1337 (1339). 339 Looschelders, VersR 2011, 421 (425 f.); Thüsing, in: MüKo BGB, § 20 AGG, Rn. 70 f.; Lüttringhaus, EuZW 2011, 296 (298). 340 Lüttringhaus, EuZW 2011, 296 (298). 341 Looschelders, VersR 2011, 421 (426); Lüttringhaus, EuZW 2011, 296 (298). 342 Looschelders, VersR 2011, 421 (427).
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Abs. 1 der Gender-Richtlinie sei in untrennbarem Zusammenhang mit der Öffnungsklausel nach Abs. 2 zu sehen. Zusammen stellten sie einen politischen Kompromiss da, so dass Abs. 1 nicht isoliert stehen gelassen werden könne.343 Unabhängig von der Frage nach der Richtigkeit dieser Entscheidung ist sie verbindlich344 und bringt daher tiefgreifende Folgen für die Versicherungswirtschaft mit sich: Der EuGH hat einem in der Praxis maßgeblichen Differenzierungskriterium für die Tarifierung privater Krankenversicherungsverträge eine Absage erteilt. Das Geschlecht darf künftig jedenfalls in Neuverträgen nicht mehr als Risikomerkmal herangezogen werden.345 Die private Krankenversicherungsbranche wird sich hierauf einrichten und ihre Tarifierungspraxis grundlegend ändern müssen. Zwar erwartet der PKV-Verband insgesamt keine gravierenden Änderungen der Beiträge durch die Einführung von Unisex-Tarifen. Da in der PKV mit 60% deutlich mehr Männer versichert seien, würden die durch die Beitragssenkungen der Frauen entstehenden Mehrkosten auf viele Schultern verteilt und wirkten sich daher nicht gravierend aus.346 Dies ist jedoch nur Folge der aktuellen Versichertenstruktur. Die Folgen für das Berechnungsprinzip der Individualäquivalenz sind dagegen erheblich. Derzeit orientieren sich die Prämien in der PKV in erster Linie an den Faktoren Geschlecht und Alter.347 Das Risiko von Frauen ist u. a. aufgrund der höheren Lebenserwartung348 signifikant höher, was zu höheren Prämien führt.349 Ist der Berechnungsfaktor Geschlecht nun ausgeschlossen, müssen andere aussagekräftige Kalkulationskriterien gefunden werden, um die Prämien weiterhin risikoadäquat gestalten zu können. Generalanwältin Juliane Kokott hatte insoweit Merkmale wie den ausgeübten Beruf, die Ernährungsgewohnheiten, das familiäre und soziale Umfeld und die sportliche Betätigung vorgeschlagen.350 Da durch derartige Differenzierungen aber neue ungerechtfertigte Un343
Looschelders, VersR 2011, 421 (427). Zu möglichen Rechtsschutzmitteln der Versicherer vgl. Looschelders, VersR 2011, 421 (428). 345 Welche Auswirkungen die Entscheidung auf Altverträge hat, lässt sich ihr nicht eindeutig entnehmen und wird im Schrifttum unterschiedlich beurteilt. Eine Anpassung hält Thüsing für erforderlich, in: MüKo BGB, §20 AGG, Rn. 72; ebenso wohl auch Lüttringhaus, EuZW 2011, 296 (299 f.); a. A.: Armbrüster, LMK 2011, 315339; Looschelders, VersR 2011, 421 (428); Rolfs/Binz, VersR 2011, 714 (715); Mönnich, VersR 2011, 1092 (1097). 346 PKV-Publik 2/2011, S. 12 (13); s. auch Mönnich, VersR 2011, 1092 (1101 f.). 347 PKV-Publik, 9/2010, S. 10 (10). 348 Danach haben Frauen eine 4–5 1/2 Jahre längere Lebenserwartung als gleichaltrige Männer, s. die Modellrechnungen zu Generationensterbetafeln, Statistisches Bundesamt Deutschland (http://www.destatis.de). 349 PKV-Publik, 9/2010, S. 10 (10). 350 GA Kokott, Schlussanträge v. 30.9.2010 – Rs. C-236/09, Tz. 62, VersR 2010, 1571 (1576). 344
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gleichbehandlungen sowie die Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts drohen und die genannten Faktoren überdies weniger verlässlich und ständig veränderbar sind, können diese das Geschlecht als Kalkulationsgrundlage nicht in gleicher Weise ersetzen.351 Es wird daher zukünftig auch in der PKV zu einem stärkeren solidarischen Ausgleich zwischen Männern und Frauen sowie guten und schlechten Risiken kommen. 2. Keine echte Annäherung an das Kapitaldeckungsverfahren durch Rücklagenbildung in der GKV Während die PKV Altersrückstellungen bildet, werden in der GKV die Beitragseinnahmen grundsätzlich vollständig zur Deckung der laufenden Ausgaben des Jahres verwendet. Seit der Einführung des Gesundheitsfonds wird jedoch gem. § 271 Abs. 2 SGB V auch in der GKV eine Liquiditätsreserve gebildet. Eine echte Annäherung an das Kapitaldeckungsverfahren in der PKV bewirkt diese Rücklage jedoch nicht.352 Erstens ist die begrenzte Rücklagenbildung in der GKV nichts Neues: Auch die einzelnen Kassen haben Reserven zur Sicherstellung ihrer Leistungsfähigkeit zu bilden (§ 261 Abs. 1 SGB V). Zweitens dient sie in erster Linie dem Ausgleich unterjähriger Schwankungen353: Die Beitragseinnahmen der GKV sind über das Jahr ungleichmäßig, da sie einkommensabhängig sind und damit auch etwa von tariflichen Einmalzahlungen abhängen.354 Die Zuweisungen des Fonds an die Kassen sind dagegen gleichmäßig nach den §§ 266, 270 SGB V zu leisten.355 Um den Krankenkassen die ihnen zustehenden Zuweisungen auch in den ersten einkommensschwachen Monaten des Jahres zukommen zu lassen, müssen Mittel vorgestreckt werden, die zunächst aus der Liquiditätsreserve finanziert und später durch die höheren Monatseinnahmen ausgeglichen werden.356 Da die Liquiditätsreserve somit in erster Linie dazu dient, die Funktionsfähigkeit des Umlageverfahrens, das auf den Bemessungszeitraum eines Kalenderjahres festgelegt ist, zu gewährleisten, kann nicht von einer Annäherung an eine Kapitaldeckung gesprochen werden. 3. Art und Umfang der Leistungen Angenähert haben sich aber ferner die Bestimmungen zu Art und Umfang der Leistungen in GKV und PKV. In der GKV gilt das Sachleistungsprinzip nicht 351
Brand, VersR 2011, 1337 (1339 f.). Von einer jedenfalls geringfügigen Annäherung gehen Sodan/Schaks, VSSR 2011, 289 (309) aus. 353 A. Becker, in: jurisPK-SGB V, § 271, Rn. 11; Göpffarth, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 271, Rn. 14. 354 Göpffarth, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 271, Rn. 14. 355 Göpffarth, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 271, Rn. 14. 356 Göpffarth, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 271, Rn. 14. 352
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Kap. 1: Die zwei Säulen des Gesundheitswesens
mehr uneingeschränkt: Gem. § 13 Abs. 2 SGB V können alle Versicherten alternativ zur Sachleistung eine Kostenerstattung wählen. 1993357 wurde dies zunächst für freiwillig Versicherte eingeführt und 1997358 auf alle Versicherten ausgeweitet. Zusätzlich besteht seit dem GKV-WSG ein Wahltarif Kostenerstattung gem. § 53 Abs. 4 SGB V. Dieser Tarif hat keine Ausweitung des Leistungskatalogs zur Folge, wie das Bundesversicherungsamt klarstellte359. Auch bleibt der Versicherte auf die Vertragsleistungserbringer seiner Krankenkasse beschränkt. Von § 13 Abs. 2 SGB V unterscheidet sich der Wahltarif aber in der Höhe der Kostenerstattung für die in Anspruch genommene Leistung: Während nach § 13 Abs. 2 SGB V wegen der gesetzlichen Abschläge keine 100%ige Erstattung erfolgt, ermöglicht der Wahltarif dies gegen eine Prämie.360 Den Umfang des Leistungskatalogs betreffend ermöglichen die Wahltarife ebenfalls mehr Spielraum zur präferenzgerechten Tarifgestaltung: Durch § 53 Abs. 1 und 2 SGB V kann der Leistungskatalog gegen eine faktische „Beitragsreduzierung“ eingeschränkt werden. Wünscht der Versicherte dagegen etwa eine Versicherung auch für Arzneimittel der Homöopathie sowie der Anthroposophie oder nicht verschreibungspflichtiger Medikamente kann er über § 53 Abs. 5 SGB V gegen eine zusätzliche Prämie seinen Versicherungsschutz hierauf erweitern. Gem. § 53 Abs. 3 S. 1 SGB V können Versicherte an besonderen Versorgungsformen, wie der integrierten Versorgung (§§ 140a ff. SGB V) oder strukturierten Behandlungsprogrammen (§§ 137f, 137g SGB V) teilnehmen und dafür u. U. eine Prämie erhalten (§ 53 Abs. 3 S. 2 SGB V). Entsprechende Tarife müssen die Krankenkassen in ihrer Satzung vorsehen. Auch hierdurch erhalten Versicherte mehr Möglichkeiten zur autonomen Gestaltung des Versicherungsverhältnisses und zur Einflussnahme auf das Leistungsprogramm.361 § 11 Abs. 6 SGB V362 sieht überdies die Möglichkeit satzungsmäßiger Zusatzangebote der Krankenkassen vor. Dadurch kann der Leistungskatalog innerhalb der GKV in den unterschiedlichen Krankenkassen variieren. Satzungsleistungen nach dieser Vorschrift können anders als die Wahltarife aber nicht von den Versicherten gewählt werden, sondern gelten für alle Versicherten einer Krankenkasse.363 Durch einen Wechsel der Kasse kann so 357 Durch das Gesetz zur Sicherung und Strukturverbesserung der gesetzlichen Krankenversicherung (GSG) v. 21.12.1992, BGBl. I S. 2266, in Kraft getreten am 1.1.1993. 358 Durch das Zweite Gesetz zur Neuordnung von Selbstverwaltung und Eigenverantwortung in der gesetzlichen Krankenversicherung (2. GKV-NOG) v. 23.6.1997, BGBl. I S. 1520, in Kraft getreten am 1.7.1997. 359 Bundesversicherungsamt Schreiben v. 13.3.2007 (AZ. II 1 – 4927.6-3709/2006, 5); s. auch Lang, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 53, Rn. 17. 360 Dreher, in: jurisPK-SGB V, § 53, Rn. 94 ff. 361 Sodan/Schaks, VSSR 2011, 289 (305 ff., insb. 307). 362 Eingeführt durch das Gesetz zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-VStG) v. 22.12.2011 mit Wirkung zum 1.1. 2012. 363 Siehe ausf. zu den Zusatzangeboten Becker/Kingreen, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 11, Rn. 37 ff.
B. Charakteristika der zwei Säulen
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ebenfalls auf den Leistungsumfang Einfluss genommen werden. Der Leistungskatalog der GKV erweist sich mithin nicht mehr als starr gesetzlich vorgegeben. Umgekehrt entspricht der Leistungskatalog der PKV im Basistarif dem der GKV (§ 12 Abs. 1a S. 1 VAG) und obliegt damit nicht der Tarifgestaltungsfreiheit der Vertragsparteien. Auch gilt hier nicht das Prinzip der Kostenerstattung, nach dem der Versicherte selbst einen Leistungserbringer auswählt und sich die Kosten nachträglich erstatten lässt, sondern der Sicherstellungsauftrag für den Basistarif ist den kassenärztlichen Vereinigungen und den kassenärztlichen Bundesvereinigungen übertragen (§ 75 Abs. 3a S. 1 SGB V).364 Aber die Annäherung der PKV an die GKV im Leistungsbereich reicht über den Basistarif hinaus. In der Begründung zum Entwurf des Gesetzes zur Reform des Versicherungsvertragsrechts, das am 1.1.2008 in Kraft trat, heißt es: „Das Leitbild der PKV kann zukünftig nicht nur auf die reine Kostenerstattung begrenzt werden, sondern muss den Rahmen für neue Formen und Methoden zur wirksamen Kostensteuerung bei gleichzeitigem Erhalt bzw. Steigerung der medizinischen Behandlungsqualität öffnen.“ 365 § 192 Abs. 3 VVG sieht daher seit 2008 vor, dass auch „zusätzliche Dienstleistungen“ Inhalt des Krankheitskostenversicherungsvertrags sein können.366 Die Möglichkeiten der Leistungssteuerung durch die PKV-Unternehmen etwa durch Selektivvertragskompetenzen sind darüber hinaus insbesondere für die stationäre Versorgung erweitert worden. In der Praxis wurden damit gute Erfahrungen gemacht: Ein „Erfolgsbeispiel“ für einen gelungenen gesetzlichen Rahmen für „vernünftige Vertragslösungen“ zwischen PKV und Leistungserbringern sei § 7 Abs. 1 Krankenhausentgeltgesetz, so Volker Leienbach, Mitglied des Vorstandes des PKV-Verbands.367 Auch im Arzneimittelbereich ist die PKV mit Steuerungsinstrumenten ausgestattet worden, die genuin sozialrechtlicher Natur sind.368 Durch die Art. 1 Nr. 17, 7 Nr. 6a und 11a des AMNOG vom 22.12.2010 sind Regelungen eingeführt worden, die den privaten Versicherungsunternehmen die Einflussnahme auf die Preise für erstattungsfähige Arzneimittel ermöglichen.369 4. Organisation und Binnenstruktur der Versicherungssysteme Die Einführung des Basistarifs hat ferner zu einer Annäherung der Binnenstruktur der Versicherungssysteme geführt. Während zuvor ein Unterschied der Systeme darin bestand, dass die Krankenkassen der GKV durch den Risikostruk364 365 366 367 368 369
Siehe auch Axer, MedR 2008, 482 (482); Sodan/Schaks, VSSR 2011, 289 (299). BT-Drs. 16/3945, S. 55. Siehe auch Kalis, in: Sodan, Hdb. KVR, § 42, Rn. 11. Siehe Heldt-Andreas/Knuf, NZS 2012, 376 (377). Sodan/Schaks, VSSR 2011, 289 (312). Vgl. im Detail zu den Neuregelungen Sodan/Schaks, VSSR 2011, 289 (311 ff.).
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Kap. 1: Die zwei Säulen des Gesundheitswesens
turausgleich zu einer Solidargemeinschaft miteinander verbunden sind370, und die PKV aus einzelnen im Konkurrenz zu einander stehenden Versicherungsunternehmen bestand, gilt dieser Gegensatz heute nicht mehr uneingeschränkt. Auch die Versicherungsunternehmen der PKV, die einen Basistarif anbieten, müssen sich zur dauerhaften Erfüllbarkeit der Verpflichtungen aus den Versicherungen am Ausgleich der Versicherungsrisiken im Basistarif beteiligen und dazu ein Ausgleichssystem schaffen und erhalten, dem sie angehören, § 12g Abs. 1 VAG. Dieser Ausgleich unterliegt der Aufsicht der BaFin, § 12g Abs. 2 VAG. Andererseits sind die zunehmenden Wettbewerbselemente im Recht der GKV Zeichen für eine stärkere Annäherung der Krankenkassen an die Funktionsweisen privatrechtlicher Unternehmen, die untereinander im Preis- und Qualitätswettbewerb stehen. Ferner sind Krankenkassen inzwischen wie die Unternehmen der PKV insolvenzfähig371 und unterliegen – jedenfalls auf dem Leistungsmarkt – dem GWB-Kartellrecht372. 5. Versicherte Personenkreise – Funktionsangleichung Die Versichertenkreise von GKV und PKV lassen sich ebenfalls nicht mehr eindeutig nach dem Kriterium der „Schutzbedürftigkeit“ abgrenzen: Im Zuge der Gesundheitsreform 2007373 wurde eine alle Einwohner umfassende Versicherungspflicht eingeführt. Ziel dieser Regelung war es, Krankenversicherungsschutz für „alle in Deutschland lebenden Menschen zu bezahlbaren Konditionen herzustellen. Niemand [sollte] ohne Versicherungsschutz und damit im Bedarfsfall nicht ausreichend versorgt oder auf steuerfinanzierte staatliche Leistungen angewiesen sein.“ 374 Der Krankenversicherungspflicht lag also das soziale Anliegen zugrunde, auch denen eine Absicherung für den Krankheitsfall zu ermöglichen, die bis dahin keinen Versicherungsschutz hatten. Zu diesem Ziel erweiterte das GKV-WSG nicht ausschließlich den Kreis der Sozialversicherten, sondern ordnete die Nichtversicherten in den §§ 5 und 6 SGB V sowie 193 Abs. 3 VVG entweder der GKV oder der PKV zu.375 Nach der gesetzlichen Systematik ist 370 Zum externen Risikostrukturausgleich durch den Gesundheitsfonds vgl. § 266 SGB V. 371 Vgl. § 171b SGB V. 372 Für den Leistungsmarkt vgl. § 69 Abs. 2 SGB V; die 8. GWB-Novelle, die Krankenkassen auch auf dem Versicherungsmarkt dem Kartellrecht unterwerfen soll, liegt derzeit noch beim Vermittlungsausschuss, vgl. zu der Thematik Thüsing/Sternberg, GWR 2012, 555–560. 373 Bezeichnung für zwei Reformgesetze aus dem Jahr 2007: Das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-WSG) v. 26.3.2007, BGBl. I, S. 378 und das Gesetz zur Reform des Versicherungsvertragsrechts v. 23.11.2007, BGBl. I, S. 2631. 374 Ausschussbegründung zum Entwurf des § 178a Abs. 5 VVG; Handbuch zur Gesundheitsreform 2007, S. 191; zitiert bei: Kalis, in: MüKo VVG, § 193, Rn. 16. 375 Kalis, in: MüKo VVG, § 193, Rn. 16.
B. Charakteristika der zwei Säulen
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gem. § 193 Abs. 3 S. 1 VVG grundsätzlich jeder zum Abschluss einer Krankheitskostenversicherung in bestimmtem Umfang verpflichtet. Dies gilt nicht für Personen, die anderweitig abgesichert sind im Sinne des S. 2, wozu insbesondere die Versicherung in der GKV zählt. Der Gesetzgeber hat folglich eine Volkskrankenversicherung durch zwei Systeme verwirklicht, bei der beiden Säulen in gewissem Umfang soziale Aufgaben zukommen. Auch die PKV dient nun der Absicherung sozial „Schutzbedürftiger“, die zur eigenverantwortlichen Absicherung ihres Risikos nach dem Äquivalenzprinzip nicht in der Lage sind. Dazu wurden die privaten Versicherungsunternehmen zum Angebot des bereits beschriebenen Basistarifs verpflichtet, anstatt diese Aufgabe ausschließlich durch die Sozialversicherung zu gewährleisten. Das BVerfG billigte diesen Entschluss und stellte fest: „Der Gesetzgeber kann, wenn er eine Volksversicherung aus zwei Versicherungssäulen schafft, die Personengruppen diesen beiden in einer ausgewogenen Lastenverteilung zuordnen [. . .].“ 376 Durch die Einführung der umfassenden Versicherungspflicht in Verbindung mit dem Basistarif hat zwischen GKV und PKV also eine Funktionsannäherung377 in dem Sinne stattgefunden, dass die GKV nun nicht mehr allein für die Absicherung Schutzbedürftiger verantwortlich ist. Die PKV nimmt damit ebenso wie die GKV eine soziale Aufgabe wahr, auch wenn sich die Methode der Aufgabenerfüllung nach wie vor unterscheidet.378 Zwar machen die „schutzbedürftigen“ Versicherten im Basistarif tatsächlich nur einen relativ geringen Prozentsatz aller Vollversicherten bei der PKV aus.379 Davon erhält jedoch knapp ein Drittel eine hälftige Beitragsreduzierung.380 Die Belastung der PKV nimmt dadurch weiter zu, dass unter den im Basistarif Versicherten ein überproportionaler Anteil Nichtzahler ist.381 Ende des Jahres 2010 lagen im Basistarif rund 32% mit mehreren Monatsbeiträgen im Rückstand, während dies in den übrigen Tarifen nur auf 1–2% zutraf.382 Einen letzten Schutz des Äquiva-
376
BVerfG, Urt. v. 10.6.2009 – 1 BvR 706/08 u. a., Rn. 175, BVerfGE 123, 186
(244). 377
Becker/Schweitzer, DJT-Gutachten 2012, S. B 143. Die Beitragserhebung im Basistarif kann nicht mit der einkommensabhängigen Beitragsberechnung in der GKV gleichgesetzt werden. Eine Nivellierung der Prämien findet nicht statt. Es ist lediglich eine Beitragshöchstgrenze festgesetzt und die Risikoprüfung ausgeschlossen. 379 Von den rund 8,89 Mio. PKV-Vollversicherten waren 2013 nur 26.700 im Basistarif versichert; vgl. den Zahlenbericht der Privaten Krankenversicherung 2013, S. 25, 30; abrufbar unter: www.pkv.de. 380 Von den 26.700 Basistarif-Versicherten erhielten 2013 13.900 Personen einen verringerten Beitragssatz wegen Hilfsbedürftigkeit; vgl. den Zahlenbericht der Privaten Krankenversicherung 2013, S. 30; abrufbar unter: www.pkv.de. 381 Auf diese zusätzliche Belastung weist Brand hin, in: VersR 2011, 1337 (1341). 382 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke „Gesundheitsversorgung im Basistarif“, BT-Drs. 17/4782, S. 4; diese Zahlen auch zitiert bei Brand, VersR2011, 1337 (1341). 378
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Kap. 1: Die zwei Säulen des Gesundheitswesens
lenzprinzips bietet die Beobachtungspflicht, die das BVerfG383 dem Gesetzgeber auferlegt hat und die dann zu einer Handlungspflicht umschlägt, wenn der Basistarif das Geschäft der GKV insgesamt auszuzehren droht.384 Anders herum dient die Einführung von Wahltarifen, die in begrenztem Umfang eine Tarifdifferenzierung ermöglichen, der Attraktivitätssteigerung der freiwilligen Versicherung in der GKV für „gute Risiken“, d.h. junge und gesunde Versicherte.385 Damit wird die GKV in die Lage versetzt, sich um Versicherte zu bemühen, die im klassischen Sinne nicht in ihr Aufgabenfeld fallen. Sie dient der Absicherung Schutzbedürftiger und nicht der Absicherung solcher Personen, die sich ebenso gut oder besser auf privatem Wege versichern können. 6. Entstehung und Beendigung des Versicherungsverhältnisses Die Entstehung des Versicherungsverhältnisses beruht in der GKV zwar weiterhin auf dem Gesetz und in der PKV auf einem Vertrag. Auch hier hat aber insofern eine Annäherung stattgefunden, als der PKV in gesetzlich definiertem Umfang Kontrahierungszwang und Kündigungsverbot auferlegt wurden (§§ 12 Abs. 1 b VAG, 206 Abs. 1 S. 1 VVG). Die Versicherung aller Einwohner erfordert spiegelbildlich zu der Versicherungspflicht (§ 193 Abs. 3 S. 1 VVG) den Zwang der Versicherungsunternehmen zum Abschluss entsprechender Verträge. Sonst läuft die Pflicht ins Leere. Mithin ist zwar die rechtliche Konstruktion weiterhin gegensätzlich: Vertrag vs. Gesetz. Auch die Privatversicherer sind aber nicht mehr frei in der Wahl ihres Vertragspartners und auch die Vertragsgestaltungsfreiheit ist jedenfalls im Basistarif eingeschränkt. Es dürfen keine Leistungsausschlüsse vereinbart werden (§ 203 Abs. 1 S. 2 VVG) und der Beitrag, d.h. die vertragliche Gegenleistung, darf den durchschnittlichen Höchstbeitrag in der GKV nicht überschreiten (§ 12 Abs. 1c S. 1 VAG).
383
BVerfG, Urt. v . 10.6.2009 – 1 BvR 706/08 u. a., Rn. 241, BVerfGE 123, 186
(266). 384 385
Brand, VersR 2011, 1337 (1341). BT-Drs. 16/3100, S. 109; dazu Thüsing, NZS 2008, 449 (450 f.).
Kapitel 2
Status Quo: „Systemwettbewerb“ zwischen GKV und PKV? Vor dem Hintergrund der dargestellten Entwicklung der Systeme von GKV und PKV stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis diese heute zueinander stehen. Seit einigen Jahren wird das Verhältnis vermehrt als „Systemwettbewerb“ interpretiert.1 Wettbewerb ist das Schlagwort in der gesundheitspolitischen Reformdebatte: Seit mittlerweile fast zwei Jahrzehnten werden die Reformen des Krankenversicherungsrechts zunehmend mit einer Stärkung des „Wettbewerbs“ begründet.2 Aber Wettbewerb ist hier nicht gleich Wettbewerb. Es gibt nicht den einen „Wettbewerb im Gesundheitswesen“, sondern es muss differenziert werden: Welches Verhältnis zwischen welchen Akteuren auf welchem Markt ist gemeint? So wird meist, wenn von Wettbewerb die Rede ist, das Verhältnis der einzelnen Krankenkassen zueinander in den Blick genommen, deren kooperatives Leitbild zunehmend durch ein wettbewerbliches ergänzt und modifiziert wird. Da die Krankenkassen mit den Leistungserbringern kontrahieren, werden auch diese in neuerer Zeit in einen Wettbewerb gestellt, um Effizienzreserven bei der Versorgung mit Gesundheitsleistungen zu erschließen. Dies geschieht insbesondere durch die erweiterten Möglichkeiten der Krankenkassen mit einzelnen Leistungserbringern Selektivverträge zu schließen. Wie grundsätzlich zwischen privaten Unternehmen besteht ferner zwischen den einzelnen Versicherern der PKV ein Wettbewerb, der sich um die Anwerbung von Versicherten dreht. Schließlich wird auch das Verhältnis der Krankenkassen zu den privaten Versicherungsunternehmen seit neustem als „Wettbewerb“ interpretiert.
1 BT-Drs. 16/3100, S. 109; BT-Drs. 17/3040, S. 21; Rürup-Kommission, Bericht 2003, S. 170; vgl. auch Kingreen, Referat DJT München 2012; Jacobs/Schulze, GGW 2004, S. 7; Mühlenbruch, in: Steuerungsinstrumente Bd. 1, S. 37. 2 Vgl. etwa die Begründungen folgender Reformgesetze der vergangenen Jahre: GMG v. 14.11.2003 (BGBl. I S. 2190), BT-Drs. 15/1170; VÄndG v. 22.12.2006 (BGBl. I S. 3439), BT-Drs. 16/2474; GKV-WSG v. 26.3.2007 (BGBl. I S. 378), BT-Drs. 16/ 3100; GKV-OrgWG v. 15.12.2008 (BGBl. I S. 2426), BT-Drs. 16/9559; KHRG v. 17.3.2009 (BGBl. I S. 534), BT-Drs. 16/1080; GKV-FinG v. 22.12.2010 (BGBl. I S. 2309), BT-Drs. 17/3360; AMNOG v. 22.12.2010 (BGBl. I S. 2262), BT-Drs. 17/ 3116; GKV-VStG v. 22.12.2011 (BGBl. I S. 2983), BT-Drs. 17/6906.
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Kap. 2: Status Quo: „Systemwettbewerb‘‘ zwischen GKV und PKV?
Hier geht es in erster Linie um die letztgenannte Dimension, nämlich das Verhältnis zwischen den Sozial- und Privatversicherern. Vorweg soll aber eine – überblickartige – Betrachtung der Strukturen innerhalb der Systeme vorgenommen werden, da diese auch für die Frage nach einem „Systemwettbewerb“ Bedeutung hat.
A. Wettbewerb innerhalb der Systeme I. Wettbewerb zwischen den Krankenkassen der GKV 1. Die Implementierung wettbewerblicher Handlungsspielräume in der GKV Wenn man den Wettbewerb in der GKV untersucht, muss man sich zunächst zweierlei vor Augen führen: Die gesetzlichen Krankenkassen sind Träger der mittelbaren Staatsverwaltung und „das Sozialrecht war im 19. Jahrhundert angetreten, dem Wettbewerb seine schädlichen Nebenwirkungen zu nehmen [. . .]“ 3. Die GKV stellt also grundsätzlich gerade einen Gegenentwurf zu einer nach den Regeln des Wettbewerbs funktionierenden privaten Versicherungsbranche dar. Für sie war es daher zunächst kennzeichnend, immer weitere Teile des Gesundheitswesens dem freien Markt und damit dem Wettbewerb zu entziehen.4 Mit der Einführung des Kassenwahlrechts 19965 vollzog sich jedoch ein Wandel: Während die Versicherten zuvor grundsätzlich gesetzlich einer Krankenkasse zugewiesen waren,6 können seither alle Versicherungspflichtigen und Versicherungsberechtigten die Krankenkasse, bei der sie Mitglied werden möchten, frei wählen, wobei die Kassen einem Kontrahierungszwang unterworfen sind. Die Mitgliedschaft bei einer Krankenkasse entsteht durch die Ausübung des Wahlrechts (§ 173 Abs. 1 SGB V). Auch der Wechsel zwischen den verschiedenen Kassen wurde erleichtert und den Betriebs- und Innungskrankenkassen die Möglichkeit gegeben, sich auch für betriebsfremde Mitglieder zu öffnen (vgl. § 173 Abs. 2 Nr. 4 SGB V) und so in Konkurrenz zu Orts- und Ersatzkassen zu treten.7 Diese strukturelle Reform schuf die Grundlage für einen Wettbewerb unter den Krankenkassen der GKV,8 hatte sie auch zunächst vordergründig einen anderen 3
Kingreen, MedR 2004, S. 188 (188). Schenke, WiVerw 2006, 34 (36). 5 Einführung durch das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) v. 21.12.1992 (BGBl. I, S. 2266). 6 Wahlrechte bestanden nur sehr eingeschränkt zwischen der gesetzlich vorgesehenen Primärkasse und den Ersatzkassen, vgl. Kirchhof, VSSR 1992, 165; Just, in: Becker/ Kingreen, SGB V, § 173 Rn. 1 sowie ausführlich zur Situation vor Einführung der Kassenwahl Baier, in: Krauskopf, § 173 SGB V, Rn. 3 f. 7 Vgl. Ramsauer, NZS 2006, 505 (505). 8 Vgl. nur Becker/Kingreen, NZS 2010, 417 (417). 4
A. Wettbewerb innerhalb der Systeme
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Zweck: Sie sollte verfassungsrechtliche Bedenken ausräumen, die gegen die erheblichen Beitragssatzunterschiede und die Unterscheidung von Arbeitnehmern und Angestellten bei der Kassenwahl geäußert wurden.9 Heute wird die „Einführung“ des Wettbewerbs in die solidarische GKV als die „tiefgreifendste Organisationsreform der gesamten Sozialversicherung“ 10 angesehen. Sie hat – zusammen mit den nachfolgenden auf sie aufbauenden Reformgesetzen – zu erheblichen Strukturveränderungen in der Organisation und Verwaltung der Kassen geführt. Ein echter Wettbewerb um Versicherte setzt neben dem Wahlrecht auf Seiten der Versicherten voraus, dass sich die Angebote der Versicherer unterscheiden können. Dies erfordert Handlungsspielräume der Krankenkassen. Die maßgeblichen Parameter zur Angebotsdifferenzierung sind der Preis und die Leistung. Beide sind eng miteinander verknüpft.11 Nach der gesetzlichen Ausgestaltung der GKV konnte Wettbewerb zunächst vorwiegend über den Preis geführt werden: Jede Krankenkasse konnte im Rahmen ihrer Selbstverwaltung individuell ihren Beitragssatz festsetzen (§ 241 SGB V a. F. bis 31.12.2008). Der Leistungskatalog in der GKV war und ist dagegen gesetzlich festgelegt (Drittes Kapitel des SGB V). In einem nach dem Solidarprinzip finanzierten System, in dem die Beiträge in keinem Verhältnis zum versicherten Risiko stehen, führt ein solcher Preiswettbewerb denklogisch dazu, dass die Kassen um die sog. „guten Risiken“, d.h. um die jungen, gesunden, besserverdienenden Versicherten konkurrieren. Dies ist mit dem solidarischen Charakter der GKV jedoch unvereinbar. Um Unterschiede im Beitragssatz, die allein aus der unterschiedlichen Risikostruktur der Versicherten resultieren, zu verhindern, wurde daher zeitgleich ein kassenartübergreifender Risikostrukturausgleich eingeführt.12 Niedrige Beiträge konnten die Kassen daher praktisch ausschließlich durch eine wirtschaftliche Verwaltung und ein gutes Service- und Betreuungsangebot herbeiführen. Auf die – weit höheren – Kosten der durch externe Leistungserbringer erbrachten Versicherungsleistungen hatten sie dagegen wenig Einfluss. Honorare wurden ausschließlich im Rahmen von Kollektivverträgen mit den kassen(zahn-)ärztlichen Vereinigungen festgesetzt.
9 Vgl. die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 12/3608, S. 74, 112; das BVerfG hielt Vereinbarkeit mit Art. 3 Abs.1 GG in seinem Beschluss vom 8.2.1994 für (noch) gegeben, vgl. 1 BvR 1237/85, BVerfGE 89, 365 (376 ff.); s. auch Becker/Kingreen, NZS 2010, 417 (417). 10 Becker/Kingreen, NZS 2010, 417 (417). 11 Vgl. Monopolkommission, 18. Hauptgutachten v. 22.7.2010, BT-Drs. 17/2600, Tz. 1055. 12 Vgl. etwa Göpffarth, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 266 Rn. 1.
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Kap. 2: Status Quo: „Systemwettbewerb‘‘ zwischen GKV und PKV?
2009 wurde der über den Beitragssatz geführte Preiswettbewerb durch die Einführung des einheitlichen Beitragssatzes vernichtet.13 Dieser wurde zunächst von der Bundesregierung durch Rechtsverordnung bestimmt und ist seit dem 1.1.2011 gesetzlich auf 15,5% festgesetzt (§ 241 SGB V).14 Die Krankenversicherungsbeiträge gehen an einen Gesundheitsfonds, in dem das Bundesversicherungsamt sie als Sondervermögen verwaltet (§ 271 Abs. 1 SGB V). Aus diesem erhalten die Krankenkassen Zuweisungen nach Maßgabe der §§ 266, 270 SGBV und der auf der Grundlage des § 266 Abs. 7 erlassenen Rechtsverordnung. Der Reformgesetzgeber hat demgegenüber andere Instrumentarien zur Beitragsdifferenzierung geschaffen: Hier sind in erster Linie die sog. kassenindividuellen Zusatzbeiträge gem. § 242 SGB V zu nennen. Sie dienen der Aufrechterhaltung eines reinen Preiswettbewerbs. Die Krankenkassen müssen von ihren Mitgliedern Zusatzbeiträge erheben, wenn die Mittel aus dem Gesundheitsfonds zur Deckung der Ausgaben nicht ausreichen. Zunächst war die gesetzliche Systematik so angelegt, dass die Zuweisungen des Gesundheitsfonds grundsätzlich ausreichend sein sollten. Ein Zusatzbeitrag sollte also nur bei unwirtschaftlicher Verwaltung der Kasse anfallen. Wirtschafteten die Kassen dagegen besonders sparsam, konnten sie den Versicherten Überschüsse als Prämien auszahlen. Diese Differenzierungsmöglichkeit hat zu einem intensiven Preiswettbewerb in Form eines Zusatzbeitragsvermeidungswettbewerbs geführt.15 Inzwischen wurde das Recht der Zusatzbeiträge noch einmal reformiert: Seit dem 1.1.2011 sollen die Zusatzbeiträge auch über die Einnahmenentwicklung hinausgehende Kostensteigerungen ausgleichen.16 Es ist zu erwarten, dass Zusatzbeiträge daher in Zukunft in allen Krankenkassen Normalität werden und der Preiswettbewerb darauf gerichtet sein wird, einen höheren als den durchschnittlichen Zusatzbeitrag zu vermeiden.17 Ein weiteres Wettbewerbsinstrument sind die Wahltarife gem. § 53 SGB V.18 Sie dienen nicht in erster Linie der Förderung eines Preiswettbewerbs unter den Kassen, sondern verleihen den Kassen die Möglichkeit zur Differenzierung des Leistungsangebots – sowohl innerhalb der einzelnen Kasse als auch unter den Kassen. Durch die Wahltarife wurde der Handlungsspielraum der Kassen im Bereich der Angebotsgestaltung erheblich erweitert.
13
Art. 1 Nr. 159 und Art. 2 Nr. 29a GKV-WSG v. 26.3.2007, BGBl. I, S. 378. Zur Gesetzgebungshistorie des § 241 SGB V, s. Gerlach, in: Hauck/Noftz, SGB V, § 241, Rn. 1 ff. 15 Becker/Schweitzer, DJT-Gutachten 2012, S. B 18 f. 16 Änderung durch das GKV-FinG v. 22.12.2010 (BGBl. I S. 2309), zu der Begründung vgl. BT-Drs. 17/3360 S. 3. 17 Vgl. Becker/Schweitzer, DJT-Gutachten 2012, S. B 18 f. 18 Vgl. ausführlich dazu schon oben Kapitel 1 B. III. 14
A. Wettbewerb innerhalb der Systeme
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Einen sog. Vermittlerwettbewerb löst die 2004 geschaffene Möglichkeit der Krankenkassen aus, ihren Versicherten Zusatzversicherungen privater Versicherungsunternehmen zu vermitteln (§ 194 Abs. 1 a SGB V). Inhalt dieser Verträge können alle Leistungen sein, die den gesetzlichen Versicherungsschutz ergänzen, vgl. S. 2. Die Krankenkassen können – und sollen19 – mit den privaten Versicherungsunternehmen besondere Konditionen für ihre Versicherten aushandeln.20 So können Kassenmitglieder durchschnittlich 3–5% gegenüber dem direkten Vertragsschluss mit dem privaten Anbieter sparen.21 Nach außen hin bieten die Krankenkassen die Ergänzungsversicherungen marketingwirksam als eigene Leistungen an und machen so deutlich, dass es sich um eigens auf den Bedarf der Mitglieder zugeschnittene Angebote handelt. Ein „Log-in“-Wettbewerb wird durch diese Angebotsvielfalt befördert, der Wechsel der Versicherten zwischen den Krankenkassen hingegen eher gehemmt22. Da ein Wechsel der Krankenkasse auch einen Wechsel des privaten Zusatzversicherers zur Folge hat, ist dieser eher unattraktiv23. So ist die Vermittlungsmöglichkeit Wettbewerbsinstrument und Mittel zur Kundenbindung zugleich. Durch die zum 1.1.2012 eingeführten Änderungen durch das GKV-VstG24 haben die Krankenkassen weiterhin die Möglichkeit selbst Zusatzleistungen anzubieten. Der neu eingefügte § 11 Abs. 6 SGB V enthält eine abschließende Aufzählung der Bereiche, in denen Zusatzangebote möglich sind. Im Unterschied zu den Wahltarifen können die Zusatzleistungen von den Versicherten nicht gewählt werden, sondern müssen einheitlich für alle Versicherten gelten. Gegen eine Zusatzleistung kann sich das Kassenmitglied daher nur durch einen Kassenwechsel entscheiden.25 Zusätzliche Kosten, die durch die Zusatzangebote entstehen können, haben keinen Einfluss auf die Höhe der Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds. Sie müssen einzeln ausgewiesen (vgl. § 11 Abs. 6 S. 3) und – soweit die Mittel aus dem Fonds sowie die Finanzreserven der Kasse nicht ausreichen – über Zusatzbeiträge gem. § 242 SGB V auf die Kassenmitglieder umgelegt werden.26 Die Gesetzesbegründung weist jedoch ausdrücklich darauf hin, dass die zusätzlichen Satzungsleistungen auch zu einer Kostensenkung führen könnten, indem durch sie „aufwändigere Behandlungen verkürzt oder vermieden“ wür-
19 So ausdrücklich die Begründung zu Art. 1 Nr. 136, Entwurf GMG, BT-Drs. 15/ 1525, S. 138. 20 Vgl. Boetius, in: MüKo VVG (2010), Vor § 192, Rn. 117. 21 Schneider-Danwitz, in: jurisPK-SGB V (2. Aufl. 2012), § 194, Rn. 38. 22 Vgl. Schneider-Danwitz, in: jurisPK-SGB V (2. Aufl. 2012), § 194, Rn. 38. 23 Durch die Übertragbarkeit von Altersrückstellungen in der PKV wurde die bindende Wirkung von Ergänzungsversicherungen abgeschwächt und der Wechsel ist nicht mehr ganz so unattraktiv wie zuvor. 24 Gesetz v. 22.12.2011 BGBl. I S. 2983. 25 Vgl. Becker/Schweitzer, DJT-Gutachten 2012, S. B 21. 26 BT-Drs. 17/6906, S. 6, 48.
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Kap. 2: Status Quo: „Systemwettbewerb‘‘ zwischen GKV und PKV?
den.27 Die neue Handlungsmöglichkeit der Kassen bettet sich in das wettbewerbliche Gesamtkonzept des Gesetzgebers ein: „Mit dem GKV-Finanzierungsgesetz und der schrittweisen Einführung einkommensunabhängiger Zusatzbeiträge wurden die Voraussetzungen für einen transparenten Preiswettbewerb zwischen den gesetzlichen Krankenkassen geschaffen. In einem zweiten Schritt [wurden] mit dem neuen § 11 Absatz 6 SGB V die wettbewerblichen Handlungsmöglichkeiten der Krankenkassen auf der Leistungsseite der GKV gestärkt.“ 28 Einen maßgeblichen Einfluss auf den Wettbewerb um Versicherte haben darüber hinaus die Handlungsspielräume der Krankenkassen auf dem Leistungsmarkt.29 Aufgrund des Sachleistungsprinzips sind die Krankenkassen verpflichtet, den Versicherten die erforderlichen Leistungen, die in der Regel durch externe Leistungserbringer erbracht werden, zu verschaffen. Je stärker sie individuell auf Art und Weise sowie Vergütung der Leistungserbringung einwirken können, desto mehr Raum besteht für eine Qualitäts- und Preisdifferenzierung zwischen den Kassen. In zahlreichen Versorgungsbereichen erfüllen die Kassen ihre Verschaffungspflicht, indem ihre Verbände mit den Vereinigungen der Leistungserbringer Kollektivverträge schließen, d.h. Art und Weise der Leistungserbringung und Vergütung werden einheitlich festgesetzt. Adressat des Sicherstellungsauftrags der ärztlichen Versorgung ist hier nicht der einzelne Arzt, sondern die kassenärztliche Vereinigung. Sie verteilt die ausgehandelte Gesamtvergütung (§ 85 Abs. 4 SGB V). Da so mit allen Leistungserbringern am Markt zu einheitlichen Bedingungen kontrahiert wird, besteht für die einzelnen Krankenkassen keine Möglichkeit der Einflussnahme auf Qualität und Preis. Der Gesetzgeber hat die Beziehungen zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern als Wettbewerbsfeld erst spät erkannt.30 Inzwischen ist die Schaffung weiterer Spielräume für Wettbewerb in diesem Bereich aber ganz in den Fokus der gesundheitspolitischen Diskussion gerückt.31 Durch die Möglichkeit selektiven Kontrahierens können die Krankenkassen inzwischen in verschiedenen Versorgungsbereichen untereinander in einen Vertragswettbewerb treten. Darüber hinaus können sie durch ihre Nachfrage Wettbewerb unter den Leistungserbringern auslösen und sich die daraus resultierenden Effizienzgewinne zu Nutze machen. Der Vertragswettbewerb unter den Kassen hat aber auch Auswirkungen auf den Versicherungsmarkt: Wer die besten und kostengünstigsten Verträge abschließt, kann seinen Versicherten die besten Angebote machen. Außerhalb des Vertragsarzt- und des Krankenhausrechts, das nach wie vor durch das Kollektivvertragssystem ge27
BT-Drs. 17/6906, S. 6, 48. BT-Drs. 17/6906, S. 6, 53. 29 Bezeichnet den Markt, auf dem Krankenkassen als Nachfrager und die Leistungserbringer als Anbieter agieren. 30 Becker/Schweitzer, DJT-Gutachten 2012, S. B 5. 31 Becker/Schweitzer, DJT-Gutachten 2012, S. B 5; s. auch Monopolkommission, 18. Hauptgutachten v. 22.7.2010, BT-Drs. 17/2600, Tz. 1125. 28
A. Wettbewerb innerhalb der Systeme
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prägt ist, sind Selektivverträge inzwischen die Regel (vgl. §§ 127, 132, 132a–e, 133 Abs. 1 S. 1 SGB V). Über Arzneimittel können die Krankenkassen mit Pharmaunternehmen Rabattverträge schließen (§ 130a SGB V) und Erstattungsbeträge verhandeln (§ 130b SGB V). Auch im Vertragsarzt- und Krankenhausrecht treten alternative Selektivverträge neben das Kollektivvertragssystem.32 Ein Beispiel dafür ist die integrierte Versorgung gem. § 140a SGB V. 2. Die Diskrepanz zwischen wirtschaftlichem und sozialversicherungsrechtlich überformtem Wettbewerb Der Wettbewerb unter den Krankenkassen der GKV weist jedoch zu einem Wettbewerb in einem freien Markt gewisse Unterschiede auf 33: Wirtschaftlicher Wettbewerb ist nach v. Hayek ein Entdeckungsverfahren und „nur deshalb und insoweit wichtig [. . .], als seine Ergebnisse unvoraussagbar und im ganzen verschieden von jenen sind, die irgend jemand bewußt hätte anstreben können [. . .].“ 34 Wettbewerb ist danach gerade durch seine Ergebnisoffenheit gekennzeichnet und nur deshalb nicht „völlig uninteressant und nutzlos“ 35. Diese Zweckrichtung des Entdeckens neuer, unbekannter und nicht vorhersehbarer Tatsachen kann dem Kassenwettbewerb aber nicht zugeschrieben werden. Das Ergebnis des Wettbewerbsprozesses steht fest: Ziel ist die kostengünstige und qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung der Versicherten.36 Dies ist durch die Vorgaben der Verfassung und des Gesundheitsrechts determiniert. Der Wettbewerb dient insoweit nur dem Zweck, Effizienzreserven bei der Verwaltung der Kassen und im Rahmen der Leistungserbringung auszuschöpfen. Anders als bei einem Wettbewerb im freien Markt ist die Handlungsfreiheit der Akteure kein Ziel an sich.37 Es geht nicht darum, dass sich die Akteure entfalten können, sondern dass sie die staatliche Aufgabe Gesundheitsversorgung möglichst effizient erfüllen. So ist Wettbewerb auch nicht das einzige Verfahren, dass das Verhältnis der Kassen zueinander kennzeichnet. Ebenso wie die Kassen in Konkurrenz zu einander treten sollen, sind sie andersherum – ebenfalls im Interesse der Leistungsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit – zur Kooperation angehalten (§ 4 Abs. 3 SGB V). Dieses Spannungsverhältnis scheinbar wiederstreitender Prinzipien38 zeigt, dass es in der Sozialversicherung nicht um den Prozess (Wettbewerb oder Kooperation) geht, sondern nur um das Ergebnis. Becker und Kingreen bringen 32
Becker/Kingreen, in: Becker/Kingreen, § 69 Rn. 18. Becker, in: Igl, Das Gesundheitswesen in der Wettbewerbsordnung, S. 75 f.; Becker/Kingreen, NZS 2010, 417 (418 f.). 34 v. Hayek, Freiburger Studien, S. 249 (250). 35 v. Hayek, Freiburger Studien, S. 249 (249). 36 Vgl. etwa die Ziele des GKV-WSG, BT-Drs. 16/3100, S. 1 f. 37 Becker/Kingreen, NZS 2010, 417 (419). 38 Zur Vereinbarkeit des Wettbewerbs mit dem Kooperationsgebot vgl. Thüsing/ Sternberg, ZIP 2012, 1437 (1442); dies., GWR 2012, 555 (557 ff.). 33
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Kap. 2: Status Quo: „Systemwettbewerb‘‘ zwischen GKV und PKV?
die Unterschiede auf die Formel: „Funktionalität statt Freiheitsentfaltung, Effizienz statt Kreativität.“ 39 Weitere Besonderheit des sozialversicherungsrechtlich überformten Wettbewerbs ist, dass ein Risikostrukturausgleich zwischen allen Konkurrenten stattfindet, der den Wettbewerb auf die „richtigen“ Faktoren lenken soll: Statt eines Wettbewerbs um „gute Risiken“ soll so ein Wettbewerb geführt werden, in dem die Teilnehmer nur durch Qualität und Effizienz bestehen können. Unterschiede zum Wettbewerb zwischen Privaten ergeben sich schließlich auch daraus, dass die Krankenkassen Körperschaften des öffentlichen Rechts und Teil der mittelbaren Staatsverwaltung sind. Sie sind an Grundrechte gebunden (Art. 1 Abs. 3 GG) und auf die Erfüllung ihrer gesetzlich vorgeschriebenen und zugelassenen Aufgaben beschränkt (§ 30 Abs. 1 SGB IV). Sie können sich also nicht selbst Wettbewerbsfelder erschließen.40 Außerdem unterliegen die Kassen der staatlichen Rechtsaufsicht. Die Organisation als öffentlich-rechtliche Körperschaft hat darüber hinaus Auswirkungen auf Marktein- und -austritt von Kassen. Die Errichtung einer Krankenkasse bedarf einer gesetzlichen Grundlage und der Marktaustritt erfolgt durch Schließung, Fusion oder Insolvenz.
II. Wettbewerb zwischen den Versicherungsunternehmen der PKV Die PKV ist Teil der privaten Versicherungswirtschaft. Ihre Akteure agieren daher in einem Freiheitsbereich, in dem Wettbewerb herrscht. In der privaten Krankenversicherung ist das Leistungsspektrum grundsätzlich41 nicht gesetzlich festgelegt. Es kann daher Wettbewerb sowohl über den Preis als auch über die Versicherungsprodukte und den Service geführt werden. Das Preis-LeistungsVerhältnis entscheidet über die Marktstellung eines Anbieters. Da die PKV nach dem Prinzip der Kostenerstattung leistet, bestehen zwar anders als in der GKV grundsätzlich keine vertraglichen Beziehungen zu den Ärzten, Krankenhäusern und Pharmaunternehmen. Die privaten Versicherer können daher nur sehr eingeschränkt auf Qualität und Preis der Behandlung unmittelbar einwirken, eine Ausdifferenzierung der Angebote ist aber aufgrund der unterschiedlichen Tarifoptionen möglich. Dennoch: Auch die PKV ist nicht Privatversicherung in Reinform.42 Sie nimmt einen festen Platz im deutschen Krankenschutzwesen ein und ist entschei39
Becker/Kingreen, NZS 2010, 417 (418). Becker/Schweitzer, DJT-Gutachten 2012, S. B 34. 41 Anders nur im sog. Basistarif gem. §§ 12 Abs. 1a VAG, 203 Abs. 1 S. 3 VVG, s. im Einzelnen oben Kapitel 1 B. III. 42 Vgl. zu den Brüchen mit allgemeinen Prinzipien des Privatversicherungsrechts in der PKV ausf. Brand, VersR 2011, 1337–1346. 40
B. Wettbewerb zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung
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dend „durch soziale Einschläge geprägt“ 43, die im Laufe der Geschichte stetig erweitert wurden.44 Aufgrund ihrer sozialen Bedeutung ist die substitutive Krankenversicherung, d.h. die private Krankenvollversicherung gem. § 12 Abs. 1 VAG nach Art der Lebensversicherung zu führen.45 Damit verbunden ist unter anderem, dass die Versicherungsprämie so berechnet sein muss, dass ein Teil für Kostensteigerungen mit zunehmendem Alter des Versicherten zurückgestellt werden kann. Diese Altersrückstellungen haben bis 2009 zu einer Hemmung des Wettbewerbs unter den privaten Krankenversicherern geführt, da sie bei einem Versicherer gebildet wurden und bei einem Wechsel zu einem andern Versicherer verfielen. Bereits nach einer relativ kurzen Versicherungszeit war daher ein Wechsel in der Regel rational nicht mehr sinnvoll. Der Wettbewerb der privaten Krankenversicherer beschränkte sich daher auf einen reinen Log-in-Wettbewerb um Neukunden.46 Durch das GKV-WSG47 wurde mit Wirkung zum 1.1.2009 eine Portabilität der Altersrückstellungen eingeführt. Privatversicherte, die den Versicherer wechseln wollen, haben nun einen zeitlich unbegrenzten Anspruch auf den Übertragungswert,48 d.h. auf den Wert der Altersrückstellung die in dem betreffenden Zeitraum im Basistarif aufgebaut worden wären (vgl. § 204 VVG).49
B. Wettbewerb zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung Sowohl innerhalb der GKV als auch innerhalb der PKV besteht also – wenn auch sozialrechtlich überformt – ein Wettbewerb der Versicherungsanbieter um Versicherte. Fraglich ist nun, ob die Krankenkassen der GKV auch mit den Versicherungsunternehmen der PKV in Konkurrenz treten (sog. Anbieterwettbewerb)50 und dadurch – auf übergeordneter Ebene – ein sog. Systemwettbewerb51 entsteht, der Rückschlüsse auf die Qualität der Aufgabenerfüllung durch die Sys43
Koch, ZVersWiss 1980, 199 (210). Vgl. zuletzt etwa die Verpflichtung zum Angebot eines Basistarifs in Verbindung mit einer umfassenden Versicherungspflicht und einem Kontrahierungszwang der Versicherer. 45 Vgl. ausf. Laars, Nomos Kommentar VAG, § 12, Rn. 2 ff. 46 Jacobs/Schulze, GGW 2004, 7 (12). 47 Gesetz v. 26.03.2007 BGBl. I S. 378. 48 Vgl. ausf. etwa Beutelmann, in: Oberender, Wettbewerb im Gesundheitswesen, S. 59 (62 f.). 49 Für Bestandskunden mit PKV-Vollversicherungsschutz vor dem 1.1.2009 wurde der Anspruch auf das erste Halbjahr 2009 beschränkt und galt nur beim Wechsel in den Basistarif eines anderen Versicherers. 50 Dazu: Fuchs, in: Igl, Das Gesundheitswesen in der Wettbewerbsordnung, S. 39– 52. 51 Dazu: Mühlenbruch, in: Steuerungsinstrumente im Recht des Gesundheitswesens, S. 37–53. 44
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Kap. 2: Status Quo: „Systemwettbewerb‘‘ zwischen GKV und PKV?
teme zulässt. Dafür spricht auf den ersten Blick die Situation: Die Private Krankenversicherung ergänzt nicht nur die Leistungen der staatlich bereitgestellten Versicherung, sondern kann diese auch ersetzen. Der Befund einer solchen Koexistenz zweier Anbietersysteme desselben Versicherungsprodukts legt nahe, dass diese in Konkurrenz zueinander stehen. Näheres Hinsehen zeigt jedoch, dass hieran durchaus Zweifel bestehen.
I. Tatsächliche Marktverteilung Im Jahr 2013 waren insgesamt ca. 69,85 Mio. Personen in der GKV52 und nur rund 8,89 Mio. in der PKV53 vollversichert. In Prozentzahlen ausgedrückt bedeutet das, dass die gesetzliche Krankenversicherung ca. 85% der Bevölkerung gegen das Krankheitsrisiko versichert, während die in der PKV Vollversicherten lediglich einen Anteil von etwa 11% an der Bevölkerung ausmachen.54 Ist diese ungleiche Verteilung der Versicherten auf die Versicherungssysteme eine Folge des Wettbewerbs oder ist sie mit einer gesetzlichen Zuordnung von Bevölkerungsgruppen zu den Systemen zu erklären?55
II. Verhinderung von Wettbewerb durch Ausschluss der Wahlmöglichkeit Versicherter Zunächst ist festzuhalten, dass um solche Versicherten kein Wettbewerb geführt wird, denen von Gesetzes wegen kein Wahlrecht zwischen den Systemen zusteht. Die Bestimmungen des Zweiten Kapitels des SGB V über den versicherten Personenkreis weisen bestimmte Personengruppen ausschließlich der GKV zu. Gem. § 193 Abs. 3 VVG sind die übrigen der PKV zugeordnet, sofern nicht einer der anderen Ausnahmetatbestände des § 193 Abs. 3 S. 2 VVG eingreift. 1. Der GKV ausschließlich zugewiesene Versicherte Zwar steht es theoretisch jedem frei, einen Vertrag mit einem privaten Krankenversicherungsunternehmen zu schließen, praktisch ist dies jedoch für solche Personen unzweckmäßig, die aufgrund einer Versicherungspflicht in der GKV 52 Gesundheitsberichterstattung des Bundes, „GKV-Mitglieder und Mitversicherte Familienangehörige am 1.7.“, Zahlen von 2013, abrufbar unter: http://www.gbebund.de. 53 Zahlenbericht der Privaten Krankenversicherung 2013, S. 25; abrufbar unter: www.pkv.de. 54 Der Rest der Bevölkerung ist auf andere Weise abgesichert (vgl. § 193 Abs. 3 S. 2 VVG) oder pflichtwidrig nicht versichert. 55 Zu dieser Fragestellung und der weiteren Darstellung Fuchs, in: Igl, Das Gesundheitswesen in der Wettbewerbsordnung, S. 39–52.
B. Wettbewerb zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung
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bereits eine Absicherung gegen das Krankheitsrisiko haben. Sie werden allenfalls eine Zusatzversicherung bei einem privaten Anbieter abschließen. Die GKV-Pflichtversicherten sind abschließend in § 5 SGB V aufgeführt. Soweit darüber hinaus andere Gesetze nähere Bestimmungen zu den einzelnen Versichertengruppen treffen, werden diese in der Vorschrift benannt. Abgesehen von einzelnen Möglichkeiten einer Befreiung von der Versicherungspflicht (vgl. § 8 SGB V) sind die Bestimmungen des § 5 nicht abdingbar. Versicherungsfrei ist nur, wer dem in § 6 SGB V beschriebenen Personenkreis angehört. Anknüpfungspunkt für die Versicherungspflicht in der GKV ist in erster Linie eine abhängige Beschäftigung. Das ergibt sich aus ihrer Entstehungsgeschichte56: Die Existenz abhängig Beschäftigter sah man besonders von Krankheit bedroht, da diese darauf angewiesen sind, ihren Lebensunterhalt mit der körperlichen Arbeitskraft zu bestreiten. Inzwischen wurden darüber hinaus aber auch Personengruppen in die Pflichtversicherung einbezogen, die der Gesetzgeber in vergleichbarer Weise für schutzbedürftig erachtet, bei denen jedoch nicht das Beschäftigungsverhältnis den Pflichttatbestand begründet, wie etwa Studenten und Menschen mit Behinderungen. Mit den Landwirten sowie den Künstlern und Publizisten gehören inzwischen auch Selbständige zu den Pflichtversicherten der GKV (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 3 und 4 SGB V). Rund 61,37 Millionen der rund 70,32 Millionen GKV-Versicherten sind Pflichtversicherte oder mitversicherte Familienmitglieder eines Pflichtversicherten.57 Die GKV-Pflichtversicherten machen somit heute den weitaus größten Teil der Bevölkerung aus. Um sie kann mangels Wahlrecht kein Wettbewerb zwischen GKV und PKV geführt werden. 2. Der PKV ausschließlich zugewiesene Versicherte Der Kreis derer, die durch den Gesetzgeber ausschließlich der PKV zugewiesen sind, setzt sich aus denjenigen Personen zusammen, die weder in der GKV pflicht- oder familienversichert, noch nach § 9 SGB V zur freiwilligen Versicherung in der GKV berechtigt sind. Durch die Einführung der allgemeinen Krankenversicherungspflicht zum 1.1.2009, müssen diese Personen nun verpflichtend für eine Absicherung des Krankheitsrisikos in der Privaten Krankenversicherung sorgen, weil ihnen der Zugang zur Gesetzlichen Krankenversicherung verwehrt ist.58 Von PKV-Pflichtversicherten zu sprechen ist dennoch terminologisch nicht ganz korrekt, da es sich 56
Dazu ausführlich Kapitel 1 A. II. Gesundheitsberichterstattung des Bundes, „GKV-Mitglieder und Mitversicherte Familienangehörige am 1.7.“, Zahlen von 2014, abrufbar unter: http://www.gbebund.de. 58 Vgl. § 193 Abs. 3 VVG, Ausnahmen in S. 2. 57
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bei der Absicherung in der Privaten Krankenversicherung nicht um eine von Gesetzes wegen eintretende Pflichtversicherung handelt, sondern es besteht vielmehr eine Pflicht zur Versicherung, d.h. zum Abschluss eines Versicherungsvertrags mit einem privaten Versicherungsunternehmen, vgl. § 193 Abs. 3 VVG. Zu den der Privaten Krankenversicherung zugeordneten Versicherten gehören in erster Linie Selbständige (vgl. § 5 Abs. 5 SGB V), Beamte und andere beihilfeberechtigte Personen (vgl. § 6 Abs. 1 Nr. 2, 4–6, Abs. 2 SGB V), sowie solche Arbeitnehmer, deren Jahresgehalt die Versicherungspflichtgrenze übersteigt (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB V). Für diese Personen besteht grundsätzlich kein Recht auf einen Versicherungswechsel zur GKV. Das Recht zur freiwilligen GKV-Versicherung ist abhängig von bestimmten Vorversicherungszeiten. Dies gilt auch für Empfänger von Arbeitslosengeld II. Ob diesen Krankenversicherungsschutz durch die GKV oder die PKV zusteht, richtet sich danach in welchem System sie zuvor versichert waren. Bestand zuvor keinerlei Absicherung gegen das Krankheitsrisiko, so sind diese der PKV zugewiesen (vgl. § 5 Abs. 5 a SGB V).
III. Freiwillige Versicherung und Befreiung von der Versicherungspflicht als Schnittstelle zwischen den Systemen Trotz der großen Anzahl an Personen, die ausschließlich einem der Systeme zugewiesen sind, verläuft zwischen GKV und PKV keine strikte Trennlinie. Schnittstellen bieten die freiwillige Versicherung und die Befreiung von der Versicherungspflicht. Gem. § 9 SGB V haben Personen, die grundsätzlich der PKV zugeordnet sind, das Recht freiwillig Mitglied der GKV zu werden. Gem. § 8 können sich andersherum GKV-Pflichtversicherte auf Antrag zugunsten eines Versicherungsschutzes bei einem privaten Versicherer von der Versicherungspflicht in der GKV befreien lassen. Es gibt keine gesicherten Zahlen darüber wie viele Einwohner der BRD zu diesem wahlberechtigten Kreis gehören. Die freiwillig Versicherten in der GKV machen einen Anteil von etwa 12,7% aus.59 Hinzu kommen die, die den Versicherungsschutz in der PKV gewählt haben und die, die von ihrem Befreiungsrecht keinen Gebrauch gemacht haben und daher zu den GKV-Pflichtversicherten gezählt werden. Diese kleine Personengruppe macht den Kreis der Nachfrager auf einem möglichen Markt von GKV und PKV aus. Sie ist berechtigt, sich für eines der Systeme zu entscheiden. Fraglich ist, ob um diese – wenn auch kleine – Personengruppe ein Wettbewerb geführt wird. 59 Zu den absoluten Zahlen vgl. die Gesundheitsberichterstattung des Bundes, „GKVMitglieder und Mitversicherte Familienangehörige am 1.7.“, Zahlen von 2014, abrufbar unter: http://www.gbe-bund.de.
B. Wettbewerb zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung
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1. Was heißt Wettbewerb? Diese Frage lässt sich nicht beantworten ohne eine Definition des Wettbewerbs. In der Wirtschaftswissenschaft gibt es verschiedene Ansätze, Wettbewerb zu erfassen. Nach der gängigen Begriffsbestimmung in der Volkswirtschaft beschreibt der wirtschaftliche Wettbewerb wie sich der Austausch von Waren und Dienstleistungen in einer freiheitlichen Ordnung vollzieht. Hier wirkt er als „dynamisches Ausleseverfahren, bei dem die Wettbewerber (z. B. Unternehmen) das gleiche Ziel haben und außenstehende Dritte (z. B. Käufer) darüber entscheiden, wer das Ziel in welchem Umfang erreicht.“ 60 Dies bedingt, dass sich die Wettbewerber antagonistisch zueinander verhalten, also in eine Rivalität zu den anderen treten, gleichzeitig aber ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis entsteht.61 Einen höheren Zielerreichungsgrad als die Konkurrenten zu erzielen, erfordert eine optimale Orientierung an den Wünschen der Kunden,62 denen die freie Wahl darüber zusteht, für welchen Wettbewerber sie sich entscheiden. Voraussetzung für wirtschaftlichen Wettbewerb in diesem Sinne ist somit eine freiheitliche Wirtschaftsordnung, in der auf der einen Seite den Konkurrenten Handlungsspielräume und auf der anderen Seite den Abnehmern Wahlmöglichkeiten zustehen. Ausgehend von diesem Wettbewerbsbegriff lässt sich bereits jetzt davon sprechen, dass in einem formalen Sinne Wettbewerb zwischen den Krankenkassen und PKV-Unternehmen besteht63: Beide bieten einer Vielzahl von Nachfragern das Produkt Krankenversicherung an und sind interessiert daran, möglichst viele Nachfrager für sich zu gewinnen. Ob sich der Zielerreichungsgrad eines Krankenversicherungsanbieters im Gesundheitswesen aber tatsächlich nach seiner Orientierung an den Wünschen der Versicherten richtet, ob also inhaltlich ein echter Wettbewerb geführt wird, in dessen Mittelpunkt die effiziente und qualitativ hochwertige Versorgung der Versicherten steht, muss näher untersucht werden. 2. Der relevante Krankenversicherungsmarkt Voraussetzung dafür ist zunächst, dass beide Systeme überhaupt auf einem relevanten Markt tätig sind.64 Hierfür müsste das Produkt GKV kurzfristig durch das Produkt PKV substituierbar sein.65 Es ist schon dem Namen nach kennzeichnend für die substitutive private Krankenversicherung, dass sie den GKV-Schutz 60
Baßeler/Heinrich/Utecht, Grundlagen und Probleme der Volkswirtschaft, S. 199. Baßeler/Heinrich/Utecht, Grundlagen und Probleme der Volkswirtschaft, S. 199; Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, S. 25 f. 62 Happe/Horn/Otto, Das Wirtschaftslexikon, „Wettbewerb“, S. 306. 63 Fuchs, in: Igl, Das Gesundheitswesen in der Wettbewerbsordnung, S. 39 (43). 64 Baßeler/Heinrich/Utecht, Grundlagen und Probleme der Volkswirtschaft, S. 206. 65 Baßeler/Heinrich/Utecht, Grundlagen und Probleme der Volkswirtschaft, S. 206. 61
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Kap. 2: Status Quo: „Systemwettbewerb‘‘ zwischen GKV und PKV?
ersetzen kann.66 Hinsichtlich ihrer Eigenschaften und des Verwendungszwecks können das Produkt PKV-Vollversicherung und das Produkt GKV-Versicherung auf den gemeinsamen Nenner „finanzielle Absicherung des Krankheitsrisikos“ gebracht werden. Sie sind damit grundsätzlich funktional austauschbar. 3. Wahlrecht der Versicherten Neben der Austauschbarkeit des Produkts ist aber auch erforderlich, dass die Nachfrager zwischen den Produkten wählen und ihre Entscheidung kurzfristig in die eine oder andere Richtung ausüben können. Die §§ 8 und 9 SGB V räumen den Versicherten die Möglichkeit ein, sich alternativ in der GKV oder der PKV zu versichern. Dieses Wahlrecht ist jedoch an enge Voraussetzungen geknüpft. Es handelt sich nicht um ein originäres Wahl- und Wechselrecht zwischen den Systemen. Es wird nicht bestimmten Versicherten die freie Entscheidung für eines der Systeme eröffnet, die jederzeit in beide Richtungen ausgeübt und geändert werden kann. Vielmehr verlangt das Recht zur freiwilligen Versicherung nach § 9 SGB V in der Regel bestimmte Vorversicherungszeiten in der GKV. Die Wahl beschränkt sich somit faktisch auf die Entscheidung über den Verbleib in der GKV nach Wegfall eines Pflichtversicherungstatbestandes. Die freiwillige Versicherung kann daher auch als freiwillige Weiterversicherung bezeichnet werden.67 Ähnliches gilt andersherum für die Befreiung von der Versicherungspflicht gem. § 8 SGB V. Nach dieser Vorschrift wird bestimmten Pflichtversicherten das Recht eingeräumt, eine Befreiung zu beantragen. Einen solchen Antrag kann stellen, wer bislang bei einem privaten Krankenversicherungsunternehmen versichert ist und versicherungspflichtig wird. Die einzelnen Befreiungstatbestände sind abschließend in § 8 Abs. 1 Nr. 1–7 SGB V aufgeführt. Die Struktur der Regelung deutet weniger darauf hin, dass sie durch die Schaffung eines Wettbewerbsfeldes zwischen GKV und PKV motiviert war. Vielmehr soll in erster Linie einzelnen Personen ermöglicht werden, einen bestehenden privaten Versicherungsvertrag aufrechterhalten zu können.68 Da eine Rückkehr zu einem privaten Versicherer nach Wegfall des Pflichttatbestandes nämlich altersbedingt nur noch zu ungünstigeren Konditionen möglich ist, soll der Betroffene nicht zur Kündigung des günstigen Vertrags und zum Wechsel in die GKV gezwungen werden. Diese gesetzlichen Vorgaben engen den wahlberechtigten Versichertenkreis stark ein und verhindern insbesondere die Möglichkeit eines ständigen Wechsels 66
Vgl. Boetius, in: MüKo VVG (2010), Vor § 192, Rn. 475. Baierl, in: jurisPK-SGB V, § 9, Rn. 20; Just, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 9, Rn. 1. 68 Hampel, in: jurisPK-SGB V, 2. Aufl. 2012, § 8, Rn. 34; Fuchs, in: Igl, Das Gesundheitswesen in der Wettbewerbsordnung, S. 39 (48). 67
B. Wettbewerb zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung
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„hin und her“. Vor allem steht der Weg in die GKV nicht unbegrenzt offen. Der freiwillig Versicherte hat faktisch nur ein Wahlrecht in eine Richtung: Er kann die GKV zugunsten der PKV verlassen, aber nicht anders herum. 4. Unterschiedliche rechtliche Rahmenbedingungen und fehlende Handlungsspielräume, um Wettbewerb zu führen Der Wettbewerb zwischen den öffentlichen und privaten Krankenversicherern wird aber nicht nur durch die begrenzten Wahl- und Wechselmöglichkeiten beschränkt, sondern auch durch fehlende Handlungsspielräume, um das Angebot an den Präferenzen der Nachfrager auszurichten. Die Wahlentscheidung für einen Versicherer der GKV oder der PKV wird sich regelmäßig nicht nach den individuellen Angeboten der Versicherer richten, sondern nach den günstigeren gesetzlichen Rahmenbedingungen:69 Dies gilt zunächst für Beamte und Personen mit einer beamtenähnlichen Stellung: Soweit sie entsprechende Vorversicherungszeiten aufweisen, haben sie eine Versicherungsberechtigung in der GKV. Da die gesetzlichen Krankenkassen jedoch keine Quotentarife zur Ergänzung der Beihilfeleistung anbieten dürfen70, ist die GKV für sie wirtschaftlich unvernünftig. Beamte erhalten zur Ergänzung der Alimentation und zur Minderung von Sonderbelastungen wie Krankheit, Geburts- oder Todesfällen Beihilfen.71 Die Beihilfegewährung gehört zu den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums (Art. 33 Abs. 5 GG)72 und ist Ausdruck der Fürsorgepflicht des Dienstherren gegenüber dem Beamten.73 Die Beihilfe im Krankheitsfall ist ein von der GKV unabhängiges, selbständiges beamtenrechtliches Instrument der Krankenfürsorge74 und kann gleichsam als der „dritte Spieler“ neben GKV und PKV im Gesundheitswesen bezeichnet werden. Durch die Beihilfe werden nicht die vollen beihilfefähigen Aufwendungen im Krankheitsfall abgedeckt, sondern nur ein bestimmter Prozentsatz in Höhe von mindestens 50% (§ 80 Abs. 3 S. 1 BBG). Die nicht erfassten Aufwendungen können die Beihilfeberechtigten daneben durch eine zusätzliche Versicherung in der PKV oder bei entsprechender Vorversicherungszeit in der GKV absichern. Da der Dienstherr seinen Fürsorge- und Schutzpflichten gegenüber dem Beamten mit der Beihilfe bereits in ausreichendem Maße nachkommt, hat der Beamte jedoch keinen weiteren Anspruch auf Zahlung des Arbeitgeberbeitrags zur GKV. 69 70 71 72 73 74
Jacobs/Schulze, GGW 2004, 7 (8 ff.). Rudolphs, in: Bach/Moser, PKV, Einl. Rn. 140. Schnellenbach, Beamtenrecht in der Praxis, S. 221; Leppek, Beamtenrecht, S. 162. BVerfG, Beschluss v. 23.6.1981 – 2 BvR 1067/80, BVerfGE 58, 68 (76). Leppek, Beamtenrecht, S. 148. Battis, Bundesbeamtengesetz, § 80 Rn. 5.
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Kap. 2: Status Quo: „Systemwettbewerb‘‘ zwischen GKV und PKV?
Bei einer Entscheidung für die GKV muss der Beamte vielmehr den vollen Beitrag, der sich anhand seiner Bezüge berechnet, allein aufbringen, wofür er im Gegenzug die vollständige Absicherung nach dem GKV-Leistungskatalog erhält. In der PKV kann er stattdessen flexibel das verbleibende Risiko absichern und ist auch nur hierfür zur Zahlung verpflichtet. Die Absicherung in der PKV ist für den Beamten daher in der Regel deutlich günstiger. Da auch in der freiwilligen Versicherung uneingeschränkt die freie Mitversicherung Familienangehöriger gem. § 10 SGB V gilt, ist etwas anderes nur dann denkbar, wenn er besonders viele Familienangehörige hat, die in der GKV gem. § 10 SGB V beitragsfrei mitversichert sind. Nichts anderes gilt für die zahlenmäßig größere Gruppe der Selbständigen und Arbeitnehmer über der Versicherungspflichtgrenze. Auch ihre Wahlentscheidung wird in der Regel in erster Linie durch die rechtlichen Rahmenbedingungen bestimmt. Da die Solidargemeinschaft der GKV keine reine Versicherungsgemeinschaft ist, sondern darüber hinaus schwächere Glieder aufgrund verschiedener Umverteilungseffekte (Junge/Alte, Einkommenssstarke/Einkommensschwache, Kinderlose/Kinderreiche) durch stärkere mitfinanziert werden, ist sie dann attraktiv für Wahlberechtigte, wenn diese von der Umverteilung profitieren können, also zu der Gruppe der jeweils „Schwächeren“ gehören. Es ist nicht anzunehmen, dass Personen die GKV aus einem Verantwortungsgefühl für andere heraus bevorzugen. Vielmehr entscheidet sich der homo oeconomicus für das staatliche System nur dann, wenn er aufgrund niedrigen Einkommens, zahlreicher mitversicherter Familienangehöriger, fortgeschrittenen Alters und/oder hohen Krankheitsrisikos in der GKV eine günstige Absicherung erhält, die von der Solidargemeinschaft mitgetragen wird. Muss er hingegen mehr einzahlen, als er (hypothetisch) heraus bekommt, so wird er es bevorzugen, sich dem Solidarausgleich zu entziehen und einen Versicherungsschutz in der PKV zu suchen.75 Die unterschiedlichen gesetzlichen Rahmenbedingungen der beiden Systeme führen also auch hier zu einem vorgezeichneten Verhalten der Versicherten, d.h. die Wahlentscheidung wird in der Regel nicht durch funktionierenden Wettbewerb, sondern durch andere Faktoren, wie hier die prägenden rechtlichen Merkmale der Systeme bestimmt. Guter Service und ein besonders gutes Preis-Leistungs-Verhältnis des Versicherers leitet den Versicherten bei seiner Entscheidung daher in der Regel erst auf zweiter Stufe, wenn er sich bereits für die GKV oder die PKV entschieden hat. In diesem Fall muss sich der einzelne Anbieter aber nur noch gegen die Krankenversicherer des eigenen Systems durchsetzen. Von einem Wettbewerb zwischen öffentlichen und privaten Anbietern kann dann nicht gesprochen werden.
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Fuchs, in: Igl, Das Gesundheitswesen in der Wettbewerbsordnung, S. 39 (47).
B. Wettbewerb zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung
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5. Erweiterung der Handlungsspielräume durch Reformen der Systeme Wie in dieser Arbeit bereits verdeutlicht wurde, haben sich GKV und PKV einander jedoch angenähert. Durch verschiedene Reformen des Gesundheitswesens wurden neue Handlungsoptionen und -verpflichtungen der Versicherer eingeführt, die Auswirkungen auf das Verhältnis der Krankenversicherungssysteme in ihrer Schnittstelle haben und zum Teil mit einer Stärkung des Wettbewerbs in diesem Bereich begründet wurden. Hierdurch könnte also ein Anbieterwettbewerb zwischen Krankenkassen und Privatversicherern entstanden sein. a) Erweiterte Gestaltungsspielräume der Krankenkassen hinsichtlich der Parameter Preis und Leistung einerseits Hier ist zunächst der zum 1.1.2004 in das SGB V eingefügte § 194 Abs. 1a zu nennen: Er eröffnet nicht nur einen Vermittlerwettbewerb unter den gesetzlichen Krankenkassen76, sondern berührt auch die Wahlentscheidung der wahlberechtigten Versicherten zwischen GKV und PKV. Nach dieser Vorschrift können die Krankenkassen ihren Versicherten PKV-Zusatzversicherungen vermitteln, die den Leistungskatalog der GKV ergänzen. Sie können – und sollen77 – mit den privaten Versicherungsunternehmen besondere Konditionen für ihre Versicherten aushandeln.78 So können Kassenmitglieder durchschnittlich 3–5% gegenüber dem direkten Vertragsschluss mit dem privaten Anbieter sparen.79 Nach außen hin bieten die Krankenkassen die Ergänzungsversicherungen marketingwirksam als eigene Leistungen an und machen deutlich, dass es sich um eigens auf den Bedarf der Mitglieder zugeschnittene Angebote handelt.80 Zwar vermitteln die Kassen rechtlich gesehen nur und verschaffen den PKV-Unternehmen damit u. U. auch neue Kunden in den Zusatzversicherungstarifen; sie schwächen aber die Attraktivität der PKV-Vollversicherung gegenüber einer freiwilligen Versicherung in der GKV. Es macht gerade die Attraktivität der PKV aus, dass der Versicherte hier einen an seine Wünsche und Bedürfnisse angepassten Tarif „aus einer Hand“ wählen kann und kein gesetzlich definierter Leistungskatalog gilt. Kann er einen solchen – durch die nach außen oft kaum sichtbare Kombination mit einer PKVErgänzungsversicherung – auch in der GKV erhalten, so ist der Wechsel in die PKV nach Eintritt der Versicherungsfreiheit zumindest uninteressanter. Wettbewerblichen Handlungsspielraum haben die Krankenkassen ferner durch die Einführung der bereits mehrfach erwähnten Wahltarife gem. § 53 SGB V er76
Dazu oben Kapitel 2 A. I. 1. So ausdrücklich die Begründung zu Art. 1 Nr. 136, Entwurf GMG, BT-Drs. 15/ 1525, S. 138. 78 Vgl. Boetius, in: MüKo VVG, Vor § 192, Rn. 117. 79 Schneider-Danwitz, in: jurisPK-SGB V, § 194, Rn. 38. 80 Vgl. Boetius, in: MüKo VVG, Vor § 192, Rn. 117. 77
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Kap. 2: Status Quo: „Systemwettbewerb‘‘ zwischen GKV und PKV?
halten. Die gesetzlichen Krankenkassen können ihr Versicherungsangebot dadurch auch für einkommensstarke, junge, gesunde Versicherte ohne mitversicherte Familienangehörige attraktiv gestalten. Ob und Wie des Angebots von Wahltarifen obliegen in der Regel der einzelnen Krankenkasse. Insgesamt wird dem GKV-System damit ein Handlungsspielraum zu sehr flexibler Angebotsgestaltung eröffnet, der ihm die Möglichkeit gibt, sich auch für nicht „Schutzbedürftige“ als echte Alternative zur PKV zu etablieren. Die Wahltarife haben zunächst Auswirkungen auf den bisher ausschließlich privaten Markt der Zusatzversicherungen. Ergänzungsversicherungen für Krankheitskosten, die über den gesetzlichen Leistungskatalog der GKV hinausgehen, lagen bisher ausschließlich im Aufgabenbereich der Privatversicherung. Durch die Wahltarife öffnet sich nun auch das staatliche Versicherungssystem für diesen Bereich: Leistungserweiterungen sehen namentlich die Tarife der Abs. 4 bis 6 vor. Aus Abs. 4 geht nicht klar hervor, ob von dem Kostenerstattungstarif auch die Erstattung von Leistungen umfasst ist, die über den Leistungsumfang der GKV hinausgehen. Die ausdrückliche Erklärung des Bundesversicherungsamtes lehnt dies ab. Der Unterschied zu § 13 Abs. 2 SGB V liege nur in der Höhe des Erstattungsbetrags.81 Dennoch mag man Zweifel anmelden, ob die Grenze zwischen Leistungserweiterung und Vergütungshöhe nicht verwischt, wenn etwa das Angebot eines Kostenerstattungstarifs mit „Chefarztbehandlung und 2-Bett-Zimmer“ für zulässig erachtet wird.82 Über diesen neuen Konkurrenzbereich hinaus, haben die Wahltarife aber auch Bedeutung für das Verhältnis der Systeme im Bereich der freiwilligen Versicherung. Personen mit Versicherungsberechtigung nach § 9 SGB V haben durch den Wahltarif Kostenerstattung nach § 53 Abs. 4 SGB V die Möglichkeit in der GKV einen Status wie ein Privatversicherter zu erhalten.83 Auf die Attraktivität der GKV für junge und gesunde, einkommensstarke freiwillig Versicherte hat überdies Einfluss, dass diese ihren GKV-Beitrag durch Selbstbehalte (§ 53 Abs. 1 SGB V) und mögliche Prämienzahlungen bei Nichtinanspruchnahme der Leistungen (§ 53 Abs. 2 SGB V) vergünstigen können, obwohl sie aufgrund ihres hohen Einkommens eigentlich mehr in die GKV einzahlen müssten.84 Einen ähnlichen Effekt wie die Wahltarife haben auch die satzungsmäßigen Zusatzangebote, die die Krankenkassen ihren Versicherten seit dem 1.1.201285
81 So das Bundesversicherungsamt in einem Schreiben vom 13.3.2007; in die gleiche Richtung weisen LSG NRW, Urteil v. 27.5.2008, L 11 B 6/08 KR ER; vgl. dazu Lang, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 53 Rn. 17. 82 Krit. auch Lang, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 53 Rn. 17. 83 Thüsing, NZS 2008, 449 (450). 84 Diese Tarifmöglichkeiten bestanden für freiwillig Versicherte allerdings auch bereits vor der Reform des GKV-WSG. 85 GKV-VStG v. 22.12.2011 BGBl. I S. 2983.
B. Wettbewerb zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung
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machen können.86 Auch hierdurch haben die Krankenkassen die Möglichkeit, ihr Angebot zu erweitern und untereinander auszudifferenzieren, was zunächst dem Wettbewerb unter den Krankenkassen dient, aber auch die Attraktivität der Kassen gegenüber privaten Versicherern stärkt. Bei der Schaffung dieses neuen Wettbewerbselements hatte der Gesetzgeber ausdrücklich auch die Auswirkungen auf den Wettbewerb zu den privaten Versicherungsunternehmen im Auge.87 Schließlich stellt auch der Zusatzbeitrag in der GKV gem. § 242 SGB V als einkommensunabhängiger Beitragsbestandteil neben seiner primären Funktion als Wettbewerbsparameter unter den einzelnen Krankenkassen ein Mittel dar, um die GKV für einkommensstarke Versicherte attraktiver zu machen, da er ein einkommensunabhängiges Beitragselement darstellt. b) Verpflichtung der Privatversicherer zum Angebot eines Basistarifs andererseits Die Verpflichtung der privaten Krankenversicherungsbranche zum Angebot des Basistarifs hat keine direkten, sondern allenfalls indirekte Auswirkungen auf die Konkurrenzsituation der Systeme in ihrer Schnittstelle. In erster Linie verfolgt der Basistarif den Zweck, denjenigen, die nicht zur Solidargemeinschaft der GKV gehören und sich bisher keine private Versicherung leisten konnten, eine wirksame Absicherung gegen das Krankheitsrisiko zu ermöglichen.88 Der Basistarif geht untrennbar mit der Einführung der umfassenden Krankenversicherungspflicht aller Bürger einher. Er verschafft der PKV zwar neue Versicherte, aber nicht aus dem Kreis der freiwillig GKV-Versicherten, sondern insbesondere aus dem der Versicherungslosen. Das BVerfG bringt in seinem Urteil zur Verfassungsmäßigkeit des GKV-WSG die zu erwartende geringe Inanspruchnahme des Basistarifs als Argument vor, um zu begründen, dass die sinnvolle Berufsausübung der Versicherungsunternehmen durch den Basistarif nicht verhindert werde. Insbesondere für bisher freiwillig gesetzlich Versicherte und Privatversicherte im Normaltarif lohne sich ein Wechsel regelmäßig nicht; Die Versicherungsbedingungen des Basistarifs seien für diese unattraktiv.89 Einfluss auf die Konkurrenz der Systeme kann der Basistarif daher nur dadurch nehmen, dass seine absolute Prämiengrenze zu einer Steigerung der Prämien in den Normaltarifen führen kann. Mehrkosten, die auf die pauschalierte, nicht kostendeckende Prämienkalkulation im Basistarif zurückzuführen sind, 86
Siehe o. Kapitel 2 A. I. 1. BT-Drs. 17/6906, S. 53: „Die Bundesregierung wird die Auswirkungen der erweiterten Satzungsleistungen auf den Wettbewerb innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung und den Wettbewerb mit privaten Versicherungsanbietern evaluieren.“ 88 BT-Drs. 16/3100, S. 1. 89 BVerfG, Urteil vom 10.6. 2009 – 1 BvR 706/08, Rn. 170, 178, BVerfGE 123, 186; s. a. Wowra, Jura 2009, 928 (929). 87
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Kap. 2: Status Quo: „Systemwettbewerb‘‘ zwischen GKV und PKV?
werden im Rahmen eines Risikoausgleichsverfahrens unter den Versicherungsunternehmen ausgeglichen (§ 12 g VAG) und letztendlich auf die Prämien in den Normaltarifen umgelegt (§ 8 Nr.6 KalV). Die Versicherten in den Normaltarifen zahlen also einen Anteil ihrer Prämien für die Beibehaltung der Prämiengrenze im Basistarif. Dies erhöht die Kosten für den Versicherungsschutz und hat daher einen negativen Einfluss auf die Attraktivität der PKV im Vergleich zur GKV.
IV. Bewertung: Kein Wettbewerb im engeren Sinne 1. Eingeschränkter Anbieterwettbewerb zwischen Krankenkassen und privaten Versicherungsunternehmen Zunächst zeigt sich, dass der Großteil der Bevölkerung einem Wettbewerb der unterschiedlichen Versicherungssysteme entzogen ist. Nur etwa 11% der Bevölkerung hat – jedenfalls einmalig – zwischen GKV und PKV die Wahl. Aber auch um diese wird kein idealtypischer Wettbewerb geführt: Zwar wurde durch die jüngsten Reformen Einfluss auf das Verhältnis der gesetzlichen Krankenkassen zu den privaten Versicherungsunternehmen genommen. Insbesondere wurde den Krankenkassen ein größerer Spielraum eröffnet, um präferenzgerechte Angebote zu machen. Dennoch stehen die sehr unterschiedlichen Rahmenbedingungen einem idealtypischen Wettbewerb nach wie vor entgegen: Die Wahlentscheidung des Versicherten für einen Anbieter der GKV oder der PKV wird in erster Linie durch die für ihn vorteilhafteren gesetzlichen Rahmenbedingungen bestimmt. So ist die GKV aufgrund der Umverteilungsmechanismen immer dann attraktiv, wenn der Versicherte ein hohes Krankheitsrisiko mitbringt oder wenn er besonders viele Familienmitglieder ohne eigenes Einkommen mitversichern kann. Anders herum ist die PKV attraktiv für junge Menschen mit geringem Risiko und wenigen Familienangehörigen. Lediglich dann, wenn keines der Systeme signifikant günstiger ist, können Effizienz, Qualität und gezielte Angebote des Versicherers die Wahlentscheidung des Versicherungsnehmers beeinflussen. Die Zuordnung der einzelnen Versichertenkreise zu den beiden Systemen ist also regelmäßig keine Folge eines funktionierenden Wettbewerbs, sondern erfolgt aufgrund gesetzgeberischer Weichenstellungen. Dieses Ergebnis ist zwingend, denn die GKV dient als staatliche Einrichtung nicht dazu Personen mit guten Risiken „zu locken“, sondern sozial Schutzbedürftige abzusichern. Würde sie echten Wettbewerb führen, verlöre sie ihre Legitimation. Die freiwillige Versicherung kann in einem durch die Pflichtversicherung geprägten System nur die Aufgabe haben, Personen die Weiterversicherung zu ermöglichen, die aus der Pflichtversicherung ausscheiden und solchen Personen Schutz zu bieten, die ein den Pflichtversicherten vergleichbares Schutzbedürfnis aufweisen. Diese Funktion widerspricht bereits einem Wettbewerb.
B. Wettbewerb zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung
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Auch die Annäherung von GKV und PKV hat daran nichts geändert. Sie reicht nicht so weit, dass die divergierenden gesetzlichen Rahmenbedingungen aufgehoben worden wären. Die Konvergenzbewegung der PKV an die GKV vollzieht sich in erster Linie im Rahmen des Basistarifs. Dieser dient aber nicht der Abwerbung freiwillig Versicherter von der GKV, sondern der Absicherung bisher Nichtversicherter. Er ist für freiwillig Versicherte in der Regel verhältnismäßig teuer und daher unattraktiv.90 Für den „Wettbewerb“ an der Schnittstelle der Systeme ist er daher irrelevant. Die Wahltarife (§ 53 SGB V) und satzungsmäßigen Zusatzangebote (§ 11 Abs. 6 SGB V) erhöhen dagegen zwar die Attraktivität der GKV- gegenüber der PKV-Vollversicherung91, vermögen aber dennoch nicht einen wirksamen Wettbewerb zu schaffen, bei dem alle Anbieter unter gleichen Bedingungen ein austauschbares Produkt anbieten. Was die Wahltarife angeht, so handelt es sich nicht um ein Mittel zur „Stärkung“ eines vorhandenen Wettbewerbs zwischen GKV- und PKV-Vollversicherung, sondern schlicht um ein systemwidriges Element im Recht der GKV92: Die Regelungen dienen dazu – soweit die freiwillige Versicherung betroffen ist –, den Mitgliederkreis der GKV zu erweitern und gerade die Personen zu „locken“, die einer solidarischen Absicherung nicht bedürfen. Damit sollen der GKV neue Beitragseinnahmen verschafft werden. Mittel zu diesem Zweck ist eine Methode des „Rosinenpickens“: Die Attraktivitätsmerkmale der PKV, nämlich die Kostenerstattung und der variable Leistungskatalog werden für die GKV übernommen, nicht jedoch die Faktoren, die den privaten Versicherungsschutz teuer machen, wie die Pflicht zur Bildung von Altersrückstellungen und die risikoäquivalente Beitragsbemessung. Gleichzeitig werden die Vorteile, die die GKV für freiwillig Versicherte ohnehin bereithält, beibehalten, wie insbesondere die kostenfreie Mitversicherung von Familienangehörigen. Das ist aber kein Wettbewerb, sondern eine gesetzgeberische Maßnahme zur Erweiterung der Einnahmenbasis der GKV. Mit den Wahltarifen ist vielmehr eine Situation in der durch Wahlmöglichkeit eröffneten Schnittstelle der Systeme eingetreten, die Walter Leisner bereits 1974 prophezeite, indem er aufzeigte, dass die Privatversicherung in einer Konkurrenzsituation zur Sozialversicherung „grundsätzlich auf Dauer nur verlieren kann“. „Denn sollte es ihr gelingen ihre Überlegenheit nachzuweisen, so wird der Gesetzgeber – möglicherweise nicht nur aus sozialpolitischen, sondern geradezu aus versicherungstechnischen Gründen – gezwungen sein, der Sozialversicherung zu
90 BVerfG, Urt. v. 10.6.2009 – 1 BvR 706/08 u. a., Rn. 178, NJW 2009, 2033 (2039 f.). 91 Das zeigen auch die Zahlen: Die Abgänge zur GKV nahmen in den vergangenen Jahren zu und die Zugänge zur PKV ab. 2011 wechselten 232.000 Personen zur PKV und 157.600 zur GKV. 92 Vgl. zur Verfassungswidrigkeit der Wahltarife sogleich Kapitel 5, C. II. 2. b) aa).
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Kap. 2: Status Quo: „Systemwettbewerb‘‘ zwischen GKV und PKV?
Hilfe zu kommen. Eine Konkurrenz aber, in der Private nur Pyrrhussiege erringen können, verdient auch sozialpolitisch diesen Namen nicht.“ 93 2. Ausnahme: Zusatzversicherungsmarkt Echte Konkurrenz zwischen GKV und PKV besteht seit der Einführung der Wahltarife gem. § 53 SGB V dagegen auf dem Markt der Zusatzversicherungen. Zwar sind Krankenkassen nicht berechtigt, Zusatzversicherungen zu betreiben (§ 30 Abs. 1 SGB IV, § 260 Abs. 1 SGB V). Seit der Einführung der Wahltarife gem. § 53 Abs. 4 und 5 SGB V können sie aber leistungserweiternde Tarife anbieten. Damit treten sie auf dem Markt der Zusatzversicherungen in direkte Konkurrenz zu den privaten Versicherungsanbietern. Wahlberechtigte Nachfrager sind hier neben den freiwillig Versicherten auch alle GKV Pflichtversicherten. Gem. § 53 Abs. 5 SGB V können die Krankenkassen für Arzneimittel der sog. besonderen Therapierichtungen spezielle Tarife vorsehen.94 Als Gegenleistung zahlt der Versicherte eine Prämie. Eine solche Möglichkeit zur Leistungserweiterung schafft auch Art. 53 Abs. 4 SGB V. Der satzungsmäßige Wahltarif Kostenerstattung geht über die gesetzliche Kostenerstattung gem. § 13 Abs. 2 SGB V hinaus. Auch wenn durch diesen Tarif der Leistungskatalog der GKV nicht ausgeweitet werden darf, kann die Höhe der Kostenerstattung über das hinausgehen, was die Krankenkasse im Rahmen des Sachleistungsprinzips gezahlt hätte.95 Insbesondere können Rechnungen u. U. bis zum 3,5-fachen Gebührensatz nach GOÄ/GOZ erstattet werden.96 Dies führt im Ergebnis zu einer Erweiterung der Leistungen, wenn etwa die Unterbringung im Zweibettzimmer oder die Chefarztbehandlung erfasst werden können, die sonst nur über eine Zusatzversicherung in der PKV zu erhalten wären.97 Auch hier ist zwar das Wettbewerbsverhältnis aus den bereits geschilderten Gründen erheblich zugunsten der GKV verzerrt,98 gesetzliche Krankenkassen und private Versicherungsunternehmen treten aber in unmittelbare Konkurrenz um Versicherte, die nicht durch unterschiedliche Rahmenbedingungen verhindert wird. 93
Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 180. Hierzu gehören insbesondere homöopathische, phytotherapeutische und anthroposophische Therapien, die vom Pflichtleistungskatalog nicht umfasst sind. Vgl. Lang, in: Becker/Kingreen, SGV, § 53, Rn. 21. 95 Siehe nur Lang, in: Becker/Kingreen, SGV, § 53, Rn. 17. 96 Hohnholz, in: Hauck/Noftz, SGB V, § 53, Rn. 29. 97 Dazu Thüsing, NZS 2008, 449 (500). 98 Isensee weist neben den Vorteilen, die die GKV hinsichtlich der Finanzierung der Wahltarife genießt, darauf hin, dass ein Wettbewerbsvorteil bereits deshalb besteht, weil ihr die Nutzung ihrer Mitgliederkarteien offen steht, in denen etwa 90% der Bevölkerung erfasst sind. NZS 2007, 449 (455). 94
B. Wettbewerb zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung
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3. Kein wirksamer Systemwettbewerb Trotz des fehlenden Anbieterwettbewerbs mag man argumentieren, das Nebeneinander von GKV und PKV schaffe jedenfalls eine Vergleichssituation. Es bewirke eine anhaltende Debatte über Qualität und Wirtschaftlichkeit der Leistungen und damit einen „durchaus wirksamen, wenn auch nicht messbaren“ Systemwettbewerb99. Isensee spricht plastisch von der PKV als „Pfahl im Fleische“ der GKV, die ihrem „natürlichen Hang zur Trägheit, zu Leistungsverfall und Leistungsverzögerung (Wartezeiten!) [entgegenwirke].“ 100 Hier mag etwas dran sein. Jedoch muss klar sein, dass auch der Vergleich der Systeme hinkt: Welches System eine Aufgabe besser und effizienter erfüllt, kann nur beurteilt werden, wenn beide die gleiche Aufgabe wahrnehmen, das gleiche Ziel verfolgen und der Versichertenkreis vergleichbar ist. Die PKV bietet aber grundsätzlich eine reine Krankenversicherung an, d.h. sie bildet private Risikogemeinschaften und ist auf Gewinnerzielung ausgerichtet. Die GKV erfüllt dagegen eine soziale Aufgabe die über die soziale Sicherung gegen Krankheit hinausgeht. Sie ist auch durch verschiedene Umverteilungselemente gekennzeichnet. Aufgrund dieser Ziele der sozialen Sicherheit und des sozialen Ausgleichs ist die GKV Ausdruck des verfassungsrechtlichen Sozialstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 1 GG), während die PKV Ausdruck der verfassungsrechtlich gewährleisteten Freiheitsbetätigung ist.101 Zu einer merklichen Annäherung haben hier die allgemeine Versicherungspflicht und der Basistarif geführt. Seither übernimmt auch die PKV in gewissem Umfang sozialversicherungsrechtliche Umverteilungsaufgaben, die Ausdruck des Art. 20 Abs. 1 GG sind. In der Tat kann seit Einführung des Basistarifs daher verglichen werden, wie effizient ein privates System die Absicherung Schutzbedürftiger im Vergleich zur staatlichen Sozialversicherung bewältigt. Jedoch bleibt die Vergleichsmöglichkeit schon deshalb eingeschränkt, weil von den 8,89 Millionen Privatversicherten nur 26.700 Personen im brancheneinheitlichen gesetzlichen Basistarif versichert sind102 und diese Aufgabe daher in der PKV eher im Hintergrund steht. Das Hauptgeschäft bestimmen auch weiterhin die Normaltarife. Eine derart weitgehende Anpassung der Vertragsbedingungen der PKV an die GKV wie in der Privaten Pflegeversicherung103 hat hier gerade nicht stattgefunden.
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So Giesen, NZS 2006, 449 (451). Isensee, NZS 2004, 393 (401). 101 Mühlenbruch, in: Steuerungsinstrumente im Recht des Gesundheitswesens, Bd. 1, S. 37 (44). 102 Zahlenbericht der Privaten Krankenversicherung 2013, S. 25, 30; abrufbar unter: www.pkv.de. 103 Siehe dazu etwa Isensee, in: FS Gitter, S. 401 ff. 100
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Kap. 2: Status Quo: „Systemwettbewerb‘‘ zwischen GKV und PKV?
Von einem Systemwettbewerb zu sprechen scheint ferner deshalb problematisch, weil es dem „Entdeckungsverfahren“ 104 Wettbewerb immanent ist, dass sich das System, welches die Aufgabe besser erfüllt, durchsetzen kann.105 Die Systeme von gesetzlicher und privater Krankenversicherung können aber nicht voneinander lernen. Es bedarf vielmehr stets eines gesetzgeberischen Aktes, welcher ein System dem anderen anpasst, das sich besonders bewährt hat. So kann Wettbewerb nicht zu einem dynamischen Innovationsprozess führen. Damit ist noch nicht gesagt, dass es keine sinnvollen Gründe für die Bipolarität der Versicherungsordnung gibt: Die PKV ist Ausdruck der Grundrechtsbetätigung. Sie ist „Reservat des Marktes“ 106 und „Indikator für echte Preise“ 107. Wettbewerb zwischen den Trägern der GKV und den PKV-Unternehmen kann aber nicht der Grund sein: Er ist nur scheinbarer Vorzug des Nebeneinanders der Systeme. Ihn als Argument für die Aufrechterhaltung der dualen Versicherungsordnung anzuführen, erscheint verfehlt. Einen Systemwettbewerb, „in dessen Mittelpunkt die Funktionsfähigkeit von Krankenversicherungsmärkten steht“ 108 gibt es nicht. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ein idealtypischer Wettbewerb zwischen GKV und PKV durch folgende Faktoren verhindert wird: – Wahlmöglichkeiten bestehen nur für einen sehr eingeschränkten Personenkreis. Sie können nicht beliebig in beide Richtungen ausgeübt werden, sondern beschränken sich in der Regel auf eine Wechseloption zur PKV. – Unterschiedliche rechtliche Rahmenbedingungen für GKV und PKV (insb. in Bezug auf Beitrags-/Prämiengestaltung und Leistungskatalog) bestimmen maßgeblich die Wahlentscheidung des Wahlberechtigten. – Die Handlungsspielräume der Anbieter, ihre Angebote an den Nachfragerpräferenzen auszurichten, sind sehr begrenzt. – Die engen rechtlichen Rahmenvorgaben verhindern die Vorzüge des anderen Systems nachzuahmen und weiterzuentwickeln. – GKV und PKV verfolgen (zumindest primär)109 unterschiedliche Aufgaben und Ziele. 104
v. Hayek, in: Freiburger Studien, S. 249. In Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, S. 26 heißt es dazu: „Das Zusammenspiel zwischen vorstoßenden und nachziehenden, agierenden und reagierenden Wettbewerb vollzieht sich mit wechselnden Rollen; es ist – und hierin liegt seine Bedeutung – ein Prozess ständiger Differenzierung und Nivellierung, in dem wirtschaftliche Machtpositionen auf- und abgebaut werden.“ 106 Isensee, NZS 2004, 393 (401). 107 Isensee, NZS 2004, 393 (401). 108 Rürup-Kommission, Bericht 2003, S. 170. 109 Dies gilt nach wie vor trotz der erkennbaren Konvergenztendenzen. 105
B. Wettbewerb zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung
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4. Versuch einer alternativen Beschreibung des Verhältnisses von GKV und PKV: Komplementarität statt Konkurrenz Statt eines wirksamen Systemwettbewerbs finden wir aktuell eine zweigliedrige Krankenversicherungsordnung vor, die sich in ihrer Struktur und der Aufteilung der Versichertengruppen vor allem historisch erklären lässt. Grundsätzlich ist die PKV Ausdruck der Eigenvorsorge der Bürger, während die GKV schutzbedürftige Personenkreise ohne ihren Willen pflichtversichert. Es handelt sich damit um komplementäre110 Systeme, die sich in Abhängigkeit von einander entwickelt haben. Ausgehend von dem Leitbild der GKV nimmt die PKV sowohl eine Surrogations- als auch eine Aufstockungsfunktion wKahr.111 Ferner wird die PKV auch zum „sozialpolitischen Instrumentarium“, indem sie zunehmend soziale Aufgaben übernimmt. Einen Meilenstein stellen insoweit, wie bereits mehrfach erwähnt, die allgemeine Versicherungspflicht und der Basistarif dar. Möglicherweise ist hierin „ein sich wandelndes Verhältnis von staatlicher und privater, marktgeleiteter Aufgabenwahrnehmung“ zu erblicken.112 GKV und PKV als sich ergänzende Systeme zu betrachten, scheint aber weiterhin eine zutreffende Beschreibung ihres Verhältnisses zueinander zu sein.
110 Heinze, ZVersWiss 2000, 243 (256); Mühlenbruch, in: Steuerungsinstrumente, S. 37 (52). 111 Koch, ZVersWiss 1980, 199 (208 f.). 112 Mühlenbruch, in: Steuerungsinstrumente, S. 37 (52).
Kapitel 3
Rechtliche Ordnung des „Wettbewerbs“ durch das europäische und nationale Kartellrecht? Aus einem rechtlichen Blickwinkel ist ferner von Interesse, ob die Träger der GKV und die privaten Versicherer in einem Verhältnis zu einander stehen, das dem Schutz des Wettbewerbsrechts untersteht. Auch wenn soeben aufgezeigt wurde, was den GKV-Wettbewerb und den sog. „Systemwettbewerb“ zwischen GKV und PKV von einem idealtypischen Wettbewerb unterscheidet, schließt das nicht aus, dass das Wettbewerbsrecht dennoch Anwendung findet. Die Untersuchung konzentriert sich hier auf das Kartellrecht nach dem AEUV und dem GWB. Die Auslegung des Wettbewerbsbegriffs der Tatbestände des deutschen und europäischen Kartellrechts muss sich an Sinn und Zweck des GWB bzw. des EU-Kartellrechts orientieren. Eine gesetzliche Definition von „Wettbewerb“ findet sich hier trotz der zentralen Bedeutung des Begriffs für die Rechtsmaterie nicht. Dem GWB wird in seiner Begründung von 1952 der folgende Zweck beigemessen: „Es soll die Freiheit des Wettbewerbs sicherstellen und wirtschaftliche Macht da beseitigen, wo sie die Wirksamkeit des Wettbewerbs und die ihm innewohnende Tendenzen zur Leistungssteigerung beeinträchtigt und die bestmögliche Versorgung der Verbraucher in Frage stellt“ 1 Der Schutz der Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs kann damit als Gesetzeszweck des GWB ausgemacht werden. Das europäische Kartellrecht dient der Verwirklichung des Ziels, ein System zu errichten, welches den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarktes vor Verfälschungen schützt.2 Diese Zweckrichtung des Wettbewerbsschutzes sagt jedoch nichts über das Verständnis des Gesetzgebers von dem Wettbewerb selbst aus. Eine Definition des Wettbewerbsbegriffs selbst ist nicht nur nicht möglich, sondern auch nicht gewollt. Das Kartellrecht macht sich bewusst keine wirtschaftspolitische Wettbewerbstheorie zu eigen, um zu verhindern, dass bestimmte Beschränkungsarten ausgeschlossen werden.3 Die Normen sind so gefasst, dass es einer positiven De1
Begründung zum GWB (1952), BT-Drs. 2/1158, S. 1. Vgl. Protokoll Nr. 27 zum EUV und AEUV über den Binnenmarkt und den Wettbewerb, wonach der Binnenmarkt „ein System umfasst, dass den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt“. 3 Zimmer, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, Bd. 2: GWB, § 1 Rn. 109; Kling/Thomas, Kartellrecht, § 14 Rn. 33. 2
A. Die gesetzlichen Krankenkassen im Bereich der Pflichtversicherung
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finition des Wettbewerbs für die Rechtsanwendung nicht bedarf. Vielmehr werden nur die unzulässigen Wettbewerbsbeschränkungen als Verhaltensweisen bestimmt, die mit dem – nicht definierbaren – Wettbewerbsleitbild nicht in Einklang stehen. So wird Wettbewerb gleichsam negativ definiert.4 Diese Offenheit des Kartellrechts macht es also möglich, dass das Wettbewerbs(schutz)recht Anwendung findet, obwohl zuvor festgestellt wurde, dass ein funktionsfähiger Wettbewerb aus einer wirtschaftswissenschaftlichen Perspektive – jedenfalls im Verhältnis der Krankenkassen und der Privatversicherer zueinander – nicht stattfindet. Die Untersuchung wird jedoch zeigen, dass die Sozialversicherungsträger der GKV weder im Bereich der Pflichtversicherung noch im Bereich der freiwilligen Versicherung dem Wettbewerbsrecht unterstehen. Anderes gilt nur dort, wo der nationale Gesetzgeber die entsprechende Geltung ausdrücklich angeordnet hat.
A. Die gesetzlichen Krankenkassen im Bereich der Pflichtversicherung I. Europäisches Kartellrecht Das europäische Kartellrecht ist geregelt in den Artt. 101, 102 und 106 AEUV sowie in der Fusionskontrollverordnung VO (EG) 139/2004 (FKVO). Drei Verhaltensweisen von Unternehmen sind danach verboten: Wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen (Art. 101 Abs. 1 AEUV), der Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung (Art. 102 AEUV) und Zusammenschlüsse von Unternehmen ohne vorherige Anmeldung, wie sie die FKVO vorsieht. Allein an die Mitgliedstaaten adressiert ist dagegen Art. 106 Abs. 1 AEUV, der verbietet öffentliche und privilegierte Unternehmen von staatlicher Seite zu Wettbewerbsverstößen zu veranlassen. Damit diese Normen auf die Träger der deutschen GKV Anwendung finden, müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Da das europäische Kartellrecht dem Schutz des Wettbewerbs im Binnenmarkt dient, müssen die Tätigkeiten der Krankenkassen zunächst geeignet sein, den grenzüberschreitenden Wettbewerb zu beeinflussen (Sachlicher Anwendungsbereich). Schließlich muss es sich bei den Krankenkassen um Unternehmen im Sinne des europäischen Kartellrechts handeln (Persönlicher Anwendungsbereich). 1. Sachlicher Anwendungsbereich Wann ein Bezug zum Binnenmarkt besteht und daher die europäischen Wettbewerbsvorschriften Anwendung finden, wird für Kartell- und Missbrauchsverbot anders bestimmt als für die Zusammenschlusskontrolle. 4
Kling/Thomas, Kartellrecht, § 14 Rn. 37.
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Kap. 3: Rechtliche Ordnung des „Wettbewerbs‘‘ durch das Kartellrecht?
Artt. 101 Abs. 1 und 102 AEUV verbieten ihrem Wortlaut nach Verhaltensweisen, die geeignet sind, „den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen“. Durch dieses „Zwischenstaatlichkeitserfordernis“ 5 soll der Geltungsbereich des europäischen Rechts von dem des innerstaatlichen Rechts abgegrenzt werden.6 Um einen möglichst effektiven Schutz des Wettbewerbs im Binnenmarkt zu gewährleisten, wird das Kriterium sehr weit ausgelegt. Ein Verhalten muss „unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder der Möglichkeit nach geeignet sein, die Freiheit des Handels zwischen Mitgliedstaaten in einer Weise zu gefährden, die der Verwirklichung der Ziele eines einheitlichen zwischenstaatlichen Marktes nachteilig sein kann“.7 Dies ist für verschiedene Tätigkeitsbereiche jeweils einzeln zu bestimmen. Bei gesetzlichen Krankenkassen kann unterschieden werden zwischen – der Nachfragetätigkeit auf dem Leistungsmarkt und – der Angebotstätigkeit auf dem Versicherungsmarkt. Als Leistungsmarkt wird das Verhältnis der Krankenkassen zu den Leistungserbringern umschrieben. Hier treten Krankenkassen als Nachfrager von Gesundheitsleistungen auf. Aus diesem Tätigkeitsfeld hatte der EuGH bereits einen Fall zu beurteilen: In dem Vorabentscheidungsverfahren AOK Bundesverband 8 prüfte er die Anwendbarkeit des europäischen Kartellrechts auf die gemeinsame Festsetzung von Festbeträgen für die Übernahme von Arzneimittelkosten durch die Spitzenverbände der deutschen gesetzlichen Krankenkassen. Zwischenstaatlichkeit im Sinne des Art. 101 Abs. 1 AEUV war hier zu bejahen, da die Bestimmung der Festbeträge nicht nur Auswirkungen auf den nationalen Arzneimittelmarkt, sondern in gleicher Weise auch auf den Handel in der Gemeinschaft hat:9 „Auf dem nationalen Markt werden neben im Inland produzierten Pharmazeutika in wesentlichem Umfang auch importierte Arzneien angeboten, insbesondere solche, die aus Re- oder Parallelimporten stammen.“ 10 Das durch die Festbetragsfestsetzung hervorgerufene veränderte Nachfrageverhalten der Versicherten beeinträchtigt die Hersteller mit Sitz im europäischen Ausland ebenso wie die im Inland. Anders kann dagegen die Beurteilung des Handelns der Krankenkassen auf dem Versicherungsmarkt aussehen, auf dem diese mit ihren Angeboten um Versicherte konkurrieren. Die gemeinsame Erhebung von Zusatzbeiträgen gem. 5 Vgl. näher etwa Wolfgang Weiß, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 101 AEUV, Rn. 124 ff.; Zimmer, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, Bd. 1: EU, Art. 101 Abs. 1 AEUV, Rn. 194 ff. 6 Vgl. EuGH v. 13.7.1966 – Verb. Rs. C-56/64 und C-58/64 – Consten und Grundig. 7 Vgl. EuGH v. 13.7.1966 – Verb. Rs. C-56/64 und C-58/64 – Consten und Grundig. 8 EuGH v. 16.3.2004 – verb. Rs. C-264/01 u. a., Slg. 2004, I-2524 – AOK Bundesverband; dazu sodann. 9 BGH v. 3.7.2001 – KZR 31/99, GRUR 2002, 554 (555). 10 BGH v. 3.7.2001 – KZR 31/99, GRUR 2002, 554 (555).
A. Die gesetzlichen Krankenkassen im Bereich der Pflichtversicherung
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§ 242 SGB V durch mehrere gesetzliche Krankenkassen beispielsweise berührt den Handel zwischen den Mitgliedstaaten nicht. Ihre wettbewerbsbeschränkende Wirkung zeigt sich nur auf einem Markt, auf dem ausschließlich die gesetzlichen Krankenkassen untereinander um Versicherte konkurrieren und der ausländischen Anbietern ebenso wie deutschen Privatanbietern grundsätzlich aufgrund der GKV-Versicherungspflicht des § 5 SGB V versperrt ist.11 Auch mit dem Umstand, dass die Maßnahme das gesamte Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland umfasst, lässt sich hier keine Zwischenstaatlichkeit begründen.12 Mit derartigen Maßnahmen geht zwar regelmäßig eine Abschottung des nationalen Marktes einher, die den Marktzutritt durch Anbieter anderer EU-Staaten behindert.13 Da der Markt hier jedoch bereits zuvor durch die gesetzliche Regelung des § 5 SGB V abgeschottet war, hat das konkrete Verhalten der gemeinsamen Zusatzbeitragserhebung rein innerstaatliche Bedeutung. Hier kann nur der Staat mit Erlass der Vorschrift des § 5 SGB V gegen das EU-Recht verstoßen haben, da der Vorschrift selbst Binnenmarktbezug zukommt.14 Mangels „gemeinschaftsweiter Bedeutung“ i. S. d. Art. 1 VO (EG) 139/2004 (FKVO) fallen Zusammenschlüsse von gesetzlichen Krankenkassen dagegen von vorn herein nicht unter den Anwendungsbereich der europäischen FKVO.15 Die Bedeutung für den Binnenmarkt entfällt nach den Vorgaben der FKVO, wenn „die beteiligten Unternehmen jeweils mehr als zwei Drittel ihres gemeinschaftsweiten Gesamtumsatzes in ein und demselben Mitgliedstaat erzielen“, vgl. Art. 1 Abs. 2, letzter HS, Abs. 3 letzter HS. FKVO. Der Umsatz der deutschen gesetzlichen Krankenkassen wird ausschließlich (oder zumindest ganz überwiegend) im Inland erzielt, womit dieser Ausschlusstatbestand erfüllt ist. 2. Keine Bereichsausnahme für Träger der Systeme sozialer Sicherheit bzw. für das Gesundheitswesen Die Träger sozialer Sicherungssysteme sind weder von einer ausdrücklichen noch von einer ungeschriebenen Bereichsausnahme erfasst. Abgesehen von der 11 Ebenso Kersting/Faust, in: Thüsing, Europäisches Vergabe- und Kartellrecht, S. 107 (110); das LSG Hessen, das diesen Fall zu entscheiden hatte, ist auf diese Frage nicht ausdrücklich eingegangen, verneint die Zwischenstaatlichkeit aber wohl implizit, vgl. LSG Hessen v. 15.9.2011 – L 1 KR 89/10 KL, NZS 2012, 177. 12 Kersting/Faust, in: Thüsing, Europäisches Vergabe- und Kartellrecht, S. 107 (110). 13 EuGH, Urt. v. 17.10.1972 – Rs. 8/72, Slg. 1972, I-977, Rn. 29 – Vereniging van Cementhandelaaren/Kommission, Urt. v. 11.7.1985 – Rs. 42/84, Slg. 1985, 2545, Rn. 22 – Remia u. a./Kommission; vgl. auch Wolfgang Weiß, in: Calliess/Ruffert, EUV/ AEUV, Art. 101 AEUV, Rn. 124. 14 Kersting/Faust, in: Thüsing, Europäisches Vergabe- und Kartellrecht, S. 107 (110). 15 Siehe dazu auch Kersting/Faust, in: Thüsing, Europäisches Vergabe- und Kartellrecht, S. 107 (110 f.).
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Kap. 3: Rechtliche Ordnung des „Wettbewerbs‘‘ durch das Kartellrecht?
Landwirtschaft (vgl. Art. 42 Abs. 1 AEUV) und dem militärischen Beschaffungswesen (Art. 346 Abs. 1 lit. b AEUV) unterfallen grundsätzlich alle Wirtschaftsbereiche dem Wettbewerbsrecht der EU. Der EuGH geht davon aus, dass ein Tätigkeitsfeld nur dann vom Wettbewerbsrecht befreit sein kann, wenn der EGVertrag (jetzt AEUV) dies ausdrücklich anordnet.16 Dennoch hat er – unter Vermeidung des Terminus „Bereichsausnahme“ – gleichsam eine ungeschriebene Bereichsausnahme für Tarifverträge anerkannt.17 Dass sich aus den Entscheidungen des EuGH zu Tarifverträgen aber keine ungeschriebene Bereichsausnahme für das gesamte Sozialrecht ableiten lässt, zeigt sich daran, dass der EuGH in seinen Entscheidungen zu Trägern sozialer Sicherungssysteme die Anwendbarkeit des Wettbewerbsrechts stets von deren Unternehmenseigenschaft abhängig macht. Unterstützt wird diese Annahme auch durch die Rechtsprechung des EuGH, die sozialrechtliche Bestimmungen am Maßstab der – ebenfalls der wirtschaftlichen Freiheit im gemeinsamen Markt dienenden – Grundfreiheiten gemessen hat.18 3. Persönlicher Anwendungsbereich Damit hängt die Anwendbarkeit der Artt. 101, 102 AEUV – sofern ein Binnenmarktbezug besteht – davon ab, ob die gesetzlichen Krankenkassen „Unternehmen“ und damit Adressaten des europäischen Wettbewerbsrechts sind. Eine Legaldefinition des Unternehmens findet sich im AEUV nicht.19 Der EuGH versteht darunter „jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung.“ 20 Er geht damit von einem funktionalen21 und relativen22 Unternehmensbegriff aus. Funktional ist das Begriffsverständnis, weil es entsprechend dem Schutzzweck des Rechtsgebiets, wirtschaftlichen Wettbewerb zu schützen, jede wirtschaftliche Tä16
EuGH, Urt. v. 30.4.1986 – Rs 209–213/84, Tz. 40, NJW 1986, 2182 (2184) – As-
jes. 17 EuGH, Urt. v. 21.9.1999 – Rs. C 67/96, Slg. 1999, I-5863, Tz. 59, 60 – Albany; ebenso Urt. v. 21.9.1999 – verb. Rs. C-115/97 bis C-117/97, Slg. 1999, I-6025 – Brentjens; Urt. v. 21.9.1999 – Rs. C-219/97, Slg. 1999, I-6121 – Maatschappij Drijvende Bokken. 18 Kluckert, Gesetzliche Krankenkassen als Normadressaten des Europäischen Wettbewerbsrechts, S. 140 f.; Kersting/Faust, in: Thüsing, Europäisches Vergabe- und Kartellrecht, S. 107 (112). 19 Jedoch definiert Art. 1 des Protokolls 22 zum EWR-Abkommen das Unternehmen als „jedes Rechtssubjekt, das eine kommerzielle oder wirtschaftliche Tätigkeit ausübt“. 20 St. Rspr., vgl. zuletzt EuGH v. 28.2.2013 – Rs. C 1/2012, EuZW 2013, 386, Tz. 35; sowie Urt. v. 23.4.1991 – Rs. C-41/90, Slg. 1991, I-1979, Tz. 21 – Höfner und Elser. 21 Allgemeine Bezeichnung als funktionaler Unternehmensbegriff, s. nur Emmerich, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, Bd. 1: EU, Art. 101 Abs. 1 AEUV, Rn. 8. 22 Roth spricht noch präziser von einem funktional-relativen Unternehmensbegriff, GRUR 2007, 645 (650).
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tigkeit erfasst und nicht auf die Rechtsform abstellt. Es ist weiterhin relativ, weil die Unternehmenseigenschaft nicht abstrakt, sondern nur hinsichtlich einer konkreten Tätigkeit bestimmt werden kann. Ein Rechtsträger kann also im Hinblick auf unterschiedliche Tätigkeiten einmal als Unternehmen und einmal als Nichtunternehmen eingestuft werden.23 Für die Krankenkassen der GKV heißt das: Ihre Organisation als Körperschaften des öffentlichen Rechts steht einer Unternehmenseigenschaft nicht per se entgegen. Vielmehr müssen die einzelnen Tätigkeitsfelder der Krankenkassen danach untersucht werden, ob es sich um eine „wirtschaftliche Tätigkeit“ handelt. Da in der GKV das Sachleistungsprinzip gilt, kann dabei zwischen dem Angebot von Versicherungsleistungen an Versicherte (Angebotstätigkeit) und der Nachfrage von Gesundheitsleistungen bei den Leistungserbringern (Nachfragetätigkeit) unterschieden werden. a) Die Rechtsprechung des EuGH zu Sozialversicherungsträgern Sowohl zur Angebots- als auch zur Nachfragetätigkeit von Sozialversicherungsträgern ist bereits Rechtsprechung des EuGH ergangen, aus der sich allgemeine Grundsätze für die Beurteilung ableiten lassen.24 aa) Die Rechtsprechung zur Angebotstätigkeit Das Handeln von Sozialversicherungsträgern in der Rolle als Leistungsanbieter war bereits mehrfach Gegenstand der kartellrechtlichen Überprüfung durch den EuGH. Hinsichtlich der Unternehmenseigenschaft ist der Gerichtshof hier zu unterschiedlichen Ergebnissen gekommen, je nach der konkreten Ausgestaltung des Systems der sozialen Sicherheit. (1) Poucet und Pistre „Leading Case“ ist insoweit die Entscheidung Poucet und Pistre25, in welcher es um die Versicherungspflicht in der französischen Kranken- und Handwerkeraltersversicherung geht. Die Kläger Christian Poucet und Daniel Pistre wandten sich gegen die Pflichtmitgliedschaft in der Sozialversicherung und die ihnen zu23 So etwa die Amministrazione Autonoma dei Monopoli di Stato in: EuGH v. 16.6.1987 – C-118/85, Slg. 1987, 2599, Rn. 7 und die Bundesanstalt für Arbeit in: EuGH v. 23.4.1991 – C-41/90, Slg. 1991, I-1979 – Höfner und Elser. 24 Siehe zu der EuGH-Rspr. zur Anwendung des Kartellrechts auf Sozialversicherungsträger auch die Darstellung bei Kingreen, Europarechtliche Implikationen des Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der Gesetzlichen Krankenversicherung, S. 10–18. 25 EuGH, Urt. v. 17.2.1993 – Rs. C 159/91, Slg. 1993, I-00637 – Poucet und Pistre.
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gestellten Zahlungsaufforderungen für Sozialversicherungsbeiträge mit der Begründung, die Pflicht verstieße gegen europäisches Wettbewerbsrecht. Der EuGH verneint jedoch die Unternehmenseigenschaft der Träger der französischen Kranken- und Altersversicherungssysteme. Unter Bezugnahme auf seine ständige Rechtsprechung, nach der das Gemeinschaftsrecht (heute: Unionsrecht) die Ausgestaltungsbefugnis der Mitgliedstaaten für ihre sozialen Sicherungssysteme unberührt lässt, lehnt der EuGH eine „wirtschaftliche Tätigkeit“ der Träger sozialer Sicherungssysteme ab, die auf dem Grundsatz der „nationalen Solidarität“ beruhen.26 Der Solidaritätsgrundsatz finde im französischen Krankenversicherungssystem insbesondere darin seinen Ausdruck, dass die Beiträge einkommensabhängig und die Leistungen unabhängig von der Beitragshöhe seien.27 Dadurch werde eine Einkommensumverteilung erzielt. Im Altersversicherungssystem zeige sich die Solidarität durch die intergenerationelle Umlage: Die Renten der im Ruhestand befindlichen Arbeitnehmer würden durch die Beiträge der erwerbstätigen Arbeitnehmer finanziert.28 Schließlich äußere sich durch den zwischen den einzelnen Systemen bestehenden Finanzausgleich auch in diesem Verhältnis Solidarität.29 Die Versicherungspflicht sei für die Anwendung des Solidaritätsgrundsatzes sowie für das finanzielle Gleichgewicht dieser Systeme unerlässlich.30 Die Rechtsprechung Poucet und Pistre konkretisiert die Aussagen der Entscheidung Höfner und Elser31: Blieb dort noch vage, was unter einer „wirtschaftlichen Tätigkeit“ im Einzelnen zu verstehen ist, so wird hier jedenfalls deutlich, was sie nicht ist. Der Begriff „nationale Solidarität“ wird als Gegenbegriff zur wirtschaftlichen Tätigkeit herausgebildet. Die Träger eines auf dem Grundsatz der Solidarität beruhenden sozialen Sicherungssystems sind daher nicht als Unternehmen im Sinne des europäischen Wettbewerbsrechts anzusehen. Für die Einstufung anderer Sozialversicherungsträger bedeutet diese Rechtsprechung, dass zu untersuchen ist, ob es sich um eine öffentliche Aufgabe han-
26 EuGH, Urt. v. 17.2.1993 – Rs. C 159/91, Slg. 1993, I-00637, Tz. 18 f. – Poucet und Pistre. 27 EuGH, Urt. v. 17.2.1993 – Rs. C 159/91, Slg. 1993, I-00637, Tz. 10 – Poucet und Pistre. 28 EuGH, Urt. v. 17.2.1993 – Rs. C 159/91, Slg. 1993, I-00637, Tz. 11 – Poucet und Pistre. 29 EuGH, Urt. v. 17.2.1993 – Rs. C 159/91, Slg. 1993, I-00637, Tz. 12 – Poucet und Pistre. 30 EuGH, Urt. v. 17.2.1993 – Rs. C 159/91, Slg. 1993, I-00637, Tz. 13 – Poucet und Pistre. 31 EuGH v. 23.4.1991 – C-41/90, Slg. 1991, I-1979, Tz. 21 – Höfner und Elser: Hier wurde die maßgebliche Definition zur Unternehmenseigenschaft im Sinne des europäischen Kartellrechts aufgestellt, nach der es lediglich einer „wirtschaftlichen Tätigkeit“ bedarf.
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delt, die auf dem Grundsatz der nationalen Solidarität beruht, oder ob dagegen eine Tätigkeit vorliegt, die auch von einem Privaten ausgeführt werden könnte. (2) Mischformen im Grenzbereich zwischen wirtschaftlicher Tätigkeit und Solidarität Schwierigkeiten ergeben sich, wenn in einem sozialen Sicherungssystem – wie in der deutschen GKV – wettbewerbliche und solidarische Elemente mit einander verknüpft werden, sodass Mischformen entstehen. Sie müssen für die Frage der Anwendbarkeit des Kartellrechts eindeutig einem der Pole zugeordnet werden. Hier ist die Einordnung „eine Frage des Grades“ 32: Wird das Leistungssystem derart vom Grundsatz der Solidarität geprägt, „dass von einer marktförmigen Tätigkeit nicht mehr gesprochen werden kann“ 33 oder treten die solidarischen Elemente hinter dem marktwirtschaftlichen Charakter der Tätigkeit zurück? Eine Richtschnur bieten die nachfolgenden Entscheidungen, die solche Mischsysteme betreffen. (a) Fédération française In der Rechtssache Fédération française34 aus dem Jahr 1995 ging es um eine freiwillige Zusatzrentenversicherung in Frankreich, die von einem Sozialversicherungsträger angeboten wurde. Private Konkurrenten, die das Zusatzversicherungsgeschäft bis 1989 ohne staatliche Konkurrenz betrieben hatten, rügten, der öffentlich-rechtlichen Zusatzversicherung werde faktisch ein Monopol eingeräumt und die Privaten würden vom Markt verdrängt. Dies sei auf die Privilegien der staatlichen Einrichtung, insbesondere die steuerliche Absetzbarkeit der Versicherungsbeiträge und die Möglichkeit, unentgeltlich den Verwaltungsapparat des Pflichtversicherungssystems zu nutzen, zurückzuführen. Das in Rede stehende Zusatzversicherungssystem enthielt sowohl marktwirtschaftliche als auch solidarische Elemente. Der wirtschaftliche Charakter zeigte sich darin, dass das System auf Freiwilligkeit beruhte. Darüber hinaus erfolgte die Finanzierung nach dem Kapitalisierungsprinzip. Die gewährten Leistungen richteten sich ausschließlich nach der Höhe der durch den Leistungsempfänger entrichteten Beiträge sowie den Erträgen aus Investitionen der Einrichtung. Daneben war aber auch ein solidarischer Charakter erkennbar: So waren die Beiträge unabhängig vom Versicherungsrisiko. Die Mittel der geleisteten Beitragszahlungen verblieben im Fall des vorzeitigen Versterbens des Versicherten im 32 Generalanwalt Jacobs, Schlussantrag – Rs. C-218/00, Slg. 2002, I-691, Tz. 77 – Cisal. 33 Roth, GRUR 2007, 645 (650). 34 EuGH, Urt. v. 16.11.1995 – Rs. C-244/94, Slg. 1995, I-04013 – Fédération française des societies.
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Versicherungssystem. Im Krankheitsfall war eine Freistellung von der Beitragszahlung möglich. Schließlich konnte die Beitragszahlung aus Gründen, die mit der Ertragslage des Betriebs zusammenhängen, vorübergehend ausgesetzt werden. Trotz der sozialen Elemente bejahte der EuGH die Unternehmenseigenschaft des Sozialversicherungsträgers: Die freiwillige öffentlich-rechtliche Zusatzversicherung übe im Wettbewerb mit Lebensversicherungsgesellschaften eine wirtschaftliche Tätigkeit aus.35 Die solidarischen Elemente seien hier nicht ausschlaggebend. Sie ließen den wirtschaftlichen Charakter der Tätigkeit nicht entfallen.36 Da das Versicherungssystem auf Freiwilligkeit beruht, könne der Grundsatz der Solidarität jedenfalls nur äußerst begrenzt gelten.37 Auch die Verfolgung eines sozialen Zwecks und die fehlende Gewinnerzielungsabsicht, rechtfertigten kein anderes Ergebnis.38 (b) Albany, Brentjens, Bokken & Pavlov Ebenfalls Mischformen zwischen wettbewerblichem und solidarischem System betrafen vier Entscheidungen39 aus den Jahren 1999 und 2000. In allen vier niederländischen Ausgangsverfahren wandten sich die Kläger gegen die Pflichtmitgliedschaft in einem für den betreffenden Wirtschaftssektor bzw. Beruf durch Tarifvertrag oder die Standesvertretung errichteten Rentenfonds, dessen Leistungen die gesetzliche Grundrente in den Niederlanden ergänzt. In der Tätigkeit der Rentenfonds erblickt der EuGH eine wirtschaftliche Tätigkeit. Dies begründet er mit folgenden Merkmalen: – Diese bestimmen die Höhe der Beiträge und der Leistungen selbst und arbeiten nach dem Kapitalisierungsprinzip.40 – Die Höhe der von den Fonds gewährten Leistungen hängt von den Erträgen aus Anlagen ab, die diese vornehmen und bei denen sie wie Versicherungsgesellschaften der Aufsicht der Versicherungskammer unterliegen.41 35 EuGH, Urt. v. 16.11.1995 – Rs. C-244/94, Slg. 1995, I-04013, Tz. 17, 22 – Fédération française des societies. 36 EuGH, Urt. v. 16.11.1995 – Rs. C-244/94, Slg. 1995, I-04013, Tz. 18 – Fédération française des societies. 37 EuGH, Urt. v. 16.11.1995 – Rs. C-244/94, Slg. 1995, I-04013, Tz. 19 – Fédération française des societies. 38 EuGH, Urt. v. 16.11.1995 – Rs. C-244/94, Slg. 1995, I-04013, Tz. 20 f. – Fédération française des societies. 39 EuGH, Urt. v. 21.9.1999 – Rs. C 67/96, Slg. 1999, I-5863 – Albany; Urt. v. 21.9.1999 – verb. Rs. C-115/97 bis C-117/97, Slg. 1999, I-6025 – Brentjens; Urt. v. 21.9.1999 – Rs. C-219/97, Slg. 1999, I-6121 – Maatschappij Drijvende Bokken; Urt. v. 12.9.2000 – Rs. C-180/98, Slg. 2000, I-06451 – Pavlov u. a. 40 Siehe fortan nur EuGH, Urt. v. 21.9.1999 – Rs. C 67/96, Slg. 1999, I-5863, Tz. 81 – Albany. 41 EuGH, Urt. v. 21.9.1999 – Rs. C 67/96, Slg. 1999, I-5863, Tz. 82 – Albany.
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– Es besteht die Möglichkeit, Unternehmen eine Freistellung von der Pflichtmitgliedschaft zu gewähren.42 Diesen Charakteristika eines marktwirtschaftlichen Versicherungssystems misst der EuGH gegenüber den zahlreichen solidarischen Merkmalen den höheren Stellenwert bei. Im Einzelnen waren dies: die Aufnahme von Arbeitnehmern ohne vorherige Risikoprüfung, die Freistellung von der Beitragszahlung bei Arbeitsunfähigkeit bei Fortsetzung des Erwerbs von Rentenansprüchen, die Übernahme der vom Arbeitgeber geschuldeten Beitragsrückstände durch den Fonds bei Konkurs des Arbeitgebers, die Indexierung der Höhe der Renten zur Erhaltung ihres Wertes und die Ungleichwertigkeit von Pauschalbeitrag und Rentenansprüchen im Einzelfall.43 Diese „Solidaritätsgesichtspunkte“ können eine Ablehnung der Unternehmenseigenschaft nach Auffassung des EuGH ebenso wenig rechtfertigen wie die fehlende Gewinnerzielungsabsicht und die soziale Zielrichtung.44 Anders als in Fédération française belässt es der EuGH jedoch nicht dabei. Vielmehr kommt er auf der Rechtfertigungsebene noch einmal auf die sozialen Elemente zurück. Er hält die Wettbewerbsbeschränkungen gem. Art. 106 Abs. 2 AEUV (damals Art. 90 Abs. 2 EGV) für gerechtfertigt. Die verpflichtenden Zusatzversicherungen erfüllten „im Rentensystem in den Niederlanden wegen der auf der Grundlage des gesetzlichen Mindestlohns berechneten äußerst geringen Höhe der gesetzlichen Rente eine wesentliche soziale Funktion“.45 Das Monopol sei erforderlich um allen Arbeitnehmern eine Rente zu annehmbaren Kosten anbieten zu können, denn ohne die Verpflichtung würden „gute Risiken“ zu für sie günstigeren privaten Anbietern abwandern. Auf der Tatbestandsebene bejaht der EuGH also vorliegend die Unternehmenseigenschaft, da er den Schwerpunkt wie in der Rechtssache Fédération française bei den marktwirtschaftlichen Elementen der Systeme sieht. Er trägt den solidarischen Elementen aber auf der Rechtfertigungsebene Rechnung. Dadurch erschwert er die Einordnung zukünftiger Fälle insofern, als er die Rechtfertigung gem. Art. 106 Abs. 2 AEUV zum Teil mit den gleichen Argumenten begründet, mit denen er in der Rechtssache Poucet und Pistre die Unternehmenseigenschaft verneint.46
42
EuGH, Urt. v. 21.9.1999 – Rs. C 67/96, Slg. 1999, I-586, Tz. 83 – Albany. EuGH, Urt. v. 21.9.1999 – Rs. C 67/96, Slg. 1999, I-5863, Tz. 75 – Albany. 44 EuGH, Urt. v. 21.9.1999 – Rs. C 67/96, Slg. 1999, I-5863, Tz. 85 f. – Albany. 45 EuGH, Urt. v. 21.9.1999 – Rs. C 67/96, Slg. 1999, I-5863, Tz. 105 – Albany. 46 Kingreen, Europarechtliche Implikationen des Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der Gesetzlichen Krankenversicherung, S. 15. 43
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(c) Cisal Von Interesse ist in diesem Zusammenhang weiterhin die Entscheidung in der Rechtssache Cisal 47 aus dem Jahr 2002, die die Unternehmenseigenschaft der italienischen Unfallversicherungsanstalt INAIL zum Gegenstand hatte. INAIL ist eine Anstalt des öffentlichen Rechts mit eigener Rechtspersönlichkeit, die für Rechnung des Staates und unter dessen Aufsicht die Versicherung gegen Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten übernimmt. Der näheren Betrachtung bedarf ihre Finanzierung, die der EuGH im Ergebnis (noch) als solidarisch angesehen hat48: Die Beiträge werden von Arbeitgebern für ihre Arbeitnehmer bzw. von den pflichtversicherten Selbständigen getragen. Bei Arbeitnehmern werden die Beiträge nach einem bestimmten Prozentsatz ihres Arbeitsentgelts berechnet. Dieser Prozentsatz ist abhängig von dem durchschnittlichen Risiko der Tätigkeit des Unternehmens, für das sie arbeiten. Die Beiträge sind nach oben durch einen bestimmten Höchstbetrag gedeckelt. Ungewöhnlich und schwer zu kategorisieren ist in diesem Fall das Verhältnis der Beiträge zu den gewährten Leistungen. Generalanwalt Jacobs macht deutlich, „dass das vom INAIL angebotene System irgendwo in der Mitte des Spektrums liegt: An dem einen Ende des Spektrums befinden sich Systeme, bei denen Beiträge und Leistungen vollständig proportional sind; an dem anderen Ende befinden sich Systeme, bei denen sich die Beiträge nach dem Einkommen bemessen, während die Leistungen für alle gleich sind.“ 49 Die Höhe der Rentenleistungen des INAIL bemisst sich nämlich grundsätzlich an der Höhe der Einkünfte und ist damit proportional zu den Beiträgen. Während für die Berechnung der Beiträge aber sämtliche Einkünfte oberhalb des gesetzlichen Mindestlohns berücksichtigt werden, werden für die Berechnung der Leistungen lediglich die Einkommen zwischen einem vorgegebenen Höchstund Mindestbetrag (das um 30% erhöhte bzw. verminderte landesweite Durchschnittseinkommen) berücksichtigt. Dies bewirkt, dass die Höhe der gewährten Leistungen nicht notwendig proportional zu den Einkünften der Versicherten sein muss. Im Einzelfall kann die Entrichtung hoher Beiträge nur einen in seiner Höhe begrenzten Leistungsanspruch erzeugen, wenn das betreffende Einkommen den Höchstbetrag für die Leistungen übersteigt. Anders herum können sehr niedrige Beitragsleistungen einem relativ hohen Leistungsanspruch (Durchsnittseinkommen –30%) gegenüberstehen. Dieses Fehlen eines unmittelbaren Zusammenhangs zwischen den entrichteten Beiträgen und den gewährten Leistungen bewirkt nach Auffassung des EuGH „eine Solidarität zwischen den hochbezahlten Arbeitnehmern und denjenigen, die in Anbetracht ihrer niedrigen Einkünfte keine
47
EuGH, Urt. v. 22.1.2002 – Rs. C-218/00, Slg. 2002, I-691 – Cisal. EuGH, Urt. v. 22.1.2002 – Rs. C-218/00, Slg. 2002, I-691, Tz. 38 ff. – Cisal. 49 Generalanwalt Jacobs, Schlussantrag – Rs. C-218/00, Slg. 2002, I-691, Tz. 66 – Cisal. 48
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angemessene soziale Absicherung hätten, wenn ein solcher Zusammenhang bestünde.“ 50 Der solidarische Charakter des Systems werde außerdem durch den Höchstbetrag für die Beiträge deutlich, der eine Finanzierungslücke bewirken könne, die von allen Unternehmen getragen werde, die derselben Risikogruppe angehören. Darüber hinaus würden die Beiträge nicht nur auf der Grundlage des mit der Tätigkeit des betreffenden Unternehmens verbundenen Risikos berechnet, sondern auch nach Maßgabe der Einkünfte des Versicherten.51 Schließlich hält der EuGH auch den Umstand, dass die Beiträge staatlich festgesetzt werden und das INAIL staatlicher Aufsicht unterworfen ist, für die Einordnung als nichtwirtschaftliche Tätigkeit für bedeutsam.52 Der EuGH betont in dieser Entscheidung darüber hinaus, was zuvor in Fédération francaise und Albany u. a. schon deutlich wurde, dass ein sozialer Zweck eines Versicherungssystems für die Ablehnung der Unternehmenseigenschaft allein nicht ausreicht.53 Weiterhin erwähnt er nochmals, dass eine Pflichtmitgliedschaft für ein solches Versicherungssystem kennzeichnend und unerlässlich ist.54 (d) Kattner Um ein ähnliches System wie das INAIL ging es schließlich in der Entscheidung Kattner55 aus dem Jahr 2009, in der die Unternehmenseigenschaft einer deutschen Berufsgenossenschaft untersucht wurde. Unternehmen, die in einem bestimmten Gebiet einem bestimmten Gewerbezweig angehören, müssen dieser für die Versicherung gegen Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten beitreten. Auch die Berufsgenossenschaft setzt nach Auffassung des EuGH den Grundsatz der Solidarität um und unterliegt in ausreichendem Maße staatlicher Aufsicht, so dass ihre Tätigkeit keinen wirtschaftlichen Charakter aufweist. Die Begründung des solidarischen Charakters des Systems entspricht im Wesentlichen der in der Entscheidung Cisal. Die Unterschiede (keine Beitragsobergrenze, keine monopolistische Einrichtung, sondern mehrere Einrichtungen in einer Oligopolsituation) rechtfertigen nach Auffassung des Gerichts keine andere Beurteilung. Die Solidarität zwischen den Mitgliedern könne auch geographisch und sektoriell begrenzt werden, dies liege in der alleinigen Ausgestaltungskompetenz der Mitgliedstaaten für ihre sozialen Sicherungssysteme.56 Außerdem stünden die einzel50
EuGH, Urt. v. 22.1.2002 – Rs. C-218/00, Slg. 2002, I-691, Tz. 42 – Cisal. EuGH, Urt. v. 22.1.2002 – Rs. C-218/00, Slg. 2002, I-691, Tz. 39 – Cisal. 52 EuGH, Urt. v. 22.1.2002 – Rs. C-218/00, Slg. 2002, I-691, Tz. 43 – Cisal. 53 EuGH, Urt. v. 22.1.2002 – Rs. C-218/00, Slg. 2002, I-691, Tz. 37 – Cisal. 54 EuGH, Urt. v. 22.1.2002 – Rs. C-218/00, Slg. 2002, I-691, Tz. 44 – Cisal. 55 EuGH, Urt. v. 5.3.2009 – Rs. C-350/07, Slg. 2009, I-01513 – Kattner Stahlbau. 56 EuGH, Urt. v. 5.3.2009 – Rs. C-350/07, Slg. 2009, I-01513, Tz. 53 – Kattner Stahlbau. 51
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nen Berufsgenossenschaften untereinander in einem Finanzausgleich, der auch auf nationaler Ebene eine Solidarität erzeuge.57 Ausführlicher als in der Rechtssache Cisal fallen dagegen die Ausführungen zur staatlichen Aufsicht aus, die bei einer staatsfern betriebenen Einrichtung wie der Berufsgenossenschaft erforderlich sei, um den wirtschaftlichen Charakter verneinen zu können.58 Im Gegensatz zum INAIL verfüge die deutsche Berufsgenossenschaft über einen gewissen Handlungsspielraum insbesondere bei der Festsetzung der Beiträge und der Leistungen. Der EuGH stellte jedoch wie bereits in der AOK Bundesverband-Entscheidung59 fest: „Dass Berufsgenossenschaften wie der MMB im Rahmen eines Selbstverwaltungssystems ein solcher Handlungsspielraum gewährt wird, um Faktoren festzusetzen, die für die Höhe der Beiträge und der Leistungen ausschlaggebend sind, kann jedoch als solches die Natur der von den Berufsgenossenschaften ausgeübten Tätigkeit nicht ändern.“ 60
bb) Die Rechtsprechung zur Nachfragetätigkeit Auch mit der Nachfragetätigkeit von Sozialversicherern im Leistungserbringungsverhältnis befasste sich der EuGH bereits in zwei Entscheidungen, von denen die eine die deutschen gesetzlichen Krankenkassen in ihrer rechtlichen Ausgestaltung vor dem Jahr 2000 betrifft. Während in Rechtsprechung61 und Literatur62 lange Zeit die Auffassung vorherrschte, die Krankenkassen seien zumindest in diesem Verhältnis wirtschaftlich tätig, kommt der EuGH zu einem anderen Ergebnis. (1) AOK-Bundesverband In der Rechtssache AOK-Bundesverband 63 entschied der EuGH 2004, die deutschen gesetzlichen Krankenkassen handelten bei der Festsetzung von Festbeträgen 57 EuGH, Urt. v. 5.3.2009 – Rs. C-350/07, Slg. 2009, I-01513, Tz. 48 – Kattner Stahlbau. 58 EuGH, Urt. v. 5.3.2009 – Rs. C-350/07, Slg. 2009, I-01513, Tz. 43, 60 – Kattner Stahlbau. 59 Siehe sogleich. 60 EuGH, Urt. v. 5.3.2009 – Rs. C-350/07, Slg. 2009, I-01513, Tz. 61 – Kattner Stahlbau. 61 OLG Düsseldorf, Urt. v. 28.8.1998 – U (Kart) 19/98, Rn. 25, NZS 1998, 567 (567); zweifelnd jedoch bereits BSG, Vorlagebeschluss v. 14.6.1995 – 3 RK 20/94, Rn. 83, NZS 1995, 502 (507): „Zweifel bestehen aber daran, ob es sich bei KKn und Verbänden von KKn um Unternehmen i. S. des EG-Wettbewerbsrechts handelt.“ 62 So etwa Hänlein/Kruse, NZS 2000, 165 (168); s. auch Kingreen, Europarechtliche Implikationen des Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der Gesetzlichen Krankenversicherung, S. 17 m.w. N. in Fn. 54. 63 EuGH, Urt. v. 16.3.2004 – Rs. C-264/01, Slg. 2004, I-02493 – AOK-Bundesverband.
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für die Übernahme von Arzneimittelkosten nicht als Unternehmen und ihre Verbände somit nicht als Unternehmensvereinigungen. Zur Begründung begutachtet und bewertet der EuGH – wie in den Entscheidungen Poucet und Pistre, Cisal etc. – die Ausgestaltung des Versicherungssystems, also letztlich die Anbietertätigkeit. Eine Unterscheidung der Angebots- von der Nachfragetätigkeit wird entgegen der Konzeption des relativen, tätigkeitsbezogenen Unternehmensbegriffs an keiner Stelle vorgenommen. So wird nur ausgeführt: Das Handeln der Krankenkassen sei keine wirtschaftliche Tätigkeit, sondern erfülle einen rein sozialen Zweck ohne die Absicht der Gewinnerzielung. Es beruhe auf dem Grundsatz der Solidarität, da die Krankenkassen verpflichtet seien, ihren Mitgliedern im Wesentlichen gleiche von der Beitragshöhe unabhängige Pflichtleistungen anzubieten64 und sie untereinander durch den Risikostrukturausgleich zu einer Solidargemeinschaft zusammengeschlossen seien.65 Auch der den Krankenkassen eingeräumte Spielraum bei der Festlegung des Beitragssatzes zwinge nicht zu einer anderen Bewertung, da der Wettbewerb um Mitglieder nur den Zwecken der Funktionsfähigkeit des Systems und der Effizienzsteigerung diene.66 Zwar ließe sich nicht ausschließen, dass die Krankenkassen neben ihren Tätigkeiten rein sozialer Art auch Geschäftstätigkeiten mit wirtschaftlichem Zweck ausübten,67 hierzu zähle die Festsetzung von Festbeträgen aber jedenfalls nicht.68 Mit dieser Tätigkeit kämen die Kassenverbände nur einer Pflicht nach, die ihnen das Gesetz auferlegt. Lediglich hinsichtlich der Höhe des Festbetrags bestehe ein begrenzter Spielraum. Anders hatte dies Generalanwalt Jacobs in seinen Schlussanträgen gesehen, der aufgrund des zwischen den Krankenkassen herrschenden Preis- und (begrenzten) Leistungswettbewerbs von einem wirtschaftlichen Charakter der Tätigkeit ausging. Er hebt hervor, dass die Versicherten zwischen den einzelnen Krankenkassen wählen können, die Kassen selbst den Beitragssatz festsetzen69 und auch hinsichtlich der Leistungen ein gewisses Ermessen haben, wie sie ihrer Verpflichtung nachkommen. Dadurch seien die Träger der GKV in der Lage, sich voneinander abzugrenzen und so um Versicherte zu konkurrieren.70 64 EuGH, Urt. v. 16.3.2004 – Rs. C-264/01, Slg. 2004, I-02493, Tz. 52 – AOK-Bundesverband. 65 EuGH, Urt. v. 16.3.2004 – Rs. C-264/01, Slg. 2004, I-02493, Tz. 53 – AOK-Bundesverband. 66 EuGH, Urt. v. 16.3.2004 – Rs. C-264/01, Slg. 2004, I-02493, Tz. 56 – AOK-Bundesverband. 67 EuGH, Urt. v. 16.3.2004 – Rs. C-264/01, Slg. 2004, I-02493, Tz. 58 – AOK-Bundesverband. 68 EuGH, Urt. v. 16.3.2004 – Rs. C-264/01, Slg. 2004, I-02493, Tz. 59 ff. – AOKBundesverband. 69 Diese Beitragsautonomie stand den Krankenkassen bis zu der Änderung durch das GKV-WSG (v. 26.3.2007) m.W. v. 1.1.2009 zu. Seither ist der Beitragssatz einheitlich festgesetzt, s. § 241 SGB V. 70 Generalanwalt Jacobs, Schlussanträge v. 22.5.2003 – C-264/01, Tz. 37 ff.; Jacobs lehnt aber im Ergebnis einen Verstoß gegen Art. 101 AEUV ebenfalls ab.
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Die Schlussanträge kommen zwar zu einer gegensätzlichen rechtlichen Bewertung, argumentieren aber anhand desselben Gegenstandes: der Angebotstätigkeit. Dieses Vorgehen des Generalanwalts sowie des EuGH lässt sich auf zwei Wegen erklären: Auf der einen Seite könnte die Festbetragsfestsetzung hier (überwiegend) der Angebotsseite zugeordnet werden. Festbeträge begrenzen nämlich die Leistungspflicht der Krankenkassen gegenüber den Versicherten in finanzieller Hinsicht und legen damit auch den Umfang der Versicherungsleistung fest.71 Auf der anderen Seite könnte die Tätigkeit der Nachfrageseite zugeordnet werden, als die Festbeträge sich stark auf die Absatzchancen der Pharmahersteller auswirken. Dann würden die sich aus der bisherigen Rechtsprechung ergebenden Grundsätze zur Angebotstätigkeit – ohne nähere Erläuterung – auf die Nachfragetätigkeit der Kassen übertragen, womit der relative Unternehmensbegriff letztlich unterlaufen würde.72 Auch wenn man Ersteres befürwortet und die Auswirkungen der Festbeträge in erster Linie auf der Angebotsseite sieht, so kann doch ihre Zuordnung – zumindest auch – zur Nachfrageseite nicht bestritten werden, worauf der EuGH zumindest hätte eingehen müssen. Dass es einer näheren Differenzierung der Tätigkeitsbereiche hier aber – jedenfalls für die Praxis – nicht bedarf, zeigt die im Jahr 2006 folgende Entscheidung. (2) FENIN In der Rechtssache FENIN 73 wandte sich ein spanischer Verband der Anbieter medizinischer Instrumente (FENIN) gegen 26 öffentliche Einrichtungen, die das nationale System der sozialen Sicherheit (SNS) verwalten. Er beanstandete, dass die das SNS verwaltenden Einrichtungen die Begleichung ihrer Verbindlichkeiten systematisch verzögerten (durchschnittlich 300 Tage) und dadurch ihre beherrschende Stellung (i. S. d. Art. 102 AEUV) missbrauchten. Der EuGH verneinte in Übereinstimmung mit dem in erster Instanz zuständigen Gericht (damals Gericht erster Instanz) bereits die Unternehmenseigenschaft der das SNS verwaltenden Einrichtungen in ihrer Rolle als Einkäufer von medizinischen Instrumenten. Der Begriff der wirtschaftlichen Tätigkeit sei gekennzeichnet durch das Anbieten von
71 So scheint Generalanwalt Jacobs die Festbetragsfestsetzung jedenfalls auch zu qualifizieren: Schlussanträge v. 22.5.2003 – C-264/01, Tz. 45; diese Auffassung teilend etwa Knispel, NZS 2000, 379 (382); vgl. auch die ausführliche Darstellung bei Kluckert, Gesetzliche Krankenkassen als Normadressaten des Europäischen Wettbewerbsrechts, S. 259 ff. (m.w. N.). 72 So versteht die Entscheidung die überwiegende Literatur: vgl. etwa Kingreen, ZMGR 2005, 163 (167); ders., GesR 2006, 193 (196); Neumann, EWiR 2004, 435 (436); Sodan, GesR 2005, 145 (149); Axer, NZS 2002, 57 (61); Ruland, JuS 2005, 212 (214); Schenke, WiVerw 2006, 34 (58); Kersting/Faust, in: Thüsing, Europäisches Vergabe- und Kartellrecht, S. 116. 73 EuGH, Urt. v. 11.7.2006 – Rs. C-205/03, Slg. 2006, I-06295 – FENIN.
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Gütern und Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt.74 Bei der Beurteilung des Wesens der Einkaufstätigkeit sei also der Kauf eines Erzeugnisses nicht von seiner späteren Verwendung zu trennen. Der wirtschaftliche oder nichtwirtschaftliche Charakter der späteren Verwendung des erworbenen Erzeugnisses bestimme zwangsläufig den Charakter der Einkaufstätigkeit.75 Der EuGH erklärt in dieser Entscheidung also die Abhängigkeit der Nachfrage- von der Angebotstätigkeit – eine nähere Begründung dieses für das tätigkeitsbezogene Kartellrecht neuen Ansatzes bleibt indessen aus. Für die Praxis heißt dies, dass es nur noch einer Prüfung der Angebotstätigkeit auf ihren wirtschaftlichen Charakter hin bedarf, weil das Nachfrageverhalten dieser folgt. cc) Kernaussagen der EuGH-Rechtsprechung Aus den dargestellten Entscheidungen des EuGH lassen sich zusammengefasst im Wesentlichen folgende Aussagen für die Unternehmenseigenschaft von Sozialversicherungsträgern ableiten: (1) Wirtschaftliche Tätigkeit vs. Umsetzung des Grundsatzes der Solidarität – Der Grundsatz der Solidarität kann als Gegenbegriff zur wirtschaftlichen Tätigkeit angesehen werden76: Ein Sozialversicherungsträger, der diesen Grundsatz umsetzt, ist nicht Unternehmen im Sinne des europäischen Kartellrechts. Die fehlende Gewinnerzielungsabsicht sowie die Erfüllung einer sozialen Aufgabe sind daneben notwendige aber nicht hinreichende Kriterien. – Merkmale eines vom Grundsatz der Solidarität geprägten Systems sind: (1) die fehlende Äquivalenz zwischen Beitrag und Leistung und die Bemessung der Beiträge nach dem Solidarprinzip,77 (2) die Finanzierung über das Umlageverfahren,78 (3) die Versicherungspflicht79 und (4) die staatliche Aufsicht, wenn der Träger der Sozialversicherung staatsfern organisiert ist80. Die Finanzierung des Sozialversicherungssystems erlangt damit entgegen der Aussage des 74
EuGH, Urt. v. 11.7.2006 – Rs. C-205/03, Slg. 2006, I-06295, Tz. 25 – FENIN. EuGH, Urt. v. 11.7.2006 – Rs. C-205/03, Slg. 2006, I-06295, Tz. 26 – FENIN. 76 EuGH, Urt. v. 17.2.1993 – Rs. C 159/91, Slg. 1993, I-00637, Tz. 18 f. – Poucet und Pistre. 77 EuGH, Urt. v. 17.2.1993 – Rs. C 159/91, Slg. 1993, I-00637, Tz. 11 – Poucet und Pistre; Urt. v. 22.1.2002 – Rs. C-218/00, Slg. 2002, I-691, Tz. 44 – Cisal; Urt. v. 16.3.2004 – Rs. C-264/01, Slg. 2004, I-02493, Tz. 52 – AOK-Bundesverband. 78 EuGH, Urt. v. 17.2.1993 – Rs. C 159/91, Slg. 1993, I-00637, Tz. 11 – Poucet und Pistre; Urt. v. 21.9.1999 – Rs. C 67/96, Slg. 1999, I-5863, Tz. 81 – Albany. 79 EuGH, Urt. v. 17.2.1993 – Rs. C 159/91, Slg. 1993, I-00637, Tz. 13 – Poucet und Pistre; Urt. v. 22.1.2002 – Rs. C-218/00, Slg. 2002, I-691, Tz. 44 – Cisal. 80 EuGH, Urt. v. 22.1.2002 – Rs. C-218/00, Slg. 2002, I-691, Tz. 43 – Cisal; Urt. v. 5.3.2009 – Rs. C-350/07, Slg. 2009, I-01513, Tz. 43, 60 – Kattner Stahlbau. 75
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EuGH in der Entscheidung Höfner und Elser81 maßgebliche Bedeutung für die Einstufung des Akteurs.82 – Als Kontrollfrage kann formuliert werden: Kann die Tätigkeit des Sozialversicherungsträgers in dieser Form auch von einem Privaten am Markt vorgenommen werden?83 (2) Einordnung des Sozialversicherungssträgers bei Mischsystemen – Maßgeblich ist das Sozialversicherungssystem in seiner konkreten Ausgestaltung. In Grenzfällen entscheiden „Maß und Grad“ 84: Zu fragen ist, ob das Erscheinungsbild des sozialen Sicherungssystems bei wertender Betrachtung insgesamt noch mit dem rechtlichen Strukturtypus des „solidarischen“ Systems übereinstimmt. Das heißt, ist der Grad der Solidarität für das System derart prägend, dass von einer Tätigkeit am Markt nicht gesprochen werden kann?85 – Sozialversicherungseinrichtungen können nach der Rechtsprechung des EuGH drei Kategorien zugeordnet werden: In die erste fallen solche Sozialversicherungsträger, die bereits tatbestandlich aus dem Anwendungsbereich des europäischen Kartellrechts herausfallen.86 Auf zweiter Ebene stehen die Einrichtungen, die zwar Unternehmen sind, deren wettbewerbsverzerrenden Tätigkeiten aber gem. Art. 106 Abs. 2 AEUV gerechtfertigt sind, da sie wichtige soziale Funktionen einnehmen.87 Der dritten Kategorie sind schließlich die Akteure zuzuordnen, welche Unternehmen sind und auf die das europäische Kartellrecht uneingeschränkt Anwendung findet.88 Eine Rechtsunsicherheit mit unmittelbaren praktischen Auswirkungen entsteht erst da, wo soziale Elemente in einem System so stark zurücktreten, dass fraglich ist, ob noch eine Rechtfertigung gem. Art. 106 Abs. 2 AEUV in Betracht kommt.89
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Urt. v. 23.4.1991 – Rs. C-41/90, Slg. 1991, I-1979, Tz. 21 – Höfner und Elser. Die überragende Bedeutung des Finanzierungsprinzips im Verhältnis zum sozialen Charakter der Tätigkeit wird insbesondere in der Entscheidung Pavlov u. a. (Rs. C-180/ 98) deutlich, s. Fuchs, JZ 2005, 87 (89). 83 EuGH v. 23.4.1991 – C-41/90, Slg. 1991, I-1979, Rn. 22 – Höfner und Elser. 84 Treffend formuliert bei Roth, GRUR 2007, 645 (650). 85 Roth, GRUR 2007, 645 (650). 86 So die französiche Kranken- und Handwerkeraltersversicherung nach EuGH, Urt. v. 17.2.1993 – Rs. C 159/91, Slg. 1993, I-00637 – Poucet und Pistre, sowie die deutschen gesetzlichen Krankenkassen nach EuGH, Urt. v. 16.3.2004 – Rs. C-264/01, Slg. 2004, I-02493 – AOK-Bundesverband. 87 So der niederländische Rentenfonds nach EuGH, Urt. v. 21.9.1999 – Rs. C 67/96, Slg. 1999, I-5863 – Albany. 88 So die französische Zusatzrentenversicherung nach EuGH, Urt. v. 16.11.1995 – Rs. C-244/94, Slg. 1995, I-04013 – Fédération française des societies. 89 Penner, NZS 2003, 234 (238). 82
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(3) Die Klassifizierung der Nachfragetätigkeit richtet sich nach der Angebotstätigkeit – Der Begriff der wirtschaftlichen Tätigkeit ist nach Auffassung des EuGH gekennzeichnet durch das Anbieten von Gütern und Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt.90 Die Nachfragetätigkeit von Sozialversicherungsträgern ist daher nur dann eine wirtschaftliche, wenn die Verwendung der nachgefragten Güter auf der Angebotsseite ihrerseits wirtschaftlicher Natur ist. Die Nachfragetätigkeit wird vom EuGH also als akzessorisch zur Angebotstätigkeit verstanden. b) Die Resonanz in der Literatur Diese Rechtsprechung des EuGH ist in der Literatur auf unterschiedliche Resonanz gestoßen: Zum Teil werden Ergebnis und Begründung des EuGH für dogmatisch richtig gehalten. Es werde keine pauschale Aussage über die Unternehmenseigenschaft von Sozialversicherungsträgern getroffen, sondern der funktionale, tätigkeitsbezogene Unternehmensbegriff werde auch hier uneingeschränkt und konsequent angewandt.91 Es wird auf den strukturellen Unterschied zwischen Sozialversicherungsträgern und im Wettbewerb stehenden Privaten hingewiesen: „Die zwangsweise Durchsetzung des Solidargedankens und der Markt als Entfaltungsebene für den Wettbewerb [bildeten] einen Gegensatz.“ 92 Ein anderer Begründungsansatz geht hingegen nicht schlechthin von einer Unvereinbarkeit von sozialem Handeln und Marktdenken aus. Nach diesem zwinge vielmehr das Erfordernis einer Abgrenzung der Kompetenzen zu einem solchen Ergebnis.93 Die Vertreter dieser Auffassung stützen sich auf „die Erkenntnis, daß die Kompetenz der Mitgliedstaaten für die Sozialsysteme völlig von der Gemeinschaftskompetenz für Wettbewerb unterspült würde, müßte sich eine umverteilende Sozialversicherung an den Wettbewerbsregeln messen lassen“.94 Zum Teil werden beide Begründungslinien auch verbunden: Der Ansatz des EuGH beziehe „zumindest implizit sowohl wettbewerbsrechtliche als auch kompetenzielle Erwägungen bei der Bestimmung des Unternehmensbegriffs mit ein“.95 Wettbewerbsrechtlich zu begründen sei die Ausklammerung der Sozialversicherungsträger aus dem Unternehmensbegriff insofern, als diese nicht „völlig systemfremd, sondern [. . .] durch 90
EuGH, Urt. v. 11.7.2006 – Rs. C-205/03, Slg. 2006, I-06295, Tz. 25 – FENIN. Neumann, Kartellrechtliche Sanktionierung von Wettbewerbsbeschränkungen, S. 102 ff. 92 Bien, Die Einflüsse des europäischen Kartellrechts, S. 141. 93 Auf die Bedeutung kompetenzrechtlicher Erwägungen weist etwa Giesen hin, SDSRV 48 (2001), S. 123 (146). 94 Möller, VSSR 2001, 25 (40 f.). 95 Penner, NZS 2003, 234 (238). 91
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das Wettbewerbsrecht selbst beeinflusst [sei]“.96 Die Elemente der Solidarität würden nicht wegen des sozialen Zwecks, sondern wegen ihrer Auswirkungen auf die wettbewerbsrechtliche Vergleichbarkeit einbezogen.97 Kompetenzrechtliche Überlegungen erklärten darüber hinaus die Praxis des EuGH, den Gesamtvergleich nur unter der Fragestellung vorzunehmen, ob Private auch die gleichen Mittel anwenden und nicht, ob sie nur die gleiche Aufgabe wahrnehmen könnten.98 Der Ansatz des EuGH ist aber auch auf entschiedene und scharfe Kritik gestoßen: So wird insbesondere bemängelt, der EuGH habe eine „De facto-Bereichsausnahme“ 99 für soziale Sicherungssysteme geschaffen. Es handele sich um eine „Sonderrechtsprechung“ 100, die eine „bereichsspezifische Abkehr vom funktionellen Unternehmensbegriff“ 101 bedeute und für diesen Sektor einen institutionellen Unternehmensbegriff 102 etabliere. So sei es etwa inkonsequent zu der Rechtsprechung Höfner und Elser, nach der es nicht auf die Art der Finanzierung der wirtschaftlich tätigen Einheit ankommt, bei Sozialversicherungsträgern maßgeblich auf die Finanzierungsart (Umlage vs. Kapitalisierungsprinzip) abzustellen.103 Die Abkehr von allgemeinen Grundsätzen werde auch in der Missachtung der Relativität des Unternehmensbegriffes deutlich. So werde nicht ausreichend zwischen Nachfrage- und Angebotstätigkeit der Sozialversicherungsträger differenziert.104 Soweit der Begriff der wirtschaftlichen Tätigkeit allein als das Anbieten von Gütern und Dienstleistungen verstanden und die Nachfrage daher als akzessorisch zur Anbietertätigkeit betrachtet wird, wird das Fehlen jeglicher Begründung „warum dies so sein soll“ kritisiert. Es sei „mehr als erstaunlich, dass sowohl EuG als auch der Gerichtshof sich für ihre Aussagen mit formelhaften und nichtssagenden Begründungen begnügen, um eine für die Reichweite des europäischen Kartellrechts grundlegende (und im Gegensatz zu mehr als 40 Jahren bewährter deutscher Kartellrechtspraxis stehende) Entscheidung zu treffen.105 Ferner sei nicht ersichtlich, warum Solidarprinzip und wirtschaftliche Tätigkeit 96
Penner, NZS 2003, 234 (238). Penner, NZS 2003, 234 (238). 98 Penner, NZS 2003, 234 (238). 99 Kluckert, Gesetzliche Krankenkassen als Normadressaten des Europäischen Wettbewerbsrechts, S. 198 ff. (208). 100 Kluckert, Gesetzliche Krankenkassen als Normadressaten des Europäischen Wettbewerbsrechts, S. 198 ff. 101 Schenke, VersR 2004, 1360 (1365). 102 Jaeger, ZWeR 2005, 31 (50); Gassner, WuW 2004, 1028 (1030). 103 Kluckert, Gesetzliche Krankenkassen als Normadressaten des Europäischen Wettbewerbsrechts, S. 199 f. 104 Kluckert, Gesetzliche Krankenkassen als Normadressaten des Europäischen Wettbewerbsrechts, S. 200 ff.; Möschel, JZ 2007, 601 (602); Schenke, VersR 2004, 1360 (1364 f.); Roth, GRUR 2007, 645 (652). 105 Roth, GRUR 2007, 645 (652). 97
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sich gegenseitig ausschließen würden.106 Die Teleologie des europäischen Wettbewerbsrechts werde „verfälscht“ 107, denn die EuGH-Rechtsprechung sende ein „paradoxes Signal“ 108: „Eine Konfrontation mit dem europäischen Wettbewerbsrecht muss der Gesetzgeber umso weniger fürchten, je konsequenter er sich einem am Wettbewerbsgedanken orientierten Umbau der sozialen Sicherungssysteme verschließt.“ 109 Damit werde das Wettbewerbsrecht entgegen seiner Intention zur „Reformbremse“ 110 der Sozialversicherungssysteme der Mitgliedstaaten. Zu bevorzugen sei nach Auffassung der Kritiker eine Lösung über die Rechtfertigungsregel des Art. 106 Abs. 2 AEUV, die die Ziele von Wettbewerbsrecht und Sozialversicherungsrecht sachgerecht und differenziert in Ausgleich bringen könne.111 c) Stellungnahme und Hintergründe der EuGH-Rechtsprechung Eine intensive dogmatische Hinterfragung der – mittlerweile gefestigten – Rechtsprechung des EuGH wird hier nicht für zielführend erachtet und soll daher unterbleiben. Die Argumente für beide Seiten wurden – wie dargestellt – in der Literatur bereits umfassend erörtert. Für die folgenden Überlegungen soll die Rechtsauffassung des EuGH vielmehr als „Case Law“ zugrunde gelegt werden. Von größerem praktischen Nutzen scheint die Auseinandersetzung mit sich daran anschließenden Rechtsfragen. Von Interesse ist hier etwa, welche Auswirkungen die Reformen des deutschen Gesundheitswesens auf die Unternehmenseigenschaft der Krankenkassen haben, welche Bedeutung die EuGH-Rechtsprechung für die Auslegung des deutschen GWB hat und ob die Krankenkassen im Bereich der freiwilligen Versicherung ebenfalls nicht als Unternehmen einzustufen sind. Für ein besseres Verständnis und die bessere Handhabung der Rechtsprechungsgrundsätze zur Unternehmenseigenschaft von Sozialversicherungsträgern hilft es dennoch, sich folgende Überlegungen vor Augen zu führen: Zunächst lässt sich der Ansatz des EuGH mit einer „Schonung mitgliedstaatlicher Regelungskompetenzen“ 112 begründen. Die Anwendung des europäischen Wettbewerbsrechts auf die Sozialversicherungsträger der Mitgliedstaaten birgt die 106 Kluckert, Gesetzliche Krankenkassen als Normadressaten des Europäischen Wettbewerbsrechts, S. 203. 107 Schenke, VersR 2004, 1360 (1365). 108 Schenke, VersR 2004, 1360 (1366). 109 Schenke, VersR 2004, 1360 (1366). 110 Schenke, VersR 2004, 1360 (1366). 111 Ausführlich zu diesem Ansatz zuletzt Kersting/Faust, in: Thüsing, Europäisches Vergabe- und Kartellrecht, S. 107 (121 ff., insb. 128 ff.), sowie dies., WUW 2011, 6 (8 ff.). 112 Roth, in: Wallrabenstein, Braucht das Gesundheitswesen ein eigenes Regulierungsrecht?, S. 113 (137).
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Gefahr eines Konflikts zwischen dem europäischen Wettbewerbsrecht und dem nationalen Sozialversicherungsrecht. Wie der EuGH mehrfach betont hat, lässt das Unionsrecht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit unberührt.113 Es soll den Mitgliedstaaten also unbenommen sein, ihr soziales Sicherungssystem wettbewerbsfern auszugestalten, ohne dabei in Konflikt mit dem europäischen Wettbewerbsrecht zu geraten. Würde man die Sozialversicherungsträger als Unternehmen einstufen und im Einzelfall eine Rechtfertigung der wettbewerbswidrigen Tätigkeit gem. Art. 106 Abs. 2 AEUV prüfen, so würde dies in jedem Einzelfall eine Bewertung des EuGH erfordern, ob die Anwendung der Wettbewerbsvorschriften die Erfüllung der den Sozialversicherungsträgern übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindert. Dem EuGH müsste also Überlegungen darüber anstellen, ob die Aufgabe in einem wettbewerblichen System genauso wirksam erfüllt werden könnte. Diese Entscheidung von erheblicher sozialpolitischer Tragweite soll hingegen den nationalen Entscheidungsträgern überlassen sein. Es soll in ihrem Ermessen stehen, wie die Aufgabe der sozialen Sicherheit bestmöglich erfüllt werden kann. Unterfielen die Sozialversicherungsträger dem europäischen Kartellrecht, kämen der Kommission dagegen weitreichende Befugnisse gem. Art. 106 Abs. 3 AEUV zu, gegenüber den Mitgliedstaaten deren Verpflichtungen aus Art. 106 Abs. 1 durchzusetzen.114 Europäische „Übergriffe“ dieser Art in die nationalen Systeme der sozialen Sicherheit sollten – so ist zu vermuten – verhindert werden. Ein weiteres – damit zusammenhängendes – gewichtiges Argument, welches Hintergrund der Ablehnung bereits der Unternehmenseigenschaft der Sozialversicherungsträger sein könnte, ist im europäischen Beihilfenrecht begründet.115 Auch dieses ist Teil des europäischen Wettbewerbsrechts und setzt den Mitgliedstaaten hinsichtlich der wirtschaftlichen Begünstigung von Unternehmen Grenzen. Die Artt. 107 bis 109 AEUV knüpfen ebenso wie das europäische Kartellrecht gem. Art. 101, 102 und 106 AEUV an den – identisch auszulegenden116 – Begriff „Unternehmen“ an. Es ist also zu vermuten, dass man mit der Herausnahme der Sozialversicherungsträger aus dem persönlichen Anwendungsbereich des Kartellrechts auch den Freiraum der Mitgliedstaaten unberührt lassen wollte, den sozialen Sicherungssystemen steuerliche Zuschüsse zukommen zu lassen, 113 Siehe etwa EuGH, Urt. v. 7.2.1984, Rs. C-238/82, Slg. 1984, 523, Tz. 16 – Duphar u. a.; Urt. v. 28.4.1998 – Rs. C-158/96, Slg. 1998, I-01931, Tz. 17 – Kohll; Urt. v. 22.1.2002 – Rs. C-218/00, Slg. 2002, I-691, Tz. 31 – Cisal. 114 Vgl. Christian Jung, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 106, Rn. 58. 115 Roth, in: Wallrabenstein, Braucht das Gesundheitswesen ein eigenes Regulierungsrecht?, S. 113 (137 f.). 116 von Wallenberg/Schütte, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 107 AEUV, Rn. 39; davon ausgehend wohl auch Wolfram Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 107 AEUV, Rn. 25; Koenig/Kühling/Ritter, EG-Beihilfenrecht, Rn. 167 (allerdings mit dem Vorschlag einer beihilferechtlichen Anpassung).
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ohne im Beihilfenrecht eine abweichende Auslegung des Unternehmensbegriffs vornehmen zu müssen.117 d) Übertragung der Rechtsprechungsgrundsätze auf die veränderte Rechtslage der GKV infolge der jüngsten Reformen Da die Einstufung eines Sozialversicherungsträgers als Unternehmen von der konkreten Ausgestaltung des sozialen Sicherungssystems abhängt, kann jede Reform insoweit zu einer Neubewertung führen. Die Entscheidung AOK-Bundesverband betraf die deutsche GKV in ihrer Form vor dem Jahr 2000. Seitdem ist das Recht der GKV mehrfach reformiert worden, neben anderen Gesetzen vor allem durch die sog. „Gesundheitsreform 2007“ – das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-WSG)118. Dabei hat sich der Gesetzgeber mit dem Ziel der Steigerung von Effizienz und Qualität um eine wettbewerbsfreundlichere Ausgestaltung des Systems bemüht. Es stellt sich daher die Frage, ob trotz der zunehmenden wettbewerblichen Elemente der Grundsatz der Solidarität das System nach wie vor derart beherrscht, dass eine wirtschaftliche Tätigkeit nicht angenommen werden kann. Im Folgenden sollen die wichtigsten Änderungen im Recht der GKV hierauf untersucht werden. aa) Zu untersuchende Reformen Steuerfinanzierung (2004)119: Durch das GMG vom 14.11.2003 wurde erstmals ein relevanter Staatszuschuss zur Finanzierung der GKV eingeführt, mit dem Aufwendungen der Krankenkassen für „versicherungsfremde Leistungen“ pauschal abgegolten werden sollen (§ 221 Abs. 1 S. 1 SGB V). Diese Entwicklung einer teilweisen Steuerfinanzierung der GKV ist im GKV-WSG weiter vorangetrieben worden. Der Staatszuschuss soll perspektivisch auf einen Jahresbetrag von 14 Milliarden Euro anwachsen (§ 221 Abs. 1 S. 2 SGB V). Für das Jahr 2011 leistete der Bund darüber hinaus weitere 2 Milliarden Euro an den Gesundheitsfonds (§ 221a SGBV). Gesundheitsfonds (2009)120: Eine erhebliche Veränderung der Organisationsstruktur sowie der Finanzierung der Krankenkassen brachten die Einrichtung des Gesundheitsfonds (§ 271 SGB V) und die damit verbundenen Änderungen durch 117 Roth, in: Wallrabenstein, Braucht das Gesundheitswesen ein eigenes Regulierungsrecht?, S. 113 (138). 118 Gesetz v. 26.03.2007 BGBl. I S. 378. 119 Eingeführt durch Art. 1 Gesetz v. 14.11.2003, BGBl. I 2190 (GMG) m.W. v. 1.1. 2004. 120 Eingeführt durch Art. 1 Gesetz v. 26.3.2007. BGBl. I S. 378 (GKV-WSG), dieser idF d. Art. 4 Nr. 3 Gesetz v. 15.12.2008, BGBl. I S. 2426 (GKV-OrgWG) m.W. v. 1.1. 2009.
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das GKV-WSG mit sich: Der Beitragssatz wird nicht mehr kassenindividuell erhoben, sondern wurde zunächst von der Bundesregierung einheitlich festgesetzt und beträgt nun gem. § 241 SGB 15,5% der beitragspflichtigen Einnahmen. Die Beiträge der Versicherten fließen in den Gesundheitsfonds (die Krankenkassen sind insoweit nur Einzugsstellen), aus dem die einzelnen Kassen die erforderlichen Finanzmittel zugewiesen bekommen (§ 266 SGB V). Kassenindividueller Zusatzbeitrag (2009)121 und Sozialausgleich (2011)122: Decken die Mittel aus dem Gesundheitsfonds den Finanzbedarf einer Krankenkasse nicht, so ist diese seit dem GKV-WSG zur Erhebung eines kassenindividuellen Zusatzbeitrags verpflichtet (§ 242 Abs. 1 SGB V). Bei Überdeckung kann sie dagegen Prämien an die Versicherten ausschütten (§ 242 Abs. 2 SGB V). Nach der durch das GKV-WSG eingeführten Regelung war der Zusatzbeitrag in der Höhe begrenzt und diente nur dazu Mehrkosten auszugleichen, die durch unwirtschaftliche Verwaltung einer Kasse entstehen. Infolge der Reform durch das GKV-FinG soll der Zusatzbeitrag seit dem 1.1.2011 auch allgemeine Kostensteigerungen im Gesundheitswesen ausgleichen, und die Höchstbegrenzung wurde aufgehoben. Um unzumutbare Kostenbelastungen der Versicherten, die aus der einkommensunabhängigen pauschalen Berechnung entstehen können, zu vermeiden, wurde ein steuerfinanzierter Sozialausgleich (§§ 242b, 221b SGB V) eingeführt, der eingreift, wenn der durchschnittliche Zusatzbeitrag gem. § 242a SGB V der Krankenkasse 2% der beitragspflichtigen Einnahmen des Mitglieds übersteigt. In diesem Fall verringert sich der monatliche einkommensabhängige Beitragsanteil (vgl. § 242b Abs. 1 S. 1, 2 SGB V). Wahltarife (2007, 2009)123: Gem. § 53 Abs. 1–6 SGB V können die Krankenkassen ihren Versicherten verschiedene Wahltarife anbieten, die eine Differenzierung des Leistungskatalogs innerhalb einer Krankenkasse und unter den Krankenkassen ermöglichen. Im Einzelnen bestehen folgende Optionen: Vereinbarung eines Selbstbehalts (Abs. 1), Auszahlung einer Prämie bei Nichtinanspruchnahme von Leistungen der Krankenkasse (Abs. 2), Sondertarife bei Teilnahme an bestimmten Versorgungsmodellen (Abs. 3), Tarife für Kostenerstattung (Abs. 4), Sondertarife für bisher nicht erstattete Arzneimittel (Abs. 5), Krankengeld (Abs. 6). Wahltarife nach Abs. 3 und 6 sind für die Kassen obligatorisch, die Übrigen fakultativ. In diesem Zusammenhang von Bedeutung sind insbesondere die Wahltarife gem. § 53 Abs. 1 und 2 SGB V, da diese nur für junge, gesunde Versicherte in Betracht kommen und daher einen Einfluss auf das horizontale Solidarprinzip haben.
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Art. 1 Gesetz v. 26.3.2007, BGBl. I S. 378 (GKV-WSG), m.W. v. 1.1.2009. Art. 1 Gesetz v. 22.12.2010, BGBl. I S. 2309 (GKV-FinG) m.W. v. 1.1.2011. 123 Art. 1 Gesetz v. 26.3.2007, BGBl. I S. 378 (GKV-WSG) m.W. v. 1.4.2007, Abs. 6 u. 7 m.W. v. 1.1.2009. 122
A. Die gesetzlichen Krankenkassen im Bereich der Pflichtversicherung
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Zusatzleistungen (2012)124: Die jüngste Neuerung ist die Einführung der zusätzlichen Satzungsleistungen gem. § 11 Abs. 6 SGB V durch das GKV-VStG. Seit dem 1.1.2012 können die Krankenkassen für ihre Versicherten in den dort ausdrücklich genannten Bereichen Zusatzleistungen vorsehen, die im Zusammenhang mit dem gesetzlichen Leistungskatalog stehen. Die Zusatzleistungen gelten im Unterschied zu den Wahltarifen für alle Versicherten einer Krankenkasse, sie können nicht von diesen gewählt werden. Wer diese nicht in Anspruch nehmen möchte, muss die Kasse wechseln. Die Aufwendungen für Zusatzleistungen werden nicht aus dem Gesundheitsfonds, sondern über Zusatzbeiträge oder Rücklagen der Kassen finanziert (§ 266 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 SGB V). Selektivverträge (2000, 2007)125: Seit dem Jahr 2000 wurden weiterhin die selektivvertraglichen Leistungsbereiche erheblich ausgeweitet. Selektivverträge bezeichnen Versorgungsverträge, bei denen Krankenkassen einzeln mit bestimmten Leistungserbringern kontrahieren. Durch Selektivverträge erhalten die Krankenkassen die Möglichkeit sich von anderen Kassen abzusetzen und ihr Angebot gegenüber den Versicherten hinsichtlich des Preis-Leistungsverhältnisses attraktiv auszugestalten. Selektivverträge können etwa abgeschlossen werden im Bereich der „hausarztzentrierten Versorgung“ (§ 73b SGB V), für die „besondere ambulante Versorgung“ (§ 73c SGB V), in Form von sog. „Arzneimittel-Rabattverträgen“ (§ 130a Abs. 8 SGBV) und im Rahmen der „integrierten Versorgung“ (140a–d SGB V). Basistarif in der PKV (2009)126: Nach § 12 Abs. 1a VAG sind die privaten Krankenversicherer seit dem 1.1.2009 verpflichtet, allen nicht GKV-versicherten Personen einen Basistarif anzubieten, dessen Leistungskatalog dem Leistungsumfang der GKV entspricht. Der Beitrag im Basistarif darf den GKV-Höchstbeitrag nicht übersteigen (§ 12 Abs. 1c SGB V). Kassenartübergreifende Fusionen (2007)127: Der durch das GKV-WSG eingeführte § 171a SGB V lässt kassenartübergreifende Fusionen ausdrücklich zu. Insolvenzfähigkeit aller Krankenkassen (2010)128: § 171b Abs. 1 SGB V erklärt § 12 Abs. 1 Nr. 2 InsO für unanwendbar, nach dem die Landesgesetzgeber die Insolvenzfähigkeit für landesunmittelbare Krankenkassen bisher ausschließen
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Art. 1 Gesetz v. 22.12.2011, BGBl. I S. 2983 (GKV-VStG), m.W. v. 1.1.2012. Siehe etwa § 140a–d SGB V eingeführt durch Art. 1 Gesetz v. 22.12.1999, BGBl. I S. 2626 (GRG) m.W. v. 1.1.2000; §§ 73b, 73c, 130a Abs. 8 SGBV eingeführt durch Art. 1 Gesetz v. 26.3.2007, BGBl. I S. 378 (GKV-WSG) m.W. v. 1.4.2007. 126 Art. 44 Gesetz v. 26.03.2007 BGBl. I S. 378 (GKV-WSG) m.W. v. 1.1.2009 (s. Art. 46 Abs. 10). 127 Art. 1 Gesetz v. 26.03.2007 BGBl. I S. 378 (GKV-WSG) m.W. v. 1.4.2007. 128 Art. 1 Gesetz v. 15.12.2008, BGBl. I S. 2426 (GKV-OrgWG) m.W. v. 1.1.2010 (s. Art. 7 Abs. 7). 125
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Kap. 3: Rechtliche Ordnung des „Wettbewerbs‘‘ durch das Kartellrecht?
konnten und ausgeschlossen haben. Seither sind alle Krankenkassen insolvenzfähig. Die InsO gilt nach Maßgabe des § 171 b Abs. 2–7 SGB V. bb) Folgen für die Einstufung als Unternehmen aus Sicht von Literatur und Praxis Wie sich diese Reformen in Bezug auf die Einstufung der Krankenkassen als Unternehmen im Sinne des europäischen Kartellrechts auswirken, wird in Literatur und Praxis unterschiedlich beurteilt. Die Monopolkommission „hält es [. . .] für angebracht, heute von der gegebenen Unternehmenseigenschaft der gesetzlichen Krankenkassen nach europäischem Recht auszugehen.129 Den Krankenkassen seien im Zuge der nach der AOK-Entscheidung erfolgten Reformierungen der Sozialgesetzgebung „verschiedene individuelle Handlungsspielräume eröffnet [worden], die sich individuell in Preis und Qualität auf die Erbringung der Pflichtleistungen auf dem Versicherungsmarkt auswirken [könnten]“.130 Diese Möglichkeiten würden von den Kassen aktiv genutzt. Dem schließt sich das Bundeskartellamt, welches Beklagter in einem Verfahren vor dem hessischen LSG131 war, in seinem Beklagtenvortrag an. Insbesondere die Einführung des Gesundheitsfonds nach §§ 266 ff. SGB V habe dazu geführt, dass die Krankenkassen nun auch nach der EUGH-Rechtsprechung Unternehmen seien. Der Gesetzgeber habe durch den Gesundheitsfonds „eine eindeutige institutionelle Trennung zwischen der dem Solidaritätsbegriff zu Grunde liegenden Einkommensverteilung durch einkommensabhängige Beiträge einerseits und den dem Versicherungsprinzip folgenden Tätigkeiten der Krankenkassen vorgenommen.“ 132 Die Umverteilungsaufgabe werde nun durch den Gesundheitsfonds wahrgenommen. Die einzelne Krankenkasse erfülle dagegen nur noch eine Versicherungsfunktion. Diese könnte auch ein Privater wahrnehmen, denn „die Zuweisung aus dem Gesundheitsfonds diene dazu, die Krankenkassen so zu stellen, als würden risikogerechte Prämien auf der Basis regulierter Risikoprämien von den Versicherten gezahlt“ 133. Es sei nicht das Gesamtsystem der GKV, sondern nur die einzelne Krankenkasse hinsichtlich ihrer Unternehmenseigenschaft zu beurteilen und diese beruhe nicht mehr auf dem in der Umverteilung zum Ausdruck kommenden Grundsatz der Solidarität. Ferner zeige der Vergleich zu dem Basistraif in der PKV, dass „eine vergleichbare Regulierung kein Hinde129 Monopolkommission, 18. Hauptgutachten v. 22.7.2010, BT-Drs. 17/2600, Tz. 1205; ebenso Pitschas, GesR 2008, 64 (76). 130 Monopolkommission, 18. Hauptgutachten v. 22.7.2010, BT-Drs. 17/2600, Tz. 1205. 131 LSG Darmstadt v. 15.9.2011 – L 1 KR 89/10 KL, juris. 132 LSG Darmstadt v. 15.9.2011 – L 1 KR 89/10 KL, Rn. 50, juris. 133 LSG Darmstadt v. 15.9.2011 – L 1 KR 89/10 KL, Rn. 51, juris.
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rungsgrund für ein privatwirtschaftliches Angebot am Markt sei“.134 Durch die Möglichkeit der Erhebung von Zusatzbeiträgen bzw. der Ausschüttung von Prämien gem. § 242 SGB V käme den Krankenkassen überdies ein den privaten Krankenversicherungsunternehmen vergleichbarer Handlungsspielraum bei der Beitragsfestsetzung zu. Anders sehen dies das hessische LSG, welches sich im Rahmen des oben genannten Verfahrens mit dieser Frage auseinandersetzen musste,135 der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen136 sowie die überwiegenden Stimmen in der Literatur.137 Übereinstimmend wird „wenig Anhalt für eine Spekulation, wonach die Gesundheitsreform 2007 für den EuGH Anlass zu einer umstürzenden Kehrtwendung in seiner Rechtsprechung sein könnte“ 138 gesehen. Insgesamt bleibe der Grundsatz der Solidarität prägend für die GKV. Teilweise wird sogar davon ausgegangen, die Reform habe wettbewerbliche Spielräume verengt und einen Schritt zurück „in Richtung eines noch stärker staatlich administrierten Gesundheitssystems“ 139 bewirkt. Dies wird damit begründet, dass den Krankenkassen die Finanzierungshoheit durch das GKVWSG genommen und der Beitragssatz einheitlich durch die Bundesregierung festgesetzt wird. Die Differenzierungsmöglichkeit über den Zusatzbeitrag sei „zu wenig, um einen Wechsel der Versicherten zwischen Krankenkassen [. . .] auszulösen.“ 140 Jedenfalls hätten die Reformen aber nicht zu einer relevanten Erweiterung der Handlungsspielräume geführt. Auch weiterhin hätten die Kassen bis auf „die geringfügige Bandbreite der Wahltarife“ keinen Einfluss auf den Leistungskatalog der GKV.141 Die Wahltarife seien im Zusammenhang mit der Abschaffung des unterschiedlichen Beitragssatzes zu sehen und dienten nur dazu, auch weiterhin ein Mindestmaß an Gestaltungsfreiheit sicherzustellen.142 Die gleiche Funktion erfüllten die Zusatzbeiträge, die keinen Bezug zum Gesundheitsrisiko aufwiesen, zwingend mit dem aufgabenbezogenen Finanzbedarf verknüpft und 134
LSG Darmstadt v. 15.9.2011 – L 1 KR 89/10 KL, Rn. 51, juris. Das hessische LSG geht von einer am europäischen Kartellrecht auszurichtenden Bestimmung des Unternehmensbegriffs des GWB aus und musste daher untersuchen, ob die Kassen in Folge der Novellierungen des SGB V seit der AOK BundesverbandEntscheidung als Unternehmen in diesem Sinne handeln, vgl. LSG Darmstadt v. 15.9. 2011 – L 1 KR 89/10 KL, Rn. 79 ff., juris. 136 Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, Sondergutachten 2012, S. 51, Tz. 43. 137 Becker/Kingreen, NZS 2010, 417 (422); Kingreen, ZESAR 2007, 139 (142 ff.); Roth, NZS 2007, 645 (656 ff.); Kersting/Faust, in: Thüsing, Europäisches Vergabe- und Kartellrecht, S. 107 (118 f.); dies., WuW 2011, 6 (8); Schmidt, GesR 2007, 295 (298); Möschel, JZ 2007, 601 (603). 138 Möschel, JZ 2007, 601 (603). 139 Möschel, JZ 2007, 601 (603). 140 Möschel, JZ 2007, 601 (603). 141 LSG Darmstadt v. 15.9.2011 – L 1 KR 89/10 KL, Rn. 89, juris. 142 LSG Darmstadt v. 15.9.2011 – L 1 KR 89/10 KL, Rn. 90, juris. 135
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bei deren Erhebung die Kassen überdies gesetzlich gebunden seien.143 Beide Wettbewerbselemente bewegten sich „im Rahmen des vom Gerichtshof gebilligten Spielraums“.144 Der Sachverständigenrat weist jedoch einschränkend auf die größer werdende Bedeutung der Zusatzbeiträge nach der Reform durch das GKVFinG hin. Hier bestünde Beobachtungsbedarf.145 cc) Stellungnahme Bei der Untersuchung der Reformen ist auszugehen von den Grundsätzen, die der EuGH in seinen Entscheidungen zur Unternehmenseigenschaft von Sozialversicherungsträgern aufgestellt hat: Danach kommt es in erster Linie darauf an, ob die Krankenkassen weiterhin den „Grundsatz der Solidarität“ umsetzen, der eine wirtschaftliche Tätigkeit ausschließt. Die dargestellten Änderungen des Rechts der GKV (und der PKV) haben unterschiedlich starke Auswirkungen auf die den Solidaritätsgrundsatz charakterisierenden Faktoren. Sie sollen daher einzeln untersucht werden.146 (1) Staatszuschuss (§§ 221, 221a SGB V) Eine Finanzierung aus Steuermitteln ist in einer Versicherung grundsätzlich systemfremd. Diese trägt sich aus den Beiträgen der Versicherungsgemeinschaft. Zum 1.1.2004 wurde mit § 221 jedoch eine Regelung in das SGB V eingeführt, nach der der Bund einen Zuschuss „zur pauschalen Abgeltung der Aufwendungen der Krankenkassen für versicherungsfremde Leistungen“ leistet. Die Steuerfinanzierung wurde seither mehrfach ausgebaut. Sie soll perspektivisch auf 14 Milliarden Euro im Jahr anwachsen. Was unter den „versicherungsfremden Leistungen“ zu verstehen ist, wird aus der Gesetzesbegründung zum GMG nicht deutlich.147 In der öffentlichen Diskussion werden darunter vor allem die bei143
LSG Darmstadt v. 15.9.2011 – L 1 KR 89/10 KL, Rn. 92 f., juris. LSG Darmstadt v. 15.9.2011 – L 1 KR 89/10 KL, Rn. 93, juris. 145 Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, Sondergutachten 2012, S. 51, Tz. 43. 146 Es ist davon auszugehen, dass der EuGH in dem aktuellen Vorabentscheidungsverfahren zu dieser Frage noch einmal Stellung beziehen wird; vgl. die Vorlage durch den BGH, EuGH-Vorlage v. 18.01.2012 – I ZR 170/10, GRUR 2012, 288. Gegenstand sind hier unlautere Geschäftspraktiken und die Frage, ob Krankenkassen Gewerbetreibende sind. Die Auslegung des Begriffs des Gewerbetreibenden deckt sich mit der des Unternehmens im Sinne des Art. 101 AEUV. 147 In der Begründung des ursprünglichen Gesetzentwurfs der Fraktionen SPD und Grüne v. 16.6.2003, BT-Drs. 15/1170, S. 59 hatte es noch geheißen: „Hierzu zählen das Mutterschaftsgeld und sonstige Leistungen bei Schwangerschaft und Mutterschaft, Empfängnisverhütung, Schwangerschaftsabbruch, Haushaltshilfe, Krankengeld bei Erkrankung eines Kindes sowie die Beitragsfreiheit beim Bezug von Erziehungsgeld, Mutterschaftsgeld oder Inanspruchnahme von Elternzeit.“ Dieser Satz wurde im späteren endgültigen Entwurf (BT-Drs. 15/1525) jedoch ersatzlos gestrichen, s. S. 76. 144
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tragsfreie Mitversicherung von Kindern gem. § 10 SGB V und das Mutterschaftsgeld gefasst.148 Mit der Übernahme der Kosten für Kinder und Mutterschaft durch den Staat geht eine der Umverteilungskomponenten der GKV verloren, nämlich die des Ausgleichs zwischen kinderlosen Versicherten und Familien. Sofern weitere Aufwendungen der Sozialversicherung aus Steuergeldern finanziert werden, wird darüber hinaus auch in anderen Bereichen der Solidarausgleich geschwächt. Bei einem Staatszuschuss von bis zu 14 Milliarden Euro wird daher die Aufgabe des solidarischen Ausgleichs in großem Umfang von der Versicherungsgemeinschaft auf die Gesamtgesellschaft übertragen. Je mehr aber dem Staat und nicht mehr der Versicherungsgemeinschaft diese Aufgabe zukommt, umso begründungsbedürftiger werden die Versicherungspflicht und damit auch der Charakter der Krankenkassen als nicht wirtschaftlich sondern „solidarisch“.149 Dennoch rechtfertigt der Staatszuschuss (noch) keine Einstufung der Krankenkassen als Unternehmen: Er lässt nämlich das Umlageverfahren, d.h. die Umverteilung zwischen Jung und Alt, unberührt. Dieses setzt zu ihrem Funktionieren eine Versicherungspflicht voraus und wird vom EuGH als wesentliches Element des Solidaritätsgrundsatzes angesehen. Darüber hinaus liegt der Schwerpunkt der Einnahmen der GKV auch weiterhin auf den einkommensabhängigen – und damit solidarisch bemessenen – Beiträgen der Versicherten. Die Beitragseinnahmen machen nach wie vor den wesentlich bedeutenderen Anteil gegenüber den Steuermittelm aus, so dass es sich bei diesen bisher tatsächlich nur um einen „Zuschuss“ handelt. Die Grenze zur wirtschaftlichen Tätigkeit scheint daher trotz der erheblichen Schwächung des horizontalen Solidarausgleichs (noch) nicht überschritten. (2) Gesundheitsfonds (§§ 271, 266 SGB V) Das Bundeskartellamt begründet die Unternehmenseigenschaft der Krankenkassen in Folge der Reformen in erster Linie mit der Einführung des Gesundheitsfonds. Dieser habe die Krankenkassen von solidarisch finanzierten zu auf dem Äquivalenzprinzip beruhenden Versicherungseinrichtungen gemacht. Die Argumentation klingt auf den ersten Blick schlüssig: In der Tat ist seit Einführung des Gesundheitsfonds eine Trennung zwischen der solidarischen Beitragsberechnung einerseits und den Mitteln der Krankenkassen, deren Höhe sich nach der Risikostruktur der Versicherten richtet, andererseits möglich. In einem ersten
148 Diese Begründung des Staatszuschusses wirft verfassungsrechtliche Fragen auf, etwa ob es mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist, dass eine finanzielle Beteiligung des Staates an der Krankenversicherung privatversicherter Kinder ausbleibt. Dazu Kapitel 5, C. II. 2. a) cc) (1). 149 Hierauf weist zutreffend Kingreen hin, ZESAR 2007, 139 (146).
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Schritt gelangen alle von den Versicherten geleisteten einkommensabhängigen Beiträge in den Gesundheitsfonds beim Bundeversicherungsamt. In einem zweiten Schritt werden dann Mittel an die Krankenkassen ausgeschüttet, die den durchschnittlichen Bedarf einer Kasse je nach Zusammensetzung der Versicherten wiederspiegeln. Daraus wird abgeleitet, der Grundsatz der Solidarität werde zwar vom Gesundheitsfonds, nicht aber durch die einzelnen Kassen umgesetzt und nur um letztere ginge es bei der Frage nach der Unternehmenseigenschaft. Erscheint dieses strukturelle Argument auch zunächst einleuchtend, so ist die Aufspaltung doch – auf den zweiten Blick – künstlich und wenig überzeugend: Der Gesundheitsfonds bewirkt zwar eine institutionelle Trennung des Risikostrukturausgleichs und des Haushalts der einzelnen Krankenkassen. Er ändert jedoch nichts an der solidarischen Finanzierung der Träger der GKV. Die Sozialversicherungsbeiträge werden weiterhin einkommensabhängig und damit nach dem sog. Solidarprinzip berechnet. Die Mittel, die den Kassen zufließen sind mit diesen Beiträgen identisch. Durch den Gesundheitsfonds wurde lediglich der zuvor schon bestehende Risikostrukturausgleich zwischen den Kassen von einem internen in ein externes Ausgleichssystem, das zentral vom Bundesversicherungsamt verwaltet wird, ausgelagert und in seinen Funktionen verbessert. Dies allein vermag aber nicht den Krankenkassen ihren solidarischen Charakter zu nehmen, sondern ist vielmehr eine Frage der Ausgestaltung des nationalen Systems der sozialen Sicherheit, die nach der Rechtsprechung des EuGH allein den Mitgliedstaaten obliegt. (3) Kassenindividueller Zusatzbeitrag und Sozialausgleich (§§ 242–242b SGB V) Auch die Einführung des kassenindividuellen Zusatzbeitrags rechtfertigt im Ergebnis keine andere Beurteilung, obwohl das horizontale Solidarprinzip hierdurch geschwächt wird. Zunächst schafft dieses Beitragselement keinen zusätzlichen Handlungsspielraum der Krankenkassen, sondern steht im Zusammenhang mit der Abschaffung des unterschiedlichen, von den Kassen selbst festgesetzten Beitragssatzes. Während die Kassen früher über den vollen Beitragssatz miteinander in einen Preiswettbewerb treten konnten, ist dies jetzt nur noch über den Zusatzbeitrag bzw. die Prämie möglich; und auch hier ist der Spielraum begrenzt: Die Kassen sind zur Erhebung des Zusatzbeitrags verpflichtet, sofern ihr Finanzbedarf die Mittel aus dem Gesundheitsfonds übersteigt. Nur die Ausschüttung einer Prämie, wenn die Mittel aus dem Fonds den Finanzbedarf übersteigen, liegt in ihrem freien Ermessen. Die Praxis zeigt zwar, dass ein pauschal berechneter Zusatzbeitrag als fester Eurobetrag (z. B. 8 A) im Vergleich zu einem Prozentsatz der beitragspflichtigen Einnahmen (z. B. 14,3%) ein höheres Preissignal setzt und daher den Wettbewerb unter den Kassen stärker beeinflusst, er erweitert aber nicht den
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wettbewerblichen Handlungsspielraum, sondern verengt diesen eher im Vergleich zu der Rechtslage vor dem GKV-WSG. Zu dem Beitragswettbewerb der Kassen vor Inkrafttreten des GKV-WSG hat der EuGH aber in seiner Entscheidung AOKBundesverband bereits ausdrücklich Stellung bezogen. Danach zwinge ein gewisser wettbewerblicher Spielraum nicht zur Feststellung der Unternehmenseigenschaft. Der Gesetzgeber habe „bei den Beiträgen ein Wettbewerbselement eingeführt, um die Krankenkassen zu veranlassen, im Interesse des ordnungsgemäßen Funktionierens des deutschen Systems der sozialen Sicherheit ihre Tätigkeit nach den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit auszuüben, d.h. so effizient und kostengünstig wie möglich. Die Verfolgung dieses Zieles [ändere] nichts an der Natur der Tätigkeit der Krankenkassen.“ 150 Nicht bestritten werden kann indessen die Schwächung der Umverteilung zwischen Versicherten höherer und geringerer Einkommen durch die pauschalen Zusatzbeiträge. Dies gilt vor allem dann, wenn Zusatzbeiträge langfristig zur Normalität in allen Kassen werden.151 Die Bemessungsgrundlage des kassenindividuellen Zusatzbeitrags ist nämlich eine andere als die des regulären Beitrags. Zunächst konnten die Kassen wählen, ob sie den Zusatzbeitrag als Pauschale (§ 242 Abs. 1 S. 3 SGB V a. F.) oder in Prozent der beitragspflichtigen Einnahmen (S. 2 a. F.) festsetzen. Die zweite Gestaltungsvariante ist nun entfallen. Der Zusatzbeitrag muss seit dem 1.1.2011 pauschal, unabhängig vom Einkommen des Kassenmitglieds, berechnet werden (§ 242 Abs. 1 S. 1 SGB V). Im Rahmen des Zusatzbeitrags findet daher keine Umverteilung zwischen Einkommensstarken und -schwachen statt. Diese Ausprägung horizontaler Solidarität wird vom EuGH jedoch nicht als prägendes Merkmal des Solidaritätsgrundsatzes angesehen. Entscheidender ist für ihn die vertikale Solidarität, d.h. die fehlende Äquivalenz zwischen Beitrag und Leistung. Auch der Zusatzbeitrag ist aber unabhängig vom individuellen Risiko und führt damit eine Umverteilung zwischen Versicherten mit hohem und Versicherten mit geringem Risiko herbei. Die Aufgabe der Umverteilung zwischen Einkommensstarken und Einkommensschwachen wird dagegen im Rahmen der Zusatzbeiträge nicht durch die Versicherungsgemeinschaft, sondern seit der Einführung des sog. „Sozialausgleichs“ zum 1.1.2011 durch den Staat wahrgenommen. Zur Vermeidung zu hoher Belastungen eines Mitglieds kann sich bei hohem Zusatzbeitrag u. U. der einkommensabhängige Beitragssatz verringern. Die dann fehlenden Einnahmen der Krankenkasse deckt der Staat aus Steuermitteln.
150 EuGH, Urt. v. 16.3.2004 – Rs. C-264/01, Slg. 2004, I-02493, Tz. 56 – AOK-Bundesverband. 151 Dies ist aufgrund der Gesetzesänderung m.W. v. 1.1.2011 zu erwarten, nach der der Zusatzbeitrag auch die Funktion erhalten hat, über die Einnahmenentwicklung hinausgehende Ausgabensteigerungen auszugleichen, vgl. BT-Drs. 17/3360, S. 3.
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(4) Wahltarife, Zusatzleistungen und Selektivverträge Durch die Einführung der §§ 53 und 11 Abs. 6 SGB V wird den Krankenkassen die Möglichkeit zur Differenzierung ihres Leistungsangebots gegeben. Wie in der PKV sollen die Kassenmitglieder verschiedene Tarifoptionen auswählen können. Die Zusatztarife ermöglichen eine Differenzierung des Leistungsangebots unter den verschiedenen Krankenkassen, die Wahltarife darüber hinaus sogar innerhalb einer Krankenkasse. In engen Grenzen wird hierdurch die Determiniertheit des gesetzlichen Leistungskatalogs gelockert. Durch die Möglichkeit zum Abschluss von Selektivverträgen können die Krankenkassen überdies individuell mit den Leistungserbringern kontrahieren und gute Konditionen aushandeln. Dies wirkt sich auf das Preis-Leistungsverhältnis der Versicherung und damit auf den Wettbewerb um Versicherte aus. Von diesen Ausweitungen des wettbewerblichen Spielraums ist jedoch nicht zwingend der Grundsatz der Solidarität betroffen. Vielmehr halten sich derartige Freiräume der Krankenkassen im Rahmen dessen, was der Gesetzgeber anordnen kann, „um die Krankenkassen zu veranlassen, im Interesse des ordnungsgemäßen Funktionierens des deutschen Systems der sozialen Sicherheit ihre Tätigkeit nach den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit auszuüben, d.h. so effizient und kostengünstig wie möglich“.152 Sie stellen nicht per se die Qualifizierung der Krankenkassen als nichtwirtschaftlich in Frage. Eine Schwächung des horizontalen Solidarprinzips kann aber durchaus in der Einführung der Wahltarife gem. § 53 Abs. 1 und 2 erblickt werden.153 Sowohl der Selbstbehalt als auch die „Beitragsrückerstattung“ 154 bewirken, dass sich junge, gesunde Versicherte in gewissem Umfang dem Solidarausgleich entziehen können. Verschärft wird dieser Effekt dadurch, dass sie ihn in zunehmendem Alter bei steigender Bedürftigkeit wieder in Anspruch nehmen können. Dadurch gerät das horizontale Solidarprinzip in eine Schieflage. Die Regelung schadet dem System, da eine solidarisch finanzierte Sozialversicherung gerade auf zahlende Mitglieder angewiesen ist, die die fehlenden Beiträge Bedürftiger ausgleichen. Jedoch ist zum einen zu berücksichtigen, dass es wesentlich von der konkreten Ausgestaltung durch die Krankenkassen abhängt, ob und wie stark sich negative Auswirkungen auf das horizontale Solidarprinzip ergeben.155 Zum anderen sind 152 EuGH, Urt. v. 16.3.2004 – Rs. C-264/01, Slg. 2004, I-02493, Tz. 56 – AOK-Bundesverband. 153 Vgl. ausführlich schon oben Kapitel 1, B. III. 1. a). 154 Der Terminus ist rechtlich nicht korrekt, da nichts zurückgezahlt, sondern eine Prämie für die Nichtinanspruchnahme von Leistungen gewährt wird, beschreibt aber treffend den tatsächlichen Effekt, s. näher oben Kapitel 1 B. III. 1. a). 155 Je nach Staffelung bevorteilt der Selbstbehalt einkommensstarke Versicherte unterschiedlich stark; bei fehlender oder nur geringer Staffelung steht dem einheitlichen Selbstbehalt bei einkommensstarken Versicherten eine hohe und bei einkommensschwachen Versicherten eine niedrige Prämie gegenüber (§ 53 Abs. 8 S. 4 SGB V), vgl. ausf. Kingreen, ZESAR 2007, 139 (144, 147).
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diese Wahltarife gesetzlich eng begrenzt. Auch sie bewirken daher noch keine Schwerpunktverlagerung. (5) Basistarif (§ 12 Abs. 1a, 1c SGB V) Auch der vom Bundeskartellamt vorgetragene Vergleich mit der PKV, insbesondere mit dem Basistarif, überzeugt zur Begründung der Unternehmenseigenschaft nicht. Die Argumentation stützt sich auf die zunehmenden sozialversicherungsrechtlichen Elemente in der PKV und die sich dadurch vollziehende Annäherung der Systeme. GKV und PKV unterschieden sich nach Einführung des Basistarifs nur noch graduell. Hier werden also Neuerungen im System der PKV als Begründung für eine veränderte kartellrechtliche Einstufung der gesetzlichen Krankenkassen herangezogen. Dies erscheint wenig tragfähig. Allenfalls könnte die zunehmende „Solidarisierung“ der PKV dazu führen, dass auch die privaten Krankenversicherer im Bereich des Basistarifs nicht mehr als Unternehmen angesehen werden könnten; warum diese aber zur Folge haben sollte, dass die gesetzlichen Krankenkassen Unternehmen werden, bleibt unklar. Nach Auffassung des Bundeskartellamts zeige die Einführung des Basistarifs in der PKV, dass eine derartige Regulierung eine wirtschaftliche Tätigkeit nicht ausschließe.156 Ob Solidaritätsgrundsatz und wirtschaftliche Tätigkeit im Widerspruch stehen, darüber mag man zwar trefflich streiten, der EuGH hat dies indessen mehrfach eindeutig festgestellt und wird diese Auffassung nicht aufgrund der Einführung des Basistarifs in der deutschen PKV in Frage stellen. (6) Statusbezogene Neuregelungen (§§ 171a und 171b SGB V) Schließlich zwingen auch die Vorschriften der §§ 171a uns 171b SGB V zu keinem anderen Ergebnis. Kingreen fast diese Neuregelungen unter dem Oberbegriff „Statusregelungen“ 157 zusammen. Derartige auf den Status der Krankenkassen bezogene Veränderungen haben nach der Rechtsprechung des EuGH keinerlei Einfluss auf die Unternehmenseigenschaft. § 171a SGB V betrifft mit der Ermöglichung kassenartübergreifender Fusionen das Verhältnis der Kassen untereinander und hat keinen Einfluss auf das Versicherungsverhältnis und die solidarische Umverteilung.158 Die durch § 171b angeordnete Insolvenzfähigkeit aller Krankenkassen lässt ebenfalls das gesetzlich begründete Versicherungsverhältnis unberührt. Auch im Falle der Insolvenz einer Krankenkasse besteht die Versicherung eines gesetzlich Versicherten fort.159 Der Grundsatz der Solidarität wird von 156
LSG Darmstadt v. 15.9.2011 – L 1 KR 89/10 KL, Rn. 51, juris. Kingreen unterscheidet zwischen den kartellrechtlich irrelevanten Status- und den kartellrechtlich relevanten Produktregelungen, ZESAR 2007, 139 (147). 158 Vgl. ausführlich Kingreen, ZESAR 2007, 139 (142 f.). 159 Vgl. ausführlich Kingreen, ZESAR 2007, 139 (143). 157
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diesen Veränderungen somit nicht betroffen und die Bestimmungen haben daher keine Relevanz für den Untersuchungsgegenstand. (7) Fazit Auch nach den im Anschluss an das Urteil AOK-Bundesverband ergangenen Reformen ist die Tätigkeit der gesetzlichen Krankenkassen – zumindest noch – vom Grundsatz der Solidarität beherrscht. Dem Bundeskartellamt und der Monopolkommission kann somit nicht in ihrer Einschätzung gefolgt werden, die Krankenkassen hätten sich zu Unternehmen im Sinne des europäischen Wettbewerbsrechts entwickelt. Bisher halten sich die Handlungsoptionen der Träger des GKVSystems nach hier vertretener Ansicht noch im Rahmen des vom EuGH anerkannten „Spielraums“, der einem gewissen Wettbewerb um Mitglieder dient und Wirtschaftlichkeitsanreize setzen soll. Nicht geleugnet werden kann indessen, dass eine schleichende Entwicklung in Richtung einer Schmälerung des Solidarprinzips in der GKV eingesetzt hat. Dies wird insbesondere durch die zunehmende Finanzierung aus Steuermitteln, die Zusatzbeiträge und den mit ihnen verbundenen Sozialausgleich sowie die Wahltarife gem. § 53 Abs. 1 und 2 SGB V deutlich. Weitere Neuerungen, die in diese Richtung weisen und das Versicherungsprodukt, nicht die Institution der Versicherungsträger betreffen, können langfristig den Schwerpunkt der Tätigkeit der Krankenkassen verlagern. Nicht einzeln, jedoch in ihrer Gesamtheit können sie den nichtwirtschaftlichen Charakter der Versicherungstätigkeit in Frage stellen. Weiterhin gilt es daher jede Reform ausführlich auf ihre Auswirkungen auf die Unternehmenseigenschaft nach europäischem Kartellrecht zu untersuchen.
II. Das nationale Kartellrecht Auch für die Anwendbarkeit des GWB kommt es entscheidend auf die Unternehmenseigenschaft gesetzlicher Krankenkassen an. Unabhängig davon, ob die Auslegungsgleichheit von europäischem und nationalem Kartellrecht zwingend durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts vorgegeben ist, hat sich der Gesetzgeber mit der 6.160 und 7. GWB-Novelle161 für den Gleichlauf entschieden.162 Die EuGH-Rechtsprechung, die Kommissions160
BGBl. 1998, I-2546. BGBl. 2005, I-2114. 162 Siehe die Begründung des Gesetzentwurfs zur 7. GWB-Novelle v. 12.8.2004, BTDrs. 15/3640, S. 23: „Bei der Auslegung der Tatbestandsmerkmale des § 1 [. . .] sind die Grundsätze des europäischen Wettbewerbsrechts auch weiterhin zu berücksichtigen. Diese Rechtsfolge, die sich durch die Angleichung des Wortlauts bereits seit der 6. GWB-Novelle ergibt, wird durch den Grundsatz der europafreundlichen Anwendung nach Maßgabe der neuen Vorschrift des § 23 bekräftigt.“ und S. 44: „Die Tatbestands161
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praxis und die Literatur zum europäischen Kartellrecht erhalten damit jedenfalls als Auslegungsdirektive163 für den deutschen Unternehmensbegriff – auch für rein nationale Sachverhalte164 – Bedeutung.165 Eine Auslegung des deutschen Unternehmensbegriffs, die der Rechtsprechung des EuGH widerspricht, ist also jedenfalls nicht im Sinne des nationalen Gesetzgebers.166 Parallel zu den oben getroffenen Feststellungen zum europäischen Unternehmensbegriff ist daher davon auszugehen, dass die Krankenkassen auch nach deutschem Recht weder auf der Angebots- noch auf der Nachfrageseite Unternehmen sind. Das GWB findet daher auf gesetzliche Krankenkassen im Bereich der Pflichtversicherung ebenfalls keine direkte Anwendung. Das deutsche Recht sieht aber besondere Regelungen sowohl für die Angebotsals auch für die Nachfragetätigkeit der Kassen vor. 1. Die Nachfragetätigkeit a) Entsprechende Anwendung des GWB gem. § 69 Abs. 2 S. 1 SGB V Für die Nachfragetätigkeit der Krankenkassen ergibt sich die direkte Unanwendbarkeit des GWB noch aus einem weiteren Grund: § 69 Abs. 1 SGB V ordnet seit dem 1.1.2000 an, dass die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen zu den Leistungserbringern und ihren Verbänden abschließend durch das 4. Kapitel des SGB V geregelt werden. War der Aussagegehalt dieser Regelung auch zunächst umstritten, so scheint mittlerweile Klärung eingetreten zu sein: Zum einen wird durch die später hinzugefügte und mehrfach erweiterte Ausnahmebestimmung merkmale des § 1 [. . .] sind daher im Lichte der zu Artikel 81 Abs. 1 EG ergangenen Rechtsprechung und Rechtsanwendungspraxis auszulegen und anzuwenden (vgl. auch § 23).“ Zwar wurde entgegen des ursprünglichen Entwurfs kein § 23 mit einem gesetzlichen Verweis auf die Auslegungspraxis des EuGH aufgenommen, die Absicht einer einheitlichen Auslegung wurde durch die Streichung aber nicht revidiert; s. Bechthold/ Brinker/Holzmüller, Rechtliche Grenzen der Anwendung des Kartellverbots, Rn. 27; abrufbar unter: www.aok-bv.de (zuletzt abgerufen am 6.7.2013); Klees, EWS 2010, 1 ff.; Roth, in: Wallrabenstein, Braucht das Gesundheitswesen ein eigenes Regulierungsrecht?, S. 113 (129). 163 Roth, in: Wallrabenstein, Braucht das Gesundheitswesen ein eigenes Regulierungsrecht?, S. 113 (131). 164 Siehe dazu sogleich das Urteil des LSG Darmstadt v. 15.9.2011 – L 1 KR 89/10 KL, juris. 165 Siehe ausführlich zu der Kontroverse um das Erfordernis und die Grenzen einer europarechtskonformen Auslegung der Tatbestände des GWB Immenga/Mestmäcker, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, Bd. 2: GWB, Einleitung, Rn. 32 ff. 166 Den Weg einer Verpflichtung zur Auslegung des Kartellrechts anhand des Unionsrechts ist der deutsche Gesetzgeber anders als die Gesetzgeber anderer Mitgliedstaaten nicht gegangen, s. dazu m.w. N. Immenga/Mestmäcker, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, Bd. 2: GWB, Einleitung, Rn. 34. Er bringt jedoch zum Ausdruck, dass er einen Gleichlauf jedenfalls im Regelfall bezweckt; s. a. Fn. 162.
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des § 69 Abs. 2 S. 1 SGB V deutlich, dass Abs. 1 die unmittelbare Anwendung des GWB und des UWG ausschließen oder die Unanwendbarkeit zumindest deklaratorisch feststellen soll.167 Zum anderen urteilte 2006 der BGH, „die Vorschrift des § 69 SGB V [schließe] es aus, Handlungen der Krankenkassen und der von ihnen eingeschalteten Leistungserbringer, die der Erfüllung des öffentlich-rechtlichen Versorgungsauftrags gegenüber den Versicherten dienen sollen, nach dem Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb zu beurteilen“.168 Weitreichende Vorschriften des GWB finden auf dem Leistungsmarkt seit dem 1.1.2011 jedoch entsprechende Anwendung (§ 69 Abs. 2 S. 1 SGB V).169 Hierzu zählt insbesondere das Kartellverbot gem. § 1 GWB.170 Ausgenommen sind gem. § 69 Abs. 2 S. 2 und 3 SGB V lediglich Vereinbarungen und Entscheidungen der Krankenkassen, ihrer Verbände oder des Gemeinsamen Bundesausschusses, zu denen diese gesetzlich verpflichtet sind. Diese Ausnahme hat nur klarstellende Bedeutung, da im Falle der gesetzlichen Verpflichtung bereits der Handlungsspielraum fehlt, den kartellrechtsrelevantes Verhalten voraussetzt.171 b) Europarechtskonformität der Anordnung der entsprechenden Anwendung des GWB Im Gesetzgebungsverfahren zum Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG)172 wurde teilweise die Europarechtskonformität des § 69 Abs. 2 S. 1 SGB V bezweifelt.173 Da das Nachfrageverhalten der Krankenkassen regelmäßig den zwischenstaatlichen Handel berührt, ordnet dieser die entsprechende Anwendung weitreichender Bestimmungen des deutschen Kartellrechts auch im Anwendungsbereich des Europarechts, d.h. für Sachverhalte mit Zwischenstaatlichkeits-
167 Aus der Gesetzesbegründung zum Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz = AMNOG (BT-Drs. 17/2413, S. 26) geht hervor, dass von einer Unanwendbarkeit der GWBBestimmungen ausgegangen wird. 168 BGH, Urt. v. 23.2.2006 – I ZR 164/03, Rn. 22, NZS 2006, 647 (648). Zwar betrifft die Entscheidung unmittelbar nur die wettbewerbsrechtlichen Bestimmungen des UWG, die allgemein gehaltene Begründung lässt aber den Schluss zu, dass das Ergebnis für das gesamte auch das GWB umfassende Wettbewerbsrecht gelten soll; vgl. auch Monopolkommission, 18. Hauptgutachten v. 22.7.2010, BT-Drs. 17/2600, Tz. 1206, Fn. 72. 169 Änderung durch Art. 1 Nr. 9 Gesetz v. 22.12.2010, BGBl. I 2262 (AMNOG) m.W. v. 1.1.2011. 170 Zuvor war – seit dem 1.4.2007 – nur die Missbrauchskontrolle (§§ 19 ff. GWB) entsprechend anwendbar (§ 69 Abs. 2 S. 1 SGB V a. F.). 171 Kersting/Faust, in: Thüsing, Europäisches Vergabe- und Kartellrecht, S. 107 (142); Roth, in: Wallrabenstein, Braucht das Gesundheitswesen ein eigenes Regulierungsrecht?, S. 113 (141). 172 Gesetz v. 22.12.2010, BGBl. 2010, I 2262. 173 Bechthold/Brinker/Holzmüller, Rechtliche Grenzen der Anwendung des Kartellverbots.
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bezug an. Faktisch hat die entsprechende Geltung des GWB den gleichen Effekt wie eine erweiterte Auslegung des deutschen Unternehmensbegriffs gegenüber dem europäischen. Bestimmte Verhaltensweisen der Krankenkassen im Verhältnis zu den Leistungserbringern können also gegen § 69 Abs. 2 S. 1 SGB V i.V. m. GWB analog verstoßen, obwohl sie nach europäischem Kartellrecht nicht zu beanstanden sind. Dies – so wurde vertreten – sei unvereinbar mit der Vorrangregel des Art. 3 Abs. 2 S. 1 VO 1/2003, die es den Mitgliedstaaten verbiete im Anwendungsbereich der Artt. 101, 102 AEUV strengere kartellrechtliche Maßstäbe anzulegen als nach dem Europarecht.174 Das europäische Kartellrecht bestimme in positiver und negativer Hinsicht verbindliche Maßstäbe für alle – auch für nicht wirtschaftliche – Akteure im Binnenmarkt.175 Diese Auslegung der europäischen Vorgaben greift jedoch zu weit.176 Die Art. 101, 102 AEUV bestimmen nur den Verbotsrahmen für „Unternehmen“, die eine wirtschaftliche Tätigkeit im Binnenmarkt ausüben. Für diese darf sich im Anwendungsbereich des Europarechts aus nationalen Vorschriften nichts anderes ergeben. Welche Maßstäbe das nationale Recht bei nichtwirtschaftlichen Akteuren anlegt, liegt hingegen im freien Ermessen des nationalen Gesetzgebers. Das europäische Recht macht dazu keine Vorgaben, weil es nicht seine Aufgabe ist: Was über die Verwirklichung des Binnenmarktes hinausgeht, „interessiert“ das Europarecht insoweit nicht.177 Dieses Ergebnis ist auch im Sinne des EuGH, der in seiner Rechtsprechung immer wieder betont, dass „das Unionsrecht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit unberührt lässt“.178 Mit der Ablehnung der Unternehmenseigenschaft will er sicherstellen, dass die Ausgestaltungskompetenz für die nationalen Krankenversicherungssysteme allein bei den Mitgliedstaaten liegt. Versteht man das Unionsrecht dahingehend, dass es den nationalen Gesetzgebern eine kartellrechtliche Regulierung ihrer sozialen Sicherungssysteme verbietet, solange der persönliche Anwendungsbereich des europäischen Kartellrechts nicht eröffnet ist, so würde der Ausgestaltungsfreiraum der mitgliedstaatlichen Gesetzgeber aber erheblich beschränkt. Dies kann vom Europarecht nicht gewollt sein. Das europäische Wettbewerbsrecht hätte dann den Effekt, auf nationaler Ebene wettbewerbshemmend zu wirken. Das kann nicht seine Intention sein. Der Europarechtskonformität des § 69 Abs. 2 S. 1 SGB V stehen daher keine Bedenken gegenüber.
174 Bechthold/Brinker/Holzmüller, Rechtliche Grenzen der Anwendung des Kartellverbots, Rn. 56 ff., 96. 175 Bechtold/Brinker/Holzmüller, a. a. O., Rn. 32 ff. (47). 176 Siehe hierzu die treffenden Ausführungen von Roth, in: Wallrabenstein, Braucht das Gesundheitswesen ein eigenes Regulierungsrecht?, S. 113 (131 ff.). 177 Roth, in: Wallrabenstein, Braucht das Gesundheitswesen ein eigenes Regulierungsrecht?, S. 113 (133). 178 St. Rspr. vgl. zuletzt EuGH v. 27.10.2011 – C-255/09, EuZW 2012, 65 (67).
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2. Die Angebotstätigkeit Die Angebotstätigkeit betrifft das Anbieten von Versicherungsleistungen auf dem Markt um Versicherte. Auch hier gilt seit dem 30.6.2013179 eine Spezialregelung. a) Die gesetzliche Neuregelung Nach einem langen Gesetzgebungsverfahren180 trat am 30.6.2013 die „8. GWB-Novelle“ 181 in Kraft, die in ihren Artikeln 3 und 5 Änderungen in Bezug auf die GKV vorsieht. Danach sind nun folgende Neuregelungen in das SGB V und das SGG eingeführt worden: – Nach § 4 Abs. 3 S. 2 SGB V n. F. können Krankenkassen die Unterlassung unzulässiger Werbemaßnahmen von anderen Krankenkassen verlangen. § 12 Abs. 1 bis 3 UWG gilt entsprechend. – Der neue § 172a SGB V sieht vor, dass das Bundeskartellamt freiwillige Zusammenschlüsse von Krankenkassen nach den Vorschriften der Zusammenschlusskontrolle auf ihre wettbewerblichen Auswirkungen prüfen und notfalls untersagen kann. Die Vorschriften des GWB werden insoweit für entsprechend anwendbar erklärt. Vor einer Untersagung hat das Bundeskartellamt gem. § 172a Abs. 2 S. 3 SGB V mit den zuständigen Aufsichtsbehörden nach § 90 SGB IV„das Benehmen herzustellen“. – § 29 Abs. 3 Nr. 4 n. F. und § 202 S. 3 SGG n. F. regeln die Zuständigkeit der Sozialgerichtsbarkeit für Streitigkeiten über Entscheidungen des Bundeskartellamts betreffend die freiwillige Vereinigung von Krankenkassen. b) Der Anlass: Das Urteil des LSG Darmstadt Unmittelbarer Anstoß für das Tätigwerden des Gesetzgebers war ein Urteil182 des Landessozialgerichts Darmstadt vom 15.9.2011, in dem das Gericht die Unanwendbarkeit des GWB auf gesetzliche Krankenkassen bei ihrer Tätigkeit auf dem Versicherungsmarkt festgestellt hatte. Dem Rechtsstreit lag folgender Sachverhalt zugrunde: Am 25. Januar 2010 hatten acht gesetzliche Krankenkassen in Berlin bei einem gemeinsamen Presseauftritt die Erhebung eines Zusatzbeitrags in Höhe von jeweils 8 A im Monat angekündigt. Das Bundeskartellamt vermutete daraufhin einen Verstoß gegen das Kartellverbot gem. § 1 GWB und erließ am 17.2.2010 förmliche Auskunftsbe179 Änderungen des SGB V und des SGG durch das 8. GWB-ÄndG v. 26.06.2013, BGBl. I S. 1738, m.W. v. 30.6.2013. 180 Siehe zu der Uneinigkeit in Bundestag und Bundesrat sogleich. 181 8. GWB-ÄndG v. 26.06.2013, BGBl. I S. 1738, m.W.n. 30.6.2013. 182 LSG Darmstadt, Urteil v. 15.9.2011 – L 1 KR 89/10 KL, juris.
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schlüsse gegenüber den Krankenkassen gestützt auf § 59 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und 2, Abs. 6 i.V. m. §§ 1, 32 GWB. Gegen das Auskunftsverlangen erhob eine der Krankenkassen Klage vor dem erstinstanzlich zuständigen hessischen Landessozialgericht, da sie sich in ihrem Selbstverwaltungsrecht verletzt sah. Das Gericht gab der klagenden Krankenkasse Recht. Der Auskunftsbeschluss sei sowohl formell als auch materiell rechtswidrig und verletze die Klägerin daher in ihrem Selbstverwaltungsrecht (§§ 4 Abs. 1 SGB V, 29 SGB IV). Nach Auffassung des Gerichts sei das Bundeskartellamt bereits nicht zuständig.183 Die §§ 87 ff. SGB IV regelten umfassend und abschließend die Zuständigkeit der Rechtsaufsicht über die gesetzlichen Krankenkassen und wiesen diese für bundesunmittelbare Versicherungsträger wie die Klägerin dem Bundesversicherungsamt zu. Die Eröffnung der Kartellaufsicht durch das Bundeskartellamt setze eine ausdrückliche gesetzliche Regelung (wie die des § 69 Abs. 2 SGB V) voraus, die hinsichtlich des Angebotshandelns der Krankenkassen aber nicht bestehe. Selbst wenn man von einem Nebeneinander von Rechts- und Kartellaufsicht ausginge, fehle es jedenfalls an einer Ermächtigungsgrundlage.184 Das Auskunftsverlangen könne nicht auf den kartellrechtlichen Auskunftsanspruch nach § 59 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und 2, Abs. 6 i.V. m. §§ 1, 32 GWB gestützt werden, da das GWB auf die Beziehungen der Krankenkassen untereinander im Wettbewerb um Pflichtversicherte keine Anwendung finde. Die Krankenkassen handelten insoweit nicht als Unternehmen im Sinne der §§ 1, 130 Abs. 1 S. 1 GWB. Der Unternehmensbegriff des § 1 GWB sei einheitlich mit dem des Art. 101 Abs.1 AEUV auszulegen und der EuGH habe die fehlende Unternehmenseigenschaft gesetzlicher Krankenkassen bereits festgestellt.185 Im Anschluss an das Urteil hatte der Präsident des Bundeskartellamts Andreas Mundt erklärt: „Wir werden die Fusionskontrolle bei den gesetzlichen Krankenkassen ab sofort beenden.“ 186 Diese Konsequenz war zwingend, denn Krankenkassen unterliegen auch nicht den Bestimmungen über die Fusionskontrolle, wenn sie keine Unternehmen i. S. d. GWB sind. Dem Bundeskartellamt war daher durch das Urteil des hessischen LSG implizit auch hierfür die Ermächtigungsgrundlage abgesprochen worden. Das Ausbleiben kartellrechtlicher Fusionskontrollen wurde jedoch aufgrund des erheblichen Konzentrationsprozesses, der insbesondere im letzten Jahrzehnt stattgefunden hat und sich vermutlich fortsetzen wird, bedenklich gesehen.187 Ferner war der fehlende Schutz vor derartigen Entwicklungen nicht im Interesse 183
LSG Darmstadt, Urteil v. 15.9.2011 – L 1 KR 89/10 KL, Rn. 69 ff., juris. LSG Darmstadt, Urteil v. 15.9.2011 – L 1 KR 89/10 KL, Rn. 75 ff., juris. 185 LSG Darmstadt, Urteil v. 15.9.2011 – L 1 KR 89/10 KL, Rn. 79 ff., juris. 186 Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 22.11.2011, S. 11. 187 So etwa die Monopolkommission, 18. Hauptgutachten v. 22.7.2010, BT-Drs. 17/ 2600, Tz. 1198. 184
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des Reformgesetzgebers des GKV-WSG. Er ging vielmehr selbstverständlich von der Unternehmenseigenschaft der Kassen aus und hielt eine Regelung im SGB V daher nicht für erforderlich. „Flankierende gesetzliche Regelungen, die verhindern, dass durch kassenartenübergreifende Fusionen wettbewerbsschädliche Monopolbildungen entstehen, sind nicht erforderlich. Auch Vereinigungen von Krankenkassen sind nach den Regeln der Fusionskontrolle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) durch das Bundeskartellamt zu prüfen.“ 188, heißt es in der Gesetzesbegründung zum GKV-WSG. Nachdem aber das LSG Hessen der Wettbewerbsaufsicht durch das Bundeskartellamt einen Riegel vorgeschoben hatte, sah sich die Bundesregierung veranlasst, klare Verhältnisse zu schaffen und die Anwendbarkeit des Kartellrechts ausdrücklich anzuordnen. c) Das Gesetzgebungsverfahren und die Diskussion in Literatur und Praxis Die Reaktionen auf den Gesetzentwurf fielen unterschiedlich auf. Zuweilen wurde das Vorhaben freudig begrüßt.189 Wettbewerbselemente wie Zusatzbeiträge, Wahltarife und Zusatzleistungen könnten ihre gemeinwohlfördernden Ziele der Effizienz- und Qualitätssteigerung nur erreichen, wenn das Wettbewerbsrecht einen klaren Ordnungsrahmen schaffe. Um den fortschreitenden Konzentrationsprozess auf dem Kassenmarkt im Zaum zu halten, bedürfe es überdies einer Fusionskontrolle. Unter den Unterstützern des Gesetzesvorhabens waren nicht nur namhafte Wissenschaftler sowohl aus dem Wirtschafts-190 wie aus dem Sozialversicherungsrecht191, sondern auch etwa der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen192 und die Monopolkommission, die sowohl in ihrem 18. Hauptgutachten193 als auch in ihrem Sondergutachten zur 8. GWB-Novelle194 die Schließung der „wettbewerblichen Schutzlücke“ forderte. Zuletzt hatte sich mit ganz überwiegender Mehrheit der 69. Deutsche Juristentag in der Abteilung Sozialrecht im September in München für den Schutz des Kassenwettbewerbs durch Kartellrecht ausgesprochen.195 188
BT-Drs. 16/3100, Begründung zu § 171 a SGB V, S. 156. Siehe etwa Roth, in: Wallrabenstein, Braucht das Gesundheitswesen ein eigenes Regulierungsrecht?, S. 113 ff.; Kingreen, MedR 2004, 188 (190); Thüsing/Sternberg, ZIP 2012, 1437; Kersting/Faust, in: Thüsing, Europäisches Vergabe- und Kartellrecht als Herausforderung für die deutsche Sozialversicherung, 2012, S. 107 ff. 190 Etwa Schweitzer, Gutachterin 69. DJT, s. Wettbewerb im Gesundheitswesen, Gutachten B zum 69. DJT, 2012, S. B 79 ff.; ebenso Roth, a. a. O., S. 113 ff. 191 Etwa Becker, Gutachter 69. DJT, s. Wettbewerb im Gesundheitswesen, Gutachten B zum 69. DJT, 2012, S. B 79 ff. 192 Sondergutachten 2012, S. 52 ff. 193 BT-Drs. 17/2600, Tz. 1236 ff. 194 Sondergutachten 63, S. 49 ff. 195 69. DJT, Beschlüsse, Abteilung Sozialrecht, S. 6–8, abrufbar unter: http://www. djt-net.de/beschluesse/beschluesse.pdf. 189
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Ebenso zahlreich wurde jedoch Kritik laut: Sowohl der Verband der Ersatzkassen (VDEK)196 als auch der GKV-Spitzenverband197 wandten sich in einem Positionspapier gegen das Vorhaben der Bundesregierung. Die Bundestagsfraktion Die Linke äußerte ihre Bedenken in einer Kleinen Anfrage „Schwierigkeiten bei der Anwendung von Kartellrecht bei den Krankenkassen“ 198 Die Gegner gingen davon aus, das auf privatrechtliche Wirtschaftsunternehmen ausgelegte Kartellrecht passe nicht in das Sozialversicherungsrecht der Krankenkassen. Vielmehr müsse ein „sozialrechtspezifisches Wettbewerbsrecht“ her. Dies sei insbesondere deshalb erforderlich, um eine bessere Abstimmung mit dem für Krankenkassen geltenden Kooperationsgebot zu gewährleisten. In dem Gesetzgebungsverfahren wurde ebenfalls die große Uneinigkeit über den Gesetzgebungsgegenstand deutlich: Der von der Bundesregierung eingebrachte Gesetzentwurf 199 konnte sich nicht durchsetzen. Bereits in der Bundestagsdebatte kamen Bedenken zum Ausdruck, die analoge Anwendung des Kartellrechts sei „der Einstieg in ein völlig anderes Gesundheitssystem“ 200 und die gesetzliche Krankenversicherung werde hierdurch in ihren sozialversicherungsrechtlichen Grundpfeilern bedroht201. Ein von der SPD-Fraktion unterzeichneter Entschließungsantrag202, in dem diese den Gesetzentwurf scharf kritisierte und die Bundesregierung stattdessen zur Schaffung eines „klaren sozialrechtlichen Handlungsrahmens“ für den Kassenwettbewerb aufforderte, wurde in der Plenarsitzung des Deutschen Bundestags vom 18.10.2012 zwar abgelehnt.203 Der Bundesrat, der seine Ablehnung gegenüber dem Vorschlag bereits nach der erstmaligen Zuleitung des Entwurfs am 11.5.2012204 zum Ausdruck gebracht hatte, verweigerte aber in seiner Sitzung vom 23.11.2012 die erforderliche Zustimmung und rief den Vermittlungsausschuss an.205 Dieser konnte sich erst nach mehrmaligen Beratungen am 5.6.2013 auf den Kompromiss206 einigen, der nun Gesetz wurde. 196
Positionspapier des VDEK abrufbar unter: http://www.vdek.com. Positionspapier des GKV-Spitzenverbandes v. 22.3.2012, abrufbar unter: http:// www.gkv-spitzenverband.de. 198 Vom 18.4.2012, BT-Drs. 17/9357. 199 BT-Drs. 17/9852. 200 Persönliche Erklärung zur Abstimmung gem. § 31 GO-BT v. Elke Ferner (SPD), Plenarprotokoll 17/198 v. 18.10.2012, S. 142. 201 Kathrin Vogler (Die Linke): „Wir wollen eine solidarische gesetzliche Krankenversicherung erhalten [. . .]“, Plenarprotokoll 17/198, S. 137; Elke Ferner (SPD): „Im Kern geht es darum, ob die gesetzlichen Krankenversicherungen Sozialversicherungen bleiben [. . .]“, S. 142. 202 BT-Drs. 17/11065. 203 Siehe Plenarprotokoll 17/198 v. 18.10.2012, S. 145. 204 Stellungnahme des Bundesrates v. 11.5.2012, BR-Drs. 176/12 (Beschluss). 205 Vgl. BR-Drs. 641/12 (B). 206 Beschlussempfehlung v. 5.6.2013, BT-Drs. 17/13720. 197
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d) Bewertung Das Vermittlungsergebnis bleibt weit hinter dem ursprünglichen Gesetzentwurf der Bundesregierung zurück. Geplant war ein deutlich umfangreicherer Verweis auf die kartellrechtlichen Bestimmungen des GWB, insbesondere sollte die Geltung des Kartellverbots und der Missbrauchsaufsicht angeordnet werden, um den insbesondere seit der Gesundheitsreform 2007 stetig intensivierten Kassenwettbewerb einer effektiven Kontrolle zu unterziehen. Für gerichtliche Streitigkeiten sollten statt der Sozialgerichte die Zivilgerichte zuständig sein. Ergebnis des Streits ist ein Kompromiss, der zwar die Fusionskontrolle des Bundeskartellamts zulässt, der aber durch den sehr eingeschränkten Verweis auf das GWB unzweifelhaft deutlich macht: Unternehmen sind Krankenkassen gerade nicht. Ob diese Vorsicht geboten und die Sorgen vor der Privatisierung und Europäisierung der Sozialversicherung berechtigt sind, kann einmal dahin stehen.207 Es stellt sich jedoch die Frage, ob das Gesetz in dieser „abgespeckten“ Form als rechtlicher Ordnungsrahmen für den Krankenkassenwettbewerb ausreicht. Erreicht wird der Hauptzweck der Gesetzesinitiative, den status quo ante der Entscheidung des hessischen Landessozialgerichtes vom 15.9.2011 wieder herzustellen: Das Bundeskartellamt kann nun wie zuvor freiwillige Zusammenschlüsse von Krankenkassen auf ihre Auswirkungen auf den Markt überprüfen. Dies ist ein wichtiger Fortschritt. Die Zusammenschlusskontrolle ist für den Kassenmarkt nämlich aus zwei Gründen unerlässlich: – Zunächst wirkt sie einer unkontrollierten weiteren Beschleunigung des erheblichen Konzentrationsprozesses (von 960 Kassen 1995 vor Einführung des Kassenwettbewerbs auf 134 Kassen 2013)208 entgegen. – Außerdem ist sie als Folgeregelung zu der Neufassung des § 69 Abs. 2 S. 1 SGB V209 geboten. Da nach dieser Vorschrift Absprachen der Kassen etwa beim Abschluss der wirtschaftlich sehr bedeutenden Arzneimittel-Rabattverträge gem. § 130a Abs. 8 SGB V untersagt sind, steigt die Attraktivität von Fusionen als „Hintertür“ zur Bildung von Marktmacht. Die Fusionskontrolle ist hier also erforderlich, um sicherzustellen, dass das Kartellverbot auf dem Leistungsmarkt die bezweckte Wirkung entfalten kann.210
207 Die Bedenken widerlegend Thüsing/Sternberg, ZIP 2012, 1437 (1438); dies., GWR 2012, 555 (555 f.). 208 Quelle: www.gkv-spitzenverband.de. 209 In der Fassung des Art. 1 Nr. 9 Gesetz v. 22.12.2010, BGBl. I 2262 (AMNOG) m.W. v. 1.1.2011. 210 Siehe auch Monopolkommission, 18. Hauptgutachten 22.7.2010, BT-Drs. 17/ 2600, Tz. 1198.
B. Die gesetzlichen Krankenkassen im Bereich der freiwilligen Versicherung 141
Das weitere wichtige Anliegen der Bundesregierung, die Wettbewerbselemente im Recht der GKV (wie Wahltarife, Zusatzbeiträge und Satzungsleistungen) einem wirksamen Rechtsrahmen und Kontrollsystem zu unterziehen, konnte sich aber nicht durchsetzen. Wie bisher können Krankenkassen sich etwa bei der Festsetzung eines Zusatzbeitrags unter einander abstimmen. Hier besteht weiterhin Handlungsbedarf, denn ein Wettbewerb ohne Wettbewerbsrecht bleibt letztlich ein „stumpfes Schwert“, das seinen effizienz- und qualitätssteigernden Zweck nicht erfüllen kann.211 Eines sozialrechtsspezifischen Wettbewerbsrechts bedarf es hier m. E. nicht. Trotz der Unterschiede des Kassenwettbewerbs zu einem Wettbewerb auf anderen Märkten erscheint das Kartellrecht als geeigneter Ordnungsrahmen, da es sinnvoll mit den Besonderheiten des Sozialversicherungsrecht in Einklang gebracht werden kann.212 Auch zu dem kooperativen Leitbild besteht kein unüberwindbarer Widerspruch, da das Kartellrecht dort zurücktritt, wo die Krankenkassen zur Zusammenarbeit verpflichtet sind213 und dies ihrem Versorgungsauftrag dienlich ist.214
B. Die gesetzlichen Krankenkassen im Bereich der freiwilligen Versicherung Es stellt sich jedoch die weitere Frage, ob sich für die Unternehmenseigenschaft gesetzlicher Krankenkassen dort etwas anderes ergibt, wo diese die GKVVersicherung gegenüber Personen anbieten, denen die Wahl zwischen einem Vollversicherungsschutz in der GKV und einem solchen in der PKV zusteht. Die Gruppe der wahlberechtigten Versicherten soll hier unter dem Begriff „freiwillig Versicherte“ zusammengefasst werden.215 Das Angebot der freiwilligen GKV könnte sich anders als die GKV-Pflichtversicherung als wirtschaftliche Tätigkeit auf einem Markt mit privaten Anbietern darstellen.
211 Zu den Argumenten für die umfassende Anwendbarkeit des Wettbewerbsrechts auf die Krankenkassen s. Thüsing/Sternberg, ZIP 2012, 1437 (1440 ff.); dies., GWR 2012, 555. 212 Siehe im Einzelnen Thüsing/Sternberg, ZIP 2012, 1437 (1440 ff.); dies., GWR 2012, 555; ebenso etwa Säcker, SGb 2012, 61 (62). 213 Kartellrecht kann ohnehin nur dort zur Anwendung kommen, wo wettbewerbliche Spielräume bestehen, s. etwa Säcker, SGb 2012, 61 (64). 214 Kersting/Faust, in: Thüsing, Europäisches Vergabe- und Kartellrecht, S. 107 (143 f.); Thüsing/Sternberg, ZIP 2012, 1437 (1442). 215 Davon umfasst sind diejenigen, die gem. § 9 SGB V zur Versicherung in der GKV berechtigt sind und diejenigen, die sich gem. § 8 SGB V von der Versicherungspflicht in der GKV befreien lassen können; s. näher zum Kreis der wahlberechtigten Versicherten Kapitel 2, B. III.
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Kap. 3: Rechtliche Ordnung des „Wettbewerbs‘‘ durch das Kartellrecht?
I. Keine abschließende Klärung durch die EuGH-Rechtsprechung Die Frage ist durch die geschilderte EuGH-Rechtsprechung bisher nicht abschließend geklärt. In seiner Entscheidung AOK-Bundesverband 216, in der der EuGH die Festsetzung von Festbeträgen als nichtwirtschaftlich qualifiziert, wird ausgeführt: „Es lässt sich jedoch nicht ausschließen, dass die Krankenkassen und die sie vertretenden Einheiten, d.h. die Kassenverbände, außerhalb ihrer Aufgaben rein sozialer Art im Rahmen der Verwaltung des deutschen Systems der sozialen Sicherheit Geschäftstätigkeiten ausüben, die keinen sozialen, sondern einen wirtschaftlichen Zweck haben. In diesem Fall wären die von ihnen zu treffenden Entscheidungen möglicherweise als Beschlüsse von Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen anzusehen.“ 217
Mit dieser Aussage macht der Gerichtshof noch einmal die Relativität seines Unternehmensbegriffs deutlich. Er hält damit ausdrücklich die Möglichkeit offen, andere Tätigkeiten der Krankenkassen, etwa das Angebot der freiwilligen Versicherung, als wirtschaftlich zu qualifizieren. Auch eine grundsätzlich soziale, nichtwirtschaftliche Einrichtung kann wirtschaftliche Tätigkeiten ausüben.
II. Trennbarkeit von Pflicht- und freiwilliger Versicherung Die abweichende Qualifizierung der freiwilligen Versicherung als „wirtschaftlich“ setzt aber zunächst voraus, dass die freiwillige Versicherung und die Pflichtversicherung überhaupt als zwei getrennte Tätigkeitsfelder betrachtet werden können. Dies richtet sich danach, ob es sich bei der freiwilligen und der Pflichtversicherung um einen oder um verschiedene Märkte im wettbewerbsrechtlichen Sinne handelt.218 Das Produkt „Krankenvollversicherung“ ist identisch. Für sich genommen lässt dies jedoch noch nicht den Schluss auf einen einheitlichen Markt zu. Vielmehr ist zu untersuchen, ob die Pflichtversicherten und die freiwillig Versicherten eine einheitliche Marktgegenseite darstellen. Dies ist dann der Fall, wenn ihnen die gleichen Produkte als austauschbar zur Verfügung stehen, d.h. sie identische Wahlmöglichkeiten haben. Der relevante Markt wird umschrieben als „Bereich wirksamer Konkurrenz“, der durch „alle Produkte, die aus der Sicht der Nachfrager kurzfristig substituierbar sind“ definiert wird.219 216
EuGH, Urt. v. 16.3.2004 – Rs. C-264/01, Slg. 2004, I-02493 – AOK-Bundesver-
band. 217 EuGH, Urt. v. 16.3.2004 – Rs. C-264/01, Slg. 2004, I-02493, Rn. 58 – AOK-Bundesverband. 218 Siehe Kluckert, Gesetzliche Krankenkassen als Normadressaten des Europäischen Wettbewerbsrechts, S. 318 f. 219 Kommission, Bekanntmachung über die Definition des relevanten Marktes i. S. d. Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft, ABl. EG 1997 Nr. C 372/5, Rn. 7; Kingreen,
B. Die gesetzlichen Krankenkassen im Bereich der freiwilligen Versicherung 143
Bei Pflicht- und freiwillig Versicherten handelt es sich nach diesen Kriterien nicht um eine einheitliche Marktgegenseite. Während die Pflichtversicherten ihren Krankenversicherungsschutz bei einer Krankenkasse nur durch eine Versicherung bei einer anderen Krankenkasse austauschen können, ist es den freiwillig Versicherten auch möglich alternativ eine private Krankenversicherung abzuschließen. Die Pflicht- und die freiwillige Versicherung stellen somit unterschiedliche Tätigkeitsbereiche der gesetzlichen Krankenkassen dar, die auf unterschiedlichen Märkten angeboten werden. Die Charakterisierung der Pflichtversicherung als nichtwirtschaftlich kann daher nicht ohne weiteres auf die freiwillige Versicherung übertragen werden. Es bedarf hier einer eigenständigen Untersuchung des Charakters der Tätigkeit.220 Dagegen kann auch nicht vorgebracht werden, dass es im Einzelfall schwierig sein mag, bei den Handlungen der Kassen zwischen freiwilliger und Pflichtversicherung zu unterscheiden.221 So ist beispielsweise der Abschluss eines Arzneimittelrabattvertrags (§ 130a Abs. 8 SGB V) eine einheitliche Handlung, die sich aber in der Regel auf der Angebotsseite sowohl auf die freiwillige als auch auf die Pflichtversicherung bezieht. Die fehlende praktische Möglichkeit der Trennung zwischen den Tätigkeitsfeldern wirft u. U. die Frage auf, wie zu verfahren ist, wenn die Handlung nur teilweise als wirtschaftliche Tätigkeit einzustufen ist. Sie entbindet aber nicht schon von einer getrennten Untersuchung der beiden Tätigkeitssegmente. Soweit sich Pflicht- und freiwillige Versicherung nicht trennen lassen, wäre es vorzugswürdig nach dem Schwerpunkt der Maßnahme zu schauen und so den rein sozialen Charakter der Pflichtversicherung überwiegen zu lassen.222 Diese Frage stellt sich jedoch erst, wenn man bei der freiwilligen Versicherung zu einer unterschiedlichen Bewertung hinsichtlich des wirtschaftlichen Charakters kommt. Dies wird im Folgenden zu untersuchen sein.
III. Unternehmerische Tätigkeit der Krankenkassen beim Angebot der freiwilligen Versicherung? Auf einen wirtschaftlichen Charakter der freiwilligen GKV könnte man mit Blick auf die Entscheidung Fédération française schließen. Hier heißt es zur Begründung der Unternehmenseigenschaft der in Rede stehenden freiwilligen Zusatzversicherung insbesondere: „Da das Versicherungssystem auf Freiwilligkeit beruht, gilt der Grundsatz der Solidarität jedenfalls nur äußerst begrenzt. Unter diesen Umständen lässt er den wirtschaftMedR 2004, 188 (195); ausführlich zur Marktabgrenzung Fuchs/Möschel, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, Bd. 2: GWB, § 18, Rn. 29 ff. 220 Siehe Kluckert, Gesetzliche Krankenkassen als Normadressaten des Europäischen Wettbewerbsrechts, S. 318 f.; ders., in: Sodan, Hdb. KVR, § 14, Rn. 78. 221 Roth, GRUR 2007, 645 (658). 222 Ebenso Roth, GRUR 2007, 645 (659).
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Kap. 3: Rechtliche Ordnung des „Wettbewerbs‘‘ durch das Kartellrecht?
lichen Charakter der Tätigkeit, die die das Versicherungssystem verwaltende Einrichtung ausübt, nicht entfallen.“ 223
Im Umkehrschluss zu anderen Entscheidungen, in denen der EuGH die Versicherungspflicht zu einem entscheidenden Erkennungsmerkmal für ein solidarisches soziales Sicherungssystem erklärt, nimmt er die Freiwilligkeit der Versicherung hier zum Anlass, von einer wirtschaftlichen Tätigkeit auszugehen. Diese Aussage übertragen einige Autoren auf die GKV und bejahen die Unternehmenseigenschaft der freiwilligen Versicherung.224 So geht Roth davon aus, dass es der Einstufung als wirtschaftliche Tätigkeit nicht entgegenstünde, dass die Leistungen in der freiwilligen GKV weitgehend standardisiert seien und sich von denen der Pflichtversicherung nicht unterschieden, „weil dem Leistungsangebot der Kassen jeder Zwangscharakter [abginge]“.225 Er folgt damit der Auffassung von Generalanwalt Jacobs. Dieser geht in seinen Schlussanträgen zum Verfahren AOK Bundesverband von einem Wettbewerb zwischen den privaten Versicherern und gesetzlichen Krankenkassen im Bereich der freiwilligen Versicherung aus und zieht daraus den Schluss, dass hier die EU-Wettbewerbsvorschriften anwendbar sein sollten.226 Auch Bien227 kommt in enger Anlehnung an die Rechtsprechung Fédération française zu diesem Ergebnis. Sie argumentiert, zwischen den Versicherten der freiwilligen GKV könne kein sozialer Ausgleich stattfinden, da dieser ein ausgewogenes Verhältnis hoher und niedriger Einkommen sowie guter und schlechter Risiken voraussetze. Aufgrund der Freiwilligkeit sei dies hier nicht gewährleistet. Für die GKV entscheide sich freiwillig nur, wer von der Umverteilung profitieren könne. Die freiwillige Versicherung sei daher auf eine Quersubventionierung durch die Pflichtversicherung angewiesen. Das Solidarprinzip werde also in der freiwilligen Versicherung nicht umfassend umgesetzt und „diese Versicherungsleistung [unterfalle somit] der wirtschaftlichen Dimension der Gemeinschaft“.228 Die freiwillige GKV parallel zu der freiwilligen Zusatzversicherung im Urteil Fédération Française zu bewerten, begegnet jedoch Bedenken.229 Die Systeme 223 EuGH, Urt. v. 16.11.1995 – Rs. C-244/94, Slg. 1995, I-04013, Rn. 19 – Fédération française des societies. 224 Gassner, ZVersWiss 2008, 411 (422); Bien, Die Einflüsse des europäischen Kartellrechts, S. 63 f.; Roth, GRUR 2007, 645 (658); ders., in: Wallrabenstein, Braucht das Gesundheitswesen ein eigenes Regulierungsrecht?, S. 113 (129); Hoffmann, in: Dauses, EU-Wirtschaftsrecht, H.I. Kartellrecht, § 1 Art. 101, 102 AEUV im Überblick, Rn. 66. 225 Roth, GRUR 2007, 645 (652, 658). 226 Generalanwalt Jacobs, Schlussanträge v. 22.5.2003 – C-264/01, Tz. 41 f. 227 Bien, Die Einflüsse des europäischen Kartellrechts, S. 63 f. 228 Bien, Die Einflüsse des europäischen Kartellrechts, S. 64. 229 Ebenso Kingreen, Sozialstaatsprinzip, S. 492 ff.; ders., ZESAR 2007, 139 (149); Giesen, SDSRV 48 (2001), 123 (142 ff.); Kluckert, Gesetzliche Krankenkassen als Normadressaten des Europäischen Wettbewerbsrechts, S. 320 ff.; ders., in: Sodan, Hdb. KVR, § 14, Rn. 80.
B. Die gesetzlichen Krankenkassen im Bereich der freiwilligen Versicherung 145
weisen nämlich erhebliche Unterschiede auf, die m. E. eine unterschiedliche Beurteilung erfordern: Anders als bei der französischen Zusatzrentenversicherung im Urteil Fédération Française handelt es sich bei der freiwilligen GKV nicht um ein eigenständiges Versicherungssystem. Der EuGH entschied 1995 über eine Zusatzversicherung, die von einem Sozialversicherungsträger zur Aufstockung der Grundpflichtversicherung angeboten wurde. Diese stand in keinem Zusammenhang zu der verpflichtenden Grundrentenversicherung und folgte anderen Regeln hinsichtlich der Leistungen und der Beitragserhebung. Insbesondere erfolgte die Finanzierung nach dem Kapitaldeckungsverfahren. Kurz gesagt entsprach die Versicherung, die der EuGH zu beurteilen hatte, einer Versicherung, wie sie auch Private hätten anbieten können. „Sozial“ daran waren nur vereinzelte solidarische Elemente und die Trägerschaft durch einen Sozialversicherungsträger. In der freiwilligen GKV sieht die Lage jedoch anders aus: Zunächst handelt es sich nicht um eine Zusatzversicherung, sondern um eine Vollversicherung. Darüber hinaus – und das dürfte entscheidend sein – wird hier gegenüber der Pflichtversicherung kein eigenes Versicherungskollektiv gebildet.230 Die Versicherungsberechtigten können vielmehr der Solidargemeinschaft der Pflichtversicherten freiwillig beitreten. Eine Unterscheidung zweier Versichertengemeinschaften ist nicht möglich. Schon wegen dieser Einheitlichkeit von Pflicht- und freiwilliger Versicherung weißt auch letztere die Merkmale auf, die ein Versicherungssystem nach Auffassung des EuGH als überwiegend vom Grundsatz der Solidarität geprägt erscheinen lassen. Die Träger der freiwilligen GKV, die gesetzlichen Krankenkassen, unterliegen staatlicher Aufsicht und handeln ohne Gewinnerzielungsabsicht. Die Umsetzung des Grundsatzes der Solidarität zeigt sich ferner insbesondere in der Art der Finanzierung: Auch in der freiwilligen Versicherung gelten das Solidarprinzip sowie das Umlageverfahren. Das horizontale Solidarprinzip wird lediglich geringfügig modifiziert: Die Beitragsbemessung richtet sich nicht uneingeschränkt nach der Leistungsfähigkeit des Versicherten. Als Untergrenze bestimmt § 240 Abs. 4 SGB V einen Mindestbeitrag und als Obergrenze dient die sog. Beitragsbemessungsgrenze (§ 240 Abs. 2 S. 5 i.V. m. § 223 Abs. 3 SGB V). Diese Begrenzung des Beitrags zu beiden Seiten dient zwar der Verhinderung eines völligen Missverhältnisses von Beitrag und Versicherung; das individuelle Risiko des Versicherten bleibt aber auch hier außer Betracht. Eine Gesundheitsprüfung wird nicht vorgenommen. Die Abweichung vom horizontalen Solidarprinzip ist also sehr gering.
230 Kingreen, ZESAR 2007, 139 (149); Giesen, SDSRV 48 (2001), 123 (143); Kluckert, Gesetzliche Krankenkassen als Normadressaten des Europäischen Wettbewerbsrechts, S. 320; ders., in: Sodan, Hdb. KVR, § 14, Rn. 80.
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Kap. 3: Rechtliche Ordnung des „Wettbewerbs‘‘ durch das Kartellrecht?
Das vertikale Solidarprinzip gilt dagegen uneingeschränkt. Auch in der freiwilligen Versicherung ist der Leistungsanspruch vom entrichteten Beitrag unabhängig. Ferner fließen die Beiträge der freiwillig Versicherten uneingeschränkt in die Umlage ein. Sie werden nicht etwa speziell für diese Personengruppe angespart. Auch die beitragsfreie Familienmitversicherung gem. § 10 SGB V gilt in der freiwilligen GKV ebenso wie in der Pflichtversicherung. Es findet also auch in der freiwlilligen Versicherung eine Umverteilung zwischen Kinderlosen und Familien statt. Hinsichtlich der Finanzierung ergeben sich also keine gravierenden Unterschiede zur Pflichtversicherung. Sofern Bien darauf hinweist, der Grundsatz der Solidarität könne in der freiwilligen Versicherung nicht umfassend umgesetzt werden, da sich aufgrund der Freiwilligkeit nur „Umverteilungsgewinner“ für die GKV entschieden, kann ihr entgegengehalten werden, dass sie die enge Verbindung der freiwilligen Versicherung zur Pflichtversicherung verkennt. Die Gruppe der freiwillig Versicherten als eigenständige Versichertengemeinschaft anzusehen erscheint konstruiert. Das Argument, hier könne keine Umverteilung stattfinden, sondern die freiwillig Versicherten könnten sich nur durch eine Quersubventionierung seitens der Pflichtversicherten finanzieren, vermag daher nicht zu tragen. Vielmehr handelt es sich bei Pflicht- und freiwillig Versicherten um ein Versicherungskollektiv. Die freiwillige Versicherung ist lediglich Ausdruck dafür, dass der Gesetzgeber die Grenze zwischen „Schutzbedürftigen“ und „Nichtschutzbedürftigen“ nicht eindeutig ziehen konnte und einigen Personengruppen daher einräumt, selber über ihr Bedürfnis nach solidarischer Absicherung zu entscheiden. Außerdem leuchtet nicht ein, warum die Tatsache, dass der freiwilligen Versicherung einkommensstarke Versicherte fehlen, gerade als Argument für die Wirtschaftlichkeit vorgebracht wird. Spricht die Tatsache, dass die GKV freiwillig nur von jenen gewählt wird, die einer Subventionierung durch die Pflichtversicherten bedürfen, nicht gerade gegen die Wirtschaftlichkeit und für den sozialen Charakter der Einrichtung?231 Eine andere Bewertung könnte sich allein aus dem Umstand ergeben, dass die Versicherung nicht verpflichtend, sondern freiwillig ist. Hierin liegt der einzige wesentliche Unterschied zur GKV-Pflichtversicherung. Da der EuGH die Ausgestaltung als Pflichtversicherung in seinen Entscheidungen mehrfach zum Wesensmerkmal eines solidarischen und damit nichtwirtschaftlichen Systems erklärt hat, könnte aufgrund dessen eine Einstufung als „wirtschaftliche Tätigkeit“ geboten sein. Bei genauer Betrachtung macht aber die Versicherungspflicht selbst nicht den solidarischen Charakter eines Systems aus. Sie ist nur in der Regel Voraussetzung dafür, dass ein System umgesetzt werden kann, welches nach dem Solidarprinzip und dem Umlageverfahren finanziert wird. Deshalb ist sie für den 231 Ebenso Kingreen, ZESAR 2007, 139 (149); Kluckert, Gesetzliche Krankenkassen als Normadressaten des Europäischen Wettbewerbsrechts, S. 324.
B. Die gesetzlichen Krankenkassen im Bereich der freiwilligen Versicherung 147
EuGH ein Indiz für den sozialen Charakter des Systems. In der freiwilligen GKV kann dieses Finanzierungsverfahren aber aufgrund der Angliederung an die Pflichtversicherung auch ohne Pflicht umgesetzt werden. Es wäre inkonsequent der freiwilligen GKV ihren solidarischen Charakter abzuerkennen, nur weil sie durch die enge Verbindung zu einem Zwangssystem zur Umsetzung des Solidaritätsgrundsatzes ohne Pflicht auskommt. Sie ist nicht abtrennbarer Teil des sozialen Krankenversicherungssystems GKV und könnte in dieser Form von einem privaten nicht finanziert werden.232 Die freiwillige Versicherung ist schließlich auch nicht deshalb als unternehmerische Tätigkeit zu qualifizieren, weil ihr ein sozialer Zweck fehle. Die Verfolgung eines sozialen Zwecks ist nach der Rechtsprechung des EuGH notwendige (nicht hinreichende) Voraussetzung für die Ablehnung der Unternehmenseigenschaft. Ein sozialer Zweck würde der freiwilligen GKV dann fehlen, wenn die Öffnung der Versichertengemeinschaft für Freiwillige lediglich dem Zweck diente, hohe Beitragseinnahmen für die GKV zu generieren, d.h. junge, gesunde und leistungsstarke Versicherte zu gewinnen. Wie bereits gesehen, kann dieser Zweck der freiwilligen GKV allerdings nicht zugeschrieben werden. Sie eröffnet vielmehr einem begrenzten Personenkreis die Möglichkeit, von der Umverteilung zu profitieren.233 Sie adressiert also eine Personengruppe, die der Gesetzgeber nicht per se als schutzbedürftig angesehen hat, bei der er aber die Möglichkeit einer Überforderung durch die Absicherung in der PKV sieht. Klassischerweise sind dies insbesondere Personen mit sehr hohem Krankheitsrisiko und solche mit zahlreichen mitversicherten Familienangehörigen. Dieser Gruppe soll ein „Schlupfloch“ in die GKV gewährt werden, das zur Vermeidung von Missbrauch an bestimmte Bedingungen geknüpft ist (insb. bestimmte Vorversicherungszeiten). Diese ursprüngliche Intention der freiwilligen Versicherung ist also keine wirtschaftliche, sondern eine rein soziale. Eine andere Zweckrichtung könnte man der freiwilligen Versicherung allenfalls seit Einführung der Wahltarife durch das GKV-WSG beimessen. Die Begründung234 zu § 53 Abs. 4 SGB V, in der es heißt, dieser Wahltarif diene der Stärkung der Wettbewerbsposition der gesetzlichen Krankenkassen im Verhältnis zu den privaten Konkurrenten legt den Schluss nahe, die freiwillige Versicherung diene auch dazu, Personen zu gewinnen, für die ein Versicherungsschutz in der PKV ebenso günstig ist. Festzuhalten ist jedoch, dass die Wahltarife nicht allein für freiwillig Versicherte, sondern für alle GKV-Versicherten gelten und die erhöhte Attraktivität gegenüber der PKV daher allenfalls einer von mehreren gewünschten Effekten sein kann. Umsetzung und Ausgestaltung der Wahltarife lie232
Kluckert, in: Sodan, Hdb. KVR, § 14, Rn. 80. Giesen, SDSRV 48 (2001), 123 (144); Kluckert, Gesetzliche Krankenkassen als Normadressaten des Europäischen Wettbewerbsrechts, S. 324. 234 BT-Drs. 16/3100, S. 109. 233
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Kap. 3: Rechtliche Ordnung des „Wettbewerbs‘‘ durch das Kartellrecht?
gen darüber hinaus in der Hand der einzelnen Krankenkasse und bieten jungen, gesunden Versicherten daher je nach Ausgestaltung einen unterschiedlich großen Anreiz zur Versicherung in der GKV. Darüber hinaus ist die Anreizwirkung der Wahltarife nur sehr begrenzt, da sie den für junge, gesunde und leistungsstarke Versicherte ungünstigen Solidarausgleich nicht (vollständig) aufheben können. Eine ähnlich große Anreizwirkung wie etwa die beitragsfreie Mitversicherung von Familienangehörigen für kinderreiche Versicherte vermögen sie daher nicht zu schaffen. Auch der soziale Zweck kann der freiwilligen Versicherung daher nicht abgesprochen werden. Erst recht kann sich die Einstufung der freiwilligen Sozialversicherung als „wirtschaftliche Tätigkeit“ nicht daraus ergeben, dass die PKV mit der Verpflichtung zum Angebot des Basistarifs eine GKV-ähnliche Leistung anbietet. Das Bundeskartellamt geht davon aus, „der Vergleich mit der privaten Krankenversicherungswirtschaft, insbesondere mit dem Basistarif nach § 12 Abs. 1a VAG [zeige], dass eine vergleichbare Regulierung kein Hinderungsgrund für ein privatwirtschaftliches Angebot am Markt sei.“ 235 Eine Annäherung der PKV an die GKV kann aber allenfalls dazu führen, dass die Privatversicherer zu sozialen Akteuren werden, auf die das Kartellrecht keine Anwendung findet.236 Anders herum kann dieser Umstand aber nicht die Wirtschaftlichkeit der Tätigkeit der gesetzlichen Krankenkassen begründen.237 Da die freiwillige Versicherung alle Wesensmerkmale einer Sozialversicherung, die den Grundsatz der Solidarität umsetzt, aufweist, ist sie ebenso wie die Pflichtversicherung nicht Normadressat des europäischen Kartellrechts. Aus der Tatsache, dass sie im Gegensatz zu anderen Sozialversicherungssystemen dieser Art auf Freiwilligkeit beruht, ergibt sich nichts anderes.
C. Die gesetzlichen Krankenkassen beim Angebot leistungserweiternder Wahltarife und bei der Vermittlung von Zusatzversicherungen Ein gemeinsamer Markt von GKV und PKV besteht jedoch im Bereich der Zusatzangebote. Medizinische Leistungen, die nach Auffassung des Gesetzgebers nicht erforderlich (z. B. Chefarztbehandlung) oder deren Wirkung nicht nachgewiesen ist (z. B. Homöopathie), kann auch der GKV-Versicherte auf privatem Wege versichern. Seit Einführung des § 53 SGB V durch das GKV-WSG können die gesetzlichen Krankenkassen den Privatversicherern in diesem Bereich Kon-
235 236 237
LSG Darmstadt, Urteil v. 15.9.2011 – L 1 KR 89/10 KL, Rn. 51, juris. Zu dieser Frage sogleich. Ebenso Kingreen, ZESAR 2007, 139 (149).
C. Angebot leistungserweiternder Wahltarife
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kurrenz machen, indem sie Wahltarife anbieten, die den Leistungskatalog des SGB V erweitern. § 53 Abs. 5 SGB V bietet die Möglichkeit zum Angebot eines Tarifs zur Versicherung von Arzneimitteln der sog. besonderen Therapierichtungen (Homöopathie etc.), den die Versicherten gegen eine zusätzliche Prämie erhalten können.238 Nach Art. 53 Abs. 4 SGB V können die Krankenkassen ihren Versicherten weiterhin einen Kostenerstattungstarif anbieten, bei dem sie gegen eine zusätzliche Prämie auch Rechnungen in Höhe der GOÄ/GOZ-Sätze erstattet bekommen. Darunter fällt auch die Chafarztbehandlung und die Unterbringung im Zwei-Bett-Zimmer, die zuvor nur über eine private Versicherung möglich war.239 Bei diesen leistungserweiternden Tarifen240 handelt es sich um echte Zusatzversicherungen. Sie sind von dem Vollversicherungsschutz trennbar und werden durch die Prämien der Versicherten finanziert, die risikoäquivalent berechnet werden. Hier besteht direkte Konkurrenz zu privaten Unternehmen und die Krankenkassen erfüllen in diesem Bereic nicht die Kriterien, die eine Tätigkeit nach der EuGH-Rechtsprechung als „rein soziale Aufgabe“ erscheinen lassen. Vielmehr ist die Situation vergleichbar mit der Zusatzversicherung eines französischen Sozialversicherungsträgers im Urteil Fédération française241. Die gesetzlichen Krankenkassen betreiben hier, sofern sie diese Wahltarife anbieten einen eigenen Geschäftszweig242, der sich von dem übrigen GKV-Geschäft unterscheidet und nach wirtschaftlichen Kriterien geführt wird. In diesem Bereich ist daher die Unternehmenseigenschaft der Krankenkassen begründet und sie unterfallen den Wettbewerbsregeln des AEUV und des GWB.243 Gleiches gilt für die Vermittlungstätigkeit der Krankenkassen nach § 194 Abs. 1a SGB V. Diese 2004 in das SGB V eingeführte Regelung ermöglicht es den Kassen, mit privaten Krankenversicherern Kooperationen einzugehen und ihren Versicherten Zusatzversicherungen wie etwa eine Auslandskrankenversicherung (S. 2) zu vermitteln. Die Vermittlungstätigkeit ist von der Pflichtversicherungstätigkeit trennbar und ist dem Markt privater Zusatzversicherungen zuzuordnen.244 Auch auf diesem Markt treten die Krankenkassen daher als Un238
Vgl. Lang, in: Becker/Kingreen, SGV, § 53, Rn. 21. Dazu Thüsing, NZS 2008, 449 (500). 240 Bei dem Kostenerstattungstarif gem. § 53 Abs. 4 SGB V hängt es von der Ausgestaltung des Tarifs durch die Krankenkasse ab: Der Tarif kann auch lediglich die Sachleistung durch Kostenerstattung ersetzen, dann handelt es sich nicht um eine Leistungserweiterung. 241 EuGH, Urt. v. 16.11.1995 – Rs. C-244/94, Slg. 1995, I-04013 – Fédération française des societies. 242 Isensee, NZS 2007, 449 (453). 243 Siehe auch Kluckert, Gesetzliche Krankenkassen als Normadressaten des Europäischen Wettbewerbsrechts, S. 307 ff., 324 ff.; ders., in: Sodan, Hdb. KVR, § 14, Rn. 82 ff. 244 Kluckert, in: Sodan, Hdb KVR, § 14, Rn. 85 ff. 239
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ternehmen im Sinne des AEUV und des GWB auf, wovon der Gesetzgeber bei der Schaffung des § 194 Abs. 1a SGB V auch ausdrücklich ausging.245
D. Die privaten Krankenversicherer Auf die Tätigkeiten der privaten Krankenversicherungsunternehmen finden das europäische und das deutsche Kartellrecht dagegen grundsätzlich uneingeschränkt Anwendung, da diese eine „wirtschaftliche Tätigkeit“ ausüben. Durch die Verpflichtung zum Angebot des Basistarifs (§ 12 Abs. 1a VAG) sind die Privatversicherer jedoch auch zu einem sozialstaatlichen Instrumentarium geworden, mit deren Hilfe das Ziel einer flächendeckenden und bezahlbaren Gesundheitsversorgung für alle Bürger erreicht werden soll. In dem brancheneinheitlichen Basistarif finden sich zahlreiche Merkmale einer Sozialversicherung: Der Leistungskatalog ist festgesetzt und orientiert sich am SGB V, eine Risikoprüfung darf nicht erfolgen, die Beiträge sind in der Höhe begrenzt, für die Versicherer besteht Kontrahierungszwang und unter den Versicherern besteht ein Ausgleichssystem.246 Man könnte daher davon ausgehen, dass die Privatversicherer im Umfang des Basistarifs nicht als „Unternehmen“ i. S. d. Artt. 101 f. AEUV anzusehen sind.247 Dagegen spricht jedoch, dass auch der Basistarif auf einem kapitalgedeckten Finanzierungsverfahren beruht und der EuGH noch nie ein kapitalgedecktes System als nichtwirtschaftlich qualifiziert hat. In der Rs. Albany hat er Wettbewerbsverzerrungen in einem solchen System aber gem. Art. 106 Abs. 2 AEUV für gerechtfertigt ansehen, was hier auch in Betracht käme. Fraglich wäre bei Ablehnung der Unternehmenseigenschaft der PKV-Unternehmen im Basistarif weiterhin, ob die Einführung des Basistarifs auch dazu führt, dass sie im Rahmen ihrer sonstigen Tätigkeit nicht mehr als Unternehmen im Sinne des Kartellrechts betrachtet werden können. Zwar bewirkt der Basistarif 245 In der Entwurfsbegründung heißt es: „Da die Krankenkassen hierbei nicht wie bei den im Vierten Kapitel geregelten Rechtsbeziehungen zu den Leistungserbringern ihren öffentlich-rechtlichen Versorgungsauftrag erfüllen, finden die Vorschriften des Wettbewerbs- und Kartellrechts im Übrigen Anwendung.“, BT-Drs. 15/1170, S. 117 und 15/ 1525, S. 138. 246 Vgl. im Einzelnen Kapitel 1, B. III. 247 Nicht zutreffend erscheint hingegen die Auffassung von Roth, der es für ausschlaggebend hält, dass es bei den Beziehern des Basistarifs im Wesentlichen um einen Personenkreis gehe, der sich im Rahmen der GKV auch freiwillig versichern könnte und daher ein Wettbewerb zwischen den Kassen und Privatversicherern um diese bestünde, s. GRUR 2007, 645 (659). Dieser Personenkreis kann zwar den Basistarif wählen. Zielgruppe des Basistarifs sind aber in erster Linie diejenigen, die zuvor gar keinen Versicherungsschutz gegen Krankheit hatten. Für freiwillig Versicherte lohnt sich der Basistarif dagegen meist von vornherein nicht, vgl. auch BVerfG, Urteil vom 10.6. 2009 – 1 BvR 706/08, Rn. 170, 178, BVerfGE 123, 186 sowie oben Kapitel 2, B. III. 5. a).
D. Die privaten Krankenversicherer
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in begrenztem Umfang einen Solidarausgleich, in den auch die übrigen Versicherten einbezogen sind.248 Dieser hat bisher aber wohl noch kein solches Maß erreicht, dass die PKV als vom Grundsatz der nationalen Solidarität maßgeblich geprägt anzusehen wäre. Hierfür sprechen insbesondere die Zahlen: Im Basistarif waren 2013 nur 26.700 der 8.890.100 PKV-Vollversicherten versichert249, so dass die zusätzliche Belastung für die Versicherten in den übrigen Tarifen äußerst gering ist.
248
Vgl. im Einzelnen Kapitel 1, B. III. 1. b) aa). Zahlenbericht der Privaten Krankenversicherung 2013, S. 25, 30; abrufbar unter: www.pkv.de. 249
Kapitel 4
Ausländische Gesundheitssysteme als Vorbilder für ein wettbewerbliches Krankenversicherungssystem? Während im deutschen Gesundheitswesen marktwirtschaftliche Elemente eine eher neuere Erscheinung sind und Wettbewerb zwischen den einzelnen Versicherungsträgern erst in Ansätzen stattfindet, finden sich Gesundheitssysteme anderer Länder, die bereits in einer marktwirtschaftlichen Traditon stehen oder die ganz nach dem Leitbild des Wettbewerbs umgebaut wurden. Auch in diesen Ländern geht man davon aus, die Ziele einer flächendeckenden, hochwertigen und effizienten Gesundheitsversorgung mit dem Mittel des Wettbewerbs besonders effektiv umsetzen zu können. Die Erfahrungen können Anregungen auch für den deutschen Gesetzgeber bieten. Im Folgenden soll daher ein Überblick über die Gesundheitssysteme der Niederlande und der Schweiz gegeben werden. Es wurden diese beiden Länder herausgegriffen, da sie in der Reformdebatte in Deutschland immer wieder als Vorbilder eines wettbewerblichen Gesundheitswesens angeführt werden und weil sie mit dem deutschen System gewisse Gemeinsamkeiten aufweisen, die einen Vergleich nicht völlig fernliegend erscheinen lassen. Aufgabe dieser Darstellung wird es dabei nicht sein, einen umfassenden Vergleich vorzunehmen und die Systeme hinsichtlich ihrer Wirtschaftlichkeit und ihres Versorgungsniveaus zu beurteilen und zu vergleichen. Eine seriöse Analyse bedürfte einer ausführlichen Untersuchung unter Berücksichtigung aller Kosten und Leistungen, der Morbiditäts- und demographischen Struktur der Bevölkerung und zahlreicher weiterer Faktoren. Dies kann diese Arbeit nicht leisten. Ziel dieses Abschnitts ist es vielmehr, die Funktionsweise der Systeme in ihren Grundstrukturen zu erläutern und insbesondere auf die Wettbewerbselemente und die Erfahrungen mit diesen einzugehen. Wichtig ist die Beobachtung, dass auch hier kein „Systemwettbewerb“ herrscht, sondern dass die Versicherer auf einheitlichen Märkten unter einheitlichen Bedingungen agieren.
A. Niederlande Besonders interessant für eine vergleichende Betrachtung ist das Gesundheitssystem der Niederlande. Dies ist zum einen darin begründet, dass in den Niederlanden 2006 eine (Re-)Privatisierung der sozialen Krankenversicherung vorge-
A. Niederlande
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nommen wurde, die ganz unter dem Vorzeichen des Wettbewerbs stand.1 Zum anderen bietet aber auch die ähnliche Vorgeschichte Anlass, einen genaueren Blick auf die Entwicklungen im Nachbarland zu werfen: Das deutsche und das niederländische Modell wiesen nämlich im 20. Jahrhundert eine große Ähnlichkeit auf und das niederländische unterlag dabei „sichtlich dem Einfluss Deutschlands“.2 Insbesondere bestand in den Niederlanden vor der Reform ebenfalls ein duales System aus gesetzlicher und privater Krankenversicherung mit einem stärkeren privaten Zweig als in Deutschland, in dem rund ein Drittel der Bevölkerung versichert war.3 Da man sich also aus einer ähnlichen Ausgangsposition wie in Deutschland heraus bewusst gegen die Aufrechterhaltung des zweigliedrigen Krankenversicherungssystems und für eine Einheitsversicherung entschied, ist es für Deutschland von Interesse, wie es zu dieser Reform kam und wie die Erfahrungen mit der neuen Krankenversicherung sind.
I. Organisationsstruktur und Reformgeschichte Seit dem 1.1.2006 haben die Niederlande eine privatrechtlich ausgestaltete Einheitskrankenversicherung, d.h. es besteht ein einheitlicher Markt für private Krankenvollversicherungen, die den Bürgern unter den gleichen gesetzlichen Rahmenbedingungen angeboten werden.4 Auch wenn die Einheitsversicherung von der niederländischen Regierung als Sozialversicherung angesehen wird,5 sind ihre Träger private Unternehmen, die überwiegend in der Rechtsform des Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit organisiert sind, Gewinne erwirtschaften können und gegenüber öffentlichen Einrichtungen ein höheres finanzielles Haftungsrisiko tragen.6 Als Schadensversicherer unterstehen die Unternehmen dem Versicherungsaufsichtsgesetz und bedürfen der Zulassung der Niederländischen Bank (DNB).7 1 Mouton/van Kooij, Modernisering; Handboek Zorgverzekeringen; Hamilton, in: Wille/Hamilton/Graf von der Schulenburg/Thüsing, Privatrechtliche Organisation, Teil 2, S. 187 ff.; Schulze Ehring, in: Schulze Ehring/Köster, Gesundheitssysteme im Vergleich, Teil A: Niederlande, S. 5 ff.; Walser, ZRP 2005, 273 ff.; dies., ZESAR 2006, 333 ff. 2 Hamilton, in: Wille/Hamilton/Graf von der Schulenburg/Thüsing, Privatrechtliche Organisation, Teil 2, S. 187 ff. (191, 216); Companje et al., Two Centuries of Solidarity, S. 21–27. 3 Tiemann, Gesundheitssysteme in Europa, S. 116; Companje et al., Two Centuries of Solidarity, S. 248–286. 4 Companje et al., Two Centuries of Solidarity, S. 326; Handboek Zorgverzekeringen, S. 39–72 (De Zorgverzekeringswet en daaraan gerelateerde regels en besluiten); Walser, ZRP 2005, 273 (273); dies., ZESAR 2006, 333 (333). 5 Hamilton, in: Wille/Hamilton/Graf von der Schulenburg/Thüsing, Privatrechtliche Organisation, Teil 2, S. 187 (193). 6 Hamilton, in: Wille/Hamilton/Graf von der Schulenburg/Thüsing, Privatrechtliche Organisation, Teil 2, S. 187 (213). 7 Hamilton, in: Wille/Hamilton/Graf von der Schulenburg/Thüsing, Privatrechtliche Organisation, Teil 2, S. 187 (221).
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Kap. 4: Ausländische Gesundheitssysteme als Vorbilder?
Das neue Krankenversicherungssystem ist kein abrupter Bruch mit dem alten zweigliedrigen Modell, sondern der vorläufige Endpunkt eines langjährigen Konvergenzprozesses und zahlreicher Reformen für eine stärkere Wettbewerbsausrichtung des Krankenversicherungsmarktes.8 Nachdem man zunächst versucht hatte, die steigenden Ausgaben für Gesundheitsleistungen durch stärkere staatliche Regulierung und Kontrolle zu reduzieren, schlug man Mitte der 80er Jahre einen „Kurswechsel“ 9 ein und setzte stärker auf eine Steuerung des Gesundheitswesens durch Wettbewerbselemente sowie Eigengestaltung und Eigenverantwortung.10 Einen Wettbewerb versprach man sich dabei anders als in Deutschland aber nicht zwischen den Akteuren der beiden Systeme, sondern nur innerhalb des jeweiligen Systems. Dies zeigt die Abschaffung der freiwilligen Versicherung 1986.11 Die Versicherungspflichtgrenze wurde leicht verschoben und zu einer „Ausscheidegrenze“ 12, bei deren Überschreiten eine Versicherung im gesetzlichen Versicherungssystem nicht mehr möglich war. Grund für diese Umstrukturierung war das Bestreben, die gesetzliche Krankenversicherung vor den „schlechten Risiken“ durch die Möglichkeit zur freiwilligen Versicherung zu schützen.13 Um die Zumutbarkeit des Abschlusses einer Privatversicherung zu gewährleisten, wurden die Privatversicherer zum Angebot eines Standardtarifs verpflichtet, dessen Leistungen, denen der gesetzlichen Krankenversicherung entsprachen und dessen Prämienhöhe gesetzlich festgesetzt wurde.14 Diesem sozialversicherungsrechtlichen Einschlag im privaten Versicherungssektor folgten in den 90er Jahren eine Vielzahl weiterer Reformen, die zu einer „Konvergenz“ 15 von sozialer und Privatversicherung führten. In das gesetzliche System wurden nach und nach Wettbewerbselemente eingeführt16 und die Beitragsgestaltung 8 Companje et al., Two Centuries of Solidarity, S. 326–342 (Changes in the Dutch system of health care insurance 2001–2007). 9 Schulze Ehring, in: Schulze Ehring/Köster, Gesundheitssysteme im Vergleich, Teil A: Niederlande, S. 5 (8). 10 Hartmann, Zwischen Differenzierung und Integration, S. 133 ff.; Companje et al., Two Centuries of Solidarity, S. 326: „This change was largely realized in the period 2001–2007, but a number of contributing milestone events began in 1985.“; Schulze Ehring, in: Schulze Ehring/Köster, Gesundheitssysteme im Vergleich, Teil A: Niederlande, S. 5 (7 f.). 11 Eingeführt durch das Wet op de Toegang tot de Ziektekostenverzekering (WTZ); s. Companje et al., Two Centuries of solidarity, S. 275. 12 Schulze Ehring, in: Schulze Ehring/Köster, Gesundheitssysteme im Vergleich, Teil A: Niederlande, S. 5 (8). 13 Hamilton, in: Wille/Hamilton/Graf von der Schulenburg/Thüsing, Privatrechtliche Organisation, Teil 2, S. 187 (203); Companje et al., Two centuries of solidarity, S. 275. 14 Hartmann, Zwischen Differenzierung und Integration, S. 136. 15 Schlüsselbegriff im Regierungsabkommen der sogenannten „violetten Regierung“ 1994, die den Weg einer allmählichen Annäherung von gesetzlicher und privater Krankenversicherung beschritt; vgl. Hamilton, in: Wille/Hamilton/Graf von der Schulenburg/Thüsing, Privatrechtliche Organisation, Teil 2, S. 187 (210). 16 Hartmann, Zwischen Differenzierung und Integration, S. 137.
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wurde dahingehend verändert, dass neben die einkommensabhängigen Beiträge ein pauschales Beitragselement trat, das Ende 2005 etwa 15% der Beitragseinnahmen ausmachte.17 Die Vergütung von Leistungserbringern wurde in den beiden Systemen vereinheitlicht18 und die Privatversicherer wurden zur Entrichtung eines Solidarbeitrags an die Krankenkassen verpflichtet.19 Die Annäherung der Systeme zeigt sich auch darin, dass die Zusammenarbeit zwischen Krankenkassen und Privatversicherern zunahm. Es wurden Konzerne gegründet, die sowohl einen Krankenkassen- als auch einen Privatversicherungszweig unterhielten.20 1992 schlossen sich schließlich die Spitzenorganisationen von gesetzlicher und privater Krankenversicherung zu einer gemeinsamen Interessenvertretung zusammen.21 Durch diese Reformen wurde der Boden bereitet für die grundlegende Neugestaltung des Gesundheitswesens in der Form einer „Bürgerprivatversicherung“ 2006. Sie ist eingebettet in ein Drei-Säulen-System22: Die erste Säule bildet die Versicherung nach dem Algemeen Wet Bijzondere Ziektekosten (AWBZ), die gegen das Risiko der Langzeitpflege schützt und in der alle Einwohner von Gesetzes wegen pflichtversichert sind.23 Sie weist Elemente der deutschen Pflege- sowie Krankenversicherung auf. Die hier behandelte obligatorische Krankenversicherung nach dem Zorgverzekeringswet (Zvw) bildet die zweite Säule. Sie bietet einen Basisschutz gegen das Krankheitsrisiko und deckt alle ambulanten und stationären Leistungen ab, nach denen akuter Bedarf besteht.24 Ergänzt werden kann sie durch private Zusatzversicherungen, die die dritte Säule darstellen. Insbesondere Leistungen im zahnärztlichen Bereich und Physiotherapie müssen hierdurch abgedeckt werden.25
II. Versicherter Personenkreis Die gesamte Wohnbevölkerung der Niederlande einschließlich derer, die hier beschäftigt sind und Lohnsteuer abführen, ist verpflichtet, sich in der neuen Ein17 Schulze Ehring, in: Schulze Ehring/Köster, Gesundheitssysteme im Vergleich, Teil A: Niederlande, S. 5 (9). 18 Schulze Ehring, in: Schulze Ehring/Köster, Gesundheitssysteme im Vergleich, Teil A: Niederlande, S. 5 (8). 19 Hartmann, Zwischen Differenzierung und Integration, S. 136 f. 20 Hamilton, in: Wille/Hamilton/Graf von der Schulenburg/Thüsing, Privatrechtliche Organisation, Teil 2, S. 187 (210). 21 Companje et al., Two centuries of solidarity, S. 276. 22 Vgl. Mouton/van Kooij, Modernisering, S. 45 ff.; Walser, ZESAR 2006, 333 (334). 23 Companje et al., Two centuries of solidarity, S. 274. 24 Sog. „Dekker-Modell“ des regulierten Wettbewerbs, vgl. Companje et al., Two centuries of solidarity, S. 274. 25 Welche Leistungen zur Luxusversorgung gehören, wurde lange diskutiert, s. Companje et al., Two centuries of solidarity, S. 274.
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heitsversicherung gegen das Risiko der Krankheit im Umfang des gesetzlich bestimmten Leistungspakets zu versichern, Art. 2 Zvw. Die Pflicht ist unabhängig vom Einkommen und der Art der beruflichen Tätigkeit. Die Krankenversicherung ist keine von Gesetzes wegen begründete Pflichtversicherung; vielmehr müssen die Einwohner ihrer Versicherungspflicht durch Abschluss eines Versicherungsvertrags mit einem privaten Unternehmen nachkommen.26 Auf Seiten der Versicherer besteht im Umfang der Basisversicherung Kontrahierungszwang, Art. 3 Zvw. Minderjährige sind beitragsfrei mitversichert, Art. 16 Abs. 2 Zvw. Wer seiner Verpflichtung zum Abschluss eines Versicherungsvertrages nicht nachkommt, wird mit Nachzahlungen und Sanktionen belegt.
III. Leistungen Der Leistungskatalog der Einheitskrankenversicherung ist gesetzlich determiniert. Er entspricht dem der früheren gesetzlichen Krankenversicherung der Niederlande und bietet einen Basisschutz, d.h. er umfasst alle notwendigen ambulanten und stationären kurativen Leistungen, ist dabei aber auf einen Mindestschutz begrenzt.27 Im Rahmen einer periodischen Prüfung wird der Leistungskatalog regelmäßig auf die Faktoren Wirksamkeit, Kosteneffizienz und kollektive Finanzierbarkeit überprüft, in deren Folge Leistungsstreichungen und -ergänzungen vorgenommen werden können.28 Hinsichtlich der Leistungsart kommt den Vertragspartnern Entscheidungsfreiheit zu: Es besteht ebenso die Möglichkeit Sachleistungen zu wählen wie eine Kostenerstattung und eine Kombination aus beiden.
IV. Finanzierung Das Krankenversicherungssystem ist umlagefinanziert.29 Ihre finanziellen Mittel erhalten die Versicherungsunternehmen aus Prämien der Versicherten ergänzt durch einen Steuerzuschuss (Art. 54–56 Zvw). Dabei machen einkommensabhängige Beiträge (Art. 41–47 Zvw) die eine Hälfte und pauschale Prämien (Art. 48–51 Zvw) und der Steuerzuschuss die andere Hälfte der Einnahmen der Krankenversicherung aus. Die einkommensabhängigen Beiträge werden von den Steuerbehörden eingezogen und dem zentralen Krankenversicherungsfonds zugeführt, aus dem die einzelnen Versicherer entsprechend der Risikostruktur ihrer Versicherten Zuweisungen erhalten (Art. 39 f. Zvw).30 Der Prozentsatz des Ein26
Art. 2 Zvw, dazu: Hamilton, a. a. O., S. 220; Handboek Zorgverzekeringen, S. 73–76. Handboek Zorgverzekeringen, S. 29. 28 Hamilton, in: Wille/Hamilton/Graf von der Schulenburg/Thüsing, Privatrechtliche Organisation, Teil 2, S. 187 (220). 29 Schulze Ehring, in: Schulze Ehring/Köster, Gesundheitssysteme im Vergleich, Teil A: Niederlande, S. 5 (13). 30 Handboek Zorgverzekeringen, S. 51 f. 27
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kommens, der für die Krankenversicherung veranschlagt wird, wird zentral vom Gesundheitsministerium in Abstimmung mit anderen Ministerien festgesetzt. Die pauschalen Prämien erheben die einzelnen Versicherer selbst von ihren Versicherten und können dementsprechend zwischen den einzelnen Versicherern variieren. Sie sind unabhängig vom Einkommen und dem versicherten Risiko, sondern sind für alle Versicherten eines Versicherers (in einem bestimmten Tarif) identisch.31 Um finanzielle Überforderungssituationen zu vermeiden, erhalten Einkommensschwache staatliche Transferleistungen (Art. 57 Zvw).32 Der steuerliche Zuschuss richtet sich nach dem Einzel- bzw. Mehrpersonenhaushaltseinkommen und ist nach oben gedeckelt.33 Aus den Steuermitteln, die unmittelbar den Versicherern zufließen, wird die beitragsfreie Versicherung der unter 18-jährigen finanziert.34
V. Private Krankenversicherung Da es sich bei der neuen Zvw um eine Einheitsversicherung handelt, gibt es daneben keine privatrechtliche Alternative mehr, die den sozialversicherungsrechtlichen Verpflichtungen nicht unterliegt. Jenseits des Mindestschutzes der Zvw besteht dagegen keine Versicherungspflicht. Dieser Bereich ist vollständig der Privatwirtschaft überlassen. Da auch die Träger der Sozialversicherung Private sind, besteht in den Bereichen der verpflichtenden Krankenversicherung und der freiwilligen Zusatzversicherungen regelmäßig Identität zwischen den Trägern, jedoch unterliegen diese in dem Bereich der Zusatzversicherungen keinen sozialversicherungsrechtlichen Beschränkungen wie einem Kontrahierungszwang.
VI. Wettbewerb Funktionsfähiger Wettbewerb ist das zentrale Konzept, welches dem niederländischen Gesundheitssystem zugrunde liegt. Dabei hat man sich gegen einen Systemwettbewerb zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung entschieden und 2006 einen einheitlichen Markt geschaffen, auf dem private Versicherungsunternehmen unter einheitlichen Rahmenbedingungen miteinander um Versicherte konkurrieren. Der Entscheidung für ein marktwirtschaftliches System der Gesundheitsversorgung liegt die Überzeugung zugrunde, dass das soziale Ziel der bezahlbaren Absicherung der gesamten Wohnbevölkerung gegen das Ri31 Handboek Zorgverzekeringen, S. 52 f.; Hamilton, in: Wille/Hamilton/Graf von der Schulenburg/Thüsing, Privatrechtliche Organisation, Teil 2, S. 187 (223). 32 Siehe Handboek Zorgverzekeringen, S. 53 f. 33 Schulze Ehring, in: Schulze Ehring/Köster, Gesundheitssysteme im Vergleich, Teil A: Niederlande, S. 5 (16 f.). 34 Hamilton, in: Wille/Hamilton/Graf von der Schulenburg/Thüsing, Privatrechtliche Organisation, Teil 2, S. 187 (224).
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siko der Krankheit am effektivsten mit den Mitteln der Privatwirtschaft erreicht werden kann.35 Um eine Selektion zulasten schlechterer Risiken, die in einem idealtypischen Wettbewerb zu erwarten ist, zu vermeiden, unterliegen die Versicherer einem Kontrahierungszwang und einem grundsätzlichen Kündigungsverbot. Die Möglichkeit eines Wettbewerbs der Versicherungsunternehmen um Versicherte wird eröffnet durch das freie Wahlrecht der Versicherten zwischen den Unternehmen und das jährliche Wechselrecht. Darüber hinaus bieten weitere Wettbewerbsparameter den Anbietern einen ausreichenden Spielraum, um das Versicherungsangebot an den Kundenwünschen zu orientieren und von den Angeboten anderer Versicherer abzugrenzen:36 – Wahlrecht hinsichtlich der Art der Leistung: Das niederländische System legt sich nicht auf eine Art der Leistungserbringung fest, sondern den Versicherern steht es frei, Sachleistung, Kostenerstattung sowie eine Kombination aus beiden anzubieten (Art. 11 Zvw). – Preisdifferenzierung: Ein besonderes Preissignal setzt das versicherungsindividuelle pauschale Beitragselement (Art. 48–51 Zvw). Es ist ausschlaggebend dafür, was als Preis der Versicherung von den Versicherten wahrgenommen wird. Die Höhe der Pauschale legt das einzelne Versicherungsunternehmen fest. – Leistungsdifferenzierung durch Zusatzversicherungen: Über den Pflicht-Leistungskatalog der Zvw hinaus steht es den Versicherern frei ihre Angebote aufzustocken (Art. 17 Abs. 1 Zvw). Dadurch dass die Träger der obligatorischen Basiskrankenversicherung mit denen der freiwilligen Zusatzversicherungen identisch sind, können individuelle Tarife gestaltet und angeboten werden. – Weitere Optionen zur Preis- und Leistungsdifferenzierung: (1) Über den obligatorischen Selbstbehalt i. H. v. 220 A im Jahr 201237 hinaus, können höhere Selbstbehalte vereinbart werden (Art. 19 Abs. 2 Zvw). Die Ausgestaltung der Selbstbehaltstarife, insbesondere die Höhe der Prämienreduktion, obliegt dabei den einzelnen Unternehmen. (2) Vergünstigte Tarife sind außerdem für Gruppen möglich, die für alle Gruppenmitglieder unter einheitlichen Bedingungen bei demselben Versicherer einen Vertrag schließen. So können die Versicherer Arbeitgebern oder Interessenorganisationen gegen eine Prämienreduktion ei35
„Dekker-Modell“, vgl. Companje et al., Two Centuries of Solidarity, S. 274. Walser, ZRP 2005, 273 (274 f.); Schulze Ehring, in: Schulze Ehring/Köster, Gesundheitssysteme im Vergleich, Teil A: Niederlande, S. 5 (21 ff.). 37 Einen obligatorischen Selbstbehalt gibt es in der niederländischen Krankenversicherung seit dem 1.1.2008; er ersetzte die zuvor bestehende Beitragsrückerstattungsregelung und und hat sich seither von 150 A auf 220 A im Kalenderjahr erhöht; vgl. Hamilton, in: Wille/Hamilton/Graf von der Schulenburg/Thüsing, Privatrechtliche Organisation, Teil 2, S. 187 (242). 36
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nen Vertrag für alle Arbeitnehmer bzw. Mitglieder anbieten. Die Reduktion der Prämie legt der Versicherer fest. Sie ist für die Basisversicherung gesetzlich auf maximal 10% begrenzt. 2010 lag die durchschnittliche Absenkung der Basisprämie für Gruppen bei 7,1%. 64% der Niederländer waren in solchen Gruppenverträgen versichert. (3) Schließlich besteht auch die Möglichkeit des Angebots sogenannter Preferred-Provider-Tarife. Hier vereinbaren die Krankenversicherer mit bestimmten Leistungserbringern im Rahmen selektiver Verträge eine unterhalb der gesetzlichen Gebührenordnung liegende Honorierung. Durch die dadurch hervorgerufene Ausgabensenkung können sie ihren Versicherten günstigere Tarife anbieten. Die Versicherten sind im Gegenzug auf die Inanspruchnahme der entsprechenden Leistungserbringer begrenzt. Bezogen auf den damit bezweckten Wettbewerb um Versicherte lassen sich folgende Beobachtungen machen:38 Die pauschale Prämie hat eine sehr wettbewerbsorientierte Beitragsentwicklung hervorgerufen. Sie hat zu einem intensiven Preiswettbewerb unter den Versicherern geführt. Dies zeigt sich insbesondere daran: – Der Anstieg der durchschnittlichen Pauschalprämie seit 2006 ist nur äußerst gering. – Die Differenz zwischen höchster und niedrigster Prämie erhöht sich indessen kontinuierlich. – Der Wert der niedrigsten auf dem Markt vorzufindenden Prämie sinkt. Die von der Regierung jährlich durchgeführte Beitragsprognose liegt regelmäßig über dem tatsächlichen Wert der gezahlten Prämien. Schulze Ehring geht daher davon aus, dass die Versicherer ihre Prämien zur Verbesserung ihrer Wettbewerbsposition nicht kostendeckend kalkulieren. Vielmehr stellten sie ihre Rücklagen in die Kalkulation ein und brauchten diese auf. Mit anderen Worten werde hier ein Wettbewerb auf Kosten der unternehmensindividuellen Rücklagen geführt, der nicht nachhaltig sei. Da die Rücklagen begrenzt sind, ist eine solche Entwicklung endlich. In Zukunft würde sich der Pauschalbeitrag dahin entwickeln müssen, dass er ein kostendeckendes Niveau erreicht. Dadurch würde sich die Differenz zwischen höchstem und niedrigstem Beitrag zunächst wieder verringern. Langfristig sind erhebliche Unterschiede bei der pauschalen Prämie nur in Verbindung mit einem unterschiedlichen Leistungsangebot möglich, so können günstige Versicherungspreise insbesondere durch den Abschluss besonders günstiger Selektivverträge mit den Leistungserbringern (Preferred-Provider-Tarife) erzielt werden.
38 Die Darstellung folgt überwiegend den Untersuchungen von Schulze Ehring, in: Schulze Ehring/Köster, Gesundheitssysteme im Vergleich, Teil A: Niederlande, S. 5 (41 ff.).
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Hinsichtlich des Wechselverhaltens der Versicherten lässt sich ein Rückgang beobachten. Während sich im ersten Jahr der neuen Krankenversicherung ein regelrechter „Wechselboom“ zeigte39, sind die Zahlen anschließend wieder erheblich gesunken. Sie fielen zurück auf das ursprüngliche Level von 4%.40 Auch die Zahl der Wechsler zwischen verschiedenen Tarifen eines Versicherers ging gegenüber dem ersten Jahr stark zurück. Dabei zeigt sich, entgegen dem Ziel der Reform, auch den Wettbewerb um schlechte Risiken zu intensivieren, dass es sich bei den Wechslern überwiegend um junge und gesunde Versicherte handelt. Gründe für den Rückgang der Versicherungswechsel können die aktuell hohe Zufriedenheit der Versicherten im niederländischen Krankenversicherungssystem, die geringe Steigerung der pauschalen Prämien sowie – vor allem41 – die hohe Zahl der Versicherten (64%) in Gruppenverträgen, die häufig eine mehrjährige Bindung von 3–5 Jahren vorsehen, sein.42 Hier sind in der Zukunft periodische Veränderungen zu erwarten, wenn die Prämien aufgrund des Erfordernisses kostendeckender Kalkulation steigen, die Zufriedenheit dadurch sinkt und die Gruppenverträge auslaufen. Zu erkennen ist ferner eine Weiterentwicklung der bereits vor der Systemneuordnung 2006 begonnenen Konzentrationsbewegung: Einen erheblichen Konzentrationsschub brachte insbesondere das Reformjahr 2006. Zum Jahreswechsel 2005/2006 schrumpfte die Zahl der Versicherer von 57 auf 33. Die Zahl kleiner Versicherungsunternehmen sinkt, während wenige große Konzerne den Markt beherrschen. Als positiven Effekt der Reform stellen Campanje et al. schließlich heraus, dass der Eindruck besteht, dass sich die Produktivität der medizinischen Leistungserbringer erhöht hat und die Länge der Wartezeiten sich dadurch verringert hat.43
B. Schweiz Als Vorbild für das deutsche Gesundheitswesen wird in der Diskussion von Befürwortern einer Intensivierung von Wettbewerbselementen häufig auch das Gesundheitssystem der Schweiz angeführt. Die Schweiz besitzt ein „Sozialversicherungsmodell eigener Prägung“ 44. Es ist deshalb besonders, weil die soziale 39 Leu et al., The Swiss and the Dutch health care systems compared, S. 94; Companje et al., Two centuries of solidarity, S. 338: „By 1 January 2006, approximately 25% of insured people had changed their healthcare insurer. This led to euphoric reactions such as It is obvious that the market works and there is considerable mobility among the insured.“ 40 Companje et al., Two centuries of solidarity, S. 338. 41 Companje et al., Two centuries of solidarity, S. 338. 42 Companje et al., Two centuries of solidarity, S. 338 f. 43 Companje et al., Two centuries of solidarity, S. 338. 44 Tiemann, Gesundheitssysteme in Europa, S. 139.
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Komponente der Finanzierung eher schwach ausgestaltet ist, während dem System starke Wettbewerbselemente immanent sind.45
I. Organisationsstruktur und Reformgeschichte Das heutige Gesundheitssystem der Schweiz ist das Ergebnis einer 1994 durchgeführten „Totalrevision“ 46 des Kranken- und Unfallversicherungsgesetzes (KUVG) von 1911.47 Das „neue“ Bundesgesetz über die Krankenversicherung (KVG) trat am 1.1.1996 in Kraft. Schaut man sich die Entwicklung des schweizerischen Gesundheitssystems an, so lässt sich sagen, dass dieses in einer marktwirtschaftlichen Tradition steht, auch wenn durch das Sozialrecht reguliert wird48. Bis Mitte der 1990er Jahre gab es in der Schweiz keine bundesweite Versicherungspflicht. Die Krankenversicherung wurde ganz überwiegend durch private Unternehmen durchgeführt, die auf der Tradition der ersten Hilfskassen aufbauten, auf dem Grundsatz der Gegenseitigkeit beruhten und keine Gewinne erwirtschaften durften. Staatliche von den Kantonen errichtete Krankenkassen gab es nur sehr vereinzelt. Das System war föderalistisch und eher liberal ausgestaltet. Grundsätzlich bestanden, mit Ausnahme weniger Kantone, keine Versicherungspflicht und kein Kontrahierungszwang. Vorschriften über die Kalkulation der Versicherungsprämien gab es nur wenige, insbesondere durften die Tarife nach dem Eintrittsalter kalkuliert werden. Es kam zunehmend zu einer Risikoselektion, weshalb 1990 zunächst die staatlichen Subventionsbeträge erhöht und 1993 ein Risikostrukturausgleich zwischen den Krankenversicherern eingeführt wurde.49 1994 kam die Wende mit der neuen „Bürgerversicherung“, die das sozialpolitische Ziel einer bezahlbaren Absicherung aller Bürger gegen das Krankheitsrisiko verfolgte. Die Organisationsstruktur, d.h. die Trägerschaft in der Hand sowohl privater als auch öffentlich-rechtlich organisierter Akteure, ließ die Reform indessen unangetastet. In der Schweiz kann die obligatorische Krankenversicherung also nach wie vor gem. Art. 11 KVG neben den Krankenkassen (Buchstabe a) auch von privaten Unternehmen (Buchstabe b) mit Sitz in der Schweiz durchgeführt werden50. Da diese jedoch keine Gewinne erwirtschaften dürfen, 45
Tiemann, Gesundheitssysteme in Europa, S. 139 f. Köster, in: Schulze Ehring/Köster, Gesundheitssysteme im Vergleich, Teil B: Schweiz, S. 77 (80). 47 Vgl. auch die knappe Darstellung der historischen Entwicklung bei Leu et al., The Swiss and the Dutch health care systems compared, S. 23 f. 48 Leu et al., The Swiss and the Dutch health care systems compared, S. 24. 49 Leu/Beck, in: Wille/Ulrich/Schneider, Wettbewerb und Risikoausgleich im internationalen Vergleich, S. 115 ff. 50 Zu den Anforderungen, die private Krankenversicherer erfüllen müssen, um eine Bewilligung gem. Art. 13 KVG zu erhalten, vgl. Richli, Gutachten zu Rechtsfragen der Organisation der sozialen Krankenversicherung, S. 10 f. 46
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dennoch aber bestimmte Solvabilitäts- und Liquiditätsbestimmungen erfüllen müssen, wird die Aufgabe fast ausschließlich von Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit und privaten nicht börsennotierten Aktiengesellschaften wahrgenommen, deren Aktien von sozialen oder religiösen Stiftungen und Vereinen gehalten werden.51 Unternehmen, die aus der privaten Versicherungswirtschaft kommen und grundsätzlich gewinnorientiert arbeiten, bieten die obligatorische Krankenversicherung dagegen bisher nicht an oder haben sich wieder aus ihr zurückgezogen.52 Der Anbietermarkt ist außerdem sehr konzentriert. 85% der Versicherten werden durch die zehn größten Unternehmen versichert.53 Der Konzentrationsprozess wird auch dadurch befördert, dass Sanierungsfusionen in der Regel einer Insolvenz kleiner Versicherungsunternehmen vorgezogen werden und so große Einheiten entstehen.54
II. Versicherter Personenkreis Gem. Art. 3 Abs. 1 des schweizerischen Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG) ist jede Person mit Wohnsitz in der Schweiz krankenpflegeversicherungspflichtig.55 Die Versicherung wird nicht per Gesetz begründet, sondern der Versicherungspflichtige muss seiner Pflicht innerhalb von drei Monaten nach der Wohnsitznahme durch Beitritt nachkommen. Der Versicherungsschutz gilt dann rückwirkend (Art. 5 Abs. 1 KVG). Auch Kinder sind versicherungspflichtig. Sie müssen spätestens drei Monate nach der Geburt durch den gesetzlichen Vertreter versichert werden. Alle Mitglieder der Familie sind also in der Schweiz individuell und nicht über einen Hauptversicherten versichert. Kommt ein Versicherungspflichtiger seiner Beitrittspflicht nicht nach, so wird er durch den kontrollzuständigen Kanton einem Versicherer zugewiesen (Art. 6 KVG). Gem. Art. 5 Abs. 2 KVG hat der verspätete Beitritt finanzielle Mehrbelastungen in Form eines Prämienzuschlags zur Folge, außerdem entfällt die Rückwirkung des Versicherungsschutzes. Diese „Sanktionen“ sollen sicherstellen, dass tatsächlich die gesamte Bevölkerung krankenversichert ist. Die Wahl des Versicherers ist frei, dabei kommen sowohl die Krankenkassen als auch private Krankenversicherungsunternehmen, die eine Bewilligung zur Durchführung der sozialen Kran51 Köster, in: Schulze Ehring/Köster, Gesundheitssysteme im Vergleich, Teil B: Schweiz, S. 77 (100 f.). 52 Köster, in: Schulze Ehring/Köster, Gesundheitssysteme im Vergleich, Teil B: Schweiz, S. 77 (100). 53 Köster, in: Schulze Ehring/Köster, Gesundheitssysteme im Vergleich, Teil B: Schweiz, S. 77 (100). 54 Köster, in: Schulze Ehring/Köster, Gesundheitssysteme im Vergleich, Teil B: Schweiz, S. 77 (101). 55 Der Bundesrat kann die Versicherungspflicht darüber hinaus auch auf bestimmte Gruppen von Personen ohne Wohnsitz im Inland ausweiten (Art. 3 Abs. 3 KVG); Ausnahmen kann er in den Grenzen des Art. 3 Abs. 2 KVG vorsehen.
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kenversicherung (Art. 13 KVG) haben, in Betracht. Die Versicherer unterliegen im Gegenzug einem Kontrahierungszwang (Art. 4 Abs. 2 KVG). Ein Wechsel des Versicherers ist jeweils zum Ende eines Kalendersemesters möglich, nach Einhaltung einer dreimonatigen Kündigungsfrist, Art. 7 Abs. 1 KVG. Gem. Abs. 2 verkürzt sich die Frist um zwei Monate, wenn der Versicherer eine neue Prämie mitgeteilt hat.
III. Leistungen Der Leistungskatalog der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKPV) ist gesetzlich determiniert. Er wurde Mitte der 90er Jahre mit der Errichtung der neuen obligatorischen Krankenpflegeversicherung neu ausgestaltet und dabei erweitert. Obwohl sie ursprünglich nur als eine Basisversicherung zur Gewährung eines Mindestschutzes gedacht war, bietet die schweizerische Krankenversicherung einen über eine Grundsicherung hinaus gehenden eher umfassenden Schutz. Auch nach der Reform 1996 wurde der Leistungskatalog noch ausgeweitet. Als Pflichtleistungen werden grundsätzlich alle ärztlichen – ambulanten und stationären – Leistungen gewährt, soweit sie nicht ausdrücklich ausgenommen sind. Sie werden allerdings von der OKPV in der Regel nicht als Sachleistungen bereitgestellt, sondern ihre Kosten trägt der Versicherte, der sie vom Versicherer abzüglich der Eigenbeteiligungsquote und dem anfänglichen Selbstbehalt i. H. v. 300 CHF im Jahr nach dem Kostenerstattungsprinzip ersetzt erhält.56 Nicht vom Leistungskatalog umfasst sind etwa eine homöopatische Versorgung und die freie Krankenhauswahl innerhalb der Schweiz.57
IV. Finanzierung Die Krankenpflegeversicherung der Schweiz ist umlagefinanziert und muss sich selbst tragen (Art. 60 KVG). Eine Finanzierungsperiode beträgt zwei Jahre. Obwohl es sich um ein Sozialversicherungssystem handelt, erfolgt die Finanzierung des Gesundheitssystems nur teilweise aus Beiträgen. Die Prämien der Versicherten decken die Kosten für die medizinische Versorgung nur zu etwa 60%.58 Der Rest wird aufgebracht aus direkten Steuerzuschüssen an die Leistungserbrin56 Sog. System des Tiers garant, Art. 24, 25, 42 Abs. 1 KVG. Zwischen Versicherer und Leistungserbringer kann abweichend auch Sachleistung vereinbart werden (sog. System des Tiers payant). Dies gilt zwingend im Rahmen der stationären Versorgung, Art. 42 Abs. 2 KVG. 57 Dies sind die meist gewählten Ergänzungsversicherungsprodukte in der Schweiz. Es besteht eine anhaltende politische Diskussion darüber, ob sie in den Leistungskatalog der obligatorischen Krankenversicherung integriert werden; vgl. Leu et al., The Swiss and the Dutch health care systems compared, S. 29. 58 Köster, in: Schulze Ehring/Köster, Gesundheitssysteme im Vergleich, Teil B: Schweiz, S. 77 (90).
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ger, aus der Sozialhilfe sowie aus Zuzahlungen der Versicherten. Die Versicherten haben einen anfänglichen Selbstbehalt von 300 CHF im Jahr, darüber hinaus zahlen sie bei der Inanspruchnahme einer Gesundheitsleistung (mit Ausnahme von Mutterschaftsleistungen) einen Eigenanteil von in der Regel 10–20%.59 Die privaten Ausgaben für Gesundheitsleistungen sind in der Schweiz im internationalen Vergleich besonders hoch.60 Insgesamt werden 25,8% der Gesundheitsausgaben durch private Haushalte gezahlt.61 Weder das individuelle Risiko des Versicherten noch das Einkommen sind Bemessungsgrundlage für die Versicherungsprämie. Diese ist vielmehr eine von den Versicherten ohne Beteiligung des Arbeitgebers zu zahlende „Kopfpauschale“, deren Höhe für alle Versicherten eines Versicherers – Kinder und Erwachsene – identisch ist (Art. 61 Abs. 1 KVG). Die Kopfpauschale wird von den einzelnen Versicherern entsprechend dem erwarteten finanziellen Bedarf festgesetzt. Dabei ist eine gesetzlich angeordnete Mindestreserve (Art. 78 KVV = Verordnung über die Krankenversicherung) einzukalkulieren. Da in den unterschiedlichen Kantonen der Schweiz die Versorgungskosten stark variieren, kann die Prämienhöhe nicht nur je nach Versicherer, sondern auch je nach Kanton und Region sehr unterschiedlich sein.62 Um das starke Preisgefälle in eine sachgerechte Ordnung zu bringen, wurden auf Bundesebene Prämienregionen festgelegt.63 Ist ein Unternehmen bundesweit tätig, so ist es ihm untersagt, die Versicherten eines Kantons durch die Prämien der Versicherten eines anderen Kantons querzusubventionieren.64
V. Private Krankenversicherung Private Versicherer spielen abgesehen von den privaten Unternehmen, die eine Bewilligung zur Durchführung der OKPV haben nur als Zusatzversicherer eine Rolle im Gesundheitssystem der Schweiz. Während die Privatversicherer im Bereich der OKPV keine Gewinne erwirtschaften dürfen, ist ihnen dies im Bereich der Zusatzversicherungen grundsätzlich gestattet65. Auch ist ihnen hinsichtlich 59 OECD Reviews of Health Systems: Switzerland 2006, S. 33; s. a. Köster, in: Schulze Ehring/Köster, Gesundheitssysteme im Vergleich, Teil B: Schweiz, S. 77 (86). 60 Leu et al., The Swiss and the Dutch health care systems compared, S. 25. 61 Bundesamt für Statistik: Kosten des Gesundheitswesens 2011, abrufbar unter: http://www.bfs.admin.ch. 62 Art. 61 Abs. 2 KVG gestattet kantonale und regionale Abstufungen bei einem Versicherer; Art. 91 KVV legt Grenzwerte fest. 63 Vgl. Köster, in: Schulze Ehring/Köster, Gesundheitssysteme im Vergleich, Teil B: Schweiz, S. 77 (91). 64 Köster, in: Schulze Ehring/Köster, Gesundheitssysteme im Vergleich, Teil B: Schweiz, S. 77 (92). 65 Ausnahme: Krankentagegeldversicherung, Art. 67–77 KVG; vgl. ausführlich Köster, in: Schulze Ehring/Köster, Gesundheitssysteme im Vergleich, Teil B: Schweiz, S. 77 (98).
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der Kalkulation Gestaltungsfreiheit überlassen. Meist ist die Prämienberechnung daher risikoäquivalent, Altersrückstellungen werden nicht immer gebildet. Der Markt der Zusatzversicherungen ist aber nicht allein der Privatwirtschaft überlassen, auch staatliche Krankenkassen können Zusatzangebote zur Aufstockung des Pflichtleistungskatalogs anbieten. Für alle Anbieter gelten aber die gesetzlichen Bestimmungen für private Versicherungsunternehmen, wie das Versicherungsvertragsgesetz (VVG) und das Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG). Die Kontrolle über die Einhaltung obliegt der im Eidgenössischen Finanzdepartment eingerichteten Finanzmarktaufsicht (FINMA).
VI. Wettbewerb Auch in der Schweiz war die Aufrechterhaltung und Verstärkung eines funktionsfähigen „gelenkten“ Wettbewerbs unter den Trägern der OKPV zur Kosteneffizienz ein zentrales Anliegen der Reform.66 Das Gesundheitssystem der Schweiz bildet neben den USA von jeher den Prototyp eines marktwirtschaftlichen Gesundheitssystems.67 Die Eigenverantwortung der Versicherten (in Form von Selbstbehalten und Zuzahlungen) wird hoch gehalten und einer Umverteilung zwischen Arm und Reich steht man skeptisch gegenüber. So scheiterte 2003 das Konzept einkommensabhängiger Beiträge gegen die Alternative pauschaler Prämien im Volksentscheid.68 Die Voraussetzung für einen Wettbewerb der OKPV-Versicherer um Versicherte wird mit der freien Wahlmöglichkeit der Versicherten geschaffen (vgl. Art. 4 Abs. 1 KVG). Jeweils zum Ende eines Kalenderhalbjahres kann der Versicherte seine Versicherung mit dreimonatiger Kündigungsfrist kündigen und zu einem anderen Versicherer wechseln. Sonderkündigungsrechte bestehen bei Veränderungen der Prämienhöhe.69 Diese Regelungen ermöglichen auch alten Menschen den Versicherer zu wechseln, was vor der Reform aufgrund erheblicher zu erwartender Prämiensteigerungen oder gar Nichtaufnahme in einer anderen Versicherung faktisch nicht gewährleistet war.70 Eine wichtige Voraussetzung für die praktische Wirksamkeit der Wettbewerbsparameter schaffen außerdem die Vergleichsstudien des Bundesamtes für Ge-
66 Vgl. Köster, in: Schulze Ehring/Köster, Gesundheitssysteme im Vergleich, Teil B: Schweiz, S. 77 (132). 67 Vgl. etwa Graf von der Schulenburg/Greiner, Gesundheitsökonomik, S. 54, 80 ff. 68 Von Graf von der Schulenburg/Greiner, Gesundheitsökonomik, S. 95. 69 Siehe Köster, in: Schulze Ehring/Köster, Gesundheitssysteme im Vergleich, Teil B: Schweiz, S. 77 (102). 70 Die schlechten Wechselmöglichkeiten älterer Versicherter waren einer der Gründe für die Gesundheitsreform 1996, vgl. Graf von der Schulenburg/Greiner, Gesundheitsökonomik, S. 94 f.
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Kap. 4: Ausländische Gesundheitssysteme als Vorbilder?
sundheit und kommerzieller Vergleichsdienste, die regelmäßig über die Prämien und Leistungen der einzelnen Versicherer im Internet informieren.71 Wettbewerb um Versicherte wird hauptsächlich über den Preis geführt: Die Kopfpauschale bietet ein starkes Preissignal und stellt den entscheidenden Wettbewerbsparameter dar.72 Die Prämie im Grundtarif kann durch verschiedene Sondertarife reduziert werden, so etwa durch einen höheren Selbstbehalt (Art. 93 ff. KVV), durch die Vereinbarung einer Beitragsrückerstattung bei der Nichtinanspruchnahme von Leistungen (Art. 96 ff. KVV) und durch Versorgungstarife, bei denen die Arztwahl auf bestimmte Leistungserbringer begrenzt wird (Art. 99 ff. KVV). Dadurch wird weitere Preisdifferenzierung ermöglicht. Dennoch nehmen verhältnismäßig wenig Versicherte die Wechselmöglichkeit zwischen den Versicherern wahr. Berichte auf der Grundlage repräsentativer Umfragen über den Zeitraum von 1997 bis 2000 sprechen von Raten zwischen 2,1% und 4,8% bzw. 2,0% und 3,6%.73 Damit bleibt die Wechselquote hinter der in Deutschland zwischen gesetzlichen Krankenkassen zurück.74 Ferner ruft der reine Preiswettbewerb insbesondere zwei Probleme hervor75: – Wettbewerb auf Kosten der Solvabilität: Es zeigt sich, dass der hohe Wettbewerbsdruck in der Schweiz in der Vergangenheit häufig dazu geführt hat, dass die Prämien nicht kostendeckend, sondern unter Hinzuziehung der unternehmenseigenen Rücklagen kalkuliert wurden. Dadurch wurden in den Folgejahren abrubte Beitragssteigerungen erforderlich. Außerdem hat dieses Verhalten bereits zu einer erheblichen Minderung der Solvabilität geführt, wodurch das Insolvenzrisiko der Versicherer deutlich angestiegen ist.76 – Risikoselektion „durch die Hintertür“: Darüber hinaus hat der scharfe Preiswettbewerb noch einen anderen nicht erwünschten Effekt hervorgerufen, der auf den ersten Blick nicht erkennbar ist. Die Situation auf dem Markt scheint vielmehr äußerlich auf funktionierenden Wettbewerb zurückzuführen zu sein: Die Differenz zwischen der höchsten und der niedrigsten Kopfpauschale nimmt zu und die günstigsten Anbieter wechseln, während die teuersten gleich bleiben. Außerdem treten von Zeit zu Zeit neue Anbieter mit sehr günstigen 71
Siehe z. B. http://www.priminfo.ch/praemien/archiv/praemien/de/index.html. Graf von der Schulenburg/Greiner, Gesundheitsökonomik, S. 94 ff.; Köster, in: Schulze Ehring/Köster, Gesundheitssysteme im Vergleich, Teil B: Schweiz, S. 77 (133). 73 Siehe Leu et al., The Swiss and the Dutch health care systems compared, S. 92. 74 Laske-Aldershof et al., Applied Health Economics and Health Policy, Bd. 3 Nr. 4, S. 229–241; s. a. Leu et al., The Swiss and the Dutch health care systems compared, S. 92. 75 Vgl. die Analyse bei Köster, in: Schulze Ehring/Köster, Gesundheitssysteme im Vergleich, Teil B: Schweiz, S. 77 (133 ff.). 76 Köster, in: Schulze Ehring/Köster, Gesundheitssysteme im Vergleich, Teil B: Schweiz, S. 77 (134 f.). 72
B. Schweiz
167
Preisen in den Markt ein, die als sog. „Billigkassen“ mit einer raschen Anwerbung eines großen Kundenstamms planen.77 Dieses Bild eines marktförmigen Geschehens hat jedoch aus verteilungspolitischer Sicht eine Schattenseite: Die neuen Billigkassen sind meist keine Neugründungen, sondern häufig Abspaltungen großer Versicherungskonzerne, die im Rahmen neuer Tochtergesellschaften Angebot und Werbung gezielt an „gute Risiken“, d.h. insbesondere junge und gesunde Männer, richten, um auch im unteren Preissegment vertreten zu sein. Es wird also gezielt eine „Mehrkassenstrategie“ 78 geführt, die im Ergebnis eine Risikoselektion hervorruft. Trotz Kopfpauschalen zahlen dann schlechte Risiken faktisch wieder mehr für ihre Gesundheit als gute, was im Ergebnis risikoäquivalenten nahe kommt.79 Es besteht also der begründete Verdacht, dass in der Schweiz trotz des Risikostrukturausgleichs ein Großteil der Prämienunterschiede auf die unterschiedliche Risikostruktur der Versicherten zurückgeführt werden kann. Um derartige Effekte eines reinen Preiswettbewerbs zu vermeiden, bedarf es flankierend eines Handlungsspielraums der Versicherer auf der Leistungsseite, damit Preisunterschiede durch Angebotsunterschiede und nicht nur durch die unterschiedliche Mitgliederstruktur gerechtfertigt werden können.
77 Köster, in: Schulze Ehring/Köster, Gesundheitssysteme im Vergleich, Teil B: Schweiz, S. 77 (133). 78 Köster, in: Schulze Ehring/Köster, Gesundheitssysteme im Vergleich, Teil B: Schweiz, S. 77 (135). 79 Beck, Gesundheit und Gesellschaft 2006, S. 30 ff., dazu Köster, in: Schulze Ehring/Köster, Gesundheitssysteme im Vergleich, Teil B: Schweiz, S. 77 (135).
Kapitel 5
Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten des Verhältnisses von GKV und PKV A. Eckpunkte der bisherigen Untersuchungen und weiteres Prüfungsprogramm Die Analyse des Status quo der beiden Krankenversicherungssysteme zueinander hat gezeigt, dass die Interpretation als „Systemwettbewerb“ wenig zutreffend erscheint. Ein Wahlrecht zwischen den alternativen Vollversicherungssystemen steht nur wenigen Versicherten zu und ist aufgrund der erforderlichen Vorversicherungszeiten in der GKV faktisch zeitlich begrenzt. Auch Erkenntnisse über das effizientere und insgesamt „bessere“ System können aufgrund der grundsätzlich unterschiedlichen Aufgaben und Ziele der Systeme aus ihrem Nebeneinander nur schwer gewonnen werden.1 Aber eine klare Grenzziehung zwischen GKV und PKV anhand divergierender Funktionen ist heute ebenso nicht mehr möglich. Durch die zunehmende „sozialstaatliche Indientsnahme“ 2 der PKV und die Einführung privatversicherungsrechtlicher Elemente in der GKV „verschwimmt“ die Grenze.3 „Schutzbedürftigkeit“ ist als Abgrenzungskriterium jedenfalls wenig aussagekräftig, wenn ca. 85% der Bevölkerung GKV-versichert sind und auch die PKV einen Basistarif mit speziellen Regelungen im Falle der „Hilfsbedürftigkeit“ anbieten muss4. Somit finden wir heute ein zweigliedriges Krankenversicherungssystem in Deutschland vor, welches keiner systematischen Aufteilung der Aufgaben folgt, sondern das in erster Linie aus der historischen Entwicklung begründbar ist5. Es gibt zahlreiche unterschiedliche Bestrebungen, dieses System und seine beiden Teilsysteme zu reformieren. Ansatzpunkt muss dabei die bessere Abstimmung der beiden Säulen aufeinander sein. Hier stehen verschiedene Wege offen.
1 Becker/Schweitzer, DJT-Gutachten 2012, S. 145; Mühlenbruch, in: Steuerungsinstrumente, Bd. 1, S. 37 (50); s. ausführlich Kapitel 2, B. IV. 2. 2 BVerfG, Urt. v. 10.6.2009 – 1 BvR 706/08 u. a., Rn. 187, NJW 2009, 2033 (2041). 3 Näher dazu Kapitel 1, B. III. 4 Vgl. § 12 Abs. 1c S. 4 VAG. 5 Siehe zur Entwicklung des zweigliedrigen Krankenversicherungssystems Kapitel 1, A.
A. Eckpunkte der bisherigen Untersuchungen
169
Eine denkbare Form der Zuordnung der Systeme zueinander ist die Ermöglichung eines Wettbewerbs unter den verschiedenen Versicherern der Systeme. Auch wenn der Begriff des „Systemwettbewerbs“ hier nicht als zutreffende Beschreibung für das aktuelle Verhältnis von GKV und PKV angesehen wird, erscheint die Etablierung eines Wettbewerbs nicht ausgeschlossen. Der Begriff „Systemwettbewerb“ wird jedoch – wie gezeigt – in unzutreffender Weise verwendet, wenn seine positiven Effekte gegen die Schaffung eines monistischen Systems vorgebracht werden. Hier sind u. a. folgende Argumente zu hören: Die Privatversicherung sei der „Pfahl im Fleische“ der GKV.6 Die Versicherungssysteme könnten vom jeweils anderen lernen und „die ständig präsente ,Gefahr‘, dass freiwillig Versicherte der GKV diese verlassen und zur PKV wechseln, [bewirke], dass es im Bereich der GKV zu Innovationen komme“.7 Wie jedoch zwei Versicherungsarten, die völlig unterschiedliche Ziele verfolgen, unterschiedliche Versichertengruppen versichern und überdies unterschiedlich engen gesetzlichen Vorgaben unterliegen, voneinander lernen sollen, bleibt fraglich. Lernen kann man nur von dem, der einen besseren Weg für die Bewältigung der gleichen Aufgabe gefunden hat. Außerdem muss der gesetzliche Rahmen eine Nachahmung des Angebots des Konkurrenten zulassen. Außerdem besteht keine Gefahr, dass ein Versicherter in das andere System wechselt, wenn ihm das Wahlrecht überhaupt nicht eröffnet ist, wie es für den Großteil der Bevölkerung zutrifft. Wettbewerb zwischen GKV und PKV verlangt daher eine Vereinheitlichung der Funktionen und des Rechtsrahmens, sowie eine Erweiterung der Wahlmöglichkeiten der Versicherten. Aus diesem Grund erscheint „Systemwettbewerb“ als Argument gegen ein monistisches Versicherungssystem zwar klangvoll, aber – auf den zweiten Blick – wenig überzeugend. Für die Beibehaltung des Nebeneinanders von GKV und PKV sprechen ganz andere Gründe: Isensee hebt hervor, dass die Existenz der Privatversicherung die Zwangsstrukturen der GKV unter verfassungsrechtlichen Rechtfertigungszwang stelle, da die Minderheit der Privatkrankenversicherten den lebendigen Beweis für eine funktionsfähige Alternative erbringe.8 Außerdem habe die Privatversicherung auch als „Reservat des Marktes“ Bedeutung, das dafür Sorge trage, dass man einen Indikator für echte Preise behalte.9 Weiterhin wird vielfach der überproportionale Finanzierungsbeitrag der Privatversicherten am Gesundheitswesen vorgebracht. Diese zahlen bei der Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen rund das Doppelte von dem, was der Arzt von einer gesetzlichen Krankenkasse erhalten würde, was als Quersubventionierung der GKV gedeutet
6 7 8 9
Isensee, NZS 2004, 393 (401). Wasem/Walendzik, in: Wille/Knabner, Reformkonzepte, S. 43 (46). Isensee, NZS 2004, 393 (396). Isensee, NZS 2004, 393 (401).
170
Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
wird.10 Schließlich ist die PKV Ausdruck privater Eigenvorsorge, die einer staatlichen Pflichtversicherung in der freiheitlichen Ordnung des Grundgesetzes vorausgehen sollte. All diese Aspekte machen die Bedeutung der PKV deutlich, sind aber unabhängig von einem Wettbewerb zwischen den Systemen. Sie folgen vielmehr schon aus der Koexistenz zweier Versicherungssysteme, „die unter ganz unterschiedlichen Gesichtspunkten Krankheitskosten abdecken“.11 „Systemwettbewerb“ erscheint vor dem Hintergrund dieser Überlegungen eher als ein wohlklingendes Plädoyer für – nicht gegen – die monistische Versicherung. Ein monistisches Krankenversicherungssystem bietet allen Akteuren denselben Rechtsrahmen und schafft so die Grundlage für wirksame Konkurrenz. Die Beibehaltung des dualen Systems verlangt dagegen eher eine klare Aufgabenteilung und eine Abstimmung aufeinander. Der Begriff „Systemwettbewerb“ erweist sich somit als Paradoxon. Je stärker nämlich die Rahmenbedingungen vereinheitlicht werden, desto mehr verschwimmen die Systemgrenzen. Auf der anderen Seite schließen divergierende Funktionen und rechtliche Vorgaben Wettbewerb aus. Systemwettbewerb ist daher nicht nur die falsche Beschreibung des status quo. Vielmehr krankt bereits die Idee. Dies zeigt auch ein Vergleich zu den Gesundheitssystemen anderer Länder. In den Niederlanden beispielsweise, wo sich das Krankenversicherungssystem zunächst an der deutschen Zweiteilung orientierte, führte eine stärkere Wettbewerbsausrichtung in eine monistische Einwohnerversicherung.12 Zur Schaffung eines in sich stimmigen Gesamtsystems der Krankenversicherung in Deutschland stehen auf Grundlage dieser Erkenntnisse m. E. zwei Wege offen13: – Entweder bedarf es einer klaren Abgrenzung der Funktionen von GKV und PKV. Den beiden Versicherungsarten müssen unterschiedliche Aufgaben zugewiesen und diese so funktional aufeinander abgestimmt werden. Dies schließt einen „Systemwettbewerb“ weitgehend aus. Die Möglichkeit, die Systeme in sich wettbewerblich auszugestalten, bleibt jedoch bestehen. – Die zweite Möglichkeit ist, die Voraussetzungen für Wettbewerb unter den gesetzlichen Krankenkassen und privaten Versicherungsunternehmen zu schaffen. Dies setzt eine Angleichung der Funktionen voraus. Da das Sozialstaatsprinzip jedenfalls eine Absicherung Bedürftiger gegen das Krankheitsrisiko verlangt14, zwingt diese Option zu sozialen Mindeststandards. Auf einem der10
Wasem/Walendzik, in: Wille/Knabner, Reformkonzepte, S. 43 (47). BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 4.2.2004 – 1 BvR 1103/03, Rn. 20, NZS 2005, 479 (480). 12 Vgl. näher Kapitel 4, A. I. 13 So auch Becker/Schweitzer, DJT-Gutachten 2012, S. B 146. 14 Dazu sogleich. 11
A. Eckpunkte der bisherigen Untersuchungen
171
art sozialrechtlich regulierten Markt können alle Versicherer unter gleichen Bedingungen miteinander konkurrieren. Je stärker die Rahmenbedingungen vereinheitlicht werden, umso fragwürdiger wird aber der Begriff „Systemwettbewerb“. Die Umgestaltung des zweigliedrigen Krankenversicherungssystems in beide der aufgezeigten Richtungen ist nicht nur mit schwerwiegenden gesundheits-, verteilungs- und wettbewerbspolitischen Überlegungen verbunden, sondern bringt auch rechtliche Schwierigkeiten mit sich.15 Grenzen können namentlich das nationale Verfassungsrecht, das europäische Recht und völkerrechtliche Abkommen stecken. Bei Überlegungen einer marktwirtschaftlichen Ausrichtung des Gesundheitswesens muss ferner die Frage in den Blick genommen werden, welche Anforderungen das Grundgesetz an die staatliche Aufgabe stellt, den Gesundheitsschutz sicherzustellen.16 Was muss der Staat mindestens gewährleisten? Die folgende Untersuchung soll daher in zwei Schritten erfolgen: – Zunächst wird der allgemeine Handungsrahmen des Gesetzgebers abgesteckt (B.). Es soll ausgelotet werden, welche Normen des Grundgesetzes, des Völker- und Europarechts bei der Frage der Ausgestaltung von Systemen der Krankheitsvorsorge eine Rolle spielen und welche Vorgaben diese enthalten. Einzelfragen der rechtlichen Zulässigkeit konkreter Umgestaltungsvorschläge, werden dabei ausgespart und später an entsprechender Stelle behandelt. Insbesondere sollen rechtliche Probleme des Übergangs vom jetzigen System in ein neues hier nicht untersucht werden. Vielmehr wird gleichsam von einer „krankenversicherungsrechtlichen Stunde Null“ 17 ausgegangen. Der Handlungsspielraum des Gesetzgebers wird dabei von zwei Perspektiven ausgelotet. Auf der einen Seite wird gefragt, ob der Gesundheitsschutz der Bevölkerung in Deutschland zu den Aufgaben des Staates zählt und wenn ja, in welcher Art und welchem Umfang. Auf der anderen Seite wird untersucht, welche legislatorischen Schranken das Grundgesetz und das Recht der europäischen Union bei der Ausgestaltung eines Gesundheitssystems setzen. – Anschließend soll im Einzelnen auf die oben bereits erarbeiteten zwei Optionen einer Umgestaltung des Verhältnisses von GKV und PKV eingegangen werden (C.). Die in der Politik diskutierten Vorschläge werden hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf das Verhältnis der Systeme in diese Optionen einsortiert. 15 Diese Schwierigkeiten zeigen auch Becker und Schweitzer auf, gehen jedoch nicht näher darauf ein. „Die damit verbundenen Fragen [wiesen] über den Gutachtenauftrag hinaus.“, DJT-Gutachten 2012, S. B 147. 16 Becker/Schweitzer, DJT-Gutachten 2012, S. B 147. 17 Kingreen, Referat DJT 2012, mündliche Äußerung nach eigener Mitschrift.
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
Auf der Grundlage der allgemeinen verfassungsrechtlichen Untersuchungen im Abschnitt B. soll hier auf konkrete rechtliche Probleme der Umgestaltungsvarianten eingegangen werden. Hier stellen sich insbesondere Fragen des Übergangs, bei dem der aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Vertrauensschutz und das Eigentumsgrundrecht der Versicherten gewahrt werden müssen. Ferner stellt das Europarecht, insbesondere das europäische Wettbewerbsrecht eine wichtige Determinante dar. Die europarechtlichen Folgen einer Umstrukturierung sind stets mitzubedenken.
B. Der Handlungsspielraum des Gesetzgebers in den Grenzen des Verfassungs-, Unionsund Völkerrechts I. Mindestanforderungen an die staatliche Verantwortung für die Krankheitsvorsorge „Soziale Rechte“, wie sie die Weimarer Reichsverfassung in ihrem Abschnitt V des Zweiten Hauptteils über das Wirtschaftsleben (Art. 151–165 WRV) vorsah, enthält das Grundgesetz nicht.18 Während dem Reich gem. Art. 161 WRV ausdrücklich die Schaffung eines umfassenden Versicherungswesens zur Erhaltung der Gesundheit unter maßgebender Mitwirkung der Versicherten aufgetragen wurde, äußert sich das Grundgesetz nicht in vergleichbarer Weise zu der Gesundheitssicherung der Bevölkerung. Das Grundgesetz erwähnt die „Sozialversicherung“, der die GKV als ältester Versicherungszweig angehört, jedoch ausdrücklich in drei Vorschriften: Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 enthält einen Kompetenztitel für die Sozialversicherung, die danach Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung i. S. d. Art. 72 Abs. 1 ist; Art. 87 Abs. 2 ordnet als Verwaltungskompetenznorm für die sozialen Versicherungsträger eine Organisation als Körperschaften des öffentlichen Rechts an; Art. 120 Abs. 1 S. 4 ist Teil der Finanzverfassung und bestimmt, dass der Bund bestimmte Ausgaben im Zusammenhang mit der Sozialversicherung trägt. Ob dadurch aber die jetzige Sicherungsform der Sozialversicherung institutionell garantiert ist oder ob der Gesetzgeber auch zu anderen Formen der Risikovorsorge greifen kann, wird zu untersuchen sein. Weitere Vorgaben für die Ausgestaltung der Krankheitsvorsorge können sich darüber hinaus aus dem Sozialstaatsprinzip, dem Rechtsstaatsprinzip sowie den Grundrechten als objektive Wertordnung ergeben. 18 Ausnahmen bilden der Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG), der Anspruch der Mütter auf Schutz und Fürsorge (Art. 6 Abs. 4 GG) und die Gleichstellung nichtehelicher Kinder (Art. 6 Abs. 5 GG); vgl. Waltermann, Sozialrecht, S. 10; zu der Ausgestaltung des Sozialstaats in der WRV vgl. ausführlich Völtzer, Sozialstaatsgedanke in der WRV, insbesondere S. 283 ff.
B. Der Handlungsspielraum des Gesetzgebers
173
1. Sozialstaatsprinzip Gem. Art. 20 Abs. 1 GG ist die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Nach Art. 28 Abs. 1 GG muss auch die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates entsprechen. Das in diesen Verfassungsnormen verankerte Sozialstaatsprinzip gibt dem Gesetzgeber auf, „ein Mindestmaß sozialer Sicherheit“ zu gewährleisten, indem er für einen „Schutz der sozialen Existenz gegen die Wechselfälle des Lebens“ Sorge trägt.19 Zu diesen Wechselfällen gehört insbesondere auch die Krankheit. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts20 ist „der Schutz der Bevölkerung vor dem Risiko der Erkrankung [. . .] in der sozialstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes eine Kernaufgabe des Staates“.21 Schärfere Konturen der Aufgabe lassen sich dem unbestimmten Wortlaut des Grundgesetzes, in dem das Sozialstaatsprinzip nur in dem Adjektiv „sozial“ anklingt, jedoch nicht entnehmen. Es stellt sich damit die Frage nach der Konkretisierung dieser „Kernaufgabe“ in zweifacher Hinsicht: Einmal ist fraglich, welches Schutzniveau das Sozialstaatsprinzip verlangt. Zum Zweiten ist zu klären, ob die Auslegung des Sozialstaatsprinzips eine bestimmte Form der Absicherung vorgibt. a) Das erforderliche Schutzniveau Das Untermaß, d.h. der Mindeststandard sozialer Sicherung kann jedenfalls bei der Sicherung des Existenzminimums angesetzt werden. Dem Bürger steht aus Art. 20 Abs. 1 i.V. m. Art. 1 Abs. 1 GG ein subjektives Recht gegen den Staat auf Gewährung solcher Leistungen zu, die zur Sicherung des Existenzminimums erforderlich sind.22 Ein Teil des Schrifttums verlangt darüber hinaus unter Berufung auf das Sozialstaatsprinzip, dass der Staat auch ein Minimum an Eigenvorsorge ermöglichen muss, welche den individuellen Lebensstandard sichert.23 Auch das BVerfG fordert in einer Entscheidung aus dem Jahr 1977 für „mit dem Arbeitsleben der Industriegesellschaft zwangsläufig verbundene Risiken“ ein „umfassendes“ System der sozialen Sicherung und damit einen Schutz, der über 19 BVerfG, Beschl. v. 27.5.1970 – 1 BvL 22/63 und 27/64, Rn. 64 ff., BVerfGE 28, 324 (348 ff.); Huster/Rux, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 20, Rn. 211. 20 BVerfG, Beschl. v. 31.10.1984 – 1 BvR 35/82 u. a., Rn. 43, BVerfGE 68, 193 (209); Beschl. v. 10.6.2009 – 1 BvR 825/08 und 831/08, Rn. 44, BVerfGE 124, 25 (37). 21 BVerfG, Beschl. v. 10.6.2009 – 1 BvR 825/08 und 831/08, Rn. 44, BVerfGE 124, 25 (37) [Hervorhebung der Verfasserin]. 22 BVerfG, Urt. v. 21.6.1977 – 1 BvL 14/76, Rn. 145, BVerfGE 45, 187 (228 f.); Beschl. v. 29.5.1990 – 1 BvL 4/86 u. a., Rn. 99, BVerfGE 82, 60 (85); Beschl. v. 10.11.1998 – 2 BvL 42/93, Rn. 50 f., BVerfGE 99, 246 (259); (3. Kammer des Ersten Senats) Beschl. v. 12.5.2005 – 1 BvR 569/05, Rn. 28, NVwZ 2005, 927 (928). 23 Vgl. Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 202 m.w. N.
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
die Fürsorge der Sozialhilfe hinausgeht.24 Damit ist aber noch kein verbindliches Leistungsniveau beschrieben. Vielmehr handelt es sich bei dem Ausdruck „umfassend“ um einen relativierenden Begriff, der die Situationsabhängigkeit des Leistungskatalogs zum Ausdruck bringt.25 Dieser steht in Abhängigkeit zu den sozialen Bedürfnissen und den vorhanden finanziellen Ressourcen und damit stets unter dem Vorbehalt des Möglichen. Ein festes, genau definiertes Schutzniveau lässt sich dem Sozialstaatsprinzip mithin nicht entnehmen. Wenn das Bundesverfassungsgericht von der Krankheitsvorsorge als „Kernaufgabe“ spricht und ein „umfassendes System“ fordert, so ist aber jedenfalls davon auszugehen, dass es mehr verlangt als die „Armenfürsorge“ der Sozialhilfe. Es gewährleistet auch eine „gehobene soziale Sicherung“ 26, d.h. eine Absicherung, die nicht erst als ultima ratio greift, sondern die einen Schutz gegen die finanziellen Risiken von Krankheit auch dann bietet, wenn noch nicht die letzten finanziellen Reserven bis an die Grenze des Existenzminimums aufgezehrt sind. b) Organisatorische Vorgaben an die Ausgestaltung der Krankheitsvorsorge Über die Mittel zur Verwirklichung dieses sozialstaatlichen Auftrags sagt Art. 20 Abs. 1 GG ebenso wenig aus wie über das konkrete Schutzniveau. Das Sozialstaatsprinzip gibt „dem Staat eine Aufgabe, sagt aber nichts darüber, wie diese Aufgabe im Einzelnen zu verwirklichen ist“.27 Konkretisierung und Ausgestaltung sind also dem Gesetzgeber überantwortet. Er ist zu „sozialer Aktivität“ 28, aber grundsätzlich nicht zur Verwendung bestimmter Mittel und Organisationsformen verpflichtet. Einige Stimmen in der Literatur gehen dagegen davon aus, das Sozialstaatsprinzip enthalte eine institutionelle Garantie der Sozialversicherung. Hierfür werden unterschiedliche Begründungen angeführt: Besonders in der Anfangszeit des Grundgesetzes wurde davon ausgegangen, der Verfassungsgeber habe die vorkonstitutionellen sozialen Sicherungssysteme bei Schaffung des Sozialstaatsprinzip garantieren wollen.29 Andere entnehmen der Sozialstaatsbestimmung ein generelles „soziales Rückschrittverbot“. Danach müsse der einmal erreichte soziale Status der Betroffenen insgesamt im Wesentlichen gewahrt bleiben.30 Bei histo24
BVerfG, Beschl. v. 22.6.1977 – 1 BvL 2/74, Rn. 43, BVerfGE 45, 376 (387). Schlenker, Soziales Rückschrittsverbot und Grundgesetz, S. 106. 26 Hase, Versicherungsprinzip, S. 59. 27 BVerfG, Beschl. v. 13.1.1982 – 1 BvR 848/77 u. a., Rn. 67, BVerfGE 59, 231 (263); vgl. auch BVerfG, Urt. v. 18.7.1967 – 2 BvF 3/62 u. a., Rn. 74, BVerfGE 22, 180 (204). 28 BVerfG, Beschl. v. 19.12.1951 – 1 BvR 220/51, Rn. 34, BVerfGE 1, 97 (105). 29 Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, S. 27 m.w. N. 30 Grabbe, Verfassungsrechtliche Grenzen der Privatisierung, S. 66; Häberle entnimmt dieses der Numerus-clausus-Entscheidung des BVerfG, DÖV 1972, 729 (730). 25
B. Der Handlungsspielraum des Gesetzgebers
175
risch gewachsenen Institutionen wie der GKV als Teil der Sozialversicherung könne daraus eine Einrichtungsgarantie erwachsen, die jedenfalls die Grundstrukturen verbindlich festschreibe.31 Schließlich wird die Einrichtungsgarantie aus einem Zusammenspiel des Sozialstaatsprinzips mit dem Kompetenztitel des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG abgeleitet. Das Auslegungsergebnis des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG sei in die Sozialstaatsbestimmung „hineinzulesen“.32 Eine derartige Auslegung des Sozialstaatsprinzips lässt eine Umstrukturierung der bestehenden GKV nicht uneingeschränkt zu. Insbesondere ist ein Abbau des Leistungsumfangs der GKV nach dieser Auffassung ausgeschlossen. Sie geht jedoch zu weit: Allen drei Begründungsansätzen fehlen die dogmatische Grundlage und die Verankerung im Verfassungswortlaut.33 Eine institutionelle Garantie der GKV in ihrer heutigen Gestalt kann dem abstrakten, unbestimmten Sozialstaatsprinzip nicht entnommen werden. Gegen eine Garantie der vorkonstitutionellen sozialen Sicherungssysteme spricht insbesondere die Entscheidung der Verfassungsgeber gegen die Aufnahme sozialer Rechte in das Grundgesetz und die Schaffung einer dem Art. 161 WRV entsprechenden Bestimmung. Ferner würden konkrete organisationsrechtliche Vorgaben das Sozialstaatsprinzip in einen Konflikt zum Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG setzen. Die freie politische Willensbildung würde durch derartige verfassungsrechtliche Verpflichtungen nämlich erheblich beschnitten.34 Schließlich widerstrebt die Annahme einer institutionellen Garantie der GKV auch dem Telos des Sozialstaatsprinzips. Dieses muss unbestimmt und offen hinsichtlich der Mittel sein, um sich den Bedürfnissen und wirtschaftlichen Verhältnissen der Zeit anpassen zu können. Gerade die Offenheit des Sozialstaatsprinzips gewährleistet, dass die auf seiner Grundlage gewährten Leistungen zu jeder Zeit sozial und gerecht sind. So wäre etwa ein Zustand mit dem Sozialstaatsprinzip unvereinbar, in dem aufgrund einer Bestandsgarantie der bereits bestehenden Einrichtungen, andere dringender gewordene Sozialaufgaben aus finanziellen Gründen nicht wahrgenommen werden könnten.35 Was sozialstaatlich gefordert ist, kann zu jeder Zeit nur vor dem Hintergrund der zur Verfügung stehenden Ressourcen beantwortet werden. Außerdem kann der unveränderte Fortbestand eines Sicherungssystems, das gemessen an den veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zur Absicherung nicht mehr tauglich ist, auch sozialen Rückschritt bewirken.36 Dies mag etwa bei 31
Grabbe, Verfassungsrechtliche Grenzen der Privatisierung, S. 66. Berne, Aufgaben der Arbeitslosenversicherung aus sozialverfassungsrechtlicher Sicht, S. 75. 33 Ebenso Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, S. 27. 34 Siehe auch BVerfG, Beschl. v. 13.1.1982 – 1 BvR 848/77 u. a., Rn. 67, BVerfGE 59, 231 (263); Igl/Welti, Sozialrecht, S. 23. 35 Kämmerer, Privatisierung, S. 178 f.; Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 201. 36 Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 201. 32
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
zunehmender Überalterung der Gesellschaft langfristig für ein umlagefinanziertes Krankenversicherungssystem wie die GKV gelten. Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass das BVerfG hervorhebt, die Sozialversicherung sei ein „besonders prägnanter Ausdruck des Sozialstaatsprinzips“. Es stellt nämlich weiterhin ausdrücklich fest, dass „eine Verfassungsgarantie des bestehenden Systems der Sozialversicherung oder doch seiner tragenden Organisationsprinzipien [. . .] dem Grundgesetz nicht zu entnehmen [sei]“.37 c) Offenheit der Ausgestaltung der Krankheitsvorsorge Das Sozialstaatsprinzip steht einem steuerfinanzierten staatlichen Gesundheitsdienst mithin ebenso wenig im Wege wie einem wettbewerblichen privaten Krankenversicherungsmarkt, der zur Sicherstellung sozialer Mindeststandards sozialrechtlich reguliert ist. Nur ganz aus der Aufgabe zurückziehen darf sich der Staat nicht.38 Gesundheitsschutz als „Kernaufgabe des Staates“ 39 drückt damit nur eine Gewährleistungs- aber keine Erfüllungsverantwortung des Staates aus.40 Er kann die Aufgabe selbst wahrnehmen oder sie der Privatwirtschaft überantworten, wenn sie dadurch nach seinem Ermessen ebenso gut oder besser erfüllt werden kann. 2. Menschenwürdegarantie Genaueres lässt sich auch nicht aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG herleiten, der dem Staat aufträgt, die Würde des Menschen zu „schützen“. Zwar ist der Staat aus dieser Norm in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verpflichtet41, wozu auch die Pflicht zur Sicherstellung des medizinischen Existenzminimums zählt42, eine exakte Bestimmung des Existenzminimums und der Tatbestände, die staatliches Eingreifen und „Schützen“ erforderlich machen, erscheint jedoch nicht möglich. Dies muss vielmehr im Wege einer politischen Entscheidung festgelegt werden, weil es eine
37 BVerfG, Beschl. v. 9.4.1975 – 2 BvR 879/73, Rn. 71, BVerfGE 39, 302 (314); daran anschließend: Beschl. v. 15.12.1987 – 2 BvL 11/86, Rn. 13, BVerfGE 77, 340 (344). 38 Egger, SGb 2003, 76 (76). 39 BVerfG, Beschl. v. 10.6.2009 – 1 BvR 825/08 u. 831/08, Rn. 44, BVerfGE 124, 25 (37). 40 Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 202 m.w. N. 41 BVerfG, Urt. v. 21.6.1977 – 1 BvL 14/76, Rn. 145, BVerfGE 45, 187 (228); Beschl. v. 29.5.1990 – 1 BvL 4/86 u. a., Rn. 99, BVerfGE 82, 60 (85); BVerfG, Beschl. v. 10.11.1998 – 2 BvL 42/93, Rn. 51, BVerfGE 99, 246 (259); (3. Kammer des Ersten Senats) Beschl. v. 12.5.2005 – 1 BvR 569/05, Rn. 28, NVwZ 2005, 927 (928). 42 Siehe ausführlich Neumann, NZS 2006, 393; Seewald, Verfassungsrecht auf Gesundheit, S. 73 ff.; ders., Gesundheit als Grundrecht, S. 15 ff.
B. Der Handlungsspielraum des Gesetzgebers
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einzig richtige Entscheidung nicht geben kann.43 Wenn Art. 1 Abs. 1 GG schon den Mindestumfang der geforderten staatlichen Leistungen zur Gewährleistung des medizinischen Existenzminimums nicht festlegen kann, so trifft er erst recht keine Systementscheidung darüber, mit welchen Mitteln der Staat seiner Aufgabe gerecht zu werden hat. Auch diese Aufgabe wird vielmehr dem Gesetzgeber überantwortet. 3. Staatliche Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG Eine Konkretisierung der Aufgabe des Gesundheitsschutzes könnte sich aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG in seiner Ausprägung als staatliche Schutzpflicht ergeben. Die Anerkennung objektiver Grundrechtsgehalte hat die Begründung staatlicher Schutzpflichten nach sich gezogen.44 So wird den Grundrechten inzwischen neben der subjektiv-rechtlichen Abwehrfunktion auch eine objektive Pflicht des Staates entnommen, die Grundrechtssubstanz Dritten gegenüber zu schützen.45 Die Erfüllung dieser objektiven Schutzpflichten ist wiederum als Gegenstand subjektiver Berechtigung anerkannt worden, so dass die Grundrechte eine leistungsrechtliche Dimension erhalten haben.46 So kann Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nicht nur ein Abwehrrecht gegen staatliche Gefährdungen von Körper und Leben, sondern auch das Recht entnommen werden, den Staat zur Abwehr und Beseitigung von Gefährdungen zu verpflichten.47 Für den Bereich der Gesundheit hat das BVerfG48 aus Art. 2 Abs. 1 i.V. m. dem Sozialstaatsprinzip und Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG einen Anspruch gegen die GKV auf die Kosten für neue bisher nicht anerkannte Behandlungsmethoden in Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung anerkannt. Das Gericht stellte dabei unter anderem fest, „die Gestaltung des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung [habe] sich an der objektiv-rechtlichen Pflicht des Staates zu orientieren, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG zu stellen“ 49. Verlangt wird also jedenfalls – wie schon nach Art. 1 Abs. 1 GG i.V. m. dem Sozialstaatsprinzip – die Bereitstellung solcher Leistungen, die zwingend erforderlich sind, um erhebliche Gesundheitsgefahren abzuwehren und ein menschenwürdiges Leben zu erhalten. Aus Art. 2 Abs. 2 43
Seewald, Gesundheit als Grundrecht, S. 16. Vgl. zur Begründung staatlicher Schutzpflichten Klein, NJW 1989, 1633; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 3 Rn. 19 ff. 45 Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 3 Rn. 19. 46 Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 3 Rn. 28; Pieroth/Schlink/Kingreen/ Poscher, Grundrechte, S. 28 ff. 47 Vgl. statt vieler Lang, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 2, Rn. 74 ff. 48 BVerfG, Beschl. v. 6.12.2005 – 1 BvR 347/98, BVerfGE 115, 25. 49 BVerfG, Beschl. v. 6.12.2005 – 1 BvR 347/98, Rn. 56, BVerfGE 115, 25 (44 f.) m.w. N. 44
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
S. 1 GG ergibt sich jedoch kein verfassungsrechtlicher Anspruch auf Bereitstellung eines bestimmten Leistungskatalogs.50 Bei der Erfüllung seiner Schutzpflicht kommt dem Gesetzgeber vielmehr ein weiter Gestaltungsspielraum zu.51 Er ist nur an das Untermaßverbot gebunden. Auch aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ergibt sich mithin keine handfeste Konkretisierung der staatlichen Aufgabe, den Gesundheitsschutz sicherzustellen. Die staatliche Schutzpflicht für Leben und körperliche Unversehrtheit ist nicht geeignet, eine organisationsrechtliche Entscheidung für ein bestimmtes System der Krankheitsvorsorge zu treffen. Sie steht allen nicht völlig ungeeigneten Formen der Gewährleistung des Schutzes vor Krankheit offen gegenüber. 4. Der Grundsatz der Systemgerechtigkeit Organisationsrechtliche Vorgaben für die Ausgestaltung der Krankheitsvorsorge könnten sich jedoch aus dem in Art. 3 Abs. 1 GG verankerten Grundsatz der Systemgerechtigkeit ergeben. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist Systemwidrigkeit die Verletzung der ,vom Gesetz selbst statuierten Sachgesetzlichkeit‘ und stellt einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz dar.52 Der Gleichheitssatz bindet den Gesetzgeber also in gewissem Umfang an seine einmal getroffene normative Grundkonzeption: Aus seinen Grundentscheidungen, Prinzipien und Leitideen zur Regelung eines bestimmten Lebensbereichs resultiert eine verfassungsrechtliche Grenze, die Brüchen mit dem System entgegensteht. Diesem Gebot der „Prinzipientreue“ 53 liegt der Gedanke zugrunde, Wertungswidersprüche innerhalb der Rechtsordnung zu vermeiden.54 Da „Systemgerechtigkeit“ aber kein eigenständiges ungeschriebenes Verfassungspostulat bildet, sondern aus dem allgemeinen Gleichheitssatz folgt, sind die Anforderungen, die an die Stringenz des Gesetzgebers gestellt werden, auch nicht höher anzusetzen als sonst im Rahmen des Art. 3 Abs.1 GG.55 Es besteht also kein allge50 BVerfG, Beschl. v. 6.12.2005 – 1 BvR 347/98, Rn. 56, BVerfGE 115, 25 (38); Beschl. v. 29.10.1987 – 2 BvR 624/83 u. a., Rn. 101, BVerfGE 77, 170 (215). 51 Lang, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 2, Rn. 77. 52 BVerfG, Beschl. v. 7.11.1972 – 1 BvR 338/68, Rn. 36, BVerfGE 34, 103 (115); Beschl. v. 16.12.1958 – 1 BvL 3/57 u. a., Rn. 33, BVerfGE 9, 20 (28); Urt. v. 24.1.1962 – 1 BvR 845/58, Rn. 24, BVerfGE 13, 331 (340); Urt. v. 27.1.1965 – 1 BvR 213/58 u. a., Rn. 42, BVerfGE 18, 315 (334); Beschl. v. 16.2.1965 – 1 BvL 20/64, Rn. 18, BVerfGE 18, 366 (372); Beschl. v. 24.5.1967 – 1 BvL 18/65, Rn. 24, BVerfGE 22, 28 (34); Urt. v. 24.7.1968 – 1 BvR 537/65, Rn. 64, BVerfGE 24, 75 (100); Beschl. v. 2.10.1968 – 1 BvF 3/65, Rn. 19, BVerfGE 24, 174 (181); Urt. v. 7.5.1969 – 2 BvL 15/ 67, Rn. 103, BVerfGE 25, 371 (401 f.); Beschl. v. 9.3.1971 – 2 BvR 326/69 u. a., Rn. 57, BVerfGE 30, 250 (270 f.). 53 Papier, in: v. Maydell/Ruland/Becker, SRH, § 3, Rn. 95. 54 Schnapp/Kaltenborn, Friedensgrenze, S. 38. 55 Papier, in: v. Maydell/Ruland/Becker, SRH, § 3, Rn. 94.
B. Der Handlungsspielraum des Gesetzgebers
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meines Konsequenzgebot und nicht jede Systemwidrigkeit bedeutet automatisch einen Verfassungsverstoß. Vielmehr ist lediglich gefordert, dass das System nicht ohne einen sachlichen Grund verlassen wird.56 „Das Gewicht der für die Abweichung sprechenden Gründe [muss] der Intensität der getroffenen Ausnahmeregelung [entsprechen].“ 57 Es kann also eher von einem „Verbot willkürlicher Inkonsequenz“ gesprochen werden.58 Abweichungen vom System sind zwar nicht per se verfassungswidrig, rufen aber einen Begründungs- und Rechtfertigungsdruck hervor. Das Gebot der Systemgerechtigkeit bindet den Gesetzgeber also ebenfalls nicht an die einmal getroffene Aufteilung in zwei Arten der Krankheitsvorsorge. Dafür sprich zunächst, dass es bereits höchst fraglich erscheint, ob GKV und PKV überhaupt noch auf klaren voneinander unterscheidbaren Systementscheidungen beruhen, an denen zukünftige legislatorische Maßnahmen gemessen werden können. Möglicherweise ist die Grenze bereits so verwischt, dass ein klares Konzept nicht mehr identifizierbar ist. Ist ein Teilsystem aber nicht eindeutig und ausschließlich von nur einem Ordnungsprinzip durchdrungen, so ergeben sich bereits Schwierigkeiten hinsichtlich des Vergleichsmaßstabs für die Feststellung einer Abweichung vom System. Abgesehen davon darf dem Topos der Systemgerechtigkeit kein zu großes Gewicht beigemessen werden. Aus ihm folgt nicht die Verfassungswidrigkeit all jener Entscheidungen, die von der ursprünglichen Konzeption einer Rechtsmaterie abweichen. Es ist lediglich am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG zu prüfen, ob sachliche Gründe hinter der Entscheidung des Gesetzgebers stehen. Der Gesetzgeber wird mithin nur einem Begründungszwang unterstellt und das Gebot der Systemgerechtigkeit „nähert sich damit der Kategorie des ,soft law‘“.59 Vor dem Hintergrund des Demokratieprinzips und des Bedürfnisses ständiger Fortentwicklung des Rechts, zur Anpassung an veränderte Lebensbedingungen ist diese Zurückhaltung bei den Anforderungen an die Prinzipientreue dringend angezeigt: Ein zu strikt gehandhabtes Gebot der Stringenz kann den Gesetzgeber in seiner Gestaltungsfreiheit hemmen und zur Verhinderung gemeinwohlfördernder Innovationen führen.60 Gerade das Gesundheitswesen ist aber ein Bereich, in dem ständige Innovationen im medizinischen Bereich sowie Veränderungen der Krankheits- und Bevölkerungsstruktur ständige Innovationen auf dem Gebiet des Rechts nach sich ziehen müssen. Über die Grenze 56 BVerfG, Urt. v. 27.1.1965 –1 BvR 213/58 u. a., Rn. 42, BVerfGE 18, 315 (334); Beschl. v. 9.3.1971 – 2 BvR 326/69 u. a., Rn. 57, BVerfGE 30, 250 (270 f.); Beschl. v. 5.3.1974 – 1 BvL 17/72, Rn. 37, BVerfGE 36, 383 (394); Urt. v. 24.1.1962 – 1 BvR 845/58, Rn. 24, BVerfGE 13, 331 (340); Beschl. v. 9.2.1982 – 2 BvL 6/78 u. 8/79, Rn. 81, BVerfGE 60, 16 (43); s. a. Peine, Systemgerechtigkeit, S. 24 ff.; Papier, in: v. Maydell/Ruland/Becker, SRH, § 3, Rn. 94. 57 BVerfG, Beschl. v. 16.2.1965 – 1 BvL 20/64, Rn. 18, BVerfGE 18, 366 (372 f.). 58 Schnapp/Kaltenborn, Friedensgrenze, S. 38. 59 Schnapp, ZMGR 2005, 6 (9). 60 So auch Schnapp, ZMGR 2005, 6 (9).
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
„willkürlicher Inkonsequenz“ hinaus dürfen dem Gesetzgeber hier keine zu engen Fesseln durch das Gebot der Systemgerechtigkeit angelegt werden. Schließlich muss klargestellt werden, dass das Gebot der Systemgerechtigkeit dort nicht verletzt sein kann, wo eine Systementscheidung gänzlich revidiert und ein neues System etabliert wird. Derartige gesetzgeberische Maßnahmen sind nicht inkonsequent und führen nicht zu Wertungswidersprüchen in der Rechtsordnung, sondern ordnen einen Lebensbereich ganz neu. 5. Anforderungen aus dem formellen Verfassungsrecht Aus dem Sozialstaatsprinzip, der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG und der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG lässt sich somit nur die sehr abstrakte Aussage entnehmen, dass es Aufgabe des Staates ist, ein Mindestmaß an Gesundheitsschutz bereitzustellen. Auch Art. 3 Abs. 1 GG legt den Gesetzgeber nicht strikt auf die einmal getroffene Systementscheidung fest. Es stellt sich also die Frage, ob andere Normen des Grundgesetzes, insbesondere die, in denen die Sozialversicherung ausdrücklich genannt wird, die Aufgabe hinsichtlich des „Wie“ konkretisieren können. „Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, Art. 87 Abs. 2 und Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG bilden ein in sich geschlossenes Regelungssystem für die Sozialversicherung und deren Finanzierung.“, so das BVerfG. Aus diesem geschlossenen Regelungssystem könnten sich mithin organisationsrechtliche Vorgaben für die Krankenversicherung ergeben. a) Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG Hier kommt zunächst die Gesetzgebungskompetenz für die Sozialversicherung gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG in Betracht. Egger61 geht davon aus, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG stünde einer von der Sozialversicherung abweichenden Ausgestaltung der sozialen Krankheitsvorsorge entgegen. Seine Begründung bleibt jedoch unklar. Er beruft sich auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der die „Sozialversicherung“ i. S. d. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG auch hinsichtlich der organisatorischen Durchführung der klassischen Sozialversicherung entsprechen müsse62 und schließt daraus auf die Verfassungswidrigkeit einer davon abweichenden Organisation des Gesundheitsschutzes. Zutreffend ist zwar, dass der Ausgestaltung einer sozialen Krankenversicherung unter Berufung auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG Grenzen gesetzt sind, der Autor lässt jedoch ungeklärt, warum eine Berufung auf einen anderen Kompetenztitel, etwa auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 oder Nr. 11 GG, nicht in Betracht kommt.
61
Egger, SGb 2003, 76 (76 f.). Vgl. BVerfG Urt. v. 8.4.1987 – 2 BvR 909/82 u. a., Rn. 95, BVerfGE 75, 108 (146). 62
B. Der Handlungsspielraum des Gesetzgebers
181
Andere Autoren, die der Auffassung Eggers folgen, begründen diese präziser, wenn sie in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG einen Gesetzgebungsauftrag hineinlesen. Neben dem vorrangigen formalen Zweck der Kompetenztitel, bestimmte Gesetzgebungsmaterien abweichend von der grundsätzlichen Länderzuständigkeit dem Bund zuzuweisen, erfüllten diese auch eine Auftragsfunktion. Sie enthielten eine „anweisende Komponente“ 63, seien „Verfassungsdirektiven“ 64 und könnten daher nicht schlicht ungenutzt bleiben.65 Speziell für die Sozialversicherungskompetenz gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG formuliert Maaß 66: „Die Gesetzgebungskompetenz verdichtet sich als implizite Staatszielbestimmung insoweit zu einer Staatsaufgabe. Dem Gesetzgeber ist es verwehrt, die Sozialversicherung als kompetenzrechtlich vorgesehenen Typus anzutasten; er hat nur die Möglichkeit, Regelungen des geltenden Sozialversicherungsrechts zu ändern und das Regelungssystem weiter zu entwickeln.“ Die Annahme einer materiellen Auftragsfunktion der Kompetenztitel und damit auch des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG begegnet jedoch erheblichen Zweifeln. Sie hält einer Auslegung der Kompetenznormen insbesondere unter Hinzuziehung der Entstehungsgeschichte nicht stand.67 Dem Wortlaut der Art. 70 ff. GG kann eine über die Abgrenzung der Handlungsbereiche von Bund und Ländern hinausgehende materielle Funktion nicht entnommen werden. Art. 72 Abs. 1 GG, der die konkurrierende Gesetzgebung umschreibt, spricht von der „Gesetzgebungszuständigkeit“ des Bundes. Ein „Auftrag“ zur Gesetzgebung kann dieser Formulierung unmittelbar nicht entnommen werden.68 Auch ergibt sich ein solcher nicht aus der Form des Katalogs einzelner Gesetzgebungsmaterien in Art. 74 Abs. 1 GG. Die Aufzählung macht nicht den Anschein, ein Gesetzgebungsprogramm vorzugeben, sondern ist vielmehr erforderlich, weil die Gesetzgebungszuständigkeit grundsätzlich den Ländern zukommt und die Materien, die dem Bund (vorrangig) zugewiesen sind, klar umrissen werden müssen. Systematisch sind die materiellen Vorgaben des Grundgesetzes (in Form der Grundrechte, grundlegenden Prinzipien und der Staatszielbestimmungen) darüber hinaus räumlich klar von den Gesetzgebungskompetenzen getrennt. Dieser Aufbau entspricht – in umgekehrter Reihenfolge – der Weimarer Reichsverfassung, in der die Zuständigkeitsbestimmungen zu Beginn in den Art. 6 ff. geregelt waren, während die Materie „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen“ den Zweiten Hauptteil der Verfassung bildete. Wie bereits erwähnt, enthielt der Zweite Hauptteil einen Gesetzgebungsauftrag zur Schaffung 63 64 65 66 67 68
Stettner, Kompetenzlehre, S. 330. Lerche, AöR 90 (1965), 341. Stettner, Kompetenzlehre, S. 330. Maaß, ZRP 2002, 462 (465). Vgl. ausführlich Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, insb. S. 92 ff. Siehe auch Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 97.
182
Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
eines umfassenden Versicherungswesens u. a. zur Erhaltung der Gesundheit (Art. 161 WRV), der klar von der Gesetzgebungskompetenz für die Versicherung der Arbeiter und Angestellten in Art. 7 Nr. 9 WRV getrennt war. Den Auftrag zur Schaffung einer Sozialversicherung nun in den Verfassungstext des Grundgesetzes hineinzulesen, der in der Tradition der WRV steht und ebenfalls den Kompetenztitel für die Sozialversicherung enthält, auf den korrespondierenden Gesetzgebungsauftrag im Rahmen der Grundrechte aber explizit verzichtet, begegnet tiefgreifenden Bedenken. Dieses Ergebnis wird durch die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes bestätigt. So führt der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee in seinem Abschlussbericht aus: „Der Katalog der Zuständigkeiten regelt nur die Abgrenzung der Gesetzgebungszuständigkeit zwischen Bund und Ländern. Er erhält weder ein politisches Programm, noch auch eine Aufforderung an den Bund, die genannten Gebiete durch Bundesgesetze zu regeln; er gibt dem Bunde nur die formale Möglichkeit, Gesetze zu erlassen, begründet aber keine Pflicht für ihn. Er begrenzt ferner nicht den stofflichen Gehalt der Bundesgesetze, außer im Verhältnis zur Landesgesetzgebung. Er gibt den Bundesgesetzen auch keine inhaltliche Tendenz. Vielmehr ist er sozusagen neutral. Aus diesem Grunde hat der Konvent versucht, schon aus der Wortprägung der Aufzählung alles fernzuhalten, was so gedeutet werden könnte, als solle damit eine politische Wertung getroffen werden. Wo allerdings die Tendenz ersichtlich unpolitisch ist, sind solche Formulierungen vom Konvent unbedenklich zugelassen worden, z. B. in den Worten ,Maßnahmen gegen Pflanzenkrankheiten‘. Eine einzige scheinbare Ausnahme, über die aber im Konvent völlige Einigkeit besteht, liegt in der Ziffer 25 des Art. 36 mit der Formulierung ,Verhütung des Mißbrauchs wirtschaftlicher Machtstellung‘ vor. Mit den vorstehenden Erwägungen soll nicht in Zweifel gesetzt werden, dass es auch stoffliche Grenzen der Gesetzgebung des Bundes gibt. Aber sie stehen nicht im Zuständigkeitskatalog. Sie können sich aus anderen Teilen des Grundgesetzes ergeben, z. B. aus den Grundrechten. Der Zuständigkeitskatalog ist keine Wertordnung: Er ist auch keine verschleierte Wirtschafts- und Sozialordnung. Auch hier wird durch die Aufzählung im Katalog zum Inhalt von Bundesgesetzen keine Stellung genommen. Die Aufnahme in den Katalog läßt den Inhalt der Bundesgesetze vollkommen offen und greift dem Gesetzgeber in keiner Weise vor. Umgekehrt werden sich aus den Formulierungen der Grundrechte im Grundgesetz keine Zuständigkeitsverteilungen zwischen Bund und Ländern ergeben können.“ 69
Auch der Parlamentarische Rat hielt an dieser grundsätzlichen Konzeption der Kompetenztitel als rein formelle Zuständigkeitsabgrenzungsnormen „ohne politische Wertung“ fest.70 Es ist schließlich auch nicht ersichtlich, warum das Grundgesetz dem Gesetzgeber über das materielle Verfassungsrecht hinaus in den Zu69 Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz der westlichen Besatzungszonen, Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1948, S. 29 f. 70 Zu der historischen Begründung für die Ablehnung materieller Gehalte der Kompetenztitel ausführlich Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 97 ff.
B. Der Handlungsspielraum des Gesetzgebers
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ständigkeitsvorschriften konkretere Gesetzgebungsvorgaben machen sollte. Ein solches Verständnis geht über den Zweck des Grundgesetzes als „rechtliche Grundordnung“ 71 oder „Rahmenordnung“ 72 hinaus und gefährdet die notwendige Flexibilität73 des Grundgesetzes, die es ihm – jenseits fester verfassungsrechtlicher Grundentscheidungen – möglich macht, auf veränderte Wertvorstellungen in der Gesellschaft zu reagieren. Darüber hinaus ist es auch ein Gebot des Demokratieprinzips, dass der Freiraum des Gesetzgebers durch das Grundgesetz nicht zu stark beschränkt wird. Aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG folgen somit ebenfalls keine organisatorischen Vorgaben für die Ausgestaltung des Gesundheitsschutzes der Bevölkerung. Der Gesetzgeber ist durch die Existenz des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nicht zur Errichtung bzw. Aufrechterhaltung der Sozialversicherung in ihrer traditionellen Gestalt berufen. Begrenzende Wirkung für die Gestaltungsfreiheit hat die Vorschrift nur insoweit als der Bund zur Regelung der Materie „Krankheitsvorsorge“ einer Gesetzgebungskompetenz bedarf. Da für die Krankheitsvorsorge selbst kein Kompetenztitel besteht, kommen hier in erster Linie Art. 74 Abs. 1 Nr. 7, Nr. 11 und Nr. 12 GG in Betracht, in deren Grenzen sich der Gesetzgeber – aus föderalistischen Gründen – nicht, weil das Grundgesetz eine bestimmte Organisation vorschreiben will – halten muss. b) Art. 87 Abs. 2 GG Nichts anderes folgt aus Art. 87 Abs. 2 GG: Auch diese Vorschrift weist die GKV nicht als zwingende Staatsaufgabe aus. Zwar ist der Wortlaut insoweit nicht eindeutig, die Vorschrift verfolgt aber andere Zwecke und auch aus der Systematik lässt sich die Annahme nicht herleiten, es sei Aufgabe des Staates eine Sozialversicherung bereitzustellen.74 Art. 87 Abs. 2 GG ist zunächst eine Organisationsvorschrift für landesübergreifende Sozialversicherungsträger: Ihr S. 1 schreibt grundsätzlich die Rechtsform der bundesunmittelbaren Körperschaft des öffentlichen Rechts vor. Abweichend davon eröffnet S. 2 den Ländern die Möglichkeit, die Sozialversicherungsträger als landesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechts zu führen, wenn deren Zuständigkeitsbereich sich nicht über drei Länder hinaus erstreckt. Über die Organisation von Sozialversicherungsträgern, die nur innerhalb eines Landes tätig sind, trifft die Vorschrift keine Aussage. Daneben hat Art. 87 Abs. 2 GG die Funktion einer Kompetenznorm: Indem er für landesübergreifende soziale Versicherungsträger grundsätzlich bundeseigene 71 72 73 74
Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 17. Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Einleitung, Rn. 197 f. Vgl. Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Einleitung, Rn. 198. Vgl. Ibler, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 87, Rn. 201.
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
Verwaltung in Form der mittelbaren Staatsverwaltung anordnet, grenzt er zugleich die Zuständigkeit von Bund und Ländern bei der Durchführung der Sozialversicherung voneinander ab.75 Dass die Norm darüber hinaus dem Staat die Errichtung von Sozialversicherungsträgern als Aufgabe auftragen würde, ist fernliegend. Bereits ihrem Wortlaut nach spricht die Vorschrift nur davon, wie soziale Versicherungsträger „geführt“ – nicht aber errichtet und eingerichtet – werden.76 Die obligatorische Organisationsform als bundesunmittelbare Körperschaft des öffentlichen Rechts nach Art. 87 Abs. 2 S. 1 GG gilt ferner ausschließlich für landesübergreifende soziale Versicherungsträger. Die Norm kommt daher nur zum Tragen, wenn sich der Bund zur Errichtung landesübergreifender Krankenkassen entschieden hat. Bestehen ausschließlich landesinterne Krankenkassen, bleibt sie unangewendet. Dies alles zeigt, dass die Organisationsentscheidung über die Schaffung von Sozialversicherungsträgern eine dem Art. 87 Abs. 2 GG vorgelagerte ist: Die Vorschrift kommt erst zur Anwendung, wenn landesübergreifende Sozialversicherungsträger bestehen. Erwächst aus Art. 87 Abs. 2 GG also schon keine Pflicht, landesübergreifende Sozialversicherungsträger zu errichten, ist nicht ersichtlich, warum hieraus eine Pflicht entstehen sollte, überhaupt Sozialversicherungsträger zu errichten. Dieser kann ebenso gut in die Hände privater Versicherungsunternehmen gelegt werden. Eine Einrichtungsgarantie könnte man dem Art. 87 Abs. 2 GG allenfalls unter Heranziehung eines systematischen Vergleichs zu Art. 87 Abs. 1 S. 2 und Abs. 3 GG entnehmen.77 Während Art. 87 Abs. 2 anordnet, wie landesübergreifende Sozialversicherungsträger geführt werden, sprechen Abs. 1 S. 2 und Abs. 3 davon, dass die dort genannten Behörden sowie Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts eingerichtet bzw. errichtet werden können. Auch dieser sprachliche Unterschied darf jedoch nicht zugunsten einer Einrichtungsgarantie für die Sozialversicherungsträger „überinterpretiert“ 78 werden. Er ist schlicht darin begründet, dass landesübergreifende Sozialversicherungsträger bei Schaffung des Grundgesetzes bereits existierten und der Verfassungsgeber folglich keinen Anlass sah, ihre Errichtung erst zu ermöglichen. Auch die Stellung des Art. 87 Abs. 2 GG im Rahmen der Verwaltungskompetenzvorschriften der Art. 83 ff. GG spricht gegen einen garantierenden Gehalt der Norm. Schließlich lässt sich auch mit der Entstehungsgeschichte die Annahme einer Staatsaufgabe, Sozialversicherungsträger zu errichten und zu unterhalten, nicht belegen.79
75
Ibler, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 87, Rn. 201. Vgl. Ibler, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 87, Rn. 161. 77 Hierzu und zur folgenden Argumentation Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 209. 78 Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 209. 79 Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 209. 76
B. Der Handlungsspielraum des Gesetzgebers
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Eine Einrichtungsgarantie für die GKV als Zweig der Sozialversicherung lässt sich mithin auch nicht aus Art. 87 Abs. 2 GG ableiten. c) Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG Die dritte Grundgesetzbestimmung, die ausdrücklich die Sozialversicherung betrifft, ist der zur Finanzverfassung gehörende Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG. Dieser enthält eine Spezialregelung der Lastenverteilung zwischen Bund und Ländern. In Abweichung von dem Grundsatz der gesonderten Lastentragung von Bund und Ländern gem. Art. 104a Abs. 1 GG, weist Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG die Finanzierungsverantwortung für die Zuschüsse zu den Lasten der Sozialversicherung allein dem Bund zu. Die Vorschrift soll sicherstellen, dass die Länder nicht mit Sozialversicherungszuschüssen belastet werden.80 Daher dürfen die Länder auch auf der Grundlage der Gesetzgebungskompetenz des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nicht mit der Finanzierungsverantwortung für die Sozialversicherung betraut werden.81 Als Teil der Finanzverfassung hat die Bestimmung grundsätzlich keine über die Lastenverteilung hinausgehende Garantiefunktion. Aus ihr kann etwa kein Anspruch der Sozialversicherungsträger gegen den Bund auf Unterstützung aus dem Bundeshaushalt abgeleitet werden, wie das Bundesverfassungsgericht zutreffend festgestellt hat.82 Aus Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG eine institutionelle Garantie der Sozialversicherung in der traditionellen Organisationsform abzuleiten, ist daher fernliegend. Das Bundessozialgericht hat dem Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG i.V. m. dem Sozialstaatsprinzip zwar entnommen, dass der Bund im Falle einer existenzbedrohenden Notlage eines Sozialversicherungsträgers für die Erfüllung seiner Aufgaben haftet, weil „nur dann gewährleistet ist, daß der Bevölkerung auch in Notfällen ein sozialer Krankenschutz funktionsfähig zur Verfügung steht“ 83. Dieser Entscheidung kann aber nur die Aussage entnommen werden, dass aus Art. 20 Abs. 1 GG eine Verpflichtung des Staates folgt, das Funktionieren des sozialen Krankenversicherungssystems sicherzustellen und diese Aufgabe wegen der Lastenverteilungsregelung des Art. 120 Abs.1 S. 4 GG dem Bund zukommt. Sie bedeutet aber nicht, dass Art. 120 Abs. 1 S. 4 i.V. m. Art. 20 Abs.1 GG auch organisatorisch das Bestehen der Sozialversicherung verlangt. Die Entscheidung über die Ausgestaltung des Gesundheitsschutzes findet vielmehr auf einer ersten vorgelagerten Stufe statt und wird nicht durch die genannten Bestimmungen beeinflusst. Aus Art. 20 Abs. 1 GG kann im Falle eines Systemwechsels wiederum 80
Rodenbach, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 120, Rn. 21. BVerfG, Beschl. v. 18.7.2005 – 2 BvF 2/01, Rn. 92 ff., BVerfGE 113, 167 (199 ff.). 82 BVerfG, Urt. v. 24.7.1962 – 2 BvL 15/61 u. a., Rn. 47 ff., BVerfGE 14, 221 (235); Beschl. v. 18.7.2005 – 2 BvF 2/01, Rn. 92 ff., BVerfGE 113, 167 (200). 83 BSG, Urt. v. 16.11.1978 – 3 RK 29/76, Rn. 31, BSGE 47, 148 (153). 81
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
die Verpflichtung erwachsen, das neue System in existenzbedrohenden Notlagen in seiner Funktionsfähigkeit zu erhalten, die Sozialstaatsbestimmung trifft aber wie gezeigt nicht die Systementscheidung selbst. Nichts anderes gilt für Art. 120 Abs.1 S. 4 GG, der nur im Falle des Bestehens einer Sozialversicherung zur Anwendung kommt. 6. Europa- und völkerrechtliche Vorgaben a) EU-rechtliche Vorgaben als Maßstab für die Ausgestaltung Auch das Unionsrecht lässt die Ausgestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten für ihre Systeme des Gesundheitsschutzes grundsätzlich unberührt (vgl. Art. 168 Abs. 5 und 7 AEUV), es nimmt jedoch zunehmend darauf Einfluss.84 Dabei kommen der EU im Bereich der Sozialpolitik in erster Linie Koordinierungskompetenzen zu, die sich von Harmonisierungskompetenzen unterscheiden. Das EU-Recht koordiniert die Sozialpolitiken der Mitgliedstaaten lediglich dahin gehend, dass sie die Realisierung der Arbeitnehmerfreizügigkeit und anderer Grundfreiheiten nicht behindern.85 So dienen etwa die Koordinierungsverordnungen (VO (EG) 883/2004 mit VO 987/2009, bis April 2010 VO (EWG) 1408/71) dazu, Notfallversorgungen für jede von einem Gesundheitssystem eines Mitgliedstaates erfasste Person sicherzustellen und die genehmigte Behandlung in einem anderen Mitgliedstaat zu ermöglichen.86 Überdies erließ der europäische Gesetzgeber im März 2011 die „Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung“, die bis zum 25. Oktober 2013 in mitgliedstaatliches Recht umzusetzen ist. Damit reagiert er auf die Rechtsprechung des EuGH 87, nach der unmittelbar aus den Grundfreiheiten ein Anspruch gegen den nationalen Leistungsträger auf Kostenerstattung für in einem anderen Mitgliedstaat in Anspruch genommene Gesundheitsleistungen bestehe. Die Richtlinie verfolgt gem. Art. 1 Abs. 1 S. 1 sowie Erwägungsgrund Nr. 10 das Ziel, Regeln zu schaffen, die den Zugang zu einer sicheren und hochwertigen grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung in der Union erleichtern, die Patientenmobilität gewährleisten und die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten bei der Gesundheitsversorgung fördern. Durch diese Bestimmungen soll der den Mitgliedstaaten überlassene Gesundheitsschutz nur so abgestimmt werden, dass der Grenzüberschreitung der Unionsbürger keine Hindernisse gesetzt sind. Harmonisierungswirkungen treten allenfalls als Effekt hiervon ein, wenn die hierdurch ermöglichte und beförderte grenzüberschreitende Inanspruch84
Vgl. Becker/Kingreen, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 1, Rn. 45. Vgl. Kingreen, Sozialstaatsprinzip, S. 295 ff.; Becker, ZfSH SGB 2007, 134 (135). 86 Becker/Kingreen, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 1, Rn. 28. 87 EuGH, Urt. v. 28.4.1998 – Rs. C-120/95, Slg. 1998, I-1831 – Decker; EuGH, Urt. v. 28.4. 1998 – Rs. C-158/96, Slg. 1998, I-1931 – Kohll. 85
B. Der Handlungsspielraum des Gesetzgebers
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nahme von Gesundheitsleistungen zu einer Annäherung der Leistungsstandards führt.88 Die Zusammenarbeit und Koordinierung der Mitgliedstaaten in den Bereichen Sozialpolitik und Gesundheit wird darüber hinaus auf europäischer Ebene gefördert etwa durch die „offene Koordinierungsmethode für Sozialschutz und soziale Eingliederung“ 89, die erneuerte Sozialagenda90 sowie das Weißbuch der Kommission vom 23. Oktober 2007 „Gemeinsam für die Gesundheit: Ein strategischer Ansatz der EU für 2008–2013“ 91. In dem Weißbuch, das keine Rechtskraft, sondern lediglich die Bedeutung eines Vorschlags hat, soll ein einheitlicher strategischer Rahmen präsentiert werden, der die Zusammenarbeit EU-weit in Bereichen, in denen die Mitgliedstaaten nicht allein tätig werden können, ermöglicht. Auch diese Maßnahmen der EU bewirken indirekt eine Annäherung und Verbesserung der Gesundheits- und Sozialstandards auf EU-Ebene, lassen aber das Recht der Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung ihrer Gesundheitssysteme grundsätzlich unberührt. Unmittelbare Vorgaben für das Schutzniveau und die Ausgestaltung der mitgliedstaatlichen Gesundheitssysteme könnten dagegen die die Gesundheit und soziale Sicherungssysteme betreffenden Artikel der Charta der Grundrechte der Europäischen Union92 und des AEUV haben. Nach dem im VI. Titel über die „Solidarität“ enthaltenen Art. 34 Abs. 1 GRCh „anerkennt und achtet“ die EU Rechte auf Zugang zu Leistungen der sozialen Sicherheit und zu den sozialen Diensten. Ferner bestimmt Art. 35 S. 1 GRCh: „Jede Person hat das Recht auf Zugang zur Gesundheitsvorsorge und auf ärztliche Versorgung nach Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten.“ Art. 35 S. 1 GRCh ist als soziales Jedermann-Grundrecht ausgestaltet, betrifft aber nur den Zugang zu präventiven und kurativen Gesundheitsleistungen, nicht zu sozialen Sicherungssystemen und ist daher hier von untergeordneter Bedeutung. Art. 34 Abs. 1 GRCh beinhaltet dagegen den Zugang zu einem Sicherungssystem gegen das Risiko der Krankheit und enthält damit eine versicherungsrechtliche Dimension.93 Er könnte also Bedeutung für die Konkretisierung der Aufgabe der Gesundheitssicherung auf nationaler Ebene entfalten. Auch diese Bestimmung lässt 88
Becker/Kingreen, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 1, Rn. 28. KOM [2008] 418 endg. 90 KOM [2008] 412 endg. 91 KOM [2007] 630 endg. 92 Die Charta der Grundrechte entfaltet seit dem 1.12.2009 Rechtskraft und ist Teil des EU-Primärrechts (Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 EUV). Über den Verweis in Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 EUV wird sie für alle Mitgliedstaaten für bindend erklärt. Ausgenommen davon sind Polen und das Vereinigte Königreich (vgl. Art. 1 Protokoll (Nr. 30) über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich v. 13.12.2007). 93 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 34 GRCh, Rn. 3 ff.; Ross, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 34 GRC, Rn. 3 ff. 89
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
jedoch das Kompetenzverhältnis zwischen Mitgliedstaaten und EU, d.h. zwischen der Ausgestaltungskompetenz der Mitgliedstaaten einerseits und der der EU eingeräumten Koordinierungskompetenz andererseits, unangetastet.94 Das bringt Art. 34 Abs. 1 GRCh explizit zum Ausdruck, indem er keine subjektiven Rechte einräumt, sondern auf in den Mitgliedstaaten bestehende Rechte abstellt, welche die EU „anerkennt und achtet“.95 Auch Art. 151 AEUV, der „eingedenk“ der sozialen Grundrechte nach der Europäischen Sozialcharta und der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer u. a. einen „angemessenen sozialen Schutz“ als Ziel der EU und der Mitgliedstaaten formuliert, macht den Mitgliedstaaten keine konkreten Vorgaben hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung ihrer Sozialpolitik und ihrer sozialen Sicherungssysteme und legt ihnen keine Handlungspflichten auf. Der Vorschrift kommt lediglich programmatische Funktion96 zu; sie verleiht keine subjektiven Rechte. Die zitierten Völkerrechtlichen Abkommen werden durch sie nicht in den AEUV inkorporiert, sondern dienen vielmehr lediglich als Richtschnur bei der Auslegung des Sekundärrechts und anderer Bestimmungen des Primärrechts.97 Durch diese sehr vage Zielbestimmung kann die Aufgabe des Gesundheitsschutzes also auch nicht hinsichtlich Schutzniveau, Versichertenkreis und Ausgestaltung konkretisiert werden. b) Völkerrechtliche Vorgaben Zu denken wäre weiterhin an völkerrechtliche Verpflichtungen der Bundesrepublik zur Bereitstellung eines bestimmten Gesundheitsschutzniveaus oder einer bestimmten Organisation sozialer Sicherheit. Insoweit kommen sowohl die Europäische Sozialcharta (EuSozCh) als auch der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UN-Sozialpakt) in Betracht. Die Europäische Sozialcharta ist ein vom Europarat initiiertes völkerrechtliches Abkommen, das im Jahr 1965 in Kraft getreten ist.98 Art. 12 EuSozCh verpflichtet die Vertragsstaaten, „ein System der Sozialen Sicherheit einzuführen oder beizubehalten“, dieses „auf einem befriedigenden Stand zu halten“ und sich zu „bemühen“, den Stand fortschreitend zu erhöhen. Zu einem Sicherungssystem in diesem Sinne, welches der wirksamen Ausübung des Rechtes auf Soziale Sicherheit 94
Ross, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 34 GRC, Rn. 2. Ausdruck der Koordinierungskompetenz der EU ist dagegen Art. 34 Abs. 2 GRCh, der nicht wie Abs. 1 als Grundsatz, sondern als echtes Grundrecht ausgestaltet ist; vgl. Ross, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 34 GRC, Rn. 2. 96 EuGH, Urt. v. 17.3.1993 – Rs. C-72/91, Slg. 1993, I-887, Tz. 23 ff. – Sloman Neptun; Urt. v. 29.9.1987 – Rs. C-126/86, Slg. 1987, S. 3697, Tz. 13 f. – Giménez Zaera; vgl. auch Rebhahn/Reiner, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 151 AEUV, Rn. 8. 97 Rebhahn/Reiner, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 151 AEUV, Rn. 8. 98 Vgl. zum Zustandekommen und zu den Grundsätzen der EuSozCh Isele, Europäische Sozialcharta. 95
B. Der Handlungsspielraum des Gesetzgebers
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dient, gehört auch ein System zur Absicherung gegen Krankheit99, der Begriff des „Systems der sozialen Sicherheit“ ist aber organisationsrechtlich neutral zu verstehen100. Die Vertragsstaaten werden nicht zur Schaffung eines bestimmten Modells der sozialen Sicherung verpflichtet, sondern sind in der Ausgestaltung des Auftrags frei. Hinsichtlich des Leistungsstandards verpflichtet Art. 12 Abs. 2 EuSozCh lediglich auf das Niveau nach der ILO Konvention Nr. 102 über Mindeststandards von 1952, das personell auf Arbeitnehmer begrenzt ist. Verbindliche Vorgaben zur Organisation der sozialen Sicherheit könnte dagegen Art. 9 UN-Sozialpakt vorsehen. Danach erkennen die Vertragsstaaten das Recht eines jeden auf Soziale Sicherheit an, die auch die „Sozialversicherung“ 101 einschließt.102 In der deutschen Rechtsterminologie ist unter „Sozialversicherung“ ausschließlich ein soziales Versicherungssystem im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zu verstehen, welches dem traditionellen Bild der Sozialversicherung entspricht. Insbesondere ist die Finanzierung über Beiträge für Sozialversicherung konstitutiv. Zweifelhaft ist jedoch, ob der Begriff der Sozialversicherung in diesem Zusammenhang ebenso auszulegen ist. Es bedarf hier einer vom nationalen Recht autonomen Auslegung der völkerrechtlichen Bestimmung. Gegen die Annahme, dass der Begriff „Sozialversicherung“ in diesem internationalen Kontext eine identische Bedeutung hat wie im deutschen Recht sprechen gewichtige Argumente. Zum einen ist der deutsche Terminus „Sozialversicherung“ nicht Teil des Originalwortlauts des Vertragstextes, sondern es handelt sich dabei lediglich um eine Übersetzung der offiziellen Vertragssprachen Englisch und Französisch, in denen die Begriffe „social insurance“ und „assurances sociales“ verwandt wurden.103 Der englische Begriff „social insurance“ bringt zwar ein versicherungsrechtliches Element zum Ausdruck (insurance = Versicherung/Absicherung), ist aber aus der britischen Rechtsgeschichte nicht in gleicher Weise geprägt wie der deutsche, weil die sozialen Sicherungssysteme hier gänzlich anderen Regeln folgen104. Gleiches gilt für den Begriff 99 Ein System der sozialen Sicherheit besteht dann, wenn es einige der neun traditionellen Zweige der sozialen Sicherheit umfasst. Zu den neun Zweigen gehören nach der ILO Konvention Nr. 102 über Mindeststandards auch „medizinische Versorgung“ und „Krankengeld“; vgl. Europarat, Die Europäische Sozialcharta. Ein Leitfaden, S. 164. 100 Erforderlich ist lediglich, dass angemessene Leistungen im Verhältnis zu den Lebenshaltungskosten und dem Einkommensniveau gewährt werden, ein wesentlicher Anteil der Bevölkerung vom System erfasst ist und es kollektiv finanziert ist; vgl. Europarat, Die Europäische Sozialcharta. Ein Leitfaden, S. 165. 101 In den offiziellen Vertragssprachen Französisch und Englisch „assurances sociales“ und „social insurance“, s. BGBl. II 1973, S. 1569 (1574). 102 Siehe auch Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 214. 103 BGBl. II. 1973, 1569 (1574); Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 214 und Fn. 108. 104 In Großbritannien wird der Gesundheitsschutz durch einen staatlichen Gesundheitsdienst (NHS) sichergestellt; im Gegensatz zum Bismarck-Modell funktioniert die soziale Sicherung hier nach dem Beveridge-Modell.
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
„assurances sociales“. Auch ist nicht gesichert, dass überhaupt alle Vertragsstaaten eine dem deutschen Recht entsprechende Unterscheidung zwischen Steuern und Beiträgen vornehmen.105 Es ist daher vielmehr davon auszugehen, dass mit „Sozialversicherung“ ganz allgemein zum Ausdruck gebracht werden soll, dass eine soziale Sicherung angestrebt wird, die über die Sicherung des Existenzminimums in Form der Sozialhilfe hinausgeht. Diese Annahme einer organisationsrechtlichen Neutralität wird auch durch einen Blick auf die Systematik des Vertragstextes bestätigt: Mit Art. 1 Abs. 1 UN-Sozialpakt wird den Vertragsbestimmungen die Aussage vorangestellt, dass alle Völker das Recht auf Selbstbestimmung haben, kraft dieses Rechts frei über ihren politischen Status entscheiden und in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung gestalten. Die Festlegung auf einen bestimmten Organisationstyp der sozialen Sicherung stünde diesem Grundsatz entgegen. Ferner verpflichtet Art. 2 Abs. 1 UN-Pakt die Vertragsstaaten nur unter Ausschöpfung aller ihrer Möglichkeiten Maßnahmen zu treffen, um die Verwirklichung der in diesem Pakt anerkannten Rechte zu erreichen. Mit dieser Bestimmung schwächt der Pakt seine Bindungswirkung selbst ab und relativiert die Verpflichtungen.106 7. Fazit Fest steht mithin, dass der Staat ein Mindestmaß an Gesundheitsschutz bereitstellen muss. Das Sozialstaatsprinzip, die Grundrechte der Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG sowie einzelne Bestimmungen des Europa- und Völkerrechts fordern den Gesetzgeber zu sozialer Aktivität im Bereich der Krankheitsvorsorge auf. Eine „bestimmte Sozialverfassung“ 107 sieht das Grundgesetz aber nicht vor: Eine Konkretisierung des Schutzniveaus einerseits sowie der organisatorischen Ausgestaltung andererseits lassen sich den Vorgaben des höherrangigen Rechts nicht entnehmen. Diese Aufgabe obliegt mithin allein dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber.
II. Grenzen staatlicher Regulierung der Krankheitsvorsorge Das heißt aber nicht, dass – auf der anderen Seite – der Weg in einen totalen Sozialstaat ohne jede Grenze offen steht. „Wie weit darf sich die Sorgfalt des Staats um das Wohl seiner Bürger erstrecken?“, fragte Wilhelm von Humboldt108 und formuliert damit treffend die Frage, die nun gestellt werden muss, um den Handlungsspielraum des Gesetzgebers für die Gesundheitsvorsorge „nach oben“ 105 Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 214 mit Verweis auf den angelsächsischen Rechtskreis. 106 Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 214. 107 Lenze/Zuleeg, NZS 2006, 456 (456). 108 So zitiert von Sodan, DÖV 2000, 361 (368).
B. Der Handlungsspielraum des Gesetzgebers
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abzustecken. Zu untersuchen ist, aus welchen Rechtsnormen und -prinzipien des Grundgesetzes und des Europarechts sich Schranken für die Ausgestaltung kollektiver Sicherungssysteme gegen Krankheit ergeben. Für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand bedarf es insbesondere der Klärung, unter welchen Voraussetzungen der Staat die Bürger zwangsweise in ein staatliches System der sozialen Sicherheit einbinden bzw. eine Pflicht zur privaten Versicherung vorsehen darf und wo er Freiräume für Eigenvorsorge und Wettbewerb lassen muss. 1. Grenzen aus der Kompetenzordnung: Die Theorie von der bipolaren Versicherungsverfassung Grenzen der Umgestaltung des dualen Krankenversicherungssystems können sich aus der Kompetenzordnung des Grundgesetzes ergeben. Nach der von Walter Leisner begründeten These von der „bipolaren Versicherungsverfassung“ ist die Dualität von Privat- und Sozialversicherung nicht nur eine historisch gewachsene Ordnung, sondern auch im Grundgesetz fest verankert.109 Das Grundgesetz gehe von einer „zweispurigen, bipolaren Versicherungsordnung“ aus, „die auf zwei selbständigen, in sich geschlossenen Trägern [ruhe]- der Sozial- und der Privatversicherung“ 110. Dies sei nicht erst aus den Grundrechten begründbar, sondern bereits aus dem formellen Verfassungsrecht, namentlich den Gesetzgebungskompetenzen. Die Kompetenznormen des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 und Nr. 12 GG stellten Privat- und Sozialversicherung als Pole gegenüber und forderten „eine Form der Gleichgewichtigkeit“ 111 zwischen beiden. Aus diesem Verständnis der Kompetenzen wird eine Institutsgarantie für die Privatversicherung abgeleitet: „Wenn die Privatversicherung oder wesentliche, traditionelle Sparten derselben [wozu auch die PKV gehöre]112 durch einfache Gesetzgebung in die Sozialversicherung überführt oder durch deren Expansion zerstört würden, so fände eine Verfassungsänderung durch einfache Gesetzgebung statt.“ 113 Die Annahme einer „bipolaren Versicherungsordnung“ gründet sich auf ein Kompetenzverständnis, dass den Kompetenzen eine „Auftragsfunktion“ 114 beimisst.115 Über den Zweck der Abgrenzung der Bundes- von den Landeszuständigkeiten soll jedenfalls dem Kompetenztitel des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG eine programmatische 109 Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 161 ff.; ebenso: Isensee, Sozialversicherung über Privatversicherer, in: FS Gitter, S. 401 (403). 110 Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 164. 111 Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 175; ebenso Scholz, in: FS Sieg, S. 507 (508). 112 Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 175. 113 Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 166. 114 Siehe zur kompetentiellen Legitimations- und Auftragsfunktion Stettner, Kompetenzlehre, S. 327 ff. 115 Siehe die Klassifizierung der materiellen Funktionen der Kompetenztitel bei Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 95 f.
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
Funktion zukommen, die es dem Gesetzgeber aufträgt, von der Zuständigkeit auch Gebrauch zu machen. Dieses materielle Verständnis der Kompetenztitel steht der Schaffung eines monistischen – insbesondere staatlich organisierten – Versicherungssystems entgegen, das sich lediglich auf einen der Kompetenztitel stützt oder unter Heranziehung beider Bestimmungen eine „Mischform“ bildet. Die These von der „bipolaren Versicherungsverfassung“ begegnet jedoch erheblichen Zweifeln. Den Kompetenztiteln des Art. 74 Abs. 1 GG kann eine derart weitgehende materielle Auftragsfunktion nicht beigemessen werden. Keiner der Auslegungscanones Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Systematik und Zweck stützt ein solches Verständnis.116 Vielmehr steht die Entstehungsgeschichte dem deutlich entgegen. Die Bipolarität der Krankenversicherung als gesetzliches und privates System ist also nicht bereits in der Kompetenzordnung angelegt, sondern ihr zwingender Charakter kann sich allenfalls aus den Grundrechten der Versicherten und der privaten Versicherungsunternehmen ergeben. Die Kompetenzordnung kann Grenzen für die Ausgestaltung der Krankenversicherung dagegen nur insoweit setzen als jede gesetzgeberische Umgestaltung der Systeme von GKV und PKV durch den Bund eines Kompetenztitels bedarf. Da ein Kompetenztitel „Krankheitsvorsorge“ nicht besteht, kommen vorwiegend Art. 74 Abs. 1 Nr. 7, Nr. 11 und Nr. 12 in Betracht. In deren Grenzen muss sich der Gesetzgeber halten. Dies gilt aber nicht, weil das Grundgesetz in den formellen Kompetenzvorschriften der Art. 70 ff. GG ein politisches Programm und eine Systementscheidung vorgeben will, sondern allein aus föderalistischen Gründen. 2. Subsidiaritätsprinzip und Primat der Eigenverantwortung in der Verfassung Möglicherweise enthält die Verfassung jedoch ein Subsidiaritätsprinzip, welches der staatlichen Verantwortung Grenzen setzt. Der Begriff „subsidiär“ wird im heutigen Sprachgebrauch synonym für „hilfsweise“ oder „ersatzweise“ verwandt.117 Entsprechend besagt das Subsidiaritätsprinzip, dass der Staat nur hilfsweise zuständig ist und setzt seiner Allzuständigkeit damit Schranken.118 Er darf eine Aufgabe nicht an sich ziehen und mit öffentlich-rechtlichen Mitteln organisieren, wenn der Einzelne mit seinen Mitteln selbst in der Lage ist, diese zu bewältigen. Das Prinzip enthält damit ein „Primat freier Individualität“ 119. Neben 116 Vgl. ausführlich zur Ablehnung eines materiellen Gehalts der Kompetenztitel als Auftrag schon oben Kapitel 5, B. I. 3. a). 117 Subsidiarität leitet sich ursprünglich vom lateinischen „subsidium“ – Hilfe, Hilfeleistung – ab und erlebte daher im Laufe der Zeit im Sprachgebrauch einen Bedeutungswandel; vgl. Wannagat, Sozialversicherungsrecht, Bd. 1, S. 177. 118 Isensee, in: Isensee/Kirchhof, HdbStR Bd. III (1988), § 57, Rn. 156 f., 165 ff. 119 Sodan, DÖV 2000, 361 (368).
B. Der Handlungsspielraum des Gesetzgebers
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der Verantwortungsverteilung zwischen Staat und Individuum nimmt das Subsidiaritätsprinzip noch weitere Zuständigkeitsverteilungen vor: Es weist eine Aufgabe stets der jeweils kleineren Einheit zu. Vermag der Einzelne ein Problem nicht selbst mit eigenen Mitteln zu lösen, so ist zunächst die untergeordnete kleinere vor der übergeordneten größeren Gemeinschaft verantwortlich. Übertragen auf den Schutz gegen das Risiko der Krankheit bedeutet das, dass diese Aufgabe zunächst in der Individualverantwortung liegt. Eine öffentlich-rechtlich organisierte Vorsorge muss demgegenüber sekundär sein und darf nur dann eintreten, wenn der Einzelne hierzu nicht in der Lage, d.h. wenn er schutzbedürftig ist. Damit steht das Prinzip der Subsidiarität einem „Versorgungsstaat“ 120, in dem die Bürger unabhängig von ihrer persönlichen Fähigkeit zur Eigenvorsorge durch den Staat gegen das Krankheitsrisiko abgesichert werden, entgegen. Die gedanklichen Wurzeln des Subsidiaritätsprinzips stammen sowohl aus der liberalen Staatslehre, die die Staatszuständigkeit zugunsten der individuellen und gesellschaftlichen Freiheit zu beschränken sucht als auch aus der katholischen Soziallehre, deren Grundgedanken die drei Sozialenzykliken121 enthalten. Bereits in der ersten päpstlichen Botschaft klingt das Subsidiaritätsprinzip an: Dem Staat wird aufgetragen, in die Angelegenheiten der Bürger „nur soweit es zur Hebung des Übels und zur Entfernung der Gefahr nötig ist [Hervorhebung der Verfasserin]“ einzugreifen. Klassisch und vielzitiert ist dagegen die Formulierung der zweiten, Quadragesimo Anno, des Papstes Pius XI. aus dem Jahr 1931: „[. . .] so muss doch allzeit unverrückbar jener oberste Grundsatz der Sozialphilosophie festgehalten werden, an dem nicht zu rütteln noch zu deuteln ist: Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen diese Rechtlichkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum Guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen.“ 122
Als solcher „sozialethischer Grundsatz“ 123 bzw. als „politische Klugheitsregel“ 124 kann das Subsidiaritätsprinzip jedoch nicht als Maßstab zur Bestimmung des gesetzgeberischen Handlungsspielraums dienen. Es kann der Sozialgesetzgebung in Fragen der Krankenversicherung nur dann Grenzen setzen, wenn es auch 120 Merten, in: Schulin, Sozialversicherungsrecht, Bd. 1, § 5, Rn. 61; Wannagat, Sozialversicherungsrecht, Bd. 1, S. 181. 121 Rerum Novarum (1891); Quadragesimo Anno (1931); Mater et Magistra (1961). 122 Enzyklika Quadragesimo Anno, Abschnitt II.5. „Die neue Gesellschaftsordnung“, Nr. 79. 123 Schnapp/Kaltenborn, Friedensgrenze, S. 32 und Fn. 5. 124 Oppermann, JuS 1996, 569 (570, 572).
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ein im Grundgesetz verankertes Rechtsprinzip darstellt. Darüber wurde erstmals in den 50er und 60er Jahren leidenschaftlich gestritten. Dass das Subsidiaritätsprinzip als ungeschriebenes Strukturprinzip Eingang in das Grundgesetz gefunden habe, begründete in einer umfassenden Untersuchung Josef Isensee125, der dieses Regulativ für das Verhältnis von Staat und Gesellschaft aus dem Rechtsstaatsprinzip und den Grundrechten herleitete.126 Das Rechtsstaatsprinzip enthalte eine „materiale Wertentscheidung für eine freiheitliche Ordnung“ und die Freiheit sei damit Grund und Grenze staatlicher Legitimation. Daraus folge, dass die öffentliche Gewalt die Freiheit der Grundrechtsträger zur bestmöglichen Entfaltung bringen solle, diese aber nicht verdrängen dürfe. Im sozialen Rechtsstaat sei es das Subsidiaritätsprinzip, welches das Spannungsverhältnis zwischen Freiheitsschutz und sozialer Intervention auflöse: Der Vorrang sei der freiwilligen Bewältigung sozialer Aufgaben durch die Bürger zu gewähren. Erst wo diese versage, trete der Staat lenkend ein. Die „institutionelle Verwirklichung des objektiven rechtsstaatlichen Prinzips“ bildeten die Grundrechte127.128 Diese Herleitung eines positivrechtlichen Rechtsprinzips fand jedoch zahlreiche und heftige Kritiker129, für die stellvertretend insbesondere Roman Herzog130 genannt sei. Sie bestritten nicht die wertvolle Funktion des Prinzips als vernünftigen131 Leitgedanken für die Sozialordnung jedoch seine Verankerung in der Verfassung. Zunächst wurde als Argument gegen ein verfassungsrechtliches Subsidiaritätsprinzip das historische Argument vorgebracht, der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee habe 1948 einen Antrag132 auf ausdrückliche Nennung des Prinzips im Grundgesetz abgelehnt und auch der Parlamentarische Rat habe sich daraufhin gegen die Aufnahme in das Grundgesetz entschieden.133 Als zwei125
Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht. Vgl. außerdem etwa Dürig, JZ 1953, 193 (198); Nipperdey, Soziale Marktwirtschaft in der Verfassung, S. 22. 127 Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 290. 128 Isensee nimmt auch Stellung zu der Frage, ob dem Subsidiaritätsprinzip neben den Grundrechten überhaupt eigenständige normative Bedeutung zukomme. Diese begründet er vor allem damit, dass es dazu diene „die Grundrechte objektiv-rechtlich dort zu verteidigen, wo ihre gesetzestechnische Fassung eine ,offene Flanke‘ zur Staatlichkeit hin [aufweise], wie es in der Grenzzone zwischen freiem Beruf (Art. 12 I GG) und öffentlichem Dienst (Art. 33 GG) der Fall [sei].“ Außerdem könne das Prinzip bei der Bestimmung des Wesensgehalts (Art. 19 II GG) im Wege der Güterabwägung als Maßstab dienen; vgl. Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 292. 129 Aus der Rspr.: BVerwG, Urt. v. 25.2.1966 – VII C 72.64, BVerwGE 23, 304 (306 f.); Urt. v. 22.2.1972 – I C 24.69, BVerwGE 39, 329 (338). 130 Herzog, Der Staat 2 (1963), S. 399. 131 Nach Herzog ist die „Vernünftigkeit [des Subsidiaritätsprinzips der katholischen Soziallehre] schwerlich zu bestreiten“, Der Staat 2 (1963), 399 (400). 132 Antrag der Teilnehmer Süsterhenn und Kanka, s. Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 143 mit Fn. 1. 133 Siehe nur Herzog, Der Staat 2 (1963), 399 (412). 126
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tes wesentliches Argument wurde ein unlösbarer Konflikt des Subsidiaritäts- mit dem Demokratieprinzip vorgebracht. Eine Verfassung könne entweder eine demokratische Staatsverfassung sein oder dem Subsidiaritätsprinzip folgen. Beides sei nicht möglich, da es zum Kern eines demokratischen Staates gehöre, dass dieser seine Aufgaben frei wähle und seine eigenen Grenzen bestimme.134 Ferner sei nach dem Grundgesetz ungeklärt, wer im Konfliktfall über die Zuständigkeit entscheide.135 Diese Diskussion entbrannte ein weiteres Mal zu Beginn der 90er Jahre, nachdem am 21.12.1992 der neue Art. 23 GG im Zusammenhang mit der Ratifikation des „Maastricht-Vertrags“ über die Europäische Union in das Grundgesetz aufgenommen wurde, nach dessen Abs. 1 die Europäische Union „demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist“. Aus dieser Nennung des Subsidiaritätsprinzip in einer Reihe mit fünf anderen Verfassungsgrundsätzen schließt Oppermann136, dass die Frage über die Eigenschaft des Subsidiaritätsprinzips als Rechtsprinzip der Verfassung, die zuvor noch offen gewesen sei, nun ausdrücklich durch den verfassungsändernden Gesetzgeber mitentschieden worden sei.137 Die Subsidiarität gelte nicht nur im Verhältnis der EU zu den Mitgliedstaaten, sondern die Aufzählung in Art. 23 Abs. 1 GG zeige ferner, dass „die Subsidiarität ein fundamentales Rechtsprinzip zum Ausdruck [bringe], welches für den inneren Staatsaufbau des Grundgesetzes konstitutiv [sei]“ [Hervorhebung der Verfasserin].138 Die Grundgesetzbestimmung könne nur so verstanden werden, dass „die Repräsentanten der deutschen Staatsgewalt aufgerufen werden sollten, gegenüber Brüssel ein Verfassungsgut zu wahren, welches zu Hause zum Kernbestand der Verfassungsstruktur [gehöre]“.139 Art. 23 Abs. 1 GG reihe sich dabei nahtlos in eine „Kette von verfassungsrechtlichen Subsidiaritätsentscheidungen“ ein (vgl. Artt. 1 Abs. 1 und 2 Abs. 1 GG, die immer stringentere Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, Artt. 6 und 9 GG, die grundsätzliche Vorrangeinräumung für Untergliederungen der Bürgergesellschaft, was etwa die Autonomie der Kirchen (Art. 140 GG), Universitäten (Art. 5 Abs. 3 GG) und Gemeinden (Art. 28 Abs. 2 GG) zeige sowie die Regelungen über das Bund-Länder-Verhältnis). Unabhängig davon, welche Bedeutung man Art. 23 Abs. 1 GG beimisst, sprechen gute Argumente für die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips in der Verfassung. So bringen insbesondere die Grundrechte – und hier vor allem die Artt. 1 Abs. 1 und 2 Abs. 1 GG – das Primat der Freiheit vor staatlichem Eingriff 134 135 136 137 138 139
Herzog, Der Staat 2 (1963), 399 (416). Herzog, Der Staat 2 (1963), 399 (415). Oppermann, JuS 1996, 569 ff. Oppermann, JuS 1996, 569 (571). Oppermann, JuS 1996, 569 (571). Oppermann, JuS 1996, 569 (572).
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zur Geltung. Staatliches Handeln, welches mit dieser Freiheit kollidiert, ist stets rechtfertigungsbedürftig. Die Grundrechte sind darüber hinaus nicht nur subjektive Abwehrrechte gegen den Staat, sondern auch Ausdruck einer objektiven Wertordnung des Grundgesetzes140, die das Subsidiaritätsprinzip bestärkt. Auch die Sozialstaatsbestimmung des Art. 20 Abs. 1 GG steht dem subsidiären Charakter staatlicher Sozialverantwortung nicht entgegen, sondern unterstreicht diesen durch seine Unbestimmtheit und Entwicklungsoffenheit.141 Die Abwesenheit konkreter sozialer Rechte und die Entscheidung für eine unbestimmte Staatszielbestimmung ermöglichen, dass der Staat flexibel auf den aktuellen Bedarf reagiert und nur dort und in dem Maße eingreift, wo und wie er zur Lösung eines sozialen Problems gebraucht wird. Die Argumente, die gegen ein positivrechtliches Subsidiaritätsprinzip vorgebracht werden, sind dagegen weniger stark. Die Entscheidung gegen die ausdrückliche Aufnahme des Subsidiaritätsprinzips in den Verfassungstext im Herrenchiemseer Verfassungskonvent, bedeutet nicht gleichzeitig auch eine Entscheidung gegen das Prinzip als solches. Vielmehr ist die Nichtnennung auch damit zu erklären, dass man die Schwierigkeit einer Formulierung nicht bewerkstelligen konnte und man die Bezeichnung „Subsidiaritätsprinzip“ aufgrund ihrer konfessionellen Prägung in der katholischen Soziallehre nicht verwenden wollte.142 Ferner ist klarzustellen, dass Vorgänge im Entstehungsprozess eines Gesetzes allenfalls als Indizien für den subjektiven Willen des Gesetzgebers dienen können, den einzig maßgeblichen objektivierten Sinngehalt dagegen nicht beeinflussen.143 Auch ein unauflösbarer Konflikt mit dem Demokratieprinzip kann nicht angenommen werden. Wenn Herzog davon ausgeht, dass man die Grundpfeiler demokratischer Staatsexistenz zerstöre, wenn man dem Staat die Souveränität nehme, über seine Aufgabenwahl zu entscheiden, so lässt er unbeachtet, dass es in einem föderalen Staat stets einer solchen bindenden Beschränkung der Souveränität in Gestalt einer Kompetenzverteilung bedarf.144 Für die Figur der Souveränität ist daher kein Raum,145 sonst stünden auch die Art. 70 ff. GG über die Verteilung der Gesetzgebungskompetenz zwischen Bund und Ländern dem Demokratieprinzip entgegen und das Grundgesetz enthielte einen Widerspruch in sich. Dagegen müssen ebenso wie zwischen Bund und Ländern und zwischen den Gewalten – Legislative, Exekutive und Judikative – auch zwischen Staat und Gesellschaft Aufgaben verteilt werden. Diese Funktion übernimmt in einem sehr allgemeinen, prinzipiellen Sinne das Subsi140 BVerfG Urt. v. 15.1.1958 – 1 BvR 400/51, Rn. 26, BVerfGE 7, 198 (205) – Lüth; BVerfG Urt. v. 25.2.1975 – 1 BvF 1/74 u. a., Rn. 152, BVerfGE 39, 1 (41) – Schwangerschaftsabbruch I; Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte, S. 29; Epping, Grundrechte, Rn. 15, 348. 141 Dazu bereits oben Kapitel 5, B. I. 1. 142 Vgl. Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 143 m.w. N. 143 Oppermann, JuS 1996, 569 (572). 144 Schnapp/Kaltenborn, Friedensgrenze, S. 32 ff. 145 Schnapp/Kaltenborn, Friedensgrenze, S. 32.
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diaritätsprinzip und steht damit noch nicht im Widerspruch zur demokratischen Ordnung. Es entzieht auch keine Aufgabe gänzlich der staatlichen Verantwortung, sondern begrenzt nur ihre „Aktualisierung“ 146, d.h. den Zeitpunkt der Wahrnehmung. Zur letztverbindlichen Entscheidung über die Kompetenz im Einzelfall ist nicht eine der beteiligten Einheiten, sondern die unabhängige Rechtsprechung berufen.147 Auch wenn man also – wie hier bevorzugt – von der Verankerung eines Leitsatzes der Subsidiarität in der Verfassung ausgeht, muss man sich jedoch seine begrenzte Wirkung für den konkreten Einzelfall, hier die Ausgestaltung der Krankheitsvorsorge zwischen öffentlicher und privater Verantwortung, vor Augen führen. Anders als etwa die verfassungsrechtliche Kompetenzordnung trifft das Subsidiaritätsprinzip keine eindeutigen Entscheidungen darüber, welche Einheit im konkreten Einzelfall zuständig ist. Das Subsidiaritätsprinzip ist nicht in der Weise zur Rechtsanwendung geeignet, dass ein konkreter Sachverhalt darunter subsumiert werden könnte.148 Es ist nur ein Rechtsprinzip. Rechtsprinzipien unterscheiden sich von vollziehbaren Rechtsnormen dadurch, dass sie lediglich dazu dienen das Ermessen der handelnden Staatsorgane zu lenken149. Sie werden konkretisiert durch Rechtsregeln, sind selbst aber nur „Postulate der Rechtsidee“ 150. Der konkreten Ausgestaltung des Gesundheitswesens werden durch das Subsidiaritätsprinzip also keine engen Grenzen gesetzt. Lediglich als Leitidee ist dem Subsidiaritätsprinzip zu entnehmen, dass private Vorsorge den Vorrang vor öffentlich-rechtlich organisierter genießt, denn die Freiheit des Einzelnen umfasst zwingend auch seine Verantwortung für die eigenen Belange. Ein Primat der Freiheit bedeutet damit auch ein Primat der Eigenverantwortung151. Wann und für welchen Personenkreis es einer subsidiären öffentlich-rechtlich organisierten Absicherung bedarf, das gibt das Prinzip dagegen nicht verbindlich vor. Dies ist abhängig von der Beantwortung der Fragen, wie viel Vorsorge erforderlich und wann jemand hierzu nicht mehr in der Lage und damit schutzbedürftig ist. Hier kommt dem Gesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum zu, den er abhängig von seinen gesellschaftspolitischen Vorstellungen unterschiedlich ausfüllen kann.152 Einen Wettbewerb zwischen verschiedenen Vorsorgeformen zu eta-
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Isensee, in: Isensee/Kirchhof, HdbStR Bd. III (1988), § 57, Rn. 166. Schnapp/Kaltenborn, Friedensgrenze, S. 34. 148 Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 313; Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 102; Schnapp/Kaltenborn, Friedensgrenze, S. 36; Horn, Die Verwaltung 26 (1993), 545 (568); allgemein zur Bedeutung „rechtsethischer Prinzipien“ s. Larenz, Methodenlehre (1960), S. 255 ff. 149 Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 313. 150 Larenz, Methodenlehre (1960), S. 256. 151 Zacher, in: FS Dürig, S. 67 (70); Hase, Versicherungsprinzip, S. 43 ff.; ders., SDSRV 51 (2003), 7 (17). 152 Wannagat, Sozialversicherungsrecht, Bd. 1, S. 178. 147
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
blieren und auszubauen ist insofern im Sinne des Subsidiaritätsprinzips, als dieser die Wahlfreiheiten und damit die Selbstbestimmung des Individuums stärkt. Bedeutung für die Bestimmung der Grenzen der Ausgestaltung kollektiver Sicherungssysteme gegen Krankheit erlangt das Prinzip der Subsidiarität aber durch seinen selektiven Charakter153: Es scheiden all solche gesetzgeberischen Maßnahmen als verfassungswidrig aus, die sich als gänzlich unvereinbar mit dem Prinzip erweisen.154 Das Prinzip ist also „äußere normative Grenze des Ermessens“ 155. Ein Prinzipverstoß ist ein Verfassungsverstoß.156 Das Subsidiaritätsprinzip kann spätestens dann als verletzt angesehen werden, wenn der Gesetzgeber keinerlei Raum mehr für eine Eigenvorsorge des Einzelnen lässt, er also zu einem umfassenden Versorgungsstaat übergeht. Die Errichtung einer alle Einwohner der Bundesrepublik umfassenden Sozialversicherung mit Versicherungszwang könnte also die Grenze eines Prinzipverstoßes erreichen. Ob dies der Fall ist, hängt jedoch von der Ausgestaltung des Systems im Einzelnen ab und davon, ob daneben noch die Möglichkeit zur Eigenvorsorge besteht. Maßgeblich sind hier Faktoren wie die Höhe der Beiträge sowie der Umfang der Leistungen und der von der Versicherung abgedeckten Risiken.157 3. Grundrechte Konkretere Schranken als das Subsidiaritätsprinzip können die Grundrechte dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung kollektiver Sicherungssysteme ziehen. Grundrechte sind vor anderen Funktionen zu aller erst Abwehrrechte gegen den Staat, die die Freiheit des Bürgers vor ungerechtfertigten staatlichen Eingriffen sichern. Sie können also das Recht des Gesetzgebers einschränken, den Bürger in ein Zwangssystem der sozialen Sicherung einzubinden oder ihn zu einer bestimmten Form der Eigenvorsorge zu verpflichten. Neben Grundrechten der versicherungspflichtigen Bürger können Grundrechte privater Versicherungsunternehmen sowie Grundrechte der Krankenkassen betroffen sein, sofern diese – was zu untersuchen sein wird – Träger von Grundrechten sind. a) Grundrechte Versicherungspflichtiger Sowohl eine sozialversicherungsrechtliche Zwangsversicherung als auch eine Pflicht zum Abschluss eines privaten Krankenversicherungsvertrags berühren die 153 Siehe dazu Esser, Grundsatz und Norm, S. 78; Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 314. 154 Esser, Grundsatz und Norm, S. 78. 155 Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 314. 156 Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 314. 157 Vgl. Wannagat, Sozialversicherungsrecht, Bd. 1, S. 174.
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Grundrechte der von der Pflicht Betroffenen. Es können Freiheits- sowie Gleichheitsrechte verletzt werden, sofern der Eingriff bzw. die (Un-)Gleichbehandlung nicht gerechtfertigt ist. aa) Versicherungspflicht und Freiheitsgrundrechte (1) Sozialversicherungspflicht Die Pflichtmitgliedschaft in der Sozialversicherung berührt den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG, der nach h. M. mit dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit auch die allgemeine Handlungsfreiheit verbürgt.158 In seiner Funktion als „Auffanggrundrecht“ kommt Art. 2 Abs. 1 GG aber nur zum Tragen, wenn der Schutzbereich anderer speziellerer Grundrechte nicht berührt wird. Ein Eingriff in die negative Vereinigungsfreiheit nach Art. 9 Abs. 1 GG scheidet aus, da dieses Grundrecht nicht vor öffentlich-rechtlichen Zwangszusammenschlüssen schützt.159 Private können sich nur zu privatrechtlichen, nicht zu öffentlich-rechtlichen Vereinigungen zusammenschließen. Art. 9 Abs. 1 GG kann daher sowohl in seiner positiven als auch in seiner negativen Ausprägung nicht darüber hinausgehen, da die negative Vereinigungsfreiheit das Spiegelbild zur positiven bildet. Auch begründet die Beitragspflicht in der Sozialversicherung nach h. M. keinen Eingriff in Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG, da staatliche Geldleistungspflichten zwar das Vermögen nicht aber Eigentumsrechte berühren und daher regelmäßig ausschließlich an Art. 2 Abs. 1 GG zu messen sind.160 In der Literatur161 wird teilweise angenommen, die Sozialversicherungspflicht stelle einen Eingriff in Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG dar, soweit sie – wie regelmäßig – an eine berufliche Tätigkeit anknüpfe. Das Bundesverfassungsgericht lehnt eine 158
BVerfG, Urt. v. 16.1.1957 – 1 BvR 253/56, Rn. 14, BVerfGE 6, 32 (36) – Elfes. BVerfG, Urt. v. 29.7.1959 – 1 BvR 394/58, Rn. 48, BVerfGE 10, 89 (102); Beschl. v. 25.2.1960 – 1 BvR 239/52, Rn. 35, BVerfGE 10, 354 (361 f.); Beschl. v. 18.12.1974 – 1 BvR 430/65 u. 259/66, Rn. 85 ff., BVerfGE 38, 281 (297 f.); Beschl. v. 11.1.1995 – 1 BvR 892/88, Rn. 48, BVerfGE 92, 53 (69); a. A. etwa Bauer, in: Dreier, GG, Art. 9, Rn. 47, m.w. N. 160 BVerfG, Urt. v. 20.7.1954 – 1 BvR 459/52 u. a., Rn. 34, BVerfGE 4, 7 (17); Beschl. v. 12.11.1958 – 2 BvL 4/56 u. a., Rn. 213, BVerfGE 8, 274 (330); Urt. v. 29.7.1959 – 1 BvR 394/58, Rn. 90, BVerfGE 10, 89 (116 f.); Beschl. v. 25.2.1960 – 1 BvR 239/52, Rn. 61, BVerfGE 10, 354 (371); Urt. v. 10.5.1960 – 1 BvR 190/58 u. a., Rn. 63, BVerfGE 11, 105 (126); Urt. v. 14.12.1965 – 1 BvR 571/60, Rn. 46, BVerfGE 19, 253 (267 f.); Urt. v. 8.4.1997 – 1 BvR 48/94, Rn. 134, BVerfGE 95, 267 (300); Beschl. v. 10.3.1998 – 1 BvR 178/97, Rn. 52, 79, BVerfGE 97, 332 (340 f., 349); Papier, ZSR 1990, 344 (346); Egger, SGb 2003, 76 (78); anders wird dies nur dann gesehen, „wenn die Geldleistungspflichten den Pflichtigen übermäßig belasten und seine Vermögensverhältnisse grundlegend beeinträchtigen würden“, s. etwa BVerfG Urt. v. 24.7.1962 – 2 BvL 15/61 u. 16/61, Rn. 79, BVerfGE 14, 221 (241); a. A. etwa Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 340 ff., m.w. N. 161 Siehe etwa Schnapp/Kaltenborn, Friedensgrenze, S. 42 ff. 159
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Beeinträchtigung des Art. 12 Abs. 1 GG jedoch mit dem Einwand ab, es bestehe weder ein enger Zusammenhang mit der Ausübung eines Berufs noch eine objektiv berufsregelnde Tendenz der Pflichtversicherung.162 Die Sozialversicherungspflicht knüpfe lediglich formal an die berufliche Tätigkeit an, solle aber nach der Intention des Gesetzgebers nicht etwa den Entschluss zur Wahl oder zur Art der Ausübung eines Berufs steuern.163 Auch fehle objektiv eine „berufspolitische Wirkung“ 164. Dem ist beizupflichten. Der maßgebliche Freiheitseingriff liegt in der Zwangsversicherung, die die Freiheit zur Wahl eigener Vorsorge beschneidet, nicht in der Beschränkung der Freiheit der Berufswahl und -ausübung.165 Mangels eines speziellen Freiheitsgrundrechts, kommt daher nur Art. 2 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Schutzrecht der Vorsorgefreiheit sowie der Vertragsfreiheit in Betracht. Doch auch wenn man die Sozialversicherungspflicht am Maßstab des Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG misst, ergeben sich hinsichtlich der Rechtfertigung des Eingriffs keine anderen Voraussetzungen als bei Art. 2 Abs. 1 GG, da es sich jedenfalls nicht um eine Berufszulassungsschranke, sondern lediglich um eine Berufsausübungsregel handelt, die ebenfalls durch eine verfassungskonforme gesetzliche Regelung, die vernünftige Allgemeinwohlbelange verfolgt, eingeschränkt werden kann.166 Die zwangsweise Versicherung in der GKV greift in das Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG in Gestalt der Vertragsfreiheit, der Einkommensverwendungsfreiheit sowie der Vorsorgefreiheit ein. Qualität und Schwere der Belastung verdeutlicht aber insbesondere der Eingriff in die Vorsorgefreiheit, die die „individuelle Entschließungsfreiheit“ des Einzelnen darüber betrifft, „ob und für welche der ihn betreffenden Gefahren er Vorsorge treffen, in welcher Weise er sich absichern will und welchen Umfang die Vorsorge jeweils erreichen soll“.167 Die Zwangsversicherung für das Krankheitsrisiko hebt diese Entscheidungsfreiheit auf, indem sie nicht nur irgendeine Vorsorge zwingend vorgibt, sondern auch deren Form als Versicherung168, also das „Wie“ der Vorsorge. Durch das die Sozialver-
162 Siehe z. B. BVerfG, Beschl. v. 8.4.1987 – 2 BvR 909/82 u. a., Rn. 115, BVerfGE 75, 108 (153 f.); Beschl. v. 13.10.1971 – 1 BvR 280/66, Rn. 26 ff., BVerfGE 32, 54 (63 f.); Beschl. v. 25.2.1960 – 1 BvR 239/52, Rn. 38, BVerfGE 10, 354 (362 f.). 163 BVerfG Beschl. v. 8.4.1987 – 2 BvR 909/82 u. a., Rn. 115, BVerfGE 75, 108 (154); Beschl. v. 25.2.1960 – 1 BvR 239/52, Rn. 38, BVerfGE 10, 354 (362). 164 BVerfG Beschl. v. 8.4.1987 – 2 BvR 909/82 u. a., Rn. 115, BVerfGE 75, 108 (154); s. auch Beschl. v. 25.2.1960 – 1 BvR 239/52, Rn. 38, BVerfGE 10, 354 (363). 165 Ebenso Ebsen, in: Schulin, Sozialversicherungsrecht, Bd. 3, § 4, Rn. 42. 166 Vgl. zu den drei Stufen der Eingriffsrechtfertigung im Rahmen des Art. 12 Abs. 1 GG: BVerfG, Urt. v. 11.6.1958 – 1 BvR 596/56, Leitsätze 6 a)–d) u. Rn. 54 ff., BVerfGE 7, 377 (378 f., 397 ff.). 167 Hase, Versicherungsprinzip, S. 49. 168 Alternativ kämen etwa die Bildung privaten Vermögens, eine Rücklagenbildung oder der Erwerb von Immobilien in Betracht; s. auch Hedderich, Pflichtversicherung S. 117.
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sicherung charakterisierende detaillierte Regelwerk, welches u. a. Art und Umfang der versicherten Leistungen im Einzelnen bestimmt, wird außerdem auch die inhaltliche Gestaltung des Versicherungsverhältnisses weitgehend vorgegeben.169 Wegen des starken Bezugs der Vorsorgefreiheit zur „personalen Würde“ des Einzelnen müssen Eingriffe in diese „besonders ernst genommen“ 170 werden und an ihre Erforderlichkeit sind hohe Anforderungen zu stellen. Der Eingriff in die Vorsorgefreiheit kann jedoch gerechtfertigt sein, wenn hierfür ein Rechtfertigungsgrund im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung besteht. Die Rechtfertigung lässt sich stets nur auf Grundlage der konkreten gesetzgeberischen Maßnahme endgültig feststellen, hier sollen aber allgemeine Erwägungen darüber angestellt werden, welche Grenzen der Gesetzgeber bei der Einführung und Ausweitung einer Zwangskrankenversicherung zu achten hat. Maßgeblich für die verfassungsrechtliche Rechtfertigung ist dabei insbesondere der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. „Je mehr [. . .] der gesetzliche Eingriff elementare Äußerungsformen der menschlichen Handlungsfreiheit berührt, umso sorgfältiger müssen die zu seiner Rechtfertigung vorgebrachten Gründe gegen den grundsätzlichen Freiheitsanspruch des Bürgers abgewogen werden.“ 171 Da die Vorsorgefreiheit zwar der wirtschaftlichen Betätigung des Einzelnen zuzurechnen ist, innerhalb dieser aber eine besondere Nähe zum Kernbereich der Persönlichkeitsentfaltung aufweist, sind an die Rechtfertigung des Sozialversicherungszwangs hohe Anforderungen zu stellen. Insbesondere ist sorgfältig zu untersuchen zu welchem Zweck die Einbeziehung einer Person in ein Sozialversicherungssystem mit solidarischer Finanzierung erforderlich erscheint. Es haben sich im Wesentlichen drei Ansätze herausgebildet, die die Erforderlichkeit einer zwangsweisen Sozialversicherung zu erklären versuchen und die zum Teil kumulativ herangezogen werden.172 Basierend auf ihrer Entstehungsgeschichte und der Grundidee, aus der heraus sie eingerichtet wurde, wird die Pflicht-Sozialversicherung nach wie vor zumeist mit der „Schutzbedürftigkeit“ des Versicherungspflichtigen begründet. Insbesondere das Bundesverfassungsgericht hält an diesem Kriterium fest, auch wenn es diesem wenig Konturenschärfe verleiht.173 Danach sei Grund und Grenze der Sozialversicherungspflicht das soziale Sicherungsbedürfnis der Versicherten. Sozialversicherung sichere einen Bedarf, der von den Versicherten im Wege privater Eigenvorsorge nicht zu decken sei und diene daher dem Eigeninteresse des Versicherten. Danach dürfen von der Sozialversicherungspflicht nur solche Personen 169
Hedderich, Pflichtversicherung, S. 117 f. Bogs, Sozialversicherung im Staat der Gegenwart, S. 539. 171 BVerfG, Beschl. v. 7.4.1964 – 1 BvL 12/63, Rn. 27, BVerfGE 17, 306 (314). 172 Vgl. auch Hedderich, Pflichtversicherung, S. 121 ff. 173 Siehe die ausführliche Analyse der Rspr. des BVerfG von Reuther, in: Hommage an Isensee, S. 435 (445 ff.). 170
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umfasst werden, die selbst nicht zur Eigenvorsorge in der Lage sind und „der Wechselfälle des Lebens nicht Herr zu werden vermögen“ 174. Dabei kann jedoch aus praktischen Gründen nicht auf die individuellen Lebensumstände abgestellt werden, sondern es bedarf einer „typisierenden Legitimation“ 175. Als schutzbedürftig werden vom Gesetzgeber nach bestimmten Merkmalen abgrenzbare gesellschaftliche Gruppen angesehen und in die Sozialversicherung einbezogen, ohne dass einzelne atypische Fälle insoweit Berücksichtigung finden. Hinsichtlich der Frage, welche Gruppen als schutzbedürftig angesehen werden können, komme dem Gesetzgeber ein weiter sozialpolitischer Beurteilungsspielraum zu.176 In neuerer Zeit sind neben der Absicherung Schutzbedürftiger weitere Zwecke der Sozialversicherung herausgestellt worden, mit denen die Freiheitsbeschränkung gerechtfertigt wird: So hat insbesondere Schulin177 dargelegt, dass die Sozialversicherungspflicht „seit Bismarck“ einen Funktionswandel erfahren habe. Während sie damals der Absicherung wirtschaftlich Schwacher vor existenzieller Not gedient habe, sei dies heute Aufgabe der Sozialhilfe. Die Sozialversicherung habe demgegenüber die Funktion erhalten, die Allgemeinheit davor zu schützen, dass „verantwortungslose“ Bürger mangels Individualvorsorge der Sozialversicherung zur Last fielen.178 „Der mehrfache Schutzgehalt der Menschenwürde [führe] [. . .] zu einem grundlegenden Konflikt zwischen dem aus dem Menschenbild des Grundgesetzes folgenden Primat der Eigenverantwortung und staatlicher Letztverantwortlichkeit für diejenigen Mitmenschen, die zur eigenverantwortlichen Vorsorge nicht in der Lage [seien]. Dieser Konflikt [verpflichte] den Staat Maßnahmen zu ergreifen, die den Verzicht auf Eigenvorsorge und das Vertrauen auf staatliche Unterstützung [verhinderten].“ 179 Vorrangiger Zweck der Sozialversicherung sei danach also, die Sozialhilfe vor Überlastung zu bewahren und dadurch solche Bürger vor Doppelbelastungen zu schützen, die selbst Vorsorge betreiben und zusätzlich über ihre Steuern die Sozialhilfe finanzieren. Das BVerfG hat diesen Zweck zumindest als zusätzlichen Rechtfertigungsgrund im Rahmen des Art. 2 Abs. 1 GG neben der Eigensicherung der Versicherungspflichtigen anerkannt.180 Er geht auch in seinen praktischen Auswirkungen 174
BVerfG, Beschl. v. 26.11.1964 – 1 BvL 14/62, Rn. 31, BVerfGE 18, 257 (270). Isensee, ZRP 1982, 137 (139). 176 BVerfG, Beschl. v. 26.4.1978 – 1 BvL 29/76, Rn. 28, BVerfGE 48, 227 (234); Papier, ZSR 1990, 344 (347). 177 Schulin, NZS 1994, 433 (435); ders., in: FS Zacher, S. 1029 (1032). 178 Merten, NZS 1998, 545 (548); Schulin, in: FS Zacher, S. 1029 (1032). 179 Kayser, Inhalt und Grenzen der Sozialversicherung, S. 178. 180 Siehe BVerfG Urt. v. 3.4.2001 – 1 BvR 2014/95, Rn. 80, BVerfGE 103, 197 (221f.) zur Pflegeversicherung: „Zudem war es ein legitimes Anliegen des Gesetzgebers, die sich aus der Pflegebedürftigkeit ergebenden finanziellen Belastungen der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen abzumildern, um einer allein im Pflegebedarf begründeten Abhängigkeit von Sozialhilfeleistungen vorzubeugen.“; BVerfG, Beschl. v. 175
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grundsätzlich nicht über den ersten Ansatz der Eigensicherung Bedürftiger hinaus, denn im Bedarfsfall der Sozialhilfe zur Last zu fallen drohen in erster Linie solche Personen, die zu adäquater Eigenvorsorge nicht in der Lage sind und deren wirtschaftliche Lage ihnen die Heilbehandlung im Krankheitsfall unmöglich macht. Zwar können auch solche Personen die Allgemeinheit schädigen, die zwar selbst vorsorgen können, es aber verantwortungslos unterlassen. Diesen kann jedoch als milderes gleich geeignetes Mittel, der Abschluss eines privaten Krankenversicherungsvertrages auferlegt werden, der Einbeziehung in das auf Bedürftige ausgelegte System der Sozialversicherung bedarf es in diesem Fall aber nicht. Schließlich ist auch das Solidarprinzip, das Ausdruck des Sozialstaatsprinzips ist, neben der Schutzbedürftigkeit als eigenständiger Rechtfertigungsgrund für den Freiheitseingriff herangezogen worden.181 Wesensmerkmal der Sozialversicherung, welches diese von der Privatversicherung unterscheide, sei der soziale Ausgleich. Aufgrund der Berechnung der Beiträge anhand des Einkommens der Versicherten zahlten einkommensschwache sowie alte und kranke Versicherte im Verhältnis zu ihrem Risiko einen zu geringen Beitrag, der durch den zu hohen Beitrag der leistungsstärkeren und gesunden Versicherten ausgeglichen werde. Die Solidargemeinschaft der GKV sei also auch auf solche Versicherte angewiesen, die von dem Solidarausgleich nicht profitierten, sondern von ihm belastet würden. Nach dieser Auffassung ist eine Sozialversicherungspflicht also neben der Eigensicherung Schutzbedürftiger auch zum Zwecke eines Schutzes Dritter gerechtfertigt. Mit ihr ließe sich die Einbeziehung der gesamten Bevölkerung in die GKV unproblematisch rechtfertigen. Doch welcher dieser Ansätze vermag letztlich zu überzeugen? Praktische Unterschiede in der Reichweite ergeben sich in erster Linie zum letztgenannten Rechtfertigungsgrund: Während sowohl der Zweck der Eigensicherung des Versicherten als auch der Zweck des Schutzes der Allgemeinheit ausschließlich die Einbeziehung Schutzbedürftiger in die Sozialversicherung rechtfertigen können, dient der Solidarausgleich als Rechtfertigungsgrund dazu, zusätzlich auch solche Personen in die Sozialversicherung einbeziehen zu können, die selbst nicht schutzbedürftig sind. Dogmatisch ist keiner der geschilderten Argumentationsstränge frei von Kritik. So beschreibt Hase182 das Sozialversicherungsrecht treffend als „heiklen Sonderfall, der ein am Ideal der Widerspruchsfreiheit ausgerichtetes Rechtsdenken auf eine harte Probe stellt“. Insbesondere wird die Eigen-
15.3.2000 – 1 BvL 16/96 u. a., Rn. 79, BVerfGE 102, 68 (89) zur Krankenversicherung der Rentner. 181 Wallrabenstein, Versicherung im Sozialstaat, S. 388 ff.; Hedderich, Pflichtversicherung, S. 125 ff., andeutungsweise auch Schulin, in: Schulin, Sozialversicherungsrecht, Bd. 1, § 6, Rn. 43 f. 182 Hase, Versicherungsprinzip, S. 55.
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sicherung des Versicherten aufgrund ihres paternalistischen Ansatzes häufig nicht als zulässiger Rechtfertigungsgrund angesehen. Zumindest könne diese nicht den einzigen Zweck des Zwanges darstellen, da Grundrechtsbeschränkungen nur mit den Belangen anderer oder der Allgemeinheit, aber nicht mit Belangen des Grundrechtsträgers selbst gerechtfertigt werden könnten.183 Zwar lässt sich nicht bestreiten, dass das Sozialversicherungsrecht „durchaus stark vom Geist des Paternalismus angehaucht“ 184 ist, dennoch ist der ursprüngliche vorkonstitutionelle Zweck der Eigensicherung der Versicherten auch unter dem Grundgesetz noch der Rechtfertigungsgrund, der verfassungsrechtlicher Überprüfung am Ehesten standhält und den Sozialversicherungszwang vor Gleichheitsund Freiheitsgrundrechten plausibel legitimieren kann: Hier geht es nämlich nicht eigentlich um Grundrechtsbeschränkung zum Selbstschutz, sondern um Grundrechtsgewährleistung. Eine Vorsorgefreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG ist wertlos, wenn sie mangels wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit auf privatem Wege nicht wahrgenommen werden kann.185 Die Sozialversicherungspflicht ermöglicht in Fällen der Schutzbedürftigkeit – und nur in diesen Fällen! – also einen „Freiheitsgewinn durch Freiheitsbeschränkung“ 186. Sie schränkt Art. 2 Abs. 1 GG zwar ein, ermöglicht damit aber erst die Ausübung desselben Grundrechts, indem sie „die Grundlage für freie, selbstverantwortliche Existenz“ 187 schafft.188 Daneben ist auch die Rechtfertigung aus Gründen des Schutzes der Allgemeinheit plausibel,189 diese kann jedoch nur als Nebenzweck Geltung beanspruchen. Es ist legitimes Ziel des Gesetzgebers sicherzustellen, dass die als ultima ratio gedachte Sozialhilfe, tatsächlich nur den wirklich Bedürftigen zu Gute kommt und nicht solche Personen begünstigt, die ihrer Verantwortung für das eigene Wohl nicht nachgekommen sind und eine Eigenvorsorge unterlassen haben. Ginge es aber nur darum, die Bürger zur Eigenvorsorge zu verpflichten, so wäre auch eine Versicherungspflicht bei einem Privatversicherer als geringerer Eingriff ausreichend. Bei der Sozialversicherung geht es aber ihrer Konzeption nach um 183 Siehe etwa Wallrabenstein, Versicherung im Sozialstaat, S. 367 ff.; in diese Richtung auch Hedderich, Pflichtversicherung, S. 122, 176 ff. 184 Roth, in: Pflichtversicherung, S. 146. 185 Hase spricht von der „Verwirklichungsbedingung grundrechtlicher Freiheit“, in: Versicherungsprinzip, S. 55 f. 186 Hase, Versicherungsprinzip, S. 56. 187 Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 61. 188 Die bloße Bereitstellung einer Sozialversicherung für Bedürftige in diesem Sinne kommt deshalb nicht als milderes Mittel in Betracht, weil die Sozialversicherung auf die Bildung einer leistungsfähigen Solidargemeinschaft angewiesen ist und durch die Versicherung auf freiwilliger Basis kein ausreichend großer Personenkreis gewährleistet ist. Außerdem setzt der Generationenvertrag die Versicherungspflicht voraus: Wer heute jung ist und einzahlt muss sich darauf verlassen können, dass er im Alter von dem Sozialausgleich profitiert. 189 Bereits im Kaiserreich wurde die Entlastung der Fürsorge als Motiv der Sozialgesetzgebung benannt; vgl. Hase, Versicherungsprinzip, S. 62, m.w. N. in Fn. 181.
B. Der Handlungsspielraum des Gesetzgebers
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mehr: Sie soll denen die Möglichkeit zur Eigenvorsorge eröffnen, die sonst dazu nicht in der Lage wären; deren Unterlassen einer Vorsorge also gar nicht schuldhaft wäre. Freiheitseinschränkung und Beitragsbelastung in der Sozialversicherung sind zu hoch, wenn es nur um die Entlastung der Sozialhilfe geht.190 Etwa passen die zwar in ihrer Bedeutung zurückgegangenen, aber nach wie vor zum Leistungskatalog der GKV gehörenden Einkommensersatzleistungen nicht zu einem reinen System der „Fürsorgevermeidung“.191 Dieses dürfte sich ausschließlich die Sicherung des Existenzminimums zur Aufgabe machen, nicht aber den individuellen Lebensstandard des Versicherten absichern. Als Rechtfertigungsgrund völlig ungeeignet erscheint daneben jedoch das Solidarprinzip. Die zwangsweise Einbeziehung in die Sozialversicherung mit dem Schutz anderer Versicherter zu rechtfertigen, bedeutet eine aufgezwungene Solidarität, die einer rechtlichen Grundlage entbehrt. Das Sozialstaatsprinzip allein kann eine solche Zwangssolidarität nicht legitimieren. Es ist Staatszielbestimmung und kann nicht im Interesse eines totalen Sozialstaats Grundrechte außer Kraft setzen, sondern ist in die Begrenzungen durch den Rechtsstaat und die Grundrechte eingebunden.192 Macht sich der Staat den Schutz bestimmter sicherungsbedürftiger Personen zur Aufgabe, so kann er diese nicht einzelnen Bevölkerungskreisen als Beitragszahler zuweisen, sondern muss selbst für die Aufbringung der erforderlichen Mittel sorgen, soweit die eigenen Mittel der Bedürftigen nicht ausreichen. In diesem Fall kann die Sozialversicherung als milderes Mittel durch Zuschüsse des Bundes gem. Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG unterstützt werden. Es ist mit Art. 3 Abs. 1 GG dagegen nicht vereinbar, dass die Ausgaben für die soziale Sicherung Bedürftiger durch eine Ausweitung des Pflichtversichertenkreises auf die Beitragszahler umgelegt werden, anstatt sie im Wege des Steuerrechts auf alle Bürger zu verteilen.193 Die Begründung einer Versicherungspflicht aus fiskalischen Erwägungen verstößt gegen den Grundsatz der Lastengleichheit. 194 Nichts anderes ergibt sich daraus, dass das BVerfG195 ausgeführt hat, es liege „in der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, den Mitgliederkreis so abzugrenzen, wie es für die Begründung einer leistungsfähigen Solidargemeinschaft erforderlich [sei]“. Damit gesteht das Gericht dem Gesetzgeber zwar zu, das Fiskalinteresse mit zu berücksichtigen, soweit die Schutzbedürftigkeit in Grenzbereichen
190
Hase, Versicherungsprinzip, S. 62. Hase, Versicherungsprinzip, S. 62. 192 Papier, ZSR 1990, 344 (346). 193 Hase, Versicherungsprinzip, S. 54; ähnlich Kirchhof, NZS 2004, 1 (2). 194 In Art. 3 Abs. 1 GG verankerter Grundsatz, wonach jede Abgabenbelastung des Bürgers neben der Steuer besonderer Rechtfertigung bedarf; vgl. dazu etwa Reuther, in: Hommage an Isensee, S. 435; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 3, Rn. 52; Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof, HdbStR Bd. V (2007), § 119, Rn. 14. 195 BVerfG, Beschl. v. 9.2.1977 – 1 BvL 11/74, u. a., Rn. 78, BVerfGE 44, 70 (90). 191
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
nicht eindeutig feststellbar ist, es legitimiert damit aber nicht die Einbeziehung neuer Versichertengruppen nur um des Beitrags willen.196 Eine Rechtfertigung des Eingriffs in Art. 2 Abs. 1 GG durch die Sozialversicherungspflicht kommt nach hier vertretener Ansicht also nur im Falle der Schutzbedürftigkeit des Versicherten in Betracht. Zwar gesteht das BVerfG197 dem Gesetzgeber einen besonders weiten Spielraum bei der Abgrenzung des Kreises der Schutzbedürftigen zu, und es ist die Frage berechtigt, ob der Begriff überhaupt noch Konturen besitzt und eine „objektivierbare und konsentierbare“ 198 Grenzziehung noch zulässt. Diese praktischen Probleme der Schranken des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums ändern jedoch nichts daran, dass die Schutzbedürftigkeit grundrechtsdogmatisch der einzige zulässige Anknüpfungspunkt für eine Rechtfertigung der Pflichtversicherung ist. (2) Pflicht zum Abschluss eines privaten Krankenversicherungsvertrags Die Anordnung einer Versicherungspflicht gegen das Risiko der Krankheit ist – ebenso wie der Sozialversicherungszwang – an den Grundrechten der Vertragsund Vorsorgefreiheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG zu messen. Durch die Pflicht zum Abschluss eines Krankenversicherungsvertrags wird der Schutzbereich der Vertragsabschlussfreiheit berührt. Die Vertragsinhaltsfreiheit ist zudem in dem Maße betroffen, wie die Pflicht inhaltliche Vorgaben zu dem Vertrag macht. Schließlich berührt die Pflicht die Freiheit, Ob, Wie und Umfang der Vorsorge selbst zu bestimmen.199 Das Grundrecht der Eigentumsfreiheit aus Art. 14 Abs. 1 GG ist nicht berührt. Unabhängig von der Frage, ob man das Vermögen von Art. 14 Abs. 1 GG erfasst sieht200, wird durch die Auferlegung einer Versicherungspflicht anders als bei einer staatlichen Geldleistungspflicht nicht unmittelbar staatlicherseits auf das
196 Isensee, ZRP 1982, 137 (140); Axer, in: GS Heinze, S. 1 (6); Kirchhof, NZS 2004, 1 (2 f.). 197 BVerfG, Beschl. v. 25.2.1960 – 1 BvR 239/52, Rn. 53, 61, BVerfGE 10, 354 (368 f., 371); Beschl. v. 26.11.1964 – 1 BvL 14/62, Rn. 26, BVerfGE 18, 257 (267); Beschl. v. 14.10.1970 – 1 BvR 307/68, Rn. 45, BVerfGE 29, 221 (235); Beschl. v. 26.4.1978 – 1 BvL 29/76, Rn. 28, BVerfGE 48, 227 (234); Beschl. v. 16.10.1979 – 1 BvL 5/77, Rn. 30, BVerfGE 52, 264 (274); Beschl. v. 18.7.2005 – 2 BvF 2/01, Rn. 92 ff., BVerfGE 113, 167 (220). 198 Wallrabenstein, Versicherung im Sozialstaat, S. 368. 199 Siehe auch Hedderich, Pflichtversicherung, S. 145. 200 H. M. lehnt Vermögensschutz durch Art. 14 Abs. 1 GG ab: St. Rspr. des Ersten Senats, BVerfG, Urt. v. 20.7.1954 – 1 BvR 459/52, u. a., Rn. 34, BVerfGE 4, 7 (17); Urt. v. 29.7. 1959 – 1 BvR 394/58, Rn. 90, BVerfGE 10, 89 (116 f.); Urt. v. 14.12.1965 – 1 BvR 571/60, Rn. 46, BVerfGE 19, 253 (267 f.); anders nur bei erdrosselnder Wirkung: Wieland, in: Dreier, GG, Art. 14, Rn. 65; BVerfG Beschl. v. 22.3.1983 – 2 BvR 475/78, Rn. 94, BVerfGE 63, 343 (368).
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Vermögen zugegriffen. Vielmehr entsteht die Zahlungspflicht nur mittelbar durch die Pflicht zum Abschluss eines Versicherungsvertrags, der die Geldleistung als Gegenleistung vorsieht. Der Staat ist nicht Empfänger der Zahlung und die Zahlungspflicht auch nicht öffentlich-rechtlich. Die privatrechtliche erst aus dem Vertrag resultierende Geldleistungsverpflichtung kann daher für sich keinen Eingriff in Art. 14 Abs. 1 GG darstellen. Die Grundrechtsprüfung muss vielmehr am Schwerpunkt der Belastung nämlich bei der Einschränkung der Vertragsfreiheit ansetzen.201 Zu denken ist aber an Art. 9 Abs. 1 GG, dessen Schutzgut die Vereinigungsfreiheit ist. Dieses Grundrecht kann dann berührt sein, wenn die Pflicht zum Inhalt hat, dass der von ihr Betroffene einer Vereinigung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 GG beitreten muss, um die Versicherungspflicht zu erfüllen. Der Versicherte einer Aktiengesellschaft wird aber durch den Abschluss des Versicherungsvertrags nicht Mitglied derselben, sonders ist ausschließlich Vertragspartner. Anders ist dies beim Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit. Für diesen ist die zwingende Mitgliedschaft des Versicherungsnehmers charakteristisch.202 Die negative Vereinigungsfreiheit wäre also in jedem Fall faktisch berührt, wenn nur Gegenseitigkeitsvereine die Krankenversicherung anböten und der Versicherungspflichtige somit den Beitritt zu einer Vereinigung nicht umgehen könnte. Da es in Deutschland aber Krankenversicherungsunternehmen verschiedener Rechtsformen gibt, kann hiervon nicht ausgegangen werden.203 Die Pflicht zur Krankenversicherung kann vielmehr entweder durch Vertrag (mit einer Aktiengesellschaft) oder durch den Beitritt zu einer Vereinigung (einem VVaG) erfüllt werden. Beides steht in einem Alternativverhältnis. Hier pauschal den Eingriff in Art. 9 Abs. 1 GG mit dem Argument abzulehnen, es stünde ja auch der Vertrag mit einer Aktiengesellschaft offen, ginge fehl, denn dann könnte auch ein Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG mit demselben Wahlrecht abgelehnt werden und der Grundrechtsschutz liefe leer. Vielmehr sind bei Annahme dieses Ansatzes beide Grundrechte gleichermaßen betroffen. Da es aber nicht sachgerecht erscheint, unterschiedliche Prüfungsmaßstäbe anzulegen, je nachdem ob die Pflicht durch Vereinigungsbeitritt oder Vertrag erfüllt wird, müssen daher im Rahmen der Rechtfertigung beider Grundrechtseingriffe die gleichen Anforderungen gestellt werden.204
201
Siehe auch Hedderich, Pflichtversicherung, S. 149. Versicherungsgeschäfte gegen feste Entgelte, ohne dass die Versicherungsnehmer Mitglieder werden, stellen die Ausnahme dar. Sie sind nur nach Maßgabe des § 21 Abs. 2 VAG zulässig, der für kleine Gegenseitigkeitsvereine nicht gilt, und werden von der Versicherungsaufsicht in ihrer Menge streng limitiert (bis zu 10 Prozent der Beitragseinnahmen); dazu ausführlich Petersen, Versicherungsunternehmensrecht, S. 30; Hedderich, Pflichtversicherung, S. 154 f. 203 Von den 43 Mitgliedsunternehmen des PKV-Verbands sind 19 Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit und 24 Aktiengesellschaften. 204 Siehe ausführlich zu dieser Thematik: Hedderich, Pflichtversicherung, S. 154 ff. 202
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
Durch die Anordnung einer Versicherungspflicht kann also sowohl in Art. 2 Abs. 1 GG als auch in Art. 9 Abs. 1 GG eingegriffen werden. Im Vergleich zur Zwangsversicherung wiegt der Eingriff jedoch weniger schwer: Die Versicherung tritt nicht von Gesetzes wegen ohne den Willen des Versicherten ein, sondern beruht auf einem Vertrag, der von dem Versicherten mit einem Versicherer seiner Wahl zu schließen ist, bzw. der Beitrittserklärung zu einem Gegenseitigkeitsverein. Für den Abschluss des Versicherungsvertrages bzw. die Beitrittserklärung bedarf es also eines Willensaktes des Versicherten. Er kann entscheiden, ob er sich der Pflicht beugt oder gegebenenfalls die Sanktionen der Nichtbeachtung der Pflicht in Kauf nimmt. Neben der freien Wahl des Vertragspartners ist auch der Vertragsinhalt (bis auf einen Mindestinhalt) grundsätzlich frei. Während der Leistungskatalog in der Sozialversicherung (bis auf Randbereiche) gesetzlich determiniert ist, können die Vertragsbedingungen mit einem privaten Versicherer grundsätzlich individuell ausgehandelt werden. Der Eingriff in Art. 2 Abs. 1 bzw. Art. 9 Abs. 1 GG ist am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu messen. Als legitime Zwecke einer Pflicht zur privaten Absicherung kommen grundsätzlich nicht schlicht der Schutz des Vermögens oder der Gesundheit des Versicherungspflichtigen in Betracht, denn die mit der Verpflichtung einhergehende Grundrechtsbeeinträchtigung kann nicht mit dem Schutz des Grundrechtsträgers selbst legitimiert werden. Anders als bei der Sozialversicherungspflicht geht es bei der Pflicht zur privaten Versicherung grundsätzlich nämlich nicht darum, dem Versicherten die Vorsorge überhaupt erst zu ermöglichen, sondern es wird davon ausgegangen, dass der Betroffene selbst Vorsorge betreiben kann. Durch die Pflicht soll lediglich gewährleistet sein, dass er seiner Verantwortung auch nachkommt. Das Leitbild der Pflicht zur Versicherung ist daher in der Regel ein anderes als in der Sozialversicherung. Daher weichen auch die Anforderungen an eine Rechtfertigung ab: Eine obligatorische Krankenversicherung muss – wie alle obligatorischen Eigenversicherungen205 – (zumindest auch) dem Zweck des Schutzes der Allgemeinheit zu dienen bestimmt sein. Die Gesamtbevölkerung muss durch sie vor einer Überlastung der Sozialsysteme durch die unnötige Inanspruchnahme von Personen, die keine Eigenvorsorge treffen, geschützt werden. Aufgrund der Verpflichtung des Staates zur Gewährleistung des medizinischen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 GG i.V. m. dem Sozialstaatsprinzip) hat der Staat ein berechtigtes Interesse daran, dass dieser staatliche Mindestschutz ein ultima-ratio-Schutz bleibt. Ihm soll nicht jeder zur Last fallen, der – trotz objektiver Möglichkeit – keine Eigenvorsorge getroffen hat. Dies kann der Staat durch die Pflicht zur Eigensicherung sicherstellen. Der Schutz der Allgemeinheit ist daher ein legitimer Zweck für die Anordnung einer Versicherungspflicht. 205 Vgl. zu den unterschiedlichen Zwecken zur Rechtfertigung obligatorischer drittschützender und Eigenversicherungen, Hedderich, Pflichtversicherung, S. 158 ff.
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Damit die Maßnahme zur Erreichung dieses Zwecks auch geeignet ist, ist dreierlei erforderlich206: Zum einen muss der Gesetzgeber gesetzliche Mindestanforderungen für das Versicherungsverhältnis vorsehen, damit das bezweckte Schutzniveau auch erreicht wird. Zum anderen müssen Kontrollmaßnahmen und u. U. Sanktionen vorgesehen werden, die die Einhaltung der Pflicht gewährleisten. Schließlich muss durch einen Kontrahierungszwang der Privatversicherer gewährleistet sein, dass jeder Versicherungspflichtige die Möglichkeit hat, seiner Pflicht nachzukommen.207 Erforderlich ist eine obligatorische Eigenversicherung nur dann, wenn ein milderes, gleich geeignetes Mittel zur Erreichung des Zwecks nicht besteht. Voraussetzung dafür ist zunächst, dass es sich bei dem zu versichernden Risiko um ein solches handelt, welches zu den großen Lebensrisiken gehört, denen ein Großteil der Bevölkerung ausgesetzt ist und die sich häufig realisieren.208 Beim Eintritt des Risikos müssen regelmäßig so hohe Kosten verursacht werden, die von dem Einzelnen nicht mehr zu bewältigen sind und die daher bei fehlender Vorsorge die Eintrittspflicht des Staates auslösen. Das Überschreiten einer solchen Geringfügigkeitsgrenze ist deshalb zu fordern, weil erst dann eine Überlastung der Sozialsysteme durch das betreffende Risiko zu erwarten ist. Darüber hinaus verlangt Art. 1 Abs. 1 GG, aus dem die Verpflichtung des Staates zur Gewährleistung des Existenzminimums resultiert, dass dieser Anspruch des Grundrechtsträgers nicht dazu gebraucht werden kann, die Eigenverantwortung und Freiheit zur Eigenvorsorge über die Maßen zu beschränken. Dann würde die Intention des Anspruchs auf das Existenzminimum, der Freiheit gerade gewährleisten soll, in sein Gegenteil verkehrt. Er würde vielmehr als Argument zur Freiheitseinschränkung missbraucht. Es ist daher erforderlich, dass der Staat Maßnahmen zum Schutz der Sozialkassen nur bei gewichtigen Gefahren von erheblichem Ausmaß treffen kann. Bei dem Krankheitsrisiko handelt es sich um ein solches elementares Lebensrisiko, welches jeden treffen und unkalkulierbar hohe Untersuchungs-, Behandlungs- und Verdienstausfallskosten hervorrufen kann, die zu nicht unerheblichen Belastungen des Staatshaushaltes führen können. Eine Krankenversicherungspflicht erscheint vor diesem Hintergrund dem Gegenstand nach zum Schutz der Allgemeinheit gerechtfertigt, darf dementsprechend aber nicht weiter gehen, als dies zum Schutz der Allgemeinheit erforderlich ist.209
206
Hedderich, Pflichtversicherung, S. 158 ff. Zu diesen Anforderungen an die Ausgestaltung einer obligatorischen Eigenversicherung im Einzelnen Hedderich, Pflichtversicherung, S. 414 ff. 208 Hedderich, Pflichtversicherung, S. 416 ff., 431. 209 Ausdruck findet dieses Erfordernis in der derzeit angeordneten Versicherungspflicht gem. § 193 Abs. 3 S. 1 VVG. Diese beschränkt sich auf eine Krankheitskostenversicherung und enthält daher nur eine Pflicht hinsichtlich der die Staatskasse besonders bedrohenden Kosten für ambulante und stationäre Heilbehandlungen. Die weniger problematischen Extrakosten für Krankenhausaufenthalte (Krankenhaustagegeldversi207
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
Hinsichtlich der Erforderlichkeit einer obligatorischen Privatkrankenversicherung in Deutschland bestehen aber aus einem anderen Grund derzeit Bedenken: Ein milderes Mittel gegenüber der Pflicht zur Versicherung ist die Freiwilligkeit. Diese ist dann gleich geeignet zur Abwendung einer erheblichen Kostenbelastung der Allgemeinheit, wenn das Risiko in der Bevölkerung erkannt wird und eine hohe Bereitschaft zur freiwilligen Versicherung besteht. In seinem Urteil zur gesetzlichen Pflegeversicherung begründete das Bundesverfassungsgericht das Erfordernis einer verpflichtenden privaten Pflegeversicherung damit, dass der Gesetzgeber „aus der mangelnden Bereitschaft zur entsprechenden Eigenvorsorge [. . .] den Schluss ziehen [durfte], dass es der Bevölkerung am gebotenen Risikobewusstsein fehlte und sie – anders als bei der Versicherung des Risikos Krankheit [Hervorh. d. Verf.] – keinen „Versicherungsdruck“ verspürte“.210 Das obiter dictum zur Krankenversicherung zeigt, dass die Situation hier anders ist. Bereits vor Einführung der Krankenversicherungspflicht zum 1.1.2009 bestand in Deutschland eine sehr hohe Versicherungsdichte. Das geht auch aus der Gesetzesbegründung zur Einführung der Pflegeversicherung hervor, in der die Anknüpfung der Pflege- an die Krankenversicherung mit der breiten Absicherung gegen Krankheit begründet wird.211 Aufgrund dieses Befundes erscheinen eine auf Freiwilligkeit beruhende Versicherung ebenso wirksam zum Schutz der Allgemeinheit und die Pflicht daher nicht erforderlich. Von einer Erforderlichkeit der Krankenversicherungspflicht zum Schutz des Sozialhilfesystems ist der Gesetzgeber des GKV-WSG bei ihrer Einführung aber auch gar nicht ausgegangen. Hinter der Implementierung einer allgemeinen Krankenversicherungspflicht stand vielmehr die Intention der Daseinsvorsorge: Allen Einwohnern sollte eine Absicherung im Krankheitsfall in der GKV oder der PKV ermöglicht werden.212 Ähnlich wie in der Sozialversicherung sollte durch die Pflicht verbunden mit der Verpflichtung der Versicherer zum Angebot eines Basistarifs überhaupt erst die Vorsorgemöglichkeit für alle geschaffen werden. Ein Zwang aus dieser Erwägung heraus ist der Privatversicherung grundsätzlich fremd, da ja nach der Grundkonzeption all jene, die als schutzbedürftig anzusehen sind, bereits in der Sozialversicherung versichert sind. Aber auch, wenn man eine abgestufte Schutzbedürftigkeit annimmt oder anerkennt, dass Selbständigen und Beamten der Weg in die Sozialversicherung grundsätzlich vercherung) und des Verdienstausfalls (Krankentagegeldversicherung) fallen daher nicht unter die Versicherungspflicht. 210 BVerfG, Urt. v. 3.4.2001 – 1 BvR 2014/95, Rn. 84, BVerfGE 103, 197 (223). 211 In BT-Drs. 12/5262, S. 101 f. heißt es: „Der Lösungsweg ,Pflegeversicherung folgt Krankenversicherung‘ ist auch der sachlich richtige Weg, weil sich über ihn zugleich die angestrebte breite Absicherung des Pflegefallrisikos erreichen läßt. Denn mehr als 98 v. H. der Bevölkerung sind gegenwärtig entweder in der gesetzlichen Krankenversicherung oder bei einem privaten Krankenversicherungsunternehmen versichert.“ 212 Siehe BT-Drs. 16/3100, S. 85 f.; s. a. Hedderich, Pflichtversicherung, S. 434.
B. Der Handlungsspielraum des Gesetzgebers
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wehrt ist, es aber unter diesen – insbesondere unter den Selbständigen – auch Personen gibt, die sich einen Versicherungsschutz nur schwer leisten können, so ist fraglich, ob nicht die bloße Auferlegung eines Kontrahierungszwangs für die privaten Versicherer ein milderes Mittel wäre. Dem könnte man jedoch wiederum entgegenhalten, dass ein Kontrahierungszwang in einem sozialrechtlich überformten Tarif wie dem Basistarif den Versicherern nur dann zumutbar ist, wenn auch eine ausreichende Anzahl Versicherter mit unterschiedlichen Risiken gewährleistet ist, damit eine – der Privatversicherung zwar grundsätzlich ebenfalls fremde – Quersubventionierung stattfinden kann. Insbesondere aufgrund der überragenden Bedeutung der Gesundheit und ihres Schutzes könnte man so die Erforderlichkeit einer Versicherungspflicht bejahen. Es sei aber darauf hingewiesen, dass sie verfassungsrechtlich nicht frei von Zweifeln ist.213 Nimmt man also die Erforderlichkeit einer Versicherungspflicht an, so muss diese auch so ausgestaltet sein, dass sie dem Versicherungsnehmer zumutbar ist. Dies ist dann der Fall, wenn die Belastung des Versicherungspflichtigen im Verhältnis zu dem angestrebten Zweck angemessen erscheint. Der Belastung der Versicherten stehen der Schutz seines Vermögens und der Gesundheit des Versicherten sowie – zumindest auch – der Schutz der Allgemeinheit vor einer zu starken Belastung der Sozialsysteme gegenüber. Unter Abwägung dieser sich widerstreitenden Interessen erscheint die Belastung dann gerechtfertigt, wenn sich die Prämien in einem Rahmen halten, der für den Versicherten tragbar ist. Ist dies nicht gewährleistet, so müssen Maßnahmen zur Regulierung der Prämie ergriffen werden. bb) Versicherungspflicht und Gleichheitssatz Sowohl die Auferlegung einer ipso iure eintretenden Sozialversicherungspflicht als auch die Auferlegung einer obligatorischen privaten Krankenversicherung sind ferner am Gleichheitssatz des Art. 3 Abs.1 GG zu messen. Dieser verpflichtet den Gesetzgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches seiner Eigenart entsprechend verschieden zu behandeln. (1) Sozialversicherungspflicht Zu untersuchen sind hier verschiedene Vergleichsgruppen: Zum einen sind die Sozialversicherungspflichtigen mit den Versicherungsfreien zu vergleichen. Sofern die Sozialversicherungspflicht nicht die gesamte Wohnbevölkerung erfasst, bedarf diese Ungleichbehandlung eines sachlich vertretbaren Grundes. Sie kann aus den gleichen Erwägungen gerechtfertigt sein, die bereits im Rahmen des Art. 2 Abs. 1 GG zur Rechtfertigung des Freiheitseingriffs dienten: Sachliches 213 Andeutungsweise auch Thüsing/von Medem, Vertragsfreiheit und Wettbewerb, S. 78 f., die allerdings nur davon sprechen, dass die Pflicht von dem Bild des privatrechtlichen Versicherungswesens abweicht.
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
Unterscheidungskriterium ist die soziale Schutzbedürftigkeit.214 Wer aufgrund geringer Einkünfte finanziell nicht zur Eigenvorsorge auf privatem Wege in der Lage ist, darf in ein soziales Versicherungssystem einbezogen werden, dessen Ziel es ist, auch diesen Personen eine umfassende Absicherung gegen das Krankheitsrisiko zu ermöglichen. Die Legitimität dieses Kriteriums wird durch das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG unterstrichen.215 Errichtet der Gesetzgeber ein System für sozial Schutzbedürftige folgt nach dem BVerfG aus dem Gleichheitssatz auch, dass all jenen die nach der Konzeption des Gesetzgebers als schutzbedürftig anzusehen sind, der Zugang zu diesem System offen steht.216 Da die Schutzbedürftigkeit also ein wesentliches Differenzierungsmerkmal darstellt, liegt andersherum eine ungerechtfertigte Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem vor, wenn die Sozialversicherungspflicht auch Personen erfasst, die nicht als sozial schutzbedürftig eingestuft werden können, wobei hier jedoch der weite Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers zu beachten ist. Hinsichtlich der Einstufung als schutzbedürftig sind Typisierungen erforderlich217 und auch zulässig, sofern die durch sie entstehenden Härten nur eine verhältnismäßig geringe Personenzahl betreffen und die Ungerechtigkeit nur schwer vermeidbar wäre.218 Im Rahmen seiner Typisierungsbefugnis darf der Gesetzgeber den GKV-Mitgliederkreis insbesondere so bestimmen, „wie es für die Begründung einer leistungsfähigen Solidargemeinschaft erforderlich ist“.219 Es ist offensichtlich, dass die finanziellen Mittel für den sozialen Ausgleich nicht allein von den typischerweise Begünstigten des Ausgleichs aufgebracht werden können. Es müssen also weitere Beitragspflichtige dazu beitragen. Diese sind gegenüber denen, die nur der allgemeinen Steuerpflicht unterliegen, benachteiligt. „Die alleinige Beitragsbelastung der Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung ist [aber] durch 214
BVerfG: „Es liegt grundsätzlich in dessen Gestaltungsfreiheit [des Gesetzgebers], den Mitgliederkreis der gesetzlichen Krankenversicherung [. . .] danach abzugrenzen, [. . .] welche Personen deren Schutz benötigen.“, Beschl. v. 18.7.2005 – 2 BvF 2/01, Rn. 139, BVerfGE 113, 167 (220). 215 Papier, ZSR 1990, 344 (347). 216 So entschied das BVerfG zur Pflegeversicherung, dass schutzbedürftigen Personen ohne Krankenversicherungsschutz jedenfalls ein Beitrittsrecht zur Pflegeversicherung einzuräumen ist, Urt. v. 3.4.2001 – 1 BvR 81/98, Rn. 27 ff., BVerfGE 103, 225 (235 ff.); inzwischen § 26 a SGB XI. 217 Jede generelle Regelung bedarf der Typisierung, um das unendlich konkrete Leben zu erfassen, vgl. BVerfG Urt. v. 24.7.1963 – 1 BvL 30/57, 11/61, Rn. 59, BVerfGE 17, 1 (23); Beschl. v. 5.4.1960 – 1 BvL 31/57, Rn. 34, BVerfGE 11, 50 (60) und Beschl. v. 28.6.1960 – 2 BvL 19/59, Rn. 44, BVerfGE 11, 245 (253); Beschl. v. 16.12.1958 – 1 BvL 3/57, u. a., Rn. 44, BVerfGE 9, 20 (32); Starck, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG, Bd. 1, Art. 3 Abs. 1, Rn. 23. 218 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, Art. 3 Abs. 1, Rn. 23. 219 BVerfG, Beschl. v. 9.2.1977 – 1 BvL 11/74, u. a., Rn. 78, BVerfGE 44, 70 (90); so auch Beschl. v. 13.6.1979 – 1 BvL 27/76, Rn. 33, BVerfGE 51, 257 (265); s. a. Papier, in: v. Maydell/Ruland/Becker, SRH, § 3, Rn. 99; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Bd. 1, Art. 3 Abs. 1, Rn. 149.
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den Sachgrund der Vorteilsgewährung gerechtfertigt, weil nur sie, nicht aber die Steuerpflichtigen insgesamt eine Gegenleistung in Gestalt des Versicherungsschutzes erhalten.“ 220 Jeder, der sich an dem sozialen Ausgleich der Sozialversicherung beteiligt, ist außerdem – anders als der Steuerzahler – potentiell Begünstigter des Systems: Durch das Alter oder die Wechselfälle des Lebens kann er jederzeit aus der Rolle des Belasteten in die des Begünstigten gedrängt werden. Es handelt sich bei dem Sozialversicherungsbeitrag daher nicht um eine fremdnützige Beitragslast, die gleichheitsrechtlich besonderer Rechtfertigung bedürfte.221 Eine weitere Ungleichbehandlung innerhalb der Sozialversicherung liegt in der unterschiedlichen Belastung der Versicherungspflichtigen durch den Solidarausgleich: Während ein Teil der Versicherten von dem Solidarausgleich in der Sozialversicherung profitiert, zahlen andere einen Beitrag, der über das hinausgeht, was für die eigene Versicherung nach dem Äquivalenzprinzip erforderlich ist. Das Prinzip der Äquivalenz ist in einem Versicherungssystem grundsätzlich unmittelbarer Ausdruck des Gleichheitssatzes, da jeder einen Beitrag zahlt, der dem eigenen Risiko entspricht.222 Das verfassungsrechtliche Sozialstaatsprinzip kann jedoch Abweichungen vom Grundsatz der Äquivalenz rechtfertigen, wenn dabei unverhältnismäßige Härten vermieden werden. Insbesondere darf das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung nicht in zu großem Maße auseinanderfallen. Dafür können Instrumente wie eine Versicherungspflichtgrenze und/oder eine Beitragsbemessungsgrenze sorgen. Schließlich rechtfertigt sich die aktuelle Belastung zugunsten anderer Versicherter auch damit, dass die Belastung jederzeit in eine Begünstigung umschlagen kann, denn der Beitragsbelastete hat Solidarität zu üben, darf diese aber auch in Anspruch nehmen.223 (2) Pflicht zum Abschluss eines privaten Krankenversicherungsvertrags Da eine private Versicherung grundsätzlich nach dem Prinzip der Äquivalenz finanziert wird, stellt sich die Gleichheitsproblematik zwischen den Versicherten hier nicht in gleicher Weise wie in der Sozialversicherung. In anderen Versicherungssparten können durch Pflichtversicherungen dadurch Gleichheitsprobleme entstehen, dass auch solche Personen von der Pflicht erfasst sind, die von dem versicherten Risiko nicht oder nur ganz unerheblich betroffen sind. Diese Personen quersubventionieren praktisch ausschließlich die tatsächlich Betroffenen. 220
BVerfG, Beschl. v. 18.7.2005 – 2 BvF 2/01, Rn. 141, BVerfGE 113, 167 (221). F. Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof, HdbStR Bd. V (2007), § 125, Rn. 23. 222 BVerfG, Beschl. v. 10.11.1981 – 1 BvL 18/77 u. 19/77, Rn. 34 ff., BVerfGE 59, 36 (49 ff.); s. a. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3, Rn. 81, 83; Hedderich, Pflichtversicherung, S. 133. 223 BVerfG, Beschl. v. 18.7.2005 – 2 BvF 2/01, Rn. 141 ff., BVerfGE 113, 167 (221 f.). 221
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
Dieses Problem stellt sich aber bei einer Krankenversicherungspflicht nicht, da die Krankheit ein allgemeines Lebensrisiko ist, das jeden in unvorhergesehenem Ausmaß treffen kann. Hier kann jedoch ein anderes Problem entstehen, und zwar dann, wenn aus sozialpolitischen Gründen von staatlicher Seite in die Prämienberechnung nach dem Äquivalenzprinzip eingegriffen wird.224 Sozialpolitisch motivierte Prämienkorrekturen wie aktuell der Basistarif in der PKV haben zumeist den Hintergrund, die Versicherbarkeit aller Versicherungspflichtigen zu gewährleisten, denn eine Versicherungspflicht kann ihr Ziel nicht erreichen und ist unverhältnismäßig, wenn der Verpflichtete wirtschaftlich nicht zum Abschluss eines Versicherungsvertrags in der Lage ist. Eine Korrektur der Prämie ist daher dann erforderlich und unter Gleichheitsgesichtspunkten nicht zu beanstanden, wenn es sich um ein Risiko mit besonders hoher Bedeutung für die die Lebensführung des Einzelnen wie die Krankheit handelt, andere Möglichkeiten der Absicherung für schlechte Risiken nicht bestehen und es diesen nicht zugemutet werden kann, ganz auf eine Versicherung zu verzichten. Da die Solidarität der guten mit den schlechten Risiken nicht nur der Sozialversicherung eigen ist, sondern auch zum Wesen jeder privatwirtschaftlichen Versicherung gehört, kann in diesem Fall den besseren Risiken ein gewisses höheres Maß an Solidarität abverlangt werden, solange die Quersubvention das Maß des Zumutbaren nicht überschreitet.225 Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn nur wenige eine zu geringe Prämie zahlen und von verhältnismäßig vielen Zahlern risikoäquivalenter Prämien subventioniert werden. In diesem Falle bleibt die Mehrbelastung der übrigen Versicherten gering. Sofern die Krankenversicherungspflicht nur Teile der Wohnbevölkerung betrifft oder zwischen verschiedenen Personengruppen im Umfang differenziert, bedarf dies ebenfalls der Rechtfertigung vor Art. 3 Abs. 1 GG. Als Differenzierungskriterien kommen hier sowohl die Höhe des Einkommens und Vermögens sowie die Risikoveranlagung in Betracht. b) Grundrechte der privaten Versicherungsunternehmen Darüber hinaus können in beiden Konstellationen – bei der Auferlegung einer Sozialversicherungspflicht sowie einer privaten Versicherungspflicht – Grundrechte privater Versicherer berührt sein. aa) Sozialversicherungspflicht Die Einwohner, die als Pflichtversicherte in ein Sozialversicherungssystem eingebunden sind, sind faktisch dem Markt für Krankenvollversicherungen entzo224 225
Vgl. Hedderich, Pflichtversicherung, S. 204. Hedderich, Pflichtversicherung, S. 204 f.
B. Der Handlungsspielraum des Gesetzgebers
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gen. Sie sind zwar nicht am Abschluss eines privaten Krankenversicherungsvertrages gehindert, ein solcher ist für sie jedoch wirtschaftlich sinnlos. Die Versicherungspflicht begründet damit in ihrem Geltungsumfang ein faktisches Verwaltungsmonopol226. Dadurch können die Grundrechte privater Versicherungsanbieter betroffen sein, die den Schutz der wirtschaftlichen Freiheit gewährleisten, namentlich Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG. Über Art. 19 Abs. 3 GG können sich auch Versicherungsunternehmen als juristische Personen des Privatrechts auf diese berufen227. Art. 12 Abs. 1 GG schützt als einheitliches Grundrecht sowohl die freie Berufswahl als auch die Berufsausübung. Der Beruf des privaten Krankenversicherers ist als eigenständiger Beruf von diesem Schutz erfasst.228 Geschützt wird nicht das Erworbene, sondern der Erwerb selbst, so dass das Grundrecht „in hohem Maße ,zukunftsgerichtet‘ “ 229 ist. Es kann seinem Schutzbereich nach daher sowohl dadurch verletzt werden, dass den Privatversicherern ein bisheriges, als auch, dass ihnen ein noch nicht betriebenes Geschäftsfeld versperrt wird. Das Bundesverfassungsgericht lehnte zunächst jedoch einen Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG durch die Ausweitung des Sozialversicherungsmonoplos ab: In seinem Nichtannahmebeschluss230 zur Erhöhung der Versicherungspflichtgrenze in der GKV durch das BSSichG aus dem Jahr 2004 entschied das Gericht, das beschwerdeführende Unternehmen der privaten Krankenversicherung sei „lediglich faktisch mittelbar betroffen“, da den Versicherten der Abschluss eines privaten Krankenversicherungsvertrags ja nicht untersagt werde. „Solche mittelbar faktischen Folgen von Regelungen, die Versicherte betreffen, [seien] für Unternehmen im Gesundheitssystem regelmäßig nicht am Maßstab des Art. 12 Abs. 1 GG zu messen [Hervorh. der Verfasserin].“ 231 Anders als etwa in den Entscheidungen „Osho“ und „Glykol“, in denen das Gericht auch faktisch mittelbare Wirkungen als ausreichend für einen Grundrechtseingriff ansah232, sollten diese „im Gesundheitswesen“ offenbar nicht ausreichen. Eine objektiv berufsregelnde Tendenz, die 226 Papier, ZSR 1990, 344 (347); Scholz, in: FS Sieg, S. 507 (520); Axer, in: GS Heinze, S. 1 (11); Egger, SGb 2003, 76 (78); Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 35; Kirchhof, NZS 2004, 1 (3). 227 Zur Anwendbarkeit des Art. 12 Abs. 1 GG auf juristische Personen im Sinne des Art. 19 Abs. 3 GG: BVerfG, Beschl. v. 26.6.2002 – 1 BvR 558/91 u. 1428/91, Rn. 41, BVerfGE 105, 252 (265); Beschl. v. 4.2.2004 – 1 BvR 1103/03, Rn. 15, VersR 2004, 898 (899); st. Rspr. 228 Siehe ausführlich etwa Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 36 f. 229 BVerfG, Beschl. v. 16.3.1971 – 1 BvR 52/66, u. a., Rn. 110, BVerfGE 30, 292 (334). 230 BVerfG, Beschl. v. 4.2.2004 – 1 BvR 1103/03, Rn. 13, VersR 2004, 898 (899). 231 BVerfG, Beschl. v. 4.2.2004 – 1 BvR 1103/03, Rn. 13, VersR 2004, 898 (899). 232 BVerfG, Beschl. v. 4.2.2004 – 1 BvR 1103/03, Rn. 15, VersR 2004, 898 (899); zu diesem Vergleich und der Eingriffsdogmatik des BVerfG s. ausführlich Lindner, DÖV 2004, 765 (767 ff.).
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
Auswirkungen auf die Berufsfreiheit von einigem Gewicht und einen engen Zusammenhang zur Ausübung des Berufs erfordert, sprach das BVerfG der Anhebung der Versicherungspflichtgrenze offenbar ab. Mit Verweis auf frühere Entscheidungen betonte das BVerfG, „die Reichweite des Freiheitsschutzes [werde] auch durch die rechtlichen Regeln mitbestimmt, die den Wettbewerb ermöglichen und begrenzen“ und „das Grundrecht der Berufsfreiheit [schütze] nicht gegen Veränderungen des Marktgeschehens, auch wenn sie vom Staat [ausgingen]“. Es ging also scheinbar davon aus, den privaten Versicherern verbliebe auch weiterhin die Teilnahmefreiheit am Wettbewerb um Versicherungsverträge mit den Pflichtversicherten. Auch wenn diese Annahme bei rechtlicher Betrachtung zutrifft, so ist sie sehr formalistisch und untergräbt den Grundrechtsschutz: In ihren tatsächlichen Wirkungen kann die in Rede stehende Regelung nämlich mit einem Verbot für Versicherungsunternehmen zum Abschluss von Versicherungsverträgen mit der neu von der Versicherungspflicht erfassten Personengruppe gleichgesetzt werden.233 Sie verhindert faktisch bereits die Teilnahme am Wettbewerb und betrifft nicht nur die – nicht von Art. 12 Abs. 1 GG geschützten – Erfolgschancen im Wettbewerb.234 Damit handelt es sich nicht um eine „Veränderung des Marktgeschehens“, sondern um einen gänzlichen Ausschluss des Marktes durch hoheitlichen Akt, der an den Grundrechten zu messen ist. Die Literatur235 geht daher zurecht ganz überwiegend von einem Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG aus. Das BVerfG, dass sich bereits in dem dargestellten Nichtannahmebeschluss ,eine Hintertür offen ließ‘, indem es der Aussage „Selbst wenn man einen Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG [. . .] annimmt“, eine umfassende Rechtfertigungsprüfung folgen ließ, scheint sich mittlerweile – stillschweigend – dieser Auffassung angeschlossen zu haben. In der Entscheidung zum GKV-WSG 2009 entschied es zur Einführung der Drei-Jahres-Grenze236 für das Ausscheiden aus der GKV: „Die Verlängerung der Versicherungspflicht greift [. . .] in die Berufsausübungsfreiheit der Krankenversicherer ein, weil ihnen temporär der Kundenkreis eingeschränkt wird, der sich bei ihnen versichern kann.“ 237 Den Eingriff legt das BVerfG nur auf der Stufe der Berufsausübungsregelung an, während Teile der Literatur in der Ausweitung des Sozialversicherungsmonopols den schwersten Eingriff, eine objektive Berufswahlschranke, erblicken238. 233
Ebenso Isensee, NZS 2004, 393 (400); Lindner, DÖV 2004, 765 (769). Siehe auch Lindner, DÖV 2004, 765 (769). 235 Siehe etwa Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 35; Papier, ZSR 1990, 344 (347); Schnapp/Kaltenborn, Friedensgrenze, S. 71; Wollenschläger/Krogull, NZS 2005, 237 (240); Thüsing/von Medem, Vertragsfreiheit und Wettbewerb, S. 141. 236 Siehe § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB V i. d. F. Art. 1 Nr. 3 Buchst. a Gesetz v. 26.3.2007, BGBl. I 378 (GKV-WSG) m.W. v. 2.2.2007, inzwischen wieder abgeschafft durch Art. 1 Nr. 2 Buchst. a Gesetz v. 22.12.2010, BGBl. I 2309 (GKV-FinG) m.W. v. 31.12.2010. 237 BVerfG, Urt. v. 10.6.2009 – 1 BvR 706/08 u. a., Rn. 236, BVerfGE 123, 186. 238 So etwa Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 38 f. 234
B. Der Handlungsspielraum des Gesetzgebers
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Das BVerfG hält den Eingriff durch die Drei-Jahres-Grenze jedoch für gerechtfertigt, da hinreichend gewichtige Gründe des Gemeinwohls bestünden, „zumal der Versicherungsbestand der privaten Krankenversicherungsunternehmen von rund 8,3 Millionen Versicherten hiervon unberührt [bliebe] und Beamte, Freiberufler und Selbständige, für die sich keine Einschränkungen beim Zugang zur privaten Krankenversicherung ergeben, von der Neuregelung überhaupt nicht betroffen[seien].“ 239 Wo die Grenze erreicht ist, dass eine Beschränkung des Kundenkreises der Privatversicherung nicht mehr vor dem Grundrecht des Art. 12 Abs. 1 GG zu rechtfertigen ist, ist bislang ungeklärt. Diese könnte jedenfalls dort liegen, wo der Gesetzgeber das Sozialversicherungsmonopol auf die gesamte Bevölkerung ausweitet.240 Anders als Art. 12 Abs. 1 GG schützt Art. 14 Abs. 1 GG ausschließlich das bereits Erworbene. Nicht von seinem Schutz erfasst sind in der Zukunft liegende Vermögenszuwächse, wie Verdienstmöglichkeiten, Gewinnchancen, Aussichten und Erwartungen. Das Eigentumsgrundrecht kann daher von vorneherein nicht berührt sein, wenn ein Geschäftszweig staatlich monopolisiert wird, der von den Privatversicherern bisher nicht betrieben wurde. In dem Fall werden diese nur daran gehindert, eine bisher nicht ausgeführte Tätigkeit aufzunehmen, ihnen werden aber keine bereits erworbenen Rechtspositionen entzogen. Das Versicherungsmonopol der Sozialversicherung ist also gemessen an Art. 14 Abs. 1 GG hinsichtlich des Personenkreises unbedenklich, der seit jeher in die GKV einbezogen war. Die Vereinbarkeit mit der Eigentumsfreiheit ist jedoch dann zu untersuchen, wenn den privaten Krankenversicherern durch eine Ausweitung der GKV Teile des bisherigen – tatsächlichen und potentiellen – Kundenstamms entzogen werden. Dadurch wird der Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG jedenfalls dann berührt, wenn in bereits bestehende Versicherungsverhältnisse eingegriffen wird241. Zweifelhaft ist hingegen, ob Art. 14 Abs. 1 GG auch dadurch berührt wird, dass den privaten Krankenversicherern durch die Einbeziehung potentieller Vertragspartner in die gesetzliche Pflichtversicherung die Chance auf den zukünftigen Abschluss neuer Versicherungsverträge genommen wird. Möglicherweise liegt darin ein Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb242. Den Marktwert eines Gewerbebetriebs machen in erster Linie imma239
BVerfG, Urt. v. 10.6.2009 – 1 BvR 706/08 u. a., Rn. 237, BVerfGE 123, 186. Vgl. dazu sogleich Kapitel 5, C. I. 2. f). 241 Axer, in: GS Heinze, S. 1 (13); Kirchhof, NZS 2004, 1 (4); das BVerfG hält diese Frage offen, Beschl. v. 4.2.2004 – 1 BvR 1103/03, Rn. 40, VersR 2004, 898 (901): Selbst wenn der Kundenstamm von Art. 14 Abs. 1 GG geschützt werden sollte, wird der Beschwerdeführerin der erworbene Kundenstamm nicht streitig gemacht. 242 Zum Schutz des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs vgl. etwa Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, Art. 14, Rn. 132; Hagen, GewArch 2005, 402. 240
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
terielle Vermögensposten wie Geschäftsbeziehungen, Marktstellung, Image der Firma und erworbener Kundenstamm aus.243 Ob diese aber auch dem eigentumsrechtlich geschützten Bestand des Unternehmens unterfallen, ist umstritten. Während der BGH „kurz alles das, was in seiner Gesamtheit den wirtschaftlichen Wert des konkreten Gewerbebetriebs ausmacht“ für geschützt hält244, sieht das BVerfG den Schutzumfang wesentlich restriktiver. Nicht die tatsächlichen – vom konkreten Unternehmen unabhängigen – Gegebenheiten, in denen das Unternehmen tätig wird, seien Schutzgut des Art. 14 Abs. 1 GG, sondern ausschließlich die zum Unternehmensvermögen gehörenden Sachen und Rechte. Der Schutz des Gewerbebetriebes reiche nicht weiter als der seiner wirtschaftlichen Grundlagen.245 Danach sind zwar Betriebsgrundstück und Einrichtungsgegenstände vom Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG erfasst, nicht hingegen der Kundenstamm. Selbst wenn man aber von einem weiten Begriff des Gewerbebetriebs ausgeht und diesen auch in seiner Gesamtheit, also inklusive der berechtigten Gewinnerwartungen unter den Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG stellt, wird nicht jede Ausweitung der GKV gegen das Grundrecht verstoßen. Eine Rechtfertigung kommt hier nach den gleichen Maßstäben wie im Rahmen des Art. 12 Abs. 1 GG in Betracht. Der Schutz des Gewerbebetriebs nach Art. 14 Abs. 1 GG kann nämlich nicht weiter gehen als der, der sachnäheren Berufsfreiheit. Abgesehen von dem Schutz bereits geschlossener Versicherungsverträge erweist sich die Eigentumsgarantie daher für private Krankenversicherer nach der Rechtsprechung des BVerfG als „stumpfes Schwert“.246 bb) Pflicht zum Abschluss eines privaten Krankenversicherungsvertrags Mit der Anordnung einer Versicherungspflicht in einer PKV werden in der Regel weitreichende Vorgaben hinsichtlich der Vertragsbedingungen verbunden sein, um sicherzustellen, dass die Pflicht auch durch alle von ihr Betroffenen erfüllt werden kann. Insbesondere muss den Versicherern regelmäßig ein Kontrahierungszwang auferlegt werden. Diese Vorgaben berühren die Privatversicherer in ihrem Grundrecht des Art. 12 Abs. 1 GG. Das BVerfG nimmt in der Regel einen Eingriff auf der Stufe der Berufsausübungsbeschränkung an.247 Damit die243
Ebenso: Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, Art. 14, Rn. 132. „Erst die jeweilige Situation, in der ein Gewerbe betrieben wird, [schaffe] den vermögensrechtlichen Umfang des Betriebes“ BGH, Urt. v. 28.01.1957 – III ZR 141/ 55, Rn. 15, BGHZ 23, 157 (163). 245 BVerfG, Urt. v. 29.11.1961 – 1 BvR 148/57, Rn. 17, BVerfGE 13, 225 (229): „Ein solcher Eigentumsschutz kann sich jedoch nur auf den Gewerbebetrieb als Sachund Rechtsgesamtheit beziehen, so daß grundsätzlich nur ein Eingriff in die Substanz dieser Sach- und Rechtsgesamtheit Art. 14 GG verletzen könnte.“ 246 Axer, in: GS Heinze, S. 1 (14). 247 BVerfG, Urt. v. 10.6.2009 – 1 BvR 706/08 u. a., Rn. 164 ff., BVerfGE 123, 186 (238 ff.). 244
B. Der Handlungsspielraum des Gesetzgebers
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ser Eingriff gerechtfertigt ist, muss er dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. c) Keine Grundrechtsfähigkeit der Krankenkassen Grundrechte der Krankenkassen sind bei Umstrukturierungen im Bereich des Gesundheitswesens dagegen nicht zu berücksichtigen. Als Körperschaften des öffentlichen Rechts sind diese keine Grundrechtsträger. Die Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen richtet sich nach Art. 19 Abs. 3 GG. Danach gelten die Grundrechte auch für inländische juristische Personen, „soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind“. Während das bei juristischen Personen des Privatrechts regelmäßig der Fall ist, scheidet eine Anwendbarkeit der Grundrechte auf öffentlich-rechtliche juristische Personen grundsätzlich aus. Als Träger öffentlicher Gewalt gehören sie zu den Grundrechtsverpflichteten und können daher nicht gleichzeitig auch grundrechtsberechtigt sein. Eine Ausnahme gilt nur für solche juristische Personen des öffentlichen Rechts, die „unmittelbar dem durch die Grundrechte geschützten Lebensbereich zuzuordnen sind“, wie Rundfunkanstalten und Universitäten. Zwar wurde im Schrifttum verschiedentlich versucht diesen Ansatz auf Sozialversicherungsträger zu übertragen und aus den Grundrechten Vorgaben für die Organisation der Sozialversicherung herzuleiten248, das Bundesverfassungsgericht ist dem aber mehrfach aus den vorstehenden Erwägungen entgegengetreten.249 4. Grenzen aus dem Unionsrecht Europarechtliche Vorgaben für die Ausgestaltung der Krankheitsvorsorge können sich aus dem europäischen Wettbewerbsrecht sowie aus den Grundfreiheiten ergeben. Der EuGH betont zwar in ständiger Rechtsprechung, dass „das Unionsrecht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit unberührt lässt“ 250 und der Vertrag schreibt diese Kompetenzverteilung nun auch ausdrücklich in Art. 153 Abs. 4 AEUV fest. Außerdem schließt auch Art. 168 Abs. 5 AEUV Harmonisierungsmaßnahmen im Bereich der Gesundheitspolitik aus. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Sozialsektor ein
248 Vgl. Hebeler, NZS 2008, 238 (240 f.); Axer, Normsetzung der Exekutive, S. 287 ff. 249 BVerfG, Beschl. v. 9.4.1975 – 2 BvR 879/73, Rn. 63 ff., BVerfGE 39, 302 (312 ff.), (Ortskrankenkassen); Beschl. v. 11.12.2008 – 1 BvR 1665/08, Rn. 4 ff., GewArch 2009, 310 (310), (Innungskrankenkassen); Beschl. v. 2.5.1967 – 1 BvR 578/63, Rn. 20 ff., BVerfGE 21, 362 (368 ff.) (Landesversicherungsanstalten); Beschl. v. 19.12.1967 – 2 BvL 4/65, Rn. 103, 169, BVerfGE 23, 12 (24, 30) (Berufsgenossenschaften). 250 St. Rspr., vgl. zuletzt EuGH, Urt. v. 27.10.2011 – Rs. C-255/09, Rn. 47, EuZW 2012, 65 (67).
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
Bereich ist, der von der Geltung des europäischen Primärrechts ausgenommen ist.251 Vielmehr haben die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser ihnen zukommenden Zuständigkeit die Vorgaben der europäischen Verträge zu berücksichtigen.252 Diese Vorgaben sind insbesondere deshalb von besonderer Relevanz für die Bestimmung der legislatorischen Grenzen der Ausgestaltung der Gesundheitsvorsorge, weil sie nicht zur Disposition des deutschen Gesetzgebers stehen. a) Europäisches Wettbewerbsrecht In Konflikt mit dem europäischen Wettbewerbsrecht könnte ein Sozialversicherungsmonopol geraten.253 Ein solches besteht aktuell bereits für die Leistungen, die vom GKV-Leistungskatalog abgedeckt sind und hinsichtlich der Personen, die als Pflichtmitglieder in die GKV einbezogen sind. Durch jede Anhebung der Versicherungspflichtgrenze wird es erweitert. Durch die Einbeziehung aller Einwohner der Bundesrepublik Deutschland in die Sozialversicherung würden die betreffenden Leistungen vollständig dem Aufgabenbereich der GKV zugewiesen und dem Markt für Versicherungen gänzlich entzogen. Die GKV bildet zwar faktisch ein solches Monopol, weil es für einen GKVPflichtversicherten wirtschaftlich unsinnig ist, für die vom GKV-Leistungskatalog abgedeckten Leistungen einen weiteren privaten Krankenversicherungsvertrag abzuschließen. Dennoch kann ein Verstoß gegen das EU-Wettbewerbsrecht in der Bildung und Erweiterung dieses Monopols nur dann liegen, wenn dieses auf die Sozialversicherung überhaupt Anwendung findet. Der EuGH nimmt die Krankenkassen aber ausdrücklich aus dem persönlichen Anwendungsbereich des Wettbewerbsrechts der EU aus.254 Es ist nicht davon auszugehen, dass sich diese Einschätzung des EuGH infolge der Reformen des Rechts der GKV insbesondere durch das GKV-WSG geändert hat.255 Mangels Anwendbarkeit des Wettbewerbsrechts auf die gesetzlichen Krankenkassen ist daher auch eine Erweiterung der Sozialversicherungspflicht auf alle Einwohner aus EU-wettbewerbsrechtlicher Sicht unbedenklich.
251 So aber Becker, JZ 1997, 534 (540), der Schutzniveau und Organisation der sozialen Sicherheit als domaine réservée ansieht; ebenso Fuchs, ZIAS 2003, 379 ff. 252 Siehe auch Gundel, EuR 2004, 575 (584). 253 Siehe zu dieser Problematik ausführlich Giesen, SDSRV 48 (2001), 123. 254 Siehe oben Kapitel 3, A. I. 3. a) bb) (1). 255 Siehe ausführlich oben Kapitel 3, A. I. 3. d). Es ist davon auszugehen, dass der EuGH in dem aktuellen Vorabentscheidungsverfahren zu dieser Frage noch einmal Stellung beziehen wird; vgl. die Vorlage durch den BGH, EuGH-Vorlage v. 18.01.2012 – I ZR 170/10, GRUR 2012, 288. Gegenstand sind hier unlautere Geschäftspraktiken und die Frage, ob Krankenkassen Gewerbetreibende sind. Die Auslegung des Begriffs des Gewerbetreibenden deckt sich mit der des Unternehmens im Sinne des Art. 101 AEUV.
B. Der Handlungsspielraum des Gesetzgebers
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b) Grundfreiheiten Unabhängig von der Unternehmenseigenschaft der Sozialversicherungsträger ist hingegen die Geltung der Grundfreiheiten. Diese werden häufig gar nicht erwähnt, wenn die EU-rechtlichen Anforderungen an die Ausgestaltung der Sozialversicherung bzw. des Gesundheitswesens untersucht werden.256 Sie stellen aber den „treffenderen Ansatz“ 257 dar, weil an diesem Maßstab unabhängig vom Wesen der Sozialversicherungsträger der staatliche Eingriff auf seine Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt überprüft wird. Anknüpfungspunkt der Untersuchung ist hier nicht die Sozialversicherung und ihre wirtschaftliche Tätigkeit, sondern die Frage, ob die wirtschaftliche Tätigkeit privater Leistungsanbieter aus dem EUAusland behindert wird.258 Berechtigte der Grundfreiheiten sind aufgrund des Erfordernisses eines grenzüberschreitenden Bezugs nur EU-ausländische Versicherer, nicht die nationalen privaten Anbieter. Dass die Grundfreiheiten – trotz der Unanwendbarkeit des europäischen Wettbewerbsrechts – auch für den Sozialsektor gelten, hat der EuGH inzwischen in einer ganzen Reihe von Entscheidungen klar gestellt.259 Eine Bereichsausnahme besteht für die Sozialversicherung entgegen einiger Stimmen in der Literatur nicht.260 Grundfreiheiten EU-ausländischer Versicherungsanbieter, die durch ein Sozialversicherungsmonopol berührt werden können, sind sowohl die aktive Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV) als auch die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV). Die Dienstleistungsfreiheit garantiert das grenzüberschreitende Angebot von Dienstleistungen ohne in dem anderen Mitgliedstaat eine dauerhafte Niederlassung haben zu müssen. Dieses Recht wird durch eine staatliche Zwangsversicherung berührt. Dass das Geschäft inländischer Anbieter in gleicher Weise beeinträchtigt wird, wie das ausländischer ist insoweit unerheblich, da der EuGH für einen Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit keine Diskriminierung ausländischer Marktteilnehmer fordert, sondern jede Form der Behinderung oder Beeinträchtigung ausreichen lässt.261 Der Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit erfasst „die Möglichkeit für einen Unionsangehörigen, in stabiler und kontinuier256 Siehe etwa Bieback, Bürgerversicherung, S. 114 ff., der sich auf das europäische Wettbewerbsrecht konzentriert und die Grundfreiheiten gar nicht erwähnt. 257 Gundel, EuR 2004, 575 (583). 258 Gundel, EuR 2004, 575 (585); Möller, VSSR 2001, 25 (53 f.). 259 EuGH, Urt. v. 28.4.1998 – C-120/95, Rn. 21, 24, Slg. 1998, I-183 – Decker; EuGH Urt. v. 28.4.1998 – C-158/96, Rn. 17, 20, Slg. 1998, I-1931 – Kohll. 260 Becker, JZ 1997, 534 (540), der Schutzniveau und Organisation der sozialen Sicherheit als domaine réservée ansieht; ebenso Fuchs, ZIAS 2003, 379 ff. 261 EuGH, Urt. v. 3.12.1974 – Rs. 33/74, Rn. 10, 12, Slg. 1974, 1299 – van Binsbergen; Urt. v. 12.12.1996 – C-3/95, Slg. 1996, I-6511, Rn. 25 – Reisebüro Broede; Urt. v. 9.7.1997 – C-222/95, Rn. 18, Slg. 1997, I-3899 – Parodi; Urt. v. 23.11.1999 – C-369/96 u. C-376/96, Rn. 32, Slg. 1999, I-8453 – Arblade.
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
licher Weise am Wirtschaftsleben eines anderen Mitgliedstaats als seines Herkunftsstaats teilzunehmen und daraus Nutzen zu ziehen“ 262. Während der EuGH zunächst ein enges Verständnis der Niederlassungsfreiheit anlegte und lediglich eine Inländergleichbehandlung forderte, ist er auch hier dazu übergegangen, jede Form der Beschränkung als ausreichend anzusehen.263 Der Sozialversicherungszwang verschließt den Markt für private Krankenversicherer aus dem europäischen Ausland (ebenso wie für inländische) faktisch in großem Umfang, da eine private Krankenvollversicherung für die GKV-Pflichtversicherten zwar möglich aber wirtschaftlich unsinnig ist. Er greift daher in diese Marktfreiheiten ein.264 Der Eingriff in die Grundfreiheiten von Versicherern aus anderen Mitgliedstaaten der EU kann jedoch gerechtfertigt sein, wenn hierfür ein Rechtfertigungsgrund besteht. Neben den im AEUV ausdrücklich genannten Rechtfertigungsgründen erkennt der EuGH auch ungeschriebene „zwingende Gründe des Allgemeininteresses“ an.265 Ferner muss die betreffende Maßnahme geeignet und erforderlich sein.266 Als geschriebener Rechtfertigungsgrund kommt zunächst der Gesundheitsschutz nach Art. 52 Abs. 1 (i.V. m. Art. 62) AEUV in Betracht. Zwar dient ein verpflichtendes soziales Krankenversicherungssystem dem Schutz der Bürger vor den mit der Krankheit verbundenen finanziellen Risiken und damit mittelbar auch dem Gesundheitsschutz, jedoch ist dies nicht der Grund, welches ein Sozialversicherungsmonopol erforderlich erscheinen lässt. Gesundheitsschutz kann vielmehr auch auf andere Weise, etwa durch private Versicherung oder andere Vorsorgeformen gewährleistet werden, v. a. in einem Land wie Deutschland, wo das Bewusstsein für das Erfordernis einer Vorsorge gegen Krankheit sehr hoch ist. Der EuGH erkennt als zwingenden Grund des Allgemeininteresses jedoch ferner die Verfolgung eines sozialpolitischen Ziels an. Als solches hat er in der Rs. Freskot auch die einheitliche solidarische Absicherung aller von einem bestimmten Risiko in gleicher Weise Betroffenen angesehen.267 Im Allgemeininteresse liege ferner die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit von 262 EuGH, Urt. v. 11.3.2010 – C-384/08, Rn. 36, Slg. 2010, I-2055 – Attanasio Group. 263 Vgl. Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 49 AEUV, Rn. 23 ff. m.w. N. 264 Im Jahr 2003 hatte der EuGH bereits die Vereinbarkeit eines Zwangsversicherungssystems mit den Grundfreiheiten zu prüfen. Hier ging es um eine griechische Pflichtversicherung gegen Ernteschäden und andere natürliche Gefahren für die Erzeugnisse landwirtschaftlicher Betriebe. Der EuGH stellte fest, das Pflichtversicherungssystem könne „ein Hindernis für die freie Erbringung von Dienstleistungen durch die in anderen Mitgliedstaaten niedergelassenen Versicherungsgesellschaften, die Versicherungsverträge für derartige Risiken in Griechenland anbieten möchten, insoweit darstellen, als es die Ausübung dieser Tätigkeit behindert oder weniger attraktiv macht, ja sogar unmittelbar oder mittelbar verhindert.“ EuGH Urt. v. 22.5.2003 – C-355/00, Rn. 63, Slg. 2003, I-5263 – Freskot. 265 EuGH, Urt. v. 30.11.1995 – C-55/94, Rn. 37, Slg. 1995, I-4165 – Gebhard. 266 EuGH, Urt. v. 30.11.1995 – C-55/94, Rn. 37, Slg. 1995, I-4165 – Gebhard. 267 EuGH, Urt. v. 22.5.2003 – C-355/00, Rn. 66 ff., Slg. 2003, I-5263 – Freskot.
B. Der Handlungsspielraum des Gesetzgebers
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Sozialversicherungssystemen:268 Auch die Wahrung des wirtschaftlichen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit kann eine Ausweitung eines Sozialversicherungsmonopols also vor der Dienstleistungsfreiheit rechtfertigen. Da der EuGH rein wirtschaftliche Motive jedoch zur Rechtfertigung nicht ausreichen lässt,269 bedarf es neben dem rein fiskalischen Zweck einer Ausweitung der Sozialversicherung also stets auch eines sozialen Grundes.270 Schließlich wirken diese zwingenden Gründe des Allgemeininteresses nur dann rechtfertigend, wenn sie ausländische Anbieter nicht diskriminieren.271 c) Die Dritte Richtlinie Schadensversicherung (Richtlinie 92/49/EWG) Europarechtlicher Maßstab für soziale Vorgaben, die der nationale Gesetzgeber an Versicherungsverträge in der PKV stellt, sind ferner die Richtlinien Schadensversicherung (Richtlinie 73/239/EWG und Richtlinie 92/49/EWG). Sie dienen dem Ziel einen Binnenmarkt für Schadensversicherungen zu schaffen und harmonisieren zu diesem Zweck die Marktbedingungen für Schadensversicherer. Einschränkende Vorgaben dürfen die Mitgliedstaaten darüber hinaus nur sehr begrenzt machen. Obwohl die PKV gem. § 12 Abs. 1 VAG nach Art der Lebensversicherung betrieben wird, unterliegt sie nicht den Richtlinien Lebensversicherung, sondern diesen Richtlinien Schadensversicherung.272 Die Zulässigkeit sozialstaatlicher Vorgaben für die PKV richtet sich nach Art. 54 der Dritten Richtlinie Schadensversicherung (RL 92/49/EWG). Nach Art. 54 Abs. 1 der Richtlinie kann ein Mitgliedstaat im Rahmen der substitutiven PKV„zum Schutz des Allgemeininteresses“ Anforderungen an die Versicherungsverträge stellen. Dazu kann verlangt werden, dass den zuständigen Behörden dieses Mitgliedstaats die allgemeinen und besonderen Versicherungsbedingungen vor deren Verwendung mitgeteilt werden. Zum „Schutz des Allgemeininteresses“ kann danach also die Dienstleistungs- und die Niederlassungsfreiheit europäischer Versicherer beschränkt werden. Zwar muss die Norm im Lichte der Bedeutung der Grundfreiheiten für den europäischen Binnenmarkt ausgelegt werden,273 jedoch kommt dem nationalen Gesetzgeber insoweit ein weiter Beurteilungsspielraum zu. Auch 268 EuGH, Urt. v. 28.4.1998 – C-158/96, Rn. 41, Slg. 1998, I-1931 – Kohll; Urt. v. 12.7.2001 – C-157/99, Rn. 72, Slg. 2001, I-5473 – Smits und Peerbooms; Urt. v. 13.5.2003 – C-385/99, Rn. 73, Slg. 2003, I-4509 – Müller-Fauré; vgl. hierzu die Anmerkungen bei Becker, NJW 2003, 2272 (2276 ff.); bestätigend insofern EuGH Urt. v. 27.1.2011 – C-490/09, Rn. 43, Slg. 2011, I-247; sowie Urt. v. 5.10.2010 – C-173/09, Rn. 42, Slg. 2010, I-8889 – Elchinov. 269 Siehe etwa EuGH Urt. v. 25.7.1991 – C-288/89, Rn. 11, Slg. 1991, I-4007; Gundel, EuR 2004, 575 (587), m.w. N. in Fn. 89. 270 Gundel, EuR 2004, 575 (587). 271 Gundel, EuR 2004, 575 (587). 272 Vgl. Boetius, VersR 2005, 297 ff. 273 Sodan, Private Krankenversicherung und Gesundheitsreform 2007, S. 91.
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
hier gilt: Den Mitgliedstaaten ist bei der Ausgestaltung des Gesundheitswesens weitestgehend freie Hand gelassen. Die Organisation des niederländischen Gesundheitssystems, das von eigenverantwortlich handelnden privaten Unternehmen getragen wird, die umfangreichen sozialstaatlichen Bindungen unterliegen274 und das von der Europäischen Kommission für europarechtskonform erklärt wurde, zeigt, dass das „Allgemeininteresse“ hier sehr weit ausgelegt werden kann.275 Enge Vorgaben macht den Mitgliedstaaten dagegen Art. 54 Abs. 2 der Richtlinie,276 wenn sie anordnen, dass die substitutive PKV „in technischer Hinsicht nach Art der Lebensversicherung zu betreiben ist“. Dann müssen die Beiträge „entsprechend vernünftigen versicherungsmathematischen Prognosen ausreichend sein, um die Unternehmen in die Lage zu versetzen, allen ihren Verpflichtungen unter Berücksichtigung sämtlicher Aspekte ihrer Finanzlage nachzukommen“ (Art. 54 Abs. 2 S. 3). Die Erfüllbarkeit der Verpflichtungen muss also auf Dauer gewährleistet sein. Ferner begründet Art. 54 Abs. 2 S. 1 einen Zwang zur versicherungsmathematischen Kalkulation. Eine andere Beitragskalkulation ist danach europarechtlich unzulässig. Der Katalog des Art. 54 Abs. 2 ist abschließend, so dass Regelungen, die darüber hinausgehen, gegen die Grundfreiheiten verstoßen.277 5. Fazit Auch Grenzen setzt das Grundgesetz dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Gesundheitsversorgung damit nur äußerst zurückhaltend. Aus der Kompetenzordnung ergeben sich Vorgaben für die Ausgestaltung der Krankenversicherung nur insofern, als der Bund für eine bundesweite Regelung einer Gesetzgebungskompetenz bedarf, diese jedoch auf wenige Bereiche begrenzt sind. Im Übrigen bleibt es bei der Zuständigkeit der Länder gem. Art. 70 GG. Neue oder Mischformen der Vorsorge sind daher ausgeschlossen. Die Kompetenztitel geben darüber hinaus aber kein politisches Programm vor und weisen dem Gesetzgeber keine Aufgaben zu. Ob sich eine weitere Grenze aus einem in der Verfassung verankerten ungeschriebenen Subsidiaritätsgrundsatz ergibt, ist umstritten. Selbst wenn man aber, wie hier befürwortet, von einem solchen Verfassungsprinzip ausgeht, lassen sich daraus jedenfalls keine konkreten Vorgaben entnehmen. Es kann
274
Zum niederländischen Krankenversicherungssystem: Kapitel 4, A. Vgl. ausführlich zu der Auseinandersetzung der niederländischen Rechtswissenschaft und Politik mit den Vorgaben des Europarechts zur Vorbereitung der Gesundheitsreform und den Abstimmungen mit der EU-Kommission, Hamilton, in: Wille/ Hamilton/Graf von der Schulenburg/Thüsing, Privatrechtliche Organisation, S. 187 (230 ff.). 276 Siehe weitergehend Boetius, VersR 2005, 297 ff. 277 Boetius, VersR 2005, 297 ff. 275
C. Umgestaltungsoptionen
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allenfalls „äußere normative Grenze des Ermessens“ 278 sein. Erst dann, wenn dem Einzelnen keinerlei Raum für Eigenvorsorge mehr verbliebe, obwohl er dazu in der Lage wäre, wäre diese erreicht. Konkretere Schranke sind insoweit die Grundrechte. Hier sind sowohl die Grundrechte der zu Versichernden als auch die der privaten Krankenversicherungsanbieter zu beachten. Krankenkassen stehen als Körperschaften des öffentlichen Rechts dagegen keine Grundrechte zu. Hier ist vor allem zu beachten, dass die Gründe, aus denen eine zwangsweise Sozialversicherung vor der Vorsorgefreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG gerechtfertigt erscheint, sehr begrenzt sind. Die Privatversicherer können ferner in ihrem Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG verletzt werden. Hier bedarf es einer sorgsamen Abwägung der widerstreitenden Interessen. Das europäische Wettbewerbsrecht macht dem deutschen Gesetzgeber keine Vorgaben für die organisatorische Gestaltung der Krankheitsvorsorge. Der EuGH betont in ständiger Rechtsprechung, dass „das Unionsrecht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit unberührt lässt“.279 Zu beachten sind jedoch die Grundfreiheiten zum Schutz EUausländischer Anbieter von Vorsorgeleistungen. Ein Sozialversicherungsmonopol stellt insoweit einen Eingriff dar. Zu seiner Rechtfertigung bedarf es der Verfolgung eines sozialpolitischen Ziels, dass jedoch regelmäßig gegeben sein dürfte. Schließlich sind die Schadensversicherungsrichtlinien zu beachten, wenn der Gesetzgeber die Privatversicherung in die Pflicht nimmt und sozialen Bindungen unterwirft, um die Krankheitsvorsorge der gesamten Bevölkerung zu gewährleisten.
C. Umgestaltungsoptionen Wie zuvor bereits ausgeführt, erscheinen zwei Wege denkbar, GKV und PKV funktional stimmig auf einander auszurichten. Diese sollen im Folgenden dargestellt und auf ihre rechtliche Umsetzbarkeit hin untersucht werden. Nachdem allgemeine Ausführungen zum rechtlichen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bereits erfolgt sind, sollen hier konkrete rechtliche Konflikte aufgezeigt werden, die sich im Hinblick auf einzelne Umgestaltungsmodelle ergeben. Die beiden hier vorgestellten Optionen sind nicht als einheitliche Umgestaltungsmodelle zu verstehen. Vielmehr vereinigen sie jeweils verschiedene Reformkonzepte – darunter auch solche, die aktuell politisch diskutiert werden –, deren Gemeinsamkeit ihre Auswirkung auf das Verhältnis zwischen GKV und PKV ist. Option 1 befasst sich mit all jenen Vorschlägen, die den beiden Systemen unterschiedliche Aufgaben zuweisen und sie so stärker von einander trennen. Option 2 fasst dagegen Vorschläge zusammen, die um Wettbewerb zwischen 278 279
Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 314. St. Rspr. vgl. zuletzt EuGH v. 27.10.2011 – C-255/09, EuZW 2012, 65 (67).
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
gesetzlichen Krankenkassen und privaten Versicherungsunternehmen zu ermöglichen, die Funktionen der Systeme einander angleichen.
I. Option 1: Systemtrennung Die funktionale Trennung von GKV und PKV kann auf verschiedenen Wegen erfolgen. In Betracht kommen sowohl eine vertikale als auch eine horizontale Aufteilung der Aufgaben. „Vertikale Trennung“ meint die Unterscheidung der Systeme danach, welche gesellschaftlichen Gruppen sie versichern. Ein Teil der Bevölkerung wird systematisch der GKV, ein anderer der PKV zugeordnet. „Horizontale Trennung“ der Funktionen bedeutet dagegen, dass beide Systeme jeweils die Gesamtbevölkerung versorgen, sich aber durch ihre Leistungen unterscheiden. Die PKV deckt bei einer solchen Gestaltung all jene Leistungen ab, die von der für alle Bürger verpflichtenden GKV nicht getragen werden. 1. Vertikale Trennung: Schutzbedürftige vs. Nichtschutzbedürftige Die vertikale Trennung der Systeme ist nichts Neues. Sie entspricht dem ursprünglichen Gedanken: Die GKV bietet eine Absicherung sozial Schutzbedürftiger, die selbst nicht zur Vorsorge in der Lage sind. Die PKV ist dagegen Ausdruck der Eigenvorsorge der Bürger. Beide Versicherungsarten stehen nebeneinander und stellen Krankenvollversicherungen zur Verfügung. Die gesamte Bevölkerung ist zur Krankenversicherung entweder in der GKV oder in der PKV verpflichtet. Was ist also „Reform“ an diesem Konzept? Entgegen der aktuellen Annäherungstendenzen, stellt es die ursprüngliche Idee der GKV wieder ganz in den Vordergrund: Vorgeschlagen wird die drastische Reduzierung des Versichertenkreises der GKV auf die wirklich Schutzbedürftigen im engeren Sinne. Die GKV soll sich wieder auf ihre Anfänge rückbesinnen, als nur ca. 10% der Bevölkerung in der Arbeiterversicherung gegen Krankheit versichert war.280 „Bereits ein ,Durchschnittsverdiener‘ darf [danach] nicht zum Kreis derer gehören, die in den Schutz einer Sozialversicherung einbezogen werden müssen.“ 281 In diesem Zusammenhang müsste man gegebenenfalls auch an eine Abschaffung der freiwilligen Versicherung in der GKV denken.282 Insgesamt würde der Aufgabenbereich 280 281
Vgl. ausführlich Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 55 ff. Sodan, in: Die sozial-marktwirtschaftliche Zukunft der Krankenversicherung, S. 9
(23). 282 So ist es in den Niederlanden im Jahr 1986 geschehen, s. oben Kapitel 4, A. I.; die Abschaffung der freiwilligen Versicherung hatte hier jedoch andere Gründe. Sie diente dem Schutz des gesetzlichen Versicherungssystems vor schlechten Risiken und den dadurch steigenden Kosten; vgl. Hamilton, in: Wille/Hamilton/Graf von der Schulenburg/Thüsing, Privatrechtliche Organisation, S. 187 (203).
C. Umgestaltungsoptionen
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der PKV-Vollversicherungen erheblich erweitert, der der GKV dagegen stark reduziert. Für diesen Ansatz sprechen folgende Argumente283: – Die Pflichtversicherungsgrenze wäre nicht mehr nur „Friedensgrenze“, sondern echte Funktionsgrenze. – Der Begriff der Schutzbedürftigkeit erhielte wieder schärfere Konturen. – Insgesamt führte er zu einer Ausweitung der Kapitaldeckung, was der Generationengerechtigkeit dienlich ist, insbesondere vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung. In rechtlicher Hinsicht stellen sich insbesondere folgende Fragen: a) Die Reduzierung des GKV-Versichertenkreises und das Sozialstaatsprinzip Gelangt der Gesetzgeber zu der Überzeugung, dass nur noch ein deutlich geringerer Teil der Bevölkerung einer solidarisch finanzierten Absicherung bedarf,284 so steht einer Verschlankung der GKV aus Sicht des Sozialstaatsprinzips gem. Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG grundsätzlich nichts entgegen – vielmehr ist dies in dem Fall ein verfassungsrechtliches Gebot. Sowohl das Subsidiaritätsprinzip285 als auch die Grundrechte der Pflichtversicherten286 verlangen, dass die verpflichtende Absicherung in einem staatlichen Sicherungssystem nur solche Personen umfasst, die dieser Absicherung bedürfen. Eine darüber hinausgehende staatliche Gewährleistung kann auch nicht auf das Sozialstaatsprinzip gestützt werden, das sich als Staatszielbestimmung in den Grenzen der Grundrechte und anderer Verfassungsvorgaben zu halten hat.287 Die soziale Verantwortung des Staates reicht nur so weit, wie der erforderliche Gesundheitsschutz von den Bürgern nicht ebenso gut auf privatem Wege erzielt werden kann. Wer zu privater Absicherung in der Lage ist, weist nicht die Schutzbedürftigkeit auf, die Grund und Grenze der Sozialversicherung ist.
283 Wichtigster Vertreter dieses Ansatzes ist derzeit der Gesundheitsrechtswissenschaftler Sodan, s. etwa: Die sozial-marktwirtschaftliche Zukunft der Krankenversicherung, S. 9 (22 f.) sowie NJW 2003, 2581 (2584); ebenso aber bereits Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 55 ff.; auf die fehlende Trennschärfe des Schutzbedürftigkeitskriteriums hinweisend auch Reuther, in: Hommage an Josef Isensee, S. 435 (447 ff., insb. 448). 284 Sodan etwa geht davon aus, dass der derzeitige Umfang der GKV dem Schutzbedürftigkeitskriterium nicht mehr gerecht wird, in: Hdb. KVR, § 2, Rn. 48 und § 16, Rn. 18 f. 285 Kapitel 5, B. II. 2. 286 Kapitel 5, B. IV. 1. a) aa). 287 Papier, ZSR 1990, 344 (346); s. a. oben Kapitel 5, B. II. 3 a) aa) (1).
228
Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
Zur Einstufung einer Bevölkerungsgruppe als schutzbedürftig sind zwei Fragen ausschlaggebend: 1. Welcher Schutzumfang muss jedem Bürger zwingend gewährleistet sein? und 2. Kann die betreffende Personengruppe diesen eigenverantwortlich sicherstellen? Hinsichtlich der Beantwortung beider Fragen kommt dem Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative zu, die er immer wieder neu ausüben kann. Er ist nicht an eine einmal getroffene Entscheidung gebunden. Vielmehr ist der Begriff der Schutzbedürftigkeit entwicklungsoffen288 und muss zu jeder Zeit entsprechend der aktuellen Gegebenheiten neu mit Inhalt gefüllt werden. Aus dem Sozialstaatsprinzip ergibt sich kein soziales Rückschrittsverbot, wonach der einmal erreichte „soziale Status der Betroffenen insgesamt im Wesentlichen gewahrt bleiben“ müsste289.290 Einer Ausgliederung aus der GKV können allenfalls subjektive Rechte der Betroffenen wie der Vertrauensschutz und das Eigentumsgrundrecht entgegenstehen (dazu sogleich), nicht aber das objektive verfassungsrechtliche Sozialstaatsprinzip. b) Die Abschaffung der freiwilligen Versicherung und Art. 6 Abs. 1 GG Zur Begrenzung des Versichertenkreises der GKV auf Schutzbedürftige im engeren Sinne gehört auch die Abschaffung der freiwilligen Versicherung (§ 9 SGB V) – ein Reformschritt, der in den Niederlanden der großen Reform 2006 vorausging.291 Der Versicherungsberechtigung292 liegt der Gedanke „gestufter Schutzbedürftigkeit“ 293 zugrunde: Wer im Vergleich zu den Pflichtversicherten ein „ähnliches, aber eingeschränktes Schutzbedürfnis“ 294 aufweist, ist berechtigt, sich freiwillig in der GKV zu versichern. Da eine Einschränkung auf Schutzbedürftige im engeren Sinne angestrebt wird, würde ein solches eingeschränktes Schutzbedürfnis grundsätzlich nicht mehr ausreichen. Das Gesundheitsstrukturgesetz295 hat diese Möglichkeit bereits erheblich eingeschränkt.296 Fraglich ist jedoch, ob auch eine vollständige Abschaffung der Möglichkeit zur freiwilligen Versicherung mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Bieback bestreitet
288
Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung (1974), S. 60. So aber Grabbe, Verfassungsrechtliche Grenzen der Privatisierung, S. 66. 290 Kapitel 5, B. I. 1. 291 Kapitel 4, A. I. 292 Vgl. die Legaldefinition in § 2 Abs. 1 SGB IV. 293 Reuther, in: Hommage an Josef Isensee, S. 435 (447). 294 BVerfG, Beschl. v. 15.3.2000 – 1 BvL 16/96, 1 BvL 17/96 u. a., Rn. 80, BVerfGE 102, 68 (90). 295 Gesetz zur Sicherung und Strukturverbesserung der gesetzlichen Krankenversicherung v. 21.12.1992, BGBl. I S. 2266. 296 Siehe dazu etwa Baier, in: Krauskopf, § 9 SGB V, Rn. 2. 289
C. Umgestaltungsoptionen
229
dies mit dem Argument, „unter Aspekten des sozialen Schutzes insbesondere auch der Familie gem. Art. 6 Abs. 1 GG wäre dies [. . .] kaum zu legitimieren“.297 Dem kann nicht gefolgt werden. Richtig ist zwar, dass die Möglichkeit zur freiwilligen Versicherung besonders von Personen mit vielen in der GKV beitragsfrei mitversicherten Familienangehörigen genutzt wird: Während auf 100 Pflichtversicherte im Jahr 2014 nur ca. 42 Familienversicherte kamen, kamen auf 100 freiwillig Versicherte rund 62 Familienangehörige.298 Die Versicherungsberechtigung dient daher zumindest auch der finanziellen Entlastung von Familien, die in der PKV für jedes einzelne Familienmitglied eine Prämie zu entrichten hätten. Die Familienförderung gem. Art. 6 Abs. 1 GG obliegt jedoch der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers. Er ist nicht gezwungen, sie genau auf diesem Wege zu verwirklichen. Das BVerfG führt dazu aus: „Der besondere Schutz der Familie, zu dem Art. 6 Abs. 1 GG den Staat verpflichtet, hält den Gesetzgeber aber nicht verfassungsrechtlich an, jede zusätzliche finanzielle Belastung der Familie zu vermeiden. [. . .] Die staatliche Familienförderung durch finanzielle Leistungen steht unter dem Vorbehalt des Möglichen und im Kontext anderweitiger Fördernotwendigkeiten. Der Gesetzgeber hat im Interesse des Gemeinwohls neben der Familienförderung auch andere Gemeinschaftsbelange bei seiner Haushaltswirtschaft zu berücksichtigen und dabei vor allem auf die Funktionsfähigkeit und das Gleichgewicht des Ganzen zu achten. Nur unter Abwägung aller Belange lässt sich ermitteln, ob die Familienförderung durch den Staat offensichtlich unangemessen ist und dem Förderungsgebot des Art. 6 Abs. 1 GG nicht mehr genügt. Demgemäß lässt sich aus der Wertentscheidung des Art. 6 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip zwar die allgemeine Pflicht des Staates zu einem Familienlastenausgleich entnehmen, nicht aber die Entscheidung darüber, in welchem Umfang und in welcher Weise ein solcher sozialer Ausgleich vorzunehmen ist. Aus dem Verfassungsauftrag, einen wirksamen Familienlastenausgleich zu schaffen, lassen sich konkrete Folgerungen für die einzelnen Rechtsgebiete und Teilsysteme, in denen der Familienlastenausgleich zu verwirklichen ist, nicht ableiten. Insoweit besteht vielmehr grundsätzlich Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers.“ 299
Aus Art. 6 Abs. 1 GG ist die freiwillige Versicherung nach § 9 SGB V also nicht geboten. Dies gilt erst recht, da es sich bei der Versicherungsberechtigung gar nicht explizit um eine Regelung zum Schutz der Familie handelt. Vorrangiges Regelungsziel ist vielmehr, Versicherten die Weiterversicherung in der GKV auch dann zu ermöglichen, wenn der Pflichtversicherungstatbestand entfallen ist.300
297
Bieback, in: Reformoption Bürgerversicherung, S. 126 (144). Zu den absoluten Zahlen vgl. die Gesundheitsberichterstattung des Bundes „GKV-Mitglieder und Mitversicherte Familienangehörige am 1.7.“, Zahlen von 2014, abrufbar unter: http://www.gbe-bund.de; sog. „Mitversicherungslastquote“, vgl. Rolfs, Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 112. 299 BVerfG, Urt. v. 3.4.2001 – 1 BvR 1629/94, Rn. 45 f., BVerfGE 103, 242. 300 Originäre Beitrittsrechte bestehen nur sehr eingeschränkt (s. § 9 Abs. 1 Nr. 3 und 7) und sind grundsätzlich ein Fremdkörper in der durch die Pflichtversicherung 298
230
Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
Familien profitieren von dieser Möglichkeit zwar, sie dient aber nicht speziell ihrem Schutz. Dies würde nämlich voraussetzen, dass die Versicherungsberechtigung an die Mitversicherung von Familienangehörigen gekoppelt wäre. Ein Zugangsrecht zur GKV müsste etwa bei der Geburt eines Kindes entstehen. Derartige spezifisch familiäre Gründe begründen jedoch keine Versicherungsberechtigung (vgl. § 9 SGB V). So haben auch besonders kinderreiche Versicherte, die keinen der gesetzlich geregelten Berechtigungstatbestände erfüllen, keinen Zugang zur GKV. Als Maßnahme der Familienförderung verstieße die Regelung über die freiwillige Versicherung daher gegen den Gleichheitssatz. Problematisch an einer Abschaffung der freiwilligen Versicherung ist vielmehr der Umgang mit solchen Personen, deren Versicherungspflicht entfällt und die dann keine Möglichkeit mehr haben, in der GKV zu verbleiben. Dies ist der Personenkreis, den die freiwillige Versicherung schützt.301 Der Wechsel zur privaten Krankenversicherung wird mit zunehmendem Alter (und eventuellen Erkrankungen) aufgrund der risikoäquivalenten Berechnung der Prämien teurer. Fällt der Pflichttatbestand erst spät weg, stehen diese Personen daher deutlich schlechter da, als Privatversicherte, die schon früh einen Versicherungsvertrag mit einem PKV-Unternehmen geschlossen haben und bereits Altersrückstellungen ansammeln konnten. Da der Staat diese Personen durch die GKV-Pflichtversicherung an der Ansparung von Altersrückstellungen in der PKV gehindert hat, erscheint es sachgerecht, dass der Gesetzgeber dafür Sorge trägt, dass sie nicht im Alter einen Nachteil erleiden.302 Eine vollständige Abschaffung der freiwilligen Versicherung begegnet daher Bedenken. Jedenfalls in Härtefallen muss die Möglichkeit bestehen, trotz Entfallens der Versicherungspflicht in der GKV zu verbleiben. Um den Kreis der Versicherungsberechtigten weiter zu schmälern, käme etwa in Betracht, die erforderlichen Vorversicherungszeiten gem. § 9 Abs. 1 Nr. 1 und 2 SGB V weiter zu verlängern und/oder originäre Beitrittsrechte vollständig zu versagen. Deutlich abgeschwächt wird die Problematik durch die Möglichkeit der Versicherung im Basistarif der PKV, wo ein Versicherungsschutz im Leistungsumfang der GKV ohne Risikoprüfung zu Prämien möglich ist, die den GKV-Höchstsatz nicht übersteigen.303
geprägten GKV; vgl. Peters, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, § 9 SGB V, Rn. 10, 12; Just, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 9, Rn. 1. 301 Siehe etwa BVerfG, Beschl. v. 15.3.2000 – 1 BvL 16/96, 1 BvL 17/96 u. a., Rn. 80, BVerfGE 102, 68 (90); Peters, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, § 9 SGB V, Rn. 12. 302 Rolfs, Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 111; Schulin, ZVersWiss 1994, 29 (33). 303 Zum Basistarif oben Kapitel 1 B. III.
C. Umgestaltungsoptionen
231
c) Der Ausschluss langjähriger Versicherter aus der GKV und der Eigentums- und Vertrauensschutz Auch wenn einer langfristigen Reduzierung des Versichertenkreises der GKV aus verfassungsrechtlicher Sicht nichts entgegensteht, so ist der Übergang doch nur schrittweise möglich.304 Ob dies schon aus Art. 14 Abs. 1 GG folgt, wird unterschiedlich beurteilt. Das BVerfG305 erstreckt seit den 80er Jahren den Eigentumsschutz auf Versichertenrenten und die Anwartschaften auf Versichertenrenten der gesetzlichen Rentenversicherung.306 Nach den Grundsätzen des BVerfG fallen alle gesetzlichen Ansprüche gegen den Staat unter Art. 14 Abs. 1 GG, die jedenfalls teilweise auf einer Eigenleistung des Berechtigten beruhen, ihm ausschließlich und privatnützig zugeordnet sind und der Existenzsicherung dienen.307 Hierzu können auch die Ansprüche aus der gesetzlichen Krankenversicherung gezählt werden. Da in der GKV anders als in der PKV kein Kapital für zukünftige Leistungen angespart wird, sondern die Beiträge nur aktuelle Leistungsansprüche begründen, gehen andere dagegen davon aus, dass der Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG nicht eröffnet ist,308 sondern der rechtsstaatliche Vertrauensschutz den Maßstab bilde. Einer Entscheidung bedarf diese Frage nicht, da die Reichweite des Schutzes identisch ist: Auch die Befürworter der Eigentumsfähigkeit sozialversicherungsrechtlicher Leistungsansprüche gehen nämlich von einem weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers aus. Er kann die Rechtspositionen aus der Sozialversicherung kürzen und umgestalten.309 Unter gewissen Umständen kann sogar eine Streichung von Ansprüchen zulässig sein.310 Der Gesetzgeber ist aber verpflichtet, angemessene Übergangsregelungen zu erlassen. In diesem Fall kommen nur Übergangsfristen in Betracht: Versicherte, die sich über Jahre an dem Solidarausgleich in der GKV 182 ff.311 beteiligt haben, müssen im Alter von diesem profitieren können.312 Da den Versicherten die Vorteile des sozialen Aus-
304
Vgl. dazu Hase, SDSRV 51, S. 7 (27). BVerfG, Urt. v. 28. 2.1980 – 1 BvL 17/77, 1 BvL 7/78 u. a., Rn. 146, BVerfGE 53, 257 (288 ff.). 306 Siehe näher dazu etwa Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rn. 137. 307 BVerfG, Urt. v. 28. 2.1980 – 1 BvL 17/77, 1 BvL 7/78 u. a., Rn. 146, BVerfGE 53, 257 (288 ff.); s. a. Sodan/Adam, NZS 2008, 1 (2); Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 205 f. 308 Hase, SDSRV 51 (2003), 7 (27); Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 14, Rn. 182 ff. 309 BVerfG, Urt. v. 28.4.1999 – 1 BvL 32/95, 1 BvR 2105/95, Rn. 92, BVerfGE 100, 1 (37 f.). 310 BVerfG, Beschl. v. 9.1.1991 – 1 BvR 929/89, Rn. 50, BVerfGE 83, 201 (211 f.). 311 BVerfG, Urt. v. 28.4.1999 – 1 BvL 32/95, 1 BvR 2105/95, Rn. 92, BVerfGE 100, 1 (37 f.). 312 Hase, SDSRV 51, S. 7 (27); ders., Versicherungsprinzip, S. 358 ff. 305
232
Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
gleichs meist erst im Alter zugute kommen, wenn sie verstärkt auf Gesundheitsleistungen angewiesen sind, dürfen sie nicht plötzlich aus der Solidargemeinschaft ausgeschlossen werden. 2. Horizontale Trennung: Bürger-Grundsicherung vs. Zusatzversicherungen Derzeit populärer aber verfassungsrechtlich problematischer erscheint der Weg einer horizontalen Trennung der Aufgaben. Er wäre mit einer grundlegenden Neuorientierung verbunden: GKV und PKV stünden hier nicht als substitutive Vollversicherungssysteme nebeneinander, sondern die GKV wäre für die – mehr oder weniger umfangreiche – Grundsicherung der gesamten Bevölkerung verantwortlich, während die PKV für darüber hinausgehende Zusatzversicherungen offen stünde. Wie viele Leistungen dabei die GKV abdecken und wie viel Raum für private Absicherung bleiben soll, wird unterschiedlich beurteilt: Sehr prominent geworden ist das Modell der sog. „Bürgerversicherung“, das durch die Rürup-Kommission313 als eine von zwei konzeptionellen Alternativen entwickelt und als politisches Konzept der Parteien SPD, Bündnis90/Die Grünen und Die Linke – in ergänzter oder variierter Form – adaptiert wurde. Die „Bürgerversicherung in Reinform“ vertritt heute nur noch Die Linke.314 In ihrem Wahlprogramm 2013 fordert sie „eine solidarische Gesundheitsversicherung: eine Kasse für alle“ 315. Alle Bevölkerungsgruppen sollen in die Pflichtversicherung der GKV einbezogen und die Versicherungspflichtgrenze (perspektivisch) aufgehoben werden, so dass grundsätzlich die gesamte Bevölkerung in der GKV versichert ist. Bei der Berechnung der Beiträge sollen neben dem Erwerbseinkommen auch andere Einkunftsarten Berücksichtigung finden. Das Angebot privater Versicherer soll auf Zusatzversicherungen beschränkt sein. Die RürupKommisssion hatte eine Zurückdrängung der Privatversicherung in den Bereich der „Wellness“-Versicherung vorgeschlagen: „Leistungen, deren medizinische Notwendigkeit nicht nachgewiesen werden kann oder die reinen Wellness-Charakter haben, können über private Zusatzversicherungen abgedeckt werden. Diese Versicherungen können von der privaten Versicherungs-
313 Im November 2002 vom Bundesministerium für Gesundheit eingesetzte Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme; nach deren Vorsitzendem Bert Rürup benannt, zur Bürgerversicherung s. den Bericht 2003, S. 149–161. 314 SPD und Grüne streben eine „Bürgerversicherung“ an, die sowohl von gesetzlichen Krankenkassen als auch von privaten Versicherern bereitgestellt wird, s. sogleich Kapitel 5, C. II 2. a) aa). 315 Die Linke, Wahlprogramm 2013 „100% sozial“, S. 20, abrufbar unter: http:// www.die-linke.de/wahlen/wahlprogramm/.
C. Umgestaltungsoptionen
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branche angeboten werden. [. . .] Alle medizinisch notwendigen und wirksamen Leistungen werden weiterhin über die gesetzliche Krankenversicherung abgedeckt.“ 316
Dem schließt sich Die Linke an. Sie fordert: „Alle medizinisch notwendigen Leistungen müssen wieder von der Krankenkasse bezahlt werden.“ 317 „Die private Krankenversicherung wird auf Zusatzleistungen beschränkt.“ 318 Eine ganz andere Aufgabengewichtung schlägt Hase319 vor, der sein Konzept für ein Gebot der Verfassung hält: Er befürwortet ebenfalls eine Ausweitung des GKV-Versichertenkreises auf die gesamte Bevölkerung, denn bei jedem könne ein medizinischer Versorgungsbedarf auftreten, der individuell nicht zu tragen sei. Die Anknüpfung an den Arbeitnehmerstatus sei überholt. Jedoch dürfe der Leistungskatalog der GKV nicht den gesamten medizinischen Bedarf umfassen, vielmehr müsse er weiter verringert werden. Er müsse auf die Leistungen beschränkt sein, „die der Einzelne in eigener Verantwortung nicht bewältigen kann“. Anders als das Modell der „Bürgerversicherung“ intendiert Hase also keine Zurückdrängung der PKV auf Randbereiche, sondern eine Ausweitung des privaten Versicherungsschutzes, der nur insoweit durch ein öffentliches Grundsicherungssystem320 ergänzt wird, wie dies zwingend erforderlich ist. Trotz der unterschiedlichen Aufgabenverteilung zwischen den Systemen stellen sich in beiden dargestellten Varianten die gleichen rechtlichen Fragen. Insbesondere ist die personelle Ausweitung des Versichertenkreises der GKV auf ihre verfassungsrechtliche Zulässigkeit hin zu prüfen: Kann und darf ein Sozialversicherungssystem die ganze Bevölkerung umfassen? Ferner muss eruiert werden, wie weit der Aufgabenkreis der PKV reduziert werden darf und wo hier Grenzen aus den Grundrechten und dem europäischen Recht erwachsen. a) Kompetenztitel für die „Bürgerversicherung“? Da die „Bürgerversicherung“ bzw. die alle Bürger umfassende „Grundsicherung“ (fortan einheitlich: Bürgerversicherung) nach den Funktionsbedingungen der GKV arbeiten soll, liegt der Kompetenztitel des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nahe. Danach kommt dem Bund die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit für „die Sozialversicherung einschließlich der Arbeitslosenversicherung“ zu. Es 316
Bericht Rürup-Kommission, S. 149. Die Linke, Wahlprogramm 2013 „100% sozial“, S. 20, abrufbar unter: http:// www.die-linke.de/wahlen/wahlprogramm/. 318 Die Linke, Wahlprogramm 2013 „100% sozial“, S. 22, abrufbar unter: http:// www.die-linke.de/wahlen/wahlprogramm/. 319 Hase, SDSRV 51 (2003), S. 7 (insb. 24 ff.). 320 Hase hält zwar auch eine privatrechtlich organisierte „Grundsicherung“ für möglich, die dann aber durch verbindliche gesetzliche Vorgaben so reguliert sein müsste, dass Marktmechanismen ausgeschlossen würden. Auf diese Möglichkeit wird hier nicht näher eingegangen, vgl. dazu Hase, SDSRV 51 (2003), S. 7 (25 ff.). 317
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
gilt also zu klären, ob eine Bürgerversicherung „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ist. Das Bundesverfassungsgericht versteht Sozialversicherung in ständiger Rechtsprechung als weitgefassten321 „verfassungsrechtlichen Gattungsbegriff, der alles umfasst, was sich der Sache nach als Sozialversicherung darstellt“ 322. Als Gattung bzw. Typus ist die Sozialversicherung also nicht abschließend durch bestimmte Kriterien definierbar, sondern lässt sich nur in ihrem Wesen anhand typologischer Merkmale beschreiben. Dennoch gewährt Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG keine umfassende Kompetenz für die soziale Sicherheit.323 Sozialversicherung im Sinne des Kompetenztitels ist nach dem BVerfG nur, was in seinen „wesentlichen Strukturelementen, insbesondere in der organisatorischen Durchführung und hinsichtlich der abzudeckenden Risiken dem Bild [entspricht], das durch die ,klassische‘ Sozialversicherung geprägt ist“.324 Das „Urbild“ 325 bildet insoweit die Bismarcksche Arbeiterversicherung. Zu den wesentlichen Strukturmerkmalen gehören nach dem BVerfG jedenfalls: – „die gemeinsame Deckung eines möglichen, in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarfs durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit“, – „das soziale Bedürfnis nach Ausgleich besonderer Lasten“, – die organisatorische Bewältigung der Aufgabe durch selbständige Anstalten oder Körperschaften des öffentlichen Rechts und – die Aufbringung der Mittel durch Beiträge – der „Beteiligten“. 326 321 Zunächst nur „verfassungsrechtlichen Gattungsbegriff“, später klarstellend ergänzt durch „weitgefasst“, vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.1.1983 – 2 BvL 23/81, Rn. 112, BVerfGE 63, 1 (35); zuvor: Entsch. v. 10.5.1960 – 1 BvR 190/58, 1 BvR 363/58 u. a., Rn. 19, BVerfGE 11, 105 (111 ff.). 322 BVerfG, Entsch. v. 10.5.1960 – 1 BvR 190/58, 1 BvR 363/58 u. a., Rn. 19, BVerfGE 11, 105 (111 ff.); Beschl. v. 8.4.1987 – 2 BvR 909/82, 2 BvR 934/8275 u. a., Rn. 95, BVerfGE 75, 108 (146) – st. Rspr. 323 BVerfG, Entsch. v. 10.5.1960 – 1 BvR 190/58, 1 BvR 363/58 u. a., Rn. 17 ff., BVerfGE 11, 105 (111 f.); s. a. etwa Maunz in: Maunz/Dürig, GG Art. 74, Rn. 171; diese Auslegung ergibt sich auch bereits aus der Systematik des Art. 74 GG: Würde Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 eine umfassende Kompetenz für die soziale Sicherheit gewähren, verlören Nr. 7 und Nr. 10 ihren eigenen Anwendungsbereich. Vgl. dazu auch Schnapp/ Kaltenborn, Friedensgrenze, S. 13. 324 BVerfG, Beschl. v. 8.4.1987 – 2 BvR 909/82, 2 BvR 934/8275 u. a., Rn. 95, BVerfGE 75, 108 (146). 325 Isensee, NZS 2004, 393, 395. 326 BVerfG, Beschl. v. 8.4.1987 – 2 BvR 909/82, 2 BvR 934/8275 u. a., Rn. 95, BVerfGE 75, 108 (146); s. auch die vier Habilitationsschriften zum Sozialversicherungsbegriff von Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich; Rolfs, Versicherungsprinzip und Sozialversicherungsrecht; J. Becker, Transfergerechtigkeit und Verfassung; Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung; vergleichend: Bieback, VSSR 2003, S. 1 ff.
C. Umgestaltungsoptionen
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Dass ein Bürgerversicherungssystem diesem klassischen Bild entspricht und daher „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ist, lässt sich nicht bereits mit einem Verweis auf die ebenfalls als Volksversicherung ausgestaltete Pflegeversicherung begründen327, die das Bundesverfassungsgericht für verfassungskonform erklärt hat328. Zwar bezieht der Gesetzgeber hier grundsätzlich alle Bürger in die Pflege-Pflichtversicherung ein, er weist sie jedoch akzessorisch zu ihrer Krankenversicherung der sozialen oder der privaten Pflegeversicherung zu. Die Dualität zwischen Sozial- und Privatversicherung bleibt also erhalten, auch wenn die Privatversicherer weitreichenden sozialrechtlichen Bindungen unterworfen werden.329 Fraglich bleibt also, ob die GKV nach Aufhebung der Versicherungspflichtgrenze und Einbeziehung auch der Beamten, Selbständigen und Sozialhilfeempfänger noch dem soeben dargestellten „Bild [entspricht], das durch die ,klassische‘ Sozialversicherung geprägt ist“. Daran könnte man zunächst deshalb zweifeln, weil die vorrangige Anknüpfung der Sozialversicherungspflicht an den Arbeitnehmerstatus aufgegeben wird. Darin liegt insofern eine Abkehr von dem Bild der Krankenversicherung Bismarcks, als diese reine Arbeiterversicherung war. Die enge Verknüpfung der Sozialversicherung mit dem Arbeitsrecht kommt auch in der Systematik des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zum Ausdruck, der Sozialversicherung zusammen mit dem „Arbeitsrecht“, der „Betriebsverfassung“, dem „Arbeitsschutz“ und der „Arbeitsvermittlung“ nennt. Fraglich ist aber, ob diese Verbindung für das Wesen der Sozialversicherung konstitutiv ist. Das Bundesverfassungsgericht zählt „die Beschränkung auf Arbeitnehmer und eine Notlage“ nicht zum Wesen der Sozialversicherung.330 Auf Arbeitnehmer beschränkt ist die GKV auch schon lange nicht mehr: Bereits zur Zeit der Entstehung des Grundgesetzes erfasste die Sozialversicherung auch Selbständige.331 Aber auch wenn die GKV keine reine Arbeitnehmerversicherung ist, so bedeutet die Bürgerversicherung dennoch einen neuen Schritt: Während in die GKV andere Personengruppen dann einbezogen werden, wenn sie im Vergleich zu Arbeitnehmern ein ähnliches Schutzbedürfnis aufweisen, wird dieses Leitbild des Arbeitnehmers in der Bürgerversicherung hinfällig. Da jeder Bürger originär pflichtversichert ist, erübrigt sich bereits der Vergleich. Die Bürgerversicherung „zerschneidet die Verbindung der Sozialversicherung mit
327 So aber offenbar Bieback, in: Engelen-Kefer, Reformoption Bürgerversicherung, S. 126 (129). 328 BVerfG, Urt. v. 3.4.2001 – 1 BvR 2014/95, BVerfGE 103, 197. 329 Siehe auch Axer, in: GS Heinze, S. 1 (3); Isensee, NZS 2004, 393 (395 f.); Sodan, in: Die sozial-marktwirtschaftliche Zukunft der Krankenversicherung, S. 9 (14). 330 Beschl. v. 8.4.1987 – 2 BvR 909/82, 2 BvR 934/8275 u. a., Rn. 95, BVerfGE 75, 108 (146). 331 Vgl. zur Entwicklung der Sozialversicherung Kapitel 1, A. III.
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
dem Arbeitsmarkt“ 332. Ob dieser Umstand ihr Wesen so verändert, dass von Sozialversicherung nicht mehr gesprochen werden kann333, kann aber letztlich dahinstehen, wenn der Gesetzgeber sich bereits aus einem anderen Grund nicht auf den Kompetenztitel des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG berufen kann. Verschiedentlich wird ausgeführt, die Bürgerversicherung sei deshalb keine Sozialversicherung, weil sie nicht „die gemeinsame Deckung eines möglichen, in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarfs durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit“ 334 sei. Der Bedarf werde nicht durch Verteilung auf eine Vielheit, sondern auf die Gesamtheit der Bevölkerung gedeckt.335 Allein aus dem Wortlaut „Vielheit“ zu lesen, der Kreis der Sozialversicherten müsse sich von der Allgemeinheit unterscheiden, geht m. E. jedoch zu weit. Das BVerfG umschreibt mit der genannten Formulierung das Charakteristikum einer Versicherung. Eine Versicherung funktioniert nicht mit einem einzelnen Versicherten, sondern zeichnet sich durch die gemeinsame Risikotragung einer Vielzahl von Versicherten aus. Eine Grenze nach oben ergibt sich aus der Definition der Versicherung selbst noch nicht.336 Fraglich ist aber, ob sich auch eine Sozialversicherung auf die gesamte Bevölkerung erstrecken kann ohne ihr Wesen als Versicherung zu verlieren. Das Versicherungsprinzip grenzt die Sozialversicherung von der Sozialhilfe als „öffentliche Fürsorge“ ab. Die Sozialhilfe gewährt Leistungen unabhängig von einer Gegenleistung ausschließlich aufgrund der individuellen Bedürftigkeit. Die Sozialversicherung geht dagegen von einem „Mindestmaß an Leistungsfähigkeit“ 337 des Versicherten aus. Erst der Versicherungsbeitrag berechtigt den Versicherten und seine mitversicherten Familienangehörigen zur Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen. Diese Wechselseitigkeit von Leistung und Gegenleistung, die in der GKV bereits durch das Solidarprinzip gelockert ist, könnte in einer Bürgerversicherung gänzlich zugunsten eines totalen Solidarausgleichs verloren gehen: Die Versicherungspflicht knüpft hier nämlich nicht wie bisher an ein bestehendes Arbeitsverhältnis oder einen vergleichbaren gesetzlich definierten Tatbestand an, sondern jeder Einwohner hat Anspruch auf die Versicherungs332 Isensee, NZS 2004, 393 (396) (Zitat); ebenso Rolfs, Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 109. 333 So wohl Rolfs, Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 109; Isensee, NZS 2004, 393 (396); dagegen Bieback, Bürgerversicherung, S. 56 f. 334 Beschl. v. 8.4.1987 – 2 BvR 909/82, 2 BvR 934/8275 u. a., Rn. 95, BVerfGE 75, 108 (146). 335 So etwa Sodan, in: Die sozial-marktwirtschaftliche Zukunft der Krankenversicherung, S. 9 (12); Rolfs, Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 105 f.; André, ZRP 1976, 177; Maunz, in: Maunz/Dürig, GG Art. 74, Rn. 172. 336 Ebenso Bieback, in: Reformoption Bürgerversicherung, S. 126 (129); ders., SozSich 2003, 418; Walser, ZESAR 2006, 333 (334). 337 Isensee, NZS 2004, 393 (396).
C. Umgestaltungsoptionen
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leistungen. Gleichzeitig ist jeder zur Beitragsleistung entsprechend seiner Leistungsfähigkeit verpflichtet. Keinen Beitrag zahlt, wer mangels Einkommens und anderer Einkünfte hierzu nicht in der Lage ist. Erhält aber jeder den Leistungsanspruch aus der Bürgerversicherung unabhängig davon, ob und in welcher Höhe er einen Beitrag leistet und entsteht dieser bereits originär mit der Geburt, so stehen Leistung und Gegenleistung in keinem Verhältnis mehr zu einander.338 Wer für seine Gesundheitssicherung zahlt, erhält keinen Vorteil gegenüber dem, der nicht zahlt.339 Ohne äquivalenten Gegenwert bleibt der Beitrag insbesondere für diejenigen, die besonders viel in die Bürgerversicherung einzahlen340: sie könnten eine vergleichbare Absicherung auf privatem Wege deutlich günstiger erhalten und ihr Beitrag stellt sich daher in erster Linie als fremdnützig dar.341 Der Versicherungscharakter geht daher in der Bürgerversicherung gegenüber der heutigen GKV noch stärker verloren. Bei näherem Hinsehen steht – wie Isensee zutreffend herausstellt – vielmehr ein voraussetzungsloser sozialhilfeähnlicher Anspruch neben einer zweckgebundenen Steuer.342 Eine steuerfinanzierte soziale Sicherung gegen Krankheit ist aber nicht von der Kompetenz des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG erfasst. Dass sich die sozialversicherungsrechtliche Solidargemeinschaft von der Allgemeinheit unterscheiden muss, bestätigt sich daher. Das ergibt sich zwar nicht schon aus der Formulierung „Vielheit“ des BVerfG, wohl aber aus dem Erfordernis, dass das die Sozialversicherung charakterisierende Versicherungsprinzip nicht ganz von dem Solidarprinzip überlagert werden darf. Beide Prinzipien charakterisieren die Sozialversicherung, stehen aber in einem gewissen Konflikt, der im Wege praktischer Konkordanz aufgelöst werden muss.343 Findet ein Solidarausgleich unter der gesamten Bevölkerung statt, so unterscheidet sich dieser in nichts von dem durch Steuern bewirkten Solidarausgleich innerhalb der Solidargemeinschaft Staat.344 Von Versicherung bleibt zwangsläufig nichts mehr über. Die Bürgerversicherung hat damit nicht mehr das Wesen einer Sozialversicherung, sondern bildet ein neues Vorsorgesystem eigener Art. Sie ist daher nicht von der Kompetenz des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gedeckt. 338
Isensee, NZS 2004, 393 (398). Isensee, NZS 2004, 393 (396). 340 Isensee, NZS 2004, 393 (397 f.). 341 Abgemildert werden kann dieser Effekt durch die Festlegung einer Beitragsbemessungsgrenze, die dafür Sorge trägt, dass Beitrag und Leistungsanspruch nicht völlig außer Verhältnis stehen. Die Beitragsbemessungsgrenze ganz abzuschaffen fordert aber Die Linke. 342 Isensee, NZS 2004, 393 (398); Sodan, in: Die sozial-marktwirtschaftliche Zukunft der Krankenversicherung, S. 9 (13); Kirchhof, NZS 2004, 1 (6). 343 Schnapp/Kaltenborn, Friedensgrenze, S. 16 ff. 344 Schmidt-Aßmann, NJW 2004, 1689 (1694) spricht von einer „verkappten Einkommenssteuer“. 339
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
Auch andere Kompetenztitel scheiden aus: Da die Bürgerversicherung keinen Versicherungscharakter mehr aufweist, kann sie noch weniger auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG für das privatrechtliche Versicherungswesen gestützt werden. Die Kompetenztitel für die soziale Sicherheit – „öffentliche Fürsorge“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7) und Versorgung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 10, Art. 74 Abs. 1, 3 und 4) – kommen ebenso wenig in Betracht. Öffentliche Fürsorge ist die Bürgerversicherung nicht, weil sie mit einer Gesundheitsversorgung für die gesamte Bevölkerung weit über eine staatliche Unterstützung Hilfsbedürftiger hinausgeht. Die Fürsorge ist historisch aber aus der örtlichen Armenpflege erwachsen.345 Ein Vorsorgesystem, dass alle Bürger integriert und gegen Krankheit sichert, entfernt sich daher zu weit von dem Bild, das durch die „klassische Fürsorge“ geprägt ist346. Der Sache nach stellt sich die Bürgerversicherung eher als Versorgung dar.347 Gesetzgebungskompetenz für die Versorgung hat der Bund aber nur für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene (Art. 73 Abs. 1 Nr. 13 GG).348 b) Vereinbarkeit des Bürgerversicherungsbeitrags mit der Finanzverfassung? Neben der Funktion als Kompetenztitel ermächtigt Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG den Bund auch zur Regelung des von den Sozialversicherungsträgern erhobenen Beitrags als integralem Bestandteil der Sozialversicherung. Da die Bürgerversicherung nicht Sozialversicherung ist, kann aber auch der für sie erhobene „Beitrag“ nicht auf diese Grundlage gestützt werden. Bei dem „Beitrag“ zur Bürgerversicherung handelt es sich nicht mehr um eine Risikoprämie mit sozialem Ausgleich349, sondern um eine Steuer. Nach dem im Grundgesetz nicht definierten, aber von den Bestimmungen der Finanzverfassung vorausgesetzten Steuerbegriff sind Steuern Geldleistungen, die keine Gegenleistung für eine besondere Leistung darstellen. Sie werden zur Erzielung von Einnahmen allen auferlegt, bei denen der Tatbestand zutrifft, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft.350 Der Bürgerversicherungsbeitrag wird von jedem Bürger entsprechend seiner individuellen Leistungsfähigkeit erhoben und ist – wie oben geschildert – unabhängig von einer besonderen Leistung. Dass er zweckgebunden für die Gesundheitsversorgung ausgegeben wird, hindert die Qualifikation als Steuer nicht. Das Steuer345
Siehe etwa Seiler, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 74, Rn. 23. BVerfG, Urt. v. 24.10.2002 – 2 BvF 1/01, Rn. 281, BVerfGE 106, 62 (133). 347 Siehe auch Isensee, NZS 2004, 393 (396). 348 Die Versorgung der Beamten und Richter ist seit der Aufhebung des Art. 74a GG m.W. v. 1.9.2006 (Gesetz v. 28.8.2006, BGBl. I S. 2034) ausdrücklich den Ländern vorbehalten, vgl. Art. 74 Abs. 1 Nr. 27 GG. 349 So beschreibt das BVerfG den Sozialversicherungsbeitrag: BVerfG, Beschl. v. 30.9.1987 – 2 BvR 933/82, BVerfGE 76, 256 (300 f.); s. auch Kirchhof, NZS 2004, 1 (5). 350 Vgl. statt vieler Kube, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 105, Rn. 3 f. 346
C. Umgestaltungsoptionen
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recht kennt auch Zwecksteuern, wie etwa die Mineralölsteuer, denen das Grundgesetz nicht generell entgegensteht.351 Als Steuer aber unterliegt der „Bürgerversicherungsbeitrag“ den Vorgaben der Finanzverfassung gem. Art. 104 a ff. GG.352 Steuern können gem. Art. 106 GG nur von Bund, Ländern, Gebietskörperschaften erhoben werden, nicht aber von Krankenkassen. Die Erhebung der Zwecksteuer für die Gesundheitsversorgung durch die Krankenkassen selbst würde daher der Finanzverfassung widersprechen. Seine Erhebung wäre daher selbst dann unzulässig, wenn sich ein anderer Kompetenztitel für die Bürgerversicherung finden ließe.353 Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass die Beiträge der Versicherten seit 2009 nicht mehr von den Kassen selbst verwaltet werden, sondern dem Gesundheitsfonds (§ 271 SGB V) zufließen. Zwar werden die Beiträge hier vom Bundesversicherungsamt als Sondervermögen verwaltet (vgl. § 271 Abs. 1 SGB V), Zuordnungssubjekt dieser Zahlungen ist aber dennoch nicht der Bund. Vielmehr werden die Beträge als Sondervermögen der Gemeinschaft der Krankenkassen verwaltet.354 Um die steuerfinanzierte Bürgerversicherung in Einklang mit der Finanzverfassung zu bringen, müsste dann aber der Gesundheitsfonds dem Bund zugeordnet werden können. Ein entsprechender Umbau wäre denkbar. Kirchhof schlägt vor, es sei „praktischer, eine Bürgerversicherung aus dem Aufkommen einer dafür erhöhten Einkommensteuer zu finanzieren, statt zwei aufwendige Abgabensysteme zu betreiben, deren eine Säule zwar noch das Etikett ,Sozialversicherungsbeitrag‘ [trage], materiell aber eine Zwecksteuer [bilde] oder ihr gleich [komme]“.355 c) Die Grundrechte der Versicherungspflichtigen Die Auferlegung der Pflichtmitgliedschaft in einem Zwangsversicherungssystem ist ferner an dem Grundrecht der zu Versichernden auf Vorsorgefreiheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG zu messen.356 Abgesehen davon, dass ein Gesetz über die Bürgerversicherung schon deshalb ungerechtfertigt in dieses Grundrecht eingreift, weil es formell verfassungswidrig erlassen ist, könnte es auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzen. Wie bereits im Einzelnen dargestellt, bie351
Vgl. ausführlich zur Zwecksteuer etwa Waldhoff, StuW 2002, 285. Siehe auch die Ausführungen von Axer, in: GS Heinze, S. 1 (3 f.). 353 Axer, in: GS Heinze, S. 1 (4). 354 Sächs. LSG, Beschl. v. 7.11.2011 – L 1 KR 173/10 B ER, Rn. 29, KrV 2012, 32; Pfohl/Sichert, NZS 2009, 71; Göpffarth, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 271, Rn. 10; A. Becker, in: jurisPK-SGB V, § 271, Rn. 16; a. A.: SG München, Urt. v. 2.3.2010 – S 19 KR 873/09, Rn. 26, juris. 355 Kirchhof, NZS 2004, 1 (6). 356 Vgl. ausführlich Kapitel 5, B. II. 3. a) aa) (1). 352
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
tet nur die Absicherung sozial Schutzbedürftiger einen zulässigen Rechtfertigungsgrund für die Einbeziehung neuer Versichertengruppen in ein Zwangsversicherungssystem. Dabei ist nicht die individuelle Schutzbedürftigkeit maßgeblich, sondern eine typisierende, die auf das Sicherungsbedürfnis einer nach bestimmten Kriterien abgegrenzten Gruppe schaut.357 Zwar hat das Bundesverfassungsgericht mehrfach die Sicherung der finanziellen Stabilität und Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung358 als überragend wichtigen Gemeinwohlbelang herausgestellt. Dieser rechtfertigt aber ausschließlich Beitragserhöhungen, Leistungskürzungen oder Randkorrekturen bestehender Versichertengruppen359, nicht hingegen die Einbeziehung völlig neuer Gruppen in die Sozialversicherung.360 Aber selbst wenn man dieses Anliegen als legitimen Zweck für die Ausweitung der Sozialversicherungspflicht anerkennt, erscheint fraglich, ob eine Bürgerversicherung zu diesem Zweck verhältnismäßig ist. Zweifel kann man bereits an der Geeignetheit der Maßnahme haben. Zwar verbreitert die Einbeziehung weiterer Versicherter die Einnahmenbasis der GKV, ebenso steigen aber auch die Ausgaben. Durch die Erstreckung auf Beamte und Selbständige werden entgegen dem öffentlichen Bild von den heutigen PKV-Versicherten nämlich nicht nur „Besserverdiener“ in die GKV integriert; außerdem können auch diese krank werden. Jedenfalls aber ergeben sich Zweifel hinsichtlich der Erforderlichkeit: Die Bürgerversicherung kann aufgrund der mit ihr verbundenen erheblichen Intensität des Grundrechtseingriffs allenfalls ultima ratio sein. Zwar kommt dem Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative bei der Bewertung der Geeignetheit und Erforderlichkeit möglicher Reformoptionen zu.361 Auf der Grundlage der umfangreichen Vorschläge und Untersuchungen, die von Seiten der Gesundheitsökonomie geleistet wurden, darf jedoch bestritten werden, dass andere weniger einschneidende Mittel nicht zur Verfügung stehen, um die finanzielle Stabilität zu verbessern.362 Beamte, Selbständige und andere Bevölkerungskreise können also nur dann in die Bürgerversicherung integriert werden, wenn sie sich bei typisierender Betrachtungsweise selbst als schutzbedürftig darstellen, wenn eine Bürgerversiche357
Siehe Kapitel 5, B. II. 3. a) aa) (1). Siehe etwa BVerfG, Beschl. v. 20.3.2001 – 1 BvR 491/96, Rn. 41 ff., BVerfGE 103, 172 (184 f.); BVerfG, Nichtannahmebeschl. v. 4.2.2004 – 1 BvR 1103/03, Rn. 17, NZS 2005, 479 (480). 359 Siehe Kirchhof, NZS 2004, 1 (2) m.w. N. 360 Isensee, NZS 2004, 393 (398 f.); Kirchhof, NZS 2004, 1 (2); a. A.: Bieback. 361 Siehe etwa BVerfG, Beschl. v. 20.3.2001 – 1 BvR 491/96, Rn. 43, BVerfGE 103, 172 (184 f.). 362 Wie Axer zurecht anmerkt, ist es eine verfassungsrechtliche Frage, ob mildere Mittel zur Verfügung stehen. Damit der Grundrechtsschutz im Sozialversicherungsrecht nicht leer läuft, muss zumindest die Bewertung der Eingriffswirkungen im Vergleich mit anderen Optionen gerichtlich überprüfbar sein; vgl. Axer, in: GS Heinze (2005), S. 1 (7 f.). 358
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rung also dem Eigeninteresse des Versicherten an einer Absicherung im Krankheitsfall gerecht wird. Von „unnötigen“ Körperschaften kann der Einzelne dagegen wegen seines Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG nicht in Anspruch genommen werden.363 Durch die aktuell schon bestehende umfassende Versicherungspflicht für alle Bürger in der GKV oder der PKV gem. § 193 Abs. 3 VVG bringt der Gesetzgeber zum Ausdruck, dass er einen Versicherungsschutz für jeden Bürger für erforderlich hält. Schutzbedürftigkeit als Grund und Grenze der Sozialversicherung fordert aber mehr: Schutzbedürftig ist danach nur, wer gerade der Absicherung durch ein öffentlich-rechtliches Solidarsystem mit Zwangsmitgliedschaft bedarf, weil er „der Wechselfälle des Lebens [selbst] nicht Herr zu werden [vermag]“ 364. Wer anderweitig abgesichert ist oder sich ebenso gut auf privatem Wege versichern kann, bedarf nicht eines staatlich organisierten Schutzes. Bieback, der eine Vollversicherung der gesamten Bevölkerung durch den Staat für gerechtfertigt hält, begründet zumindest die Einbeziehung aller Selbständigen mit der Schutzbedürftigkeit der sog. „kleinen Selbständigen“. Untersuchungen über die soziale Lage von Selbständigen zeigten, dass „ein erheblicher Teil [. . .] in so bescheidenen und wechselhaften ökonomischen Verhältnissen [lebe], dass er nicht hinreichend für das Alter vorsorgen [könne] und [vorsorge]“ 365. Die zulässige Typisierung rechtfertige daher auch die Einbeziehung solcher Gruppenmitglieder, die von ihrem Einkommen her an sich auch zur eigenen Sicherung fähig wären. Hase geht zwar ebenfalls von einer solchen Schutzbedürftigkeit (fast) aller Bürger aus, allerdings nur im Umfang einer Grundsicherung. Mit der Schutzbedürftigkeit rechtfertigt er nicht nur einen umfassenden Sozialversicherungszwang, sondern hält diesen sogar für verfassungsrechtlich geboten. Es gebe „heute selbst in wohlhabenden Gesellschaften wie der unseren fast niemanden, bei dem nicht irgendwann, wenn die Dinge einen sehr ungünstigen Verlauf nehmen, ein medizinischer Versorgungsbedarf auftreten [könne], der individuell nicht zu beherrschen [sei]. [. . .] Insofern [habe] die grundsätzliche Einengung des sozialversicherungsrechtlichen Regelungssatzes auf Erwerbstätige und zumal auf Arbeitnehmer ihre Plausibilität verloren.“ 366 Was den Umfang der von der sozialen Versicherung umfassten Leistungen angeht, sieht er dagegen das Erfordernis einer Einschränkung: Die meisten Versicherten könnten heute zumindest den weitaus größten Teil ihres medizinisch-gesundheitlichen Bedarfs selbst si363 BVerfG, Beschl. v. 18.12.1974 – 1 BvR 430/65, 1 BvR 259/66, Rn. 88, BVerfGE 38, 281 (298); vgl. auch Kirchhof, NZS 2004, 1 (2 f.); Sodan, in: Die sozial-marktwirtschaftliche Zukunft der Krankenversicherung, S. 9 (15). 364 „Die Sozialversicherung dient dem Schutz der wirtschaftlich und sozial schwachen Bevölkerungsteile, die der Wechselfälle des Lebens nicht Herr zu werden vermögen.“, BVerfG, Entsch. v. 26.11.1964 – 1 BvL 14/62, Rn. 31, BVerfGE 18, 257. 365 Bieback, in: Reformoption Bürgerversicherung, S. 126 (134). 366 Hase, SDSRV 51 (2003), 7 (24 f.).
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cherstellen. „Es [sei] nicht mehr erforderlich, privatrechtliche Strukturen und das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen in dem gegebenen Umfang zurückzudrängen und nahezu die gesamte medizinische Versorgung in das grobe Raster des sozialen Ausgleichs zu pressen.“ 367 – Schutzbedürftigkeit aller also, aber nur hinsichtlich eines eng begrenzten Umfangs an abgesicherten Risiken. Leisner368 geht demgegenüber davon aus, Schutzbedürftigkeit setze begrifflich eine Abgrenzung von der Nicht-Schutzbedürftigkeit voraus. Wenn die gesamte Bevölkerung schutzbedürftig sei, sei der Begriff konturenlos und verliere jegliche Bedeutung. M. E. ist der Ansatz Hases aber durchaus vertretbar. Auch hier erfüllt der Begriff eine Abgrenzungsfunktion: Zwar grenzt er nicht verschiedene Bevölkerungsgruppen voneinander ab; Schutzbedürftigkeit wird aber zum Kriterium, welches den zulässigen staatlich, durch solidarische Umverteilung gewährleisteten Leistungsumfang begrenzt. Aus dem Schutzbedürftigkeitskriterium als einzigem zulässigen Rechtfertigungsgrund für die Sozialversicherungspflicht ergibt sich also nicht schon per se die Unzulässigkeit einer alle Bürger umfassenden Absicherung gegen Krankheit. Wenn der Begriff nicht jegliche Bedeutung verlieren soll, muss er dann aber zumindest dazu dienen, ständig auf den Prüfstand zu stellen, welche Leistungen zwingend durch einen sozialen Ausgleich unter der ganzen Bevölkerung abzudecken sind und welche Leistungen in Eigenregie bewältigt werden können. Hier kommt dem Gesetzgeber ein weiter Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zu. Eine Vollversicherung, die den gesamten medizinischen Bedarf der gesamten Bevölkerung abdeckt und nur Leistungen ohne medizinische Notwendigkeit mit „Wellness-Charakter“ dem Bereich eigener Vorsorge zuweist, ginge aber jedenfalls zu weit. In diesem Fall verlöre das Kriterium seine Abgrenzungsfunktion und wäre als Rechtfertigungsgrund ohne jede Aussagekraft. Darin läge ein ungerechtfertigter Eingriff in die Grundrechte (zumindest eines Teils) der Pflichtversicherten. Die Rechtfertigung einer Bürgerversicherung vor den Grundrechten der Versicherten setzt also voraus, dass all jene Leistungen der persönlichen Vorsorgefreiheit verbleiben, die der Einzelne – bei typisierender Betrachtung – ebenso gut privat absichern kann. Praktisch kann diese Anforderung etwa über anfängliche Selbstbehalte gelöst werden, wie sie exemplarisch das Schweizerische Gesundheissystem vorsieht.369 Danach wäre ein bestimmter Betrag im Jahr für Gesundheitsleistungen selbst zu bezahlen, der gegebenenfalls durch den Einzelnen privat
367 368 369
Hase, SDSRV 51 (2003), 7 (24). Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 60. Kapitel 4, B. IV. und VI.
C. Umgestaltungsoptionen
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abgesichert werden könnte. Der Selbstbehalt könnte gegen Prämienreduktion wahlweise höher angesetzt werden als regelmäßig. d) Die Einbeziehung der Beamten in die Bürgerversicherung und Art. 33 Abs. 5 GG Die Ausweitung des Mitgliederbestands der GKV auf Beamte könnte ferner in Konflikt geraten mit den „hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums“, die bei der Regelung und Fortentwicklung des Rechts des öffentlichen Dienstes gem. Art. 33 Abs. 5 GG zu berücksichtigen370 sind. Darunter versteht man den „Kernbestand von Strukturprinzipien [. . .], die allgemein oder doch ganz überwiegend und während eines längeren, Tradition bildenden Zeitraums, mindestens unter der Reichsverfassung von Weimar, als verbindlich anerkannt und gewahrt worden sind“.371 Aus diesen hergebrachten Grundsätzen erwächst dem Beamten ein grundrechtsähnliches Individualrecht, das er mit einer Verfassungsbeschwerde geltend machen kann.372 Das gegenwärtige Beihilfesystem, nach dem Beamte finanzielle Unterstützung im Krankheitsfall und in anderen Risikofällen erhalten, wird durch die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zwar nicht garantiert.373 Jedoch ist der Dienstherr verpflichtet dafür Sorge zu tragen, dass der amtsangemessene Lebensunterhalt des Beamten bei krankheitsbedingten besonderen finanziellen Belastungen nicht gefährdet wird.374 Das ergibt sich sowohl aus seiner Fürsorgepflicht als auch aus dem Alimentationsprinzip, beides hergebrachte Grundsätze des Berufsbeamtentums i. S. d. Art. 33 Abs. 5 GG.375 Auch die Bürgerversicherung sorgt dafür, dass der Beamte für den Krankheitsfall finanziell abgesichert ist. Dennoch wird zuweilen bestritten, dass damit den genannten Grundsätzen genügt wird. Schuldner des auf den Krankheitsfall bezogenen Alimentationsanspruchs wäre dann nämlich nicht mehr der Dienstherr selbst, sondern die Krankenkasse. Das Alimentationsprinzip wird teilweise aber dahin gehend verstanden, dass Besoldung und Versorgung des Beamten nicht nur durch den Dienstherrn zu gewährleisten seien, sondern durch diesen auch eigenverant370 In ihrem Kern sind die Grundsätze nach dem BVerfG auch zu „beachten“, vgl. BVerfG, Beschl. v. 11.6.1958 – 1 BvR 1/52, 1 BvR 46/52, insb. Rn. 47, BVerfGE 8, 1 (11 ff., 16 f.), Entsch. v. 27.4.1959 – 2 BvF 2/58, Rn. 73, BVerfGE 9, 268 (286). 371 BVerfG, Beschl. v. 2.12.1958 – 1 BvL 27/55, Rn. 37, BVerfGE 8, 332 (343). 372 BVerfG, Beschl. v. 24.11.1998 – 2 BvL 26/91 u. a., Rn. 35, BVerfGE 99, 300 (314); Beschl. v. 11.6.1958 – 1 BvR 1/52, 1 BvR 46/528, Rn. 37, BVerfGE 8, 1 (17); s. a. Axer, in: GS Heinze, S. 1 (9). 373 BVerfG, Beschl. v. 6.12.1988 – 2 BvL 18/84, Rn. 32, BVerfGE 79, 223, (235); Beschl. v. 30.3.1977 – 2 BvR 1039/75, 2 BvR 1045/75, Rn. 36, BVerfGE 44, 249 (263). 374 BVerfG, Beschl. v. 7.11.2002 – 2 BvR 1053/98, Rn. 29 f., BVerfGE 106, 225. 375 BVerfG, Beschl. v. 7.11.2002 – 2 BvR 1053/98, Rn. 29 f., BVerfGE 106, 225; zu Fürsorgepflicht und Alimentationsprinzip vgl. etwa Badura, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 33 Rn. 71 f.
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
wortlich erbracht werden müssten.376 Die Vertreter dieser Auffassung berufen sich hierfür auf Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts377, aus denen dies m. E. nicht eindeutig hervorgeht. So hebt das BVerfG in einer Entscheidung aus dem Jahr 1987 zur Altersversorgung von Beamten zwar hervor, „die angemessene Alimentation [sei] unabhängig davon zu leisten, ob und inwieweit der Versorgungsempfänger in der Lage [sei], seinen Unterhalt aus eigenen Mitteln, wie insbesondere aufgrund privatrechtlicher Ansprüche oder aus privatem Vermögen, zu bestreiten“.378 Jedoch, so führt das Gericht weiter aus, könne „der Dienstherr [. . .] sich von seiner Alimentationspflicht [. . .] dadurch entlasten, daß er den Versorgungsberechtigten auf Einkünfte aus einer anderen öffentlichen Kasse verweist, sofern diese ebenfalls der Existenzsicherung des Versorgungsberechtigten und seiner Familie zu dienen bestimmt [seien]“ 379. Auch der Hinweis des BVerfG380, es sei dem Dienstherrn überlassen, wie er seiner Fürsorgepflicht nachkomme – durch eine entsprechende Bemessung der Dienstbezüge, über Sachleistungen, Zuschüsse oder in sonst geeigneter Weise, deutet darauf hin, dass hier ein weiter Gestaltungsspielraum besteht, der auch eine Sicherstellung der Vorsorge durch andere Stellen einschließt. Lediglich die Letztverantwortung für die Alimentation muss bei dem Dienstherrn bleiben; er muss hierfür haften.381 Das Alimentationsprinzip stellt m. E. in diesem Fall nur sicher, dass die Krankenversicherungsbeiträge keinen solchen Umfang erreichen, dass der angemessene Lebensunterhalt des Beamten und seiner Familie nicht mehr gewährleistet ist. Auch in diesem Fall hätte das aber nur zur Folge, dass die Bezüge angepasst werden müssten. Der weitere Einwand, die Mitgliedschaft der Beamten in der Bürgerversicherung sei deshalb unvereinbar mit Art. 33 Abs. 5 GG, weil sie der „Amtsangemessenheit“ der Beamtenbesoldung widerspreche, überzeugt ebenfalls nicht. Nach dieser Ansicht führe die soziale Umverteilung in der Bürgerversicherung zu einer Nivellierung der Besoldung, während diese nach dem Alimentationsprinzip Dienstrang, Bedeutung und Verantwortung des Amtes widerspiegeln müsse.382 Rein praktisch und aus Gerechtigkeitsgesichtspunkten erscheint es jedoch ohnehin problematisch, Krankenversicherungsleistungen differenziert nach dem Dienstgrad zu gewähren, zumal Sachleistungen ganz im Vordergrund stehen 376 Isensee, NZS 2004, 393 (399 f.); Axer, in: GS Heinze, S. 1 (10); Merten, NZS 1998, 545 (548); a. A.: Bieback, in: Reformoption Bürgerversicherung, S. 126 (139). 377 BVerfG, Beschl. v. 30.3.1977 – 2 BvR 1039/75, 2 BvR 1045/75, BVerfGE 44, 249 (269 ff.); Beschl. v. 30.9.1987 – 2 BvR 933/82, BVerfGE 76, 256 (319 f.); Beschl. v. 6.12.1988 – 2 BvL 18/84, BVerfGE 79, 223 (232). 378 BVerfG, Beschl. v. 30.9.1987 – 2 BvR 933/82, Rn. 90, BVerfGE 76, 256 (319 f.). 379 BVerfG, Beschl. v. 30.9.1987 – 2 BvR 933/82, Rn. 90, BVerfGE 76, 256 (319 f.). 380 BVerfG, Beschl. v. 7.11.2002 – 2 BvR 1053/98, Rn. 29, BVerfGE 106, 225. 381 Kirchhof, NZS 2004, 1 (3). 382 Axer, in: GS Heinze, S. 1 (10).
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und Krankengeld keine wesentliche Rolle spielt. Allenfalls bei der Renten-Bürgerversicherung, bei der unterschiedlich hohe Renten an Beamte ausgezahlt werden müssten, erscheint es angebracht, diesen Einwand vorzubringen.383 Die differenzierte Entlohnung entsprechend des Amtes kann ferner bei der Berechnung der Alimentation im Übrigen gewährleistet werden. Schließlich greift wohl auch der Einwand nicht durch, die beamtenrechtliche Vorsorgefreiheit sei verletzt. Zum Teil wird davon ausgegangen, diese gehöre – als Ausdruck der persönlichen Unabhängigkeit – zu den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums.384 Das Bundesverfassungsgericht lässt diese Frage in seinem Beschluss zur Pflegeversicherungspflicht für Beamte ausdrücklich offen.385 Der Eingriff in die Vorsorgefreiheit sei jedenfalls gerechtfertigt: „Angesichts der immensen Höhe der im Pflegefall entstehenden Aufwendungen und der mangelnden Bereitschaft der Bevölkerung zur Eigenvorsorge“ habe der Gesetzgeber diese einschränken dürfen.386 Letzteres Argument lässt sich für die Krankenversicherung sicher nicht fruchtbar machen387, das erste Argument jedoch sehr wohl: Die Höhe der Aufwendungen, die im Krankheitsfall entstehen können, dürfte identisch sein. Ferner ist zu beachten, dass auch die Grundsätze des Berufsbeamtentums elastisch gehalten und veränderten Gegebenheiten – freilich in beschränktem Umfang – angepasst werden müssen.388 Geht der Gesetzgeber davon aus, dass die gesamte Gesellschaft eines sozialen Krankenversicherungsschutzes bedarf und die Vorsorgefreiheit aller Bürger aufgrund dieses Bedürfnisses eingeschränkt werden darf, so dürften jedenfalls auch die Anforderungen an die Einschränkung einer beamtenverfassungsrechtlichen Vorsorgefreiheit sinken. e) Die Grundrechte der bisher PKV-Versicherten Ein spezifisches Übergangsproblem stellt sich hinsichtlich der Leistungsansprüche und Altersrückstellungen der sog. PKV-Altkunden389, die bereits Verträge mit privaten Versicherungsunternehmen haben. Die Versicherungsprämien in der PKV enthalten neben dem risikoäquivalenten Betrag für den aktuellen Be383
Näher dazu s. Kirchhof, NZS 2004, 1 (3). Leisner, Beamtensicherung zwischen Beihilfe und Krankenversicherung, S. 34 f.; Axer, in: GS Heinze, S. 1 (10). 385 BVerfG, Nichtannahmebeschl. v. 25.9.2001 – 2 BvR 2442/94, Rn. 16, NZS 2002, 87 (88). 386 BVerfG, Nichtannahmebeschl. v. 25.9.2001 – 2 BvR 2442/94, Rn. 16, NZS 2002, 87 (88). 387 Siehe das obiter dictum des BVerfG im Urt. v. 3.4.2001 – 1 BvR 2014/95, Rn. 84, BVerfGE 103, 197 (223). 388 Vgl. m.w. N. Badura, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 33 Rn. 65. 389 Zu den Begrifflichkeiten „Neukunde“ und „Altkunde“, vgl. Schräder/Sehlen/Hofmann, in: Reformoption Bürgerversicherung, S. 64 (65). 384
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
darf einen Sparanteil, der Prämienerhöhungen aufgrund des steigenden Krankheitsrisikos im Alter verhindern soll (sog. Altersrückstellungen). Durch die Altersrückstellungen erwerben Privatversicherte eine Anwartschaft auf eine nach risikoäquivalenter Berechnung zu geringe Prämie im Alter.390 Diese Anwartschaften sind ebenso wie die erworbenen Leistungsansprüche Eigentum im Sinne des Art. 14 Abs. 1 GG,391 denn wenn sogar öffentlich-rechtliche Anwartschaften unter den Schutz des Art. 14 Abs. 1 fallen392, muss das für den Schutz der Altersrückstellungen, die allein auf Eigenleistung beruhen, erst recht gelten.393 Durch eine Pflichtversicherung in der Bürgerversicherung wären die Privatversicherten jedenfalls aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen, ihre privaten Versicherungsverträge zu kündigen und verlören auf diese Weise ihr Anwartschaften, was mit dem Eigentumsgrundrecht so nicht vereinbar wäre. Eine mit Art. 14 Abs. 1 GG konforme Ausgestaltung des Übergangs vom alten in das neue System verlangt daher einen schleichenden Prozess mit langen Übergangszeiten394, d.h. die Wahrung des Bestandsschutzes der Altkunden und die Erstreckung der gesetzlichen Pflichtversicherung nur auf Neukunden, jedenfalls aber eine angemessene finanzielle Kompensation der Privatversicherten.395 Ersteres beeinträchtigt die Idee von einer Bürgerversicherung insofern, als dann erst nach einer Übergangsphase von mehr als 50 Jahren tatsächlich die gesamte Bevölkerung an ihrer Finanzierung beteiligt wäre.396 Letzteres erscheint dagegen nur schwer praktikabel. Durch die Möglichkeit der Mitnahme der Altersrückstellungen wäre das Eigentumsrecht nicht ausreichend gewahrt, da die Rückstellungen dem Einzelnen dadurch nicht individuell erhalten blieben.397 In dem umlagefinanzierten System der GKV könnten diese systemkonform allenfalls in die aktuelle Umlage einge-
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Schnapp/Kaltenborn, Friedensgrenze, S. 40 f. Ebenso Bieback, in: Reformoption Bürgerversicherung, S. 126 (144 f.); Axer, in: GS Heinze, S. 1 (8 f.); Kirchhof, NZS 2004, 1 (4); Isensee, NZS 2004, 393 (400); anders klingt dies allerdings im BVerfG-Urteil v. 10.6.2009 (1 BvR 706/08) an: „Die Alterungssrückstellung hat in der privaten Krankenversicherung nicht den Charakter eines konkreten, dem Inhaber nach Art eines Ausschließlichkeitsrechts zugeordneten Eigentumsrechts. Bei der Bildung von Alterungsrückstellungen handelt es sich nicht um einen individuellen Sparvorgang, sondern um eine auf kollektiver Risikokalkulation beruhende Kapitalsicherstellung zur Finanzierung des Risikos einer altersbedingten Verschlechterung des Gesundheitszustands und erhöhter Krankheitskosten.“ (Rn. 202), NJW 2009, 2033 (2042). 392 Siehe oben Kapitel 5, C. I. 1. c). 393 Kirchhof, NZS 2004, 1 (4). 394 Dies befürwortet sogar Bieback, in: Reformoption Bürgerversicherung, S. 126 (145). 395 Axer, in: GS Heinze, S. 1 (8 f.). 396 Vgl. Schräder/Sehlen/Hofmann, in: Reformoption Bürgerversicherung, S. 64 (65). 397 Ebenso Bieback, Bürgerversicherung, S. 106 f. 391
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speist werden398 bzw. auf anderem Wege der Allgemeinheit zugutekommen399. Dass der Versicherte in der Bürgerversicherung im Alter ebenfalls Anspruch auf die Gesundheitsleistungen entsprechend seines finanziellen Bedarfs zu gleich bleibenden Beiträgen hat, erübrigt das Problem nicht. Anders als durch die Altersrückstellungen erlangt er nämlich keine Anwartschaft und damit einen Anspruch auf bestimmte Leistungen, sondern sein Leistungsanspruch und die Beitragshöhe sind der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber überantwortet, der diese im Rahmen seines Gestaltungsspielraums festsetzen und ändern kann. Ein gangbarer Mittelweg könnte hier die von der Rürup-Kommission vorgeschlagene Möglichkeit der Eröffnung eines Wechselrechts für Privatversicherte sein.400 f) Die Grundrechte der Privatversicherer – Wie weit darf die PKV aus dem Aufgabenfeld Gesundheitsschutz zurückgedrängt werden? Soweit der Leistungsumfang der Bürgerversicherung reicht, werden die Privatversicherer aus dem Krankenversicherungsmarkt verdrängt. Sie können jedenfalls keine Vollversicherungen mehr anbieten und den Versicherungsschutz der GKV substituieren, sondern sind auf den Markt der ergänzenden Versicherungen verwiesen. Daher könnte die Bürgerversicherung auch in Konflikt mit den Grundrechten der PKV-Unternehmen geraten. Das Eigentumsgrundrecht des Art. 14 Abs. 1 i.V. m. Art. 19 Abs. 3 GG steht den Privatversicherern zur Abwehr von Eingriffen in die bestehenden Altverträge zur Verfügung. Die weiteren in die Zukunft gerichteten Einschränkungen der Versicherungstätigkeit der PKV sind dagegen allenfalls an dem Grundrecht der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 i.V. m. Art. 19 Abs. 3 GG zu messen.401 Geht man – wie hier befürwortet – von einem Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG aus402, so stellt sich dieser aufgrund seiner besonderen Schwere als objektive Be-
398 Siehe dazu auch die Ausführungen der Rürup-Kommission, die im Falle eines Wechselrechts von PKV-Versicherten in die GKV eine Überführung der Altersrückstellung in den Risikostrukturausgleich aus Solidargesichtspunkten für erforderlich hält; Bericht 2003, S. 152. 399 Vgl. zu unterschiedlichen Verwendungsmöglichkeiten der Altersrückstellungen in der Bürgerversicherung Schräder/Sehlen/Hofmann, in: Reformoption Bürgerversicherung, S. 64 (75 f.). 400 Rürup-Kommission, Bericht 2003, S. 152. Politischer Nachteil dieser Möglichkeit liegt darin, dass dann nur diejenigen wechseln, die dem Solidarausgleich der GKV zur Last fallen. Damit ist dem fiskalischen Interesse an einer Bürgerversicherung nicht gedient. Siehe auch Bieback, Bürgerversicherung, S. 107. 401 Siehe die ausführlichen Darstellung oben Kapitel 5, B. II. 3. b) aa). 402 Das BVerfG hatte einen Eingriff zunächst aufgrund der nur „mittelbar-faktischen“ Wirkungen von Erweiterungen der GKV-Pflichtversicherung verneint, BVerfG, Nichtannahmebeschl. v. 4.2.2004 – 1 BvR 1103/03, Rn. 13, VersR 2004, 898 (899), diese
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
schränkung der Berufswahl dar. Das duale Krankenversicherungssystem wird grundlegend verändert: Das Haupttätigkeitsfeld der Krankenvollversicherungen wird den Privatversicherern vollständig entzogen, womit der wesentliche Charakter ihrer Tätigkeit verloren geht. Selbst wenn man darauf abstellt, dass den Privatversicherern der (mehr oder weniger umfangreiche) Markt der Zusatzversicherungen verbleibt und daher lediglich von einer Berufsausübungsregelung ausgeht, so wird man aufgrund des erheblichen Sperreffekts und der vollständigen Veränderung des Berufsbildes des Krankenversicherers dennoch die strengeren Rechtfertigungsmaßstäbe einer Einschränkung der Berufswahlfreiheit ansetzen müssen.403 Aufgrund der Schwere der Belastung sind Beschränkung der Berufsausübungsfreiheit und Beschränkung der Berufswahlfreiheit hier vergleichbar. Etwas anderes könnte m. E. nur dann angenommen werden, wenn das Modell Hases umgesetzt würde und der Markt für Privatversicherungen insgesamt nicht verengt, sondern erheblich erweitert würde. Ob der Eingriff zu rechtfertigen ist, hängt von der konkreten Ausgestaltung des Sozialversicherungsmonopols ab.404 Vorgestellt worden sind hier zwei verschiedene Ansätze, die die Tätigkeit privater Versicherer in sehr unterschiedlichem Maße beeinträchtigen. Die Bildung einer leistungsfähigen Solidargemeinschaft zur Sicherung der finanziellen Stabilität und Funktionsfähigkeit der GKV ist ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut. Zur Abwehr nachweisbarer und höchstwahrscheinlicher schwerer Gefahren für dieses Gemeinschaftsgut müsste ein alle Einwohner umfassendes Monopol zwingend geboten sein. Geeignet und erforderlich wäre die Maßnahme, wenn die umfassende Sozialversicherungspflicht für alle Bürger der Funktionsfähigkeit der GKV dienlich wäre und andere gleich geeignete, die Berufsfreiheit der Privatversicherer aber weniger belastende Maßnahmen nicht ersichtlich wären. Hinsichtlich der Geeignetheit und Erforderlichkeit kommen dem Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative und ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Verhältnismäßig im engeren Sinne wäre eine solche Maßnahme aber wohl nur dann, wenn den Privatversicherern im Bereich der Zusatzversicherungen ein so umfangreiches Tätigkeitsfeld verbliebe oder möglicherweise eröffnet würde, dass ihnen auch weiterhin ein ausreichend großer Markt gesichert und ihre wirtschaftliche Existenz nicht in Gefahr wäre. Ob diese Anforderungen erfüllt sind, ist jeweils anhand des konkreten Reformvorhabens zu beurteilen. Die vollständige Auflösung des Berufsbildes der Privatkrankenversicherer wäre zur Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der GKV jedenfalls nicht gerechtfertigt. Hierzu bedürfte es gewichtigerer Gründe, die in den Gefahren, die von dem Beruf selbst ausgehen, begründet wären. Eigene Fiskalinteressen sind Rechtsprechung dann aber stillschweigend geändert, s. BVerfG, Urt. v. 10.6.2009 – 1 BvR 706/08 u. a., Rn. 236, BVerfGE 123, 186, näher oben Kapitel 5, B. II. 3. b) aa). 403 So Papier, ZSR 1990, 349; allgemein zu diesem Vorgehen vgl. BVerfG, Urt. v. 23.3.1960 – 1 BvR 216/51, BVerfGE 11, 30 (42 f.). 404 Beer/Klahn, SGb 2004, 13 (14).
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hierfür jedenfalls nicht ausreichend. Auch die Zurückdrängung der Privatversicherer in einen Markt für medizinisch nicht notwendige Wellness-Leistungen ist nicht als verhältnismäßig anzusehen. Ein Krankenversicherer muss auch echte Gesundheitsleistungen versichern können, damit von seinem Beruf noch etwas übrig bleibt.405 Das Modell Hases hingegen bezweckt, den Bereich privater Absicherung für den Krankheitsfall zu erweitern. Es verschließt zwar das Aufgabenfeld der Vollversicherung, eröffnet den Privatversicherern aber die Möglichkeit des Abschlusses von Versicherungsverträgen mit der gesamten Bevölkerung über Leistungen, die über die minimale Grundsicherung hinausgehen. Das Grundrecht der Privatversicherer aus Art. 12 Abs. 1 GG erscheint hier daher in angemessener Weise gewahrt. g) Die Bürgerversicherung am Maßstab des europäischen Rechts Aus dem Recht der Europäischen Union ergeben sich wohl keine Bedenken gegen eine Bürgerversicherung. Am Maßstab des europäischen Wettbewerbsrechts (Art. 101 f. AEUV) ist dieses Vorhaben gar nicht zu messen, da die gesetzlichen Krankenkassen nach der EuGH-Rechtsprechung keine „Unternehmen“ in diesem Sinne sind und der persönliche Anwendungsbereich dieser Bestimmungen daher schon gar nicht eröffnet ist.406 Daran ändert sich auch dann nichts, wenn man wie hier davon ausgeht, dass eine Bürgerversicherung keine GKV im heutigen Sinne mehr ist. Auch in der Bürgerversicherung nehmen die Krankenkassen nämlich eine „Aufgabe mit ausschließlich sozialem Charakter“ wahr, was sich darin zeigt, dass sie „nach dem Grundsatz der nationalen Solidarität und ohne Gewinnzweck“ arbeiten. Das ausschlaggebende solidarische Element wird in der Bürgerversicherung sogar weiter verstärkt und setzt sich ganz zulasten des Äquivalenzprinzips durch. Dadurch entfernt sich die Aufgabe der Krankenkassen in einer Bürgerversicherung noch weiter von einer „wirtschaftlichen Tätigkeit“ eines Unternehmens. Die Grundfreiheiten finden dagegen unabhängig von der Unternehmenseigenschaft der Krankenkassen Anwendung, da der Blickwinkel der Betrachtung hier ein anderer ist: Es wird nicht die Tätigkeit der Sozialversicherungsträger in den Blick genommen, sondern es wird gefragt, ob die wirtschaftliche Tätigkeit privater Leistungsanbieter aus dem EU-Ausland behindert wird.407 Das Monopol der Bürgerversicherung greift sowohl in die Niederlassungs- (Art. 49 AEUV) als auch die Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV) von Versicherungsanbietern aus anderen Mitgliedsstaaten ein. Als Rechtfertigungsgründe sind vom EuGH sowohl die Verfolgung des sozialpolitischen Ziels, alle von einem bestimmten Risiko in 405 406 407
Ebenso Axer, in: GS Heinze, S. 1 (13). Siehe ausführlich Kapitel 3, A. I. Siehe bereits Kapitel 5, B. II. 4. b).
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
gleicher Weise Betroffenen einheitlich solidarisch abzusichern408, als auch die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit von Sozialversicherungssystemen409 anerkannt worden. Letzteres darf allerdings nur neben einem sozialen Grund zum Tragen kommen.410 Ferner dürfen beide Gründe keine diskriminierende Wirkung haben. Diese Voraussetzungen dürften sowohl bei einer umfassenden Bürgerversicherung als auch einer Grundsicherung der beschriebenen Art erfüllt sein. Auch wenn einer Bürgerversicherung danach im Ergebnis auch die Grundfreiheiten nicht entgegenstehen, so ist sie doch einer Verhältnismäßigkeitsprüfung zu unterziehen, die danach fragt, ob die Einschränkung der ausländischen Privatversicherer zu dem erstrebten Zweck geeignet und erforderlich ist. Dies zeigt einmal mehr, dass es sachgerecht erscheint auf nationaler verfassungsrechtlicher Ebene von einem Eingriff in die Berufsfreiheit privater Versicherungsanbieter auszugehen und damit die Verhältnismäßigkeit der Einschränkung zu fordern.411 Andernfalls käme man zu dem wenig sachgerechten Ergebnis, eine Bürgerversicherung zwar an den Rechten ausländischer, nicht aber an denen inländischer Unternehmen zu messen. 3. Fazit zu Option 1 Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass einer vertikalen Teilung der Aufgaben zwischen GKV und PKV in der hier vorgeschlagenen Form grundsätzlich keine rechtlichen Bedenken entgegenstehen. Eine vollständige Abschaffung der freiwilligen Versicherung erscheint jedoch deshalb problematisch, weil dann auch nach langjähriger Pflichtmitgliedschaft in der GKV keine Weiterversicherung möglich wäre, wodurch unzumutbare Härten entstehen könnten. Außerdem ist die Reduzierung des Versichertenkreises der GKV nur schrittweise (mit Übergangsfristen) möglich, um die Eigentumsrechte bzw. den aus dem Rechtsstaatsprinzip hergeleiteten Vertrauensschutzgrundsatz der Versicherten zu wahren. Eine Neuordnung des Verhältnisses von GKV und PKV hin zu einer horizontalen Aufgabenteilung begegnet dagegen tiefgreifenderen verfassungsrechtlichen Bedenken: Für eine die gesamte Bevölkerung umfassende Bürgerversicherung fehlt dem Gesetzgeber zunächst die Gesetzgebungskompetenz. Ferner gerät die steuerfinanzierte Bürgerversicherung in Konflikt mit der Finanzverfassung. Die Bürgerversicherungs-„beiträge“ dürften nicht mehr von den Krankenkassen, son408 EuGH, Urt. v. 22.5.2003 – Rs. C-355/00, Rn. 66 ff. – Freskot; eingehend oben Kapitel 5, B. II. 4. b). 409 EuGH, Urt. v. 28.4.1998 – Rs. C-158/96, Rn. 41, Slg. 1998, I-1931 – Kohll. 410 Gundel, EuR 2004, 575 (587). 411 Das BVerfG hatte einen Eingriff in die Berufsfreiheit privater Versicherer zunächst abgelehnt, s. BVerfG, Nichtannahmebeschl. v. 4.2.2004 – 1 BvR 1103/03, Rn. 13, VersR 2004, 898 (899).
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dern müssten vom Bund erhoben werden, da Krankenkassen keine zulässigen Steuergläubiger nach Art. 106 GG sind. Darüber hinaus muss bei einem alle Bürger umfassenden Sozialversicherungssystem ausreichend Freiraum für Eigenvorsorge verbleiben. Die Privatversicherung darf nicht in den Bereich der „WellnessVersicherung“ zurückgedrängt werden. Dies fordern nicht nur die Grundrechte der privaten Versicherer (Art. 12 Abs. 1 GG), sondern auch die Grundrechte der Versicherten (Art. 2 Abs. 1 GG). Denn die solidarische Absicherung darf nicht weiter gehen als die Schutzbedürftigkeit der Versicherten. Schließlich ist zu beachten, dass der Übergang in das neue „Vorsorgesystem eigener Art“ zur Wahrung der Grundrechte der bisher privat Versicherten aus Art. 14 Abs. 1 GG nur mit langen Übergangsfristen möglich wäre. Allenfalls könnte den Privatversicherten ein Wechselrecht eingeräumt und auf die „Abstimmung der Füße“ gehofft werden.412
II. Option 2: Systemangleichung Leitgedanke der zweiten Option ist, einen Wettbewerb unter den Trägern der beiden Krankenversicherungssysteme zu schaffen. Dazu bedarf es in erster Linie einer Erweiterung der Wahlmöglichkeiten der Versicherten zwischen GKV und PKV weiterhin aber auch der Angleichung ihrer Rahmenbedingungen und der Ausweitung wettbewerblicher Handlungsspielräume. 1. Wahlrecht zwischen GKV und PKV für alle Bürger Die Grundvoraussetzung für einen Wettbewerb unter den Anbietern ist die Wahlmöglichkeit der Nachfrager. Zur Schaffung eines echten Wettbewerbs zwischen den Kassen der GKV und den PKV-Unternehmen müsste also jeder Versicherte ein Wahlrecht zwischen den Systemen haben. Jeder müsste sich alternativ in der GKV oder der PKV versichern können. Damit auch Beamten ein echtes Wahlrecht zusteht, müsste ferner der Beihilfeanspruch aufgehoben und durch einen Beitragsanteil des Dienstherrn zur Krankenversicherung entsprechend dem Arbeitgeberbeitrag ersetzt werden.413 Überwiegend wird dies schon aus verfassungsrechtlichen Gründen für unzulässig angesehen. Die Pflichtversicherung gehöre zum Wesen der Sozialversicherung im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG.414 Zwar sei nicht ausgeschlossen, dass die Sozialversicherung zusätzlich die Möglichkeit einer freiwilligen Versicherung eröffne, böten öffentlich-rechtlich organisierte Versicherungsträger aber 412
Siehe etwa Bieback, in: Reformoption Bürgerversicherung, S. 126 (145). Der Beihilfeanspruch ist nach hier vertretener Auffassung nicht verfassungsrechtlich garantiert, s. oben Kapitel 5, C. I. 2. d). 414 Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 74, Rn. 172; Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 110; Bieback, VSSR 2003, 1 (17, 44). 413
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
ausschließlich freiwillige Versicherungen an, seien sie auch dann keine Sozialversicherungsträger, wenn sie ein Versicherungsmonopol hätten.415 Schenkel416 bestreitet dies: Einer Pflichtversicherung mit Wahlrecht zwischen GKV und PKV stünden zwar sozialpolitische, nicht aber verfassungsrechtliche Gründe entgegen. Die GKV bliebe Sozialversicherung gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG solange sie weiterhin auf Risikoprüfungen verzichte und einkommensbezogene Beiträge vorsähe. Es sei kein Wesensmerkmal der Sozialversicherung, dass die freiwillige Versicherung auf Randbereiche begrenzt sei. Dem ist insoweit zuzustimmen, als das Wesen der Sozialversicherung nicht maßgeblich durch den Pflichttatbestand geprägt ist. Dieser ist vielmehr Mittel zur Gewährleistung der Funktionsfähigkeit einer Sozialversicherung. Prägendes Charakteristikum ist dagegen, dass die Versicherung ein „soziales Auffangbecken“ 417 bildet. Dadurch dass keine Risikoprüfung durchgeführt wird und die Beiträge einkommensabhängig berechnet werden, wird ein für jedermann finanzierbarer Versicherungsschutz bereitgestellt.418 Dieses Merkmal ist aber grundsätzlich unabhängig davon verwirklicht, ob der Staat bestimmte Personen dazu verpflichtet, diesen Schutz wahrzunehmen. Auch wenn er die Wahl zwischen der sozialen und einer privaten Versicherung freistellt, werden nämlich diejenigen den Versicherungsschutz in der GKV wählen, die wegen ihres hohen Krankheitsrisikos und/oder ihrer schlechten Einkommenssituation von dem sozialen Ausgleich profitieren würden. Dies sind die besonders Schutzbedürftigen, die die Sozialversicherung nach ihrem „klassischen Bild“ absichern will. Kann Sozialversicherung als Versicherung (d.h. überwiegend finanziert durch Beiträge) jedoch nur funktionieren, wenn der Gesetzgeber einen bestimmen Personenkreis zur Versicherung verpflichtet, so fordert diese implizit auch den Pflichttatbestand.419 Dafür sprechen die praktischen Schwierigkeiten, die einem freien Wahl- und Wechselrecht der Versicherten zwischen den Systemen gegenüberstehen: Durch die unterschiedlichen Finanzierungsverfahren in GKV und PKV würden Mitnahme- oder sogenannte „free-rider-Effekte“ begünstigt.420 Junge, gesunde Versicherte mit hohem Einkommen würden sich dem Solidarausgleich in der GKV entziehen und eine private Versicherung abschließen, im Alter oder bei Familienzuwachs aber in die GKV (zurück-)wechseln, wo sie von dem Solidarausgleich bzw. der beitragsfreien Familienmitversicherung profitie415 Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 74, Rn. 172; Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 110. 416 Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 132 f. 417 Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 133. 418 Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 132 f. 419 Schmidt, GesR 2007, 295 (300) spricht von der Pflichtversicherung als „dienendes“ Merkmal der Sozialversicherung. 420 Siehe Becker/Schweitzer, DJT-Gutachten 2012, S. B 146.
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ren könnten. Dies würde beiden Systemen, insbesondere der Sozialversicherung, schaden. Ferner entfiele die Möglichkeit des Gesetzgebers durch Typisierung auch solche Personen in die Sozialversicherung zu integrieren, die bei individueller Betrachtung nicht schutzbedürftig sind und die den Solidarausgleich daher mittragen können. Erforderlich wäre daher entweder die Einschränkung des Wahl- und insbesondere des Wechselrechts zur GKV hin oder die weitere Konvergenz der Rahmenbedingungen, unter denen der Versicherungsschutz angeboten wird. Einem uneingeschränkten Wechselrecht der Versicherten zwischen den Systemen stehen ferner die Altersrückstellungen in der PKV entgegen, die systemkonform nicht in die GKV „mitgenommen“ werden können ohne der gesamten Solidargemeinschaft zugute zu kommen. Eine individuelle Zuordnung zu dem einzelnen Versicherten ist in der GKV nicht möglich. 2. Angleichung der Funktionsbedingungen Entscheidend ist die Annäherung der Finanzierungs- und Kalkulationsverfahren, die die Systeme maßgeblich prägen. Hierzu wurden in Politik und Gesundheitsökonomie verschiedene Vorschläge unterbreitet, die entweder die Systembedingungen der GKV auf die PKV oder die der PKV auf die GKV übertragen. Schließlich sind auch Mischsysteme vorgeschlagen worden, die die Funktionsbedingungen der Systeme kombinieren und einheitlich für alle regeln. a) Übertragung von Funktionsbedingungen der GKV auf die PKV Das Finanzierungsverfahren der GKV ist geprägt durch die einkommensabhängige Beitragsberechnung und das Umlageverfahren.421 Ebenso ist der Risikostrukturausgleich, der seit 2009 durch den Gesundheitsfonds bewirkt wird, charakteristisch. Im Folgenden soll untersucht werden, ob, wie und bis zu welcher Grenze diese Sozialversicherungscharakteristika auf die PKV übertragen werden können. aa) Der Basistarif als verfassungskonforme „sozialstaatliche Indienstnahme“ der PKV Hinsichtlich des brancheneinheitlichen Basistarifs, den die PKV-Unternehmen seit dem 1.1.2009 gem. § 193 Abs. 5 S. 1 VVG, § 12 Abs. 1a–1c VAG anbieten müssen, besteht bereits Klarheit: Am 10.6.2009 stellte das BVerfG422 seine Vereinbarkeit mit der Verfassung fest.423
421 422
Kapitel 1, B. II. 4. BVerfG, Urt. v. 10.6.2009 – 1 BvR 706/08 u. a., NJW 2009, 2033.
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
Der Basistarif hat, wie bereits dargestellt,424 (jedenfalls hinsichtlich der Aufgaben) zu einer Annäherung der PKV an die GKV geführt: Den Privatversicherern kommt seither ebenfalls die Funktion der Absicherung Schutzbedürftiger zu. Der Basistarif „soll auf der Grundlage einer Versicherungspflicht [. . .] den Versicherungsschutz der privaten Krankenversicherung auch für solche Personen sicherstellen, die nicht der gesetzlichen Krankenversicherung zuzuordnen sind und unter den Bedingungen von Vertragsfreiheit ansonsten keinen oder keinen ausreichenden Versicherungsschutz erlangen könnten“.425 Ziel des Gesetzgebers des GKV-WSG426 war es, der gesamten Bevölkerung den Zugang zu einer Absicherung auf den Krankheitsfall zu ermöglichen.427 In Zusammenhang mit der Einführung einer Versicherungspflicht aller Einwohner in der GKV oder der PKV, verpflichtete er die Privatversicherer daher zum Angebot eines Tarifs, dessen Leistungen denen der GKV entsprechen und dessen Prämien nicht über den Beitragshöchstsatz in der GKV hinausgehen (§ 12 Abs. 1a und 1c VAG). Im Umfang dieses Tarifs bestehen ein Kontrahierungszwang (§ 12 Abs. 1b SGB V) und ein Kündigungsverbot (§ 206 Abs. 1 S. 1 VAG). Der Gesetzgeber könne, so das BVerfG, wenn er eine „Volksversicherung aus zwei Versicherungssäulen“ schaffe, die Personengruppen diesen beiden „in einer ausgewogenen Lastenverteilung zuordnen“.428 Nach dem BVerfG-Urteil kann der Basistarif auf die Gesetzgebungskompetenz des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG (privatrechtliches Versicherungswesen) gestützt werden, auch wenn die privatautonome Gestaltung der Versicherungsverhältnisse dadurch erheblich eingeschränkt ist.429 Die Regelung bringe „keine grundlegende Neugestaltung des Rechts der privaten Krankenversicherung“, da nur ein einzelner Tarif betroffen sei und die PKV-Unternehmen im Übrigen unverändert ihre Normaltarife anbieten könnten. Ferner weise der Basistarif die Charakteristika auf, bei deren Vorliegen die Voraussetzungen des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG „jedenfalls“ erfüllt seien. Im Einzelnen sind dies: (1.) die Versicherung aufgrund 423 In der Literatur wird dies vielfach anders gesehen, s. etwa Thüsing/von Medem, Vertragsfreiheit und Wettbewerb, S. 79 f., 83, 89–103; Boetius, VersR 2007, 431 ff.; Sodan, Private Krankenversicherung und Gesundheitsreform 2007, S. 75 ff.; zweifelnd auch Becker, ZMGR 2007, 101 (103). 424 Siehe ausführlich zum Basistarif Kapitel 1, B. III. 425 BVerfG, Urt. v. 10.6.2009 – 1 BvR 706/08 u. a., Rn. 170, NJW 2009, 2033 (2039). 426 Gesetz v. 26.03.2007, BGBl. I S. 378. 427 BT-Drs. 16/3100 S. 1. 428 BVerfG, Urt. v. 10.6.2009 – 1 BvR 706/08 u. a., Rn. 175, NJW 2009, 2033 (2039); ebenso bereits Urt. v. 3.4.2001 – 1 BvR 2014/95, Rn. 87, NJW 2001, 1709 (1712). 429 BVerfG, Urt. v. 10.6.2009 – 1 BvR 706/08 u. a., Rn. 154 ff., NJW 2009, 2033 (2037).
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privatrechtlichen Vertrags; (2.) der Wettbewerb unter den Versicherungsunternehmen; (3.) die grundsätzlich risikoäquivalente Prämienberechnung (trotz der Höchstgrenze) und (4.) ein kapitalgedecktes Finanzierungssystem. Da die als Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit organisierten Privatversicherer mit den Versicherten im Basistarif nur Verträge schließen, diese aber nicht als Mitglieder aufnehmen müssten, sei Art. 9 Abs. 1 GG nicht betroffen.430 Die Regelungen seien ausschließlich am Maßstab des Art. 12 Abs. 1 GG zu messen.431 Der Kontrahierzungszwang im Basistarif bewirke einen Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit „von einigem Gewicht“, der jedoch durch „beachtliche Allgemeinwohlinteressen“ gerechtfertigt sei. Zur Erreichung des gesetzgeberischen Ziels der bezahlbaren Krankheitsvorsorge für die gesamte Bevölkerung (gestützt auf Art. 20 Abs. 1, Sozialstaatsprinzip) seien sowohl Kontrahierungszwang als auch Kündigungsverbot geeignet und erforderlich. Zur Begründung der Zumutbarkeit der Belastung beruft sich das Gericht insbesondere auf die zu erwartende geringe Inanspruchnahme des Basistarifs.432 Ferner würden die Mehrkosten, die durch den nicht kostendeckenden Tarif entstünden, auf die Versicherten umgelegt und belasteten die Versicherer in soweit nicht. Da die Prämien in den Normaltarifen dadurch in allen privaten Krankenversicherungen gleich anstiegen, sei damit auch kein Wettbewerbsnachteil verbunden.433 Bedenken sind jedoch an der europarechtlichen Zulässigkeit des Basistarifs angemeldet worden, die sich mit dem Urteil des BVerfG nicht erübrigt haben. Der Umfang der Versicherten, die zur Wahl des Basistarifs berechtigt seien, sei nicht durch das in Art. 54 Abs. 1 der Dritten Richtlinie Schadensversicherung bestimmte „Allgemeininteresse“ gedeckt.434 Ferner verstoße die Berechnung der Beiträge im Basistarif gegen den Zwang zur Kalkulation nach der versicherungsmathematischen Methode gem. Art. 54 Abs. 2 S. 1 der Richtlinie.435 M. E. kann das Anliegen des Gesetzgebers zur Absicherung der gesamten Bevölkerung gegen das Risiko der Krankheit entweder in der gesetzlichen oder der privaten Krankenversicherung jedoch als „Allgemeininteresse“ im Sinne des Art. 54 Abs. 1 der Richtlinie verstanden werden. Es kann nicht im Sinne des europäischen Rechts sein, dass die soziale Absicherung der Bevölkerung ausschließlich im Wege der dem Wettbewerbsrecht gänzlich entzogenen Sozialversicherung 430 BVerfG, Urt. v. 10.6.2009 – 1 BvR 706/08 u. a., Rn. 158 f., NJW 2009, (2037). 431 BVerfG, Urt. v. 10.6.2009 – 1 BvR 706/08 u. a., Rn. 158 ff., NJW 2009, (2037 ff.). 432 BVerfG, Urt. v. 10.6.2009 – 1 BvR 706/08 u. a., Rn. 178, 183, NJW 2009, (2039 f.). 433 BVerfG, Urt. v. 10.6.2009 – 1 BvR 706/08 u. a., Rn. 182, NJW 2009, (2041). 434 Sodan, Private Krankenversicherung und Gesundheitsreform 2007, S. 90 ff. 435 Boetius, VersR 2007, 431 (434).
2033 2033 2033 2033
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
möglich ist. Vielmehr müssen Beschränkungen des privatrechtlichen Versicherungswesens möglich sein, die auch auf privatem Wege eine soziale Absicherung ermöglichen. Dafür spricht auch, dass das niederländische System der Richtlinie nach Auffassung der EU-Kommission nicht widerspricht.436 Hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung kommt dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum zu. Auch die Pflicht zur versicherungsmathematischen Kalkulation hat der Gesetzgeber des GKV-WSG gewahrt, indem er nicht völlig von den privatversicherungstypischen Elementen abgerückt ist, denn auch der Basistarif beruht auf versicherungsmathematischen Berechnungen, die nur durch soziale Komponenten modifiziert wurden. bb) Modell einer „solidarischen Bürgerversicherung“ unter Beteiligung der Krankenkassen und der PKV-Unternehmen Es stellt sich nun die Frage, ob mit dem Basistarif bereits die äußere Grenze einer möglichen sozialstaatlichen Indienstnahme der PKV erreicht wurde, oder ob der Gesetzgeber zu einer weiteren Angleichung der PKV an die Funktionsbedingungen der GKV berechtigt ist. Unter dem Schlagwort „solidarische Bürgerversicherung“ 437 gibt es Bestrebungen den Krankenversicherungsschutz aller Bürger zu den Bedingungen der Sozialversicherung zu vereinheitlichen, das Nebeneinander von gesetzlichen Krankenkassen und privaten Krankenversicherungsunternehmen aber (zumindest formell) beizubehalten. Bereits die Rürup-Kommission hielt bei der Vorstellung ihres Konzepts einer Bürgerversicherung 2004 die Option offen, zu prüfen, „ob die privaten Krankenversicherungen sich am Angebot der Bürgerversicherung beteiligen können“ 438. Sowohl die SPD439 als auch Bündnis 90/Die Grünen440 haben daraufhin ein Modell einer solchen Bürgerversicherung durch Krankenkassen und PKV-Unternehmen vorgestellt. Diese unterscheiden sich in einigen Punkten.441 In der grund436
Siehe schon oben Kapitel 5, B. II. 4. c). Begriff s. Bericht der Projektgruppe Bürgerversicherung des SPD-Parteivorstandes „Modell einer solidarischen Bürgerversicherung“ v. 26.8.2004. 438 Rürup-Kommission, Bericht 2003, S. 160. 439 SPD, Regierungsprogramm 2013–2017 „Das WIR entscheidet“, S. 72 ff.; s. a. Bericht der Projektgruppe Bürgersozialversicherung beim SPD-Parteivorstand, September 2011 (beides abrufbar unter: http://www.spd.de). 440 Bündnis 90/Die Grünen, Wahlprogramm 2013 „Zeit für den Grünen Wandel. Teilhaben. Einmischen. Zukunft schaffen.“, S. 122 f. 441 Z. B. sollen nach der Vorstellung der Grünen auch Kapital- und Mieteinkünfte bei der Berechnung des Krankenversicherungsbeitrags berücksichtigt werden, während nach dem SPD-Modell diese besteuert werden und dem Gesundheitsfonds als Steuerzuschüsse zufließen sollen. Auch hinsichtlich der Zukunft der beitragsfreien Familienmit437
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sätzlichen Konzeption stimmen sie aber überein: Vorgesehen ist, die Versicherungspflichtgrenze abzuschaffen und jedem Bürger ein Wahlrecht zwischen GKV und PKV zu gewähren. Die PKV soll nicht mehr unter den bisher geltenden Rahmenbedingungen arbeiten, sondern ebenso wie die GKV „die Bürgerversicherung anbieten“, d.h. ihr Versicherungsangebot an die Rahmenbedingungen und Funktionsweisen der GKV anpassen. Dadurch soll ein einheitlicher, solidarischer Krankenversicherungsmarkt mit einheitlichen Wettbewerbsbedingungen für alle Anbieter der Krankenversicherung geschaffen werden. Zu untersuchen ist also, ob es möglich ist, alle Systemmerkmale der GKV einschließlich des Finanzierungs- und Kalkulationsverfahrens auf die PKV zu übertragen. (1) Einbeziehung der Privatunternehmen gestützt auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG? Problematisch erscheint insbesondere auf welche Kompetenz der Bund ein solches Vorhaben stützen könnte. Es ist fraglich, ob es sich noch in den Grenzen des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG (privatrechtliches Versicherungswesen als Teil des Rechts der Wirtschaft) hält. Das BVerfG hat Inhalt und Reichweite dieser Kompetenz bisher nicht abschließend geklärt. In seinen Urteilen zur privaten Pflegeversicherung442 sowie zur Gesundheitsreform 2007443 hat das Gericht jedoch festgestellt, dass sich der Bund „jedenfalls“ dann auf diesen Kompetenztitel berufen kann, wenn sich seine Regelungen (1.) auf Versicherungsunternehmen beziehen, die im Wettbewerb mit anderen stehen, diese (2.) privatrechtliche Verträge abschließen, (3.) die Prämien grundsätzlich am individuellen Risiko und nicht am Erwerbseinkommen des Versicherungsnehmers orientiert sind und (4.) die vertraglich zugesagten Leistungen im Versicherungsfall auf Grund eines kapitalgedeckten Finanzierungssystems erbracht werden. Nach dem Modell der „solidarischen Bürgerversicherung“ sollen mehrere dieser Merkmale ganz aufgegeben und durch sozialversicherungstypische Elemente ersetzt werden. Das Bundesverfassungsgericht macht aber weiter deutlich, dass auch die Kompetenznorm für das privatrechtliche Versicherungswesen „Entwicklungen nicht von vornherein verschlossen“ ist. So dürfe der Gesetzgeber in der privaten Versicherung auch Regelungen des sozialen Ausgleichs vorsehen
versicherung gibt es Differenzen: Während die SPD diese beibehalten will, planen die Grünen ein Beitragssplitting, nach dem grundsätzlich ein Beitrag entsprechend dem hälftigen Haushaltseinkommen für beide Partner fällig wird. Nur Kinder sollen wie bisher beitragsfrei versichert sein. 442 BVerfG, Urt. v. 3.4.2001 – 1 BvR 2014/95, Rn. 66, NJW 2001, 1709 (1710). 443 BVerfG, Urt. v. 10.6.2009 – 1 BvR 706/08 u. a., Rn. 155, NJW 2009, 2033 (2037).
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
„und insbesondere während einer Übergangszeit die das privatrechtliche Versicherungswesen prägenden Merkmale nur begrenzt wirken [lassen]“.444 Anders als die private Pflegeversicherung und der Basistarif, deren grundsätzlich privatrechtlichen Funktionsweisen sozial überformt sind, soll die PKV hier aber vollständig der GKV angeglichen werden. GKV und PKV würden sich nur noch darin unterscheiden, dass die Privatversicherer privatrechtlich organisiert sind und Gewinne erzielen dürfen. Wäre dies von Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG gedeckt, rückte der Kompetenztitel in eine solche Nähe zu Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, dass eine Abgrenzung kaum noch möglich wäre. Damit verlören beide Titel ihre Unterscheidungskraft. Das kann insbesondere aus föderalistischen Gründen nicht zulässig sein. Diese Grenze macht auch das BVerfG deutlich: Prämiengestaltung und Finanzierung in der Privatversicherung dürften zwar „Besonderheiten“ aufweisen und „Umlageanteile“ enthalten, eine „Nivellierung der Prämien“ sei aber mit dem Privatversicherungscharakter unvereinbar.445 Im Gegensatz zu den Bestimmungen über die private Pflegeversicherung sehen die Rahmenbedingungen der PKV in dem Bürgerversicherungsmodell aber keine Modifikation der Prämienberechnung nach dem Äquivalenzprinzip vor, sondern ersetzen diese vollständig. Damit sind die Privatversicherer nur noch in ihrer Rechtsform von den Krankenkassen der GKV zu unterscheiden. Da die Rechtsform aber gerade nicht ausschlaggebend für den Privatversicherungscharakter ist,446 mutiert die Privatversicherung zur Sozialversicherung. (2) Mit Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG vereinbare Gestaltung Um die Dualität von GKV und PKV beizubehalten, müsste daher noch etwas übrig bleiben von der privatversicherungstypischen Prämiengestaltung und dem Kapitaldeckungsverfahren. Nur dann handelte es sich um eine solidarische Volksversicherung unter Beteiligung der beiden Krankenversicherungstypen. Damit der Bund sich auf die Gesetzgebungskompetenz gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG berufen könnte, müsste der „Bürgerversicherungstarif“ in der PKV so ausgestaltet werden, dass die Prämien nicht einkommensabhängig berechnet, sondern nur ähnlich dem heutigen Basistarif auf einen Höchstsatz begrenzt würden.447 Unterhalb dieser Obergrenze müsste eine Beitragsdifferenzierung nach
444 BVerfG, Urt. v. 10.6.2009 – 1 BvR 706/08 u. a., Rn. 155, NJW 2009, 2033 (2037); Urt. v. 3.4.2001 – 1 BvR 2014/95, Rn. 67, NJW 2001, 1709 (1710). 445 BVerfG, Urt. v. 3.4.2001 – 1 BvR 2014/95, Rn. 75, 77, NJW 2001, 1709 (1710 f.). 446 BVerfG, Urt. v. 3.4.2001 – 1 BvR 2014/95, Rn. 66, NJW 2001, 1709 (1710) m.w. N. 447 So auch Sodan, in: Die sozial-marktwirtschaftliche Zukunft der Krankenversicherung, S. 9 (18).
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dem Risiko auch weiterhin möglich sein, damit es nicht zu einer Nivellierung der Prämien käme. Der Basistarif funktioniert nach diesem Muster und kann nach der Rechtsprechung des BVerfG, wie gerade gezeigt, auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG gestützt werden. Es ist daher davon auszugehen, dass Beschränkungen dieser Art auch dann noch von dem Kompetenztitel gedeckt sind, wenn sie sich auf die gesamte PKV erstrecken. Dies darf angenommen werden, obwohl das BVerfG hinsichtlich des Basistarifs hervorhebt, dass die Regelungen „keine grundlegende Neugestaltung des Rechts der privaten Krankenversicherung [bewirkten], sondern [. . .] sich auf die Einführung eines einzelnen, staatlich regulierten Tarifs in ein ansonsten unverändertes Versicherungsrecht der privaten Krankenversicherung [beschränkten]; [. . .]“.448 Zwar hält diese Aussage jedenfalls offen, dass etwas anderes gelten könnte, wenn die PKV-Unternehmen ihre Normaltarife überhaupt nicht mehr anbieten können, jedoch zeigt das Urteil zur privaten Pflegeversicherung, dass auch eine vollständige sozialrechtlich überformte Ausgestaltung der Privatversicherung noch mit Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG vereinbar ist, solange die Wesensmerkmale jedenfalls in ihrem Kern erkennbar bleiben. (3) Private Unternehmen in der „solidarischen Bürgerversicherung“ als Sozialversicherung im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG? Hält man dagegen an dem Konzept, wie es SPD und Bündnis 90/Die Grünen vorschlagen, fest, könnte allenfalls der Kompetenztitel für die Sozialversicherung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) in Frage kommen. Dieser Titel liegt nahe, wenn man davon ausgeht, dass die Privatversicherer der Sache nach Sozialversicherer werden. Zu untersuchen wäre dann nur noch, ob eine privatrechtliche Organisation von Sozialversicherungsträgern mit Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG vereinbar ist.449 Aber auch um eine Sozialversicherung im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG handelt es sich nicht mehr, wenn die gesamte Bevölkerung in der „solidarischen Bürgerversicherung“ abgesichert wird. Hier gilt das zu der „reinen Bürgerversicherung“, wie sie die Linke befürwortet, Gesagte.450 Die solidarische Umverteilung der Beiträge unterscheidet sich auch hier nicht mehr von der Umverteilung durch Steuern. Ein steuerfinanziertes Versorgungssystem für die gesamte Bevölkerung ist aber nicht „Sozialversicherung“ nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG.
448 BVerfG, Urt. v. 10.6.2009 – 1 BvR 706/08 u. a., Rn. 156, NJW 2009, 2033 (2037). 449 Dazu sogleich Kapitel 5, C. II. 2. b) bb). 450 Siehe im Einzelnen Kapitel 5, C. I. 2. a).
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
(4) Vereinbarkeit mit den Grundrechten der Versicherungspflichtigen und der PKV-Unternehmen Hinsichtlich der Anforderungen, die an die Rechtfertigung der Eingriffe in die Grundrechte der Versicherungspflichtigen aus Art. 2 Abs. 1 GG zu stellen sind, kann auf die Ausführungen zur „reinen Bürgerversicherung“ verwiesen werden.451 Auch die Folgen für die PKV-Unternehmen stellen sich aus grundrechtlicher Perspektive einheitlich dar. Anders als in der „reinen Bürgerversicherung“ wird den PKV-Unternehmen das Vollversicherungsgeschäft zwar nicht vollständig versperrt, sondern unterliegt nur anderen Bedingungen, was auf den ersten Blick dafür spricht, dass hier keine objektive Beschränkung der Berufswahl vorliegt, sondern allenfalls eine Berufsausübungsregelung. Da das Bild des privaten Krankenversicherers aber dennoch völlig zerstört wird, gilt auch hier das zur reinen Bürgerversicherung Gesagte.452 Es kann nicht dadurch etwas anderes gelten, dass das Konzept auch eine privatrechtliche Organisation der Bürgerversicherungsträger neben den als Körperschaften des öffentlichen Rechts organisierten gesetzlichen Krankenkassen vorsieht. Dadurch wird nämlich – wie gezeigt – nicht die PKV aufrechterhalten, sondern die Unternehmen mutieren zu steuerfinanzierten, sozialrechtlich regulierten „Bürgerversicherern“. Das Berufsbild des privaten Vollkrankenversicherers wird dagegen vernichtet. Dies ist nur zum Schutz nachweisbarer und höchstwahrscheinlich schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut gerechtfertigt.453 Die Verhältnismäßigkeit im eingeren Sinne hinge insbesondere davon ab, wie umfangreich das Tätigkeitsfeld wäre, das der Privatversicherung im Bereich der Zusatzversicherungen verbliebe. Würde die PKV dagegen zwar stärkeren sozialstaatlichen Verpflichtungen unterworfen, jedoch weiterhin in einer mit Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG vereinbaren Weise ausgestaltet,454 so hinge die Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs (Art. 12 Abs. 1 GG) davon ab, ob das Krankenversicherungsgeschäft überhaupt noch für einen Privaten gewinnbringend möglich wäre. Daran bestehen erhebliche Zweifel,455 zumal das BVerfG die Zumutbarkeit des Basistarifs wesentlich damit begründete, dass dieser nur einen einzelnen Tarif neben den Normaltarifen 451
Kapitel 5, C. I. 2. c). Siehe oben Kapitel 5, C. I. 2. f). 453 A.A. Neumann, in: Reformoption Bürgerversicherung, S. 156 (168 f.), der lediglich von einer Berufsausübungsregelung ausgeht, obwohl er eingesteht, dass die Privatversicherer, zu einem Bestandteil des Systems der sozialen Sicherheit werden (S. 165). 454 Siehe oben Kapitel 5, C. II. 2. a) bb) (2). 455 Der Basistarif ist gerade darauf ausgelegt, dass er durch die Versicherten in den Normaltarifen mitgetragen wird. Die Kappung des Beitrags kann nämlich zu ungedeckten Kosten führen, die im Ergebnis durch die übrigen in der PKV Vollversicherten getragen werden müssen (vgl. § 8 Abs. 1 Nr. 6 KalV i.V. m. § 12 g S. 3, 2. HS. VAG); s. a. Kapitel 1, B. III. 1. b) aa). 452
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darstelle. Eine so starke Inanspruchnahme, dass das Privatversicherungsgeschäft gefährdet werde, sei nicht zu erwarten.456 Damit und mit der dem Gesetzgeber auferlegten Beobachtungspflicht457 geht das Gericht implizit davon aus, dass eine Versicherung aller Privatversicherter in einem Basistarif für die PKV-Unternehmen nicht tragbar wäre. (5) Vorgaben des Unionsrechts Aus Sicht des europäischen Rechts ergeben sich keine Bedenken gegen die „solidarische Bürgerversicherung“ durch öffentliche und private Träger. Wie bereits zur „reinen“ Bürgerversicherung durch die Krankenkassen ausgeführt, wären auch hier alle Bürgerversicherungsträger vom Anwendungsbereich des europäischen Wettbewerbsrechts ausgenommen. Die teilweise privatrechtliche Organisation der Träger ändert daran nichts, da es nach dem funktionalen Unternehmensbegriff nicht auf die Organisationsform des Akteurs ankommt, sondern auf sein wirtschaftliches Verhalten im Binnenmarkt. Auch vor den Grundfreiheiten ließe sich die Bürgerversicherung – wie gezeigt – rechtfertigen. Wählt man dagegen den mit Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG vereinbaren Weg und modifiziert lediglich die Funktionsbedingungen der Privatversicherung im Sinne eines dem Basistarif vergleichbaren Tarifs mit Prämienhöchstgrenze, so stellen sich Fragen hinsichtlich der Vereinbarkeit mit dem und der Auswirkungen auf das Europarecht. Aus Sicht des europäischen Kartellrechts blieben die Privatversicherer grundsätzlich Unternehmen. Es wäre dann allerdings zu prüfen, ob die sozialstaatliche Indienstnahme ein solches Gewicht erreichte, dass auch die Privatversicherer ihre Unternehmenseigenschaft i. S. d. europäischen Wettbewerbsrechts verlören und rein soziale Aufgaben im Sinne des europäischen Kartellrechts wahrnähmen. Dafür sprechen die erhebliche Einschränkung wettbewerblicher Handlungsspielräume als auch die zahlreichen solidarischen Elemente. Dagegen spricht jedoch, dass es sich auch weiterhin um ein kapitalgedecktes Versicherungssystem handelte.458 In Konflikt geraten könnte eine solche sozialstaatlich überformte Privatversicherung mit Art. 54 der Dritten Richtlinie Schadensversicherung459. Unklar ist, ob eine PKV, in der die Prämien alle eine Höchstgrenze haben, die aber grundsätzlich nach Art der Lebensversicherung funktioniert, noch dem Zwang zur ver456 BVerfG, Urt. v. 10.6.2009 – 1 BvR 706/08 u. a., Rn. 177, 183, NJW 2009, 2033 (2039 f.). 457 BVerfG, Urt. v. 10.6.2009 – 1 BvR 706/08 u. a., Rn. 241, NJW 2009, 2033 (2045). 458 Vgl. schon oben die Überlegungen zum Basistarif, Kapitel 3, C. 459 Siehe zu den Anforderungen der Richtlinie Kapitel 5, B. II. 4. c).
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
sicherungsmathematischen Berechnung nach Art. 54 Abs. 2 S. 1 der Richtlinie entspricht. Auch könnte diese Regulierung das zum Schutz des Allgemeininteresses Erforderliche überschreiten (Art. 54 Abs. 1). Jedenfalls erscheint aber problematisch, ob die Voraussetzungen des Art. 54 Abs. 2 S. 3 noch erfüllt werden könnten. Die Beiträge müssen danach „entsprechend vernünftigen versicherungsmathematischen Prognosen ausreichend sein, um die Unternehmen in die Lage zu versetzen, allen ihren Verpflichtungen unter Berücksichtigung sämtlicher Aspekte ihrer Finanzlage nachzukommen“. Dies erscheint insbesondere deshalb fraglich, da die Mehrkosten nicht wie bei dem Basistarif durch die Versicherten in den Normaltarifen gedeckt werden könnten. cc) Beteiligung der PKV am Gesundheitsfonds Um die verteilungspolitische Unausgewogenheit und die „Wettbewerbsverzerrungen“ zwischen GKV und PKV auszugleichen, wurde ferner (insbesondere im Vorfeld der Gesundheitsreform 2007) ein systemübergreifender Risikostrukturausgleich vorgeschlagen.460 Der Reformvorschlag sah vor, die PKV in den Gesundheitsfonds einzubeziehen, das heißt, sie an dem Solidarausgleich unter den Krankenkassen zu beteiligen. Als Argument wurde angeführt, die PKV profitiere in vielerlei Hinsicht von der GKV, insbesondere von der durch sie aufgebauten Infrastruktur. Ferner sei sozial ungerecht, dass die besser verdienenden Versicherten in der GKV, deren Einkommen aber unter der Versicherungspflichtgrenze liegt, die Lasten des Solidarausgleichs zu tragen hätten, während sich diejenigen mit den höchsten Einkommen dem Solidarausgleich entziehen könnten.461 Kernanliegen des Vorschlags ist, die Privatversicherer an den Lasten der GKV zu beteiligen. Sie sollen einen Ausgleich dafür zahlen, dass sie im Vergleich zur GKV regelmäßig die „besseren Risiken“ versichern und auch in anderer Weise von der Existenz der GKV profitieren. Dieses Reformmodell erweitert zwar nicht die Wahl- und Wechselmöglichkeit der Versicherten zwischen den Krankenkassen und privaten Versicherungsunternehmen und erweitert daher nicht den Anbieterwettbewerb, es hat aber insofern Bedeutung für den „Systemwettbewerb“, als es die soziale Funktion der PKV stärkt und daher die Vergleichbarkeit von GKV und PKV erhöht. Aufgrund der steigenden Kostenbelastung für Privatversicherte macht es die PKV darüber hinaus für freiwillig Versicherte unattrakti-
460 Lüngen/Stollenwerk/Gerber/Lauterbach, in: German Risk and Insurance Review 2007, S. 46 ff.; Pfaff, Arbeit und Sozialpolitik 1995, Heft 9/10, S. 12 (16 ff.); s. a. Neumann, in: Reformoption Bürgerversicherung (2004), S. 156 (175); Giesen, NZS 2006, 449. 461 Zu den ausgetauschten Argumenten Neumann, in: Reformoption Bürgerversicherung, S. 175 f.
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ver und stärkt damit die Attraktivität der GKV gegenüber der PKV für freiwillig Versicherte. Mit der Forderung nach der Beteiligung der PKV am Gesundheitsfonds war neben dem dargestellten Vorschlag zuweilen aber auch der umgekehrte Wunsch verbunden: Die PKV sollte ebenso wie die GKV Steuermittel aus dem Fonds für die prämienfreie Versicherung von Kindern erhalten.462 Dieser Vorschlag zielte darauf, die beitragsfreie Kindermitversicherung der GKV auf die PKV zu übertragen. (1) Zahlungen an die PKV aus dem Gesundheitsfonds zur prämienfreien Kindermitversicherung Der zuletzt genannte Vorschlag soll hier zuerst untersucht werden, da er weniger problematisch erscheint. Unabhängig von der Frage, ob eine Begünstigung der PKV aus dem Gesundheitsfonds verteilungspolitisch sinnvoll erscheint, stehen dieser Reformoption jedenfalls keine europa- und verfassungsrechtlichen Bedenken gegenüber. Das Grundgesetz steht Leistungen mit begünstigender Wirkung nicht entgegen, solange sie den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG nicht verletzen.463 Da Kinder in der GKV beitragsfrei mitversichert sind und die GKV dafür Steuermittel erhält, dürfte es nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen, wenn diese Begünstigung auch der PKV zukäme. Zur Wahrung des Art. 3 Abs. 1 zwingend geboten erscheint sie aber ebenfalls nicht, da der Staat nicht verpflichtet ist, den Teil der Bevölkerung, den er für fähig hält, Eigenvorsorge zu betreiben, in gleicher Weise zu fördern wie sozial Schutzbedürftige.464 Insofern rechtfertigt sich die Ungleichbehandlung aus dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG). Etwas anderes gilt nur dann, wenn zwischen den Systemen keine Unterschiede mehr bestehen, die die Ungleichbehandlung rechtfertigen können.465 Allenfalls verletzt sein könnte durch eine solche Begünstigung an Private das europäische Beihilfenrecht gem. Art. 107 Abs. 1 AEUV.466 Jedoch ist bereits fraglich, ob derartige Subventionen der PKV „den Wettbewerb verfälschen“ wür462 So auch die Forderung der privaten Versicherungsunternehmen, die mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen die Gesundheitsreform 2007 u. a. § 221 Abs. 1 SGB V angriffen und geltend machten, entsprechende Begünstigungen müssten auch für sie gelten, s. BVerfG, Urt. v. 10.6.2009 – 1 BvR 706/08 u. a., Rn. 138 f., NJW 2009, 2033 (2036); s. a. Giesen, NZS 2006, 449 (450, 451 f.). 463 Giesen, NZS 2006, 449 (451). 464 Ebenso Giesen, NZS 2006, 449 (451); Kingreen stellt jedenfalls in Frage, ob nicht die PKV in vergleichbarer Weise begünstigt werden müsste, s. ZESAR 2007, 139 (146). 465 Giesen, NZS 2006, 449 (451). 466 Giesen, NZS 2006, 449 (451 f.).
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
den, wie es die Vorschrift fordert, da zwischen GKV und PKV nach hier vertretener Auffassung kein Wettbewerb besteht. Selbst wenn man von einem Wettbewerb ausgeht, fehlt es an einer Verfälschung, weil die GKV als Konkurrent die gleiche Begünstigung erhält. Schließlich fiele die Beihilfe auch unter die Ausnahmebestimmung nach Art. 107 Abs. 2 lit. a) AEUV für „Beihilfen sozialer Art“.467 Voraussetzung für diese Ausnahme wäre nur, dass die Beihilfe auch solchen Versicherten mit Kindern zu Gute kämen, die bei einem EU-ausländischen Krankenversicherer versichert sind.468 (2) Zahlungen der PKV an den Gesundheitsfonds zum Vorteils- und Lastenausgleich Größere Schwierigkeiten wirft die erste und häufiger geforderte Variante auf, die Privatversicherer in der Weise am Gesundheitsfonds zu beteiligen, dass sie mit zur Finanzierung der GKV herangezogen werden. Problematisch erscheint, wie eine solche Abgabe der Privatversicherungen rechtlich qualifiziert und legitimiert werden kann. (a) Sozialversicherungsbeitrag gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG? Der Risikostrukturausgleich in der GKV bewirkt, dass ein Solidarausgleich nicht nur zwischen den Mitgliedern einer gesetzlichen Krankenkasse, sondern auch unter den einzelnen Krankenkassen stattfindet. Seit der Einführung des Gesundheitsfonds wird der Risikostrukturausgleich in der Form vollzogen, dass die Beitragseinnahmen in den Gesundheitsfonds einfließen und jede Krankenkasse daraus Zuweisungen erhält, die sich aus einer Grundpauschale, alters- und risikoadjustierten Zuschlägen (§ 266 Abs. 1 SGB V) und Zuweisungen für sonstige Ausgaben (§ 270 SGB V) zusammensetzen. Die (Um-)Verteilung der Sozialversicherungsbeiträge unter den Krankenkassen in diesem Sinne ist ebenso wie ihre Erhebung und Verwaltung von der Gesetzgebungskompetenz des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG erfasst.469 Auch die Einbeziehung der PKV in diesen Ausgleich könnte daher von der Kompetenz für die Sozialversicherung erfasst sein. Dies erscheint jedoch äußerst zweifelhaft.470 Dafür müssten die Ausgleichsbeträge zugunsten der GKV, die die Privatversicherer von ihren Versicherten erheben und in den Gesundheitsfonds einzahlen, nämlich als Sozialversicherungsbeiträge qualifiziert werden können. Dass die PKV-Versicherten keinen Leistungsanspruch gegenüber der GKV erwerben, steht der Qualifikation als Sozialversicherungsbeitrag zwar nicht entgegen. Auch Arbeitgeber leisten fremdnützige Sozialversiche467 468 469 470
Giesen, NZS 2006, 449 (452). Giesen, NZS 2006, 449 (452). Axer, SGb 2003, 485 (489). Neumann, in: Reformoption Bürgerversicherung, S. 176 f.
C. Umgestaltungsoptionen
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rungsbeiträge für ihre Arbeitnehmer und sogar die Vermarkter471 müssen sich an den Sozialversicherungsbeiträgen der Künstler und Publizisten beteiligen.472 Ihre Beiträge begründen ebenfalls keinen eigenen Anspruch gegen die GKV. Anders als bei Arbeitgebern und Vermarktern stehen die Privatversicherten bzw. die privaten Versicherungsunternehmen aber weder in einer Fürsorgebeziehung473 noch in einem besonderen Arbeits- und Verantwortungszusammenhang474 zu den Versicherten der GKV.475 Sie weisen keinerlei Nähe zu den einzelnen Versicherten auf, sondern sollen vielmehr allgemein zur Deckung der Kosten der Sozialversicherung herangezogen werden. Hinter der Beteiligung Privatversicherter steht nicht der Gedanke der Unterstützung einzelner Sozialversicherter, sondern der verteilungspolitische Aspekt der gleichmäßigen Belastung von Sozial- und Privatversicherten. Eine solche Indienstnahme Nichtversicherter kann nicht als Sozialversicherungsbeitrag gerechtfertigt sein.476 (b) Sonder- bzw. Ausgleichsabgabe? In Betracht kommt ferner eine Rechtfertigung als Sonderabgabe. Sonderabgaben sind außersteuerliche Abgaben, die einem begrenzten Personenkreis auferlegt werden und keiner ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Ermächtigung bedürfen, sondern auf die allgemeinen Sachzuständigkeiten nach Art. 73 ff. GG gestützt werden können.477 Das Bundesverfassungsgericht hat Voraussetzungen benannt, unter denen Sonderabgaben zulässig sind. Insbesondere muss mit der Sonderabgabe ein Sachzweck verfolgt werden und die mit ihr Belasteten müssen eine homogene Gruppe bilden, der eine besondere Verantwortung für die Erreichung des verfolgten Sachzwecks zukommt, die sich von der der allgemein Steuerpflichtigen unterscheidet. Ferner müssen Sonderabgaben gruppennützig verwandt werden, d.h. dem die Gruppe betreffenden Sachzweck entsprechend eingesetzt werden.478 Von diesen Kriterien ist das BVerfG abgewichen bei der Legitimierung der Schwerbehindertenabgabe. Rechtfertigung dieser Sonderabgabe, die gem. § 77 SGB IX von Arbeitgebern erhoben wird, die nicht die vorge471
BVerfG, Beschl. v. 8.4.1987 – 2 BvR 909/82 u. a., Rn. 114, BVerfGE 75, 108. Giesen, NZS 2006, 449 (453). 473 Das Fürsorgeprinzip rechtfertigt den Sozialversicherungsbeitrag des Arbeitgebers für den Arbeitnehmer, s. etwa BVerfG, Entsch. v. 10.5.1960 – 1 BvR 190/58 u. a., Rn. 23, BVerfGE 11, 105; Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 123 ff. 474 Anknüpfungspunkt für die Heranziehung der Vermarkter zur Finanzierung der Versicherungsbeiträge von Künstlern und Publizisten, s. BVerfG, Beschl. v. 8.4.1987 – 2 BvR 909/82 u. a., Rn. 130 f., BVerfGE 75, 108. 475 Siehe auch Giesen, NZS 2006, 449 (453). 476 Giesen, NZS 2006, 449 (453). 477 Kube, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 105, Rn. 16 ff. 478 Vgl. BVerfG, Urt. v. 10.12.1980 – 2 BvF 3/77, Rn. 73 ff., BVerfGE 55, 274 (298 ff.). 472
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
schriebene Zahl schwerbehinderter Arbeitnehmer beschäftigen, ist nicht die besondere Sachverantwortung der Gruppe, sondern die Antriebs- und Ausgleichsfunktion. Die Abgabe soll erstens Arbeitgeber dazu bewegen, schwerbehinderte Arbeitnehmer einzustellen und zweitens einen Ausgleich zwischen Arbeitgebern, die die Vorgaben erfüllen und solchen, die sie nicht erfüllen, schaffen. Als spezielle Form der Sonderabgabe wird diese Abgabenform Ausgleichsabgabe genannt. Eine Verpflichtung der PKV zur Beteiligung an den Lasten der GKV kann aber weder als Sonder- noch als Ausgleichsabgabe legitimiert werden. Den privaten Krankenversicherungsunternehmen kommt keine besondere Verantwortung für die Lasten der GKV zu.479 Im Gegenteil liegt die Funktionsfähigkeit selbstverwalteter Versicherungseinrichtungen in erster Linie in dem Verantwortungsbereich ihrer Mitglieder. Darüber hinaus ist die Stabilität der GKV auch ein gesamtgesellschaftliches Interesse, aber keineswegs eines das überwiegend die Privatversicherten betrifft. Auch eine Antriebsfunktion, die PKV-Versicherten zum Wechsel in die GKV zu bewegen, kann der Abgabe nicht beigemessen werden. Die Ausgleichsfunktion reicht dagegen alleine nicht zur Begründung einer Sonder- bzw. Ausgleichsabgabe aus, weil sie auch das Kerncharakteristikum der Steuer ist und daher nicht als ausreichendes Abgrenzungskriterium fungieren kann. (c) Belastung Privatversicherter mit einer Versicherungssteuer? Giesen schlägt als einzig praktikablen Weg vor, die PKV-Versicherten mit einer Versicherungssteuer zu belasten, von der sie derzeit gem. § 4 Nr. 5 Versicherungssteuergesetz ausgenommen sind.480 Gem. Art. 105 Abs. 2 GG hat der Bund regelmäßig die Gesetzgebungskompetenz für Steuern und diesem fließt nach Art. 106 Abs. 1 Nr. 4 GG auch das Steueraufkommen aus Versicherungssteuern zu.481 Er könnte diese also erheben und sie gem. Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG dem Gesundheitsfonds zuführen. Was die Versicherungssteuer von der den Ländern zustehenden Verkehrssteuer unterscheidet, ist bisher nicht abschließend geklärt. Um sicherzugehen, dass es sich um eine Versicherungssteuer handelt und der Bund somit Anrecht darauf hat, sollte die Steuer auf die Zahlung des Versicherungsentgeltes der Versicherten und nicht auf die Entgegennahme durch die Versicherungsunternehmen erhoben werden. Dies ist unabhängig davon, bei wem die Steuer letztlich eingezogen wird. Es müsste berücksichtigt werden, dass eine Orientierung an der Höhe der Versicherungsprämie schlechte Risiken belasten
479 Giesen, NZS 2006, 449 (452 f.); Neumann, in: Reformoption Bürgerversicherung, S. 156 (179). 480 Giesen, NZS 2006, 449 (453 ff.). 481 Giesen, NZS 2006, 449 (454 f.).
C. Umgestaltungsoptionen
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und gute Risiken begünstigen würde, was ungerechtfertigt erscheint. Sachgerechter wäre ein Pauschalbetrag pro Versichertem oder eine Einkommensstaffelung. Zu berücksichtigen ist bei dieser Form des „Solidarausgleichs“ zwischen GKV und PKV über Steuern jedoch, dass der Gesetzgeber nicht zum zweckgebundenen Einsatz der Steuer zugunsten der GKV verpflichtet ist.482 Das Steueraufkommen könnte also im Laufe der Zeit auch anderweitig zur Deckung anderer Aufgaben verwandt werden. Das hier verfolgte Ziel eines Lastenausgleichs zwischen den Krankenversicherungssystemen ginge dann verloren. b) Übertragung von Funktionsbedingungen der PKV auf die GKV Anders herum könnten auch die Systemmerkmale der PKV auf die GKV übertragen werden. Hier stellt sich insbesondere die Frage, ob eine Beitragsgestaltung ohne Einkommensbezug in der Sozialversicherung denkbar ist und ob durch eine privatrechtliche Organisation gesetzlicher Krankenkassen eine stärkere Nähe zur PKV hergestellt werden könnte. aa) Wahltarife als privatversicherungsrechtliche Elemente in der GKV Seit dem 1.4.2007 finden wir bereits ein privatversicherungstypisches Element in der GKV vor: die Wahltarife gem. § 53 SGB V. Sie wurden mit dem GKVWSG in das SGB V eingeführt und sind in dieser Arbeit schon verschiedentlich Gegenstand der Erörterung gewesen. Sie wurden ebenso wie der Basistarif von den privaten Krankenversicherern mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen. Mangels Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerden wurde über ihre Verfassungsmäßigkeit jedoch nicht entschieden.483 Insbesondere die Verfassungsmäßigkeit der leistungserweiternden Wahltarife gem. § 53 Abs. 4 und 5 SGB V wirft erhebliche Zweifel auf. Auf diese konzentrieren sich die folgenden Überlegungen.484 (1) Leistungserweiternde Wahltarife als „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG? Zum Wesen der Sozialversicherung im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gehört nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts neben der „Bedarfsdeckung durch eine organisierte Vielheit“, also dem Versicherungsprinzip, 482
Giesen, NZS 2006, 449 (454). BVerfG, Urt. v. 10.6.2009 – 1 BvR 706/08 u. a., Rn. 133 f., NJW 2009, 2033 (2035). 484 Zu der europarechtlichen Konsequenz, dass die Krankenkassen im Bereich der leistungserweiternden Wahltarife als „Unternehmen“ im Sinne der Art. 101 f. AEUV anzusehen sind, siehe schon oben Kapitel 3, C. 483
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
auch das „soziale Bedürfnis nach Ausgleich besonderer Lasten“.485 Dieses Kriterium enthält zwei Gedanken: Zum einen muss es sich um „besondere Lasten“ handeln, d.h. um Risiken, für die ein besonderes Absicherungsbedürfnis besteht.486 Zum anderen muss ein „Ausgleich“ stattfinden, d.h. eine soziale Umverteilung in der Form, dass nicht jeder sein individuelles Risiko zu tragen hat.487 Das erste Kriterium ist im Rahmen der leistungserweiternden Wahltarife nicht erfüllt, das zweite hängt von der Ausgestaltung des Wahltarifs in der Satzung ab. In den Wahltarifen nach § 53 Abs. 4 und 5 werden Leistungen versichert, deren medizinische Notwendigkeit entweder – in den Augen des Gesetzgebers – nicht besteht (wie bei der Chefarztbehandlung oder Unterbringung im Zwei-BettZimmer488) oder deren medizinischer Nutzen jedenfalls nicht nachgewiesen wurde (wie etwa bei der Homöopathie). Leistungen, für die ein wirkliches medizinisches Bedürfnis besteht, sind dagegen bereits vom Leistungskatalog der GKV umfasst. Für eine darüber hinaus gehende Sonderbehandlung durch den Chefarzt oder eine homöopathische Therapie mit fragwürdigem medizinischem Nutzen besteht kein sozialversicherungsrechtliches Bedürfnis.489 Es handelt sich vielmehr um Einzelinteressen, die dem privaten Bereich zuzuordnen sind. Ob ein sozialer Ausgleich zwischen den Versicherten in den Wahltarifen mit Zusatzleistungen stattfindet, hängt von der Ausgestaltung der Tarife durch die Krankenkassen ab. Sie können die Prämien sowohl nach dem Einkommen der Versicherten als auch risikoäquivalent bzw. pauschal bemessen. Zu beachten ist jedoch, dass die entstehenden Mehrkosten wegen des Verbots der Quersubventionierung vollständig durch das Prämienaufkommen zu decken sind (Abs. 9 Satz 1). Da die Wahltarife aber keine Pflichtversicherung sind und in der Regel vorwiegend solche Personen sie wählen werden, die sie auch in Anspruch nehmen, wird eine Prämienbemessung nach dem Einkommen oftmals nicht kostendeckend sein. Die Kassen werden die Prämien daher meist pauschal oder risikoäquivalent gestalten. Eine risikoäquivalente Prämienberechnung setzt aber den sozialversicherungstypischen sozialen Ausgleich vollständig außer Kraft. Hinzu kommt, dass nach § 53 Abs. 4 und 5 SGB V Prämien „durch die Versicherten“ vorgesehen werden können und nicht nur durch „Mitglieder“. Dies spricht dafür, 485
BVerfG, Beschl. v. 8.4.1987 – 2 BvR 909/82 u. a., Rn. 95, BVerfGE 75, 108. Vgl. Rolfs, Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 103 f.; Merten, in: Schulin, Hdb. Sozialversicherungsrecht, Bd. 1, § 5, Rn. 117. 487 Siehe Bieback, VSSR 2003, 1 (15), der die Ergebnisse der vier Habilitationen zum Begriff der „Sozialversicherung“ von Hase, Rolfs, Butzer und J. Becker zusammenträgt; ebenso etwa Schmidt, GesR 2007, 295 (300); Thüsing/v. Medem, Vertragsfreiheit und Wettbewerb, S. 86. 488 Die Erstattung dieser Leistungen können vom Wahltarif Kostenerstattung umfasst sein; s. im Einzelnen Thüsing, NZS 2008, 449 (450). 489 Ebenso Isensee, NZS 2007, 449 (453); Thüsing/v. Medem, Vertragsfreiheit und Wettbewerb, S. 86 f.; Thüsing, NZS 2008, 510 (510 f.). 486
C. Umgestaltungsoptionen
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dass die Prämien bei einer Familienversicherung auch von den mitversicherten Angehörigen zu zahlen sind,490 wodurch auch der Familienlastenausgleich entfällt. Wegen des fehlenden sozialen Bedürfnisses nach einer Absicherung der Zusatzleistungen im Wege der Sozialversicherung, fehlt den leistungserweiternden Wahltarifen bereits die formell verfassungsrechtliche Legitimität. Das „Bedürfnis nach Flexibilisierung und Wettbewerbsfähigkeit der Kassen“ ist eben kein solches soziales Bedürfnis.491 Dies wird bei einzelnen Wahltarifen – je nach Ausgestaltung in der Satzung – durch den fehlenden Solidarausgleich verschärft.492 (2) Konflikt mit den Grundrechten der PKV-Anbieter? Auch mit den Grundrechten der PKV-Unternehmen geraten die Wahltarife in Konflikt. Soweit sie Zusatzleistungen absichern, treten die Krankenkassen mit den privaten Krankenversicherungsunternehmen in einen Wettbewerb.493 Die Zusatzversicherungen in der PKV und die Zusatzwahlleistungen der Krankenkassen sind für die GKV-Pflichtversicherten und die Versicherungsberechtigten substitutierbar, so dass ein relevanter Markt vorliegt. Die Krankenkassen können also durch die gesetzliche Ermächtigung des § 53 Abs. 4 und 5 SGB V den Privatversicherern auf ihrem Markt staatliche Konkurrenz machen. Staatliche Konkurrenz ist zwar nicht per se als Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG anzusehen. Es besteht kein Schutz vor Konkurrenz, d.h. kein Anspruch auf Sicherung der Erwerbsmöglichkeiten in der Wettbewerbswirtschaft.494 Der Staat tritt hier jedoch nicht wie ein Privater in den Wettbewerb ein, sondern er richtet den Markt neu aus, da er unter ungleichen Voraussetzungen gegenüber den privaten Konkurrenten auftritt. Den Krankenkassen stehen deutlich mehr Freiheiten bei der Ausgestaltung und Finanzierung der Wahltarife offen als den PKV-Unternehmen.495 Die Vorteile wurden bereits erörtert.496 Hierzu zählt auch die Tatsache, dass die Krankenkassen Zugriff auf die Adressen von etwa 85%–90% der Versicherten haben.497 Vor derartigen Marktinterventionen schützen den Privaten sowohl das Freiheitsgrundrecht des Art. 12 Abs. 1 GG als auch der Gleichheitssatz gem. Art. 3 Abs. 1 GG. Sie können nur gerechtfertigt sein, wenn ein Gemeinwohlbedürfnis 490 So Hohnholz, in: Hauck/Noftz, SGB V, § 53, Rn. 29; a. A. Dreher, in: jurisPKSGB V, § 53, Rn. 112 f. 491 Isensee, NZS 2007, 449 (453). 492 Schmidt, GesR 2007, 295 (302). 493 Vgl. Kapitel 2, B. IV. 2.; Kapitel 3, C. 494 BVerwG, Urt. v. 22.2.1972 – I C 24.69, Rn. 23, BVerwGE 39, 329 (336 f.); vgl. auch Isensee, NZS 2007, 449 (454). 495 Ausführlich dazu Thüsing/von Medem, Vertragsfreiheit und Wettbewerb, S. 141. 496 Siehe etwa Kapitel 2, B. IV. 1. 497 Darauf weist Isensee hin, NZS 2007, 449 (455).
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hierfür besteht. Dies ist etwa dann der Fall, wenn ein Marktversagen vorliegt.498 Hier bestanden jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass das Zusatzversicherungsgeschäft durch die Privatversicherung nicht ausreichend gewährleistet war, so dass ein Gemeinwohlinteresse schwer zu begründen ist. bb) Stärkung der Äquivalenz in der GKV über „Kopfpauschalen“ Eine Modifikation des sozialversicherungstypischen Solidarprinzips als Beitragsbemessungsgrundlage sieht das Modell pauschaler Gesundheitsprämien – im Volksmund besser bekannt als „Kopfpauschalen“-Modell – vor. Neben der sog. Bürgerversicherung war eine solche einnahmenseitige Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung 2003 von der Rürup-Kommission499 als alternatives Konzept vorgeschlagen worden. Das Konzept sieht „die vollständige Abkehr von der einkommensbezogenen Beitragsbemessung in der Gesetzlichen Krankenversicherung zugunsten einer stärker am Äquivalenzprinzip orientierten Prämiengestaltung“ vor.500 Jeder erwachsene GKV-Versicherte soll eine pauschale Gesundheitsprämie zahlen, die für alle Versicherten einer Krankenkasse gleich hoch ist, unter den Krankenkassen aber variieren und so dem Preiswettbewerb dienen kann. Kinder sollen beitragsfrei mitversichert sein. Dadurch werden die Beiträge zur GKV völlig von den Arbeitskosten entkoppelt. Die bisherigen Arbeitgeberbeiträge sollen als Bruttolohn ausgezahlt werden. Der notwendige soziale Ausgleich soll auf ein SteuerTransfer-System ausgelagert werden, d.h. an Versicherte mit geringen Haushaltseinkommen sollen steuerfinanzierte Prämienzuschüsse ausgezahlt werden. Das Modell orientiert sich an dem Gesundheitssystem der Schweiz, das auf ähnliche Weise finanziert wird.501 Der Bericht der Rürup-Kommission geht von der Möglichkeit einer Ausdehnung des Gesundheitsprämiensystems auf die gesamte Bevölkerung aus, spricht sich jedoch mehrheitlich dagegen aus.502 Insgesamt beschäftigt sich das Konzept vorrangig mit der vorgeschlagenen alternativen Beitragsbemessung. Der in das Gesundheitsprämiensystem einbezogene Personenkreis wird ebenso offen gelassen wie der Leistungsumfang. Auch der von der sog. Herzog-Kommission503 2003 vorgelegte Bericht hatte ein solches von der Lohnentwicklung entkoppeltes Modell der Beitragsbemes498
Isensee, NZS 2007, 449 (454). Rürup-Kommission, Bericht 2003, S. 161 ff. 500 Rürup-Kommission, Bericht 2003, S. 16 ff. 501 Zum Gesundheitssystem der Schweiz, Kapitel 4, B. 502 Rürup-Kommission, Bericht 2003, S. 16 ff. 503 Kommission „Soziale Sicherheit“, nach ihrem Vorsitzenden „Herzog-Kommission“ genannt. Einberufen vom Bundesvorstand der CDU mit dem Auftrag, konkrete 499
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sung in der GKV vorgeschlagen. Dieses sieht ferner vor, das Umlageverfahren über einen Zeitraum von zehn Jahren durch ein kapitalgedecktes Verfahren abzulösen.504 Es wurde daraufhin Grundlage des Wahlprogramms der CDU zur vorgezogenen Bundestagswahl 2005. Im aktuellen Bundestagswahlkampf klingt das Reformmodell noch im Wahlprogramm der FDP an, die den bereits vollzogenen „Einstieg“ in die Abkopplung der Krankenversicherungsbeiträge von den Löhnen und Gehältern lobt und ausbauen will.505 Mit der Einführung des Zusatzbeitrags gem. § 242 SGB V zum 1.1.2009 hat bereits ein pauschales Beitragselement neben den einkommensabhängigen Beiträgen Einzug in die Beitragsbemessung der GKV genommen. (1) Gesundheitsprämiensystem als „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG? Dem Sozialstaatsprinzip kann auch durch einen steuerfinanzierten sozialen Ausgleich in Form von Prämienzuschüssen für Geringverdiener genügt werden. Fraglich ist aber, ob ein durch „Kopfpauschalen“ finanziertes Krankenversicherungssystem noch als „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG angesehen werden kann. Die Gesundheitsprämie ist ein Beitrag, der sich weder am Einkommen orientiert noch am individuellen Risiko. Das Gesundheitsprämienmodell stellt eine Globaläquivalenz der Beiträge her, d.h. der Finanzbedarf der GKV wird gleichmäßig auf alle Mitglieder verteilt, um diesen insgesamt zu decken. Dies ist im Verhältnis zu einer individualäquivalenten Beitragsberechnung „sozialer“. Die Umverteilungswirkung zwischen gesunden und kranken Versicherten ist gegenüber der Privatversicherung erhöht.506 Im Vergleich zur derzeitigen Beitragsbemessung in der Sozialversicherung entfällt aber die krankenversicherungsfremde Umverteilungswirkung zwischen einkommensstarken und -schwachen Versicherten. Diese wird aus der Versicherung auf das Steuersystem ausgelagert. Der Ausgleich zwischen Familien und Kinderlosen bleibt insofern bestehen als die Beiträge für Kinder auf alle Erwachsenen umgelegt werden. Auch findet ein Ausgleich zwischen jungen und alten Versicherten statt, wenn man davon ausgeht, dass die Umlagefinanzierung erhalten bleibt. Zum Wesen der Sozialversicherung im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gehört das „soziale Bedürfnis nach Ausgleich besonderer Lasten“ 507 und damit Reformvorschläge zur Sicherung der Zukunftsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme auszuarbeiten. 504 Herzog-Kommission, Bericht, S. 23 f. 505 FDP, Wahlprogramm 2013 „Damit Deutschland stark bleibt. Nur mit uns.“, S. 38, abrufbar unter: http://www.fdp.de. 506 Wallrabenstein, SGb 2004, 24 (29) sieht die pauschalen Beiträge „weit entfernt“ von den risikoadäquaten Beiträgen in der PKV. 507 BVerfG, Beschl. v. 8.4.1987 – 2 BvR 909/82 u. a., Rn. 95, BVerfGE 75, 108.
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eine Form des sozialen Ausgleichs. Diesem Bedürfnis kann jedoch auch durch die Finanzierung des Systems über „Kopfpauschalen“ genügt werden. Die Gesetzgebungskompetenz des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG legt den Bundesgesetzgeber nicht auf eine bestimmte Beitragsbemessung fest. Entscheidend ist lediglich, dass sich die Beiträge nicht streng am versicherten individuellen Risiko orientieren, sondern ein sozialer Ausgleich stattfindet.508 Dies ist ein wesentliches Unterscheidungskriterium zur Privatversicherung. Eine Umverteilung findet wie gezeigt auch in einem System mit pauschalen Gesundheitsprämien statt: Die Prämien sind zwar global äquivalent, aber nicht wie in der Privatversicherung individuell äquivalent. Allein die Umverteilung zwischen einkommensstarken und -schwachen Versicherten macht sich das Gesundheitsprämienmodell nicht zur Aufgabe, sondern erklärt sie zur Aufgabe der Gesamtgesellschaft, indem es diese Komponente auf das Steuersystem auslagert. Damit begründet das Modell der Kopfpauschalen eine umfassende „Gesundheitssolidarität“ 509 anstatt einer „Leistungsfähigkeitssolidarität“ wie sie derzeit besteht. An dem Sozialversicherungscharakter des Systems ist deswegen nicht zu zweifeln.510 Das gilt selbst dann, wenn das Gesundheitsprämiensystem langfristig – wie es die Herzog-Kommission vorsah – auf ein kapitalgedecktes Verfahren umstiege. Dann entfiele zwar die weitere Ausgleichskomponente der Umverteilung zwischen den Generationen. Auch diese ist aber kein fester Wesensbestandteil der Sozialversicherung.511 Was die Sozialversicherung wesensmäßig ausmacht, richtet sich nach dem Bild, das durch die „klassische“ Sozialversicherung geprägt ist.512 Da aber das reine Umlageverfahren in der gesetzlichen Rentenversicherung erst seit 1969 praktiziert wird und bis 1957 (jedenfalls formal)513 noch das Anwartschaftsdeckungsverfahren galt,514 erscheint dieses für die klassische „Sozialversicherung“ nicht weniger prägend als das Umlageverfahren. 508 Siehe nur Bieback, VSSR 2003, 1 (15), der die Ergebnisse der vier Habilitationen zum Begriff der „Sozialversicherung“ von Hase, Rolfs, Butzer und J. Becker zusammenträgt. 509 Begriff von Wallrabenstein, SGb 2004, 24 (29). 510 Ebenso Sodan, in: Die sozial-marktwirtschaftliche Zukunft der Krankenversicherung, S. 9 (19); Schmidt-Aßmann, NJW 2004, 1689 (1693 f.) spricht im Gegensatz zur Bürgerversicherung hier jedenfalls keine verfassungsrechtlichen Bedenken an. 511 Ebenso Rolfs, Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 234 f.; Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 125 f. 512 BVerfG, Beschl. v. 8.4.1987 – 2 BvR 909/82 u. a., Rn. 95, BVerfGE 75, 108. 513 Der Kapitalstock der gesetzlichen Rentenversicherung war tatsächlich schon früher durch den 2. Weltkrieg und die Währungsreform 1948 zerstört worden. 514 Zwischen 1957 und 1969 wurde das Anwartschaftsdeckungsverfahren durch das sog. Abschnittsdeckungsverfahren abgelöst. Siehe zu der Entwicklung des Finanzierungsverfahrens in der gesetzlichen Rentenversicherung Rolfs, Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 234 f.; Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 125 f.
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(2) Gesundheitsprämienfinanzierte Krankenkassen als „Unternehmen“ im Sinne des europäischen Kartellrechts? Problematischer erscheint hingegen, ob die Krankenkassen im Falle der Finanzierung durch „Kopfpauschalen“ weiterhin vom Adressatenkreis des EU-Wettbewerbsrechts ausgenommen wären. Obwohl der EuGH die Unternehmenseigenschaft nach der Entscheidung Höfner und Elser grundsätzlich unabhängig von der Art der Finanzierung bestimmt, zeigt die Rechtsprechung zu den Trägern sozialer Sicherungssysteme, dass es hier ganz maßgeblich auf die Finanzierung des System ankommt. Zwei Kriterien sind für den EuGH entscheidend um eine „rein soziale Aufgabenerfüllung“ im Unterschied zur „wirtschaftlichen Tätigkeit“ anzunehmen: (1.) Die Umsetzung des Solidarprinzips, d.h. die Unabhängigkeit des Leistungsanspruchs vom entrichteten Beitrag und (2.) die Finanzierung nach dem Umlageverfahren. Teilweise wird angenommen, der sozialen Umverteilung komme in dem Gesundheitsprämienmodell ein „wesentlich geringerer Stellenwert“ zu, weshalb es bei dessen Umsetzung „kaum noch zu rechtfertigen“ sei, die gesetzlichen Krankenkassen vom Anwendungsbereich der Art. 101 f. AEUV auszunehmen.515 M. E. ist diese Einschätzung nicht zwingend. Zwar tritt die Umverteilung zwischen Einkommensstarken und -schwachen wie gezeigt stärker zurück. Diese Ausprägung horizontaler Solidarität wird vom EuGH jedoch nicht als prägendes Merkmal des Solidaritätsgrundsatzes angesehen. Entscheidender ist für ihn die vertikale Solidarität, d.h. die fehlende Äquivalenz zwischen Beitrag und Leistung. Auch der pauschale Beitrag ist aber unabhängig vom individuellen Risiko und führt damit eine Umverteilung zwischen Versicherten mit hohem und Versicherten mit geringem Risiko herbei.516 Etwas anderes müsste allerdings dann gelten, wenn nach dem Modell der Herzog-Kommission mit den pauschalen Gesundheitsprämien auch auf das Kapitaldeckungsverfahren umgestellt würde. Das Umlageverfahren ist nach der EuGH Rechtsprechung maßgeblich für ein vom Grundsatz der Solidarität geprägtes System, das den Regeln des Wettbewerbsrechts entzogen ist. Der EuGH hat Wettbewerbsbeschränkungen durch kapitalgedeckte Sozialversicherungsträger allenfalls als gem. Art. 106 Abs. 2 GG gerechtfertigt angesehen, aber noch nie ein solches aus dem persönlichen Anwendungsbereich ausgenommen.517
515
Schenke, VersR 2004, 1360 (1365 f.). Siehe auch bereits die Ausführungen zum einkommensunabhängigen Zusatzbeitrag Kapitel 3, A. I. 3. d) cc) (3). 517 Siehe oben Kapitel 3, A. I. 3. a) aa) (2) insbesondere (a) und (b) zu den Rechtssachen Federation française und Albany. 516
274
Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
cc) Krankenkassen in privater Rechtsform In einem aktuellen Gutachten518 im Auftrag der Techniker Krankenkasse wurde ferner untersucht, ob die GKV und die PKV in einheitlicher Rechtsform, nämlich als privatrechtliche Unternehmen, organisiert werden können. Ziel der Gutachter ist es „nicht die ideale Krankenversicherung auf dem Reißbrett [zu entwerfen], sondern [. . .] einen ersten pragmatischen Schritt [zu entwickeln], der den Lösungsraum für verschiedene Modellvarianten eröffnet: Die Überführung der Krankenkassen in eine private Rechtsform“.519 In der Untersuchung geht es nicht um eine Privatisierung der GKV, sondern lediglich um eine private Rechtsform für deren Träger.520 Die Gutachter empfehlen eine Beleihung Privater mit der Ausführung der GKV, d.h. die Einbeziehung privater Unternehmen in die mittelbare Staatsverwaltung. Sie sehen zahlreiche Vorteile für die Stabilität der GKV:521 Die Gestaltungsmöglichkeiten der Krankenkassen würden erweitert. Diese erhielten etwa die Möglichkeit, selbst Zusatzversicherungen anzubieten, was zu einer Öffnung der separierten Teilmärkte für GKV und PKV führte und eine Wettbewerbsintensivierung verspräche. Weiterhin bestünde die Option für Krankenkassen, Kapital-, Rückversicherungs- und Risikomärkte in Anspruch zu nehmen sowie Eigeneinrichtungen und Tochtergesellschaften zu gründen. Als weitere positive Effekte werden eine größere Transparenz durch die Rechnungslegung nach dem HGB, ein höherer Verbraucherschutzstandard und eine Harmonisierung der Besteuerung von GKV und PKV genannt. Wettbewerbsverzerrungen, die derzeit durch die unterschiedlichen Maßstäbe verschiedener Kontrollorgane im GKV-System entstünden, würden durch die einheitliche Aufsicht in der Hand der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) behoben. Die privatrechtliche Organisation der Krankenkassen ermöglicht grundlegende Veränderungen des Gesundheitswesens: Es würden zwar weiterhin zwei „Teilmärkte“ bestehen. In dem einen Teilmarkt, dem öffentlichen GKV-System, würde eine umlagefinanzierte Grundsicherung mit gesetzlich fixiertem Leistungskatalog betrieben und in dem anderen Teilmarkt eine kapitalgedeckte Vollund Zusatzversicherung. Hinzutreten könnte – nach dem Vorschlag der Gutach-
518 Wille/Graf von der Schulenburg/Thüsing, in: Wille/Hamilton/Graf von der Schulenburg/Thüsing, Privatrechtliche Organisation, Teil 1, S. 57 ff. 519 Klusen, Vorwort zum Gutachten von Wille/Hamilton/Graf von der Schulenburg/ Thüsing, Privatrechtliche Organisation, S. 8. 520 Dies geht in die Richtung des niederländischen Gesundheitssystems. Eine Orientierung an diesem hatte auch Kingreen in seinem Referat auf dem 69. DJT in München 2012 empfohlen. abrufbar unter: http://www.uni-regensburg.de/rechtswissenschaft/oef fentliches-recht/kingreen/medien/referat-djt-kingreen-vortragsfassung.pdf. 521 Wille/Hamilton/Graf von der Schulenburg/Thüsing, Privatrechtliche Organisation, S. 20 ff.
C. Umgestaltungsoptionen
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ter – wie in der Schweiz eine umlagefinanzierte Zusatzversicherung. Neu wäre jedoch, dass die Versicherungsträger in den beiden Teilmärkten sich nicht mehr von einander unterscheiden müssten. Da auch die GKV durch beliehene Private betrieben würde, könnten private Krankenversicherungen sowohl die PKV anbieten als auch die Aufgaben der Sozialversicherung wahrnehmen. Voraussetzung wäre lediglich eine strikte Trennung der Aktivitäten und der Finanzen. Damit kann die privatrechtliche Organisationsform die Grundlage für Wettbewerb zwischen GKV und PKV bilden: Wegen der Identität der Anbieter auf den einzelnen Teilmärkten bestünden für alle Versicherer die gleichen Bedingungen, die sich jeweils nach dem Markt richteten, auf dem sie tätig würden. (1) Materielle Vorgaben des Grundgesetzes stehen nicht entgegen Weder das Sozialstaatsprinzip noch die Vorgaben aus Art. 1 Abs. 1 GG sowie Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG über die Gewährleistung des medizinischen Existenzminimums und die Schutzpflicht des Staates für Leben und körperliche Unversehrtheit legen den Gesetzgeber auf eine Organisationsform der sozialen Sicherheit und des Gesundheitsschutzes fest.522 Allenfalls die Kompetenztitel können dem Gesetzgeber hier Grenzen setzen. (2) Zwingende Organisation der Krankenkassen als „Körperschaft des öffentlichen Rechts“ wegen Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und Art. 87 Abs. 2 GG? Problematisch ist, ob die Errichtung gesetzlicher Krankenkassen in privater Rechtsform auf die Gesetzgebungskompetenz für die „Sozialversicherung“ gestützt werden kann. Nach dem BVerfG müssen Sozialleistungen im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG „dem Bild entsprechen, das durch die ,klassische‘ Sozialversicherung geprägt ist“.523 Dazu gehört nach Auffassung des Gerichts insbesondere auch die organisatorische Bewältigung der Aufgabe. „Träger der Sozialversicherung [seien] selbständige Anstalten oder Körperschaften des öffentlichen Rechts, die ihre Mittel durch Beiträge von ,Beteiligten‘ aufbringen.“ 524 Ferner scheint auch die Verwaltungskompetenz des Art. 87 Abs. 2 GG eine bestimmte Organisationsform von Sozialversicherungsträgern verbindlich festzulegen. Danach werden soziale Versicherungsträger als Körperschaften des öffentlichen Rechts geführt. 522
Kapitel 5, B. I. 1.–3. BVerfG, Beschl. v. 8.4.1987 – 2 BvR 909/82, 2 BvR 934/8275 u. a., Rn. 95, BVerfGE 75, 108 (146). 524 BVerfG, Beschl. v. 8.4.1987 – 2 BvR 909/82, 2 BvR 934/8275 u. a., Rn. 95, BVerfGE 75, 108 (146). 523
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
Fraglich ist jedoch, wie eng die Kompetenztitel tatsächlich zu verstehen sind. Zweifelsfrei dürfte sein, dass jedenfalls eine materielle Privatisierung der GKV, d.h. die vollständige Übertragung der Aufgabe „soziale Krankenversicherung“ auf die Privatwirtschaft, nicht mehr von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und Art. 87 Abs. 2 GG erfasst ist.525 Zur klassischen Sozialversicherung im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, die sich an ihrem Urbild von 1883 orientiert, gehört es gerade, dass sie den Schwächen der privaten Versicherungswirtschaft, die keine Absicherung der sozial bedürftigen Arbeiterkreise gewährleistete, mit einem staatlichen Versicherungssystem begegnete.526 Art. 87 Abs. 2 GG verlöre bei einer Verlagerung der Aufgabe auf private Unternehmen bereits seinen Anwendungsbereich, da es sich bei der Krankenversicherung nicht mehr um „Verwaltung“ handelte. Fest steht also, dass Sozialversicherung eine Organisation voraussetzt, die der Verantwortung des Staates untersteht. Andernfalls werden die Grenzen der Sozialversicherung verlassen. Dem steht das Grundgesetz zwar ebenfalls nicht per se entgegen. Der Gesetzgeber muss keine Sozialversicherung bereithalten.527 Die Kompetenz des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG steht ihm dann aber nicht mehr zur Verfügung. In Betracht kommen könnte daher – unter Aufrechterhaltung der Sozialversicherung – zwar keine materielle, wohl aber eine funktionale Privatisierung der GKV, wie sie die Gutachter in dem oben beschriebenen Gutachten vorsehen.528 Die materielle Aufgabenverantwortung bleibt in diesem Fall beim Staat; dieser bedient sich zur Erfüllung seiner Aufgaben aber Privater. Die Gutachter schlagen eine Beleihung vor. In diesem Fall wird ein Privater derart mit öffentlich-rechtlichen Befugnissen ausgestattet, dass er selbst zum Verwaltungsträger wird. Die Beleihung ist eine Form der mittelbaren Staatsverwaltung durch Private. Ob eine Beleihung mit dem Wortlaut des Art. 87 Abs. 2 GG, der von „Körperschaften“ spricht, vereinbar ist, wird unterschiedlich beurteilt. Zum Teil wird dies unter Zugrundelegung des heutigen engen Verständnisses des Begriffs „Körperschaft“ abgelehnt.529 Der Wortlaut sei eindeutig. Dies zeige 525 Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 245; Zacher, Sozialpolitik und Verfassung, S. 55; Rolfs, Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 116 f.; a. A. offenbar Kayser, Inhalt und Grenzen der Sozialversicherung, S. 116 ff., der dies insbesondere damit begründet, dass auch die Private Pflegeversicherung als „Sozialversicherung“ einzustufen sei; Walser hält eine Anpassung des Begriffs „Sozialversicherung“ an veränderte Gegebenheiten jedenfalls für denkbar, ZESAR 2006, 333 (336). 526 Zur Entstehungsgeschichte der GKV vgl. Kapitel 1, A. II., III. 527 Dass Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nur die Zuständigkeit regelt und dem Bundesgesetzgeber keine Aufgabe zuweist wurde bereits erläutert, vgl. Kapitel 5, B. I. 5. a). 528 Wille/Graf von der Schulenburg/Thüsing, in: Wille/Hamilton/Graf von der Schulenburg/Thüsing, Privatrechtliche Organisation, Teil 1, S. 57 (146). 529 Dittmann, Die Bundesverwaltung, S. 94 f., 244; Ibler, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 87, Rn. 186; Oebbecke, in: Isensee/Kirchhof, HdbStR, Bd. VI (2008), § 136
C. Umgestaltungsoptionen
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auch der systematische Vergleich zu Art. 86 S. 1 und 87 Abs. 3 S. 1 GG, die von „Körperschaften und Anstalten“ sprechen. Die Staatspraxis nach 1945 deute ebenfalls darauf hin, dass man von einer Verpflichtung zur körperschaftlichen Organisation ausgegangen sei.530 Schließlich fordere das Telos, die Selbstverwaltung von Sozialversicherungsträgern sicherzustellen, ein enges Verständnis.531 Überwiegend wird dagegen ein weiter Körperschaftsbegriff532 vertreten, nach dem nicht streng an dem heutigen Begriffsverständnis zu haften sei. Für diesen wird in erster Linie vorgetragen, dass eine eindeutige Definition des Begriffs „Körperschaft“ bei der Entstehung des Grundgesetzes noch gar nicht bestand.533 Die enge Auslegung nach dem heutigen Verständnis hätte damals bedeutet, dass verschiedene Versicherungsträger der Weimarer Zeit, die als Anstalten organisiert waren, mit der Entstehung des Grundgesetzes verfassungswidrig geworden wären.534 Das könne offensichtlich nicht gewollt gewesen sein. Auch Art. 116 Abs. 3 des Grundgesetzentwurfs von Herrenchiemsee, der noch von „Selbstverwaltungseinrichtungen“ sprach, lege ein weites Verständnis nahe. Es habe keine Anzeichen dafür gegeben, dass die Mütter und Väter des Grundgesetzes durch die veränderte Formulierung auch einen anderen Sinn hätten ausdrücken wollen.535 Auch unter den Vertretern dieser Ansicht besteht aber Uneinigkeit darüber, wie weit die Auslegung sein kann und ob auch beliehene Private unter den Körperschaftsbegriff fallen können. Zum Teil wird eine Begrenzung auf öffentlichrechtliche Organisationsformen befürwortet, da auch die Ausstattung eines Privaten mit öffentlich-rechtlichen Befugnissen nichts an seinem Organisationsstatus als Privater ändere.536 Der Befehl des Art. 87 Abs. 2 GG beziehe sich aber gerade auf den Organisationsträger selbst. Die Grundregel des Art. 33 Abs. 4 GG Rn. 97; Sachs, in: Sachs, GG, Art. 87, Rn. 54; Merten, in: FS Knöpfle, S. 219 (221 ff.); Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG (13. Aufl. 2014), Art. 87, Rn. 10. 530 Dittmann, Die Bundesverwaltung, S. 94 f., 244. 531 Sachs, in: Sachs, GG, Art. 87, Rn. 54. 532 Axer, Normsetzung der Exekutive, S. 279 ff.; Bieback, VSSR 1998, 177 (182); Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 245; Krebs, in: Isensee/Kirchhof, HdbStR, Bd. V (2007), § 108, Rn. 45; Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 120 f.; Hermes, in: Dreier, GG, Art. 87, Rn. 61 f.; Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 466; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG (12. Aufl. 2012), Art. 87, Rn. 10; Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. III, Art. 87 Rn. 80; Egger, SGb 2003, 76 (77). 533 Axer, Normsetzung der Exekutive, S. 280. 534 Axer, Normsetzung der Exekutive, S. 280. 535 Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 121. 536 Hermes, in: Dreier, GG, Art. 87, Rn. 61 f.; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG (12. Aufl., 2012), Art. 87, Rn. 10 (in der 13. Aufl. von 2014 vertritt Pieroth eine noch restriktivere Auffassung); Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 466; Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. III, Art. 87 Rn. 80; Egger, SGb 2003, 76 (77).
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
für den Einsatz Beamter zur Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben drohe umgangen zu werden. Schließlich sei das Erfordernis einer mitgliedschaftlichen Struktur der Sozialversicherungsträger ernst zu nehmen. Einschränkungen dieser Art erscheinen indessen nicht zwingend. Wenn man davon ausgeht, dass die Verfassung einen selbstverwalteten, öffentlich-rechtlichen Verwaltungsträger fordert, dann ist nicht ersichtlich, warum nicht auch ein Privater diesen Anforderungen genügen kann. Durch die Beleihung wird der Private in die Staatsverwaltung einbezogen. In dem Umfang, wie er hoheitliche Befugnisse besitzt, ist er einer juristischen Person des öffentlichen Rechts gleichgestellt und für ihn kann daher nichts anderes gelten. Auch würde in Art. 87 Abs. 2 GG sicher zu viel hineingelesen, wenn man davon ausginge, dass dieser mehr als eine Richtungsvorgabe enthielte. Der Kompetenztitel hat in erster Linie die Aufgabe Landes- und Bundesverwaltung voneinander abzugrenzen.537 Darüber hinaus legt er fest, dass die Verantwortung für die Sozialversicherung in mittelbarer Staatsverwaltung verbleiben muss.538 Es kann jedoch nicht seine Aufgabe sein, genaue Vorgaben hinsichtlich des „Wie“ der Aufgabenerfüllung zu machen.539 Eine Beleihung Privater ist daher vom Körperschaftsbegriff des Art. 87 Abs. 2 GG erfasst. Weder die Gesetzgebungs- noch die Verwaltungskompetenz stehen diesem Vorhaben mithin entgegen.540 (3) Europarechtliche Folgen privatisierter Krankenkassen Da die Rechtsform nach dem funktionalen Unternehmensbegriff keine Auswirkungen auf die Einstufung einer Einheit als Unternehmen hat, ist der Rechtsformwechsel aus Sicht des europäischen Wettbewerbsrechts zunächst einmal neutral. Er ändert nichts an dem rein sozialen Charakter der Krankenkassen. Die privaten Unternehmen wären also für die Tätigkeit des Angebots der GKV keine Unternehmen i. S. d. Art. 101 f. AEUV. Da der Unternehmensbegriff tätigkeitsbezogen bestimmt wird, steht dem nicht entgegen, dass dieselben Versicherer, sofern sie auch die PKV anbieten, in diesem Bereich weiterhin Unternehmen bleiben. Zu wirtschaftlich tätigen Unternehmen aus kartellrechtlicher Sicht könn537
BVerfG, Beschl. v. 12.1.1983 – 2 BvL 23/81, Rn. 118, BVerfGE 63, 1 (34 f.). BVerfG, Beschl. v. 12.1.1983 – 2 BvL 23/81, Rn. 118, BVerfGE 63, 1 (34 f.). 539 Das BVerfG führt insoweit aus: „Das Grundgesetz normiert mithin bestimmte Arten von Verwaltung. Dies ist bei der organisatorischen Ausgestaltung der Verwaltung zu berücksichtigen. Freilich kann auch insoweit von einer starren Festlegung durch das Grundgesetz nicht ausgegangen werden. Auch mit Blick auf die normierten Verwaltungsarten verbleibt den zuständigen Organen ein weiter Spielraum bei ihrer organisatorischen Ausgestaltung allgemein und im Einzelfall.“, BVerfG, Beschl. v. 12.1.1983 – 2 BvL 23/81, Rn. 130, BVerfGE 63, 1 (34 f.). 540 Siehe auch Wille/Graf von der Schulenburg/Thüsing, in: Wille/Hamilton/Graf von der Schulenburg/Thüsing, Privatrechtliche Organisation, Teil 1, S. 57 (133 ff., 146). 538
C. Umgestaltungsoptionen
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ten die Träger der GKV allenfalls durch die mit der Privatisierung einhergehenden und bezweckten Veränderungen und die Intensivierung des Wettbewerbs werden. Als maßgebliche Indizien für eine rein soziale Tätigkeit sieht der EuGH insbesondere die Bildung einer Solidargemeinschaft, die risikounabhängige Beitragsberechnung, den einheitlichen beitragsunabhängigen Leistungskatalog, die Umlagefinanzierung und die Pflichtmitgliedschaft an. Solange diese wie bisher erhalten werden, ist das Vorhaben EU-wettbewerbsrechtlich neutral. Da die privaten Unternehmen im Umfang ihrer Beleihung – wie gerade gezeigt – zu Sozialversicherungsträgern würden und nicht als PKV anzusehen wären, stünden auch die Bestimmungen der Richtlinien über Schadensversicherungen (Richtlinie 73/239/EWG und Richtlinie 92/49/EWG) einer solchen Gestaltung nicht entgegen. Die Richtlinien binden den nationalen Gesetzgeber an enge Vorgaben bei der Ausgestaltung der Marktbedingungen für Schadensversicherungen (zu denen auch die private Krankenversicherung gehört), um hier einen Binnenmarkt zu schaffen,541 sie gelten aber gem. Art. 2 Abs. 2 RL 92/49 EWG i.V. m. Art. 2 Abs. 1 Ziffer d) RL 73/239/EWG ausdrücklich nicht für Sozialversicherungsträger. Die Ausgestaltung nationaler sozialer Sicherungssysteme lässt das europäische Recht vielmehr unberührt.542 dd) Privatisierung der GKV Eine von der soeben diskutierten Frage der privatrechtlichen Organisation gesetzlicher Krankenkassen zu trennende Frage ist die verfassungs- und europarechtliche Zulässigkeit einer vollständigen Aufgabenprivatisierung. Anders als bei einer Beleihung privater Unternehmen wird hier die Aufgabenverantwortung für die soziale Krankenversicherung vollständig auf die Privatwirtschaft verlagert. Einen Vorschlag in diese Richtung hatte 1995 der Sachverständigenrat für die Konzentrierte Aktion im Gesundheitswesen543 gemacht; 2004 hatte auch die FDP auf ihrem Bundesparteitag ein solches Programm beschlossen.544 Das Modell ist in diesem Zusammenhang von untergeordnetem Interesse, da es auf eine völlige Auflösung der Dualität von Sozial- und Privatversicherung hinausläuft, diese Untersuchung beide Systeme aber voraussetzt, um sich mit deren Verhältnis zueinander auseinandersetzen zu können. 541 Hamilton, in: Wille/Hamilton/Graf von der Schulenburg/Thüsing, Privatrechtliche Organisation, Teil 2, S. 187 (232); s. a. Kapitel 5, B. II. 4. c). 542 Siehe etwa EuGH, Urt. v. 7.2.1984, Rs. C-238/82, Slg. 1984, 523, Tz. 16 – Duphar u. a.; Urt. v. 28.4.1998 – Rs. C-158/96, Slg. 1998, I-01931, Tz. 17 – Kohll; Urt. v. 22.1.2002 – Rs. C-218/00, Slg. 2002, I-691, Tz. 31 – Cisal. 543 Sondergutachten 1995 – Gesundheitsversorgung und Krankenversicherung 2000. Mehr Ergebnisorientierung, mehr Qualität und mehr Wirtschaftlichkeit, S. 163. 544 Siehe auch Sodan, in: Die sozial-marktwirtschaftliche Zukunft der Krankenversicherung, S. 9 (21).
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
(1) Abhängigkeit der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von der konkreten Ausgestaltung sozialer Vorgaben In verfassungsrechtlicher Hinsicht hängt die Zulässigkeit einer solchen Gestaltung von den konkreten sozialstaatlichen Vorgaben ab, an die die privaten Krankenversicherungsunternehmen gebunden werden. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG steht der Privatisierung der GKV nicht entgegen. Sie ist nur Zuständigkeitsregel und weist keine Gesetzgebungspflichten zu.545 Der Bundesgesetzgeber würde sich für die Krankenversicherung ausschließlich auf die Kompetenz für das privatrechtliche Versicherungswesen gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG berufen. Um den Anforderungen des Sozialstaatsprinzips zu genügen, darf der Gesetzgeber sich jedoch nicht ganz aus der Aufgabe der Krankheitsvorsorge, die zu den „Kernaufgaben des Staates“ 546 gehört, zurückziehen.547 Er muss dafür Sorge tragen, dass der Zugang zu bezahlbarer Gesundheitsversorgung auch für Personen mit hohen Krankheitsrisiken und niedrigen Einkommen besteht. Um dies zu gewährleisten sind Regelungen wie ein Kontrahierungszwang und ein Kündigungsverbot der Privatversicherer, eine beitragsfreie Mitversicherung von Kindern sowie steuerliche Beitragszuschüsse oder ähnliche Maßnahmen548 zur Senkung der individuellen Beitragslast erforderlich.549 Außerdem muss der Staat eine ausreichende „Gewährleistungsaufsicht“ sicherstellen.550 Die sozialrechtlichen Regelungen müssen wiederum so ausgestaltet sein, dass sie die Qualifizierung des Systems als „privatrechtliches Versicherungswesen“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG nicht in Frage stellen. Auch wenn das BVerfG den Begriff des privatrechtlichen Versicherungswesens bisher nicht abschließend definiert hat, so wird aus der Entscheidung zur privaten Pflegeversicherung dennoch deutlich, dass die Grenze jedenfalls dort zu ziehen ist, wo die sozialen Ausgleichsvorgaben zu einer „Nivellierung der Prämien“ führen.551 Maßgebliches Charakteristikum ist die Bemessung der Prämien am individuellen Risiko. Dieses
545
Siehe oben Kapitel 5, B. I. 5. a). BVerfG, Urt. v. 10.6.2009 – 1 BvR 706/08 u. a., Rn. 171, NJW 2009, 2033 (2039). 547 Siehe oben Kapitel 5, B. I. 1. 548 Eine umfangreiche Auflistung erforderlicher Regelungen findet sich bei Leube, NZS 2003, 449 (450) sowie Wille/Graf von der Schulenburg/Thüsing, in: Wille/Hamilton/Graf von der Schulenburg/Thüsing, Privatrechtliche Organisation, Teil 1, S. 57 (143 ff.). 549 Waltermann, SDSRV 51 (2003), 55 (68) weist darauf hin, dass die Ersetzung der Sozialversicherung durch ein privates System zu einer sozialversicherungsähnlichen Ausgestaltung der Privatversicherung führen würde. 550 Erforderlich wäre eine Ergänzung aber keine „radikale Veränderung“ des bisherigen Aufsichtsrechts, s. Schmidt-Aßmann, NJW 2004, 1689 (1695). 551 BVerfG, Urt. v. 3.4.2001 – 1 BvR 2014/95, Rn. 77, NJW 2001, 1709 (1711). 546
C. Umgestaltungsoptionen
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Merkmal darf der Gesetzgeber zwar „begrenzt wirken lassen“, aber nicht völlig aufheben. Zur privaten Pflegeversicherung resümiert das Gericht: „Das auf statistischer Grundlage zu ermittelnde individuelle und vom Lebensalter abhängige Risiko, pflegebedürftig zu werden, und die sich daran orientierende versicherungsmathematische Berechnung der Prämien bestimmen die gesamte Tarifgestaltung so maßgeblich, dass die private Pflege-Pflichtversicherung trotz der Umlageanteile ihren Charakter als Individualversicherung nicht verliert.“ 552
Etwaige, durch die sozialen Vorgaben begründete, Eingriffe in die Grundrechte der Privatversicherer, dürften jedenfalls gerechtfertigt sein, da sich das Betätigungsfeld der PKV insgesamt erheblich erweitern würde. Begrenzte sozialstaatliche Vorgaben würden daher im Ergebnis nicht schwer ins Gewicht fallen.553 (2) Europarechtlicher Rahmen Aus europarechtlicher Perspektive ist zunächst zu beachten, dass die Privatversicherer als kapitalgedeckt finanzierte Einheiten „Unternehmen“ im Sinne des EU-Wettbewerbsrechts wären und daher den Wettbewerbsregeln des Binnenmarkts unterlägen. Je nach Ausgestaltung der sozialen Regelungen könnten Wettbewerbsverzerrungen aber gem. Art. 106 Abs. 2 AEUV gerechtfertigt sein, wie der EuGH es etwa in der Rechtssache Albany angenommen hat. Bei der Ausgestaltung der sozialrechtlichen Regeln für die Versicherungsverträge sind ferner die Schadensversicherungsrichtlinien zu beachten. Das „Allgemeininteresse“, zu dessen Schutz derartige Vorgaben nach Art. 54 Abs. 1 der Dritten Richtlinie Schadensversicherung gemacht werden dürfen, wird sehr weit ausgelegt, wie die europarechtlich zulässige niederländische Gesundheitsreform zeigt. Problematisch wäre allerdings, dass die deutsche substitutive PKV gem. § 12 Abs. 1 VAG nach Art der Lebensversicherung betrieben werden muss. In diesem Fall gibt Art. 54 Abs. 2 der Richtlinie spezielle abschließend aufgeführte Anforderungen auf, über die ein Mitgliedsstaat nicht hinausgehen und die er nicht verletzen darf. Hierzu zählt die versicherungsmathematische Kalkulation der Beiträge, mit der Beitragsgrenzen und ähnliche Bestimmungen mit Auswirkungen auf die Beitragsbemessung in Konflikt geraten können. Dieses Problem stellte sich in den Niederlanden nicht in vergleichbarer Weise, da die niederländische „Bürgerprivatversicherung“ umlagefinanziert ist. Die umlagefinanzierte Privatversicherung nach niederländischem Vorbild ist damit zwar europarechtlich unproblematischer, gerät aber nach deutschem Verfassungsrecht in Konflikt mit den Gesetzgebungskompetenzen, da sie weder mit Art. 74 Abs. 1 Nr 12 GG (Sozialversicherung) 552
BVerfG, Urt. v. 3.4.2001 – 1 BvR 2014/95, Rn. 77, NJW 2001, 1709 (1711). Vgl. zu der Frage, ob sozialstaatliche Bindungen gegen Grundrechte der Privatversicherer verstoßen, BVerfG, Urt. v. 10.6.2009 – 1 BvR 706/08 u. a., Rn. 154 ff., NJW 2009, 2033 (2037 ff.) (zum Basistarif) sowie Urt. v. 3.4.2001 – 1 BvR 2014/95, NJW 2001, 1709 (zur privaten Pflegeversicherung). 553
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Kap. 5: Die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten
noch mit Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG (privatrechtliches Versicherungswesen) vereinbar ist. 3. Fazit zu Option 2 Festgestellt wurde zunächst, dass ein Wettbewerb zwischen den gesetzlichen Krankenkassen und privaten Versicherungsunternehmen nicht schlicht dadurch hergestellt werden kann, dass allen Versicherten ein Wahl- und Wechselrecht eingeräumt wird. Dem steht der für die solidarisch finanzierte Sozialversicherung notwendige Pflichtversicherungscharakter ebenso entgegen, wie die unterschiedlichen Rahmenbedingungen der Systeme, die free-rider-Effekte hervorriefen. Untersucht wurde daher die Möglichkeit einer (zusätzlichen) Angleichung der Rahmenbedingungen. Hier lässt sich zunächst resümieren, dass die Gesetzgebungskompetenzen des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 und Nr. 11 GG, die die Aufgabe haben die Bundeskompetenz aus föderalistischen Gründen begrenzen, dem Gesetzgeber einen engen Rahmen hinsichtlich der Finanzierung der Systeme stecken. Ihm ist die Bildung von „Mischformen“ versagt. In der Privatversicherung darf es nicht zu einer „Nivellierung der Prämien“ kommen. In der Sozialversicherung müssen dagegen Elemente des sozialen Ausgleichs erhalten bleiben. Aus verfassungsrechtlicher Sicht werfen das Modell pauschaler Gesundheitsprämien, das sich am schweizerischen Gesundheitssystem orientiert, und der Vorschlag einer Beleihung Privater zur Ausführung der Aufgabe Krankenversicherung die geringsten Bedenken hervor. Problematisch erscheint hingegen das Modell einer Bürgerversicherung durch gesetzliche und private Anbieter. Hierdurch wird kein Wettbewerb zwischen GKV und PKV geschaffen, sondern die privaten Krankenversicherer mutieren zu Sozialversicherungsträgern. Letztlich stellen sich also dieselben verfassungsrechtlichen Probleme wie bei der „reinen Bürgerversicherung“ in Option 1.
Schlussbetrachtung Auf Grundlage der vorstehenden Überlegungen haben sich folgende Schlussfolgerungen ergeben: Die Analyse des Status Quo hat gezeigt, dass man zwischen den gesetzlichen Krankenkassen der GKV zwar durchaus von einem Wettbewerb sprechen kann. Dies gilt jedoch nicht für das Verhältnis zwischen Krankenkassen und privaten Versicherungsunternehmen. Zwar mag hier im Einzelfall um Versicherte konkurriert werden, die zur freiwilligen Versicherung in der GKV berechtigt sind (§ 9 SGB V) oder sich von der Versicherungspflicht befreien lassen können (§ 8 SGB V). Grundsätzlich verhindern aber sehr unterschiedliche rechtliche Rahmenbedingungen auch den Wettbewerb um die zur Wahl berechtigten Versicherten. Der Wahlberechtigte entscheidet sich regelmäßig aufgrund seiner individuellen Merkmale (wie Krankheitsrisiko, Alter und Zahl der Familienmitglieder ohne eigenes Einkommen) für ein System und nicht aufgrund der speziellen Angebote einzelner Versicherer. Dieses Ergebnis überrascht nicht, sondern ist logische Folge der unterschiedlichen Aufgaben und Ziele der beiden Versicherungssysteme. Die GKV steht in der Tradition der Krankenversicherung der Arbeiter von 1883, deren Aufgabe es war, die schutzbedürftige Arbeiterbevölkerung vor den Folgen von Krankheit zu schützen, und ist von diesem „klassischen“ Bild bis heute geprägt. Die PKV ist dagegen Ausdruck der Betätigung des Grundrechts auf Vorsorgefreiheit durch die Bürger. Zwar muss die Einnahmenbasis der GKV gesichert werden, es kann aber nicht Aufgabe eines staatlichen Sicherungssystems sein, hierzu in Konkurrenz zu treten. Sofern die Wahltarife gem. § 53 SGB V dazu dienen, die GKV- gegenüber der PKV-Vollversicherung attraktiver zu machen, sind sie schlicht systemwidrig. Auch für den neuen Wettbewerb mit der PKV im Bereich der Zusatzversicherungen, den die Wahltarife mit Zusatzleistungen (§ 52 Abs. 4 und 5 SGB V) erzeugt haben, besteht kein Bedürfnis. Diese erwerbswirtschaftlichen Instrumentarien sind mit der Gesetzgebungskompetenzordnung und den Grundrechten der privaten Versicherungsunternehmen nicht in Einklang zu bringen. Auch durch die Annäherung der PKV an die GKV durch Einführung der allgemeinen Versicherungspflicht (§ 193 Abs. 3 S. 1 VVG) und des brancheneinheitlichen Basistarifs (§ 12 Abs. 1a–1c VAG) ist kein echtes Wettbewerbsverhältnis in der Schnittstelle zwischen GKV- und PKV-Vollversicherung entstanden. Der Basistarif ist für den wahlberechtigten Personenkreis regelmäßig unattraktiv und beeinflusst daher nicht die Wahlentscheidung. Er steht vielmehr in Zusammenhang mit der Einführung der Versicherungspflicht und soll eine bezahlbare
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Schlussbetrachtung
Krankenversicherung für die Personen bereitstellen, die systematisch nicht der GKV zuzuordnen sind, sich aber eine Versicherung in den Normaltarifen der PKV nicht leisten können und daher bisher versicherungslos waren. Bei wettbewerbsrechtlicher Betrachtung bestätgt sich dieses Bild: Wie der EuGH 2004 entschieden hat, sind Krankenkassen im Bereich der Pflichtversicherung keine „Unternehmen“ und unterliegen damit nicht den Regeln des europäischen Wettbewerbsrechts. Daran hat sich auch durch die Reformen zur Wettbewerbsstärkung in der GKV nichts geändert. Zwar führen diese zu einer schleichenden „Entsolidarisierung“. Sie halten sich aber noch in dem Rahmen, den der EuGH als zulässigen wettbewerblichen Spielraum im Interesse der Funktionalität des Gesamtsystems anerkannt hat. Für die freiwillige Versicherung gilt nichts anderes. Auch hier treten die Krankenkassen nicht mit Privaten in einen Wettbewerb. Die freiwillige GKV ist ebenso wie die Pflichtversicherung ein von dieser nicht trennbares nationales soziales Sicherungssystem, das auf dem Grundsatz der Solidarität beruht. Anwendung findet das europäische Wettbewerbsrecht auf die Krankenkassen jedoch, wenn diese als Zusatzversicherer im Bereich der Wahltarife mit Zusatzleistungen (§ 53 Abs. 4 und 5 SGB V) auftreten und wenn sie Zusatzversicherungen der PKV vermitteln (§ 194 Abs. 1a SGB V). Diese Tätigkeiten sind von der Vollversicherungstätigkeit zu unterscheiden und könnten in der Form ebenso von Privaten durchgeführt werden. Ein Rechtsvergleich zu Gesundheitssystemen anderer Länder zeigt: Systemwettbewerb gibt es hier auch nicht. Exemplarisch für wettbewerbsorientierte Gesundheitssysteme wurden die Niederlande und die Schweiz herausgegriffen. In beiden Ländern besteht ein einheitlicher Krankenversicherungsmarkt, auf dem um alle Versicherte konkurriert wird. Besonders von Interesse ist das Gesundheitssystem der Niederlande, da es historisch dem deutschen ähnelte. Zunächst gab es auch hier ein Nebeneinander von gesetzlicher und privater Krankenversicherung, das jedoch aufgelöst wurde, um Wettbewerb zu ermöglichen. Das niederländische System verbindet verschiedene Merkmale von gesetzlicher und privater Krankenversicherung zu einem System: Private Unternehmen, Versicherungsverträge, Kontrahierungszwang und Kündigungsverbot für die Versicherer, gesetzlich definierter Leistungskatalog, einkommensabhängige sowie pauschale Beiträge und Finanzierung im Umlageverfahren. Vor diesem Hintergrund stand die Überlegung einer Umstrukturierung des Gesundheitswesens unter dem Vorzeichen des „Systemwettbewerbs“ an. Der Begriff „Systemwettbewerb“ erwies sich jedoch als Paradoxon: Da gerade die unterschiedlichen – von außen gesetzten – Rahmenbedingungen zweier Systeme Wettbewerb verhindern, kann es nur „Wettbewerb“ oder „Systeme“ geben. Die Aufrechterhaltung der Dualität von GKV und PKV setzt daher eine klare Trennung der Aufgaben voraus. Hier wurden zwei Vorschläge unterbreitet, die dem Trend zu „verschwimmenden Grenzen“ entgegenwirken. Wettbewerb erfordert dagegen
Schlussbetrachtung
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die Vereinheitlichung der Märkte. In Betracht kommt sowohl die Annäherung der PKV an die GKV als auch die Annäherung der GKV an die PKV. Der verfassungsrechtliche Handlungsspielraum des Gesetzgebers ist hier weit. Hinsichtlich des Gesundheitssystems gibt das Grundgesetz keinen konkreten Mindestschutzumfang und keine Organisation vor. Zu beachten ist insbesondere das Sozialstaatsprinzip, das den Gesetzgeber jedenfalls zu „sozialer Aktivität“ verpflichtet. Die engsten Grenzen stecken die Gesetzgebungskompetenzen des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 (Sozialversicherung) und Nr. 11 (privatrechtliches Versicherungswesen), die insbesondere hinsichtlich der Organisation und der Finanzierungsverfahren eine Abkehr vom „klassischen“ Typus der Sozial- bzw. Privatversicherung verbieten. Sie müssen aber durch den Gesetzgeber nicht beide in Anspruch genommen werden. Das Grundgesetz schreibt keine duale Versicherungsordnung vor. Vielmehr kann auch eine der Kompetenzen schlicht ungenutzt bleiben. Bei einer Ausweitung der Sozialversicherung sind ferner die Grundrechte der zu Versichernden und der Privatversicherer zu achten. Die Sozialversicherung darf nur so weit reichen, wie es die Schutzbedürftigkeit der Versicherten verlangt. Darüber hinaus muss Raum für Eigenvorsorge bestehen. Abschließend sei eine – nicht nur rechtliche, sondern auch politische – persönliche Einschätzung erlaubt: Das Modell einer Finanzierung der GKV durch pauschale Prämien gibt (von den untersuchten Modellen) nicht nur die geringsten verfassungsrechtlichen Bedenken auf, sondern es erscheint auch durchaus klug. Führt man sich vor Augen, dass das Krankengeld bei der Entstehung der GKV einen sehr viel bedeutenderen Stellenwert einnahm als medizinische Sachleistungen und dass die einkommensabhängige Beitragsbemessung jedenfalls auch darauf zurückzuführen ist, dass dieses sich ebenfalls am individuellen Einkommen orientierte, so scheint es sachgerecht, über eine neue Beitragsbemessung nachzudenken, in einer Zeit, in der die medizinischen Sachleistungen in der Krankenversicherung ganz im Vordergrund stehen. Eine Globaläquivalenz herzustellen, d.h. alle Kosten zusammen zu rechnen und durch die Anzahl der Versicherten zu teilen, scheint ein einfaches und gerechtes Mittel zum Ausgleich zwischen Gesunden und Kranken – um den es in einer Krankenversicherung vorrangig geht. Die versicherungsfremde Aufgabe der Einkommensumverteilung wird dagegen über das Steuersystem auf die Gesamtgesellschaft verlagert, wo sie hin gehört. Dadurch entstehen keine Ungerechtigkeiten, weil sich „Besserverdiener dem Solidarausgleich in der GKV entziehen“, und die Umverteilung wird sogar verstärkt. Denn anders als in dem GKV-System mit Beitragsbemessungsgrenze werden im Steuersystem alle Einkommen in voller Höhe einbezogen. Da ein über Pauschalen finanziertes System nicht zwingend eine Versicherungspflicht voraussetzt, könnten damit ferner die Wahlmöglichkeiten zwischen GKV und PKV erweitert werden.
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Sachwortverzeichnis Altersrückstellungen 50, 83, 165, 230, 245, 246, 253 Anbieterwettbewerb 83, 91–94, 94–96, 262 Angebotstätigkeit 102, 105, 114, 115, 117, 118, 136–141 Anwartschaftsdeckungsverfahren 50–51, 272 Äquivalenzprinzip 41–43, 48–50, 61–65, 65–69, 270–271 Austauschbarkeit siehe Substituierbarkeit Basistarif 60, 93, 255 – Auswirkungen auf Konkurrenz zur GKV 93–94 – Bedeutung für kartellrechtliche Unternehmenseigenschaft 131, 150–151 – Durchbrechung Äquivalenzprinzip 65– 69 – Europarechtliche Zulässigkeit 255–256 – Leistungskatalog 71 – Verfassungsmäßigkeit 253–256 Beamte 25, 26, 35, 86, 89, 217, 240, 243 – Einbeziehung in die Bürgerversicherung 243–245 Beendigung des Versicherungsverhältnisses 74 Befreiung von der Versicherungspflicht 23, 27, 85, 86, 88 Beihilfe 35, 89, 245 – Abschaffung durch Bürgerversicherung 243–245 – Europarechtlich 263–264 Beitragsbemessungsgrenze 44, 145, 285 Beitragsbemessungsgrundlage 48–50, 61–69 Beitragssatz 77, 78, 113, 122, 125, 128, 129
Bereichsausnahme 103, 118, 221 bipolare Versicherungsverfassung 191– 192 Bürgerprivatversicherung 155, 281 Bürgerversicherung 161, 232–250, 250, 256, 257, 259, 260, 261, 270, 282 Divergenz 44–58 Effizienz 82, 94, 121, 138 Effizienzsteigerung 113 Eigenvorsorge 26, 30, 99, 170, 173, 191, 193, 198, 201, 202, 204, 208, 209, 210, 212, 225, 226, 245, 251, 263, 285 Entstehung des Versicherungsverhältnisses 74, 48 Familienmitversicherung 146, 228–230, 252 Finanzverfassung 172, 185, 238, 239, 250 freiwillige Versicherung 27, 35, 48, 86– 92, 210, 250 – Abschaffung 228–230 – Niederlande 154 – Unternehmenseigenschaft 141–148 Fusionen 33, 123, 131, 138, 140 Fusionskontrolle 137–138, 138, 140 Gesetzgebungskompetenz 224, 250, 275, 280 – Beteiligung PKV am Gesundheitsfonds 266 – bipolare Versicherungsverfassung 191–192 – Einbeziehung der PKV-Unternehmen in die Bürgerversicherung 257–259 – für den Basistarif 254–255
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Sachwortverzeichnis
– für die Bürgerversicherung 233–238 – für die Sozialversicherung 180–183 – für Kopfpauschalenmodell 271–272 Gestaltungsspielraum 38, 178, 197, 225, 231, 244, 248, 256 Gesundheitsfonds 46, 52, 64, 69, 78, 79, 121, 122, 123, 124, 127, 128, 239, 253, 262, 263, 264, 266 Gesundheitsprämien siehe Kopfpauschalen Gleichheitssatz 178, 211, 212, 230, 263, 269 Globaläquivalenz 41, 50, 271, 285 Grundfreiheiten 104, 186, 219, 221, 222, 223, 224, 225, 249, 250, 261 Grundrechte 48, 67, 82, 177, 181, 182, 187, 188, 190, 194, 195, 198, 199, 205, 207, 214, 215, 219, 225, 227, 239, 242, 245, 247, 251, 260, 281, 285 Handlungsspielraum 78, 91, 112, 125, 128, 134, 171, 172, 190, 285 Höchstbeitrag 60, 65, 74, 123 Individualäquivalenz 41, 42, 43, 50, 64, 65, 68 Insolvenzfähigkeit 123, 131 Kapitaldeckungsverfahren 69, 145, 258, 273 Kassenwahlrecht 36 Kollektivverträge 80 Kollektivvertragssystem 80 Kompetenzordnung 191, 192, 197, 224 Komplementarität 99 Konkurrenz 17, 27, 30, 72, 76, 81, 83, 93, 96, 99, 107, 142, 149, 170, 269, 283 Konvergenz 37, 58, 58–74, 154, 253 Kopfpauschalen 270–273 – Schweiz 167 Körperschaft des öffentlichen Rechts 183, 184, 275
Kostenerstattung 52, 53, 54, 55, 58, 61, 62, 70, 71, 82, 92, 95, 96, 122, 156, 158, 186 Kostenerstattungsprinzip 55, 62, 163 Krankengeld 27, 30, 43, 61, 122, 245, 285 Krankenversicherung der Arbeiter 26, 37, 283 Leistungskatalog 57, 58, 70, 71, 77, 90, 91, 92, 95, 96, 98, 123, 125, 149, 150, 156, 158, 163, 205, 208, 220, 233, 268, 274, 279, 284 Leistungsspektrum 52, 57, 58, 82 Lohnersatzleistungen 43 Marktverteilung zwischen GKV und PKV 84 Menschenwürdegarantie 176, 180 Nachfragetätigkeit 102, 105, 112–115, 117, 133 Organisation 23, 36, 39, 44, 46, 71, 77, 82, 105, 161, 172, 183, 188, 189, 219, 224, 259, 260, 261, 267, 274, 275, 276, 277, 279, 285 Preiswettbewerb 59, 77, 78, 80, 128, 159, 166, 270 Privatisierung 140, 152, 174, 175, 274, 276, 279, 280 Rabattverträge 81, 140 Rechtsform 46, 47, 104, 153, 183, 258, 274, 275, 278 Rechtsvergleich 284 Reformen 19, 75, 91, 94, 119, 121, 124, 125, 126, 127, 132, 154, 155, 220, 284 relevanter Markt 269 Risikozuschläge 60, 65 Rücklagenbildung 69 Sachleistungen 20, 43, 62, 156, 163, 244, 285
Sachwortverzeichnis Satzungsleistungen 17, 70, 79, 123, 141 Schutzbedürftigkeit 72, 168, 201, 203, 204, 205, 206, 210, 212, 227, 228, 240, 241, 242, 251, 285 Selbstverwaltung 23, 36, 44, 46, 77, 277 Selektivverträge 71, 75, 81, 123, 130, 159 Solidarausgleich 62, 64, 65, 90, 127, 130, 148, 151, 203, 213, 231, 237, 252, 262, 264, 269, 285 Solidaritätsgrundsatz 106, 126, 131 Solidarprinzip 50, 61, 64, 77, 115, 118, 122, 128, 130, 144, 145, 146, 203, 205, 236, 237 Sozialausgleich 122, 128, 132 Soziale Rechte 172 Sozialhilfe 164, 174, 190, 202, 204, 236 Sozialstaatsprinzip 170, 172, 173, 174, 175, 176, 177, 180, 185, 190, 205, 208, 212, 213, 227, 228, 229, 255, 263, 271, 275, 285 Sozialversicherungspflicht siehe Versicherungspflicht Staatszuschuss siehe Steuerzuschuss Steuerzuschuss 43, 51, 156, 163 Subsidiaritätsprinzip 192, 193, 194, 195, 196, 197, 198, 227 Substituierbarkeit, des Krankenversicherungsprodukt 87 substitutive private Krankenversicherung 87 Systemgerechtigkeit 178, 179 Systemwettbewerb 17, 18, 75, 76, 83, 97, 98, 100, 152, 157, 168, 169, 170, 171, 262, 284 Tarif 54, 55, 58, 59, 63, 70, 91, 96, 157, 211, 254, 255, 260 Umlageverfahren 51, 115, 127, 145, 146, 253, 271, 272, 273, 284
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Umverteilung 38, 63, 90, 124, 127, 129, 131, 144, 146, 147, 165, 242, 244, 259, 268, 272, 273, 285 Unionsrecht 106, 120, 135, 186, 219, 225 Unisex-Tarife 65, 68 Unternehmensbegriff 104, 114, 117, 118, 133, 137, 261, 278 Vereinigungsfreiheit 199, 207 Versicherungsfall 52, 55, 56, 62, 63, 257 Versicherungspflicht 22, 23, 26, 31, 35, 36, 48, 60, 72, 74, 84–85, 97, 99, 103, 105–107, 115, 126–127, 144, 146, 156, 157, 161, 199–211, 211–214, 214–219, 230, 236, 241, 254, 283, 285 Versicherungspflichtgrenze 34, 35, 86, 90, 154, 213, 215, 220, 232, 235, 257, 262 Versicherungsprinzip 36, 38, 39, 43, 124, 236, 237, 267 Vertragsarzt 80 Vertrauensschutz 172, 228, 231 Völkerrecht 171, 172 Vorsorgefreiheit 200, 201, 204, 206, 225, 239, 242, 245, 283 Wahlrecht 23, 59, 77, 84, 85, 88, 89, 158, 168, 169, 207, 251, 252, 257 Wahltarife 17, 59, 61, 64, 70, 78, 92, 95, 96, 122, 125, 130, 132, 138, 141, 147, 148, 149, 267–270, 283, 284 Zunftwesen 19, 20 Zusatzbeitrag 17, 43, 59, 78, 93, 102, 122, 123, 125, 128, 129, 132, 138, 141 Zusatzleistungen 79, 123, 130, 138, 233, 268, 269, 283, 284 Zusatzversicherung 85, 96, 107, 108, 143, 144, 145, 149, 274